DAS BUCH An einem regnerischen Sommertag meldet sich der Oberfähnrich zur See Schneider in Le Havre zum Dienst in der 3...
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DAS BUCH An einem regnerischen Sommertag meldet sich der Oberfähnrich zur See Schneider in Le Havre zum Dienst in der 38. Minensuchflottille. Er wird auf den vergammeltsten Logger der Einheit kommandiert, denn seinen Führungsbogen ziert ein dunkler Fleck. Ein tätlicher Angriff auf einen Vorgesetzten hatte ihm Bunker eingebracht. Doch ausgerechnet dieser Schinder kommandiert den Lepradampfer, eine explosive Konstellation, in der die Gedanken der Männer an eine gewisse Michou die Situation noch verschärfen Spät in der Nacht läuft der Logger aus. Betrunken setzt der Kommandant den falschen Kurs ab. Logger-29 läuft auf Grund und verliert zu allem Unglück noch die Schraube. Wasser dringt ein. Bewegungslos liegt das Schiff im Nebel – ebenso wie ein britisches Schnellboot, das von den Deutschen gekapert wird. Doch diese Bravourleistung wird nur ein zwiespältiger Sieg. DER AUTOR C.H. Guenter wurde 1924 in Franken geboren. Wie viele seiner Altersgenossen legte er im Krieg das Notabitur ab und wurde dann zur Marine eingezogen, der er bis Kriegsende angehörte. Seine wichtigsten Einsätze erlebte er als Seeoffizier, zum Teil auf U-Booten. Seine Laufbahn als Schriftsteller begann C. H. Guenter mit dem Schreiben von Schlagertexten und Kurzgeschichten. Später folgten Drehbücher und Kriminalromane. Viele seiner Romane erschienen in den USA, in England, Frankreich, Brasilien, Italien und Rumänien.
C. H. Guenter
Kriegslogger-29 Den letzten fressen die Haie Roman
Ullstein
Wenn einer glaubt, diese Geschichte sei Erfindung, nur ein Roman und folglich unwahr, so irrt er sich. Ich hatte Gelegenheit, die Ereignisse aus nächster Nähe zu beobachten und zu verfolgen. Dinge, die sich wirklich ereigneten, wurden nur zusammengefaßt und verdichtet. Manches mußte verschwiegen werden, weil man nicht alles über den Krieg einfach hinschreiben kann. Auch dem Logger-29 wurde einiges angedichtet, was auf andere Konten geht. Aber das Gesamtbild stimmt. Ich kenne einen Mann, der lange Zeit als seemännische Nummer eins auf dem Lepradampfer fuhr. Es ist mein Kamerad Lothar B. Ihm ist dies zur Erinnerung gewidmet... C. H. Guenter
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Der Mann im marineblauen Uniformmantel hatte in der Schule gut aufgepaßt. Deshalb war es ihm gelungen, sich mit seinem Minimal-Französisch vom Bahnhof bis zum Hafen durchzufragen. Eine Stunde vor Mittag war er bei strahlender Sommersonne in Le Havre angekommen. Jetzt goß es in Strömen. Aber der Seewind, der die Wolken von England über die Meerstraße zum Festland herübertrug, blies wenigstens den Mief der französischen Eisenbahnwaggons aus seinen Lungen, diesen Mischgestank aus Eigenbautabak und Knoblauchwurst. Der Soldat schlug den Kragen seines Uniformmantels hoch, weil ihm das Wasser am Hals herunterlief. Innerlich fluchend wechselte er den schweren Koffer von links nach rechts. Nach wenigen hundert Metern setzte er endgültig ab. Bist selbst schuld, dachte er. Du hättest bei der Flottille anrufen müssen, dann hätten sie eiligst ein Auto geschickt. Einen Mercedes für Oberfähnrich zur See Schneider - absolut lachhaft! Gehustet hätten sie mir was, dachte er grimmig weiter. Bei dem Verein, der sich Marine nennt, war es ziemlich egal, ob man Schneider hieß oder Schuster, wenn man nicht zufällig Admiral war oder einen 5
Onkel hatte, der Admiral war. Schneider hatte keinen Flaggoffizier zum Onkel. Gewiß wäre mancher Admiral froh gewesen, Schneiders Familie anzugehören, auch wenn man in diesen Kreisen keinen Bedarf an Admiralen hatte. Diese Überlegungen spielten beim Kofferschleppen keine Rolle. Vielmehr war es ausschließlich eine Frage der Zähigkeit und des Willens. Und beides hatte man Schneider anerzogen. Er erinnerte sich an die erste Zeit bei der Marine. Es waren Wochen, die ihn hart gemacht hatten. Immer wenn er erschöpft war, wenn er etwas brauchte, um sich zusammenzureißen, mußte er daran denken. Da war ein Ausbilder gewesen, ein Gruppenführer im Range eines Bootsmaats, Köhler hieß der Kerl und war der Flotte größter Schinder gewesen. Ein Sadist, der Rekrutenknochen wie kein anderer in preußische Fasson brachte, der ihnen das Leben zur Hölle gemacht hatte, der am liebsten die Atemluft rationiert hätte. »Das Herz eines Soldaten hat bei >Stillgestanden< nur 30mal zu schlagen. Befehl von mir. Von Bootsmaat Köhler.« Dieser Köhler hatte einen hundsgemeinen Trick. Selbst mit der Stimme einer paralysierten Baßgeige gesegnet, ließ er ständig singen. Wo es ging, mußte Köhlers Gruppe singen. Bei Reinschiff, bei Geländeübungen, unter der Gasmaske, beim Sport. Ein Lied mag die Laune heben, aber nicht vollhalsiger Gesang, der ohne Unterbrechung Stunden dauert. Vier Stunden hatte er sie einmal singen lassen. Es war bei einem Marsch in voller Ausrüstung auf einem Schießplatz im nördlichen Holland gewesen. Kurz bevor die ersten umfielen, ließ Köhler Pause machen. Auch in der Pause mußten sie noch singen und dabei die Feldflasche ausschütten, damit keiner Tee trinken konn6
te. Dann weiter. Singen, marschieren, singen, volle Dekkung, singen, Waffen schleppen. Manchmal, wenn Schneider nachts träumte, schrie plötzlich und unvermittelt Köhlers Reibeisenstimme: »Ein Lied ...!« Wenn Schneider bei Köhler etwas gelernt hatte, dann war es, wie man einen Menschen haßt und wie man hart wird. Schneider haßte den ehemaligen Kanalarbeiter Köhler vom ersten Tag an, bis sie sich dann 1941 aus den Augen verloren. Köhler aber verachtete in Schneider nicht den Matrosen, sondern den Juniorchef der Magnus Schneider Berg-, Hütten- und Walzwerke AG. Den Blechschneider, wie sie ihn nannten. Den Jungen, der die besten Schweizer Internate besucht hatte und dem ärmere Tanten zum Geburtstag rote Sportwagen schenkten. Köhler war es gewesen, der Schneider soweit gebracht halte, daß er Reserveoffizier wurde. Damit ihm nie mehr einer in die Suppe spuckte und damit er sich die Schuhe nicht mehr selbst zu putzen brauchte. Der Oberfähnrich zur See stand immer noch an der Place de l'Opera. »Köhler«, murmelte er vor sich hin, und es war schlimmer als der gräßlichste Fluch. Ein Lied! befahl er sich dann, nahm den Koffer hoch und schleppte ihn weiter. Die lange Straße zum Hafen hinaus. *** Ein unterernährtes Pferd zog mit müdem Schritt einen Fischwagen vorbei. Das struppige Fell dampfte vor Nässe, Der Kutscher saß unter einer Segeltuchplane und hatte die Baskenmütze tief im Gesicht. Schneider kam in Versuchung, den Koffer auf den Kar7
ren zu schwingen, unterließ es aber. Er hätte neben dem Wagen herlaufen müssen, und dem Fischhausierer wäre es vielleicht nicht recht gewesen. Wer in der Normandie etwas auf sich hielt, der übersah, daß der Feind im Land stand, der übersah die fremden Soldaten, wie man einen Barbaren übersieht, der sein Kotelett mit den Fingern zerreißt. An der Ecke mischte sich in den Seewind der Hafengeruch, Schneider atmete die Nähe des brackig fauligen Wassers, das zuerst Übelkeit erregte, dessen Geruch man später aber nie mehr vergaß, weil er an Schiffe erinnerte, an Seefahrt und an Freiheit. Er schleppte seinen Koffer bis zur Sperre. Der Posten prüfte seine Papiere. »Gehen Sie mal hier längs, Herr Oberfähnrich, dann da längs. Die Achtunddreißigste können Sie gar nicht verfehlen. Die Verwaltung ist in einer Villa am Kai. Suchen Sie sich ein Haus aus. Jeder hat hier sein eigenes Haus oder mindestens eine eigene Wohnung. Die Hafenzone ist geräumt, und so viele Seeleute haben wir gar nicht wie Häuser.« Schneider schaute sich erst einmal die Gegend an. Am Ende fiel die Straße zum Pier ab. Masten ragten darüber. Die dazugehörigen Schiffe sah man nicht. Es war Ebbe, und sie lagen tief. Der Tidenunterschied am Kanal konnte acht Meter und mehr betragen. Bei Flut drückte das Wasser die Boote wieder in die Höhe. So ging es auf und ab, im Rhythmus von sechs Stunden. Zweimal am Tag war Flut, zweimal Ebbe. Hinter dem Pier stachen Kräne hoch empor, und dann sah man nur noch Himmel. Grauen, regnerischen Himmel. Der Posten schlenderte wieder auf Schneider zu. 8
»Herr Oberfähnrich, die Herren bevorzugen Haus Nummer 19. Das grüne neben dem braunen. Da bedient eine Rothaarige«, er wölbte beide Hände vor der Brust, »mit solchen Augen.« »Frauen gibt es hier auch?« fragte der Oberfähnrich erstaunt. Der Posten schien ein erfahrener Matrose zu sein. »Weiber sind überall«, meinte er. Schneider schätzte Diskussionen über Dinge, die er nicht bezweifelte, wenig. Wieder nahm er den Koffer auf und suchte sich ein Haus. Er ging nicht in Nummer 19, sondern in Nummer 21. Rasch wollte er sich etwas in Ordnung bringen, seine Papiere auf der Schreibstube abgeben und sich beim Flottillenchef melden. Deshalb trat er in das Parterrezimmer links. Er fand es sauber, fast leer. Bett, Tisch, Stuhl und Schrank waren die nüchterne Einrichtung. Er zog den Mantel aus, wusch sich in einer gefliesten Badenische des Erdgeschosses und wechselte das Hemd. Als er mit nassem, nacktem Oberkörper im Koffer herumwühlte, hörte er ein Geräusch an der Türe. Er blickte sich um und sah ein Mädchen am Fenster stehen. Er wußte, daß es die Rote von Nummer 19 war, »mit zwei Händen voller Augen«, Sie hatte eine Art, stumm dazustehen, die ihn nervös machte. Endlich begann sie zu sprechen. »Guten Tag. Ich bin Jacqueline. Und Sie?« Ihre Blicke liefen dabei im Zimmer roundabout und blieben an Schneiders Schweinslederkoffer hängen. Sie sprach ein fürchterliches Deutsch, und der Oberfähnrich antwortete auf französisch. »Ich bin ein Mann«, sagte er, »un homme.« »Das sehe ich.« Sie lachte, ging ungeniert im Zimmer umher, hob hier seinen Dolch auf und dort seine Krawat9
te. Dabei flog mit jeder Drehung des Kopfes das rote Haar von einer Schulter zur anderen. Den Pullover mochte sie schon als Kind getragen haben. Jetzt schätzte er sie auf 17 Jahre. Schneider stellte seinen Spiegel auf und beobachtete sie, während er sich die Krawatte band. Das Mädchen hatte einen Gang, wie man ihn nicht häufig zu sehen bekam und nicht immer ertragen konnte. Speziell von hinten. Weil seine Hose keine Bügelfalte mehr aufwies, beschloß er, in die erste Garnitur zu wechseln. Man mußte beim Chef einen guten Eindruck machen, besonders dann, wenn man ein so unexquisites Führungsbuch hatte wie Oberfähnrich Schneider. »Jacqueline, verduften Sie. Ich will mich umziehen.« Sie zog einen Flunsch und verließ das Zimmer. Nach wenigen Minuten ging die Tür auf, und Jacqueline erschien wieder. Er war fertig und wollte gerade gehen. »Hast du eine Zigarette?« fragte sie. Dabei kam sie näher, als ihm lieb war. Er schnellte eine aus der Juno-Packung und reichte ihr Feuer. »Mon cher, das ist so«, fuhr sie fort, »ich kann so selten mit einem Kerl reden, weil sie alle unsere Sprache nicht verstehen. Compris? Das heißt, sie verstehen zu we nig. Sie wissen nur, was >dormir< heißt und >Bett<. Das meine ich aber meistens nicht.« Sie zog den Rauch so tief ein wie ein alter Werftgrandi, lehnte sich an den Tisch und beugte sich leicht zurück, so daß sich ihr Körper von den Zehen bis zum Kinn ve rführerisch spannte: »Du bist Offizier?« »Man zählt die Oberfähnriche dazu.« Sie lachte. 10
»Ich frage nur deshalb, weil du so braun bist im Gesicht und weil du so wundervolle Muskeln hast.« Er wurde nicht klug aus ihr. Sie wollte mit ihm sprechen, und dann redete sie verfängliches Zeug. Er drückte die Zigarette aus und prüfte im Spiegel den Sitz seiner Mütze. »Nimm dich in acht«, sagte sie unvermittelt. Er nahm seine Handschuhe. »Vor wem, Jacqueline? Vor dir vielleicht?« Er kannte sie jetzt ganze fünfzehn Minuten und dachte keine Sekunde daran, daß sie mehr sein könnte als ein nettes französisches Stubenmädchen. Und wenn sie noch so hübsch war. Vermutlich empfing sie jeden Neuankömmling auf die gleiche Tour, weil die Neuen gewiß den Preis überschätzten. Schneider versuchte ihr das klarzumachen. »Hör zu, Chérie«, sagte er, »du sorgst dafür, daß die Bude gefegt und der Staub gewischt ist, daß meine Wäsche gewaschen wird und die Schuhe geputzt. Das ist alles. C'est tout, aber auch wirklich alles. Sonst spielt sich gar nichts ab, weder Klavier noch Geige. Sogar aufwaschen kann ich alleinement.« Sie hörte seinen neuen Ton, aber sie nahm nicht übel. »Machen Sie sich nicht so wichtig, mon cher«, antwortete sie. »Ich wollte Ihnen einen Tip geben. Sie gehen jetzt zum Chef, zum Korvettenkapitän. Vor ihm sollten Sie sich vorsehen.« Er dachte darüber nach, was sie wissen konnte. Doch er diskutierte nie über Vorgesetzte. Er nahm alle, wie sie waren, und wenn ihm einer zu nahe kam, dann war er immer seine eigene Polizei. Genau wie im Fall Köhler. Es lag in seiner Erziehung begründet, daß er auch den Generalfeldmarschall nicht fürchtete. 11
Jacqueline stand klein vor ihm. Er überragte sie wie hochgeschossener Spargel den Grünkohl. Diese niedliche Französin wollte ihn also vor dem Chef warnen ... Alles Spione hier. Kopfschüttelnd kramte er aus seinem Koffer eine Schachtel mit Pfefferminzplätzchen. Er drückte sie Jacqueline in die Hand und schob sie zur Tür hinaus. Dann ging auch er. Es hatte aufgehört zu regnen. Vom Westen her kam die Sonne durch. Am Pier fragte er einen Matrosen im Lederzeug nach dem Büro der Flottille. »Dort, wo der Lastwagen steht«, sagte der Angesprochene. »Der Leutnant, der dabei ist, das muß der Flottillenadjutant sein.« Der Matrose trug mehrere Rollen Seekarten unter dem Arm und klapperte mit seinen Bordschuhen auf ein Räumboot zu, das die Nummer RA-8 trug. Schneider meldete sich zuerst beim Adjutanten. »Ach, Sie sind der Neue«, begrüßte ihn der Leutnant. »Sie sind uns schon von der B. I. avisiert. Gehen Sie gleich rein zum Chef. Und toi, toi, toi!« Schneider trat in den Vorraum zur Halle der Villa und ließ sich von einer Marinehelferin anmelden. Nach einiger Zeit wurde er gerufen. Er klemmte die Mütze unter den linken Arm und trat vor Korvettenkapitän Jäntsch, den gefürchteten Chef der 38. Minensuchflottille.
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2. In der ersten Nachmittagsstunde dieses denkwürdigen Tages führte der Kommandant von Logger-29 eines der schönsten Telefongespräche seiner Laufbahn. Er verholte den Logger gerade vom Liegeplatz der Loggergruppe auf die andere Seite des Hafenbeckens, um am Ausrüstungspier die Minensuchgeräte zu ergänzen. Kaum war das Ablegemanöver erfolgt, tuckerte der Logger mit langsamer Fahrt voraus in Richtung Südecke, wo das gekenterte Riesenwrack des Luxusdampfers Paris rostig aus dem Wasser ragte. Plötzlich klingelte das Bordtelefon, das die Brücke mit dem Maschinenraum verband. Der Kommandant verließ seinen Platz in der Backbordnock und hob den Hörer aus der Halterung. Er vernahm die quäkende Stimme seines Leitenden: »Maschinenraum an Brücke! Wir stellen Riß im Kühlmantel der Hauptmaschine fest. Spritzt raus wie Männeken Piß. Können nur noch kleine Fahrt laufen.« Der Kommandant fragte zurück: »Wie lange können wir kleine Fahrt laufen?« Darauf der Leitende aus der Tiefe des Maschinenraumes: »Wie weit ist es bis zum Werftbecken?« Der Kommandant fühlte förmlich das Grinsen des Maschinenmaats am Telefon. Ergab zurück: »Brücke an Maschine! Wenn wir sofort beidrehen und in das Werftbek13
ken durchschleusen, dann schaffen wir es in 20 Minuten.« Der Kommandant horchte scharf auf die Antwort seines Leitenden, holte die Reiseflasche aus der Tasche seiner Lederjacke, drehte, während er mit der linken den Hörer am Ohr hielt, mit der rechten Hand den Schraubverschluß auf und ließ den halben Cognac-Inhalt in den Hals rinnen. Schon kam die Antwort; »Dann hält die Maschine noch genau 20 Minuten. Ende.« Damit war alles gesagt. Eine rundum feine Sache. Kam genau im rechten Augenblick. Die Reparatur würde Tage dauern. Eine Woche vielleicht. In der Zeit lag der Logger in der Werft, und man konnte eine ruhige Kugel schieben, während die Flottille fleißig zur See fuhr, um Minen zu räumen. Jetzt, während die Mondperiode zu Ende war und in den dunklen Nächten der zermürbende Seetörn begann. Der Kommandant veränderte sein immer grieses Bulldoggengesicht nicht um ein Muskelzucken. Nur im Innern ergriff ihn Freude besonderer Art. Schadenfreude über das Schicksal der anderen. Voll Genugtuung, die der Zurückgesetzte über die Bevorzugten empfindet, wenn aus seiner Zurücksetzung Vorteile erwachsen. Köhler, der Kommandant von Logger-29, hatte allen Grund dazu. Er war der schlechteste Obersteuermann, der je ein Boot befehligt hatte. Man behauptete es wenigstens allgemein. Wenn in schweren Seenächten ein Boot den Anschluß an seine Gruppe verlor, dann Logger-29, Wenn teures Minensuchgerät an Wracks verfing und gekappt werden mußte, dann bei Logger-29. Wenn an Land Raufereien entstanden, dann waren es Männer von Logger-29. Wenn es Havarien gab, Rammings, Ärger, dann war Logger-29 im Spiel. Den Logger nannte man heimlich den Lepradampfer. 14
Und so sah er auch aus. So viel Farbe gab es gar nicht, um seine Rostblattern zu übermalen. Jeden Tag tauchten neue Flecke auf - wie bei einem Scharlachkranken. Man hatte dagegen gekämpft, Rost geklopft und mit dem Dreikantschaber weggekratzt. Aber Rost greift den besten Stahl an und macht ihn dünn und immer morscher. Schließlich wußte man sich nicht mehr anders zu helfen, als die braune Schande einfach mit roter Mennige zu überpinseln. Allmählich ging es so weit, daß die Farbe dicker war als das Blech der Aufbauten. Bei der Marine sah man bald über den aussätzigen Logger hinweg wie über einen unheilbar Kranken. Noch schlechter war es um die Maschine bestellt. Hatte sie schon nach dem Ersten Weltkrieg französische Fische bis zur Doggerbank und in die Irische See gewuchtet, war sie 1940 ziemlich schrottreif. Dann kam die deutsche Marine, machte jeden schwimmenden Untersatz seetüchtig, montierte ein paar Kanonen drauf, und wenn es überhaupt nicht mehr anders ging, wurden mit dem alten Zossen Minen geräumt. Bei diesem Geschäft soff früher oder später jeder Pott einmal ab. Wozu also investieren. Der Logger-29 bekam eine Winde, Ottern und Drachen und räumte tagaus, tagein Ankertauminen. Als die alten Minentypen aus der Mode kamen und die Engländer Magnetminen warfen, rüstete man ihn mit einem Magneträumgerät aus. Und weiter ging der Krieg für den Lepradampfer. Das Boot verbrauchte Matrosen und Offiziere. Schließlich setzte man nur einen Obersteuermann als Kommandanten darauf und wartete auf die Nacht, in der es einmal aus sein würde mit Logger-29. 15
*** Hunderte von Nächten vergingen. Neue Räumboote und neue Logger stießen zur Flottille. Manche überlebten es ein Jahr, andere nur Monate. Manche gingen hoch, andere wurden durch Beschuß oder Bomben versenkt. Nur Logger-29 blieb. Er schien unverwundbar. Manchmal sah es so aus, als könne ihm der Krieg nichts anhaben. Keine Granate und keine explodierende Mine wagte sich an seinen alten Rumpf. Wollte das Schicksal, daß er an sich selbst sterben sollte - wie ein alter Mensch? War Logger-29 eine Art Versicherung? Hatte, wer auf ihm fuhr, die Chance zu überleben? Wer zu ihm gehörte, wer ihn liebte, den hielt er fest. Doch wer einmal auf ihm fuhr, der verkam, weil er seine Männer zeichnete. Es war wie ein Markenzeichen. Es kamen nur Männer auf das Boot, die einen Steckbrief mitbrachten, einen Vermerk im Führungsbuch. Vorstrafen, schlechte Leistungen, charakterliche Mängel. Diese Leute schob man auf Logger-29 ab. Das verstand der Kommandant unter der Zurücksetzung seines Bootes. Es war ein Schiff, das schwamm und doch nicht wie andere Schiffe war. Auch sie waren Männer, die kämpften, und doch waren sie nicht wie andere Männer. Man erwartete nichts von ihnen. Man hatte sie und das Schiff abgeschrieben. Aber wie so oft im Leben konnte Unerwartetes hereinbrechen. Man glaubte es nicht und ging ahnungslos in den nächsten Tag. Und schon am nächsten Tag konnte es geschehen. 16
*** Der Signalgast des Loggers meldete den Maschinenschaden zur Flottille. Dann wendete der Logger über Steuerbord und lief die Schleuse an. Sie lag auf der Stadtseite und schützte das Werftbecken vor dem Gezeitenwechsel. Der Maschinenmaat kletterte auf die Brücke zu seinem Kommandanten. »Wird es eine schnelle Reparatur?« fragte der Obersteuermann. »Wir werden es verhindern«, antwortete der Leitende. »Das Kühlwasser spritzt wie Schampus aus dem vorderen Zylinder. Guß kann man nicht schweißen. Mal sehen, was der Flottilleningenieur dazu meint. Gehen wir später an Land?« Der Obersteuermann gab den Ruderbefehl »Mittschiffs« und pfiff klar zum Anlegemanöver. Dann eilte er durch das Ruderhaus auf die andere Brückenseite. Der Leitende folgte gemütlich. Das Manöver kam in Gang. Die Leinen hingen an den Pollern. Sie schleusten durch und machten im Werftbekken fest. Als die Leinen straff waren und der Loggerrumpf die Fender knirschend gegen die Kaimauer preßte, schob der Obersteuermann die Mütze ins Genick. »Klar gehen wir an Land. Zur Feier des Tages werden wir uns etliches in den Kanister spülen. Ich spüre Appetit auf Poularden und auf Michou.« Der Leitende priemte in weitem Bogen über Bord. »Dann sieh zu, daß der Schmadding von deinem Appetit nichts merkt.« Der Schmadding oder auch die seemännische Nummer Eins auf Logger-29 war ein Bootsmaat namens Pete Achilles. Ein Kraftpaket. 17
Der Kommandant schielte den Leitenden an. »Geht ganz einfach, geht das. Michou wird Pete vermissen. Er bleibt heute an Bord. Befehl von mir. Einer muß den Stall ja hüten. Außerdem zieht Michou mich einem Analphabeten wie Pete Achilles vor.« Der Leitende schien es zu bezweifeln. »Weißt du das mit Sicherheit?« »Ich weiß es selbst noch nicht, aber ich werde es ihr heute nacht verklickern,« »Na ja, dann allerdings.« Der Maschinenmaat grinste, und der Obersteuermann pfiff das Manöver ab. Der Logger lag vertäut. Mit dem Megaphon schrie der Kommandant noch einen Befehl nach achtern. »Pete, die Spring stärker beiholen. Verflucht, merkt euch das endlich!« Die Spring war eine Leine, die das Boot am Heck beim Pier hielt und dabei nach vorne lief. Zum Ablegen konnte man über die Spring prächtig eindampfen, daß sich der Bug ohne Fahrt vom Kai löste. Das aber hatte nur Sinn, wenn sie straff saß. Der Schmadding zeigte »Verstanden!«. Nun verließ der Kommandant seinen zerfledderten Autosessel, den man für ihn in der Brückennock montiert hatte, und stieg in seine Kammer hinunter. Dort zog er das Lederzeug aus und warf sich auf die Koje, Für einen Landgang war es noch zu früh. Erst leerte er den Rest aus der Reiseflasche. Zum Nachschmecken goß er sich aus der Literflasche ein Mundglas voll. Der Logger dümpelte leicht, sanft wie eine Wiege, Über Deck hallten die Schritte der aufklarenden Matrosen. Eine Möwe schrie, und aus der Werft kreischten Ei18
sensägen, dröhnten Niethämmer. Wie so oft las der Obersteuermann den Spruch, der über seinen Augen an der Kojendecke stand. Er haßte ihn, Er machte ihn wütend. Sein Vorgänger hatte ihn eingraviert. Die Buchstaben waren in das Holz geschnitten und mit Buntstift ausgemalt. »DIE ERSTEN WERDEN DIE LETZTEN SEIN, ABER DIE LETZTEN BEISSEN DIE HAIE.« Er hieb mit der Faust darauf, trommelte, bis es schmerzte. Dann schlief er mit einem Fluch ein.
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3.
Korvettenkapitän Jäntsch, der Chef der 38. Minensuchflottille, ließ den Oberfähnrich erst minutenlang stehen, ehe er von seiner Anwesenheit Notiz nahm. Dabei kauerte er, ein kleiner, zäher, verärgert wirkender Mann, hinter seinem Schreibtisch. Die drei goldenen Ärmelstreifen auf seiner blauen Uniform leuchteten in der Sonne. Schneider mußte an den Slogan denken, den man über die Kleidung der Marineoffiziere geprägt hatte: Schlicht Gold mit etwas Blau, pflegten die Matrosen zu spotten. Aber es lag kein Vorwurf darin. Jeder in der Marine hätte um die Tradition gekämpft wie ein Löwe. Die Matrosen um ihre überweiten Schläge in den Hosen, die noch aus den Zeiten der Seeräuberei stemmten. Sie waren so sinnlos wie die Bleiknöpfe, die man hineinnähte, damit die Hosen beim Gehen besser herumschwangen. Ebenso war es mit den Exerzierkragen samt den drei weißen Streifen für die Seeschlachten Nelsons. Den verrückt komplizierten Knoten mit dem dünnen Nadelstreifen, der je nach Zugehörigkeit zur Ost- oder Nordseestation anders schräg lief. Dann das kurze Jäckchen, einfach »der Kulani« genannt, den man alleine nicht über den Exerzierkragen 20
brachte, wenn man ihn nicht artistisch über den Kopf schwang. Oder die Bändermütze. Ein Wunderwerk an Kompliziertheit. Ein Marine-Reformer hatte ausgerechnet, daß man für das Geld, das sich die Marine ihre Tradition kosten ließ, einen Flugzeugträger hätte bauen und unterhalten können. Darüber sann Schneider nach, bis der Korvettenkapitän endlich den Kopf hob. Er machte Meldung. »Oberfähnrich Martin Thomas Hanno Schneider zur 38. Minensuchflottille kommandiert.« Der durchdringende Blick des Flo.-Chefs jagte ihm keine Angst ein. Nicht einmal Herzklopfen. Schneiders Äußeres war tipptopp. Das gab ihm zusätzliche Sicherheit. Er hatte das Hemd gewechselt, weil er zu Hause das Hemd täglich wechselte. Man hatte ihm anerzogen, immer so gut wie möglich gekleidet zu gehen. Es war falsch, durch äußerlichen Gammel schon Punkte einzubüßen. Egal wann und wo. Schlechten Eindruck würde Schneider noch früh genug machen. Das fiel ihm nicht schwer. Zweifellos hatte der Flo.-Chef seinen Führungsbogen gelesen. Er lag vor ihm. Auch dieser Umstand beunruhigte Schneider nicht. Er war neugierig, des Alten Stimme zu hören. Die Schärfe seiner Worte überraschte ihn trotzdem. »Ich war sechs Monate Kommandant eines Eismeerzerstörers. In dieser Zeit habe ich insgesamt über 15 Jahre Bunker verpaßt. Richten Sie sich danach, Sie Hanno Thomas Sie.« »Und Martin, Herr Kapitän«, konnte Schneider sich nicht verkneifen. Der Eröffnung folgte eine Pause. 21
»Nun zu Ihnen persönlich, Schneider. Sie sind Reservist. Was ist Ihr Beruf?« Diese Frage zu beantworten, war Schneider immer schwergefallen. Man hatte ihn systematisch zum Nachfolger seines Vaters ausgebildet. Er hatte Internate besucht. Mit 18 Jahren war er schon in Asien gewesen, in den Vereinigten Staaten, in Südamerika, England. Nichts Besonderes für einen Stahlerben. Er hatte ein paar Semester Jura und Volkswirtschaft studiert, in einer Londoner Großbank das Geldgeschäft gelernt und einige Schichten lang an den Hochöfen gestanden. Aber es war von Vorteil, daß es seine eigenen Hochöfen waren und die eigenen Walzstraßen. Wenn der Krieg einmal zu Ende war, und falls er ihn überleben würde, sollte er als Direktor in einem der Zweigwerke des Auslandes beginnen. Das war so Sitte. Aber jetzt überlegte Schneider angestrengt, was er als Beruf nennen konnte, bis der Korvettenkapitän ihn aus seinen Überlegungen aufschreckte. »Mann, Sie müssen doch wissen, was Sie gelernt haben.« Dabei gab er sich den Anschein, als hielte er Schneider für den größten Trottel der Flotte. Schneider grinste. Die Frage des Flo.-Chefs konnte nur eine Spitze sein. Es stand ja alles in seinen Papieren. »Na, wird's bald!« drängte Jäntsch lauter. »Hüttenarbeiter«, parierte Schneider. »Hüttenarbeiter«, wiederholte Jäntsch und fuhr einen neuen Anlauf. »Und Ihr Vater?« »Auch Hüttenarbeiter.« Bedrohlich langsam erhob sich der Kapitän und kam näher. Er baute sich vor dem langen Oberfähnrich auf, 22
stemmte die Hände in die Seiten und schnarrte verärgert: »Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen, was? Verarschen wollen Sie mich.« »Das liegt mir fern, Herr Kapitän.« Der Offizier sah wohl ein, daß er sich damit auf totes Gleis begab, und stellte die Weichen anders. Wieder hinter seinem Schreibtisch, blätterte er erneut in der Führungsakte. »Sie waren in eine Schlägerei mit Vorgesetzten verwickelt. Wie durfte man so eine Figur überhaupt zum Offizier machen?« Schneider schwieg. »Antworten Sie!« »Ich wurde angegriffen. Es war Selbstverteidigung, Herr Kapitän.« Der Flo.-Chef musterte ihn peinlich. »Sie haben den Angriff provoziert und einen Maat zusammengeschlagen. Dafür haben Sie eine Woche im Tang gesessen.« Dagegen war nichts zu sagen. Schneider wartete nur noch, was das kleine Männchen mit ihm vorhatte. »Merken Sie sich das eine, Schneider«, betonte der Korvettenkapitän, »bei mir werden Sie nie zum Leutnant befördert. Ich habe etwas gegen Typen wie Sie. Sie steigen auf einem Logger ein. Als Kommandantenschüler. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß der augenblickliche Kommandant von Logger-29 nur Obersteuermann ist, Sie aber trotzdem seinem Befehl unterstehen. Klar?« »Zu Befehl, Herr Kapitän.« Das Rumpelstilzchen fixierte ihn unablässig. »Stehen Sie gerade, Sie Mißgeburt!« Schneider gab sich etwas strammer. Jetzt wußte er, wie er den Alten einzuschätzen hatte. Es war ganz einfach. 23
Die Achtunddreißigste galt als verlauste Flottille. Ein zusammengewürfelter Haufen von Schiffen aller Kaliber. R-Boote, Logger, Fischdampfer, Bäderdampfer, Fähren, Das hatte er schon bemerkt. Zu so einem Verein schickte man nicht die besten Leute und auch nicht den besten Chef. So zog das eine das andere im Kielwasser hinter sich her. Ein echt toller Laden, zu dem man ihn kommandiert hatte. Aber er hatte es sich selbst zuzuschreiben, daß er hier vor Jäntsch stand. Er war ein Gezeichneter. Abgestempelt seit der Stunde, als er Maat Köhler niedergehauen hatte. Wie aus weiter Ferne vernahm er die Stimme des Korvettenkapitäns: »Sie steigen noch heute auf Logger-29 ein.« Schneider grüßte automatisch. Kehrtwendung und ab. Er ahnte, was der Korvettenkapitän dachte. Der Flo.Chef war davon überzeugt, daß der Oberfähnrich auf dem Logger Schwierigkeiten bekam. Und beim geringsten Vorfall würde er Schneider von jeder Beförderung zurückstellen. Nur das wollte er. Aber er war nicht ehrlich genug, sich einzugestehen, warum er Schneider wirklich nicht mochte. Lange bevor er den Oberfähnrich überhaupt gesehen hatte, war seine Meinung über ihn schon gefaßt. Jäntsch trat ans Fenster und sah Schneider nach, wie dieser lässig über den Platz schlenderte. »Verdammte Ruhrbonzen!« fluchte er. Dabei faßte seine Hand den Fensterriegel so fest, daß er abbrach. *** Draußen wurde Schneider von der blendenden Sonne 24
überfallen. Er rekapitulierte die sonderbare Vorstellung, die der Korvettenkapitän gegeben hatte in dem dunklen Raum mit dem Sonnenfleck auf dem Schreibtisch. Das halte er also hinter sich. Den Zorn des kranken Offiziers mit den Magenfalten im Gesicht, seinen Maß. Er war ins Licht zurückgekehrt. Man kehrt immer wieder ins Helle zurück, dachte er, selbst aus dem finstersten Hunnenland. Wenn die Rückkehr auch kein Staatsempfang wird mit Musik und rotem Teppich. Aber Krieg ist Krieg, und Seefahrt ist Seefahrt. Schneider fühlte seine Kraft. Mit ihr wuchs die Unbekümmertheit der Jugend. Er schaute sich im Hafen um, suchte die Loggergruppe und drüben unter den Loggern einen mit der Nummer29. Aber er fand sein Schiff nicht. Der Posten vor dem Liegeplatz der Logger grüßte ihn. »Seemann!« sprach Schneider ihn an. »Wo liegt Nummer 29?« Der Posten hatte eine Zigarette in der hohlen Hand versteckt. Er rauchte, obwohl das auf Wache verboten war. Schneider übersah es. Es war ihm egal. Der Mann war vermutlich doppelt so alt wie er. »Wenn Sie den Lepradampfer meinen, Herr Oberfähnrich, der hat eben durchjeschleust. Ins Werftbäckän.« Den Lepradampfer nannte man ihn also. Na, entzükkend. »Wie kommt man dahin?« Der Posten erklärte mit ostpreußischem Dialekt: »Janz leicht zu finden. Se jehen noch 100 Meterchens, dann rechts über de Schläuse, und schon sind Se in die Werft.« Dabei qualmte es zwischen den Fingern des Matrosen blau hervor. »Rauchen Sie ruhig weiter. Ich habe nichts gesehn.« 25
Der Posten stand stramm und sagte: »Jawoll, Harr Oberfähnrich.« Schneider musterte die Logger, wie sie im Doppelpäckchen hintereinander lagen. Ein Blick auf die Uhr. Normalerweise war um diese Zeit Dienstbeginn, aber die Decks lagen wie ausgestorben. Das konnte nur einen Grund haben. Die Besatzungen schliefen, weil es in der Nacht wieder hinaus ging. »Wissen Sie etwas über seeklar?« wandte sich Schneider an den Kaschuben. »Mer laufen um achtzähn Uhr aus«, bestätigte der Posten. Schneider hatte es nicht eilig, auf sein Boot zu kommen. Also schlenderte er die Hafenpromenade wieder zurück. Die Häuser am Kai hatte man mit Brettern vernagelt. Wo früher Schaufenster waren, Eingangstüren, Cafebars oder Weinkneipen, überall nur Holzverschläge. Tot lagen die Häuser in der Sonne, verlassen, ohne Leben. Die Farbe an Fensterläden und Firmenschildern verblaßte, schuppte und fiel ab. Den Verputz bröckelten Seewind, Regen und Hitze, Sommer und Winter langsam von den Mauern. Beinahe vier Jahre dauerte jetzt schon der Krieg. Alles verfiel, alles verbrauchte sich. Nur die Dinge nicht, die der Zerstörung dienten, die wurden jeden Tag neu produziert. Die halbe Menschheit arbeitete daran, sich gegenseitig mit immer feineren Methoden zu vernichten. Aber je feiner die Methoden wurden, desto teurer wurden sie auch. In der Urzeit genügte der Schlag mit dem Faustkeil, um den Feind ins Jenseits zu befördern. Heute brauchte man Torpedos, Bomben, U-Boote, Liberalor26
Flugzeuge, Phosphormunition und Flammenwerfer, Giftgase und Bakterien. Das Sterben war kostspielig geworden. Schneider fand erst wieder in die Wirklichkeit zurück, als er vor Haus Nummer 21 stand. Jacqueline kauerte im Schatten vor einer jungen Angorakatze und fütterte sie mit seinen Pfefferminzplätzchen. Er fand es natürlich, daß das Mädchen diese britische Süßigkeit nicht mochte. Auch er verabscheute sie. Als sie ihn kommen sah, winkte sie ihm zu wie einem alten Freund. Das verwischte für Sekunden das Gefühl der Einsamkeit. »Das nächste Mal schenke ich dir Blumen«, sagte er. »Mais non«, antwortete sie, »Blumen welken, und Schokolade macht dick. Geben Sie mir lieber eine Zigarette.« Er schenkte ihr den Rest seiner Juno-Packung und trat ins Haus. Sie folgte ihm lautlos. »Avez-vous schon ein Kommando?« fragte sie neugierig. Er saß auf dem Bett und überlegte, ob es nicht gut wäre, eine Stunde zu schlafen. Aber vorher wollte er die Türe abschließen, um endlich Ruhe zu finden. »Haben Sie schon ein Schiff?« wiederholte sie ihre Frage. »Kommen Sie zu den Räumbooten, Monsieur, oder auf einen Logger? Eine Gruppe der Flottille liegt in Dieppe im Norden, ein paar alte Fischdampfer. Aber es wäre tres triste, wenn Sie nicht hierblieben.« Sie sprudelte wie ein Wasserfall, wenn sie redete. »Sag mal, Jacqueline«, fragte er verwundert, »woher weißt du diese Sachen? Dinge, die nicht einmal ich kenne. Vraiment, ich glaube, ihr seid alle Spione, d'accord.« Sie tänzelte wieder im Zimmer auf und ab und schwang 27
dabei ein spanisches Rohr, das am oberen Ende Büschel langer Federn trug. Mit dem Flederwisch strich sie über die Möbel und verteilte den Staub von einer Ecke in die andere. »Natürlich sind wir alle Spione: mein Vater, ma mère, Großpapa, Grandmaman, mein Bruder Louis, meine Schwester Cecile und mein Cousin Pierre. Er ist vier Monate, wiegt sechzehn Pfund und ist der größte aller Spione.« Ein Lachen, schon landete sie mit Schwung neben Schneider und legte den Kopf schräg. Egal, was sie auch trällerte, die Franzosen funkten jeden Vorgang, alles was passierte, umgehend nach London. »Was wünschen Sie, Monsieur? Kaffee, Bier, Cognac oder moi, mich?« »Hol mir eine Flasche Bier«, sagte er, um wenigstens zehn Minuten allein zu sein.
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4.
Der Flotteningenieur war mit dem Maschinenmaat Fink in die Eingeweide des Loggers vorgedrungen, wo der Glühkopfdiesel elefantös auf seinen Fundamenten ruhte. Sie ließen das Luk über dem Maschinenniedergang offen, damit das Tageslicht die trübe Befunzelung unterstützte. Der Leitende des Logger-29 war ein Schwätzer vor dem Herrn. Er konnte anderen ein Loch in den Bauch reden. Manchmal gelang es ihm sogar, den Anschein zu erwekken, als verstünde er etwas von Schiffsmaschinen. Dem Flo.-Ing. aber konnte er nichts vormachen. Der Offizier wußte, daß der Maschinenmaat Fink eine Niete war. Das sah sogar ein Laie, sobald er den Maschinenraum betrat. Auf einem Schiff, das etwas auf sich hielt, konnte man von den Flurplatten zu Abend speisen. Da blitzte es vor Sauberkeit, und jede Armatur, ob Kupfer, Messing oder Chrom, hatte Glanz und Politur. Anders auf der Nummer29. Beim Laufen mußte man sich festhalten, um auf den fettverschmierten Eisenrosten nicht auszugleiten. Das Bilgenwasser spülte rostbraun und ölig aus den Ecken. Die Leitungen zu den Tanks und Druckluftbehältem hingen 29
schwarz und verbogen durch den Raum. Die Hauptmaschine verlor Schmiermittel an undichten Buchsen. Armaturen und Handräder waren blind vor Dreck und Gammel. Der Flo.-Ing. wußte, was ihn auf Logger-29 erwartete, aber er schwieg, wie sie alle über das Schiff schwiegen, als sei es ein verlorener Sohn. Vor der Hauptmaschine begann Fink seine Rede, die er nur kurz unterbrochen hatte. »Ja, das ist nun unser Sorgenkind, Herr Leutnant. Unsere Jeanne d'Arc. Eigentlich müßte sie Martin Luther heißen: Hier stehe ich und kann nicht anders. Aber wir nennen sie Jeanne d'Arc.« »Warum?« fragte der Offizier höhnischerweise. Fink holte zu einer Erklärung aus: »Sie hat zwei Dinge mit der Jungfrau von Orleans gemeinsam. Sie hat eine Fahne, eine verdammte stinkende Qualmfahne, wenn sie läuft. Bei halber Fahrt bekommen wir den ganzen Mief in den Maschinenraum, weil der Auspuff durchgerostet ist. Und zweitens, zweitens kann sie nicht lesen. Die Jungfrau von Orleans konnte auch nicht lesen.« Er kicherte über den alten Witz, war aber der einzige, der lachte. Die Heizer standen herum, verzogen keine Miene unter den verschmierten Gesichtern. Der Maschinenmaat fuhr fort: »Sehen Sie sich das an, Herr Leutnant. Ein Riß im Kühlmantel, handlang und einen Daumen tief. Wir verlieren Wasser wie das Brünnlein im Walde.« Der Ingenieur besah sich den Schaden, maß ihn aus. »Was schlagen Sie vor?« fragte er endlich. Maschinenmaat Fink überlegte nicht lange. »Wir müssen den hinteren Zylinder ausbauen und versuchen ...« »Was versuchen?« 30
Der Leitende Maschinist von Logger-29 hatte keine Antwort parat. Der Flotteningenieur aber wußte, daß es den Männern darauf ankam, möglichst lange in der Werft zu liegen. Doch da hatten sie sich bei ihm verrechnet. »Es gibt eine Methode, Guß zu schweißen. Man muß dazu das beschädigte Stück ausbauen, unter Kohle gleichmäßig erhitzen und nach einem besonderen Verfahren schweißen. Das dauert zu lange. Es würde Wochen in Anspruch nehmen«, erklärte er. Maschinenmaat Fink zog ein Gesicht, als täte ihm schrecklich leid, daß das Boot so lange nicht eingesetzt werden könnte. Er nickte zu den Ausführungen seines Vorgesetzten so beifällig wie zu einem unabwendbaren Ereignis. Wenn man es von den Heizern verlangt hätte, dann hätten sie sogar geweint. Der Flo.-Ing. tat ihnen aber den Gefallen nicht. »Passen Sie auf, Fink«, entschied er, »man kann das auch ganz einfach haben. Die große Reparatur kostet mehr, als der Logger wert ist. Wir machen das so wie bei den alten Germanen. Der Riß wird an den Enden angebohrt, damit er nicht weiterwandert. Dann schneiden wir sechs Gewinde in den Kühlmantel, legen Messingblech mit Dichtungsmittel über den Riß und schrauben die ganze Chose fest. Was glauben Sie, wie lange Sie dazu benötigen?« Fink wollte beginnen, eine Kalkulation in »Tagen« zu erstellen. »Irrtum«, fuhr der Offizier fort, »in fünf Stunden schaffen Sie das leicht. Wir machen uns gleich drüber. Ich beaufsichtige die Arbeiten. Melden Sie dem Kommandanten, daß Logger-29 bis 10:00 Uhr abends seeklar ist.« Fink kratzte sich am Hinterschädel. »Damit haben wir nicht gerechnet. Der Kommandant 31
ist an Land, ebenso die ganze seemännische Besatzung, bis auf zwei Posten und Bootsmaat Achilles.« »Schweinerei!« schimpfte der Offizier. »Die anderen Boote laufen um achtzehn Uhr aus. Nur auf Grund Ihrer Falschbeurteilung ist der Logger nicht einsatzbereit. Ich werde das melden. Man wird Sie verantwortlich machen, Maschinenmaat Fink.« Fink wurde immer kleiner und stiller, wagte aber doch noch einen Einwand: »Es ist noch gar nicht raus, ob wir den Riß dicht kriegen, Herr Leutnant.« Da baute sich der Flo.-Ing. vor seinem Untergebenen auf und stauchte ihn vor den Heizern zusammen, daß er einlief wie ein Zellwollanzug bei Regen. »Fink!« schrie er. »Ich bin ja gewohnt, über vieles zu schweigen, was diesen Lepradampfer betrifft, aber Sie sind das größte Hornvieh, das jemals über die Meere gefahren ist. Wenn ich Ihnen sage, wir sind zwei Stunden vor Mitternacht seeklar, dann sind wir es. Der Logger-29 fährt heute noch hinaus, und sollte ich die Besatzung einzeln von der Feldgendarmerie aus den Bumskneipen holen lassen. Machen Sie, daß Sie in die Werkstatt kommen. Besorgen Sie einen Elektrobohrer, Gewindeschneider, Kupferbolzen, Messingblech und Schrauben. Wenn Sie in fünf Sekunden noch hier stehen, dann stelle ich Sie vor ein Kriegsgericht.« Nach diesem Ausbruch machten sich die Heizer verkniffen über ihre Arbeit her. Fink hastete an Deck. Auf der Stelling wäre er beinahe mit einem Oberfähnrich zusammengerannt, aber er beachtete ihn kaum. Fink lief zu den Werkstätten, sprang über Gleise, Schiffsteile, kletterte die Schräge einer Helling hinauf. Bald hörte man sein heftiges Palavern in der Ferne. 32
*** Oberfähnrich Schneider sah ihm erstaunt nach. Solche Eile war er bei der Marine nicht gewöhnt. Der Deckposten mit der Maschinenpistole grüßte. Er war ein kleiner schmächtiger Junge. Sein Arbeitszeug mochte unter Tirpitz einst weiß gewesen sein. »Ist der Kommandant an Bord?« Der Deckposten verneinte. Schneider schaute sich auf dem Logger um. Ein Fahrzeug in so saumäßigem Zustand hatte er noch nie gesehen. Bis zu diesem Augenblick konnte er sich überhaupt nicht vorstellen, daß es so etwas gab. Aber Schneider hatte nie viel Phantasie gehabt. »Ist der Wachoffizier an Bord?« Sofort verbesserte er sich: »Habt ihr ja keinen. Aber es muß doch irgendsoein Salzknabe auf dem Dampfer sein, der Bescheid weiß.« Dem Posten schien der lange Neuankömmling nicht geheuer. Auch war er nicht gewohnt, mit Offizieren zu reden. Aus Verlegenheit stand er ständig stramm. »Der Leitende ist eben in die Werft, Herr Ober...«, stotterte der Seemann. Das Maschinenpersonal interessierte Schneider wenig. Aber jetzt wußte er, wer der Schnelläufer Richtung Werft gewesen war. Offenbar der Maschinist. »Den Schmadding hätten wir noch«, stotterte der Posten unbeholfen. »Dann holen Sie den Schmadding. Aber Beeilung.« Der Matrose verschwand nach achtem. Schneider hörte, wie der Junge etwas in den Niedergang hinunterschrie. Er verstand nichts Genaues, zündete sich eine Zigarette an und ging langsam zur Back. Dabei setzte er seine Schritte so vorsichtig, wie man mit 33
sauberen Händen schmutziges Verbandszeug anfassen würde. Die Holzbeplankung des Decks war schwarz und vermorscht. Stellenweise fehlte sie ganz, dann schaute braunes Eisen hervor. Überall stank es nach Dieselöl. Schneider stieß an einen Berg Zwei-Zentimeter-Magazine, die einfach festgezurrt unter freiem Himmel lagerten. Verrostet, von Seewasser zerfressen. Endlich hörte er das Klappern von Bordschuhen hinter sich. Ein Mann schlurfte über Deck: ein vierschrötiger bulliger Orang-Utan, massiv wie ein Doppelspind. Er trug eine zerrissene, blaue Hose und einen mottigen Jumper. Die Nase war gebrochen und das Kinn winzig im Vergleich zu der massigen Kinnlade. Nichts an dem Menschen war schön. Nur die ehrlichen Augen gefielen Schneider im ersten Moment. »Bootsmaat Achilles!« grüßte der Mann ohne Dienstgradabzeichen. Schneider streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Oberfähnrich Schneider. Auf euren verlausten Dampfer kommandiert.« »Fein«, sagte der andere. Schneider bot ihm eine Zigarette an. »Achilles heißen Sie? Sonderbar.« Der Bootsmaat nickte. »Da haben Sie recht, Herr Oberfähnrich.« Sie musterten sich, doch es kam kein rechtes Gespräch in Gang. Der Oberfähnrich sagte etwas, nur um die Luft zu bewe gen. »Ich wette, es gibt keine 100 Achilles in Deutschland.« »Da können Sie gerne recht haben«, stimmte der Bootsmaat zu. Schneider blies den Rauch in den Wind. 34
»Sie wissen ja, wer Achilles war. Ein starker, tapferer edler Grieche. Ein Halbgott. Er kämpfte vor Troja und starb an einem Pfeilschuß in die Ferse.« Der Bootsmaat schwieg erst verlegen. Dann legte er los: »Ich habe nie einen gekannt, der mir davon erzählt hätte. Ich weiß nur, daß es ein Buch gibt, ein Buch von einem gewissen Hommer, in dem diese Sachen aufgeschrieben sind. Ich habe mir oft vorgenommen, dieses Buch zu kaufen, doch immer wenn ich vor einem Buchladen stand, dachte ich, sie werden mich auslachen, wenn ich hineingehe und das Buch von diesem Hommer verlange. Vielleicht hat mich da auch einer auf den Arm genommen, und diesen Herrn Hommer gibt es gar nicht.« Schneider wußte im Augenblick nicht, was er zu dem schlichten Geständnis äußern sollte. Er warf die Zigarette über Bord. »Doch, Herrn Homer gibt es«, antwortete er schließlich. »Ein großer antiker Dichter.« Der Bootsmaat griff sich Schneiders schweren Koffer, als sei er eine leere Pappschachtel. »Vielleicht haben wir mal Zeit, dann erzählen Sie mir davon, Herr Oberfähnrich.« Er ging voraus nach achtern, und Schneider folgte ihm. »Ich zeige Ihnen Ihre Kammer. Wir haben gerade eine frei. Das heißt, der Minenmixer haust drinnen, aber der fliegt raus.«
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5.
»Von Beruf bin ich Schausteller. Karussellschieber, wenn Sie so wollen, ich möchte sagen von Geburt an. Trotzdem habe ich die Hälfte meines Lebens auf See verbracht«, erzählte der Bootsmaat, als er dem Oberfähnrich Schneider den Logger vorführte. Er zeigte den Lepradampfer ohne Stolz und ohne Scham. Jeder Mann liebt das Schiff, auf dem er fährt, nur die Leute vom Logger-29 liebten ihr Schiff nicht. Sie haßten es nicht einmal. Es war ihnen gleichgültig. Schneider folgte ihm stumm und leicht erschüttert. Was er da sah und hörte, das war die allerletzte Seite des Buches »Kriegsmarine«. Das war etwas, wovon man nicht sprach, weil die Worte fehlten und weil es keiner glaubte. Das war unterdrückte Hoffnungslosigkeit, eisengewordenes Ende. Man konnte einem Menschen die Arme und Beine abschneiden, daß nur noch der Rumpf übrigblieb, aber der Mensch blieb am Leben. Man konnte sogar noch einen Schritt weitergehen. Man konnte diesem Menschen alle Zähne ziehen, die Zunge herausholen, das Augenlicht entfernen und das Gehör. Dieser Mensch sah nichts und hörte nichts. Er konnte nicht reden, nicht beißen, nicht essen. Man müßte ihm mit Röhren flüssige Nahrung in den 36
Magen pumpen. Aber war dieses Stück Fleisch dann noch ein Mensch? Nun, er war ebensosehr ein Mensch, wie Logger-29 noch ein Schiff war. Bootsmaat Achilles erzählte: »Früher hatten wir eine Katze an Bord. Aber sie ist verhungert. Es gibt nämlich nicht einmal mehr Ratten an Bord. Man sagt, Ratten verlassen ein Schiff, bevor es sinkt. Wir haben keine Ratten und sinken nicht. Was halten Sie davon?« Sie kamen an einem finsteren Schapp vorbei, wo es nach Essen roch. »Das ist die Kombüse. Der Koch hält sich für die beste Tenorstimme der Flotte. Er macht aber nur in Kneipen Gebrauch davon.« »Kocht er wenigstens so gut, wie er singt?« fragte Schneider. »In der Hauptsache schmiert er belegte Brote. Wir nennen ihn Beethoven, weil er für jede Tasse Kaffee neun Bohnen abzählt. Den Rest verschiebt er an Land gegen Schnaps. Und das also, das hier sind unsere Kaninchenställe.« Der Bootsmaat Achilles deutete auf einen Kistenstapel neben dem Kombüsenschott. Die Türchen drehten sich offen in den Angeln. Alter Mist schimmelte hinter den Gittern. »Wir hatten eine prima Zucht. Rassekaninchen. Deutscher Widder oder so ähnlich. Alle 30 Tage kamen vier bis zwölf Junge dazu. Eines Tages war es aus.« »Alle aufgefressen?« fragte Schneider. »Nein, über Bord geworfen«, schilderte der Seemann, »das Überlaufrohr unseres Treibstoffbunkers mündet leider hinter den Kaninchenställen. Der Heizer hat bei der Treibölübernahme nicht aufgepaßt. Die Tanks waren randvoll, aber sie pumpten immer weiter. Die ganze Ka37
ninchenbrut ersoff im Diesel. Das gab gewaltigen Ärger. Was glauben Sie, was wir gemacht haben? Der Heizer mußte eines von den Karnickeln auffuttern. Wissen Sie, wie ein Kaninchen schmeckt, das in Dieselöl ersoffen ist? Der Heizer weiß es.« Sie stiegen zu dem Geschütz hoch. Schneider war übel geworden. Tief atmete er die Seeluft ein. Eigentlich hatte er Kaninchenbraten immer gerne gemocht, besonders geklauten, den man im Wald über einem Feuer briet. Dazu Kartoffeln, die in der Glut gar geworden waren. Jetzt würde er sein Leben lang bei Kaninchen die Vorstellung von Dieselduft in die Nase bekommen. Der Schmadding wechselte das Thema. »Im Hintergrund sehen Sie unsere 7,5-Zentimeter. Aus welchem Schrott die zusammengeschraubt wurde, ist selbst der Admiralität bis heute ein Rätsel. Experten halten sie für eine polnische Landhaubitze aus den schlesischen Kriegen von Friedrich dem Großen. Der Rücklauf des Verschlusses beträgt 80 Zentimeter. Richthöhe für Luftziele nur 60 Grad. Sonst stanzt uns der Verschluß ein Loch in das Deck.« »In euer poliertes Mahagoni! Wäre ein Jammerschaden«, sagte der Oberfähnrich. Sonst nichts. Sie erklommen die Brücke. Zwei Renault-Autositze, zerschlissen und verstockt, hingen in den Nocken. »Hier schläft der Kommandant in den Seenächten seine Räusche aus. Eingehüllt in zwei Garnituren Unterwäsche, zwei Jumper, Blauzeug und einmal Lederzeug drüber. Bei schwerer See kommt noch Ölzeug dazu.« »Die Kleidung bietet sicherste Gewähr für langsame Gefechtsbereitschaft und sicheres Absaufen«, bemerkte 38
Schneider. Er halte das Bedürfnis, einen Cognac zu kippen und sich die Hände zu waschen. Er hatte genug gesehen und bedurfte einer Desinfektion. Innen und außen. »Wollen Sie noch die Unterdecks besichtigen?« fragte Bootsmaat Achilles. Schneider winkte ab. »Herr Oberfähnrich, glauben Sie mir, wenn wir eines Nachts irgendwo im Kanal abblubbern, dann merkt das gar keiner. Im Gegenteil, irgend etwas fällt angenehm auf, und keiner weiß, was das ist. Unsere Besatzung hat zusammen neun Jahre Zuchthaus und mehr als das Doppelte an Gefängnisstrafen hinter sich. Umgelegt auf 33 Mann. Mit Ihnen, Herr Oberfähnrich, 34. Und unser Prachtstück ist der Kommandant. Verzeihung, Herr Oberfähnrich, es geht mich nichts an, aber was haben Sie denn ausgefressen, daß Sie bei uns einsteigen dürfen?« Schneider ließ sich ungern daran erinnern. Von Untergebenen schon gar nicht. »Das geht Sie wirklich nichts an, Bootsmaat.« Aus der Maschine kam der Leitende herauf. »Weißt du, wo der Alte steckt?« fragte ihn Achilles. Der Leitende sah verschmiert aus wie sein schlechtester Heizer. Er stieg vollends an Oberdeck und grüßte den Oberfähnrich. »Maschinenmaat Fink«, stellte er sich vor. Schneider dachte sich seinen Teil. »Wo ist der Obersteuermann?« »Der Kommandant hängt irgendwo im Hafen rum. Es gibt da eine kleine Feier. Sie müssen wissen, Herr Oberfähnrich, bei uns Loggerleuten gibt es immer kleine Feiern. Die duftesten Puppen von Le Havre versammeln sich bei uns. Sie sind herzlich eingeladen. Nehmen Sie sich eine zur Brust. Den Rest überlasse ich Ihrer schmutzigen 39
Phantasie.« Schneider und Achilles schwiegen eine Weile. »Ich muß wieder in die Maschine«, erklärte der Leitende. »Ohne mich bauen die nur Mist.« Schneider senkte den Kopf und stieg unter Deck, richtete sich seine Kammer lustlos ein, so gut es eben ging. Überall Dreck, Schimmel, Unrat, Staub, Kakerlaken. Die Koje war feucht. Er versuchte zu schlafen, aber er hielt es nicht aus in der Miefkiste. Ein Gefühl, wie zum Genickschuß beurlaubt, überkam ihn. Er zog sich wieder an und verließ fluchtartig den Logger. Es war spät am Nachmittag, als er über die Stelling an Land federte. Der Bootsmaat lehnte an der Backreling und blinzelte in die Sonne. Schneider war es, als fühle er, wie ihn der Mann mit den Augen verfolgte. Was geht dich der Bootsmaat, dieser Kretin, an, dachte er. Trotzdem hätte er gerne gewußt, was Achilles von ihm hielt. Dieser Achilles, der den Eindruck eines Primitiven machte, eines Neandertalers, und der doch hinter seiner fliehenden Stirn eigene Gedanken hatte. Der von Homer gehört hatte und daran zweifelte, ob es den Dichter Hommer überhaupt gab. Dieser Achilles, der naiv gefragt hatte: Was haben Sie denn ausgefressen, daß Sie bei uns einsteigen dürfen... Klar hatte er etwas ausgefressen. Aber was? Für Achilles war es eine Selbstverständlichkeit, daß nur Ganoven auf den Logger-29 gerieten. Nun, ein Verbrechen war seine Tat nicht gewesen. Für Marinebegriffe vielleicht. Schneider eilte durch die Werft, überquerte die Schleuse und suchte mit dem Instinkt des Seemanns das Hafenviertel. Er ging schneller, lief den eigenen Gedanken da40
von. Vor Erinnerungen, die immer wiederkehrten, als schnellten sie fortgeschleudert an einem Gummiband zurück. Stets aufwühlend und oft peinigend. Die Gedanken bohrten immer, fragten ihn: Schneider, wie war das damals, als du das erste Mal auf einen Menschen eingeschlagen hast, bis er wie tot vor deinen Füßen lag...
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6.
Die Bilder wanderten zurück in den Winter 1941. Vor der Kaserne der XIV. Schiffsstammabteilung in Rosendaal/Holland hielt eine schwere Horch-Limousine, Typ Generalswagen. Der Posten machte sich schon fertig zum Salutieren, als sich zeigte, daß dies unnötig war. Der Chauffeur spritzte herum, öffnete die Fondtür rechts, und ein junger Mann, etwa 23 Jahre alt, einsachtzig groß, blond, blaue Augen, stieg aus. Vermutlich hatte er eine sportliche Figur, was jedoch unter dem Clubblazer und dem gefütterten englischen Burberry nicht zu erkennen war. Der Privatchauffeur der Thomas Schneider Berg-, Hütten- und Walzwerk AG hatte ihn vom Ruhrgebiet herübergefahren. Den gelben Schweinslederkoffer trug er bis zum Tor. »Alles Gute, junger Herr.« »Und Gruß an Marianne.« Des Fahrers Tochter war rothaarig, recht hübsch und begeisterte Reiterin. Noch im Sommer hatte sie als Pferdebetreuerin auf dem Schneiderschen Gestüt gearbeitet. Im Heu der Futterhalle hatte der junge Mann sie vernascht und dann noch ein paarmal im Gutshaus. »Ich schreibe ihr.« 42
*** Quer über den Kasemenhof kam ihm ein Mann in Uniform entgegen. Mittelgroß, stämmig, schwarzgesträhnter tiefer Haaransatz. Unter der Stirn zusammengewachsene Brauen und unstete Augen. Schneider quatschte ihn an. Etwas von der Seite her. »He, Kumpel, wo geht's hier zur Dritten Kompanie?« Der andere baute sich vor ihm auf, Arme in die Seite gestützt. »Sind Sie wahnsinnig, Mann!« schrie er, »kennen Sie nicht meinen Rang?« »Blau mit goldenen Tressen. Nö. Sind Sie der Portier von dem Hotel?« Der andere schnappte heftig nach Luft. »Können Sie nicht grüßen, Mann?« »Wie geht das?« »Stillgestanden, Soldat!« »Ich bin kein Soldat.« »Was dann, Sie Schlaupisser?« »Nur Angehöriger.« »Ange... was?« »Haben Sie noch nie eine Führerrede gehört? Der Führer beginnt ausdrücklich immer mit: Soldaten der Wehrmacht, Soldaten der Luftwaffe, Angehörige der Kriegsmarine ...«, Schneider behielt ostentativ die Hand in der Hosentasche, »... also bin ich nur Angehöriger, bestenfalls.« »Hinlegen, Angehöriger!« »Vor Ihnen?« Schneider grinste. »Sind Sie Gottvater?« »Ja, hier vor mich«, tobte der Maat, auf den Boden deutend, »vor Bootsmaat Köhler.« »Warum?« »Weil ich es befehle.« 43
Schneider reagierte rotzig. »Mir hat hier noch keiner etwas zu befehlen. Solange ich nicht vereidigt bin, bin ich Zivilist und unterstehe den zivilen Gesetzen. Schon mal vom BGB gehört?« »Ach, ein Herr Klugscheißer.« »Eigentlich nur Abitur, Herr Admiral, und ein wenig Oxford«, höhnte Schneider. Später, nach der Stubeneinteilung, war der Maat wieder da. Mit finsterem Blick stellte er fest, was in Schneiders Koffer lag. Wo sich bei anderen Baumwollunterhosen stapelten, hatte Schneider seidene Wäsche, edle Seife, eine Flasche Schampus und Kaviar. Dann erfolgte die Einteilung in Züge und Gruppen. Wie es der Teufel wollte, wurde Bootsmaat Köhler Schneiders Ausbilder. Seine Einführung lautete: »Euch Pfeifen mache ich zäh wie Leder.« »Lahm wie Windhunde, rostig wie Blech«, ergänzte Schneider leise. »Und hart wie Stahl. Besonders die jungen Herren Hüttenbarone.« Die Schikanen fingen an und hörten nie wieder auf. Auch wenn Schneider eine Spindordnung pflegte, die aufgeräumt war wie die Bilanz eines erstklassigen Bankbuchhalters, räumte Köhler brutal aus. An Schneiders Bett waren die Deckenkanten wie mit dem Lineal gezogen. Köhler riß es zu Boden. »Mieser Bettenbau wegen zu hoher Bildung!« Beim Duschen kam Köhler und schrie in den Dunst: »Schneider, raustreten!« Nackt mußte er Schnee schippen. »In der Sauna schmeißt ihr euch ja auch ins kalte Bekken«, kommentierte Köhler zynisch. 44
Während des Unterrichts schaute Schneider zum Fenster hinaus, hinüber zu den Pappeln am Kanal, und gähnte. Köhler glaubte, ihn ertappt zu haben. Er rief ihn auf, er sollte das Thema wiederholen. Schneider repetierte die Marine-Rangliste, als hätte er sie im Kopf mitgeschrieben. Die Auszubildenden übten das Zerlegen des Karabiners 98-K. Köhler schaffte es in 19 Sekunden. »Keine olympische Zeit«, meinte Schneider. »Können Sie es besser, Sie Pfeife? Wenn nicht, trete ich Sie in den Arsch.« Schneider zerlegte den Karabiner in 16 Sekunden, und in 30 Sekunden hatte er alles wieder zusammen. Köhler höhnte: »Schon mal einen in der Hand gehabt, he?« »Nein, aber wir bauen diese Dinger.« »Herr Bootsmaat.« »Herr Bootsmaat.« »Und Kanonen.« »Ja, die dicke Anni.« Eigentlich hieß sie »Dicke Berta«, aber Schneider sagte »Dicke Anni«, denn Bootsmaat Köhler hatte eine holländische Freundin mit ziemlich starkem Hintern. Köhler war besonders stolz auf seine blaue Ausgehuniform mit dem Schlag in der Hose. Schneider ließ sich eine Maßgeschneiderte in Essen nähen aus bestem Tuch, dazu einen pikfeinen Kulani mit echt goldenen Knöpfen. Aber Köhler hatte immer etwas auszusetzen. Jetzt erst recht. Beim nächsten Landgang bekam Schneider keine Urlaubskarte. Wegen mangelhaft polierter Schuhe. Und dies, obwohl er stundenlang daran herumgewienert, draufgespuckt und neu poliert hatte. Für Schneider genügte eine Postkarte. Ein Bote brachte ihm seine Lackslipper. Das schwarze italienische Leder 45
glänzte rundum wie ein Spiegel. In unsagbarer Wut ergriff sich Köhler einen der Schuhe und trampelte darauf herum. *** Nichts gegen harte Ausbildung. Aber Köhler schliff seine Untergebenen mit Sadismus. Laufen, hüpfen mit Gewehr in Vorhalte, hetzen, rennen bis dicht an den Herzschlag. Solche hanebüchenen Brutalitäten konnte sich nur ein menschlich zweifelhafter Vorgesetzter ausdenken. Ab ins Gelände! Gepäckmarsch mit Waffen und Munition! Laufschritt kilometerweit Fliegeralarm in den Graben! Gasalarm! Gasmasken auf! »Bis euch das Wasser im Arsche kocht!« schrie er. »Wo bitte, was?« »Ein Lied!« Köhler jagte Schneider und einen blassen, hageren Matrosen zum Horizont. Bis der Kleine umfiel. Schneider schleppte ihn zurück zum Schießplatz. »Sie sind ein Arschloch, Herr Bootsmaat«, keuchte er. Eine Woche Ausgangssperre, Wieder an Land, in der Stadt, in den Kneipen und Bars hatte Schneider immer die Taschen voller Geld. Köhler hatte nur seinen kargen Sold. Schneider schmiß Runden, lud alle ein. Köhler war starker Raucher. Schneider rauchte kaum. So, daß Köhler es sah, verschenkte Schneider seine Rationen packungsweise. Dafür kassierte Schneider neue Schikanen. Der Haß zwischen dem Matrosen Schneider und dem Bootsmaat Köhler ließ sich kaum noch steigern. Bald war er in der Kaserne Gesprächsthema. 46
*** Eines Tages kam ein Anruf aus Berlin. Köhler wurde zum Bataillonschef gerufen, der den seltsamen Namen Lilienhof Zwowitzki führte. Köhler trat in Rapportuniform an. Als er nach einer Stunde die Kommandantur wieder verließ, war er graugrün im Gesicht. »Wie geschissen«, meinte einer von Schneiders Kameraden, »dem müssen sie die Eier abgeschnitten haben.« »Da hat wohl einer von den Freimaurerfreunden deines Vaters dran gedreht.« Schneider war das nicht recht. Er wollte keine Extrawurst. Und eines wußte er: Jetzt waren sie Todfeinde. Köhler und er. Im Vorbeigehen zischte Köhler ihm zu: »Ich werde Sie nie berühren, Schneider. Aber ich habe schon andere zur Sau gemacht.« »Ich glaube Ihnen aufs Wort.« Schneider war klar, daß er jetzt aufpassen mußte. Nach der Urlaubssperre: Landgang. Lockerer Schnee lag über Glatteis. Auf dem Weg zum Kompanietreffpunkt »Finder's Cafeteria« mußte Schneider über die Kanalbrücke. Ein Mädchen mit einem Fahrrad tauchte plötzlich auf und überholte ihn. Es rutschte, schlitterte, fiel vom Rad und glitt unter dem Brückengeländer hindurch in den Kanal. Es schrie um Hilfe, streckte die Arme, konnte offenbar nicht schwimmen. Schneider überlegte nicht lange. Er sprang hinterher, suchte es, tauchte nach ihm, konnte es erwischen, packen. Das Mädchen in dem eiskalten Wasser wehrte sich wie alle Ertrinkenden. Es zog Schneider mit in die Tiefe. 47
Er tauchte mühsam wieder auf, rang nach Luft. Schon gerieten sie in die Strudel an der Schleuse. Die Drehung saugte sie an. Sie wären umgekommen, wenn sie nicht der Bootshaken eines Kanalschiffers gerettet hätte. In der warmen Kajüte zogen sie sich aus, wärmten sich, trockneten ihre Klamotten. Das Mädchen war ziemlich üppig gebaut. Großer Busen, runder Bauernhintern. Es sprach holländisch mit dem Schiffer. Schneider verstand wenig Holländisch. Aber ihr Name war Anni. Später am Pier, als er dampfend nach Hause marschierte, hörte er, wie sich zwei Bootsmaate unterhielten. »Möchte wissen, was Köhler ihr dafür bezahlt hat.« *** Die Ausbildungszeit war halb herum. Schneider bat seine Freunde und Vorgesetzten zum Burgfest. Eine kleine Feier in einem Dorfwirtshaus draußen im Moor. Der Teufel wußte, woher Matrose Schneider das Schwein, die Würste, das Geflügel, den Schnaps und den Sekt aufgetrieben halte. Alle lud er ein. Nur Köhler nicht. Den machte die Diskriminierung wütend. Betrunken kreuzte er auf und grölte herum. Schneider machte sich an ihm, der immerhin sein Gruppenführer war, die Hände nicht schmutzig. Zwei holländische Bauernburschen packten auf Schneiders Wink hin den Randalierer und warfen ihn auf den Mist. Applaus, Gegröle. »Auf unseren heißgeliebten Führer, den bekannten österreichischen Dekorationsmaler aus Braunau am Inn! Ein dreifaches Heil Schickelgruber!« 48
Daraufhin betretene Stille. »Wie bitte war das?« fragte der Zugführer, ein Bootsmann. Keiner wollte es gesagt haben. »Sie müssen sich verhört haben«, meinte einer. Dann gab's Cognac und Benedictine-Likör. Schneider führte sein Lieblingsgesöff vor. »Einen Schluck Napoleon in den Mund, drinbehalten, dann einen Schluck Likör, mit der Zunge mischen, und aaah.« »Der höchste aller Genüsse. Na ja, der zweithöchste.« *** Nach Abschluß der Ausbildung mußten sich die Reserve offiziersanwärter einer Prüfung unterziehen. Ein junger Leutnant fragte Schneider: »Was verstehen Sie unter Weltmacht Öl?« »Wenn unsere Felder in Rumänien abbrennen und wir unsere Bohrtürme verlieren, dann gute Nacht mit Sieg Heil.« Der aktive Leutnant hob die Brauen. »Ihre persönlichen Ölfelder? Ihre Bohrtürme?« »Pardon, ich habe da übertrieben. Noch gehören sie meiner Großmama.« Der junge Leutnant mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse grinste: »Sie sind ein arroganter Pinsel, Schneider.« »Nicht absichtlich, Herr Leutnant.« »Angeboren?« »Vielleicht anerzogen.« »Wo, in England?« »Auch in Salem.« »Also in dem Luxusinternat am Bodensee.« Lässig 49
steckte sich der Leutnant eine flache ägyptische Nil-Zigarette an. Er blickte dem Rauch nach und nickte. »Aber Sie passen zu uns, Schneider.« ***
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7.
Der Oberfähnrich sah die Bilder noch deutlich vor seinem inneren Auge. So bunt, so aufregend, wie sie einmal gewesen waren. Was war davon geblieben? Die Kameraden waren in alle Winde zerstreut. Viel Zeit war vergangen. Zwei Jahre. Nur ein einziger Punkt war konstant geblieben: Köhler, der Bootsmaat, begleitete sie als Alptraum durchs Leben. Schneider dachte bei dem Namen nicht mehr an einen Menschen, sondern an einen Zustand. Er konnte es schlecht erklären. Es handelte sich um das Gegenteil von Anständigkeit und Kameradschaft, das Gegenteil von menschlich und schön, das Gegenteil von allem, was gut war im Leben... Schneider erreichte den Fischereihafen. Kleine, kaum seetüchtige Fahrzeuge hingen an ihren Ketten. Aussortierte, untaugliche Boote, die man den Franzosen gelassen hatte, damit sie ihr Handwerk nicht verlernten. Schneider lehnte an einem Poller und sah Kindern zu, die mit selbstgebastelten Segelschiffchen spielten. Sie schrien und juchzten im tiefsten Normandie-Dialekt, so daß er sie kaum verstehen konnte. Eine ungepflegte ältere Frau ging vorüber und trug eine Pütz voll Wäsche zum 51
Fleien. Noch lag die Sonne über dem Hafen. Er schlenderte weiter. Aber er kam nicht vom Hafen los. Wie ein Tourist in fremden Städten den Markt besucht, so zieht es jeden zum Hafen, der einmal im Leben Seemann war. Schneider orientierte sich, verfolgte die Straßen, die vom Hafen in die Kneipenviertel führten. Doch es war noch zu früh, um sich zu besaufen. Und weil er viel Zeit hatte, flogen die Gedanken wieder zurück in die Vergangenheit. *** Holland im Winter. Nebel über flachem Land. Pappelalleen führen an Kanälen entlang zu dampfenden Mooren. Irgendwo steht eine alte Windmühle. Städte wie aus der Puppenschachtel. Matrose Schneider ging an Land, wie es bei der Marine hieß. Er schlenderte durch Rosendaal zu »Finder's Cafeteria« nahe dem Bahnhof. Sie war brechend voll wie immer. Matrosen, Zigarettenqualm, Musik, Gegröle. Er hatte keine Lust hineinzugehen. Im Kino lief nur ein alter UfaSchinken: »Der Postmeister«. Er hatte Hunger, und da gab es einen Geheimtip, eine Bar, wo sie noch Bratkartoffeln mit Spiegelei und Speckwurst servierten. Sie lag an einer einsamen Straße, die nach Osten in die Vorstadt führte. Er wanderte hinaus und fand den Laden erst nicht. Doch dann sickerten rotes Licht und gedämpfte Musik zwischen den Vorhängen hindurch. Er trat ein. Am Gaskamin saßen zwei Mädchen. Eine friesenhaarige strickte, die andere dachte offenbar an Marokko. Be52
stimmt dachte sie an Marokko, denn sie mußte aus dieser Ecke stammen. Schlank und dunkeläugig, trug sie ein Stammesmal auf der Stirn. Mitten darin war eine wybertkleine Raute eintätowiert. Vielleicht eine Prinzessin aus den Kabylen-Bergen? Unter der Bluse hatte sie winzige spitze Brüste. Schneider schaute sich um, dann schaute er sie an und sie ihn. Rasch wandte sie sich wieder ab. Er schob sich an die Bar, trank einen honiggelben Genever. »Gibt es was zu essen?« fragte er höflich. »Nicht viel, Mijnheer. Das Übliche.« Die Dunkelhaarige aus dem Atlasgebirge verschwand in der Küche. Später brachte sie eine Pfanne mit Bratkartoffeln, Spiegelei darüber und ein paar Scheiben Speckwurst rundherum. »Setz dich zu mir«, bat er sie. »Ich bin nur die Serviererin«, antwortete sie auf englisch. »Wie heißt du?« »Sigritta.« »Trinkst du ein Glas Sekt mit mir?« »Nein, danke.« »Ich beiße nicht, Sigritta.« »Wer weiß.« »Eine Zigarette?« Nun lehnte sie nicht ab, blieb aber zurückhaltend. Schneider ahnte, woran es lag. Wenn er eine Schwester gehabt hätte, und ein Russe wäre hereingekommen, weil die russischen Armeen das Ruhrgebiet soeben erobert hätten - sie hätte sich kaum anders verhalten. Auf dem Plattenspieler rotierte eine schwarze Scheibe. Evelyn Künneke sang: »Haben Sie schon mal im Dunkeln 53
geküßt...« »Wollen wir tanzen?« Sie schüttelte den Kopf. »Warum bist du hier?« »Ich mußte fliehen. Atlasbanden haben unser Dorf geplündert.« Stumm setzte sie sich wieder an den Kamin. *** Schneider ging immer wieder in die Bar. War es Hartnäkkigkeit, oder gefiel ihm das Mädchen aus Marokko? Einmal war sie sehr traurig. Er fragte nach dem Grund. Vielleicht, weil er auch traurig wirkte, sagte sie es ihm: »Bekam einen Brief. Mein Verlobter ist in Nordafrika bei Bengasi im Kampf gegen Rommel gefallen.« Und dann geschah etwas, was er nie erwartet hätte. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn die Treppe hinauf nach oben. In einem kleinen Zimmer, das nur mit einem Bett und einem Schrank möbliert und schwach beleuchtet war, legte sie ihre dünnen Arme um seinen Hals, drückte sich an ihn und flüsterte: »Ich möchte, daß du mich jetzt vögelst.« Im Moment verstand Schneider die Welt nicht mehr. »Heute? Obwohl du jetzt weißt, daß dein Verlobter tot ist?« »Ich habe ihn nicht geliebt«, gestand Sigritta. »Ich sollte ihn heiraten, schon als Kind hat man mich verkauft. Für eine Herde Ziegen.« Ein paar Stunden lang vergaß Schneider das Grau des Alltags, seine sich zuspitzende Auseinandersetzung mit Köhler. Die Rifkabylin - gewiß war sie eine verwunschene 54
Stammesprinzessin - faszinierte ihn. Sie war wie eine Droge. Er kam zu ihr, so oft es der Dienst erlaubte, genoß das kurze Stundenglück mit dem Gefühl, daß es nicht lange anhalten konnte. Und so war es auch. Denn was dann geschah, fiel wie ein Beil des Henkers von oben in seinen Nacken. *** Wieder saß Schneider in der kleinen Bar. Zweiter Weihnachtsfeiertag 1941. Weihnachten war zum Nachdenken da. Nie war er das gewesen, was man einen Bestmann nannte oder einen cleveren Jungen. Das überließ er den Berlinern und denen aus Wien. Wenn Schneider etwas tat, dann überlegte er meistens lange. So war er erzogen. Wenn er später Entschei-dungen treffen sollte, bei denen es um viel Geld ging, dann wäre es gut, wenn er gelernt hätte, erst eine Nacht darüber zu schlafen. Auch die Affäre Köhler entwickelte sich ganz langsam und ganz von allein. Sie kam in Fahrt wie eine Lokomotive, die einen schweren Zug über einen langgestreckten Berg zu ziehen hatte. Der kleine Weihnachtsbaum leuchtete im Wachslicht. Draußen fiel Schnee, drinnen herrschte Friede. Es roch nach Christfest, nach Äpfeln, Pfefferkuchen und Plumpudding. Um elf Uhr wurde die Bar geschlossen. Schneider und die Marokkanerin wollten nach oben gehen. Da randalierte jemand an der Tür. Sigritta öffnete noch einmal. Nur einen schmalen Spalt. Ein betrunkener Mariner schob den Fuß dazwischen. Sie wollte die Tür zudrücken, da warfen sich mehrere Männer von draußen dagegen. Und drängten sich herein. 55
Bootsmaate, Obergefreite, Köhler und seine Kumpane. Sie latschten zum Grammophon, zerbrachen eine Platte. Statt des Weihnachtsoratoriums von Bach erklang jetzt Marschmusik. Frohes Fest. Köhler entdeckte Schneider. »Unser Stenz ist auch hier. Scheren Sie sich in die Kaserne, Mann, aber dalli!« Schneider blieb ruhig. »Privat haben Sie mir nichts zu befehlen.« Köhler wollte losbrüllen. Die anderen hielten ihn zurück. Da entdeckte Köhler Sigritta. Er riß sich los. »Moment mal, Kameraden. Seht euch das Niggerweib an, das immer so tut, als wären wir Luft...« »Na ja, ein Malermodell von Rubens ist sie nicht.« Er stand schwankend mitten in der Bar, rot im Gesicht. »Köhler kombiniert!« schrie er. »Der Laden war doch schon abgeschlossen, und unser Martin-Thomas-HannoSchneider-Bube war noch drin. Warum?« Er wandte sich an Sigritta, packte sie am Arm, bog ihn nach hinten, daß das Mädchen in die Knie mußte. »Nun, zwitschere mal, du Schlampe! Ist er vielleicht dein Beschäler?« Der preußische Defiliermarsch donnerte aus dem Lautsprecher. Die anderen wollten Köhler zurückhalten. Sie kannten ihn. Im Rausch war er unberechenbar. »Mach keinen Unsinn, Köhler.« »Laß den Quatsch, Köhler. Laß uns abhaun.« »Es geht dich einen Scheiß an, Köhler, ob sie mit dem Kerl schläft oder nicht.« Aber Köhler hörte nicht auf sie. Wie taub rief er laut und langsam: »Ich will wissen, ob er ihr Zuhälter ist.« Dabei spuckte er Sigritta ins Gesicht. Schneider konnte es nicht mit ansehen. Er stürzte auf 56
den Bootsmaat zu, packte ihn am Kragen und riß ihn von dem Mädchen weg. Sigritta dankte es ihm mit einem verhuschten Blick. Aber er war voller Angst. Sie ahnte, was kommen mußte. Köhler war in der ganzen Stadt als Schläger bekannt. Er versuchte sich gegen Schneiders Griff zu wehren, kam aber erst frei, als er schon in die Ecke gedrängt war. Köhler ballte die Fäuste, nahm Deckung. Seine Kameraden wollten schlichten. »Keine Schlägerei, Männer!« Aber der Bootsmaat sah rot. »Schneider«, zischte er über die Zähne, »Schneider, Sie verlassen sofort das Lokal, oder ich vergesse mich.« »Nach Ihnen, Herr Bootsmaat.« »Das ist ein Befehl.« »Ein solcher Befehl steht nicht in der Marinedienstvorschrift.« Sie tasteten sich mit Blicken ab, als suchten sie beim Gegner eine Blöße. »Ich stelle Sie zum Rapport, Schneider.« »Zu Diensten, Herr Bootsmaat.« Sie gingen gebückt lauernd im Kreis, umtänzelten sich. »Gib's ihm, Köhler!« rief einer. »Du traust dich nicht. Gib's der Rotznase!« Der preußische Defiliermarsch wetterte weiter. Einer hatte den Plattenspieler auf äußerste Lautstärke gestellt. »Brich ihm die Knochen, Köhler. Ich schwöre, daß er schuld ist.« Andere versuchten, sie zu trennen. »Los, gehen wir!« »Jetzt, wo es interessant wird?« Sigritta kauerte hinter der Bar. »Was, ich trau' mich nicht?« tobte Köhler. 57
Seine Augen waren glasig. Er wußte nicht, was er tat. »Ich zähle bis drei, Schneider.« »Schön, zählen Sie, Bootsmaat. Eins ... Gleich werden Sie Dresche kriegen. Wenn Sie mich nur einmal berühren. Nur ein einziges Mal. So zählen Sie doch! Nach eins kommt zwei...« Das war Köhler zuviel. Er griff nach hinten, packte eine Flasche, schlug den Boden ab, schwang den gezackten Rest hoch, wollte ihn auf Schneiders Kopf schmettern. Er verfehlte sein Ziel, weil Schneider blitzschnell zur Seite steppte. Das Glas zersplitterte irgendwo. Köhler wischte sich den Schweiß ab. Da erwischte ihn der Matrose mit dem Handrücken am Hals. Ein unbeabsichtigter Kantenschlag, eine Abwehrreaktion. Köhler taumelte, warf die Arme hoch, saugte Luft ein und fiel wie ein Sack. Mitten in der Bar streckte er alle viere von sich. Er stöhnte und erbrach sich, ehe ihn Bewußtlosigkeit überfiel. »Wer hat gesehen, wie es passiert ist?« fragte einer der Maate. »Ich nicht.« »Ich war pissen.« »Ich auch nicht.« »Keiner also.« Der Ton wurde militärisch. »Matrose Schneider, das war tätlicher Angriff gegen einen Vorgesetzten. Sie werden eingesperrt. Dafür werden wir sorgen.« Lässig zog Schneider den Kamm aus der Tasche, kämmte sich in Ruhe, feilte dann die Nägel. Einer rief einen Wagen, der Köhler ins Krankenrevier bringen sollte. Lärmend zogen sie ab. Schneider küßte Sigritta. 58
»Kann sein, Baby, daß wir uns eine Weile nicht sehen. Wäre schade um jeden Tag.« »Jeder Abend ohne dich wird schmerzlich sein«, flüsterte sie. »Adieu.« Dann ging er. Schneider sah Sigritta nie wieder. Die Maate und Obergefreiten sagten beim Rapport gegen ihn aus. Aber der Kompaniechef war ein gerader Mann. Er kannte Köhler und reimte sich die Wahrheit zusammen. Trotzdem bekam Schneider acht Tage Bau. Zusätzlich erhielt er Urlaubssperre bis zum Ende der Ausbildung im Januar. Anschließend wurden die Bordkommandos verteilt. Schneider mußte zur 1. Minensuchflottille, einer aktiven Einheit. Das bedeutete: erster Fronteinsatz. Sein Boot lief noch in der Nacht aus. Ärmelkanal, Atlantik, Biskaya, Südfrankreich. Im Krieg konnte man nicht reisen, wohin man wollte, man konnte nur gehen, wohin man mußte. Aber Biarritz war nicht anus mundi - der Arsch der Welt. Die Zeit verging. Schließlich vergaß Schneider Sigritta. Köhler vergaß er nie. Soviel wußte er, daß man den Bootsmaat erst zum Bootsmann befördert, dann zu irgendeinem Lehrgang abgeschoben hatte. Danach sollte er auf ein Kampfboot.
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8.
Um 21 Uhr 30 deutscher Sommerzeit liefen fünf Logger aus Le Havre aus. Sie passierten die Mole, hielten Kurs auf die Ansteuerungstonne. Bei »Bagger-Schütt«, wo der Schlamm und der Dreck aus Le Havres Hafenbecken abgeladen wurde, gingen sie auf Süd, dann auf West, 64 Grad. Gegen 22 Uhr erreichten sie den in den Seekarten der Marine als Kurs »Herz-Rot« bezeichneten Dampferkurs. Hier liefen die Frachter von den deutschen Nordseehäfen zur Biskaya, beladen mit Waffen, Munition, U-Boot-Ersatzteilen und Proviant. Der Kommandant des Führungsbootes ließ auf 80 Grad einschwenken. Der Mond kam heraus und machte die Nacht ziemlich hell. »Schnellbootwetter«, sagte der Leutnant zu seinem I WO. Wenig später kam ein Funkspruch: »Funkstelle Fecamp beobachtet Auslaufen englischer Schnellboote aus der Humber-Mündung.« »Das ist weit weg.« »So weit nach Norden kommen wir gar nicht.« »Aber die vielleicht so weit nach Süden.« »Was kostet ein Torpedo? Und was sind wir schon wert?« Die Räumgeräte wurden weggefiert. 60
Sie räumten, wie beinahe jede Nacht, bis hinauf nach Dieppe und Abbeville. *** Von Logger-22 kam ein Blinksignal: »Gerät an Wrack verfangen!« Auf Logger-22 leiteten sie die übliche Routine ein. Erst Rückwärtsfahrt, dann zwei Kreise, um die KFG-Schleife irgendwie vom Wrack freizubekommen. Es gelang nicht. Mit Sägen und Äxten trennten sie Stahltrossen und Kupferkabel vom Heck des Loggers. »Verdammt, wieder 50000 Mark im Arsch«, fluchte der Kommandant von Logger-22, als sei der Schmadding schuld. »Navigationsfehler, Herr Leutnant.« »Oder falsche Seekarten.« »Oder das Wrack ist nicht eingetragen.« »Wessen Schuld? - Meine etwa?« Der Schmadding zog den Kopf zwischen die Schultern und verschwand nach achtem. *** Wenig später lief Logger-19 auf eine Grundmine. Sie explodierte unter dem Heck. Der Stoß trieb einem Matrosen die Beine tief in den Leib. Er stürzte rücklings auf die Winsch und brach sich einiges, das Kreuz oder den Schädel. Jedenfalls blutete er aus und gab kein Zeichen von Leben mehr von sich. Der Kommandant funkte an das Führungsboot: »Liegen gestoppt. Wassereinbruch. Versuchen es mit Lecksegel.« An jedem der Boote hingen auf beiden Seiten riesige 61
dreieckige Lappen aus dreifach geteertem Leinen. Mit Hilfe von Tampen, die an die Reling geknotet waren, konnten sie über die Leckstelle gezogen werden. Eindringendes Wasser preßte die Segel, wenn es gut ging, auf das Loch im Rumpf. Auf Logger-19 versuchten sie alles. Zunächst stand auch der Wassereinbruch. Doch als sie wieder Fahrt aufnahmen, blähte sich das Lecksegel in Richtung Vorschiff auf. Dadurch drückte es noch mehr Wasser durch die Leckage. Ein Matrose mußte ins Wasser, um die aufgeblähte Lecksegelseite festzuzurren. Solange lag der Logger wie eine Zielscheibe in der See, denn die Gruppe war längst weitergelaufen, Nach stundenlanger mühsamer Arbeit gelang es, das Lecksegel so über die Beschädigung im Rumpf zu bringen, daß der Logger wieder Fahrt aufnehmen konnte. »Rückdampf wäre ideal«, meinte der Kommandant zu seinem Leitenden. »Wie weit sind wir vom nächsten Hafen entfernt?« »Elf Meilen.« »Und wie setzt der Strom?« »Gegen uns.« »Mit wieviel Knoten?« »Sechs«, schätzte der Mann am Log, »ablaufende Tide.« »Mit Rückwärtsfahrt schaffen wir gerade mal vier Knoten. Außerdem frißt uns dabei das Stevenrohrlager« Sie versuchten es also mit langsamster Vorwärtsfahrt, um irgendwie vor dem Absaufen Dieppe zu erreichen. »Wir können vielleicht noch beten«, meinte der Kommandant. »Was für ein Gebet wäre passend, Herr Leutnant?« 62
Etwas Besseres fiel ihnen nicht ein als: »Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen...«
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9.
In der Hafenkneipe, die Schneider betrat, spielte eine EinMann-Musette-Kapelle. Mit den Händen quetschte er das Akkordeon, mit den Füßen bediente er einen sinnreichen Schlagzeugapparat. »Parlez mois d'amour« oder »Premier Rendezvous«, das war sein Repertoire. An der Theke lümmelte ein besoffener Matrose. Er hatte schon so viel, daß er Schneider mit du anquatschte. Cognac war auf der Holzplatte verschüttet und verbreitete seinen Duft. »Herr Oberfähnrich, d-du bist so fein in Schale. Sicher nicht vom Lepradampfer«, lallte er. »Aber sonst hat ja keiner Urlaub. S-Sie müssen ja alle raus heute n-nacht. P-Prost, daß wir d-dableiben dürfen.« Er schüttete ein halbes Glas in den Hemdausschnitt, aber der Rest fand sein Ziel. Der Matrose redete weiter: »Vorgestern nacht ist einer abgesoffen. Auf eine E-Mine gelaufen, und päng! Zwei Lords haben sie aufgefischt. Dem einen waren die Z-Zehen da, wo sonst die Kniescheibe sitzt, und der andere trieb ohne H-Hirnschale in der Schwimmweste. Er hat noch gesungen. Cheers!« Der Lord - alle Matrosen der Kriegsmarine nannten sich Lords - hatte eine Flasche vor sich und goß weit daneben. 64
Doch was er ins Glas bekam, genügte, um ihn fertigzumachen. »Weißt du, O-Oberfähnrich, uns p-passiert sowas ja nich... Wenn wi mol hopps gehn, dann auf 'ne ganz kujose Art und Weise. Auf 'ne ganz besonders ulkige T-Tour. Das s-sag' ich dich.« Schneider hörte sich ganz gerne an, was der Mann zu erzählen hatte. Er mochte doppelt so alt sein wie er und wußte gewiß eine ganze Menge über den Logger. Dinge, die er sonst nie erfahren würde. Das Lokal war fast leer. Nur aus dem Nebenzimmer drang ab und zu ein spitzer unterdrückter Schrei, oder ein etwas zu laut geratenes Liebesflüstern. Beischlafähnliche Geräusche, die man kannte und die man überhörte. »O-Oberfähnrich! B-bitte schenk mi ma ein. Ich kann1 s n-nich mehr. Zuviel Z-Zielwasser getrunken.« Dabei lachte der Matrose mit roten listigen Augen. Er hatte den Hemdsärmel hochgekrempelt. Schneider sah, daß er tätowiert war. Wer tätowiert ist, dachte er, der darf sich tätowiert benehmen. Er goß dem alten Lord ein und füllte sich selbst ein Glas. »P-prost auf unseren Dampfer, die N-Nummer29, auf der jede Nacht 30 Männer schlafen. G-gut, wie?« Er kicherte und freute sich darüber wie ein Junge. »D-der beste Zossen der W-Welt, ich schwör's d-dir, ist unser Logger. Es darf nur k-keiner w-wissen. Er hat ein Geheimnis.« Er schaute sich um. Seine Stimme wurde leise, aber er trug ein Schmunzeln um die Lippen, als er fortfuhr: »O-Oberfähnrich, dich s-sag' ich es, weil man mit dich so prima picheln kann. Also ... u-unser Logger, der m-müßte eigentlich längst abgesoffen sein. Längst v-versunken uffm Meeresgrunde ... aber nur theoretisch. Schau mal eine H-Hummel an. Eine H-Hummel, du 65
kennst doch H-Hummeln? Ihre Flügelgröße steht in einem u-unmöglichen Verhältnis zum Gewicht und zur Größe ihres Körpers. Aber sie weiß es nicht, und deshalb fliegt sie. Mit dem L-Logger-29 ist das akkurat g-genau so... Er müßte theoretisch sinken. Ständig s-sinken. Er w-weiß es aber nich, und deshalb schw-schwimmt er. Capito?« »Oui, mon Capitaine!« Schneider schmunzelte über das Unikum von einem Matrosen. »Hoffentlich erfährt er es nie nich.« Der Matrose rückte näher heran. »Pst! Das wissen nur wir zwei. Und von uns erzählt es ihm b-bestimmt keiner weiter. Du kennst den Logger ja nich. Bist vielleicht gar nich von uns. H-hab dich wenigstens bis heute nich gesehn.« Der Matrose erhob sich, schwang seine Mütze, daß die Bänder flogen, und verlangte nach Musik. Zu der Melodie von »Waldeslust« sang er: »Steuermann halt die Wacht«. Das Mädchen hinter der Bar schüttelte sich vor Lachen. »Wo die Kerle nur das Geld herhaben. Mon dieu, immer haben sie die Taschen voll. Der Obersteuermann hat Schulden bis unter die Achseln, und seine Matrosen schwimmen in Francs.« »Wie meinen Sie das?« fragte Schneider erstaunt. »Ach, nur so.« »Na, red schon.« Die Französin schwieg, weil sie fürchtete, schon zuviel gesagt zu haben. Schneider war neugierig geworden und ging die Sache an wie ein gerissener Reporter. »Als Barfrau solltest du froh sein, wenn du Umsatz machst. Was geht es dich an, woher das Geld kommt.« 66
»Richtig«, sie wurde leicht patzig, »aber man macht sich so seine Gedanken. Man hat ja Augen im Kopf, hat man noch.« Leider stockte das Gespräch, weil aus dem Nebenzimmer gerufen wurde. Sie verschwand, kam wieder, holte Likör und trug ihn hinüber. Dann spülte sie Gläser und gesellte sich wieder zu Schneider. Sie wollte reden, er fühlte es, aber nur in Andeutungen, wie es oft Frauenart ist. »Wenn der Obersteuermann so weitermacht, dann bekommt er sie noch rum.« »Wer bekommt wen herum?« Sie zeigte mit einer Kopfbewegung in das Nebenzimmer. »Der Obersteuermann unsere Chefin. Noch nie von Michou gehört?« »Woher sollte ich. Bin erst sieben Stunden in Le Havre. Da kann man nicht alle Schicksen kennen.« Sie beugte sich auf verschränkten Armen über die Theke und erklärte in einem Tonfall, der etwa so war, als würde man den Lehrsatz des Pythagoras erklären wollen: »Michou ist keine solche, wie Sie meinen. Nicht so eine wie ich. Michou gehört der Laden hier, auch das Haus, die Straße, und sie hat es nicht nötig.« »Dann ist Michou fein raus«, spottete er. »Aber was tut man alles für die Kundschaft.« »Michou nicht. Sie hat einen Beschützer. Kennen Sie Bootsmaat Achilles?« Klar kannte er Achilles. Vor kaum einer Stunde war er mit ihm über das Deck von Logger-29 marschiert. »Was hat Achilles mit Michou zu tun, wenn sie sich mit dem Obersteuermann im Séparée lustiert?« »Das ist es ja«, flüsterte sie. »Achilles denkt, Michou 67
gehöre ihm. Er glaubt es, und Michou tut so. Denn wer Achilles als Freund hat, an den traut sich keiner ran. Und deshalb muß Achilles an Bord bleiben, wenn der Obersteuermann Michou an die Wäsche geht.« »Lassen wir ihm den Spaß«, meinte Schneider großzügig. Die Tiefschwarzgefärbte zog den Mund schief. »Meinetwegen auch. Aber was, wenn Pille dahinterkommt?« »Dann gibt es eine Klasse-Abreibung.« Schneider deutete im Regal auf eine Flasche »Châteauneuf du Pape«. »Hol die mal runter. Ich habe Durst. Man kann Schnaps nicht gegen Durst trinken. Mach den Roten auf, Cherie.« Er dachte daran, rauszugehen und den Obersteuermann zu begrüßen. Vielleicht verlieh ihm die Unterbrechung neue Kräfte. Schneider war aber ehrlich genug, einzugestehen, daß ihn eigentlich nur Michou interessierte. »Ich sage dem Obersteuermann mal Servus.« Er wollte sich Flasche und Glas unter den Arm klemmen und verschwinden. »Bleib lieber«, warnte sie ihn. »Warum? Ich möchte meinen Kommandanten begrüßen. Bin fast einen halben Tag in diesem verdammten Nest und möchte endlich meinen Kameraden ...« Schneider sprach schon zuviel und fühlte, daß ihn der Alkohol eigensinnig machte. Dicht ein der Tür zum Nebenzimmer hörte er Musik und eine Frauenstimme, die versuchte, deutsch zu sprechen. Sie klang samtig und warm, dunkel wie ein Cello-Ton. »Nicht hier, mon ami, nicht heute.« Im letzten Moment besann sich Schneider. Ich bin besoffen, dachte er, und er gewiß auch. Nicht 68
der richtige Augenblick, um seinem Kommandanten gegenüberzutreten. Kehrtwendung! Acht Schritte in die Bar hinein. Er schob sich wieder auf den Hocker, goß das Glas randvoll und trank es leer. Der Rote war wie ein Gedicht von Schiller. In Frankreich galt der Rote schon immer soviel wie in Deutschland der Weißwein. Wenn auch 90 Prozent der Produktion unter »Château neuf du Pape« lief, wie zu Hause die »Schwarze Katze« oder »Liebfrauenmilch«. Alles Schwindel. Aber dieser Tropfen war wirklich süperb. »Bring mir Weißbrot und ein wenig Hühnerfleisch, wenn du welches hast«, bat er. Ungeniert fragte sie: »Kannst du bezahlen?« Er zog die Brieftasche. Sie war prallvoll mit Francs. »Die Bank von Le Havre geplündert, mon ami?« »Non, die von Frankreich.« Sie starrte begehrlich auf die vielen großen Scheine. Sein Vater versorgte Schneider immer gut mit fremder Währung. Das war die simple Lösung. Die Französin wunderte sich. »Was verdient ein Korvettenkapitän?« »So an 900 Mark etwa plus Kriegssold. Ich weiß es nicht. Davon kann er die Hälfte umwechseln. Bleiben also eine Menge Francs. Zu einem Bier, zwei am Tag, reicht es bestimmt.« »Ja, bei einem Kapitän. Aber wie kommt es, daß von eurem Logger Matrosen kommen, die in der Woche 2000 Francs rauswerfen und immer noch nicht pleite sind?« Er rechnete. »Das ist ein Gerücht, Mademoiselle. Das ist unmöglich.« »Ich mache hier die Kasse. Ich muß es wissen.« Er hatte den Wein schnell getrunken. Die Flasche war 69
schon bald leer. »Dann mußt du wieder in die Schule gehen, oder ich gebe dir Nachhilfeunterricht in mathematizieren.« Schneider setzte sich an einen der Tische, um seine Ruhe zu haben, um nachdenken zu können. Irgend etwas stimmte da nicht. Wie kamen die Burschen zu den Moneten? Ach Schiet, dachte er. Nicht meine Sorgen. Wenn ich Kommandant wäre auf dem Logger, das wäre etwas anderes. Aber er war nicht der Kommandant... Schneider bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken, daß er es einmal werden könnte.
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10.
Auf Logger-29 trieb der Flottilleningenieur die Reparatur des Diesels mit verbissenem Eifer voran. Die anderen Boote der Flottille legten gruppenweise ab und ritten dahin wie alte Cowboys auf alten Pferden in den Sonnenuntergang, Der Flo.-Ing. wollte schaffen, was er von dem Leitenden gefordert hatte. Er wollte Fink zeigen, was in vier Stunden zu schaffen war. Noch klaffte der Riß im Kühlmantel des achteren Zylinders. Aber der Elektrobohrer hatte seine Arbeit getan. Jetzt schnitten sie grobe Gewinde in das Eisen. Das Pflaster aus Messingblech war zurechtgeschnitten und gebogen, Wergkleber war aufgebracht. Wenn die Schrauben faßten und saßen, dann konnte man prüfen, ob der Verband dicht hielt. Keiner sagte ein Wort in dem düsteren naßkalten Maschinenraum. Ab und zu wurde geflucht, wenn ein Werkzeug auf die Flurplatten fiel. Hinten tropfte Dieselöl aus einem Tank in das Bilgenwasser. Der Ingenieur fühlte den geheimen Widerstand der Besatzung gegen seine Arbeit. Sie bewegten sich müde und renitent, reichten ihm falsche Schlüssel, fanden den Bleihammer nicht. Dann ging wieder mal das Licht aus, 71
weil sich einer mit dem Schuh in der Leitung verfangen hatte. Aber der Flo.-Ing. trotzte ihnen. Selbst wenn er die Arbeit allein tun mußte, der Logger-29 würde um 22 Uhr klar sein. Über die Schulter beobachteten sie ihn, wie er bohrte, anpaßte, schraubte. Jede Handreichung mußte er befehlen. Nachdrücklich. Euch Nieten werde ich es zeigen, dachte er. Als die Gewinde geschnitten waren, sagte er während der Zigarettenpause: »Ihr müßt das verstehen, Männer. Auf jeden kommt es an. Auch auf einen Pißpott wie den euren. Die Engländer werfen jede Nacht Flugzeugminen. Das Fahrwasser muß aber frei sein für die Geleitzüge, für die anderen Verbände, für alles, was durchkommt. Von zehn Booten, die in einer Nacht räumen, schafft das elfte vielleicht eine Mine. Also kommt es auf das elfte Boot an. Und das elfte könnt gerade ihr sein.« »Jawohl, Herr Leutnant«, klang es teilnahmslos. Man konnte nicht in ihren Herzen lesen. Sie sagten »jawohl«, und niemand wußte, was sie wirklich dachten. Ein Glück war das, aber auch ein Unglück. Das Unglück wird zur Blüte kommen, wenn jeder erst weiß, was der andere denkt, überlegte der Offizier. Das ist das Ende der Freiheit. Also besser, die Männer sagten etwas, was niemand kontrollieren konnte. Man mußte versuchen, ihre Gemüter zu bewegen. Man mußte sie beeindrucken. Sie waren jung. Junge Menschen konnte man noch begeistern. In der Begeisterung waren sie vielleicht einen Herzschlag lang ehrlich. Deshalb redete der Flo.-Ing. weiter, als er die Arbeit wieder aufnahm. Obwohl er fühlte, daß es zwecklos war. Es lag wohl daran, daß ihm selbst der Glaube fehlte. Er 72
priesterte nur mit dem Mund. Wie sollte man jungen Menschen auch klarmachen, daß Sterben schön ist? Dennoch versuchte er weiter das Sinnlose: »Von Murmansk bis Kertsch ist das ein einziges kompliziertes Räderwerk, Männer. Da wird etwas geplant, was sich Angriff oder Verteidigung nennt. Jede Granate wird verplant und jeder Liter Sprit. Und das greift auf die Heimat über, weil jede Granate in mühevollen Arbeitsstunden gedreht werden muß. Von eurem Vater vielleicht Jeder Liter Diesel wird in Leuna destilliert, wird irgendwo abgespart, wo er vielleicht auch dringend benötigt wurde. In der Heimat schränken sie sich ein. Unseretwegen. Dieses Malochen und dieses Darben haben schließlich Sinn. Zumindest darf nichts verplempert werden. Es wird in diesem Krieg so viel verplempert.« Ein kleiner Dicker zog den letzten Rauch aus seiner Kippe, schnippte sie fort und meinte' »Es ist nicht mein Krieg, Herr Leutnant.« »Wessen Krieg ist es dann?« Der Heizer zögerte mit der Antwort. »Reden Sie schon Ich bin nicht vom SD«, drängte der Flo.-Ing. Verlegen schwang der Heizer einen Zweiundzwanziger-Schlüssel, ehe er losstotterte: »Herr Leutnant, ich bin achtzehn Jahre. Da fängt das Leben gerade richtig an. Ich war mal in eine Kirchweihschlägerei verwickelt, das ist meine ganze Kampferfahrung. Aber wie soll das mein Krieg sein? Mein Vater ist Schmied auf dem Dorf. Er hat ein Bein verloren. In Masuren unter Hindenburg Meine Mutter hatte sieben Brüder. Davon ist einer übriggeblieben. Sechs fielen vor Verdun und Douaumont. Mein Vater wollte immer noch mehr Kinder, aber meine Mutter dachte an ihre Bruder und sagte basta. So blieb es bei einem 73
einzigen. Bei mir. Können Sie verstehen, daß es nicht mein Krieg ist, nicht der Krieg meiner Eltern und überhaupt nicht unser Krieg. Es ist der Krieg von ein paar fanatischen Bonzen in Berlin oder sonstwo « Der Flottilleningenieur, von den schlichten Argumenten des Jungen erschüttert, versuchte einzuwenden: »Vielleicht müssen wir einen Krieg führen, damit es der letzte ist.« Der Heizer verneinte ungläubig: »Nein, kein Krieg ist der letzte. Nur ein Krieg, der nicht stattfindet, könnte der letzte sein. Fragen Sie eine Kriegerwitwe, was sie davon hält, daß sich Deutschland bis zum Schwarzen Meer ausbreitet. Ihr ist es schnurzpiepe. Und eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat, würde lieber >Heil Moskau!< rufen als >Heil Hitler<, wenn sie dafür ihren Sohn wiederbekäme. Ich behaupte, auch dieser Krieg ändert nichts am nächsten, weil diejenigen, welche den Krieg ausrufen, den Krieg nicht kennen. Entweder haben sie ein verdammt schlechtes Gedächtnis, oder sie halten sich raus, hocken in ihren Luxusbunkern. Es ist eine Niedertracht.« Der kleine Heizer redete sich so in Fahrt, daß der Leutnant ihn unterbrechen mußte. »Holen Sie noch mal von dem Dichtungsmittel.« Der Heizer verschwand. Der Ingenieur arbeitete weiter. Durch Schweigen gestand er seine Niederlage ein Wie sollte er auch erzählen vom Vaterland, von der Lebensraumideologie? Für diesen Käse stand kein Volk mehr auf. Sie bekamen ihn höchstens in den falschen Kanal. »Hoffnungslos, aber net ernst«, alberte einer. Dem Dialekt nach mußte er Österreicher sein Der Leutnant aber fühlte, daß sie jetzt, nachdem er mit ihnen gesprochen hatte, mehr bei der Sache waren. Viel74
leicht hatten sie begriffen, daß auch er nur ein Mann war, der Befehle ausführte, der sich mühsam einen eigenen Reim zu machen versuchte und trotz aller Mühe keinen Vers zustande brachte. Sogar Maat Fink mimte den Eifrigen, wenn er auch vorwiegend nur herumstand und beifällig nickte, wenn eine Schraube faßte. *** Der Sommerabend leuchtete friedensmäßig. Die Regenwolken des Mittags waren im Osten verschwunden. Nur von den Kanalinseln und von der Seinemündung her segelten zerrupfte Wolkenhaufen wie gemächliche Fregatten über den Himmel. Die tiefergehende Sonne färbte sie in kitschiges Schweinchenrosa und die See in Postkartengrün. Die Loggergruppe und die Räumboote waren ausgelaufen. Pille Achilles schaute ihnen nach. Jenseits der Hafenmole hatten sie längst die Kriegsansteuerungstonne passiert und nahmen Kurs Nord. Draußen, eine Meile westlich der Marke »Baggerschütt«, brachten sie das Räumgerät aus. Ein hartes Stück Arbeit für die Besatzungen, die weite Kabelschleife des Räumgerätes für Magnetminen richtig ins Wasser zu lassen. Die wertvollen Kabel verließen über die Heckwulst die Boote. Dann folgten Scherdrachen, die sie auseinanderzogen und aufliefe hielten, damit die Kabel wie ein weiter Ring hinter den Räumern durch das Wasser glitten. Dann schaltete man die Aggregate an und schickte Strom durch die Schleifen. Der Wechselstrom erzeugte magnetische Felder. Darauf sollten die Minen am Meeresgrund reagieren - theoretisch. Manchmal ging eine hoch. Dann wußte man wenigstens, daß welche da 75
waren. Manchmal gingen sie aber auch unter einem Räumboot hoch. Das geschah meistens, wenn die Entmagnetisierung nicht stimmte, wenn irgendwo eine Ankertaumine überfahren worden war oder ein Boot auf eine Treibmine lief, die man in der Nacht nicht sah, weil der Posten auf der Back sowieso schlief. Das waren die Gefahren aus der Tiefe. Von See her drohten englische Schnellboote. Aber diese eleganten, gefährlichen Biester wurden meist auf lohnendere Ziele angesetzt. Was nützte es, wenn eine Räumbootgruppe sie für eine Stunde durcheinanderbrachte? Auf kurze Distanz waren ihnen die Logger an Feuerkraft überlegen, und einen Torpedo für solch alte Eimer zu opfern, lohnte sich kaum. Blieb also noch die Luft übrig. Der Luftraum war ebenso tückisch wie die See. Da gab es Sturm, Unwetter und Nebel. Sturm konnte man vorhersagen. Man wich ihm aus, indem man im Hafen blieb. Bei höherem Seegang war es außerdem unmöglich, Minen zu räumen, Nebel hingegen war gefährlicher. Er kam meist morgens. Man mußte gestoppt liegenbleiben, trieb in den Gezeitenströmen ab. Plötzlich riß dann der Himmel auf, und englische Spitfires waren da. Was meistens in einem Massaker endete. Die Jabos galten als grimme Feinde der Minenräumer und Vorpostenboote. Es gab einmal einen Kommandanten, dem man sein Boot übel zugerichtet hatte. Fast eine halbe Stunde lang waren die Spitfires aus der Sonne angeflogen und hatten ihn mit allem beharkt, was sie in den Rohren hatten. MGs, Kanonen und Bomben. Das Boot hatte sich tapfer gewehrt, aber schließlich waren beide Seiten leergeschossen, und die Spitfires drehten ab. Der Kommandant kam 76
hinter seiner Deckung hervorgekrochen und sah sich die Bescherung an. Dann gab er einen Befehl: »Na dann, Jungs, schließt mal die Feuerlöschschläuche an und spült die rote Scheiße von den Decks.« Weil sich keiner rührte, machte er ein ziemliches Palaver, bis er dahinterkam, daß sie alle entweder tot oder verwundet waren... Jede Seenacht glich einem Roman, in jedem Kapitel war etwas anderes gefällig. Entweder auf der eigenen oder auf der anderen Seite. Einmal ballerte die Fernartillerie von Dover herüber, und man mußte sich vorsehen. Die Briten waren auf jeden Quadratmeter so präzise eingeschossen, daß sie eine Sardinenbüchse trafen, wenn sie ernstlich wollten. Manchmal hörte man aber auch MG-Schüsse in der Ferne. Meist waren das eigene Schnellboote. Oder man sah Feuerblitze am Horizont. Dann flog Hermann-GöringMaiers Luftwaffe einen ihrer selten gewordenen Angriffe auf England. Man war Front im Kanal und doch nur Nebenfront. Richtigen Rabatz gab es nur draußen im Atlantik, wo die U-Boote in manchen Nächten 100 000 Tonnen zu den Fischen schickten. Der Hauptkrieg aber fand in Rußland statt. Dort preschten die Kameraden vor und zurück. Was sie gestern genommen hatten, das ging morgen wieder verloren. Kessel bildeten sich und lösten sich auf, wurden umgangen, abgeriegelt und wieder gesprengt. Allerdings waren in letzter Zeit nicht nur Russen in den Kesseln und die Deutschen außen herum. Immer häufiger lief es umgekehrt. Dann waren die Verlorenen in den Kesseln die eigenen Kameraden. Langsam 77
begann sich das Kriegsglück des Herrn Gröfaz, des größten Führers aller Zeiten, zu wenden. Offiziell wurden nur die Fronten begradigt, hie und da eine Division zurückgenommen. Man hatte ja so viel Raum. »Wir werden schon wieder offensiv«, hieß es dann. Aber die Blätter an den alten Eichen bekamen braune Flecken. Die Sonnenstunden wurden weniger, und die Fröste kamen. Die Blätter vergilbten unter dem Krebsschaden des Herbstes. Bis sie fielen und zu Laub wurden. Zu Eichenlaubmatsch. Aber noch war Sommer. Allerdings Spätsommer... Bootsmaat Pille Achilles stapfte ins U-Logis, um eine Flasche Beck-Bier zu köpfen.
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11.
Schneider konnte durch das Fenster weit über den Hafen blicken. Drüben saßen die Küstenfischer und flickten ihre Netze. Es war ein endloser Kampf. Bei jedem Fang rissen sie wieder, und es gab keinen Ersatz mehr. Nur noch aus alter Gewohnheit fuhren sie immer wieder mit dem unbrauchbaren Handwerkszeug auf die See hinaus. Aus jahrhundertealter Tradition, die sich durch Generationen vererbt - schon zum Instinkt entwickelt hatte. Im Krieg gab es weiß Gott bessere Geschäfte. Geschäfte zum Reichwerden, Das Geld lag auf der Straße. Wer auf Draht war, der hatte alles im Überfluß. Aber oft war es verdammt unanständig, auf Draht zu sein. Schneider sah auch die vernagelten Häuser und den Zaun, der den Kriegshafen absperrte. Plötzlich kam ihm der Einfall. Eine Idee, wie die Männer vom Logger-29 ohne jedes Aufsehen zu dem vielen Geld gekommen sein konnten. Vielleicht würde man es später einmal bemerken, wenn erst wieder Frieden war und die Häuser am Hafen wieder von ihren Eigentümern in Besitz genommen wurden ... Natürlich, so und nicht anders war es gelaufen. Die Männer gingen, wenn sie von Land kamen, immer 79
an den Villen vorbei. Wer wurde da nicht neugierig, was sich hinter den verschlossenen Türen, den Verschlägen oder in den Keltern befand? Alles konnten die Bewohner ja nicht mitgeschleppt haben. Mit der Räumung hatte man ihnen oft nur wenige Stunden Zeit gelassen. Das war die Lösung. Die Männer schlichen sich nachts in die Häuser und plünderten sie aus. Das Beutegut fand überall Absatz. Schneider wandte sich vom Fenster ab und ging in die Michou-Bar zurück. Dabei tastete er sich an den Tischkanten entlang, denn er vermied es, zur Schau zu steilen, wenn er betrunken war. Ein Matrose schlingerte zur Tür herein und schrie: »Immer noch dieselben Nutten?« »Nein, neue«, antwortete eine von den alten. »Alsdann!« rief der Matrose und schnallte sein Koppel ab. »Alsdann klar zum Manöver. Torpedo hart Backbord!« Schneider widerte der Betrieb an. Er fand jedoch nicht die Energie, jetzt schon auf den Logger zu gehen. Was erwartete ihn dort schon! Mief, Dreck, Läuse, Schimmel. Da blieb er schon lieber hier in dem Puff-Laden. Hier roch es wenigstens nach Parfüm, wenn es auch das billigste war . . . *** Die Hafenkneipe füllte sich. Leben kam in die Bude. Der Solomusiker auf dem Podium in der Ecke tat sein Äußerstes. Er verstieg sich sogar in schnelle Rhythmen, die seinen Schlagzeugapparat aber überforderten. Er kam mit den Füßen nicht mehr mit. Anders die Matrosen. In langen weiten Schritten scho80
ben sie durch den Raum, breitbeinig und in den Knien federnd. Wenn gerade keine Dame verfügbar war, tanzten sie alleine. Man zog die Vorhänge zu und schaltete das Licht ein. Die wenigen Lampen waren so diskret rot verdunkelt und so spärlich verteilt, daß sie die richtige Bumsbeleuchtung abgaben, um jede Art von Gefechtsübung zu starten. Die Mädchen zierten sich auch nicht. Hauptsache war, daß reichlich getrunken und Geld ausgegeben wurde. Der Oberfähnrich blieb solo an seinem Tisch. Er war jetzt bei der zweiten Flasche angelangt und döste vor sich hin. Nichts war drin an dem Abend, nichts für ihn. Aber das änderte sich schneller, als er dachte. Eine Colette, eine Pipette oder Jeanette hatten schon versucht, bei ihm Anker zu werfen, aber ihre alten Tricks zogen bei ihm nicht mehr. Jeder Bewegung, jedem Wort der Mädchen konnte man entnehmen, worauf es hinauslief. Sie trugen ihre Absichten wie ihre Titten zur Schau. Die Absichten verstimmten ihn. Er trank weiter. Schließlich versuchte es keine mehr. Bis auf eine. Schneider hatte sie vorher noch nie gesehen. Sie setzte sich zu ihm, weil zufällig der leere Stuhl im Wege stand. Sie versuchte keine Annäherung, sondern drehte ihm den halbnackten Rücken zu. Sie nahm keine Notiz von ihm. Schwer atmend brachte sie ihre Frisur, eine Fülle von Tizianhaar, in Ordnung. Sie war ziemlich außer Fasson, obwohl Schneider sich nicht erinnern konnte, daß sie mit einem der Matrosen geschwoft hätte. Ohne zu fragen langte sie nach seinem Glas und leerte es in einem Zug. Schneider wunderte sich über nichts. Er füllte das Glas 81
wieder, stellte es nur ein wenig deutlicher in seine Nähe, was signalisieren sollte, eigentlich ist es mein Rotwein, und ich habe dich nicht eingeladen. Als sie eine Zigarette aus ihrem Etui nahm, übersah er es und reichte ihr kein Feuer. Wozu auch? Hier galten nicht die Sitten der besseren Gesellschaft. Schneider brachte es aber nur kurze Zeit fertig, über diese Frau hinwegzusehen. Ungewollt fraßen sich seine Blicke an ihr fest. Sie hatte etwas Besonderes. Keine grelle Schminke machte ihr Gesicht hübsch, sondern die Form ihres Profils und die Rasse der Züge. Der Ansatz des Haares, der Schnitt der Augen, die Haltung des Halses, die natürliche, nicht einstudierte Grazie, mit der sie auf dem Stuhl saß und dem Betrieb folgte. Die Musette-Musik hörte auf, begann wieder von neuem. Die Matrosen wechselten die Mädchen, suchten neue Partnerinnen in der Runde. Aber keiner kam zu dem Mädchen an Schneiders Tisch. Sie schien tabu zu sein. Sie drückte ihre Zigarette halb geraucht aus und wandte sich an den Oberfähnrich: »Komm tanzen!« Sie sprach deutsch. »Merci«, antwortete er auf französisch, »mais non, ich habe keine Lust.« Erstaunt blickte sie ihn an, nahm sich eine neue Zigarette aus der Dose und bediente nervös ihr goldenes Feuerzeug. »C'est drôle! Pourquoi vous êtes ici? Komisch, warum sind Sie dann hier?« »Warum ich hier bin«, wiederholte er ihre Frage. »Auf keinen Fall, um bei diesem albernen Ringelpiez mitzumachen.« »Was ist Ringelpiez, s'il vous plaît?« Er versuchte, das Wort Ringelpiez zu übersetzen. Was 82
mißlang. Anschließend gestand er ihr noch, daß er keinerlei Absichten mit ihr habe und jede Bemühung um seine Person als Zeitverschwendung betrachte. Das Mädchen winkte lässig ab. Man brachte ihr ein Sektglas und eine Flasche Champagner. »Darf ich dich einladen?« fragte sie. »Stürz dich meinetwegen nicht in Unkosten«, erwiderte er, »ich bleibe bei Rotwein. Die halbe Flasche reicht mir bis Oberkante Unterlippe.« Schließlich kannte er die Touren dieser Animiermädchen. Man süffelte sündteuren Sekt wie ausgepichte Bierkutscher, und am Ende hieß es bezahlen. Er war nicht kleinlich in solchen Dingen, aber er schätzte es, seine Gäste selbst auszuwählen und einzuladen. Was nicht hieß, daß er das tizianrote Wesen abgelehnt hätte. Im Gegenteil. Ihm mißfiel nur die Anmache. Verzieh dich, Schneider, dachte er, irgendwohin, wo es ruhiger ist. In ein Hotel, in ein Kino, wo man schlafen kann. Nur nicht an Bord. Bloß nicht dahin. Das Mädchen an seinem Tisch süffelte den Sekt in einer professionellen Geschwindigkeit, mit der er nicht gerechnet hatte, »Du nimmst mich wohl nicht für voll, Monsieur blonder Etrusker?« lallte sie zwischendurch. Er winkte geringschätzig ab. »An deiner Stelle würde ich einen Mann wie mich nicht für voll nehmen.« »Und warum sollte ich das?« Sie hatte die Flasche endgültig geleert. »Weil ich ein absolut unamüsanter Mensch bin. Ein Kerl, der viel lieber in der Nacht spazierengeht, als in solchen Bruchbuden seinen Verstand zu versaufen.« Schneider rief nach der Bedienung. »Zahlen! Payer!« Sie kam und rechnete zusammen, aber die Tizianrote zerriß die Rechnung. 83
Als er sich erheben wollte, fragte das sonderbare Mädchen an seinem Tisch: »Und warum gehen wir nicht zusammen in der Nacht spazieren?« Damit hatte er nicht gerechnet. »Schade um die Mühe. Du solltest dein Geschäft nicht vernachlässigen, ma petite. Ich finde allein meinen Weg.« Sie stand ebenfalls auf. Er überragte sie um Haupteslänge. Es war etwas an ihr, das einen Mann faszinieren mußte. Es war nicht das knapp sitzende Kleid, das ihre Reize freigiebig darbot, es war etwas anderes. »Ich hole nur meinen Mantel«, sagte sie schnell. Meinetwegen, ist mir schnurzegal, dachte er. Ich werde dich schneller loshaben, als du dich umdrehst. Ich gehe mit dir zum Place de l'Opera und zurück, dann zur Sperre. Da lassen sie keine Französin ohne Ausweis durch. Ich werde so tun, als würde ich es bedauern und dich heimschicken, zu Maman et Papa. Sie erschien fertig angezogen. Im Nerz. Nicht gewebt, sondern echt. Nicht mottig, sondern wie neu. »Mein Name ist Schneider«, erwähnte er nebenhin. »Und ich bin Michou.« *** »Stellen Sie den Kompressor an!« befahl der Flottilleningenieur. Sie machten Druckluft für die Hauptmaschine. Der erste Heizer rollte rotes Zündpapier zusammen und schob es in den Zündkanal der Zylinderköpfe. Der alte Diesel brauchte diese Starthilfe, sonst kam er nicht in Schwung. Der Druck im Luftbehälter stieg an. Sie öffneten die Ventile. Die Schiffsmaschine bekam den Stiem in die Zy84
linder und begann zu drehen. Langsam, zäh, zischend. Das Schwungrad ruckte, rotierte. Allmählich kam es auf Touren. Dann zündete der erste Hub. Andere folgten. Ruck-tuck, Auspuffgase drangen in den Raum. Tucktuck, der Diesel arbeitete tatsächlich. 20 U-min ... 50 U-min ... Die Wasserpumpe lief mit und füllte den Kühlmantel. »Jetzt wird es sich zeigen.« »Daß es nicht hält«, lästerte Fink, der Leitende. Der Flo.-Ing. sah ihn an, schräg von unten und doch siegesgewiß. »Und wenn ich den Riß mit Leukoplast kleben muß, Sie fahren heute noch zur See.« »Jawohl, Herr Leutnant. Ich werde einen Mann abstellen, der die ganze Nacht lang seine Hand draufhält.« In dem engen Maschinenraum herrschte gereizte Stimmung. »Überlegen Sie sich, was Sie sagen, Maschinenmaat Fink. Ich entsinne mich nicht, Sie um ihre Meinung gefragt zu haben.« Der Kühlwasserstand kletterte auf Normalhöhe. Das Wasser bekam Temperatur und Druck. Aus der Flickenstelle perlte es rostig. Aber es war weniger, als der Flo.Ing. erwartet hatte. Der Riß verlor unter seinem Verband kaum nennenswert Flüssigkeit. Ein paar Tropfen nur. »Das hält bis zum Jüngsten Tag«, triumphierte der Leutnant. »Mindestens«, pflichtete ihm Fink höhnisch bei. Er war der Blamierte. Nach dem Probelauf stellten sie die Hauptmaschine ab. Der Flottilleningenieur wischte sich die Hände an Twist sauber. »In einer Stunde sind Sie seeklar, Fink!« 85
»Auf Ihre Verantwortung, Herr Leutnant.« Eigentlich wollte der Offizier den Maschinenmaat für seine widerborstige Haltung zusammenscheißen, aber er beherrschte sich. »Sie irren sich, Fink. Es geht auf Ihre Verantwortung. Sie sind der Leitende. Zumindest tun Sie so. Ich melde dem Hafenkommandanten, daß Sie nach 22 Uhr in See gehen. Alles Weitere erfährt der Kommandant direkt von der Sicherungsdivision. Dann rufe ich die Feldgendarmerie an. Sie soll den Loggerhaufen zusammentrommeln. Wo hält sich die Besatzung meistens auf?« »Das ist verschieden.« »Reden Sie keinen Stuß, Maat. Was ist eure Stammkneipe?« »Bei Michou.« Der Offizier musterte das Maschinenpersonal mit einem Blick, der alles ausdrückte. Alles, was er über sie dachte und was man einem Soldaten mit Worten gar nicht ins Gesicht schleudern konnte. Dann grüßte er und kletterte durch den Niedergang zum Oberdeck...
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12.
Madame Michou faßte Schneider unter dem Arm und schob ihn zum Ausgang der Bar. Der Rabatz steigerte sich drinnen ohne Pause auf Hochtouren. Bloß raus, dachte der Oberfähnrich. Frische Luft und Stille, sonst gehe ich noch in die Binsen. Da berührte jemand von hinten seine Schulter. Schneider, schon den Türgriff in der Hand, wollte sich nicht mehr zurückhalten lassen. Dann hörte er die Stimme: »Haben Sie mal Feuer, Oberfähnrich?« Wie eine kaputte Baßgeige klang das. Woher kannte er nur diese Stimme? Erschrocken schüttelte er die Hand ab. Ohne sich umzusehen, ging er weiter. »Warten Sie einen Augenblick, Oberfähnrich!« Jetzt durchfuhr es Schneider wie ein elektrischer Schlag. Genau das war der Originalton. Es klang wie: »Gasmasken auf! Ein Lied!« Pomadig drehte er sich. Nicht zu fassen. Er rieb sich die Augen. Wie konnte das Unglaubliche wahr sein? Er stand einem untersetzten drahtigen Mann gegenüber, schwarzhaarig und unrasiert, mit rotgeränderten 87
Augen. Schneider starrte in das verlebte Gesicht Köhlers. Die Überraschung war auf beiden Seiten gleich groß. Sie wurde für beide zum Schock. Der Obersteuermann kniff die Lippen schmal. »Also doch. Ich wollte nur wissen, ob ich mich nicht irre«, preßte er heraus. Jetzt erst schien er Michou am Arm Schneiders zu entdecken. »Zum Teufel, haben uns lange nicht gesehen«, sagte der Ex-Ausbilder Köhler mit blankem Haß in den Augen. Brutal riß er das Mädchen von Schneiders Arm. Schneider befahl sich eiserne Beherrschung. Er mußte die Situation in die Hand bekommen. Köhler stand zwar im Dienstgrad unter ihm, war aber trotzdem sein Kommandant. Das wurde ihm schlagartig bewußt. Ganz ruhig entgegnete Schneider: »18 Monate, Obersteuermann, liegt die Hölle hinter uns. Offenbar erinnern Sie sich noch gut.« Köhler verstand. Grob, mit einer Bewegung, mit der man keinen Hund fortjagt, stieß er Michou weg. »Hau ab, du Nutte!« Köhler war schlimmer betrunken als jemals in Rosendaal. Seine Worte kamen unzusammenhängend und stockend. Aber sein Zorn beim Anblick des Oberfähnrichs war ungebrochen. »Ich wette, daß ich mich gleich mit jemandem schlagen werde, der noch die Eierschalen am Arsch hat.« »Hier vor allen Leuten«, höhnte Schneider, »wollen Sie k. o. gehen?« Er wußte, wie es enden würde. Einer von ihnen blieb gewiß auf der Strecke. Das war sicher. War ihm seine Ab88
scheu das wert? Gab es nicht andere Wege? Aber Köhler verhinderte jede andere Möglichkeit. Zwar war er Schneider beim Boxen unterlegen, aber mit roher Gewalt, mit dem Messer vielleicht, konnte er den Jüngeren besiegen. »Los, gehen wir raus!« entschied der Obersteuermann. Schneider legte die Mütze in die Garderobe und schnallte den Marinedolch ab. Ungeduldig packte ihn Köhler am Arm. Schneider fühlte, wie sich Fingernägel in den Stoff krallten, spürte, wie der Obersteuermann vor rasender Wut zitterte, als sie nebeneinander herschwankten und sich dabei berührten. Sie öffneten die Toilettentür und verschlossen sie hinter sich. Der Obersteuermann war jetzt kalkweiß im Gesicht. Am Waschbecken lehnend ballte er die Fäuste. Eine Hand nahm er zur Verteidigung ans Kinn, die andere zuckte in tastenden Luftschlägen. »Komm an!« zischte er. »Komm endlich an!« Schneider beobachtete zunächst kühl. Köhler sollte angreifen. Er wollte ihm den ersten Schlag lassen. Der Obersteuermann wartete ab, dann fightete er. Er stürzte vor, schlug gegen Schneiders Kopf, prallte aber an dessen Deckung ab und zog sich lauernd zurück. Schneider wiegte tänzelnd den Oberkörper. Wieder schlug Köhler zu. Diesmal versuchte er es mit einem Schwinger aus der Tiefe, den Schneider abfälschte. Der Obersteuermann hatte ihn in der Nierengegend erwischt. Schneider fühlte den dumpfen Schmerz. Das brachte ihn in Fahrt. Als Köhler wieder kam, knockte er ihn in das empfindliche Dreieck über der Magengrube. Köhler zeigte keine Wirkung, stand da wie aus Erz gegossen. Doch plötzlich zog er tief Luft ein und röchelte. Er ließ seine Deckung fallen und stützte sich auf das Pissoir. 89
»Das war ein hundsbrutaler Schlag, Schneider«, keuchte er, »ein ganz gemeiner.« Der Kopf sackte ihm herunter, und Schneider frohlockte. Er dachte an die Zeit in Rosendaal. Köhler hatte immer Weißbrot bekommen, weil er Schwierigkeiten mit dem Magen halte. Das war jetzt die Quittung. Schneider musterte seinen Gegner kritisch. Konnte es sich um eine Finte handeln? Stürzte sich der andere vielleicht auf ihn, wenn er ungedeckt näherkam ... Aber dann sah er das Blut, das zwischen den Zähnen Köhlers hervorsickerte. Das Blut kam nicht von den Lippen. Schneider hatte nur diesen einzigen Magenschlag gelandet. Draußen war es mit einemmal still geworden. Keine Musik mehr, kein Laut. Was war los? Schon hämmerte es an die Toilettentür. »Aufmachen! Feldgendarmerie! Aufmachen!« Sie rüttelten am Türgriff. Sie würden die Tür aufbrechen, wenn er nicht öffnete. Schneider schaute zu Köhler. Der Obersteuermann war total fertig, schöpfte jetzt mit der Hand Wasser und wusch sich Mund und Gesicht. »Mach auf, Mensch!« keuchte er. Schneider entriegelte. Ein Feldwebel mit Stahlhelm und Blechschild trat ein. »Was ist hier los?« »Nichts. Dem Obersteuermann ist schlecht, er ist am Kotzen.« Der Streifenführer sah sich um. »Kann er das nicht alleine? Ach, du bist's, Köhler.« Der Obersteuermann hatte die Augen geschlossen. Sein Binder hing schief, und der oberste Hemdknopf war 90
abgeplatzt. »Danke, es geht schon wieder.« »Hoffentlich«, sagte der Feldgendarm. »Ihr müßt sofort an Bord. Befehl von der Flottille. Auslaufen noch vor Mittemacht.« »Scheiße«, quittierte der Obersteuermann die Neuigkeit. Dabei versuchte er nüchtern zu erscheinen. Den Rausch zu unterdrücken wäre ihm nicht schwergefallen, darin hatte er Übung, aber die Leibschmerzen machten ihm Probleme. Sie blieben und stiegen immer heißer in ihm hoch. Köhler tastete sich, möglichst aufrecht gehend, aus dem Waschraum. Mit Schneiders Hilfe rechnete er nicht und hätte sie auch abgelehnt. In der Garderobe suchte er nach seiner Mütze. Auch Schneider machte sich fertig. Dann schnappte er sich zwei Matrosen, die eben gehen wollten, und sprach sie an: »Ihr seid vom Logger-29?« »Ja, leider.« »Dann sorgt dafür, daß der Obersteuermann so schnell wie möglich an Bord kommt. Dort schafft ihr ihn in seine Kammer. Sagt ihm, daß ich bei der Flottille anrufe, damit wir wissen, was los ist. Bootsmaat Achilles soll klarmachen zum Ablegen. Ich kann mich darauf verlassen?« »Sie können, Herr Oberfähnrich.« Die Michou-Bar leerte sich. Die Mädchen blieben arbeitslos und gähnend zurück. Schneider wartete in der Bar, bis der letzte Seemann verschwunden war. »Gib mir schnell noch ein Soda«, bat er eines der Mädchen. »Ich habe einen Brand wie ein Hochofen, Und einen Mokka.« Er stürzte beides hinunter. 91
»Für mich auch ein Soda«, sagte ein Leutnant der Infanterie. Er hatte den Stahlhelm ins Genick geschoben, aber er durfte ihn nicht ablegen. Er war offenbar vo m Streifendienst. »In all dem Eisen fühlt man sich wie Hermes persönlich«, wandte er sich an Schneider. »Prost Hermes!« Schneider hob sein Sodaglas. Der Leutnant kratzte sich am Hals, schimpfte auf die Hitze und auf die Mühe, die man mit den Marinern immer hatte. »Sind Sie auch von Logger-29?« »Seit heute mittag. Bin heute erst eingestiegen und folglich unschuldig.« Der Infanterist lachte nicht einen Zentimeter. »Mit keinem Haufen haben wir soviel Arbeit wie mit diesem Scheiß Logger. Lauter Rowdies und Ganoven. Jetzt habe ich sogar noch einen Durchsuchungsbefehl für das Schiff. Man vermutet Plünderungsgut an Bord. Es ist in Massen auf dem schwarzen Markt abgesetzt worden. Francs, Gold, Schmuck, Kunstgegenstände. Eine Spur führt auf diesen verdammten Kasten.« »Dann tun Sie Ihre Pflicht«, riet ihm Schneider. »Ist verschoben auf morgen«, erzählte ihm der Leutnant vertraulich. »Morgen, wenn sie einlaufen, nehmen wir sie in Empfang. Gleich am Pier.« »Dann fette Beute!« wünschte Schneider. Der Streifenoffizier verdrückte sich. Man hörte die Nagelstiefel vor dem Haus, wie sie die Straße hinuntermarschierten. So weit ist es also, dachte Schneider. Mit Dieben, Räubern, Zuchthäuslern, Betrunkenen und total unfähigem Gesocks werde ich jetzt gleich zur See fahren. Heute nacht und wer weiß wie viele Nächte danach ... Bis der Dampfer auseinanderfällt. Oder sie sich alle gegenseitig 92
umbringen. Oder im Suff den Kurs falsch absetzen und im Alleingang gegen England dampfen. »Schade, nichts gewesen mit unserem Spaziergang.« Die Stimme dicht neben ihm klang dunkel »Leider, Michou«, bedauerte er. Vorhin halte es ihn kaltgelassen. Aber jetzt, jetzt hätte er etwas dafür gegeben, zwei Stunden lang mit ihr durch die Nacht zu laufen. Nur laufen und schweigen und wissen, daß andere auch nichts anderes wollten. »Ich warte auf dich morgen abend«, versprach sie leise. »Und wenn es regnet?« »Auch wenn es regnet.«
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13.
Es war kurz vor 22 Uhr. Schneider lief am Kai hinauf zum Flottillenbüro. Der Adjutant übergab ihm die Schlüsseleinstellung für den Funkverkehr, die Anweisung, wo sie um Mitternacht auf die Loggergruppe stoßen konnten, und die Liste, welche Küstenfeuer brannten. Nachdem er Schneider ein Stück begleitet hatte, verließ er ihn vor seinem Quartier mit den besten Wünschen. »Sehen Sie zu, daß die Nummer 29 nicht wieder Mist baut.« »Soweit es von mir abhängt und nicht vom Kommandanten«, erwiderte Schneider, »gern.« Der Leutnant nickte, ohne seine Meinung genauer zu definieren. »Wie lange ist Köhler schon bei der Flottille?« wollte Schneider wissen. »Zehn Monate etwa. Ein grimmiger Bursche. Seine Leute mögen ihn. Ein Angeber, aber nüchtern ist er ganz brauchbar. Nur von Navigation hat er null Ahnung. Er kam damals direkt von der Steuermannsschule zu uns. Sie können sich denken, warum. Wen versetzt man schon zur Achtunddreißigsten!« »Na eben«, sagte Schneider. »Aber wir wollen ja auch 94
nichts werden bei der Flotte. Sie etwa?« Der Adjutant winkte entsetzt ab. »Ich? Ich bin von Beruf Jazz-Pianist. Sie können sich vorstellen, wieviel mir an der Marine liegt und am Krieg im besonderen.« Der Adjutant wandte sich noch einmal um. »Sie kennen doch die Redensart: Er war Sohn anständiger Eltern, sank von Stufe zu Stufe und wurde schließlich Marineoffizier.« Sie lachten. Jeder ging seinen Weg ... Ehe Schneider sich über die Schleuse tastete, weckte er den Wärter. Er mußte mehrmals läuten und an die Fenster klopfen, ehe der Franzose wach wurde. Er hörte den Alten schimpfen und sah, wie sich der Greis aus dem ersten Schlaf herausgähnte. Schneider schrie: »Wir schleusen in 15 Minuten durch. Mach schon das Innentor auf.« Der Wärter brummte etwas. Schneider schenkte ihm für die Nachtarbeit ein paar Zigaretten. Dann eilte er weiter um das Werftbecken herum zu seinem Boot. *** Das Dunkel war inzwischen undurchdringlich geworden. Nur der Schein huschender Taschenlampen verriet, daß Leben auf dem Logger herrschte. Schneider wußte, was an Bord jetzt ablief. Oft genug hatte er es selbst erlebt - die Arbeit und die immer wieder aufkommende Spannung, wenn das Schiff seeklar machte. Die Handgriffe und die Vorbereitungen waren stets die gleichen. Trotzdem war es immer wieder der Beginn eines neuen Abenteuers. Was hatte die See in Bereitschaft? Flaute oder Sturm, Regen oder Nebel? Nie 95
glich eine Nacht der anderen. Nie war es wie auf einer Landstraße, die man entlangfuhr. Es war jedesmal anders. Wenn die Seeleute von Land kamen, dann fluchten sie so lange, bis sie die Stelling überschritten hatten, die schmale Gangway vom Pier auf die Planken ihres Schiffes. Waren sie erst an Bord, hatte das Fluchen keinen Sinn mehr. Dann war alles unabänderlich. Das Schiff nahm sie gefangen. Sie kletterten in die niederen Decks, schälten sich aus ihrer Landgarnitur und warfen sich in das drecksteife Ar beitszeug. Darüber zogen sie ihre Jumper und Lederjakken. Ein Frotteehandtuch wurde als Schal um den Hals gewickelt. Die Freiwache rollte sich in die Kojen, die anderen klarten die Decks auf. Die Heizer begannen die Landanschlüsse abzubauen. Licht und Wasser schalteten auf Eigenversorgung, Die Motoren der Hilfsaggregate liefen. Tief im Rumpf sprang die Kreiselmutter an und pendelte sich bei 28 000 Touren parallel zur Erdachse ein. Per Kabel übertrug sie die Kompaßwerte auf die Töchter in den Brückennocks und im Ruderhaus. Auf feinen Schiffen hatte sogar der Kommandant eine Kreiseltochter über der Matratze hängen, damit er den Kurs überwachen konnte, sofern er geübt war, mit offenen Augen zu schlafen. Logger-29 verfügte allerdings nur über einen schlecht kompensierten Magnetkompaß. Aber man fuhr ja meist im Verband und verließ sich navigationsmäßig auf den Gruppenführer. Der Fall, daß ein Boot alleine in See ging und in einem schwierigen Gewässer, beispielsweise der Seestraße zwischen Dover und Calais, auf sich gestellt sei96
ne Flottille zu finden hatte, kam selten vor. Jedem anderen Pott seiner Gruppe hätte der Flottillenchef zugestanden, diese Nacht im Hafen zu verbringen. Nur dem Logger-29 nicht. Der war ein Neutrum. So kam Stunden später alles zusammen, was notwendig war, um den Logger auf eine harte Probe zu stellen. Schicksalsfäden, vor einem Menschenalter in der Bauwerft gesponnen, liefen in dieser Nacht aufeinander zu, trafen sich und schlangen sich zu einem Knoten. Dieser Knoten, der geheimnisvoll in der Lebenslinie des Loggers lag, war nahe. Nach Mitternacht, in der Zeit zwischen Hundewache und erster Dämmerung, sollte er auftauchen und tödliche Verwirrung stiften. Aber kein Mensch ahnte etwas. Hätte es jemand vorhergesagt, mein hätte ihn ausgelacht, einen Phantasten oder einen Lügner gescholten. Und man wäre erst recht hinausgefahren. Zum Trotz. Weil keiner seinem Schicksal entgeht... *** Der Oberfähnrich stieg als letzter an Bord. Der Posten war schon abgezogen. Hinter ihm rollten die Matrosen der Steuerbordwache die Stelling ein. »Klar zum Ablegen!« meldete Bootsmaat Achilles. »Wo ist der Kommandant?« fragte Schneider. »Wir haben ihn in seine Kammer gebracht.« »Zustand?« »Angetötet.« »Er ruhe sanft. Geben Sie an Maschine: In fünf Minuten klar zum Manöver.« Schneider hatte instinktiv die Rolle des ersten Wachoffiziers übernommen. Wenn der Kommandant nicht ein97
satzfähig war, dann mußte er den Logger zu der Gruppe bringen. Klar wie Bohnensuppe. Entscheidend war, daß der Einsatzbefehl ausgeführt wurde. Schneider kletterte den achteren Niedergang abwärts und zog sich in seiner Kammer um. Ein Matrose war dabei, die Bulleyes dicht zu schrauben und abzublenden. In dunklen Seenächten durfte kein Lichtschimmer aus dem Schiff dringen. Selbst Zigarettenglut war meilenweit durch die Nachtgläser zu erkennen. Schneider hatte nur einen Teil seines Gepäcks an Bord. Deshalb hatte ihm Bootsmaat Achilles eine lange Lederjacke aus Bordbeständen in die Kammer gelegt. Gewohnheitsgemäß nahm Schneider die Brieftasche an sich, das feine Saffianbehältnis mit Soldbuch, ein paar Bildern und Geld. In die Außentasche der Lederjacke schob er eine Packung Zigaretten und Streichhölzer. Minensucher gingen auf See nur dann unter Deck, wenn es unbedingt sein mußte. Eine Minenexplosion überlebte man unter Deck selten. Das Brückenpersonal machte sowieso ununterbrochen Dienst. Vom Ablegen bis zum Festmachen. Schneider schlang den blauen Wollschal um den Hals und war soweit. An Oberdeck schlingerte der Schmadding auf ihn zu: »Ihre Schwimmweste, Herr Oberfähnrich, und der Stahlhelm.« »Welche Größe?« »Ich glaube 60.« »Dann paßt er. Ich habe 58. Gut geschätzt.« Schneider griff sich den eisernen Hut und die Schwimmweste. Der gelbe Luftsack roch wie alle Schwimmwesten nach Gummi und dem Holz verrauchter Personenzugabteile. 98
»Ich habe eine neue Preßluftpatrone angeschraubt«, hörte er den Bootsmaat noch. »Danke.« Schneider kletterte den Niedergang zur Brücke hoch. Droben lief er um das Ruderhaus in die Backbordnock an der Pierseite. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Die Kräne, Masten und Schornsteine anderer Schiffe wuchsen schwer in die Nacht. Doch bis auf Logger-29 lagen alle in tiefem Schlaf. Im Osten kam zögernd das Halboval des abnehmenden Mondes über den Hellingdächern heraus. Es war so blaß, als sei der Mond an Lungenentzündung erkrankt. Schneider klemmte sich in den Autositz. Der Kompaß auf seiner Seite leuchtete matt. Der Rudergänger hatte sein Licht ebenfalls auf kleine Stufe geschaltet. Der Posten am Maschinentelegrafen stand bewegungslos wie eine Statue. Der Steuermannsgast meldete die Brücke klar. »Setzen Sie den Kurs ab wie folgt: Kriegsansteuerungstonne, Baggerschütt, dann Kurs >Herz-Rot< bis Dieppe. Ich habe mir das vorhin auf der Karte angesehen. Achten Sie auf die Wracks und Untiefen. Um Mitternacht kriegen wir Niedrigwasser. Im Augenblick herrscht starke Stromversetzung.« »Jawohl, Herr Oberfähnrich!« »Hier ist die Liste der Küstenbefeuerung.« Der Obergefreite wollte schon ins Kartenhaus verschwinden. »Noch etwas! Rufen Sie den Funker für die Schlüsseleinstellung.« Schneider ließ sich vom Signaldeck ein Nachtglas herunterreichen und wanderte auf die andere Seite der Brükke. Dort sah er die Umrisse einer zusammengefallenen 99
Gestalt im Autositz der Steuerbordnock kauern. Der Schatten bewegte sich nach vom, als würde er hinunterfallen, sich wieder fangen und mühsam aufrichten. Schneider fühlte, wie ihn zwei rotgeränderte Augen anstarrten. Eine zerfressene Stimme schnarrte: »Wollen Sie keine Meldung machen, Oberfähnrich? Noch bin ich der Kommandant.« Schneider legte die Hand an die Mütze. »Brücke und Deck klar zum Manöver.« »Danke. Fahren Sie das Manöver. Ich kümmere mich um die Navigation.« O Gott, dachte Schneider. In jedem Fall war es eine Gemeinheit, eine Zumutung für einen Kommandantenschüler, das Ablegemanöver mit einem Boot zu fahren, das er noch nicht kannte. Und das bei Nacht. Aber Köhler war sich offenbar bewußt, wie betrunken er war. In diesem Zustand traute er dem Oberfähnrich mehr zu als sich selbst. Schneider, der nicht damit gerechnet hatte, Köhler auf der Brücke zu finden, war es recht. Als Matrose war er auf jeder Sorte von Fischdampfer gefahren, schon als Fähnrich war er selbständig seine Wache gegangen. Außerdem war ein Fischdampfer etwas anderes als ein Logger. Er würde die Nummer 29 gewiß ohne Ramming in See bringen. Er setzte die Signalpfeife an. Pfiff klar zum Ablegen. Der Bordscheinwerfer ging an. »Ablegen!« Die Männer an Deck, achtern und auf der Back, lösten die Festmacher von den Pollern. »Alle Leinen los bis auf achtere Spring!« 100
»Sind los«, meldete Achilles, »und über.« Schneider gab den Maschinenbefehl: »Maschine langsame Fahrt zurück! Ruder Steuerbord fünfzehn!« Der Maschinentelegraf klingelte. Der Diesel sprang an. Heckwasser schäumte unter der Schraubendrehung. Der Bug scherte von der Kaimauer, denn achtern festgehalten zog die Maschinenkraft den Logger in die einzig mögliche Richtung. Seine Nase wanderte langsam nach Steuerbord. Als sie in die Mitte des Werftbeckens wies, gab Schneider das nächste Kommando: »Maschine stop. Ruder mittschiffs, Spring loswerfen!« »Spring ist los!« Dann pfiff der Oberfähnrich das Manöver ab. »Maschine langsame Fahrt voraus!« Der Telegraf schepperte wieder. Der Logger nahm Bewegung auf. Diesmal vorwärts. Behäbig tuckerte er auf die Schleuse zu. »Visieren Sie die Einfahrt an!« befahl Schneider dem Rudergänger. »Etwas mehr steuerbord. Recht so. Jetzt stütz. Maschine stop, Scheinwerfer aus!« An Oberdeck rannten sie mit den Fendern, diesen ungefügen Rieseneiern aus geflochtenem Rohr, die man dazwischenhalten mußte, wenn die Bordwand mit dem Beton der Hafenmauern in Berührung kam, herum. Eine Minute später lag Logger-29 in der Schleuse. Die Tore schlossen. Die Wasserstände im Werftbecken und im Hafen waren beinahe gleich. Ein Durchschleusen ging schnell. Elektromotoren öffneten die Seetore der Schleuse, und der Logger dampfte hinaus. Beim Passieren der Mole pflügte der Steven des 120Tonnen-Bootes schon mit großer Fahrt westwärts. Die Ansteuerungstonne tauchte auf und verschwand wie ein 101
schwankender Schatten. »Ansteuerungstonne. Uhrzeit. Achtung Kurswechsel!« Das Boot hob und senkte sich im Atem der Dünung. Trotz Windstille hatte die See noch Bewegung. Die Ausläufer des letzten Biskayasturmes trieben und rollten die Wogen bis weit in den Ärmelkanal. Wenn sich der Loggerbug mit ausholender Stampfbewegung gegen einen der langgezogenen Wellenrücken warf, spritzte das Wasser über Back und Kanone bis zur Brücke hoch. Schneider fühlte das Wasser auf seinen Lippen. Seine Zunge tastete danach. Es schmeckte salzig. Jetzt wußte er, der Logger hatte die See unter dem Kiel... Der Posten am Maschinentelegrafen trat auf die Nock hinaus. »Sie möchten zum Kommandanten kommen, Eins-WO.« Schneider eilte durch das Ruderhaus auf den anderen Brückenbalkon. Köhler hatte seine Stellung nicht verändert. Er brauchte alle Kraft zum Atmen, um überhaupt dazusein. Aber noch blieben ihm Reserven, um Schneider zu schikanieren. »Das war das schlechteste Manöver, das ich je erlebt habe. Aus Ihnen wird nie ein Kommandant.« Das brauchte sich Schneider nicht gefallen zu lassen. Er hatte als Kommandantenschüler Befehle zu befolgen, aber keine hämische Kritik anzuhören. Mit dem Glas suchte er die Kimm ab und äußerte wie beiläufig: »Bin da nicht Ihrer Meinung, Obersteuermann. Es war sogar ein astreines Manöver. Nach dem Zustand der Bordwand zu urteilen, wurden mit diesem Logger nicht immer solch elegante Manöver gefahren.« Köhler wankte vom Autositz. Er murmelte etwas, das sich anhörte wie Arschgeige. 102
14.
Zur gleichen Stunde ging von der Insel Wight, die der südenglischen Stadt Portsmouth vorgelagert ist, ein britisches Schnellboot in See. Es war ein Boot der Cardiff-Klasse, somit das Modernste und Schnellste, was in dieser Zeit auf englischen Werften gebaut wurde. Der elegante Holzrumpf, lang und schnittig, dazu die Klipperform des Bugs erinnerten an die Teesegler. Zwei Benzinmotore von je 1200 PS, brachten das Schnellboot bei ruhiger See auf die sagenhafte Geschwindigkeit von 45 Knoten in der Stunde. Die Rolls-Royce-Maschinen liefen fabelhaft leise, was das Boot befähigte, beinahe lautlos über den Ärmelkanal zu jagen, irgendwo unter der französischen Küste seine Torpedos an den Mann zu bringen und ebenso schnell wieder zu verschwinden. Die Engländer hatten mit diesem Bootstyp große Erfolge. Sie tauchten überall dort im deutschen Operationsgebiet auf, wo sie keiner vermutete. War es bisher manchen Frachtern gelungen, in einsamer Nachtfahrt die Seestraße zwischen Dover und Calais zu durchdampfen, so wurden solche Unternehmungen nach dem Einsatz der neuen Cardiffs zu einem lebensgefährlichen Risiko. Schon auf der Höhe von Cherbourg or103
teten die Engländer jede bedeutende Schiffsbewe gung. Noch ehe ein Fahrzeug die Seinebucht passiert halte und auf Dieppe zulief, geriet es auf die Schirme der britischen Radarstationen. Von der Meldung bis zum Auslaufen der Boote vergingen meist weniger als 15 Minuten. Mit äußerster Fahrtstufe preschten die Jäger dann über die Weide. Von ihren Meßstationen eingewiesen und ins Ziel gelenkt, erreichten sie in knapp 90 Minuten Schußposition. Nur selten entkam ihnen das Wild. So wurden sie zum Schrecken der nächtlichen Kanalschiffahrt. Als Gegenmittel ging man zu Geleitzügen über. Mit der Zeit wurden die Engländer aber so dreist, entwickelten ihre Angriffstechnik so vollkommen, daß sie selbst gutgesicherten Konvois auflauerten. Oft versteckten sie sich dicht unter der französischen Küste und griffen aus Osten an, wo man sie für eigene Schnellboote hielt, bis die Aale liefen und jede Abwehr zu spät kam. Es gab kaum eine wirksame Abwehr gegen diese Seuche. Die deutsche Funkmessung war technisch unterlegen. Außerdem reflektierten die Holzrümpfe der Cardiffs keine brauchbaren Echos. Man konnte nur eines tun: aufpassen, aufpassen, aufpassen. Besser Ausguck halten als je zuvor. »Achtet auf jeden Schatten!« wurde zur Parole. Hatten die Schnellboote ihre Torpedos verschossen, dann war die Geschwindigkeit ihr einziger Schutz, Die Bewaffnung der Cardiffs bestand nur aus einem Maschinengewehr oder einer leichten Flak-Waffe, der deutschen Zweizentimeter entsprechend. Wenn es gelang, ein Schnellboot rechtzeitig auszumachen, bevor es abdrehte oder sich einnebelte, dann bestand Aussicht, es durch Beschuß zu vernichten. Aber die104
se Fälle ließen sich ein einer Hand abzählen. Die Kommandanten der Cardiff-Schnellboote, meist junge Offiziere der Spitzenqualität, waren nicht nur Draufgänger, sondern auch vorzüglich ausgebildet und mit allen Raffinessen der Schnellboottaktik vertraut. Sie hatten das beste Material, sowohl was ihre Männer als auch ihre Fahrzeuge betraf. Dadurch wurden die englischen Schnellboote eine äußerst produktive Waffe. Sie erreichten hohe Versenkungsziffern bei geringsten Eigenverlusten. Sie waren die Reißzähne des Lordadmirals geworden. *** Ein Boot dieser Cardiff-Klasse verließ vor Mitternacht den Schutz der englischen Küste und lief mit hoher Fahrt nach Osten. Dem Kommandanten waren keine besonderen Ziele gemeldet oder vorgeschrieben. Er hatte freie Jagd im Kanal vom Cap Hague im Süden bis Boulogne im Norden, also bis vor die Engstelle der Seestraße, wo England und Frankreich bis auf weniger als 20 Meilen zusammenrückten. Später drehte das Boot auf 225 Grad. Sein Kiel zeigte in das Herz der Seinebucht. Diese weite Flußmündung zwi schen Deauville und Le Havre war ein beliebter Tummelplatz der Engländer. Dort lagen sie, unweit der deutschen Küstenwege, gestoppt in der Nacht. Dunkelgrau, kaum sichtbar, lauerten sie. Manchmal pfiff es in den Funkgeräten. Dann meldete man ihnen einen fetten Brocken herüber. Darauf ließen sie ihre starken Benzinmotoren an und liefen in Schleichfahrt zu dem bezeichneten Planquadrat. Sichteten sie den Gegner, einen deutschen Frachter oder Sperrbrecher, dann dreimal 105
äußerste Kraft voraus, Ziel aufnehmen, Schuß, abdrehen, einnebeln... So war es verdammt oft gelaufen. Jede Nacht, wenn die See ruhig war, konnte man damit rechnen, daß es irgendwo knallte. Blies aber der Wind mit vier oder fünf, und es dünte langsam auf, dann verschwanden sie. Seegang über drei war kein Schnellbootwetter. Dann lagen sie gemütlich hinter ihren Hafenmolen und heckten neue Scherze aus. Sie tranken Whisky oder Tee, aßen Sandwiches und hörten Teddy Stauffers Swingband zu. *** Das englische Schnellboot hatte in schneller Marschfahrt die Mitte des Ärmelkanals erreicht, als der Kommandant die Geschwindigkeit verringern mußte. Sie waren in den Schwell des auslaufenden Biskayasturmes geraten. Das Boot stampfte schwer und schlug bei hoher Fahrt hart gegen die Dünung. Zu hart. Der Kommandant verringerte erneut die Fahrtstufe und blieb unter 20 Knoten. Aber der Seegang wurde nicht stärker. Er schien eher abzunehmen. Deshalb drehte der Schnellbootkommandant nicht nördlich bei, sondern blieb auf Kurs. In Deckung von Cotentin beruhigte sich die See, was für den Rückmarsch glattes Wasser verhieß. Der Commander, einer von den strammen jungen Vaterlandsverteidigern, gierig, den Feind aufzuspüren und ihn zu schlagen, wo immer es ging, war ein lichtblonder Baldur von 22 Jahren. Aktiver Seeoffizier aus der Elite. Sie nannten ihn nur den Wohlgeformten, the Babyface. Allerdings bereitete ihm der Krieg in dieser Nacht nicht 106
die gewohnte Freude. Er war leicht verkatert. Mit zuviel Scotch, zu vielen Navy-Cut-Cigarettes hatte er kleinen Liebeskummer und ein Gefühl im Bauch, das an Verdauungsbeschwerden erinnerte. Dazu reichte ihm der Funker noch eine Meldung auf die Brücke: »Gegen Morgen aufkommender Nebel. In Küstennähe sehr dicht.« Goddamn! dachte der Leutnant, sagte es jedoch nicht. Für einen lauten Fluch war er zu wohlerzogen. Da die Marschfahrt sehr eintönig verlief, übergab er die Wache kurz seinem Mastermaat und verholte sich unter Deck. Innen war das Boot etwas eng, doch aus jeder Einzelheit ersah man, daß es die Engländer verstanden, Schiffe zu konstruieren. Nirgendwo war gespart worden. Selbst im vierten Kriegsjahr verwendete man noch Mahagoni in der Kommandantenkammer, echtes Leder zur Polsterung der Eckbänke und Messingbeschläge, helle gute Lacke, Teakholzböden und Boucleteppiche. Unter Deck wirkte das Schnellboot wie eine gepflegte Luxusyacht. Die Seeleute waren wohlgenährt und sauber in Schale. Mit zwei Worten: alles picobello. Das Boot hatte nicht den kleinsten Kratzer, nicht einen Einschuß in seinem edlen Rumpf. Alles roch sauber und fabrikneu. Kontrollmäßig öffnete der Kommandant das Schott zum Maschinenraum. Sein Leitender meldete: »Alles klar, Sir!« »Die Motoren?« »Laufen wie Uhrwerke, Sir.« Keine Roststelle verunzierte das jungfräuliche Bild moderner Rolls-Royce-Technik. Die Armaturen blitzten, die Leitungen schwangen sich übersichtlich zu den Maschi107
nen, zu den Tanks, zu den Hilfsaggregaten. Die Flurplatten glänzten alumatt, die Motoren hellgrün. Das Personal trug fleckenloses Arbeitszeug. Zufrieden zündete sich der Commander eine VirginiaZigarette an. Er rauchte sie halb. Den Rest reichte er einem der Heizer, der sie für ihn in den Aschenbecher warf, »So long!« Grüßend verließ der Kommandant den Maschinenraum. Tief die Seeluft atmend, stieg er an Deck. Oben gewöhnte er seine Augen an die Nacht. Dann übernahm er wieder die Wache. Das Boot stand jetzt halbwegs auf der Linie Dieppe Cap Hague. Zwei Stunden, nachdem es seinen Stützpunkt verlassen hatte, erreichte den Commander die Meldung einer Radarstation: »Keine Bewegung größerer Einheiten. Vermutlich mehrere Gruppen von Minensuchbooten auf Kurs Fecamp.« »Schlecht«, sagte der Kommandant zu seinem Mastermaat, »das ist weniger als gar nichts. Ein Torpedo rentiert sich nicht für die Mülleimer. Wollen lieber südlich noch einmal nachsehen.« »Manchmal kriecht da noch ein Einzelfahrer unbemerkt durch die Gegend, Sir.« »Kursänderung! Neuer Kurs eins, acht, fünf Grad.« »Aye Sir. Kurs liegt an.« So verstrichen die Minuten, die Viertelstunden. Der Mond war hochgekommen, verbreitete aber kaum Licht. Er war nur wie der Schlitz eines schlecht verdunkelten Fensters. Wenn eine Wolke kam, war er ganz weg. Nur die Sterne blinkerten emsig wie die Augen einsamer Mädchen. Der junge Offizier summte den neuesten Schlager. Ein 108
Lied, das von den Deutschen herübergekommen war und das man auf allen Kriegsschauplätzen rund um die Welt sang, bei Freund und Feind. In der Luft, in den Bunkern, im Dschungel, in der Wusle, auf See. Überall, wo Soldaten Heimweh hatten. Das Lied von »Lili Marleen« ... Man brachte sich gegenseitig um, gleichzeitig summte man »Liu Marleen«, dachte an seine Freundin, an eine Sommernacht, an Frieden. Bitter stieß es dem Leutnant auf, so dicht standen Liebe und Tod nebeneinander. Hier hatte man eine zauberhafte Melodie in den Ohren, und dort starrte einem der rote Abschußknopf für die Torpedos in die Augen! Das ist das Schicksal unserer Generation, in jedem Augenblick um zwei Welten zu kämpfen, dachte er. Weiter schoben die Motoren das Schnellboot gegen den Feind. Auf seiner Schicksalslinie jagte es voran. Zum Endpunkt, zur Stunde der Entscheidung ...
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15.
Der Kommandant von Logger-29 starrte auf die schwachbeleuchtete Seekarte. Dabei hielt er sich an der Schlingerleiste fest. Er schaffte es nicht, sich zu konzentrieren. »Mit Kurs zwanzig müssen wir auf die Gruppe stoßen«, sagte der Steuermannsgefreite. »Zwo null« »Wie setzt der Strom?« lallte Köhler. Der Gefreite blätterte in der Tabelle, fand aber den Wert nicht gleich. »Lassen Sie mich!« Köhler riß ihm das Heft aus der Hand und suchte selbst. »Heute haben wir den ...?« »...Vierzehnten.« »Ja, den Vierzehnten.« Köhler blätterte und fingerte in die falsche Spalte. »Uhrzeit?« schrie er ungehalten. »Dreiundzwanzigdreißig.« Der Kommandant irrte sich erneut in der Spalte. »Strom setzt fünf Meilen aus Südwest. Noch eine Stunde, ehe er kentert. Halten sie entsprechend vor.« Erschöpft sackte Köhler auf das Sofa. »Kurs dann: Drei zwo Grad.« »Meinetwegen Richtung Scheißhaus. Gehen Sie auf 110
neuen Kurs.« Der Gefreite meldete die neue Gradzahl weiter an Schneider, den I WO. »Stimmt das auch?« wollte der Oberfähnrich wissen. Es schien ihm sehr weit westlich. »Ich habe den Kurs mit dem Obersteuermann berechnet. Der Strom setzt noch eine Stunde lang mit fünf Meilen aus Südwest.« »Na schön. Rudergänger, gehen Sie auf drei zwo Grad.« »Liegt an.« Zur Sicherheit nahm sich Schneider den Steuermannsgasten noch einmal vor. »Peilen Sie das Feuer Cap Antifer, sobald wir den Sektor haben.« »Jawohl, Herr Oberfähnrich.« Der Steuermannsgast verschwand im Kartenhaus, um Kurs und Fahrt in die Karte einzutragen. Köhler war auf dem Sofa eingeschlafen und schnarchte. An Deck ging Bootsmaat Achilles seine Runde. Achtern prüfte er das Räumgerät. Es lag klar. Schleppleinen, Ottern und Drachen. Dann inspizierte er die Geschützbesatzung der 7,5 cm. Sie hatten sich in die Ecken gehauen und schliefen ihre Räusche aus. Sogar dem Geschützführer hing der Kopf auf die Brust. Achilles boxte ihn in die Seite, so daß er erschreckt hochfuhr. »Nicht filzen, Seemann! Gleich gibt's Kaffee.« Weiter schlurfte er an Backbordseite nach vorn. Neben dem warmen Auspuff sah er einen Sack liegen. Mit dem Fuß trat er danach, bis der Sack zu fluchen begann. Es war der Backbord-Ausguck. Achilles griff sich den Mann und wuchtete ihn auf die Füße. Doch er fiel zusammen wie ein Twistballen. Da 111
packte Achilles die Wut, und er klebte ihm eine, daß der Matrose endgültig aufwachte. »Das ist Wachvergehen, mein Junge! Klüsen dicht ist Wachvergehen.« Aber wann jemals wurde auf dem Logger bei monotonem Kriegsmarsch nicht gepennt. »Ich bin krank«, rechtfertigte sich der Matrose, »hatte Schüttelfrost. Ich krieg' 'ne Grippe. Deshalb ging ich an den Auspuff.« »Besoffen bist du«, stellte Achilles ungerührt fest. »Jeder hat hier was anderes. Wenn ich zurückkomme, und du hast immer noch die Grippe, dann kriegst du eine Pütz Wasser über deinen elenden Quadratschädel und einen Tritt in den Arsch. Achte auf Treibminen und Schnellboote. Die sind schneller da, als man denkt.« Der Matrose maulte herum. »So ein Glück passiert uns gar nie nicht. Wir ersaufen höchstens mal in einer Güllegrube mit dem Dampfer. Die See nimmt uns gar nicht. Die ist viel zu heilig für uns.« Kannst recht haben, dachte Achilles, magst recht haben, mein Junge. Im Weitergehen sah er, wie sich der Matrose über die Reling beugte und entleerte. Der Deckposten war ebenfalls leicht eingedöst. Kaum hörte er die Schritte, riß es ihn hoch. Achilles stand eine Weile neben ihm. »Laß dich nicht noch mal erwischen, Karlheinz, sonst schieße ich dich in den Wind. Wenn die auf der Brücke auch so munter sind wie du, dann Seefahrt ahoi!« »Ich habe nicht geschlafen, ich habe nachgedacht, Herr Bootsmaat.« Achilles ließ sich den Fahrtwind ins Gesicht blasen. Auch er war verflucht müde, aber er bezwang sich. »Dann hast du beim Nachdenken ganz schön tief ge112
träumt, Mann.« »Wovon?« »Von nackten Weibern, was sonst. Gib dein Glas her. Ich sehe etwas in elf Uhr.« Der Matrose zog den Lederriemen über den Kopf und reichte Achilles das Nachtglas. Der Bootsmaat beobachtete eine Weile die See. Dunst kam auf. »Fehlanzeige. Ich dachte, da war' was.« Der Matrose suchte ebenfalls in der Richtung. »Sie haben recht Jetzt sehe ich es auch. Ein heller, langer Schatten.« Achilles lehnte sich gegen die Winsch. »Du kriegst das Ritterkreuz, Mann.« »Ein Schnellboot vielleicht.« »Ein Flugzeugträger, du Blödmann! Es ist Nebel. Wir kriegen Nebel. Ein Schwaden, sonst nix.« »Oder die Waschfrau von Laboe. Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, ist einer, der die Waschfrau ...« »... gesehen hat. Du mußt nicht soviel grübeln, Karlheinz. Wer euch Bäckerburschen nur die geilen Weiber austreiben könnte!« Der Matrose grinste. »Wer sagt Ihnen denn, daß ich an meine Kleine gedacht habe?« »Das seh' ich dir an.« Dann sagte der andere nach einer Weile etwas, das der Bootsmaat erst gar nicht voll erfaßte. »Sie sollten es auch tun, Herr Bootsmaat.« »Ich habe keine Zeit dazu.« Der andere blieb hartnäckig. »Sie sollten sich aber die Zeit nehmen.« »Wozu auch?« warf Achilles ein. 113
»Damit Ihre Kleine nicht Beine bekommt und davonläuft.« »Das tut Michou nicht«, versicherte der Bootsmaat. Der Matrose linste wieder durch das Glas. »Wäre mir da nicht so sicher, Herr Bootsmaat. Na, machen Sie sich nichts daraus. Man findet schnell 'ne andere. Mein Vater hat immer gesagt: >Mein Sohn, wenn du selbst zwei Frauen hast, und es kommt einer, der nur eine Frau hat, so gib ihm eine, damit auch er mal zwei hat.< « Achilles schlingerte an Steuerbordseite nach achtern. Die Andeutungen des Matrosen schwirrten ihm im Kopf herum. Aber er versuchte sich zu beruhigen. Nein, Michou war nicht wie die anderen. Aus der Kombüse dampfte es aromatisch. »Mitternachtskaffee! Smut, nimm 'ne Bohne mehr als Beethoven.« Der Koch murmelte etwas in seine Töpfe. Der Schmadding verstand es nicht. Er war schon weiter auf seiner Runde. Sobald der Logger den Hafen verlassen hatte, hielt es Achilles nie lange auf einem Fleck. Dann lief er unruhig seinen Stropp die Decks längs. Immer wieder prüfend, ob alles in der Reihe war. Seine Tour führte ihn zurück auf die Back. »Wie hast du das gemeint, Karlheinz?« fragte er unvermittelt den Ausguck. »Wovon reden Sie?« »Von Michou. Ich habe gesagt, Michou ist nicht wie die anderen.« Der Matrose zögerte mit seiner Antwort. »Würde das nicht unterschreiben, Herr Bootsmaat. Für jede Frau gibt es immer wieder einen Mann, der noch 114
besser ist als der vorhergehende. Einen, der sie noch mehr begeistert oder den sie noch mehr ausnimmt. Ist alles nur eine Frage der Gelegenheit und der persönlichen Wollust, ob sie es tut.« »Was ist Wollust?« »Die Lust, was tun zu wollen.« »Langsam, langsam!« Pille Achilles kam gar nicht so schnell mit. Dann sagte er: »Na ja, es könnte schon sein. Ich bin nicht gerade 'ne Schönheit.« Der Matrose redete jetzt, wie ihm der Schnabel gewachsen war. »Nee, schön sind Se nich - aber der andere ist auch nich schöner.« Da endlich schlug es bei dem Bootsmaat ein. Und zwar mit voller Breitseite. Genau mittschiffs in die Wasserlinie. »Was sabberst du da? Welcher andere?« Mit einer Kopfbewegung deutete der Matrose in Richtung Brücke. »Der Kommandant etwa?« »Genau der, Herr Bootsmaat.« In diesem Augenblick sah Achilles nichts mehr und konnte nichts mehr denken. Das Schiff war ihm plötzlich gleichgültig, die Nacht, der Einsatz. Er packte den Ausguck. »Mensch, Karlheinz! Wenn das wahr ist...« Der Backbordposten wand sich aus seinem Griff. »Bootsmaat!« versuchte er ihn zu beruhigen. »Ich war nicht dabei. Also habe ich nicht direkt zugesehen. Aber sie hat mit dem Kommandanten im Nebenzimmer rumgebalgt. Den ganzen Nachmittag. Ich bezweifle, daß ständig von Philosophie die Rede war. Sie haben ganz nett was gezwitschert, und Musik haben sie gemacht, und sie hat auch in höheren Tönen gejodelt. Fragen Sie die anderen. Mein Gott, man denkt sich so seinen Teil. Erwachsen 115
sind die beiden schließlich auch.« »Schiet!« stieß Achilles noch hervor. Dann wankte er nach achtern. Hilflos stand der Bär an der Bordkante, umklammerte die Reling. Unfaßbare Qual überkam ihn. Er, der geglaubt hatte, daß Michou ihn liebe, war wegserviert worden wie ein Haufen abgekiefter Geflügelknochen. Er, der Michou so mochte, daß er kaum gewagt hatte, sie um einen Kuß zu bitten, ihm war dieses Schwein Köhler in die Quere gekommen! Sein Schmerz verfing sich in der Person des Kommandanten. Michou kann nichts dafür, sagte er sich immer wieder. Nur Köhler ist schuld. Für Achilles war Michou wie eine Heilige, eine Jungfrau, der man Gewalt angetan hatte. Jetzt wurde ihm auch klar, warum ihm Köhler den Landgang verboten hatte: »Ich bin der Kommandant und Sie die seemännische Nummer eins. Einer hat an Bord zu bleiben. Entweder Sie oder ich.« So war es. Kleinigkeiten bekamen Gewicht. Verdammt geschickt halte Köhler das eingefädelt. Und Michou hatte geschwiegen. Warum hatte diese Frau nichts von den Nachstellungen des Obersteuermanns gesagt? Andererseits war jeder Franc, der am Tresen ausgegeben wurde, ihr Geschäft. Und eine Bar war verdammt kein Kloster. Und wenn Karlheinz, der Decksposten, übertrieben hatte? Wer weiß, was der sich unter Jodeln vorstellte Achilles beschloß, noch einen anderen zu fragen. Von der Kanone bis zu der Zweizentimeter schien ihm keiner vertrauenswürdig für eine ehrliche Auskunft. Doch der Zweifel bohrte so in ihm, daß er es nicht mehr aushielt. Irgendwie brauchte er Gewißheit. Auf der Brücke suchte er den Oberfähnrich. 116
Schneider war über die Unterbrechung froh. Müdigkeit kam hoch, je mehr der Alkoholspiegel sank. Selbst der Fahrtwind half da nicht viel. Den Kampf gegen den Schlaf mußte man von innen heraus führen. Aber ein Sieg mußte jede Minute neu erfochten werden. »Was gibt's, Achilles?« Der Bootsmaat druckste herum. Verflucht peinlich, dem Neuen schon mit Privatdingen zu kommen. Noch dazu im Einsatz. Was mußte der Oberfähnrich von ihm denken, wenn er auf hoher See anfing, über seinen Liebeskummer zu quatschen. Aber schließlich überwand er sich: »Herr Oberfähnrich. Sie waren doch an Land. Waren Sie in der Michou-Bar?« Schneider überlegte, ob von seiner Auseinandersetzung mit Köhler etwas durchgesickert sein konnte. »Ja, ich war dort.« »Haben Sie etwas bemerkt, ich meine - was Auffälliges?« Schneider verneinte. »Was soll gewesen sein? Sie haben gesoffen und getanzt. Ein paar stiegen dabei auf die Tische. Einer wollte sich die Hosen ausziehen und in 'ne Schnapsflasche pissen. Aber was Besonderes war nicht.« Achilles fragte eindringlicher: »Kennen Sie Michou?« Schneider zögerte mit der Antwort: »Die Barbesitzerin? Ich habe sie kurz gesehen.« Er verschwieg, daß Michou an seinem Tisch gesessen und welchen Eindruck sie auf ihn gemacht halle. Schneider kam sich wie ein Feigling vor. Achilles atmete tief. Sein mächtiger Brustkorb wölbte sich. »Dann stimmt es also. Dann stimmt es, daß Michou den ganzen Nachmittag mit Köhler im Nebenzimmer gewe 117
sen ist.« Schneider funktionierte jetzt wie ein Rechenautomat. Sollte Achilles ruhig glauben, was nicht bewiesen war. Das nahm ihm bezüglich Köhler manche Sorgen ab. Dann stand er nicht allein gegen den Obersteuermann. »Ja, das ist richtig«, bestätigte er. Damit sagte er nur die Wahrheit. Der Bootsmaat wollte es noch einmal hören und noch deutlicher. »Wie lange war das? Bitte verschweigen Sie mir nichts.« Schneider brauchte nichts anderes zu tun, als Tatsachen zu berichten: »Es mag sechs Uhr gewesen sein, als ich hinkam. Da war er schon hinten bei ihr. Um halb zehn gingen wir an Bord.« Wie ein Tiger lief der Bootsmaat auf und ab. »Beinahe vier Stunden also. Dann ist es auch passiert.« »Was?« »Er hat sie auf dem Billardtisch gevögelt.« »Schon möglich.« »Dann erschieße ich das Schwein!« würgte der Bootsmaat hervor, und das klang so unabänderlich wie ein Gottesurteil. Schneider nahm im Autositz eine neue Stellung ein. »Darüber spricht man besser nicht«, erwiderte er. »Ich habe nichts gehört. Gehen Sie auf Gefechtsstation. Wir machen keine Bäderreise. Und merken Sie sich eines, Achilles: Die Wahrheit liegt immer in der Mitte.« Der Bootsmaat verschwand kopfschüttelnd. Seine massigen Umrisse tasteten sich an den Niedergang und glitten in die Tiefe. Langsam, wie ein Fels im Moor. Schneider konnte sich vorstellen, wie es diesen einfachen Mann erwischt hatte. Aber das waren nicht seine Sorgen. Sollte Achilles auf seine Art damit fertig werden. 118
Doch der Gedanke, daß noch ein anderer gegen Köhler Front machte, war ihm nicht unangenehm. Es paßte in seinen Kram. Schneider besann sich wieder auf seine Aufgaben als I WO und auf den Steuermannsgefreiten. »Wie steht es mit der Peilung Dieppe? Wir brauchen endlich einen vernünftigen Standort.« »Ich bekomme Fecamp nicht mehr«, antwortete der Gefreite. »Warum nicht?« »Fecamp schaltet laut Befeuerungsliste um Mitternacht ab.« Schneider sah auf die Uhr. Es war eine Minute drüber. Null Uhr eins. »Die sind wie die Maurer. Wir halten Kurs und warten, bis Antifer aufkommt. Wann kentert der Strom?« »Ich melde es rechtzeitig.« Der Gefreite verschwand im Kartenhaus. Schneider vertrat sich die Beine. Sie begannen steif zu werden. Im Augenblick konnte er nichts tun. Irgendwann mußte die Gruppe voraus auftauchen. Er schaute wieder auf die Uhr. Null Uhr drei. Ein neuer Tag, dachte er. Einen Tag mehr erlebt oder einen Tag weniger zu leben - was gleich bleibt, ist die Anzahl.
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16.
Wie ein Gehetzter lief Bootsmaat Achilles auf dem Logger hin und her. Sein zielloser Weg führte ihn unter Deck. Er trat in seine Kammer, die er gemeinsam mit dem Leitenden bewohnte. Ohne Licht zu machen, tastete er nach der Backskiste, Unter Wäsche und sonstigem Kram verborgen fühlte er den harten Gegenstand, der ihm helfen sollte, wieder er selbst zu werden: seine Mauser-Pistole. Er riß das Magazin heraus und fingerte die Zahl der Patronen ab. Dann schob er es wieder in den Griff, bis es einrastete, und lud die Waffe durch. Zu dieser Stunde hatte Bootsmaat Pille Achilles keine Ahnung davon, daß er die Waffe zu einem ganz anderen Zweck verwenden würde als vorgesehen. Daß er sie auf einen Menschen anlegen würde, dem er nie begegnet war in seinem turbulenten Dasein, durch das ihn die Pistole begleitet hatte. *** Pilles Leben hatte auf einem Jahrmarkt begonnen und war immer dort verankert gewesen. Nach dem Ersten Weltkrieg war sein Vater mit einem Kettenkarussell durch 120
die Lande gezogen. Vom Jahrmarkt zur Kirchweih, vom Volksfest zum Rummelplatz, Der alte Achilles, ein sparsamer Mann, brachte es bald noch zu einer Schießbude. Mit einem Lanz-Bulldog und drei Wagen wanderte er wie die Zigeuner von Ort zu Ort. Eines Teiges, bei einem Schützenfest im Fränkischen, kam die Bauerntochter Kunni zu dem Karussell. Erst fuhr sie viermal, dann schoß sie eine Blume und dem alten Achilles mitten ins Herz. Kunni blieb bei ihm und vermehrte binnen kurzem die Familie um einen Sohn. Er war schon bei der Geburt ein starker, ungemein kräftiger Bursche. Sein Vater gliederte dem Unternehmen einen weiteren Zweigbetrieb an. Er erwarb einen Lukas. Mit sechs Jahren überwachte Achilles jun. schon den Lukas. Das war der Zeitpunkt, als er einen Groschen von einem Pfennig unterscheiden konnte. Seitdem schrie er Tag für Tag: »Haut den Lukas auf den Dukas ...« Wieder ein paar Jahre später kauften die fleißigen Achilles eine Speiseeismaschine, montierten sie auf vier Räder und konnten nun eine Kirchweih fast alleine bestreiten. Dieser Meinung war auch Achilles sen. Eines Tages sagte er: »Jetzt reicht es!« Wenige Tage später war er tot. Herzschlag. Die Witwe und der Junge machten weiter. Sie verdienten Geld und verloren auch welches, wenn die Sommer kühl und verregnet waren. In einer Herbstnacht - sie zogen gerade vom Main kommend durch den Spessart - gerieten sie in die Hände von drei finsteren Gestalten. Die Landstreicher plünderten die Kasse. 400 Mark waren drin gewesen. Pille vergaß das nie. Am nächsten Tag kaufte er sich die Mauser-Pistole. Seitdem war nie mehr etwas passiert. Aber die Waffe pflegte er. Jeden Schuß, den er damit 121
übungsweise abgab, schrieb er in ein blaues Heft. Es waren weniger als ein Dutzend. Als seine Mutter starb, begriff er, was Verzweiflung und Einsamkeit waren. Kaum 16 Jahre alt, stand er mit dem Zug blauer Wagen und dem Traktor allein im Leben. Mit irgend etwas würde er ein Ende machen, das wußte er. Entweder mit sich oder mit dem Fahrgeschäft. Weil er jung war, wählte er das letztere. Für die Schießbude, das Karussell, den Lukas und die Eiscrememaschine bekam er einen ansehnlichen Haufen Geld. Dafür kaufte er dem Onkel seiner Mutter den Bauernhof ab. Dann beschloß er, sich die Welt anzusehen. Aus Traditionsgefühl zur blauen Farbe seiner Wagen ging er zur See. Erst fuhr er mit Trampern um die Erde, über die sieben Meere, in alle Häfen der Kontinente. Hongkong, Singapore, Rio, Boston. Er lernte Pidgin, das Küstenenglisch der Seeleute. Nur das Lesen und das Schreiben blieben für ihn ein Problem, Erst als der Krieg begann, lernte er es bei der Marine richtig. Er führte sich anständig und bekam nach drei Jahren die Goldlitzen auf den Kulani. Bootsmaat Achilles schob die Waffe in die Tasche, schloß das Schott hinter sich und wollte eben an Oberdeck zurück, als ihn ein dumpfer Schlag, der aus der Tiefe des Loggerrumpfes kam, beinahe umwarf. *** Auch auf der Brücke bekam man den Schlag zu spüren. Den Oberfähnrich preßte es in den Autositz, dem Rudergänger riß es das Rad aus den Händen. Er fiel nach hinten und schlug mit dem Kopf gegen die Wand zur Funkbude. 122
Das mußte eine Grundberührung gewesen sein. Schneider stürzte ins Kartenhaus. Der Steuermannsgast kam ihm kreidebleich entgegen. »Wo stehen wir?« Der Gefreite deutete auf einen Punkt der Seekarte. »Unmöglich!« schrie Schneider. »Wenn die Position stimmt, hätten wir 30 Meter Wasser unterm Kiel.« In diesem Augenblick folgte der zweite Schlag. Dumpf krachte der Loggerrumpf in den Spanten. »Maschine stop!« brüllte der Oberfähnrich. Der Telegraf klingelte. Schneider rief ins Sprachrohr: »Äußerste Kraft zurück!« Der Diesel atmete aus und kam erneut auf Touren. Schneider sah das Heckwasser phosphoreszierend aufleuchten. Zögernd nahm der Logger rückwärts Fahrt auf. Wenigstens sitzt er nicht fest, dachte der Oberfähnrich. Doch er freute sich zu früh. »Maschine stop!« »Verfluchte Schweinerei«, schimpfte einer. Schneider rief auf das Oberdeck hinunter: »Schmadding?« Achilles meldete sich. »Loten Sie mal aus, Bootsmaat.« »Wir sind dabei.« Der Oberfähnrich stürzte wieder ans Sprachrohr zum Maschinenraum. Der Leitende war dran. »Bei euch alles klar, Fink?« »Alles klar. Scheint eine Grundberührung gewesen zu sein. Aber sonst ist alles klar und dicht.« »Gleich gehn wir mit A. K. zurück. Seht zu, daß der Diesel in Schwung kommt.« »Wird gemacht«, versicherte der Maschinenmaat, Schneider knöpfte sich den Steuermannsgefreiten vor: 123
»Glauben Sie jetzt, daß der Kurs falsch war, Sie Niete? Die nächste Schlickbank liegt 5 Meilen südöstlich von hier. Genau auf dieser Bank sitzen wir jetzt fest. Sie haben die Stromversetzung falsch abgelesen. Er setzt vermutlich nicht mehr in Süd, sondern in Nord.« Schneider blätterte im Stromkalender. Dann verglich er die Daten mit dem Segelhandbuch. Seine Befürchtung erwies sich als richtig. Am liebsten hätte er dem Gefreiten das Buch um die Ohren gehauen. »Wir üben das noch bis zur Vergasung, das schwöre ich Ihnen.« Der Gefreite stotterte eine Entschuldigung. »Ich bekam den Wert vom Obersteuermann. Er hat ihn aus der Tabelle genommen.« Das war Köhler zuzutrauen. »Wir reden noch darüber«, entschied der Oberfähnrich. »Erst müssen wir runter von dem Schlickhaufen. Wann kentert der Strom?« »Er hat schon gekentert. Vor zehn Minuten.« Das war schlecht. Wenn die Flut ablief, bevor sie von der Bank herunter waren, dann kamen sie erst wieder in zwölf Stunden flott. Bis dahin konnten sie aber auch so tief im Schlick sitzen, daß sie es mit eigener Kraft nicht mehr schafften. Dann lagen sie bis zur nächsten Nacht wie auf einem Präsentierteller mitten im Kanal, und die Spitfires machten Übungsschießen mit ihnen. Aber bei Tag würde keiner von Le Havre herauskommen und ihnen Schlepperhilfe leisten. Das wäre Selbstmord gewe sen. Die nächsten Minuten entschieden folglich über Leben und Tod. Achilles meldete die Wassertiefe auf die Brücke. »Vorn zwei Meter, achtern zweieinhalb.« »Dann stecken wir ganz schön drin.« 124
Jetzt war keine Zeit mehr zu verlieren. Es ging um Sekunden. Der Oberfähnrich stöpselte noch einmal das Sprachrohr auf. »Wahrschau Maschine! Jetzt seid ihr dran.« »Wir sind bereit.« »Dreimal Äußerste zurück!« Die Maschine bullerte los, daß die Brückenverkleidung mitvibrierte. Angerostete Nieten sprangen ab und lösten Metallverbände. Der Logger zitterte unter der Gewaltanstrengung des Diesels. Für Augenblicke schien es, als zöge sich der Lepradampfer aus der saugenden Umarmung der Schlickbank. Der Bootsmaat schrie seine Lotwerte auf die Brücke: »Zwo Meter ... zwo Meter ... zwo und ein halber ... zwo und ein halber... drei Meter ... dreifünfzig ...« Sie kamen halbwegs frei. Ein Schrei: »Wir sind runter!« Der Logger dümpelte, er hatte wieder Wasser unter dem Kiel. »Das war haarscharf«, sagte Schneider erleichtert. »Maschine stop!« Der Telegraf klingelte. Aber die Maschine drehte weiter. »Warum stoppen Sie nicht?« fragte der Oberfähnrich. Erst nach einer Weile erstarb das Maschinengeräusch. Zu spät. Wieder durchfuhr den Logger ein rumpelnder Schlag. Diesmal heftiger als die vorhergehenden. Der Bums kam von achtern. »Jetzt sitzen wir mit dem Heck auf«, meldete der Bootsmaat herauf. Es gab also nur eine Rinne zwischen zwei Schlickbänken, kombinierte Schneider. Folglich müssen wir es Steuerbord versuchen. »Wie setzt der Strom?« »Die Flut läuft genau in Nordwest ab.« 125
Das konnte ihnen helfen, freizukommen. Schneider trat noch einmal an das Sprachrohr. »Warum haben Sie so spät gestoppt?« fragte er den Leitenden. »Der Telegraf hat verzögert angezeigt. Die Kette hängt manchmal irgendwo fest.« Schneider verspürte Lust, den ganzen Logger mit einer Muskeule in Trümmer zu schlagen. »Jetzt sitzen wir achtern fest, Fink. Beten Sie, daß die Schraube sich freischaufelt.« »Wir beten schon«, quäkte die Stimme aus der Tiefe. »Wenn wir frei sind, singen wir den Choral >Nun danket alle Gott<, den Choral von Leuthen. Wann soll es losgehn?« Der Oberfähnrich geriet in Schweiß. »Bleiben Sie an der Muschel. Achtung, Oberdeck! Alle Mann auf die Back.« Die Seestiefel trampelten los. Die Männer, die Geschützbedienungen, die Gerätemixer, Heizer der Freiwache, alle hasteten sie nach vom, um das Heck zu entlasten. Sie rannten, sprangen und stürzten, schlugen sich im Dunkel irgendwo an und fluchten. Der Bootsmaat zeigte eine Armlänge: »Soviel Wasser in zehn Grad.« Neuer Maschinenbefehl: »Äußerste Kraft voraus mit allem, was drin ist!« Wieder bullerte der Diesel los. Das Schiff bebte wie die Flanken eines abgetriebenen Rennpferdes. Der Bug schwölle nach Norden. Aber der Logger wurde festgehalten. Er rührte sich nicht von der Stelle. »Maschine stop!« Neuer Versuch. Der ablaufende Ebbstrom gurgelte 126
schon verdächtig um den Rumpf und bildete Wirbel in Lee. Schneider schrie: »Wenn wir's jetzt nicht schaffen, können wir uns klarmachen zum Sargempfang. Los, Fink: Dreimal Wahnsinnige voraus!« Das Heckwasser wirbelte lehmgelb, aber nur schwach. Die Schraube wühlte im Schlick. Trotzdem kam der Logger Meter um Meter weiter. Minutenlang lief die Maschine unter Vollast. Wenn der Diesel das bloß aushielt und das Stevenlager. Bootsmaat Achilles lotete stur am Heck. Jetzt schon mit dem Bootshaken. Plötzlich rumpelte es hinten unten irgendwo am Ruderblatt. »Wir sind frei!« »Gott sei Dank.« »Maschine halbe Fahrt voraus. Ruder mittschiffs!« »Ruder liegt an.« Doch keine Bewegung kam in das Schiff. Im Gegenteil, der Logger wurde immer langsamer. »Was ist los? Warum machen wir keine Fahrt?« Der Oberfähnrich rief in die Maschine: »Warum machen wir keinen Speed, Fink?« Der Leitende meldete zurück: »Maschine läuft Drehzahlen für sechs Meilen.« »Was war das für ein Rumpeln im Heck, Fink?« »Keine Ahnung, Herr Oberfähnrich.« Da wurde es Schneider fürchterlich klar: Sie waren zwar freigekommen, aber sie machten keine Fahrt mehr. Dafür gab es nur einen Grund ... »Stoppen Sie!« rief er in die Maschine. »Der Leitende auf die Brücke!« Nach einer halben Minute erschien Fink. Er brachte Dieselgestank mit herauf. Man roch immer seine Anwesen127
heit. Schneider musterte ihn, soweit er den Leitenden überhaupt im Halbdunkel sehen konnte. »Hatten Sie schon mal eine Havarie auf See?« »Nein, Herr Oberfähnrich. Es gab verschiedene Maschinendefekte, aber dann war immer ein Boot bei uns, das uns einschleppte.« »Was verstehen Sie unter einer Havarie?« ging Schneider ihn an. Der Leitende fühlte sich examiniert: »Etwa ein Leck, Ruderschaden, eben etwas, wenn man sich nicht mehr helfen kann.« Schneider schrie nicht, sondern fragte gefährlich ruhig: »Ist Ihnen gar nichts aufgefallen, Sie Trantüte? Wir machen keine Fahrt, während die Maschine läuft.« Bei Fink dämmerte es endlich. »Scheiße, dann können wir nur die Schraube ...« »Ja, verloren haben. Mann, Sie und Ihre lange Leitung.« Maschinenmaat Fink verdrückte sich wie ein getretener Hund. Schneider rief den Funker. »Setzen Sie einen Spruch ab. Klartext: >Haben Schraube verloren, treiben nordwestlich ab. Bitten um Schlepphilfe. Position folgt. Gezeichnet Köhler.<« Im Kartenhaus stand nur der Steuermannsgast. »Was macht der Kommandant?« Die Frage war überflüssig. Köhler lag zusammengekrümmt auf dem Sofa und schlief wie ein Toter.
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17.
Die Lage war nicht verzweifelt, sondern aussichtslos. Die Seekarte gab darüber Auskunft wie ein Buch. Sie trieben aus der Mitte der Seinebucht, Standlinie Antifer - Barfleur, in den Ärmelkanal. Zwar waren sie der Umklammerung der Bänke entgangen, dafür aber ohne Antrieb hilflos den Gezeiten ausgeliefert. Nachdem der Ebbstrom voll eingesetzt hatte, zog der gewaltige Flutberg Milliarden Tonnen Wasser wie ein Sog aus dem Kanal ab. Er riß sie mit sich und schob sie rettungslos auf die englische Küste zu. Jede Stunde vier oder fünf Seemeilen. Das machte in sechs Stunden mindestens zwanzig Seemeilen. Dann standen sie im Morgengrauen dicht vor der britischen Steilküste. Ehe die Flut einsetzte und sie wieder ostwärts schob, würde man sie ausgemacht haben. Die Versenkung eines unbeweglichen Zieles mit Fernartillerie war ein Klacks, ein Vergnügen für jeden Artilleristen. Der Funker verließ sein Schapp, den Hörer noch auf den Ohren. »Der Funkspruch ist raus, Herr Oberfähnrich. Die Antwort wird etwas dauern. Eine Wettermeldung habe ich noch.« Er reichte den flachen Blechbehälter zum Gegenzeichnen. 129
Schneider trat in das Ruderhaus und las im Schein einer Kompaßsoffitte: »Aufkommender Nebel von Calais bis Kap Haque. Windstille.« »Dann finden sie uns nicht«, befürchtete er. »Der Schlepper wird gar nicht erst auslaufen.« »Sie müßten Röntgenaugen haben.« »Sie werden mit sich selbst genug Arbeit bekommen. Nichts ist schwerer, als an einer Küste allein das Mauseloch zu finden, das sich Hafeneinfahrt nennt,« Nebel fürchtete jeder Kapitän, jeder Seemann. Im Nebel gab es Rammings, im Nebel geriet man auf Untiefen, weil man nicht mehr wußte, wo mein sich befand. Im Nebel strandeten die erfahrensten Schiffer. Den Nebel haßten sie wie die Pest. Aber im Nebel, ohne Schraube, abtreibend im Gezeitenstrom, das war schlicht und einfach das Ende. Die Sicht wurde diesiger. Waschküchenmäßig. Bei Schönwetter irrten die Meteorologen mitunter. Bei Schlechtwetter irrten sie nie. Ruhelos ging Schneider auf und ab. Immer wieder rief er in die Funkbude, ob eine Meldung für Logger-29 durchgekommen sei. Der Funker verneinte. »Die haben alle Hände voll zu tun, Herr Oberfähnrich. Ein Räumboot hängt mit dem Gerät an einem unbekannten Wrack. Sie liegen schon im dichten Nebel. Habe ich soeben entschlüsselt.« Sie hatten also gar keine Zeit für den Logger-29. Die Gruppe war wichtiger als der Lepradampfer. Klarer Fall von Taktik. Schneider ging an Deck, Meile um Meile schoben sie sich tiefer in die Suppe. Achilles stand achtern bei der Oerlikon-Bedienung. Kaum, daß er zu fragen wagte: »Wie steht's, Herr Oberfähnrich?« 130
Schneider suchte nach aufmunternden Worten. »Solange Nebel herrscht, haben wir jede Chance.« »Dann sieht uns kein Gegner nicht.« »Ja, Nebel macht blind. Die Guten und die Bösen.« »Und wenn er abzieht, der Nebel?« »Bis dahin hat man uns gefunden und schleppt uns ein.« Ein Matrose traf eine unangenehme Feststellung. »Wir treiben doch nach Westen, Herr Oberfähnrich.« Schneider wollte die Leute nicht belügen. »Richtig. Nordwestlich.« Ein anderer scherzte mühsam: »Ich wollte schon immer mal nach Schottland ...« »Und ich habe immer gesagt, wenn wir mit dem Dampfer hops gehen, dann auf besondere Art. Das habe ich mir immer gewünscht. Durch eine Mine zerbröseln, das kann jeder. Absaufen, das haben sie uns schon am Skagerrak vorgemacht. Aber daß sie mit Fernartillerie auf einen alten Logger schießen, das kam noch nicht vor, da ist morgen Premiere. Für jeden von uns eine schöne runde Zweiundvierziger. Wieviel Schuß, schätzen Sie, werden sie für uns brauchen, Herr Oberfähnrich?« »Idiot«, bemerkte einer, »frag besser, was eine Langrohrgranate kostet. Die sehen doch, was wir wert sind. Nullkommanull, Die nehmen uns eher auf den Haken und schleppen uns ein. Dann gibt's Kaffee und Torte mit Schlagsahne. Ich habe gehört, daß die Gefangenenverpflegung drüben recht ordentlich sein soll.« Sie gaben sich stärker, als sie in Wirklichkeit waren. Jeder ohne Ausnahme liebte plötzlich den Lepradampfer, aber sie redeten nicht davon. Lieber behaupteten sie das Gegenteil. Schneider hörte im Weitergehen, wie einer aufschneiderisch den Mund voll nahm: »Die Tommys schanghaien 131
uns erst, dann setzen sie die englische Flagge, den Union Jack, und gewinnen mit dem Logger noch den Krieg. Was glaubst du, wie der alte Dampfer wieder rennt, wenn kein Nazi mehr am Ruder ist!« Während er an der Heckwulst stand und in das Wasser starrte, das schwarz war und fast ohne Bewegung, machte sich Oberfähnrich Schneider so seine Gedanken. »Wo ist der Kommandant, Herr Oberfähnrich«, schreckte ihn eine Stimme. Es war Achilles. »Im Kartenhaus. Er schläft. Den kriegt keiner so schnell wach.« »Ich schon.« »Wozu?« »Was Privates.« Schneider hatte Vorahnungen, »Sie verlassen Ihren Posten nicht, Achilles. Das ist ein Befehl. Wenn ich Sie auf der Brücke erwische, dann lasse ich Sie festnehmen.« Fink, der Leitende, kam dazwischen. »Eine üble Sache, Herr Oberfähnrich«, meldete er. »Bei dem Manöver hat das Stevenlager was abbekommen. Wir machen ständig Wasser, Steht schon dicht unter den Flurplatten. Wir kommen nicht an das Leck heran. Es sitzt im Stevenrohr.« Schneider wollte sich den Schaden ansehen und folgte dem Leitenden in die Maschine. »Warum pumpen Sie nicht?« »Das tun wir schon die ganze Zeit, aber wir schaffen zu wenig.« »Warum? Das Leck ist doch nicht groß.« »Das schon, aber unsere Pumpendichtungen sind defekt.« »Ihre Sache.« 132
»Solche Dichtungen sind nicht mehr zu kriegen.« So kam alles zusammen. Was nur immer möglich war, stürzte auf sie herein. Alles, was sie für einen langsamen, genußvollen Tod benötigten. ***
Bootsmaat Achilles hatte den Oberfähnrich mit dem Leitenden in der Maschine verschwinden sehen. Lauernd blickte er sich um und erklomm affengleich die Brücke. Niemand bemerkte es. Den Rudergänger, der in der Steuerbordnock mit dem Steuermannsgasten palaverte, umging er. Leise öffnete er das Schott zum Kartenhaus. Das Licht ging automatisch aus, sobald man die Vorreiber betätigte. Achilles schlüpfte in den tabakmuffigen Raum und schloß die Tür. Als das Licht aufleuchtete, sah er das leere Sofa. Der Kommandant war verschwunden. Der Funker suchte nach Oberfähnrich Schneider. Er fand ihn am Heck. »Funkspruch von der Flottille. Sie können im Augenblick nichts für uns tun. Wir sollen uns laufend mit Positionsangabe melden.« »Ist das alles?« »Das ist alles.« Schneider hatte nicht im Ernst damit gerechnet, daß sie eine Rettungsexpedition starten würden, aber ein paar zuversichtliche Worte hätten genügt. Selbst wenn es sich nur um leere Versprechungen handelte. Der Koch brachte Kaffee. Wie immer hatte er den Zukker in der Hosentasche. Jeder bekam aus seiner Faust 133
nach Wunsch. Der Kaffee war stark und süß. Er riß den Oberfähnrich aus seiner Lethargie. Aber was half das? Schneider wußte, daß sie nichts tun konnten. Absolut nichts. Kein verstecktes As war im Ärmel. Entweder man fand sie und schleppte sie heim, wofür unter diesen Umständen nicht die geringste Aussicht bestand, oder die Engländer sichteten sie, wenn sie am Sperrgürtel entlangtrieben. Dann konnten sie kämpfen oder sich ergeben. Kämpfen werden wir vermutlich nicht, dachte Schneider. Wir sind nicht in Stalingrad. Wir sind nicht in Rußland, sondern auf See. Aber ganz klar, die Stunde würde kommen. Eine harte Entscheidung für ihn. Auch ein Pazifist wie Martin Thomas Hanno Schneider war nicht gerne feige, Feigheit war etwas, was einem Mann schlimmer nachhing als Mord und Totschlag ... Er schlürfte den Kaffee und ging dabei vor auf die Back. Die Männer standen tatenlos herum. »Wir halten weiter scharf Ausguck. Klar?« »Jawohl, Herr Oberfähnrich.« Einer imitierte die bekannt gutturale Hitlerstimme: »Wo der teutsche Soldat stett, da stett er!« »Wo ist Bootsmaat Achilles?« Sie zuckten mit den Schultern. Auf der Back hatte ihn keiner gesehen. *** Pille Achilles verließ das Kartenhaus so unbemerkt, wie er gekommen war. Wieder an Deck, rief er nach oben: »Rudergänger! Habt ihr den Kommandanten gesehen?« Er sprach gerade so laut, daß ihn der Mann verstand. Der Matrose beugte sich herunter. »Wir haben ihn in 134
seine Kammer gebracht.« »Ist gut dann«, antwortete der Bootsmaat. Indem er es vermied, dem Oberfähnrich zu begegnen, schlich er sich in Köhlers Kammer, die hinter dem Ruderhaus lag, und verschwand im Dunkel.
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18.
Das englische Schnellboot fuhr in weitem Bogen die Seinemündung aus. Mit verschärftem Ausguck und halber Fahrt schlich es dahin, geduckt wie ein Fuchs auf Beutezug. Die Torpedos lagen schußbereit in den Rohren, aber noch fehlte das Opfer. Weil sich nichts, aber auch gar nichts auf See zeigte, machte der Kommandant einen Schlag nach Osten. Er wußte von der Räumbootgruppe vor Dieppe. Wenn die Nacht schon keinen Frachter für ihn übrig hatte, dann wollte er wenigstens versuchen, sich ein Fahrzeug aus dem Minensuchverband herauszubeißen. Bekannt war ihm ferner, daß die Gruppe Le Havre als Stützpunkt hatte. Sie würde also versuchen, vor der Dämmerung dort einzulaufen. Dabei mußten sie sich zwangsläufig auf parallelem Kurs begegnen. Der Leutnant hielt sein Boot so nahe der Küste, wie es die Wassertiefe erlaubte. Obwohl er 18 Meilen nach Osten gelaufen war, kam er nicht an die Räumbootgruppe heran, sondern in den Nebel. Mit dem Instinkt des erfahrenen Jägers erkannte er, daß der Nebel in feindlichem Fahrwasser gefährlich für ihn war. Deshalb drehte er wieder auf Nordkurs, dann auf 136
West. Seine Absicht war, die Seinebucht noch einmal in ihrer größten Breite zu durchkämmen und den Rückmarsch anzutreten, sobald Portsmouth querab lag. Auf dem neuen Kurs verließ das Boot auch wirklich die Nebelbänke. Die Sicht wurde besser. Deshalb ließ der Leutnant sein Boot mit großer Fahrt durch die ruhige See laufen und glaubte, irgendwie noch an den Gegner zu geraten. Es war aufkeimender Optimismus, der ihn wach und auf Lauer hielt, der ihm sagte, daß ein so schlauer Pirschgang nicht vergebens sein konnte. Gegen zwei Uhr morgens stand er an dem Punkt, wo er sich entschließen mußte, Heimatkurs zu befehlen. Noch zögerte er und schob die Rückfahrt Minute für Minute hinaus. Meile um Meile geriet er näher Richtung Cherbourg. Er hoffte immer noch auf ein Ereignis, vielleicht einen Frachter zu entdecken. Schließlich gab er es auf. Er warf den Zirkel auf die Seekarte, wo die Kurse der letzten Stunden eingezeichnet waren. Sie glichen dem griechischen Buchstaben Alpha. Eine weite Schlinge, deren Enden sich überkreuzten und wieder auseinanderliefen. Der Leutnant setzte den Kurs zur Insel Wight ab und gab dem Rudergänger die neue Kompaßzahl. Ausholend schwenkte das Boot herum, Richtung englische Küste. Im Funkschapp verlangte der Kommandant genauen Standort durch Radiopeilung. Es dauerte einige Minuten. Als er wieder auf die Brücke kam, betrug die Sicht kaum eine Kabellänge. »Beide Maschinen langsame Fahrt voraus!« Er reduzierte die Fahrt noch weiter, geriet jedoch in immer dichtere Waschküche. Zwar waren die Einheiten der Kanalverbände Nebel gewohnt, doch was sich in dieser Stunde zusammenbraute, übertraf alle Erwartungen. Die 137
Brückenwache sah kaum noch den Flaggenstock am Heck des Bootes. Von Sicht voraus konnte keine Rede sein. Das Schnellboot verringerte abermals die Drehzahlen. Nebel schlug sich auf dem Lederzeug in Tropfen nieder und rann in schmalen Streifen zu Boden. Die Gläser wurden völlig unbrauchbar. Ein Mann war ausschließlich damit beschäftigt, ständig die Okulare mit Wildlederlappen zu trocknen. Bald darauf half auch das nichts mehr. Mit bloßen Augen starrten sie in die Nacht voraus. Der Funker brachte einen Spruch auf die Brücke. »An alle Einheiten auf See. - Im südlichen Kanal, bis zum Festland, dichter Nebel. - Hält vermutlich auch tagsüber an. - Einlaufen nach Lage. - Admiral der Küstensicherung.« Sie verringerten erneut die Fahrt, liefen kaum noch sechs Knoten Geschwindigkeit. Der Mastermaat wandte sich an seinen Kommandanten: »Sir, obwohl nicht anzunehmen ist, daß wir mitten im Kanal auf einen anderen auflaufen, würde ich trotzdem stoppen.« Der junge Leutnant trug allein die Verantwortung für Besatzung und Gerät. Es war ein neues, schönes und erfolgreiches Schnellboot mit erstklassigen Männern. Er wollte nichts riskieren. Vielleicht lichtete sich der Nebel in wenigen Stunden. Also gab er den Maschinenbefehl: »Stop!« Die Motoren standen augenblicklich. Stille ringsum. Lautlos trieb das Schnellboot im Gezeitenstrom dahin. Jeder Schritt, jeder Handgriff dröhnte überlaut durch den Rumpf. Deshalb vermied jeder, Geräusche zu machen. Sie warteten, bewegungslos lauschend und spähend. 138
*** Oberfähnrich zur See Schneider saß achtern auf einer Wasserbombe und kaute ein belegtes Brot. Der Nebel war wie dreckiger Müll und beinahe zum Anfassen dicht. »Solange Nebel ist, sind wir in Sicherheit«, sagte er zum Heckausguck. »Wie bei einem Todesurteil, wenn man den Termin der Hinrichtung nicht kennt, Herr Oberfähnrich.« »Meinetwegen könnte der Nebel 85 Jahre so bleiben.« »Dann wäre ich hundertfünf und der Krieg vielleicht vorbei.« »Rauchen bis auf weiteres erlaubt«, rief Schneider in die Runde. Er zündete sich eine Zigarette an. Überall machten sie es ebenso. Schneider fielen Erzählungen aus dem Ersten Weltkrieg ein. Damals waren die Männer tagelang im Trommelfeuer in den Erdbunkern gehockt. Wenn sie sich dann zum Angriff sammelten und in den Gräben auf die entscheidende Minute warteten, gab es Schnaps und noch eine letzte Zigarette. Mit Schnaps im Magen hatte jeder mehr Mut, und man fühlte den Schmerz nicht so, wenn es einen erwischte. »Wer hat hier den Schnaps in Verwahrung?« fragte Schneider. »Der Smut«, antwortete einer. »Holen Sie den Smut her.« Nach einer Weile kam der Koch in seinen Holzpantinen und brachte eine Platte mit Schinkenbroten mit. »Smut, geben Sie Schnaps aus!« befahl Schneider. »Pro Nase einen Viertelliter.« Der Koch zögerte. 139
»Das kann ich nur mit Anweisung des Kommandanten.« Schneider pfiff auf den Obersteuermann. »Den ich vertrete. Das ist ein Befehl von mir. Wenn Sie selbst von dem Verpflegungsschnaps saufen, dann fragen Sie auch nicht nach 'ner Anweisung. Außerdem haben wir deutliche Gründe dafür.« »'ne Leichenfeier!« tönte es aus dem Hintergrund. Der Koch verschwand, kam wieder und trug vier Flaschen nach achtern. Sie trieben die Korken durch Bodenschläge mit den Händen aus den Flaschen. Doch bevor sie tranken, reichten sie eine davon dem I WO. Schneider nahm einen tiefen Zug und gab sie zurück. »Hat einer den Bootsmaat gesehen?« »Eben war er noch um die Ecken.« Sie riefen über das Deck vor zur Back und auf die Brükke. Achilles meldete sich nicht. »Hat sich wohl hingehauen und macht klar bei Auge.« »Auf See schläft der nie«, meinte ein anderer. Schneider erhob sich von seiner harten Wasserbombe. »Das Palaver einstellen, Männer, oder flüstern. Weiter scharf Ausguck halten. Ich möchte mir jetzt die Mannschaftsräume ansehen.« Ein Matrose baute sich vor ihm auf. »Darum würde ich ein andermal bitten, Herr Oberfähnrich. Wir hatten keine Zeit aufzuklaren. Sie werden einen schlechten Eindruck...« Das machte Schneider hellhörig. Den Männern war doch völlig egal, welchen Eindruck er von ihnen hatte. Was war da wieder los? Er ließ sich nicht mehr abhalten, ging über das nasse Deck und tastete nach dem Niedergang, der am Vorschiff unter dem Aufbau für Rettungsflöße lag. 140
Das Schott schrie in den Angeln, als er es öffnete. Stufe um Stufe stieg er abwärts. Mief schlug ihm entgegen. Trotz Schummerlicht bot das Halbdunkel eine Ahnung von Chaos. Ausrüstungsgegenstände, Uniformstücke, Seestiefel, Schwimmwesten, Stahlhelme und Gasmaskenbüchsen lagen herum. Auf der Back türmte sich verschimmeltes Kommißbrot, Margarine war verschmiert, Marmelade verkleckert. »Sauhaufen!« fluchte er. Die Kojen waren zerwühlt. Schmutziges Bettzeug schaute unter den grauen Decken hervor. Mädchenfotos hingen überall, wo es Holz gab, um sie anzuheften. Nur den Bootsmaat Achilles fand er nicht. Schneider wollte das Matrosendeck verlassen, um in der Unteroffiziersmesse nachzusehen, als er bemerkte, wie sich der Vorreiber zur Farben- und Pieklast bewegte. Schneider horchte mit dem Ohr am Schott. Weil er nichts hörte, versuchte er die Stahltür zu öffnen. Sie wurde zugehalten. »Aufmachen, sofort!« befahl er barsch. Darauf erfolgte keine Reaktion. Schneider glaubte aber, ein Flüstern zu vernehmen. »Wenn Sie nicht sofort rauskommen, lasse ich das Schott mit Gewalt aufbrechen.« Doch der Mann in der Vorpiek stellte sich tot. Schneider holte Verstärkung. Die Matrosen polterten den Niedergang herunter. Einer der Heizer brachte ein Brecheisen mit. Betreten standen die Männer herum, blickten zu Boden, als käme gleich ein Unwetter auf sie nieder. »Öffnen Sie!« befahl der Oberfähnrich dem Heizer. Der schob die Eisenstange gegen den Riegel und drück141
te ihn gewaltsam nach unten. Doch dann ging das Schott von selbst auf. Ein Matrose kam zum Vorschein und hinter ihm noch einer. Ais Schneider den zweiten bei Lichte sah, war er einen Augenblick fassungslos. Der andere Matrose war eine Frau. Es war Jacqueline. Kopfschüttelnd musterte Schneider die Runde. Das Matrosendeck hatte sich inzwischen gefüllt. Wer keinen Platz in dem engen Raum fand, saß auf den Stufen zum Niedergang. Alle warteten sie auf das Strafgericht. Doch Schneider sah plötzlich alles ganz anders, als er es hätte sehen müssen. Wenige Meter unter ihnen begann die See. Sie trieben ohne Schraube, und keiner wußte, wie er den Tag überstehen würde. In dieser Lage, kaum älter als die meisten der Matrosen, den Vorgesetzten mimen zu wollen, der eiserne Disziplin forderte, das schien ihm lächerlich. Ja, es war ihm unmöglich. Außerdem machten sie sich verdammt wenig daraus, wie er die Angelegenheit behandelte. Es ging ihnen mehr um das Schauspiel, um die Aufführung, die er ihnen bot. Was blieb ihm also übrig, als einen Sketch daraus zu machen? »Nehmen Sie die Mütze ab«, sagte er zu Jacqueline. Sie zog das Käppi herunter. Ihr langes Haar fiel bis an die Hüften. Jetzt war sie wieder das Mädchen vom Nachmittag. Daß Schneider fließend Französisch sprach, imponierte den Männern irgendwie, auch daß er nicht herumtobte. »Wie kommst du an Bord«, baffte er sie an, »du verflixtes kleines Biest?« 142
Sie schwieg betreten, war nicht zum Reden zu bewegen. Schneider wandte sich an den Matrosen, der mit ihr in der Piek gelegen hatte. »Wer hat sie an Bord gebracht?« Keiner antwortete. »Ich möchte nichts weiter wissen, nur den Mann will ich, der sie an Bord geschmuggelt hat.« Er fixierte die Männer einen nach dem anderen. Wo er hinsah, blickten sie zu den Flurplatten hin. Nur Jacqueline trotzte ihm mit ihren grünen Katzenaugen. Sie stemmte die Hände in die Hüften und versuchte es mit einem unglaublichen Lächeln. Schneider schluckte und übersah es. »Nicht auch noch brüsten«, sagte er zu ihr, »dazu sind deine Titten zu klein.« Dann zu seinen Männern gewandt: »Seid ihr zu feige? Wer hat diese Konfirmandin auf den Logger geschleppt?« Endlich meldete sich einer. »Ich habe nichts gesehen, Herr Oberfähnrich. Ich war den ganzen Tag nicht runter vom Dampfer.« Ein anderer fügte hinzu: »Wäre uns bestimmt aufgefallen. Was, Kumpels?« Schneider überlegte, wie er da herauskam. Bloß kein Verhör. Es gab Wichtigeres. »Keiner hat also gesehen, wie die Dame auf den Logger kam.« »Nein«, riefen sie durcheinander. »Ich glaube, die wohnt schon immer hier«, bemerkte einer aus dem Halbdunkel. Schneider machte Schluß mit dem Prozeß. Die Anwe senheit der kleinen Nutte ließ jede Ernsthaftigkeit zur Farce werden. »Gut, wenn sie keiner an Bord gebracht hat, wenn sie schon immer hier war, dann ist sie Marine143
eigentum. Aber Marineeigentum wird gepönt. Unter der Wasserlinie rot, über der Wasserlinie grau.« Er übersetzte es für Jacqueline. Das Mädchen erblaßte. »Der Anstrich erfolgt nach dem Einlaufen mit Ölfarbe.« Schneider teilte zwei Matrosen ab. »Sie sperren die Dame in meine Kammer. Ein Mann als Posten. Aber vor der Tür. Verstanden?« »Jawoll!« brüllten sie. Er warf noch einen Blick in die Vorpiek, die zum Bug hin spitz zulief. In der Ecke lehnten Barockrahmen mit und ohne Bilder, schwere silberne Leuchter sah er, Teppichrollen und eine Kiste mit Porzellan. Alte Münzen lagen verstreut herum und eine Kette mit Kruzifix. Während er das Schott schloß, erinnerte er sich an den Durchsuchungsbefehl des Feldgendarmen. »Leute«, sagte er ernst, »unsere Lage ist zu beschissen, um damit anzufangen, aber unter uns gesagt, das ist Plünderei, Leichenfledderei. Sollten wir jemals wieder einen Heimathafen anlaufen, geht das Zeug vorher über Bord. Ich fürchte nur, solange wir den Kram mit uns herumschleppen, werden wir niemals mehr Land zu sehen bekommen. Niemals...« »Wie der fliegende Holländer.« »Ja, wie der Fliegende Flohhändler«, feixte einer. *** Als Schneider das Deck betrat, schien es ihm, als läge der Logger mit dem Heck tiefer als normal. Er glitt den Maschinenniedergang abwärts und rief nach Fink. Der Leitende watete über die Flurplatten zu ihm. 144
»Bleiben Sie besser droben, Herr Oberfähnrich. Genügt schon, wenn wir nasse Füße bekommen.« Schneider hatte nicht erwartet, daß das Wasser so schnell steigen würde. »Wenn es so weitergeht, läßt es sich kaum vermeiden. Na schön, dann brauchen wir den Dampfer wenigstens nicht zu versenken. Er erledigt es von alleine.« Das Ansaugen und Ausdrücken der Pumpe war in regelmäßigen Abständen zu vernehmen. »Wir haben sie notdürftig instand gesetzt. Sie schafft, aber nur mit halber Leistung.« »Wieviel?« »Vielleicht fünf Liter pro Hub.« Schneider nickte stumm. Am vorderen Querschott arbeiteten zwei Heizer. An ihren Schatten sah man, wie sie sich mit der Spillspake am Wellenrohr abmühten. Noch lief der Jockel, der Benzinmotor für das Lichtaggregat. »Wie lange werden wir uns noch halten?« fragte der Oberfähnrich. Der Leitende rechnete. »Nicht genau zu sagen. In einer Stunde wird der Jockel versaufen, wenn das Wasser in den Vergaser läuft. Solange wir noch pumpen können, steigt es langsamer. Vielleicht vier oder fünf Stunden, schätze ich. Höchstens. Bei den alten Kästen weiß man nie so genau, wann sie Auftrieb haben und wann sie wegsacken. Jedenfalls wird es langsam vor sich gehen.« »Aber gemütlich, damit wir was davon haben«, bemerkte Schneider zynisch. Er verließ den Schauplatz, der der Ausgangspunkt für das langsame Sterben des Loggers war. 145
19.
Bootsmaat Achilles war unbemerkt über den Süllrand in die Kammer des Obersteuermanns eingedrungen. Hinter sich verschieß er die Stahltür fest. Sie war so massiv, daß kein Laut nach draußen drang. Er suchte nach der Lampe über dem Schreibtisch, knipste sie an und richtete den Schein mitten in das Gesicht des Kommandanten. Aus den verwüsteten Zügen Köhlers glaubte er noch die Stunde der Liebe mit Michou ablesen zu können. Mit Michou, seiner kleinen Michou. Achilles ließ den Haß in sich hochsteigen. Seine Gedanken malten ein Bild dieser düsteren Szene. Er sah Köhler sich auf das Mädchen stürzen. Er sah, wie Michou sich zur Wehr setzte, aber dem Tier unterlag. Sie rief nach ihm, nach ihrem Achilles, aber er hörte sie nicht. Er war in diesem Moment weit weg und ahnungslos an Bord. Er sah die grell grinsende Visage des Obersteuermanns, wie er sich über Michou beugte und immer nur keuchte: Schrei nur, miese Hure! Dein Orang-Utan hört dich nicht. Dein Karussellschieber hockt an Bord und puhlt sich die Läuse aus dem Hemd. Schrei nur, Michou, schrei...! So muß es gewesen sein, dachte Achilles, so war es. Laut stöhnte er auf. Die Luft in dem engen Raum war heiß und verbraucht. 146
Der Schweiß brach ihm aus. Seine Bärenhände waren naß, ehe er sie an den Hosen abwischte und den Obersteuermann wachrüttelte. Er packte ihn bei den Schultern und bewegte ihn, wie ein Kind seine Puppe. Als Köhler die Augen immer noch nicht öffnete, goß er ihm aus der Karaffe kaltes Wasser ins Gesicht. Mühsam wurde Köhler unter der Behandlung wach. Er richtete sich stöhnend auf und versuchte, mit ausgestreckter Hand die blendende Lampe abzudunkeln. Achilles schlug sie ihm herunter. »Licht muß sein, wenn ich dich fertigmache.« Endlich schien Köhler sich zurechtzufinden. Er staunte: »Du, Achilles? Mensch, was ist los?« Seine heiser rauhe Stimme drang fast tonlos wie angestrengtes Flüstern aus seinem Hals. »Das werde ich dir gleich verklickern, du Sau!« Achilles hatte die Mauser gezogen und wog sie in der Hand wie ein Henker das Beil. »Was war mit Michou?« Köhlers Hirn reagierte mühsam. Er wich der Frage aus, schien sich jedoch zu erinnern, daß er Kommandant eines Loggers war. »Was ist mit dem Schiff, Pille? Warum liegen wir gestoppt?« Achilles lehnte sich an den Spind. Er hatte Zeit. Ihm war egal, wie er ihn fertigmachte. Er konnte auch so herum, »Ich will es dir erzählen, du Flasche. Erst habt ihr den Kurs falsch abgesetzt, und dann sind wir aufgelaufen. Dann haben wir die Schraube verloren, und jetzt treiben wir im Nebel mittenmang auf die englische Steilküste zu. Aber keine Bange, Chef, wir haben ein Leck im Stevenrohr und machen Wasser. Wir saufen rechtzeitig ab, ehe sie kommen. Deshalb ist es auch nicht weiter tragisch, wenn ich dich jetzt über den Haufen knalle, weil es nie ei147
ner erfahren wird. Ich will es tun, verstehst du, ich will es mit meinen eigenen Händen tun. Kapierst du das?« Die letzten Worte hatte er ihm ins Gesicht geschrien. Köhler wurde allmählich klar im Kopf. »Ich warte nicht, Köhler, bis du in der See versinkst. Einmal habe ich vergebens gewartet, das war heute nachmittag. Ich will es nur noch hören! Von dir persönlich will ich es hören: Was war mit dir und Michou?« Endlich hatte der Obersteuermann geschaltet. Er suchte nach Zigaretten und Streichhölzern. Er wollte Zeit gewinnen. »Mit Michou«, antwortete er ausweichend, »mit Michou war gar nichts.« Dann versuchte er den Bootsmaat abzulenken: »Warum schleppt man uns nicht ein? Habt ihr die Havarie nicht gemeldet?« Achilles sah ihn an, mit Geringschätzung und Verachtung. »Du hast keine Ahnung, Köhler. Die müssen umnachtet gewesen sein, als sie dich zum Kommandanten befördert haben. Die Gruppe liegt irgendwo vor Dieppe, 30 oder mehr Meilen im Norden. Sie haben Nebel wie wir.« »Dann gebt durch, daß wir sinken.« Achilles lachte nur. »Unnötig. Es ist gut, daß wir abtrudeln. Laß dir das erklären, Käpt'n. Wenn der Dampfer erst weg ist, dann spielt es keine Rolle, ob der Kommandant in seiner Kammer mit abgesoffen ist oder ob er eine Kugel im Kopf hat. Ein anständiger Kommandant geht immer mit seinem Schiff auf Tiefe.« Köhler rauchte nervös. Seine Hände zitterten. »Du bist verrückt, Pille. Verrückt, was du da redest und der ganze Mist mit Michou.« Achilles ließ sich nicht beirren. »Den Mist mit Michou weiß ich von unseren Männern. Sie sind Zeugen. Vier 148
Stunden warst du mit ihr allein. Du brauchst nur zu sagen, daß es stimmt. Ich verspreche dir, daß ich dich Arsch mit dem ersten Schuß totkriege. Wenn du aber leugnest, dann lege ich dich langsam um. Weiß nicht, ob es dir Spaß machen wird, noch lange darauf zu warten.« Köhler wollte Zeit schinden. Er war Achilles an Schläue überlegen. Selbst in seinem augenblicklichen Zustand. Er suchte nach einem Ausweg. Mit Gewalt würde er nichts erreichen. Und wenn er ihm krumm kam, dann drückte der Bootsmaat vermutlich ab. Köhler begann zu sprechen, zögernd, um eine Taktik ringend: »Ich kann verstehen, daß du ein paar Matrosen mehr Glauben schenkst als mir, aber ich versichere dir, Pille, daß zwischen Michou und mir nichts gewesen ist. Sie gefällt mir, das gebe ich zu. Ich möchte sogar behaupten, daß ich verrückt nach ihr bin. Aber ich frage dich, wer ist nicht verrückt nach ihr? Die ganze Stadt, die Besatzungen und du.« Lauernd beobachtete er, ob seine Worte Wirkung zeigten. Dann, als er das unbewegte Gesicht des Bootsmaats sah, fuhr er fort: »Ich war mit Michou allein, das stimmt. Ich habe dir verboten, an Land zu gehen, um bei ihr freie Hand zu haben. Das war eine Schufterei. Ich habe alles versucht, habe mit ihr getrunken, habe sie besoffen gemacht. Aber es war ohne Erfolg.« Achilles lockerte seine Faust, die um den Pistolengriff lag. »Das genügt«, antwortete er. »Du hast die halbe Wahrheit gesagt, die ganze kenne ich selbst.« Köhler beschwor ihn: »Mensch, Pille, glaub mir doch! Geht denn nicht in dein verfluchtes Spatzenhirn, daß die Sache anders lief, als ich dachte? Ich bin noch gar nicht am Ende. Das Beste kommt erst. Und dafür bringe ich dir jede Menge Zeugen.« 149
Dem Obersteuermann war die Erinnerung an die letzten Minuten in der Bar zurückgekehrt. Er klammerte sich daran, wie an einen Rettungsring, versuchte Pille einzureden, daß er ihn ruhig umlegen dürfe, wenn sich sein Verdacht bestätigen sollte. Aber es ginge doch um Tatsachen, nicht um Gerüchte, oder? »Achilles«, sprach er weiter, »halten wir uns an die Wahrheit. Frag Michou.« Der Schmadding wurde unsicher. »Wir werden sie nie mehr sehen. Weder du noch ich.« »Dann frag die anderen. Michou hat mich stehenlassen. Es war genau neun Uhr. Sie saß bei einem Kerl am Tisch. Eine halbe Stunde vielleicht. Dann wollte sie mit ihm verschwinden.« Achilles kamen Zweifel. »Wer soll das gewesen sein?« Köhler nannte ihm noch nicht den Namen. »Ich ging ihnen nach und hielt sie zurück. Sie hing an seinem Arm wie die Königin von Saba bei Salomon. Augen hatten sie beide wie vorgestern. Die liebe Michou hat uns beiden Hörner aufgesetzt, Achilles.« »Mit wem?« Köhler drückte den Lauf der Mauser zur Seite. »Mit wem?« drang Achilles noch einmal in ihn. »Mit Schneider.« »Du lügst um dein Leben.« »Ich würde alles dafür tun. Aber so war es nun mal.« Achilles preßte die Lippen aufeinander, daß seine Kinnladen vierkant hervortraten. »Wie war es?« »Es war Schneider, du Blödmann.« »Dann gnade ihm Gott!« Köhler hoffte, ihn überredet zu haben. Der Haß des anderen richtete sich jetzt gegen den Oberfähnrich. Schweigend starrten sie sich an. 150
»So war es, bei Gott!« sagte der Obersteuermann. »Tu mir den Gefallen und öffne das Fenster. Ich gehe sonst noch ein.« Er sank zurück. Achilles war in den Klappstuhl gesackt. Seine Gedanken brauchten Zeit, um sich auf die neue Lage einzustellen. »Schneider!« preßte er immer wieder vor sich hin. »Schneider!« Ein Geräusch am Schott schreckte ihn auf. Die Vorreiber drehten sich. Als das Schott sich öffnete, ging das Licht aus. Der Kontakt schloß erst wieder, als ein Dritter in der Kammer stand. Das Licht fiel auf ihn. Es war Oberfähnrich Schneider.
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20.
Kurz vor Dämmerungsbeginn hatte der Funker auf Befehl Schneiders noch einen Spruch abgesetzt. Er lautete knapp und sachlich: »Boot macht Wasser. Halten uns noch zwei Stunden. Vernichten Geheimsachen und gehen von Bord.« Die Sicherungsdivision bestätigte und funkte zurück: »Versuchen euch aufzufischen, sobald Wetter ausreichend. Viel Glück!« Das war der übliche Ton. »Macht's gut, Kameraden. Der erste Atemzug voll Seewasser schmerzt in den Lungen. Danach geht es schnell vorüber. Vergeßt nicht zu singen: Deutschland über alles, und Die Fahne hoch. - Wenn ihr keine Zeit mehr habt, dann fangt gleich mit dem Horst-Wessel-Lied an, damit ihr fertig werdet... Ende. Diese Station schaltet ab.« Der Jockel lief noch und machte Strom. Aber die salzige Brühe spülte schon um das Kurbelgehäuse. Sie stieg mit jeder Minute. Die Heizer pumpten aus Leibeskräften. Der Leitende hatte das Maschinenoberlicht öffnen und eine Leiter anlegen lassen, damit sie rasch herauskamen, wenn es zu den Fischen ging. Der Nebel hatte sich gelichtet. Im Osten war er nicht mehr so nachtschwarz. 152
So trieben sie dahin. Die Seeleute standen an Deck herum. Manche hatten ihre Schwimmwesten aufgeblasen und vorzeitig die schweren Seestiefel gegen leichte Bordschuhe vertauscht. Die Rettungsflöße waren losgefiert und die Schlauchboote klar zum Abwerfen gemacht. Der Koch hatte eingesehen, daß es zwecklos war, seine Konserven und die eisernen Rationen weiter zu behüten. Er verteilte Erdbeerbüchsen und Schokakola, Kondensmilch, Rohwurst und Frischeier. »So ein Frühstück schraube ich mir gern alle Tage in den Bauch«, schmatzte einer kauend. »Daß man immer erst absaufen muß, um satt zu werden«, witzelte der Geschützführer. Irgendwo rezitierte einer Schiller, den »Ring des Polykrates«: »Des Lebens ungemischte Freude / Ward keinem Irdischen zuteil.« »Was wird zuteil?« Man hörte auch einen Matrosen weinen. Es war der Benjamin auf dem Logger. Ein Junge von sechzehn Jahren. Klein, blond, blaß, vorzeitig von den harten Männerbräuchen erschüttert und für das Leben angeschlagen. Als alle soweit waren und jeder wußte, daß es nur noch eine Frage von Minuten sein konnte, bis sie ins Wasser mußten, geschah etwas völlig Unerwartetes, Der Krieg wandte sich mit seiner Gier, Leben zu vernichten, von ihnen ab. Erst zögernd, dann aber endgültig. Er stürzte sich auf ein anderes Objekt. Auf eines, das genauso wie Logger-29 durch den Nebel trieb. Auf ein Schiff, das strahlend neu und intakt war, seine Motoren, sein Ruder und seine Waffen gebrauchen konnte. Das eine Besatzung trug, die geduscht, rasiert, voller Stolz und Disziplin war. Ein Schiff ohne Roststelle und ohne Schramme. 153
Ein Schiff mit einem langen, untadelig eleganten Rumpf. Das englische Schnellboot der Cardiff-Klasse. *** »Habe Sie überall gesucht, Bootsmaat«, rief Schneider. Für mehr als drei Männer war in der engen Kommandantenkammer kein Platz. Sie berührten sich beinahe. »Sie sind mir nur zuvorgekommen«, fuhr ihn Achilles an, »muß Sie sprechen. Sogar dringend.« Schneider spürte die Aggressivität im Ton. »Kommen Sie heraus auf Oberdeck«, befahl er. Da sprang Achilles auf, drängte ihn vom Schott weg und warf Schneider in den Sessel. »Momang!« schrie der Bootsmaat. »Vorher beantworten Sie mir eine Frage, Herr Oberfähnrich.« Schneider schielte zu Köhler hin, aber der Obersteuermann hatte die Augen geschlossen. Er spielte den Unbeteiligten. »Achilles«, Schneider blieb sachlich, »erstens kann ich mir denken, um was es sich dreht. Zweitens habe ich überhaupt keine Frage zu beantworten, wenn ich nicht will. Aber drittens tue ich Ihnen den Gefallen. Los, fragen Sie. Aber vergessen Sie nicht, daß ich Ihr Vorgesetzter bin.« Achilles lachte verzweifelt. Was man mit ihm gemacht hatte, ließ ihn alle Zurückhaltung vergessen. »Scheißvorgesetzte! Die Herren Vorgesetzten, die einen belügen, die einem armen Schwein die letzte Freude nehmen. Die einfach kommandieren, damit sie besseres Schußfeld haben. Aber das schwöre ich Ihnen: Über Michou können Sie nicht einfach befehlen. Ich werde mich zur Wehr setzen, damit dem Recht eines Menschen 154
auf sein letztes Restchen Freiheit...« Er wollte fortfahren, ohne Atem zu holen, aber Schneider unterbrach ihn. »Stecken Sie erst mal die Pistole weg.« Der Bootsmaat stand breitbeinig da. Unbeirrt hielt er die Waffe auf Schneider gerichtet. »Gehorchen, das gibt es jetzt nicht mehr«, stieß er hervor. »Hier wird nur noch abgerechnet. Zusammengezählt unter Männern, und banko gemacht. Doch vorher antworten Sie mit >Ja< oder >Nein<. Hat Sie der Obersteuermann daran gehindert, mit Michou zu verschwinden?« »So war es«, bestätigte Schneider. »Ja oder nein?« »Ja.« »Sie geben es also zu?« »Warum sollte ich lügen?« Unerwartet fuhr Köhler dazwischen: »Warum sollte er leugnen, daß er sie vernascht hat? Sowas streitet kein Mann ab, wenn es um eine schöne Frau geht. Es ist, wie ich dir gesagt habe, Pille. Und jetzt tragt euren Kram an Oberdeck aus und nicht in meiner Kammer. Macht, daß ihr rauskommt.« Köhler drehte sich zur Wand und tat so, als sei die Sache für ihn erledigt. Achilles entsicherte die Pistole. Schneider verfolgte die Daumenbewegung, hörte das metallische Knacken. Wird er abdrücken, dieser Idiot, dachte er. Er fixierte den Bootsmaat unentwegt. So was half. Er hätte auch versuchen können, mit wenigen Worten alles aufzuklären, alles über Michou und die Harmlosigkeit der Geschichte. Doch dieser Weg war zu einfach. Da155
mit war dem Bootsmaat nicht geholfen. Er mußte Achilles überzeugen, daß er kein Recht hatte, so zu handeln. »Damit ist alles klar«, stieß Achilles hervor. Schneider versuchte es mit einem Lächeln, spürte jedoch, daß es ihm mißlang, so daß es nur eine Grimasse wurde. »Alles klar, also?« »Für Sie vielleicht, Bootsmaat, aber für mich nicht. Außerdem verhalten Sie sich wie eine Memme und nicht wie ein Kerl. Wegen einer Frau schießt man keinen Wehrlosen über den Haufen. Na schön, schießen Sie. Aber ich fürchte, es wird Sie kaum befriedigen. Denn das, was Sie wollen, haben Sie damit doch nicht erreicht. Michou gehört Ihnen trotzdem nicht. Man erobert keine Frau mit roher Gewalt. Man bekommt eine Frau überhaupt nur, wenn diese Frau es will. Bekommt man eine gegen ihren Willen, dann ist die Sache nichts mehr wert, und man sollte sie vergessen, so schnell es nur geht. Überlegen Sie vernünftig, Mann. Wie ist es denn gelaufen? Ich kam am Abend in die Bar. Ich war nie zuvor in Le Havre und habe Michou nie zuvor gesehen. Wie sollte ich ahnen, daß sie Ihr Mädchen ist?« Da unterbrach ihn Achilles. »Sie hätten sie auch genommen, wenn Sie gewußt hätten, daß es mein Mädchen ist.« Schneider haßte es zu flunkern, nur weil es Vorteile brachte. »Stimmt. Ich hätte nicht danach gefragt. Für Liebe gibt es keinen Naturschutzpark. Es gilt das Recht des Siegers.« »Das Recht des Erfolgreichen«, entgegnete Achilles. »Was ist das für ein Recht, wenn dem einen alles gehört und dem anderen nichts?« Schneider deutete mit gestrecktem Zeigefinger in die Mündung der Pistole. »Und was ist das für ein Recht, das 156
Sie mit dieser Kanone verfechten? Die Mauser bringt Sie in Vorteil. Wenn Sie mich erschossen haben, sind Sie der Erfolgreiche gewesen. Indem Sie ein Gesetz anzweifeln, befolgen Sie es. Das ist tragisch, komisch und dumm zugleich. Sie sind eben eine unglückliche Figur, Pille Achilles. Finden Sie sich damit ab.« Achilles wischte sich den Schweiß von Stirn und Hals. »Das ... das hat mir noch keiner gesagt.« Achilles suchte etwas im Raum, irgendeinen Punkt, an den sich seine Verzweiflung klammem konnte. Er wirkte hilflos wie ein Riese, dem man die Sehnen durchgeschnitten hatte. »Ich habe noch nie so deutlich gefühlt«, antwortete er geknickt, »daß ich eine Schwachmarke bin.« »Sie kommen drüber weg, Achilles.« »Aber verdammt, Sie haben Michou gehabt«, fluchte er, wie um seinem Maß neue Nahrung zu geben. Denn es war nichts als Maß und Verzweiflung, was ihm blieb. Schneider war aufgestanden. Ganz dicht trat er vor den Bootsmaat hin. »Ich habe Michou nicht gehabt, auch der Obersteuermann nicht. Doch wenn es so wäre, ich würde es nicht bereuen. Es täte mir nur leid um Sie.« »Ihr seid alle hundsgemeine Hundesöhne.« »Jetzt wissen Sie es, Achilles. Schießen Sie gefälligst, oder lassen Sie mich raus. Wir treiben im Nebel. Bald ist die Nacht vorbei. In wenigen Augenblicken können wir sinken. Dann spricht das Schicksal über jeden von uns sein Urteil. Überlassen Sie dem da droben im Himmel die Entscheidung. Er kennt uns besser, und es fällt ihm leichter. Er hat mehr Übung.« *** 157
Das Schott wurde aufgerissen, und das Licht ging aus. »Herr Oberfähnrich«, rief ein Matrose atemlos, »kommen Sie schnell!« »Was gibt's?« Schneider schob Achilles zur Seite. »Im Nebel voraus«, der Mann suchte in seiner Erregung nach Worten, »voraus, da treibt etwas.« Schneider packte Achilles am Arm. »Kommen Sie mit, Bootsmaat!« Sie stürzten aus dem Schapp und nach vorn zur Back. Schneider suchte angestrengt in der angegebenen Richtung. »Mehr achterlich«, flüsterte der Matrose. Ein Dutzend Augen bohrten sich in die Finsternis. »Da ist es wieder!« rief einer. Aus dem Nebel schälten sich, noch kaum wahrnehmbar, die Umrisse eines langgestreckten Gegenstandes. »Eine Luxusyacht?« »Sie haben Nerven, Mann!« »Schätze, 30 Meter lang mit Mast.« Schneider rief den Funker. »Ist auf unserer Position eine Begegnung gemeldet?« »Keine Begegnung, Herr Oberfähnrich.« »Wir müssen Erkennungssignal anfordern. Die Pistole!« befahl Achilles einem der Männer. »Kein ES«, entschied Schneider. »Wir warten, bis er sich rührt. Ich wette, es ist ein Engländer. Ein Schnellboot. Britische Sicherungsverbände wagen sich nicht soweit an die französische Küste. Unsere eigenen Boote sind nicht ausgelaufen. Die See war zu unruhig. Es muß ein Engländer sein.« Er befahl äußerste Ruhe. »Abwarten, Männer, bloß kein Heckmeck.« 158
Inzwischen war der Gegner im Nebel wieder unsichtbar geworden. »Sie beobachten nur nach voraus«, hoffte Schneider. »Wir treiben auf sie zu.« »Wenn sie wieder in Sicht kommen, dann höchstens noch mit einer Kabellänge Abstand.« »Eher weniger.« Sie standen am äußersten Ende der Back, »Lassen Sie wieder alle Waffen besetzen, Bootsmaat.« Sie flüsterten nur noch. Dwars, also mit leichter Breitseite, schwollen sie auf das fremde Fahrzeug zu, »Wir können die achtere Zweizentimeter einsetzen und die Kanone. Auch das Brücken-MG soll besetzt werden. Klarstand melden.« Selten waren sie so rasch auf ihren Stationen. »Ein Mann mit Wurfleine auf die Back. Festmacher bereithalten!« »Was haben Sie vor, Herr Oberfähnrich?« fragte Achilles. »Es muß ruckzuck gehen, geölterblitzmäßig. Wir dürfen ihm keine Zeit lassen, die Maschinen anzuwerfen. Sobald er nahe genug ist, beharken wir ihn mit allem, was wir haben. Keine Maus darf drüben über Deck laufen. Halten Sie mit der Zwilling auf die Brücke. Sobald ich Zeichen gebe, Scheinwerfer an und Feuer frei.« Achilles erhob vorsichtig Einspruch. »Und wenn es einer von uns ist?« Oberfähnrich Schneider lächelte bitter. »Dann ist er selbst dran schuld.« Achilles wollte auf seine Gefechtsstation turnen. »Bleiben Sie da, Bootsmaat. Wir wissen nicht, wie er sich benimmt. Es kommt auf Sekunden an. Bleiben Sie da, wir müssen aufpassen, und wir haben nichts zu verlie159
ren, aber eine tolle Chance. Für den Fall, daß mir etwas zustößt, übernehmen Sie an Deck das Kommando. Wir versuchen uns an ihn heranzuschleichen. Wenn wir ihn kriegen, dann sind wir gerettet. Und wenn wir rüberschwimmen müssen mit dem Messer zwischen den Zähnen. Die Geschützbedienungen verlassen die Waffen nur auf Befehl. Die Kanone feuert erst über den Gegner weg, aber direkt, wenn er versucht abzuhauen. Vorher also drüber weg. Verstanden?« Aus der Maschine kamen sie herauf und standen den Kameraden an den Waffen bei. Die kräftigsten Matrosen lagen auf der Back in Deckung, bestückt mit langen Bootshaken, Leinen und Maschinenpistolen. Atemlos warteten sie, daß der Gegner wieder aus dem Nebel tauchte. Minuten verstrichen. Der Nebel war gleichmäßig dick und das fremde Boot nur zu sehen, wenn eine Bank dünner wurde, wenn sich an einer Stelle der Dunst aus irgendeinem Grund leicht hob und für Augenblicke etwas Sicht erlaubte. Jetzt lag sie bei etwas mehr als zehn Meter. Zwanzig höchstens. »Warum dauert das so lange?« fluchte Achilles. Schneider erklärte kaum hörbar: »Je länger es dauert, desto besser. Wir treiben gaaanz langsam. In einer Minute kommen wir keine Bootslänge auf ihn zu. Solange es drüben still bleibt, haben sie uns nicht bemerkt.« »Und wenn sie genauso auf uns lauern wie wir auf sie?« Schneider glaubte es besser zu wissen. »Überlegen Sie doch, Mensch! Die haben nur ihre Torpedos. Um die zu verwenden, braucht man Distanz. Außerdem muß man mit dem ganzen Boot zielen. In dieser Nähe sind die uns völlig ausgeliefert. Sie haben nur eine einzige Möglichkeit, das sind ihre Maschinen. Damit können sie uns entwi 160
schen. Aber solange sie gestoppt liegen, ist das ein Beweis, daß sie uns nicht gesehen haben.« »Verstehe«, murmelte Achilles, »glaub's aber nicht.« »Ich auch nicht«, gestand Schneider.
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Schneider sah auf die Uhr. 3.11 Uhr zeigte der Marinechronometer. Sie warteten. Vor zehn Minuten hatten sie den Gegner das letzte Mal gesichtet. Kein Laut verriet den Logger. »Wenn der Krieg vorbei ist, dann ziehe ich zu meiner Kusine aufs Land«, flüsterte einer seinem Nachbarn zu. »Halt's Maul!« erwiderte dieser. »Bei uns am Bodensee ernten sie jetzt die Äpfel«, dachte einer laut, »Ruhe, verdammt!« Die Spannung wurde unerträglich. Der Nebel lichtete sich, ging wieder zu. Dann stieg der Nebel endlich für Augenblicke. »Ziel aufgefaßt!« Der Verschluß einer Zweizentimeter klickte ölig. »Und wenn wir uns getäuscht haben? Wenn da draußen gar keiner ist?« »Einer kann sich täuschen, Idiot, aber nicht alle.« Sie warteten weiter. Die Augen schmerzten. »Da!« Einer deutete nach backbord. Auch Schneider hatte es erkannt. Die Umrisse des Schnellboothecks. Wie eine Fata Morgana verschwand es 162
wieder. Aber es war nähergekommen. 20 Meter, schätzte Schneider. Zum Greifen nahe schon. Und wieder weg. »Verfluchter Mist!« »Nur die Ruhe!« »Sollen wir paddeln?« Deutlich war drüben der Anstrich zu erkennen gewe sen. Die Grenzlinie zwischen Rot und Hellgrau. Nichts mehr zu sehen jetzt. Waren da nicht Stimmen gewesen? Sie lauschten. Undeutlich keim es aus dem Nebel. Stimmen von Menschen, »Howdy, Arthur?« »A cup of tea, please.« Schneider kannte den Ausdruck Howdy. Es war die Slangabkürzung für How do you do. Das bedeutete: Wie geht's, Arthur? Weiter hörten sie von drüben: »Tea with lemon, sugar, milk or Scotch?« »Tea with nothing.« Bordschuhe klapperten über das Holzdeck. Einer brannte ein Streichholz an. Sie rückten dem Gegner immer näher auf den Pelz. Noch sieben Meter, fünf Meter... Jetzt ist es raus, dachte der Oberfähnrich, Es sind Tommys. Mit einem Blick verständigte er sich mit Achilles. »Was ist mit dem Kommandanten?« Der Bootsmaat hob die Schultern. »Soll ich ihn Wahrschauen?« »Besser nicht.« »Unnötig«, kratzte Köhlers Stimme neben ihnen, »ich bin hier. Genieren Sie sich nicht, Schneider, machen Sie weiter. Jetzt, wo Sie die Sache schon mal in der Hand ha163
ben.« Der Oberfähnrich zeigte verstanden. Köhler war so vernünftig, wie er in dieser Lage nur sein konnte. Vernünftiger, als Schneider jemals erwartet hatte. Eigentlich hatte er damit gerechnet, daß der Obersteuermann, wenn er erst aus seinem Tran erwacht war, das Kommando an sich reißen würde. Darin hatte er sich geirrt. Oder er erinnerte sich schlecht. In gefährlichen Situationen wußte Köhler immer, wann seine Fähigkeiten zu Ende waren. Er schob sich neben den Oberfähnrich auf Tuchfühlung. »Wenn Sie Pech haben, Schneider, dann ist es Ihre Schuld.« Schneider nickte nur. »Und wenn wir Glück haben, dann ist es Ihr Verdienst.« »Richtig«, bestätigte der Obersteuermann. Da tauchte das Schnellboot wieder auf. »Wir sollten noch warten«, riet Köhler. »Das sowieso. Aber wollen Sie nicht lieber unter Deck?« fragte Schneider gehässig. »Ich bin kugelsicher.« Kaum fünf Meter betrug der Abstand zu dem Engländer, und er nahm schnell ab. Jetzt oder nie! »Scheinwerfer an! Feuer frei!« Schneiders Stimme gellte über Deck. Ein Kugelgewitter brach aus allen Rohren. Mit einem Stahlhagel deckten sie den Gegner zu. Leuchtspuren fegten durch die Nacht, Die Zwozentimeter bellten. Die heiseren Serien der Brücken-MGs ratterten von oben. Querschläger sirrten, vom Panzer der Schnellbootbrükke abgelenkt, zurück. Der Abstand verringerte sich, be164
trug kaum noch vier Meter... drei... einen ... Drüben stiftete der Überfall heillose Verwirrung. Im Scheinwerferkegel hoben sich die Gestalten aus der Nacht, sprangen, liefen, bäumten sich getroffen hoch und fielen. Jeder Schuß der 7,5-Zentimeter war ein dumpfes Ballern. Die Maschinenwaffen des Loggers fetzten ihre Garben in den Gegner. Die weiße Mütze des Schnellbootkommandanten tauchte auf. Eine Schußserie aus Maschinenpistolen jagte ihn in Deckung. Sie hörten einen Schrei. »Full speed!« Aber das Kommando wurde in der Schnellboot-Maschine wohl nicht beachtet, oder es kam nie an. Aus dem Niedergang stürmten Seeleute an Deck. Der Loggerscheinwerfer erfaßte sie. Ein Geschoßhagel streckte sie nieder. Dann folgte ein metallisches Krachen von der Back. Logger-29 war mit dem Schnellboot kollidiert. Er biß sich fest. Nur vereinzelte Revolverschüsse wurden auf den Logger abgefeuert. Sie hielten die Logger-Leute nicht zurück. Hinter dem Abwehrschirm ihrer Bordwaffen hatten sie die Bootshaken in das Deck des Engländers gekrallt und waren dabei, einen Festmacher überzubringen. Mit weitem Satz sprang Achilles auf das Cardiff-Deck. Schneider folgte ihm. Erst suchten sie Deckung, soweit es möglich war. Dann arbeiteten sie sich kriechend zur Brücke vor. »Feuer einstellen!« gab Schneider zurück. »Sie entkommen uns nicht mehr.« Er wollte aufspringen und die letzten Meter überwinden, die sie von der Brücke des Gegners trennten. Da dröhnte es mittschiffs aus dem Rumpf. Das Schnellboot165
deck erzitterte. »Sie lassen die Maschinen an«, schrie Achilles. Auspuffqualm wehte über sie hinweg. Die Rolls-Royce gingen sofort auf hohe Drehzahlen. Die Engländer versuchten zu entkommen. Wenn sie mit ihrer ungestümen Kraft an dem Festmacher zerrten, dann würde die Leine brechen, das wußte Schneider. Es war ja nur eine alte Manila-Trosse, die vom Logger übergebracht worden war. Über etwas Besseres verfügten sie nicht. Deutlich spürten sie den Ruck, mit dem das Schnellboot andampfte. Er riß ihnen fast die Beine weg. Zudem lag der Logger quer. Bis er wegscherte, war die mürbe Leine gerissen. Schneider sprang auf. Ungeachtet des Pistolenfeuers hechtete er auf die Brücke. Vor ihm hob sich ein Schatten aus dem Dunkel. Der Schatten stürzte sich auf ihn. Aber Achilles war auch noch da und schneller. Der Gegner schoß und verfehlte. Achilles unterlief ihn, hob ihn hoch und warf ihn, unter der Last taumelnd, außenbords. Schneider drang, über einen Verletzten stürzend, in das Ruderhaus. Der Scheinwerfer des Loggers erhellte es mit herumirrenden Schlaglichtern. Schneider erkannte die Messinggriffe des Maschinentelegrafen. Mit aller Kraft riß er sie zurück auf Stopp. Das Beben der Maschine erhöhte sich, ehe es starb. Mühsam löste Schneider die Hände des Rudergängers aus dem kleinen Handrad. Die Finger hatten sich in die Speichen verkrampft. Der Mann war tot. Schneider wirbelte das Ruder auf Mittschiffs. Als er aus dem Ruderhaus tauchte, sah er schon überall die Matrosen des Loggers auf dem Schnellbootdeck. 166
Einige Engländer ließen sich mit erhobenen Händen entwaffnen. Man führte sie ab und brachte sie auf den Logger. Vom Vorschiff her schrie ein Verwundeter, und aus dem Oberlicht des Maschinenraumes kamen sie, um sich zu ergeben. Schneider suchte den Kommandanten des Schnellbootes und fand ihn. Der Leutnant war nicht älter als er selbst. Sein Gesicht war kalkweiß, aber er duftete nach feinem Rasierwasser. Schneider legte grüßend die Hand an den Mützenschirm. Der Engländer blickte verbissen zur Seite. Er schien noch gar nicht up to date. Alles war zu schnell gekommen. Zu schnell, um einen Ausweg zu ermöglichen. Wenige Minuten hatten aus dem sieggewohnten Tiger der See einen waidwunden Kadaver gemacht. »Abführen!« Der Leutnant wankte zwischen deutschen Matrosen nach achtem. Wie in Hypnose schüttelte er ständig den Kopf. Er konnte es einfach nicht fassen. Schon schickte er sich an, auf den Logger umzusteigen. Deutsche Matrosenhände streckten sich ihm entgegen. Da riß er sich los. So schnell, daß es keiner verhindern konnte, griff er den Flaggenstock seines Bootes, fetzte den Union Jack heraus und schleuderte ihn mit einem weiten Schwung in die Dämmerung. Irgendwo klatschte die britische Flagge in die See. Benommen starrte der Offizier ihrem Flug nach. Dann sanken seine Arme herunter. Er ließ sich willenlos auf den Logger bringen. Als der letzte Gegner das Schnellboot verlassen hatte, sah Schneider auf die Uhr. Sie war stehengeblieben. Ein Splitter hatte sie zertrümmert. Genau 3.29 Uhr. Schneider rief nach Fink. 167
Der Leitende jumpte herüber. »Fink, verstehen Sie was von Schnellbooten?« Sie stiegen in die Maschine. Staunend sah Fink sich die Motoren an. Die Schaltstände, die Armaturen, den werftneuen Glanz. »Mannomann!« »Ja, das ist merry old England.« »Da wage ich mich ohne Glacehandschuhe gar nicht ran, Herr Oberfähnrich.« »Ob Sie was davon verstehen, habe ich Sie gefragt.« Fink nickte mit hängender Kinnlade. »Mehr als von einem Logger. Ich fuhr mal auf der Yacht von so einer feinen Lordschaft.« »Dann beweisen Sie es. Trommeln Sie alle Leute zusammen, die Sie an den Pumpen entbehren können. In fünf Minuten ist der Kahn flott, oder Sie sind die längste Zeit Maschinenmaat gewesen.« Fink, von dem man behauptete, er sei so blöd, daß er SS nicht rückwärts buchstabieren könne, traute seinen Ohren nicht. »Soll das heißen, daß wir den Logger nicht aufgeben? Er säuft uns gleich weg. Wir können nur noch umsteigen und ...« »Und was?« »... abhauen.« »Irrtum«, sagte Schneider. »Wir schleppen die Nummer 29 ein. Mit dem starken Pferd als Vorspann schaffen wir das in zwei Stunden.« Schneider verließ schon wieder den Maschinenraum des Schnellbootes. »Sobald die Motoren anspringen, Fink, gehen Sie wieder an Bord des Loggers. Und wenn Sie ihn nicht über Wasser halten, dann schleifen wir euch über Grund bis nach Le Havre. Sie haben die Wahl.« 168
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Der Logger schwölle herum. Achilles hatte die Sisaltrosse durch einen Festmacher verstärken lassen und ihn auf die Back verholt. Die Verwundeten waren sicherheitshalber in die Mannschaftsräume des Schnellbootes gebracht worden. Der Sanitätsgefreite betreute sie. Der Überfall hatte die Briten vier Mann gekostet. Die lagen auf dem Vorschiff nebeneinander mit einer Persenning zugedeckt. Vom Deckpersonal des Cardiff-Bootes hatte jeder eine Verwundung. Eine leichte oder eine schwere. Der Loggerbesatzung war kein Haar gekrümmt worden. Den großen Teil der alten Munition von Nummer 29 hatte man verschossen. Die Rohre der Waffen begannen schon wieder zu erkalten, aber Wasser drang weiter in den Rumpf ein. Schon lag das Heck bis zum unteren Rand der Gerätewulst in der See. Im Unteroffiziersraum schwamm die Back zwischen den Kojen hin und her. Doch was bedeutete das, gemessen an dem errungenen Sieg? Sie hätten noch mehr dafür gegeben, wenn man es verlangt hätte. Dieser Triumph war ihnen fast in den Schoß gefallen, wie ein Sterntaler vom Himmel, Beinahe schien er zu 169
leicht erkämpft. Sie dachten nicht darüber nach. Nach einem Kampf erinnerte man sich nie, wie man vorher gebangt und gezittert hatte, wie man voll Angst gewesen war. Erfolgreicher Kampf machte stark. Ständiger Erfolg hingegen machte maßlos, ruhmgierig, gewissenlos und unmenschlich. Deshalb gab es auch keine ewigen Sieger. Dauerndes Siegen führte zum Untergang ... *** Fink hatte zuviel versprochen. Er verstand von Loggern nichts und auch nichts von Schnellbooten. Immer wieder versuchten die Männer die Rolls-RoyceBenzinmotoren anzuwerfen. Doch nach wenigen Umdrehungen blieben sie stehen. Die Zeit verstrich. Drüben durchmaß Köhler die Loggerbrücke mit ungeduldigen Schritten. Schneider und Achilles lehnten in den Nocks des Schnellbootes und beobachteten das Aufhellen des Nebels im Osten. Der Oberfähnrich nahm den Sprechschlauch zum Maschinenraum und verlangte nach Fink. »Wir schaffen es schon«, meldete der, »Pumpen, Vergaser, Zündung, alles geprüft. Sie haben an irgendeiner Stelle die Treibstoffzufuhr unterbrochen. Wir müssen die Leitungen zu den Tanks verfolgen, bis wir die Stelle finden. Tut mir selbst außerordentlich traurig.« Schneider nahm die Muschel vom Ohr und ließ Fink weiterquasseln. Er ahnte, wie der Maat herumstand und seine Leute planlos scheuchte. »Was liegt an, Achilles?« 170
»Mors an Poller.« »Sind Sie müde?« Die Erregung klang langsam ab. Die Erschöpfung kam. Jetzt hofften sie nur noch, das letzte Hindernis zu schaffen. Wenn ihnen das gelang, dann wollten sie nur schlafen. Nur noch schlafen. Der Oberfähnrich sprach mit dem Funker. »Kommen Sie klar?« »Alles wie bei uns. Nur einen Zacken moderner.« »Folgende Meldung absetzen: Hatten Gefecht mit Schnellboot. Versuchen Logger einzuschleppen.« Sollten die sich bei der Sicherungsdivision ihren eigenen Reim darauf machen. Der starke Sender des Cardiff-Bootes funkte die Meldung auf der deutschen Marinewelle, denn der Sender des Loggers war inzwischen stromlos geworden. Der Jokkel hatte Wasser durch den Lufttrichter gesaugt und sich selbst abgewürgt. »In einer Stunde ist es hell«, schätzte Achilles, an einer Kippe lutschend. »Und um Null-sechs wird der Nebel steigen. Dann war alles vergebens.« Auch Schneider rauchte eine Zigarette. Es war die letzte in der Packung. Polternd kam Fink herauf. »Schätze, wir haben das Ventil. Wir können, Herr Oberfähnrich.« »Dann steigen Sie sofort auf den Logger um.« »Ist das Ihr Ernst, Herr Oberfähnrich? Ich meine, es braucht da unten nur etwas zu passieren.« »Das kriegen auch Ihre Leute in den Griff.« Fink verstand Schneiders Blick, zögerte aber. »Das ist ein Befehl, Maschinenmaat. Wenn Sie den Logger bis Le Havre über Wasser halten, dann werde ich da171
für sorgen, daß Sie das Eiserne Kreuz eins kriegen.« Der Leitende tauchte wieder in den Schnellboot-Maschinenraum. Gleich darauf liefen die Rolls-Royce-Motoren an. Diesmal blieben sie auf Touren. Fink hastete aus dem Oberlicht und stieg auf den Logger über. Schneider gab den Maschinenbefehl. »Langsame Fahrt voraus!« Das Schnellboot zog an. Als die Schlepptrosse straff und triefend aus dem Wasser sprang, ging er auf halbe Fahrt. »Aber behutsam, bitte ich mir aus! Mit Gefühl.« Sie hielten Kurs Ost 85 Grad. Richtung Heimat. Der Steuermannsgefreite hatte die Seekarte vom Logger herübergebracht. Schneider legte sie über die Karten des Engländers und verglich sie miteinander. Die Standorte stimmten auf beiden Karten ziemlich überein. Eine halbe Seemeile von ihnen entfernt hatte der Engländer im Nebel gestoppt. Nur noch eine Minute auf Kurs, und sie wären im Nebel aneinander vorbeigetrieben. Ohne sich zu bemerken, ohne daß der eine vom anderen je gewußt hätte. »Schicksal!« Schneider warf das Kursdreieck hin. Hinter ihm atmete Achilles schwer. Das erste Mal seit dem Nachmittag sah Schneider wieder richtig sein Gesicht. Der Bootsmaat hatte graue Schatten um die Augen. Die Züge wirkten verfallen. »Wer weiß, wie das mit dem englischen Kommandanten ausgegangen wäre, wenn Sie nicht dazwischengehauen hätten, Achilles.« Schneider wollte noch etwas Versöhnliches zu dem Bootsmaat sagen, aber es fiel ihm nichts ein. »Haben wir eigentlich hurra geschrien, als wir den Kahn enterten?« fragte er. Achilles sah ihn erstaunt an. »Aber klar, Herr Oberfähn172
rich. Haben Sie das nicht gehört?« Schneider verneinte. Ihm war so, als sei alles still und lautlos vor sich gegangen. Er konnte sich nicht einmal erinnern, daß die Kanone irgendwelche Laute von sich gegeben hatte. »So kann man sich irren«, sagte er verlegen. *** Obersteuermann Köhler trug ein teuflisch zufriedenes Grinsen zur Schau. War ja alles prächtig gelaufen. Genaugenommen hatten sie es ihm zu verdanken. Nur ihm allein. Denn er hatte die Stromversetzung falsch abgelesen. Das war die Ursache von allem. Zwar waren sie aufgelaufen, hatten die Schraube verloren, hatten stark Wasser gemacht - aber sie würden auf die eleganteste Art, die sich jemals ein maroder Logger ausgesucht hatte, den Stützpunkt erreichen, nämlich im Schlepp eines funkelnagelneuen englischen Schnellbootes. Es hatte ein paar Treffer abbekommen. Na wenn schon, das veranschaulichte nur die Größe ihrer Leistung. »Die Briten hatten nicht einmal Zeit, die Geheimpapiere zu vernichten«, sagte der Rudergänger. »Weder Signalbuch noch Funkschlüssel, noch die Seekarten«, frohlockte Köhler. Wenn nichts mehr dazwischenkam, dann bedeutete das namentliche Meldung im Wehrmachtsbericht und vielleicht das Ritterkreuz für den Kommandanten. Er hörte schon den Sprecher des Senders Berlin: »In den frühen Morgenstunden des Fünfzehnten gelang es einem deutschen Minenräumboot, im südlichen Ärmelkanal ein englisches Schnellboot der Cardiff-Klasse nach 173
hartem Gefecht aufzubringen. Die Besatzung unter dem Befehl des Obersteuermanns Köhler schleppte das Feindboot in einen Hafen der französischen Küste. Für diese Leistung wurde der Kommandant mit dem Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes ausgezeichnet.« Ende. Tatatataüü Denn wir fahren gegen Engeland ... Allermindestens gibt es das deutsche Kreuz in Gold, phantasierte Köhler weiter. Diesen glitzernden Stern, wie ihn Friedrich der Große trug und der die Mädchen beim Küssen so schön an der Bluse kitzelte. Er, Köhler, das Kellerkind aus Hamburg, hatte das alles vorhergesehen und vorausberechnet. Endlich wurde der Weg des schmutzigen Jungen aus der Davidstraße zu einem lichtumstrahlten Höhepunkt geführt. So malte sich das Köhler aus in der ersten Stunde der Dämmerung. Der Koch brachte Kaffee, und sein Logger sank achtern immer tiefer. Aber die Nummer 29 lief im Schlepp der 2000 Schnellboot-PS schneller, als sie das jemals aus eigener Kraft vermocht hätte. Erschöpft lösten sich die Heizer an den Pumpen ab. Sogar von den Seeleuten sprangen welche bei, obwohl von jeher keine größere Kluft die Zünfte schied, als das Handwerk der Seeleute von dem der Heizer. Sie rissen an den Pumpenschwengeln, bis sie außer Atem waren und vor Erschöpfung im hüfthohen Wasser umsackten. Sobald einer ausschied, sprang schon der nächste bei und pumpte, pumpte, pumpte. Fast hielten sie den Wasserstand. Es stieg kaum noch meßbar im Maschinenraum. Wenn bloß die alten normannischen Jauchepumpen nicht schlappmachten und ihrem wahnsinnigen Tempo auf Dauer standhielten. Dieses pausenlose Ansaugen und Ausdrücken. Das Auf und Ab der Kolben, das Öffnen und Schließen der Ventile. 174
Flutsch-flutsch... Eitel wie ein Pfau lief Köhler von der Steuerbord- zur Backbordnock. Ihn interessierte nichts vom Kampf da unten im Rumpf. Er wollte es einfach nicht wissen. Er war so wonnetrunken, daß seine Gedanken keine Störung vertrugen. Sie moussierten in seinem Kopf wie Sekt, wie wie Kokainrausch. Im Zeiss-Glas beobachtete er das Schnellboot vor seinem Bug, seine Hecksee, wie es den Logger in den Morgen zog. Der Nebel hob sich. Die Sicht betrug schon eine halbe Meile. Also, was konnte noch geschehen? Der Himmel war zu, hundert Hundertstel Bedeckung. Und auch wenn es die Götter anders bestimmt hätten, was sollte schon passieren? Bomben? Non, monsieur! Erst hob sich der Nebel über der See. Es dauerte Stunden, bis Fliegerwetter herrschte. Bis dahin waren sie längst am Pier. Konnte vielleicht die Trosse brechen? Nein. Der Festmacher war morsch, aber noch das beste Stück auf Logger-29. Dafür hatte er gesorgt. Damit schleppte er die Bremen ab. Notfalls. Oder? Maschinenschaden auf dem Schnellboot? Unsinn! Ein neues Boot hatte keinen Motordefekt. Auch wenn es auf die falsche Seite hinüberlief. Minen? Kaum. Sie standen schon so tief in der Seinebucht, da gab es keine Minen mehr. Falsche Navigation? Erstens verstand Schneider sein Handwerk, und zweitens: Heimwärts fanden immer alle. Auch die Blinden und die Lahmen. Was also konnte dazwischenkommen? Nichts. Köhler beschloß, ein frisches Hemd anzuziehen. 175
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Der Kommandant von Logger-29 betrat seine Kammer auf Steuerbordseite des Zwischendecks. Zunächst entkleidete er sich, wusch sich, begann sich zu rasieren. Anschließend nahm er von dem feinen französischen Gesichtswasser für besondere Tage, pomadisierte sein Haar, kratzte die Fingernägel sauber und holte seine beste Garnitur Blauzeug aus dem Spind. Langsam band er die schwarze Krawatte. Den verdreckten weißen Mützenbezug wechselte er gegen einen frischen. Wohlgefällig betrachtete er sich im Spiegel. Für Augenblicke huschte ein Sonnenstrahl durch das Bulleye und hüllte die Kammer in gleißendes Licht, bis sich wieder eine Nebelbank vorschob. »Prost, Köhler!« sagte der Obersteuermann laut. »Hab Sonne im Herzen.« Nochmal goß er Cognac in das Mundglas, trank und setzte sich in den schäbigen Sessel. Er wartete auf seine größte Stunde. Ein Matrose klopfte an das Schott, trat über den Süllrand und grüßte erstaunt den geschniegelten Kommandanten. »Was sollen wir mit dem Mädchen machen, Herr Obersteuermann? Die ersäuft uns achtern.« »Was für ein Mädchen?« 176
»Na, diese Jacqueline, oder wie sie heißt. Sie kam gestern abend an Bord. Wir haben sie in der Vorpik versteckt und vergessen. So fuhr sie mit raus. Bis der Oberfähnrich dahinterkam. Er hat sie in seine Kammer eingeschlossen. Sobald wir einlaufen, soll sie gepönt werden. Unter der Wasserlinie rot und über der Wasserlinie marinegrau,« Köhler hörte sich die Meldung an. Das paßte ihm ganz und gar nicht. Die Sache zerstörte seine Vorstellung von der klassischen Rückkehr des Helden. »Geht mich nix an«, erklärte er. »Ich will damit nichts zu tun haben. Derjenige, welcher sie ein Bord gebracht hat, soll gefälligst dafür sorgen, daß sie wieder runterkommt. Und zwar unbemerkt. Ich mache die Besatzung dafür verantwortlich.« »Jawohl, Herr Obersteuermann.« Der Matrose zögerte. »Darf sie an Deck? Das Wasser steht ihr bis zum Bauch. Sie schreit Zeter und Mordio, singt auch schon fromme Lieder.« Köhler überlegte, traf unwillig eine Entscheidung. »Zieht ihr Arbeitszeug an, damit man sie nicht erkennt. Das ist euer Bier.« Der Matrose zog ab. Köhler lullte sich wieder ein. Vielleicht sollte er eine Meldung absetzen, bis wann sie einliefen. Gewiß organisierte man eine Musikkapelle und Mädchen mit Blumen im Haar. Köhler beschloß, Schneider auf dem Schnellboot mit dem Handscheinwerfer anzublinkern. *** Der Oberfähnrich las mit, was der Signäler vom Logger herübermorste. 177
»Schlage vor, Einlaufzeit an Flottille durchzugeben«, entzifferte Schneider und antwortete: »Verstanden!« Achilles konnte sich nicht halten. »Der spinnt mal wieder. Als ob wir keine anderen Sorgen hätten.« Schneider befahl, den Funkspruch abzusetzen. »Glauben Sie, wir schaffen es?« zweifelte der Bootsmaat. »Der Logger liegt verdammt tief. In den letzten Minuten ist er bestimmt um einen Viertelmeter weggesackt.« »Das täuscht«, beruhigte ihn Schneider. »Werden mal versuchen, höhere Fahrt zu laufen.« Er wandte sich an den Heizer am Motorenleitstand. »Gehen Sie auf Drehzahlen für große Fahrt, sonst schaffen wir es nicht mehr.« Die Motoren dröhnten fühlbar härter. Das Schnellboot hob leicht den Bug und zog kräftiger an der Schleppleine. Auch die Bugwelle am Vorsteven des Loggers wuchs. »Fünfundzwanzig Minuten bis Ansteuerungstonne«, meldete der Gefreite vom Koppelbrett. Noch eine halbe Stunde, dachte Schneider. Wird Fink es schaffen, den Logger solange zu halten? Was hatte der Leitende gesagt: Man weiß nie, wie das bei den alten Schiffen geht, wie lange sie Auftrieb haben. Plötzlich kann es aus sein. Es kann aber auch lange dauern. Wenn der Logger plötzlich aufliefe ging, dann konnte er das Schnellboot gefährden. Sie hingen durch die Schlepptrosse zusammen wie Mutter und Fötus. Man mußte also für den Notfall versorgen. Schneider sprach mit Achilles. »Teilen Sie einen Mann ab. Er soll achtern an der Trosse Posten beziehen und auf mein Zeichen hin die Trosse 178
kappen. Sorgen Sie dafür, daß er ein scharfes Beil bei sich hat.« Achilles führte die Anordnung aus. Der Matrose stellte sich achtern hin, wo die Schlepptrosse vom Poller über das Heck lief. Auf das Beil gestützt, sah er aus wie ein Henker. Dabei starrte er auf die Leine wie auf den Hals eines Verurteilten. Er war bereit, ihn durchzuschlagen. Auf Befehl des hohen Gerichts. *** Weiter krochen sie über die See. Der Nebel hatte sich so weit gehoben, daß man einen schmalen Streifen Land am Horizont ausmachen konnte. Er lag in der Frühsonne. Unvermittelt begann Achilles zu reden. Er sprach von einer Sache, die nichts mit ihrem Abenteuer und nichts mit der Nacht zu tun hatte, die hinter ihnen lag. »Herr Oberfähnrich, Sie wollten mir erzählen, wer Achilles war. Jetzt hätten wir Zeit dazu.« Schneider hielt sich an der Brückenverkleidung fest, stemmte den Oberkörper gegen den Fahrtwind. Er überlegte nicht lange. Er mußte laut reden. Wie vor vielen Jahren bei seinem schwerhörigen Gymnasialprofessor begann er: »Achilles war der Held von Troja. Der Tapferste der Griechen, Sohn des Peleus und der Meergöttin Thetis. Aus Groll gegen Agamemnon hielt er sich vom Kampfe fern, bis sein Freund Patroklos von Hektor, dem Königssohn, getötet wurde.« Seine Stimme schmetterte geradezu in den Morgen, als er fortfuhr: »In maßlosem Schmerz um den Freund tötete er Hektor und schleifte seinen Leichnam dreimal um die Mauern der 179
Stadt. Aber auch der verwundbare Achilles fand seinen Sieger. Zwar hatte ihm seine Mutter durch ein Bad im Fluß Styx eine hörnerne Haut gegeben, aber als sie ihn in die Fluten tauchte, hielt sie den Knaben an einer Ferse fest. An dieser Stelle blieb Achilles verwundbar.« »Was für eine tolle Geschichte, Herr Oberfähnrich. Bitte weiter.« »Der Gott Apollon lenkte einen Pfeil von Paris' Hand und durchbohrte damit des Achilles Ferse, auf daß der Tapferste der Tapferen sein Leben ende ... Singe, o Göttin, vom Zorn des Peliden Achilleus, wie unselig er schuf ein endloses Leid den Achaiern ...« Der Oberfähnrich schloß mit der ersten Zeile der »Ilias«. »Ich danke Ihnen«, antwortete der Bootsmaat betroffen. »Es war wunderbar von diesem Dichter Hommer. Jetzt weiß ich Bescheid.« Seine Augen glänzten, aber es konnte auch der Fahrtwind sein, der sie tränen ließ. »Das liegt lange zurück, wie?« fragte er den Oberfähnrich. »3000 Jahre.« »Und es stimmt immer noch.« Der Bootsmaat blickte durch das Zeiss-Glas. Dann fuhr er fort: »Es stimmt bis auf den heutigen Tag.« »Das hat Geschichte so an sich.« »Ein Mann kann durch eine Kleinigkeit fallen. Durch einen schlechten Gedanken oder durch Eifersucht. Ich bin mir darüber klar geworden, Herr Oberfähnrich. Michou ist meine Achillesferse. Möchte sagen, sie ist meine Achillesferse gewesen. Ich habe Ihnen zu danken. Ohne die Worte in der Kommandantenkammer kurz vor dem Angriff hätte ich Sie beinah erschossen. Aber bestimmt hätte ich nicht gewußt, wie man mit einer solchen Tat auf dem Gewissen weiterlebt. Keine Frau der Welt kann so etwas vergessen machen. Sie sind ein feiner Kerl.« 180
Nach einer Weile des Schweigens meinte Schneider: »Überschätzen Sie mich nicht, Achilles, ich wollte nur noch nicht sterben.« *** Noch fünfzehn Minuten bis zur Ansteuerungstonne. Schneider morste es auf den Logger. »Wir halten uns«, gab Köhler zurück. Die Heizer und Matrosen an den Pumpen schafften bis zum Umfallen, konnten aber nicht verhindern, daß die Fluten schon den halben Niedergang hinaufreichten. Die Pumpen röchelten wie Ertrinkende. Mit jedem Hub drückten sie vier Liter Seewasser außenbords, und sechs Liter drangen wieder durch das Wellenrohr herein. Eine Sisyphusarbeit. Jede Anstrengung schien vergebens, weil alles zwangsläufig zum Untergang führte. Man konnte die letzte Minute nur hinausschieben. Bis sie den sicheren Hafen erreicht hatten. Je näher das Land kam, desto unruhiger wurde ein Teil der Seeleute. Vom steigenden Wasser im Maschinenraum schauten sie immer wieder nach Osten, wo die Küste deutlich zu sehen war. Schon konnte man ohne Glas Häuser erkennen, Bäume, Boote am Strand und die Hafenmole. Die Entfernung mochte vielleicht zwei Seemeilen betragen. Da entschlossen sich zwei Matrosen, das Unvermeidliche zu tun. Zögernd schlichen sie über das Deck, stiegen in die Mannschaftsräume und krochen in die Vorpiek. Dort rafften sie die Gegenstände zusammen, die sie aus den Kellern der verlassenen französischen Villen gestohlen hatten. Sie hievten sie nach oben und warfen sie über Bord. Die 181
Bilder, die Rahmen, die Skulpturen, die Vasen und Porzellane, die Truhe mit den Münzen, die Teppiche und Gobelins, auch das kostbare Kruzifix. Sie bildeten eine Kette von der Piek bis an Deck. Sie hasteten hinunter in das dunkle Loch und hinauf ans Licht. Als alles in der See versunken war, das letzte Stück Silber, standen sie an der Reling und blickten den Schätzen nach. Ein vergoldeter Holzrahmen trieb ab, wurde noch von einer Welle emporgehoben, leuchtete kurz in der Sonne auf, ehe er ihren Augen entschwand. »Ab durch die Mitte«, sagte einer. »Wie gewonnen, so zerronnen.« Ein anderer spie in die See. »Was dir nicht gehört, das hast du nicht.« »Hauptsache, das Ruhmesblatt der tapferen Kriegsmarine bleibt sauber, Cheerio!« Und einer zitierte das Lied eines unbekannten Dichters, brachte es aber nicht recht zusammen: »Seemann, du kühner, wo ist dein Grab? Wo sank dein grüner Lorbeer hinab? Umtost von Wind und Wogenschnee, Liegt es tief unter der See.« Sie wischten sich die Hände ab, um die Kameraden an den Pumpen abzulösen. Aber die Pumpen schwiegen. Die Kolben waren gebrochen.
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24.
Sie konnten nur noch hoffen. Sie krochen aus dem Maschinenraum, erschöpft, durchnäßt und verdreckt. Sie kamen auf das sonnenhelle Oberdeck, Lemuren gleich, Gestalten der Unterwelt, dem Hades entronnen. Der Koch lief mit der Kaffeekanne herum wie ein Mitropakellner. »Platznehmen zum ersten Frühstück, Herrschaften!« Manchem entlockte es ein Lächeln. Andere waren zu müde und ausgepumpt. Aber sie streckten die Hände nach seinen Tassen. Und er goß ihnen ein. Echten starken Bohnenkaffee. Das letzte, was der Logger zu bieten hatte. Marinekaffee mit viel Milch und Cognac. »Wo bleibt der Zucker, Smut?« »Wollt ihr welchen?« »Eher mehr als zu wenig.« Mit dicken fetten Fingern griff der Koch in die Tasche und förderte einen Haufen viereckiger weißer Würfel zutage. »Immer noch die alte Rübensau«, bemerkte einer. »Und der Speckbauch, den er herumträgt, geht auf unsere Kosten.« Ein langer Heizer, der am Wasserbombenwerfer lehnte, klärte sie auf: »Das ist kein Speck an seinen Lenden, 183
Kameraden. Er ist gebenedeiten Leibes.« »Von Schinken und Rohwurst.« Sie grölten, und der Koch verzog sich in seine Kombüse. Derweil tauchte die Heckwulst schon in das Kielwasser. Nur die hohe Fahrt, die der Logger, von dem Schnellboot geschleppt, machte, hielt ihn noch an der Oberfläche. »Wie ein Stein, den man an einer Schnur schnell über das Wasser zieht«, meinte der Signalgast, »rein physikalisch.« *** »Er sinkt in dem Augenblick, wo Rumpf und Geschwindigkeit keinen Auftrieb mehr erzeugen«, vermutete Schneider, als er sah, wie der Logger mit dem Bug weiter aus dem Wasser kam, je mehr er achtem eintauchte. »Bis zur Hafeneinfahrt können wir den Zahn stehen lassen«, sagte er zu dem Bootsmaat. »Aber dann müssen wir mit der Drehzahl herunter, wenn wir nicht unseren Steven in die Kaimauer stecken wollen.« Achilles überlegte. »Wenn wir kurz vorher aus vollem Speed stoppen und rechtzeitig mit den Maschinen zurückgehen, dann könnten wir locker bis an den Kai scheren.« »Ein Schiff ist kein Auto«, bemerkte der Oberfähnrich. »Wenn wir stoppen und hart mit den Maschinen zurückgehen, dann knallt uns der Logger vierkant ins Heck. Drehen wir aber im Hafenbecken von ihm weg und kappen die Trosse, dann donnert er gegen den Pier. Vergessen Sie nicht, er hat nur noch das Ruder. Solange es reagieren soll, muß er Fahrt machen. Macht er aber Fahrt, ist der Logger gefährlich für alle Boote, die im Hafen liegen.« 184
»Dann bleibt uns keine Wahl, Herr Oberfähnrich.« »Wir müssen die Fahrt so verringern, daß der Logger im Hafenbecken aus läuft. Ich habe erlebt, wie ein Fischdampfer mit kleiner Fahrt anlegen wollte. Er näherte sich dem Pier, aber sie brachten aus irgendeinem Grund die Maschine nicht auf Rückdampf, konnten den Fischdampfer also nicht stoppen. Er bohrte sich mit dem Bug drei Meter in eine Mauer aus Eisenbeton. Sie wissen ja, wie ein paar hundert Tonnen schieben können.« Der Bootsmaat betrachtete sinnend den Logger achteraus. »Kann passieren, daß er uns mitten im Hafenbecken absäuft.« »Ja, es kann, muß aber nicht. Immerhin wäre es neu.« Schneider morste zu Köhler hinüber: »Hinter der Ansteuerungstonne verringern wir die Fahrt.« Der Obersteuermann zeigte verstanden. Dann befahl er, einen letzten Funkspruch an den Stützpunkt abzusetzen. Schneider formulierte ihn knapp: »Frage: Wo können wir anlegen?« Die Flottille funkte zurück: »Westliche Hafenseite gegenüber Liegeplatz der Raddampfer.« Das war in der Nähe des Flottillengebäudes. Fast gegenüber. Sie würden also in den Fenstern hängen und sich am Pier versammeln. Sie würden herumstehen und neugierig die Sensation begaffen. Vom Flottillenchef bis hinunter zum Matrosen Arsch. Alles, was im Stützpunkt Le Havre Zeit hatte, würde am Hafen stehen und kritisieren und alles besser wissen, was zu tun sei. Auf dem Schnellboot gab Schneider eine Ruderanweisung: »Steuerbord fünf!« Die Ansteuerungstonne rauschte an Backbord vorbei. Eine Meile hatten sie noch bis zur Hafenmole. »Schon was zu sehen?« fragte er den Bootsmaat, der 185
das Glas nicht von den Augen nahm. »Vom Empfangskomilee?« »Noch nichts. Wir stehen zu weit westlich. Ich sehe nur die Räumungsbootgruppe. Sie haben im Osthafen festgemacht.« Schneider versuchte seine Nervosität zu unterdrücken. Es war eine seltsame Art von Erregung, die sich aus Freude und Spannung vor der letzten schwierigen Aufgabe zusammensetzte. Objektiv gesehen ist es unglaublich, dachte er. Es ist, als würde ein alter Jäger, der kaum noch laufen kann, ausziehen, um einen Tiger zu jagen. Einen starken jungen Tiger. Während er sein Heimatdorf verläßt, sehen die anderen ihm nach und schütteln die Köpfe über ihn. Genaugenommen halten sie den Alten schon für einen toten Mann. Dem flinken Raubtier würde es ein leichtes sein, ihn zu zerreißen. Schon deshalb, weil der alte Jäger selbst nicht an den Sieg glaubt. Kaum ist die Morgensonne über dem Dorf aufgegangen, brechen sie in Trauergesänge aus. Plötzlich gellt ein Schrei aus der Steppe. Einer hat etwas gesehen. Unfaßbar! Dann kommt der alte Jäger zurück. Er hat den Tiger gezähmt und reitet auf ihm heran. Mitten auf der Dorfstraße reitet er. Vor seiner Hütte steigt er ab, taumelt und bricht tot zusammen. Schneider kam es vor wie eine Vision. Was für eine sagenhafte Geschichte. Ein Märchen. Aber reiten wir nicht selbst den Tiger? Stand er nicht mit eigenen Füßen auf dem englischen Schnellboot? Er wandte sich an Achilles. »Stimmt es eigentlich oder träumen wir, Bootsmaat?« Der Bootsmaat lachte ihn an. »Habe mich selbst schon 186
gefragt, ob wir besoffen sind. Ich denke aber, es ist Wirklichkeit.« *** Schneider ließ die Fahrt herabsetzen. Der Loggerbug ging sofort tiefer. Aber es blieb keine andere Möglichkeit. Der Mann mit dem Beil blinzelte in die Sonne. Er hielt den Schaft umklammert, als sei er davon überzeugt, daß seine Stunde noch komme. Sie verringerten die Fahrt laufend. Zehn Umdrehungen weniger. Noch einmal zehn Umdrehungen weniger. Die Hafenmole kam näher. Sie wuchs aus dem Meer. Haushoher grauer Granit. Eine halbe Meile, eine Viertelmeile, eine Kabellänge ... Sie liefen nur noch Umdrehungen für halbe Fahrt. Köhler beugte sich aus der Brückennock. Er wollte wissen, wie sich der Logger achtem benahm. Noch immer glaubte er daran, daß sein Schiff ewig schwimmen konnte. Er war der einzige und letzte, der es glaubte. Er klammerte sich daran. Zwar sah er, wie die Heckwulst schon überspült wurde, wie die Matrosen sich auf der Back versammelten, wi e sie die verwundeten Engländer an Deck holten und daß ein Matrose unter ihnen stand, der gar kein Matrose war. Doch Köhler schrammte so an der Wirklichkeit vorbei, wie er es immer getan hatte. Immer hatte er sich für einen erstklassigen Mann gehalten, dessen Qualitäten man nur nicht erkannte, Nun - über alle Zurücksetzungen und Schmähungen würde er in wenigen Minuten triumphieren ... Wenn das Schnellboot und der Logger angelegt hatten. Wenn die Leinen fest waren und die Stelling über187
gebracht war. Stolz würde er an Land gehen, auf den Flottillenchef zuschreiten, sich lässig vor ihm aufbauen und melden: »Logger-29 von Feindfahrt zurück. Englisches Schnellboot ohne eigene Verluste aufgebracht!« Korvettenkapitän Jäntsch würde auf ihn zugehen und ihm die Hand schütteln. »Das haben Sie bestens gemacht, Köhler. Sie sind ein toller Hund.« So wird es sein, dachte der Obersteuermann. In wenigen Minuten. Er repetierte den Wortlaut seiner Meldung mehrmals, damit er sich nicht verhedderte. Dann schickte er alle Mann bis auf den Rudergänger von der Brücke auf das Deck hinunter. Die Molenköpfe schoben sich turmhoch vorbei. Als sie durch waren, öffnete sich der Blick auf das weite Hafenbecken. An Steuerbord lag noch der mächtige Rumpf der Paris. Die Ladekräne streckten ihre Ausleger schräg in den blauen Morgenhimmel. In den Werften herrschte noch Ruhe. Kein Niethammer ratterte, keine Stahlsäge schrillte. Es stank nach Fisch. Nur die Möwen waren schon erwacht und kreischten nimmersatt um das einlaufende Schnellboot und den sinkenden Logger.
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25.
Der Pier vor dem Flottillengebäude war leer. Keine Matrosen, kein Offizier, keine Musik. Friedhofsstille war zu ihrem Empfang angetreten. Nur ein Soldat in Grau mit Stahlhelm vertrat sich die Füße. Schneider erkannte ihn durch das Glas. Es war der Leutnant der Feldgendarmerie. Bootsmaat Achilles öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen. Aber er schwieg betreten. Das hatten sie nicht erwartet. Keiner hatte im Ernst mit Ehrenjungfrauen gerechnet, aber daß man sie bis zum letzten Augenblick einfach ignorierte, war erniedrigend. Schließlich brachten sie eine Kleinigkeit mit. Wenn man ihnen wenigstens die Anerkennung gezollt hätte, die ein Kamerad nach dem Kampf verdiente. Schneider blickte zurück auf die Brücke des Loggers, wo der Obersteuermann mit strahlend weißem Mützenbezug und Ausgehuniform stand. Köhler starrte den leeren Pier an. Fassungslos glaubte er nicht, was er sah. Der einzige Triumph seines Lebens war wie ein Traum zerronnen. Kein Flottillenchef da, keine Kameraden, keine Menschenseele. Nicht einmal ein Hund strich die Häu189
serzeile der Hafenstraße entlang. Köhlers Hände krallten sich um die Schanzverkleidung. »Schufte!« stieß er hervor, »Galgenvögel! Sie nehmen mir meinen Erfolg, als sei es nichts. Als sei es gar nichts!« Wie vernichtet fühlte er die Stunde vorübergehen, die er für die schönste seines Lebens gehalten hatte. Verzweifelt suchte er Hilfe bei seinen Männern auf der Back, bei Schneider auf dem Schnellboot und bei Achilles. Plötzlich war da eine Verbundenheit zwischen ihnen. Die Nacht im Kanal verband sie, der Kampf im Morgengrauen und die Enttäuschung bei der Heimkehr. Diese maßlos abgrundtiefe Enttäuschung, daß man die Türen vor ihnen verschieß wie vor Aussätzigen. Der ausgestorbene Pier wirkte auf Köhler wie Fußtritte. Wie Hiebe und Knüppelschläge gegen einen verlorenen Sohn, der das Haus seines Vaters betreten wollte und etwas in den Händen hielt, um zu zeigen, daß er nicht unnütz gelebt hatte. Der Sohn, dem man das Geschenk aus der Hand schlug und die Türe wies, das waren er, die Männer des Loggers-29, und die auf dem Schnellboot. *** Schneider hatte weiter die Fahrt verringert. Die Schrauben des Schnellbootes drehten sich kaum noch in dem schmutzigen Brackwasser. Der Loggerbug sackte bis zur Reling ein. Als das Schnellboot mitten im Hafenbecken stoppte, kam auch die Fahrt aus dem Logger. Die Schlepptrosse begann durchzuhängen, »Noch mehr Lose geben.« Mit niedrigster Fahrtstufe verholte der Oberfähnrich das 190
Schnellboot an den Liegeplatz. Indessen schwoite der Logger langsam nach und herum und bot der Sonne seine häßliche Breitseile dar. Vom Heck her spülte das Faulwasser jetzt bis zur Kanone. Doch noch schwamm er. »Wir haben auflaufende Tide«, sagte Achilles. »Bei Ebbe säße er achtern schon auf Grund.« Das Schnellboot glitt an den Pier heran, ohne zu schamfilen. Sie warfen Leinen über. Als der Abstand noch einen Meter betrug, sprang einer der Matrosen an Land, zog die Festmacher nach, schlang sie um den Poller und machte sie fest. Schneider ließ die Schlepptrosse zum Logger verlängern, damit das Heck des Schnellbootes frei kam. In diesem Augenblick hörte er die Matrosen des Lepradampfers aufschreien. Der Loggerbug hob sich wie ein Fahrstuhl, die Schlepptrosse sirrte aus dem Wasser und bekam Spannung. »Kappen! Kappen!« schrie Schneider nach achtern. Der Posten hatte wie hypnotisiert auf den Logger geschaut. Er zuckte zusammen, schwang das Beil und hieb auf die Trosse ein. Die Schläge dröhnten durch den Morgen. Mit jedem Hieb rissen Seilwindungen und zwirbelten auseinander. Der letzte Hieb trennte die stählerne Seele. Damit war die Nabelschnur entzwei. Das Schnellboot hatte keine Verbindung mehr mit dem kenternden Logger-29. Dessen Bug hatte sich weiter gehoben. Die rosarote bewachsene Unterseite kam ans Licht. Inzwischen sank das Heck immer tiefer. Luft zischte, von dem einbrechenden Wasser verdrängt, aus den Oberdecköffnungen. Polternd rutschte Gerät auf dem imitier schrägeren Oberdeck nach hinten. Geschützrohre 191
schwangen herum, knallten gegen Stahlstreben, Magazine schepperten blechern aus ihren Halterungen. Die Matrosen hechteten in das Wasser. Wer nicht schwimmen konnte, gab erst Preßluft auf die Schwimmweste und sprang mit geschlossenen Augen. So verließ einer nach dem anderen das Schiff. Als der Logger bis zum Brückenniedergang eingetaucht war, geriet das Heck auf Grund. So hing er eine Weile im Hafen, bis auch das Vorschiff langsam tiefer ging. Köhler verfolgte die Rettungsaktion, die Schneider eingeleitet hatte. Mit Bootshaken und Rettungsringen ein Wurfleinen zogen die Matrosen sie aus dem Wasser: die Deutschen, die Engländer und auch das Mädchen Jacqueline in Männerkleidern. Unbewegt stand Kommandant Köhler auf seiner Loggerbrücke. Als der letzte Mann von Bord war, erkletterte er das Signaldeck und holte die Kriegsflagge ein. Langsam, Hand über Hand. Er rollte sie zusammen und barg sie unter dem Jackett. Dann wartete er, bis der ganze Logger auf Grund lag. Die Brücke stand unter Wasser, die Greetings schwammen zwischen den Rettungsflößen, die wirbelnd hochgekommen waren. Vom Lepradampfer ragte nur noch das Signaldeck aus dem Wasser. Das Signaldeck, der Mast mit den Antennen, und über allem thronte Köhler. Wo der Rumpf vom Wasser überflutet war, gurgelten Luftblasen an die Oberfläche. Erst färbte sich das Wasser über ihnen heller, dann platzten sie. Holzstücke trieben auf. Kisten, Dosen, Konserven, Kapokmatratzen, der Kaninchenstall mit seinen Strohbüscheln. Und auf dem Grunde des Hafenbeckens von Le Havre 192
ruhte sich der Logger-29 von seinem langen Leben aus. *** Obersteuermann Köhler versuchte ein Schwimmfloß zu angeln. Er bekam eine Scheuerleine zu fassen, zog das viereckige gelbe Ungetüm zu sich und sprang hinein. Unter den Greetings holte er ein Paddel heraus und trieb das Floß die wenigen Meter hinüber zu dem Schnellboot. In bester äußerlicher Verfassung bestieg er es. Damit war die Besatzung des Logger-29 vollzählig auf dem Engländer versammelt. Einer, der Sinn für dramatische Momente hatte, schrie in die Stille des Morgens: »Auf unseren geliebten Logger-29, auf das tapfere Schiff, unbesiegt vom Feinde, ein dreifaches Hipp, hipp...« »... hurra!« dröhnte es aus den Männerkehlen. »Hipp, hipp...« »... hurra!« Das Echo brach sich an den Mauern der gegenüberliegenden Schuppen. Der Grabgesang der Besatzung auf ihr gesunkenes Schiff ging kurz und ergreifend zu Ende.
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26.
Jetzt belebten sich die anderen Schiffe im Hafen. Matrosen kamen an Deck. Verschlafen diskutierten sie, besahen sich, was geschehen war. Vom Flottillengebäude eilten Leute herüber. Aus allen Ecken liefen sie herbei und bestaunten das elegante Schnellboot. Seitdem der Logger untergegangen war, schien der Bann gebrochen. Aber die Glückwünsche und das Händeschütteln kamen zu spät. Stumm schritten die Lords von Logger-29 über die Stelling an Land. Ohne sich um die Gaffer zu kümmern, suchten sie sich Unterkunft in einem der leeren Häuser. Denn plötzlich waren sie heimatlos geworden. Aber sie brauchten nichts anderes als Ruhe und Schlaf. Ein Posten eskortierte die gefangenen Engländer zur Flottille. Jacqueline schlich unerkannt durch die Menge und verschwand in einer der Seitenstraßen. Der Leutnant der Feldgendarmerie hatte den Untergang des Loggers mit angesehen. Als nur noch der Mast aus den Fluten ragte, zerriß er seinen Durchsuchungsbefehl, machte kehrt und marschierte in die Stadt zurück. 194
Der Flottillenadjutant bahnte sich einen Weg zu Köhler. »Sie sollen zum Flottillenchef kommen, Obersteuermann.« »Muß das gleich sein?« »Ja, sofort.« Köhler stand noch unschlüssig zwischen dem Oberfähnrich und Achilles. Dann gab er sich einen Ruck, riß sich zusammen. Er wollte schon gehen, da wandte er sich noch einmal um, blickte den Bootsmaat an und den Oberfähnrich. Er streckte Schneider die Hand hin. Es war eine einfache, aber alles überwindende Geste der Versöhnung. Schneider nahm die Hand des Obersteuermanns an. Er überlegte es sich keinen Augenblick. »Dann soll alles vergessen sein«, krächzte Köhler. Seine Stimme klang noch zerrissener als je zuvor. Schneider vermochte keinen Laut hervorzubringen. Sein Hals war zu. Er nickte nur. Aber das bedeutete mehr als Worte. *** Als Köhler weg war, faßte Schneider den Bootsmaat um die Schulter und zog ihn fort. »Jetzt müssen wir einen trinken, Achilles. Wenn einer so schön stirbt wie unser Logger, dann muß das begossen werden.« »Ja, verlöten wir einen. Aber wo wollen wir hin, Herr Oberfähnrich, in unserer Aufmachung? So früh hat noch keine Kneipe auf.« Mit weitausholenden Schritten stürmte Schneider vor ihm her. »Ich kenne jemand, der ist immer für uns da.« »Meinen Sie Michou?« Schneider winkte ihm. »Los, mach schon!« 195
Achilles holte ihn ein. Sie eilten durch die Straßen, denn sie hatten mächtigen Durst bekommen. Einen sagenhaften Brand. Der Bootsmaat lachte. Schneiders trübe Gedanken hingegen paßten weniger zu dem schönen Morgen. Er dachte an die Ereignisse der vergangenen 18 Stunden. Nicht einmal einen vollen Tag war er in Le Havre. Aber was hatte diese kurze Zeitspanne alles bewirkt. Dieser Tag hatte mehr gebracht als irgendein anderer in seinem Leben. Mehr an Liebe, Kampf, Hoffnung, Maß und Versöhnung, als jemals ein anderer Tag bringen würde. Aber wenn man das Beiwerk abriß, die Verzierung, wenn man die Ornamente von den Tatsachen trennte, was blieb dann? Nichts weiter als eine ellenlange Bruchrechnung, die man erst kürzen mußte, ehe es an die Lösung ging. Betrachtete man dann die Lösung, dann war sie fast simpel und primitiv. Sie hatten gemeinsam gesiegt. Dieser Sieg hatte ihren Haß zerstört. Aber was war es für ein Sieg, der dazu imstande war? Gewinnen, von mir aus, dachte Schneider. Siegen ist immer schlecht. Egal, ob der Sieg für das gute oder für das Böse erfochten wird. Wer entscheidet letzten Endes überhaupt, was gut und was böse ist. Wo hörte das Böse auf, und wo fing das Gute an. Alles, wonach man lebte, war nur Menschengesetz. Erstellt von auf der Erde lebenden zweibeinigen Säugetieren. Achilles war jetzt auffallend still. »Fehlt Ihnen was, Pille?« »Ja, ich habe an einem Tag zweimal die Liebe verloren. Den Logger und Michou.« 196
»Eine alte Liebe überwindet man mit einer neuen Liebe. Bewährtes Sprichwort.« Nach einer Weile meinte Achilles: »Von Herrn Dichter Hommer?« »Bei griechischen Zitaten im Zweifelsfall immer Hommer.« Sie gingen durch die Sperre und über eine Brücke. Um die Ecke, die Straße hinaufsah man schon Michous Bar. Schneider schüttelte die idiotischen Gedanken über »Gut« und »Böse« von sich wie ein nasser Hund das Wasser aus dem Fell. Es gelang ihm, weil er noch jung war. Dann summte er das Lied: »C'est si bon ... Alles ist gut...« Nachtrag Auf Grund seiner Verdienste für Volk und Vaterland im Kriege wurde Obersteuermann Köhler, Kommandant von Logger-29 in der 38. Minensuchflottille, mit dem Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes ausgezeichnet.
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