Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 559 Oggar
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 559 Oggar
Der Überlebende von Peter Griese Das Schicksal der Pers-Oggaren Mehr als 200 Jahre lang war die SOL, das Fernraumschiff von Terra, auf seiner ziellosen Reise durch die Tiefen des Alls isoliert gewesen, bis Atlan in Kontakt mit dem Schiff kommt. Die Kosmokraten haben den Arkoniden entlassen, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Jetzt schreibt man an Bord des Schiffes den Mai des Jahres 3792, und der Arkonide hat trotz seines relativ kurzen Wirkens auf der SOL bereits den Anstoß zu entscheidenden positiven Veränderungen im Leben der Solaner gegeben – ganz davon abgesehen, daß er gleich nach seinem Erscheinen die SOL vor der Vernichtung rettete. Inzwischen hat das Generationenschiff viele Lichtjahre zurückgelegt, und die Solaner haben in dieser Zeit viele Konflikte mit Gegnern von innen und außen mehr oder weniger unbeschadet überstanden. Unter Breckcrown Hayes, dem neuen High Sideryt, bahnt sich nun eine weitere Stabilisierung und Normalisierung an Bord an. Allerdings sorgen unerwartete Ereignisse immer wieder für Unruhe. Drahtzieher dieser Ereignisse ist ein Gegner, mit dem es die Solaner schon wiederholt zu tun bekamen. Wie dieser Gegner vorgeht, das berichtet DER ÜBERLEBENDE …
Die Hauptpersonen des Romans: Fastrap - Erster Seher der Pers-Oggaren. Wysterein - Fastraps Schüler. Ülstrapp - Fastraps Gegenspieler. Morjana - Regierungspräsidentin von Vasterstat. Auxonia - Morjanas Tochter. Ux, Perse und Pors - Fastraps Helfer.
1. In der fernen Vergangenheit … Die kugelförmige Galaxis stellte in der Palette von Sternensystemen des Universums nichts Besonderes dar. Sie war nicht einmal besonders groß. Ganze 54.000 Lichtjahre betrug ihr Durchmesser. Sie trug auch sonst keine auffälligen Merkmale. Nur dreizehn Kugelsternhaufen begleiteten die Struktur aus etwas über zwölf Milliarden Sternen im Halo. Es existierte ein mitteldichter Kern, der aber nur eine geringe energetische Aktivität besaß. Längst war alle Urmaterie in den Sternen und Planeten aufgegangen. Einer dieser Sterne, eine gelbe Sonne, wurde später von dem intelligenten Leben, das auf dem ersten Planeten des Systems entstanden war, Auxon genannt. Das Volk selbst verstand sich als die Pers-Oggaren, und ihre Milchstraße bezeichneten sie als Pers-Mohandot. Die nächste andere Galaxis, die die Pers-Oggaren entdeckten, war ein unregelmäßiges Gebilde von noch unscheinbarerem Charakter als PersMohandot. Sie fand sich in einer Entfernung von 2,2 Millionen Lichtjahren. Die Pers-Oggaren nannten sie All-Mohandot, und das war zu einer Zeit gewesen, zu der sie nur davon träumten, einmal zu dieser irregulären Kleingalaxis gelangen zu können. Zunächst bestimmte die eigene Geschichte das Handeln dieses Volkes. Sie erforschten ihr eigenes Sonnensystem. Außer der Heimatwelt Vasterstat gab es noch drei weitere Planeten, die in nur wenig größeren Umlaufbahnen die Sonne Auxon umkreisten. Ihre Namen waren
Purseldat, Mersondon und Falldot. Alle drei Welten standen noch so nahe an Auxon, daß die Besiedlung einfach und ohne größere Probleme verlaufen konnte, als man den Schritt in den Raum gewagt hatte. Das Auxon-System blühte auf, als man erstmals andere Sonnensysteme erreichte und Kolonialwelten aufbauen konnte. Es dauerte für kosmische Maßstäbe nur eine lächerlich kurze Zeitspanne, bis die Pers-Oggaren überall in Pers-Mohandot ihre Stützpunkte errichten konnten. Der ganze Prozeß verlief friedlich und ohne große Störungen. Wo man auf andere intelligente Wesen stieß, versuchte man sich zu verständigen. Wenn dies nicht gelang, dann zogen sich die Pers-Oggaren diskret wieder zurück. Das geistige Zentrum blieb Vasterstat. Nur hier konnten sich die PersOggaren entwickeln, die später einmal die weitere Geschichte entscheidend beeinflussen sollten. Noch während der Erforschung der eigenen Galaxis stießen Raumschiffe nach All-Mohandot vor. Man fand intelligente Völker, die jedoch biologisch völlig anders waren. Sie ähnelten meistens den merkwürdigen, zweibeinigen Roxharen, die man in Pers-Mohandot getroffen hatte. Der Kontakt mit All-Mohandot war nur von kurzer Dauer, aber er war äußerst fruchtbar für die dortigen Völker, die erst am Beginn ihrer technischen Evolution standen. Insbesondere die Pluuh und die Ysteronen wurden von dem Wissen, das die Pers-Oggaren hinterließen, in ihrer Entwicklung beschleunigt. Die Besucher aus Pers-Mohandot jedoch zogen sich bald wieder auf ihren eigenen Lebensbereich zurück. Dort gab es genügend intelligente Völker, mit denen man im friedlichen Beieinander lebte. Für die Pers-Oggaren war es nichts Ungewöhnliches, daß die meisten beherrschenden Lebensformen eigentlich dem tierischen Dasein entwachsen waren. Sie sahen darin weder einen Vorteil, noch einen Nachteil. Auch leiteten sie für sich daraus keine Privilegien her, nur weil ihre natürlichen Vorfahren so etwas wie Pflanzen gewesen sein mußten. Aber die ganze Geschichte der Pers-Oggaren war nun einmal grotesk und einmalig wunderbar zugleich. Sie war es bis zu dem Tag, an dem das Unheil über Pers-Mohandot kam. Vorher jedoch entstand in der geistigen Blütezeit von Vasterstat etwas
anderes. Hier regierte das Volk aus Pflanzenabkömmlingen sein gewaltiges Reich mit Güte und Geschick. In dieser Urzelle der positiven Kräfte bildete sich damals eine kleine Gruppe von Pers-Oggaren heraus, die ihre geistigen Fühler weit in die Zukunft strecken konnten. Diese Pers-Oggaren bestimmten letztlich, was die Führung beschloß, denn sie genossen das Vertrauen des ganzen Volkes. Man nannte sie die Seher …
* Der Mann, der auf einem der höchsten Gipfel der Berge der Ewigkeit stand, bewegte sich keinen Millimeter. Sein Blick war hinabgerichtet in das Tal, wo gewaltige Wolkenbänke einander jagten. Nichts rührte sich an seinem Körper. Ein unbefangener Beobachter hätte glauben können, daß es sich um den Stumpf eines alten, knorrigen Baumes handelte, der die Wurzeln tief in die Decke aus ewigem Schnee und Eis gekrallt hatte. Andererseits war dieses Bild widersinnig, denn in solchen Höhen hätte kein Baum wachsen können. Kein Luftzug bewegte sich an diesem Tag auf dem Gipfel, der nach menschlichen Maßstäben mehr als zehntausend Meter über dem Meeresspiegel emporragte. Die Temperaturen lagen bei minus 50 Grad, aber all das machte dem Mann, der keine Kleidung oder sonstige Schutzvorrichtungen trug, nichts aus. Er existierte in dieser Unbill durch die Kraft seines Geistes. Äußerlich war Fastrap nicht anzusehen, daß er ein männliches Wesen war. Die Zeit, in der er auf seinen Armen Blüten erzeugen konnte und in der er regelmäßig die Bestäubungshallen aufgesucht hatte, lag schon eine halbe Ewigkeit hinter dem uralten Seher. Er dachte nicht einmal mehr in seinen Träumen daran, denn sein ganzes Streben galt allein der Zukunft. Die Zeitströmungen, die auf das Kommende hinwiesen, veränderten sich immer wieder. So lebte
Fastrap in einem ständigen Drang zu forschen. Nichts war ewig. Das galt letztlich auch für das, was er über die Zukunft in Erfahrung bringen konnte. Fastrap war etwa zwei Meter groß, seine Wurzeln nicht mitgerechnet, die etwa 60 Zentimeter lang waren. Er besaß noch 19 Arme, die aus dem oberen Teil des Rumpfes sprossen. Ursprünglich waren es 22 gewesen, aber drei Arme hatte er im Lauf seines langen Lebens verloren. Sein Körper war runzlig und rauh. Er besaß die Form eines Zylinders, der sich nach oben hin nur wenig verjüngte. Dort, wo die Wurzeln in den Rumpf mündeten, war mit einem Durchmesser von 80 Zentimetern die breiteste Stelle. Man nannte sie das Ruhekissen, weil der Körper sich darauf abstützte, wenn er sich nicht bewegte. Schlaf kannten die Pers-Oggaren nicht. Die Natur hatte dafür keine Notwendigkeit gesehen und dementsprechend dafür keinen Mechanismus entwickelt. Im Innern des grauen Körpers reihten sich Milliarden von Zellen aneinander, die das Zentrum hoher geistiger Aktivität waren. Auch jetzt in der totalen Einsamkeit und in der unwirtlichen Kälte arbeiteten diese Zellen mit unverminderter Kapazität. An der oberen Kante des Körpers, die noch knapp 70 Zentimeter durchmaß, saßen zwei Augen auf kurzen Stielen. Sie ragten ein wenig über den Stamm hinaus und waren sehr beweglich. Fastrap konnte damit, wie natürlich alle Pers-Oggaren, in zwei Richtungen gleichzeitig sehen. Jetzt standen diese Augen wie winzige Erhebungen reglos auf dem Rumpf. Fastrap benötigte sie im Augenblick nicht, um zu sehen. Die Sinne, die arbeiteten, lagen im Innern seines Körpers. Die Strahlen der Sonne Auxon hätten ihn geblendet, wenn er offen auf die von Schneekristallen und Gletschern bedeckten Hänge geblickt hätte. Und doch schienen die weißen, glatten Flächen all das auf seinen Geist zu reflektieren, was der alte Seher hören und wissen wollte.
Er hatte diesen Ort nicht ohne Grund gewählt, denn seine Fähigkeit, einzelne Phasen der Zukunft zu erfassen, kam hier am besten zur Wirkung. Der Körper verfügte über genügend Nahrungsvorräte, um noch zwei oder drei Tage in der Wildnis der Berge der Ewigkeit zu überdauern. Erst dann würde Wysterein kommen und ihn abholen, und dann würde er seine Wurzeln wieder in das weiche und warme Erdreich der Felder von Vasterstat senken können, um neue Nährstoffe aufzunehmen. Die eisige Kälte regte das Zentrum der übergeistigen Aktivität in hohem Maß an. Fastrap benötigte die Ruhe, die Einsamkeit und die Kälte ebenso, wie die spiegelnden Flächen aus ewigem Eis. Nur hier konnte er seine Sinne aus dem Innern seines Körpers voll entfalten. Sie nahmen die Strömungen aus der Zukunft auf, wie sie, bezogen auf seine Jetztzeit, existierten. Sein Verstand verarbeitete die Informationen und versuchte sie gleichzeitig in ein zeitliches Raster einzuordnen. Letzteres bereitete dem alten Pers-Oggaren die größten Schwierigkeiten, denn ein Teil seines Ichs war so weit enteilt, daß er nicht einmal gefühlsmäßig sagen konnte, wo es sich befand. Wenn kein konkreter Hinweis in dem unwirklichen Erleben enthalten war, der einen zeitlichen Bezug beinhaltete, dann blieb Fastrap zur Einordnung in den Ablauf der Geschehnisse nur der Begriff irgendwann. Wenige hundert Meter unterhalb des Gipfels löste sich unter den warmen Sonnenstrahlen eine riesige Eisplatte. Sie riß den ewigen Firn mit sich und stürzte mit donnerndem Getöse in die Tiefe. Haushohe Brocken aus Eis führten einen wilden Tanz durch. Krachend schlugen sie aneinander, wirbelten Schneestaub auf und zerkleinerten sich unter der Wucht der Abwärtsbewegung. Fastrap selbst kümmerte dies alles nicht. Er stand bewegungslos auf dem Gipfel. Nicht einmal die Erschütterungen im Boden, die die Lawine ausgelöst hatte, wurde von ihm registriert. Er setzte seine Suche nach neuen Erkenntnissen unbeirrt fort.
Als sich die Nacht über die Berge der Ewigkeit senkte, hatte sich am äußeren Bild des Alten noch immer nichts verändert. Und als der Morgen anbrach und Auxon seine feuerroten Strahlen über die vereisten Hänge huschen ließ, rührte sich noch immer nichts. Ein leiser Wind kam auf und versetzte die Arme des Sehers in sanfte Bewegung. Das einzige Utensil, das Fastrap an seinem Körper trug, schlug dumpf gegen den Stamm. Der armlange Metallstab hing an einer Schlaufe eines unteren Armes und baumelte hin und her. Auch das bemerkten die desaktivierten Sinne des Pers-Oggaren nicht, denn gerade jetzt stieß sein losgelöstes Bewußtsein in eine Zeitströmung, die alle bisherigen Erkenntnisse umstieß. Fastraps Geist entdeckte es. Es war so schauerlich, daß sein Verstand keine Worte fand. Je mehr Informationen er sammelte, desto verwirrter wurde er. Nur eins war klar. Es mußte eine Veränderung im kosmischen Geschehen eingetreten sein, die alle bisherigen Zeitströmungen der Zukunft absurd werden ließ. Sein Bewußtsein versuchte in die Gegenwart zu fliehen, blieb aber dennoch, gefesselt von dem Unmöglichen, in der Zukunft haften. Nur die Informationen erreichten das normale geistige Zentrum Fastraps. Auch dieses lehnte sich auf. Was es erfuhr, war zuviel, um es zu verarbeiten oder zu verkraften. Fastrap sah ein Sonnensystem, und er hatte keinen Zweifel daran, daß in dessen Mittelpunkt der Stern Auxon stand. Er spürte nur noch einen Planeten, und dieser Planet war Vasterstat. Purseldat, Mersondon und Falldot waren nur noch Staub- und Trümmerwolken, die langsam von Auxon wegdrifteten. Den schlimmsten Anblick bot jedoch Vasterstat selbst. Hier gab es kein Leben mehr. Kein Stein lag mehr auf dem anderen. Selbst die Berge der Ewigkeit hatten ihren Anspruch auf diesen Namen verloren, denn tiefe Krater aus glühendem Magma hatten die Hänge gespalten, das Eis aufgelöst und die Felsen bis auf den Grund
zerrissen. Zum erstenmal seit Tagen zeigte der Pers-Oggare eine äußerliche Regung. Sein mächtiger Körper begann zu schwanken. Das Gehirn wurde mit einer Flut von Vernichtung überschwemmt, die das wandernde Bewußtsein aus der Zukunft holte. Ruinen, tote Pers-Oggaren, zerstörte Ländereien, brennende Städte, abstürzende Raumschiffe, glühende Hitze, explodierende Feuerhöllen – all das war zuviel für den Seher. Sein Körper schaltete eine automatische Schutzvorrichtung ein. Er holte das wandernde Bewußtsein gewaltsam aus dieser schauerlichen Zukunftsvision. Fastrap wurde wieder eins. Die Erinnerung an das Gesehene aber blieb. Sie schlug mit grausamer Wucht nach dem Mann. Auch die wieder aktivierten Normalsinne konnten nicht verhindern, was nun geschah. Der mächtige Körper taumelte auf seinen Wurzeln über das Eis. Das Augenpaar sah den bodenlosen Abgrund und signalisierte die Gefahr zum Gehirn. Dieses versperrte sich jedoch gegen jede weitere Information. Die Wurzeln schoben sich sinnlos in irgendeine Richtung. Kreuz und quer schlidderte Fastrap über das Eis. Dann tasteten die ersten Wurzeln in die Leere des Abgrunds. Der Rumpf neigte sich unter der fehlenden Abstützung zur Seite und führte eine Schlingerbewegung durch. Dann verlor der Seher das Gleichgewicht. Im letzten Augenblick erkannte er die Gefahr. Aus der Sprechknospe zwischen dem Hörsinn erklang ein schauerlicher Schrei. Er drang durch die dünne Luft und brach sich noch an den Gletscherwänden, als Fastrap bereits in die Tiefe segelte. Er riß Schneemassen und Eisbrocken mit sich. Wieder rollte eine Lawine in das Tal. Sie war nicht so mächtig wie die vom Vortag, aber in ihrem Innern kämpfte ein Wesen um das Überleben. Wenig später war der letzte Hall verklungen. In der einsamen Natur der Berge der Ewigkeit kehrte wieder Ruhe
ein.
2. Am Tag der Seher war das Volk von Aust-Tardan früh auf den Beinen. Dieses Ereignis wiederholte sich nur alle einhundert Tage. Es war Feiertag und Festtag zugleich. Niemand brauchte zur Arbeit zu gehen, von dem Regierungsstab einmal abgesehen, denn die Regierungspräsidentin Morjana, die an der Spitze von Vasterstat stand, und ihre Berater tagten ohne jede Pause. Die Verwaltung von über eintausend Kolonialwelten mit all den Problemen, die damit zusammenhingen, erforderte diesen Einsatz. Aust-Tardan, das Zentrum von Vasterstat, Hauptstadt und Mittelpunkt des politischen und des kulturellen Lebens, hatte an diesem Tag nur eins im Sinn. Man wollte die neuesten Erkenntnisse der Seher hören. Schon kurz nach Aufgang der Sonne Auxon wimmelte der Zentralplatz vor dem Regierungsgebäude von Pers-Oggaren. Aber nicht nur Bewohner der Hauptstadt versammelten sich hier. Aus den umliegenden Städten und Dörfern waren Hunderttausende angereist, um die Botschaften der Seher selbst zu hören. Wer hier keinen Platz fand oder keine Gelegenheit besaß, die Reise in das kulturelle Zentrum der Pers-Oggaren durchzuführen, konnte über die Nachrichtenmedien des Auxon-Systems an dem Geschehen teilhaben. Auch zu den wichtigsten Kolonialwelten wurden die Reden übertragen. Die Stimmung war seit 100 Tagen angeheizt, denn am vergangenen Tag der Seher hatten die drei wichtigsten Pers-Oggaren dieser kleinen, besonders begabten Gruppe eine gemeinsame Ankündigung gemacht. Diese hielt die Bevölkerung in Atem. Man hatte ein Loch in der Zeit entdeckt. So hatten die Seher übereinstimmend erklärt. Nur wenige Pers-Oggaren hatten auf
Anhieb verstanden, was damit gemeint gewesen war. Fastrap, der Erste Seher, hatte es an den folgenden Tagen mehrfach erklärt. Es gab eine Zeitzone in der nahen Zukunft, die sich nicht erforschen ließ. Gleichzeitig mit dieser Erkenntnis wurden alle anderen Vorhersagen über den Haufen geworfen, denn die Denker der Pers-Oggaren wußten, daß nur ein zusammenhängendes Bild von der Zukunft einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit besaß. Wahrscheinlichkeit bedeutete gleichzeitig Realisierbarkeit. Noch war es nicht zu spät, um die Geschicke zu lenken oder mit geeigneten Maßnahmen dafür zu sorgen, daß die Zukunft anders aussehen würde, als die Seher sie prognostizierten. Es war das erste Loch in der Zeit, das die Seher seit über 500 Jahren entdeckt hatten. Zugleich bedeutete es die Sensation für alle Bewohner des Auxon-Systems. Auxonia hielt nicht viel von den Sehern. Sie war 54 Jahre alt und gehörte damit zu den ganz jungen weiblichen Pers-Oggaren. Es würde nicht mehr lange dauern, bis auf ihren Armen die ersten Blüten sprossen, denn die unter der Haut verborgenen Knospen spürte sie schon deutlich. Dieses Ereignis, das in dem Leben eines jeden Pers-Oggaren eine entscheidende Bedeutung besaß, interessierte die junge Frau mehr als das Gerede der Seher. Als Tochter der Regierungspräsidentin Morjana beschäftigte sie sich lieber mit der realen Politik, was aber nicht bedeutete, daß sie die Fähigkeiten der Seher verleugnete. Tochter in diesem Sinn bedeutete nichts weiter, als daß Morjana sie vor Jahren in ihre Familie aufgenommen hatte, denn schließlich wuchsen die jungen Pers-Oggaren ganz natürlich auf, ohne ihre Eltern zu kennen. Wenn die Zeit der Reife gekommen war, gingen die weiblichen und männlichen Pers-Oggaren in die riesigen Bestäubungshallen, wo sie ihre Keime in die Freiheit entließen. Welche Keime sich dann in der lauen Atmosphäre trafen und vereinigten, vermochte niemand zu sagen. Das Erdreich nahm die Sämlinge auf und ernährte sie in den ersten Monaten. Wenn sich
dann die Wurzeln aus dem Boden lösten, nahmen die Familien einen oder mehrere der Jungen zu sich auf, wo sie als deren Kinder heranwuchsen. Auxonia stand auf der hohen Treppe, die zum Regierungspalast führte. Dieser Bereich war für die Schaulustigen abgesperrt. Nur die Mitglieder des Hauses hatten Zutritt. Die Gedanken der jungen Pers-Oggarin gingen noch einmal zurück zu ihrer Mutter Morjana, die mit ihren Ministern und Beratern an diesem und den folgenden Tagen ein schwerwiegendes Problem zu klären hatten. Auf den meisten Kolonialwelten war die Fortpflanzung der Pers-Oggaren zum Stillstand gekommen. Der Boden dort ließ nur wenige Sämlinge gedeihen, was immer neue Auswanderer erforderlich machte. Da auch das Auxon-System mit seinen vier bewohnten Planeten nur auf Vasterstat den Erhalt des Volkes ermöglichte, herrschte ein personeller Notstand, wenn man den ganzen Herrschaftsbereich der Pers-Oggaren betrachtete. Nirgendwo war das Erdreich in seiner Zusammensetzung so ausgewogen wie auf Vasterstat. Nur hier ließ sich die hohe Geburtenrate von 1,2 Prozent verwirklichen. Auf Mersondon hatte man es immerhin zu Wege gebracht, daß von 23.000 Sämlingen einer aufwuchs. Demgegenüber sah es jedoch auf Purseldat und Falldot sehr viel schlechter aus, denn wenn hier einmal ein Sämling aufwuchs, dann galt es als Sensation. Auf den vielen Kolonialwelten war die Situation nur wenig besser. So sorgte praktisch nur die Bevölkerung von Vasterstat für den Erhalt des ganzen Volkes und seines Herrschaftsgebiets. Auxonia hoffte inständig, daß die Seher eine Lösung für dieses Dilemma in der Zukunft erspäht hatten. Insgeheim glaubte sie daran, daß das Loch in der Zeit mit diesem Problem im Zusammenhang stand. Auch an Wysterein dachte die junge Frau. Mit ihm verband sie eine enge Freundschaft. Sie hoffte, mit ihm einmal eine Familie gründen zu können. Auch war es ihr Wunsch, gemeinsam mit
Wysterein in die Bestäubungshalle zu gehen. Ihr Blick glitt über die wohl eine Million Pers-Oggaren zählende Menge. Sie versuchte, Wysterein zu entdecken, aber es war ein sinnloser Versuch. Wahrscheinlich war ihr Freund gar nicht hier, denn als Schüler des Ersten Sehers Fastrap hatte er nur wenig Zeit und Gelegenheit, um diese Bekanntschaft mit ihr zu pflegen. In der Mitte des Regierungsplatzes war längst das Podium für die Seher aufgebaut. Dicht darüber schwebten auf Antigravplattformen die Übertragungsgeräte der Nachrichtenmedien. Auxonia konnte von ihrem Platz aus ohne Mühe beobachten, wie Hissater, der Regierungsbeauftragte für die Seher, auf das Podium stieg. Er fungierte als der offizielle Veranstalter des Tages der Seher. Er würde ankündigen, wer von den Sehern heute zu sprechen wünschte. Die Pers-Oggarin rechnete nach den sensationellen Ankündigungen vom letztenmal, daß heute besonders viele Seher anwesend sein würden. Zumindest galt es als sicher, daß die drei, die die gemeinsame Erklärung über das Loch in der Zeit abgegeben hatten, sich zu Wort melden würden. Diese drei waren Fastrap, Bornehin, beides alte und angesehene Pers-Oggaren, sowie der jüngere und noch weniger bekannte Ülstrapp, der angeblich aus den südlichen Regionen von Vasterstat stammte, wo die Bevölkerungsdichte gering war. Um so überraschter war Auxonia über die Worte Hissaters, die aus den Lautsprechern erklangen. »Bürger von Vasterstat, Bürger des Auxon-Systems und der Kolonialwelten von Ortleb VI bis Mustaner, von Bald-Graup bis Morem II!« Das war die übliche Anrede, in der Auxonia nur eine Floskel sah. Was sie beunruhigte, war das Zittern in der Stimme des Regierungsbeauftragten. Auch seine 20 Arme führten unkontrollierte Bewegungen durch. »Zu meinem Bedauern muß ich euch mitteilen, daß sich zum
heutigen Tag der Seher nur eine Person eingefunden hat. Bornehin, unser guter, alter Geist, ist von uns gegangen, ohne uns seine letzten Erkenntnisse übermitteln zu können. Und von Fastrap, dem Ersten Seher, der sein Erscheinen angekündigt hat, kann ich nur berichten, daß er aus unbekannten Gründen nicht erschienen ist. So bleibt euch noch einer der Seher, den ihr anhören könnt. Es ist Ülstrapp.« Als Hissater das Podest verließ, lief ein Schauer durch Auxonias Körper. Es war ihr, als hätte sie ein unangenehmer Geist berührt. Noch bevor der Seher erschien, verdüsterte sich der Himmel. Auxonia war geneigt, an ein böses Omen zu glauben, und schalt sich selbst wegen dieser Albernheit. Wo war Fastrap, der Erste Seher, der wie ein Vater zu Wysterein war? Auxonia bewegte unsicher ihren Körper hin und her. Ein paar Angehörige der Regierung waren aus dem Gebäude gekommen und standen in ihrer Nähe. Sie sollten ihre Unsicherheit nicht spüren. Mit einem sanften Ruck straffte sie ihre Wurzeln und hob dadurch den Körper etwas an. Über dem Regierungsplatz spannte sich ein riesiger Energieschirm auf, der den zu erwartenden Regen abhalten sollte. Er reichte auch über das große Gebäude am Fuß des Platzes, vor dem Auxonia stand. Sofort fühlte sich die junge Pers-Oggarin wieder sicherer. Wo mochte Wysterein stecken? Er konnte sich eigentlich nur bei Fastrap befinden, sagte sie sich. Aber aus welchem Grund war der Erste Seher nicht gekommen? Sollte es tatsächlich nur dem wenig sympathischen Ülstrapp gelungen sein, das Loch in der Zeit mit Erkenntnissen zu füllen? Wieder lief ein unangenehmes Gefühl durch Auxonias Körper. Fast war sie geneigt, zu ihrer Mutter zu laufen und um eine Suchaktion nach Wysterein und Falstrap zu bitten. Ihre Neugier verdrängte diesen Gedanken jedoch wieder. Sie wollte jetzt hören, was Ülstrapp zu sagen hatte. Endlich erschien der Seher auf dem Podium. Er winkte dem Volk mit allen
Armen zu und drehte sich dabei mehrfach im Kreis. Auxonia verabscheute diese beifallheischenden Gesten, aber die PersOggaren stießen begeisterte Zurufe aus. »Bürger!« begann der noch junge Pers-Oggare. Auxonia schätzte sein Alter auf höchstens 200. Wieder unterstrich Ülstrapp jedes Wort mit theatralischen Gesten. »Ich habe das Loch in der Zeit gefüllt. Ich habe mit meinen Sinnen in es hineingelauscht. Ich kenne die Phase der Zukunft, die für euch die entscheidende sein wird. Laßt mich berichten.« Auxonia fiel auf, daß Ülstrapp euch sagte, nicht uns. Irgend etwas schien mit Ülstrapp nicht zu stimmen, aber die Massen, die begierig auf jedes Wort warteten, konnten dies nicht spüren. »Die Veränderungen des Lebens werden schon in Kürze einsetzen«, verkündete der Seher mit lauter Stimme. »Laßt mich zuerst sagen, daß die Pers-Oggaren einer glorreichen Zukunft entgegensehen. Die Sorgen der Gegenwart werden schon bald der Vergangenheit angehören.« Ülstrapp legte eine Pause ein, was für die Reden der Seher ungewöhnlich war. Es dauerte nur Sekunden, dann brandete Beifall auf. Auch das war ungewöhnlich. »Er ist ein Demagoge«, murmelte Auxonia verächtlich. Ihre Aufmerksamkeit war jedoch ungebrochen. Etwas von der undefinierbaren Ausstrahlung Ülstrapps sprang trotz der ablehnenden Haltung der jungen Frau auf sie über. Oben in der 121. Etage des Regierungsgebäudes liefen jetzt die Recorder mit, die jedes Wort und jede Geste des Sehers aufzeichneten. Ein Spezialgremium von Morjanas Forschungsministerium würde danach versuchen, die Weissagungen des Sehers in Bilder zu transformieren. »Es sind keine Weissagungen«, flüsterte Auxonia. »Es sind Wahrheiten. Die Seher haben uns noch nie enttäuscht.« »Schade, daß Fastrap nicht gekommen ist«, sagte ein Mann in ihrer Nähe. Sie kannte ihn flüchtig. Er gehörte zu einer Abteilung der
Raumfahrtssektion. »Er hätte mir besser gefallen als dieser vorwitzige Ülstrapp.« Die Worte des Sehers, die den Pers-Oggaren eine noch bessere Zukunft versprachen, hallten über den riesigen Platz. Das Volk richtete seine Höröffnungen auf das Sprechorgan Ülstrapps, um ja jedes Wort aufnehmen zu können. An den weit ausholenden Worten merkte Auxonia, daß Ülstrapp sich auf eine lange Rede vorbereitet hatte. Wahrscheinlich würde es Mittag oder gar Nachmittag werden, bis er endete. Obwohl sie nicht wußte, wo Wysterein steckte, und obwohl ihre Gedanken immer wieder zu Falstrap abzuschweifen drohten, harrte sie aus. Ülstrapp, der Seher, begann, das Loch in der Zeit mit einer glorreichen Schilderung auszufüllen. »Die Anfänge werden von Kummer überschattet sein«, rief er über die Massen, »denn der Kontakt zu den Kolonialwelten wird vorübergehend unterbrochen werden. Wenn dieses Ereignis eintritt, wißt ihr, daß die Phase der wahren Größe der Pers-Oggaren begonnen hat …«
* Wysterein lebte schon seit acht Jahren nicht mehr in der Stadt. Seine Jugend hatte er in einem Dorf am Fuß der Berge der Ewigkeit verbracht. Als er 31 Jahre alt geworden war, hatten seine Eltern es für richtig befunden, den Jugendlichen nach Aust-Tardan zu bringen, denn seine Fähigkeiten und seine Intelligenz lagen deutlich über dem Durchschnitt anderer Pers-Oggaren in seinem Alter. In Aust-Tardan hatte Wysterein Auxonia und Fastrap kennengelernt. Der alte Seher hatte schnell seine Begabung erkannt. Unter seiner Ausbildung sollte Wysterein einer der Seher der PersOggaren werden. Zu dem damaligen Zeitpunkt war Wysterein noch viel zu jung gewesen, um eine solche Ausbildung anzutreten. Die
Gedanken Fastraps hatten ihn jedoch so sehr begeistert, daß er diesen sofort gefolgt war. Sein Aufenthalt in der Regierungsstadt war daher auf knapp zwei Jahre begrenzt gewesen. Heute kehrte er nur noch gelegentlich an diesen Ort zurück, meistens um Auxonia zu treffen und um sich mit ihr zu unterhalten. Sein ganzes Leben war seiner Zukunft und den Gedanken des Ersten Sehers gewidmet. Fastrap war nicht nur Seher. Er war auch einer der profiliertesten Wissenschaftler von Vasterstat, der es ausgezeichnet verstand, seine Gabe, in die Zukunft zu blicken, mit den aktuellen Geschehnissen und den Naturwissenschaften alter Art zu verbinden. Wysterein war jetzt 41 Jahre alt. Vielleicht würde ihn Fastrap schon im kommenden Jahr im Hinblick auf seine erhoffte Fähigkeit als Seher zu trainieren beginnen. Äußerlich unterschied sich Wysterein in nichts von anderen PersOggaren. Seine ungewöhnliche Veranlagung war erst durch die Tests in den Jungschulen zu Tage getreten. Seinem Vater Weszan verdankte er es letztlich, daß sein Lebensweg ihn zu Fastrap geführt hatte. So lebte er heute wieder in der Nähe des kleinen Dorfes, in dem er aufgewachsen war, denn Fastraps Aufenthaltsort lag nur unweit dieser Ansiedlung auf einem Viertel der Höhe der Berge der Ewigkeit. Der Fels war hier mehrere Kilometer tief ausgehöhlt worden. All das war schon zu einer Zeit geschehen, als Wysterein noch nichts von den Sehern gewußt hatte. Fastrap beherrschte ein eigenes kleines Reich, das er in über 100 Jahre langer Arbeit mit Unterstützung der Regierung aufgebaut hatte. Riesige Hallen reihten sich tief in dem Gebirge aneinander. Stollen und Gänge, die mit Antigraveinrichtungen oder einem automatischen Gleitersystem durcheilt werden konnten, verbanden den ganzen Komplex, der eine Breite von fast drei Kilometern und eine Tiefe von zwei Kilometern besaß. Ursprünglich hatte Fastrap hier über 20 Pers-Oggaren beschäftigt.
Dazu waren etwa 200 Roboter unterschiedlicher Konstruktion gekommen. Heute lebte der Seher nur noch mit vier Pers-Oggaren in seinem kleinen Reich, das er ganz in den Dienst der Forschung gestellt hatte. Außer Wysterein arbeiteten noch zwei ältere Frauen für den Seher, von denen die eine eine eher schrullige Wissenschaftlerin war. Sie nannte sich Ux, aber jeder wußte, daß dies ein angenommener Name war. Die andere Pers-Oggarin hieß Perse. Sie fungierte als Mädchen für alles. Einmal hatte sie Wysterein erzählt, daß sie früher eine Seherin werden wollte. Trotz Fastraps Hilfe hatte sie dieses Ziel nie erreicht. Auch Wysterein wurde oft von einer Furcht beschlichen. Vielleicht würde auch er die Hoffnungen seines Lehrmeisters nicht erfüllen können. Dann war da noch Pors, der Wächter. Er kümmerte sich ausschließlich darum, daß kein Unbefugter in das Felslabyrinth des Sehers gelangen konnte. Pors war noch jung, aber nicht sonderlich intelligent. Wysterein hielt ihn für einen guten Kämpfer. Drei Tage lang hatte sich der junge Pers-Oggare ausschließlich damit beschäftigt, die Berechnungen seines Meisters nachzuvollziehen. Fastrap hatte die Konstruktion einer Maschine entworfen, die in der Lage sein sollte, Körper und Bewußtsein eines Lebewesens – auch gegen dessen Willen – zu trennen. Wysterein versuchte so die Zeit sinnvoll zu nutzen, in der sich Fastrap in die Berge an einen einsamen Ort zurückgezogen hatte, um seine Fähigkeiten als Seher zu aktivieren. Er wurde dabei von den zahlreichen Mnemodukten unterstützt, die Fastrap in seinem unterirdischen Reich installiert hatte. Mnemodukt, so nannten die Pers-Oggaren eine hochwertige Rechenmaschine auf positronischer Basis. Der Seher hatte hier alle wichtigen Daten gespeichert, die die Zivilisation der Pers-Oggaren betrafen, dazu natürlich auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse. Wysterein hatte zu allen Daten
freien Zugang, ausgenommen einem Speicher, in dem Fastrap seine Erfahrungen aus den Wanderungen seines Geistes in die Zukunft niedergelegt hatte. Wysterein selbst hielt viele Datenbänke auf dem laufenden, insbesondere die, die die Struktur von Vasterstat betrafen. Er bereiste seit Jahren den Planeten, um neue Erkenntnisse zu sammeln und aufzuspeichern. Durch diese Tätigkeit hatte er Vasterstat so gut kennengelernt wie wohl kaum ein anderer seines Volkes. »Der Meister müßte längst zurück sein.« Wysterein fuhr herum. Im Eingang seiner Arbeitszelle stand Ux und winkte nervös mit mehreren Armen. Er starrte die Frau zunächst verständnislos an. »In wenigen Stunden beginnt das Fest«, fuhr die Wissenschaftlerin fort. »Fest?« echote Wysterein, dessen Gedanken noch immer bei den letzten Berechnungen waren. Irgendeine Kleinigkeit mußte Fastrap übersehen haben, denn die letzten Rechenergebnisse widersprachen einander. »Der Tag der Seher«, erklärte Ux, und ihre Arme sanken schlaff am Körper nach unten. Diese Geste signalisierte Unsicherheit und Besorgnis. Wystereins Blick fiel auf das große Multichronometer über seinem Arbeitspult. »Du hast recht, Ux«, stieß der Pers-Oggare erstaunt aus. »Er müßte längst hier gewesen sein. Ob er direkt nach Aust-Tardan geflogen ist?« »Womit sollte er fliegen?« antwortete die Alte tadelnd. »Er hat keinen Gleiter mitgenommen. Wahrscheinlich wartet er irgendwo.« »Sein Impulsgeber hat nicht angesprochen.« Wysterein deutete auf ein Anzeigegerät auf dem Arbeitspult. »Ich werde mich hüten, den Meister bei seinen Ausflügen in die Zukunft zu stören. Es ist gut möglich, daß er diesmal länger in der Einsamkeit bleibt, denn er wollte das Loch in der Zeit erforschen.«
Ux schüttelte sich unwillig. »Seine Erkenntnisse würden ihm nichts nützen, wenn er sie nicht am Tag der Seher vortragen könnte. Dafür ist es jetzt schon fast zu spät.« »Es wird noch viele Tage der Seher geben«, entgegnete Wysterein. »Du kennst die neuesten Informationen noch nicht.« Die Alte ging nicht auf Wystereins Einwand ein. »Perse weilt in Aust-Tardan. Sie hat vor kurzem mit Hissater gesprochen, der natürlich auch wissen wollte, wo Fastrap bleibt. Bornehin ist tot. Der einzige Seher, der heute sprechen wird, ist Ülstrapp.« Wysterein schritt langsam auf seinen Wurzeln auf Ux zu. »Das ist nicht wahr«, entfuhr es ihm rauh. »Was?« »Daß Bornehin tot ist. Nach den Aussagen des Meisters wird er erst in frühestens 50 Jahren sterben. Und diesem Ülstrapp, der angeblich aus dem Süden stammt, traue ich nicht.« »Du weißt, was es bedeutet, wenn ein vorhergesagtes Ereignis nicht oder anders eintritt?« fragte die alte Pers-Oggarin, Ihre Stielaugen begannen auffordernd zu rotieren. Wysterein neigte bejahend seinen Körper ein wenig nach vorn. »Es kann nur bedeuten, daß Strömungen in der Zeit aufgetreten sind, die von weit her kommen und daher den Sehern nicht bekannt waren. Wenn Bornehin wirklich nicht mehr lebt, ist jede Zukunftsprognose in Frage zu stellen. Dann hat sich etwas ereignet, was wahrlich unübersehbar ist.« »Das Loch in der Zeit«, grübelte Ux dumpf. »Ich bin zwar nie eine Seherin geworden, aber um das Unheil zu spüren, braucht man jetzt keine besondere Befähigung.« Plötzlich richtete sich Wysterein steil auf. Nur noch die Spitzen seiner Wurzeln berührten den Stahlboden. Seine Arme schlangen sich wie Girlanden um den Körper. Der so ausgedrückte Schock übertrug sich auch auf Ux. »Was hast du, Erster Schüler?« fragte sie förmlich. »Es könnte so sein, wie du sagst.« Ein Arm löste sich aus der
Umschlingung und deutete mit einem der drei Finger auf die Alte. »Und wenn es so ist, dann stimmt auch keine Prognose mehr über den Meister. Wenn Bornehin tot ist, dann kann auch Fastrap etwas passiert sein.« Ux sank in Anbetracht dieser Aussage in sich zusammen. »Was sollen wir tun?« jammerte sie laut. »Pors und du«, entschied Wysterein schnell, »ihr untersucht den Tod Bornehins. Vielleicht findet ihr einen Hinweis, der uns zu den Erkenntnissen führt, die die Realität verändert haben. Ich suche nach dem Meister. Er befindet sich bestimmt auf einem der Gipfel der Berge der Ewigkeit. Das sind seine Lieblingsplätze für die Zukunftsmeditationen.« »Und Ülstrapp?« »Um den kümmern wir uns später. Perse soll seine Rede in das Zentralmnemodukt überspielen, damit wir sofort wissen, was er am Tag der Seher verkündet hat. Pors soll nicht vergessen, die Station zu verriegeln.«
3. Wenige Minuten später war Wysterein mit einem Gleiter aus Fastraps Station unterwegs. Vier Roboter begleiteten den PersOggaren, der die Maschine steil in die Höhe zog. Vor ihm türmten sich die schneebedeckten Höhenzüge der Berge der Ewigkeit auf. Auxons Strahlen spiegelten sich auf den blanken Flächen, die in rasender Geschwindigkeit unter dem Gleiter vorbeihuschten. Eine Gruppe Schneeziegen rannte, aufgeschreckt von dem rasenden Schatten des Fahrzeugs, seitwärts in ein Tal. Wysterein konzentrierte sich auf das Lenken des Gleiters, während seine Gedanken alle Möglichkeiten durchprüften, die sich mit Fastraps Verschwinden verbanden. Der Tod Bornehins, auch wenn er diesen noch nicht bestätigt
bekommen hatte, war ein überdeutliches Signal. Etwas Unbekanntes war aufgetaucht. Keiner der Seher (und es gab über 200 davon auf Vasterstat) hatte eine Entwicklung vorhergesagt, in die dieser Tod gepaßt hätte. Die gedankliche Verbindung zu dem Loch in der Zeit, das ja auch erst kürzlich entdeckt worden war, drängte sich förmlich auf. Fastrap hatte ihm gegenüber verlauten lassen, daß die zeitliche Zuordnung des Loches nur einen Schluß zuließ: Die Dunkelzone in der Zukunft lag sehr nahe bei der Gegenwart. Wie nahe, das hatte auch der Erste Seher nicht bestimmen können. Wysterein kannte alle Gipfel, auf denen Fastrap bei seinen Zukunftmeditationen zu weilen pflegte. Da der Seher vorher aber nie sagte, welches Ziel er ausgewählt hatte und sich stets von einem Automatgleiter dorthin bringen ließ, mußte der junge Pers-Oggare notgedrungen einen großen Teil des Hauptgrats abfliegen. Die Roboter unterstützten seine Suche mit hochwirksamen optischen Instrumenten. Sehnsüchtig wartete der Schüler des Sehers auf ein Signal des Impulsgebers, das ihm den Standort Fastraps verraten würde. Er hoffte noch immer, daß sich der Meister aus harmlosen Gründen verspätet hatte. Aber das kleine Gerät blieb stumm. Er beobachtete die zahlreichen Tiere unterschiedlichster Art, die in diesen Höhen noch lebten. Sollte eins von ihnen den Seher angefallen haben, während er in dem tranceartigen Zustand der Zukunftswanderung war? Eigentlich war das unwahrscheinlich, denn der harte Körper eines Pers-Oggaren widerstand auch den stärksten Raubtieren relativ leicht. Andererseits wußte Wysterein, daß Fastrap stets den Gipfel eines Berges für seine Aufenthalte auswählte, und in solche extremen Höhen wagten sich nicht einmal die Eistiger. Von unguten Gefühlen geplagt, registrierte er, daß in den letzten drei Tagen mehrere Lawinen ausgelöst worden waren. Auch darin sah er eigentlich keine Gefahr für den Meister, denn nie würde sich
ein Schneesturz direkt von einem Gipfel aus lösen. Fastrap war ein vorsichtiger Mann. Er wählte einen Ort der Ruhe und der Sicherheit, wenn er allein sein wollte. Der Gedanke, daß zwischen seinem Verschwinden und dem Tod Bornehins eine Verbindung bestehen könnte, ließ Wysterein nicht los. In diesen Augenblicken der Suche wünschte er sich mehr denn je, auch mit einer Gabe, wie sie sein Lehrmeister besaß, ausgestattet zu sein. Die Roboter meldeten nur negative Ergebnisse, auch als der junge Schüler die Bergkette zum dritten Mal abflog. Wysterein spielte schon mit dem Gedanken, Ux über Funk zu rufen und ihr von seinem Mißerfolg zu berichten, als plötzlich etwas Heißes nach ihm faßte. Der Pers-Oggare begann zu taumeln. »Was ist, Herr?« fragte der Sprecher der Roboter. »Übernimm die Steuerung, Mnemofax I«, keuchte Wysterein. Die Maschine, die einem Pers-Oggaren nachgebaut war (nur anstelle der Wurzeln verfügte sie über 20 Rollen auf kurzen Metallstielen), glitt an dem Mann vorbei. Ihre Metallarme faßten nach den Steuerelementen und brachten das schlingernde Fahrzeug wieder in die richtige Lage. »Kann ich dir helfen?« bot sich ein anderer Roboter an. Wysterein taumelte gegen eine Seitenwand. Seine Arme peitschten durch die Luft, als suchten sie irgendwo Halt. Die Wurzeln knickten ein, bis der Körperrumpf den Boden berühre. »Kann ich dir nicht helfen?« wiederholte die Maschine noch einmal. Ihre Metallarme stützten Wysterein, so daß dieser nicht umkippen konnte. »Laßt mich in Ruhe«, schrie der Pers-Oggare. Im gleichen Moment wurde ihm bewußt, daß er diese Worte gegen seinen eigenen Willen ausgesprochen hatte. Ihm schwindelte bei dieser Erkenntnis noch mehr. Sein Bewußtsein tobte, als wäre sein Körper in einen Bottich aus siedendem Wachs gefallen. Die
unheimliche Wärme drang durch alle Zellen seines Körpers und lähmte sein Nervensystem. Kein Arm und keine Wurzel gehorchte mehr den Befehlen seines Geistes. Gib dich hin! Jemand gab ihm einen Befehl, das spürte er. Die Stimme (war es überhaupt eine?) klang fremdartig, kalt und ärgerlich. Wysterein hatte das Gefühl, daß sie aus einer anderen Zeit zu ihm sprach, obwohl er noch nie in seinem kurzen Leben eine konkrete Vorstellung von den Bewußtseinswanderungen erhalten hatte. Dann fühlte er sich eingeschnürt. Etwas umklammerte sein Bewußtsein. Zu den Nerven des Körpers hatte dieses keinen Kontakt mehr. Panik stieg in dem Mann auf. Er sah nicht mehr, was um ihn herum geschah. Er vergaß die Suche nach dem Meister. Er vergaß fast alles. Sein ganzes Trachten galt nur dem Unbekannten, der auf unwirkliche Weise von ihm Besitz zu ergreifen versuchte. Gib dich hin! Diesmal flehte die Stimme. Auch glaubte Wysterein, sie zu erkennen. Sie erinnerte ihn an seinen Vater, und doch wußte er im selben Moment, daß dies eine Täuschung sein mußte. »Du kannst einen Gegner nur besiegen, wenn du ihn kennst«, hatte ihm Fastrap einmal gesagt. Diese Erinnerung zuckte durch Wystereins Gehirnstrang. Ich will dich erleben! formte er einen Gedanken. Vielleicht konnte sein Gegner ihn verstehen. Hier bin ich! Der andere nutzte die Chance, die aus seiner Bereitwilligkeit erwachsen war, und drang mit einem Stoß in sein Bewußtsein ein. Im gleichen Moment erkannte Wysterein, wer der andere war. Es war Fastrap, sein Lehrmeister.
*
Bornehins Behausung lag etwas außerhalb von Aust-Tardan in einem Stadtteil, der ganz im ländlichen Stil erbaut worden war. Inmitten von grünen Parzellen, in denen sich parkähnliche Landstriche mit Nahrungsäckern abwechselten, standen etwa 150 eingeschossige Holzbauten. Die Dächer waren flach und bildeten eine sanfte Mulde nach innen, so daß sich darin das Regenwasser sammeln konnte. Über ein Rohrsystem wurde es zur Bewässerung der Pflanzungen in Vorratstanks geleitet. Der ganze Bezirk war tabu für technische Fahrzeuge. Dies galt sowohl für Luftgleiter und ähnliche Flugkörper, als auch für bodengebundene Gefährte. Für letztere hätte es auch gar keine Fortbewegungsmöglichkeit gegeben, denn zwischen den Parzellen gab es nur schmale Sandwege, die höchstens einen Meter breit waren. Das Respektieren des gesperrten Luftraums war für alle Pers-Oggaren eine Selbstverständlichkeit, die sie nie verletzten. »Wir verlieren mindestens eine Stunde«, klagte der kräftige Pors, »wenn wir uns auf den Wurzeln dem Haus Bornehins nähern.« »Stimmt.« Ux neigte bestätigend ihren Körper. »In dieser Zone darf man sich nicht einmal von einem Roboter tragen lassen. Es gibt aber ein unterirdisches Transmitternetz, über das wir zu drei zentralen Punkten des Vororts gelangen können.« Pors lenkte den Gleiter abwärts auf die Stelle zu, die ihm die Frau zeigte. Die Ausgangsstation zu den Transmitterstrecken war oberirdisch und durch eine große Leuchttafel markiert. Die beiden Pers-Oggaren stellten ihr Fahrzeug ab. Dann schritten sie auf die Transmitterstation zu. »Es ist merkwürdig ruhig hier«, meinte Pors. »Weit und breit ist niemand zu sehen.« »Heute ist der Tag der Seher«, belehrte ihn die Wissenschaftlerin. »Das solltest du wissen.« Der Wächter von Fastraps Station schwieg, während sie sich in der Halle orientierten.
»Hast du nie an einem Tag der Seher teilgenommen?« Ein leiser Vorwurf schwang in Ux' Stimme mit. »Da ist alles auf den Wurzeln. Ganz Aust-Tardan wird von Pers-Oggaren überschwemmt. Und wer nicht dort ist, befindet sich in seiner Wohnung vor den Bildschirmen.« »Wann komme ich schon einmal aus dem Berg heraus!« Die Antwort stieß Pors unwillig aus. Ein deutlicher Vorwurf klang durch. »Wir müssen zur Station B.« Ux wollte ihren Begleiter nicht weiter reizen. Als sie den Sendetransmitter betraten, schlossen sich ihnen zwei andere Pers-Oggaren schweigend an, die ziemlich plötzlich hinter einem Pfeiler aufgetaucht waren. Äußerlich trugen die beiden Männer keine besonderen Kennzeichen, die auf ihre Aufgabe oder Herkunft schließen ließen. Der eigentliche Transport dauerte nur wenige Sekunden. Er verlief schweigend. Ux musterte unauffällig die beiden anderen PersOggaren. Seit der Todesnachricht über Bornehin witterte sie überall eine Gefahr. Pors' Haltung verriet Gleichmut. Der Ausgang der Empfangsstation lag bereits mitten in einem Parkstreifen. Fünf schmale Sandwege führten sternförmig nach allen Seiten. Ux verharrte und wartete, was die beiden männlichen PersOggaren tun würden. Sie schienen sich auch nicht schlüssig zu sein, wohin sie sich wenden sollten, obwohl mehrere Wegweiser zu den Wohnhäusern zeigten. Diesen schenkten die beiden aber keine Beachtung. Als Ux und Pors sich immer noch nicht anschickten, den Platz vor der Transmitterstation zu verlassen, setzten sich die Männer schließlich doch in Bewegung. Die Wissenschaftlerin registrierte, daß sie den Weg nahmen, der rechts von dem lag, der zu Bornehins Heim führte. »Worauf warten wir noch?« brummte der Wächter unwillig.
»Auf nichts. Komm.« Ux setzte schnell ihre Wurzeln voreinander, als habe sie es plötzlich sehr eilig. Pors hatte Mühe, ihr zu folgen. »Was blickst du dich dauernd um?« wollte er wissen. »Es kann nicht schaden, wenn man aufmerksam ist.« »Hä?« machte Pors, und im gleichen Moment herrschte um die beiden herum finstere Nacht. Die Sonne Auxon war von einem Sekundenbruchteil zum anderen verschwunden. Kein Licht war weit und breit zu sehen. »Ux!« rief der Mann. »Was hat das zu bedeuten?« »Ich weiß es nicht.« Die Frau blieb gelassen. Nur ein kaum spürbares Zittern in ihrer Stimme verriet die innere Anspannung. »Noch weiß ich es nicht.« Die völlige Schwärze war auch ihr ein Rätsel. Sie hatte nie etwas Ähnliches erlebt oder von einem solchen Phänomen gehört. Die beiden waren stehengeblieben. Ihre Arme berührten sich, um nicht den Kontakt zu verlieren. Die Dunkelheit war so vollkommen, daß Ux für einen Moment meinte, sie sei erblindet. »Da ist jemand«, zischte Pors leise. Er hatte sich mit der veränderten Situation schnell abgefunden. Seine kämpferischen Fähigkeiten und seine Wachsamkeit dominierten jetzt wieder. »Ich höre nichts«, flüsterte die Frau. »Still.« Pors zog Ux an mehreren Armen zur Unterstreichung seiner Worte. Die Wissenschaftlerin spürte, wie er sich duckte. Etwas zischte durch die Luft. Ux streckte mehrere Arme in die Höhe, aber sie kam viel zu spät. Sie spürte, wie sich ein dichtes Netz über ihren Körper legte und sie, zusammen mit Pors, einschnürte. Im gleichen Augenblick wurde es wieder hell. Neben ihr gebärdete sich Pors wie verrückt. Mit einem Zischlaut gab sie ihm zu verstehen, daß er sich ruhig verhalten sollte. Unkontrollierte Reaktionen verhinderten nur, daß sie einen Überblick über die tatsächliche Situation bekam. Murrend gehorchte der Wächter.
Das Netz, das sich über die beiden gelegt hatte, war so engmaschig, daß Ux kaum noch einen ihrer dünnsten Arme durch eine Öffnung stecken konnte. Es bestand aus biegsamen Metallsträngen von wenigen Millimetern Dicke. Die Landschaft und die Umgebung entsprach dem gewohnten Bild. Nur vermeinte Ux jetzt, daß dünne Nebelschwaden in der Luft lagen. Ihr Geruchssinn registrierte eine undefinierbare Veränderung. Ihre wahren Gegner ließen nicht lange auf sich warten. Aus den nahen Büschen traten die beiden Pers-Oggaren, die sie schon auf dem Weg hierher beobachtet hatten. »Verhaltet euch ruhig«, rief einer der beiden mit einer merkwürdig hohen Stimme. In mehreren Händen hielt er kleine Geräte, die Waffen sein mochten oder für die Auslösung der plötzlichen Dunkelheit verantwortlich gewesen sein konnten. Da das zusammengezogene Netz sowieso jede Bewegung verhinderte, gehorchten Ux und Pors. Die alte Wissenschaftlerin schaltete sofort ihre Taktik um, denn was ihr hier widerfahren war, war nach den Regeln der Pers-Oggaren eine Unverschämtheit und Unmöglichkeit zugleich. »Vielleicht erklärt ihr ganz schnell«, verlangte sie mit Eiseskälte in der Stimme, »was dieses unmögliche Verhalten bedeuten soll.« Die beiden fremden Pers-Oggaren verneigten kurz ihre Körper. »Die Fragen stellen wir«, verkündete der Größere, der zweifellos auch der Ältere der beiden zu sein schien. »Wo wolltet ihr hin?« »Wie bitte?« staunte Ux. Sie mimte die Unverstandene. Dann straffte sie ihren Körper, so gut das in dem Netz ging. »Wir wollen einen Besuch bei Bekannten machen. Mehr brauche ich euch nicht zu erklären.« »Du lügst«, behauptete der Mann. »Ihr wart auf dem Weg in Richtung des Heimes von Bornehin, dem Seher.« »Von diesem Seher habe ich noch nie gehört«, log die Frau. »Die Freunde, die wir aufsuchen wollen, heißen Erseltan und Birlix.«
Sie besaß tatsächlich zwei Bekannte in diesem Vorstadtviertel, deren Namen so lauteten. »So«, zögerte der Sprecher der beiden Fremden und fuchtelte leicht verunsichert mit mehreren Waffen herum. »Wie sind eure Namen?« »Ich heiße Bonnara«, antwortete Ux. »Das ist meine Gehilfe Pors.« Der Wächter stieß einen leisen Warnlaut aus. Den Namen Bonnara hörte er wohl zum ersten Mal in seinem Leben. »Pors?« Die Arme der beiden Männer bewegten sich unruhig. »Den Namen habe ich doch schon gehört.« »Ein häufiger Namen auf Vasterstat«, versuchte der Wächter des Ersten Sehers abzuwiegeln. »Könnt ihr euch ausweisen?« »Warum sollten wir das?« Ux zeigte ihre Mißbilligung. »Wer seid ihr überhaupt? Was soll dieser Überfall?« »Eine Vorsichtsmaßnahme, die von der Regierungspräsidentin Morjana persönlich angeordnet wurde«, erklärte einer der Unbekannten. »Es geht um Ermittlungen im Todesfall einer bekannten Persönlichkeit.« Ux war klar, daß damit nur Bornehin gemeint sein konnte. Sie ging jedoch nicht darauf ein. Statt dessen faßte sie in eine Körperfalte und holte aus einem Schlitz in der Borke eine kleine Plastikkarte hervor. Diese streckte sie durch die Maschen des Netzes. »Tatsächlich, Bonnara«, antwortete der Mann, der die Karte untersucht hatte. »Es scheint, als haben wir die falschen Leute erwischt.« »Das will ich wohl meinen«, bekräftigte Ux. Ihre Gedanken bewegten sich jedoch in ganz anderen Bahnen. Sie wußte mit ziemlicher Sicherheit, daß es solche Sonderbevollmächtigte, als die sich die beiden Fremden ausgaben, auf Vasterstat nicht gab. Etwas an der Sache war faul, und natürlich ging es um den Tod des Sehers Bornehin.
Der eine der beiden Männer sprach leise in ein kleines Gerät, das er in einer Hand hielt. Kurz darauf kam eine Antwort. Sie war kaum hörbar, aber Ux nahm sie dennoch wahr. »Unwichtige Leute«, vernahm die Helferin Fastraps. »Laßt sie in Ruhe. Und mich auch.« Schweigend entfernten die beiden Männer das Netz. Ohne ein weiteres erklärendes Wort verließen sie den Ort. »Bonnara«, sinnierte Pors. »Das heißt die Fruchtbare. Ist das dein richtiger Name?« Ux ging nicht darauf ein. »Wir müssen unseren Plan ändern«, behauptete sie. »Wenn wir schon hier, also ein Stück abseits von Bornehins Behausung, aufgehalten werden, so bedeutet das zweierlei. Es ist etwas faul an der Sache und …« »… und das Haus wird bestimmt noch besser bewacht«, fuhr Pors fort. »Ohne weiteres dürfen wir dort nicht auftauchen.« »Stimmt«, bestätigte die Pers-Oggarin. »Wir trennen uns. Ich suche meine Bekannten auf. So hoffe ich die Schnüffler ablenken zu können. Du mußt allein versuchen, dich heimlich Bornehins Bungalow zu nähern. Versuche etwas herauszubekommen, was uns weiterhilft. Aber sei vorsichtig.« »Einverstanden.« Pors winkte zustimmend mit den unteren Armen. »Das ist eine Aufgabe für mich.« Er schlug sich seitlich in die Büsche und zog dabei ein kleines Gerät hervor. Noch bevor ihn Ux endgültig aus den Augen verlor, wurde der Wächter unsichtbar. Zwei Stunden später traf er bei Ux ein, die vor dem Haus ihrer Bekannten wartete. »Die Sache stinkt zum Himmel«, berichtete er. »Das Haus Bornehins ist von allen Seiten bewacht. Ich konnte mich dennoch an ein Fenster anschleichen. Bornehin lebt. Er sitzt gefesselt in einem Stuhl im Untergeschoß.« »Wir müssen zu Fastrap«, folgerte Ux. »Komm schnell.«
4. Für Wysterein war es zunächst ein schockierendes Erlebnis. Er hatte nicht einmal davon geträumt, je in seinem Leben ein anderes Bewußtsein im unmittelbaren Kontakt mit dem eigenen zu erleben. Selbst Fastrap, dem er vieles zutraute, hatte er einer solchen Maßnahme nicht für fähig gehalten. Unwillkürlich nahm der junge Pers-Oggare an, der Meister sei in Wirklichkeit tot, und sein Bewußtsein berühre ihn aus dem Jenseits. Die drängende Stimme Fastraps belehrte ihn rasch eines anderen. Wysterein konnte den Seher hören. Es gelang ihm allerdings nicht, mit ihm in eine Kommunikation zu treten. Auch Fastrap schien dies zu merken. Je mehr sich der Körperlose bemühte, desto verwirrter wurde sein Schüler. Schließlich verstand Wysterein gar nichts mehr. Er fühlte, wie der enttäuschte Meister von ihm abließ. Das Bewußtsein blieb aber in der Nähe. Wysterein atmete auf, denn auch die wirkliche Umgebung stabilisierte sich wieder vor seinen Sinnen. Der Mnemofax I lenkte das Fahrzeug sicher über die schneebedeckte Landschaft. Sein fragender Blick lag auf dem Mann. Als dieser jedoch keine Anweisungen gab und nur stumm in die Runde starrte, wollte der Roboter etwas fragen. Er kam nicht mehr dazu, denn in diesem Moment setzte Fastraps Bewußtsein zum zweiten Schlag an. Die Auswirkungen auf Wysterein waren so deutlich, daß die metallenen Helfer betroffen zur Seite wichen. Die Arme und Wurzeln des Pers-Oggaren peitschten nach allen Seiten. Sein Körper stürzte trotz aller Hilfsversuche der Roboter zu Boden. Was zunächst wie ein fremder Druck auf Wystereins Bewußtsein
gewirkt hatte, verwandelte sich nun in einen unaufhaltsamen Sog. Fastraps Bewußtsein zog ihn aus seinem Körper. Der Wille des jungen Mannes kam gegen die Kraft des Ersten Sehers nicht an. Wysterein mußte erleben, wie sich sein Ego vom Körper trennte. Unbewußt klammerte er sich an den einzigen Halt, den er verspürte, und das war das Bewußtsein Fastraps. Ein Gefühl der Leichtigkeit und Schwerelosigkeit versetzte ihn im selben Moment in einen Rauschzustand. Er empfand die Körperlosigkeit als neu und angenehm. Willig ließ er sich tragen. Gut so! Er nahm die mentale Stimme kaum wahr. Aber er öffnete das, was er jetzt für seine Sinne hielt. Es waren keine Sinne im herkömmlichen Verständnis. Wysterein nahm jedoch mit ihnen seine Umgebung wahr. Irgendwo weit unter ihm lag Vasterstat. Er merkte schnell, daß er die Distanz völlig falsch einschätzte, denn in den wenigen Sekunden konnte er sich trotz des Soges nicht so weit entfernt haben. Der Gleiter war nur noch ein winziger Punkt. Seinen Körper, der darin lag, konnte Wysterein nicht erkennen. Auch seine Geschwindigkeit konnte er nicht beurteilen. Einmal hatte er das Gefühl, daß sich unter ihm nichts rührte. Dann schienen die Hänge aus Schnee und Eis wieder in rasender Geschwindigkeit an ihm vorbeizuziehen. Weiter! Wysterein setzte seinem Meister keinen Widerstand entgegen. Je länger die seltsame Reise dauerte, umso bewußter erlebte er sie. Eben war Vasterstat noch weit unter ihm gelegen, jetzt tauchte dicht vor seinem geistigen Auge einer der höchsten Gipfel der Berge der Ewigkeit auf. Alle Dimensionen schienen verschoben. Du mußt dich erst an deine neuen Sinne gewöhnen! Die erklärende Stimme Fastraps klang wie aus weiter Ferne. Und doch spürte Wysterein den Seher ganz in seiner Nähe. Teile ihrer beiden Bewußtseine waren miteinander verschmolzen. Lerne, sie richtig zu
gebrauchen! Sie glitten über den Berggipfel hinweg. Noch während Wysterein sich zu erinnern versuchte, welcher Gipfel der Berge der Ewigkeit dies sein könnte, veränderte sich die Umgebung plötzlich erneut. Wysterein fand sich wieder in seinem Körper wieder. Es ist nicht dein Körper! Fastraps Stimme klang ärgerlich. Der junge Mann versuchte einen Gedanken zu formulieren, aber es gelang ihm nicht. Sieh dich um! forderte Fastrap. Benutze die Sinne meines Körpers! Der Schüler tat, was ihm aufgetragen worden war und erschauderte. Der Körper war fast leblos. Vor den Augen gab es nur Dunkelheit. Überall herrschte eisige Kälte, die das letzte Fünkchen Leben in sich aufsaugen wollte. Fastrap! Meister! wollte Wysterein schreien. Was ist geschehen? Was hat das zu bedeuten? Aber er beherrschte die mentale Stimme noch nicht. Das Gefühl des dem Tod nahen Körpers übertrug sich auf Fastraps Bewußtsein. Wysterein merkte, wie dieses mehr und mehr erschlaffte. Auch meldete sich der Seher nicht mehr. Langsam glitt die bewußte Gegenwart des Sehers aus dem Empfinden Wystereins. Er wollte den Meister halten, aber er besaß keine Arme, mit denen er dies bewerkstelligen konnte. In seiner Verwirrtheit versuchte er, die Arme von Fastraps Körper zu bewegen, aber das war unmöglich. Eine gewaltige Last stemmte sich ihm entgegen. Mit dem Erschlaffen von Fastraps Bewußtsein lockerte sich auch die Bindung zwischen den beiden körperlosen Formen der Männer. Dann bäumte sich der Leib Fastraps auf und stieß Wysterein ab. Er wurde förmlich hinauskatapultiert. Alles um ihn herum drehte sich. Die unbegreiflichen Sinne gaukelten ihm Bilder vor, die nie und nimmer der Realität entstammen konnten. Wysterein wollte schreien, um so diesem Wahnsinn ein Ende zu machen, aber er besaß keine Stimme.
»Was ist mit dir los?« Die Frage klang laut und deutlich. Sie war real. Ein leiser Schmerz durchzuckte ihn. Es war ein körperlicher Schmerz, der von einem Stich herrührte. »Öffne deine Augen!« Die Stimme gehörte dem Mnemofax III. Zögernd wagte es Wysterein. Er stellte die Stiele seiner Augen hoch auf und öffnete das Sehorgan. Er blickte auf seine Arme. Dann an seinem Körper hinunter. Seinem Körper? Innerlich jubelte er auf. Körper und Geist waren wieder vereint. Die Roboter halfen ihm, als er sich aufrichtete. Er streckte seine Arme und Wurzeln und ließ sich dann auf dem Ruhekissen nieder. »Wir dachten schon, du seist tot«, klagte eine der Maschinen. »Dein Körper gab kein Lebenszeichen mehr von sich.« Wysterein vollführte eine Geste mit drei Armen, die die Roboter verstummen ließ. Er mußte nachdenken und Klarheit in das Erlebte bringen. Zunächst mußte er die Erinnerungen an die eigene Unsicherheit und die schockierenden Erlebnisse verdrängen, denn sie hinderten ihn bei seinen Überlegungen. Fastrap war in Gefahr. Sein Körper war fast leblos gewesen, als er für Sekunden (oder waren es Minuten oder gar Stunden?) in ihm geweilt hatte. Er mußte schnell handeln. Mit einem Satz drängte er den Roboter von der Steuerung. Er zog das Fahrzeug in die Höhe, um einen besseren Überblick auf die Berglandschaft zu gewinnen. »Der Meister ist unter einer Lawine verschüttet«, erklärte er den Robotern. »Richtet eure Sensoren auf alle unregelmäßigen Anhäufungen von Schnee. Wir müssen ihn schnell finden, sonst ist es zu spät.« »Woher willst du wissen«, fragte der Mnemofax I, »daß Fastrap verschüttet ist? Nach deinem Verhalten neige ich bei allem Respekt
eher zu der Ansicht, daß bei dir eine geistige Verwirrung eingetreten ist.« »Ich erkläre es euch später«, wehrte Wysterein unwirsch ab. »Gehorcht jetzt meinen Anweisungen.« Er drückte den Gleiter in ein Tal, wo die Spuren einer frischen Lawine zu erkennen waren. Dieser Schneesturz war höchstens einen Tag alt. »Fastrap trägt mindestens ein Gerät aus Metall an seinem Körper«, belehrte er die Roboter. »Auf das Metall müßt ihr eure Ortungssensoren einstellen. Dann werden wir den Meister sicher finden.« »Es gibt viele Metallansammlungen weit unter dem Eis und dem Schnee.« Der Mnemofax I schien von der Richtigkeit dieser Suche noch nicht überzeugt zu sein. »Für uns kommt nur ein kleiner Metallkörper in Frage, der in dem Schnee steckt.« In der Nähe des dritten Berggipfels, den Wysterein anflog, verließ ihn schon der Mut. Er bedauerte es zutiefst, daß er während der Entführung seines Bewußtseins durch Fastrap nicht besser auf seine Umgebung geachtet hatte. Dann fiel sein Blick aus einem schrägen Winkel auf den nächsten Gipfel, und er erkannte, daß dies der Berg war, den er überquert hatte, kurz bevor er sich auf unerklärliche Weise im Körper des Sehers wiedergefunden hatte. »Dort muß er sein!« Einer seiner Arme deutete voraus, während er gleichzeitig das Luftfahrzeug wieder beschleunigte. »Ich orte tatsächlich einen künstlichen Metallkörper weit unterhalb des Gipfels«, meldete einer der Roboter. Die anderen bestätigten diese Aussage sogleich. Der junge Pers-Oggare hielt auf die Stelle zu, die ihm die Maschinen nannten. Erfreut stellte er fest, daß es sich hier um keinen sehr großen Schneesturz handelte. Die Möglichkeiten,
Fastrap zu befreien, waren daher nicht schlecht. Er hielt an und ließ die Roboter aussteigen. Mit ihren Strahlern und den ausgefahrenen Schaufelarmen machten sich die Maschinen schnell an die Arbeit. Wysterein verfolgte aus dem Gleiter, wie sie sich rasch in die Tiefe vorarbeiteten. Schon nach knapp zwei Minuten führte ein Schacht über zehn Meter in den Schnee. Wysterein wurde schon ungeduldig, als ihn Fastraps Bewußtsein erneut berührte. Diesmal war der Kontakt schwach. Du bist auf dem richtigen Weg, glaubte der Schüler zu vernehmen. Es beunruhigte ihn jedoch, daß die Stimme seines Lehrers matt und erschöpft klang. Es war mehr ein Wispern als eine wirkliche Mitteilung. Dann endlich erklang von unten der Ruf eines Roboters. »Wir haben ihn gefunden!« Wysterein reckte sich glücklich und zufrieden. Als die Roboter den erschlafften Körper in den Gleiter brachten, hatten sie schon alle Schneereste von diesem entfernt. Sofort machten sich die Maschinen daran, Fastrap zu versorgen. Bei dem Sturz mit der Lawine hatte der Seher drei Arme verloren, die nicht wieder angebracht werden konnten. Die Kälte hatte die Körpersäfte jedoch gestoppt. Nun legten die Roboter Verbände an und steckten die Wurzeln in kleine Schalen mit Nährflüssigkeiten, die sie dem Notschrank entnommen hatten. Schließlich legten sie eine Wärmedecke über den Seher. Als Fastrap endlich die Augen aufschlug, war Wysterein schon auf dem halben Weg in Richtung Aust-Tardan, wo die besten Kliniken von Vasterstat waren. »Wo fliegst du hin, Junge?« Die Stimme des Sehers klang noch müde und holprig. Als Wysterein das Ziel nannte, hob der Seher einen Arm. »Kehr um! Wir müssen zuerst in die Station. Es ist wichtig.« Widerspruchslos gehorchte der Schüler. Er wies Fastrap aber darauf hin, daß seine drei anderen Helfer in Aust-Tardan waren.
»Das spielt keine Rolle«, wehrte der Alte ab. »Wenn ich mich erholt habe, fliegen wir auch zum Tag der Seher.« Wysterein hörte die Sorge heraus, die aus Fastraps Worten klang, aber er wagte es nicht, eine Frage zu stellen. Der Meister würde selbst wissen, wann er seine Miteilungen zu machen hatte. In der Station im Berg ließ sich Fastrap von seinen Robotern versorgen. Es war erstaunlich für Wysterein, wie schnell der Meister wieder in den Vollbesitz seiner Kräfte gelangte. Die automatische Warnanlage kündigte die Rückkehr von Ux und Pors an. Aus Aust-Tardan überspielte Perse noch immer die Rede Ülstrapps, die Fastrap aufmerksam auf einem Bildschirm verfolgte. Auf den anderen Schirmen hörte und sah er die Übermittlungen der Nachrichtenmedien. Dann berichteten Ux und Pors. Der Seher hörte sich alles schweigend an, während seine Wurzeln noch in einer mit Erdreich versetzten Nährflüssigkeit ruhten. Ülstrapp verkündete gerade, daß er eine halbstündige Pause einlegen wolle, bevor er seine glorreichen Weissagungen beenden würde. »Eine gute Gelegenheit für eine Beratung«, stellte Fastrap fest. Seine beiden Stielaugen wanderten von Ux über Pors bis zu Wysterein. Dann erhob er seinen Körper und nahm dabei die Wurzeln aus der Schale mit der Nährflüssigkeit. »Ich habe schreckliche Neuigkeiten für euch, meine Helfer«, begann er. Einer seiner unversehrten Arme deutete auf einen überdimensionalen Bildschirm, wo Ülstrapp unter dem Beifall seiner Zuhörer gerade das Podium verließ. »Dieser Mann dort«, erklärte der Erste Seher dumpf, »ist ein Verräter. Ich weiß nicht, aus welchen Gründen oder Motiven er handelt, aber er lügt. Ich habe das Loch in der Zeit gefunden und mit Wissen erfüllt. Vasterstat geht einer schrecklichen Zukunft entgegen. Eine Macht ist in unserem Lebensbereich aufgetaucht, die alles Leben vernichten wird. Auch ihr, meine Helfer, habt nur noch
Tage, die ihr an euren Armen zählen könnt. Es gibt nur für die eine Rettung, die den Schritt zur Körperlosigkeit vollziehen können.« »Wer soll das können?« fragte Ux. »Ich kann es«, behauptete Fastrap leise. »Wysterein hat vielleicht auch die Anlagen dazu. Für alle anderen Milliarden Pers-Oggaren ist die Chance gleich null. Es gibt daher nur noch einen Weg. Wir müssen die Trennung von Körper und Bewußtsein künstlich vollziehen.« »Der Dislozierungsprojektor«, meinte Wysterein und dachte an das Gerät, mit dem der Meister und er sich in den letzten Wochen beschäftigt hatten. »Ja«, pflichtete Fastrap bei. »Treibt die Arbeit voran. Ich muß nach Aust-Tardan, um diesem Wahnsinnigen Einhalt zu gebieten, bevor er das ganze Volk der Pers-Oggaren ins Unglück stößt.« »Und Bornehin?« Ux winkte nervös mit den Armen. »Das ist eine Aufgabe für die Regierungspräsidentin. Ich werde zuerst mit Morjana sprechen, bevor ich mich am Tag der Seher blicken lasse.« »Ich verstehe das alles nicht«, klagte Wysterein. »Ich auch nicht.« Die Stielaugen des Alten fixierten den jungen Mann. »Es ist ein Einfluß in den Ablauf der Dinge getreten, der von weither kam. Vielleicht sogar aus einer anderen Zeit oder einer anderen Dimension. Ich kann diesen Faktor nicht bestimmen, aber ich weiß, daß er alle unsere Prognosen umstürzt. Nichts, was ich früher einmal gesagt habe, muß in der Zukunft eintreten, denn diese wurde schon in der für uns realen Vergangenheit verändert.« »Wie war das möglich?« Wysterein sank auf sein Ruhekissen. »Ist diese fremde Macht in der Lage, sich direkt in die Zukunft zu begeben?« »Nein. Das schließe ich aus. Die Veränderung der Zukunft beruht nur auf Tatsachen, die in der bis jetzt geschehenen Vergangenheit realisiert wurden. Es sind unumstößliche Tatsachen, die uns nur noch einen ganz engen Spielraum lassen. Ich habe vor langer Zeit
einmal eine Ahnung gehabt, daß es so kommen könnte, obwohl ich nichts Derartiges bei meinen Bewußtseinsreisen in die Zukunft feststellen konnte. Da ich aber immer wußte, daß kein Seher alle Einflüsse vollkommen erfassen kann, habe ich über unser zentrales Mnemodukt das theoretische Durchspielen dieser Möglichkeit veranlaßt. Es liegen Pläne vor, die das Volk der Pers-Oggaren auch dann noch erhalten sollen, wenn alle bis auf ganz wenige Ausnahmen dem Untergang geweiht sind. Ich fürchte, daß ich diese Pläne in die Tat umsetzen werden muß.« Wysterein erschauderte bei diesen Worten. Er erkannte zwar, daß der Meister viel weiter geplant und gedacht hatte, als er es je vermutet hatte. Aber das war ein schwacher Trost in Anbetracht der Ankündigungen einer Situation, die einem Weltuntergang gleichkam. »Wer ist unser Feind, Meister?« Pors' Frage drückte das ganze Problem aus. Seine kräftigen Arme bewegten sich rudernd hin und her, als wollte er den, der das Unglück brachte, mit einem Schlag zerquetschen. »Ich weiß nicht, wer oder was die böse Macht im Hintergrund ist«, gestand Fastrap. »Sie entzieht sich vollkommen meinem Zugriff. Sie ist überall und nirgends. Aber sie hat einen realen Helfer, den wir überführen müssen: Ülstrapp.«
* Wenige Minuten später war Fastrap mit einem schnellen Gleiter unterwegs in Richtung Aust-Tardan. Im voraus lief die Mitteilung an den Leiter des Tages der Seher, daß er doch noch erscheinen würde, um seine Erkenntnisse über das Loch in der Zeit an die PersOggaren weiterzugeben. Hissater nahm die Ankündigung mit Freude entgegen und berichtete sofort den wartenden Massen. Keiner der Bevölkerung zweifelte daran, daß Fastrap, der Erste
Seher, die Weissagungen Ülstrapps bestätigen und in noch herrlicheren Schilderungen verkündigen würde. Der Tag der Seher würde nun doch noch zu einem großartigen Freudenfest werden. Fastrap meldete sich von unterwegs bei Morjana, der Präsidentin, an. Er löste dort zwar Verwunderung aus, denn ein solches Gespräch am Tag der Seher war ungewöhnlich. Außerdem mußte Morjana eine laufende Sitzung unterbrechen. Fastraps Verlangen bedeutete bei dem höchsten Gremium von Vasterstat soviel, daß Morjana sogleich einwilligte. Die Präsidentin empfing den Seher in ihren halbdienstlichen Gemächern, also abseits der technisierten Besprechungs- und Konferenzräume. Außer ihr war noch ihre Tochter Auxonia anwesend, die die Sprechpause Ülstrapps nutzte, um bei ihrer Mutter zu sein. »Wie geht es meinem Freund Wysterein?« erkundigte sich die junge Frau freundlich zur Begrüßung. Fastrap machte eine nichtssagende Armbewegung, denn er wollte direkt auf den Kern der Sache zu sprechen kommen. Auxonia verstand diese Geste und schwieg. Morjana bot dem Seher einen weichen Platz an, auf dem er sich bequem niederlassen konnte. Fastrap rollte seine Wurzeln ein und wartete darauf, daß Morjana das Gespräch formal eröffnete. Die Präsidentin war nun seit 84 Jahren in ihrem Amt. Sie hatte stets mit Geschick und einem guten Gefühl für die Probleme aller Pers-Oggaren ihre Regierungsgeschäfte durchgeführt. Ihr zur Seite standen zwei parlamentarische Gruppen, ohne deren Mehrheit sie nur in Ausnahme- und Notfällen allein Entscheidungen herbeiführen konnte. Mit 248 Jahren befand sich Morjana in der Blüte ihres Lebens. Ihre hohen geistigen Fähigkeiten würden noch 50 oder 69 Jahre andauern. Spätestens dann würde ein anderer an ihrer Stelle Präsident oder Präsidentin werden.
Wie es der alte Brauch des Volkes vorschrieb, trug Morjana auch jetzt die kristallenen Bänder am Körper, die für ihr Amt charakteristisch waren. Ihre Borke schimmerte in sanften grünbraunen Tönen. Morjana war eine ungewöhnliche Person. Dominierend waren ihre geistigen Fähigkeiten. Aber auch äußerlich stellte sie mit einer überdurchschnittlichen Größe und mit ihren 26 Armen etwas Außergewöhnliches dar. »Du wirst einen besonderen Grund haben, Erster Seher«, begann sie mit sicherer Stimme, »daß du mich zu dieser Stunde sprechen willst, obwohl das Volk auf die Vorhersagen aus deiner Sprechknospe wartet.« »So ist es. Bevor ich dir meine dringenden Miteilungen mache, möchte ich dich bitten, Auxonia zu veranlassen, uns allein zu lassen.« »Deine Bitte kann ich verstehen.« Fastrap spürte schon jetzt die Ablehnung. »Da ich vor Auxonia keine Geheimnisse habe, brauche ich ihr jedoch nicht zu folgen. Sprich.« Fastraps Arme sanken schlaff nach unten. »Ich habe das Loch in der Zeit erforscht«, begann er. »Damit habe ich gerechnet. Du trägst schließlich den Titel des Ersten Sehers unseres Volkes. Deswegen hättest du nicht kommen brauchen. Ich habe Ülstrapps Rede zum großen Teil verfolgt. Die Auswertung mit Hilfe des Regierungsmnemodukts hat schon begonnen.« Fastrap wand sich wie ein junger Sämling im Frühlingswind. Er spürte, daß Morjana ihm gar nicht zuhören wollte. Oder ahnte sie bereits etwas von dem, was er sagen wollte? »Ülstrapp ist ein Lügner«, platzte Fastrap heraus. Morjana lache empört auf. »Du willst doch nicht etwa behaupten, daß ein Seher die Unwahrheit sagen könnte? Das ist undenkbar und lächerlich zugleich.« »Ich bin ein Seher«, antwortete Fastrap hart. »Ich lüge nicht.
Weder jetzt, noch bei den Verkündigungen der letzten Tage der Seher. Warum Ülstrapp lügt, vermag ich jedoch nicht zu sagen.« »Wenn er ein Lügner wäre«, folgerte die Präsidentin, »dann wäre er kein Seher. Der umgekehrte Schluß ist zulässig.« »Das ist richtig. Ülstrapp hat unabhängig von Bornehin und mir das Loch in der Zeit entdeckt. Das steht fest. Er ist ein Seher, aber er lügt. Ich kann den Widerspruch nicht erklären.« »Bornehin ist tot.« Aus Morjanas Stimme klang echte Trauer. »Das weißt du sicher.« »Ich habe davon gehört«, bestätigte der alte Seher. »Aber das scheint eine Lüge zu sein, denn einer meiner Helfer hat ihn gefesselt in seinem Bungalow gesehen. Geheimnisvolle Leute sollen sich dort herumtreiben. Sie verfügen über eine Waffe, die ich als AntiLichtbombe bezeichnen würde. Sie erzeugt vorübergehend völlige Dunkelheit, selbst am hellen Tag.« Morjana schwieg nachdenklich. Ihre Tochter nutzte die Pause, um sich in das Gespräch einzuschalten. »Wenn Ülstrapp lügt«, fragte sie, »und du, Fastrap, in das Loch in der Zeit gesehen hast, so kannst du uns sicher sagen, wie unsere Zukunft deiner Meinung nach aussehen soll.« »Ich weiß, wie sie nach dem augenblicklichen Stand des Zeitablaufs aussehen wird«, antwortete der Erste Seher. »Und ich weiß, daß sie anders aussieht, als es der Verräter und Lügner Ülstrapp darstellt. Wahrscheinlich ist er nur ein Instrument einer bösen Macht.« »Ich möchte wissen, wie deine Zukunft aussieht«, verlangte Auxonia. Fastrap verstand, daß sie damit nicht sein persönliches Schicksal meinte, sondern seine Prophezeiung bezüglich des Loches in der Zeit. »Das ist einfach zu sagen.« Die verbliebenen Arme des Alten richteten sich steil auf. Selbst die drei Stummel mit den frischen
Verbänden regten sich. »Das Volk der Pers-Oggaren wird untergehen. Für einige wenige von uns besteht vielleicht eine Chance zum Überleben. Ob daraus je wieder etwas Ähnliches wird, wie es unsere Kultur und Zivilisation darstellt, vermag ich nicht zu sagen.« »Du lügst«, stieß Morjana ärgerlich hervor. »Kümmere dich um Bornehin«, antwortete Fastrap. »Und höre auf meine Rede zum Tag der Seher.« Ohne ein weiteres Wort der Erklärung erhob er sich und schritt wankend aus dem Raum. »Es kann nicht wahr sein, was er sagt«, zischte Morjana ärgerlich. »Du meinst wohl etwas anderes«, korrigierte Auxonia ihre Mutter und dachte dabei an die Ahnungen und Gefühle vom Morgen. »Du willst sagen, was Fastrap vorhersagt, darf nicht wahr sein.«
5. Fastrap wartete nicht darauf, daß Ülstrapp auf das Podium zurückkehrte. Es entsprach zwar nicht den Gepflogenheiten, daß ein Seher mit seiner Ansprache begann, wenn ein anderer eine Pause angemeldet hatte, aber Fastrap nahm dieses Recht für sich einfach in Anspruch. Er war unruhig und nervös. Seine Ahnung sagte ihm, daß er Schwierigkeiten bekommen würde. Die kurze Unterredung mit Morjana hatte dies schon gezeigt. Es paßte den vom Wohlstand und Fortschritt verwöhnten Pers-Oggaren nicht, daß negative Vorhersagen gemacht wurden. Der Erste Seher sah es jedoch als seine Pflicht an, das Volk aufzuklären. Zugleich versprach er sich davon eine Chance, das drohende Unheil noch abwenden zu können. Wenn alle PersOggaren zusammenstehen würden, hätte der Unbekannte, der das Böse und die Vernichtung bringen wollte, kein leichtes Spiel.
Hissater, der für den reibungslosen Ablauf des Tages der Seher verantwortlich war, wollte Fastrap am Betreten des Podiums hindern. »Ülstrapp hat seine glorreichen Worte noch nicht beendet«, wies er den Seher an. »Er hat das Recht, dies zu tun. Seine Pause beträgt noch zwölf Minuten.« »Ich weiß«, antwortete Fastrap kalt. »Länger werde ich auch nicht reden.« Dann schob er sich an dem verdutzten Mann vorbei und trat vor die Mikrofone und Aufzeichnungsgeräte. »Pers-Oggaren«, begann er kurz und bündig. »Ich habe Licht in das Loch in der Zeit geworfen. Das Loch befindet sich nur wenige Tage von hier in der Zukunft. Es geht auf einen Ursprung zurück, der früher nicht vorhanden war. Es ist gut abgeschirmt, aber ich konnte die Sperren überwinden. Was ich gesehen habe, ist furchtbar. Uns allen droht die Vernichtung, denn ein böser und noch unbekannter Feind ist aufgetaucht, der die Macht über PersMohandot an sich reißen will. Wir müssen alle Kräfte mobilisieren, um gegen diesen Feind gewappnet zu sein, sonst kann keiner überleben. Das ist die ganze traurige Wahrheit. Was Ülstrapp euch gesagt hat, sind Lügen. Ich vermute, er ist ein Helfer jener bösen Macht, die uns, die Pers-Oggaren, die wir den mächtigsten Faktor in unserer Galaxis darstellen, ausradieren will. Ülstrapp will euch in Sicherheit wiegen, während auf den Kolonialwelten bereits der Tod wütet. Ich werde alles …« Fastrap wurde unterbrochen, denn von allen Seiten drangen wütende Schreie auf ihn ein. Die eigene Stimme wurde vom Lärmen der Versammelten völlig übertönt. Er hob seine Arme in die Höhe, um wieder Ruhe herzustellen, doch der Versuch mißlang. Direkt unter dem Podium der Redner fing eine Gruppe junger Männer laut zu lachen an. Dieses Lachen verbreitete sich wie ein Lauffeuer und brachte sogar die verärgerten Massen zum Schweigen. Dann brandete über dem
riesigen Platz ein tosendes Gelächter in seine Hörsinne. Plötzlich stand Ülstrapp neben ihm. Der Erste Seher musterte sein Gegenüber. Die leisen Worte, die er sagte, gingen ungehört in dem Gejohle der Massen unter. Ülstrapp schob sich lässig an dem alten Seher vorbei, ohne dabei seine Stielaugen auf diesen zu richten. Er baute sich vor den Übertragungseinrichtungen auf und streckte einen Arm in die Höhe. Sofort kehrte Ruhe ein. »Fastrap ist verwirrt«, rief er laut, und der Beifall schlug ihm entgegen. »Er muß in ärztliche Behandlung. Seinen baldigen Tod habe ich auch vorhergesehen. Es tut mir persönlich leid um unseren alten Freund, aber das ist nun mal der Lauf der Dinge.« »Lügen! Du Verräter!« schrie Fastrap dazwischen. An den Reaktionen der Zuhörer merkte er, daß er dieses Duell nicht gewinnen würde. »Wer hat dich geschickt? Wer ist die teuflische Macht, die uns vernichten will?« Ülstrapp antwortete mit einem überheblichen Lachen. Dann drehte er sich zu Hissater um, der verlegen an der Treppe des Podiums stand. »Schafft diesen Verrückten weg!« herrschte er den Organisator an. Fastrap startete einen letzten Versuch. Er riß ein Mikrofon an sich, aber er kam nicht mehr dazu, etwas zu sagen. Kräftige Roboterarme packten ihn und zerrten ihn weg. Man schleppte ihn in einen Gleiter, begleitet vom Beifall der Menge. Oben auf dem Podium setzte Ülstrapp seine Rede unbeirrt fort. Hissater begleitete den Transport des Sehers zum Regierungsgebäude persönlich. Erst schleppte man Fastrap vor ein Gremium der für die Seher verantwortlichen Minister. »Wir werden dich anklagen wegen Volksverhetzung«, wurde ihm mitgeteilt. »Du hast natürlich noch die Chance, deine widersinnigen Aussagen zu dementieren. Dann müßtest du dies aber sofort tun.«
Der Erste Seher stand hilflos in einem großen Raum des Regierungsgebäudes, in dem normalerweise Verhandlungen mit den Kolonialwelten geführt wurden. Vor langen Tischen reihten sich weiche Mulden für die Ruhekissen der Pers-Oggaren, die hier ihre Gespräche führten. Jetzt war der Raum ungenutzt. Fastrap blickte sich unauffällig um, ohne zu antworten. An einem der Eingänge erblickte er Auxonia. Kurz darauf tauchte hinter der jungen Frau auch Morjana auf. Dem äußeren Verhalten der Präsidentin war nicht anzusehen, was in ihr vorging. Sie glitt behend auf ihren Wurzeln heran. »Hast du dich entschieden, Erster Seher?« fragte sie. »Es hat wohl keinen Sinn«, begann Fastrap ausweichend. »Es ist gut, wenn du das einsiehst«, bekräftigte Hissater, der den Seher völlig falsch verstand. »Ülstrapp hat bereits zu lange gesprochen«, fuhr Fastrap nach der kurzen Pause fort. »Er hat die Massen bereits so begeistert, daß jeder Versuch, der Wahrheit noch zu ihrem Recht zu verhelfen, scheitern muß.« »Du bleibst also bei deinen frevelhaften Behauptungen?« Fastrap hörte den drohenden Unterton aus Morjanas Stimme. Er drehte sich einmal um sich selbst, um seinen folgenden Worten das richtige Gewicht zu verleihen. »Meine Freunde«, erklärte er matt. »Ich kann nichts mehr für euch tun, ohne daß ihr euch gegen mich stellt. Daher muß ich meinen eigenen Weg gehen, um unser Volk vor der Ausrottung zu bewahren. Ich sehe diesen Weg als einen schwachen Hoffnungsschimmer.« »Du bleibst also bei deinen widersinnigen Prophezeiungen?« wollte Morjana noch einmal wissen. »Natürlich.« Fastrap antwortete in dem Bewußtsein, daß sich nun endgültig alle gegen ihn stellen würden. Mehr fügte er diesem einen Wort nicht hinzu.
»Du stehst unter Arrest, Fastrap.« Morjana hielt eine Mappe mit Bild- und Lesefolien in der Hand. »Ich weiß, daß du lügst. Hier sind die Beweise. Meine Untersuchungskommission hat den normalen Tod von Bornehin bestätigt. Du wolltest mir weismachen, er würde noch leben. Du hattest vorhergesagt, daß er noch länger leben würde. All das stimmt nicht, Fastrap. Du bist der Verräter. Ich entscheide hiermit, daß deine Forschungsvorhaben in der Station in den Bergen der Ewigkeit nicht mehr mit Regierungsmitteln gefördert werden. Alle Arbeiten sind einzustellen.« Fastrap blickte die Frau nur stumm an. Er fühlte eine große Hilflosigkeit in seinen Zellen, aber auch den unbändigen Willen, sich gegen alle zu stellen. »Schafft ihn in die Kerkerzelle.« Morjanas Arme formten das symbolische Gitter, das diese Worte untermalte. Widerstandslos ließ sich der alte Seher von den Robotern abführen. »Was mag in ihn gefahren sein?« fragte Morjana ihre Tochter, als die beiden allein waren. Auxonia gab ihrer Mutter keine Antwort. Ihre dreifingrigen Hände glitten über die Verdickungen an ihren Armen. Sie spürte, daß irgendwann in den nächsten Tagen sich ihre Fruchtknospen öffnen würden. Und sie spürte, daß etwas auf Vasterstat nicht mehr stimmte.
* Der Tag der Seher war zu Ende. Die Massen strömten auseinander: Die öffentlichen Vergnügungsstätten füllten sich mit Pers-Oggaren, die die Worte Ülstrapps ausdiskutieren wollten. Eine gewisse Spannung und Unruhe, die zweifellos durch Fastraps kurzen Auftritt ausgelöst worden war, war unverkennbar. Auch die Beobachter Morjanas, die sich unter das Volk gemischt
hatten, berichteten davon. Die Präsidentin saß mit ihren wichtigsten Beratern auf der Dachterrasse des Regierungsgebäudes und vernahm die ersten Auswertungen der Prophezeiungen Ülstrapps. Endlich erschien der Seher selbst. Gewandt glitt der durch die Reihen aus Sitzmulden und verhielt dann vor Morjana, die er mit salbungsvollen Worten unterwürfig begrüßte. Auxonia, die wenige Armlängen neben ihrer Mutter stand, wich unbewußt ein Stück zurück. »Deine Reden waren gut, Ülstrapp«, lobte die Präsidentin. »Dennoch bin ich nicht ganz zufrieden. Die Schuld liegt nicht bei dir, denn es wäre unsere oder Hissaters Aufgabe gewesen, den Auftritt von Fastrap zu verhindern. Die Erregung, die dadurch entstanden ist, kann sich schädlich auswirken. Hinzu kommt, daß tatsächlich Kontakte zu einigen, allerdings weit entfernten Kolonialwelten abgerissen sind. Das läßt sich nicht auf die Dauer geheimhalten.« »Die Unruhen werden sich bald legen«, versicherte Ülstrapp. »Du könntest natürlich etwas dafür tun.« »Ich verstehe dich nicht«, bekannte Morjana. »Du hast den Ersten Seher in den Kerker werfen lassen, bis ein Urteil gesprochen werden wird. Es wird zu diesem Urteil kommen, denn Fastrap wird seine Aussagen nie widerrufen. Er ist verblendet, und keine Medizin wird ihn auf den rechten Weg zurückführen.« »Weiter«, drängte Morjana. »Worauf willst du hinaus?« »Das Volk der Pers-Oggaren besitzt keinen Ersten Seher mehr, Präsidentin. Auch das sorgt für Unruhe.« Ülstrapps Stielaugen bekamen einen lauernden Blick. »Die Schalteinheit zum zentralen Mnemodukt«, befahl Morjana laut. Fleißige Helfer schleppten das Kommunikationsgerät herbei. Die Frau sprach mehrere Minuten mit der Positronik, ohne daß einer der Anwesenden dieses Gespräch mithören konnte. Dann verlangte sie
eine Direktschaltung auf die Nachrichtenmedien. »Pers-Oggaren!« Morjanas Augen glänzten, als sie zu sprechen begann. Überall auf Vasterstat und den Kolonialwelten würde man sie nun direkt hören und sehen. (An die Planeten, zu denen jetzt keine Verbindung mehr bestand, dachte sie in diesem Augenblick nicht). Ihre Ausnahmerechte als Präsidentin erlaubten diese besondere Ansprache. »Nach diesem glorreichen Tag der Seher ist es mir eine Freude, euch folgende Mitteilung zu machen. Wir haben einen neuen Ersten Seher. Ich verleihe kraft meines Amtes diesen Titel an Ülstrapp.« Dann ließen sich die Frauen und Männer an den Tischreihen nieder und streckten ihre Wurzeln in die Schalen mit den auserlesensten Nährflüssigkeiten. Daß Auxonia sich weder an dem Beifall beteiligt hatte, noch an dem Festmahl teilnahm, bemerkte niemand. Sie hatte die Terrasse verlassen.
* Wysterein schloß die letzten Schritte zur Programmierung des Mnemodukts ab. Die Maschine, die mit den technischen Anlagen der Station im Berg verbunden war, würde nun mit der Arbeit beginnen. Am Ende sollten die ersten Prototypen des Dislozierungsprojektors entstehen. »Gut gemacht«, lobten Ux und Perse den jungen Mann. Pors streifte irgendwo durch die Gänge, um sich um die Absicherungsmaßnahmen zu kümmern. »Ja«, sagte Wysterein. Im gleichen Moment erstarrte er. »Was ist?« Ux erkannte sofort, daß etwas nicht stimmte. »Warte«, flüsterte der Schüler. Er hob beschwichtigend mehrere Arme. »Der Meister ist in mir.« Nach den Erlebnissen bei der Suche nach Fastrap stellte die
neuerliche Berührung mit dem Bewußtsein des Sehers nichts Überraschendes mehr für Wysterein dar. Bereitwillig öffnete er seine inneren Sinne. Fastrap spürte das und lobte ihn. Dann übernahm er den biologischen Teil von Wystereins Körper. Sein Bewußtsein drängte er in eine Isolierung, aus der heraus es genau verfolgen konnte, was nun geschah. »Meine Freunde«, begann Fastrap mit Wystereins Stimme zu sprechen. »Wir müssen schnell handeln. Ülstrapp hat die erste Runde gewonnen. Sein hinterhältiger Plan droht aufzugehen. Er hat Bornehin nun endgültig getötet. Damit hat er Morjana davon überzeugt, daß ich der Lügner sei. Wahrscheinlich hat er diese Gelegenheit sorgfältig vorbereitet. Ich habe mich selbst von Bornehins Tod überzeugt. Morjana hat Ülstrapp zum Ersten Seher ernannt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis dieser den Anspruch auf unsere Station erhebt. Dann ist alles verloren. Wir müssen schnell handeln. Ich habe Vorsorge getroffen, aber ohne eure Hilfe werde ich es nicht schaffen.« »Wir stehen treu zu dir«, antwortete Ux. »Was sollen wir tun?« »Ich muß auf dem schnellsten Weg mit meinem Körper zu euch in den Berg. Ich denke, Pors und Wysterein sollten das schaffen. Außerdem sieht es so aus, als ob wir noch einen Helfer haben. Ich habe …« Wysterein spürte nur, wie Fastrap in einem Sekundenbruchteil zum anderen wieder verschwand. Eine Erklärung für dieses Verhalten konnte er nicht geben. Auch Ux und Perse standen vor einem Rätsel. »Es muß etwas Ungewöhnliches geschehen sein«, vermutete Wysterein. »Ich werde feststellen, was es ist. Pors und ich fliegen sofort nach Aust-Tardan. Ihr haltet die Stellung. Verriegelt alle Eingänge außer Tor B, für das wir unseren geheimen Code haben.«
* Auxonia bewegte sich langsam durch die nächtlichen Gänge des Regierungsgebäudes. Hier herrschte auch jetzt volle Regsamkeit. Zahlreiche Bedienstete der Regierung begegneten ihr und grüßten sie freundlich. Als Tochter der Präsidentin genoß sie entsprechendes Ansehen. Die junge Frau war von Zweifeln geplagt. Am schlimmsten für sie war, daß sie ihre Bedenken nicht logisch begründen konnte. Sie handelte ohne klare Überlegung, als ihr Weg sie in das zweite Untergeschoß führte, wo die Zellen für Gefangene untergebracht waren. So weit sie sich zurückerinnerte, war es das erste Mal, daß hier jemand eingesperrt worden war. Und dieser Jemand war ausgerechnet Fastrap, der Hunderte von Jahren lang ein uneingeschränktes Ansehen bei den Pers-Oggaren genossen hatte. Außerdem war der Seher, dem ihre Mutter nun den Titel des Ersten Sehers aberkannt hatte, ihr langjähriger Bekannter und der Freund und Lehrer ihres Freundes Wysterein. Etwas stimmte an dem vergangenen Tag der Seher nicht. Sie hatte es geahnt, noch bevor Ülstrapp mit seiner Rede begonnen hatte. Sie blieb vor einem Planungsbüro stehen und lauschte den Aktivitäten, die sich hier abspielten. Schon nach wenigen Worten erkannte sie, von welchem Sachverhalt man sprach. Fastraps Station sollte lahmgelegt werden. Ein Teil der Regierungsleute schlug jedoch vor, sie an Ülstrapp zu übergeben, denn es gehörte zur Tradition der Pers-Oggaren, daß der jeweilige Erste Seher eine weitgehend unabhängige Forschungsstätte unterhielt, die von der Regierung finanziert wurde. Auxonia zweifelte nicht daran, daß Ülstrapp seine Finger bereits nach Fastraps Station im Berg ausgestreckt hatte. Die Regierung würde diesen Plan unterstützen. So war es nur noch eine Frage der Zeit, bis niemand mehr über Fastrap sprechen würde. Er würde in der Versenkung verschwinden. Und mit ihm Wysterein, Perse, Pors
und Ux. Um das vorherzusehen, bedurfte es keiner besonderen Fähigkeiten, wie sie die Seher besaßen. Die Wachroboter am Eingang zu dem Untergeschoß ließen sie anstandslos passieren. Auxonia verhielt sich unauffällig, denn sie wählte einen Weg, der zu den Nährmittellagern führte. Erst als sie außerhalb der Reichweite der Sensoren der Roboter war, änderte sie ihre Richtung. Die Zweifel plagten sie noch immer, aber eine unbewußte Kraft führte sie immer näher an die Zelle, in die man Fastrap gesperrt hatte. Zu ihrer Überraschung stand ein weiterer Roboter vor dem Eingang. Sie blieb ruhig und bat die Maschine, die Tür zu öffnen. »Warum sollte ich das tun?« fragte der Roboter. »Ich möchte mit Fastrap sprechen.« Sie deutete auf den vergitterten Eingang. »Dagegen gibt es ja wohl nichts einzuwenden.« »Widersprüchliche Anweisung.« Ein Warnlicht blinkte am Oberrand der stählernen Maschine. »Ich muß Auskünfte einholen und das Sicherheitsministerium alarmieren.« »Ich halte das nicht für erforderlich, aber ich werde es dir nicht verbieten.« Sie wollte den Roboter in Sicherheit wiegen. »Öffne aber zuerst die Tür. Ich muß in wenigen Minuten wieder bei meiner Mutter sein.« Tatsächlich führte der Wachroboter die Anweisung aus. Auxonia konnte nicht feststellen, ob er nun Alarm schlug oder nicht. Fastraps Zelle war ein kleiner, quadratischer Raum, in dem nur ein einziges Licht brannte. Der alte Seher lag reglos auf einer primitiven Liege. Auxonia trat auf ihn zu und sah, daß seine Augen geschlossen und eingerollt waren. Sie berührte ihn und zuckte zurück. Der Körper war starr und ohne Leben. Ihr erster Gedanke war, daß Fastraps unbekannte Gegner diesen schon umgebracht hatten. Sie mußte an Bornehin denken und
folgerte daher, daß ihrem alten Bekannten ein ähnliches Schicksal widerfahren sein könnte. Bornehin war tot. Das hatte ihre Mutter eindeutig feststellen lassen. Über seine wirkliche Todesursache gab es jedoch noch keine eindeutigen Aussagen. Sie blickte sich um. Der Wachroboter war so weit entfernt, daß er den Alten nicht direkt beobachten konnte. Also ging sie zu ihm zurück und fragte durch die wieder verschlossene Gittertür: »Hat vor mir noch jemand Fastrap besucht?« Der Roboter verneinte. Da für Auxonia feststand, daß er nur die Wahrheit sagen konnte, stellte sie keine weiteren Fragen. Sie begab sich zurück zu dem Seher. Der starre Körper fühlte sich merkwürdig an. Vielleicht hatte Fastrap diesen nur mit seinem Bewußtsein verlassen, um die Zukunft zu erforschen. Auxonia wußte nichts über die Methoden, mit denen die Seher ihre Forschungen betrieben. Jeder Seher hütete dieses Geheimnis und gab es nur an wenige seiner Schüler weiter. In diesem Moment regte sich Fastrap. Er fuhr seine Augen aus und öffnete sie. Dann war er mit einem Ruck auf den Wurzeln. »Auxonia«, sagte er leise, so als ob ihn niemand hören dürfte. »Was führt dich zu mir?« »Ich dachte schon, du bist auch tot.« Erleichterung schwang in ihrer Stimme mit. »Ich bin mir über einiges nicht im klaren und wollte mit dir reden.« »Für Reden ist es zu spät, mein Kind«, antwortete Fastrap traurig. »Jetzt hilft nur noch eins. Ich muß handeln. Handeln gegen den Willen deiner Mutter und der ganzen Pers-Oggaren. Die Zeit drängt.« »Man wird dir deine Station in den Bergen wegnehmen«, stieß Auxonia hervor. »Damit habe ich gerechnet. Es wird den Bösen nichts nützen.« »Du meinst Ülstrapp?« »Nicht nur ihn. Hinter ihm steht eine andere Macht. Ülstrapp ist
nur ein Werkzeug. Die andere Macht hat erkannt, daß die PersOggaren in Geist, Technik und Moral zu stark sind, als daß sie sich diese unterjochen könnte. Deshalb hat sie unsere Vernichtung beschlossen.« »Wie kann jemand so grausam sein?« stöhnte Auxonia auf. Fastrap bemerkte, daß die junge Frau seinen Worten Glauben schenkte. »Es muß etwas unsagbar Fremdes sein«, antwortete er. »Ich kann es nicht ertasten, aber es gibt Helfer, Knechte und Abhängige von dieser Macht in der Gegenwart und in der Zukunft. Über diese führt der Weg zu unserem eigentlichen Feind.« »Sonst weißt du nichts über diese fiktive Macht?« Fastrap wedelte verneinend mit den drei untersten Armen. »Seine Knechte nennen sie mit verschiedenen Namen, aber auch das will nichts besagen, denn es sind meistens nur symbolhafte Begriffe.« »Bitte nenne mir diese Namen, Fastrap.« »Allmacht, Waldgeist, Herr, Schöpfer, Herrlichkeit, Architekt, Geistiger Faktor, Hidden-X.«
6. Auch Wysterein war von einem unstillbaren Drang erfüllt. Der neuerliche Kontakt mit Fastrap hatte ihn beflügelt. Gemeinsam mit Pors brachte er acht der neun Gleiter des Sehers auf den Flug nach Aust-Tardan. Die Roboter waren in aller Eile entsprechend programmiert worden. Für weitere Anweisungen standen ausgezeichnete Funkverbindungen zur Verfügung. Noch vor Erreichen der Hauptstadt meldete sich jedoch eine andere Stimme in dem Funkgerät. Es war Auxonia. »Tut mir leid«, wehrte Wysterein schroff ab. »Ich habe jetzt keine Zeit für dich.« »Ich weiß.« Da keine Bildübertragung bestand, konnte der junge
Mann nicht sehen, wie Auxonia amüsiert mit den Armen wedelte. »Du weißt aber nicht, daß ich bei Fastrap war. Ich stehe auf eurer Seite. Lande hinter dem Regierungsgebäude. Ich werde dich zu Fastrap führen.« Wysterein witterte hinter allem eine Falle. Die jüngsten Ereignisse hatten ihn mißtrauisch gemacht. Fastraps Bewußtsein, das ihn wie ein sanfter Hauch berührte, belehrte ihn jedoch schnell eines Besseren. Also blieb er mit Auxonia im Kontakt. Die Nacht hatte sich längst über das Land gesenkt. In der Stadt brannten überall die Lichter. Es wurde gefeiert, denn der neue Erste Seher Ülstrapp hatte nur Gutes verheißen. Dieser Umstand begünstigte den Plan Wystereins, denn die Aufmerksamkeit der Leute richtete sich auf ganz andere Dinge. Er ließ die mit Robotern besetzten Gleiter in sicherer Distanz von dem hohen Gebäude und flog allein mit Pors auf sein Ziel zu. Tatsächlich erwartete Auxonia sie an einem nur schwach beleuchteten Hintereingang, der normalerweise nur von Dienstboten benutzt wurde. Wysterein drückte der Frau schweigend eine Waffe in die Hand. »Muß das sein?« Auxonia hielt den Strahler abwägend in die Höhe. »Ja.« Wilde Entschlossenheit sprach aus diesem einen Wort. »Bitte führe uns. So gut kenne ich mich hier nicht aus.« Die drei betraten das Haus. Auxonia wählte sogleich einen nicht üblichen Weg, der aus Kontrollkorridoren für die Klimaanlage bestand. »An den Roboter am Eingang zum Untergeschoß mit den Zellen kommen wir jedoch nicht ohne weiteres vorbei«, erkläre sie. »Keine Sorge.« Pors eilte mit großen Sätzen voran. »Ich kenne mich hier auch aus.« Sie ließen das Zwischengeschoß hinter sich und sanken in einem Antigravschacht auf die unterste Sohle. Hier brannte wieder die
volle Beleuchtung, denn dies war ein normaler Weg durch das Gebäude. »An der nächsten Abzweigung könnt ihr die Wachroboter sehen.« Auxonia deutete voraus. »Es sind drei.« »Für jeden einen«, sagte Wysterein, aber Pors hörte nicht auf ihn. Er stürmte weiter und bog um die bezeichnete Ecke. Dort hielt er an. Sofort spien seine Waffen Feuer. »Kommt!« rief er Wysterein und Auxonia zu. »Der Weg ist frei.« Die Frau warnte ihren Freund vor dem Roboter vor Fastraps Zelle. Wysterein vermochte nicht zu sagen, ob Pors dies gehört hatte, denn der Wächter des Sehers rannte ohne Unterbrechung weiter. Wieder zuckte ein Flammenstrahl aus seiner Waffe. Vor den dreien polterte der letzte Wachroboter zu Boden. Die verschlossene Gittertür bot nur geringen Widerstand. Dann war Fastrap frei. Im gleichen Moment gellten die Alarmsirenen durch das Haus. Wysterein hatte damit gerechnet. Er griff nach seinem tragbaren Funkgerät. »Angriff auf das Gebäude!« befahl er den Robotern. »Ziel ist die Dachterrasse. Ihr müßt ablenken.« Der Bestätigungsimpuls ging sofort ein. Wysterein hoffte, durch diese Attacke vom Ort des eigentlichen Geschehens ablenken zu können. Sie eilten durch die Flure ihren Weg zurück. Der alte Fastrap hatte Mühe zu folgen. Die Strapazen der letzten Tage verlangten ihren Tribut. Ohne aufgehalten zu werden, gelangten sie in die ebenerdige Etage. Hoch über ihnen dröhnten schwere Waffen auf. Die Abwehreinrichtungen des Regierungsgebäudes lieferten sich einen Kampf mit den Robotgleitern. Es war nur eine Frage der Zeit, bis alle Roboter vernichtet sein würden. Diese Spanne galt es jedoch auszunutzen, um möglichst unbemerkt zu entkommen. Die ersten Wachen tauchten auf. Pors und Wysterein, die
vorauseilten, streckten sie mit ihren Paralysatoren nieder. Auxonia deckte den Rücken. Der Platz hinter dem Regierungsgebäude lag jetzt im hellen Licht. Oben zuckten Flammenstrahlen durch die Luft. Unweit von ihnen stürzte ein getroffener Gleiter in die Tiefe und zerschellte in einer donnernden Explosion. »Vorsicht! Wachen!« brüllte Wysterein Pors zu, doch der ließ sich nicht aufhalten. Ein Dutzend bewaffnete Pers-Oggaren, Sicherungsorgane von Morjanas Herrschaftssitz, standen zu allen Seiten des Gleiters. Pors feuerte mitten in sie hinein. Doch diese Übermacht war zu groß für den Kämpfer. Auch Pors wurde getroffen. Drei seiner Arme flogen in Fetzen durch die Luft. Wysterein zog Fastrap und Auxonia in eine Deckung. Von hier aus unterstützte er mit überlegten Paralyseschüssen den Kampf von Pors. Als jenseits des kleinen Platzes eine Roboterkolonne auftauchte, war der Kampf entschieden. Aber Pors lag am Boden und rührte sich nicht mehr. »Wartet hier in der Deckung!« Wysterein spurtete los. Sekunden später saß er in dem Gleiter und warf das schwere Geschütz herum. Gleichzeitig startete er mit zwei anderen Armen das Gefährt und zog es in die Höhe. Ein weiterer Arm aktivierte den schwachen Schutzschirm. Dann jagte sein Flammenstrahl auf die herbeistürmenden Roboter zu. Der Schuß lag etwas zu kurz, aber die Gasfontäne, die er auslöste, versperrte den Kampfmaschinen für kurze Zeit die Sicht. Diesen Zeitraum nutzte Wysterein, um den Gleiter zu dem Versteck von Fastrap und Auxonia zu lenken. Noch während er abbremste, feuerte er erneut. Die Frau war mit einem Satz in dem Fahrzeug. Dann half sie dem alten Seher, der weit weniger gewandt war. »Zur Station«, rief Fastrap.
»Natürlich«, bestätigte Wysterein. Er blieb mit dem Gleiter dicht über dem Boden und hart an den Mauern des Gebäudes. So bot er den Robotern ein schlechtes Ziel. Außerdem hätte deren Feuer das Gebäude und die darin befindlichen Pers-Oggaren treffen können. Am Ende des 800 Meter langen Bauwerks bog er in eine Seitenstraße, in der es vor Pers-Oggaren nur so wimmelte. Auch diese stellten einen weiteren Schutz vor den Verfolgern dar. In der Straßenschlucht beschleunigte er auf höchste Werte und zog das Fahrzeug langsam in die Höhe. Eins seiner Augen blickte dabei in Flugrichtung, das andere nach hinten. Als dort die an ihren grellen Gelb erkenntlichen Polizeigleiter auftauchten, feuerte Wysterein sofort. Er war sich sicher, daß er mit dem konzentrierten Paralysebeschuß keine unschuldigen Opfer treffen würde. Endlich verließen sie das Stadtgebiet. Die Landschaft war offen. Sie boten hier zwar ein besseres Ziel, aber sie hatten einen nicht unbeträchtlichen Vorsprung. Er holte alles aus dem Gleiter heraus. Auf den Ortungsschirmen tauchten die Signale der Verfolger auf, aber sie waren außerhalb der Reichweite ihrer Waffen. »Wo soll das alles enden?« klagte Auxonia. »Auf was habe ich mich eingelassen?« »Du wirst es sehen, Auxonia.« Fastrap blieb ruhig. »Vielleicht bedeutest gerade du die Rettung unseres Volkes.« Aus den Gesten der Frau war zu ersehen, daß sie den Seher nicht verstand. Aus einem Funkempfänger kam ein schrilles Pfeifsignal. »Unser letzter Robotgleiter wurde soeben vernichtet«, kommentierte Wysterein diesen Ton. »Wir brauchen sie nicht mehr«, war Fastraps kurzer Kommentar. Vor ihnen tauchten die Berge der Ewigkeit auf. Wysterein hielt das Gefährt direkt auf den Steilhang zu, in dem sich Tor B, von außen
kaum erkennbar, verbarg. Der Codegeber öffnete den Eingang in das unterirdische Reich. Noch bevor der Gleiter im Berg verschwand, erklang die Stimme Morjanas aus einem anderen Empfänger. Die Präsidentin von Vasterstat richtete einen direkten Anruf an Fastrap und seine Helfer und forderte diese zur Aufgabe ihrer Flucht auf. Der Seher unterbrach den Redeschwall der Pers-Oggarin. »Ich weiß, daß du und alle anderen Pers-Oggaren unbelehrbar sind«, erklärte Fastrap. »Deshalb will ich mir weitere Warnungen ersparen. Du sollst aber wissen, was ich tun werde. Meine Leute und ich werden noch in dieser Nacht Vasterstat verlassen. Unser Ziel ist es, das Volk der Pers-Oggaren zu erhalten. Eine Verfolgung wäre sinnlos.« Dann unterbrach Fastrap die Verbindung. Er warf Auxonia einen scheuen Blick zu, aber die junge Frau war ganz in sich gekehrt. Wysterein stellte den Gleiter in einem Hangar ab. Draußen eilten schon Ux und Perse herbei. Als sie sahen, daß Pors nicht mitgekommen war, stellten sie keine Fragen. »Kommt mit in die Zentrale«, ordnete Fastrap an. »Alle.« Schweigend schlossen sich Wysterein und die drei Frauen dem alten Seher an. In der Zentrale öffnete Fastrap die Abdeckung eines Kontrollpults. Ein großes Schaltfeld wurde sichtbar. Wysterein hatte von dessen Existenz bisher nichts gewußt. Aus den Blicken von Ux und Perse konnte er entnehmen, daß diese ebenfalls erstaunt waren. »Vertraut mir, meine Freunde«, erklärte Fastrap bittend. »Die Zeit drängt, und für lange Erklärungen habe ich keine Zeit. Ülstrapp wird Morjana mit Sicherheit aufstacheln. In Kürze wird man über meine Station herfallen und alles ausradieren. Sie sind wie von Sinnen, denn die Saat des Bösen ist bereits aufgegangen.« »Du kannst dich auf mich verlassen«, sagte Wysterein einfach. »Das muß ich auch.« Trotz der angespannten Situation schwang eine leise Ironie in der Stimme des Sehers mit. »Auf dir ruhen alle
meine Hoffnungen, Wysterein. Und auf Auxonia. Ich muß eine letzte Gewißheit haben. Deshalb bekommst du, mein Schüler, den Auftrag, sofort nach Bald-Graup zu fliegen. Diese bedeutende Kolonialwelt ist seit drei Tagen ohne Kontakt mit Vasterstat. Ich will wissen, was dort geschehen ist. Du wirst allein fliegen, denn Ux, Perse und Auxonia brauche ich hier.« Wysterein hob bestätigend zwei Arme. »Wenn du wiederkommst«, fuhr Fastrap fort, »wirst du hier verschiedene Veränderungen feststellen. Du wirst entsetzt sein, aber das darf dich nicht abhalten, unseren Plan fortzusetzen.« Wieder hob der junge Mann die beiden Arme. Sein Körper neigte sich dabei leicht nach vorn. »Du mußt deinem Abflug den Anschein geben, als seinen wir alle an Bord. Sprich mit den Bodenstellen, schalte aber den Bildfunk ein. Du findest an Bord der CORVES die notwendigen Bänder.« »Der CORVES?« staunte Wysterein. »Ja, meine Freunde. Ich muß euch noch ein paar Geheimnisse mitteilen. Ihr kennt unsere Station im Berg. Jeder auf Vasterstat weiß davon. Ich habe jedoch aufgrund meiner Ahnungen seit langem Vorsorgen getroffen. Unsere Station wird in Kürze fallen. Dann müssen wir ein Ausweichquartier beziehen, von dem außer mir niemand bisher etwas wußte. Tief unterhalb der Berge der Ewigkeit, fast 1000 Meter unter Meereshöhe, habe ich dieses Quartier angelegt. Es ist vergleichsweise bescheiden zu unserer Station, aber es sollte genügen, um meine Pläne zu verwirklichen.« »Bedeutet das«, fragte Auxonia, »daß du schon länger von dem Untergang gewußt hast?« Fastrap verneinte. »Es war nur eine Vorsichtsmaßnahme, von der ich immer hoffte, daß ich sie nie in die Tat umsetzen müßte. Nun haben wir aber genug geredet. Wysterein muß starten. Die CORVES steht bereit. Sie gehört auch zu meinen geheimen Plänen. Folgt mir.« Sie schlossen sich dem Seher an, der zusammen mit einem Dutzend Roboter zu einem Antigravschacht eilte.
»Wartet«, rief Auxonia plötzlich schmerzerfüllt. »Ich kann euch nicht begleiten.« Wysterein starrte sie erstaunt an. »Ich muß gehen«, erklärte die Frau. »Meine Knospen brechen durch. Ich muß eine Bestäubungshalle aufsuchen.« »Das brauchst du nicht.« Der alte Seher faßte sanft nach der jungen Frau. »Ich habe auch an diesen Fall gedacht, und es ist ein gütiges Schicksal, daß du jetzt die Zeit der Reife erreicht hast. Auch Wysterein wird bald soweit sein. Vielleicht schon nach der Rückkehr von Bald-Graup. Dann können wir den Grundstein für ein neues Volk der Pers-Oggaren legen, das in einer fernen Zukunft, weit nach dem Loch in der Zeit, wieder entstehen soll.« »Ich verstehe dich nicht«, klagte der junge Mann. Auch Auxonia machte eine Geste, die zeigte, daß sie unsicher und verwirrt war. »Ihr werdet es verstehen. Nun kommt aber endlich.«
* Das unbemerkte Verlassen von Vasterstat war normalerweise für ein Raumschiff unproblematisch, denn eine vollständige Registrierung aller ankommenden und abfliegenden Schiffe hatte nie stattgefunden. Die Pers-Oggaren hatten für solche Maßnahmen nie eine Notwendigkeit gesehen. Jetzt, als Wysterein mit der CORVES in der Atmosphäre in die Höhe stieg, lag der Fall natürlich anders. Er mußte damit rechnen, daß Morjana die ganze verfügbare Raumflotte aufgeboten hatte, um den plötzlich so verhaßten ehemaligen Ersten Seher und seine Helfer zu fassen. Die CORVES glich äußerlich vollkommen einem der üblichen Verbindungsschiffe, die zu Tausenden zwischen den Handelsposten
im Einsatz waren. In der 20 Meter durchmessenden Kugelzelle verbarg sich jedoch eine gänzlich andere Ausstattung. Immerhin bewirkte die äußerliche Tarnung, daß Wysterein erst entdeckt wurde, als sein Schiff schon eine Höhe von über 100 Kilometern erreicht hatte. Die Anrufe der Bodenkontrollen und der im Orbit wartenden Schiffe beachtete Wysterein zunächst nicht. Erst als ein Schiff in Schußweite kam, drückte er die Taste für die vorbereiteten Bildfunkgespräche. Der junge Pers-Oggare vertraute auf das, was ihm der Meister gesagt hatte. Das in die Kugelzelle integrierte Fernflugmodul würde mit Erreichen einer Mindestgeschwindigkeit eine problemlose Flucht ermöglichen. Auf Vasterstat wußte man nichts von dieser Einrichtung. Fastrap sprach von den vorbereiteten Aufzeichnungen, und Wysterein verfolgte diese kurze Rede auf einem Monitor. Der alte Seher versicherte, daß er sein Heil auf einer anderen Welt suchen wolle. Man möge ihn ziehen lassen, und er würde sich auch nicht mehr in die Belange Morjanas einmischen. Zwischendurch meldete sich Wysterein selbst zu Wort und unterstrich diese Aussagen. Auch von Pors, Ux und Perse waren Bänder vorhanden. Das Mnemodukt sorgte jedoch dafür, daß Pors ausgeblendet wurde, denn dessen Auftritt hätte das Täuschungsmanöver schnell verraten. Plötzlich schaltete sich Morjana in die Verbindung. Das Mnemodukt reagierte nicht weniger schnell. Es schaltete das Bild auf Wysterein, denn jetzt mußte dieser allein sprechen. »Was habt ihr mit Auxonia gemacht?« wollte die Regierungspräsidentin wissen. Ihre Stielaugen funkelten zornig. Wystereins Gedanken jagten sich. Seine Antwort mußte so ausfallen, daß Fastrap einen möglichst großen zeitlichen Vorsprung erhielt. Er mußte aber auch an seine Sicherheit denken. Am einfachsten wäre es gewesen, zu behaupten, Auxonia sei auch an
Bord. Er entschied sich anders. »Sie befindet sich in der Station in den Bergen«, antwortete er. »Sie ist unsere Geisel. In drei Tagen wird sie von einer Automatik freigelassen. Wenn jemand vorher den Berg betritt, kommt sie ums Leben.« Wysterein war sich darüber im Klaren, daß jetzt der Feuerbefehl auf die CORVES gegeben werden würde. Er zögerte nicht mehr und aktivierte das Fernflugmodul, das ihn mit einem Sprung aus dem Auxon-System brachte. Die Entfernung von Vasterstat nach Bald-Graup betrug 482 Lichtjahre. Er legte diese Strecke in mehreren kurzen Etappen zurück, die das Mnemodukt bestimmte. Eine ständige geheime Datenverbindung zu Fastraps Station auf Vasterstat gab dem jungen Pers-Oggaren das sichere Gefühl, daß dort noch alles in Ordnung war. Zwar lief nur eine Routinemeldung ein, aber das war besser als gar nichts. Wystereins Gedanken eilten zurück in das Ausweichquartier, von dem aus er gestartet war. Er hatte dort ein Schiff gesehen, das seine Begeisterung geweckt hatte. Der 220 Meter durchmessende Doppeldiskus von gut 130 Metern Höhe stellte nach Fastraps Aussage das Modernste dar, was die Pers-Oggaren je hervorgebracht hatten. Der Seher hatte angedeutet, daß Wysterein eines nicht allzu fernen Tages dieses Schiff, das er HORT nannte, fliegen würde. Noch fehlte allerdings ein geeignetes Mnemodukt. Am zweiten Tag seines Fluges ortete Wysterein riesige Flottenverbände aus gewaltigen Kastenraumern in einem Sektor, in dem nie etwas Ähnliches beobachtet worden war. Er wollte Fastrap davon in Kenntnis setzen. Für extreme Fälle hatte ihm dieser die Erlaubnis gegeben, seine Sender in Betrieb zu nehmen. Wysterein fuhr die Leistungsstufen hoch und stellte die gesammelten Daten bereit. Doch just in diesen Minuten brach der ständige Datenstrom von
Vasterstat ab. Das Mnemodukt wertete die letzten Informationen aus. »Die Station in den Bergen der Ewigkeit ist gefallen«, teilte die seelenlose Stimme mit. Der Schock war groß für Wysterein, obwohl er seit seinem Start mit einem solchen Geschehen hatte rechnen müssen. »Keine weiteren Informationen von Fastrap?« fragte er. »Nichts«, lautete die Antwort des Mnemodukts. »Ich programmiere nun die nächste Phase. Wir weichen den fremden Kastenschiffen in einem großen Bogen aus.« Noch während Wysterein grübelte, was auf seiner Heimatwelt geschehen sein mochte, aktivierte das Mnemodukt erneut das Fernflugmodul. Auch diese wiederaufladbare Transporteinheit war eine technische Neuerung, die Fastrap entwickelt hatte. Der junge Mann schaltete alle Funkempfänger ein, aber auch jetzt, wo er schon nah an seinem Ziel war, hörte er kein Signal von BaldGraup. Die Ortungsanzeigen blieben still, von ein paar fernen Echos abgesehen, die keine Bedrohung darstellen konnten. Endlich wagte Wysterein den entscheidenden Sprung in die Nähe des Bald-Systems, dessen siebter Planet die Kolonialwelt BaldGraup war. Die CORVES tauchte in unmittelbarer Nähe der Sonne auf und begab sich sofort in deren Ortungsschutz. Noch während dieser kurzen Flugetappe heulten die Alarmanlagen auf. Hunderte von Fremdimpulsen erschienen auf der Ortung. Jedes dieser riesigen Schiffe konnte Wysterein orten. Er griff selbst in die Steuerung ein und brachte sein Schiff mit einem riskanten Manöver in die Korona des Sterns Bald. Ob man auf ihn aufmerksam geworden war, konnte er gar nicht mehr feststellen. Aus der sicheren Deckung heraus beobachtete er nun längere Zeit das ganze System. Er schickte Minisonden aus, von denen jedoch nur wenige zurückkehrten. Nach zwei Tagen besaß er dennoch ein
vollständiges Bild der hiesigen Lage. Er stellte alle Erkenntnisse zusammen und speicherte sie einmal in dem Mnemodukt, zum anderen in zwei Spezialspulen, von denen er eine in eine Rettungsboje steckte und die andere in einer Falte seiner Borke verbarg. Dann gab er nach sorgfältigen Vorbereitungen den Flug zurück frei. Kaum hatte er die Korona verlassen, da stürzte sich eine Unzahl der fremden Schiffe auf ihn. Wysterein schaltete rücksichtslos das Fernflugmodul hoch, bevor die Ausgangswerte für den Überlichtflug erreicht waren. Die fremden Schiffe jagten ihre Energien durch den Raum, und die CORVES wurde unter deren Anprall heftig geschüttelt. Mehrere Systeme fielen aus, aber das Fernflugmodul wurde nicht getroffen. Die Umgebung verschwand auf den Bildschirmen. Der rettende Hyperraum nahm das kleine Schiff auf. Der Rückflug warf Wysterein von einer Katastrophe in die andere. Die CORVES hatte mehrere Schäden erlitten, die unbedingt behoben werden mußten. Mit Hilfe der Roboter und des Mnemodukts arbeitete der Mann ohne Unterbrechung. Dennoch blieb es zweifelhaft, ob er eine Landung auf Vasterstat ohne Schwierigkeiten überhaupt noch durchführen konnte. »Das Problem liegt weniger bei dem Schiff«, belehrte ihn die Positronik. »Es ist nach Beurteilung aller Punkte fraglich, ob man dich dort überhaupt landen läßt.« Wysterein war sich darüber im Klaren, daß das Mnemodukt der Wahrheit sehr nahe kam. Doch was sollte er tun? Fastrap hatte ihm einen Auftrag gegeben. Und den würde er zu Ende führen, egal wie dieses Ende aussah. Mehrfach mußte er den Flug gänzlich unterbrechen, weil die Aggregate streikten. Als er schließlich noch zwei Lichtjahre von Auxon entfernt war, hielt er im Schutz einer kleinen, ihm bekannten, planetenlosen Sonne an. Von seinen Ortungssystemen arbeitete nur noch eins zuverlässig.
Er sondierte vorsichtig die Lage und stellte fest, daß er sich geirrt haben mußte. In der Richtung von Auxon, Vasterstat und den anderen drei Planeten ergab kein Echo das bekannte Bild des Heimatsystems. Wysterein stand vor einem Rätsel, das das Mnemodukt wenig später löste. »Es ist schlimmer, als ich vorausberechnet habe«, verkündete die positronische Recheneinheit. »Was willst du damit sagen? Wir haben uns verflogen, nicht wahr?« »Nein, Wysterein«, belehrte ihn kühl die Maschine. »Ich habe eindeutig festgestellt, daß der Stern die Sonne Auxon ist. Der eine Planet, der aus seiner Umlaufbahn geschleudert wurde, ist Vasterstat. Purseldat, Mersondon und Falldot jedoch existieren nur noch als gewaltige Wolken aus Staub und Trümmern.« »Und das Leben?« hauchte Wysterein entsetzt. »Ich kann kein Leben feststellen.«
7. Das Bild des Auxon-Systems paßte zu den Erfahrungen, die Wysterein bei seinem heimlichen Ausflug nach Bald-Graup gewonnen hatte. Einer der wichtigsten Stützpunkte des pers-oggarischen Herrschaftsbereichs war ebenfalls ausradiert worden. Auf BaldGraup lebten zwar noch einige Angehörige seines Volkes, aber die Unbekannten hatten alle Schlüsselstellungen besetzt und kontrollierten das ganze System. Auch hier waren die Industrieplaneten vollkommen zerstört worden. Wysterein hatte mit Schaudern die gewaltigen Gaswolken registriert, die wie Todesfahnen durch den Raum wehten. Und jetzt auch Vasterstat, Purseldat, Mersondon und Falldot.
Wysterein grübelte mehrere Stunden vor sich hin. Er mußte davon ausgehen, daß er auf Vasterstat kein Leben mehr finden würde. Ähnlich mußte es auf den meisten anderen Welten der PersOggaren aussehen. Er beriet sich mit dem Mnemodukt und kam endlich zu einem Entschluß. Seine Existenz war sinnlos geworden. Er beschloß, diese Existenz zu beenden.
* Noch während der Startphase der CORVES entfaltete Fastrap eine hektische Aktivität. Er vermochte nicht zu sagen, wie lange sich Morjana und Ülstrapp täuschen ließen. Alle Hinweise in der Station, die auf das Vorhandensein des tief im Planeteninnern liegenden Ausweichsquartiers schließen ließen, wurden sorgfältig vernichtet. Gleichzeitig verfolgte Perse den Funkverkehr, der sich zwischen Wysterein und den Überwachungsorganen abspielte. Die AllroundTechnikerin trug einen tragbaren Monitor mit sich, auf dem sie auch die Bilder sah, die das Mnemodukt der CORVES nach Vasterstat sendete. »Der Junge macht das recht geschickt«, lobte sie Wysterein. »Und das Mnemodukt auch. Es hat sogar bedacht, daß Fastrap nicht in einer Großaufnahme gezeigt wird. Sonst würde ja unweigerlich auffallen, daß er auf den vorbereiteten Bändern drei Arme zuviel besitzt.« Der Seher maß der Übertragung nur geringe Bedeutung bei. Er konzentrierte sich ganz auf die Abriegelung des Ausweichquartiers. Die wenigen Verbindungsstollen, die bislang aus der Sicht der alten Station vollkommen getarnt gewesen waren, wurden durch vorbereitete Automatiken mit Erdreich und Felsbrocken aufgefüllt, so daß eine homogene Bodenstruktur entstand, die sich in nichts
von der Umgebung unterschied. Zwei Belüftungsstollen führten aus dem neuen Quartier nach oben. Sie endeten im Innern von Höhlen hoch in den Bergen der Ewigkeit, die so schwierig von außen zu erreichen waren, daß nie eines Pers-Oggaren Wurzeln sie betreten hatten. Das Quartier selbst war nur 500 mal 500 Meter groß und knapp 200 Meter hoch. Den meisten Platz beanspruchte der Hangar, in dem der HORT stand. Viel kleiner dagegen war die Plattform, auf der die Roboter nun die Dislozierungsprojektoren installierten. Eine große Ausführung dieser Waffe ließ Fastrap nun auch in den HORT einbauen. Als sich der Seher und die drei Frauen einigermaßen in ihrem unterirdischen Notheim eingerichtet hatten, übernahm Perse die Aufgabe, die Nachrichtenverbindungen von Vasterstat zu überwachen. Fastrap hatte sogar ein paar geheime Schaltungen in Betrieb genommen, die einen Teil der Vorgänge aus dem Regierungsgebäude überspielten. »Unsere Notlage rechtfertigt diese Maßnahme«, erklärte er Auxonia, die meist schweigend hinter dem Alten herlief. »Vielleicht erscheint dir diese Art der Überwachung unmoralisch.« »Du wirst wissen, was du tust.« Damit ließ Auxonia offen, was sie von Fastraps technischen Tricks hielt. »Mich interessiert mehr, was mit meinen Knospen geschehen soll. Sie können stündlich aufbrechen.« »Ux wird sich deiner annehmen, Auxonia. Es ist alles vorbereitet. Wenn du nicht mit uns gekommen wärst, hätte ich eine andere PersOggarin entführen müssen, die kurz vor dem Ausstoßen der Keime gewesen wäre.« »Wie bitte?« fragte die junge Frau entsetzt. »Ja, so ist es. Wenn in einer fernen Zukunft unser Volk neu entstehen soll, so braucht man vor allem viele frische Keime und Pollen. Ich habe vor, deine Keime in einen Tiefkühlschlaf zu legen. Die Anlage dafür ist schon lange fertig. Gleiches soll mit Wystereins
P
ollen geschehen. Aus euer beider Nachwuchs sollen die neuen PersOggaren entstehen.« Auxonia brauchte eine Weile, um diese Sache in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen. Was Fastrap vorhatte, verstieß gegen jede Regel des normalen Lebens. »Ich weiß keine bessere Lösung«, versuchte der Seher zu erklären. »Außerdem habe ich bei einer Zukunftswanderung gesehen, daß diese Methode Erfolg haben kann.« »Und wenn Wysterein nicht zurückkommt?« »Dann hole ich mir einen anderen Pers-Oggaren.« »Das ist … das ist …«, stammelte die Frau. Ihr fehlten die Worte. »Ich werde dich zu nichts zwingen. Aber wenn du meinem Plan nicht folgen willst, so sinken die Chancen dafür, daß es je wieder Pers-Oggaren geben wird, auf null.« Ux und Perse kamen zu den beiden. Es lagen neue Informationen aus Aust-Tardan vor. Mittlerweile gab es keinen Kontakt mehr zu über einhundert Kolonialwelten. Ausgeschickte Schiffe waren nicht zurückgekehrt. »Das Unheil nimmt seinen Lauf«, stellte Fastrap nur fest. Dann nahm er Auxonia und führte sie zu Ux. »Bereite die Kältekammer vor«, befahl er der Wissenschaftlerin. Schweigend folgte Auxonia der Frau. Ihre Knospen hatten den hellgelben Schimmer angenommen, der auf das baldige Ausstoßen der Keime hinwies.
* Am nächsten Tag waren alle wichtigen Vorbereitungen abgeschlossen. Fastrap begab sich in seinen Ruheraum. Als er allein war, verließ er seinen Körper und glitt hinaus an die Oberfläche. Was er mit seinen körperlosen Sinnen wahrnahm, erfreute ihn wenig. An mehreren Stellen des Bergrückens waren Maschinen
dabei, sich in das Erdreich zu fressen. Schicht für Schicht wurde der Boden abgetragen, um die alte Station freizulegen. Also hatte Wystereins Drohung nur wenig gefruchtet. Auch entdeckte Fastrap seinen Gegenspieler Ülstrapp, der persönlich zu den Bergen der Ewigkeit gekommen war. Behutsam tastete sich Fastraps Bewußtsein an den Geist des anderen heran. Der Seher spürte eine unsagbare Fremdartigkeit, die ihn erschaudern ließ. Äußerlich glich Ülstrapp vollkommen einem Pers-Oggaren, aber sein Geist war nicht von dieser Welt. Das wurde Fastrap rasch klar. Er wollte sich schon wieder unauffällig entfernen, als eine Stimme in ihm aufbrandete. »Fastrap! Ich spüre dich. Ich weiß, daß du noch auf Vasterstat bist. Die Allmacht hat richtig vermutet. Es gibt Wesen in deinem Volk, die sehr stark sind. Allerdings bist du nicht so stark wie ich, und ich bin nur ein Winzling im Vergleich zu der Allmacht. Komm zu uns! Stelle dich in den Dienst der Stärkeren. Du wirst deinen gerechten Lohn bekommen.« Hastig zog sich Fastrap zurück, ohne eine Antwort zu geben. Das höhnische Lachen des Fremden klang noch in ihm nach. Er fragte sich, ob das geheime Ausweichquartier überhaupt sicher genug war. Dieses Fremde in Ülstrapp war überaus mächtig. Fastrap war einer seelischen Ohnmacht nahe, als er wieder in seinen Körper schlüpfte. Taumelnd verließ er seinen Ruheraum. Er begegnete Ux, die ihm seinen schlechten Zustand sofort ansah. »Was ist, Meister?« fragte sie matt. »Ülstrapp sucht scheinbar nach den verschlossenen Eingängen zu unserer alten Station. In Wirklichkeit sucht er uns, um mich zu vernichten. Ihr müßt mich verlassen. Den letzten Akt muß ich allein durchstehen.« »Auxonias Keime sind konserviert«, antwortete Ux. »Das ist keine Antwort auf mein Begehren«, erklärte Fastrap ärgerlich.
»Du weißt, daß Perse und ich nie gehen würden. Mit Auxonia ist es etwas anderes. Sie hat Sehnsucht nach ihrer Mutter.« »Dann laß sie gehen. Aber sorge dafür, daß sie sich an nichts erinnert.« Ux winkte bestätigend. »Und wenn ihr beide wirklich bleiben wollt, so macht euch mit der Plattform vertraut. Ich habe keine geeigneten Roboter, die die Dislozierungsprojektoren bedienen können.« Die alte Wissenschaftlerin starrte Fastrap an. »Zwei Frauen gegen einen übermächtigen Feind, der in Kürze über das Auxon-System herfallen wird? Was versprichst du dir davon?« Der alte Seher kreuzte zwei Arme, was eine strikte Verneinung bedeutete. »Du schätzt unseren Feind richtig ein, Ux. Gegen ihn zu kämpfen wäre sinnlos. Ich habe auch nicht vor, die Plattform mit den Dislozierungsprojektoren gegen diese Macht einzusetzen.« »Dann verstehe ich dich nicht.« »Ihr sollt die Bewußtseine möglichst vieler Pers-Oggaren retten. Ihre Körper sind ohnehin verloren.«
* Ülstrapp erlebte eine Enttäuschung, als er seinen Widersacher nicht in der Station im Berg fand. Scheinbar interessiert durchforschte er die verlassenen Anlagen. Nur zwei Kilometer entfernt hoffte Fastrap, daß sein neues Versteck nicht gefunden wurde. Gemeinsam mit Perse und Ux stand er vor den Kontrollen der Überwachungssysteme. »Notfalls fliehen wir mit dem HORT«, erklärte der Seher. »Ich habe ein provisorisches Mnemodukt installiert, so daß wir zumindest entkommen können.« »Und die Plattform?« wollte Ux wissen. »Die müßte ich dann aufgeben.«
Genau in diesem Moment sprach ein Funkempfänger an, der früher nur für persönliche Gespräche zwischen Morjana und Fastrap geschaltet gewesen war. Der Seher zuckte zusammen. »Auxonia kann nichts gesagt haben«, beruhigte ihn Ux. »Ich habe ihr jegliche Erinnerung genommen.« Langsam senkte sich ein Arm Fastraps und drückte einen Sensor. Auf dem Bildschirm erschien die Regierungspräsidentin von Vasterstat. Schon an den Bewegungen ihrer Arme erkannte Fastrap die Erregung, die Morjana ergriffen hatte. Seitlich neben ihr stand Auxonia mit ausdruckslosen Augen. »Fastrap«, sagte Morjana erleichtert. »Ein Glück, daß ich dich noch erreiche. Wo bist du?« Obwohl der alte Seher die echte Sorge spürte, die aus den Worten der Frau sprach, entgegnete er hart: »Das werde ich dir nicht sagen.« »Natürlich nicht«, beschwichtigte ihn Morjana. »Ich will dich nicht aushorchen. Etwas Furchtbares ist geschehen. Zwei unserer besten Schiffe sind zurückgekehrt. Sie waren in der Nähe von Ortleb VI. Das ganze System ist verwüstet. Auch Morkan-Darr und Morem II sind zerstört. Und soeben meldet die Ortung, daß sich gewaltige Flottenverbände Vasterstat nähern. Ich bin unsicher. Vielleicht hat Ülstrapp uns doch belogen.« Perse deutete auf die Anzeigen der anderen Bildschirme. Was die Präsidentin sagte, stimmte voll und ganz. Außerhalb der fast gleichen Bahnen von Purseldat, Falldot und Mersondon formierten sich Unmengen von riesigen Raumschiffen. »Deine Einsicht kommt leider zu spät«, bedauerte Fastrap mit echtem Mitgefühl. »Was bedeutet das, Erster Seher?« Fastrap überhörte die frühere Anrede. »Die böse Macht ist da. Sie wird von Pers-Mohandot Besitz ergreifen, und niemand kann sie mehr daran hindern. Ihr Vorbote
Ülstrapp hat euch alle eingelullt. In wenigen Stunden werden die drei äußeren Planeten nur noch Staubwolken sein. Das habe ich in dem Loch in der Zeit gesehen. Und Vasterstat wird eine tote Welt werden. Die böse Allmacht schaltet den beherrschenden Faktor unserer Galaxis aus, und der sind wir.« »Sollen wir kämpfen? Gibt es keine Rettung?« »Ob ihr kämpft, ist in diesem Fall gleichgültig. Die Zeit für die notwendigen Vorbereitungen ist längst verstrichen. Selbst wenn ihr Ülstrapp töten könntet, würde das nichts mehr am weiteren Geschehen ändern. Ein Kampf würde das Ende nur noch schrecklicher machen. Und eine Rettung? In deinem Sinn wird es keine geben. Vielleicht aber in meinem.« »Du sprichst in Rätseln, Erster Seher.« »Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre es mir eine Freude gewesen, dich in meine Pläne einzuweihen. Jetzt ist es zu spät. Es wird dir ein schwacher Trost sein, wenn ich dir sage, daß in einer fernen Zukunft das Volk der Pers-Oggaren neu entstehen kann. Und es wird dir unverständlich erscheinen, wenn ich dir sage, daß ich eure Seelen erhalten möchte, bis dieser ferne Tag kommt. Das ist alles, was ich versuche. Lebe wohl, Morjana. Du warst trotz des bitteren Endes eine gute Führerin. Tröste dich damit, daß die Macht, die uns besiegt, einfach mächtiger ist. Aber auch die Mächtigen werden einmal fallen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, unterbrach Fastrap die Verbindung. Er hörte auch kaum zu, als Perse ihm in Stichworten berichtete, was draußen im Auxon-System geschah. Der Angriffsbefehl Morjanas, der durch den Äther eilte und die Stützpunkte auf den drei äußeren Planeten in Hektik versetzte, die durch den Raum stürmenden Flotteneinheiten, die die schutzlose Welt Vasterstat, den Hort des Friedens in Pers-Mohandot, schützen sollten, die gewaltigen Explosionen, die ein Energiegewitter von unfaßbaren Ausmaßen entfachten, die zu Staub und Trümmern zerfallenden
Welten, die schreienden Pers-Oggaren … … All das kannte der alte Seher. Es traf genau so ein, wie er es in dem Loch in der Zeit gesehen hatte. Das Ende würde nur etwas schneller kommen, denn durch die Gegenwehr, die Morjana entfacht hatte, schlug der Feind noch rücksichtsloser zu. Ux und Perse standen stumm vor den Kontrollen. »Geht jetzt«, bat Fastrap müde. Er deutete auf die Plattform mit den Dislozierungsprojektoren. »Der Kamin ist frei. Ihr könnt in Sekunden über der Oberfläche sein. Nach meinen Ahnungen habt ihr noch eine halbe Stunde Zeit. Wenn ihr unsere Waffe geschickt einsetzt, könnt ihr bestimmt die Mehrheit der Pers-Oggaren vor einem schlimmen Tod bewahren.« »Du meinst …«, begann Perse zögernd. »Trennt ihre Körper von dem Bewußtsein. Die Körper werden vergehen, wenn die Angriffswelle über Vasterstat rollt. Aber die Bewußtseinsinhalte werden leben. Sie werden sich vereinen und einen Platz zwischen den Dimensionen finden, wo sie die Zeit überdauern können. Und eines fernen Tages wird Oggar die Keime und die Samen aus dem Kälteschlaf erwecken und vereinen. Dann werden die Seelen eine neue Heimat finden, und unser Volk wird aus der Asche auferstehen.« »Oggar?« Ux schüttelte verwirrt ihre oberen Arme. »Oggar, der Überlebende«, sagte Fastrap nur. Ohne noch einmal zurückzublicken, stiegen Ux und Perse auf die Plattform. Fastrap starrte ihnen hinterher, als das unförmige Fahrzeug durch den Felskamin in die Höhe glitt. Eine knappe Stunde später war alles vorbei. Fastrap verfolgte den Ablauf der ihm eigentlich schon bekannten Geschehnisse in einem geistigen Dämmerzustand, bei dem er sein Bewußtsein nur in einer losen Verbindung mit dem Körper beließ. Ux und Perse gelang es tatsächlich, das Gros der Pers-Oggaren vor dem totalen Tod zu bewahren. Dann wurde aber ihre Plattform
getroffen und vernichtet. Über 800 Millionen hilflose Bewußtseinsinhalte sammelten sich über Vasterstat und erlebten, wie ihre Heimatwelt ein Opfer der Angreifer wurde. Als auf Vasterstat kein Stein mehr auf dem anderen lag, ballten sich die körperlosen Geister zusammen. Fastrap spürte, wie sie an einen unbekannten Ort verschwanden. Der alte Seher, der als einziges Lebewesen im Innern des Planeten weilte, folgte mit seinen Sinnen den verwehenden Gedanken, die sich eine neue Heimat suchen wollten. Der Feind hatte die größte Macht aus Pers-Mohandot vernichtend geschlagen. An dem Auxon-System selbst zeigte er offensichtlich kein Interesse, denn die Schiffe zogen schon bald wieder ab, als das Zerstörungswerk vollendet war. Fastrap wartete. Er wußte, daß Wysterein den Weg zu ihm zurück finden würde, denn dieser war der wichtigste Trumpf in der Auseinandersetzung mit der unbekannten Macht. Sein Geist streifte über die Oberfläche der Ödwelt. Er spürte irgendwo noch einen schwachen Lebensimpuls, aber er maß ihm keine Bedeutung bei. Dann endlich gewahrte er unweit von Auxon seinen Schüler Wysterein. Er sondierte ihn aus der Entfernung und registrierte zu seinem Entsetzen, daß dieser kurz vor der Selbstvernichtung stand. So schnell es ging, kehrte Fastrap in seinen Körper zurück. Ein kurzer Funkimpuls eilte aus seinem unterirdischen Quartier zu einer Antenne, die unter einem Gipfel der Berge der Ewigkeit verborgen war. Von dort wurde die Botschaft an die CORVES abgestrahlt. Sekunden später erschütterte eine gewaltige Explosion den Planeten, der sich ohnehin schon anschickte, seine Bahn zu verlassen. Die Berge der Ewigkeit wurden in die Höhe gerissen. Fastrap merkte, daß er etwas übersehen hatte, obwohl er gewarnt gewesen war. Der Urheber dieser Explosion konnte nur einer gewesen sein, nämlich Ülstrapp.
8. Noch bevor sich die CORVES Vasterstat bis auf wenige Lichtminuten genähert hatte, suchte Fastraps Bewußtsein erneut Wysterein auf. Der Schüler war entsetzt über das Geschehene, aber auch froh, seinen Meister noch anzutreffen. Auf dessen Geheiß bestieg er das kleine Rettungsboot der CORVES, um mit diesem unbemerkt auf dem untergegangenen Planeten zu landen. Das Raumschiff selbst steuerte, gelenkt von dem Mnemodukt, seinen normalen Kurs. Als es in einer Explosion verging, war das Rettungsboot schon unbemerkt in einem Krater des ehemaligen Bergrückens verschwunden. Fastrap glitt in seinen Körper zurück. »Auf dich warten noch weitere Aufgaben, Wysterein«, erklärte er dem jungen Mann. »Du mußt mein Werk fortsetzen, wenn die Zeit gekommen ist. Zuvor müssen die Weichen jedoch gestellt werden.« Wysterein starrte den alten Seher nur verständnislos an. »Ich habe alle Angaben in dem Mnemofax VII gespeichert.« Fastrap deutete auf einen wartenden Roboter. »Du wirst schon bald deine Samen auswerfen. Der Mnemofax wird sie in einen Kälteschlaf legen und sie gemeinsam mit den Keimen von Auxonia an einem sicheren Ort verwahren. Daraus kann später das neue Volk der Pers-Oggaren entstehen. Der HORT steht für dich bereit. Ein Hochleistungsmnemodukt fehlt noch, aber ich werde es finden. Dann wird der HORT komplett sein. Er wird dir später eine Hilfe sein, wenn du gegen die Macht kämpfen wirst, die Pers-Mohandot in Besitz genommen hat.« »Später? Wann wird das sein?« »Vielleicht in zehntausend Jahren, vielleicht eher, vielleicht später.« »Wie soll ich diese Zeit überdauern, Meister?« Wystereins Stimme
zitterte. »Ich werde dir jetzt zeigen, wie du dein Bewußtsein von deinem Körper trennen kannst. Beide wird der Mnemofax unabhängig voneinander in einen ewigen Schlaf versenken. Wenn die Zeit reif ist, werde ich dich erwecken.« »Und wann ist die Zeit reif?« »Wenn ich Mittel, Wege oder Helfer gefunden habe, die so stark sind, daß die böse Macht besiegt werden kann. Alle weiteren Fragen wird dir der Mnemofax beantworten. Du hast noch einen Tag Zeit, um alles in diese Bahnen zu lenken.« Wysterein faßte nach mehreren Händen Fastraps. »Ich werde tun, was du für richtig befunden hast. Doch was wird aus dir?« »Ich habe noch eine Aufgabe zu erledigen, über deren Ausgang ich nichts weiß. Ülstrapp – oder der Abgesandte der bösen Macht, der in ihm steckt – befindet sich noch auf Vasterstat. Er weiß, daß ich noch lebe. Er wird nicht aufgeben, bis er mich gefunden hat. Dabei könnte er auch dieses Versteck aufspüren. Da das jedoch unter allen Umständen verhindert werden muß, werde ich mich ihm stellen.« »Und wenn er dich besiegt?« »Ich hoffe sehr«, antwortete Fastrap rätselhaft, »daß er mich besiegt.«
* Fastrap ging den direkten Weg bei der Suche nach seinem Widersacher Ülstrapp. Der letzte Gleiter, der ihm in seinem unterirdischen Reich verblieben war, stellte sein Transportmittel dar. Durch einen Erdstollen verließ er das Quartier zunächst parallel zur Planetenoberfläche. Hinter ihm stürzten automatisch die
Erdmassen zusammen und versperrten diesen Weg für immer. Auch alle anderen Notausgänge waren längst hermetisch verriegelt und verschüttet. Fastrap benötigte sie nicht mehr. Er wußte, daß er diesen Ort in seiner jetzigen Daseinsform nie wieder aufsuchen würde. Der Durchbruch an die Oberfläche geschah an einer Stelle, die 150 Kilometer südlich der Berge der Ewigkeit in einem sumpfigen Tal lag. Ein Blick zurück zeigte dem Pers-Oggaren, daß die geliebten schneebedeckten Gipfel nicht mehr existierten. Bei den Verwüstungen, die nur auf Ülstrapps Geheiß angerichtet worden sein konnten, war es ein Wunder, daß das unterirdische Versteck nichts abbekommen hatte. Fastrap flog eine große Schleife über das Land. Er hatte keinen Blick für die zerstörten Städte und Dörfer. Was er suchte, war Ülstrapp. Er ließ sein Bewußtsein ein wenig aus den Fesseln des Körpers, so daß er den Gleiter mit Hilfe der Bordautomatik noch sicherer beherrschte, gleichzeitig aber nach den mentalen Ausstrahlungen Ülstrapps Ausschau halten konnte. Seit dem letzten flüchtigen Kontakt, bei dem sich sein Gegner offen gezeigt hatte, besaß Fastrap ein sicheres Gespür für diesen. Ülstrapp mußte noch auf Vasterstat sein. Wer anders hätte sonst Wystereins Raumschiff abschießen können. Es war klar für den Seher, daß der Sendbote der bösen Macht sein Werk erst dann für erfüllt halten würde, wenn sein ärgster Widersacher, also Falstrap, ausgeschaltet wäre. So sehr sich der Seher aber bemühte, er entdeckte zunächst nichts, was auf Ülstrapp hindeutete. Auch der mentale Äther blieb absolut still. Da Fastrap nichts Genaues über die Fähigkeiten seines Gegners wußte, blieb er vorsichtig. Er umrundete einmal den ganzen Planeten, ohne daß etwas geschah. Als er von der Nachtseite wieder auf die Tagseite wechselte und er sich nur unweit der ehemaligen Stadt Aust-Tardan
befand, geschah es. Obwohl der Seher mit einem plötzlichen Überfall gerechnet hatte, wurde er überrascht. Die Oberfläche des Regierungsplatzes, auf dem der Tag der Seher den Beginn der Katastrophe eingeleitet hatte, war von Trümmern übersät. Gewaltige Kräfte mußten hier am Werk gewesen sein, denn es lag buchstäblich kein Stein mehr auf dem anderen. Die Gravo-Druckschleudern der Angreifer hatten die Materie förmlich zerquetscht und in alle Richtungen geschleudert. Fastrap dachte an die Waffen, die dieser Feind beherrschte, als es geschah. In der Mitte des Platzes tauchte ein schwarzer Stachel auf, der rasend schnell in die Höhe wuchs. An seiner Spitze erschien ein Gebilde, das entfernt an einen großen Parabolspiegel erinnerte. Diese Einrichtung war so groß, daß sie unmöglich erst seit dem Zeitpunkt des Angriffs errichtet worden sein konnte. Fastrap erkannte, daß seine Feinde schon viel früher nach Vasterstat gekommen waren, als er das angenommen hatte. Jetzt galt es schnell zu handeln. Die Automatik hatte schon beim ersten Anzeichen der Veränderung getreu ihrer Programmierung den kleinen Transmitterempfänger von Bord geschleudert. Das Paket raste durch die Luft und fiel wenige Kilometer entfernt zu Boden. Den entscheidenden Zeitpunkt mußte Fastrap jedoch selbst bestimmen. Er benötigte sieben Arme, um alle Funktionen gleichzeitig durchzuführen. Zwei Sendetransmitter wurden aktiviert. Über einen Impuls peilte sich der ausgestoßene Empfänger auf einen der beiden Sender ein. Die Ortungsanlage hatte den Ort der Veränderung, den aus dem Boden schießenden Metalldorn, geortet. Mit einem weiteren Knopfdruck wurde dieses als Empfangsort in den zweiten Sendetransmitter überspielt. Da dieser kein Bereitschaftssignal eines Empfängers erhielt, simulierte Fastrap dieses Zeichen, damit die Abstrahlung nicht
automatisch abgeblockt wurde. Zur Sicherheit fixierte der Seher gleichzeitig den Kurs seines Gleiters, und zum Schluß dieses Vorgangs, der keine Viertelsekunde dauerte, aktivierte er alle Systeme. Im Abstand von einer Mikrosekunde wurde zuerst sein Körper entmaterialisiert. Er tauchte im gleichen Augenblick in dem ausgestoßenen Empfänger auf, der am Rand des mit Trümmern übersäten Platzes gelandet war. Der zweite Transmitter strahlte den Gleiter in das Ziel ab. Das Fehlen eines Empfängers erzeugte rings um den Metalldorn, der genau in diesem Augenblick einen Flammenstrahl auf das Fahrzeug aussendete, eine hyperenergetische Schockwelle. Der einzige Bestandteil, der den Weg zurück in die normale Umgebung fand, war eine kleine Dimensionsbombe, die Bestandteile aus Antimaterie enthielt. Sie löste in der Schockfront eine begrenzte Explosion aus, die die Materie im Umkreis von fast einem Kilometer vollkommen vernichtete. In der Mitte des Platzes gähnte Sekunden später ein gewaltiges Loch, das tief in das Planeteninnere reichte. Fastrap trat aus dem Empfangstransmitter und blickte auf die verwehenden Staubwolken. Die Sensoren, die er am Körper trug, signalisierten eine gefährlich hohe radioaktive Strahlung, aber das kümmerte den Pers-Oggaren nicht. Er stand einfach da und betrachtete das Bild der Verwüstung. Es gab keinen Zweifel daran, daß er Ülstrapps Waffe ausgeschaltet hatte. War sein Gegenspieler damit auch vernichtet? Der logische Verstand sagte dem Seher, daß es so sein mußte, aber diese Folgerung stimmte nicht mit dem überein, was er an Erfahrungen aus dem Loch in der Zeit mitgebracht hatte. Etwas stimmte nicht. Langsam setzte der alte Mann Wurzel vor Wurzel und bewegte sich auf die Stätte der Zerstörung zu. Er mußte riesigen
Trümmerbrocken ausweichen, die von dem vergangenen Gebäude Morjanas herrühren mochten. Fastrap dachte an Wysterein. Wenn alles nach seinem Programm verlaufen war, dann herrschte in dem unterirdischen Quartier jetzt schon völlige Stille. Der Körper und das Bewußtsein Wystereins mußten in ihren Kältekammern liegen, wo sie einer schier endlosen Ruhe entgegensahen. Der letzte Roboter mußte sich abgeschaltet haben. Die Energieversorgung sollte sich auf die Erhaltung der Schlafsysteme konzentrieren. Fastrap wollte sein Bewußtsein von dem Körper trennen, aber das ging nicht. Es mochte an den Strapazen der letzten Tage liegen, daß er die Kraft nicht aufbrachte. Es war aber auch möglich, daß der erschreckende Anblick seiner zerstörten Heimat eine innere Blockade aufgebaut hatte. Langsam schritt er torkelnd weiter, während seine Überlegungen um sein Lebenswerk kreisten. Er wußte, daß er noch nicht am Ende war. Seine Zeit war noch nicht gekommen. Grenzenlose Einsamkeit faßte nach ihm und verdrängte alle Überlegungen. Erschöpft sank er mit dem Ruhekissen auf einer Holzplanke nieder, die auf einer Seite mit grünem Samt beschlagen war. Ein Trümmerstück des Podiums der Seher. Wie oft in seinem langen Leben hatte er dort gestanden? Er wußte es nicht mehr, und sein Erinnerungsvermögen bemühte sich gar nicht, diese nun sinnlos gewordene Frage zu beantworten. Etwas stimmte nicht, sagte er sich wieder. Seine beiden Stielaugen glitten über das Trümmerfeld. War da nicht eine Bewegung? Fastrap wischte sich über die Augen. Er mußte sich getäuscht haben. Wieder probierte er, mit seinem Bewußtsein dem Körper zu
entfliehen, aber einer der beiden Teile verweigerte den Befehl. Oder wehrte er sich mit seinem ganzen Ich selbst gegen die Anordnung des Verstands? »Ich wußte, daß ich dich wiedertreffen würde.« Die Stimme schien aus einer endlosen Weite zu kommen. Sie besaß einen fremdartigen Akzent, und doch kam sie Fastrap sofort bekannt vor. Auch wußte er, daß der Sprecher ganz nahe war. Der Seher bewegte sich nicht. Nur eins seiner beiden Augen drehte sich in die Richtung des Sprechers. »Der Kampf ist zu Ende«, sagte Ülstrapp voller beißender Ironie. Langsam kam er auf den bewegungslosen Fastrap zu. Er hielt mehrere Waffen in seinen Händen, aber er senkte sie, als er sah, daß sein Gegenüber unbewaffnet war. »Der Kampf wird zu Ende sein«, antwortete Fastrap dumpf, »wenn das Gute gesiegt hat.« »Das Gute?« Ülstrapp lachte. »Der Kampf ist immer dann zu Ende, wenn das Starke gesiegt hat.« »Das Starke ist nicht immer das Gute.« »Du bist ein Narr, Pers-Oggare. Du hattest die Chance, dich auf unsere Seite zu schlagen. Du hast sie vertan.« »Ich habe die Chance, dem Guten zum Sieg zu verhelfen, Fremder, Abgesandter des Bösen. Diese Chance habe ich noch immer.« »Du hast nicht die winzigste Chance.« Wieder lachte Ülstrapp, und es kam Fastrap wie das Lachen eines Dämons aus den Sagen vor. »Dein Volk ist vernichtet. Der Weg ist frei für die Allmacht.« »Knecht des Bösen!« Langsam kam Fastrap auf seine Wurzeln. »Wer sagt dir, daß mein Volk vernichtet ist? Ich werde dich töten.« Langsam zog Fastrap einen langen Stab aus einer Falte seiner Borke und richtete ihn auf Ülstrapp. Der zögerte keinen Moment. Fünf Feuerstrahlen rasten auf den alten Seher zu und lösten seinen Körper auf. »Die Aufgabe ist erfüllt«, sagte Ülstrapp zufrieden zu sich selbst. »Die Allmacht wird zufrieden sein. Nun beginnt die Zeit des
Wachens und Wartens.« Er ließ die Waffen in seinem Körperinnern verschwinden. Dann verformte sich sein Leib zu einer gallertartigen Masse, die langsam über den Boden glitt. Er fand eine glatte Mulde, in der er sich zur Ruhe legte. Die Körpersubstanz veränderte sich und nahm die Farbe der umgebenden Gesteine und Trümmer an.
* Er hatte sich doch nicht geirrt! Fastraps Bewußtsein lachte. Es schwebte hoch über der zerstörten Heimat und richtete gleichzeitig die unbegreiflichen Sinne in die Weiten des Kosmos. Es war nun doch so gekommen, wie es der Seher in den zukünftigen Zeitströmungen gesehen hatte. Da seine Visionen nie vollständig gewesen waren, hatte es eine Phase der Unsicherheit gegeben. Sein Gegner lebte in dem Glauben, ihn getötet zu haben. Tatsächlich traf dies aber nur für den Körper zu. Fastraps Bewußtsein war in jahrelangem Training auf einen solchen Moment vorbereitet worden. Es konnte auch ohne Körper existieren. Noch ahnte der Seher nicht, wie sein Leben nun weitergehen würde. War es überhaupt noch eine Form des Lebens? Er grübelte nicht über diese Frage nach. Viel wichtiger war es jetzt, festzustellen, was er als körperloses Bewußtsein überhaupt tun konnte. Seine Sinne erlauben es ihm, sich frei in jeder Richtung zu bewegen. Seine Umgebung nahm er in einer merkwürdig verzerrten Form, an die er sich erst gewöhnen mußte, wahr. Einen Nachteil jedoch hatte der Verlust seines Körpers. Früher hatte dieser ihm als Bezugspunkt für seine Wanderung in die Zukunft gedient. Da dieser Halt in der Realgegenwart nun fehlte,
war Fastrap ebenfalls an eine einzelne Zeit, natürlich die Gegenwart, gebunden. Körperlose Ausflüge in die Zukunft konnte er nicht mehr durchführen. Er beobachtete mit mäßigem Interesse, wie sich Ülstrapp verformte und in der Bodenmulde versteinerte. Wahrscheinlich würde das Leben irgendwann aus diesem Fremden schwinden. Er stellte damit für Fastrap nichts Bedeutendes mehr dar. Interessanter war die Erkenntnis, daß Ülstrapp in der Tat kein Pers-Oggare gewesen war. Zwar hatte dieser Beweis für die Fremdartigkeit auch keine Bedeutung mehr, aber Fastrap folgerte daraus, daß er bei einer eventuellen Begegnung mit dem mächtigen Wesen, das Ülstrapp geschickt hatte, äußerst vorsichtig sein mußte. Er ließ sich treiben, weg von Vasterstat, das er als eine tote und schlafende Welt hinter sich ließ. Er war gebunden an den normalen Zeitablauf, aber er hatte ja Zeit. Oder würde er in dieser Zustandsform altern? 800 Jahre später (er maß die Zeit rein nach dem Gefühl) wußte er mit Sicherheit, daß er nicht alterte. Fastraps Bewußtsein entwickelte eine unbegreifliche Geduld. Es streifte durch das Sternenmeer und beobachtete. Er traf unzählige Helfer der bösen Allmacht, doch nie diese selbst. Er beobachtete Veränderungen in den 800 Jahren und in den folgenden Jahrtausenden, die Zeugnisse wahrhaft gigantischer technischer Leistungen waren. Einmal wurde ein ganzes Planetensystem, auf dem Fellwesen lebten, die sich Roxharen nannten, aus Pers-Mohandot entfernt und im Leerraum zwischen hier und der Nachbargalaxis All-Mohandot neu positioniert. Überall wurden Veränderungen durchgeführt. Am Ende war ganz Pers-Mohandot im wahrsten Sinn des Wortes umgekrempelt. Einige wenige Hilfsvölker, die die böse Allmacht sich zu willigen Knechten gemacht hatte, betrieben noch die Raumfahrt. Sie kontrollierten alles Geschehen in der Kugelgalaxis.
Die böse Allmacht wechselte diese Hilfsvölker nach einer nicht erkennbaren Methode. Immer wieder versuchte Fastrap, über die Völker näher an den eigentlichen Feind zu kommen. Aber all diese Versuche scheiterten. Schließlich verfiel das wandernde Bewußtsein auf den Gedanken, daß sich die böse Macht ständig von dem normalen Universum abschirmte. Da andere Zonen oder Dimensionen auch für Fastrap nur unter Schwierigkeiten zu erreichen waren (oft scheiterten solche Versuche zur Gänze), war er dann nahe daran, alles aufzugeben. Da seine Existenz aber keinem anderen Zweck diente, als Nachforschungen nach dem Unbekannten anzustellen, machte er doch immer wieder weiter. Längst hatte Fastrap sein Betätigungsfeld aus Pers-Mohandot heraus verlagert. Es gab mehrere vage Spuren der bösen Macht, die in ganz andere Abschnitte des Kosmos führten. Allmählich sehnte das einsame Bewußtsein ein Ende herbei. Es wurde müde und ließ sich nur noch treiben. Da aber kein dem Tod vergleichbarer Vorgang eintrat, war Fastrap nun gezwungen, weiter durch die endlosen Fernen zu treiben. Sehnsucht nach Vasterstat kam in ihm auf, aber er wußte nicht einmal mehr genau, wo Pers-Mohandot lag. Zuviele Galaxien hatte er durchstreift, in denen die böse Macht ihre Spuren hinterlassen hatte. Innerlich hatte Fastraps Bewußtsein längst den ursprünglichen Plan aufgegeben, als er zufällig außerhalb einer kleinen Galaxis auf eine heiße Spur stieß. Er erwachte zu neuer Aktivität. Die Kleingalaxis identifizierte er als All-Mohandot, die in der frühen Geschichte seines untergegangenen Volkes schon einmal eine Rolle gespielt hatte. Das wandernde Bewußtsein entdeckte Lebewesen, in deren Gehirnen ein Begriff existierte, den er selbst aus der Zeit auf Vasterstat noch erinnerte, als er in der Lage gewesen war, die Zukunft zu erforschen.
HIDDEN-X! Das war einer der Namen gewesen, die der bösen Allmacht einmal verliehen werden würde. Eine Ahnung von der gewaltigen Zeitspanne, die verflossen sein mußte, überfiel das körperlose Bewußtsein. Entscheidend für seinen wiedererwachten Geist war jedoch die Tatsache, daß diese Wesen HIDDEN-X als böse Macht einstuften und sich nicht vor ihm fürchteten. Sie boten ihm Paroli! Hatte er hier endlich die Helfer gefunden, die er so sehnsüchtig suchte? Behutsam versuchte er die Lage zu klären. Er heftete sich auf die Spuren dieser Wesen, die wie viele Intelligenzen, die er auf seinen ewigen Wanderungen getroffen hatte, keine Wurzeln besaßen sondern zwei Beine. Bei dem Versuch, in ein solches Wesen einzudringen, scheiterte Fastrap. Er konnte sich aber in ihrer Nähe aufhalten und die Streustrahlungen ihrer Gedanken erfassen. Eine verwirrende Fülle von Daten strömte auf das Bewußtsein ein. Lange Zeiten vergingen, bis er einigermaßen klar erkannte, was sich wirklich abspielte und wer die entscheidenden Faktoren waren. Er mischte diese Erkenntnisse mit den Erfahrungen aus der Zeit der Zukunftswanderungen. Es gab Parallelen und Übereinstimmungen. Das riesige Raumschiff der Zweibeiner, die sich Solaner nannten, kannte er auch schon, allerdings aus einem anderen Zusammenhang, der nur verschwommen in seiner Erinnerung war. Vasterstat spielte dabei eine Rolle. Bewundernd stellte er fest, mit welcher Zielstrebigkeit eine kleine Gruppe der Solaner der Spur folgte, die zu HIDDEN-X führte. Ein männliches Wesen war der antreibende Faktor. Dieser Mann hieß Atlan, und sein Wille, diese Galaxis in eine Zelle des Friedens zu verwandeln, griff auf Fastraps Bewußtsein über. Neue Begeisterung erfüllte das Bewußtsein des Pers-Oggaren. Er folgte Atlan und seinen Helfern. Neue Namen und Formen
entstanden in seinem Bewußtsein: Nickeldiebe, Ysteronen, das Ysterioon, der geistige Faktor, HIDDEN-X. Fastrap identifizierte die böse Allmacht, aber er kam nicht an sie heran. Die Zone, in der sie sich manifestiert hatte, war für sein Bewußtsein nicht erreichbar. Aber Atlan und seine Helfer schafften es. Sie versetzten HIDDEN-X einen Schlag, der es beinahe vernichtet hätte. Damit stand für Fastraps wanderndes Bewußtsein fest, was er zu tun hatte. Wysterein mußte als Oggar neu entstehen und diesen Kampf unterstützen. Wenn er erfolgreich beendet werden würde, könnten die Pers-Oggaren neu auf der schlafenden Welt Vasterstat entstehen. Sicher gab es auch noch die Nachkommen von ihnen auf anderen Planeten in Pers-Mohandot. All diese mußten zusammengeführt werden. Als HIDDEN-X aus seiner Heimstatt floh, heftete sich Fastraps Bewußtsein an das mächtige, aber jetzt fast zu Tode geschwächte Wesen. Plötzlich waren dessen Gedanken verständlich. Auch spürte Fastrap etwas von dem unbegreiflichen Wesen, von dessen direkter Bösartigkeit, von seiner Körperlosigkeit, die so ganz anders war als die von ihm selbst. Und Fastrap hörte den Befehl, den HIDDEN-X gab. Atlan und der Schalter! Ich will die SOL, aber ohne Solaner! Schalter! Walte deines Amtes! Ich werde dich reich belohnen. Als HIDDEN-X irgendwo in der Unendlichkeit der Dimensionen verschwand, begann das Bewußtsein von Fastrap zu handeln. Sein Ziel war Vasterstat. Der Schlafende mußte geweckt werden.
9. In der Gegenwart …
»Erwache, Oggar!« »Ich bin nicht Oggar. Einen Namen von so hoher Bedeutung würde ich mir nie anmaßen.« »Du bist Oggar!« »Du bist Fastrap, mein Lehrer und Meister.« »Du hast viele tausend Jahre geschlafen, Wysterein. Alles hat sich verändert, nur unsere tote und schlafende Heimat Vasterstat ist ein Planet ohne Leben geblieben. Du sollst ihn neu erwecken, wenn du die böse Macht besiegt hast. Deshalb ist dein Name jetzt der, der den Kern unseres untergegangenen Volkes ausmacht. Du bist Oggar.« Die beiden Bewußtseinsinhalte traten in einen innigen Kontakt. »Wo ist dein Körper, Meister?« fragte Oggar. »Ich habe schon lange keinen Körper mehr. Aber deiner ist noch vorhanden. Wir werden ihn gemeinsam benutzen.« »Ich möchte Vasterstat sehen.« »Komm. Dein Körper wartet. Ich habe ihn schon abgetastet. Der Aufbaumechanismus ist beendet. Die Borke ist frisch. Deine Arme sind kräftig, und auf deine Wurzeln wartet die Nährflüssigkeit.« »Bitte zeige mir den Weg.« Sekunden später befanden sich beide in dem Körper. Oggar übernahm die Kontrolle, während Fastrap nur einen nicht meßbaren Platz beanspruchte. »Ich verspüre eine merkwürdige Leere«, klagte Oggar. »Obwohl du anwesend bist, kann ich meinen Leib nicht vollständig ausfüllen.« »Ich habe es ebenfalls bemerkt.« Sorge klang aus der Mentalstimme Fastraps. »Es gibt keine einleuchtende Erklärung für diesen Umstand. Eine Fremdbeeinflussung kann ich mit Sicherheit ausschließen.« »Vielleicht liegt es an der langen Zeit«, vermutete Oggar, »in der Körper und Geist getrennt waren. Ich fühle, daß es mein Körper ist,
und doch ist er hohl und irgendwie fremd.« »Deine Vermutung könnte stimmen. Wir werden sehen, ob wir diesen Schaden beheben können. Nun aber laß uns an die Oberfläche gehen.« Die Schaltungen des wiedererwachten unterirdischen Quartiers arbeiteten trotz der langen Zeit fehlerfrei. Durch einen freigelegten Schacht flogen die beiden Bewußtseinsinhalte mit dem Körper auf einer kleinen Antigravplattform in die Höhe. Fastrap berichtete unterwegs von seinen Erlebnissen und Erfahrungen. »Dieser Atlan und seine Solaner sollten deine Helfer werden«, schloß er. »Was ich dir über sie gesagt habe, ist unvollkommen. Vieles mußt du selbst erforschen. Mit dem HORT und deinem Körper sollte dir das gelingen. Mehr kann ich dir nicht geben. Denke immer daran, daß in nicht allzu ferner Zeit Atlan dem Schalter begegnen wird. Der Schalter, wer immer das sein mag, ist ein Helfer der bösen Macht HIDDEN-X. Der Schalter wird Atlan und die Solaner vernichten, so wie vor Äonen Ülstrapp als Sendbote der bösen Allmacht das pers-oggarische Reich ausradierte. Es kommt also auf dich an, der Entwicklung der Dinge eine Wende zu geben. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als die Entfernung dieser zerstörenden Macht. Wenn das geschehen ist, kannst du dich dem Wiederaufbau unseres Volkes widmen. Auxonias Keime und deine Samen stehen unversehrt bereit.« Sie erreichten die Oberfläche. Für Wysterein, der sich schnell mit dem heiligen Namen Oggar abgefunden hatte, war die vergangene Zeit nach dem Gefühl weniger als ein Tag. Stumm betrachtete er die Zerstörungen. Das unintelligente Pflanzenreich hatte alles überwuchert. Tierarten huschten zwischen Büschen und Bäumen, die es früher nicht auf Vasterstat gegeben hatte. Die Sonne Auxon stand etwas weiter entfernt, aber der tote Planet hatte eine neue und stabile Umlaufbahn gefunden. Es war kühler als
früher auf Vasterstat. Oggar lenkte die Plattform in die Richtung, in der einst AustTardan gelegen war. Einzelne Trümmer hatten die Erosion überstanden und gaben stummes Zeugnis der schrecklichen Vergangenheit. Der große Platz vor den zerfallenen Ruinen des Regierungsgebäudes war blankgefegt von den kalten Stürmen. »Ich kann mir nicht vorstellen«, sagte Oggar, »daß hier wieder Leben erblühen soll.« Fastrap schwieg, aber seine Gegenwart flößte Oggar Zuversicht ein. »Ich brauche noch ein Mnemodukt für den HORT.« Plötzlich wechselte Oggar das Thema. »Wenn ich mit den Mitteln des Quartiers eines bauen sollte, würden wir zuviel Zeit verlieren. Atlan könnte dann schon in die Falle des Schalters getappt sein.« »Das ist richtig«, bestätigte Fastrap. »Ich weiß daß du ein geeignetes Mnemodukt haben wirst. Ich habe es jenseits des Loches in der Zeit damals gesehen. Ich weiß jedoch nicht, wie dies geschehen soll. Und noch etwas, Oggar. Ich fühle mein Ende kommen. Meine Aufgabe ist erfüllt. Jetzt liegt alles an dir.« »Dein Ende?« schrie Oggar entsetzt auf. »Ich soll den Kampf gegen die böse Allmacht allein führen?« »Nicht allein«, beruhigte ihn Fastrap. »Denke an Atlan und die Solaner. Aber ohne mich.« Oggar wußte, daß es sinnlos war, dem Meister zu widersprechen. »Still!« befahl Fastrap plötzlich. Er übernahm die Lenkung des Körpers und dirigierte so die Plattform in eine andere Richtung. Etwas schwang in seinem Bewußtsein mit. Etwas Bekanntes aus der fernen Vergangenheit. »Dort unten regt sich etwas«, sagte Oggar. Fastrap hielt auf die Stelle zu. »Tatsächlich. Ich hätte es nicht für möglich gehalten.« Er deutete auf die gallertartige Masse, die sich aus dem Staub in die Höhe
wölbte. »Er lebt noch immer. Es ist Ülstrapp. Die böse Macht scheint ihn als einen ewigen Wächter hier gelassen zu haben. Oder sie hat ihn vergessen.« »Nein, nicht vergessen.« Aus dem Empfänger der Plattform erklang eine rasche Impulsfolge. »Er ruft seinen Herrn HIDDEN-X, den er noch immer Allmacht nennt«, erklärte Fastrap. »Er hat uns bemerkt.« Aus der gallertartigen Masse hatte sich inzwischen der Körper eines Pers-Oggaren geformt. »Es ist tatsächlich Ülstrapp«, staunte Oggar. Er brachte seine Waffe in Schußposition. »Laß das!« herrschte ihn Fastrap an. Oggars Verständnislosigkeit schlug ihm entgegen. »Meine letzte Erkenntnis wird sich erfüllen.« Nur die Fähigkeiten des Sehers sprachen aus diesen Worten. »Jetzt kann ich es dir sagen, denn der Zeitpunkt ist nicht mehr fern. Ülstrapp und ich werden gemeinsam ausgelöscht werden.« »Durch wen oder was?« fragte Oggar panikerfüllt. »Das weiß ich nicht.« »Dann werde ich allein sein. Werde ich Erfolg haben gegen diese böse Macht?« »Auch das weiß ich nicht. Es hängt allein vor dir ab.« Fastrap löste sich aus dem gemeinsamen Körper, ohne jedoch die geistige Verbindung zu Oggar abreißen zu lassen. Der spürte, wie sich das Bewußtsein des Meisters auf Ülstrapp zubewegte. Dort kam es jedoch zu keiner Kommunikation. Fastrap kapselte sich vor dem Fremden ab, und Ülstrapp war zu intensiv mit einem kleinen Gerät beschäftigt. Vielleicht hatte sich sein Körper und sein Geist in der langen Zeit auch verändert, dachte Oggar. Dann war Fastrap wieder vollständig zurück. »Er hat eine Antwort bekommen. Sein Herr ist jedoch schwach und müde. Das muß an der Niederlage liegen, die er in dem
Ysterioon erlitten hat, von dem ich dir berichtete. HIDDEN-X hat jedoch Hilfe zugesagt. Er will eine schwache Spiegelung schicken, die noch nicht vollständig ist.« »Was soll ich mir darunter vorstellen?« »Ich weiß es nicht. Wir sollten abwarten.« Sie entfernten sich ein großes Stück aus dem Bereich der ehemaligen Hauptstadt und landeten auf einem Berg, den es früher nicht gegeben hatte. Das Erdreich war hier weich, und Oggar senkte seine Wurzeln in den Boden. Nur widerwillig gehorchte der Körper. Wieder spürte Oggar die merkwürdige Leere und Veränderung. Er ahnte, daß er mit diesem Körper sein Ziel nie erreichen würde. »Du solltest dir vielleicht ein paar Partner für deinen Körper suchen«, schlug ihm Fastrap vor. »Ein Bewußtseinsverbund könnte die Lösung des Problems darstellen.« »Wir haben noch ein ganz anderes Problem.« Oggar deutete an den Abendhimmel. Fastrap schaltete sich in den Sehsinn von Oggars Körper. »Wie ist das möglich?« stellte er sich selbst die Frage. Ein riesiges Raumschiff, bestehend aus zwei Kugeln und einem zylindrischen Mittelteil, senkte sich auf Vasterstat herab. »Die Hilfe, die HIDDEN-X Ülstrapp zugesagt hat«, vermutete Oggar. »Mit einer derartigen Aktion habe ich gerechnet«, antwortete Fastrap. »Dieses Schiff dort ist jedoch keine Hilfe für Ülstrapp. Es ist die SOL. Dein zukünftiger Mitstreiter Atlan ist gekommen.«
* »Der Rest ist schnell erzählt«, sagte Oggar mit der Kunststimme des Körpers von Waggaldan zu Insider. Seine beiden Bewußtseinspartner Sternfeuer und Cpt'Carch hörten noch immer gespannt zu. »Das meiste davon wißt ihr aus den jüngsten
Ereignissen. Fastrap merkte sehr schnell, daß er einem Irrtum aufgesessen war, denn die SOL, die über Vasterstat stand, war nicht die SOL Atlans. Ich kann euch nicht erklären, wie HIDDEN-X in den Besitz dieses Schiffes gekommen ist. Meine Vermutungen gehen in folgende Richtung. Diese bösartige Macht hat eine Kopie der echten SOL angefertigt. Wie sie das kann, bleibt ein Rätsel. Es zeigt uns aber, wie gefährlich unser gemeinsamer Feind ist. Ich nannte das Schiff Pseudo-SOL. Sie stellte den Schlüssel für die Lösung fast aller Probleme dar. Inzwischen hatte ich die Situation im Griff. Die Zusammenhänge waren mir klar, trotz der teilweise unvollständigen Schilderungen Fastraps. Wenn unser Gegner sich eines Hilfsmittels bediente, das er von seinen Gegner kopiert hatte, so bedeutete das ein Zeichen der Schwäche. Da auch Fastrap und ich schwach waren, war es aber auch ein Hinweis für unser Handeln. Mit dem HORT ohne Mnemodukt hätten wir gegen die SOL nie bestanden. Fastrap und ich beobachteten, wie Ülstrapp über einen Traktorstrahl an Bord der Pseudo-SOL gezogen wurde. Der alte Seher behauptete, daß es in der Pseudo-SOL zumindest einen Faktor geben müsse, den HIDDEN-X nie und nimmer hätte kopieren können. Er nannte dies Maschine SENECA, die biologisch-positronische Einheit der echten SOL. Da die Pseudo-SOL aber voll manövrierfähig war, mußte sie ein Äquivalent zu diesem SENECA besitzen. Fastrap und ich verließen unseren Körper. Wir begaben uns direkt in die Pseudo-SOL, was ohne Schwierigkeiten gelang. Ihr Inneres gleicht nach der Meinung des Sehers vollkommen der echten SOL. Da ich inzwischen diese ja auch kenne, kann ich das bestätigen. An der Stelle, an der SENECA sein mußte, fanden wir jedoch eine riesige Hohlkugel, in deren Zentrum nur eine viel kleinere, etwa acht Meter durchmessende andere Kugel schwebte.«
»Das Mnemodukt des HORTS«, folgerte Insider. »Klatsch-hurra.« »Richtig. Doch laß mich der Reihe nach berichten. Ülstrapp übernahm das Schiff und begann mit allen Waffen wahllos auf Vasterstat zu feuern. Der Planet wäre rasch völlig vergangen, wenn Fastrap nicht etwas getan hätte, was ich in der letzten Konsequenz nicht verstanden habe. Er verließ mich und stürzte sich in das fremde Mnemodukt der Pseudo-SOL. Kaum war das geschehen, da gehorchte das Schiff nicht mehr den Anweisungen seines neuen Herrn Ülstrapp. Die Waffen schwiegen. Fastrap kam erschöpft zu mir zurück. Ich solle einen Spiegel suchen und zerstören, verlangte er von mir. Da mein Körper auf Vasterstat ruhte, war dieses Vorhaben reine Theorie. Doch der Meister nahm mich mit. Gemeinsam drangen wir in Ülstrapp ein. Das Fremdartige dieses Wesens war schrecklich, aber wir schafften es. Der Spiegel, nach dem ich nun suchte, befand sich in der Solzelle2. Er stellte dort praktisch eine Schalenhälfte dar, und er war aus blankem Nickel. Ülstrapps Bewußtsein konnte sich nicht gegen uns behaupten. Mit seinen eigenen Waffen zerstrahlten wir diesen Spiegel. Der Erfolg war verblüffend. Die Pseudo-SOL löste sich Stück für Stück auf. Am Ende schwebte Ülstrapps Körper allein im Raum. Nur das Mnemodukt befand sich noch in unserer Nähe. Natürlich konnte der Körper Ülstrapps in diesem Zustand nicht existieren, denn wir befanden uns nun weit außerhalb der Atmosphäre von Vasterstat. Er zerplatzte förmlich. Unsere Bewußtseine wurden auseinandergeschleudert. Ich taumelte automatisch in Richtung meines Körpers. Gleichzeitig spürte ich aber den verzehrenden Kampf Ülstrapps gegen Fastrap. Er endete so, wie es der Seher gewußt hatte, beide Teile vernichteten sich gegenseitig. Mit Hilfe meines störrischen Körpers und der unversehrt gebliebenen Einrichtungen unseres Verstecks brachte ich das
Mnemodukt der Pseudo-SOL sicher nach Vasterstat. Das Mnemodukt war von Fastrap mit einer völlig anderen Programmierung versehen worden. Der Meister mußte seine letzten Kräfte in dieses Vorhaben gesteckt haben. So kam das Mnemodukt in den HORT. Als ich diese Vorbereitungen für meinen Start beendet hatte, geschah es. Die Leere in meinem früheren Körper war so sehr angewachsen, daß ich allein darin nicht mehr existieren konnte. Ich erinnerte mich an den Rat meines Meisters. Mein Ich konnte sich frei bewegen, wenngleich ich im Umgang mit den körperlosen Sinnen noch wenig geübt war. Wo sollte ich Freunde und Helfer finden? Es muß irgendwo vielleicht noch die Körperlosen von Vasterstat geben, die Perse und Ux vor dem völligen Untergang gerettet haben. Aber wie sollte ich die in der kurzen Zeit finden? Fastraps Warnung vor dem Schalter, dem Werkzeug des HIDDEN-X, war mir sehr bewußt. Also begann ich dort zu suchen, wo ich Freunde treffen könnte, auf der echten SOL. Mein Bewußtsein eilte nach All-Mohandot, wo ich die Spur der SOL fand und ihr folgte. Das Mnemodukt führte den HORT selbständig nach. Ich fand die SOL, und ich fand euch. Die Geschichte kennt ihr zur Genüge. Ich gebe zu, daß alles noch etwas ungelenk verlief, aber es kam immerhin zu einem erfolgreichen Ende. Gleichzeitig begann ich zu ahnen, daß HIDDEN-X etwas von meinem Vorhandensein erfahren hatte. Es fürchtet den letzten der Pers-Oggaren. Die Folgen habt ihr erlebt. Der Schalter bekam den Auftrag, mir einen neuen Gegner zu schicken, Waggaldan. Gemeinsam haben wir ihn besiegt und sogar einen neuen Körper für unser Multibewußtsein gefunden.« Cpt'Carch übernahm die Stimme und fragte laut:
»Eigentlich wäre es mir lieber, wenn ich wieder in meiner Banane stecken würde.« »Dein Körper und der des Sternfeuers können nicht zerfallen«, antwortete Oggar. »In Waggaldans Kunstkörper kann ich auch allein existieren, wenn ich mich an alles gewöhnt habe. Das Mnemodukt II ist mir ein guter Partner, so wie das Mnemodukt I im HORT ein guter Partner ist.« »Stimmt«, pflichtete ihm Insider bei, der an die Abenteuer mit Alkin und den Ulgs dachte. »Ich möchte euch beide, Sternfeuer und Carch jedoch bitten, unsere Trinität jetzt noch nicht auflösen zu wollen. Ihr spürt die Harmonie, die uns verbindet. Nur gemeinsam sind wir so stark, daß wir den gefährlichen Feinden trotzen können, die HIDDEN-X und seine Helfer darstellen. Ich versichere euch, daß ihr in eure Körper zurückkehren könnt, wenn die Zeit gekommen ist.« »Von mir spricht wohl keiner«, maulte Insider. »Ich muß mich mit dem HORT allein durchschlagen, dabei gehöre ich zur SOL wie das Salz an die Suppe.« Oggar holte sich erst eine Information von Sternfeuer, was der Grüne mit dieser Bemerkung gemeint hatte. »Auch dich brauchen wir«, sagte er dann, und es entging Insider nicht, daß Oggar in der Mehrzahl sprach. Also hatten Sternfeuer und Carch ihr Einverständnis bereits gegeben. »Wann ist die Zeit gekommen?« Diesmal fragte Carch. »Auch muß ich wissen, ob ich geboren bleibe, wenn ich in meine Banane zurückkehre.« »Ich bin kein Seher«, antwortete Oggar. »Ich kenne die Zukunft nicht. Alles, was wir tun können, ist zu warten. Ich werde es spüren, wenn Atlan dem Schalter begegnet. Irgendwo hat HIDDEN-X die Falle für unseren Freund aufgebaut. Der Schalter steht bereit, um Atlan und die Solaner zu vernichten. Fastraps Warnung war in diesem Punkt eindeutig. Dann werden unsere Freunde Hilfe brauchen. Der Zeitpunkt ist nah. Der Impuls
kann schon jetzt eintreffen.« Das Multibewußtsein schwieg. Insider trat an das Mnemodukt. »Was hältst du von der ganzen Geschichte, Überläufer?« fragte er. »Ich wurde umprogrammiert«, belehrte ihn das Mnemodukt. »Und was deine Frage betrifft, so haben meine Berechnungen ergeben, daß die SOL bereits in die Falle des Schalters gestürzt ist.«
ENDE
Thema des nächsten Atlan-Bandes ist wieder die SOL. Das Generationenschiff hat auf dem Weg zur Kugelgalaxis Ploohnei die halbe Streiche zurückgelegt, als man plötzlich im Leerraum auf ein Phänomen stößt. Dieses Phänomen ist EINE EINSAME SONNE … EINE EINSAME SONNE – unter diesem Titel erscheint auch der von Hubert Haensel geschriebene Atlan-Band der nächsten Woche.