Das Zeit-Imperium von Peter Terrid Die Abenteuer der Time-Squad - Band 21
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Das Zeit-Imperium von Peter Terrid Die Abenteuer der Time-Squad - Band 21
1. Ab und zu sah ich auf die Uhr. Demeters Vortrag zog sich entsetzlich in die Länge. Sie sprach über Zeit und alles, was damit zusammenhing, und sie verstand sehr viel davon - ich so gut wie gar nichts. Meine Gedanken beschäftigten sich entschieden intensiver mit dem Gänsevogel, den ich kurz vor dem Beginn von Demeters Vortrag in die Bratröhre geschoben, und wenn Demeter noch mehr über Paradoxien im Zusammenhang mit der Zeit ausließ, mußte sich der Vogel langsam intensiv braun färben, und wenn Demeter noch mehr Zeit mit der Zeit verlor, mußte sich der Gegenstand meines Nachdenkens allmählich in ein schwärzliches Etwas verwandeln, das entsetzlich roch und völlig ungenießbar war. Die anderen Zuhörer machten interessierte und nachdenkliche Gesichter, aber ich hatte meine Zweifel, ob sie wirklich verstanden, was Demeter vortrug. Wenn es um Probleme von Zeitparadoxien ging, versagten bei mir sowohl Sprache als auch Denkvermögen, und ich war sicher, daß es den anderen nicht besser erging. Ich grinste Demeter an, sie reagierte nicht darauf. Wenn sie so weitermachte, blieb mir nichts anderes übrig, als ein Zeitparadoxon heraufzubeschwören, wenn ich den Vogel vor dem Verkohlen retten wollte. »Kein schlechter Gedanke«, schoß es mir durch den Kopf. »Ob sich das verwirklichen ließ?«
Wenn ich jetzt schnell aus dem Raum schlüpfte, in die Halle mit der Zeitmaschine ging, mich knapp einhundert Minuten in die Vergangenheit versetzen ließ und dann in die Küche stürmte, konnte ich den Gänsevogel aus dem Ofen holen, kurz, nachdem ich - in der Normalzeit - zu Demeters Vortrag aufgebrochen war. Ich stand langsam auf, machte ein verlegenes Gesicht und verschwand aus dem Saal. Das Experiment reizte mich ungemein. In der Wohnung, die ich mit Demeter zusammen bewohnte, war die Katastrophe bereits zu riechen. Aus dem Herd quollen dicke Rauchschwaden und erfüllten die Küche mit einem unerträglichen Geruch. Ich schaltete schne ll die Entlüftung ein und den Herd aus. Was ich danach aus der Röhre zog, sah scheußlich aus, völlig ungenießbar. Das Fett, das ich sorgsam aus dem Vogel herausgebrutzelt hatte, war teilweise in der Saftschale verbrannt. Ich konnte von Glück sagen, daß es nicht in Flammen aufgegangen war. »Jetzt wollen wir sehen, was aus dem Versuch wird«, sagte ich. Ich ließ den verbrannten Vogel im Abfallvernichter verschwinden und verließ die Wohnung. Bis zum Bedienungsraum der Zeitmaschine hatte ich es nicht allzu weit. »Was denn, Sie schon wieder?« fragte einer der Techniker entgeistert, als er mich sah. »Wieso schon wieder?« fragte ich einigermaßen verblüfft. Nach unserem letzten Abenteuer hatte ich mich tagelang nicht mehr hier sehen lassen. Mein Bedarf an Aufregungen wurde durch Demeters Temperament ausreichend gedeckt, zu lebensgefährlichen Aktionen bestand keinerlei Notwendigkeit. »Lassen wir das«, antwortete der Techniker. »Außerdem haben Sie mir ja verboten, darüber zu reden.« Meine Verblüffung wuchs, aber ich beließ es dabei. Ich war neugierig und wollte die Sache so schnell wie möglich hinter
mich bringen. »Ich möchte einen kleinen Zeitsprung machen, körperlich«, bestimmte ich. »Wohin?« »Nur um ... Augenblick.« Meine Gedanken überschlugen sich. Wie hatte der Tag begonnen? Nach dem Aufstehen und dem Frühstück hatte ich das Essen für den Abend vorbereitet und die Zeitschaltuhr des Herdes eingestellt. Danach hatte ich die Wohnung nicht mehr betreten, Demeter auch nicht. Und dementsprechend sah die Wohnung aus. Demeter war eine blitzgescheite und außerordentlich schöne Frau, aber häuslich veranlagt war sie überhaupt nicht - schelten konnte ich sie deswegen nicht, denn meine Ordnungsliebe ließ auch erheblich zu wünschen übrig. Daher gab es in der Privatwohnung allerhand aufzuräumen, wegzupacken und zu ordnen. Die Roboter, die üblicherweise solche Arbeiten in der Zeitfestung auf Shyftan erledigten, hatten bei uns keinen Zutritt - die Blechkerle hatten nämlich keinerlei Verständnis für Demeters und mein System einer assoziativen Ordnung. Wenn die Roboter nach ihren logischen Denkapparaturen Ordnung schufen, fanden wir hinterher nichts mehr wieder. »Schick mich um zehn Stunden zurück«, bat ich. »Wenn Sie meinen«, antwortete darauf der Techniker achselzuckend. Zwei Minuten später war ich immer noch im gleichen Raum, aber er war jetzt verlassen. Ein Blick auf die Uhr an der Wand der Zeitsprung hatte perfekt geklappt. Es war früher Morgen. Jetzt hatte ich den ganzen Tag lang Zeit, in aller Ruhe unsere Wohnung aufzuräumen und zu putzen, eine Arbeit, für die ich mit Sicherheit auch die ganze Zeit brauchen würde, die ich mir mit diesem Trick ergaunert hatte. Fröhlich pfeifend verließ ich den Schaltraum und ging in meine Wohnung. Wie ich nicht anders erwartet hatte, sah sie so
aus, wie wir sie am Morgen verlassen hatten - gemütlich chaotisch. Ich machte mich an die Arbeit. Als erstes räumte ich das Schlafzimmer auf und sammelte die Kleidungsstücke vom Boden auf, um sie in den Waschautomaten zu stopfen. Dabei fiel mir natürlich auch das Buch in die Hände, in dem ich am Vorabend noch hatte lesen wollen - Ludwig Wittgensteins Tractatus logicophilosophicus. Hm, Zeit hatte ich ja wohl genug. Ich setzte mich in den Schaukelstuhl und begann zu lesen. Demeter hatte mir das Buch empfohlen, und dementsprechend war es auch: Auf den ersten Seiten weder eine Leiche noch sonst etwas Abwechslungsreiches, dafür sehr viele schlaue Gedanken. Und prompt schlief ich ein ... Als ich wieder erwachte, blieb ich zunächst einmal völlig regungslos im Schaukelstuhl sitzen. »Heiliges Äthanol«, entfuhr es mir. »Was machst du hier?« »Dumme Frage«, lautete die barsche Antwort. »Aufräumen, das siehst du doch.« »Aha«, machte ich und begriff gar nichts. Denn vor mir stand - ich selbst. Und hinter mir, blöde grinsend und offenbar bester Laune, stand ich noch einmal. Ich hatte mich frühmorgens schon bemerkenswert elend gefühlt, aber so hundsmiserabel wie an diesem Tag noch niemals. »Wo kommt ihr alle her?« fragte ich zaghaft. Bei genauerer Zählung kam ich auf sieben, dazu ich und außerdem ich, draußen mit Demeter herumspazierend. »Aus der Zeitmaschine«, antwortete Tovar III oder IV, ich hatte völlig den Überblick verloren. »Wir sind in Abständen von fünf Minuten hier aufgetaucht.« »Freunde«, sagte ich vorsichtig, denn ich wollte es nicht mit einem von mir anlegen, »ehrlich gesagt, interessiert es mich herzlich wenig, woher ihr kommt. Viel wichtiger finde ich die
Frage, wohin ihr gehen werdet. Denn das hier ist mein Schlafzimmer, und ich habe nicht vor, hier außer Demeter noch andere Personen schlafen zu lassen - auch wenn diese Personen so aussehen wie ich.« Einer der Tovars machte ein mißmutiges Gesicht. »Laß den Unfug«, sagte er rauh. Ich hatte nie gewußt, daß meine Stimme so rüpelhaft klingen konnte. »Wir werden auf dem gleichen Weg wieder verschwinden, wie wir gekommen sind.« »Über die Zeitmaschine?« Die sieben - ein achter tauchte in diesem Augenblick gerade auf und gesellte sich zu den anderen Tovars, als sei’s das natürlichste von der Welt - nickten völlig synchron. Sie sahen in diesem Augenblick aus, als hingen sie alle am gleichen Uhrwerk. »Darauf brauche ich einen Drink«, ächzte ich. Einer der Tovars hielt mir das Glas unter die Nase, es war bereits gefüllt. Hastig schüttete ich den Inhalt hinunter. »Erklärt es mir ganz langsam«, bat ich. »Andernfalls werde ich völlig verrückt, und das wäre schade für uns alle.« »Unglaublich, was ich für einen Unsinn manchmal zusammenrede«, sagte eines meiner Gegenüber. Tovar II, er schien mir der energischste aus der ganzen Bande zu sein, zog mich langsam aus dem Sessel in die Höhe. »Ich hoffe, du kannst dich erinnern«, sagte er grimmig. »Du hast dich gegen neunzehn Uhr von Demeters Vortrag gedrückt und dich mit der Zeitmaschine in die Vergangenheit versetzen lassen. Dieser Tovar, die Nummer II, bist du. Ich bin Tovar III - nämlich du, nachdem du um fünf Minuten vor neunzehn Uhr zum zweiten Mal in die Zeitmaschine gestiegen bist. Ich bin um neun Uhr fünf Minuten hier angekommen, und ich werde um zehn Minuten vor neunzehn Uhr die Zeitmaschine besteigen und als Tovar IV um zehn Minuten nach neun in diesem Raum auftauchen - und so geht die Spielerei weiter bis
zu Tovar VIII.« Ich begann zu lachen, und die anderen Tovars lachten mit. Wäre es nicht geradezu alptraumhaft gewesen, hätten wir stundenlang weiterlachen können. »Dann an die Arbeit«, bestimmte ich, packte das Buch und stellte es an seinen Platz. Die Stunden danach waren unvergeßlich. In siebenfacher Ausfertigung arbeitete ich mich durch die Wohnung, putzte, saugte, wischte und polierte, auch an den Ecken und Winkeln, die ich normalerweise aussparte. Für die Küche - mein liebster Arbeitsplatz und dementsprechend aussehend - brauchten wir zu dritt zwei Stunden, dann blinkte und glitzerte alles. Die Kacheln wurden so blitzblank, daß ich mich darin spiegeln konnte und sich die Zahl meiner Ebenbilder noch mehr vergrößerte. Seltsamerweise sprachen wir kein Wort dabei - das war nicht nötig. Aus den Lautsprechern kam Musik - natürlich hatten wir alle den gleichen Geschmack, und so konnte es keinen Streit geben. Die Flasche mit dem Whisky hatte allerdings nur wenig Chancen, den Ansturm von sieben Tovars zu überstehen, und war nach kurzer Zeit geleert. Mir fiel dabei auf, daß der letztgekommene Tovar ein ziemlich mürrisches Gesicht aufsetzte und selbst durch meine Späße nicht aufzuheitern war. »Du wirst es noch früh genug merken«, sagte er mißmutig und traktierte ein Glas mit dem Geschirrtuch, bis auch die letzte Fluse entfernt war. »Du und deine albernen Ideen.« Da die Arbeit so munter floß, schnappte ich mir wieder etwas zu lesen und bummelte zwei Stunden lang durch. Dann rückte die Uhr langsam auf fünf Minuten vor neunzehn Uhr, und ich machte mich auf den Weg zur Zeitmaschine. Da ich dort bereits ein paarmal in der letzten Stunde angekommen war, erregte mein Erscheinen kein besonderes Aufsehen mehr. Der Transportvorgang nahm wieder nur eine
halbe Minute in Anspruch. Als ich um neun Uhr fünf an diesem Morgen ankam, dämmerte mir allmählich, worauf ich mich da eingelassen hatte ... es war entsetzlich. »Niemals wieder, Demeter, unter gar keinen Umständen«, sagte ich ächzend. »Das war der verrückteste Einfall meines Lebens.« Demeter lächelte nur. Sie hatte zu lächeln begonnen, als sie die Wohnung betreten hatte - ein Etwas aus fünf Räumen, so sauber ordentlich und blankpoliert, daß man es hätte für Werbezwecke fotografieren können. Sogar die Möbel waren umgestellt worden - es gab nichts mehr daran auszusetzen, und auf dem Tisch standen Teller, Besteck, Gläser und das beste Abendessen, das mir jemals ge lungen war. Im Schlafzimmer hinten lag ich - in einer so jämmerlichen Verfassung, wie ich sie seit Monaten nicht mehr hatte durchstehen müssen. In meinem Übereifer hatte ich völlig übersehen, daß jeder von den sieben Tovars ich war - und zwar nicht eine Kopie, auch wenn ich mich von außen betrachten und mit mir reden konnte, sondern jedesmal ich selbst, allerdings um einige Stunden biologischen Lebens älter. Tovar II hatte bereits den ganzen Tag als Tovar I hinter sich, als er aus der Zeitmaschine hervorgekommen war. Tovar III hatte die Arbeit der beiden Vorgänger hinter sich ... und so ging es fort bis zu Tovar VIII. »Es ist mir sofort aufgefallen, als ich zum zweiten Mal in der Wohnung auftauchte«, sagte ich jammernd. »Aber da war das Unglück schon passiert, und ich konnte nichts mehr machen.« Demeter lachte nur. Langsam richtete ich mich auf. Jeder Muskel und jeder Knochen schien zu schmerzen. »Ich hatte schon daran gedacht, mir diese Idee für streßgeplagte Hausmänner und - frauen patentieren zu lassen: Spalte dich in drei oder vier Ichs auf, dann geht alles leichter
und schneller, weil man es sich aufteilen kann. In Wirklichkeit kann man damit nur das Arbeitspensum von drei Tagen in einen hineinpacken, jedenfalls zeitlich.« »Du wirst etwas zu essen brauchen«, sagte Demeter. »Das hast du dir redlich verdient.« Hinter ihr wankte ich in die Eßecke des Wohnraumes. Unterwegs kam ich an einem Spiegel vorbei (kein Stäubchen, kein Fingerabdruck, keine Putzstreifen, versteht sich!) und konnte mich selbst betrachten - einen heruntergewirtschafteten Tovar mit einem Stoppelbart, verquollenen Augen und dem Blick eines weidwunden Tieres. »Setz dich«, sagte Demeter. Kraftlos ließ ich mich auf den Stuhl fallen. »Manchmal möchte ich wissen, was du eigentlich an mir findest«, murmelte ich. »Wieso?« fragte Demeter. Immer wenn es mir am elendsten ging, sah sie am besten aus, auch an diesem Tag. »Ich bin träge, extrem träge sogar«, begann ich meine Fehlerliste. »Hilflos, ja fast lebensuntüchtig, wenn mir nicht jemand sagt, was ich tun soll. Vor Arbeit drücke ich mich, wo immer ich nur kann, und vor neuen Sachen ganz besonders. Lernen fällt mir beispielsweise unglaublich schwer, das liegt daran, daß ich mich nie konzentrieren kann und ein sehr schwaches Gedächtnis habe. Außerdem bin ich inkonsequent, verantwortungsscheu und chaotisch, von meinem Mangel an Kreativität, Mutterwitz und Schlagfertigkeit einmal ganz abgesehen. Wenn ich wenigstens gut aussehen würde, aber ... Demeter lachte wieder, sie schien sich auf meine Kosten prächtig zu amüsieren. »Wahrscheinlich mache ich mir nur etwas vor und belüge mich selbst. In jedem Fall bin ich ohne Grund eifersüchtig auf jeden Mann in deiner Nähe und neidisch auf die Vorzüge anderer Männer.« Demeter lachte so heftig, daß sie fast die Gabel fa llen ließ. »Ich wüßte wirklich gerne, warum du mich geheiratet hast«,
beendete ich mein Jammern. Demeter sah mich an. »Du warst das Beste, das ich finden konnte«, behauptete sie ernsthaft, »und ich habe lange und intensiv gesucht.« »Nicht lange genug«, gab ich zurück. Der Braten war mir vorzüglich gelungen, und mit jedem Bissen ging es mir besser. »Hat dir mein Vortrag gefallen?« wollte Demeter wissen. »Ich habe kein Wort verstanden«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Ich bin eben nicht intelligent genug für solche Sachen.« »Das trifft sich gut«, meinte Demeter freundlich. Wenn Demeter Carol Washington freundlich zu werden begann, zogen für gewöhnlich im Hintergrund Gewitterwolken auf. Meist bestanden diese Gewitterwolken aus neuen Einsätzen, in denen ganz besonders ich den Hals riskieren durfte. »Morgen brechen wir auf«, erklärte Demeter. »Du kochst übrigens vorzüglich.« »Ich mache demnächst auf Glyssaan eine Imbißbude auf«, gab ich zurück; natürlich ging der Scherz ins Leere. »Keine schlechte Idee«, antwortete Demeter. »Am besten setzt du dich mit der Lagerverwaltung in Verbindung und bestellst alles, was du dazu brauchst.« Ich starrte sie fassungslos an. »Was meinst du damit? Wir fliegen nach Glyssaan? Hast du vergessen, wie man uns dort gejagt hat?« »Keineswegs«, antwortete Demeter. »Bei diesem Einsatz werden sie uns nicht jagen. Sie werden vielmehr heilfroh sein, daß wir losfliegen - auch wenn sie es jetzt noch nicht wissen.« »Überstrapaziere meine schwache Intelligenz nicht«, bat ich. »Wir starten morgen zu einer Reise nach Glyssaan«, eröffnete mir Demeter ruhig, »und bei dieser Reise werden wir dafür sorgen, daß der Ring des Kaisers von Glyssaan dahin kommt, wohin er gehört.«
Diesmal war es an mir zu lächeln. »Du willst das Imperium retten?« fragte ich spöttisch. Auch das ging daneben. »Mehr noch«, antwortete Demeter. »Ich werde es gründen.«
2. Andere mochten es als Glücksfall bezeichnen, daß die Zeitmaschine auf Shyftan ein Zusatzgerät besaß, das ein Anpeilen der Zeitoperationen weitestgehend ausschloß - aus meinem Blickwinkel war es eher ein Unglücksfall. Nur dank dieser Zusatzeinrichtung ließ sich Demeters Plan überhaupt verwirklichen, und realisierbare Pläne hatten bei Demeter nur geringe Chancen, auf dem Papier stehen zu bleiben. Hatte sie sich erst einmal etwas in den hübschen Kopf gesetzt, dann zögerte sie nicht, alles zu mobilisieren, um ihre Gedanken schnellstmöglich in die Tat umzusetzen. In diesem Fall bedeutete das, daß wir die gesamte Zeitmaschine demontieren mußten. Sie wurde im Hangar neu aufgebaut, genau über der schnellen Jacht, mit der uns Imhotep von Glyssaan hierhergebracht hatte, von dem turbulenten Umweg über Taccantha einmal abgesehen. »Du willst das ganze Schiff versetzen?« fragte ich vorsichtig an. Demeter, die jeden Handgriff beobachtete, nickte nur knapp. »Und dann?« »Fliegen wir damit nach Glyssaan«, erklärte Demeter. Sie sah mich kurz an. »Fürchtest du dich?« Ich grinste säuerlich. Natürlich fürchtete ich mich. Wenn Demeter zu Einsätzen aufbrach, wurde gleichzeitig auch der Sensenmann munter und begann nach uns zu schnappen. Bisher hatte er uns nicht erwischt, aber ich hatte große Zweifel, daß unsere Glückssträhne noch weiter anhalten würde. Aber wie sollte ich Demeter das kar machen?
»Fein, mein Schatz«, sagte sie und tätschelte mir die Wange. »Dir wird dieser Ausflug sicherlich gefallen.« Ich war gänzlich anderer Ansicht, sagte aber nichts. Das Einsatzteam stand bereits fest - es war die Crew, die sich in einer Reihe riskanter Aktionen bewährt hatte. Inky war zur Stelle, hager, schlacksig und mit wirrem Haar; Charriba, der schweigsame Indianer; Shandrak in seiner schwarzen Lederkluft, mit der unvermeidlichen Harpune bewaffnet; dazu Imhotep und Fürst Darcyr von den Blauen Sonnen. Die Vorbereitung dieses Fluges war beileibe nicht die ganze Arbeit, die die Time-Squad zu bewältigen hatte. Hektisch und turbulent ging es in nahezu jeder Abteilung zu. Unsere Experten waren dabei, sehr behutsam und vorsichtig die Infrastruktur des Planeten zu verbessern. Es war ein Problem ganz besonderer Art - die von der Erde nach Shyftan geflohenen Mitarbeiter der Time-Squad waren überwiegend komfortgewohnte Großstadtmenschen. Die Shyftaner hingegen lebten in einer mittelalterlichen Feudalwelt, auf kleine Siedlungen verstreut, mit großen menschenleeren Re gionen dazwischen. Immerhin gab es genügend freies Ackerland, um nötigenfalls noch ein paar Millionen weitere Flüchtlinge durchzufüttern. Auf einem weitgedehnten Steppenland hatten wir die Kökö angesiedelt, die wir aus der Zukunft mitgebracht hatten. Sie fühlten sich dort so wohl, daß wir uns nicht weiter um sie zu kümmern brauchten. Eine weitere Gruppe von Fachwissenschaftlern überwachte Diversion, unseren Freund aus dem anderen Universum. Er lag in ein Zeitfeld eingehüllt, in dem er nicht weiter jünger werden konnte - ihn wieder altern zu lassen, war uns bislang nicht gelungen. Vielleicht schafften wir es, wenn wir das legendäre Archiv von Glyssaan erst einmal richtig ausgewertet hatten, aber das würde sich noch über Jahrzehnte hinziehen - die eigentümliche Verpackung der Informationen machte die Sammlung und
Auswertung zu einer unerhört komplizierten und anstrengenden Arbeit. Die einzelnen Bilder waren nach Art eines hochkomplizierten Vexierbildes ineinander verwoben und verschränkt, und es bedurfte ungehe urer Konzentration, sie auseinanderzufiltern. Außerdem waren unsere Spezialisten inzwischen dahinter gekommen, daß sich die Bilder aus mikroskopisch kleinen Farbpartikeln zusammensetzen, deren Abfolge einen komplexen binären Kode ergab, den wir zusätzlich zu knacken hatten. Das wichtigste Problem dabei bestand in dem Umstand, daß in der verschlüsselten Nachricht auch der Kode enthalten war, nach dem die Nachricht aufgeschlüsselt werden konnte. Es war ein Paradoxon, das einem Alpträume bescheren konnte - ein unbekannter Text in einer unbekannten Sprache, wahrscheinlich noch nach einem unbekannten Kode verschlüsselt. Aus nichts kann nichts entziffert werden, lautete eine alte Weisheit, aber unsere Spezialisten gaben den Versuch, das Unmögliche doch noch zu schaffen, nicht auf. Und ganz nebenbei hatten wir in der Festung das alltägliche Leben einiger Tausend Menschen zu bestreiten, mit allem, was dazugehörte. Von dem Problem eines geordneten Schulunterrichts für die Kleinen bis hin zu einem funktionierenden Bestattungswesen. Bisher war noch keiner der Mitarbeiter der Time-Squad gestorben, aber es waren einige Grauköpfe darunter, und früher oder später mußte sich das Problem einfach ergeben. Tausend verschiedene Dinge gab es zu tun, überall mußte improvisiert werden. Der größte Teil der Mitarbeiter bestand aus hochqualifizierten Fachkräften, die Planetenumlaufbahnen berechnen, mathematische Paradoxien lösen und komplizierte technische Vorgänge steuern konnten. Es gab Informatiker und Psychologen, Systemanalytiker und Hochfrequenzingenieure, Astronomen und Plasmaphysiker. Nur der Anteil der Klempner, Bäcker und Feinkosthändler war betrüblich gering
ohne die Hilfe der Shyftaner und der Roboter der Festung hätte dieser Versammlung von Hirnakrobaten ein baldiges Ende gedroht. Es waren ein paar darunter, die es eher fertigbrachten, die Statik einer Hühnerschale zu berechnen, als sich selbst ein Spiegelei zu braten. »Worauf wartest du?« fragte Inky, der meinen leicht abwesenden Blick bemerkt haben mußte. Ich beeilte mic h und stieg von der Empore hinab auf den Boden des Hangars. Beim letzten Flug der Jacht war jeder Raum vollgepackt gewesen, jetzt hatten wir viel Platz. Imhotep hatte den Sitz des Piloten eingenommen, wie üblich saß Deme-ter neben ihm, um von ihm zu lernen. Charriba hatte die Kontrolle der Bordwaffen übernommen, während Inky für den Funkverkehr sorgte. Fürst Darcyr beschäftigte sich mit der kleinen Bordpositronik. Wieder einmal kam ich mir reichlich überflüssig vor. Demeter gab das Startzeichen. Ich hatte diesen Vorgang schon Dutzende von Malen erlebt und regte mich daher nicht weiter auf, als die blitzartige Müdigkeit über mich hereinbrach, die jeder Transportvorgang mit einer Zeitmaschine mit sich brachte. Wie üblich dauerte die ganze Prozedur nur ein paar Augenblicke, dann waren wir wieder bei Besinnung. Vom Hangar war jetzt nichts mehr zu sehen. Demeter hatte Anweisung gegeben, uns so in der Zeit zurückzuversetzen, daß der Planet Shyftan zum Zeitpunkt unseres Auftauchens in der Vergangenheit weit entfernt war. Auf diese Weise sparten wir den Treibstoff, den wir bei einem Start vom Planeten hätten verbrauchen müssen. »Berechne den Kurs nach Glyssaan«, bestimmte Demeter. »Und vergiß nicht, daß wir uns in der Vergangenheit befinden um elftausend Jahre!« In elf Jahrtausenden kamen auch Sterne ganz hübsch in Bewegung, außerdem hatte sich in dieser Zeit die gesamte
Milchstraße erheblich gedreht. Ich konnte es bei einem Blick durch die Scheiben der Jacht sehen - die Konstellationen am Nachthimmel von Shyftan hatten sich in einigen Bereichen deutlich geändert. »Was werden wir dort finden?« fragte ich Demeter. Imhotep übernahm es zu antworten. »Das wissen wir nicht genau«, sagte er. »Die offizielle Geschichtsschreibung von Glyssaan beginnt jetzt gerade erst. Aber im großen galaktischen Krieg ist viel Material vernichtet worden. Außerdem haben beide Seiten in diesem Krieg soviel an der Zeit herum manipuliert, daß gar nicht mehr sicher festzustellen ist, was noch wirksame historische Tatsache ist und was eine Erinnerung an längst verloschene Zeiten.« »Aber der Planet ist schon besiedelt?« fragte ich weiter. »Nicht einmal das wissen wir genau«, gab Imhotep zu. »Unsere Forscher haben allerdings festgestellt, daß unsere Lebensform einwandfrei nicht auf Glyssaan entstanden ist.« »Also Kolonisten von irgendwoher?« »So ist es«, stimmte Imhotep zu. »Jetzt fehlt nur noch, daß wir diese Kolonisten sind«, entfuhr es mir unwillkürlich. »Höchstwahrscheinlich nicht«, antwortete Demeter mit einem vielsagenden Lächeln. Imhoteps Jacht nahm Fahrt auf. Die TACCANTHA war ein schmuckes Gefährt, schnell und wendig, aber nur mäßig bewaffnet. Wir hatten aus den Beständen der Festung die Möglichkeiten erweitert, aber das hieß nicht, daß wir uns mit dem Schiff im Weltraum herumraufen durften. Es war und blieb eine komfortable Jacht, ein Kriegsschiff ließ sich nicht daraus machen. Während die TACCANTHA der Mindestgeschwindigkeit näher kam, die zum Eindringen in den Hyperraum nötig war, verfolgte Demeter zusammen mit Inky das Geschehen auf den Funkfrequenzen.
Abgesehen von der Hintergrundstrahlung war nicht viel zu hören. Wenn schon zu dieser Zeit auf der Hyperwelle gefunkt wurde, dann in weiter Entfernung und für uns nicht verständlich. Auch die Energietaster hatten keine Anzeige. »Ein seltsames Gefühl, so ganz allein im Raum«, stellte ich fest. »Wenn wir jetzt eine Havarie haben ...« »... kann uns keiner zur Hilfe kommen, alter Schwarzseher«, meinte Inky grinsend. »Es wird schon schiefgehen.« »Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen«, murmelte ich. »Murphys Gesetz.« Die TACCANTHA dachte nicht daran, sich an meine düsteren Prognosen zu halten. Das Schiff tauchte in den Überraum ein und flog nun mit tausendfacher Lichtgeschwindigkeit oder noch mehr. Angesichts der Größenordnung einer Galaxis war selbst die Geschwindigkeit des Lichts seltsam klein. Bei hunderttausendfacher Lichtgeschwindigkeit hätten wir zu einem Flug der Länge nach durch die Milchstraße noch fast ein Jahr gebraucht und bis zum Andromedanebel zwei Jahrzehnte. Auf dem Pano ramaschirm konnte ich sehen, wie sich die Sterne zu bewegen schienen. Die näher stehenden flitzten an uns vorbei wie tennisballgroße Hagelkörner, die weiter entfernt stehenden drifteten mit majestätischer Langsamkeit über den Schirm - und es gab auch ein paar Sterne, die sich selbst bei dieser Fahrt nicht zu bewegen schienen. »Wir werden ein paar Haken schlagen müssen«, verkündete Imhotep. »Auf dem kürzesten Kurs liegen zwei Sonnen genau in der Flugbahn.« »Was passiert, wenn ein Raumschiff mit dieser hohen Geschwindigkeit durch eine Sonne rast?« wollte ich wissen. »Vom Raumschiff bleibt nichts übrig, von der Sonne ein auseinandertreibender Nebel. Eine solche Kollision läßt sogar eine Sonne zerplatzen.«
Ich stieß einen leisen Pfiff aus. »Ist das gesichert?« fragte ich. »Warum willst du das wissen?« fragte Imhotep zurück. »Mußt du jede Frage mit einer Gegenfrage beantworten?« »Warum sollte ich nicht?« Imhotep feixte. »Wenn deine Darstellung richtig ist, könnte ein Gegner mit genügend großer Skrupellosigkeit jede beliebige Sonne durch ein unbemanntes Schiff völlig zerstören«, gab ich zu bedenken. Imhotep runzelte die Stirn. »Versucht haben wir es nie«, sagte er. »Was ich geschildert habe, sind die Ergebnisse theoretischer Berechnungen, keine experimentell gewonne nen Daten. Wenn wir zurück sind, werde ich die Sache noch einmal durchkalkulieren.« Die TACCANTHA fiel in den Normalraum zurück. Schlagartig kamen die Sterne auf dem Panoramaschirm zum Stillstand. Unwillkürlich wandte ich den Blick zu Darcyr, der mit der Positronik kommunizierte. Ohne Positronik war ein Schiff verloren, völlig orientierungslos. Selbst wenn es der Besatzung möglich gewesen wäre, die Daten des Fluges selbst zu berechnen und abzustimmen - sie hätte niemals navigieren können. Und der Versuch, eine bestimmte Sonne im Sternengewimmel der Milchstraße wiederzufinden, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Fachleute hatten herausgefunden, daß ein solches Suchverfahren nur in einer Entfernung von bis zu dreißig Lichtjahren vom Heimatstern möglich war. Alles, was darüber hinausging, mußte von einer Positronik bestimmt werden. Seltsamerweise hatte die Positronik technisch nicht das geringste mit Positronen zu tun; irgendein Bursche in grauer Vorvergangenheit hatte den Begriff geprägt, bevor es solc he Rechner überhaupt gab, und das Wort hatte sich derart eingebürgert, daß bis auf diesen Tag alles Positronik genannt wurde, was besser rechnen konnte als ein integrierter Schaltkreis.
Darcyr programmierte das nächste Flugmanöver, und wenig später tauchte die TACCANTHA wieder in den Hyperraum ein. Wir brauchten insgesamt siebzehn Sprünge, dann war das Ziel erreicht. Glyssaan lag vor uns. Die Taster suchten den Planeten ab - keinerlei Anzeichen für hochwertige Technik ließen sich finden. Kein Hyperfunk, kein Unterlichtfunk, keine Raumschiffe. Das Herz des Imperiums von Glyssaan hatte noch nicht zu schlagen begonnen, allem Anschein nach waren wir die einzigen intelligenten Lebewesen in diesem System. Demeter steuerte die TACCANTHA auf den Planeten zu, auf dem später einmal der Marmorpalast des Kaisers stehen würde. Sie brachte das Schiff auf eine stabile Umlaufbahn. Vom Weltraum aus war deutlich zu sehen, daß der Planet bereits Leben hervorgebracht hatte, es gab riesige Urwälder, bräunlich- gelbe Steppengebiete und zwei eisbedeckte Pole. Besonders am Äquator war der Pflanzenbewuchs unglaublich dicht und intensiv. »Wollen wir landen?« fragte Imhotep. Demeter nickte. »Ich schlage den Ort vor, an dem später die Hauptstadt zu finden sein wird«, sagte Demeter. »Willst du es selbst versuchen?« wollte Imhotep wissen. Demeter nickte wieder und übernahm die Steuerung des Schiffes. Sie hatte gut aufgepaßt, die Landung verlief ohne die geringsten Komplikationen. Schließlich stand die TACCANTHA auf dem Hochplateau, einem großflächigen Grasland. Kurz vor dem Aufsetzen konnten wir ein Rudel Tiere erschreckt davonrennen sehen. »Am Ziel«, sagte Demeter und stand auf. »Sehen wir uns die Umgebung an.« Die Luft war klar und frisch, über die Berge zogen dichte Wolkenbündel, und über dem Land lag ein Geruch nach Gras und Tieren. Shandrak zog prüfend die Luft durch die Nase, auch Charriba zeigte sich angetan von dem Anblick.
»Jetzt möchte ich meinen Grauen bei mir haben«, murmelte der Indianer. »Und dann auf die Jagd gehen.« Sehr zu Ink ys Verdruß hatte es Charriba geschafft, sein Lieblingspferd von der Erde nach Shyftan zu retten, eine mausgraue zottige Kreatur, mit der sich Charriba hervorragend verstand. Inky hingegen war der Meinung, Charriba habe einen pechschwarzen Rapphengst zu reiten oder einen blütenhellen Schimmel. »Viel mehr als jagen und uns ausruhen werden wir hier kaum veranstalten können«, meinte ich. »Von Glyssaanern jedenfalls keine Spur.« »Sie werden kommen«, beteuerte Imhotep. »Aber wann?« fragte Shandrak. »Sollen wir hier jahrelang auf sie warten?« Hoch über uns steckte Fürst Darcyr den Kopf aus der Schleuse. »Kommt in die Zentrale!« rief er. »Ich habe etwas angemessen.« Hastig kehrten wir in die TACCANTHA zurück. Unser Einstieg wurde von einem Rudel hirschähnlicher Tiere beäugt, leider aus einer so großen Entfernung, daß Charriba keines der Tiere mit seinen Pfeilen erreichen konnte. Das Abendessen würde ich wieder aus den Vorräten zusammenbasteln müssen. »Seht her«, sagte Darcyr. Er deutete auf den Bildschirm des Energieorters. »Ich habe die Messung aufgezeichnet und werde sie nun wiederholen.« Auf dem Schirm war eine dünne grüne Linie zu sehen, die ab und zu ein wenig flackerte. Als Darcyr die Aufzeichnung abspielte, erschien ein heftiger Ausschlag auf dem Schirm. Darcyr hielt das Bild an. »Dieser hyperenergetische Impuls entsteht, wenn ein Raumschiff in den Hyperraum vorstößt. Die zweite Zacke kennzeichnet den Wiedereintritt.« Imhotep stieß einen Pfiff aus.
»Du bist sicher, daß die Anzeige richtig ist?« fragte er. Darcyr nickte. »Oha«, machte Imhotep. »Was hat das zu bedeuten?« wollte Demeter wissen. Darcyr deutete auf die Zahlen am unteren Rand des Bildschirms. »Dies ist die Auswertung der Positronik«, erklärte er. »Sie hat anhand der Meßdaten Absprungort und Eintauchort des Schiffes bestimmt. Der Ausschlag hängt aber auch von der Größe des jeweiligen Schiffes ab. Eine erste Auswertung würde darauf hindeuten, daß in sehr großer Entfernung ein Schiff in den Hyperraum eingetaucht ist und sehr nahe bei uns wieder herausgekommen ist. Die angemessenen Energiemengen würden aber bedeuten, daß das Schiff eine unglaublich hohe Geschwindigkeit gehabt haben muß, denn die beiden Zacken liegen ziemlich dicht beieinander - der Flug hat also nicht sehr lange gedauert, obwohl er über eine gewaltige Strecke geführt haben muß.« »Wenig wahrscheinlich«, warf Imhotep ein. »Jeder erfahrene Raumfahrer würde ein solches Abenteuer vermeiden - das Risiko, mit einer Sonne zu kollidieren, ist einfach viel zu groß.« »Das habe ich mir auch gedacht«, antwortete Darcyr ernst. »Wenn wir diese Möglichkeit ausschließen, bleibt nur eine Lösung übrig - und die ist fast genauso abenteuerlich.« »Ein Riesenschiff«, sagte Demeter. »Es hat ganz in unserer Nähe einen sehr kurzen Sprung gemacht.« Darcyr nickte langsam. »Das ist auch meine Erklärung«, sagte er halblaut. »Aber sie läuft auf ein Schiff hinaus, das wirklich gigantisch sein muß das größte, das es jemals gegeben hat.« »Kann man anhand dieser Daten den jetzigen Standort des Schiffes feststellen?« fragte Demeter. »Es muß knapp zwanzig Lichtjahre von uns entfernt sein«,
antwortete Darcyr. »Dann werden wir losfliegen und nachsehen«, bestimmte Demeter. Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare ein wenig aufrichteten. Eine Ahnung beschlich mich, daß uns De- meters Entscheidung wieder einmal dem Knochenmann genau vor die Sense bringen würde.
3. »Das glaubt uns kein Mensch«, stieß ich hervor und deutete auf den Panoramaschirm. »Niemals.« Demeter nickte langsam. Was da durch den Raum trieb und sich dabei allmählich um seine Achse drehte, war das größte Gebilde, das ich jemals im Raum gesehen hatte. Der Inhalt dieses bizarren Gefährts mußte sich nach Kubikkilometern bemessen, wenn die Mannschaft entsprechend groß war, konnte das Raumschiff ein ganzes Volk transportieren. Die TACCANTHA bewegte sich langsam auf das Gebilde zu. Auf dem Panoramaschirm versuchten wir Einzelheiten zu erkennen. Der Schiffskoloß erwies sich bei näherer Betrachtung als Sammelsurium verschiedener Schiffe der unterschiedlichsten Form. Kern war ein Gebilde aus neun Kugeln, die untereinander durch Röhren verbunden waren. Das Ganze ergab einen Kubus mit einer großen Zentralkugel. Jede einzelne dieser Kugeln war fast einen Kilometer groß, und an die Wandung waren zahlreiche kleinere Konstruktionen angeschweißt oder angeflanscht worden. Das Gleiche galt für die Röhren, auch sie waren von kleineren Raumschiffen wie mit einer Kruste bedeckt. Es gab Kästen darunter und granatförmige Schiffe,
zerbrechlich wirkende Konstruktionen und langgestreckte Zylinder. Eingekeilt zwischen die Röhren im Inneren erkannten wir auch eine ringförmige Raumstation, wie sie in der Frühzeit der irdischen Raumfahrt einmal geplant gewesen war, als Zwischenstation für den ersten bemannten Mondflug. »Ich frage mich, ob dieses Gebilde eine ungeheure Macht verkörpert oder furchtbare Verzweiflung«, sagte Demeter leise. »Macht kann ich verstehen«, antwortete ich. »Wie kommst du auf Verzweiflung?« »Ein undeutliches Gefühl«, sagte Demeter. Die TACCANTHA war dem Koloß bis auf einen Kilometer nahe gekommen. »Kein Piepser«, antwortete Inky auf Demeters Frage. »Dort drüben herrscht absolute Funkstille.« »Macht einen Raumanzug klar«, bestimmte Demeter, sie sah mich an und lächelte. »Zwei. Wir werden uns die Sache näher ansehen. Imhotep, was geschieht, wenn wir uns in diesen Verband einfügen? Werden wir mittransportiert, wenn der Koloß wieder in den Hyperraum geht?« »Normalerweise müßte das gehen«, sagte der Glyssaaner. »Das Transportfeld muß das ganze Gebilde einhüllen - wenn wir mitten drin stecken, muß es auch uns einschließen.« »Dann wollen wir es so machen«, entschied Demeter. Allmählich erkannte ich, wie Demeter zu der Ansicht gekommen war, daß das Riesengebilde ein Ausdruck der Verzweiflung sein konnte. Einige der äußeren Schiffe waren beschädigt, bei einem konnten wir die Hülle weit aufklaffen sehen. Das Licht unseres Suchscheinwerfers fiel in die Höhlung, aber mehr als wirre Trümmer bekamen wir nicht zu sehen. »Kaum Waffen«, stellte Darcyr fest, der sehr sorgfältig die Oberfläche des Giganten musterte. Imhotep lenkte derweil die TACCANTHA in das Raumschiffslabyrinth hinein; es war Maßarbeit, teilweise blieb uns nur knapp eine Mannslänge
Spielraum. »Komm«, sagte Demeter. Ich folgte ihr in die Mannschleuse. Dort zogen wir die Raumanzüge über. Ich tat es mit einem leisen Schaudern. Zu deutlich erinnerte ich mich an unser vorletztes Abenteuer, bei dem Raumanzüge eine wesentliche Rolle gespielt hatten. Während ich die Erinnerung eher zu vermeiden suchte, schien Demeter geradezu davon zu schwärmen. Ihr Gesicht verriet, daß sie mit ihrer Aufmerksamkeit abgerutscht war, und um ihre Lippen spielte ein zufriedenes Lächeln. Ich stieß sie sanft an. »Wo bist du?« fragte ich. »Erinnerungen?« »Zum Teil«, antwortete Demeter und gab mir einen Kuß, dann schloß sie ihren Helm. Die Pumpen begannen zu arbeiten und saugten die Atemluft aus dem Schleusenraum. Was die Pumpen nicht schafften, besorgte der Raum, als die Schleuse geöffnet wurde: Der verbliebene Gasrest entwich ins Vakuum. Durch schlechte Erfahrungen gewitzt, hatten wir uns mit einem Seil und zwei Karabinerhaken am Gürtel miteinander verbunden. Wenn wir abgetrieben wurden, dann zu zweit. Der erste Schritt war einfach scheußlich. Mit einer Bewegung verließen wir das künstliche Schwerefeld des Schiffes und schienen ins Bodenlose zu fallen. Prompt begann sich mein Magen zu melden. Der Rückstoßtornister beförderte uns zu unserem Ziel. Nach wenigen Minuten kamen wir dort an. Mit einem Klacken hefteten sich unsere Magnetschuhe auf die Oberfläche der Röhre. »Merkst du etwas?« fragte Demeter über Funk. Ich machte ein Zeichen der Verneinung. »Das Schiff beschleunigt.« Das hatte mir gerade noch gefehlt: Frei im Raum schwebend ein Hypermanöver durchstehen zu müssen. Ich murmelte eine Verwünschung. So ruhig und bescha ulich mein Leben normalerweise verlief, so turbulent und gefährlich wurde es, wenn ich mit Demeter unterwegs war. Alle Schwierigkeiten
des Kosmos schienen irgendwo herumzulungern und darauf zu warten, daß wir die Szene betraten und uns mit ihnen beschäftigten. »Suchen wir eine Schleuse. Ich bin sicher, daß es eine gibt.« Mit den Magnetschuhen auf der Oberfläche zu marschieren, war eine schweißtreibende Angelegenheit, auch ohne Schwerkraft. Jedes Bein mußte mit einem Ruck hochgezerrt und dann nach vorn geschwungen werden. Eine Sekunde später war dann das andere Bein an der Reihe; wir staksten wie zwei betrunkene Störche über die Hülle des Schiffes und mußten uns dafür auch noch gewaltig anstrengen. Demeter streckte den Arm aus. Ich bewegte den Kopf auf und ab. Auch ich hatte die Schleuse gesehen. Zwei Minuten später hatten wir sie erreicht. Das Schiff mußte bereits ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel haben, vielleicht noch erheblich mehr. Kosmischer Feinstaub hatte den Lack und die Beschriftung von der Schleuse herunter geschmirgelt, es waren nur noch handtellergroße Reste vorhanden. Mit den Schriftzeichen konnten wir nichts anfangen, sie waren für uns völlig unverständlich. Immerhin, es gab einen Hebel, dessen Metallfarbe sich von der Umgebung deutlich abhob. Und es gab auch nur eine Richtung, in der man den Hebel bewegen konnte. Ich versuchte es, ohne Ergebnis. Erst als ich ein paar Mal mit dem Stiefel dagegentrat, ließ sich der Hebelarm bewegen. Geräuschlos klappte die äußere Schleusentür nach innen. Ich hob den Handscheinwerfer und leuchtete in den Innenraum. Ein Metallkasten ohne Schmuck und Zierat, ein Schleusenraum, wie es ihn an Bord dieses Schiffes wohl in hundertfacher Ausfertigung gab. Jenseits der äußeren Tür entdeckte ich die Innentür, auch sie mit einem Hebel ausgestattet. Wir schlüpften hinein und verriegelten die Schleuse von innen. Sobald der Verschluß eingerastet war - ich konnte es durch die dicken Handschuhe hindurch deutlich
spüren - flammte die Beleuchtung auf. Für meinen Geschmack war sie zu grell - wahrscheinlich stammten die Erbauer des Schiffsriesen von einer Welt mit einer helleren Sonne als der unsrigen. Demeter behielt ihr Kombiarmband im Auge. Sie deutete mit dem Daumen nach oben und öffnete den Mund. Ich.verstand - der Schleusenraum wurde mit Luft geflutet. Zu meiner großen Erleichterung tauchten keine gelblichen oder weißen Gasschwaden auf. Von einem Chlorgasplaneten oder einer Methan-Ammoniak-Welt stammten die Fremden also nicht. Demeter lächelte zufrieden und öffnete den Helm. Vorsichtig atmete sie eine Probe des Gemischs ein, dann nickte sie. »Atembar«, hörte ich sie sagen, als ich meinen Helm öffnete. Die Luft wirkte warm und ein wenig abgestanden. Wahrscheinlich hatte sie seit Ewigkeiten in einem Druckbehälter gesteckt. »Ich bin gespannt, wer uns begrüßen wird«, sagte ich halblaut. Vorsichtshalber überprüfte ich noch einmal meine Waffen. Der Nadler mit den Narkosegeschossen saß am rechten Oberschenkel, das Magazin war frisch. Der Laser steckte links, und am linken Unterarm war ein Messer befestigt, mit dem man aus bestem Stahl Späne schnitzen konnte - hergestellt auf Glyssaan. Demeter trug am Gürtel einen positronischen Übersetzer, auch er auf Glyssaan oder einer der glyssaanischen Welten hergestellt. Die Technik von uns Erdmensche n war noch nicht so weit fortgeschritten. »Aufmachen«, bestimmte Demeter. Ich drückte den Hebel herab. Er bewegte sich langsam. Gleichzeitig erklang ein bedrohliches Zischen, das aber nach einigen Augenblicken wieder verstummte. Ich zog die Tür auf. »Leer«, stellte ich fest. Der Nachbarraum war verlassen. An einer langen Hakenreihe hingen Raumanzüge, die von einer beachtlich dicken Staubschicht bedeckt waren.
»Diese Schleuse hat seit ein paar Ewigkeiten keiner mehr benutzt«, stellte ich fest. Zusammen mit Demeter musterte ich die Anzüge. Die Träger mußten uns ähnlich sehen - oder gesehen haben. Sie hatten zwei Arme und Beine und einen Kopf, und sie waren ungefähr so groß wie ein Durchschnittsmensch. »Schon wieder Menschen?« fragte Demeter halblaut. »Seltsam.« Ich konnte sie gut verstehen. Zwar waren wir in der Milchstraße noch nicht sehr weit herumgekommen, weder räumlich noch zeitlich, aber dennoch war es sehr verwunderlich, wie viele Völker wir getroffen hatten, die biologisch mit uns Menschen verwandt waren. Zwischen Glyssaanern und Terranern gab es zwar Unterschiede, aber die interessierten nur Spezialisten - eine Zellprobe hatte jedenfalls ergeben, daß Glyssaaner und Menschen Kinder haben konnten, und das war mit Sicherheit kein Zufall. Daß sich die Fern in Menschengestalt präsentierten, war Absicht; sie waren Gestaltwandler und traten stets in irgend einer Maske auf. Und jetzt die Bewohner dieses Riesenschiffs, elf Jahrtausende in der Vergangenheit - schon wieder Menschen? »Suchen wir weiter«, schlug Demeter vor. Auch der nächste Raum war verlassen, desgleichen der Nachbarraum. So ging es eine Zeitlang weiter. Als wir uns der nächsten Tür näherten, waren dahinter Stimmen zu hören. Ich sah Demeter an, sie machte ein zufriedenes Gesicht. Ich trat an die Tür und klopfte. Was mochte jetzt in den Gehirnen auf der anderen Seite vorgehen? Wahrscheinlich wußten die Fremden, daß der Weg zur Schleuse verlassen war. Wenn auf diesem Weg jemand kam, dann mußte er das Schiff von außen betreten haben. Rechneten sie mit völlig Fremden oder mit einem Außenbordreparaturtrupp, der sich einen Noteinlaß verschafft
hatte? Unser Signal war gehört worden. Jemand öffnete die Tür. Ich schluckte. Auf der Schwelle stand ein Roboter, eine Maschine mit zwei Armen und Beinen, grob dem Vo rbild eines Menschen nachgeformt, abgesehen vom Gesicht und dem Schädel. Diese beiden Teile des Robotkörpers waren einem menschlichen Vorbild sehr genau nachgebildet worden. Zu sehen war ein Kopf, der vollkommen von einer feinschuppigen goldfarbenen Metallhaut überzogen war. Der Kopf hatte Augen, die leicht rötlich schimmerten, er wies zwei Ohren auf, und der Mund enthielt prachtvoll weiße Zähne. Der Körper des Robots war bemalt, ein verwirrendes Muster aus Punk ten und Streifen zog sich über die ganze Gestalt. »Hallo!« ertönte es aus unserem Translator. Der Robot stand gegen die Türzarge gelehnt und grinste uns freundlich an - ungefähr wie ein menschlicher Gastgeber, der neue Gäste zu seiner Feier willkommen heißt und dessen Laune durch ein wenig Alkohol bereits aufgeheitert ist. Im Hintergrund sah ich weitere Robots, auch sie trugen menschliche Gesichter, zu meiner Verblüffung mit durchaus individuellen Zügen. Auch sie sahen uns vergnügt an. Mit einer eleganten Bewegung forderte uns der Robot auf einzutreten. Verwirrt stolperte ich über die Schwelle. »Ich bin Chaxan«, erklang es aus dem Translator. Chaxan verlängerte seinen Mittelfinger und steckte ihn in eine Buchse unseres Translators. Mit geschlossenen Augen hielt er den Kontakt für eine halbe Minute aufrecht, dann zog er den Finger wieder zurück. »Nun können wir vernünftig miteinander reden«, sagte er dann tadellos akzentuiert. »Wer seid ihr?« Demeter stellte uns vor, danach winkte Chaxan seine Gefährten heran. Ghasdor, Opron, Öllenker und einen Robot mit unverkennbar weiblichen Zügen, der Shatyra hieß.
Die Szene hatte etwas Alptraumhaftes für mich. Die Robots führten sich überhaupt nicht wie Robots auf - sie benahmen sich wie Menschen bei einer fröhlichen Geselligkeit. Und einen Robot, der seine Sätze mit einem ironischen Unterton versehen konnte, hatte ich auch noch nicht erlebt. »Ihr habt vermutlich eine weite Reise hinter euch«, sagte Chaxan grinsend. »Was können wir euch anbieten? Was ist in eurer Sektion üblich?« Er hielt mir ein Glas unter die Nase; der Inhalt, dickflüssig und bernsteinfarben, roch nach Alkohol. »Hoffentlich kein Maschinenöl«, sagte ich. »So etwas vertragen wir nicht.« »Ah, ihr seid biologisch«, rief Chaxan aus. »So welche haben wir in unserer Sektion noch nie gesehen. Sei unbesorgt, du kannst es ruhig trinken.« Ich nippte an dem Getränk. Es schmeckte hervorragend, sehr fruchtig-aromatisch. »Wir sind aus keiner Sektion«, sagte Demeter freundlich. Chaxan begann zu lachen, seine Gefährten fielen in das Gelächter ein. »Glaubt ihr den Unsinn wirklich?« fragte Chaxan kichernd. »Ich weiß, daß davon gefaselt wird, aber ich weiß, daß es nichts außer den Sektionen gibt - vielleicht ein paar, die wir noch gar nicht kennen, aber außer den Sektionen gibt es nichts.« »Ich fürchte, wir werden euer Weltbild ins Wanken bringen müssen«, antwortete Demeter. Der Blick, mit dem Chaxan die Chefin musterte, gefiel mir überhaupt nicht, weder als Mitarbeiter der Time-Squad noch als Ehemann. Wenn dieser Robot nicht mit Demeter flirten wollte, dann wollte ich nicht länger Tovar Bistarc heißen. »Gut, erzählt uns eure Geschichte«, sagte Chaxan. »Aber setzt euch zunächst einmal.« Die Möbel waren auf menschliche Bedürfnisse zugeschnitten,
weiche Polster, auf denen man sich herumlümmeln konnte. Die Einrichtung des Raume s hätte auf der Erde keinerlei Aufsehen erregt - allerdings hätte man dort über die Bewohner dieser Räume sicherlich gestaunt. »Wenn ihr nicht aus einer weit entfernten Sektion kommt, woher dann?« fragte Chaxan. Er hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht, die Beine lässig übereinandergeschlagen, und hielt das Glas mit zwei Fingern. Dazu lächelte er Demeter freundlich an. Mir gegenüber saß Shatyra, die mir freundlich zuzwinkerte. Ich sah an ihrer linken Hand einen Ring mit einem funkelnden Kristall daran; mit der Rechten spielte Shatyra an diesem Ring herum, schien ihn vom Finger schieben zu wollen, wieder zurückzuschieben und so fort. »Machen wir es andersherum«, schlug Demeter vor. »Ihr erzählt uns, was ihr über euch wißt, und wir werden erklären, in welchen Punkten wir von euch unterschiedlich sind.« »Meinetwegen«, sagte Chaxan und lehnte sich weiter zurück. »Dies ist unsere Welt, und sie heißt Glyss. Es gibt sie vom Anbeginn aller Zeiten, und sie wird bestehen bis zum Ende aller Zeiten. Ich komme mir etwas komisch vor, euch das zu erklären, denn ihr gehört zweifelsfrei zu Glyss, wie wir auch. Daß ihr biologisch seid, ist in diesem Zusammenhang ziemlich unwesentlich. Glyss besteht aus einer großen Zahl von Sektionen, in denen viele Wesen leben, manche natürlich wie wir, andere mehr biologisch. Das soll kein Werturteil sein.« »Akzeptiert«, antwortete Demeter. Ich mußte aufpassen, der Alkohol stieg mir unglaublich schnell zu Kopf. Oder war noch irgendeine Droge in dem Zeug? Und was machte ein Roboter mit Alkohol? Glyss nannten die Roboter das Riesenschiff, in dem sie lebten. Es bedurfte keiner besonderen Kombinationsgabe, um die Querverbindung zu Glyssaan herzustellen - das Riesenschiff war die Keimzelle des Imperiums von Glyssaan.
Aber Glyssaan war kein Robotimperium, wenn dieses Gigantschiff etwas mit Glyssaan zu tun hatte, dann mußte es an Bord auch Menschen geben. »Woher kommt ihr?« fragte Demeter. »Kommen? Vom Fertigungsband selbstverständlich, ihr etwa nicht?« Demeter lächelte verhalten. »Wir werden nicht gefertigt«, sagte sie zögernd. »Außerdem bezog sich meine Frage nicht auf euren Ursprung, sondern auf den Ort, von dem eure Welt losgeflogen ist, wo die Sektionen entstanden sind.« Tiefe Betroffenheit malte sich auf Chaxans Zügen. »Ich verstehe diese Frage nicht«, sagte er langsam. »Ich bin verwirrt. Ich spüre, daß die Frage sinnvoll und logisch ist, aber ich kann sie nicht beantworten.« Demeter und ich wechselten einen raschen Blick. Es war sinnlos weiterzufragen - die Roboter wußten offenbar nicht, daß sie im Inneren eines überdimensionalen Raumschiffes lebten, und auf alle Fragen, die sich darauf bezogen, würden wir keine brauchbare Antwort bekommen. »Wo können wir etwas über die Geschichte von Glyss erfahren?« fragte Demeter. »Geschichte?« »Informationen über Ereignisse, die sich vor eurer Fertigstellung ereignet haben«, präzisierte Demeter. »Es gibt keine solchen Informationen«, erklärte Chaxan verwirrt. »Wir alle wissen alles, was es zu wissen gibt - mehr Wissen ist nicht denkbar.« »Ihr wißt wenig über uns«, sagte Demeter. »Und es gibt noch eine Menge Informationen, die ihr von uns bekommen könntet, beispielsweise ...« Durch den Raum ging ein Vibrieren. Ich zuckte zusammen. Die Mienen der Roboter zeigten keine Veränderung. »Was hat dieses Zittern zu bedeuten?« fragte Demeter,
obwohl sie sich ebenso wie ich ausrechnen konnte, daß wir gerade die Nebenwirkungen eines Hyperraummanövers miterlebt hatten. »Nichts weiter«, antwortete Chaxan. »Nur ein Zeichen dafür, daß Glyss lebt - einer seiner Atemzüge.« »Glyss lebt?« fragte ich ungläubig. »Selbstverständlich«, antwortete Chaxan. »Gäbe es uns sonst? Glyss ist, war und wird immer sein, und Glyss lebt, wie wir und ihr.« Demeter deutete auf die Leuchtkörper an der Decke. »Woher kommt die Energie dafür? Und wo wird darüber entschieden, was wann und wo gemacht wird?« Die Gesichter gegenüber versteinerten. Chaxan sah Demeter unverwandt an. »Frage das nie wieder«, sagte er leise. »Niemals, hörst du? Es ist verboten, über solche Dinge zu sprechen.« Ich sah, daß Demeter lächelte. Langsam kamen wir dem Kern der Angelegenheit näher. Die Glyss-Roboter führten ein angenehmes Leben, und sie genossen es in vollen Zügen. Die fünf, auf die wir gestoßen waren, zeigten uns bereitwillig ihre Sektion. Dazu gehörte der Teil der Röhre, durch den wir das Schiff betreten hatten, eine der großen Kugeln des Zentralkörpers und Teile weiterer Röhren. Insgesamt lebten dort fast viertausend Maschinenmenschen. Ich wurde aus diesen Robotern nicht schlau. Wenn man einmal die standardisierten Konstruktionsmerkmale ihrer Rümpfe außer acht ließ, entsprachen sie in ihren wesentlichen Zügen Menschen. Jedes Gesicht hatte individuelle Züge, und ich stellte mit nicht geringer Verwunderung fest, daß es sogar Jugendliche, Kinder und Greise gab. Bei älteren Modellen zeigte die Gesichtsoberfläche immer grauer werdende Schuppen, außerdem alle anderen Altersmerkmale einigen fehlten Zähne, andere hatten Falten und Runzeln, es gab
Hörschäden und kopierte Körpergebrechen. Und jeder dieser Roboter schien von unserer Anwesenheit nicht im geringsten beeindruckt zu sein. »Das ist unsere Sektion«, erklärte Chaxan am Ende des Rundganges. »Gefällt sie euch?« Ich war sehr beeindruckt. Alles war vorhanden, um sich wohl fühlen zu können, es fehlte nicht an Luxus und Komfort. Nur eines fehlte - außer uns gab es nichts Biologisches in dieser Sektion zu sehen, keine Pflanzen, keine Tiere. Und unter diesem Gesichtspunkt war die Sektion der Glyss-Roboter eine unerfreuliche, sterile Welt, in der ich es nicht lange würde aushalten können. »Kann man von hier aus auch andere Sektionen besuchen?« fragte Demeter. »Was wollt ihr dort?« fragte Chaxan zurück. »Wir sind sehr neugierig«, antwortete Demeter knapp. »Es geht, aber ich rate euch davon ab«, erklärte Chaxan. »Wir haben Kontakt mit drei Nachbarsektionen. In einer leben Glyss-Geschöpfe wie wir, die beiden anderen werden von den Homs kontrolliert, und mit denen solltet ihr euch besser nicht befassen.« »Homs? Was sind das für Geschöpfe?« »Ich kann sie euch zeigen«, sagte Chaxan mit sic htlichem Widerwillen. »Wir haben Bilder von dieser Sektion.« In dem Ruheraum, in den man uns geführt hatte, gab es neben einer Unmenge von elektronischem Spielzeug auch ein paar Bildschirme, über die meist triviale Filme liefen - Schnulzen und Abenteurergeschichten, deren Helden Glyss-Roboter waren. Die Filme waren in einem sehr aufwendigen und perfekten, aber dennoch als Trick erkennbaren Verfahren gedreht worden - hergestellt wahrscheinlich von einem für diesen Zweck speziell programmierten Rechner. Chaxa n schaltete einen der Projektoren ab und rief das Datenmaterial ab.
Auf dem Bildschirm war nun ein Hom zu sehen. Ich sah Demeter an. Ihre Züge wirkten wie versteinert. Die Homs waren Menschen, wie wir auch. Und der Zufall wollte es, daß uns zwei der dargestellten Homs außerordentlich bekannt vorkamen - es waren die lebenden Gegenstücke zu Chaxan selbst und zu Shatyra. Die Übereinstimmung der Gesichtszüge war frappierend. »Keine bewegten Bilder?« fragte Demeter. Chaxan schüttele den Kopf. Er führte uns weitere Exemplare der Homs vor, auch diese Gesichter kamen uns bekannt vor - auch sie hatten Gegenstücke unter den Glyss-Robotern. Ich hatte den Verdacht, daß es für jeden Glyss-Roboter einen Hom gab und umgekehrt. »Wir haben genug gesehen«, meinte Demeter schließlich. »Außerdem sind wir müde, falls du etwas mit dem Begriff anfangen kannst.« »Natürlich«, antwortete Shatyra. »Ich bin nämlich auch sehr müde und möchte gern schlafen. Ihr bleibt bei uns, nicht wahr? Wir werden euch Unterkünfte anweisen.« »Wir danken euch dafür«, meinte Demeter. Als wir endlich allein waren, stieß sie einen Seufzer aus. Sie setzte sich auf die Kante des breiten Bettes. »Unglaublich«, murmelte sie. »Roboter, die müde werden, Alkohol trinken und Witze machen können. Ist dir etwas aufgefallen?« »Man hat uns zwar freundlich aufgenommen, aber auch ohne große Formalitäten.« »Richtig«, bestätigte Demeter. »Keinerlei Bürokratie, die eine Entscheidung hätte fällen müssen, keine Paßkontrolle - wir sind da, man ist freundlich zu uns und das ist alles. Und unter den Glyss-Robotern scheint es keinerlei Hierarchie zu geben, sie sind untereinander völlig gleichberechtigt. Außerdem leben sie völlig geschichtslos und sind bemerkenswert schlecht informiert über die tieferen Zusammenhänge ihrer Existenz.«
»Und das sollen die Begründer des Imperiums von Glyssaan sein?« warf ich ein. Demeter zuckte mit den Schultern. »Wir werden feststellen, was es damit auf sich hat«, sagte sie und griff nach dem kleinen Funkgerät. Sie stellte den Lautsprecher auf leise Wiedergabe, dann funkte sie die TACCANTHA an. »Chefin, endlich melden Sie sich«, konnte ich hören. »Was ist passiert?« »Nichts Gefährliches«, gab Demeter zurück. »Hat das Schiff einen Flug durch den Hyperraum gemacht? Wenn ja, wo sind wir jetzt?« »Sie werden es nicht glauben, Chefin, aber wir sind ...« »Im Glyssaan-System«, unterbrach Demeter. »Woher wissen Sie das?« »Ganz einfach, das Schiff wird von seinen robotischen Bewohnern Glyss genannt. Die Zusammenhänge müssen wir erst noch erforschen. Ich schlage vor, daß ihr ein Kommando zusammenstellt, das unserem Beispiel folgt. Dringt durch die gleiche Schleuse ein wie wir.« »Und wenn man uns bemerkt?« »Die Roboter sind sehr freundlich«, antwortete Demeter. »Außerdem schlafen sie gerade.« Sie wandte den Kopf und deutete auf die Tür. »Sieh nach«, sagte sie leise. Ich öffnete. Auf dem Gang war die Beleuchtung stark reduziert worden. Außerdem war es sehr still. »Die Robots tun was? Schlafen?« »Diese Roboter schlafen, und sie trinken Alkohol und machen Witze. Wenn wir herausfinden wollen, was das zu bedeuten hat, brauchen wir Verstärkung. Ich erwarte euch in vier Stunden an der Schleuse. Ende!« Demeter trennte die Verbindung, streckte sich auf dem Bett aus und war nach ein paar Sekunden eingeschlafen.
Mir war nicht nach Schlafen zumute. Ich versuchte, die Situation durch fleißiges Nachdenken zu klären, obwohl ich sehr genau wußte, daß ich dadurch kein Problem gelöst bekam. Was hatte es mit dem Raumschiff GLYSS auf sich? Woher stammte der Name, der in den Namen des Imperiums eingehen sollte? Stammte er aus der Vergangenheit des Schiffes? Oder kam er durch einen weiteren Zirkelschlag durch die Zeit von der fernen Zukunft in diese Vergangenheit? Was mich besonders irritierte, war der Umstand, daß wir das Schiff überhaupt getroffen hatten. Handelte es sich dabei um ein Zeitphänomen oder um das, was der große Psychologe C. G. Jung »akausale Synchronizität« genannt hatte? Ich genehmigte mir aus den reichhaltigen Beständen der Glyss-Robots einen weiteren Drink. Nachdem ich das Glas langsam geleert hatte, überkam mich die Abenteuerlust. An Schlaf war bei meiner Aufregung nicht zu denken, und es konnte schließlich nicht schaden, wenn ich auf eigene Faust weitere Daten zu sammeln versuchte. Leise schlich ich mich aus dem Zimmer. Ich hatte mich nicht geirrt - nirgendwo auf den Gängen und Fluren fand sich ein Regler für die Leuchtkörper, die jetzt nur ein trübes Dämmerlicht abgaben. Entweder wurden sie einzeln von entsprechenden Reglern gesteuert, oder aber, was mir weit wahrscheinlicher erschien, es gab einen zentralen Regler, und der überwachte vermutlich nicht nur die Beleuchtung, sondern auch eine Vielzahl anderer Funktionen an Bord. Die Versorgung mit Atemluft und Wasser, mit Lebensmitteln und Ersatzteilen für die Robots, und irgend jemand mußte schließlich auch den Hyperraumsprung des Schiffes veranlaßt und überwacht haben. Wahrscheinlich gab es an Bord der GLYSS einen Herrscher im Verborgenen, und wenn die Robots die vorherrschende Lebensform an Bord waren, dann handelte es sich bei diesem Herrscher wahrscheinlich um eine Positronik.
Es mußte so sein - mir fiel ein, daß nur Chaxan Kontakt mit unserer Translatorpositronik gehabt hatte, nicht aber seine Gefährten. Aber auch sie hatten nach diesem Kontakt unsere Sprache gesprochen - sogar wenn wir ihnen gar nicht zuhörten und sie sich privat unterhielten. Irgendwo mußte es eine Möglichkeit geben, mit dieser zentralen Positronik Kontakt aufzunehmen, und ich suchte nach dieser Möglichkeit. Ich fand sie erst nach einigem Suchen, und bei diesem Herumstöbern machte ich einige Entdeckungen, die Computerfachleuten hätten graue Haare wachsen lassen. Aus einem Zimmer drangen Schnarchlaute in einer geradezu furchterregenden Lautstärke, und als ich schamlos nachsah, entdeckte ich im Inneren einen schlafenden Robot, der sogar unter den geschlossenen Metallidern die Augen bewegte, als wäre er in einer Traumphase. In einem schummrigen Winkel stieß ich auf zwei halbwüchsige Robots, damit beschäftigt, den mir nicht vorstellbaren Unterschied zwischen Roboter-Knaben und Roboter-Mädchen zaghaft zu erkunden: Obwohl ich vor Neugierde fast verging, zog ich mich diskret zurück und überließ die beiden ihrem Vergnügen. Hinter der Bar im großen Aufenthaltsraum stolperte ich auf der Suche nach einem Erfrischungsgetränk über einen sturzbetrunkenen Robot, der nur noch lallen konnte und vor meinen Augen zeitlupenhaft langsam zu Boden ging und alle Extremitäten von sich streckte. Um den Greis, der vor dem Bildschirm eingeschlummert war, kümmerte ich mich nicht weiter. Langsam keimte in mir der Verdacht auf, daß sich hier jemand einen Heidenspaß damit machte, uns zu nasführen. Allerdings hätte das zur Voraussetzung gehabt, daß dieser Jemand die Psyche eines Erdenmenschen sehr gut kannte, und diese Möglichkeit erschien mir extrem unwahrscheinlich.
In einer abgelegenen Kammer stieß ich endlich auf das, was ich suchte. Ein Bildschirm, davor ein flaches Pult mit einer Tastatur. Die Tasten waren mit Zeichen bedeckt, die ich nicht deuten konnte - abgesehen von einem säuberlich abgegrenzten Zehnerfeld, das höchstwahrscheinlich für mathematische Operationen benötigt wurde. Probeweise drückte ich einen der Knöpfe nach dem anderen, die größten zuerst, in der Hoffnung, irgendwann den Befehl auszulösen, der den Rechner aktivierte. Nach ein paar Fehlversuchen gelang es mir, den Bildschirm zu aktivieren. Der Monitor zeigte ein menschliches Gesicht, eine Art Maske, gefertigt aus einem Material, das ich bereits bestens kannte - jenem schwarz-gold-weißen Marmor, aus dem auch die große Halle des geheimen glyssaaner Archivs bestand. Die Verbindung zwischen dem Schiff und dem Imperium wurde immer deutlicher - diesen absonderlichen Marmor hatten die Glyssaaner dazu benutzt, ihre Staatsgeheimnisse in verschlüsselter Form für die Ewigkeit aufzubewahren. Der Trick der Nachrichtenverschlüsselung bestand darin, daß jeder Nachrichtenblock in Einzelbilder aufgelöst und diese Einzelbilder so ineinander verwoben wurden, daß sie völlig verschwunden zu sein schienen, wie bei den hinlänglich bekannten Vexierbildern, allerdings ein paar Zehnerpotenzen schwieriger. Während ich das Gesicht betrachtete, dessen Konturen sich immer wieder unmerklich änderten, versuchte ich mir darüber klar zu werden, was allein diese Information schon bedeutete. Positronisches und menschliches Denken unterschieden sich in zwei Punkten. Der erste bestand darin, daß ein Rechner dem Menschenhirn in der Schnelligkeit weit überlegen war, ein Pluspunkt für den Computer. Der zweite, weitaus gewichtigere Unterschied bestand in der eigentümlichen Fähigkeit des Menschen, die wahrgenommenen Daten gleichsam zu sortieren und zu strukturieren. Für einen Rechner bestand die Welt aus
einer Überfülle von einander gleichwertigen Daten, mit denen er bestens umgehen konnte; der Mensch aber war imstande, diese Informationen zu Ganzheiten zusammenzufassen, Wichtiges hervorzuheben und Unwichtiges zu vernachlässigen. Es hatte einer unerhörten Arbeit bedurft, bis es gelungen war, einem Schachprogramm beizubringen, bedeutende Züge von völlig sinnlosen zu unterscheiden - eine Aufgabe, die ein Mensch in Sekundenbruchteilen vollbringen konnte, kostete einen Rechner eine immense Rechenarbeit. In einem frühen Computerprogramm zur Nachahmung von echter Intelligenz hatte man dem Rechner beispielsweise befohlen, die Worte seines Gegenübers nach der Häufigkeit zu sortieren und Worte mit häufigem Erscheinen für besonders wichtig zu halten - mit dem Ergebnis, daß der Computer auf die Frage: »Wo steht der Tisch?« mit der klaren Aussage antwortete: »Unter dem Whiskyglas«, weil der Whisky in der vorangegangenen Unterhaltung weitaus häufiger erwähnt worden war als der Tisch. Diesen Fehler hätte kein normaler Mensch begangen. Was ich auf dem Bildschirm sah, war vermutlich das Symbol für die Autorität an Bord der GLYSS - das Abbild eines Menschen, das für einen Rechner ungleich schwieriger zu erfassen war als ein mathematisch abstraktes Symbol. Die oberste Instanz an Bord der GLYSS mußte daher zwangsläufig ein lebendes Wesen sein - oder zumindest bei der Konstruktion gewesen sein. Die Roboter waren dann bestenfalls die Kopien der Erbauer, ihre Erben vielleicht. »Ich wüßte gerne, wer du bist«, murmelte ich. »Glyss«, erklang es aus dem kleinen Lautsprecher. Ich schrak zusammen. »Du sprichst meine Sprache?« »Ja.« »Wer bist du?«
»Glyss.« Ich schalt mich einen Narren, daß ich die Konversation mit solchen Albernheiten eröffnete. »Was bist du?« Ich ahnte, wie die Antwort lauten würde. »Glyss.« »Kannst du das spezifizieren?« »Ja.« Auf diese Weise kamen wir nicht weiter, ich entschloß mich zu einer anderen Methode. »Du bist eine Positronik?« »Ich bin Glyss!« bekam ich zu hören. Es mußte eine Positronik sein, anders konnte ich mir die stumpfsinnige Wortkargheit meines Gesprächspartners nicht erklären. »Wo kann ich dich finden?« wollte ich wissen. »Du findest mich überall. Du bist in mir.« »Dann bist du das Schiff?« »Ich bin Glyss.« »Du kannst dich durch den Hyperraum bewegen, nicht wahr?« »Zutreffend.« »Was ist das Ziel dieser Reise?« »Es gibt kein Ziel«, antwortete Glyss. »An welchem Punkt willst du deine Reise beenden?« »An keinem Punkt. Mein Befehl lautet zu reisen, nicht anzukommen.« Ich stieß einen leisen Pfiff aus; wenn dem so war, machte es natürlich Schwierigkeiten, die Bewohner des Schiffes über die wahren Zusammenhänge zu informieren. »Seit wann reist du durch die Milchstraße?« »Seit meiner Erbauung.« »In Zahlen, bitte!« »Auskunft kann nicht erteilt werden, Zugriff unzulässig.«
»Von welchem Punkt ist diese Reise ausgegangen?«
»Keine Auskunft, Zugriff unzulässig.«
»Wer hat dich erbaut?«
»Information nicht bekannt.«
»Kennst du den Zweck dieser Reise?«
»Nein.«
»Hm«, machte ich. Dem Zustand des Schiffssammelsuriums
nach zu schließen, war Glyss bereits geraume Zeit unterwegs, vielleicht seit Jahrtausenden. Seither durchflog es die Milchstraße ohne Ziel und Zweck. »Nach welchen Kriterien wird dein Kurs bestimmt?«
»Zufall«, antwortete Glyss.
Ich ahnte, daß diese Befragung meine Neugierde nicht stillen
würde. Vermutlich unterlagen alle Daten über den Beginn der Reise, die uns hätten Aufschluß geben können, einer strengen Überwachung, vielleicht waren sie beim Start des Schiffs auch absichtlich gelöscht worden. »Gibt es einen Grund, weshalb die Roboter nicht wissen, daß sie im Inneren eines Schiffes leben?« »Ich bin kein Schiff, ich bin Glyss.« »Bis t du in der Lage, dich selbst zu definieren? Wenn ja, bitte ich um diese Definition.« »Antwort unzulässig.« »Das Abbild, das ich auf dem Bildschirm sehen kann, was stellt es dar?« »Mich, Glyss.« »Es ist das Abbild eines menschlichen Gesichts - heißt das, daß du biologischen Ursprungs bist?« »Ich habe keinen Ursprung - ich bin Glyss.« Ich gab es auf und schaltete ab. Hier mußten Spezialisten ans Werk - die Gedankengänge von Glyss waren mir zu kraus, als daß ich sie hätte verstehen können. Außerdem wurde es langsam Zeit, Demeter zu wecken.
5.
»Das Schiff ist fest verankert«, berichtete Imhotep. »Wenn es nicht entdeckt wird, wird es jeden Hyperraumsprung mitmachen.« »Sehr gut«, sagte Demeter. Sie wirkte frisch und ausgeruht, die wenigen Stunden Schlaf hatten ihr gutgetan. »Sehen wir uns jetzt die Nachbarsektion an.« Der Weg war einfach zu finden - wir mußten nur nach Verlassen der Schleuse in die andere Richtung gehen. »Dieser Weg ist lange nicht mehr benutzt worden«, stellte Shandrak fest und deutete auf den staubigen Boden. »Die Homs und die Glyss-Roboter mögen einander nicht, obwohl sie im gleichen Schiff leben.« »Nicht in einem Schiff, in Glyss«, mischte ich mich ein und gab schnell meine ermüdende Konversation mit Glyss zum besten. Imhotep und Darcyr schüttelten bedächtig die Köpfe. »Diese Positronik muß zu knacken sein«, sagte Darcyr schließlich. »Ich bin sicher, daß es da irgendwelche Speicher gibt, die alle wichtigen Daten über die Vergangenheit des Schiffes enthalten. Diese Speicher müssen wir finden und anzapfen.« »Vielleicht können die Homs uns weiterhelfen«, hoffte Inky. »Ihr seid sicher, daß es sich um Menschen handelt?« »Zumindest sehen sie so aus«, antwortete ich. Wenn die Homs einen ähnlich geregelten Tagesablauf hatten wie die Roboter, mußten sie jetzt ebenfalls schlafen. Unsere Vermutung bestätigte sich, als wir die Sektion erreichten - auch dort waren die Leuchtkörper auf Dämmerlicht geschaltet. »Hier möchte ich nicht leben«, sagte Inky spontan, als er die ersten Räumlichkeiten sah. Die Sektion wirkte wie eine altmodische Klinik - steril und sauber, fast menschenfeindlich. Kein Schmuck, kein Zierat, nur
kalte, gerade Kanten und Linien. Die gesamte Einrichtung war nur nach Zweckmäßigkeit konstruiert. Während es bei den Glyss-Robotern weiche Polstersessel gab, fanden sich bei den Homs nur Kästen und Vorsprünge, auf denen man sitzen oder liegen konnte. Der Boden bestand aus blankpoliertem Metall, in dem wir uns spiegeln konnten. »So sehen Räume für Menschen aus?« murmelte Inky fassungslos. Hätten Homs und Glyss-Roboter die Sektionen getauscht, wären Bewohner und Umwelt einigermaßen aufeinander abgestimmt gewesen, so aber erschien uns die Kombination geradezu lächerlich. Wir blieben in jenem Raum stehen, der bei den Robotern als Entspannungs- und Ruheraum diente. Wer sich in dem Gegenstück bei den Homs ausruhen wollte, mußte die Mentalität eines Fakirs besitzen. Eine der Wände zeigte eine Reihe von Schubfächern. Ich öffnete eines und fand eine Schublade, die mit intensiv grünen Pillen gefüllt war. Das Nachbarfach enthielt Pillen in Rot, und so ging es in etlichen Farbschattierungen weiter. In gleicher Höhe war ein Wasserhahn angebracht, neben dem ein Behälter mit Plastikbechern hing. Ich hatte den vagen Verdacht, daß diese Wand zur Abfütterung der Homs diente - und diese Vermutung wurde wenig später bestätigt. Ohne uns anzusehen oder ein Zeichen zu geben, daß sie uns erkannt hatte, tauchte eine junge Frau auf, ging zu der Wand hinüber und bediente sich. Sie nahm drei verschiedenfarbige Pillen und spülte sie mit einem Becher Wasser hinunter, dann schickte sie sich an, den Raum zu verlassen. Ich hielt sie am Arm fest, und sie drehte sich herum und sah mich an. »Shatyra!« rief ich unwillkürlich aus. Es war das lebende Gegenstück zu dem Maschinengesicht,
das wir in der Nachbarsektion kennengelernt hatten. Diese Shatyra hatte weichere Züge und hätte sicherlich bemerkenswert hübsch ausgesehen, wäre ihre Haut nicht kreideweiß gewesen und ihre Augen völlig ausdruckslos. Sie wirkte auf mich ... Demeter sprach aus, was mir in diesem Augenblick durch den Kopf schoß. »Ein lebender Roboter«, sagte sie leise. »Vertauschte Rollen«, ergänzte Imhotep. »Während die Glyss-Roboter ausgesprochen menschliche Verhaltensweisen an den Tag legen, führen sich die Homs auf, als wären sie Maschinen.« »Was hat das zu bedeuten?« fragte Inky. Ich sah, daß Darcyr den Blick nicht von Shatyra wandte; sie erwiderte diesen Blick nicht, schien einfach durch uns hindurchzusehen. »Wo sind die anderen?« fragte ich Shatyra. »Ruheperiode«, antwortete sie, ohne mich anzusehen. Ihre Stimme klang tonlos, wie die einer Sprechpuppe. »Du wirst uns begleiten«, bestimmte Demeter. »Ich gehorche«, lautete Shatyras Antwort. »Zeige uns alle Räume, die wir nicht betreten dürfen«, fuhr Demeter fort. »Begründung?« »Damit wir die Gebote einhalten können«, antwortete Demeter. »Dann folgt mir«, sagte Shatyra und ging los. Ihre Bewegungen waren gleichmäßig und geschmeidig, aber ihnen fehlte alles Spontane. Sie wirkte wirklich wie eine lebende Maschine, ein entsetzlicher Anblick. »Was hat die Homs so gemacht?« fragte ich leise. Demeter zuckte mit den Schultern. »Wir werden es feststellen«, gab sie ebenso leise zurück. Während Shatyra uns durch die Sektion führte, versuchte ich mir den Weg einzuprägen. Das war alles andere als einfach - es
gab zwischen den einzelnen Räumen, Gängen und Fluren kaum einen Unterschied. Vor einer stählernen Tür blieb Shatyra stehen. »Zutritt untersagt«, erklärte sie und deutete auf die Tür, dann wollte sie weitergehen. Darcyr hielt sie fest. »Was ist hinter der Tür?« forschte er. »Nichts«, antwortete Shatyra. »Das werden wir überprüfen«, sagte ich und schob die beiden zur Seite. Die Tür war verriegelt, aber sie ließ sich auch nicht öffnen, nachdem ich den Riegel verschoben hatte. Ich versuchte mir vorzustellen, wo wir uns befanden. Dieser Raum befand sich mitten in einer der Röhren, die die Schiffskugeln miteinander verbanden. Wenn wir auf diesem Weg weiter vordrangen, mußten wir die Zentralkugel erreichen. Vermutlich war der Zugang aus eben diesem Grund verboten. »Ich werde das Ding öffnen«, versprach ich grimmig. Ich zog meinen Laser und schoß damit auf das Schloß. Funken sprühten auf, als der Lichtstrahl auf das Metall traf und es zu schmelzen begann. »Ihr geht besser einen Schritt zurück«, schlug ich vor. »Sonst brennt ihr euch noch Löcher ins Fell.« Es dauerte lange, bis ich das Schloß herausgeschnitten hatte. Shatyra sah meinen Bemühungen regungslos zu. Darcyr stand neben ihr und betrachtete ihr Gesicht. Ich unterdrückte ein Schmunzeln. Shatyra mochte eine attraktive Frau sein, aber um nichts in der Welt hätte ich mich mit einem solchen Robot aus Fleisch und Blut abgeben wollen. Außerdem war Demeter natürlich viel attraktiver. Immerhin, solange Darcyr mit dem Robotmenschen beschäftigt war, konnte er schlecht mit Demeter flirten, und das war mir nur recht. Mit dem Messer hebelte ich das Schloß aus der Fassung. Es landete polternd auf dem Boden. Ein kräftiger Fußtritt ließ die Tür aufschwingen. Dahinter war
es dunkel. »Handscheinwerfer!« sagte ich. Inky drückte mir den Strahler in die Hand. Ich fand den Lichtschalter für den Raum sehr schnell, aber als ich ihn betätigte, geschah nichts. Die Beleuchtung mußte ausgefallen sein. Prüfend zog ich die Luft durch die Nase - es war der gleiche Geruch wie an anderen Stellen im Schiff. Die Belüftung mußte also noch funktionieren. Langsam ging ich vorwärts, Demeter hielt sich dicht hinter mir, den Nadler schußbereit in der Hand. Darcyr zerrte Shatyra hinter sich her. »Seht ihr?« sagte ich und leuchtete die Wände ab. »Kampfspuren!« Deutlich waren die Schmelzspuren an den Wänden zu sehen. Hier mußte ein erbitterter Kampf mit Handfeuerwaffen ausgetragen worden sein. Aber wer hatte gegen wen gekämpft, und warum? »Zutritt verboten!« stieß Shatyra hervor. Ich sah, daß sie zu zittern begonnen hatte. Es war zwar nicht das, was ich ihr wünschte, aber wenigstens eine erste gefühlsmäßige Reaktion von ihr. Ihr Gesicht schien noch bleicher geworden zu sein, die Augen bewegten sich schnell hin und her. Wieder wurde uns der Weg von einer Tür versperrt. Dieses Mal ließ sich das Hindernis auf normalem Wege beseitigen. Dahinter fanden wir einen Maschinensaal - eine riesige Halle, vollgepackt mit einer uns unbekannten Maschinerie, die arbeitete. Es gab Kabel und Röhren, eine Menge Instrumente, deren Sinn wir nicht verstanden, und eine Fülle von blechverkleideten Apparaturen, die leise Arbeitsgeräusche produzierten. Vor einem Schaltpult stand ein Drehhocker, dessen Bezug abgewetzt war. Und auf dem Pult lag ein schmutziger Handschuh, Ich ging hinüber und hob den Handschuh auf, »Seit wann mag der hier liegen?« fragte ich halblaut. »Zwei
Minuten oder zwei Jahrtausende?« Shandrak und Charriba, beide hervorragende Fährtenleser, machten sich an die Arbeit. Charriba war es, der schließlich den wichtigen Hinweis fand - einen Essensrest, »In diesem Raum wird gearbeitet«, stellte er fest. »Das Personal ist wahrscheinlich irgendwo in der Nähe. Diese Frucht ist frisch, höchstens zwei, drei Stunden alt.« Ich nahm den Nadler zur Hand. Wir mußten auf Überraschungen gefaßt sein. Sie kam in Gestalt eines Robots, der bei unserem Anblick sofort ein gellendes Piepsen hören ließ. Shatyra erstarrte vor Schreck und riß die Augen weit auf. »Was jetzt?« fragte ich Demeter. »Wohin flieht man, wenn man nicht weiß, wo man ist?« »Dort hinüber!« entschied Demeter. Sie deutete auf eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite der Halle. Wir nahmen die Beine in die Hand und eilten hinüber. Auch diese Tür war nicht verschlossen. »Abriegeln!« ordnete Demeter an, sobald wir auf der anderen Seite waren. Ich ließ den Riegel einrasten und schweißte ihn mit ein paar Laserschüssen fest. Wer immer auf unseren Fersen war, er würde Zeit brauchen, die Tür aufzubekommen. »Hydroponische Tanks«, stellte Darcyr nach einem Rundblick fest. Es sah so scheußlich aus, wie ich mir den Geschmack des Endprodukts vorstellte. In riesigen gläsernen Behältern trieb eine grünliche Masse, warf Blasen und wurde von großen Löffeln durchgerührt. Eine Riesenanlage ließ eine bläuliche Flüssigkeit auf die Oberfläche der Tanks träufeln, vermutlich eine Nährlösung. Der Geruch war nicht übel - kühl und frisch, aber mir graute bei der Vorstellung, diesen Algenbrei verspeisen zu müssen. »Weiter!« Wir folgten dem Produktiongstrang. Je weiter wir kamen, um
so dicklicher und trüber wurde das Gemisch in den Tanks; Antischwerkraftfelder hielten sie knapp eine Handbreit über dem Boden und schoben sie zeitlupenhaft langsam vor sich her. Am Ende der Halle wurde der Inhalt aus den Tanks herausgesaugt und zusammengepreßt; der leicht getrübte Flüssigkeitsrest wurde mit Wasser aufgefüllt und diente nun wieder als neuer Zuchtansatz. So stellte ich mir jedenfalls den Ablauf und den Zusammenhang dieser Prozedur vor. Eine Tür führte uns in den Nachbarraum, auch diese Tür schweißte ich zu. In dieser Halle wurde der Algenbrei weiter zusammengedrückt und getrocknet. Was dabei herauskam, war ein hellgrünes Pulver, das in große Plastiksäcke abgefüllt wurde. »Irgendwo wird sich der Weg dieses Produkts mit Menschen kreuzen«, sagte Demeter le ise. »Suchen wir diesen Punkt.« Wir brauchten nur dem Algenpulver zu folgen. Lastrobots transportierten die Säcke weiter; die Maschinen waren nur für diese Arbeit tauglich, daher gab es auch keinen Alarm, als sie uns zu Gesicht bekamen. Im nächsten Fertigungsabschnitt konnten wir bestaunen, was aus einem solchen Rohstoff alles hergestellt werden konnte; mein Widerwille schlug allmählich um. Besonders anheimelnd fand ich die Rezepturen nicht, schließlich bestand der Verarbeitungsprozeß hauptsächlich darin, die Algenmasse geschmacklich zu variieren und in möglichst verschiedenen Zubereitungsformen auszuarbeiten. Aber was die Apparaturen mit chemischen Zusätzen aus den Algen zu zaubern vermochten, war beeindruckend. Das aus Algen und Zusätzen hergestellte Ersatzfleisch wies sogar ein Fasermuster auf und sah erstaunlich natürlich aus. In einer Bäckerei wurden appetitlich duftende Brote hergestellt, außerdem gab es Suppen, Süßspeisen und vieles andere mehr. »Ich bekomme langsam Hunger«, verkündete ich. »Bediene dich«, schlug Demeter vor, die mich gut genug
kannte, um zu wissen, daß ich solche Ersatzkost verabscheute. Ich warf einen Blick auf Shatyra, die völlig verstört wirkte. Außerdem konnte ich deutlich sehen, daß sie zitterte. Trotz des locker fallenden Umhangs aus weißem Stoff, den sie trug, konnte ich sie heftig atmen sehen. »Kennst du diese Sektion?« fragte ich sie, Shatyra schüttelte heftig den Kopf, dann zuckte sie mit den Schultern. Wieder eine Tür. Ich öffnete. Mindestens vierhundert Augenpaare richteten sich binnen weniger Sekunden auf uns. Wir waren in einer Speisehalle herausgekommen, einem großen Saal mit Tischen und Stühlen. Es waren Menschen, die uns ansahen, einige verblüfft, andere sehr grimmig. Vor allem auf Shatyra fielen viele Blicke. »Festnehme n!« schrie jemand aus dem Hintergrund des Saales. »Sofort festnehmen.« Wir versuchten zu fliehen, aber da tauchten hinter uns Roboter im Gang auf, und deren Reaktionsschnelligkeit hatten wir nichts entgegenzusetzen. Wir hoben die Hände. Eine halbe Minute später waren wir von einer zehnköpfigen Gruppe von Männern und Frauen umringt, die alle einen ähnlichen Umhang trugen wie Shatyra, allerdings in hellgelber Farbe. Jeder der zehn hatte eine Waffe auf uns gerichtet. »Das wird euch teuer zu stehen kommen«, zischte der Anführer der Bewaffneten. »Die haben ja Haare!« rief jemand aus dem Hintergrund. Ich sah, wie dem Sprecher der Waffenträger der Unterkiefer herunterklappte. Er trat einen Schritt auf mich zu und griff mir an den Kopf. »Unglaublich«, staunte er. »Das hat es noch nie gegeben. Könnt ihr euch ausweisen?« »Nicht gegenüber einem Subalternen«, sagte Demeter gelassen. Mußte sie den Mann auch noch provozieren? Unsere
Lage war übel genug. Umringt von nervösen Menschen mit Waffen in den Händen, dahinter eine mehrhundertköpfige Schar von Neugierigen - und allesamt völlig kahl. Die Blicke, die uns trafen, verrieten Wut und Abscheu - offenbar hatten wir gegen ein Tabu verstoßen. »Was soll das heißen?« schrie der Mann und fuchtelte mit der Waffe herum. »Auch noch frech werden, wie?« »Ich will deinen Vorgesetzten sprechen«, sagte Demeter fest. »Das sind keine normalen Waffen«, rief eine Frau aus, die meinen Nadler von allen Seiten betrachtete. »So eine Waffe habe ich noch nie gesehen!« »Wo habt ihr Gesindel euch versteckt, und wie habt ihr das gemacht?« fuhr uns der Anführer an, vermutlich ein Offizier einer schiffsinternen Wachtruppe. »Wir haben uns nicht versteckt«, antwortete Demeter. Sie war wieder einmal außerordentlich kaltblütig und beherrscht. »Bring uns zu deinem Offizier.« »Wie ihr wollt«, zischte ihr Gegenüber, dann warf er einen Blick auf Shatyra, die reglos dastand wie ihr eigener Leichnam. »Und sie sperrt ihr in die rote Kammer, sie hat es nicht anders verdient.« »Sie gehört zu uns, und sie bleibt bei uns«, sagte Demeter energisch, dann lächelte sie freundlich. Ich kannte dieses Lächeln - sie setzte es jedesmal auf, wenn sie jemandem eine hübsche kleine Falle stellte. »Kannst du es dir leisten, in diesem Fall auf eigene Verantwortung zu handeln - und dabei einen Fehler zu machen?« Ich sah, wie der junge Mann sich auf die Lippen biß. Er kam mit der Lage überhaupt nicht zurecht, ein solcher Fall paßte wohl nicht in sein schematisiertes Weltbild. Er war in seiner Ausbildung nicht vorgesehen. »Also gut, abführ en!« Die Robots, die uns den Rückweg versperrt hatten, schlossen
uns ein, einen zweiten Sicherungsring bildeten die menschlichen Wachen. »Hier sind wenigstens beide Gruppen einigermaßen normal«, murmelte Inky. Tatsächlich, ich hatte es in der Aufregung völlig übersehen in dieser Sektion benahmen sich die Menschen wie Menschen, und die Maschinen verhielten sich so, wie sie es üblicherweise taten. Begleitet von bösen und neugierigen Blicken verließen wir den Speisesaal. Auf dem Gang tauchte ein Robot auf, der vorn auf dem Rumpf ein Abbild von Glyss trug. »Ich übernehme das Kommando«, sagte der Robot. Ich erkannte die Stimme wieder - es war Glyss, der da sprach. »Hallo, Glyss!« sagte ich freundlich. Die Schiffsbewohner schnappten nach Luft, einer wurde kreideweiß vor Schreck. »Was wagst du, Kerl?« schrie der Offizier, nachdem er sich vom ersten Schreck erholt hatte. »Ihr habt Befehl, euch zurückzuziehen«, bestimmte der Roboter. »Sofort!« Offenbar genossen an Bord die Roboter eine Vorzugsstellung; die Menschen jedenfalls sahen zu, daß sie sich entfernten. Die Blicke, mit denen sie den Robot betrachteten, deuteten auf Angst hin. Mein Verdacht, daß das Riesenschiff von einem fehlerhaften Robotgehirn kommandiert wurde, verstärkte sich. »Folgt mir«, sagte Glyss. »Wohin?« wollte ich wissen. Der Robot blieb stehen und sah mich kurz an. »Es ist meine Sache, hier Fragen zu stellen. Also schweigt. Ihr werdet Gelegenheit bekommen, euch zu rechtfertigen. Dann wird das Urteil vollstreckt werden.«
6.
Überlebensgroß war das Abbild von Glyss an der Stirnwand des Raumes. Genau wie die Abbildung auf dem Bildschirm veränderte sich auch diese Maske ununterbrochen - und wieder glaubte ich für einen kurzen Augenblick, Shatyras Züge darin wiederzuerkennen. Neben mir schnappte Darcyr nach Luft. Unsere Blicke trafen sich, dann sah er mit großer Verwunderung Shatyra an. Offenbar hatte er die gleiche Beobachtung gemacht wie ich. Unter der Riesenmaske stand ein breiter Tisch, die Arbeitsfläche für einen Menschen, den man sich rundlicher und freundlicher kaum vorstellen konnte, die personifizierte Gemütlichkeit. Ich ahnte, daß dieser Eindruck gewollt war und vermutlich grundfalsch. »Ihr könnt euch setzen«, erklärte der Dicke und deutete auf eine Gruppe von Sesseln, die vor dem Schreibtisch standen. Die Robotwachen bauten sich an der Tür auf, der Maskenrobot blieb unmittelbar hinter uns stehen. Ich sah mir die Maske an der Wand an und entdeckte im linken Auge ein Funkeln, das rechte war getrübt. Ich vermutete, daß im einen Auge eine Optik, in dem anderen ein Mikrofon verborgen war. Der freundliche Glatzkopf war also auch nur ein Untergebener. »So, nun könnt ihr mir eure Geschichte erzählen«, sagte er und lächelte uns freundlich an. »Ich bin sehr gespannt.« Daß wir einen Translator benutze n mußten, um uns verständlich machen zu können, nahm unser Gegenüber kommentarlos zur Kenntnis. Ebenso ruhig und gelassen hörte er sich Demeters Geschichte an. Wie immer drückte sie sich kurz, klar und präzise aus. »Sehr schön«, sagte er schließlich. »Eine vorzügliche Geschichte, bis ins Detail ausgefeilt. Und ich muß sagen, ihr habt euch wirklich viel Arbeit gemacht. Eine komplette
Sprache auszuarbeiten, nur damit ihr behaupten könnt, es gäbe außer Glyss noch etwas anderes - alle Achtung. Und nun werde ic h euch sagen, was mit euch los ist. Ihr seid Gedankenrebellen, das steht fest. Ihr habt es gerade eindeutig bewiesen. Allein die Behauptung, Glyss sei etwas anderes als Glyss, reicht für eine Verurteilung völlig aus.« Ich hatte die deutliche Ahnung, daß dieses Urteil nur auf Tod lauten konnte. »Daß ihr euch jahrelang vor jeglicher Arbeit gedrückt habt, ist der zweite Punkt. In unseren Listen werdet ihr jedenfalls nicht geführt, so daß eure Abwesenheit nicht auffallen konnte.« »Wir haben nie in diesen Listen gestanden«, wagte ich einzuwenden. »Kommen wir also zum nächsten Anklagepunkt: Datenverbrechen. Ihr habt euch mit irgendeinem Trick aus den offiziellen Listen löschen lassen. Es ist euch wohl klar, was das bedeutet ...« »Mir nicht«, sagte ich arglos. Der freundliche Herr lächelte mich an. »Ihr werdet uns diesen Trick verraten müssen«, sagte er, und sein Lächeln ließ mich fast erstarren, so niederträchtig war es. »Wir werden nachprüfen, ob er funktioniert. Wenn nicht, werden wir weiterfragen - wie, das brauche ich wohl nicht zu erklären.« Ich holte tief Luft. Unser Gegenüber ging offenkundig bei seinen Überlegungen von ganz anderen Prämissen aus als wir. Vor allem war für ihn ausgeschlossen, daß wir von außerhalb kamen. Was bei der Konfrontation zwischen uns und seinem Gedankengebäude auf der Strecke bleiben mußte, lag auf der Hand. »Ihr werdet uns auch verraten, wie ihr es geschafft habt, euch jahrelang nichtlizenzierte Nahrungsmittel zu beschaffen.« »Was beweist, daß wir das getan haben?« fragte Demeter. Der Rundliche machte eine Grimasse des Ekels.
»Das widerliche Gestrüpp auf euren Köpfen«, sagte er angewidert. »Ich gebe zu, daß ich manchmal an der Weisheit gezweifelt habe, aber jetzt, wo ich sehen kann, wie es aussieht, begreife ich die Verfügung. Scheuß lich.« Er fixierte Shatyra. »Außerdem habt ihr eine bestrafte Gedankenrebellin aus ihrer Haft befreit. Auch das reicht zu einer Verurteilung aus. Habt ihr noch etwas zu sagen?« »Die Waffen wurden vergessen«, sagte der Robot hinter uns. »Ach ja, richtig. Wo habt ihr diese Waffen her?« Er hielt meinen Laser in der Hand und spielte damit herum. Sein Blick war drohend, und er hielt die Waffe genau auf mich gerichtet. »Die Quelle haben wir bereits genannt«, antwortete Demeter. Ein leichtes Vibrieren erschütterte den Boden. Im gleichen Augenblick sprang Demeter auf. Sie schnellte nach vorn, riß die Waffe an sich und fuhr herum. »Beeilt euch!« rief sie uns zu. Der Dicke war entsetzt zurückgeprallt, seine Augen waren geweitet. Hastig nahmen wir unsere Waffen an uns. Demeter zielte auf den Kopf des Verhörleiters. »Wir fordern unmittelbaren Kontakt zu Glyss«, sagte sie laut und sah dabei hinauf zu der Maske. »Kann zur Zeit nicht gewährt werden«, antwortete der Robot. Er hatte sich bei Demeters Aktion ebensowenig bewegt wie die anderen Maschinen. Demeter lächelte. »Ich weiß«, sagte sie. »Er braucht jetzt alle Kapazität, um das Hyperraummanöver durchführen zu können, nicht wahr?« Glyss antwortete nicht. »Das wird euren Tod bedeuten«, stieß der Dicke hervor. Er begann zu schwitzen, aber sonst zeigte er keine Anzeichen von Furcht. »Das wird sich erst noch zeigen müssen«, antwortete
Demeter. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, woher sie ihre Ruhe und Sicherheit bezog. Für meine Begriffe steckten wir in einer entsetzlichen Zwangslage - nach diesem Vorfall würde man uns kreuz und quer durch das ganze Schiff jagen. Zwar bedrohten wir jetzt die Roboter, während Demeter den Dicken in Schach hielt, aber wir konnten diesen Zustand nicht ununterbrochen aufrechterhalten. Wahrscheinlich versammelten sich jetzt bereits weitere bewaffnete Trupps, Menschen und Roboter, auf den Gängen in der Nähe dieses Raums. »Kontakt kann gewährt werden«, sagte der Robotoffizier nach kurzer Pause. Er deutete auf die Maske an der Wand. »Wir verlangen Glyss selbst zu sehen«, sagte Demeter laut. »Mit Ausführungsorganen oder Darstellungen werden wir uns nicht zufrieden geben.« »Abgelehnt«, erklang es aus dem Mund der Maske. Ich hätte gerne gewußt, wie es technisch möglich war, daß sich die Konturen des Materials fortlaufend änderten. »In diesem Fall werden wir die Roboter funktionsuntüchtig machen und diesen Mann töten«, erklärte Demeter. Ich bemerkte, daß ich feuchte Hände bekam. Selbstverständlich würde Demeter niemals auf den Mann schießen; es fragte sich, ob Glyss auf diesen dreisten Bluff hereinfiel. Wie würde sich Glyss aus der Falle ziehen? Es kam ganz darauf an, wie er programmiert worden war - und für wie sicherheitsbedürftig er sich selbst hielt. »Forderung kann nicht zugestanden werden«, antwortete Glyss nach einer längeren Pause. »Begründung!« forderte Demeter. »Sicherheitsbedenken«, antwortete Glyss ebenso knapp. »Was bedroht deine Sicherheit?« »Eure Waffen«, antwortete Glyss sofort.
»Wird unsere Forderung bewilligt, wenn wir die Waffen ablegen?« Ich schluckte. Demeter pokerte sehr hoch. Noch fehlten uns unwiderlegbare Beweise dafür, daß es sich bei Glyss wirklich um einen Robot handelte oder eine Positronik. Die Positroniken, die wir kannten, waren unfähig zu lügen; war Glyss ein Rechengehirn und gab er uns sein Wort, dann konnten wir uns darauf verlassen. Stand hinter Glyss ein Wesen, das uns ähnelte, dann hatten wir uns in eine unhaltbare Situation manö vriert. Glyss brauchte seine Zusage nur zu widerrufen, und wir waren ihm hilflos ausgeliefert. »In diesem Fall kann die Forderung erfüllt werden«, antwortete Glyss. Weder Glyss noch Demeter schienen sich dafür zu interessieren, was geschehen würde, wenn wir Glyss gegenübergestellt wurden. Ich konnte nur hoffen, daß Demeter auch dafür einen Plan ausgebrütet hatte. »Legt die Waffen weg«, bestimmte Demeter. Mit sehr unguten Gefühlen übergab ich den Laser an einen der Roboter. Demeter legte ihre Waffe auf den Tisch und sofort schnappte der Rundliche danach. Glyss hielt sich an sein Versprechen. Als der Mann die Waffe auf Demeter zu richten begann, ruckte der Arm des neben mir stehenden Robots in die Höhe. Ich handelte, ohne nachzudenken. Demeters Waffe war ein Nadler, der nur betäubte, der Robot aber wollte mit einer Laserwaffe schießen. Ich warf mich auf den emporschnellenden Waffenarm der Maschine. Herunterdrücken konnte ich ihn nicht, dafür war die Mechanik des Robots zu stark. Aber die Verzögerung reichte aus, der Laserschuß verfehlte den Mann, der vor Schreck die Waffe fallen ließ. Zwei der Robots ma rschierten wortlos auf ihn zu und nahmen ihn fest.
Der Mann war bleich, als die Robots ihn aus dem Raum führten. Ich ahnte, daß er nach den internen Spielregeln von. Glyss eine harte Strafe zu erwarten hatte. »Wie sollen wir dich anreden?« fragte Demeter den Robot mit dem Glyss-Symbol auf der Brust. »Ich trage die Identitätsnummer Glyss-88«, antwortete der Robot. »Gut, Glyss-88, führe uns zum Zentrum von Glyss«, sagte Demeter und lächelte so freundlich, als habe sie ein Kongreßausschußmitglied vor sich, dem sie Finanzhilfen für die Time-Squad abschmeicheln wollte. Auf den Robot verfehlte das Lächeln seine Wirkung. Der Flur, auf den wir traten, war leer. Wenn Glyss ein paar seiner Wachrobots zusammengezogen hatte, so waren sie jetzt wieder abgerückt. »Folgt mir«, sagte Glyss-88. Er war der einzige der Robots, der uns begleitete. Glyss schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. Er hatte allen Grund dazu - bei der ungeheuren Reaktionsschnelligkeit der Maschine hatten wir keinerlei Aussicht auf Flucht, und überwältigen konnten wir den Robot auch nicht. Ich dachte daran, daß ich noch zwei Thermoladungen mit mir herumschleppte, die völlig ausgereicht hätten, den Robot in einen weißglühenden Metallfladen zu verwandeln. Aber bis ich die Ladung angebracht und gezünd et hatte, war die Maschine ein paar Mal mit uns fertig geworden, auch wenn sie vor uns her ging und uns den Rücken zukehrte. »Keine Gewaltanwendung«, sagte Demeter leise. »Weißt du, wohin du uns manövrierst?« fragte ich leise zurück. »Was wird aus uns, wenn wir Glyss gesehen haben?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Demeter. »Wir werden abwarten müssen.« »Deine Nerven möchte ich haben«, stieß ich leise hervor. Wortlos streckte Demeter ihre rechte Hand aus. Ich sah, daß
die Finger ein wenig zitterten. Völlig frei von Furcht war also auch Demeter nicht - eine Tatsache, die seltsam beruhigend auf mich wirkte. Wir hatten einen weiten Weg zurückzulegen. Offenkundig war Glyss im Herzen des Riesenschiffes untergebracht, in der zentralen Kugel. Und Glyss war sehr um seine Sicherheit besorgt. Der Zugang zu ihm war in einer Weise gesichert, wie ich sie bis dahin nur bei der Zentrale der Time-Squad auf der Erde erlebt hatte Laserkanonen, Säurewerfer, Schutzschirme und sehr viel raffinierte Elektronik. Je näher wir dem Zentrum kamen, um so dichter waren die Gänge mit Kontrolleinrichtungen und Abwehrsystemen gespickt. »Unser Freund scheint sich sehr zu fürchten«, murmelte Darcyr. Er führte Shatyra an der Hand, die einen apathischen und teilnahmslosen Eindruck machte. »Hast du diesen Bereich von Glyss schon einmal betreten?« fragte Demeter unseren metallenen Reiseleiter. »Nein«, antwortete Glyss-88. »Nach meinen Daten ist es das erste Mal, daß einem Bewohner von Glyss hier der Zutritt erlaubt wird.« »Deine Daten sind falsch«, sagte Demeter. »Wir sind keine Bewohner von Glyss, wir sind nur zu Besuch hier.« Der Robot ließ sich auf keine Diskussion ein. Er stapfte weiter. Schließlich blieb er vor einem großen Portal mit zwei Flügeln stehen. Mitten auf den Stahltüren prangte das veränderliche Abbild von Glyss. »Ihr dürft eintreten«, sagte Glyss-88. »Und du?« »Ich habe Anweisung, mich wieder zu entfernen«, antwortete der Robot, drehte sich um und ging davon. »Versuchen wir unser Glück«, sagte Demeter und trat an das Portal heran. Geräuschlos schwangen die beiden Flügel nach innen auf.
Ein weiches rötliches Licht schlug uns entgegen, als wir über die Schwelle traten. Hinter uns fiel das Portal wieder ins Schloß. »Nun könnt ihr mich sehen«, erklang die Stimme von Glyss. Langsam gingen wir weiter. Die Halle war riesig, nach meiner Schätzung fast zweihundert Meter hoch und dreihundert zu dreihundert Meter ausgedehnt. In der Mitte des Raumes war eine Metallkonstruktion zu sehen, ein verwirrendes Geflecht von Röhren, das wie ein Gerüst wirkte. Zwischen den einzelnen Röhren und Verbindungsknoten zuckten und huschten bunte Entladungen in allen Farben. »Beeindruckend«, murmelte Inky. Wir gingen auf das Gerüst zu. Durch die Lücken konnten wir einen Körper erkennen, der sich in der Mitte der Konstruktion befinden mußte. Wahrscheinlich handelte es sich bei diesem Körper um Glyss. Ich spürte mein Herz schneller schlagen. Das Gerüst umgab den Zentralkörper in einem Abstand von zwanzig Metern. Im Näherkommen konnten wir sehen, daß sich von den Röhren ein haarfeines Netz von Drähten in das Innere hineinspann. Unwillkürlich fühlte ich mich an die Bilder von der Herstellung von Mikrochips erinnert - eine Silikonplatte in der Mitte, umgeben von winzigen Flächenkontakten und darüber ein Automat, der die Anschlüsse miteinander verband. Wie eine Robotspinne zog der Automat haarfeine Fäden von dem Chip zu den Außenkontakten. »Das also ist Glyss«, murmelte Demeter. »Ich hätte es mir denken können.« Jetzt wußten wir mit Sicherheit, daß wir am Ziel waren - denn wir kannten Glyss. Umgeben von dem Röhrennetzwerk und durch millionenfache Verbindungen daran angeschlossen, ruhte im Herzen des Riesenschiffes ein halbkugelförmiges Gebilde aus
Marmor - aus dem gleichen schwarz-gold-weiß-geäderten Material, das wir seit langem kannten. »Du weißt, was das ist?« fragte Demeter und sah Imhotep an. Der Glyssaaner schluckte heftig. »Die Siegelhalle von Glyssaan«, stieß er hervor. »Nur daß wir sie diesmal von außen sehen.« »Jetzt könnt ihr mich sehen«, erklang die Stimme von Glyss. »Ändert der Anblick etwas an den Tatsachen?« Es änderte eine Menge, dachte ich. Bisher hatten wir die Siegelhalle für ein architektonisch-nachrichtendienstliches Meisterwerk gehalten, jetzt offenbarte sich uns zusätzlich, daß dieser seltsame Marmor wie eine Positronik funktionieren konnte. Er mußte nur in der richtigen Weise mit einer Peripherie verbunden werden, um zu funktionieren. »Frage unlogisch«, antwortete Demeter. »Tatsachen sind nicht änderbar.« »Zugegeben«, antwortete Glyss. »Bist du bereit, uns Fragen zu beantworten?« fuhr Demeter fort. »Gibt es einen Grund, weshalb ich das tun sollte?« »Es könnte die Prämissen deiner Existenz beeinflussen.« »Das ist nicht möglich. Ich bin Glyss.« »Ich will es versuchen«, sagte Demeter. »Gelingt es mir nicht, kannst du mit uns verfahren, wie du willst.« »Das kann ich ohnehin. Ich höre.« »Wir versuchen ein Problem zu lösen, und dabei kannst du uns dank deines Kalkulationsvermögens helfen. Das Problem ist für uns wie für dich existentiell.« »Ich warte auf Fragen.« »Fangen wir an.« Ich sah, daß Demeter wieder zu lächeln begann. Es wirkte zuversichtlich, und ich fragte mich wieder einmal, woher sie ihren Optimismus nahm - und was mit diesem ganzen Gerede bezweckt wurde. »Zunächst eine Definition: als Klasse bezeichne n wir alle
Objekte, die eine gewisse Eigenschaft gemeinsam haben. Der Begriff Objekt umschreibt dabei sowohl dingliche Gegenstände als auch abstrakte Begriffe, sofern sie sich definieren lassen.« »Akzeptiert«, lautete die Antwort von Glyss. Ich schüttelte hilflos den Kopf. Was um Himmels willen hatte Demeter vor? Mengenlehre mit einer Positronik treiben? Ein aussichtsloses Unterfangen. »Ein Beispiel: Alle Bewohner dieses Schiffes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind Glyssaaner, sie bilden die Klasse der Glyssaaner. Alles, was außerhalb der Glyssaaner noch existiert, sind dann Nicht-Glyssaaner, die Klasse aller Objekte, die nicht die gemeinsame Eigenschaft haben, Glyssaaner zu sein. Die Gemeinsamkeit dieser zweiten Klasse ist die, eben Nicht-Glyssaane r zu sein. Es erscheint logisch zwingend, daß ein Element der Klasse der Glyssaaner nicht zugleich ein Element der Klasse der Nicht-Glyssaaner sein kann.« »Die Schlußfolgerung ist logisch einwandfrei. Nichts kann eine Eigenschaft haben und zugleich nicht haben.« »Gehen wir weiter«, sagte Demeter. »Unterscheiden wir nun nicht mehr Objekte, sondern die Klassen selbst. Es gibt zweifelsfrei Klassen, die sich selbst als Element enthalten. So ist zum Beispiel die Klasse aller Begriffe selbst ein Begriff, die Klasse aller Worte selbst ein Wort, Daraus folgt, daß es auch Klassen gibt, die sich nicht selbst als Element enthalten. Die Klasse der Glyssaaner beispielsweise ist selbst kein Glyssaaner.« »Die Aussagen sind richtig und logisch. Ich sehe das Problem nicht.« »Fassen wir nun alle Klassen, die sich selbst als Element enthalten, zu einer neuen Klasse zusammen, und nennen wir diese Klasse kurz E. Außerdem existiert eine Klasse aller Klassen, die sich selbst als Element enthalten; diese Klasse nennen wir kurz N.
Demeter holte nun tief Luft. »Prüfe nun nach den Gesetzen der Logik, ob es außer diesen beiden Klassen noch etwas geben kann.« »Mit diesen beiden Klassen ist der logische Gehalt des Universums vollständig erfaßt, es kann per definition keine Ausnahme geben.« Demeters Lächeln wurde breiter. »Und nun prüfe: Enthält die Klasse N sich selbst als Element oder nicht.«
7. Demeter verschränkte die Arme vor der Brust und trat zufrieden einen Schritt zurück. Ich trat neben sie. »Was soll der Unfug?« fragte ich sehr leise. »Hast du nichts besseres zu tun, als mit Glyss Denkspielereien zu treiben?« »Denk selber einmal über das Problem nach«, schlug Demeter vor. Ich zuckte die Schultern. »Meinetwegen«, sagte ich. Glyss schwieg, und ich hielt das für kein gutes Zeichen. »Nehmen wir an, daß N sich selbst als Element enthält«, dachte ich halblaut, »und was ist dann?« »Wie ist N definiert?« fragte Demeter ebenso leise. Ich sah, daß über Darcyrs Gesicht ein Lächeln flog, auch Imhotep schmunzelte. »Als Klasse aller Klassen, die sich nicht selbst als Element enthalten«, erinnerte ich mich. »Ganz klar, N kann sich selbst nicht als Element enthalten,« »In welche der beiden Klassen E oder N gehört N folglich?« »N muß ein Element von E sein, aber ... ach, du lieber Himmel,« Ich schluckte. Langsam dämmerte mir etwas.
»Wenn N sich selbst als Element enthält, darf es sich per definition nicht enthalten, und wenn es sich nicht enthält, muß es sich enthalten.« Ich war völlig verwirrt, nicht nur wegen der reichlich kompliziert klingenden Sprache. Demeters Überlegungen klangen sehr einfach und waren logisch leicht nachzuvollziehen, aber das hier ... »Man nennt dieses Problem das Russell-Paradoxon«, sagte Demeter leise, »und offensichtlich ist Glyss gänzlich in diese Denkfalle hineingetappt.« »Bist du dir darüber klar, was jetzt passieren kann? Glyss kann völlig den Verstand verlieren, und nichts können wir jetzt weniger gebrauchen als eine durchgedrehte Positronik.« »Es wird sich zeigen, ob Glyss verrückt spielt«, antwortete Demeter. Glyss schwieg noch immer, aber die Entladungen in dem Röhrengeflecht wurden von Sekunde zu Sekunde heftiger. Kleine blaue Flammen flitzten über die haarfeinen Drähte von Glyss nach außen und wieder zurück. Offenkundig arbeitete der Märmorblock auf Hochtouren. Endlich klang wieder die Stimme von Glyss auf. »Das Problem ist für mich nicht lösbar«, konnten wir hören. »Dein Denkvermögen reicht dafür nicht aus?« forschte Demeter nach. »Zutreffend, ich komme zu einander widersprechenden, logisch unvereinbaren Schlüssen.« »Stimmst du zu, daß dein System der Wahrheitsfindung nicht vollkommen ist? Daß es Phänomene gibt, die du nicht einwandfrei erfassen kannst?« »Zutreffend.« »Läßt dein Vorstellungsbild die Möglichkeit zu, daß wir nicht zu deinen Einwohnern gehören?« »Fall ausgeschlossen.« »Aber dir ist wohl klar geworden, daß dein Vorstellungsbild
die Wirklichkeit nicht vollständig abbildet. Kannst du unter diesen Umständen die Möglichkeit erfassen, daß du zur Zeit nicht in der Lage bist, unseren Fall schlüssig zu durchdenken?« »Zutreffend.« »Was sieht dein Auftrag für diesen Fall vor?« »Ein solcher Fall nicht nicht vorgesehen.« »Was hat zu geschehen, wenn etwas Nichtvorgesehenes eintritt?« »Antwort nicht möglich.« »Der Fall verlangt aber eine Entscheidung«, bohrte Demeter hartnäckig weiter. »Erlaubt dir deine Selbstvorstellung, ungerecht zu handeln?« »Nein.« »Gesetzt den Fall, du bestrafst uns, wie es deiner Vorstellung entspricht, dann kannst du die Möglichkeit eines Irrtums nicht ausschließen. Das aber ist erforderlich. Und du kannst uns auch nicht ignorieren, da sonst der Ablauf in dir empfindlich gestört würde. Ich befürchte, daß du in diesem besonderen Fall deine Inkompetenz wirst eingestehen müssen - und zwar nicht nur bei abstrakten logischen Überlegungen, sondern auch im konkreten Handeln.« »Abgelehnt«, antwortete Glyss. Eine längere Pause entstand. Hinter uns öffnete sich wieder das Portal. Eine Abordnung von Robotern erschien, und die Maschinen waren bewaffnet. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Demeter wütend. »Ich brauche mehr Zeit. Ich muß meine gesamte Denkstruktur überprüfen,« »Möchtest du die Lösung des Paradoxons haben?« fragte Demeter. »Gibt es eine Lösung?« »Es gibt sie.« Die Roboter blieben stehen. Und ich holte tief Luft. »Ich warte«, sagte Glyss. »Überprüfe die Theorie, daß, was immer die Gesamtheit einer
Klasse betrifft, nicht selbst Teil dieser Klasse sein darf. Die Aussage, die Klasse aller Begriffe sei selbst ein Begriff, ist daher nicht richtig. Die Aussage ist aber auch nicht falsch, dann müßte die Negation dieses Satzes wahr sein. Der Satz ist sinnlos.« Wieder brauchte Glyss eine geraume Zeit, bis er das alles verarbeitet hatte. Mich wunderte das nicht, denn ich kam mit dem Hinterherdenken auch nicht so schnell nach. »Daraus ergibt sich eine analoge Schlußfolgerung. Ein Problem, das innerhalb eines Denksystems entsteht, ist innerhalb des Systems nicht lösbar. Dein Denken und unser Denken führt zu Kommunikationsdisharmonien. Der Grund dafür liegt darin, daß wir von unterschiedlichen Prämissen ausgehen - und wir werden dieses Problem nicht lösen können, wenn wir uns nicht über die Prämissen auseinandersetzen. Bist du in der Lage, die Grundsätze deines Denkens in Frage zu stellen?« »Nein«, antwortete Glyss. »Dann kannst du das Problem nicht lösen - du kannst bestenfalls begreifen, daß es für dich unlösbar ist.« Glyss schwieg wieder. Und noch immer hielten die Robots ihre scheußlichen Waffen auf uns gerichtet. »Was sieht dein Selbstkonzept für den Fall vor, daß du vor unlösbaren Problemen stehst?« »Desaktivierung eingeleitet«, lautete die Antwort. Im gleichen Augenblick erlosch mit einem Schlag die Beleuchtung. Das Funkenspiel um Glyss hörte auf, der riesige Raum versank in völliger Dunkelheit. Allerdings nur für kurze Zeit. Ein Scharren war zu hören, das Geräusch von Stein, der über Metall schleift. Dann wurde es vor uns langsam wieder hell. Grelles weißes Licht schlug uns entgegen und zeichnete harte Schlagschatten an Wänden und Decken. Die Beleuchtung war so grell, daß wir uns abwenden mußten.
Im Umdrehen sah ich, wie Shatyra zu schwanken begann, ihre Glieder wurden wie von einem fiebrigen Krampf geschüttelt, dann stieß sie einen gellenden Schrei aus und brach zusammen. Darcyr fing die Ohnmächtige auf und ließ sie behutsam auf den Boden gleiten. Immer heller wurde das Licht. Es schien aus dem Inneren von Glyss zu kommen. Ich wandte den Kopf ein wenig zur Seite und spähte über die Schulter hinweg. Eine Gestalt war aufgetaucht und schirmte einen Teil des Lichts ab, riesenhaft vergrößert malte sich der Schatten an die Wand. Es war die Gestalt eines Menschen. Ich drehte mich ganz herum. Ich mußte die Augen zusammenkneifen, um etwas sehen zu können. Die Halbkugel aus Marmor hatte sich geöffnet. Ein dreieckiger Spalt war entstanden, aus dem das grelle Licht hervorbrach. In diesem Dreieck stand dunkel gegen den grellen Hintergrund die Menschengestalt. »Shatyra!« rief Darcyr und tätschelte der Ohnmächtigen das Gesicht. Noch immer zuckte Shatyra am ganzen Körper. »Sie wird wieder zu sich kommen«, sagte eine dunkle Stimme. Sie mußte von der menschenähnlichen Gestalt kommen. »Ihr braucht euch keine Sorgen um sie zu machen.« »Wer bist du?« brachte ich über die Lippen. Es war die unvermeidliche Antwort, natürlich. »Ich bin Glyss«, sagte die Gestalt. Einzelheiten von ihr waren nicht zu erkennen, selbst wenn ich die Augen noch so sehr zusammenkniff. Die Gestalt hob einen Arm, und im gleichen Augenblick erlosch das grelle Leuchten. Die Normalbeleuchtung schaltete sich wieder ein. Glyss war ein Mensch, aber wir konnten sein Gesicht nicht sehen - es wurde von einer elastischen Maske bedeckt. »Langsam geht mir das Marmormuster auf die Nerven«, sagte
ich leise zu Demeter. Glyss trug eine Maske aus diesem Material oder aus einem Kunststoff, der dem Marmor nachgebildet worden war. Langsam schoben sich hinter Glyss einige weitere Gestalten nach vorn. Drei, fünf - es wurden immer mehr. »Wir haben nicht viel Zeit«, sagte Glyss und kam näher. Er blieb vor uns stehen und sah uns an. »Erklärt uns, was zu tun ist«, sagte Demeter. »Eine Frage vorab«, meinte Glyss. »Ihr kommt von außerhalb des Schiffes. Ist ein Sonnensystem mit einem bewohnbaren Planeten in der Nähe - in nächster Nähe?« »Mit nur einem Hyperraumsprung ist ein solches System schnell zu erreichen«, antwortete Demeter. Glyss senkte den Kopf. »Dann ist unser Volk verloren«, stieß er hervor. »Wieviel Zeit bleibt?« wollte Demeter wissen. »Ein Tag, mehr nicht. Und es ist jetzt nicht mehr möglich, einen Hyperraumsprung durchzuführen.« »Die Zeit kann reichen«, antwortete Demeter. »Inky, Imhotep - zurück an Bord der TACCANTHA! Wir brauchen schnellstens Kontakt mit Shyftan. Beeilt euch.« Die beiden machten sich sofort auf den Weg, Glyss winkte einem der Roboter zu, der den beiden folgte. Vermutlich hatte er den Auftrag, ihnen den Weg zu zeigen. »Was wird nach Ablauf dieses Tages geschehen?« fragte Demeter. »Zuerst werden wir sterben, dann wird das Schiff zerfallen. Es ist so vorprogrammiert. Aber das Programm sieht vor, daß sich die GLYSS in der Nähe eines bewohnbaren Planeten zerlegt, ohne daß noch ein Hypermanöver durchgeführt werden muß.« »Es gibt andere Möglichkeiten«, erwiderte Demeter. »Eure Zeit ist kürzer als unsere - ich schlage vor, daß ihr zunächst uns
die Zusammenhänge erklärt.« »Einverstanden«, antwortete ihr Glyss. Er beugte ein wenig den Kopf vor und sah Shatyra an, die von Darcyr gerade auf die Beine gestellt wurde. »Unglaublich.« »Was ist unglaublich?« »Später«, sagte Glyss. »Zunächst das Wichtigste. Folgt mir.« Er führte uns in den Raum, den wir später einmal als Siegelhalle des Imperiums von Glyssaan betreten sollten. Im Inneren des Riesenschiffes war dieser Raum allerdings nicht leer - an den Wänden entlang zog sich eine Reihe von Apparaturen, die ic h ohne großes Nachdenken als Hibernationsanlagen einstufte, technische Vorrichtungen für einen künstlichen Winterschlaf. In der Mitte gab es eine Reihe von Sitzen. Glyss bedeutete uns, darauf Platz zu nehmen. Fünfunddreißig Schlafkammern zählte ich - und ebenso viele Personen mit Masken standen um uns herum. »Ihr werdet wissen wollen, woher wir kommen und welchen Auftrag dieses Schiff hat«, begann Glyss. »Und wir können euch nur die Bruchstücke berichten, die wir kennen. Vor einiger Zeit, über deren Länge wir nichts wissen, drohte unser Heimatplanet zu sterben - unser Volk hatte ihn verwüstet, ausgeplündert und mißhandelt. Unsere Vorfahren müssen alles falsch gemacht haben, was sich nur falsch machen ließ. In ihrer Verzweiflung faßten sie den Plan, auszuwandern. Alle vorhandenen Kräfte wurden diesem Ziel untergeordnet. Zuerst wurden Probeschiffe gebaut, die die nähere Umgebung unserer Sonne erforschen sollten. Gleichzeitig begannen die Vorfahren mit dem Bau von GLYSS. Als das Schiff endlich fertig war, lebten von unseren Vorfahren nicht mehr viele. Sie bemannten das Schiff und flogen los. Unterwegs sammelten sie die Erkundungsschiffe ein und schweißten sie mit GLYSS zusammen. Die Erkunder waren mit leeren Händen zurückgekommen, sie
hatten kein Sonnensystem finden können, das für die Pläne der Vorfahren getaugt hätte. Verzweiflung bemä chtigte sich unserer Vorfahren. Sie verfielen in Schwermut, und viele sind daran gestorben.« Glyss machte eine kleine Pause. »Aber sie hörten nicht auf, das Schiff von innen zu vervollkommnen. Sie verbesserten den Antrieb immer mehr, aber das dauerte Generationen. Sehr viel vom Wissen der Vorfahren ging verloren - und die Bevölkerung schrumpfte immer mehr. Schließlich waren nur noch wir übrig. Wir beschlossen, uns in künstlichen Tiefschlaf zu versetzen, damit wir das Ende der Suche noch erleben konnten. Aber im Tiefschlaf waren wir außerstande, etwas zu unternehmen. Und so kamen wir auf die Idee, unsere Körper einzuschläfern und unseren Geist zu übertragen. Glyss - der mineralische Roboter, den ihr gesehen habt - hat uns dabei geholfen. Er übertrug unseren Geist auf Roboter und barg unsere Körper in seinem Inneren.« »Daher also die Roboter mit Sinn für Ironie«, murmelte ich. »Indessen sind fünfunddreißig Wesen wenig, um ein solches Schiff zu füllen. Wir sannen über Abhilfe nach und fanden sie schließlich auch. Mit großer Vorsicht ließen wir unseren Körpern Zellen entnehmen und züchteten daraus neue lebende Bewohner des Schiffes. Es ist uns gelungen, wie ihr sehen könnt. Shatyra beispielsweise ist das genaue Abbild einer Frau aus unseren Reihen - ein Zufall sicherlich, aber sehr verblüffend.« »Gut, danach hattet ihr Roboter und Menschen. Und was dann?« »Wir verbesserten auch Glyss, den mineralischen Rechner und eines Tages übernahm er die Kontrolle über das Schiff und schwang sich zu einem Herrscher auf. Er ist kein schlechter Herrscher gewesen, aber da er die Zusammenhänge nicht kannte, konnte er nicht weiter denken als bis zu seinen
äußersten Sensoren, und die lagen im Schiffsinneren. Wir hatten im Tiefschlaf keinerlei Einflußmöglichkeit mehr, wir konnten nur noch beobachten. Es war eine schreckliche Zeit, die für uns begann. Glyss hat vieles mißverstanden. Was für uns eine Möglichkeit gewesen war, wurde unter ihm zur Strafe. Jeder, der es wagte, sich seinen Denkkonstruktionen gegenüber aufzulehnen, wurde von ihm in ähnlicher Weise aufgeteilt wie wir - in einen beseelten Roboter und einen unbeseelten Leib. Da er keine Tiefschlafplätze zur Verfügung hatte, schuf er die Sektionen der Homs - und wir konnten ihn nicht daran hindern.« Unwillkürlich warf ich einen Blick auf Shatyra. Sie hatte sich völlig verändert, ihre Augen leuchteten, und das maskenhaft leere Gesicht hatte deutliche Charakterzüge bekommen. Aus der Menschenpuppe war eine bemerkenswerte Frau geworden und Darcyr sah sie auch entsprechend an. »Glyss wußte, daß sein Leben als Herrscher seiner selbst an dem Tag enden würde, an dem ein taugliches Sonnensystem entdeckt wird. Daher kappte er alle Verbindung nach außen es gab keine Sonnen mehr für ihn, die er hätte untersuchen können. Er sprang wahllos durch das Universum. Hunderte von Systemen konnten wir über unsere wenigen Nachrichtenkanäle erkennen, aber nirgendwo hielt Glyss an. Er trieb weiter durch die Milchstraße, und wäret ihr nicht gekommen, würde er diese Reise fortgesetzt haben bis ans Ende der Ewigkeit.« »Und ihr wißt nicht, von welchem Planeten ihr kommt und wie lange die Reise schon dauert?« Glyss beantwortete Demeters Frage mit einem Kopfschütteln. »Wollt ihr uns eure Gesichter nicht zeigen?« sagte Demeter leise. Glyss zögerte. »Einmal nur«, sagte er schließlich. Er zog die Maske vom Kopf. Geistig mochte er noch rege und frisch sein - aber sein Körper war es nicht mehr. Es war ein gräßlicher Anblick - der
einer bewegungsfähigen Wasserleiche, noch dazu die eines uralten Mannes. Glyss zog die Maske wieder über den Kopf. »Wir haben uns mit Medikamenten vollpumpen lassen, damit wir euch wenigstens noch ein wenig helfen konnten. Aber jetzt sieht es so aus, als wäre keine Hilfe möglich.« Wie aufs Stichwort meldete sich Demeters Funkgerät. Imhotep war am anderen Ende der Leitung. »Ich habe den Zeitpeiler aktiviert und Kontakt mit Glyssaan«, informierte er uns. »Was soll jetzt geschehen?« Demeter sah sich um. »Wir brauchen Energie«, sagte sie. »Können wir hier eine Maschine aufstellen, und gibt es genügend Energie für ihren Betrieb?« »An Energiemangel wird es nicht scheitern«, antwortete Glyss langsam. »Imhotep, schreib mit. Auf Shyftan soll eine Zeitmaschine zum Transport fertiggemacht werden. Schickt sie an unsere Koordinaten - und zwar möglichst schne ll. Für Energie ist gesorgt. Außerdem soll sich auf Shyftan ein Team zusammenstellen - wir brauchen jede Menge Hilfe für unsere Freunde.« »Wird gemacht, Chefin«, quäkte es aus dem kleinen Lautsprecher. »Mach den Leuten auf Shyftan klar, daß jede Minute zählt wir haben nur einen Tag Zeit.« »Wird das reichen?« Demeter breitete die Arme aus. »Es muß, also wird es!«
8. Hektische Betriebsamkeit war ich von der Time-Squad gewohnt, aber was die Freunde in den letzten Stunden gezeigt hatten, übertraf alles Dagewesene.
Bereits eine Stunde nach dem Kontakt mit Shyftan kamen die ersten Bauteile der Zeitmaschine im Inneren der GLYSS an zusammen mit einem Trupp Techniker, der sich sofort daran machte, die Maschine zusammenzubauen. In weiser Voraussicht hatte Deme ter ein größtmögliches Modell angefordert, schließlich war eine gewaltige Transportkapazität zu bewältigen. Die Roboter des Schiffs hatten sich währenddessen daran gemacht, die Bewohner von Glyss zu informieren und zusammenzutreiben. Eine wertvolle Hilfe bekamen sie dabei ausgerechnet von den Homs - der Zusammenbruch des mineralischen Roboters hatte mit einem Schlag auch die Persönlichkeitsaufsplitterung der Gedankenverbrecher beseitigt, und wie in jedem Staat, der Gedankenverbrechen verfolgte, waren es nic ht gerade die Dümmsten, die derart verfolgt und gejagt wurden. Shatyra, die vor einigen Stunden noch als lebendiger Leichnam herumgelaufen war, hatte sich nicht nur zu einer attraktiven Frau gemausert, sondern sich auch als Organisatorin erster Güte erwiesen. Obwohl alles drunter und drüber zu gehen schien und ich längst den Überblick verloren hatte, lief die Vorbereitung für den Exodus von der GLYSS auf vollen Touren. »In einer Stunde sind wir soweit, Chefin!« sagte einer der Techniker. Er sah mich kurz an und grinste dann. »Tovar, heute zur Abwechslung einmal einzeln?« Ich ignorierte die Spitze. Ausnahmsweise erwies sich der autoritäre Führungsstil des Mineralrobots als Segen - die künftigen Glyssaaner waren so daran gewöhnt, Befehlen zu gehorchen, daß sie auch bei Demeters und Shatyras Anweisungen brav parierten, obwohl sie deren Sinn und Zweck vermutlich gar nicht begreifen konnten. Glyss und seine vierunddreißig Gefährten sahen dem ganzen Treiben ruhig zu. Zu meiner Überraschung hatten sie völlig
darauf verzichtet, uns irgendwelche Fragen zu stellen - ich vermutete, daß sie sich ausmalten, auf was sie verzichten mußten, weil ihre Zeit abgelaufen war. »Tovar, bitte melden!« Ich griff zum Mikrofon. Der Funkspruch kam von der TACCANTHA, die Auftrag hatte, schnellstens Glyssaan anzufliegen und einen Peilsender für unsere Zeitmaschine zu installieren. »Ich höre.« »Sind gelandet, Peilsender steht. Wie sieht es bei euch aus?« »Chaotisch und geordnet. Ich begreife nicht, aber es scheint ein System darin zu stecken.« Aus dem Lautsprecher erklang Imhoteps Lachen. »Was wollt ihr zuerst schicken? Menschen oder Material?« »Zusammen«, gab ich durch »Demeter ist dabei, für jeden Glyssaaner aus den Vorräten des Schiffes eine angemessene Traglast zusammenzustellen. Sollten wir Zeit genug haben, werden die Roboter noch mehr heranschaffen.« »Klingt gut«, sagte Imhotep. »Ich finde nur ein Haar in der Suppe.« »Und das wäre?« »Was wird aus dem Mineralrobot? Du weißt doch, daß er mit der späteren Siegelhalle von Glyssaan identisch ist - also muß er nach Glyssaan kommen.« »Oder wir finden die Koordinaten der Ursprungswelt heraus, von der das Mineral stammt«, antwortete ich. »Den ursprünglichen Heimatplaneten der Glyssaaner?« »Genau. Ich bin sicher, daß irgendwo in dem Informations Sammelsurium auch ein Hinweis darauf zu finden ist.« »Hoffen wir das Beste - ich jedenfalls habe eine gewisse Angst vor einem Zeitparadoxon.« »Tu mir einen Gefallen und verwende das Wort nicht mehr ich will von Paradoxien in der nächsten Zeit nichts mehr wissen.«
Imhoteps Lachen klang aus den Lautsprechern, dann schaltete er ab. Ich warf einen Blick auf die Techniker. Sie waren gerade damit beschäftigt, die Projektorspitzen anzubringen und die Energieversorgung der Zeitmaschine mit den Reaktoren des Schiffsriesen zu verbinden. Ich ging hinüber zu Glyss. »Was wird aus dem Schiff werden?« fragte ich. »Es wird vergehen wie wir«, antwortete Glyss. »Keine Spur wird von ihm und uns übrigbleiben.« »Ihr seid sicher, daß ihr euch nicht täuscht?« »Es gibt keinerlei Sicherheit«, antwortete Glyss. Ich war nicht ganz sicher, ob das sein wirklicher Name war; wahrscheinlich nannte er sich so, um niemanden von uns wissen zu lassen, wer er wirklich war. Ich verließ die Halle, in der die fünfunddreißig die Jahrtausende verschlafen hatten. Auf den Gängen des Schiffes herrschte ein unglaubliches Durcheinander. Überall waren Homs und Roboter damit beschäftigt, Ordnung herzustellen und die Glyssaaner ebenso sanft wie nachdrücklich anzutreiben. Die Kinder fanden das Ganze natürlich sehr aufregend und spannend, während einige Ältere, denen der Abschied vom gewohnten Leben sehr schwerfiel, einen verstörten Eindruck machten. Eine Zeitlang genoß ich es, als Wunderwesen angestaunt zu werden. Dank des Haares als Exote überall erkenntlich, konnte ich mich ungehindert bewegen. Überaus höflich rückten die Glyssaaner zur Seite - ihre Nachfahren in ein paar Jahrtausenden würden weniger freundlich zu mir sein, wenn sie mich zu fassen bekamen. Ich suchte nach Demeter, und ich fand sie schließlich in einem der Aufenthaltsräume. »Es gibt zwei Probleme, die wir noch klären müssen«, sagte ich und zog sie ein Stück zur Seite. »Welche?« »Da ist zunächst einmal der Mineralrobot, der eines Tages zur
Siegelhalle werden wird - wie bekommen wir das Ding nach Glyssaan?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Demeter. Sie machte einen leicht erschöpften Eindruck, andererseits wirkten ihre Augen so lebendig wie selten. Sie gehörte zu der Sorte Menschen, die erst dann wirklich zufrieden ist, wenn sie in Problemen baden kann. »Und das andere?« »Willst du mir erzählen, es sei Zufall, daß dies alles hier zusammentrifft? Ausgerechnet wir finden bei einem Vorstoß in die Vergangenheit dieses Schiff, das zufällig GLYSS heißt und ebenso zufällig die Keimzelle des Imperiums von Glyssaan darstellt?« Demeter lächelte. »Natürlich ist es kein Zufall«, sagte sie freundlich. »Koordinaten und genaue Zeit liegen seit einiger Zeit fest.« »Und woher kennst du diese Angaben?« »Aus den Daten der Siegelhalle«, antwortete Demeter. »Hast du nichts Wichtigeres zu tun?« »Wichtigeres nicht, nur Schöneres«, sagte ich und küßte sie. Sie ließ es sich eine Zeitlang gefallen, dann drängte sie mich zurück. »Doch nicht hier«, sagte sie ein wenig verlegen. »Vor all den Leuten!« »Glaubst du, die kennen das noch nicht?« fragte ich und machte mich auf den Rückweg zur Glyss-Halle. Dort waren die Techniker nahezu fertig, und auf den Gängen zur Halle reihten sich die Glyssaaner aneinander und warteten darauf, die Zeitmaschine als Transmitter benutzen zu können. »In zwei Minuten geht es los!« erklärte einer der Techniker. Die Männer waren verschwitzt, sie hatten gearbeitet, als ginge es um ihr nacktes Leben, und das bei einem Objekt wie der Zeitmaschine, deren Einzelteile - vor allem die Projektoren mit unglaublich geringen Toleranzen zusammengesetzt werden mußten. Ein Zehntelmillimeter konnte beim Transport
verheerende Abweichungen zur Folge haben. Der Mann hatte sich nicht verschätzt. Exakt zwei Minuten nach seiner Ankündigung konnte der Transport beginnen. »Wie viele Glyssaaner gibt es?« fragte der Techniker. Ich zuckte mit den Schultern. »Ein paar Tausend, nehme ich an.« »Dann werden wir zügig arbeiten müssen.« »Nun, das Problem kennen wir ja schon«, sagte ich. Wie lange war das her, daß die Time-Squad in einem ähnlichen Massenexodus erst von der Erde nach Delta Rebecca und von dort nach Shyftan ausgewandert war? Tatsächlich nur ein paar Monate? Es kam mir vor, als wären Jahre seither vergangen. »Ich gehe als erster hinüber«, bestimmte ich und legte mich auf die Transportplattform. Ein kurzes Wegdämmern, dann war ich auf Glyssaan. Imhotep und Inky erwarteten mich mit breitem Grinsen. »Nun, läuft alles an?« fragte Inky. »Die ersten Siedler werden in ein paar Minuten eintreffen«, sagte ich. Glyssaan hatte sich auf die Ankunft seiner zukünftigen Bewohner bestens vorbereitet. Ein kalter Wind pfiff über die Hochebene, darüber türmte sich grauschwarzes Gewölk. Das Gewitter brach gerade los, die ersten Tropfen fielen. Für jemanden, der bis zu diesem Augenblick keine größere Höhe als einhundert Schritte gesehen hatte, mußte dieser Anblick furchterregend sein. Aber es war zu spät, jetzt noch die Zeitmaschine auf einen and eren Ort einzupeilen. Der Transportschub lief an. Es kam, wie ich es befürchtet hatte. Die ersten vier Glyssaaner, die bei uns eintrafen, waren im Handumdrehen bis auf die Haut durchnäßt und restlos erschüttert. Blitze zuckten über den Himmel. Das Gewitter tobte sich in unserer Nähe aus, der Donnerschlag dröhnte in unseren Ohren. Für die
Glyssaaner mußte das einem Weltuntergang gleichkommen. Zum Glück war jemand - vermutlich Demeter - so besonnen gewesen, als nächstes einen fünfköpfigen Robottrupp zu unserer Unterstützung loszuschicken. Die Maschinen scherten sich nicht um das Gewitter und machten sich an die Arbeit. Acht, sechzehn, zwanzig - eine Vierergruppe nach der anderen tauchte auf Glyssaan auf und wurde in Empfang genommen. Die meisten schleppten Material zum Bau von Unterkünften mit, aber da sie dergleichen nie zuvor praktiziert hatten, war im Handumdrehen ein Tohuwabohu entstanden. Auch die Robots konnten daran nichts ändern. Als die Zahl der Angekommenen die Hundertermarke überstieg, war das Chaos komplett. Männer und Frauen fluchten, ein paar kreischten mehr oder minder hysterisch, die Kinder lieferten je nach Temperament Heulorgien oder Schlammschlachten, quirlten durcheinander und machten die Erwachsenen noch nervöser, als sie es ohnehin schon waren. »Schick eine Botschaft zu Demeter!« rief Imhotep mir zu. »Wir brauchen als erstes jede Menge Roboter, später erst Menschen.« Ich rannte hinüber zur TACCANTHA und stellte eine Verbindung her. Demeter kam an den Apparat geeilt. Ich gab ihr Imhoteps Wunsch weiter. »Einverstanden«, hörte ich Demeter sagen. »Wir schicken zuerst die Robots, dazu soviel Baumaterial wie möglich. Aber dann muß der Transport der Menschen um so zügiger gehen!« »Ich werde sehen, was sich machen läßt«, gab ich zurück. Bei einhundertvierundvierzig hörte der Glyssaaner-Andrang auf, dann erschien eine Robotgruppe nach der anderen, und die Glyss-Roboter verstanden sich aufs Lastenschleppen. Ohne zu zögern, machten sie sich sofort an die Arbeit. Sie brauchten knapp zwei Stunden, dann kam langsam wieder ein wenig Ordnung in die Auswanderung. Ein paar Robots nahmen die Ankömmlinge in Empfang und führten sie in ein
großes Zelt, wo sie zunächst einmal vor dem Sturzregen sicher waren. Sobald sich die jüngeren Erwachsenen an das Wetter gewöhnt hatten - das hieß, sobald sie aufhörten, vor Entsetzen halb ohnmächtig zu sein - wurden sie angetrieben, neue Zelte aufzubauen. Murrend und fluchend folgten sie den Befehlen. So wuchs allmählich auf dem regendurchweichten Boden eine Zeltstadt heran; je mehr Glyssaaner ankamen, um so schneller ging der Aufbau. Die zuerst Angekommenen begriffen allmählich, daß ein Gewitter nicht den sofortigen Tod bedeutete, wurden ruhiger und steckten damit die Nachrückenden an. Vor allem die unermüdlichen Roboter trugen viel dazu bei, daß sich die Lage nach und nach normalisierte - soweit man unter diesen Umständen von Normalität überhaupt reden konnte. »Vierzehnhundert«, rief Imhotep, mit leiser Ungeduld in der Stimme. »Es wird knapp werden.« »Wieviel Zeitreserve haben wir?« »Zwei Stunden, und es wird immer weniger.« Ich stieß eine Verwünschung aus. Wenn die letzten Glyssaaner auf den Abtransport warteten, während unter ihren Füßen ihre bisherige Heimat allmählich auseinanderfiel, konnte es zu einer lebensgefährlichen Massenpanik kommen. »Imhotep!« rief ich. »Ich schlage vor, daß wir zusammen zur GLYSS hinüberfliegen - dort werden wir nötiger gebraucht als hier.« »Einverstanden!« rief der Glyssaaner. »Ich komme!« Ich wäre am liebsten allein geflogen, aber ich kannte mich mit der glyssaanischen Technik nicht genügend aus. Imhotep übernahm das Fliegen, ich sah ihm auf die Finger - vielleicht half es etwas. »Wie sieht es aus, Demeter?« funkte ich zur GLYSS hinüber. »Wir können es schaffen«, sagte sie. In ihrer Stimme war eine gewisse Gereiztheit nicht zu überhören.
»Wie viele noch?« »Knapp siebenhundert. Du brauchst dich nicht aufzuregen, wir schaffen es.« »Wir werden euch helfen - für alle Fälle.« Imhotep jagte die TACCANTHA mit einem wahren Gewaltstart in den Weltraum; daß er dabei die gerade erst angekommenen Glyssaaner noch einmal erschreckte, nahm er in Kauf. Ich genehmigte mir aus den Bordvorräten einen Fruchtsaft, während Imhotep den Kurs durch den Hyperraum programmierte. Seine Finger bewegten sich mit einer Geschwindigkeit über die Eingabetastatur des Rechners, daß ich nur staunen konnte. Wenn diese Fertigkeit unbedingt nötig war, um ein erfolgreicher Raumpilot zu werden, konnte ich diesen Traum getrost vergessen. Meine Fähigkeiten auf diesem Gebiet waren bemerkenswert schlecht. Wenn ich meine Berichte für die Time-Squad tippte, hatte jedes Mal der Textkorrekturcomputer erheblich mehr zu tun gehabt als ich, aus meinen Tippfehlern hätte sich jederzeit ein neuer Bericht zusammenstellen lassen. Die TACCANTHA beschleunigte und erreichte die Sprunggeschwindigkeit. Das Hyperraummanöver nahm nur kurze Zeit in Anspruch, und dank Imhoteps Steuerkünsten kamen wir in der Nähe der GLYSS wieder im Normalraum heraus. »Alle Teufel«, stieß ich hervor. Glyss mußte sich verschätzt haben - der Countdown der Vernichtung lief bereits. Das Riesenschiff war umgeben von Trümmern. Nach und nach fielen die angeflanschten Zusatzschiffe auseinander, drifteten in den Raum ab und zerlegten sich in ihre Einzelteile. Außerdem war zu sehen, daß die äußeren Kugeln des Kernkörpers angefangen hatten zu glühen. »Demeter, höchste Eile. Das Schiff fängt an zu verglühen
von außen nach innen!« »Wir haben es bereits bemerkt«, hörte ich Demeters Antwort. »Wieviele?« »Fünfhundert, bis jetzt keine Panik. Der Transport läuft zügig.« Ich preßte die Kiefer aufeinander, warf einen Blick auf Imhotep. Auch dessen Lippen waren fest zusammengepreßt. Mit Höchstfahrt brachte er die TACCANTHA näher an die GLYSS heran. »Ich versuche es im Raumanzug!« stieß ich hervor und verließ die Zentrale. In der Mannschleuse schlüpfte ich hastig in den Anzug. Obwohl ich es höllisch eilig hatte, überprüfte ich sorgfältig und in Ruhe die Apparaturen. Demeter war nicht damit geholfen, wenn ich in der Eile einen Fehler beging und mich damit selbst umbrachte - und im Raum machte man jeden Fehler nur ein einziges Mal. »Schleuse öffnen, Imhotep!« Imhotep brauchte in der Zentrale nur einen Knopf zu drücken. Die Schleuse glitt auf, und ich stieß mich ab. Ich war so aufgeregt, daß ich den Übergang von normaler Schwerkraft zur Schwerelosigkeit kaum registrierte. Die äußeren Kugeln von GLYSS standen in heller Glut. »Ich komme im Raumanzug, Demeter. Ich lande auf der Hülle der Zentralkugel.« »Bleib weg!« hörte ich Demeter rufen. »Wir schaffen es. Nur noch zweihundert!« Ich hörte nicht auf ihre Worte. Ich ließ das kleine Triebwerk feuern und schwebte auf die Ze ntralkugel zu. Von der Hitze bekam ich dank des Vakuums nichts mit - aber ich konnte mir an der Helligkeit ausrechnen, welche Temperaturen im Inneren jetzt herrschen mußten. An einigen Stellen schien der Stahl der Außenhülle bereits Blasen zu werfen. »Kontakt, Imhotep. Ich dringe in das Schiff ein!«
»Noch einhundertfünfzig, Transport läuft zügig und gleichmäßig. Temperatur konstant.« Ich stieß einen Seufzer aus. Offenbar funktionierte in der Zentralkugel die technische Einrichtung noch ohne Störungen. In fieberhafter Eile suchte ich nach einer Einstiegsmöglichkeit. Ich fand die Schleuse recht bald. Sie widerstand meinen Versuchen, sie zu öffnen. Mir blieb nichts anderes übrig, als das äußere Schleusentor mit einer Thermoladung aufzuschmelzen. Ein grellweißer Glutball tobte über das Metall. In den Hörmuscheln konnte ich Demeters Stimme hören. »Geringfügiger Temperaturanstieg. Noch einhundertsieben Personen.« Ich wartete, bis sich das Metall ausgekühlt hatte; dank der Weltraumkälte ging das sehr schnell. Dann schwebte ich ins Innere der Schleuse. Ich hatte im Gedächtnis, daß die Schleusen in der GLYSS aus drei Räumen bestanden. Die äußere Zelle hatte ich zerstört, hoffentlich ließ sich die innere Kammer als Schleuse verwenden. Die Apparatur funktionierte. Ich kletterte in die Kammer und verriegelte sie, dann versuchte ich die innerste Tür zu öffnen. Sie gab ohne Schwierigkeiten nach. »Temperatur auf über dreißig Grad angestiegen«, erklärte Demeter. »Noch sechsundsiebzig Personen.« »Alle Außenkugeln der GLYSS zerstört«, meldete Imhotep. »Brand greift auf Verbindungsröhren und innere Kugeln über.« Ich holte tief Luft, dann nahm ich den mörderischen Wettlauf mit der Zeit auf.
9. Die Luft, die mir entgegenschlug, war entsetzlich warm. Ich hatte den Helm geöffnet, um die Sauerstoffvorräte des
Raumanzuges zu schonen, und so mußte ich die stickige Luft im Inneren des verglühenden Schiffes einatmen. »Raumtemperatur zweiunddreißig Grad«, hörte ich Demeter sagen. »Noch zweiundfünfzig Personen. Transport verläuft weiter zü gig.« Ihrer Stimme war keinerlei Aufregung anzuhören, obwohl ich mir ausrechnen konnte, daß in ihrer Nähe eine angespannte Stimmung herrschte. Hoffentlich brachte sie es fertig, eine Panik bis zum letzten Augenblick zu vermeiden - jede Rauferei um die letzten Transportvorgänge hätten kostbare Zeit sinnlos vergeudet. Ich hastete durch die Gänge des Raumschiffs. Der mineralische Robot hatte sein Zerstörungswerk gut vorbereitet und führte es mit großer Präzision durch. Immer wieder erschütterten Explosionen den Boden, aus einzelnen Räumen quollen mir Rauchschwaden entgegen. Plötzlich fiel die künstliche Schwerkraft aus. Im gleichen Augenblick, in dem mich mein Schwung in die Höhe trug, hörte ich in den Ohrmuscheln das Entsetzensgeschrei der Glyssaaner, die von dem gleichen Effekt betroffen waren. »Ruhe bewahren!« rief Demeter. »Wir haben genug Zeit für jeden von euch!« Was sie danach sagte, konnte ich nicht mehr hören, denn ich prallte mit erheblichem Schwung gegen die Decke. Mein Versuch, den Aufprall abzufange n, klappte nicht ganz - im Gegenteil, ich stieß mich dabei von der Decke ab und flog nun auf den Metallboden zurück, allerdings mit einer etwas geringeren Geschwindigkeit. Nach ein paar Augenblicken gelang es mir endlich, meinen Körper zu stabilisieren. Ich schaltete das kleine Rückstoßtriebwerk ein - in der Schwerelosigkeit kam ich damit schneller vorwärts. Der Schub ließ mich den Gang entlangflitzen, und wie ich nicht anders erwartet hatte, war ich viel zu schnell. In letzter
Sekunde schaffte ich es, mich im Flug herumzudrehen ind einen Teil des Aufpralls mit den Beinen abzufedern. Danach hatte ich das Gefühl, meine Knie in der Nähe des Halses zu spüren. »Tovar, du mußt dich beeilen«, hörte ich Imhotep rufen. »Die Funkverbindung mit Demeter ist abgerissen. Aber die Leitung nach Glyssaan steht noch - es kommen weitere Überlebende an. Der Transport läuft also noch.« Ich arbeitete mich weiter vor. Mit lautem Knallen platzten die Leuchtkörper und überschütteten mich mit einem Hagel von Splittern. Mein Gesicht konnte ich schützen, aber meine Hände bekamen ein paar Schnitte ab - nicht tief und auch nicht sonderlich schmerzhaft. Aber die Verletzungen bluteten stark, und mit blutnassen Händen konnte ich schlecht zupacken. Weder die Oberfläche des Raumanzuges noch das Verkleidungsmaterial der Wände waren geeignet, sich daran die Finger abzuwischen. Die Atemluft wurde immer heißer. Sie mußte jetzt bei vierzig Grad liegen. Auf meiner Stirn bildeten sich dicke Schweißperlen, die mir über das Gesicht liefen und in den Augen brannten. Ich versuchte sie mit den Händen wegzuwischen. Endlich erreichte ich den Eingang zu der großen Halle. Er war verriegelt. Ich zerrte meine Waffe hervor und schlug mit dem Kolben gegen das Metall. Hoffentlich konnte Demeter mich hören. Es kam keine Reaktion. Mir blieb nichts anderes übrig, ich mußte es mit rabiater Gewalt versuchen. Auf die Hitze zusätzlich kam es jetzt auch nicht mehr an. Ich brachte eine Schmelzladung an dem Portal an und zündete sie. Obwohl ich mich weit genug entfernt hatte, schlug mir eine Hitze entgegen, die meine Haare kräuselte. Es war kaum zu
ertragen. Beruhigend fand ich nur, daß die Thermoladung ihre Energien hauptsächlich auf meiner Seite des Portals entlud und ihre Hitze nur zu einem geringen Teil in die große Halle strahlte. Ich mußte fast vier Minuten warten, bis ich meinen Vormarsch fortsetzen konnte. Zwar holte ich mir noch ein paar Brandblasen, als ich durch die glühend heiße Öffnung kroch, aber das kümmerte mich nicht weiter. »Demeter!« rief ich. Ich rannte, was Beine und Lungen hergaben. Von Demeter kam keine Antwort. »Tovar, die Außenhülle der Zentralkugel beginnt zu glühen!« Imhoteps Stimme verriet Entsetzen. Die Halle war verlassen - kein Mensch war zu sehen, auch kein Roboter. »Imhotep, was meldet Glyssaan?« »Der letzte Glyssaaner ist vor ein paar Augenblicken angekommen.« »Und Demeter?« »Keine Spur von ihr!« Ich erreichte die Zeitmaschine. Das Transportfeld war erloschen, die Instrumente zeigten an, daß der Maschine keine Energie mehr zugeführt wurde. Ich stieß einen Fluch aus. Gehetzt sah ich mich um. Die Lufttemperatur war kaum mehr zu ertragen. Jeder Atemzug schmerzte und brannte in den Lungen. Mein Gesicht war schweißüberströmt, ich fühlte mein Herz rasend schnell schlagen. »Demeter! Melde dich!« Keine Antwort. »Tovar, verschwinde so schnell wie möglich, ehe es zu spät ist!« gellte Imhoteps Stimme aus der Hörmuschel. »Setz über nach Glyssaan.« »Zeitmaschine defekt«, antwortete ich. »Es ist zu spät. Ende.«
Ich schaltete das Funkgerät ab. Die nächsten Minuten gehörten mir allein. Demeter - wo war Demeter? War sie während des Transportvorgangs verschwunden? Ich konnte es mir nicht vorstellen - bei einer Panne wäre sie entweder auf Glyssaan herausgekommen oder hierher zurück gekehrt. In dem Augenblick, in dem die Zeitmaschine keine Energie mehr bekam, kehrte das Transportobjekt in jedem Fall in den Normalraum zurück und materialisierte. »Tovar?« Ich fuhr herum. Jetzt erst sah ich, daß sich der Mineralrobot wieder einen Spalt geöffnet hatte, mir war völlig entga ngen, daß er zuvor wieder geschlossen gewesen war. Demeter stand in der Öffnung. »Komm schnell«, rief sie mir zu. Ich machte zwei Schritte, dann gaben meine Beine nach. Ich hatte mich völlig verausgabt. Ich schrie vor Schmerz, als meine Hände den Metallboden berührten. Demeter rannte auf mich zu. Sie mußte sich an den Metallteilen meines Anzuges die Finger verbrennen, aber sie zögerte keinen Augenblick zuzugreifen. Sie nahm auch keine Rücksicht darauf, was aus meinem Schädel wurde, als sie mich über den Boden schleifte. Die Beleuchtung viel völlig aus, aber dunkel war der Raum deswegen nicht. Seine Wände standen in dunkler Glut, die immer heller wurde. Die Selbstvernichtung des Riesenschiffs hatte die Zentrale erreicht. Die Kälte traf mich wie ein Schock. Erfrischend klare Luft schlug mir entgegen. Demeter zerrte noch einmal an mir, dann wandte sie sich um. »Schließen!« bestimmte sie. Das dunkle Rot verschwand vor meinen Augen, statt dessen sah ich die Siegelhalle von Glyssaan zum zweiten Male von
innen. »Medikamente!« forderte Demeter. Verschwommen nahm ich wahr, daß einer der Schläfer neben ihr auftauchte und ihr etwas in die Hand drückte. »Das wird dich wieder auf die Beine bringen«, sagte Demeter. Sie injizierte mir offenbar ein Aufputschmittel - ich konnt e spüren, wie sich mein Körper gleichsam mit neuer Energie auflud, ausgehend von der Injektionsstelle. Als nächstes verabreichte sie mir ein Schmerzmittel - und dann erst sorgte sie mit Medikamenten dafür, daß meine Verbrennungen nicht mehr schmerzten. »Puh«, sagte ich und richtete mich langsam auf. Demeter und ich zwinkerten uns zu. Zum Glück gehörte Demeter nicht zu jenem Menschenschlag, männlich oder weiblich, der in solchen Lagen in schmalzige Wiedersehensfeiern ausbricht, ohne Rücksicht auf den Weltuntergang drumherum. Sie kam sofort wieder zur Sache. »Wie widerstandsfähig ist der Mineralrobot?« fragte sie. Von den Schläfern standen nur noch vier auf den Beinen, die anderen lagen ausgestreckt auf dem Boden. Ich ahnte, daß sie tot waren. »Das haben wir niemals erprobt«, antwortete Glyss schwach. Er mußte sich an einer der Schlafzellen festhalten, um nicht umzusinken. »Wo kam die Energie für die Schlafzellen her?« wollte Demeter wissen. Es war grausam, den Sterbenden so zu bedrängen - aber wir konnten und wollten überleben, und dazu brauchten wir die nötigen Auskünfte. »Separater Reaktor«, antwortete Glyss schwach. »Von hier aus steuerbar.« Er brach in die Knie, dann fiel er vornüber und rührte sich nicht mehr.
»Es muß irgendwo ein Schaltpult geben«, sagte Demeter. »Such danach, Tovar.« Ich machte mich an die Arbeit. Nach kurzem Suchen hatte ich die Apparatur gefunden, sie arbeitete halbautomatisch, man mußte nur die Grobwerte eingeben, die Feineinstellung erledigte der Automat. »Stell das Kühlaggregat auf volle Leistung«, bestimmte Demeter. »Es ist unsere letzte Chance.« Ich führte den Befehl aus, dann kehrte ich zu ihr zurück. Demeter kniete neben Glyss. Er atmete noch. Vorsichtig entfernte Demeter die Gesichtsmaske. Wir würden niemals erfahren, wie dieser Mann wirklich geheißen hatte, für uns würde er immer Glyss bleiben - ein Wesen aus grauer Vergangenheit, ohne Erinnerung. »Am Ziel!« flüsterte Glyss. Über sein entstelltes Gesicht flog ein Lächeln, seine Augen strahlten. »Ich habe nicht geglaubt, daß das möglich sein würde.« Dann fiel sein Kopf zur Seite. Demeter schloß ihm die Augen und stand langsam auf. Sie sah auf das Thermometer, das zur Ausstattung ihres Kombigerätes am Armband gehörte. »Zwanzig Grad«, sagte sie. »Wenn die Temperatur noch eine halbe Stunde so bleibt, haben wir es geschafft.« Ich versuchte über den Helmfunk Kontakt mit Imhotep aufzunehmen, aber es gelang nicht - die Selbstzerstörung des Riesenschiffes störte sämtliche Frequenzen. »Legen wir sie in ihre Schlafkammern zurück«, sagte Demeter leise. Es war keine angenehme Arbeit, die Leichname zurückzubefördern in die Kältekammern, aber sie hielt uns davon ab, uns auszumalen, wie es jetzt an der Außenwand des Mineralrobots aussah. Keiner von uns beiden konnte Voraussagen, ob das Experiment gelingen würde, von dessen Ausgang unser Leben
abhing. Ab und zu warf Demeter einen Blick auf das Thermometer. Die Temperatur stieg langsam an. Ich ging hinüber zur Wandung und fühlte nach. Der Marmor war angenehm warm, wie ein Heizkörper. »Wenn es so bleib t, können wir zufrieden sein«, sagte ich. Demeter zuckte mit den Schultern. Wir suchten uns ein möglichst behagliches Plätzchen in der gespenstischen Gruft - weit genug entfernt von den Schlafkammern, deren Kühlsystem wieder arbeitete und die Schreine in weiße Schwaden hüllten, und auch weit genug entfernt von der Wandung des Marmors, der immer heißer wurde. »Ob wir aus diesem Ding herausbekommen können, woher das Schiff stammt?« fragte ich und deutete auf die Äderung des Marmors. »Vielleicht«, antwortete Demeter und schmiegte sich an mich. Sie sah mich an. »Prächtig siehst du aus«, sagte sie lächelnd. »Genau passend für ein Rendezvous.« Ich mußte lachen. Wahrscheinlich sah ich grauenhaft aus, das Gesicht blutverschmiert, die Hände mit Brandblasen gespickt, die nur deswegen nicht schmerzten, weil Demeter uns ein besonders starkes Schmerzmittel injiziert hatte. Ich sah nach ihren Händen. Es würden ein paar Wochen vergehen müssen, bis sie damit wieder zupacken konnte; meine Handflächen wirkten nicht viel besser. »Wenn es dabei bleibt, will ich zufrieden sein«, murmelte Demeter. Uns blieb nichts anderes übrig, als zu warten, und es war ein sehr ungemütlicher Wartesaal. Rings um uns her ein Kranz von fünfunddreißig Schlafkammern, deren Oberflächen mit immer dicker werdenden Eisschichten belegt waren, und darüber die Wölbung der Siegelhalle. Über die goldenen Fäden der Marmorierung huschten blaue Funken, wahrscheinlich wurde
die draußen anbrandende Energie von dem Robot auf diese Weise weitergeleitet. »Als Rechner werden wir den Marmor nicht wieder gebrauchen können«, sagte Demeter. »Nach dieser Prozedur wird er nichts weiter sein als ein Marmorklotz.« »Hoffentlich nicht unser Grabgewölbe«, murmelte ich und sah nach oben. Das gespenstische Elmsfeuer in der Kuppelwölb ung hatte sich verstärkt. Auch die Temperatur war gestiegen, sie lag jetzt bei knapp dreißig Grad. Noch kein Grund zur Besorgnis, aber ich ließ wieder einmal meine Phantasie spielen und durchdachte die Möglichkeiten - und das Ergebnis war niederschmetternd. Nicht nur, daß wir in diesem Marmorgewölbe zu Tode geröstet werden konnten - es war auch möglich, daß der Marmor Risse bekam und die Atemluft entweichen ließ. Wir hatten nur einen funktionsfähigen Raumanzug - den ich trug. »Gleichgültig wie, eines Tages wird dieses Gewölbe auf Glyssaan stehen«, sagte Demeter. »Bist du sicher?« fragte ich. »Wir können es jederzeit nachprüfen«, antwortete Demeter und stand auf. Sie sah auf den Boden. Auf dem Originalboden der Siegelhalle hatte es ein haarfeines Koordinatennetz gegeben. Von jedem der Kreuzungspunkte aus konnte man auf der Wandung mit etwas Übung ein Bild erspähen - eines der ineinander verwobenen Vexierbilder, aus denen sich das Speichermaterial der Halle zusammensetzte. Und von einem ganz gewissen Punkt des Hallenbodens aus bekam man nacheinander die Mitglieder der Schwarzen Kamarilla zu sehen, dem Führungsgremium der Oberen, die unsere Feinde waren. Noch immer hatten wir an dem Rätsel zu knabbern, daß eines dieser Kamarilla-Mitglieder mit Demeter identisch zu sein schien. »Du brauchst es gar nicht zu versuchen«, sagte ich. »Du findest deinen Punkt nie.«
Der Boden des Mineralrobots war gänzlich anders als der der späteren Siegelhalle, das Koordinatensystem war ein Werk späterer Generationen. Ich zuckte zusammen. Schon wieder ein logischer Zirkel, der sich durch Raum und Zeit krümmte. Von uns würden die Glyssaaner erfahren, wie man Informationen aus dem Marmor herauslesen konnte - und wir würden diese Tatsache Jahrtausende später wiederum von den Glyssaanern übernehmen. »Du hast recht«, antwortete Demeter. Die Lage wurde allmählich ungemütlich. Sie begann statistisch sehr angenehm zu werden - während unsere Rücken allmählich zu frieren begannen, wurden unsere Bäuche langsam gegrillt. Durchschnittlich mußten wir uns also prächtig fühlen. Die Wand war inzwischen so heiß geworden, daß ich sie nicht mehr anfassen konnte. Wie lange mochte sich diese Prozedur noch hinziehen? Konnte der Marmorblock das Ende des Riesenschiffes überhaupt überstehen? Demeter stieß mich an. Sie lächelte siegessicher. »Die gute alte Time-Squad«, sagte sie fröhlich. Mitten in der hitzeflimmernden Luft entstand langsam ein Zeitfeld - dieses rötliche Flimmern war unverkennbar. Und eine halbe Minute später schepperte es laut, als aus dem nun wesentlich dichteren Zeitfeld ein Raumanzug herausfiel und auf dem Boden landete. Die zweite Montur kam dreißig Sekunden später. Eilig streifte Demeter den Anzug über. Ich tauschte meine angebrochene Sauerstoffflasche gegen eine frische aus, die halbvolle nahm ich als Reserve mit und verankerte sie mit einem Karabinerhaken an meinem Gürtel. Als nächstes erschien eine Nachrichtenkapsel. Aushalten, lautete die Botschaft. Kernkugel inzwischen völlig
vernichtet. Marmorblock äußerlich unversehrt, kühlt langsam aus. Wir holen euch heraus. Ich versuchte mir vorzustellen, was passiert war. Imhotep mußte eine Verbindung zur Time-Squad auf Shyftan aufgenommen haben, und von dort hatte man uns das Material geschickt. Daß meine Vermutung stimmte, erwies sich eine Minute später. Angetan mit einem Raumanzug tauchte Joshua Slocum bei uns auf. Er lächelte zufrieden, als er uns lebend vorfand. »Ihr habt uns ganz schön in Angst und Schrecken versetzt«, sagte er, nachdem er den Helm zurückgeklappt hatte. »Wie sieht es auf Shyftan aus?« fragte Demeter. »Keine Probleme, jedenfalls keine, die wir nicht lösen könnten. Wir haben uns übrigens erlaubt, euch einen Beobachter nachzusenden, der über eure Sicherheit gewacht hat.« »Gut gemacht«, sagte Demeter nickend. Der Beobachter mußte die Zeitreise entkörperlicht durchgeführt haben. Während der Körper in der Zeitmaschine zurückblieb, trat das Bewußtsein eine Reise durch Raum und Zeit an. Ursprünglich war diese Technik entwickelt worden, um Polizeiarbeit möglich zu machen. Die Beobachter sollten an den Tatort eines Verbrechens zurückkehren, die Tat und den Täter beobachten und uns die nötigen Informationen liefern, die wir brauchten, um den Täter fangen und vor Gericht stellen zu können. Von solch harmlosen Aufgabenstellungen war in der TimeSquad seit geraumer Zeit keine Rede mehr - wir hatten weitaus Wichtigeres zu erledigen. Wo mochten die Oberen, jene Wesen aus einem anderen Universum, jetzt sein? Hatten sie zu diesem Zeitpunkt, tief in der Vergangenheit, bereits damit begonnen, unser Unive rsum zu unterwandern? Oder waren wir in einer Art zeitlicher Sicherheitszone? Auf
Fragen dieser Art gab es leider keine verbindliche Antwort sobald die Möglichkeit einer Zeitmanipulation ins Spiel kam, konnte nichts mehr als unabänderliche Tatsache gelten, außer daß ich Demeter liebte, aber das mußte nach meiner festen Überzeugung nach schon zu Beginn der Schöpfung festgestanden haben.
10. So verwöhnt worden war ich seit Ewigkeiten nicht mehr. Angenehmes Klima, gute Nahrung, eine prachtvolle Landschaft, und ich brauchte buchstäblich keinen Finger zu rühren. Ich konnte mich füttern lassen, und die Damen, die sich dieser Aufgabe unterzogen, waren außerdem noch sehr erfreulich anzusehen. Einen weniger erfreulichen Anblick boten meine Hände, die von dicken Bandagen bedeckt waren. In einer Woche frühestens durfte ich die Binden abnehmen. Bis dahin mußte ich mich füttern und wie einen Säugling versorgen lassen - aus dem Vergnügen war ein unabänderliches Muß geworden, und das senkte den Wert dieses Spaßes auf den Nullpunkt. Ich hatte, weiß der Himmel, nichts dagegen, auf der faulen Haut zu liegen - aber es nervte mich, alle anderen schuften und rackern zu sehen. Über Glyssaan war das Arbeitsfieber hereingebrochen. Überall wurde gewerkelt. Hütten schossen aus dem Boden wie Pilze nach einem Herbstregen, Felder waren angelegt worden. Jagd- und Erkundungskommandos waren unterwegs, zum einen, um die Glyssaaner mit Fleisch zu versorgen, zum anderen, um das umliegende Gelände zu erkunden. Als bemerkenswert tüchtiges Gespann hatte sich dabei das Team Inky und Charriba erwiesen; nicht schlechter arbeiteten Shandrak und Corve Munther zusammen.
Die Glyssaaner hatten sich erstaunlich rasch mit den veränderten Bedingungen abgefunden. Auf den Gewittersturm war ein bemerkenswert schöner Tag gefolgt, und die sich daran anschließende Nacht würde wohl keiner der Glyssaaner jemals vergessen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatten diese Menschen den Anblick des Sternenhimmels gesehen, und in der astronomischen Nachbarschaft von Glyssaan standen die Sterne besonders dicht beieinander. Da es noch keine Industrieabgase gab, die die Sicht hätten trüben können, konnten die Glyssaaner ein Schauspiel genießen, das in dieser Qualität und Fülle auf der Erde undenkbar war. Ich stand vorsichtig auf. Man hatte Demeter und mir ein Zelt am Rande des Stadtgebietes zugewiesen, ein wenig höher gelegen, so daß wir den Fortgang der Arbeiten bestens verfolgen konnten. So ähnlich mußten die Herrscher Ägyptens auf die Pyramidenbauer herabgesehen haben - aber anders als sie, konnten wir die Wirkung dieser gewaltigen Kraftanstrengung besser beurteilen. Das reichlich mitgebrachte Material erwies sich als wahrer Segen - die Arbeiten machten zügige Fortschritte. Die überall sichtbaren Fortschritte trieben die Arbeiter zu vermehrtem Eifer an, dessen Ergebnisse nicht lange auf sich warten ließen. Aus den unterdrückten Bewohnern des Riesenschiffes GLYSS wurde schnell und gründlich die Gemeinschaft der Glyssaaner, die sich durch die gemeinsame Arbeit verbunden fühlten. Ein paar hatten natürlich noch Schwierigkeiten damit. Irgendwann in grauer Vergangenheit mußte es an Bord der GLYSS einmal eine Art Läuseplage gegeben haben - oder eine ansteckende Hautkrankheit. Damals jedenfalls hatten sich alle Glyssaaner die Haare sche ren müssen, und um diesen Effekt dauerhafter zu machen, war auf Geheiß des Mineralrobots dem Algengrundmaterial eine Chemikalie beigemischt worden, die für dauernde Haarlosigkeit sorgte. Nach dem Ende der
Epidemie hatte Glyss die Sache vergessen und einfach weitergeführt - und mit der Zeit war aus der Haarlosigkeit sogar eine Art Weltanschauung geworden. Jetzt gab es diese Beimischung zur Alltagskost nicht mehr, und so liefen viele Glyssaaner jetzt mit recht seltsamen Stoppelgewächsen an den Köpfen herum. Viele Männer waren sehr neidisch auf die Frauen, weil die sich nicht um Bartstoppel zu kümmern brauchten. Ich ging zu Demeter hinüber. Sie war natürlich beschäftigt, studierte Pläne und Tabellen. Auf dem Monitor eines tragbaren Rechners flimmerten Schaubilder und Diagramme, ein Mitarbeiter tippte auf Demeters Geheiß neue Zahlen ein und berichtete ihr, welche Wirkung die von ihr geplanten Maßnahmen haben würden. »Störe ich?« fragte ich behutsam an. Demeter sah auf und lächelte. »Ja«, sagte sie einfach, blies mir eine Kußhand zu und vertiefte sich wieder in ihre Arbeit. Seufzend wandte ich mich ab. Langsam spazierte ich zur TACCANTHA hinüber, die einen unermüdlichen Pendlerdienst aufgenommen hatte. Eine Arbeitskolonne aus Time-Squad-Mitarbeitern hatte die Aufgabe übernommen, den Mineralrobot im freien Raum in Einzelteile zu zerlegen und die Einzelteile mit der TACCANTHA nach Glyssaan zu schaffen. Einstweilen wurden die Blöcke ordnungsgemäß auf dem planierten Fels gestapelt. Es würde späteren Generationen von Glyssaanern vorbehalten bleiben, die Siegelhalle in den Untergrund des Hochplateaus zu befördern. »Willst du uns helfen?« fragte Imhotep grinsend, als er mich sah. Ich hob meine bandagierten Hände. »Man läßt mich nicht«, sagte ich seufzend. »Was für ein graus iges Schicksal«, meinte Imhotep sarkastisch. In der Schleuse der TACCANTHA sah ich Darcyr
und Shatyra. Die Blicke, die die beiden ab und zu tauschten, kamen mir ziemlich bekannt vor - zwischen Demeter und mir gab es ähnliche Kommunikationsformen. Shatyra würde, soviel zeichnete sich jetzt schon ab, einmal eine Fülle dichten schwarzen Haares bekommen. »Nehmt ihr mich mit?« fragte ich. »Wenn ich hier schon nichts tun kann, will ich wenigstens ein bißchen Abwechslung haben.« »Kannst du mit deinen Händen einen Raumanzug bedienen?« fragte Darcyr. Ich nickte. »Dann steig ein. Wir fliegen in zwanzig Minuten los.« Mühsam kletterte ich in die Schleuse hinein. Schmerzen an den Händen hatte ich nicht, aber mit den Bandagen ließ es sich entsetzlich schwer zugreifen. Ich nutzte die Gelegenheit, um ein weiteres Mal Imhotep beim Fliegen des Schiffes zuzusehen. Auf Dauer konnte es nicht dabei bleiben, daß nur sehr wenige Mitarbeiter der TimeSquad mit der hochwertigen Technik der Glyssaaner fertig wurden. Zur Zeit waren es Darcyr, seine Tochter Ghanee und Imhotep - Demeter würde vermutlich recht bald dazustoßen. Der Mineralrobot war nach kurzer Zeit erreicht. Schon von weitem war der Arbeitstrupp zu erkennen, der das Riesengebilde in Einzelblöcke zerlegte. Die Arbeit wurde dadurch erleichtert, da der Glyss-Block schon bei seiner Konstruktion zusammengesetzt worden war. Die Verbindungen waren relativ leicht zu lösen, wenn man den Trick kannte, und so machte die Arbeit zügige Fortschritte. Ich warf einen Blick auf Imhotep. Für den Glyssaaner mußte dieser Anblick besonders eindrucksvoll sein - die Siegelhalle war das größte Geheimnis Glyssaans gewesen, und nun mußte Imhotep sehen, wie dieses Geheimnis beiläufig entzaubert wurde. Wahrscheinlich schmerzte es den ehrgeizigen Glyssaaner auch, daß er als Vertreter eines riesigen Sternenimperiums miterleben mußte,
wie dieses Imperium entstand - dank der Hilfe eines ziemlich unbedeutenden Menschenhaufens, der sich Time-Squad nannte. Ein Stück neben dem Körper des Mineralrobots trieb der frühere Boden durch den Raum. Er hatte sich in einem Stück abtrennen lassen, eine fast vierzig Meter dicke Scheibe, deren Hohlräume mit den Anlagen zur Erzeugung der künstlichen Hibernation ausgefüllt waren. »Ich will dort hinüber«, sagte ich zu Imhotep. Der Glyssaaner nickte. »Paß auf dich auf«, meinte er mit einem Blick auf meine Hände. Eine halbe Stunde nach diesen Worten stand ich auf der Plattform. Der Strahl meines Handscheinwerfers wanderte über die Schreine. Die Maschinen waren abgestellt worden, ihre Arbeit war jetzt nicht mehr nötig - der Weltraum übernahm es, die Leichname für die Ewigkeit aufzubewahren. Eine verrückte Hoffnung hatte nich hierher geführt. Vielleicht ließ sich gegen alle Erwartung doch irgendein Hinweis finden, der uns hätte verraten können, wo der Heimatplanet der Glyssaaner zu suchen war. Die fünfunddreißig Schläfer waren im Schiff selbst groß geworden, lange nach dem Start der GLYSS. Zwar wußten sie noch, daß GLYSS ein Schiff war, das durch den Raum fliegen konnte - aber mit vielen Daten hätten auch sie nichts anfangen können, selbst wenn man sie ihnen vorgelegt hätte. Meine Gedanken wanderten zu dem Augenblick zurück, an dem wir zum erstenmal Kontakt mit Glyssaan gehabt hatten in der Gruft Imhoteps im alten Ägypten. Auch Imhotep hatte dort in einem künstlichen Tiefschlaf gelegen und auf seine Erweckung gewartet. Der entscheidende Hinweis war von dem Gürtel gekommen, den er für sich hatte fertigen lassen. Ein wenig versteckt, für Eingeweihte aber deutlich sichtbar,
hatte dieser Gürtel das Abbild einer astronomischen Konstellation enthalten - mit einem kleinen Fehler, dessen Korrektur den Erweckungsmechanismus auslöste. Hätte Imhotep diesen Gürtel vererbt, ohne die zusätzlichen Informationen weiterzugeben, hätte kein Erdbewohner dieses Rätsel jemals lösen können - wohl aber jeder, der den Sternenhimmel über Shyftan kannte, auch Personen, die nichts über die Erde oder Imhotep wußten. Langsam bewegte ich mich über die Plattform. Es gab keine künstliche Schwerkraft mehr, daher mußten mir die Magnetschuhe dabei helfen, sicheren Stand zu finden. Beim Gehen erwiesen sich diese Schuhe einmal mehr als ausgesprochen hinderlich. Ich blieb vor dem Schrein stehen, in dem jener Mann ruhte, der sich uns als Glyss vorgestellt hatte. Das Eis, das den Sarkophag bedeckt hatte, war inzwischen in den Weltraum verdampft. Die transparente Oberfläche war sichtbar, auch der Körper, der darunter lag. Das Gesicht des Mannes war wieder mit der Plastikmaske bedeckt, die nur Augen und Mund freiließ. Langsam und gründlich ließ ich meinen Blick an dem Körper entlangwandern. Was gab es zu sehen, das uns vielleicht einen Schritt weiterbrachte? Ich murmelte eine Verwünschung. Es schien keinen Hinweis zu geben. Glyss trug ein knöchellanges einteiliges Gewand, das von einem Gürtel zusammengehalten wurde. Der Gürtel selbst war ein einfacher elastischer Plastikstreifen mit einer primitiven Schnalle, An den Händen war kein Schmuck zu finden, es gab auch kein Amulett. Ich marschierte zum nächsten Schrein. Das Ergebnis war das gleiche - es sah ganz danach aus, als sollte das Geheimnis der Herkunft von GLYSS für immer ungelöst bleiben. Von den Glyssaanern konnten wir auch nichts erfahren; ob Normalbürger des Schiffes oder bestrafte Gedankenverbrecher,
psychisch aufgespalten in lebenslustige Roboter und dumpf dahinvegetierende Homs - sie kannten die Zusammenhänge nicht. Sie hatten sich auch nur in den seltensten Fällen dafür interessiert - der Grund dafür war eine dauernde Beeinflussung ihrer Gedanken durch Psychopharmaka gewesen, die einer Fülle von Nahrungsmitteln beigegeben worden waren, unter anderem auch dem Alkohol, der dadurch eine enorme Durchschlagskraft bekommen hatte. Ich hatte es am eigenen Leib erfahren. Nacheinander suchte ich die fünfunddreißig Sarkophage ab. Das Ergebnis war niederschmetternd - es gab nicht den kleinsten Hinweis. Sehr enttäuscht machte ich mich auf den Rückweg. Die Plattform mit den Schreinen driftete langsam auf die Sonne des Systems zu; in ein paar hundert Jahren würde sie in die Sonne hineinstürzen - ein würdiges Grab für die Schläfer der GLYSS, fand ich. »Etwas herausbekommen?« wollte Imhotep wissen, als ich an Bord der TACCANTHA zurückkehrte. Ich starrte auf den Panoramaschirm und betrachtete die Plattform. »Nichts«, sagte ich unwillig. »Von mir aus kann es zurückgehen nach Glyssaan!« Bei diesem Flug nahmen wir nur wenige der Steinblöcke mit; der restliche Stauraum wurde für die Arbeitsmannschaft benötigt. Das ständige Hin- und Herfliegen kostete natürlich sehr viel Zeit, aber wir hatten keine andere Möglichkeit. Die TACCANTHA war das einzige einsatzfähige Schiff, über das wir verfügten. Das Schiffssammelsurium, das einmal zu GLYSS gehört hatte, trieb jetzt als ausgeglühter Schrott durch den Weltraum. Als wir auf Glyssaan landeten, war es bereits Abend geworden. Die Arbeit war eingestellt worden. Überall saßen die Glyssaaner vor ihren neuen Unterkünften und ruhten sich aus - fasziniert betrachteten sie das Schauspiel der
untergehenden Sonne. »Du hast nichts erreicht«, sagte Demeter, als ich sie aufsuchte. »Ich sehe es dir an der Nasenspitze an.« Ich nickte und setzte mich neben sie. »Wie geht es jetzt weiter?« fragte ich sie. Demeter zuckte mit den Schultern. Sie sah sehr müde aus. Nach und nach trafen die Freunde bei uns ein - Imhotep und Inky, Charriba und Shandrak, Darcyr mit Shatyra. Sie machten recht zufriedene Gesichter, vor allem Darcyr und Shatyra. »Es wird viel Arbeit getan werden müssen, bis aus dieser Siedlung das Imperium von Glyssaan geworden ist«, meinte Imhotep mit einem Blick auf die Siedlung. »Die Glyssaaner haben viel Zeit dafür«, antwortete Demeter nachdenklich. Darcyr sah Demeter aufmerksam an. »Mit welcher Hilfe können wir rechnen, beispielsweise von der Time-Squad?« fragte er. Demeters Lächeln wurde breiter. »Was wir erübrigen können«, antwortete sie und sah Darcyr an. »Wir können den Glyssaanern das Wichtigste geben, was sie für die Zukunft brauchen werden - ein Ziel.« Darcyr wiegte den Kopf. »Das Ziel kennen nur wir; die ehemaligen Bewohner des Generationenschiffs Wissen nichts vom Imperium.« »Aber ihr Anführer wird es wissen, und er wird ihnen die nötigen Anstöße und Impulse geben.« »Anführer? Wer sollte das sein?« fragte Shatyra verwundert. Ich ahnte langsam, worauf Demeter hinauswollte. »Was die Glyssaaner brauchen, ist eine Person, die fähig ist, in kurzer Zeit Ordnung in dieses Durcheinander zu bringen. Diese Person sollte sich in diesem Geschäft auskennen und darin Erfahrung haben. Außerdem muß sie in moderner glyssaanischer Technik bewandert sein.« »Ich sehe den Grund nicht ganz ein«, bemerkte Inky.
Demeter deutete auf das Material, das die Glyssaaner mitgebracht hatten. »Vieles davon ist unserer irdischen Technik schon jetzt weit überlegen«, erklärte sie. »Die Führungsperson der Glyssaaner sollte in der Lage sein, einen technologischen Rücksturz zu verhindern. Ihre Aufgabe wird gewaltig sein - binnen einer Generation wird sie die wichtigsten Voraussetzungen dafür schaffen müssen, daß der technische Stand wenigstens gehalten werden kann. Die Maschinen und Roboter, die uns jetzt zur Verfügung stehen, werden irgendwann ausfallen - bis dahin muß der technologische Nachschub gesichert sein.« Darcyr nickte langsam.« »Es ist zu schaffen«, sagte er zögernd. »Und ich kenne auch schon jemand en, dem man diese Aufgabe anvertrauen kann«, sagte Demeter schmunzelnd. Ich grinste in mich hinein. Die einzigen die nicht nur mit der Technik der Glyssaaner umgehen konnten, sondern sie auch begriffen, waren Imhotep und Darcyr, und diese beiden starrten sich nun wechselweise voll Hochachtung an. Demeter griff sich an die Hand - dorthin, wo der Ring saß, den sie auf Taccantha bekommen hatte. Ernst streifte Demeter den Ring ab, dann griff sie nach Darcyrs Hand. Ich sah, daß der Fürst der Blauen Sonnen bleich wurde. »Bist du bereit, diese gewaltige Aufgabe zu übernehmen?« fragte Demeter. Darcyr sah Shatyra an, dann nickte er langsam. Demeter schob ihm den Ring über den Finger. Darcyr starrte auf die Hände herab, auf seine eigenen und auf Demeters Finger, die noch deutliche Spuren der Verbrennungen zeigten, die sie sich bei meiner Rettung zugezogen hatte. »Du kennst das Geheimnis des Rings«, sagte Demeter leise. »Du wirst ihn eines Tages an die Person weitergeben, die du nach bestem Wissen und Gewissen für geeignet hältst, dein
Nachfolger zu sein. Jeder andere wird getötet werden, wenn er versucht, den Ring für sich zu gewinnen.« Inky begann zu kichern, ich sah ihn fragend an. »Tut mir leid, Freunde, aber ich finde die Szene zu komisch. Wir haben das Imperium kennengelernt, vielleicht auf dem Höhepunkt seiner Macht. Und jetzt erleben wir den Augenblick seiner Gründung - in einer primitiven Hütte und irgendwie entsetzlich unfeierlich.« Auch Imhotep begann zu grinsen. »Ich kann mich an Filme erinnern, die ich als kleiner Junge gesehen habe«, sagte er heiter. »Monströse historische Schinken voll Pomp und Pathos, über die Geschichte von Glys saan - aber das hier war nicht dabei. Jetzt müßten eigentlich Fanfaren schmettern und erhebende Worte gewechselt werden.« »Immerhin können wir auf das Ereignis anstoßen«, sagte Demeter. »Unsere Freunde auf Shyftan haben ein paar Liebesgaben herübergeschickt.« Beschlossen wurde die Gründung des Imperiums von Glyssaan mit einer Mahlzeit aus frischen Früchten und einem nicht besonders guten Wein, den wir aus Plastikbechern trinken mußten. Immerhin gab es genug davon, und am Ende der Gründungsfeierlichkeiten mußte der erste Kaiser des Imperiums von seiner zukünftigen Kaiserin nach Hause geleitet werden, weil er zu unsicher auf den Beinen stand. Ich hielt einen halbvollen Becher zwischen den bandagierten Händen und sah den beiden nach, wie sie in die Dunkelheit hineinschwankten. »Enttäuscht?« fragte Demeter leise. »Wovon?« fragte ich zurück. »Nun, ich hätte den Ring auch dir geben können«, antwortete sie. »Mir?« fragte ich fassungslos zurück. »Was soll ich mit einem Imperium? Oder noch besser - was soll ein Imperium
mit mir? Darcyr ist genau der Richtige, energisch, unermüdlich zupackend und verantwortungsbewußt ...« »Alles Eigenschaften, die dir abgehen? Willst du mir weismachen, daß ich den größten Trottel und Nichtskönner des Universums geheiratet habe?« »Keinesfalls«, antwortete ich grinsend. »Dann wäre ich wenigstens auf diesen Gebieten vollkommen und der Größte ...« Demeter lachte leise. »Außerdem«, fuhr ich fort, »bin ich ziemlich sicher, daß du mich noch brauchen wirst - oder willst du mir weismachen, die Aufregungen und Abenteuer hätten jetzt ein Ende?« Demeter schüttelte den Kopf. »Es gibt noch eine Menge zu tun«, sagte sie halblaut; an mir vorbei blickte sie auf den Sternenhimmel über Glyssaan. Ich konnte mir keinen beruhigenderen und friedlicheren Anblick denken als diesen - und wußte, daß dieser Eindruck trog. Der Time-Squad stand noch eine harte Zukunft bevor.
ENDE
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