Das zweite Leben Version: v1.0
Muonio, Lappland Keela wartete, bis ihr Mann eingeschlafen war. Dann erhob sie sich, wi...
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Das zweite Leben Version: v1.0
Muonio, Lappland Keela wartete, bis ihr Mann eingeschlafen war. Dann erhob sie sich, wie sie es schon hunderte Male nachts getan hatte, um die Toilette aufzusuchen. Aber sie ging nicht auf die Toilette. Sie wechselte auf Zehenspitzen in den Nebenraum und nahm ein paar Sachen aus dem Schrank. Unten, im Erdgeschoß, schlüpfte sie in die Kleider. Ihr blondes Haar hing in wirren Strähnen. Das blei che Gesicht strahlte eine Unerschütterlichkeit aus, die jeden, der »Nervenbündel« Keela näher kannte, erstaunt hätte …
Was bisher geschah Durch die Magie, welche Liliths fast hundertjährigen Schlaf ermöglichte, mutieren die australischen Schöpferwesen. Sie wollen ihre ehemalige Schöpfung vernichten. Lilith gelingt es, die Gefahr abzuwenden. Vorher jedoch wird ein Tasmanischer Teufel mit dem Virus einer magischen Pest infiziert. Zwar verschwindet diese nach der Vernichtung des Nagers, hat jedoch eine Nachwirkung: Die Gefühlswelt der Geheilten verkehrt sich ins Gegenteil. Auch bei Beth zeigt sich dieses Symptom. Das macht Landru sich zunutze; er verbündet sich mit Beth gegen die nichtsahnen de Lilith. Diese sucht inzwischen nach einem Gegenmittel für die Auswirkungen der magi schen Pest und erfährt von dem finnischen Seuchenexperten Frans Stålheim. Sie bricht auf, ihm den Tasmanischen Teufel zu bringen. In Lappland erreicht sie ein mysteriöser Anruf: Ihr ehemaliger Gefährte Duncan Luther, vor Monaten in Indien von Vampiren ermordet, meldet sich aus Mauretani en! Er weiß weder von seinem Tod, noch wie er nach Afrika gelangte. Indem sich Lilith eilig auf den Weg macht, verpaßt sie die Ankunft eines Dr. Landers bei Stål heim. Es ist niemand anderes als Landru, der bei der Suche nach dem Gegenserum »helfen« will. In Mauretanien wird sie von arabischen Häschern überfallen und von Jebal, ei nem jungen Mann, gerettet. Er erzählt ihr von der Oase El Nabhals, eines alten, ge fürchteten Zauberers. Seine magischen Tücher werden hierzulande »für alle Le benslagen« benutzt: um zu lieben, zu genießen, zu hassen und zu töten … Nona, Landrus Geliebte, lebt ebenfalls in El Nabhals Oase. Sie hat den Auftrag, Duncan für Lilith bereitzuhalten. Doch El Nabhal ist eifersüchtig und will Landrus Pläne vereiteln, indem er Lilith beseitigen läßt. Lilith drängt Jebal, sie zur Oase zu bringen. Als sie von abtrünnigen Werwölfen überfallen werden, erkennt sie Jebals wahre Identität: Auch er ist ein Werwolf, der sie zur Oase locken sollte. Sie entkommt und dringt in die Oasenstadt vor. Überra schend leicht befreit sie Duncan und flieht mit ihm. Unterdessen tötet Nona El Nabhal, dessen Verrat sie erkannt hat, mit Hilfe eines der magischen Tücher …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und der Vampirin Creanna, dazu ge zeugt, eine geheimnisvolle Bestimmung zu erfüllen. Für 98 Jahre lag sie schla fend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist zu früh erwacht – die Zeit ist noch nicht reif. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Ba stard sehen, bis sich ihre Bestimmung erfüllt. Dabei hilft ihr ein Symbiont. Der Symbiont – ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, ob wohl es fast jede Form annehmen kann. Einst gehörte es Creanna und wurde von ihr an Lilith weitergereicht. Der Symbiont ernährt sich von schwarzem Vampirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Landru – Mächtigster der alten Vampire und der Mörder von Liliths Vater. Seit 267 Jahren jagt er dem verlorenen Lilienkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, ohne den es keinen Nachwuchs geben kann. Landru scheint irgendei ne Schuld auf sich geladen zu haben – welche, ist noch unklar. Duncan Luther – ehemaliger Priesteranwärter mit bewegter Vergangenheit. Er lernt Lilith kennen, verliebt sich in sie, wird in Indien von Vampiren getötet und taucht jetzt plötzlich wieder auf. Beth MacKinsey – Journalistin bei einer Sydneyer Zeitung. Beth kennt Liliths wahre Identität – und hat sich, gleichgeschlechtlich veranlagt, in die Halbvam pirin verliebt. Dies wurde jedoch durch die Nachwirkungen der magischen Pest mittlerweile ins Gegenteil verkehrt: Unter deren Einfluß hat sie sich mit Landru gegen Lilith verbündet. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser kein vollwertiger Blutsauger, sondern eine Kreatur, die dem Vampir be dingungslos gehorcht. Seinerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben, benötigt aber Blut zum (ewigen) Leben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
In Muonio war alles etwas anders als in den Orten ähnlicher Größe dieses Landes. Die Holzhäuser, auf festem Fundament ruhend, wa ren weniger farbenfroh, die Menschen weniger freundlich im Um gang miteinander. Vielleicht war der Pakasaivo schuld, der »heilige Teich«. Der Sage nach war der gewaltige See, an dessen südlichem Ende die Fjällkette begann, eine uralte Kultstätte der Samen. Selbst grausame Men schenopfer sollten auf ihm dargebracht worden sein. Flüche lasteten auf ihm und den Menschen, die hier ihr Brot verdienten. Keela war dies alles gleichgültig. Sie lief durch helle Mittsommer nacht über die holprig gepflasterten Straßen. Ihre Schritte verursach ten kein Echo. Nur der stete Wind heulte leise. Der Ort schlief. Vielleicht beobachtete der eine oder andere Ein wohner hinter Vorhängen, wie Keela auch das letzte Haus der Stra ße hinter sich ließ und auf den Trampelpfad einbog, der hinab zum Wasser führte. Vielleicht überkam den Beobachter, der wie sie kei nen Schlaf fand, eine Gänsehaut, falls er Keelas entrückte Miene be merkte … Ihre Gedanken kreisten nur um das eine. Den Einen. Sie hatte ihn zufällig im Gemischtwarenladen getroffen. Er hatte sich für teure Tuchware interessiert, von der niemand in Muonio je ein Stück in Händen gehalten hatte, und den Besitzer in eine von Sachkenntnis geprägte Diskussion verwickelt. Dann hatten sich ihre Blicke gekreuzt … Keela rieb sich im Laufen zwischen den Beinen. Sie stöhnte. Der Wind riß ihr den Laut von den Lippen. Es war kalt. Die Geräusche hatten zugenommen. Blätter raschelten. Äste und Gestrüpp rieben gegeneinander.
Die helle Nacht war Keela vertraut von Kindheit an. Seltsamerwei se hatte sie ihr immer mehr Angst gemacht als tiefe Dunkelheit. Heute war es anders. Heute konnte sie nur an das eine denken. Ihre Haut prickelte. In ihrem Unterleib war ein vertrautes Ziehen, allerdings von einer Stär ke, daß sie vor sich selbst erschrak. Es war, als würde sich alle Wär me und alle Feuchte des Körpers in ihrem Schoß sammeln. Im Ge gensatz dazu war ihr Mund pulvertrocken und pelzig. Keela strauchelte kurz. Ein stolzer Adler brach unmittelbar vor ihr aus dem Gehölz und hob mit mächtigem Flügelschlag ab. Die Au gen des Raubvogels schienen bis auf den Grund von Keelas Seele zu dringen. Sie liebkosten und züchtigten, sie schmeichelten und unter warfen. Der Adler zog eine Weile seine Kreise, dann entschwand er ihren Blicken. Sie setzte ihren Weg durch die sternlose Nacht fort. Der steil abfallende Pfad endete am Ufer des Pakasaivo. Hohe Bäume bewaldeten den Boden rings um das dunkel spiegelnde Ge wässer. Hinter einem der Stämme trat ein verwilderter Hund her aus. Er hatte ein steingraues Fell und die Augen des Adlers. Er nä herte sich Keela ohne Scheu und rieb sich an ihren Beinen. Sie bückte sich. Ihre Finger glitten durch das kurze Haar, das einen schlanken, kraftstrotzenden Körper umschloß. Ihr Verlangen wuchs. Sie führte die Hand in den Rachen des Tie res, das nicht zubiß – das überhaupt keinerlei Aggression zeigte –, und ließ die Haut von heißem Atem streicheln. Dann, als hätte dieser Atem sie erinnert, was weiter geschehen sollte, richtete sie sich wieder auf und ging weiter. Sie drehte sich kein einziges Mal um, spürte aber dennoch die Blicke des Hundes, bis sie den ein Stück weit auf den See hinausführenden Steg erreich
te. Das Holz der Planken war glatt vom Dunst, der wie ein Trauerflor über dem Wasser schwebte. Keela ging bis zum Ende der Konstruktion, vorbei an sanft düm pelnden Nachen, die hier vertäut lagen. Niemand begegnete ihr. Die Fischer hatten ihre Boote eine Meile nördlich, wo sich ein jedem Wetter trotzender, befestigter Kai be fand. Keela spähte über das Wasser. Sie stand im Einklang mit ihrer Umgebung. Sie hörte keine Schritte und wußte dennoch, daß der Hund mit den Augen des Adlers ihr gefolgt war. Sie setzte sich nieder. Ihre Füße berührten die Oberfläche des Stegs. Feuchte Zungen leckten an den Sohlen. Keela hätte sich gewünscht, daß sie höher glit ten und das Brennen zwischen ihren Lippen linderten. Ihre Glieder fühlten sich plötzlich so schwer an. Es kostete An strengung, die Arme zu heben, anzuwinkeln. Keela lächelte, weil es ihr dennoch gelang. Sie wollte kein Schwächling sein. Der See gurgelte um die Tragpfeiler des Stegs. Es war, als spräche er zu ihr. Als versuchte er, sie zu überreden, zu ihm hinabzusinken. Aber Keela war bereits versprochen. Bedauernd versagte sie sich dem nassen Grab. Tränen quollen aus ihren Augen und rannen über bleiche Wangen. Mit dem rechten Zeigefinger zeichnete sie eine Linie diagonal über die Innenseite ihres linken Handgelenks. Dasselbe tat sie mit dem anderen Zeigefinger auf dem anderen Handgelenk. Dann streckte sie die Arme geradeaus, die leichter wurden mit je
dem Pulsschlag, der durch ihren Körper dröhnte. Leicht wie eine Feder, dachte Keela. Ich besiege die Schwerkraft … Sie war nie glücklicher gewesen als in dieser schweren (leichten!) Stunde, während das Blut aus den Schnitten ihrer Arme pulste. Kein guter Tropfen fiel auf das Holz oder ins Wasser. Alles gelangte in die durstige Kehle dessen, der hinter ihr stand und sie melkte wie ein Stück Vieh auf der Weide. Auch nachdem Keela ohnmächtig zusammensank, hörte er nicht auf zu trinken. Zu seufzen. Sie zu kosen …
* Voll wie eine Zecke kehrte er zur Station zurück, wo Stålheim seit Tagen, einem Besessenen gleich, schuftete. »Wo waren Sie?« empfing ihn der Seuchenexperte in Hochstim mung und zog die Hände aus den in eine Glasbox integrierten Handschuhen, mit denen er unter sterilen Bedingungen an dem ma nipulierte, was ihm eine geheimnisvolle Fremde aus Sydney mitge bracht hatte. Hector Landers zuckte die Achseln. »Mir ein bißchen die Beine vertreten, ein kleiner Imbiß …« »Unten im Dorf? Um diese Zeit?« »Unten im Dorf«, bestätigte der Besucher, ohne näher darauf ein zugehen. »Was gibt’s Neues? Kommen Sie schon – mir können Sie nichts vormachen. Sie strahlen, als hätten Sie gerade die elektrische Glühbirne erfunden!«
»Da ist mir Freund Edison etwas zuvorgekommen«, sagte Stål heim. »Mein Freund Thomas Alva …« Landers lächelte dunkel, als hätte er den großen amerikanischen Erfinder tatsächlich persönlich ge kannt. Er versuchte Stålheims Blick zu fassen, aber der Wissen schaftler wich aus. »Was sagen die neuesten Ergebnisse?« fragte Landers. »Haben Sie es geschafft …?« Er trat hinter Stålheim und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Mann, Frans, reden Sie schon! Spannen Sie mich nicht dermaßen auf die Folter!« Stålheim lehnte sich weit von der Apparatur zurück, über die ge beugt er gearbeitet hatte. »Ohne Ihre hilfreichen Anregungen stünde ich immer noch knapp hinter der Start-, aber längst nicht auf der Ziellinie …!« »Ich weiß, ich bin genial.« Landers hob die Hand und gähnte de monstrativ. Hätte Stålheim geahnt, wovon die dunklen Ränder ent lang des Zahnfleisches rührten, wäre ihm der Triumph im Halse krepiert. Aber er hatte nicht die leiseste Ahnung. Hegte nicht den leisesten Verdacht … »Man muß sich auch in der Wissenschaft von seiner Inspiration lei ten lassen«, gab Landers zum Besten. »Sie hätten es auch ganz ohne meine Hilfe geschafft – bestimmt noch in diesem Jahrtausend …« Stålheim lächelte. Dann kratzte er sich am Kinn. »Für Höhenflüge ist es noch zu früh. Erst muß sich das Serum in der Praxis bewähren – nicht nur unter Laborbedingungen, und dann noch an Blut, das vom Organismus isoliert wurde. Ich weiß nichts über eventuelle Komplikationen.« »Was ist mit den Versuchstieren, denen Sie erst den Erreger und dann das Serum injiziert haben?«
»Außer dem bereits beobachteten gewaltigen Schlafbedürfnis konnte ich bislang immer noch keine Nebenwirkungen erkennen.« »Und wenn sie aufwachen?« »Sind sie in ihrem Verhalten radikal verändert«, sagte Stålheim. »Aus Unruhegeistern werden Lethargen. Aus Faulpelzen Hyperak tive …« »Na also! Das hört sich doch alles nach einem verdammten Erfolg an – oder was sähen Sie lieber? Daß die Tierchen drei Stunden spä ter tot umfallen …?« Landers lachte. Stålheim maßregelte ihn nicht, obwohl er diese Art von Humor nicht guthieß. »Natürlich nicht.« »Wie sieht es in Sydney aus? Wann haben Sie zuletzt mit diesem Dr. Hemsfield telefoniert?« »Vor drei Tagen. Der Zustand der ehemaligen Seuchenopfer ist unverändert.« »Haben Sie ihm Hoffnung gemacht?« »Das schien mir verfrüht.« »Und nun?« »Kann man allmählich darüber nachdenken …« Hector Landers brachte ihn mit einer barschen Geste zum Schwei gen. »Sie sind ein Narr, Stålheim! Ein übervorsichtiger Narr! Ich würde Ihnen liebend gern zeigen, wie man einen solchen Erfolg rich tig vermarktet. Wie man das meiste damit herausschlägt …« Stålheim nickte, obwohl Landers von Dingen erzählte, die dem Seuchenexperten schmeckten wie eine Schachtel faule Eier. »… aber leider muß ich Sie noch heute verlassen … Keine Kroko dilstränen, bitte.« Endlich fing er einen schweifenden Blick ein, und prompt schien Stålheim zu frösteln. »Vielleicht sehen wir uns ja ir gendwann einmal wieder. Vielleicht gehe ich dann auch nicht hin
unter ins Dorf auf einen Happen, sondern bleibe gleich hier oben und esse mit Ihnen …«
*
Die gestorben sind, sind niemals fort, sie sind im Schatten, der sich erhellt und im Schatten, der tiefer ins Dunkel fällt. Sie sind in der Hütte, sie sind im Boot. Die Toten sind nicht tot. In der Stadt herrschte heller Aufruhr. Flüchtlinge aus El Nabhals Oase waren eingetroffen. Sie suchten Unterkünfte und Gehör. Ihre abstrusen Berichte waren Thema Nummer eins. Hinzu kamen Tu multe innerhalb des Basarviertels. Erwerber ganz spezieller »Wunscherfüller« fühlten sich betrogen, weil die teuren Tücher aus der Webstube des Magiers plötzlich ihre sämtliche Kraft eingebüßt hatten. Lilith rechnete sich eins und eins zusammen. El Nabhal ist tot, dachte sie, obwohl sie ihn in der Oase weder tot noch lebendig gese hen hatte. Aber die dortigen Verhältnisse, noch weit chaotischer als hier, ließen kaum andere logische Schlüsse zu. Mit Mühe und Not hatten Lilith und Duncan sich in den Flücht lingsstrom eingereiht. Zwei entbehrungsreiche Tage hatte es gedau ert, die Wüste zu überwinden. Dann waren sie in der nächstgelege nen Stadt eingetroffen, von der aus Lilith auch ihre Suche nach Dun can begonnen hatte.
Bir el Khzaïm. Sie hatten Zeit gehabt, sich zu beschnuppern: die Untote und der Tote, wie Lilith sie beide mit jenseitigem Humor bezeichnete, ob wohl zumindest sie auch noch eine lebendige Komponente besaß … Was mit Duncan nach seinem Tod in Delhi geschehen war, konnte auch er ihr nicht beantworten. Seine Erinnerung begann hier in Mauretanien. Desorientiert war er zu sich gekommen. Im Keur Massada, dem Hotel, das sie nun bei ihrer Wiederankunft in Bir el Khzaïm mieden, weil es einmal unter der Fuchtel El Nabhals gestan den hatte. Selbst wenn dessen Einfluß mit seinem mutmaßlichen Ende versiegt war, hegte Lilith keine Ambitionen, dort abzusteigen. Sie hatten sich für eine bescheidene, flughafennahe Unterkunft na mens Asta Kebe entschieden. Seitdem schlug Lilith sich mit Rückreiseformalitäten herum. Ironischerweise hatte »der Tote« (wie sie Duncan in Gedanken wi der eigenes Wollen nannte) einen gültigen, echten Paß – sie selbst mußte tricksen, wie immer. Tricksen mußte sie auch bei der Geldbeschaffung. Aber enges menschliches Moralverständnis wollte sie sich gar nicht erst ange wöhnen. In dieser Hinsicht entschuldigte sie sich mit ihrem vampiri schen Erbe. Entsprechend gering waren ihre Skrupel, die Filiale einer weltweit bekannten Bank auf dem Flughafenareal aufzusuchen und sich mit großer Überzeugungskraft eine in US-Dollar und Dinar gesplittete Summe aushändigen zu lassen, die ihrer Schätzung nach für die Vorhaben der nächsten Zeit ausreichen würde. Keinen Einfluß hatte sie auf die automatische Kamera, die den Schalterraum überwachte. Aber auf dem Videoband würde man nach der Entdeckung des Kassendefizits nicht mehr als einen ver schwommenen Schemen erkennen können, der gestochen scharfe
Geldbündel einsteckte und sich damit verabschiedete. Die Bankan gestellte wiederum würde sich an niemanden erinnern, dem sie be legfrei eine beachtliche Summe ausgezahlt hatte … Als nächstes besorgte sich Lilith einen Umschlag, legte Geliehenes »plus Zinsen« hinein und adressierte ihn mit den Angaben, die sie seit ihrer ersten Taxifahrt auf arabischem Boden mit sich trug. Die sen Brief gab sie auf der Post auf. Hier funktionierte ihr Moralverständnis plötzlich wieder. Auch bei ihrer Ankunft hatte sie Bares »geliehen« – allerdings von einem, der selbst nicht viel davon besaß. Sie hatte es nicht vergessen. Jetzt konnte sie es. Nach Beseitigung dieser »Altlast« begab sich die Halbvampirin zum Flughafenschalter, in ein Kleid gehüllt, das ihre Attraktivität nur spärlich zur Geltung brachte. Die Air Afrique bot als einzige Gesellschaft einen Direktflug nach Helsinki mit Anschluß nach Ivalo an – dieselbe Strecke, die Lilith, wenn auch mit einem nicht einkalkulierten »Umweg«, zum Schwar zen Kontinent genommen hatte. Dieser Flug ging in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages. Lilith buchte komplikationslos und zahlte beide Tickets cash. Als sie das Terminal verließ, spielte sie mit dem Gedanken an ein Abenteuer, bevor sie zu Duncan zurückkehrte. Sie gestand sich ein, daß sie momentan froh war, seine Nähe so oft wie möglich zu miss en. Sie hatte immer noch nicht ganz begriffen, was geschehen war. Sie konnte es auch nicht, solange Landrus Rolle bei Duncans »Aufer stehung« ungeklärt war. Duncan lebte. Er atmete, sein Herz schlug und pumpte Blut durch die Adern – er war keine Kreatur – und dennoch ertrug Lilith ihn nur mit äußerstem Widerwillen.
So hatte sie sich ihre Wiederbegegnung nicht vorgestellt. Sie hatte überhaupt keine konkrete Vorstellung davon besessen, nachdem sein Anruf sie in Muonio, Lappland, erreichte. Nachdem sie den Treck durch die Sahara überstanden hatten, leg te Duncan sich ins Bett. Auch in der Oasenstadt hatte er, wie er be hauptete, fast nur geschlafen … Lilith entschloß sich, nun endlich zwei Telefonate zu führen, zu denen sie bislang keine Zeit gefunden beziehungsweise die sie be wußt hinausgeschoben hatte. Statt eine der schwer zu handhabenden öffentlichen Sprechzellen aufzusuchen, ging sie in ein Büro der staatlichen Telefongesellschaft. Aber nur eine der gewünschten Verbindungen kam zustande. Stål heim hob, trotz Freizeichen, nicht ab. Dann stand die Leitung nach Australien. »Lilith! … Hat er dich erreicht?« Mit dieser Frage nahm sie Lilith fast allen Wind aus den Segeln. »Wer?« fragte sie dennoch unverbindlich. »Wer! Duncan natürlich! Er rief hier an … Du kannst mich für ver rückt halten, aber er war es, ich schwöre! Du warst kaum abgereist, als er sich meldete und unbedingt wissen wollte, wo du bist …« »Was du ihm verraten hast?« »Warum auch nicht, heh? Aber du scheinst nicht sehr überrascht zu sein. Hat er dich erreicht?« »Er ist bei mir.« »Aus Fleisch und Blut?« »Aus Fleisch und Blut.« »Unglaublich … Wo seid ihr? Immer noch bei diesem … du weißt schon?« »Nein.« Lilith zögerte, dann fragte sie: »Wie geht es dir?«
»Ich warte. Ich zwinge mich zu hoffen, daß du Erfolg hast.« »Unverändert also …« »Ich kann dich auch anlügen, wenn dir das lieber ist.« Lilith verzog ärgerlich den Mund. »Hattest du zwischenzeitlich selbst Kontakt zu Stålheim?« »Nein.« »Morgen treffen Duncan und ich, falls alles glatt läuft, bei ihm ein.« »Und wann in Sydney?« »Das kann ich noch nicht sagen. Wir halten Kontakt.« »Wie stehen die Chancen, daß er Erfolg hat?« »Ich konnte ihn noch nicht erreichen.« Lilith beendete das Gespräch. Das verdrängte Unbehagen in bezug auf Beth war zurückgekehrt. Ein kurzer Wortwechsel hatte genügt. Beth stand immer noch im Bann des dämonischen Virus, der ihre Gefühlswelt auf den Kopf gestellt hatte. Sie kämpfte dagegen an, aber aus jedem Wort, jedem Tonfall sprach die kaum bezähmbare Abneigung, die sie seit der überstandenen Infektion gegen Personen hegte, die sie früher gemocht – oder geliebt – hatte. Von einfacher Antipathie bis hin zu blankem Haß reichte das gegenteilige Spek trum dieser Menschen. Lilith hoffte, daß Stålheim zwischenzeitlich wenigstens einen An satz gefunden hatte, die Folgeschädigung der magischen Krankheit zu kompensieren. Noch einmal unternahm sie einen Versuch, die private Forschungsstation am Pakasaivo-See zu erreichen. Wieder umsonst. Was die Befürchtung schürte, die sie seit geraumer Zeit hegte. Es war nicht mehr auszuschließen, daß Duncans Anruf sie in volls ter Absicht – auch wenn Duncan selbst davon nichts ahnte – von
Stålheim hatte weglocken sollen. Wenn dem so war, schwebte der Wissenschaftler nicht nur in höchster Gefahr – vielleicht hatte ihn diese bereits verschlungen. Lilith war in großer Sorge. Nicht nur wegen Beth und anderer, die auf vollständige Genesung warteten, auch wegen Stålheim … Sie verließ das Büro, verfolgt von den Blicken männlicher Beschäf tigter und Kunden, die auch unter Liliths Sack-und-Asche-Look die Reize entdeckten, die näher zu erforschen sich offenbar ein jeder wünschte. Lilith selbst fand an keinem von ihnen Gefallen. Sie hatte eigene Vorstellungen darüber, welcher Typ Mensch ihre beiden Be gierden zufriedenzustellen vermochte. Sie schlenderte die Straßen Bir el Khzaïms entlang. Der Orient war voller blendend aussehender, bereits in jungen Jahren seltsam erwachsen wirkender Männer. Als ein Betteljunge von schlankem, aber kräftigem Wuchs und ebenholzdunkler Haut direkt vor ihr auftauchte und zurückhaltend »Bunu Morale!« mur melte, erwiderte sie den Dialekt mechanisch. Zugleich fand ihre un bewußte Suche ein Ende. Er hielt die Hand auf, natürlich. Aber er tat auch dies ungewöhn lich distanziert und zudem nicht – wie eigentlich üblich – von einer ganzen Horde Mitbettelnder umgeben. Er erinnerte Lilith ein wenig an Jebal, was Wuchs und Ausdruck der dunkel schimmernden Au gen anging. Aber zugleich wies er selbst genug Eigenes auf, um die Gedanken an Nonas Gespielen zu verdrängen. »Yokon«, erbat er sich eine Münze und fügte hinzu: »Misumu-su mut. Ich bin krank …« Lilith musterte ihn von Kopf bis Fuß. Sie wurde selbst immer wie der überrascht, wie machtvoll sich ihre geheimsten Triebe zu Wort meldeten, wenn eine Gelegenheit günstig oder – der Not gehor chend – unumgänglich schien.
»Wie heißt du?« »Aloun.« »Unter welcher Krankheit leidest du?« Er hob sein knöchellanges, abgetragenes Gewand, so daß Lilith ga zellenschlanke Beine bis hinauf zum Ansatz der Oberschenkel be trachten konnte. Hie und da haftete etwas an Alouns Haut, das Li lith zunächst irrigerweise für traditionellen Schmuck der schwarzen Bevölkerung Mauretaniens hielt. Aber da er es ihr als Antwort auf ihre Frage nach dem Wesen seines Leidens zeigte, fragte sie: »Was ist das?« »Würmer«, sagte er, ohne den Blick von ihren Augen zu senken. Lilith begriff immer noch nicht die Bedeutung der jeweils aus zwei Hölzchen zusammengesetzten Teile, bei denen nicht genau erkenn bar war, was sie an Alouns Haut festhielt. Sie forderte ihn auf, das Gewand wieder fallen zu lassen. Er gehorchte. Abwartend. »Ich habe mein ganzes Geld im Hotel«, log sie. »Wenn du mich be gleitest, erhältst du dein Bakschisch.« Er nickte zögernd und folgte ihr dann wortlos. Auch in der Folge scheiterten ihre Versuche, ihn auf dem Weg zum Hotel in eine Un terhaltung zu verwickeln. Er blieb einsilbig. Das Asta Kebe wurde von einem »Beidan«, einem Mauren von hellerer Hautfarbe als Aloun, und einigen Schwarzen im Sklaven sold geführt. Der Besitzer – sowohl des heruntergekommenen Hau ses als auch der Menschen, die für ihn schufteten – war nirgends zu sehen, als Lilith in Begleitung Alouns in die winzige Eingangshalle trat. Der alte Mann an der Rezeption trug mehrere gris-gris an Oberarm
und Hüfte, Ledertäschchen mit Koransprüchen, die, wie Lilith zwi schenzeitlich erfahren hatte, gegen allerlei Gebrechen oder Gefahren helfen sollten, von Krankheiten bis hin zu psychisch bedingter Im potenz. Gegen Liliths hypnotische »Überredungskunst« schützten sie of fenbar nicht. Während Aloun abseits unter dem Eingangsbogen wartete, erhielt Lilith den Schlüssel zu einem Zimmer, in dem ga rantiert nicht Duncan wartete. Das Zimmer war erstaunlich sauber, aber auf den ersten Blick als unbewohnt zu erkennen. »Du wohnst hier nicht, adjame«, erkannte auch Aloun. »Ich weiß.« Lilith schloß die Tür. Bislang verzichtete sie bei ihm völlig auf Beeinflussung. Sie war inzwischen selbstbewußt genug, um zu wissen, daß es Angebote gab, die kein Mann aus ihrem Mun de ablehnte. »Wie alt bist du?« »Sechzehn«, antwortete er. »Dann hast du sicher schon Frauen gehabt?« In seine Augen huschte ein verstockter Ausdruck. Dann sagte er etwas, das Lilith tief verletzte, zumal sie es – eigentlich – nicht er wartet hatte: »Bist du eine Hure, die mich bezahlen will, damit ich es ihr gut besorge?« Wie vom Blitz getroffen starrte sie zu ihm hinüber. Sie stand be reits neben dem nicht sehr großen, nicht sehr bequemen Bett. »Was fällt dir –« Er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Daß ich betteln muß, um zu überleben, heißt nicht, daß ich keine Ehre habe!« Er wandte sich zur Tür. Sie holte ihn ein. Verstellte ihm den Weg. »Halt! Laß uns reden. Es tut mir leid, wenn ich deinen Stolz verletzt haben sollte …«
Er blickte ausdruckslos. Aber er blieb stehen. »Es war ungeschickt von mir. Aber – du gefällst mir.« »Du redest wie eine Hure«, unterstrich er noch einmal. »Ihr fallt in unser Land ein wie die Heuschrecken. Offenbar ist es von besonde rem Reiz für weiße Frauen, mit schwarzen Männern zu schlafen. Dafür empfinde ich Verachtung. Behalte dein bakschisch …« Er schob sie beiseite. Diesmal hinderte sie ihn nicht, den Raum zu verlassen. Immer noch brannte das Wort in ihr, mit dem schon Landru – wenn auch aus gänzlich anderen Gründen – ihre Mutter verachtet hatte. Hure! Auch Lilith verließ das Zimmer – und wechselte in ein anderes.
* Zufrieden schloß Landru die Tür zu Stålheims Laboratorium und verließ das Haus. Das Werk war vollbracht. Das, weswegen er diese Reise überhaupt unternommen hatte. Stålheim unter die Arme zu greifen, damit er das Gegenserum für die Auswirkungen der magischen Seuche fand, war nur Mittel zum Zweck gewesen. Landru hatte höhere Ziele, als zum Wohltäter der Menschheit zu werden. Er lächelte bei diesem Gedanken. Ausgerechnet er, der bereits etli che Pestepidemien über diesen Planeten gebracht hatte. Und stets waren Ratten getreue Helfer gewesen. An der Pest in Sydney dagegen trug er keine Schuld. Inzwischen wußte er, daß eine fremde Magie der Auslöser gewesen war: die der
Wondjinas, der australischen Schöpferwesen. Diese Pest hatte auch nicht im Tod der Opfer gegipfelt. Vielleicht wäre es dazu gekommen, wenn Lilith Eden nicht das Wesen getötet hätte, das verantwortlich für die Seuche war. Ein hübscher Nebeneffekt war geblieben: Die geheilten Pestopfer hatten eine komplette Wandlung ihrer Gefühlswelt durchgemacht. Aus Zuneigung war Haß, aus Vorlieben waren Abneigungen ge worden – und umgekehrt. Verständlich, daß die Tochter der Hure versuchte, ein Gegenmittel zu finden. Auch ihre Geliebte war infiziert worden. Beth MacKinsay … Ein Lächeln huschte über Landrus Züge. Sie war ein netter kleiner Zeitvertreib gewesen, ihm ganz zu Diensten und nach der magischen Pest zu jeder Schandtat bereit. Eine willfäh rige Verbündete gegen Lilith Eden. Er hatte noch viel mit ihr vor. Und deshalb war es wichtig gewesen, bei der Herstellung des Ser ums zugegen zu sein. Die kleine Manipulation, die er soeben vorge nommen hatte, würde Stålheim nicht auffallen. Er erinnerte sich ja nicht einmal mehr an Landrus Hiersein; dank eines kleinen Zaubers, denn gegen die normale Hypnose hatte sich Stålheim als resistent erwiesen. Die Tochter der Hure würde das Gegenmittel ahnungslos und vol ler Hoffnung mit nach Sydney nehmen und ihrer Freundin injizie ren. Und dann … Landru nahm den Weg ins Dorf hinunter. Bevor er endgültig ab reiste, würde er sich noch einmal sättigen. Der Flug nach Indien war lang, und die Bordverpflegung, die er bevorzugte, war nicht zu er langen, ohne Aufsehen zu erregen.
*
Duncan Luther schlief und wälzte sich unter schweren Träumen, als Lilith eintrat. Auf seiner Stirn stand kalter Schweiß. Der Raum war auf seinen Wunsch hin leicht verdunkelt. Schatten nisteten überall. Offenbar auch in seiner Seele. So er noch eine hat, dachte Lilith bizarr. (Wie sonst? Das Leben an der Seite eines Toten war bizarr.) »Ich sollte dich töten«, sagte sie, immer noch gekränkt von Alouns Abfuhr. »Ich sollte jedes Risiko vermeiden …!« Davon erwachte er. Erschrocken fuhr er auf. »Ach, du …« »Ja, ich nur …« Sie nagte an ihrer Unterlippe und stand unschlüs sig herum. »Wovon träumt ein –« Sie vermied das Wort »Toter« im allerletzten Moment. Es reicht! rief sie sich zur Ordnung. Hör auf da mit! Er fuhr sich über das nasse Gesicht und durch das Haar. »Die Träume haben sich verändert«, sagte er dumpf, »seit ich dich gefun den habe.« »Ich dich«, korrigierte sie. Er schien es nicht zu hören. »Indien. Der Vampir, der mich über fiel und …« »Und?« drängte sie. Sie wollte es hören. Endlich aus seinem Mund hören. Er starrte verzweifelt. »Es war, als würde er mir das Rückgrat zer brechen. Als würde er mich umbringen …!« Du warst tot, dachte sie. Zur Hölle, du WARST es! (Warum bist du es nicht geblieben?) Es war das erste Mal, daß sie überhaupt richtig miteinander spra
chen. Während der Reise durch die Wüste hatte Duncan unter Pha sen völliger Orientierungslosigkeit gelitten. Ein paarmal war Lilith der festen Überzeugung gewesen, daß sein Verstand über einem Ab grund balancierte – und daß der Abgrund ihn besiegen würde. Doch nun schien sich sein Zustand wider Erwarten zu stabilisie ren. »Und wovon träumtest du, bevor ich kam?« Er schwang die Beine über die Bettkante und stellte sie auf den Bo den. So blieb er sitzen. »Es hing immer mit dir zusammen«, beteuerte er. »Ich kann mich nur noch verschwommen erinnern. Es waren Träume, die ich mir nicht erklären kann. Einmal besuchte ich dich in Beth’ Wohnung. Du schliefst auf dem Sofa. Auf dem Boden lag ein fremder Mann, eben falls schlafend.« »Wie sah der Mann aus?« Lilith hatte plötzlich das Gefühl, von ei ner kalten Kruste umgeben zu sein. Von etwas, das es ihr unmöglich machte, sich von der Stelle zu bewegen. »Er war groß. Etwa vierzig. Breit und knochig. Kantiges Gesicht …« Codd! Er beschrieb Virgil Codd! »So genau erinnerst du dich an ›verschwommene‹ Träume?« Er wehrte mit matter Bewegung ab. Ihr offenes Mißtrauen machte ihm sichtlich zu schaffen. Aber was erwartete er? Er war in Nonas Dunstkreis gefunden worden. Und Nona war Landrus Geliebte … »Weiter!« Er sah sie an. »Du willst es doch gar nicht hören. Dir wäre am liebsten, ich wäre nie wieder aufgetaucht!« Stimmt.
»Unsinn«, sagte sie. »Was geschah mit dem … Mann auf dem Bo den?« »Im Traum schwebte ich auf ihn zu. Er hatte sich erhoben und ging mir ein Stück entgegen. Plötzlich …« »Ja?« Lilith war außerstande, mehr als dieses eine Wort hervorzu bringen. In ihr krampfte sich etliches zusammen, als sie begriff. Es war so verrückt … Und trotzdem paßte es. Welche Ironie … »Ich weiß nicht, was er sah – was geschah … Er versteinerte regel recht. Sein Gesicht wurde zur Fratze. Das Leben wich aus ihm … An dieser Stelle endete der Traum.« Lilith zitterte. Es wäre vernünftiger gewesen, sich zu setzen. Ne ben Duncan auf das Bett. Aber sie konnte auch jetzt seine Nähe nur mit Mühe ertragen. In einem Gedankensprung erinnerte sie sich an seinen vernarbten Rücken, den sie innerhalb der Oase betrachtet hatte. Als wäre er kunstvoll operiert worden – von fähigen Ärzten gerettet. Sie sollte es glauben, kein Zweifel! Aber zugleich legte Landru selbst Fährten, die nur den einen Schluß zuließen: Duncan war nicht Duncan – Duncan war eine Falle. Ich muß die Natur dieser Falle begreifen, dachte sie. Er ist nicht als Un toter zurückgekehrt – aber als was dann …? »Ich kenne deinen Traum«, sagte sie fahrig. »Vielleicht kenne ich alle deine Träume …« »Wie meinst du das?« Er richtete sich etwas auf. Sein Körper straffte sich. Seine Augen, sein Gesicht – alles war perfekt. Wie er et was sagte, wie er schwieg, all das war Duncan Luther. Daß er einen verwirrten und verstörten Eindruck vermittelte, war in Anbetracht der Umstände nur folgerichtig. Dennoch fand Lilith keinen »Draht« zu ihm.
»Gab es Träume, in denen du mir etwas – mitteilen wolltest?« Seine Augen weiteten sich, als würde ihre Frage eine Antwort auf etwas sein, was ihm bislang nicht bewußt gewesen war., »Ja!« keuchte er, und eine neue Schweißflut brach aus seinen Poren. »Ja! Ich … ich wollte dich …« »Warnen?« Er nickte. Schüttelte den Kopf. »Was ist?« »Es ist – verrückt.« »Was ist verrückt?« »Wovor ich dich warnen wollte.« »Wovor?« »Vor mir …« Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie dieses Geständnis noch über raschte. »Genauer!« Er erzählte von zwei »Schlüsselträumen«. Lilith erkannte darin einmal ihr Erlebnis in Sydneys Kanalisation wieder, als Ratten star ben und eine verstümmelte Botschaft bildeten – und zum anderen den Vorfall bei Frans Stålheim, wo mit Versuchstieren seines Labors etwas Ähnliches geschehen war. »Kannst du dich an den genauen Wortlaut der Warnungen erin nern?« »Nein. Das ist verschwommen!« »Sicher?« »Ja!« »Schon gut.« »Gar nichts ist gut! Ich werde allmählich wahnsinnig! Ich pfeife
auf Träume! Du siehst mich an, als wäre ich in Delhi gestorben! Hast du dir einmal überlegt, wie es in mir aussieht? Du kannst dich da von überzeugen, daß ich lebe, aber nicht einmal das läßt dich dein einmal gefälltes Urteil revidieren … Was ist los mit dir?« »Mit mir?« Lilith hätte aufschreien mögen. Sie beherrschte sich. »Findest du nicht«, fragte er, »daß du es mir schuldest, mir eine Chance zu geben?« Sie wußte, worauf er anspielte. Als sich ihre Wege in Indien trenn ten, hatte er ihr helfen wollen, eine heiße Spur zum Lilienkelch zu verfolgen. Was sollte sie darauf antworten? Ihre Gedanken kreisten um Virgil Codd, ihren letzten Diener, der in Sydney gestorben war. Auf demselben Grund und Boden, auf dem Lilith herangewachsen war und fast ein Jahrhundert verschla fen hatte. Nach allem, was sie gerade erfahren hatte, hätte Codd noch leben können, wenn nicht … Sie konfrontierte Luther mit der Wahrheit. Mit der vollen Wahrheit seiner Träume. Und stürzte ihn in noch heftigere Selbstzweifel. »Das glaube ich nicht – niemals! Du willst behaupten, dein … dein Diener habe das, was ich träumte, als … Angriff auf dich empfunden und sich mir deshalb entgegengestellt? Und ich hätte ihn erstarren lassen, beinahe sogar getötet …?« »Du warst immer begleitet vom Ruch des Todes – auch bei deinen anderen … Kontaktversuchen.« Ihre eigenwilligen »Traumdeutungen« stießen auf verständlichen Unglauben. Aber Lilith war überzeugt von dem, was sie gerade ge schlußfolgert hatte.
»Wann geht unser Flug?« »Sehr zeitig morgen früh.« Sie zeigte ihm die Tickets und gab ihm gleichzeitig seinen Ausweis zurück. Duncan betrachtete das Bild darauf, als hätte er selbst Schwierig keiten, sich damit zu identifizieren. Lilith hatte ihm erzählt, warum sie nach Lappland mußten. Er ak zeptierte es ohne Gegenrede. Von dem, was sich in der Zwischenzeit in Sachen Lilienkelch getan hatte, verweigerte Lilith ihm bislang jegli che Information. Sie traute ihm nicht. Er konnte noch so hilflos, noch so bemitleidenswert aussehen. Sei ne Auferstehung hing mit Landru zusammen. Das allein genügte, ihre Lippen zu versiegeln. Was für eine Situation, dachte sie. »Ruh dich aus«, sagte sie, obwohl er gerade erst geschlafen hatte. »Wir müssen spätestens gegen drei Uhr heute nacht aufstehen, um rechtzeitig zum Einchecken zu kommen.« »Und du? Ruhst du auch?« »Ich brauche kaum Schlaf, wie du weißt. Ich sehe mich noch etwas um.« Er blickte zum Fenster, hinter dessen Vorhängen die grellste Hitze vorbei war. »Es dämmert schon.« »Schlaf. Zur Abwechslung tief und traumlos! Ich wecke dich recht zeitig …« Seine Augen flehten sie an, zu bleiben. Sie ging. Sie verließ nicht wirklich das Hotel, sondern begab sich in jenes Zimmer, wo sie Aloun hatte verführen wollen. Dort legte sie sich auf das Bett und versuchte selbst etwas Ruhe und Schlaf zu finden.
In Duncans Gegenwart hätte sie – wie die anderen Nächte, die sie nun zusammen waren – kein Auge zugetan. Hier klappte es. Zunächst.
* In unmittelbarer Nähe zerbirst eine Scheibe. Und sofort herrscht Bewe gung in der Dunkelheit. Vom Lärm aufgeschreckt, rollt er sich vom Bett. Reißt Kissen mit sich und schleudert sie in Richtung des zertrümmerten Fensters. Klatschend treffen sie auf … etwas. »Kaarzpaari!« Wie ein langer, rostiger Nagel fährt der unmenschliche Schrei in sein Ge hör. Dann fühlt er sich bei der Kehle gepackt und wie eine Puppe durch die Luft geschleudert. Er schlägt hart zu Boden und leiert, noch halb benommen, ein Gebet her unter. Vor ihm krümmt sich … etwas zusammen. Klauenhände zucken zurück. Er robbt dorthin, wo er die Tür vermutet. Erhebt sich. Tastet über die Tapete auf der Suche nach dem Lichtschalter. Findet ihn, während er laut die Namen der Apostel verkündet. Flackerndes Licht flutet den Raum. Entreißt die Vampirfratze der Dun kelheit. Kein Gebet stoppt diese Bestie dauerhaft! Sie kommt. Sie ist allein.
Wie ich, denkt er. Gehetzt hält er Ausschau nach etwas, das er als Waffe benutzen könnte. Doch da ist – nichts … Der indische Vampir in seinem eleganten dunklen Seidenanzug – der in krassem Kontrast zu seinem barbarisch-wilden Auftritt steht – lacht böse. Zeit schinden! Irgendwie! »Was … wollen Sie von mir? Wer sind Sie?« Umsonst. Nadelspitze Reißzähne signalisieren die Absicht der Bestie überdeutlich. Der Bestie, die jetzt springt, ihn packt, niederringt und … In unmittelbarer Nähe zerbirst eine Scheibe. Und sofort herrscht Bewe gung in der Dunkelheit. Vom Lärm aufgeschreckt, rollt er sich vom Bett. Reißt Kissen mit sich und schleudert sie in Richtung des zertrümmerten Fensters …
* Ein Luftzug weckte sie. Jemand stand über ihr. »Aloun …?« Einen Moment zeichnete sich echte Verblüffung auf seinem Ge sicht ab. Es war dunkel im Raum. Draußen herrschte eine jener sternklaren, von seltsamen Düften durchwobenen afro-arabischen Nächte. »Schsch!« gebot Aloun ihr Stillschweigen. Seine Augen waren rie sengroß, aber er konnte mit Sicherheit weniger als einen Schemen in dem Bett vor sich ausmachen. Sein Gewand fiel. Er kroch zu ihr.
Lilith genoß die Berührung seiner kühlen Haut, nachdem sie dem Symbionten an ihrem Leib mit einem dringenden Gedanken befoh len hatte, sich zu verziehen – zumindest soweit, wie er selbst es dul dete. Fast nackt empfing sie den Jungen, der sie Stunden zuvor noch ge kränkt hatte. »Warum bist du zurückgekommen?« fragte sie. »Ich dachte –« »Weil du eine wunderschöne Frau bist.« »Keine Hure?« »Ich bin gekommen. Zu dir.« Dieser Punkt schien ihm wichtiger als alles andere. »Wenn ein Mann um eine Frau wirbt, spricht die Natur aus ihm. Es ist … natürlich.« »Wenn eine Frau dasselbe bei einem Mann tut, nicht?« »Nein.« Dazu hätte es vieles zu sagen gegeben – oder nichts. Lilith entschied sich für die zweite Möglichkeit. »Du hattest Glück, mich hier anzutreffen«, sagte sie leise. Er widersprach abermals. »Kein Glück –«, er deutete auf ein Le dertäschchen, das an einer Schlaufe um seinen schlanken Hals hing, »ich habe mir extra ein gris-gris dafür erworben. Es war klar, daß du hier sein würdest.« »Man kann sich diesen Zauber nach seinen Wünschen herstellen lassen?« Alouns Äußerungen erinnerten sie frappierend an El Nab hals Tücher. Er legte ihr den Finger auf die Lippen. »Hör auf, die Zeit mit Wor ten zu vergeuden! Zeige mir, was deine Lust dir gebietet – ich tue das meinige!« Lilith wußte zunächst nicht, ob sie es wirklich noch wollte. Aber Alouns Hände besaßen einen Magnetismus, der auch das versteck
teste Verlangen aus den Tiefen ihres Körpers an die Oberfläche zog. Sie schob sich über ihn. Setzte sich auf seinen Bauch und griff ge zielt hinter sich, wo sie seinen Penis zu fassen bekam. Er war be schnitten. Es dauerte nur kurze Zeit, bis sich eine harte Erektion bei dem Jungen einstellte. Sofort rutschte sie weiter nach unten. Die letzten Schranken fielen. Lilith selbst kam nach wenigen Stö ßen zum erstenmal, während er sich mustergültig im Zaum hielt. Eine Weile ließ er sie gewähren, dann brachte er sie zu Fall, ohne daß er aus ihrem Schoß glitt. Er plazierte sie auf dem Rücken und legte ihre angewinkelten Beine auf seine Schultern. Auf den Hand ballen abgestützt, zwang er ihr seinen Rhythmus auf. Ein Junge von sechzehn Jahren raubte Lilith jede noch verbliebene Hemmung. Seine Stöße erschütterten mehr als nur ihr Fleisch. Der nächste Höhepunkt spülte vollends den immer noch wachsam gebliebenen Verstand hinweg. Sie zerfloß unter ihm. Sie gab ihm schnell aufeinanderfolgende Hiebe mit den Handflächen auf das straffe Hinterteil, um zu verhindern, daß er nachließ. Dabei kam sie mit den Händen auch immer wieder an die Hölzchen, die verstreut über seine Schenkel verteilt waren. Vage erinnerte sie sich an seine Worte. Würmer? Der trefflichste Wurm rekelte sich in ihrer Höhle. Er durfte nicht aufhören, es zu tun. Niemals! In diesem Moment kam auch Aloun. Er überschwemmte sie förm lich und hielt keine Sekunde länger als nötig in ihr aus. So sehr Lilith dies bedauerte, akzeptierte sie es doch. Sie war selbst völlig ausgelaugt. Aber es war süße Schwäche, von keinerlei Durst begleitet.
Sie beobachtete, wie er sich neben ihr aufsetzte und die Beine an zog. Schweigend begann er, an den Hölzern zu drehen. Das Geräusch, das er erzeugte, wäre bei Tag kaum wahrnehmbar gewesen. Hier in der Stille besaß es unheimlichen Charakter. »Was tust du?« fragte sie. »Ich wickele die Würmer heraus – jede Stunde ein Stückchen mehr. Man muß es behutsam tun, er darf nicht abreißen, sonst –« »Sonst?« »Man riskiert eine Blutvergiftung.« Das Wort »Vergiftung« in Zusammenhang mit ihrem liebsten Saft ließ sie schaudern. »Ich war unvorsichtig«, fuhr er – für seine Verhältnisse geradezu redselig – fort. »Ich habe in einem Tümpel gebadet, der verseucht war mit Medinawürmern.« Noch während Lilith ihn bedauerte und darüber nachdachte, wie ihm zu helfen wäre, geschah Unerwartetes. Aloun schrie leise auf. Nicht einmal – mehrere Male hintereinander. Während er selbst im herrschenden Dunkel nicht zu sehen ver mochte, was vorging, nahm Lilith es mit lähmendem Erstaunen wahr: Der Symbiont, so lange Zeit – sah man von seiner Mimikry ab – völlig passiv, entwickelte Initiative. Es sah aus wie ein Angriff! »Medusenfäden« geisterten durch die Luft. Sie kamen aus einem »Gürtel«, der sich um Liliths schmale Taille wand, und sie taumel ten auf Aloun zu, an dem sie sich überall in den haarfeinen Spalt zwischen den Hölzchen bohrten und – Und?
Sich blitzschnell wieder zurückzogen. Zugleich fielen die Hölzchen haltlos von Alouns samtdunkler Haut. Er stellte sein Schreien ein. Er tastete über seine Beine … »Was war das?« keuchte er. Als Lilith keine Antwort gab, stieg er vom Bett und machte Licht. Fassungslos musterte er die wie Einstiche anmutenden Öffnungen, die seine Haut dort aufwies, wo zuvor Würmer und Hölzer eine von den Würmern nicht sehr geschätzte Verbindung eingegangen wa ren. »Sieht aus, als wärst du schlagartig wurmfrei geworden«, scherzte Lilith. Aber das reichte nicht. Nicht, um Alouns’ entgeistertes Mißtrauen zu entschärfen. »Bist du eine Hexe?« preßte er hervor. »Eine weiße … Hexe!« Das reichte. Erst Hure, nun Hexe … Lilith verordnete ihm den längst fälligen Maulkorb.
* Zwölf Stunden später Jarl Sibelius begrüßte Lilith wie eine verloren geglaubte Tochter. Mit schwieligen Händen wischte er sich Tränen der Rührung aus den Augenwinkeln. »Als die Zentrale mir sagte, jemand habe namentlich nach mir ver langt, hätte ich nicht gedacht, daß –« Liliths Kuß, auf wettergegerbte Haut gehaucht, brachte ihn zum
Schweigen. Anschließend taxierte sein auf »väterlich« getrimmter Blick Duncan Luther wie einen potentiellen Schwiegersohn. Das gefällte Urteil behielt der Same für sich. Aber gänzlich zufrie den schien er mit Liliths Wahl nicht zu sein. Er führte sie zu seinem schneetüchtigen Taxi, wo sie hinten ein stieg. Duncan Luther kroch, kaum beachtet, ebenfalls in den Fond. »Sie waren nicht lange weg«, sagte Jarl Sibelius, nachdem er Platz hinter der zerkratzten Windschutzscheibe genommen hatte. »Aber ich habe Sie trotzdem vermißt – irgendwie …« »Hast du ihn hypnotisiert?« flüsterte Duncan ihr zu. Es klang rich tig böse, und erst dadurch wurde Lilith bewußt, daß er sich zurück gesetzt fühlte. Sie musterte ihn verstohlen. Das Grätenmuster entlang seiner Wir belsäule besagte, daß er auf jeden Fall behandelt worden war. Es ver riet nicht, von wem und mit welcher Absicht. War es denkbar, daß Landru versucht hatte, Duncan zu seinem Werkzeug zu machen, aber aus unbekannten Gründen gescheitert war? Aber warum hätte er ihn dann in Bir el Khzaïm und später in El Nabhals Oase aussetzen sollen …? Fragen über Fragen. Lilith schüttelte den Kopf. »Was ist?« fragte Duncan, immer noch flüsternd. »Halt den Mund!« fauchte sie. Jarl Sibelius warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel. Er be merkte die Spannung, die zwischen seinen Fahrgästen herrschte. Was er nicht bemerkte, war Liliths stark verschwommenes Spiegel bild. Was das anging, wirkte Liliths Konditionierung immer noch. Zugleich brachte sie der eigene Blick in den Spiegel auf eine Idee.
Spontan neigte sie sich etwas nach vorn und suchte Duncan im Spie gel. Was sie damit beweisen wollte, wußte sie selbst nicht. Auch Tote besaßen Spiegelbilder. Normale Tote. Lediglich bei Geschöpfen, die vom Vampirkeim »beseelt« waren, saugte dessen Magie Abbild und Schatten in sich auf … Bei Duncan traf dies nicht zu – sie sah ihn lebensecht, vom Spiegel reflektiert, neben ihrem Schemen sitzen. Nachdenklich lehnte sie sich zurück. »Dasselbe Arrangement wie letztes Mal?« Jarl Sibelius’ Stimme holte sie auf den Boden der Tatsachen zurück. »Soll ich mir ein Zim mer nehmen und mich zur Verfügung halten?« »Das wird sich vor Ort entscheiden«, antwortete Lilith. Der Taxifahrer nickte heftig, meinte dann mit Blick auf Duncan und in einem Tonfall, der offenließ, ob er scherzte oder den Hinweis ernst meinte: »Ihr Freund sieht etwas deprimiert aus. Vielleicht ist Muonio zur Zeit nicht gerade das geeignete Pflaster für ihn …« Ehe Duncan zu einer überzogenen Reaktion ausholen konnte, die sich in seiner Haltung bereits abzeichnete, legte Lilith ihm be schwichtigend die Hand aufs Bein. Es half tatsächlich. Duncan entspannte, und sie fragte: »Was wol len Sie damit sagen, Jarl?« Er schniefte, und zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine scharfe Falte, die die hellen Härchen für einen Moment zusammen wachsen ließ. »Ich wollte Sie nicht beleidigen, Mister«, bekundete er sein Bedauern über den eigenen Mangel an Feingefühl. »Aber es ist wahr –«, er tippte neben sich, wo eine zusammengefaltete Zeitung zwischen den Resten eines Frühstücks lag, »binnen weniger Tage ist das nun bereits der dritte Selbstmord, über den hier berichtet wird. Das hat selbst in Ivalo für Aufsehen gesorgt. Drei unmittelbar auf
einanderfolgende Selbstmorde in einem Fünfhundert-Seelen-Dorf … Das ist kein Pappenstil!« »Wie brachten sich die Leute um?« fragte Lilith und bat um die Zeitung. »Frauen«, sagte Jarl Sibelius, während er ihr das Blatt nach hinten reichte. »Es waren alles hübsche, junge Frauen, von deren Proble men niemand ahnte – selbst die eigenen Angehörigen nicht.« Er fuchtelte durch die Luft. »Die Welt wird immer verrückter und gleichgültiger …!« Lilith fand den groß aufgemachten Bericht. Während Sibelius munter weiterplapperte, schien sich Duncan weder für ihn noch für das Geschriebene zu interessieren. Je länger die Fahrt durch den hohen Norden dauerte, desto in sich gekehrter wurde er. Je länger Lilith las, desto kälter wurde ihr ums Herz wegen dem, was Menschen sich selbst anzutun imstande waren. Sie suchte Duncans Blick. Er wandte sich ab.
* Ihm war kalt. Nur dort, wo die Wärme ihrer Hand sich durch den Stoff der Hose drückte, ging es einigermaßen. Woher rührte die Kälte, die in dieser schneebedeckten Umgebung nur scheinbar normal war? Er selbst wußte, daß sie ihn bereits im heißesten Wüstensand erfüllt hatte und eben deshalb nicht normal war. War sie ein Indiz dafür, was Lilith ihm anlastete, seit sie sich wie derbegegnet waren? War es am Ende wirklich die Kälte des … To
des? Hinter Duncan Luthers Kehle lauerte mehr als ein einfacher Schrei. Wäre er imstande gewesen, alle angestaute Qual auf einmal zu bün deln und herauszulassen, hätte dies eine Explosion bedeutet! »Wir werden kurz vor Anbruch der hellen Nacht in Muonio ein treffen«, sagte der seltsame Fahrer dieses seltsamen Taxis gerade. »Vielleicht weiß man dort mehr über die Geschichte. Vielleicht ha ben die Zeitungen nur mal wieder ein Thema aufgebauscht, um das Mittsommerloch zu füllen …« Was für eine Situation! Was – ist – mit – mir –? Er fühlte sich innerlich wie langsam härtender Beton. Etwas gesch ah. Etwas war geschehen. Wo endete seine Erinnerung – wo begann sie? Es gab Phasen, in denen er versuchte, Verständnis für Liliths Ver halten aufzubringen – obwohl so gut wie kein Verständnis für seine Lage zurückkam. Dann wieder erstickte ihn fast die Verzweiflung und Leere, die ihn wie eine unsichtbare Mauer aus Gummi immer wieder zurückwarf, wenn er einen neuen Vorstoß wagte, sich mitzuteilen. Was sollte er noch sagen? Was sollte er mehr sagen, als bereits gesagt war! Er wollte es nicht, aber während dieser Fahrt durch ein phantasti sches Landschaftspanorama flüchtete er sich wieder in Schweigen, kapselte er sich erneut ab. Er war froh, als sie endlich das Dorf erreichten. Die Menschen, die dort herumliefen, schienen ihm etwas weniger unwirklich als alle, die ihm bis dahin begegnet waren. Auch zur Überraschung des Fahrers bat Lilith, gar nicht erst vor
dem verwegen aussehenden »Hotel« anzuhalten, sondern gleich zu ihrem eigentlichen Ziel weiterzufahren, um dort zu klären, wie lan ge sich ihr Aufenthalt voraussichtlich hinziehen würde. Lilith sprach in Gegenwart des Fahrers nicht darüber, aber Duncan hatte aus Gesprächen während des Fluges und davor herausgehört, wie sehr sie der Begegnung mit dem hier ansässigen Forscher entge genfieberte. Beth’ Veränderung mußte schlimmere Ausmaße haben, als er es sich ausmalen konnte. Nicht zum erstenmal schoß Duncan der Gedanke durch den Sinn, daß vielleicht gar nicht Beth oder er sich verändert hatten, sondern … »Allmählich«, riß ihn Liliths rauchige Stimme aus dem Grübeln, »könntest du aus deinem Schneckenhaus herauskommen. Wir sind gleich da. Oder willst du den Rest deines Lebens stumm verbringen?« Deines Lebens. Es war nur eine Redewendung. Sie legte nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Tonlos sagte er: »Nein. Ich bin nur müde. Das ist alles.« Daß es nicht alles war, wußte sie so gut wie er. Der Gebäudekomplex, den sie auf einer Anhöhe über dem Dorf fanden, wirkte nur im ersten Augenblick skandinavisch-rustikal. Bei genauerem Hinsehen wurden technische Raffinesse und Zweckmä ßigkeit offenbar. Dies war kein idyllischer Landsitz irgendeines ver schrobenen Spinners. Hier hatte konkrete Planung zu etwas geführt, was hinter seiner Fassade vermutlich noch weit größere Überra schungen parat hielt. Der Wagen stoppte dicht hinter einer tannenbesäumten Zufahrt. »Wartet hier«, sagte Lilith und stieg aus.
Duncan sah ihr nach, wie sie auf den von Büschen verdeckten Ein gang zulief. Sie bewegte sich wie jemand, der in vollkommenem Einklang mit seiner Umwelt stand. Sie hat zu ihrer Identität gefunden, dachte er flau. Ich habe meine ver loren. Es glich einem Treppenwitz, wie sehr sich ihre Schicksale plötzlich ähnelten. Als Lilith ihrem Geburtshaus entwichen war, war sie ori entierungslos und ohne Bezug zur Wirklichkeit durch Sydney geirrt. Nun geschah dasselbe mit ihm, Duncan, und er begriff erst jetzt, was sie damals durchgemacht haben mußte. »Ihr kennt euch schon länger?« fragte der Fahrer und fügte unauf gefordert hinzu: »Halte sie gut fest, Junge, sehr, sehr gut. Die ist et was ganz Besonderes …!« Danke, Trottel, dachte Duncan verbittert. Ehe er etwas erwidern konnte, kehrte Lilith in Begleitung eines etwa vierzigjährigen Jeans trägers zurück, der aussah wie einer, der sich strikt weigerte, end gültig erwachsen zu werden. Sein blondes Haar hing schulterlang auf eine Lederjacke. Sein Gesicht war weich und entschlossen zu gleich. Der abschätzige Blick, mit dem Stålheim – um niemand anderen konnte es sich handeln – ihn bedachte, mißfiel Duncan. Er sehnte sich danach, nach Sydney zurückzukehren. In vertraute Umgebung. Falls sich dort allerdings der Realitätsbezug immer noch nicht ein stellte, wußte er auch nicht mehr weiter … Lilith beugte sich zu ihm in den Wagen, und anstatt sie einander vorzustellen, rief sie enthusiastisch: »Er hat es geschafft! Er hat es wirklich geschafft, Dun!« Er nickte. Und er nahm zur Kenntnis, daß das Eis kurz zwischen ihnen ge brochen schien. Es lag nicht an plötzlichem »Tauwetter«. Es lag ein
zig an der guten Nachricht, die sie erhalten hatte. Er hätte sich auch freuen müssen. Aber es ging nicht. Nichts erfreu te ihn mehr. Zumindest was seine Gefühle anging, war er tatsächlich wie tot. »Schön«, sagte er – und ließ das Folgende wie Bilder eines Films an sich vorbeitreiben. Er kletterte aus dem Taxi. Lilith bat den Fahrer, unten im Dorf ab zusteigen und morgen vormittag wiederzukommen. Sie zahlte ihn gleich aus. Mehr als angemessen, wie Duncan an dem Leuchten er kannte, das über das Gesicht des Samen huschte. Der Wagen setzte zurück, wendete und verschwand dann mit Gehupe hinter den ho hen Bäumen. »Wir übernachten hier«, sagte Lilith und nickte Stålheim viel zu freundlich zu. »Wir sind eingeladen. Es gibt auch noch einiges zu besprechen …« Duncan wartete, bis sie sich in Richtung Wohntrakt in Bewegung setzten. Er folgte mit Abstand, als gehörte er nicht dazu. Ihm war kalt. Auch wieder dort, wo ihre Hand gelegen hatte.
* »Was ist mit ihm?« fragte Stålheim. »War er der Grund Ihrer über stürzten Abreise?« Der Serologe und Seuchenexperte war Zeuge von Duncans telefo nischem Lebenszeichen gewesen. »Er hat Probleme«, wich Lilith aus – in einem Ton, der wissen ließ, daß sie nicht mehr darüber sagen wollte.
Duncan hatte sich ins Gästezimmer zurückgezogen. »Wer hat die nicht …« Stålheim war kein Wikingertyp. Dennoch haftete ihm etwas Ar chaisches an. Etwas, das andeutete, daß er aus der Norm geschlagen war. Ihre erste Begegnung mit ihm war von Hektik geprägt gewesen. Ereignisse hatten sich überschlagen, und Lilith war nicht in der Lage gewesen, ihm plausibel klarzumachen, in wessen Auftrag sie kam, woher sie den Kadaver des Seuchenverursachers hatte und warum ihr persönlich soviel an einem schnellen Heilmittel gegen die Spät folgen der »Pest« lag. Stålheim hatte sich als immun gegen ihre Beeinflussungsversuche erwiesen. Deshalb hatte sie nicht unbedingt damit gerechnet, von ihm mit offenen Armen empfangen zu werden. »Ihre Skepsis, was die baldige Herstellung eines Serums anging, hat sich also nicht bewahrheitet«, sagte Lilith. »Nein«, nickte er, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Die ›Quelle‹, die Sie mir überbrachten, war unbezahlbar. Nach der Isolierung des Erregers im Tasmanischen Teufel und dem Auffinden fast identi scher Viren im Blut der Sydney-Patienten war der Weg zu Antikör pern nicht mehr weit. Im Grunde lieferte der mutierte Erreger selbst die Grundlage des jetzigen Impfstoffs.« »Das klingt sehr simpel.« »Es klingt nur so«, räumte er ein. »Wenn Sie mit den Fachbegriffen etwas anfangen können, werde ich Sie auch gerne damit langweilen …« »Nicht nötig, danke. Wann steht das Serum zur Verfügung? Sie hatten sicher noch keine Zeit, es zu erproben.« »Nicht am lebenden Menschen.
Aber unter Laborbedingungen schon. Das Risiko ist nicht höher als bei jedem im Umlauf befindlichen Medikament.« Lilith blickte zweifelnd. »Hatten Sie nach mir«, fragte sie vorsich tig, »noch anderen Besuch?« Er nickte. »Aber keinen annähernd so bezaubernden.« »Wen?« »Letzte Nacht drückte ein Rentier mit seinem Dickschädel gegen das Fenster meiner Koje. Offenbar litt es auch an Mangel an Gele genheit. Attraktive Weibchen sind in unserer Gegend rar.« Lilith hob die Brauen. »Hoffentlich konnten Sie ihm ein paar Tips geben. Sonst war niemand da?« »Der Postbote.« Sie gab es auf. Sie entdeckte keinerlei Anzeichen einer Beeinflus sung an Stålheim. »Wenn Sie wollen«, bot Stålheim an, »führe ich Ihnen die Wirkung des Serums an einer Blutprobe unter dem Mikroskop vor.« Ehe Lilith antworten konnte, ging die Tür auf. Unerwartet tempe ramentgeladen betrat Duncan den Raum. »Störe ich?« fragte er aufgekratzt. »Ich weiß, es ist spät, aber ich habe Hunger wie ein ausgewachsener Wolf!« Stålheim zuckte die Schultern. »Wir können die Vorführung auch auf morgen verschieben. Füttern wir zuerst das Raubtier.«
* Ehe sie sich nach dem Essen (Lilith hatte keinen Bissen angerührt; natürlich nicht) zurückzogen, führte Stålheim sie noch ein wenig in seinem Laboratorium herum. Dabei überkam Duncan, als er den
Raum betrat, in dem Versuchstiere eingekäfigt waren, ein starkes Déjà-vu. Von diesem Raum hatte er geträumt! Die toten Mäuse waren verschwunden und noch nicht durch neue ersetzt. Etliche der Käfige standen leer. Auch für Stålheim schien der Raum Erinnerung an ein unaus löschliches Erlebnis zu sein. Er hatte bis heute keine Erklärung für die »Schrift« aus toten Leibern. »Man könnte meinen, der böse Geist des Pakasaivo habe hier an geklopft. Zum Glück bin ich weder abergläubisch noch bewandert in Okkultismus.« Er lachte. Daß niemand mitlachte, irritierte ihn nur flüchtig. »Ich mag ihn nicht«, sagte Duncan, als sie allein auf ihrem Zimmer waren. Der Uhr nach wäre Schlafenszeit gewesen. Die kaum verän derte Helle irritierte beträchtlich. Er ging zum Fenster und zog die schweren Vorhänge zu. Lilith ließ seine Bemerkung unkommentiert. Aber ihr Gesicht sprach Bände. Sie schien Stålheim ganz okay zu finden. Obwohl Duncan kaum noch die passable Laune aufrechterhalten konnte, zwang er sich, die gemachte Aussage herunterzuspielen. »Ich muß ihn ja nicht mögen. Hauptsache, er hilft uns weiter.« Lilith sah ihn an, als erwarte sie noch weitere Anmerkungen. Er zeigte auf das Bett und sagte: »Wenn du willst, schlafe ich auf dem Boden …« »Unsinn.« Sie spielte Müdigkeit vor und kroch ohne ein weiteres Wort unter die Decke. Duncan ging zuerst ins angrenzende Bad – eine winzige Kammer mit Waschbecken und WC. Eine Dusche oder Wanne suchte man vergeblich.
Er zog sich aus und wusch sich mit einem bereitliegenden Wasch lappen, Seife und fließendem, einigermaßen sauber wirkendem Wasser. Leidlich erfrischt löschte er das Licht über dem Spiegel und kehrte ins Nebenzimmer zurück. Obwohl es abgedunkelt war, wuß te er genau, daß Lilith ihn sehen konnte. Sie sollte ihn sehen. Er kroch ebenfalls unter die Decke, vermied aber jede Berührung. »Schläfst du?« fragte er. »Ja.« »Schade.« »Warum?« »Es wäre schön, deine Stimme zu hören.« Scheiße, war das plump-romantisch. (Die Romantik eines Toten.) Aber er konnte sich nicht mehr bremsen. Er wußte, was in ihm vor ging. Er wußte es und konnte es dennoch nicht verhindern. Du machst alles kaputt – alles! Hör auf! warnte der letzte Funke Ver nunft. Er ignorierte ihn. Nicht einmal ihr demonstratives Schweigen brachte ihn zur Besinnung. Seine Hand wanderte unter der Decke zu ihr hinüber. Als er sie berührte, erwartete er jede Sekunde einen Donnerschlag, mit dem sie ihn zurückweisen würde. Das darf sie nicht. Sie darf es nicht, bitte …! Es war, als könnte sie seine Angst einer Abfuhr riechen. Sie lag ein fach da. Ließ es geschehen, daß er zart über die nackten Stellen ihrer vom Symbionten nicht vereinnahmten Haut strich. Über die Kup pen seiner Finger teilte sich ihm ihre weiche Wärme mit, die ihm nicht mehr gehörte. Schuldlos. Die ihm nie mehr gehören würde … Duncan hielt inne. Er verkrampfte total. Sein Herz klopfte bis hinauf in den engen
Hals. (Sein HERZ, zur Hölle!) Er zog die Hand zurück, als hätte et was von innen und außen total Verfaultes etwas Reines, Makelloses berührt. Das Reine war Lilith, das andere … Der Donner blieb aus, aber ein Blitz durchfuhr Luther. Unbemerkt hatte sich Liliths Arm zu ihm geschoben! Er lag da wie erstarrt. Bewegte sich nicht. »Schläfst du?« fragte sie schließlich. »Ja.« »Schade.« »Warum?« Sie kam zu ihm herübergeglitten, nachdem ein spürbarer Ruck durch Verstand und Körper gegangen war. Es kostete sie Überwindung. Ihn auch. Schuldlos, wisperte es erneut in seinem Hirn. Du bist schuldlos in diese Situation gerasselt – aber SIE auch …! Lilith redete kein Wort mehr. Dort, wo sich ihre beiden Körper be rührten, spürte Duncan etwas, das nur bedeuten konnte, daß das Mimikrykleid sich zurückzog – zögerlich, wie ihm vorkam – und mehr nackte Haut preisgab. Er konnte sich nicht länger beherrschen. Ein Laut rollte aus seiner Kehle. Er umklammerte Lilith wie ein Er trinkender. Er begriff die Chance, ihr zu beweisen, wie prall das Le ben in ihm war. Ihre Brüste erinnerten ihn an alles, was er verdrängt hatte. Wie lange schon? Ihre Finger umschlossen sein Glied, und seine Lippen preßten sich auf ihre … Die kalte Dusche folgte auf dem Fuß.
* Im ersten Moment überfiel sie Grausen. Aber dann spürte sie seine Angst – und duldete die Hand (des Toten). Die Art, wie er sich ab rupt wieder von ihr zurückzog, machte ihr dann endgültig begreif lich, wie unfair sie sich ihm gegenüber verhielt. Auch wenn das Wie noch ungeklärt war, gab es an seiner Lebendigkeit eigentlich keinen Zweifel. Und sein bisheriges Verhalten hatte ebenfalls noch keinen Grund gegeben, ihm etwas anzulasten, was andere zu vertreten hat ten. Im Grunde, dachte sie, ist es pure Ohnmacht, die mich ihn ständig ver letzen läßt. Unvermögen im Umgang mit der Ungewißheit, was mit ihm geschehen ist und was Landru mit ihm beabsichtigt. Sie spürte seine Einsamkeit wie einen Klotz aus purem Eis. An diesem Punkt ihrer Gedanken verselbständigte sich ihr Körper. Sie konnte sich beobachten, wie sie ihre Hand nach ihm aussandte, wie sie mit ihm redete und schließlich zu ihm hin glitt. Er klammerte sofort, und sie begriff, daß er ihr und sich etwas be weisen wollte. Aber es gab kein Zurück mehr. Sie ließ ihn gewähren. Ließ sich selbst dorthin treiben, wo sie alte Gefühle für Duncan wiederzuer wecken hoffte. Ihr Körper war bemüht – ihr Geist nicht ganz bei der Sache. Und er? Als er sie küßte, war es ähnlich wie früher. Da Lilith aber die Zweifel nicht völlig abschalten konnte, beobachtete sie sich auch hier. Echte, verschlingende Lust wollte nicht aufkommen. Und bei ihm?
Er bemühte sich. Er ging vorsichtig und doch fordernd mit ihrem Körper um. Doch als es an der Zeit gewesen wäre, auch etwas zu ge ben, versagte er. Der Zustand seines Geschlechts veränderte sich nicht. Die unverzichtbare Erektion blieb aus. Danach verkrampfte er zusehends. Lilith versuchte zu retten, was nicht mehr zu retten war. Keines wegs kühl, kümmerte sie sich mit Händen und Lippen um ihn, um schmeichelte ihn mit ihrem dichten, mähnigen Haar. Der inzwischen längst von ihr selbst ersehnte Erfolg blieb aus. Duncan lag da wie ein Brett, die Augen zur Decke gerichtet, als könnte er dort das Wort lesen, das er am meisten fürchtete: VERSAGER. Liliths Bemühungen erlahmten. Tröstende Worte wollten ihr nicht von der Zunge, weil sie ebensoviel zerstört wie geholfen hätten. Dann überraschte er sie mit der Aufforderung: »Nimm mich!« Sie verstand nicht gleich. »Nimm mich, wie du es schon immer wolltest!« wurde er deutli cher, ohne jedoch eine Miene zu verziehen und die Starre seines Ge sichtes aufzulösen. »Du bist eine Vampirin – befriedige wenigstens deinen Durst an mir …!« Kurz huschte Alouns Bild vor ihrem geistigen Auge vorbei. Sie hatte von ihm getrunken, bevor sie zu Duncan zurückgekehrt war. Sie hatte sich den »Lohn« für etwas geholt, was der Symbiont (wie verrückt: ein Medikus) geleistet hatte. Die Beseitigung der Würmer ging auf sein Konto. Und noch immer stand Lilith unter dem Ein druck der Erkenntnis, daß der Symbiont einem anderen als seinem »Wirt« geholfen hatte … »Tu es! Bitte …!« Sie kauerte über ihm.
Wenn sie sich weigerte, waren die Folgen für ihn unabsehbar. Wenn sie es tat, auch. War es das, was Landru beabsichtigte? Hatte er Duncan in einer Weise präpariert, daß etwas auf sie übergehen sollte, wenn sie sein wiederbelebtes Blut in sich aufnahm …? Er ballte die Fäuste. Seine Augen waren jetzt geschlossen, und seine Kiefer bissen so hart aufeinander, daß die Wangenmuskulatur dick hervortrat. Lilith betrachtete ihn. Luther mußte einer Frau gefallen. Sein Körper war reizvoll, breit schultrig, schlank. Und besonders der Hals war sehr apart … »Ich bin nicht durstig«, sagte sie rauh. »Machen wir kein Drama aus etwas ganz Natürlichem. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Es war nicht der beste Zeitpunkt für eine solche Versöh nung. Du mußt dir nichts –« »Trink!« Er riß die Augen auf. Und dann, noch ehe er es aussprach, las sie die ganze Wahrheit. »Du mußt mir sagen, was du schmeckst. Ist es lebendig, oder …?« Ihr schwindelte. Das Bett unter ihr schien zu schwanken, obwohl sich keiner von ihnen in diesem Moment regte. Duncans Dilemma hatte nie so klar vor ihr ausgebreitet gelegen wie in diesem Moment: Er haderte selbst mit sich! Dies war nicht ge spielt – er sehnte sich selbst nach einem Beweis, daß er lebte und nicht nur die magische Illusion aufgepropft bekommen hatte! Daraufhin legte sie ebenfalls die Karten offen. Sie erklärte ihm, was sie befürchtete. Eine Falle Landrus. Eine Falle in Duncans Blut … Er warf die Arme hinter sich und legte eine Hand auf die Stirn. »Ich verstehe«, sagte er.
Es klang so ehrlich wie alles andere in diesen beklemmenden Mo menten. Lilith wußte selbst nicht, was über sie kam. Warum dieses Jetzterst-recht-Gefühl plötzlich Überhand nahm. Warum sie sich zwar wie zum zärtlichen Kuß zu ihm hinabbeugte, dann aber ihre eigenen Worte ad absurdum führte, indem sie nicht seinen Mund, sondern die Stelle küßte, unter der es in diesem Augenblick am lautesten pochte. Küßte und zubiß …
* »Was ist?« fragte er. »Was schmeckst du?« Der Schmerz war vernachlässigbar. Das Doppelmal ihrer Eckzäh ne zeichnete sich als dunkle Punkte auf blasser Haut ab. Die Wun den hatten sich bereits geschlossen. Duncan fieberte der Antwort entgegen. »Ich kann nichts Besonderes feststellen«, sagte sie endlich. Sie saß auf der Bettkante und wich seinem Blick aus. Duncan konnte beobachten, wie sich der Symbiont wieder als geschlossenes Kleid um sie zu schmiegen begann. »Was ist?« fragte er. »Willst du noch weg?« »Nur ein bißchen die Beine vertreten.« Sie erhob sich. Wischte sich den Mund ab. Auch diese Geste, wie zuvor das Saugen selbst, empfand Duncan Luther als Widerspruch zu dem »Gutachten«, das sie seinem Blut ausgestellt hatte. Es ekelt sie, dachte er. Sie möchte am liebsten alles wieder erbrechen … »Bis gleich«, sagte sie.
Er machte keine Anstalten, sie aufzuhalten. Nachdem sie aus dem Raum geschlüpft war, blieb er noch eine Weile liegen. Bevor Lilith ihn gebissen hatte, war die Verzweiflung soweit fort geschritten gewesen, daß er ernsthaft überlegt hatte, ob es nicht bes ser sei, sich umzubringen – jenen Status herzustellen, den die ganze Welt von ihm zu erwarten schien. Diese Absicht war verschwunden. Obwohl die Blut-Probe als gescheitert betrachtet werden mußte. Aber bei Lilith spielte das Psychische ebenso eine Rolle wie bei ihm selbst. Sein Blut widerte sie vielleicht schon an, weil sie glaubte, das Blut eines Toten zu trinken. Er stand auf. Von irgendwoher hörte er leise Stimmen. Wahrscheinlich Lilith und Stålheim, den sie draußen getroffen hatte. Er unterdrückte den Impuls, sie zu belauschen. Statt dessen wech selte er in das winzige Bad. Er hatte das dringende Bedürfnis, sich zu erfrischen. Als er den Hahn aufgedreht hatte, sah er dem fließen den Wasser zunächst einmal nur zu, wie es ins Becken schäumte. Mit den Handflächen stützte er sich auf die Ränder und blickte schließlich in den Spiegel. Ich sehe schlimm aus, dachte er. Im selben Moment geschah es. Mein … Hals …! Es war, als würde ihm mit glühendem Eisen ein Brandmal aufge drückt – dort, wo sich bereits ein Mal befand. Von Liliths Zähnen! Schmerz züngelte wie elektrischer Strom durch seinen Körper. Ausgehend von jener Stelle am Hals breitete sich die Qual bis hoch
ins Gehirn und hinab in die anderen Organe aus, in jeden Kubikzen timeter Fleisch! Reflexartig kniff er die Augen zusammen. Seine Hände krallten sich noch fester um den Beckenrand. Er stöhnte. Zitterte wie Espenlaub. Und wußte sofort, daß etwas unwiderruflich Entsetzliches mit ihm passierte. Als er die Augen wieder öffnete, war der Spiegel dort, wo er zuvor Duncans Gesicht abgebildet hatte, leer.
* Er hatte sich keinen Gefallen getan. Und mir auch nicht, dachte Lilith. Noch nie hatte sie Blut getrunken, das fader geschmeckt und weni ger belebt hatte als dieses. Es war nicht das Blut eines Toten, aber es war … kraftlos. Leer. Sie drückte die Tür hinter sich ins Schloß und sah am anderen Ende des Korridors eine Tür aufgehen. Auch Frans Stålheim bemerkte sie. Er winkte, etwas überrascht. Sie lief ihm entgegen und versuchte ihre Fassung wiederzugewin nen. Sie war unbefriedigt in jeder Hinsicht und hatte das Gefühl, dies müßte ihr auf die Stirn geschrieben stehen. »Ich kann nicht schlafen«, sagte sie, als sie den Wissenschaftler er reichte, der – trotzdem er übernächtigt aussah – einen im Vergleich zu Duncan erschütternd vitalen Eindruck vermittelte. »Steht Ihr An gebot noch?« Er musterte sie kritisch. Dann entschied er kopfschüttelnd: »Ich
habe eine bessere Idee. Setzen wir uns ein wenig vor den Kamin. Ich habe einen ausgezeichneten Portwein, von dem mir ein Freund im mer ein Kistchen schickt, wenn die Vorräte zur Neige gehen. Viel leicht hilft ein Schluck. Ich habe dasselbe Problem wie Sie. Nachdem ich nächtelang nicht richtig ins Bett kam, bin ich jetzt total überdreht … Wie wär’s?« Lilith willigte ein. Als sie vor dem prasselnden Feuer saßen und sie das Glas, das er ihr eingeschenkt hatte, abstellte, ohne auch nur daran zu nippen, sagte er: »Sie sind die genügsamste Person, die mir je untergekom men ist. Vorhin haben Sie nichts gegessen – und nun scheinen Sie auch nicht trinken zu wollen …« »Das täuscht«, widersprach sie. »Ich bin alles andere als genüg sam. Wenn der richtige Jahrgang vor mir steht, kann ich nicht nein sagen.« »Nennen Sie ihn mir. Ich werde nachsehen, was ich finde.« »Ich rede nicht von Alkohol«, sagte sie und fügte, durchaus zwei deutig, hinzu: »Und schon gar nicht von Flaschen.« Während Stålheim dem von ihm propagierten Schlummertrunk zusprach, kreisten Liliths Gedanken um Duncan. Wie sollte es weitergehen? Ihr Verhältnis war längst kein Verhältnis mehr. Der gescheiterte Versuch, es intim aufzufrischen, mußte als Fiasko bezeichnet wer den. Einen zweiten Versuch würde es nicht geben, davon war sie überzeugt. Noch einmal würde ihr Mitleid (nichts anderes hatte sie verleitet) nicht siegen. Und Beth? Würde sie je wieder die »Alte« werden? Oder hatte sie beide verloren, weil sie sich auf Dauer voneinander
entfremdeten? »Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, daß das von Ihnen entwi ckelte Serum die Gefühle der Betroffenen wieder in Ordnung bringt?« fragte sie. »Das läßt sich nicht in Zahlen ausdrücken. Aber ich rechne fest mit einem Erfolg.« »Wie lange würde eine vollständige Genesung nach Verabrei chung des Mittels dauern?« »Auch das ist überschaubar. Unter Laborbedingungen verfielen die Versuchstiere in einen mehrere Stunden andauernden, intensi ven Heilschlaf. Unmittelbar nach ihrem Erwachen daraus benahmen sie sich sofort wieder wie vor Eintritt der künstlich herbeigeführten Infizierung …« Wenn das wahr wäre … Liliths Gedanken schweiften ab zu Landru. Wenn die Selbstmorde in Muonio auf sein Konto gingen, wenn Duncan auf sein Konto ging und wenn er sie, Lilith, bereits in Syd ney beschattet hatte – warum hatte er Stålheim ungeschoren gelas sen? Weil er ihr mit Duncan schon das untergeschoben hatte, was er wollte? Weil Duncan Landrus Garant war, daß sie von nun an unter stän diger Beobachtung stand? Aber was machte den Kelchjäger so sicher, daß sie diesen riskan ten Köder schlucken würde …? Es war diese Offensichtlichkeit, daß Landru hinter Duncans Wie derbelebung steckte, die es Lilith so schwer machte, darauf zu rea gieren. Und andererseits schätzte der Vampir sie richtig ein, wenn er glaubte, daß sie einen Ex-Freund nicht einfach aufgeben und über
die Klinge springen lassen würde. Menschlichkeit war manchmal eine Last. Frans Stålheim hatte zwischenzeitlich verstärkt dem Portwein zu gesprochen. Seine Augen waren etwas glasig, als er sagte: »Viel leicht wäre jetzt die Zeit gekommen, offen zu sein …« Lilith löste den Blick aus den Kaminflammen. »Sagen Sie mir, was Sie damit meinen.« Mit der freien Hand machte er eine ausholende Geste. »Alles. Zum Beispiel wüßte ich gern, wer Sie sind. Und zugegebenermaßen war es gelogen, als ich sagte, ich hätte mit Okkultismus nichts am Hut. Ich bin abergläubisch wie ein altes Waschweib. Die Sache mit den toten Mäusen, die eine Schrift bildeten, geschah zeitgleich mit Ihrem Auftauchen … Und woher hatten Sie den Kadaver des Tasmanischen Teufels? In Sydney kennt man Sie jedenfalls nicht. Von dort hat man niemanden hierher geschickt! Mein Kontakt, Dr. Hemsfield in der Falstaff-Klinik, war einigermaßen erstaunt, als ich ihm mitteilte, den Erreger bereits lokalisiert zu haben …« Lilith unterbrach ihn. Sie hatte all diese Fragen erwartet. »Ist das wichtig?« Er starrte sie an, als hätte sie sich gerade erkundigt, ob man erst die Schale entfernen sollte, ehe man ein Ei aß. »Auch auf die Gefahr hin, daß es spießig klingt: Ja!« Seltsamerweise fühlte sich Lilith von seinem verständlichen Wis sensdurst nicht bedrängt. Absolut locker sagte sie: »Sie sehen wie ein Mann aus, der ein paar Geheimnisse verträgt.« Er räusperte sich. »Und Sie haben den Ehrgeiz, ein solches Rätsel zu bleiben?« »Unbedingt!« Kopfschüttelnd stellte er sein Glas ab. »Sie wissen, daß ich das
nicht akzeptieren kann. Sie wollen etwas von mir. Also wäre es das mindeste, daß Sie mir Ihre Gründe offenbaren.« »Der Grund ist einfach: Eine mir nahestehende Person steht mir seit dem Biß einer infizierten Ratte nicht mehr nahe. Mir liegt daran, dies zu ändern.« »Woher wußten Sie von mir? Wie kamen Sie ausgerechnet auf mich?« »Über die Medien. Sie waren in Sydney nicht gerade kamerascheu …« Er schüttelte immer noch den Kopf. »Und die ganzen Begleitum stände?« »Einbrecher. Menschen, die Versuchstieren lieber einen raschen Tod als ein langsames und qualvolles Sterben wünschen. Dieses Hüte Dich könnte durchaus als Drohung an Ihre Adresse aufgefaßt werden, solche Experimente auf Kosten unschuldiger Tiere künftig zu unterlassen …« »Sie meinen, jemand sei hier eingebrochen und hätte diese ›Schrift‹ arrangiert?« »Wir leben in einer rationalen Welt. Folglich muß es eine normale Erklärunggeben.« Seine Augen schmälten sich, als versuchte er die Ernsthaftigkeit ihrer Rede herauszufiltern. Sie erhob sich. »Wir sollten aufhören, uns etwas vorzumachen.« »Tun wir das?« »Ja.« »Inwiefern?« Sie ging zu ihm, kniete nieder und legte ihren Kopf in seinen Schoß. Es dauerte fast eine Minute, bis er mit den Händen durch ihre
Haarmähne strich. Lilith seufzte. Sie wußte in diesem Moment selbst nicht, wie weit sie gehen würde oder überhaupt konnte. Es kam ganz auf Frans Stålheim an, der ihr als Mann vom ersten Augenblick an gefallen hatte. Würde er den schalen Geschmack von Duncans Blut beseitigen? Nein, sie wollte nicht Stålheims Blut. Das konnte sie nicht riskie ren, weil es in seinem Bewußtsein nicht zu löschen gewesen wäre. Aber er konnte eine andere Enttäuschung hinwegspülen, indem er … »Du wirst wirklich morgen wieder abreisen?« »Nur wenn das Serum fertig ist.« »Vielleicht sollte ich lügen …« »Vielleicht sollte ich es dir erlauben …« Er zog sie zu sich empor. Sie setzte sich auf seinen Schoß und roch den Portwein aus seinem Mund. Es störte sie nicht. Sie roch auch die Haut, die ihr vor Minuten noch unerreichbar fern erschienen war. Es bestätigte, daß man ohne Initiative nichts gewin nen konnte. Weder im Leben noch in der Liebe. Als er sie sanft küßte, kribbelte es Lilith im ganzen Körper. Nicht einmal bei Aloun hatte sie annähernd diese Vorfreude empfunden. Stålheim besaß etwas, das der blutjunge, dunkelhäutige Maure nicht oder noch nicht (und was Duncan nicht mehr) besaß: Erfahrung. Ge duld. Echte Persönlichkeit. »Man wird einfach nicht schlau aus dir«, flüsterte er, als sich ihre Lippen kurz voneinander entfernten. »Ein schönes Kompliment.« Daraufhin glitt er mit ihr aus dem Sessel auf den Teppich vor dem
Kamin. »Und glaube ja nicht, daß ich dich nach deinem verkorksten Verhältnis zu dem Typen im Gästezimmer befrage …« Sie gab ihm die einzig mögliche Antwort. Und wurde nicht ent täuscht. Er entpuppte sich als sanfter Tiger, erahnte wechselnde Stimmungen und Erwartungen fast im voraus und stellte seine eige nen Begierden hinter die ihren. Den Rest der Nacht lagen sie eng aneinandergeschmiegt, und nur Lilith wußte von dem lautlosen Kampf, der in ihr tobte. Nein, ich trinke sein Blut NICHT. Nein, ich töte ihn NICHT. Es war, als genügte die bloße Absicht, bald wieder in Sydney zu sein (nahe beim Garten der Dämmerung), um die bösen Einflüste rungen neu zu erwecken. Am nächsten Morgen erhielt sie das Serum. Ohne Bedingung. Am nächsten Morgen traf sie auch Duncan wieder. Sie hatte sich nicht überwinden können, noch während der Nacht zu ihm zurück zukehren. Er wirkte abwesend und im Innersten erschüttert, ohne daß Lilith zu sagen vermocht hätte, ob dies »nur« mit seiner Überzeugung, ein Versager zu sein, zusammenhing. Wäre er nicht so geistesabwesend gewesen, hätte ihm die Verän derung im Verhältnis Lilith-Stålheim kaum entgehen können. Ihre Blicke und Gesten kommunizierten ganz anders miteinander als noch am Vorabend. Aber Zwischenmenschliches schien Duncan gar nicht mehr zu interessieren. Er gab sich höflich, aber völlig unver bindlich. Auch auf der Rückfahrt nach Ivalo in Jarl Sibelius’ Taxi, wo Dun can lediglich darauf bestand, vorn neben dem Samen zu sitzen, weil ihm hinten angeblich schlecht würde …
Der einzige Moment, der Lilith wirklich aus der Fassung brachte, kam am Flugschalter. Als die Bodenstewardeß fragte, auf welches Ziel sie die Tickets ausstellen sollte, kam Duncan Lilith mit der Antwort zuvor. Es wäre in Ordnung gewesen. Selbst als beabsichtigter Scherz wäre es okay gewesen. Aber Duncan nannte mit humorloser Stimme nicht Sydney, son dern Uruk. »Uruk?« »In Mesopotamien.«
* Was – geschieht – mit mir –? Sein Spiegelbild war verschwunden. Deshalb hatte er unbedingt neben Sibelius sitzen wollen. Wenn Li lith im Rückspiegel bemerkt hätte, was mit ihm geschehen war, wäre dies für sie vermutlich der Beweis gewesen, nach dem sie die ganze Zeit suchte. Tat sie das? Ja, verflucht! Zumindest hatte er das Gefühl. Und nun das. Mesopotamien. Lilith starrte ihn an wie einen Übergeschnappten. Die Stewardeß starrte ihn an wie einen der vielen Blödmänner, die tagtäglich ihre armen Nerven strapazierten. Auf dem sonnenüberfluteten Weg vom Taxi zum Terminal hatte Duncan Luther zufällig festgestellt, daß außer dem Spiegelbild noch
etwas von ihm fehlte. Seitdem hatte er das gräßliche Gefühl, auch der Rest von ihm könnte sich jeden Moment verflüchtigen … Verwirrt trat er zur Seite und überließ Lilith die Verhandlungen. Ich wollte, ich WÄRE tot! dachte er. Und dann, noch eine ganze Spur verzweifelter: ICH WILL MEINEN SCHATTEN WIEDERHA BEN …!
* Zwischenspiel New Delhi Airport, Indien Hector Landers alias Landru wurde bereits unmittelbar hinter der Paßkontrolle von einer grottenhäßlichen Vampirin aus Tanors Sippe in Empfang genommen. »Wer bist du?« fragte er mürrisch. »Tera.« Er begleitete sie zu einer Limousine, deren mattschwarzer Lack und die getönten Scheiben den Effekt besaßen, jeden Sonnenstrahl zu verschlingen und nichts davon je wieder herauszurücken. »Was ist mit dir? Beherrschst du nicht die Gabe, dein Äußeres zu beeinflussen?« »Doch«, sagte sie kleinlaut. Ihr weitfließendes Gewand verbarg vieles gnädig – aber nicht alles. Selbst Landrus Sinn für morbide Äs thetik streikte angesichts dieser geballten Ladung Scheußlichkeit. »Wo liegt dann das Problem? Willst du unbedingt sämtliche Men schenblicke auf dich lenken?«
Sie schien hinter dem Lenkrad zu schrumpfen. »N-nein. Es … Das Problem ist, daß dies bereits das Ergebnis kosmetischer Korrektur ist. Ich war immer häßlich – aber seit ich es zu ändern versuche, wird es nur immer schlimmer …« »Deine ursprüngliche Gestalt kann nicht übler gewesen sein.« »Nein. Aber selbst sie vermag ich nicht mehr zu rekonstruieren.« »Welche Irrung des Kelchs …« Er schüttelte den Kopf. »Womit wir beim Stichwort wären.« Die Frau am Steuer schüttete sich plötzlich aus vor Gelächter. »Wie war der Flug im Eisenvogel?« Das Wesen hinter dem Steuer wechselte Gestalt, Geschlecht und Kleidung. Zum Vorschein kam ein nach alter Yogi-Sitte geschmück ter Inder. »Tanor!« Das Oberhaupt der hiesigen Vampire hörte auf zu lachen. »Ich hoffe, der große Landru verzeiht dem kleinen Häuptling einen Streich …?« Landrus Verdrossenheit wich nicht völlig – aber aus anderem Grund. »Gibt es diese Tera, nach deren Vorbild du dich verunstaltet hast, etwa wirklich?« »Leider.« Tanor legte das Gesicht in Falten. »Leider?« »Sie ist mein Sorgenkind.« »Erzähle!« forderte der Kelchjäger auf, obwohl ihm anderes auf der Zunge brannte. »Ich habe nie von ihr gehört.« »Wir machen kein großes Aufhebens um sie. Im Grunde versu chen wir, sie vor den Augen anderer fernzuhalten. Man wird schnell zum Gespött.« »Genauer!« drängte Landru. »Was ist an ihr – außer ihrer Häßlich keit – so Besonderes?«
Tanor lachte wild. Einen Moment bröckelte die zivilisierte Fassade und gab den Blick auf Abgründe frei. Aber nur für Landru. Kein Blick von draußen gelangte ins Innere des Fahrzeugs. »Sie weigert sich, ihre Zähne in ein Opfer zu schlagen, wie es sich gehört.« Täuschte sich Landru, oder war dies ein versteckter Seitenhieb auf seine Eigenart, sich das Blut seiner Opfer zuzuführen – immerhin konnte kaum eine andere bizarrer sein. Doch die Unbekümmertheit, wie Tanor weitersprach, lenkte ihn von seinem Verdacht ab. »Um ihr beseeltes Blut zuzuführen, müs sen wir sie füttern«, lamentierte das Sippenoberhaupt. »Sie selbst fleddert nur Blut von Toten.« Landru schauderte. »Sie saugt Tote aus?« »Nicht direkt. Sie hat sich eigens einen Apparat geschaffen, der das Blut indirekt abzapft … Kein Wunder, daß sie immer mehr ver kümmert!« »Gehorcht sie dir nicht?« »Manchmal. Manchmal nicht. Wir halten sie weitestgehend unter Verschluß. Nur innerhalb des Unterschlupfs darf sie sich bewegen. Einem Menschen, würde er sich gebärden wie sie, könnte man den Hals umdrehen. Aber du kennst unser GESETZ.« »Vielleicht sollte ich sie mir einmal ansehen … später«, sagte Landru. »Reden wir aber zunächst über die wichtigen Angelegenhei ten. Ich bin verstimmt. Du hattest mir dein ›Geschenk‹ in den höchs ten Tönen gepriesen. Aber es sind Dinge geschehen, die mich zwei feln lassen, ob es klug war, es anzunehmen …« Die Veränderung in Tanors Mimik war faszinierend. Einerseits schien er mit irgendeiner Beschwerde Landrus gerechnet zu haben – andererseits war er offenkundig von dem gemachten Geschenk im mer noch vollkommen überzeugt. »Was stimmt damit nicht? Wir brachten es, wie vereinbart, nach
Bir el Khzaïm zu deiner –« »Wann war das?« unterbrach Landru. Tanor sagte es ihm. Landru schüttelte den Kopf. »Der Vorfall, den ich meine, muß sich ereignet haben, als mein Geschenk noch hier war. Du konntest nichts Auffälliges an dem Toten beobachten?« Tanor verneinte. Die Geduld verlierend, forderte er: »Sag endlich, was du mir und uns vorwirfst!« »Versagen«, erwiderte Landrü hart. »Eklatantes Versagen!« Dann berichtete er von den Ratten in Sydneys Kanalisation. Von der »Schrift«, die sie – sterbend – hinterlassen hatten. Für Lilith. »Unterzeichnet war die versuchte Warnung mit dem Namen Dun can. Was würdest du daraus folgern?« »Etwas anderes als du jedenfalls. Die Seele des Toten ist immer noch in seinem Körper gefangen – er kann das, was du schilderst, nicht getan haben!« Landru wiegte skeptisch den Kopf. Die Kreuznarbe auf seiner Wange pulsierte wie rohes Fleisch, dem frisch die Haut abgezogen worden war. »Wer sonst?« »Wiederhole noch einmal den exakten Wortlaut der Warnung.« Aus Landrus Brustkorb löste sich ein grollender Ton – Vorbote von Schlimmerem. »Sie lautete wortgetreu: Landru. Vorsicht. Indien. Hüte dich vor mir. Sie zwingen mich zum Verrat. Ich bin tot. Aber ich fin de keine Ruhe. Duncan … Zweifelst du immer noch? – Was ist? Warum antwortest du nicht?« Tanors Augen schienen auf den Straßenverkehr konzentriert zu sein, durch den er die Limousine traumhaft sicher lenkte. »Ich kenne die Schrift«, sagte er unvermittelt.
Einen Moment rang Landru mit seinem Erstaunen. »Woher?« frag te er dann. Tanor machte ein Gesicht, als wüßte er genau, wie unglaubwürdig er klang und wie Landru seine Antwort aufnehmen würde. Den noch nannte er mit fester Stimme den Namen seines Sorgenkinds. »Tera.« »Tera …?«
* Sydney Die Stadt schien sich vollständig von der Wondjina-Krise erholt zu haben. Es war Mitte August. Bei der Landung wurden Lilith Eden und Duncan Luther von kei ner Menschenseele empfangen – nur von winterlicher Kühle und leichtem Regen. Den europäischen Hochsommer hatten sie auf dem mehr als zwanzigstündigen Flug hinter sich gelassen. Ein Taxi (Duncan bestand immer noch darauf, vorn zu sitzen) brachte sie zu dem Apartmenthochhaus, in dem Elisabeth »Mac beth« MacKinsay wohnte. Duncans zunehmende Verstocktheit führte Lilith darauf zurück, daß er »Lampenfieber« vor der Wiederbegegnung mit Beth hatte. Vielleicht befürchtete er, einen erneuten Spießrutenlauf durchma chen zu müssen. »Was ist, wenn sie nicht da ist?« fragte er, als sie im Lift nach oben fuhren.
Der Versuch, sie vom Airport aus zu erreichen, war fehlgeschla gen. Auch in der Redaktion des Sydney Morning Herald hatte nie mand sagen können, wo sich die Reporterin gerade aufhielt. »Dann müssen wir wieder gehen und noch einmal kommen«, ant wortete Lilith. »Ich besitze keinen Schlüssel mehr.« Den Unterton hatte er registriert. Und sie das Hochziehen seiner Augenbrauen. Ihr Problem löste sich jedoch von selbst. Beth war da. Und öffnete. Und fluchte. »Oh, Scheiße …!« Liliths Fuß verhinderte, daß sie ihnen die Tür vor der Nase zu schlug. Fast hätte sie es dennoch geschafft, denn Liliths Blick klebte sekundenlang fassungslos an dem Bild, das sich ihren Augen jen seits der Schwelle bot »Was – hat sie?« fragte Duncan, der die Aus wirkungen der Wondjina-Pest bislang nur vom Hörensagen kannte. »Sie liebt uns abgöttisch«, knurrte Lilith, bevor sie die Tür aufhe belte, gegen die Beth sich vergeblich stemmte. Auch im Hintergrund entstand Bewegung. Am gegenüberliegen den Ende der offenen Wohnlandschaft wurde die Schlafzimmertür aufgerissen. Ein Mann im Slip, den weder Lilith noch Duncan kann ten, stürzte mit einem Bündel eilig zusammengeraffter Kleidung heraus und schloß sich Beth’ Flüchen an. »Bei uns kommt immer wer dazwischen, wie …?« Rief’s und empfahl sich. Duncan, der nach Lilith eintrat, war beim Schließen der Woh nungstür behilflich. Beth’ Augen quollen merklich hervor, als sie Luther gewahrte. Sie stand da, nur mit einem eilends übergeworfenen Morgenmantel be kleidet, das zwischenzeitlich gewachsene Blondhaar verstruwwelt
und ungepflegt, und stützte sich mit Händen und Rücken gegen die Wand wie ein in die Enge getriebenes Tier. Nicht nur dieses Verhalten – auch die Wohnung war Zeugnis einer erschreckenden Veränderung. Hier hatte Beth nicht nur Persönlich keits-, sondern auch Geschmacksverirrung bewiesen. Die Wohnung war total auf den Hund gekommen. Kein Möbel stand mehr am alten Platz, manches war ganz ver schwunden und durch ein Sammelsurium ersetzt, das in Farb- und Formgebung frappierend an längst vergangene Hippie-Zeiten erin nerte. Schwarz war die vorherrschende Farbe. Dazwischen aber tob ten regelrechte Kleckse schreienden Rots, Grüns und Gelbs. Die Ta pete selbst glühte in Scharlach. Alle Grünpflanzen waren ermordet, indem sie jemand mit Sprühlack aus der Dose überkrustet hatte. Chromfarben. Lilith wollte gar nicht erst wissen, wie das Schlafzimmer aussah. »Ich habe versucht, uns anzumelden«, sagte sie belegt. »Aber du warst offenbar zu beschäftigt, um das Telefon zu hören …« »Das geht dich einen Dreck an!« Beth schnaubte, als könnte sie da durch nicht nur die Kontrolle über die Situation zurückgewinnen, sondern auch ein über dem Wohnzimmertisch schwebendes Mobile aus rotmützigen Gartenzwergen in Bewegung versetzen. Ihr Blick haftete immer noch an Duncan. Abfällig bogen sich ihre Mundwin kel nach unten. »Wie ich sehe, hast du die Leiche gefunden und gleich mitgebracht!« Duncan zuckte zusammen. Selbst Lilith versetzte es einen Stich, wie Beth mit ihm umsprang. »Die Wiedersehensfreude hält sich allgemein in Grenzen, wie ich vermute«, sagte sie und trat einen Schritt auf die Freundin (Ex-?) zu. »Seit wann –«, Duncan räusperte, »hast du das Ufer gewechselt?«
Es blieb unklar, ob er Beth ebenfalls verletzen wollte oder einfach nur verblüfft über ihren Männerbesuch war. Lilith war damit bereits konfrontiert worden. Vor ihrer Abreise. »Schnauze, Leiche!« Es klang nicht einfach mehr nur verachtungsvoll – es klang ab grundböse. »Ruhig, ganz ruhig …« Lilith ging näher auf sie zu. »Wir können über alles reden – danach.« »Danach?« Hinter Beth’ Brillengläsern ballte sich kreatürliche Angst. »Heißt das, du hast … ihr habt …?« Lilith nickte. »Du hast selbst erkannt, daß du krank bist. Du hast mich gebeten, dir zu helfen … Erinnerst du dich nicht mehr?« Beth holte mit der Faust aus und schlug ein Loch in die Luft – weil Lilith gerade noch rechtzeitig wegtauchte. »Verschwinde! Hau ab! Ich habe dich um nichts gebeten! Du bist nicht lebendiger als er …! Macht beide, daß ihr wegkommt, oder …« »Oder?« Lilith erwartete jeden Moment, auch Wahnsinn in den Augen auf blitzen zu sehen. Aber es blieb bei der Angst, jemand könnte ihren jetzigen Zustand, in dem sie sich offensichtlich wohlfühlte, ändern. Nichts anderes hatte Lilith im Sinn. Daß Beth plötzlich nur oder auch Männer begehrte. Daß sie Lilith und andere Ex-Freunde beinahe haßte. Und daß diese Wohnung plötzlich die Lebensfreude eines Krematoriumbetreibers ausstrahlte … Das alles waren Indizien ihrer umfassenden Gehirnwäsche durch das Rattenvirus! Ebenso sicher war aber auch, daß Beth davon abgerückt war, Hilfe zu akzeptieren. »Sie ist – irre!« keuchte Duncan, der sich nicht von der Tür fortbe
wegte, als wollte er sich in jedem Fall einen Fluchtweg offenhalten. »Halt deine tote Schnauze!« giftete Beth erneut. Lilith sah ein, daß sie auf diese Weise nicht weiterkamen. Sie sprang vor und packte Beth an den Armen. Der zwingende Griff, mit dem sie festgehalten wurde, zähmte die Streitlust der Reporterin aber keineswegs. »Mach schnell!« rief Lilith Duncan zu. »Das Mittel!« Es befand sich in Duncans Jackentasche. Samt Einmal-Spritze. Bei des hatte Stålheim ihnen mitgegeben. Panik irrlichterte in Beth’ Augen. Sie schrie wie am Spieß. Bis Li lith keine andere Möglichkeit mehr sah, als ihr eine Ohrfeige zu ver passen. »Schnauze, Beth!« fauchte sie. »Halt, zur Hölle, still und laß dir helfen!« Worte in den Wind. Beth setzte erneut zu einem Schrei an. Lilith sah keine andere Möglichkeit mehr, als hypnotisch einzuschreiten. Sie ging so behut sam wie möglich vor, um Beth’ Bewußtsein ungetrübt zu lassen. Sekunden später entspannte sie unter Liliths Griff. »Jetzt du«, befahl die Halbvampirin ihrem Begleiter. »Nein, bitte …« Beth verdrehte die Augen, als wollte sie in Ohn macht fallen. »Bringt mich nicht um. Ich werde … werde auch ganz … brav sein … Bitte …!« Selbst in diesem Zustand heulte und zitterte sie. Lilith ließ los. Kurzentschlossen übernahm sie die Dinge aus Duncans Hand, zog die Spritze auf, wahrte Distanz zu Beth – und senkte die Nadel in ih ren eigenen Arm. Für jeden sichtbar, auch für Duncan, injizierte sie sich etwas von der klaren Flüssigkeit.
Dabei sagte sie dunkel: »Zufrieden? Niemand will dich umbrin gen! Wenn dies ein Gift wäre, würde auch ich daran sterben! Beruhi ge dich endlich!« Nicht einmal sie selbst wußte, ob dies die Wahrheit war. Nicht ein mal sie selbst wußte, ob das Mittel ihr nicht schaden konnte … »Bist du verrückt?« Das war Duncan. Er erwartete und erhielt keine Antwort. Lilith zog die Spritze neu auf und näherte sich Beth. »Okay?« Flackernde Blicke. Unruhe selbst unter Hypnose. Dann – ein Ni cken. Zaghaft und gewiß nicht endgültig überzeugt. Lilith suchte nicht lange nach einer passenden Stelle auf nackter Haut. Sekunden nach dem Einstich zeigte sich, daß sie und Beth doch in mindestens einer Hinsicht absolut unterschiedlich auf das Serum reagierten: Beth schloß sofort die Augen, seufzte kurz – und rutschte dann wie ein k.o. geschlagener Boxer an der Wand herab. Sie war – ihre Atemzüge verrieten es – von einem Moment zum anderen eingenickt.
* Indien Der Versammlungsort der Delhi-Sippe lag am Ufer des Ganges. In einer goldenen Moschee, deren Tore auch immer wieder Menschen anzogen und verleiteten, sich über die Schwelle dieser in keinem Führer vermerkten, entheiligten Stätte zu wagen.
Die Moschee war ein Ort der Ein- und Wiederkehr. Besucher wur den sehr zuvorkommend behandelt und durften anschließend die Hallen unbehelligt verlassen. Doch sie kamen wieder. Jeden ereilte der Drang, den Kuppelbau nächtens erneut aufzusuchen – und danach nicht wieder zu verlas sen. Es waren rauschende Feste, die mit dem Blut Neugieriger gefeiert wurden. Tanors Sippe schätzte Abwechslung auf dem Gabentisch. Unterhalb der Moschee – unterirdisch – setzte sich das Reich der Sippe, wie allgemein üblich, fort. Landru hatte sich erstmals im 13. Jahrhundert hier aufgehalten, als Delhi Hauptstadt eines islamischen Reiches gewesen war. Viel (al les!) hatte sich seither verändert. Tanor hatte die ansässige Sippe da mals noch nicht regiert. Er war noch nicht geboren gewesen. »Wie lange wirst du bleiben?« fragte Tanor auf dem Weg nach un ten. »Solange du brauchst, mich im Umgang mit dem Wiederbelebten zu unterweisen.« »Das wird nicht lange dauern.« »Dann werde ich nicht lange bleiben …« Landru reagierte immer noch empfindlich unterkühlt. Er fühlte die Veränderung, die Tanor seit ihrer letzten Begegnung durchge macht hatte. Was war mit ihm? Bedauerte er bereits, sich Landrus Interessen unterworfen zu haben? Landru machte eine wegwerfende Geste, die dem Delhi-Ober haupt verborgen blieb. Er hatte gebeten, auf direktem Weg zu dieser Tera geführt zu werden. Er wollte sich mit eigenen Augen überzeu gen, daß das Ungeheuerliche, was Tanor ihm berichtet hatte, die Wahrheit war.
Sie begegneten keinem Kind des Kelchs. Die unterirdischen Gänge waren wie ausgestorben. Die meisten Vampire waren unterwegs im Moloch der 6-Millionen-Stadt, die selbst für ihresgleichen fast unre gierbar blieb. Wie viele unserer Rasse gibt es noch? dachte Landru, als sie vor einer Tür stehenblieben. Wie viele Kinder des Kelchs weltweit – unsere Diener nicht mitgerechnet …? Er sparte sich die Antwort. Nicht einmal er kannte die genaue Zahl, die bereits jetzt einem Desaster gleichkam. Der Lilienkelch mußte wiederbeschafft werden! Bald! Es gab keine andere Lösung. Und ich vertrödele hier meine Zeit mit Nichtigkeiten … Er wußte, daß er übertrieb. Er hätte sich nicht mit Nichtigkeiten abgegeben. Keine Sekunde. Zeit, dachte er im nächsten Moment amüsiert und erschüttert dar über, wie wenig selbst er, trotz extremer Langlebigkeit, über das We sen dessen herausgefunden hatte, was man Zeit nannte. »Erhoffst du dir von dieser Lilith Hinweise auf den Verbleib des Kelchs?« fragte Tanor, mit dem Landru ausgiebig über die Proble matik des Verlusts diskutiert hatte. Landru schwieg. Er hatte nicht vor, abzuschweifen. Er deutete auf die Tür. »Ist sie dort?« Tanor nickte. »Ich will allein mit ihr reden.« Tanor zögerte. Dann nickte er erneut. »Ich werde hier draußen warten.« Landru versuchte, magische Witterung aufzunehmen, bevor er den Raum betrat, in dem Tanors »Sorgenkind« hauste.
Es mißlang. Jenseits der Schwelle stemmten sich ihm unüberwindliche Barrie ren entgegen. Schon das allein war bemerkenswert. Er drehte sich noch einmal zu Tanor um. Doch dann unterdrückte er die Frage, was es wirklich mit Tera auf sich hatte. Tanor hätte es als Eingeständnis von Schwäche werten können. Und Schwäche durfte Landru sich unter seinesgleichen nicht erlauben. Wie kein an derer wurde er beäugt und an seinen Taten gemessen. Sie ahnten nicht, wer er war. Welches höchste Amt er innehatte. Niemand ahn te es. Es gehörte zur Bürde seines Amtes, sich niemandem zu erken nen geben zu dürfen. Niemandem. So wie niemand von der Verdammnis ahnte, in der er seit mehr als zweieinhalb Jahrhunderten briet … Er öffnete. Er trat in das Dahinter. Er schloß die Tür. »Endlich!« seufzte die Stimme, die ihm endgültig klarmachte, wel ches Format Tanor als Scherzbold und Geheimniskrämer besaß. Nur fehlte Landru in diesem Moment eindeutig der Sinn dafür. »Du …?«
* Sydney »Wer sind Sie?« Lilith blickte auf. Sie saß hinter dem Schreibtisch des Mannes, der
jetzt sein Büro betrat. Lilith selbst war durch die freundliche Unter stützung einer aparten Schwester hier hereingelangt. Bei ihrem Ein treffen in der Klinik war der Mann, den ihr Stålheim empfohlen hat te, nicht da gewesen. Er müsse aber jeden Augenblick eintreffen, hatte es geheißen. Nun war er da. »Dr. Hemsfield« stand auf dem blütenweißen Kittel, über dem ein sympathisches, vollbärtiges Gesicht erneut den Mund zur Frage öff nete: »Wer sind Sie?« Er machte einen leicht abwesenden Eindruck, als müßte er die Gedanken, die er vor dem Eintreten gewälzt hatte, erst ordnen, um sie zu gegebener Zeit wiederzufinden. »Wer immer Sie sind, Sie sitzen auf der falschen Seite des Tisches. Auf der richti gen kämen Ihre hübschen Beine viel besser zur Geltung …« Lilith stand auf. Noch in der Bewegung honorierte der Symbiont das Kompliment und zog sich bis knapp unterhalb des Pos zurück. Dr. Hemsfield bekam die volle Länge ihrer Beine zu sehen. Lilith testete als erstes, ob er empfänglich für Suggestion war. Er reagierte äußerst positiv auf ihr Verlangen, etwas freundlicher dreinzublicken. »Was ist das?« fragte er mit Blick auf den Behälter auf dem Tisch. »Stålheim schickt mich«, sagte sie. »Hat er nicht mit Ihnen telefo niert?« Auf dem Gesicht des Arztes machte sich ein seltsamer Ausdruck breit. »Sie sind das? Ja, richtig, er sprach von jemandem, der mir per sönlich das Mittel gegen die Persönlichkeitsveränderungen meiner Patienten vorbeibringen würde … Entschuldigen Sie, aber ich hatte nicht damit gerechnet, daß Sie das sein könnten. Es tut mir auch leid, daß Ihre Bemühungen umsonst waren …« Baff! Das war es. Das war der Satz, auf den etwas in ihr die ganze Zeit
mißtrauisch gewartet hatte. Schon seit Stålheim ihr das Serum aus gehändigt hatte, rechnete sie damit, daß ein Pferdefuß damit ver bunden war. »Was – heißt das?« fragte sie mit trockenem Mund. Hemsfield mußte ihr den Schrecken anmerken. Beruhigend gesti kulierte er. »Nicht, was Sie jetzt denken … Vielleicht habe ich mich etwas unglücklich ausgedrückt. Es gibt keinen Grund, Trübsal zu blasen. Es ist einfach so, daß ich das Serum nicht mehr brauche. Ich habe mich schon bei Stålheim bedankt. Vielleicht brauchen wir seine Entwicklung irgendwann einmal in der Zukunft wieder. Im Mo ment sieht alles danach aus, als hätte sich das Problem von selbst ge löst.« Lilith starrte von Hemsfield zu dem Behälter – und wieder zurück zu dem Arzt. »Von selbst gelöst?« »Es fing gestern an«, sagte er. »Nach und nach trafen Meldungen aus den Familien ein, die wir seit den Ereignissen um die mysteri ösen Pestfälle betreuen. Familien, in denen persönlichkeitsveränder te Patienten leben.« »Was für Meldungen?« fragte Lilith. Hemsfields Haltung entnahm sie, daß es sich um eine gute Nachricht handelte. Dennoch hielt sich in ihrer Kehle ein hartnäckiges Erstickungsgefühl. »Daß sie wieder in Ordnung sind! Die psychischen Folgen der Krankheit, die die Ratten übertrugen, waren ganz offenkundig nur kurzzeitig. Entweder beseitigte sie das körpereigene Immunsystem, oder die ›Verfallzeit‹ des Erregers liegt bei den beobachteten knapp zwei Wochen!« »Sie meinen, die Menschen, die Sie betreuen, sind wieder gesund – auch psychisch? Ohne daß sie nachbehandelt werden mußten?« Dr. Hemsfield nickte nachdrücklich. »Noch nicht alle«, schränkte er ein. »Die Genesung folgt der zeitlichen Reihenfolge der Infektion.
Bis alle Patienten wieder in Ordnung sind, dauert es noch ein paar Tage. Das letzte mir bekannte Opfer, das von den Ratten gebissen wurde, ist somit erst in drei Tagen an der Reihe.« Lilith hörte schweigend zu. Ihr fehlten einfach die Worte ange sichts dieser Eröffnung. Hemsfield deutete ihre Schweigsamkeit falsch. »Sie sollten sich ebenfalls freuen«, fuhr er fort. »Stålheims Serum einzusetzen wäre immer mit einem Wagnis verbunden gewesen. Es ist – nach den Maßstäben, die wir anzusetzen gehalten sind – noch absolut uner probt.« »Er hat mir versichert –« Hemsfield unterbrach sie lächelnd. »Freuen Sie sich mit uns, daß es auch ohne Risiko zu einer vollständigen Heilung kam.« »Sind wirklich alle gesund?« »Wie gesagt, einige stehen noch aus. Aber bei den bisher Genese nen gibt es keine Zweifel. Die letzte Meldung erreichte mich vor drei Stunden.« Lilith wandte sich ab und ging zur Tür. »Bitte«, versuchte Hemsfield sie zu stoppen. »Sie müssen doch nicht sofort wieder aufbrechen. Wir könnten doch …« Lilith verließ die Klinik und kehrte ohne Umweg dorthin zurück, wo Duncan geblieben war, um auf Beth aufzupassen, solange der von Stålheim prognostizierte Genesungsschlaf andauerte. Bei den Versuchstieren waren dies mehrere Stunden gewesen. Die Unruhe in Lilith war offener Furcht gewichen. Stålheims Serum einzusetzen wäre immer mit einem Wagnis verbunden gewesen … Hemsfields Worte wollten ihr nicht aus dem Kopf. Weder er noch Stålheim wußten von Beth. Bis zuletzt hatte Lilith
den Serologen im unklaren gelassen, warum sie hinter einem Medi kament gegen die Sydney-Pestfolgen her war. Beth war die letzte gewesen, die von den Ratten infiziert worden war. Sie und Moskowitz, der Fotograf. Und nun sah es so aus, als wäre sie auch ohne das Wagnis eines neuentwickelten Serums in einigen Tagen genesen … Es nützte nichts, daß Lilith sich einzureden versuchte, das Serum stelle nur eine zusätzliche Sicherheit dar, daß ihre Freundin gesunde te. Die Kampfgeräusche aus Beth’ Wohnung bestätigten wenig später, daß noch lange nicht alles wieder in Ordnung war …
* Delhi Sie trat aus den Schatten, die für Landru keine Bedeutung hatten. Sie war eine Augenweide. Augen weideten gern auf diesem knabenhaft schlanken Körper mit den apfelgroßen Brüsten und einem wohlgeformtem Po. Das hennafarbene Haar fiel pagenhaft glatt herab. Ihre Lippen leuchte ten rot. Sinnlich-prall. Die Augen erinnerten an geheime Zugänge zu einem fremden Kosmos, den nur wenige Auserwählte zu erschlie ßen vermochten. »Ja, ich!« lachte die Werwölfin. »Enttäuscht?« Zwischen den Monden erinnerte nichts an ihr wahres Wesen. Landru ging mit festen Schritten auf sie zu. Er küßte sie auf seine Weise. Leckte und neckte ihren Hals.
»Das wird er mir büßen!« knurrte er endlich. »Mich erneut hinters Dunkel zu –« Nona schob ihn ein Stück von sich. »Es war meine Idee. Ich bin nur auf der Durchreise. Ich wäre längst weg, wenn Tanor mir nicht bedeutet hätte, daß du bereits unterwegs zu ihm bist.« Landru nahm sein Begehren zurück. »Durchreise?« echote er. Sie berichtete in knappen Sätzen, was in der Oase vorgefallen war. »Der Gefallen, den du erbatest«, schloß sie, »ist davon unbetroffen. Schlußendlich lief alles genau, wie du es wolltest.« »El Nabhal ist tot?« vergewisserte er sich noch einmal. Nona nickte. Und erschauderte leicht. »Und du hast ihn umgebracht …?« »Hör auf, in der Wunde zu bohren!« keuchte sie. »Ich bin gekom men, weil ich dir eine Beobachtung mitteilen wollte, die ich für wichtig hielt. Ich berichtete bereits Tanor davon, ehe er mir sagte, daß du auf dem Weg bist …« Landru musterte sie stumm. Sie schien ihm schöner und begehrenswerter denn je. Unwillkür lich sehnte er sich danach, ihren biegsamen Hals zu necken und zu lecken. Aber sie war innerlich viel zu erschüttert, als daß auch ihr der Sinn danach gestanden hätte. »Duncan Luther wurde … abgeholt?« »Ja.« »Was hast du noch beobachtet?« Sie krallte die Finger in seine Arme. Aber sie kam ihm keinen Zen timeter näher. »Ich lieh mir ein Tuch von El Nabhal. Ich war neugie rig. Ich wollte mehr über diesen Mann erfahren, den du in unsere Obhut gegeben hattest, damit er bei uns gefunden wird.« »Und? Hast du das?«
»Wir hielten ihn schlafend. Es war am unkompliziertesten. Das Tuch machte seine Träume sichtbar.« »Träume?« »Was verwundert dich daran?« Ich wußte nicht, daß Tote träumen, dachte er. Aber er sagte: »Nichts. Weiter! Welcher Art waren die Träume?« Sie schilderte ihm den auffälligsten Fall. Auch Nona besaß ein blendendes Gedächtnis. Als sie aus der »Rattenschrift« zitierte, be griff Landru, woher Tanor den Inhalt dieser in Sydneys Kanalisation entstandenen »Warnung« bereits gekannt hatte. Zugleich war dies für Landru der endgültige Beweis, daß Luther hinter dem Vorfall steckte und daß etwas bei seiner Wiederbelebung schiefgegangen sein mußte. Welche Kräfte waren hier am Werk? »Dieser Hund Tanor sagte, er hätte alles unter Kontrolle!« fluchte Landru. »Ich werde ihn lehren, mich künftig nie mehr irrezuführen!« Nona schüttelte den Kopf. Es machte ihn noch zorniger. »Was ist?« Ehe sie antwortete, öffnete sich die Tür zu einem bisher unbeachte ten Nebenraum. Barbarische Wut explodierte in Landrus Stimme, als sich Tanor erneut in jener grottenhäßlichen Tarngestalt vor seine Augen wagte. Er stürzte auf ihn zu und konnte im letzten Moment von Nona abgehalten werden, der vorgeblichen »Vampirin« blei bende Schäden zuzufügen. Tera quietschte entsetzt. Nur Nonas »Hör auf!« übertönte sie. Landru bezähmte sich mühsam. Er war zu keinem noch so kleinen
Scherz mehr aufgelegt. »Warum?« »Weil sie sich nicht wehren kann! Sie ist … schwachsinnig – und doch … Sieh dir an, was sie geschaffen hat, noch bevor ich hier ein traf!« »Sie? Es ist keine Sie! Es ist –« Die Tür, durch die Landru gekommen war, öffnete sich ebenfalls. Tanor trat herein.
* Sydney Ich bin keine Kreatur, dachte Duncan Luther dösend. Der Himmel ist mein Zeuge: Ich bin keine … »Du elender Bastard!« Er riß die Augen auf. Über ihm stand Beth – Beth, die von Lilith ins Bett verfrachtet wor den war. Dort hätte sie noch sein sollen. Zumindest hätte sie, wiederer wacht, etwas netter sein können. Doch sie stand hier. Und sie besaß die Nettigkeit einer hungrigen Muräne, die aus ihrem Korallenloch geschlüpft war, um die Zähne in ein argloses Opfer zu graben … Das Messer! Es stieß nieder! Duncan konnte sich auf der Couch gerade noch eine Idee zur Seite werfen. Die Klinge verfehlte seine Brust, drang aber tief in den Oberarm.
Schreiend stieß er sie zurück. Der Schmerz überflutete ihn wie ko chend heißes Wasser. … keine Kreatur. Ich bin … Er sah Enttäuschung in Beth’ Augen flackern. Dann bekam er ihr Handgelenk zu fassen und umklammerte es. »Hör sofort auf!« schrie er. »Komm zu dir!« Sie stieß mit dem Kopf nach unten gegen seine Verletzung – und wieder tobten dunkle Explosionen durch Duncans Körper. Ruckar tig riß er ihren Arm nach hinten und schleuderte sie, als das Messer ihrer Hand entglitt, weit von sich fort. Sie fiel über einen Sessel und von dort zu Boden. Aber katzenhaft kam sie wieder auf die Füße. Als sie ihn erneut attackieren wollte, grub sich plötzliche Verblüffung in ihre Züge. »Du – blutest ja …!« »Was dachtest du?« Er kam jetzt selbst auf die Beine und bückte sich nach dem Messer. Das Blut lief warm seinen Arm hinab, tropfte auf den Teppich. In diesem Augenblick wurde die Wohnungstür aufgeschlossen. Lilith trat ein und erfaßte mit einem Blick die Situation. Ihr Gesicht schien zu zerfallen. Sie huschte heran und stellte sich zwischen Beth und Duncan. »Aufhören!« Beth schüttelte den Kopf. »Du mußt mich versklaven, um das zu er reichen! Ich höre nicht mehr auf – nie wieder! Begreifst du eigent lich, was du mir antust? Wie soll ein normaler Mensch mit Alpträu men wie euch umgehen? Verschwindet – alle beide! Verschwindet endlich aus meinem Leben, das mir gehört, keinem anderen! Wenn das, was du mir vorhin injiziert hast, mich heilen sollte, dann vielen Dank. Aber ich war schon vorher im Vollbesitz meiner geistigen Klarheit – und bin es noch. Akzeptiere es endlich, daß ich nicht mit Monstrositäten wie euch leben will und kann. Nach Codd hast du
mir schon die zweite Leiche angeschleppt … Es reicht! Haut ab! Laßt mich in Ruhe!« »Sehr überzeugend finde ich die Wirkung des Serums offengestan den nicht«, sagte Duncan. »Zur Hölle mit dir!« seufzte Lilith. »Zur Hölle mit euch allen!«
* Delhi Graffiti aus Menschenblut prangten an den Wänden einer Kammer, die in jedem Detail den Wahnsinn ihrer Bewohnerin widerspiegelte. Der Gesamteindruck war der einer Mischung aus Töpferwerkstatt und Alchimistenküche. Auf einem klobigen Tisch stand ein großer offener Bottich, in dem es naß schimmerte. Landru fühlte sich spon tan an einen seiner frühen Lehrmeister erinnert. Die Kröte der Erde, dachte er verblüfft. Es gab viele Namen für die stinkende Substanz, mit der Hermes damals experimentiert und die er als Terra Foliata – »Blättererde« – tituliert hatte. Die Ähnlichkeit erlosch jedoch bei näherem Blick auf das, was Tera daraus gemacht hatte. Der Boden rechts und links des Tisches war zur Ausstellungsplattform ihrer »Kreationen« geworden. Nicht sehr gelungene Figuren, die kleinen Nagetieren nachempfunden waren, formten dort die »Schrift«, über die Landru gerade mit Tanor und Nona gesprochen hatte. Landru sog den Atem ein und blickte dorthin, wohin auch Nonas Arm wies.
LANDRU – VORSICHT, INDIEN! HÜTE DICH VOR MIR. SIE ZWINGEN MICH ZUM VERRAT. ICH BIN TOT. ABER ICH FINDE KEINE RUHE. DUNCAN. »Es ist identisch«, raunzte die Werwölfin. »Identisch mit den Wahr nehmungen, die ich auf El Nabhals Traumtuch machte – und iden tisch mit dem, was du mir aus Sydney berichtet hast!« Tanor nickte bekräftigend und fauchte mit Blick auf die blutbe schmierten Wände: »So vergeudet sie das gute Blut, das wir ihr täg lich bringen! Alles, was ich dir über Tera sagte, ist wahr.« »Sie bevorzugt das Blut von Toten?« »Ja.« »Warum habt ihr sie nicht längst beseitigt?« »Der Kodex …« Landrus Grollen fegte Tanors Stimme beiseite. Die, über die gesprochen wurde, stand bebend zwischen ihnen. Ihr Körper war eine Beleidigung für das Auge. Für sämtliches Leben – ob untot oder nicht. Landru packte sie am Kragen ihrer seltsamen, aus dem Gefieder unzähliger Vögel zusammengesetzten Montur und schüttelte sie so derb, daß die einzelnen Federn sich lösten. »Du möchtest ein Vogel sein? Ich werde dir Flügel verleihen und dich zur Hölle schicken! Wann hast du das geschrieben – und warum?« Sie wimmerte. Sie kreischte. Kein vernünftiges Wort rann über ihre Lippen, um die herum Dutzende Schnäbel rasselten, die Tera sich mit Bindfaden um den Mund herum festgenäht hatte. »Vogel«, echote sie wimmernd. »Ich suche den seltenen Totenvo gel. Ich bin eine Künstlerin. Hilfst du mir …?«
»Ich habe sie bereits befragt«, mischte sich Tanor ein und krümmte sich unter Landrus magischer Knute, der zu keiner Einmischung mehr aufgelegt war. »Es fing an, kurz nachdem sie Blut aus der Lei che zapfte und trank, die …« »Aus Luthers Leiche?« Ein Ansatz von Begreifen malte sich um Landrus perfiden Mund, aus dem die Vampirzähne wie Dornen her vortraten. Tanor nickte gepreßt. Landrus Magie beugte ihn, als wollte sie ihn tatsächlich zermalmen. Tera jammerte. Sie spürte das Unheil, das sich auch über ihr zu sammenbraute. »Wie konnte das geschehen?« fragte Landru. Er klang nur unna türlich gefaßt. Wer ihn kannte, wußte, daß dieser Ton schlimmer war als ein Tobsuchtsanfall. »Ein kurzer Augenblick der Unachtsamkeit …« Landru nickte mit geballten Fäusten. Teras Jammern erstarb abrupt. Nona stöhnte. Tanors Augen weite ten sich. Teras Gesicht war ohne viel Federlesen von unsichtbarer Hand auf den Rücken gekehrt worden. »Wie kannst du es wagen …?« »Ein kurzer Augenblick der Unachtsamkeit«, erwiderte Landru. »Der unter uns bleibt, nicht wahr?« Er klatschte ärgerlich und um geringe Erkenntnis reicher in die Hände. »Wenn dir so sehr an ihr liegt, versuche auch sie wiederzu beleben, freundlicher Tanor. Aber beeile dich, bevor sie zerfällt! An sonsten erwarte ich von dir, umgehend in der Handhabung des mir vermachten Golem unterwiesen zu werden …« »Es ist kein Golem. Nicht aus –«, Tanors Blick schweifte zu dem Stoff, mit dem sich Tera beschäftigt hatte, »– Lehm geformt. Fleisch
blieb Fleisch, Blut blieb Blut. Nur …« »Wir werden sehen«, unterbrach ihn Landru barsch.
* Sydney Sie hatte es satt. Satt! »Wohin gehen wir?« fragte er. »Was würdest du vorschlagen, Leiche?« Er kniff die Lippen zusammen. Lilith wußte, daß sie zu weit gegangen war. Sie wußte, daß er Schmerzen hatte. Der Verband um seine Wunde war mehr als not dürftig. Aber sie konnte sich nicht entschuldigen. So wenig, wie sie ihn in El Nabhals Oase in die Arme zu schließen vermochte, konnte sie jetzt das simple Wort »Verzeihung« sagen. Auch ihr wurde übel mitgespielt. Andauernd. Vor einer Telefonzelle blieb sie stehen. »Such einen Arzt hier in der Nähe«, forderte sie Duncan auf. »Los, mach schon!« Er verschwand in der Zelle. Sie sah, wie er mit dem gesunden Arm blätterte. In Gedanken war sie bei Beth. Die nicht geheilt war. Das Serum aus Stålheims Labor hatte ver sagt. Sie würden sich gedulden müssen, bis der Erreger in Beth’ Blut von selbst zerfiel. Das konnte, wenn Hemsfield recht behielt, in spä testens drei Tagen passieren.
Oder? Das ungute Gefühl, mit der Verabreichung des Serums einen nicht gutzumachenden Fehler begangen zu haben, wollte nicht mehr wei chen. Duncan kehrte zurück. Er nannte ihr eine Adresse zwei Straßen weiter. Zehn Minuten später standen sie vor der Privatpraxis eines Allgemeinarztes. Es war fortgeschrittener Abend. Die Praxis war ge schlossen, aber als sie penetrant genug auf die Klingel drückten, öff nete schließlich ein Mann gehobenen Alters. Lilith befahl ihm, sich um Duncans Wunde zu kümmern. Eine Dreiviertelstunde später standen sie wieder auf der Straße. Die tiefe Fleischwunde hatte genäht werden müssen. »Schlechtes Heilfleisch«, hatte der Arzt gemurmelt. Lilith hatte sich jeden Kommentar verkniffen. »Wohin jetzt?« fragte Duncan, den sie über Hemsfields Theorie in formiert hatte. »Zurück zu Beth, in der Hoffnung, sie könnte alle scharfen Küchenmesser aufgebraucht haben …?« »Dazu ist es zu früh.« »Was dann?« Ihre Antwort entlockte ihm ein spontanes Stoßgebet, das sie zu sammenzucken ließ. Der richtige Schock aber erwartete sie in der Paddington Street. Es war dunkel, als sie das total veränderte Anwesen Nummer 333 – den Ort von Liliths Heranwachsen – erreichten.
* Beth hob den Dolch auf, mit dem sie den Toten zu töten versucht
hatte (sie war außerstande, dieses absurden Wortspiels wegen auch nur eine Miene zu verziehen). Es war derselbe Dolch, den sie von Landru erhalten hatte, um sich die Vampire beim Überfall auf Paul Krvetz’ Wohnung vom Leib zu halten. Was bei Vampiren funktionierte, hatte sie gehofft, müßte auch bei wiedergekehrten Toten nützen … Ihre Gedanken schweiften ab zu Landru. Seymor war kein Ersatz, obwohl er sich bemühte. Ihr Körper verkrampfte regelrecht in der Erwartung von Landrus Rückkehr. Sie ging ins Bad und wusch das schlechte Blut von der Klinge. Es verschwand gurgelnd im Abfluß. Ich wünschte, es würde mich mitreißen. Fort. Ich kann nicht mehr, wis perte eine gequälte Stimme in ihr. »Blödsinn!« Beth drehte entschlossen den Hahn ab. Nicht nur das Wasser, auch die innere Stimme – Echo besserer Tage – versiegte.
*
Hier entsteht ein zwölfstöckiges Wohn- und Geschäftshaus Interessenten wenden sich an: Salem Enterprises, Tel. 235 1666 Liliths Blick hing wie gebannt an dem erhellten Schild, das zwischen zwei Pfosten befestigt war – etwa in Höhe des ehemaligen Tores, das durch die nun verschwundene Ummauerung geführt hatte.
Verschwunden war das Stichwort. Nach dem Haus und nach der Vegetation war nun auch noch die Mauer entfernt worden und damit die letzte greifbare Erinnerung daran, wie es hier einmal ausgesehen hatte. Aber es war mehr als das geschehen. Etwas anderes erhob sich jetzt anstelle des Gartens der Dämme rung. Etwas … grauenhaft Banales! Der Anblick zog Liliths Herz zusammen. »Salem Enterprises«, murmelte Duncan, der zwar ebenfalls ver blüfft war, aber bei weitem nicht dieses Gefühl eines Verlusts emp fand. Zumal er die ganze Angelegenheit auch noch durch die falsche Brille betrachtete, wie seine nächsten Worte bewiesen. »Wolltest du mir das zeigen?« Sie hatten nicht viel geredet, seit sie unterwegs waren durch die abendliche Stadt. Es nieselte ein wenig. Der Wind trug salziges Aro ma vom Meer herüber. Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Nein. Ich wußte auch nichts da von.« Offenbar hatte er geglaubt, dieser Kolossalbau sei schon vor Liliths Reise nach Europa und mit ihrem Wissen begonnen worden. Beth hatte es vielleicht gewußt. Aber Beth hatte geschwiegen … »Ist das wahr?« Er trat einen Schritt auf die Baustelle zu. Sie ruhte. Bis morgen früh. Der Rohbau war bereits bis zum vierten Stockwerk hochgezogen. Aber wenn das PR-Schild ernstzunehmen war, würden noch acht Etagen hinzukommen. Ein zwölfstöckiges Gebäude in dieser Umgebung … Schon allein das ging kaum mit rechten Dingen zu. Die Padding
ton war ein Viertel mit altehrwürdigen Häusern im Viktorianischen Stil. Kein vernünftiger Stadtplaner, kein noch so vertrottelter oder korrupter Beamter der Bauaufsicht hätte es sich leisten können zuzu lassen, daß ein solches Wahnwitzobjekt realisiert wurde! Und doch geschah es. Und doch verschandelten Kräne, Bagger, abgeladene Steine, Kies und sonstige Utensilien diesen Bereich der Straße, die vor Monaten Schauplatz mysteriöser Vorkommnisse gewesen – und eigentlich bis zum heutigen Tag geblieben war. »Wer – kann so etwas veranlaßt haben?« fragte Duncan. »Sie«, antwortete Lilith durchaus zweideutig. Es gab nur diese beiden Möglichkeiten: Entweder hatten die Vam pire beschlossen, Sargnägel mit Köpfen zu machen und konsequent jede Erinnerung an den Ort zu tilgen, an dem sie sich mehr als einen Eckzahn ausgebissen hatten. Oder »sie« war dafür verantwortlich. Die Kraft, die hier so lange geschlummert hatte wie Lilith. Die Lilith ihre »Bestimmung« gege ben hatte – wie zuvor Liliths Mutter Creanna. »Was hast du vor?« fragte Duncan. Seine Stimme schwankte ein wenig stärker. Lilith blieb nicht stehen. Die Baustelle war nicht schlechter, aber auch nicht besser gesichert, als es den Vorschriften entsprach. Die Lücken, die »unbefugtes« Betreten ermöglichten, waren offensicht lich. »Anklopfen«, entgegnete sie und versuchte, ihrer Stimme Halt zu verleihen, obwohl sie das Gefühl hatte, nicht nur die Straße, sondern festen Boden überhaupt verlassen zu haben und sich über eine Eis schicht zu bewegen, die jederzeit unter ihr einbrechen konnte. »Viel leicht ist schon jemand zu Hause …« Ganz oben, auf dem bisherigen »Gipfel« dieses obskuren Baupro
jekts, erhob sich – vermutlich aufgeschreckt von ihrer Stimme – ein Rabe und floh flügelschlagend in die Nacht. Lilith blickte ihm neidisch hinterher. Sie wünschte sich, auch flie hen zu können. Aber für ein dauerhaftes Entkommen vor allem, was sie quälte, vor allem, wovon sie sich benutzt fühlte, war dieser Planet schlicht zu klein.
* Auch hier, wie beim ehemaligen Haus mit den Attrappen, fehlten Fenster und Türen. Allerdings nur deshalb, weil sie noch nicht ein gesetzt waren. Durch die hohlen Öffnungen pfiff schärferer Wind als draußen. »Mir wäre es lieber, du würdest hier warten, solange ich mich um sehe«, sagte Lilith. »Mir auch«, unterstrich Duncan. »Zumal die Betonung auf umse hen liegt. Ich bin – im Gegensatz zu dir – im Finstern blind wie ein Maulwurf!« Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und spitzte die Lippen zu einem Pfiff, der nicht ertönte. »Beeil dich …« Sie nickte – und tauchte in die nächstgelegene Öffnung. Nachdem sie genügend Abstand zwischen sich und Duncan gebracht hatte, at mete sie tief ein und aus, ohne daß sich das ersehnte Gefühl einer gewissen Erleichterung einstellte. Duncan hatte längst nichts mehr mit ihrer Verkrampfung zu tun. Dieses Gebäude war es! Es nahm nicht nur die Fläche des ursprünglichen Hauses ein, son dern die des gesamten Grundstücks. Auf Gartenfläche legten die »Bauherren« offenbar keinen Wert. Nach Codds sinnlosem Tod auf diesem Grund und Boden hatte
sich Lilith geschworen, nie wieder herzukommen. Nun brach sie diesen Schwur, auch als Resultat ihrer immer verzweifelter werden den Grundsituation. Trotz der befremdlichen Begleitumstände erhoffte sie sich endlich wieder einen konstruktiven Kontakt zu Jeff Warner, der hier irgend wo existierte. Oder war auch das schon Vergangenheit? War das Entstehen dieses Gebäudes nicht schon eindeutiges Indiz dafür, daß die Kraft, von der Lilith beinahe ein volles Jahrhundert gehütet worden war, nun endgültig verschwunden war …? Sie mußte es herausfinden. Sie konnte nicht die Hände in den Schoß legen und warten, bis Beth wieder normal wurde. Oder bis sich das Geheimnis um Dun cans Auferstehung von selbst lichtete … Der Keller, dachte sie. Ich muß dem Punkt am nächsten kommen, wo ich schon einmal Antworten erhielt! Das Gebäude war unterkellert. Mühelos fand sie den Weg zur nächsten Treppe. Ihre nur von einem Schuhimitat aus Symbionten gewebe bedeckten Fußsohlen erzeugten hallende Schrittgeräusche. Ansonsten war es, wenn man vom Brausen des Windes absah, völlig still. Aus dem umliegenden Viertel drangen kaum Geräusche. Ab und zu Motorenlärm eines vorbeifahrenden Autos. Mehr nicht. Dennoch war Lilith sicher, daß Duncan die Zeit nicht lang werden würde. Er hatte ihre Rückkehr bereits ersehnt, bevor sie richtig ge gangen war. Was für eine verkorkste Beziehung. Wider die Natur, rumorte es in ihren Schläfen. Wie du. Sie verlor keine Zeit mehr und hatte auch keine Zeit, sich näher mit Aufteilung und künftigem Sinn und Zweck der Räumlichkeiten
zu beschäftigen. Sie eilte auf die Treppe zu, neben der ein offener Schacht, vermutlich für einen späteren Lift, gähnte, und – Ihr wurde schlecht. Richtig schlecht. Sie hielt sich an der nackten Wand fest und versuchte, dem Schwindel, der durch ihre Gehirnwindungen kroch, Einhalt zu ge bieten. Ihr war, als würde sich ein Band um ihren Kopf legen und je mand die Schraube, die es engte, drehen. Sie hastete die wenigen Stufen, die sie überbrückt hatte, zurück. Sofort ließ der Druck nach. Die Übelkeit war hartnäckiger. ES WILL NICHT, DASS ICH KOMME … Verdammt, sie hatte nicht vor, auf eine Einladung zu warten! Erneut ging sie die Treppe an. Wieder zog sich das Band um ihren Schädel. Stufe für Stufe enger. Sie wußte nicht, wie, aber sie gelangte in den Keller. Das hier vor handene Restlicht hätte ein menschliches Auge als absolute Dunkel heit empfunden. »Warner?« Liliths Stimme spiegelte ihre Verfassung wider. Die Übelkeit war von einem zunehmenden Gefühl der Schwäche begleitet, wie Lilith es zuletzt innerhalb einer Kirche empfunden hatte. Damals auf der Flucht vor Horas Sippe. Die christlichen Symbole hatten in gleicher Weise die Kraft aus ihren Gliedern und aus ihrem Hirn gezogen … Aber hier war – keine – heilige – Stätte –! Wenn die Vampire hinter dem Bauprojekt steckten, hätte es keinen Sinn gemacht – und wenn jenes andere dahintersteckte, auch nicht! Ich werde es nie erfahren, dachte Lilith, denn ich halte es keine Minute länger hier aus …! Der Korridor, in dem sie sich bewegte, war viel zu lang, um zu er
kunden, wohin er führte. Sie tastete zurück zur Treppe, deren unterste Stufe sich in diesem Moment verwandelte.
* Der Rabe landete auf Heraks Schultern. Hora, korrigierte sich das neue Oberhaupt der Vampirsippe in Ge danken. Mein Respekt vor unserem Gründer ist grenzenlos … Er war ein Zyniker. Er hatte noch keine großen eigenen Verdienste erworben. Mit der Ankunft dieses Vogels würde sich das vielleicht ändern. Der Zynismus von Hora II gipfelte in der Verfremdung einer menschlichen Redewendung, wonach die Überbringer schlechter Nachrichten im Mittelalter hingerichtet worden waren. Er erweiterte die Angelegenheit spontan auch auf Überbringer gu ter Nachrichten. Mittelalter hin, Mittelalter her. Aus purer Dankbar keit biß er dem Raben den Kopf ab, spie ihn aus, saugte kurz daran und ließ dann den zuckenden Rest fallen. Anschließend gab er lange vorbereitete Befehle. Kein Vampir – auch er nicht – verließ den Unterschlupf. Die Zeit, da Herren in den Kampf gegen das Verhängnis in Gestalt einer düsterschönen Frau gezogen waren, war vorbei. Das neue Oberhaupt der Sippe war nicht bereit, auch nur einen einzigen weiteren Vampir zu opfern. Eine noch stärkere Dezimierung hätte fatale Folgen nach sich gezo gen. Hora II beglückwünschte sich zu seinem Einfall, das Fundament des von ihm und Bürgermeister Weinberg initiierten Hochhauses zu präparieren. Der Beton des kompletten Unterbaus war mit Weih
wasser angerührt … Das Projekt steht sozusagen unter kirchlichem Segen, dachte Hora II amüsiert, und er war zuversichtlich, damit zugleich ein wirksames Bollwerk auch gegen Kräfte geschaffen zu haben, die dem Grund und Boden 333, Paddington Street möglicherweise immer noch in newohnten. Alles, was er die nächsten Stunden tat, war warten. Auf gute oder schlechte Nachrichten. Hinrichtungen machten immer Freude …
* Beton knirschte. Lilith zog ihren Fuß zurück, als das Gesicht der Qual erschien. Die unterste Stufe der Treppe schien sich zu verfalten, zu verbiegen und in ihren ursprünglich breiigen Zustand zurückzuverwandeln. Nur die häßlichen Geräusche verrieten, daß der Stein hart blieb. Daß im mense Kräfte von unten daran zerrten und formten, bis sich entfernt menschliche Züge wie eine steinerne Maske darauf abbildeten. »Warner …« Der Name rann zum zweitenmal über Liliths Lippen – diesmal als Ausdruck ihrer Betroffenheit – und der eigenen Qual. Sie sah, wie er litt. Und litt selbst. Welche Kräfte tobten hier? Was badete sie in einem Feuer, das kaum einen Gedanken zuließ? Ungeduldig wartete Lilith, ob sich Warner in diesem Zustand zu materialisieren vermochte oder nicht. Sie konnte nichts tun. Nicht helfen.
NICHT LÄNGER BLEIBEN! Der Boden unter ihren Füßen brannte. Die Luft stand in Flammen. Unsichtbar. Kochend heiß. Einen Moment kehrte lähmende Stille zurück. Das steinerne Ge sicht, um das eine flimmernde Aura lag, schien zu entspannen – als müßte es sich erst einmal von der Anstrengung erholen. Dann – mit dem Bewegen steinerner Lippen – setzte das Knirschen erneut ein. Und in dieses Knirschen mischte sich etwas anderes. Worte, die sich in Liliths bohrenden Kopfschmerz drängten. »… verschwinde … große Gefahr … instabil … zu früh … wende dich zum Haus des Dieners … warte dort … geben Nachricht …« »Nein!« Lilith preßte die Fäuste gegen die Schläfen. »Was ge schieht hier? Was soll dieses Gebäude? Wer läßt es errichten?« »… die Vampire … geh … Gefahr …« Das Knirschen erstarb. Die Aura erlosch. Das Gesicht auf der untersten Treppenstufe blieb. Ein in Stein ge meißeltes Porträt. Lilith bückte sich und tastete mit den Händen darüber. Sie wußte nicht, was sie sich erhoffte. Sie wußte, daß es vorbei war. Nur Jeff Warners Qual war wie ein ewiges Mahnmal in Stein gegossen ge blieben. Warner selbst war wieder dort, wo die unbekannte Macht ihn fesselte: im Bauch der Erde. Dort, wo sich auch Lilith schon als Astralreisende aufgehalten hatte. Wo ein gigantisches Wurzelge flecht zu existieren schien, in dessen ausgehöhlten Armen irgend et was existierte, schlief oder wachte und die Fäden zog, an denen auch Lilith zappelte … Wer? Was?
Wieder einmal bestand keine Aussicht, es zu erfahren. Lilith taumelte die Treppe nach oben. Die unterste Stufe überging sie. Ihre Beine schienen schwer wie Blei. Etwas zehrte und zerrte an ihr. Erst als sie oben ankam, wurde es besser. Sie drehte sich um – und sah Duncan wild gestikulierend durch die Dunkelheit stolpern. Er suchte sie. Aber er konnte sie nicht sehen. Lilith eilte ihm entgegen.
* Einer der Wagen hielt direkt unter einer Straßenlampe. Fast lautlos waren sie gekommen. Aus beiden Richtungen der Paddington Street. Drei Van-Transporter. Schwarz wie die sie umgebende Nacht. Auf den Flanken stand die Aufschrift: Salem Enterprises Pty. Ltd. Duncan Luther zog sich in den offenen Eingang des Rohbaus zu rück und ging in Deckung. Eine Nachtschicht? Unwahrscheinlich. Er beobachtete, wie sich die Seitentüren zurückschoben und jedes Fahrzeug eine achtköpfige Gruppe ausspie. Die Personen trugen dunkle Overalls mit einem runden, nicht identifizierbaren Emblem auf der Herzseite. Ihre Bewegungen wirkten diszipliniert wie Robo ter. Militärischer Drill, der kaum vereinbar mit einem einfachen Bauvorhaben war … Duncan zögerte nicht länger. Obwohl er im Innern des Rohbaus kaum etwas sehen konnte, wandte er sich dorthin, wo er Minuten vorher Lilith hatte verschwinden sehen.
Es war heikel, aber als er hinter sich Schritte vernahm, legte er alle gebotene Vorsicht ab und begann ungeachtet der überall auf einer Baustelle lauernden Gefahren zu rennen. Wenn irgendwo ein Loch klafft, bin ich weg, dachte er. Vermutlich wer de ich der erste Tote sein, der sich selbst beerdigt … Dann geschah das, was er befürchtet hatte. Er prallte gegen ein Hindernis. Aber das Hindernis war weich und hielt ihn sogar fest, als er das Gleichgewicht zu verlieren drohte. »Was ist?« flüsterte Lilith dicht an seinem Ohr. Ebenso leise berichtete er von seiner Beobachtung. Gleichzeitig spürte er, daß sie sich keineswegs so souverän und unnahbar wie zuletzt gab. »Und was ist bei dir passiert?« »Später!« zischte sie. Dann griff sie seinen Arm und lenkte ihn durch die Dunkelheit. Es war der falsche Arm. Der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen. Er korrigierte sie, was sie wortlos hin nahm. Die Verfolgerschritte wurden lauter. Hastende Bewegung schien überall zu sein. Lilith blieb leise fluchend stehen. Im nächsten Moment flammte unerwartet Licht auf. Die Helligkeit kalter Sonnen riß die Umgebung aus den Schatten – und brannte Schatten in Duncans Netzhäute. Er stöhnte. Kämpfte blinzelnd gegen das Geblendetsein an. Lilith ließ ihm keine Verschnaufpause. Zerrte ihn weiter. Wohin? Verschwommen bildeten sich Konturen aus gleißender Umge bung. Dann drängte Duncan zum Stehenbleiben. Er erkannte, was Lilith noch nicht zu akzeptieren bereit war.
Es gab keinen Ausweg. Das Licht war überall – und die Gestalten dahinter ebenfalls. Sie waren umstellt. Wie Androiden rückten die Unbekannten heran. »Vampire?« rief er erstickt. Lilith schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, es wäre Futter für den Symbionten … Aber es sind nicht einmal Kreaturen …« »Was dann?« »Soldaten«, erwiderte Lilith rauh. »Die neueste Schweinerei der Sippe …!« Er stöhnte. Kämpfte blinzelnd gegen die Blendung an. Lilith ließ ihm keine Verschnaufpause, zerrte ihn weiter. Zu einer Treppe, die nicht nur nach unten, sondern auch hoch zu den bereits existieren den Stockwerken führte. Duncan erstarrte, als Lilith befahl: »Versteck dich! Schnell!« Gleichzeitig stieß sie ihn nach unten, Richtung Keller. »Sie werden mich –«, setzte Luther an. »Sie wollen mich! Geh! Es ist deine einzige Chance!« Verbittert und keineswegs beruhigt stolperte er dennoch abwärts. Der Abglanz kalten Lichts wies ihm noch kurze Zeit den Weg – dann tauchte er in Bereiche, wo Finsternis sich wie eine Schale um ihn schloß. Er hörte Liliths Schritte. Und die Schritte der Verfolger. Niemand folgte ihm. Aber er traute dem Braten nicht. Wiegte sich keineswegs in Sicher heit. Er fühlte regelrecht, daß er hier unten … nicht allein war …
* Lilith wußte nicht, woher sie die Überzeugung nahm, Duncan sei gegen den unheilvollen Einfluß, der ihr selbst fast zum Verhängnis geworden wäre, gefeit. Angesichts der sich überschlagenden Ereig nisse blieb ihr auch keine Zeit, sich dessen zu versichern. Sie forcierten jetzt ihr Tempo! Sie … Lilith hatte längst erkannt, daß sie es mit lebendigen, aber ihres freien Willens beraubten Menschen zu tun hatte – keinen Vampiren oder Dienerkreaturen. Es waren hypnotisierte Kämpfer, denen das eigene Leben nichts wert war, und es gehörte wenig dazu, um zu durchschauen, daß dennoch die Vampire an den Fäden dieser Marionetten zogen. Salem Enterprises schien eine Deckadresse für eine ganz neue Hin terlist der Sydney-Sippe zu sein … Lilith fühlte die Schwäche in jedem Muskel, während sie die Stu fen überwand und bis hinauf zum vorläufig letzten Stockwerk floh. Ja, sie floh. Sie wußte noch nicht, was sie gegen Gegner tun sollte, die selbst nur Opfer waren. Wenn sie mit derselben Verachtung gegen sie vor ging wie gegen Angehörige der Alten Rasse, war sie nicht besser als sie. Keinen Deut. Es war vernünftiger, die Sache ohne Blutvergießen zu bewältigen … … wenn sie mich lassen! Der Gedanke bestärkte Lilith, noch schneller zu laufen. Natürlich machte sie sich Gedanken um Duncan. Natürlich konnte sie nicht sicher sein, daß die Ankömmlinge wirklich nur sie wollten. Andererseits war Duncans Risiko gering, wenn wirklich Landru
hinter seiner »Auferstehung« steckte. Der legendenumwobene Vam pir und die Sydney-Sippe arbeiteten eng zusammen. Zumindest war dies in der Vergangenheit der Fall gewesen … Als sie die letzte Etage erreichte, waren ihre Verfolger nicht mehr weit hinter ihr. Sie hatten auf der Treppe sogar aufgeholt – ein ein deutiges Indiz dafür, daß mit Lilith nicht alles stimmte. Der Kräfte verschleiß im Keller war noch nicht wieder bereinigt. In dieser Ver fassung durfte sie sich nicht einmal auf einen Kampf gegen Men schen einlassen. Sie hatte vor, sich aus der nächsten offenen Fensterhöhlung des Rohbaus zu werfen und in ihrer Fledermausgestalt nach unten zu flüchten. Sie wollte die »Legionäre« der Vampire vom Gebäude weit genug fortlocken, dann zurückkehren und sich um Duncan küm mern … Geräusche zerbrachen ihr Gedankengebäude und schnitten in ihre Sinne, als sie von der Treppe weg zur nächsten Außenwand strebte. Und dann sah sie die Ursache. Sah die Seile und die Ankerhaken, die sich knirschend in die rohen Steine unterhalb einiger Fensteröffnungen gegraben hatten. Im nächsten Moment schon schwangen sich die ersten Overallträ ger über die Brüstungen. Sie haben an alles gedacht, dachte Lilith kalt. Alles genau vorhergese hen. Sie beschloß, nicht länger zu warten. Mit aller Konzentration gab sie ihrem Körper den Befehl, sich nach ihren Wünschen zu verän dern. Unaufhaltsam näherten sich die durchtrainierten Gestalten. Lilith erkannte jetzt ganz deutlich, daß sich auch Frauen darunter befan den. Sie alle trugen dieselbe Kleidung, die ihnen größtmögliche Be wegungsfreiheit beließ. Und aus dieser Nähe vermochte Lilith sogar
den Aufdruck der Embleme zu lesen: Salem Company Security. Ein »Firmensicherheitsdienst«. Einer der besonderen Art … Verdammt, warum stand sie immer noch da und glotzte die hyp notisierten Angreifer wie ein hypnotisiertes Kaninchen an …? Die Transformation mißlang. Sie war einfach zu schwach dafür. Das erste Netz flog. Netz? Lilith sah es kommen und wollte ausweichen. Es gelang ihr in letz ter Sekunde. Dort, wo sie gestanden hatte, sank das Geflecht zu Bo den. Lilith fühlte sich davon abgestoßen. Fühlte Übelkeit in sich aufstei gen. Sie wich weiter zurück. Bis es kein Zurück mehr gab. Die Wand hinter ihr war kalt wie arktisches Eis. Die Kälte drang durch Liliths Haut, als hätte sich der Symbiont vollständig von ih rem Rücken zurückgezogen. Künstliches Licht geisterte über Liliths Körper. Sie hatte einen Feh ler begangen. Sie hatte ihre Gegner unterschätzt. Die nächsten Netze flogen. Jeder der im Sold der Vampire stehen den Soldaten verfügte über diese Waffe, die nur vermeintlich harm los wirkte. Die erste Berührung mit einem der Netze wurde eine schlimme Lektion. Das Gewebe war naß. Es strahlte aus, was auch der Keller ausgeströmt hatte. Die Netze waren einem Gott geweiht, dessen Aura tödlich für Lilith war! NEEEEIIIIN …! Lilith versuchte, das tückische, mit Weihwasser getränkte Gewebe von sich zu schleudern, aber mehr und mehr davon senkten sich über sie, und auch den Gestalten, die sie schleuderten, haftete jenes erstickende Fluidum an, das Lilith bis in den innersten Kern lähmte.
Zäh kroch die Erkenntnis durch die Windungen ihres Gehirns, daß 333, Paddington Street nicht nur Ort ihrer Geburt und ihrer Reife war, sondern auch der Platz, an dem alles viel zu früh zu Ende ge hen würde! Sie wußte mit ihren Fähigkeiten und ihrem Intellekt im mer noch nicht ausreichend umzugehen, sonst wäre sie nie in eine solche Lage geraten! Schwache, sterbliche Menschen überrumpelten sie mit Waffen, die sie unter normalen Umständen wie morsches Spinnengewebe zerris sen hätte … Sie machte einen letzten Versuch. Sie starrte in die Gesichter der Heranrückenden und unternahm alle Anstrengung, den hypnoti schen Block, der sie lenkte, zu durchbrechen. Kurz nur geriet der Vormarsch ins Stocken. Einige der Gestalten schüttelten sich kurz. Das war alles. Zu wenig! Lilith ging in die Knie. Die Netze schienen zentnerschwer und drückten sie nieder. Das Gewebe brannte Muster in ihre Haut. Ver sengte ihr Haar. Flüsterte in ihren Gedanken und löste Konfusion in Lilith aus. Die Nässe der Netze fraß sich in die Poren ihrer Haut, und der Symbiont unternahm nichts, es zu verhindern. Es war wie damals in der Kirche am Trumper Park, als Pater Lorri mer sich wie ein heiliger Inquisitor aufspielte und sie mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu exorzieren versuchte. Lilith hatte immer noch nicht herausgefunden, warum christliche Symbole diese verheerende Wirkung auf Vampire ausübten. Auch auf Halbvampire. Warum Relikte anderer Religionen diese Wirkung nicht einmal ansatzweise erreichten … Ein Salem-Kämpfer stand ihr jetzt so nah, daß er nur noch die Hände auszustrecken brauchte, um nach ihrem Kopf unter den Net zen zu greifen. Sein kantiges Gesicht blieb ausdruckslos, als er sich
zu Lilith niederbeugte. Sie wimmerte leise, zuckte noch einmal von ihm zurück. Rutschte rückwärts, bis sich die Wand erneut an ihren Rücken schmiegte. Kalt. Eiskalt. Auch durch die Netze hindurch. In den Augen des Mannes wogte blutiger Nebel. Liliths Blick senk te sich in die Landschaft hinter den Netzhäuten. NEIN! suggerierte sie ihm mit aller verbliebenen Kraft. TU ES NICHT! DU SOLLST – Er griff brutal zu. Sein Blick ging einfach durch Lilith hindurch. Er schob seine Fin ger durch das enge Geflecht. Andere umringten ihn und Lilith im Halbkreis. Die Kegel ihrer Lampen trafen sich alle auf Liliths ge schundenem, innerlich verbrennenden, von unkontrollierten Zu ckungen geschüttelten Leib. Kein Wimpernzucken verriet die Absicht des Henkers. Aber als sich die Muskulatur der Arme anspannte, wußte Lilith, daß es soweit war. Die Vampire waren kein Risiko eingegangen. Sie wollten sie nicht lebend. Nicht einmal die zunehmende geistige Zer rüttung ersparte ihr diese Erkenntnis. Sie schloß die Augen und wartete auf den Ruck, der ihr Genick brechen würde.
* Was war das? Duncan sah das Glühen in der Dunkelheit. Zwei Punkte, die ihn
anzogen. Ein … Augenpaar? Er hörte auch jetzt noch keine fremden Schritte. Keinen fremden Atem. Aber etwas war da. Ganz nah. Ganz tief … Er ging in die Richtung, aus der er gekommen war. Auf das Leuchten zu. Er fühlte, wie der reißende Strom seiner Gedanken ru higer wurde. Träger. Zäher. Er blieb stehen. Das Licht war unter ihm. Unter ihm! Er stürzte. Der Boden gab nach. Öffnete sich. Duncan hatte das Ge fühl, in einen bodenlosen Schlund zu stürzen. Das Leuchten, das ihn gelockt hatte, verschwand. Finsternis hüllte ihn wieder vollständig ein. Aber das Gefühl, zu fallen, wollte nicht aufhören. Es DARF nie aufhören! Er hatte Angst vor dem Aufprall! Der Sturz war schon schrecklich, aber der Aufprall … … war sanft. Duncan schlug der Länge nach wie in weiches, taubenetztes Moos. Er streckte Arme und Beine von sich. Sein Gesicht drückte sich in das Undefinierbare, das sich wie Brei um ihn schmiegte. Das seinen Atem dennoch nicht unterdrückte, aber … Duncan spürte tausend Zungen. Tausend … Zähne … Unter sich. In sich. Er fühlte, wie nach dem betonharten Boden sich nun sein Körper öffnete. Wie er sich verströmte. Wie die Eingeweide hervorzuquellen
schienen und das Leben ihn heiß und dampfend verließ. MEIN Leben! AUF-HÖ-REN …! Es hörte nicht auf. Es ging immer weiter. Bis ihm vor Schwäche die Sinne schwanden. Bis der Dieb hatte, wonach ihm dürstete.
* Der Henker ließ von ihr ab. Plötzlich und abrupt. Er richtete sich auf. Seine Arme baumelten entspannt herab. Se kundenlang rührte er sich nicht. Sekundenlang rührte sich niemand. Am wenigsten Lilith. Wie durch Nebel verfolgte sie das, was einen Aufschub für sie be deutete. Warum hatte der Salem-Mann von ihr abgelassen? Obwohl die Netze immer noch an ihr brannten und in ihr wühl ten, wandte Lilith den Kopf. Sie glaubte zu halluzinieren, als sie ein Augenpaar in der Wand sah. Augen, die sie – kannte … Aber erst als ihr Henker erneut zu ihr kam und die verheerenden Netze von ihrem Leib pflückte, setzte das Begreifen ein, was hier ge schah. Der Salem-Mann zitterte. Er war in Schweiß gebadet, der sein Ge sicht wie einen Film überzog. Und seinen Begleitern ging es nicht besser. Unkontrollierte Gesten an Körpern, die vorher wie perfekte Automaten funktioniert hatten, offenbarten, was geschah. Ich hatte nicht mehr die Kraft dazu, dachte Lilith. Aber es … er …
Als das letzte Netz wich, mobilisierte sie noch einmal verborgene Reserven. Sie traute dem Gesinnungswandel ihres Henkers nicht. Sie wollte aufstehen. Aber die Wand hielt sie fest, bis die gespenstischen Gestalten ihre Netze an sich genommen hatten und wie ein Spuk verschwunden waren. Restlos alle. Erst als der Lärm aufheulender Motoren durch die Stille der Nacht schnitt, gelang es Lilith, sich mit einem saugenden Ton von der Wand zu lösen und aufzustehen. Ihr ganzer Körper kribbelte, als hätte sie in einem Ameisenhaufen übernachtet. Als stünde ich unter Strom. Müheloser als erwartet gelangte sie die Treppen hinab in den Kel ler. Übelkeit sprang sie an wie ein wildes Tier, als sie die letzten Stu fen hinunterschritt. Sie kämpfte dagegen an. »Duncan?« Er antwortete nicht. Sie fand ihn direkt unterhalb der letzten Stufe, die Jeff Warners Physiognomie verewigt hatte. Jetzt befand sich dort nur noch ein Loch, wie nach einer Eruption. Und Duncan? Er lag der Länge nach ausgestreckt auf dem Bauch. Sein Kopf wies genau auf die Stelle mit dem Krater. Lilith blieb schaudernd stehen, als sie erkannte, daß Duncans Kopf bis zu den Ohren im Beton versunken war. Es sah aus, als hätte ihm etwas das Gesicht abgeschnitten. Der restliche Körper wirkte unver sehrt. Für einen Moment vergaß Lilith sogar den verderbten Einfluß des Kellers. Bis ins Mark erschrocken hastete sie zu Duncan und drehte
ihn vorsichtig auf den Rücken. Ihre schlimmste Befürchtung erfüllte sich nicht. Duncan atmete. Und er hatte immer noch sein Gesicht, das lediglich einen tiefen Ein druck im Beton hinterlassen hatte. Im Gegensatz zu Warners Zügen, die sich plastisch aus dem Stein herausmodelliert hatten, wirkte die Stelle, wo Duncan gelegen hatte, wie die Innenseite einer Maske. Er kam zu sich. Ein Echo unvorstellbarer Angst irrlichterte hinter seinen Augen. Aber es verschwand, als er Liliths Stimme hörte. »Es ist vorbei«, sagte sie. »Was ist hier passiert?« Er konnte vor Schwäche kaum sprechen. Seine Stimme schwankte, doch mit jedem Wort schien er sich mehr aus einem unsichtbaren Sumpf freizukämpfen. »Und – bei dir?« fragte er schließlich. »Wo sind –?« »Weg.« »Wohin?« »Ich weiß es nicht. Ich kann mir nur denken, daß das Haus gehol fen hat. Es muß deine Kraft dazu benutzt haben.« Sie half ihm aufzustehen. Seine Beine knickten ihm weg; er war völlig entkräftet. Sie mußte ihn stützen, obwohl sie selbst in dieser erstickenden, vergifteten Atmosphäre immer schwächer wurde. Sie mußte aus dem Keller heraus. Auf schnellstem Wege. »Wohin«, hauchte er, »willst du?« Lilith musterte ihn von der Seite. Zum erstenmal seit ihrer Wieder begegnung hatte sie das Gefühl, den echten Duncan Luther neben sich zu haben. Alles Androgyne, alles vermeintlich Künstliche, war von ihm abgefallen. »Hast du etwas – über dieses Bauvorhaben – erfahren?« keuchte er auf dem Weg nach oben.
»Ja.« Sie erzählte ihm, was sie von Warner erfahren hatte. Und wozu er sie aufgefordert hatte. »Das Haus des Dieners?« wiederholte Duncan. »Was soll das sein?« »Der Ort, wo wir übernachten werden«, erwiderte sie. »Wenigs tens solange, bis das Serum bei Beth anschlägt.« »Du weißt also, was damit gemeint ist?« Lilith nickte. »Ich denke, daß ich es weiß. Komm.« Zwei Stunden später erreichten zwei müde Gestalten Virgil Codds verlassenes Heim.
* Niemand hatte mit ihnen gerechnet. Niemand hatte sie kommen hö ren. Und als das Chaos ausbrach, überraschte es jeden. Auch Hora II wurde aufgeschreckt. Das Warten war vorbei. Anders jedoch, als er es sich erhofft hatte. Alarm hallte durch die unheiligen Hallen. Schreckliche Schreie, wie nur Vampirkehlen sie zu artikulieren vermochten, überzeugten das Sippenoberhaupt endgültig, daß etwas Heimtückisches über die Familie gekommen war. Ohne sich selbst ins Zentrum der Gefahr zu begeben, erhielt er endlich verwertbare Nachricht von einer Vampirin. »Meine Kämpfer?« fragte er ungläubig. »Sie wüten hier?« »Sie kamen im Schutz der verhaßten Intarsien. Wo immer sie auf uns treffen, greifen sie an!« »Sind Opfer zu beklagen?« »Noch nicht.«
»Gut.« Hora überwand seine vorübergehende Entschlußlosigkeit. Er begriff, daß die Hypnose, die seine »Soldaten« an ihn band, nicht nur gebrochen, sondern daß auch das eingeimpfte Feindbild verän dert worden war. Über das Wie machte er sich noch keine Gedanken. Er gab den Befehl, auf Mittel zurückzugreifen, die eines Vampirs eigentlich unwürdig waren. Aber der Erfolg entheiligte jedes Mittel. Schon kurze Zeit später hallten Schüsse durch den neuen Ver sammlungsort der Sippe. Soldaten starben. Gegossenes Blei beendete Leben. Die spätere Beseitigung der Toten gestaltete sich geringfügig schwieriger. Andere Menschen mußten erst gebannt werden, um jene wegzuschleifen, denen sich kein Vampir auch nur nähern konn te. Währenddessen und danach blieb Hora II viel Zeit, die Wut über den Mißerfolg seiner »Armee« in sich hineinzufressen …
* Polizeisiegel brachen. Lilith und Duncan schlüpften in das villenähnliche Haus an der südöstlichen Peripherie Sydneys. Sie vergewisserten sich, daß alle Jalousien geschlossen waren, ehe sie den ersten Lichtschalter betä tigten. Erstaunlicherweise funktionierte die Stromversorgung innerhalb des Hauses immer noch. Nicht minder erstaunlich war die Art von »Beleuchtung«, die Virgil Codd zu Zeiten, da er dieses Haus be wohnte, bevorzugt hatte. Die Glühmittel in den Lampen waren aus nahmslos geschwärzt. Das »Licht«, das sie verströmten, schuf per fekte Höhlenromantik.
»Freunden wir uns damit an, daß wir uns bei einer ehemaligen Dienerkreatur einquartiert haben«, kommentierte Lilith, der dieses Manko noch das geringste Kopfzerbrechen bereitete. »Kein Problem.« Da Lilith wollte, daß es auch kein Problem wurde, stellte sie das ganze Haus auf den Kopf, um sicherzugehen, daß nirgends eine böse Überraschung lauerte. »In Ordnung«, sagte sie, als sie von ihrem Inspektionsgang zu rückkehrte. »Du kannst es dir bequem machen. Oder schlafen. Du mußt wieder zu Kräften kommen. Ich selbst werde noch einmal kurz das Haus verlassen. Der Kühlschrank gibt nicht her, was ich jetzt brauche.« »Wenn du dich da mal nicht täuschst. Immerhin ist es der Kühl schrank einer Dienerkreatur …« »Konserven? Nein danke! Und dich kann ich unmöglich schon wieder behelligen.« Das Geplänkel täuschte darüber hinweg, daß sie ein heikles The ma behandelten. Aber Duncan Luther schien über den Punkt hin weg, an sich zu zweifeln. Was von diesem neuen Selbstbewußtsein echt und was gespielt war, vermochte Lilith noch nicht zu entschei den. »Bleib nicht so lange«, sagte er. »Nein.« Er seufzte. »Ich denke, diesmal werde ich etwas besser darauf auf passen.« »Worauf?« »Auf mein zweites Leben, das jetzt begonnen hat.« »Wir werden es im Auge behalten«, sagte sie. ENDE
Der Tod behält sein Mysterium Ein früher Philosoph sagte einmal: »Der Tod hat schon deshalb nichts mit mir zu tun, weil er, wenn ich da bin, nicht da ist – und wenn er da ist, ich nicht da bin.« Auch wenn dies zutreffen mag, ist es doch in erster Linie Wortklauberei. Unnötig zu erwähnen, daß auch jener Wortklauber heute nicht mehr unter uns weilt. Nach einem afrikanischen Märchen entstand der Tod durch die Nachlässigkeit eines von den Göttern gesandten Tieres, das den Menschen die Ankündigung des ewigen Lebens verkehrt oder ver spätet überbrachte. Dummes Tier, dem wir demnach unser größtes Verhängnis und unsere größte Prüfung zu verdanken hätten! Geläufiger ist der Tod als Strafe, auch von Gott verhängt – in die sem Fall aber wegen des Bruches eines Tabus*. Um den Tod aufzuschieben oder ganz zu überlisten, kommen ver schiedene magische Mittel zur Anwendung, z. B. versucht man, ihn durch Verbrennen einer ihn darstellenden Puppe auszutreiben. Die Namen, die Dichter ihm verliehen, sind Legion: Ob Jäger, Tän zer oder Fischer, immer eignet er sich seine Opfer mit Lockungen oder Grausamkeiten an. Wiederkehrende Beobachtungen an Sterbenden haben dazu ge führt, Atem, Blut, Herz und selbst den Schatten mit ihm zu ver knüpfen und in Zusammenhang zu setzen. Immer noch weit verbreitet ist die Vorstellung, daß der Tote (nur in verändertem Zustand) fortlebt. Daraus entstand der Glaube an die Wiederkehr von Toten, an Gespenstererscheinungen aller Art
*siehe Bibel I, Mos. 3
und an »Nachzehrer«*, die kommen, um Lebendige nachzuholen. Die Fülle der an der Leiche vollzogenen Bräuche läßt sich unter doppeltem Gesichtspunkt begreifen. Sie sollen zum einen dem To ten, zum anderen den Hinterbliebenen zugute kommen. Zum Nutzen des Toten ist die richtige »Ausstattung« für seine Jen seitsreise und dem dortigen Aufenthalt: Waschung, Bemalung, Ein balsamierung oder Räucherung dienen seiner Erhaltung – ebenso die Mitgabe von »Körperersatzteilen«, Kleidung (hier vor allem Be schuhung), Schmuck, Amulette, Salbgefäße, Lampen, Becher und »Wegzehrung«, Waffen, Geld (Totenmünze), Modelle von Barken (zur Überfahrt über den Totenfluß), Himmelsleiter, Spielzeug und magische Texte, mit deren Hilfe sich der Tote alles Mögliche be schaffen kann. Um der Seele des Toten den Austritt zu bahnen, werden Türen und Fenster geöffnet (der Chinese macht(e) ein Loch ins Dach!), und auch die Leichenverbrennung hat ihren ursprünglichen Sinn darin, die Seele von der körperlichen Fessel zu befreien. Für unseren Kulturkreis schwer nachvollziehbar oder akzeptabel sind Auswüchse wie der »Menschenzaun«, früher vornehmlich im asiatischen Raum gepflegt, d. h. die Tötung von Menschen (Witwen verbrennung), damit auch hierbei dem Toten als »lebendem Leich nam« mitgegeben wird, was er im Totenreich vermissen könnte. Die erwähnte »Totenmünze« dient übrigens nicht nur zum Entgelt für den Fährmann Charon, damit dieser die Fahrt über den Toten fluß übernimmt, sondern sie ist auch Teil eines Abkommens der Hinterbliebenen mit dem Tod, das man auf den Nenner bringen kann: »Ich gebe dir das Deinige, bleibe du vom Meinigen!« Zum Nutzen der Hinterbliebenen wird allgemein gerechnet, was die Verhinderung schädlichen Ausflusses (Ansteckungsstoffe) aus der *nicht Nachtzehrer, wie häufig fehlerhaft benannt
Leiche betrifft. In gewissen Kulturkreisen werden nicht nur die Au gen, sondern auch sämtliche Körperöffnungen der Toten verschlos sen, er wird verhüllt und – damit er nicht wiederkehre und Schaden anrichte – möglichst fest eingesargt; zuweilen sogar am Sarg festge macht. Er wird auf ungewöhnlichem Weg aus dem Haus geschafft, Wasser wird hinter dem Sarg her ausgeschüttet, Feuer geschwun gen, es wird lärmend musiziert, usw. Totengötter spielten ihre größte Rolle in der ägyptischen Religion (Sokar, Anubis, Osiris, Isis). Sie entscheiden meist auch als Richter über das Los der Toten und herrschen als Könige über das Unter weltsreich (der indische Yama, der babylonische Nergal, der griechi sche Pluton, der römische Vejovis, oft auch in weiblicher Darstel lung wie die babylonischen Allatu und Ereschkigal, die griechische Persephone, die römische Larenta und die germanische Hel). Nicht unerwähnt bleiben soll der alte Glaube, daß dem Menschen im Angesicht des Todes, dem Sterbenden also, das Auge zum soge nannten »zweiten Gesicht« geöffnet wird, d. h. er nimmt bereits im Übergangsstadium vom Leben zum Tod Wissen und Einsichten in sich auf, die einem normal Dahinlebenden verschlossen bleiben. Eines indes ist sicher: DerTod besitzt die größte Mystik unter al lem, womit wir (noch) Lebenden zu tun haben. Man mag versuchen, ihn aus seinem Bewußtsein zu streichen, und niemand kann mit Be stimmtheit sagen, ob die, die irgendwann ein plötzlicher Tod ereilt, mit diesem Prinzip nicht tatsächlich besser fahren. Wahrscheinlicher aber ist, daß man sich zu Lebzeiten mit ihm aus einandersetzen sollte. Man braucht dies ja nicht in fortwährender Traurigkeit und dumpfer Erwartung des Unvermeidlichen zu tun, aber der Tod sollte seinen Platz im Leben haben. Selbst im fiktiven Leben von Romanheld(inn)en. Auch hier ist ver antwortungsvoller Umgang mit der Realität gefordert. Und deshalb sterben in VAMPIRA selbst »Helden«.
Manche kommen wieder, was in der Realität noch keinem gelun gen ist, aber dafür ist dies ja ein Roman, und schließlich können auch Wiedergekommene – wie sich zeigen wird – wieder gehen … Adrian Doyle
Tattoo von Adrian Doyle Ihrer Geburtsstätte und ihrer Freundin beraubt, sucht Lilith Unter schlupf in Virgil Codds Haus. Doch auch hier kommt sie nicht zur Ruhe. Die Sydneyer Vampirsippe hat sie und Duncan Luther bald aufgespürt – und schickt ihnen einen Killer. Doch im Moment höchster Gefahr erhalten sie unerwartet Unterstützung. Ein Vampir taucht auf, ein Außenseiter, der ebenfalls gegen die eigene Rasse kämpft. Feyn ist, wie Fee, ein »Experiment« der rothaarigen Unbekannten, die auch Liliths Geburt in die Wege leitete. Er hat besondere Kräfte – und setzt sie für die Halbvampirin ein! In ihrer jetzigen Lage ist Li lith dankbar für jeden Verbündeten. Doch kann sie Feyn vertrauen?