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Zu diesem Buch In einem viktorianischen Zeitalter voller religiöser Ränkespiele und dunkler Intrigen: Als der Drache Bon Agornin stirbt, versammelt sich die Familie um das Sterbebett. In seinem Testament hat Agornin das Vermögen seinen Nachkommen zu gleichen Teilen hinterlassen, was bedeutet, daß jedem der Kinder ein gleich großer Teil seiner Leiche zusteht. Doch auch der machthungrige Daverak ist zugegen, als Agornin stirbt. Er schert sich nicht um das Testament und beißt den größten Teil der Leiche für sich ab. Denn das gegenseitige Fressen verschafft Größe und Macht in der Gesellschaft. Da wagt Agornins Sohn Avan das Undenkbare: Er zerrt den mächtigen Daverak vor Gericht und stürzt sich und seine Familie in größte Not. Denn seine Schwester gerät in die Klauen des skrupellosen Drachen ... Ein einzigartiger, warmherziger und humorvoller Roman über die ganz unbekannte Seite der legendärsten Geschöpfe der Fantasy. J o W a l t o n , geboren 1964 in Wales, gewann 2002 den John W. Campbell Award als beste neue Autorin. Ihr Roman »Der Clan der Klauen« wird von Kritikern und Lesern als originellstes Fantasy-Werk der letzten Jahre gefeiert und wurde 2004 mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet, einem der wichtigsten Preise des Genres. Jo Walton lebt heute in Montreal.
Jo Walton
DER CLAN DER KLAUEN EIN DRACHEN-ROMAN
Aus dem Amerikanischen von Andreas Decker
Piper München Zürich Dieses Taschenbuch wurde auf FSC-zertifiziertem Papier gedruckt. FSC (Forest Stewardship Council) ist eine nichtstaatliche, gemeinnützige Organisation, die sich für eine ökologische und sozialverantwortliche Nutzung der Wälder unserer Erde einsetzt (vgl. Logo auf der Umschlagrückseite). Deutsche Erstausgabe November 2005 © 2003 Jo Walton Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Tooth and Claw«, Tor Books, New York 2003 © der deutschsprachigen Ausgabe: 2005 Piper Verlag GmbH, München Übersetzung »In Memoriam«: Verlag Heitz & Mündel Straßburg 1899, übersetzt von Jakob Feis Umschlagkonzept: Büro Hamburg Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Umschlagabbildung: Tristan Elwell, USA Satz: Filmsatz Schröter, München Papier: Munken Print von Arctic Paper Munkedals AB, Schweden Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN-13: 978-3-492-26592-8 ISBN-10: 3-492-26592-8 www.piper.de
Wie? - Er - der Mensch, aus dessen Blicken klar Ein so erhab'nes Lebensziel gestrahlt, Er, der im Nordland Psalmen angestimmt, Der furchtlos fromm zum Tempel schuf sein Herz, Der Gott vertraut, dass er die Liebe sei Und sich vor ihr als Grundgesetz des Alls Gebeugt, obgleich Natur den Wahn verhöhnt Mit Lefzen und mit Krallen blutgefärbt, Der unaufhörlich für die Liebe litt, Der für die Wahrheit und Gerechtigkeit Gekämpft - er soll verwehn'n im Wüstensand, Aufgeh'n in Staub und Lehm? Er war
Ein Ungeheuer nur, ein Traum? Sonst Nichts. Ein Mißklang. Drachen ungestaltet, roh, Die sich mit gift'gem Schleim im Sumpf besprüh'n: Sie wären sein harmonisch Gegenbild. Alfred, Lord Tennyson, aus »In Memoriam A. H. EL«, r 85o Sie hätte wohl gern gehabt, dass ich einen Drachen mit nach Hause bringe. Es wäre ihr recht geschehen, hätte ich es getan, ein Wesen, das das Haus für sie unerträglich gemacht hätte. Anthony Trollope, Framley Parsonage, i85g DER TOD DES AGORNIN
1 . 'Eine 'Beichte Bon Agornin wand sich auf seinem Sterbebett, seine Schwingen entfalteten sich noch einmal, als wollte er in seinem alten Körper in ein neues Leben fliegen. Die Arzte hatten den Kopf geschüttelt und waren gegangen, selbst seine Töchter behaupteten nicht mehr, dass er wieder gesunden würde. Er bettete den Kopf auf das wenige ihm verbliebene Gold in seiner großen zugigen Unterhöhle und bemühte sich, einfach still dazuliegen und ruhig zu atmen. Ihm blieb nur noch wenig Zeit, um alles für die Zukunft zu regeln. Vielleicht noch eine Stunde, vielleicht auch weniger. Eigentlich freute er sich darauf, die Qualen des Fleisches hinter sich zu lassen, wenn ihn nur nicht gleichzeitig die Reue so sehr geplagt hätte. Er stöhnte und wälzte sich unruhig auf dem Gold und bemühte sich, die Geschehnisse in seinem Leben so unvoreingenommen wie nur möglich zu betrachten. Die Kirche
3 lehrte, dass weder Schwingen noch Feuerspeien für eine glückliche Wiedergeburt sorgten, sondern vielmehr Unschuld des Herzens und geistige Gelassenheit. Er bemühte sich sehr um diese Gelassenheit. Doch war sie nur schwer zu finden. »Was ist los, Vater?«, fragte sein Sohn Penn, der nun näher kam, da Bon ruhig dalag, und seine Klaue ausstreckte, um sanft seine Schulter zu berühren. Penn Agornin oder vielmehr der Gesegnete Penn Agornin, da man den jungen Penn bereits zum Pfarrer gesalbt hatte, glaubte zu wissen, was seinem Vater Sorgen bereitete. In seinem Beruf hatte er schon an vielen Totenbetten gestanden. Er war froh, hier sein und seinem Vater den Übergang in den Tod erleichtern und ihm in diesen schweren Stunden die Anwesenheit eines Fremden ersparen zu können. Denn der Gesegnete Freit, der Ortspfarrer, war alles andere als ein Freund seines Vaters. Sie trugen schon seit Jahren eine heimliche Fehde miteinander aus, die Penn für einen Pfarrer für äußerst unschicklich hielt. »Beruhige dich, Vater«, sagte er. »Du hast ein rechtschaffenes Leben geführt. Tatsächlich fällt es schwer, sich jemanden vorzustellen, der auf dem Totenbett weniger Grund zur Sorge haben müsste.« Penn bewunderte seinen Vater sehr. »Am Anfang mit wenig mehr als einem guten Namen ausgestattet bist du zu einer Länge von einundzwanzig Metern herangewachsen, mit Schwingen und Feuerspeien, einem prächtigen Haushalt und dem Respekt und der Achtung der ganzen Gegend. Fünf deiner Kinder leben bis zum heutigen Tag. Ich selbst bin der Kirche beigetreten und damit geschützt.« Er hob eine Schwinge, die mit dem roten Band gebunden war, das für die Frommen das Zeichen für die Hingabe des Pfarrers an die Götter und die Drachenheit war und für andere dagegen lediglich auf seine Unberührbarkeit hinwies. »Berend hat eine gute Partie gemacht und Kinder in die Welt gesetzt, ihr Gatte ist mächtig und trägt den
3 Adelstitel eines Erlauchten. Avan macht in Irieth seinen Weg. Er hat den vielleicht gefährlichsten Kurs eingeschlagen, aber er hat mächtige Freunde und bis jetzt wohl getan, genau wie du vor ihm. Was die anderen beiden angeht, Haner und Selendra, auch wenn sie noch jung und verletzlich sind, brauchst du um sie keine Angst zu haben. Berend wird Haner bei sich aufnehmen und dafür sorgen, dass sie unter der Obhut ihres Mannes gut verheiratet wird, und ich sorge bei Selendra dafür.« Bon holte vorsichtig Luft, dann atmete er mit einer kleinen, flammendurchsetzten Rauchwolke wieder aus. Penn sprang rasch zur Seite. »Ihr alle müsst euch an mein Testament halten«, sagte Bon. »Die
Jüngeren, die noch keinen eigenen Hausstand gegründet haben, sollen mein Gold bekommen. Du und Berend habt bereits mit euren eigenen Horten angefangen, nehmt also nur ein symbolisches Goldstück und lasst die anderen drei sich das wenige teilen, das noch da ist. Ich habe nicht viel zusammengetragen, aber es wird reichen, um sie zu unterstützen.« »Darüber sind wir uns doch schon lange alle einig, Vater«, sagte Penn. »Und natürlich werden sie auch den größeren Anteil bekommen, wenn wir dich verschlingen. Berend und ich sind selbstständig, während unser Bruder und die Schwestern noch deine Hilfe brauchen.« »Ihr seid immer so gewesen, wie Geschwister sein sollten«, sagte Bon und seufzte noch etwas Rauch hervor. »Penn, ich möchte vor meinem Tod noch beichten. Nimmst du mir die Beichte ab?« Penn wich zurück und klappte entschlossen die Schwingen an den Leib. »Vater, du kennst die Lehre der Kirche. Die Beichte ist seit dreitausend Jahren, seit sechs Generationen von Drachen, kein Sakrament mehr gewesen. Sie stinkt nach der Zeit der Unterjochung und den heidnischen Bräuchen der Yargen.« Bon rollte mit den großen goldenen Augen. Manchmal
4 kam ihm sein Sohn, der so sehr auf Anstand achtete, wie ein Fremder vor. Penn hätte niemals das ertragen können, was er hatte durchmachen müssen, hätte niemals überleben können. »Sechs Lebensspannen, das hat man dich vielleicht gelehrt, aber als ich noch jung war, gab es Priester, die denen, die es wollten, noch immer die Absolution erteilten. Erst im Laufe meines Lebens ist die Vergebung zu einer Sünde geworden. Falsch daran war nur, für den Sündenerlass Bezahlung zu fordern und nicht jenen ihre Bürden zu vergeben, die sie offenlegen wollten. Der Ritus der Absolution steht noch immer im Buch der Gebete. Freit würde mir das aus reiner Bosheit verweigern, da bin ich mir ganz sicher, aber ich hätte gedacht, du würdest genug Stärke haben, um das zu tun.« »Ja, es ist eine Sünde, Vater, und zwar eine, gegen die die Kirche genauso energisch vorgeht wie gegen das Fliegen von Geistlichen.« Penn streckte die rotgebänderte Schwinge aus. »Es ist kein Glaubensartikel der Religion, das ist wahr, aber eine andere Praxis, die sich im Laufe der Zeit ergeben hat. Die Beichte ist heutzutage etwas Verwerfliches. Ich kann dir unmöglich die Absolution erteilen. Sollte das jemand entdecken, würde ich meine Stellung verlieren. Davon abgesehen würde es auch mein Gewissen nicht erlauben.« Bon regte sich wieder und fühlte, wie seine Schuppen sich lösten und auf das Gold unter ihm fielen. Er hatte nicht mehr viel Zeit und er hatte Angst. »Ich bitte dich nicht um Absolution, wenn du sie mir nicht geben kannst. Ich glaube nur, ich könnte ruhiger sterben, wenn ich dieses Geheimnis jemandem anvertrauen könnte.« Er fühlte seine Stimme immer schwächer werden. »Du kannst mir alles sagen, was du willst, lieber Vater«, erwiderte Penn und trat wieder näher heran. »Aber du darfst es nicht Beichte nennen oder behaupten, dass du es mir anvertraust, weil ich Pfarrer bin. Das könnte meine Berufung gefährden, falls es bekannt wird.«
4 Bon betrachtete die roten Bänder an den Schwingen seines Sohnes und erinnerte sich daran, was er der Kirche dafür hatte zahlen müssen, damit sie ihn aufnahm, und das ganze Glück, das er seitdem hatte erleben dürfen. »Ist es nicht wunderbar, wofür dein kleiner Freund Sher nicht alles gesorgt hat?«, sagte er. Dann ergriff ihn der Schmerz, der sich von seinen Lungen ausbreitete, und er wollte husten, wagte es aber nicht. Penn hatte Luft geholt, um zu antworten, aber er ließ sie aus der Schnauze entweichen und sah dem Kampf seines Vaters wortlos zu. Der kleine Sher, einst sein Schulfreund, war nun der Erhabene Sher Benandi, Lord seiner eigenen Domäne, und Penn war sein Pfarrer mit seinem eigenen Haus, Frau und Kindern. »Es ist Art der Drachen, einander zu fressen«, sagte Bon schließlich. »Heutzutage ...«, warf Penn ein. »Du weißt, dass ich der einzige Überlebende meiner Familie war, der einzige meiner Geschwister, dem Schwingen wuchsen«, fuhr Bon fort und unterbrach seinen Sohn. »Hast du geglaubt, dass der Vornehme Telstie die anderen gefressen hat, oder vielleicht seine Gemahlin, die Vornehme Telstie? Ein paar von
ihnen haben sie gefressen, schössen vom Himmel herunter, um die Schwächlinge zu verschlingen und ließen mich immer am Leben, weil ich der Älteste und Stärkste war. Sie standen fest hinter der Idee, die die Kirche lehrt, dass sie das Drachentum stärkten, indem sie die Schwächlinge fraßen; zu mir waren sie sogar nett. Ich habe ihnen nicht verziehen, dass sie meinen Vater und meine Geschwister gefressen haben. Aber ich gab vor, ihr Freund zu sein und der ihrer Kinder, denn meine Mutter hatte nicht die Kraft, mich zu beschützen oder sie daran zu hindern, mich zu fressen, falls es ihnen in den Sinn gekommen wäre. Sie hatten das Gold meines Vaters genommen und wir hatten nichts als unseren Namen. Als nur noch drei von uns übrig waren, waren mir zwar Schwingen gewachsen, aber ich
5 war kaum zwei Meter lang. Ich hätte gern mein Zuhause verlassen, um mein Glück zu machen, doch wäre das für mich zu gefährlich gewesen. Ich brauchte Länge und Stärke, die mir anderes Fleisch nicht verliehen hätte. Also fraß ich meine übrig gebliebenen Geschwister.« Penn starrte wie gebannt auf seinen sterbenden Vater; was auch immer er von dem alten Drachen für ein Geständnis erwartet hatte: nichts hätte ihn darauf vorbereiten und ihn mehr erschüttern können. »Werde ich mich gänzlich auflösen und vergehen?«, fragte Bon. »Wird mein Geist wie Asche aus Rauch fallen, wie es die Kirche lehrt? Oder werde ich als Hammel wiedergeboren werden, der einem Hungernden zwischen den Zähnen stecken bleibt, oder noch schlimmer, als kriechender Wurm oder widerwärtiger, schwingenloser Yarge?« Er suchte den Blick seines Sohnes und Penn starrte seinen Vater noch immer schockiert an. »Wie du bereits gesagt hast, ich habe seitdem ein anständiges Leben geführt. Ich habe es oft bitterlich bereut, aber ich war jung und hungrig, es gab niemanden, der mir helfen konnte, und ich wurde vom Verlangen getrieben fortfliegen zu können.« Bons Schuppen lösten sich nun in einem ständigen Rascheln. Sein Atem bestand aus mehr Rauch als aus Luft. Seine Augen verschleierten sich. Penn war Pfarrer und hatte viele beim Sterben begleitet. Er wusste, dass nur noch wenige Minuten übrig waren. Er breitete die Schwingen aus und begann mit dem letzten Gebet. »Fliege nun mit Veld, sei frei, um mit Camran an deiner Seite wieder geboren zu werden ...!« Der Rauch drang in seine Kehle und ließ ihn verstummen. Er hatte einmal über den alten Ritus der Lossprechung voll Faszination und Entsetzen zugleich gelesen; sein Vater hatte Recht, dass er noch immer im Gebetbuch stand. Sein Vater brauchte die Absolution und einen geläuterten Geist, um ins nächste Leben übergehen zu können. Penn war ein konventioneller junger Drache und Pfarrer, aber er 5 liebte seinen Vater. »Es ist nur ein Brauch, das hat nichts mit Theologie zu tun«, beruhigte er sich selbst. Er hielt die Klauen vor den Augen seines Vaters hoch, wo er sie sehen konnte. »Ich habe deine ...« Er zögerte kurz, es war nur so, dass das Wort so furchtbar erschien. Konnte er es nicht anders nennen? Nein, nicht wenn er seinem Vater den Trost und die Vergebung geben wollte, die er brauchte. »Deine Beichte gehört, Ehrwürdiger Bon Agornin, und ich spreche dich frei und vergebe dir im Namen von Camran und im Namen von Jurale und im Namen von Veld.« Tief in den erlöschenden Augen seines Vaters flackerte ein Lächeln auf, das von Frieden und dann zuletzt wie immer von einem tiefen Staunen erfüllt war. Sooft Penn auch Zeuge davon wurde, konnte er sich doch nie daran gewöhnen. Er fragte sich, was wohl hinter dem Tor des Todes lag, das, ganz egal, wie bereit die sterbenden Drachen auch waren, sie dennoch immer staunen ließ. Er wartete die vorgeschriebene Zeit ab, wiederholte das letzte Gebet dreimal, nur für den Fall, dass die Augen wieder zu wirbeln anfingen. Wie immer geschah nichts dergleichen, tot war tot. Er griff behutsam mit der Klaue zu und fraß die beiden Augen, wie es der Brauch für den Pfarrer vorsah. Erst danach rief er seine Geschwister mit dem rituellen Ruf: »Der gute Drache Bon Agornin hat seine Reise ins Licht angetreten, lasst die Familie sich zum Festmahl versammeln!« Er verspürte keine Trauer, keine Scham, weil er gegen die Lehren der Kirche verstoßen hatte, als er seinem Vater die Absolution erteilte, kein Entsetzen dessentwegen, was sein Vater getan hatte. Er fühlte gar nichts, denn er wusste, dass er sich in einem Zustand der Erschütterung befand und dass es ihm, sobald sich dieser wieder gebessert haben würde, lange Zeit sehr schlecht gehen würde.
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2 . Der Salon Nachdem die Ärzte gegangen waren und Bon Agornin sich in Penns Begleitung zum Sterben in die Unterhöhle zurückgezogen hatte, hatte sich die ganze Familie in der oberen Höhle versammelt. Zusätzlich zu Bons vier hinterbliebenen Kindern bestand die Gruppe aus dem Erlauchten Daverak, Berends Gatten, den drei Drachenkindern, Früchten ihres ersten Geleges, die mittlerweile vier Jahre alt waren, sowie dem ortsansässigen Pfarrer, dem Gesegneten Freit. Ebenfalls eingestellt hatte sich die alte Dienerin Amer, um alle zu bedienen. Ihre Schwingen waren selbstverständlich gefesselt, dank des ihr entgegengebrachten langjährigen Vertrauens sowie den lockeren Umgangsformen der Familie aber kaum fester als die des Pfarrers. Keiner von ihnen kam an die volle Länge des alten Bon heran, selbst der Erlauchte Daverak maß von Kopf bis Schwanzspitze höchstens zwölf Meter. Aber dennoch können elf normal große Drachen und drei Drachenkinder jeden Raum mit Ausnahme eines Ballsaales winzig erscheinen lassen. Darum hatte man sich nach den ersten Begrüßungen und Klagen darüber, wer den weitesten Weg hatte zurücklegen müssen, in zwei Gruppen aufgeteilt. Die Erste, die aus Berend und ihrer Familie sowie dem Gesegneten Freit bestand, begab sich in den eleganten Salon rechts vom Eingang, und der Rest zog sich ins Esszimmer zurück. Sie konnten nichts tun als warten und streiten, und sie hätten genauso gut in ihren eigenen Wohnsitzen bleiben und auf den Ruf warten können, um sich dann aus der Luft auf den Leichnam zu stürzen. Aber es heißt, dass die Drachen dies nur in längst vergangenen Zeiten taten, und darum wissen sie es heute besser und bauen Höhlen und Unterhöhlen, um sich dann in die Unterhöhle zurückziehen zu können, um dort in Frieden zu sterben. Das bedeutet natürlich, dass nur die von ihnen Auserwählten sich seinen Leichnam teilen
6 können. Dennoch fällt die Vorstellung schwer, dass eine gewisse Zivilisation und moderne ethische Grundsätze zu einer solch endlosen Warterei führen sollten, wie sie Bon Agornins Familie aufgezwungen wurde. Der Salon war aus demselben dunklen Felsgestein herausgeschlagen wie der Rest des Wohnsitzes. Man hatte ihn nicht mit hellen Kieseln verschönert, wie es in Irieth Mode war, denn die Eigentümer dieses Haushaltes hatten von diesem Brauch noch nie gehört und es für das Beste gehalten, den Felsen für sich sprechen zu lassen. Hier und dort waren Landschaften eingeritzt, wie man sie aus der Luft sah. Bon Agornin hatte die Arbeiten gestattet, da sie nichts gekostet hatten. Sie waren von den jungen Damen des Hauses erschaffen worden, vor allem von Haner, die sich auf diesem Gebiet für talentiert hielt. Der Erlauchte Daverak, der seinen Landsitz und die andere Wohnung in Irieth, die sie in den zwei Monaten des Jahres bewohnten, in denen in der Hauptstadt die Saison stattfand, prächtig dekoriert hatte, schien da anderer Meinung zu sein, denn er schenkte den Bildern nur einen kurzen Blick und ließ sich dann bei der Tür nieder. Seine Gattin Berend oder auch die Erlauchte Daverak, wie sie nun dank des Titels ihres Mannes angesprochen wurde, war da weniger kritisch, denn sie lobte ihren Dienern und Kindern gegenüber die Schönheit des neuesten der Bilder enthusiastisch und beklagte, dass sie in ihrer Jugend nichts auch nur halbwegs so Schönes gehabt hätten, so als wäre das dreihundert Jahre her statt nur sieben. Als die Gemälde auch den letzten Rest ihres Interesses erschöpft hatten, machte sie es sich in einer Nische unter dem riesigen Felsensims bequem, auf dem ein paar Steinstatuetten standen; wie in einer Oberhöhle zu erwarten, waren sie nicht besonders wertvoll, verfügten aber trotzdem über einen gewissen Reiz. Der Gesegnete Freit begab sich an Berends Seite, nachdem sie das rastlose Umhergehen eingestellt hatte, bei dem
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sie beinahe alle angestoßen hatte. Er machte es sich neben ihr bequem. Berend wandte den Kopf, um ihn zu mustern. Es war einige Zeit her, seit sie das Heim ihres Vaters das letzte Mal besucht hatte, und sie hatte Freit nicht mehr gesehen, seit sie ausgezogen war und Daverak geheiratet hatte. Die roten Bänder um seine Schwingen, die ihn als Geistlichen auswiesen, waren lang und schleiften über den Boden, seine Zähne waren poliert und beinahe flachgeschliffen. Im Gegensatz dazu waren seine Schuppen solange bearbeitet worden, bis sie in einem hellen Bronzeton schimmerten, als wollten sie all seine widersprüchlichen Ansichten widerspiegeln. Einerseits musste ein Pfarrer demütig sein, andererseits nahm er eine hohe geistliche Position ein, vielleicht sogar die höchste in der Gemeinde. Freit war der festen Überzeugung, dass seine Unantastbarkeit als Pfarrer sowohl seine demütigen Zähne als auch seine schönen Schuppen mit einschloss. Er wäre niemals geflogen, nicht einmal, um eine Schlucht zu überqueren, aber er war nicht der Meinung, rangmäßig auch nur unter einem Drachen des Landes zu stehen, ganz egal, von welch edler Herkunft auch immer er war. Er trug seinen Kopf viel höher als jene, die gegen solche Dinge immun waren. »Was für schöne Drachenkinder«, sagte er jetzt und betrachtete sie verzückt. Vor langer Zeit hatte er die Absicht gehabt, Berend zu heiraten, was den Streit zwischen ihm und ihrem Vater entfacht hatte. Da er dieses Thema ihr gegenüber nie erwähnt hatte, wusste sie offiziell nichts davon, und so konnten sie in der Öffentlichkeit einen höflichen Umgangston miteinander pflegen. Inoffiziell wusste sie es sehr wohl, so wie jede Jungfrau, die ihren Vater gegen einen Freier hatte wettern hören. Sie war mit großem Nachdruck darum gebeten worden, stets im Haus zu bleiben, um nicht entführt zu werden. Sie war gehorsam gewesen, hatte sich jedoch eher geschmeichelt als beleidigt gefühlt. Eine Zeit lang hatte sie sogar gehofft, dass endlich irgendetwas ge 7 schehen würde. Nun, da es anders gekommen war und ihre Schuppen in dem prächtigen Rot einer Ehefrau und Mutter leuchteten, betrachtete sie ihn als ungefährlichen und charmanten Gesprächspartner. Er hingegen betrachtete Berends vornehme Vermählung als Beweis seines guten Geschmacks, und er mochte sie deswegen eher mehr als weniger. Er hatte sich seither noch nicht wieder für eine neue Braut entschließen können, obwohl es für einen erfolgreichen Pfarrer mit eigenem Haushalt keinen Mangel an willigen und hoffnungsfrohen Kandidatinnen gab. »Ja, alle drei aus meinem ersten Gelege«, erwiderte sie und sah mit mildem Blick zu den Drachenkindern, die zu Füßen ihres Kindermädchens spielten. Eines war schwarz, eines war golden und das Dritte so hellgrün, dass es sofort gefressen worden wäre, hätte es sich nicht um das Kind eines mächtigen Adligen gehandelt. »Wie schön für Sie beide«, sagte Freit und deutete mit dem Kopf auf den Erlauchten Daverak, dessen ganze Haltung ein Ausdruck von Ungeduld war und der die Unterhaltung völlig ignorierte. »Meine Mutter hat nie mehr als zwei Eier zur gleichen Zeit ausgetragen«, sagte Berend. »Ich hoffe, beim nächsten Mal werden es wieder drei sein. Je mehr Kinder, desto besser, bei Veld.« »Es ist schön zu sehen, dass Sie den Lehren der Kirche so sehr folgen«, sagte Freit und blickte ihr diesmal in die Augen. »Viele der hiesigen Bauern scheinen zu zögern, überhaupt zu legen.« »Auf Daverak ist es genau dasselbe«, klagte Berend. »Was ist dort?«, fragte der Erlauchte Daverak und sah zum ersten Mal interessiert aus, weil er den Namen seiner Domäne gehört hatte. Er war fast so schwarz wie sein schwarzes Drachenkind und hatte überaus breite Schultern; seine Augen waren so hell, dass sie beinahe rosafarben erschienen. Er war keineswegs ein gut aussehender Drache. Ohne die
7 gebundenen Schwingen hätte jedermann Freit für ein schöneres Exemplar ihrer Gattung gehalten, und Freit freute sich mehr darüber, als für ihn angemessen war. »Wir sprachen über den Mangel an Drachenkindern unter den Bauern und niederen Klassen, mein Lieber«, erwiderte Berend voller Zuneigung.
»Ich weiß nicht, von denen gibt es genug, wirklich genug«, erwiderte der Erlauchte Daverak. »Die Majes auf dem Dammhof hatten erst vor sechs Tagen ein neues Gelege. Wäre dieser verflixte Ruf an unsere Familie nicht erfolgt, wäre ich heute hingeflogen und hätte es mir angesehen.« Berend nahm den Kopf etwas zurück. »Mein Vater liegt im Sterben«, sagte sie würdevoll. »O ja, meine Liebe, wir mussten kommen, das weiß ich doch. Ich habe es nicht böse gemeint«, sagte Daverak und senkte die Schwingen in Richtung seiner Frau, die diese Geste der Reue mit einer winzigen Bewegung ihrer Schwingen erwiderte. »Aber die Majes haben vier Kinder geboren, wie du weißt, und auf diesem kargen Land können sie unmöglich noch vier weitere durchbringen, und ich dachte daran, dem kleinen Lamerak etwas Nahrhaftes nach Hause mitzubringen.« Er zeigte mit der Schwingenspitze auf das grüne Drachenkind. »Er ist ein bisschen blass, wie Ihnen vielleicht aufgefallen ist«, sagte er zu Freit. »Im Augenblick jedenfalls, nur im Augenblick. Er braucht frische Leber. Aber er wird sie auf jeden Fall sowieso bekommen. Daran hat unser Kommen nichts geändert, wenn ich so darüber nachdenke.« Freit erwähnte nicht, dass seine eigene kleine Schwester, die Vorjahren von einem Adligen gefressen worden war, weil sie zu grün gewesen war, durch eine Drachenleber ganz sicher zu Kräften gekommen wäre. Doch hatte es keine gegeben. »Ich bin davon überzeugt, dass Ihr eigener Pfarrer genau wie Sie selbst auf solche Dinge achtet«, sagte er. »Ich tue nur meine Pflicht«, sagte Daverak und faltete die
8 Schwingen. »Ich würde genauso wenig zulassen, dass meinem eigenen schwächlichen Sohn Schwingen wachsen, wie dem geringsten der Bauern. Aber das ist kein Grund, überstürzt zu handeln. In ein oder zwei Wochen wird sich Lamerak völlig erholt haben.« »Veld gibt uns Kinder, und Jurale wacht über die Ordnung der Welt«, sagte Freit und streckte die Arme aus, als würde er predigen. Der Erlauchte Daverak zog den Kopf ein und kam sich zurechtgewiesen vor, und Berend schaute betrübt zur Seite und sagte nichts mehr. Ein unbehagliches Schweigen trat ein, in dem der Lärm der spielenden Drachenkinder sehr laut erschien.
3 . Das Esszimmer Im Esszimmer ging es anfangs sehr fröhlich zu. Der Raum war wesentlich weniger elegant und älter. Aus hygienischen Gründen war der Boden mit modernsten Rinnen ausgestattet worden, ansonsten war er seit der Ausschachtung der Höhle zur Zeit der Unterjochung unverändert geblieben. Die Leute im Esszimmer wussten, dass es nicht Eleganz war, die für ein angenehmes Beisammensein sorgte, sondern die Stimmung der Versammelten. Dank der Auswahl, durch die diejenigen, die einander mochten, zusammengekommen waren, hatten sich alle unerfreulichen Mitglieder der Gruppe im Salon versammelt, und die erfreulichen im Esszimmer. Haner und Selendra waren aus demselben Gelege geschlüpft, waren zusammen im Haus ihres Vaters aufgewachsen, hatten sich nach dem Tod der Mutter gegenseitig getröstet und den Auszug ihrer älteren Schwester und der Brüder mit einer Mischung aus Erleichterung und Charakterstärke ertragen. Beide waren sie alt genug, um zu heira
8 ten, aber die vorteilhafte Heirat ihrer älteren Schwester und der Auszug ihrer beiden Brüder hatten den Goldschatz ihres Vaters sehr geschmälert, und sie waren damit zufrieden gewesen, ihm den Haushalt zu führen und abzuwarten, bis das Vermögen sich wieder vermehrt hatte. Darum fühlten sie sich in dem großen Esszimmer auch ganz zu Hause. Sie waren an die Klagen gewöhnt, dass es hier nirgendwo Nischen gab, in die sie sich zum Schlafen zurückziehen konnten, sodass sie sich im Raum ausstrecken mussten, als wären sie auf einem Feld, aber es war ihr Feld, und sie waren daran gewöhnt, sich auf diese Weise auszustrecken und hätten es vermisst, hätte man Vertiefungen in die Wände geschlagen. Die beiden Schwestern waren entzückt, ihren Bruder Avan jetzt willkommen heißen zu können. Seit er nach Irieth gezogen war, hatten sie ihn immer nur einen Tag lang oder bestenfalls zwei zu Gesicht bekommen, denn seine Arbeit im Ministerium für die Planung und Verschönerung von Irieth hielt ihn
dort sehr beschäftigt. Avan unterhielt sie eine Zeit lang mit Geschichten über sein Leben in der Hauptstadt, strich seine Triumphe heraus und spielte seine Niederlagen so weit herunter, dass sie insgeheim glaubten, dass sie es genauso weit hätten bringen können, hätten sie nur über Klauen verfügt und ihren Weg in der Welt machen können. »Aber du kommst doch jetzt sicher zurück nach Hause, nicht wahr?«, fragte Haner schließlich und wischte sich die Tränen aus den Augen, weil sie so gelacht hatte. »Nach Hause? Du meinst hierher? Das wage ich nicht. Wie kommst du nur auf diese Idee?« Plötzlich wurde sich Avan bewusst, dass die alte Dienerin Amer aufgehört hatte, Haners Schwanz zu polieren, und beide Schwestern ihn anstarrten. »Habt ihr ernsthaft geglaubt, dies sei meine Absicht?« »Nun, ja«, sagte Selendra nach einem schnellen Blick auf ihre Schwester und ihre Dienerin, der ihr verriet, dass keine von ihnen das Wort ergreifen würde. »Wir haben geglaubt,
9 dass du nach Vaters Tod nach Hause kommst und wie er in den Stand des Ehrwürdigen erhoben wirst. Penn ist Pfarrer, davon abgesehen hat er in Benandi ein Haus und eine Frau. Du könntest unseren Haushalt übernehmen ...« »Ich sehe, du hast über alles nachgedacht«, sagte Avan und stemmte sich auf die Füße hoch. »Meine lieben Schwestern, habt ihr vergessen, dass Vater nicht nur über einundzwanzig Meter lang und ein Feuerspucker ist oder vielmehr war, sondern auch fast fünfhundert Jahre alt geworden ist? Ich bin nicht einmal einhundert, kaum sechs Meter lang und habe noch keine Flammen und werde auch so bald nicht darüber verfügen. Ich komme mit meiner Karriere durchaus gut voran, wenn man bedenkt, dass ich sie erst vor zehn Jahren begonnen habe. Ich bekomme bestenfalls zweimal im Jahr Drachenfleisch zu fressen und müsste außerdem meine Karriere an den Nagel hängen. Würde ich mich in den Stand eines Ehrwürdigen erheben, würden sämtliche Ehrwürdige und Erlauchte der Gegend unser Gebiet leerfressen und schließlich auch über uns herfallen, so sicher wie morgens die Sonne aufgeht. Ich könnte sie unmöglich daran hindern, genauso wenig, wie ihr beiden es allein schaffen könntet.« Die beiden Mädchen sahen sich entsetzt an, und Amer stieß einen leisen Angstschrei aus. »Aber was soll denn dann aus... aus unserem Haus werden?«, fragte Selendra, die noch nicht mutig genug war, um über sich selbst zu sprechen. »Ich weiß nicht, warum ihr das nicht Penn gefragt habt, oder Vater«, sagte Avan und verlagerte das Gewicht. Er fühlte sich sichtlich unbehaglich. »Ich bin nicht der Älteste. Niemand fragt bei solchen Dingen nach meiner Meinung. Aber ich wage zu behaupten, dass Daverak es übernimmt, bis eines seiner Kinder alt genug ist, es selbst zu verwalten. Ich glaube, das war Teil der Abmachung, als er Berend heiratete, sollte Vater sterben, bevor ich stark genug bin. Hat euch das denn keiner gesagt?«
9 »Du bist vielleicht nicht der Älteste, aber du bist ein ausgewachsener Drache. Wir sind bloß nutzlose Frauen«, sagte Selendra mit blitzenden violetten Augen. »Wir kommen immer an zweiter Stelle. Niemand sagt uns irgendetwas. Wir werden zweifellos eines Tages für euch das Abendessen sein, und ich hätte gern etwas Zeit gehabt, um mich darauf vorbereiten zu können.« »Wie denn das?«, wollte Avan wissen, unwillkürlich zugleich amüsiert und interessiert. »Indem ich davonfliege«, erwiderte Selendra herausfordernd. »Nein, ich habe euch bloß aufgezogen«, sagte ihr Bruder. »Eure Zukunft ist gesichert. Keine von euch wird verspeist werden. Penn hat mir geschrieben, dass laut Vaters Wünschen das Gold zwischen euch und mir geteilt wird, abgesehen von einem symbolischen Stück für jeden der anderen. Das Haus geht an Berends Kinder. Eine von euch wird bei Berend wohnen, die andere bei Penn.« Amer und Haner stießen leise Schreie aus, und Selendra warf Arme und Schwingen um die Schwester. »Man könnte denken, ich hätte gesagt, ihr werdet auf der Stelle gefressen«, sagte Avan. »Ihr seid die undankbarsten Schwestern, die ein Drache je hatte.« »Kannst du uns nicht aufnehmen?«, fragte Selendra. »Wir haben Irieth noch nie gesehen, aber wir könnten dir den Haushalt sehr schön führen, so wie wir es für Vater getan haben.«
Avan konnte sein Schaudern nicht verbergen, es ließ seine Schwingen erzittern. »Ich habe keinen Platz für euch«, sagte er, was der Wahrheit entsprach, wenn er an seine behagliche Stadtbehausung dachte. »Und Irieth ist kein Ort für Jungfrauen, es sei denn, sie verfügen über Anstandsdamen und bekannte Namen. Ich könnte euch dort genauso wenig beschützen, wie ich es hier kann. Früher oder später würdet ihr als jemandes Nachtmahl von jeman
10 dem enden, oder noch Schlimmerem. Bei Penn und Berend seid ihr sicher.« »Sicher, aber getrennt«, sagte Haner in einem Tonfall, der ihrem Bruder verriet, dass das in der Tat eine Tragödie war. »Du weißt, dass Selendra so impulsiv und ich so nachdenklich bin, dass, wenn wir getrennt werden, keiner zu sagen vermag, was sie tun wird, während ich gar nichts tun werde.« »Und Berend kann mich nicht leiden«, fügte Selendra hinzu. »Nun, dann solltest du zu Penn gehen, Sei«, sagte Avan so gelassen, wie er nur konnte. »Penn hat eine Frau, die für uns eine Fremde ist«, sagte Selendra. »Und sie haben bereits zwei Kinder, also wird sie vermutlich froh über jede zusätzliche Hilfe sein. Du bist wirklich weitaus besser dran als die meisten anderen Jungfrauen an deiner Stelle.« »Wieso?«, fragte Selendra. Avan wusste mehr darüber, als seine Schwestern jemals erfahren durften, sodass er nur langsam den Kopf schüttelte und seine goldenen Augen warnend kreisen ließ. »Ich glaube, ich könnte alles ertragen, wenn wir nur zusammen sind«, sagte Haner, und sie brach mitten im Satz in Schluchzen aus. »Du wirst bald verheiratet sein«, sagte Avan. »Hat Daverak nicht etwas von einem seiner Freunde und dir erzählt?« Bei dem Gedanken an Londaver, dem Freund ihres Schwagers, heiterte sich Haners Stimmung etwas auf. Aber sie ließ ihre Schwester nicht los. In diesem Augenblick, in dem in beiden Höhlen Stille herrschte, erscholl Penns Ruf aus der Unterhöhle, dass Bon Agornin in die letzte Dunkelheit eingetaucht sei.
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4. "Ein ungehöriges Benehmen in der Unterhöhle Bon Agornin und sein Schwiegersohn hatten sich nicht immer gut verstanden. Der Erlauchte Daverak war darüber unterrichtet und sogar um Rat gefragt worden, als es darum ging, das Vermögen seines Schwiegervaters aufzuteilen. Man hatte ihm jedoch nichts über die Verteilung des Toten gesagt. Doch daran trugen weder Daverak noch der alte Bon selbst irgendwelche Schuld, denn für jeden von ihnen war die Angelegenheit klar gewesen - Bon war davon ausgegangen, dass seine Leiche genau wie sein Vermögen gerecht verteilt werden würde, und Daverak war davon ausgegangen, dass sie zu gleichen Teilen unter der Familie aufgeteilt werden würde. Darum war für ihn klar, dass der arme kleine Lamerak die Leber bekam. Bon betrachtete seinen Körper als Teil seines Vermögens, möglicherweise, weil er auf die verworfene Weise für sein enormes Wachstum gesorgt hatte, die er Penn gebeichtet hatte; als einen Teil, den er weitergeben wollte, um seinen Kindern vorwärts zu helfen. Für den Erlauchten stellten der Leichnam eines Drachen und , das Gold eines Drachen zwei so fundamental unterschiedliche Dinge dar, dass er gar nicht auf die Idee gekommen wäre, dies extra zu erwähnen. Als der Ruf erscholl und sich die Familie versammelte, um nach dem Verstorbenen zu sehen, setzte sich aufgrund der Anordnung der Höhlen die Gruppe aus dem Salon vor der Gruppe aus dem Esszimmer in Bewegung. Der Erlauchte Daverak, der an der Tür gelegen hatte, führte sie an. Direkt hinter ihm kam der Gesegnete Freit, dann die Drachenkinder, die die Erlauchte Berend vor sich her trieb. Dann folgten Avan und seine Schwestern aus dem Esszimmer. Die Diener blieben natürlich oben, wo Amer ausreichend Beschäftigung fand und Berends Bedienstete sich gegenseitig Luft zufächelten und über ihre Herrschaft klatschten. Penn wartete im Eingang zur Unterhöhle, den Kopf vor
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Trauer so tief gesenkt, dass er den Erlauchten Daverak erst erkannte, als dieser schon dicht vor ihm stand. In der Unterhöhle war nicht mehr Platz als für drei Personen, also trat der Erlauchte Daverak ein und die anderen warteten draußen, die meisten in höflichem Schweigen. Nur die Kinder stießen bisweilen ungeduldige kleine Zischlaute aus. »Unser Vater Bon ist tot«, sagte Penn. »Wir müssen nun seine Überreste zu uns nehmen, damit wir durch seine Kraft erstarken und uns immer an ihn erinnern.« Bei diesen Worten senkte der Erlauchte Daverak ein Stück den Kopf, dann riss er das Bein seines Schwiegervaters ab, schüttelte die wenigen haften gebliebenen Schuppen ab und aß einen großen Bissen davon. Bis dahin erhob Penn keine Einwände, aber als er einen weiteren Bissen essen wollte, der nicht kleiner als der erste war, hielt er gebieterisch die Klaue hoch. »Sicherlich haben Sie genommen, was vereinbart war, Bruder«, sagte er ruhig. »Vereinbart?«, fragte der Erlauchte Daverak, denn seiner Meinung nach hatte es keinerlei Vereinbarung gegeben. Er nahm noch einen Bissen, von seinem Kinn tropfte Blut. »Wovon sprechen Sie?« »Sie und Berend und ich sollten uns jeder einen Bissen nehmen und den Rest unseren weniger großen Brüdern und Schwestern überlassen«, sagte Penn gereizt wie ein Drache, der gerade seinen Vater unter aufreibenden Umständen verloren hatte. »Nein, Gesegneter Penn, diese Vereinbarung bezog sich auf sein Gold.« Der Erlauchte Daverak lachte sogar, als er den nächsten Bissen verzehrte, denn er glaubte wirklich, was er gesagt hatte, und fand Penn einfach lächerlich. »Hören Sie sofort auf«, sagte Penn und wollte sich zwischen seinen Schwager und die Leiche seines Vaters drängen. »Sie haben bereits mehr genommen, als abgemacht war. Legen Sie dieses Bein wieder zurück.«
11 »Unsinn«, sagte der Erlauchte Daverak. »Wenn Sie sich dazu entschlossen haben, nichts zu nehmen, einverstanden, aber ich werde den Anteil eines Sohns und eines Adligen nehmen, und das gilt auch für Berend und meine Kinder.« Penn hatte nur wenige Möglichkeiten. Hätte er kämpfen wollen, so war der Erlauchte volle drei Meter länger, auch wenn noch keiner von ihnen über die Macht der Flamme verfügte. Daverak war ein Adliger und erfüllte seine Pflicht/ wenn es darum ging, die überflüssigen Drachenkinder und die schwache und überzählige Bevölkerung seiner Ländereien zu verschlingen. Das hätte Penn in diesem Augenblick keineswegs abgehalten, wäre er nicht ein Gesegneter gewesen, ein unberührbarer Pfarrer, dessen Schwingen gebunden waren. Er konnte weder kämpfen noch herausfordern, solange er seinen Beruf ausübte. »Hören Sie auf im Namen der Kirche, oder Sie werden bestraft«, sagte er darum. Der Erlauchte Daverak hörte mit offen stehendem Maul zu. Dann wandte er sich zur Tür um, wo der Gesegnete Freit stand und sich kein Wort entgehen ließ. Nach ihrer Unterhaltung im Wohnzimmer hatte Daverak keine hohe Meinung von Freit, aber jetzt mochte er immerhin als Zeuge dienen. »Kann er das tun?«, verlangte der Erlauchte Daverak zu wissen. »Ja, sagen Sie es ihm«, sagte Penn, und seine silbernen Augen wirbelten so schnell, dass sie Freit beinahe schwindelig machten. Freit sah von dem wütendem Pfarrer zu dem wütenden Erlauchten und spreizte leicht seine Schwingen. Er war nicht der Pfarrer eines Erlauchten, sondern Pfarrer der Gemeinde von Untertor, einem großen Gebiet, das sechs Domänen umfasste, von denen Agornin nur eine war. Nicht zuletzt das hatte ihm seine Unabhängigkeit verschafft und auch sein aufgeblähtes Ego. Seit fünfzig Jahren hatte er stets seinen An
11 teil als Pfarrer bekommen, seinen Anteil an den Augen der Toten und Unwürdigen von Untertor, und er hatte es getan, ohne einen der Ehrwürdigen zu verärgern, unter denen er diente, mit Ausnahme von Bon Agornin, als er einst um die Hand seiner Tochter angehalten hatte. Jetzt war dieser tot, und beide Parteien wandten sich an ihn.
»Die Tradition spricht für den Erlauchten Daverak«, sagte Freit. Penn senkte zustimmend die Schwingen. »Aber wir sprechen hier nicht von der Tradition, sondern von den Wünschen meines Vaters«, sagte er. »Die er wie zum Ausdruck gebracht hat?«, fragte Freit. »Indem er mir schrieb, und dann, als er krank wurde, es mir, Avan und dem Erlauchten Daverak sagte. Und mir gegenüber äußerte er sich heute in der Unterhöhle darüber. Berend und ich und der Erlauchte Daverak als Berends Mann sollten jeder nur einen Bissen bekommen, da wir alle gut versorgt sind, und den Rest unseren Brüdern und Schwestern überlassen, die es dringender brauchen.« »Er hat immer nur von seinem Vermögen gesprochen«, sagte der Erlauchte Daverak und sah sich verächtlich in der Unterhöhle um, in der Bon Agornins spärlicher Reichtum inmitten des Blutes und der abgefallenen Schuppen unter seinem Leichnam lag. »Von seinem Gold, das noch da ist, nicht seinem Körper.« »Möglicherweise hat er das schriftlich nicht eindeutig zum Ausdruck gebracht«, sagte Penn. »Ich verstehe nun das Missverständnis. Aber heute hat er sich sehr deutlich ausgedrückt.« »Was hat er denn genau gesagt?«, fragte Freit, der sich prächtig amüsierte. Penn rief sich die genauen Worte seines Vaters ins Gedächtnis. »Ich war es, der es erwähnte«, gab er zu. »Mein Vater machte sich Sorgen, und ich nahm an, dass es wegen unserer Geschwister war, die noch seine Hilfe brauchen, und
12 ich wollte ihn beruhigen, indem ich ihn daran erinnerte, dass alle gut von ihm versorgt seien.« Freit hatte seinen Ausschluss vom Totenbett übel genommen, und als er jetzt erfuhr, dass Bon Agornin besorgt gewesen war, erzürnte ihn das noch mehr. Er wäre hoch erfreut gewesen, Bon am Ende noch quälen zu können, denn der Ehrwürdige hatte ihn bei seinem Antrag um Berend schwer beleidigt. Er fand den Erlauchten Daverak nicht sonderlich sympathisch, aber plötzlich überkam ihn ein tiefer Widerwille gegenüber Penn, der ihn um den ihm zustehenden Platz gebracht und der Augen beraubt hatte, auf die er sich schon gefreut hatte. »Wenn er es nicht ganz genau formuliert hat, dann fürchte ich, muss die Tradition befolgt werden«, sagte er. »Was er gesagt hat, entsprach dem, was vorher vereinbart worden ist«, beharrte Penn. »Was genau hat er denn gesagt?«, wollte Freit wissen und lächelte auf eine üble hämische Weise, die seine Zähne bloßlegte. »Wenn Sie mir jedes Wort wiederholen können, das er auf dem Totenbett gesagt hat, dann kann ich das vielleicht beurteilen. Aber so ...« Er ließ den Rest des Satzes mit einem Schwingenzucken offen. Einen Moment lang rang Penn mit sich, dann ließ er die Schwingen hängen. Er konnte nicht jedes der Worte seines Vaters wiederholen, nicht nur wegen der Schändlichkeiten, sondern auch, weil er ihm die Beichte abgenommen hatte, die den alten Gesetzen zufolge niemandem enthüllt werden durfte, und die den neuen Verhaltensregeln nach von keinem Pfarrer mehr abgenommen werden durfte. »Die Tradition muss befolgt werden«, wiederholte Freit. Der Erlauchte Daverak warf das zur Hälfte verspeiste Bein in Frelts Richtung. Er ging um Penn herum und übersah ihn vollständig. Dann riss er mit beiden Vorderklauen Bons Leib auf und entblößte dessen Leber. »Kommt her, Kinder«, rief er, und die drei Drachenkinder liefen in ihrer Gier, den
12 Leckerbissen zu bekommen, den ihr Vater ihnen da bot, zwischen Frelts Beinen hindurch. »Nein, aufhören, ich bestehe darauf«, sagte Penn. Aber sie hörten nicht auf, und die Leber war verschlungen, als der Erlauchte Daverak und seine Kinder wieder gingen. Freit nahm das zu Boden gefallene Bein und nagte es ab, wobei er Penn die ganze Zeit über anlächelte. Penns Augen rotierten noch immer wie wild, aber er sagte kein Wort mehr. Dann trat Berend ein, wie immer mit kleinen zierlichen Schritten. Sie seufzte, als sie Penn sah, und ihm war klar, dass sie den ganzen Streit mitbekommen hatte und fragte sich, wie sie wohl reagieren würde. Sie beugte sich vor und nahm einen Bissen aus der Brust - einen sehr großen Bissen. Es war ein Bissen,
der sowohl Penns Worte als auch die Hartnäckigkeit ihres Mannes befriedigte. Sie konnte Penn gegenüber behaupten, dass es bloß ein Bissen war, aber sie konnte ihrem Mann erzählen, dass sie den größten Teil der Brust gefressen hatte. Es war ein sehr diplomatischer Biss, und trotz allem beeindruckte es Penn, dass sie zu einer solchen Finesse fähig war. Berend bückte sich und hob einen goldenen Becher auf, der ihr schon immer gefallen hatte, denn sie hatte es sich überlegt und wollte hier nicht mehr übernachten, sondern so schnell wie möglich nach Daverak zurückkehren, um weitere Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Sie lächelte und folgte ihren Kindern, machte den anderen Platz. Penn wäre beinahe in Tränen ausgebrochen, als die drei weniger etablierten Kinder von Bon die Unterhöhle betraten, denn jetzt war kaum mehr als die Hälfte der Leiche ihres Vaters noch übrig.
13 EINIGE WEITREICHENDE ENTSCHEIDUNGEN
5. Avans 'Klagt »Wir sind bestohlen worden«, wütete Avan, »man hat uns unseres Erbes beraubt, uns dessen beraubt, was unser Vater uns rechtmäßig hinterlassen wollte, und das werde ich nicht hinnehmen.« »Es ist unmöglich, es dem Magen des Erlauchten Daverak wieder zu entreißen«, bemerkte Selendra. »Ich würde es tun, wenn ich es könnte, und dieses große Stück, das Berend abgebissen hat, auch«, sagte Haner. Der so diplomatisch gemeinte Bissen ihrer Schwester ärgerte Haner viel mehr als die Unverschämtheit ihres Schwagers. Schließlich war Daverak immerhin ein Erlauchter, während Berend ihrer Herkunft nach keineswegs besser als sie war. Selbst in jenen Tagen hatte der Titel eines Erlauchten große Macht, zumindest über Jungfrauen und die leichter zu beeindruckenden Bauern. Alle drei jüngeren Geschwister hatten sich an der Leiche
13 des Vaters gütlich getan, wenn auch nicht gerade satt gegessen, und sie fühlten die Kraft und den Mut, die ein solches Mahl mit sich brachten. Und nun hatten sie sich auf dem Hohen Sims versammelt, als wollten sie sich von dort aus in die Tiefe stürzen und ins Nichts fliegen; natürlich hegten sie keine derartigen Absichten. Sie waren gekommen, um ihre Schwester zu verabschieden. Berend und ihr Gefolge waren nach Daverak aufgebrochen, das Erlauchte Paar flog, und der Rest folgte ihnen in der Kutsche. Haner, die sie eigentlich noch an diesem Abend hätte begleiten sollen, hatte darum gebeten, ihre Abreise verschieben zu dürfen. Berend hatte auf ihren Mann eingewirkt, dem zuzustimmen. Der Erlauchte Daverak hatte sich ein wenig geziert, aber alle wußten, dass das bloß dem äußeren Anschein diente, denn er musste sowieso noch einmal zurückkehren, um das Haus offiziell in Besitz zu nehmen, und konnte Haner jederzeit nach Daverak begleiten. Die dünne Schicht der Höflichkeit über der tiefen Wunde des Zorns hatte bis zur Abreise gehalten. Sobald der Erlauchte Daverak abgeflogen war, hatte Penn Freit zur Pfarrerspforte gebracht, um ihn schnell zu verabschieden. Die anderen drei waren geblieben, wo sie waren, und der Zorn hatte die Beherrschung durchbrochen, und nun endlich konnten sie sich noch einmal in Ruhe dem Anblick hingeben, den sie alle so gut kannten und den sie bald für immer hinter sich würden zurücklassen müssen. Die Sonne ging von Wolken umgeben im Westen des Tales unter und setzte die Biegungen und Windungen des Flusses in Flammen; sie war noch immer hell genug, dass sie die Augen mit den äußeren Lidern schützen mussten. Es war der letzte Tag des Monats Hochsommer. Das Getreide auf den rechteckigen Feldern, die sich unter ihren Augen wie ein grüngoldener Flickenteppich erstreckten und von Hecken getrennt wurden, stand in voller Pracht. Hier und dort konnte man niedrige Gebäude mit roten Ziegeldächern
13 erkennen, Ställe für das Rindvieh und Koppeln für die Schweine. Es gab keine Drachenbehausungen, denn Agornins Bauern lebten alten Traditionen zufolge in ihrem eigenen Flügel im Haushalt des Ehrwürdigen. Unsichtbare Vögel zwitscherten im dichten Laub ihr Abendlied, das gelegentlich vom Ruf
eines Hammels auf den unteren Hängen des Berges unterbrochen wurde. Berend und Daverak, die nach Süden aufgebrochen waren, waren schon fast außer Sicht. Ihre Kutsche folgte ihnen auf der Straße nach, dem in der Ferne liegenden Bogen der Brücke entgegen. »Immerhin bekommen wir das Gold«, fuhr Haner nach einem Augenblick fort. »So wenig es auch ist«, sagte Avan. Das Gold war gezählt und geteilt und sein Wert geschätzt worden, und es gab für jeden von ihnen etwa achttausend Kronen. »Und für jemanden in meiner Position ist viel leichter an Gold heranzukommen als an Drachenfleisch und das gilt auch für euch. Ich vermute, dass Vater euch gelegentlich etwas verschafft hat, aber das wird es wohl nicht mehr geben.« »Penn hat nichts weiterzugeben«, sagte Selendra traurig, aber fest entschlossen, ihren Bruder, den Geistlichen, zu verteidigen. »Und was dich angeht, Haner, wir alle haben gerade ein Beispiel für Daveraks Großzügigkeit erlebt«, sagte Avan. »Ich wünschte, ich könnte euch mit nach Irieth nehmen, aber das ist einfach unmöglich. Sollte ich mich je endgültig niederlassen, werde ich euch auf der Stelle zu mir kommen lassen.« Die Schwestern betrachteten die Landschaft, ihre Augen drehten sich langsam. »Das ist nett«, sagte Selendra schließlich. »Aber du wirst deine Meinung wohl auf keinen Fall ändern wollen und doch hier bleiben?« »Das wäre Wahnsinn«, erwiderte Avan. »Wäre ich doppelt so lang, dann könnte ich es riskieren und würde keine Rücksicht auf die Umstände nehmen. Das war es, worauf unser Vater, gesegnet seien seine Gebeine, gehofft hatte, aber er
14 hat nicht lange genug gelebt. Und es würde nicht funktionieren, wie ich euch schon erklärt habe.« »Aber du würdest doch die Schwächlinge bekommen«, meinte Haner. »Du würdest wachsen.« »In einer Domäne dieser Größe gibt es nicht viele Schwächlinge. Soll ich etwa solch ein Ehrwürdiger werden wie Monagol, der sich nach jeder Geburt vom Himmel stürzt und sich ein Drachenkind schnappt, ob es nun ein Schwächling ist oder nicht, und einfach behauptet, die Familie könnte nicht so viele ernähren? Möchtest du das? So darf sich ein ehrenwerter Drache nicht benehmen. Dafür gibt es keine Rechtfertigung. Obwohl, wenn ich daran denke, wie sich Daverak benommen hat, könnte ich ihn zu einem Häufchen Asche verbrennen.« Beide Schwestern erkannten die leere Drohung, denn sie wußten, dass es noch viele Jahre dauern würde, bis ihr Bruder über die Flamme verfügen würde. Haners silberne Augen füllten sich mit Tränen, denn es war ein Ausdruck gewesen, den ihr Vater sehr gemocht hatte. Selbst bei Bon Agornin war das viel öfter eine leere Drohung geblieben, aber als sie die Tränen fortzwinkerte, konnte sie die Narbe im Kornfeld sehen, wo ihr Vater vor etwa sechs Jahren einen aufsässigen Bauern verbrannt hatte. »Aber vielleicht kann ich doch etwas tun.« Avan schlug mit den Schwingen. »Ich könnte ihn vor Gericht bringen.« »Gericht?«, fragte Haner erstaunt. »Würde das denn nicht schrecklich viel Geld kosten?« »Du hast doch selbst gesagt, dass wir das Gold haben«, meinte Avan. »Und wir haben das Recht auf unserer Seite. Ich habe einen Brief von meinem Vater, in dem eindeutig steht, dass wir drei uns sein Erbe teilen sollen. Man könnte den Erlauchten Daverak zwingen ...« »Zu was denn?«, unterbrach ihn Sei. »Er kann uns nicht das zurückgeben, was er sich genommen hat, und wie sollte er uns sonst entschädigen? Wo sollte er die Leiche eines aus 14 gewachsenen Drachen hernehmen, die er uns überlässt? Es handelt sich wohl kaum um ein Verbrechen, für das man ihn hinrichten würde. Und wir würden damit unsere Schwester zur Witwe machen und seinen Kindern den Vater nehmen.« »Die Gerichte verteilen die Leichen von Hingerichteten, die nicht den Opfern zustehen, um in Fällen wie bei unserem für Entschädigung zu sorgen«, erklärte Avan und erhob sich in seiner Aufregung ein Stück vom Boden. »Sie würden Daverak nicht hinrichten, natürlich nicht, aber sie würden ihn bezahlen
lassen und uns einen der übrig gebliebenen Kriminellen zuteilen. Wenn man uns Recht gibt. Daverak muss einfach zahlen. Wir können nicht verlieren.« »Wie viel würde das kosten?«, fragte Selendra und brachte ihren Bruder mit einem Ruck auf den Boden der Tatsachen zurück. »Du hast selbst gesagt, dass wir nicht viel Gold bekommen haben. Unsere Anteile dürften gerade mal eben für die Mitgift für Haner und mich ausreichen, wenn wir keine reichen Drachen heiraten wollen. Du kannst dich selbst ernähren, wir Jungfrauen können das nicht. Das Gold und wir selbst sind alles, was wir haben. Ich hätte lieber das Geld als das Fleisch, falls es zu einer Entscheidung kommen sollte.« »Eine Klage ist teuer, ja, und sie wird mehr als meinen Anteil kosten«, sagte Avan und ließ sich kleinlaut auf dem Sims nieder. Er hatte bereits etwas Gold zusammentragen können, das er zu seinem Erbe dazulegen konnte. »Ich hatte nicht vor, euch darum zu bitten, etwas dazuzusteuern.« Es war die Wahrheit gewesen, als er behauptet hatte, in Irieth käme man leichter an Gold als an Drachenfleisch, aber seine letzte Behauptung war eine höfliche Lüge. Er hatte überschlagen, dass sie eine Klage ihr ganzes gemeinsames Erbe kosten würde. Aber wie er nun so mit seinen beiden schönen Schwestern auf dem Sims hockte, war ihm bewusst geworden, dass er sie keinesfalls berauben wollte.
15 »Wäre es nicht besser, ihn vorher höflich um eine Entschädigung zu bitten?«, fragte Haner. »Penn hat es mit Höflichkeit versucht und es hat nichts gebracht. Nein, dazu braucht man den energischen Brief eines Anwalts, und wenn das nicht ausreicht, müssen wir ihn vor Gericht bringen, um das zu bekommen, was er uns schuldet.« Avan fühlte sich zwanzig Meter lang, als er das sagte, der mutige Beschützer seiner Schwestern, ein Drache, den man fürchten musste.
6. Frelts Absichten Das Pfarrhaus des Gesegneten Freit lag vielleicht zehn Flugminuten östlich von Agornin, jenseits des Berges. Wegen der Unwegsamkeit des Terrains bedeutete das einen zwei- bis dreistündigen Fußmarsch. Hätte man Freit zur Übernachtung eingeladen, hätte er es abgelehnt, aber er fand es etwas anmaßend von dem Clan, ihn hinauszuwerfen und ihm als Erfrischung nicht mehr als das zur Hälfte abgenagte Bein zu überlassen, das ihm Daverak in der Unterhöhle zugeworfen hatte. Bei einem anständigen Totenschmaus reichte man dem Pfarrer zusätzlich zu den ihm zustehenden Augen des Verblichenen etwas Obst und Bier. Als er sich höflich verabschiedete und die steile Straße betrachtete, die er jetzt unter die Beine nehmen musste, und man ihm nicht einmal etwas zu trinken anbot, hatte er das Gefühl, einen hohen Preis für seinen eben errungenen Sieg bezahlen zu müssen. Penn hatte sich von Freit so kurz und förmlich wie möglich verabschiedet. Ihm war Berends Eile nicht entgangen, ihre Familie so schnell wie möglich nach Hause zu bringen, und er hatte ein gewisses Maß an Verständnis dafür. Für gewöhnlich war er ein friedfertiger Drache; er hasste Streit. Selbst bevor er Pfarrer wurde, hatte er nur selten einen Kampf provoziert. Jetzt jedenfalls wäre ein längeres Verweilen äußerst
15 unklug, das die Flamme der Animosität nur schüren würde. Penn kannte sich gut. Nachdem er nun seit ungefähr einem Jahr in seiner eigenen Pfarrei lebte, in der ihm seine Frau das Essen brachte, das er in seinem eigenen gemütlichen Esszimmer verspeiste, konnte er den Anblick des Gesegneten Freit oder selbst des Erlauchten Daverak mit Gelassenheit ertragen. Im Augenblick konnte er sich jedoch nur mühsam davon abhalten, Freit im Namen der Götter zu verabschieden, ohne ihn in Stücke zu reißen. »Und ich wünsche Ihnen eine gute Heimreise nach Benandi«, sagte Freit mit einer Herzlichkeit, die Penn misstrauisch stimmte. »Ich bleibe noch ein oder zwei Tage, dann nehme ich meine Schwester Selendra mit«, erwiderte Penn gezwungenermaßen. »Nur Selendra?«, fragte Freit. »Und was wird aus Haner?« Penn kniff die Augen zusammen, seine Krallen krümmten sich unwillkürlich. Die Andeutung in Frelts Frage, dass die Familie Haner sich selbst überlassen könnte, erfüllte ihn mit Zorn. Dann erinnerte er sich
an die Beichte seines Vaters. Ein Drache, dessen Vater die eigenen Geschwister gefressen hatte, hatte kein Recht, sich über die Andeutung aufzuregen, er würde die Seinen im Stich lassen. »Haner wird in Zukunft im Haus des Erlauchten Daverak leben«, sagte Penn so ruhig und friedfertig, wie es sich für einen Pfarrer ziemte. »Dann wünschen Sie ihnen in meinem Namen eine schöne Reise. Möge Jurale geben, dass keine von ihnen unterwegs müde oder durstig wird.« »Danke«, sagte Penn, obwohl er genau verstanden hatte, dass Freit hoffte, Erfrischungen für seine eigene kleine Reise zu bekommen. Soll er doch aus Pfützen trinken, dachte Penn, als er seinen Arm zu einer höflichen Abschiedsgeste hob. Schäumend vor Zorn machte sich Freit auf den steinigen Weg. Es würde beinahe dunkel sein, wenn er zu Hause an
16 kam und er hatte den Dienern vor seinem Aufbruch für den ganzen Tag freigegeben. Wie sehr er sich doch wünschte, ihn würde eine Frau erwarten, die bereits ein warmes Essen und frisches Obst für ihn aufgetischt hatte. Er konnte sich eine Gemahlin leisten. Seine Eltern hatten ihm nur wenig Gold hinterlassen, aber seine Gemeinde blühte und gedieh, und er pflegte keine teuren Gewohnheiten. Er hatte alles vor sieben Jahren sorgfältig durchdacht, als er um Berend geworben hatte. Es gab nicht den geringsten Zweifel, dass er eine Frau ernähren konnte, und auch Kinder, wenn es nicht zu viele wären. Eine Frau wäre ein großer Vorteil für ihn gewesen. Aber nach seiner Enttäuschung hatte er es nicht wieder versucht. Seine Fehde mit dem alten Bon hatte ihn zu sehr in Anspruch genommen. Davon abgesehen hatte es in seinem Distrikt niemanden gegeben, der hübsch genug gewesen wäre, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Sein Auge war eben zu scharf, dachte er und ging weiter, sein Geschmack zu gut. Seine erste Wahl war zu einer Erlauchten aufgestiegen. Man konnte nicht von ihm erwarten, sich danach mit einer Bauerntochter zufrieden zu geben, oder - noch schlimmer - der Tochter eines Ehrwürdigen, die doppelt so alt war wie er und schon etwas verbittert war. Aber seit Berends Hochzeit hatte es in seinem Distrikt nur solche gegeben. Vielleicht sollte er im Frühling einmal nach Irieth reisen und sich dort die Jungfrauen ansehen, die von ihren Müttern auf dem Heiratsmarkt präsentiert wurden, und sich eine aussuchen. Sie konnten alle behaupten, einen Erhabenen oder Glorreichen oder Vornehmen haben zu wollen, um sich dann mit einem Erlauchten zufrieden zu geben, aber es gab weitaus mehr Jungfrauen als Glorreiche, um alle damit zu beglücken. Er wusste genau, dass viele von ihnen froh sein würden, einen wohlhabenden Pfarrer heiraten zu können, der neun Meter lang war und bereits angefangen hatte, Reichtum anzuhäufen, den er seinen Kindern hinterlassen konnte.
16 Er marschierte weiter bergan und die untergehende Sonne wärmte seinen Rücken. Ihn störten die roten Bänder nicht, die seine Schwingen banden. Er war stolz auf sie, stolz darauf, sie ertragen zu können. Er kannte einige Pfarrer, denen diese Unbequemlichkeiten zu viel geworden wären. Sie hätten sie einfach entfernt und wären nach Hause geflogen. Freit war stolz darauf, dass er es nicht tat, dass seine Frömmigkeit in einem Gehorsam zum Ausdruck kam, der das Gesetz bis zum letzten Buchstaben erfüllte. In Tiamath gab es noch ein paar Pfarrer, die jeden Tag flogen, die die Bänder nur zur Predigt trugen, und er verurteilte sie, wie es jeder rechtschaffene Drache tat. Es waren nur wenige, aber es gab viele, die die Bänder trugen, bis die Umstände schwieriger wurden, bis die Bänder zu scheuern anfingen, bis sie einen langen Weg bergauf vor sich hatten. Freit verurteilte sie alle. Pfarrer unterlagen der Unberührbarkeit und als Zeichen waren ihre Schwingen mit Rot gebunden und darum gingen sie zu Fuß. Er hielt nichts von den Radikalen, die verlangten, jeder solle am Ersten Tag zu Fuß gehen, obwohl er schon fand, dass es ein Zeichen guter Manieren war, wenn man zu Fuß zur Kirche ging, solange der Weg nicht zu schwierig war. Aber Pfarrer sollten immer gehen, selbst wenn es unbequem war, und Freit tat das unbeirrbar. Er wünschte, er wäre nicht alleine, er hätte jemanden, der davon beeindruckt war, oder jemanden zu Hause, der auf ihn wartete, um ihm etwas zu trinken zu bringen und seine Standhaftigkeit zu bewundern
und über die Entfernung zu staunen, die er zurückgelegt hatte. Jemand wie eine Gemahlin. Berend hatte er verloren, aber er brauchte eine Frau. Zum ersten Mal kamen ihm Berends Schwestern in den Sinn. Er hatte ihnen nie viel Aufmerksamkeit geschenkt. Als er um Berend geworben hatte, waren sie noch Kinder gewesen, und seit sie erwachsen waren, hatte es nicht viel Kontakt zwischen der Gemeinde und Agornin gegeben. Er hatte sie nur selten gesehen, wenn man einmal vom Gottesdienst
17 absah. Aber heute waren sie ihm aufgefallen, und sie beide waren hübsch und in heiratsfähigem Alter. Er rief sich ihren Anblick zurück ins Gedächtnis. Selendra war vielleicht eine Spur heller in ihrem jungfräulichen Gold als ihre Schwester, und er fand, dass ihre Augen etwas schärfer blickten, violett, genau wie bei Berend. Haner war dagegen blasser und verträumter, mit silberfarbenen Augen. Er hielt kurz inne. Wäre ein ruhiger Drache nicht doch die bessere Frau für ihn? Er wünschte sich ein bequemes Zuhause und Bewunderung, nicht Drama und Aufregung. Aber Lebhaftigkeit paarte sich oft mit Ausdauer. Er wollte eine Frau, die ihm Kinder gebar und als seine Gefährtin weiterlebte, die nicht nach ihrem ersten Gelege dahinsiechte und ihn als Witwer zurückließ. Also Selendra. Er ging weiter und setzte seine Schritte behutsam, denn die Sonne war untergegangen und die Straße wurde dunkler. Aber Selendra war diejenige, die zu Penn ziehen würde, während Haner in Berends Haushalt übersiedeln würde. Haners Verbindungen würden ihm zum Vorteil gereichen, während Penn aus Wut über seine heutige Einmischung möglicherweise gegen eine solche Verbindung sein würde. Im Nachhinein gesehen hatte er eine dumme Entscheidung gefällt. Wäre ihm vorher eingefallen, eine der Jungfrauen heiraten zu wollen, wäre es vorteilhafter für ihn gewesen, sich für Penns Seite zu entscheiden und dafür zu sorgen, dass sie ihren gerechten Anteil Fleisch erhielten. Als Pfarrer würde er genug für eine Frau haben, wenn auch nicht im Übermaß. Er dachte an den kleinen grünen Lamerak und erschauderte. Man hätte den jungen Drachen fressen und nicht verwöhnen sollen. Seine Schwester hatte eine hellgoldene Farbe gehabt, mit einem kaum merklichen grünen Schimmer. Er hätte sich gegen Daverak entscheiden und die Jüngeren fressen lassen sollen, dann wären Haner und Selendra jetzt besser genährt und ihm dankbar. Dazu war es jetzt zu spät. Er würde sich auf die Dankbarkeit verlassen müssen, die sie dafür empfinden würden, dass sie heiraten
17 und ihren eigenen Haushalt gründen durften, statt als arme Verwandte leben zu müssen. Während der nächsten Stunde wog er die Vorteile der beiden Jungfrauen gegeneinander ab. Bevor er zu Hause eintraf, hatte er sich aus, wie er meinte, wohltätigen Gründen entschieden, Selendra einen Antrag zu machen. Haner würde in das Haus eines Erlauchten einziehen, in die Welt der vornehmen Gesellschaft und des feinen Lebens. Ihr würden sich sämtliche Gelegenheiten eröffnen, in Frage kommende Ehemänner kennen zu lernen. Selendra würde in eine Landpfarrei wie die seine ziehen, aber eher als Bittstellerin als als Hausherrin. Bestimmt würde er sich keine Sorgen über ihre mögliche überbordende Lebhaftigkeit machen müssen, wenn ihr Bruder Penn, der sie so viel besser kannte, ein solches Leben für passend für sie hielt. Er würde sie vor der Armut retten, oder zumindest der Beinahearmut. Ihre Mitgift würde nicht groß sein, dennoch eine erfreuliche Vermehrung der dünnen Goldschicht darstellen, mit der seine Unterhöhle ausgelegt war. Wenn er schnell handelte, bevor Penn sie mit sich nahm, würde sein Widerstand nicht viel zählen. Vielleicht war es ja sogar möglich, Selendra zu einem sofortigen romantischen Durchbrennen zu bewegen, ohne auf die formelle Erlaubnis warten zu müssen, und die Einzelheiten dann später zu regeln. Unter solchen Umständen würde Penn die Mitgift nicht einbehalten. Wie bequem würde es doch sein, verheiratet zu sein. Die Frau eines Pfarrers durfte fliegen, ausgenommen natürlich am Ersten Tag, und das würde es so viel einfacher machen, die Einkäufe über die Berge zu schaffen. Als Freit endlich seinen Durst in dem kühlen Pfarrhaus stillte, hatte er die nächsten zehn Jahre schon genau durchgeplant. Der Beginn würde der nächste Tag sein, an dem er den ganzen Weg zurückmarschierte, um mit Selendra zu sprechen, bevor sie mit Penn nach Benandi aufbrach.
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7 . Amers Bitte Penn hatte Frelts gute Wünsche für die Reise seinen Schwestern in Avans Gegenwart übermittelt. Avan, der am nächsten Morgen sehr früh erwacht und zu den Wiesen hinuntergeflogen war, um ein Rind zum Frühstück zu holen, war daher erstaunt, als er Freit langsam auf der Straße vom Berg herankommen sah. Die Nachtruhe hatte nichts an seiner Einstellung zu der kommenden Anklage geändert, und sie hatte auch seine Einstellung dem Pfarrer gegenüber nicht geändert, der sich für seinen Schwager und gegen ihn entschieden hatte. Trotzdem fällt es leichter, einen Groll am Abend zu hegen statt an einem schönen Sommermorgen, also flog Avan mit dem Rind zwischen den Klauen zu ihm und begrüßte ihn durchaus freundlich. »Was für ein prächtiger Morgen«, rief er ihm zu. Freit war frohgemut über seinen neuen Plan aufgewacht und er hatte die ermüdenden Meilen über den Berg damit zugebracht, über die beste Vorhergehensweise nachzusinnen. Er hatte den funkelnden Tau nicht wahrgenommen - höchstens als feuchte Unbequemlichkeit -, und auch nicht die prächtige Sonne höchstens als viel zu grelle Lichtquelle - und erst recht nicht die vertraute Schönheit der emporragenden Gipfel. Er musste den Kopf in den Nacken legen, um zu Avan emporsehen zu können, der mühelos über den blauen Himmel glitt, der ihm verwehrt blieb. Nicht, dass er den jungen Drachen beneidete, zumindest redete er sich das ein, aber es hätte ihm gefallen, wenn man das Opfer, das er brachte, gebührend gewürdigt hätte, oder zumindest die Mühe, die es so wertvoll machte. »Veld hat die Welt für unseren Nutzen erschaffen, aber Jurale in ihrer Gnade hat die Schönheit hinzugefügt«, rezitierte er salbungsvoll. Avan war ungefähr so religiös veranlagt wie jeder junge Drache, der es in der Welt zu etwas bringen wollte - was
18 bedeutete, dass er sich an viele traditionelle Glaubensregeln hielt, über die er noch nie nachgedacht hatte, und zur Kirche ging, weil es seltsam ausgesehen hätte, es nicht zu tun, aber dort den Vorgängen nur wenig Aufmerksamkeit schenkte. Frömmigkeit außerhalb der Kirche hielt er für völlig unnötig. Gezwungen, Stellung zu beziehen, hätte er sich zu denen bekannt, die die Meinung vertraten, dass Religion auf den Ersten Tag beschränkt sein sollte, auch wenn er es in allen anderen Dingen vermieden hätte, sich solch radikalem Gedankengut anzuschließen. Er war kein Freigeist, aber die Rolle, die Religion in seinem Leben spielte, verdiente eher die Bezeichnung traditionell als fromm. Er feierte den Gottesdienst am Ersten Tag, weil er ihm eine liebe Gewohnheit geworden war, doch er besuchte in Irieth absichtlich eine Kirche, deren Pfarrer für seine kurzen Predigten berühmt war. Und so ließ die frömmlerische Erwiderung auf seinen Gruß den ganzen Ärger über Freit wieder in ihm hochkommen. Er sagte nichts mehr, sondern schlug mit den Schwingen, um wieder aufzusteigen. »Warten Sie«, rief Freit. Avan hielt inne, obwohl er bereits sehr hoch war und vom Aufwind weiter nach oben getragen wurde. Er blickte fragend nach unten. »Ich bin gekommen, um Ihrer Familie meine Aufwartung zu machen.« Freit musste notgedrungen schreien, um gehört zu werden. »Daran kann ich Sie nicht hindern«, erwiderte Avan und murmelte einige Ungezogenheiten vor sich hin, wenn auch nur sehr leise. »Sie kennen den Weg«, fügte er lauter hinzu und flog los, um seine Schwestern zu warnen. Selendra und Haner waren lange aufgeblieben und hatten versucht, sich gegenseitig über den Verlust ihres Vaters hin-wegzutrösten. Es war nicht der erste Verlust, den ihre Familie erlitten hatte, aber bei den früheren Todesfällen waren sie noch so jung gewesen, dass sie sie kaum berührt hatten. Ihre Mutter war kurz nach ihrem Schlüpfen gestorben, und sie
18 konnten sich kaum an sie erinnern. Sie konnten damals noch nicht so recht ermessen, wie wichtig sie für sie gewesen wäre. Auch Avans Gelegebruder Merinth war gestorben, bevor sie alt genug gewesen waren, um es zu verstehen. Sie hatten erlebt, wie das Unglück andere Familien heimsuchte, und hatten geglaubt,
durch die lange Krankheit ihres Vaters zu wissen, was ein Todesfall bedeutete. Erst jetzt begriffen sie, dass es nichts gab, was einen wirklich auf den Tod vorbereiten konnte. Der schöne Morgen, der Avans Herz berührt hatte, war Selendra beinahe wie eine Verhöhnung erschienen, dass die Sonne scheinen konnte, da ihr Vater doch tot war und sie bald von allem getrennt werden würde, was sie liebte. Sie ließ Haner noch schlafend in der Schlafhöhle zurück, die sie sich geteilt hatten, seit sie aus dem Ei geschlüpft waren, und begab sich traurig in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Amer war schon da und schnalzte wegen der geschwundenen Vorräte mit der Zunge. »Wir haben alles schleifen lassen, Sei, während der Krankheit Ihres Vaters. Aber wenn Sie alle von hier fortgehen, ist das vermutlich ganz gut so. Wer will schon alles für Berend und ihren arroganten Mann zurücklassen.« Es wäre für Selendra angebracht gewesen, ihre Dienerin wegen solch freier Worte zu rügen, aber man gestand Amer solche Privilegien zu, weil sie schon so lange in den Diensten der Familie stand, und Selendra selbst wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, so etwas zu tun. Auch wenn sie stundenlang Regeln hätte rezitieren können, wie man die Dienerschaft in ihre Schranken wies, hätte sie nie daran gedacht, sie auf Amer anzuwenden, die zur Hochzeit von Bon Agornin nach Agornin gekommen und dann geblieben war, um schließlich seine Kinder zu hüten. »Ich wage zu behaupten, dass der Erlauchte Daverak die Schnauze über unser Eingemachtes und Geräuchertes gerümpft hätte«, sagte Selendra, nickte Amer zu und ermutigte sie noch. »Mir
19 ist der Gedanke verhasst, dass er unser schönes Heim bekommt.« Amer schloss den fast leeren Küchenschrank und wandte sich Selendra zu. »Nehmen Sie mich mit nach Benandi?« Selendra zögerte. »Haner möchte, dass du sie begleitest. Ich habe Penn, weißt du, während Haner bloß Berend haben wird.« »Es tut mir sehr Leid für Haner, und ich wünschte, ich könnte etwas tun, um ihr zu helfen, aber ich muss jetzt an mich selbst denken«, sagte Amer. »Ich bin ein alter Drache und ich habe Ihrer Familie eine sehr lange Zeit gedient und davor der Familie Ihrer Mutter. Bitte lassen Sie mich nach Benandi mitkommen.« Erstaunt über eine solche Beharrlichkeit konnte Selendra nicht widersprechen. »Ich weiß nicht, ob Penn es gestattet. Ich weiß nicht einmal, ob er es sich leisten könnte. Es ist nett von ihm, dass er mich aufnimmt, aber ich weiß nicht, ob er dich auch noch aufnehmen kann. Selbst Haner kann nicht bei ihm wohnen. Ich werde ihn bestimmt so energisch fragen, wie ich kann, aber ich kann es nicht versprechen.« »Ich bin willig und sehr fleißig, das wissen Sie, und eine Dienerin mehr ist etwas anderes als eine Schwester.« »Er hat eine Frau«, fiel Selendra wieder ein. »Ihr Name ist Felin. Ich habe sie bei ihrer Hochzeit kennen gelernt, und da auch nur kurz. Ich kenne sie überhaupt nicht. Möglicherweise hat sie ihre eigenen Vorstellungen, welche Diener sie braucht, und ich bin davon überzeugt, dass diese bestimmt nicht eine Leibdienerin für mich mit einschließen.« Der Gedanke ließ sie lachen. »Ich und eine Leibdienerin wie ein großer Drache. Wie Berend.« »Es würde mich glücklich machen, das zu sein, und Sie verdienen es, dass man Ihre Schuppen genauso auf Hochglanz poliert wie die jeder anderen Jungfrau auch, aber Sie wissen ja, dass ich alle anfallenden Arbeiten verrichte. Ich schrubbe auch die Höhle, falls das erforderlich ist, und Sie
19 wissen ebenfalls, dass ich gut darin bin, Obst einzumachen und Medizin herzustellen.« Amer streckte die Hände mit einer flehenden Geste aus. »Sie könnte ihre eigenen Vorstellungen darüber haben, wie man mit den Dienern umgeht, und ihre Schwingen besonders fest binden«, warnte Selendra. Es wurde bereits gesagt, dass Amers Schwingen kaum fester gebunden waren als Penns. Und es sollte noch hinzugefügt werden, dass Selendra und Haner während der Krankheit ihres Vaters Amer erlaubt hatten, ihre Schwingen ganz zu befreien, damit sie fliegen und Heilkräuter sammeln konnte. Mögen
jene, die darüber entsetzt die Schwingen heben, bedenken, dass Amer immer wieder zu ihnen zurückgekehrt war und der Familie noch immer diente und die Gelegenheit nicht dazu genutzt hatte, in die Berge zu fliegen und dort ein neues Leben zu beginnen. »Ich kann es ertragen, dass man meine Schwingen so fest bindet, wie es nur geht, darum geht es nicht, und ich bin mir sicher, dass Berend dafür Sorge trüge. Was mir mehr Angst macht, ist die Frage, ob sie mich überhaupt behalten würden. Daveraks faule Diener haben sich unterhalten, als Sie in der Unterhöhle waren, und vielleicht wollten sie mir ja bloß Angst einjagen, aber es hörte sich so an, als ob Daverak die Diener fräße, wenn sie alt werden.« »Sie gegen ihren ausdrücklichen Willen fressen?«, fragte Selendra, und ihre Abneigung gegen Daverak war so stark, dass sie Amer sofort glaubte. »Sie frisst, bevor sie sterben«, sagte Amer und verstummte, als sie Selendras entsetztes Gesicht sah. »Nein, nicht ganz so schlimm, er verschlingt sie nicht lebendig, sondern tötet sie, um sie zu fressen, als seien sie schwächliche Drachenkinder.« »Was für eine schreckliche Verschwendung«, sagte Selendra. »Nein, das kann unmöglich stimmen, sein Pfarrer würde es nicht erlauben.« Selendra sagte das entschiedener, als ihr zumute war, um die alte Dienerin zu beruhigen, während sie
20 zitierte: »Kein Drache darf getötet werden außer im Duell oder in Gegenwart eines Pfarrers für die Vervollkommnung der Drachenheit - und das bedeutet schwächliche Drachenkinder und nicht eine Dienerin, die nicht mehr so schnell ist wie gewohnt.« »Pfarrer sehen nicht alles. Und es gibt auch korrupte Pfarrer, die einfach wegsehen, und wer kann schon sagen, ob der Erlauchte Daverak nicht genau so einen hat?« Amer sah Selendra flehentlich an. »Ich tue, was in meiner Macht steht, um Penn davon zu überzeugen, dass du mit uns kommst«, sagte Selendra. In diesem Augenblick trat Avan ein und zog den Kopf ein, um nicht an den Türrahmen zu stoßen. Er trug ein Rind auf dem Arm. »Hier kommt das Frühstück«, sagte er mit einem Lächeln. »Ich danke dir«, rief Selendra aus. »Ich hatte vergessen, mich um unsere Vorräte zu kümmern.« »Ist doch sinnlos, welche für Berend zu horten«, meinte Avan. »Genau das hat Amer auch gesagt«, sagte Selendra. Avan warf Amer einen Blick zu, der besagte, dass er mit der Dienerschaft keineswegs so nachsichtig war wie seine Schwestern. Sie senkte demütig den Kopf und nahm ihm das Rind ab. »Ich habe unterwegs den Gesegneten Freit getroffen«, sagte Avan. »Er kommt, um der Familie seine Aufwartung zu machen, sagt er. Ich habe keine Ahnung, was er will - ich dachte, wir würden ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Vater hatte Recht, sich mit ihm zu streiten, er ist ein solcher Mistkerl.« »Nun, wir können uns jedenfalls nicht mit ihm vor dem Frühstück streiten«, sagte Selendra. »Das ist bedauerlich«, meinte Avan. Als Amer das hörte, gab sie ein schnaubendes Lachen von sich. Avan runzelte die Stirn, und selbst Selendra sah sie vor
4b wurfsvoll an, so als wollte sie sie fragen, ob sie sich im Haus des Gesegneten Penn auch so benehmen wollte. Amer sah den warnenden Blick und machte sich daran, das Rind säuberlich zu zerteilen, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen und wieder an den Platz zurückzukehren, der ihr zugewiesen war.
8 . E i n Heiratsantrag Selendra hielt es für angebracht, nach unten zu gehen, um den Gesegneten Freit zu empfangen. Zufällig hatte sie diese Pflicht noch nie zuvor erfüllen müssen. Als zwischen ihrem Vater und Freit noch ein gutes Einvernehmen herrschte, vor seinem unglückseligen Antrag an Berend, war Selendra noch ein Kind gewesen. Berend hatte ihn immer Willkomm geheißen. Seitdem waren seine Besuche selten und formeller Natur gewesen, und entweder hatte ihn Amer zu Bon Agornin geführt, als wäre er ein Fremder, oder er war, noch übler, mit Drohungen an der Schwelle empfangen worden. »Amer, kümmere
du dich weiter um das Frühstück und achte darauf, dass es für einen zu Besuch weilenden Pfarrer angemessen ist«, sagte sie streng. »Avan, ich fände es nett, wenn du Penn und Haner über unseren Besucher informieren würdest.« Dann hielt sie schnell nach möglichen Blutspritzern Ausschau, strich hastig über die Schuppen auf der Vorderseite und eilte hinunter zum unteren Tor. Das waren die Vorbereitungen der Jungfrau Selendra, um ihren ersten Heiratsantrag entgegenzunehmen. Freit war entzückt, dass es Selendra selbst war, die ihn begrüßte. Nach Avans abruptem Aufbruch hatte er sich schon Sorgen gemacht, dass die Kinder ihn genauso schlecht behandeln würden wie der Vater. Ihm war wieder Penns Benehmen ihm gegenüber vom Vorabend eingefallen. So sehr er es auch verabscheute, war ihm doch klar, dass er sei
21 nen Irrtum eingestehen musste, wenn er mit der Familie zu einer Übereinkunft kommen wollte. Er war sich nicht sicher gewesen, ob er Selendra überhaupt zu Gesicht bekommen würde. Im Verlauf der Nacht hatte er sich selbst davon überzeugt, dass es Selendra war, die er wollte, und mittlerweile bildete er sich schon ein, sie bereits seit einiger Zeit zu lieben. Ein Bauer hatte ihn an der unteren Tür eingelassen, und er stieg langsam durch den schmalen Korridor nach oben und quetschte sich gelegentlich mit größerer Besorgnis um den Glanz seiner Schuppen an den Wänden vorbei, als für einen Pfarrer angemessen war. Als er also sah, dass Selendra ihm entgegenkam, lag in dem Lächeln, das er ihr schenkte, viel echte Freude sowie auch etwas von dem Stolz auf sich selbst, der seine ausgeprägteste Eigenschaft war. »Gesegneter Freit, wie können wir Ihnen dienen?«, fragte Selendra. »Möchten Sie mit uns frühstücken?« »Danke, Hochgeschätzte Agornin. Ich wäre entzückt.« Selendra drehte sich um, und sie bewegten sich nach oben zu den höher gelegenen Räumlichkeiten. Als der Korridor breiter wurde, sodass sie nebeneinander hergehen konnten, ergriff Freit sofort die Gelegenheit und trat an ihre Seite. Er lächelte Selendra wieder an und hoffte, dass ihr die Stärke und Ebenmäßigkeit seiner Zähne nicht entging. Sie erwiderte das Lächeln nicht, sondern sah ihn ernst an. »Stimmt etwas nicht?«, fragte sie. »Wir haben heute nicht mit Ihnen gerechnet.« Sie konnte sich nur vorstellen, dass ihn die Vorkommnisse bei dem Totenschmaus hergeführt hatten, die ihre Brüder gewiss nicht mit einem Fremden diskutieren wollten, und schon gar nicht mit Freit. »Hochgeschätzte Agornin, alles ist in Ordnung, sogar in bester Ordnung. Ich bin nur noch einmal gekommen, um der Familie meine Aufwartung zu machen und zu sehen, ob ich ihr in dieser Zeit der Trauer dienen kann.« Die Ansprache war so nichts sagend, dass sie jeder Pfarrer einer jeden Jungfrau mit einem Trauerfall in der Familie hätte
21 halten können, aber Freit schwächte sie mit einem weiteren Lächeln ab, das diesmal allerdings weitaus weniger natürlich ausfiel. Selendra hatte ihn wörtlich genommen und war verwirrt. »Wir heißen Sie natürlich willkommen, aber unser Bruder Penn ist noch da, falls wir einen Pfarrer benötigen, und der Totenschmaus ist vorbei, und ich wüsste nicht, dass es etwas gäbe, das Sie hier noch tun könnten.« »Ich bin gekommen, um Ihnen meinen Respekt zu erweisen, Selendra«, sagte Freit und sah sie kurz auf eine Weise mit wirbelnden Augen an, die ziemlich unmissverständlich war. »Da Sie bald fortgehen und nur wenig Zeit ist, wollte ich keine Zeit verlieren.« Obwohl Freit ein Landpfarrer war, hatte er doch einige Zeit in der feinen Gesellschaft von Irieth verbracht und für gewöhnlich hielt er sich für einen etwas welterfahreneren Drachen als andere in seiner Umgebung. Ihm war klar, dass sein Benehmen nicht von der Gesellschaft akzeptiert werden würde, und so hatte er sich auch keineswegs benommen, als er um Berends Hand angehalten hatte. Aber die Zeit war gegen ihn, und er wollte die Gelegenheit beim Schopf ergreifen. Sie würden gleich die belebteren Teile des Hauses betreten und er wusste nicht, wann er wieder mit Selendra allein sein würde. Außerdem hatte er mit solcher Inbrunst und Besessenheit über seinen Plan nachgedacht, dass er fast schon vergessen hatte, dass Selendra ihn niemals mit den Augen einer Liebenden betrachtet hatte,
dass sie sogar in der Tat so gut wie nie an ihn gedacht haben mochte. Er wollte alle Dinge zwischen ihnen klarstellen, bevor er mit ihrem Bruder sprach. Selendra blieb ruckartig stehen; es war ihr unmöglich, ihn nicht zu verstehen, vor allem, da er sie mit ihrem Vornamen angesprochen hatte. Aber sie war über seine Erklärung derart erstaunt, dass ihr die Beine weich wurden und sie strauchelte. Freit, der damit nicht gerechnet hatte, machte
22 einen weiteren Schritt und stolperte beinahe über ihren Schwanz. »Können Sie sich vorstellen, etwas für mich zu empfinden?«, fragte Freit, fing sich ab, beugte sich weit zu ihr hinüber, schaute ihr in die Augen und legte ihr zart die Klaue auf den Arm. Für Selendra kam das beinahe einem Albtraum gleich. Außer ihrem Vater und ihren Brüdern war ihr noch nie ein männlicher Drache so nahe gekommen. Sie wusste, dass Absicht dahinter steckte. Der Korridor war dunkel und beengend und feucht. Sie hatte Freit nie richtig kennen gelernt, aber sie hatte ihn gleichwohl immer verabscheut, hatte ihn nicht einmal annähernd gut genug für Berend gefunden. Er beugte sich noch näher zu ihr hinüber, stützte sich auf sie, war sich sehr wohl bewusst, dass sie eine Jungfrau war und dass eine solche Nähe die Liebe in ihr erwecken konnte. Er hatte ihr mit Worten schmeicheln wollen, aber als er sie jetzt so nah neben sich fühlte, wurde er beinahe von ihrem Duft überwältigt. Selendra fühlte, wie sich ihre Schwingen hoben, obwohl der Platz um sie beengt war. Sie strichen über die Spinnenweben an der Decke. Sie riss sie an ihre Seiten zurück und gewann damit die Herrschaft über ihre Sinne wieder und konnte ein paar Schritte vor ihm zurückweichen. »Ich bin mir der Ehre bewusst, die Sie mir erweisen, aber meine Antwort lautet nein«, sagte sie und gab die Worte von sich, die man allen Drachenjungfrauen beibringt, aber ihr Ton klang ängstlich. »Sagen Sie das nie wieder zu mir«, fügte sie so energisch hinzu, wie sie es wagte, und wich langsam vor ihm zurück. »Ich habe eine gute Gemeinde in den Bergen und bin der Pfarrer von sechs Domänen«, erklärte Freit und überging ihre Antwort in dem Wissen, dass alle Frauen beim ersten Mal nein sagten. »Wenn Sie mich heiraten würden, wären Sie Herrin Ihres eigenen Haushalts und Sie müssten
22 das Land nicht verlassen, das Sie so lieben. Pfarrfrauen ist es nicht verboten zu fliegen.« »Ich habe nein gesagt«, wiederholte Selendra und eilte wie gehetzt vor ihm den Korridor hinauf. »Ich glaube kaum, dass Sie wissen, was Sie da sagen, mein Herr. Sie kennen mich nicht und können mich nicht ernstlich um meine Hand bitten. Ich weiß, dass Sie einst meine Schwester Berend geliebt haben.« »Oh, aber das war vor langer Zeit, als Sie noch ein Kind waren. Bevor ich Ihre Schönheit sah, liebte ich Ihre Schwester als den Schatten dessen, zu dem Sie heranwachsen würden.« Freit war ziemlich stolz auf diese Worte, die er sich auf dem Weg durch die Berge zurechtgelegt hatte für den Fall, dass sie seinen damaligen Antrag zur Sprache brachte. Er wünschte sich, sie unter günstigeren Umständen vortragen zu können - Selendra hatte ihre Schritte so sehr beschleunigt, dass er ihr fast nicht folgen konnte. Er musste beinahe schreien und konnte sich nicht sicher sein, dass sie ihn überhaupt hörte. »Meine Antwort lautet nein! Bitte hören Sie auf, mich zu bedrängen«, bat Selendra und schluchzte beinahe, erhob sich dabei immer wieder in die Luft, wenn es die Deckenhöhe zuließ, Freit verfolge sie, so schnell er konnte, aber mit seinen gebundenen Schwingen war er im Nachteil. Selendra schoss beinahe ins Esszimmer hinein, wo sich ihre Familie versammelt hatte, verfolgt von Freit. Glücklicherweise konnte sie wieder einen klaren Gedanken fassen, als sie weit genug von ihm fort war, sodass sie sich umdrehen und sich ihm in der breiten Diele zwischen Esszimmer und Salon entgegenstellen konnte. »Es ist mir ernst, mein Herr, und ich meine, was ich sage«, verkündete sie. »Nein, kommen Sie mir nicht näher. Sie sind Pfarrer, und ich weiß, dass Sie mir einen ehrenhaften Antrag gemacht und nicht beabsichtigt haben, über mich herzufallen.«
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Tatsächlich war das Verlangen, über sie herzufallen, stärker, als Freit zugegeben hätte, aber er war nach der Verfolgungsjagd besonnener geworden und blieb wie gewünscht stehen. »Wollen Sie es sich nicht noch einmal überlegen?«, fragte er. »Sollen denn meine Hoffnungen für immer gestorben sein?« »Ja, ja, für alle Zeiten«, erwiderte Selendra noch immer aufgeregt. »Und jetzt gehen Sie bitte, wenn Sie aus diesem Grund gekommen sind.« Erneut wiederholte sie die Formel der Zurückweisung und sprudelte sie beinahe hastig hervor. »Ich bin mir der Ehre bewusst, die Sie mir erweisen, aber meine Antwort lautet nein. Bitte glauben Sie mir, Gesegneter Freit.« Sie legte die Hand auf die Tür zum Esszimmer. »Meine Brüder sind hier, und ich stehe unter ihrem Schutz.« Freit ertappte sich dabei, wie tief in seiner Kehle ein Knurren aufstieg. Diese Bemerkung war unnötig gewesen. Er war ein respektabler Pfarrer, nicht irgendein Straßenräuber. Einen Augenblick lang vergaß er die Hoffnung, mit ihr durchzubrennen und die formellen Arrangements später zu regeln. Er vergaß sogar, wie nahe sie ihm gewesen war und dass es ihm möglicherweise trotz ihrer Weigerung gelungen war, sein Ziel zu erreichen. Er drehte sich hochmütig um und vor ihm lag der lange Korridor und der lange Heimweg und erneut musste er ihn antreten, ohne eine Erfrischung angeboten bekommen zu haben.
23 DER SCHWUR DER SCHWESTERN
9 . Selendras Erröten Alle drei Drachen sahen von ihrer Mahlzeit auf, als Selendra die Esszimmertür aufstieß. Es war eine stabile, altmodische, dicht schließende Holztür, die laut quietschte. Manche sagen, Holztüren sind yargianisch und darum widerwärtig, dasselbe wie Spitzentücher, Beichte und gebratenes Fleisch, andere wiederum behaupten, sie wären im Augenblick einfach nur aus der Mode. Bon Agornin hatte der Mode soweit nachgegeben, die Tür zu seinem Audienzzimmer entfernen zu lassen, aber er hatte darauf bestanden, dass in seinem Esszimmer die Tradition bewahrt wurde. Darum hatten die Geschwister nichts von den Vorgängen draußen mitbekommen und bereiteten sich darauf vor, ihre Schwester und, wie sie noch immer glaubten, den Gesegneten Freit zu begrüßen. Selendra trat leicht verwirrt ein. Von einem Augenblick zum anderen errötete sie beinahe, bis sie rosafarben schim
23 merte, im nächsten wurde sie ganz blass, noch blasser als selbst Haners zarte Goldtönung. Sie schloss die Tür und blieb einen Moment lang so stehen, der Familie den Schwanz zugewandt. »Was ist los?«, fragte Haner sofort. »Wo ist Freit?«, fragte Penn nur einen Augenblick später. Hätte Selendra Zeit gehabt, ihre Gedanken zu ordnen, wäre es ihr vielleicht möglich gewesen, sich Antworten auf diese Fragen einfallen zu lassen. Sie wusste, dass eine Drachenjungfrau nach der Ablehnung eines Heiratsantrags keine Aufregung zeigen sollte. Aber sie war innerlich sehr aufgewühlt, ihr blieb keine Zeit, und sie war nicht der Ansicht, dass der Antrag schicklich gewesen war. Sie drehte sich um, um sich den Geschwistern zu stellen. »Freit ist wieder gegangen«, antwortete sie ihrem Bruder. »Und ich bin etwas durcheinander«, informierte sie ihre Schwester. Sie ließ sich auf dem Boden nieder, und Avan reichte ihr stumm eine Rindskeule. Sie nahm sie entgegen, aß aber nicht. Die anderen starrten sie an. »Gegangen?«, fragte Penn und sammelte sich. »Ohne zu erledigen, weswegen er gekommen ist?« »Er hatte nichts zu erledigen«, sagte Selendra. »Oder vielmehr, er war meinetwegen hier. Er ist gekommen, um mir einen Heiratsantrag zu machen, und das hat er auch getan, und ich habe abgelehnt, und er ist wieder gegangen. Das ist alles.« Nur selten war eine Jungfrau weniger erfreut über einen solch unwillkommenen Antrag gewesen. Sie schwieg wieder, errötete erneut und fühlte sich wie gelähmt. »Er hat... um deine Hand angehalten?«, fragte Haner. »Wenn er das getan hat, sorge ich dafür, dass man ihn aus der Kirche hinauswirft«, sagte Penn wütend und stand auf.
»Und ich reiße ihn in Stücke, sobald er seine Unberührbarkeit verloren hat«, sagte Avan, dessen Schwingen sich unwillkürlich ausbreiteten. »Nun, Selendra?« »Er hat mir nichts getan«, sagte Selendra schnell. »Er hat
24 mich nicht angerührt. Aber er ist mir nahe genug gekommen, um mich zu bedrängen, und anscheinend habe ich die Fassung verloren.« »Du bist errötet!«, verkündete Penn, obwohl sie im Augenblick fast totenbleich war. »Wenn er die Ursache dafür war, wird er dich heiraten, um uns zu entschädigen.« »Aber das ist doch das, was er will!«, sagte Selendra, errötete erneut und kroch einen Schritt vor ihrem Bruder zurück. »Er ist in der Hoffnung gekommen, mich als Gemahlin heimzuführen. Ich hasse ihn und ich werde ihn niemals heiraten.« »Du hättest nicht allein mit ihm zusammen sein sollen«, sagte Avan. »Ein Pfarrer!«, sagte Haner, die ihrer Schwester zur Seite sprang. »Pfarrer nimmt man immer unten in Empfang, das weißt du genau, weil sie nicht zu den üblichen Eingängen fliegen können. Du warst hier, als Sei sagte, sie würde ihn begrüßen, du hast uns selbst gesagt, dass sie mit deiner Einwilligung gegangen ist.« »Er hat seine Position als Pfarrer missbraucht«, sagte Avan. »Mir ist nichts passiert«, beharrte Selendra, aber ihr zittriger Tonfall strafte ihre Worte Lügen. »Es ist nichts passiert, außer dass er seinen Antrag gemacht und ich ihn abgewiesen habe.« »Er hätte mich um Erlaubnis bitten müssen, mit dir sprechen zu dürfen«, sagte Penn stirnrunzelnd. »Eine Erlaubnis, die ich mit Sicherheit verweigert hätte. Aber wenn du errötet bist, meine Liebe, und ich fürchte, so sieht es aus, dann ist es zu spät zur Umkehr, und es muss eine Hochzeit stattfinden. Ich versuche nur, aus einer verfahrenen Situation das Beste zu machen, ich weiß, aber bedenke die Alternative.« »Ich bin nicht errötet, ich bin lediglich etwas aufgewühlt, ich werde bald wieder normal aussehen, wenn ich etwas gegessen und mich ausgeruht habe«, sagte Selendra und versuchte den Kopf zu drehen, um ihre Schuppen zu betrach
24 ten. »Ich werde Freit niemals heiraten. Er ist ein Raufbold und ein Mistkerl und ein aufgeblasenes Schwein.« Avan und Penn tauschten einen wissenden Blick. Sie waren Drachen, die mehr von der Welt gesehen hatten als ihre Schwestern, und ihnen machte der Gedanke schwer zu schaffen, was man mit einer Schwester machen sollte, die weder Jungfrau noch Gemahlin war. Avan grübelte darüber nach, ob er jemanden in Irieth kannte, der geneigt war, seine Schwester unter solchen Umständen zur Nebenfrau zu nehmen. Es würde keine Heirat sein, wie er es sich gewünscht hätte, eine, die ihr einen eigenen Haushalt verschaffen würde, aber es gab in der Hauptstadt aufstrebende Drachen, die ihre Mitgift und ihre Verbindungen trotz ihres Errötens ausreichend attraktiv finden würden, selbst wenn sie vermutlich nicht geneigt waren, ihren Namen oder ihren Status mit ihr zu teilen. Kein Drache hätte sich das für seine Schwester gewünscht, aber es wäre möglicherweise besser als die Ehe mit einem Pfarrer, den sie verabscheute und der sie absichtlich entehrt hatte. Selendra bediente sich schweigend mit ein paar Bissen Fleisch. Dann schaute sie auf, in ihren großen violetten Augen schimmerten Tränen, sie drehten sich sehr schnell. »Warum seht ihr mich alle so an?«, fragte sie. »Ich habe nichts Falsches getan, nichts. Ich bin nicht entehrt. Nein, wirklich nicht.« »Natürlich bist du das nicht«, sagte Haner, ging sofort zu ihrer Schwester und legte die Schwingen um sie. »Komm, ich bringe dich in deine Höhle und dann ruh dich aus, du wirst dich bald wieder besser fühlen.« Die Schwestern gingen zusammen hinaus. »Bin ich wirklich errötet?«, fragte Selendra Haner, sobald sie allein waren. »Rosafarben, sodass es jedermann sehen kann?« »Nur ein bisschen, manchmal«, erwiderte Haner. »Das wird sich bald wieder geben, da bin ich mir sicher, hättest du ihn doch bloß nicht so nah an dich herangelassen.«
25 »Aber genau das habe ich getan«, gab Selendra zu. »Ich war so überrascht, dass ich mich nicht bewegen konnte, und er kam näher und stützte sich auf mich.« »Was sollen wir nur tun?«, fragte Haner. »Penn ist es ernst damit, aus einer dummen Situation das Beste zu machen, er wird dich verheiraten. Aber was kannst du sonst tun?« »Amer wird es wissen«, sagte Selendra entschieden. »Geh und hol Amer, und sag ihr, was geschehen ist. Wenn es irgendetwas gibt, das wir tun können, damit ich meine Farbe zurückbekomme, dann wird sie es wissen.« Selendra ging weiter zur Schlafhöhle, und Haner enteilte, um Amer zu holen.
1 0 . Der Schwur der Schwestern Amer schnaubte und blies heißen Atem aus, als Haner erzählt hatte, was geschehen war, und goss ihre ganze Wut über Freit aus. Dann wies sie Haner an, Selendra in die Küche zu bringen, und setzte einen Kessel Wasser auf den Herd. »Sie sind alt genug, um alles zu verstehen«, fing sie an, als Selendra rosa und elend eintrat. »Ich kann Sie nicht wie ein Kind behandeln, das seine Medizin bekommt, ohne Sie darüber aufzuklären.« »Ich nehme sie, was auch immer es ist«, bettelte Selendra. »Vermutlich wird Sie das ohne jede Gefahr wieder herstellen«, sagte Amer und zerstampfte ihre Kräuter. »Aber Sie sollten wissen, dass die Möglichkeit besteht, dass es nicht funktioniert, oder dass es zu gut funktioniert. Das ist Medizin, keine Zauberei, und Medizin wirkt nicht immer, das ist eine Sache des zahlenmäßigen Verhältnisses.« »Was für Zahlen?« Selendra war verwirrt und noch immer errötet. »Gib mir die Medizin, und ich zähle so weit, wie du willst.« »Das wäre allerdings ein Zauberkunststück«, sagte Amer,
25 lächelte und zeigte die Zähne. »Außerdem muss es erst ziehen, und Sie werden warten müssen. Haner sagt, er hat Sie angefasst?« »Er hat sich auf mich gestützt«, gab Selendra zum zweiten Mal zu. Sie sank in sich zusammen, den Kopf über die oberen Arme gebeugt und die Schwingen halb über den Körper gedeckt, beinahe mehr von der Erinnerung an das Geschehene überwältigt als von dem Geschehen selbst. Haner streckte ihre eigenen Schwingen aus, um dabei zu helfen, die Schwester zu verhüllen, und in ihren Augen funkelten Tränen. »Wir müssen etwas tun«, sagte sie zu Amen »Ich tue alles, was ich kann«, sagte Amer. »Sie werden diesen Tee brauchen, er wird Ihnen helfen, die ganze Geschichte leichter zu ertragen. Aber was ich mit dem zahlenmäßigen Verhältnis meinte, ist Folgendes. Bei den meisten Drachen funktioniert das, ohne Schaden anzurichten, aber man kann unmöglich vorhersagen, ob Sie zu den wenigen gehören werden, denen es nicht schadet.« »Ich trinke es«, sagte Selendra so leise, dass sie beinahe nicht zu verstehen war. »Sie müssen genau wissen, worum es geht«, beharrte Amer. Das Wasser kochte, und sie goss es auf die Kräutermischung in dem Topf. Es handelte sich um zerriebene Samenkörner und ein paar grüne Halme und etwas Rotes und Getrocknetes, das im Wasser aufquoll, um sich beinahe wie eine Blüte zu entfalten. Amer rührte energisch um und stellte es dann zur Seite. »Wenn es nicht wirkt, dann sind Sie nicht schlimmer dran als jetzt auch. Wirkt es, dann ist alles in Ordnung. Wirkt es zu gut, werden Sie wie vorher sein, aber Sie werden nicht erröten können, wenn der richtige Augenblick gekommen ist. Jetzt setzen Sie sich aufrecht hin und sagen mir, dass Sie alles verstanden haben, bevor ich es Ihnen gebe.« Selendra erhob sich langsam vom Boden. Sie streckte sich, die ganzen sechs Meter, hob den Kopfkamm und die Schwingen, soweit das in der Küche möglich war, und
25 drängte Amer und Haner in die Ecken des Raums. »Ich habe es verstanden, und ich werde es tun«, sagte sie. »Ich habe immer heiraten und mit einem Drachen, den ich liebe, Kinder haben wollen, trotz des
damit verbundenen Risikos, aber ich werde das alles aufgeben, wenn ich nur wieder normal werde und nicht den Rest meines kurzen Lebens mit diesem abstoßenden Freit verbringen muss.« »Sie brauchen die Hoffnung nicht aufzugeben, es sei denn, Sie erröten nicht, wenn Sie einem Drachen nahe sind, der Sie liebt«, sagte Amer. »Nur ein Zuviel und Zu oft von dieser Medizin kann wirklich Schaden anrichten. Davon abgesehen sollten Sie die Risiken einer Ehe nicht überschätzen. Sie sprechen von einem kurzen Leben, als wäre dies das Los einer jeden Braut, aber Ihre Mutter wurde erst nach dem dritten Gelege krank, und man sagt, solche Dinge werden vererbt. Wenn Sie vorsichtig sind, Sie beide, und einen Drachen heiraten, der sich mit zwei Gelegen zufrieden gibt, die nicht zu schnell hintereinander erfolgen, können Sie so alt werden, dass Sie als adlige Dame Ihre Enkel verwöhnen können.« »Ich finde es ja schrecklich, dass Jungfrauen ihr Gold aufgeben und heiraten müssen«, meinte Haner. »Sowohl ihr Mitgiftgold als auch ihre natürliche goldene Farbe. Ich will nicht wie Mutter sterben, wie es so vielen Drachen passiert.« »Eine alte Jungfer zu sein ist genauso schlimm«, sagte Amer. »Die Haut unter dem Kinn wird unansehnlich und aus dem Gold wird Grau.« Amer hatte fast die gleiche Farbe wie der Felsen der Höhle. Sie nahm den Topf mit dem Tee, schnupperte dran, dann goss sie seinen Inhalt vorsichtig in eine Tasse. »Wenn ich nicht heiraten kann, gebe ich dir meine Mitgift, Haner«, sagte Selendra, als sie die Tasse entgegennahm. »Mit beiden Anteilen und deiner Schönheit wärst du eine großartige Partie für einen bedeutenden Vornehmen oder Glorreichen, und ich kann bei dir leben und für dein Gelege
26 die Tante sein.« Sie nahm vorsichtig einen Schluck von dem Tee und verzog die Schnauze, weil er so bitter war. »Oder wenn du einen Mann findest, könnte ich das Gleiche tun und bei dir leben«, sagte Haner. »Versprechen wir einander, dass wir keinen Drachen heiraten werden, den die andere nicht kennt und mit dem sie nicht einverstanden ist, und dass wir auf diese Weise einen gemeinsamen Haushalt haben werden.« Selendra leerte die Tasse. »Das tun wir«, sagte sie. »Aber es hat den Anschein, dass du eine viel bessere Chance hast, einen guten Mann zu finden, wenn bekannt wird, dass du sechzehntausend Kronen besitzt statt bloß acht.« »Aller Voraussicht nach wird der Tee keine schlechten Auswirkungen haben«, sagte Amer. »Je mehr Sie darüber nachgrübeln, desto schlimmer wird es werden.« »Ich fühle mich bereits besser«, sagte Selendra. In der Tat schien ihre natürliche goldene Färbung zurückzukehren. »Darüber nachzugrübeln, nicht erröten zu können, kann es genauso verhindern wie meine Medizin«, sagte Amer. »Ich grüble nicht«, sagte Selendra. »Ich spreche nur von Haners Aussichten. Da ist dieser Freund von Daverak, der Ehrwürdige Londaver. Er hat doch auf Berends Ball zweimal mit dir getanzt.« »Er bedeutet mir nichts«, sagte Haner nachdrücklich, aber sie lächelte. »Ich schätze ihn«, fuhr Selendra fort. »Man kann auch glücklich sein, ohne zu heiraten«, sagte Amer. Sie kratzte die Kräuterreste aus dem Topf und warf sie ins Feuer, wo sie stinkend verqualmten. »Ich fühle mich schläfrig«, sagte Selendra. »Das ist die Medizin«, sagte Amer und nahm Selendra die Tasse ab. »Ich spüle sie für Sie. Gehen Sie in Ihre Höhle und schlafen Sie. Wenn Sie aufwachen, sind Sie so gut wie neu.« Haner folgte ihrer Schwester in den Korridor hinaus.
26 In ihrer Schlafhöhle ließ sich Selendra auf ihrem Gold nieder. »Das ist mein Ernst, das weißt du doch?«, sagte sie zu ihrer Schwester. »Erzähl allen, dass du sechzehntausend hast.«
»Dann mach du das auch«, sagte Haner. »Sollte sich herausstellen, dass du doch nicht heiraten kannst, werden wir weiter sehen. Und wenn doch, dann wird die, die als Erste einen Ehemann findet, die andere bei sich aufnehmen. Es wäre so schön, so zusammenzuleben, wie wir es immer getan haben. Ich werde dich so sehr vermissen, wenn ich bei Berend bin.« »Ich besuche dich dort«, sagte Selendra. »Berend hat mich eingeladen. Nächsten Frühling komme ich für ein paar Wochen oder einen Monat. In Penns Pfarrhaus ist kein Platz für dich, sodass du mich nicht besuchen kannst, aber wir werden uns nicht fremd werden.« »Aber wenn du in Benandi einen Drachen kennen lernst, den du heiraten möchtest, wird er ein Fremder für mich bleiben.« »Ich bezweifle, dass ich jemals heiraten werde«, sagte Selendra. »Ich dachte immer, ich wollte es, aber was ich vorhin erlebt habe, war so unangenehm, dass ich meine Meinung geändert habe. Ich werde eine alte, graue Jungfer werden, du wirst eine rubinrote Witwe sein und wir werden immer zusammenbleiben.« Selendra gähnte auf eine Weise, die jede Mutter, Gouvernante oder ein Kindermädchen für eine junge Drachendame als unpassend bezeichnet hätte, denn sie entblößte ihr volles Gebiß und den riesigen roten Schlund ihres Mauls. »Die erste von uns, die einen Drachen zum Lieben findet, wird ihn nur dann akzeptieren, wenn die andere ihn kennen gelernt hat und schätzt, und dann werden wir alle zusammenleben«, sagte Haner. »Ich schwöre es«, sagte Selendra und umarmte ihre Schwester.
27 »Ich schwöre es«, wiederholte Haner und erwiderte die Umarmung. Selendra ließ sich wieder auf ihrem Gold nieder, gähnte erneut, diesmal gesitteter mit einer Schwinge vor dem Maul, und schlief ein. Haner betrachtete sie einen Augenblick lang und erkannte mit einem Mal, was Trennung wirklich bedeutete. Für Haner schien die Trennung von Selendra genauso schlimm wie die Trauer über den Tod des Vaters. Sie setzte sich vor den Eingang der Höhle und bereitete sich innerlich darauf vor, ihre Schwester vor jeder kommenden Gefahr zu beschützen.
1 1 . Überraschungen für Penn Penn verbrachte den ganzen Tag auf den Hügeln und betete zu allen drei Göttern. Er bat um Gnade für Selendra, um Weisheit für sich selbst, um das Richtige für sie zu tun, und er betete für die Seele seines Vaters, die in diesem Augenblick ihrer Wiedergeburt entgegenflog. Er wäre gern zu der alten Kirche gegangen, in der er den Göttern das erste Mal nahe gekommen war, aber es bestand die Möglichkeit, dort Freit zu begegnen. Je länger er über Freit nachdachte, desto wütender wurde er. Er versuchte ihm zu vergeben, wie es sich für einen Pfarrer gehörte, er versuchte besser über ihn zu denken, als er es tat, und er versuchte durch Meditation Frieden zu finden. Er konnte ihm einfach nicht vergeben und je länger er über alles nachdachte, desto schlechter dachte er über Freit, aber schließlich fand er eine Art Frieden, als er dort auf der höchsten Spitze der Klippe saß, umgeben von Wind und Wolken, und die Gebete für die Seele seines Vaters immer wiederholte. Auf seinem Rückweg traf er als Erstes seinen Bruder. Avan hatte den Tag ebenfalls damit verbracht, sich um Selendra zu sorgen. Frelts Heiratsantrag hatte selbst die Unverschämt
27 heit des Erlauchten Daveraks gegenüber den Brüdern übertroffen. Penns silberne Augen blickten in die Ferne, wirbelten nur ein oder zweimal in der Minute, denn er hatte seinen Blick tief in sein Inneres gerichtet. Beinahe wäre er über Avan gestolpert, der quer auf dem Sims lag und seinem Bruder den Weg versperrte. »Mir ist da eine Idee wegen Selendra gekommen«, sagte Avan. Penn blinzelte, trat zurück und versuchte, seine Gedanken in die Gegenwart zurückzuholen, wobei er seine mühsam erkämpfte Ruhe verlor. »Aber wieso denn?«, fragte er. »Ich wüsste nicht, dass es eine andere Möglichkeit gibt, als dass er sie heiratet.« »Ich wusste, dass du so denken würdest, aber vielleicht gibt es noch eine andere Lösung.« Avan lächelte und setzte sich, die Beine gekreuzt, den Schwanz um die Beine gewunden und die Arme vor der Brust
verschränkt. »Ich habe eine gute Freundin, die Erhabene Rimalin. Sie hat ein Haus in Irieth und eines auf dem Land, irgendwo im Norden. Ihr Mann ist Minister in der Regierung.« »Ich glaube, ich habe von ihm gehört«, sagte Penn, obwohl er eigentlich keine Freunde in der Politik hatte. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wohin das Gespräch führen sollte. »Sie haben etwas Gold, sind aber nicht reich, nicht wie sonst jene mit dem Titel eines Erhabenen, die man als reich bezeichnet. Aber die Häuser sind ihr Eigentum, und sie haben keine Schulden und werden allerorten als respektable Familie betrachtet. Ich könnte mir vorstellen, dass man den Erhabenen Rimalin dazu bringen könnte, Selendra mit ihrer Mitgift und weil sie meine Schwester ist, mit Wohlgefallen zu betrachten. Und natürlich deine Schwester.« »Dass er sie mit Wohlgefallen betrachtet?« Nun begriff Penn gar nichts mehr. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob Avan etwas wie eine Position als Kindermädchen für Rimalins Kinder im Sinn hatte. »Wieso mit Wohlgefallen?«
28 »Als Frau, natürlich.« »Aber du hast doch gesagt, dass er verheiratet sei, dass du mit seiner Frau befreundet bist.« »Ja, aber genau darum wird es funktionieren, verstehst du nicht?« Avan hatte den ganzen Nachmittag darüber nachgedacht. »Er würde Selendra nicht heiraten, nicht einmal, wenn er noch frei wäre, niemand würde eine Jungfrau heiraten, die kompromittiert wurde, ganz egal, wie verlockend ihre Mitgift auch ist, und Selendras wird ohnehin nur mittelmäßig sein, selbst wenn du und ich etwas dazugeben könnten.« »Ich könnte nichts dazugeben«, sagte Penn hastig. »Ich muss an meine eigene Familie denken.« »Nun, ich könnte eine Kleinigkeit dazugeben, da ich mich in meinem Leben noch nicht endgültig eingerichtet habe«, sagte Avan. »Aber das ist nichts Halbes und nichts Ganzes, es würde keinen großen Unterschied machen. Niemand würde sie zur Frau nehmen, aber dank der Fürsprache der Erhabenen Rimalin könnte der Erhabene Rimalin sie zur Nebenfrau nehmen. Du weißt schon«, fügte er einen Augenblick später hinzu, da Penns Ausdruck ausgesprochen finster wurde. »Die Kirche erlaubt solche Dinge.« »Ich frage mich ernsthaft, wie du so etwas überhaupt für deine eigene Schwester in Erwägung ziehen kannst«, sagte Penn. »Zweifellos sind solche Positionen als Konkubinen für ein paar unglückselige Frauen ohne jede Protektion gut genug, aber wie kannst du glauben, dass Selendra so tief gesunken ist!« »Das wäre besser für Sei, als den Drachen zu heiraten, der sie absichtlich entehrt hat, einen Drachen, mit dem Vater die letzten sechs Jahre in Fehde gelegen hat und den sie verabscheut«, sagte Avan. »Die Erhabene Rimalin ist sehr freundlich, eine Dame, die einen politischen Salon unterhält. Ich könnte Sei oft sehen und darauf achten, dass ihre Position im Haushalt so ist, wie sie sein sollte und nicht 28 in Plackerei ausartet, wie so häufig. Und es würden die Vorkehrungen für sie getroffen werden, die man auch für eine verheiratete Frau trifft, ich spreche von einer formellen Position als Nebenfrau, nicht davon, sie als Konkubine zu verkaufen.« »Vermutlich würde ihr ein Gelege nach dem anderen zugemutet werden, bis sie stirbt, und ihre Kinder hätten kein Erbe«, sagte Penn. »Je formeller das Arrangement, desto weniger Einfluss hättest du, um das Elend zu verhindern, das daraus entsteht. Nein, Avan. Ich würde ein solches Arrangement als Schande betrachten. Ich will nichts mehr davon hören.« Penn sprang über seinen Bruder hinweg; es war kein Flug, aber seine Schwingen waren weiter gespreizt, als es einige Kirchenoffizielle schicklich für einen Pfarrer gefunden hätten. Penn landete anmutig und ging ohne einen Blick zurück in den Korridor hinein, um Selendra einen Besuch abzustatten und sie sofort davon in Kenntnis zu setzen, dass er sich mit Freit wegen ihrer Hochzeit arrangieren würde. Er stieß zuerst auf Haner, die vor der Tür zur Schlafhöhle hockte. »Alles in Ordnung«, flüsterte sie. »Sie schläft, aber sieh doch!« Penn warf einen Blick durch die Türöffnung auf Selendra, die auf dem Gold ihrer Mitgift schlief. Sie lag zusammengerollt mit dem Kopf unter der
Schwinge, das Abbild weiblicher Anmut. Ihre Schuppen waren sauber und glänzend, leuchteten in einem klaren, blassen Goldton, ohne auch nur die Spur eines bräutlichen Rosa aufzuweisen. »Wie hast du denn das geschafft?«, fragte Penn. »Was ist das für Schwindel? Farbe?« Aber er sah erneut hin, und er wusste, dass keine Farbe je so perfekt oder gleichmäßig sein konnte. »Sie brauchte bloß Ruhe, um wieder zu sich zu kommen«, sagte Haner. »Amer hat ihr einen Tee gemacht, und seitdem geht es ihr gut.« Penn sah sie überrascht an. Er wusste nur wenig über
29 Kräuter, auf die verzweifelte Jungfrauen zurückgriffen. Im Priesterseminar hatte man keinen Zweifel darüber offen gelassen, welche Sünde sie darstellten. »Ich spreche mit Amer«, sagte er und ging. Haner starrte ihm hinterher. Amer war in der Vorratskammer und bereitete das Mittagessen vor, indem sie den Rest des Rindfleisches mit Früchten versah. »Wie geht es Ihnen, Gesegneter Penn?«, fragte sie. Amer war sein Kindermädchen gewesen, aber seit er Pfarrer war, hatte sie sich ihm gegenüber stets äußerst respektvoll benommen. Das hatte ihm natürlich gefallen, und er hätte jede ungebührliche Vertraulichkeit sehr übel genommen, aber manchmal stimmte es ihn etwas traurig, wenn er eine Gezwungenheit zwischen ihnen verspürte, wo es einst keine gegeben hatte. »Mir geht es gut«, sagte er. »Amer, ich bin wegen der Hochgeschätzten Selendra hier.« »Die Geschätzte Sei schläft. Ihr wird es wieder gut gehen.« »Was hast du ihr gegeben?« Amer schaute schuldbewusst auf. »Die Geschätzte Haner hat es Ihnen gesagt?« »Sie hat gesagt, du hättest ihr einen Tee zubereitet. Amer, ich muss wissen, aus welchen Kräutern dieser Tee bestand. Die Hochgeschätzte Selendra ist meine Schwester, und sie kommt in meinen Haushalt, um bei meiner Frau und meinen Kindern zu leben, sich unter meinen Freunden und Gönnern aufzuhalten. Ist sie noch Jungfrau, oder hast du ihr ihre Farbe durch ein Täuschungsmanöver zurückgegeben? Sollte sie den Gesegneten Freit heiraten?« »Sie sollte auf gar keinen Fall einen solchen Schurken heiraten, der so etwas tut«, erwiderte Amer, knallte das Fleisch mit Wucht auf den Tisch und wandte sich Penn zu, als sei er immer noch fünf Jahre alt. »Eine Täuschung, also wirklich. Sie ist eine Jungfrau, genauso intakt, als hätte sich dieser Drache, den man lieber den Verdammten als den Gesegneten nennen sollte, niemals gegen sie gedrängt. Zwei Minu
29 ten im Gang! Da braucht es mehr, um die Schuppen einer Jungfrau für immer zu verändern, wenn sie nicht will, dass sie sich verändern. Ich habe ihr einen Tee gegeben, der ihrem Körper hilft, wieder zur Ruhe zu kommen, das ist das Gleiche, als hätte ich ihr Weidenholzrinde gegen ein Fieber gegeben, das ist alles, keine Tricks, keine Täuschung, sie ist nicht für ihn erweckt worden. Eines Tages wird sie für einen guten Drachen eine wahre Gefährtin sein, da brauchen Sie keine Angst zu haben.« Penn war davon nicht so ganz überzeugt, trotzdem verspürte er eine tiefe Beruhigung. Ihm war durchaus bewusst, dass er nach dem Namen der Kräuter gefragt hatte, die Selendra genommen hatte, und dass Amer ihm eine ausweichende Antwort gegeben hatte. Aber er verspürte kein Verlangen, tiefer zu bohren. Diese Versicherung reichte ihm. Er wusste noch, wie sich bei seiner Frau Felm die goldenen Schuppen schlagartig rosa gefärbt hatten, als sie seinen Antrag und seine Umarmung angenommen hatte. Er wollte genau das für seine Schwestern und keine Täuschung. Aber er wollte Selendra auch nicht dazu zwingen, einen Drachen zu heiraten, den sie alle verabscheuten. Den ganzen Tag hatte er sich davon zu überzeugen versucht, dass Freit kein so schlechter Drache war, aber ständig musste er an sein Urteil in der Unterhöhle vom Vortag denken und dass er nicht die Art von Drache war, die er als Schwager haben wollte. Jetzt konnte er das vergessen, so wie er Avans schockierenden Vorschlag vergessen konnte. Er konnte sich beruhigen. »Nun gut. Danke, Amer«, sagte er.
»Noch eine Sache«, sagte das alte Kindermädchen. »Ich habe schon mit der Geschätzten Sei gesprochen, aber sie dürfte noch nicht dazu gekommen sein, Sie darauf anzusprechen. Ich möchte Sie gern nach Benandi begleiten. Ich werde hart arbeiten und Ihrer Frau mit den Kindern helfen, ich werde jede Arbeit tun, die Sie mir auftragen. Ich möchte
30 wirklich in der Nähe der Geschätzten Sei bleiben, jetzt, für den Fall, dass sie mich braucht, wissen Sie? Und außerdem sind Sie immer mein Liebling gewesen, als Sie einer meiner Kleinen waren.« Sie ließ sich langsam auf die Hinterbeine sinken, die Schwingen zurückgebunden, die Arme zu ihm ausgestreckt. »Bitte, Gesegneter Penn. Lassen Sie mich bei den Agornins bleiben.« Penn hatte keinesfalls die Absicht gehabt, Amer mitzunehmen. Er wusste, dass seine Frau Fehn erstaunt darüber sein würde. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie sich eine weitere Dienerin überhaupt leisten konnten. Aber er wusste auch, dass er unmöglich ablehnen konnte. Die Kombination aus Bitte und versteckter Drohung, was möglicherweise mit Selendra geschehen würde, wenn Amer nicht in der Nähe war, um helfen zu können, war zu viel für ihn. Er stellte die alte Drachenfrau wieder auf die Beine. »Aber natürlich nehmen wir dich mit«, sagte er. 30 ABSCHIED VON AGORNIN
12. Fenns Reisevorbereitungen Unsere berühmten Familien wie die Telsties und die Benandis neigen dazu, stets so zu handeln, als wäre der Lauf der Welt für alle Ewigkeit festgeschrieben. Sie ändern in jeder Generation eine Kleinigkeit hier wird ein Bauernhof einem Haushalt angegliedert, dort Marschland trockengelegt, vielleicht auch eine neue Methode der Rinderzucht eingeführt, sodass nun dort, wo einst acht grasten, nun ihrer zehn grasen. Für diese Drachen brauchen Veränderungen viel Zeit. Verbesserungsvorschläge werden sehr sorgfältig untersucht, und ein Adliger sagt vielleicht, dass diese verbesserte Weidemethode möglicherweise etwas sein könnte, das sein Enkel auf profitable Weise beginnen könnte - und das, wenn dieser Adlige gerade frisch vermählt ist. Doch trotz des gewaltigen Grundbesitzes dieser Familien und ihrem großen Einfluss im Adelsrat hat sich der Fortschritt eines Tages auf sie gestürzt, und zwar mit der Geschwindigkeit von mächti
30 gen Schwingen und keineswegs den langsamen, kriechenden Schritten, die sie bevorzugt haben würden. Bon Agornins Gold, nicht das, was er seinen drei jüngeren Kindern vermacht hat, sondern das, mit dem er dreihundert Jahre zuvor das Gut Agornin und den Titel des Ehrwürdigen gekauft hatte, war auf eine Art und Weise verdient worden, die all jene Ehrwürdigen, Erlauchten, Erhabenen, Glorreichen und Vornehmen, die wir erwählt haben, über uns zu herrschen, in einen Topf werfen und mit dem Wort »Händler« abtun würden. Es ist wahr, Bon hatte sich dieser Verbindungen so schnell wie möglich entledigt. Er hatte sie benutzt, um in der Welt aufzusteigen und eine bestimmte Stellung anzustreben, und sobald er sie sich gesichert hatte, hatte er sich nicht mehr darin betätigt. Er hatte sein Haus gekauft, seine mit zwar geringer Aussteuer versehene aber ohne jeden Zweifel adelig geborene Braut geheiratet und von da an sein Vermögen durch ehrliche Landwirtschaft vergrößert sowie seinen Haushalt ausgebaut. Trotzdem hatte er in den folgenden Jahrhunderten den anrüchigen Ruch des Händlers nie ganz hinter sich lassen können. So oft er auch von seiner Jugend auf dem Gut der Telstie mit seiner verwitweten Mutter erzählen mochte und von seinem Gut Agornin, ohne die dazwischenliegende Periode zu erwähnen, haftete dennoch etwas Städtisches an ihm. Die Städte, wie man wohl kaum zu erwähnen braucht, sind allen rechtschaffenen Drachen verhasst - mit Ausnahme von Irieth, und das auch nur, wenn der Adelsrat zusammentritt, oder in den Monaten Knospe und Blüte in den Jahren, in denen der Adelsrat nicht zusammentritt, was allerdings in der letzten Zeit häufig der Fall war. Dieser Schatten der Stadt war in seinen Jahren als Ehrwürdiger nur selten auf ihn gefallen und er hatte seine Kinder kaum berührt. Der Erlauchte Daverak hatte kurz darüber nachgedacht, als er Berend den Hof machte, hatte aber sein Gewissen mit der Erinnerung an ihre Mutter beruhigt,
31 die eine Fidrak gewesen war, was bedeutete, dass, obgleich sie einer verarmten Familie entstammte, das Land ihnen schon in der Zeit vor der Eroberung gehört hatte. Penn war in der Kirche dank der Protektion seiner Freunde aufgestiegen, insbesondere dem Erhabenen Sher Benandi und seiner Mutter, der Erhabenen Zile Benandi. Die Jungfrauen hatten ihren Weg in der Welt noch nicht gemacht, hätten sich aber zuvor niemals vorgestellt, dass es sich als so schwierig erweisen könnte, gute Partien wie Berend zu machen. Was nun Avan betraf, wie er zu Hause auftrat und was er in Irieth tat, das waren zwei unterschiedliche Dinge, wie wir noch sehen werden. In Untertor war das einzige sichtbare Zeichen von Bons einstigen Ausflügen in den Handel die Eisenbahn, die ein Stück Land von Gut Agornin durchschnitt. Es handelte sich um eine Ecke, die fernab von dem Haus lag und auf keinerlei Weise den Blick auf eine Aussicht blockierte oder verdarb, die einem Drachen hätte zusagen können. Tatsächlich war das Land, durch das sie verlief, größtenteils Marschland und zu nichts anderem zu gebrauchen. Die Eisenbahnbauer hatten es trockengelegt und neben der Strecke ein paar Felder geschaffen, die Bon für die Haltung von Zugpferden benutzte. Diese Zugpferde gewöhnten sich langsam an den Lärm vorbeifahrender Züge und konnten dann, weil sie sich an den lauten Verkehr gewöhnt hatten, was ihren Wert erheblich steigerte, in die Städte verkauft werden. Bereits bei ihrer Planung hatte die Eisenbahn für großen Aufruhr in der Region gesorgt und einige der benachbarten Ehrwürdigen hatten sich deshalb mit Bon Agornin gestritten - oder es zumindest versucht -, wie er es wagen konnte, die Landschaft zu verschandeln. Als Bon das Gold der Eisenbahngesellschaft entgegennahm, erinnerte man sich plötzlich wieder an seine Vergangenheit als Händler. Hätte sich Bon nicht einverstanden erklärt, hätte die Eisenbahn eine andere Strecke nehmen müssen, weit von Untertor entfernt.
31 Indem er ihr erlaubte, dieses wenig wichtige Stück seines Landes zu benutzen, ermöglichte er es, Fracht auf direktem Weg von-den Minen von Tolga nach Irieth zu transportieren, ganz zu schweigen davon, dass die Postwege beträchtlich beschleunigt wurden. Drachen, die wegen schwerer Lasten, ihrem Alter oder auch Behinderungen nicht an ihr gewünschtes Ziel fliegen wollten, oder weil sie mit Kindern reisten oder mit Pfarrern oder Dienern, boten sie eine gute Transportmöglichkeit. Als Bon Agornin das Land an die Eisenbahn verpachtet hatte, hatte er darauf bestanden, dass sie einen kleinen Bahnhof bauten. »Das wird für Penn nützlich sein«, sagte er. Penn hatte da bereits mit der Ausbildung für den respektabelsten aller Berufe begonnen. Größtenteils wurde dieser Halt von den örtlichen Bauern benutzt, um Tuch und Apfel in die Stadt zu liefern, wo Obst immer hohe Preise erzielte. Das hatte die Nachbarn, die ebenfalls Obst anpflanzten und die Bahn zum Transport benutzten, langsam mit ihr versöhnt, und mittlerweile betrachtete man Bon beinahe schon als Wohltäter. Penn hatte die Bahn einige Male dazu benutzt, um nach Hause zu fahren, und es war seine Absicht, sie auch jetzt wieder zu benutzen. Die Eisenbahn fuhr nicht den ganzen Weg bis nach Benandi. Shers Vater, der verstorbene Erhabene Benandi, hatte sich entrüstet geweigert, auch nur im Entferntesten etwas damit zu tun zu haben. Sie kam bis auf zwölf Meilen an seinem Haus vorbei, wo es einen kleinen Haltepunkt gab, zu dem man problemlos eine Kutsche schicken konnte, wenn es galt, einen Pfarrer oder Besucher abzuholen. Natürlich konnten auch Karren dorthin fahren, um ihre Güter dort abzuladen, wobei es sich in Benandi im Sommer um Süßbeeren und im Herbst um Tuch handelte. In Benandi war die Eisenbahn viel größerer Geringschätzung ausgesetzt als in Untertor, wo ihr Segen viel deutlicher zu spüren war, da sie so viel näher vorbeifuhr. 31 Eigentlich hatte Penn zusammen mit seiner Schwester bis zur Station Benandi fahren wollen, von wo sie dann die letzten Meilen fliegen sollte, während er die Kutsche nahm, die er sich schicken lassen wollte. Jetzt, da sich Amer zu der Gruppe gesellt hatte, hatte er es sich anders überlegt, und so schrieb er seiner Frau Felin einen Brief.
Die meisten Drachen betrachten Schreiben als weibliche Fertigkeit und Briefeschreiben erst recht. Unter gewöhnlichen Umständen hätte selbst Penn eine seiner Schwestern gebeten, für ihn einen Brief an seine Frau zu schreiben. Aber er war Pfarrer und hatte die schwierige Kunst gemeistert, einen Federkiel zwischen den Krallen zu halten, und er war der Ansicht, dass das, was er Felin zu sagen hatte, von solch privater Natur war, dass er es selbst niederschreiben musste. »Meine Liebe«, schrieb er nach einiger Überlegung, »ich hoffe, Dir und den Kindern geht es gut. Mein Vater ist tot, wie zu erwarten war, möge seine Seele in die Freiheit fliegen. Selendra und ich werden übermorgen nach Benandi abreisen und mit dem Nachmittagszug eintreffen. Es hat sich als notwendig erwiesen, die Dienerin meines Vaters mitzunehmen, Amer, die mein Kindermädchen war. Sie möchte auf jeden Fall lieber uns begleiten, als in Daveraks Haushalt umzusiedeln, aus Gründen, die, wie ich fürchte, wohl hauptsächlich sentimentaler Natur sind, und die, wie ich ebenfalls sehr befürchte, die Erhabene (hier meinte er die Erhabene Benandi) missbilligen wird. Amer wird sich zweifellos nützlich erweisen, bei der Betreuung unserer Kinder wie auch in der Küche; sie ist sehr geschickt im Einmachen und der Herstellung von Medizin.« Nach kurzem Nachdenken strich er die letzten beiden Worte, zog in Erwägung, den Brief von vorn anzufangen, knirschte mit den Zähnen und ließ alles so stehen. Penn hatte bereits entschieden, Felin nicht über Frelts Verführungsversuch bei Selendra ins Vertrauen zu ziehen. Er sagte
32 sich, dass es Fehn nur unnötig aufregen würde, aber in seinem Herzen wußte er, dass es seine Frau veranlassen würde, seiner Schwester zu misstrauen, eine für ihn unglückliche Familiensituation. »Ich weiß, dass Du sie willkommen heißen und die Extravaganz, die eine zusätzliche Dienerin darstellt, als erträglich betrachten wirst«, schrieb er in dem Glauben, dass dies die beste Weise war, seiner Frau gegenüber die Sache in Angriff zu nehmen. »Aber die Erhabene Benandi, die sich so sehr für die Angelegenheiten ihres Reiches interessiert, wird das vielleicht anders sehen und sich auf eine Weise einmischen, die ich als inakzeptabel betrachten würde. Miete darum acht zusätzliche Zugpferde, um uns drei von der Bahn in der Kutsche nach Hause fahren zu lassen. Das ist eine Verschwendung, aber es ist eine, die wir vor der Erhabenen Benandi rechtfertigen können; sollte aber Selendra fliegen und Amer hinterhergehen, würde sie sicher sofort zu der Ansicht kommen, dass wir uns keine weitere Dienerin leisten können.« Penn wusste oder vielmehr glaubte zu wissen, wie er mit seiner Gönnerin umzugehen hatte. Er hatte solche kleinen Täuschungen - oder Ablenkungsmanöver, wie er es lieber nannte - von ihrem Sohn gelernt. »Lass sie wissen, dass Du die Zugtiere gemietet hast, und wenn Du willst, kannst Du Dich bei ihr über meine Verschwendungssucht beschweren.« Auf diese Weise befahl Penn seiner Frau, sich belehren zu lassen, und erlaubte ihr gleichzeitig, zusammen mit ihrer Gönnerin Partei gegen ihn zu ergreifen, falls sie das wollte. Die Erhabene Benandi kannte er, aber Fehn musste er noch besser kennen lernen. Mehr erschien ihm als Botschaft nicht notwendig und er näherte sich dem Ende des Blattes, also erinnerte er sie daran, dass er in zwei Tagen zum Abendessen daheim sein würde, also dem vierten Tag in der ersten Woche des Monats Blätterfall. Er fügte noch seine besten Wünsche für sie und die Kinder hinzu. Dann, höchst zufrieden mit sich, versie
32 gelte er den Brief-, adressierte ihn und ließ ihn von Amer zu der schon gesammelten Post bringen, die man am Abend vom Bahnhof Agornin abholen würde.
13. Tenn und Selendra reisen ab Wie vereinbart kam der Erlauchte Daverak am nächsten Morgen nach Agornin geflogen. Er wollte das Gut formell in Besitz nehmen und Haner zu sich nach Hause begleiten. Er traf kurz nach dem Frühstück ein, das eine sehr melancholische Angelegenheit gewesen war, denn nun stand der Abschied so nahe bevor, dass die beiden Schwestern beim Anblick der anderen jedes Mal erneut in Tränen ausbrechen wollten. Nach dem Essen hatten sie sich alle auf dem Sims versammelt und trotz der dichten Wolken erspähten sie bald Daverak, der mit kräftigen Schwingenschlägen herannahte.
»Es wundert mich, dass er Berend nicht mitgebracht hat«, sagte Selendra. »Es würde dieser ganzen Angelegenheit einen stärkeren Anschein von Rechtmäßigkeit verleihen.« Penn starrte sie wütend an. »Im Gegensatz zur Verteilung seines Leichnams ist es das, was Vater gewollt hat«, warf Avan ein, bevor sein Bruder sprechen konnte. »Ich weiß«, sagte Selendra und beugte unterwürfig den Kopf. »Ich werde nicht unhöflich zu ihm sein und wollte es auch jetzt nicht sein, es ist nur, weil alles jetzt so anders ist, und ich die ganze Zeit weinen könnte.« Haner legte die Schwinge beruhigend um die Schwester und die Brüder ließen sie allein, damit sie weinen konnten, bis Daverak gelandet war. »Guten Tag, Bruder«, begrüßte Penn ihn. »Hatten Sie einen guten Flug?« »Die Winde waren recht stark, aber auf dem Rückweg werden sie mit uns sein«, sagte Daverak. Der Flug nach Daverak
33 dauerte etwas länger als eine Stunde, es waren vielleicht zwanzig Meilen, wenn man Entfernungen in der Luft hätte messen können. »Wollte Berend nicht auf beiden Wegen mit den Winden kämpfen?«, fragte Haner. »Nein«, erwiderte Daverak und warf einen Blick in die Richtung, in der sein Gut lag. »Sie hat gerade entdeckt, dass sie in anderen Umständen ist und wollte das Haus zu diesem Zeitpunkt nicht verlassen.« »Trägt sie bereits Eier?«, platzte Selendra heraus, unfähig, ihre Neugier zu zügeln. »Ja, Veld sei gepriesen«, sagte Daverak und nickte Penn höflich zu, als er den Gott erwähnte, so als würde er das Territorium eines anderen Drachen betreten und höflich um Erlaubnis bitten. Seit Berends erstem Gelege mit den drei Eiern waren kaum vier Jahre vergangen. Selbst Penn, der als Pfarrer predigen musste, dass Nachkommen Velds Segen hatten, war von dieser Neuigkeit und der offensichtlichen Zufriedenheit, die Daverak darüber an den Tag legte, etwas betroffen. »Sie werden Ihre Höhlen voller Drachenkinder haben«, sagte Haner fröhlich, denn die Gesprächspause wurde ihrer Meinung nach etwas zu lang. »Das wollen wir doch hoffen.« Daverak neigte den Kopf. Er hatte den Schwestern seiner Frau nie viel Aufmerksamkeit geschenkt, aber jetzt war er froh, dass es Haner war, die er in seinem Haushalt aufnehmen würde. Auch wenn er es sich nicht hatte anmerken lassen, hatte ihm Selendras Ausbruch nicht im Mindesten gefallen. »Geht es Berend gut?«, fragte Avan. »Sie blüht geradezu auf«, sagte Daverak. »Natürlich kümmert sie sich darum, die richtigen Dinge zu sich zu nehmen, wie zu erwarten war. Natürlich kommt sie sich jetzt sehr erfahren vor, nicht so nervös wie beim letzten Mal.« Obwohl es sich um ihre eigene Schwester handelte, scheu
7b ten sich alle vor der Frage, ob sie das erste Ei bereits gelegt hatte, und Daverak verriet es auch nicht von sich aus. Genauso unmöglich war es für sie, ihn zu beschuldigen, das Leben ihrer Schwester zu riskieren, indem er sie zwang, so schnell nach dem ersten Gelege wieder trächtig zu werden, auch wenn sie alle daran denken mussten. »Nun, wir sollten aufbrechen, wenn wir unseren Zug erwischen wollen«, sagte Penn und beendete damit eine weitere peinliche Pause. Es war noch viel zu früh für den Zug, aber es gab Selendra die Möglichkeit, ihre Sachen zu holen, und Haner konnte sie begleiten. Die drei Männer blieben noch eine Weile sitzen und betrachteten schweigend die Landschaft. Es regnete. »Ich muss mit den Bauern über die Ernte dieses und nächsten Jahres sprechen«, sagte Daverak und ließ die Blicke über die Felder schweifen. Es war seine Pflicht und der Wunsch des alten Bons gewesen, aber dessen Söhne fanden beide, dass Daverak wenig Sensibilität zeigte, wenn er jetzt bereits darüber nachdachte.
»Werden Sie hier einen Verwalter einziehen lassen, um Agornins Bauern zu beaufsichtigen?«, fragte Penn. »Ja, wir dachten, dass das für den Augenblick reicht«, sagte Daverak. »Ich habe einen Cousin, der dafür gut geeignet wäre. Wir haben erwogen, Sie zu fragen, Avan, aber Berend war der Ansicht, dass Ihre Karriere in Irieth so gut vorankommt, dass der Posten als Verwalter des Gutes Ihres Vaters für Sie ein Rückschritt bedeuten würde.« »Ja«, sagte Avan mechanisch. Es stimmte durchaus, dass es mit seiner Karriere voranging, was Gold und gute Aussichten anging, aber er hatte keinerlei Sicherheiten und konnte jederzeit gefressen werden. Ein sicherer Posten als Verwalter unter dem Schutz seines Schwagers würde ihn zwar hindern, seine Karriere fortzuführen, aber es hätte trotzdem die Möglichkeit bestanden, mit Hilfe seiner Freunde in Irieth wohl überlegte Investitionen zu tätigen und weiter aufzusteigen.
34 Es hätte ihn in die Lage versetzt, seinen Schwestern ein Zuhause zu geben. Er hätte seine Sekretärin herbringen müssen, aber das wäre irgendwie machbar gewesen, dachte er und verdrängte den Gedanken an die Schwierigkeiten, die so etwas mit sich gebracht hätte. Es wäre besser gewesen, wenn Daverak das früher vorgeschlagen hätte; er hätte dann sicher den Gedanken an eine Klage verworfen. Augenblicklich nahm in Avans klugem Verstand ein ganzes Gebilde komplizierter, miteinander verbundener Pläne seinen Anfang. »Ich denke, dass es mir trotzdem gut zu Gesicht gestanden hätte. Danke, Daverak.« Daverak blinzelte langsam. »Es tut mir Leid, dass Sie doch dieser Ansicht sind, wir waren sicher, dass Sie es nicht wollten. Ich habe es bereits fest meinem Cousin Vrimid zugesagt, der noch heute in Daverak eintreffen wird.« Er machte eine Schwingengeste leichten Bedauerns und zog leicht sein Bein an, als ob damit alles gesagt sei. Selendra kam zurück und fand Avan auf die Hinterbeine aufgerichtet sitzend und finster dreinblickend vor, während Daverak unbeteiligt dort lag und Penn bekümmert zwischen den beiden kauerte. »Ich bin fertig«, sagte sie. »Dann lass uns gehen«, sagte Penn. »Ihr braucht uns nicht nach unten zu begleiten. Auf Wiedersehen, Daverak, meinen Segen für Ihre Nachkommen, und richten Sie Berend meine besten Wünsche aus. Auf Wiedersehen Avan, und viel Glück in Irieth, halte uns auf dem Laufenden.« Selendra umarmte Avan. »Pass auf dich auf«, sagte er. »Und du pass in Irieth auf«, erwiderte sie. Dann verbeugte sie sich vor Daverak, der dies kühl erwiderte. Haner begleitete sie zum Bahnhof und kümmerte sich um die Kisten, die Selendras Mitgift enthielten, und die Kisten, die Amer aus der Küche mitgenommen hatte. Als der Zug kam, klammerten sie und Selendra sich aneinander, als würden sie sich nie voneinander trennen können. Penn und die Träger verstau
34 ten die Kisten, dann sprang Penn auf den flachen Waggon. Amer folgte ihm. Die Pfeife schrillte und mahnte die Langsamen, sich zu beeilen, da endlich ließ Selendra ihre Schwester los und flog nach oben zu ihrem eigenen Platz neben ihrem Bruder. Sie sah zurück, bis Haner ganz außer Sicht war, bis sie das Gold der Schuppen ihrer Schwester nicht länger von dem Grau der Steine unterscheiden konnte, dann wandte sie den Kopf entschlossen nach vorne und dem neuen Leben zu, das in Benandi auf sie wartete.
14. Haner reist ab Erst nachdem die Dampfwolke des Zuges völlig verschwunden war, wandte sich Haner ab und flog zurück nach Agornin. Sie versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, dass sie im Gegensatz zu Selendra nicht in einen Teil Tiamaths reisen musste, den sie noch nie zuvor gesehen und wo sie keine Freunde hatte. Sie würde lediglich auf Daverak sein, kaum eine Flugstunde von ihrem eigenen Zuhause entfernt, falls sie jemanden finden würde, der bereit war, sie auf einem Flug zu begleiten. Sie hatte Berend mehrere Male auf Daverak besucht, gelegentlich sogar zehn Tage an einem Stück, und sie kannte Daverak gut, während Penns Frau eine Fremde für sie war. Es waren keine sehr tröstlichen Gedanken.
Sie kannte den Erlauchten Daverak zwar, aber sie mochte ihn nicht. Sie hatte einige Zeit in seinem Haus verbracht, sich dort aber nie zu Hause gefühlt - das größte Vergnügen bei den Besuchen bei Berend war die Heimreise gewesen. Jetzt würde es kein Zuhause mehr geben, und wenn sie Agornin besuchte, würde es als Gast sein und sich alles in dem Haushalt verändert haben. Die Mitglieder ihrer Familie, die sie liebten und sich um sie sorgten, schienen der Ansicht zu sein, dass sie Berend bald wieder verlassen würde, um zusammen mit dem Ehr
35 würdigen Londaver, einem Freund von Daverak, ihren eigenen Haushalt zu gründen. Haner bezweifelte das sehr. Sie mochte Londaver, aber ihre Bekanntschaft beschränkte sich bis jetzt auf zwei Tänze in Daverak am Jahresende, und seitdem hatte er sie nicht einmal auf Agornin besucht, obwohl sie ihren Vater gebeten hatte, ihn einzuladen. Sie glaubte nicht, dass er sich genug zu ihr hingezogen fühlte, um sie mit nur achttausend Kronen zu nehmen, nicht einmal mit den sechzehn, die sie haben würde, falls sie und Selendra ihr Geld zusammenlegten. Londaver hatte den Titel des Ehrwürdigen nicht gekauft, so wie Bon Agornin, sondern war es von Geburt an, da sein Vater zum Stand der Erlauchten zählte. Berend hatte bei ihrer Heirat vierzigtausend Kronen mitgebracht, und Haner hatte keinen Grund zu glauben, dass Londaver mit weniger als Daverak zufrieden sein würde. Solange ihr Vater noch am Leben gewesen war und reichlich Zeit gehabt hatte, mehr Gold anzuhäufen, war das kein Problem gewesen. Jetzt jedoch hatte es den Anschein, als ob es noch zu ihren anderen Sorgen dazukam, um sie für immer von dem Drachen zu trennen, bei dem sie das Gefühl hatte, ihn gern geheiratet zu haben. Kein Wunder, dass ihre Schwingenschläge matt waren, als sie vom Bahnhof aufstieg und um den Berg zu dem Ort flog, den sie nicht länger ihr Zuhause nennen durfte! Nur Avan erwartete sie. »Daverak ist losgeflogen, um die Bauern zu besuchen und dafür zu sorgen, dass sie ihn richtig verstehen«, sagte er und ahmte Daveraks Tonfall gehässig nach. »Als würden unsere Bauern Belehrungen dieser Art brauchen.« »O je«, sagte Haner, landete sanft neben ihrem Bruder und hockte sich aufrecht auf die Hinterbeine. »Ich hoffe, er führt nicht zu viele Neuerungen ein und verändert alles.« Nun war Avan, ein aufstrebender junger Drache in Irieth, im Allgemeinen stets dafür, Dinge auf moderne Art zu erledigen und zu verändern, aber in diesem Fall stimmte er sei
35 ner Schwester voll und ganz zu. »Er hat gesagt, er hätte darüber nachgedacht, mich hier als Verwalter einzusetzen, aber sobald er es gesagt hatte, hat er es mir wieder entrissen, hat gesagt, dass er den Posten bereits einem Cousin versprochen habe.« »Aber du hast doch gesagt, du könntest hier nicht leben«, wandte Haner zaghaft ein. »Ich könnte hier nicht leben und in der Nachbarschaft den Platz eines Ehrwürdigen einnehmen. Aber ich hätte das Gut mit Daveraks Unterstützung und als Verwalter beaufsichtigen und euch beiden ein Heim bieten können.« »Oh, Avan, du hättest dich und deine Karriere für uns geopfert«, sagte Haner gerührt. Avan war sichtlich geschmeichelt; er schien im Sonnenlicht zu wachsen, jetzt, da sie erwähnte, er hätte sich für seine Schwestern geopfert. Auch wenn er dabei keineswegs vergaß, dass er seine Hoffnungen und die Sicherheit seiner Position nicht unbedingt hätte aufgeben müssen; das hatte bei seinen Überlegungen durchaus eine Rolle gespielt. Er erlaubte, dass sie in den Hintergrund seines Bewusstseins glitten und genoss die Bewunderung seiner Schwester. Sie blieben auf dem Sims sitzen und sprachen von Avans Edelmut und den alten Zeiten und sahen zu, wie ein Karren langsam auf der Flussstraße auf sie zukam. »Der wird von Daverak kommen, um deine Mitgift zu holen«, sagte Avan schließlich und zeigte auf den Karren. »Ach, müsste ich doch nicht dorthin«, sagte Haner. »Es könnte unangenehm für dich werden, wenn ich Daverak vor Gericht bringe.«
»Nur unangenehm? Es wäre eine unmögliche Situation. Ich kann meinen Namen nicht unter ein derartiges Papier setzen, solange ich unter Daveraks Schutz lebe«, sagte Haner. »Selendra wird sich dir zweifellos anschließen, und ich verstehe, dass du Recht hast, eine Entschädigung zu verlangen, aber bitte mich nicht dir zu helfen.«
36 »Er könnte unfreundlich werden, aber er würde dich nicht herauswerfen«, drängte Avan sie. »Er müsste mich nicht herauswerfen, um so unfreundlich zu werden, wie du es bezeichnest, dass ich nicht länger in seinem Haushalt leben könnte. Ich glaube, du begreifst gar nicht, wie anders das für mich ist. Du kannst deinen Weg gehen, mit deinem Verstand und deinen Klauen, während ich immer auf einen Mann angewiesen sein werde, der mich beschützt. Verstand mag ich ja haben, Klauen hingegen nicht, und auch wenn Hände nützlich sind, um zu schreiben oder Frauenarbeiten zu verrichten, sind sie im Kampf gänzlich nutzlos. Ohne sie bin ich völlig abhängig und darf mich nicht gegen jene wenden, von denen ich abhängig bin, jedenfalls nicht, ohne dass ein anderer Beschützer in Sicht ist. Hätte ich einen Gemahl, oder könntest du, mein Bruder, mich in deinen Haushalt aufnehmen, dann könnte ich mich mit Vergnügen gegen Daverak wenden. So, wie die Situation nun einmal ist, muss ich mich seinen Launen beugen, ganz egal, welche Wünsche ich habe, und kann es unmöglich wagen, mich dir anzuschließen.« Avan senkte den Kopf sehr tief und dachte daran, dass ihm einige Opfer sehr schwer fallen würden. »Es wäre kein einfaches Leben«, sagte er schließlich. »Es wäre auch für mich schwierig und könnte nicht sofort sein, auf keinen Fall heute. Aber wenn du wirklich nicht nach Daverak gehen willst, werde ich dich mit nach Irieth nehmen. Du könntest nicht so leben, wie du es als Hochgeschätzte Agornin solltest, denn ich könnte es mir einfach nicht leisten. Du würdest den Platz meiner Sekretärin einnehmen, möglicherweise auch an ihrer Seite arbeiten müssen. Ich kann auch nicht behaupten, dass dein Leben sicher sein würde, denn du wärst nur so sicher, wie ich es bin, was sich jeden Tag ändert, da sich die Geschehnisse in der Stadt und im Ministerium ändern. Es würde für uns beide einige Einschränkungen bedeuten, aber ich bin bereit sie falls nötig zu ertragen.« Er konnte sich
36 kaum vorstellen, was Penn von ihm halten würde, wenn er an dem einen Tag vorschlug, Selendra solle eine Nebenfrau werden, und am nächsten, Haner Sekretärin. »Sei gesegnet, Bruder, aber das ist nicht nötig«, sagte Haner und küsste Avan auf die Seite seiner Schnauze. »Ich kann es ertragen, mit Berend und Daverak zu leben, so lange du mich nicht bittest, dir bei deinem Angriff auf Daverak vor Gericht zu helfen.« »Natürlich bitte ich dich nicht darum«, erwiderte Avan. »Es ist nur so, mein Anspruch wird viel geringer erscheinen, wenn wir drei nicht gemeinsam auftreten. Aber ich werde nicht darum bitten, wenn die Dinge so stehen.« Sie saßen noch eine Weile traurig zusammen, bis Daverak zurückkehrte, erfüllt von seiner eigenen Wichtigkeit. Die Kisten mit Haners Mitgift wurden auf den Karren geladen, und Bruder und Schwester verabschiedeten sich voneinander. »Kommen Sie und besuchen Sie uns jederzeit in Daverak, wenn Sie sich in Irieth freimachen können«, sagte der Erlauchte Daverak großzügig, als sie sich zur Abreise fertig machten. Avan willigte höflich ein, aber er und Haner wussten, dass das Angebot zurückgezogen und niemals wiederholt werden würde, sobald die Klage vor Gericht eingereicht worden war. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob es der Mühe Wert war - selbst wenn die Klage ohne Haners Hilfe Erfolg haben sollte, würde er von seiner Schwester getrennt werden. Aber Avan war so darauf versessen, sich auf diese Weise zu rächen, dass nichts ihn umstimmen konnte. Er lächelte und wünschte ihnen eine schöne Reise. Dann stieg er auf und flog gegen den Wind nach Irieth, wobei er seine Reise am Abend in Mosswindle unterbrechen wollte. Haner und Daverak flogen mit dem Wind nach Westen, in Richtung Daverak. Haner sah nur einmal zurück, um zu sehen, wie ihr Bruder immer kleiner wurde und der Gipfel, der ihr Zuhause gewesen war, bereits von den Wolken verschlungen war.
37
15. Sebeth Als Avan endlich spät am Abend des Ersten Tages in seiner Wohnung in der Hauptstadt eintraf, müde, wenn auch nicht so erschöpft, wie er gewesen wäre, wäre er die ganze Nacht durchgeflogen, warteten viele Karten und Briefe auf ihn. Viele stammten von seinen Bekannten in der Stadt - der Erhabene Rimalin hatte einen sehr freundlichen Brief geschrieben -, die ihr Bedauern über seinen Verlust zum Ausdruck brachten. Andere waren eher vorsichtig sondierender Natur, als wollten sie Avans neue Stellung erst einmal abwarten. Einerseits hatte er geerbt, andererseits stand der mächtige Agornin nun nicht mehr hinter ihm. Einige davon flößten ihm Unbehagen ein; die legte er zur Seite, um am nächsten Morgen darüber nachzudenken. Alle übrigen Briefe - und das war der Großteil - waren Einladungen zu Veranstaltungen. Zu Beginn des Monats Blätterfall war Irieth nicht besonders bevölkert, aber diejenigen, die das ganze Jahr über hier lebten, genossen die kleinen Festlichkeiten zu dieser Zeit, die das Jubiläum der Stadtgründung vor vielen tausend Jahren durch den uralten, möglicherweise mythischen, Tomalin den Großen mit sich brachte. Manche behaupteten, er hätte Irieth nach seiner Braut benannt, andere wiederum vertraten die Ansicht, dass sie zuerst einen anderen Namen getragen habe, der während der Eroberung durch die Yargen geändert worden sei. Und dann gab es noch jene, denen zufolge Tomalin sie nach den Regenbogen benannt hätte, die man auch manchmal als Rith bezeichnete und in den Frühlingsmonaten über der Stadt sehen konnte. Exotische Angebote wie Flammenspucken im Gleichklang, Wasserfeste und Ausflüge in die Umgebung gesellten sich zu den üblichen Vergnügungen wie Bälle, Würfelspiele, Abendgesellschaften und Picknicks, und Avan wurde zu vielen von ihnen eingeladen. Nachdem er die zahlreiche Korrespondenz durchgesehen
37 hatte, lagen vier Stapel und drei übrig gebliebene Briefe vor ihm. Die ersten beiden Stapel enthielten die Beileidsbekundungen, getrennt nach Aufrichtigkeit. Die anderen beiden waren Einladungen, getrennt in jene, die er höflich wegen seines gerade erlittenen Verlustes ablehnen würde, und die, die er auf jeden Fall annehmen würde - der viel kleinere Stapel. Er hielt die übrig gebliebenen drei Briefe einen Augenblick lang in der Hand. Der erste kam von seinem Anwalt Hathor, der seine Hilfe anbot bei der Anlage von Avans Erbe. »Ich wette einen Bauernhof, dass er die Summe bis auf die letzte Krone kennt«, murmelte Avan und legte den Brief auf den Stapel mit den Einladungen, die er annehmen würde. Der zweite kam von Liralen, seinem unmittelbaren Vorgesetzten im Planungsministerium, der sein Beileid bekundete und wissen wollte, wann Avan wieder an seinen Schreibtisch zurückkehrte. Der dritte Brief kam von dem Erhabenen Rimalin und erwähnte Bon Agornin nicht einmal, sondern deutete auf ziemlich rätselhafte Weise an, dass er eine günstige Gelegenheit wisse, falls Avan über Geld zum Investieren verfüge. Avan betrachtete diesen Brief lange Zeit, dann suchte er nach der Beileidsbekundung der Erhabenen Rimalin. Es bestand nicht der geringste Zweifel, dass sie in derselben Handschrift geschrieben waren. Wenn ein Drache seine Frau als Sekretärin benutzt, gab es dafür nur zwei Erklärungen. Entweder musste er sparsam wirtschaften, was nicht im Mindesten mit der Situation seines Freundes übereinstimmte, und wie Avan sie Penn gegenüber beschrieben hatte, oder er übermittelt äußerst vertrauliche Informationen. Avan hätte sich Rimalins Vorschlag auf jeden Fall angehört, aber jetzt würde er noch weitaus aufmerksamer lauschen. Er ließ die Stapel, wo sie waren. Seine Unterkunft war ein bequemes Gebäude mit zwei Kuppeln, das aus Stein erbaut worden war und ihm zumindest einen Anschein von Beständigkeit verlieh. Darunter befand sich nur eine Schlafhöhle, 37 die allerdings einen eigenen Ausgang zur Straße aufwies. Avan hielt diesen Ort nicht für sicher, aber immerhin verband er Respektabilität mit niedrigen Kosten, also bewahrte er seine Wertsachen bei seinem Anwalt auf und wohnte weiterhin hier.
Er pfiff vor sich hin, als er nach unten zu seiner Schlafhöhle ging, nicht aus Fröhlichkeit, sondern um seine Sekretärin Sebeth zu wecken und ihr unauffällig eine Warnung zukommen zu lassen - falls nötig -, dass er zurückgekehrt sei und erwarte, sie allein vorzufinden. Avan bezeichnete Sebeth als seine Sekretärin, aber es wäre schwer zu sagen gewesen, welches ihr eigentlicher Status war. Sicherlich erfüllte sie die Aufgaben einer Sekretärin, sie schrieb Avans Briefe und überbrachte seine Botschaften, sie war gebildet genug, um als Hochgeschätzte jungfräuliche Sekretärin selbstständig zu handeln. Aber sie hatte nicht den Status einer wirklichen Hochgeschätzten und war auch keine Jungfrau, denn sie war von Kopf bis Fuß gleichmäßig rosafarben. Sie teilte Avans Wohnung und auch oft genug sein Bett, obwohl sie nicht mit ihm verheiratet war. Sie kümmerte sich um seine Kleidung und sein Essen, aber sie war nicht seine Dienerin - ihre Schwingen trugen die Spuren einer früheren Fesselung, aber sie entfalteten sich nun so frei wie die eines jeden Erhabenen in Tiamath. Die Wahrheit über ihre Geschichte und ihren Zustand kannten nur sie und Avan. Sie befand sich allein in der Schlafhöhle, als Avan eintrat, streckte sich und gähnte. »Ich habe dich erst morgen erwartet«, sagte sie und lächelte ihn an. Avan hütete sich sie zu fragen, ob sie einen Freund zu Besuch gehabt hatte, der bei seiner Ankunft gegangen war. Der Pfiff hatte ausgereicht. Er wusste nicht, ob ihre anderen Liebhaber real waren oder nur in ihrer Phantasie existierten, und solange er nicht gezwungen war, sie kennen zu lernen, war er damit zufrieden und glücklich. Sebeth hieß ihn in der Schlafhöhle willkommen. Wie ihm
8b auffiel, hatte sie das Gold bereits auf dem Boden verteilt. »Das muss fortgebracht werden«, warnte er. Er hatte nicht genug Gold, um es für seine Bequemlichkeit oder eine Zurschaustellung zu erübrigen, und für gewöhnlich schliefen sie auf dem nackten Felsboden. »Ich weiß, es wird alles gezählt und fortgebracht werden.« Sebeth zog einen Schmollmund, dann lachte sie. »Aber wir können es genießen, solange es hier ist. Sieh doch, wie schön man sich darauf ausstrecken kann?« Sie ließ ihren Worten Taten folgen und lächelte verführerisch. Sebeth war die Tochter eines Adligen, eines Vornehmen, oder behauptete es zumindest - nicht einmal Avan wusste, wer er war. Wenn er die Adligen und ihr Alter betrachtete, vermutete er manchmal, dass es sich eher um einen Erhabenen oder einen Erlauchten handeln musste als um einen Vornehmen, aber er wollte ihr ihre Illusionen nicht nehmen. Vielleicht waren sie ihr sogar ein Trost in schweren Stunden. Im jungen Alter von knapp dreißig Jahren, mit kaum ausgewachsenen Schwingen, war sie auf dem Weg von ihrem Privatlehrer zum väterlichen Haus entführt worden. Der Entführer hatte Lösegeld verlangt. Er hatte sie mit seiner Nähe gequält und sie zum Erröten gebracht, hatte es aber nicht gewagt, sich ihr aufzuzwingen, bis die Lösegeldforderung verächtlich zurückgewiesen wurde. Danach hatte er sie zu etwas gemacht, das er gern als seine Gefährtin bezeichnet hatte. Später zwang er sie dazu, mit gefesselten Schwingen als Hure auf Irieths Straßen zu arbeiten, die sich keinem Fremden verweigern durfte, der ihr Gold zahlte. Das Gold musste sie ihrem Peiniger geben. Das Schlimmste daran war, wie sie Avan erzählt hatte, dass er ihr eingeredet hatte, es ihm zu schulden, weil das Lösegeld nicht gezahlt worden war. Der Verrat ihres Vaters war für sie fast so schlimm gewesen wie die Unterdrückung, der ihre Familie sie ausgeliefert hatte. »Mein Vater hat gesagt, er habe genug Kinder und dass mein Entführer mich gern behalten könne«, hatte sie
38 gesagt, als sie Avan die Geschichte das erste Mal erzählt hatte. Dieses eine Mal hatte nichts Gekünsteltes in ihrer Stimme gelegen, nichts Neckisches; ihre saphirgrünen Augen hatten beinahe stillgestanden. »Ich blieb bei meinem Peiniger, bis ich ihm meinen Berechnungen zufolge alles zurückgezahlt hatte, das ganze von ihm erwartete Lösegeld. Dann habe ich ihn im Schlaf umgebracht.« Avan war sich nicht sicher, ob sie tatsächlich gewartet hatte, bis sie das Lösegeld zusammen oder einen besseren Beschützer gefunden hatte. Sebeths Leben war voller mutiger Fluchten in letzter Sekunde, Morden, zum Untergang verurteilter Geliebter und Dramatik. Er wusste nie, was er glauben sollte, denn manchmal veränderten sich die Geschichten. Er war sich ziemlich sicher, dass sie von adliger Herkunft
und in die Knechtschaft entführt worden war, aber die Einzelheiten änderten sich mit ihren Stimmungen. Er hatte sie in seinem ersten Jahr in Irieth kennen gelernt, als sie in einem Spielclub als Kartengeberin gearbeitet hatte. Zuerst war er fasziniert und einer der vielen Liebhaber gewesen, die sie jetzt aus eigener Wahl und nicht gegen Gold nahm. Daraus war eine Freundschaft und ein Bündnis entstanden, bei dem Avan ihr Arbeit und seinen Schutz gab, soweit das möglich war. Er bezeichnete sie nicht als Gefährtin oder Gemahlin und er bezahlte sie für ihre Sekretärinnendienste. Gelegentlich zahlte er ihr auch mehr, da das für sie beide von Vorteil war. Avan hätte sie nicht heiraten können. Er war sich durchaus bewusst, dass sie jetzt keineswegs mehr jemanden darstellte, den man als respektabel bezeichnet hätte, und dass unabhängig davon, wie wenig das anfangs auch ihre Schuld gewesen war, sie inzwischen selbst ein Leben gewählt hatte, das von der Gesellschaft nicht akzeptiert worden wäre. Trotzdem mochte er sie sehr und es wäre für ihn ein großes Opfer gewesen, auf sie zu verzichten, wenn er Haner wie angeboten nach Irieth mitgenommen hätte.
39 »Vermisst du deinen Vater?«, fragte sie nach einer Weile. Avan hatte noch keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken. »Ja«, sagte er nach einigem Uberlegen. »Aber fast so schlimm wie sein Tod war die Art und Weise seines Leichenschmauses, und wie Daverak, der Mann meiner Schwester, gegen alle Wünsche meines Vaters verstoßen hat. Ich werde ihn vor Gericht bringen, bis er sich wünscht, sich so verhalten zu haben, wie es ein adlig geborener Drache tun sollte.« »Ist er nicht ein großer Drache und ein Erlauchter?«, fragte Sebeth. Sie lachte. »Gegen einen wie ihn wirst du vor Gericht kaum gewinnen. Du tätest besser daran, dein Gold und deine Verachtung aufzusparen, bis sich dir eine gute Gelegenheit bietet, ihm auf eine andere Weise zu schaden.« Avan dachte einen Augenblick lang darüber nach. »Die Gerichte sind gerecht«, sagte er zögernd. Er hatte nie viel mit ihnen zu tun gehabt, aber sein Vater hatte ihm das immer gesagt. »Ich will mich genau auf diese Weise an Daverak rächen. Außerdem ist sein Rang nicht so viel höher als der meine, und er ist mit meiner Schwester verheiratet.« »Wenn ihn Familienbande nicht von seinem Vergehen abgehalten haben, was wird ihn dann zurückhalten?«, wollte Sebeth wissen. »Das hat dann nichts mehr mit uns zu tun. Das Gesetz wird ihn bezahlen lassen«, sagte Avan. »Nun, wenn du das glaubst«, erwiderte Sebeth, bettete den Kopf auf ihre Arme und war zumindest allem äußeren Anschein nach sofort eingeschlafen.
39
16. Die gefahren der Auszehrung Haners erster Schock bei ihrer Ankunft auf Daverak war die Entdeckung, dass der kleine Lamerak gefressen worden war. »Er war das ganze Jahr lang kränklich«, sagte Berend mit einer Träne im Auge. »Die Leber hat ihm nicht geholfen, der arme kleine Bursche hatte keine Hoffnung zu überleben.« Daverak schüttelte gewichtig den Kopf. »Kommt zum Essen.« Haner konnte nur schwer nachvollziehen, warum Lamerak, nachdem er es so lange geschafft hatte zu überleben, ausgerechnet jetzt hatte gefressen werden müssen. Sicher, es war die Pflicht eines Adligen, selbst seine eigenen Nachkommen für die allgemeine Vervollkommnung der Drachenheit auszusortieren, aber dieser Fall hatte sich doch sehr unvermittelt ereignet. Es war später am Abend während einer von Berends nicht enden wollender langer Klagen über die Strapazen der Gewichtszunahme während der Schwangerschaft, als sie glaubte, eine Antwort gefunden zu haben. Berend benötigte zusätzliche Nahrung und Daverak hatte den vor sich hinkränkelnden kleinen Jungen durchgefüttert, bis klar gewesen war, dass er ersetzt werden konnte. Haner betete zu Jurale um Vergebung dafür, dass sie so etwas Böses über ihre eigene Schwester und ihren Schwager dachte, aber was sie an diesem Abend noch darüber hörte, schien ihren Verdacht eher zu erhärten als zu entkräften. Nach einer unruhigen Nacht in dem bequemen Gemach, das ihre Schwester für sie hergerichtet hatte, frühstückte sie mit der Familie. Die Kinder waren still und hielten nach ihrem fehlenden Gelegebruder
Ausschau. Haners Herz erwärmte sich für sie, nicht zuletzt deshalb, weil sich ihre Eltern so wenig um ihren Verlust zu kümmern schienen und sich frohgemut ihr Frühstück schmecken ließen. Sie versuchte die Kinder abzulenken und zu unterhalten, und hatte
40 einigen Erfolg damit. Am Ende der Mahlzeit lächelten sie und hatten fast einen halben Hammel verspeist. »Wie geht es dir heute Morgen?«, fragte Daverak seine Frau. »Ich fliege zum Dammhof und sehe mir mal die Maje-Brut an. Möchtest du mich begleiten?« »Es ist sehr nah«, sagte Berend mit einem entschuldigenden Seitenblick auf Haner, als müsste sie sich dafür entschuldigen, am Vortag nicht nach Agornin geflogen zu sein. »Kaum mehr als ein Hinsegeln«, bestätigte Daverak. »Vielleicht möchten Sie uns begleiten, Haner? Ein paar unserer Bauern kennen lernen? Sich die Landschaft ansehen?« »Die Majes sind eine sehr alte Familie«, sagte Berend und blickte ihren Mann wie um Bestätigung bittend an. »Sie leben fast schon so lange auf dem Dammhof wie die Daverak auf Daverak.« Daverak neigte den Kopf, um der Behauptung seiner Frau zuzustimmen. »Ich würde mich freuen, Sie begleiten zu dürfen«, sagte Haner höflich. Die Kindermädchen kamen und holten die Kinder ab. Daverak ging ebenfalls hinaus. Haner wusch sich zusammen mit Berend im Esszimmer Gesicht und Brust mit dem Schwamm ab. Das war das erste Mal, dass sie seit ihrer Ankunft mit ihrer Schwester allein war. »Hast du schon das erste Ei gelegt?«, erkundigte sich Haner leise, da sie diese Frage vor Daverak und den Kindern nicht hatte stellen können. »Gestern Morgen«, sagte Berend mit einem selbstzufriedenen kleinen Lächeln. »Es gab gar keine Schwierigkeiten, auch wenn ich seitdem ständig hungrig bin. Das ist normal, wie du sehen wirst, wenn du selbst ein Gelege hast.« »Das wird wohl noch eine Zeit lang dauern«, sagte Haner und fragte sich, ob sie wohl jemals heiraten würde. »Es ist natürlich schön dich hier zu haben und ich möchte, dass du dich hier wie zu Hause fühlst und lange bleibst. Trotzdem müssen wir baldmöglichst einen netten Mann für
40 dich finden und dafür sorgen, dass du gut unterkommst. Es ist viel besser, in Sicherheit zu leben. Wie viel hat dir Vater denn als Mitgift hinterlassen?« »Sechzehntausend Kronen«, sagte Haner wie vereinbart und fühlte, wie sie die Erinnerung an ihren Schwur an Selendra denken ließ, die so weit weg war. So nett Berend auch war, sie war ein schlechter Ersatz für ihre geliebte Gelegeschwester. »Das ist mehr, als ich befürchtet habe, aber nicht so viel, wie ich gehofft hätte«, sagte Berend energisch und streckte sich. »Ich bin mir durchaus bewusst, dass es mein Glück war, eine solch gute Mitgift bekommen zu haben, und möchte nicht miterleben müssen, dass du deshalb unter deinem Stand heiraten musst. Und jetzt still, Daverak kommt zurück. Wir sprechen später noch einmal darüber.« Daverak führte sie zum Sims und von dort aus in die kühle frische Luft eines sonnigen Morgens im Monat Blätterfall. Die Apfel waren reif und ihr Duft stieg zu ihnen in die Höhe, als sie über die Obstgärten flogen. Sie flogen auf den See zu, der den Mittelpunkt des Gutes Daverak bildete. Er schien beinahe die Form eines Drachenauges zu haben, war aber von dunklerem Blau und ruhiger als jedes Auge, das sie je gesehen hatte. Als sie sich dem Ufer näherten, entdeckte Haner eine kleine Insel im Wasser, die durch einen Weg aus aufgehäuften Steinen mit dem Land verbunden war. Dort stand ein kleines Bauernhaus, das ebenfalls aus Steinen erbaut war. Als sie immer tiefer kreisten, um zu landen, fiel Haners Blick auf eine Herde Rinder, unter der sich ein bronzefarbener Drache befand. »Da ist Maje«, sagte Daverak. »Ich schätze, dass die Familie im Haus ist.« Sie kamen heraus gestürmt, als ihre Gebieter landeten, und selbst die Jungen drückten in einer altmodischen Geste des Respekts Krallen und Schwänze auf den Boden. Haner zählte drei zur Hälfte erwachsene Kinder, die dabei waren, Schwin
41 gen zu bekommen, und zwei kleine frisch geschlüpfte. »Nun, nun«, sagte Daverak und lächelte gütig. Eine dunkelrote Drachenfrau, offensichtlich die Mutter der Familie, erhob sich als Erste. »Willkommen auf dem Dammhof, Erlauchte, Erlauchter«, sagte sie. »Das ist meine Schwester, die Hochgeschätzte Haner Agornin«, sagte Berend. »Sie ist gekommen, um eine Weile bei uns zu bleiben.« »Sehr erfreut«, sagte die Bäuerin. Eines der älteren Kinder, dessen goldene Schuppen sie als Jungfrau auswiesen, schaute zu Haner hoch. Diese lächelte freundlich, aber die Jungfrau erwiderte das Lächeln nicht, wie es jeder Bauer auf Agornin getan hätte. Überall nur Fremde, dachte Haner. In diesem Augenblick kam der Vater, der bronzefarbene Drache, der beim Vieh gewesen war, angelaufen und hielt sich aus Ehrfurcht tief am Boden. »Ist hier alles in Ordnung?«, wollte Daverak wissen. »Ja, alles ist hier sehr gut, wirklich ausgezeichnet, danke der Nachfrage«, sagte der Bauer. »Die Apfel sind bereits zur Hälfte geerntet und die Rinder gedeihen hervorragend.« »Und deine Brut?« Er sah seine Frau unbehaglich an. »Problemlos geschlüpft«, sagte er, aber die Haltung seiner Schwingen verriet sein Unbehagen. »Und die anderen beiden?«, fragte Daverak streng. »Die beiden, die ich hier draußen nicht sehe?« Die Mutter stürzte nach vorn und warf sich zu Daveraks Füßen zu Boden. »Verschonen Sie mein Gelege«, rief sie und rieb den Kopf auf dem Boden. »Haben Sie Erbarmen, Erlauchter!« »Es ist nicht an mir, mich zu erbarmen, sondern an Jurale«, sagte Daverak und trat von ihr fort. »Ich will alle vier Neugeschlüpften sehen, oder die Eier. Maje, kümmere dich um deine Frau.« Maje, der Bauer, sah Daverak einen Augenblick lang an.
41 Seine grauen Augen wirbelten vor Aufgewühltheit. Er richtete den Schwanz stocksteif aus, und einen Augenblick lang hatte es fast den Anschein, als würde er Daverak angreifen, auch wenn das selbstmörderisch gewesen wäre. Er war vier Meter lang und Daverak zwölf. Sein kurzes Aufbegehren wich Unterwürfigkeit. »Ich habe dir doch gesagt, dass es sinnlos ist, nach dem letzten Mal«, sagte Maje, legte den Arm um seine Frau und zog sie zur Seite. Sie fing an, laut zu heulen und zu klagen. Daverak stolzierte zu den kleinen Schlüpflingen und fing an, sie genau zu untersuchen. Berend trat näher an Haner heran. »Die unteren Klassen machen daraus immer so einen unschicklichen Aufstand«, sagte sie. »Es kann recht herzzerreißend sein. Sie haben die Schwachen versteckt, obwohl sie doch wissen, dass sie damit nichts erreichen. Die beiden hier draußen werden die stärkeren sein, und die anderen sind irgendwo dort drinnen versteckt.« Daverak betrat das Haus. Die beiden Drachenkinder, die er untersucht hatte, klammerten sich schweigend aneinander. »Sollte nicht ein Priester anwesend sein?«, fragte Haner. Das Erlebnis hatte sie erschüttert, vor allem das verzweifelte Heulen der Mutter, das kein Ende nehmen wollte. »Das Gut ist zu groß für ihn, um überall gleichzeitig sein zu können. Daverak wird ihm die Augen schicken«, erklärte Berend. Daverak kam mit je einem Schlüpfling unter dem Arm heraus. Sie waren klein und grün und offensichtlich nicht überlebensfähig. Bei ihrem Anblick stieß die Mutter ein erneutes Heulen aus, viel lauter noch als zuvor. Sie zappelten und brachen in piepsiges Heulen aus, in das ihre gesünderen Geschwister einstimmten. Haner fröstelte. »Es tut mir Leid, dich all dem auszusetzen«, sagte Berend höflich.
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»Es ist zum Wohl der ganzen Drachenheit, wie es die Kirche lehrt«, sagte Haner und wiederholte die auswendig gelernten Worte. »Und sie sind offensichtlich die Art von Nachwuchs, der aussortiert werden muss«, fügte sie hinzu und sah sie an. »Niemand tut das gern, aber es ist nötig, und wohlerzogene Drachen ertragen es ohne dieses schreckliche Gejammer«, sagte Berend, die schreien musste, um verstanden zu werden. Das Heulen und Jammern übertönte beinahe Daveraks laute Gebete. Haner verstand gelegentlich Satzfetzen. »Velds Segen« und »Jurales Erbarmen« und »damit der Rest stärker werde«. Dann zerteilte Daverak die Drachenkinder geschickt. Sobald sie tot waren, verstummte die Familie. Er ließ die Augen in einen Beutel gleiten, zweifellos für den Priester. Dann sah er die versammelten Drachen an. »Diese lebensunfähigen Schlüpflinge starben für das Wohl der Drachenheit und gemäß der Lehren der Kirche«, sagte er streng. Maje berührte unterwürfig mit den Krallen den Boden. Seine Frau senkte den Kopf. Daverak ließ zwei der winzigen Gliedmaßen vor der Familie ins Gras fallen. Er reichte Haner ein Bein, das sie überrascht annahm, und teilte den Rest mit Berend, wobei er seiner Frau fast einen ganzen Schlüpfling gab. Haner betrachtete das Bein zögernd, sich der Blicke der Familie bewusst, als sie es in den Mund steckte. Sie hatten ihre Portion noch nicht angerührt. Sie nahm einen Bissen und fühlte sofort den starken magischen Geschmack des Drachenfleisches in ihrem Inneren brennen, das sie sich sofort länger und mutiger fühlen ließ. Sie erwiderte den Blick der Mutter und sah in den wirbelnden purpurfarbenen Tiefen ihrer Augen Groll, Trauer und Furcht. 42 DIE GÜTER DER ERHAB ENEN BENANDI
1 7 . Felin Agornin Felin Agornin trat aus ihrem Heim, reckte den Hals, beugte sich vor, spreizte die Schwingen in den Wind und schwang sich in die Lüfte. Es war ein wunderbarer Tag. Die Sonne schien, die Bäume waren noch immer grün, aber es lag ein kalter Hauch in der frühen Morgenluft, der vom Monat Blätterfall kündete, und dass der Winter bald Einzug halten würde. Es war der Morgen, bevor Penn und Selendra Agornin verlassen würden, der Morgen, an dem Felin den Brief ihres Mannes erhielt, der sie über den Zuwachs in ihrem Haushalt informierte. Sie hatte den Brief beim Frühstück erhalten, und auf ihrer Miene hatten sich die verschiedensten Gefühle widergespiegelt, als sie ihn gelesen hatte. Sie war erfreut und überrascht gewesen, von Penn zu hören, dann hatte der Inhalt des Briefes sie zunehmend mit Sorge erfüllt. Noch eine Dienerin! Eine Dienerin, die Penns altes Kindermäd 42 chen gewesen war-und hochmütig sein würde, weil sie für ihn und seine Schwester so wichtig gewesen war! Fehn war bereit gewesen, ihr Bestes zu tun, um Selendra in ihrem Haushalt willkommen zu heißen, aber sie würde deutlich machen, dass es ihr Haushalt war. Selendra war Penns Schwester, die sie aufnehmen und ernähren und beschützen würden. Sie wollte keine unterwürfige Dankbarkeit, aber sie wollte, dass den Tatsachen ins Auge gesehen wurde. Wenn Selendra ihre eigene Dienerin mitbrachte, dann veränderte das beträchtlich ihre Stellung in der Familie. Felm ließ sich nicht von Penns Worten täuschen, dass Amer sich bei den Kindern und in der Küche nützlich machen würde. Eine alte Dienerin der Familie, die Selendra begleitete, würde als Selendras Dienerin angesehen werden, ganz egal, welche Arbeiten sie verrichtete. Und am schlimmsten von allem war, dass ihr Mann erwartete, dass sie der Erhabenen Benandi die Neuigkeit mitteilte. Vor dem unsichtbaren Gericht in ihrem Kopf klagte Fehn ihren abwesenden Gatten der Feigheit, der Verschwendung und der Dummheit an, befand ihn für schuldig und verurteilte ihn. Aber selbst als sie den Brief zur Seite gelegt hatte, wusste sie genau, dass sie dieses Urteil niemandem enthüllen würde, und Penn schon gar nicht. Nicht, dass sie zusammen mit der Erhabenen Benandi Partei gegen ihn ergreifen würde, wie er vorgeschlagen hatte. Hätte sie das gewollt, hätte sie bestimmt nicht auf seine Erlaubnis gewartet, aber sie würde niemals etwas Derartiges tun. Sie wusste, was eine Frau ihrem Mann schuldig
war, auch wenn er es nicht wusste. Sie schickte sofort eine Dienerin los, um für den nächsten Tag Zugpferde zu mieten, vergewisserte sich, dass das Kindermädchen sich um die Kinder kümmerte, und brach auf, um die Erhabene zu besuchen, da sie diese unangenehme Aufgabe keinen Augenblick länger hinausschieben wollte als nötig. Benandi war ein großer Ort, viel größer als ganz Untertor
43 zusammen, und der ganze Besitz gehörte der Erhabenen Benandi. Der Name Benandi galt für das ganze Land, das sich mehrere Flugstunden in alle Richtungen erstreckte. In der Mitte der Domäne lag der Berghaushalt, in dem sich der Hauptwohnsitz der Erhabenen sowie der ihres Sohnes befand, wenn er anwesend war, für gewöhnlich also in den Monaten im Frühling und im Herbst, wenn gejagt wurde. Dieser Haushalt war als Gut von Benandi bekannt. Dieses Gut war ein verwinkeltes Höhlenlabyrinth in der Oberseite einer Klippe. Für den Pfarrer gleichgültig, wer es war, denn das Pfarrhaus wurde normalerweise zusammen mit der Stellung vergeben - gab es am Boden einen mühelosen Zugang und ein Gang im Felsen verband seine Wohnung mit der seiner Gönner. Im Gutshaus gab es eine prächtige, teilweise im alten Stil gehaltene Kapelle, in der die Erhabene normalerweise am Ersten Tag dem Abendgottesdienst folgte. Am Morgen zog sie es vor, die Kirche zu besuchen, die dem Heiligen Gerin geweiht, allgemein aber als Benandi-Kirche bekannt war, die bequemerweise windabwärts im Tal stand. Wie bei vielen unserer Adligen, die eigene Kapellen besitzen, es aber vorziehen, dem Gottesdienst in der Öffentlichkeit beizuwohnen, entspringt dies dem Wunsch, gesehen zu werden, oder seiner Pflicht öffentlich nachzukommen, oder manchmal auch einfach der Abneigung, früh aufstehen zu müssen, um den Gottesdienst in der Kapelle abzuhalten, der notwendigerweise vor dem in der Kirche stattfinden muss. Von der Erhabenen war allerdings allgemein bekannt, dass sie zu sehen wünschte, ob jeder seinen Pflichten gegenüber der Kirche nachkam. Sah sie einen ihrer Bauern oder auch Nachbarn nicht am Morgen des Ersten Tages in der Kirche, betrachtete sie es als ihre Pflicht, ihn innerhalb des nächsten oder übernächsten Tages zu besuchen und der Abwesenheit auf den Grund zu gehen. Die Drachen in der Nachbarschaft von Gut Benandi waren daher am ehesten einem bewunderns
43 wert regelmäßigen und pünktlichen Kirchengang zugeneigt. Fehn hätte den Pfarrergang benutzen und eine halbe Meile durch die Tunnel gehen können, vorbei an der Kapelle in die oberen Höhlen des Hauses der Benandi. Da sie keine Pfarrerin war, entschied sie sich stattdessen zum Flug. Mit Ausnahme des Ersten Tages ging sie nie zu Fuß nach oben, vielleicht abgesehen von seltenen Gelegenheiten, wenn der Erhabene Sher Benandi anwesend war und sie ihre Kinder zu einem Besuch des Hauses mitnahm. Sher mochte Kinder. Den Erhabenen störte die Unordnung nicht, die sie manchmal verursachten. Wenn Fehn das Gutshaus sonst besuchte - selbst wenn Penn zu Fuß nach oben ging -, fing sie auf dem Sims des Pfarrhauses einen Aufwind auf und schwebte einfach zu den Klippen hinauf. Fehn liebte das Fliegen, das heißt, sie liebte es, wenn sie einen Vorwand dafür fand. Sie hätte niemals ihre Pflichten vernachlässigt, nur um fliegen zu können. Aber sie kannte keine Freude, die dem Gefühl des Windes unter ihren Schwingen gleichkam. Sie flog sanft los und stieg in einer mühelosen Spirale in die Höhe, löste sich kaum von der Steilkante, denn sie kannte die Luftströmungen sehr gut, und landete anmutig auf dem Sims des Hauses. »Gut geflogen«, sagte eine unerwartete Stimme. »Sher!«, sagte Fehn und drehte sich erstaunt um. Der Erhabene Sher Benandi lag mit erhobenem Kopf auf dem Sims, die polierten Bronzeschuppen seines achtzehn Meter langen Körpers funkelten im Morgenlicht. »Ich wollte sagen Erhabener Benandi«, korrigierte sich Fehn leicht verwirrt. »Ich wusste nicht, dass Sie zu Hause sind.« »Oh, Ihnen eine gute Jagd, Gesegnete Agornin, wenn wir schon so förmlich sein müssen, was meiner Meinung nach Unsinn ist. Ich habe Sie Fehn und Sie mich Sher genannt, schon als wir noch kleine schwingenlose Schlüpflinge waren, die zusammen herumgekrochen sind. Und da Sie nicht wuss
44 ten, dass ich da bin, sagen Sie jetzt nicht, dass Sie gekommen sind, um meiner Mutter einen Besuch abzustatten, und mich nicht sehen wollen.« Sher verzog den Mund zu einem absurd übertriebenen, anzüglichen Grinsen. Fehn lachte, ein Lachen, das prickelnd wie Perlen von ihren Zehen aufgestiegen zu sein schien. Sie hielt es als Frau eines Pfarrers nicht für schicklich, auf diese Weise zu lachen, aber wie Sher bereits zu Recht gesagt hatte, kannte sie ihn seit ihrer Kindheit. »Ich bin entzückt Sie zu sehen, nur überrascht, das ist alles. Ich bin Ihrer Mutter erst gestern begegnet, und sie hat mir nicht gesagt, dass Sie erwartet werden.« »Lässt sie Sie jeden Tag antanzen?«, fragte Sher missbilligend und fuhr dann fort, ohne auf eine Antwort zu warten. »Nun, die Wahrheit ist, ich bin aus einer Laune heraus gekommen. Mein Aufenthalt erwies sich als verdammt langweilig, und ich dachte mir, etwas Ruhe zu Hause würde mir gut tun.« »Würde sich nach einem Gelage als erholsam erweisen, meinen Sie«, erwiderte Fehn und wünschte sich im selben Augenblick, es wieder zurücknehmen zu können. Sher sah müde aus; es war nicht nur die Müdigkeit eines langen Fluges, sondern schien die Art von Müdigkeit zu sein, die von Problemen herrührte. Sher lachte pflichtschuldig. »Meine Mutter hat mich gedrängt.« Fehn lächelte ungläubig, denn sie wusste nur zu gut, dass Sher gelernt hatte, seine Mutter zu ignorieren und ihr Honig ums Maul zu schmieren. »Sie muss hocherfreut sein, Sie zu sehen.« »Sie wäre glücklicher gewesen, hätte sie einen Monat zur Vorbereitung für meine Rückkehr gehabt«, sagte Sher reuig. »Ich bin aus den Räumen geflohen, um dem ganzen Trubel zu entkommen, der sofort nach meinem Eintreffen losgegangen ist, obwohl es darum geht, das bequemste Gold in
44 mein Bett zu tun, und meine sämtlichen Lieblingsgerichte vorzubereiten. Zweifellos werden Sie eingeladen werden.« »Aber nicht heute, denn Penn ist noch nicht zurück.« »Er ist nicht da? Obwohl doch erst vor drei Tagen der Erste Tag war und in zweien der nächste Erste Tag ist? Was hat sich meine Mutter nur dabei gedacht, das zu erlauben?« Bons Tod hatte in Fehns Leben eine so große Rolle gespielt, dass sie gar nicht auf die Idee kam, dass jemand nichts davon wissen konnte, und einen Moment lang fand sie Shers leisen Spott doch sehr befremdlich. »Die Erhabene ist einen Ersten Tag auch ohne Penn zurechtgekommen, allerdings hat er dafür gesorgt, dass der Gesegnete Hape seine Predigt in der Kirche übernommen hat. Aber sein Vater lag im Sterben und ist nun tot, also musste sie auf ihn verzichten.« »Der alte Bon ist gestorben? Das tut mir sehr Leid zu hören«, sagte Sher, und in seinen großen dunklen Augen lag ein Ausdruck tiefen Bedauerns. »Ich vermute, Sie haben ihn nicht gut gekannt, aber er war ein prächtiger alter Drache, der Fels der Berge. Ich habe Agornin mehrere Male besucht, als ich noch auf der Schule war. Was wird aus dem Gut? Penn kann es natürlich nicht übernehmen, aber was ist mit seinem kleinen Bruder?« »Nein, obwohl der alte Bon gehofft hatte, noch lange genug zu leben, damit er es konnte«, erklärte Fehn. »Avan, der Bruder, ist noch nicht soweit, also wird es von dem Erlauchten Daverak verwaltet werden, der mit Penns Gelegeschwester Berend verheiratet ist, bis es an eines seiner Kinder geht.« »Ich erinnere mich an Berend.« Sher lächelte. »Ich sehe sie gelegentlich in Irieth, wo sie sich mir gegenüber wie eine hochmütige Erlauchte verhält, so als hätte ich sie nie den Berg hinuntergejagt, während sie fliegen lernte. Trotzdem, es ist schade um Agornin. Penn hätte etwas sagen sollen, vielleicht hätte ich seinem Bruder helfen können. Dazu ist es jetzt jedoch zu spät.«
44 Dieses Angebot, das kam, als es zu spät war, erschien Fehn so typisch für Sher, dass ihr darauf keine Antwort einfiel. »Ich muss zu Ihrer Mutter«, sagte sie.
1 8 . Die Erhabene
Im Haus der Benandi herrschte keinesfalls die Aufregung und Betriebsamkeit, von der Sher gesprochen hatte. Das lag daran, dass seine Mutter eine ausgezeichnete Gutsherrin und Wirtschafterin war. Begleitet von Sher fand Fehn mühelos wie immer ihren Weg durch das Labyrinth der Oberhöhlen, um die Erhabene Benandi in ihrem Arbeitszimmer in der Nähe der Küche vorzufinden. An den meisten Vormittagen wäre die Erhabene entzückt gewesen, Fehn zu empfangen. Fehn war eine ihrer Auserwählten, insoweit die Erhabene es sich überhaupt gestattete, solche zu haben. Sie nahm auf jeden Fall freundlich Interesse an Fehn und schätzte sie so sehr, wie sie jedermann schätzte. Sie selbst hatte bei Fehns Erziehung mitgeholfen und ihre Heirat mit Penn arrangiert. Fehn war nicht mit den Benandis verwandt. Ihr Vater, ein Drache von adliger Herkunft aber ohne jedes Vermögen, war ein Kriegskamerad des verstorbenen Mannes der Erhabenen gewesen, des Erhabenen Marschalls Benandi. Etwa zurzeit von Fehns Schlüpfen waren sie zusammen in ein Scharmützel an der Landesgrenze zu den Yargen geraten und sie beide waren verwundet worden. Fehns Vater war fast sofort seinen Verletzungen erlegen. Der Marschall hatte sich zwar wieder leidlich erholt, war aber aus dem Dienst ausgeschieden und hatte die Grenze jüngeren Drachen zur Verteidigung überlassen. Als er der Gemahlin und den Kindern seines Freundes die Nachricht seines Todes überbrachte - er konnte ihnen nichts außer der Nachricht überbringen, denn der Leichnam war bereits von seinen Kameraden verschlungen wor
45 den, wie es seit undenklichen Zeiten der Brauch beim Militär war -, hatte er entdecken müssen, dass sie in Armut lebten. Der gutherzige alte Marschall hatte sie nach Benandi mitgenommen und ihnen einen eigenen kleinen Haushalt eingerichtet. Fehns Bruder erkrankte unglücklicherweise und wurde kurz darauf gefressen, aber Mutter und Tochter lebten bis zum Tod des Erhabenen weiterhin unter seinem Schutz. Die Erhabene Benandi hatte sich zu Anfang über die Wohltätigkeit ihres Mannes diesen Fremden gegenüber geärgert, hatte sie dann jedoch nach und nach schätzen gelernt und Fehn schließlich aufrichtig ins Herz geschlossen wie niemanden sonst außer ihrem Sohn Sher. Es hatte Zeiten gegeben, vor allem in den Jahren nach dem Tod von Fehns Mutter, da hatte die Erhabene sie beinahe wie eine eigene Tochter behandelt. Als Sher studierte, hatte sich eine gewisse Kühle zwischen ihnen eingestellt, denn es hatte den Anschein gehabt, dass Sher bei seinen Besuchen zu Hause seiner einstigen Spielgefährtin gegenüber eine unerfreuliche Zärtlichkeit entwickelte. Diese Kälte war durch eine größere Herzlichkeit als zuvor ersetzt worden, als die Erhabene bemerkte, dass ihre Schutzbefohlene alles in ihrer Möglichkeit Stehende tat, um ihren Sohn auf sanfte Weise zu entmutigen. Danach hatte die Erhabene Pläne geschmiedet, einen passenden Mann für ihre Schutzbefohlene zu finden - den sie für ihre Stellung im Leben für angemessen hielt. Penn, Shers Schulfreund und Gefährte beim Studium, hatte seine Gelübde abgelegt und war der Erhabenen ausgesprochen passend erschienen. Benandi konnte sich einen eigenen Pfarrer leisten und durch einen Glücksfall war die Stellung gerade frei geworden. Die Erhabene hatte ihren Sohn dazu überredet, Penn zu einem langen Besuch einzuladen. Sobald er da war, sorgte sie dafür, dass er ausreichend Gelegenheit erhielt, sich in Fehn zu verlieben. Es war keine beson
45 dere Überraschung, dass Penn und Fehn ein Paar wurden, denn Penn war von ernster Gesinnung und bereits alt genug, um sesshaft zu werden. Sobald die Verlobung in die Wege geleitet worden war, bot sie ihm den Posten an, der ihnen die sofortige Heirat erlaubte. Die Behauptung, es wäre unschicklich von ihr gewesen, für Fehns Mitgift zu sorgen, hätte sie sicherlich entsetzt, aber im Grunde war genau das geschehen. An diesem Morgen war die Erhabene jedoch schwer damit beschäftigt, den Haushalt zur Bequemlichkeit ihres Sohnes herzurichten und sie wollte dabei von niemandem gestört werden - am wenigsten von dem Sohn, für dessen Wohl sie sorgte und der durch sein unangekündigtes Eintreffen so wenig an das ihre gedacht hatte. »Sher, ich dachte, du hättest es dir für eine Weile draußen bequem gemacht? Guten Morgen, meine Liebe«, fügte sie an Fehn gerichtet hinzu.
»Guten Morgen, Erhabene, ich werde Sie nicht lange aufhalten«, sagte Fehn und küsste die dargebotene Wange der Erhabenen. Die Erhabene Benandi wies das dunkle Rot einer Damaszenerrose auf, während Fehn die Farbe eines Abendhimmels hatte, der schönes Wetter versprach. Der Anblick ihrer sich berührenden Wangen versetzte Sher einen ungewollten Stich. Er erinnerte sich an die kurze Zeit, in der er, obwohl man ihn kaum als Erwachsenen betrachtet hatte, in Fehn nicht die Schwester gesehen hatte. Einen Augenblick lang wünschte er sich - zumindest beinahe -, er hätte selbst eine rosenfarbene Frau, die seine Mutter auf diese Weise ehrte, die ihn vielleicht auf die gleiche Weise begrüßte. Seit Jahren, seit er die Universität verlassen hatte, war er damit zufrieden, seine Zeit und sein Gold zu verschwenden. Jetzt kam er in ein Alter, in dem es ihn weniger zufrieden stimmte als zuvor. Er wollte in seiner Schlafhöhle Gold anhäufen und es nicht für seichte Vergnügungen verschleudern, sich ein Zuhause schaffen und seine Güter hüten und länger werden, wenn er konnte. Seine Mutter hatte ihn im
46 mer gewarnt, dass er eines Tages würde sesshaft werden wollen, und doch war er erstaunt, so wie alle Drachen, die das Glück haben, so lange zu leben, darüber erstaunt sind, dass dieses Gefühl nun auch sie am Ende überkommt. »Das ist sehr lieb von Ihnen, Fehn, denn ich habe heute noch tausend Sachen zu erledigen«, sagte die Erhabene und schob den Brief von sich, den sie gerade schrieb. »Ich bin nur gekommen, um Ihnen zu sagen, dass Penn morgen mit dem Nachmittagszug eintrifft.« »Ich werde die Kutsche schicken«, sagte die Erhabene und machte sich sofort eine Notiz. »Er hat mir geschrieben und darum gebeten, zusätzliche Zugpferde zu mieten, um ihn vom Bahnhof abzuholen, denn außer seiner Schwester bringt er noch eine der Dienerinnen mit hierher.« »Sie bringt ihre eigene Dienerin mit?«, fragte die Erhabene und rollte mit den Augen. »Diese Art Anmaßung hätte ich nun nicht von einer von Bon Agornins Töchtern erwartet.« »So wie Penn sie immer beschrieben hat, ist Selendra eine zurückhaltende Jungfrau«, sagte Fehn und verdrängte ihre wahren Ansichten zu dem Thema Amer und Selendra und übernahm die Rolle, die Penn ihr zugedacht hatte. »Die Dienerin ist für uns alle bestimmt, für den Haushalt. Mehr Hilfe zu haben wird nützlich sein, jetzt, da die Kinder keine kleinen Schlüpflinge mehr sind. Es wird praktischer sein, eine Dienerin zu haben, die Penn kennt und der er vertraut, als eine ausbilden zu müssen oder eine einzustellen, die für uns alle eine Fremde ist.« »Es gibt keinen Grund, auf Benandi eine fremde Dienerin einzustellen«, sagte die Erhabene und stürzte sich auf den Köder, genau wie Fehn es vorhergesehen hatte. »Ich hätte Ihnen eine Bauerntochter zur Verfügung gestellt, die nur nach Ihren Wünschen hätte angelernt werden müssen, deren Eltern froh gewesen wären, sie eine solche Stelle antreten zu lassen.« Die Erhabene glaubte, Fehn hätte tatsächlich erwo
46 gen, eine neue Dienerin einzustellen, während sie Penn die gleiche Geschichte niemals abgenommen hätte. »Ich hatte noch nicht weiter darüber nachgedacht, als sich das Problem auf diese Weise gelöst hat«, sagte Fehn und zuckte hilflos die Schultern. »Nun, ich hoffe, sie ist eine gut ausgebildete und gehorsame Dienerin«, sagte die Erhabene einlenkend. »Ich werde sie mir ansehen, wenn ich Gelegenheit dazu habe. Ich bin sehr erstaunt, dass der Gesegnete Agornin es für nützlich hielt, Zugpferde zu mieten, um sie vom Bahnhof herzubringen. Das ist doch keine Entfernung. Nur zwölf Meilen. Die Dienerin hätte zu Fuß gehen und seine Schwester fliegen können. Was für eine Verschwendung.« »Zweifellos kann sich der alte Penn ein oder zwei Zugpferde leisten«, meinte Sher und lächelte Fehn auf eine Weise an, die ihr verriet, dass er ihre oder vielmehr Penns Strategien im Umgang mit seiner Mutter durchschaut hatte. »Sicherlich kann er das, aber ist das auch angemessen?«, fragte die Erhabene. »Hätte er das auch getan, wenn er darüber nachgedacht hätte? Gold, das man heute spart, kann morgen die Rettung der Familie
bedeuten. Hätte Fehns armer Vater seinen Militärsold gespart, hätte seine Familie nicht die ganzen Jahre von unserer Mildtätigkeit leben müssen.« »Sicherlich bedeuten ein paar Zugpferde nicht, dass Penns Kinder auf der Straße verhungern müssen«, widersprach Sher. »Es ist nie nur eine einzige Sache, sondern immer viele Dinge, die zusammenkommen«, erwiderte die Erhabene eisig, denn das war eine Lektion, die sie sich wünschte, ihm als Kind nachdrücklicher erteilt zu haben. »Penn ist im Allgemeinen niemals extravagant«, sagte Fehn loyal ihrem Mann gegenüber und übertönte wieder die Stimme ihres privaten Urteils. »Ich habe die Zugpferde bestellt, um die er mich gebeten hat.«
47 »Ein Pfarrer sollte ein Vorbild sein«, sagte die Erhabene. »Ich bin davon überzeugt, dass eine alte Dienerin aufzunehmen ein gutes Beispiel dafür ist«, sagte Sher. »Alt? Nicht zu alt zum Arbeiten, hoffe ich?«, hakte die Erhabene sogleich nach. Fehn sah Sher stirnrunzelnd an, der ihr ein entschuldigendes Lächeln schenkte. »Ich kenne ihr genaues Alter nicht, aber sie kann nicht mehr jung sein, wenn sie Penns Kindermädchen war. Er sagt, sie sei sehr erfahren im Umgang mit Kindern«, fügte Fehn hinzu in der Hoffnung, die Argumente der Erhabenen zu entkräften. »Sentimentalitäten«, schnaubte die Erhabene. »Ich hoffe, sie erweist sich nicht als Last für Sie, Fehn.« »Ich bin sicher, sie wird eine große Hilfe sein«, sagte Fehn, obwohl sie die Bedenken der Erhabenen insgeheim völlig teilte. »Sie müssen alle drei morgen zum Essen kommen«, sagte die Erhabene. »Bringen Sie die Dienerin vorher zu mir herauf, damit ich sie mir ansehen kann, dann können wir sie zu Ihnen nach Hause zurückschicken und der Gesegnete Agornin kann mich der Hochgeschätzten Agornin im Esszimmer vorstellen. Wir wollen, dass sie sich bei uns zu Hause fühlt. Das arme Kind, es wird schwer für sie sein, alles Vertraute zurücklassen zu müssen. Wir werden freundlich zu ihr sein und sie willkommen heißen.« »Sie treffen mit dem Nachmittagszug ein«, sagte Fehn. »Das könnte etwas spät fürs Abendessen werden, Sie werden sie bestimmt nicht staubbedeckt von der Reise sehen wollen. Es könnte besser sein, es auf übermorgen zu verschieben, und dann kann ich Ihnen Selendra am Morgen vorstellen, was viel zwangloser sein dürfte, als wenn Penn sie beim Abendessen präsentiert.« Die Erhabene Benandi legte den Kopf schief und starrte einen Moment lang die Wand an. »Also gut«, sagte sie schließlich in einem Tonfall, als würde sie ein großes Zuge
47 ständnis machen. »Aber in diesem Fall müssen Sie heute Abend zum Essen kommen. Ich habe Sie nicht gesehen, seit Penn abgereist ist, und heute Abend wird es nur die Familie sein.« »Ja, kommen Sie, Gesegnete Agornin, und bewahren Sie uns davor, uns allein zum Essen niedersetzen zu müssen und uns zweifellos über dem servierten Schwein gegenseitig umzubringen«, fügte Sher hinzu. Fehn hustete, versuchte aber eine Miene aufzusetzen, die eher schockiert als amüsiert wirkte. »Keiner von uns kann hier deine billigen Scherze gebrauchen, Sher«, sagte die Erhabene. »Sie amüsieren uns nicht im Mindesten.« »Ich verlasse Sie jetzt und sehe Sie dann heute Abend«, sagte Fehn. Sie hatte erreicht, was ihr Mann und sie für ihn gewollt hatte und sie wollte nicht die Zeit ihrer Gönnerin verschwenden. Ohne die geringste Ahnung zu haben, welche Wirkung dies bei Sher auslösen würde, küsste sie zum Abschied die Wange der Erhabenen.
1 9 . Shers Aussichten Die Erhabene Benandi hatte nicht viel für Schwelgereien in der Vergangenheit übrig, die bei Dichtern und Sängern so beliebt waren und in der Drachen in Höhlen auf weit voneinander entfernten Bergen hausten und noch keine Ahnung von wahrer Kultur hatten. Wann immer jemand ihr gegenüber die Sprache auf Dinge vor der Eroberung der Yargen brachte, lüftete sie für gewöhnlich geringschätzig die Schwingen. Natürlich kannte sie viele prächtige, romantische und zweifellos wenig zutreffende Balladen
über diese Zeiten, wer kennt sie nicht, und wenn ihr diese Lieder einfielen, musste sie häufig dabei an ihren Sohn denken. In jenen alten Zeiten zogen junge Drachen, denen Schwingen
48 gewachsen waren, in die Welt hinaus und bestanden Abenteuer, so wie es junge Drachen noch heutzutage wünschen. Aber damals drehten sich die Abenteuer darum, Gold anzuhäufen und es nicht mit vollen Händen auszugeben. In den acht oder neun Jahren, seit Sher die Universität verlassen hatte, waren ihr seine ständigen Extravaganzen eine Qual gewesen. Drachen denken für gewöhnlich in Zeitspannen von Hunderten von Jahren und oft in Tausenden, wenn es darum geht, Familien und Hausstände zu planen. Es bereitete der Erhabenen Benandi beinahe körperliche Schmerzen mit ansehen zu müssen, wie ihr Sohn Gold, für dessen Beschaffung man zehn Jahre gebraucht hatte, in einer Nacht am Spieltisch durch die Krallen rinnen ließ. Junge Drachen suchen Abenteuer, ob es nun darum geht, Prinzessinnen zu entführen, gegen Ritter zu kämpfen oder den ganzen Tag lang gefährliche Tiere zu jagen und die halbe Nacht beim Würfelspiel zu verbringen. Es gibt Leute wie Bon Agornin oder auch wie seinen jüngeren Sohn Avan -was sie allerdings nicht wusste -, denen es selbst heutzutage gelingt, in ihren wilden Jahren durch den hohen eigenen Einsatz ein Vermögen zusammenzutragen. Aber weitaus öfter sind sie wie Sher, die ihres verlieren und kaum wissen, wo der Gewinn von Jahrhunderten geblieben ist. Manche Eltern versuchen das Ungestüm ihrer Söhne in die richtige Richtung zu lenken, indem sie sie zum Militär schicken, was in Kriegszeiten durchaus zufrieden stellend funktioniert, in Friedenszeiten in einem vornehmen Regiment aber ruinös sein kann. Andere organisieren Reisen in ferne Länder - aber Romantik und Abenteuer, die einst in fernen Ländern zu finden waren, bestehen heutzutage leider oftmals nur im Scheppern des Würfelbechers, den man zwar auch zu Hause findet, der dort jedoch von den flinken Fingern der Yargen geführt wird. Die Erhabene hatte nichts dergleichen getan, sondern auf die Vernunft ihres Sohnes vertraut. Aber sie hatte beinahe schon das Vertrauen in ihn
48 verloren, bis er an diesem Spätsommermorgen so unerwartet heimgekehrt war. Sie erkannte seine Rückkehr als das, was sie war. In den Tagen der alten Barden kehrte der starke junge Drachenherr nach vielen Kämpfen und der Anhäufung seines Vermögens auf seinen Landsitz zurück, wenn er bereit war, sich niederzulassen, und für gewöhnlich brachte er eine Braut mit. Selbst heute war das noch oft der Fall; die Aussicht auf eine besondere Jungfrau verführte einen Drachen meist, sich endlich niederzulassen. Jede Mutter mit Töchtern träumte davon, dass ihre die Jungfrauen sein würden, die die Aufmerksamkeit eines akzeptablen Drachens von Rang erregten, der an diesem Punkt seines Lebens angekommen war. Die Erhabene Benandi war dankbar, dass sie nie Töchter gehabt und nur einen Sohn großgezogen hatte, der ihren Frieden stören konnte. Sie hatte gehofft, dass sich Sher niemals für eine besondere Jungfrau interessieren würde, was auch bislang nicht geschehen war, sah man einmal von der kindischen Schwärmerei für Fehn vor ein paar Jahren ab. Sie hatte während seiner ganzen wilden Jahre davon geträumt, dass sie, wenn er das Bedürfnis verspürte, sesshaft zu werden, selbst eine angenehme, geeignete Schwiegertochter würde aussuchen können, deren Reichtum und Stellung dem Status ihres Sohnes entsprach. Sie wollte etwas tun, das in jenen prähistorischen Tagen so gut wie undenkbar gewesen wäre, nicht weil Drachen den Überredungskünsten ihrer Eltern weniger zugänglich gewesen wären, sondern weil es so gut wie unmöglich gewesen wäre, dass eine Mutter nach der Geburt ihres Sohnes so lange überlebte. Seit Jahren hatte sie die Güter der Nachbarn besucht, um die Töchter der Familien kennen zu lernen, und war sogar während der Saison nach Irieth gereist, um sich jedes Jahr die Auswahl der dort in die Gesellschaft eingeführten Jungfrauen anzusehen. Sher hatte das alles mit ausgesprochener Gleichgültigkeit betrachtet und sie hatte
48 ihn seinen Weg gehen lassen. Aber jetzt, da er die Anzeichen zeigte, endlich sesshaft zu werden, war offensichtlich der Zeitpunkt gekommen, ihm die Ergebnisse ihrer Arbeit vorzustellen.
Ihre Favoritin war die Hochgeschätzte Gelener Telstie. Sie war die Nichte des amtierenden Vornehmen Telstie, die zwar nicht über einen eigenen hohen Titel verfügte, aber aus einer ausgezeichneten Familie stammte. Ihr Vater war ein Pfarrer, der in der Hierarchie der Kirche einen hohen Posten bekleidete, sehr reich war und darauf wartete, bei der nächsten Gelegenheit zu Seiner Heiligkeit aufzusteigen. Außer Gelener hatte er noch zwei Söhne zu versorgen, aber da ihr Onkel, der Vornehme, keine Kinder mehr hatte, konnte man davon ausgehen, dass einer von ihnen in den Hauptzweig der Familie adoptiert und der andere der Kirche beitreten würde, in der sein Vater großen Einfluss hatte. Gelener, die einzige Tochter, sollte angeblich über eine Mitgift von siebzigtausend Kronen verfügen. Davon abgesehen war sie eine ausgesprochen sittsame Jungfrau, und ihre Mutter, die noch lebte, war eine der speziellen Freundinnen der Erhabenen Benandi. Sie war sehr darum bemüht, Gelener möglichst bald gut zu verheiraten, denn ihre Tochter suchte nun schon seit zwei Jahren einen passenden Gemahl und erwies sich als schwer zufrieden zu stellen. Und vor allem wünschte sich die Gesegnete Telstie eine Verbindung mit dem Haus Benandi und einen Titel für ihre Tochter. Darum hatte die Erhabene an diesem Morgen ihrer alten Freundin geschrieben und sie zu einem Besuch ermuntert, bei dem sie Gelener mitbringen und dann selbst bleiben oder ihre Tochter für längere Zeit in Benandi zurücklassen sollte. Es war dieser Brief, den sie bei Fehns Besuch unterbrochen hatte. Die Erhabene Benandi setzte sich sofort wieder daran, nachdem ihre Freundin und ihr Sohn sie verlassen hatten. Hätte sie gewusst, dass Sher nach Hause kommen wollte, hätte sie den Besuch im Voraus arrangiert, um ihn
49 wie eine zufällige Begegnung aussehen zu lassen. Das hätte die Dinge einfacher gemacht. Sher konnte es nicht leiden, gegängelt zu werden. Dennoch war sie überzeugt, dass er grüblerischer Stimmung war und sich niederlassen wollte. In seinem Zustand schien es wahrscheinlich, dass jede schöne Jungfrau - und Gelener war wunderschön, sie verfügte über jene kalte perfekte Schönheit, die in Irieth sehr bewundert wurde - ausreichen würde, um sein Interesse zu erregen. Die Erhabene Benandi vollendete ihren Brief und versiegelte ihn. Sie hatte die große Befürchtung gehabt, dass ihr Sohn eine Fremde mitbringen würde, die sie dann aus dem Haus vertreiben wollte. Zu anderen Zeiten hatte sie die Aussicht auf eine Tochter eines Glorreichen in Schrecken versetzt, die ihre Schwiegermutter verachten würde, oder eine Künstlerin aus einem Nachtklub, die wiederum sie nur verachten konnte. Miterleben zu müssen, wie sie vielleicht als Erhabene eingesetzt werden würden, hätte einen großen Schatten auf ihre alten Tage geworfen. Gelener Telstie mit ihrer Schönheit und ihren siebzigtausend Kronen war jemand, mit dem sie ihr Heim teilen konnte und entsprach darum haargenau ihren Vorstellungen. Und sollte Gelener Sher aus irgendeinem sentimentalen Grund nicht passen -junge Drachen waren oft sentimental, das wusste sie nur zu gut, da musste man sich nur Penn ansehen, der sein altes Kindermädchen mitbrachte -, dann hatte sie noch ein anderes halbes Dutzend passender Jungfrauen auf ihrer Liste.
2 0 . D i e Reisenden treffen e i n Für Selendra war es das erste Mal, dass sie mit dem Zug reiste, und in der ersten Stunde fand sie vieles, das sie interessierte und amüsierte. Danach senkte sich der Mantel der Langeweile über die Fahrt herab, nachdem auch der emporschießende Dampf der Lokomotive und das Ineinanderver
49 schmelzen der Schwellen in der Ferne ihren Reiz verloren hatten. Schienen müssen der ihnen zu Grunde liegenden Notwendigkeiten wegen durch den flachsten und damit am wenigsten schönen Teil einer jeden Landschaft verlaufen. Es gibt nur wenige Gegenden in Tiamath, die völlig flach sind, aber die Route, die der Zug zwischen Untertor und Benandi nahm, schien Selendras Ansicht nach nur durch solche zu verlaufen. Der Lärm der Lokomotive und das Rattern der Waggons machte jede Unterhaltung unmöglich. Penn vertiefte sich in seine Bücher. Amer rollte sich auf den Truhen mit dem Gold zusammen und schlief, den Kopf unter die Schwingen gesteckt, tief und fest. Selendra wünschte sich, es wäre genug Platz da gewesen, um sich neben ihrem einstigen Kindermädchen zusammenrollen zu
können. Einen Teil der Reise über las sie, aber sobald sie den von ihr gewählten Roman beendet hatte, wurde sie des Buches mit erbaulichen Essays, das Penn ihr aufgedrängt hatte, bald überdrüssig. Sie fand alles schrecklich langsam und wünschte sich, über dem Zug in die Luft aufsteigen und wieder landen zu können, so wie es einige der anderen Passagiere taten. Aber das war für eine wohlerzogene Jungfrau natürlich unvorstellbar, es sei denn, sie hätte einen Begleiter gehabt, und für diesen Zweck waren sowohl Penn als auch Amer mit ihren gebundenen Schwingen völlig ungeeignet. Sie war entzückt, als sie den Bahnhof von Benandi erreichten, doch zu ihrer Enttäuschung musste sie entdecken, dass sie bereits von einer Kutsche und Zugpferden erwartet wurden. Penn hatte nichts davon gesagt. »Ich dachte, ich könnte den Rest fliegen«, sagte sie. »Das ist nicht gerecht und meine Schwingen sind so steif. Ich gehe nicht verloren. Ich kann über der Kutsche kreisen.« »In der Kutsche ist genug Platz für uns alle«, sagte Penn und half Amer auf. Amer sah steif und müde aus, sie konnte kaum die Beine bewegen.
50 »Das sehe ich, aber ich würde lieber meine Schwingen etwas strecken«, sagte Selendra. »O bitte, Penn.« »Ich möchte unser Leben hier lieber nicht mit einem Streit beginnen«, sagte Penn und presste die Lippen unbeugsam aufeinander. Selendra kletterte pflichtschuldig in die Kutsche und hockte sich so gut es ging zwischen ihren Bruder und die Kisten. Amer stieg wieder auf die Truhen mit der Mitgift und schloss sofort die Augen. Fehn kannte die Ankunftszeit des Zuges. Sie hatte auf ihn gewartet und sobald die Rauchwolke in Sicht kam, stieß sie sich von ihrer Türschwelle ab und stieg in den Himmel, um nach den Reisenden Ausschau zu halten. Nach ein paar Augenblicken genüsslichen Kreisens, bei dem sie sich in den Wind lehnte und sich von ihm tragen ließ und nach der Kutsche Ausschau hielt, gesellte sich Sher zu ihr. »Ich saß draußen und habe Sie gesehen«, sagte er. »Vernachlässigen Sie Ihren Nachwuchs für die Freuden des Fliegens, oder gibt es einen aufregenden Grund, der Sie hier heraufführt? Ah, ja, die Kutsche kriecht auf uns zu. Sie sind heraufgekommen, um Ihren Mann willkommen zu heißen, und ich werde Sie begleiten.« »Ist Ihnen jetzt schon so langweilig?«, fragte Fehn. Sher lachte. »Ich begrüße Penn vor Ihnen«, sagte er und legte die Schwingen zum Sturzflug an. Fehn zögerte keine Sekunde, sondern schoss über ihn hinweg, indem sie den Wind seiner Schwingen auffing, und stürzte der Kutsche entgegen. Sie verfügte nicht einmal über die Hälfte von Shers Länge, war nicht einmal neun Meter lang, aber das war jetzt kein Nachteil, als sie nach unten raste. Obwohl er als Erster losgeflogen war, lagen sie Kopf an Kopf, als sie schließlich direkt über den Luftströmen am Boden abbremsten und völlig außer Atem neben der Kutsche landeten. Selendra war ihrer Schwägerin nur einmal begegnet, bei Penns Hochzeit, als der einzige Eindruck, den Fehn auf sie
50 gemacht hatte, der einer zartrosa Braut gewesen war, die fast völlig von den Spitzen ihres Schleiers verhüllt war. Zuerst erkannte sie die flammenfarbige Schöne nicht, die da auf sie herabraste. Sie hatte in die Höhe geschaut, und beim Anblick dieser beiden wunderschönen Drachen, die am Himmel umhertollten, als würden sie dorthin gehören, hatte sich ihr Herz mit Freude gefüllt. Penn erkannte seine Frau unglücklicherweise sofort und seinen alten Freund auch. Er schnalzte missbilligend mit der Zunge. Herzufliegen um sie zu begrüßen war gut und schön, ein Rennen mit Sher zu veranstalten war etwas anderes. Das würde der Erhabenen nicht gefallen, wenn sie es hörte. »Willkommen zu Hause, Penn«, rief Sher, während Fehn noch immer nach Luft schnappte. »Und mein ehrliches Beileid für den Verlust Ihres Vaters.« »Danke. Ich habe nicht gewusst, dass Sie hier sind«, sagte Penn überrascht. Er wollte Fehn rügen, vor allem weil er Selendra vom Fliegen abgehalten hatte, war aber der Ansicht, dass er das vor so vielen Zuhörern nicht konnte. Penn war müde und hätte sich gern ausgeruht, bevor er sich in Gesellschaft
begab. Denn auch wenn Sher sein engster Freund war, hatte er doch nie die gesellschaftliche Kluft vergessen können, die sich mit jedem Jahr zwischen ihnen vergrößerte. »Ich bin gestern eingetroffen. Ich hatte meine Mutter nicht darauf vorbereitet, und ich weiß, dass sich das nicht gehört. Und wenn wir schon von meinen Sünden sprechen, muss ich mich bei Ihnen dafür entschuldigen, Fehn zu diesem Sturzflug verleitet zu haben. Aber, bei Veld, es ist schön, Sie wieder zu sehen.« Penn suchte nach einer passenden Erwiderung, schwieg dann jedoch lieber. Die Zugpferde stampften weiter, und Fehn und Sher gingen neben der Kutsche her. »Erhabener Sher Benandi, erlauben Sie mir, Ihnen meine Schwester vorzustellen, die Hochgeschätzte Selendra Agornin«, sagte Penn endlich und flüchtete sich in Förmlichkeiten.
51 »Hochgeschätzte Agornin«, sagte Sher und verneigte sich formvollendet vor Selendra. Sie nickte bloß zurück, da sie keine Ahnung hatte, wie sie reagieren sollte. »Wir sind uns schon einmal begegnet«, fuhr Sher fort. »Aber sie waren ein schwingenloses kleines Ding, als ich das letzte Mal auf Agornin war, und nichts wies darauf hin, dass Sie sich in eine solch schöne junge Dame verwandeln würden.« Selendra war sprachlos. Sie hatte Sher angesehen, und jetzt erkannte sie echte Bewunderung hinter dem höflichen Kompliment, das allein schon ausreichte, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Für die meisten jungen Drachendamen wäre das bedeutungslos gewesen, aber für Selendra war das ziemlich ungewohnt. Sie hatte in Agornin ziemlich zurückgezogen gelebt und kaum an dem wenigen Gesellschaftsleben teilgenommen, das das Gut zu bieten gehabt hatte. Sie schaute verwirrt zu Boden. »Das muss vor langer Zeit gewesen sein«, murmelte sie schließlich. »Fehn, meine Liebe, du erinnerst dich an meine Schwester Selendra?«, fragte Penn schnell. »Natürlich«, sagte Fehn und lächelte Selendra an. »Wir sind uns zwar nur kurz begegnet, aber ich bin sicher, wir werden gute Freundinnen werden.« »Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie so ausgezeichnet fliegen können«, sagte Selendra und aus ihrer Stimme war deutlich ihre Bewunderung herauszuhören. »Vor allem, wenn man hier die Berge und die Kreuzwinde bedenkt. Das war großartig. Ich bin sicher, ich könnte das nicht.« »Oh, ich lebe hier, seit ich kaum größer als eine frisch Geschlüpfte war«, sagte Fehn geschmeichelt. »Ich kenne alle Winde. Aber ich nehme Sie gern einmal mit nach oben und mache Sie damit vertraut, Sie werden sich hier bald mit dem Fliegen vertraut gemacht haben.« »Es gibt nur wenige Orte, an denen es wirkliche Herausforderungen gibt«, sagte Sher. »Machen Sie sich keine Sorgen wegen Penns Fesseln, Hochgeschätzte Agornin. Fehn
51 und ich werden Ihnen zeigen, wo man fliegen kann. Jagen Sie gelegentlich?« »Das habe ich noch nie gemacht. In der Gegend von Untertor wird nicht viel gejagt. Aber ich wollte es schon immer einmal versuchen«, gestand Selendra. »Das mit Untertor hätte ich wissen müssen. Als Penn das erste Mal hier war, bevor er Pfarrer wurde, da war er ganz versessen auf die Jagd. Fehn und ich werden Sie mitnehmen.« »Sie wissen, dass ich nichts davon halte, wenn Frauen jagen«, sagte Penn. »Hätte Veld gewollt, dass sie jagen, dann hätte er ihnen Krallen verliehen.« »Glauben Sie, sie hätten in den Tagen vor der Eroberung gehungert?«, fragte Sher hitzig, denn das war ein Gegenstand, über den er eine entschiedene Meinung hatte. »Einige der besten Jäger in Tiamath sind Frauen, erst vergangenes Jahr habe ich an Grevesas Seite gejagt! Mit Waffen wie diejenigen, die die Yargen nach der Eroberung in die Flucht geschlagen haben, nachdem unsere blanken Krallen sich als nicht ausreichend erwiesen. Und Sie haben doch sicherlich nicht vor, Fehn einzusperren, oder? Sie jagt, seit sie fliegen kann. Nein, letztes Jahr ist sie nicht auf die Jagd gegangen, und als ich das letzte Mal zur Jagd hier war, nahm sie gerade an Umfang zu, aber bestimmt...«
»Ich verspüre nicht den Wunsch, auf die Jagd zu gehen, jetzt, da ich verheiratet und Mutter bin«, sagte Fehn glatt. Penn warf ihr einen dankbaren Blick zu. Sher hielt inne; nun hatte sie ihm schon zum zweiten Mal an diesem Tag den Wind aus den Schwingen genommen. Selendra senkte den Kopf. Sie hatte seit jeher auf die Jagd gehen wollen, aber sie ahnte bereits, dass sie niemals dazu eine Gelegenheit erhalten würde. Sie hoffte, dass ihr neues Leben nicht allzu eingeschränkt sein würde. Sie tröstete sich mit dem Gedanken an die arme Haner, die nach Daverak unterwegs war. Ihre Situation hätte viel schlimmer sein können. »Ich glaube, ich sollte zum Pfarrhaus zurückfliegen und
52 heiße Getränke für eure Ankunft vorbereiten«, sagte Fehn in das Schweigen hinein, das entstanden war, nachdem sie jedes Verlangen nach der Jagd von sich gewiesen hatte. »Wollen Sie mich begleiten, Selendra?« »Oh, gern«, sagte Selendra. Sie wand sich aus der Kutsche, vorbei an der noch immer reglosen Amer, und stieg in den Himmel auf. Penn sagte nichts; er hatte bereits gelernt, wie man eine Familie führen und wann man nachgeben musste und wann nicht. Sher blieb bei Penn und der Kutsche, sodass Fehn und Selendra allein in der Luft waren. »Ich liebe das Fliegen so sehr«, sagte Selendra, als sie sich von den anderen entfernt hatten. »Ich wollte vom Bahnhof aus fliegen, aber Penn hat darauf bestanden, dass ich in der Kutsche blieb.« »Der Wind kann manchmal heimtückisch sein«, sagte Fehn und flog gesittet, als wollte sie für ihren vorherigen Sturzflug Buße tun. »Bei mir sind Sie sicher, aber allein hätten Sie Schwierigkeiten bekommen können. Ich bin überzeugt, dass Penn nur Ihre Sicherheit im Auge hatte, auch in Bezug auf die Jagd.« Selendra sah ihre Schwägerin an, dazu bereit, gegen Penns Ungerechtigkeit zu protestieren, falls sie das geringste Anzeichen für ein Bündnis gegen ihn erkannte. Aber da kam nichts, denn Fehn hatte schon früh in ihrer Ehe entschieden, sich an ihr Versprechen zu halten und ihrem Mann zu gehorchen und ihn auch zu unterstützen. Sie hasste jeden Streit, und sie war Penn aus ganzem Herzen zugetan und fand ihn nicht übermäßig tyrannisch. Sie jagte gern, aber sie würde lieber freudig darauf verzichten, als Streit mit ihm zu haben. »Penns altes Kindermädchen schlief«, sagte Fehn, die Amers Status so schnell wie möglich mit Selendra klären wollte. »Ich hatte gehofft, mit ihr über ihre künftige Beschäftigung sprechen zu können, aber zweifellos wird dazu später noch genug Zeit sein.«
52 »Amer? Sie hat fast den ganzen Weg von zu Hause an geschlafen. Von Agornin«, korrigierte sich Selendra schnell. »Sie werden sehen, sie kann gut mit Kindern umgehen und in der Küche ist sie auch sehr anstellig.« »Wir haben zwar ein Kindermädchen, aber sie könnte trotzdem nützlich sein«, sagte Fehn, erleichtert, dass Selendra Amer nicht als ihre Dienerin beanspruchte. Für gewöhnlich war sie sehr vorsichtig, aber sie glaubte, ihre Schwägerin bereits zu mögen, wofür sie der gütigen Jurale dankte, denn das Leben würde so schwierig werden, wenn sie einander nicht mochten. »Was die Kinder angeht, sie können es kaum erwarten, Sie zu sehen«, sagte Fehn. »Sie hatten noch nie eine Tante, und sie brennen darauf zu wissen, wie Sie so sind.« »Ich freue mich auch sehr darauf, sie kennen zu lernen«, erwiderte Selendra. Aber ihr war das Herz doch etwas schwer, weil Fehn Amer so unbekümmert für sich beanspruchte und alle Anordnungen Penns so widerspruchslos akzeptierte. Und das Heimweh nach Agornin schlug wie eine große Welle über ihr zusammen. Sie vermisste Haner bereits jetzt schon ganz schrecklich.
52 GESCHÄFTE IN HUETH
2 1 . Die Bedeutung v o n Hüten
Avan erwachte mit dem Gefühl, gut geschlafen zu haben, wie das auf Gold so üblich ist. Neben ihm gähnte Sebeth verhalten, damenhaft die Schwinge vor den Mund gehalten. Sie machte es sich wieder auf dem Gold bequem und betrachtete Avan durch zur Hälfte von den Lidern bedeckten Augen. Auch wenn Avan sie so verführerisch wie immer fand, lachte er und stand auf. »Heute ist zu viel zu tun«, sagte er. »Später.« »Aber ich bin heute Abend nicht da«, sagte Sebeth und räkelte sich weiter, ihre hellblauen Augen drehten sich träge. »Davon abgesehen gehört doch zweifellos zu den zu erledigenden Dingen, dieses entzückende Gold fortzuschaffen.« Avan reagierte nicht auf den Köder und fragte sie auch nicht, wo sie hinmusste. Er beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie. »Du bist anbetungswürdig und du hast Recht, das
53 Gold ist hier nicht sicher. Davon abgesehen wird es sich vermehren, wenn ich es verleihe.« »Es für einen Rechtsstreit zu verschwenden wird es nicht vermehren«, sagte sie, seufzte und stand endlich auf. »Soll ich einen Hut für dich raussuchen?« Jetzt war es an Avan zu seufzen. Er mochte Hüte nicht. Auf dem Land ist es wenigstens im Sommer möglich, irgendeinen Hut zu tragen oder auch gar keinen. Gesegnete Pfarrer können sich mit zerknitterten alten Kappen sehen lassen. Hochgeschätzte junge Damen können mit bloßem Kopf umherfliegen und Glorreiche Damen schwingen sich mit Spitzenmützen in den Himmel empor. Avan war zwei Wochen lang in Agornin gewesen und hatte kaum Gelegenheit gefunden, einen Hut aufzusetzen, außer beim Kirchgang. In Irieth war jedoch zu jeder Jahreszeit für jeden Drachen, der als von hoher Geburt betrachtet werden wollte, ein Hut vorgeschrieben. Sebeth öffnete den Kleiderschrank, wählte einen Hut und reichte ihn Avan mit einer Verbeugung, als wäre sie seine Leibdienerin. »Den nicht«, sagte Avan und musterte den Hut, den Sebeth hielt, so finster, als wäre er ein Rivale, den er zu fressen gedachte. »Was ist mit dem nicht in Ordnung?«, fragte Sebeth und drehte den zurückgewiesenen Hut in den Händen und betrachtete ihn. Er war aus schwarzem Leder gefertigt, wies eine breite Krempe und eine schmale Krone mit einer schwarzen Schleife auf, passend für Beileidsbesuche und fast neu. Sebeth hatte ihn für das Ende des Saisonpromenierens ausgesucht und Avan hatte ihn bloß zweimal getragen. »Ich muss fliegen, und das Ding wird beim ersten Windstoß weg sein, und dann?« »Fliegen?«, wiederholte Sebeth und hob die Schwinge, um ein weiteres Gähnen zu verbergen. »Wohin denn? Und muss ich auch fliegen?« Sie nahm den Hut, den sie für sich ausge
53 sucht hatte, ein wahres Gedicht aus Seidenfrüchten mit creme- und lavendelfarbenen Schleifen, die aussahen, als würden sie herunterfallen, wenn sie auch nur den Kopf ein wenig schüttelte. »Nein, du kannst dieses hübsche Nichts tragen«, sagte Avan nachsichtig und betrachtete den Hut mit schief gelegtem Kopf. Er war fest davon überzeugt, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben, verspürte aber keinen Drang, sich danach zu erkundigen, wo sie ihn gekauft oder wie sie ihn bezahlt hatte. Wenn die Rechnung kam, würde er sie ohne ein Wort zu sagen begleichen. Hüte waren eine nötige Extravaganz. Da sie seine Sekretärin war, oblag es seiner Verantwortung, dafür zu sorgen, dass sie gut gekleidet war. Wenn keine Rechnung kam, würde er wissen, dass jemand anders dafür aufgekommen war. In solchen Angelegenheiten wie auch in so vielen anderen hatte er gelernt, dass es für den häuslichen Frieden besser war, es nicht zu wissen. »Du brauchst nicht zu fliegen«, fuhr er fort. »Du könntest ins Büro gehen und die Korrespondenz erledigen. Oben sind vier Stapel mit Briefen, wie gewöhnlich. Du kannst mit den höflichen Absagen anfangen und dich freundlich bedanken.« Avan griff über Sebeths Schulter nach einer dunkelgrünen Endsommermütze, die seiner Meinung nach Mode und Bequemlichkeit miteinander verband. Sebeth blinzelte. »Du gehst nicht ins Büro?« »Ich komme später mal vorbei«, sagte Avan und setzte sich die Mütze fest zwischen die Ohren.
»Aber was ist mit Liralen und Kest? Sie erwarten dich doch.« »Sag Liralen, dass ich gegen Mittag da bin«, sagte Avan und richtete den Halteriemen. »Und Kest muss eben seine Neugier zügeln.« »Hältst du es nicht für klüger, als Erster da zu sein?«, fragte Sebeth, deren Augen sich nun langsam schneller drehten.
54 »Nein«, sagte Avan. »Ich muss mich sofort um das Gold kümmern.« »Hathor?«, fragte Sebeth, drehte sich dem Bronzespiegel zu und drapierte den Hut sorgfältig in einem kecken Winkel. »Natürlich.« Er sagte nichts mehr über die Klage. Sie hatte ihre Missbilligung bereits zum Ausdruck gebracht, und es ging sie nichts an. Sie wandte sich vom Spiegel ab, um ihn direkt anzusehen. »Im Büro gibt es welche, die den Tod deines Vaters zu ihrem Vorteil ausnutzen wollen.« »Meinst du Kest?« »Ich meine niemanden Bestimmten, aber jeder wird jetzt seine Stellung im Ministerium neu überdenken. Es ist eine Veränderung, und zwar eine Veränderung, die deine Stellung betrifft.« Sie schaute weg, schloss den Kleiderschrank und nahm ihre Aktenmappe. »Ich weiß«, sagte Avan. »Und das ist erst recht ein guter Grund, mir heute etwas mehr Zeit zu nehmen, ein Drache, der ernst zu nehmende Geschäfte regeln musste. Würde ich sofort angestürmt kommen, um das aufzuarbeiten, was sie mir seit meiner Abreise auf den Schreibtisch gehäuft haben, würden sie das als Schwäche auslegen.« Avan lächelte. »Das stimmt«, sagte Sebeth. »Du wirst jedenfalls deinen Weg machen, du weißt, wie du dich verhalten musst. Würde ich das versuchen, würde man mich am ersten Tag fressen.« Avan lachte. »Du kennst deinen Weg und ich kenne meinen. Darum kommen wir auch so gut miteinander aus.« Sebeth lachte und rieb ihre Nüstern zärtlich an den seinen. »Also dann bis später im Büro, wenn du es schaffst, du Beschäftigter.« »Vergiss die Briefe nicht«, erinnerte er sie. Sie rollte noch einmal absichtlich mit den Augen und machte sich wie immer über seine Warnungen und Ermahnungen lustig. Er öffnete die Hintertür und ging. Sebeth stand einen
54 Moment lang still da, nachdem er gegangen war, wartete und lauschte. Dann öffnete sie den Kleiderschrank erneut und nahm einen ganz anderen Hut heraus. Er bestand aus schwarzer, geraffter Spitze, in der ein Kamm steckte, sodass es selbst dem Fantasievollsten schwer gefallen wäre, etwas anderes als eine Mantille in ihm zu erkennen. Sie schob den Hut in ihre Tasche, dann ging sie nach oben, um den Briefstapel einzupacken.
2 2 . Ausgefahrene Krallen Hathors Büro befand sich im Migantinenviertel. Für die meisten seiner Klienten war das sehr bequem und auch für die ganze Innenstadt, aber für Avan, der in der Nähe seines Büros nur wenig entfernt von der Kuppel wohnte, bedeutete dies, dass er fast durch ganz Irieth musste, um dorthin zu gelangen. Es gab andere Anwälte in seiner unmittelbaren Nähe, manche davon waren auch mehr in Mode, aber Hathors Vater und danach der Sohn hatten für den alten Bon gearbeitet, und Avan hatte das Gefühl, sich auf ihn verlassen zu können, im Gegensatz zu einem Fremden. Und so senkte er direkt nach Verlassen seines Hauses die mittleren Lider über die Augen, um sie vor der Morgensonne zu schützen, vergewisserte sich, dass der Hut fest auf dem Kopf saß, und stieg senkrecht in die frühen Morgenwinde hinauf. Fliegen in Irieth konnte nie das Vergnügen sein, das es auf dem Land war. Viele Drachen weigerten sich sogar grundsätzlich in der Hauptstadt zu fliegen, behaupteten, es sei sowohl gefährlich als auch unerfreulich wegen der unberechenbaren Winde, die durch die Gebäude beeinflusst wurden, sowie von der Wärme, die von so vielen auf so engem Raum lebenden Drachen verursacht wurde. Sie gingen auf
der Straße oder mieteten Gespanne oder Kutschen. Avan hielt sie für verweichlicht. Er war von Agornin zurück nach
55 Irieth geflogen, und er würde auch zu Hathor fliegen. Tief in seinem Inneren gefiel ihm die Vorstellung, dass er, wäre er einer jener einzelgängerischen Drachen des Heldenzeitalters und um des Überleben willens auf seine Schwingen und Krallen angewiesen gewesen, eine gute Figur abgegeben hätte. Er stieg schnell in die Höhe und hörte nicht auf, bis er hoch genug war, um vor dem Schlimmsten der unberechenbaren niedrigen Windströmungen sicher zu sein. Von hier oben sah die Stadt wunderschön aus. Er konnte die Muster sehen, die die Dachziegel ergaben und die zufälligen Muster, die die vielen zusammenstehenden Dächer bildeten. Er sauste über die sechs Türme der Kuppel hinweg, wobei er darauf achtete, sie nicht zu dicht zu überfliegen, und sah Kinder im Hof spielen. Auf den Straßen spielte sich bereits der frühmorgendliche Handel ab - hier gab es einen Markt, der frisches Obst vom Land anbot, dort wurden Rinder und Schweine von der Bahn zu den Endverkäufermärkten getrieben. Die silbern leuchtenden Schienen der Bahn führten von den großen Bögen des Kuppelbahnhofs quer durch die Stadt. Avan folgte ihnen und hatte den Himmel fast allein für sich. Er ging erst tiefer, als er in die Gegend aus niedrigen, halbkugelförmigen Gebäuden kam, die das Migantinenviertel bestimmten. Hathors Büro war geräumig. Es hatte die für Migantinen typische Kuppeldecke, was es auf erfreuliche Weise höhlenartig machte. An den Wänden hingen altmodische zweifarbige Ansichten von Migantil. Mehrere Sekretärinnen, alle ehrenwerte jungfräuliche Drachendamen in verschiedenen Schattierungen von Gold und Beige saßen an ihren Schreibtischen, die an den Wänden standen, und bearbeiteten fleißig die Korrespondenz. Mit etwas Geschick und je nach Größe konnten zusätzlich noch drei oder vier Klienten Platz finden. Bei Avans Ankunft wartete nur ein Klient, der allerdings vermutlich so lang wie zwei von Hathors gewöhn
55 liehen Klienten war. Avan war überrascht, einen so erfolgreichen Drachen hier vorzufinden, und die Überraschung wurde noch größer, als er erkannte, dass es sich um seinen Bekannten handelte, den Erhabenen Rimalin. Er hatte gar nicht gewusst, dass er mit Hathor Geschäfte machte und es verwunderte ihn ein wenig. Als er Hathors Sekretärin seinen Namen nannte, fühlte er Rimalins Blicke auf sich gerichtet. »Aha, der Hochgeschätzte Agornin«, sagte Rimalin, als Avan sich neben ihn setzte; er rollte sich so zusammen, dass sein Kopf auf seinem Schwanz ruhte. »Oder sollte ich sagen der Ehrwürdige?« »Noch nicht«, erwiderte Avan und lächelte so, dass seine Zähne zu sehen waren. Er ging davon aus, dass Rimalin es freundlich meinte, aber er hatte Sebeths Mahnung nicht gebraucht, um zu wissen, dass andere Spekulationen über seine Position anstellten. Rimalin lachte und legte den Kopf zurück, um die Kehle zu entblößen und auf diese Weise sein umfassendes Vertrauen in Avans Freundschaft zu demonstrieren. Dann wurde er schnell wieder ernst und sah Avan in die Augen. »Ich glaube, Ketinar hat geschrieben, um unser Mitgefühl für Ihren Verlust zu bekunden.« »Ich bin der Erhabenen und Ihnen sehr dankbar, dass Sie an mich gedacht haben«, sagte Avan höflich. »Ich habe Ihren Brief gestern Abend gelesen, gleich nach meiner Ankunft in Irieth.« »Dann sind Sie erst jetzt zurückgekommen?« Rimalin lehnte sich nach hinten, um Avan besser in Augenschein nehmen zu können. »Ich bin gestern spätabends gelandet«, bestätigte Avan. »Und Sie kommen als Erstes hierher? Ich wusste gar nicht, dass Sie einer von Hathors Klienten sind.« »Das wusste ich von Ihnen auch nicht«, erwiderte Avan vorsichtig. »Oder ist das eine neue Geschäftsverbindung?«
55 »Wir Politiker streuen unsere Geschäfte gern«, sagte Rimalin mit einem Schwingenzucken. »Aber ich arbeite schon seit Jahren mit Hathor zusammen.«
»Er war der Anwalt meines Vaters, und ich bin schon die ganze Zeit bei ihm. Ich finde ihn sehr zuverlässig.« »Die Erfahrung habe ich auch gemacht, aber eine Bestätigung von jemand anderem ist immer von Vorteil«, meinte Rimalin. »Man kann einen Anwalt nicht nach der Ausstattung seines Vorzimmers beurteilen«, sagte Avan, da ihm eines der furchtbaren migantinischen Bilder ins Auge fiel. Rimalin lachte wieder. »Ketinar hat ihn einmal unverblümt darauf angesprochen. Er hat gesagt, sein Vater hätte sie als junger Drache in Migantil gekauft.« Avan betrachtete das Bild genauer. Der Himmel war rosa und die Umrisse der Gebäude blau. »Sie meinen, sie wurden tatsächlich von Yargen gemalt?« »Ich kann mich nicht dafür verbürgen, aber das hat Hathor zu Ketinar gesagt.« »Ich weiß nicht, ob es sie besser oder schlimmer macht«, sagte Avan in fasziniertem Abscheu. »Oh, schlimmer, mein Lieber, definitiv schlimmer. Aber man versteht, warum Hathor sie nicht ersetzt. Es ist immer das Gleiche mit den alten Familiensachen, man muss daran festhalten, ob sie nun hässlich oder wunderschön, kostbar oder wertlos sind, eigentlich gehören sie keiner bestimmten Person, sie existieren nur, um an die nächste Generation weitergegeben zu werden. Wir haben viele solcher Dinge in Rimalin, eigentlich größtenteils unsinniges Zeug, aber ich würde sie niemals anrühren.« »Ja, nicht wahr?«, murmelte Avan und fand, dass es kein großes Opfer für Rimalin war, da er doch so viel Zeit in der Stadt verbrachte, in einem nach der neuesten Mode eingerichteten Haus. »Ich frage mich, ob Sie nicht vielleicht Lust hätten, uns in
56 Rimalin eine Zeit lang zu besuchen? Vielleicht im Winter, wenn man eine Weile ohne Sie im Planungsministerium auskommen kann?« Avan war so erstaunt, dass er zuerst gar nicht antworten konnte. Er hatte viele Freunde in Irieth, vor allem, da seine Arbeit von ihm verlangte, sich in der Nähe der politischen Kreise zu bewegen, aber man hatte ihn noch nie zuvor zu sich ganz privat eingeladen. Er hatte Ketinar, die Erhabene Rimalin, als Freundin betrachtet, aber ihr Mann war noch nie so zuvorkommend gewesen. Der Tod seines Vaters hatte seine Stellung wohl doch auf eine Weise verändert, die noch nicht ganz abschätzbar war. »Mit dem größten Vergnügen«, stammelte er. »Wenn ich mich freimachen kann.« »Ich werde Ketinar sagen, dass sie Ihnen eine Einladung schickt, die jederzeit gilt, wenn Sie für uns ein paar Tage erübrigen können.« Genau in diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum Büro, und eine junge, ausgesprochen schöne Jungfrau kam herein, gefolgt von ihrer sehr großen, sehr prächtigen, rubinroten Mutter. »Ist sie nicht großartig? Mitgiftarrangements, glauben Sie nicht auch?«, meinte Avan leise. Rimalin sagte nichts, bis sich die Eingangstür hinter den beiden geschlossen hatte. »Das war die charmante Hochgeschätzte Gelener Telstie, und ihre Mutter, die nicht minder charmante Gesegnete Telstie«, sagte er. »Gelener ist eine der interessantesten Partien auf dem Heiratsmarkt dieses Jahr, wie auch in den vergangenen beiden Jahren, aber falls bereits eine Heirat arrangiert wurde, hat man sie noch nicht verkündet.« Eine der Sekretärinnen erhob sich und bedeutete Rimalin, zu Hathor hineinzugehen. Die Tür stand nun offen, und Avan konnte einen Blick in das Büro werfen, in dem Hathor auf Papieren und Büchern hockte wie die meisten anderen Drachen auf ihrem Gold. »Ich muss Sie jetzt verlassen. Aber besuchen Sie mich doch bald. Und wenn Sie Kapital zu
56 investieren haben, legen Sie nicht alles fest, bevor Sie mit mir gesprochen haben. Ich habe da eine Idee.« »Ich habe Ihren Brief gelesen...«, hob Avan an, aber Rimalin hatte sich bereits erhoben. »Es eilt nicht besonders«, sagte Rimalin, ging in Hathors Büro und schloss sorgfältig die Tür hinter sich.
23. Büropolitik
Avan traf kurz nach Mittag im Planungsministerium ein. Das Gold war im Depot hinterlegt worden und Hathor hatte die nötigen Maßnahmen getroffen, es abzuholen. Nachdem der Anwalt alle Fakten gehört hatte, hatte er zugestimmt, dass Avan einen Grund zur Klage hatte, auch wenn der Fall nun nicht mehr so viel versprechend war, als hätten sich Haner und Selendra ihm angeschlossen. Trotzdem war die Klageschrift gegen Daverak aufgesetzt worden und würde am nächsten Morgen herausgehen. Als Avan hoch zufrieden mit seinen Morgengeschäften zurückflog, hatte er zuerst in Betracht gezogen, noch ein öffentliches Badehaus zu besuchen und noch später im Büro einzutreffen. Er hatte es sich jedoch anders überlegt. Er konnte es sich nicht leisten, seine Stellung zu verlieren. Er wollte selbstbewusst erscheinen, nicht unverschämt. Davon abgesehen hatte er erst vor drei Tagen in dem kalten Fluss Nia gebadet, der durch das Gut Agornin floss. Zu häufiges Baden sollte schlecht für die Schuppen sein. Er lächelte, entblößte die Zähne ein Stück, richtete neuerlich die Mütze und trat selbstbewusst durch das Eingangstor. Kest beugte sich gerade über Sebeth, die Briefe schreiben wollte. Kest war ein stattlicher Drache mit bronzefarbenen Schuppen, der ungefähr Avans Länge hatte, also sechs Meter, und daher fast doppelt so groß wie Sebeth war. »Sie haben doch sicher etwas Zeit, das zu kopieren«, sagte Kest
57 verführerisch und beugte sich noch näher über sie. Avan blieb da stehen, wo er war. »Lassen Sie es von Ihrer eigenen Sekretärin erledigen«, sagte Sebeth eisig und zog sich so weit hinter den Granitblock zurück, der Avans Schreibtisch darstellte, wie das möglich war. »Ich habe keine Sekretärin, wie Sie ganz genau wissen, kleine Vornehme, und der Kuli, der fürs Kopieren zuständig ist, wird meine Sachen erst morgen erledigen können.« »Ich kann nicht einsehen, warum das mein Problem sein soll«, sagte Sebeth, schob ein paar Papiere zusammen und schaute zu Kest hoch. »Oh, Sie können nicht einsehen, warum das Ihr Problem ist«, äffte Kest sie nach. »Nun, es ist höchste Zeit, dass Sie es verstehen und aufhören, die Nase so hoch zu tragen, kleine Vornehme H... Es ist Ihr Problem, weil Avan bei seiner Rückkehr, falls er überhaupt zurückkehrt, hier keine Stellung mehr haben wird und ich seine Verantwortung übernehmen werde, und das schließt Ihren hübschen ...« Avan hatte genug gehört. Er war bei dem Wort H ... eingetreten, und bevor Kest die Obszönität aussprechen konnte, hatte ihn Avans Klaue unter der Achsel ergriffen und ihn auf die Seite geworfen. Bevor Kest reagieren konnte, sprang Avan vor, ließ sein ganzes Gewicht auf Kests Brust fallen und schnappte mit den Zähnen nach seinem Hals. Avan hatte den Vorteil der Überraschung, vielleicht auch etwas den der Größe. Er war gewachsen, seit er von dem Leichnam seines Vaters gefressen hatte. Kest nahm augenblicklich die Haltung des Besiegten ein, verweigerte Avan das Vergnügen des Kampfes und der Hoffnung, seinen Gegner schließlich töten und fressen zu können. Kest legte Klauen und Schwanz flach hin und schloss die Augen. Einen Augenblick lang bedauerte Avan, ein zivilisierter Drache zu sein, dann erinnerte er sich an die kleinen Kämpfe, die er vor langer Zeit mit seinen Geschwistern ausgetragen hatte. Der arme
57 Merinth hatte sich immer auf genau die gleiche Weise ergeben. Er hob den Kopf ein Stück, dazu bereit, falls nötig wieder zuzubeißen. »Ergeben Sie sich?«, fragte er. »Ich ergebe mich«, sagte Kest kaum hörbar. Avan lag noch immer auf ihm und drückte ihm beinahe die Luft ab. »Und geben Sie Ihre Stelle im Büro auf?« »Das tue ich«, sagte Kest und öffnete die Augen einen Spalt. »Und entschuldigen Sie sich bei meiner Sekretärin und versprechen, sie nie wieder auf diese Weise zu beleidigen?«, fragte Avan und ließ sein Gewicht da, wo es war. »Das tue ich«, wiederholte Kest und fügte hinzu, als Avan sich nicht rührte: »Ich entschuldige mich bei der Geschätzten Sebeth dafür, sie beleidigt zu haben, und ich schwöre, es nie wieder zu tun.«
Avan zog sich nur zögernd zurück und gestattete es Kest, wieder freier zu atmen. »Sagen Sie jedem, der Ihres Wissens nach vielleicht darüber nachdenkt, sich meine Position zu erschleichen, dass ich zurück bin und falls nötig keinem Kampf aus dem Weg gehe«, sagte Avan. »Ja, nein, ich bin sicher, niemand wird Sie belästigen, Ehrwürdiger«, sagte Kest und wich zurück, wobei er leicht hustete. Noch immer rückwärts gehend zog er sich in den Durchgang zurück, der zu den anderen Büros führte. Avan hob seine Mütze auf, die irgendwann bei dem Kampf heruntergefallen war. Er schenkte Sebeth, die errötet und aufgeregt schien, ein trockenes Lächeln. »Du hattest mich gewarnt«, sagte er. »Ist er immer so unverschämt, wenn ich nicht da bin?« »Kleine Vornehme ist sein üblicher Name für mich«, sagte sie und spreizte voller Unverständnis eine Hand. »Mir seine Kopierarbeiten aufzudrängen, weil er das für wichtig hält, hat er schon zuvor getan. Er benimmt sich immer vertraulicher, als er sollte, er ist offensichtlich der Meinung, dass
58 mein Status unbestimmt ist und will das ausnutzen.« Sie sah auf ihre ausgesprochen rosafarbene Schulter und seufzte. »Der Rest war neu.« »Ich hätte ihn töten sollen«, sagte Avan und starrte auf den Durchgang, durch den Kest verschwunden war. »Bei all dem Neid und den üblen Intrigen, die durch sein Blut fließen, schmeckt er vermutlich ekelhaft«, sagte Sebeth. Avan lachte. »Wenn er noch einmal etwas zu dir sagt, etwas, das über die übliche kühle Höflichkeit hinausgeht, etwas, das du nicht hören willst, dann sag es mir. Ich bin bereit, das Risiko einzugehen herauszufinden, wie er schmeckt.« Sebeth wollte antworten, aber bevor sie anheben konnte, war Liralen hereingekommen. Liralen war ein älterer Drache mit schwarzen Schuppen und einer Länge von beinahe fünfzehn Metern. Er trug eine Akte unter dem Arm, so wie er es beinahe immer tat. »Ah, Avan, Kest hat mir gesagt, dass Sie wieder da sind«, sagte er. »Mein Beileid zum Tod Ihres Vaters.« »Danke. Und danke für Ihre Beileidskarte. Ich wurde heute Morgen von dringenden Familienangelegenheiten aufgehalten.« »Oh, das macht nichts, jetzt sind Sie ja da«, sagte Liralen. Typisch Liralen, sich für nichts als die Arbeit zu interessieren. »Die Geschätzte Sebeth hatte mir Bescheid gesagt. Aber während Ihrer Abwesenheit haben sich Schwierigkeiten bei den Bebauungsrechten in Skamble ergeben.« Skamble war eine sehr heruntergekommene Gegend auf der anderen Flussseite Irieths. Sebeth verschob ein paar Papiere auf dem Tisch und erinnerte die beiden anderen damit plötzlich an ihre Anwesenheit. »Ist das vertraulich?«, wollte Avan wissen. »Mehr oder weniger, aber nicht gegenüber Ihrer Sekretärin«, sagt Liralen mit einer kühlen Belustigung, die nur seinen blassen Augen anzumerken war. »Ich lasse die Akte bei
58 Ihnen. Ich selbst habe keine Zeit dafür, und ich habe keinen anderen außer Ihnen, dem ich zutrauen würde, dass er es vernünftig erledigt, also habe ich auf Ihre Rückkehr warten müssen.« Avan entging der angedeutete Tadel nicht, aber da er am Totenbett seines Vaters gewesen war und nur knapp zwei Wochen lang, machte er sich nichts daraus. »Ich werde mich so schnell wie möglich mit den Einzelheiten vertraut machen«, sagte er und streckte die Hand nach der Akte aus. Sie war fliederfarben. Liralen gab sie zögernd her und sah daraufhin beinahe nackt aus. »Es ist eine sehr heikle Angelegenheit«, sagte er. »Sie werden das verstehen, wenn Sie sie gelesen haben. Lassen Sie mich wissen, zu welcher Vorgehensweise Sie sich entschließen.« Avan blinzelte überrascht. Für gewöhnlich betrieb er Nachforschungen, dachte sich mögliche Handlungsmöglichkeiten aus und trug sie Liralen dann vor; er traf nie Entscheidungen. Diese Verantwortung war neu.
»Ist das eine Beförderung?«, wagte er offen heraus zu fragen. Liralen zögerte. Sebeth senkte den Kopf über die Papiere und versuchte sich unsichtbar zu machen. Avan wartete ruhig ab. »Möglicherweise«, sagte Liralen. »Das könnte es in der Tat sein.« Er hielt inne und warf Sebeth einen sichtlich missbilligenden Blick zu. »Ich werde älter, und in ein oder zwei Jahren kann ich in Pension gehen. Dann wird jemand anderer hier meinen Platz einnehmen wollen, und ich würde es vorziehen, wenn es jemand ist, der weiß, wie die Arbeit erledigt wird, und nicht jemand ohne jeden Sinn für Korrektheit und den nötigen Anstand.« Das war das erste Mal, dass Liralen Avan gegenüber je seinen Ruhestand erwähnt hatte. Avan bemühte sich, das hektische Kreisen seiner Augen zu unterdrücken. Was meinte
59 Liralen mit dem nötigen Anstand? Er wusste, dass sein Vorgesetzter Sebeth aus Prinzip missbilligte - sie war rosafarben, aber unverheiratet, und darum, der allgemeinen Moral folgend, keine respektable Drachenfrau. Daran gab es nichts zu rütteln, und obwohl sich Avan unerschütterlich bemüht hatte, ihre Beschäftigung so darzustellen, als wollte er die Unglückliche damit wieder in die Gesellschaft integrieren, wusste er, dass sich Liralen nur deshalb mit ihr abgefunden hatte, weil er gesehen hatte, wie gut ihre Arbeit war. »Anstand? Korrektheit«, wagte er zu fragen. »Es ist noch nicht so lange her, dass Drachen wegen Parteilichkeit aus diesem Ministerium entlassen wurden«, sagte Liralen. »Aber es gibt immer noch welche, die dem Glauben anhängen, sie würden wie in den Tagen vor der Eroberung Beförderungen am besten mit Gewalt erreichen können. Sie sind da anders, wie ich erfreut festgestellt habe.« Avan, der noch immer von seinem Sieg über Kest hochgestimmt war, bemühte sich um einen friedfertigen Ausdruck. »Ich bin gespannt darauf, wie Sie diesen Fall angehen werden, ebenso wie der Verwaltungsrat«, sagte Liralen. Der Verwaltungsrat setzte sich aus den strahlenden Gestalten zusammen, denen sich Liralen verantworten musste. Avan neigte bei ihrer Erwähnung den Kopf. »Nun, die Arbeit wartet«, sagte Liralen zum Abschluss. »Ich tue, was ich kann, um die verlorene Zeit aufzuholen«, sagte Avan und wandte sich auf der Stelle der Akte zu.
24. Eine zweite Beichte Sebeth verließ das Büro kurz vor Sonnenuntergang. Avan arbeitete noch immer, in den Inhalt der Akte vertieft, die Liralen ihm zuvor gegeben hatte. Er hatte zwischendurch zwar einige Zeit damit verbracht, sich mit dem vertraut zu machen, was Sebeth in seiner Abwesenheit in seinem Namen
59 veranlasst hatte, aber er kehrte immer wieder zu der fliederfarbenen Akte zurück. Er grunzte kaum einen Abschiedsgruß hervor, als sie das Büro verließ. Sebeth ging von der Kuppel in Richtung Fluss. Niemand hatte sie nach ihrem Ziel gefragt, und niemand schien sie zu beachten. Sie ging durch den Park und kümmerte sich nicht um die modisch gekleideten Spaziergänger und die Mühlenarbeiter. Gelegentlich erblickte sie eine Sekretärin, die sie kannte, und sie tauschten ein Nicken oder ein paar Worte aus. Auch wenn sie für gewöhnlich höflich zueinander waren, war keine von ihnen ihre Freundin; den meisten war sie nicht geheuer. Sebeth wusste, dass sie die Meinung vertraten, dass sie keine ordentliche Anstellung verdiente. Sie zog Fremde vor, die nicht wussten, dass sie keine Braut war. An der Flusspromenade zögerte sie und warf prüfende Blicke um sich, um sich zu vergewissern, dass ihr niemand folgte. Sie hielt inne, als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie sich nach rechts oder links wenden solle. Die rechte Seite hätte sie zu den Geschäften und Vergnügungsstätten und großen Häusern des modischen Südwestviertels und des Viertels des Verschiebebahnhofs geführt, während die linke sie zurück zu den Mühlen und Büros des Kuppel- und Torisbezirks und schließlich nach Hause geführt hätte.
Sobald sie sicher war nicht beobachtet zu werden, nahm sie den Hut ab, das Kennzeichen ihres Status und ihrer Respektabilität, und schob ihn in die Tasche. Dann ging sie mit schnellen, zielsicheren Schritten über die Steinbrücke, die den Fluss Toris überspannte. Auf der anderen Seite ging sie ohne zu zögern weiter und wählte einen Weg durch die verwinkelten schmalen Straßen. Bald war sie in dem Viertel, das zwischen dem Fluss und den Eisenbahnschienen lag und das als Skamble bekannt war. Unterwegs dachte sie über den Inhalt der fliederfarbenen Akte nach. Bebauungsrechte, in Skamble? Hier war bereits jeder Klauenbreit bebaut, wenn auch größtenteils mit armseligen Hütten, in denen die
60 armen Mühlenarbeiter sich so gut zwischen den dünnen Wänden einzurichten versuchten, wie irgend möglich. Die Straßen waren schmaler und die Gebäude drängten sich zusammen, als würden sie die wärmende Nähe suchen. Es gab ein paar leer stehende Flächen, die zweifellos von den kürzlich ausgebrochenen Bränden herrührten. Als die Sonne schon fast untergegangen war, kam sie zu einer Kirche, die zwar größer wenn auch kaum besser gebaut war als die sie umgebenden Häuser. Sie blieb kurz stehen, sah sich wieder aufmerksam um, zog die Mantille aus der Tasche und setzte sie auf. Sie konnte sich nicht gegen das prickelnde Gefühl wehren, etwas Verbotenes zu tun. Eine Kirche des Alten Glaubens zu besuchen war nicht mehr illegal, abgesehen für einen Pfarrer, aber es wurde mit Missfallen betrachtet. Viele Dinge fallen in den Schatten zwischen dem grellen Licht der Illegalität und der behaglichen Dunkelheit der Billigung. Wäre ihre Mitgliedschaft in dieser Kirche bekannt geworden, hätte Avan sie mit Sicherheit nicht mehr als Sekretärin beschäftigen können. Sie verdrängte ihre Aufregung und murmelte ein Gebet zu Veld, um einen klaren Kopf zu bekommen. Dann drückte sie gegen die Tür, die sofort nachgab, und trat ein. Der Raum, den Sebeth betrat, ähnelte dem einer jeden Kirche in einem Armenviertel. Es war ein dunkler, riesiger Raum, kaum zur Hälfte unterhalb des Erdbodens, halb gefüllt mit Drachen, von denen viele die gefesselten Schwingen der Dienerschaft aufwiesen und die alle klein waren; mit Ausnahme des Priesters, der in der Mitte des Narthex stand und gerade mit dem Gottesdienst beginnen wollte, war kaum einer von ihnen länger als zwei Meter. Ein solcher Anblick war in jeder Kirche an jedem Morgen des Ersten Tages oder auch an jedem Abend zu sehen. Allein die sich bewegenden Mantilles und die geschnitzten hölzernen Seitentüren, die zum Beichtraum führten, hoben sie als etwas Besonderes hervor. Ein Besucher, der sie erblickt
60 hätte, wäre vermutlich überrascht gewesen, als Sebeth bestimmte Gesten machte und sich dem Gebet anschloss, aber nicht deshalb, weil keiner ein Festmahl aus gebratenem Fleisch veranstaltete oder groteske und anrüchige Beichten hervorheulte, sondern vielmehr, weil er sich benahm wie jeder andere Drache in jeder anderen Kirchengemeinde auch. Selbst die Gebete waren dieselben. Der einzige theologische Unterschied waren die Darstellungen an den Türen. Wie in den meisten Kirchen waren die Wände mit Schnitzereien der ineinander verschlungenen, sich windenden Gestalten der Götter bedeckt. Von allen Wänden blickten Jurales große dunkle Augen und wirbelten in mitleidsvollem Verständnis und Velds Gesicht war streng und weise und die Welt lag sicher zwischen seinen Klauen. Die beiden waren deutlich erkennbar. Aber es gab keine Bilder von Camran, sah man einmal von den Darstellungen auf den Türen ab. Aber diese hätten die meisten Drachen die Augen aufreißen und das Wort Ketzerei schreien lassen. Auf der linken Seite wurde Camran gezeigt, wie er das Buch der Gesetze überreichte, und rechts schritt er zur Höhle von Azashan empor, so wie überall sonst auch, aber der Künstler dieser Kirche hatte ihn als Yargen dargestellt, glatt und zart, schwingenlos und unbewaffnet. Einen Pfarrer - hätte es einer überhaupt gewagt, diese Kirche zu betreten - hätte das womöglich nicht sehr überrascht. Es gab genug alte Bücher, die Camran so zeigten. Zum Beispiel hatte man Penn beim Studium noch beigebracht, dass das eine alte symbolische Weise war, Camrans friedliche Natur und Bescheidenheit darzustellen, so wie man den Rächenden Veld als glühende Mittagssonne und Jurale als beschützenden Berg darstellen konnte. Aber die Anhänger des Alten Glaubens, und Sebeth gehörte zu
ihnen, sahen das nicht als ein Symbol wie die roten Bänder, die die Schwingen eines Priesters oder Pfarrers zusammenbanden; sie glaubten wirklich, dass Camran ein Yarge gewesen war.
61 Nach dem Gottesdienst wartete Sebeth vor den Türen und betete geduldig, bis sie mit der Beichte an der Reihe war. Der Priester, der sich der Gesegnete Calien nannte, sprach sie wie immer von den Sünden frei, dass sie mit Avan ohne das Sakrament der Ehe zusammenlebte und dass sie Avans Gold begehrte und ihn wegen seiner Klage tadelte, die ganzen Einzelheiten, die sie Calien auf seine Fragen hin erzählte. Dann vergab er ihr weniger automatisch dafür, dass es ihr gefallen hatte, als die beiden Drachen am Nachmittag ihretwegen gekämpft hatten. »Es mag in unserer Natur liegen, aber Camran hat uns gelehrt, dass wir unsere Natur überwinden können. Mögest du mit Velds Segen das nächste Mal solchen Versuchungen besser widerstehen. Ist das alles?« »Da ist noch eine Sache, Gesegneter«, sagte sie. »Es ist keine meiner Sünden, und möglicherweise ist es eine Sünde, es Ihnen zu erzählen, da Liralen es für relativ vertraulich hielt. Aber Avan hat eine gewisse Akte bekommen, in der es um Bebauungsrechte in Skamble geht, und ich habe mich gefragt, ob es nicht besser sei, Sie davon zu unterrichten.« »Du hast das Richtige getan, kleine Schwester«, sagte Calien. »Halte mich ruhig in dieser Angelegenheit auf dem Laufenden. Die lässlichere Sünde, deine Arbeitgeber zu hintergehen, wird von der großen Hilfe ausgeglichen, mit der du das Ei der Kirche hegst.« »Ja, Gesegneter«, erwiderte Sebeth gehorsam. Dann legte der Priester die Krallen auf ihre Augen, während sie ganz still dasaß. »Ich habe deine Beichte gehört, Schwester Sebeth, und ich spreche dich frei und vergebe dir im Namen von Camran, im Namen von Jurale und im Namen von Veld.«
61 DIE ABENDGESELLSCHAFT
25. Die Erhabene zeigt sich mit Amer einverstanden Es war der fünfte Tag des Monats Blätterfall, der Tag, den die Erhabene Benandi für ihre kleine Abendgesellschaft bestimmt hatte, um Penn zu begrüßen und seine Schwester und sein Kindermädchen in Augenschein zu nehmen. Ihrem Wunsch entsprechend führte Penn Amer durch den Pfarrerweg nach oben, damit die Erhabene Benandi sie in ihrem Büro in Augenschein nehmen konnte, kurz vor der festgelegten Zeit für das Abendessen. Die Erhabene war guter Stimmung. Ihre Freundin, die Gesegnete Telstie, hatte ihr mitgeteilt, dass ihre Tochter Gelener am Nachmittag des Siebten eintreffen würde, also in zwei Tagen. Und so lächelte sie Penn an, als er zuerst allein eintrat und Amer im Korridor warten ließ, und obwohl sie ihn wegen seiner Geldverschwendung mit der Kutsche tadelte, tat sie es doch wohlwollend. »Als Pfarrer nehmen Sie zwar eine wichtige Position in der Welt ein, aber Sie sind trotzdem völlig auf Ihr
61 Einkommen angewiesen, Sie haben ein bequemes Heim und ausreichendes Einkommen, aber es reicht nicht für Frivolitäten«, sagte sie zum Abschluss. »Sie haben Recht, Erhabene. Ich werde in Zukunft sorgfältiger darauf achten«, sagte Penn. Er war jetzt ausgeruht. Zu Hause sein zu können, Fehns ungeteilte Aufmerksamkeit für sich zu haben und zu erleben, dass sich Selendra einen ganzen Tag und eine ganze Nacht einwandfrei benommen hatte, das alles hatte doch viel zu seiner Beruhigung beigetragen. »Und mein Beileid wegen des Verlustes Ihres Vaters«, sagte die Erhabene, der jetzt erst eingefallen war, dass sie das bisher versäumt hatte. »Er starb in den Armen von Camran«, sagte Penn, und die traditionellen Worte versetzten ihm dann doch einen leichten Stich, denn sie erinnerten ihn an die Beichte seines Vaters.
»Dann stellen Sie mir doch mal Ihr altes Kindermädchen vor«, sagte die Erhabene. »Sie müssen nicht bleiben, gehen Sie doch zu den jungen Leuten. Zweifellos amüsieren sie sich draußen auf dem Sims oder im Kleinen Salon.« Penn gab Amer das Zeichen zum Eintreten. Amer hatte Selendra gebeten, ihr für die Dauer dieses Gesprächs die Schwingen eng zusammenzubinden. Sie hatte Fehn nicht darum bitten wollen, damit ihre neue Herrin hinterher nicht auf die Idee kam, sie so zu belassen. Amer hatte keine Furcht vor gefesselten Schwingen, aber sie bevorzugte ihr gewohntes Maß an Freiheit und Bequemlichkeit. Doch ihr war klar, dass die Fesselung für dieses Gespräch so fest sein musste, wie es nur ging. Vor Fehn hatte sie keine Angst, nicht wenn Penn und Selendra da waren, um sie zu beschützen, aber sie wusste, dass Penn die Erhabene fürchtete, denn sie war hier die eigentliche Herrin. Als Penn sie hereinwinkte, senkte sie den Kopf, holte tief Luft und trat ein. Was die Erhabene Benandi sah, erschien in jeder Hinsicht zufrieden stellend. Amer war offensichtlich schon älter und
62 hatte ihren eigenen Kopf, also gar nicht das, was sie für Fehns Haushalt gewählt hätte. Aber sie hatten sie geerbt und mussten das Beste daraus machen. Wenigstens war sie klein, ihre Schwingen gut gebunden, und sie schien ausreichend demütig zu sein. Sie verneigte sich so tief, dass ihr Kopf den Boden berührte, während Penn sie vorstellte, und selbst als sie aufschaute hielt sie den Blick gesenkt. »Wie lange hast du auf Agornin gedient?«, fragte die Erhabene und verscheuchte Penn ungeduldig. Er verneigte sich und ging, wenn auch nicht ohne Zögern. Er hatte Amer gebeten, sich zu benehmen, aber er wusste auch, dass sie daran gewöhnt war, den ihr Höhergestellten offen die Meinung zu sagen. »Seit der Ehrwürdige Agornin meine Herrin geheiratet hat, die damals die Hochgeschätzte Fidrak war, Erhabene«, sagte Amer. Die Erhabene hatte die Verbindung mit dem Hause Fidrak entdeckt, als sie ihre Nachforschungen über Penns Herkunft getrieben hatte, bevor sie ihm den Posten als Pfarrer anbot. Es hatte dabei geholfen, dass sie sich ihm gewogen gefühlt hatte. Jetzt lächelte sie so gnädig, wie sie konnte. »Und wie lange hast du den Fidraks davor gedient?« »Mein ganzes Leben lang, Erhabene, meine Mutter war die Zofe der alten Erhabenen Fidrak und mein Vater der Pförtner des Haushaltes. Schon seine Eltern und ihre Eltern arbeiteten als Diener auf dem Gut der Fidrak, seit der Zeit vor der Eroberung.« »Eine löbliche Herkunft«, sagte die Erhabene ehrlich erfreut. »Und wie alt bist du?« »Alt genug, um noch viele Jahre hart arbeiten zu können, Erhabene«, sagte Amer. Das war eine gute Antwort, denn Amer sah nicht hinfällig aus, aber sie war der Frage ausgewichen, was bei der Erhabenen ein Stirnrunzeln hervorrief. »Wie alt genau?«, verlangte sie zu wissen.
62 »Vierhundertundsieben Jahre, Erhabene«, sagte Amer, die entschieden hatte, dass es der Erhabenen nicht auffallen würde, wenn sie fünfzig Jahre unterschlug. Das schien diese zufrieden zu stellen, denn sie forschte nicht weiter in dieser Richtung nach. »Wie hast du den Fidraks und dann den Agornins gedient?« »Zuerst als Küchenhilfe, dann als Dienerin der Hochgeschätzten Fidrak. Als sie heiratete und die Ehrwürdige Agornin wurde, war ich weiterhin ihre Dienerin, habe aber hauptsächlich als Kindermädchen für ihre Gelege gearbeitet. Als sie nach dem Tod meiner Herrin groß geworden waren und auch der Ehrwürdige Agornin alt genug, habe ich wieder mehr in der Küche gearbeitet.« »Du weißt, dass das Pfarrhaus von Benandi ein kleiner Haushalt ist?«, fragte die Erhabene und musterte sie genau. »Dort ist kein Platz für Luxus und Extravaganzen, auch wenn sie das Leben von adelig geborenen Drachen führen. Warum wolltest du herkommen?« »Ich habe den Agornin so lange gedient, ich wollte nicht in eine andere Familie gehen«, antwortete Amer und hielt den Blick so tief gesenkt, wie sie konnte, damit die Erhabene kein Funkeln des Trotzes oder des Unwillens in ihren Augen entdecken konnte.
»Also war das deine Entscheidung? Nicht die deiner Höhergestellten?« Die Erhabene stürzte sich auf dieses Eingeständnis, als wäre es ein Wildschwein, dem sie den Hals brechen wollte. »Ich hätte bei den Daveraks bleiben können«, gab Amer zu. »Die Daveraks haben Agornin übernommen, du hättest bei ihnen und somit bei der Familie bleiben können, der du so lange gedient hast, aber du hast dich anders entschieden.« »Das ist eine andere Familie, obwohl der Erhabene Daverak die Hochgeschätzte Berend Agornin geheiratet hat«, sagte Amer in dem Glauben, sich hier auf sicherem Terrain
63 zu bewegen. »Ich wusste, dass der Gesegnete Penn wahre Agorninkinder hat, und ich wollte ihnen dienen, falls das möglich sein sollte.« »Ich bin schon immer der festen Meinung gewesen, dass kleine Schlüpflinge am besten von jungen Kindermädchen versorgt werden«, sagte die Erhabene ernst. »Warum?«, fragte Amer und wünschte sich im selben Augenblick, sich auf die Zunge gebissen zu haben. Die Erhabene Benandi saß einen Augenblick lang da und betrachtete sie schweigend. Sie erlaubte der Dienerschaft nicht die geringsten Vertraulichkeiten, und das sah doch sehr nach Aufsässigkeit aus. Glücklicherweise war sie guter Stimmung, und Amer hatte bis jetzt einen recht guten Eindruck gemacht. Also entschied die Erhabene, dass sie keinen Befehl in Frage gestellt, sondern lediglich um eine Erklärung gebeten hatte. »Weil es für die Jungen besser ist, von den Jungen bedient zu werden«, sagte sie. Amer erwiderte nichts darauf, auch wenn sie sich danach sehnte, diese Ansicht als den Unsinn bloßzustellen, der er war. »In diesem Fall werde ich nach meinem besten Vermögen in der Küche helfen oder der Hochgeschätzten Selendra dienen«, sagte sie. Die Erhabene betrachtete Amer nun mit offenem Missfallen. »Wie ich sagte, die Pfarrei Benandi ist ein kleiner Haushalt. Die Hochgeschätzte Agornin kann nicht erwarten, eine Leibdienerin zu haben.« »Nein, Erhabene«, sagte Amer hölzern. »Sicherlich erwartet sie das wohl nicht?«, fragte die Erhabene. »Nein, Erhabene«, wiederholte Amer und erinnerte sich daran, wie Selendra bei dieser Vorstellung gelacht und sich gewünscht hatte, die letzten glücklichen Jahre in Agornin Wiederaufleben lassen zu können. »Ich hoffe doch nicht, dass sie eine närrische Jungfrau ist, die sich nur für die neueste Mode interessiert?«
63 »Nein, Erhabene«, sagte Amer und duckte sich, als könnte sie durch den harten Stein im Boden versinken. Die Erhabene seufzte. »Geh zurück zu deinen Pflichten. Ich werde mich erkundigen, ob sie zu Fehns Zufriedenheit erfüllt werden, und sollte das nicht der Fall sein, werde ich meinen Unmut äußern.« »Ja, Erhabene«, sagte Amer und ging langsam rückwärts aus dem Raum. Sobald sie sicher war, dass sie den Gang weit genug hinuntergegangen war, damit die Erhabene sie nicht mehr hören konnte, seufzte sie erleichtert auf und spreizte die Schwingen, so weit das mit den Fesseln ging. Sie fragte sich, ob Daverak nicht vielleicht doch besser gewesen wäre -selbst unter der ständigen Bedrohung, gegen ihren Willen gefressen zu werden.
26. Der erste Tag auf Benandi Die Pracht von Benandi überwältigte Selendra. Am ersten Abend konnte sie nur still dasitzen und so gesittet essen, wie ihr das möglich war. Sie beantwortete Fragen mit einem leisem Murmeln, das fast schon zu leise war, um verstanden zu werden. Sher war verständnisvoll, wenn er sie nicht verstand, denn er erkannte Schüchternheit und Traurigkeit bei anderen, aber seine Mutter bat sie oft, das zu wiederholen, was sie gesagt hatte. Trotzdem war die Erhabene Benandi mit Penns Schwester zufriedener als erwartet. Sie hatte befürchtet, Selendra würde hochmütig sein und mehr von ihrer Position erwarten, als diese naturgemäß darstellte. Stattdessen fand sie sie fast schon zu zurückhaltend.
Der nächste Morgen war der Erste Tag, und der ganze Haushalt besuchte gemeinsam die Kirche. Die Erhabene Benandi und Sher nahmen die ganze rechte Seite der Kirche in Beschlag und Selendra stand zur Linken, und obwohl noch genug Platz war, mussten sich die Diener vorn und hin
64 teil in der Kirche unter die Dorfbewohner mischen. Penn stand im Narthex und hielt eine gute Predigt über Jurales hegende Mutterqualitäten, die er größtenteils im Zug verfasst hatte und in der es ihm gelang, die Erhabene zweimal und Fehn einmal lobend zu erwähnen. Nach Ende des Gottesdienstes befragte die Erhabene einen Bauern über die Abwesenheit seiner Tochter und Fehn half Penn, den zeremoniellen Kopfschmuck abzunehmen. Sher nutzte die Gelegenheit, um Selendra anzusprechen. »Mir ist gerade klar geworden, dass ich Ihnen gar nicht gesagt habe, wie Leid mir der Tod Ihres Vaters tut. Sie erinnern sich bestimmt nicht mehr an mich und meinen Besuch auf Agornin, aber ich war lange genug dort, um Ihren Vater schätzen zu lernen. Bon war ein wunderbarer Drache, solch ein großartiger Geschichtenerzähler, echtes Urgestein der Berge. Ich wünschte, ich würde mehr Drachen wie ihn kennen. Ohne ihn erscheint die Welt kleiner.« Zu ihrer Verlegenheit füllten sich Selendras Augen mit Tränen, als sie das hörte. Von den üblichen Beileidsbekundungen abgesehen, hatte niemand mit ihr über Bon gesprochen, seit sie Haner verlassen hatte, und diese Worte jetzt zu hören, brachte die Erinnerung an ihn fast schon zu lebhaft zurück. »Danke«, sagte sie und wusste, dass sie durch ihren Tonfall ihre Tränen enthüllt hatte. »Ich wollte Sie nicht verletzen«, sagte Sher ganz sanft. »Ich weiß«, erwiderte sie und schaffte es, ihn anzusehen. »Sie müssen mich für sehr albern halten, aber ich vermisse meinen Vater sehr, und Sie bringen ihn mir so lebhaft in Erinnerung zurück.« »Dann tut es mir nicht im Mindesten Leid, denn es ist richtig, dass wir uns so oft an Bon erinnern, wie nur möglich.« Selendra schaffte es, darüber zu lächeln, ein sehr damenhaftes Lächeln mit geschlossenem Maul. »Finden Sie es hier sehr seltsam?«, fragte Sher.
64 »Ja«, gab Selendra zu. »Aber nach dem zu urteilen, was ich davon gesehen habe, ist es auch ein sehr schönes Land.« »Ich habe nicht vergessen, dass Fehn und ich Ihnen versprochen haben, Sie zum Fliegen mitzunehmen. Vielleicht nicht gerade heute, aber bald.« »Ich glaube, heute wäre es wirklich nicht so gut, wenn man es richtig bedenkt«, sagte sie und lächelte. Die Gruppe war zu Fuß zur Kirche gegangen und würde auch wieder zurückgehen. Fliegen am Ersten Tag war nichts, wovon die Erhabene etwas hielt. »Es ist gut, eine so schöne Kirche zu haben«, fuhr sie fort. »Ich glaube, sie ist sehr alt«, sagte Sher und warf einen Blick zurück auf die Kirche, die ihm fast zu vertraut war, um sie noch bewusst wahrzunehmen. »Es ist eine der ältesten im ganzen Nordwesten von Tiamath. Ich kam schon als kleiner Schlüpfling her.« »Die Kirche hat so schöne Schnitzereien.« »Als Kind habe ich mir immer vorgestellt, an den Wänden hochzuklettern und Camran gegen Azashan zu helfen, in dem Wandbild dort oben«, sagte Sher und zeigte darauf. »O ja«, sagte Selendra, die sofort erkannte, was er meinte. »Sie hätten an diesen Sonnenstrahlen hinaufklettern können!« »Ja, genauso hatte ich mir das immer gedacht.« Die Erinnerung ließ Sher lächeln. »Azashan sieht dort so Furcht erregend aus«, sagte Selendra. »Ich bin mir sicher, wäre ich als Kind hergekommen, hätte er mir Albträume verursacht. Aber nein, vielleicht doch nicht, denn Camran ist so stark.« Als sich die Erhabene und Penn zu ihnen gesellten, unterhielten sie sich in aller Harmlosigkeit über die Schönheit von Velds Darstellung an der linken Wand.
Am späteren Nachmittag besuchte Fehn die Erhabene, um ihr ein paar Töpfchen mit Loosbeeren zu bringen, die
65 sie und Amer eingemacht hatten. Da es der Erste Tag war, war sie zu Fuß gegangen, statt zu fliegen. »Wie finden Sie sie?«, fragte die Erhabene nach der Begrüßung. »In der Küche ist sie auf jeden Fall sehr tüchtig. Ich bin ganz glücklich mit dem Kindermädchen, das Sie für mich gefunden haben, aber ich glaube, ich kann Amer noch mehr mit Einkochen beschäftigen. Sie wissen, wie langweilig es im Winter ist, nichts als Fleisch zu haben. Im letzten Jahr konnte ich kaum Loosbeeren einmachen, weil ich die Diener dabei jeden Augenblick im Auge behalten musste. Ich glaube, Amer kennt sich mit der Arbeit gut genug aus, um sie ihr alleine anzuvertrauen.« Fehn verspürte bereits die ersten Anzeichen von Zufriedenheit über Penns Entscheidung, Amer mitzubringen. »Sie hat noch nicht erkennen lassen, dass sie am liebsten Selendra bemuttern möchte?«, fragte die Erhabene misstrauisch. »Bis jetzt nicht.« »Dann haben Sie sie dabei nur noch nicht erwischt. Sie hat so gut wie zugegeben, dass sie herkommen wollte, und das war der Grund. Behalten Sie sie in der Küche und halten Sie sie fest an der Kandare.« »Das werde ich mit Sicherheit tun«, sagte Fehn. »Aber ich glaube nicht, dass Selendra sie als Leibdienerin haben will. Selendra ist sehr süß. Die Kinder lieben sie jetzt bereits abgöttisch.« »Kinder wenden ihre Zuneigung jeder jungen Person zu, die Zeit mit ihnen verbringt«, erwiderte die Erhabene. »Und sie ist hübsch.« »Zu still und schüchtern, um eine Schönheit zu sein, und auch etwas zu blass dafür«, winkte die Erhabene ab. »Harmlos. Wir werden nach einem für sie passenden Drachen Ausschau halten müssen, den ihre Zurückhaltung nicht stört. Wie hoch ist ihre Mitgift?«
65 »Ich glaube sechzehntausend«, sagte Fehn, denn das hatte Selendra ihr gesagt, ganz in Ubereinstimmung mit ihrer Abmachung mit Haner. »Besser, als ich erwartet hätte«, schnaubte die Erhabene. »Ich dachte, der alte Bon hätte sein ganzes Vermögen eingebüßt, als er seine Älteste an Daverak verkauft hat. Trotzdem, das ist in Ordnung. Ein blasses stilles Ding wie Selendra wird mit sechszehntausend gut unterzubringen sein, an einen Pfarrer oder vielleicht sogar an den Sohn eines Ehrwürdigen.« »Es ist noch zu früh, darüber nachzudenken«, sagte Fehn. »Sie hat ja kaum den Tod ihres Vaters verwunden.« »Ist die Jungfrau in tiefer Trauer?« »Nun, seit dem Tod ihres Vaters ist erst eine Woche vergangen. Ich würde nicht vorschlagen, dass Sie sie schon auf irgendwelche Bälle mitnehmen«, sagte Fehn etwas schärfer, als sie der Erhabenen für gewöhnlich antwortete. »Ich wollte morgen Abend nur ein Essen geben. Ein paar Freunde von mir werden da sein.« Die Erhabene lächelte ausgesprochen selbstzufrieden. »Die Gesegnete Telstie, die Sie kennen, und ihre Tochter, die Hochgeschätzte Gelener Telstie, die Sie, wie ich glaube, noch nicht kennen. Sie hat die Schule vor zwei Jahren verlassen, und ich bin ihr nur einmal begegnet, als wir zur Saison in Irieth waren.« »Ich bin erfreut ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Fehn, die sofort den Plan ihrer Freundin durchschaute. Armer Sher, dachte sie, gefangen wie ein Schwein in einer Felsspalte und dann von der Jungfrau mit einem Topf Loos-beerengelee Übergossen auf einem Tablett serviert. »Aber ist Selendra denn auch in zu tiefer Trauer, um an einer Abendgesellschaft teilnehmen zu können? Sie ist sicherlich alt genug, und ich kann mich über ihr Benehmen nicht beschweren, so wie sie gestern Abend bei unserem Familienessen war. Sie muss nur etwas mehr aus sich herausgehen, wenn sie jemals in der Gesellschaft eine besondere Rolle spielen will.«
65
Fehn dachte darüber nach. Selendra war auch bei ihr sehr still gewesen, obwohl es ihr anscheinend Spaß gemacht hatte, mit den Kindern zu spielen. »Ich glaube, es würde ihr gut tun, mal öfters aus dem Pfarrhaus herauszukommen«, sagte sie. »Sie sollte nicht über ihrer Trauer ins Brüten geraten.« »Ich will ihr nichts Gutes tun«, sagte die Erhabene und wich ein Stück zurück. »Ich frage mich lediglich, ob es schicklich wäre.« »Nun, wollten Sie Penn denn einladen?« »Oh, sicher, ohne Penn geht es einfach nicht, er ist der einzige andere Mann, den ich habe, wir haben in jedem Fall zu wenig Männer. Außerdem ist es eine Pfarrerfamilie. Man würde es merkwürdig finden, wenn Penn nicht dabei wäre.« Es war ein allgemein akzeptierter Teil von Penns Pflichten als Pfarrer von Benandi, mit der Erhabenen zu speisen, wenn sie einen zusätzlichen männlichen Drachen beim Essen brauchte. »Nun, da Bon auch Penns Vater war, dürfte die Trauer für sie beide gelten, und wenn Penn als Pfarrer daran teilnehmen kann, sollte es Selendra auch tun dürfen«, sagte Fehn. »Gut«, sagte die Erhabene und verwarf die Frage, ob es sich für Penn schickte, eine Woche nach dem Tod seines Vaters an einer Abendgesellschaft teilzunehmen. »Die Telsties treffen morgen Nachmittag ein. Ich sehe Sie dann alle hier zum Essen.«
2 7 . Selendra und Sher Als Selendra hörte, dass sie zu einer Abendgesellschaft im Gutshaus eingeladen war, war sie entsetzt. »Ich würde lieber hier bleiben und lesen«, sagte sie bittend. »Muss ich gehen?« Fehn war verärgert. »Es ist sehr nett von der Erhabenen, Sie einzuladen«, sagte sie. »Sie sollten dankbar sein und das
66 Beste aus den gesellschaftlichen Möglichkeiten machen, die sich Ihnen bieten.« Selendra setzte sich auf ihrem Gold zurecht und schluckte ihre Tränen hinunter. Sie wusste nicht, ob es die unterdrückte Trauer war oder ob sie Haner vermisste oder ob es bloß die völlig andere Umgebung war, aber sie hätte ständig in Tränen ausbrechen können. »Natürlich ist es sehr nett«, sagte sie mechanisch. »Aber ich habe noch nie an einem solchen Essen teilgenommen, und ich will Sie und Penn nicht enttäuschen.« »Tun Sie einfach dasselbe wie gestern Abend«, sagte Fehn. »Niemand wird Sie beachten. Das Bankett ist für ein paar Freunde, die zu Besuch kommen, und die im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen werden. Da ist eine Tochter, Gelener, die angeblich sehr schön sein soll. Man hat sie für Sher eingeladen.« »Für Sher?«, wiederholte Selendra begriffsstutzig. »Um ihn zu heiraten«, erwiderte Fehn scharf. »Ich glaube, das viele Lesen im Dunkeln ermüdet Ihren Verstand, Sie sollten einmal einen kleinen Spaziergang machen.« »Wäre heute nicht der Erste Tag, würde ich fliegen«, sagte Selendra. »Wäre heute nicht der Erste Tag, würden wir das alle«, fauchte Fehn, dann bedauerte sie es auch schon wieder. »Es tut mir Leid, Selendra. Ich bin etwas überreizt. Ich nehme Sie morgen nach dem Frühstück mit zum Fliegen, es sei denn, Penn braucht mich.« »Danke«, sagte Selendra, stand auf und legte auf schwesterliche Weise eine Schwinge über Fehn. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Ich brauche keinen Spaziergang. Kann ich auf die Kinder aufpassen?« Dieses Angebot wurde dankbar angenommen, und sie trennten sich in gutem Einverständnis. Am nächsten Morgen frühstückten sie sehr zurückhaltend, nur eine Rinderhälfte für alle zusammen. Selendra
66 fand es etwas merkwürdig, zusammen mit den Kindern zu essen, denn sie hatten keine Tischmanieren und neigten dazu, überall wo sie aßen blutiges Fleisch zu verteilen. »Amer kann nachher den Rest von dem Fleisch trocknen«, sagte Fehn. »Brauchst du mich heute, mein Lieber?«
Penn schaute von seinem Rind auf. »Was? Ja, ich dachte, du könntest mich zu den Südtors begleiten. Eines ihrer Kinder war krank und müsste mittlerweile wieder genesen sein, oder man müsste ihm helfen, diese Welt zu verlassen.« »Ja, mein Lieber«, sagte Fehn und bedeutete Selendra mit einem Wirbeln ihrer Augen, dass ihr Flug auf einen anderen Tag würde warten müssen. Selendra akzeptierte das mit einem leisen Seufzen, aber nachdem ihr Bruder und seine Frau gegangen waren und sie die Kleinen zu beschäftigen versuchte, führte Amer überraschenderweise Sher herein. »Der Erhabene Benandi«, verkündete sie. Da in diesem Augenblick der kleine Gerin auf Selendras Rücken hockte, konnte sie sich nicht rühren aus Furcht, ihn herunterfallen zu lassen. Aber in dem Augenblick, in dem die Kinder Sher erblickten, waren sie auch schon bei ihm und baten um Süßigkeiten und Geschichten. »Ich bin heute nicht gekommen, um euch kleine Ungeheuer zu besuchen, sondern eure Tante«, sagte Sher und wehrte sie auf eine Weise ab, die offensichtlich ein vertrautes Spiel darstellte, das er sie gewinnen ließ. Als er sich Selendra schließlich entschuldigend zuwandte, hatte er auf jeder Schulter ein Kind hocken. Sie konnte nicht anders: Der Anblick ließ sie lachen. Er war so viel größer als sie, dass sie wie Verzierungen aussahen. »Guten Morgen, Erhabener Benandi«, sagte sie und verbeugte sich. Sher lachte. »Nennen Sie mich doch bitte Sher, denn Penn und Fehn tun das auch, und es wäre albern, wenn Sie es nicht täten.« Da die Kinder auf ihm hockten und Wontas triumphie
67 rend die Klaue schwenkte, konnte Selendra vor Sher einfach keine Angst haben. Davon abgesehen bewunderte und mochte sie ihn. Er musste sich mit einer schrecklichen Mutter abplagen, aber er selbst war sanft und rücksichtsvoll. Er hatte ihren Vater gemocht. Und nach dem zu schließen, was Fehn gesagt hatte, würde er bald heiraten. »Also gut«, sagte sie. »Dann guten Morgen, Erhabener Sher. Ich muss Ihnen leider sagen, dass Fehn zusammen mit meinem Bruder einen Krankenbesuch bei einer Bauernfamilie macht.« »Meine Mutter würde sagen, dass es meine Pflicht wäre, sie zu begleiten«, meinte Sher. »Aber egal, denn ich habe versprochen, heute mit Ihnen zu fliegen, und es ist ein schöner Morgen, kühl und klar.« Er hob vorsichtig die Klaue und kitzelte Gerin unter dem Bauch. Gerin fing an zu kichern und hörte endlich auf, seine Krallen in Sher zu bohren. Bevor Selendras Hoffnungen am Frühstückstisch zunichte gemacht worden waren, hatte sie bereits gesehen, dass es ein wunderbarer Morgen war. Jetzt verspürte sie neue Hoffnung. »Sind Sie sicher, dass es in Ordnung ist?« »Aber sicher«, sagte Sher und entschied sich in diesem Augenblick, seiner Mutter gegenüber nicht zu erwähnen, dass Fehn sie nicht begleitet hatte. »Holen Sie das Kindermädchen für diese kleinen Ungeheuer und kommen Sie mit.« »Nehmt uns mit!«, piepsten die Kinder. »Wenn ihr Schwingen habt«, versprach Sher. »Wie wollt ihr denn sonst fliegen?« Selendra rief nach dem Kindermädchen, noch immer nicht restlos von der Schicklichkeit überzeugt, aber bereit, sich in Versuchung führen zu lassen. Die Kinder wurden fortgebracht und riefen dabei laut nach Onkel Sher und Tante Sei. »Sie nennen Sie Onkel?«, fragte sie, als sie auf den Sims traten und in der plötzlichen Helligkeit die Augen zusammenkneifen mussten.
67 »Wie Sie sehen, gehöre ich zur Familie«, sagte er. »Ich war zusammen mit Penn auf der Schule und dann auf der Universität und meine Mutter hat Fehn großgezogen, also stehen wir uns alle ziemlich nahe. Sie müssen sich einfach so gut dazugesellen, wie Sie es können.« Selendra hatte keine Ahnung, dass sich Sher die meiste Zeit vom Gut fernhielt, darum erschien ihr das alles durchaus vernünftig. Sie lächelte ihn schüchtern an, erleichtert, einen weiteren Bruder bekommen
zu haben, der zudem noch so zugänglich war. Sie stießen sich ab und stiegen in langsamen Spiralen in die Höhe. »Nun, möchten Sie die Höfe und die Eisenbahn sehen, oder lieber die wilden Orte und die Berge?«, erkundigte sich Sher. »Oh, die wilden Orte, bitte«, sagte Selendra prompt. Als sie Shers Lachen hörte, fügte sie hinzu: »Es ist nur so, dass die Bauernhöfe überall gleich aussehen, und alle wilden Orte haben ihre eigene Schönheit.« »Da haben Sie Recht«, sagte Sher. »Wir werden noch eine Jägerin aus Ihnen machen, ganz egal, was Ihr Bruder dazu sagt. Und in diesem Fall müssen wir höher hinauf, wenn wir ein vernünftiges Gebiet erkunden wollen. Es gibt zu viel zu sehen, um es an einem Tag zu schaffen, aber ich kann Ihnen an einem anderen Tag noch mehr zeigen.« Bis zu diesem Augenblick war Sher so nett zu ihr gewesen wie zu Fehns Kindern, mit denen er gern zusammen war, wenn er zu Hause weilte, und die er in seiner Abwesenheit vergaß. Er hatte ihr ein Lächeln entlocken wollen und war enttäuscht gewesen, als Fehn nicht da war, um sie zu begleiten. Als er aber jetzt auf Selendras schlanke goldene Gestalt herabblickte, während sie ihm durch den Wind hinauf folgte, fand er, dass sie zwar nach den Maßstäben von Irieth nicht unbedingt eine Schönheit darstellte, nichtsdestoweniger eine gut aussehende Jungfrau war. Er bewunderte sie, seit er sie das erste Mal gesehen hatte. Und sie hatte eine
68 solch amüsante Art, die Dinge zu betrachten. Sie mochte die Schnitzereien in der Kirche und versuchte darüber nachzudenken und zu verstehen, wie er in sie hätte hineinklettern können. Wie schön, dass sie die Wildnis den alten langweiligen Bauernhöfen vorzog. Sher hatte immer so empfunden, obwohl er damit seine Pflichten vernachlässigte. Darum verbrachte er auch so wenig Zeit daheim. Wenn er sich schon niederlassen würde, wäre Selendra so gut wie jede andere an seiner Seite. Sie passte hierher, sie war die Schwester seines alten Freundes und mochte Kinder. Einige der Jungfrauen Irieths sahen aus, als würden sie in Ohnmacht fallen, sollte ein Kind auf sie draufklettern, aber sie hatte bei seinem Eintreten Gerin auf dem Rücken getragen. Er würde darüber nachdenken müssen, und diese Vorstellung erschien ihm sehr angenehm. Selendra folgte ihm und dachte lediglich, was für eine Freude es doch war, auf den sauberen scharfen Morgenwinden in den Himmel zu schweben.
2 8 . Eine Abendgesellschaft Selendra fand Gelener letztlich enttäuschend. Von der zukünftigen Frau Shers hätte sie mehr erwartet. Bei ihrem ersten Anblick war sie sehr beeindruckt gewesen. Gelener war so wunderschön, wie eine Jungfrau nach dem Besuch bei den Polierern der Hauptstadt nur sein konnte. Sie war geputzt worden, bis ihre goldenen Schuppen beinahe leuchteten. Sie trug einen aufwändigen Kopfschmuck aus Ziermünzen und Perlen und Edelsteinen, mit winzigen zitternden Spiegeln auf Stängeln. Selendra, die Amer schnell abgerieben hatte, als sie kam, und ihr dann ihren Kopfschmuck anlegte, ein Etwas aus grauen und schwarzen Schleifen, das Haner für sie gemacht hatte, kam sich verglichen damit ausgesprochen trostlos vor. Selbst die Erhabene mit
68 der prächtigen dunkelgrünen Samtkreation mit einem großen Smaragd, der so perfekt zu ihrer rubinroten Haut passte, sah neben Gelener unscheinbar aus. Geleners Mutter hätte die Schwester der Erhabenen sein können. Ihr Kopfschmuck bestand aus Goldlame, und der große Edelstein war ein Diamant. Der Empfangssaal von Benandi war groß, reichte aus für die aus sieben Drachen bestehende Gesellschaft, die hier versammelt war, und verfügte über einladende Nischen. Die Wände waren mit hellen Steinen verziert, die in das dunkle Felsgestein des Berges eingelassen waren, aus dem der Raum herausgemeißelt worden war. Diese geschmackvollen Arbeiten waren erst vor einem Jahr von einem Künstler aus Irieth durchgeführt worden. Sie entsprachen noch immer der Mode, obwohl in einigen Häusern der Hauptstadt Drachen, die als Vorkämpfer für sie gelten wollten, die uralten Verbote, kostbare
Gegenstände in den öffentlich zugänglichen Teilen eines Haushaltes zur Schau zu stellen, übertrafen und ihre Salons mit ein paar Edelsteinfragmenten schmückten. Bis jetzt war das nur in Irieth Mode, auf dem Land wäre das als ausgesprochen übertrieben angesehen gewesen, und der Salon der Erhabenen war genauso, wie er sein sollte. Das Esszimmer, das man durch einen großen Bogen sehen konnte, war sogar noch größer. Hier hätten zwanzig ausgewachsene Adlige essen können, was auch bereits geschehen war. Die Abflussrinnen waren vor der Mahlzeit bis zur Perfektion geschrubbt worden. Hier gab es keine modernen Dekorationen, der Zweck des Raumes sprach für sich selbst. Diener brachten große Platten mit frisch geschlachtetem Rind, Schwein und Hammel, mindestens zwei Tiere für jeden Gast. Das Fleisch war frisch gehäutet, und das Blut tropfte noch heraus. Viele waren mit Obst dekoriert, frischem und eingemachtem. Selendras anfängliche Hochstimmung begann zu schwinden, nachdem man ihr Gelener als die »Hochgeschätzte Tels
69 de« vorgestellt hatte. Fehn hatte Selendra den Familiennamen der Jungfrau nicht verraten, als sie sie am Vortag erwähnt hatte, so kam dieser zu aller Überraschung an den Tag. »Mein Vater hat Ihren Vater gekannt, vor langer Zeit, vielleicht war es auch Ihr Großvater«, platzte Selendra heraus, als sie den Namen hörte. Gelener neigte den Kopf kaum merklich nach rechts, was ihre Ziermünzen und Spiegel tanzen ließ, und wartete. Nach einer Pause, die immer länger wurde, begriff Selendra, dass das als höfliche Frage gemeint war. »Mein Vater begann als Pächter auf dem Gut der Telstie«, erklärte Selendra. »Ich habe ihn oft gut von dem Vornehmen und der Vornehmen Telstie sprechen hören.« »Das dürften wohl meine Großeltern gewesen sein. Oder mein Onkel, der der amtierende Vornehme Telstie ist, aber auch wenn er ein schon älterer Drache ist, war der Aufstieg Ihres Vaters zur Respektabilität vermutlich vor seiner Zeit«, sagte Gelener geziert. »Mein Vater, der Ehrwürdige Bon Agornin«, sagte Selendra und gestattete sich, den Titel ihres Vaters zu betonen, auf den sie gerechterweise stolz sein konnte, »ist erst kürzlich verstorben, nachdem er seine vollen fünfhundert Jahre erreicht hatte. Seine Kindheit auf dem Gut Telstie war vor langer Zeit.« »Dann müssen es zweifellos meine Großeltern gewesen sein«, sagte Gelener und setzte sich in Bewegung. Die Erhabene hatte ganz in der Nähe gewartet. Als sie sah, dass Gelener mit Sher sprechen wollte, wandte sie sich an Selendra. »Meine Liebe«, sagte sie. »Ich weiß, Sie werden nichts gegen einen Rat von jemandem einzuwenden haben, der viel älter und erfahrener ist.« Selendra neigte den Kopf in dem Versuch, Geleners Anmut mit der Geste zu imitieren, aber sie war sich bewusst, dass es ihr niemals auch nur annähernd gelingen würde. »Nun, es wird Ihnen bei Gelener
69 nichts schaden, sie ist eine nette junge Dame, ausgesprochen gut erzogen. Ihre Mutter und ich sind enge Freundinnen, sie wird von Ihnen nicht weniger gut denken, ganz egal, was Sie sagen. Aber im Allgemeinen, wenn Sie sich in Gesellschaft befinden, würde ich an Ihrer Stelle die niedere Herkunft Ihres Vaters nicht erwähnen. Ich meine nicht, dass Sie die Unwahrheit erzählen sollen - schließlich ist das leicht zu überprüfen. Aber bringen Sie sie nicht so unbekümmert in einer Unterhaltung zur Sprache. Immerhin war Ihre Mutter eine Fidrak und es gibt keine bessere Herkunft als die der Fidraks. Sie gehören zu den ersten zehn Familien des Landes. Sie haben einen Onkel oder auf jeden Fall einen Cousin, der ein Glorreicher ist. Wenn Sie Ihre Familie erwähnen müssen, erwähnen Sie Ihren Cousin, den Glorreichen Fidrak.« Selendra starrte die Erhabene an, kaum dazu fähig, das zu begreifen, was das bedeuten sollte. »Aber ich kenne meinen Cousin nicht, also wüsste ich auch nichts über ihn zu sagen«, sagte sie. »Außerdem ist der Familienzweig meiner Mutter nur sehr entfernt mit dem derzeitigen Träger des Titels verwandt.« »Sie mögen ihn nicht kennen, aber er stellt eine Verbindung dar, auf die Sie mit Recht stolz sein können.«
»Ich schäme mich meines Vaters nicht!«, erwiderte Selendra viel zu laut. Jeder drehte sich um, um sie anzusehen. Penn, der sich auf der anderen Seite des Raumes mit der Gesegneten Telstie unterhielt, machte einen Schritt auf sie zu. »Ich habe auch nicht vorgeschlagen, dass Sie das tun sollten«, sagte die Erhabene beschwichtigend. »Nur dass ich ihn in Gesellschaft nicht erwähnen soll!«, erwiderte Selendra mit blitzenden und wild rotierenden Augen. »Ich habe meinen Vater geliebt, und ich bin stolz auf ihn.« »Selendra ...«, sagte Penn warnend. Die Gesegnete Telstie
70 sah verwirrt aus. Fehn hatte entsetzt die Zähne gebleckt. In dem anderen Raum hatten die Diener aufgehört das Essen aufzutragen und beobachteten neugierig das unerwartete Schauspiel. Gelener wollte einen bedauernden Blick mit Sher wechseln, nur um entdecken zu müssen, dass seine Augen blitzten. »Sie hat durchaus Recht, Mutter«, sagte er. Selendra wandte sich ihm zu, dankbar für die Hilfe aus unerwarteter Richtung. »Bon war ein prächtiger Drache«, fuhr Sher fort. »Niemand hat das Gegenteil behauptet«, sagte die Erhabene eisig. »Selendra hat die Absicht meiner Worte missverstanden.« Selendra wusste, dass alle Blicke auf ihr ruhten. Sie war sich auch bewusst, dass sie sich bei der Erhabenen entschuldigen musste, wenn sie den Abend noch retten wollte, aber ihre Stimme wollte ihr einfach nicht gehorchen. Sie hasste es zu heucheln, und sie wusste, dass sie es genau richtig verstanden hatte. Sie wollte den Raum verlassen, um in Ruhe weinen zu können. »Es tut mir Leid, dass ich Ihre Absichten missverstanden habe«, sagte sie steif nach einer Pause, die zu lang gewesen war. »Das geht schon in Ordnung, meine Liebe«, sagte die Erhabene und drückte ihren Arm, bevor sie quer durch den Raum ging, um mit der Gesegneten Telstie zu sprechen. Sher ließ Gelener stehen und machte die beiden Schritte, die nötig waren, um ihn an Selendras Seite zu bringen. Penn und Fehn wechselten einen Blick, nach dem Penn zu der verlassenen Gelener ging und Fehn sich auf Sher und Selendra zubewegte. »Weinen Sie nicht«, sagte Sher leise. »Ich weiß nicht, was meine Mutter gesagt hat, aber ich weiß, was für ein alberner Snob sie sein kann. Nehmen Sie einfach keine Notiz davon. Jeder, der Bon Agornin kannte, wusste zu schätzen, dass er die wahren Qualitäten eines adelig geborenen Drachen
70 hatte, was weitaus mehr zählt als die sinnlosen Titel, die irgendwelche Vorfahren einmal errungen haben.« Fehn kam gerade noch rechtzeitig, um Shers letzte Worte zu hören. »Ich bin davon überzeugt, dass die Erhabene nicht schlecht von Bon sprechen wollte«, fügte sie hinzu. »Beruhigen Sie sich, Selendra, es sei denn, Ihnen wäre lieber, dass ich Sie nach Hause bringe, damit Sie sich ausruhen können.« Selendra bekam kaum ein Wort heraus. »Mein Vater hat seinen Titel verdient«, sagte sie und schluckte zwischen den Worten. »Das hat er und es gab keinen Besseren als ihn, es sei denn, die Majestäten der alten Zeiten kehren zurück und fangen an, Drachen erneut als Ehrenwerte zu benennen«, sagte Sher ernst. Fehns Augen drehten sich schneller, als sie das hörte. Aus langer Erfahrung wusste sie, dass Sher auf eine oberflächliche Weise freundlich zu jenen mit gebrochenen Flügeln war, solange sie ihm nicht unbequem wurden. Sie wollte nicht, dass Selendra sich zu ihnen gesellte. Am Ende wurde ihm immer etwas lästig und er würde die Lust daran verlieren. Fehn hatte sich an seiner Stelle weiter um ein Hammelkalb gekümmert, dessen Mutter gestorben war, eine Katze mit einem gebrochenem Bein und eine Bauernfamilie, um deren Pachtvertrag Sher versprochen hatte sich zu kümmern. In letzter Zeit musste sie sich jedes Mal um die Enttäuschung ihrer Kinder kümmern, wenn er wieder einmal abreiste, ohne sich verabschiedet zu haben. »Möchten Sie lieber gehen, Selendra?«, fragte Fehn erneut. »Ich habe der Erhabenen gesagt, dass Sie vielleicht noch zu sehr trauern, um sich in Gesellschaft wohlzufühlen. Sie wird es verstehen.«
»Vielleicht sollte ich das«, gab Selendra dankbar nach. »Nein«, sagte Sher und deutete mit einer Kralle auf Fehn. Seine dunkle Augen blickten ernst, drehten sich langsam in der Tiefe. »Wenn sie jetzt wegläuft, gibt sie meiner Mutter
71 die Siegesklaue, außerdem wird sie jedem Grund geben, für sie Mitleid zu empfinden und in ihrer Abwesenheit über sie zu sprechen. Wenn sie bleibt, wird man es bald vergessen haben.« »Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie in gesellschaftlichen Dingen so erfahren sind«, sagte Fehn. Sher lachte. »Sie haben keine Ahnung«, stimmte er ihr fröhlich zu. »Nun, Selendra?« Fehns graue Augen drehten sich etwas überrascht schneller. Sie hatte nicht gewusst, dass sie sich mit den Vornamen ansprachen. »Ich bleibe«, sagte Selendra, die ihre Stimme jetzt wieder in der Gewalt hatte. »Ich bin kein Feigling und ich schäme mich nicht für meinen Vater, nichts könnte mich dazu bringen.« »Bleiben Sie, vergessen Sie es, dann werden es alle vergessen«, sagte Sher. Fehn betrachtete den beeindruckenden Rücken der Erhabenen, während sie sich mit der Gesegneten Telstie unterhielt. Penn hatte Gelener in ein Gespräch verwickelt. Sie glaubte, der Zwischenfall würde eher verziehen werden, wenn man der Erhabenen gestattete, jetzt die Oberhand zu behalten und sie dann später ihr Bestes tat, die Wogen zu glätten. Aber mit Sher war in dieser Stimmung nicht zu diskutieren und mit Selendra offensichtlich auch nicht. Fehn zuckte innerlich die Schultern und gab es auf. Die Erhabene würde außer sich sein, falls Gelener verschreckt würde, aber sie selbst würde glücklicher sein, Sher mit einer Partnerin zu sehen, die zwar nur eine kleine Mitgift mitbringen, dafür aber Sinn für Humor haben würde. Trotzdem, als man sich endlich ins Esszimmer begab, wurde sich Fehn bewusst, wie ihre Schwingen bei dem Gedanken an die kommenden Stürme leicht erbebten.
71 DIE KLAGE WIRD ZUGESTELLT
2 9 . Die Annehlichkeiten von Daverak Haners Leben auf Daverak war in vielerlei Hinsicht wunderbar. Sie hatte ihre eigene Dienerin, eine ergrauende Jungfrau namens Lamith, die keine anderen Pflichten hatte als Haners Wünsche zu erfüllen, Haners Schuppen zu polieren und ansprechenden Kopfschmuck zu Haners Zufriedenheit herzustellen. Die Familie frühstückte in ihren eigenen Zimmern, genoss die Nachmittage, wie sie wollte, und kam zum Abendessen zusammen, bei dem es oft Gäste gab. Danach veranstaltete man häufig Tanzereien und Lustbarkeiten aller Art bis spät in die Nacht. Haner hätte sich daran gewöhnen und es genießen können, wäre die Gesellschaft angenehmer gewesen. Nach ein paar Tagen fiel Haner auf, dass sich ihre Dienerin sehr langsam und vorsichtig bewegte. »Komm her, Lamith«, sagte sie. Haner strich mit den Fingern über Lamiths Rücken und fand bald heraus, dass die Fesseln an
71 ihren Schwingen so fest gebunden waren, dass sie eine wunde Stelle verursacht hatten, die sehr schmerzte, wenn sie sich bewegte. »Lass mich das lockerer machen und eine Salbe drauf-schmieren«, schlug Haner vor. »Danke, Geschätzte, aber ich glaube nicht, dass Sie das tun sollten«, sagte die Dienerin und senkte nervös den Kopf. »Der Herr mag es nicht, wenn unsere Schwingen losgebunden werden.« »Nur einen Moment, solange ich das behandle, und dann sollten sie etwas lockerer gebunden werden«, sagte Haner. »Ich bin gerne bereit, Berend und dem Erlauchten Daverak zu erklären, dass es kein Ungehorsam von deiner Seite ist, sondern Sorge um dein Wohl, die mich so handeln ließ.« »Bitte sagen Sie ihm nicht, dass ich krank bin, Geschätzte!« Lamith schien verzweifelt. Sie wich zusammengeduckt vor Haner zurück. Haner war kein großer Drache, gerade mal sechs Meter lang, aber Lamith war keine ein Meter achtzig lang und schien kaum mehr als ein Kind zu sein, wie sie da zurückwich. »Es ist bloß eine kleine wunde Stelle. Ich habe das schon öfters gehabt.«
»Ich sage es ihnen nicht, wenn du nicht willst«, sagte Haner erstaunt. »Aber wenn das unbehandelt bleibt, wirst du Schmerzen haben, und es könnte Teile deiner Schwingen so schwach machen, dass du nie wieder fliegen kannst.« »Fliegen?«, wiederholte Lamith. »Ich werde nie wieder fliegen, ganz egal, was passiert. Ich werde hier arbeiten, bis ich schwächer werde, und das wird dann das Ende sein.« »Es können viele Dinge geschehen«, sagte Haner aufmunternd. »Es gibt Diener, die fliegen, selbst wenn sie nie über diesen Stand hinauskommen. Manche Haushalte beschäftigen Diener, die zum Bahnhof fliegen, um die Post zu holen. Amer, unsere Dienerin in Agornin, die jetzt in Benandi ist, ist regelmäßig ausgeflogen, um Kräuter für Medizin zu sammeln.«
72 »Ja, und zweifellos haben Sie darauf vertrauen können, dass sie zurückkehrt«, sagte Lamith. »So werden die Dinge hier aber nicht gehandhabt, Geschätzte, es herrscht auf beiden Seiten kein Vertrauen, und wir wissen, dass wir für immer gebunden sein werden.« Haners sanfte silberne Augen blickten traurig. »Das ist nicht so, wie ich es gewöhnt bin.« »Egal, Geschätzte, die Dinge könnten schlimmer sein. Es gibt hier genug zu essen, und wir wissen, dass unsere Familien etwas davon haben.« »Du meinst das Fesselgeld?« »Das ist in Daverak nicht hoch. Aber jede Familie, die einen der ihren hier in Diensten hat, weiß, dass ihre Schlüpf-linge eine größere Chance haben aufzuwachsen. Und nicht gleich gefressen werden.« »Willst du damit sagen, Daverak frisst Kinder, die keine Schwächlinge sind?«, fragte Haner entsetzt. »Wenn er sagt, dass die Familie so viele nicht ernähren kann, dann tut er es«, sagte Lamith. »Bitte verratet nicht, dass ich darüber gesprochen habe. Sie fressen uns, wenn wir krank sind und heutzutage braucht es nicht viel dazu, damit sie dieser Meinung sind, nicht jetzt, da die Erlauchte Berend immer mehr zunimmt und immer hungrig ist. Ich verrate Ihnen das nur, damit Sie aufhören, aus Freundlichkeit Sachen zu sagen, die alles nur noch schlimmer machen würden.« »Ich kann nicht glauben, dass Berend so etwas gut heißt«, sagte Haner entschieden. »Daverak vielleicht, aber Berend ist meine Schwester und weiß, wie die Dinge in Agornin gehandhabt wurden.« »Als sie kam und sich zuerst über alles Mögliche empörte, hat ihr der Erlauchte befohlen, nicht so provinziell zu sein«, sagte Lamith. »Daher weiß ich, wie viel Arger es nach sich ziehen kann, darüber zu reden. Jetzt trägt sie die Nase ganz hoch und benimmt sich noch erlauchter als er. Es tut mir
72 Leid, dies sagen zu müssen, Geschätzte, aber das ist die reine Wahrheit und Sie mussten sie erfahren.« »Ich werde deine Schwinge salben«, sagte Haner und holte die Salbe aus der Kiste, die Amer für sie eingepackt hatte, bevor sie ihr Zuhause verließ. »Ich binde sie danach wieder ganz fest, wenn du darauf bestehst, aber ich werde mich nicht von einem Drachen mit einer solch hässlichen Wunde bedienen lassen. Sie hindert dich an deinen Pflichten und ist leicht zu heilen. Das ist es, was ich sagen werde, falls jemand eine Frage stellt, was aber nicht passieren wird. Sie werden es nicht bemerken.« »Vermutlich nicht«, sagte Lamith und saß ganz still da, um Haner die Behandlung durchführen zu lassen. »Jetzt fühlt es sich besser an«, sagte sie, als Haner sie wieder fesselte. »Und nun lassen Sie mich den Hut für heute Abend fertig machen, Geschätzte.« In dieser Nacht lag Haner noch lange Zeit wach und wälzte sich auf ihrem bequemen Bett aus Gold herum, als sei es Schiefer. Sie hatte immer schon gewusst, dass die Lebensumstände für die Dienerschaft erbärmlich waren. Und doch hatte sie es nie richtig begriffen, bevor Lamith vor der angebotenen Salbe zurückgewichen war. Sie hatte an Amer und die anderen Diener in Agornin gedacht, deren Dienstverhältnis erblich und ihrer Meinung nach beinahe so nützlich für sie wie für ihre Herren gewesen war. Doch nun fragte sie sich, wie viel davon nur Schein gewesen war. Aber Lamiths wunde Stelle war wirklich und ihre Furcht auch. Sie hatte von den Arbeitsbedingungen der gefesselten Fabrikarbeiter gelesen. Nervös spreizte sie ihre Schwingen. Sie wollte etwas dagegen tun und hatte nicht die geringste Ahnung, was sie überhaupt tun konnte. Ihr fiel nicht einmal jemand ein, mit dem sie darüber hätte
sprechen können, ausgenommen Selendra, die aber war weit weg. Sie würde ihr schreiben. Sie würde gleich am nächsten Morgen schreiben. Mit dieser Entscheidung fand sie endlich in einen unruhigen Schlaf.
73
3 0 . Die Klage wird zugestellt Am nächsten Abend speiste die Familie ganz gegen jede Gewohnheit allein. Den ganzen Tag über hatte es geregnet und nicht einmal Daverak hatte sich weit vom Haus entfernt. Haner war überhaupt nicht draußen gewesen. Berend war bereit, jeden Augenblick das nächste Ei zu legen, was sie gereizt machte und dazu führte, dass sie keine Lust auf Gesellschaft verspürte. Die drei und die beiden Kinder versammelten sich im Salon, dessen Felswände nach der herrschenden Mode mit Marmor und Kalkstein geschmückt waren. Berend konnte sich nicht legen und lief hin und her. Die beiden Kinder, das eine golden und das andere schwarz, hatten die gleichen großen rötlichen Augen wie ihr Vater. Sie saßen schweigend Schulter an Schulter neben Haner. Seit Lamerak aus ihrer Mitte gerissen worden war, waren sie sehr still. Vielleicht vermissten sie ihn, vielleicht fürchteten sie auch, sich jeden Augenblick zu ihm gesellen zu müssen. Haner breitete mitfühlend einen Augenblick lang die Schwinge über sie. Sie schauten zu ihr hoch, brachten aber kaum ein Lächeln zustande. »Es ist so langweilig, so ganz allein zusammen zu sein«, sagte Berend und blieb kurz stehen. »Es war deine Entscheidung«, erwiderte Daverak und wedelte mit einer Klaue vor einem großen Gähnen, das seine großen starken Zähne entblößte. »Ich weiß und heute Morgen schien sie auch richtig zu sein, weil ich niemanden sehen wollte. Aber jetzt finde ich es schrecklich öde«, sagte Berend. »Es ist gemütlich, dieses eine Mal nur die Familie um sich zu haben«, sagte Haner friedfertig. Berend ließ die Zähne zuschnappen, als wollte sie die Bemerkung ihrer Schwester zermalmen. »Gemütlich kann man das auch nennen. Ich sage, es ist furchtbar, und das trifft es viel eher. Wünschst du nicht, Londaver wäre hier, Han?«
73 Der Ehrwürdige Londaver war ein häufiger Gast, da er in der Nähe wohnte, genau wie seine Eltern auch. Er schien Haner keine besondere Aufmerksamkeit mehr entgegenzubringen, was Berend nicht verborgen geblieben war. Deshalb war es gemein von ihr, ihn zu erwähnen. »Ich glaube, ihr wäre heute Abend jede Gesellschaft recht, deine ausgenommen«, bemerkte Daverak. Bevor Berend etwas darauf erwidern konnte oder Haner eine besänftigende Bemerkung einfiel, trat ein Diener mit einem Stapel Briefe in der Klaue ein. »Die Post ist da«, sagte Daverak. Er hatte die Angewohnheit, Dinge zu kommentieren, die völlig offensichtlich waren. »Etwas für mich?«, fragte Berend. »Fast alles, zweifellos«, sagte Daverak, sah die Post in aller Ruhe durch und gab das meiste an Berend weiter. »Zwei Briefe für mich, einer von meinem Börsenmakler und einer von meinem Anwalt. Und hier ist etwas für Sie, Haner«, sagte er und reichte ihr einen zusammengefalteten und versiegelten Brief. »Er ist von Selendra«, sagte sie lächelnd, als sie das Siegel erkannte. »Willst du ihn nicht aufmachen?«, fragte Berend. »Ich dachte, ich verwahre ihn bis nach dem Essen«, sagte Haner sanft. »Ist bei dir etwas Interessantes dabei?« »Nur Einladungen, von denen ich kaum eine wahrnehmen kann, bis ich mit dem Gelege fertig bin«, sagte Berend und blätterte den Briefstapel flüchtig durch. Dann stieß Daverak ein Knurren aus, das die Kinder sich furchtsam aneinander klammern und die beiden Erwachsenen ihre Aufmerksamkeit auf ihn richten ließ. Berend ließ sogar ein paar ihrer Briefe fallen. »Was ist denn, mein Lieber?«, fragte sie und klang ernsthaft besorgt. Daverak war immer schwarz, aber jetzt erschien er beinahe purpurrot.
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»Es ist unglaublich, dass er die Frechheit besitzt«, knurrte Daverak. »Wer?«, fragte Berend. Haner wusste augenblicklich Bescheid. Sie hatte gehofft, dass Avan seine Meinung änderte, und sie hätte sich nicht vorstellen können, dass man so schnell Klage einreichen konnte. »Dein elender Bruder und deine Schwester zerren mich wegen des Streits um den Leichnam deines Vaters vor Gericht.« »Haner?«, fragte Berend und wandte sich ihr zu. »Nein, nein«, sagte Haner mit dem Gefühl, auf der Stelle gefressen worden zu sein, hätte sie Avan bei seinem Unternehmen mit ihrem Namen unterstützt. »Nein, Haner weiß, wo ihr Frühstücksrind herkommt«, sagte Daverak und warf das Papier wild zu Boden. »Du hast zwei Schwestern, falls du es vergessen haben solltest. Haner, haben Sie davon gewusst?« »Wovon?«, fragte Haner ernsthaft verängstigt. »Von diesem Versuch, mich vor Gericht zu bringen, um das Fleisch zurückzubekommen, das ich von der Leiche eures Vaters gefressen habe, was zu diesem Zeitpunkt von dem Gesegneten Freit als völlig korrekt und in Übereinstimmung mit den Wünschen Ihres Vaters erklärt wurde, wenn Sie sich erinnern.« Daveraks Zähne waren kein Krallenbreit von Haners Kehle entfernt; sie fuhr angstvoll zurück. Sie hatte Daverak noch nie so aufgebracht gesehen. »Avan hat damals in seiner Wut so etwas gesagt«, sagte sie. »Ich hatte keine Ahnung, dass er es auch tatsächlich tun würde.« Das war die Wahrheit. »Ich werde ihn auch verklagen, mir ihren Anteil von dem Gold wiederzuholen, das die beiden sich genommen haben, und Berends auch«, wütete Daverak und ging auf die andere Seite des Raumes. Die Kinder krochen näher an Haner heran und suchten unter ihrer Schwinge Schutz.
74 »Wir brauchen das Gold nicht, Liebling«, sagte Berend sehr ruhig. »Dann kann alles in Haners Mitgift fließen. Du hast erst neulich gesagt, dass du willst, dass wir etwas dazutun, damit sie eine gute Partie ist.« Haner hatte davon nichts gewusst und stöhnte leise auf, als es jetzt zur Sprache kam. »Gut«, verkündete Daverak wild. »Fügen wir das dazu. Vierundzwanzigtausend Kronen und das, was auch immer dein Bruder Avan von den Bestechungsgeldern seines Postens gespart hat, wird sie attraktiver machen, findest du nicht? Da sie sich auf unsere Seite gestellt hat und nicht auf die dieser intriganten Abenteurer, die ich so dumm war, als Familie zu betrachten. Sie haben sich doch auf unsere Seite gestellt, Haner, nicht wahr?« »Ja«, flüsterte Haner, die spürte, wie sich ihre Nichte und ihr Neffe an sie drückten, und genau wusste, dass sie im Augenblick keine andere Wahl hatte. »Ich habe dich noch nie so aufgebracht gesehen, Liebling«, sagte Berend und legte zärtlich die Hand auf Daveraks Arm. »Solltest du dich nicht etwas beruhigen? Du siehst aus, als würdest du gleich explodieren.« »Ich reise morgen nach Irieth zu meinem Anwalt«, wütete Daverak und schüttelte sie ab. »Ich lasse sie damit nicht durchkommen. Diese Impertinenz. Ich werde ihnen jede Krone abnehmen, die sie besitzen. Wenn sie glauben, auf diese Weise auch nur irgendetwas von mir zu bekommen, werde ich sie eines anderen belehren. Ich bin gut zu meiner Familie und ich war bereit, auch gut zu deiner zu sein, Berend, du weißt doch noch, wie ich zugestimmt habe, Haner hier bei uns aufzunehmen!« »Ich weiß, Liebling, ich weiß, und ich hätte mir nie träumen lassen, dass sie alle so undankbar sein könnten. Ich habe immer gewusst, dass du Recht hast und sie nicht«, säuselte Berend. »Das ist die größte Unverschämtheit, die ich je erlebt
74 habe«, sagte Daverak, hob die Klageschrift auf und betrachtete sie stirnrunzelnd. Und plötzlich kam Rauch aus seinen Nasenlöchern und ein Flammenstrahl schoss aus seinem Mund und setzte die Klageschrift in Brand. Er ließ sie erschrocken fallen und hockte einen Moment auf den Hinterbeinen, die Krallen vor sich ausgestreckt.
»Du hast die Flamme, Lieber«, sagte Berend und löschte das brennende Papier mit dem Schwanz. »Lass mich das hier ausmachen, bevor es stinkt.« »Die Flamme«, sagte Daverak und klang recht zufrieden mit sich. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich so kurz davor stehe.« Er atmete probeweise einen weiteren Flammenstrahl aus. »Vielleicht solltest du draußen üben, bis du es richtig beherrschst«, schlug die praktische Berend vor. »Das werde ich morgen sogleich machen«, sagte Daverak. »Die Flamme, dabei bin ich noch keine dreihundert.« »Die Diener möchten uns mitteilen, dass das Essen endlich fertig ist«, sagte Berend. Daverak sah seine Frau stirnrunzelnd an. »Es heißt, frühe Flammen sind ein Zeichen von Größe«, sagte Haner und verzichtete auf die häufige Schlussfolgerung, dass frühe Flammen ein Zeichen für einen frühen Tod waren. Feuerspucken war eine Belastung für jeden Drachen. Ihr Vater hatte es selten aber gezielt eingesetzt. Daverak lächelte sie an und entblößte Zähne, die die Flammen geschwärzt hatten. »Danke für Ihre Zuversicht«, sagte er und bemühte sich um seinen gewohnten trägen Tonfall, war aber viel zu aufgeregt, um das zu schaffen. »Und nun lasst uns essen, bevor einer von uns wegen dieser ganzen Aufregung noch verhungert.«
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3 1 . E i n e zweite Abendgesellschaft Da die Familie unter sich war, bestand das Abendessen lediglich aus sechs Hammeln, deren Haut und Wolle von den in diesem Handwerk erfahrenen Bauern entfernt worden waren, bevor sie auf den Tisch kamen. Die Wolle und ganze Hammelfelle wurden in der Bekleidungsindustrie hoch geschätzt. Die Felle würden in die Stadt geschickt und als geschickt verarbeitete Kopfbedeckungen zurückkommen. Daverak nahm sich sofort den größten Hammel vor und fing an, ihn auseinander zu reißen. Berend griff ebenfalls zu. Haner, deren Nähe die Kinder noch immer suchten, nahm einen Dritten. Die Kinder wagten sich vor und fingen an zu essen, nur um sich wieder zusammenzuducken, als Daveraks Flamme erneut hervorschoss und das Hammelbein einhüllte, das er in der Klaue hielt, und den ganzen Raum mit dem Geruch von verbranntem Fleisch füllte. »Ich glaube, es wäre besser, draußen zu üben«, sagte Haner, als die Flamme in die Nähe ihrer Schwanzspitze kam. »Unsinn, es wird schon nichts passieren«, entgegnete Daverak, ergriff einen zweiten Hammel und tat es schon wieder. »Ich frage mich, warum es eigentlich das Verbot für gebratenes Fleisch gibt«, sagte Berend im Plauderton und schluckte einen große Bissen herunter. »Es riecht doch recht angenehm.« »Es anzuflammen bedeutet nicht, es zu braten«, sagte Daverak und sah irgendwie doch etwas schuldbewusst aus. »Oh, ich verstehe, wie dumm von mir«, sagte Berend und stieß ein leises Schnauben aus, das ein Lachen über ihre Dummheit oder auch nur Teil ihrer Verdauung hätte sein können. Sie schlang ihr Fleisch hinunter. »Das Verbot besteht, weil es die dreckigen Yargen tun«, sagte Daverak. Er drehte die angesengte Keule in den Klauen herum, als würde es ihn zum sozialen Außenseiter machen, wenn er sie fraß. »So hat man mir es jedenfalls in der Schule
75 beigebracht. Anscheinend wollten sie uns während der Eroberung dazu zwingen, und es war einer der Gründe für unsere Revolte. Widerwärtiges gebratenes Fleisch bleibt einem im Hals stecken. Das hat man uns jedenfalls erzählt. Ich habe es nie ausprobiert.« »Ist die Keule, die du angeflammt hast, eklig?«, wollte Berend wissen. »Ich habe bereits gesagt, dass das etwas anderes ist, als sie zu braten«, erwiderte Daverak stirnrunzelnd. »Aber wie schmeckt es?«, fragte Berend. »Da gebratenes Fleisch illegal ist, werde ich nie wieder näher daran herankommen als jetzt, und es riecht angenehm. Oder zumindest interessant. Wie schmeckt es?«
»So wie immer, nur wärmer«, sagte Daverak nach einem vorsichtigen Bissen. »Davon abgesehen, wenn du wirklich gebratenes Fleisch ausprobieren willst: in Irieth gibt es Orte, da bekommt man es. Das ist einer der Nervenkitzel, für die sich einige Drachen interessieren. Mir selbst ist das immer egal gewesen, aber ein paar Jahre, bevor ich dich geheiratet habe, war es Mode, ins Migantinenviertel zu gehen und es zu versuchen. Ich glaube, keiner ist ein zweites Mal gegangen.« Danach wandte sich die Unterhaltung anderen Modetorheiten vergangener Zeiten in Irieth zu. Haner hatte daran naturgemäß keinen großen Anteil, aber sie aß immerhin und machte gelegentlich eine Bemerkung, um die Unterhaltung bei einem neutralen Thema zu halten. Sie kümmerte sich auch darum, dass die Kinder ihre Portion oder vielmehr mehr als ihre Portion aßen. Sie selbst war nicht hungrig. Als die Diener zurückkehrten, um die Knochen zu holen und allen die Schuppen säuberten, um die Blutspritzer zu entfernen, waren alle Hammel verspeist. Daverak hatte drei gegessen, Berend zwei, und Haner und die Kinder nur eines. Nach dem Abendessen verkündete Daverak, dass er hinausgehen wolle, um sich den Wind um die Nase wehen zu
76 lassen, was alle so verstanden, dass er mit seinen Flammen üben wollte. Das Kindermädchen kam, um sich um die Kleinen zu kümmern. Berend ließ sich vor dem Kamin auf die Hinterbeine nieder und winkte Haner zu sich. Haner hätte es vorgezogen, sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen, aber sie verspürte Mitleid mit Berend, die in ihrem Zustand von ihrem Mann alleingelassen wurde. Also nahm sie den Platz an der Seite ihrer Schwester ein und hockte sich ebenfalls auf die Hinterbeine. »Ich möchte mal wissen, was Avan bewogen hat, sich so idiotisch zu verhalten«, sagte Berend. »Du weißt, dass er auf dieses Fleisch gezählt hat«, sagte Haner. »Du weißt, dass er seinen Weg in der Welt noch machen muss. Er arbeitet im Ministerium für Planung und Verschönerung, dort gibt es sehr viel Konkurrenz. Dort gibt es Drachen, die ihn zuerst fressen und sich dann fröhlich einem Untersuchungsausschuss stellen würden, da er nicht mehr da ist, um zu verhindern, dass sie die Richter bestechen. Er braucht seine Position, und das bedeutet, dass er Vater viel dringender gebraucht hat als Daverak.« »O ja, das verstehe ich alles. Ich habe selbst nur einen Bissen genommen, weißt du?« »Einen großen Bissen«, sagte Haner, denn sie nahm Berend ihren Bissen noch immer übel. »Und du hast deinen Anteil bekommen, oder etwa nicht? Du bist dreißig Zentimeter oder mehr gewachsen.« Berend musterte Haner. »Keine Sorge, wir werden schon einen Mann für dich finden«, sagte sie dann freundlicher. »Nicht, indem ihr Avan ruiniert!«, warf Haner ein. »Daverak ist sehr wütend«, sagte ihre Schwester. »Das hast du gesehen. Für gewöhnlich kann ich ihn dazu bringen, dass er schließlich das tut, was ich will, aber in dieser Angelegenheit könnte es sehr schwer sein, ihn zum Einlenken zu bewegen. Das habe ich damit gemeint, als ich sagte, dass Avan ein Idiot ist. Hätte er es auf sich beruhen lassen, hätte ich Daverak nach einiger Zeit dazu gebracht, dass er ihn einlädt,
76 wenn dieses Gelege fertig ist, und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem die Schwachen ausgesiebt werden, und Daverak hätte alles wieder gutmachen können. Ich hatte ihn schon fast so weit, dass er einverstanden war, etwas Gold zu deinem Anteil zuzusteuern. Er mag dich.« »Er hat eine merkwürdige Art, es zu zeigen, so wie er mich angebrüllt hat.« »Würde er dich nicht mögen, hätte er mehr getan als bloß geschrien«, sagte Berend friedlich. Haner starrte sie an, aber sie schüttelte bloß leicht den Kopf. »Was meinst du damit?«, fragte Haner. »Ich meine, er mag dich, und du solltest froh darüber sein, dass es so ist. Aber jetzt hat Avan seinen Zorn erregt, und er wird es ihm heimzahlen. Er wird ihn wirklich ruinieren, wenn er kann, und ich glaube nicht, dass es etwas gibt, das du oder ich tun könnten, um ihm zu helfen. Ich warne dich, es überhaupt zu versuchen.«
»Avan war recht zuversichtlich, gewinnen zu können«, sagte Haner. »Avan mit Vaters Anwalt gegen alle, die Daverak aufmarschieren lassen kann? Du bist diejenige, die gesagt hat, dass es käufliche Richter gibt, und ich bezweifle, dass Daverak zögern würde, einen von ihnen zu bestechen. Wir müssen Avan als verloren betrachten, denn seine eigene Dummheit ist dafür verantwortlich. Ich fühle mich sehr elend, denn ich habe in diesem Monat einen Vater und einen Sohn verloren, und jetzt werde ich mich damit abfinden müssen, auch einen Bruder zu verlieren.« Das war das erste Mal, dass Berend Lamerak erwähnte, und Haner legte ihrer Schwester tröstend eine Schwinge über die Schultern. »Was ist mit Selendra?«, fragte sie leise. »Ich glaube, ich kann Daverak davon überzeugen, dass Avan sie gedrängt hat, ihren Namen darunter zu setzen. Ich weiß ihn zu nehmen, aber nicht, wenn er ständig wütend ist. Er ist sehr erfreut über mich, dass ich jetzt mit diesem
77 Gelege angefangen habe. Und das ist übrigens nicht zufällig passiert, sondern war von mir ganz genau geplant.« »Aber das Risiko für deine Gesundheit«, sagte Haner. »Es besteht kein Risiko, solange ich ausreichend esse«, erwiderte Berend. »Und das bedeutet natürlich auch Drachen, geistige wie auch physische Nahrung.« »Daverak tötet mehr als nur die Schwächlinge«, sagte Haner vorwurfsvoll und senkte die Stimme. »Ich muss mir genug Sorgen um mich und meine Familie machen, ich kann mich nicht auch noch um all die Bauern und Diener kümmern, Haner, also ehrlich, es ist nicht nett, mich darum zu bitten. Das ist seine Sache, und wir sollten uns da nicht einmischen.« Berend befreite sich von Haners Schwinge und wandte sich ihrer Schwester ärgerlich zu. »Misch dich nicht ein. Lass Daverak in Ruhe und überlass es mir, dich und Selendra und die Kinder so gut wie ich kann zu retten.« »Ich werde mir Mühe geben«, sagte Haner.
3 2 . Briefe Als Haner allein in ihrem Zimmer war, die Tür geschlossen und Lamith für die Nacht zu Bett geschickt hatte, entfaltete sie den Brief, den sie erhalten hatte. Selendras Zeilen spendeten ihr viel Trost. Auch wenn es offensichtlich war, dass ihre Schwester sie sehr vermisste, schien sie sich in Benandi gut einzuleben. »Jeder hier ist sehr nett«, schrieb sie, »vor allem Fehn, die wirklich gut zu mir ist. Ich glaube nicht, dass Penn eine bessere Frau hätte finden können, und wenn er hundert Jahre gesucht hätte. Sie ist sehr schön, eigentlich noch schöner, als bei ihrer Hochzeit damals. Ihre Schuppen weisen nun das Rot der Wolken bei Sonnenuntergang auf, sehr ungewöhnlich und sehr beeindruckend. Ich würde ja behaupten, dass
77 sie Stunden damit verbringt, sie zu polieren, aber ich weiß, dass sie nicht mehr Zeit hat, als nach dem Essen kurz einmal drüberzugehen. Sie verbringt viel Zeit mit den Kindern, und sie begleitet Penn oft zu den Gemeindemitgliedern, hilft ihnen mit Essen und Medizin aus. Manchmal gehe ich auch mit, ich lerne langsam die Gegend kennen.« Dann beschrieb Selendra, wie sie mit Sher in die Berge flog. »Er ist immerhin der Erhabene Sher Benandi, aber er ist nicht im Mindesten hochnäsig oder selbstgefällig, was man über seine Mutter, die alte Erhabene, nun wirklich nicht sagen kann. Ich weiß, dass du dich über mich lustig machen wirst, weil ich den Namen eines adligen Mannes erwähne, aber du musst dir keine Sorgen machen; er ist verlobt oder zumindest so gut wie, und zwar mit einer sehr eleganten jungen Dame, der Hochgeschätzten Gelener Telstie, die auch hier ist. Wie du siehst, haben wir viel Gesellschaft. Sie ist anscheinend die Enkelin von Vaters alten Gönnern, aber die Erhabene ist der Meinung, dass ich solche Dinge nicht erwähnen sollte.« Selendra hatte sich die größte Mühe gegeben, ihren Brief so fröhlich wie möglich klingen zu lassen und Haner ließ sich beinahe davon überzeugen. Sie entnahm der Vorstellung, dass zumindest ihre Schwester ganz glücklich war, so viel Trost wie möglich. Der Brief endete mit der Beteuerung überschwänglicher
schwesterlicher Liebe, und unter dem Namen ihrer Schwester hatte sie noch geschrieben »Amer wünscht ganz besonders, dass du sie nicht vergisst«. Die liebe Amer. Wie gut konnte Haner jetzt ihren Wunsch verstehen, nicht auf Daverak zu leben! Aber das konnte sie nicht sagen, oder sie würde Selendra beunruhigen. Doch sie wollte Selendra nicht beunruhigen; aus diesem Grund hatte sie auch noch nicht geschrieben. Ihrer Schwester zu erzählen, wie unglücklich sie war, würde nichts bringen, und zu schreiben, sie sei glücklich, wäre eine Lüge gewesen. Sie griff sofort zu Papier und Feder, um zu antworten,
78 dann zögerte sie, weil sie sich nicht sicher war, was sie sagen sollte. Sie schrieb mit Sorgfalt die Adresse. »An die Hochgeschätzte Selendra Agornin, Pfarrhaus Benandi, Benandi.« Dann starrte sie das Blatt einen Moment lang an, ihre silbernen Augen wirbelten und sie vermisste Selendra so sehr, dass ihre Schwingen schmerzten. »Meine liebste Selendra«, schrieb sie. »Deinen Namen zu schreiben lässt mich dir etwas näher sein. Ich höre erleichtert, dass es dir gut geht und du deine Tage größtenteils genießt. Ich bin sicher, dass du diese Telstie bei dem Erhabenen ausstechen wirst, da du ihn doch schon beim Vornamen nennst - oder steht das nur auf dem Papier? Mir geht es gut, man sorgt gut für mich. Berend scheint ohne größere Probleme an Umfang zuzulegen, bis jetzt geht es ihr glänzend und sie hofft auf ein weiteres Gelege aus drei Eiern.« Danach beschrieb sie das Problem mit Daverak und Avan und fügte eine kleine Zeichnung von Daveraks Gesichtsausdruck hinzu, als er seine Flammen entdeckt hatte, und von der sie sicher war, dass sie ihre Schwester zum Lachen bringen würde. »Berend sagt, sie wird versuchen, zu deinen Gunsten zu vermitteln, aber dass wir Avan als verloren betrachten sollten, jetzt, da Daverak so entschlossen gegen ihn vorgehen wird«, schrieb sie weiter. »Ich werde Avan niemals aufgeben, aber ich werde ihn wohl nicht sehen können, solange dieser Fall verhandelt wird. Vielleicht wäre es gut, wenn du deinen Namen für alle Fälle von der Klage zurückziehst, denn solange er dort steht und ich hier lebe, werden wir einander nicht besuchen können, und ich möchte dich so gern sehen, sollte sich eine Gelegenheit bieten.« Zusammen mit der Zeichnung füllte der Brief fast die ganze Seite und es war nur noch Platz für zwei weitere Zeilen übrig. »Liebste Schwester, hast du je darüber nachgedacht, dass die Situation der Dienerschaft moralisch unhaltbar und schlecht für Herren und Diener ist? Es ist sicherlich falsch
78 für einen Drachen, sein ganzes Leben für die Launen eines anderen zu opfern«, schrieb sie und hatte dann keinen Platz mehr, ebenso wenig wie für die Versicherung ihrer Liebe und das Versprechen, ihre Schwester in ihren Gedanken zu behalten, so wie Selendra es gemacht hatte. Sie unterzeichnete mit einem schlichten »H« und faltete den Brief zusammen. Dann versiegelte sie ihn sorgfältig. Unter das Siegel malte sie eine winzige Drachenfrau, die ihre Schwingen weit spreizte, um eine andere zu umarmen. Der Anblick ihres eigenen Siegels, das sie von Agornin mitgebracht hatte, machte sie etwas traurig. Es war prächtig, mit Eisenkies eingelegtes Gold, und es passte zu Selendras Siegel, das mit Amethyst besetzt war. Bon hatte sie ihnen ein Jahr zuvor zum Schlüpftag geschenkt. Sie seufzte, legte es auf ihren Goldhaufen und ging hinaus, um den Brief auf dem Sims zu hinterlegen, wo ihn die Diener mitnehmen und zur restlichen Post hinzufügen würden. Als sie ihr Zimmer wieder betreten hatte, fiel ihr ein, dass sie den Brief auch selbst am nächsten Morgen zum Bahnhof hätte fliegen können. Sie konnte sich nicht länger darauf verlassen, dass die Diener ihn mitnahmen. Sie wäre zuvor nie auf die Idee gekommen, Daverak könne ihre Post lesen, aber sie hätte auch nie gedacht, dass er kurz davor stehen würde, sie lebendig aufzufressen, oder dass er seine Diener so misshandelte. Jetzt, da sie ihn wütend und bösartig gesehen hatte, hielt sie es für mehr als wahrscheinlich, dass er einen Brief an Selendra möglicherweise abfangen würde. Er würde nichts finden, das sie nicht hätte schreiben sollen, aber er würde die Zeichnung nicht für besonders schmeichelhaft halten. Sie schlich sich zurück und nahm den Brief nachdenklich wieder an sich.
79 DAS PICKNICK
3 3 . Die Erhabene spricht m i t S h e r Die Erhabene Benandi sah ihren Sohn überrascht an. »Mein Lieber, Blätterfall schreitet voran. Es hat bereits schon einmal geschneit. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für ein Picknick.« »Doch, das ist es, Mutter, es ist genau der richtige Zeitpunkt«, sagte er. »Du hast Recht, die Blätter verfärben sich und fangen an abzufallen, der Sommer ist vorbei, es ist die letzte Gelegenheit für ein Picknick, bevor wir alle eingeschneit werden.« »Du weißt doch, dass du den halben Winter mit Jagen verbringst«, sagte die Erhabene, aber ihre Stimme klang liebevoll. Sie wusste, dass er so unangekündigt wieder abreisen würde, wie er gekommen war, wenn sie ihm seinen Aufenthalt nicht angenehm gestaltete. Wenn er wirklich im Blätterfall ein Picknick veranstalten wollte, würde sie eins arrangieren müssen. Sie wünschte sich jeden Tag, dass sich Sher ihrer
79 Führung nicht entziehen konnte, erkannte aber nicht, dass das so war, weil sie ihn liebte. »Erinnerst du dich an die Picknicks, die wir veranstaltet haben, wenn ich von der Schule nach Hause kam?«, fragte Sher lockend. »Das tue ich«, gab seine Mutter zu. »Aber das war im Grünsommer, nicht kurz vor Frühwinter.« »Es wäre sehr schön, einen ganzen Tag hinauszuziehen in die Berge, bevor der Schnee kommt, findest du nicht? Sie jenen zeigen, die sie noch nicht gesehen haben?« »Gelener hat vermutlich schon viele Berge gesehen«, sagte die Erhabene, und eine Spur Bitterkeit schlich sich in ihren Tonfall ein. Es funktionierte nicht so, wie sie es geplant hatte. Die Gesegnete Telstie war nach Irieth zurückgekehrt und hatte Gelener für einen »schönen langen Besuch« zurückgelassen, wie alle es nannten. Sher verhielt sich ihr gegenüber durchaus höflich und umgänglich, aber er zeigte nicht das geringste Anzeichen, sich von ihr angezogen zu fühlen. Gelener, die das genau erkannte, verhielt sich allen gegenüber zusehends kühler, je länger der Besuch dauerte. Obwohl die Erhabene die Agornins seit dem Abend von Geleners Ankunft selten zu sich eingeladen hatte, verbrachte Sher viel Zeit unten im Pfarrhaus. »Die unsrigen wird sie noch nicht gesehen haben, Mutter«, meinte Sher. »Und Penn hat mir erzählt, dass seine Kinder sie auch noch nicht gesehen haben. Hatten wir da nicht so eine Vorrichtung, um Kinder zu tragen, einen Korb? Haben wir den nicht noch?« »Doch, aber Sher...« Sher überging ihre Einwände vor lauter Begeisterung. »Wir könnten alle zu den Calanifällen gehen, vielleicht sogar ein bisschen die Höhlen erforschen. Ich habe das als Kind so gerne getan. Das haben wir doch gemacht, als Vater sich etwas besser fühlte, erinnerst du dich?« »Sher, so wirst du mich nicht ablenken. Ich muss dir eine
79 Frage stellen.« Er breitete die Klauen aus und wartete, das perfekte Bild unschuldigen Gehorsams. Falls es möglich war, dass ein achtzehn Meter langer, bronzeschuppiger Drache wie ein Junge aussah: Sher tat sein Bestes, dies zu erreichen. »Bist du ...« Sie zögerte. Mit Sher musste sie vorsichtig umgehen. »Wächst dir die kleine Selendra Agomin ans Herz?« Shers erste Reaktion war, Ausflüchte zu machen. Es lag ihm auf der Zunge, es leichthin abzutun, aber er unterdrückte es. Er wusste, dass er diesen Kampf mit seiner Mutter austragen musste, er hätte es nur nicht so früh erwartet. Er wusste, dass er sie dabei langsam umgarnen musste, und vielleicht war es gut zu wissen, mit wie viel Opposition er zu rechnen hatte und aus welcher Richtung sie kommen würde. »Das könnte schon sein«, sagte er langsam und blickte seiner Mutter weiterhin fest in die Augen, versuchte so ehrlich zu klingen, wie er konnte. »Ich bin mir da noch nicht sicher. Ich habe nichts zu ihr gesagt, du weißt, dass ich vorher mit dir über jede sprechen würde, die ich ernsthaft in Betracht ziehe. Ja, tatsächlich, ich mag Selendra. Sie ist charmant, und man kann sich gut mit ihr unterhalten.« »Oje«, sagte die Erhabene und zuckte leicht zusammen. »Du weißt doch, dass sie so gut wie mittellos ist.«
»Sie hat sechzehntausend Kronen«, sagte Sher. »Das ist vielleicht nicht viel, gemessen an unserem Vermögen, aber das ist wohl kaum mittellos zu nennen. Und unser Vermögen setzt uns in den Stand, nicht nach einer Erbin Ausschau halten zu müssen. Benandi ist reich. Ich bin reich. Meine Braut muss es nicht sein.« »Nein, nicht unbedingt, aber es wäre hilfreich«, sagte die Erhabene und dachte an die hohen Beträge, die Sher in Irieth und anderswo in den letzten Jahren verprasst hatte. »Aber Selendra passt nicht zu uns. Auf ihre Weise ist sie hübsch, aber ihr Vater hat seinen Titel gekauft und er war nur ein Ehrwürdiger. Das müsste keine Rolle spielen, denn
80 ihre Mutter ist von sehr guter Herkunft. Aber sie ist so unbesonnen. Penn erwähnt die Anfänge der Karriere seines Vaters nicht, Selendra platzt damit auf ihrer ersten Abendgesellschaft heraus. Willst du, dass deine Frau so etwas tut? Sie verfügt nicht über die Haltung, die deine Frau benötigte. Denk an deine Stellung. Du hast sie sehr früh eingenommen, aber du musst dich deiner Stellung entsprechend verhalten. Ich sage dir, was dir dein Vater sagen würde, wäre er noch am Leben. Deine Frau wird die Erhabene Benandi sein. Selendra ist nie in Irieth gewesen, hat nie einen großen Haushalt geführt, hat nicht einmal darin gelebt. Sie sollte jemanden ihrer Art heiraten und du auch. Ehen, in denen die Herkunft eine solche Kluft aufweist, mögen ja aufregend erscheinen, aber eine Ehe ist dem Alltag unterworfen, man muss sich verstehen, und Unterschiede dieser Art werden wie Sand im Gold der Annehmlichkeit des täglichen Miteinanders.« Sher war während der ganzen Ansprache unruhig umhergerutscht. »Ich habe über das nachgedacht, was du gesagt hast«, sagte er, als seine Mutter geendet hatte. »Aber ein so großer Unterschied besteht gar nicht. Bon ist als Ehrwürdiger gestorben, das ist nur zwei Stufen unter einem Erhabenem, davon abgesehen hielten die Fidraks ihn gut genug für ihre Tochter.« »Sie war die Tochter eines unbedeutenderen Zweiges«, warf die Erhabene ein. »Es gibt nur zwei Ränge, die eine Rolle spielen«, fuhr Sher fort und ignorierte den Einwand. »Der Adel und die anderen. Es besteht kein Zweifel, dass Selendra von adliger Geburt ist, und ich bin sicher, dass du dem nicht widersprechen wirst.« »Nein, natürlich nicht«, sagte die Erhabene. »Aber, Lieber ...« »In diesem Fall haben wir beide den gleichen Rang«, sagte Sher. »Du würdest dir doch keine Sorgen machen, wenn
80 ich die Tochter eines Vornehmen heiraten wollte, nicht wahr?« »Warte, bis du sie besser kennst«, riet die Erhabene. »Das habe ich auch vor. Ich habe mich keineswegs schon entschieden, sie zu heiraten«, log Sher. Er wollte seine Mutter jetzt nicht erzürnen, er wollte es ihr langsam beibringen. »Diese Unterhaltung lässt mich eher dazu neigen als weniger, aber sie zu heiraten, nur um zu beweisen, dass ich nichts von überholten gesellschaftlichen Vorstellungen halte, wäre genauso dumm wie sie nicht zu heiraten, weil ich es tue.« Er schüttelte den Kopf. »Du hast mich gefragt, ob sie mir ans Herz wächst, und ich glaube, das habe ich beantwortet. Ich glaube, es könnte sein.« »Ja, du hast mir geantwortet«, sagte die Erhabene und seufzte. »Wolltest du das Picknick veranstalten, nur um ihr den Wasserfall zu zeigen?« »Zum Teil«, gab Sher zu und lächelte entwaffnend. »Aber die Kinder sind noch nie dort oben gewesen, und sie werden von der Höhle begeistert sein. Mir kam die Idee und ich wollte die Gelegenheit ergreifen, bevor das Wasser gefriert. Wir könnten viele einladen, wenn du willst, alle hübschen jungen Damen im Umkreis vieler Meilen, ein letztes Vergnügen vor dem Winter.« »Nun gut«, sagte die Erhabene. »Aber ich muss dir wirklich sagen, dass ich der Meinung bin, dass sie eine schreckliche Wahl wäre. Sieh dich noch etwas um, bevor du dich für Selendra entscheidest.« »Das werde ich«, sagte Sher. »Danke für das Picknick. Das ist etwas, das mir gefällt. Lade so viele Drachen ein, wie du willst.«
»Ich werde auf jeden Fall ein paar andere junge Damen einladen. Erweise ihnen bitte etwas Aufmerksamkeit, und verbringe nicht die ganze Zeit mit Selendra.« »Ich werde jede höflich behandeln und sie mir alle genau ansehen, und du wirst die Erste sein, die es erfährt, wenn ich
81 mein Herz für alle Zeiten weggebe«, sagte Sher und lächelte wieder. »Aber versuch ein paar zu finden, die nicht solche Eisblöcke sind. Ich weiß nicht, wieso du auf Gelener Telstie gekommen bist, aber in ihrer Nähe fröstele ich jedes Mal.« »Oh, Sher, du bist unmöglich«, sagte die Erhabene, lachte und scheuchte ihn fort.
3 4 . Der Wasserfall Die Erhabene hatte ihr Versprechen gehalten und eine große Veranstaltung daraus gemacht. In der Morgensonne brachen sechzehn fröhliche, lachende junge Drachen von Gut Benandi auf. Uber den hohen Gipfeln trieben ein paar Wolken und die Luft war kalt. Trotzdem war der Himmel von einem wunderbaren Blau. Ohne die Kälte hätte es beinahe Hochsommer sein können. Sher trug den Korb mit Gerin und Wontas. Der Korb war uralt und stammte noch aus den Tagen, in denen die Eisenbahn zu teuer gewesen war. Fehn hatte sich gesorgt, dass er möglicherweise nicht mehr stabil genug war. Sie hatte sich daran erinnert, dass sie selbst darin nach Benandi gebracht worden war. Sie probierten ihn sorgfältig aus. Sher richtete sich auf und ließ den Korb so weit herab, dass die Kinder keinen Meter vom Boden entfernt hineinspringen konnten. Am Ende war Fehn zufrieden und schnallte sie sorgfältig für den Flug fest. Andere Drachen trugen Fruchtkörbe. Sher hatte versprochen, dass es eine kleine Jagd geben würde, um das Essen zu vervollständigen, aber nur die Männer würden sich darum kümmern, nur Krallen und keine Waffen. Penn, der zusammen mit der Erhabenen gekommen war, um die anderen zu verabschieden, hatte das Gefühl, dass das auf ihn gemünzt war, und runzelte die Stirn. Die Stimmung war ausgelassen. Anscheinend hatte Sher Recht; jeder wollte noch etwas Abwechslung, bevor der Schnee kam. Aller Kopfschmuck
81 war hell und sommerlich; mehrere Jungfrauen trugen Hüte mit langen Bändern. Gelener machte eine kleine Konzession an den Wind mit ihrem Hut und verzichtete bei dieser Gelegenheit auf die Spiegel und die Ziermünzen. Bis zu den Calanifällen war es ein zweistündiger Flug. Aus diesem Grund hatte sich Fehn geweigert, an einem ganz gewöhnlichen Tag so weit zu fliegen. Das hatte Sher erst auf die Idee mit dem Picknick gebracht. Die Landschaft bestand aus Hochland voller Kalkstein, in das hier und da längst versiegte Flüsse Schluchten hineingegraben hatten. Überall ragten die Knochen des Landes aus der dünnen Erdschicht. Ebereschen klammerten sich dort fest, wo sie gerade noch Halt fanden, weiter oben gab es vereinzelte Kiefernansammlungen. Der Boden dazwischen war mit Heidekraut und Stechginster bedeckt, die nun verkümmerten. Selendra fand es trostlos aber schön; Haner hätte sich danach gesehnt, das malen zu können. Als sie die Fälle erspähten, schien die Sonne noch immer, aber die Wolken schienen viel näher zu sein und die kühle Luft viel schneidender. Sie näherten sich den Fällen aus dem Süden, flogen auf das herabstürzende Wasser und die Vorderseite der Klippe zu, dann ging es auf den See und die Wiese hinunter. Der See war tief. Nur das eine Ende wurde vom Wasserfall aufgewühlt; das andere war glatt genug, um den Himmel und die zur Landung ansetzenden, kreisenden Drachen widerzuspiegeln. »Sie haben Recht, es ist sehr schön«, sagte Selendra zu Fehn, als sie landeten. Sher war bereits gelandet. »Aber in einer großen Gruppe zu fliegen macht weniger Spaß als in einer kleinen, finden Sie nicht?« »Man hat sicher weniger Gelegenheit, sich zu unterhalten. Hier veranstalten wir immer unsere Picknicks«, sagte Felin und warf Sher einen besorgten Blick zu, der ein Stück weiter entfernt die Kinder ablud. »Ich hätte nicht gedacht, dieses Jahr den ganzen weiten Weg noch einmal zu machen.«
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»Sher scheint bereit, sich für die Kinder ein Bein auszureißen«, sagte Selendra, die dem Blick ihrer Schwägerin gefolgt war. »Wenn es ihm nicht zu viel Aufwand ist«, sagte Fehn. »Selendra...« Sie unterbrach sich, als Gerin und Wontas aus dem Korb befreit waren und auf ihre Mutter und ihre Tante zustürmten. Sher schlenderte langsam hinter ihnen her. »Wir sind geflogen«, sagte Gerin. »Hast du uns gesehen, Mutter? Hast du uns gesehen, Tante Sei?« »Alles war unter uns ausgebreitet, wie auf einem Bild«, sagte Wontas. Die anderen Drachen landeten mit schlagenden Schwingen und reckten sich nach dem Flug. Gelener fröstelte etwas, als sie sich umsah. »Es ist sehr öde und leer«, sagte sie. »Die Schönheit liegt genauso sehr in dem, was da ist, wie in dem, was fehlt«, meinte Sher. »Ihr habt die Höhle noch nicht gesehen. Sie ist hinter dem Wasserfall. Kommt und seht sie euch an.« »Höhle?«, fragte Wontas. »Eine Natursteinhöhle, kein Haus. Das ist ein großartiger Ort, primitiv und wild, führt meilenweit in den Berg hinein, und in der Tiefe gibt es verborgene Teiche«, sagte Sher. »Sie stammt aus den Tagen, als die Drachen die Höhlen mit ihren eigenen Krallen auskratzten und ihre Frauen zu Hause auf sie warteten und das Gold und die Edelsteine polierten, die man ihnen brachte.« Gelener sah ihn etwas von oben herab an. »Ich glaube, die Hochgeschätzte Telstie möchte zuerst etwas Obst haben«, schlug Fehn taktvoll vor. »Und haben Sie nicht etwas von Fleisch gesagt, das es dazu geben sollte?« Sher lächelte. »Sofort«, sagte er. Er stieg auf, die Kinder sahen ihm neidisch nach, und kurze Zeit später flogen alle männlichen Mitglieder der Gruppe hoch in der Luft über ihnen. »Was werden sie wohl fangen, was glauben Sie?«, fragte
82 Selendra und starrte in die Höhe. Sher war von allen der größte, seine Schuppen schimmerten hell und fingen das Sonnenlicht ein. »Vielleicht ein wildes Schwein, oder ein Stück Wild oder zwei, wenn wir Glück haben«, sagte Felin. »Vermutlich gar nichts«, sagte Gelener. »Ich habe beim Hinflug nichts entdecken können, dabei stehen ein Stück tiefer unten die Bäume weit genug auseinander, um gut jagen zu können.« »Jagen Sie?«, fragte Selendra. »Ich jage, seit ich fliegen kann, natürlich mit einem Speer. Obwohl ich nach meiner Heirat vermutlich ein Gewehr benutzen werde. Mein Vater hält das für eine Jungfrau nicht angebracht, aber ich sehne mich danach, es auszuprobieren.« Selendra sah mit Erleichterung, dass Gelener doch etwas mit Sher gemeinsam hatte. »Ich glaube, ich werde dieses Jahr zum Gut meines Onkels nach Hoch-Telstie reisen, um dort zujagen. Er hat ein paar Freunde für die Saison eingeladen. Werden Sie auch dort jagen, Felin, oder gehen Sie in die richtigen Berge?« »Für so etwas bin ich mittlerweile zu alt«, sagte Felin und fing an, das Obst auszupacken. Geleners Augen drehten sich vor Verblüffung schneller. Selendra war das Gespräch plötzlich leid. »Ich nehme die Kinder und mache mit ihnen einen Spaziergang um den See herum.« Felin verscheuchte sie mit einer Handbewegung. »Heute wird nicht geschwommen«, warnte sie die Kleinen. »Wir würden erfrieren«, sagte Wontas ernst. Am Rand des Wassers gab es Spuren von Wild. Das Gras war niedergetrampelt, und an einer seichten Stelle war ein Hufabdruck im Schlamm zu sehen. Selendra machte die Kinder darauf aufmerksam, die das Wild sofort verfolgen und zum Essen herbeischleifen wollten. »Möglicherweise waren sie schon vor mehreren Tagen hier«, sagte Selendra.
82 »Onkel Sher wird sie schon oben in den Hügeln finden.« Die über ihnen liegenden Hügel bestanden größtenteils aus von Schluchten durchzogenem Kiefernwald, wunderbares Jagdgebiet, falls es dort überhaupt Wild geben sollte. Jetzt, da Selendra die Spuren gesehen hatte und da sie wusste, dass es für die
offizielle Jagdzeit noch zu früh im Jahr war, hielt sie es für wahrscheinlich, dass die Jäger etwas finden würden. In diesem Augenblick ertönten Rufe und Selendra blickte auf und sah die Jagdgruppe zurückkehren, die triumphierend erlegte Tiere trug. »Da, schau doch«, sagte Gerin und legte den Kopf in den Nacken. Selendra ging zur Gruppe zurück. Es handelte sich größtenteils um Jungfrauen, und so leuchteten hauptsächlich goldene Schuppen im Sonnenlicht, hier und dort vom zarten Rosa einer Braut durchsetzt. Fehns dunkleres Rosa in der Mitte der Gruppe - sie verteilte gerade das Obst - stach sehr hervor. Bei ihrem Aufbruch war das nicht so gewesen, da sie sich da unter die Bronze und das Schwarz ihrer Ehemänner und Brüder gemischt hatten. Das machte Selendra etwas nachdenklich. Wollte die Erhabene Sher ein paar Alternativen zu der schönen aber kalten Gelener anbieten? Oder war er selbst auf der Flucht? Sher landete, einen Hirsch in den Krallen. »Wir waren auch da, genau unter seinen Krallen«, sagte Wontas und gab Gerin einen Rippenstoß. »Wir sind geflogen«, informierte Gerin Gelener. »Ich weiß, ich bin auch geflogen«, erwiderte sie. »Bald werdet ihr selbst Schwingen haben und überall hinfliegen können.« »Ich will jetzt die Höhle sehen«, sagte Wontas. »Nach dem Essen«, versicherte Selendra ihnen. Die Jäger hatten zwei Hirsche und einen ausgewachsenen Eber erjagt. Das schien für eine Gruppe aus sechszehn Personen, die so weit geflogen und hungrig waren, kaum mehr als ein Bissen zu sein, aber alle waren sich einig, dass das
83 Essen unter freiem Himmel gleichwohl herrlich mundete, und dass es von Sher ja so einfallsreich gewesen war, am Ende von Blätterfall ein Picknick zu veranstalten. Sie gaben sich mit dem zufrieden, was sie hatten, und entdeckten, dass Hunger ein vorzügliches Gewürz war. Während sie aßen, zogen sich die Wolken zusammen. »Ich fürchte, es wird schneien«, sagte Fehn bedauernd. Ein paar Angehörige der Gruppe, die einen langen Rück-flug von Benandi aus vor sich hatten oder deren Weg von dem Wasserfall aus kürzer war, wenn sie nicht erst zum Gutshaus zurückflogen, entschieden sich, sofort nach der Mahlzeit aufzubrechen. Immer mehr gesellten sich zu ihnen, bis schließlich nur noch Sher, Fehn, Gelener, Selendra und die Kinder übrig blieben. »Ich finde, wir sollten auch nach Hause«, sagte Fehn. »Die Wolken werden immer dichter. Den Kindern könnte es im Korb zu kalt werden, wenn wir noch lange bleiben.« »Sie haben Recht«, sagte Sher bedauernd. »Wie schade, dass wir nicht die Zeit für einen Blick in die Höhle haben. Dann eben beim nächsten Mal. Wir nehmen Sie im Grünsommer mal mit, Selendra, Sie werden sie dann erforschen können.« »Es ist schade, dass ich sie verpasse«, sagte Gelener; ihr Tonfall drückte das genaue Gegenteil aus. »Nun, wenn wir zurückkehren wollen, sollten wir dann nicht jetzt aufbrechen?« In diesem Augenblick entdeckten sie, dass Wontas fehlte. »Er muss zur Höhle gegangen sein«, sagte Gerin mit weit aufgerissenen Augen. »Hast du ihn gehen sehen?«, fragte Fehn. »Nein«, erwiderte Gerin, aber seine Augen verrieten boshaft das Gegenteil. »Wann ist er gegangen?«, fragte Sher. Doch Gerin änderte seine Meinung nicht. Es blieb ihnen also offensichtlich nichts anderes übrig, als
83 in die Höhle zu gehen und ihn dort zu suchen. Fehn entschuldigte sich bei Gelener für das schlechte Benehmen ihres Sohnes. »Ich hätte auf ihn aufpassen müssen«, sagte Selendra.
»Es ist schrecklich kalt, aber natürlich müssen wir ihn finden«, sagte Gelener und tat so, als würde sie für das Wohl der Kinder diese schreckliche Last auf sich nehmen. Selendra hatte sie noch nie gemocht, aber jetzt fing sie an, sie regelrecht zu verabscheuen. Sie begaben sich zum Höhleneingang. Wie Fehn und Sher bereits wussten, bestand der Eingang aus einem großen Raum, von dem mehrere Gänge abzweigten. Durch den Wasserfall drang Licht ein, und so konnten sie erkennen, dass ihre Umgebung nicht sehr aufregend aussah. Von Wontas war keine Spur zu sehen, er kam auch nicht, als sie nach ihm riefen. »Was für eine schreckliche Art und Weise, ein Kind zu verlieren«, sagte Gelener und wollte sich umdrehen, um zu gehen. Gerin heulte auf und klammerte sich an Fehns Bein. Fehn senkte den Kopf und fuhr mit den Nüstern über ihn und ließ sich langsam niedersinken, bis sie flach auf dem Höhlenboden lag. »Wir werden nach Wontas suchen«, sagte Sher ungeduldig. »Sie können gern nach Hause zurückfliegen, wenn Sie mögen, Gelener.« »Ich kenne den Weg nicht«, beschwerte sich Gelener. »Sie werden mich begleiten müssen.« »Ich muss bleiben, denn ich muss die Kinder tragen, wenn wir den Jungen gefunden haben«, sagte Sher mit bemerkenswerter Geduld. »Dann könnte mir vielleicht die Hochgeschätzte Agornin den Weg zeigen?« Sher sah Selendra an, die angefangen hatte, Fehn zu trösten. »Können Sie sich an den Weg erinnern?«, fragte er.
84 »Ich glaube schon«, sagte Selendra zögernd und schaute zu ihm hoch. »Ich gehe mit niemandem, der ihn nicht genau kennt«, sagte Gelener mit schrill werdender Stimme und ihre Augen wirbelten aufgeregt. »Sie werden mich zurückbringen und dann wieder herkommen müssen, Erhabener Benandi.« »Können Sie nicht verstehen, dass es dazu zu weit ist?«, fauchte Sher. »Sie werden einfach warten müssen.« Er drehte sich um und rief wieder nach Wontas. »Dann eben die Gesegnete Agornin?«, fragte Gelener. »Das halte ich für eine gute Idee«, sagte Selendra und kam Sher zuvor, bevor er losbrüllen konnte. »Fehn, Sie sind sehr aufgebracht, Sie sollten nach Hause gehen. Gelener braucht jemanden, der sie führt. Sher kennt die Höhle und wird Wontas finden.« »Aber er wird sich auch um Gerin kümmern müssen«, sagte Fehn, und versuchte sich zu beherrschen. Sie sah Selendra an. »Und es gibt Stellen, an die er nicht mehr herankommen wird, weil er so groß geworden ist, in die Wontas aber mühelos hineinschlüpfen könnte. Und wenn er ihn findet, wird er mich brauchen, um den Tragekorb befestigen zu können.« »Ich bin kleiner als Sie, ich bleibe und helfe. Ich kann auf Gerin aufpassen. Ich kann alles das tun, was Sie tun könnten, Fehn, und auch wenn die Kinder lieber Sie dabeihaben würden, ich kann die Hochgeschätzte Telstie nicht zurückbringen.« »Aber Sie sollten nicht mit einem unverheirateten Mann allein sein«, sagte Fehn. »Ich werde ja nicht allein sein, die Kinder werden bei uns sein, davon abgesehen handelt es sich ja nur um Sher, Sie wissen, dass er mich nicht bedrängen wird. Seien Sie nicht albern, Fehn, das ist ein Notfall, und die Hochgeschätzte Telstie besteht auf ihrer Rückkehr.« Fehn sah Gelener mit Augen an, die völlig von den äuße
84 ren Lidern verborgen waren, so als würde sie sich in grellem Sonnenlicht befinden und nicht in einer dämmrigen Höhle. Sie stemmte sich langsam hoch, dann senkte sie wieder den Kopf zu ihrem einzigen, übrig gebliebenen Kind. »Gerin, du bleibst bei Tante Selendra und tust alles, was sie oder Onkel Sher dir sagen, und du hilfst ihnen, Wontas zu finden.« »Ja, Mutter«, sagte Gerin, der jetzt völlig eingeschüchtert war.
35. Die Höhle
Sobald Gelener und Fehn gegangen waren, wandte sich Sher an Gerin. »Nun, deine Mutter ist fort, und du verstehst, wie schlimm die Dinge stehen. Wontas könnte hier verloren gehen und nie gefunden werden. Es ist noch nicht so lange her, dass ich selbst ein Kind war, und ich verstehe, dass du die Geheimnisse deines Gelegebruders nicht verrätst, aber das hier ist wichtiger als das. Wann ist Wontas gegangen?« »Als Mutter gesagt hat, wir müssten wegen des Schnees nach Hause, ohne die Höhle zu sehen. Er wollte sie sich einfach nicht entgehen lassen. Und dann hat er sich einfach leise davongestohlen«, sagte Gerin mit gesenktem Kopf und rang darum, nicht in Tränen auszubrechen. »Er wollte den Schatz des Majestätischen Tomalin finden. Ich wäre ja mitgegangen, aber ich stand direkt vor Mutter, und sie hätte mich weggehen gesehen.« »Der Schatz des Majestätischen Tomalin? Wer hat ihn denn auf die Idee gebracht, dass er sich hier befinden könnte?«, fragte Sher überrascht. »Du hast gesagt, die Höhle würde aus dieser Zeit stammen«, sagte Gerin anklagend. »Wir verschwenden Zeit«, sagte Selendra und entschied, die Führung zu übernehmen, um sie vom Streiten abzuhalten, als wären sie beide Kinder. »Wenn er gegangen ist, als
85 Felin sagte, es sei Zeit zum Aufbruch, dann ist das noch nicht lange her.« »Jedenfalls nicht zu lange«, sagte Sher. »Gut. Hat jemand eine Idee, welche Richtung er zuerst eingeschlagen haben könnte?« »Nach unten?«, meinte Gerin unsicher. »Nun, versuchen wir es«, sagte Sher. »Er kann eigentlich kaum außer Hörweite sein, selbst wenn er schnell gewesen ist. Gerin, du rufst.« Gerin rief, und Selendra rief, aber sie hatten genauso wenig Erfolg wie Felin und Sher zuvor. »Keine Sorge«, sagte Sher und sah äußerst besorgt aus. »Ich kenne alle Wege nach unten, oder kannte sie zumindest, als ich jünger war. Wir finden ihn.« Sher wandte sich dem ersten Tunnel zu, der nach unten führte und lief hinein. Trotz seiner Größe konnte er sich in Höhlengängen genauso schnell wie alle anderen bewegen. Selendra und Gerin mussten sich beeilen, um mit ihm mitzuhalten. Zuerst war die Suche erfolglos. Sie entdeckten eine Reihe von Höhlen mit Teichen und Kalksteinzähnen, die vom Boden oder der Decke ragten, und die sie zu einer anderen Zeit begeistert hätten, aber von Wontas entdeckten sie keine Spur. »Warum wohnt hier niemand?«, fragte Selendra, als sie zum Eingang zurückkehrten, um den zweiten Tunnel in die Tiefe zu durchsuchen. »Zu feucht und viel zu abgelegen«, sagte Sher. »Das ist Benandiland. Einst lebten hier oben ein paar meiner Vorfahren, was vermutlich das Gerücht entstehen ließ, das die Kinder gehört haben, aber das ist vor langer Zeit gewesen, jawohl, Gerin, in den sagenhaften Tagen des Ehrenvollen Ketar und des Majestätischen Tomalin, vor der Eroberung. Aber ich bin davon überzeugt, dass sie nicht von den yar-gischen Invasoren vertrieben wurden. Vermutlich sind sie
85 gegangen, weil es feucht und zugig ist. Ich verstehe völlig, warum sie die Bequemlichkeiten des Gutshauses Benandi vorzogen, selbst wenn es hier schrecklich romantisch ist.« Der Gang führte durch drei miteinander verbundene Räume, von denen einer an der Decke eine Marmorader aufwies, die wie ein Drachenlid aussah. »Fehn und ich haben immer so getan, als würde es sich öffnen und uns anschauen«, sagte Sher. Gerin sah ehrfurchtsvoll nach oben, ob nun wegen der Vorstellung, dass sich ein Auge hinter dem Lid befand oder dass seine Mutter mal ein Kind gewesen war - Selendra fragte nicht nach. Im nächsten Raum, in dem sich wieder Kalksteinzähne befanden, blieb sie abrupt stehen. »Was war das?«, fragte sie.
Alle blieben stehen und lauschten. Da waren ein breiter Gang, der in eine weitere Höhle führte, und ein viel schmalerer Gang, eher ein Spalt im Gestein als ein richtiger Gang, aus dem ein Luftzug kam. »Das ist vermutlich der Wind«, sagte Sher. Und dann hörten sie alle den unverkennbaren Laut eines weinenden Kindes. »Wontas muss sich wehgetan haben«, sagte Gerin. »Das habe ich befürchtet«, sagte Sher. »Ich glaube nicht, dass ich es nach dort unten schaffe. Ich bin schon seit Jahren nicht mehr da gewesen. Es gibt Gruben auf dem Weg, der ganze Teil löst sich auf. Er muss in eine von ihnen hineingefallen sein.« »Wontas?«, rief Selendra. Eine leise Antwort ertönte. Sher ging zu dem Spalt und fing an, sich hineinzuquetschen. »Ich glaube, ich könnte hineinpassen, wenn Sie es nicht schaffen«, sagte Selendra. »Ich bin zwar lang. Aber ich war nie breitschulterig und ich bin noch nicht ausgewachsen, glaube ich jedenfalls«, sagte Sher, die Schwingen eng an den Körper gelegt. Er bewegte sich eher wie eine Schlange als wie ein Drache. Selendra
86 legte ihre Schwingen ebenfalls eng an und folgte ihm in die Felsspalte. Gerin bildete den Abschluss. Er war der einzige von ihnen, der sich mühelos bewegen konnte. Selendra spürte, dass sie den Wänden ungemütlich nahe kam und sie konnte hören, dass Sher mit den Schuppen daran vorbeischleifte. Bei jeder Grube blieb Sher stehen und rief. Er und Selendra konnten über sie hinwegsteigen, Gerin musste springen. In der vierten und größten von ihnen konnte man Wontas von unten rufen hören. »Ich bin auf einem Sims«, rief er. »Da unten bin ich nie gewesen«, sagte Sher und schaute vom Rand aus in die Tiefe. »Er ist zu weit unten, um ihn von hier aus zu erreichen. Es ist nicht genug Platz, um richtig zu fliegen. Vielleicht sollte ich den Korb holen. Ich könnte nach unten steigen, aber dabei könnte ich unter Umständen Steine losschlagen, die ihn von dem Sims fegen.« »Wenn genug Platz für Sie ist, dann gilt das auch für mich, und bei mir ist das Risiko geringer, dass ich Steine löse«, sagte Selendra. »Aber... doch, versuchen Sie es nur, wenn Sie glauben, dass Sie es schaffen können«, sagte Sher. Sher sprang über die Grube und hockte sich auf der anderen Seite an den Rand und schaute nach unten. Selendra nahm seinen Platz ein. Die Grube war ungefähr neun Meter breit, schien aber in der Tiefe schmaler zu werden. Selendra konnte den Boden nicht erkennen, was sie unerfreulich tief erscheinen ließ. Für Sher würde es unmöglich sein, etwas anderes zu tun, als an der Seite hinunterzurutschen, aber sie war klein genug, um einen Flug riskieren zu können. »Halte dich fest, Wontas, ich versuche es«, sagte sie. Hätte es unten genug freien Platz gegeben, um sich wieder hochzuziehen und zu landen, hätte sie auch genug Platz für einen Sturzflug gehabt. So aber war sie gezwungen, mit den Füßen zuerst hinabzusteigen, sodass sie auf dem landen konnte, was gerade da war. Es war kein Flug, mehr ein
86 wohlkalkulierter Sturz; sie benutzte die Schwingen, um das Gleichgewicht zu halten und langsamer zu werden. Selendra versuchte nicht daran zu denken, wie sie wieder nach oben kommen sollte. Die Grube wurde schmaler, bis sie schließlich nur noch einen Durchmesser von sechs Metern aufwies. Selendra zog Hände und Füße an den Körper, um nicht mit den Seiten in Berührung zu kommen. Bald sah sie Wontas, der sich an einem Sims festklammerte. Seine Augen waren geschlossen, und er benutzte nur drei Klauen zum Festhalten. Die vierte, eines seiner Vorderbeine, war gebrochen. Es war ein sehr schmaler Sims. Sie konnte ihn nicht benutzen. Sie krallte sich direkt über Wontas fest, streckte Hinterbeine und Hände aus. »Ich bin da«, sagte sie. »Ich habe mir die Kralle wehgetan«, sagte Wontas und schluckte seine Tränen herunter. »Das wird wieder heilen«, sagte sie wie Amer Jahre zuvor zu Avan, als er sich ein Bein gebrochen hatte. »Oh, Tante Sei, Tante Sei«, sagte Wontas. »Hast du nach unten geschaut?«
Das hatte sie nicht. Sie hatte sich zu sehr auf die Wände konzentriert. »Ich muss dich irgendwie festhalten, damit wir wieder nach oben kommen.« »Schau nach unten«, bettelte Wontas. »Wir müssen nach unten.« Sie riskierte einen schnellen Blick. Nicht weit unter ihnen verbreiterte sich die Grube zu einer gewaltigen Höhle, auf deren Boden es golden zu funkeln schien. Selendra keuchte auf. »Hast du den Schatz gesehen? Wir müssen da runter!«, beharrte Wontas. »Das kann schon sein, aber zuerst müssen wir nach oben«, sagte Selendra. »Aber da liegt ein Schatz«, sagte Wontas. »Das sind eher ein paar Felsenkristalle oder etwas Ähnli
87 ches«, meinte Selendra. »Es ist nicht genug Licht, um richtig sehen zu können.« »Da ist überhaupt kein Licht«, sagte Wontas. »Das ist die finsterste Höhle, die ich je gesehen habe. Aber es ist ein Schatz. Da bin ich mir sicher. Darum wollte ich ja hinunter.« »Nun, aber jetzt musst du nach oben, wenn du es schaffst«, sagte Selendra und verspürte beinahe so etwas wie Erleichterung, dass sie niemals eigene Kinder haben würde, die auf diese Weise ihr Herz bewegen würden. »Jetzt lass die Wand los.« Sie packte Wontas mit einer Hand und drückte ihn eng an den Hals. Sie wollte wieder aufsteigen, aber das gelang nicht, also stemmte sie sich wieder gegen die Wände. Sie versuchte es erneut, aber da war einfach nicht genug Platz, um die Schwingen zu spreizen und Auftrieb zu bekommen. »Sher«, rief sie. »Wir müssen versuchen, erst einmal nach unten zu gelangen. Ich habe Wontas, aber auf diese Weise werden wir es nicht nach oben schaffen.« »Ich weiß nicht, was da unten ist«, sagte Sher. Es war sehr beruhigend für Selendra, seine Stimme zu hören. »Ich glaube, ich kann den Boden sehen, da ist genug Platz zum Landen.« Sie ließ sich wieder langsam sinken. Die Wände wichen weiter auseinander und nahmen die Form eines Trichters an. Schließlich traf sie am Boden auf, eine erstaunlich angenehme Landung. Unter ihr war das unmissverständliche Gefühl von Gold. »Ein Schatz«, rief Wontas nach oben. »Ein Schatz?«, fragte Sher überrascht, und Gerin stieß hoch oben ein Quieken aus. »Gold und Amethyste und Diamanten«, sagte Selendra erstaunt und fuhr mit den Klauen darin herum. »Ein alter Hort, vermute ich, was bedeutet, dass er Ihnen gehören wird, Sher.« »Das ist der Schatz des Majestätischen Tomalin, und er gehört mir. Ich habe ihn gefunden!«, rief Wontas. »Du wirst schon deinen Anteil bekommen«, gab Sher zu
87 rück. »Aber da unten haben wir nichts davon. Können Sie wieder nach oben kommen, Selendra?« Selendra starrte in die Höhe. Wenn sie geradewegs in die Höhe steigen könnte, würde sie es schaffen können, selbst mit Wontas im Arm. Aber es bestand keine Möglichkeit, vom Boden zu starten und senkrecht in den Trichter hineinzufliegen, er wurde zu schnell zu schmal und die Luftströme, die bis hier unten hin reichten, waren feucht und behinderten sie. Sie schaute sich um. »Nein. Aber ich sehe von hier aus einen breiten Gang, der in Richtung Westen zu führen scheint und den wir versuchen könnten.« »Aber der könnte sonstwo hinführen«, sagte Sher. »Westlich ist nicht gut. Ich kann Sie nicht mitten in den Berg hineinlaufen lassen, und dann sieht man Sie nie wieder.« »Der Gang wird sicher irgendwo enden und dann werde ich nach oben gehen und einen Rückweg finden müssen«, sagte Selendra mit mehr Mut, als sie verspürte. Sie war an Granit gewöhnt, nicht an diesen bröckelnden Kalkstein und sie war sich ja nicht einmal des Weges außerhalb des Berges sicher gewesen. »Ich komme nach unten«, sagte Sher. »Was hätten wir davon?«, fragte Selendra. »Dann sind bloß vier von uns verschollen statt zweien.« Tot, dachte sie, sagte es aber nicht der Kinder wegen. Die Erhabene würde wütend sein, wenn sie für Shers Tod verantwortlich wäre.
»Aber wenn ich dort unten bin, werde ich die Gänge erkennen, die an Orte führen, an denen ich schon einmal war«, sagte Sher voller Zuversicht. »Sie würden das nicht. Außerdem will ich den Schatz sehen, den Sie gefunden haben, den können Sie nicht allein für sich behalten. Gehen Sie in den Gang hinein, fallenden Steinen aus dem Weg. Gerin und ich kommen jetzt hinunter.«
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36. Der Schatz Aus dem Inneren des Ganges hörte es sich an, als würde Sher den halben Berg mit nach unten bringen. »Haben Sie sich wehgetan?«, fragte Selendra vorsichtig, nachdem das Getöse verklungen war. »Meine Schuppen sind etwas angekratzt«, erwiderte Sher unbekümmert. »Aber wir sind nicht grundlos gepanzert, und keine Landung auf Gold könnte man als schlechte Landung bezeichnen.« Selendra lachte und schob den Kopf in die Höhle. Sher setzte Gerin vorsichtig ab und er kam zu der Stelle herüber, an der Selendra den verletzten Wontas hielt. »Das Gold sieht mir nach der Arbeit von Yargen aus«, sagte Sher und untersuchte eine mit Edelsteinen besetzte Gliederkette. »Also nicht aus der Zeit vor der Eroberung?«, fragte Selendra etwas enttäuscht. »Oh, das könnte durchaus sein. Tatsächlich ist es sogar sehr wahrscheinlich. Sie erinnern sich an die Ritter und Prinzessinnen aus den Geschichten und die Yargenstädte, die die Drachen damals immer geplündert haben, bevor die Yargen den Spieß umdrehten und zurückschlugen? Ich glaube, das könnte die Beute einer solchen Plünderung sein. Das ist viel zu fein, um von Drachenhand zu stammen, ganz zu schweigen davon, dass es zu klein ist.« Die Kette passte kaum über Shers Klaue. »Ist der Schatz sehr wertvoll?«, fragte Gerin und drehte ein Goldkästchen um. »Was das Gold angeht, schätze ich, dass es ein paar tausend Kronen wert ist«, meinte Sher. »Aber als romantische Antiquität wird es noch mehr wert sein. Ich würde sagen, dass ihr beiden Kinder euch als reich betrachten dürftet, wenn ihr einen Weg findet, das Gold hier herauszuschaffen.«
88 »Was bedeutet, dass wir zuerst einen Ausgang finden müssen«, sagte Selendra. »Hier zu verhungern und unsere Knochen dem Schatz hinzuzufügen könnte ja als romantisch betrachtet werden ...« »Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie so viele alte Geschichten gelesen haben«, unterbrach Sher sie lächelnd. »Ich habe eine Schwäche dafür«, gestand Selendra. »Tante Sei erzählt sie uns immer«, sagte Wontas selbstzufrieden. »Nun, dann lasst uns tun, was Drachen unter solchen Umständen immer tun, jeder von uns nimmt eine Kostbarkeit mit. Kannst du gehen, Wontas?« »Ich glaube schon«, sagte Wontas. »Du hast dir ein Vorderbein gebrochen, wärst du ein Mädchen, würdest du es kaum benutzen um zu gehen«, sagte Selendra aufmunternd und setzte ihn ab. Er hinkte in die Schatzhöhle. »Du benutzt deine doch«, sagte er da und drehte sich mit anklagendem Blick um. »Nur unter der Erde und am Ersten Tag«, sagte Selendra und zeigte ihm, wie dünn die Hornhaut auf ihren Knöcheln war. Er berührte sie sanft. »Und ein paar vornehme Damen berühren damit nicht einmal dann den Boden. Ich bin davon überzeugt, wenn du dir die Hände der Erhabenen ansiehst oder die der Hochgeschätzten Telstie, wirst du dort keine Hornhaut finden. Ein Stück zu Fuß wirst du schaffen. Amer wird dein Bein schienen, wenn wir wieder zu Hause sind.« »Meine Mutter hat Hornhaut, die hat jeder Drache, der das Leben lebt, das Veld ihm geschenkt hat«, sagte Sher. »Gelener Telstie gehört zu den feinen Damen, die stolz auf die Zartheit ihrer Hände sind und sie müßig in den Schoß legen.« Selendra sah ihn überrascht an. »Ich dachte, sie wäre Ihre Braut?«
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»Selbst meine Mutter hat es aufgegeben, mich dazu zu bringen, einen Eiszapfen zu heiraten«, sagte er. »Sie wird hier wieder genauso golden abreisen, wie sie gekommen ist. Sie ist nicht im Mindesten die Art von Jungfrau, die mich interessiert.« »Sie ist hübsch«, sagte Gerin und schaute von dem Schatz auf. »Nicht so hübsch wie deine Tante Selendra«, sagte Sher. Selendra fühlte, wie ihre Augen verwirrt rotierten, und ihr fiel keine Erwiderung ein. Er war zwar nicht Gelener versprochen, aber sie wusste, dass er immer allen Komplimente machte. »Ich versuche zu gehen, und ich will etwas von dem Schatz«, sagte Wontas. »Also einen kleinen Teil«, sagte Sher. »Wie wäre es mit dieser Kette?« Er hielt die Kette hoch, die er als Erstes aufgehoben hatte, und ließ sie von seinen Krallen herunterbaumeln. Obwohl es kein Licht gab, schienen die Edelsteine rot und purpurn und violett zu funkeln. »Unsinn«, sagte Wontas, verwarf sie mit einem Blick und fing an, in dem Gold herumzukramen. »Ich will eine richtige Krone oder ein Schwert.« Gerin hatte eine Tasse gefunden und drehte sie in den Klauen. »Wenn man sich vorstellt, dass der Majestätische Tomalin daraus getrunken hat«, sagte er ehrfurchtsvoll. »Selendra?« Sher machte einen Schritt auf sie zu und bot ihr die Kette an. Noch immer wortlos nahm sie sie entgegen und ließ sie durch die Finger gleiten. Man hatte winzige Löcher in die Edelsteine hineingebohrt, und das Gold führte durch die Löcher und formte dann eine Schleife, die sie mit dem nächsten Glied verband. Sie war verknotet, und Selendra nestelte den Knoten auf. Die Arbeit brachte ihr die innere Gelassenheit zurück. Sie wusste, dass es albern war, sich von der Aufregung überwältigen zu lassen, denn Sher war fast wie ein
89 Bruder für sie, und seine Komplimente waren eine Art Neckerei. »Sie haben Recht, es muss eine Arbeit der Yargen sein«, sagte sie und hielt ihm die Kette wieder hin. »Es ist die schönste Arbeit, die ich je gesehen habe.« »Dann nehmen Sie sie«, sagte Sher mit einem Lächeln. »Schöne Jungfrauen sollten schöne Dinge besitzen.« Sie schaute auf, und ihre Blicke trafen sich. Ihr Herz schien schneller zu schlagen als gewöhnlich, und irgendwie stockte ihr Atem. Sie überlegte kurz, ob sie wohl errötete, obwohl Sher sie nicht berührt hatte; eigentlich hatte er nicht mehr getan, als ihr ein Kompliment zu machen. Es war eben seine Art. Mittlerweile hätte sie daran gewöhnt sein müssen, rief sie sich zur Ordnung. »Was sollte ich mit so einer Kette anfangen? Es ist kein Hut oder ein Halsband, also könnte ich sie nicht tragen.« »Das ist die Mode, kein Gesetz«, sagte Sher. »Sie sieht wunderschön auf Ihren Schuppen aus, Selendra...« Er trat einen Schritt auf sie zu. »Außerdem gehört sie Ihnen, wie das alles hier, es befindet sich auf Ihrem Land und ist darum Ihr Besitz.« Selendra trat einen Schritt zurück und stieß beinahe gegen die Wand. »Wenn es mir gehört, kann ich es verschenken, wie ich Lust habe«, sagte Sher. »Aber das gehört mir, ich habe es gefunden!«, protestierte Wontas. »Wir teilen es zu gleichen Teilen«, sagte Sher. »Hast du etwas gefunden, das du mitnehmen willst? Etwas, das leicht zu tragen ist.« »Ich habe die Krone des Majestätischen Tomalin gefunden«, sagte Wontas und setzte sich unbeholfen einen goldenen Reif auf den Kopf. »Die passt dir, Fruchtfresser«, sagte Gerin. »Und?«, fragte Wontas. »Der Majestätische Tomalin war ein ausgewachsener Dra
89 che, und eine Krone, die dir passt, wäre für ihn zu klein gewesen.« »Vielleicht hat sie seinen Kindern gehört. Wie nennt man die Kinder eines Majestätischen, Tante Sei?« »Hochgeschätzte«, sagte Selendra ernst, was Sher kichern ließ.
»Nein, nun sag schon«, drängelte Wontas. »Die Drachenkinder eines Erhabenen sind Ehrwürdige, nicht wahr, also müssen die eines Majestätischen etwas Besseres sein als Hochgeschätzte. Wir sind Hochgeschätzte.« »Der Erbe eines Erhabenen ist ein Erlauchter, und der Erbe eines Erlauchten ist ein Ehrwürdiger«, sagte Sher, der vor dem Tod seines Vaters Erlauchter gewesen war. »Der Erbe eines Majestätischen wäre eine Hoheit und die anderen wären Vornehme.« »Der Vornehme Wontas«, sagte Wontas nachdenklich. »Vornehme gibt es noch immer.« »Bleiben wir bis zum Frühling in dieser Höhle?«, fragte Gerin mit hochmütiger Stimme. Er hielt eine goldene Schatulle in der Klaue. »Schlingen Sie die Kette um Ihren Arm«, riet Sher Selendra und hob einen goldenen, mit Diamanten besetzten Stab auf. »Ich weiß nicht, wozu der hier gedient hat, aber ich nehme ihn. Wir unterhalten uns später weiter.« Selendra legte sich die Kette nachdenklich um. Sie konnte sie so unmöglich tragen, auch wenn sie prächtig aussah. Vielleicht konnte sie sie in einen Abendhut einarbeiten lassen, so wie Geleners Ziermünzen. Oder sie würde darauf schlafen, wie auf dem Rest ihres Goldes. Sie versuchte nicht darüber nachzudenken, worüber Sher mit ihr sprechen wollte. Zuerst mussten sie aus der Höhle heraus, danach konnte sie sich immer noch Gedanken darüber machen, ob sie die Situation möglicherweise falsch interpretiert hatte. Sher ging voraus und warnte sie vor Fallgruben. Da Wontas hinkte und Gerin unter der Last seiner Schatulle schwankte,
90 war es in diesem breiten Gang am einfachsten, dass Selendra sich die beiden Kinder unter die Arme klemmte und die Gruben überflog. »Kommt Ihnen schon etwas bekannt vor?«, fragte Selendra als die Jungen ein Stück hinter ihnen gingen und Sher selbstbewusst an einer Abzweigung den nach unten führenden Weg nahm. »Nichts, aber ich werde den Weg wiederfinden, wenn ich zurückkehre«, erwiderte er. »Ich bin sicher, wir schaffen es nach draußen. Ich folge der Luftströmung.« Lange Zeit gab es keine Überraschungen mehr. Die Gänge waren ein Labyrinth, in dem es gelegentlich Räume gab, die Platz für zwei oder drei Drachen boten. Einer davon wies flache Rinnen auf dem Boden auf, als sei er einst ein Esszimmer mit primitiven Rinnen gewesen, in denen das Blut abfließen konnte. Ein anderer wies uralte Feuerspuren an einer Wand auf. In keinem von ihnen lagerten weitere Schätze. Nach einer schwer abzuschätzenden Zeit kamen sie in eine weitere Schatzhöhle, aber hier hatten die Kalksteinauswüchse den Schatz in eine steinerne Umarmung genommen. »Der Felsen holt ihn sich zurück«, flüsterte Selendra und berührte ihre Kette. Sie durchquerten die Höhle in gedämpfter Stimmung auf Zehenspitzen. »Wie lange brauchen sie, um so auszusehen?«, fragte Gerin mehrere Gänge später, aber jeder wusste, was er meinte. »Jahre«, sagte Sher. »Jahrzehnte. Jahrhunderte. Du hast on dem Majestätischen Tomalin gesprochen, weißt du nicht, vor wie langer Zeit er gelebt hat?« »Vor tausenden von Jahren«, sagte Wontas. »Tausende und abertausende. Tante Sei, gibt es Magie wirklich?« »Aber natürlich«, antwortete Selendra überrascht. »Gäbe es keine Magie, wie sollten wir fliegen können, so groß wie wir sind? Gäbe es keine Magie, wie sollten wir größer werden, wenn wir andere Drachen fressen, aber nicht, wenn wir Rind oder Wild fressen?«
90 »Nicht diese Art Magie.« Wontas stöhnte. »Die andere Art, die aus den Geschichten. Zaubersprüche und Magier, und Berge, die Drachengold fressen und Felsen, die lebendig werden und tanzen?« »Ich jedenfalls habe noch nie dergleichen gesehen«, sagte Selendra. »Die Kirche lehrt, dass Camran die Magier ausgetrieben hat, also muss es einst Magier gegeben haben.«
»Waren sie Yargen oder Drachen?«, fragte Gerin. »Das ist eine lächerliche Unterhaltung, wenn man sich unter den Bergen verirrt hat«, beschwerte sich Selendra. »Wir haben uns nicht verirrt«, sagte Sher. »Seht!« Weit voraus und unter ihnen konnten sie einen hellen Schimmer in der Dunkelheit sehen, der ein Ausgang in die Außenwelt sein musste.
91 DIE WAHL DER VERBÜNDETEN
37. Eine dritte Abendgesellschaft Avans Freunde waren wie er selbst sowohl während als auch außerhalb der Saison in Irieth zu finden. Avan konnte seit seiner Rückkehr in die Stadt sehr zufrieden sein. Da er Kest in einem fairen Kampf geschlagen hatte, war seine Stellung im Büro für den Augenblick unangreifbar. Seine Arbeit -Skamble zu sanieren -, die Liralen ihm bei seiner Rückkehr übertragen hatte, benötigte viele Voruntersuchungen, bevor er eine Entscheidung treffen oder etwas unternehmen konnte. Da Liralen das bekannt war, war Avan von vielen seiner üblichen Pflichten im Büro entbunden. Es befriedigte ihn sehr, Kest darum zu bitten, einige der langweiligen Routineangelegenheiten zu übernehmen und erleben zu dürfen, dass dieser seine Überlegenheit akzeptierte und es tat. Was sein gesellschaftliches Leben anging, war es geradeso ausgefüllt und interessant, dass man einem Drachen, dessen Vater vor nicht einmal zwei Monaten gestorben war, keinen
91 Vorwurf daraus machen konnte. Er hatte ein paar Einladungen abgelehnt und andere angenommen, und hatte darauf geachtet, dass es sich bei den Ablehnungen um die wichtigen aber langweiligen Veranstaltungen gehandelt hatte, an denen man hauptsächlich teilnahm, um gesehen zu werden, und jene, die er angenommen hatte, waren die kleineren und amüsanteren Festlichkeiten gewesen. Und wenn er tanzte, dann immer nur mit den schönsten Jungfrauen. Kurz gesagt, sein Leben hätte nicht glücklicher sein können, hätte es da nicht zwei Dinge gegeben. Die Klage, die mit solchem Wagemut in die Wege geleitet worden war, erwies sich in ihrer Ausführung als zeitaufwändig und kostspielig. Hathor schüttelte den Kopf über jede weitere Zeugenaussage. Selendra hatte geschrieben und gebeten, dass man ihren Namen aus der Klageschrift entferne, weil sie es nicht ertragen könne, von Haner auf immer getrennt zu werden. Penn hatte mit einer Leidenschaft geschrieben, die Avan nicht im Mindesten verstehen konnte, und sich geweigert, überhaupt eine Aussage zu machen. »Unsere größte Hoffnung hatte darin bestanden, dass ihr alle eine gemeinsame Front bildet«, hatte Hathor gesagt und die Schnauze gerümpft. Avan hatte Penn natürlich mitgeteilt, dass er keine Aussage machen müsste, wenn er nicht wollte, er aber nicht verstehen würde, welche »religiösen Skrupel« ihn daran hindern würden. Das zweite spitze Steinchen in Avans goldenem Bett in diesem Winter war Sebeth. Sie war so schön und bezaubernd wie immer. Sie teilte auch weiterhin jeden Tag Avans Schreibtisch und die meisten Nächte sein Bett. Aber seit dem Tag, an dem Kest sie beleidigt hatte, war da eine Traurigkeit in ihr, die sie nicht mehr verließ. Sie arbeitete mit mehr als ihrem gewöhnlichen Eifer, aber sie neckte Avan nicht mehr wie früher. Wenn er sie fragte, behauptete sie, glücklich zu sein und dass alles in Ordnung sei. Hüte der neuesten Mode munterten sie jedoch genauso wenig auf wie
91 Feiern auf dem gefrorenen Fluss mit Freunden, von denen keiner das Hochgeschätzt vor seinen Namen hätte setzen können. Avan überlegte, ob sie wohl ein Liebhaber verlassen hatte, für den sie wirklich etwas empfunden hatte, aber er fragte nicht. Er versuchte ihr gegenüber sanft und mitfühlend zu sein und hoffte, ihr wenigstens etwas beistehen zu können. Die Erhabenen Rimalin waren im Blätterfall und Frühwinter nicht in der Stadt gewesen. Avan hatte eine Einladung erhalten, sie in Rimalin zu besuchen. Er war viel zu beschäftigt gewesen, um lange darüber nachzudenken und er hatte ihnen höflich und mit Bedauern abgesagt. Dann hatte er einen Brief
erhalten, dass sie wieder in Irieth seien und ihn zum Abendessen geladen. Er hatte Sebeth sofort seine Zustimmung überbringen lassen und brach gut gelaunt zu ihrem Stadthaus auf. Er war gespannt, welche Investitionsmöglichkeit der Erhabene Rimalin herausgefunden hatte, und es war ihm schon immer ein Vergnügen gewesen, sich mit Ketinar zu unterhalten, der Erhabenen Rimalin. Diener ließen ihn ein und führten ihn durch die moderne Eingangshalle, deren Wände mit Kieseln und Halbedelsteinen verziert waren, in den Salon, wo ihn Ketinar begrüßte. Sie war dunkelrot, da sie drei wohlgeplante Gelege überstanden hatte, und auch wenn ihr Kopfschmuck mit funkelnden Zitrinen und Granaten verziert war, womit sie sich als Dame an der vordersten Front der Mode erwies, hätte sie doch niemand als Schönheit bezeichnet. Doch ihr Gesicht war so lebhaft, dass es Schönheit zu einer Nebensächlichkeit machte. Ihre Augen lagen vielleicht zu nahe an ihrer Schnauze, aber sie funkelten mehr als die Edelsteine, die in der Spitze auf ihrer Stirn baumelten. »Sie habe ich ja seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen«, sagte sie zu Avan zur Begrüßung. »Ich bin seit dem Tod meines Vaters nicht mehr hier gewesen«, sagte Avan und beeilte sich weiterzusprechen, bevor sie
92 ihn unterbrechen konnte. »Und vielen Dank für Ihr Beileidsschreiben, es war ein Trost in dunkler Zeit.« »Es ist schön, dass Sie heute kommen konnten. Rimalin wollte Sie unbedingt sehen. Im Augenblick haben wir in Irieth nicht viel Gesellschaft. Niemand ist in der Stadt, die meisten jagen mit bloßen Klauen dem Wild nach oder mit dem blanken Stahl, wenn es Frauen sind.« »Was hat Sie von dieser köstlichen Betätigung weggelockt?«, fragte Avan. Ketinar lachte. »Ich finde sie wirklich nicht köstlich, nach den ersten beiden Tagen ist es so aufregend wie das Brombeerpflücken. Wir sind in die Stadt gekommen, weil Rimalin hier geschäftlich zu tun hatte. Das betrifft auch Sie.« Sie wollte ihn offensichtlich danach befragen, aber er ging nicht darauf ein. »Wie ich sehe, bin ich der Erste, der eingetroffen ist«, sagte Avan und blickte sich in dem leeren Raum um, der für gewöhnlich bei allen Empfängen überfüllt war. »Sie sind heute Abend unser einziger Gast«, sagte Ketinar. »Wenn Rimalin endlich nach oben kommt, können wir essen. Wir haben herrlich frisches Wild, das wir vom Land mitgebracht haben. Denken Sie daran, es zu bewundern, denn Rimalin hat es selbst gefangen.« Rimalin gesellte sich schließlich zu ihnen und das Wild wurde gegessen und gebührlich gelobt. Nach dem Essen schlug Rimalin statt der üblichen Reinigungsprozedur vor, dass Avan ihnen im Badehaus Gesellschaft leistete. »Ich wusste gar nicht, dass Sie Ihr eigenes Badehaus haben«, sagte Avan. »Ich wäre entzückt.« »Es ist nur groß genug für Drei, darum laden wir für gewöhnlich niemanden dorthin ein«, sagte Ketinar. Sie führte die kleine Gruppe in den privaten Teil des Hauses. Ein mit einer Lanze bewaffneter Diener versperrte den Weg nach unten, aber er trat mit einem Lächeln beiseite, als Ketinar ihn zur Seite winkte. Der untere Teil der Höhle war prächtig mit Marmorstatuen und Verzierungen in Gold und
92 Silber ausstaffiert.' Das Wasser in dem großen Bad dampfte etwas und war leicht mit Zedernöl und Salbei versetzt. »Was für ein herrlicher Duft«, sagte Avan und fragte sich, was er wohl gekostet hatte. Er hätte Sebeth gefallen. Falls er ihr etwas davon kaufen konnte, würde es vielleicht das Leuchten in ihre Augen zurückbringen. »Das ist eine von Ketinars Extravaganzen«, sagte Rimalin liebevoll. Sie nahmen die Hüte ab und glitten ins Wasser. »Es ist sicher eine Schande, in einer solchen Umgebung über Geschäfte zu reden«, sagte Rimalin, nachdem er sich einen Moment dort geaalt hatte.
Avan starrte zur Decke hoch, Marmor, in den im Schuppenmuster Amethyst und Jaspis eingelegt war. Das war eine Pracht, um die er die beiden nur beneiden konnte. »Es ist herrlich hier, aber sprechen Sie nur«, sagte er. Tatsächlich erfüllte ihn mittlerweile eine verzehrende Neugier. »Der Vornehme Telstie liegt im Sterben«, sagte Rimalin. Avan hob überrascht den Kopf. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. »O ja, er ist eigentlich gar nicht so alt, nicht für einen Vornehmen, aber seine Flammen kamen früh und verzehren ihn. Man rechnet nicht damit, dass er es bis zum Sommer schafft. Er hat keine überlebenden Kinder. Man erwartet, dass sein älterer Neffe der Erbe sein wird, aber wie ich gehört habe, sind sie zerstritten. Sein jüngerer Neffe kann es nicht werden, denn er ist Pfarrer. Der ältere Neffe wird den Titel nicht halten können, es sei denn, das Testament ist eindeutig. Er ist jung. Sie wissen, wie das mit Vornehmen ist. Der Vater ist auch Pfarrer. Der Neffe ist nicht so erzogen worden, wie es der Erbe eines Vornehmen sein sollte - der alte Telstie hatte ihn nie dafür ausersehen, denn er hatte genug Kinder, aber sie sind alle auf die eine oder andere Weise gestorben. Aber da ist noch diese Nichte - die wir neulich bei Hathor gesehen haben. Das hübsche Ding, erinnern Sie sich? Sie hat einen genauso großen Anspruch auf die Telstiegüter wie ihre Brüder, oder hätte ihn zumin
93 dest, wäre sie mit einem aufstrebenden Drachen wie Ihnen verheiratet.« »Aber warum sollte sie mich heiraten wollen?«, fragte Avan. Er war völlig verwirrt durch die Wendung, die die Unterhaltung genommen hatte. »Ich kann mir keine Heirat leisten. Und ich müsste gegen ihren Bruder kämpfen.« »Er ist nicht länger als Sie«, warf Ketinar ein. »Und wären Sie mit Gelener Telstie verheiratet und der Vornehme mit Ihnen einverstanden, würde Ihr Bruder Sie vermutlich nicht einmal herausfordern.« »Sie besitzt siebzigtausend Kronen, selbst wenn die andere Angelegenheit nicht zustande kommt«, sagte Rimalin. Eingelullt vom warmen Wasser und den angenehmen Düften hätte Avan beinahe angefangen, darüber nachzudenken. Vornehmer zu sein war wie ein Stück aus einem Traum. Sein Vater war auf dem Gut der Telsties zur Welt gekommen und soweit er wusste, handelte es sich um ein großes Gut, auf dem er so schnell wachsen würde, dass er seine Position hätte verteidigen können. Dann erinnerte er sich an Kests beleidigenden Namen für Sebeth, »Kleine Vornehme«, und das war wie ein Guss kalten Wassers. Ein Traum, in der Tat, aber keiner, der sich erfüllen würde, und um ihn zu erreichen, würde er eine Fremde heiraten und Sebeth aufgeben müssen. Er hätte sie aufgegeben, um jemanden zu retten, der ihm nahe stand, Haner oder Selendra, aber nicht für ein solch fantastisches Vorhaben. »Ich kenne die Dame doch nicht einmal«, protestierte er. »Sie würde mich sicher keinen Augenblick lang in Betracht ziehen.« »Wir könnten Sie einander vorstellen«, sagte Ketinar. »Wir haben schon immer nur das Beste für Sie gewollt, Avan. Wir könnten auch mit ihrem Vater und ihrer Mutter sprechen und ihnen sagen, wie sehr wir Sie schätzen und wie passend Sie doch wären.« »Wo ist der Haken?«, fragte Avan offen heraus. »Jemand muss sie heiraten, und jemand muss der Vorneh
93 me Telstie werden. Warum nicht einer unserer Freunde?«, fragte Rimalin. »Und was wollen Sie als Gegenleistung?«, fragte Avan. »Ihren politischen Einfluss, wenn Sie der Vornehme sind und im Adelsrat in der Kuppel sitzen. Das ist nicht zu viel verlangt, wenn man bedenkt, dass wir in den meisten Dingen übereinstimmen. Davon abgesehen, biete ich Ihnen an, einen Teil Ihres Geldes zu verwalten. Sie wissen, wie gut ich meines verwalte. Es gibt Geschäfte, die viel Kapital brauchen, aber einen gewaltigen Gewinn abwerfen. Wir könnten einander helfen. Doch das braucht seine Zeit. Momentan gäbe es da eine kleine Sache, die Sie für mich tun könnten. Und eine Sache, die wir für Sie tun könnten: Da die Jungfrau in Kürze nach Irieth zurückkehren wird, würden wir im Gegenzug sobald wie möglich eine Vorstellung arrangieren.« Rimalin war ganz im Wasser versunken, nur seine Augen und seine Nasenlöcher waren zu sehen. »Sie untersuchen doch gerade Besitzrechte in Skamble, nicht wahr?«
»Ich ...«, fing Avan an und wartete dann. »Nun, für mich und meine Freunde könnte es ganz nützlich sein, wenn wir wüssten, wie Sie sich entscheiden. Wenn das ganze Gebiet abgerissen wird, was doch am wahrscheinlichsten ist, wird man mit Abbruch und Neubauten ein Vermögen machen können. Im Augenblick ist das ein Armenviertel, aber wenn man es neu einstufen würde und dort Lagerhäuser baute, könnte es zu einer Goldader werden. Ich würde Ihnen raten, Ihr Erbe dort zu investieren, wenn Sie wollen, dass es dem Vermögen gleichkommt, das Gelener Ihnen mitbringt.« Avan fehlten die Worte. »Ist es vertraulich?«, hatte er Liralen gefragt, und der alte Drache hatte geantwortet »Mehr oder weniger«. In seiner ersten Woche im Ministerium hatten vier Drachen versucht, ihn ganz offen zu bestechen. Seine Verachtung für sie war gering gewesen im Vergleich zu seiner Verachtung für jene Drachen, die eine solche Beste
94 chung annahmen. Die Arbeit der Regierungsbehörden wurde von Drachen ausgeübt, die so etwas nicht taten. Selbst Kest, den Avan verabscheute, würde nicht mal einen Augenblick lang in Betracht ziehen, eine Bestechung anzunehmen, das wusste er genau. Die Gesprächspause zog sich immer länger hin. Er konnte nicht einfach gehen, er lag in heißem Wasser und war Rima-lins Gast. Da stand sogar ein Wächter mit einer Lanze, der ihn daran hindern konnte, das Haus zu verlassen. Und war es denn wirklich eine Bestechung? Sie hatten ihm viel angeboten, aber letztlich lief es darauf hinaus, einer Jungfrau mit Aussichten vorgestellt zu werden, mehr nicht. Außerdem hatte Rimalin ihn nicht gebeten, seine Entscheidung zu ändern, sondern ihn lediglich wissen zu lassen, wie er sich entscheiden würde. Avan hatte noch keine Entscheidung getroffen, aber es erschien bereits mehr als wahrscheinlich, dass es die Entscheidung sein würde, die Rimalin erwartete, das Armenviertel abzureißen und dort Lagerhäuser zu bauen für Fabriken. Fluss und Bahn lagen in günstiger Nähe. Es war allein Sebeths Empörung über das Los der arbeitenden Drachen, die Skamble zu ihrer Heimat gemacht hatten, die ihn hatte zögern und über ordentlich errichtete aber erschwingliche Wohnsiedlungen als Teil seiner Pläne hätte nachdenken lassen. Das alles hätte er Rimalin erzählen und das Angebot mit dem herzustellenden Kontakt und die sich dadurch bietenden Chancen annehmen können, ohne etwas dabei zu verlieren. Sebeth war nicht die Seine und würde es auch nie sein. Als reicher Vornehmer könnte er ihr ein kleines Vermögen zukommen lassen, und sie hätte in eine andere Stadt ziehen und sich als Witwe ausgeben können. Er öffnete den Mund und stand kurz davor, Rimalin alles zu erzählen, was er über Skamble wusste. Da musste er wieder an Liralen denken und an seinen ersten Tag im Ministerium für die Planung und Verschönerung von Irieth, an den
94 Augenblick, nachdem er seinen Diensteid geleistet hatte. »Wenn Sie jemals eine Bestechung annehmen, glauben Sie nur nicht, dass es damit zu Ende ist. Selbst wenn es nie jemand herausfindet, was nicht sehr wahrscheinlich ist, die Person, die Sie bestochen hat, weiß es und wird Sie erpressen können, um noch mehr zu bekommen. Und Sie werden es wissen, und Sie werden jeden Morgen auf Ihrer Bestechung aufwachen und mit dem Wissen leben müssen, wie Sie sie bekommen haben.« »Ich kann Ihnen das nicht sagen«, sagte Avan, und seine Zähne knirschten, als er sprach. »Ich habe einen Eid geschworen, dass ich so etwas nicht tue. Außerdem verspüre ich kein Verlangen, aus Karrieregründen eine Fremde zu heiraten.« »Aber das ist genau das, was Sie tun müssen«, sagte Ketinar. »In Ihrer Position können Sie sich diese Art Skrupel nicht leisten.« »Skrupel sind etwas für Pfarrer, denn sie sind Unberührbare«, knurrte Rimalin. Avan erhob sich tropfend aus dem Bad. Zu seiner Erleichterung winkte Ketinar einen Diener herbei, um seine Schuppen zu trocknen. »Ich glaube, ich sollte lieber gehen.« Ketinar begleitete ihn zur Tür. Rimalin blieb im Wasser. »Wie schade«, sagte sie, nachdem sie sich von ihm verabschiedet hatte. »Ich vermute, da gibt es irgendeine Jungfrau, in die Sie sich verliebt haben, und
auch wenn das Männern im Gegensatz zu uns nicht anzusehen ist, bringt es manchmal ebenso einschneidende Änderungen mit sich.« Avan war dankbar, dass sie es so gelassen aufnahm. Trotzdem wurde ihm auf dem Heimflug klar, dass von den Rima-lins keine weiteren Einladungen mehr zu erwarten waren.
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3 8 . Daverak konsultiert seinen Anwalt Der Erlauchte Daverak war außerhalb der Saison nur selten und eher zufällig nach Irieth gereist, aber er war nie zuvor gezwungen gewesen, dort gleich mehrere Tage zu verbringen. Jetzt musste er an einem kühlen Frühwintermorgen, der ausgezeichnet für die Jagd gewesen wäre, seinen Schwanz verknoten, während er in einem überheizten Anwaltsbüro wartete und sich dann mit ärgerlichen Einzelheiten auseinander setzen. Die Angelegenheit mit der Klage war lästiger und zeitraubender, als er sich vorgestellt hatte. Mustan, sein Anwalt, hielt es für möglich sie niederzuschlagen, aber nicht so mühelos, wie Daverak es gehofft hatte. Anscheinend würde es erforderlich sein, vor Gericht zu gehen und ein Urteil zu erwirken. Der Anwalt schrieb unverzüglich an alle Kinder Bons und verlangte Aussagen und Beweise. »Das ist nicht so eindeutig, wie Sie vielleicht glauben«, sagte Mustan und schob seine Brille näher an die Augen, während er seine Notizen las. Er war ein junger Drache, kaum sechs Meter lang, aber in aufstrebender Position. Daverak war früher von der altehrwürdigen Kanzlei Talerin und Fidrak vertreten worden, genau wie vor ihm sein Vater und sein Großvater. Er hatte Mustan vor ein paar Jahren während der Saison auf einem Fest kennen gelernt, und seine Energie und Weltsicht hatten ihn für ihn eingenommen. Im Verlauf der nächsten Jahre hatte er ihm nach und nach seine sämtlichen Geschäfte anvertraut, zuerst seine Investitionen und danach fast alles andere auch, bis Talerin und Fidrak nicht mehr als nur noch die Routinetätigkeiten für die Verwaltung von Gut Daverak durchführten. Daverak arbeitete noch keine dreißig Jahre mit Mustan zusammen, aber mittlerweile vertraute er ihm bedingungslos. Selbst jetzt hatte er nicht den geringsten Zweifel an Mustans Kompetenz, und auch nicht an dessen Ehrlichkeit. Aber als Mustan ihn gewissenhaft über die Angelegenheit befragte, verspürte er zum
95 ersten Mal ein wenig Unsicherheit über die Fähigkeiten seines Anwalts. Er war nicht davon überzeugt, dass Mustan die Dinge genauso sah, wie er es tat. Er fragte sich, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, sich in einer solch heiklen Familiensache an eine alteingesessene Kanzlei wie Talerin und Fidrak gewendet zu haben. Und doch hatte er Mustan sogar die Abwicklung des Ehevertrages anvertraut und nicht einmal mit der Kralle gezuckt. »Der Fall wäre eindeutiger, wäre der Pfarrer am Totenbett nicht sein Sohn gewesen«, sagte Mustan und schaute auf. »Da war noch ein anderer Pfarrer anwesend, ein gewisser Freld oder Freit. Meine Frau wird den Namen wissen, sie kennt ihn. Er hat den Fall entschieden.« Als Daverak die Sache in allen Einzelheiten geschildert hatte, seufzte Mustan und warf noch ein paar Kohlen aufs Feuer, obwohl Daverak den kleinen Raum bereits unerträglich heiß und beklemmend fand. »Das wird uns helfen zu untermauern, dass Sie das Recht auf Ihrer Seite hatten. Wenn Freld oder wie auch immer er heißt vor Gericht erscheint, wird uns das weiterbringen. Sprechen Sie mit ihm, wenn Sie dazu Gelegenheit haben, laden Sie ihn vielleicht zum Abendessen ein, wenn das nicht zu lästig ist. Wir brauchen seinen guten Willen.« »Ich werde mit ihm sprechen«, sagte Daverak, obwohl er Freit als sozial Tiefergestellten betrachtete. »Aber er ist als Zeuge nützlich, nicht als Pfarrer. Der Pfarrer, der bei Bon war, ist der Einzige, der helfen kann, seine Absichten darzustellen, und das ist Penn, und nach dem zu urteilen, was Sie sagen, wird er gegen Sie aussagen.«
»Er hat damals so gut wie zugegeben, dass Bon es nicht erwähnt hat. Und er wird jetzt nicht davon abweichen, wenn er weiß, was gut für ihn ist«, sagte Daverak und ließ eine kleine Flamme aus dem Rachen züngeln. »Er ist ein Pfarrer und unberührbar«, sagte Mustan und sah leicht schockiert aus.
96 »Ich habe nichts Ungebührliches gemeint«, erwiderte Daverak. »Nur dass er weiß, dass seine Aufstiegsmöglichkeiten vom Einfluss der Familie abhängen.« »Ich dachte, sie wären eher von seinen ...« Mustan schaute auf seine Aufzeichnungen. »Von dieser Familie Benandi abhängig, mit der er sich verbunden hat?« »Es dürfte ihnen nicht gefallen, wenn er sich gegen seine eigene Familie wendet«, sagte Daverak gereizt über diese Spitzfindigkeiten. »Nun, was auch immer er aussagt, ich sorge dafür, dass wir vor Gericht einen erfahrenen Verteidiger dabei haben, der ihn genau befragt. Ich denke daran, den Ehrwürdigen Jamaney damit zu beauftragen.« Daverak sah ihn verständnislos an und Mustan seufzte. »Der Ehrwürdige Jamaney ist einer der besten Verteidiger von ganz Irieth«, erklärte er. »Er kann fünfundzwanzig Meter lange Glorreiche zum Weinen bringen, als wären sie Drachenkinder, und stolze Erhabene dazu bringen, dass sie ihre Fehler eingestehen. Er ist teuer, aber mit ihm auf unserer Seite haben wir eine viel bessere Chance auf einen Sieg.« »Aber wir werden doch sicherlich nicht zu solchen Taktiken greifen müssen«, meinte Daverak angewidert. »Wir haben einen eindeutigen Fall. In seinem Testament ist von seinem Vermögen die Rede, nicht von seinem Leichnam. Sie sind völlig überflüssig.« »Das hängt ganz davon ab, wie es die Geschworenen sehen«, sagte Mustan, setzte sich zurück und legte beide Klauen auf den Bauch. »In diesem Fall nicht die Richter, sondern die Geschworenen. Die Frage ist hier, welche Absichten der alte Bon hatte. Wie Sie die Sache sehen, spielt nicht die geringste Rolle, wenn die Gegenpartei beweisen kann, dass Bon die Sache so sah, wie es seine Söhne anscheinend tun, verstehen Sie nicht? Bon war ein Ehrwürdiger, er verfügte über Landbesitz und er war Ihr Schwiegervater, aber
96 er scheint ein sehr gewöhnlicher alter Knabe gewesen zu sein. Wenn man aufzeigen kann, dass er Vermögen auf ausgesprochen gewöhnliche Weise meinte, seinen Leichnam eingeschlossen, könnte die Entscheidung gegen Sie ausfallen.« »Das ist absurd«, sagte Daverak, schon zur Hälfte entschieden, diese Angelegenheit der alten, etablierten Kanzlei zu übertragen. »Absurd oder nicht, das ist es, was wir vermeiden müssen. Die Familieneinheit zu zerstören wird helfen. Wenn Ihre Frau und deren Schwester, die Ihr Mündel ist...« Er griff wieder zu seinen Notizen. »Haner«, sagte Daverak. »Die Hochgeschätzte Haner Agornin. Sie wird vernünftig sein.« »Ja, Gut. Wenn die beiden und vor allem die andere Schwester, die, die auf Benandi lebt, in Ihrem Sinn aussagen, dann hat Avan keine große Chance. Aber wenn alle Kinder darin übereinstimmen, dass das Bons Absicht war, dann weiß ich nicht. Unter Drachen herrscht für gewöhnlich die Ansicht, dass die Leichen ihrer Eltern das eine Stück Drachenfleisch ist, das ihnen von Natur aus zusteht, dass genau das sie von der Dienerklasse unterscheidet, die niemals so etwas zu fressen bekommt und in ihrem ganzen Leben nie länger als zwei Meter werden wird. Bei einem Gerichtsverfahren in Daverak wäre das kein Problem, die Geschworenen würden sich aus Ihren Bauern zusammensetzen. Aber die Klage wurde hier in Irieth eingereicht, also wird es ganz sicher ein Problem werden. Die Geschworenen werden aus den freien Bürgern der Stadt erwählt. Betrachtet man die freien Bürger dieser Stadt, bedeutet das, dass Sie es vermutlich mit Büroangestellten zu tun haben werden, aber es wäre ein Wunder, wenn auch ein Hochgeschätzter darunter wäre. Die Mehrzahl der Sieben wird sich aus einfachen Arbeitern zusammensetzen. Sie werden schon aus Prinzip gegen Sie sein.«
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Daverak rutschte ein Stück zurück und wäre beinahe mit den Schultern gegen die Wand geprallt. Er hasste das enge Büro, in dem er zusammengewunden sitzen musste, hasste das Gesetz, das so wenig Rücksicht auf die Gefühle eines Erlauchten nahm, hasste Mustan dafür, dass er so viel mehr über die Angelegenheit wusste als er selbst. Und er hasste Avan, weil er für diesen ganzen Arger verantwortlich war. »Dann ziehen Sie den Ehrwürdigen Jamaney hinzu«, sagte er. »Tun Sie, was Sie für richtig halten. Ich lasse Ihnen freie Klaue. Sparen Sie nicht. Avan muss eine absolute Niederlage erleben, er muss lernen, dass er nicht so mit dem Erlauchten Daverak umspringen kann.« Mustan wusste, dass Verletzungen des Stolzes genauso schmerzten wie alle anderen Schläge, also machte er sich nur eine weitere Notiz. »Ich werde mit dem Gesegneten Penn Agornin sprechen müssen«, sagte er. »Ich bitte ihn, mir einen Besuch abzustatten. Ich werde auch mit Avans Anwalt Hathor sprechen. Vielleicht kann ich herausfinden, was er wirklich will.« »Tun Sie das«, sagte Daverak, dem die stickige Luft in dem Büro beinahe die Sinne raubte. »Sind Sie noch ein paar Tage in der Stadt? Ich möchte gern noch einmal mit Ihnen sprechen, wenn ich mehr Informationen habe.« »Nein, ich muss zurück nach Daverak«, sagte der Erlauchte. Er konnte die Stadt nicht länger ertragen. »Meine Frau ist in anderen Umständen.« »Dann schreibe ich Ihnen«, sagte Mustan, stand auf und öffnete die Tür. »Ich lasse Sie den Termin für die Anhörung wissen, sobald er feststeht. Vermutlich wird es zwei Anhörungen geben, im Abstand weniger Wochen.« »Und ich will, dass Sie Klage gegen Avan einreichen«, sagte Daverak. »Weswegen?«, fragte Mustan und nahm die Brille ab. »Wegen Belästigung. Meine Frau zu bedrängen, obwohl
97 sie in anderen Umständen ist. Mich absichtlich zu verärgern.« »Es ist besser, zuerst diesen Fall zu gewinnen und danach eine solche Klage einzureichen«, sagte Mustan. »Davon abgesehen, wenn er den Fall verliert, wird er alles verlieren, was er hat, da ist eine Gegenklage überflüssig. Wir werden unsere Kosten geltend machen können, und sie werden aller Vorrausicht nach sehr hoch sein. Er wird vermutlich auch seinen Posten im Ministerium verlieren - was war das noch einmal, das Landministerium? Das Planungsministerium? Dort hat man für solche Skandale nichts übrig. Auf jeden Fall wird er auf der Straße landen, da lohnt es sich nicht, ihn nochmals vor Gericht zu bringen.« »Gut«, sagte Daverak. »Dann belassen wir es für den Augenblick dabei. Aber erledigen Sie alles andere, und schreiben Sie mir, wie es vorangeht. Ich komme nach Irieth, wenn es sein muss.« »Vermutlich wird das vor dem Gerichtstermin nicht nötig sein«, sagte Mustan und nickte Daverak zu, als er sich durch die Tür quetschte. Als sein Klient gegangen war, setzte sich Mustan vor seine Papiere und schüttelte den Kopf. »Es kann keiner sagen, wie das ausgeht«, murmelte er. Draußen auf der Straße konnte Daverak wieder freier atmen. Mustans Kanzlei befand sich im vornehmen Torisviertel, nicht weit von Avans Arbeitsstelle entfernt, was er aber nicht wusste. Er schlenderte die Promenade entlang, zu seinem Klub. Er würde Bescheid sagen, dass er abreiste, und am Abend aufbrechen. Noch einmal dachte er darüber nach, wieder zu Talerin und Fidrak zu gehen. Er war nicht davon überzeugt, dass Mustan ihn wahrhaft gut vertreten würde. Er hatte dem Anwalt seine Geschäfte übertragen, weil sie immer darin übereingestimmt hatten, wie die Dinge erledigt werden sollten. Jetzt, da es wirklich darauf ankam, schien Mustan nicht den Eindruck zu haben, dass Avan etwas so Schreckliches getan hatte, um ihn vor
97 Gericht zu bringen. Aber er hatte die Angelegenheit in Mustans Klauen gelegt, und es könnte sich als schwierig erweisen, sie ihm wieder abzunehmen, sollte der Anwalt nicht damit einverstanden sein. Auf jeden Fall würde es viel Zeit kosten und er konnte davon ausgehen, dass er die ganze verfluchte Sache erneut erklären musste. Nein, er würde Mustan weitermachen lassen. Er würde in seinem Club allein ein
stärkendes Abendessen zu sich nehmen - keiner seiner Freunde würde zu dieser Zeit in Irieth sein -, die Nacht dort bequem verbringen und am Morgen die Stadt so schnell verlassen, wie ihn seine Schwingen zu tragen vermochten.
39. Ein zweiter Antrag Während Daveraks Abwesenheit hatte Berend weiterhin Gäste empfangen, womöglich mit größerer Ausgelassenheit, als ihr Herr für gut befunden hätte. Haners Mahnungen, ihre Energien für ihr Gelege aufzusparen, wurden abgelehnt oder sogar verächtlich abgetan. Das war Berends zweites Gelege, sie war der Ansicht, nun alles Nötige darüber zu wissen. Sie hatte zwei Eier produziert, die in ihrer ganzen Pracht in Schaffelle eingehüllt in dem goldumrandeten Gelegekorb lagen. Allerdings war sie noch immer in anderen Umständen, da sie noch ein drittes Ei erwartete. Seit Lameraks Verlust prahlte sie nicht mehr mit ihrer Fähigkeit, Gelege mit drei Eiern produzieren zu können, und tatsächlich gestand sie Haner eines Abends, dass sie froh gewesen wäre, wenn es diesmal nur zwei gewesen wären. Eines Abends kam Haner vor dem Essen in den Salon und fand Berend in eine angeregte Unterhaltung mit dem Ehrwürdigen Londaver vertieft. Seine Eltern waren ebenfalls anwesend sowie ein paar der Nachbarn. Viele von denen, die Berend besonders mochte, waren nicht da, jagten in abgele
98 genen Gegenden". Als Haner die schon in die Jahre gekommenen Eltern Londavers begrüßte, kam sie nicht umhin zu bemerken, dass Berend und der junge Londaver sie immer wieder ansahen. Nach dem Abendessen und dem anschließenden Säubern machte der Ehrwürdige Londaver Haner den Vorschlag, draußen die Sterne zu betrachten, da es eine schöne Nacht war. Die älteren Gäste lächelten bei dem Gedanken und über den, wie Haner vermutete, vorhersehbaren Ausgang des Spaziergangs. Im Augenblick konnte sie nicht sagen, was sie fühlte. Einst hatte sie Londavers Interesse aufregend gefunden, aber da es verschwunden war, konnte sie die gleiche Aufregung nicht wieder verspüren. Trotzdem folgte sie ihm auf den obersten Sims und öffnete sich dem Winterhimmel, der prächtig war. Die Sterne hingen glitzernd und strahlend am dunklen Firmament wie funkelnde Edelsteine. Haner suchte nach vertrauten Sternbildern. Das Große Rind stieg auf, das Kleine Kalb direkt hinter ihm. Die Winterprinzessin hielt segnend die Hand über sie. »Sind sie nicht großartig?«, fragte Londaver. »O ja«, stimmte Haner zu. »Und wenn man sich vorstellt, dass unsere Ahnen sie genauso sahen und all diese Gestalten darin erkannten. Ich habe darüber nachgedacht, nachdem Sie mir das sagten, damals, erinnern Sie sich noch, als Sie hier zu Besuch waren?« Londaver erweckte den Eindruck, als hätte er sie seit ihrem Besuch auf Daverak, bei dem sie getanzt und sich die Sterne angesehen hatten, nicht mehr gesehen, als hätte der höfliche aber nichts sagende Kontakt, den sie in den letzten Monaten miteinander hatten, nicht stattgefunden. Haner verspürte keine Romantik, sie verspürte Wut. »Und was führt Sie heute Nacht nach draußen, unter die Sterne, Ehrwürdiger?«, fragte sie so kalt, wie sie konnte. »Die Schönheit Ihrer Augen übertrifft sie«, sagte er unbeholfen.
98 Haner wollte ihn beißen. »Finden Sie das nicht albern, da Sie mich doch die ganze Zeit ignoriert haben?« »Ich habe Sie ignoriert?« Er war verwirrt. »Das stimmt nicht. Ich habe Sie immer gemocht.« »Ich habe Sie mehr respektiert, als Sie die Wahrheit gesagt haben«, sagte Haner. »Ich glaube, ich kehre jetzt in den Salon zurück, es ist kühl hier.« »Sie sehen das zu einseitig«, sagte Londaver. »Aufrichtig, ich habe Sie immer gemocht. Aber Sie wissen, dass ich ein armer Drache bin, von dem lebe, was meine Eltern mir geben, und sie sind nicht reich. Ich könnte mir keine Heirat leisten, wenn es keine kleine Mitgift gäbe, damit alles einfacher wäre. Nach dem Tod Ihres Vaters habe ich mich von Ihnen zurückgezogen, weil ich Ihnen kein Versprechen gegeben hatte, und ich wollte keines machen, das ich nicht halten konnte. Ich habe versucht, Sie zu vergessen, aber es ist mir nie gelungen. Jetzt sagte mir Berend, dass sich die Dinge geändert haben. Sie sagte, dass Daverak Sie wie eine Tochter behandeln wird und etwas Gold zu dem beisteuern wird, das Ihr Vater
Ihnen hinterlassen hat, damit es ebenso viel würde, wie sie hatte. Das ist ungewöhnlich großzügig von Daverak und es bedeutet, dass ich wieder auf Sie hoffen darf.« Er war ein Ehrwürdiger und er würde zum Erlauchten werden. Selendra hatte ihr ihre Zustimmung zu ihm gegeben. Wenn sie ihn heiratete, würde sie von Daverak und den schrecklichen Unsitten fortkommen, die man dort guthieß. Und doch schlug ihr Herz nicht schneller, stockte ihr nicht der Atem und obwohl er einen Schritt näher kam, fühlte sie keineswegs den rosa Rausch in ihren Schuppen, so wie es den Jungfrauen in den Geschichten immer erging. »Wie behandeln Sie Ihre Diener?«, fragte sie abrupt. Londaver blieb stehen, wo er war, runzelte die Stirn. »Meine Diener?«, fragte er. »Wie meinen Sie das? Ich binde ihre Flügel und sorge dafür, dass sie wissen, wann ich mein Abendessen haben will, das ist so ziemlich alles.«
99 »Und was passiert, wenn sie alt werden?« »Oh, für gewöhnlich binden wir ihre Schwingen los und lassen sie auf Höfen in der Gegend leben«, sagte Londaver und ihm war die Erleichterung deutlich anzuhören, eine Frage gestellt zu bekommen, die er verstand. »Für gewöhnlich kümmert sich Mutter darum. Manchmal schickt sie ihnen Rinder und Eingemachtes.« »So haben wir es in Agornin auch gehalten«, sagte Haner. »Hier haben alle Diener Angst. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die ganze Einrichtung falsch ist. Kein Drache sollte seine Schwingen nicht benutzen können.« »Und Pfarrer?«, hielt Londaver schnell dagegen. »Das ist eine freie Entscheidung«, sagte Haner. »Das ist etwas anderes. Es scheint einfach falsch zu sein.« »Sind Sie eine Freidenkerin?« Londaver war entsetzt. »Eine Radikale?« »Ich weiß es nicht, welche Ansichten vertreten die denn?« »Nun, dass die Diener befreit werden sollten, dass die Religion auf den Ersten Tag beschränkt und die Alte Religion toleriert werden sollte, dass jeder vor dem Gesetz gleich sein sollte, eben solche Dinge.« »Vielleicht bin ich das ja«, sagte Haner nachdenklich, über sich selbst überrascht. »Das sollten Sie lieber für sich behalten«, riet Londaver ihr. »Machen Sie mir noch immer einen Antrag?«, fragte Haner. »Ja, sicher, warum sollte das etwas ändern?«, fragte Londaver und klang aufrichtig verblüfft. »Sie werden doch nicht alle Diener auf Londaver losbinden oder dergleichen, nicht wahr?« »Nicht sofort«, sagte Haner. Sie war nicht sicher, ob seine Nachsicht über ihre Ansichten, als wären sie eine Exzentrizität, das war, was sie wollte, aber es war auch nicht das Schlechteste. Sie erschauderte bei dem Gedanken, wie Dave
99 rak auf ihre Erklärung, Freidenkerin zu sein, reagieren würde. Oder was ihr Vater gesagt hätte. »Würden Sie denn dann zu mir kommen und mich umarmen?«, fragte Londaver unsicher. Haner zögerte. Wenn sie das tat, würde sie erröten und dann wäre sie versprochen. »Finden Sie nicht, Sie sollten erst mit dem Erlauchten Daverak über die Mitgift sprechen?«, fragte sie. »Bevor Sie sich festlegen?« »Sie sind so praktisch, Haner«, sagte Londaver. »So praktisch und so hübsch auf diese zarte Weise. Von all den Jungfrauen, die ich kennen gelernt habe, mag ich Sie am liebsten. Glauben Sie, Daverak würde versuchen, uns zu hintergehen? Ich schätze, ich bin in einer besseren Position, um mit ihm zu verhandeln, wenn Sie nicht wie eine Braut aussehen. Also gut, belassen wir es bei einer mündlichen Absprache, bis ich mit Daverak gesprochen habe. Aber ich gehe davon aus, dass wir heiraten werden, ganz egal, welche Farbe Ihre Schuppen aufweisen, und ich freue mich darauf, sie rosa zu sehen und dann immer roter.«
Er war kein Drache aus den Legenden, mutig, wild und entschlossen. Aber er war rücksichtsvoll und konnte ihr ein Zuhause bieten, in dem auch Selendra leben konnte. »Ich heirate Sie, sobald Sie möchten, nachdem Sie das mit der Mitgift geklärt haben«, sagte sie und dachte daran, Selendra sofort zu schreiben.
40. Ein zweites Totenbett Bei ihrer Rückkehr fanden sie den Haushalt in heller Aufregung vor. »Der Erlauchten Daverak geht es nicht gut«, sagte Londavers Mutter sanft zu Haner. »Wir gehen jetzt, ich habe nur darauf gewartet, dass Sie wieder hereinkommen. Sie werden jetzt bei Ihrer Schwester sein wollen, liebe Haner.« Sie lächelte Haner auf eine Weise an, die verriet, dass sie ahnte,
100 was unter den Sternen geschehen war. Haner war so verängstigt, dass sie es beinahe nicht bemerkt hätte. »Wie ernst ist es?«, fragte sie die alte Drachenfrau. »Soll ich nach einem Arzt schicken?« »Das ist bereits geschehen. Mein Mann holt ihn. Ich an Ihrer Stelle würde sofort zu Ihrer Schwester gehen, so können Sie Ihr am besten helfen.« Ohne sich bei ihrem neuen Verlobten zu verabschieden eilte Haner in Berends Schlafhöhle, nur um sie leer vorzufinden. Sie hielt eine vorbeieilende Dienerin an und fragte sie, wo Berend war. »Im Gelegezimmer, Geschätzte«, sagte die Dienerin und eilte mit gesenktem Kopf weiter. Haner ging mit schwerem Herzen zum Gelegezimmer. Sie hörte es, bevor sie sie sah. Berend stöhnte schrecklich, hielt die Luft an und stöhnte erneut. Haner eilte hinein. Berend wand sich um ihre sicher zur Welt gebrachten Eier. Sie war eher grün als rot, ein paar ihrer Schuppen fielen ab. Neben den perlmuttartig schimmernden Schalen der Eier sah sie aus wie verdorbenes Fleisch. Sie schaute auf, als Haner eintrat, und Haner sah, dass ihre Augen wild umherwirbelten. »Londaver holt einen Arzt«, sagte sie und verlor mitten im Satzjegliche Zuversicht. »Ein Pfarrer wäre besser«, sagte Berend zwischen zwei Stöhnen. »Das Ei ist zerbrochen, ich kann es fühlen. Es bringt mich um, genauso ist Mutter gestorben. Du warst noch ein Ei, aber ich erinnere mich daran.« »Der Arzt könnte vielleicht helfen«, sagte Haner ohne große Hoffnung. »Ich wünschte, Amer wäre hier. Sie wüsste, was zu tun ist.« »Daverak hätte sie mittlerweile gefressen, weil sie alt und langsam und hässlich ist«, sagte Berend, warf den Kopf zurück und stöhnte. Haner wusste darauf keine Antwort.
100 »Und zum schlechtesten Zeitpunkt«, fuhr Berend beinahe im Plauderton fort. »Ich habe keine Ahnung, was Daverak jetzt tun wird, aber es wird nichts Gutes sein. Ich hatte die Hoffnung, dass du den jungen Londaver sicher einfangen würdest, aber wie ich sehe, ist das nicht so.« »Keine Sorge, wir werden heiraten«, sagte Haner beruhigend. »Warum bist du dann nicht rosa?«, fragte Berend. »Nein, er wird dir jetzt entgleiten, denn wenn er sich dir nicht wirklich verpflichtet fühlt, wird er dich nicht heiraten, wenn Daverak nicht zu seinen Versprechungen steht.« »Es ist schon gut«, sagte Haner. »Mach dir keine Sorgen.« Berend rollte mit den Augen und stieß wieder ein lautes Stöhnen aus. »Kümmere dich um meine Kinder«, sagte sie. »Um alle vier.« »Ich werde für sie tun, was ich kann«, versprach Haner. »Sie mögen dich«, versicherte Berend ihr. Das wusste Haner bereits. »Ich mag sie auch«, sagte sie kaum verständlich. »Glaubst du, du könntest das Ei drehen?«, fragte Berend abrupt. Sie hechelte. »Es ist zerbrochen, da gibt es keinen Zweifel. Es tut mir weh.« »Ich kann es versuchen, aber ich bin kein Arzt«, sagte Haner. Sie ging um ihre Schwester herum und hob ihren Schwanz an. Beinahe hätte sie ihn wieder fallen lassen. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie
so viel Blut gesehen. Immer mehr sickerte unter dem Schwanz ihrer Schwester hervor. Berends Geschlecht sah gedehnt und zerrissen aus. Haner konnte kein Ei erkennen. Als sie die Hand bewegte, fiel dort, wo sie den Schwanz berührt hatte, eine Schuppe ab. »Solltest du dich nicht woanders hinlegen?«, fragte sie. »Wenn du anfängst dich zu winden, wirst du die beiden Eier zerbrechen.« Berend stemmte sich langsam auf die Füße. »Ich kam her, weil ich glaubte, das Ei zur Welt bringen zu können, und
101 wollte es hier tun." Ich habe im Esszimmer angefangen zu bluten. Es war beinahe komisch. Unsere Gäste wussten nicht, ob sie mir helfen oder mich fressen sollten.« »Oh, Berend«, sagte Haner, hin- und hergerissen zwischen Lachen und Weinen. »Kann ich dir in deine Schlafhöhle helfen?« »Ich glaube nicht, dass du helfen kannst, es sei denn, du kannst die zerbrochenen Eierstücke entfernen.« »Ich kann sie nicht sehen«, gab Haner zu. »Das ist schlimm«, sagte Berend und stöhnte wieder, als sie sich langsam und unter Qualen den Korridor zu ihrer Schlafhöhle entlangschleppte. Bei jeder Bewegung fielen Schuppen zu Boden. Haners Dienerin Lamith traf sie auf halbem Weg. »Der Arzt ist noch nicht da, Geschätzte«, sagte sie zu Haner. »Soll ich nach dem Pfarrer schicken?« »Ja«, sagte Berend. »Schick jemanden, der fliegen kann, denn ich brauche ihn bald.« Von der Tür des Gelegezimmers zog sich eine dicke Blutspur über den Boden des Korridors. »Hier gibt es niemanden mit ungebundenen Schwingen«, sagte Lamith. Sie klang nicht grob, sondern stellte lediglich eine Tatsache fest. »Ich könnte ja fliegen«, schlug Haner zögernd vor. »Oder Londaver kommt vielleicht mit dem Arzt zurück, und dann könnte er den Pfarrer holen.« »Ich weiß nicht, wie viel verfl... Zeit das in Anspruch nehmen wird«, sagte Berend, und die unverblümte Obszönität schockierte ihre Schwester. »Ich glaube, du solltest gehen, Haner. Ich will nicht, dass er zu spät eintrifft.« »Dann lebe wohl, Berend, geliebte Schwester, falls wir uns nicht mehr wiedersehen.« »Komm zurück mit ihm, begleite ihn«, sagte Berend. »Ich will jemanden aus der Familie bei mir haben, während ich sterbe.«
101 »Soll Lamith die Kinder holen?«, fragte Haner. »Um Jurales Willen, nein, hab doch Mitleid mit ihnen«, explodierte Berend. »Ich musste zusehen, wie meine Mutter auf diese Weise starb, warum ihnen das Gleiche antun?« Haner ging zum nächstgelegenen Sims und flog zur Kirche und dem danebenliegenden Pfarrhaus. Die Nacht war noch immer klar und voller wunderschöner Sterne, die Luft war kalt aber sauber und trug den Duft ferner Tannen mit sich. Haner konnte nicht anders als tiefe Erleichterung zu verspüren, draußen zu sein, weit weg von dem Blut und dem Schmerz. Das Pfarrhaus lag im Dunkeln, und sie musste den Pfarrer und seine Frau wecken und erklären, wer sie war und was sie wollte. »Wenn die Erhabene stirbt, ist das ein Notfall, und ich werde fliegen«, verkündete der Pfarrer schließlich und band sich die rote Schnur um die Klaue, damit er seine Schwingen nach der Ankunft auf Daverak wieder binden konnte. Haner fragte sich, ob er auch ans Totenbett eines Bauern gegangen wäre, oder sich vielleicht erst am Morgen auf den Weg gemacht hätte. »Weiß der Erlauchte Bescheid?«, fragte er unterwegs. »Man sollte sofort jemanden zu ihm nach Irieth schicken.« »Es kann keiner fliegen«, sagte Haner und wurde sich erst danach bewusst, wie albern das bei den vielen Bauern auf dem Gut war. »Ich werde jemanden suchen, den man schicken kann.« »Sie wird vielleicht nicht bis zu seiner Rückkehr durchhalten«, warnte der Pfarrer. »Wenn sie in einem solch schlimmen Zustand ist, wie Sie gesagt haben. Irieth ist weit weg. Aber Jurale ist voll Gnade und sie könnte es schaffen.«
Sie landeten auf dem Sims. Mittlerweile war die Nacht weit fortgeschritten. Der Haushalt erschien unnatürlich still. Haner konnte das Blut sofort riechen, obwohl es vom Boden aufgewischt worden war. Der Arzt kam aus Haners Schlafhöhle, als sie eintrafen.
102 »Tot«, sagte er kurz und bündig. »Das ist nicht ihr Zimmer«, sagte Haner. »Das ist meins. Ihres ist ein Stück den Korridor hinauf.« »Vielleicht war es näher für sie«, sagte der Arzt und betrachtete sie stirnrunzelnd. Das wäre es in der Tat gewesen, erkannte Haner, viel näher. Aber sie wollte einfach nicht, dass Berend in ihrem Zimmer sterben musste, auf ihrem Gold und ganz allein. Der Pfarrer ging ohne sie hinein. Er streckte die Klaue aus, um Haner auf der Schwelle aufzuhalten. Sie wartete, innerlich wie erfroren. »Wo ist der Erlauchte Daverak?«, fragte der Arzt. »In Irieth, unterwegs in Geschäften«, erwiderte Haner. »Unerfreulich, dass das in seiner Abwesenheit passieren musste.« »Sie hat sich so in Acht genommen. Sie wollte dieses Gelege. Sie hatte sich so auf das dritte Ei gefreut. Sie hat sich immer gut ernährt.« »Eine schreckliche Sache«, sagte der Arzt. »Am Ende war sie nicht mehr sie selbst.« Haner fragte sich, was Berend ihm wohl gesagt hatte, wagte es aber nicht, ihn zu fragen. Der Pfarrer kam heraus und leckte sich die Lippen. Haner konnte nicht einmal ihrer Trauer freien Lauf lassen, indem sie anfing, ihre Schwester zu fressen, denn sie wusste, dass sie auf Daverak warten musste. Erst in diesem Augenblick erkannte sie, wie allein sie jetzt tatsächlich war. Daverak hatte sie als Berends Schwester aufgenommen. Jetzt, da sie tot war, würde er sie überhaupt hier behalten? Berend hatte behauptet, er würde sie mögen, aber sie hatte auch gesagt, dass er die Mitgift nun nicht mehr aufstocken würde, damit sie Londaver heiraten konnte. Es war sinnlos, Daverak dafür zu tadeln, dass er so arrogant und selbstsüchtig war, oder dass Londaver arm und schwach war, oder dass ihre Hände keine Klauen waren. Jedenfalls wusste sie genau, dass sie jetzt in sei
102 ner Gewalt war! Endlich weinte sie, vor dem Zimmer, in dem Berend lag, und der Pfarrer und der Arzt fanden das ganz normal, denn sie wussten ja nicht, dass ihre Tränen eher ihrer eigenen Person galten als ihrer toten Schwester.
102 DIE LIEBE EINER JUNGFRAU
41. E i n dritter Antrag Wenn wir nun unsere Gedanken und Aufmerksamkeit zwei Wochen und sechzig Flugstunden weiter westlich in die Vergangenheit lenken, so wird der geneigte Leser selbst bei den aufregenden Ereignissen in Irieth und den dramatischen Entwicklungen in Daverak keineswegs vergessen haben, dass wir Selendra, Sher und Penns beide Söhne in der Höhle tief unter den Bergen von Benandi und hinter dem Wasserfall von Calani zurückgelassen haben. Dort gesellen wir uns wieder zu ihnen, in der dumpfen Feuchtigkeit des kühlen Kalksteins, als sie gerade auf das Tageslicht zueilen, das Sher erspäht hat. Tatsächlich legen sie dabei eine solche Eile an den Tag, dass sie in ihrer Hast beinahe in die nächste Grube gestürzt wären. Sher kam in letzter Minute so plötzlich zum Stehen, dass die beiden Kinder, die sich direkt hinter ihm befanden, auf seinen Schwanz traten.
102 Sher schaute in die Grube hinunter. »Das Licht kommt von dort unten«, verkündete er. »Es scheint sich um eine große Höhle zu handeln. Ich glaube, wir müssen dort hinunter.« »Ist es eine gute Idee, immer tiefer hinabzusteigen?«, wollte Selendra nervös wissen.
»Dort scheint der Luftstrom herzukommen«, sagte Sher ausweichend. »Ich gehe als Erster und ich nehme Wontas mit. Dort unten ist es sehr hell, wir können nicht weit von der Außenwelt entfernt sein. Aber es erschwert die Sicht. Wartet hier, bis ich rufe.« Ohne Zögern nahm Sher Wontas und sprang. Selendra nahm den Platz ein, den er freigemacht hatte. Gerin duckte sich neben ihr auf den Boden und schaute über den Rand. Sie erkannte sofort, was Sher mit dem Licht gemeint hatte. Hinter ihm war sie in der vertrauten, gemütlichen Dunkelheit einer jeden Höhle gewesen. Jetzt, da sie sich über die Felsenkante lehnte, war es zu hell, um ohne die Innenlider über die Augen zu schieben sehen zu können, aber das machte es noch dunkler, als es ohne jedes Licht gewesen wäre. Sie wartete, ohne viel sehen zu können, und es kam ihr sehr lange vor. Mit Kalk versetztes Wasser tropfte ihr unangenehm auf den Nacken, bereit, einen Kalksteinzahn auf ihren Schuppen wachsen zu lassen, wenn sie hier noch viel länger wartete. Sie dachte an den zur Hälfte von Kalk verschlungenen Schatz und stellte sich vor, wie die Zähne durch ihre abgefallenen Schuppen und Knochen wuchsen. Gerin wollte etwas sagen, aber sie brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen, weil sie darauf wartete, von Sher etwas zu hören. Sie war fast schon zu der Ansicht gelangt, dass er in der Tiefe zu Tode gekommen war, als sie seine Stimme dünn und hallend etwas rufen hörte. »Es ist nicht leicht, aber wir sind draußen. Können Sie mich hören, Selendra?«
103 »Ja«, rief Selendra voll Erleichterung. »Es ist eine große Höhle und auf dem halben Weg die Wand hinunter ist ein Schacht, der nach draußen führt. Da ist kein Sims und auch keine Höhle, nur ein Schacht. Der schwierige Teil besteht darin, hinein und dann nach unten zu fliegen, wo Sie landen können. Ich habe Wontas dort zurückgelassen, an einem kleinen Fluss. Ich weiß ungefähr, wo wir sind, ich muss nur ziemlich hoch fliegen, um es zu überprüfen. Eines ist jedoch sicher, wir befinden uns in westlicher Richtung und schauen in die untergehende Sonne hinein, was die Sicht erschwert.« »Wo sind Sie jetzt?«, fragte Selendra und kämpfte ihre Panik nieder. »Draußen, ich kreise. Es ist zu steil, um dort zu verweilen. Es ist keine Klippe, aber ein steiler Abhang.« »Und wo ist der Schacht, von mir aus gesehen?« »In Richtung Westen, Sie stehen ihm genau gegenüber.« »Dann passen Sie auf, dass Sie nicht im Weg sind, denn wir kommen jetzt«, rief Selendra, wartete einen Moment lang, holte dann tief Luft und spannte die Muskeln für den Sturzflug in das unsichere Licht an. Sie hatte keine Ahnung, wie Sher das geschafft hatte. Selbst mit dem Wissen, wo der Schacht war, und dem Wissen, dass es draußen keine Stelle gab, an der man landen konnte, konnte sie nichts anderes tun als Gerin fest zu umklammern und sich von ihren Schwingen nach unten und dann vorwärts tragen zu lassen, wobei sie genau in die Mitte zielte. Sie war fast blind, als sie direkt in das Licht eintauchte. Das Loch oder der Schacht, wie Sher ihn genannt hatte, war nicht besonders groß. Sie flog darauf zu und kämpfte gegen die feuchte Luft und das Gefühl an, dass die Höhle sie einsaugen und verschlingen wollte. Endlich draußen, konnte sie wieder sehen. Unter ihr lag ein Berghang mit Felsen und Gras, auf dem ein Hammel sorglos zwischen den Steinen graste. Am Fuß des Abhangs
103 floss ein schneller Strom, dann stieg ein anderer Berg aus der Ebene empor, der nicht so hoch oder so steil wie die Felswand war, aus der sie gekommen war, und jenseits davon erhoben sich weitere Hänge. Sie flog zu dem Fluss und genoss die Wärme und die Bewegung in der sauberen Luft. Als sie tiefer kam, verließ sie das warme Sonnenlicht und plötzlich war es kalt, kälter, als es in der Höhle gewesen war. Sie entdeckte Wontas, der unbeholfen aus dem Fluss trank und dabei die gebrochene Klaue an die Brust drückte. Sie landete so nahe bei ihm, wie es möglich war, dann schaute sie sich nach Sher um. Er kreiste hoch über ihnen am Himmel.
»Sher hat gesagt, er fliegt nach oben, bis er weiß, in welche Richtung er muss, um den Korb zu holen«, sagte Wontas. Wasser tropfte aus seinem Mund. Selendra breitete die Schwingen aus; nach der langen Zeit unter beengten Bedingungen verspürte sie ein großes Verlangen, sich zu strecken. Sie faltete sie wieder, dann streckte sie sie wieder aus und beugte den Rücken durch. Erst dann senkte sie den Kopf, um etwas zu trinken. Das Wasser war eiskalt und ließ ihre Zähne schmerzen, als sie damit in Berührung kamen. »Hat sich der Stein da bewegt?«, fragte Gerin plötzlich. Selendra schaute in die Richtung, in die Gerin sah, zu dem gegenüberliegenden Steilhang hinüber. Er war mit Felsen übersät, deren Größe vom Kopf eines frisch Geschlüpften bis hin zu ihrem Umfang reichte. Keiner von ihnen bewegte sich. Sie sah Gerin verblüfft an. »Es scheint, als würden sie sich bewegen, wenn ich nicht hinsehe«, sagte er. Selendra schaute wieder zu den Felsen hinüber. Sie standen reglos da, mit einer Unbeweglichkeit, die eher lauernd erschien als die natürliche Unbeweglichkeit von Felsen, die dort seit urlangen Zeiten lagen. Sher rauschte heran. »Hier im Schatten ist es kalt«, sagte er und legte die Schwingen mit einem lauten Schnappen an.
104 »Ich kenne den Rückweg zu dem Wasserfall, aber das ist eine gute Flugstunde. Wir haben unter dem Berg eine gewaltige Strecke zurückgelegt.« »Die Sonne ist fast untergegangen, wir müssen stundenlang im Berg gewesen sein«, sagte Selendra. »Fliegen Sie, so schnell Sie können, und holen Sie den Korb.« Sher zog sie ein Stück den Hang hinauf, fort von den Kindern, die nun beide aus dem Fluss tranken. »Könnten Sie nicht eines tragen?« »Nicht eine Stunde lang und nicht mit Sicherheit«, erwiderte sie leise. »Warum?« »Aus keinem besonderen Grund. Wegen der Kälte, und weil Wontas verletzt ist.« Sher runzelte die Stirn. »Versuchen Sie sie warm zu halten, wenn das geht.« »Ich werde mein Bestes tun«, sagte Selendra. Sie hatte Sher noch nie zuvor so ernst gesehen. »Und, Selendra«, sagte er und kam einen Schritt näher. Sie erbebte, wich aber nicht zurück. »Ich wollte nur sagen, dass ich der Meinung bin, dass Sie das alles großartig gemacht haben.« »Sie auch«, erwiderte sie und meinte es auch so. »Ich weiß nicht, wie Sie diesen Flug geschafft haben, ohne zu wissen, was Sie am Ende erwartet.« »Glück«, sagte er, lächelte und kam noch einen Schritt näher. Er war ihr jetzt so nahe, dass er sie beinahe berührte. Sie bewegte sich nicht. Sie wusste, was er vorhatte, aber sie musste plötzlich an Freit denken, an Amers Trank, an ihr Gespräch. »Sie waren wunderbar, wie Sie den Kindern Mut gemacht und alles ohne jede Klage getan haben. Ich wüsste keinen Drachen, mit dem ich mich lieber in einer Höhle verirren würde, und tatsächlich fällt mir kein Drache ein, mit dem ich lieber mein Leben verbringen würde. Was sagen Sie dazu?« Selendra warf einen Blick auf ihre Schuppen. Sie blieben ganz offensichtlich golden. Ihre Beteuerungen, niemals hei
104 raten zu wollen, klangen kläglich in ihren eigenen Ohren, als sie Sher betrachtete, der so stark und attraktiv und selbstsicher neben ihr stand. Sie konnte beinahe die Wärme seines Körpers spüren. Ihr Herz schlug schnell genug, dass ihre Knie schwach wurden, aber sie warf einen weiteren verzweifelten Blick nach unten, und sie war noch immer golden, wies noch immer die hartnäckige jungfräuliche Blässe auf. »Selendra?«, fragte Sher, weil sie schwieg. »Ihre gesellschaftliche Stellung, die meine, Ihre Mutter, mein Bruder«, sagte sie mehr als nur etwas aufgeregt. »Ich glaube nicht, dass sie der Meinung sein werden, dass wir zueinander passen.« »Aber ich kann doch sehr gut mit meiner Mutter umgehen, sie wird Sie bald wie eine Tochter lieben. Was den Rest angeht, das ist Unsinn, Sie sind von adliger Herkunft und Ihre Neffen haben gerade einen
Schatz für Sie gefunden«, sagte Sher sanft und streckte ihr seine Klaue entgegen. »Ich liebe Sie. Wenn Sie ...« »Sie haben Ihre Antwort bekommen«, erwiderte sie absichtlich grob und trat einen Schritt zurück. »Und ich weiß, dass Sie mir das Leben nicht schwer machen wollen, indem Sie mich an einem Berghang bedrängen, da wir noch immer aufeinander angewiesen sind, um in den Schutz unserer Familien zurückzukehren.« »Natürlich nicht«, erwiderte er. »Aber Selendra...« Sher, der von Jungfrauen und ihren Müttern verfolgt worden war, seit ihm Schwingen gewachsen waren, konnte nicht begreifen, dass die eine Jungfrau, die er wirklich begehrte, ihn abweisen konnte. »Bitte bedrängen Sie mich nicht«, sagte sie und suchte Zuflucht in Kälte, obwohl ihr das Herz fast brach und sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Gehen Sie und holen den Korb. Bitte, Sher.« Er erhob sich in die Lüfte und fing den Wind ein. Sie sah ihm nach, bis er außer Sicht war, aber sie konnte nicht wei
105 nen, weil die Kinder da waren und ihre Fragen beantwortet werden mussten. Sie warf erneut einen Blick auf ihre Schuppen, die, wären sie ihrem Herzen gefolgt, jetzt so rosa wie die Wolke wären, die über der Felskante erschienen war, wo die Steine noch immer so unnatürlich reglos standen, als könnten sie sich nicht bewegen. Sie starrte die Steine an, während sie sich mit den Kindern beschäftigte, und hoffte, einen von ihnen doch noch bei einer Bewegung zu ertappen. Ihre Augen wirbelten immer schneller, aber sie war und blieb goldfarben und die Steine regten sich nicht in der kleinen Ewigkeit, die Sher benötigte, um mit dem Tragekorb zurückzukehren.
4 2 . Eine Unterhaltung i m Gutshaus Drei Tage nach der dramatischen Rettung Wontas' ließ die Erhabene Benandi von einem Diener Fehn einen Brief überbringen, mit dem sie sie zu einer Audienz bat. Fehn ging im Gutshaus ein und aus, kaum ein Tag verging, an dem sie der Erhabenen keinen Besuch abstattete, ob nun offiziell oder inoffiziell. Es kam jedoch nur selten vor, dass die Erhabene sie zu sich rief, ohne einen Grund dafür zu nennen. Fehn nahm den Brief beim Frühstück kommentarlos entgegen und teilte Penn lediglich mit, dass die Erhabene sie brauchte. Das war so wenig außergewöhnlich, dass Penn kaum von seinen eigenen Briefen aufschaute. Fehn sah ihn nachdenklich an, dann wandte sie den Blick Selendra zu, die einen Brief las und dabei ihren Hammel mit einem Ausdruck aß, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Es war viel wahrscheinlicher, dass Selendra und nicht Penn der Grund für den Ruf war. »Allein« bedeutete sicherlich, dass keiner von ihnen sie begleiten sollte. Ihr fiel nichts ein, was Penn in letzter Zeit getan haben könnte, um den Unwillen seiner Gönnerin zu erregen. Bei Selendra allerdings war es etwas ande
105 res. Felin hatte die Zeit seit dem katastrophalen Picknick größtenteils mit der Sorge um das Wohlbefinden Wontas' verbracht, der sich zu erholen schien, auch wenn er von nichts anderem als dem Schatz redete. Jetzt dachte Felin über Selendra nach. Ihr Erlebnis hatte sie sehr mitgenommen, sie war viel zittriger und weinerlicher gewesen, als Felin sie sich jemals hätte vorstellen können. »Ich sehe nach den Kindern, bevor ich nach oben gehe«, sagte sie. »Musst du heute weg, Penn?« »Ich muss diesen Brief beantworten«, sagte er und betrachtete ihn stirnrunzelnd. »Ich bin in meinem Arbeitszimmer.« »Soll ich ihn für dich schreiben?« »Nein, das mache ich selbst, aber wenn es mir zu viel wird, kann Selendra mir helfen«, sagte Penn und brachte ein halbherziges Lächeln zustande, obwohl seine Augen noch immer zu schnell wirbelten, als dass seine Frau geglaubt hätte, er wäre ruhig. Felin beschloss, ihn seinen Sorgen zu überlassen. Er würde es ihr erzählen, wenn er glaubte, sie könnte ihm helfen. »Hilfst du dann Amer mit den Kindern, falls Penn dich nicht braucht, Selendra?«, fragte sie. Selendra sah abwesend auf. Sie hatte der Unterhaltung offensichtlich nicht die geringste Aufmerksamkeit geschenkt.
Felin wiederholte ihre Frage geduldig und wartete, bis sich Selendra einverstanden erklärt hatte. Dann setzte sie ihren kleinen grünen Hut auf und flog die Klippe zum Gutshaus hinauf. An diesem Morgen saß Sher nicht auf dem Sims. Der Schnee dort war fast unberührt, ein Zeichen, dass er seit ein paar Tagen dort nicht mehr gesessen hatte. Felin runzelte die Stirn, als sie sich ihren Weg suchte und Spuren hinterließ. Sie war sehr neugierig, was die Erhabene wohl von ihr wollte. Die Erhabene wartete im Kleinen Salon auf sie, nicht in ihrem Arbeitszimmer. Sie saß bequem aufgerichtet an die
106 Wand gelehnt. »Fehn, meine Liebe«, sagte sie zur Begrüßung. »Wie schön, Sie zu sehen.« »Was kann ich für Sie tun, Erhabene?«, fragte Fehn. »Ich wollte nur etwas mit Ihnen besprechen«, sagte die Erhabene und machte eine einladende Geste. Fehn setzte sich gehorsam. »Kann ich Ihnen einen Bissen anbieten?« »Wir haben gerade gefrühstückt«, sagte Fehn und wartete darauf, dass die Erhabene ihr vortrug, was sie auf dem Herzen hatte. »Ich habe beschlossen, dieses Jahr früher nach Irieth zu reisen«, sagte sie. Fehns Augen drehten sich etwas schneller. Die Erhabene hasste Irieth und reiste nur selten auch nur einen Tag früher als allgemein üblich in die Stadt. »Im Taumonat?«, fragte sie. »Nein, früher«, sagte die Erhabene und schaute zur Seite. »Im Eiswinter, vielleicht sogar vor Ende des Frühwinters.« »Also wollen Sie den ganzen Winter in der Stadt verbringen?«, fragte Fehn. Ihr war klar, dass sie ihr Erstaunen sehr offen gezeigt hatte. »Ja, ich weiß«, sagte die Erhabene, spreizte hilflos die Hände und beantwortete damit eher Fehns Gedanken als ihre Worte. »Ich hasse Irieth, und ich verlasse mein Zuhause nie im Winter. Sher ist der Grund dafür.« »Sher?«, wiederholte Fehn verblüfft. Sher verbrachte im Winter ohnehin nur selten viel Zeit in Benandi, aber was hatte seine Mutter damit zu tun? »Will er nach Irieth?« »Nein, er will hier bleiben.« Die ältere Drachenfrau stützte einen Augenblick lang den großen rubinroten Kopf in ihre Hände, als sei er zu schwer, dann sah sie Fehn wieder an. »Darum muss ich ja nach Irieth, denn er kann ja kaum ohne mich hier bleiben.« »Ich verstehe nicht«, sagte Fehn, obwohl sie langsam ahnte, dass sie es vielleicht doch tat. »Es fällt mir sehr schwer darüber zu sprechen«, sagte die erhabene Benandi. »Meine Liebe, ohne Ihnen, Ihrem Mann
106 oder auch seiner Schwester im Mindesten nahe treten zu wollen, muss ich Sie bitten, Selendra vom Gutshaus fern zu halten, bis ich Sher hier fortgebracht habe. Er hat sich in den Kopf gesetzt, sich in sie zu verlieben, und ich weiß, dass Sie das nicht unterstützt haben, Penn genauso wenig. Ich neige dazu, zumindest die Hälfte der Schuld Sher zuzuweisen.« »Die Hälfte?« Fehn setzte sich auf die Hinterbeine. »Ich glaube nicht, dass Selendra viel getan hat, um ihn zu ermutigen.« »Nun, das wäre doch ganz normal für jede Jungfrau, bei einem unverheirateten Erhabenen, nicht wahr?«, sagte die Erhabene. »Aber ich bin fest davon überzeugt, dass Sie verstehen, warum das nicht geht.« »Nicht im Mindesten«, sagte Fehn, etwas verletzt um Selendras willen. »Sie kommt aus einer guten Familie, sie ist Penns Schwester, sie hat eine angemessene Mitgift...« »Sie können sechszehntausend Kronen nicht als angemessen bezeichnen, nicht für Sher«, sagte die Erhabene, obwohl Fehn wusste, dass es keinen vernünftigen Grund gab, warum Sher aus Geldgründen heiraten sollte. »Angemessen, wenn auch nicht üppig«, sagte Fehn. »Vielleicht nicht das, was Sie erwartet haben, aber ich verstehe nicht, warum das solch eine Katastrophe sein sollte, wenn sie diejenige ist, für die sich Sher entschieden hat. Wenn sie einander zugetan sind, warum sollten sie dann nicht heiraten?«
»Sher ist jung, leicht beeinflussbar. Das wissen Sie.« Die Augen der Erhabenen drehten sich aufgeregt, gleichzeitig tat sie Shers Entscheidungen mit einer Handbewegung ab. Fehn wusste, dass sich Sher tatsächlich leicht beeinflussen ließ. Sie erinnerte sich noch gut an die Zeit als Sher sich kurze Zeit für sie interessiert hatte. Nach den ersten glückstrunkenen Augenblicken war ihr klar geworden, dass er wie ein Bruder für sie war und keinesfalls wie ein Liebhaber. Außerdem hatte sie gewusst, dass seine Mutter eine Verbin
107 dung niemals dulden würde, und dass sich Sher niemals gegen sie stellen würde oder konnte. Sie hatte ihn auf sanfte Weise entmutigt und Sher hatte es beim ersten Widerstand und dem Angebot seiner Mutter, einen Monat in den hohen Bergen jagen zu können, aufgegeben. Wenn Selendra ihn dazu bringen konnte, sich seiner Mutter zu widersetzen, dann musste seine Liebe zu ihr schon tiefer gehen. »Außerdem«, fuhr die Erhabene etwas unsicher fort, obwohl Fehn kein Wort gesagt hatte, »wird Sher sie schnell wieder vergessen haben, wenn er in Irieth andere Jungfrauen sieht.« »Nicht bei Gelener, das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Fehn. »Seien Sie nicht so grausam, Fehn. Das weiß ich auch. Aber wenn man ihn mit einer Zahl hübscher Mädchen mit wohlgeformten Schwänzen und leuchtenden Schuppen zusammenbringt, wird er Selendra vergessen.« »Und Selendra?« »Sie wird ihn auch vergessen. Sie muss. Sie muss ihren Blick auf ihresgleichen richten, was die gesellschaftliche Stellung angeht. So funktioniert die Welt nun einmal. Ich weiß das und Sie wissen das auch!« »Ich weiß nur...«, begann Fehn und verstummte dann. Sie rief sich ins Gedächtnis zurück, dass sie sich auf gar keinen Fall mit der Erhabenen streiten durfte. Sie setzte erneut an, diesmal nur sanfter. »Sher ist alt genug, dass Sie ihn nicht mehr dazu bringen können, das zu tun, was Sie wollen.« »Nein, aber ich kann ihn ablenken«, sagte die Erhabene. »Es hat den Anschein, als hätten wir bis jetzt Glück gehabt. Er hat Selendra auf dem Berg Avancen gemacht, die sie nicht erwidert hat.« »Bei Jurale!«, sagte Fehn erstaunt. »Ja, ich habe Jurale schon selbst gedankt«, sagte die Erhabene und ihre Augen wurden hart, entschied aber gnädigerweise, Fehns Ausruf als Stoßgebet des Dankes und nicht als
107 Fluch zu bewerten. »Sie hat sie doch nicht erwidert?«, formulierte die Erhabene es jetzt als Frage. »Nein, sie weist die gleiche jungfräuliche goldene Färbung auf wie bei ihrer Ankunft«, sagte Fehn. »Daran besteht kein Zweifel.« »Dann gibt es keine Schwierigkeiten, als die, sie in diesem Stadium ihrer Zuneigung voneinander fern zu halten«, sagte die Erhabene. »Was bedeutet, dass, wenn ich Sie und Penn vor unserer Abreise ins Gutshaus einlade, Sie Selendra bitte zu Hause bei den Kindern lassen.« »Das kann ich nicht«, sagte Fehn. Erst als sie geantwortet hatte, wurde ihr klar, dass das tatsächlich ihr Ernst war. »Das ist einfach ungerecht, Erhabene, das müssen Sie doch verstehen. Sie hat nichts Falsches getan, und Sie bestrafen sie und bitten uns, sie zu bestrafen, als hätte sie einen schrecklichen Fehltritt begangen.« »Ich bitte Sie doch nur, sie daheim zu lassen, und Sher für den Augenblick den Zutritt zu Ihrem Haus zu verwehren, auch wenn ich bezweifle, dass er sie im Pfarrhaus besuchen würde.« »Das wird er aber tun, wenn er sie hier nicht antrifft, obwohl er es erwartet«, sagte Fehn. »Ich werde ihn nicht zu einem Besuch ermutigen, aber ich kann ihm schlecht den Zutritt verweigern. Haben Sie vergessen, dass er als Erhabener Benandi das Recht hat, überall einzutreten, wo er will?« »Er wird sich kaum diese Mühe machen«, sagte die Erhabene trocken. »Glauben Sie denn, er würde kommen, um die Kinder zu fressen, für deren Rettung er sein Leben riskiert hat?« »Das ist ein weiterer Grund, warum ich ihm den Zutritt nicht verweigern kann. Ich schulde ihm soviel, weil er den armen Wontas gerettet hat. Es ist Ihre Sache, die Wege Ihres Sohnes zu bestimmen, falls Sie
glauben, das Recht dazu zu haben, aber unter diesen Umständen können Sie mir das nicht auch aufbürden.«
108 »Ich werde Sher sagen, dass ich es für unklug halte, sie zu besuchen«, meinte die Erhabene und rümpfte die Schnauze, als würde sie verfaulendes Wild riechen. Es war Jahre her, seitdem sie Sher hatte beeinflussen können. »Dann verspreche ich Ihnen, dass ich ihn im Pfarrhaus nicht mit Selendra allein lasse, sollte er zu Besuch kommen«, willigte Fehn ein. »Das wird reichen«, sagte die Erhabene und sah aus, als hätte sie verdorbenes Eingemachtes zu sich genommen. »Und lassen Sie sie zu Hause, wenn Sie zum Essen kommen.« »Das kann ich auch nicht machen«, sagte Fehn. »Ich kann sie nicht daheim lassen, als wäre sie in Ungnade gefallen.« »Und ich kann nicht zulassen, dass sie wie ein Leckerbissen, den er verschlingen will, vor seiner Schnauze baumelt.« »Dann werden wir eben für den Augenblick alle drei zu Hause bleiben, es sei denn, Sie laden uns alle ein.« Die Erhabene sah Fehn finster an, aber sie weigerte sich, auch nur einen Fußbreit nachzugeben. Die beiden starrten sich an, aber auch wenn Felin ihre alte Beschützerin mochte, war sie der Ansicht, dass sie es Selendra und auch Sher als Rettern ihres Schlüpflings schuldig war, auf ihrem Standpunkt zu beharren. Sie hielt dem Blick der Erhabenen stand, bis die Alte den Kopf schüttelte. »Nun gut«, sagte sie. »Ich bin enttäuscht, Felin, aber vielleicht geht es ja so. Je früher wir nach Irieth abreisen, desto besser.« »Ich wünsche Ihnen dort einen angenehmen Aufenthalt«, sagte Felin und senkte leicht den Kopf. Sie drehte sich um und ging und ließ die Erhabene allein zurück, wo sie über ihrem Sohn brütete, wie sie es getan hatte, seit er noch in seinem Ei gewesen war. Sher wartete draußen auf sie. »Hat sie Ihnen verboten, Selendra mitzubringen?«, fragte er und sah so elend aus, dass Felin dahinschmolz und ihn nicht einmal einen Narren nannte. »Ich habe gesagt, dass wir keine Einladungen annehmen
108 werden, die nicht für uns alle drei gelten«, sagte Fehn. »Ich habe auch gesagt, dass ich Ihnen den Zutritt zu meinem Heim nie verweigern werde, aber dass ich Sie nicht mit Selendra allein lassen werde.« »Ich hätte nicht gedacht, dass sie es uns so schwer machen würde«, murmelte Sher. »Warten Sie doch etwas ab. Lassen Sie sich selbst etwas Zeit. Sie wissen, wie schnell Sie immer Ihre Meinung ändern.« »Das tue ich nicht«, knurrte er. Fehn sah ihn bloß wortlos an. »Oh, Fehn, ich schätze, so bin ich halt. Ich wollte Sie nicht gemein behandeln, und Sie haben mich nicht im geringsten ermuntert.« »Ich bin glücklich mit Penn verheiratet«, sagte sie. »Aber es würde Ihnen vielleicht helfen, wenn Sie darüber nachdenken, wie lange Sie daran festhalten wollen, wenn man bedenkt, wie sehr Ihre Mutter dagegen ist.« »Sie meinen, ich soll Selendra nicht sehen?« »Bleiben Sie hier. Warten Sie ab. Sollten Sie in zwei Monaten noch immer das Gleiche empfinden, das wäre also Tiefwinterabend, dann werde ich Sie ernst nehmen und dafür sorgen, dass Sie mit Selendra allein sein können -draußen. Ich verspreche aber nichts. Sie können zusammen fliegen. Aber vergewissern Sie sich, dass Sie für den Kampf gerüstet sind, den Sie dann mit der Erhabenen austragen müssen.« »Ich werde warten«, sagte Sher. »Ich weiß, dass ich das kann. Vielen Dank, Fehn.« Fehn schüttelte den Kopf, als sie zum Sims ging. Sie hatte ihm seit Jahren nachgegeben, so wie sie seit Jahren seiner Mutter nachgab. Manchmal war es schwer mit Angewohnheiten zu brechen.
108
4 3 . Gespräche i m Pfarrhaus
Sobald Felin zum Gutshaus aufgebrochen war, legte Penn den Brief nieder und sah Selendra an. »Was hat Avan nur geritten, Daverak vor Gericht bringen zu wollen? Und was hat dich geritten, deinen Namen darunter zu setzen?« Er klang sehr wütend und auch etwas besorgt. »Du warst auch der Meinung, dass Daverak kein Recht hatte, so viel von Vaters Leichnam zu fressen«, sagte Selendra überrascht. »Du warst außer dir.« »Das ist etwas anderes. Das ist ein Familiendisput. Ja, als Sohn bin ich der Ansicht, dass Daverak dazu kein Recht hatte. Das habe ich damals auch deutlich zum Ausdruck gebracht. Aber Selendra, ihn zu verklagen, das macht die Sache nicht länger zu einem Familiendisput, sondern zu einem Skandal.« Penn sah sie hilflos an. »Könnte man ihn überreden, die Klage zurückzunehmen?« »Du kannst ihn natürlich fragen, doch er schien fest entschlossen, alles bis zum Ende durchzustehen«, sagte Selendra. »Avan hat schließlich den größten Schaden von uns allen davongetragen.« »Ich werde sofort schreiben, meine Hilfe verweigern«, sagte Penn. »Du musst auch deinen Namen zurückziehen.« Selendra beugte den Kopf. »Haner drängt mich auch dazu«, sagte sie und berührte den Brief, den sie am Morgen erhalten hatte. »Sie sagt, wir werden nicht mehr miteinander verkehren können, solange ich das nicht tue.« »Nein, natürlich nicht!« Selendra fühlte, wie Tränen aus ihren Augen tropften und die Schnauze entlangrannen. »Ich könnte es nicht ertragen, Haner nicht mehr zu sehen«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Dann schreibe und zieh deinen Namen zurück«, drängte Penn sie. »Ich sollte es tun. Aber der arme Avan!« »Der arme Avan? Avan hat das doch alles angefangen. Er
109 begreift nicht, was er damit alles anrichten kann. Sie wollen, dass ich ihnen alles sage, was Vater auf dem Totenbett gesagt hat.« Penn schlug den Brief auf sein Knie. »Lachhaft. Ungeheuerlich. Unmöglich.« »Warum?« »Warum?« Penn schaute unbehaglich von einer Seite zur anderen. »Seine Privatsphäre, meine Position. Es ist undenkbar.« »Ich verstehe«, sagte Selendra, da sie aber von den Umständen der Beichte nichts wusste, verstand sie nicht im Mindesten, warum Penn ihnen nicht einfach sagen konnte, was sie wissen wollten. »Ich werde ihnen auf der Stelle schreiben«, sagte Penn, eilte hinaus und dehnte die Klauen in Erwartung der Schreibfeder. Selendra wandte die Aufmerksamkeit wieder dem vor ihr liegenden, zur Hälfte verspeisten Hammel zu. Ihr war der Appetit vergangen. Seit Sher... seit Wontas' Rettung hatte sie kaum noch etwas gegessen. Sie hatte Sher seit ihrer Rückkehr nicht mehr gesehen. Sie hatte das Pfarrhaus nicht mehr verlassen. Penn und Fehn waren ausgesprochen rücksichtsvoll gewesen, da sie glaubten, die Strapaze in der Höhle hätte sie erschöpft. Beide hatten ihren Dank zum Ausdruck gebracht, Fehn nannte sie nun Schwester und hatte Wontas dazu gebracht, sich ebenfalls bei ihr zu bedanken. Niemand hatte sie gedrängt, etwas zu tun, wozu sie keine Lust hatte. Sie hatte sogar dem Gottesdienst am gestrigen Ersten Tag entgehen können, und Penn war gekommen und hatte mit ihr zusammen in ihrer Schlafhöhle gebetet. Das hatte sie nicht gestört. Sie wollte die Götter nicht vernachlässigen, sie wollte sich sogar unbedingt an Jurales Güte wenden. Sie hatte nicht zur Kirche gehen wollen, weil sie Sher nicht hatte sehen wollen. Eine der Dienerinnen steckte den Kopf durch die Tür, um zu sehen, ob sie die Knochen abräumen konnte. »Ich bin fertig«, sagte Selendra. Die Dienerin machte einen erfreuten
109 Knicks, zweifellos erfreut über die Reste. Selendra nahm Haners Brief mit und ging, um nach den Kindern zu sehen. Das Kindermädchen verband gerade Wontas' Klaue neu und Gerin half, seinen Bruder während der Prozedur abzulenken. Nachdem sich Selendra vergewissert hatte, dass der Bruch nicht brandig roch, ging sie wieder.
Amer war allein in der Küche und bereitete einen stinkenden Sud zu. Die anderen Dienerinnen räumten noch immer das Esszimmer auf. »Ist das für Wontas?«, fragte Selendra. »Das soll den Bruch gut heilen«, erklärte Amer. Dann hielt sie in ihrer Arbeit inne und runzelte die Stirn. »Was ist los, Selendra?« »Nichts«, erwiderte Selendra und versuchte zu verhindern, das ihre violetten Augen sich mit Tränen füllten. »Ich habe einen Brief von Haner bekommen.« »Wie geht es ihr?« »Sie klingt nicht glücklich. Avan bringt Daverak vor Gericht, und das beunruhigt sie. Bei Daverak hat sich die Flamme eingestellt, sieh.« Amer konnte nicht lesen, darum konnte Selendra ihr ohne zu zögern die Zeichnung zeigen. Amer lachte und schob das Blatt zurück. »Lesen Sie mir den Brief vor«, sagte sie. Selendra tat es, unterschlug aber die Hänselei wegen Sher, die ihre Schwester nicht böse gemeint hatte, wie sie wusste, die nun aber wie ein Speer in ihre zarte Brust gefahren war. Als sie zu Ende gelesen hatte, schüttelte Amer den Kopf. »Sie richtet mir keinen Gruß aus? Und dort, wo Sie in Ihrem Brief geschrieben haben, dass ich sie grüße, hat sie diese Bemerkung gemacht, dass die Einrichtung der Dienerschaft falsch ist?« »Das stimmt«, sagte Selendra. »Ich vermute, sie hat Recht, es ist ungerecht, aber so ist die Welt nun einmal. So viele Dinge sind ungerecht.« Sie seufzte. Amer spreizte die Schwingen, soweit das die Fesseln er
110 laubten. »Und welche Ungerechtigkeiten hat das Leben Ihnen beschert?«, fragte sie großmütig. Sie mochte Selendra. Selendra sah sich um, um sich zu vergewissern, dass kein Diener den Raum unbemerkt betreten hatte. Sie senkte die Stimme. »Es hat den Anschein, als wäre mir der Trank nicht bekommen.« »Sind Sie sicher?«, fragte Amer. Selendra deutete auf ihre unverändert goldene Farbe. »Wer war es? Hat er Sie berührt?« »Sher«, gab sie flüsternd zu. »Der Erhabene Benandi?«, fragte Amer. »Sie haben sich ein hohes Ziel gesteckt, mein Kind!« »So war das doch gar nicht!«, protestierte Selendra. »Ich habe ihn nie so betrachtet, bis er sehr deutlich wurde. Ich dachte, er wäre mit Gelener Telstie verlobt.« »Das hat seine Mutter zweifellos auch.« Amer kicherte. »Also haben Sie nicht vorher daran gedacht? Er hat Sie überrascht? Das könnte Grund genug sein, dass Sie sich nicht verfärbt haben.« »Ich bin auch von Freit überrascht worden!«, flüsterte Selendra wütend. »Ja, aber Freit hat sich auf Sie gestützt und zwar mit voller Absicht. Ist Sher Ihnen sehr nahe gekommen?« »Nein. Er kam mir nahe, hat mich beinahe berührt, aber er hat sich nicht richtig über mich gebeugt.« Selendras Augen rotierten träumerisch bei der Erinnerung. »Hat er Sie berührt?« »Er streckte seine Klaue aus, aber er hat mich nicht berührt. Er war viel näher, als ein Drache herankommen sollte, Amer! Er war direkt neben mir, keine dreißig Zentimeter weit weg.« »Lassen Sie ihn das nächste Mal noch näher herankommen«, riet Amer. »Es könnte der Trank sein, muss es aber nicht. Umarmen Sie ihn, als umarmten Sie Ihre Schwester, und warten Sie ab, ob Sie das erröten lässt.«
110 »Ich glaube nicht", dass es noch eine weitere Gelegenheit geben wird«, sagte Selendra. »Ich habe ihm gesagt, er soll gehen. Und wie du eben gesagt hast, er ist ein Adliger, ein Erhabener, und ich bin bloß die Schwester des Pfarrers. Er wird darüber nachdenken und froh sein, dass ich ihn weggeschickt habe.« Jetzt liefen die Tränen.
»Nun, wenn Sie nicht darüber heulen, dass Sie golden sind, dann heulen Sie, weil Sie rosa angelaufen sind«, sagte Amer. Selendra blieb die Luft weg. »Das ist nicht komisch«, sagte sie und musste dennoch lachen. »Wenn er sich etwas aus Ihnen macht, wird er es wieder versuchen«, sagte Amer tröstend. »Geben Sie ihm eine Chance und gehen Sie nahe an ihn heran. Berühren Sie ihn. Sie können nichts verlieren, selbst wenn Sie nicht die Farbe wechseln.« »Nur meine Würde«, sagte Selendra. »Und was ist die auf dem Markt wert?«, fragte Amer. »Aber wenn ich nicht erröten kann, dann kann ich ihm auch keine Kinder schenken. Es wäre sehr falsch zu heiraten, wenn ich das nicht kann.« »Niemand hat je gehört, dass jemand heiratet und Jungfrau bleibt«, sagte Amer ziemlich laut, da die Dienerin, die das Esszimmer aufgeräumt hatte, mit einem Stapel blankgenagter Knochen in die Küche kam. »Bringen Sie diesen Absud zu dem Geschätzten Wontas, wenn Sie so nett wären, Geschätzte Selendra, er ist jetzt fertig. Und sollten Sie der Geschätzten Haner schreiben, sagen Sie ihr, dass ich gern mehr davon hören würde, was sie zu sagen hat.« Selendra nahm den Topf und ging.
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4 4 . E i n Gespräch i m Laden der Putzmacherin Felin dachte auf dem Heimflug darüber nach, was sie ihrem Mann und ihrer Schwägerin von ihrer Unterhaltung mit der Erhabenen erzählen sollte. Obwohl sie Selendra so energisch verteidigt hatte, wie sie gewagt hatte, war sie sich nicht sicher, auf welche Weise sie das Thema bei ihr anschneiden sollte. Was Penn anging, hatte sie keine Ahnung, wie er reagieren würde. Er war als Pfarrer von Benandi auf die Erhabene angewiesen, die der Familie ein Einkommen und ein Zuhause gewährte. Möglicherweise würde er wütend auf seine Schwester sein, weil sie Arger gemacht hatte, und auf sie, weil sie den Wünschen der Erhabenen nicht rückhaltlos nachgegeben hatte. Es würde einfacher sein, keinen von ihnen auf das Thema anzusprechen. Aber sie würden beide bemerken, dass vom Gutshaus keine Einladungen mehr kamen, und spätestens dann müsste sie eine Erklärung abgeben. Bei ihrer Rückkehr fand sie Selendra bei den Kindern. Sie sagte nichts und auch Selendra behielt ihre Geheimnisse für sich. Als Penn aus seinem Arbeitszimmer kam und sich die Tinte von seinen Klauen wischte, hatte sie Zeit genug gehabt, sich für eine Strategie zu entscheiden. Sie führte ihn in den Salon. »Die Erhabene will Sher und Selendra voneinander fernhalten«, sagte sie. »Was? Warum?« Penn war in Gedanken noch immer bei Avans Vorhaben und dem Risiko, das es für seinen Beruf darstellte. »Es hat den Anschein, als würde sie glauben, dass Sher sie zu sehr mag.« »Sher? Unsinn. Alle Jungfrauen von Tiamath werfen sich ihm an den Hals, warum sollte er an so einem blassen Ding wie Selendra Interesse haben?«, fragte Penn herzlos. Felin, die geahnt hatte, dass er genauso reagieren würde,
111 spreizte lediglich die Hände. »Wer kann schon sagen, warum sich die Erhabene etwas in den Kopf setzt?«, fragte sie. »Aber wir werden eine Weile nicht gesellschaftlich im Gutshaus verehren. Du wirst natürlich nach oben gehen, um deinen Pflichten nachzukommen, und ich auch, aber wir werden sie nicht als Familie zum Essen besuchen oder dergleichen, bis Sher wieder abreist.« »Wenn es das ist, was die Erhabene will«, sagte Penn mit einem Stirnrunzeln. »Aber denkt sie das wirklich von Selendra »Glaubst du, sie ist nicht alt genug?« Penn wollte den Zwischenfall mit Freit nicht mit Fehn diskutieren, also grunzte er bloß. Die Gatten gesellten sich dann zu Selendra zum Abendessen, vereint in jenem gefestigten gegenseitigen Vertrauen, das die langjährige Ehe zwischen Drachen hervorbringt.
Auf diese Weise vergingen mehrere Wochen. Die Pfarrhausfamilie und die Gutshausfamilie begegneten sich nur am Ersten Tag beim Gottesdienst. Die Erhabene sorgte dafür, dass Sher bei diesen Gelegenheiten ihre Seite nicht verließ. Selendra ließ keinen Gottesdienst mehr aus, aber sie saß mit gesenktem Kopf da, sich Shers Blicke bewusst, aber nicht mutig genug, sie zu erwidern. Sher unternahm keinen Versuch, das Pfarrhaus zu besuchen, und Selendra versuchte ihr Glück nicht und fragte nicht, warum sie keiner zwang, dem Gutshaus einen Besuch abzustatten. Frühwinter wurde zu Eiswinter, und noch immer hielten sich Sher und die Erhabene in Benandi auf. Eiswinter machte seinem Namen alle Ehre und brachte viel Schnee mit sich. In der zweiten Woche dieses Monats erreichte die Nachricht von Berends Tod Benandi und versetzte Penn und Selendra in düstere Stimmung, obwohl keiner von ihnen ihrer Schwester seit deren Heirat wirklich nahe gestanden hatte. Zwei Tage später kam der Erste Tag in dem fünfspeichigen Rad der Woche. Zum ersten Mal seit dem Picknick hob
112 Selendra in der Kirche den Kopf und erwiderte Shers Blick. Sie tat nicht mehr, aber sie gestattete sich, ihn anzusehen. Das Leben war kurz und der Tod war allgegenwärtig. Wenn Sher dank Jurales Gnade auf der anderen Seite der Kirche saß, würde sie sich nicht länger verbieten, ihn anzusehen. Am nächsten Morgen verkündete Fehn beim Frühstück, dass sie Selendra zu einem Besuch bei der Putzmacherin mitnehmen würde. »Aber wir sind noch immer in Trauer unseres Vaters wegen, sie braucht überhaupt keinen neuen Hut«, sagte Penn. »Nicht der Trauer wegen, nein, aber die paar Hüte, die sie hat, sind einfach schäbig. In zwei Wochen haben wir Tiefwinter, und sie sollte am Tiefwinterabend etwas Besseres zum Tragen haben als einen Hut, den sie seit Hochsommer fast jeden Tag getragen hat! Heute ist es nicht so kalt, und der Flug dauert kaum zwei Stunden.« »Das ist nicht nötig, Fehn«, murmelte Selendra. Ihre Schwägerin erstickte jedoch all ihre Einwände, und so brachen sie auf. Es tat Selendra gut, wieder die Schwingen ausstrecken zu können. Seit dem Picknick war sie kaum an der frischen Luft gewesen, mit Ausnahme auf dem Weg zur Kirche, und zu der war sie natürlich zu Fuß gegangen. Sie hatte fast schon vergessen, wie sich die Luft unter ihren Schwingen anfühlte und wie die Welt im Sonnenlicht aussah. Von oben war sie wie ein weißer Schemen, der nur gelegentlich von dunklen Tannen und den schnurgeraden dunklen Eisenbahnschienen unterbrochen wurde. »Es ist kalt, aber es ist großartig, fliegen zu können«, sagte Fehn nach einer Weile, und Selendra stimmte ihr erfreut von ganzem Herzen zu. Sie fühlte sich wesentlich besser als in den vergangenen Wochen. »Wie weit ist es?«, fragte sie. »Leider nicht sehr weit«, erwiderte Fehn. »Ich weiß nicht
112 warum, aber ich liebe es, in der Kälte zu fliegen. Meine Mutter hat es gehasst. Sie hat immer behauptet, dass ihre Familie vor der Eroberung aus einem wärmeren Klima kam, aber diese Gebiete gehören jetzt alle den Yargen, und ihr Blut war zu dünn für hier.« Selendra lachte. »Du mußt nach deinem Vater kommen«, sagte sie. Sie hatte die Geschichten von Fehns tapferem Vater bereits öfter gehört, meistens von Wontas, der seinen Namen trug. Das Geschäft der Putzmacherin befand sich in der kleinen Stadt Dreitannen. Hepsie war weder so modisch noch o elegant wie die Putzmacher in Irieth. Sie war die Witwe eines Drachen, dessen Ehrgeiz nicht so groß wie seine Tapferkeit gewesen war. Sie hatte das Handwerk nach seinem Tod aus Verzweiflung aufgenommen, in der Hoffnung, ihre Kinder ernähren zu können, ohne in die Dienste einer reihen Familie treten zu müssen. Zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie schon bald einige Erfolge vorzuweisen, da alle Drachen der Umgebung sich ihre Geschicklichkeit und vernünftigen Preise zu
Nutzen machten. Fehn kaufte seit Jahren Hüte von Hepsie und selbst die Erhabene ließ sich gelegentlich herab, eine ländliche Kopfbedeckung bei ihr zu kaufen. Selendras Hüte waren alle zu Hause selbst gemacht oder von ihren Brüdern fertig gekauft worden. Sie hatte noch nie das Geschäft einer Putzmacherin betreten. Sie hätte sich das Angebot an Hüten nicht vorstellen können, oder die Art und Weise, wie sie hergerichtet waren. Ihr kam das Geschäft wie ein Wunder vor. Sie mussten warten, während einer Jungfrau ein bezaubernder Tiefwinterhut aus Rot und Gold angefasst wurde. Die Jungfrau gehörte zu jenen, die an dem Picknick teilgenommen hatten, und begrüßte sie wie seit langem verschollene Freunde. Fehn plauderte mit ihr, während Selendra einfach nur die Hüte betrachtete, die in den Nischen ausgestellt waren, die sich über alle Wände der klei
113 nen Höhle hinzogen. Sie hätte nie gedacht, dass es einen solchen Reichtum an Hüten jeder Form, Farbe und jedweden Materials gab. Da waren Baretts, Dreispitze, Toques, Glockenhüte, Sonnenhüte und andere, deren Namen Selendra nicht kannte. Als sie an der Reihe waren, kam Hepsie flink herbei. »Gesegnete Agornin! Wie schön Sie zu sehen! Was kann ich heute für Sie tun?« »Noch mehr Schwarz, fürchte ich«, sagte Fehn. »Sie kennen meinen Geschmack. Und ich suche noch etwas anderes, schwarzes Fell, was der Geschätzten Agornin steht, der Schwester meines Mannes.« Selendra nahm die Vorstellung kaum wahr, so sehr war sie in all die Hüte vertieft. »Das ist ja ein wahrer Schatz«, sagte sie und musste an die Höhle in dem Berg denken. Ihre Kette lag sicher zu Hause in ihrem Bett. Hepsie und Fehn lächelten nachsichtig, dann eilte die Putzmacherin los, um Material und Schnittmuster zu holen. Am Ende fertigte sie aus mehreren Lagen Fell eine Kappe. »So, damit werden Sie großartig aussehen, solange Sie in Trauer sind, und wenn Sie sie später mit ein paar Ziermünzen oder Edelsteinen versehen möchten, die könnten dort hin«, sagte Hepsie und steckte hellblaue Ziermünzen entlang des Besatzes. »Das sieht sehr gut aus«, versicherte ihr Fehn. Hepsie hielt einen Bronzespiegel hoch, und Selendra bewunderte ihr Spiegelbild. »Danke«, sagte sie und umarmte Fehn schüchtern. Fehn kümmerte sich um die Bezahlung. »Schicken Sie sie ins Pfarrhaus?«, fragte sie. »Wenn es Sie nicht stört, eine halbe Stunde warten zu müssen, die Kappe der Geschätzten Agornin ist schnell gemacht. Sie könnten sie gleich mitnehmen.« Hepsie machte sich in einer Innenhöhle an die Arbeit und ließ sie allein unter all den Hüten zurück. Selendra und
113 Felin machten es sich bequem. Das war die Gelegenheit, auf die Felin gewartet hatte. »Du siehst wunderschön mit dem Hut aus«, sagte sie. »Er gefällt mir sehr.« »Ich bin sicher, er wird auch Sher sehr gut gefallen«, fuhr Felin fort. Selendra sah sie schuldbewusst an. »Ja, ich weiß Bescheid. Die Erhabene hat mir etwas darüber erzählt.« »Die Erhabene? Was weiß sie denn davon?« »Was Sher ihr gesagt hat. Er hat ihr gesagt, dass er dich liebt.« Selendra Augen wirbelten so schnell, dass sie das Gefühl hatte, als würden ihr gleich die Augen aus dem Kopf springen, aber sie konnte keine Worte finden. »Liebst du ihn denn nicht?«, fragte Felin. »Könntest du es nicht zumindest versuchen?« »Ich tue es offensichtlich nicht«, sagte Selendra und betrachtete angewidert die glatten goldenen Schuppen ihrer Flanke. »Aber wieso denn nicht?« Darauf konnte Selendra nichts antworten, ahnte sie doch, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Sie ließ den Kopf hängen. »Liebst du einen anderen?«, hakte Felin nach. »Nein.«
»Warum also nicht? Wenn Sher dich genug liebt, um sich deinetwegen seiner Mutter zu widersetzen, was er zuvor für noch niemanden getan hat« - was er für mich nicht tun wollte, fügte Felin in Gedanken hinzu und seufzte, obwohl sie Penn sehr zugetan war - »dann halte ich es für deine Pflicht, zu versuchen, ihn zu lieben.« »Bestimmt will die Erhabene das nicht?«, fragte Selendra, die nun die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen hatte. »Nein, sie will es nicht, o nein.« Felin lächelte und ließ ihre scharfen weißen Zähne aufblitzen. »Und wäre das eine von Shers üblichen oberflächlichen Schwärmereien, wäre er mittlerweile fort, um sich anderweitig zu zerstreuen. Aber er
114 ist immer noch hier und er schaut in der Kirche noch immer zu dir hinüber. Meine Liebe, begreifst du nicht, dass es herzlos ist, ihm das anzutun? Liebst du ihn denn gar nicht?« Selendra dachte an das, was Amer gesagt hatte. Vielleicht, wenn er sie berührte. Aber er war doch schon so nahe gewesen. Ihr Herz war berührt worden, aber ihre Farbe nicht. Wenn er nahe genug gewesen war, um ihr Herz zu berühren, dann hätten sich ihre Schuppen doch sicherlich verwandeln müssen. »Ich mag ihn sehr, aber es ist unmöglich«, murmelte sie beinahe unhörbar. »Es tut mir Leid, Fehn, ich würde es, wenn ich es nur könnte, aber ich kann es eben nicht.« »Die meisten Jungfrauen an deiner Stelle wären nur zu froh, wenn ihnen einen Erhabener hinterherlaufen würde, ganz zu schweigen von einem, der so attraktiv und amüsant wie Sher ist«, sagte Fehn tief enttäuscht. »Wir haben so wenig Macht, wir Frauen«, sagte Selendra. »Nur die Wahl zu haben, einen Mann zu akzeptieren oder abzulehnen. Und selbst dann müssen wir darauf warten, dass sie uns fragen. Du sagst, ich soll an Reichtum und gesellschaftliche Stellung denken und missachten, was ich fühle.« »Nein. Nichts dergleichen. Gut zusammenzupassen reicht für das Glück, wie ich nur zu genau weiß. Das spielt alles keine Rolle bei dem, was ich dir wirklich sagen will; wenn du Sher lieben könntest, dann ist es deine Pflicht, ihn zu heiraten und glücklich zu machen.« »Könnte ich ihn lieben, wäre ich mit errötenden Schuppen von dem Picknick zurückgekommen«, sagte Selendra unwirsch. »Willst du wenigstens mit ihm reden?« »Er hat nicht versucht, mit mir zu reden«, sagte Selendra. »Er will mit dir am Tiefwintermorgen ausfliegen«, sagte Fehn. »Wirst du ihn begleiten?« Selendra schaute auf, Tränen in den lavendelfarbenen Augen. »Natürlich werde ich das.«
114 Felin wollte sie umarmen, zögerte dann jedoch auf einmal. Selendra hatte etwas Reserviertes an sich, etwas, das es schwer machte, sie so zu lieben, wie sich Schwestern lieben sollten. Vielleicht war es das, was sie daran hinderte, Sher zu lieben, wie es jeder vernünftige Drache getan hätte. Selendra schluckte die Tränen hinunter und versuchte an ihren neuen Hut zu denken und nicht an den Tiefwinter-morgen und Sher und Amers Worte - und an ihre widerborstigen goldenen Schuppen.
114 DIE FEINE GESELLSCHAFT
45. Eine dritte 'Beichte In der dritten Woche des Monats Eiswinter befand sich Sebeth wieder im Beichtraum der kleinen alten Kirche in Skamble. Wieder war es Abend, wieder nach dem Gottesdienst. Sebeth hatte ihre Beichte abgelegt und ihre Sünden waren vergeben worden. »Gibt es Neuigkeiten?«, fragte der Gesegnete Calien, als er die Krallen von ihren Augen nahm. »Gute Neuigkeiten, Gesegneter«, sagte sie. »Avan hat seine Meinung grundsätzlich geändert. Noch vor kurzem wollte er sich meinen Vorschlag, ein paar Häuser vor dem Abriss zu bewahren, nicht einmal anhören, jetzt wird er halb Skamble unangetastet lassen, einschließlich dieser Straße.« Der Priester blinzelte erstaunt. »Was hat seine Meinung geändert?«
»Ich weiß es nicht, Gesegneter. Es ist über Nacht geschehen, an dem Tag, nach dem ich das letzte Mal hier war. Ich
115 war deshalb so besorgt, und er war nicht einmal an dem interessiert, was ich zu sagen hatte. Dann, plötzlich, hörte er auf alles, was Sie mir vorgeschlagen hatten, das ich sagen sollte, und es gefiel ihm und das meiste wird in den neuen Plan übernommen.« »Bist du sicher?« Caliens dunkle Augen drehten sich schneller. »Ich habe die Papiere zweimal kopiert«, sagte Sebeth und krümmte bei der Erinnerung unwillkürlich die Finger. »Der obere Teil, in der Nähe der Eisenbahn, bei den Güterhöfen, wird ganz abgerissen und in Lagerhäuser verwandelt.« »Das wäre eigentlich auch nicht zu retten gewesen, das ist eigentlich nur ein Elendsviertel«, sagte der Priester. »Und obwohl es einigen der Ärmsten der Stadt Unterkünfte bietet, sollte niemand im Lärm der Rangiermaschinen leben müssen. Das entspricht ganz meinem Plan.« »Avan sagt, die Häuser dort verfügen kaum über Ausschachtungen, die Drachen sitzen auf der nackten Erde.« Sebeth schauderte bei dem Gedanken. »Verachte nicht die Armen für das, was sie erdulden müssen«, sagte Calien fromm. »Verachte nicht die Diener, denn sie haben sich ihre Schwingen nicht selbst gebunden.« »Nein, Gesegneter«, sagte Sebeth beschämt. »Was ist mit dem Rest von Skamble?« »Der ist gerettet!«, sagte Sebeth, und ihre Augen leuchteten wie zwei blaue Sterne auf. »Das Ministerium heißt Planung und Verschönerung, wissen Sie, und Avan wird etwas von dem Geld, das die Lagerhäuser einbringen werden, zurückhalten und es dazu benutzen, das zu verschönern, was übrig bleibt. Nur die elendesten Hütten werden abgerissen und an ihrer Stelle wird man bessere Häuser bauen und kleine Obstgärten am Fluss anlegen. Er hofft, dass es den Drachen dann dort besser geht. Es wird Darlehen geben für jene, die bereit sind, an ihren Häusern mitzuarbeiten.« »Und was wird mit der Kirche geschehen?«
115 »Die Straße wird nicht verlegt«, sagte Sebeth stolz. »Ich habe ihn dazu überredet, die Lagerhausgrenze ein Stück nördlich von hier festzulegen.« »Gut gemacht«, sagte der Priester. »Es muss ein Wunder des Gesegneten Camrans sein, dass er seine Meinung so plötzlich geändert hat. Sei gesegnet, kleine Schwester, das hast du gut gemacht.« Er runzelte die Stirn, und Sebeth fragte sich nach dem Grund. »Camran sei Dank«, sagte sie und beugte den Kopf. »Bist du sicher, dass Avan das Recht hat, solche Entscheidungen zu treffen? Dass das Ministerium nicht von einem anderen Ministerium überstimmt werden kann?«, fragte Calien besorgt. »Ich habe die Dokumente, die das festlegen, mehrmals kopiert, einige davon reichen bis zur Eroberung und der Gründung von Irieth zurück. Er hat das Recht dazu, da bin ich mir ganz sicher.« »Hast du etwas über die Gründung von Irieth in Erfahrung bringen können?« »Nur das, was wir bereits wissen, dass es nach der Eroberung gegründet wurde, als die Yargen uns endgültig besiegt hatten und uns alle innerhalb der Grenzen zusammentreiben wollten, so wie Bauern Schweine getrennt von den Hammeln einpferchen.« Dawar eine gewisse Bitterkeit in Sebeths Ton. »Manche behaupten, Irieth gab es schon davor als Stadt«, sagte Calien, und seiner Stimme war eine gewisse Zurechtweisung anzuhören. »In einer alten Urkunde wurde der Majestätische Tomalin erwähnt«, gab Sebeth zu. »Wer kann das schon sagen, da das so lange her ist«, sagte der Priester. »Es war die Gnade Jurales, dass die Yargen die Götter kannten und sie uns brachten, statt uns alle auszurotten, da ihnen das doch möglich gewesen wäre.« »Ja, Gesegneter.« 115
Einen Augenblick lang saßen sie schweigend da, dachten darüber nach und über die Bekehrung, die die Yargen der Drachenheit aufgezwungen hatten, die für sie die Wahrheit darstellte, während es die meisten richtig denkenden Drachen für die blanke Ketzerei hielten. Dann plagten Calien erneut die Sorgen. »Kann Avan innerhalb des Ministeriums überstimmt werden?« »Nun, ja, aber ich glaube nicht, dass das in diesem Fall passieren wird«, antwortete Sebeth. »Warum nicht?« »Liralen hat ihm allein dieses Projekt anvertraut, und es wird Liralens Ansehen nutzen, dass er gute Arbeit leistet. Liralen wird das Projekt dem Verwaltungsrat vorlegen und der Rat wird wie immer das tun, was er ihm vorschlägt. Normalerweise könnte es Rivalitäten innerhalb des Büros geben, aber nicht in diesem Fall, da Avan Kest so erfolgreich in die Schranken gewiesen hat.« »Gut...« Calien zögerte, sein Blick war noch immer besorgt. »Kest macht keine Schwierigkeiten mehr?« »Kest macht Schwierigkeiten, so wie ein normaler Drache fliegt, aber im Augenblick gibt er sich mit Anspielungen zufrieden. Sie wissen schon, Gesegneter.« Sebeth verstellte ihre Stimme und äffte Kests Gejammer nach. »Auch wenn Avan mich von hinten angegriffen hat und ohne jede Vorwarnung, habe ich geschworen, ihn zu unterstützen, und darum werde ich mir aus Respekt ihm gegenüber nicht gestatten, dass mir die Worte Unterschlagung oder Ämterkauf über die Lippen kommen.« Der Priester lachte. »Bringt ihm das Freunde ein?« »Im Gegenteil«, bestätigte Sebeth. »Dann sag mir Bescheid, wenn die Angelegenheit dem Verwaltungsrat vorgelegt worden ist, und wir werden uns alle versammeln und den Göttern für unsere Rettung danken.« »Vielen Dank, Gesegneter, das werde ich«, sagte Sebeth und richtete sich auf die Hinterbeine auf, um zu gehen.
116 »Warte«, sagte Calien. »Ich habe noch andere Neuigkeiten für dich.« Sebeth wartete gehorsam und senkte den Kopf. »Dein Vater ist sehr krank«, sagte er. Sebeths Kopf schoss in die Höhe, ihre Augen schleuderten Blitze. »Ich habe keinen Vater, das wissen Sie«, sagte sie. »Sie wissen, dass er mich zurückgestoßen hat, als ich ihn am meisten brauchte, Sie wissen, was mir passiert ist und was für ein Leben ich geführt habe. Damals haben Sie und die anderen Gesegneten mir geholfen. Ich habe keinen Vater außer Veld, der unser aller Vater ist. Das wissen Sie.« »Du hast einen irdischen Vater, ob du ihn nun anerkennst oder nicht, und er ist sehr krank«, sagte Calien ruhig. »Die Kirche lehrt Vergebung für alle Sünden.« »Für jede bereute und gebeichtete Sünde«, sagte Sebeth. »Das wird er niemals tun. Ich muss ihm nicht vergeben.« »Bist du Veld, um zu wissen, was er in seinem Herzen verborgen hält?« »Nein, Gesegneter«, sagte Sebeth, senkte aber nicht unterwürfig den Kopf. »Er mag bereut haben, aber er hat mir großen Schaden zugefügt, und ich kann ihm nicht verzeihen.« »Das ist eine Sünde, die du in der Beichte zur Sprache hättest bringen müssen«, sagte er streng. »Ja, Gesegneter, aber als ich in der größten Not war, hat er gesagt, er hätte genug Kinder und hat mich im Stich gelassen.« Sebeth klang nicht reuig. »Camran könnte ihm vergeben, und Jurale, die so weise ist, aber ich glaube, selbst sie hätten Probleme, hätte er ihnen das angetan.« »Wie dem auch sei, er ist krank, und es heißt, dass er nach dir sucht.« »Nach mir?« Sebeth blinzelte. »Er sagte ...« »Und ich sagte, er hat möglicherweise bereut, das damals gesagt zu haben«, unterbrach der Priester sie sanft. »Woher wissen Sie das?« »Ich höre vieles. Ich habe gehört, dass sein Leben bald zu
116 Ende ist, und dass er nach dir sucht. Ich sage dir das. Du musst das tun, was du für richtig hältst. Wenn du ihm nicht vergeben kannst, weil er sich dir gegenüber versündigt hat, dann solltest du darüber nachdenken, ob du ihn nicht zu einer aufrichtigen Beichte bewegen kannst.« »Sie meinen, ich sollte Sie mitnehmen und ihn besuchen?«, fragte Sebeth.
»Wenn du gehst, solltest du allein gehen, aber frage ihn, ob er mich empfangen will oder einen anderen Priester. Er könnte bereit sein, zuzuhören. Camran hat ein Wunder vollbracht. Er könnte auch ein weiteres vollbringen. Jede gerettete Seele ist ein Segen und eine in so hoher Stellung ist ein Beispiel für andere.« »Er würde niemals in der Öffentlichkeit konvertieren«, sagte Sebeth überzeugt. »Oh, Gesegneter, ich will ihn nicht sehen. Ich sollte ihm vergeben, aber ich kann es nicht, und ihn zu sehen, solange ich so empfinde, würde uns nur beiden Leid bringen. Wenn er mich sehen will, dann sicher, damit ich ihm vergebe, und dazu bin ich nicht bereit.« »Du wirst vielleicht nicht viel Zeit haben, um dich darauf vorzubereiten«, sagte Calien. »Aber geh jetzt und denke darüber nach, was du tun willst.« Sebeth sammelte sich, nahm die Mantille ab und ging hinaus in die Straßen von Skamble. Als sie zur Kirche gekommen war, hatte sie beinahe vor Freude getanzt, weil sie sie gerettet hatte, aber sie ging mit schleppenden Schritten von hinnen und legte die Stirn so sehr in Falten, dass es beinahe ihre Ohren nach vorn zog.
46. Ein vierter Antrag Daverak erfüllte weder Haners schlimmste Befürchtungen noch ihre größten Hoffnungen. Er gab ihr nicht die Schuld an Berends Tod, und er führte sie auch nicht zum nächsten
117 Sims und befahl ihr, loszufliegen. Er fraß sie nicht aufgrund irgendeines Vorwands und verlangte auch nicht, dass sie ihn heiratete, um den Platz ihrer Schwester einzunehmen, wie es in Haners Albtraum in der ersten Nacht nach Berends Tod geschehen war. Er bestand auch nicht darauf, dass sie weiterhin in dem Zimmer schlief, in dem Berend gestorben war, teilte ihr auf der Stelle eine andere Schlafhöhle zu, als sie ihr Unbehagen erwähnte. Andererseits wollte er aber auch nicht ihre Mitgift erhöhen, wie Berend es dem Ehrwürdigen Londaver in Aussicht gestellt hatte. Das Einzige, das er dazu sagte, war, dass er es in Betracht ziehen würde, nachdem er ihrem Bruder eine Lehre erteilt hatte. Sie bekam ihren gerechten Anteil an Berends Leichnam und Lamith maß sie später und da hatte sie siebeneinhalb Meter erreicht. Daverak, der mit den Kindern natürlich den größten Anteil bekam, wuchs noch mehr und erreichte fast fünfzehn Meter. Sie blieb in Daverak, half den Haushalt zu führen und nach den Kindern zu sehen, kümmerte sich um Berends Eier und versuchte das Los der Diener und anderer Drachen des Gutes zu verbessern, aber ganz verstohlen, um Daveraks Aufmerksamkeit nicht unnötig zu erregen. Die Kinder konnten den Verlust ihrer Mutter nur schwer verkraften und neigten dazu, sich als Ersatz an sie zu klammern. Der Ehrwürdige Londaver besuchte sie am Tag nach Daveraks Rückkehr und verbrachte eine Weile unter vier Augen mit ihrem Schwager, redete aber nicht mit ihr. Sie war überrascht, als er eine Woche später, an dem ersten klaren Tag nach mehreren Tagen ununterbrochenen Schneefalls, erneut zu Besuch kam und sie sprechen wollte. Sie traf ihn in dem eleganten Salon, in den Lamith ihn geführt hatte. Obwohl er sehr beeindruckend aussah mit seinen blankpolierten dunklen Schuppen, stand er unsicher vor dem Kamin und schien die Achatintarsien zu bewundern. Unter dem Arm hielt er ein Buch. Er hätte in dem
117 Salon eindrucksvoll aussehen sollen, stattdessen wirkte er lediglich verzagt. Haner blieb in der Tür stehen, als wollte sie nur einen Augenblick lang bleiben. »Der Erlauchte Daverak ist geschäftlich nach Agornin«, sagte sie. »Ich bin gekommen, um Sie zu sehen, Haner«, sagte er. Haner wollte es ihm nicht leicht machen. »Gibt es etwas, das Sie mir sagen wollen, Ehrwürdiger Londaver?« Ihre Blicke trafen sich, und zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, fühlte sie eine kribbelnde Aufregung. »Haner, Sie wissen, dass ich Sie liebe«, sagte er. »Das habe ich Ihnen neulich abends schon gesagt. Ich betrachte mich Ihnen verbunden, wie auch immer Sie das sehen mögen. Aber Daverak...«
»Ich weiß. Er weigert sich, die Mitgift aufzustocken, jetzt, da Berend tot ist«, sagte Haner und machte einen Schritt ins Zimmer. »Er hat es mir gesagt.« »Ich möchte Sie heiraten, aber ich kann es mir einfach nicht leisten. Auch das wissen Sie ja«, sagte er voller Verzweiflung. »Wir müssen warten.« »Warten? Worauf?« »Dass einer meiner Onkel stirbt und mir etwas Gold hinterlässt, oder dass das bei einem Ihrer Verwandten passiert.« Er schien nicht viel Vertrauen in seinen Plan zu haben. »Oder ich könnte nach Irieth oder eine andere Stadt gehen und dort versuchen, mein Glück zu machen - aber das wäre etwas seltsam, da ich doch ein Ehrwürdiger bin, verstehen Sie?« Londaver verlagerte verzagt das Gewicht von einem Bein auf das andere. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie Handel treiben oder ein Regierungsamt wie mein Bruder Avan annehmen. Das einzige Glück, nach dem Sie suchen könnten, wäre eine reiche Braut.« »Ich habe noch nie jemanden kennen gelernt, den ich so sehr mag wie Sie«, sagte Londaver und seine Stimme klang
118 aufrichtig. »Und Sie sind so klug. Ich selbst bin nicht besonders klug. Aber Sie könnten für uns beide klug sein. Ich habe viel über das nachgedacht, was Sie gesagt haben, über die Sterne, und darüber, die Diener gut zu behandeln. Ich stimme Ihnen zu, je mehr ich darüber nachdenke. Ich würde gern mehr darüber hören, was Sie über die Dinge denken. Ich will keine andere heiraten als Sie.« »Oh, Londaver«, sagte Haner, deren Herz sofort weich wurde. Unwillkürlich machte sie einen weiteren Schritt auf ihn zu. »Aber wir müssen warten«, sagte er und streckte eine Klaue aus, um sie aufzuhalten. »Ich werde warten«, sagte sie und blieb dort stehen, wo sie war. »Aber auf unbestimmte Zeit zu warten, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben, ist sehr schwierig.« »Sie können es sich jederzeit anders überlegen«, sagte er schnell. »Wenn jemand anderes Ihnen einen Antrag macht. In diesem Fall werde ich trotzdem keine andere heiraten, jedenfalls sagen das die Helden in den Geschichten immer. Doch Sie wissen, dass das nicht geht. Man hat eine Verpflichtung der Familie gegenüber, wenn man der Erbe ist, ganz egal, was man im Innersten fühlt. Aber es wird mir für alle Ewigkeit Leid tun.« »Also sagen wir allen, dass wir aufeinander warten?«, fragte Haner. Londaver dachte einen Augenblick lang mit wirbelnden Augen nach. »Ich glaube nicht. Das macht alles noch schwieriger.« Er seufzte. »Es ist eine solche Schande, dass ich nicht einfach losziehen und mir das Gold in einer Yargenstadt holen kann, um dann zurückzukehren und Sie zu heiraten. Das Leben war damals so viel einfacher. Manchmal hasse ich den Gedanken an Gold. Aber wenn wir jetzt heiraten, dann werden wir bald nur noch unsere Betten übrig haben. Londaver ist kein reicher Haushalt, wissen Sie, und wir sind den Dienern und Bauern gegenüber gern gerecht.«
118 »Ich bewundere das«, sagte Haner wahrheitsmäßig. »Sie sind fabelhaft«, sagte Londaver. »Ich habe Ihnen übrigens ein Buch mitgebracht.« Er hielt es ihr schüchtern entgegen, und sie nahm es zögernd. »Die Unterdrückung der Diener von Calien Afelan«, las sie. »Das Buch gehört meiner Mutter«, sagte Londaver. »Ich dachte mir, Sie würden es vielleicht gern lesen, da es Dinge betrifft, die Sie erwähnt hatten.« »Danke«, sagte Haner tief gerührt. Londaver seufzte. »Das Warten wird mir sehr schwer fallen.« Als er ging, blieb sie mit dem Gefühl zurück, ihm wesentlich mehr zugetan zu sein, als noch bei seinem ersten Antrag, dass die Verlobung aber wesentlich unsicherer war. »Was hat er gesagt, Geschätzte?«, fragte Lamith, als sie in ihr neues Zimmer eintrat. Die Tatsache, seit mehreren Monaten Haners Dienerin zu sein und dass Berend seit einer Woche nicht mehr in dem
Haushalt unter ihnen weilte, hatte dazu beigetragen, dass Lamith sich in ihrem Umgang mit Haner etwas wohler zu fühlen begann und ihr beinahe schon so etwas wie Vertrauen entgegenbrachte, wenn sie allein waren. »Er hat gesagt, er liebt mich und wir sollten mit der Heirat warten, bis wir es uns leisten können«, sagte Haner und warf sich mit einem Seufzer auf ihr Gold. Lamiths Vertraulichkeit ging nicht soweit, dass sie sagte, was sie von solchen Aussichten hielt, also beschränkte sie sich auf ein Zungenschnalzen und ergriff ein Schaffell, um die goldenen Schuppen ihrer Herrin auf einen solchen Hochglanz zu polieren, wie sie nur konnte.
119
4 7. Die erste Anhörung Hathor und Avan schlenderten gemeinsam durch das Torisviertel von Irieth zum Gericht. Hathor, dessen Ausstrahlung größer als seine Maße war, schritt zuversichtlich aus. Avan ging wie ein Drache, der nur mühsam verhindern konnte, dass sein Schwanz unkontrolliert hin und herzuckte. »Es gibt nicht den geringsten Grund, nervös zu sein«, sagte Hathor. »Das ist nur eine Voranhörung, um zu entscheiden, ob überhaupt ein Verfahren stattfinden wird.« Avan versuchte zu lächeln, aber seine Augen verrieten seine Nervosität. »Das haben Sie mir jetzt schon sechsmal gesagt.« »Warum sind Sie dann so besorgt?«, fragte Hathor aufmunternd. »Ich verstehe das nicht. Daverak und seine teuren Anwälte sollten nervös sein. Alle sind auf unserer Seite.« »Es scheint jedenfalls so«, gab Avan zu und bemühte sich um einen unbeschwerten Tonfall. »Sie haben so viele Male vor Gericht gestanden. Ich bin ein Drache aus der Provinz, für mich ist das alles neu. Hier herrscht die wahre Macht.« »Macht, ja, aber das ist alles in Rituale gebunden. Ihre Kollegen, die Ihre Stellung im Planungsministerium begehren, sind eine viel größere Gefahr für Sie. Vermutlich wird der Erlauchte Daverak heute nicht einmal persönlich anwesend sein.« »Ich habe keine Angst vor Daverak«, schnaubte Avan. »Das sind nur die Nerven, wegen der ganzen Geschichten, die mir mein Kindermädchen erzählt hat.« »Die werden keine Rolle mehr spielen, sobald wir da sind«, sagte Hathor und versuchte beruhigend zu klingen, aber sein Ton verriet sein völliges Unverständnis. Ihr Weg führte sie an dem berühmten Malnasimen Brauhaus vorbei, das an diesem Tag einen so dichten Hefedunst ausströmte, dass man die Luft beinahe mit den Klauen freiwedeln musste.
119 »Wie ich gehört habe, gibt es eine Bewegung, die die Brauereien aus der Stadt verbannen will«, sagte Hathor, das Thema wechselnd. »Was für eine gute Idee«, erwiderte Avan, der beinahe keine Luft mehr bekam. »Bier ist ein Segen Jurales, aber das Brauen ist ein widerwärtiger Prozess.« »Haben Sie im Planungsministerium denn nichts davon gehört?« »Letztes Jahr machte eine Petition die Runde, aber falls jemand im Ministerium sich der Sache angenommen haben sollte, wäre mir das neu.« Avans Zuversicht wuchs, als er das sagte, seine Augen beruhigten sich, sein Schwanz begradigte sich und er ging schneller, sodass sein Anwalt mit seinen kürzeren Beinen sich beeilen musste, um mit ihm mitzuhalten. »Das ist nicht meine Abteilung, aber ich glaube, die Malnasimen haben eine uralte Bewilligungsurkunde, die ihnen erlaubt, hier Bier zu brauen. Außerdem behaupten sie, dass das Bier dunkel und obergärig sei und sich schlecht transportieren lässt; wenn wir also nicht wollen, dass Irieth mehr Geld für schlechteres Bier ausgeben muss, sollten wir sie in Ruhe lassen. Die anderer Brauereien behaupten dasselbe, fuchteln aber nicht mit ihren Urkunden herum, weil sie nämlich keine haben.« Der Rechtsanwalt schwieg einen Augenblick und sah seinen Klienten nachdenklich an. »Also bleiben sie hier?«, fragte er dann.
»Ich schätze, sie werden noch immer hier ihr Bier brauen und Drachen regelmäßig Petitionen dagegen einreichen, wenn unsere Enkel selbst schon Väter sind«, sagte Avan. »Aber das ist nur meine persönliche Meinung, keine offizielle Stellungnahme vom Planungsministerium.« »Für manche Drachen sind Ihre Meinungen so viel wert wie Gold«, meinte Hathor. »Ich wünschte, ich würde solche Drachen nicht kennen«, sagte Avan bitter.
120 Hathor warf ihm einen Blick zu, sagte aber nichts. In diesem Moment kamen sie um eine Ecke und plötzlich ragte der Eingang zum Großen Justizpalast vor ihnen auf. Es war ein gewaltiger, höhlenartiger Eingang, dessen Wände mit Herzen, Blumen und anderen abstrakten Darstellungen der Gerechtigkeit verziert waren. Avan verlangsamte den Schritt. »Jetzt hören Sie auf meinen Rat«, sagte Hathor und schnappte Aufmerksamkeit heischend mit den Zähnen. Avan fuhr herum und starrte seinem Anwalt ins Gesicht. »Bleiben Sie ruhig. Behalten Sie Ihr Selbstvertrauen. Sie sind so selbstbewusst, wenn Sie über Ihren Beruf sprechen. Ich weiß nicht, warum der meine Ihnen so zu denken gibt...« »Wie ich schon sagte, Mangel an Erfahrung.« Avan blinzelte und hielt seinen Schwanz nur durch schiere Willenskraft still. »Ich weiß, dass die Richter nicht anordnen werden, dass man mich frisst, aber sie haben die Macht, es zu tun. Das Gesetz erlaubt es, dass Drachen wie ich, Drachen, die stärker sind, auf Entschädigung verklagen können, aber die Richter können jederzeit jedem befehlen, sich dem Kampf zu stellen.« »Geht es hier um Daveraks Brief? Denn ich kann Ihnen versichern, dass er unserem Fall helfen wird, seine Einschüchterungstaktik zu beweisen. Er mag gedroht haben, Ihnen alles bis auf die Knochen wegzunehmen, aber er zeigt gleichzeitig, dass er auch Ihre Schwestern bedroht und sie sogar dazu gebracht hat, ihre Namen von der Klageschrift zurückzuziehen. Machen Sie sich keine Sorgen.« Hathor konnte nicht verhindern, dass sich ein Hauch von Ungeduld in seine Stimme schlich. »Das ist es nicht, wirklich nicht«, sagte Avan. »Aber sehen Sie sich das an.« Er zeigte auf den Eingang. »Es soll einschüchtern, und es schüchtert mich auch ein.« »Es soll Übeltäter und Drachen einschüchtern, keine unnötigen Klagen einzureichen«, sagte Hathor. »Sie sind keines von beiden. Aber es ist wichtig, dass Sie bei den Richtern
120 einen guten Eindruck machen. Seien Sie ruhig. Und vor allem, sehen Sie nicht schuldig oder besorgt aus. Denken Sie an die Straßen von Irieth und die Bedeutung der Brauereien. Als Sie darüber sprachen, hätte jeder sehen können, dass Sie im Recht sind.« Avan lachte. Hathor nickte den Wächtern am Tor zu, die ihn kannten und ehrerbietig die Schranke öffneten. Die beiden Drachen traten ein und schritten in das Gebäude hinunter. Das Gericht befand sich tief in der Erde in einer vergrößerten natürlichen Höhle, was es in Irieth nur selten gab. Hathor führte Avan an Reliefs vorbei, die die Ausführung der Gerechtigkeit darstellten. Hier hielt ein Richter ein noch blutendes Herz hoch, dort berieten ein Yarge und zwei prächtige Drachen über eine Blume. Avan wusste, dass es lächerlich war, bei ihrem Anblick zusammenzuzucken. Er hatte bis jetzt durchgehalten, es war lächerlich, jetzt den Schwanz einzuziehen. Hathor ließ Avan in einer Nische direkt vor dem großen kreisrunden Gerichtssaal Platz nehmen und eilte weiter, um mit dem Gerichtsschreiber und den anderen Anwälten zu sprechen. Avan versuchte an seine Arbeit zu denken, wie Hathor es vorgeschlagen hatte, aber seine Aufmerksamkeit schweifte immer wieder zu der einschüchternden Macht ab, die der Saal verkörperte. Liralen hatte den Plan für Skamble begeistert begrüßt, bald würde er vom Verwaltungsrat genehmigt werden. War das einer der Richter, der eintrat? Nein, nur ein weiterer Gerichtsschreiber. Er saß unruhig da und schließlich sorgte die schiere Langeweile dafür, dass er sich an diesen Ort gewöhnte. Hathor holte ihn nach einer kleinen Ewigkeit ab und führte ihn an weiteren Wächtern vorbei zu einem Podest, das sich quer durch den Raum zog. »Sie müssen nichts anderes tun als zu bestätigen, dass Sie da sind«, erinnerte ihn Hathor leise. »Wenn Sie die Richter ansprechen, nen
121 nen Sie sie Ehrenwehrte, so als wären sie Helden aus alter Zeit.« Sie standen vor einer Treppe, die in drei gewaltigen Stufen endete, über der weitere bedrohliche Reliefs aus von Blumen umgebenen Herzen und Ranken aus Fell angebracht waren. Auf der anderen Seite des Raumes befand sich direkt gegenüber ein weiteres Steinpodest, vor dem drei Anwälte standen, die Avan alle unbekannt waren. Ein Gerichtsschreiber mit einer langen wollenen Perücke wartete geduldig vor den Stufen. Hinter der Treppe war ein Durchgang, der genauso gut bewacht wurde wie der Korridor dahinter. Die Decke war sehr hoch, hoch genug, dass Avan sich fragte, ob es sich wirklich um eine natürliche Höhle handelte. Hathor stieß ihn an und er wandte hastig den Blick wieder dem Saal zu. Schließlich kamen die drei Richter in einer Reihe hinein. Sie nahmen ihre Plätze auf der obersten der drei großen Stufen ein. Ein Richter hatte schwarze Schuppen, einer bronzene und der letzte wies ein rostiges Bronze auf, das fast schon grün war. Auf dem Kopf trugen sie gewaltige, aufeinandergeschichtete Rollen in weißer Farbe, die berühmten Richterperücken. Sie ließen Avan einen Augenblick lang erzittern; er sah die ungebrochene Macht des Gesetzes vor sich, das befehlen konnte, dass man ihn in Stücke zerteilte und fraß. Hathor konnte leicht behaupten, dass er im Büro in größerer Gefahr schwebte; dort zählten seine Zähne und Klauen, hier waren sie nichts im Angesicht der Richter und Wächter. Hathor legte drei Perücken auf das Podest vor sich. Die drei Anwälte der Gegenseite beeilten sich, ihre Perücken aufzusetzen. Jede Perücke schien einen anderen Stil zu verkörpern. Avan, der nie viel mit dem Gesetz zu tun gehabt hatte, wusste nicht, was sie jeweils bedeuteten. »Der Hochgeschätzte Avan Agornin in einer Zivilklage gegen den Erlauchten Daverak von Daverak, in der Angele
121 genheit der Absichten des verstorbenen Ehrwürdigen Bon Agornin«, begann der Gerichtsschreiber plötzlich, ein Blatt in den Klauen haltend. »Sind sie anwesend?«, fragte der Richter in der Mitte, der mit den Bronzeschuppen. Hathor setzte sich die kleinste und am festesten gerollte Perücke auf und erhob sich. »Der Hochgeschätzte Avan Agornin ist anwesend«, sagte er, zeigte auf Avan und setzte sich wieder. »Sind Sie der Hochgeschätzte Avan Agornin?«, wandte sich der mittlere Richter an Avan. Avan erhob sich und verbeugte sich. »Ja, Ehrenwerter«, sagte er, und es kam wesentlich leiser als beabsichtigt heraus. Hathor streckte die Klaue aus und zog ihn wieder herunter. Auf der anderen Seite des hallenden Raumes erhob sich ein junger Drache, der die gleiche kleine Perücke wie Hathor trug. »Der Erlauchte Daverak von Daverak ist nicht anwesend, fechtet die Klage aber an und ist bereit, bei einer weiteren Anhörung zu erscheinen, sollte entschieden werden, dass es einen Prozess gibt.« Hathor ersetzte seine Perücke durch die wollene in der Mitte und erhob sich wieder. »Eine Frage, Ehrenwerte«, sagte er. »Ja?«, fragte der Richter mit den schwarzen Schuppen auf der linken Seite mit gelangweilter Stimme. »Wenn sich der Erlauchte Daverak so wenig für den Fall interessiert, vielleicht sollte dann sofort zugunsten meines Vollmachtgebers entschieden werden«, sagte er. Avan sah ihn erstaunt an. Auf der anderen Seite des Raumes erhob sich ein Drache, dessen Perücke so wollig wie Hathors war. »Einspruch, Ehrenwerte«, verkündete er. »Ihr Einspruch?«, fragte der Richter. Etwas an der Weise, wie er es sagte, war seltsam. »Im Fall Salak gegen Cletsim wurde festgelegt, dass der
121 Beschuldigte in einer Zivilklage nicht persönlich erscheinen muss, bis bewiesen wurde, dass er sich der Anschuldigung stellen muss, damit wichtige Drachen nicht ihre ganze Zeit mit leichtfertigen Klagen verschwenden müssen.« »Und damit die, die solche Klagen vorbringen, nicht gefressen werden«, ergänzte der Richter mit den schwarzen Schuppen. Alles lachte pflichtschuldig, mit Ausnahme von Avan. Er hatte herausgefunden,
was hier so seltsam war. Sie sprachen wie Drachen, die bei einem Gottesdienst die rituellen Erwiderungen gaben. »Einspruch stattgegeben. Sollen wir fortfahren?« Hathor sprang auf, verbeugte sich, dann setzte er sich wieder. »Sind Schriftstücke vorzulegen?«, fragte der bronzefarbene Drache. Hathor setzte wieder die kleine Perücke auf und ging mit einem Stapel Papiere die Stufen hinauf. Der junge Drache auf der anderen Seite des Raumes folgte seinem Beispiel. Hathor kehrte zurück und setzte sich wieder neben Avan. »Was passiert jetzt?«, flüsterte Avan. »Das ist der wichtige Teil. Sie haben die Schriftstücke gesehen, sie werden sie miteinander vergleichen, dann werden sie sagen, dass die Klage gerechtfertigt ist und ein Prozessdatum festsetzen.« »Und was hatte das davor zu bedeuten, Ihr Einspruch, dass Daverak nicht anwesend ist? Hatten Sie nicht gesagt, dass er vermutlich nicht da sein wird?« »Ein Ritual. Wir mussten das tun, aber ich wusste, was passieren würde. Keine Sorge.« Avan war nicht länger besorgt, er war neugierig. »Warum haben Sie drei Perücken?« »Die Verfahrensperücke, wenn ich dem Gericht grundsätzliche Fakten darlege, so wie Ihre Identität oder Schriftstücke einreiche«, sagte Hathor und deutete auf die kleine
122 Perücke, die er noch immer trug. »Die Perücke des Untersuchungsanwaltes, um Fragen zu stellen oder Einsprüche geltend zu machen. Dann die hier.« Er zeigte auf die Dritte und Größte, die fast so aufwändig wie die der Richter war, und die vermutlich die Wolle eines ganzen Hammels zu ihrer Herstellung benötigt hatte. »Das ist die Verteidigerperücke, wenn wir Zeugen verhören und meinen Fall zusammenfassen und vortragen.« »Warum sind auf der anderen Seite drei Drachen, von denen jeder eine dieser Perücken trägt?« »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass er kostspielige, erfahrene Anwälte beauftragt hat«, sagte Hathor. »Das beweist, dass er besorgt ist. Er hat einen Verfahrensanwalt, einen Untersuchungsanwalt und einen Verteidiger und dieser ist der Ehrwürdige Jamaney, einer der Besten seines Faches in Irieth. Der Drache mit der Perücke des Untersuchungsanwaltes ist Mustan, er ist gut, wenn auch jung und ungestüm. Den Dritten mit der Verfahrensperücke kenne ich nicht, vermutlich einer von Mustans Partnern oder Assistenten.« »Verschafft ihm das einen Vorteil?«, Avan starrte die drei Anwälte der Gegenseite an. »Weil sie ihre Perücken nicht wechseln müssen? Sollten wir noch Helfer beauftragen?« »Nein. Wirklich nicht. Ich habe darüber nachgedacht, aber wir sind so besser dran. Es verschafft ihm bei weitem nicht den Vorteil, den er sich erhofft. Bei einigen Verfahren würde es das, aber nicht bei diesem hier. Ich sagte Ihnen ja, es bedeutet, dass er oder zumindest sein Anwalt besorgt ist. Er weiß, dass wir alle Klauen auf unserer Seite haben, also versucht er, sie mit Perücken zu beeindrucken. Bei der zweiten Anhörung kommt es vor allem darauf an, was die Geschworenen denken. Wir werden Geschworene aus der Stadt haben, da ist von Anfang an die Hälfte auf Ihrer Seite. Wir wollen diverse Dinge beweisen, erstens, dass es hier um den Willen Ihres Vaters geht, und zweitens, dass Daverak ein reicher Rüpel ist und Sie ein hart arbeitender, aufstrebender
122 Drache, der um sein Erbe betrogen wurde. Überlegen Sie doch nur, wie das aussehen wird, wenn ich die Perücken wechsle und für Sie schufte, während bei ihm gemütlich drei Anwälte sitzen?« »Sie lassen es eher wie ein Theaterstück als wie Gerechtigkeit klingen«, sagte Avan irgendwie enttäuscht. »Das ist es auch«, sagte Hathor in einem leidenschaftlichen Flüstern. »Es ist Theater. Sie haben mich mit den Perücken gesehen. Wenn es keine Rolle spielt, werde ich sie so unauffällig wechseln, dass es Ihnen nicht einmal auffällt, aber wenn ich mit ihnen herumfummele, dann soll das allein zeigen, dass Sie nur einen Anwalt haben und er drei, oder weil wir wollen, dass die Geschworenen einen Moment Zeit bekommen, um über das nachzudenken, was gerade gesagt wurde. Sie werden schon sehen. Es wird unser Vorteil sein.«
»So langsam begreife ich, warum Sie mich für einen Hammel hielten, weil ich mich vor all dem hier gefürchtet habe.« Hathor runzelte die Stirn. »Nein, es ist richtig, dass Drachen, die mit alldem hier nicht vertraut sind, dem Ganzen eine gewisse Ehrfurcht entgegenbringen. Auch das ist Teil des Theaters. Und jetzt still, der Richter wird sein Urteil sprechen.« Der alte Richter mit den verrostet aussehenden Bronzeschuppen, der seit ihrem Eintritt dort so reglos wie eine Statue gesessen hatte, hielt seine Perücke mit einer Kralle fest und erhob sich. »Wir vertreten die Ansicht, dass dieser Fall verhandelt werden muss«, sagte er, und seine Stimme war ein zitterndes Flüstern. Dann ließ er sich wieder zurücksinken. »Ein Antrag.« Daveraks Untersuchungsanwalt war aufgesprungen. »Ja?«, fragte wieder der schwarzschuppige Richter. »Wir wünschen eine zwangsweise Vorladung für den Zeugen Gesegneter Penn Agornin.«
123 »Warum?«, wollte der Richter wissen. In dem gelangweilten Tonfall schwang ein Hauch von Neugier mit. »Er hat sich geweigert, eine Aussage zu machen, und mein Mandant ist der Meinung, dass seine Aussage von entscheidender Bedeutung ist.« »Irgendwelche Einwände dagegen?«, fragte der Richter und sah Hathor und Avan an. Hathor erhob sich, die Perücke des Untersuchungsanwaltes fest auf dem Kopf. »Kein Einspruch, aber wir hätten gern ähnliche Zwangsvorladungen für die Hochgeschätzten Haner und Selendra Agornin, die man, wie wir befürchten, eingeschüchtert hat, ihre Namen von der Klageschrift meines Mandanten zurückzuziehen und nicht auszusagen.« Der schwarze Richter blinzelte sichtlich. Der Bronzefarbene beugte sich ein Stück vor. Der Rostfarbene regte sich nicht. »Eingeschüchtert von wem?«, fragte der Schwarze schließlich. »Das wird der Prozess erweisen«, sagte Hathor zuversichtlich. »Diese Frage jetzt zu beantworten würde eine unbegründete Behauptung darstellen und die Beweise ungünstig beeinflussen, die wir vorzubringen wünschen.« Der schwarzschuppige Richter tauschte mit den anderen beiden einen Blick. »Nun gut«, sagte er dann. »Der Bitte wird entsprochen. Allen Bitten wird entsprochen. Die vier überlebenden Kinder von Bon Agornin werden alle hier vortreten, um ihre Aussagen zu machen oder man wird sie der Missachtung dieses Gerichts für schuldig befinden und der Höchststrafe unterwerfen. Die Gerichteschreiber werden die nötigen Dokumente ausstellen.« »Der Fall wird am zwölften Tiefwinter verhandelt«, sagte der bronzene Richter. Er sah von Hathor zu Daveraks Anwälten, von denen keiner etwas gegen das Datum einzuwenden hatte, dann nickte er dem Schreiber zu. »Die erste Anhörung ist beendet«, verkündete der Schrei
123 ber laut. Die Richter gingen durch ihren Ausgang. Hathor und die anderen Anwälte eilten zum Schreiber, um ihre Papiere zu bekommen. Avan wartete; er war jetzt beinahe gelangweilt und nicht mehr im Mindesten von der Macht und Pracht der Gerechtigkeit eingeschüchtert.
123 TIEFWINTER IN BENANDI
48. Eine vierte Beichte Am letzten Tag im Monat Eiswinter kam die Post im Pfarrhaus Benandi wie gewöhnlich zur Frühstückszeit. Diesmal waren zwei Umschläge mit vergoldeten Rändern dabei, die Vorladungen für Penn und Selendra, die sie aufforderten, am zwölften Tiefwinter in Irieth vor Gericht zu erscheinen. Als Penn seine Vorladung gelesen hatte, konnte er kaum verhindern, dass seine Klauen zitterten. Die Gewichtigkeit der Sprache hatte den Eindruck auf ihn nicht verfehlt, genau wie der Gedanke des Gerichtszeremoniells auf seinen Bruder. »Wo Sie die Wahrheit sagen werden, wie man es Ihnen
abverlangen wird« las er, und »wird man Sie der Missachtung dieses Gerichts für schuldig befinden und der Höchststrafe unterwerfen« und »wird Sie die ganze Härte des Gesetzes treffen«. Er starrte die Vorladung lange an und versuchte sich zu beruhigen, aber noch bevor er das Gefühl hatte, seine
124 Klauen wieder zu beherrschen, hatte Selendra bereits das Wort ergriffen. »Ich muss nach Irieth!«, sagte sie. Penn sah seine Schwester über die Vorladung hinweg verständnislos an. Ihre violetten Augen leuchteten. Sie sah glücklicher aus als seit Tagen. »Irieth!«, sagte Fehn. Sie war noch nie in Irieth gewesen. »Warum?« »Ich hätte nicht gedacht, dass Daverak deine Anwesenheit verlangt«, sagte Penn und legte den Brief sorgfältig auf den Tisch. »Daverak? Avan!«, sagte Selendra. »Wovon sprecht ihr?«, fragte Fehn irritiert. Penn wollte etwas sagen, brachte aber keinen Ton hervor. »Mein Bruder Avan bringt Daverak, der mit Berend verheiratet war, dessentwegen, was mit dem Leichnam meines Vaters geschehen ist, vor Gericht«, sprudelte Selendra noch immer voll unschuldiger Aufregung heraus. Fehn sah Penn fragend an. Das Schreckliche an diesem Blick war, dass keine Anklage darin lag, obwohl ihr klar sein musste, dass er Bescheid gewusst hatte. »Das ist richtig«, sagte er. »Wann musst du in Irieth sein?«, wollte Fehn wie nebenbei wissen. »Musst du über den Ersten Tag weg sein?« »Am zwölften Tiefwinter«, brachte Penn hervor. »Also werde ich mindestens einen Ersten Tag verpassen.« »Das ist sehr bald«, sagte Fehn sachlich. »Ich werde dem Gesegneten Hape schreiben und sehen, ob er die Gottesdienste übernehmen kann.« »Ich muss mit dir darüber sprechen«, sagte er, und als er das sagte, wurde ihm bewusst, dass das die Wahrheit war, er konnte Fehn nicht länger über diese Angelegenheit im Dunkeln lassen. »Du musst am Zehnten abreisen«, sagte Fehn noch immer ruhig. »Wo wirst du in Irieth absteigen?«
124 »Wir könnten bei Avan wohnen«, schlug Selendra vor. »Ich wollte die Hauptstadt schon immer einmal sehen, und er könnte uns alles zeigen, die Kuppel, das Theater; glaubst du, wir haben Zeit, um uns ein Schauspiel anzusehen?« »Ich glaube nicht, dass wir bei Avan wohnen sollten«, sagte Penn. »Er hat nicht viel Platz.« Um eine Schuppe hätte er noch etwas über die leichte Drachendame hinzugefügt, die Avan dort unterhielt. »Wo dann?«, fragte Selendra. »Abgesehen von Avan haben wir doch keine Bekannten in Irieth, nicht wahr?« Das machte ihn wieder für das Problem zuständig. Allein hätte er in seinem Klub übernachtet, aber wenn Selendra mitkam, war das unmöglich. »Wir werden in ein respektables Hotel ziehen«, sagte Penn, nachdem er einen Moment lang nachgedacht hatte. Der Gedanke an die Kosten für zwei Übernachtungen in einem Hotel in Irieth ließ Fehn zusammenzucken. »Müsst ihr denn überhaupt gehen?«, fragte sie. »Ich würde alles dafür tun, wenn ich es vermeiden könnte«, sagte Penn und reichte seiner Frau die Vorladung. »Die volle Härte des Gesetzes«, zitierte Selendra, als würde ihr die Vorstellung gefallen. Frauen, dachte Penn nicht zum ersten Mal, begreifen einfach nicht richtig, was es heißt, in der ständigen Furcht zu leben, um sein Leben kämpfen zu müssen. Es war keine Feigheit, die ihn hatte Pfarrer werden lassen, sondern die Notwendigkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber es hatte ihn überrascht, welche
Veränderungen die roten Bänder der Unberührbarkeit in seiner Einstellung hinterlassen hatten. Er hatte mehrere populäre Predigten über die Ungewißheit des Lebens gehalten. »Ich werde Sher bitten, uns ein Hotel zu empfehlen«, sagte Fehn. »Nicht die Erhabene?«, fragte Penn. »Sher wird da mehr auf dem Laufenden sein«, sagte Fehn. »Ich werde meinen neuen Hut tragen«, meinte Selendra.
125 »Ach, komm, Selendra, musst du so weltlich sein?«, fragte Penn gereizt. Zu seinem Erstaunen brach seine Schwester in Tränen aus und Fehn warf ihm einen Blick zu, der sehr vorwurfsvoll war. Er würde Frauen niemals verstehen und wenn er tausend Jahre alt werden würde. Fehn begleitete Selendra hinaus und empfahl ihr sich auszuruhen. Penn wartete auf ihre Rückkehr aber ihm war der Appetit vergangen. Fehn kam kurz darauf alleine wieder. »Geht es Selendra gut?«, fragte er. »Sie ist etwas überdreht, das legt sich schon wieder«, sagte Fehn und setzte sich. »Versuch doch, sie nicht so anzufahren, wenn sie sich doch solche Mühe gibt.« Penn runzelte die Stirn. »Ich wüsste nicht, was ich Falsches gesagt hätte.« »Egal«, sagte Fehn. »Verrate mir, warum dich die Vorstellung, in diesem Fall aussagen zu müssen, so aufgebracht hat.« Penn dachte unwürdigerweise daran, ihr auszuweichen, zu sagen, wie sehr es ihn bedrücke, seine Familie so im Streit miteinander liegen zu sehen. Aber Fehn war seine Frau, seine Gefährtin, was auch immer er auf sich herabbeschwor, würde er auch auf sie herabbeschwören und auf die Kinder. »Verzeih mir«, sagte er. »Ich habe etwas Schreckliches getan. Ich hatte nur die besten Absichten und glaubte, es würde zwischen mir und den Göttern bleiben. Trotzdem hätte ich es dir sagen sollen, denn es stellt alles in Zweifel.« »Alles?«, fragte Fehn verwirrt. »Wie meinst du das?« »Als mein Vater im Sterben lag, hat er bei mir die Beichte abgelegt, du weißt schon, der alte Ritus der Kirche.« Er sah, wie es bei Fehn nach einem Moment dämmerte. »Das musst du dem Gericht sagen?« »Sie werden wissen wollen, was er gesagt hat, seine genauen Worte. Natürlich werden sie akzeptieren, dass die Beichte heilig ist, aber es wird herauskommen, dass ich ihm die Beichte abgenommen und ihm Absolution erteilt habe.«
125 »Kann das Gericht dich dafür bestrafen?« »Das Gericht? Nein. Aber das wird sich unter den Augen der Öffentlichkeit abspielen und die Kirche wird es erfahren und dann wird man mich verstoßen und die Erhabene wird dasselbe tun und wir werden die Pfarrei und alles andere verlieren.« »Aber warum hast du das getan?«, fragte sie. »Mein Vater lag im Sterben und er wünschte es so«, sagte Penn steif. Dann stöhnte er. »Ich habe mich immer wieder gefragt, warum ich solch ein Narr war. Ich wollte ihm Trost spenden, und der Ritus steht im Buch, es ist nur ein Brauch, den wir nicht benützen. Ich dachte, es würde ein Geheimnis bleiben. Die Götter bestrafen mich nun dafür.« »Vielleicht fragen sie dich ja nicht danach.« Penn lächelte grimmig und bleckte die Zähne. »Das ist die einzige Hoffnung, die uns noch bleibt, und sie ist sehr gering. Warum laden sie mich vor, wenn sie mich nicht fragen wollen, was mein Vater auf dem Totenbett gesagt hat?« »Wenn du deine Bänder verlieren solltest, werde ich zu dir stehen«, sagte Fehn. Sie erhob sich. »Vielleicht findet dein Bruder einen Posten für dich. Vielleicht wird Sher dich empfehlen können.«
»Sher wird nichts mit einem Pfarrer zu tun haben wollen, dem man seine Bänder genommen hat. Das will niemand. Du hast nicht an die Schande gedacht«, sagte Penn. »Du und die Kinder wären besser dran, wenn ich tot wäre. Wenigstens würde sich die Erhabene dann um euch kümmern.« »Wir haben etwas Gold gespart«, sagte Fehn und umarmte ihn. »Wir ziehen an einen Ort, an dem uns niemand kennt, und fangen von vorn an. Ich will, dass du lebst und kämpfst, Penn, dafür kämpfst, dir eine Existenz zu schaffen, und für mich und für die Kinder. Gib nicht auf.« Penn stöhnte erneut, verbarg den Kopf unter Fehns Schwingen. »Ich habe dich nicht verdient.«
126 »Vielleicht wird es der Kirche ja auch egal sein, wenn es nur ein Brauch ist und keine Doktrin.« »Sie werden mich einen Anhänger des alten Glaubens nennen«, sagte Penn. »Es gibt keinen Zweifel, dass sie mich verstoßen.« »Ich halte das für falsch, dich dafür zu verstoßen, dass du deinem Vater den Tod erleichtert hast«, sagte Fehn und setzte sich neben ihren Gemahl. »Es war mein Fehler, nicht der ihre«, sagte Penn. Fehns kompromisslose Unterstützung tröstete ihn. »Nein, du hast getan, was du für richtig hieltest«, sagte Fehn. In Gedanken packte sie bereits alle geliebten Besitztümer im Pfarrhaus und bereitete sich darauf vor, irgendwo einen Neuanfang zu machen, ohne Einkommen oder besondere gesellschaftliche Stellung. Sie hatte den Schlag verkraftet, auch wenn es ein sehr harter gewesen war, und war bereit weiterzumachen. »Die Erhabene wird uns die meisten Diener wegnehmen, wir können nur noch eine behalten.« »Und was ist mit Selendra?« Fehn erinnerte sich voll Unbehagen, dass Penn nicht die ganze Geschichte mit Selendra und Sher wusste, und dass sie sich am nächsten Tag treffen sollten. »Ich finde, wir sollten es ihr erst nach dem Prozess sagen. Schließlich könnte ja auch gar nichts passieren. Und wenn nicht, könnten wir vielleicht mit Avan, sollte er gewinnen, zu einer Übereinkunft kommen, dass er sich um Selendra kümmert.« »Sie wird das auch weiterhin nur aufregend finden«, sagte Penn bekümmert. »Sie ist ein junges Mädchen, lass sie noch eine Weile so sorglos sein. Lass sie ihren Besuch in der Hauptstadt genießen. Wir können jetzt so wenig für sie tun, lass ihr noch diese Zeit.« »Ich habe alles ruiniert«, sagte Penn. »Ich habe mein ganzes Leben geplant, es sollte dahinrollen wie ein Zug und jetzt entgleist auf einmal alles. Selbst wenn sie nicht danach fra
126 gen sollten, was "ich nicht glauben kann, sollte ich der Heiligkeit vielleicht alles sagen, reinen Tisch machen.« Fehn dachte über diese lächerliche Idee nach. »Glaubst du wirklich, du hast gesündigt, weil du deinem Vater die Beichte abgenommen hast?«, fragte sie dann. Penn zögerte. »Ich wollte ihm nur Trost spenden«, sagte er. »Mir war klar, dass es gegen die derzeitigen Regeln der Kirche verstößt, aber ich glaube eigentlich nicht, dass es gegen den Willen der Götter ist.« »Wenn sie es für falsch halten, dann wird sich das bei dem Prozess zeigen, und wenn nicht, solltest du dich nicht selbst bestrafen«, sagte Fehn so zuversichtlich, wie sie es selbst empfand. »Du hast Recht«, sagte Penn und umarmte sie fest.
49. Die feine Gesellschaft An diesem Nachmittag flogen Selendra und Fehn zum Bahnhof, um die Briefe aufzugeben, die bestätigten, dass Penn und Selendra der Aufforderung des Gerichts Folge leisten würden. Fehn war froh, das Pfarrhaus für kurze Zeit verlassen zu können. Ihr Kopf schmerzte vor Sorge und Anstrengung, Selendra und die Dienerschaft nicht ahnen zu lassen, was alles nicht stimmte. Die kalte Luft unter den Schwingen tat ihr gut, wie gewöhnlich, änderte aber nichts an den Ausmaßen des Problems. »Hast du dich schon nach einem Hotel erkundigt?«, fragte Selendra schüchtern auf dem Rückflug. »Ich dachte, du könntest Sher morgen danach fragen«, sagte Fehn. Tatsächlich hatte sie es völlig vergessen.
»Wenigstens wäre es ein unverfängliches Gesprächsthema«, sagte Selendra, von der Erinnerung daran ernst geworden. »Oh, Fehn. Ich mag Sher sehr, aber ihn zu heiraten ist unmöglich.«
127 »Wenn es unmöglich ist, dann ist es eben unmöglich«, sagte Fehn und fragte sich, ob sie Selendra nicht doch alles erzählen sollte, damit sie Shers Antrag in dem Wissen annehmen oder ablehnen konnte, welche Möglichkeiten sie hatte oder nicht. Nein. Sher war ihr wichtiger als Selendra, er war fast ihr ganzes Leben lang ihr Bruder gewesen und Selendra war erst seit ein paar Monaten ihre Schwester. Sher sollte eine Frau bekommen, die ihn liebte, ganz egal, was geschehen würde. Sie überflogen die Kirche. Fehn blickte nach unten und sah, dass der Schnee hoch auf dem Dach lag. »Ich sollte etwas davon entfernen, bevor er noch Schaden anrichtet«, sagte sie und glitt in die Tiefe. »Ich helfe dir«, sagte Selendra. Sie flogen hinunter, und ihr Schwingenschlag ließ einen Teil des Schnees sanft vom Dach auf den Erdboden rutschen. Sie landeten geschickt im Schnee und fingen an das Dach freizumachen, jede übernahm eine Seite und machte sich schweigend an die Arbeit. Fehn hätte Selendra gern aufgeheitert, wurde aber selbst zu sehr von ihren düsteren Gedanken heimgesucht, um es tun zu können. Sie waren fast fertig, da huschte ein Schatten über sie hinweg, und Selendra schaute auf. »Es ist die Erhabene«, sagte sie überrascht. »Ich habe sie noch nie fliegen gesehen. Ich dachte fast schon, sie könne nicht fliegen.« »Pst«, machte Fehn vorwurfsvoll. Die Erhabene glitt nach unten und landete schwerfällig vor der Kirche. Sie trug einen gehäkelten Hut mit schwarzweißem Fellbesatz, der vermutlich sehr teuer gewesen war, sie aber nur alt und etwas armselig aussehen ließ. »Ich habe oben vom Sims aus gesehen, dass Sie so hart arbeiten«, sagte sie gnädig. »Ich dachte, ich komme vorbei und helfe, zum Segen der Kirche, aber wie ich sehe, sind Sie ja fertig.« »Wir wissen das Angebot trotzdem außerordentlich zu schätzen«, sagte Fehn.
127 »Ich habe Sie beide ja schon seit Wochen nicht mehr gesehen«, sagte die Erhabene. Fehn verbeugte sich, Selendra schaute zu Boden. »Wie geht es Ihnen? Gibt es etwas Neues?« Bevor Fehn ihre Schwägerin hindern konnte, hatte Selendra angefangen, die Geschichte mit der Klage zu erzählen. Fehn war klar, dass man die Erhabene darüber informieren musste; schließlich würde Penn am Ersten Tag nicht da sein und einen passenden Pfarrer zu seiner Vertretung finden müssen. Trotzdem hätte sie es vorgezogen, ihr das selbst zu erzählen, mit ihren Worten. »Das ist äußerst unerquicklich.« Die Erhabene schniefte. »Ich kann nicht verstehen, warum Sie und Penn in eine solche Sache verwickelt sind.« »Sie wollten nichts damit zu tun haben, sie haben eine Vorladung des Gerichts nach Irieth bekommen«, erklärte Fehn, bevor Selendra die Sache noch schlimmer machte, indem sie sagte, dass Avan auf jeden Fall im Recht war. »Es ist nicht die richtige Jahreszeit für Irieth«, verkündete die Erhabene sofort abgelenkt, genau wie Fehn es gehofft hatte. »Und wo werden Sie in der Hauptstadt wohnen?« »In einem respektablen Hotel«, antwortete Selendra sofort. »Nicht bei Ihrem Bruder?« »Wir hielten das nicht für angebracht«, sagte Fehn sanft. »Ja, angesichts dieses Rechtsstreits ist das vielleicht besser so«, stimmte die Erhabene zu. »Im Migantinenviertel gibt es ein gutes Hotel mit angemessenen Preisen, das Majestätshaupt. Es ist neben der Kirche des Heiligen Vouiver. Das wird Ihr Budget nicht überstrapazieren, denke ich, und hat kleine Räume, genau das Richtige für einen Pfarrer und seine Schwester.« Fehn hatte den Erhabenen nicht nach einem Hotel fragen wollen, weil sie wusste, dass Sher an Komfort und Essen denken würde und nicht unbedingt an das, was angemessen war. Aber jetzt, da der Vorschlag gemacht worden war, konnte
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man ihn nicht ablehnen. »Oh, vielen Dank, Erhabene, wie schön, dass Sie da etwas wissen«, sagte sie und dachte, dass es in mancherlei Weise eine Erleichterung sein würde, von der Pfarrei der Erhabenen befreit zu sein, selbst wenn sie dabei jede respektable Stellung in der Gesellschaft verlieren würden. »Aber es wird für uns drei reichen müssen«, fügte sie hinzu. »Sie, Fehn?«, fragte die Erhabene. »Bestimmt wird man Sie dort nicht benötigen?« »Nein, aber ich werde mitgehen, um auf Penn und Selendra aufzupassen«, sagte Fehn. »Oh, das ist wunderbar«, sagte Selendra mit einem Lächeln. »Oh, das wird viel mehr Spaß machen, wenn du auch dabei bist und nicht nur Penn.« »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie die Kinder allein lassen würden, genauso wenig, wie neulich, als Penns Vater im Sterben lag«, sagte die Erhabene und rümpfte missbilligend die Schnauze. »Die Kinder sind jetzt etwas vernünftiger, und wir haben ja Amer, die zusammen mit dem Kindermädchen auf sie aufpassen kann.« Fehn ärgerte sich, dass es nach Verteidigung klang. Schließlich wollte sie ihre Kinder nicht wegen einer Vergnügungsreise in die Hauptstadt allein lassen, nachdem sie sie als Ausrede benutzt hatte, um nicht an das Totenbett ihres Schwiegervaters eilen zu müssen, aber da sie wohl kaum den Hintergrund erklären konnte, war dieser Anschein nicht von der Klaue zu weisen. »Amer kommt gut mit ihnen zurecht«, sagte Selendra. »Und wir werden so viel Spaß in Irieth haben. Avan nimmt uns sicher mit ins Theater, auch wenn Penn dazu zu prüde und steif ist. Ich wollte schon immer mal ein Theaterstück sehen.« Fehn sah Selendra stirnrunzelnd an. Glücklicherweise hatten die Erhabene und Selendra im Gegensatz zu Fehn noch nichts von dem schlechten Ruf gehört, den sich das Theater 128 außerhalb der Saison in Irieth erworben hatte. »Ich hoffe, Sie können viele sehen. Penn wird natürlich schnellstmöglich zurückkommen müssen, aber vielleicht können Sie beide ja noch eine Zeit lang in Irieth bleiben, nachdem die Angelegenheit geregelt ist, und die Annehmlichkeiten der Hauptstadt genießen. Ich persönlich bin sie sehr leid, aber soviel ich weiß, waren Sie noch nie da, nicht wahr?« »Nein«, sagte Selendra. »Noch nie. Ich war zu jung, und später war Vater zu alt.« Fehn betrachtete den Schnee zu ihren Füßen, um jeglichen Groll zu verbergen, der möglicherweise in ihren Augen stand. Als sie noch Jungfrau gewesen war, hatte die Erhabene ihr eine Saison in Irieth versprochen, nicht zuletzt, um sie über Sher hinwegzutrösten. Aus irgendwelchen Gründen war die Saison immer wieder verschoben worden und dann war Penn gekommen und sie hatte geheiratet, ohne jemals die Hauptstadt gesehen zu haben. »Ich glaube, ein Aufenthalt in der Hauptstadt wäre genau das Richtige für Sie«, sagte die Erhabene. »Ich wollte schon eine Weile mit Ihnen sprechen, Selendra. Ich weiß, dass Sie eine vernünftige junge Dame sind, weil Sie vor kurzem den albernen Antrag meines Sohnes abgelehnt haben. Ich bin froh, dass Sie begriffen haben, wie unmöglich eine solche Verbindung wäre. In Irieth könnten Sie vielleicht jemanden Passenderen kennen lernen, jemanden, der Ihrer Stellung im Leben entspricht. Wenn Sie mir versprechen, auch weiterhin so vernünftig zu sein, dann sorge ich dafür, dass Sie und Fehn während des Verfahrens in Irieth im Stadthaus von Benandi wohnen, und danach noch einen oder zwei Monate bleiben können.« Fehn wusste, dass dieser Plan undurchführbar sein würde und verwarf ihn auf der Stelle. »Ich könnte die Kinder nicht so lange allein lassen«, sagte sie schnell. Sie sah die Erhabene an, die unter dem unpassenden Hut selbstbewusst wie immer dreinschaute. Aber der Ausdruck 128 änderte sich plötzlich, und als das Schweigen unerträglich wurde, wandte sie sich ihrer Schwägerin zu. Selendra glühte beinahe vor Zorn. Ihre violetten Augen wirbelten, als würden sie sich gleich aus ihrem Kopf lösen. »Da Sie ja bereits der Ansicht waren, dass mein Vater nicht gut genug war, um in der feinen Gesellschaft erwähnt zu werden, wollen Sie jetzt damit sagen, dass ich nicht gut genug für Ihren Sohn bin?«
Fehn blinzelte. Es war erst ein paar Schwingenschläge her, seit Selendra ihr gegenüber behauptet hatte, dass eine Heirat mit Sher unmöglich sei. »Ich will damit sagen, dass die Welt, in der wir leben, auch eine Welt der gesellschaftlichen Zwänge ist, und dass, so sehr ich Sie und Ihren Bruder und Ihre Schwägerin mag, Sie verstehen müssen, dass eine Jungfrau, die so erzogen wurde wie Sie, nicht die angemessene Gemahlin für einen Erhabenen wie meinen Sohn wäre«, sagte die Erhabene beherrscht. »Wer sind Sie, dass Sie die Erhabene Benandi sein und ein großes Gut verwalten wollen?« »Sie...« Selendra unterbrach sich. »Sie tun mir Leid«, sagte sie würdevoll. »Sie werden meinen Sohn also nicht in Ruhe lassen?«, fragte die Erhabene. »Sie haben kein Recht, das von mir zu verlangen oder von Ihrem Sohn«, sagte Selendra und bleckte die Zähne, während sie sprach. »Selendra ...«, setzte Fehn versöhnlich an, doch unsicher, wie sie fortfahren sollte. »Ich verabschiede mich«, verkündete Selendra abrupt und flog hinauf zum Pfarrhaus, ein goldener Blitz auf weißem Schnee; die beiden Drachenfrauen blieben zurück und starrten ihr hinterher. »Es tut mir Leid«, sagte Fehn nach einem Augenblick. »Sie ist im Moment sehr gefühlsbetont, da sie doch ihren Vater und ihre Schwester so kurz nacheinander verloren hat.«
129 »Ich werde nie eine bessere Schwiegertochter bekommen, als Sie es gewesen wären, Fehn, und ich war eine Närrin, dass ich mich damals nicht für Sie entschieden habe«, sagte die Erhabene, die noch immer hinter Selendra herstarrte. Fehn hätte die Erhabene mit Begeisterung beißen können, aber sie brachte immerhin ein Lachen zustande. »Man kann den Schnee vom letzten Winter nicht wieder zurückholen«, sagte sie und nahm Zuflucht zu einem Sprichwort. Die Erhabene schüttelte bloß den Kopf.
50. Ein fünfter Antrag Selendra zog sich in ihre Schlafhöhle zurück und weigerte sich, jemanden zu sehen. Als Fehn nach Hause kam und nach ihr sah, sagte sie, sie wolle eine Zeit lang allein sein. Penn gegenüber, der nicht besonders hartnäckig war, behauptete sie, ein unbedeutendes Frauenproblem zu haben und es auf ihrem Gold auszukurieren. Amer, die von einer besorgten Fehn mit verlockendem Eingemachten und Bier geschickt wurde, sagte sie, sie sei nicht krank sondern wütend und verlangte von ihr ein gründliches Schuppenpolieren. Als sie am nächsten Morgen zum Frühstück erschien, sah sie blendend aus. Jede Schuppe war auf Hochglanz poliert und leuchtete golden. Ihr neuer Hut saß vorteilhaft auf Ihrem Kopf und die Kette, die sie in der Höhle gefunden hatte, war daran befestigt und ihre Juwelen funkelten. Im Schatten der Krempe waren ihre Augen fast so dunkel wie Amethyst. Penn, der mit seinem eigenen Elend beschäftigt war, fiel nichts auf und die nervöse Fehn wagte nichts in seiner Gegenwart zu sagen. Selendra aß nur ein paar verschrumpelte Pippinäpfel, da sie ihre Schuppen nicht mit Blut beflecken wollten. Nach dem Frühstück wartete sie darauf, dass Sher sie abholte.
129 In Wahrheit war sie in ihrem ganzen Leben noch nie so wütend gewesen. Selbst lange Stunden des Brütens in der vergangenen Nacht hatten sie nicht beruhigen können. Sie hatte alles überdacht, was die Erhabene zu ihr gesagt hatte, von der ersten Beleidigung ihres Vaters an. Kein Wort war wirklich freundlich gewesen, oder nicht selbstsüchtig. Sie dachte an die Dinge, die sie sie zu Fehn hatte sagen hören, gedankenlos und unnötig grausam. Wie hatte die Erhabene zu einem Sohn wie Sher kommen können, der freundlich und mitfühlend war und Drachen wegen ihres eigenen Wertes schätzte? Selendra war zu unerfahren, um zu erkennen -wie Fehn so gut wusste -, dass Sher aus Opposition zu seiner Mutter so geworden war, oder dass er auf seine eigene Weise selbstsüchtig war. Ihrer Meinung nach verdiente die Erhabene einen Sohn wie Sher gar nicht. Sie dachte an das, was die Erhabene gesagt hatte. »Wer sind Sie, dass Sie die Erhabene Benandi sein wollen?« Darum sorgte sie sich, das wusste
Selendra, nicht um das Wohl ihres Sohnes oder ihres Gutes, sondern allein um ihren Namen und ihren Status. Die Frau ihres Sohnes würde sie ersetzen, und obwohl eine Frau erforderlich war, um das Geschlecht der Benandi fortzuführen, wollte sie jemanden, den sie beherrschen konnte. Es würde der Erhabenen Recht geschehen, wenn sie, Selendra, ihn heiratete und dann keine Kinder bekäme. Selendra entschied sich, der Erhabenen eine Lektion zu erteilen. Sie konnte aber den Gedanken nicht ertragen, Sher dabei zu sehr zu verletzen. Deshalb verbrachte sie einen großen Teil der Nacht damit, alles genau zu durchdenken. So sehr sie auch seine Mutter bestrafen wollte - sie konnte ihn nicht heiraten, wenn Amers Trank bei ihr zu gut funktioniert hatte. Als der Morgen graute, hatte sie einen Plan. Sher kam pünktlich. Er sah sie mit so viel Liebe und Verlangen an, dass ihr Herz dahin schmolz. Vom Pfarrhaus aus flogen sie in einen wunderbar klaren Tiefwintermorgen hinaus. Der Himmel leuchtete in einem
130 leuchtenden Hellblau und schien eine Million Meilen über ihren Köpfen zu schweben. Der Schnee spiegelte das goldene Sonnenlicht wider und umschmeichelte die Umrisse der Bäume mit seinem weißen Kleid. Es war bitterkalt, so kalt, dass sie beide das Gefühl hatten, dass an diesem Morgen die Eissonne und nicht die Feuersonne aufgegangen war, und sie waren froh, dass es Tiefwinter war und das Feuer der Sonne in der Nacht neu entfacht werden würde. Sher fragte sie nicht, wo sie hinwollte. Er wechselte kaum ein Wort mit ihr, einmal abgesehen von der Frage, ob sie ihn begleiten wollte. Sie folgte ihm in die Lüfte und hinauf in die Berge. Der Wind war trocken und bitterkalt, stach in ihrem Hals wie mit Eisnadeln. Schließlich hielt Sher auf eine hoch gelegene Wiese zu, auf der im Sommer Hammel weideten. Sie folgte ihm und landete vorsichtig; unter dem Schnee konnte sich alles Mögliche verbergen. Er war hier tiefer als im Tal und reichte ihr fast bis zum Bauch. Sher zeigte noch immer keine Neigung, etwas zu sagen, und sah sie bloß an, bis sie kaum noch ruhig dastehen konnte. Selendra fielen Amers Worte ein; sie hatte ihr einmal gesagt, dass im Licht der Eissonne gesprochene Worte in den Ohren kalt klingen würden. »Es ist ein wunderschöner Tag«, sagte sie schließlich. »Sie sind wunderschön«, sagte Sher. Seine Stimme klang etwas heiser. »Der Tag ist wunderschön, weil es Sie gibt. O Selendra, ohne Sie ist alles so trostlos. Fehn, die immer wie eine Schwester für mich war, hat mir gesagt, ich solle abwarten, und ich habe gewartet und ich habe meine Meinung nicht geändert. Ich habe Sie schon einmal gebeten, mich zu heiraten, haben Sie Ihre Meinung geändert?« »Da gibt es zwei Dinge, die ich Ihnen sagen muss, bevor ich mich endgültig entscheiden kann«, sagte sie wie geplant. »Wenn Sie sich absolut sicher sind, dass es das ist, was Sie auch wollen.« »Ich habe nicht den geringsten Zweifel.« Die Wochen des
130 Wartens hatten ihn verändert. Er erschien ernsthafter und auch selbstbewusster. Er machte einen Schritt durch den Schnee auf Selendra zu, die die Hand hochhielt, um ihn aufzuhalten. »Das Erste ist ein Schwur, den ich abgelegt habe.« »Ein Schwur?« Er sah sie verständnislos an. »Als ich Agornin verließ, haben meine Schwester Haner, meine Gelegeschwester, und ich uns geschworen, nicht zu heiraten, bevor die andere nicht der Wahl des zukünftigen Gemahls zugestimmt hat.« Sher sah erleichtert aus. »Ich dachte schon, Sie würden ... das ist furchtbar süß von ihnen beiden. Sie muss uns oft besuchen, wenn wir verheiratet sind. Ich werde Ihre Schwester mit Freuden kennen lernen. Wann kann sie uns besuchen?« »Ich weiß es nicht. Mein Bruder Avan hat den Erlauchten Daverak, der ihr Vormund ist, verklagt, und ich muss am zwölften Tiefwinter in Irieth sein. Sie wird auch da sein. Danach, möglicherweise.« »Wird Penn Sie nach Irieth begleiten?« Sher runzelte die Stirn.
»Penn und Fehn.« »Dann lassen Sie uns doch alle zusammen reisen. Ich lasse Haus Benandi herrichten und wir können alle dort wohnen. Und ich kann dabei Ihre Schwester kennen lernen. Ich bin sicher, es wird nicht lange dauern, bis sie mit mir einverstanden ist.« Innerlich stieß Selendra einen Seufzer aus, denn ihr Plan basierte darauf, dass Haner ihr Einverständnis verweigerte, sobald die Erhabene lange genug gelitten haben würde. Sher machte einen weiteren Schritt auf sie zu. Sie wich zurück. »Nicht, bevor meine Schwester ihre Zustimmung gegeben hat. Und ich stelle eine weitere Bedingung.« »Noch eine? Selendra, Sie sind wunderschön in Gold, aber ich sehne mich danach, Sie in Rosa zu sehen.«
131 »Ihre Mutter. «Selendras Stimme klang hart. »Ich weiß, wie ich mit ihr umgehen muss.« »Ich werde Sie nicht heiraten, es sei denn, Ihre Mutter stimmt zu. Sie muss mich behandeln, als sei ich Ihnen gleichgestellt. Sie hat gestern ein paar sehr verletzende Dinge zu mir gesagt. Ich mag Sie so sehr, Sher. Ich habe darüber nachgedacht, nachdem wir aus der Höhle herausgekommen sind, wie einfallsreich Sie waren, wie tapfer und wie humorvoll.« Das meinte sie ehrlich; sie lächelte, und Shers Herz machte einen Sprung. Wäre er eine Jungfrau gewesen, hätten allein ihre Worte ihn erröten lassen. »Aber wir müssten in Benandi leben, zumindest zeitweise, und ich kann es nicht ertragen, wenn mich Ihre Mutter verabscheut und ständig auf mir herumhakt und so tut, als wäre ich ein halb verwestes Stück Wild, das Sie von Fliegen bedeckt angeschleppt haben. Wenn wir zusammen glücklich sein sollen, dann muss sie mich in der Familie willkommen heißen.« Sher blinzelte. »Selendra ... wir müssen nicht zusammen mit meiner Mutter leben. Wir können sie gelegentlich besuchen, für ein paar Tage, aber wir können überall leben. Ich habe zusätzlich zu diesem hier noch vier weitere Güter. Sollte Ihnen keines davon gefallen, könnten wir ein anderes kaufen. Für gewöhnlich verbringe ich die Saison in Irieth, auch das könnten wir tun, oder auch nicht, ganz wie Sie wollen. Meine Mutter muss in unserem Leben keine Rolle spielen.« »Das wird sie aber, selbst wenn wir ihr aus dem Weg gehen. Unsere Kinder, wenn wir welche haben, werden Benandi kennenlernen müssen. Sie wird mir das Leben zur Hölle machen, wann immer sie kann, und Ihres auch, sie wird unseren Kindern sagen, dass ich nicht gut genug bin, Ihre Frau und ihre Mutter zu sein. Erinnern Sie sich, was sie über meinen Vater gesagt hat. Ich kann Sie nicht heiraten, wenn Sie oder Ihre Mutter Zweifel an meiner Familie hegen.« »Dann wird Sie sie willkommen heißen«, sagte Sher, den
131 Kiefer mit einer Entschlossenheit vorgeschoben, die seine Freunde und seine Mutter sehr überrascht hätte. »In Irieth. Wo Ihre Schwester auch ihre Zustimmung zu mir geben wird.« »Oh, Sher«, sagte Selendra und liebte ihn, und jetzt war nichts an ihr aufgesetzt. Er blieb, wo er war, blickte sie an, lächelte. Auch wenn der Tag so kalt wie zuvor war, schien es Selendra so, als wäre das Tiefwinterfeuer bereits in ihrem Herzen entzündet und die Sonne würde bereits wieder brennen. Sher nutzte die Gelegenheit nicht, sie in diesem Augenblick weiter zu bedrängen, auch wenn sie ihn jetzt nicht mehr davon abgehalten hätte. »Ich muss mit Ihrem Bruder sprechen«, sagte Sher. »Kommen Sie, liebste Selendra.« Zusammen stiegen sie in den Himmel auf, um nach Hause zu fliegen.
51. Eine fünfte Beichte In dieser Erzählung wurde einfach so behauptet, dass Penn und Sher Freunde in der Schule und später dann während des Studiums waren, und da Sie freundliche und keine bösartigen oder hungrige Leser sind, die dem Verlag mit der Absicht einen Besuch abstatten würden, einen Schriftsteller, der Sie verärgert hat, in Stücke zu reißen und zu fressen, haben Sie dies vertrauensvoll geglaubt. Ihnen ist kein Beispiel dieser Freundschaft nahe gebracht worden, beispielsweise wie sich die beiden Drachen vertrauliche Dinge erzählt oder einen gemeinsamen Ausflug unternommen haben, um sich zu
amüsieren. Die Wahrheit ist, dass diese tiefe Freundschaft, die sie einst als Kinder verband, im Laufe der Zeit und durch die Anforderungen ihres Erwachsenendaseins oberflächlicher geworden war. Ihr Leben und ihre Vergnügungen unterschieden sich jetzt voneinander, und so waren Vertraulichkeiten und gemeinsame Unternehmun
132 gen eine Sache der Vergangenheit statt der Gegenwart geworden. Das lag natürlich, wie die Erhabene nur zu gerne hervorgehoben hätte, hauptsächlich an ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen Stellung. Sher hatte den Glanz und die finanziellen Möglichkeiten seiner adeligen Herkunft, Penn die eines Landpfarrers. Selbst seine Stellung als Pfarrer war Shers Geschenk gewesen beziehungsweise der Erhabenen und es bedarf stets einer besonders unverbrüchlichen Freundschaft, um die Wohltätigkeit des einen Freundes für den anderen hinnehmen zu können. Oftmals ist es keineswegs der Gebende, der das übel nimmt, der, auch wenn er dafür weltliche Gaben hergibt, die Wonnen des Himmels dafür erhält. Es ist der Empfänger, der, weil er wenig hat, mehr annehmen muss, als er je hoffen kann zurückzugeben. Zeigt man sich gegenseitig erkenntlich, so wie das der Fall zwischen Penn und der Erhabenen ist, wo geistliche und seelsorgerische Dienste mit weltlichem Komfort entgolten werden, dann mag alles in Ordnung sein. Aber bei Sher hatte Penn das Gefühl, dass er sehr viel bekommen hatte und nichts dafür gab. Selbstverständlich ärgerte sich Penn darüber, und genauso selbstverständlich versuchte er, sich nicht darüber zu ärgern, und die Notwendigkeit dieser Bemühungen ärgerte ihn erst recht. Und Sher spürte natürlich seinen Groll, was ihre Freundschaft gegenseitig belastete. Darüber hinaus blieb Shers Leben ausgesprochen weltlich und von Vergnügungen erfüllt, während Penn sich im Laufe der Zeit immer mehr der Kirche und seiner Gemeinde hingab. Sie hatten sich in der Tat auseinander gelebt, und beide bedauerten das sehr, denn einst hatten sie alles zusammen gemacht. Als Sher also mit Selendra zurückkehrte, die noch immer nicht verräterisch errötet war, fiel es ihm schwer, Penn aufzusuchen, schwerer als es gewesen wäre, wenn sie sich nie nahe gestanden hätten. Selendra wollte ihn begleiten, mehr
132 um nicht mit Fehn allein sein zu müssen als aus anderen Gründen, aber er verwies es ihr sanft. »Ich muss allein mit Ihrem Bruder sein. Möglicherweise müssen wir Dinge besprechen, die nicht für Ihre Ohren bestimmt sind.« Fehn war bei ihrer Rückkehr ausgegangen, machte Besuche in der Gemeinde. Selendra ergriff ein Buch und war erleichtert, dass sie allein war. Penns Büro verfügte über eine Tür, eine sehr schlichte Tür, die gekauft worden war, um die einige Generationen alte mit Schnitzereien versehene Tür zu ersetzen. Sher klopft vorsichtig mit der Klaue an. »Herein«, rief Penn missmutig. Sher trat ein und sah sich neugierig um. Es war Penns Zimmer und es enthielt Bücher und Schreibutensilien, die Penn gehörten, aber, dachte Sher unbehaglich, in gewissem Sinn gehörten sie eigentlich ihm, so wie die ganze Pfarrei. Penn sollte eigentlich an seiner Tiefwinterpredigt arbeiten, die die Gemeinde hören sollte, nachdem das Feuer entzündet worden war. Tatsächlich aber lag er bloß da und starrte die Vorladung an, die seine Anwesenheit in Irieth befahl, und sann über die Sünde des Selbstmords nach. »Sher!«, sagte er, richtete sich auf und versuchte zu lächeln. »Schön Sie zu sehen.« »Ich freue mich auch, Sie zu sehen«, sagte Sher, schob sich mit einiger Schwierigkeit in den Raum und schloss die Tür. »Ich hoffe, Sie sind doch wohl nicht in Schwierigkeiten?«, fragte Penn mit einer Herzlichkeit, die selbst in seinen eigenen Ohren gekünstelt klang. »Das hoffe ich auch nicht.« Sher lächelte gezwungen. »Tatsächlich trifft das Gegenteil zu. Ich habe Ihre Schwester Selendra gebeten mich zu heiraten, und sie hat eingewilligt. Allerdings müssen wir vorher noch ein paar Einzelheiten klären.« »Oh, Jurale sei Dank!«, sagte Penn und brach prompt in Tränen aus.
2133 Sher war von" dieser Reaktion völlig überrascht. »So schlimm ist es nicht«, sagte er. Das zeigte keine Wirkung. »Ich werde gut auf sie Acht geben«, versuchte er. Penn schluchzte weiter. »Was ist denn nur los mit Ihnen?«, fragte er schließlich. Penn schob die Vorladung zu ihm rüber. Sher nahm sie und las sie. »Selendra hat mir bereits davon erzählt«, sagte er. »Sie hat gesagt, sie alle würden nach Irieth reisen. Ich habe ihr unser dortiges Stadthaus zum Übernachten angeboten.« »Das werden Sie sich vermutlich anders überlegen«, sagte Penn, der sich inzwischen etwas beruhigt hatte. »Vermutlich werden Sie auch Selendra nicht mehr heiraten wollen, wenn Sie Bescheid wissen.« »Wenn ich was weiß?«, fragte Sher. »Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass es irgendetwas gibt, das mich daran hindern könnte, Selendra zu heiraten.« »Da haben Sie mir aber eine Last von der Seele genommen«, sagte Penn. »Das Schlimmste an der Schande ist es, andere Drachen mit hineinzuziehen.« »Schande?«, fragte Sher. »Ja. Es ist ein Unterschied, ob man die Schwester eines angesehenen Pfarrers heiratet oder die Schwester eines in Ungnade gefallenen Pfarrers.« Hier tat Penn seinem alten Freund Unrecht. Sher hätte nie in Betracht gezogen, irgendeine abstrakte Schwester eines in Ungnade gefallenen Pfarrer zu heiraten oder sonst jemanden, der unter gesellschaftlichen Problemen litt. Zum Beispiel wäre ihm nie eingefallen, sich in Sebeth zu verlieben. Aber jetzt hatte er sich so sehr in Selendra verliebt, dass er, gleichgültig, was ihrer Familie auch zustieß, niemals geschwankt hätte. »Erzählen Sie mir, um was es geht«, sagte Sher mit beneidenswerter Ruhe. »Ich habe meinem Vater auf dem Totenbett die Beichte abgenommen, und das wird bei diesem Prozess sicher zur
133 Sprache kommen und ich werde ruiniert sein und aus der Kirche hinausgeworfen werden«, brach es aus Penn hervor. Sher blinzelte mehrmals. Er zog mehrere Erwiderungen in Betracht und verwarf sie dann wieder. Er war nicht im Mindesten über das Gehörte schockiert. Er hatte Gerüchte gehört, dass die Alte Religion im Untergrund wieder aufblühte. Er war nur schockiert, dass ausgerechnet Penn, der seiner Meinung nach seit seiner Ernennung zum Pfarrer ziemlich steif und konventionell geworden war, nach der Alten Religion gehandelt hatte. »Können Sie Ihren Bruder nicht bewegen, dass er die Klage zurückzieht?« »Nicht nach der ersten Anhörung«, sagte Penn. »Täte er es, würde man ihn empfindlich dafür bestrafen, dass er die Klage leichtfertig eingereicht hat.« »Dann können Sie Avan also auch nicht dazu bringen, dass er Sie nicht aufruft?« »Nicht Avan; es ist Daverak, der mich vorladen lässt.« »Und was ist mit Daverak?« »Ich bin ihm so gleichgültig wie eine faule Pflaume.« Penn schüttelte traurig den Kopf und dabei flogen Tränen von seiner Schnauze. Das Schulsprichwort weckte in Sher alte Erinnerungen und er lächelte. »Daverak ist Ihr Schwager. Ob er sich nun etwas aus Ihnen macht oder nicht, er kann nicht wollen, dass Sie Ihre Ehre verlieren.« »Berend ist tot.« »Na und? Da gibt es doch ihre Kinder, die Daveraks Erben sind. Sie könnten mit ihm reden und die gesellschaftliche Seite der Angelegenheit betonen und ihm klar machen, welche Auswirkungen das für ihn haben würde.« »Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass er über die Beichte Bescheid weiß«, sagte Penn. »Er wird es auf jeden Fall erfahren, wenn Sie es vor Gericht der ganzen Welt erzählen«, sagte Sher, nun einen
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Hauch Ungeduld in der Stimme. »Er ist doch Erlauchter, oder? Daverak? Ich habe ihn kennen gelernt, glaube ich. Die gesellschaftliche Stellung und dergleichen sind ihm sehr wichtig. Wenn Sie wollen, begleite ich Sie, es könnte Ihnen helfen.« »Das wäre außerordentlich nett von Ihnen«, sagte Penn, dann lachte er unter Tränen. »O Sher, es tut mir Leid, ich sollte Sie wirklich nicht darum bitten, da Sie doch sonst schon immer so gut zu mir sind.« »Vergessen Sie nicht, ich habe ein starkes Interesse daran, zu verhindern, dass Sie in Ungnade fallen. Mir wäre das ja egal, aber Mutter nicht, und Selendra hat zur Bedingung gemacht, dass Mutter die Angelegenheit mit großer Begeisterung aufnimmt.« »Die Erhabene wird niemals mehr tun, als es zu tolerieren ...«, sagte Penn und starrte ihn an. »Die Erhabene wird viel mehr als das tun«, sagte Sher mit harter Stimme. Dann schlich sich ein neckender Tonfall in seine Stimme. »Aber es wird viel einfacher für mich sein, wenn sie Sie als respektablen Pfarrer betrachtet, der so gut wie immer am Ersten Tag anwesend ist und niemals selbst über eine Schlucht fliegt oder auf die Jagd geht.« Penn lachte. Er hatte gerade seine Bänder als Pfarrer angenommen, als er sie kurz darauf wieder abgenommen hatte, um Sher auf die Jagd zu begleiten, und er hatte gerade eben noch verhindern können, dass ihn jemand dabei erwischte. »Sie haben meinen Segen, meine Schwester zu heiraten«, sagte er. »Ihre Mitgift ist unzulänglich genug, aber zweifellos haben Sie genug für zwei.« »Ihre Mitgift ist großartig«, sagte Sher. »Hat sie Ihnen nichts davon erzählt?« Penn starrte ihn an. »Mir was erzählt?« »Von dem Schatz, den wir gefunden haben?« »Schatz? Die Kinder erzählen immer irgendwelchen Un
134 sinn von einem Schatz, aber der ist doch sicher eine Erfindung ...« »Er ist keine Erfindung. Ein richtiger Schatz. Gold. Juwelen. Ein sehr wertvoller Schatz. Ihre Kinder, Selendra und ich haben ihn gefunden und aufgeteilt in vier Teile dürfte er für jeden mehrere hunderttausend Kronen wert sein. Ich habe ihn wegen des vielen Schnees noch nicht holen können, aber im Frühling bekommen Ihre Kinder ein Vermögen und Selendra auch. Keiner von Ihnen wird sich über Gold Sorgen machen müssen, und zweifellos wird Mutter entzückt sein, dass ich Benandis Schatztruhen so auffüllen werde, wie seit mehreren tausend Jahren kein Erbe zuvor.« Es befand sich auf seinem Land und er hätte es für sich allein beanspruchen können, aber was hätte er schon von dem Gold gehabt, verglichen mit all dem Guten, das es für seine Freunde tun konnte? Penn sah ihn verblüfft an. »Ich hatte ja keine Ahnung«, sagte er. »Ich sollte mich bei Wontas entschuldigen, weil ich ihm nicht geglaubt habe.« Sher lachte. »Ich begleite Sie zu dem Gespräch mit Daverak«, sagte er. »Im Frühling kümmere ich mich um den Schatz. Und ich werde Ihre Schwester so schnell heiraten, wie das für uns alle am besten ist.« »Das ist wundervoll«, murmelte Penn. »Und jetzt, da ich weiß, dass Sie die Gesetze der Kirche gelegentlich brechen, wie wäre es nach unserer Rückkehr mit einem kleinen Jagdausflug? Wir alle zusammen, mit Fehn und Selendra?« Penn öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus, war gefangen zwischen Lachen und Weinen. Nach einem endlosen Augenblick siegte das Lachen.
134 EIN BESUCH IN HUETH
52. Ein sechster Antrag Der Erlauchte Daverak siedelte für den Prozess beinahe seinen ganzen Haushalt nach Irieth um. Nur die Kinder und die Eier blieben in Daverak zurück, zusammen mit den Dienern, die erforderlich waren, um sich darum zu kümmern. Auch wenn es für Irieth noch nicht die richtige Jahreszeit war, hatte er Haus Daverak durchlüften lassen. Haner, die ihre Vorladung nicht mehr losließ, kam widerspruchslos mit. Sie nahm Lamith mit, weniger um ihre Schuppen polieren als vielmehr, um sich ungestört um ihre eigenen
Belange kümmern zu können. Sie hatte ihre eigenen Pläne, wie sie ihren Aufenthalt in der Hauptstadt gestalten wollte und wenn Lamith behauptete, dass sie sich nicht wohl fühlte oder Frauenangelegenheiten sie beschäftigten, würde man sie in Ruhe lassen und sie könnte ihrer eigenen Wege gehen. Sie reisten mit dem Zug und trafen am siebten Tag des
135 Tiefwinters ein, eine Woche vor dem anberaumten Gerichtstermin. Haner verbrachte den ersten Tag damit, die Dienerschaft dabei zu beaufsichtigen, wie sie die Wandbehänge anbrachten, die jedes Mal weggeräumt wurden, wenn das Haus wieder abgeschlossen wurde. Nur die Schlafhöhlen befanden sich unter der Erde, im Grunde handelte es sich um Kellerräume mit Kuppeldecken. Der größte Teil des Hauses war oberirdisch. Einige Räume wiesen sogar Fenster auf. Haner hatte noch nie welche gesehen und sie gefielen ihr nicht im Mindesten. Daverak hatte nicht ohne Widerstreben auf den Rat seines Anwalts gehört und Freit eingeladen, bei ihm zu wohnen. Für Haner war das eine unerquickliche Überraschung. Es gelang ihr nur mit Mühe, nicht zurückzuzucken, als sie ihn im Außenkorridor von Haus Daverak vor sich sah. Er sah so schmuck wie immer aus, die Schuppen poliert und auf seine Weise durchaus ansehnlich. »Hochgeschätzte Agornin«, sagte er mit einer Verbeugung. »Ich sehe mit Freude, dass es Ihnen gut geht, und mein aufrichtiges Beileid zu dem Verlust Ihrer Schwester. Möge sie mit Camran wiedergeboren werden.« Haner hatte die etwas besitzergreifende Weise, mit der Freit über die Götter verfügte, noch nie gemocht. Sie verbeugte sich. »Ich grüße Sie, Gesegneter Freit. Was führt Sie nach Irieth?« »Das Gleiche wie Sie, diese unglückliche, unselige Klage, die Ihr dummer Bruder eingereicht hat.« Freit schüttelte in geheucheltem Mitgefühl den Kopf. »Müssen Sie aussagen?« »Ja, in der Tat.« Freit nickte mehrmals. »Ich fürchte, ich bin einer der wichtigsten Zeugen, ich werde aussagen, was in der Unterhöhle gesagt und getan wurde, außerdem werde ich zu dem Glauben Ihres Vaters und seinem geistigen Zustand Stellung nehmen.« Haner sah ihn stumm an. Eine Bemerkung zu machen,
135 dass er nichts über den geistigen Zustand ihres Vaters wusste, wäre völlig sinnlos. »Ich hoffe, das macht Sie nicht nervös.« »Nein, ein Pfarrer gewöhnt sich daran, vor Zuhörer zu treten und zu sprechen«, sagte Freit. Er lächelte Haner an, entblößte die Zähne. Sie war die jüngste der Agorninschwestern und nicht die hübscheste, dachte er, aber sie war schüchterner als Berend und stiller als Selendra. Sie war möglicherweise genau das, wonach er suchte. »Wo wohnen Sie?«, fragte sie höflich. »Nun, der Erlauchte Daverak war so nett und hat mir die Gastfreundschaft dieses Hauses angeboten«, sagte Freit mit einem anzüglichen Grinsen. »Dann werden wir Sie zweifellos oft sehen«, sagte Haner resigniert. »Wie schön das doch werden wird«, sagte Freit. »Vermissen Sie Agornin?« »Ja«, sagte Haner und wich unauffällig ein Stück zurück. »Ich habe darüber nachgedacht, mich zu verheiraten«, sagte Freit geradeheraus. »Wie ich gehört habe, kommen viele Jungfrauen nach Irieth, um einen Mann zu finden«, sagte Haner und wich noch weiter zurück. Freit lachte. »Sie eingeschlossen? Ich habe mich gefragt, ob Sie nicht vielleicht zusammen mit mir nach Agornin zurückkehren möchten, Haner?« Er ging auf sie zu. »Nein, mein Herr«, sagte sie und floh. Sie konnte seine Unverschämtheit kaum ertragen. Sie floh ins Esszimmer, wo Daverak wartete. »Da sind Sie ja endlich, Haner«, sagte er. »Haben Sie den Gesegneten Freit gesehen?«
»Er kommt gleich«, sagte sie. In Daveraks Gegenwart fühlte sie sich zumindest sicher davor, bedrängt zu werden, so wie Selendra bedrängt worden war. Sie dachte an den guten Londaver und fühlte sich ruhiger werden. Einen Augenblick später trat Freit ein, so gelassen, als wäre nichts geschehen.
136 Er ignorierte sie und unterhielt sich mit Daverak. Das Gespräch drehte sich hauptsächlich um den kommenden Prozess. Haner saß still und stumm da und wurde ignoriert. Das Essen wurde gebracht, Rind, das nicht besonders frisch war. Haner aß so schnell sie konnte, in der Hoffnung, desto eher wieder gehen zu können. »Mustan hat gesagt, dass Sie vielleicht nach Bons eigentlichen Absichten in seinem Testament fragen werden«, sagte Daverak. »Wie ich bereits damals sagte, ich bin ziemlich sicher, dass sie genauso waren, wie Sie gedacht haben«, entgegnete Freit. »Sind Sie auch dieser Meinung, Haner?«, fragte Daverak. »Was?« Sie schaute auf, überrascht, angesprochen worden zu sein. »Vaters Absichten? Die waren mir unbekannt. Das habe ich Ihnen damals gesagt und werde es auch jetzt dem Gericht sagen.« »Gut. Ich weiß, dass Sie nichts sagen werden, was mir schaden könnte. Wenigstens Sie wissen, wo das Fleisch herkommt, das Sie ernährt.« Die Drohung wurde von dem schmälsten aller Lächeln begleitet. Daveraks harter Tonfall ließ Freit lächeln. »Ich bin davon überzeugt, dass die Hochgeschätzte Agornin nichts Ruchloses tun würde.« »Ich werde die Wahrheit sagen, wie es in der Vorladung steht, die ich bekommen habe«, sagte sie mit völlig unbeteiligter Stimme. »Ich mag nicht viel wissen, aber was ich weiß, werde ich aussagen.« »Wenn ich Ihren Bruder vernichtet habe, werden Sie Ihre Belohnung erhalten, in Form Ihrer Mitgift, wie ich es Ihnen versprochen habe«, sagte Daverak. Haner konnte ein leichtes Erschauern nicht unterdrücken, und sie wusste, dass Freit das gesehen hatte. »Ich bin mir nicht sicher, ob die Jungfrau überhaupt heiraten will«, sagte der Pfarrer glatt.
136 »Oh, sie hat bereits einen Verehrer, Londaver, einen unserer Nachbarn zu Hause«, sagte Daverak leichthin. »Das erklärt so manches«, sagte Freit. »Das hätte sie mir sagen sollen, als ich ihr einen Antrag machte, statt einfach davonzulaufen. Ich weiß nicht, was sie eigentlich erwartet hat.« »Sie?« Daverak sah ihn an; Rinderblut tropfte von seiner Schnauze. Es gelang ihm, mehr Verachtung in dieses eine Wort zu legen, als Haner in einer langen Rede geschafft hätte. Freit lachte unbehaglich. Haner stand auf. »Ich bin fertig. Ich glaube, ich sollte mich zurückziehen.« »Nein«, sagte Daverak kurz angebunden. »Setzen Sie sich wieder hin.« Haner setzte sich gehorsam. »Freit, ich weiß nicht, ob Sie nicht bei Verstand sind oder was Sie auf den Gedanken kommen lässt, Sie könnten hoffen, jemanden zu heiraten, der mit meiner Familie verbunden ist, aber schlagen Sie sich das aus dem Kopf«, sagte Daverak. Er war weitaus höflicher, als er gewesen wäre, hätte er Frelts Aussage nicht unbedingt gebraucht. »Sie sollten jemanden heiraten, der Ihrer Stellung entspricht, eine Pfarrerstocher«, fuhr er fort. »Ich werde sehen, ob ich eine für Sie finden kann. Und jetzt genießen Sie die Gastfreundschaft meines Hauses, aber lassen sie meine Schwägerin in Ruhe.« »Ich hatte nicht die Absicht, unwillkommene Avancen zu machen«, sagte Freit pikiert. »Sie können jetzt gehen, Haner«, sagte Daverak. Und Haner ergriff zum zweiten Mal an diesem Abend die Flucht.
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53. Die Abreise von Benandi Bei den stürmischen Vorbereitungen, die Shers und Selendras Tiefwinterflug auslösten, hätte die Erhabene Fehn beinahe leidgetan. Sher hatte zuvor stets versucht, seiner Mutter zu schmeicheln, wenn er sie nicht einfach ignoriert hatte und kurzerhand abgereist war. Jetzt stellte er auf einmal Forderungen
und beharrte auf sofortiger Erfüllung. Er verlangte, dass Haus Benandi in Irieth auf der Stelle geöffnet werde, den unverzüglichen Aufbruch dorthin und dass dort eine Abendgesellschaft gegeben wurde - für all diejenigen, die immer im Tiefwinter in Irieth weilten - und dass man die Familie des Pfarrers dort gastfreundlich aufnahm. Und da er schon dabei war, verlangte er zudem ungehörigerweise von seiner Mutter, seine Auserwählte freundlich aufzunehmen. Fehn hätte vielleicht über die Verwirrung lachen können, die das alles mit sich brachte, hätte ihr nicht die Erhabene auch Leid getan. »Er ist absolut entschlossen, seinen Willen durchzusetzen«, sagte sie grimmig zu Fehn, während sie gleichzeitig Listen der Dinge erstellte, die alle eingepackt werden mussten. »Ich hätte das alles schon vor Wochen erledigen können, aber da hat er sich ja geweigert eine Reise auch nur in Betracht zu ziehen. Jetzt muss alles sofort geschehen. Nein, Sie können mir nicht helfen, ich weiß besser, was getan werden muss.« Eine heiße Träne tropfte von ihrer Schnauze. »Ich habe meinen Sohn verloren. Dass es mein eigener Fehler ist, macht es nicht leichter, es zu ertragen.« »Sie haben ihn nicht verloren«, sagte Fehn. »Selendra wird Ihnen eine gute Schwiegertochter sein, wenn Sie sie bloß akzeptieren.« »Nach diesem Anfang? Das glaube ich kaum.« Die Erhabene schniefte, dann war sie wieder die gestaltgewordene Nüchternheit. »Sie könnten mir sagen, wie viele Diener Sie mitnehmen, und wenn Sie wirklich helfen wollen, könnten
137 Sie vielleicht dafür sorgen, dass für uns vier Waggons im Zug nach Irieth reserviert werden.« Fehn verließ die Erhabene, damit sie weiter packen konnte. Im Pfarrhaus begegnete sie Sher, der sich mit Selendra und den Kindern unterhielt. Sher sah benommen aus, wie jeder Bräutigam. Die Kinder waren aufgeregt. Wontas hinkte noch immer, wenn auch nur ein bisschen, wie sich Fehn selbst versicherte, so wie sie es jedes Mal tat, wenn sie ihn sah. Er würde wieder gesund werden, und niemand würde ihn für einen Schwächling halten, der in Gefahr schwebte, gefressen zu werden. Selendra saß zusammengerollt da, Gerin zwischen sich und Sher. Sie hätte wie eine Braut ausgesehen, nur dass sie noch immer die schimmernde und glänzende goldene Farbe hatte wie an dem Tag, an dem Fehn sie kennen gelernt hatte. Sie wollte nicht mit Fehn darüber sprechen; sie hatte nur erzählt, dass sie Sher zwei Bedingungen gestellt habe und es sich anders überlegen würde, sollten diese Bedingungen nicht erfüllt werden. Fehn machten diese Bedingungen Angst, und sie fürchtete um Sher - aber wenn sie wie in diesem Augenblick sah, wie Selendra Sher anblickte, dann beruhigte sie die Liebe, die sich deutlich in ihren langsam rotierenden Augen zeigte. Schlimmer als Selendras Weigerung, über ihre Bedingungen zu sprechen, war Penns Weigerung, über Selendras Farbe zu sprechen. Jedes Mal, wenn Fehn das Thema zur Sprache brachte, wurde er verlegen und wich aus. Natürlich war Selendra seine Schwester, aber er war Pfarrer und für gewöhnlich nicht zimperlich im Umgang mit heiklen Dingen. Die vier schmiedeten lächerliche Pläne, was sie mit dem Schatz machen wollten. Fehn glaubte noch immer nicht so richtig an ihn, obwohl man ihr die Kostbarkeiten gezeigt hatte, die die Kinder mitgebracht hatten, sowie Selendras Kette. Vermutlich würde es tröstlich sein, wenn sie als Reiche und nicht als Arme gesellschaftlich ruiniert wären, auch
137 wenn Reichtum ohne gesellschaftliche Stellung wie eine Kapsel ohne Samen war, wie Penn zu sagen pflegte. Im Grunde konnte sie sich weder den Reichtum noch die Schande so richtig vorstellen. Ein Teil von ihr glaubte noch immer daran, dass das Leben nach dem Prozess wieder seinen normalen Gang gehen und sie für alle Ewigkeit hier leben würden. »Wie geht es meiner Mutter?«, fragte Sher, nachdem Fehn ihn begrüßt hatte. »Sie ist bekümmert«, sagte Fehn. Sher lächelte. Es war nicht unbedingt ein nettes Lächeln. »Ich bin sicher, dass sie alles im Griff hat«, sagte er. »Ich freue mich so auf Irieth«, sagte Selendra. »Das Theater. Eine Abendgesellschaft.«
»Wir werden während der Saison hinreisen und an Bällen teilnehmen«, sagte Sher. »Sie sollten so viele mitmachen, bis es Ihnen langweilig wird.« »Wir müssen noch ein paar neue Hüte für dich besorgen, Selendra«, sagte Fehn und dachte an ihren eigenen armseligen Vorrat an Kopfbedeckungen. »Aber nicht zu viele«, warnte Sher. »Warum?«, fragte Wontas. »Wir haben doch den Schatz. Tante Sei kann sich alles leisten.« »Ja, aber ist dir noch nie aufgefallen, dass Drachen Hüte kaufen, die zu ihren Schuppen passen?«, fragte Sher Wontas, richtete den Blick aber auf Selendra. »Tante Selendras Schuppen sind jetzt wunderschön golden, aber schon bald werden sie im wunderschönen bräutlichen Rosa schimmern, und dann wird sie wieder neue Hüte brauchen.« Fehn entging nicht, dass Selendra bei dem Gedanken daran eher gequält als froh aussah. »Die Erhabene möchte wissen, wie viele Diener wir mitnehmen«, sagte Fehn. »Ich dachte an zwei?« »Können wir Amer mitnehmen?«, fragte Selendra. »Ich weiß, dass sie Avan und Haner gern wiedersehen würde.«
138 »Ich brauche "Amer hier, damit sie auf die Kinder aufpasst«, sagte Fehn. »Ich möchte die beiden nicht bloß mit dem Kindermädchen zurücklassen. Amer hat als Einzige viel Erfahrung.« »Können wir nicht mitkommen?«, fragte Gerin. »Ich bin noch nie in Irieth gewesen«, sagte Wontas. »Wir könnten vielleicht noch einen Schatz finden«, sagte Gerin lockend. »Nein«, erwiderte Fehn entsetzt. »Eine Schatzsuche reicht. Ihr hättet das letzte Mal alle dabei umkommen können.« »Warum sie nicht doch mitnehmen, wenn sie versprechen, nicht nach Schätzen zu suchen?«, fragte Sher. »Wir haben genug Platz.« Auch Fehn war noch nie in Irieth gewesen. So unterschiedliche Gründe es für diese Reise auch gab, hätte sie doch gern die Gelegenheit gehabt, so viel davon zu genießen wie möglich, ohne auf die Kinder aufpassen zu müssen. Aber das konnte sie in ihrer Anwesenheit nicht sagen, wenn sie gespannt an ihren Lippen hingen. »Sie sollten hier bleiben, wo sie keinen Unsinn machen können«, sagte Fehn. Beide Jungen stöhnten. »Es würde der Erhabenen nicht gefallen«, fuhr sie in dem Wissen fort, dass das Eindruck auf die Kinder machen würde. »Meiner Mutter wäre das egal«, sagte Sher so entschieden, wie er in letzter Zeit alles sagte. Die Kinder jubelten. Eine Woche später, nachdem alles eingepackt war, machten sie sich auf den Weg nach Irieth, in fünf Waggons, begleitet von neunzehn Dienern. Penn sah abwesend aus, die Kinder aufgeregt, Sher selig, Selendra ganz ruhig und goldfarben, die Erhabene wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch und Fehn, nun, sie war davon überzeugt, dass sie aussah, als würde sie eher eine Woche Schlaf brauchen als eine Woche voll Vergnügungen in der Hauptstadt. Es verschaffte ihr eine gewisse Befriedigung, dass die Kinder bei Selendra und Sher
138 untergebracht waren und sie sich bequem in einen anderen Waggon zu Penn und der Erhabenen setzen konnte.
54. Haner macht einen Spaziergang Haner hatte Lamith mit den strengen Anweisungen verlassen, zu behaupten, sie fühle sich unwohl, und niemanden zu ihr zu lassen. Sie hatte ihre Zweifel, dass Lamith das schaffen würde, wenn Daverak darauf beharrte, aber vermutlich würde er noch nicht einmal aufgestanden sein. Es war früh am Morgen, als sie den Haushalt verließ und zu ihrer Verabredung ging. Sie hatte Die Unterdrückung der Diener gelesen und wagemutig dem Verleger geschrieben und ihre Wertschätzung zum Ausdruck gebracht. Daraufhin hatte sie eine Antwort von Calien Afelan persönlich erhalten, und seitdem hatten sie korrespondiert. Ihr war bewusst, dass sie ohne die Zustimmung ihres
Vormunds keine Korrespondenz hätte führen dürfen. Da Daverak annahm, dass ihre sämtliche Post von Selendra kam, schenkte er ihr jedoch keine Aufmerksamkeit. Sie achtete stets sorgfältig darauf, ihre Briefe immer selbst in Empfang zu nehmen. Die unerlaubte Natur ihrer Aktivitäten erfüllte sie mit Unbehagen, aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass Londaver ihr eigentlicher Vormund war, und er hatte ihr das Buch gegeben und wäre mit der Lektüre einverstanden gewesen. Sie hielt sich nicht mit der Frage auf, ob Londaver auch einverstanden gewesen wäre, dass sie allein durch die Straßen Irieths ging, um einen Fremden zu treffen. Sie hatte es aus gesellschaftlichen Erwägungen so eingerichtet, dass Calien sie in einem öffentlichen Park am Fluss traf. Von Haus Daverak bis dorthin musste sie ein ordentliches Stück gehen. Sie wagte es nicht, in den ihr unbekannten Windströmungen zu fliegen. Und so trottete sie unver
139 drossen durch den schmutzigen Stadtschnee, der sich so sehr von den weißen Landschneewehen unterschied, an die sie gewöhnt war. Haner wusste nichts von Sebeths Trick, den Hut abzunehmen und so zog sie mehr als nur einen neugierigen Blick auf sich, während sie sich ihren Weg durch die matschigen Straßen bahnte. Jungfrauen ohne Begleitung, deren Hüte sie als Hochgeschätzte ausweisen, sind in keiner Stadt ein gewohnter Anblick. Zweimal fragten sie rotschuppige und mütterlich aussehende Drachenfrauen, die mit Dienern im Schlepptau zum frühen Marktgang unterwegs waren, ob sie sich verlaufen habe oder Hilfe brauchte. Beide Male suchte sie nach einer Ausrede und ging weiter. Dreimal kamen ältere und bedürftige Drachen auf sie zu und baten sie um eine Krone, die sie beim ersten Mal gab. Danach hatte sie nichts mehr zu geben, da sie für diese Expedition nur eine Krone mitgenommen hatte, und konnte nur entschuldigend lächeln. Ihre Freigebigkeit tat ihr Leid, als sie später zu einem kleinen Markt mit seinem appetitlichen Duft nach frisch geschlachteten Schweinen kam, und in Honig eingelegten Birnen. Nach dem Markt führte sie ihr Weg an den gewaltigen Schlachthäusern und Viehhöfen vorbei. Die Drachen, die dort arbeiteten, waren allesamt gefesselte Diener. Hier war der Schnee von den vielen Tieren aufgewühlt und mehr gelb und braun als grau. Gelegentlich kamen Karren an ihr vorbei und bespritzten sie mit dem unangenehmen Matsch. Ihr wurde kalt und unter einem ihrer Füße hatte sich der Schnee fest zusammengeklumpt. Dann fing es an zu schneien. Schließlich erreichte sie den Park am Fluss, in dem sie sich mit Calien treffen wollte. Sie blieb stehen und sah sich nach ihm um. Sie trug sein Buch, das sie als Erkennungszeichen ausgemacht hatten. Der Park lag verlassen da. Diejenigen, die in den nahe gelegenen Büros und Fabriken arbeiteten, waren bereits bei ihrer Arbeit, und diejenigen Drachen der
139 höheren Gesellschaft, die sich zur jetzigen Zeit in Irieth aufhielten, waren noch lange nicht aufgestanden. Haner ging auf und ab. Hier war der Schnee hart und rutschig, nur dass der frisch fallende Schnee ihn mit einer dünnen weichen Schicht bedeckte. Zumindest war er weiß. Haner ging hinunter zum Fluss und betrachtete nachdenklich den großen Toris, die Lebensader von Tiamath. Die Ufer hatten einen Saum von Eis, aber in der Mitte war der Fluss dunkel und floss schnell dahin. Da trat Calien auf sie zu. »Sind Sie die Hochgeschätzte Haner Agornin?«, fragte er. Sie fuhr überrascht herum, und die Überraschung wurde noch größer, als sie sah, dass der Fremde mit den schwarzen Schuppen die roten Bänder eines Priesters trug und kaum länger als drei Meter war. »Hochgeschätzter ... ich meine, Gesegneter Afelan?« Er verneigte sich. »Ich bin Calien Afelan. Ich dachte, wir könnten über den Fluss nach Skamble gehen, damit ich Ihnen zeigen kann, wie einige meiner Gemeindemitglieder so leben«, sagte er. Haner war bereits müde von dem langen Laufen, aber sie willigte dennoch ein. Unterwegs unterhielten sie sich über die unterschiedlichen Lebensbedingungen der Diener auf dem Land und in der Stadt. »Ich habe gerade eben einige in den Viehhöfen arbeiten gesehen«, sagte Haner. »Sie erfahren dort nicht die Misshandlungen, denen sie vielleicht in einem Landhaushalt ausgesetzt wären; hier spielt eher Nachlässigkeit eine große Rolle.« Calien seufzte. »Es gibt viele Unfälle in den
Schlachthäusern. Natürlich sind Schlachthäuser nötig; eine Stadt von der Größe Irieths braucht eine gut organisierte Fleischversorgung, oder wir alle würden schnell verhungern. Aber sie könnte mit mehr Rücksicht auf die Drachen betrieben werden, die dort arbeiten.« Haner nickte. »Eigentlich weiß ich gar nichts über die
140 Städte«, sagte sie. Während er ihr von den Zuständen in Irieth erzählte, musste sie unwillkürlich über die Frage nachdenken, warum er für einen Pfarrer und Drachen aus guter Familie und hinlänglicher Bildung, der ein Buch geschrieben und veröffentlicht hatte, wohl so klein war. Sie wagte es nicht, ihn danach zu fragen. Wenn seine Gemeinde die der Armen war, dann würde er vermutlich ebenfalls arm sein; aber sicherlich mussten auch hier die ärmsten unter ihnen aussortiert werden und sterben, so wie überall anders auch, und der ihm zustehende Anteil eines Pfarrers an ihn gehen? »Gesegneter Afelan«, fing sie an, und er unterbrach sie sanft. »Ich bin kein Pfarrer, sondern ein Priester der Wahren Religion, der Alten Religion, wie Sie sagen würden. Die übliche Anrede würde also Gesegneter Calien lauten.« Er lächelte, und Haner versuchte nicht zurückzuzucken. »Ich sehe, dass ich Sie schockiert habe«, fuhr er fort. »Die Wahre Religion ist nicht illegal. Sie wird lediglich von jenen, die sich von unserem Glauben abgewandt haben, mit einem Stirnrunzeln bedacht. Seit dreißig Jahren wird uns sogar erlaubt, uns vor Gericht zu verteidigen, wenn wir angegriffen werden, allerdings dürfen wir uns nicht gegenseitig belangen.« »Ich habe noch nie jemanden Ihres Glaubens kennen gelernt«, sagte Haner aufgeregt. »Ich werde mich von Ihnen verabschieden, wenn Ihnen das Unbehagen bereitet«, bot Calien ihr an. »Nein. Nein, bleiben Sie. Warum sollte das auch für Ihre Arbeit eine Rolle spielen? Sie versuchen jenen zu helfen, die nicht selbst dazu in der Lage sind. Es sagt viel Gutes über Ihre Kirche aus und Schlechtes über die meine, dass Ihre Religion etwas gegen die Armut unternimmt. Ich möchte die Drachen sehen, die Sie mir zeigen wollten. Ich möchte tun, was ich kann, um zu helfen, selbst wenn es nur wenig sein sollte.
140 Calien lächelte über ihren Eifer und ging weiter. »Jede Stimme, die sich gegen die Unterdrückung der Diener erhebt, ist eine Hilfe«, sagte er. »Eine Stimme wie die Ihre kann unermesslich viel Gutes bewirken, vor allem wenn Sie die Herrin eines Hauses werden.« »Ich habe darüber nachgedacht, wie man es auf Londaver macht«, sagte Haner und trat beiseite, um aufspritzendem Matsch von einem vorbeirollenden Karren zu entgehen. »Ah, Londaver«, sagte Calien und sah sie scharf an. »Die Erhabene Londaver ist eine meiner größten Befürworterinnen.« »Ihr Sohn hat mir Ihr Buch geliehen«, gab Haner zu und strich liebevoll über das Buch. »Aber obwohl sie oder mein Vater auf Agornin besser und freundlicher sind, frage ich mich dennoch, ob das gut genug ist. Wenn ich tatsächlich einmal Herrin eines Hauses werden sollte, glaube ich, dass ich allen Dienern die Freiheit geben würde.« »Und wer würde dann den Haushalt führen?«, fragte der Priester. »Wie Sie in Ihrem Buch schreiben, >freie Drachen kommen zum gemeinsamen Nutzen zusammen««, zitierte Haner. »Ich würde sehr gern dabei sein, wenn das in die Tat umgesetzt wird«, sagte Calien und geleitete sie weiter. Als sie wieder nach Haus Daverak zurückkehrte, war ihr kalt und sie war müde. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Daverak sie im Flur erwarten würde und dort ungeduldig auf und ab marschierte. »Wo sind Sie gewesen?«, verlangte er zu wissen. »Auf einem Spaziergang«, sagte sie. »Ich bin kein Narr, Haner, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich auch nicht wie einen solchen behandeln würden. Sie waren heimlich bei Ihrem Bruder Avan.«
»Das war ich nicht!«, sagte Haner indigniert. »Wo ich gewesen bin, ist meine Sache, aber es hatte nichts mit Avan zu tun.«
141 »Zweifellos haben sie beide ihre Geschichten gegen mich abgesprochen«, sagte Daverak. Flammen umzüngelten seine Worte und schmolzen den Schnee auf Haners Schuppen. »Wenn Sie es unbedingt wissen müssen, ich habe mich mit jemandem über die Rechte der Dienerschaft unterhalten.« Daverak lachte. »Ihre Dienerin wollte lügen, um Ihnen zu helfen. Es war kaum etwas an ihr dran, aber ich dulde bei Dienern kein Ungehorsam. Genauso wenig übrigens wie bei armen Verwandten!« »Sie haben Lamith gefressen?«, fragte Haner entsetzt. »War das ihr Name? Ja. Nun, sprechen wir lieber vom Prozess. Sie werden aussagen, dass Sie nichts über das Testament oder die Absichten Ihres Vaters gewusst haben.« »Das ist auch die Wahrheit und ich habe gesagt, dass ich das aussagen werde«, sagte Haner und wich ein Stück zurück. »Gehen Sie auf Ihr Zimmer!«, brüllte Daverak, und die Flamme versenkte ihren Schwanz, als sie die Flucht ergriff. »Sie sind ja verrückt!«, rief Haner und knallte die Tür ihres Schlafzimmers zu. »Ich werde die Wahrheit sagen, und ich sage auch jetzt die Wahrheit, wenn ich behaupte, Avan nicht gesehen zu haben.« »Sie werden nicht seine Partei ergreifen, dafür sorge ich«, sagte Daverak, und sie hörte eine Reihe von Schlägen an der Tür. Zuerst duckte sie sich in der anderen Ecke der Schlafhöhle zusammen, aus Angst, er würde die Tür aufbrechen, um sie zu fressen. Dann erkannte sie, dass er davor etwas aufschichtete, um es für sie unmöglich zu machen, das Zimmer zu verlassen. Dabei umklammerte sie noch immer ihr Buch. Londaver, dachte sie, und der Gedanke war wie ein Gebet. Dann fing sie wirklich an zu beten, das einfachste Kindergebet, das einem schnell über die Lippen kommt. »Camran der Wahrheitsbringer, Jurale die Gnädige, Veld der Gerech
141 te, helft mir jetzt.« Der Lärm vor ihrer Tür hörte nicht auf. Als er endlich verstummte, konnte sie sie nicht mehr öffnen.
55. Haus Benandi Seit sie Shers Antrag angenommen hatte, seit der Nacht davor, in der sie nicht geschlafen hatte, seit dem Nachmittag davor, an dem die Erhabene gesagt hatte, sie sei nicht gut genug für Sher, hatte Selendra allein durch ihre Willenskraft gelebt. Alles hatte die Klarheit der Mitternacht gehabt. Ihre größte Freude und ihr größtes Leid waren es gewesen, Sher jeden Tag zu sehen. Er hatte nie versucht sie körperlich zu bedrängen, aber er erinnerte sie jeden Tag mit der einen oder anderen Bemerkung daran, dass sie noch nicht ganz die Seine war. Sie mochte ihn, tatsächlich liebte sie ihn viel zu sehr, um ihn verletzen zu wollen, und langsam dämmerte ihr, dass es einfach unmöglich war, ihren Plan durchzuführen, ohne dass es doch geschah. Aber es war auch zu spät, jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Sie musste es zu Ende bringen, was bedeutete, dass sie schauspielern musste, und zwar gut schauspielern. Aber es ging ihr nicht nur schlecht. Sie wachte zwar nachts mit klopfendem Herzen auf, und Gefühle schrecklicher Schuld und Liebe drohten sie zu übermannen. Auf der anderen Seite gab es aber auch viel, das sie genießen konnte. Sie konnte die Erhabene quälen, wann immer sich eine Gelegenheit bot. Trotz allem, was Sher versucht hatte, war die Erhabene Selendra noch keinen Schritt entgegengekommen. Also hatte Selendra eine schlimme Lust daran, sie zu zwingen, sie als Shers Auserwählte zur Kenntnis zu nehmen, als die zukünftige Erhabene Benandi. Außerdem hatte sie als Shers Auserwählte Zugang zu Vergnügungen aller Art, einfachen und ausgefallenen, die Selendra schon immer gefallen
141 hatten. Sie reiste nach Irieth und dort würde sie an einer Abendgesellschaft teilnehmen, bei der das zusätzliche Vergnügen darin bestehen würde, dass die Erhabene gezwungen sein würde, das Fest auszurichten und sie allen vorzustellen. Außerdem würde sie ins Theater gehen, was ihr bis jetzt stets
verweigert worden war. Sie schwor sich, alles zu genießen, und das Später auf sich zukommen zu lassen. Sie wich Fehns Blick aus, wann immer sie konnte. Sie fand die Reise mühsam, obwohl sie sich so oft mit Sher über dem Zug in die Lüfte erhob, wie sie Lust dazu verspürte. Die Kinder waren schnell gelangweilt und brauchten Unterhaltung. Es war trotz alledem besser als die Reise von Agornin, aber Züge fand sie grundsätzlich öde, wie sie Sher anvertraute. »Sobald wir verheiratet sind, werden wir überall hinfliegen«, versicherte er ihr. Sie trafen am späten Abend in Irieth ein, so spät, dass sie nur noch die ihnen zugewiesenen Räume aufsuchten und sofort einschliefen. Erst am Morgen bemerkte Selendra, wie prächtig ihre Schlafhöhle war und dass das Gold, auf dem sie geruht hatte, ein Teil des Benandischatzes war. Beinahe jedes Stück trug das Familienwappen. Das war kein Gästezimmer, sondern das Schlafgemach der Gutsherrin. Sher musste darauf bestanden haben, dass seine Mutter es ihr abtrat. Für kurze Zeit gestattete sie sich die Vorstellung, Sher tatsächlich zu heiraten und diesen Raum rechtmäßig zu betreten. Könnte sie doch nur erröten! Der Gedanke an Freit ließ sie mit den Zähnen knirschen. Beim Frühstück war sie enttäuscht von dem zähen alten Fleisch, das serviert wurde. »Es ist in Irieth unmöglich, gutes Fleisch zu bekommen«, erklärte ihr Penn. »Normalerweise haben wir damit mehr Glück«, sagte Sher und kaute schwer. »Für gewöhnlich schickte ich die Diener mitten in der Nacht zu den Schlachthöfen, damit sie Fleisch kaufen können, sobald es am Morgen verkauft wird«, sagte die Erhabene. »Wir sind gestern zu spät angekommen. Sie sind los
142 gezogen, standen aber zu weit hinten in der Schlange, um etwas Gutes zu bekommen. Morgen wird es besser sein. Nun, und wie wollt ihr euch heute vergnügen? Ich werde damit beschäftigt sein, Einladungen an unsere Freunde für die Abendgesellschaft zu verschicken. Selendra, meine Liebe, können Sie schreiben? Würden Sie mir helfen?« Selendra hatte nicht das geringste Verlangen, den Tag damit zu verbringen, langweilige Einladungen abzufassen, konnte das aber nicht sagen, da eben ihre Fähigkeiten angezweifelt worden waren. »Natürlich kann ich schreiben«, sagte sie deshalb trotzig. »Ich habe jahrelang für Vater die Korrespondenz erledigt.« »Dann ist das geklärt«, sagte die Erhabene mit einem Lächeln, denn sie wusste, dass sie gerade eine Schlacht gewonnen hatte. »Und was wird der Rest von euch machen?« »Es schneit so stark, dass ich kaum meinen Schwanz sehen kann«, sagte Sher. »Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass es in einer Stunde oder so aufhören wird. Bis dahin wirst du zweifellos mit Selendra fertig sein, und ich kann ihr die Sehenswürdigkeiten zeigen. Möchten Sie uns begleiten, Fehn? Ich bin sicher, wir können unterwegs bei einer Putzmacherin reinschauen.« Selendra lächelte Sher dankbar an. Die Erhabene sah etwas säuerlich drein. »Ich sollte nach den Kindern sehen«, sagte Fehn voller Bedauern. »Ich kann auf die Kinder aufpassen, Liebes«, schlug Penn vor. »Aber sie wollen alles in Irieth sehen«, protestierte Fehn. »Ich kann sie zur Kirche des Heiligen Vouvier mitnehmen, dort gibt es genug für Kinder zu sehen, und es wird ihnen gefallen«, sagte Penn und zeigte entschlossene Fröhlichkeit. »Nimm Amer doch mit«, schlug Fehn vor. »Wenn du meinst«, sagte Penn. Er stand auf, wischte sich die Brust ab und verbeugte sich vor Sher und der Erhabenen. »Ich sehe Sie beim Abendessen?«
142 »Ja, und seien Sie pünktlich, denn ich will Sie danach alle ins Theater ausführen«, sagte Sher. Selendra hüpfte in die Höhe, als wären ihr gerade erst Schwingen gewachsen, verließ in ihrer Aufregung beinahe den Boden. »Das Theater?« »Ich hoffe doch, nichts Unpassendes für meine Schwester?«, meinte Penn. Er versuchte ein Lächeln, was ihm aber nicht so ganz gelang.
»Nein, für niemanden von uns. Etanins Der Sieg über die Yargen.« Sher lächelte die Anwesenden leutselig an. »Ich habe für uns genug Platz vorbestellt, dass die Kinder mitkommen können.« »Das ist ein Klassiker«, sagte Penn beruhigend zu Fehn, die mit dem Schwanz eine protestierende Bewegung gemacht hatte. »Etanin ist ein großer Dichter. Es ist lehrreich. Wir haben das Stück in der Schule aufgeführt.« »Historisch«, sagte Sher und nickte Fehn zu. Plötzlich stand er auf, stieß den Schwanz nach vorn und hob die Arme in einer sorgfältig einstudierten Pose des Entsetzens. »Aber das ist Verrat!«, stieß er ungläubig hervor. Er duckte sich, die Schwingen flach angelegt und den Schwanz hinter sich ausgestreckt, und sagte leise, in vertraulichem Ton. »Sagtet Ihr Verrat? Das bestreite ich nicht. Aber Ihr meint den Verrat an den Yargen, unseren Herren, während ich sage, dass jeder Tag, an dem sie die Herren sind, ein Verrat an uns ist, unserer Drachenschaft. Ihr sagt, wir haben einen Schwur geleistet, dass wir wahrhaftig sind, aber was ist Ehrlichkeit, wenn das Einhalten von Eiden Lügen bedeuten, verkümmerte Seelen, Klauen in Hände verwandelt...« Er krümmte die Klauen auf alarmierende Weise. »Abgeschüttelte Schuppen.« Er erschauderte. »Auf den Rücken gefesselte Schwingen - nun, ein solches Leben ist der Verrat an uns selbst.« Selendra klatschte begeistert in die Hände. »Sie sind ja selbst so gut wie ein Theaterstück!« »Nun, vielen Dank, Majestät.« Sher verbeugte sich wie ein
143 Schauspieler. »Ich spiele nur die Geschichte unserer glorreichen Nation nach.« »Nicht die wahre Geschichte«, warf Penn ein. »Das ist mehr Dichtkunst als Geschichte. Die Yargen haben uns besiegt, weil sie Waffen hatten, und sobald auch wir Waffen hatten, haben wir sie wieder vertrieben. Nach Etanins Stück könnte man glauben, wir hätten es mit bloßen Klauen und Flammen getan, obgleich die Geschichte bereits gezeigt hatte, dass Klauen und Flammen gegen Kanonen nichts ausrichten können.« »Seien Sie nicht langweilig, Penn«, sagte Sher. »Seien Sie kein Romantiker, Sher«, sagte Penn in genau dem gleichen Tonfall und einen Augenblick lang konnte jeder die Drachenkinder sehen, die sie gewesen waren, als sie sich kaum zehn Jahre älter als Gerin und Wontas in der Schule kennen gelernt hatten. Einen Augenblick lang waren die drei anwesenden Frauen vereint und lächelten die Männer liebevoll an. »Ich muss die Kinder fertig machen«, sagte Fehn und der Augenblick der Verzauberung war vorbei. »Ich freue mich auf das Stück, Sher, ob nun historisch oder nicht, es wird ein großes Erlebnis sein. Ich habe noch nie eins gesehen.« »Ich auch nicht und ich wollte es schon immer, seit Penn mir vom Theater erzählt hat, als ich noch eine frisch Geschlüpfte war«, sagte Selendra und ging zur Tür. »Ich werde mich frisch machen und dann zu Ihnen kommen, um die Einladungen zu schreiben, Mutter.« Sie ging, und Penn und Fehn schlossen sich ihr an. »Mutter«, wiederholte die Erhabene bitter. »Das sollte ein Seitenhieb sein.« »Du solltest mit ihr keinen Streit anfangen«, sagte Sher. »Ich bin sicher, ihr würdet einander mögen, wenn ihr euren Schlagabtausch beenden könntet.« »Sie will sich mit mir streiten«, sagte die Erhabene. »Merkst du das nicht? Oh, ich weiß, es ist mein Fehler, weil
143 ich sie provoziert habe, aber ich finde, dass ich langsam genug dafür bezahlt habe. Manchmal frage ich mich, ob ihr der Streit mit mir lieber ist als das Bedürfnis, dich zu heiraten.« Sher schwieg nachdenklich. Seit über einer Woche hatte er jetzt versucht, die beiden miteinander zu versöhnen, aber mit wenig Erfolg. »Ich kann verstehen, dass du so denkst«, sagte er schließlich und kämpfte den Drang nieder, Selendra blind zu verteidigen und über die Worte nachzudenken. »Aber nein, ich weiß, dass sie mich liebt.« »An ihren Schuppen kann ich das aber nicht erkennen«, sagte seine Mutter.
»Sie wartet, bis du sie akzeptiert hast. Das habe ich dir ja schon mehrfach gesagt«, sagte Sher. »Ich habe die Liebe in ihren Augen erkannt.« »Augen können lügen«, sagte die Erhabene. Selendras unbefleckte goldene Farbe war das Einzige in der jetzigen Lage, das ihr Trost spendete. »Ich glaube nicht, dass sie dich überhaupt liebt. Ich glaube, sie will sich nur an mir rächen, weil ich sie bat, dich in Ruhe zu lassen.« »Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mich liebt«, sagte Sher und dachte unerschütterlich an das, was er auf der verschneiten Wiese am Tiefwintermorgen unter der eisigen Sonne in ihren Augen gelesen hatte. »Und ich bin mir ziemlich sicher, dass du ein Narr bist«, sagte die Erhabene. »Und welche Verwandte der unglückseligen Jungfrau soll ich zu der Abendgesellschaft einladen, da sie doch einander verklagt haben?« »Haner und Daverak«, sagte Sher. »Wie ich sehe, hast du wenigstens etwas gesellschaftlichen Verstand«, meinte seine Mutter. »Wenn sie jemanden in die Familie bringt, der über eine gewisse Stellung verfügt, dann ist das Daverak.« »Du wirst dich ihr gegenüber höflich verhalten.« Sher beugte sich vor und hielt den Blick seiner Mutter fest. »Was
144 auch immer du denkst und was auch immer du fühlst, du wirst höflich sein, du wirst aufhören, Streit anzufangen oder versuchen, sie unglücklich zu machen, du wirst dieses Fest für sie organisieren, und du wirst sie in der Familie willkommen heißen, wenn es so weit ist.« »Veld soll mich blau machen, wenn ich es nicht tue.« »Ich bin das Oberhaupt der Familie. Ich bin der Erhabene Benandi«, sagte Sher. »Dessen ist sich jeder bewusst.« »Dann hör mir als Oberhaupt der Familie zu. Du wirst Selendra willkommen heißen, wenn ich dich darum bitte, oder ich serviere dich auf unserem Hochzeitsbankett.« »Das würdest du wagen?« Sher sah sie bloß an. »Das wagst du nicht«, sagte sie. »Als der Erhabene bekannt zu werden, der seine Mutter gefressen hat, solange sie noch gesund und stark war?« Sher lächelte und wandte sich zum Gehen. Er blieb in der Tür stehen und blickte zurück. Seine Mutter hatte den Kopf zu Boden gesenkt, und er sah, dass sie weinte.
144 DIE EREIGNISSE STREBEN DEM HÖHEPUNKT ZU
56. E i n siebter Antrag Am zehnten Tiefwinter waren in Irieth mehr Drachen aus der Gesellschaft zu finden, als sich die Erhabene vorgestellt hätte und als üblich war. Sie sandte selbstverständlich Einladungen an alle, von denen sie wusste, dass sie in der Stadt waren, aber auch an die Großen Häuser. Sie wandte sich an »jene des Hauses, die zurzeit in Irieth anwesend sind«. Weil der exzentrische alte Vornehme Telstie im Sterben lag und in Irieth starb, ohne einen Erben zu benennen und davon besessen war, sich mit jedem zu versöhnen, mit dem er je eine Fehde ausgetragen hatte, hielten sich mehr Angehörige der großen Familien als gewöhnlich in der Hauptstadt auf. Die meisten waren entzückt, eine andere Unterhaltung geboten zu bekommen, als die, darauf zu warten, dass der Vornehme verschied. Die Abendgesellschaft war ein großer Erfolg. Es war nicht das Gedränge, das es in der Saison gewesen wäre, wo, wie es so schön hieß, eine Jungfrau in der
144 Gefahr schwebte, bei der Durchquerung des Raumes sich nicht sicher sein zu können, wer ihre Schuppen verfärbt hatte. Der einhundertfünfzig Meter lange, große Ballsaal von Haus Benandi, dessen Boden mit Einlegearbeiten aus Amethyst und Perlmutt verziert war, war voller Drachen mit eleganten Kopfbedeckungen. In einem angrenzenden Esszimmer wurden Häppchen aus wunderschön
arrangiertem Obst und Fleisch serviert. Diener boten aus großen Krügen schäumendes Bier an. Fünfunddreißig Drachen zierten die Abendgesellschaft. Zu Selendras und Shers Enttäuschung befand sich Haner nicht unter den Gästen. Der Erlauchte Daverak kam, begleitet von dem Gesegneten Freit; beide waren auf Hochglanz poliert und trugen schöne dunkle Hüte. »Herzlichen Glückwunsch, Selendra«, sagte Daverak mit einer Verbeugung. »Was für eine gute Partie Sie doch gemacht haben.« »Danke«, sagte Selendra. Sie trug einen neuen Hut, schwarz und grau, wie es für Trauernde angemessen war, aber verziert mit zwei Diamanten, die, wie sie hoffte, er angesichts des Todes von Berend nicht für respektlos halten würde. »Wo ist meine Schwester Haner?« »Leicht indisponiert«, sagte Daverak. »Sie ist vor zwei Vormittagen ausgegangen, um etwas Luft zu schnappen, wie sie sagte, und dabei hat sie sich sehr verkühlt. Ein Arzt hat nach ihr gesehen und gesagt, sie brauche Ruhe und Wärme. Ihre Dienerin kümmert sich um sie. Sie entbietet ihre guten Wünsche und bat mich, sie zu entschuldigen.« »Bitte richten Sie ihr gute Besserung aus«, sagte Selendra. »Hat ihre Dienerin Erfahrung in der Krankenpflege? Unser altes Kindermädchen hat uns nach Irieth begleitet. Ich könnte sie vorbeischicken, falls Sie sie brauchen können.« »Oh, wir haben genug Diener in Haus Daverak«, sagte Daverak abweisend. Er ging zur Erhabenen - die gerade die Erhabenen Rimalin willkommen hieß -, um sie zu begrüßen.
145 Und so stand Selendra, die noch mit ihrer Enttäuschung über Haners Nichterscheinen kämpfte, unvermittelt dem Gesegneten Freit gegenüber. Freit war wütend auf Daverak, obwohl er sich nicht gestattete, das zu zeigen. Er fühlte sich nicht von Haners Abweisung verletzt, sondern von Daveraks Worten. Jetzt hatte er beschlossen, mit seiner Aussage vor Gericht Avan seine Hilfe anzubieten. Er wusste, dass Avan nicht bei der Abendgesellschaft anwesend sein würde, da man Daverak eingeladen hatte, aber er wusste auch, dass Penn und Selendra da sein würden, und er hoffte, mit ihnen darüber sprechen zu können. »Meine liebe Hochgeschätzte Agornin«, sagte Freit und verneigte sich vorsichtig, in der linken Klaue einen randvollen Bierkrug. »Verlobt und noch immer goldfarben?« Ein halbes Dutzend Gäste hatte bereits diese Frage gestellt, die entweder Sher oder Selendra höflich beantwortet hatten. Auch unter diesen Umständen war es eine natürliche Frage, denn Freit wusste nichts von dem Erröten, das sie durch seinen Antrag gegen Ende des Sommers erlitten hatte. Er hatte fast schon vergessen, sie je in Betracht gezogen zu haben. Er hatte sie nicht so sehr geliebt wie er vermutlich Berend geliebt hatte, er hatte nur eine Gemahlin haben wollen. Er wollte noch immer eine. Er lächelte. Er war nicht im Mindesten auf ihre Reaktion vorbereitet. »Ich will Sie nie wieder sehen«, zischte Selendra durch die Zähne. »Gehen Sie.« Freit zuckte zurück, stolperte dabei beinahe über seinen Schwanz. Penn, der gesehen hatte, dass sich Freit ihr genähert und ihr Schwanz zu zucken angefangen hatte, kam heran, um sich einzumischen. »Freit«, sagte er kühl aber höflich. »Penn«, erwiderte Freit wachsam und verbeugte sich. »Es freut mich, Sie hier zu sehen«, sagte Penn. »Bitte genießen Sie die Gastfreundschaft der Erhabenen Benandi,
145 aber bitte, wenn ich das sagen darf, halten Sie sich von meiner Schwester fern.« Freit verneigte sich erneut kurz und stolzierte davon. Bei den Agornins war einer so schlimm wie der andere, und er beschloss, sich in Zukunft von ihnen fern zu halten, wie sie es offensichtlich wünschten. Ihm fiel wieder ein, dass Avan ihn bei seinem Besuch so beiläufig beleidigt hatte. Er würde in Zukunft keinem von ihnen mehr etwas Gutes tun, wenn es nicht unbedingt sein musste. In der Ecke des Raumes erblickte er eine wunderschöne Jungfrau, die von einer stattlichen Matrone und einem Priester begleitet wurde. »Wer ist das?«, fragte er den vorbeigehenden Sher.
»Oh, das ist der Gesegnete Telstie mit Frau und Tochter«, erwiderte Sher. »Der Gesegnete Telstie, der Bruder des Vornehmen Telstie, der im Sterben liegt?«, fragte Freit. »Ja«, sagte Sher und verneigte sich höflich. Er hatte keine Ahnung, wer Freit war; er wusste nur, dass er ein Priester war, den Daverak anstelle von Haner mitgebracht hatte, aber er kannte seine Pflichten als Gastgeber. »Soll ich Sie vorstellen?« Sher führte Freit zu den Telsties. »Gesegneter Telstie, Gesegnete Telstie, Hochgeschätzte Telstie, darf ich Ihnen den Gesegneten Freit vorstellen, einen Freund des Erlauchten Daverak.« »Ich bin der Pfarrer von Untertor und kenne die Familie Agornin seit Jahren«, sagte Freit. »Meinen Glückwunsch zur Verlobung, Erhabener Benandi«, sagte Gelener mit einem so frostigen Lächeln, dass es ihn nicht überrascht hätte, hätten sich ihre Zähne mit Eis überzogen. »Liebe geht ihre eigenen Wege«, sagte der Gesegnete Telstie, der bemerkenswert fröhlich für einen Drachen aussah, dessen Tochter einen Freier verloren hatte und dessen Bruder im Sterben lag. Vielleicht tröstete ihn ja die Vorstellung,
146 dass sein ältester Sohn den Titel seines Bruders erbte, dachte Sher. »Danke«, sagte er. »Ich muss Sie kurz verlassen. Ich muss den Onkel meiner Auserwählten begrüßen, den Glorreichen Fidrak.« »Nachher vielleicht eine Würfelpartie?«, fragte der Gesegnete Telstie. »Würfeln im Kleinen Salon«, sagte Sher. »Dort entlang.« Er zeigte in die Richtung. »Ich glaube, dort sind bereits ein paar Drachen.« Der Gesegnete Telstie strahlte, als er sich auf den Weg dorthin machte, Gelener saß da wie eine vergoldete jungfräuliche Statue und die Gesegnete Telstie fing an, Freit über seine Zukunftsaussichten zu befragen. Der Glorreiche Fidrak, von dem Selendra einst behauptet hatte, dass er ihr unbekannt sei, hielt sich in Irieth auf, um das Sterbebett seines langjährigen Kollegen und Rivalen im Adelsrat zu besuchen. Er war ein freundlicher alter Drache, der nur zu gern die Verbindung einer schönen Jungfrau und den mächtigen Benandis segnete. Er war zu alt, um noch einmal für ein Amt zu kandidieren, auch wenn er an seinem Ratssitz festhielt, aber möglicherweise würde sein Sohn Freunde brauchen, selbst wenn die Blutsverwandtschaft entfernt war. Er bezeichnete Selendra als »Nichte« und sprach gut von ihrer Mutter. Die Erhabene kam heran und hörte ehrerbietig zu. Manche Drachen von adliger Geburt, die sich an den Rang klammern, mit dem sie geboren wurden oder den sie durch Heirat oder Verdienste erhalten haben, schätzen jene nicht, die das Leben mit einem höheren Rang als sie versehen hat. Diesen Fehler hatte die Erhabene nicht. Es gab nicht viele, die ihren Rang als Erhabene übertrafen, aber jenen, die es taten, die Vornehmen und Glorreichen, huldigte sie freudig. Sie bedauerte oft den Verlust von den Majestätischen und Hoheiten und Ehrenwerten der Vergan
146 genheit; es gab nichts, was sie sich mehr gewünscht hätte als die Aufregung, wenn eine Hoheit unangekündigt auf einer ihrer Gesellschaften aufgetaucht wäre. Da das nicht möglich war, machte sie sehr viel mit dem Glorreichen Fidrak her, der ihre übertriebenen Bemühungen freundlich erduldete. Sher gelang es, Selendra zur Seite zu nehmen. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass diese Veranstaltungen schrecklich langweilig sind«, flüsterte er ihr zu. »Das müssten sie nicht sein, wenn man die Gäste aussuchen könnte«, flüsterte Selendra zurück. »Aber das kann man nie«, sagte Sher und verneigte sich vor einer Witwe. »Bei Feiern auf dem Land geht das. In Irieth, wo jedermann am Ende des Abends in sein eigenes Bett geht, ist es erforderlich, sich an die Konventionen zu halten.« »Mir hat das Theater wesentlich besser gefallen«, sagte Selendra. Sher lachte. »Bald wird das Gedränge aufhören, wenn die Drachen zum Würfelspiel und Essen gehen, und wir werden tanzen können. Ist Ihnen eigentlich klar, dass wir noch nie zusammen getanzt haben?«
»Ist dafür genug Platz?«, fragte Selendra. »Das ist eine große Höhle, aber ich habe nie zuvor in einem Raum getanzt.« Insgeheim war sie etwas nervös wegen ihrer Tanzkünste; sie hatte Tanzen von Berend gelernt und war ein wenig aus der Übung. »Sie werden sehen, es ist genug Platz«, sagte Sher. Er bemerkte, dass Penn ihm von der anderen Seite des Raumes aus Zeichen machte. »Entschuldigen Sie mich kurz«, sagte er. »Aber was soll ich denn jetzt machen?«, fragte Selendra bestürzt. Sie kannte fast niemanden. »Unterhalten Sie sich mit Fehn«, schlug Sher vor und deutete auf Fehn, die freundlich mit der Erhabenen Rimalin plauderte. Er machte sich auf den Weg. Selendra sah ihm
147 nach, sah die Selbstsicherheit in seinem Auftreten. Er hatte sein Leben lang Räume auf diese Weise durchquert, vermutete sie, während sie selbst... Vielleicht hatte die Erhabene Recht, als sie den Unterschied ihrer gesellschaftlichen Stellungen hervorhob. Sie hob den Kopf und setzte sich in Richtung Fehn in Bewegung. Wenn ihr schon Erfahrung fehlte, würde sie sie eben mit Zuversicht und Stil ausgleichen. Falls die Erhabene glaubte, sie einschüchtern zu können, würde sie eine Überraschung erleben. Ein gut aussehender junger Fremder blieb neben ihr stehen. Er war ungefähr neun Meter lang und hatte schöne Bronzeschuppen und einen wohlgeformten Schwanz. »Was für eine wunderbare Abendgesellschaft. Ich danke Ihnen, dass Sie sich außerhalb der Saison verlobt haben und uns eine Gelegenheit geboten haben, Sie zu besuchen und zu tanzen. Ich liebe diese Vergnügungen, Sie auch?« »Finden Sie nicht, dass man am Morgen danach so müde ist?«, fragte Selendra. »Nun, für gewöhnlich schlafe ich in der Saison morgens lange«, erwiderte er. »Schließlich sind unsere Augen nicht dafür gemacht, bei Tageslicht so viel zu arbeiten. Sie werden müde. Es tut mir Leid. Sie kennen mich nicht. Ich bin der Hochgeschätzte Alwad Telstie.« »Ich kenne Ihre Schwester«, sagte Selendra. »Ich weiß, das hat sie mir erzählt. Sie sagte, dass Sie schön sind, aber nicht wie sehr. Es ist schwer, aus Gelener überhaupt etwas herauszubekommen.« Selendra wurde nicht länger von oberflächlichen Komplimenten verwirrt. Sie schlug spöttisch den Blick nieder, lachte und erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit Gelener und den verletzenden Rat der Erhabenen. »Hat sie Ihnen erzählt, dass mein Vater auf Gut Telstie aufgewachsen ist?«, fragte sie bewusst. »Nein. Wie faszinierend. Kannte er meinen Onkel? Möglicherweise möchte mein Onkel ihn sehen. Er scheint jeden
147 sehen zu wollen, den er kennt, um sich vor seinem Tod mit ihnen zu versöhnen.« »Er ist im Herbst gestorben, also ist es dazu zu spät«, sagte Selendra. »Das tut mir Leid«, erwiderte Alwad. »Ich kam nur darauf zu sprechen, weil ich in letzter Zeit kaum an etwas anderes habe denken können. Ich bin der Erbe meines Onkels, aber wir hatten letztes Jahr Streit.« »Hat er sich mit Ihnen versöhnt?« »Noch nicht, anscheinend gibt es da jemanden, den er vorher sehen will. Es ist alles sehr geheimnisvoll, es ist, als hätte er schon jetzt alles genau festgelegt. Er hat meinem Vater gesagt, dass er mich in zwei Tagen sehen will. Ich werde die ganze Zeit mein bestes Benehmen an den Tag legen, da können Sie sicher sein.« Er lachte und ließ sich von einem vorbeigehenden Diener einen frisch gefüllten Bierkrug geben. »Aber ist das denn so wichtig für Sie?«, fragte Selendra. »Was? Mich mit meinem Onkel zu versöhnen? Ein bisschen schon. Ich mag den alten Drachen. Oder seine Ländereien oder seinen Titel zu erben? Überhaupt nicht. Im Grunde würde ich es vorziehen, mein gutes Leben in der Armee fortsetzen zu können. Was sein Vermögen angeht, nun, das wäre schon nützlich.« Selendra zögerte. »Ich hätte gedacht, dass die drei Dinge zusammengehören«, sagte sie.
»Ich schätze schon, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wo er einen Verwandten hernehmen will, der das Gut übernehmen könnte. Er hat sich nie viel aus seiner Stellung gemacht, aber die Familie liegt ihm wirklich am Herzen.« »Ich glaube, das ist besser, als zu denken, dass die Stellung alles ist«, sagte Selendra. »Nun, ja. Haben Sie gesehen, wie Ihre zukünftige Schwiegermutter um den alten Glorreichen Fidrak herumscharwenzelt? Fidrak hat keine zwei Kronen in der Tasche, seine
148 Ländereien sind bis zu den Schwingenspitzen beliehen. Er lebt von der Wohltätigkeit der Gatten seiner Töchter und von den Bezügen aus dem Rat. Und doch behandelt ihn die Erhabene, als wäre er mehr wert, als sie es je sein könnte, dabei gehört ihr Benandi und die Hälfte von Tiamath.« »Ich glaube nicht, dass Reichtum oder Stellung wirklich wichtige Dinge sind«, sagte Selendra. »Aber wie schätzen Sie dann Drachen ein?«, fragte Alwad und legte neugierig den Kopf schief. »Durch den ihnen innewohnenden Wert«, sagte Selendra. »Ich liebe Sher nicht, weil er ein Erhabener ist, sondern weil er Sher ist. Hätte ich mich beispielsweise in Sie verliebt, der keinen Titel außer Hochgeschätzter hat, wäre ich der Meinung, dass Sie genauso viel wert wie er sind.« »Sie sind eine Radikale«, sagte er und trat lachend zurück. »Eine Freidenkerin. Weiß Sher das? Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Mutter es nicht tut, sonst hätte sie es mir erzählt.« »Ich muss nicht radikal sein, um die Meinung zu vertreten, dass der Charakter eines Drachen wichtiger ist als Herkunft oder Vermögen«, sagte Selendra mit so viel Würde, wie sie aufbringen konnte. »Nun, das ist die eindeutige Definition einer Radikalen«, erwiderte er. »Wir werden also bald eine radikale Erhabene unter uns haben, was in der Tat eine reizende Idee ist. Welch eine Schande, dass Sie keinen Sitz im Adelsrat einnehmen und uns alle mit Ihren revolutionären Ideen entzücken können.« In der Zwischenzeit machte Freit beim Rest der Familie Telstie einen guten Eindruck. Er hatte sogar einmal Gelener dazu gebracht, gnädig zu lachen. »Sie sind genau die Art von Pfarrer, die die Kirche braucht«, sagte der Gesegnete Telstie, nahm einen großen Schluck Bier und vergaß beinahe den Lockruf der Würfel.
148 »Und wenn ich das sagen darf bei unserer so frischen Bekanntschaft, die Schönheit Ihrer Tochter hat tiefen Eindruck auf mich gemacht; sie ist genau die Art Gemahlin, die mir vorschwebt«, sagte Freit. »Sagen Sie nichts mehr, bevor wir unsere Anwälte aufgesucht und mit unseren gemeinsamen Freunden gesprochen haben«, sagte die Gesegnete Telstie und trat einen Schritt vor, um zu zeigen, dass sie bereit war, sich falls nötig zwischen die beiden zu stellen. »Sollte sich das alles als befriedigend erweisen, hätte ich keine Einwände«, sagte Gelener leise und sah Freit ohne jedes Lächeln an. Als sie seinerzeit nach Irieth gekommen war, hätte sie nicht geglaubt, sich mit einem solch geringen wie einem Landpfarrer zufrieden zu geben, aber jetzt, da es so schien, als ob sie noch eine dritte Saison unverheiratet überstehen müsste, hatte sie ihre Ansprüche sehr heruntergeschraubt. Auf der anderen Seite des Raumes war ein kleines Streitgespräch in Gang. Daverak weigerte sich noch immer, Penn und Sher zuzuhören. »Ganz unmöglich«, beharrte er. »Überlegen Sie doch, morgen haben wir den Ersten Tag und am Tag darauf ist die Verhandlung. Ich brauche Ihre Aussage, Penn. Avan greift mich an, er lässt einfach nicht mit sich reden. Nein, ich werde es mir nicht noch einmal überlegen, warum sollte ich!« Penn wollte im Ballsaal, wo man ihnen zuhören konnte, nicht über jedes Detail sprechen. »Können wir Sie morgen besuchen, um darüber zu sprechen?«, fragte Sher. »Nein, morgen geht es nicht«, sagte Daverak. Er lenkte jedoch sogleich wieder ein, als er Shers Stellung bedachte, die bei ihm genauso zählte wie die des Glorreichen Fidrak bei der Erhabenen. »Morgen ist der Erste Tag.« »Ich halte es für wichtig genug, um Sie auch am Ersten Tag zu besuchen«, sagte Sher. »Also gut«, sagte Daverak. »Kommen Sie am Abend. Kom
149 men Sie zum Essen. Aber ich sage Ihnen jetzt schon, ich habe nicht vor, meine Meinung zu ändern.« Dann begann der Tanz. Die Feier ging weiter, bis der Morgen graute, und jedermann war beim Abschied der Meinung, dass es das schönste Fest seit vielen Monaten gewesen war.
5 7 . E i n drittes Sterbebett und eine sechste Beichte Der Erste Tag war angebrochen und für gewöhnlich hätte Sebeth Avan morgens zur Kirche begleitet. Dort hätte sie öffentlich an den Riten teilgenommen und auch wenn wir wissen, dass ihr privater Glaube ein ganz anderer war - die Welt wusste es nicht. An diesem besonderen Ersten Tag, dem elften Tiefwinter, dem Tag vor der zweiten Anhörung in Avans Fall, bereitete sie sich wie für den Kirchgang vor und setzte eine mit weißem Fell verzierte flache marineblaue Kappe auf. »Weißt du, wo dein Gebetbuch ist?«, fragte sie. »Ich gehe jetzt.« »Ich bin gleich fertig«, knurrte Avan. »Ich begleite dich heute nicht«, sagte sie und richtete die Kappe unnötigerweise noch einmal. »Kommst du nicht mit zur Kirche?«, fragte Avan. Seine goldenen Augen wirbelten überrascht. »Heute nicht«, sagte Sebeth in dem Tonfall, den sie sich zugelegt hatte, um einer Diskussion aus dem Wege zu gehen. Avan schloss den Mund. Sie hatte ihn immer zur Kirche begleitet, seit sie mit ihm zusammenlebte. Sie hatten nie über Religion gesprochen, aber sie hatte amüsierte Zustimmung zu seiner Wahl eines Pfarrers gezeigt, der für seine kurzen Predigten berühmt war. Sie bemühte sich, nicht nervös auszusehen. »Wir sehen uns später«, sagte sie und verließ ihn.
149 Sie wusste, dass er ihr nicht folgen würde. Soweit vertraute sie Avan. Ihr Arrangement funktionierte schon eine lange Zeit. Draußen war es sehr kalt. Der Schnee unter ihren Füßen war gefroren und glatt. Sie ging trotzdem zügig in Richtung Fluss. Ihr Atem ging schnell und sie wünschte sich, dem Drängen des Gesegneten Caliens nicht nachgegeben zu haben. Seine Seele, hatte er gesagt, seine Seele könnte gerettet werden, um in ein neues Leben einzugehen, oder sie könnte auch völlig vergehen, und wenn sie etwas tun wollte, um sie zu retten, wie schlimm er auch in seinem Leben gewesen sein mochte, welche Strafe er auch immer in seinem neuen Leben würde ertragen müssen, so sollte sie es tun. Er lag im Sterben. Das würde seine letzte Chance sein. Haus Telstie lag am Fluss, im Südwestviertel. Es überraschte sie doch etwas, wie gut sie den Weg immer noch kannte. Sie hatte ihn seit Jahren gemieden, absichtlich andere Straßen genommen, wenn sie ihre Arbeit in diese Gegend führte. Sie war nicht mehr hier gewesen, seit sie als Jungfrau gerade den Fittichen ihres Kindermädchens entkommen war. Das Haus sah etwas kleiner, etwas schäbiger aus, als sie es in Erinnerung hatte, der Schnee auf dem Türsturz war ihr nicht vertraut; sie war nie im Winter hier gewesen. Beinahe wäre sie vorbeigegangen. Sie könnte es noch immer. Aber der Gesegnete Calien hatte so viel für sie getan. Sie schuldete es ihm, wie er gesagt hatte. »Was bedeutet für Sie schon eine Stunde oder auch zwei? Ein Versuch, seine Seele zu retten? Sie müssen ihm nicht vergeben, aber er liegt im Sterben, und seine Seele, denken Sie an seine Seele.« Das waren seine Worte gewesen. Ein Versuch würde sie nichts kosten. Sie bat um Einlass, um Caliens willen, nicht um ihret- oder ihres Vaters willen. Der Diener war ein Fremder. »Ihr Name?«, fragte er durchaus höflich, wenn auch kühl. »Dem Vornehmen Telstie geht es nicht gut, das ganze Haus ist in Aufruhr. Ich weiß nicht, ob irgendjemand Zeit für Sie hat.«
149 »Mein Name ist Sebeth«, erwiderte sie. »Der Vornehme Telstie hat Bescheid gegeben, dass er mich sehen will.« Sie wusste noch immer nicht, welche Kanäle er benutzt hatte, um sie durch ihren Priester zu finden.
Der Diener sah sie jetzt mit anderen Augen an. Er musterte sie aufmerksam. Sie vermochte nicht zu sagen, ob er ihren Namen erkannt hatte oder einfach nur auf den fehlenden Titel und Familiennamen reagierte. Sie war wie die ehrenhafte Sekretärin gekleidet, die sie war. Daraus konnte er nichts ableiten. Sie bemerkte, wie sein Blick auf den Narben ihrer Schwingen verweilte, wo sie einst fest gebunden gewesen waren. »Warten Sie, ich frage nach«, sagte er und ließ sie in der oberirdischen Empfangshalle stehen, während er in die Tiefe eilte. Es war zu spät, um die Flucht zu ergreifen, sagte sich Sebeth streng. Viel zu spät. Sie hätte sich nie zu diesem Besuch überreden lassen dürfen. Was kümmerte es sie, dass er starb? Der Diener kam zurück. »Hier entlang«, sagte er. Als sie ihm nach unten folgte, dachte sie zum ersten Mal daran, dass sie sich möglicherweise nicht nur mit dem sterbenden Drachen auseinander setzen musste, dessentwegen sie gekommen war, sondern auch mit ihren Brüdern und Schwestern und dem Onkel und den Cousins. Wenn sie zu spät gekommen war, wenn es ihm zu schlecht ging, um sie zu empfangen, würde sie auf der Stelle gehen. »Die Erhabene Sebeth Telstie«, kündigte der Diener sie an und der Name war ihr zugleich fremd und vertraut. Also hatte er sie erkannt. Sie rauschte an ihm vorbei, als sei sie tatsächlich die Erhabene, wie es ihr von Geburt an zustand. Sie betrat eine Schlafhöhle aus einfachem Stein mit einer Kuppeldecke. Der Sterbende lag auf unbequeme Weise zusammengerollt auf seinem Gold. Seine Schuppen hatten bereits angefangen, sich abzulösen, seine Zeit musste bald abgelaufen sein. Seine Augen wiesen nicht mehr das strahlend helle Blau von einst auf, das Blau ihrer eigenen Augen.
150 Ihre Blicke trafen sich, als sie eintrat. Sie blieb ruckartig stehen. »Sebeth, meine Tochter«, sagte er, als sich der Diener zurückgezogen hatte. »Nein«, sagte sie, und der ganze Zorn, den sie zu unterdrücken versucht hatte, bahnte sich nun seinen Weg an die Oberfläche. »Du hast vor langer Zeit das Recht verloren, mich so zu nennen. Du hast genug Kinder, wie du dich erinnern wirst?« Er schloss die Augen. Sie beschloss zu gehen. Dann öffneten sie sich wieder und sahen sie an; sie drehten sich langsam. »Ich habe dich um deinen Besuch gebeten, damit du mir vergeben mögest.« »Dir vergeben, dass du mich in den Höhlen von Entführern und Vergewaltigern im Stich gelassen hast?«, fragte sie. »Wie könnte jemand, wie könnte eine Jungfrau von meiner Herkunft jemals jemandem vergeben, der ihr den Schutz eines Vaters schuldete?« »Ich wollte dich nicht im Stich lassen. Ich habe mich geweigert, das Lösegeld zu bezahlen, weil ich glaubte, ich könnte dich retten. Ich glaubte, ich wüsste, wo man dich gefangen hält. Ich wollte ihnen folgen und dich befreien. Aber sie hatten mich hereingelegt. Als ich die Höhle betrat, war sie leer.« Sie dachte über das Gesagte nach. »Glaubst du mir nicht?«, fragte er. »Ich weiß es nicht«, sagte sie ehrlich. »Es hat mich so verletzt, dass du das gesagt hast, dass du mich dort gelassen hast. Der Grund spielt dabei eigentlich keine Rolle.« »Ich habe versucht, erneut mit ihnen Kontakt aufzunehmen, aber sie waren nicht mehr aufzuspüren«, sagte er. »Ich hielt dich für tot.« »Nicht tot«, sagte sie. »Der Tod wäre eine Erlösung gewesen, aber ich habe überlebt.« »Ich werde nicht fragen, wie du gelebt hast«, sagte er. »Ich kann dieses Wissen nicht ertragen. Ich sehe die Narben auf
150 deinen Schwingen, und ich werde nicht fragen, wie es kommt, dass du heute frei bist. Du bist nicht zu mir zurückgekommen. Ich dachte, du würdest zu mir kommen, wenn du am Leben und frei wärst.« »Du hattest genug Kinder«, wiederholte Sebeth durch Tränen, von denen sie nicht einmal wusste, dass sie ihr aus den Augen strömten.
»Ich dachte, du würdest kommen, als dein Bruder Ladon starb«, sagte er und nahm die Tränen nicht zur Kenntnis. Sebeth starrte auf einen Goldbecher, der bei dem Fuß ihres Vaters lag. Sie hatte diesen Becher gesehen, als sie als frisch Geschlüpfte mit dem Gold ihrer Mutter gespielt hatte. Sie wusste genau, dass sich darauf ein eingraviertes S befand und ihr großer Bruder Ladon, der Älteste, der Erbe, der besondere Sohn, der Glorreiche Ladon Telstie hatte behauptet, das S müsste für Sebeth stehen. Es war der erste Buchstabe gewesen, den sie gelernt hatte. »Ich wusste nicht, dass Ladon tot ist«, sagte sie so beherrscht, wie sie konnte. »Er ist an der Grenze ums Leben gekommen«, sagte ihr Vater. »Es ist jetzt zehn Jahre her. Du bist das einzige Kind, das mir geblieben ist. Ich sterbe, Sebeth.« Drei Brüder und zwei Schwestern, alle tot, ohne dass sie es gewusst hatte? Aber woher hätte sie es auch wissen sollen? Sie hatte nie über sie Erkundigungen eingezogen, sogar jede Information gemieden. »Ich habe es nicht gewusst«, wiederholte sie und merkte, wie erbärmlich das klang. »Ich war ein arroganter Narr, dass ich das Lösegeld nicht gezahlt habe«, sagte der Vornehme Telstie. »Aber wirst du mir glauben, dass es Dummheit war und keine Gleichgültigkeit?« »Ich wünschte, ich hätte das all die Jahre gewusst«, sagte sie. »Verzeih mir, Vater, dass ich das von dir geglaubt habe.« »Ich verzeihe dir, wenn du mir verzeihst, dass ich darin versagt habe, dich zu finden«, sagte er. Jetzt weinten sie beide.
151 Sebeth umarmte ihren Vater und vergab ihm, und er vergab ihr, aber selbst noch während sie weinte und ihn um Verzeihung bat, war da in ihrem Inneren etwas, das ihr zu Wachsamkeit riet, etwas, das sich nicht sicher war, ob es die Geschichte ihres Vaters glaubte. Schließlich hatte er erst nach ihr gesucht, als er im Sterben lag, erst, nachdem alle seine anderen Kinder tot waren. »Jetzt muss ich meinen Anwalt rufen und ein Testament aufsetzen, das dich zu meiner Erbin macht«, sagte ihr Vater. »Du musst deinen Cousin Alwed heiraten. Wenn er weiß, dass der Titel und das Gut an dich gehen, wird er dich nehmen, ganz egal, wie schandbar dein Leben war.« »Nein«, sagte Sebeth. Sie konnte sich erinnern, dass Alwed bereits als kleiner Schlüpfling durchtrieben gewesen war. »Ich werde nicht wie eine beschmutzte Ware verkauft werden. Ich habe nicht in Schande gelebt, ich habe nichts Falsches getan. Ich habe Pech gehabt und mich selbst gerettet. Ich arbeite als respektable Sekretärin. Ich habe einen ...« Sie zögerte, überlegte, wie sie Avan beschreiben sollte. »Einen Partner. Er ist nicht mein Gemahl, aber er ist mehr als ein Geliebter. Er mag mich. Ich verdiene mein Geld auf ehrliche Weise.« »Du hast viel getan, viel mehr, als ich gedacht hätte. Ich sehe die Narben der Fesseln. Du hast dich auf deinen eigenen Schwingen erhoben, wie die Ehrenhaften Adligen der Vergangenheit. Es erfüllt mich mit Stolz. Wer ist dein Partner? Ein Drache von Rang, sagst du? Von adliger Geburt?« »Es ist Avan Agornin, der Sohn des Ehrwürdigen Bon Agornin.« Sebeth musste daran denken, wie sie aus dem Abgrund nach oben geklettert war, einen Fingerbreit nach dem anderen, von der Unterwerfung eines Straßenmädchens bis zu Avans Sekretärin und Partnerin. Bei dem Namen traten ihrem Vater neue Tränen in die Augen. »Bon Agornin war ein Freund von mir, als ich noch ein Kind war. Ich habe ihn nur selten gesehen, nachdem er
151 das Gut meiner Eltern verlassen hatte, aber ich habe geweint, als ich kürzlich hörte, dass er nicht mehr lebt. Er war ein guter und wertvoller Drache, und so wie du hat er seinen Aufstieg aus eigener Kraft geschafft. Du hast gesagt, sein Sohn mag dich. Liegt dir auch etwas an ihm?« Am Anfang hatte die Verbindung nur ihrem Vorteil gedient. Sie dachte an Avan, wie er an diesem Morgen gewesen war, dass er nicht die Fragen gestellt hatte, die ihm auf der Zunge gebrannt haben mussten. »Mittlerweile liegt mir sogar sehr viel an ihm«, sagte sie und wusste erst in dem Augenblick, in dem sie es sagte, dass es wirklich so war. »Und ist er ein starker Drache?«
»Er arbeitet im Planungsministerium«, sagte sie. »Er macht dort Karriere. Er ist neun Meter lang, aber er wird wachsen.« »Wenn er seinen Namen ändert und ein Telstie wird, heirate ihn und überlasse ihm das Gut als deine Mitgift.« »Ist das dein Ernst? Du kennst uns doch gar nicht richtig.« Sebeth konnte es kaum glauben. »Und der Skandal...« »Es wird keinen Skandal geben. Du wirst die Vornehme Telstie sein. Das reicht aus, dass du allen so lange in die Augen blicken kannst, bis sie zuerst den Blick senken. Ein Titel hat zwar nicht besonders viele Vorteile, aber das ist einer davon.« »Und was werden meine Cousins dazu sagen?« »Ich werde meinen Anwalt alles so regeln lassen, dass es keinen Disput gibt. Avan Agornin. Ehrwürdiger, sagtest du?« »Hochgeschätzter«, korrigierte Sebeth. »Und wenn er mich nicht heiraten will?« »Dann ist er ein Narr«, sagte ihr Vater. »Wenn er nicht will, solltest du deinen Cousin heiraten oder wen auch immer du wählst. Aber heirate. Es ist aussichtslos, das Gut sonst zu behalten. Telstie ist zu groß, um es einer ...« Er zögerte. Sie war weder Jungfrau noch verheiratet oder Witwe, es gab kein Wort, das auf sie passte. »Ich werde schon einen Mann finden, der mich heiratet,
152 auch wenn Avan mich nicht will«, sagte sie. Dann hielt sie plötzlich inne, erinnerte sich an Caliens Worte, dass die Seele ihres Vaters von allem das wichtigste war. Sie zögerte. Er hatte nicht wissen können, was ihr Vater ihr anbieten würde. Sicherheit, Ehe, Titel - wagte sie es, das alles jetzt noch zu riskieren? Aber es war für sie nicht real genug, um es wie ein Risiko erscheinen zu lassen. Sie schluckte. »Vater, noch eine Sache. Ich habe überlebt, ich habe meinen Weg in der Welt gemacht, so gut ich konnte - mit Hilfe der Wahren Kirche. Wirst du einen Priester empfangen, um zu beichten, Vater? Für mich?« »Du warst zujung, um die Wahre Kirche zu kennen«, sagte der Vornehme Telstie. »Zu jung? Wie konnte ich zu jung sein? Die Priester waren in den Straßen, in denen die am meisten Erniedrigten arbeiten, lehrten mich ihren Weg. Die Pfarrer waren nicht da, sie waren in der Sicherheit ihrer Kirchen, lebten von ihren Pfründen, während uns die Priester halfen. Ich weiß, was ich gelernt habe, und ich habe gelernt, dass Beichte und Absolution die Seele befreien und dass Camran ein Yarge war, der gestorben ist, um den Drachen das Wort der Götter zu bringen.« Einen kurzen Augenblick lang fühlte sich Sebeth wie einer der großen Märtyrer der Vergangenheit, wie der Heilige Gerin, der die Wahrheit der Religion bezeugte, obwohl er damit alle irdischen Dinge aufs Spiel setzte. »Du hast mich falsch verstanden. Ich meinte, du warst zu jung, als dass ich dir das alles vor deiner Entführung hätte beibringen können«, sagte der Vornehme Telstie trocken. »Ich habe bei meinem Priester die Beichte abgelegt und werde erneut beichten, sollte ich noch Zeit dazu haben. Unsere Familie glaubt schon seit sehr langer Zeit an die Wahre Kirche, sehr fest und voller Inbrunst. Doch im Geheimen. Dein Priester hat das vielleicht gewusst, aber die Namen der anderen Gläubigen werden nicht ausgesprochen, nicht einmal geflüstert.«
152 »Es ist nicht mehr verboten«, sagte sie. »Du könntest dich in aller Öffentlichkeit dazu bekennen. Wenn jeder weiß, dass ein Vornehmer ein Wahrer Gläubiger war, wäre das eine große Hilfe für uns.« »Es ist deshalb nicht mehr verboten, weil diejenigen von uns, die im Stillen dem Wahren Weg gefolgt sind, daran gearbeitet haben, dies Wirklichkeit werden zu lassen«, sagte er. »Und ob es nun erlaubt ist oder nicht, bezeugst du es als Sekretärin in aller Öffentlichkeit?« Seine Augen schienen heller zu strahlen. »Du bist meine Tochter und meine Erbin«, sagte er. »Wenn du den Wahren Glauben in aller Öffentlichkeit leben willst, dann mach es, aber besprich dich vorher mit den Priestern, sie haben mir viele Jahre zum Schweigen geraten. Und jetzt gib Bescheid, dass sie meinen Anwalt rufen lassen. Und du solltest mit deinem ... Partner sprechen. Mit Avan.«
»Das werde ich«, sagte Sebeth. »Aber bleib noch«, sagte er. »Geh nicht gleich. Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt. Ich werde den Anwalt und den Priester empfangen. Aber bleib die kurze Weile, die ich noch habe. Meine Tochter. Eine wahre Telstie, aus eigener Kraft aufzusteigen und die Kirche selbst zu finden. Du wirst die Zierde der Ränge der Vornehmen sein.« Da umarmte sie ihn, diesmal ohne Vorbehalte. Sie wusste noch immer nicht, ob er sie nun verraten hatte oder nicht, aber es spielte keine Rolle mehr. »Ich werde bis zum Ende bei dir bleiben«, sagte sie.
58. E i n drittes Abendessen und eine siebte Beichte Nach drei Tagen Gefangenschaft in ihrem Zimmer ohne Essen und Trinken hätte Haner alles getan und alles gesagt. Ihr Augenlicht ließ nach. Sie hatte nicht länger die Kraft, um zu rufen. Sie hatte ihr Gold, und es spendete ihr Trost,
153 sich darauf zu legen oder im Dunkeln jedes Stück umzudrehen. Auf diesem Gold ist Berend gestorben und ich werde es auch, dachte sie, und Daverak hat uns beide umgebracht. Sie betete zu allen Göttern, damit sie ihr halfen. Sie dachte an Londaver und an Selendra. Sie betete für Lamiths Seele. Sie fragte sich, ob Daverak sie für den Prozesstermin freilassen würde, oder ob sie dann schon tot sein würde. Sie vermochte nicht zu sagen, wie lange sie nun schon hier eingesperrt war. Da man Penn und Sher gesagt hatte, dass sie lediglich unpässlich war, waren sie überrascht, sie nicht beim Essen zu sehen. »Ihre Dienerin kümmert sich um sie in ihrem Zimmer«, sagte Daverak. Zu Penns Erleichterung war auch Freit nicht anwesend. »Er ist mit dem Erhabenen Telstie zum Abendgottesdienst in der Kuppel gegangen«, erklärte Daverak. Er führte sie sofort ins Esszimmer, wo man ihnen leidlich frisches Schwein servierte. »Wird es Haner gut genug gehen, um auszusagen?«, fragte Sher und bemühte sich, bei dem süßlichen Geruch des Fleisches, das schon einige Tage alt war, nicht zu würgen. Penn war zu nervös, um zu sprechen oder zu essen. »Bestimmt«, sagte Daverak. »Ich will nachher noch mit ihr darüber sprechen.« »Das Gericht würde ein ärztliches Attest akzeptieren«, sagte Sher. Er fand, dass Daverak beinahe schon selbst krank aussah, erfüllt von nervöser Aufregung. »Ich habe keinen Arzt gerufen«, sagte er. »So schlimm ist es nicht.« »Vier Tage lang krank zu sein, sieht Haner gar nicht ähnlich«, sagte Penn und riss sich zusammen. »Ich sehe nachher selbst nach ihr.« »Das ist nicht nötig, Sie werden sie bloß stören«, sagte Daverak. »Wir sehen sie ja morgen auf jeden Fall«, meinte Sher, der der Meinung war, dass es besser war, Daverak wegen dieser
153 Sache jetzt nicht "zu verärgern. »Wir müssen mit Ihnen über den Prozess sprechen.« »Dazu gibt es nichts zu sagen.« Daverak spreizte die Klauen. »Das habe ich Ihnen gestern bereits gesagt. Avan greift mich an, greift mein völlig gerechtfertigtes Verhalten an. Wenn er es nicht für richtig hielt, wie Sie es damals meinten, Penn, dann hätte er es direkt oder kurz darauf sagen sollen.« »Er scheint Ihnen beträchtlichen Kummer bereitet zu haben«, sagte Sher und versuchte mitfühlend zu klingen. »Er hat meinen Frieden gestört und vielleicht sogar meine Frau durch ihre Sorge in den Tod getrieben«, sagte Daverak. »Bevor das alles anfing, war ich ein ruhiger und zufriedener Drache, kümmerte mich um mein Gut, genoss die Saison in Irieth, sah zu, wie meine Familie wuchs. Jetzt bin ich ein Nervenbündel.« »Dabei ist das eine solche Kleinigkeit«, meinte Sher versöhnlich. »Das ist keine Kleinigkeit«, fauchte Daverak, und Schweineblut tropfte von seinem Kiefer. »Es stellt meine Integrität in Frage. Ich werde nicht zulassen, dass man solche Dinge über mich behauptet.« »Nun, wir entschuldigen nicht, dass sie gesagt wurden«, sagte Sher. »Wir möchten bloß, dass Sie sich einverstanden erklären, Penn nicht in den Zeugenstand zu holen.«
»Aber Penns Aussage ist entscheidend«, sagte Daverak und sah Penn an, der sein Fleisch nicht angerührt hatte. »Penn war am Sterbebett seines Vaters. Penn kann uns erzählen, was sein Vater dort gesagt hat.« »Wenn Penn das tut, wird das seine Karriere und Zukunftsaussichten ruinieren und er wird entehrt sein«, sagte Sher. Einen Augenblick lang schien es, als hätte Daverak nicht zugehört, Schweigen trat ein und alle drei warteten. »Das tut mir Leid zu hören«, sagte Daverak schließlich.
154 »Sie wollen doch sicher nicht, dass Ihr Schwager, der Onkel Ihrer Kinder, entehrt und aus der Kirche geworfen wird?«, fragte Sher. Penn schlug den Blick nieder und knirschte deutlich hörbar mit den Zähnen. Daverak runzelte die Stirn. »Aber warum sollte er das?« »Weil ich meinem Vater auf dem Sterbebett die Beichte abgenommen und ihm Absolution erteilt habe«, sagte Penn sehr leise. »Man wird mich einen Alten Gläubigen nennen und mich verstoßen.« »Müssen Sie ihnen das denn sagen?«, fragte Daverak. Sher und Penn sahen sich mit weit aufgerissenen Augen an. »Wie bitte?«, sagte Sher. »Warum es erwähnen? Warum sagen Sie ihnen nicht einfach, dass Avan sich irrt, dass Ihr Vater das so nicht gemeint hat?« »Ich kann nicht lügen, Daverak«, sagte Penn. »Und selbst wenn ich so dreist lügen könnte - ich werde unter Eid stehen! Man wird mich nach den genauen Worten meines Vaters fragen. Es wäre ein Meineid.« »Niemand wird es erfahren«, sagte Daverak. Aus Shers offenem Maul fiel ein Stück Fleisch auf den Boden. »Ich glaube, wir werden Haner guten Tag sagen und dann gehen«, sagte Penn mit äußerst beherrschter Stimme. »Sie können doch nicht wirklich der Meinung sein, dass es besser wäre, entehrt zu sein, als zu lügen«, sagte Daverak lockend. »Jeder ehrenwerte Drache würde das«, sagte Sher. »Wir gehen jetzt. Aber bringen Sie uns zuerst zu Haner.« »Das geht nicht«, sagte Daverak. Seine Augen wirbelten voller Unbehagen. Penn runzelte die Stirn. »Warum nicht?« »Sie können nicht herkommen und mich beleidigen und dann in meinem Haus tun, was Sie wollen.«
154 »Ich will meine Schwester sehen, der es nicht gut geht«, sagte Penn. Sher stieß die Tür des Esszimmers auf und schnappte sich einen vorbeigehenden Diener, der unter seinem Griff zitterte. »Bring mich zur Hochgeschätzten Haner Agornin«, verlangte er. Der Diener sah offensichtlich vor Angst erstarrt an ihm vorbei zu Daverak. »Nein!«, brüllte Daverak, und eine Flamme schoss aus seinem Rachen. Der Diener riss sich los und floh den Korridor hinunter. Sher und Penn folgten ihm, Daverak eilte ihnen hinterher. Haners Zimmer war leicht zu erkennen; davor war ein großer Haufen Steine aufgeschichtet. »Das kann ich erklären«, sagte Daverak. Es klang beinahe entschuldigend. Sher sah ihn von oben herab an. »Das bezweifle ich. Aber Sie können helfen, die Steine zu entfernen.« Es dauerte einige Zeit, um den Weg zur Tür freizumachen. Sie arbeiteten stumm. Sher fragte sich, ob Daverak den Verstand verloren hatte und wie lange es wohl gedauert hatte, die Steine aufzuschichten. Es handelte sich offensichtlich um die Steine vieler Gästebetten. Er musste sie aus den Gäste-schlafhöhlen hergeschleppt und hier aufgeschichtet haben. Sher machte sich Sorgen, wie lange das her war. Er brauchte Haner, damit sie ihre Zustimmung zu seiner Hochzeit gab. Was würde Selendra tun, wenn ihre Schwester verhungert war?
Schließlich war es möglich, die Tür zu öffnen. Penn trat in den Raum und rief Haners Namen. Sher hörte ein Krächzen als Antwort. Dann stand Penn wieder vor ihnen, eine schlaffe Gestalt auf den Armen, deren Gold so blass war, dass es beinahe grün aussah. »Daverak...«, sagte er wütend und unterbrach damit das Schweigen.
155 Sher unterbrach ihn. »Daverak, Sie sind eine Schande für den Stand der Erlauchten.« Er musste sich anstrengen, jedes Wort klar und eindeutig auszusprechen. Daverak wandte sich ihm zu. »Das ist eine Beleidigung«, meinte er im Plauderton. Sher hätte beinahe gelacht, auch wenn das die korrekte Erwiderungsformel seiner Herausforderung war. Er hatte den Kode vor langer Zeit gelernt, aber ihn nie benutzt, nicht einmal daran gedacht, ihn zu benutzen. »Es wäre eine Beleidigung, wenn Sie ein Drache wären«, sagte er, den nächsten rituellen Satz, wenn er keinen Rückzieher machen wollte. Er hatte nicht die Absicht. Er hätte in diesem Augenblick am liebsten gekämpft. »Ich schicke Ihnen einen Freund vorbei.« »Sie werden mich in meinem Haus finden«, sagte Sher. Penn kämpfte sich mit Haner weiter vor. Ihre Augen waren zu Hälfte geschlossen. »Wir müssen sie sofort nach Hause bringen«, sagte er. Seine Stimme war tränenerstickt. »Sie wird sich wieder erholen«, sagte Sher zuversichtlicher, als er sich fühlte. Sie ließen Daverak sprachlos zurück.
59. Die zweite Anhörung Diesmal schüchterte das Gericht Avan nicht mehr ein. Dazu war er viel zu besorgt, weil Sebeth am Abend nicht nach Hause gekommen war. Er fragte sich, ob er sie je wiedersehen würde, ob sie einen stärkeren Beschützer gefunden hatte, ob sie glaubte, er würde alles bei Gericht verlieren. Er mochte sie mittlerweile mehr, als er eigentlich sollte, das war ihm bewusst, aber er hätte nicht gedacht, dass sie wortlos gehen und nicht mehr zurückkommen würde. Er vermisste sie. Er hoffte, dass ihr nichts bei einem ihrer Abenteuer zugestoßen war, und ihm war auf einmal klar, dass er es mög
155 licherweise niemals erfahren würde, wenn das geschehen sollte. Hathor sah zuversichtlich aus, vor ihm lagen die drei Perücken. »Die Geschworenen sind bereits zur Hälfte auf Ihrer Seite«, versicherte er Avan, als sie sich setzten. Die Geschworenen, alle sieben, saßen unterhalb der Richterbank auf den Stufen. Sie alle starrten Avan oder Daverak an, der hinter seinen drei Anwälten finster zurückstarrte. Hinter ihnen an den Wänden verteilt standen die Zeugen. »Sehen Sie sich nicht um, aber Ihre Schwestern sind gerade eingetreten«, sagte Hathor, der sich umschaute. »Eine von ihnen sieht schrecklich blass aus.« »Welche denn?« »Wie soll ich das wissen? Sie sind mit einem Priester und einem Adligen gekommen.« »Der Priester muss Penn sein, aber ich weiß nicht, wer der Adlige ist. Darf ich ihn mir ansehen?« Avan war besorgt. »Es macht keinen guten Eindruck auf die Geschworenen, wenn Sie sich nicht ruhig verhalten. Keine Sorge, der Adlige kommt zu uns.« Avan schaute auf und sah einen achtzehn Meter langen Bronzedrachen. Er kannte ihn von Penns Hochzeit und den Urlauben, die er als Kind auf Agornin verbracht hatte. »Guten Tag. Ich bin der Erhabene Sher Benandi«, sagte er freundlich. »Ich bin der Verlobte Ihrer Schwester Selendra.« »Das hat mir niemand gesagt«, sagte Avan. »Herzlichen Glückwunsch.« Das Erste, an das er dachte, war natürlich Selendras frühzeitiges Erröten in Agornin. War inzwischen wieder alles in Ordnung? Er konnte sich wohl kaum danach erkundigen. »Meinen Glückwunsch«, mischte sich Hathor ein. »Aber die Richter werden jeden Augenblick eintreten, Sie sollten zurück zur Wand gehen.«
»Ich muss Ihnen kurz etwas mitteilen, das gestern geschah«, sagte Sher und ignorierte die Mahnung freundlich.
156 »Seit gestern habe ich Grund, Daveraks Eignung für den Stand der Erlauchten in Frage zu stellen. Er hatte genug Zeit, mir einen Sekundanten zu schicken, hat das aber nicht für nötig gehalten. Ich werde heute vor Gericht fordern, dass er gegen mich kämpft. Ich möchte das zu einem Zeitpunkt tun, der den Ablauf Ihrer Klage nicht zu sehr stört.« »Sie wollen ihn töten?«, fragte Hathor. Avan konnte die beiden nur anstarren. »O ja«, sagte Sher beiläufig. »Werden sie es für gerechtfertigt halten?« Hathor deutete ruckartig mit der Klaue auf die Stufen für die Richter und Geschworenen. »Oh, das denke ich schon. Er ist drei Meter kürzer als ich, aber er hat die Flamme und ich nicht. Zweifellos werden sie uns hier kämpfen lassen, wenn wir fair dabei bleiben. Schließlich sehen Richter ja angeblich gern, wenn Blut vergossen wird. Nun, ich möchte auch, dass Daverak in diesem Rechtsstreit verliert.« »Dann warten Sie bis zum Ende«, sagte Hathor. »Wir werden gewinnen. Sehen Sie sich nur die Geschworenen an.« »Nein, ich muss es tun, bevor er den Gesegneten Agornin aufruft«, sagte Sher. »Also schön«, meinte Hathor. »Dann warten Sie, bis ich vorgebracht habe, was dieses Testament bedeutet und was er für ein Tyrann ist.« »Er hat die Hochgeschätzte Haner Agornin eingeschlossen und versucht sie auszuhungern, um sie seinen Wünschen für eine Falschaussage gefügig zu machen«, sagte Sher. In diesem Augenblick wagte Avan doch einen schnellen Blick nach hinten. Selendra sah wunderschön aus und trug Juwelen am Hut, zeigte aber eine strahlende goldene Farbe. Golden? Immer noch? Was hielt Sher davon? Haner sah blass aus, wie Hathor behauptet hatte, schien aber gefasst zu sein. »Aha. Können Sie das beweisen?«, fragte Hathor, der
156 durch die alarmierenden Neuigkeiten nicht im Mindesten aus der Fassung gebracht zu sein schien. »Wenn Sie Daveraks Diener vorladen können, ja, sonst gibt es nur meine Aussage, die der Jungfrau und die ihres Bruders Penn.« »Die der Jungfrau würde man nicht zulassen, aber mit Ihrer und der Aussage des Pfarrers hätte ich Beweise genug für die Geschworenen.« »Penn Agornin darf unter gar keinen Umständen bei diesem Prozess in den Zeugenstand gerufen werden«, sagte Sher. Hathor dachte einen Augenblick lang darüber nach. Avan wollte etwas sagen, wollte nach dem Grund fragen, aber Hathor hielt die Klaue hoch und hielt ihn davon ab. »Wo hat er sie eingeschlossen?«, fragte er. »In ihrer Schlafhöhle, mit Steinen vor der Tür«, sagte Sher. Die Richter traten ein. »Machen Sie sich für die Herausforderung bereit, wenn ich Daverak aufstehen lasse und danach frage«, flüsterte Hathor und machte dann eine Bewegung, als würde er Sher zurück zur Wand scheuchen. Avan war wie betäubt. Er fragte sich, ob er an diesem Morgen vielleicht gar nicht aufgewacht war, ob das alles ein Albtraum sein konnte. Er hatte sich so viel von seinem Prozess versprochen und jetzt schien es so, als würde er alles verlieren. Und Sebeth, wo war Sebeth? Hathor stand auf und wandte sich an die Richter, die Verteidigerperücke auf dem Kopf. »Ehrenwerte, bei diesem Fall geht es um drei junge Drachen, die man um ihr Erbe betrogen hat, und zwar durch das rücksichtslose Verhalten ihres mächtigeren Schwagers. Der Ehrwürdige Bon Agornin hinterließ ein Testament, das man Ihnen vorlesen wird, in dem er zum Ausdruck brachte, dass er alles, was er im Fall
seines Todes besaß, sein ganzes Vermögen, zu gleichen Teilen seinen drei jüngeren Kindern vermachte; seine beiden älteren
157 Kinder, die es durch seine Hilfe in der Welt bereits zu etwas gebracht hatten, sollten nur einen symbolischen Anteil daran erhalten. Der älteste Sohn, der Gesegnete Penn Agornin, ist ein Pfarrer mit gutem Einkommen, und die älteste Tochter, die Erlauchte Berend Agornin, die damals noch lebte, mittlerweile aber verstorben ist, war mit dem Erlauchten Daverak verheiratet. Für meine Person als Bons Anwalt wie auch für alle Mitglieder der Familie war und ist es eindeutig, dass das Vermögen, von dem er sprach, auch seinen Leichnam mit einschloss. Ehrenwerte, wir sind nicht alle Adlige, die Drachen ihres Gutes fressen, die zum Überleben zu schwach sind. Aber wir sind alle freie Drachen, die darauf hoffen dürfen, zum richtigen Zeitpunkt unsere Eltern fressen zu können, um so als Drachen wachsen zu können. Avan, Selendra und Haner Agornin, Drachen im Rang von Hochgeschätzten, wurden dieses Rechtes und des letzten Willens ihres Vaters beraubt und zwar durch die Großtuerei und Drohungen von jemandem, der ein Adliger ist, der ihr Beschützer hätte sein sollen, ihr Schwager, der Erlauchte Daverak. Ich werde beweisen, Ehrenwerte, dass Daverak mehr als nur den einen Bissen verlangt hat, der sein Recht gewesen wäre, und dass er und seine Frau und Kinder, die von allen Familienangehörigen Bon Agornins Drachenfleisch am wenigsten nötig hatten, den Großteil seines Leichnams verschlangen. Ich werde darlegen, welche Absichten Bon Agornin eigentlich hatte. Ich werde beweisen, dass der Erlauchte Daverak seine Schwägerinnen einschüchterte, und ich werde Ihnen darlegen, wie er versucht hat, seinen Schwager Avan einzuschüchtern und zu bedrohen, und weshalb seine Einschüchterungsversuche erfolglos blieben.« Der Ehrwürdige Jamaney stand auf, um an Daveraks Stelle zu antworten. »Ehrenwerte, Bon Agornin hat in der Tat sein Gold so vermacht, wie es mein Kollege hier beschrieben hat«, fing er an. »Der Erlauchte Daverak hat das auch nie
157 bestritten. Aber Gold ist kein Drachenfleisch, wie wir beweisen werden. Avan Agornin hat zugelassen, dass Gier die Vernunft überwältigte, und hat mehr als seinen ihm zustehenden Anteil am Leichnam seines Vaters verlangt. Wenn die Dinge so wären, wie es mein Kollege hier dargestellt hat« - er neigte den perückengekrönten Kopf in Hathors Richtung - »warum stehen dann in der Klageschrift nicht die Namen der beiden Schwestern neben dem Avans, warum fühlen sie sich nicht auf dieselbe Weise beraubt? Wir sehen hier die nackte Gier eines jungen Drachen. Er hat nie gewollt, dass dieser Fall vor Gericht kommt, er hoffte, dass sich der Erlauchte Daverak, sein Schwager, mit ihm einigte, indem er ihm Drachenfleisch gab, um seine Gier zu befriedigen. Avan Agornin hoffte, auf diese Weise von der Verbindung, die seine Schwester eingegangen war, zu profitieren. Ich werde Ihnen Beispiele für seinen wahren Charakter nennen, Ehrenwerte. Er ist ein Abenteurer. Er ist unverheiratet, teilt seine Wohnung aber mit seiner Sekretärin, als wären sie verheiratet, eine Drachenfrau, die er von der Straße aufgelesen hat, die nicht einmal einen respektablen Titel vorweisen kann. Er arbeitet im Planungsministerium, wo man ihm regelmäßig Bestechungsgelder anbietet. Das wird einer seiner Kollegen hier vor Gericht bezeugen. Sie werden die Aussage seines Bruders hören, dem Gesegneten Penn Agornin, was Bon wirklich auf dem Totenbett gesagt hat, an dem er gestanden hat. Sie werden den Pfarrer von Untertor hören, den Gesegneten Freit; er wird ebenfalls über Bons Absichten aussagen und um was es für gewöhnlich in solchen Fällen geht. Sie werden sehen, Ehrenwerte, wie Avan Agornin den Erlauchten Daverak verfolgt hat, ja, selbst seine Gesundheit zerstören wollte.« Jamaney setzte sich wieder und nahm schwungvoll die Perücke herunter. Avan verdrehte den Hals, ohne sich umzudrehen, und entdeckte Kest unter Daveraks Zeugen. Hätte er das gewusst, hätte er Liralen vorladen lassen, damit dieser
157 über seine harte Arbeit und seinen guten Charakter aussagen konnte, aber dafür war es nun zu spät.
Es ging so weiter, wie Avan und Hathor es größtenteils geplant hatten. Hathor jonglierte auf bewundernswerte Weise mit seinen Perücken. Bons Testament wurde vorgelesen, ehrenwerte Drachen einschließlich Hathor selbst - als Privatmann ohne Perücke -, traten in die Mitte des Kreises, um zu bezeugen, was Bon mit »meinem ganzen Vermögen« gemeint hatte, dass sein Leichnam mit eingeschlossen gewesen war. Daveraks Anwälte zogen alles und jeden in Zweifel. Dann ließ Hathor trotz vieler Einsprüche Daveraks Drohbrief an Avan vorlesen. »Darf ich, Ehrenwerte?«, fragte Hathor, die Verfahrensperücke auf dem Kopf. »Ich hatte beabsichtigt, als Nächstes die Hochgeschätzte Haner und die Hochgeschätzte Selendra Agornin aufzurufen, damit sie zu den Absichten ihres Vaters und den Einschüchterungen des Erlauchten Daveraks aussagen. Aber es hat den Anschein, als hätten Daveraks Machenschaften die Hochgeschätzte Haner so krank werden lassen, dass sie nicht aussagen kann. Sie ist hier anwesend, aber ich zögere, sie unter diesen Umständen aufzurufen. Stattdessen würde ich gern Daverak in den Zeugenstand rufen und seinen Charakter von ihm selbst enthüllen lassen.« »Einspruch!«, rief Mustan, Daveraks Untersuchungsanwalt. Daverak und Jamaney berieten sich in aller Eile. »Ich sehe keinen Grund, warum er nicht aufgerufen werden sollte«, sagte der Richter mit den schwarzen Schuppen mit matter Stimme und sah über Avans Kopf hinweg, zweifellos zu Haner hinüber. Daverak trat in die Mitte des Kreises. Er schien sich unbehaglich zu fühlen. Hathor ließ ihn einen Augenblick lang stehen, während er zur Verteidigerperücke überwechselte, um ihn zu befragen.
158 »Sie sind der Erlauchte Daverak von Daverak?«, fragte Hathor. »Ja«, antwortete Daverak. »Sie waren mit der Hochgeschätzten Berend Agornin verheiratet?« »Ja.« Das kam ziemlich ungeduldig heraus. »Sie haben drei Kinder?« »Nein. Zwei. Eines ist gestorben.« »Das zu hören tut mir sehr Leid. Wie ich gehört habe, ist Ihre Frau ebenfalls gestorben, nach dem Tod ihres Vaters?« »Ja.« »Was hatten Sie doch für ein unglückseliges Jahr«, sagte Hathor voller Mitgefühl. Ein paar der Zeugen lachten. Die Richter sahen sie stirnrunzelnd an. »Ich sehe keine Notwendigkeit, Sie nach dem Sterbebett des Bon Agornins zu befragen. Niemand stellt die Fakten in Frage, sondern lediglich die Absichten, die dahinter stecken, ist das korrekt?« »Ja.« Daverak sah mürrisch aus. »Nach Bons Tod, haben Sie da eine seiner Töchter in ihre Obhut genommen?« »Ja.« Hathor wartete, bis das Gericht davon überzeugt war, dass das alles war, was Daverak dazu sagen würde. »Haner Agornin?« »Ja, Haner«, fauchte Daverak. Daveraks Untersuchungsanwalt schoss hoch. »Einspruch!«, rief er. »Worin liegt die Notwendigkeit dieser Frage?« Hathor riss sich die Verteidigerperücke vom Kopf, hielt sie in der Klaue, setzte sich die Perücke des Untersuchungsanwalts auf und sah den Richter an. »Ich will beweisen, dass Daverak seine Verwandten unter Druck setzt. Ich habe seinen Brief an Avan vorlesen lassen.« Man konnte sehen, wie Mustan darüber den Kopf schüttelte. »Ich wünsche darzulegen, wie er Haner und Selendra behandelt hat.«
158 »Das hat nichts mit dem Fall zu tun«, sagte der Bronzerichter. »Es hat alles damit zu tun, warum die Schwestern Avan nicht unterstützt haben, was mein Kollege auf seine Weise ausgeführt hat, und ich auf die meine ausführen möchte«, erwiderte Hathor. »Nun gut«, sagte der Richter. »Fahren Sie fort. Aber machen Sie es kurz.« »Ja, Ehrenwerter.« Hathor wechselte wieder schnell die Perücke. »Erlauchter Daverak, ganz kurz. Warum geht es Haner Agornin so schlecht, dass sie heute hier nicht aussagen kann?«
»Sie ist unpässlich«, sagte Daverak. »Jungfrauen sind von Zeit zu Zeit eben unpässlich.« »Ich behaupte, Sie haben sie in ihrer Schlafhöhle eingesperrt und wollten sie aushungern!« »Unsinn!« Ein Raunen ging durch den Gerichtssaal. Avan konnte sehen, wie sich andere Drachen die Hälse verrenkten, um Haner sehen zu können. »Ich behaupte, Sie haben vor ihrer Tür Steine aufgeschichtet, damit sie nicht entfliehen konnte!« »Sie ist unpässlich.« Mustan war wieder aufgesprungen. »Einspruch! Gibt es dafür den geringsten Beweis?« Sher stand auf und trat vor. »Ehrenwerte, darf ich sprechen?« Daverak bleckte die Zähne. »Wer sind Sie?«, fragte der bronzene Richter. »Ich bin der Erhabene Sher Benandi, und ich bin hier, weil ich mit der Hochgeschätzten Selendra Agornin verlobt bin.« »Selendra, nicht Haner?«, fragte der Richter, um sich noch einmal zu vergewissern, und schaute auf das Papier vor ihm. »Selendra, Ehrenwerter. Selendra hat bei ihrem Bruder,
159 dem Gesegneten Agornin gelebt, auf Benandi, wo er mein Pfarrer ist.« »Also gut, fahren Sie fort«, sagte der Richter. »Gestern Abend besuchte ich den Erlauchten Daverak in Haus Daverak. Dort fand ich Haner Agornin halb verhungert und eingekerkert vor, genau wie es der Anwalt beschrieben hat.« »Und haben Sie etwas dagegen unternommen?«, wollte der Richter wissen. »Ich habe Haner nach Haus Benandi bringen lassen und sie unter die Obhut meiner Mutter gestellt. Ich habe Daverak auf der Stelle herausgefordert, aber er hat mir keinen Sekundanten geschickt. Ich fordere ihn jetzt wieder heraus, hier, vor Ihnen allen.« Jamaney hatte sich inzwischen wieder gesetzt und den Kopf auf den Boden gelegt. Daverak knurrte. »Daverak, Sie sind eine Schande für den Stand der Erlauchten«, sagte Sher. »Dies ist das dritte Mal, dass ich es Ihnen sage. Kämpfen Sie gegen mich oder muss ich Feigheit zur Liste Ihrer infamen Taten hinzufügen?« Daverak schoss nach vorn, Flammen fuhren aus seinem Rachen; er stieß Hathor zur Seite. Alles rief durcheinander. Eine Jungfrau schrie. Avan duckte sich, als Sher über seinen Kopf sprang und Daverak in die Mitte des Gerichtssaals stieß. Avan hörte, wie der schwarze Richter so etwas wie »Höchst irregulär!«, rief. Die Wachen eilten nach vorn, aber der Richter mit den rostfarbenen Schuppen winkte sie fort. Sher und Daverak rollten über den Saalboden, mit zuschlagenden Krallen und peitschenden Schwänzen. Hathor duckte sich zusammen mit Avan hinter seinen Steintisch. »Nicht ganz das, was ich erwartet hätte«, sagte er. »Normalerweise warten sie, bis sie die Erlaubnis erhalten haben.« Kämpfe dauern selten lang, nicht einmal Kämpfe bis auf den Tod. Obwohl es endlos schien, dauerte es keine fünf Minuten, bis die umherwirbelnden, flammenerfüllten und
159 klauenblitzenden Drachenleiber zur Ruhe kamen, Daverak tot unten lag und der angesengte und blutende Sher triumphierend über ihm stand. Selendra stürzte herbei, um sich Shers Wunden anzunehmen. Vor Avans Augen errötete sie dabei wie eine Braut, aus Gold wurde ein herrliches, leuchtendes Rosa. Hathor hatte sich sofort wieder gefasst, die Perücke des Untersuchungsanwaltes fest auf dem Kopf, die Verteidigerperücke irgendwo auf dem blutverschmierten Boden. »Ich glaube, wir haben genug gehört und gesehen«, sagte er. »Ehrenwerte Geschworene?«, fragte der rostfarbene Drache. »Avan«, sagte einer von ihnen. »Avan«, stimmten die anderen zu. »Wir stimmen für Avan Agornin.« Hathor grinste Avan an.
»Das Urteil ist gefällt«, sagte der Richter, vielleicht war das wörtlicher zu verstehen als in den meisten Fällen, in denen diese Worte gesprochen werden.
160
Belohnungen und Hochzeiten 6 0 . Der Erzähler ist zu dem Geständnis gezwungen, die Übersicht über die erfolgten Anträge und Beichten verloren zu haben Als Avan noch immer wie betäubt von den Geschehnissen bei Gericht nach Hause kam, war Sebeth in der Schlafhöhle. Sie erwiderte seinen Pfiff, als er nach unten ging. Seine Erleichterung war unbeschreiblich. Er lächelte und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sich um sie gesorgt hatte. »Hallo, Sebeth«, sagte er so beiläufig wie er konnte und warf sich auf die Steine, auf denen sie schliefen. »Nun, wie lief es?«, fragte sie lächelnd. »Sehr gut, aber mit vielen Überraschungen.« Er gab ihr einen kurzen Bericht über die Geschehnisse, beeilte sich, als er bemerkte, dass sie nicht gerade schrecklich interessiert zu sein schien. »Dann, als Daverak tot war und sie zu meinen Gunsten entschieden hatten, sagte Sher, ich könnte mich
160 bedienen. Also nahm Penn die Augen und die Geschworenen bekamen ihren Anteil und dann teilten Haner und ich uns den Leichnam, direkt im Gericht. Sher und Selendra nahmen nur einen symbolischen Bissen. Es war, als hätten wir es noch einmal machen können, nur diesmal richtig.« »Also ist dir jetzt Gerechtigkeit widerfahren?«, fragte Sebeth. »Es ist sehr seltsam«, sagte er. »In gewisser Weise ist es das gar nicht, weil wir den Fall nicht bis zu Ende verhandelt und ein richtiges Geschworenenurteil gefällt wurde. Ich habe nie gewollt, dass Daverak stirbt, obwohl, hätte ich gewusst, dass er Haner misshandelt, hätte ich das schon gewollt. Sie wohnt jetzt bei Selendra und Sher.« »Ich freue mich, dass du dich an einem Festmahl stärken konntest«, sagte Sebeth. »Du wirst es brauchen.« »Warum?« Avans Augen drehten sich besorgt. »Brauchst du mich, um gegen jemanden zu kämpfen?« »Möglicherweise«, sagte sie. »Aber hör mich erst an, da gibt es etwas, das ich dir immer verschwiegen habe.« »Davon gibt es eine Menge, aber das ist unsere Vereinbarung, du musst mir nichts sagen, wenn du nicht willst«, sagte Avan sanft. »Ich möchte es aber. Du erinnerst dich, was ich dir über meinen Vater, den Vornehmen, erzählt habe?« »Wie sollte ich das vergessen können?« Avan schüttelte den Kopf. »Das ist eine der traurigsten Geschichten, die ich je gehört habe.« »Er ist tot.« »Wir können nicht gehen und deinen Anteil beanspruchen«, sagte Avan und stellte sich riesengroße Brüder und Cousins vor. »Ich weiß, es ist unfair, aber das wird einfach nicht möglich sein.« »Das ist es nicht. Hör zu. Ich möchte dir etwas erzählen. Gestern war ich bei meinem Vater zu Hause. Und meistens, wenn du nicht wusstest, wo ich war, war ich in der Kirche.«
160 »In der Kirche?« Avan blinzelte. »Nicht in deiner Kirche.« Sie spielte nervös mit den Klauen. »In einer Kirche der Alten Gläubigen. Ich bin eine Alte Gläubige, eine Wahre Gläubige.« Darauf fiel Avan keine Erwiderung ein. »Ich habe das mit deinen anderen Liebhabern eigentlich nie geglaubt«, sagte er nach einem Moment. »Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen.« »Seit ich mit dir zusammen bin, habe ich keine anderen Liebhaber mehr gehabt«, sagte sie. »Wie denkst du über die Alte Religion?« »Ich weiß es nicht.« Er runzelte die Stirn. »Mein Bruder würde ganz grün werden, aber er kennt dich sowieso nicht, er weiß nur, dass es dich gibt. Ehrlich gesagt bin ich kein besonders religiöser Drache,
Sebeth. Ich schätze, es sollte mich stören, aber tatsächlich stört es mich nicht sehr, wenn ich weiß, dass es dich glücklich macht. Ich habe nie versucht, dir in dein Leben reinzureden, das weißt du ja.« »Ich weiß.« Sie sah ungewohnt unentschlossen aus. »Die Sache ist nur die, mein Vater war auch ein Wahrer Gläubiger.« »Ein Vornehmer ein Wahrer Gläubiger?« Avans Augen wirbelten. »Insgeheim. Ich werde es auch weiterhin geheim halten, zumindest für den Anfang, vielleicht sogar für immer, es sei denn, die Dinge ändern sich. Der Gesegnete Calien, das ist mein Priester, ist auch dafür. Aber es ist wichtig, dass ich meine Kinder in der Lehre der Wahren Kirche erziehe, darum musste ich dich fragen, wie du darüber denkst.« »Kinder?« Soweit Avan wusste, achtete Sebeth genau darauf, sämtliche Nahrung zu meiden, die sie zur Empfängnis bereit machte. »Ich wünschte, ich könnte dich heiraten und Kinder mit dir haben, aber sei vernünftig, wir könnten es uns doch gar nicht leisten. Oder hat dir dein Vater etwas hinterlassen?«
161 »Mein Vater, der Vornehme Telstie, hat mich zu seiner Erbin gemacht.« »Seine Erbin?« Avan konnte es beinahe nicht glauben. »Du wirst eine Vornehme sein, genau wie Kest dich genannt hat.« »Kest hatte keine Ahnung«, sagte sie und lachte. »Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie sehr das geschmerzt hat, da es beinahe stimmte.« »Das ist erstaunlich«, sagte Avan verblüfft. »Also«, sagte Sebeth und alle Spottlust war aus ihrer Stimme verschwunden. »Ich werde eine Vornehme sein, aber ich brauche dazu einen Ehemann und ich habe mich gefragt... Du müsstest deinen Namen ändern. Ich kann jemand anderen finden, wenn du es nicht willst. Da ist mein schrecklicher Cousin, aber vielleicht gibt es auch noch einige andere interessierte Drachen.« Avans Mund stand offen. »Ich kann das immer alles noch nicht so richtig begreifen«, sagte er. »Nun ja, wenn es ein Traum ist, dann gefällt er mir immerhin. Sebeth, als du nicht nach Hause gekommen bist, musste ich daran denken, wie viel mehr du mir bedeutest, als ich je gedacht habe. Ich hatte Angst, dich nie wieder zu sehen. Ich konnte dich nicht heiraten, wir hätten überhaupt keine Zukunft gehabt. Ich habe gedacht, dass wir es vielleicht eines Tages doch schaffen könnten, oder dass dir dein Vater ein bisschen Gold hinterlässt, damit ich Agornin von Daveraks Cousin Vrimid zurückkaufen und dich dort hinbringen könnte. Ich habe an Länge und Kraft sehr zugenommen und ich habe den Ruf, diesen Prozess gewonnen zu haben. Außerdem habe ich Freunde in Irieth. Aber jetzt bietest du mir Reichtum und eine gesellschaftliche Stellung und meine wildesten Träume werden übertroffen, aber du bietest mir das alles an und nicht ich dir. Ich habe mich nie um dich gekümmert, wie man sich um eine Jungfrau kümmern sollte, oder um seine Frau, du bist meine Sekretärin gewesen, meine Geliebte. Ich weiß nicht,
161 ob ich dein großzügiges Angebot annehmen kann, selbst wenn mir so viel an dir liegt.« »War das ein Ja oder ein Nein?«, fragte Sebeth gespannt. »Ich weiß es nicht«, sagte Avan. »Und wenn ich dich bitten würde, Telstie aufzugeben, mit mir nach Agornin zu kommen und mich dort zu heiraten?« Sie zögerte. »Ich habe es meinem Vater versprochen«, sagte sie. »Ich wollte nie beschützt werden, auch nicht von dir. Wir waren Partner, das habe ich meinem Vater gesagt. Und genau das ist es, was ich jetzt will, ich will keine Ehefrau sein wie ein Gegenstand, der dir gehört, ich will weiterhin deine Partnerin sein, meine eigenen Entscheidungen treffen.« »Es ist fast so, als wäre ich deine Ehefrau«, sagte Avan zögernd. »Warum nicht? Eine Partnerschaft. Zwei Ehefrauen, das klingt doch, als würde das besser funktionieren, als mit zwei Ehemännern. Ach, komm schon, Avan, willst du nicht der Vornehme Telstie sein und reich sein und Freude am Leben haben?« Sie lächelte ihn an, der Blick in ihren Augen war wieder spöttisch, und er griff nach ihr.
»Bietest du das an?«, fragte er sie, und sie biss sanft in seine Lippe. »Dann akzeptiere ich«, sagte er. »Es ist sehr seltsam, aber ich akzeptiere die schöne Jungfrau, das halbe Land, den Titel - es gibt heutzutage keinen höheren Titel als den eines Vornehmen mehr.« »Und was machen wir jetzt?«, fragte Sebeth und schaute in seinen Armen nach oben. »Traditionellerweise ist das der Augenblick, in dem ich erröten sollte, aber ich bin bereits rosa.« Und an dieser Stelle ziehen wir leise den Vorhang vor Avans nächsten Antrag.
162
Die Schwestern erinnern sich an ihren Schwur Die Erhabene Benandi war stumm, als Selendra eng an Sher geschmiegt und rosafarben vom Gericht zurückkehrte. Ihre Augen drehten sich langsam, und sie presste die Lippen zusammen. Sher war verletzt, strahlte aber. Amer und Fehn halfen Haner auf ihr Zimmer. »Ich möchte mit Selendra sprechen«, sagte Haner. »Ich fühle mich besser, als ich es jemals wieder für möglich gehalten hätte.« Ihre Farbe war viel lebhafter als zuvor. »Das ist das Wunder des Drachenfleisches«, sagte Amer mit einem wissenden Lächeln, die selbst noch nie ein Stück davon gegessen hatte. Sie half ihrer Herrin, es sich auf dem Gold bequem zu machen. »Sie werden genesen. Und das ist auch gut so, denn wenn er Sie getötet hätte, hätte ich es mir niemals verziehen, dass ich Sie dort habe allein hingehen lassen.« »Du hättest auch nichts ausrichten können«, sagte Haner mit Tränen in den Augen. »Er hat Lamith gefressen, nur weil sie mich beschützen wollte. Sie einfach gefressen. Er hätte mit dir das Gleiche gemacht, nur noch eher, weil du älter bist.« »Er war eine Schande für seinen Stand«, warf Fehn ein. »Die Stellung der Diener ist eine Schande für alle Stände aller Drachen«, stieß Haner heftig hervor. »Sie sollten sich ausruhen«, sagte Fehn freundlich. »Ich kann mich nicht ausruhen, bevor ich mit Selendra gesprochen habe«, sagte Haner. Amer und Fehn wechselten einen Blick, und Amer nickte knapp. »Ich hole Selendra, aber dann sollten Sie sich wirklich hinlegen. Sie hatten genug Aufregung für heute«, sagte Fehn. »In einem Brief an die Geschätzte Sei haben Sie etwas über die Stellung der Diener geschrieben«, sagte Amer nachdenklich.
162 »Es ist etwas, über das ich viel nachgedacht habe. Es ist nicht nur Daveraks Grausamkeit, die mich das hat erkennen lassen. Das Ganze ist falsch. Schwing en zu binden ist falsch.« »Es waren die Yargen, die angefangen haben, Schwingen zu binden«, sagte Amer und wandte das Gesicht ab. »Und wir hätten damit aufhören sollen, als wir sie losgeworden sind«, sagte Haner energisch. Selendra trat rosafarben ein. Tatsächlich stand ihr Rosa weniger gut als ihr jungfräuliches Gold. Zweifellos würde sie sich nach einiger Zeit rot verfärben, was zu ihren violetten Augen bezaubernd aussehen würde. Im Augenblick, auch wenn alle Bräute wunderschön aussehen, fand Sher sie anbetungswürdig. Sie war so rosa und sich ihres Errötens so bewusst, dass jedes weitere Wort darüber überflüssig wäre. »Was ist denn?«, fragte sie. »Geht es dir wieder gut?« Haner sah Amer an. »Ich gehe, wenn Sie mich nicht hier haben möchten«, sagte Amer. »Aber nicht doch. Du kennst ja alle unsere Geheimnisse«, sagte Haner und brachte ein Lachen zustande. »Wir unterhalten uns später miteinander.« »Du siehst besser aus«, sagte Selendra und musterte ihre Schwester besorgt. »Ich fühle mich auch besser«, sagte Haner. »Meinen Glückwunsch, Selendra. Ich möchte nur eines wissen, ich vermute, du hast Sher die ganzen sechzehntausend Kronen versprochen?« »Du kannst bei uns leben, Haner. Sher sagte, er hätte dich gern bei uns«, sagte Selendra mit warmer Stimme.
Haner zögerte. »Ich würde gern bei euch leben, aber, haben wir nicht gesagt, wir würden uns ohne die Zustimmung der anderen nicht verloben, und dass du gar nicht heiraten wolltest?« »Das haben Sie«, sagte Amer. »Ich habe es nicht vergessen«, stimmte Selendra zu. »Das war alles Teil meiner Überlegungen, als ich dachte, ich
163 würde für immer goldfarben bleiben. Sher hat mich gefragt und ich habe mich so in ihn verliebt und mich trotzdem nicht verändert. Ich dachte, Amers Trank hätte mir Pech gebracht. Aber seht! Ich habe mich geirrt. Ich bin vor Gericht errötet, ganz ohne jede Mühe.« »Warum hast du dich mit ihm verlobt, da du doch gedacht hast, du könntest dich nicht verändern?«, wollte Haner wissen. »Oh, das hatte mit seiner Mutter zu tun«, sagte Selendra. »Ich vermute, sie wird mich jetzt für alle Zeiten hassen und mich jedes Mal finster ansehen, wenn wir uns begegnen. Aber jetzt ist es zu spät, das noch zu ändern, selbst wenn ich es könnte.« Ihr kam ein schrecklicher Gedanke. »Haner -sicherlich bist du doch mit Sher einverstanden?« »Er scheint ein prächtiger Drache zu sein«, sagte Haner. »Ich verstehe, dass es jetzt zu spät ist, deine Meinung noch zu ändern! Ich möchte nicht, dass du dir darüber Sorgen machst, und ich hoffe wirklich, dass du sehr glücklich werden wirst.« Eine Träne rollte ihr die Schnauze herunter. »Es ist nur so, dass ich mich selbst im Grunde entschieden habe, den Ehrwürdigen Londaver zu heiraten. Erinnerst du dich an ihn? Ich habe ihm sechzehntausend zugesagt, aber ich vermute, du hast alles Sher versprochen? Wie dem auch sei, ich dachte, ich erkundige mich mal nach dem Stand der Mitgift.« »Wenn es nur um das Geld geht, ich bin jetzt reich«, sagte Selendra. »Wontas, Gerin, Sher und ich haben in den Bergen einen Schatz gefunden, ein Vermögen. Sher besteht darauf, dass ein Viertel davon mir gehört. Wie viel brauchst du, um Londaver heiraten zu können? Es ist einfach nicht zu fassen - jetzt kann ich dir sogar eine Mitgift geben!« Selendra lachte und Haner weinte ein wenig, weil sich alles so überraschend gut gefunden hatte. »Ich werde Londaver auf der Stelle schreiben«, sagte sie. »Sie sollten sich lieber ausruhen«, sagte Amer.
163 »Und die Kinder wollen dich sehen. Die Kinder von Daverak. Nun, Gerin und Wontas würden dich auch gern sehen, aber die kleinen Daveraks fürchten sich ohne dich. Sher und ich haben sie hergebracht, aber sie kennen uns eigentlich überhaupt nicht.« »Bringt sie zu unseren Kindern«, riet Amer. »Das wird ihnen mehr gefallen als alles andere.« »Ich muss sie sehen und trösten, selbst wenn es nur kurz ist«, sagte Haner und setzte sich ein Stück weiter auf. »Ich fühle mich so viel besser. Ich werde nach ihnen sehen, dann können sie mit den anderen kleinen Drachen spielen und ich werde dem lieben Londaver schreiben, dass er so schnell nach Irieth kommen soll, wie ihn seine Schwingen tragen.«
6 2 . D e r Ball der Vornehmen Telstie »Ich finde, es ist völliger Unsinn und unzumutbar«, sagte die Erhabene. »Sitzt mein Smaragd gerade, Fehn?« Sie warteten auf den Stufen von Haus Telstie im Südwestviertel darauf, von der neuen Vornehmen und ihrem Verlobten, dem voraussichtlichen neuen Vornehmen, empfangen zu werden. »Er sitzt gerade«, sagte Fehn und tastete nach ihrem eigenen Kopfschmuck. Wontas hatte darauf bestanden, dass sie den goldenen Reif trug, den er in der Höhle gefunden hatte, und sie hatte eine Putzmacherin gefunden, die in kürzester Zeit einen Hut kreierte, zu dem er passte, mit schwarzem und weißem Pelzbesatz und dunkelgrünen Bändern. Sie hatte befürchtet, dass die Erhabene ihn missbilligen würde, bis sie den Blick in Penns Augen sah, als sie ihn aufsetzte, und danach war ihr egal, was die Erhabene dachte.
»Als Sher zum Erhabenen wurde, ging er einfach zum Adelsrat, als wieder eine Sitzung einberufen wurde, und nahm den Sitz seines Vaters ein. Ich wage zu behaupten, dass
164 ihm einige Drachen gratuliert haben, und wir haben auch eine kleine Feier veranstaltet, aber diese Warterei, die gab es nicht.« »Vornehme sind anders«, sagte Penn beruhigend. »Wir werden bald eintreten können. Wir sind die nächsten.« »Niemand weiß, wer sie ist«, beklagte sich die Erhabene. »Sie ist die Tochter des verstorbenen Vornehmen«, sagte Fehn. »Die Frage ist eher, wo sie die ganze Zeit gesteckt hat.« »Ich rechne nicht damit, dass wir das jemals erfahren werden«, sagte Penn. »Für Geleners Familie wird es ein Schock sein.« »Ein schrecklicher Schlag«, stimmte die Erhabene zu. »Stimmt es, dass Gelener Freit heiraten wird?«, fragte Penn, dessen Stimme einen gewissen Abscheu nicht verhehlen konnte. »Ich glaube schon«, sagte die Erhabene. »Ich weiß nicht, was sich ihre Eltern dabei gedacht haben.« »Vielleicht liebt sie ihn?«, schlug Fehn vor. »Dieser Eisblock?« Die Erhabene schnaubte. »Und da wir gerade von Eis sprechen, ich verwandele mich gerade selbst in Eis. Ich wünschte, sie würden uns einlassen. Ich bin es nicht gewohnt, im Schnee warten zu müssen.« Sher und Selendra waren mit Haner und Londaver vorausgegangen und hatten es Penn und Fehn überlassen, die Erhabene zu begleiten. Sie waren vermutlich bereits drinnen, dachte Fehn neidisch. Die Verzögerung kam dadurch zustande, dass jeder Drache einzeln aufgerufen und der neuen Vornehmen vorgestellt wurde. In diesem Augenblick hielt eine Kutsche vor der Treppe an, die ein seltsames Wappen trug. Ein Raunen ging durch die wartende Drachenmenge, gefolgt von nervösem Geflüster. »Ein Yarge!« »Zweifellos der Botschafter der Yargen«, sagte Penn. »Wie
164 ich schon sagte; bei den Vornehmen ist alles anders. Die Yargen möchten, für den Fall wir würden jemals wieder einen neuen Majestätischen wählen, der ganz sicher aus den Reihen der Vornehmen kommen würde, jeden neuen Vornehmen kennen lernen, um ihre Zustimmung zu ihm zu geben.« »Und wenn sie es nicht tun?«, fragte Fehn. »Ich wüsste nicht, dass sie ihre Zustimmung jemals verweigert hätten. Die ganze Sache ist Unsinn, wie die Erhabene eben gesagt hat. Zum einen werden wir niemals wieder einen neuen Majestätischen wählen, nach so langer Zeit ist die Idee einfach lächerlich. Und zum anderen, selbst wenn wir es täten, würden wir nicht nur unter den Vornehmen Ausschau halten, denn jeder Drache von Adel käme in Frage.« Fehn betrachtete die Kutsche neugierig, die ganz aus Holz war. »Was kümmert sie es überhaupt, ob wir einen Majestätischen haben?« »Oh, sie haben ihre eigenen Majestätischen in jedem ihrer vielen kleinen Reiche und sie glauben, dass ein Land ohne Majestätischen keinen Krieg gegen sie führen kann.« »Aber an der Grenze hat es dauernd Kriege gegeben. Mein Vater wurde in einem von ihnen getötet«, protestierte Fehn. An der Kutsche bewegte sich ein Stück Holz, und Fehn erkannte, dass es eine Tür war. Die Erhabene erschauerte so sehr, dass Fehn es fühlte und sich zu ihr umwandte. »Kann ich Ihnen helfen?« »Ich habe sie nie leiden können«, sagte die Erhabene sehr leise. »Sie haben den Erhabenen Marschall getötet, meinen Mann. Sie sind verabscheuungswürdig.« »Der Botschafter...«, begann Penn, als sich die Tür an der obersten Stufe öffnete.
»Die nächsten«, sagte der Diener. »Das sind Sie, Erhabene«, sagte Fehn.
165 »Gehen Sie nur, ich werde hier noch einen Moment bleiben. Mir ist etwas flau.« Fehn wollte sie ermuntern, aber Penn nahm sie beim Arm und zog sie mit sich. Fehn nannte dem Diener ihre Namen und dieser schob sie in einen funkelnden Ballsaal, der voller prächtiger Drachen war und verkündete: »Der Gesegnete Penn Agornin und die Gesegnete Fehn Agornin von der Gemeinde Benandi.« »Ich komme mir fast wie ein Betrüger vor, dass ich meine Gemeinde behalten habe, da ich sie doch eigentlich hätte verlieren sollen. Ich weiß noch immer nicht, ob ich nicht doch alles hätte gestehen sollen«, flüsterte Penn. »Die Götter haben dich schon genug bestraft, dich selbst nun noch mehr zu bestrafen, wäre falsch«, erwiderte Fehn und legte so viel Überzeugung in ihre Worte, wie sie konnte. Dann traten sie gemeinsam vor und verneigten sich vor der neuen Vornehmen, die die Verneigung höflich erwiderte. Sie war rosa und bräutlich, sehr hübsch, wie Fehn fand, mit einem wohlgeformten Schwanz. Sie trug einen Schleier und ein kleines Diadem. Der Drache an ihrer Seite, der zukünftige Vornehme Telstie, trat vor und umarmte Penn. »Avan!«, sagte Penn mit erstickter Stimme. Die Vornehme lachte laut und gar nicht sehr vornehm vor Vergnügen. »Haner und Selendra waren genau so überrascht wie ihr«, sagte Avan. »Ich wollte es dir sagen, aber Sebeth dachte, so würde es mehr Spaß machen. Das ist meine Verlobte und zukünftige Frau, Sebeth, die Vornehme Telstie.« Draußen hatte die Erhabene den Kopf etwas gesenkt, um den Botschafter der Yargen nicht ansehen zu müssen. Der Grund war nicht nur, dass sie ihren Mann getötet hatten und seit jeher die Feinde der Drachen waren. Es war ein überwältigender Abscheu, der sie erfüllte, etwas, das tief in ihr verwurzelt war. Sie wartete ein wenig, atmete die kalte Luft ein und gewann die Beherrschung zurück. Der Schock war groß, als sie aufschaute, weil sich die Stimmung um sie
165 herum irgendwie verändert hatte. Es war plötzlich still geworden. Ihr wurde sofort klar, dass die anderen Drachen auf der Treppe den Weg für ihn freigemacht haben mussten, denn der Yarge stand jetzt neben ihr vor der Tür. Er sah in ihren Augen völlig abstoßend aus. Er war kaum einen Meter achtzig hoch und hatte nicht die geringste Länge; im Grunde war er völlig flach. Er trug einen ordentlichen pelzbesetzten Hut, wie jeder von ihnen, und er hatte den größten Teil seines Körpers mit Stoff und Edelsteinen bedeckt. Er hatte Hände wie eine Jungfrau, aber seine Haut war weich und glatt, ohne das geringste Anzeichen von Schuppen. Er sah schwach und ungepanzert und schutzlos aus, doch sie wusste, verglichen mit ihm war der stärkste Drache so schwach wie eine Jungfrau. An seiner Seite hing eine röhrenförmige Waffe von der Art, mit der seinesgleichen einst die Drachenheit überwältigt hatte. Er verneigte sich vor ihr, faltete sich beinahe in der Mitte zusammen, und die Erhabene erschauerte erneut. »Ich bin M'haarg, der Botschafter von Jh'oarg«, sagte er, als er sich aufrichtete. Die widerwärtige Kreatur konnte noch nicht einmal den Namen der eigenen Rasse richtig aussprechen. »Die Erhabene Zile Benandi«, schaffte sie es hervorzustoßen. Die Tür öffnete sich. »Die nächsten«, sagte der Diener. Es klang mittlerweile gelangweilt. »Sollen wir?«, fragte der Yarge. Erwartete darauf, dass sich die Erhabene in Bewegung setzte. Sie musste sich überwinden. Sie war vor Entsetzen und Widerwillen fast gelähmt. Es gelang ihr einen Schritt zu machen und dann noch einen. Er blieb an ihrer Seite. Er nannte dem Diener ihrer beider Namen. Drinnen wimmelte es von Drachen. Die Erhabene sah sich verzweifelt nach Hilfe um. Sie kam sich vor wie in einem Albtraum, aus dem sie nicht erwachen konnte. Jeder war da, jeder Adlige vom Rang eines Erlauchten oder mehr war ein
166 geladen worden und viele waren gekommen. Sie würden alle sehen, wie sie sich zum Gespött machte. Sie ging weiter, neben dem Yargen. Auch das würden alle sehen, aber sie würden wissen, dass sie nicht anders gekonnt hätte. Sie erkannte den Glorreichen Fidrak in der Menge. Wo war Sher? Vermutlich bei der schrecklichen Jungfrau, die er auserwählt hatte, um sie zu kränken. Wo war Fehn? Fehn war ihre wahre Tochter. Und wo war Penn? Ihr Pfarrer würde der ideale Drache sein, um sie aus dieser Lage zu befreien. Bei der gnadenreichen Jurale, war denn kein Drache da, ihr zur Hilfe zu kommen und sie zu retten? Dann stand da jemand an ihrer Seite, es blitzte rosa auf, auf dem Kopf funkelte eine hübsche Kette aus Gold und Juwelen. Selendra. Natürlich. Den letzten Drachen, den sie sich gewünscht hätte. Die Erhabene sah Selendra an und erkannte, dass die Jungfrau begriff, wie verängstigt sie war. Jetzt würde sie über sie triumphieren können. Selendra zog es in Betracht. Sie war gekommen, um zu sehen, wie die Erhabene reagieren würde, wenn sie entdecken musste, dass ein weiterer der von ihr verachteten Agornin eine höhere Stellung als sie einnehmen würde. Sie fand den Yargen exotisch und seltsam, vielleicht widerlich, aber nicht annähernd so angsteinflößend wie die Erhabene. Die Schatten, die die Yargen in dem Theaterstück vorgestellt hatten, waren bedeutend furchteinflößender gewesen. Aber so, wie die Augen der Erhabenen wirbelten, war ihr klar, dass das Entsetzen sie in seinen Klauen hielt, dass sie keinen Ton hervorbringen, sich fast nicht bewegen konnte und kurz vor dem Zusammenbruch stand. Es bestand nicht der geringste Zweifel, dass es für sie sehr peinlich sein würde, wenn sie vor Sebeth traten. Noch nie zuvor hatte Selendra das Selbstbewusstsein der Erhabenen so wanken sehen. Sie wusste, dass ihre Schwiegermutter ein selbstsüchtiger, arroganter alter Drache war und völlig falsche Ansichten über den Lauf der Welt hatte. Und sie wusste, dass sie miteinander gekämpft
166 hatten und dass" sie eine Schlacht in ihrem gemeinsamen Krieg gewinnen würde, wenn sie sie allein und hilflos zurückließ. Sie mochte die Erhabene nicht, würde sie vermutlich niemals mögen. Und doch konnte sie nicht mit ansehen, wie sie ausgerechnet hier stürzen sollte. Im Angesicht aller. Um Shers und ihrer selbst willen und weil es die Würde eines jeden Drachen verdiente, redete Selendra freundlich und beruhigend auf sie ein und zog sie ein Stück zur Seite. Der Botschafter blieb stehen. »Gehen Sie bitte schon weiter«, bat ihn Selendra. »Ich muss kurz mit meiner Schwiegermutter sprechen.« »Natürlich«, sagte der Yarge mit seinem seltsamen Akzent und ging weiter. »Ich bin entzückt, Sie beide kennen gelernt zu haben.« Die Erhabene blickte in Selendras violette Augen, erwartete Triumph darin zu sehen und fand doch nur Besorgnis. »Es stört Sie doch hoffentlich nicht, wenn ich Sie als meine Schwiegermutter bezeichne, obwohl wir noch nicht verheiratet sind?«, fragte Selendra und sprach weiter, wartete nicht auf eine Antwort und gab der Erhabenen Zeit, sich zu sammeln. »Ich habe mich um Brautspitze gekümmert. Sie ist sehr teuer, weil ihre Herstellung so aufwändig ist, aber Haner und ich kaufen so viel davon, dass sie uns vielleicht einen Nachlass gewähren. Vielleicht kann ich die Vornehme Telstie überreden, sich auch daran zu beteiligen. Kommen Sie, lernen Sie sie kennen. Wussten Sie, dass der neue Vornehme mein Bruder Avan ist?« »Was haben Sie uns doch für viele neue Verwandtschaftsbeziehungen eingebracht, Selendra«, gelang es der Erhabenen endlich zu sagen und sie machte einen Schritt auf die neue Vornehme Telstie zu. Sie legte ihre Hand auf den Arm der jungen Frau, um sich zu stützen. »Ich weiß, wir hatten unsere Differenzen, aber Sie werden Sher heiraten und die Mutter meiner Enkel sein und ich möchte, dass Sie trotz allem wissen, dass ich darüber sehr froh bin.« Es war nicht
166 die ganze Wahrheit, und beide Drachen wussten, dass es nicht die ganze Wahrheit war, aber sie nickten einander zu.
Und so verlassen wir sie in diesem Augenblick, in dem sich Sher zu ihnen gesellt und Avan und Sebeth darauf warten, begrüßt zu werden, und Penn mit Fehn tanzt und Haner mit Londaver und die Diener schwer beladene Tabletts mit Erfrischungen durch den Raum tragen, und gewähren ihnen Zuflucht und Trost im Austausch nicht immer ganz ernst gemeinter Artigkeiten.
Dieser Roman ist mei ner Tante Mary Lace gewidmet. Sie hat mich in das Reich der Fantasie eingeführt und mich auf vielen Wegen begleitet, im wirklichen wie übertragenen Sinn. Dieses Buch verdankt außerdem Anthony Trollopes Roman Framley Parsonage sehr viel. Ich habe viktorianische Romane wie diesen schon in meiner Jugend gelesen. Seitdem hab en moderne Schriftsteller wie Joan Aiken, John Fowles und Margaret Foster dieses Romangen re aus heutiger Sicht wieder aufleben lassen, ohne jedoch die Annahmen zu verändern, unte r denen der viktorianische Roman geschrieben wurde. Diese neuen Romane sind zweif ellos fesselnd und reizvoll, aber eben keine viktorianischen Roma ne mehr. Natürlich stimmen viele der damals als unverrückbar betrachteten moralischen Regeln u nd Gesetze nicht. Die in viktorianischen Romanen geschilderten Menschen verhalten sich in Wirklichkeit ganz an ders. Das gilt vor allem für Frauen. 167 Der vorliegende Roman ist die Antwort auf die Frage, wie eine Welt wohl aussehen würd e, wenn sie es doch täten, wenn die Grundannahmen, auf denen der gefühlvolle viktorianische Roman beruht, tatsächlich unausweichliche Naturgesetze wären. Ich möchte Patrick Nielsen Hayden dafür danken, das s er einen Roman angenommen und verle gt hat, der sich sehr von dem unterschied, den er erwartet hatte. Ich danke David Goldfarb, Mary Lace und Emmet O 'Brian, dass sie ihn während seiner Entstehung lase n und für ihre wertvollen Hinweise; Sasha Walton, der ein Bild des Romans vor meinen Augen h at entstehen lassen, das mich z ur Arbeit anspornte; der unermüdlich Vorschläge machte einige von ihnen waren ausgezeichnet - und während des Schreibens (wieder einmal!) äußerst verständnisvoll war. Mein Dank gilt auch Eleanor J. Evans, Janet Kegg, Katrina Lehto, Sarah Monette, Susan Ramirez und Vicki Rosenzweig, die mein Manuskript sehr sorgfältig gelesen haben. Ich möchte auch den Bibliotheken von Westmount und Atwater danken, die mir Einsicht in ihre ausgezeichneten Trollope-Archive gewährten, und der Trollope-1 Mailing List, vor allem Ellen Moody, für die anregenden Diskussionen. Dank schu lde ich auch Elise Matthesen für die wunderschöne Halskette Der komplizierte Verstand der Drachen und meinem Partner Emmet O Brian für die Liebe und Freude, die er mir schenkte, während ich schrieb. Ohne all dies wäre Der Clan der Klauen niemals entstanden.