Das Vermächtnis des Hunnen
Krimi von C.H. Guenter.
1. Am 25. Juli 1939 wurden die Bayreuther Festspiele mit Richard Wa...
19 downloads
303 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Das Vermächtnis des Hunnen
Krimi von C.H. Guenter.
1. Am 25. Juli 1939 wurden die Bayreuther Festspiele mit Richard Wagners Meistersinger-Oper glanzvoll eröffnet. Die Auffahrt der Gäste zum Theaterhügel, immer ein grandioses Ereignis für die Bevölkerung, begann in den späten Nachmittagsstunden. Der Jubel wuchs an, Fähnchen wurden geschwenkt, als die Kolonne der schwarzen Mercedes-Automobile heraufkam. Der Reichskanzler, Adolf Hitler, nahm stehend die Huldigungen entgegen. Das Volk tobte, schrie: "Heil, heil!" Viele sahen den Führer zum ersten Mal nicht in Uniform, sondern im Frack. - Allerdings trug er einen weißen Staubmantel darüber. Es folgten die Cabriolets seiner Paladine Göring, Goebbels, Himmler und Rosenberg. Die Wagen der Gauleiter, der Generäle, der Prominenz aus Industrie und Hochfinanz. Oben am Eingang zuckten die Blitzlichter der Fotografen, Reporter machten eifrig Notizen. Die Kameraleute der Wochenschauen schwenkten ihre Objektive, Rundfunkberichterstatter sprachen in die Mikrofone. Um 17.10 Uhr - die Fanfaren verkündeten schon zum zweiten Mal den baldigen Beginn der Ouvertüre - dröhnte der Kompressormotor eines Mercedes-540-Cabriolets die Auffahrt herauf. Der teuerste in Deutschland hergestellte Sportwagen war in Silber, einem neuen Automobillack, der mit gemahlenen Fischschuppen verarbeitet wurde, lackiert. Gefahren wurde das Luxusautomobil von einem eher kleinen Mann von kalmückenhaftem Aussehen. Neben ihm räkelte sich eine Blondine in den grünen Lederpolstern. Nachdem der Wagen geparkt war, schlenderten der Mann und die Frau, beide in festlicher Abendkleidung, zum Hauptportal, wo man ihnen gerade noch Einlaß gewährte. Zwei Reporter hinter der Absperrung, der eine mit Kamera, der andere mit Stenoblock und Bleistift, blickten sich an. "Hast du das Paar gesehen?" "Wer sind die?" "Für mich ist das die schönste Frau, der ich im Leben begegnet bin." "Kennst du die beiden?" "Er muß Karl Kessler sein." "Kessler. Moment mal, Kessler? Nein, nie gehört." "Der Chemie-Kessler, der Bankier Kessler, groß im Export und Import. Weltweite Geschäfte mit den USA, mit Rußland, Skandinavien." "Warum", fragte der mit der Kamera, "habe ich noch nicht von ihm gehört?" "Er ist einer der reichsten Männer Deutschlands."
Copyright 2001 by readersplanet
Der andere drückte das Objektiv seiner Leica ins Gehäuse und schloß die Klappe der Ledertasche. "Soll das eine Antwort sein?" "Der reichste Mann", führte sein Kollege aus, "und einer der unsichtbarsten. Er lebt zurückgezogen in seinen Luxushöhlen, wo er an den langen Fäden zieht. Eine Fabrik hier, eine dort. Eine Million hierhin, eine dorthin. Er tritt so gut wie nie in der Öffentlichkeit auf." Der mit der Kamera bemerkte kopfschüttelnd: "Dann beging er heute einen Fehler. Ich habe ihn auf dem Film." "Na und?" "Sich mit so einem Weib zu zeigen, ein so häßlicher Knabe und ein so bildschönes Frauenzimmer. La belle e la bête. Das Foto verkaufe ich an die Berliner und an die Münchner Illustrierte." "So wie ich Kessler einschätze, dachte er wohl, wir seien längst nach Hause gegangen." "Und wer ist diese Frau?" erkundigte sich der Bildreporter neugierig. "Marga Kramer." "Die Schauspielerin?" "Film", ergänzte der andere, als sei das etwas ganz Besonderes. Die Fanfarenstöße hallten zum dritten Mal ins Tal und über die Stadt. Dann hörte man, wie drinnen in dem Ziegelbau, dem wohl häßlichsten Opernhaus der Welt, das Orchester einsetzte. Gut und gern sechzig Mann legten mit äußerster Kraft los. Das Volk zerstreute sich allmählich. * Die Aufführung der Meistersinger von Nürnberg war die Krönung der vergangenen sechzehn Monate. Begonnen hatte es im März 1938 mit dem Einmarsch in Österreich. Hitler hatte seine Heimat dem Deutschen Reich angegliedert. Wegen der Sudetenkrise waren die Regierungschefs von Italien, Frankreich und England nach München geflogen und hatten vor Hitler gebuckelt. Trotzdem hatte er dann in Prag seine Hakenkreuzfahne aufgepflanzt, ohne daß die Westmächte auch nur eine Hand dagegen erhoben hätten. Dreitausend Kilometer Autobahn waren gebaut, Luftwaffe, Heer und Marine waren voll gerüstet. Es gab keinen Arbeitslosen mehr. Und jetzt, munkelte man, würde es bald gegen Polen gehen. Aber vorher sei noch der größte diplomatische Coup Hitlers zu erwarten. Möglicherweise ein Wirtschafts- und Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion. Stalin gemeinsam mit Hitler? - Wer daran dachte, dem stockte der Atem. Die meisten hielten es für unvorstellbar. Als sei das alles noch nicht genug, ließ eine der bekanntesten Zeitungen der Welt Hitler dieselbe Ehre zuteil werden wie Mahatma Gandhi und Franklin D. Roosevelt. - Das US-Nachrichtenmagazin Time rief Adolf Hitler zum Mann des Jahres aus. So wurde für den Führer Deutschlands dieses Jahr zu einem seiner glücklichsten Jahre. Dr. Kessler, eine der grauen Eminenzen der deutschen Wirtschaft, genoß die Meistersinger bis zum letzten Akkord des Schlußaktes. Dann flog er mit seiner privaten Heinkel-70 von Bayreuth nach Berlin zurück. - Für ihn wurde dieses Jahr zum schlimmsten seines Lebens. *
Im zweihundert Quadratmeter großen Arbeitszimmer der Wannsee-Villa schrillte eines der Telefone. Copyright 2001 by readersplanet
Der Diener hatte frei. Köchin, Hausmädchen, Gärtner und Fahrer waren für Telefone nicht zuständig, also hob der Hausherr selbst ab. Die lange Simon-Arzt-Zigarette, die er an einer goldenen Spitze mit Ebenholzmundstück zu rauchen pflegte, legte er in den Ascher, wischte einen Tabakkrümel vom Revers des seidenen Hausmantels und meldete sich. "Hier bei Kessler." "Ken", sagte der Anrufer. - Wer ihn Ken nannte, mußte einer seiner Freunde sein. - "Ken, hör zu! Es geht schief." "Was?" "Alles." "Ging es schon, oder wird es erst?" "Es fängt an. Überall Riegel, Barrieren, Steine, dicke Knüppel, wo es sonst keine gab." "Erzähle!" "Hört die Gestapo schon dein Telefon ab?" Der Industrielle lachte. "Wer ist Heydrich, und wer bin ich? Sag's mir in Stichworten." "Die Sore ist raus", erklärte sein Anwalt. - Mit dem Gaunerausdruck für Beute meinte er den größten Teil von Karl Kesslers beweglichem Vermögen. "Aber sie haben eine Prüfung der Bank angekündigt, der Bücher, der Konten." "Wann?" "Montag." "Weiter!" "Mein Kontaktmann zum Botschafter" - gemeint war der Botschafter der USA - "hat vorgefühlt. Seine Exzellenz hat sich sofort mit dem State Department, der Minister mit dem Präsidenten und der Präsident mit seinen Leuten im Senat besprochen. Du bist leider unerwünscht." Das war ein schwerer Schlag. Da hatte er nun mit Amerika zwanzig Jahre lang Geschäfte abgewickelt, hatte sogar eine Fabrik und ein Forschungslabor drüben, aber sie wollten ihm keinen Daueraufenthalt gewähren. "Da steckt die Konkurrenz dahinter", vermutete Kessler. "Wer sonst?" "Sie wollten meinen neuen Kunststoff produzieren, und ich gab ihnen die Lizenz nicht." "Da hast du es. Das ist die Quittung." Nun, Amerika war nicht die ganze Welt. Kesslers Firmen wickelten fast den ganzen Import und Export mit Rußland ab. Öl und Getreide gegen Maschinen und Technologie. Kessler kannte Stalin persönlich. Sie waren Freunde. Beide waren sie Realisten. Realisten schätzten einander. "Ich habe eine Villa am Schwarzen Meer", sagte Kessler. "Da kann ich auch hin." "Die Russen zeigen rotes Licht. Verschämt zwar, aber wenn sie nein sagen, dann meinen sie nein." Kessler war enttäuscht, aber er ahnte, warum. Im August hatte Hitler mit Stalin das Handels- und Kreditabkommen und einen Nichtangriffspakt geschlossen. Die Russen wollten keinen Wurm in ihr neues, wenn auch perverses Verhältnis zu Hitler hineinkommen lassen und einem Mann, der auf der Abschußliste der Gestapo stand, Asyl gewähren. "Dann", sagte Kessler schweren Herzens, "muß ich es anders machen." Copyright 2001 by readersplanet
"Siehst du eine Chance?" "Ja, aber Feind hört mit." Kessler legte auf. Als er sich umdrehte, stand in der offenen Tür zur Seeterrasse die Frau, die er liebte. Schlank, rassig, hohe Beine, schmale Taille, Brüste nicht zu üppig, nicht zu klein. Die Sonne machte aus ihren Haaren einen Glorienschein. "Wie mußt du etwas anders machen?" fragte Marga Kramer. Sie war mit ihrem Motorboot herübergefahren, um ihn zu besuchen. Sie trug einen der neuen zweiteiligen Badeanzüge. Selbst bei dem hatte man an Stoff gespart. "Geschäfte", wich er aus. "Feind hört mit?" "Der Feind hört immer mit", sagte der bärenstarke kleine Mann, von dem Spötter behaupteten, er sei in der Steppe Asiens geboren worden. "Auch in der Liebe hört Feind mit?" Kessler deutete nach oben. "Nicht in unserem Schlafzimmer." Er umarmte sie und preßte sie an sich. * Noch einmal traf Karl Kessler sich mit Freunden auf seiner Burg am Rhein. Die Zufahrtsstraße führte steil hinauf. Ringsum, bis auf eine Stelle, fiel der Fels senkrecht ab. Man konnte die Burg leicht vor unliebsamen Beobachtern schützen. Und zu belauschen war die Runde auch nicht. Sie saßen in der Waffenhalle vor dem Kaminfeuer und tranken den besten Achtundzwanziger Mosel, den es für Geld zu kaufen gab. Sie waren Männer der Großindustrie und der Hochfinanz, die sich seit langem kannten und einander vertrauten. Sie hatten, ebenso wie Kessler, die Nazis nie mit einer Mark unterstützt. Sie waren konservativ-liberal. Das machte sie automatisch zu Feinden des Regimes. Sie lebten nur noch aufgrund ihrer großen Namen und ihrer wichtigen internationalen Verbindungen. "Aber die Tage sind abzuzählen", sagte der, den sie den Stahlbaron nannten, "wo das alles nicht mehr zählt." "Jetzt geht Hitler auf die Juden los." "Wer von uns hat nicht irgendwo einen jüdischen Großvater? Und wenn er keinen hat, dann wird ihm einer untergejubelt." "Höchste Zeit, Schluß zu machen!" "Womit? Mit Hitler? Den wirft niemand mehr aus dem Sattel. Du hältst keinen Mann auf, der auf der Siegerstraße marschiert." "Dann muß es die Wehrmacht tun", sagte einer der Hochofengiganten. "Die hat er nach dem Abgang von Generaloberst Fritsch auf sich vereidigt." "Dann", befürchtete einer der größten Bergwerksbesitzer an der Ruhr, "dann müssen wir Schluß machen. Verkaufen, Geld rausbringen, emigrieren." "Zu spät", fürchtete Kessler. "Morgen ist noch nicht zu spät." "Morgen ist leider Samstag, da haben alle Bankschalter geschlossen."
Copyright 2001 by readersplanet
Auswanderung, Emigration, war nicht nur ein technisches Problem. Sie hatten Familien, Kinder, Verwandte, Grundbesitz. Dicke Aktienpakete ließen sich weder eilig noch unauffällig verkaufen. "Wird schon nicht so schlimm werden", hoffte einer. "Es wird noch schlimmer werden." "Meine Familie lebt seit zweihundert Jahren an der Ruhr. Wir haben uns immer durch alle Krisen gemogelt." "Aber diesmal wird es eine Katastrophe", warnte Bankier Zollmeister. "Eine?" warf Kessler ein. "Macht ruhig zwei daraus." Sie erörterten und analysierten die Lage. Es wurde ein Horrorgemälde. Doch auf der anderen Seite - wenn Deutschland vielleicht eines Tages Europa beherrschte, waren ungeheure Geschäfte zu erwarten. "Leider nicht für mich", sagte Kessler resignierend. "Was hast du vor?" Kessler stand am Kamin und wärmte sich am Feuer. Er fror. Dann leerte er das Glas und warf es symbolisch in die Glut, als wisse er, daß es der letzte Schluck Mosel war, den er hier genommen hatte. Wenig später löste sich die Verschwörerrunde auf. Die Industriebosse fuhren nach Düsseldorf, Bochum und Essen zurück. Die Bankiers nach Frankfurt und Berlin. * Zur gleichen Stunde saß Marga Kramer im Berliner Gestapo-Hauptquartier in der Wilhelmstraße. Der Mann in der schwarzen Sturmbannführeruniform der SS musterte sie lange und sagte dann: "Eine schöne arische Frau wie Sie und dieser kommunistische Kretin, dieser Landesverräter, Devisenschieber, dieser Querulant und Staatsfeind, das grenzt ja an Blutschande." Die Schauspielerin fühlte sich beleidigt und verteidigte sich. "Ich liebe ihn." Der Gestapo-Chef winkte ab. "Sie lieben sein Geld, Gnädigste." Marga Kramers Gesicht erstarrte zur Totenmaske. Eiskalt fuhr der Gestapochef fort: "Wenn Kessler eines Tages ohne sein Vermögen dasteht, was dann?" Die junge Frau mit dem wunderschönen Profil, bei dem jedem Mann wehmütig ums Herz wurde, preßte die Knie eng zusammen und schwieg. "Zigarette?" "Ja, bitte!" "Dann", fuhr der Gestapochef fort, "bleibt Ihnen immer noch die Karriere übrig. Und Verzeihung, Gnädigste, das hat mit Ihrem Können und Ihrem Aussehen wenig zu tun - Ihre Karriere bei der Ufa, der Terra und der Tobis, die bestimmen wir." "Ich weiß", gab sie mit gequälter Stimme zu. Was für einen Mund, was für Augen, was für eine Ausstrahlung sie hatte! Der SS-Offizier versuchte, kühl zu bleiben. "Möchten Sie diesen neuen Film, Herz der Welt, mit George und Birgel machen?" Sie dachte nach, zögerte und nickte dann.
Copyright 2001 by readersplanet
"Nach diesem Film sind Sie der absolute Star. Sie kriegen die Rolle - wenn Sie mit uns zusammenarbeiten." Es war, als füllten sich ihre Augen mit Tränen, als sie sagte: "Das ist Erpressung." "Das Leben spielt nun einmal so, Gnädigste." Sie wischte sich die Tränen ab. "Und was habe ich zu tun?" Der Mann in Schwarz mit viel Silber am Kragen und an den Schulterklappen öffnete eine Akte. "Wir brauchen alles über Doktor Kessler. Und dann packen wir ihn." "Ich weiß nichts." "Sie wissen trotzdem mehr als wir. Jeder Mann wird im Bett gesprächig." "Ist Ihnen klar", sagte Marga Kramer daraufhin, "daß Sie ein Schweinehund sind, Obersturmbannführer?" Der Gestapo-Chef nickte. "Und Sie eine Hure", entgegnete er ungerührt. "Liebe für eine Villa, für ein Horch-Cabriolet, für Brillanten - das ist Hurerei. Ich bin ein Schwein, und Sie sind eine Nutte. Deshalb müssen wir uns zusammentun, denn wir haben beide dasselbe Ziel, Schätzchen." Sie drückte die Zigarette aus und würgte den Ekel hinunter. "Erzählen Sie!" wurde sie aufgefordert. Und sie erzählte. Langsam, stockend, aber sie verriet ihren Liebhaber. Später sagte Heydrich: "Wann ist er in Berlin?" "Morgen." "Besitzt er Waffen?" "Wie alle leidenschaftlichen Jäger." "Wir wollen kein Aufsehen, keine Schießerei. Einen Mann verhaftet man am leichtesten nackt im Bett. Können Sie das arrangieren?" Sie sagte nicht nein und nicht ja, aber in ihren Augen war zu lesen, daß sie sich entschieden hatte. * Noch bevor Kessler die Rückfahrt nach Berlin antrat, wurde er gewarnt. Man sagte ihm, seine Freundin habe ihn bei der Gestapo verpfiffen, er würde auf Schritt und Tritt jede Minute beobachtet. Also schickte er den Wagen nach Berlin und beorderte seine He-70 nach Köln. Er selbst nahm die Aktentasche mit den wichtigsten Dokumenten, schnallte sie auf den Gepäckständer am Fahrrad des Verwalters und fuhr durch den Eichenwald hinunter nach St. Goarshausen. Von dort radelte er im Nebel rheinaufwärts bis zur nächsten Bahnstation. In Kaub, so hoffte er, würde ihn keiner kennen, wenn er den Frühzug nach Bonn bestieg. In einem leeren Erste-Klasse-Abteil drückte er sich in die Ecke, schlug den Kragen hoch und stellte sich schlafend. Bis auf den kontrollierenden Schaffner kam niemand vorbei. In Koblenz verließ er den Personenzug und studierte den Fahrplan. In vierzig Minuten kam der Rheingold durch. Aber der hielt nicht in Koblenz. -Dann gab es noch einen D-Zug, 6.22 Uhr. Zu spät. Um diese Zeit war es schon hell, und die Maschine würde längst in Köln gelandet sein. Copyright 2001 by readersplanet
Bei dem perfekten Fahndungsapparat, über den die Gestapo verfügte, wußten sie inzwischen längst, daß er sie leimte. Wenn der Horch ohne ihn Berlin erreichte, würden sie seine Heinkel beschlagnahmen und versiegeln. Dann blieb ihm nur noch Frankreich. Doch Frankreich hatte er als Fluchtweg bewußt ausgeklammert. Die Franzosen behandelten jeden Deutschen als Emigranten, griffen ihn schon an der Grenze und sperrten ihn in ein Lager. Draußen am Bahnhofsvorplatz stand ein Polizist neben dem Postbus. Kessler ging in die Bahnhofswirtschaft und telefonierte nach einem Taxi. In Deckung der Litfaßsäule wartete er. Endlich kam eine Adler-Limousine, schwarz mit karierten Taxistreifen. Eilig stieg er ein. Wie immer, hinten. "Köln! " rief er nach vorn. "Haben Sie angerufen?" "Ja, ich muß nach Köln." "So weit reicht meine Lizenz nicht", bedauerte der Fahrer. "In Bonn ist Schluß." Kessler zog einen Hunderter aus der Brieftasche. "Vergrößert der Ihre Lizenz?" "Nein, aber ich kenne in Bonn einen, der eine Lizenz bis Köln hat." * Im Rheintal hob sich der Nebel. Auf dem kleinen Verkehrsflugplatz von Köln-Frechen auch. Kesslers Pilot wartete neben der tropfnassen He-70. Dr. Kessler stieg sofort vom Taxi in die Kabine um. Sein einziges Gepäck war eine Aktentasche. "Können wir?" fragte er den Piloten. - Es war mehr eine Anordnung. "Wir können", antwortete der Pilot, obwohl die Bedingungen unter aller Sau waren und nicht einmal die Spatzen bei diesem Wetter flogen. Die Sicht betrug kaum zweihundert Meter. Aber er wollte das Vertrauen seines Chefs nicht verlieren. Der hatte ihn angestellt, nachdem er seinen Pilotenschein als Nachtpostflieger wegen einer Notlandung auf dem Gelände der Gaswerke von Groß-Berlin eingebüßt hatte. Daß einer bei Nacht und Regen den Flugplatz Tempelhof nicht fand, das kam vor, aber er war nur haarscharf am großen Gaskessel und somit an einer Katastrophe vorbeigeschrammt. Dafür war ihm die Fluglizenz entzogen worden. Kessler hatte für ihn prozessiert und ihm die Lizenz wiederbeschafft. Seitdem gab es auf Kesslers Frage "Können wir?" nur eine Antwort: "Ja, wir können." Welchen Narren der Chef an ihm gefressen hatte, wußte er nicht, vielleicht weil er früher Kommunist und nie Mitglied beim NSFK (Nationalsozialistischen Fliegerkorps) war. "Nachgetankt?" fragte Kessler, als der Pilot den Motor anließ. "Sie wollten erst nicht mit Sprit herausrücken. Man muß das vorher beantragen." "Wie weit kommen wir?" "Wohin wollen Sie, Herr Doktor?" "Das sage ich Ihnen, wenn wir in der Luft sind. Haben Sie Startfreigabe?" "Ab fünf Uhr." Es war zwei Minuten nach 5.00 Uhr. Der Motor lief rund und warm. Der Pilot erhöhte die Drehzahl, rollte zum Startpunkt und richtete die Heinkel parallel zu den Markierungen. Vollgas - und hinein in die Waschküche. Bei hundertvierzig zog er. Zehn Meter über dem Boden war nur noch graue Watte um sie herum. Wegen der Hochspannungsleitung ging der Pilot sofort in eine Kurve. Fahrwerk ein, trimmen. Auf Höhe dreihundert nahm er Gas zurück. Copyright 2001 by readersplanet
"Wohin, Herr Doktor?" "Kurs zweihundert Grad." "Das ist südwestlich." "Lissabon." "Knapp zweitausenddreihundert Kilometer." "Schaffen wir das in einem Rutsch?" Seine Antwort wäre eigentlich nein gewesen. Aber bei der günstigsten Geschwindigkeit mit etwas Rückenwind war es vielleicht zu machen. "Wird klappen, wie?" "Ja", sagte der Pilot, der nie nein sagte. * Als Karl Kessler einen Monat später in Sydney in Australien ankam, erfuhr er, daß die Nazis mit Hilfe einer gewissen Marga Kramer seinen ganzen beweglichen und unbeweglichen Besitz beschlagnahmt hatten. Die Geschäftshäuser, die Firmen, die Werke, die Villa, das Landgut und die Burg. Nicht zu reden von seiner Hochseejacht in Swinemünde, seinen Autos und seinem Flugzeug. Die Rennpferde hatte er zum Glück schon vorher verkauft. Die Finanzbehörden schlossen die Kessler-Bank und sperrten seine privaten Konten. Sie hatten aber wenig Freude damit. Er hatte jede verfügbare Mark in Dollar umgetauscht, auf Auslandskonten und von diesen Konten wieder auf andere Konten transferiert. Seine Aktienpakete im Safe der Kessler-Bank hatte er, um sie nicht abstoßen zu müssen, als Sicherheit für Reichsbankkredite gegeben. Alles in allem verlor der letzte Sproß der Kessler-Familie durch seine Flucht aus Deutschland Werte in Höhe von dreißig Millionen Reichsmark. Andererseits lagen auf seinem Dollarkonto bei der Canberra-Bank in Sydney vierzehn Millionen. Damit hatte er sein Auskommen und die Möglichkeit, neue Geschäfte aufzubauen. - Aber danach stand ihm mit seinen vierundfünfzig Jahren nicht der Sinn. Er kaufte sich unweit von Sydney, etwa eine halbe Autostunde entfernt, eine Ranch am Meer. Eingebettet in sanfte grüne Hügel, umgeben von Sykomoren-Wäldern lag die Villa inmitten von mehreren tausend Acres. Dr. Karl Kessler holte jetzt nach, was er bisher versäumt hatte. Er lebte sein Leben. Er perfektionierte sein Englisch, besuchte Theatervorstellungen, Konzerte, ging auf Partys, ins Kino und lernte einige hübsche, willige Mädchen kennen. Für seinen Geschmack hatten sie nur ein Manko: Sie soffen alle. Aber das war australischer Nationalsport. Als in Europa die Lage immer brenzliger wurde und es nach Krieg aussah, mußte Kessler befürchten, wie alle Deutschen eingesperrt zu werden. Also suchte er sich den besten Anwalt von Sydney und beantragte seine Einbürgerung. Da er genug Vermögen und Besitz hatte, war es nur eine Frage von Verbindungen, bis die richtigen Stellen geschmiert und bestochen waren. Karl Kessler erhielt noch im Jahre 1939 seine australische Staatsbürgerschaft, womit er vermutlich die absolute Rekordzeit zwischen Antrag und Genehmigung aufstellte. Durch die Kriegserklärung Großbritanniens als Folge von Hitlers Angriff auf Polen wurden auch in Australien alle Deutschen zunächst überwacht und später interniert. Wieder einmal war Karl Kessler, der sich jetzt offiziell Ken Kessler nannte, diesem Schicksal entgangen. Doch einem anderen Schicksal entging er nicht. Er wurde krank. * Als die Diagnose Leberkrebs feststand und Dr. Kessler nur noch wenige Monate zu leben hatte, kam eines Tages ein Mann im dunklen Anzug zu ihm, der sich als Prediger der Episkopat-Kirche vorstellte.
Copyright 2001 by readersplanet
Auf irgendwelchen Kanälen hatte er erfahren, daß Kessler dem Tode geweiht, ohne Erben und ziemlich reich war. Gegen eine große Geldsumme für seine Gemeinde wollte er ihm Trost und Zuspruch verkaufen. "Gott wird es Ihnen vergelten, Bruder", sagte er. Kessler fertigte ihn an der Haustür ab. "Es gibt Menschen", sagte Kessler, "die sind ein Leben lang gemein und niederträchtig. Sie werden neunzig Jahre und sterben eines schönen Todes. Dann gibt es andere, die sind hilfreich und uneigennützig, die krepieren arm und unter äußerst schmerzhaften Bedingungen. Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Also hören Sie mir auf mit Ihrem Gott! " "Der Herr schenkte Ihnen immerhin die Gnade, fünfzig Jahre zu leben", erwiderte der Prediger samtäugig. Bevor er diesem Heuchler in den Hintern trat, schloß Kessler lieber die Tür. An diesem Tag rief er Benson Mortimer an. Mortimer war Anwalt und Notar, ein Advokat also. Am nächsten Morgen kam Dr. Benson, ein junger Jurist von etwa fünfundzwanzig Jahren, auf die Kessler-Ranch. "Sie haben meine Einbürgerung glatt und ohne Aufsehen durchgezogen", sagte Kessler. "Ich habe Vertrauen zu Ihnen. Bitte nehmen Sie heute mein Testament entgegen." Die Echtheit der Niederschrift wurde vom Notar und zwei Hausangestellten als Zeugen bestätigt. Allein mit dem Anwalt, versiegelte Kessler das Testament in einem steifen braunen Umschlag. "Zu öffnen fünfzig Jahre nach meinem Tode", entschied er, "im Jahre neunzehnhundertneunzig oder etwas früher." "Sie wollen sterben, Mister Kessler?" fragte der junge Jurist mit britischem Humor. »Warum bitte?" "Weil ich leider muß. Oder wissen Sie einen Weg, wie man eine kaputte Leber durch eine gesunde ersetzt?" "Der Alkohol, Sir?" "Nur eine verschlampte Gelbsucht." Der Anwalt bekam einen ebenfalls vorbereiteten Umschlag. Er hatte sich kaum schließen lassen, so viele Banknoten enthielt er. "Das sind hunderttausend amerikanische Dollar", erwähnte Kessler. "Wofür? Mein Honorar beträgt bestenfalls fünfhundert." Kessler winkte ab. "Sie werden noch eine Menge mit mir zu tun kriegen. Einzelheiten entnehmen Sie dieser Mappe. Die Vollmachten, mein Vermögen betreffend, liegen bei. Alle zwei Jahre wird eine ebenfalls von mir beauftragte Treuhandfirma den Zustand meines Vermögens überprüfen. Dieses Vermögen beträgt über sechzehn Millionen US-Dollar. Es ist gut gestreut angelegt, zu einer Verzinsung, die in sieben Jahren eine Verdoppelung garantiert. Sie werden also in fünfzig Jahren über eine beachtliche Summe verfügen. Und Sie werden sie für die Erfüllung meines Vermächtnisses einsetzen." Auch hierüber kam ein Vertrag zustande. "Noch eines", sagte Kessler, bevor der Notar nach Sydney zurückfuhr. "Bis es soweit ist, werden Sie ein älterer Herr sein, Mortimer. Sollten Sie es nicht selbst erleben, dann sorgen Sie bitte dafür, daß Ihr Nachfolger, ein Anwalt Ihres Vertrauens, oder wer auch immer, die Sache zu Ende bringen wird." Die Männer reichten sich die Hände.
Copyright 2001 by readersplanet
Noch einmal begegneten sie sich auf einer Gesellschaft anläßlich der Premiere eines Hollywoodfilmes, dann nie wieder. Im September 1940 starb der deutsche Emigrant Ken Kessler. Er wurde zwischen zwei Eichen auf seinem Besitz beigesetzt. - Nach der australischen Begräbnisordnung des Jahres 1940 war das noch möglich.
2. Im Januar sah es in Australien so aus, als würde das Jahr 1989 einen heißen Sommer bringen. Dann aber kam es im August nur zu einem kalten Winter. Einmal schneite es sogar. Es schneite genau an jenem Tag, als Dr. Benson Mortimer seinen wirklich schäbigen Ford Anglia Ecke Brisbane-Wollongong Street parkte. Mühsam stieg er aus und lehnte an seinem Auto, als würde ihm übel. Da trat ein Mann auf ihn zu. "Hier dürfen Sie aber nicht parken", sagte sein Arzt, der zufällig vorbeikam. "Mit sechsundsiebzig darf man alles", antwortete der Advokat. "Mag sein, aber was man nicht darf ist, um die Praxis seines Doktors einen Bogen machen." Der müde und alt aussehende Benson Mortimer antwortete mit einer abwehrenden Handbewegung. "Doc", sagte er, "Sie messen nur meinen Blutdruck, und die Sache endet in der Eisernen Lunge. Ich kenne doch die Verfahren in der Medizin. Erstens bin ich kerngesund, zweitens habe ich nicht das Geld für einen Klinikaufenthalt." Der Arzt wußte es besser. Der Advokat war nicht gesund, geschweige denn kerngesund. Mit Immobilien und Warentermingeschäften hatte er sein gesamtes Vermögen verloren. Man munkelte, er habe mehrere Millionen Schulden. Und das in einem Alter, in dem andere nur noch jagen und fischen gingen. Der Arzt packte seinen widerspenstigen Patienten am Ärmel und zog ihn um die Ecke in seine Praxis. Dort ließ er ihn gegen alle Proteste durch die Testmaschinen laufen. Blutbild, Urinprobe, Röntgengerät, Herzkardiogramm, Kotprobe, Mastdarmspiegelung, Abtasten der Prostata. "Alles bestens, wie?" fragte Benson Mortimer. "Rufen Sie mich morgen an! " Natürlich rief Mortimer nicht an, aber der Arzt meldete sich bei ihm. Da der Advokat nicht hören wollte, feuerte sein Arzt eine Breitseite ab. "Mir ist unbegreiflich, daß ein Auto ohne Räder und Motor noch fahren kann." "Alle Ärzte spinnen", sagte Dr. Mortimer. "Naja, da ist was dran", pflichtete der Doktor ihm bei. "Aber wenn ich aufzähle, woran es bei Ihnen nicht fehlt, bin ich schneller fertig." "Legen Sie auf, dann sind Sie ganz schnell fertig", reagierte Mortimer mürrisch. "Sie müssen operiert werden. So geht es nicht weiter, Mortimer! " "Und nach der Operation geht es auch nicht weiter", antwortete der Advokat. "Ich weiß, alles ist beschissen, und ich fühle mich auch beschissen. Schönen Dank, Doktor! " Mortimer legte auf und zog den Telefonstecker aus der Dose. So spät und überhaupt waren keine Anrufe zu erwarten. Seine Kanzlei war so gut wie vergessen und pleite. Aber eines hatte er noch zu erledigen. - Zwar war der Tag noch nicht da, aber er mußte es tun, solange er es tun konnte.
Copyright 2001 by readersplanet
Mortimer ging zu seinem altertümlichen, sechzig Jahre alten Vorkriegssafe und holte das fünfzig Jahre alte Kuvert heraus. Am Schreibtisch bei herabgezogener Lampe brach er das Siegel des Kessler-Testaments. Erst sortierte er den Inhalt, dann begann er, die letztwillige Verfügung des emigrierten Deutschen in Australien zu studieren. Schon beim ersten Überfliegen begann sein Herz heftig zu schlagen. Als er jede Zeile las und alle Einzelheiten begriff, war er einem Schock nahe. Zumindest wußte er eines: Er würde das Testament nie vollstrecken oder eine Vollstreckung auch nur in die Wege leiten können. Was Kessler hier anordnete, war ungeheuerlich. Nun holte Benson Mortimer den letzten Bericht der Treuhandfirma heraus. Sie hatte vertragsgemäß die Anlage von Kesslers Vermögen überprüft und einen Saldo von nahezu einer Milliarde Dollar testiert. Auf diese Summe war das Vermögen in fünfzig Jahren angewachsen. Es hatte sich praktisch alle sieben Jahre verdoppelt. Und das Honorar für die Kanzlei Mortimer betrug zehn Prozent, fast achtzig Millionen Dollar. Dieses Geld konnte der alte Mortimer verdammt gut brauchen. Andererseits würde er nicht mehr allzu lange leben. Zwar konnte man jetzt alles transplantieren - Herz, Leber, Nieren, Lunge und noch mehr -, für viel Geld so gut wie alles, aber je mehr er darüber nachdachte, desto undurchführbarer schien ihm die Vollstreckung des Testamentes eines Mannes, der im Grunde nur noch für seinen Haß gelebt hatte, den Haß auf die Schuldigen an seinem unwürdigen Abgang aus Europa. Zwei Männer und eine Frau waren es. Roosevelt, Stalin und eine gewisse Marga Kramer. Der Advokat legte die Akte Kessler wieder säuberlich geordnet in den Safe zurück. Dazu den handschriftlichen Kommentar, daß er sich aus moralischen Gründen außerstande sehe, den Auftrag durchzuführen. Benson Mortimer versperrte den Safe und steckte den Schlüssel ein wie immer. Zwei Tage später schoß er sich mit dem Offiziersrevolver, den er bei seiner Abmusterung als Captain der Reserve 1945 mit nach Hause genommen hatte, eine Kugel durch den Schädel. Er hatte den Lauf tief in den Rachen geschoben und dann abgedrückt. * Der Sohn von Benson Mortimer lebte und arbeitete als Anwalt in London. Nach Erhalt des Telex aus Sydney flog er sofort nach Hause und fand dort reichlich chaotische Verhältnisse vor. Erst begrub er seinen Vater, dann ordnete er dessen Nachlaß und sah sich nicht in der Lage, das Erbe anzutreten. Die Schulden seines Vaters betrugen viele Millionen Australische Dollar. Die Banken würden ihre Forderungen wohl abschreiben müssen. Dr. Benson Mortimer jun. verlängerte seinen Urlaub, um die Geschäfte der Kanzlei abzuwickeln. Einige Fälle delegierte er an Kollegen seines Vaters, andere reichte er an die Klienten zurück. Übrig blieb nur noch die Sache Kessler. Sein Vater hatte sich außerstande gesehen, das ominöse Testament Kesslers zu vollstrecken. Auch hatte er seinen Sohn schriftlich gewarnt, es zu tun. Aber Benson Mortimer jun. war erst fünfunddreißig Jahre alt, risikofreudig und unternehmerisch. Außerdem schätzte er Geld höher als Moral. Es dauerte eine Nacht, bis er sich durch die Akte Kessler hindurchgearbeitet hatte. Danach stand sein Entschluß fest. Er würde vor der Sache weder kapitulieren noch sich umbringen wie sein Vater, sondern das Vermächtnis dieses Hunnen dem Testament gemäß vollstrecken. Sein Honorar belief sich immerhin auf eine Dollarsumme, die es ihm erlaubte, Robe und Perücke für immer an den Nagel zu hängen. Nur, wie er die Sache am besten in Angriff nahm, war ihm noch nicht klar. Zu verrückt, um nicht zu sagen zu wahnsinnig, waren Kesslers Forderungen. Copyright 2001 by readersplanet
Es galt, eine Form zu finden, die ihn jeder Verantwortung für alles, was geschehen würde, enthob. Noch während er dafür eine juristische Basis ausknobelte, erinnerte er sich eines Mannes, der mit seinem Vater zusammengearbeitet hatte. Diesen Mann, einen Exagenten des australischen Geheimdienstes namens Cyris Brown, rief er an. * Cyris Brown war zwar fünfundzwanzig Jahre älter als der Londoner Anwalt, aber im Gegensatz zu dem eher schmächtigen Intellektuellen von athletischem Körperbau. Noch immer trieb er jede einigermaßen finanzierbare Sportart, vorwiegend solche, die nichts kosteten, wie Langlauf, Schwimmen, Gymnastik, Gewichte stemmen und Hacken von Kaminholz. Genaugenommen war er heute noch so gut wie vor jenem tragischen Einsatz in der Antarktis. - Das Verteidigungsministerium hatte sie damals losgeschickt, um die geheimnisvolle Tätigkeit eines unbekannten Kommandos im Lars-Christensen-Land zu beobachten. Dieses Gebiet gehörte zu jenem Sektor der Südpolregion, die von Australien beansprucht wurde. Sie waren mit einem Walfänger bis Kap Ann gefahren und hatten von dort den Marsch über das Eis angetreten. - Alles war gegen sie gewesen. Die Motoren der Schlitten fielen nacheinander aus, die Konserven erwiesen sich als ungenießbar, die Kameraden erkrankten an Ruhr und Hepatitis, und dann diese verheerenden orkanartigen Eisstürme. -Am Ende war nur er allein übriggeblieben. Im Delirium, dreivierteltot, hatten sie ihn mit Langstreckenhubschraubern gefunden und herausgeholt. Die Armeeärzte sprachen von einer Dauerschädigung seines Nervensystems. Er wurde frühpensioniert und hatte jeden Monat knapp die Hälfte dessen auf dem Konto, was ihm zugestanden hätte, wenn er seine Dienstzeit regulär beendet hätte. Er konnte also keine großen Sprünge machen. - So erledigte er einmal diesen, einmal jenen Job. Hauptsächlich stellte er für Anwälte Ermittlungen an. Dazu nutzte er seine ausgezeichneten Verbindungen zu Polizei und Geheimdiensten. Er arbeitete praktisch wie ein Privatdetektiv, wenn er sich auch nicht so nannte. Das alles wußte Benson Mortimer jun. Er hatte ihn angerufen, und jetzt saß Cyris Brown in seinem Büro. "Wie geht es, Captain?" fragte der junge Anwalt. In Cordjeans, Tweedjacke und rötlich gefärbtem Haar wirkte Brown seriös und aktiv. "Ich will immer noch gewinnen", sagte der Exagent lachend. "Gut, fabelhaft!" "Mit Einschränkungen, Sir." "Und was, bitte, ist schlecht daran?" "Daß die anderen immer alles selber gewinnen wollen." Brown verstärkte sein Lachen, und der Anwalt wußte, daß er den richtigen Mann für diesen Auftrag hatte. "Haben Sie Zeit, Captain?" "Erst mal säen, sonst ist keine Ernte einzubringen, Sir." Der Anwalt verstand. "Eine nicht alltägliche Sache", deutete Mortimer an. "Es kann schnell gehen, kann aber auch länger dauern. Vielleicht beantworten Sie meine Frage aus dem Gedächtnis, vielleicht müssen Sie auch die ganze Welt bereisen, um sie zu beantworten. So sieht es aus." "Klingt aufregend, Sir." Copyright 2001 by readersplanet
Der Anwalt lehnte sich zurück und nahm das Gebaren eines erfahrenen Advokaten an. "Das ist es auch. Honorar fünfzigtausend Dollar." Brown ließ sich nicht anmerken, ob er das hoch fand. "Fix?" "Für das Ergebnis." "Spesen?" "Extra." Brown sah jetzt aus, als habe er dringend einen Scotch, einen Kaffee oder eine Zigarette nötig. Er unterdrückte jedoch seine Wünsche. "Und wofür?" kam seine schnelle Frage. "Ich meine, was muß ich dafür tun?" "Einen Mann suchen." Brown präzisierte seine Fragen. "Einen lebenden? Name, Alter, Hautfarbe? Wo ungefähr hält er sich auf? Beruf, Religion?" Benson Mortimer jun. machte es nicht feierlicher als nötig. Dazu hatte er gar keine Zeit. Er brauchte das Ergebnis, und zwar so schnell wie möglich. "Ich habe nur den Beruf." "Wenn er selten ist, würde mir das ungeheuer helfen, Sir", bemerkte Brown. "Sie werden staunen. Es handelt sich um..." Nun beugte der Londoner Anwalt sich vor und sprach das Wort sehr deutlich aus. Captain Brown, an Überraschungen jeden Kalibers gewöhnt, legte den Finger an die Lippen, um seine Verblüffung zu verbergen. "In der Tat ziemlich seltener Beruf, Sir." "Wer sind darin die Besten der Welt?" "Sie suchen also mehrere davon?" "Den Besten oder die Besten, wenn es zwei oder drei sind." "Eine Fitneßfrage. Das wechselt natürlich." "Klar, jeder unterliegt Formschwankungen. Ist ja auch ein Beruf, bei dem man Risiken eingeht. Man kann selbst zum Opfer, geschnappt, verurteilt oder eingesperrt werden." "Nicht die Besten", entgegnete Captain Brown. "Diese Leute arbeiten im Auftrag, ohne inneres Motiv. Vom Honorar des Auftraggebers einmal abgesehen. Sie sind wie wandernde Raubtiere, die nur im Dunkel zuschlagen. Sie kommen von weit her, nehmen Witterung auf, jagen, reißen, wandern weiter und hinterlassen kaum Spuren." "Aber sie sind vorhanden." "Man registriert ihre Handschrift, ihre Art zu arbeiten. Danach ordnet man sie ein. Man sagt, die Sache in Tokio könnte der und die Sache in Paris jener gemacht haben." "Mehr weiß man nicht über sie?" Der Exagent wußte einiges über dieses seltene Handwerk und erzählte dem Anwalt von seinen Erfahrungen. "Sie sind ungeheuer schwer zu fassen. Reisende Künstler, wandernde Artisten. Natürlich gibt es Behörden, die etwas mehr über sie gesammelt haben, die sich speziell mit ihnen befassen. FBI, Interpol, der Yard, Interkrim, die Sureté, das deutsche Bundeskriminalamt sie alle unterhalten spezielle Abteilungen. Und es gibt auch einige Männer, die auf diesem Gebiet mehr wissen als andere." "Zum Beispiel?" erkundigte der Anwalt sich. "Das ist Teil meines Betriebskapitals, Sir", antwortete Captain Brown einsilbig. "Aber Sie kennen einen." Copyright 2001 by readersplanet
Brown nickte. "Das bringt der Beruf mit sich." "Können Sie diese oder andere Quellen anzapfen?" Cyris Brown steckte sich jetzt doch eine Zigarette an. "Ich würde mir die Fünfzigtausend gerne verdienen, Sir. Aber wie geht es danach weiter, wenn ich Ihnen die Namen liefere?" "Erst mal die Namen, Captain!" Brown, von Natur aus neugierig, denn das gehörte zum Geschäft, faßte tiefer. "Irre ich mich, wenn ich annehme, Sie wollen sich der besonderen Fähigkeiten dieser Leute oder dieses Mannes bedienen, Sir?" "Sie irren sich nicht, Captain." "Und wenn es mehrere sind - wie nehmen Sie dann die Auswahl des Besten vor?" Der Anwalt hob die Hände, als wasche er sie in Unschuld. "Wie wählt man unter drei nahezu gleich guten Experten den besten aus?" "Durch eine Prüfung, Sir, durch Wettkampf, indem man sie gegeneinander antreten läßt. Aber diese Superindividualisten in eine Arena zu bringen, das schaffen Sie nie, Sir." Der Anwalt räumte ein, daß dies gewiß schwer sein würde. Aber offenbar hatte er schon eine Idee. "Meine letzte Frage", äußerte Brown. "Sie brauchen diesen Mann doch nicht für sich persönlich. Dann müßte ich den Auftrag ablehnen. Ich kannte Ihren Vater sehr gut. Ich würde nie im Leben eine Hand rühren und mithelfen, seinen Sohn zum Kriminellen zu machen." "Ein Klientenauftrag", deutete Mortimer an. Was immer auch dahintersteckte, es gab ungefähr eine Million Möglichkeiten. - Captain Brown schien beruhigt zu sein. Mortimer wollte zu einem Ergebnis kommen. "Wann gehen Sie los, Captain?" "Jetzt", sagte der Exagent. Der Anwalt öffnete den Safe und nahm das Honorar heraus. Der Exagent zählte nach und hob die Brauen. "Die ganze Summe?" "Ich vertraue Ihnen, Captain." "Das mag ich aber gar nicht gerne. Ich kann auch mal erfolglos sein." "Sie bringen mir diesen Mann", sagte der Anwalt. "Sie sind der Beste, den ich in Australien kriegen kann. Unser MI-six vermißt Sie." "Und ich vermisse den MI-six, meinen Sie?" "Das sagte man mir, Captain." "Im Sinne von: Winter ist, weil es kalt ist. Und weil es kalt ist, ist Winter. - No, Sir, Irrtum. Ihre Annahme ist falsch. Ich vermisse den MI-six nicht." Schon im Lift nach unten machte der Exagent Pläne, wie er vorgehen würde. Als erstes würde er einen Flug nach Norden buchen. Nur wohin zuerst, das war die Frage. Nach Washington oder nach München.
3.
Copyright 2001 by readersplanet
Er schlief nur im Sommer oder in gutgeheizten Wohnungen nackt. Er schlief auch gern bei offenen Fenstern, obwohl ihn die Erfahrung gelehrt hatte, daß es nicht immer ratsam war. Doch in seinem Jagdhaus im Kaisergebirge schloß er sie nicht. Es sei denn, der Sturm brachte Regen mit und kam aus Nordosten. Meist hatte er seine Mauser in Griffweite. Nicht, um sie zu benutzen, aber allein der Gedanke, daß sie da war, beruhigte. In kürzerer Reichweite als die Pistole hatte er meist ein Mädchen. Allerdings nicht, wenn er droben in den Bergen hauste. Dann wollte er sich entspannen, mal wieder Bilanz ziehen, wenigstens einmal im Jahr. Und ausgerechnet an diesem Bergsommermorgen passierte etwas Unvorhergesehenes. Er wachte auf, und eine junge Frau stand in seinem Zimmer. Er hatte sie nie zuvor im Leben gesehen. Er schwor es. - Sicher hatte er einige Frauen, denen er begegnet war, vergessen, aber diese da, heilige Madonna, die kannte er nicht. Er richtete sich auf und machte Augengymnastik, um scharf zu sehen. - Sie war mittelgroß, schlank, nein, zerbrechlich dünn, aber irgend etwas an diesem brünetten Bubikopfgesicht erinnerte ihn an ein älteres Automobil. Es waren nicht die riesigen Scheinwerfer, sondern die stählernen Blattfedern. Vor Frauen dieser Art mußte man sich hüten. Er fragte nicht, wie sie hereingekommen sei. Klar, sie war über den Kaminholzstapel auf den Balkon geklettert und vom Balkon durch die Tür getreten. - Er fragte auch nicht, was sie wollte. Sie brachte nicht frische Brötchen vom Dorf herauf. Sie hatte eine Kamera umgehängt und trug am Schulterriemen ein Tonbandgerät. "Sie sind Robert Urban, BND-Agent, mit der Codenummer achtzehn", sagte sie statt Guten Morgen. Er verstärkte nur sein Grinsen. Sie hatte ihn gesucht und gefunden. Nichts zu ändern. "Schade, daß Sie aufgewacht sind. Wollte Sie eben knipsen. Warum sind Sie aufgewacht?" "Ihre Frequenz", sagte er. "Frauen wie Sie stören meine Wellenlänge. Sollten Sie ein einziges Mal auf Ihren verdammten Auslöser drücken, dann ziehe ich den Film aus der Kamera, schlage die Kamera kaputt und werfe euch runter in den Brunnen. Hören Sie ihn rauschen?" Nackt wie er war, stieg er aus dem Bett. Sie bekam runde Augen. "Kein Foto?" "Weder so noch im Bademantel." Er packte sie beim Arm, führte sie die Treppe hinunter in die Küche und ließ sie, während er Kaffee aufsetzte, nicht aus dem Visier. "Für welche Zeitung arbeiten Sie? Bild, Kurier, Abendblatt, Morgenblatt, Mittagsblatt?" "Ein neues Magazin. Wir brauchen echte Knüller. Erst recht in der Startphase. Und da dachten wir..." Er toastete Croissants, klapperte mit Tassen und Tellern, stellte alles auf das riesige Wirtshaustablett, dazu Butter, Wurst, Marmelade. Die Kaffeemaschine summte schon. "Dachten wir was?" fragte er. "Mister Dynamit. - Über ihn ist wenig bekannt." "Mister Dynamit? Wer ist das?" fragte er todernst. "Robert Urban." "Ah, mein kleiner Bruder Robert?" "Sie haben keinen Bruder." "Woher wissen Sie das?" "Wir wissen schon eine ganze Menge." Copyright 2001 by readersplanet
"Warum bemühen Sie sich dann...? Ach Quatsch! Kommen Sie!" Sie frühstückten vor dem kalten, nach Rauch, Ruß und Asche stinkenden Kamin. Die Reporterin war so reizvoll wie eine Blinddarmentzündung, und Urban haßte nicht nur Interviews, er haßte noch mehr unverhoffte Besucher. Hinzu kam, daß sich ein Freund angemeldet hatte, einer von weither, dem er leider nicht hatte absagen können. Andererseits wollte er die Reporterin elegant loswerden. "Sie kamen zu Fuß herauf?" "Mein Wagen fuhr sich schon unten an der Brücke fest." "Ja, es hat tagelang geregnet. Man sieht es an Ihren Schuhen." Ihr Problem. Sie war bei ihm eingestiegen. Mitleid hatte er nicht. "Ich muß weg", sagte er. "Einen Freund am Bus abholen. Ich nehme Sie mit runter. Jetzt bade ich, ziehe mich an, und Sie stellen Ihre Fragen. Okay?" Sie wirkte hocherfreut. "Und Sie werden antworten?" "Nein", sagte er. "Nicht mal mit ja oder nein." Vorsichtshalber nahm er ihr die Kamera weg. "Los, fangen Sie an!" * Das Mädchen aus Hamburg hielt sich an die Regeln, weil ihr nichts anderes übrigblieb. Kein Foto, nur Fragen, keine Antworten. Sie saß neben Urban im grünen Mercedes G. Urban versuchte mit Allradantrieb und gesperrtem Differential im kleinsten Gang, auf dem steilen Stück einen Doppelten Rittberger zu vermeiden. Er mußte ganz schön zaubern. Mit der Professionalität einer Journalistin mit Zukunft nahm die Dünne ihren Job wahr. "Ihre Leidenschaft sind Frauen und Alkohol. Man sagt, man höre die Damen bei schönem Wetter von Schwabing bis Pasing stöhnen. Und Ihr Whisky sei so unverdünnt, daß ein Schwarzbrenner aus Kentucky nur salutieren kann." Urbans Antworten bestanden aus entblößten Zähnen. "Wenn Sie gut drauf sind, rauchen Sie Riesenzigarren, zerbrechen die Gläser, nachdem Sie sie geleert haben, und streuen die Brösel in die tiefen Dekolletes von Damen. Finden Sie das komisch?" Der Weg führte jetzt durch Hochwald. Altes nasses Laub erhöhte den Schmiereffekt des Lehms. Links ging es höllisch steil hinunter. Die Reporterin hielt sich fest, war aber nicht zu irritieren. "Sie lieben schummrige Bars aus Mahagoni mit Leder und geben ab und zu einen Schuß gegen die Decke ab, wenn der Kellner nicht schnell genug die nächste Flasche bringt." Kopfschütteln war Urbans einzige Reaktion. "Sie rasen mit Ihrem schnellen Coupé von Party zu Party. Man findet Sie auf Barhockern und in Betten. In Afrika, in Kalifornien, in Fernost und in der Südsee." Der Pfad weitete sich zu einer Lichtung. Man hatte jetzt einen weiten Blick vom blauen Himmel bis zum Weiß des ewigen Schnees über dem grauen Granit der fernen Berge. "Sie lassen sich", fuhr die Reporterin fort, "lieber mit einer hungrigen Kobra einsperren, als mit einem Regenschirm auf der Straße sehen - oder einen Kinderwagen schiebend." Die Vögel zwitscherten, es duftete nach frühem Morgen, nach Tau und Tag.
Copyright 2001 by readersplanet
"Sie sind frech wie Rotz, haben die Nerven eines tauben Trommlers, die Lungen eines Pferdes, die Schlauheit einer Ratte, die Phantasie eines Komödienschreibers, und bei der Gewißheit, den Gegner geschlagen zu haben, verstärkt sich Ihr immerwährendes Lächeln, und in Ihre Augen tritt ein belustigtes Funkeln." Wie ein professioneller Holzwurm bohrte sie sich hinein. Aber Urbans Holz wurde immer härter. Er sagte nicht ein Wort. Als sie an der Brücke angekommen waren, hängte er ihren VW an den Mercedes, zog ihn aus dem Sumpf und tippte dann mit zwei Fingern gegen die Schläfe. Noch in dreißig Meter Entfernung hörte er sie schreien. "Sie verdammtes Macho-Arschloch, Sie!" Er bremste kurz und antwortete: "Und die weibliche Form von Macho ist Macha." * Sie kannten sich von zwei, drei Operationen her. Es waren nicht mehr gewesen, weil der australische MI-6 mit dem BND relativ wenige gemeinsame Aufgaben zu bewältigen hatte. Aber sie schätzten sich. Mister Dynamit war ein Markenname, und Captain Cyris Brown war kein Blender. Trotzdem begegnete Urban dem Australier mit jener Vorsicht, die Priester bei einem Exkommunizierten an den Tag legten. Man wußte nie, was sie von einem wollten. Daß Brown eine Hinterhältigkeit plante, war für Urban kaum vorstellbar. Andererseits hatte der Tag schon recht ungewöhnlich begonnen. Solche Tage endeten meist nicht damit, daß der Wind sich um hundertachtzig Grad drehte. "Du bist bis morgen früh mein lieber Gast", sagte Urban. "Morgen mittag muß ich in Pullach sein." Ob Brown ihm glaubte oder nicht, war Urban egal. Seine wahre Meinung zu verschweigen, darauf war er geschult. "Eine Stunde würde genügen, Colonel." "Laß dir Zeit", sagte Urban. "Ich hab' dich gern hier, Cyris." Er holte die Rotweingläser und etwas zum Knabbern. Käsewürfel, Schinkenstreifen, ganz trocken, die sich wunderbar in Fetzen reißen ließen, und Vintschgauer Vorschlag, auch Fladenbrot genannt. Dunkel, kroß gebacken, mit mehliger Rinde. "Allmählich rückte Cyris Brown mit seinem Anliegen heraus. "Ich schreibe ein Buch", begann er. "Alle schreiben Bücher: Schauspieler, Sportler, Nutten, Gangster. Verdammt, warum eigentlich?" "Weil es Verleger gibt, die Bücher machen und sie verkaufen wollen." "Klar. Und sie suchen Autoren, die etwas zu erzählen haben." "Offenbar bin ich so einer", meinte der Australier. Urban steckte die Holzwolle im Kamin an. "Bist du wirklich so einer?" "Eigentlich bin ich so keiner", gestand der Captain, "aber was soll's? Pecunia non olet. Geld stinkt nicht." Das dünngehobelte Holz loderte auf, setzte die Kienspäne und dann die großen Baumscheite in Brand. "Ein Buch über was?" fragte Urban. "Na ja, Geheimdienstinternas darf ich zehn Jahre lang nicht ausplaudern, sonst sperren sie mir die Pension. Also schreibe ich über die Besten. Titel: Die Besten." Copyright 2001 by readersplanet
"Die Besten wovon?" "In der Malerei, der Dichtkunst, der Musik, dem Sport, in der Forschung, der Wirtschaft, bei den Finanzen und und und." Urban massierte sein juckendes Kinn. "Deshalb fliegst du zu mir nach Europa?" Cyris Brown winkte ab. "In erster Linie flog ich nach Europa, um mich reparieren zu lassen. Und zwar in einer deutschen Klinik." Er deutete auf sein Herz. "Bypassoperation. Bei der Gelegenheit, dachte ich. . ." "Cyris Brown", sagte Urban. "Wie hast du dir das vorgestellt? Was kann ich zu deinem Buch beitragen? Gar nichts. Was verstehe ich von Kunst, von den Besten der Welt?" "Mit dem Aufzählen der sogenannten Besten bin ich fertig", erklärte der Australier. "Woran liegt es dann?" "Zu den Besten gehören auch die Schlechtesten. Da dürfen Verbrecherorganisationen nicht fehlen." "Du kennst sie. Es gibt eigentlich nur zwei: die Mafia und die chinesischen Contraden." Brown schwieg lange. Urban vermutete, daß jetzt die entscheidende Offenbarung käme. Sein Gast setzte zögernd an, verstummte, dachte nach und begann von neuem. "Wer", fragte er mit merkwürdig belegter Stimme, "sind deiner Meinung nach die größten Killer in dieser Welt unserer Tage?" Das machte Urban nachdenklich. Aus mehreren Gründen. * Nach einer langen Pause ließ Urban sich vernehmen: "Bin ich der erste, den du fragst?" "Nein." "Dann muß ich mich also anstrengen." "Ein guter Ruf verpflichtet." Urban stocherte im Feuer herum, goß Wein nach, trank und steckte sich eine Goldmundstück-WC an. Dann stieß er den Haken wieder ins Feuer, um der Glut unten Luft zu geben, hängte das Eisen in den Ständer des Kaminbestecks und atmete erst einmal durch. "Killer", sagte er endlich. "Die besten. Davon gibt es drei." Der Captain blickte erwartungsvoll. Offenbar gefiel ihm Urbans klare Antwort. "Drei also." "Wenn aller guten Dinge drei sind, warum sollen aller schlechten Dinge nicht auch drei sein?" Brown stellte den Hals schief. "Und... das ist eine gesicherte Erkenntnis?" "Was ist eine gesicherte Erkenntnis?" entgegnete Urban. "Man hat aus einer Reihe von Vorgängen, die mit dem gewaltsamen Tod von prominenten Leuten zu tun haben, die typischen Handlungsmerkmale von drei Berufsmördern herausanalysiert. Das ist alles." "Bei wie vielen Fällen und wie lange liegen sie zurück?" "Einige Jahre." "Die Szene ändert sich rasch." "So schnell wachsen die Spitzentalente nicht nach." Copyright 2001 by readersplanet
"Und wie kommt es, daß du davon weißt?" Urban grinste seinen Gast so unverschämt an, wie der ihn aushorchte. "Warum kommst du von Sydney ins Kaisergebirge und stellst mir diese Frage? Weil du annimmst, ich könnte einiges wissen. Und das trifft durchaus zu. Die Aufgabe von Geheimdiensten besteht unter anderem darin, Schaden von Personen und Einrichtungen des Landes, das sie unterhält, abzuwenden und die Sicherheitsrisiken zu verringern. Das schließt einen immerwährenden Kampf gegen Killer nicht aus. Wer weiß, schon morgen kann eine Terrororganisation sich eines solchen Killers bedienen und unseren Kanzler oder den amerikanischen Präsidenten umlegen lassen." Urban begnügte sich mit dieser Erklärung. Er hätte sie mühelos zu einem stundenlangen Vortrag ausweiten können. Aber bei Brown war das wohl nicht nötig. Der Exagent starrte ins Feuer. "Wer sind diese drei Top-Töter?" "Bitte ohne Gewährleistung", schränkte Urban ein. "Nach dem Stand meines Wissens von heute, zweiundzwanzig Uhr fünfundvierzig." "Und ohne üble Nachrede", versuchte Brown zu scherzen. "Trotzdem", gestand Urban, "fällt es mir schwer." Schließlich rückte er doch mit einer Art Reihenfolge heraus. Nicht, daß er Brown die Geschichte mit dem Buch über die Besten abnahm, er sagte es ihm, weil es kein Staatsgeheimnis war. "Ein Japaner, ein Italiener und ein Franzose", zählte er auf. "Haben sie Namen?" "Viele." "Und wie lauten die aktuellen? Ich meine Namen und Adresse, unter denen man sie erreicht." Urban wirkte jetzt beinah belustigt. "Für ein Interview?" "Warum nicht?" "Mit Namen und Adresse hätte man sie längst arbeitsunfähig gemacht, denke ich. Diesbezüglich ist mein Informationsstand äußerst dürftig." "Ich bin mit jedem Hinweis zufrieden." Urban spannte den Ex-Kollegen nicht lange auf die Folter. "Den Japaner nennen wir Mano-San, weil er vorwiegend mit den Händen tötet. Sei es mit der Handkante oder mit der Faust. Der zweite, der Italiener, wird Stiletto genannt. Er lebt irgendwo in der Schweiz am Lago Maggiore. Seine bevorzugten Waffen sind das Messer, die Harpune und die Rasierklinge. Nummer drei", Urban erwähnte ihn nur kurz, "wird in den Polizeiakten als Colt geführt. Er benutzt Schußwaffen." Urban ließ seinen Bericht wie die letzten Töne einer Symphonie des Grauens ausklingen. "Colt lebt bei Paris." "Danke", sagte sein Gast, hatte aber noch tausend Fragen. Sehr spät beendete Urban das Gespräch mit einer Warnung. "Killer suchen die Lust am Töten ohne den Nachteil des Sterbens. Sie sind gefährlich. Also sieh dich vor, Captain!" "Bin ich von gestern?" fragte der Australier. Vielleicht ja, dachte Urban.
Copyright 2001 by readersplanet
4.
Nach London zurückgekehrt wertete der Anwalt Dr. Benson Mortimer jun. die Informationen des Exagenten aus und ließ seine Verbindungen spielen. Er kannte da einen Nachtklubbesitzer namens Longford, der in eine böse Sache verwickelt gewesen war. Longfords Kompagnon war mit seiner Frau durchgebrannt, hatte die Kasse ausgeräumt und sogar noch Kredite aufgenommen. Longford war also ziemlich pleite, als man auch noch die Leiche seines Kompagnons aus der Themse zog. Scotland Yard ermittelte in Richtung Mord aus Eifersucht und brachte eine Reihe von Indizien zusammen. Ohne einen Schilling Honorar hatte Mortimer Longfords Verteidigung übernommen und ihn vor dem Strang gerettet. - Erst hatte er bewiesen, daß Longfords Ehefrau ihren Liebhaber getötet hatte, dann hatte er sie in Monaco ausfindig gemacht, der Polizei die Schuldige geliefert und Longford zu seinem Geld verholfen. Longford hatte damals gesagt, daß er ihm das nie vergessen würde. - Nun hoffte Mortimer, daß Longford ein gutes Gedächtnis hatte und auch dazu stand. Er fuhr nach Chelsea. Gerade wollte er sein Büro am Leicester Square verlassen, als das Telefon klingelte. Brown rief an. "Wo sind Sie, Captain?" "Noch in Washington." "Was ist mit der Liste? Wird sie länger?" "Erst länger", berichtete der ehemalige Geheimagent, "dann kürzer. Wer steht bis jetzt alles drauf?" Mortimer kannte die Namen der Killer auswendig. "Teiko, genannt Mano-San in Japan, Stiletto aus Italien, El Nylon und Monsieur Colt." "Streichen Sie Teiko", übermittelte der Captain. "Er saß in der Boeing, die vor zwei Jahren gegen den Fudschijama raste." "Woher haben Sie das?" "Von Kempethai-Freunden. Kempethai ist der japanische Geheimdienst. Sie waren hinter Teiko her." "Gestrichen", bestätigte Mortimer. "Und El Nylon, den Virtuosen mit dem Wurfseil und der Drosselschnur, können Sie ebenfalls abhaken." "Schade", gestand Mortimer. "Ein Syrer hätte mir zugesagt. Besonders einer, der lautlos arbeitet." "Wie ich höre, sitzt er in einem Jerusalemer Gefängnis wegen Beteiligung an einem Terror-Überfall auf das Stabsquartier der israelischen Armee. Er hatte General Shimon Peshir schon in seiner Garotta, als sie ihm eine Kugel gaben. Haftstrafe zwanzig Jahre. Falls er es überlebt." "Und woher wissen Sie das, Captain?" "Von CIA-Kollegen. Aber es ist kein Top-secret. Stand in allen arabischen Zeitungen." "Bleiben nur noch Stiletto und Colt." Alles, was Mortimer über den Franzosen mit dem Namen Colt erfahren hatte, machte ihm diesen Mann unheimlich. Er wußte nicht, warum. Es war rein gefühlsmäßig. Aber von Gefühlen wollte er sich bei diesem Auftrag nicht leiten lassen. "Danke, Captain", sagte er. "Sehen wir uns noch?" "Nur, wenn ich über London fliege. Dann melde ich mich." Der Anwalt fuhr mit dem Lift in die Tiefgarage. Sein schwarzer Jaguar stand als einer der letzten Wagen im Keller des Bürohauses. Plötzlich hörte Mortimer das Tor oben an der Copyright 2001 by readersplanet
Rampe gehen. Ein Rolls kam herunter. Er gehörte dem Eigentümer des Gebäudes. Er bewohnte oben das Penthouse. Der Rolls war naß. Es regnete also. Wenn es regnete, waren die Kneipen in Chelsea bumsvoll, und man bekam keinen Parkplatz. Mortimer fuhr also mit dem Lift wieder ins Erdgeschoß und ließ sich vom Nachtportier ein Taxi rufen. Eine halbe Stunde später saß er in Longfords schummrigem Klub an der Bar und trank Champagner, der auf Longfords Rechnung ging. Longford hatte alle Hände voll zu tun, daß sein Laden in Schwung blieb, daß die Band und die Mädchen spurten. Doch er kam immer wieder auf ein paar Worte bei seinem Anwalt vorbei. "Schön, daß Sie mal vorbeisehen, Doktor", sagte er. "Bin geschäftlich hier." Longford war schon wieder weg. Als er zurückkam, fragte er: "Schulde ich Ihnen noch etwas, Doktor?" "Kein Geld", sagte Mortimer. Wieder war der Klubbesitzer weg, kümmerte sich um die Gäste, um den Service, um die nächste Striptease-Nummer, aber zweifellos verfügte er über ein hervorragendes Gedächtnis. Als er erneut bei dem Anwalt auftauchte, sagte er: "Einen Gefallen." "Einen Dienst." "Unter Gentlemen?" "Nur eine Information." Der flinke kleine Glatzkopf in seinem eleganten Smoking hob eine Hand und zeigte, daß er verstanden habe. "Eine Information, die man nicht im Adreßbuch findet. Bitte kommen Sie in mein Büro, Sir!" * Longford war der Meinung gewesen, er könne es in zwei Tagen schaffen, obwohl es außergewöhnlich und schwer war. Er rief erst nach vier Tagen an. "Habe Sie nicht vergessen, Sir", sagte er. "Aber diese Burschen sind wie die Elektrizität. Sie ist da, man sieht sie nicht, man fühlt sie nur. - Also, den einen habe ich. Stiletto, wohnhaft in Lugano, Schweiz. Villa am Monte Bré. Mercedes, Weinberg in Apulien. Offiziell ist er Anlageberater. Das sind sie heute alle. Er lebt zusammen mit einer Blondine. Angeblich seine Schwester. Wer's glaubt. Ein schwarzhaariger Italiener hat ausgerechnet eine blonde Schwester. Naja, von mir aus." Mortimer bekam die genaue Adresse, aber keine Telefonnummer. Sie war offenbar geheim. "An Monsieur Colt arbeiten wir noch", bedauerte Longford. "Wer ist wir?" "Ein Freund hier, ein Kumpel dort und einer in Paris. Wie schon gesagt, diese Leute sind wie der elektrische Strom. Vorhanden, aber unsichtbar. Doch wenn man den Schalter drückt, treten sie in Aktion." "Wann", fragte Mortimer, "erhalte ich den Rest?" "Ich erwarte stündlich den Anruf vom Kontinent. Wollte nur schon mal einen Zwischenbericht geben." Der Anwalt Benson Mortimer jun. mußte noch eine geschlagene Woche warten. Dann endlich bekam er die Adresse von Colt. "Und sein echter Name lautet?" Copyright 2001 by readersplanet
"Er heißt wirklich Colt", sagte Longford. "Wohnung in Paris, Gut in der Normandie. Offiziell ist er..." "Anlageberater, ich weiß." "Nein, PR-Agent." "Na, das ist heute auch jeder zweite. Noch ein paar Fakten?" "Colt dürfte etwas älter sein als Stiletto. So um die Vierzig. Also auf der Höhe seiner Mannes und Schaffenskraft. Während man von Stiletto sagt, er sei sexuell ein wenig pervers, hat dieser Colt ein anderes Hobby. Er sammelt." "Skalps?" "Nein, alte Autos. Er hat schon zwei Pferdeställe voll davon. Er lebt mit wechselnden Freundinnen, aber wie alle Erfolgreichen dieser Branche sehr zurückgezogen. Solche Leute sind wie Elektrizität." "Unsichtbar, aber allgegenwärtig", erwähnte Mortimer. Er bekam die Adresse und einen Tip, wie man an den Franzosen herankam. "Danke, Longford", sagte er. "Wenn ich irgend etwas brauche, rufe ich wieder an." "Sind wir jetzt quitt?" wollte Longford wissen. "Endgültig." "Aber von mir wissen Sie das alles nicht, Sir." "Wenn ich je danach gefragt werden sollte", erklärte Mortimer, "dann hänge ich es einem meiner Bekannten beim Yard oder beim Geheimdienst an." Bis zum Wochenende gelang es Benson Mortimer jun., zwei Verabredungen zu treffen. Allein um die Experten in Bewegung zu bringen, waren Honorarvorschüsse von zwanzigtausend Dollar erforderlich. * Spezialisten wie Monsieur Colt bezogen Einkünfte wie Manager in einem Großkonzern. Sie brauchten also nicht bei McDonald's zu speisen. Benson Mortimer hatte von seiner Sekretärin auf der Seine-Insel im Tour d'Argent einen Tisch reservieren lassen. Es war 13.00 Uhr, ein trüber Tag in Paris. Colt kam fast pünktlich. - Seine Erscheinung verstärkte noch die Abneigung Mortimers gegen ihn. Colt bewegte sich wie ein Roboter und sah aus wie einer: eckig und kantig. Das aschefarbene Haar war strähnig naßgekämmt. Allerdings trug er teure Maßklamotten. Seine Stimme klang tiefgefrostet, als würde jemand das Fagott im Kühlraum blasen. Er schaute sich um, nahm Mortimer ins Visier, steuerte auf ihn zu und setzte sich. "Sie sind der Engländer?" "Woher wissen Sie das?" "Ich rieche Juristen." Mit diesem Mann brauchte man nicht über das Essen zu reden, sondern nur über das Geschäft. Zu Mortimers Verwunderung gelang Colt jedoch eine durchaus interessante Zusammenstellung erlesener Gerichte zu einem Menü. "Sie wissen, wer ich bin", stellte Colt fest. Der Anwalt blieb reserviert. "Wie Sie wissen, wer ich bin." "Für mich sind Sie ein Auftraggeber. Sie wollen einen Kontrakt." Der Anwalt aus London hob die rechte Hand, spreizte Daumen, Zeige- und Mittelfinger weg.
Copyright 2001 by readersplanet
"Drei Kontrakte", staunte Monsieur Colt. "Das wird teuer. Rabatte gebe ich nicht. Im Gegenteil. Sollte zwischen den drei Objekten ein Zusammenhang bestehen, erhöht sich das Risiko. Also kostet es auch Zuschlag." Das Hors d'oeuvre kam. Irgend etwas dampfte aus Blätterteigkringeln. Offenbar Muschelragout. "Reden wir vom Geld", schlug Mortimer vor. "Der Klient, für den ich tätig bin, hinterließ ein Testament. Darin sind drei Personen aufgeführt, denen sein Wohlwollen nicht gilt. Er legte sein damaliges Vermögen von etwa fünfzehn Millionen Dollar hochverzinslich an. Das bis heute angewachsene Kapital ist Ihr Honorar." Der Franzose schien zu rechnen. "Wann legte Ihr Mandant das Geld an?" "Vor fünfzig Jahren." "Zu wie viel Prozent'?" "Im Schnitt zwischen neun und elf." Noch mundete Colt der Bissen. Doch mit einemmal hörte er auf zu kauen. "Ich kann gut rechnen, aber sagen Sie mir, wenn ich mich um eine Zehnerpotenz vertan haben sollte. Fünfzehn Millionen zu zehn Prozent in fünfzig Jahren... Wenn man davon ausgeht, daß sich Kapital in sieben bis acht Jahren verdoppelt, dann sind das heute... Sie scherzen, Monsieur Mortimer." "Danach ist mir verdammt nicht zumute", erklärte Mortimer. "Das wäre heute nahezu eine Milliarde Dollar." "Abzüglich zehn Prozent für mich." "Und diesem Verrücktem fällt nichts Besseres ein, als. . ." "Freuen Sie sich nicht zu früh", riet Mortimer. "Die Sache hat zwei, drei Haken." Der erste Gang kam. Ein wenig mehr wäre besser gewesen. Aber alles lag auf dem Teller wie von Picasso gemalt. "Haken eins?" drängte Colt. "Mein Klient, ein deutscher Emigrant, Großindustrieller, haßte drei Menschen: Roosevelt, Stalin und eine Frau." "Diese drei Herrschaften dürfte der Herr im Himmel bereits zu sich geholt haben", kommentierte Colt. "Bis auf die Dame." "Die muß hochbetagt sein." Der Killer schnitt ein Stück von der Ente. "Und wer sind die Stellvertreter für Roosevelt und Stalin?" "Die derzeit wichtigsten Leute in den USA und Rußland." Colt legte Messer und Gabel weg und tupfte sich den Mund ab. "Danke für die Ehre", sagte er, "aber an den Präsidenten der USA und den Generalsekretär der KPdSU kommt man nicht heran. Keiner von uns." Er stand auf. Mortimer drückte ihn wieder auf den Sessel. "Der Präsident und der Generalsekretär sind doch nur Marionetten. Wirklich wichtig sind andere. Vielleicht Wissenschaftler. Daran wird noch gearbeitet." Colt nahm es zur Kenntnis. Daraufhin mundete ihm der nächste Gang und auch der übernächste. Aber vor dem Dessert mußte Mortimer ihm abermals den Appetit verderben. "Letzter Haken", sagte der Anwalt aus London. "Sie haben einen Konkurrenten." *
Copyright 2001 by readersplanet
Erst nach dem Mokka, als sie über die Seinebrücke Richtung Saint Germain schlenderten, reagierte Monsieur Colt. "Konkurrenz belebt das Geschäft." "Für Sie geht es um den Kontrakt, und für den anderen geht es ebenfalls um den Kontrakt. Der Bessere kriegt ihn." "Dann werde ich ihn haben", sagte Colt selbstsicher. "Kennen Sie denn Ihren Mitbewerber?" "Es gibt nur einen - Stiletto." "Danke! Das spart mir lange Erklärungen." Der Killer blieb stehen, beugte sich über das Brückengeländer und lachte so keuchend, als würde er sich erbrechen. "Sie wären der erste, der uns, Stiletto und mich, zu Gladiatoren macht. Wir hatten es nie nötig, uns in der Arena zu qualifizieren." "Denken Sie an das Honorar! Mit diesem Betrag wurden bis heute nicht und werden auch in den nächsten hundert Jahren nie wieder zwei Leute wie Sie und Stiletto entlohnt werden." Sie gingen weiter, und Colt machte eine Prophezeiung. "Sie hören jetzt von mir dasselbe, was Sie auch von Stiletto hören werden. Erst möchte ich Geld sehen. Allein für das Ansinnen, daß wir um die Wette rennen, verlange ich eine Million Dollar Vorkasse." Mortimer wollte nicht als großspurig gelten. Nur zögernd ging er darauf ein. "Sie bekommen das, was Stiletto fordert." "Er wird das Doppelte verlangen." Der Anwalt stieß die Hände in die Taschen des Trenchcoats. "Es ist nicht mein Geld." "Sobald dieser Betrag bereitsteht", versprach der Franzose, "trete ich in Aktion." Sie spazierten hinauf zum Pantheon und hinüber bis zum Jardin du Luxembourg. Dann waren sie sich einig. Der Kontrakt wurde festgelegt. Er enthielt nur wenige Paragraphen. "Keine Aufzeichnungen, bitte", wünschte der Anwalt. "Keine Unterschrift und kein Handschlag", ergänzte Monsieur Colt. "Wenn Sie den Kontrakt nicht erfüllen, leben Sie nicht mehr lange. So lautet unser Gesetz." "Einverstanden." Sie trennten sich am Boulevard Saint-Michel. Mortimer nahm ein Taxi, Monsieur Colt die Metro. * Zwei Tage später traf der Anwalt sich mit Stiletto in Zürich. Diesmal führte er die Verhandlungen auf andere Weise als mit dem Franzosen, denn der Italiener war ein umgänglicher Bursche. - Das Ergebnis war jedoch das gleiche. An der Forderung, daß es gegen Monsieur Colt ins Stechen ging, schluckte der Italiener ebenso. Doch angesichts des Honorars vergaß auch er seine Prinzipien. Mit dem Kessler-Vermögen konnte sich jeder zur Ruhe setzen, selbst wenn er Luxus wie ein Maharadscha liebte. Keinen Zweifel hatte Stiletto, daß es bei der Ausscheidung gegen Colt um Leben und Tod ging. Doch schien das auf ihn, ebenso wie auf den Franzosen, besonderen Reiz auszuüben. Für Berufskiller, die immer nur töteten, eröffnete die Gefahr, selbst getötet zu werden, eine neue Dimension. Bevor sie sich einigten, hatte der Italiener noch Fragen. Copyright 2001 by readersplanet
"Wie kamen Sie auf mich, Sir? Wer gab Ihnen meine Adresse?" "Spezialisten kennen Spezialisten", wich Mortimer geschickt aus. "Und der Wolf kennt den Wolf", ergänzte Stiletto, im Denken so fix wie in seinen Bewegungen, wie sein ganzer tänzerischer Körper. "Aber wer gab den Tip? Ich muß das wissen. Es geht um meine Sicherheit. Leute meines Formats sind ständig in Gefahr. Wir werden immerzu beobachtet und verfolgt. Die eine Seite versucht Beweise gegen uns zu sammeln, die andere, uns aus dem Geschäft zu drängen. Immerhin arbeiten wir nicht nach einer Handwerks- oder Zunftordnung. Für uns gibt es keine Ausbildung, kein Examen, ja nicht mal ein Gesetz." Mortimer wäre in der Lage gewesen, ihm die Paragraphen für vorsätzlichen Mord aufzusagen, aber er verzichtete darauf und deutete etwas anderes an. "Immerhin müssen Sie für Auftraggeber, für Interessenten an Ihrer Arbeit erreichbar sein. Also müssen Sie einen Zugang zu sich selbst offen halten, und sei es ein schmaler Tunnel mit vielen Windungen." Stiletto reagierte scharf wie ein Messer. "Und wer zeigte Ihnen den Eingang des Tunnels?" "Ich bekam ihn auf Umwegen von Freunden aus der Londoner und Pariser Unterwelt." Das stellte Stiletto nicht zufrieden. "Wer sagte Ihnen, daß es so einen Tunnel überhaupt gibt?" "Man nannte mir vier Experten. Einer davon ist tot, der andere wird eine Gefängniszelle nie mehr lebend verlassen." "Dann haben Sie das von Geheimdienstleuten", behauptete Stiletto, "denn was mit El Nylon passierte, davon wissen Polizeiorganisationen wie Interpol et cetera wenig bis gar nichts." "Genügt Ihnen das?" "Geheimdienste also. Erzählten Sie nicht, der Mann, der dieses Wahnsinns-Testament hinterließ, sei Deutscher gewesen? Darf ich daraus schließen, daß Sie den ersten Tip vom deutschen Geheimdienst, vom BND erhielten? Vielleicht von einem Topagenten dort?" "Wie sollte das zusammenpassen, Stiletto?" wandte Mortimer ein. "Wir stoßen die Nasen dieser Leute doch nicht auf eine heiße Spur." "Aber Sie brauchen die Information, ob diese Frau noch lebt. Und wenn ja, wo sie lebt." Er kombiniert nicht nach den Regeln der Logik, dachte Mortimer, aber erstaunlicherweise kommt er der Wahrheit ziemlich nahe. Captain Brown hatte in der Tat einen Spitzenmann des BND aufgesucht und zum Sprechen gebracht, wenn auch mit einer recht abenteuerlichen Geschichte. "Hüten Sie sich vor Geheimdiensten", warnte Stiletto den Londoner Anwalt. "Es gibt da ein paar erstaunlich erstklassige Burschen. Wenn ich beim BND einen Mann fürchte wie die Pest, dann ist es dieser Mister Dynamit." "Nie gehört", gestand Mortimer. "Beten Sie zu Gott, daß es so bleibt", riet der Killer ihm. Ende der Woche brachte Captain Brown als Kurier je eine Million US-Dollar in gebrauchten Hundertern nach Paris und Zürich. Dort hinterlegte er die Koffer an vereinbarten Plätzen. Kurze Anrufe bestätigten ihm, daß die Empfänger den Honorarvorschuß in Empfang genommen hatten. Dann meldete er sich in London. "Jetzt laufen die Konkurrenten im Stadion ein", sagte Brown zu Mortimer. "Schätze, das wird das Match des Jahres. Die Olympiade war ein Witz dagegen." "Das einzige, was bei der Olympiade größer war", meinte Benson Mortimer, "war die Zahl der Zuschauer." "Ich fliege dann nach Hause, Sir." Copyright 2001 by readersplanet
"Captain", erklärte Mortimer. "Sie haben beachtliche Arbeit geleistet. Ich habe mich an Sie gewöhnt. Ich schätze Ihre Pünktlichkeit und Ihre Zuverlässigkeit. Könnte sein, daß ich Sie noch einmal brauche. Bleiben Sie in der Gegend und machen Sie Ferien. Geben Sie mir Ihre Adresse durch. Honorar wie gehabt." "Gegen bezahlten Urlaub", sagte der Ex-Agent, "ist nichts einzuwenden, Sir."
5. Sie kannten einander nicht nur vom Hörensagen. Sie hielten ungefähr so viel voneinander wie der Pistolenhersteller Astra vom Schußwaffenproduzenten Mauser. Sie wußten von den Schwächen und Stärken des anderen, von seiner Technik, Aufträge zu erledigen, und von seinen Hobbies. Sie waren beide Berufskiller, also von ähnlicher Mentalität und Denkungsweise. Also vermochte jeder sich in den anderen zu versetzen. Dabei kamen beide zu ähnlichen Ergebnissen. Als dieser Denkprozeß bei Colt beendet war, besorgte er sich die geheime Telefonnummer von Stiletto in Lugano und rief ihn an. Er sprach englisch. "Hier Colt", sagte er. "Wollte Sie auch schon anrufen", gestand Stiletto. "Dann wissen Sie, um was es geht." "Mortimer", gab der Italiener als Stichwort. Das genügte. "Und darum, was dieser Idiot mit uns vorhat." "Er ist ein einfältiger Dummkopf", äußerte Stiletto in Colts Sinn. "Das macht er nicht mit mir. Mit Ihnen etwa?" "Wir werden uns die Sache teilen", schlug Stiletto vor. "Einer stirbt, der andere kassiert, und am Ende machen wir halbe-halbe." Der Franzose hustete sich die Kehle frei. "Einverstanden. Das wäre das Prinzip. Die große Linie." "Der Teufel sitzt im Detail", befürchtete der andere. "Wir müssen schlauer sein als Mortimer. Doch der ist ein verdammt cleverer Bursche. Eine Schwachmarke, aber mit Verstand." "Also wird nicht zu umgehen sein, daß wir uns treffen", meinte Stiletto. "Unbewaffnet." "An einem neutralen Ort." "Wo?" "Halber Weg, halbe Kosten. Paßt Ihnen Lyon?" "Genf", schlug der Italiener vor. Da hat er zwar den Heimvorteil, dachte der Franzose, und weil er eine Kanaille ist, will er mich nach Genf locken und umlegen. Aber auch ich bin eine Kanaille und lasse ihm sein Genf. Genau dorthin wollte auch er Stiletto haben. "Na schön, einverstanden." Sie einigten sich auf den Tag, die Stunde und den Treffpunkt. "Wenn es eine Verzögerung geben sollte", sagte der Franzose noch, "erreichen Sie mich im Hotel Sueva." "Und Sie mich im Carlton." "Je vous attende", sagte Colt, ins Französische verfallend. Copyright 2001 by readersplanet
*
Monsieur Colt hatte Genf akzeptiert, weil sein Dossier über den Konkurrenten Stiletto besser war, als das, was Stiletto über ihn wissen konnte. Zwar hatte auch er eine Schwäche, den Tick mit dem Sammeln alter Automobile, aber Stiletto hatte eine viel tiefergehende. Er liebte abartige Frauen. Dafür gab es in Europa nur wenige Anlaufpunkte, und die waren jedem Perversen bekannt. Eines der von internationaler Kundschaft meistbesuchten Etablissements lag in einem Landschloß bei St. Julien. St. Julien wiederum lag in Ostfrankreich, wenige Kilometer von Genf entfernt. Man mußte nur über die Grenze, und schon war man dort. Dieser Club galt unter Kennern als besonders delikat sortiert. In ihm hatte schon die sagenhafte Madame Claire gearbeitet, eine Frau ohne Arme und Beine. Und Liselotte, das Mädchen mit den zwei Köpfen. Am Tag bevor Colt nach Genf fuhr, rief er dort einen Mann an, der ihm verpflichtet war. Seiner Art entsprechend, redete er nicht lange herum. "Maître", sagte er zu dem Anwalt. "Sie wissen, wer ich bin. Ich brauche eine Auskunft über den Club Chou-Chou in St. Julien." "Sie meinen doch nicht diesen Perversenstall?" "Genau den. Haben Sie Verbindungen?" "Keine persönlichen", betonte der Anwalt. "Aber ich kenne einen, der mit dem Geschäftsführer befreundet ist." "Ich will wissen, ob ein Signor S. aus Lugano in der Kartei geführt wird. Diese Clubs pflegen ihre Kunden anzurufen, wenn interessante Neuzugänge erfolgen." "Dann dürfte es sich um eine streng gesicherte Kartei handeln", bemerkte der Maître zutreffend. "Vermutlich mehrfach überschlüsselt", ergänzte Colt. "Schwierig, schwierig", befürchtete der Schweizer. "Das geht nicht für nichts." "Geld spielt im Rahmen von zehntausend Dollar keine Rolle." "Ich versuche es. Bis wann brauchen Sie die Information?" "Bis heute abend", forderte Colt. "Es geht einzig darum, ob S. aus L. Kunde ist. Den Rest regle ich dann persönlich." Am Abend ging prompt sein Telefon. Er dachte, es wäre der Informant aus Genf, aber es war sein Mitbewerber um die australische Milliarde, Signor Stiletto. Mit gekünstelt freundlicher Stimme, die nichts Gutes ahnen ließ, begann der Italiener: "Wir sehen uns in Genf." "Übermorgen." "Fahren Sie mit dem Wagen hin?" "Mit meinem E-Jaguar." "Richtig, Sie lieben ja klassische Automobile. Nehmen Sie die direkte Route?" Colt gab sich mißtrauisch. "Warum interessiert Sie das, Stiletto?« "Kommen Sie über Avalon?" "Dazu müßte ich die Autobahn verlassen." "Ich habe zufällig einen guten Freund in Avalon. Den Conte de Montargis", erzählte Stiletto. "Auch er sammelt alte Automobile." "Das ist mir neu. Ich kenne fast alle großen Sammler Europas." Copyright 2001 by readersplanet
Der Italiener ließ sich nicht beirren. "Suchen Sie nicht einen Mercedes-540/K?" "Woher, zum Teufel, wissen Sie das?" tat Colt verblüfft. Der Italiener lachte kehlig. "Weil dieser Wagen der Traum eines jeden Sammlers ist, und weil es davon weltweit vielleicht noch drei oder vier Exemplare gibt. Zumindest in der Ausführung, wie ihn Montargis besitzt. Leider muß er sich von diesem wunderschönen Roadster trennen." "Baujahr?" fragte Colt. "Neunzehnhundertachtunddreißig. Herbst." "Das Neununddreißiger Modell also. Farbe?" "Mittelblau. Leder beige. Dach weiß. Auspuffrohre verchromt, Zustand eins plus." "Preis?" spielte Colt mit. "Den müssen Sie mit Montargis aushandeln. Aber unter zwei Millionen Franc dürfte wenig zu machen sein." "Das sind knapp eine halbe Million Dollar." "So etwa." Stiletto zeigte sich ungeheuer hilfsbereit. "Soll ich Montargis Ihr Kommen avisieren? Schließlich soll unsere Arbeit nicht nur aus Abkassieren bestehen. Freude ist der wahre Lohn." "Ich denke darüber nach", bat Colt um Bedenkzeit. "So ein Objekt ist schnell weg. Die Amerikaner und die Japaner sind ganz wild auf automobile Kunstwerke." "Vielleicht auf dem Rückweg", wich Colt aus. "Schön, sprechen wir in Genf noch einmal darüber. Bis übermorgen." Sofort nach diesem Gespräch ließ Colt sich die Nummer von Schloß Montargis in Avalon geben und rief dort an. Ein Diener erklärte, der Graf sei verreist. Er habe gehört, daß ein Mercedes aus der Sammlung des Grafen zum Verkauf stünde, sagte Colt. Der Graf habe sich schon letztes Jahr von all seinen Autos getrennt, antwortete der Diener. Vorausgesetzt, er sprach die Wahrheit, dann war die Geschichte eine Falle von Stiletto. - Ein altes Schloß, eine einsame Gegend. Stiletto legte sich auf die Lauer und schoß eine tödliche Harpune auf ihn ab. "Wie du mir", murmelte Colt. Am Abend vor dem Treffen mit seinem Konkurrenten Colt traf Stiletto in Genf ein und bezog das vorbestellte Zimmer im Hotel Carlton am See. Er beschloß, nur ein leichtes Abendessen zu nehmen. Pasta, dazu etwas Wein. Er wollte morgen, wenn es mit Colt um Hauen und Stechen ging, auf der Höhe sein. Denn daß Colt versuchen würde, ihn über den Tisch zu ziehen, war normal. Mit Leuten seines Schlages war es schwer, Abkommen zu treffen, besonders dann, wenn es um so viel Geld ging. Stiletto hatte sich ein Limit gesetzt. Entweder er übernahm den Milliarden-Auftrag, dann war er bereit, ein Viertel des Honorars Colt zu überlassen. Sollte Colt aber bereit sein, ein Drittel zu zahlen, hatte er nichts dagegen, wenn Colt den Coup durchführte. Stiletto war sicher, daß er es auf diesem Weg schaffen würde. Zwar besaß er nur eine lausige Schulbildung, hatte aber ungeheuer rasch und viel dazugelernt. Schon damals in Parma war er der cleverste Sechzehnjährige gewesen, sowohl in Geschäften wie bei den Mädchen. Er hatte den Beruf des Fleischers gelernt, war aber, weil Copyright 2001 by readersplanet
man dort besser verdiente, zur Industrie gegangen und hatte ein Jahr lang täglich aus Hunderten von Schweinen die Schinken herausgeschnitten und mit Salz eingerieben. Seine Fähigkeit, mit Messern umzugehen, war immer kraftvoll und talentiert gewesen. In den Pausen hatten sie Wettbewerbe im Messerwerfen durchgeführt. Es dauerte nicht lange, da halbierte er auf zwanzig Schritt eine Zigarette. Er war eben schon immer der Beste gewesen. Einmal waren Artisten in die Stadt gekommen. Sie hatten eine lächerliche Messerwerfernummer im Programm gehabt. Er hatte ihnen gezeigt, wie es wirklich ging, wie man sogar eine Fliege traf. Und sie hatten ihn mitgenommen. Von da ab war sein Name Stiletto. Es war in Sizilien gewesen, an einem langen heißen Sommer, als sich nach der Vorstellung ein Mann an ihn herangemacht hatte. "Signor Stiletto", hatte er gesagt. "Sie vergeuden Ihr Können. Was verdienen Sie?" Stiletto hatte ihm eine Summe genannt. - Daraufhin hatte der Mann gelacht und eine Summe genannt, die Stiletto den Atem verschlug. - "Und wofür, bitte?" hatte Stiletto gefragt. - Der andere hatte wieder gelacht, mit seinen vielen Goldzähnen. "Dafür, daß Sie nicht Ihre Ziele, sondern meine Ziele treffen." Sein erstes neues Ziel war die Frau eines Bauern auf dem Lande gewesen. Angeblich hatte sie die Mafia verraten oder würde es bald tun. Stiletto hatte keine Fragen gestellt, sondern ihr das Messer zwischen die Schulterblätter geworfen und kassiert. - Eine Million Lire. Ein Jahr später verdiente er hundertmal soviel. So war er zum Killer geworden. Und er wußte, daß er von Gott oder vom Teufel dazu ausersehen war. Das Telefon ging. "Störe ich, Signore?" fragte ein Mann, der nur seinen Vornamen genannt hatte. "Welcher Charles sind Sie?" "Von St. Julien, Signore." "Ach ja, erinnere mich. Club Chou-Chou. Wie geht es Ihnen, Charles?" "Merci, très bien", sagte der Franzose. "Schön, daß ich Sie erreiche." Doch blitzartig änderte Stiletto seinen Tonfall. "Verdammt, woher wissen Sie, daß ich heute im Carlton in Genf bin?" "Pardon, Monsieur", entschuldigte Charles sich. "Sie hinterließen uns freundlicherweise einige Angaben mit entsprechenden Wünschen sowie eine Telefonnummer in Lugano. Wir riefen heute vormittag dort an. Madame sagte, Sie seien verreist, und wir erhielten den Namen des von Ihnen gebuchten Hotels." "Schon gut, Charles", lenkte Stiletto ein. "Aber Sie haben der Signora nicht gesagt, um was es geht." "Um Geschäfte, Signore." Stiletto entspannte merklich und fragte, was Charles ihm zu bieten habe. Charles verdiente sich seinen Judaslohn und machte dem Kunden einige Neuzugänge schmackhaft. Als halte er die Hand vor, flüsterte er: "Siamesische Zwillinge, Monsieur." "Ist das wahr, Charles?" "Überzeugen Sie sich selbst." "Wie alt?" "Zusammen sechsunddreißig. Jede einzelne achtzehn, Monsieur." "Da steckt auch kein medizinischer Trick dahinter, wie damals bei der Dame mit den... Na, Sie wissen schon, die alles doppelt hatte." "Monsieur, wir achten auf den Ruf unseres Hauses."
Copyright 2001 by readersplanet
Stiletto überlegte. Er würde einen Kontrollanruf nach Lugano vornehmen. Wenn die Angaben von Charles stimmten, daß er sich am Morgen dort gemeldet hatte, würde er nach St. Julien hinüberfahren. Ein wenig Entspannung tat ihm sicher gut. "Wann öffnen Sie?" "Stets nach Sonnenuntergang, Monsieur." "Rechnen Sie mit mir bis dreiundzwanzig Uhr", sagte Stiletto. Seine Verbindung nach Lugano klappte sofort. Seine Schwester bestätigte den Anruf eines Monsieur Charles aus St. Julien. * Das Innere des Schlosses war von umwerfendem Pomp. Weiße Marmorböden, rotseidene Tapeten, der Rest in Gold. Zumindest in poliertem Messing. Es duftete nach der Frische von gepreßten Zitronen und Orangenschalen. Aus unsichtbaren Lautsprechern sickerte Musik, mehr sweet als hot. Ansonsten vernahm man kaum Geräusche. Die Stätten des Lasters waren wohl die am besten isolierten Räume Frankreichs, und wo die Damen warteten, das hatte Stiletto nie herausgefunden. Wenn man sie anhand der Fotos und Videos ausgesucht hatte, ging man nach oben, und sie waren da. Dazu die bestellte Champagnermarke und erlesene Imbisse. Charles, der Zeremonienmeister, stand im Foyer und empfing jeden Gast wie einen König. "Ein Glas zur Anregung, Signore?" "Später." "Fotos? Den Videoclip der Siamesen?" "Wozu? Ich verzehre mich nach dem Original." "Alles ist bereit, Monsieur." "Danke, ich habe leider wenig Zeit heute." Über Geld wurde nicht gesprochen. Jeder kannte die Preise. Auch Kreditkarten wurden akzeptiert. Aber am liebsten wurde Bares gesehen. Stiletto übergab Charles einen Umschlag. Dann eilte er hinauf. Die Treppe schwang sich halbkreisförmig aus dem Foyer nach oben. Sie hatte zweiundzwanzig Stufen. Und nur doppelt so viele Sekunden wie die Zahl ihrer Stufen hatte Stiletto noch zu leben. Er, ein Mann, der die Gefahr immer im Voraus spürte, erkannte sie diesmal nicht. Vermutlich wurde das Warnsignal von der sexuellen Erregung übertroffen. Oder er deutete das Gefühl falsch. Jedenfalls wandte er sich oben nach rechts und ging auf dem flauschigen Teppich den Gang entlang zur zweiten Tür links. Höflich klopfte er an, wurde hereingebeten und trat ein. Es war halbdunkel. Die Augen mußten sich erst auf das gedämpfte Rot einstellen. Als Stiletto die Tür schloß, fühlte er den steifen Druck im Nacken. Ein Schalldämpfer, rund, dick und kalt. Auf dem Bett lagen die Siamesischen Zwillinge, hübsch zurechtgemacht, frisiert, geschminkt und nackt. Und hinter ihm stand sein Mörder. Stiletto wußte, daß es nur Colt sein konnte. "Nicht Schloß Montargis in Avalon", sagte der Franzose, "sondern Schloß St. Julien. - Wie du mir, so ich dir." Im selben Moment schoß er. Gnadenlos, ohne Ansatz, ohne Zögern. Stiletto spürte nicht, wie die Kugel seinen Nacken durchbohrte. Er wußte nur, daß sich in seinem Körper für immer eine Trennung vollzogen hatte. Rumpf und Kopf waren voneinander abgeschaltet worden. Fast lautlos sackte Stiletto zu Boden. Aber sein Gehirn Copyright 2001 by readersplanet
lebte noch und nahm die Umwelt noch wahr, bis es durch mangelnde Blutzufuhr seine Tätigkeit für immer einstellen würde. Die Siamesinnen hatten die Liquidation mit angesehen. Verhalten wimmernd, umarmten sich ihre zusammengewachsenen Körper. Voll hilfloser Angst starrten sie den Mann an, der auf den Kunden gefeuert hatte. In aller Ruhe schraubte Colt den Schalldämpfer vom Lauf der Luger, steckte beide Teile in jeweils eine andere Sakkotasche und warf den Huren ein Geldbündel hin, wie man einem Hund einen Knochen hinwarf, um ihn zu beruhigen. Dann ging er. - So lautlos, wie er gekommen war. Während die Mädchen ihm fassungslos nachblickten, vernahmen sie plötzlich eine Stimme. Der Mund des Liquidierten begann zu sprechen. "Alles, was ich bei mir habe", krächzte er, "gehört euch... für einen kleinen Dienst." Die Stimme wurde leiser. Beim Sprechen trat Blut aus den Lippen. "Ruft... ruft einen Mann an... in München. Sein Name ist... ist... Robert Urban. Tut alles, um ihn zu erreichen... und sagt ihm etwas... sagt ihm folgendes..." Der Mund schwieg. Die Augen des Sterbenden schlossen sich. Irgendein motorisches Nervensystem zwang die Lungen noch zu atmen, aber die Bewegungen wurden zusehends schwächer. Noch einmal bäumte der Sterbende sich auf. "Sagt ihm, Colt wird die Erde anzünden. Alle werden darin verbrennen. Er ist schuld an meinem Tod. Ich weiß es. Mister Dynamit ist schuld an. . ." Die siamesischen Zwillinge betätigten die Alarm-Alarmklingel, die in jedem Zimmer installiert war. Als der Manager kam, lagen sie engumschlungen da und weinten.
6. Der BND-Agent Nr. 18, Robert Urban, erhielt einen ungewöhnlichen Anruf. Mit kindlicher Stimme übermittelte eine Französin ihm die Nachricht vom gewaltsamen Tod eines Mannes namens Stiletto, nahe Genf, und die Verwünschung, die der Sterbende gegen ihn ausgestoßen hatte - sofern er Mister Dynamit sei. Nichts brachte sie dazu, mehr zu sagen. Die Unbekannte hatte geschwiegen und zögernd aufgelegt. Sofort brachte Urban den Mord an Stiletto mit der Information, die er Captain Brown geliefert hatte, in Zusammenhang. Wie sonst hätte das Mädchen seinen Namen gewußt, wenn nicht von dem sterbenden Killer. Und der wiederum war von Brown oder einem anderen auf Urbans Tip hin kontaktiert worden. Keine Spur so breit wie eine Autobahn, aber sie deutete auf den australischen Ex-Agenten hin. Urban wußte, daß das Leben aus Reaktionsketten bestand. Man schloß ahnungslos ein Glied, und hundert Glieder weiter führte es zu einer Katastrophe. Man lebte damit, weil man es nicht wußte. Aber nun wußte er davon, und es entsprach seiner Wesensart, den Dingen auf den Grund zu gehen. Urban rief in Sydney an. Dort erfuhr er von Browns Haushälterin, daß der Captain noch in Europa weilte. Er mache irgendwo Urlaub an der Riviera. Mit Hilfe von Interpol, dem französischen Geheimdienst und der Sureté machte Urban ihn in einem Hotel in La Napoule ausfindig. Fortan wollte er die Sache nicht mehr dem Telefon überlassen. Der Captain konnte sich verleugnen lassen oder einfach die Kurve kratzen. Urban ließ sein BMW-Coupé durchsehen und volltanken und fuhr los. - Normalerweise legte er die tausend Kilometer bis zur Riviera in acht Stunden zurück. Aber was schiefgehen Copyright 2001 by readersplanet
konnte, ging schief. Stau an der österreichischen Grenze, Stau am Brenner, Stau an den Tankstellen. Dann zwang ihn ein Wolkenbruch, mit dem die Scheibenwischer nicht einmal auf Stufe drei fertig wurden, zu verhaltener Fahrweise. Der Regen hatte einen langen Atem und hielt von Verona bis Genua an. Kurz vor der Ausfahrt Nizza prallte in einem Tunnel ein LKW gegen einen Combi. Eine Stunde lang ging es weder vorwärts noch zurück. So kam es, daß Urban La Napoule nicht am frühen Abend, sondern erst in der Nacht erreichte. Captain Brown war irgendwo unterwegs. Urban wartete im Hotel. Es ging schon auf Mitternacht, als der Ex-Agent mit einer Algerierin im Arm aufkreuzte. Betrunken schrie er nach seinem Schlüssel und einer Flasche Scotch. Urban fürchtete, daß es Probleme geben würde, aber die Zeit drängte. Er wollte nicht länger warten. Der Nachtportier des Hotels hatte wortlos fünfhundert Francs entgegengenommen. Er würde nichts hören, nichts sehen und nichts sagen. Brown nahm den Lift, Urban die Treppe. Der Lift war schneller, aber Urban brachte noch den Fuß in die Tür, denn seine Beine waren flinker als die vier von Brown und dem Mädchen. Trotzdem mußte er die Tür mit ziemlicher Kraft aufdrücken. Die Algerierin hatte sich von innen dagegengestemmt. Der Katapulteffekt warf sie dem Australier in die Arme. Das schien ihm zunächst zu behagen, aber daß Urban mit einemmal dastand, gefiel ihm gar nicht. Browns Instinkte waren weder durch die Jahre noch durch den Alkohol verschüttet worden. Sofort schien er zu wissen, daß es jetzt haarig wurde. Er packte die Algerierin, schleuderte sie aufs Bett, daß ihre Bluse in Fetzen ging, und griff zu der Flasche auf dem Kaminsims. Daraus, wie er sie erst beim zweiten Mal am Hals erwischte, schloß Urban auf den Zustand seiner Reflexe. "Die schönen Tage von La Napoule sind zu Ende", sagte Urban. "Du hörst mir jetzt zu, Cyris, gut zu, oder... "Oder was?" zischte der Ex-Captain. "Oder es täte mir verdammt leid." "Was leid? Dir tut doch nie etwas leid." Brown riß den Arm mit der Flasche hoch, ließ sie heruntersausen und traf mit seinem Unterarm auf den von Urban, der sich ihm in die Quere gestellt hatte wie ein eiserner Schlagbaum. Die Flasche entglitt Browns Griff. Sie flog weiter, zum Glück aber auf das Sofa. Ohne Waffe fühlte der Captain sich unterlegen. Mit einer halben Drehung versuchte er, die Flasche wieder zu kriegen, und mußte Urbans Handkantenschlag ins Genick akzeptieren. Urban hatte nur mit einem Drittel der möglichen Energie zugeschlagen. Zu sanft. Der stiernackige Australier richtete sich stöhnend auf und wuchtete seine Faust in Urbans Leib. Das Mädchen schrie erst, winselte dann und heulte ungehemmt los, während die Männer sich herumbalgten. Urban wollte Cyris Brown nicht halbtot schlagen, sondern mit ihm reden. Also hämmerte er ihm nur die Faust gegen die Kinnlade. Wütend versuchte Brown ihm zwischen die Beine zu treten, traf aber Urbans Oberschenkel. Urban packte den Fuß und hebelte den Australier aus der Balance. Krachend ging er zu Boden. Dort setzte Urban ihm den Absatz auf die Kehle. "Cyris", sagte er kopfschüttelnd. "O Cyris!" "Ich werd's dir zeigen." "Warum, Cyris?" fragte Urban. "Was willst du damit beweisen? Du bist weit besser als alle Rentner, die ich kenne. Aber nimm es hin, daß ich noch kein Rentner bin." .,Eines Tages kommt auch für dich die Stunde, da du so am Boden liegst", keuchte Brown. "Eines Tages vielleicht", sagte Urban. "Bist du jetzt friedlich, oder muß ich dich fesseln?"
Copyright 2001 by readersplanet
.,Okay." Der Australier stand auf, ging ins Bad und hielt seinen Nacken unter die kalte Dusche. Urban blieb auf Tuchfühlung. Er setzte sich aufs WC und sagte: "Stiletto ist tot." "Nicht schade um ihn." "Keiner wird um einen Killer weinen", fuhr Urban fort, "aber der Tip kam von mir. Stiletto muß das gewußt haben. Er ließ mir herzliche Grüße ausrichten, bevor er zur Hölle fuhr, und ich soll ebenfalls zum Teufel gehen. - Jetzt möchte ich von dir wissen, was vorgefallen ist. Aber erzähl mir nichts vom Bücherschreiben oder so was!" Der Australier schluckte irgendeine Pille mit Wasser. "Wenn Colt sich einen vornimmt, dann nimmt er ihn gründlich vor und macht ihn fertig." Urban versuchte, das Knäuel zu entwirren. "Du schreibst keine Bücher über die Besten. Du hast dir bei mir die Namen von Killern erschlichen, hast sie ausfindig gemacht, damit sie für deinen Auftraggeber einen Kontrakt übernehmen." Brown stützte sich auf das Handwaschbecken, starrte in den Spiegel und sagte: "Es ist der größte Kontrakt, der je vergeben wurde. Man brachte sie dazu, daß sie um den Job kämpften. Offenbar siegte Colt. Mehr weiß ich nicht." "Du weißt mehr", beharrte Urban. "Aber ich bin zum Schweigen verpflichtet." "Mag sein. Aber ich würde es notfalls aus dir herausprügeln, Cyris." Der Captain zog eine Grimasse. Offenbar tat ihm das weh. "Geht es dir auch so?" fragte er. "Morgens sieht man noch super aus, abends fängt man an zu verwittern." "Da sind wir nicht die einzigen", bemerkte Urban. "Und auch nicht die einzigen Schlauen auf dieser Welt." "Mit Ausnahme von Cyris Brown, dachtest du wohl. Okay, letzte Chance, Captain. Auspacken oder einpacken. Dann mache ich aber ein viereckiges Paket aus dir." Brown war wieder klar genug, um die Situation zu beurteilen. Sein schiefer Blick streifte Urban. Der sah reichlich entschlossen aus. "Frag weiter, du Bastard." "Wer ist der Auftraggeber?" "Ein Anwalt in Sydney." "Ich sagte Auftraggeber, nicht Jobvermittler." "Der glaube ich, heißt Ken Kessler", erzählte Brown bereitwillig. "Deutscher Emigrant der letzten Stunde. Industrieller. Floh neununddreißig nach Australien, starb Monate später dort. Hinterließ aber ein Testament, fünfzig Jahre später zu öffnen und zu vollstrecken. Sein ganzes Vermögen ist für den Tod von drei Personen, die er von Herzen haßte, einzusetzen." "In fünfzig Jahren kann sich ein Vermögen vervielfachen. " "Es fing mit ungefähr fünfzehn Millionen Dollar an. Rechne dir aus, wie viel es heute sind." Urban hatte etwas anderes zu tun. "Weiter!" drängte er. "Kessler haßte drei Leute und will im nachhinein seine Rache." "Stalin, Roosevelt und eine Frau. Die Frau, weil sie ihn an die Gestapo verriet. Stalin, weil er ihn in Rußland nicht aufnahm, obwohl Kessler sich um die Sowjetunion verdient gemacht hatte. Roosevelt ließ seine Fabriken, seine Patente, sein Vermögen in den USA beschlagnahmen und verweigerte ihm, bedrängt von Kesslers Konkurrenz in der chemischen Industrie, das Einreisevisum." Copyright 2001 by readersplanet
Urban schob Brown in den Salon, fand etwas Trinkbares und goß zwei Gläser voll. "Wie soll die Rache aussehen? In Form von Leichenschändung?" Brown wirkte jetzt überfordert. "Schätze, da werden Computerprogramme gefahren, um die wichtigsten Männer in den USA und Rußland, die stellvertretend für Stalin und Roosevelt sterben dürfen, zu finden." "Wahnsinn ist das", erwiderte Urban, "kompletter Wahnsinn. Entweder du erzählst mir da einen fürchterlichen Scheiß, Brown, oder es ist wirklich purer Wahnsinn. - Wer sucht die Ersatzobjekte aus, und wer ist der beauftragte Anwalt?" Der Australier trank das Glas leer, setzte es ab und hob beide Hände. "Erschlag mich. Aber ich habe noch nie einen Klienten ins Messer laufen lassen." Das war die Mauer. Der Name würde Brown niemals über die Lippen kommen. Aber es gab andere Wege. "Du hast die Kontakte zu Stiletto und Colt hergestellt", behauptete Urban. "Ich habe daran mitgewirkt." "Colt muß Stiletto in eine Falle gelockt haben. Da ich annehme, daß beide über den Job Bescheid wußten, werde ich dort weitermachen." Der Australier lächelte mitleidig. "Bei Colt?" "Nein, erst bei Stiletto. Er ist tot, aber er muß irgendwo gewohnt haben. Wie lautet seine Adresse?" "Lugano", gab Brown bereitwillig Auskunft. "Monte Bré." Urban erhielt den Namen, unter dem der Killer gelebt hatte, die Straße und die Telefonnummer. "Dieses Gespräch", forderte Urban, "bleibt unter uns. Ein Wort davon irgendwohin, und du bist nie mehr vor mir sicher." "Dieser Urban", bemerkte der Australier kopfschüttelnd, "dieser Urban, wenn er in Form ist, dann wächst auf unerklärliche Weise der Abstand zwischen der Waffe des Gegners und der Stelle, wo es ihn schmerzt. Du bist schon ein Hundesohn, bist du." "Die Arbeit muß getan werden", sagte Urban. "Kümmere dich um deine Freundin, damit sie endlich zu flennen aufhört. Flennende Weiber sind das allerletzte." Um nicht einzugestehen, daß Tränen das einzige waren, was ihn wirklich weich machte, verließ Urban das Zimmer und das Hotel. * Das war wieder so ein Job, bei dem München, Nizza und Lugano zu einer einzigen Vierundachtzig-Stunden-Schicht verschmolzen. Urban wartete, bis das helle Mittagsblau des Luganer Sees sich samtschwarz verfärbte, dann stieg er in die Arkadenvilla ein. Nach seinen Beobachtungen war sie derzeit unbewohnt. Aber Stiletto hatte bis einen Tag vor seinem Tod hier gelebt. Wenn er Glück hatte, fand er Spuren, Hinweise, irgend etwas Verwertbares. In der Villa war viel Kunstmarmor und Terrazzo verbaut worden. Man hatte sie mit Geschmack eingerichtet, aber was so an Kunst herumstand und -hing, sah teurer aus, als es war. Urban steckte den flexiblen Streifen aus Thermoplastik, mit dem sich so gut wie alle Schlösser öffnen ließen, ein und zog den Kugelschreiber vom Clip. Er hatte oben eine Punktlichtlampe. Eigentlich grenzte es immer wieder an ein Wunder, was man in einem maßgeschneiderten Glenchecksakko so alles unterbrachte. Brieftasche, Bargeld, Zigaretten, Streichhölzer, die Copyright 2001 by readersplanet
Mauser 7,65, Dietriche, Nagelreiniger, Kamm, Kopfschmerztabletten, Kleenex, das Adreßbuch der schönsten Mädchen von Europa und Übersee, Schlüssel und noch so manches andere, ohne daß es auftrug. Wohl ein Ergebnis der Harmonie zwischen guter Figur und dem Können des Schneiders. Er trat mit den Ballen auf, um keine Absatzgeräusche zu verursachen. - Der Lichtpunkt wanderte über Wände, Möbel, den Boden, die Teppiche. Seitlich von der Wohnhalle führte eine Steintreppe mit weißem Eisengitter nach oben. Im Begriff sie zu nehmen, sah Urban den Papierkorb. Er stand, ungewöhnlich für Papierkörbe, neben dem Kamin. Aber noch war niemand dazu gekommen, den Inhalt zu verbrennen, Urban kippte ihn also aus, sortierte die Papierknäuel und glättete sie. In einer Handschrift, die zu rund und weiblich war, um von Stiletto zu stammen, stand da unter anderem: - Carlton Genf. Zimmer buchen. - Anschluß C. Paris. - Dazu eine siebenstellige Nummer. - M. London. Vorkasse auf Nummernkonto. - Charles St. Julien ruft im Carlton an. Geschäftlich??? Hinter dem Wort Geschäftlich standen mehrere Fragezeichen. Wer immer diese Notizen angelegt hatte, vermutlich eine Frau, hatte damit Zweifel ausgedrückt. Was Urban sonst noch fand, war Reklame, Kassenbons von Einkaufsmärkten, die Rechnung einer Wäscherei. Das half ihm wenig. Wichtig war der Telefonanschluß von C. in Paris. C. konnte Colt bedeuten. Demnach hatten Colt und Stiletto Kontakt aufgenommen. Aber warum, wenn sie im Wettlauf um den Job Konkurrenten waren? Hatten sie sich hinter dem Rücken des Auftraggebers zu einigen versucht, wollten sie Job-Sharing machen? Dies in der Absicht, den anderen bei passender Gelegenheit umzulegen? Wenn es so gewesen war, hatte Colt gewonnen. Falls C. wirklich Colt bedeutete. Vorkasse auf Nummernkonto konnte heißen, daß der Auftraggeber die Killer mit einer attraktiven Summe angelockt hatte. - Ein erfolgreicher Killer wie Stiletto machte das nicht für ein paar Tausender. Weiter. - M. London. Wer war M. London? Er würde Brown danach fragen, falls er ihn noch einmal traf. Im Begriff, das Papier wieder in den ledernen Behälter zu stopfen, vernahm Urban ein leises, ein sehr leises Patschen. Er löschte die Lampe und lauschte. Wieder das Geräusch, als falle ein kleiner Wassertropfen aus mittlerer Höhe auf Stein. Vorsichtig wechselte Urban die Position. Er tastete sich am Kaminsims entlang, bis er im Rücken den Druck des Treppengeländers spürte. Im selben Moment blitzte eine Lampe auf und warf einen gestochen scharfen Lichtkreis auf den Papierkorb. Dazu ein Fluch auf italienisch, so hart und scharf wie die Klinge eines Floretts. In der Stunde, in diesen knappen sechzig Minuten, als Urban seinen Beobachtungsposten aufgegeben hatte, um in der Stadt eine Pizza zu essen, mußte jemand zurückgekehrt sein. Das Spotlight verlosch. Urban vernahm jetzt heftiges Atmen sowie das Tasten einer Hand an der Wand. Ein Schalterklicken, und das Erdgeschoß der Villa war in helles Licht getaucht. Etwa sechs Schritte von ihm entfernt, am Bücherregal, lehnte eine Blondine mit einer Waffe in der Hand. Damenrevolver, Kaliber unter sieben Millimeter. Ihre Kleidung war von ergreifender Schlichtheit. Sie hatte nämlich gar nichts an. Sie war splitternackt. Was sie aber nicht hinderte, ihn wie einen gefährlichen Einbrecher zu behandeln. "Hinsetzen! Hände hoch! Keine Bewegung!"
Copyright 2001 by readersplanet
Ohne den Lauf der Waffe oder den Blick ihrer kühlen blauen Augen von Urban zu wenden, ging sie zum Telefon. "Haben Sie Stiletto schon beerdigt?" fragte Urban, um ins Gespräch zu kommen. "Stiletto, wer ist das?" tat sie verwundert und nahm den Hörer ab. Urban schaute sich ostentativ um. "Gehört ihm nicht dieses Haus?" "Es gehört mir." Sie legte den Hörer neben das Telefon. "Wir wußten gar nicht, daß er verheiratet... "Er war mein Bruder." Sie wählte mit dem linken Zeigefinger. "Und wer sind Sie?" "Einer von jenen, die kommen werden, weil sie sich für den mysteriösen Tod eines Berufskillers interessieren. Vielleicht bin ich der erste, aber gewiß nicht der letzte." Die Waffe lag nicht mehr so ruhig in ihrer Hand. "Diesen Humbug können Sie gleich der Polizei erzählen." Nun bluffte er drauflos. "Die Polizei weiß, daß ich hier bin. Sie dankt für jeden Hinweis, was den Mord an Stiletto betrifft." Nun senkte sie die Hand mit der Waffe, legte den Hörer zurück auf die Gabel und schien mit einemmal zu frieren. Sie hatte eine wirklich erstklassige Figur. Urban hätte Mühe gehabt zu sagen, was daran noch zu verbessern wäre. Der halbkugelige straffe Busen mit braunrosa Spitzen? No. Die schmale Taille, der Apfelhintern, der Schenkelschluß? No. Die Beine waren lang und gerade, die Füße nicht zu sehnig, die Zehen gelackt wie die Fingernägel. - Alles okay. Auch die kurze Schamhaarfrisur. Nur der Nabel war der Hebamme nicht ganz geglückt. Aber man konnte nicht alles haben. Mit einemmal war sie verschwunden und kam ohne Revolver in einem flauschigen, gelben Bademantel wieder. Sie setzte sich auf das Sofa gegenüber. Ihre Augen wurden feucht, aber sie beherrschte die Tränendrüsen. "Scusi, Verzeihung." "Nicht der Rede wert, Signora." Vermutlich lag es daran, daß er vorzüglich Italienisch sprach, aber irgendwie war die Hochspannung zwischen ihnen abgeschaltet und in die Transformatoren zurückgekrochen. Aber die elektrischen Blitze konnten jeden Augenblick wieder überspringen und zuschlagen. "Er war ein Killer", sagte Urban. "Sie verstehen also, daß ich kein Mitgefühl über sein Ableben ausdrücke." "Selbstverständlich", antwortete sie tonlos. "Andererseits haben Sie von mir nichts zu befürchten." "Das behaupten Polizisten und Staatsanwälte anfangs immer." "Ich bin Geheimagent. Lassen Sie uns reden. Es gibt einige Hintergründe zu klären, und schon sind Sie mich los." Sie bekam einen spöttischen Zug um den Mund. "Sie rechnen wohl immer damit, daß Sie Ihr Ziel erreichen?" "Das einzige, womit ich nicht rechne, Gnädigste", antwortete er scherzhaft, "sind fallende Preise und Steuersenkung." Sie brachte Wein, kalten Rosé, und zwei Gläser. "Nicht, daß Sie glauben, Sie seien willkommen. Es ist nur Höflichkeit." "Ich weiß es zu schätzen", sagte Urban. Copyright 2001 by readersplanet
Mit der Behäbigkeit einer Panzerschildkröte näherte Urban sich dem Thema. Vorsichtig rückte er damit heraus, was er wußte, um ihr offenzulegen, was er nicht wußte. "Ist M. der Auftraggeber?" "Ein Mann in London", bestätigte sie. "In Sydney und London." Den ganzen Namen kannte sie nicht. "Wußte Stiletto, was auf ihn zukam, falls er die Konkurrenz gegen Colt gewann?" "Drei Kontrakte", sagte sie. "Für eine Frau und zwei Männer." "Was wissen Sie über die Opfer?" "Die Männer werden erst noch ermittelt, die Frau ist bekannt. Sie spielte im Leben des toten Auftraggebers eine wichtige Rolle." "Dann muß sie, falls sie noch lebt, mindestens siebzig sein." Die Blondine zuckte mit den Schultern. Urban machte weiter, fragte und bekam Antworten. "Ihr Bruder und Colt trafen also folgende Absprache: kein Ausscheidungskampf, sondern Jobteilung. Der eine führt es durch, der andere bekommt einen Anteil." "So war es geplant. Einzelheiten sollten in Genf besprochen werden. Man hätte nie davon erfahren." "Jetzt weiß jeder, daß Colt gesiegt hat." "Und Colt wird in Aktion treten, das ist so sicher wie Schnee auf dem Montblanc." "Die Pariser Nummer mit dem Buchstaben C, ist das Colts Anschluß?" "Die Nummer gibt keine Antwort", sagte sie. "Ich habe es immer wieder versucht." "Warum?" "Um ihm zu sagen, daß ich weiß, wer Stiletto tötete." "Charles aus St. Julien, wer ist Charles?" Sie versuchte zu lächeln, aber es geriet ihr zu einer gallbitteren Grimasse. "Mein Bruder dachte, ich wüßte es nicht. Dieser Charles leitet einen Sexclub bei St. Julien. Mein Bruder hatte gewisse Veranlagungen, von denen er nicht loskam. Solche Leute haben es schwer, ihre Triebe zu befriedigen. Sie sind auf Zulieferer angewiesen. Man fand meines Bruders Leiche zwar am Schweizer Seeufer, aber ich bin sicher, daß man ihn in St. Julien tötete." "Colt?" "Kein anderer wäre meinem Bruder gewachsen gewesen." "Er ging offenbar in eine Falle." "Auch Stiletto hatte eine Falle für Colt gebaut, war aber weniger erfolgreich damit. Colt roch sie wohl." Urban erfuhr noch einiges und war sicher, daß ihm diese Frau im Moment nicht weiterhelfen konnte. "Ich rufe Sie an", sagte er. "Warum?" "Für den Fall, Sie erinnern sich noch an etwas. Wie darf ich Sie ansprechen?" "Clivia." "Ich melde mich als Robert Urban." "Würde mich freuen, nie mehr etwas von Ihnen zu hören", erklärte sie abweisend. "Die Arbeit muß getan werden", bedauerte er. Copyright 2001 by readersplanet
Sie schaltete rasch von Null auf hundert. "Verdammt, was geht euch das alles an, ihr Schnüffelbande?" "Noch gar nichts", gestand er. "Ich beuge nur vor. Der Erblasser war Deutscher. Egal ob Emigrant oder nicht. Er hinterläßt fast eine Milliarde und legt damit einen Brand, an dem auch die Bundesrepublik Feuer fangen kann. Denn er haßte nicht nur diese drei Menschen, er haßte auch das Land, aus dem man ihn verjagte. Buona notte, Signora." Sie war eine blonde Italienerin. Ein seltenes Gewächs also, keine Frau, wie man sie im Quelle-Katalog bestellen konnte. Zweifellos war sie mächtig verspannt. Wer sie küßte, mußte darauf achten, daß sie bei der Umarmung die Hände unten behielt, sonst hatte er unversehens ein Messer im Rücken. Eine eiskalte Blondine - aber wenn man ihr in die Augen schaute, dann leuchtete dort eine Glut, heiß wie die aufgehende Sonne.
7. Der Mann, der sich vom staatlich konzessionierten Killer in Indochina, wo er als Sergeant der französischen Armee Hunderte von Rebellen und Partisanen mit seinem Colt erledigte, zum freien Unternehmer der Mörderbranche entwickelt hatte, bewegte seinen Citroën Richtung Spanien. Was er aus der Indochinazeit bis heute beibehalten hatte, waren zwei Dinge: die perfekte Art zu töten und der Name Colt. Colt war die Markenbezeichnung seiner Lieblingswaffe. Colt, ein Mann ohne Familie, ohne feste Bindung, hatte nach seiner Rückkehr aus Indochina einen Schwur geleistet: Nie mehr gut sein, nie mehr hilfreich, nie mehr fair, freundlich und anständig, sondern nur noch menschlich, denn alle Menschen sind Tiere. - Nur noch an sich denken. Egoist sein, mit Ellbogen und über Leichen gehen. Von Gerona fuhr er auf Nebenstraßen zur Costa Brava. Sein Ziel war Lloret. Die große Filmdiva, der ehemalige UFA-Star, die zweite Eleonora Duse, wie sie Marga Kramer nach ihrer Hollywood-Karriere genannt hatten, verbrachte dort ihren Lebensabend in Luxus - mit abnehmender Verehrerschar und zunehmendem Verbrauch von Alkohol und Tabletten. Es hieß, sie sei immer noch schön. Was man so unter Schönheit, die geschickte Chirurgenmesser mühsam zustandebrachten, eben verstand. Bestenfalls ein restauriertes antikes Gemälde. In Lloret am Meer, das er am späten Nachmittag erreichte, mietete Colt sich mit falschem Paß in einem besseren Hotel ein. Es hatte eine gute Lage, guten Service, gute Betten, eine funktionierende Klimaanlage und vor allem eine Garage. Erst legte er sich hin, dann spazierte er zu Fuß nach Norden, wo der Bungalow der Lady auf einem ins Meer ragenden Felsvorsprung lag. Von erhöhter Position aus beobachtete Colt die Villa durch das Fernglas. Was ihn irritierte, waren zwei Männer mit Hunden. Der eine patrouillierte außen um die Mauern, der andere innen in dem mehrere Hektar großen Park. Die alte Dame hatte offenbar Angst um ihr Leben. Nach Mitternacht, es war Halbmond und mäßig hell, rekognoszierte Colt noch einmal den Schauplatz. Jetzt machte nur der Innenposten mit seinem Hund die Runde. Vor die Panoramafenster des Erdgeschosses waren Gitter gezogen. Nur auf der Terrasse zum Meer hin wehte der Wind die Tüllvorhänge ins Freie. Zweifellos lag dort das Schlafzimmer der Filmgöttin, und sie schlief bei offenen Türen. Leider war schlechtes Wetter vorhergesagt. Das bedeutete, daß es bald regnete und kühl wurde. Dann war ihm auch der Zugang über die Terrasse zu Marga Kramers Schlafzimmer versperrt. - Das bedeutete eine weitere Verzögerung. In einer Flamenco-Bar sitzend, stellte Colt seine Überlegungen an.
Copyright 2001 by readersplanet
Die Wächter verkomplizierten die Arbeit nur, ohne sie ernsthaft zu erschweren. Er würde von der Meerseite einsteigen und seine Schuhe mit lysolgetränkten Lappen umwickeln. Hunde ergriffen vor dem Zeug meist die Flucht. Der Arkadenvorbau, der die Terrasse trug, hatte Rosenrabatten. Er würde hinaufklettern und so schnell wie möglich die Kugel ins Ziel bringen. Oder er wählte den anderen Weg. Er rief an, stellte sich als Reporter eines englischen oder deutschen Magazins vor und bat um ein Interview. Sie würde sich erst zieren, sich am Ende aber doch überreden lassen. Er würde angeblich seinen Fotografen vorschicken, damit er ein paar Motive aussuchte. Bei der Gelegenheit mußte er zum Schuß kommen. - Daß er dabei den Wächtern begegnete, war leider nicht zu vermeiden. Auch wenn er sich mit Brille, Perücke und Bart tarnte, er würde eine Spur ziehen, so deutlich wie der Halleysche Komet am Himmel. Als er ins Hotel ging, regnete es schon. Von den Bergen zogen Gewitter herüber, entluden sich und zogen ab. Gegen Morgen blitzte und donnerte es draußen auf dem Meer immer noch. Schon im Begriff, die Reporterrolle zu wählen, hörte Colt die Frühnachrichten. Der Sender Barcelona meldete für die ganze Costa Brava wieder Sonnenschein. Aber wegen des Regens würde es schwül werden. Colt ging hinunter zum Strand, legte sich in den Schatten eines Schirmes, entspannte und nahm nur ein leichtes Abendessen. Ohne Alkohol und ohne Kaffee war er immer am besten drauf. Danach bat er im Hotel um die Rechnung, ließ die Koffer in die Garage bringen und fuhr weg. Bei der Tankstelle an der Straße nach Gerona schaute er den Wagen durch. Er tankte und füllte auch den Reservekanister mit Super verbleit. Bevor er Lloret nach Norden verließ, kaufte er im Ort zwei Handtücher und in der Apotheke eine Flasche Desinfektionsmittel. Oben an der Küstenstraße - man konnte das Dach der Kramer-Villa sehen - stellte er den Citroën zwischen Korkeichen, wartete bis Mitternacht und zog den schwarzen Overall an. In der Segeltuchtasche hatte er die Waffe, die Handtücher und das Lysolzeug sowie die Hälfte einer Kerze, kurz und dünn, wie man sie auf Geburtstagstorten steckte. Rechts den Kanister, stieg er ab zum Meer und ging am Strand entlang bis zu der Stelle, wo der Felsen eine Tür hatte. Die eiserne Tür wurde offenbar benutzt. Das Schloß war geölt und machte keine Probleme. Die Angeln drehten sich lautlos. Dann kamen etwa zweihundert Treppenstufen. Oben im Park wickelte Colt die Handtücher um die Schuhe, tränkte sie mit Lysol und schlich vorsichtig auf das Haus zu. Hinter dem Schwimmbecken führte ein Plattenweg zur Villa. Entfernung noch etwa sechzig Meter. Bäume gab es nur noch an den Seiten, damit Madame der Blick nicht gestört wurde, wenn sie im Bett frühstückte. Hinter dem Gartenpavillon aus weißgestrichenen Latten wartete Colt. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Als der Wächter vorbeikam, ging oben auch das Licht an. Der Wächter blieb, den Hund an der kurzen Leine, stehen. Der Hund war unruhig, deshalb redete er auf ihn ein. Dann rief er hinauf: "Alles in Ordnung, Senora?" "Gracias, Alberto. Prüfen Sie die Schlösser, dann können auch Sie zu Bett gehen." "Gracias, Senora", sagte der Posten. Der Hund jaulte und hechelte nervös. Der Spanier zerrte ihn an der Leine weiter. Spanier gingen in der Regel brutal mit Tieren um, egal ob es sich um Pferde, Stiere oder Hunde handelte. Kaum war der Wächter um die Ecke verschwunden, ging oben das Licht aus. Colt schwang die Segeltuchtasche am Riemen auf den Rücken, näherte sich den Arkaden und nahm das Spalier des mittleren Pfeilers.
Copyright 2001 by readersplanet
Es knackte und raschelte einige Male gefährlich. Dann war er oben und sah, daß die Diva nicht alle Lichter gelöscht hatte. Sie lag noch im Schein der Nachttischlampe. Colt wählte die linke der drei offenen Fenstertüren, nahm die 9-mm-Pistole aus der Tragetasche und prüfte sorgsam den Sitz des Schalldämpfers. Die Waffe war geladen und gespannt. Er visierte durch den dünnen Vorhang hindurch, entsicherte und schoß. Das Geräusch war nicht lauter, als wenn ein Nachtvogel vorbeiflatterte. Reglos stand der Killer da und beobachtete sein Opfer. Er sah, wie aus einer dunklen Stelle der Schläfe Blut sickerte und am Hals entlang ins Negligé rann. Kein Zweifel, die Diva war sofort tot gewesen. Jetzt erst ging er hinein. Er hob eines ihrer Lider, prüfte die Pupillenreaktion und den Puls. Es war aus mit ihr. Rasch öffnete er den Fünfliter-Kanister und tränkte Bett und Teppich mit Super. Unter äußerster Vorsicht, um nicht selbst Opfer der Flammen zu werden, postierte er die dünne, kurze Kerze. Sie war nicht länger als ein Fingerglied und würde spätestens in fünfzehn Minuten das Bett in Brand setzen. Vorausgesetzt, das verdampfende Benzinluft-Gemisch führte nicht zu einer vorzeitigen Explosion. Die Kerzenflamme flackerte im Luftzug. Also schloß er die innere Schlafzimmertür und machte, daß er wegkam. Bis er seinen Citroën erreichte, sich umgezogen, die Waffe versteckt hatte und wegfuhr, vergingen zwanzig Minuten. Da sah er schon die Flammen aus dem Obergeschoß der Villa schlagen. * Zurück in Paris, traf Colt wieder mit dem Vertreter des Erblassers zusammen. Benson Mortimer jun. war mit der Nachmittagsmaschine aus London herübergekommen und wollte um 17.00 Uhr zurückfliegen. Er hatte also wenig Zeit. Sie trafen sich an der Bar des Bistros in Orly. Mortimer hatte einen Pilotenkoffer dabei und übergab ihn dem Franzosen. Der Koffer war schwer. Festgebündelte Banknoten, dicht bei dicht gepackt, waren nicht leicht. "Gebrauchte Hunderter", flüsterte der Anwalt. "Dollar, wie gewünscht. Der Rest auf das erste Drittel geht an Ihr Konto in Nassau/Bahamas. Es müßte schon eingetroffen sein." "Ja, es ist da", bestätigte Colt und wirkte nur mühsam beherrscht. "Was ist mit Ihnen?" fragte Mortimer. "Unzufrieden? Es lief doch wunderbar glatt." "Ich bin wütend. Würde am liebsten alles hinschmeißen", grollte der Killer. "Wir haben noch zwei Kontrakte", erinnerte ihn Mortimer. "Aber in den Kontrakten fehlt ein entscheidender Paragraph." Der Anwalt gab sich den Anschein, als wisse er nicht, wovon der Franzose sprach. "Das Haus war bewacht", erklärte Colt eisig. "Nun ist sie tot, und die Hütte ist Schutt und Asche." Da packte Colt den Anwalt bei einem Goldknopf seines Blazers. "Aber das verdammte Haus war bewacht, Sir. Wie kam es dazu?" Mortimer löste die Hand des Franzosen von seinem Maßjackett und bemühte sich um ein halbseidenes Lächeln. "Ich hielt Ihr Gedächtnis eigentlich für zureichend, Monsieur Colt." "Was soll das heißen?" zischte der Killer. "Wir sprachen darüber." "Über was, zum Teufel?" Copyright 2001 by readersplanet
"Die Bedingung des Erblassers lautet, daß die Opfer vorher informiert werden müssen." "Gewarnt?" fragte Colt entsetzt. Daran konnte er sich nicht erinnern. "Der Erblasser bestand auf einer fairen Prozedur", fuhr Mortimer fort. "Er wurde damals gerettet, nun sollen auch die Personen, die stellvertretend sterben müssen, nicht ahnungslos in den Tod gehen." Hastig leerte Colt sein Cognacglas und bestellte nach. "Davon war nicht die Rede, Sir." "Ich erwähnte es damals, als wir am Seinekai entlanggingen." "Das muß ich überhört haben. Wäre sonst nie eingestiegen." .,Stiletto akzeptierte es", log Mortimer. "Stiletto war zweitklassig", tat Colt die Erklärung ab. "Sonst würde er noch leben, und ich läge an seiner Stelle im Grab." Mortimer sprach auf seinen Geschäftspartner ein, als müßte er ihn zum Zuluglauben bekehren. "Was spielt das für eine Rolle für einen Profi wie Sie? Die Opfer werden gewarnt, aber sie kriegen täglich solche Warnungen und werden sie nicht ernst nehmen. Wozu also die Aufregung?" Es kostete Mortimer Mühe, Colt zu beruhigen. Doch mit seiner Beredsamkeit schaffte er es. Für so viel Geld ging es einfach nicht ohne Risiko. Nun stellte Colt eine Frage, die der Anwalt erwartet hatte. "Und wer sind die nächsten?" "Der Computer hat sie ausgeworfen", berichtete Benson Mortimer jun. * Sie hatten ihre Gläser zu einem Tisch in einer Nische mitgenommen. "Es war schwierig", begann der Anwalt. "Mein Job ist auch nicht einfach. Hören Sie auf zu jammern, Mortimer. Also, wer sind die zwei?" "Suchoi und Plyman." Colt glaubte falsch zu hören. "Suchoi und Plyman. Ganz schlicht und einfach, Suchoi und Plyman." "Alec Suchoi und Sam Plyman. Suchoi ist Russe, Plyman Amerikaner." "Dachte ich mir beinah. Aber daß die beiden die Büßer für Stalin und Roosevelt sind, kann ich mir schwer vorstellen." Der Anwalt sprach leise weiter. "Der Computer war der Meinung, daß Politiker bis hinauf zu den Präsidenten austauschbar sind, ebenso die meisten Wissenschaftler, Künstler, Leute der Wirtschaft. Aber in jeder Generation gibt es einige Leute, die für ihr Land wirklich große Bedeutung haben." "Suchoi und Plyman", wiederholte Colt ironisch. Der Anwalt aus London schaute sich um und senkte die Lautstärke seiner Stimme abermals. "Der Computer ist der Meinung, daß es derzeit auf der Welt nur ein Problem gibt, das die Menschen gleichermaßen betrifft. Nicht etwa ein Krieg. Kriege beeinträchtigen stets nur Teile der Erde und gewisse Völker. Nein, es gibt ein existentielles Problem, und zwar die Zerstörung des chemischphysikalischen Gleichgewichts der Erde und des erdnahen Weltraums. Dieser Bereich ist reichlich labil und beginnt sich dem Punkt der Instabilität zu nähern. Der Erde an sich ist das völlig gleichgültig, aber wohl nicht den Milliarden Menschen, die darauf leben müssen." Copyright 2001 by readersplanet
Colt sah aus, als hätte er eine Zitrone gelutscht. "Umweltschutz", tat er es verächtlich ab. "Im weitesten Sinne. Mit herkömmlichen Mitteln, mit Warnungen, Verboten, Gesetzen und Strafen, ist die Verseuchung der Meere und der Flüsse, die Zerstörung der Natur und des Luftraumes schon nicht mehr aufzuhalten." Colt hörte es und versuchte eine logische Rückkopplung. "Suchoi und Plyman", sagte er. "Na schön. Und?" "Beide sind die wichtigsten Forscher dieses Jahrhunderts. Sie arbeiten an dem Problem der Ozonlochbeseitigung, der zunehmenden Erderwärmung durch UV-Strahlung also. Es heißt, beide hätten unabhängig voneinander einen Weg zur weltweiten Großraumreparatur gefunden. Wie sie es machen wollen, das ist nicht bekannt oder nur Experten begreiflich. Aber es muß sich wohl um die Idee von Genies handeln." Colt deutete kopfschüttelnd auf sich selbst. "Und diese beiden Typen soll ich. . . "Andere werden ihre Nachfolge antreten." "Warum ausgerechnet Suchoi und Plyman?" "Weil sie derzeit die bedeutendsten Köpfe sind und nur ihr Tod ihre Nationen wirklich ernsthaft schmerzen wird." Colt hatte immer nur sehr kurze Zeit moralische Anwandlungen. Er kam darüber hinweg und fragte: "Wie stellen Sie sich das vor, Sir?" "Ihr Job, Monsieur." "Wie bringt man die beiden zusammen? Man kann sie nicht nacheinander ausschalten. Man muß das auf einen Schlag erledigen." "Ich dachte mir", äußerte Mortimer vorsichtig, "man schreibt eine Stiftung aus. Einige Millionen Dollar zur Förderung der Arbeit an einem Ozonschild-Programm. Die beiden übernehmen die Schirmherrschaft. Der Gründungsakt geht irgendwo in Europa über die Bühne." "Und das alles plus Vorwarnung?" "Das ist die Conditio sine qua non", beharrte Mortimer. "Die Bedingung", übersetzte Colt. "Ich kann Latein." Eine Weile schwiegen sie mehr, als sie redeten. Endlich sagte der Killer: "Ich brauche Unterlagen, Material, Dossiers." "Sie kriegen alles, was ich beschaffen kann." "Diesmal", fürchtete Colt sarkastisch, "geht es nicht mit Pfeil und Bogen." "Das denke ich auch", gestand Mortimer. Der Rückflug nach London wurde aufgerufen. Der Anwalt nahm seinen Trenchcoat. In seine Züge trat ein Ausdruck von Respekt, als er seinem Kontrahenten zunickte, sich umdrehte und zum Flugsteig nach London eilte.
8. Im BND-Hauptquartier in Pullach bei München ging es in diesen Tagen zu wie bei Daimler-Benz bei Schichtwechsel. In der EDV-Abteilung liefen die Computer pausenlos. Copyright 2001 by readersplanet
Robert Urban erkundigte sich immer wieder nach dem Stand der Dinge. "Wenn du mehr Unbekannte eingibst als Bekannte", erklärte man ihm, "hetzen die Maschinen sich bis zum Geht-Nicht-Mehr." "Wir fahren die Programme", höhnte Urban, "und zwar so lange, bis das Ergebnis mit meiner Kopfrechnung übereinstimmt." Dann wurde er in die oberste Etage zum Vizepräsidenten gerufen. "Schöne Bescherung", begann der britisch wirkende zweite Mann des Dienstes. "Und noch fünf Monate bis Weihnachten." "Ja, wir müssen wohl eingreifen." "Aber mit Handschuhen, bitte." "Baumwolle weiß, extradünn", versicherte Urban, konnte aber die Zurückhaltung des Chefs nicht verstehen. "Ein klassischer Fall aus der Kiste dreiunddreißig-fünfundvierzig." "Wie lange werden wir eigentlich noch damit belastet?" "Diesen Hitlermist müssen noch viele Generationen auskehren." Der Vize hatte die Akte vor sich liegen, doch er öffnete sie nicht. Er kannte sie auswendig. Sie war nicht sehr umfangreich. "Ein typisch deutscher Wahnsinn. Fast schon urgermanisches Rachedenken." "Ausgerechnet Kessler. Wenn Kessler etwas nicht sein wollte, dann war es deutscher Staatsangehöriger." "Man kann nicht aus seiner Haut." "Reptile schon. Und ein Mensch, der sich das ausdenkt, ist ja wohl..." "Kein Mensch, wollen Sie sagen." Urban steckte sich eine Goldmundstück-WC an und der Chef eine von seinen flachen Nil aus der blauen Schachtel. "Interessant, das Kessler-Dossier. Woher stammt es?" "Aus den ehemaligen Canaris-Archiven, die erst an die Gestapo übergingen und dann von den Alliierten lastzugweise vor unsere Tür gekippt wurden. Reiner Zufall, daß wir es unter Tonnen von Altpapier im Keller fanden. Es war Knochenarbeit." "Die Dame hieß also Marga Kramer", fuhr der Vize fort. "So nannte sie sich." "In Hollywood verpaßte man ihr den Namen Margaux. Kramer behielt man bei, allerdings mit C. Sie konnte es nach dem Zusammenbruch ziemlich gut mit amerikanischen Offizieren." "Besonders gut mit Zeitungs-, Theater- und Filmoffizieren", ergänzte Urban. "Nun, jeder möchte lieber nach oben als nach unten." "Sie wurde zum Weltstar." Der Vize hob den Zeigefinger. "Und sie wurde zum Opfer eines Killers auserkoren. Man muß sie warnen." "Erst muß man sie finden", schränkte Urban ein. "Die Nachforschungen laufen." Dürfte nicht sonderlich schwer sein, oder?" "Die Adresse ihrer Ranch in Kalifornien haben wir. Über das Hauspersonal hoffen wir, ihren Anwalt zu kriegen, ihren Vermögensverwalter und ihren Künstleragenten. Kann nicht mehr lange dauern, dann haben wir sie." "Na, dann zu", drängte der Vizepräsident. "Macht schnell, damit der Göttin nichts zustößt. Andernfalls würde die internationale Presse wieder genußvoll nachbohren und weitere Geschichten ausgraben. Die Sache mit Kessler, Himmler und der Gestapo würde man Copyright 2001 by readersplanet
wochenlang aufblasen, auswalzen und an jede Glocke hängen. Und wer war dann wieder an allem schuld?: die bösen, bösen Deutschen." "Ich halte Sie auf dem Laufenden", versprach Urban. Im Vorzimmer läutete ein Telefon. Die Chefsekretärin rief Urban zurück. "Für Sie, Doktor Urban." "Legen Sie es in die Operationsabteilung, in mein Büro." "Von dort kommt der Anruf." Urban langte hinüber und zog den Hörer an der geringelten Schnur an sein Ohr. Was er hörte, war kurz und wirkte wie Schmierseife im Mund. Er legte auf, machte kehrt und ging noch einmal zum Präsidenten. "Zu spät", meldete er. "Bedaure." "Wer, wie, was? Doch nicht die Kramer." "Die Diva ist tot. Verbrannt in ihrer Villa in Lloret an der Costa Brava." Der Vize suchte händeringend nach einer Erklärung. "War bekannt, daß sie im Bett rauchte?" "Sie rauchte nicht einmal in der Badewanne. Außerdem wies die nahezu verkohlte Leiche einen Einschuß am Schläfenbein auf. Es war Mord mit Brandstiftung. Killerarbeit pur." "Monsieur Colt", bemerkte der Präsident fassungslos. "Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit." Der Vize stand auf. Langsam, aber um so bedrohlicher wuchs er in die Höhe. "Dann ist Colt jetzt dran." Urban stimmte ihm durchaus zu. "Aber wie?" "Schätze, wir werden den zuständigen Behörden die Hölle heiß machen, Interpol, BKA, FBI, Yard, Sûreté, daß sie Netze auswerfen." "In Netzen fängt sich eine Menge", sagte Urban, "aber nicht das Wasser und nicht der Wind." * Die Computerprogramme wurden nicht umgestellt. Sie hatten von Anfang an nicht allein nach Marga Kramer gesucht, sondern nach den zwei bedeutenden Männern in den USA und in der UdSSR, die auf der Mordliste stehen könnten. "So bedeutend", erklärte Urban, "daß sie als Ersatz für Stalin und Roosevelt gelten können." Die unmöglichsten Konfigurationen wurden ihm vorgelegt. Der Computer suchte, dumm wie er war, aus dem Archivspeicher der Reihe nach die schillerndsten Persönlichkeiten aus Politik, Armee, Rüstung, Forschung, Wirtschaft, Kunst und sonstigen Bereichen heraus. Dabei kam es zu solchen Blüten wie Rocksängern und russischen Kosmonauten, die nach den gültigen Umfragen bedeutender waren als Präsidenten, Generäle und Politbüro-Mitglieder. Der Computer lieferte den Chirurgen mit den meisten Herzverpflanzungen, den schnellsten Mann auf hundert Meter und den Maler, der für seine Bilder die höchsten Preise erzielte. "Ist leider alles Kacke", sagte Urban. "Rennmuskeln, Rockröhren, Pinselmeister, Organmechaniker, Generäle und Raketenbastler sind doch von zweitrangiger Bedeutung. Sucht nach Männern, die die Welt bewegen." "Wohin?" fragten sie ironisch. Darauf wußte Urban durchaus eine passende Antwort, äußerte sie aber nicht, denn er wollte nicht für einen Spinner gehalten werden. Copyright 2001 by readersplanet
Da jede Computerstunde eine horrende Summe verschlang und die Maschinen noch für andere Aufträge benötigt wurden, so zum Beispiel zur Ermittlung des Bestandes von A-Bomben und Rolls-Royce-Limousinen in unterentwickelten Ländern, drohte das Projekt eingestellt zu werden. Urban ließ nichts unversucht. Er rief Captain Brown und die blonde Clivia in Lugano an. Von Stilettos Schwester kam nichts, von Cyris Brown wenig. "Okay", sagte der Australier. "Du hast mein gutes Gewissen zu einem schlechten gemacht. Ich gebe dir, was ich kann. Ich hörte auch, daß Colt zuschlug. Aber wer die nächsten Opfer sind, glaube mir, ist bei mir ein weißer Fleck auf der Landkarte." "Ich glaube dir nicht", entgegnete Urban. "Ich rief meinen Auftraggeber an. Er ist unerreichbar. Immer nur der Anrufbeantworter. Und das schon seit Tagen." "Gib mir seinen Namen, und ich finde ihn." "Auch Bastarde wie ich haben einen Rest von Berufsehre. Laß sie mir. Mach mich nicht völlig kaputt, Dynamit." Brown war noch nicht ganz reif. Er würde es eines Tages werden, aber das brauchte noch Zeit. Und die hatte Urban nicht. Noch wühlten die Computer im Schlamm ihrer Daten. Urban wurde allmählich unruhig. Er fuhr nach Hause, versuchte zu schlafen, ging in eine Kneipe, versuchte zu trinken, Gespräche zu führen, sich abzulenken. Bald landete er wieder draußen im Hauptquartier. Er hing herum, ging allen auf die Nerven. Rechtzeitig wurde ihm klar, daß zwar jede Arbeit getan werden mußte, daß man aber nie zeigen durfte, daß man unter Druck stand. Deutsche Behörden nahmen das einfach übel. Also beschloß er, sich zurückzuhalten. - Er hatte es fast geschafft, da kam dieser Anruf aus Washington. Der CIA-Agent Puma Windecker, den er nie hatte ausstehen können, lieferte ein Stichwort, das Urban schon im Traum verfolgte. "Betrifft Karl, genannt Ken, Kessler. Deutscher Industrieller, emigriert anno neununddreißig nach Sydney in Australien." "Ich höre", sagte Urban, kurz angebunden. "Egal wie immer es mit diesem Multimillionending zusammenhängen mag", fuhr der Anrufer fort, "er war Deutscher und will Rache üben, wie man hört. Rache an den USA und der Sowjetunion. Eines seiner Zielobjekte ist Professor Plyman." "Der Umweltprophet?" zweifelte Urban. "Derselbe", bestätigte der CIA-Manager. "Warum Plyman, das ist noch kaum vernehmbare Hintergrundmusik, aber er bekam eine Warnung." "Welcher Art?" "Daß er in Lebensgefahr schwebt." "Bei Prominenten ist das alltäglich, oder?" "In diesem Fall scheint es uns anders zu liegen. Man lockt ihn mit der Aussicht auf eine Multimillionen-Stiftung für seine Arbeit nach Paris." Urban fragte jetzt professionell: "Was ergaben eure Recherchen?" "Die Summe von zunächst zehn Millionen Dollar Forschungsgeldern liegt tatsächlich bei einer Pariser Bank bereit." "Und was, bitte, sollen wir mit dieser Information?" erkundigte Urban sich. "Das überlassen wir eurer kochgeschätzten Intelligenz", bemerkte der Amerikaner süffisant. »Wir möchten nur nicht, daß es heißt, der BND oder Bonn seien nicht informiert gewesen." Copyright 2001 by readersplanet
Urban versuchte, sich auf irgendeine Weise zu drücken. "Zu Plyman muß es ein russisches Gegenstück geben." "Du denkst an eine Forschungsachse Kalifornien-Moskau." "Dann gebt Plyman Personenschutz." "Er ist schon abgereist." "Ohne Leibwache?" "Plyman wird von uns eingemauert wie das Gold von Fort Knox. Was die Russen mit ihrem Mann tun, wissen wir nicht." "Haben sie Kenntnis von der Drohung?" "Unsere Kontakte zum KGB sind mehr als dürftig. Kannst du das übernehmen?" "Ich versuche es", sagte Urban. Was Urban nicht schätzte, waren Hammelkeulen, Knoblauch, Witze, über die man sofort lachte, und solche Ansinnen. Aber zufällig deckten sie sich mit den eigenen Interessen. Nur, wie brachte man das ohne Namen und ohne Beweise dem KGB bei? Er versprach zu tun, was in seinen Kräften stand. Als er aufblickte, fühlte er sich vom Operationschef, Oberst a.D. Sebastian, scharf gemustert. "Sie sehen nicht gut aus, Nummer achtzehn", sagte der Alte. Urban nickte. "Nur noch der Gedanke an Selbstmord", gestand er, "ist tröstlich." * Mit einem Fakt mehr und einer Unbekannten weniger nahm der BND-Computer seine Sucharbeit wieder auf. "X ist das sowjetische Gegenstück zu Professor Plyman", lautete die Kernfrage. "Wir programmieren das." "Plyman arbeitet an der Universität von Kalifornien." "Und der Russe?" "Wenn ich das wüßte. Vielleicht in Moskau, in Kiew, in Leningrad, an der Frunse-Akademie, in Alma Ata, in Nowosibirsk." "In Perm und Omsk haben sie auch eine Masse Eierköpfe sitzen. Um welchen speziellen Eierkopf handelt es sich denn?" Urban zögerte. Wenn sie die Maschine mit falschen Angaben fütterten, endete das Rennen wieder ohne Ergebnis. "Plyman gilt als Papst der Umweltschützer." "Und nach der Erfahrung, daß Rennreiter wenig mit Autorennfahrern zusammenarbeiten, dürfen wir schließen, daß es sich bei dem Russen ebenfalls um einen Grünen handelt." "Plyman ist eher ein Blauer." "Mit seinem Alkoholkonsum hat das nichts zu tun, oder?" »Dafür mit der Farbe der Luft. Eigentlich hat sie gar keine Farbe, aber Blau gilt nun mal als Farbe des Himmels." "Ein Luftverbesserer also." "Sagen wir, er befaßt sich mit dem derzeitigen Problem Nummer eins - den Ozonlöchern über den Polen." Der Chef der Computerabteilung war mit dem Schlagwort Ozonloch und all seinen Konsequenzen mindestens so oft konfrontiert worden wie alle anderen Zeitgenossen und konnte es bald nicht mehr hören. Copyright 2001 by readersplanet
"Auch wenn ich diese Panikmache für ein bißchen übertrieben halte, Anwachsen der Erdtemperatur, Abnahme des Poleises, Ansteigen der Meere und und und, meine Freundin jedenfalls hat Anweisung, Haarspray mit Treibgas, mit Fluorchlorkohlenwasserstoff, nicht mehr zu verwenden." "Leider gibt es da niederschmetternde Erkenntnisse", erwähnte Urban. "Auch wenn man die verdammte FCKW-Produktion sofort stoppt, werden die Löcher größer. Was wir jetzt ernten, sind die Sünden, die vor zehn Jahren begangen wurden. Die echten Katastrophen sind erst im Anmarsch. Eigentlich bin ich froh, daß ich nicht gerade erst geboren bin. Es kommt die Zeit, da werden sie sich hier fühlen wie Brotlaibe, die in den Backofen geschoben wurden." "Und Plyman hat ein Rezept, um es zu verhindern?" "Er behauptet es, rückt aber erst damit heraus, wenn weltweit eine Übereinkunft besteht, das Projekt rigoros durchzuführen. Ich glaube, er hat vor, die Ozonlöcher mit riesigen hauchdünnen Membranen aus werweißwas, vielleicht Silberjodidstaub oder Goldstaub, zu schließen. Man schießt es mit Raketen hinauf. Atomare Explosionen verteilen es über den Polen, und die Ozonmoleküle lagern sich daran an, statt zu entschwinden." Der EDV-Mann fragte: "Ist der Russe nun Chemiker oder Physiker?" "Beides", vermutete Urban. "Und mit Sicherheit ist er ein Genie." Eine Stunde später hatten sie sieben Namen und bald darauf aus diesen Namen einen isoliert, der mit allergrößter Wahrscheinlichkeit in Frage kam. Vom Typ und Werdegang her hatte er Ähnlichkeit mit Sam Plyman. Er war ein Sonderling, Einzelgänger, nahezu unfähig zur Teamarbeit. Ein sturer und verbissen forschender Kopf. "Alec Suchoi", meldete der EDV-Chef des BND. "Er geht selten auf internationale wissenschaftliche Kongresse. Aber Sam Plyman scheint er hoch zu schätzen. Früher bekämpften sie sich in Veröffentlichungen bis aufs äußerste, heute arbeiten sie zusammen. Sie trafen sich mehrmals, tauschen brieflich und telefonisch ihre Erkenntnisse aus. Dieser Suchoi genießt sogar in der UdSSR so etwas wie Narrenfreiheit. Er kann sich praktisch alles erlauben." "Genosse Einsteinowitsch", nannte Urban ihn. "Jetzt ist ein Killer hinter ihm her." Er ging in die Nachrichtenzentrale und suchte einen Weg, um den sowjetischen Geheimdienst KGB zu informieren.
9. Auf dem Flug von Moskau nach Paris machte Professor Suchoi in Prag Station. Sein tschechischer Kollege Ciminec holte ihn am Flugplatz ab. Während der Fahrt zu Ciminecs Haus an der Moldau sagte der Tscheche: "Bist du in Ungnade gefallen, Alec?" Der Russe schien jedoch bester Laune zu sein. "Die wärmende Sonne sozialistischer Liebe strahlte nie über meiner Person, dazu war und bin ich zu unbequem. Aber warum fragst du, Ciminec?" "Kein Anruf für dich, kein Fernschreiben, nichts. Das wundert mich." Der Russe, äußerlich wie ein ewig junger Revolutionär wirkend, lachte vergnügt. "Keiner weiß, daß ich hier den Flug unterbreche." "Sie wissen doch immer alles." "Ich ging stets ungewöhnliche und eigene Wege. Sie haben es aufgegeben mir nachzuspionieren und endlich kapiert, was ich für sie bedeute." "Was machst du in Paris?" fragte der Tscheche. "Ich möchte auch mal nach Paris." Copyright 2001 by readersplanet
"Ich treffe Plyman." "Deinen geistigen Zwilling?" Der Russe räumte ein, daß, wenn man so zusammenarbeitete wie er und der Amerikaner, tatsächlich eine seelische Verwandtschaft wie bei Zwillingen entstehen könne. "Da hat einer eine Stiftung ins Leben gerufen", erzählte Suchoi. "Wenn für mein Institut ein paar Millionen Dollar abfallen, kann ich Geräte kaufen, die wir zu Hause leider noch immer nicht herstellen können." "Was für Geräte?" "Vergleichbar", sagte Suchoi, "mit jenen Hyperzentrifugen zur Erzeugung von hochreinem Uran. Eine Firma in Holland baut diese Apparate und eine in Japan." "Aber um Uran geht es nicht", tastete der Tscheche sich an das Problem heran, das auch ihn beschäftigte. Sie nannten es ihren Katalysator. Es war ein Stoff, der, egal ob in die Luft geblasen oder von Raketen Tausende von Kilometern in den Weltraum geschossen, die Ozonflucht verhindern sollte. "Es ist wie mit einer Giftbrühe", sagte der Russe. "Du schüttest ein zweites Gift hinein, und sie heben sich gegenseitig auf. Was übrigbleibt ist nicht nur ungefährlich, sondern sogar nützlich." "Wie trinkbares Quellwasser." "Wir wollen nicht übertreiben. Aber jetzt hätte ich nichts gegen ein Glas von eurem fabelhaften tschechischen Pils." "Meine Frau wartet schon mit dem Essen", sagte Ciminec. * Nach dem Tip, den der BND über den Stasi in Ostberlin nach Moskau gegeben hatte, verlor der größte Geheimdienst der Welt auf einmal jene schwerfällige Behäbigkeit, die allen sowjetischen Behörden sonst anhaftete. Ihr Forscherstar, Professor Alec Suchoi, wurde unionsweit gesucht. Da man ihn weder im Universitätsinstitut noch in seiner Moskauer Dienstwohnung oder in seiner Datscha antraf, befragte man alle Mitarbeiter. Der Professor hatte sein Dauerpermit dazu benutzt, um in den Westen zu reisen. Die Fahndung nach ihm wurde zunächst auf das Gebiet der Warschauer-Pakt-Staaten ausgedehnt. Wie sich herausstellte, hatte Suchoi Moskau um 11.45 Uhr osteuropäischer Zeit mit der Aeroflot Linienmaschine Warschau-Prag-Paris verlassen. Gebucht hatte er bis zur französischen Hauptstadt und den Rückflug für achtundvierzig Stunden später. Normalerweise ließ sich ein Funktionär wie Suchoi vom staatlichen sowjetischen Reisebüro die Hotelunterkunft besorgen. - Ein Anruf nach Paris bestätigte dies auch. "Aber", bedauerte der Angestellte in Paris, "Genosse Suchoi ist noch nicht angekommen." Da das Düsenflugzeug unterwegs keine Tür und somit auch keine Passagiere verloren hatte, wurde angenommen, daß Suchoi den Flug unterbrochen hatte. Fernschreiben liefen nach Warschau und Prag. Aus Warschau kam Fehlanzeige. Prag hingegen bestätigte, daß Suchoi die Iljuschin verlassen und den Weiterflug nach Paris um einen Tag verschoben habe. Damit war er in Prag lokalisiert. Der Rest, so glaubten sie, sei relativ einfach. Man brauchte nur noch festzustellen, mit wem Suchoi in der CSSR regelmäßig zusammenkam oder Ergebnisse austauschte. Dabei halfen seine Personalakte bei der Staatspolizei und seine Assistentin im Labor des Astrophysikalischen Instituts der technischen Universität. Die Angabe von Dr. Katya Smilanka stimmte mit dem Namen in der Polizeiakte überein. Copyright 2001 by readersplanet
"Er hat einen Freund in Prag", sagte der zuständige Geheimpolizist. "Professor Ciminec." Sicherheitshalber faßte der KGB-Offizier nach. "Ein linientreuer Mann?" "Wer von diesen hochgradig spinösen Eierköpfen ist schon linientreu", wurde ihm geantwortet. "Die sind nur sich selbst treu. Aber Nachteiliges ist von Ciminec ebenso wenig bekannt wie von unserem Hätschelbubi Suchoi. Beide sind weitgehend unpolitisch. Verbindungen zu Dissidentengruppen, konterrevolutionären Zirkeln et cetera wurden nie festgestellt." Der KGB-Offizier war erleichtert. "Dann sitzt er gewiß bei diesem Ciminec, und sie knobeln aus, daß viermal sieben eigentlich elf ist." "Gibt es zu Befürchtungen Anlaß?" erkundigte sich der Mann von der Geheimen Staatspolizei. "Wir erhielten eine Warnung aus der BRD. Suchoi soll hochgradig gefährdet sein. Ein Anschlag auf sein Leben wäre möglich." "Dieser Quadratschädel hat doch keine Feinde." "Killer sind niemandes Freund", äußerte der KGB-Offizier. "Das macht sie so gefährlich." "Aber einer muß den Killer schließlich bezahlen." Der KGB-Offizier wollte nicht diskutieren, sondern zu Ergebnissen kommen. "Wer macht es? Alarmiere ich unsere Abteilung in Prag, oder bringen Sie die Kollegen von der Prager Polizei zum Traben?" "Wohin?" "Nun, in Ciminecs Universitätsinstitut oder in sein Haus. Dort pflegt Suchoi bei Besuchen zu wohnen." "Und was sollen sie tun, wenn sie ihn dort finden?" "Nur feststellen bitte, ob es ihm gut geht." "Nichts weiter?" "Und dafür sorgen, daß es so bleibt." Der Polizeioffizier telefonierte mit der Verbindungsstelle zu Interkrim und bat um Amtshilfe der Staatspolizei in Prag. "Es geht um den Sowjetbürger Professor Dr. Alec Suchoi, derzeit bei Professor Ciminec zu Gast." "Festnehmen?" "Nein, wo denken Sie hin? Nur Feststellung seines Wohlbefindens." "Wir telexen sofort", versicherte der Beamte bei Interkrim. * Vier Stunden später, kurz nach 22.00 Uhr - in Prags historischer Altstadt, auf den Plätzen und Brücken gingen die Laternen an -, raste eine mit vier Mann besetzte Skoda-Limousine an der Moldau entlang in Richtung Kralupy. Außerhalb der Stadt flußaufwärts, wo das Land hügelig und bewaldet wurde, gleich am Ende der nächsten Ortschaft, stand die alte Familienvilla der Ciminecs. Man hatte sie dem verdienten Wissenschaftler zur alleinigen Nutzung überlassen. Als der Skoda sich näherte und neben dem Tor in der Gartenmauer hielt, kurbelte der Einsatzleiter das Fenster hinunter. "Überall Licht." "Von Stromsparen halten diese Prominenten offenbar nichts." Copyright 2001 by readersplanet
"Und Musik." "Demnach dürften sie sich blendend amüsieren." Durch die offenen Fenster und Balkontüren drangen die Klänge eines Sinfonieorchesters. Es spielte ein Opus von Bruckner. Der Einsatzleiter zögerte. "Gehen wir rein, oder lassen wir es bleiben?" "Wie lautete der Auftrag?" "Prüfen, ob Suchoi in Prag ist, wenn ja, ob er bei Ciminec ist, wenn ja, ob er wohlauf ist, wenn ja, Personenschutz bis zu seinem Abflug." "Immer Ärger mit diesen Korinthenkackern." "Schauen wir uns lieber um", entschied der Einsatzoffizier. Als sie sich der Villa so weit genähert hatten, daß sie von der Terrasse aus nahezu das ganze Erdgeschoß überblicken konnten, begriffen sie schnell, daß Punkt drei ihres Auftrages negativ beantwortet werden mußte. In zwei Sesseln saß sich das Ehepaar Ciminec geknebelt und gefesselt gegenüber. Sie stürmten hinein, rissen Ciminec den Stoffknebel aus dem Mund, schnitten ihm die Fesseln auf und fragten: "Wo ist Suchoi?" Ciminec deutete auf den Durchgang zur Bibliothek. Dort fanden sie dann den Russen am Boden liegend. Er lebte nicht mehr. "Kopfschuß", stellte der Führer des Polizeikommandos fest. "Tot. Nicht berühren!" Die Aussagen des Ehepaares Ciminec ergaben, daß plötzlich ein Maskierter eingedrungen sei. Er habe sie mit einer langläufigen Pistole in Schach gehalten. Wahrscheinlich handelte es sich bei dem dicken Laufvorsatz um einen Schalldämpfer. Der Maskierte hatte Ciminec gezwungen, seine Frau zu fesseln. Dann hatte er Suchoi gezwungen, Ciminec zu fesseln und zu knebeln. In einem günstigen Augenblick hatte Suchoi versucht, sich auf den Unbekannten zu stürzen. Daraufhin hatte der ihn mit Fußtritten in den Nebenraum getrieben. Wenig später war der Schuß gefallen. "Es war nur ein zischendes Fauchen", beschrieb Ciminec das Geräusch, "dann ein Plopp." "Beschreiben Sie den Mann genau." "Er trug eine schwarze Maske vom Hals bis zu den Augen. Ein Auftritt wie in einem Zorro-Film." "Größe, Figur, Haarfarbe, Stimme, Beweglichkeit?" fragte der Einsatzoffizier. Ciminec und seine Frau halfen ihm, so gut sie konnten. Dann rief der Kommandoführer nach Prag hinein zum Hauptquartier. Dieser Vorfall war wohl eine Angelegenheit für Spezialisten. * Nach der sofort angestellten Rückrechnung hatte der Killer einen Vorsprung von drei Stunden. -Zeit genug, um die CSSR zu verlassen. Von Prag bis zur Westgrenze im Böhmerwald betrug die Entfernung hundertsechzig Kilometer. Die Straße, die E-12, war mittlerweile gut ausgebaut. Selbst wenn man alle Verkehrsvorschriften der CSSR penibel beachtete, war die Strecke Prag-Waidhaus in zwei Stunden zu bewältigen. "Wenn wir Pech haben, ist er schon drüben", bemerkte der Fahndungsleiter und fluchte leise. "Wir werden Pech haben", befürchtete sein Kollege. "Unser Pech besteht schon darin, daß wir nicht wissen, wen wir suchen sollen."
Copyright 2001 by readersplanet
"Die Genossen in Moskau deuteten an, daß nach der Information aus München der Gesuchte Berufskiller und Franzose ist. Vielleicht fährt er einen Wagen mit französischem Kennzeichen. Diese Leute sind Großverdiener und benutzen auf langen Strecken sicher keine Enten, R-vier oder Minipeugeots. Sie fahren meist große Citroëns." "Oder Mercedes." "Oder BMWs. Versuchen wir mal etwas." Von mehreren Beamten wurden gleichzeitig alle Grenzübergänge angerufen. Es dauerte bis Mitternacht, aber dann konkretisierte sich, daß am Vormittag ein Mann in einem dunkelblauen Citroën CX über Fürth eingereist und möglicherweise derselbe Wagen um 23.30 Uhr die CSSR über Cheb-Schirnding wieder verlassen hatte. "Na fabelhaft! " Der Verantwortliche bei der Staatspolizei flüchtete in Sarkasmus. "Ein toter Superwissenschaftler und ein entwischter Killer. Alles in Butter." Ein Krisenstab wurde einberufen. Mit Moskau kam eine Konferenzschaltung zustande. Es ging darum, wie man Suchois Tod in den Medien und in der Öffentlichkeit behandeln wollte. Mord schied aus. Er sollte als Unfall oder Infarkt hingestellt werden. Zu entscheiden war ferner die Frage, inwieweit man den Westen unterrichtete. Schließlich kam man zu dem Ergebnis, daß man die faire Warnung aus München mit einer fairen Information beantworten müsse. Ein Mann des tschechischen Geheimdienstes rief einen Mann beim BND an. "Ihr Killer hat zugeschlagen", meldete er. "Suchoi ist tot." "Es ist nicht unser Killer", entgegnete der Deutsche. "Bitte verbraten Sie diese Information nicht medienmäßig." "Die Presse wird die Wahrheit herausfinden, so oder so. Aber gehen Sie davon aus, Oberst, daß nicht wir es sein werden, die ihr zu diesen Erkenntnissen verhelfen." "Suchoi wurde das Opfer dieses Wahnsinnigen", äußerte der Tscheche noch. "Sie sollten dafür sorgen, daß ihm der nächste Schlag mißlingt." "Seien Sie versichert", erklärte der Mann im BND, "wir schlafen nicht." "Das werden wir hier auch lange Zeit nicht können", bemerkte der Mann in Prag. * Der Operationschef im BND, Oberst Wolf Sebastian, bekam eine Nachricht auf den Tisch. "Wann ist Plyman in Paris?" fragte er. "Er legte eine Unterbrechung in London ein", antwortete sein Assistent. "Wann er in Paris ist, möchte ich wissen." "Heute im Laufe des Nachmittags." "Bis dahin kann der Killer längst in Paris sein." "Aber reichlich übermüdet." "Für so viel Geld steige ich müde und barfuß auf den Mount Everest", Sebastian reduzierte jedoch sein Angebot, "sagen wir auf die Zugspitze." Sein Mitarbeiter machte eine Andeutung, die nur er selbst, der Operationschef, und noch ein Mann im BND, nämlich der Vizepräsident, verstand, wenn er sie gehört hätte. "Einer ist schon barfuß zum Mount Everest unterwegs." "Urban hat überall Hornhaut, wie ein Plattfußindianer." "Sogar Siegfried hatte eine verwundbare Stelle." "Nummer achtzehn wollte es so, antwortete der Oberst. "Es war nicht meine Idee. Man mag mich einen Schinderhannes nennen, aber nie habe ich einen Mann in die Hölle gejagt und ihm vorgemacht, es sei das Paradies." Copyright 2001 by readersplanet
Der Alte zog die antike Taschenuhr aus der Weste, las die Zeigerstellung ab und schien zu rechnen. "Noch satte zehn Stunden." "Ob sie diesen Monsieur Colt vorher kriegen?" "Eher", verstieg der Alte sich zu einer fast kunstvollen Metapher, "eher stülpt sich ein Elefant durch den eigenen Rüssel, in den er vorher einen Knoten geschlagen hat." Mitunter behielt Sebastian sogar recht. Der dunkelblaue Citroën mit dem Pariser Kennzeichen wurde zwar gesucht, aber nicht gefunden. Ebenso wenig wie sein Fahrer.
10. Der Sprung von der Insel zum Festland, der Zubringerdienst London-Paris also, wurde von vielen privaten Gesellschaften wahrgenommen. Eine davon war die Continental Airline. Sie benutzten vorwiegend Focker-Friendships, F-27-Maschinen. Diese von zwei Propellerturbinen angetriebenen Mittelstreckenflugzeuge faßten bei zwei Mann Besatzung normalerweise sechzig Passagiere und eigneten sich vorzüglich für solche Einsätze. Sie hatten geringen Treibstoffverbrauch, mithin erträgliche Unkosten, und schafften die Entfernung Heathrow-Orly locker in fünfzig Minuten. Viel schneller war ein Jet auch nicht. Die Kabinenbestuhlung dieses Flugzeugs war für nur vierzig Passagiere ausgelegt. Die Sessel standen in Viererreihen. Beiderseits davon gab es einen schmalen Gang. Auf Platz Nr. 28, also an Steuerbord außen, saß ein Mann, der sich der besonderen Aufmerksamkeit der Stewardeß erfreuen durfte. "Sie bevorzugen echten französischen Rosé, Professor", sagte die hübsche Brünette mit dem strammen Busen. "Woher wissen Sie das, Darling?" "Das ist unser Geschäftsgeheimnis, Sir." "Bringen Sie mir lieber einen Whisky, Darling", bat Plyman. "Scotch?" "Bourbon." "Einfach?" "Warum nicht doppelt, Darling?" "Mit Wasser? Mit Eis?" "Darf es bitte auch ohne alles sein?" fragte Plyman. "Nur pur ins Glas, wenn es Ihnen keine allzu große Mühe bereitet, Darling." Plyman bekam seinen Drink sowie ein Lächeln der hübschen Brünetten. Wegen der angenehm klimatisierten Temperatur hatte sie ihr Jackett abgelegt. Ihre Brüste standen unter der Bluse wie zwei sorgfältig voneinander getrennte Zuckerhüte. Plyman, mit Kinnbart und Goldrandbrille, genoß seinen Drink. Später kam die Stewardeß mit Zigarren vorbei, mittellangen Havannas, genau der Flugzeit angepaßt. Plyman nahm einen von den grünen Bolzen, auch wenn ihn der Blick seines Sitznachbarn mit Verachtung traf und er leise protestierte. "Tabak", sagte Plyman zu ihm, "ist ein Naturgewächs. Reine, unverfälschte Natur. Der eine frißt Körner, der andere Gemüse, Tabak ist ein Gemüse. Und ich rauche es. Was, pardon, eine verfeinerte Art des Genusses darstellt. Rauch verbreitet einen angenehmeren Duft als die Abgase von Müslifressern, die man im übrigen auch einzuatmen gezwungen ist. Falls Sie mir jetzt mit ungewolltem Mitrauchen daherkommen, Sir, muß ich sagen, Sie stinken nach Sesamkleie und Knoblauch, Sie Furzer." Copyright 2001 by readersplanet
Plyman genoß den Whisky und die Havanna. Bald näherte die Zweimotorige sich der Küste bei Dieppe. Deutlich sah man, wie die Dünung der Meerenge gegen die Strände des Pays de Caux gischtete. Das Land zwischen Normandie und Picardie war flach. Durch das Kabinenfenster glitzerte ein silbernes, vielfach gewundenes Band - die Seine. Die Fokker ging tiefer und setzte schon zum Landeanflug an. Der Pilot fuhr die Klappen und drosselte die Triebwerke. Paris begann so, als hätte man graue Steine auf eine Wiese geworfen. Es wurden immer mehr Steine und immer weniger Wiese, bis es nur noch Steine waren. Ein weiter Schwenk über die Stadt. Endanflug, tief über Dächer, Kirchen, über die Menschen und Autos auf den Straßen. Noch einmal heulten die Motoren auf. Voraus die Landepiste. Aufsetzen. Rollen. Die Fokker fegte die Landebahn entlang und wurde sanft gebremst. Irgendwo schwenkte sie auf den Rollweg zum Vorfeld, bewegte sich auf den riesigen Gebäudekomplex mit den Flugsteigen, den Transiträumen, den Abflughallen, den Zoll- und Gepäckkontrollen zu. Der Pilot stieg voll in die Bremse. Nach einem letzten Nicken stand die Maschine. Die Stewardeß öffnete die Kabinentür. Die Gangway rollte heran. Letzte Durchsage: Kapitän und Besatzung wünschen einen angenehmen Aufenthalt in Paris. - Orly. Alles aussteigen. "Professor Plyman", flüsterte der Mann hinter Plyman. "Wir sind da." "Ich hab' es bemerkt." "Es ist soweit." "Scheint so." Plyman stand auf, nahm seinen Regenmantel und zog ihn sorgfältig über. Dann nahm er sein Handgepäck, nur einen Aktenkoffer, und ging als einer der letzten von Bord. * Die rüsselartigen Ziehharmonikabälge, durch die Passagiere an und von Bord gingen, waren meist von den großen Transatlantik Boeing- und Airbusflugzeugen besetzt. Die kleinen Flieger wurden nach wie vor mit Bussen bedient. Vor der Fokker von Continental Airline stand so ein Gelenkbus. Die Fluggäste mußten von der Gangway bis zum Bus ungefähr acht Meter zurücklegen. Professor Plyman hatte als vorletzter die Kabine verlassen. Oben blieb er eine Sekunde lang stehen und blinzelte in den hellen Pariser Himmel. Er hatte die Sonne gegen sich. Deshalb zog er die dunkle Brille aus der Sakkotasche und setzte sie auf. Nun fühlte er sich nicht mehr geblendet. Als er merkte, wie der Mann hinter ihm drängelte, nahm er bedächtig die erste Stufe. - Es war eine von den kleinen Gangways. Sie hatte nur acht Stufen. Langsam, ein wenig eckig, wie unsportliche ältere Herren zu gehen pflegten, schritt er sie hinab. Unten stand die Stewardeß. "Danke", sagte Plyman artig. "Es war ein wirklich angenehmer Flug, Darling." "Schön, daß Sie bei uns an Bord waren, Herr Professor", antwortete die Stewardeß und hielt ihm ein schwarzes Buch hin. "Darf ich Sie noch um ein Autogramm bitten?" Plyman nahm ihren Schreiber, kritzelte Best wishes - Sam Plyman auf die leere Seite, lächelte, und die Stewardeß knickste wie ein Schulmädchen. Wieder spürte Plyman, daß der letzte Mann hinter ihm drängelte. Der Bus wartete, der Diesel qualmte aus dem Auspuff. Die Fluggäste im Bus, alles Geschäftsreisende, hatten es eilig, aber er war nun einmal der prominente, weltbekannte Plyman. Gemessen schritt er auf den Bus zu. Plötzlich zuckte er zusammen, als sei er gegen eine unsichtbare Glaswand gelaufen. Niemand wußte warum. - Doch dann, mit einemmal war es Copyright 2001 by readersplanet
klar. Ein Schußgeräusch peitschte vom Hauptgebäude herüber. Es war greller als alle anderen Geräusche auf dem Vorfeld, als das Dieselrattern, die Lautsprecherdurchsagen und das Turbinensingen. Und wieder schien Plymans Körper einen Schlag zu erhalten. Eine Gewehrkugel war doppelt so schnell wie der Schall. Als der Schall herüberkam, warf Plyman schon die Arme empor. Sein Handkoffer flog meterweit weg. Er faßte sich an den Hals, keuchte, verlor die Brille, drehte sich halb herum und fiel zu Boden. Die Stewardeß schrie, zwei Männer stürzten aus dem Bus. "Zurückbleiben! " warnte einer. "Da ballert ein Wahnsinniger." "Schußentfernung ungefähr dreihundert Meter", schätzte ein anderer. Vom Cockpit aus hatte man den Vorfall bemerkt. Der Pilot stürmte die Gangway herunter und kümmerte sich um Plyman, der wie tot in seinem Blut lag. Der Pilot richtete sich auf und schüttelte nur den Kopf. Inzwischen riefen der Copilot und der Busfahrer über Funk nach dem Rettungswagen. Der Bus fuhr sofort ab, um die anderen Passagiere nicht zu gefährden. Schon heulte die Alarmsirene des Notarztwagens auf. Mit blitzendem Blaulicht und hochdrehendem Motor kam er angerast, kurvte um Tankwagen, Gepäckkarren und die geparkten Flugzeuge herum, bremste und war da. Hinten sprangen die Türen auf. Zwei Sanitäter mit einer Trage und ein Arzt kümmerten sich um den Mann auf dem Beton. Sie rollten ihn halb zur Seite, breiteten unter ihm eine Alufolie aus und hoben ihn mit der Folie auf die Trage. Die schoben sie dann in den Sanka. Der letzte Passagier, der die Fokker verlassen hatte, schwang sich mit in den Krankenwagen. Türen zu und ab. Über Funk ließ der Notarzt die Operation vorbereiten. Wenig später lag Professor Plyman in der Krankenabteilung des Flughafens. Die Türen schlossen sich. Vor der Tür hielt ein Polizist Wache. Zu diesem Zeitpunkt lief die Jagd nach dem Attentäter schon ungefähr sechs Minuten. * Im Krankenraum waren nur der aus zwei Einschüssen stark blutende Plyman, der Arzt und der Zivilist, der als letzter die Fokker verlassen hatte. "Wie fühlen Sie sich, Urban?" fragte der Amerikaner in Zivil den Mann auf der Trage. "Danke, wie ein Leichtgewichtsboxer, der vom Weltmeister im Schwergewicht zwei brutale Haken einstecken mußte." Der BND-Agent Robert Urban, der die Rolle von Plyman übernommen hatte, richtete sich auf. Dabei verzerrten sich seine Züge. Sie halfen ihm aus dem Mantel, an dem innen zwei Gummiblasen befestigt waren. Sie hatten Kunstblut enthalten. Jetzt tropften sie leer. "Schmerzen?" fragte der Arzt. "Eine Rippenprellung mindestens." "Kein Wunder bei dem Kaliber, das verwendet wurde", kommentierte der CIA-Agent Puma Windecker. Vorsichtig befreiten sie Urban von den zwei Halbschalen, die seinen Körper vorne und hinten geschützt hatten. Sie waren leicht. Die Schale, die Hals, Brust und Unterleib geschützt hatte, wies zwei tiefe Dellen auf. Eine in Herzhöhe, die zweite etwas unterhalb des Nabels. Copyright 2001 by readersplanet
"Das hätte Sie doppelt getötet." Der Arzt wog die Schalen in der Hand. "Kaum ein Kilo schwer jede. Was ist das für ein Material?" "Carbon", sagte Urban. "Kohlefaser." "Dreihundertmal fester als Stahl", ergänzte der Amerikaner, "und trotzdem eingedellt. Diese Kanaille hat überkalibrierte Munition verwendet." "Als gelte es, einen Auerochsen zu töten", sagte Urban. Der Arzt betrachtete noch immer den Körperpanzer. "Schätze, das Material stammt aus der Raumfahrt." "Die Monocoques von Rennwagen werden daraus hergestellt. Das Zeug ist praktisch unzerstörbar. Innen befindet sich eine bienenwabenähnliche Struktur aus Aluminium, darüber kommen die Kohlefasermatten. Das Ganze wird mit Nomex, einem nicht entflammbaren Kunststoff, getränkt, verpreßt und dann im Ofen bei hundertsiebzig Grad Vakuum verbacken." "Und warum tragen das nicht alle Personen, die gefährdet sind?" erkundigte sich der Arzt. "Wissen Sie, Doktor", sagte Urban, "was so ein Ding kostet?" "Keine Ahnung." "Dann fragen Sie besser auch nicht. Was für ein Auto fahren Sie, Doktor?" "Einen Renault fünfundzwanzig." "Für diesen Panzer kriegen Sie zwei davon." Die Blutergüsse auf Urbans Körper wurden mit Spray und Gel behandelt. Auf einen Verband verzichtete der Arzt. Der würde nur hinderlich sein. "Aber lassen Sie den Tag etwas ruhiger ausklingen", riet er. "Wegen des Schocks." "Ich habe keinen Schock", versicherte Urban. "Ereignisse, mit denen man rechnet, schocken nur dann, wenn sie nicht eintreffen." Der Arzt wurde nicht mehr gebraucht und ging. Der CIA-Agent begann zu telefonieren. Erst sprach er mit einem internationalen Nachrichtenbüro, an das fast alle Medien angeschlossen waren, und gab ein kurzes Statement durch. "Auf den Umweltforscher Professor Samuel Plyman von der Universität Kalifornien wurde heute am Flughafen Orly ein Attentat verübt. Zwei Schüsse aus mittlerer Distanz verletzten Plyman schwer. Er schwebt in Lebensgefahr. Nach dem Mordschützen wird europaweit gefahndet." Nachdem Windecker aufgelegt hatte, wandte er sich an Urban. "Zufrieden?" "Fragen Sie besser den echten Plyman." "Der sitzt wohlbehütet in seinem Bungalow in Los Angeles, trinkt und lacht sich einen." "Damit ist mein Job erledigt." Urban nahm ein frisches Hemd und frische Unterwäsche aus dem Koffer. Wieder telefonierte der Amerikaner. Zwischendurch bemerkte er: "Unser Job fängt erst an." Doch mit jedem Anruf, den er tätigte, wurde seine Miene düsterer. Urban ahnte, warum. Windecker fluchte fortwährend. "Keine Spur von dem Killer. Stimmt's?" "Nur zwei leere Patronenhülsen bis jetzt." "Wo?" Copyright 2001 by readersplanet
"Das ist es ja. Man hatte alles abgesucht, die Hangars, die Gebäude, die Lifte, die Rolltreppen, die Zugänge zu den Dächern. Und wissen Sie, wo man die Patronenhülsen fand?" "Interessiert mich nicht", äußerte Urban. Diesen Colt zu erwischen war jetzt Sache der Franzosen. "Na, wo wohl?" "Im Keller." "Nicht zu fassen", reagierte der Amerikaner verblüfft. "Er schoß wirklich aus einem Kellerfenster." "Mal was anderes", sagte Urban. "Aber wir kriegen ihn, diesen Hundesohn." "Er ist auch ein Meister der Maske." "Vom Keller aus hatte er nur eine Treppe zur Tiefgarage. Runter und fort, ehe sie die Sperren zumachten." "Fachmann ist Fachmann", spottete Urban. "Aber wir kriegen ihn", schwor Windecker. "Sie?" zweifelte Urban. Er war fertig und nickte Windecker kurz zu. Der Gruß drückte das Maß der Hochschätzung aus, die er Windecker entgegenbrachte. Windecker war es gewesen, der ihn dazu aufgefordert hatte, die Rolle von Sam Plyman zu übernehmen. Wenn dieser Killer schon im Auftrag eines Deutschen handelte, dann sollte gefälligst auch ein Deutscher den Kopf hinhalten, war sein Argument gewesen. Nun gut, Urban hatte es übernommen, denn es paßte ins Gesamtkonzept. Aber wenn die Kugeln den Carbonpanzer durchschlagen hätten, wäre es Windecker auch egal gewesen. Draußen saß der Arzt und schrieb seinen Bericht. "Sie sehen aus, als würden Sie einen Kognak brauchen, Oberst", schätzte der Doktor. "Ein Glas Wasser genügt." "Perrier", schlug der Arzt vor. "Das Wasser hier kommt aus der Seine. Es wird zwar gefiltert, ist aber ungenießbar. Es heißt, daß schon die Badewannen darunter leiden." Urban drückte aus einer Folienpackung eine Tablette. "Was ist das?" "Wirkt gegen Kopfschmerzen." "An Ihrer Stelle wären bei mir Kopfschmerzen das mindeste, was ich hätte." "Es wirkt auch gegen eingeschlafene Füße", witzelte Urban mühsam. "Und wenn man dies und das zum Kotzen findet. Stimmt's?" "Auch das." Urban schluckte eine Thomapyrin und goß tüchtig Sprudel hinterher. Als er nach Paris hineinfuhr, fühlte er sich bereits besser. Zum Teufel mit jedem, der etwas gegen die Pharmaindustrie sagte - und gegen Leute, die guten Whisky brauten!
11. Während zweitausend Beamte der französischen Polizei noch in Paris und Umgebung nach ihm suchten, lag der Killer längst in einem Hotelbett in Südfrankreich. Es ging auf 23.00 Uhr.
Copyright 2001 by readersplanet
Nach einer Hetzfahrt ohnegleichen in einem Fünfer-BMW, der auf einen anderen Namen zugelassen war, hatte er vierhundertfünfzig Kilometer weiter südlich Arles erreicht. Sein Äußeres hatte Colt schon vorher geändert. Diesmal benutzte er einen Paß, der ihn als Reisevertreter auswies. Zur Sicherheit führte er einen Musterkoffer mit Luxusbestecken mit. Er fühlte sich absolut sicher. Sein Instinkt signalisierte keine Anzeichen von Gefahr. Er hörte die Abendnachrichten verschiedener Sender ab und stellte immer wieder eine Rechnung auf, die ihn beruhigte. Eh bien, sie würden Ringfahndungen veranlassen. Ringfahndungen der Stufe I und der Stufe Il. -Das bedeutete, daß der Tatort hermetisch abgeriegelt wurde. Niemand kam durch. Der erste Kreis hatte zehn Kilometer, der zweite Kreis fünfzig Kilometer Durchmesser. Jedes Fahrzeug wurde kontrolliert. Personenwagen, Taxis, LKW, Busse, Züge, Boote, selbst Radfahrer und Spaziergänger. Auch Hausfrauen, Kinder und Greise samt ihren Hunden. Aber lange ließ sich das nicht durchziehen. Es war zu aufwendig, zu teuer, zu kompliziert. Bei Ringfahndungen brach jeder Verkehr zusammen. Und das verbesserte schon wieder die Chance des Gesuchten, zu entkommen. Morgen um diese Zeit würde wieder alles normal verlaufen. Also beschloß Colt, eine Erkältung vorzutäuschen und bis Donnerstag früh in diesem Zimmer im Bett zu bleiben. Er rief den Etagenkellner. "Können Sie mir heißes Wasser besorgen?" "Tee, Monsieur?" "Ja, ich habe mich erkältet. Und Tabletten, bitte. Irgend etwas mit Penicillin." Unfähig einzuschlafen, schaltete er mit der Fernbedienung die TV-Stationen durch. Ab und zu berichtete eine über den Mordanschlag auf den sowjetischen Professor. Doch viel mehr interessierte ihn Plyman und das ärztliche Bulletin. Wie es aussah, gab man Plyman wenig Chancen. Die befaßten Ärzte machten lange Gesichter, als sei Plyman schon gestorben. Das Zimmer hatte Selbstwähltelefon. Spät in der Nacht rief Colt Mortimer an. Er erwischte ihn in seinem Landhaus in Kent. Der Anwalt reagierte, als habe man ihn aus tiefem Schlaf geweckt. "Kontrakt Nummer drei erledigt", meldete der Killer. "Ja, ich hörte davon." Der Anwalt räusperte sich. "Aber von Erfüllung kann man erst sprechen, wenn er ex ist." "Eine Frage von Stunden." "Unterschätzen Sie die moderne Medizin nicht." Der Killer gab sich zuversichtlich." "Ich verstehe mein Geschäft", sagte er. "Es gibt Dinge, gegen die ist kein Kraut gewachsen und keine Intensivstation." Er hütete sich, Klartext zu reden, ebenso Mortimer. "Sprechen wir morgen darüber." "Ja, über die Endabwicklung." "Bis dann", sagte der Anwalt gähnend. Das Gespräch hatte nur kurz gedauert. Zu kurz. Colt hatte jetzt das Bedürfnis, mit irgend jemandem zu reden. Er war nahe daran, sich anzuziehen und in eine Kneipe zu gehen, die noch offen hatte. - Aber hier, in Arles, in der Provinz... Merde, dachte er und versuchte zu schlafen. Am Donnerstagmorgen verließ der Killer trotz Regen sein Hotel, in Mantel und Hut, den Kragen hochgeschlagen. Erst kaufte er alle erreichbaren Zeitungen. Copyright 2001 by readersplanet
Die neuesten Nachrichten, was das Attentat auf Professor Plyman betraf, beunruhigten ihn kaum. Zwar hieß es, dem Umweltschützer ginge es den Umständen entsprechend, aber das bedeutete, daß er demnächst abkratzen würde. Colt trat in ein Bistro, bestellte ein Glas Côte du Rhône, biß lustlos an einem Käsebaguette herum und steckte sich eine Zigarette an. Wütend ertappte er sich dabei, daß er beim Essen rauchte. Das war immer ein schlechtes Zeichen. Vom Postamt aus rief er in London an. Mortimer war in seinem Büro. Es dauerte aber eine Weile, bis er frei sprechen konnte. Er mußte erst seine Sekretärin hinausschicken. "Er liegt in den letzten Zügen", sagte Colt. "Er lebt", erklärte Mortimer. "Nicht mehr lange." "Vielleicht länger als Sie und ich." "Sie Schwarzseher", entgegnete der Killer verärgert. "Wollen Sie sich um die Erfüllung des Vertrages drücken? Das bekäme Ihnen schlecht." "Ihnen auch", bemerkte der Anwalt. "Ich fürchte, Sie müssen demnächst nach Kalifornien, Monsieur." "Sind Sie noch bei Trost, Mann?" protestierte der Killer lautstark. "Ganz und gar", erklärte der Anwalt arrogant. "Der Mann auf der Intensivstation in der amerikanischen Klinik in Paris, sofern es ihn überhaupt gibt, ist leider ein anderer als der Mann in seinem Bungalow in Bel Air bei Hollywood in Kalifornien." "Was phantasieren Sie da zusammen?" "Hören Sie zu, mon ami", erklärte der Anwalt ganz ruhig. "Ich habe Verbindungen zu gutunterrichteten Kreisen hier in London. Unterderhand erfuhr ich, daß Objekt Nummer drei völlig okay ist. Der Mann, von dem die Rede ist, hat seine Reise nach Paris schon in Washington beendet. Ihre Bemühungen galten leider einem ganz anderen. Dem falschen." "Wem?" zischte Colt fast tonlos. "Einem Strohmann." "Der sich für den echten umbringen ließ?" zweifelte der Killer. "Nur zum Schein. Es gibt kugelsichere Westen." "Nicht gegen meine Kaliber." "Offenbar doch." Die Verständigung war schwierig. Sie konnten nicht frei sprechen. Schließlich gelang es Mortimer, dem Killer klarzumachen, daß er nicht Plyman tödlich verletzt, sondern dessen Strohmann nur geringfügig angekratzt hatte. "Und wer ist dieser Halunke?" "Vermutlich ein BND-Agent." "Ein Vollidiot, der sich für so was opfert." "Nun, die Deutschen haben ihre Gründe", entkräftete Mortimer die Einschätzung des Franzosen. Der Killer, zutiefst enttäuscht und in seiner Berufsehre gekränkt, nahm keine Rücksicht mehr darauf, daß das Gespräch abgehört werden könnte. "Wer ist dieser Bastard?" "Ich erwähnte es schon." "Der wird mir das büßen." Copyright 2001 by readersplanet
"Kümmern Sie sich besser um Ziel Nummer drei." Colt lachte hämisch. "Der wird besser bewacht als eine Atombombe. Das hat Zeit. Aber dieser Bastard, der mich ausgetrickst hat, der wird es büßen. So was macht keiner mit mir. Ich habe einen Ruf zu verteidigen." "Seien Sie bloß nicht rachelüstern", riet Mortimer. "Machen Sie die Sache nicht schwieriger, als sie schon ist. Machen Sie nichts kaputt, Mann!" "Meine Sache, oder?" "Nicht nur die Ihre." "Wer ist dieses Schwein?" "Ein Mann vom Geheimdienst der Bundesrepublik Deutschland. Er wurde dummerweise als Informant in dieser Sache herangezogen. Über ihn kamen wir auf Sie." "Das ist sein Ende", drohte Colt. "Reißen Sie sich zusammen! " forderte Mortimer. "Erst ihn, bevor es weitergeht. Wer ist er?" "Ich glaube, sie nennen ihn Mister Dynamit." "Schon gehört", sagte der Franzose. "Wie ist sein Name? Niemand wird als Mister Dynamit geboren. Wo lebt er, wo wohnt er?" "Fragen Sie Brown." "Diese Trantüte?" "Captain Brown ist ein Freund von Dynamit." "Und wo finde ich ihn?" Der Killer gab keine Ruhe, bis er den Namen des Hotels in La Napoule, wo Brown seinen Urlaub verbrachte, erfuhr. "Herr Dynamit wird sich wundern", schwor Colt. "Sie sollten Ihre Energie besser auf Objekt Nummer drei konzentrieren." "Unmöglich, solange mir dieser Kerl im Wege steht", beharrte der Franzose eisenhart. Es klang, als habe er soeben den wirklich entscheidenden Gegner erkannt. Am nächsten Tag fuhr Colt weiter an die Riviera und suchte Captain Cyris Brown. Er fand ihn und setzte ihm so lange zu, bis Brown über den BND-Agenten, den sie international Mister Dynamit nannten, auspackte. "Sein Agentenname ist Robert Urban. Er wohnt in München, im Stadtteil Schwabing. Seine Telefonnummer lautet. . ." "Merci", sagte der Killer. Er schrieb nichts auf. Er konnte nicht nur zehn Zahlen, er konnte hundert Zahlen behalten. "Aber sehen Sie sich vor", riet der Australier ihm. "Ich bin der Größte", erklärte Colt. "Er ist ebenfalls der Größte", warnte der Ex-Agent. "Und er hat Sie besiegt." "Nur einmal." "Es steht eins zu null für ihn." "Ich hasse sogar unentschieden", gestand der Killer. "Ich schätze nur klare Ergebnisse." * Hartnäckig wie alle Leute seiner Profession war Colt hinter seinem neuen Todfeind her. Doch er fand ihn nicht. Copyright 2001 by readersplanet
Er fuhr nach München, beobachtete tagelang das Haus, dessen oberstes Stockwerk Robert Urban bewohnte, bekam ihn aber nicht zu Gesicht. Von Brown wußte Colt, daß der Agent einen BMW 633 CSi in Stahlbau fuhr, ein Coupé, nicht gerade ladenneu, sondern zehn Jahre alt und im Trommelfeuer gehärtet. Dieser Schweinehund, dachte der Killer, riecht mich. Er hat eine andere Schlafstelle, aber er wird weiter seinem Job nachgehen. Es gelang ihm, den Sitz des BND-Hauptquartiers ausfindig zu machen. Nun bezog er dort Stellung, wo man in Pullach in die Heilmannstraße abbiegen mußte. Aber auch durch die einzige Straße, die zum BND-Hauptquartier führte, kam der Gesuchte nicht. Nach drei Tagen faßte Colt, der Trickreiche, einen anderen Plan. Er mußte dem BND-Agenten eine Falle stellen. Beinahe fröhlich fuhr er von München an die Riviera zurück und beschloß, Brown unter Druck zu setzen. Von der Voraussetzung ausgehend, daß dieser Mister Dynamit ihn ebenso suchte wie er ihn, baute er eine Falle. Es war ganz einfach. - Brown mußte Robert Urban an die Riviera locken. Dies aber auf eine Weise, als wäre Mister Dynamit selber der Erfinder der Falle. Die Sache war kompliziert, und Colt hoffte, daß der Exagent Brown seinen Gedankengängen zu folgen vermochte. Zurück in La Napoule, traf er sich mit Brown in einem Bistro. "Dynamit ist in München unauffindbar", begann er. "Weiß der Teufel, wo er sich herumtreibt. Aber gehe ich richtig in der Annahme, daß Sie ihm einen Dienst schuldig sind, Captain?" "Damit liegen Sie nicht völlig daneben, Monsieur", erklärte der Australier. "Eh bien", fuhr der Killer fort. "Ich bin sicher, er sucht mich ebenso wie ich ihn. Also wird er eines Tages mit Ihnen Kontakt aufnehmen. Dann werden Sie ihm folgendes sagen. Vielmehr, Sie werden folgendes aus sich herausprügeln lassen, denn es darf nicht so aussehen, als würden Sie diese Information freiwillig preisgeben." "Schießen Sie los! " sagte Cyris Brown.
12. "Wo kommst du her?" murmelte Brown im Halbschlaf. Urban rüttelte ihn vollends wach. Aber der Australier starrte ihn an wie einen Geist. Also nahm Urban den Champagnerkübel und kippte ihm das Eiswasser über den Kopf. Es erwischte auch die Algerierin. Sie sprang schreiend aus dem Bett und floh verängstigt ins Badezimmer. Brown wischte sich die Nässe aus dem Gesicht. "Wir haben doch vor einer Stunde noch telefoniert." "Na und?" "Du warst in München." "Vor drei Stunden", verbesserte Urban ihn, "Und es gibt Düsenjagdflugzeuge." Daß es schlecht für ihn aussah, das begriff der Ex-Captain sofort, und er richtete sich darauf ein. Er mußte Zeit gewinnen. Zeit gewinnen bedeutete, daß man sich eine Taktik zurechtlegen konnte, mit einem ersten und einem letzten Winkelzug. Doch Urban, der alles ein wenig besser konnte, ließ ihm keine Verschnaufpause.
Copyright 2001 by readersplanet
"Was will Colt? Ein Killer wie er stößt nie ohne Grund Warnungen aus. Und er ist nicht so unprofessionell, anzukündigen, was er vorhat." Brown richtete sich auf und stützte sich auf einen Ellbogen. "Er sagte es klar und deutlich. Ich hatte es dir nur zu übermitteln." "Daß ich schuld bin, daß es in Paris danebenging?" "Eine solche Infamie kann nur in einem Kopf entstanden sein - in deinem. Er bewundert die gekonnte Durchführung, aber nun bist du ins Fadenkreuz gerückt. Bevor er sein Rennen beendet, wird er dich vor dem Ziel abfangen." "Gerede", tat Urban es ab, "heiße Luft. Wenn Profis wie Colt sich je vor etwas hüteten, dann sind das persönliche Gefühle wie Haß oder Rachedurst." Urban kniete sich auf Browns Bett und packte ihn beim nassen Schlafanzugkittel. Er wrang ihn so zusammen, daß das Wasser aus der Seide rann und die Enge Brown den Atem nahm. "Und", fuhr Urban fort, "weil Killer perfekte Tötungsmaschinen sind, muß er mich besiegen, weil ich zwischen ihm und seinem letzten Opfer stehe. Da gibt es aber noch andere." "Solange du lebst, kriegt er Plyman nicht", fürchtete er. "Er wird Plyman überhaupt niemals kriegen." "Offenbar sieht er das anders. Zuerst bist du die Barriere, die er wegräumen muß. Du hast ihm seinen Plan kaputtgemacht, hast ihm in seine Suppe gespuckt." Urban ließ den Australier los und gab seiner Stimme einen Ausdruck des Bedauerns. "Hör zu, Alter! Du kommst jetzt mit allem rüber, was du weißt, oder es kostet dich nicht nur deinen Job, sondern auch deine Freiheit. So wie du mit drinhängst, reicht das für fünf Jahre Zuchthaus wegen Mittäterschaft. Es sei denn..." "Gib mir ein paar Stunden Zeit", schlug Brown vor. "Ich verlasse Europa, und ihr werdet mich hier niemals wiedersehen." "Einverstanden", sagte Urban. "Aber für nichts geht das nicht." Brown ließ den Hinterkopf gegen die Bettrahmenkante krachen. "Und was ist das?" Urban faßte unter Browns Kopfkissen und zog den Winzling von Pistole hervor. Sie hatte nur zwei übereinander angeordnete Läufe und sah wirklich lachhaft aus. Aber die Läufe hatten ein bedrohliches 38er Kaliber. "Ich frage, du antwortest." "Kann ich mich ja gleich aufhängen", jammerte Brown. Mit der Linken holte Urban das Telefon heran. "Berechne deine Chancen, Mann. Ich bin in offizieller Mission hier. Eine Phantom der Bundesluftwaffe flog mich von Erding nach Nizza. Wir hatten eine Sondergenehmigung für Nachtlandung. Am Airport draußen wartete ein Wagen des SDECE. Er steht unten, und sie kommen herauf, wenn ich ihr Autotelefon anwähle. So sieht es aus. Und deshalb frage ich dich: Diente dein Anruf an mich nur zur Übermittlung von Colts Warnung, oder ist es eine Falle?" Brown vermochte den Blick von Urbans grauen Augen nicht auszuhalten. Er ließ die Lider fallen und nickte. "Wo wartet Colt?" "Verdammt, das würde mir auch in einer Zuchthauszelle nicht einfallen", flehte Brown. "Wo hält er sich auf?" "Ich glaube, er wollte rüber nach Nizza. Hat irgendwo dort ein Haus." "Welche Tarnung benutzt er?" Copyright 2001 by readersplanet
"Ich bin ihm nur kurz begegnet. Er sieht aus wie ein Buchhalter auf der Flucht vor der Revision." "Dein Auftraggeber kennt ihn besser." "Kessler ist tot und verwest." "Ich meine den Advokaten, der sich nicht scheut, das verbrecherische Vermächtnis Kesslers zu erfüllen." "Du meinst den Advokaten in Sydney." Urban winkte ab. "Wir waren schon so weit, daß sich dieser Mann in London aufhält. Kennt er den Killer persönlich oder nicht?" "Schon möglich." "Sein Name?" lautete Urbans nächste Frage. "Den werde ich besser hüten als ein Priester das Beichtgeheimnis." Urban steckte sich eine Goldmundstück-Zigarette an. "Und wie lange?" Brown wolle sich ebenfalls eine Zigarette nehmen. Urban traute ihm alle Tricks zu und steckte die Packung wieder ein. - Um ihn loszuwerden, würde Brown auch das Bett anzünden. "Wie lange, glaubst du, wird der Priester schweigen?" drängte Urban. "Immerdar." "Du hast keinen Eid geleistet, Captain." "Es gehört zum Berufsethos, daß man seinen Auftraggeber nicht nennt." "Auch wenn er an einem Verbrechen beteiligt ist?" "Ja, selbst dann." "Auch wenn man sicher ist, daß die andere Seite, die Recht und Ordnung vertritt, ihn doch eines Tages kriegt?" "Auch dann", blieb Brown stur. "Und die Gefahr besteht, daß bis dahin weitere Unschuldige sterben müssen?" "Mann, Dynamit", stöhnte der Australier. "Verschone mich mit solchen Mätzchen. Wir sind beide Agenten, wir kennen das Geschäft. Wann ging es da je um Moral? Es ging immer darum, daß sich unser Globus irgendwie weiterdreht, ohne daß die Fetzen fliegen. Jedes Mittel dafür war uns recht. -Also hör auf mit deinen verlogenen Gebeten!" Urban sah ein, daß er ihn so nicht bekam. Also hakte er dort ein, wo es jeder mit der Angst bekam. "Wie alt bist du, Cyris?" "Sagen wir Mitte Fünfzig." "Laut Statistik hast du noch satte zwanzig Jahre zu leben. Zwanzig mal Sommer, Herbst, Winter, Frühling. Das bedeutet schwimmen, jagen, Skifahren. Gutes Essen, Whisky, Wein, Frauen. Das willst du alles wegwerfen... nur um diesen Halunken von Anwalt zu schonen?" "Was, verdammt", keuchte Brown los, "hätte er denn tun sollen? Etwa dasselbe wie sein Vater und sich eine Kugel durch den Schädel jagen?" "Anwälte finden immer Wege, sich aus einem Schlamassel herauszuhalten. Das ist ihr Job." "Die Firma war pleite. Er brauchte das Honorar." "Er ist der Vermögensverwalter des Erblassers, oder?" "Der Alte war es, und der Junge ist es." Copyright 2001 by readersplanet
"Also kann er über Kesslers Kapital verfügen. Mir wäre lieber gewesen, er hätte einen Griff in die Klientenkasse getan, als den Killer auf den Trip zu schicken. Der Junge muß nicht alle Tassen im Schrank haben." "Du kannst in keinen hineinschauen. Er übernahm von seinem Alten den Fall und führt ihn durch, so eisern, wie ich seinen Namen verschweigen werde." "Behalt ihn für dich", sagte Urban. "Was ich weiß, genügt mir." * In Australien, das ungefähr Japanzeit hatte, war es jetzt Mittag. Man bekam also Leute, die man haben wollte, an den Draht. Urban sprach mit dem Mann des BND in Sydney. "Blitzauftrag", gab er durch. "Name des Advokaten, der sich vor ungefähr zwei Monaten eine Kugel durch den Kopf schoß. Er dürfte betagt und krank gewesen sein. Und er hat einen Sohn mit einer Anwaltskanzlei in London. Außerdem war er Testamentsvollstrecker eines gewissen Ken Kessler." Urban fügte noch einige Daten hinzu. Dann wartete er. Dies allerdings mit zunehmender Nervosität. Er rauchte Kette und leerte die Scotchflasche, die halbvoll herumstand. Dann ging er zum Bad, Brown immer im Visier, öffnete die Tür und sagte zu der Algerierin: "Los, anziehen und ab nach Hause!" Sie suchte ihre Sachen zusammen, machte das Gegenteil eines Strips, und als sie fertig war, fragte er: "Hat er schon bezahlt?" "Non, Monsieur." "Wie lange ziehst du schon mit ihm herum?" "Eine Woche." "Was hast du noch zu kriegen?" "Ungefähr dreitausend Francs." "Nimm sie aus seiner Brieftasche." Sie entlohnte sich selbst. Urban hörte draußen noch ihre Absätze, als das Telefon ging. Sydney war am Apparat. "Da kommt nur eine Anwaltsfirma in Betracht", meldete das BND-Büro. "Mortimer. Benson Mortimer senior. Auf ihn paßt alles." "Dann ist der andere also Benson Mortimer junior." Der Mann in Sydney kannte sogar Mortimers Büroadresse in der Londoner City. "Leicester Square." "Brillante Arbeit", lobte Urban. "Danke!" An den Kamin gelehnt stand er da und bedauerte den Exagenten Brown nur noch. "So einfach war das, Captain." "Jetzt bist du der Größte." "Es tut mir nicht leid", gestand Urban. "Mir tut nur leid, was für ein Idiot du bist." Er wählte die Autotelefonnummer der in La Napoule wartenden SDECE-Leute. "Holt ihn ab", sagte er kurz. Urban wartete noch, bis Brown sich angezogen hatte, bis sie kamen und ihn mitnahmen.
Copyright 2001 by readersplanet
Dann schlief er bis zum Morgengrauen. Nicht in Browns nassem, muffigem Bett, sondern auf dem Sofa. Kaum war es hell geworden, telefonierte er mit München und gab den Namen des Anwalts durch. "Macht damit, was ihr wollt", sagte er. "Am besten, ihr unterrichtet den britischen Inlandsgeheimdienst oder den Yard. Aber eines wußte ich gerne von Mortimer: wo ich Colt finde und wie er derzeit aussieht." "Und was haben Sie vor?" fragte der Operationschef. "Wir sind weiter in Zugzwang", befürchtete Urban, "solange dieser Killer noch frei herumläuft. Wie ich ihn kriege, das weiß ich noch nicht. Er ist nicht nur gefährlich wie eine Bestie, er ist gefährlich wie eine hungrige, angeschossene Bestie in der Nacht. Aber mir ist da etwas eingefallen. Melde mich aus Lugano wieder." Der Alte hatte noch Fragen, doch Urban hängte auf. In der Tür stand der Mann, der den Mietwagen von Avis brachte.
13. Mit Erotik hatte das wenig zu tun. Auch nicht mit Sex. Eher schon mit der Hitze dieser Tage oder mit einem Hang zum Nudismus. - Jedenfalls empfing Stilettos Schwester Clivia ihn, wie Gott sie geschaffen und die Sonne sie gebräunt hatte. Er musterte sie von unten bis oben. Dann sagte er: "Macht ja nichts." "Wir kennen uns doch." "Hauptsache, Sie erkälten sich nicht." "Danke, ich bin abgehärtet. Und ich liebe es, mich so zu bewegen. Wenn man nicht zu den eigenen Bedingungen leben kann, was hat dann alles für einen Sinn?" Er trat in die kühle Wohnhalle. Clivia sperrte hinter ihm mit einer schnellen Drehung des Schlüssels die Tür ab. Es entging ihm nicht. "Was hat Ihr Bruder dazu gesagt?" fragte er. "Wenn er zu Hause war, ging ich stets bekleidet." "Sie hatten doch keine Geheimnisse voreinander", bemerkte Urban und ließ sich in einen der bequemen weißen Ledersessel fallen. "Einige", gestand sie, "das heißt, es waren keine echten Geheimnisse. Jeder wußte von den kleinen Ticks des anderen. Wir sprachen aber nie darüber." "Durch einen dieser Ticks, wie Sie es nennen, ging Stiletto in Colts Falle." Sie war von allen Seiten ein angenehmer Anblick. Er schaute ihr zu, wie sie Drinks machte, und entdeckte nichts, was an ihr auszusetzen gewesen wäre. Die kleine Pigmentstörung auf der linken Pobacke, etwa stecknadelkopfgroß, war gewissermaßen der Punkt auf dem i. Sie brachte hohe Gläser mit viel Bourbon. "Richtig so?" "Stoff und Menge stimmen", sagte Urban. "Colts Arbeit in Genf war so gut, daß er dafür auf der Akademie dreimal den Doktor hätte kriegen müssen." "Zumindest wäre er nicht durchgefallen", schränkte Urban ein. Sie bewegte sich nicht ohne Grazie, trotzdem kam sie ihm verspannt vor. Sie hielt den Oberkörper bolzengerade, preßte die Beine eng zusammen und stand plötzlich auf. Copyright 2001 by readersplanet
"Ich ziehe doch was über." "Von mir aus." "Damit man. . ." Sie sprach nicht weiter. Es dauerte nicht lange. Als sie wiederkam, trug sie eine schwarze Bluse und einen engen weißen Rock. "Damit man was?" nahm er den Faden wieder auf. "Später", sagte sie. "Sie sind nicht da, um mit mir über den Tod meines Bruders zu reden." "Über meinen Tod", gestand er. Sie verstand ihn nicht. "Colt hat mein Ableben aus vielerlei Gründen vorgesehen. Um mich dagegen zu wehren, brauche ich Ihre Hilfe." "Klar", sagte sie enttäuscht. "Nur um meinetwegen kommt keiner nach Lugano." Er trank und wollte nicht unhöflich sein. "Sie sind bezaubernd, Clivia." "Ich bin die Schwester eines Killers und habe eine zu lange Nase." "Stiletto ist tot. Er hat gebüßt. Und Ihre Nase gefällt mir", erwiderte Urban. "Verzeihung, es kam mir nur so hoch. Es gibt einfach keine Männer mehr. Wenn du all diese Typen rumlatschen siehst. O Gott! Jesusjünger, Penner, Irokesenköpfe, Nietenbekloppte, Ausgeflippte, Angetörnte oder die anderen, die Softies, dann die Juppies, die Nichts-als-Geld-Macher. - Alles keine Männer. Armes Europa, kann man nur sagen." Er wartete, bis sie sich ausgejammert hatte, dann holte er sie auf den Boden des wirklichen Lebens zurück. "Ist Stiletto seinem Konkurrenten je begegnet?" "Ich glaube nicht." "Haben Sie eine Ahnung, wie Colt aussieht? Wir besitzen nur Phantombilder von ihm." "Vermutlich hat er Ähnlichkeit mit Heinrich dem Achten oder Jack the ripper." "Oder auch mit Cesare Borgia, der ein schöner Mann gewesen sein soll", weitete Urban die Möglichkeiten aus. "Wie versuchte Ihr Bruder, ihn zu kriegen?" "Stiletto versuchte es, und Colt gelang es", bemerkte sie bitter. * Urban fiel ein, daß man ihm im Club Chou-Chou in St. Julien vielleicht weiterhelfen könne. Er notierte es im Geiste. "Okay, Colt gelang es. Aber auch Ihr Bruder versuchte etwas. Richtig so?" Sie nickte und begann zu erzählen. "Auch Colt hat ein Hobby. Er ist ein großer Sammler von historischen Automobilen. Als sie die Verabredung in Genf trafen, versuchte Stiletto, ihn nach Avalon zu locken. Das liegt nahe der Autoroute Paris-Lyon. Mein Bruder wußte, daß es dort einen Oldtimer-Sammler gibt, einen Grafen de Montargis. Wenn Colt den Mercedes 540-K, von dem mein Bruder schwärmte, besichtigt hätte, dann würde heute Colt tot sein und mein Bruder leben. Stiletto hätte ihn im Automuseum des Grafen erwartet und umgelegt. Offenbar zog Colt jedoch Erkundigungen ein, die mit den Angaben meines Bruders nicht übereinstimmten." Urban nickte mehrmals. "Comte Montargis übernahm sich mit seinen alten Bugattis, Rolls-Royces und Mercedes finanziell. Er mußte fast all seine Schätze verkaufen." Clivia strich das Haar nach hinten. Eine unnötige Bewegung, das Haar lag glatt an. Die Geste drückte Staunen aus. Copyright 2001 by readersplanet
"Sie kennen Montargis?" "Alle Sammler kennen sich." "Sie sammeln auch?" "Ich besitze nur einen einzigen Oldtimer", gestand Urban. "Um sich Sammler zu nennen, muß man schon mehrere haben." "Einen Alfa, einen Lancia, einen alten BMW?" fragte sie. "Den Flügeltüren-SL", erklärte Urban. "Den Dreihundert-Mercedes." "Dann sind Sie ja ein reicher Mann." "Nun, das Auto mag bald eine halbe Million wert sein, aber reich ist etwas anderes." "Sie fahren damit?" "Nein. Zu schade. Ich habe Angst, ein alter Rosthaufen könnte die Vorfahrt mißachten und dagegen bumsen." ",Welche Farbe hat er?" "Helles Blausilber." "Sitze?" Das war typisch Frau. "Dunkelblau. Leder. Hat sogar ein Röhrenradio", fügte er scherzhaft hinzu. "Und wo steht das kostbare Stück?" "In meiner Tiefgarage. Allerdings in einer absperrbaren Box mit Alarmanlage und Klimaanlage." Sie interessierte sich auffallend für das Auto. Aber sie interessierte sich überhaupt für alles. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie gehört habe, Colt fehle noch ein Gull-Wing-Mercedes. "Das deckt sich mit meinen Plänen", eröffnete Urban ihr. * Urban blieb zum Essen. Es gab nur Spaghetti mit Pomodoro, gemischten Salat mit Zitrone und danach Espresso in kleinen Tassen an Daumen und Zeigefinger. Aber der Wein war würzig und tat das seine. Später machte sie noch Feuer. Zuerst im Kamin. Clivia legte spanische Platten auf und tanzte Flamenco. Urban genoß es aus der ersten Parkettreihe im Sessel. "Apropos: Damit man...", kam sie auf ihre Andeutung zurück. "Ich zog mich nur an, damit man sich wieder ausziehen kann. Was hältst du davon?" "Ich mag direkte Frauen", gestand er. "Und ich träume von einem Mannesmann, der raucht, säuft und gerne vögelt." Sie tanzte immer wilder. Dann riß sie die Bluse auf, daß die Knöpfe absprangen, und der Reißverschluß am Rock war auch kein Problem. Bevor sie sich auf das Fell vor dem Kamin warf, stellte sie die Musik lauter. "Daß man meine Schreie nicht hört", sagte sie atemlos. Sie schrie, als hätte sie einen Muskelkrampf, so verspannt war sie. Man konnte sie nur genießen, indem man sie ganz locker nahm. Als sie vor dem Kamin lagen, versuchte sie, alle ihre Träume in Realität umzusetzen. Für ihre erste Vorstellung wählte sie die Rolle der Schlange, dann die der Katze und später die der Stute. Sie ist noch verdammt jung, dachte Urban. Wenn sie so weitermacht, tritt sie in die Fußstapfen ihres Bruders. Blut ist Blut. Copyright 2001 by readersplanet
Aber sie konnte einen Mann verdammt hochbringen. Was sie sagte und was sie tat, war ungeheuer erregend. Urban spürte, wie alles groß wurde bis zum Bersten, dann nach langer Zeit kleiner und dann wieder groß. Sie war das Material, aus dem man früher die Kurtisanen geformt hatte. Und das bei eher kleinen Brüsten, einem engen Schoß, schmalen Schenkeln und zartem Körperbau. Nur der Erschaffer des Himmels und der Erden kannte die tiefen Zusammenhänge bei seinen Geschöpfen. Urban ließ ihm gerne seine Geheimnisse. - Hauptsache, er war weitergekommen. Nicht nur einen Schritt. Endlich glaubte er zu wissen, wie man Colt besiegte, und er war überzeugt, daß Clivia in den Angelegenheiten des Tages ebenso begabt war wie bei den Dingen der Nacht.
14. "Das ist er", sagte Urban und deutete vom Hotelfenster aus auf das silberblaue Ding, das zwischen den Palmen der Promenade des Anglais parkte. "Ein Auto wie du", sagte Clivia. Er schloß das Fenster. "Von jetzt an gilt", sagte er, "getrennt operieren, vereint schlagen." "Sagtest du schlafen, caro mio?" "Ich sagte nicht schlafen. Aber wenn es beliebt, Gnädigste. " Es war später Nachmittag, L'heure bleue, wie die Franzosen sie nannten, die blaue Stunde, die beste Stunde für die Liebe. Eigentlich war er nicht in Stimmung nach der Sechsunddreißig-Stunden-Hetze. Auf der Fahrt von Lugano an die Riviera hatte Clivia ihn unterwegs abgesetzt. Er war von Mailand nach München geflogen und hatte seinen 300SL-Flügeltürer aus dem Dauerschlaf geweckt. Mit allem Drum und Dran wie Ölwechsel, abschmieren, Batterie nachladen, Kühlwasser auffüllen, Reifen auf Druck bringen, war das eine recht umständliche Wiederbelebungsprozedur. Dann hatte er ihn quasi auf Händen von München an die Riviera getragen. Hier stand er nun, und sie lagen neunundneunzig Meter vom Zweitliebsten, was er auf Erden hatte, entfernt im Bett. Er war müde und geschafft, aber ihre Hände waren echte Muntermacher. Besser als Pervitin oder Kokain oder beides zusammen. Sie schaffte es einmal, dann noch einmal, doch dann schlief er wie tot bis zum Abendessen. "Das wäre meinem Bruder niemals passiert." Er richtete sich auf. "Was, zum Teufel, meinst du?" "Ich war unten und habe nachgesehen, ob unser bestes Stück auch richtig geparkt ist. Da traue ich doch meinen Augen nicht. Es trägt ein deutsches Kennzeichen. Immerhin nicht aus München, aber eins aus Berlin. Damit jeder gleich weiß, woher das Auto kommt. Wenn du Colt damit anlocken willst, dann wäre ein exotisches Nummernschild besser gewesen." "Eines aus Hongkong", scherzte er. "Besser als Berlin bestimmt." "Hör zu", erklärte er. "Wenn einer mißtrauisch wird, dann bei einem Kennzeichen, das nicht aus Europa stammt. Wie sollte man so ein Auto an die Riviera bringen? Auf einem schattigen Waldweg aus Ostasien oder von Amerika herüber?" "Stiletto wäre das nie passiert", wiederholte sie. Copyright 2001 by readersplanet
"Reg dich ab", sagte er. "Es ist kein Berliner Kennzeichen." "Ein schwarzes B auf weißem Grund", beharrte sie. "Ich kann ja noch lesen." "B bedeutet auch Barcelona. Das Kennzeichen ist echt spanisch. Wer genau hinsieht, merkt es sofort." "Barcelona ist ja wohl noch idiotischer." Sie ließ sich nicht beruhigen. Er versuchte, es ihr in Ruhe klarzumachen. "Von diesem Auto gibt es nur noch wenige. Ein paarhundert Stück weltweit. Die Eigentümer sind im Dreihundert-SL-Owners-Club zusammengeschlossen. Beinah jeder kennt jeden. Über die Nummer ist der Eigentümer jederzeit leicht zu ermitteln. Wenn nicht von der Polizei, dann über die Listen, die die Clubs führen. Die Kennzeichentafel an meinem SL gehört einem Chefarzt aus Barcelona." "Dann läuft hier dasselbe Trauerspiel ab wie beim Comte Montargis in Avalon. Angenommen, Colt sieht das Auto, was ich noch sehr bezweifle, und interessiert sich dafür. Dann nimmt er vielleicht Kontakt auf, prüft aber vorher nach, wer der Eigentümer ist und ob der Spanier in Nizza Urlaub macht. " "Der Chefarzt in Barcelona ist unterrichtet", versicherte Urban. "Ich bin gewiß nicht ganz so schlau wie dein Bruder, aber in Barcelona haben meine Freunde von der Brigada investigaciön Position bezogen. Andererseits behauptest du, du sprichst Spanisch, Französisch und Englisch." "Von allem ein wenig", schränkte sie ein. "Genug", hoffte Urban. Dann gingen sie essen. * Sie fuhren den silberblauen SL an der Riviera spazieren, von Cannes nach Antibes, nach Monte Carlo und parkten ihn möglichst dort, wo er Aufmerksamkeit erregte. Einer von ihnen hielt sich meist in der Nähe auf und hatte ein Auge auf das wertvolle Fahrzeug. Zwei Tage lang ereignete sich nichts. Am Abend stellte Urban den Mercedes in die Hotelgarage. "Wegen der winzigen Schramme?" fragte Clivia spöttisch. "Jetzt wird es psychologisch", erklärte Urban. "Du siehst im Schaufenster eines Juweliers ein Armband, das du unbedingt haben möchtest. Und plötzlich ist es weg. Nun wirst du erst recht ganz wild darauf. Das ist Psychologie." Beim Essen knüpfte Clivia an den Vergleich mit dem Juwelier an. "Ist Colt überhaupt in der Nähe?" "Mortimer sagte es beim Verhör in London aus." "Aber nicht, wo er wohnt und unter welchem Namen. " "Sie sind Geschäftspartner, aber keine Freunde. " "Wie beschreibt Mortimer sein Aussehen?" "Ebensogut kann ein Taubstummer einen Walzer von Strauß beschreiben", erwiderte Urban. "Wir können nur warten und hoffen." Nach dem Diner gingen sie in die Negresco-Bar. Dort spielte ein englisches Bartrio. Nur Piano, Gitarre und Baß, aber was für Virtuosen. Urban bestellte seinen Lieblingssong: When You're Smiling. Gegen 23.00 Uhr begaben sie sich auf ihr Zimmer. Als Urban an der Rezeption vorbeikam, machte der Angestellte ihm ein Zeichen. "Monsieur Montez", sagte er leise. Unter Montez waren Urban und Clivia abgestiegen. Copyright 2001 by readersplanet
"Es ist mir äußerst peinlich." "Es gibt nichts, was Ihnen peinlich sein müßte", ermunterte Urban ihn. "Um was geht es?" "Um Ihr Automobil." "Was ist damit? Es steht in Ihrer Garage, wie ich annehme. " "Heute abend kam ein Herr vorbei. Er wollte wissen, ob der Gast, der diesen Mercedes fährt, bei uns logiert." "Was haben Sie gesagt?" "Er ließ mir keine Ruhe. Da er äußerst seriös wirkte, sagte ich ihm, es sei in der Tat so. Er ließ mir seine Karte da." Urban bekam die Visitenkarte mit Goldrand. Nur - TOM DITTON - stand darauf und eine mit Bleistift geschriebene Nummer. Oben im Zimmer sagte er zu Clivia: "Ruf ihn an! " "Jetzt?" "Morgen nach zehn", sagte Urban. "Es soll nicht aussehen, als hätten wir Verkaufsabsichten." Ditton war Amerikaner. Forsch erklärte er, das Auto gefalle seiner Frau, und er wolle es kaufen. Der Preis sei zweitrangig. Daraufhin antwortete Clivia ihm, sie rufe nur aus Höflichkeit an, damit er die Sache nicht weiter verfolge. Sie dächten nicht daran, sich von dem Auto zu trennen. Um keinen Preis der Welt. Der Amerikaner wollte es nicht glauben und lud sie zu einem Drink in sein Haus ein. Clivia dankte und versprach wieder anzurufen. "Nein, ein echter Amerikaner", entschied Urban. "Diesen Missouri-Slang kriegt kein Franzose hin, und wenn er eine Million Jahre übt." * Am vierten Tag begann Urban zu befürchten, daß der Trick mißlungen sei. Vielleicht hockte Colt in einer der tausend Villen an der Küste, verließ sie aber keinen Schritt und wußte so wenig von ihnen, wie sie nichts von ihm wußten. Trotzdem drehten sie weiter ihre Promenade-Runden. Sie fuhren nach St. Tropez, nach Cap Ferrat hinüber, dann in die Berge nach Grasse und nach St. Martin Vesubie. Sie fuhren die Pässe, die obere Küstenstraße, die mittlere und die untere. "Bald kennt die ganze Küste dein Auto", äußerte Clivia abfällig. "Und uns." "Nur Colt nicht." "Wer weiß?" "Der Operation liegt ein Denkfehler zugrunde", kombinierte sie und öffnete die Bluse tief, denn etwas im Flügeltüren-SL war miserabel, nämlich die Lüftung. "Colt ist wahrscheinlich gar nicht hier. Diese Leute sind nie dort, wo sie zu sein behaupten." "Noch zwei Tage", schlug Urban vor.
15. "Nicht, daß es unangenehm wäre", sagte sie. "Und außerdem mag ich dich. Welches Frauenherz schwärmt nicht von einem Kerl wie dir? Und sei es nur für ein kurzes Abenteuer. Copyright 2001 by readersplanet
Darauf läuft es doch hinaus, oder?" "Wir sind gute Partner", erwähnte er. "Mehr nicht?" "Was willst du hören, Langnase?" "Die Wahrheit", bat sie. "Die Wahrheit ist", antwortete er, "daß Colt frustriert ist und unter Druck steht. Auf sein Gut in der Normandie kann er nicht. Das heißt, er könnte wohl, denn Beweise gibt es kaum gegen ihn. Aber er ist angeknockt und braucht Erholung. Die sucht er. Andererseits hat er genug Geld, und ein SL fehlt noch in seiner Sammlung. Warum, zum Teufel, sollte er uns nicht über den Weg laufen? Tausende tun es Tag für Tag." Inzwischen war der SL so bekannt wie ein bunter Hund. Sie wurden auf der Straße angesprochen. Manchmal baten Leute darum, das Auto fotografieren zu dürfen. Manche wollten es auch kaufen, doch wenn sie den Preis hörten, winkten sie lächelnd ab. "Morgen ist der letzte Tag", entschied Urban beim Frühstück. Clivia stand am Balkonfenster und winkte ihm. "Komm mal her, Autohändler! " Als er bei ihr stand, sagte sie: "Zu spät." Sie deutete auf den Mercedes, den Urban in aller Frühe in eine Parklücke rangiert hatte. "Da war eben einer, aber jetzt ist er weg. Klemmt da nicht ein Zettel unter dem Scheibenwischer? Ich gehe runter und sehe nach." "Laß uns eine Stunde warten", schlug Urban vor. Colt hatte den silberblauen Mercedes 300-SL zum erstenmal gesehen, als er sich an der Promenade des Anglais Zeitungen besorgte. Er war zu seinem Peugeot GTi gerannt und dem Sportcoupe gefolgt. Oben am alten Hafen kam er ihm wieder entgegen. Colt wendete und hatte den Mercedes eingeholt, als er in die Negresco-Garage abtauchte. Das Wichtigste hatte er sofort erfaßt. Der Wagen befand sich in einem hervorragenden Zustand. -Gefahren wurde er von einer Blondine. Das Kennzeichen konnte Berlin oder auch Barcelona bedeuten. - Non, der Wagen kam aus Spanien. Hinten klebte das ovale Nationalitätszeichen - E für Espagna. Seit dieser Stunde ging Colt des öfteren von seinem Haus an die Küste hinunter. Wieder sah er den SL. Er parkte an der Seite des Negresco in der Rue Meyerbeer. Dann sah er ihn zwei Tage lang nicht mehr und war beunruhigt. Er rief im Negresco an und erhielt die Auskunft, die Herrschaften, Senor und Senora Dr. Montez, seien wirklich aus Barcelona. Colt überlegte, ob er es riskieren dürfe. Mehr als einmal dachte er daran, daß es vielleicht eine Falle sein könnte, eine bessere als die, die Stiletto ihm in Avalon aufgestellt hatte. Um sicherzugehen, nahm er spätabends einen Drink in der Negresco-Bar. Prompt begegnete er einer schönen Blondine. Der Mann an ihrer Seite war etwa fünfunddreißig Jahre alt, groß, athletisch gebaut und dunkelhaarig. Er trug einen Oberlippenbart. Ein typischer Katalane. Wenn die Blondine die Fahrerin des SL war, dann war der Mann im leichten Sommerglencheck ihr Ehemann. Colt fragte den Barmixer. "Ist das Dr. Montez?" "Die beiden Montez, Monsieur", lautete die Auskunft, "aus Barcelona. Feine Leute. Wohlhabend." Wer im Negresco als wohlhabend galt, war in Wirklichkeit stinkreich. Schon einmal im Hause, gelang es Colt, in die Garage zu kommen. Es war nach Mitternacht, als er neben dem SL stand. Das Kennzeichen war in Ordnung. Er schätzte, daß das Blech einige Jahre alt war. Die vordere Tafel hatte eine verbogene Ecke und leichten Rost an der Copyright 2001 by readersplanet
Unterseite. Er kannte sich bei Oldtimern aus. Er wußte, wie man die Motorhaube eines SL aufbekam, ohne daß man von innen den Bowdenzug betätigte. Der Anblick der Maschine faszinierte ihn. Sie hing drin wie frisch aus der Fabrik und von einem Künstler veredelt. Viele Leitungen und der Ventildeckel waren verchromt. Was aus Kupfer oder Messing bestand, glänzte poliert. Der schwarze Mattlack, die Kabel, die Isolierungen, das alles wirkte makellos. Er leuchtete das Chassis ab, suchte die Motor- und Fahrgestellnummer. Haube zu und Licht aus. Am nächsten Tag rief er in Barcelona an. "Der Professor ist nicht zu sprechen", vermeldete der Diener. "Senor und Senora Montez weilen derzeit in Frankreich zu einem Ärztekongreß in Aix. " "Kann man sie dort erreichen?" "Anschließend machen sie Urlaub. Mal hier, mal da. Aber wohl an der Riviera." Colt bedankte sich und legte auf. Die Hälfte seiner Befürchtungen war damit vom Tisch. In der Normandie hatte er alle Unterlagen über klassische Automobile. Selbstverständlich auch die Liste der SL-Eigentümer und die Anschriften der Clubs. Aber was ihm zu Hause einen Routineanruf gekostet hätte, entwickelte sich hier zu einer umfangreichen Prozedur. Er rief einen Bekannten an, der ebenfalls SL-Eigner war. Colt erzählte ihm von dem Montez-SL und bat darum, man möge ihm die Daten des Wagens beschaffen, ehe er in Verhandlungen trete. "Was verlangt Montez?" lautete die Frage des Freundes. "Zuviel", log Colt. Es war später Abend, als er bei seinem Sammlerfreund noch einmal anrief. Der hatte inzwischen die Unterlagen herausgesucht. "Etwas stimmt mit dem Wagen nicht", warnte er Colt. "Der SL von Montez hat eine andere Chassisnummer. Okay, die Motornummer muß nicht immer identisch sein. Es kommt schon mal vor, daß man bei einem Austauschmotor die alte Nummer dranläßt. Der Montez-SL ist aber unter allen Umständen ein Baujahr neunzehnfünfundfünfzig. Die genannte Nummer jedoch paßt nur zu einem W-198, Serie zwei. Baujahr ab siebenundfünfzig." "Merci", bedankte Colt sich. "Und wem gehört der Wagen mit der genannten Nummer?" "Das kann ich rauskriegen." "Bis wann?" "Eilt es?" "Nun", erklärte Colt, "mich interessiert das Auto. Zwar würde ich gern ein Angebot abgeben, aber vorher sollte die Vorgeschichte geklärt sein." "Mein vollstes Verständnis", pflichtete der andere Sammler ihm bei. "Ich erledige das sofort. Und schon mal im voraus viel Glück bei den Verhandlungen!" Früh am Morgen klemmte Colt einen Zettel mit seiner Telefonnummer zwischen Wischerblatt und Frontscheibe des silbernen Mercedes.
16. "Das Leben", sagte Urban, "ist nun mal so, tief hinunter, hoch hinauf und rasendschnell vorbei." "Ob er angebissen hat?" Urban las die Telefonnummer. Copyright 2001 by readersplanet
"Eine Nummer aus Nizza. - Sieht so aus." Über seine Kollegen bei Polizei und Geheim dienst ließ er sich die Adresse des Telefonanschlusses geben. "Ein völlig unverdächtiger Belgier", hieß es. "Er besitzt das Haus schon eine Ewigkeit. Kommt jedes Jahr ein- zweimal hierher, um sein Rheuma zu kurieren. Er mischt in Brüssel bei Zeitungen und Fernsehstationen mit. Name: Alfonse Pignatier." "Nie gehört." "Nun, er ist einer von den grauen Eminenzen im Hintergrund, wir werden uns um ihn kümmern." "Aber dezent, bitte! " Bei diesem Informationsstand ließ Urban zu, daß Clivia die Nummer anrief. Erst meldete sich niemand, später ein Mann, der nahezu akzentfreies Französisch sprach. "Reizend, daß Sie sich melden", sagte er charmant. "Mein Name ist Pignatier. Ich bin Oldtimersammler. " "Nur, um Sie nicht im ungewissen zu lassen", erklärte Clivia. "Ich fürchte, wir verkaufen dieses Automobil nicht. Wir lieben es wie ein Kind." Die Formulierung, ich fürchte, wir verkaufen nicht, schien in dem Belgier Hoffnung zu erwecken. "Für mich wäre dieser Wagen ein Traum." "Man kann immer wieder einen kriegen, Monsieur. " "Nicht einen wie den Ihren, mit dieser Ausstattung, in diesem Zustand. Wie wäre Ihr Preis?" "Es gibt keinen Preis, Monsieur", antwortete sie zögernd. "Ich würde bis zu einer Million Franc gehen. Das sind zweihunderttausend Dollar." "Monsieur", Clivia bemühte sich um ihr bestes Französisch, "bitte machen Sie sich keine Illusionen. Vermutlich verkaufen wir nicht mal für das Doppelte." Wieder dieser Vorbehalt in dem Wort vermutlich. "Sprechen Sie mit Ihrem Ehemann darüber." "Wozu?" "Oder besuchen Sie mich einfach." "Mein Mann ist heute in Paris." "Dann kommen Sie allein. Bringen Sie das Auto mit. Ich möchte mich hineinsetzen, es berühren, es bewundern. Wir fotografieren es und trinken ein Glas Champagner." Clivia fiel nicht gleich um, ließ sich aber überreden. "Irgendwann heute nachmittag", drängte der Belgier. "Mal sehen", zögerte sie erneut. "Sie bereiten mir eine ungeheure Freude, Madame. Meine Adresse ist Roquebrune, Rue Massem, das dritte Haus." Als sie auflegte, hatte sie feuchte Hände. Sie wandte sich an Urban. "Warum, zum Teufel, sollte ich darauf eingehen?" "Das lenkt ihn ab." "Und wenn er wirklich nur der Finanzier Alfonse Pignatier aus Brüssel ist?" Urban hielt einen Zettel hoch, den der Boy soeben in einem Umschlag heraufgebracht hatte. "Pignatier ist in Brüssel", erklärte Urban. "Von Brüssel nach Nizza schafft man es mit dem Flugzeug in wenigen Stunden." Copyright 2001 by readersplanet
"Aber nicht, wenn man an der künstlichen Niere hängt", ergänze Urban. "Pignatier hatte vor wenigen Tagen eine Transplantation." Sie erschrak deutlich. "Was bedeutet das?" "Daß es losgeht", sagte Urban. * Der BND-Agent Nr. 18, Robert Urban, hatte das Hotel Negresco gegen 16.00 Uhr verlassen. Etwa fünfzig Minuten später fuhr Clivia mit dem SL nach Roquebrune, einem Ort nördlich der Autobahn an der Flanke der Berge auf Monaco zu. Die Nachmittagssonne war noch heiß und grell, als Clivia das dritte Haus in der Rue Massem erreichte. Das weiße, eiserne Tor mit den vergoldeten Ringen und Spitzen stand einladend offen. Sie schaltete in den ersten Gang zurück und nahm die steile Auffahrt zwischen den Platanen. Die Villa hatte nicht nur einen Pool, sondern zwei. Ein Wasserfall ergoß sich vom oberen in den tiefer gelegenen und verbreitete angenehme Frische. Clivia bewegte den SL über den feinen Kies unter das säulengetragene Vordach der klassischen Villa und öffnete die Flügeltür. Erst erschien der Fuß mit dem Krokoschuh, dann das linke Bein. Sie stützte sich über den hohen Schweller heraus. Das blonde Haar war zu einem glatten goldenen Helm gebürstet. Sie trug ein zartgrünes Kleid, mit Weiß verarbeitet. Als sie neben dem SL stand, war sie zum Niederknien schön. Nur - es war niemand da, der ihren Anblick genoß. Außer einem Mann, der sich in guter Deckung hinter den Arkaden des Seitenflügels befand. Urban hatte sich unbemerkt auf das Gelände geschlichen, um von hier aus den weiteren Verlauf von Clivias Besuch bei dem Belgier zu verfolgen. Wahrscheinlich, dachte er, wird es die Schluß-Szene dieses Trauerspiels. Clivia beugte sich noch einmal in den SL hinein, holte ihre Handtasche heraus, hängte sie an der goldenen Kette über die Schulter, schlenderte zum Haus hinüber und läutete. Aber niemand reagierte. Alfonse Pignatier schien weder den Motor noch das Läuten gehört zu haben. Clivia schaute sich um, ging im Schatten auf und ab und betätigte nochmals die Klingel. Man hörte im Haus den Gong anschlagen. Aber niemand kam. Urban verfolgte, wie sie die Haustür öffnete, und hörte, wie sie sich meldete. "Hallo, Monsieur Pignatier! " Stille. Nur die Grillen zirpten in den Bäumen. Und dann, gefährlich nahe hinter Urban die Stimme. "Hier bin ich", flüsterte Pignatier in Urbans Ohr, als er ihm den Lauf seiner 9-Millimeter hineinbohrte. "Rufen Sie Ihre Freundin - Stilettos Schwester, wenn ich nicht irre." Damit war endgültig klar, wer Pignatier war und in wessen Falle sie gegangen waren. "Rufen Sie ihr doch", antwortete Urban. "Madame Montez", schrie Colt mit vor Erregung rauher Stimme. "Madame Montez! " Sie kam wieder aus dem Haus. Inzwischen war Colt mit Urban aus der Deckung getreten, und Clivia sah, was geschehen war.
Copyright 2001 by readersplanet
"Eine Bewegung", warnte Colt, "und dieser Herr hier ist tot. Und eine Bewegung von Ihnen, Dynamit, und diese Lady ist ebenfalls tot." Urban, noch einigermaßen perplex, überlegte, was zu tun war. Wenn es überhaupt noch etwas zu tun gab. Zunächst wartete er ab, was Colt vorhatte. Jede andere Reaktion mit der Kanone am Ohr war lebensgefährlich. "Kommen Sie her! " befahl Colt. Als die Dreiergruppe sich nur noch wenige Meter gegenüberstand, sagte er anerkennend: "Es war raffiniert eingefädelt. Ein Oldtimer als Lockvogel. Aber was mich irritierte, war die Doublette Avalon-Nizza. Das stieß mir auf. Nun, Sie hatten wohl keine bessere Idee. Doch dann passierte Ihnen der entscheidende Fehler, Dynamit. Das Kennzeichen war noch okay, doch die Fahrgestellnummer ist auf Sie registriert. Eigentümer laut SL-Owners-Liste: Robert Urban, München. Ich dachte, Sie wären der Größte. Irrtum, ich bin es." "Colt", antwortete Urban auf diese lange Rede. "Der Mann, der Sie vorgeben zu sein..." Colt unterbrach ihn schneidend: "Ich gebe nichts vor, ich bin wirklich Alfonse Pignatier. " "Der echte Pignatier hängt in Brüssel an der künstlichen Niere." "Mein bedauernswerter Bruder", sagte Colt fast amüsiert. "Und jetzt ist aller Tage Abend. Noch einen letzten Wunsch, vielleicht ein Wort an Madame?" Urban gab nicht auf. "Colt", sagte er. "Es gibt einfache Fallen, doppelte und dreifache. Die Sûreté weiß, daß ich hier bin. Die Nizzapolizei hat das Haus umstellt." Der Killer lachte nur hämisch. "Irrtum, das Haus hier ist nicht mein Haus, sondern das Haus eines Bekannten, der auf Safari in Afrika ist. Natürlich nannte ich Madame die falsche Adresse. Sie haben absolut keine Chance. Alle beide nicht. Wer ist nun der wirklich Allergrößte?" "Sie", sagte Clivia und hatte ein irritierendes Lächeln um den Mund. Sie stand da mit aufgeknöpftem resedagrünem Kleid, so tief offen, daß man die Spitzen ihrer Brüste sah. Man konnte sie ebenso wenig übersehen wie die Umrisse ihrer Beine und ihrer Schenkel im Gegenlicht. Und sie war sich dieser Details bewußt. In der Sekunde, als Colts Augen von ihrem Körper abgelenkt wurden, griff sie blitzschnell in die Tasche und holte einen 6.35er im Damenkaliber heraus. Besser als den Gegner nur angespuckt war es immer noch. Daß sie etwas versuchte, das allein genügte. Colt nahm seinen Colt von Urbans Ohr, richtete ihn auf Clivia und Schoß. Erst zur Warnung. Aber der Herzschlag Freiraum genügte Urban. Er holte aus. Seine Handkante war eine gefährliche Waffe. Da es jedoch unmöglich war, Colts Hals zu erwischen, hämmerte er ihm die Hand auf den Unterarm. Colt verlor die Waffe. Urban trat sie weg. Sie schlitterte über die Fliesen. Colt war wie gelähmt. Solche Schläge halbierten Ziegelsteine. "Ich habe keine Waffe mehr", keuchte er. "Aber ich", sage Urban und riß die Mauser vom Magnethalfter. Colt lachte kopfschüttelnd. "Aber du wirst niemals schießen, du Penner." Der Killer löste sich unerwartet aus Urbans Griff. Er sprang Clivia an, konnte ihr den winzigen Browning entwenden und versuchte, Distanz zu gewinnen. - Abstand und eine Waffe bedeuteten jetzt das Überleben. Doch Colt stürzte. Im Fallen rotierte er herum und legte auf Clivia und Urban an. Copyright 2001 by readersplanet
Doch beide lagen hinter einem Arkadenbogen in Deckung. Urban hatte die Mauser, durchgeladen und entsichert, in der Rechten. "Schieß doch! Schieß! " schrie Clivia außer sich. "Ich will ihn lebend", keuchte Urban. "Aber wie denn?" Ja, wie denn? - Ihm fiel schon noch etwas ein. Clivia lag dicht neben ihm. Er spürte, wie sie zunehmend hysterischer wurde und durchdrehte. Colt Schoß. Und wieder Schoß er. - Der kleine Browning hatte sechs Kugeln im Magazin. Er tötete nicht unbedingt, es sei denn, man preßte den Lauf an die Stirn oder auf das Herz. Urban wollte Colt lebend kriegen. Er sah auch eine Chance dafür. Doch plötzlich entriß Clivia ihm die Waffe und richtete sie auf Colt. Der schoß sofort. Urban versuchte, Clivia die Mauser zu entwinden, und legte auf Colt an. "Schluß jetzt! Geben Sie auf! " "Nie im Leben! "schrie Colt. Urban ließ ihn nicht aus den Augen. Daran lag es, daß er Clivias rechte Hand, die näher kam, sich um seinen Zeigefinger am Abzug krampfte und ihn mit aller Kraft durchriß, zu spät bemerkte. Die Kugel traf Colt so präzise, als hätte man den schwarzen Punkt im Zentrum einer Schießscheibe anvisiert. Der Killer war sofort tot. "Das Leben ist nun mal so", flüsterte Clivia. "Hoch hinauf, tief hinunter und rasend schnell vorbei. " Noch nie hatte Urban auf einen Menschen scharf geschossen. Clivia war es gewesen, die seinen Zeigefinger am Abzug der Waffe betätigt hatte. Aber wer hatte Colt nun umgelegt? Er oder Clivia? Das war die Frage. - Nein, es war keine Frage. Er stand auf und überzeugte sich davon, daß der Killer aller Killer tot war. Dann steckte er sich eine MC an und rauchte tief auf Lunge. Da hatte er sich nun nahezu zerfetzt, um die Sache auf seine Weise in Ordnung zu bringen. Sie war in Ordnung gebracht worden, aber nicht auf seine Weise. Das einzige, was dabei herauskam, war also nur, daß er sich zerfetzt hatte.
Ende Sechs weitere Titel mit der Hauptfigur Robert Urban (...und schon bist du tot, Der Satana-Zwischenfall, Im rosa Schatten der Venus, Mein Preis - dein Blut, Verschwörung in Orebic, Zum Teufel mit der Hölle) finden Sie im Internet als eBook unter http://www.readersplanet.de.
Copyright 2001 by readersplanet
Viele weitere deutschsprachige ebooks aus den Bereichen Science Fiction, Erotik, Krimi, Western, Action, Horror, Fantasy, Jugend- und Sachbuch finden Sie im Internet unter www.readersplanet.de