In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 - in der sog. »Reichskristallnacht« - verjagt ein Berliner Polizeibeamter aus...
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In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 - in der sog. »Reichskristallnacht« - verjagt ein Berliner Polizeibeamter aus der Synagoge in der Oranienburger Straße SA-Leute, die in den Vorräumen Feuer gelegt haben. Der Mann tut nichts weiter als seine Pflicht: Er schützt ein kulturhistorisch wertvolles Bauwerk vor Brandstiftung, wie er - zur Rede gestellt - seinem obersten Chef, Polizeipräsident Graf Helldorf, erklärt. Der Name dieses Mannes ist Wilhelm Krützfeld. Heinz Knobloch ist mit der ihm eigenen Akribie auf Spurensuche gegangen, hat Zeitzeugen befragt, in Archiven geforscht und eigene Vermutungen angestellt. So entsteht ganz allmählich das Bild eines Mannes, der alles andere als ein Held sein will, aber die oftmals pervertierten preußischen Tugenden der Pflichterfüllung und des Gehorsams auch mit Mut und Nachdenken zu verbinden weiß und dabei bis zuletzt - er bittet 1942 um seine vorzeitige Pensionierung und überlebt den Krieg in Schleswig-Holstein - fest davon überzeugt ist, nichts weiter als seine Pflicht getan zu haben. Heinz Knobloch, geboren 1926 in Dresden, aufgewachsen in Berlin, lebt und schreibt in Berlin-Pankow. Jahrelang Chef der Berliner ›Wochenpost‹; seit 1967 umfangreiche schriftstellerische Tätigkeit; neben Romanen, Erzählungen und Kurzgeschichten zahlreiche literarische Feuilletons. Knobloch erfuhr zahlreiche literarische Ehrungen, u. a. Heinrich-Heine-Preis (1965), Lion-Feuchtwanger-Preis (1986) und Moses-Mendelssohn-Preis des Senats von Berlin (1994). Im Fischer Taschenbuch Verlag außerdem lieferbar: ›Herr Moses in Berlin - Auf den Spuren eines Menschenfreundes‹ (Bd. 12801). 1
Heinz Knobloch
Der beherzte Reviervorsteher Ungewöhnliche Zivilcourage am Hackeschen Markt
Non-profit scan by: Mag
Fischer Taschenbuch Verlag
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Ungekürzte Ausgabe Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, November 1996 Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Morgenbuch Verlags Volker Spiess, Berlin © 1993 Morgenbuch Verlag Volker Spiess, Berlin Druck und Bindung-. Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-596-12802-1
Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier
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Vorbemerkung zur 2. Auflage 1993
Dieses Buch entstand 1988/89 für ein DDR-Publikum. So möchte sein Text, ergänzt durch ein Nachwort, aufgenommen werden. Er gibt unverändert Auskunft z. B. über die engstirnigen »Merkzahlen« der DDR-Volksbildungsministerin Margot Honecker, die noch im Juni 1989 kritische Schriftsteller »Schreiberlinge« nannte. Die Strafen der wegen der Schändung jüdischer Grabmale zu hohen Strafen verurteilten Berliner Jugendlichen wurden vom Obersten Gericht der DDR im Mai 1990 korrigiert »wegen jugendlicher Unreife«, und vielleicht nach dem 3. Oktober 1990 reduziert oder aufgehoben. Was den der DDR angelasteten, »verordneten« Antifaschismus betrifft, es gab ihn. Aber nach heutigen Vorkommnissen in Deutschland beurteilt, ist mir ein verordneter Antifaschismus immer noch lieber als gar keiner...
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Die Zahl derer, die gegen Sadismus und Judenpogrome aufstanden, war gering. Deshalb ist jede Tat, mit der den deutschen Faschisten in den Arm gefallen wurde, von solcher Bedeutung, daß es sich lohnt, sie für alle Zeiten aufzubewahren. Laurenz Demps, 1988
Vergangenheit kann allenfalls so bewältigt werden, wie Sisyphus seinen Stein den Berg hinaufrollt. Der entgleitet ihm immer wieder, und er muß von vorn beginnen. Das ist das Schicksal der Antifaschisten — Sisyphus zu sein und einen unablässigen Kampf zu führen, der nie aufhört. Stephan Hermlin, 1988
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Sein Name?
Dieses Foto ist international bekannt. Die Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin, die große Kuppel brennt, weiße Rauchschwaden dringen aus den drei Fenstern über ihrem Eingang. Dieses Bild war jahrzehntelang Symbol für ein Geschehen, das ebensolange unter der verharmlosenden Bezeichnung »Kristallnacht« bekannt war, bis man es beim Namen nannte: Novemberpogrom. Es gab kaum ein eindrucksvolleres Bild für jene Nacht, als in Deutschland die Synagogen angezündet wurden. Jedoch mußte der Text berichtigt werden. Das Foto zeigt die Synagoge nach einem britischen Luftangriff im Jahre 1943. Aber auch in der Pogromnacht hatte es in ihren Räumen gebrannt, SA-Leute waren eingedrungen und hatten Feuer gelegt. Doch nicht lange, da erschien der Vorsteher des zuständigen Polizeireviers mit ein paar Mann am Tatort und verjagte die Brandstifter. Mit vorgehaltener Pistole und einem Aktendeckel, in dem sich ein Schriftstück befand, das den bedeutenden Kunst- und Kulturwert des Gebäudes unter polizeilichen Schutz stellte. Gleichzeitig beorderte der Polizeioffizier die Feuerwehr zur Brandstelle. Die kam auch und löschte, was ebenfalls bemerkenswert war angesichts der Situation im Deutschen Reich. Die meisten Feuerwehren standen untätig wie befohlen oder griffen nur ein, wenn die Flammen auf die nichtjüdische Nachbarschaft überzugreifen drohten.
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Die Berliner Bilanz jener Nacht: Von den vierzehn großen Synagogen wurden neun weitgehend zerstört, die meisten der 3767 jüdischen Einzelhandelsgeschäfte zertrümmert und über zehntausend Berliner Juden festgenommen und in das Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg verschleppt. In dem Blitzfernschreiben des SS-Gruppenführers Heydrich an Staatspolizei und Sicherheitsdienst hieß es, daß »die stattfindenden Demonstrationen von der Polizei nicht zu verhindern« seien. »Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden.« Gleichzeitig geht an diesem frühen Morgen des 10. November 1938 an die Beteiligten die beruhigende Meldung, daß das Reichsjustizministerium die Staatsanwälte veranlaßt habe, »keine Ermittlungen in Angelegenheiten der Judenaktionen vorzunehmen«. Daß deutsche Polizisten an diesem Tage solcher Verwüstung nicht untätig zuschauten, sondern sie gerade an der schönsten und größten Synagoge verhinderten, verdient unsere Beachtung. Die preußische Polizei stand überwiegend rechts. Sie hatte die Weimarer Republik nicht vor dem Zugriff der Nationalsozialisten beschützt. »Die Polizeioffiziere waren durchweg konservativ, republikfeindlich« und zumeist ehemalige Freikorpskämpfer, wie es in einer Studie des Westberliner Staatsrechtlers Heinz Wagner heißt: »Ganze Polizeireviere waren in nationalsozialistischen Händen. Insbesondere in dem ab 1929 aufflammenden Terror der SA, dem vor allem Kommunisten ausgesetzt waren, war die preußische Polizei nicht mehr neutral. Immer öfter kämpfte die Polizei mit Waffengewalt gegen die KPD und sah dem nationalsozialistischen Terror eher zu.« Hackescher Markt - da hatte es am blutigen 1. Mai 1929 die ersten Toten gegeben. Und von diesem Revier aus 8
sollte im November 1938 solcher Widerstand möglich gewesen und geleistet worden sein? Ich hatte zum erstenmal im Frühjahr 1983 von diesem ungewöhnlichen Reviervorsteher gelesen. Im Westberliner Berlin-Museum gab es die große Ausstellung »Synagogen in Berlin« mit dem zweibändigen Katalog »zur Geschichte einer zerstörten Architektur«. Dort heißt es im Vorwort: Unter den beteiligten Autoren sei allen voran »Hans Hirschberg zu nennen, ein gebürtiger Berliner, der 1939 aus seiner Heimatstadt flüchten mußte«. In dem Abschnitt, der sich mit dem Schicksal der Synagogen unter dem Nationalsozialismus beschäftigt, berichtet Hans Hirschberg Einzelheiten vom Herbst 1938, an die er sich erinnern konnte. Er ging damals noch zur Schule. Seine Eltern betrieben in der Oranienburger Straße 89, in der Nähe des Hackeschen Marktes, eine Werkstatt für Damenkonfektion. Eines Abends, Ende Oktober 1938, kam ein Ehepaar zu Hirschbergs, um einen Mantel zu bestellen. Es war der Vorsteher des nahe gelegenen Polizeireviers mit seiner Frau. Hirschbergs Eltern waren »verständlicherweise über die Maßen erstaunt« und ängstlich, »denn wer wollte schon als Jude etwas mit der Polizei zu tun haben«. Es kam zu einem Gespräch, über das noch zu berichten sein wird. Hirschberg: »Ich höre noch, wie er sich von uns verabschiedete: »Herr Hirschberg, Sie brauchen sich nicht zu sorgen. Wenn wir Verhaftungslisten bekommen sollten, dann rufe ich Sie an, und Sie verreisen dann eben von vier Uhr früh bis ungefähr neun Uhr mit der S-Bahn. Haben Sie keine Angst, Herr Hirschberg, ich warne Sie rechtzeitig«. Der geplante Pogrom lag in der Luft. Nur der Termin war noch offen. Schon Wochen vorher hatte man die Aktion behördlich vorbereitet. Nach dem Alphabet waren alle Juden auf ihre zuständigen Polizeireviere bestellt worden mit der Auf9
forderung, in ihrem Besitz befindliche Waffen mitzubringen. Am Abend des 10. November war es soweit. Der Anruf kam. Der S-Bahnhof »Börse« (heute »Marx-EngelsPlatz«) liegt nur wenige Schritte von Hirschbergs damaliger Wohnung entfernt. Tagelang verbrachten Vater und Sohn Hirschberg »von aller Herrgottsfrühe an bis neun oder zehn Uhr [vormittags] auf der S-Bahn. Wir stiegen pausenlos in andere Züge und auf andere Linien um« Berlins Stadtbahnnetz bot vielerlei Möglichkeiten - »und entgingen so einer eventuellen Verhaftung.« Ungefähr eine Woche nach der Pogromnacht, heißt es bei Hans Hirschberg, »kam der Reviervorsteher wieder abends mit seiner Frau zu uns. Sie wollte den neuen Mantel vor dem Abholen noch einmal anprobieren. Ich war in einem Nebenzimmer bei geöffneter Tür und kann mich noch sehr genau an das erinnern, was er meinen Eltern erzählte - Er habe über die Polizei erfahren, daß um Mitternacht die SA dabei war, in den Vorräumen der Synagoge Oranienburger Straße Feuer zu legen. Da die Synagoge seit Kaiser Wilhelm I. unter Denkmalschutz stand, sei er sofort mit einem Polizeitrupp des Reviers und der Denkmalschutzorder in der Hand zur Synagoge marschiert; unter Berufung auf die Denkmalschutzorder habe er die SA an weiterer Feuerlegung gehindert, und gleichzeitig habe er Löschzüge der Feuerwehr zur Synagoge beordert. Das Feuer, das sich bereits im Trausaal verbreitet hatte, wurde unverzüglich gelöscht. So wurde durch das tapfere Eingreifen eines wohlgesinnten Polizei-Inspektors die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße, wenn auch nur vorläufig, vor der Vernichtung gerettet.« Warum war nach dem Krieg dieser Vorfall nie öffentlich erwähnt worden? Sobald er konnte, emigrierte Sigmund Hirschberg 1939 10
mit seiner Frau Gertrud nach Shanghai. Sein Sohn Hans war schon nach Palästina ausgereist. Dort erhielt er bald nach Kriegsende Post von seinem nach Berlin zurückgekehrten Vater. Sigmund Hirschberg schrieb, daß er kurz nach seiner Ankunft Nachforschungen angestellt habe, »um Näheres über diesen guten Menschen, den ehemaligen Vorsteher des Polizeireviers am Hackeschen Markt, in Erfahrung zu bringen, vielleicht sogar ein Treffen zu ermöglichen«. Leider bekam er »die schreckliche Nachricht, daß dieser anständige und gutmütige Mensch von der SS noch in den letzten Tagen vor Kriegsende an einem Laternenpfahl aufgehängt worden war«. Als ich das las, war ich entschlossen, diesem Reviervorsteher eine Ehrung zu verschaffen. Aber Hans Hirschbergs letzter Satz lautet: »An den Namen des Reviervorstehers kann ich mich nicht mehr erinnern.« Das zuständige Polizeirevier war 1938 das Revier 16 am Hackeschen Markt. Was blieb übrig vom Revier 16? Eine Grünanlage. Der Krieg hat dort mehrere Straßenzüge eingeebnet. Unterlagen? Akten? Über einen Polizeioffizier? Wo könnten die sein, falls es sie überhaupt irgendwo gibt. Briefe nach allen Seiten. Fragen bei Lesungen in der Bibliothek in der Wilhelm-Pieck-Straße, in der Nachbarschaft. Ohne Ergebnis. Es war wieder einmal zu spät. Wenn der Reviervorsteher bei Kriegsende umgebracht worden ist, könnte es einen Totenschein geben, eine Sterbeurkunde. Da die Polizei damals dem Reichsführer der SS unterstand, könnte vielleicht... Es gibt in Berlin (West) die »Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht«. 11
Eine Anfrage ins Dunkle. Ob sie etwas über Polizeireviere im Archiv haben? Wenn man wüßte, wer 1938 am Hackeschen Markt der Vorsteher gewesen ist. Falls es überhaupt tatsächlich der Vorsteher war, der zu Hirschbergs gekommen ist, und nicht ein anderer. Schnell antwortete die »Deutsche Dienststelle«: »Ermittlungen nach dem Polizei-Inspektor und Reviervorsteher des Polizeireviers Hackescher Markt können nur eingeleitet werden, wenn Sie uns Namen, Vornamen, Geburtsdaten bzw. ungefähres Alter des Betroffenen mitteilen können. Unsere Unterlagen, soweit sie über diesen Personenkreis erhalten geblieben sind, sind namentlich und nicht nach Ereignissen sortiert.« Es war ein Versuch. Die Sache blieb bei mir liegen. Erst Ende Dezember 1984 schrieb ich: »Ein Reviervorsteher«. Damals gab es in jeder Ausgabe der »Wochenpost« meine Rubrik unter dem Titel »Mit beiden Augen«. Hier fragte ich im April 1985 nach dem Reviervorsteher, das wenige über ihn Bekannte in Millionenauflage verbreitend und: Da uns sein Name nicht bekannt ist, soll dieser Mann »als Bruder Namenlos uns nicht vergessen bleiben«. Zwei Leser antworteten. Der eine wollte den Reviervorsteher bei Kriegsende tot am U-Bahnhof Weinmeisterstraße liegen gesehen haben, also ziemlich nahe beim Polizeirevier 16. Der andere rief mich an: »Das war mein Vater!« Artur Krützfeld wußte über seinen Vater Wilhelm zu berichten, daß er nicht ermordet wurde. Daß er Ärger mit dem Polizeipräsidenten bekam wegen seines Verhaltens an der Synagoge. Daß sein Sinn für Ordnung und Gerechtigkeit ihn dazu veranlaßt hätte! Daß er kein Sozialdemokrat gewesen war, wie ich vermutet hatte, und daß er, vorzeitig pensioniert, weggezogen ist aus Berlin. 12
Wohin? Nach Berlin. In seine Heimat. ??? Berlin heißt ein kleines Dorf, ein Ortsteil von Seedorf, in Schleswig-Holstein. Dort in Horndorf wurde Wilhelm Krützfeld geboren, dort überlebte er das Kriegsende und kam dann wieder nach Berlin zurück, in die große Stadt. Aber anstatt mich sofort auf den Weg zu machen - der Sohn wohnt fünfundzwanzig Fußwegminuten entfernt -, lasse ich den Zettel liegen. Irgend etwas kam dazwischen; ich weiß nur, daß ich in unguter Laune war wegen, ja, weswegen? Es kann nicht wichtig gewesen sein, sonst wüßte ich es bestimmt. Aber man ärgert sich, wird geärgert und abgelenkt. Ich weiß nur noch, daß der Anruf zu ungünstiger Stunde kam, gegen Abend, so daß ich mich der Sache nicht gleich annehmen konnte; auch in den folgenden Tagen nicht. So lag die Notiz eine Weile auf dem unordentlichen Schreibtisch, der gar kein richtiger Schreibtisch ist, weil ein richtiger Schreibtisch Fächer hat, in denen alles verschwindet, was nicht verschwinden soll. Ich hatte anderes zu tun. Bald geriet der Zettel in den Papierberg, aus dem die »Berliner Grabsteine« werden sollten, an denen ich schrieb. Neben dem wöchentlich abzuliefernden Feuilleton. Er verschwand gründlich. Ich hatte Hermann Simon von dem Anruf erzählt. Er freute sich. Wir beschlossen, gemeinsam zu Artur Krützfeld zu gehen, um uns alles genau erzählen zu lassen. Aber wir verabredeten uns nicht. Simon, stellvertretender Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde, ist Historiker. Ich habe aus seinen Veröffentlichungen eine Menge Sorgfalt gelernt. Aber eben nicht genug, wie man sieht. Und er, damals noch in den Staatlichen Museen tätig, hatte anderes zu tun. So blieb es dabei.
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Novembertage
1938, im Jahre mehrerer außenpolitischer Erfolge des Hitlerregimes, was die innere Stimmung im Lande beträchtlich hob, war, von der Öffentlichkeit kaum oder überhaupt nicht beachtet, am 27. Oktober der Befehl ergangen, daß alle Juden polnischer Staatsangehörigkeit, die sich in Deutschland befanden, unverzüglich abzuschieben seien. Nach Polen. Diese Juden polnischer Herkunft waren zumeist während des ersten Weltkrieges, kurz zuvor oder unmittelbar danach aus Polen ausgewandert, nach Deutschland oder Österreich, um Unterdrükkung und Elend zu entgehen. Aber Polen wollte im Herbst 1938 diese Menschen nicht, die man gewaltsam über seine Grenze jagte. Die polnische Familie Grynspan hatte lange Jahre in Hannover gewohnt. Dort war ihr Sohn Herschel geboren. Aber man hatte versäumt, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben. So kam es, daß die Grynspans unter die 27000 vertriebenen Juden polnischer Staatsangehörigkeit gerieten, die unvermittelt nach Polen abgeschoben wurden. Die dortige Regierung, eine Diktatur mit stark antisemitischem Charakter, hatte kurz zuvor eine Verordnung erlassen: ihren längere Zeit im Ausland lebenden Staatsangehörigen konnte die polnische Staatsbürgerschaft aberkannt werden. Das betraf zumeist Juden. Von den Deutschen abgeschoben, von den Polen nicht akzep14
2 Die Neue Synagoge, April 1938. Stich von Erich Wolfsfeld
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tiert, irrten die Erbarmenswürdigen zwischen den Grenzen im Niemandsland umher. Herschel Grynspan, ein siebzehnjähriger Sohn der Familie, illegal in Paris lebend, wollte aus Protest gegen die Ausweisung seiner Angehörigen den deutschen Botschafter in Paris erschießen. Er kaufte sich am 7. November einen Revolver und ging in die deutsche Botschaft. Dort empfing ihn der dritte Legationssekretär, der 29jährige Ernst vom Rath. Grynspan schoß und verletzte ihn lebensgefährlich. Vom Rath starb am 9. November. Die Nachricht erreichte Hitler, als er sich im Münchner Bürgerbräukeller wie jedes Jahr mit seinen »alten Kämpfern« versammelte. An diesem Abend sprach er ausnahmsweise nicht. Reichspropagandaminister Dr. Goebbels teilte in seiner Rede mit, es sei in einigen Teilen Deutschlands spontan zu judenfeindlichen Kundgebungen gekommen, jüdische Geschäfte seien zertrümmert und Synagogen in Brand gesteckt worden. Der Führer habe auf seinen Vortrag hin entschieden, »daß derartige Demonstrationen von der Partei weder vorzubereiten, noch zu organisieren seien; soweit sie spontan entstünden, sei ihnen aber auch nicht entgegenzutreten«. Das war die Aufforderung. Schon im April 1938 hatte man das gesamte jüdische Eigentum in Deutschland registriert. Das kommende Unheil deuteten drei Artikel des SS-Zentralorgans »Das Schwarze Korps« an, in denen verlangt wurde: Enteignung der Juden, Zerstörung ihres Besitzes durch Plünderung und ihre Liquidierung als Wirtschaftsfaktor. Nun war es soweit. In jenem Sommer 1938 hatte man die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen erweitert. In Nürnberg, der »Stadt der Reichsparteitage«, wurde die Synagoge abgerissen. Am 8. Juni zwang man die Münchner jüdische Kulturgemeinde, ihre wichtigste Synagoge zu einem Bruchteil ihres Wertes zu verkaufen. Ändern16
tags begann der Abriß. Ein Parkplatz entstand. Mißtraut manchem Parkplatz! Die Schüsse von Herschel Grynspan, er soll den Krieg überlebt haben, waren der willkommene Anlaß für die längst mit deutscher Gründlichkeit vorbereitete Aktion. Rund 26000 jüdische Männer wurden in die genannten Konzentrationslager verschleppt. Wenn bei den Ausschreitungen, schreibt der »Völkische Beobachter« am 11. November, »trotz der so berechtigten Wut aller Deutschen, keinem Juden ein Haar gekrümmt wurde, so mag man das in aller Welt der Diszipliniertheit des deutschen Volkes zugute halten«. Die Zahl der Todesopfer, inbegriffen die Zahl der in den Konzentrationslagern Ermordeten, wird auf über tausend geschätzt. In Deutschland brannten fast alle Synagogen oder wurden demoliert, dazu 7500 Geschäfte jüdischer Besitzer zerstört, ganz zu schweigen von den Gemeindebüros und Privatwohnungen. Inge Deutschkron: »Auf den Straßen Berlins war die Hölle los. Mit Äxten, Beilen und Knüppeln hatten SAMänner... die Fensterscheiben der durch ihre Kennzeichnung leicht auszumachenden jüdischen Geschäfte eingeschlagen... Wir wußten schon, daß alle Synagogen von der ›spontanen‹ Volkswut, wie es im Rundfunk geheißen hat, angezündet und niedergebrannt worden waren. Polizei und Feuerwehr hatten untätig dabeigestanden und sich darauf beschränkt, die Schaulustigen von den Brandstellen fernzuhalten.« Zu Ruth Andreas-Friedrich kommt früh um sieben der Rechtsanwalt Dr. Weißmann, gehetzt, geprügelt, mit zerrissenem Mantel und bittet um Hilfe: »Wie Hasen werden wir gejagt.« - »Und die Polizei?« - »Die Polizei schaut zu. Läßt brennen, was brennt, und umkommen, was umgebracht werden soll.« 17
Heinemann Stern sieht morgens die Synagoge in der Fasanenstraße brennen, »durch die Fensterhöhlen und die Kuppel drangen dicke Rauchwolken, die Straße war vollständig von Löschzügen besetzt; aber sie arbeiteten nicht, es war wohl auch nichts mehr zu tun - wenn sie überhaupt etwas getan hatten«. In der Oranienburger Straße angekommen, erblickt Stern den verwüsteten und »völlig ausgeplünderten« Laden eines Zigarrenhändlers. »Wie sorgfältig vorbereitet und organisiert - wie eben alles bei uns.« Heinemann Stern ist der Direktor der Jüdischen Mittelschule für Knaben und Mädchen in der Großen Hamburger Straße. Er biegt um die Ecke: »Die Schule war unversehrt -.« Sie gehörte zum Bereich des Polizeireviers 16. Der »Völkische Beobachter«, das amtliche Parteiblatt, als Beweismittel: »Geräumte Auslagen, zertrümmerte Fensterscheiben und Schaukästen sind die neue Visitenkarte der Judenläden, die bestimmt besser wirken dürfte als der vielfach geforderte, aber niemals angebrachte Hinweis ›Jüdisches Geschäft‹ - Im ganzen Berliner Westen, wie überall auch sonst, wo die Juden sich noch in der Reichshauptstadt breitmachten, ist kein Schaufenster eines jüdischen Geschäftes heilgeblieben.« Das steht dort anderntags, am 11. November 1938, zu lesen. »Zorn und Wut der Berliner, die trotz allem größte Disziplin bewahrten, hielten sich doch in bestimmten Grenzen, so daß Ausschreitungen vermieden und keinem einzigen Juden auch nur ein Haar gekrümmt wurde.« Jedoch über neunzig Tote, mindestens, im ganzen Deutschen Reich zunächst. »Die in den zum Teil allzu prächtig ausgestatteten Fenstern feilgebotenen Waren blieben unberührt, höchstens daß hier und da der eine oder andere Gegenstand durch einen Steinwurf oder eine herabfallende Scheibe beschädigt wurde.« Man muß es zweimal lesen: höchstens, hier und da, der eine oder andere, lauter Ausflüchte. 18
3 Völkischer Beobachter, 11. November 1938 19
Aber nicht nur im Westen der Stadt. In »der Skalitzer Straße, am Görlitzer Bahnhof, am Moritzplatz und am Kottbusser Tor ist keine einzige Scheibe der vielen Judenläden heilgeblieben. Manchem Berliner Arbeiter und mancher Hausfrau ist über Nacht ein Licht aufgegangen, wo der Jude haust«, - also wußten sie vorher nicht, wo sich zu betätigen als »empörte Volksseele«. »Die drei Berliner Synagogen sind in Brand geraten.« Berlin hatte vierzehn. Die privaten Synagogen nicht gerechnet. In angeblich drei »ist Feuer angelegt worden« (sie geben es zu!), »so daß die Inneneinrichtung in Flammen aufging, die Gebäude aber erhalten blieben«. Ruth, die Tochter des Fotografen Abraham Pisarek, hat Schulhefte aufbewahrt. Dort steht unter dem 29. 9. 38 eine Mitschrift. Wenige Wochen vor dem landesweiten Anzünden der Synagogen schreibt die Siebenjährige: »Feuer. Es brennt. Schnell kommt die Feuerwehr. Drei Leute stellen die Leiter auf. Jetzt wird das Dach mit Wasser bespritzt. Nun der Boden. Die Türen und Tore werden geöffnet. Jeder hilft mit. Fast den ganzen Tag bis zur Nacht wird gearbeitet. Leider gibt es einen großen Schaden.« Was das ahnungslose Kind in seiner jüdischen Schule ins Heft schreibt, was der arglose Lehrer nach dem Lehrplan ansagt, es bekommt bald einen anderen Sinn. In Diktaturen, wo es zwar verschiedene Zeitungsnamen, jedoch nur eine zugelassene Zeitungsmeinung gibt, veröffentlicht man manches nur für das Ausland. Das reagierte auf den Novemberpogrom dermaßen empört, daß sich der Reichspropagandaminister selbst äußern mußte. Am Sonnabend, dem 12. November 1938, heißt es in seinem Leitartikel: »Man erklärt« - damit meint er die Auslandspresse -, »die spontanen Reaktionen des deutschen Vol20
Am 9. November 1938 ins Schulheft geschrieben: Ein Gedicht von Paula und Richard Dehmel 21
kes seien durch organisierte Mannschaften durchgeführt worden. Wie wenig Ahnung doch diese Zeilenschinder von Deutschland haben! Wie erst hätten diese Reaktionen ausgesehen, wären sie organisiert gewesen!« Da sie aber in der Tat organisatorisch vorbereitet waren, durch Listen der jüdischen Geschäfte beispielsweise, muß er sich rechtfertigen: »Die Reaktion des deutschen Volkes... wurde weder organisiert noch vorbereitet, sondern sie brach spontan aus der Nation heraus.« Dieser Nation war seit fünf Jahren drastisch abgewöhnt worden, sich öffentlich zu äußern, und schon gar spontan. Die Insassen der Konzentrationslager konnten es bezeugen. Deutsche Zeitungsmeldung. »Berlin, 10. Nov. Wie in allen Teilen des Reiches haben sich auch in Berlin scharfe judenfeindliche Kundgebungen ereignet. An vielen Stellen hat man die Schaufensterscheiben der jüdischen Geschäfte eingeschlagen und die Schaukästen der jüdischen Ladenbesitzer demoliert. Die Waren selbst sind unberührt geblieben... » Unberührt? Am gleichen Tage beschwerte sich Hitlers Wirtschaftsminister Funk bei Goebbels über die angerichteten Zerstörungen. Generalfeldmarschall Göring erklärte: »Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und nicht solche Werte vernichtet.« Am 12. November beschloß eine Konferenz unter Leitung Görings, daß die Juden als »Sühne« für die Ermordung des Diplomaten vom Rath eine Milliarde Reichsmark an den Staat zu zahlen hatten. Auf eigene Kosten mußten die Schäden an ihren Gewerbebetrieben und Wohnungen beseitigt werden. Der Staat beschlagnahmte alle Versicherungsansprüche. Die »Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben« bestimmte, daß kein Jude mehr selbständig wirtschaftlich tätig sein, auch nicht als leitender Angestellter oder als Mitglied einer Genossenschaft arbeiten durfte. 22
Reichskulturwalter Hinkel bestellte den Vorstand des jüdischen Kulturbundes zu sich und teilte mit: »Juden ist künftig untersagt, öffentliche Theater, Kinos, Konzerte und Kabaretts zu besuchen. Der Jüdische Kulturbund hat mit sofortiger Wirkung seine Tätigkeit wieder aufzunehmen.« Der Jüdische Kulturbund war eine Vereinigung, die sich nach dem Judenboykott am 1. April 1933 gründen durfte, durch den rund 8 000 jüdische Schauspieler, Sänger, Regisseure und Musiker arbeitslos gemacht worden waren. Im Kulturbund durften nur Juden Mitglied sein, den geschlossenen Veranstaltungen konnten nur Mitglieder beiwohnen, die sich ausweisen mußten. Theaterkritikern war der Zutritt verwehrt und jegliche Berichterstattung verboten, es sei denn von jüdischen Journalisten für jüdische Zeitungen. Der Jüdische Kulturbund hatte in Berlin 19 000 Mitglieder, im gesamten Reich etwa 70000. Das Theater des Kulturbundes eröffnete in Berlin am 1. Oktober 1933 mit Lessings »Nathan der Weise«. Welches andere Stück hätte besser gepaßt nach der Uraufführung vor 150 Jahren? Ein Jubiläum, das die deutschen Bühnen ignorierten. Der »Nathan« war über hundert Jahre lang »Rückhalt und Hoffnung der deutschen Juden gewesen, die ihre ganze moralische Existenz auf dem Glauben aufgebaut hatten, daß die volle Durchsetzung der Idee, die Lessing in diesem Werke verficht, nur eine Frage der Zeit sei«, schreibt Herbert Freeden, ein Zeitzeuge, in seinem Buch »Jüdisches Theater in Nazideutschland«. Warum die Nazibehörden diesen Kulturbund duldeten? Er sollte dem Ausland zeigen, wieviel Freiheit und Toleranz man den Juden einräumte. Die Konzentrierung aller künstlerischen Aktivitäten erleichterte deren Überwachung, und die Juden wurden geistig-künstlerisch zusammengedrängt; also kulturell »ghettoisiert«. 23
Der Pogrom hatte nicht haltgemacht vor den Mitgliedern des Kulturbundes, vor den Schauspielern und anderen Mitwirkenden. Und nun sollte sofort wieder Theater gespielt werden? Ungezählte waren in Konzentrationslager verschleppt worden. Weil der Kulturbund aber für das beunruhigte westliche Ausland funktionieren mußte, wurden einige Schauspieler sogar früh um drei Uhr aus der Lagerhaft entlassen. Die Juden hatten Theater zu spielen! Man führte das geprobte Stück »Regen und Wind« auf, ein schottisches Studentenspiel. Freeden: »Zu Hause warteten Frauen auf Nachricht von ihren verschleppten Männern und Söhnen; zu Hause saßen Menschen auf den Trümmern ihrer Existenz - und hier im jüdischen Theater gingen auf Befehl die Lichter wieder an.« Viele Zuschauer kamen nicht. Die Geheime Staatspolizei war durch drei Mann vertreten. Nachdem Juden fortan keine Kinos mehr besuchen durften, wurde die Jüdische Filmbühne bedeutsam. Sie konnte deutsche und ausländische Filme zeigen. Sechs Wochen nach der Pogromnacht eröffnete sie mit dem amerikanischen Film »Chicago«. Eine Zeitung, das »Jüdische Nachrichtenblatt« Nr. 11/1938, veröffentlichte dazu eine Rezension, die wir mit den Augen von 1938 lesen müssen. Mit Respekt vor dem ungenannten Autor und dem mutigen Redakteur Leo Kreindler: »Eine Stadt steht in Flammen, und die Feuerwehr schaut untätig zu. Alle Schläuche sind angelegt, die Leitern sind ausgerichtet, die Spritzen stehen in Bereitschaft, aber keine Hand rührt sich, sie zu bedienen. Die Männer harren des Kommandos, aber kein Kommandowort wird laut. Erst als die Stadt, die über 500 Morgen sich ausdehnte, niedergebrannt ist und in Schutt und Asche liegt, ergeht ein Befehl. Die Feuerwehr fährt nach Hause. Böswillige Erfindung? Ein häßliches Märchen? Nein. Die Wahrheit. Und in Hollywood hat sie sich zugetragen...« 24
Untätige Feuerwehrleute? In der Oranienburger Straße nicht! Am Morgen dieses 10. November geht Hans Hirschberg in seine Schule in der Großen Hamburger Straße. Dort erfährt er von Klassenkameraden, deren Schulweg mit der Stadtbahn an der brennenden Synagoge Fasanenstraße vorüberführt, was geschehen ist. Die Schule schließt für diesen Tag. »Abends bekam mein Vater einen Anruf«... Sie fahren daraufhin ziellos mit der Stadtbahn in der Stadt umher, stundenlang.
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»Wenn wir Stadtbahn fahren, Sehn den Häusern wir ins Herz Beieinander hundert Jahre, Kinder werden Weib und Mann Und gehn gräberwärts Und gehn gräberwärts!« Walter Mehring, 1919-1921
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Boykott
Am 24. November 1938 schrieb die Wochenzeitung »Das Schwarze Korps«, das Organ der Reichsführung der SS, daß die Juden durch die ihnen nunmehr auferlegten Zwangsmaßnahmen kriminell werden würden, und zwar »allesamt«. Bei solch einer Entwicklung »ständen wir daher vor der harten Notwendigkeit, die jüdische Unterwelt genauso auszurotten, wie wir in unserem Ordnungsstaat Verbrecher eben auszurotten pflegen: mit Feuer und Schwert. Das Ergebnis wäre das tatsächliche und endgültige Ende des Judentums in Deutschland, seine restlose Vernichtung.« So stand es als Ankündigung der Zukunft in über einer halben Million Exemplaren. Begonnen hatte es längst. Die amtlich geduldete, benötigte und geförderte Judenverfolgung begann sofort nach Hitlers Machtantritt am 30. Januar 1933. Täglich, tagtäglich sind unter dieser Regierung jüdische Menschen gejagt, verfolgt, gequält und ermordet worden. 1. April 1933. Zwei Monate nach Hitlers Machtergreifung boykottierten uniformierte SA-Leute jüdische Geschäfte und vertrieben die Kundschaft. Jüdische Ärzte und Anwälte wurden bedroht, Beamte und Universitätsprofessoren entlassen, jüdische Künstler erhielten Auftrittsverbot. Es gab Mißhandlungen und Morde. Diesen Tag als eigent27
5 James Yaakov Rosenthal
lichen Beginn des zweiten Weltkriegs zu empfinden, wie der Jerusalemer Historiker Herbert Freeden schreibt, ist nicht übertrieben: »Am 1. April 1933 erfolgte die Kriegserklärung der Nazis an die zivilisierte Welt.« Am Vortage erging eine Weisung der Justizbehörde an sämtliche Oberlandesgerichtspräsidenten, Generalstaatsanwälte und Präsidenten der Strafvollzugsämter, in der es unter anderem heißt: »Ich ersuche umgehend, allen amtierenden jüdischen Richtern nahezulegen, sofort ihr Urlaubsgesuch einzureichen und diesem sofort stattzugeben... Besondere Erregung hat das anmaßende Auftreten jüdischer Anwälte hervorgerufen; ich ersuche deshalb, mit den Anwaltskammern oder örtlichen Anwaltsvereinen oder sonstigen geeigneten Stellen noch heute zu vereinbaren, daß ab morgen früh 10. 00 Uhr nur noch bestimmte jüdische Rechtsanwälte, und zwar in einer Verhältniszahl, die dem Verhältnis der jüdischen Bevölkerung zur sonstigen Bevölkerung in etwa entspricht, auftreten. Den Gesamtrücktritt des Vorstandes der Anwaltskammer ersuche ich durch entsprechende Verhandlungen herbeizuführen.« 28
Einer dieser Anwälte war James Yaakov Rosenthal. Er lebte mit seiner Mutter in der Krausnickstraße 19. Die führt von der Oranienburger Straße zur Großen Hamburger Straße und gehörte zum Polizeirevier 16. Nachdem wir uns brieffreundschaftlich verbunden hatten, kam es Ende 1987 in Jerusalem zur erhofften persönlichen Begegnung. Eines Abends bat ich James Yaakov Rosenthal, mir zu erzählen, wie er diesen verhängnisvollen 1. April 1933 in Erinnerung hat. Er war sofort einverstanden: »Am Vortage des Boykott-Schabbat, das heißt am 31. März 1933, war ich als junger Anwalt in dem ZentralZivilgerichtsgebäude in der Nähe des Bahnhofs Alexanderplatz [heute Littenstraße], und jagte von einem Termin zum ändern. Für mich selbst einige wenige natürlich, und für Kollegen, die mich um Terminvertretung gebeten hatten. Mit einem Mal, 10 Uhr 15, und das war von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt [hier zitiert Rosenthal Zeilen aus der deutschen Nationalhymne jener Jahre], schlagartig auf dieselbe Minute abgestellt von höherer Stelle, kamen Scharen von frisch eingekleideten SA-Leuten ins Haus und riefen: Juden und Judenstämmlinge in den Lichthof !‹ Da versammelten wir uns. Und bei manchem wunderte man sich. Aber die Nazi-Herrschaften hatten sich nie geirrt in ihrer Listenzusammenstellung; sie wußten ganz genau, wo die Großmutter oder der Großvater einen Haken hatte. So sahen wir uns versammelt zu löblichem Warten mit dem Präsidenten des Landgerichts I Berlin, Herrn Soelling, geborener Seligsohn, dessen Vater ein führendes Mitglied der jüdischen Gemeinde in Bromberg gewesen war. Sein Bruder Seligsohn fungierte als Rechtsanwalt in Berlin; er selbst gehörte dem Stahlhelmbund der Frontsoldaten an und gebärdete sich als ganz großer Nationalsozialist und, sagen wir, Negation von Judenfreund. 29
Aber das half alles nichts, sie wußten Bescheid, und wir versammelten uns. Manche Sekretärin vom Gericht, Richter, Anwälte, Referendare, Assessoren, alle Rangstufen und Berufszweige der Rechtspflege waren dort versammelt zu Hunderten. Manche von uns, muß ich offen sagen, verloren die Nerven. Es gab sehr, sehr traurige, Szenen. Für mich und für Kollegen. Nach einer Weile erschienen SA-Leute im Lichthof und sagten: ›Wer jetzt reibungslos diesen Gebäudekomplex verläßt und verspricht, ihn nie wieder zu betreten, dem passiert gar nichts. Wir warnen vor irgendeinem Einspruch oder Widerstand!‹ « So las es sich am gleichen Tage im Berliner »8-UhrAbendblatt«: »Heute vormittag drang eine große Menschenmenge in das Amtsgericht Berlin-Mitte und in das Landgericht I ein und verlangte stürmisch die sofortige Absetzung der jüdischen Richter. Zugleich wurden die jüdischen Rechtsanwälte zum Verlassen der Gerichte aufgefordert. Es wurde daraufhin bei den Gerichten Sonntagsdienst anberaumt. Für das Amtsgericht Berlin-Mitte wurden anstelle der jüdischen Richter andere Richter eingesetzt, und für das Landgericht I wurde angeordnet, daß Assessoren vorläufig anstelle der jüdischen Richter amtieren sollen. Die jüdischen Richter und Rechtsanwälte verließen darauf die Gerichtsgebäude, darunter auch der Präsident des Landgerichtes I, Soelling.« Rosenthal erzählte: »Man wußte schon gerüchteweise von den Kellern des Polizeipräsidiums und von SA-Kellern in anderen Stadtteilen und was dort geschehen war, und ich hatte eigentlich schon mit meinem Leben abgeschlossen. Aber als ich auf die Straße kam und im Rücken immer noch kein Schuß fiel, sagte ich mir, und das war rein instinktiv, ich spreche da nicht von einem moralischen Hochstand, sondern es war reiner Instinkt: Es ist zu Ende. Und wenn ich gesund nach Hause komme, zu 30
meiner Mutter, beginnen wir nach dem morgigen Tage mit der Vorbereitung zur Auswanderung. Wohin? Nach Jerusalem! Selbstverständlich, Jerusalem lag in dem damaligen Palästina, aber nach dem alten Berliner Wort ›wennschon, dennschon‹ war mir klar: Mein Ziel ist Jerusalem.« Auf dem Heimweg kam Rosenthal an Häusern mit Anwaltsschildern vorbei. »Manche von den Anwälten kannte ich, manche waren mir persönlich fremd. Ich sprang schnell hinauf in die Büros. ›Wo ist der Chef !?‹ Meistens, die wußten ja noch von nichts, sagten sie: ›Der ist auf dem Gericht. › Benachrichtigen Sie ihn sofort, er hat nicht mehr aufs Gericht zu gehn, wenn ihm sein Leben lieb ist. Ich kann es bestätigen und bescheinigen!‹ Sie sahen mich an, als ob ich übergeschnappt wäre. Ich kam gesund nach Hause. Natürlich war ich in einer Verfassung, die ich keinem wünsche. Und meine Mutter, zitternd und weinend, hatte schon als Gerücht gehört, was sich auf dem Gericht abgespielt hatte, und gab mich gewissermaßen schon verloren. Wir stellten fest, daß in dem Augenblick, als sie die Gerüchte gehört hatte, sie sich instinktiv gesagt hatte: Wir sind hier verwurzelt. Wir haben diesem Staat nicht nur keinen Schaden gestiftet, sondern unsere Familien gehörten zu den treusten Söhnen und Bürgern dieses Staates und dieser Stadt. Aber das hat aufgehört. Wir gehen nach Jerusalem. Am 1. April, frühmorgens, einigermaßen nichtsahnend, ging ich wie üblich morgens sechs Uhr dreißig in die benachbarte kleine Synagoge einer Talmudgemeinschaft zur Andacht. Ich sehe: Vor unserer Haustür steht ein SA-Mann in Uniform. Und ich sehe auch mein kleines Anwaltsschild am 31
Hauseingang, siehe da, es ist braun beschmiert, gekennzeichnet mit einem großen Hakenkreuz. Wie mir dabei wurde... Ich sah den Untergang der Generationen einer alten Welt. Als ich zurückkehrte nach anderthalb Stunden, war der SA-Mann immer noch auf demselben Platz, wie eine Bildsäule, als ob er im Schilderhäuschen wartete, daß er vor dem Kaiser präsentieren kann. Ich ging hinauf zu meiner Mutter und berichtete ihr. Nach dem kleinen Imbiß, gut zubereitet, aber nicht wohlschmeckend, wie man sich vorstellen kann, sagte meine Mutter: ›Nun machen wir unseren üblichen Schabbatspaziergang.‹ Ich sagte: ›Wo denkst du hin! Heute willst du spazierengehen?‹ ›Bist du dir irgendeiner Schuld bewußt?‹ fragte sie. Sie war eine echte peußisch-puritanische Frau. ›Wenn nicht, dann zeige, daß du ein Mann bist! Du ziehst dir wieder deinen guten Rock an! Heute haben wir Juden unseren Schabbat. Den lassen wir uns nicht verderben !‹ Und wir gingen spazieren. Unter den Linden, am Hackeschen Markt, Rosenthaler Straße, zum Bahnhof »Börse«, all diese Gegenden, die ja besät waren mit jüdischen Anwälten, Ärzten, Kleinhandelsläden, Großgeschäften. Überall dasselbe Bild. Das Plakat: Kauft nicht bei Juden! Vor jedem Bürohaus SA-Männer. Die Schilder der Firmen, Anwälte, Ärzte, alle beschmiert mit dem Hakenkreuz.« Mathilde Jacob, die »liebste Mathilde« der Rosa Luxemburg, schreibt am 12. April 1933, noch erschüttert, bedeutungsreiche Sätze an eine Freundin in den USA: »Wir sind gesund und haben uns bemüht, ruhig zu bleiben, soweit man das kann. Meiner Mutter ist es sichtlich besser als mir gelungen, ich konnte in der ersten Zeit kaum laufen. Bei mir setzt sich der Schrecken hauptsächlich in den 32
Beinnerven fest, ich konnte vor Schmerzen und auch sonst vor Aufregung Nächte hindurch nicht schlafen... Viele meiner Leute sind fort, besonders Anwälte, was man ihnen nicht verdenken kann.« Rosenthal berichtet: »Zwei Tage später fingen wir schon an, unsere Vorbereitungen zu treffen, und in ziemlich kurzer Zeit ging das gut, so daß wir schon Ende August Berlin verlassen konnten mit all unserer bescheidenen Habe, und uns nach amtlich bestätigter und bescheinigter Überweisung unserer kleinen Ersparnisse ein Einwanderungszertifikat verschafften. Es ist noch hinzuzufügen, die Polizeibeamten und andere Verwaltungsbeamte, Finanzamt und so weiter — was man alles mit Formularen und Bescheinigungen in dieser Stimmung durchzumachen hatte, war nicht geringfügig, man war auch nicht der einzige - benahmen sich durchweg, ich möchte beinah sagen: ohne Ausnahme vorbildlich, höflich, zuvorkommend und in sehr vielen Fällen mit angedeuteter Sympathie und einem ihnen aufs Gesicht geschriebenen - und das ist wichtiger als Worte Mitgefühl und Bedauern. Interessant ist, was ich auf dem britischen Generalkonsulat erlebte. Palästina war ja Mandatsverwaltungsgebiet von Großbritannien, und alle Papiere und alle Urkunden mußten das britische Generalkonsulat in der Tiergartenstraße passieren. Ich hatte versäumt, oder es war mir nicht gesagt worden, daß eine ganz bestimmte Beglaubigung von einer Bank noch beigebracht werden mußte. Und wir hatten schon alles bestellt, auch die Schiffskarten, es mußte alles schnell abgewickelt werden, wir mußten auch unsere Wohnung verlassen. Ich war recht verzweifelt, daß das Papier noch nicht vorhanden war, so daß der Konsulatsbeamte noch nicht den letzten Stempel draufdrücken 33
konnte. Da sagte er: ›Können Sie mir das auf Ihre Ehre als Rechtsanwalt und unter Berufung auf den als Anwalt geleisteten Diensteid versichern, daß dem so ist, wie Sie es hier in dem Dokument angegeben haben, auch ohne die Unterschrift der Bank?‹ Darauf sagte ich, in meiner Naivität war ich ja immer noch der ehemalige preußische Gerichtsbeamte: Aber das geht doch nicht, ich habe doch schon eine Löschungsurkunde. Ich bin ja nicht mehr Anwalt, und da kann ich mich nicht auf einen Eid berufen, den ich nicht der britischen Krone, sondern dem preußischen Staat geleistet habe. Darauf sagte er: ›Seien Sie doch kein Kleinlichkeitskrämer!‹ Er sprach in seiner Verzweiflung mit mir deutsch. ›Sind Sie wegen eines disziplinarischen oder gar Gott behüte sonstigen Vergehens aus der Anwaltsliste von Ihrer Anwaltskammer gestrichen worden?‹ Sagte ich: Nein! ›Ja‹, sagte er, ›ich weiß doch, warum. Das spricht doch höchstens für Sie, nicht gegen Sie. Also seien Sie beruhigt. Versichern Sie das, ich werde das formulieren, und Sie unterschreiben, und damit ist die Angelegenheit erledigt.‹ Das geschah in wenigen Minuten. Ich bekam die letzte Urkunde, die mir zu einem reibungslosen Empfang hier im Lande diente und zur Grundlage für eine spätere Einbürgerung in Palästina und zur sofortigen Ausstellung eines Reisepasses. Vielleicht war das schwerste der Abschied vom Grabe meines Vaters, der zu unserer tiefen Trauer schon im Jahre 1925 gestorben war. Ich sage immer, und es ist die Wahrheit, ich habe diesen Schmerz nie verwinden können, denn er war auch mein bester Lehrer und Lebenskamerad schon von Kindheit an. Ich habe am 1. April aufgehört, ihn zu betrauern. Und das, glaube ich, besagt alles.« 34
Prozeß
Jener Justizpalast in der Neuen Friedrichstraße, den Rosenthal am 31. März 1933 für immer verlassen mußte, ist nach dem Krieg wiederhergestellt worden. Die Straße trägt den Namen des von den Nazis ermordeten Rechtsanwalts Hans Litten. Das Gebäude dient dem Obersten Gericht der DDR, Stadtbezirksgerichten und weiteren juristischen Einrichtungen. Wer nicht gerade hier zu tun hat, geht vorüber. Oder genießt beim Betreten des Haupteingangs wenigstens einen atemberaubenden Blick auf ein Schmuckstück des Jugendstils: das Haupttreppenhaus mit schlanken Pfeilern, emporenartigen Umgängen mit Balkons, doppelläufigen Treppen. Ein Kunstwerk bis ins Detail der Gitter, Stufen und Fußbodenplatten. Aber hat, wer hier einzutreten genötigt, dafür den Blick? Im Grunde ist das 1896-1904 erbaute Haus mit seinen elf Höfen viel zu schön für seine Zwecke. Ich würde ein Museum daraus machen. Ende Juni 1988 begann hier ein Prozeß gegen fünf Jugendliche. Sie hatten auf dem Jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee insgesamt 222 Grabmäler beschmutzt, beschädigt oder zerstört. In der Nacht zum 31. Januar 1988 waren sie zum erstenmal eingedrungen, zu zweit. Einer hatte eine massive Blumenschale vom Sockel gestürzt. Das machte Krach. Da rissen sie aus. 35
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Am 18. Februar kommen sie zu dritt. Grabsteine umstoßen, möglichst viele, um später »auf dem Hof«, in der Oderberger Straße, wo sie sich regelmäßig treffen, vor den anderen damit prahlen zu können. Am 27. Februar findet in der Großen Hamburger Straße an der Gedenkstätte für die ermordeten Berliner Juden die alljährliche Gedenkkundgebung statt. Zur Erinnerung an die Verhaftungswelle Ende Februar 1943, die sogenannte »Fabrikaktion«. Dieses Mal sind Hunderte erschienen am frühen Sonntagnachmittag. Abordnungen mit Kränzen und Sträußen. So viele wie nie zuvor. Zum erstenmal spricht der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde aus Berlin (West), Heinz Galinski, in der Hauptstadt der DDR. Gemeinsam mit dem Vorsitzenden der hiesigen Jüdischen Gemeinde, Dr. Peter Kirchner. Auf unserm Nachhauseweg erzählt Alfred Etzold, der Verwaltungsdirektor der Gemeinde, auf dem Friedhof in der Schönhauser seien Grabsteine umgestürzt worden. Insgesamt 68, wie sich später zeigt. Einige, und zwar außerordentlich schöne, sind so zerstört, daß man sie kaum wird restaurieren können. In den Zeitungen darüber kein Satz. Es wird vertuscht, weil es solchen Vorfall nicht geben darf. Wer kann das gewesen sein? Natürlich denkt man: Ob unser Buch über die Historischen Jüdischen Friedhöfe in Berlin, in dem die künstlerisch bedeutenden Grabmäler hervorgehoben sind, etwa anregend wirkte? Und wenn die Zerstörung so planvoll aussieht, wie Etzold sagt... Wir hatten es doch 1980 mit unserer Friedhofsbroschüre erlebt. Nach der Veröffentlichung wurde die kupferne Platte mit dem Signet des S. Fischer Verlages vom Grab des Verlegers Samuel Fischer gestohlen. Wer kann auf dem Friedhof in der Schönhauser Allee so viele schwere Steine umstoßen, ohne daß es bemerkt 37
wird? Auf der einen Seite grenzen vierstöckige Mietshäuser an dessen Mauer. Da wohnen viele. Haben die nichts gehört? Sie haben. Alfred Etzold ist später auf der Suche nach Ohren- und Augenzeugen fragend durch diese Häuser gegangen. Man hat geschwiegen und nichts gesehen, nichts unternommen; auch nicht zugeschaut. Sich nicht zum Zeugen gemacht. Ein deutsches Rezept? Seit 1933 bewährt? Auf der anderen Seite des Friedhofs steht ein mächtiger Klinkerbau. Ein ehemaliges Altersheim der Jüdischen Gemeinde. Es fehlt eine Gedenktafel an der Straßenfront neben dem Schild, das uns mitteilt, daß sich in diesem Gebäude die Inspektion der Volkspolizei Stadtbezirk Prenzlauer Berg befindet. Da es vermutlich rund um die Uhr besetzt und bewacht ist, könnte man denken, unüblicher Lärm nebenan müsse auffallen. Es stellt sich heraus, daß die Täter entweder nicht wissen, daß die Polizei in Hör- und Sehweite wohnt, oder es kümmert sie nicht. Sie sind angetrunken. Zwei Tage später sind sie erneut eingestiegen. Wieder unbemerkt. Sie sind zu fünft. Diesmal auf der Suche nach einer Gruft. Aber es gibt keine Gruft auf diesem Friedhof, sondern nur eine Art Schacht, an dessen Gitter eine kleine Tafel ermordete Kriegsgegner ehrt, die sich hier versteckt haben sollen. Die fünf spotten über den Text und grüßen, wie sie es unter sich »auf dem Hof« in der nahe gelegenen Oderberger Straße zu tun gewohnt sind, mit »Heil Hitler«. Auch das bleibt unbemerkt. Geht denn keine Streife mit offenen Ohren am Friedhof entlang? Öfter als sonst? Offenbar nicht, denn am 2. März kommen sie wieder über die Friedhofsmauer. Zu viert. Diesmal soll die Zahl der am 18. Februar umgestoßenen Steine überboten werden. Unter Rufen gegen »die Juden« geht es los. Aber immer, wenn eine runde Zahl er38
reicht ist, hundert zum Beispiel, ruft ein anderer schon: »101«, und da machen sie weiter. Zugleich mit 120 stürzt 121. Sie beschimpfen die Juden. Die mögen sich neue Grabsteine anschaffen. Die Rekordnummer 150 ist noch nicht das Ende. Erst der 151. Stein fällt dem Anführer und Hauptangeklagten aufs Bein. Leider war nach Monaten nicht mehr festzustellen, welcher Stein dieser 151. war. Ich denke, es wird der eines Geduldigen gewesen sein. Eines, der gewartet hat, ob denn niemand von draußen einschritte. (»Einschreiten!«) Einhundertfünfzig Grabsteine schlagen auf Stein und Erdboden, zerbrechen unter dem zählenden Jubel der Täter. Und das hört draußen keiner? So groß ist der Autoverkehr nicht vor Mitternacht. Da wird die Schönhauser Allee so still wie die Hauptstadt. Da konnten die Angeklagten in aller Ruhe auf ihrem Hinweg einen Mann zusammenschlagen, der ihnen keine Zigarette geben wollte und den sie für einen Homosexuellen hielten. Es paßt zusammen: Sie sind gegen Juden, Homosexuelle und Ausländer. Wie ihre Vorbilder. Lange genug hat Eleazar Geduldig unter seinem Stein abgewartet. Es kommt keine Hilfe von außen. Vielleicht deshalb, weil es das nicht geben darf: Schändung jüdischer Gräber. In diesem Land, das den Antifaschismus zu seinem Credo erhoben hatte. Und er muß bewahrt und weitergegeben werden. Es gibt sie aber doch, solche Täter. Noch weiß die Behörde nicht, um wen es sich handelt. Nur Eleazar Geduldig in seinem Grabe. Und weil er hier schon so lange liegt, daß er die Friedhofsschändungen der Hitlerjahre miterlebt, ja, miterlebt hat, und die Vernichtung seiner Schwestern und Brüder - kurzum, weil niemand eingreift von draußen, sagt Eleazar Geduldig, ein Simson eigener Art, seinen Grabstein opfernd, damit endlich Schluß wird mit diesem Miniatur-Pogrom: »Wir müssen es schon selber tun!« und kippt seinen Marmor 39
dem Anführer auf den Fuß. Der schreit, heult laut auf. Fällt das nun endlich draußen und nebenan jemandem auf? Keineswegs. Am 5. März, endlich, berichten die Morgenzeitungen von der Festnahme der Täter. Wie hat man sie erwischt? Drei gehen noch zur Schule. Die liegt dem Friedhof genau gegenüber auf der anderen Straßenseite. Zwei sind Lehrlinge. »Die zuständigen Organe der DDR«, wie es präzise in der ADN-Meldung heißt, haben in jener Nacht nicht zugegriffen. Es gibt keine näheren Angaben; das ist üblich, aber nicht notwendig. Es ist der Staatsführung peinlich, weil es das nicht geben darf, Schändungen jüdischer Gräber und faschistische Parolen. Was schadete es, wenn die Täter durch bewährte Kriminalisten gefunden worden wären. So viele Fingerabdrücke... Und drei sind vorbestraft. Aber, und ich lasse mich gern berichtigen, es ist nämlich nur deshalb herausgekommen, weil die Verwüster damit geprahlt haben. Und das nächste Mal angesagt und dazu eingeladen, zum nächsten Rekordversuch. Ich erbat eine Zuschauerkarte zum Prozeß. Ging hin aus dem Beweggrund: Ich wollte sehen, wie solche aussehen. Was haben sie für Gesichter? Aber, ach, da erschienen, von fünf Offizieren geleitet, fünf adrette Knaben. Mit gut geschnittenem Haar, richtig »nette Jungen«. Und statt auszusagen: »Wir haben uns untereinander mit ›Heil Hitler‹ begrüßt«, erklären sie: »Wir haben den Hitlergruß ausgeübt«, und waren kaum imstande, ihn vor dem Richter wenigstens anzudeuten. An einem Tage der Beweisaufnahme waren unter den geladenen Zeugen zwei ihrer Kumpel. Die sahen zum Fürchten aus. Waren schwarzschwarz gekleidet, wie es ihre Mode gerade vorschrieb, und trugen Frisuren, für 40
die ich keine Bezeichnung kenne, steilschwarz, hochgekämmt in der Mitte, ausrasiert zu beiden Seiten. Aber das waren zwei Ordentliche! Zwei, die zu diesen anderen auf der Anklagebank gesagt hatten, sie würden nicht mitmachen. Es sei falsch und Scheiße, Nazis als Vorbild zu nehmen und jüdische Gräber zu demolieren. Warum hat unser Fernsehen diese beiden Jugendlichen nicht vorgeführt? Ist denn nun endlich begriffen worden, daß es nicht die Kleidung ist, nicht die Frisur, nicht das Äußerliche, sondern das, was innen lebt an Menschlichkeit? Das zu erreichen, bekommt die Schule zehn Jahre Zeit. Die Eltern noch länger. Aber von diesen fünfen auf der Anklagebank hatte nur einer Vater und Mutter. Die anderen drei noch je die meist überforderte, hilflose, alleinerziehende Mutter; der letzte einen Vater mit nichts als Leistungssport in Kopf und Invalidengliedern. Diese fünf waren geistig und emotional verwildert. Sie waren bindungslos, vom dürftigen Elternhaus abgesehen. Ihre vormaligen Berufswünsche: Einer wollte Unteroffizier werden, ein anderer Polizist. Sie suchten ihren Weg ins Leben in Richtung Abgrund. Und wenn man sie sah und ihnen zuhörte: Vor fünfzig Jahren hätten sie prima SS-Leute abgegeben. Sie sind ein Produkt unserer Gesellschaft. Es war vielleicht eine raffinierte Ausrede der Angeklagten, daß sie das Fernsehen aus dem nahen Westen verantwortlich machten, zum Beispiel einige Kriegsfilme. Die habe ich auch gesehen, sie aber als Klage empfunden, nicht immer als Anklage. Diese Jungen jedoch, ohne Krieg aufgewachsen, was sie nicht zu schätzen wissen, wieso auch, hatten sich herausgeklaubt die rollenden Panzer und den Geschützlärm, den sie längst aus sowjetischen Streifen kannten, die ihre Schule ihnen empfohlen und vorgeführt hatte. Was war haftengeblieben? Was hatte ihnen gefallen an den Filmen? »Mannhaftigkeit, 41
Stärke und Kameradschaft.« Nun ergriffen sie Partei, fühlten sich plötzlich als Deutsche, als »Deutsche«. Als etwas Besonderes. Aber wer kann denn für seinen Geburtsort, für das jeweilige Land? Der Nationalstolz ist der blödsinnigste, aber am schwersten überwindbar. Von politischen Sendungen des westlichen Fernsehens hatten sie mangels intellektueller Bereitwilligkeit nichts gesehen. Einer hatte manche »Tagesthemen« betrachtet, gab auch »Kennzeichen D« zu, bei näherer Befragung. Letztgenannte Sendung, sagte der Vorsitzende, ein in seiner korrekten Verhandlungsführung sympathischer Mann, zeichne sich besonders aus, wie ihm berichtet worden sei - vielleicht sah er sicherheitshalber nicht fern durch Beiträge zur Herabsetzung der DDR. Nun hätte es eine Sternsekunde geben können. Die berühmte Stecknadel wäre zu Boden gefallen, hörbar; heutzutage fällt vielleicht ein Chip. Wenn einer der Angeklagten gerufen hätte und den Zeigefinger benutzt: »Dort sitzt der Herr Knobloch. Den habe ich im letzten Frühjahr in der Sendung ›Kennzeichen D‹ gesehen!« In der Tat. Wie drei andere Schriftstellerkollegen Strahl, Lewin, Holtz-Baumert — hatte ich rund zwölf Minuten bekommen für eine Straße meiner Wahl. Hatte die Große Hamburger genommen, die Toleranzstraße, und alles sagen können über Juden und Christen, deutsche Vergangenheit und Zukunft, was ich wollte. Und falls seine Geschichtslehrerin ihn nicht dazu aufgefordert haben durfte zur Betrachtung, dann hätte jener die Sendung doch auf eigene Entscheidung ansehen können. Aber vielleicht ist in jungen Jahren »Geschichte« nur ein Schulfach und kein notwendiges Erleben.
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Toleranzstraße
Diesen Namen gibt es nicht als Straßenschild. Im Stadtplan muß man unter Große Hamburger Straße suchen. Sie ist eine der zahlreichen, niemals vornehmen Straßen im alten Berlin; schon 1740 gepflastert und nicht länger als vierzig Hausnummern. Jenseits der mittelalterlichen Stadtbefestigung gelegen, auf deren Wall die Stadtbahn rollt. Ein uralter Heerweg, der über Neuruppin nach Hamburg führte, immer der Nase nach. Damals war alles unbebaut. In Sehweite sandige Hügel und ein paar Windmühlen. Man braucht etwas Phantasie auf Geschichtspfaden. Welche Straße wäre keiner? Wenige Schritte bis zu einem breiten Eingang zu einer städtischen Grünanlage, an dem man vorbeigeht, wäre da nicht eine Figurengruppe, wäre er nicht so ungewöhnlich und auffällig breit. Alte Bäume und ein paar Bänke. Auf diesem Gelände, dessen Umfang sich beim Nähertreten offenbart, lag der älteste jüdische Friedhof Berlins. Eingerichtet 1672, als nach einhundertjähriger Unterbrechung wieder Juden in dieser Residenz wohnen durften. Aus Wien hergeführte, dort sorgfältig nach Handwerkskunst und Gewerbe ausgelesene Familien, mit denen die neuzeitliche Geschichte der Berliner Juden begann. Ein Friedhof? Wo sind die Gräber? Mißtraut den Grünanlagen. 43
7 Gräber auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof, um 1945/46 44
8 Das jüdische Altersheim vor der Zerstörung 45
Die Geheime Staatspolizei hat diesen Friedhof umgebracht wie Millionen Menschen. Dreitausend Grabsteine sind verschwunden. Einer steht, aber er ist neu; wurde nach Kriegsende gesetzt etwa an der Stelle, wo Anfang Januar 1786 Moses Mendelssohn begraben worden war, wo Anfang September 1929 der Berliner Magistrat den 200. Geburtstag des Menschenfreundes ehrte durch einen Kranz mit der Aufschrift: »Ihrem großen Mitbürger die Stadt Berlin«. Vermutlich ist es genau die Stelle, wo das Grab lag. So gründlich geschah die Verwüstung. Er war als Vierzehnjähriger eingewandert, wurde Buchhalter und Journalist, Philosoph, Schriftsteller, Aufklärer, der die kulturelle und bürgerliche Emanzipation der Juden in Preußen verfocht und einleiten konnte. »Herr Moses« nannten ihn seine Freunde Lessing und Nicolai. Er war Bibel-und Shakespeare-Übersetzer, brachte es zum »Schutzjuden« unter König Friedrich II., jedoch nie zum Mitglied in dessen Akademie der Wissenschaften, obgleich hineingewählt. So weit reichte die legendäre Toleranz unter Friedrich nie. Mendelssohn blieb zeitlebens Seidenkaufmann. Immer häufiger bringen Besucher einen kleinen Stein mit für sein Grab. Immer seltener werden die von spielenden Kindern oder dem Ordnungszwang Unwissender entfernt; es hat sich herumgesprochen, daß man solchen Gruß statt Blumen auf jüdische Gräber legt. In den letzten Kriegstagen 1945 wurden am Rande des Geländes Soldatenleichen unter die Erde gebracht, aber auch Menschen aus der Nachbarschaft, die es getroffen hatte beim Wasserholen oder Anstehen nach Brot. Und einige sind darunter, die ermordet worden sind, weil sie die weiße Fahne zeigten. Wie viele kamen namenlos ins Massengrab? Alle Opfer ehrt eine kleine Tafel in der Mauer. Solche Begegnung mit deutscher Vergangenheit in einer harmlos unauffälligen Straße? 46
Neben dem Bürgersteig eine Rasenfläche. Mit einem Gedenkstein. An dieser Stelle befand sich das erste Altersheim der Jüdischen Gemeinde. Deshalb ist der Eingang zum ehemaligen Friedhof so breit. Hier stand ein Gebäude. 1942 verwandelte die Gestapo es in ein Sammellager. 55 000 Berliner Juden vom Säugling bis zum Greis wurden von hier verschleppt nach Theresienstadt und Auschwitz und bestialisch ermordet. (Und da wagst du, von Toleranzstraße zu reden?) Daneben ein mehrstöckiger Bau vom Anfang unseres Jahrhunderts. Heute eine Berufsschule für Industriekaufleute, die nicht nach Moses Mendelssohn benannt worden ist, obwohl man hätte wissen oder nachschlagen können, daß er Mitbegründer der ersten jüdischen Freischule gewesen ist, in der auch christliche Schüler und Lehrer zugelassen waren, bis nach den sogenannten Befreiungskriegen dieser tolerante Zustand 1819 verboten wurde. Die jüdische Knabenschule erhielt 1863 einen Neubau, hier, in dieser Straße, wo seit 1906 dieses denkwürdige Schulgebäude steht. Über dem Eingang in Stein gemeißelt und deutlich zu lesen die alte Inschrift: »Knabenschule der jüdischen Gemeinde«. Nachdem 1942 sämtliche jüdischen Schulen verboten worden waren, wurde dieses Haus zum Ort des Schreckens und der Tränen. Die zur Deportation aus ihren Wohnungen abgeholten alten Menschen erlebten auf dem Weg in die Todeslager in dem Schulhaus, das nicht wenige von ihnen an Kindertage erinnerte, ihre letzten Berliner Stunden. So ist der Name »Große Hamburger« zum Inbegriff des Sammellagers geworden »und in dieser Bedeutung in die jüdische Geschichte eingegangen« (Hermann Simon). Auf dem heute steinernen Vorplatz des Schulhauses stand früher als augenfälliger Mittelpunkt eine Büste Mendelssohns. Sein Denkmal vor seinem Werk. Enthüllt am 15. Februar 1909. Kein zufälliges Datum, sondern der 47
128. Todestag seines Freundes Lessing. Nazis steinigten dieses Antlitz, bis es zerbrach. Herr Moses kehrte zurück. Zwar ließ sich die Büste, die Rudolf Marcuse geschaffen hatte, nicht kopieren, aber Gerhard Thieme schuf ein Porträtrelief, das mit einer Gedenktafel am 18. März 1983 enthüllt wurde. Es war auch kein zufälliges Datum, sondern der 250. Geburtstag seines Freundes Friedrich Nicolai. (Wem fiele bei diesem Datum nicht der 18. März 1848 ein, der Tag des demokratischen Aufbegehrens nach Presse- und Meinungsfreiheit und anderen elementaren Menschenrechten!) Dabei wiederholte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde einen Satz, der bereits 1909 an dieser Stätte gesprochen worden war: »Das Denkmal, es wird den Schritt manches Vorübergehenden anhalten.« Ein weiterer Satz aus der Rede von 1909 bestimmt unseren Weg. »Die Große Hamburger Straße, sie wird im Volksmunde die Toleranzstraße genannt, weil Wohltätigkeitsanstalten und Beerdigungsplätze der verschiedenen Konfessionen in ihr sich befinden.« Bis heute. Der jüdische Friedhof grenzt an den der evangelischen Gemeinde. Deren Sophienkirche entstand durch Eingaben. Immer mehr Berliner wohnten um 1700 in der sich vergrößernden Spandauer Vorstadt und baten den Magistrat um ein eigenes Gotteshaus. Gleichzeitig wandten sie sich an die frommen Wünschen gern geneigte Königin Sophie Luise. Sie spendete 4000 Taler und legte 1712 den Grundstein. Jedoch reichte das Baugelände nicht. Da schenkte die jüdische Gemeinde ein Stück ihres Friedhofes, das noch brach lag - so begannen gutnachbarliche Beziehungen. Bei der Einweihung der innerhalb nur eines Jahres erbauten Kirche fehlte die hohe Patin. König Friedrich Wilhelm L, der Sammler lebender Riesensoldaten, konnte seine Stiefmutter nicht leiden. Er ließ daher das turmlose 48
Haus in Spandauische Kirche umtaufen und befahl, einen Turm zu bauen. Er hatte auch für hohe Türme eine Schwäche. Der im Grundriß quadratische, rund 69 Meter hohe, um 1977 restaurierte Turm der Sophienkirche gilt als der schönste Barockturm der gesamten Stadt Berlin. Kaum war der König endlich tot, da belebte der Volksmund den alten Namen: Sophiengemeinde, Sophienfriedhof, Sophienkirche, und vor rund 150 Jahren wurde aus der Kirchgasse die Sophienstraße. Die mündet in die Große Hamburger. Als man 1771 in der Kirche Grabgewölbe anlegte, half den Maurern ein Lehrling namens Zelter. Später brachte er es zum Meister. Im Baugewerbe. Und als Direktor der Singakademie. Zelter förderte den jungen Enkel des Herrn Moses: Felix Mendelssohn Bartholdy, und war in engster Altersfreundschaft verbunden mit Goethe, der Berlin nicht sehr schätzte, sich aber gern über dortige Neuigkeiten unterrichten ließ. Zelter liegt hinter der Kirche begraben. Deren Hof enthält bemerkenswerte Tafeln und Gräber. Man sieht Kinder spielen. Sie bauen mit und auf Sand, der Zufall will's, gleich neben Rankes ansehnlichem Grab, der als Historiker die Geschichte so schreiben wollte, wie sie »eigentlich gewesen ist«. Das möchte mancher. In diesem evangelischen Kindergarten steckt Kulturtradition. 1885 richtete die Sophiengemeinde eine der ersten Kleinkinderbewahranstalten ein. Ein von Lächeln begleitetes Wort. Endlich ein Name ohne Grauen. Wer sich umsieht, müßte das erhaltene Portal des Wohngebäudes bemerken. Darüber wächst aus edlem Stein geformt das Kreuz aus und auf der Basis. Die nicht vom Staat getrennte Kirche in ehemaliger Selbstbehauptung. Hohe Häuser, die Nummern 29 bis 31. Um 1905 mit Verstand angelegt, damit sie in der Mitte den Blick freigeben für die Barockkirche. Fünfgeschossig, das Wort ist 49
mehrdeutig, denn ihre Fassaden sind von Einschüssen zerlöchert, kugelhageldicht bis in die oberen Stockwerke. Das ist die Spur des zweiten Weltkrieges, als er durch die Krausnickstraße, die gegenüber mündet, in die Große Hamburger drang. Man dürfte diese Häuserwände niemals glattstreichen, nie schön verputzen, denn die Kinder und Kindeskinder müßten hierhergeführt werden. So sieht der Krieg aus! (Wir hoffen schließlich, daß sie nie einen mit erdulden müssen. ) So sieht der Krieg aus, wenn er in die Stadt zurückkehrt, aus der er losgesandt worden ist. Ein kleines Stück der Häuserfront, ein kleines, hinter einem Baum ungünstig gelegen, so daß es nicht den Blick des Vorübergehenden anzieht, trägt einen leeren Rahmen, der einige Einschüsse umgibt und mit dem Wort PAX mahnt. Es mag ein Anfang sein. Krausnickstraße. Diese Verbindung wurde erst 1861 durch ein Grundstück gezogen, das der SchutzmannsPensions-Zuschußkasse gehörte. (Sogar im Zuschuß steckt das Schießen. ) O du deutsche Sprache. Neu angelegte Straßen brauchen einen Namen. Die Einwohner, Anlieger, Abräumer und andere Mitdenker schlugen ungefragt und unbefugt vor, die neue Straße nach Humboldt zu benennen oder nach Schinkel. Den König von Preußen interessierte das nicht. Die Straße mußte »zu Ehren des Oberbürgermeisters Krausnick« heißen. Warum nicht? Doch wenn man nachsieht, unnachsichtig, siehe da, ein gemeinsames Erlebnis verband diesen König und Krausnick. Beide waren im März 1848 vor dem Berliner Volk getürmt. Als die Straße seinen Namen erhielt, lebte Krausnick noch. Er wurde Ehrenbürger. Er war fast sechsundzwanzig Jahre Oberbürgermeister gewesen, mit Unterbrechungen; hat auch viel Nützliches vollbracht. Ein korrekter, stets obrigkeitshöriger Beamter, der in jenen Märzta50
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gen versäumt hatte, was ihm im Mai 1848 ein Flugblatt, dessen Inhalt nie altert, in jiddisch-deutscher Sprache vorhielt: »Sie haben immer gekonnt schön reden, aber Sie hätten gemußt schön handeln. Sie haben immer nur geblinzelt nach oben, und unten ist für Sie alles gewesen finster. Sie sind gewesen taub für die Stimme der Zeit.« Ein publizistisches Glanzstück, gegen das Krausnick später klagte. Es gab acht solcher Briefe an Berlin, denen größter, nachhaltiger Publikumserfolg beschieden war. Nur kann leider niemand genau sagen, ob der Journalist Louis Weyl sie schrieb oder Samuel Loewenherz, der Verleger. Man bekam 1848 solche Flugblätter gleich um die Ecke zu kaufen in der Sophienstraße 5. An der Ecke Sophienstraße/Große Hamburger stand im März 1848 eine Barrikade. Dort, wo heute der Biergarten beginnt. Gedenktafel? Gibt es keine. Noch nicht. Auch nicht für die drei Märzgefallenen. Der Buchbindergeselle Mengel wohnte Große Hamburger Nummer 8, der Arbeitsmann Bauerfeld in der Nummer 30 und der Privatsekretär C. W. Blumenthal in der Nummer 16, wo heute das Cafe ist mit dem kleinen Vorgarten. Im steinernen Bogen über der Haustür ein altes Relief, das immer noch niemand zuverlässig deuten konnte. Vier Kindlein. Wie Puppen an eine dicke Girlande gelehnt. Wie zum Tanz der kleinen Schwäne in »Schwanensee«. Sie halten einander an den Händen und sich damit fest. Jedes ist für die anderen da, erfährt Gemeinschaft, bietet Halt, steht damit nicht allein und auf sich angewiesen. Zeigt das kaum beachtete Relief etwa die Idee dieser Straße? Gegenüber an der Fassade zwei große Engel im Geschmack der Jahrhundertwende, zum Beflügeln. Unten hat das Burckhardthaus sein Büro, eine mit Aus- und Weiterbildung befaßte Einrichtung der evangelischen Kirche. Ihr Name erinnert an einen Pfarrer, der vor hundert Jahren Mädchen betreute, die vom Lande und aus der Klein52
Stadt in die Hauptstadt kamen, um als Dienstbote oder Arbeiterin das Glück zu suchen. Manche landete im sogenannten Freudenhaus. Pfarrer Burckhardt paßte vorher auf die ahnungslosen, vertrauensseligen Landmädchen auf, so gut er konnte. Wer kennt ihre Lebensläufe? Wer weiß etwas über Napoleons Soldaten, die 1806 in der Sophienkirche lagerten? Um die Jahrhundertwende 1800 hatte ein Pastor Schultz in dieser Kirche viele Juden getauft, die damit die Eintrittskarte zu manchem Staatsamt erlangten. 1848 bot dies Kirchenhaus nicht nur Barrikadenkämpfern Zuflucht, sondern diente danach als Wahllokal für die Nationalversammlung. Da hätte Fontäne Stoff gefunden. Er lernte in der Großen Hamburger ein kleines Mädchen kennen, die Adoptivtochter des Kommissionsrats Kummer, die er fünfzehn Jahre später heiratete. Emilie. Fontäne wohnte damals als junger Mann bei Onkel und Tante im Parterre eines Neubaus. Sein Zimmer, »das so feucht war, daß das Wasser in langen Rinnen die Wände hinunterlief«, lag in einem »und von dem alten Judenfriedhof abtrennenden Seitenflügel«. Deshalb nehmen manche an, der junge Fontäne habe in der Nummer 25 gewohnt. Doch den alten Fontäne täuschten die Erinnerungen, als er diese Zeilen in sein Buch »Von Zwanzig bis Dreißig« schrieb. Er hatte auf den Sophienfriedhof geblickt, denn er wohnte im Doppelhaus Nr. 30/30 a, das damals — Ostern 1835 — ein Neubau gewesen ist. »Lauter gescheiterte Leute hatten hier, als Trockenwohner, ein billiges Unterkommen gefunden.« Aus Neubauten muß die Nässe herausgewohnt werden durch Familien, die dafür kaum oder gar keine Miete zahlen, höchstens mit ihrer Gesundheit: »Arme Künstler, noch ärmere Schriftsteller und bankrotte Kaufleute«, an der Kassenprüfung »gescheiterte Bürgermeister aus Kleinstädten«, verkommene Adlige. Dazu Alma, »eine 53
kleine, sehr wohlgenährte Person mit roten Backen und großen schwarzen Augen, die mit seltner Stupidität in die Welt blickten. Ihre Hauptschönheit und zugleich auch das Zeichen ihres Berufes war eine mit minutiöser Sorgfalt gepflegte Sechse, die sie glatt angeklebt zwischen Ohr und Schläfe trug.« Vater Fontäne, als er seinen Sohn besuchte, erkannte sachverständig sofort Alma als öffentliches Mädchen. Solche täuschten gern mit dem Familienstand »Witwe« die Sittenpolizei. 1901 nennt das Adreßbuch im Hause Nr. 34 unter sechzehn Mietern zehn Witwen. Von Beruf? Oder war der Tod so unbarmherzig? Die Witwe Hunold unterhält ein Sargmagazin. Jedem Krankenhaus sein Gegenüber. 1854 eröffnete die katholische St.-Hedwigs-Gemeinde ihr Krankenhaus, geleitet von den »Barmherzigen Schwestern von der Gesellschaft des heiligen Karl Borromäus«. Schon 1848 hatte es eine kleine Krankenstation gegeben, in der im März Revolutionäre fragten: »Mit wem haltet ihres?!« Oberin Xaveria Rudier antwortete: »Wir pflegen eure Brüder und Schwestern. Wir halten es mit unseren Armen und Kranken.« Das war Auskunft genug. Das Haus füllte sich mit Verwundeten. Eine Ehrenwache schützte den Eingang. 1938 waren es Angehörige des Pflege- und Ärztepersonals des St.-Hedwigs-Krankenhauses, die verhinderten, daß die Insassen des jüdischen Altersheimes durch halbwüchsige Hitlerjungen bestohlen wurden. 1881 wurde das Krankenhaus erweitert. Der Ginkgo auf seinem Hof wird kaum jünger sein. »Nimmt Kranke aller Konfessionen auf«, hieß es vor hundert Jahren in einem Stadtführer. Das St.-Hedwigs-Krankenhaus grenzt an das Grundstück der Neuen Synagoge und an die »Jüdische Kranken-Verpflegungs Anstalt« (heute Max-PlanckOberschule), gleich um die Ecke in der Auguststraße. Dort gab es siebzig Betten »für Kranke (auch christlicher Konfession)«. Toleranzgegend. 54
Die Große Hamburger endet dort, wo sie amtlich mit der Hausnummer 1 beginnt und gegenüber die 40 zeigt. In dieser früheren Nummer 40 lebte Baruch Zeisel, bis er 39jährig im Konzentrationslager Buchenwald ermordet wurde. Wer hier die Auguststraße überquert, gelangt auf einen Platz mit erhöht gelegener Grünanlage. Koppenplatz. Benannt nach einem Stadthauptmann und Ratsherrn, der vor gut dreihundert Jahren das unbebaute Gelände erwarb und der Armenverwaltung schenkte, damit für alte Frauen ein Wohnhaus gebaut werden konnte und ein Armenfriedhof eingerichtet. Koppe ließ sogar sich und seine Familie dort beisetzen, am heutigen Koppenplatz. Das prunkvolle Grabmal, dessen Säulenfassade noch steht, setzte die Stadt dem Wohltäter ein Jahrhundert später. So mündet die Toleranzstraße in einen aus Nächstenliebe geborenen Platz (die hier auch im November 1917 durch eine Antikriegsdemonstration manifestiert wurde). In naher Zukunft soll auf diesem Platz ein Mahnmal stehen zum Gedenken an die während der Naziherrschaft vertriebenen und getöteten jüdischen Berliner. Gegenüber der Ecke Sophienstraße, wo Neubauten mit Läden die alte Straße verjüngen und Kriegslücken schließen, hämmerte vor zwanzig Jahren weit hörbar ein Steinmetz auf diesem enttrümmerten Stückchen Stadt. Ein Berliner Original. Er hatte gegenüber dem St.-Hedwigs-Krankenhaus einen winzigen Laden mit allerlei Krimskrams im Fenster. An der Tür das Foto seines Sohnes, den ihm der Hitlerkrieg genommen hatte. Das stand dort geschrieben als Friedenskundgebung eines einzelnen, Betroffenen. Dort kann man heute einem Gitarrenbauer bei der Arbeit zuschauen. In der Sophienstraße gibt es mehrere solcher handwerklichen Spezialisten. Sie arbeiten in Häusern, die seit ihrer Entstehung im wesentlichen erhalten blieben 55
und in den letzten Jahren nicht nur verputzt, sondern bis in ihre Innenhöfe saniert und erneuert worden sind, wie zu sehen, wenn man durchs Tor geht. Die sanitären Anlagen nicht zu vergessen, früher »Klosett auf dem Hof«. Nachbarschaft. 1848 wohnten in der Großen Hamburger Straße Nr. 38 der Blutegelhändler Bellmann und der Nachtwächter Beyer. In der Nummer 16, das Haus gehörte der Postsekretärswitwe Stolle, gab es je einen Tischler, Schneider, Büchsenmacher, Musiklehrer, Papierhändler, Kornmesser, prinzlichen Diener und Postschirrmeister- das Postfuhramt mit seinen Ställen lag nahebei. Vor hundert Jahren fand man sehr viele kleine Fabriken: Mineralwasser, Wäsche, Farben, Treibriemen. 1901 in den Häusern 18/19/20: eine Privatklinik, Kur- und Badeanstalt »Monbijou«, Poliklinik, Gewehrfabrik. Ferner die 1818 gegründete Luxuspapierfabrik C. Schauer Nachfolger (Knallbonbons, Oblaten, Bonbon-Einwickelpapier). - 1914: Verband und Arbeitsnachweis der Gastwirtsgehilfen mit ihrem Zentralorgan »Der Gastwirtsgehülfe«, gewerkschaftsähnliche Interessenverbände, auch für Café-Angestellte. 1943 unterhält der Caritas-Verband ein katholisches Jugend- und Lehrlingsheim. Und was geschieht gegenüber? Für die Häuser Nr. 26/27 ist der Eigentümer »ungenannt«. Er heißt Hitler-Himmler-Eichmann-IG- Farben und andere. 1937 stand noch als Eigentümer: »Jüdische Gemeinde«. So ist die Endlösung im Berliner Adreßbuch nachzulesen. »Größtes Spielwarengeschäft der Welt/19 Schaufenster« annoncierte Bernhard Keilich an der Ecke zur Oranienburger Straße. Die ist vom Krieg und Nachkrieg bis auf weiteres planiert. Keilich stellte Puppen und Spielwaren in eigener Fabrikation her. Seine Anzeige im »Großberliner Kalender 1913« zeigt als Silhouetten weder Elefant noch Puppenmutter, sondern ein Schilderhaus mit 56
Posten. Gehobenen Beines nähert sich die Wachablösung. Deutsche Misere kündigt sich gern vorher so an. Wer lebt heute in dieser Straße? Welche Berufe? Aber es gibt kein Adreßbuch mehr. Und wenn jemand durch die Häuser ginge, so herumfragend, der käme wohl nicht weit. Wir verlassen diese Straße nicht ohne den Satz, den der vielgeehrte, oft gedemütigte, gütige Weise Moses Mendelssohn als Motto seines Daseins in manches Stammbuch schrieb. Zum Weitersagen steht es am Schulhaus neben seinem Bildnis: »Nach Wahrheit forschen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das Beste tun.«
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Merkzahlen?
Ruth Gross hat Erinnerungen an ihren Vater aufgezeichnet. Abraham Pisarek (1901-1983) war ein namhafter Fotograf. »Er überlebte als Zwangsarbeiter in Berlin, weil er in einer sogenannten Mischehe lebte.« Keine »glücklichen Zufälle«, wie es manchmal heißt, sondern seine nichtjüdische Ehefrau Bertha hat ihn, weil sie sich nicht von ihm scheiden ließ, vor Auschwitz bewahrt und sein Leben gerettet. »In den Jahren der Verfolgung war er in der Zwangsarbeit einer, der seinen Leidensgenossen immer wieder Mut machte, Hoffnung, Glauben ans Überleben und an die Unzerstörbarkeit des Judentums zu vermitteln vermochte. Auch uns Kindern gab er diesen festen Glauben mit in der Zeit, als wir den Stern tragen mußten.« Die Familie wohnte in Reinickendorf, einem nordwestlichen Berliner Bezirk. Dort wurde ihr gekündigt, weil die Verwaltung der Siedlung »ihren Mietern nicht mehr zumuten konnte, mit Juden in einem Haus zu wohnen«. Daher zogen die Pisareks in die Oranienburger Straße 37, Hof, Seitenflügel, 4 Treppen. In die Nähe ihrer Gemeinde, in die Nachbarschaft von Synagogen, Schulen, Kindergärten und Rabbinerseminar. Nahebei das Jüdische Museum, die Bibliothek, ein Krankenhaus und die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, für die es heute eine Gedenktafel an ihrem einstigen Gebäude in der Tucholskystraße gibt. 58
Ruth Gross: »Am Morgen nach der Kristallnacht ging mein Vater mit mir an der Synagoge vorbei, auf dem Bürgersteig lagen Berge von zusammengekehrten Scherben, Bibeln und Gebetbüchern. Ich wollte eines davon aufheben, weil es eine Sünde ist, solche Bücher in den Dreck zu werfen, aber mein Vater zog mich erschrocken zurück. Ich konnte es nicht fassen - ich war damals sieben Jahre alt. In der Schule hatte man uns beigebracht, daß man ein heiliges Buch, wenn es versehentlich vom Pult gefallen war, küssen mußte, gleichsam um das Buch, in dem Gott wohnt, um Verzeihung zu bitten. Hier lagen sie im Dreck, und mein Vater selbst hinderte mich daran, etwas zu ihrer Rettung zu tun. Er kannte die Gefahr, die um uns herum lauerte, während ich erst langsam zu begreifen begann. Mein Vater wollte bei diesem Gang Augenzeuge sein, nicht nur der Verwüstungen, sondern vor allem der Reaktionen der nichtjüdischen Bevölkerung.« Da haben wir (endlich) einen Augenzeugenbericht. So hat es an jenem Tag dort ausgesehen. Zusammengekehrte Scherben und beschmutzte Bücher. Es hatte Verwüstungen gegeben. Aber das Gebäude brannte nicht aus. Wenn wir uns das auf dem alten Stadtplan besehen und das Adreßbuch zu Hilfe nehmen: Falls die Synagoge so gebrannt hätte wie beabsichtigt, hätten die benachbarten Häuser gleichfalls Feuer gefangen. Das waren jüdische Häuser. Das Museum, die Gemeindeverwaltung, das Krankenhaus. Vielleicht hätte man diesen Block gern weggebrannt gesehen, amtlicherseits, und geschädigten Nichtjuden ihren Schaden ersetzt. Das verhinderte ein Polizist, der kein Naziparteimitglied war. Als 1988 über den beherzten Reviervorsteher in der »Wochenpost« geschrieben stand, kam ein Leserbrief aus Magdeburg. Absender: Kurt Zierau. Er hatte die »Po59
gromnacht persönlich miterlebt«. In Magdeburg. »Ich war zu der Zeit als junger Berufsfeuerwehrmann bei der Magdeburger Berufsfeuerwehr. Unsere Hauptwache lag genau gegenüber einem jüdischen Hotel und einer Gaststätte in der Brandenburger Straße. Um 22 Uhr war bei uns Schlafenszeit. Um 22. 30Uhr ungefähr ein furchtbares Geschrei von Menschen und Scheibenklirren. Wir sind raus und haben das mitansehen müssen, was die SS mit diesen Menschen angestellt hat. Wir haben heimlich noch viele jüdische Bürger verbunden - heimlich - denn wir hatten auch schon unter uns welche, vor denen wir uns vorsehen mußten.« Der lauernde Nebenmann. »So etwas prägt sich so ein, daß man das nicht vergessen kann.« Kurt Zierau hat dieses Erlebnis nicht vergessen. »Wenn ich das meinen Kindern und meiner Enkelin erzähle, die verstehen das gar nicht, daß Menschen an Menschen so etwas machen konnten. Das mußte ich mal loswerden.« Kurt Zierau, der ehemalige Brandmeister, ist 76 Jahre alt, als er diesen Brief schreibt. Kurzum, mir scheint, Wilhelm Krützfeld hat nicht nur die schönste Synagoge der Stadt, sondern einen Häuserblock gerettet. Davon hatte ich keine Ahnung, als mich Abraham Pisarek, der im Hause Oranienburger Straße 28 sein Atelier hatte, im Februar 1963 zu einer Porträtaufnahme einlud. In seinem Negativheft steht bei meinem Namen »Kulturredakteur«. Ich hatte gerade zwei Bücher veröffentlicht, von denen Pisarek vermutlich kaum wissen konnte. Wieso lud er mich ein? Ich weiß es nicht. Bin nur nach so vielen Jahren immer noch verwundert. Wir kannten uns seit 1948/49, als Pisarek seine Fotos zum Illus-Bilderdienst brachte, wo ich erst als Bürohilfe, später als Bildredakteur arbeitete. Ich habe ihn freundlich lächelnd in Erinnerung. 60
Selbstverständlich wird, wer seine Fotos anbietet, keine unfreundliche Miene zeigen. Das ist klar. Dennoch, Pisarek war anders. Da war stets eine innerliche Freundlichkeit, die ihn sympathisch machte. Außerdem taugten seine Bilder etwas! Und er hatte ein Gespür für Aktualität! Als ich in seinem Atelier saß und an der Wand die Fotos bestaunte, immerhin hatte Abraham Pisarek z. B. Thomas Mann aufgenommen, auch berühmte Schauspieler, deren Namen ich erst spät kennenlernte. Ich wußte, es war etwas Besonderes, daß er mich eingeladen hatte. Über mangelnde Aufträge brauchte Pisarek sich nicht zu beklagen. Gesang drang unüberhörbar durch das Zimmer. Dröhnend laut. »Das ist der Kantor!« sagte Pisarek. Ich weiß nicht, ob es ein neuer Kantor war, der sich mit seiner Stimme eine Etage unter uns vorstellte. Aber wie Pisarek das geradezu strahlend erklärte, es keineswegs als Störung seiner Arbeit empfand, habe ich nicht vergessen. Ebenso weiß ich, daß ich nicht nachfragte. Da sang eben jemand, und man hörte es. Wir gehen in jungen Jahren so oft an Ereignissen und Menschen vorbei, ohne zu fragen. Wir spüren das schmerzlich, wenn wir zwanzig Jahre älter geworden sind. Warum lebte Abraham Pisarek, dessen Fotos ich in der Bildagentur, die mittlerweile Zentralbild hieß, nach seinen Angaben betextete, in diesem Berlin, das ihn dermaßen gedemütigt und fast umgebracht hatte? Darüber sprach er nie. Seine Tochter antwortet: Er war »entsprechend dem meist verkannten oder bewußt mißdeuteten Sinn und Inhalt der jüdischen Religion, die ihn seit seiner Kindheit geformt und ein Leben lang nicht losgelassen hat, kein Mann der Rache und Vergeltung. So konnte er auch nach dem Krieg in diesem Land weiterleben und für Verständigung zwischen den Menschen wirken.« Das gab er weiter. 61
Als Gezeichneter konnte Abraham Pisarek nach 1939 schon nicht mehr mit seinem Fotoapparat durch die Stadt gehen. So registrierte er mit allen Sinnen, was sich ereignete. Als Chronist. Weihnachten 1941, als er und seine beiden Kinder den Judenstern am Mantel trugen, ging er, wie seine Tochter berichtet, zum »Weihnachtsgottesdienst in die Sophienkirche in der Großen Hamburger Straße« (Toleranzstraße), »nur um zu sehen, wie die Christen reagieren würden. Ein Kirchendiener stürzte auf uns zu, um uns eiligst hinauszuwerfen.« (Toleranzstraße?) »Andere Reaktionen blieben aus; jeder schaute weg oder ging seiner Wege« (Machen Sie sich nicht zum Zeugen), »so, als sei dieser Hinauswurf oder der vorsätzliche Brand einer Synagoge etwas ganz Normales in einer mitteleuropäischen Großstadt des 20. Jahrhunderts.« Jeder, der damals lebte, wird befragt. Ich erinnere mich nur an den Schulweg an jenem dunklen Novembermorgen 1938. Durch die Obentrautstraße zur Belle-Alliance-Straße, die heute Mehringdamm heißt und an dieser Ecke ganz anders aussieht. Damals gab es dort Läden. An diesem Morgen nur Schaufensterhöhlen. Glassplitter knirschten unter den Schuhsohlen, aber der gefährliche Bruch war sorgsam beiseite gefegt an den Straßenrand. Wir Zwölfjährigen dachten darüber nicht lange nach. In der Schule von den Lehrern kein Wort. Auch an den folgenden Tagen nicht. Zu Hause und im Kreis der Bekannten gab es kaum mehr als ein Verwundern: Ach, das war auch ein jüdisches Geschäft? Wie das? Man hatte es den Waren nicht angesehen. Den Inhabern auch nicht. Sie hatten weder einen auffallenden Namen, noch eine besonders merkwürdige Nase. Bald tauchte das Wort »Kristallnacht« auf. Es blieb kaum im Gedächtnis, denn bald kamen ganz andere neue deutsche Wörter in unseren Alltag. 62
Es wird das Zersplittern der Schaufenster gewesen sein, das Klirren zerbrechenden Porzellans und der gläsernen Dekorationen in den Geschäften des Berliner Westens rings um den Kurfürstendamm, das den akustischen Namen dieser schaurigen Nacht verursacht hat. Berliner Alltagswitz zuckt schnell und einfallsreich. Oder ist das Wort ein Produkt des Reichspropagandaministeriums, das ebenso politische Witze ausstreute wie Flüsterparolen und Gerüchte? Ist es die Blitzgeburt einer Zuschauerpointe aus dem Volksmund? Gaffer gibt's immer. Es blieb unbekannt, woher die Bezeichnung »Kristallnacht« manchmal »Reichskristallnacht« - stammt. Jahrzehntelang blieb sie im Sprachgebrauch. Auffällig spät besann man sich und nannte sie beim richtigen Namen: Novemberpogrom. Dieses Wort aber geht schwer über deutsche Zungen. Jede Sprache hat unübersetzbare Wörter an die Welt verteilt. Sie kennzeichnen Ursprünge. Die Deutschen gaben »Blitzkrieg« und »Weltschmerz«; vermutlich auch »verboten«, weil wir das Wort so von Herzen lieben. Von den Amerikanern kamen »Kybernetik« und »Computer«, »Wow« und »Cover«. Aus dem Russischen »Soljanka« und »Sputnik«, später »Glasnost« und »Perestroika«; aber auch der »Pogrom«. Dieses Wort bedeutet »Verwüstung« und bleibt neutral, weil zunächst an Erdbeben zu denken wäre. Jedoch im Lexikon heißt es weiter: »Organisierte Massaker an hilflosen Menschen, zumeist an Juden in Rußland.« Bis sich dieses Wort an die Nazinacht von 1938 heftete, steht es für berüchtigte und blutige, durch Rassenhetze verursachte Judenverfolgungen in Odessa (1821, 1859, 1871), in Jelisawetgrad (1881), Rostow (1883), Kischinew (1903). Die mörderische Liste ist länger. Zwischen 1917 und 1921 wurden, vor allem durch Weißgardisten, weit über 30000 Juden ermordet und mindestens ebenso viele verletzt. Zu Lenins Lebzei63
ten wurden in seinem Reich Juden erstmals zu gleichberechtigten Bürgern. Für Stalins Judentötungen fehlen mir Zahlen. Aber sie sind ungeheuerlich. Nach Auschwitz. Judenverfolgung ist eine uralte internationale Schande der Menschheit. Da sind die Täter. Da die Zuschauer. Da die Wegschauer. »Machen Sie sich nicht zum Zeugen!« rät die Oberin im St.-Hedwigs-Krankenhaus der jungen Schwester, die aus dem Fenster auf den Feuerschein blickt in Richtung der Oranienburger Straße, wo die große Synagoge steht. Volkszorn, kommt er tatsächlich von selber, ist meist unerwünscht; er verwirrt das Konzept. Er wird nur verwendet. Das müßte dem Bürger schon in seinen jüngsten Jahren beigebracht werden, wie er sich zu verhalten hat beim jeweils angesagten Volkszorn. Es gibt auffallend wenige Fotos von den Verwüstungen jener Nacht. Im Tätigkeitsbuch des Berliner Polizeireviers 174 findet sich unter dem Datum jenes 10. November ein Grund: »Verbotenes Photographieren von jüdischen Geschäften. Am 10. 1. 38. gegen 12. 50 Uhr wurde von dem SS-Untersturmführer Dr. Fritz Kühl... und dem SS-Untersturmführer Erich Wenster... der Photograph Andreas Kirschbaum... zum Revier zwangsgestellt.« Der 27jährige war den SS-Offizieren »von unbekannt gebliebenen Passanten... übergeben worden, weil er in der Goltzstraße jüdische Geschäfte photographiert hatte. Auf dem Revier gab der K. zu, von jüdischen Geschäften zwei Aufnahmen gemacht zu haben. Der Apparat mit Aufnahmen und einem Film wurde sichergestellt und wird der Stapo zugeleitet.« Von unbekannt gebliebenen Passanten denunziert. An ihnen mangelt es nie. Arn 16. November quittiert Andreas Kirschbaum im Tätigkeitsbuch neben der obigen Eintragung »Photoapparat zurück erhalten«. 64
»Verbotenes Notieren der jüdischen Geschäfte mit eingeschlagenen Schaufenstern. Am 10. 11. 38 gegen 15. 05 Uhr wurde der Hausgehilfe Kurt Löwenthal, 26. 2. 92 Magdeburg geboren, Berlin-Lichtenberg, Parkaue 9 bei Becker wohnhaft, von den Zeugen 1. Kurt Kleefeldt, BVG-Angestellter,... 2. SS-Unterscharführer Josef Ringstaller... angetroffen, als er sich die jüdischen Geschäfte mit eingeschlagenen Schaufenstern notierte.« Die beiden bringen ihn zum Revier. Von dort wird er unverzüglich der Geheimen Staatspolizei »eingeliefert«. Es ist eigenartig: Die Ereignisse der Pogromnacht sind nach 1945 lange verdrängt worden. Nicht, daß man auf Kranzniederlegungen verzichtet hätte am 9. November. Es stand auch in der Presse. Aber im Schulunterricht war es kein Datum, das man kennen und erklären können mußte: In der Geschichtsprüfung wurde nicht danach gefragt! Womöglich waren sich bereits einige Lehrerinnen und Lehrer nicht im klaren, ob man danach fragen dürfte. Respekt vor jenen, die wirklich unterrichteten. Welche Veränderungen hat das landesweite Gedenken an die Pogromnacht, das Ende 1988 durch Staatsakte, Ausstellungen, Gesprächsrunden, Zeitungsseiten und Fernsehsendungen auf vielfältigste Weise angeboten und verstanden wurde, im Lehrplan der Schulen verursacht? Keine. Im DDR-Lehrplan Geschichte für die Klassen 5 bis 10 für das Schuljahr 1988/89 steht für den Lehrer: »... Rassenwahn, massenhafte Judenverfolgung; Entrechtung der sorbischen Bevölkerung. (Information).« Das ist alles. Die »Merkzahlen«, nach denen bei der Prüfung gefragt werden wird, lauten für den Zeitraum bis zum Beginn des zweiten Weltkrieges: März 1933 Verhaftung Ernst Thälmanns. 1935 VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale 65
Und die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 spielt keine Rolle? Den Tag muß niemand im Herzen bewahren? 1935 Brüsseler Konferenz der KPD 1936-39 National-revolutionärer Krieg des spanischen Volkes 1938 Annexion Österreichs durch HitlerDeutschland 1938 Münchner Abkommen, Zerschlagung der Tschechoslowakei Und der 9. /10. November? Nur als Gedächtnislücke. 1939 Berner Konferenz der KPD. Das ist alles. Man fragt nicht nach dem Ereignis, das die zivilisierte Welt empörte. Merkzahlen, um sich an den Kopf zu fassen... ! Der 9. November ist ein deutsches Datum. Es markiert 1918 das Ende des endgültig verlorenen Weltkriegs und zugleich die Ausrufung der Republik. 1923 schon benutzten ehemalige Militärs, enttäuschte Monarchisten und ein gewisser Adolf Hitler dieses Datum für einen Putsch in den Straßen von München. Er mißlang. Es war noch zu früh. Jener Hitler aber, nachdem er sich Deutschland untertan machen konnte, ließ jährlich diesen Tag feiern und hielt eine Rede vor alten Kumpanen und neuem Gefolge. Daß die Nacht vom 9. zum 10. November 1938 als Judenpogrom in die Geschichte einging, ist reiner Zufall. Er hätte früher oder später stattfinden können. Der 9. November 1989 wurde ein deutsches Datum durch die Aufhebung der fast drei Jahrzehnte andauernden Reisebeschränkungen für DDR-Bürger. Als am Abend bekannt wurde, daß jeder reisen durfte, machten sich Tausende zu Fuß und per Auto auf den Weg nach Westberlin und kehrten im Morgengrauen beschwingt nach Hause zurück. Die Mauer war nur noch ein Loch. Sie bleibt ein Symbol des gescheiterten, real eben nicht existiert habenden Sozialismus. 66
Der 9. November 1918 Arm in Arm mit dem 9. November 1989, der zufällig zu einem begrüßenswerten deutschen Datum geworden ist. Über die Vergangenheit ihrer Heimatstadt wußten die für andere repräsentativ auf der Anklagebank sitzenden Grabschänder so gut wie nichts. Sie hatten dafür von ihren Lehrerinnen und Lehrern keine Merkzahlen bekommen. Für die Deutlichmachung der Judenverfolgung sah der Lehrplan von 1988 eine Viertelstunde vor. Seither wird auf dem Friedhof in der Schönhauser Allee, wo auch Max Liebermann und seine Frau, die sich kurz vor ihrer Deportation vergiftete, begraben liegen, und Leopold Ullstein und Meyerbeer, ferner zwei 1848er, wird dort mit Mühe und Kosten aufgerichtet, was aufzurichten ist, ausgebessert und restauriert, was zu restaurieren ist. Wären sie doch jemals als Schulklasse auf diesen Friedhof geführt worden, und zwar so, daß sie etwas davontragen müßten. Die unübersehbare Inschrift: »Hier stehst du schweigend. Doch wenn du dich wendest, schweige nicht.« Ich nehme das wörtlich und schweige nicht. Jede Lehrerin, jeder Lehrer fände auf diesem Friedhof für jede Art Unterrichtsstunde dermaßen anschauliches Material, daß ihre Schüler nach mehr verlangten, immer noch mehr wissen wollten. Ist die Schreckenszeit ausreichend Unterrichtsstoff gewesen? Für die Nachgeborenen? Für ihr Gefühl und Gewissen? Oder um es mit den Worten von Georg Zivier aus dem Jahre 1971 zu sagen: »Nicht voraussagen, aber hoffen möchten wir, daß es in absehbarer Zeit schwer wird, jungen Menschen zu erklären, was Antisemitismus ist.« In der Südwestecke des Friedhofes, genau hinter dem von ihnen gestifteten Altersheim, liegt das Erbbegräbnis von 67
Moritz und Bertha Manheimer. Berliner Millionäre, die auch das Hospital Oranienburger Straße 31 gegründet haben, zu Lebzeiten. Von Moritz Manheimer ging die Initiative aus, für das Schulhaus in der Großen Hamburger Straße eine Büste Moses Mendelssohns zu stiften. Sie wurde von dem Bildhauer Rudolf Marcuse geschaffen und am 15. Februar 1909 feierlich eingeweiht. Beizeiten errichtete das Ehepaar eine Stiftung, die nach beider Tode 29 Empfängern nutzen sollte, Insassen von Hospitälern und Altersheimen, Säuglingen und Lehrlingen, Vereinen und anderen Stiftungen; die Gemeinde Gommern erhielt Geld für ihre Schützengilde, für die Lungenheilstätte, für den jüdischen Friedhof und, das sei hervorgehoben, für die jährliche Weihnachtsbescherung, die Nichtjuden erfreuen sollte. Moritz Manheimer starb im Frühjahr 1916. Seine Frau Bertha zwei Jahre später. Mit voreingenommenen Augen von heute liest sich ihr Nachsatz zum Testament, den sie am 26. November schrieb und »besonderen Wert« darauf legt, »daß meine Brillantbrosche in eine glaubenstreue Familie kommt« in ihrer Verwandtschaft, in der sich manche hatten taufen lassen. Der nächste Zusatz vom Juni 1917: »In Folge des Aufrufs der Reichsbank, Schmuckgegenstände der deutschen Kriegsführung zu opfern, habe ich meine einzige noch besitzende Brillantbrosche vergeben gegen einen größeren Betrag für die U-Boot-Spende.« Bertha Manheimer starb am 28. April 1918. Sie hat das Kriegsende nicht mehr erlebt. Seit 1920 verwaltete der Vorstand der Jüdischen Gemeinde mit einem Gremium diese Stiftung, deren Bestand und Ausgaben gesichert schienen. Bis sie durch Anordnung des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD in die »Reichsvereinigung der Juden in Deutschland« eingegliedert wurden im Frühjahr 1940: »Damit ist diese Stiftung aufgelöst.« Wie viele andere auch. 68
Was aber für die heute Tätigen in dem von den Manheimers gestifteten soliden Bauwerk Schönhauser Allee, dessen 100. Geburtstag unbeachtet verging, interessant sein dürfte: Unter Punkt 16 steht im Testament der Manheimers, daß sie dem Berliner Polizeipräsidenten »zu Gunsten des Schutzmannschaftserholungsheimes jährlich 1000 Mark« vermachen. Das war damals viel. Mehr noch. Der Berliner Polizeipräsident bekam jährlich 1000 Mark »für verunglückte Mannschaften der Berliner Feuerwehr«. Falls der heutige Berliner Polizeipräsident eine Tafel zum Nachdenken stiften wollte am Gebäude der Volkspolizeiinspektion Prenzlauer Berg - für die Formulierung der Inschrift würde sich jemand finden. Noch ein Wort zur Nachbarschaft. Nachdem die ersten Beschädigungen gemeldet worden waren, die Verwüstungen vom Februar, mußte es noch zu weiteren umgestürzten Steinen kommen? 151 waren es in der Nacht zum 2. März 1988. War da kein Krützfeld, der die Pistole nimmt und ein paar Leute vom Innendienst und ruft: »Da sehen wir mal nach!« Fragezeichen!
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Tätigkeiten
Das Tätigkeitsbuch eines Polizeireviers zu damaliger Zeit war ein Band im Telefonbuchformat und 800 Seiten stark. Einige Exemplare sind erhalten. Darm steht Berliner Polizeialltag aufgeschrieben. Hilflose Personen, Ehestreitigkeiten, entlaufene Kinder, grober Unfug und anderes, womit sich die Schutzpolizei beschäftigt. Am 27. Februar 1943 werden Juden auf der Straße festgenommen, mehr zufällig, weil sie ahnungslos einem Schutzmann in den Weg laufen, und »in das Lager IV, Konzerthaus Clou, Mauerstraße« eingeliefert. Die »Fabrikaktion« im Einzelfall. Es ging auch anders. Die im Bezirk Charlottenburg lebende Charlotte Israel berichtete vom täglichen Weg zur Arbeit, den ihre am Bahnhof Zoo dienstverpflichtete Schwägerin zu Fuß zurücklegen mußte, weil sie weniger als sechs Kilometer von ihrer Arbeitsstelle entfernt wohnte und als Jüdin keine Verkehrsmittel benutzen durfte. Sie ging stets die Kantstraße entlang. »Und jeden Tag traf sie einen Schupo, der sie - die Sternträgerin - im Vorbeigehen grüßte. Am 27. Februar 1943 sagte der Schupo im Vorbeigehen zu ihr: ›Es ist dicke Luft! Gehen Sie nach Hause!‹« Tausende Berliner Juden wurden an diesem und den folgenden Tagen vom Arbeitsplatz verschleppt und wenig später deportiert. 70
Andere wurden von ihren Mitmenschen angezeigt. »Jude ohne Stern. Am 12. 3. 43 gegen 19. 00 Uhr, meldete Frau Schädel, wohnhaft Grunewaldstraße 28, dem Revier, daß sich in der Wohnung der Hauswartsfrau Seidlitz der Jude Günter Israel Bernardt, 4. 12. 19 in Berlin geboren, aufhalte. Ich begab mich nach der Grunewaldstraße 28 und fand in der Küche der Frau Seidlitz den Juden Bernardt. Ich brachte ihn zum Revier, und er wurde mittels Gefangenentransportwagen für Stapo IV D l eingeliefert.« Jeder Polizist schrieb die Angelegenheit, mit der er zu tun bekam, in das Tätigkeitsbuch mit Tinte ein. Viele Handschriften. Manche in der alten deutschen Schreibschrift, die heutzutage sogar als Druckschrift jüngeren Lesern Schwierigkeiten macht. Aber die Berichte sind leserlich. Nicht umsonst gab es damals in der Schule eine Note für »Handschrift«. Dem Leser dieser Polizistenschriften fällt nach den ersten hundert Eintragungen etwas auf, das sich weiterhin bestätigt. Die Polizisten können sachlich knapp formulieren, und sie schreiben ein orthographisch einwandfreies Deutsch. Mitten im allzu Alltäglichen das Ereignis Nr. 209: »Jüdinnen ohne Stern. Am 10. 3. 43, gegen 16. 15 Uhr, wurde das Revier fernmündlich benachrichtigt, daß in der Wohnung der Frau Franke, Berlin-Schöneberg, Landshuter Str. 25, die Jüdinnen Toni Sara Langzomer, 2.1.94 in Berlin geboren, Bln. -Wilmersdorf, Babelsberger Str. 52 b. Mayer wohnhaft, und deren Tochter Jeanette Sara Langzomer, 24. 12. 30 in Berlin geboren, sich aufhalten (Anrufer war Frau Franke). Beide Jüdinnen wurden dem Revier zugeführt und gegen 18 Uhr in das Judenlager, Große Hamburger Straße 26, eingeliefert.« Wie denn das? Eine Frau will in ihrer Wohnung versteckte Jüdinnen loswerden. 71
Da wird das Tätigkeitsbuch zum Geschichtsbuch. Was geschah mit Mutter und Tochter, deren Familiennamen undeutlich geschrieben sind? Ihre neue Adresse Große Hamburger Straße 26 sagt alles. Oder nicht? Um es vielleicht genau herauszubekommen: In der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde in der Oranienburger Straße sind in zwei schwarzen Bänden auf über l 800 Seiten die Namen, Geburtstage und Schicksale der »Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945« verzeichnet. Nicht sämtliche zwar, weil für das Bundesarchiv Koblenz, wo man fünfundzwanzig Jahre an diesem Verzeichnis arbeitete, nur die Unterlagen für Berlin und das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland registriert werden konnten. Die beiden Frauen heißen Toni Langsommer geb. Balsam, und Jeanette Langsommer. Die Geburtsdaten stimmen überein. Kein Todesdatum, aber: »verschollen, Auschwitz«. Tätigkeitsbücher vom Revier 16, falls es sie geben sollte ungeachtet der Kriegszerstörungen am Hackeschen Markt, ließen sich nicht finden. Was würde uns der Band vom November 1938 erzählen? Vielleicht nicht das, was wir so lange schon suchen, denn in anderen Revieren ist diese Nacht ohne Eintragungen vergangen. Erst anderntags Festnahmen wegen verbotenen Fotografierens zerstörter Läden. Weitere Einsätze sind nicht verzeichnet. Als ob nichts losgewesen wäre.
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Revier 16
In dem Quartier zwischen Oranienburger Straße, Krausnickstraße und Artilleriestraße (heute Tucholskystraße) befand sich Anfang unseres Jahrhunderts das Zentrum des Berliner jüdischen Lebens. Es gab kaum ein Haus, in dem keine jüdischen Familien wohnten, und mindestens sechs Rabbiner in dieser Gegend um die Neue Synagoge. Einer von ihnen war Dr. Malwin Warschauer. 1871 in der Nähe von Breslau geboren, kam er 1889 als junger Student nach Berlin, wo er an der Friedrich-Wilhelms-Universität und an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums studierte. Sie war ein Ergebnis der Reichsgründung, mußte sich aber bald umbenennen in Lehranstalt, weil Juden zu damaliger Zeit keine Hochschule zustand. Vielleicht deswegen, weil jeglicher in Berlin Studierende dort Zutritt hatte, uneingeschränkt. Noch vor Beendigung seines Studiums wurde Malwin Warschauer von der Gemeinde als Prediger berufen. Er hielt seine Antrittspredigt am 1. Januar 1900 in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße. Später wurde er dort als Rabbiner angestellt und wohnte in der Oranienburger Straße 66. Sein Sohn James J. Walters, der in England lebt, schrieb Erinnerungen an seinen Vater und die Neue Synagoge: »In lebhafter Erinnerung habe ich noch eine Predigt, die er im April 1933, kurz nach dem Boykott-Tag der Na73
11 Die Neue Synagoge. Zeichnung von Ernst Marcuse 74
zis hielt, wohlwissend, daß unter den Zuhörern ein oder mehrere Mitglieder der Gestapo saßen. Er wählte mutig ein Zitat aus der Thora: ›Nicht durch Macht und nicht durch Stärke, aber durch meinen Geist will ich dich erlösen^ Treffende Worte in jenen unruhigen Tagen.« Es waren beunruhigende Tage. Nachträglich klingt das harmlos. Was sich wirklich ereignete, ist viel zu oft auf den materiellen Schaden begrenzt dargestellt worden. Während sein Sohn beizeiten auswanderte, blieb Malwin Warschauer in Berlin und stand allen bei, die Rat und Trost suchten. 1935 geleitete er den am 8. Februar gestorbenen Max Liebermann zu seiner letzten Ruhestätte auf dem Friedhof in der Schönhauser Allee. Abraham Pisarek hat es fotografiert. Malwin Warschauer galt als einer der großen Kanzelredner seiner Zeit. In der Neuen Synagoge, die mit den benachbarten Verwaltungsgebäuden ein Symbol des modernen deutschen Judentums war, begann er seine Laufbahn, und hier endete sie im Herbst 1938, als er zum letzten Mal zu den Hohen Feiertagen vor seiner Gemeinde stand, der er 38 Jahre gedient hatte. Damals beglückwünschte Warschauer seinen emigrierten Sohn zum neuen Jahr. Es sei wohl das letzte Mal, daß er von der Kanzel zu seiner Gemeinde sprechen würde. (Das Gespür für die bevorstehende Nacht des Schreckens. ) Warschauers Sohn: »Mein Vater bekam am Nachmittag des 10. November einen Telefonanruf: ›Hier ist Ihr Polizeirevier! Herr Doktor, die Gestapo ist auf dem Weg, Sie zu verhaften! Verlassen Sie sofort Ihr Haus!‹« Die Warnung vom Polizeirevier... »Mein Vater griff das Nötigste und fuhr mit meiner Mutter zu Verwandten nach Stuttgart, dann weiter zu anderen Verwandten...« Rabbiner Warschauer hat seine Wohnung nie wieder 75
betreten. Er wohnte damals nicht mehr in der Oranienburger Straße, sondern längst in der Bleibtreustraße 19, im Bezirk Charlottenburg, sie gehörte zum Polizeirevier 128. Kam die Warnung von dort? Gab es auch dort solche Menschen wie auf dem Revier 16? »Ihr Polizeirevier -«, könnte das 16. gewesen sein, weil Gemeindeverwaltung und Synagoge, Warschauers Wirkungsstätten, in diesem Gebiet lagen? Aber die Verhaftungen erfolgten meist am Wohnsitz. Als der Rabbiner bald heimlich nach Berlin zurückkehrte, suchte er den Kontakt zum Vorsitzenden der Gemeinde, Heinrich Stahl (1942 in Theresienstadt umgekommen). Stahl ließ Warschauer unter falschem Namen in das Jüdische Krankenhaus aufnehmen, wo er über sechs Wochen lang verborgen lebte, bis die Ausreisepapiere bereit waren. Direkt vom Krankenhaus ins Flugzeug nach England. James J. Walters-Warschauer, 1988: »So hat er sein Leben einem deutschen Polizisten zu verdanken...« Spielt es da eine Rolle, von welchem Revier der Anruf kam? Am Morgen des Donnerstag, dem 10. November, setzte die Verhaftungswelle gegen alle männlichen Juden ein. In den Deutschlandberichten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, SoPaDe, der Exil-SPD, heißt es 1938: »Gelegentlich konnte man beobachten, daß die Kriminalbeamten die Flucht der Gesuchten indirekt begünstigten, indem sie etwa der Frau des Mannes, den sie nicht antrafen, sagten: ›Wir kommen heute nachmittag 5 Uhr wieder, hoffentlich ist Ihr Mann dann da.‹ In anderen Fällen machte die Kriminalpolizei den ganzen Tag über Versuche, den Gesuchten zu fassen.« Walter Breslauer berichtete im Mai-Heft 1976 der AJR76
Information über »Erfahrungen mit der Berliner Polizei 1933-1945«. Diese Monatsschrift wird seit 1946 herausgegeben von der »Association of Jewish Refugees in Great Britain«, einer 1941 von neun deutsch-jüdischen Flüchtlingen gegründeten Organisation. Breslauer erwähnt Beispiele aus Revieren der Stadtbezirke Wilmersdorf, wo er wohnte, Charlottenburg und Dahlem, wobei er betont: »Alles dieses bezieht sich selbstverständlich nur auf die Schutzpolizei und nicht auf die allmählich immer stärker werdenden Naziorganisationen wie die Geheime Staatspolizei.« Bei Breslauer heißt es: »Polizeirevier nahe Oranienburger Straße. Dies war das Büro, das für die Jüdische Gemeinde zuständig war, deren Verwaltung ich seit 1931 als sogenannter Verwaltungsdirektor leitete. Im allgemeinen ließ uns die Polizei in Ruhe. Aber 1933 fand sich plötzlich im Trauungsbüro ein Bajonett.« Das konnte von einem Besucher, der es »bei der Polizei hätte abliefern sollen«, leicht dort abgelegt worden sein. »Ich ordnete sofort an, das Bajonett bei der Polizei abzuliefern, mit dem Ergebnis, daß der Empfänger sehr gelacht hat: ›Nächstens werden Sie uns noch ein Maschinengewehr abliefern.‹ Irgendwelche Weiterungen erfolgten nicht, ebensowenig, als sich ein Jahr später in einer Sammlung der Kleiderkammer eine Pistole vorfand, die dann ebenfalls abgeliefert wurde.« So geringfügig das klingen mag, so wichtig ist es. Zu dieser Zeit war Wilhelm Krützfeld noch nicht im Revier 16. Als er kam, war es für ihn die richtige Umgebung. Oder, um es mit den Worten von Hans Hirschberg zu sagen, daß 1938 in jenem Polizeirevier keine Nazis gesessen haben, »sondern Beamte, mit ihrem Vorsteher an der Spitze, die jüdischen Menschen sehr wohlgesinnt waren«. Wir werden davon noch mehr hören. 77
Der Vorsteher
Wilhelm Krützfeld, geboren am 9. Dezember 1880 in Horndorf, einem Dorf in Schleswig-Holstein. Mit Zwanzig wurde er Soldat und diente als sogenannter Kapitulant bis 1907. Kapitulation oder Dienstverpflichtung hieß im deutschen Heer der Akt, durch welchen Soldaten sich verpflichteten, über die gesetzliche Dienstpflicht hinaus weiterzudienen. Anschließend wurde Krützfeld Schutzmann, wohnte in Berlin, der Reichshauptstadt, und stieg schließlich in der ihm möglichen Laufbahn auf. Er hat »in den verschiedensten Zweigen des Polizeidienstes«, wie es im Glückwunschschreiben des Berliner Polizeipräsidenten am 28. September 1932 heißt, beim Landespolizeiamt und bei der Hauptgeschäftsstelle des Polizeipräsidiums die Pflichten seines verantwortungsvollen Berufes »jederzeit treu und gewissenhaft erfüllt und sich durch gute Kenntnisse, unermüdlichen Fleiß und vorzügliche Führung ausgezeichnet. Besonders auch in Ihrer jetzigen Dienststellung als Polizei-Obermeister und Vertreter des Reviervorstehers haben Sie nur Gutes geleistet und es verstanden, Ihr Büro in tadellose Ordnung zu bringen und in dieser zu halten. - Durch Ihre Pflichttreue und Zuverlässigkeit haben Sie sich das Vertrauen Ihrer Vorgesetzten und die Achtung und Wertschätzung Ihrer Kameraden erworben. Auch haben Sie es verstanden, mit der Bevölkerung bei voller Wahrung der dienstlichen Interessen ein gutes Einvernehmen zu halten.« 78
Das Zeugnis für einen anständigen Menschen im Dienst der Republik. Am 20. April 1937, es ist Hitlers Geburtstag, wird der Polizeiobermeister Wilhelm Krützfeld zum »Schutzpolizeiinspektor im Reichsdienst« ernannt. Ein Rang, für ihn der höchsterreichbare, der wenig später in den Dienstgrad Revier-Oberleutnant umbenannt wurde. Seine Angehörigen haben noch eine andere Urkunde aufbewahrt. Am 2. Oktober 1933 gratuliert die Schatullund Vermögensverwaltung Seiner Majestät des Kaisers und Königs Wilhelm II. Wilhelm Krützfeld zur Silberhochzeit. Zwar ist Deutschland seit 1918, als der Kaiser außer Landes floh und abgedankt hatte, eine Republik, aber seine Dienststelle amtiert nach wie vor Unter den Linden 36 und verschickt Grüße wie diesen. Wilhelm Krützfeld ist als Sprößling einer kinderreichen Familie ein Patenkind »weiland Seiner Majestät Kaiser Wilhelm I.«. Als Zeichen des Gedenkens an seinen »hohen Paten, und als Ausdruck der Anerkennung für treue Dienste im Heere und in der Königlichen Schutzmannschaft zu Berlin« erhält Krützfeld »das Bild seiner Majestät mit der Eigenhändigen Unterschrift«. Damals leitete Wilhelm Krützfeld noch das Revier 65 in der Rodenbergstraße. Die trägt ihren Namen zur Erinnerung an den jüdischen Schriftsteller, der vor hundert Jahren als einfühlsamer Spaziergänger das Berliner Leben seiner Tage beschrieb. Krützfeld wohnte mit seiner Familie dort in der Nähe, in der Zelterstraße 6, vorn, 2. Stock, rechts. Er hatte zwei Söhne. Walter und Artur. Eines Tages wurde dem Reviervorsteher vom zuständigen SA-Sturm - schon die Bezeichnungen jener Einheiten drohen Verwüstungen an - empfohlen, am Abend die Streifen von der Ecke Dunckerstraße/Wichertstraße zurückzuziehen, wo die Kneipe »Sport-Casino« einem Gastwirt namens Alfons Berger gehörte. Einem Juden. 79
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14 Gastwirt Alfons Berger, 2. v. 1. seine Frau Margarete, rechts Erna Buchmann
Krützfeld schickte keine Streife, sondern ging selber vorbei und warnte den Wirt. Abgesehen davon, daß Berger und Krützfeld sich kannten, er duldete nicht, daß in seinem Revier das Gesetz verletzt werden sollte. Mehrmals kam die SA dort vor verschlossene Tür und Fenster. Der Gastwirt Alfons Berger wurde nach 1942 in Auschwitz ein Opfer der Judenverfolgung. Die Kneipe gibt es heute noch. Der ältere Sohn, Walter Krützfeld, erinnert sich an Nachbarn in der Zelterstraße 6, an das Ehepaar Krämer. Die Frau war Jüdin. Man kannte sich lange und kam gut miteinander aus. Als sie bereits den Stern tragen mußte, grüßte der Reviervorsteher Krützfeld die Frau Krämer, wenn er ihr auf der Straße begegnete. Bis sie ihn eines Tages eindringlich bat, es nicht mehr zu tun: »Herr Krützfeld, von Ihnen fühle ich mich immer gegrüßt.« Ein Reviervorsteher allein konnte zwar manches tun, es heimlich auf die eigene Kappe nehmen. Aber jederzeit? Und vor allem in jenen Jahren? 82
Und wer von seinen Untergebenen, falls er hier und da den einen oder anderen Juden warnen konnte, fiel nicht dadurch irgendwann einmal auf? Machte sich verdächtig? Saßen nicht überall Aufpasser? Geheime Spitzel. Wer weiß denn, womit der Nebenmann, die Kollegin gegenüber, der Bote, die Küchenfrau, der zuverlässige Freund erpreßt werden kann, erpreßt wird? Berichte liefern muß, angesetzt wird. »Angesetzt«, das ist ein Wort aus der Jagdhundsprache der Jäger. Im Revier 16 hat es nichts genutzt. Wären sie Maurer gewesen, Bauarbeiter oder Zimmerleute, sie hätten vielleicht ihre Taten und Namen notiert und den Zettel in irgendeine leere Flasche gefüllt und die eingemauert. Fund für Abrißnehmer des nächsten Jahrhunderts. Aber diese Menschen lebten unter einem Hitler und seinem Regime. Sie konnten sich kaum jemandem anvertrauen. Ihre Söhne emigrierten nicht. Schrieben keine geheimen Tagebücher. Das sei kein Vorwurf. Die Ahnungslosigkeit beginnt in der Frühzeit des Kindes. Ich habe noch eine Frage im Ohr, die in der Dresdner Volksschule Herr Hornoff rief, der in einem braunen Arbeitsmantel unterrichtete - beste Schutzkleidung, denn innen war er nicht braun wie die Naziuniform: »Was ist die Sünde wider den Heiligen Geist?!« Die schlimmste aller Sünden! Die Todsünde! Das fragte er Neunjährige. Jetzt können sich alle fragen, die nach 1946 zur Schule gegangen sind. Hat sie ein Lehrer, eine Lehrerin so gefragt? Wenn nicht, welche Antwort fiele ein? Abgesehen davon, daß das Wort »Sünde« aus dem jüngeren sozialistischen Sprachgebrauch verschwunden ist, gemeinsam mit »Demut«, »Barmherzigkeit« und anderem Menschenwürdigen. 83
Ich, ein Jahr vor Hitlers Machtergreifung in die Volksschule aufgenommen, bin geradezu hochgebildet ausgerüstet worden fürs Leben durch den einen Satz, den der Herr Hornoff über uns gerufen hat, als Hitler bereits die Schulen regierte und verlangte, daß wir unseren Lehrer, wenn er den Klassenraum betrat, mit ausgestrecktem Arm und »Heil Hitler« grüßten. Dieser Lehrer sagte: »Die schlimmste Sünde ist der Selbstbetrug!« So ist das. So einfach ist das. So schwierig, danach zu leben. Wer sich anketten läßt durch die Aufstiegsleiter, durch Gehalt, durch Rücksichtnahme auf die Familie... Vielleicht liegt das Geheimnis gerade darin. Nicht für jeden. Aber für manche. Aber. Dieser Reviervorsteher, der Polizei-Oberleutnant Wilhelm Krützfeld hat seine, wenn auch begrenzte Macht dazu benutzt, um das Unrecht zu behindern! Es einzuschränken nach bester Möglichkeit! Da herrschen auf Kommando Mord und Totschlag. Es gibt Verhaftungslisten. Es brennt. Und einer sagt: So nicht! »Weil es Menschen wie Krützfeld gab, die sich aus Solidarität und Anstand widersetzten, fällt es uns leichter, unsere Geschichte zu tragen«, sagte Björn Engholm, der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, über ihn auf der Gedenkfeier in der Lübecker Synagoge am 8. November 1988.
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Nachspiel
Anderentags, am 11. November 1938, wird der RevierOberleutnant Krützfeld zum Polizeipräsidenten befohlen. Der heißt Wolf-Heinrich Graf von Helldorf, ist zweiundvierzig Jahre alt und wurde vor zwei Tagen befördert. Aus Anlaß des großen Feiertags zum SA-Obergruppenführer, was dem Rang eines Generals entspricht. Graf Helldorf fungiert zugleich als Verbindungsführer der SA zur Deutschen Polizei. Da sind doch in jener Nacht Befehle über seinen Tisch gegangen... Da haben sich untere SA-Chargen auf kürzestem Wege bei ihm über das Wegjagen in der Oranienburger Straße beschweren können. Gleich zu Beginn der Naziherrschaft hatte sich Graf Helldorf durch brutales Vorgehen gegen Kommunisten und Sozialdemokraten hervorgetan. Sein Name wird im Zusammenhang mit dem Reichstagsbrand genannt. Im Lebenslauf des Preußischen Provinzialrats von Helldorf gibt es nach der Offizierslaufbahn im ersten Weltkrieg folgende Stationen: Nach Verabschiedung aus dem Heer in verschiedenen Freikorps gegen kommunistische Aufstände: Braunschweig, Jena, München; beim Kapp-Putsch Führer des Offizier-Stoßtrupps Freikorps Roßbach. Später amnestiert, wird Graf Helldorf Mitglied des preußischen Landtags und Anfang 1931 SA-Führer. Nach Hitlers Machtantritt 1933 SA-Führer von Berlin-Brandenburg 85
und gleichzeitig Polizeipräsident von Potsdam. Ende des Jahres Mitglied des Reichstags. Seit Juli 1935 ist Helldorf Polizeipräsident von Berlin. Man kann sich ausmalen, wie er den Revier-Oberleutnant Krützfeld empfängt. Wie er es wagen könne, sich der Empörung des deutschen Volkes entgegenzustellen! Warum er den gesunden Volkswillen behindert habe! Krützfeld kommt kaum zu Wort, bringt jedoch seine Einwände vor. Bei einer Horde in Zivilkleidung könne man wohl nicht von spontanem Volkswillen sprechen, wenn es sich um verkleidete Sturmmänner handelte. Außerdem sei diese Synagoge wegen ihres Baustils und der kostbaren Einrichtung seit jeher unter Polizeischutz, weil ein Stück Kulturgut des Deutschen Reiches. Das läßt Helldorf nicht gelten. Da erwähnt Krützfeld die Morgenzeitung. Und wäre es nicht der deutsch-national gesinnte Beamte aus Norddeutschland, man möchte fast schwejksche Züge erkennen, wenn er sich auf die Verlautbarung der Reichsregierung von heute morgen beruft, die von der allzu verständlichen Empörung im deutschen Volk spricht und gleichzeitig dessen Diszipliniertheit betont. Gerade die habe er durch sein Eingreifen unterstützt. Graf Helldorf brüllt, daß solche Sätze für das Ausland in der Presse stehen, und wirft den Reviervorsteher nicht ohne Drohungen hinaus. Diese Begegnung ist verbürgt. Walter Krützfeld: »Ich habe meinen Vater, als er am Nachmittag nach Hause kam, noch nie so grau und weiß im Gesicht gesehen, so innerlich erregt über einen Vorgesetzten. Es war nicht Angst, sondern Wut, auch schämte er sich für einen Polizeipräsidenten, der die gesetzliche Pflicht der Polizei leugnete, für Ruhe, Ordnung und Recht zu sorgen. Wir sprachen darüber in allen Einzelheiten.« Hätte der Reviervorsteher sofort abgelöst werden müssen? Falls nicht schlimmere Konsequenzen drohten. 86
15 Wolf Heinrich Graf von Helldorf, 1936 87
»Es passierte meinem Vater zunächst auch nichts weiter. Dienstliche Vergehen konnte man ihm ja nicht nachweisen.« Als im Vorjahr Wilhelm Krützfeld zum Schutzpolizeiinspektor ernannt worden war, hieß es in der Urkunde: »Ich vollziehe diese Urkunde in der Erwartung, daß der Ernannte getreu seinem Diensteide seine Amtspflichten gewissenhaft erfüllt und das Vertrauen rechtfertigt, das ihm durch diese Ernennung bewiesen wird. Zugleich darf er sich des besonderen Schutzes des Führers und Reichskanzlers sicher sein.« Walter Krützfeld, immer wieder befragt, erklärt: »Ich kann mir gut vorstellen, in welchen Gewissenskonflikt mein Vater seit 1933 immer mehr hineingetrieben wurde: strenge Erziehung, dann sieben Jahre bei der Kaiserlichen Garde in Spandau, und seitdem königlich-preußischer Polizeibeamter, gewohnt, an sich selbst die höchsten Ansprüche in bezug auf Pflichterfüllung, Fleiß, Gehorsam seinen Vorgesetzten gegenüber zu stellen. Und nun plötzlich ein Staat, der - über meines Vaters Vorgesetzte - von ihm verlangte, die Prinzipien von Ordnung, Rechtsstaatlichkeit, Menschlichkeit usw. zu verlassen. Er hat sich aber in diesem inneren Konflikt für sein Gewissen entschieden, d. h. sich polizeilich korrekt verhalten, aber innerlich von den Nazis völlig gelöst.« Und in jener Nacht? »Wir hatten zu Hause nur ein Diensttelefon, Nebenanschluß an das für unsere Wohnung zuständige Polizeirevier 65. Mitten in der Nacht rief der Wachhabende des Polizeireviers 16 bei uns an. Ich wachte in meinem Junggesellenzimmer auf, hörte meinen Vater erregt sprechen. Als er kurz danach in Uniform die Wohnungstür hinter sich gelassen hatte, fragte ich meine Mutter, die bei dem Telefongespräch dabeigewesen war, was denn los sei, und sie sagte mir nur, mein Vater müsse wegen einer eiligen Sache in sein Revier kommen.« 88
16 Walter Krützfeld, 1989
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Wilhelm Krützfeld sprach mit seinen Angehörigen nicht gleich darüber, was sich ereignet »und welche Rolle er dabei gespielt hatte. Er war an dem »Pogrom-Tage erst spät nach Hause gekommen, ganz schweigsam und grau im Gesicht. Ob aus Ärger oder Wut, weiß ich nicht. Angst hätte nicht so recht zu ihm gepaßt.« Nachdem Deutschland am 1. September 1939 den Krieg begonnen hatte, verlor Krützfeld bald sein Revier. Er wurde vermutlich 1940 versetzt, mußte mehrfach die Reviere wechseln, war dort auf sich allein gestellt und fühlte sich, »wie er öfter sagte, von Nazis überwacht«. In den Revieren herrschte »ein polizeiliches Chaos« (Walter Krützfeld), denn die Polizeioffiziere und Reviervorsteher waren nur mit Parteibuch und -abzeichen ausgerüstet. Nun wurde ein Parteiloser wie Krützfeld mit seiner dreißigjährigen Diensterfahrung gebraucht, um einigermaßen Ordnung unter die Ordnungshüter zu bringen. Eine zermürbende Aufgabe. Eine anhaltende Strafversetzung, die einen ungeahnten Vorteil hatte. Er amtierte nicht mehr am Hackeschen Markt, als gerade in diesem Viertel die Deportationen begannen und die Große Hamburger Straße aufhörte, Toleranzstraße zu sein. »Als mein Vater im Laufe des Jahres 1942 in Andeutungen höherer Vorgesetzter etwas über die Beschlüsse der ›Wannsee-Konferenz‹ erfuhr«, als die »Endlösung« begann, »reichte er sofort seine vorzeitige Pensionierung ein. Man gewährte sie ihm gern, weil man froh war, den alten Querkopf los zu sein.« Er wurde in den Ruhestand versetzt. Für den Reichsminister des Innern und für den Berliner Polizeipräsidenten sprach ihm der Kommandeur der Schutzpolizei »für seine dem Deutschen Volke geleisteten treuen Dienste den Dank des Führers aus«. Wenn wir das ironisch nehmen, ist es der Dank für die Rettung der Neuen Synagoge. 90
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18 Gertrud Hirschberg, 1939
19 Sigmund Hirschberg, 1939
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Wilhelm Krützfeld ging von Berlin in seine Heimat nach Schleswig-Holstein und erlebte, überlebte dort das Kriegsende. Im September 1945 kehrte er zusammen mit seinem jüngeren Sohn Artur nach Groß-Berlin zurück. Für den 10. November 1938 wurde Wilhelm Krützfeld nie geehrt. Er hat jene Nacht kaum erwähnt, sich nie um eine Anerkennung bemüht. Ein Schulkamerad seines Sohnes Walter, Herbert Komm, dessen Eltern mit der Familie Wilhelm Krützfeld freundschaftlich verkehrten, erinnerte sich Ende 1988 beim Lesen eines Zeitungsberichts über meinen »beherzten Reviervorsteher« an eine Begegnung im Jahre 1951 oder 1952. Wilhelm Krützfeld kam einmal zu Besuch, wobei er »über sein vorbildlich unerschrockenes Verhalten während der Nazizeit aus Bescheidenheit kein Wort verlor«. Nun müssen wir uns einigen Unstimmigkeiten zuwenden, sie zumindest erwähnen und gegenüberstellen, ohne sie klären zu können. Hans Hirschberg, der Sohn des Schneidermeisters, in seinen Aufzeichnungen über die Begegnung in der Wohnung der Eltern in der Oranienburger Straße 89, als der Reviervorsteher kam und für seine Frau Maß nehmen ließ: »Mein Vater trug damals stets sein Verdienstkreuz eine Auszeichnung als freiwilliger Frontkämpfer 1914 bis 1918 - am Revers seines Jacketts. Dies rief bei Erscheinen vor Behörden in vielen Fällen eine positive Wirkung hervor. Der Reviervorsteher sprach meinen Vater darauf an, und es stellte sich heraus, daß beide im gleichen Frontabschnitt in Frankreich gelegen hatten.« Das stimmt nicht. Wilhelm Krützfeld war nie als Soldat im ersten Weltkrieg. Aber vielleicht hat er nach dem Grund für die Auszeichnung gefragt. 93
»Nun wollte der Reviervorsteher unbedingt das Kriegsalbum meines Vaters sehen, nachdem er erfahren hatte, daß mein Vater Fotograf bei einer Fesselballon-Einheit gewesen war.« Sigmund Hirschberg war im ersten Weltkrieg ein bedeutender Militärfotograf. Seine Aufnahmen verdienten längst die Aufmerksamkeit der Historiker. Als der Reviervorsteher zu Hirschbergs in die Wohnung kam, »ohne daß wir wußten, wer er war« - das mag eine Tarnung gewesen sein. Denn es spricht einiges dafür, daß die beiden Männer sich kannten. »Um seiner Frau, die ihn begleitete, einen Mantel anfertigen zu lassen.« Auch ein Vorwand? Um die Begegnung notfalls zu bemänteln? Wäre der Gedanke abwegig, daß Krützfeld auf diese Weise den Hirschbergs, die gezwungenermaßen durch die Verhältnisse eine Werkstatt für Damenkonfektion unterhielten, etwas zukommen lassen wollte? Eines Tages, sie kann sich nicht mehr genau erinnern, geht der Reviervorsteher in Begleitung seiner Schwiegertochter Hildegard zu Hirschberg. Für sie ist kein Mantel in Arbeit. Bei ihr wird nicht Maß genommen. Und sie bleibt allein, während die beiden Männer in ein Nebenzimmer gehen und die Tür hinter sich schließen. Macht man so einen Besuch? Sie sieht einen Jungen herumlaufen. Das ist der Sohn Hans. Sie weiß von nichts, hat nichts gehört. Das bedauern wir heute. Zu jener Zeit aber war es von Nutzen. Ich behaupte, Krützfeld und Hirschberg haben sich nicht nur an diesem Tag über etwas verständigt, das außer ihnen keiner wissen sollte. Sie müssen sich gekannt haben. Hirschbergs hatten, ehe sie in die Oranienburger Straße zogen, im Bezirk Prenzlauer Berg gewohnt, nicht weit entfernt von Krützfelds Wohnung. Warum wußte Sigmund Hirschberg, als er nach dem 94
Kriege aus Shanghai nach Berlin zurückgekehrt war, den Namen des Reviervorstehers nicht mehr? Seinem Sohn fällt der Name »Belgardt« ein. Ende Februar 1943 hat der Meister der Schutzpolizei Bellgardt eine Bescheinigung ausgestellt, »daß der Jude Leib Israel Friedländer« mit der Straßenbahn fahren darf. 16. Polizeirevier steht im Briefkopf und auf dem Dienststempel. Zu dieser Zeit war Wilhelm Krützfeld, wie wir wissen, längst pensioniert. Seinen Söhnen, die sich an die Namen anderer Revierpolizisten, wie z. B. Steuck, erinnern, ist auch nach längerem Nachdenken der Name Bellgardt nicht bekannt. Leider ist Hans Hirschberg der wichtige Brief, in dem ihm sein Vater über seine vergebliche Suche berichtet, verlorengegangen. Es bleibt zu hoffen, daß durch diese Veröffentlichung Ergänzungen möglich werden. Zum Beispiel ist bereits die Existenz einer Kennkarte, des damaligen Personalausweises, bekannt; unterschrieben von Wilhelm Krützfeld als Reviervorsteher. Eine Kopie konnte für dieses Buch nicht mehr rechtzeitig beschafft werden.
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Sein Revier
Revier-Oberleutnant Wilhelm Krützfeld sitzt am Schreibtisch in seinem Revier 16 für den Fotografen Max Krajewsky, der in der Berliner Straße 108 in Charlottenburg eine Lichtbildwerkstatt betreibt. An der Wand die große Karte mit dem Reviergebiet. Auf die kommen wir gleich zurück. Daneben eine Tafel, deren Einzelheiten uns die Lupe enthüllen wird: A. D. - Das wird Außendienst heißen: vier Kärtchen. B. - Das wird Bereitschaft sein: drei. C. - ?, da hängt nichts. Büro - Da sind es zehn Leute. Kr. - Krank ist keiner. Komm. - Läßt sich nicht gleich entziffern, betrifft jedoch acht Mann. Irgendwohin kommandiert? Url. - Drei, macht zusammen achtundzwanzig Polizisten. Auf dem Schreibtisch die zu große Plastik eines linkshändigen Diskuswerfers, der gerade Schwung holt. Vermutlich eine jener unpraktischen Gaben zu einem Jubiläum. Ist es ein Abschiedsgeschenk? Darauf könnte der Blumentopf deuten am anderen Ende, doch er trägt keine Manschette, ist nicht mehr ganz neu. Oder wird mit Luxuspapier gespart seit Kriegsbeginn? Der Wochenabreiß96
kalender an der Wand, viele Blätter hat er nicht mehr, zeigt fett die Jahreszahl 1939 und heißt: »Die Straßen Adolf Hitlers«. Außerdem hat Krützfeld zur täglichen Orientierung einen Kalender vor sich im Blick auf dem Schreibtisch. Dort steht linker Hand ein altmodisches Telefon, von dem man sicher sein kann, daß es funktioniert. Ein metallner Wecker - einen ähnlichen hatten wir zu Hause - zeigt drei Viertel zwölf oder, um es amtlich auszudrücken, 11 Uhr 45 Minuten. Am Fenster ist es hell. Krützfeld schreibt etwas. Für das Foto. So zwanglos gestellt mögen es die Lichtbildner. Auf der Schreibunterlage liegt ein Vorgang. Dort setzt der Reviervorsteher den Federhalter an. Es ist ein Halter, in den vorn eine Stahlfeder gesteckt wird, deren Spitze man in das Tintenfaß taucht. (Das muß heutzutage erklärt werden. ) Zur Schreibtischgarnitur gehören zwei Tintenfässer aus Glas. Für Blau und für Rot. Der Deckel des viereckigen Tintenfasses, das der Schreibhand am nächsten steht, ist zurückgeklappt. Bei dieser Gelegenheit als Anmerkung, daß es auf deutschen Polizeirevieren jener Jahre für Juden besondere Federhalter geben mußte. Ob sie auch mit jüdischer Tinte schreiben sollten? Krützfeld hat über der linken Brusttasche, vorschriftsmäßig, eine Ordensspange. Aber es sind höchstens drei Auszeichnungen, und das ehrt ihn. Er war niemals Mitglied der Nazipartei. Es stehen zwei Aschbecher auf seinem Tisch. Der eine scheint benutzt. Interessanter ist ein Buch, gleich neben der Schreibhand geschlossen auf dem Tisch. Griffbereit. Der Titel ist nicht zu lesen, sieht aber unter der Lupe nicht allzu fremd aus. Kein Schutzumschlag. Was kann das sein? Romane wird er dort nicht lesen, und schon gar nicht liegenlassen, wenn der Fotograf kommt und womöglich den Blumentopf vom Fensterbrett auf den Tisch gestellt hat, damit es freundlicher aussieht bei der Polizei. 97
Was ist das für ein Buch? Die Lupe erbringt mehrere Schriftzeilen, aber lesbar werden sie nicht. Nur ihre schräge Anordnung scheint irgendwie vertraut. Natürlich! Verglichen im eigenen Bestand: Es ist »Scherls Straßenführer durch Berlin«. Mit dem machen wir uns auf den Weg durch das 16. Polizeirevier und halten dabei unseren Stadtplan in der anderen Hand. Die Gegend war schon um das Jahr 1812 dem Polizeirevier No. XVI zugehörig. Der Polizeicommissarius hieß Röhrich und wohnte Sophien-Kirchgasse Nummer 24, heute Sophienstraße. Genug damit. Straßenführer 1938: Das Revier 16, Berlin C 2, Hackescher Markt 1. Telephon: 423997. Schutzpolizei Abschnittskommando Alexander, Schutzpolizei Gruppenkommando Mitte, Polizeiamt Mitte, Kriminalkommissariat III, Amtsarzt Mitte, Wehrbezirkskommando VI. Es klingt fast wie Döblin, aber wir sind nicht am Alexanderplatz, sondern bleiben in unseren Grenzen des 16. Reviers am Hackeschen Markt 1. Hier ist heute die Grünanlage mit dem Parkplatz. Der Krieg war gründlich. Der Hackesche Markt ist laut. Straßenbild An der Spandauer Brücke. Wie das heute klingt. Einst Spandauer Vorstadt. Spandau liegt ziemlich entfernt. Eine Brücke dorthin... ? Da ist die Grenze des Reviers 16. Wir überqueren vor der Unterführung der Stadtbahn vorsichtig die Straße, lesen nochmals das Schild mit Staunen. In der Tat, es führte hier einst eine Brücke über den Königsgraben; der ist längst zugeschüttet. Dircksenstraße. Wenigstens ein Stück von ihr. Sie ist lang. Sie war die Anschrift des Polizeipräsidiums, das aber lag jenseits des S-Bahnhofes Alexanderplatz. Dort, wo heute der große Parkplatz ist und winters der Weihnachtsmarkt, alle Jahre wieder. Auf dieser Fläche stand bis Jahre nach dem Kriege das Polizeipräsidium. Kein 98
27 Blick auf den Hackeschen Markt, 1989 99
weiter Weg vom Hackeschen Markt für Krützfeld, als er sich am 11. November 1938 dort wie befohlen beim Polizeipräsidenten melden muß. An unserem kurzen Stück Dircksenstraße ist die rechte Seite bemerkenswert. Stadtbahnbogen. Einer neben dem anderen. Ein Stück alte Stadtarchitektur. Bewahrt und bewährt. Gewölbe. Wie mag's drinnen aussehen? Da sind Tore, vergitterte Fenster, alles geheimnisvoll. Lagerräume, Werkstätten, Speicher, Läden. Es sollte jemand über noch vorhandene S-Bahn-Bogen schreiben, über einen nach dem ändern, sie sind numeriert; und in Westberlin gibt es sie, zum Beispiel am Savignyplatz in den Bogen: Lampengeschäft, Buchhandlung, Restaurant. In diesen Stadtwällen stecken Geschichten. Links abgebogen. Rochstraße. Der Vogel Roch? Tausendundeine Nacht in Berlin-Mitte? Von wegen. Waren Berliner Straßenbenenner etwa belesen? Nichts da. Der Baukondukteur Roch war 1825 dem Justizrat Kunowski beim Anlegen dieser Privatstraße behilflich. Laßt mir ja diese alten Namen auf den Straßenschildern in Ruhe! Die Rochstraße ist kurz. Viel zu sehen ist nicht. Aber die Fassaden sind schön abgeputzt. Es war schließlich damals keine schlechte Gegend im alten Berlin. Münzstraße. Ein Viertel von ihr gehört zu unserem Weg. Früher war stets die Straßenmitte die Grenze zwischen Revier und Revier. Egal. Wir gehen hier entlang wie Franz Biberkopf, den eines der Münzstraßenkinos einfing, es gab dort mindestens drei: »Auf dem Riesenplakat stand knallrot ein Herr auf einer Treppe, und ein duftes junges Mädchen umfaßte seine Beine, sie lag auf der Treppe, und er schnitt oben ein kesses Gesicht. Darunter stand: Elternlos, Schicksal eines Waisenkindes in 6 Akten. Jawoll, das seh ich mir an.« Kein Kino heute mehr in der Münzstraße. Kein knallroter Herr in Sicht? Die Zeiten werden langsamer. 100
Viel Eislecker kommen dir entgegen von der Ecke Neue Schönhauser, hüten auf diese Weise ihre Zunge. Zeitweilig! An der Ecke zur Neuen Schönhauser Straße gab es das Kino »Zentrum«, ebenso das »Capitol«. Den Eingang sieht man noch, bestaunt das Portal. Es ist zu auffällig. In der Nummer 13 einst das Volkskaffeehaus, auch Speisehalle für Minderbemittelte. Jedoch Männer und Frauen getrennt. Da kam wenig Freude auf. Bei Grün hinüber. Die Weinmeisterstraße beginnt am »Alt Berliner Cafe«. Gegenüber das Antiquariat, etwa an der Stelle, an der nach der Unterdrückung der Revolution von 1848 Adolph Streckfuß einen Tabakladen eröffnete, gerade deswegen und hier, weil das Tabakrauchen auf offener Straße wohl die einzige Errungenschaft der so jugendlichen Berliner Demokratie geblieben war. Man sieht jetzt weit und breit keinen Tabakladen mehr. Demokraten immer. Die Weinmeisterstraße ist nach einem Weinmeister der nahe gelegenen Weinberge benannt. Heute gibt es in Berlin nur Abfüllereien, deren Erzeugnisse der Weintrinker meidet, so gut er kann. Weinmeister Stohse wurde beinahe unsterblich, weil diese Straße 1699 ausgerechnet durch seinen Garten gezogen wurde. Man bedenke! Erst hieß sie Weinmeistergasse. Das klang bald nicht städtischgroßstädtisch genug. Nunmehr gab es Straßenbahnen und Gassenjungen, Gassenhauer und Straßenmädchen. In dieser Weinmeisterstraße waren es in den Pogromtagen ein Schupowachtmeister und ein Unteroffizier der Wehrmacht, die »zwei ältere jüdische Frauen mit ihren sechs oder sieben Kindern vor dem Partei-Mob beschützten und sie schließlich in Sicherheit brachten«, heißt es 1938 im »Deutschlandbericht« der SPD. Rosenthaler Straße. Die überqueren wir. Zum Straßenschild Gipsstraße. Wir sind nicht im ältesten, aber in einem sehr alten Teil der Stadt. Und die Häuser, die seit Jahren mühevoll und mühsam rekonstruiert werden, sind 101
einmal modern und neu und wunderschön gewesen. Gipsstraße — weil es hier einst eine Gipsbrennerei gab. Das Straßenschild, mehrfach erneuert, gibt's seit 1825. Einige Häuser überstanden die Jahrhundertwende 1799/1800. Mit vier Blinden begann 1806 Johann August Zeune in der Nummer 11 sein segensreiches Werk. Er gründete die erste Blindenanstalt, die in gut fünfundzwanzig Jahren über 200 Blinde ausbildete und zu erziehen vermochte. Wohltätigkeiten. Eine städtische Volksbibliothek gehört dazu. In den zwanziger Jahren wohnten in der Gipsstraße zahlreiche jüdische Familien. Zuweilen gab es kleine Pogrome, Plünderungen, die vom nah gelegenen Scheunenviertel bis hierher ausstrahlten. Die Deportationen haben viele Menschen namenlos gemacht. Ausgenommen ein Ehepaar. Ihre Gedenktafel am Haus Nummer 3: In diesem Hause wohnten Widerstandskämpfer der Gruppe Baum
Sala Kochmann von den Faschisten in Plötzensee am 18. 8. 1942 hingerichtet
Martin Kochmann von den Faschisten im September 1943 hingerichtet Ihr Kampf ist auch unser Kampf! Die beiden bekamen eine Gedenktafel, weil sie Kommunisten waren. Von ihrer jüdischen Herkunft berichtet die Tafel dem suchenden Spaziergänger nicht. An wie vielen Berliner Häusern fehlt solche Tafel, die nur von einfachen Menschen erzählt, die hier wohnten und eines Tages abgeholt wurden? 102
Entweder die Gipsstraße entlang bis dorthin, wo sie in die Auguststraße mündet, oder die Rosenthaler weiter und an der Ecke einbiegen in die Auguststraße, die einst »Armesündergasse« hieß, weil dort in einem Armenhause, das der Menschenfreund Koppe errichtet hatte, die Körper verunglückter Personen aufbewahrt wurden. Oder stand gar der Galgen nahebei, wie manche vermuten? Bald klang »Armengasse« besser. Wer aber möchte durch den Namen seiner Wohnstraße gedemütigt werden? Heutzutage würde von manchem Absender der Name »Armengasse« als elegant-nostalgisch empfunden werden. Danach »Hospitalstraße«, denn Koppens Armenhaus beherbergte als Krankenstation 21 arme Personen. Bis zum 1. Juli 1833. Prinz August von Preußen, dem Generalinspekteur und Chef der Artillerie, zu Ehren hieß die Straße fortan Auguststraße, heißt sie bis heute. Ihr schäbiges Nachkriegsaussehen, das andauert, hat sie davor bewahrt, umbenannt zu werden. Preußens verschmähte Gloria rettete im Sozialismus Kulturgeschichte. Die Auguststraße geradeaus weiter entlang. Halt mal. In der Nummer 26 auf den Hof. Links eine Außentreppe, nur wenige Stufen. Die ist schon Käthe Kollwitz hinaufgestiegen. Heute geht dort zum Beispiel Manfred Butzmann, wenn er in die Druckerei Graetz will wegen seiner Grafiken und Plakate, also oft. Alte Schrift: »Lithographie, Buch- und Steindruckerei«. Clärchens Ballhaus (»August, deine Haare, deine goldnen Haare«) sieht im Tageslicht still aus. Wie die Auguststraße. Die beherbergte einst jüdische Einrichtungen wie: Mädchenschule, Haushaltsschule, Mädchenheim, Zufluchtsheim - das sind Worte und Namen, die keiner Regierung weh tun sollten. Nr. 14: das Jüdische Krankenhaus, erbaut 1858-60 nach Entwürfen von Eduard Knoblauch, der sich damals schon mit dem Entwurf der Synagoge beschäftigt, die, 103
nahebei, in der Oranienburger Straße, ein neues Zeitalter anzeigen sollte. Ecke Tucholsky Straße. Links einbiegen, konsequent die beiden Treppenhäuser gegenüber weglassend, somit auf sie als sehenswert wenigstens hingewiesen zu haben. Vormals Artilleriestraße, jenem Prinzen August zu Ehren, und weil an ihrem Ende (heute Sackgasse) eine Brücke direkt zur Artilleriekaserne führte. Dort entlang und hinüber eilte der junge Friedrich Engels als Artillerist, um vor dem Zapfenstreich den Posten zu passieren. Deshalb hieß sie bis neulich Friedrich-Engels-Kaserne. 1880 näherte sich der Wiener Feuilletonist Daniel Spitzer der deutschen Hauptstadt. Auf seine Weise: »Man findet wohl in keiner anderen Stadt so viele Straßen und Plätze, die nach Schlachten und Feldherren benannt sind, wie in Berlin. Ja, sogar jeder einzelnen Waffengattung ist irgendeine Straße oder ein Platz gewidmet, und so gibt es beispielsweise eine Füselier-, eine Kanonier-, eine Kürassier-, eine Pionier-, eine Jäger-, eine Schützen-, eine Dragoner- und eine Ulanenstraße...« Ja, die Invalidenstraße gibt es deshalb bis heute. Die Artilleriestraße jedoch entging dem Scharfblick des Wiener Schilderers. Nach dem zweiten Weltkrieg, als die überlebende deutsche Bevölkerung von ihren jeweiligen Neue-Politik-Machern beruhigt wurde, verschwanden diese Namen durch Umbenennung im östlichen Teil der Stadt. Niemand wollte mehr an Militär erinnert werden. Das dauerte nicht allzulange. Dann wurde wieder marschiert, gerollt und gerattert, jahrelang, bis 1988 in der Carl-von-Ossietzky-Oberschule in Berlin-Pankow ein paar beherzte Schüler nach dem Sinn von Militärparaden fragten. Es bekam ihnen schlecht. Aber schon ein Jahr später wurden sie durch »Wir sind das Volk« rehabilitiert; und wie die Dinge aussehen, als diese Zeilen geschrieben werden, wird es zum Glück keine Militärparaden mehr geben... In der DDR. 104
Mehrfach blicken wir zur anderen Straßenseite, werden aber nicht das schöne Postfuhramt beschreiben, bleiben auf unserer Revierseite und überqueren die Tucholskystraße an der Oranienburger. Unter uns rollt gerade die S-Bahn, liebliches Geläute, von Süd (West) nach Nord (West), und seit jenem 9. November 1989 auch wieder für Fahrgäste von Ost nach West und zurück. Wer gerade durch den Tunnel unter uns saust - in wenigen Minuten wird er/sie, nach links aus dem Fenster blickend beim Auftauchen an die Berliner Oberfläche, den Friedhof mit Fontanes Grab sehen. Das nur am Rande. Wir gehen in der Tucholskystraße weiter. Linker Hand das Postamt, dann die Universitätsfrauenklinik. Nun muß auf unserem Stadtplan die Strecke am Wasser übersprungen werden, flußaufwärts bis zur nächsten Brücke, denn dieser Weg über die Spree (zur Artilleriekaserne) ist schon vor Krützfelds Revierzeit abgebrochen worden zugunsten der unterirdischen Stadtbahn, von der wir seit dem 13. August 1961 nichts anderes hatten als ihr lockendes Geräusch und den zugemauerten Zugang in der Oranienburger Straße. Mit dem Finger auf der Spree entlang bis zur Monbijoubrücke. Dort über den Fluß zum Bode-Museum, das früher nach Kaiser Wilhelm hieß. Aber Wilhelm von Bode hat mehr für die Kunst getan. Unsere Revierlinie führt an der Ufermauer entlang, die Staatlichen Museen aussparend, weiter bis zur Friedrichsbrücke. Sie ist die siebente an dieser Stelle. Wir nehmen ihre nördliche Grenze auf, ziehen uns am Wasser zurück, die Burgstraße entlang und dann rechts, die Burgstraße verlassend, unter der S-Bahn einbiegend. Der Stadtbahnhof Marx-Engels-Platz, der damals »Börse« hieß, weil die Börse in der Burgstraße stand, gehörte nicht mehr zum 16. Revier. Nur eine Straße mit dem seltsamen Namen Am Zwirngraben. Es hatte einst eine Seidenmouliniermühle 105
gegeben, in der man später Zwirn herstellte. Der Bau der Stadtbahn ging darüber hinweg. Wir bleiben an der Ecke Tucholskystraße in der Oranienburger Straße stehen vor dem Institut für Post- und Fernmeldewesen und gehen, langsam, weiter in Richtung Hackescher Markt. Gegenüber, wo ein historisches Eckhaus der Erneuerung harrt, soll es, wenn diese Zeilen die Leserin und den Leser hierher gelockt haben, ein Stück neu-alter Berliner Kultur geben, jüdischer; und damit weltoffen. Für den, der hinschaut, ist auf unserer Straßenseite das in die Postbauten einverleibte Gebäude der Großen Landesloge Deutschlands, rund zweihundertjährig, sichtbar durch Baustil und zwei Philosophenköpfe. Bärtig wie jüngere Männer heutzutage. Was haben sie mit ansehen müssen, gegenüber der Synagoge? Steine können leider doch nicht reden, sonst würden diese beiden Weisen uns bestätigen: Ja, da kamen Polizisten, und danach machten sich Männer unter Drohungen davon, und dann kam die Feuerwehr und löschte. Wenn wir diese Augenzeugen hätten... Bis zur nächsten Ecke gehört alles dem Post- und Fernmeldewesen. Zur Neuen Synagoge gegenüber kommen wir später. 1976 gab es im Posthäuserblock noch das Rohrpostamt zu besichtigen. Bis eine Verwaltung, die nicht über den kommenden Monat hinaus zu denken befugt und befähigt war, die hundertjährige Anlage vernichten ließ. Was nützten Eingaben und Proteste? Wurden nicht andere technische Denkmale, die Gasometer an der Greifswalder Straße, Symbole der Berliner Arbeiterviertel, auf Vorschlag eines mittelmäßigen sowjetischen Monumentenpackers und Befehl eines herrschenden Provinzlers aus dem Saarland in tausend Stücke gesprengt? 106
Vom Rohrpostamt könnte man einen Rest ausstellen im Museum, hieß es damals. Daß 1865 in diesem Hause von Siemens & Halske, von ihren Arbeitern und Ingenieuren, die erste Rohrpostanlage erbaut worden war, achtzehnhundert Meter lang, zwischen Haupttelegraphenamt und Börse, sagte diesen offensichtlich mit Vorschulbildung und Parteiabzeichen in zu hohe Funktion Berufenen nichts. Sie entschieden. Die Rohrpost, das technische Denkmal, wurde abgerissen. Mögen die Namen dieser Entscheider mit in dem Sperrmüll liegen, in dem die kunstvollen Rohrverbindungen dieser erst- und einmaligen Anlage verkamen. Die Börse, hin und zurück, von der aus die Rohrpostkartuschen ins Haupttelegraphenamt zischten, lag dort, wo sich heute das Kongreßzentrum des Palasthotels befindet. Vom Haupttelegraphenamt erreichten die Depeschen beizeiten vor der Abfahrt die Züge am Anhalter und Potsdamer Bahnhof. Am 1. Dezember 1876 wurde die Berliner Rohrpost dem öffentlichen Verkehr übergeben. Sie funktionierte noch hundert Jahre später und erreichte 23 Postämter, beispielsweise das Hauptpostamt Pankow, wo sie an ihrem Prinzip scheiterte: »Rohrpostsendungen werden wie Eilsendungen behandelt und nach der Ankunft sogleich ausgetragen.« Gehen wir weiter. Über die Monbijoustraße. Dort gibt es einen Freizeitpark, der bis ans Wasser reicht.
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Monbijou
Falls ihm nicht gerade wieder einmal die Nase abgeschlagen worden ist, was selbst bei Carraramarmor unseren Verwüstern offenbar mühelos gelingt, steht Adelbert von Chamissos Büste auf dem Denkmalssockel und schaut in Richtung Hackescher Markt. 1888 zu seinem fünfzigsten Todestage aufgestellt. Wen kümmert heute Chamisso? Zu Lebzeiten wurde der Einwanderer aus Frankreich kaum für einen Ausländer gehalten; nur 1813, als es nicht ratsam war, französisch zu heißen, zog er wie manche durch Herkunft und Namen betroffene Berliner aufs Land und schrieb seinen »Peter Schlemihl«, den Mann ohne Schatten. Ging anschließend auf eine dreijährige wissenschaftliche Weltreise. Als Chamisso nach Berlin zurückkehrte, war alles wieder gut. Ehrungen warteten. Aber wer nun keine solche Chance hatte, keine Beziehungen, kein Vermögen, kein Visum, kein Affidavit, keine Bürgen... Denkt etwa jemand dabei an 1938 und später? Was heute der Monbijoupark ist mit vielerlei Spielplätzen, Wiesen und Kinderbad, Ruhepunkten und Uferpromenaden, war einst ein Garten. Groß und fürstlich angelegt außerhalb der Stadt. 1670 ein Geschenk des Großen Kurfürsten an seine Frau. Sie nutzte den grünen Raum: Bis weit hinter das Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm reichten ihr Ackerland, ihr Garten. Sie hatte eigene Kühe. 108
Fassen wir es kurz: Der Generalpostmeister Graf von Wartenberg erwarb später das Grundstück und ließ durch den Baumeister Eosander von Göthe ein vierstöckiges Lusthaus errichten. Und verlor es an die Krone. 1710 zog Sophie Dorothea ein, die Gemahlin des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I. Über dessen Sammlung großwüchsiger Menschen, seine Todesurteile und andere Berliner Grausamkeiten ist zuwenig bekannt. Er verprügelte Weib, Kind und Personal und wurde damit Vorbild im ganzen Lande. Sophie Dorothea sehen wir gemalt mit Fächer in der Rechten und hochgebundenem Busen, als sie in Schloß Monbijou den Besuch aus Sachsen empfängt. König August, auch der Starke genannt. Sein Blick unter den geschwärzten Augenbrauen zeigt Reserviertheit. Die Preußenkönigin erregt ihn offensichtlich nicht. Vierzehnmal hat sie geboren, und es scheint, als habe der Maler ihre gesamte Nachkommenschaft ins Bild gesetzt. Sophie Dorothea ließ Garten und Schloß verdreifachen und nannte beides »Monbijou«, zu deutsch: Mein Juwel. Hier hatte sie etwas Ruhe vor dem Wüterichen Gemahl. Ihr Sohn Friedrich, der Unter den Linden als Denkmal reitet, verbrachte in diesem Lustschloß mit seinen Geschwistern den größten Teil seiner schwierigen Kindheit; hier durfte er heimlich Flöte spielen und anderes mehr. Nachdem Zar Peter der Große 1717 mit seiner Begleitung zum Staatsbesuch in Schloß Monbijou geweilt hatte, mußte das Haus renoviert werden. Und so weiter. Kunstlager war es und schließlich Hohenzollernmuseum seit dem 22. März 1877, als der alte Kaiser Wilhelm achtzig wurde. Im Garten fand sich Platz für ein Denkmal der Kaiserin Augusta und für die Kirche der englischen Gemeinde: Episkopalkirche zu St. Georg. Nichts blieb davon übrig. Die Sammlungen sind zerstreut, soweit sie nicht verlo109
rengingen im zweiten Weltkrieg, der auch Monbijou so zermalmte, daß die Ruinen sämtlich abgetragen werden mußten. Der Zustand wie nach dem dreißigjährigen Kriege. Und 1960 dann entstanden Grünanlagen, noch etwas verfeinert durch kinderfreundliche Einrichtungen. 1989: »Sommer in Monbijou«, ein Volksfest, im Stadtbezirk. Menschenvergnügen. Unser Juwel. Diese Stadt Berlin, immer für unerwartete Unternehmungen geeignet, war die Stätte der Uraufführung von Goethes »Faust«. Zwar konnte es nicht der ganze erste Teil sein, nur zwei Szenen, aber immerhin! Berlin (Goethe mochte es nicht, ausgenommen seinen Altersfreund Zelter) bringt 1817 diese Privataufführung im Schloß Monbijou zustande. Fürst Radziwill führte Regie. Die Dekorationen, wie sich denken läßt, von Schinkel. Fürst Anton Heinrich Radziwill (1775-1833) hatte Kompositionen zu Goethes »Faust« geschaffen, sich um eine Aufführung in Berlin bemüht und in Weimar dem Dichter vorgespielt. Goethe gefielen die »genialischen, uns glücklich mit fortreißenden« Vertonungen. Zelter und Goethes Sohn August berichteten ausführlich nach Weimar, wie alles gelaufen war. Zweimal wurde die Aufführung wiederholt. Selbst wenn kein Stein mehr auf dem anderen steht: Hier in Monbijou wurde der »Faust« zuerst gespielt! Aber gegenüber, genau gegenüber, begann der schaurige Zug der Berliner Studenten am Abend des 10. Mai 1933 zum Scheiterhaufen auf dem Opernplatz. Die Bücherverbrennung begann Oranienburger Straße 18. Das Haus gehört nach wie vor der Universität. Eine mahnende Tafel? Denkste. Sie trugen die Büste von Magnus Hirschfeld auf einem Besenstiel voran. Sie hätten auch sein Haupt so getragen, doch er war beizeiten emigriert. Die Nazistudenten zogen die Oranienburger entlang. Vorbei an der Synagoge, die bei dieser Brandstiftung noch verschont blieb. 110
Verbrennen gehört zu Hitlers Dasein. Der Zug mit den Fackeln am 30. Januar 1933 durch das Brandenburger Tor, die Wilhelmstraße entlang - heute Otto-GrotewohlStraße -, an der Reichskanzlei vorbei. Bald brennt der Reichstag. Dann die Bücher der mißliebigen Autoren, 1938 die angezündeten Synagogen. Danach die Brandbomben. Auf Rosten inmitten der Dresdner Altstadt werden im Februar 1945 die Opfer der Luftangriffe verbrannt. Neue Promenade. Da sind wir wieder nahe am Hackeschen Markt. Am Zwirngraben im Mitropa-Laden Flaschen betrachten und Neue Promenade in eine der schnellen Straßenbahnen, die sich in der Großen Präsidentenstraße ausgeruht haben, ehe sie durch die Kleine Präsidentenstraße einbiegen. Die 49 erkennt man am Quietschen. Das sind doch bloß noch Straßennamen. In der Großen Präsidentenstraße, die ebenso wie die Kleine ihren Namen nach einem Stadtpräsidenten Kircheisen trägt, stand vormals Das Handtuch. F. Albert Schwanz (1836-1906) hat es noch fotografiert. Ein Haus, dreistöckig, aber nur zweieinhalb Meter Straßenfront. Neue Promenade. Viel zu promenieren gibt es nicht. Außer dem Stehwarten auf die Straßenbahn. Ein Fleckchen Grün. Da wird zuzeiten Gemüse verkauft. Geschichtstrost. In der Nummer 3, deren Treppenhaus voller Schönheit ist, hat in dem Vorgängergebäude die Karschin gewohnt. Sie lobte das Grün und die Ruhe. In der Nummer 7 lebte die Familie Mendelssohn Bartholdy, deren Sohn Felix so berühmt werden sollte. Einmal rätselten wir, welcher Kirchturm auf einer Zeichnung von Wilhelm Hensel zu sehen ist. Es ist die nicht mehr vorhandene Garnisonskirche, gesehen vom Wohnhaus in der Neuen Promenade. Schwartz, Berlin- und Hofphotograph, hat 1877 an der 111
Neuen Promenade das Fichtehaus aufgenommen, somit festgehalten, denn es mußte 1880 dem Bau der S-Bahn weichen. Denkmalpflege durch Abriß. Fichte hatte hier von 1800 bis 1806 gewohnt. Zu seinem 100. Geburtstag sollte die kleine Straße 1862 umbenannt werden in Fichtestraße, das aber unterblieb, weil die Vorväter nur selten Straßennamen zerstörten. Es gibt eine Fichtestraße in Kreuzberg. Johann Gottlieb Fichte wird der Schuljugend als antinapoleonischer Patriot ausgehändigt. Der Vollständigkeit halber und weil es manchen Eifer dämpft, sei aus einer Schrift zitiert, die der Philosoph 1793 verfaßte: »Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution«. Dort heißt es über die Juden, sie seien ein »Staat im Staate« und dürften keine Bürgerrechte bekommen. »Menschenrechte müssen sie haben«, denn »sie sind Menschen... Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das: in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee steckt.« Die Endlösung mit dem Fallbeil. Später lernte Fichte einige Juden persönlich kennen. Dorothea Schlegel, die älteste Tochter von Moses Mendelssohn, und Salomon Maimon, den Philosophen und Kant-Anhänger. Und als Rektor der Berliner Universität trat Fichte für den unschuldig verfolgten jüdischen Studenten Brogi ein. Neue Promenade...
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Trauriges Kapitel
Die Berliner Journalistin Regina Scheer ging seit längerem Spuren antifaschistischen Widerstands nach, interviewte überlebende Zeitzeugen und hat bereits vieles, das sonst verloren wäre, bewahrt und veröffentlichen können. Sie stieß auch auf Willi Steuck. Geboren 1896 in Westpreußen, mit vierzehn Jahren Waldarbeiter, mit achtzehn in den Krieg gezogen, aus dem er schwer verwundet wiederkam und 1919 in Berlin Arbeit suchte. Er wurde Polizist. Wir finden ihn in den dreißiger Jahren im Revier 16, wo er später die Meldestelle leitete. »Ja«, sagte Krützfelds Berliner Sohn Artur, »an den Namen kann ich mich erinnern. Steuck war Vaters rechte Hand.« Aber mehr weiß er nicht. Es ist zu lange her. Über vieles wurde damals nicht gesprochen. Krützfelds Hamburger Sohn Walter weiß nicht mehr als das, hat aber noch einen anderen Namen in guter Erinnerung. Prohaska. »Der hat Vater geholfen. Auf den war Verlaß.« Aber Näheres ist ihm nicht bekannt. Nur der Name Prohaska. Seine Frau bestätigt es. Wir sitzen im Hamburger Alster-Pavillon und haben eine Stunde Zeit, ehe mein Zug geht. Aus jeder Antwort entstehen neue Fragen. Es findet sich kein Prohaska in den Groß-Berliner Adreßbüchern jener Jahre. Jedenfalls keiner, dessen Beruf zum Polizeiwesen gehören könnte. Wohnte er in Wildau 113
oder Bernau? Konnte er deshalb nicht im Berliner Adreßbuch gefunden werden? War es ein Spitzname? Ein Deckname? Wir werden es wohl nicht erfahren. Jedenfalls, es hat den anständigen und zuverlässigen Menschen Prohaska gegeben, der im Revier 16 oder dem Revier 16 und dessen Vorsteher bei seinen menschlichen, also antifaschistischen Taten half. Zurück zu Steuck. Regina Scheer hat seine Lebensgeschichte recherchiert. Willi Steuck blieb nach der Versetzung des Vorstehers Krützfeld im Revier am Hackeschen Markt. Er paßte hierher in diese Gegend der kleinen Leute, der sehr gemischten Gesellschaft. Er hat, so Regina Scheer, »in dieser Gegend so manche Messerstecherei und Schlägerei« geschlichtet. Nachdem er Leiter der Meldestelle geworden war, machte er noch regelmäßig Streifengänge und rettete, als der Krieg seine Bomben auf Berlin schlug, Menschen aus brennenden Häusern. »Als das Polizeirevier 16 durch Bomben zerstört wurde«, zog die Meldestelle (oder das ganze Revier) um in das kleine Warenhaus gegenüber, wo heute An- und Verkauf regen Zuspruch haben. Als das Ende näher kam, fand man Unterschlupf im Monbijoubunker. Im schönen Kleinod besserer Tage war wie an vielen Stellen der Stadt ein Luftschutzbunker gebaut worden. Regina Scheer: »In diesem Bunker, der für hundert Menschen Platz hatte, drängten sich am 22. April 1945 mehr als 300 Frauen, Kinder, alte Männer, Verwundete. Ein Oberleutnant der Wehrmacht durchkämmte den Bunker nach kampffähigen Männern. Auch Dreizehnjährige, Alte und Verwundete wollte er in Richtung der Jannowitzbrücke ›den Russen entgegenwerfen‹. Willi Steuck und ein Wachtmeister Trischak, über den ich nur weiß, daß er kein Berufspolizist gewesen ist, sondern ein zum Polizeidienst gezogener Familienvater, stellten sich dem 114
22 Willi Steuck auf der Verkehrsinsel am Hackeschen Markt. Hier starb er im Mai 1945.
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Wahnsinn entgegen. ›Hier ist Schluß‹, sagten sie.« Sie waren in Uniform und bewaffnet. Da mußte der Offizier weichen. Aber jemand soll den Bunker verlassen haben und zur Großen Hamburger Straße gelaufen sein, es sind ja nur ein paar Schritte. Die kann der Spaziergänger heute, wenn er aus unserer Richtung kommt, nachdenklich zurücklegen. Dort wird, man erinnert sich an die Gestapo im ehemaligen jüdischen Altersheim, ein Stützpunkt gewesen sein. Wie auch immer, es kamen Bewaffnete in den Monbijoubunker, ergriffen Steuck und Trischak und schleppten sie »auf den Hof der Rosenthaler Straße 40/41 vor den SA-Keller«, auf den jugendstilschönen blaugekachelten ersten der neun Höfe »und übergaben sie dort einem fliegenden Standgericht‹ «. »Fliegende Standgerichte« zu bilden, hatte das SSOberhaupt Himmler an Hitlers letztem erlebten Geburtstag befohlen. Sie hatten noch zehn Tage in Berlin. Sie wüteten schrecklich. Erschossen, hängten — unter der Brücke des Bahnhofs Friedrichstraße befindet sich eine Gedenktafel für zwei junge Soldaten, die solchem Standgericht zum Opfer fielen. Steuck und Trischak haben bisher keine Tafel am Hackeschen Markt. Sie lagen dort am 23. April 1945 auf der damaligen Verkehrsinsel, in deren Nähe wir ungeduldig auf die Straßenbahnen warten, und schrien nach Wasser. »Niemand weiß mehr« zu sagen, »wie lange sie dort gelegen haben, bis sie still wurden. Stunden, einen Tag... Es war da auch ein SA-Mann, der die Sterbenden bewachte und ein Schild: ›So behandeln wir Vaterlandsverräter. Sie haben unsere Frauen und Kinder verraten.‹ « Warum müssen Deutsche immer eine Losung herauswürgen? Und wer hat sich den Wortlaut so genau eingeprägt? »Die Luft ist voller Rauch und Trümmerstaub gewesen, in den Straßen um den Hackeschen Markt wurde gekämpft.« Die Einschüsse in der Großen Hamburger... 116
»Niemand wagte, den beiden Männern zu Hilfe zu kommen, aber gesehen haben es viele, und manche sprachen später darüber.« Und manche nicht. Das »Fliegende Standgericht« gegen Steuck, Trischak und andere befehligte der Nazi-Ortsgruppenführer Waskuleit. Er überlebte, geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1947 zurückkehrte zu seiner Familie in der Kleinen Präsidentenstraße 2, wo ihn Nachbarn erkannten, »aber ehe sie handelten«, und das ist es, »verschwand er in den Westen«. Den Mord an ihrem Mann hat Frau Steuck zweimal angezeigt. 1945 und 1950, »aber es folgte keine Untersuchung«. Hatte etwa nur ein Nazi einen anderen erschießen lassen? In letzter Stunde! Ein Mann in der Uniform der Nazi-Polizei sollte ein Gegner des Regimes gewesen sein? Und noch 1988 ist, vermutlich wegen des Hakenkreuzes an seiner Dienstmütze, das Porträt des Revier-Oberleutnants Krützfeld nicht veröffentlicht worden, sondern lieber das andere, das ihn aus einer gewissen Entfernung zeigt. Steucks Sohn Wolfgang hat Regina Scheer berichtet, daß der Vater seiner Familie manchmal erschüttert erzählt habe, »wie er versucht hatte, jüdische Menschen zu warnen, von denen er wußte, daß sie abgeholt werden sollten. Er rief sie an oder klingelte an ihrer Wohnungstür, forderte sie auf, unterzutauchen. Aber meist saßen sie wie gelähmt auf ihren Bündeln, wenn sie geholt wurden.« Wohin untertauchen? Und nicht nur für ein paar Tage. Hat Willi Steuck vielleicht den Rabbiner Warschauer angerufen? (»Hier ist Ihr Polizeirevier, Herr Doktor, die Gestapo ist auf dem Weg, Sie zu verhaften! Verlassen Sie sofort Ihr Haus!«) Untergetauchten Juden half Theodor Görner, der in 117
23 Wilhelm Krützfeld 118
der Rosenthaler Straße 26 eine Druckerei mit Buchbinderei betrieb. Görner, Jahrgang 1884, Mitglied der SPD, druckte womöglich sogar selber Papiere, wofür er im Juli 1944 wegen »Judenbegünstigung« verhaftet wurde. Seine Tochter Hanni Nörper schrieb über ihren Vater, der von überlebenden Juden im Jerusalemer Ehrenhain von Yad Vashem durch einen Baum als »Unbesungener Held« geehrt wurde, einen Bericht, in dem es heißt: »Dann mußte sich mein Vater täglich bei der Polizei am Hackeschen Markt melden, wo er dann nur anrief, weil er dort auch Freunde hatte, die ihm bei seinen guten Taten mit echten Stempeln für Fluchtausweise halfen«; vermutlich früher geholfen hatten, denn seit Kriegsbeginn konnten Juden nicht mehr ausreisen. Das schmälert nicht das Engagement aller Beteiligten, die aus Menschlichkeit halfen. Regina Scheer: »Willi Steuck wird gewußt haben, was mit den Verhafteten geschah. Und warum es keine Zigeuner mehr in Berlin gab. Und was es für die Juden bedeutete, ›ausgesiedelt‹ zu werden. Dieses Wissen ließ ihn schweigsamer werden gegenüber dem Sohn und der Frau. Er wollte und konnte sie nicht einweihen in alles, was er und andere taten, um verfolgten Menschen zu helfen. Wir werden nie genau erfahren, welche Fäden auf dem Revier 16 zusammenliefen. Und mancher Name wird sicher vergessen bleiben.« Regina Scheer hat 1987 noch vor seinem Tode Jonny Hüttner interviewt, der eigentlich Nathan Hirschtritt hieß. Er war 1939 aus dem Zuchthaus Brandenburg entlassen worden. Er wollte ins Ausland. »Er versuchte es beim Palästina-Amt, aber da standen Hunderte jüdische Leidensgenossen. Er ging zu einer Fürsorgeeinrichtung der Jüdischen Gemeinde in der Rosenstraße. Dort hörte ihn ein gutgekleideter Mitarbeiter an, wußte keinen Rat, aber schlug ihm vor, sich erst einmal polizeilich zu melden. Gerade das wollte Jonny Hüttner nicht, denn er be119
fürchtete, sofort verhaftet zu werden. Der Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde aber riet ihm eindringlich, sich auf der Meldestelle des Reviers am Hackeschen Markt ein zufinden. Dann würde man weitersehen. ›Geh zum Hackeschen Markts sagte der Mitarbeiter immer wieder mit eigentümlicher Betonung. Jonny Hüttner ging auch dorthin, sagte aber nicht, worum es ging und daß er von der Jüdischen Gemeinde geschickt worden sei. Man verwies ihn an sein zuständiges Polizeirevier, und dort wurde er sofort festgenommen, nach Sachsenhausen und später nach Auschwitz verschleppt. Jonny Hüttner hat durch Solidarität und unglaubliche Zufälle überlebt. Manchmal, wenn er zurückdachte, hat er sich gefragt, ob der Tonfall des jüdischen Fürsorgers nicht etwas zu bedeuten hatte. Und auch, als er mir von den Stunden seiner sonderbaren Freiheit im Herbst 1939 erzählte, wiederholte er die nie beantwortete Frage: Warum hatte der Beamte ihm gerade die Meldestelle vom Hackeschen Markt nahegelegt?« Unzeitgemäße Zivilcourage?
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Hackesche Höfe
Vom gedachten Revier 16, von der Grünanlage in die andere Richtung. Häuser: grau in grau. An der Ecke die Berolina-Apotheke. Kein besonders origineller Name. Sie könnte Buddeus-Apotheke heißen, da würde man wenigstens stutzig, und mancher fragt. Dr. Augustin Buddeus bekam am 7. September 1732 das Privileg verliehen, in Berlin eine Apotheke einzurichten. 1754 erwarb der Apotheker Thierfeider das Geschäft; es lohnte, es in diesen neuen Stadtteil zu verlegen. Schließlich gelangte sie in die Hände von Carl Arnold Marggraff, der 1887 das alte Haus abreißen und ein vierstöckiges bauen ließ. Da steht es, und unter Denkmalschutz. Die Apotheke war die erste ihresgleichen in Berlin, die einen Telefonanschluß wollte und bekam. 1954 wurde sie die erste staatliche Einrichtung ihrer Art in Berlin-Mitte unter dem Namen »Berolina«. Ursprünglich hatte sie wegen der Farbe ihrer Fensterläden »Rote Apotheke« geheißen. Dieser Name wieso schien er 1954 den Namensgebern ungeeignet? -, wie dem auch sei, wer gerade ein Rezept zur Hand hat oder Fencheltee kaufen möchte, es lohnt; es lohnt, einmal durch diese Tür einzutreten und die Apotheke wie ein Museumsstück zu bestaunen. Da steht man gern eine Weile länger und läßt andere Kunden vor. Jetzt erst weiß ich, was ich früher nicht gesehen habe. Von der Neuen Schönhauser Straße bis zum Eckhaus 121
mit dem Polizeirevier gab es Läden. Eines dieser Geschäfte - Rosenthaler Straße 44 - war eine Zeitungsfiliale mit Anzeigenannahme. Vormals Ullstein, und weil jüdisch: enteignet und umbenannt in Deutscher Verlag. Im Herbst 1942 wurde ich sechzehnjähriger kaufmännischer Lehrling als sogenannter Springer in etliche Filialen geschickt. Lernte auf diese Weise etwas mehr von Berlin kennen, das mir immer noch fremd geblieben war. Mal m der Filiale Tauentzienstraße, dem Kaufhaus des Westens gegenüber, mal Tempelhof, mal hier, mal dort. Aus mancherlei Gründen hatte es Ausfälle gegeben. Man bekam im Verlagshaus die Schlüssel, öffnete spät am Vormittag den unbekannten Laden und verkaufte Zeitungen und Zeitschriften, bis jemand kam, der hingehörte und sich auskannte. So war ich etwa drei Tage am Hackeschen Markt. Meist mußte ich mit Schönschrift die Tourenbücher der Zeitungsfrauen erneuern. Zeitungaustragen mitten im Krieg? Selbstverständlich. Sehr früh und nachmittags. Sogar noch im November 1943, in der Bombennacht, sind in der Rosenthaler Straße Zeitungsfrauen zur Arbeit gegangen am frühen Morgen. Davon später. Von meiner kurzen Tätigkeit am Hackeschen Markt habe ich nur in Erinnerung, daß es in dieser Gegend zusammengedrängter Höfe und ungezählter Kleinbetriebe ständig irgendwo brannte. Beinahe stündlich das Tuten und Läuten der Feuerwehr. Es gab noch einen Unterschied. Wenn Abonnenten am Morgen nicht pünktlich und regelmäßig beliefert worden waren, erschienen sie in der Filiale und beschimpften, hauten wohl auch mit der Hand auf den Ladentisch. In Charlottenburg hatte ich sie ungeduldig am Telefon. Aus Zehlendorf riefen sie gleich im Verlag an, und die Vertriebsleitung befahl uns mit schneidender Stimme sofortige Erledigung. Den lauten Leuten konnte ihr Morgenblatt zur Beruhigung in die Hand gedrückt werden... 122
Alle paar Tage gab es eine Sondermeldung. Da holte die Leitung all ihre Filialen ans Telefon, rief die Namen auf: »Potsdamer Brücke« - »Hier!«, »Kottbusser Tor« »Hier!«, »Hackescher Markt« - »Hier!«, bis alle bereit waren zum Mitschreiben. Die Stimme diktierte langsam einen Text. Meist handelte es sich um versenkte Schiffe, feindliche, wie sich denken läßt. Diese Meldung war mit großen, lesbaren Buchstaben auf bereitgehaltene Zeitungskopfbogen zu schreiben und dann umgehend ins Schaufenster zu hängen, neben die Tageszeitungen. Wie durch ein Wunder gibt es in dieser Gegend noch schöne Treppenhäuser, zum Beispiel an der Ecke Schönhauser Straße 8. Da fällt das Haus (1770) von außen dem Betrachter auf. Über den Fensterbögen im Erdgeschoß Girlanden und Frauenbüsten. Innen eine Barocktreppe mit Auge. Vor vielen Jahren hat mir ein Berliner Denkmalpfleger hier mein Auge geöffnet für Berlin! Von außen sehen die Häuser Rosenthaler Straße Nummer 36 und 37 so aus, daß man nichts sieht. Aber ihre Treppenhäuser... Rosenthaler Straße 38. Eine Gedenktafel. Von 1921 bis 1926 hatte im Hofgebäude das Zentralkomitee der KPD seinen Sitz, gleichfalls die Redaktion der »Roten Fahne« und der Jugendverband. Man las zuweilen diese Hausnummer im Anzeigenteil der »Berliner Zeitung«. Das Fernsehen der DDR suchte für einen Fernsehfilm mal diese, mal jene geeigneten Personen: »Interessenten melden sich bitte... in der Rosenthaler Straße 38, Probenstudio I«. War dort nicht früher ein Kino? Aus London kommt Hans Hirschberg 1989 wieder einmal nach Berlin und bringt Fotos mit. Die Porträts seiner Eltern aus dem Jahre 1939. Es sind Paßbilder, wie sie für 123
24 Oranienburger Straße mit Blick auf den Hackeschen Markt, 1939
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den Personalausweis, der damals Kennkarte hieß, benötigt wurden. Und für die Auswanderung. Sie gelang beizeiten. 1939, ehe der Krieg angefangen wurde. Zwei Bilder hat Sigmund Hirschberg von seiner Gegend aufgenommen. Ein Stück der Oranienburger mit Blick auf den Hackeschen Markt. Am Haus Nr. 89, in dem Familie Hirschberg im zweiten Stock wohnte, sind die querstehenden Ladenschilder »Räucherwaren« und »Bäckerei Conditorei« gut zu entziffern. Der Berliner Bär der Bäckerei trägt eine Brezel auf dem Rücken. Heute liest man dort »Lebensmittel« und »Uhren Reparaturen«. Ein Stück weiter steht eine hohe Bogenlaterne, imponierend genug und anzeigend, daß diese Straße keine unbedeutende war. Auf der linken Seite, die noch existiert, ein Nebeneinander von vielerlei Läden. In der Mitte des Bildes hinten der Hackesche Markt. Ein fünfstöckiger Bau. »Cigarren« läßt sich gerade noch lesen. Für das zweite Foto ist Hirschberg am Ende der Oranienburger Straße stehengeblieben und hat das Gegenüber aus der Nähe aufgenommen. Man sieht Straßenbahnschienen, dort fährt sie heute noch, den offenen Lastwagen eines Spediteurs, zwei Autos, Taxis mit dem damals gebräuchlichen schwarz-weißen Markierungsband ringsherum. »Cigarren« deutlich lesbar, und »Eduard Palm«. Der Eckladen beherrscht die Situation. Eduard Palm, der auf seinem anderen Ladenschild in Augenhöhe nicht auf den symbolischen Baum verzichtete, gehörte seinerzeit mit seinen Tabakläden zum Straßenbild wie die Firma Loeser & Wolff, die ihre Raucher in etlichen Filialen versorgte. Die Markise ist heruntergelassen. Scheint die liebe Sonne über Hitlers Berlin? Die sichtbaren Passanten tragen Wintermäntel. Neben dem Schild von Palm mit der Palme hat ein Zei125
tungshändler seine Blätter mannshoch ausgehängt vorm Hauseingang. Zwar steht in allen Zeitungen politisch dasselbe, was man sich heute nur mit Mühe vorzustellen vermag, aber ihr Unterhaltungswert ist vielfältig: »12 Uhr Blatt«, »Morgenpost«, »Deutsche Allgemeine Zeitung«. Die stets ohne »ie« zu schreibende »Berliner Illustrirte Zeitung«, und der großformatige »Völkische Beobachter«. Genau über dem »Eduard Palm«: im ersten Stock von Rundbogen eingefaßte neunteilige Fenster. Die unteren drei Scheiben sind durch weiße Gardinen verdeckt. Man kann den Leuten dort nicht ohne weiteres auf den Schreibtisch blicken, aber auch sie schauen nicht einfach zum Fenster hinaus. Das nächste Fenster rechts, vorn eine der erwähnten etagenhohen Bogenlaternen, zeigt die gleiche Anordnung der Gardinen. Wir blicken auf diese Weise auf das Polizeirevier 16, Berlin C 2, Hackescher Markt l, erster Stock. Hinter diesen Gardinen geschah einiges, wurde manches besprochen und geklärt, vertuscht und verhindert wir werden nie Einzelheiten erfahren, können nur dankbar bleiben für alle guten Taten und Unterlassungen. Was Sigmund Hirschberg betrifft, sieht es nicht so aus, als wolle er in die Emigration ein paar Berliner Bilder mitnehmen? Von seiner Gegend; und wie zufällig sind die Fenster des Polizeireviers auf dem Bild zu sehen. Was berechtigt den späten Betrachter, diesem Foto solche Vermutungen zu unterlegen. Die Wintermäntel, die Taxis - das kann zwei Jahre früher gewesen sein, oder drei. Die linke Seite des Fotos. »Commerzbank«, »Zigarren«, vorn mit Z, demnach jüngeren Ansehens als die »Cigarren« drüben von Eduard Palm. »Hinz & Küster«, guter Kaffeeduft. Und ein Kino. Das »Imperial« spielt »Spaßvögel« mit Fritz Kampers. Hätte das Programm an 126
25 Hackescher Markt. 1939
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diesem Tage einen längeren Titel gehabt, es wäre schwierig oder gar unmöglich gewesen, ihn aus unserer Lupenferne zu entziffern. »Spaßvögel«... Wann hat das »Imperial« diesen Film gezeigt? Das könnte das Staatliche Filmarchiv wissen! Ein Brief nach Potsdam. Sie wissen es. Der Film wurde 1938 hergestellt. »Am 21. Dezember 1938 erfolgte die Zensur des Films« - Kennzeichen der Zeit-, und am 11. Januar 1939 war in Koblenz die Uraufführung. »In Berlin fand die erste Aufführung am 20. Januar 1939 statt.« Aus Kindheitsferne, als man mindestens zweimal in der Woche ins Kino ging, blieb eine Zeitungsrubrik haften: Was spielt mein Kino? Zweimal in der Woche eine ganze Seite. Da der Zeitungshändler vom Hackeschen Markt verschwunden ist wie das Gebäude, öffnet die Deutsche Staatsbibliothek ihre Pforte. Am 19. Januar 1939 wird anderntags für das Kino »Atrium« die Premiere angekündigt. Später dann »2. Woche«, doch bald verschwindet »Spaßvögel«, weil ganz andere Streifen das Publikum beschäftigen. Mit Zarah Leander und Hans Albers. Die UFA-Kinos erwähnen »Spaßvögel« überhaupt nicht. Bleibt die »Morgenpost«. Sie hatte dienstags und freitags eine ganze Anzeigenseite mit Berliner Filmtheatern. Aber die Kinos in der Münzstraße fehlen dort ebenso wie das mit dem anspruchsvollen Namen »Imperial«. Ihre Besitzer sparten wohl das Geld; die Gegend nordwestlich vom Alexanderplatz war aus wer weiß welchen Gründen nicht wichtig genug. (Ich hätte das Foto von Sigmund Hirschberg so gern auf die Woche genau datiert... ) Bleibt uns, wenn wir uns an Filmtheatern im Wedding 128
und in Moabit orientieren, der ganze Monat Februar 1939 als das wahrscheinliche Datum für Hirschbergs Foto vom Hackeschen Markt. Oder der März? Denn im Frühjahr 1939 besucht Hirschberg nachweislich Gottesdienste in der Neuen Synagoge. Rosenthaler Straße 40/41/Ecke Hackescher Markt. Ein ungemütliches Fabriktor, Einfahrt frei halten. Wer nicht muß, geht da nicht hinein. Doch dahinter verbirgt sich eine Berliner Sehenswürdigkeit. Wer Hofe mag. Für Gewerbezwecke, zum Wohnen. Zum Durchgehen für Auskenner. Für Touristen lieber am Wochenende. Da können sie starren, da behindern sie niemand. Kurzum, an dieser Stelle, und nur hier, bezogen auf die Haupt- und Halbstadt, nur hier finden sich neun Höfe so miteinander verbunden. Der erste, im Schmuck des Jugendstils, seiner Glasuren und Ornamente, ist mehrere Minuten wert. Hier hat man den Polizeimeister Willi Steuck und seinen Kameraden Trischak erschossen. Der Hackesche Hof, wie er genannt wird, grenzt mit zwei seiner Höfe, was deren Mauer nicht gleich verrät, an das Gelände des Jüdischen Friedhofes in der Großen Hamburger Straße. Dann haben doch die Hausbewohner zuschauen können? Als die SS die Gräber verwüstete, mit Totenschädeln Fußball spielte - das hat mir Charlotte Holzer erzählt, die als Todeskandidatin im Keller des von der Gestapo beschlagnahmten Altersheimes durch die Gitter schaute. Was alles hat man nicht sehen wollen? (Machen Sie sich nicht zum Zeugen. ) Überall Quergebäude und Seitenflügel. Ein Fußgänger sollte alle neun Höfe durchwandern. Wer den Ausweg sucht, findet ihn, schmal genug und offen zur Sophienstraße. Die zählt neuerdings als Schmuckstück. 129
Die Ecke der Sophienstraße zur Rosenthaler Straße, der gewaltige Bau, war eines der Wertheim-Kaufhäuser; 1939 als AWAG »arisiert«. Die Gründer hatten 1885 mit einem kleinen Geschäft begonnen, aber schon 1892 ihr erstes Warenhaus eingerichtet, als der Zustrom der Käufer wuchs und neue Formen des Einkaufs erwartete. Heute dient das Gebäude anderen Zwecken. In seiner Wand in der Sophienstraße, kaum zu entdecken, schwierig zu lesen, eingemauert eine Grabtafel. Dr. Franz Eberhard Marggraff. An einem Dezembertag 1787 kam er auf die Welt, die er »hier« im Jahre 1879 verließ. Wer mehr über die Sophienstraße wissen möchte, findet im Heimatgeschichtlichen Kabinett, das in der Nummer 23 wechselnde Ausstellungen über den Stadtbezirk Mitte bietet, vielfältige Information. Im sommerlichen Halbjahr gibt es an Sonntagen Führungen und dabei Hinweise auf manche Sehenswürdigkeit.
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Blinde sehen
Rosenthaler Straße 39. Im Seitenflügel des Hinterhauses betrieb Otto Weidt eine Blindenwerkstatt, in der er fast ausschließlich blinde und taubstumme Juden beschäftigte. Weidt war kein Jude und gehörte zu den wenigen Berlinern, die versuchten, Juden zu helfen. Das Foto zeigt einen hageren Mann mit bemühter Eleganz; unauffällig dennoch, schmiegsam-zäh im Verhandeln, schlau, eitel und schauspielerisch begabt. War er selber wirklich so blind, wie er vorgab? Ein Geschäftsmann, gerissen und den Verhältnissen gewachsen. Er machte Geschäfte mit der Geheimen Staatspolizei, das heißt, er hatte durch Bestechung manchen in der Hand, empfing wiederum dadurch Nachsicht und Nachrichten. Das alte Lied: Wer von wem ? Weidt produzierte Besen, Bürsten und Pinsel. Das war kriegswichtig; und da er sich solche Aufträge von der Wehrmacht besorgte, sicherte er sich vor den Behörden, die ihm die Arbeiter wegnehmen wollten. Er beschäftigte, allen davon abweichenden Zahlenangaben zum Trotz, etwa dreißig Mitarbeiter. Bis auf wenige Ausnahmen waren es Juden. Mit denen ließ er sich sogar fotografieren. Da sitzen sie einträchtig; er schmunzelnd in der Mitte. Schräg von ihm Inge Deutschkron, die das Schild stützt: »Blindenwerkstatt Otto Weidt«. Sie war bei ihm beschäftigt. Es gibt in ihrem Buch »Ich 131
trug den gelben Stern« darüber ein Kapitel. Weidt beschützte in seiner Fabrik untergetauchte Juden. Er kannte Verstecke, half mit Geld, Lebensmitteln und falschen Papieren. Er kaufte einer Prostituierten, die der behördlichen Verpflichtung zur Arbeit entgehen wollte, ihre Personalpapiere ab und gab ihr dafür eine Bescheinigung, daß sie in seinem Betrieb beschäftigt sei. Mit ihren Ausweisen konnte die damals zwanzigjährige Inge Deutschkron ein Vierteljahr legal weiterleben. »Besen und Bürsten waren ebenso knapp wie alle anderen Waren in Deutschland. Sie eigneten sich hervorragend als Tauschobjekte.« Und Weidt tauschte. Gegen Parfüm, Pullover, Schirme, Lebensmittel und Lebensmittelkarten. Sein Material reichte oft nicht, aber »es gab noch andere Quellen. Polizeioffiziere des der Werkstatt gegenüberliegenden Polizeireviers lieferten Weidt Schwänze der Polizeipferde« — aber längst war diese Schutzpolizei nicht mehr beritten. Inge Deutschkron, im Oktober 1989 darüber befragt, räumt ein, daß aus den besetzten Ostgebieten solches Material nach Berlin kam, von einer Polizeihand in die andere, und dann nach drüben in die Rosenthaler 39. »Im zweiten Stock über der Werkstatt wohnte eine Portiersfrau, das Ordinärste, was Sie sich vorstellen können, aber die hat uns auch geholfen. Sie hielt sich nur zurück, wenn ihr Mann auf Urlaub kam. Sie kochte Essen mit unterderhand von Weidt besorgtem Fleisch. Er gab kleine Feste, um die Bedrückten aufzumuntern. Weidt hat ja praktisch mit uns gelebt und gelitten. Ich behaupte, er ist früher gestorben, weil er das mit uns durchgemacht hat... Wenn die Gestapo kam, und sie kam ja ziemlich oft, dann flohen wir und nahmen unsere Jacken mit dem Stern, und ich arbeitete dann eifrig in der Expedition«, denn eine Jüdin durfte von Weidt nicht als Sekretärin beschäftigt werden. Manchmal mußten sie sich unter der Treppe verstecken, wenn solcher Besuch kam. 132
War Weidt wirklich blind? »Er war, was man praktisch blind nennt. Er sah nur Konturen. Dennoch behauptete ich, er sah mehr, als er zugab.« Er hatte eine Blindenarmbinde, die trug er aber nur, wenn er unterwegs war; zum Beispiel beim Arbeitsamt für Juden, um zu versuchen, Juden für seine Werkstatt zu bekommen. »Er hatte einen Stock, damit tappte er so herum. Er war ein großartiger Schauspieler.« Auf dem Polizeirevier am Hackeschen Markt war Inge Deutschkron niemals, weil sie in einer anderen Gegend wohnte. Wenn sie früh aus dem S-Bahnhof »Börse« kam, mal mit, mal ohne Judenstern an der Kleidung, ging sie schleunigst und ohne sich umzusehen in die Werkstatt Weidt. Dort merkte sie, »daß es ab und zu Polizisten gab, mit denen Weidt und Ali [seine jüdische Sekretärin], freundschaftlich verkehrten. Mir war klar, das sind keine Nazis.« Es gibt ein besonderes Ereignis, an dem Otto Weidt zu messen ist. Eines Tages oder Nachts holte die Gestapo die meisten der bei Weidt beschäftigten Juden ab und schaffte sie in das Sammellager Große Hamburger Straße. Das ließ Otto Weidt sich nicht bieten. Er ging hin und holte seine Mitarbeiter zurück. Zog mit seinen durch Judenstern gekennzeichneten Blinden und Taubstummen zurück in seine kleine Fabrik. Ein gespenstischer Zug. Diese Menschen mit Stöcken, einander stützend. Ist das unserem inneren Auge vorstellbar? Wie sie in die Oranienburger Straße einbiegen, auf dem schmalen Bürgersteig entlang. Es gibt ihn heute noch, eng und holprig. Breughels Gemälde eines Blindenzuges fällt mir ein. Ist harmlos dagegen. Aber so, wie er es 1568 gemalt hat, wie einer am anderen tastend Halt sucht, sich am Vordermann festhält und dem Hintermenschen Halt bietet... Wann das war? Inge Deutschkron: »Es muß gewesen sein im Herbst 133
26 Blindenwerkstatt Otto Weidt. Zusammen mit seinen größtenteils jüdischen Mitarbeitern ließ sich Weidt (2. Reihe, 6.v. l.) im Kriege fotografieren. Vorn Inge Deutschkron
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1942. Da holte die Gestapo einige Blinde ab. Darunter eine kleine Jüdin, Rosi Katz. Die kam hereingestürmt: ›Ich hab ja noch nicht mal 'ne Strickjacke‹, ich zog meine Strickjacke aus und gab sie ihr, und hinterher wußte ich nicht, was ich machen sollte, denn diese Strickjacke hatte meine Mutter gestrickt, und ich hatte ja keine andere, es gab ja nichts zu kaufen.« Sie konnte das nicht zu Hause erzählen, sagte immer, ihre Jacke sei im Büro. »Weidt wußte das. Er hat es wohl mit angesehen damals, und hat mir zu Weihnachten, und darum weiß ich das, es kann also nur im Herbst gewesen sein, eine neue Jacke geschenkt. Die hat er gegen etwas anderes bei Karstadt für mich erstanden. - Das war die erste Abholung. Bloß ich hab nicht gesehen, wie er seine Blinden zurückgeholt hat.« Der Zug der Blinden durch die Oranienburger Straße. Am Hackeschen Markt sind sie links eingebogen in die Rosenthaler Straße, am kleinen Warenhaus entlang, wo heute An- und Verkauf drängt, bis zu ihrem schmalen Eingang in den Hof in der Nummer 39, wo es noch so aussieht wie einst, nur daß keine Tafel den Nachgeborenen davon erzählt... Dann kamen die Deportationsexperten der SS aus Österreich nach Berlin, um bei der »Endlösung« zu helfen: Fabrikaktion, 27. und 28. Februar 1943. Rund 7000 Berliner Juden wurden von ihren Arbeitsplätzen weg oder von der Straße verschleppt in Sammellager. Da konnte auch Otto Weidt seine Mannschaft nicht mehr retten. Er überlebte und starb 1947 in Berlin. In der Rosenthaler Straße gegenüber wohnte Dr. Gustav Held, ein jüdischer Arzt, der als sogenannter Krankenbehandler weiterarbeiten durfte, weil sich seine nichtjüdi135
sehe Frau nicht von ihm scheiden ließ und ihm damit das Leben rettete. Regina Scheer fragte die Arztwitwe: Was war Weidt für ein Mensch? »Sie schwieg lange. Dann sagte sie: ›Er war ein Mensch, der auf andere wirkte. Er verachtete die Angst. Und er wußte seinen Vorteil zu finden.‹ Kurze Zeit darauf, als sei sie erschrocken über ihre Sätze, versicherte sie mir, Weidt sei einfach von menschlicher Solidarität, von seinem Gefühl für Anstand und Würde bewegt worden, als er den jüdischen Menschen half.« Das klingt schon verallgemeinernd. So kann man es auch sehen. Regina Scheer: »Nicht jedes Detail hält einer Prüfung stand, aber die Wahrheit, und sei es als Legende, steigt aus den Kellern, wird von den Wänden weitererzählt. Ich bin in vielen Wohnungen in dieser Gegend gewesen, habe gefragt und den Antworten zugehört und manchmal war das abwehrende Schweigen eine Antwort. Vergessen hat niemand. Manche wollen sich nicht erinnern.« Im Gespräch mit Inge Deutschkron, die in der Illegalität die Verfolgung überlebt hat, ihr Satz: »Menschlichkeit ist nicht begrenzt.« Heute, ein paar Schritte nur um die nächste Ecke, in der Sophienstraße liest man am Haus Nummer 8: »PGH des Blindenhandwerks«. Vielleicht wissen sie in der Produktionsgenossenschaft vom Schicksal ihrer Leidensgefährten in nächster Nachbarschaft; vielleicht hat auch ihnen jemand von Otto Weidts Werkstatt erzählt, damit möglichst wenige blindlings vorübergehen an unserer Vergangenheit.
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Neue Synagoge
In Berlin wird 1866 wenige Tage vor dem feierlichen Einzug der einheimischen Truppen nach dem Sieg über Österreich in der Oranienburger Straße eine prachtvolle Synagoge eingeweiht, deren Fertigstellung sich wegen dieses Krieges verzögert hatte: Das Eisen war knapp geworden. Das neue Bauwerk für jüdische Gottesdienste ist ein Schmuck für die Stadt Berlin, die damals gern norddeutsche Residenz genannt wird. Der Neubau einer zweiten Gemeindesynagoge war notwendig wegen des Zustroms von Einwanderern. 1861 gab es rund 19000 Juden in der Stadt: 3, 46 Prozent ihrer Gesamtbevölkerung. Der König von Preußen hatte für den Bau ein Gelände vorgeschlagen, weiträumig und sogar repräsentativ, aber als spärlich informiertes Staatsoberhaupt wußte er nicht (oder doch?), daß in dieser Gegend keine Juden wohnten. Sie hätten recht lange Wege gehabt zum Gebet, wie der Stadtplan zeigt. Inzwischen steht dort, in Kreuzberg, die St.-Michaels-Kirche. Die Gemeinde lehnte den Vorschlag dankend ab. Sie besaß ein großes Grundstück an der Oranienburger Straße, unterhielt nahebei ihr Krankenhaus, und es wohnten, ohne daß man von einem Judenviertel hätte sprechen können, viele Juden in der Nachbarschaft. Mit dem Bau wurde einer der erfolgreichsten Privatarchitekten seiner Zeit beauftragt, Eduard Knoblauch, ein 137
christlicher Künstler, der aus einer Berliner Familie stammte, deren Haus in alter Originalität im nacherbauten Nikolaiviertel erhalten ist. Er hatte, nachdem ein Wettbewerb keine befriedigenden Ergebnisse erbrachte, einen Entwurf angeboten, der dem Wunsche entsprach, daß die Neue Synagoge eine Straßenfassade haben müsse, vor der man bewundernd stehenbleiben konnte. Man versteckte sich und seinen Glauben nicht mehr auf Hinterhöfen. Die Gleichberechtigung schien bleibend errungen, es konnte nur noch besser werden. Die Toleranz der Jahrzehnte zwischen 1855 und 1875 ermöglichte diesen Bau, dessen Richtfest im Sommer 1861 gefeiert werden konnte. Über Einzelheiten dieses ersten und bedeutendsten jüdischen Kultbaus im 19. Jahrhundert stand zu lesen: »Ein märchenhaftes Bauwerk..., das inmitten eines recht nüchternen Stadtteils«, dessen Häuser niedrig waren, »uns in die phantastischen Wunder einer modernen Alhambra mit den anmutigen leichten Säulen, den schwunghaften Rundbögen, den farbenreichen Arabesken, dem mannigfach gegliederten Schnitzwerk, mit all dem tausendfältigen Zauber des maurischen Stils einführt.« Es mußte wie ein Wunder wirken. »Das Licht strömt... durch die bunten Scheiben magisch gedämpft und verklärt. Decke, Wände, Säulen, Bögen und Fenster sind mit verschwenderischer Pracht ausgestattet und bilden mit ihren Vergoldungen und Verzierungen einen wunderbaren, zu einem harmonischen Ganzen sich verschlingenden Arabeskenkranz von feenhafter, überirdischer Wirkung.« Die Innenausstattung hat Knoblauch, unheilbar erkrankt, nicht mehr entwerfen können, so daß August Stüler und Knoblauchs Sohn Gustav den Bau zu Ende führten. Einweihung am 5. September 1866, 11 Uhr 30. Rabbiner Dr. Joseph Aub, der die Predigt hielt, hatte in Bern138
27 Synagoge in der Oranienburger Straße, Inneres 139
steins Buchdruckerei in der Behrenstraße ein Gebetbuch »für die neue Synagoge in Berlin« erscheinen lassen. Er predigte als einer der ersten in Berlin in deutscher Sprache. Die Zeitungen melden wie in unseren Tagen die »zur Feierlichkeit geladenen und erschienenen Ehrengäste«, aber in der Reihenfolge, die dem jeweiligen Blatt angemessen scheint. Und das liest sich reizvoll. Die »Neue Preußische Zeitung«, mehr als konservativ und in einem Format gedruckt, wie es später Hitlers »Völkischer Beobachter« und andere nutzen, bringt eine karge Notiz und nennt zuerst den »General-Feldmarschall Graf Wrangel«, der hat etliche 1848er Demokraten auf seinem angeblich reinen Gewissen. Als nächster »Minister-Präsident Graf Bismarck«. Den hat die »National-Zeitung«, deren Bericht die vorhin zitierten Äußerungen über die Schönheit des Gebäudes entnommen sind, als ersten genannt. Da ist Wrangel die Nummer 3, nach dem Finanzminister von der Heydt. Das »Neue Allgemeine Volksblatt«, dem die Angelegenheit unter den Berliner Lokalnachrichten fünf Zeilen wert ist, nennt Wrangel als vorletzten, hat aber den Kultusminister v. Mühler ziemlich vorn. Graf Waldersee erscheint; er ist der Gouverneur von Berlin. Nicht zu vergessen der Stadtkommandant v. Alvensleben, Schloßhauptmann v. Dachroeden und Fürst von Radziwill. Oberbürgermeister Seydel wird, wenn überhaupt, im Rest erwähnt. Nicht ohne Pikanterie, wenn wir an den November 1938 denken, ist die Anwesenheit des Berliner Polizeipräsidenten v. Bernuth, der als konservativer Abgeordneter gegen die Gleichberechtigung der Juden gestimmt hatte. Der König war nicht dabei. Wilhelm besuchte an diesem Mittwoch die kurz zuvor eröffnete Kunstausstellung der Akademie, empfing in seinem Palais den Prinzen Friedrich Karl, nahm mehrere militärische Meldungen 140
entgegen und hörte danach von Prof. Dr. Esmarch einen längeren Vortrag über Kriegs-Hospitalpflege. So stand Tag um Tag im Blatt, was das Staatsoberhaupt getan hatte. Und das Land war noch längst keine Republik. Die »Berlinischen Nachrichten« und die »NationalZeitung« berichteten ausführlich. Rabbiner Aub hat hebräisch und deutsch den Segen gesprochen! »Durch seine Worte« klang in der Predigt »der Geist humaner, dem neuen Zeitalter entsprechender Duldung«. Schon ein Jahr später heißt es in einem Wochenblatt: »... der Glanz des jüdischen Tempels hat denn auch in mancher frommen Seele schon Seufzen und Ärgernis erweckt...« Die Musik zur Einweihung hatte Louis Lewandowski komponiert. »Liebe macht das Lied unsterblich« steht auf dem Grabstein des Neuerers des Synagogalgesanges in der Ehrenreihe auf dem Friedhof in Berlin-Weißensee. Alle Jahre ist heutzutage das Synagogenkonzert der Berliner Jüdischen Gemeinde in der Synagoge Rykestraße, ihrem Friedenstempel, ein gesellschaftliches Ereignis. Oberkantor Estrongo Nachama von der Westberliner Gemeinde singt, begleitet vom Magdeburger Domchor. Mehrfach steht der Name Lewandowski als Komponist im Programm. Damals, am 5. September 1866, sang der Männer- und Knabenchor der Gemeinde mit Orgel- und Posaunenbegleitung. Das war der Beginn wesentlicher Impulse für die musikalisch-liturgische Neugestaltung des jüdischen Gottesdienstes. Von Anfang an war diese Synagoge, ungeachtet ihres exotischen Äußeren, ein Symbol der formalen Gleichberechtigung der Juden in Preußen. Sie war die prächtigste Synagoge der Welt. Sie bot als liberale Einrichtung mit Orgel und deutscher Sprache gutnachbarliche Beziehungen an, für die eigenen Gläubigen und für die Christen nebenan und oben. Mit ihren Plätzen für 3 000 Gläubige blieb die Neue 141
Synagoge die größte der Stadt, in der bald weitere Synagogenbauten notwendig wurden, und die schönste. Immer wieder hoben Zeitgenossen das magisch gedämpfte Licht hervor. Knoblauchs Nachfolger August Stüler hatte, um diese Wirkung gerade für den Freitagabend zu erhalten, ein kompliziertes System installiert: Alle Fenster waren doppelt verglast, und dazwischen befand sich eine spezielle Gasbeleuchtung. Bereits elf Jahre später probierte man das elektrische Licht aus. Ein in der Telegraphenbau anstalt von Siemens & Halske gefertigter Apparat bestand seine Probe gut. Beim gedämpften Licht durch die farbigen Glasfenster war die kleinste Schrift überall deutlich zu lesen. Die »National-Zeitung« meldete am 16. November 1877: »Die Anwendung elektrischen Lichtes zur Beleuchtung großer Räumlichkeiten ist bereits dem Stadium des Projektes entrückt; sie ist für die hiesige Synagoge nur eine Frage der Zeit.« Nun beeindruckten ihr »Farbenreichtum und Lichteffekte« noch stärker. Reisehandbücher machten Berlin-Besucher auf diese Sehenswürdigkeit aufmerksam. »Die orientalischen Stilformen sind mit Glück den modernen Verhältnissen abgepaßt«, steht im Baedecker, der die »glänzende malerische und plastische Ausstattung« lobt. Ein langer Weg bis zur Zerstörung? Zwei Bilder gehören zusammen. Die Synagoge in voller Schönheit und als Ruine. Martin Riesenburger (1896-1965), einst Prediger und später Landesrabbiner, war die letzten Kriegsjahre auf dem Weißenseer Friedhof tätig. Er sprach in einer Gedenkpredigt über die Vorgänge in jener Novembernacht: »Da schössen Feuergarben aus unseren Synagogen empor, unsere heiligen Thorarollen, in denen geschrieben steht: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹, sie wurden zu Tausenden geschändet und verbrannt, jüdische Men142
sehen wurden hinausgezerrt aus ihren Wohnungen und in Konzentrationslager verschleppt, und welch ein Wunder - als der Morgen aufzog, da glühte noch in einer einzigen Synagoge Berlins, in dem gewaltigen, von Brand und Rauch umgebenen Tempel in der Oranienburger Straße, vor der zerstörten Heiligen Lade das Ewige Licht!« Riesenburger nannte sein Buch: »Das Licht verlöschte nicht«. Es verlosch nicht, weil Krützfeld kam. Am 8. November 1989 melden die Zeitungen von einem sensationellen Fund bei den Enttrümmerungs- und Sicherungsarbeiten im Gebäude der Ruine. Die »Ewige Lampe« wurde gefunden. Ursprünglich im nicht mehr bestehenden Hauptsynagogenraum vor der Heiligen Lade angebracht, war sie beim Entfernen einer Betondecke entdeckt worden, die die Nazis gezogen hatten, als während des Krieges Teile des Gebäudes als Luftschutzkeller dienten. Zwei umsichtige Bauleute, Lutz Mirle und Bernd Besonçon hatten die kostbare Lampe geborgen. Sie trägt folgende Inschrift: »Im Jahre 5626 (das ist 1866, das Jahr der Einweihung) gespendet von Adolf und Cäcilie Jacoby und Julius und Lydia Jacoby.« Das Licht erlosch, als die Synagoge schließlich der Wehrmacht als Lagerraum diente, aber die »Ewige Lampe« blieb in der Verborgenheit bewahrt. Sie wird künftig im Jüdischen Museum ihre Geschichte erzählen. Am 9. Dezember 1938 teilte die Berliner Polizei den Berliner Rabbinern mit, daß die Juden ihre Gottesdienste »auf eigenes Risiko« abhalten müßten. Sie sei »nicht in der Lage, jüdische religiöse Gottesdienste zu schützen«. 1939 fanden nach Aufräumungsarbeiten wieder Gottes143
28 Die Ewige Lampe, geborgen 1989
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dienste statt. An Pessach, dem zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten gefeierten Fest, öffnete sich die Neue Synagoge für den Feiertagsgottesdienst. Sigmund Hirschberg schrieb an seinen bereits ausgewanderten Sohn Hans, »daß gestern zum 1. Pessach-Vorabend erstmalig in der Neuen Synagoge Gottesdienst gewesen ist. Wir drei waren in richtiger Voraussicht des Andranges schon l Std. früher zur Stelle... Der große, so feierliche Raum war unverändert in seinem Aussehen, und auch der Trausaal bot beim Durchschreiten nichts Auffallendes, nur beim näheren Zusehen sah man die Retouche.« Ging man durch den Trausaal? Der liegt, laut Grundriß, ganz hinten. Hieß es nicht 1938, die SA-Leute hätten im Trausaal ihr Feuer gelegt? Fragen an Hans Hirschberg, als wir uns 1989 wenige Stunden vor Beginn des jüdischen Neujahrsfestes unterhalten, zu dem er aus London nach Berlin gekommen ist wegen des aus der Kindheit vertrauten Rituals. Für Trauungen wurde längst nicht mehr der einst dafür entworfene Raum benutzt, sondern der Vorraum der Synagoge. Sigmund Hirschberg im Brief an den Sohn: »In ganz kurzer Zeit war der allen so vertraute Raum mit einer ungewöhnlich großen Zahl Andächtiger gefüllt. Man sah allen die tiefe Ergriffenheit an, die sie bewegte, und wie ihnen diese seit Kindheit vertraute Stätte lieb geworden war. Und nun kommt etwas, was Dich besonders bewegen und erfreuen wird: in gewaltigen Akkorden brauste die herrliche Orgel mit ihrem vollen Werk über die tief erschütterte Menge dahin, in einem gut gespielten klassischen Präludium. Groß angelegt. - Es fungierten Herr Gollanin und Rab. Dr. Wiener, der eine Ansprache hielt, kurz, bedeutungsvoll und beziehungsreich zur Gegenwart.« Was seinen Sohn »besonders bewegen und erfreuen wird...«, ist die Erinnerung, daß der Vater bis 1938 als 145
sogenannter Interimskantor an besonderen Feiertagen in den Synagogen Pestalozzistraße, Kottbusser Ufer und im Jüdischen Krankenhaus wirkte. Mit Kriegsbeginn, als Maßnahmen der Regierung die Situation der jüdischen Bevölkerung weiter verschärften, erlitt die Neue Synagoge weitere Schäden. Ihre goldene Kuppel mußte übermalt werden, damit sie nicht feindlichen Flugzeugen als Orientierungspunkt dienen konnte. Die Nazis, die ihre antijüdischen Verordnungen mit Vorliebe an jüdischen Feiertagen durchsetzten, hatten dafür den einen der hohen Feiertage ausgewählt, das jüdische Neujahrsfest, mit dem das Jahr 5700 begann. »Ich kann mich gut daran erinnern«, schreibt Heinrich Simon in einem Brief an den Autor. »Soweit ich mich erinnere, war am ersten Tag des Neujahrsfestes, d. h. Donnerstag, 14. September, vor der Front der Synagoge ein Gerüst aufgebaut worden, und die Kuppel sowie die beiden kleinen Türme an den Seiten wurden mit grauer Farbe überstrichen. An dem stehengebliebenen westlichen Turm kann man das heute noch sehen.« Möglich, »daß diese bewußt als Schikane durchgeführte Aktion« vielleicht am zweiten Feiertag oder erst am Versöhnungstag, Sonnabend, dem 23. September, stattfand. »Ich glaube aber, mich nicht zu irren, daß diese Gemeinheit am 14. September erfolgte.« Nach erhaltenen Unterlagen hat es Ende Januar 1940 in der Neuen Synagoge Gottesdienste gegeben. Aber in der Gottesdienstordnung vom 12. -19. April 1940 heißt es, daß in der Neuen Synagoge und in der Synagoge Rykestraße »bis auf weiteres keine Gottesdienste« stattfinden. Die Gebäude waren beschlagnahmt worden. Die Synagoge Rykestraße, heute der Friedenstempel, wurde als Pferdestall benutzt. In der Oranienburger Straße bot sich das große Gebäude der Wehrmacht als Lagerhalle für Textilien und Lederwaren an. In einem ausländischen Bericht 146
jener Tage heißt es: »Die Kuppel der Synagoge Oranienburger Straße wurde schwarz gestrichen. Man nimmt an, daß sie englischen Fliegern als Richtpunkt für das in der Nähe liegende Haupttelegraphenamt diente. Die Synagoge selbst dient der Wehrmacht als Lederlager.« Der verheerendste Luftangriff auf Berlin seit Kriegsbeginn beginnt am 22. November 1943. Es ist ein Montag. Zwei Stunden lang werfen über 600 britische und kanadische Flugzeuge Spreng- und Brandbomben auf das nächtliche Berlin. Besonders der Stadtkern wird schwer getroffen. Hans-Georg von Studnitz, ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, der in dieser Zeit ein geheimes Tagebuch führt, kommt nachts gerade von einer Reise zurück. »Die von Brandgeruch und ausströmendem Leuchtgas geschwängerte Luft wird so unerträglich, die Finsternis so undurchdringlich, der Regenschauer vor sich herjagende Sturm so stark...« Den Weg versperren »umgestürzte Bäume und Leitungsmasten, zerrissene Hochspannungskabel, verkohlte Straßenbahnwagen, Trichter, Gesteinstrümmer und Glasscherben«. Es ist die Gegend um den Hackeschen Markt. Früh um vier ein Licht: Zeitungsfrauen kommen zur Arbeit. »Gegen fünf Uhr bringt uns eine Zeitungsfrau auf den Weg nach dem U-Bahnhof Rosenthaler Platz. Die Straßen dorthin säumen ausgeglühte Geschäftshäuser. Zwischen zuckenden Flammen, eingehüllt in Glut, Rauch und Funkenflug«, erreichen sie mit Mühe den U-Bahn-Schacht, in dem Hunderte Schutz suchten. Die Bahn fährt noch zwei Stationen bis Alexanderplatz. Dort brennen um den zerstörten S-Bahnhof die großen Warenhäuser lichterloh. Das Hauptquartier der Royal Airforce in London teilt mit: »Berlin wurde in knapp 45 Minuten mit mehr als 2000 Spreng- und etwa 150000 Brandbomben belegt.« In 147
der nächsten Nacht wird der Angriff wiederholt. In der Nacht zum 27. November greifen über 400 Bomber die Stadt an. Wenn ich nur wüßte, an welchem Spätabend unser Militärzug anhielt damals im November 1943, anhalten mußte wegen eines britischen Nachtangriffs, wie nunmehr bekannt. Damals wußten nur militärisch Eingeweihte, daß britische Flugzeuge nur bei Nacht, die amerikanischen nur bei Tage kamen. Wir krochen unter unsere Güterwagen - enthaltend, wie angeschrieben, 40 Mann (oder für 8 Pferde vorgesehen) - und warteten ab. Es war in der Nähe des Verschiebe-Bahnhofs Berlin-Rummelsburg. Es ging glimpflich ab, keine Einschläge in der Nähe. Nur in der Ferne die rotleuchtende Stadt. Irgendwo dort im vierten Stock unsere Wohnung und meine Mutter im Luftschutzkeller. Irgendwann fuhren wir weiter, um Berlin herum, und erwachten verschlafen früh in Brandenburg an der Havel auf dem Güterbahnhof. Ich war damals siebzehn und seit ein paar Wochen eingezogen zum Kriegsdienst, den ich instinktiv haßte. Ein Blick in das Tagebuch des Joseph Goebbels, Reichsminister und Gauleiter von Berlin. - 24. November 1943: »Es ist unerfindlich, wie die Engländer bei einem Luftangriff in der Reichshauptstadt so viel zerstören können.« 25. November 1943: »Wie schön war einmal Berlin, und wie elend und heruntergekommen sieht es jetzt aus.« Woran das liegt, entgeht ihm. - 27. November 1943. An diesem Tag ist er durch Schadensgebiete gefahren und besuchte einige Verpflegungsstellen. »Man hat manchmal den Eindruck, als wäre die moralische Haltung der Berliner Bevölkerung schon fast religiös. Frauen treten an mich heran und machen segnende Zeichen über mich und bitten Gott, daß er mich erhalten möge... Das Essen wird überall als ausgezeichnet gerühmt... Mit kleinen 148
Zeichen des Entgegenkommens kann man dieses Volk um den Finger wickeln.« Am folgenden Montag fährt er zum Gartenplatz im Wedding zu Arbeitern, die dort verpflegt werden. »Ich muß mit den Leuten essen, werde auf eine Kiste gehoben, um zu ihnen zu sprechen.... Ich werde nur geduzt und mit dem Vornamen gerufen.« Er überlegt, »wie wir die Arbeiter, die zum großen Teil noch nicht in die Betriebe zurückgekehrt sind, wieder dahin zurückführen können ... Tabak ist jetzt das bewährteste Genußmittel; für eine Zigarette macht der Berliner einen Kopfstand.« Das sind Sätze, die in den Geschichtsbüchern fehlen.
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Das Foto
Das Foto. Das irreführende, immer wieder auf den 10. November 1938 datierte. Die schönste Synagoge brennt am eindrucksvollsten. Das Foto. Wer hat es aufgenommen? Warum ist es erst nach Kriegsende erschienen? Weil es nicht vor Kriegsbeginn 1939 in die internationale Presse gelangt sein konnte. Es wurde nur nachträglich zum Symbolbild des Naziterrors. Das Foto und die Tatsachen. Wir werden sie kaum erhellen können. Einer kopiert den anderen, einer übernimmt vom anderen auch das korrigierte Datum: 23. Februar 1943. Aber an diesem Tage hat es keinen Luftangriff gegeben auf Berlin. Es war ein Irrtum, den Laurenz Demps, der Geschichtsprofessor, erst 1988 berichtigen konnte, als er die Tabelle der britischen Nachtangriffe auf Berlin vergleichend prüfte. »Verwundert stellte ich fest, daß an diesem Tage kein Luftangriff stattgefunden hat.« Laurenz Demps, um Einzelheiten gebeten, hat im Stadtarchiv anhand der »Berichte über die Luftangriffe auf die Reichshauptstadt Berlin«, herausgegeben von der Hauptluftschutzstelle der Stadtverwaltung, nach dem tatsächlichen Zerstörungsdatum gesucht. »Das war insofern mühsam, da die neue Bezeichnung, das heißt, die Dienststellenbezeichnung der Wehrmacht, die diesen Bau 150
geraubt hatte und nun nutzte, nicht bekannt war und meines Wissens in der Literatur auch nicht erwähnt worden war.« Es gelang anhand der Adresse. In einem zusammenfassenden Bericht über britische Luftangriffe in der Zeit vom 22. bis 26. November 1943 tauchte auf unter »Bemerkenswerte Schadensstellen« die Bezeichnung »Heeresbekleidungsamt III, Oranienburger Straße 29/30«. Demps: »Damit war die Spur gefunden.« Die Klärung brachte »ein seitenlanger Bericht des Polizeipräsidiums Berlin über Bemerkenswerte Schadensstellen‹ des Luftangriffs vom 22. November 1943. In diesem Bericht, der nur ein Verzeichnis von zerstörten Gebäuden, Dienststellen, denkmalgeschützten Gebäuden usw. enthält, wird als Zerstörungsdatum der Neuen Synagoge - hier ebenfalls als Heeresbekleidungsamt III bezeichnet - der Luftangriff vom 22. November ausgewiesen. Dieser Luftangriff begann mit dem Vollalarm um 19. 30 Uhr und endete um 21. 12 Uhr, dauerte also eine Stunde und 42 Minuten.... Der Bericht des Polizeipräsidenten spricht bei dem Heeresbekleidungsamt von ›Totalschaden‹.« Wie konnte es zu dieser Verwechslung des 22. November mit dem 23. Februar kommen? Der Februar 1943 wird durch die Veröffentlichungen über die Neue Synagoge geschleppt wie das Datum 10. November 1938, Pogromnacht. Man kann den 22. November schreiben: 22. 11. Die Monatszahl römisch. Das hat mancher noch in der Schule gelernt. Wenn aber 22. 11. flüchtig geschrieben steht oder als Zwei gelesen werden kann? Der Irrtum liegt nahe. Aber von wem stammt das Originalfoto? Wer nahm nach dem 22. oder 23. November 1943 die brennende, besser gesagt, die wegen ihrer ledernen und textilen Inhalte schwelende Synagoge auf? Das Foto 151
zeigt: Der Mensch mit der Kamera hat gegenüber im Hause des Haupttelegraphenamtes gestanden, in einem der oberen Stockwerke. Wer hatte damals dort Zutritt? Oder ist es in amtlichem Auftrag aufgenommen worden? Es gibt nur die Reproduktion, die einer vom ändern übernommen hat. Zuweilen wird sie in Büchern ohne Quellenangabe verwendet. Helmut Eschweges Band über die deutschen Synagogen nennt Schoenberners »Der gelbe Stern« als Bildquelle, der gibt »Kongreßverlag 1960« an. Wo ist der Ursprung? Niemand in den befragten Archiven kann ein Original zeigen. Immer nur eine Reproduktion. Ohne Quelle. Da wir wissen, daß dieses Foto fälschlich seit Jahr und Tag als Brand in der Kristallnacht ausgegeben wurde, könnte nicht vermutet werden, es sei nicht echt? Die großen Bildagenturen haben kein Original aufzuweisen. Jedoch es gibt eine Aufnahme, gestochen scharf, vom April 1948. Der Fotograf Heinscher hat die Synagoge aus dem Haupttelegraphenamt aufgenommen. Vergleicht man sein Bild mit dem der rauchenden Synagoge, so stimmen die Details dermaßen überein, Fensterrahmen, herabhängende Vorhänge usw., daß man sich verwundert fragt, wie bewegliche Stücke außen und in den zerborstenen Fensterhöhlen, Dachschutt und Lichtreflexe von November 1943 bis April 1948 so unverändert geblieben sein sollen, wenn wir dabei außer acht lassen, daß das Foto als Dokument von 1938 ausgegeben wurde. Fazit: Bis nicht jemand den Beweis der Echtheit vorlegt, behaupte ich: Das Foto der qualmenden Synagoge ist eine Fälschung. Ich arbeitete von Mai 1948 bis Oktober 1953 beim IllusBilderdienst, später Zentralbild, erst als Bürohilfskraft, später als Bildredakteur. Ich saß lange Monate einem ehrenwerten Kollegen gegenüber, der Fotos retuschierte, ehe sie an die Presse geliefert wurden. Beispielsweise: Der 152
29 Das Foto, datiert 1948 beim Illus-Bilderdienst, Berlin
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hingerichtete ungarische Außenminister Rajk verschwand ebenso wie Rudolf Slansky. Aus Präsidien der SED-Parteitage und Staatsangelegenheiten wurden inzwischen abgesetzte, unliebsame Persönlichkeiten herausgeschnitten, überklebt und mit dem Luftpinsel weggesprüht. Konnte man nicht mit gleichen Mitteln die schwer beschädigte Synagoge mit Rauchzeichen versehen und das Bild vordatiert haben? Eine fromme Lüge. Sie ändert nichts an den Tatsachen der Pogromnacht.
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Zuwendung
Seit dem Erscheinen meines Buches »Herr Moses in Berlin«, das 1979 erst zögernd, dann aber dem Autor überraschend sein Publikum gewann, bis nach Übersee; seit meiner Mitarbeit an der 1980 zum hundertjährigen Bestehen des Jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee erschienenen Broschüre, aus der 1988 ein umfangreicher Bildband wurde, seit Rosa Luxemburgs »liebster Mathilde« Jacob bin ich häufig gefragt worden, ob ich a) Jude sei, worauf ich antworte: Wie hätte ich da im Herbst 1943 zur Deutschen Wehrmacht eingezogen werden können? b) Jude geworden sei, worauf ich antworte: Nein. Warum sollte ich mich einer Religionsgemeinschaft anschließen? Wobei mich das Judentum »am ehrsten«, wie der Berliner sagt, anziehen würde. Weil es nichts zu bieten hat. Kein Jenseits. Keine Hölle (die im Grunde einem überdimensionalen Konzentrationslager ähnelt). Keine Vergebung. Ich kann als einigermaßen anständiger Mensch auf der Erde leben, was ich zu tun mich bemühe, auch wenn es manchmal schwerfällt. Und wenn mich Juden als Freund und Nebenmenschen akzeptieren, mehr als das, mir mit aufrichtiger Herzlichkeit entgegenkommen: dann ist das ja wie zu Zeiten von Moses Mendelssohn. Mein Interesse hatte angefangen in den fünfziger Jahren im Berliner Verlag. Als wir uns zu mancher Gelegenheit im Bärensaal versammelten, der einst ein Stück Ver155
gnügungspalast gewesen ist in dieser vergnüglichen Gegend, die sie nicht mehr war nach Kriegsende. Dort stand, nein, sprang auf ein schwarzlockiger Mensch, ein paar Jahre älter als ich, redegewandt, der flammend Anklage erhob. Nicht gegen uns. Nur gegen unsere Gleichgültigkeit, daß wir nicht tiefer blickten. In die Verhältnisse. Und in uns. Er hieß Peter Edel. Und war aus Auschwitz zurückgekommen. Sein Leben hat er noch auf dem letzten Krankenbett aufschreiben können: »Wenn es ans Leben geht«, erschienen 1979. Zu den Ehrungen, die ich für meine Bücher empfangen habe, zählt 1979 der Brief von Peter Edel zu meinem »Herrn Moses«, in dem er mich nennt: »Lieber Kamerad«. Die Anrede der antifaschistischen Widerstandskämpfer untereinander. Man könnte nachblättern. Wann ich »die Juden« entdeckt habe? Beim Lesen? Und nie mehr über Georg Hermann habe schreiben können ohne den Zusatz, daß dieser besinnliche Essayist und Berlin-Erzähler in Auschwitz ums Leben gebracht wurde. Oder hat es sich meßbar fortgesetzt im November 1972? Damals fragte die Jüdische Gemeinde, ob ich zum 200. Geburtstag von Heinrich Heine etwas vorlesen würde. Keine ungewöhnliche Frage an einen Heine-Preisträger, aber sie kam mit ungewöhnlich zögernden Worten, geradezu vorsichtigen, so daß ich mich wunderte. Ich wiederum fühlte mich durch solche Einladung der Jüdischen Gemeinde geehrt. Keine andere Religionsgemeinschaft im Lande hatte je von mir Notiz genommen. Die Jüdische Gemeinde wollte die Lesung am 13. Dezember 1972. An Harry Heines Geburtstag. So las ich im Kulturraum in der Oranienburger Straße vor einem wohlwollenden Publikum, was ich über Heine 156
zu bieten hatte. Es war nicht viel. Berliner Bilder, gespickt mit sichtbaren Zitaten von 1822. Ein junger Zuhörer bezweifelte, daß das Denkmal von Alexander von Humboldt dem Alexanderplatz näher stünde als das seines Bruders Wilhelm. Eine Touristenfrage. Ich war konsterniert ob solchen Einwands. Jener junge Mann, der ankündigte, er werde es nachprüfen, war Hermann Simon. Mittlerweile Direktor der Stiftung NEUE SYNAGOGE BERLIN - CENTRUM JUDAICUM, dem ich für manchen kritischen Rat und sachlichen Beistand dankbar und freundschaftlich verbunden bin. In frühster Dresdner Kindheit hörte ich nie ein abfälliges Wort über Juden und wußte als Kind nicht, daß es in dieser Beziehung zu unterscheidende Menschen gab. Mein Großvater Heinrich Knobloch, der 1933 starb, hatte Geschäftsfreunde und Logenbrüder. Niemals wurden Juden ausgesondert, und sei es im Gespräch. 1936 in Berlin. Ein jüdischer Augenarzt, Dr. Schiff, hat mir Zehnjährigem die Augenkrankheit gelindert, die mir heute eine Augenärztin mildert, der ich mit Angaben über den berühmten Augenarzt Julius Hirschberg - nicht mit dem Schneider aus der Oranienburger verwandt - helfen konnte, der seit 1925 auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee begraben liegt. Diese frühen Erlebnisse machten immun, wenngleich die Anfechtungen jener Zeit zuweilen infizierten... Gedankenloses Mitsingen. Manche meinen, mein Name mache mich jüdisch. Nachdem ich Ende Juli 1944 in der Normandie desertiert war und in England verhört wurde von einem britischen Offizier, der sehr gut Deutsch sprach, verabschiedete er mich geradezu belustigt mit den Worten: »Ihr Name kann Sie noch retten!« 157
Aber wer in ein beliebiges Personenverzeichnis jüdischer Namen schaut, ins Jüdische Lexikon beispielsweise, wird den Namen nur selten und ausnahmsweise finden. Nach der Einladung zur Lesung an Heines Geburtstag, Höhepunkt war die Rezitation von Martin Flörchinger, der Heines »Disputation« vortrug, entwickelte sich eine Bekanntschaft zum Vorsitzenden der Gemeinde, Dr. Peter Kirchner. Ich suchte bald bei ihm und seiner Frau Renate Rat für ein Buch, das ich vorbereitete und wagte, angesichts der Persönlichkeit eines Moses Mendelssohn. Sie liehen mir Bücher. Die Bibliothek der Gemeinde gab es noch nicht. An einem dieser Abende, es mag 1973 oder 1974 gewesen sein, am 9. November, kam ich, etwas ahnungslos, was dieses Datum betraf, in die Oranienburger Straße 28, um nach Büchern über Herrn Moses zu fragen. Renate Kirchner gab mir die von Franz Graeffer in Wien herausgegebene Sammlung, als ihr Mann erschien und sagte, er habe gerade den Kranz angebracht an der Synagogenruine nebenan. Wo die Gedenktafel mahnt: »Vergeßt es nie«. Sicher hatten auch die CDU und die VVN Kränze hingelegt. Die würden anderntags noch sichtbar sein. Aber wer sonst hatte davon Kenntnis genommen? War auch nur eine einzige Lehrerin für Staatsbürgerkunde dabeigewesen, und sei es ohne ihre Schüler? Oder etwa der Parteisekretär vom Haupttelegraphenamt gegenüber? Schrieben die vereinfachten Tageszeitungen darüber mehr als vorgeschrieben? War das alles? Ich sah diesen Berliner Arzt, der als Kind den gelben Stern tragen mußte und statt im Stadtpark nur auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee spielen durfte, ich sah diesen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde etwas erschöpft ins Sekretariat kommen und hörte ihn sagen, er habe gerade den Kranz... Dieser Abend hat etwas in mir bewirkt. Diese Beobachtung am Rande. 158
30 Wilhelm und Berta Krützfeld im Alter
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Ich war mittlerweile alt genug, um mir die Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit nicht mehr gefallen zu lassen. Es tat weh, im Spätherbst 1988, als im Gedenken an den 50. Jahrestag der Pogromnacht vielerlei Aktivitäten stattfanden, als die Stiftung NEUE SYNAGOGE - CENTRUM JUDAICUM gegründet wurde und an der Ruine ein Grundstein gelegt - es tat weh, vom Volksmund das Wort »Judenwelle« zu hören. Das war kein Antisemitismus, kein gegen solches Gedenken gerichtetes Empfinden. Im Gegenteil. Das, und nun nehmen wir es beim Wort, Volksempfinden mit seinem gesunden Menschenverstand nahm die von oben befohlenen Kampagnen nicht mehr ernst. Es gab sie mehrmals im Jahr. Mal zu diesem, mal zu jenem Anlaß. Schaurig der verordnete Antifaschismus. 1985 waren wir offiziell zu Mitsiegern des zweiten Weltkrieges erklärt worden! An der Seite der Sowjetunion, als Teil der Antihitlerkoalition! Wie denn das? Ich hatte zwar 1944 meine Zwangsrekrutierung bei Hitler aufgekündigt, das aber bewahrte mich nicht 1945 vor der Formulierung auf der Suchpostkarte: »Ein Angehöriger der geschlagenen Wehrmacht sucht seine nächsten Angehörigen«. Und plötzlich sollte ich mich auf der Seite der Sieger fühlen dürfen? Niemals.
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Zuguterletzt
Im Berlin der Nachkriegsjahre sind sich die beiden Männer nicht mehr begegnet. Sigmund Hirschberg hatte bei seinen Erkundigungen am Hackeschen Markt die Todesnachricht gehört. Die Leute konnten von toten Polizisten berichten, kannten wohl keine Namen mehr. Wer wußte genau, ob es nur Steuck gewesen war? Warum sollte Hirschberg bezweifeln, daß Menschen wie der Reviervorsteher anständig und beherzt geblieben sind bis zum elenden Ende, bis Fanatiker sie ermordeten? Wilhelm Krützfeld wiederum, als er von SchleswigHolsteins Berlin in die Stadt Berlin zurückkehrte, konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, daß es einen vor dem deutschen Tod Geflohenen wie Hirschberg jemals wieder nach Berlin ziehen könnte. Daß einer überhaupt aus rettender Ferne in ein zerborstenes Berlin kommen mochte, wo er alles verloren hatte, im Grunde jedoch nichts mehr. Sie wären sich vielleicht begegnet, wenn sie mehr gefragt hätten. Man fragt meist zuwenig. Es kommt aus seiner Heimat, jetzt Britische Besatzungszone, ein Mann zurück nach Berlin in den sowjetisch besetzten Sektor der Stadt. Guten Gewissens. Spricht das nicht für ihn? Er erwartet keinerlei Belohnung für das, was er getan hat. Oder dafür, was er nicht getan hat. 161
Er hat Juden geholfen. Das hätte ihn bis April 1945 vor den Volksgerichtshof gebracht. Falls er im Sinne der faschistischen Machthaber Juden verfolgt hätte, wäre er nach 1945 vor Gericht gekommen. Seinen jüngeren Sohn nahm man bei der Volkspolizei. Da wird man doch zuvor nach Herkunft und Vaters Tätigkeit gefragt... Vorstellbar, daß Wilhelm Krützfeld und Sigmund Hirschberg an irgendeinem Tage, sagen wir am 10. November 1949, in der Berliner Stadtbahn fahren. Rein zufällig. Die beiden deutschen Staaten haben in diesem Jahr ihre jeweilige Republik gründen dürfen. Die Menschen sind voller Hoffnung und Aufbauwillen. Sie fahren im selben Zug. Doppelsinnig, denn aus den undichten Fenstern zieht es. Die Wagen sind ungeheizt. Aber sie rollen wenigstens über die wiederhergestellten Gleise. Die Züge fahren tatsächlich durch die ganze Stadt. »Friedrichstraße« ist weder Ende noch Anfang. Man kommt direkt bis nach Potsdam, ohne umzusteigen; und will man umsteigen, geht es bis nach Wannsee und Veiten, bis weit nach Süden und Norden. Die Ringbahn umrundet innen die ganze Stadt. Stadtring: »Ostkreuz« »Schönhauser Allee« - »Gesundbrunnen« - »Westkreuz« - »Innsbrucker Platz« - »Sonnenallee« - »Treptower Park« - »Ostkreuz«... Wer eine Liebste hatte und mit ihr im Treptower Park gewesen war, sie nun in »Treptower Park« verabschiedete, wo zwei Züge nebeneinander einfuhren, zugleich, fahrplangerecht und zum Umsteigen, sie stieg in den »Ring« und er nach »Friedrichstraße«, der sah sie, wenn er in einen vorderen Wagen ging und sie in einen der hinteren, oder umgekehrt, das blieb Risiko (das ist das Unberechenbare, das wir im Leben brauchen), weil beide Züge noch kurze Zeit nebeneinanderher fuhren, mal schneller, 162
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Begegnung der Söhne: Arthur Krützfeld (1. ) und Hans Hirschberg 1989 in der Ostberliner Jüdischen Gemeinde 163
mal zögernd, der sah sie, konnte noch einmal winken, und ihm wurde Echo mit beiden Händen. Derartiges hatte die Mauer, die auch Gleise zerschnitt, am »Treptower Park« unvorstellbar gemacht. Was hatte Krützfeld dem Herrn Hirschberg geraten: »Dann fahren Sie mit Ihrem Sohn S-Bahn!« »Wenn wir Stadtbahn, Stadtbahn fahren, Und zur Ruh die Glocken läuten, Keine weiß, was sie bedeuten, Einer lacht, wenn hundert weinen, Und ein Tag sind tausend Jahre...« Walter Mehring, 1919-1921 Nun fahren sie, nachdem Hitlers tausend Jahre Größenwahn vorüber sind, wieder S-Bahn. Wilhelm Krützfeld, siebzig, und Sigmund Hirschberg, gleichaltrig, in einem gemeinsamen S-Bahn-Zug. Bis »Marx-Engels-Platz«, vormals »Börse«, egal, das Datum der Umbenennung kümmert jetzt nicht, als wir die beiden inmitten schlecht gekleideter Menschen jener Nachkriegsjahre im Auge behalten. Sie prallen nicht zusammen, sondern gehen in der Menge dieselben Treppenstufen hinab. Hier ist immer Gedränge. So oft fährt die Bahn nicht. Viele sind mit Rucksäcken unterwegs. Wollen wir sie sich treffen lassen? Urplötzlich? So hat mancher einen Totgeglaubten umarmt. Nun hätte Hirschberg den anderen beim Arm genommen. Sie wären in die Gemeindeverwaltung gegangen, oder gleich zur Zeitung. Diese sensationelle Geschichte muß festgehalten, aufgeschrieben und allerseits mitgeteilt werden! Diese alten Kerle sind wohl nicht ganz zurechnungsfä164
hig! Ein Jude schleppt einen Nazi-Polizisten an und will ihn nicht anzeigen? Und wenn das wirklich stimmen sollte, daß der Weißhaarige dem Verfolgten half, dann paßt das nicht in die heutige Zeit, wo erst einmal reiner Tisch gemacht werden muß. Da gibt es noch viele alte Nazis und Mitläufer; das verschiebt das Gesamtbild, wenn da einer als Ausnahme auftaucht. Wenn jener wenigstens als später Polizeikrieger zum Volkssturm eingezwungen worden wäre. Aber ein ehemaliger Offizier! Und dann noch Reviervorsteher gewesen. Also lassen wir das. Sie steigen aus. Krützfeld geht zum Ausgang Richtung Rosenthaler Straße und die Treppe hinab. Will sich anschauen, wie es dort aussieht, wo sein Revier stand. Lauter Trümmerhaufen. Die ganze Ecke samt Palms »Cigarren« ist ein Steingewirr. Das wird erst nach und nach weggeräumt werden können. Krützfeld braucht sich nichts vorzuwerfen. Er kann sich dort sehen lassen, wo er einst tätig war. Jeder kann das nicht. Hirschberg nimmt die andere Treppe nach unten, die sich in der Mitte teilt, und geht hinaus in Richtung Oranienburger, wo er gewohnt hat. Immer nach links, am Monbijoupark entlang. Neben der Synagogenruine kann die Gemeindeverwaltung einen Teil ihrer einstigen Räume nutzen. Sigmund Hirschberg näht keine Kleidung mehr, wie notgedrungen in den schlimmen Zeiten. Er ist wieder Kantor. Das war er früher schon, wie wir wissen. Nicht hauptamtlich, aber regelmäßig. Nun begleitet er seit 1947 im Berliner Rundfunk Gottesdienste, zusammen und im Wechsel mit Estrongo Nachama, der 1945 ausgemergelt als Auschwitz-Überlebender in der Oranienburger Straße aufgetaucht war, mit den Worten: »Ich, Jude«. Seit Jahr und Tag der Ostberliner Gemeinde verbunden, wenn 165
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er zu rituellen Anlässen, besonders aber zum jährlichen Synagogenkonzert aus Westberlin in die Synagoge Rykestraße kommt. Hirschberg und Nachama. Programmunterlagen sind beim DDR-Rundfunk nicht mehr vorhanden. Was macht es, wenn keine genauen Daten vorliegen. Sohn Hans besitzt Kopien der Tonbänder. An jedem zweiten Sonnabend hörte man seit 1947 im Berliner Rundfunk die Stimme des Kantors Sigmund Hirschberg. Sigmund Hirschberg starb am 12. Dezember 1951 in Berlin und wurde beigesetzt auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee. Der Stein nennt seine Frau Gertrud, die 1942 in Shanghai einer Epidemie erlag, und erinnert an drei Angehörige, »die dem Naziterror zum Opfer fielen«. Wilhelm Krützfeld starb zwei Jahre später, am 31. Oktober 1953. Er liegt neben seiner Frau Bertha auf dem Friedhof der evangelischen Georgen-Parochialgemeinde in Berlin-Weißensee. Sieht man genauer hin, dann liegen die Gräber der beiden Männer weniger als zwei Kilometer Luftlinie voneinander entfernt. Der Spaziergang von Grab zu Grab dauert nicht lange. Nur, während Sigmund Hirschberg die ewige Ruhe garantiert ist, was Tradition und Gesetze anbelangt, ist das Grab des Ehepaars Krützfeld seit 1982 abgelaufen, wie es im Jargon der Ämter und nichtjüdischen Friedhöfe heißt. Auf der Abteilung 24 wächst in der Mitte schon hohes Gras im Sommer 1989. Günstig am Wegrand das Krützfeldgrab. Wenn dieses Feld eines Tages restlos planiert und neubelegt werden wird, könnte diese Grabstelle ausgespart werden, wenn man sich kümmert. Rechtzeitig, also jetzt. Briefe schreiben. 168
Der Magistrat und die Denkmalpflege, bemüht und bewegt, nicht zuletzt der zuständige Pfarrer, wollen das Grab daraufhin erhalten. Wenigstens so kann dem beherzten Reviervorsteher gedankt werden. Frohe Botschaft zu Weihnachten 1989: Der Stadtrat für Kultur läßt das Krützfeldgrab unter der Position »Denkmal der Geschichte« in die Kreisdenkmalliste Berlin-Weißensee aufnehmen. Wenn nun Nachgeborene erklären, sie würden damals mehr getan haben für die verfolgten Juden? Wird »Liebe deinen Nächsten« jemals über einem Kasernentor stehen, und sei es eine Polizeischule? Aber über Schulen könnte er geschrieben und zu lesen sein. Damit überall ein wenig mehr Barmherzigkeit unter den Menschen verbreitet werden könnte. Im Sinne jenes Revier-Oberleutnants, seiner Leute wie Steuck und solcher wie Otto Weidt. Damit wir uns verstehen: Was Krützfeld an der Synagoge tat und am Telefon, war keine Heldentat. Nur Menschenpflicht. Auf Sigmund Hirschbergs Grab wächst Efeu. Hedera helix. Gleichfalls über Wilhelm Krützfelds Ruhestätte. Je ein Blatt abgepflückt. Und nebeneinandergelegt: Kein Unterschied. (1988-1989)
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DANKZETTEL Ohne den Anruf von Artur Krützfeld wäre dieses Buch wohl nicht entstanden. Ohne die Beiträge seines Hamburger Bruders Walter wäre es unvollständiger. Der Dank dafür gilt gleichermaßen ihren Ehefrauen Hildegard und Gisela. Hans Hirschberg, London, hat Wesentliches beigesteuert, nachdem sein Artikel im Ausstellungskatalog »Synagogen in Berlin« den ersten Anstoß gab, sich um den unbekannten Reviervorsteher zu kümmern. Geholfen haben Charlotte Buchmann, Prof. Dr. Laurenz Demps, Inge Deutschkron, Herbert Komm, James Yaakov Rosenthal Jerusalem), Prof. Dr. Heinrich Simon, Prof. Dr. Marie Simon, Obermuseumsrat Dr. Hermann Simon und Regina Scheer. Nicht zu vergessen das Landesarchiv Berlin (West), die Deutsche Staatsbibliothek, die Ratsbibliothek der Berliner Stadtbibliothek und die Bibliothek der Ostberliner Jüdischen Gemeinde. Vielen anderen, die durch ihr ermutigendes Interesse an diesem Thema dessen Behandlung förderten, sei hier gedankt. Berlin, im Frühjahr 1990
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Nachbemerkung zur 2. Auflage 1993
Erst durch den Brief einer Berliner Leserin stellte sich heraus, daß im Buch etwas weggelassen worden war. Ein Stück Manuskript fehlt auf Seite 88 nach: »... und Reichskanzlers sicher sein.« Ein unbekannt Gebliebener hatte entfernt: »Wir finden den Polizeipräsidenten Wolf-Heinrich Graf von Helldorf mit seinem Todesdatum 15. August 1944 verzeichnet im ›Ehrenbuch der Opfer von BerlinPlötzensee‹. Die Verschwörer vom 20. Juli konnten sich außer auf den Berliner Stadtkommandanten auch auf den Polizeipräsidenten stützen. Helldorf hatte sich ihnen zur Verfügung gestellt. Beeinflußt von seinem Stellvertreter Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, der wegen seiner Beteiligung am Attentat fünf Tage vor Helldorf hingerichtet wurde. In der ›Gedenkstätte Deutscher Widerstand‹ heißt es über den Polizeipräsidenten: ›Nach seiner inneren Abwendung vom Nationalsozialismus wird er schon 1938 an der Verschwörung beteiligt, ohne sich jedoch von seinem Amt zurückzuziehen.‹ Am 20. Juli legte Helldorf den gesamten Berliner Polizeiapparat lahm. Er war eher ein Abenteurer, der auf eine neue Karte setzte. Und was seine Tätigkeit als Berliner Polizeipräsident anbelangt - er zog Pässe reicher Juden ein und verkaufte sie an die Besitzer zurück. Zu einem durch171
schnittlichen Preis von 250. 000 Reichsmark. Dann durften sie auswandern.« Seite 95: Nicht nur eine, sondern zwei von Wilhelm Krützfeld am 23. März 1939 unterschriebene Kennkarten für Juden stellten Nachkommen der Betroffenen freundlicherweise zur Verfügung. Das beweist: Er ist der Reviervorsteher!
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Seite 95: Leider konnten über den Revierpolizisten Steuck keine weiteren Einzelheiten eingefügt werden. Was den Namen »Bellgardt« angeht - wir finden ihn im Februar 1943, lange nach der Pensionierung des Reviervorstehers Krützfeld, unter einer Bescheinigung, die nachdenklich gelesen sein will.
Seite 135: Nachdem sie sich zu DDR-Zeiten erfolglos um eine Gedenktafel bemüht hatte, konnte Inge Deutschkron im Mai 1993 in der Hofeinfahrt Rosenthaler Straße 39 eine kleine Gedenktafel enthüllen: »In diesem Haus befand sich die Blindenwerkstatt von Otto Weidt. Hier arbeiteten in den Jahren 1940 bis 1945 vornehmlich jüdische Blinde und Taubstumme. Unter Einsatz seines Lebens beschützte Weidt sie und tat alles, um sie vor dem sicheren Tod zu retten. Mehrere Menschen verdanken ihm das Überleben. 1992 bekam die Grabstätte von Otto Weidt auf dem Landeseigenen Friedhof Zehlendorf vom Berliner Senat den Status einer Ehrengrabstätte zuerkannt. 173
Zum achtunddreißigsten Todestag von Wilhelm Krützfeld am 31. Oktober 1991 ehrte der Berliner Polizeipräsident Georg Schertz den mutigen Reviervorsteher an seinem Grabe: »Die Berliner Polizei hat Anlaß, seiner mit Hochachtung zu gedenken und unseren jungen Beamtinnen und Beamten sein Verhalten zum Vorbild zu machen... Der Reviervorsteher Polizeioberleutnant Wilhelm Krützfeld hat in der Einsamkeit eigener Entscheidung, die heute kaum vorstellbar ist, seinem Anstand, seinem Gewissen Raum gegeben und ist dem Unrecht, das er erkannte, entgegengetreten. Sein Bild gehört in das lebendige Bewußtsein unserer Polizei.«
Dr. Hermann Simon bei seiner Ansprache als Vertreter der Berliner Jüdischen Gemeinde und Direktor des Centrum Judaicum - Stiftung Neue Synagoge während der Gedenkfeier am Grabe Wilhelm Krützfelds.
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1992 gab der Senat von Berlin dem Grab von Wilhelm Krützfeld den Status einer Ehrengrabstelle. Mögen damit auch die namenlosen Polizeibeamten im Widerstand geehrt und nicht vergessen sein. Eine besondere Ehrung hat Wilhelm Krützfeld durch seine Heimat Schleswig-Holstein erfahren. Dort wurde am 9. November 1993 - 55 Jahre nach seiner mutigen Tat - die Landespolizeischule Schleswig-Holstein in einem festlichen Akt umbenannt in »Landespolizeischule Wilhelm Krützfeld«. Heinz Knobloch
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Bildquellen Agor, J., Jerusalem: 5 Franze, Thomas: 21, 33 Fritz, Joachim: 6 Gregor, Wolfgang: 28 Hirschberg, Hans, London: 18, 19, 24, 25 Krützfeld, Artur: Umschlagmotiv, 20 Krützfeld, Walter: 23, 30 Knobloch, Heinz: 9, 16, 31, 32, 37 Pisarek, Abraham: 4, 7, 8, 11, 29 Archiv: l, 2, 3, 5, 10, 12, 13, 14, 15, 17, 22, 26, 27, 34, 35, 36 (Numerierung der Bilder nach der Abfolge ihrer Einordnung) Karten: Manfred Gneckow
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