Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 582 Zone-X
Das totale Nichts von Arndt Ellmer Das Logbuch der Sol - 5. Bericht In de...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 582 Zone-X
Das totale Nichts von Arndt Ellmer Das Logbuch der Sol - 5. Bericht In den mehr als 200 Jahren ihres ziellosen Fluges durch die Tiefen des Alls haben die Besatzungsmitglieder des Generationenschiffs SOL schon viele gefährliche Abenteuer bestanden. Doch im Vergleich zu den schicksalhaften Auseinandersetzungen, die sich seit dem Tag ereignen, da Atlan, der Arkonide, auf geheimnisvolle Weise an Bord gelangte, verblassen die vorangegangenen Geschehnisse zur Bedeutungslosigkeit. Denn jetzt, im Jahre 3804 Solzeit, geht es bei den Solanern um Dinge von wahrhaft kosmischer Bedeutung. Da geht es um den Aufbau von Friedenszellen im All und um eine neue Bestimmung, die die Kosmokraten, die Herrscher jenseits der Materiequellen, für die Solaner parat haben. Und es geht um den Kampf gegen Hidden-X, einen mächtigen Widersacher, der es auf die SOL abgesehen hat und dessen Standort man inzwischen einigermaßen genau bestimmt zu haben glaubt. Die Schwierigkeit für die Solaner ist nur, daß sie nicht wissen, wie sie an ihren Gegner herankommen sollen. Hidden-X hat sich durch das Hypervakuum, das es umgibt, wirkungsvoll geschützt. Allerdings, so erfahren die Solaner zu ihrer Überraschung, sollen sich irgendwo in der SOL Unterlagen befinden, mit deren Hilfe sich das Hypervakuum überwinden läßt – DAS TOTALE NICHTS …
Die Hauptpersonen des Romans: Sanny - Die Molaatin studiert das Logbuch der SOL. Cleton Weisel - Chef der Arge SOL. Elvin Glador - Ein »Heimatpfleger«. Karjanta - Eine seltsame Hypertechnikerin. Mitchmiller - Ein Solaner auf dem Weg zur Macht.
PROLOG Das gelbe Licht der Kabinenbeleuchtung ließ den lindgrünen, kurzhaarigen Pelz in einem matten Schimmer leuchten. Der kugelförmige, völlig haarlose Kopf glänzte wie eingefettet, ein deutliches Zeichen innerer Erregung. Zuviel war auf sie eingestürmt in den letzten Tagen. Ein klein wenig hatte ihr Selbstbewußtsein darunter gelitten. Verbunden mit der ständigen Gefahr, die von dem Gegner ausging, kam sie sich sogar hilflos vor. Wo war der Weg, den sie beschreiten konnten, welche Lösungsmöglichkeit gab es? Sie fühlte innerlich, daß sie auf der richtigen Spur war, daß sie allein die Lösung finden konnte. Alle Anzeichen deuteten in jene Richtung, die ihr auch die eigenen Berechnungen wiesen. Sie waren noch ungenau, ihre Parafähigkeit ließ sie für kurze Zeit im Stich, und sie schrieb es der inneren Unruhe zu. Der Türsummer erklang. Gynn? Sie hatte ihren 23jährigen Artgenossen abblitzen lassen, doch jedesmal, wenn Gynn ihr begegnete, machte er ihr einen schönen Kopf. In der Tat schimmerte sein Haupt in jugendlich frischem Bronzeton, besonders dafür geeignet, jeder Frau die Sinne zu verdrehen. Sie verzog ein wenig den Mund. Deutlich hatte sie ihn spüren lassen, daß sie nicht gewillt war, eine Bindung einzugehen. Ihr
Lebensziel bestand gegenwärtig einzig und allein in der Unterstützung Atlans. Ich schicke ihn fort! sagte sie sich und rief laut: »Herein!« Die Tür glitt auf, und sie eilte beflissen zur Öffnung, den rechten Arm ablehnend von sich gestreckt. Im letzten Augenblick hielt sie inne. Ihr Arm sank herab, ihre runden, hellblauen Pupillen richteten sich auf den Eintretenden. Ihr Körper versteifte sich über diese Überraschung. »Hallo Sanny!« Atlan lächelte zurück. Unter dem Arm hielt er einen auffallend fremdartigen Gegenstand, zumindest für die Verhältnisse der SOL. Ein umfangreiches Buch aus beständigem Material, etliche hundert Seiten dick, durchsetzt von zusätzlichen Einfügungen, Schablonen für Sichtgeräte und Hinweisen auf Mikrofilmspeicher. Die Eintragungen darin waren oft bedeutsamer und aussagekräftiger als die Berichte in den offiziellen Speichern. Gerade was die Zeit unter der SOLAG und ihren Vorgängern betraf, war das Buch von unschätzbarem Wert, enthielt es doch viele Berichte unterschiedlichster Verfasser und verschiedenster Epochen. Ein dickes, schweres Zeitdokument. Das Logbuch! Die einzige Möglichkeit! Atlan streckte es ihr entgegen. Sie ergriff es hastig, nahm es an sich. Fast fiel es ihr aus den Händen, so schwer war das Buch für ihre dünnen Ärmchen. Das Logbuch war größer als ihr Kopf. Atlan half ihr und legte es auf den Tisch, der an der linken Kabinenwand stand. Der Arkonide nickte ihr ernst zu. »Hayes hat einiges daraus schon gelesen«, erklärte er. »Aber er kommt nicht dazu, weiterzumachen. Er hofft, daß du etwas findest.« Er machte eine Pause, und seine roten Augen starrten gedankenverloren auf das Buch. Langsam wandte er den Kopf, blickte Sanny durchdringend an. »Wir alle hoffen es!« Sanny setzte sich augenblicklich an den Tisch und schlug das Buch auf. Mit aufmerksamen Augen begann sie zu blättern, nichts entging ihr.
»Wir haben allerdings noch den Umweg über Krymoran«, sagte Atlan. Er hatte vor, auf die Dunkelwelt zurückzukehren und den Transmitter zu benutzen, der allem Anschein nach in das Versteck von Hidden-X führte. Die Molaaten nahmen regelmäßig diesen Weg, wenn der BEFEHL sie rief. »Es ist nicht genug!« stieß Sanny hervor. »Der Transmitter ist nicht genug!« Atlan stand unter der Tür. Mit einem kurzen Gruß verabschiedete er sich. Er ging und sorgte dafür, daß niemand Sanny stören würde, während sie das Logbuch durchforstete. Sanny sah ihm mit glänzenden Augen nach. Als die Tür sich schloß, ruhte ihr Blick bereits wieder auf dem großen Buch. Während sie Seite für Seite blätterte und die Eintragungen und Vermerke prüfte, beschäftigten sich ihre Gedanken mit den Mitgliedern ihres Volkes, die sie auf Krymoran entdeckt hatten. Zwanzig von ihnen hatte Oggar mit zur SOL gebracht. Arme Molaaten! Es versetzte Sanny einen Stich ins Herz, wenn sie an das Schicksal ihres Volkes oder seiner Überreste dachte. Ihr eigenes war ein Paradies dagegen. Atlan hatte sie damals zu fünft aus dem Asteroiden in Bumerang gerettet. Zu fünft? Oserfan! Wo steckte er? Konnte Chybrain helfen? Sanny schrak auf. In einer Art Selbsthypnose hatte sie es geschafft, sich bei den beiden Kurzbesuchen Atlans nichts anmerken zu lassen. Darüber hatte sie die Begegnung mit Chybrain beinahe vergessen. Er war vor langer Zeit schon einmal auf der SOL gewesen, vergegenwärtigte sie sich. Ich muß nach Anzeichen seines Wirkens suchen. Er hat mir den entscheidenden Hinweis gegeben. Chybrain, das Waisenkind. Chybrain, das übergeordnete Wesen. Chybrain, sein Spiel und seine ewige Suche. Schon oft hatte er in naher Vergangenheit die SOL und ihre Bewohner in schwierigen Situationen gerettet oder ihnen geholfen.
Aus Spieltrieb und Neugier. Sanny hatte ihm aufmerksam zugehört und festgestellt, er wußte gar nicht recht, daß er manchmal Dinge getan hatte, die von kosmischer Bedeutung waren. »Bitte beschütze Oserfan!« flüsterte die Molaatin und dachte wehmütig daran, daß er als einziger nicht von Krymoran zurückgekehrt war. Der Name des Planeten erinnerte sie daran, daß auch die Roxharen dort vertreten waren. Einer von ihnen, Fefer, hatte nach seiner Heilung an Bord der SOL zum ersten Mal von dem Hypervakuum gesprochen, in dem sich das Flekto-Yn verborgen hielt. Seine Angaben hatten zu etlichen Spekulationen geführt, auch bei Sanny. Die Tatsache, daß es ihr zusammen mit SENECA nicht gelungen war, das Hypervakuum zu deuten oder zu erklären, hatte die Molaatin getroffen und ihr zusätzlichen Kummer bereitet. Chybrain war zu ihr gekommen. Er hatte ihr in wenigen Worten berichtet, daß die SOL einst in einer schrecklichen Gefahr gewesen war. Er bezeichnete diese als Hypervakuum. Sanny merkte, daß sie die letzten Sekunden gar nicht mehr auf das Logbuch geachtet hatte. Sie blätterte zurück bis zu der Textstelle, die sie kannte. Sie nahm ihre Suche wieder auf, berechnete ungefähr den Umfang des Berichts, der sich mit einer so großen Gefahr auseinandersetzen würde. Chybrain hatte der SOL bereits damals geholfen. Er kehrt immer wieder zu diesem Schiff zurück! Magnetisch zieht es ihn an! Ein Mann hatte die SOL aus der Gefahr gerettet, um seine Diktatur zu errichten. Das Hypervakuum war eine Spur, die einzige Möglichkeit, eine Lösung des Problems zu finden. Das Problem war Hidden-X. Mechanisch wanderten die Augen der jungen Molaatin über das Papier und die Einlagen des Logbuchs. Ihre Sinne und ihr Parasinn standen unter allergrößter Anspannung. Von einem übernatürlichen
Instinkt geleitet, überschlug sie knapp hundert Seiten des Textes, las Zeile um Zeile weiter. Ihr Kopf glühte, ihr Mund bebte leicht. Es mochte scheinen, als lese sie halblaut mit. Sannys Augen verschlangen die Buchstaben und Worte, die sich mit kurzen Unterbrechungen aneinanderreihten. Sie stießen auf Ereignisse, die sie aus den Erzählungen Atlans, Hellmuts und anderer bereits kannte. Plötzlich wußte sie, daß es nur noch vier, fünf Seiten sein konnten. Sie las, stockte dann. Sanny wußte, daß sie gefunden hatte, was sie suchte. Es gab keinen Zweifel. Sie erkannte, daß es Ereignisse von großer Tragweite waren, die sich damals abgespielt hatten. Die Erregung trieb ihr eisige Schauer über den Rücken. Gleichzeitig aber steckte sie voller Erwartung. Gierig nahm sie in sich auf, was das Logbuch ihr anbot.
1. Ein Schrei gellte durch den Korridor, ein zweiter folgte. Dumpfe Geräusche klangen auf, dann setzte das Getrampel von Stiefeln ein. Drei Männer kamen die Krümmung des Korridors entlang. Sie erreichten die Stelle, wo die Frau allein und abwartend stand. Ohne auf sie zu achten, stürmten sie an ihr vorbei. Es waren drei von der Arge. Der eine hatte ein dunkelblaues, geschwollenes Auge, dem andern lief Blut aus den Mundwinkeln. Der dritte schien unverletzt. Fluchend hasteten sie vorwärts, die Oberkörper leicht vorgebeugt. In knappem Abstand hinter ihnen kam eine Meute aus etwa zwanzig Solanern. Sie trugen Knüppel aus Metall mit sich und alle möglichen Gegenstände, die als Waffen benutzbar waren. Ihre Gesichter drückten Unmut aus, Unzufriedenheit und Haß. Schweigend verfolgten sie die drei, ihr Abstand verringerte sich immer mehr.
Eine Gangkreuzung tauchte auf. Ein Quergang stellte die Verbindung her zu anderen, parallel laufenden Korridoren, die der Schiffsmitte zu immer stärker gekrümmt waren und sich wie Ringe um den zentralen Antigrav zogen. Die drei Männer bogen ab und rannten dem Zentrum des Schiffes zu. Sie befanden sich im Mittelteil der SOL, ihrer Heimat. An ihren Bewegungen war deutlich zu erkennen, daß sie sich hier in der unmittelbaren Umgebung der Hauptzentrale auskannten und in Sicherheit fühlten. Sie rannten auf ein Schott zu, öffneten es und verschwanden dahinter. Als die Verfolger es erreichten, hatte es sich wieder geschlossen. Der Öffnungsmechanismus reagierte nicht. Die drei Angehörigen der Arge hatten es blockiert. »Sie sitzen in der Falle!« sagte jemand. Der Anführer der bunt zusammengewürfelten Meute wandte sich ruckartig um. Seine Augen funkelten zornig. »Du täuschst dich«, erklärte er zischend. »Es gibt Verbindungen zwischen den Räumlichkeiten, die unter oder über den Korridoren hindurchführen. Mit Sicherheit sind die drei bald in der Zentrale.« Er ließ seine Schultern sinken, dann betrachtete er seine geröteten Fingerknöchel. An einer Stelle war die Haut ein wenig aufgeplatzt. Ein paar rote Tropfen bildeten sich. Raibohm wischte sie mit einer raschen Bewegung ab, dann setzte er sich in Bewegung. Wieder ging er ihnen voran, schob seinen kräftigen Körper vorwärts, der große Ähnlichkeit mit einem MetaEinbauschrank besaß, wie sie überall in den Wohnetagen des Schiffes zu finden waren. Seine Muskeln drohten die lindgrüne Bordkombination zu sprengen. Die Meute aus Männern und Frauen aller Altersstufen folgte ihm auf dem Fuß. Engus arbeitete sich nach vorn an seine Seite und schüttelte den Kopf. Er verstand Raibohms Reaktion nicht. »Warum gibst du so schnell auf?« fragte er scharf. »Die Lumpen haben anderes verdient!« »Es ist sinnlos. Und was sinnlos ist, sollte man besser lassen. Was
glaubst du, werden die drei tun?« Raibohm hatte seine Stimme erhoben. Die drei Techniker der Arge hatten tagelang an der Spirax gearbeitet. Die Spirax war die wichtigste Versorgungsanlage des ganzen Wohnbereichs Halberland, der knapp zehn Minuten von der Hauptzentrale entfernt lag. Eine kleine Wohneinheit nur. Ursprünglich war sie für die unmittelbaren Angehörigen der Schiffsführung bestimmt gewesen. Jetzt, oder vielmehr seit Jahren, wohnten beliebige Solaner darin. Die Spirax lag am Ende Halberlands, ein Steuercomputer und ein Monstrum einer Maschinenanlage, die für die Luftreinigung und erneuerung ebenso zuständig war wie für die Produktion von lebensnotwendigen Nahrungsmitteln. Auch die Abwasserbeseitigung gehörte dazu. Die Spirax streikte, und in Halberland stanken die Toiletten, knurrten die Mägen, wurde die Luft schlecht. Die Techniker hatten die Anlage durchforstet, Teile ausgebaut, zerlegt, wieder zusammengefügt. Noch immer arbeitete die Spirax nicht. Die Solaner hatten schließlich die Geduld verloren. »Ihr seid Taugenichtse«, hatte Engus gebrüllt und eine handfeste Auseinandersetzung entfacht. Die Techniker hatten den kürzeren gezogen. »Ein Vakuum für frisches Wasser«, brummte Raibohm verdrossen. Er ärgerte sich über Engus' Kurzsichtigkeit. Der Solaner war sein Nachbar, und sie verstanden sich gut. Nur, wenn es um technische Angelegenheiten ging, schien ein Kurzschluß in der Stromversorgung einen zweiten bei Engus nach sich zu ziehen. Der Solaner sah regelmäßig rot, wenn er Mitgliedern der Arge begegnete. Manchmal waren seine Äußerungen ebenfalls extrem. Raibohm warf einen prüfenden Blick auf den schmächtigen Mann neben sich. Eigentlich war es kein Wunder, daß viele Solaner unzufrieden waren. Überall im Schiff fehlte es an wichtigen Dingen. Ersatzteile konnten nicht beschafft werden, niemand kümmerte sich
um die Einrichtungen. Wer sollte es außerdem tun, wenn nicht die Arbeitsgemeinschaft SOL. Weisel! Dieser aufgeblasene Weisel! dachte Raibohm grimmig. Alle hatten sie die Ereignisse der nahen Vergangenheit in guter Erinnerung. Ein Aufstand war niedergeschlagen worden, rund fünfhundert Solaner waren als »Meuterer« verurteilt und auf einer Welt namens Chircool abgesetzt worden. Sie sollten dort ein paar Jahre als Strafe verbringen. Irgendwann wollte die SOL sie wieder abholen, weil man erwartete, daß sie dann geläutert waren. Raibohm hatte einen Bekannten gehabt, der zu den fünfhundert gehörte. Der Mann war alles andere als ein Meuterer. Der Solaner aus Halberland bezweifelte, daß es mit rechten Dingen zugegangen war. Er dachte an sich, an Engus, malte sich aus, wie die Arge mit ihnen verfahren würde. Meuterei, Pah! Seit über zwei Monaten trieb das Schiff steuerlos durch einen unbekannten Teil des Universums. Es hatte sich überall herumgesprochen, so heimlich Weisel und seine Helfer auch taten. Nach der Emotio-Katastrophe war niemand in der Lage, die SOL zu steuern. Es würde keine Rückkehr nach Chircool geben, nichts. Seit ein paar Stunden ging das Gerücht, die SOL würde bald von einer Riesensonne gefressen. »Wer war eigentlich die Frau?« Keiner außer Raibohm schien die Frau wahrgenommen zu haben. Der hünenhafte Solaner schüttelte den Kopf. Litt er unter Halluzinationen? Sein Magen knurrte zwar, aber es war noch nicht so schlimm. Sie würden ausziehen und sich an einer der anderen Versorgungsanlagen bedienen. Von weitem schon sahen sie die beiden Gestalten stehen, die am Beginn von Halberland auf sie warteten. Ein Mann und eine Frau. Den Mann kannten sie, er gehörte zu ihnen. Die Frau hatten sie noch nie gesehen, Raibohm ausgenommen. Sie faszinierte sie sofort, alle Augen richteten sich auf sie.
»Endlich kommt ihr«, lachte Mitchmiller. »Ihr seht ja gänzlich ungeschoren aus. Hat euch die Arge keinen Schrecken eingejagt?« Raibohm gab keine Antwort. Er starrte die Frau an und konnte seinen Blick kaum von ihr lösen. Eigentlich war sie von eher durchschnittlichem Aussehen, knapp einen Meter siebzig groß, mit braunen, halblangen Haaren und ein wenig stechenden Augen, die gleichzeitig anziehend leuchteten und Distanz schaffend zurückwiesen. Das Auffallendste, nein, Aufregendste an ihr aber war ihre Kleidung. Sie trug eine Bordkombination von üblichem Schnitt, die in hellem Rosa und hellem Grün leuchtete, wobei die Farbmuster völlig verwirrend angeordnet waren und ineinander zu verschwimmen schienen. Noch immer lachte Mitchmiller über die Gesichter, die sie machten. Raibohm schloß die Augen und drehte den Kopf zur Seite. Er blickte die Frau nicht direkt an. Aus den Augenwinkeln heraus waren die Farbmuster noch irritierender, und das war es gewesen, was ihn bei der Verfolgung auf sie aufmerksam gemacht hatte. »Darf ich euch Karjanta vorstellen?« sagte Mitchmiller laut. »Sie ist eine Hypertechnikerin und hat uns sehr geholfen!« Raibohm verstand kein Wort. Erst als mehrere Frauen herbeikamen und eröffneten, daß die Spirax wieder arbeitete, glaubte er zu wissen, was los war. Mitchmiller sagte: »Sie hat die Anlage repariert. Sie ist durch das Hauptreparaturluk gekrochen. Nach zwei Minuten kam sie heraus, und das Ding funktionierte wieder.« Raibohm schüttelte ungläubig den Kopf und setzte sich in Bewegung. Sie suchten den kleinen Kontrollraum der Anlage auf und überzeugten sich, daß Mitchmiller die Wahrheit gesagt hatte. Es war unerklärlich. Die drei Techniker hatten tagelang nach dem Fehler gesucht. Raibohm kehrte auf den Korridor zurück und suchte mit den Augen nach der Frau. Hypertechnikerin war sie, ein nichtssagender Begriff. Es gab viele Bereiche in Wissenschaft und Technik, die sich
mit übergeordneten Phänomenen auseinandersetzten. Ein Allroundtalent war die Frau mit Sicherheit nicht, die er auf knapp vierzig Jahre schätzte. »Achtunddreißig ist sie«, vernahm Raibohm die glucksende Stimme Mitchmillers hinter seinem Rücken. »He! Was hältst du davon?« Er schlug dem Hünen an den Arm, daß es klatschte. »Wovon soll ich etwas halten?« »Nicht verzagen, Karjanta fragen! Ist doch ein guter Spruch, oder?« Mitchmiller kugelte sich fast vor Lachen. Raibohms Gesicht verzog sich zu einer undefinierbaren Grimasse zwischen Weinen und Schmunzeln. »Wo ist sie abgeblieben?« wollte er wissen. Mitch wußte es nicht. Karjanta blieb verschwunden. Dafür stieß Engus plötzlich einen Schrei aus. Er deutete links und rechts den Korridor entlang. Sie kamen. Sie reagierten schneller als vermutet. Sie wußten genau, was sie zu tun hatten. Auf jeder Seite waren es mindestens dreißig Mann, eine Übermacht. Und alle waren sie bewaffnet. Die Arge ließ nicht mit sich spaßen.
* Das Schiff war verloren. Cleton Weisel sagte nichts. Tanar Fridan redete, einer seiner engsten Mitarbeiter. Fridans Stimme klang scharf und schneidend. Sie ließ die Anwesenden frösteln. Ihre Gesichter hellten sich nicht auf, zu der Unsicherheit in ihren Augen kam auch Furcht dazu. Furcht vor dem, was Fridan sagte. »Es ist unser Untergang, wenn wir nichts unternehmen«, klang seine Stimme auf. Alle Kommunikationsanlagen nach draußen waren stillgelegt, der Eingang zur Hauptzentrale verriegelt. Die Besprechung fand unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen statt.
»Was sollen wir denn tun?« Weisel schrie es hinaus. »Denkt doch an die unkontrollierten Manöver, die wir nach dem Dimetransflug durchgeführt haben. Wir wissen nicht einmal, wo wir sind!« Der Chef der Arge SOL fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Er empfand unterschwellige Angst vor Fridan. Fridan war ein harter, unmenschlicher Charakter. Seine Ideen hatten beinahe dazu geführt, daß einer der wichtigsten Männer an Bord den Tod gefunden hatte, Esterhan Soeklund, der Kybernetiker. Seit jenem Vorfall hatte Soeklund sich zurückgezogen. Er trat kaum noch in Erscheinung, niemand hätte zu sagen gewußt, wo er sich im Augenblick aufhielt. »SENECA, melde dich endlich!« brüllte Weisel bebend. Er sprang an die Kontrollen, betätigte wahllos die Kommunikationsgeräte. Eine kalte, knochige Hand legte sich auf seine Schulter, zog ihn zurück. Sie gehörte Fridan. Der Techniker schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er einfach. »Nein!« Seit dem Vorfall mit Romeo und Julia hatte sich die Biopositronik nicht mehr gemeldet. Alle Versuche Soeklunds, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, waren gescheitert. Unerklärliche, wenn auch unbedeutende Dinge waren vorgefallen, sagte sich Weisel. Als Ergebnis standen die beiden Roboter jetzt in Quarzblöcke eingegossen in den beiden SOL-Zellen herum. Fridan brachte deutlich zum Ausdruck, daß er bereit war, die Verantwortung zu übernehmen. Nicht nur jetzt, sondern für immer. Weisel erbleichte bei den Worten, die sein Vertrauter ihm zuflüsterte. »Oder hast du eine andere Wahl?« fragte Fridan und deutete auf die Bildschirme. Die gelbe Riesensonne hing vor ihnen im All, und sie hatten keine Möglichkeit, ihrem Gravitationsfeld zu entkommen. Steuerlos war die SOL in ihre Nähe gekommen und von ihr eingefangen worden. Der Riesenstern gab sie nicht mehr frei, und Weisel zählte die Stunden zusammen, die ihnen noch bis zum Untergang blieben.
»Es darf nicht sein!« Der Chef der Arge fuhr herum und suchte den, der die Worte ausgesprochen hatte. Keiner erwiderte seinen Blick, alle schauten auf Fridan, als erwarteten sie seine Entscheidung. Weisel riß sich zusammen. »Der Emotio-Trainer und seine beiden Schüler, die übriggeblieben sind«, brachte er hervor. »Was ist mit ihnen?« »Sie neigen zu nervösen Störungen und sind nicht verwendbar«, stellte Fridan fest. »Also, was?« Seine Augen warnten Cleton Weisel. Wenn er die Entscheidung nicht treffen würde, würde Fridan es tun. Wieder musterte Weisel die Bildschirme, dann nickte er. »Rehgys!« Er winkte eine uralte Frau herbei. Sie stammte aus der alten Zeit und hatte sich auf die Seite der Arge geschlagen. »Du hilfst uns. Wir machen es zu dritt.« Sie besprachen sich kurz, dann begannen sie die ersten Schaltungen vorzunehmen. Cleton Weisel beschleunigte das Schiff, während Fridan die Linearkonverter hochfuhr und, von Rehgys unterstützt, die Energiewerte der einzelnen Stationen ausglich. Nur SENECA konnte eine hundertprozentige Abstimmung aller Aggregate bewerkstelligen, aber es mußte auch so gehen. Der Computer der Zentrale ersetzte diese Funktion teilweise. Er meldete Störungen oder Fehlschaltungen, aber er war nicht autorisiert, selbsttätig Korrekturen vorzunehmen. Soeklund könnte helfen, durchfuhr es Weisel. Es war zu spät, den Kybernetiker zu suchen. »Geschwindigkeit dreißig Prozent LG«, klang Fridans Stimme auf. »Fertig?« Weisel nickte. Es mußte einfach klappen. Die SOL mußte aus der Gefahrenzone herausgeführt werden. Dann konnte er mit Hilfe der Arge einen Propagandafeldzug starten und die verlorene Sympathie der Solaner zurückgewinnen. Er machte sich keine falschen Hoffnungen. Die Zwischenfälle, die sich immer wieder überall im
Schiff ereigneten, waren nur kleine Ausbrüche einer unterschwelligen Stimmung, die alle Etagen und Korridore durchzog. Die Solaner stellten sich gegen die Arge, sie machten sie für das Chaos verantwortlich, das in diesem Schiff herrschte und immer stärker zur Geltung kam. Warum versagen wir? Warum bekommt die technische Elite dieses Schiffes die Lage nicht in den Griff? Weisel scheuchte die bohrenden Gedanken davon. Seine Augen hypnotisierten die Anzeigen der Positronik. Jetzt! Übergangslos verschwand die SOL im Linearraum. Der Sprung war auf eine Distanz von etwa drei Lichtjahren berechnet worden. Im nächsten Augenblick mußte der Wiedereintritt in den Normalraum erfolgen. Ein Schlag ging durch das Schiff. Er riß alle Anwesenden zu Boden. Sirenen heulten auf, ganze Lichterketten flackerten in tiefem Rot. Aus den Lautsprechern kamen wirre Stimmen, als sich die Kommunikationssperre mit dem Schiff von allein aufhob. Und dazwischen klang die freundliche Stimme SENECAS auf. »Linearflug beendet.« Weisel fuhr wie rasend vom Boden auf. Er hatte eine Beule an der Stirn. Die Bildschirme zeigten durchgehende Schwärze. Kein einziger Stern war zu sehen, die gelbe Riesensonne spurlos verschwunden. Nochmals wurde die SOL durchgeschüttelt, heulten Sirenen auf. Dann herrschte betretenes Schweigen überall im Schiff. Tanar Fridan war totenbleich, als er neben Weisel trat und mit zitternden Händen die Ortungsanlagen in Betrieb nahm. Die Sekunden wurden zu Ewigkeiten. Als er sich aufrichtete, waren seine Lippen blau und bebten. »Nichts«, stammelte er, der sonst nie die Fassung verlor. »Wir sind im totalen Nichts herausgekommen. Das Schiff hängt ohne Fahrt irgendwo.« Er schaltete die Konverter und die Kraftstationen ab. Das leise
Summen der Positronik erstarb, die letzten Rotlichter erloschen. »Im totalen Nichts?« Weisel vergewisserte sich persönlich, daß der Techniker recht hatte. Er kämpfte mit dem Gleichgewicht. »SENECA«, murmelte er, »melde dich!« Die Biopositronik blieb stumm. Mit keinem Zeichen ließ sie erkennen, daß sie ansprechbar war oder sich eine Minute zuvor gemeldet hatte. Etwas Unsichtbares schnürte Cleton Weisel den Hals zu. Wie ein Erstickender schnappte er nach Luft. Ein Blick in Fridans Augen belehrte ihn, daß dieser sich schon wieder in der Gewalt hatte. Fridan schaltete auf Rundruf und ließ eine Meldung durch das Schiff laufen. »Kein Grund zur Besorgnis«, verkündete er. »Es handelt sich um einen Test, der positiv verlaufen ist. Die SOL hat den Bereich der Riesensonne verlassen.« Die direkte Gefahr war gebannt. Die neue Umgebung würde sich erforschen lassen. Im Augenblick lag keine Bedrohung vor. Cleton Weisel beugte sich vor und betrachtete erneut die Anzeigen der Ortung. Das absolute Nichts umgab sie, ein undefinierbares Kontinuum, das keine Sonnen und Planeten besaß, auf denen Rohstoffe für die dringend benötigten Ersatzteile eingeholt werden konnten. Irgendwann würde alles zu Ende gehen, wenn sie keinen Weg fanden, das Nichts zu verlassen. »Laßt nichts davon nach außen dringen«, wies der Chef der Arge seine Mitarbeiter an. Fridan lachte. »In ein paar Stunden werden sie es sowieso feststellen«, sagte der Techniker zynisch. »Dann, wenn die nächsten Buhrlos nach draußen gehen!«
2.
Mitchmiller spähte vorsichtig um die Ecke. Er vernahm das Gemurmel mehrerer Personen, darunter eine Frau. Er konnte sie nicht sehen, denn sie standen in einer Nische vor dem Eingang zu dem Laborraum. Die während der Nachtphase stark herabgesetzte Helligkeit reichte nicht aus, auf die Entfernung von zwanzig Metern überhaupt etwas erkennen zu lassen. Und die Deckenstrahler des Korridors waren ausgerechnet in diesem Bereich defekt. Mitchmiller grinste. Er glaubte nicht, daß die Arge bis hierher vorgedrungen war. Sie hatten sich bestimmt nicht so schnell von dem Schrecken erholt. Zugegeben, auch die Männer und Frauen waren von der plötzlich eintretenden Katastrophe überrascht worden. Alle waren sie gestürzt, unter den Technikern hatte es ein heilloses Durcheinander gegeben. Raibohm und seinen Leuten war es gelungen, das Durcheinander zur Flucht zu benutzen. Die meisten der Solaner waren inzwischen nach Halberland zurückgekehrt, das von den Technikern bewacht wurde. Diese suchten nach den Rädelsführern, und die waren beide untergetaucht. Raibohm und Engus hatten sich getrennt. Karjanta. Wo mag sie sein? Mitchmiller überlegte. Die Frau war mit ein Grund, warum er nicht in seine Kabine zurückgekehrt war. Er hatte als einziger länger mit ihr gesprochen. Von ihm hatte sie das meiste über Halberland und die Spirax erfahren. Karjanta machte den Eindruck einer geheimnisvollen Frau. Er wollte sie wiedersehen. »Gute Nacht!« hörte er die Stimmen sagen. Mehrere Solaner traten auf den Gang hinaus und entfernten sich in die entgegengesetzte Richtung. Die Tür zum Labor schloß sich. Mitchmiller löste sich von der Wand und schlich auf Zehenspitzen zu der Tür hinüber. Zögernd betätigte er den Öffnungsmechanismus. Die Tür glitt auf, er schlüpfte hindurch. Das Labor war hell erleuchtet. Zwei Männer in grauen Kitteln über ihren Kombinationen arbeiteten darin. Sie richteten sich auf. »Mitch, wo kommst du her?«
Mitchmiller begrüßte Cliff und Ponder. Sie zogen sich in den hinteren Teil des Labors zurück, und der Solaner aus Halberland berichtete von den Vorgängen in der Nähe der Hauptzentrale. »Die Arge wird in nächster Zeit aufpassen. Ihr dürft also nicht voreilig sein!« riet er. »Niemand weiß etwas«, beschwichtigte Ponder. »Wir warten. Wenn die Zeit da ist, treten wir an die Öffentlichkeit. Vorläufig macht uns ein anderes Problem zu schaffen.« Sie suchten eine kleine Kammer im Hintergrund auf, die durch davorstehende Schaltwände verdeckt war. Ponder zeigte ihm das kopfgroße Gerät. »Der Simultantäter!« entfuhr es Mitchmiller. »Er funktioniert nicht«, bedauerte Cliff. »Wir wissen nicht, wo der Fehler liegt.« »Laßt ihn fallen, vielleicht hilft die Erschütterung!« sagte der Mann aus Halberland. Er begann zu lachen, doch die beiden Solaner hatten kein Verständnis für den Witz. »Hast du herausgefunden, was die Erschütterung des Schiffes zu bedeuten hatte?« fragten sie ihn. Mitchmiller verneinte. Er wußte lediglich, daß die SOL nicht mehr in der Nähe der gelben Riesensonne stand, von der die Buhrlos berichtet hatten. Die Gefahr war vorbei. Mitchmiller berichtete von Karjanta und wie sie ihnen geholfen hatte. Er versprach, sie ins Labor zu bringen, sobald er sie ausfindig gemacht hatte. Sie konnte ihnen helfen und den Simultantäter reparieren. Die zwei Männer im Labor konnten nicht wissen, woher er die Gewißheit nahm. Sie hatten Karjanta nicht erlebt. Im Gegenteil, was Mitch berichtete, klang so wunderbar, daß es ihnen Mühe bereitete, es zu glauben. Ponder rief mit warnender Stimme: »Mitch?« Der Solaner starrte zu der Schaltwand, die den kleinen Eingang zu der Kammer verdeckte. Dann stürmte er hinaus, blickte gehetzt durch das Labor. Er blieb verwirrt stehen.
Ponder und Cliff kamen ihm nach. »Bist du krank?« fragten sie. Mitch verneinte energisch. »Ich habe geglaubt, Karjanta zu sehen«, sagte er nachdenklich. »Sie war hier.« »Du träumst!« riefen beide gleichzeitig. Er winkte ärgerlich ab und verließ das Labor so unauffällig, wie er es betreten hatte. Er war sich ziemlich sicher. Wenn Karjanta in der Nähe war, würde der Simultantäter bald funktionieren. Und schließlich war er für einen guten Zweck. Mitchmiller beschloß, als nächstes die ihm bekannte BuhrloKolonie aufzusuchen, die in derselben Etage in der Nähe der Hangars lag. Um diese Nachtzeit ruhten die meisten von ihnen, aber sein alter Freund pflegte seinen Ausflug nach draußen zu machen und gerade zurückzukehren. Nach einem vergewissernden Blick auf den Chrono beschleunigte Mitch seinen Schritt. Wie lange, so fragte er sich, wird es dauern, bis sie dir den Chrono stehlen? Er war sein einziger, wertvoller Besitz. Der Solaner betrat den Wohnbereich der Gläsernen und ging zielstrebig auf eine Tür zu. Er blieb kurz stehen, dann trat er ein. Priamus war noch nicht zurück, aber Troilus war da. Der Buhrlo saß mitten im Zimmer, umringt von seinen sieben Kindern und Edna, seiner Frau. Sie saßen da mit gesenkten Köpfen und reagierten nicht auf sein Kommen. Ratlos ließ er sich bei ihnen nieder. Minutenlang erfüllte Schweigen die Wohnung. Aus einem anderen Zimmer kamen zwei ältere Buhrlos hinzu, die Mitch nicht persönlich kannte. Sie setzten sich zu den Kindern und flüsterten leise mit ihnen. Mitchmiller wartete geduldig, bis Troilus den Kopf hob. Der Buhrlos mit seinem kahlen Kopf und dem gläsernen Überzug der Haut bot einen faszinierenden Anblick. Nur die Körperöffnungen waren frei, umgeben von dicken Hornwülsten, die sich im Vakuum schlossen und den Körper vor der Dekompression bewahrten.
Jetzt hatten Tränen blinkende Spuren auf die Brust des Gläsernen gezogen. »Draußen ist alles schwarz«, seufzte der Buhrlo verhalten. »Und Priamus ist tot. Mein Vater ist von uns gegangen. Er ist gestorben wie alle alten Buhrlos. Ich soll dich grüßen!« Mitchmiller senkte ruckartig den Kopf. Es traf ihn überraschend. Er hatte nicht damit gerechnet. Priamus war vital und lebensfroh gewesen. »Einer unserer wichtigsten Leute hat uns verlassen«, sagte er schleppend. »Wer kann ihn ersetzen?« »Ich«, erklärte Troilus und erhob sich, um Mitch die Hand zum Gruß zu reichen. »Ich werde seine Arbeit mit übernehmen!« »Ich danke dir!« »Sagt dir der Name Glador etwas?« erkundigte Troilus sich. »Elvin Glador?« Mitchmiller dachte angestrengt nach, verneinte dann. »Sollte ich ihn kennen?« »Merke ihn dir. Er könnte wichtig für uns alle werden!« Der Solaner aus Halberland nickte. Er erhob sich und trat zu den Kindern. Er fuhr ihnen nacheinander über den Kopf, ein Abschiedsgruß, den sie von ihm gewohnt waren. »Kleine Troiliten«, sagte er. »Auf Wiedersehen!« An der Tür war ein Geräusch. »Ein schöner Name, Troiliten«, vernahm er eine bekannte Stimme. Mitch fuhr herum. »Karjanta!« rief er froh. Das Zusammentreffen war eine Fügung des Schicksals. Er trat auf sie zu, streckte die Arme aus, wollte sie an den Händen fassen. Die seltsame Frau wich ihm aus. »Niemand berührt mich!« rief sie scharf. »Du mußt es mir versprechen!« Mitchmiller wich indigniert zurück. Er fügte sich in das Unvermeidliche. Insgeheim aber beschloß er, Nachforschungen über
die Herkunft Karjantas anzustellen. Er hatte das Gefühl, daß sie sich des öfteren begegnen würden und vielleicht einen gemeinsamen Weg hatten, der in die Zukunft führte. Karjanta und Mitchmiller, welch ein Gedanke. Die Hypertechnikerin maß ihn mit einem Blick, als hätte sie seine geheimsten Gedanken erfahren, und Mitch errötete leicht. »Du solltest ein Labor aufsuchen, wo man deiner Hilfe bedarf«, erklärte er unvermittelt. Karjanta lächelte und erwiderte nur: »Simultan …« Sie drehte sich um und stürmte hinaus. Als Mitch draußen ankam, war sie bereits verschwunden.
* Raibohm fragte sich durch. Ein Solaner gab ihm angesichts seiner Gestalt respektvoll Auskunft und deutete in die Kantine hinein. »Die Traube dort hinten, da bist du richtig.« Rund sechzig Personen befanden sich in dem für achthundert eingerichteten Raum. Die Kantine war unbenutzt, weil die Versorgungsautomaten ausgefallen waren. Schon aus diesem Grund war die Ansammlung von Solanern auffällig. Sie drängten sich um einen Mann, der in ihrer Mitte stand und die meisten von ihnen um einen ganzen Kopf überragte. Er trug die graubraunen Haare lang, sie umtanzten seinen Kopf bei jeder Bewegung, die er machte. Die erhobenen Hände waren dürr, ihre Bewegungen unbeholfen. Seine buschigen Augenbrauen wippten lustig über den Augenknochen und bildeten einen krassen Gegensatz zu dem, was der Mann sprach. Raibohm hatte Engus aus dem Blickfeld verloren. Irgendwann war der schmächtige Mann von seiner Seite gewichen und in den Tiefen der SZ-2 untergetaucht. Niemand konnte sagen, welche Absichten er verfolgte. Vielleicht würde er irgendwann nach Halberland
zurückkehren, wenn Gras über die Angelegenheit gewachsen war und die Arge ihnen nicht mehr nachstellte. Der Mann dort vorn im Gedränge! Ruhig klang seine Stimme herüber. Er hatte keine Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen. Er sprach über die Vergangenheit der SOL, über das, was sich in den 64 Jahren ereignet hatte, die das Schiff seine eigenen Wege flog. Er rief seinen Zuhörern ins Gedächtnis zurück, was sie in den letzten Jahren unter dem Eindruck der Schwierigkeiten nur allzu gern vergessen hatten. Es hatte eine Zeit in diesem Schiff gegeben, da war alles in Ordnung gewesen. Es war der Beginn der Herrschaft Cleton Weisels und der Arge SOL. Immer mehr Buhrlos waren geboren worden, richtige Gläserne, die bald jene mit den Buhrlonarben überflügelten. Das war der Beginn einer neuen Epoche. Raibohm stellte sich zu den Zuhörern und drängte sich unauffällig immer weiter in die Mitte hinein. Dabei ließ er sich kein Wort entgehen, das der große Solaner sagte. Irgendwann trat eine Katastrophe ein. Sie war technischer Natur. Der Name SENECA tauchte auf, die Hilflosigkeit der Arge wurde zum ersten Mal deutlich. Versäumnisse kamen ans Tageslicht, die Weisel und seine Techniker sich hatten zuschulden kommen lassen. Es gab Schwierigkeiten über Schwierigkeiten. Erste Robotfabriken fielen aus und konnten nur notdürftig repariert werden. Die Idee der Solaner drohte unterzugehen! Raibohm steckte mitten in der Menge und versuchte, möglichst nah an den Redner heranzukommen. Die Umstehenden bemerkten sein Bemühen und äußerten ihren Unmut. Nur widerspenstig machten sie ihm Platz, obwohl er ein wichtiges Gesicht in der Art eines Kuriers aufgesetzt hatte. Seine stämmige Gestalt war es, die seinem Begehren schließlich Geltung verschaffte. Er erreichte den innersten Kreis der Menge und sah sich dem Mann fast unmittelbar gegenüber. »Seither ist es der Arge nicht gelungen, die Lage zu beruhigen oder
die Fehler zu beseitigen«, dröhnte die Stimme über ihn hinweg. Sie klang angenehm und ruhig, war von Sachlichkeit erfüllt und wirkte schon allein aus diesem Grund sehr überzeugend. Der Mann wußte genau, was er sagte. »Weisel versucht hier und da das Chaos zu vertuschen, aber er kann uns nicht hinters Licht führen. Die Arge ist am Ende. Es ist Zeit für ihre Ablösung!« Begeisterter Beifall brandete auf. Die Solaner machten ihrem Unmut Luft, und manche schickten sich an, die Kantine sofort zu verlassen und die Zentrale im Mittelteil zu stürmen. »Die gelbe Riesensonne!« Irgend jemand rief es. Alle wußten, daß die Gefahr gebannt war, obwohl es erst durch die Buhrlos bekanntgeworden war, daß der Stern eine Gefahr bildete und das Schiff so gut wie steuerlos war. »Die Arge hat die SOL aus der Gefahrenzone gebracht«, verkündete eine Frau. »So hilflos ist sie auch wieder nicht, wie Glador es darstellt!« Raibohm schob sich nach vorn, bis er neben dem riesenhaften Solaner stand. Er hob beide Arme zum Zeichen, daß er sprechen wolle. Die Menge verstummte. »Es ist richtig, daß Weisel das Schiff aus der Nähe des gelben Sterns gebracht hat!« erklärte er laut. »Aber damit sind die Probleme nicht beseitigt. Die SOL ist in einem Gebilde herausgekommen, in dem es keine Sterne gibt. Keinen einzigen. Sie bezeichnen es bei der Arge als das absolute Nichts! Die Buhrlos kommen verstört aus dem Weltraum zurück und benehmen sich, als seien sie lahm geworden.« Raibohm machte eine Pause. Angespanntes Schweigen hatte sich breitgemacht, man hätte eine Nadel fallen hören können. »Das Schiff ist ohne Bewegung. Es liegt wahrscheinlich fest, und es stellt sich die Frage, ob die Gefahr nicht größer geworden ist. Unser Schiff ist blind!« Glador fuhr bei diesen Worten sichtbar zusammen. Wie alle
Anwesenden war auch er ein waschechter Solaner, der eine persönliche Beziehung zu diesem Schiff als ihrer Heimat besaß. Blindheit bedeutete Hilflosigkeit, und genau das war es, was jetzt alle ergriff, die die Worte gehört hatten. Erneut kam jemand in die Kantine und berichtete das, was Raibohm schon vorgetragen hatte. Die Buhrlos erzählten es herum. »Halte sie auf!« zischte Glador Raibohm ins Ohr. Der Mann aus Halberland wußte nicht, was der Solaner damit meinte. Dann aber brach in der Kantine ein Tumult aus, daß er befürchtete, die wütenden Männer und Frauen könnten das ganze Schiff zerstören. Ihr Lärm übertönte die kräftigen Rufe Gladors, auf dessen hoher Stirn sich Schweißperlen bildeten. Raibohm hatte den Funken gebracht und entzündet. Das Feuer begann zu brennen. Es suchte nach Nahrung.
* Die Besatzung der Hauptzentrale verfolgte das Manöver mit gemischten Gefühlen. Weisel hatte Anweisung gegeben, die zwölf Mann in der Space-Jet nicht über alle Einzelheiten zu informieren. Er hatte es instinktiv getan und aus einer allgemeinen Angst heraus, die ihn umfaßt hielt. Sie beobachteten, wie die PYRRID langsam davondriftete, während ihre Ortungsanlagen ununterbrochen in Betrieb waren und die Ergebnisse zur SOL funkten. Die Entfernung zum Mutterschiff betrug bereits zehn Lichtminuten. »Bisher keine Vorkommnisse«, hörten sie die Stimme Alrevans. »Sobald sich um uns herum irgend etwas verändert, hebe ich die Fahrt der Jet sofort auf.« Der Abstand zwischen den beiden Schiffen vergrößerte sich auf fünfzehn Lichtminuten. Erneut meldete sich Alrevans, aber mitten im Satz verstummte er. Die Bildverbindung erlosch.
Sie sahen einen grellen Lichtblitz, in dem die Space-Jet verging. Sie antwortete nicht mehr auf Anrufe. Von dem Schiff und seiner Besatzung war nichts übriggeblieben, was auf den Anzeigen der Ortung zu einem Echo hätte führen können. »Vernichtet!« Weisel tobte, doch Fridan schüttelte tadelnd den Kopf. »Vielleicht war es nur eine Begleiterscheinung, die beim Verlassen des Nichts auftritt«, sagte er. »Sie werden zurückkehren, denn sie wissen, wie sie es zu tun haben. Durch den Linearraum. Ich habe ihnen eine versiegelte Order mitgegeben, die das enthält.« Cleton Weisel nickte nur. Er gab Anweisung, robotgesteuerte Sonden nach allen Richtungen loszuschicken. Sie vergingen ebenso. Keine kehrte zurück, keine war in der Lage, Meßergebnisse zur SOL zu senden. Die Erkenntnis war niederschmetternd. Das Nichts besaß eine Grenze, die sie nicht durchdringen konnten. Weisel wartete zwei Stunden, dann gab er die Hoffnung auf. Die PYRRID würde nicht zurückkehren. Er war sicher, daß das Schiff mit seiner Besatzung vernichtet worden war. Aus einer der technischen Abteilungen kam eine Meldung. »Wir haben die Blitze analysiert, die jeweils entstanden. Sie haben starke Ähnlichkeit mit den Vorgängen, wenn Materie auf Antimaterie trifft. Genaueres läßt sich jedoch nicht feststellen, dazu waren sie zu kurz.« Weisel konnte nichts damit anfangen. Er sah die Bewegung auf den Bildschirmen, kleine Lichtpunkte, die sich draußen bewegten, mitten in der Finsternis. Es waren Buhrlos. Sie hatten Stablampen bei sich und leuchteten die nähere Umgebung des Schiffes ab, als suchten sie etwas. »Sie reagieren merkwürdig«, stellte der Chef der Arge fest. »Was kann es sein?« »Ich habe es auch bemerkt und ein paar von ihnen befragen lassen. Sie wissen es selbst nicht.« Fridan lächelte überlegen. Er kam zu Weisel herüber und musterte
ihn hart. »Da ist noch etwas, was mir Sorgen bereitet. In letzter Zeit tauchen immer wieder zwei Namen auf, die offensichtlich in aller Munde sind. Wenn sich die Solaner für bestimmte Einzelpersonen zu interessieren beginnen, bedeutet das erfahrungsgemäß nichts Gutes.« »Wie lauten sie?« »Karjanta und Elvin Glador. Wir sollten uns vorsehen!« Cleton Weisel zuckte mit den Schultern. Die Namen waren ihm unbekannt. Er würde ein paar Vertraute in die Schiffszellen schicken und Erkundigungen einholen. Mit Oppositionellen wurde er schnell fertig. Er ließ sie verschwinden, setzte sie aus. Notfalls auch im Nichts. Die Masse der Solaner, ihrer Rädelsführer beraubt, war hilflos. Wie immer. »Zögere nicht zu lange!« schärfte Fridan ihm ein. Seine Stimme klang unverschämt, doch Weisel reagierte nicht. Er faßte einen Entschluß.
3. Die Lagerräume befanden sich unter den wissenschaftlichen Abteilungen, in denen es auch technisches Personal gab. Für Ahlnat war es des halb das erste, was er tat. Er hörte auf zu fluchen und ließ sich vom Antigrav hinauftragen. An der erstbesten Tür blieb er stehen und öffnete sie. In das gleichmäßige Summen der Maschinen und die konzentrierten Gesichter der Wissenschaftler hinein rief er: »Wir benötigen einen Positronikschlosser! Könnt ihr uns helfen?« Obwohl er keine Antwort erhielt, trat er ein. Am ersten Experimentiertisch blieb er stehen und legte einem der Wissenschaftler die Hand schwer auf die Schulter. Der Mann fuhr empor, als erwachte er aus tiefem Schlaf. »Endlich!« sagte er. »Es wird Zeit, daß Weisel reagiert!«
Ahlnat ließ ihn verblüfft los. Er verstand kein Wort. Die beiden Männer blickten sich ratlos an. Ahlnat begriff, daß es sich um ein Mißverständnis handelte. »Ich bin der Lagerverwalter von unten«, erklärte er. »Ich brauche Hilfe!« Der Wissenschaftler erzählte ihm, daß sie selbst auf Unterstützung warteten. Es fehlte ihnen am technischen Personal. Weisel hatte alle zur Verfügung stehenden Techniker abgezogen und in den Mittelteil beordert. »Wir wissen nicht, was wir machen sollen«, gestand der Wissenschaftler. Mit hängenden Schultern zog Ahlnat wieder ab. Er kehrte in den Kontrollraum seiner Lagerhallen zurück, setzte sich in den Sessel an seinen Monitor und starrte verbissen auf den kleinen Bildschirm, über den ununterbrochen Rauchwölkchen zogen. Sie waren grau und schwarz, drängten sich immer dichter vor der Kamera. Es hatte den Anschein, als wollten sie durch den Bildschirm hindurchkriechen. Der Lagerverwalter ließ zum fünften Mal seine Faust auf den roten Alarmknopf niedersausen. Nichts rührte sich. Der Alarm ging nicht hoch, es kam keine Verbindung mit der zentralen Leitstelle der Lagerräume zustande. Die Verbindung war unterbrochen. Ahlnat hatte mehrere Möglichkeiten. Er konnte einen Interkom aufsuchen, aber der nächste befand sich einen halben Kilometer entfernt. Er hätte aus der Wissenschaftlichen Abteilung Verbindung mit seiner Zentrale aufnehmen können, das hatte er in der Eile versäumt. Er hätte auch die betroffene Lagerhalle öffnen und einen Löschroboter hineinschicken können. Das ging nicht, weil das positronische Sicherheitsschloß »klemmte«. Zudem hatten nur zwei der sechs Löschrobs auf seinen Aktivierungsimpuls reagiert. Sie standen jetzt unmittelbar vor dem Hallentor und warteten auf Einlaß. »Es ist zum aus der Haut fahren!« fluchte Ahlnat einen alten
Spruch der Buhrlos. Er betätigte die Funkanlage, rief die Hauptzentrale der SZ-1. Er erhielt das Besetztzeichen und nach einiger Zeit vom Computer die Mitteilung, daß sich niemand dort aufhielt. Er versuchte, den Alarm durchzugeben, aber der Computer erklärte sich nicht für zuständig. Resignierend schaltete er aus und beobachtete weiter den Schirm. Er sah die Rauchwölkchen, die nun endgültig den Blick auf die Halle verdeckten. »Luft absaugen!« durchzuckte es den Verwalter. Er suchte die betreffenden Schalter, ein zweiter Bildschirm leuchtete auf. SENECA informieren! stand darauf. SENECA antwortete nicht. Die Absauganlage streikte. Der Solaner gab es auf. Er ging hinaus auf den Verbindungsgang, holte die Handwaffe aus dem Sicherheitsschrank und setzte sich zu den beiden Robotern vor das Tor. Er durfte gar nicht daran denken, wieviel lebenswichtige Güter ein Raub der Flammen wurden. Sie würden den Handlungsspielraum der Arge in der Versorgung der Solaner noch weiter einengen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, richtete er die Waffe auf das Tor und drückte ab, nachdem er auf Dauerbetrieb gestellt hatte. Nichts! Die Energieanzeige blieb auf Null stehen. Wenn nur der Brand nicht auf andere Hallen übergreift! dachte Ahlnat hilflos. An den Leuchtanzeigen der Wandleiste stellte er fest, daß die Verbindungstüren zu den übrigen Hallen seines Bereichs geschlossen waren. Das Feuer würde so lange brennen, bis der Sauerstoff verbraucht war. Und bei einem Schwelbrand konnte es lange dauern, bis alle Vorräte vernichtet waren. Genug Zeit, die halbe SOL zu durchqueren und Hilfe herbeizuholen. Der Lagerverwalter erhob sich und schritt zum Ausgang. Er ließ das Schott auffahren und sprang erschrocken zurück. »Was …?« stieß er hervor.
Eine Frau trat ein. Sie trug eine Bordkombination aus wirren, rosa und hellgrünen Farbmustern, die im elektrischen Licht schimmerten. Mit festen Schritten kam sie herein, schüttelte die braunen Haare und verschwand im Kontrollraum. Ahlnat eilte ihr verblüfft nach und stellte fest, daß alle Funktionen seiner Terminals in Ordnung waren. Die Anzeigen stimmten, das Tor zur Halle war nicht länger blockiert. »Ich habe es mir gleich gedacht, daß die Störung nicht in meinem Bereich zu suchen ist«, sagte der Lagerverwalter. »Ein Defekt in den externen Übertragungssystemen?« Die Frau blickte ihn aus stechenden Augen an. Sie schüttelte den Kopf und lächelte. »Die Störung lag in deinen Systemen hier«, erklärte sie mit fester und doch weicher Stimme. »Ich habe den Fehler schnell gefunden.« »Aber du warst doch gar nicht in …« Die Frau deutete auf die Wandverkleidung. Eine der Abdeckplatten stand leicht offen, sie ging hin und schloß sie richtig. Ahlnat faßte sich an den Kopf. Er war doch gleich hinter ihr hergekommen und hatte nichts festgestellt. So schnell konnte kein Mensch sein! Dem Lagerverwalter wurde es unheimlich. Er kehrte bis unter den Eingang zurück und hielt sich dort fest. Die Frau wandte sich ab. Sie kippte mehrere Schalter und preßte einen roten Knopf. Das Tor zur Lagerhalle öffnete sich, und die Roboter rollten hinein. Danach fuhr das Tor wieder zu. Ahlnat begann zu husten. Ein Teil des Qualms war nach außen in den Verbindungsgang gedrungen. Das Summen der Absauganlagen setzte ein, befreite ihn von dem Brechreiz, der ihn überkam. Wieder starrte er die Frau an, seine Augen leuchteten in plötzlichem Erkennen auf. »Ich weiß jetzt …«, begann er. »Du bist Karjanta!« Die Brünette verzog den Mund zu einem leichten Lächeln.
»Du hast es erkannt. Es gibt für mich kein technisches Problem, das ich nicht lösen könnte. Deshalb übe ich den Beruf einer Hypertechnikerin aus!« In Ahlnat entstand blitzartig das Bild eines Maschinenarztes, der mit großer Kenntnis und wenig Instrumenten schnelle Diagnosen erstellte und sofortige Heilungen durchführte. Schneller als ein Mensch schauen konnte. »Bist du ein Roboter?« stotterte er. Karjanta gab keine Antwort. Sie ging an ihm vorbei zum Ausgang. Mit der rechten Hand winkte sie ihm zu, dann war sie draußen. Ahlnat stürzte zum Terminal und schaltete die Außenbeobachtung ein. Aber Karjanta war bereits verschwunden, er sah sie nicht mehr im Korridor. Ein Blinklicht zeigte an, daß der Brand gelöscht war.
* Es gärte überall in der SOL. Die letzten Solaner hatten begriffen, daß die Schiffsführung sie in eine Situation gebracht hatte, aus der es kein Entkommen geben konnte. Weisel und die Arge hatten die Heimat buchstäblich ins Nichts manövriert. Die depressiven Gefühle der Buhrlos bei ihren Ausflügen in die nähere Umgebung des Schiffes sprachen sich herum. Viele Solaner drängten in die Außenbezirke der SOL und suchten nach Raumanzügen, um sich mit eigenen Augen von der Ungeheuerlichkeit des Anblicks zu überzeugen. Ausweichzentralen und Nebenstellen der Hangarüberwachung wurden besetzt und in Betrieb genommen. In der SZ-1 kam es zu einem Unfall, weil ein übereifriger Solaner eines der großen Hangartore zum Weltraum auffuhr, während sich noch Solaner im Hangar aufhielten. Ein Beiboot sollte gestartet werden, aber der Pilot war ein Stümper und beschädigte zwei andere Space-Jets schwer. Dabei ging das
verursachende Boot ebenfalls zu Bruch. Totalschaden. Die Solaner flohen panikartig aus dem Hangar, weil Strahlengefahr bestand. Bei dieser Gelegenheit stellten sie fest, daß die PYRRID fehlte. Es sprach sich herum, die Beobachtungen der Buhrlos kamen dazu. Ausweichende Antworten der Arge bestärkten sie in ihrer Vermutung. Und als mehrere Solaner auftauchten und vom spurlosen Verschwinden einiger Techniker berichteten, stand es endgültig fest. Die PYRRID war beim Versuch vernichtet worden, einen Ausweg aus der unbegreiflichen Umgebung zu suchen. Vom schwarzen Gefängnis war die Rede, vom Jenseits. Die Solaner rotteten sich zusammen. Die unbefriedigenden Zustände im Innern des Schiffes waren so lange zu ertragen, wie das Schiff selbst nicht in Gefahr schwebte. Wenn die Heimat in Ordnung war, nahmen ihre Bewohner gern Nachteile in Kauf. Und die Schiffsführung tat das Ihre dazu, die Abhängigkeit dieser beiden Faktoren voneinander zu propagieren. Fünf Jahre war es her, daß die SOL am Lebensnerv getroffen worden war. Damals war SENECA ausgefallen und hatte sich lange Zeit nicht gerührt. Chaos war ausgebrochen. Erst nach und nach hatte sich die Lage beruhigt, hatten die Techniker der Arge für Ordnung gesorgt. Augenwischerei, mehr nicht. Engus machte keinen Hehl daraus, daß er den Betrug durchschaut hatte. Freimütig sprach er mit jedem darüber, den er traf. In seinen Augen hätten die Solaner bereits damals die Konsequenzen ziehen müssen. Die Arge gehörte weg. Weisel und seine Männer hatten in der Führung der SOL nichts mehr zu suchen. Jede ihrer Handlungen geriet ihnen zum Bumerang, wendeten sie eine Gefahr ab, handelten sie sich eine größere dafür ein. Der Solaner aus Halberland beobachtete die Männer und Frauen, die wie hypnotisiert in eine Richtung eilten. Sie suchten die Halle mit den Trainingsgeräten auf, die zur körperlichen Ertüchtigung
verhalfen. Die Geräte waren demontiert und weggeräumt worden, damit möglichst viele Solaner Platz fanden. Es sollte die erste große Rede werden, die Elvin Glador im Mittelteil des Schiffes hielt. Prediger nannten sie ihn. »Ich bin der Heimatpfleger!« sagte er von sich selbst. Engus hatte ihn bisher weder gesehen noch gehört. Er besaß auch keine Zeit, sich um den Mann mit dem unglaublichen Zulauf zu kümmern. Er überlegte nur, daß Gladors Argumente, mit denen er alle Bewohner des riesigen Schiffes in seinen Bann zog, aufmerksam geprüft und gewogen werden mußten. Wenn Weisel erst von der Bildfläche verschwunden war, durfte nicht irgendein Scharlatan seine Stelle einnehmen, dem es nur um die Macht ging. Dieser Gedanke sollte eigentlich Einfluß auf den Zeitpunkt haben, überlegte er. Die Entwicklung hatte sich allerdings so vehement beschleunigt, daß es fraglich war, ob er warten konnte, bis er sich über Elvin Glador Gewißheit verschafft hatte. Engus verstaute den Sprengsatz in der Konsole des Interkomanschlusses und klebte die Verkleidung wieder zu. Mit unbeteiligtem Gesicht verschwand er in einem in der Nähe liegenden Raum, wo er das Abzeichen der Arge von seiner Kombination löste. Niemand hatte ihn beachtet, alle hatten ihn für einen Techniker gehalten, der eine Reparatur ausführte. An einem voll funktionsfähigen Gerät. Der Solaner deponierte den Zünder im Innern eines desaktivierten Reinigungsroboters, dann machte er sich auf in die Nähe der Hauptzentrale, um auf den günstigsten Augenblick zu warten. Irgendwann, wußte er, würde Weisel aus seinem Bau herauskommen und diesen Korridor entlanggehen. Es würde gelingen. Die Tage der Arge SOL waren gezählt.
*
Die Space-Jet galt offiziell als verschollen. In Wahrheit wußte jeder, daß sie zerstört worden war. Nichts war von ihr übriggeblieben. »Wenn du jetzt nichts tust, wirst du es bereuen!« sagte Tanar Fridan an seiner Seite. »Die ersten Gruppen bewegen sich auf die Zentrale zu.« Weisel explodierte. »Ich will das Wort ›nichts‹ nicht mehr hören«, schrie er unbeherrscht. »Wer es in den Mund nimmt, fliegt raus!« Mit zornesrotem Kopf machte er den Anfang und verließ die Zentrale. Fridan und drei weitere Techniker folgten ihm hinüber in seine Kabine, die keine dreißig Meter entfernt lag. »Es gäbe eine andere Möglichkeit«, lächelte Fridan. »Deinen Rücktritt. Das wäre ein demokratischer Weg!« Weisel erinnerte sich an die Anfangszeit, als Gavro Yaal und andere versucht hatten, Demokratie und neues Bewußtsein miteinander zu verknüpfen. Ja, er selbst war durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen. Das war 62 Jahre her, eine lange Zeit. Vieles hatte sich seither geändert. Alles! korrigierte sich der Chef der Arge. Nichts ist mehr wie früher. Nichts. Er lief wieder rot an. »Demokratische Verhaltensweisen sind mit unserer Zeit nicht vereinbar«, erwiderte er hart. »Es kommt kein Rücktritt in Frage.« Er machte eine Pause. »Außerdem würde sich dadurch nichts ändern. Du würdest die Macht übernehmen und noch härter gegen die Solaner vorgehen, als ich es jemals getan habe. Dir käme es auf ein paar tausend Tote nicht an.« Fridan reagierte nicht darauf. Er hielt es nicht für nötig, den Betroffenen zu spielen. Jeder kannte ihn und seine Ansichten genau. Cleton Weisel setzte sich auf den Rand seines Bettes und schnippte mit einem Fingernagel den Videokom an. Der kleine Bildschirm übertrug Szenen aus einer großen Halle, in der eine unüberschaubare Menschenmenge versammelt war. Der Anblick riß Weisel empor.
»Glador«, kommentierte Fridan das Bild. »Elvin Glador spricht. Du solltest ihn anhören!« Weisel lauschte, aber er verstand nicht, was der große Mann in der Mitte der Menge sagte. Aus den Mikrofonen kam nur ein Rauschen, als sei die Tonübertragung gestört. »Dieser Glador, was ist das für ein Mensch?« fragte der Chef der Arbeitsgemeinschaft. Fridan machte eine nichtssagende Geste, die Weisel erstaunte. Für gewöhnlich wußte der Techniker über alles Bescheid. Weisel wurde mißtrauisch, ließ sich jedoch nichts anmerken. »Glador und Karjanta, die beiden bilden eine Gefahr für uns. Sie scheinen nichts voneinander zu wissen, machen jedoch aus ihrer Meinung keinen Hehl. Ihre Anhängerschaft wächst ständig«, antwortete der Techniker. »Ich habe dir geraten, bald etwas gegen die beiden zu unternehmen. Obwohl …« Cleton Weisel beobachtete das Bild eine Weile, dann schaltete er um und verband sich mit der Zentrale. Er ordnete an, daß von der Versammlung eine Aufzeichnung gemacht wurde. »Obwohl?« wollte er wissen. »Es gibt noch eine dritte Kraft, die wir nicht lokalisieren können«, eröffnete Tanar Fridan. »Wir wissen nur, daß sie sich als die Solanokraten bezeichnet. Wer dahintersteckt, ist nicht bekannt.« Eine nicht erkannte Gefahr war größer als eine, die man deutlich vor Augen hatte. Daran mußte Cleton Weisel jetzt denken. Vom Namen her besagte »Solanokraten«, nichts besonderes. Herrscher über die Solaner eben. Welche Zielsetzung diese Bewegung hatte, war daraus nicht zu erkennen. Weisel ertappte sich bei dem Gedanken, daß es ihm egal war, wer seine Nachfolge antreten würde. Tanar Fridan würde es nicht sein. Dafür hatte er gesorgt. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sein Vertrauter abdankte. Resignation, war sie am richtigen Platz? Der Chef der Arge spürte es in seinen Gliedern, daß er alt wurde.
Gerade die letzten Jahre hatten ihn körperlich und geistig ausgezehrt. Ihm selbst fehlte der Wille, mit dem er seine Männer früher immer angetrieben hatte. Wenn jetzt jemand gekommen wäre, um ihm Handschellen anzulegen und ihn zum nächsten Konverter zu zerren, er hätte es widerstandslos mit sich geschehen lassen. Aufgeben, freiwillig? Er fluchte lautlos und riß sich zusammen. Vom Tisch nahm er eine Folie auf und einen Stift und begann zu zeichnen. Er wußte, die Solaner würden kommen. »Wir konzentrieren den harten Kern der Arbeitsgemeinschaft rund um die Hauptzentrale«, machte er seinen Begleitern begreiflich. »Alle Korridore werden abgesichert, daß sich niemand mehr Zutritt verschaffen kann. Wir benötigen zusätzliche Mitarbeiter.« Wieder einmal bewies Tanar Fridan, daß er ein fähiger Mann war, der ohne weiteres verdient gehabt hätte, an seiner Stelle die Arge zu führen. »Es sind Agenten unterwegs. Sie arbeiten mit allen Mitteln.« Es war klar, was das bedeutete. Die Werber lockten, machten Versprechungen, lullten junge Solaner ein und erzählten von dem Paradies des Überflusses, das sie in der Arge finden würden. Auf wessen Kosten das ging, verschwiegen sie wohlweislich. »Es ist gut.« nickte Cleton Weisel und schickte sie hinaus.
4. Sein Gesicht glühte, wenn er sprach. Sein breitlippiger Mund bildete einen deutlichen Gegensatz zu den fleischlosen Wangen und der hohen Stirn. Der Kopf ähnelte einem langgestreckten Totenschädel. Der lange, dürre Hals verschwand im Kragen der Bordkombination, die seine klapprige Gestalt umschlotterte. Darüber trug er ein weites, hellblaues Mönchsgewand, das den Eindruck des
Knochengestells ein wenig verwischte. Wenn er die Hände vom Körper abgespreizt hielt und sich das Gewand aufplusterte, gelang es ihm sogar, den Eindruck eines kräftigen Burschen zu erwecken. Er erzählte ihnen nicht, daß sie ihn früher immer nur die Rohrleitung genannt hatten, weil er so schrecklich hoch (1,93) und mager war. Als Kind hatte er darunter gelitten, als Jugendlicher sich in alle möglichen Gebiete der Technik geflüchtet. Ebenso intensiv hatte er sich mit der Geschichte der SOL befaßt. Wenn er so vor den Solanern stand, ringsum von ihnen umgeben war, dann erschien sein Körper oft an mehreren Stellen eingeknickt, seine Arme und Beine wirkten verdreht. Und doch besaß er einen festen Stand. Mit seinen Worten und seinen Argumenten zog er alle in seinen Bann. Sie achteten dann nicht mehr auf seine Gestalt, ließen sich ganz von seiner Rede einfangen. Er war ein Einzelgänger, er hatte ein Ziel. Für ihn war der Zeitpunkt gekommen. Dieser Mann hieß Elvin Glador, geboren in einem Wohnbereich in der 18. Etage über der Hauptebene der SZ-1. Zwei Schwestern und zwei Väter. Das heißt, zwei Männer stritten sich noch heute um die Vaterschaft, obwohl sie medizinisch einwandfrei nachgewiesen werden konnte. Behaupteten die Ärzte. Glador sagte nichts zu diesem Streit. Er wußte, daß die medizinische Betreuung zu Beginn der SOL-Odyssee wesentlich besser gewesen war. Auch die übrigen Wissenschaften lagen im argen, viele Wissenschaftler hatten diesen Namen nicht verdient, sie waren Stümper. Elvin Glador unterschied sich von ihnen allen durch fundierte Kenntnisse. Er war in der Lage zu helfen, wenn in den Scharen seiner Zuhörer jemand zusammenbrach. Er benötigte keine Roboter und keine Techniker. Manche Solaner betrachteten ihn als ein Überwesen, und er unternahm nichts dagegen. Das war ein Charakterzug, der eigentlich hätte auffallen müssen. Heimatpfleger nannte er sich. Retter und Prediger riefen sie Ihn.
Die SOL ist blind. Heile sie! verlangten sie. Glador besänftigte sie. Es gab einen Ausweg aus dem Chaos, aber er führte über einen schmalen Pfad. Nur eine ganz bestimmte Vorgehensweise konnte das Schiff retten. »Wichtig ist, daß die Rettung von Dauer ist!« verkündete er ihnen. »Wir haben vergessen, daß wir Weltraummenschen sind und uns am Beginn unserer Existenz etwas vorgenommen haben. Wir wollten die Unendlichkeit des Alls kennenlernen und sind in der Bewegungslosigkeit angekommen. Wir wollten die neue Freiheit genießen und haben die Unfreiheit geerntet.« Er begann in bunten Bildern, den Weg aus dem Chaos hinaus zu beschreiben. Er ließ Andeutungen einfließen, die seine Zuhörer gespannt machten. Sie wußten, daß er bald wieder eine Rede halten würde, und waren begierig, den Zeitpunkt zu erfahren. »Ein einziger Weg ist es«, sagte er. »Ich werde ihn euch nennen, sobald ich Zeit dazu habe!« Weltraummenschen, das wollten sie alle sein. Viel stärker als früher fühlten sie sich jetzt zu den Buhrlos hingezogen, dieser kleinen Minderheit, die von vielen als eine Laune der Natur angesehen wurde. Gladors Worte erweckten eher den Anschein, daß die Entwicklung um die Buhrlos aufgrund der Verhältnisse innerhalb des Schiffes zum Stocken gekommen war. »Wir wollen zurück zum Anfang!« tobten die Männer und Frauen und feierten ihr neues Idol. Sie sahen ihn schon an der Spitze der SOL, als neuen Herrn des Schiffes. Alles würde sich ändern. Glador nahm die Ovationen mit geschlossenen Augen entgegen. Was er dachte, teilte er ihnen nicht mit. Sie trugen ihn auf ihren Schultern hinaus aus der Halle. Er nannte ihnen die Richtung, ließ sich in eine andere Etage und einen anderen Sektor bringen. Diesmal sprach er in einem leeren, luftgefüllten Hangar. Seine Zuhörerzahl hatte sich verzehnfacht. Elvin Glador schien auf nichts zu achten, was um ihn herum vorging. Dennoch erblickte er die kleine Gruppe bewaffneter
Techniker sofort. Während er weiterredete und ab und zu Fragen beantwortete, gab er seinen Getreuen flüsternd Anweisungen. Als sich die Versammlung auflöste und die Arge zugreifen wollte, war Elvin Glador verschwunden. Keiner hatte ihn gehen sehen. »Ich will ein System, das die Solaner auf Dauer glücklich macht und das Schiff vor allen Gefahren rettet!« hatte der Heimatpfleger gesagt. Die Solaner waren auf seiner Seite.
* Es gab also doch eine Möglichkeit, das Problem zu lösen! Cleton Weisel hatte die Hauptzentrale fluchtartig verlassen. Nur Fridan und vier bewaffnete Techniker begleiteten ihn. In einem unbedachten Augenblick hatte der Chef der Arge ein bestimmtes Zeichen gegeben. Noch wirkte es sich nicht aus. Das Transmittersystem, sie hätten vorher daraufkommen sollen. Eigentlich war die Entdeckung einem Zufall zu verdanken. Ein Mitarbeiter der Arge hatte an einem Transmitter herumgespielt und ihn dabei versehentlich von dem schiffsinternen Streckennetz abgekoppelt. Bei weiteren Versuchen war es zu geisterhaften Erscheinungen im Abstrahlfeld gekommen. Der Techniker hatte die Zentrale verständigt und ein paar Spezialisten angefordert. Er hatte sie erhalten. Jetzt war der Chef der Arge selbst dorthin unterwegs. »Es wäre zu schön, um wahr zu sein«, säuselte Tanar Fridan. Wieder schöpfte Weisel Verdacht, denn der Tonfall paßte nicht zu dem Mann. Fridan führte etwas im Schild, und Weisel hoffte, daß er nicht damit konfrontiert wurde, bevor sie den Ausweg aus dem absoluten Nichts gefunden hatten. Er brauchte den Erfolg, dann würde die Begeisterung der Solaner für Gestalten wie Glador von einer Sekunde auf die andere abflauen und verschwinden. Solche
Hetzer konnten sich doch nur halten, wenn es Schwierigkeiten gab. In einem Zustand der Ruhe fehlte ihnen die Substanz, um mit Verbesserungsvorschlägen aufzuwarten. Weisel irrte sich, zumindest was die drei hauptsächlichen Strömungen betraf, die es im Schiff jetzt gab. Allerdings sollte er keine Gelegenheit mehr haben, diesen Irrtum einzusehen. Sie eilten nach allen Seiten sichernd die Hauptebene entlang bis zu einem Korvettenhangar. Bewaffnete erwarteten sie bereits. Sie hatten das ganze Gebiet um den Hangar abgesperrt, einschließlich der Zugänge zu den umliegenden Beibootarsenalen. Der Transmitter war zusätzlich von Männern und Frauen umstellt. »Vorführen!« befahl Weisel. Einer der Techniker nahm eine armlange Metallschiene auf und legte sie auf das Abstrahlfeld. Ein anderer hantierte an den Kontrollen. Der Transmitter flammte auf, der Bogen leuchtete irisierend über dem Feld. Die Schiene verschwand. »Ortung?« Fridan bellte es heraus. Über den Interkomanschluß wurden sie informiert, was in der Zentrale angemessen worden war. »Nichts«, kam die Stimme von Rehgys bei ihnen an. »Innerhalb der Nichts-Zone ist kein Gegenstand materialisiert.« Als nächstes entstofflichten sie eine Kiste, in der ein Pilotensitz verpackt gewesen war. Auch sie tauchte im anmeßbaren Bereich um das Schiff nicht auf. Weisel nickte nachdenklich. Alles in ihm wollte glauben, daß es der Beweis war. »Ich wünschte, ich könnte es euch sagen, daß es stimmt«, knurrte er. »Es ist nicht möglich, etwas zurückzuholen, solange keine Gegenstation existiert.« Genau betrachtet, war es kein Problem, einen Transmitter in Einzelteile zerlegt durchzuschicken und ein paar Männer hinterher, die ihn drüben dann zusammenbauten und eine Brücke herstellten. Wenn die Theorie stimmte und die Techniker recht vermuteten.
»SENECA spricht!« hing die freundliche Stimme der Biopositronik plötzlich im Raum. »Ich beobachte euer Tun. Es erscheint mir wenig sinnvoll. In der Nähe meiner 500-Meter-Kugel sind zwei Gegenstände materialisiert, die dort nicht hingehören. Holt sie ab und schließt den Transmitter wieder an das zentral gesteuerte Netz an!« Ein Pfeifen erklang, SENECA hatte die Verbindung unterbrochen. Die Techniker standen erstarrt. Weisel löste sich als erster aus dem schockähnlichen Bann. »Idioten!« brüllte er. »Alles Idioten!« Er stürmte hinaus, Fridan folgte schweigend. Einer der Techniker gesellte sich zu ihnen. Die übrigen drei, die sie herbegleitet hatten, kamen in geringem Abstand hinter ihnen her. Auf demselben Weg kehrten sie zurück, den sie gekommen waren. »Bleibt ein wenig zurück und sichert uns den Rücken«, rief Cleton Weisel über die Schulter und fiel in Eilschritt. So schnell wie möglich wollte er in der Zentrale sein. Dort nur fühlte er sich sicher. Nebeneinander liefen sie her. Fridan in der Mitte. Sie verloren die drei hinter sich aus den Augen. Weisel wartete bereits darauf, daß etwas geschah. Das rettete ihm das Leben. Der Attentäter neben Tanar Fridan zog seine Waffe. Sie zeigte nicht wie abgesprochen auf Fridan, sondern auf ihn, Cleton Weisel. Der Chef der Arge erkannte in einem Bruchteil einer Sekunde, daß Fridan Lunte gerochen und den Attentäter umgedreht hatte. Er warf sich zu Boden. Ein Bersten und Krachen erfüllte die Luft und die drei Männer wurden wie dünne Schreibfolien davongewirbelt. Cleton Weisel prallte mit dem Kopf gegen die Wand und blieb benommen liegen. Das Zischen der automatischen Löschanlage – diese funktionierte zu seiner Verblüffung – riß ihn wieder empor. Der Chef der Arge war unverletzt. Tanar Fridan blutete aus einem leichtem Schnitt am Arm. Der Attentäter …
Die beiden Männer wandten sich ab. Die Explosion eines Interkoms hatte ihn buchstäblich zerfetzt. Er hatte ihre ganze Gewalt aushalten müssen und ihnen damit das Leben gerettet. Die drei übrigen Techniker kamen herbeigerannt. Sie überblickten die Situation sofort. Ihre Augen suchten etwas und fanden es in der Tür, die in der Nähe zu erkennen war. Ohne zu zögern, rannten sie darauf zu und stießen sie auf. Weisel hörte einen Ruf, mehrere Fragen. Das Knallen eines Blasters beendete die Diskussion. Die drei Männer kehrten zurück. Einer von ihnen sagte nur: »Er nannte sich Engus! Es galt dir, Cleton!« Weisel deutete zu Boden und sah dabei weg. »Schade um ihn«, heuchelte er. »Ruft einen Reinigungsroboter. Alle Techniker zurück in die Zentrale.«
* Daß ausgerechnet er es sein würde, der Engus fand, hätte Mitchmiller sich nicht träumen lassen. Er zuckte zurück, als er den häßlichen Brandfleck in der Brust des Toten entdeckte. Er sprach eine deutliche Sprache. »Die Arge, immer wieder die Arge«, knirschte der Solaner aus Halberland. »Es wird Zeit, daß sie verschwindet!« Er verständigte eine Antigravplattform, lud den Toten auf und schickte ihn zu den Buhrlos. Sie würden dem Toten ein anständiges Raumbegräbnis zukommen lassen. Falls es so etwas im absoluten Nichts überhaupt gab. Es war eine finstere Raumfalle, in die sie geraten waren. Mitch setzte seinen Weg fort. Er suchte einen Erholungsraum auf, in dem man sich entspannen konnte. Er stellte fest, daß er der einzige Besucher war, und stieg mit raschen Schritten die Wendeltreppe hinab, die in den Dienstraum mit den
Kontrollgeräten für die Massageroboter führte. Barbarin erwartete ihn bereits. Er holte aus einem Versteck zwischen zwei Maschinenwänden einen Plan hervor. »Die Halle mit dem Anschluß«, sagte er ohne Umschweife. »Die Monitoren sind bereits entsprechend justiert. Mit etwas Glück können wir uns dort stundenlang aufhalten.« Mitchmiller nahm den Platz in Augenschein. Er prüfte ihn genau durch, betrachtete jeden Gegenstand in der Halle zweimal. »Wie steht es mit den Sicherheitsvorkehrungen?« wollte er wissen. »Wir waren genötigt, den Notausgang in den Reparaturschacht zuzuschweißen und einen Unterbrecher für die Klimaanlage einzubauen. So kann uns niemand überraschen oder ausräuchern. Wenn die Halle umstellt wird, sitzen wir allerdings fest.« »Sorgt dafür, daß genügend Lebensmittel bereitgestellt werden«, wies Mitch ihn an. Die Zeit würde knapp werden. Sie durften die Waren nicht tagelang lagern, da die Gefahr einer Entdeckung bestand. Er würde Cliff und Ponder Bescheid sagen, daß sie Barbarin dabei halfen. »Was geschieht als nächstes?« Mitchmiller zuckte mit den Schultern. Er konnte es nicht voraussagen. Alles hing von der Vorgehensweise der Arge ab. Wieder warf der Solaner einen langen Blick auf den Plan. »Die Anschlüsse für den Simultantäter sind hundertprozentig in Ordnung?« »Wir werden sie nochmals durchprüfen, wenn es soweit ist. Bis dahin genügen die Kontrollen, die wir täglich durchführen.« »Sie hat ihn repariert«, flüsterte Mitch heiser. »Cliff und Ponder haben keine Ahnung, wann sie es getan hat. Und ich bin mir sicher, daß ich sie gesehen habe, als sie im Labor war!« »Von wem redest du die ganze Zeit?« »Von Karjanta!« Barbarin kannte den Namen. Er hatte ihn schon mehrmals von Benutzern des Erholungsraums gehört.
»Ja, Karjanta«, brummte Mitchmiller. »Die geheimnisvolle Frau, die alles kann und die unermüdlich unterwegs ist.« Sie bereitete ihm Kopfzerbrechen. Glador, der war berechenbar. Er konnte alle seine Schritte und seine Taktik genau verfolgen. Er richtete sich mit seinen eigenen Vorbereitungen nach dessen Auftritten und wußte, wann er da und dort keine Solaner und keine Mitglieder der Arge treffen würde. Glador war, ohne es zu wollen, nur eine kleine Figur auf dem großen Schachbrett. Er konzentrierte die meisten Solaner auf sich und würde am Ende keinen Erfolg damit haben. Der Simultantäter würde alle seine Winkelzüge zunichte machen! Noch war Mitch sich nicht über die eigentlichen Ziele des Solaners im klaren. Was er sagte, klang verheißungsvoll, aber es war noch zu allgemein. Der Heimatpfleger (Mitch hielt das für eine schwülstige Bezeichnung) rückte nicht damit heraus, wie er sein Ziel erreichen wollte. Und noch wichtiger: was er tun wollte, wenn er die Arge abgelöst hatte. »Er hat fast keine Zeit mehr, der Prediger«, sagte er zu Barbarin, der den Plan wieder wegsteckte. »Bevor er den Anschluß an die Entwicklung verpaßt, muß er seine Mikro-Speicher auf den Tisch legen.« Und selbst das reichte nicht. Mitch rechnete damit, daß er den Simultantäter früher als vorgesehen und zu einem anderen Zweck als geplant einsetzen mußte. Um Glador einzuschüchtern, falls das möglich war. Oder um ihn ganz aus dem Verkehr zu ziehen, bevor er Schaden anrichtete. »Wir sehen uns pünktlich zur Lagebesprechung«, schärfte er Barbarin ein, dann eilte er weiter. Ständig war er unterwegs, suchte einen Schlupfwinkel nach dem anderen auf. Schweiß und viel Arbeit hatte es gekostet, die kleine Organisation so aufzubauen, daß sie unbeachtet arbeiten konnte. Sie war für den Zeitpunkt X gerüstet. Sie würde eingreifen, ohne daß es die anderen Gruppierungen verhindern konnten. Dank dem Simultantäter.
Wieder dachte er an Karjanta und die Rolle, die diese Frau spielte. Manchmal erwischte er sich bei dem Gedanken, daß sie absichtlich auf ihn getroffen war, drunten in Halberland. Eine Spionin? Ich werde es herausfinden, schwor er sich. Ich kann keine Unbekannte in meiner Rechnung brauchen. Nicht auf diesem Weg. Auf dem Weg zur Macht. Mitchmiller auf dem Weg zur Macht. Er lachte schallend, und ein paar Solaner drehten sich verwundert nach ihm um.
5. Karjanta bewegte sich ungezwungen, aber es fiel den Solanern auf, daß sie immer auf körperliche Distanz bedacht war. Die fragenden Blicke der Solaner beantwortete sie mit einem geheimnisvollen Lächeln, das sie bewerkstelligte, ohne dabei den Mund zu verziehen. Sie unterstützte ihre Geste durch anmutige Bewegungen ihrer Hüften und machte manche Männer rasend vor Neugier. Die wirren, sich ineinander verschlingenden Muster ihrer Kombination lenkten nur unzureichend ab. Kaum drei Wochen waren vergangen seit ihrem ersten Erscheinen in der Öffentlichkeit. Jetzt war ihr Name fast in aller Munde, und er wurde neben dem von Elvin Glador genannt. Es schien, als gehörten sie zusammen. Die rätselhafte Frau bestritt Gemeinsamkeiten mit dem Heimatpfleger. Sie habe ihn noch nie gesehen, sagte sie, und die Solaner glaubten es ihr. Dennoch verströmte sie ein Flair, das irgendwie zu den Worten und Gesten Gladors paßte. Die Solaner dachten: Sie ergänzen sich. Wenn sie zusammenarbeiten, ist die Zukunft unserer Heimat gesichert. Manche sprachen es offen aus. Karjanta äußerte sich nicht dazu. Sie erschien in verschiedenen Sektoren der Kugelzellen und des Mittelteils, reparierte die unmöglichsten Defekte. Manche waren so einfach, daß niemand darauf gekommen wäre. Karjanta beseitigte
sie, lächelte und verschwand. In der Nähe der Maschinensektoren der SZ-1 waren annähernd vierzig Solaner und Solanerinnen in einem Wartungsraum eingeschlossen. Defekte Roboter blockierten den verschlossenen Ausgang, niemand kam mit der Hand an den Kontakt des Öffnungsmechanismus heran. Einen Interkomanschluß besaß der Raum nicht. Die Männer und Frau warteten. Sie versuchten, die Roboter umzustürzen und so den Ausgang freizumachen. Es handelte sich jedoch um schwere Kampfroboter, die von ihnen aktiviert worden waren. Sie ließen sich nicht von der Stelle bewegen. Der Tag verging, und die Nacht brach an. Die Solaner begannen ihre Lage zu verfluchen. Mit allen Mitteln versuchten sie, die Blechmänner in Gang zu bringen, ohne Erfolg. Ein Defekt, der allen gemeinsam schien, hielt sie unverrückbar in Position. »Wir sind Dummköpfe«, sagte ein kleiner Mann namens Arl Josser plötzlich. »Wir haben uns selbst in diese Lage gebracht. Wenn nicht bald ein paar Techniker auftauchen und uns herausholen, sieht es nicht gut aus!« Seit dem Vortag hatten sie nichts mehr gegessen. Die Nahrungszuteilungen waren rationiert worden, eine der Robotfabriken in ihrer Etage war ausgefallen. Der Vorfall hatte sie am eigenen Leib erleben lassen, wie es in anderen Schiffsbereichen seit Wochen und Monaten zuging. Und alles für ein paar leere Versprechungen der Arge. Eine Frau begann in hysterisches Gejammer auszubrechen, als ihr Mann ihr vorrechnete, daß es nach seinem Chrono bereits wieder Morgen war. Die Mägen knurrten, die allgemeine Situation innerhalb des Schiffes ließ sie in einen Zustand ohnmächtiger Wut verfallen. Zornige Blicke trafen Limper, den Anführer ihrer Gruppe. Ihm hatten sie das zu verdanken, er hatte sie dazu überredet, diese Aufgabe im Auftrag der Arge zu übernehmen. »Bald funktioniert nichts mehr in diesem Schiff«, knurrte Limper
böse. »Und ihr könnt Gift darauf nehmen, die Raumfalle ist daran schuld, das totale Nichts!« Sie fröstelten bei dem Gedanken daran, daß sie rettungslos verloren waren. Wie ein Strahler im Dauerbetrieb hing die Drohung über ihnen. Manchmal erwischten sie sich bei dem Gedanken, daß sie lieber frühzeitig sterben wollten, als ihr Leben im Rachen des unheimlichen Zustands zu beenden, der um ihre Heimat herum herrschte. Auch die letzten unter ihnen wurden sich der Tatsache bewußt, daß die Arge an allem schuld war. Die Solaner konnten nicht viel tun, aber sie konnten Weisel und seine Männer bestrafen für das, was sie den Solanern und dem Schiff angetan hatten. »Die Schiffsführung mußte wissen, was sie tat!« lautete der einmütige Kommentar. »Und wenn wir jemals hier rauskommen sollen …« Das leise Zischen der sich öffnenden Tür riß sie aus ihren trüben Gedanken. Durch ein paar kleine Lücken zwischen den Robotern erblickten sie undeutlich die Umrisse einer Gestalt. »Hier sind wir!« rief Limper laut. »Wir sind eingeschlossen!« Erschrocken fuhr er zurück. Die Roboter begannen sich zu bewegen. Sie lebten wieder. Aber sie führten den ihnen gegebenen Befehl nicht aus. Sie kehrten um und stampften in den Hintergrund der Halle zurück, von wo sie hergekommen waren. An ihren bisherigen Standplätzen verharrten sie. Ihre Linsen erloschen, sie hatten sich desaktiviert. Gleichzeitig knirschte es irgendwo in ihrem Innern. »Die Roboter sind nicht mehr einsatzfähig«, kam die Stimme vom Eingang her. Dort stand eine schlanke Frau mit braunen Haaren. »Karjanta!« entfuhr es Limper. Die Frau deutete auf die Roboter. »Sie sollten gegen rebellierende Solaner eingesetzt werden«, machte sie ihnen klar. »Wißt ihr, was das heißt?« Sie nickten zornig. Um ein Haar hätten sie ihre Kameraden und Kameradinnen der Arge ans Messer geliefert, wegen ein paar
Nahrungsrationen. Sie schlugen beschämt die Augen nieder. »Wir danken dir«, sagte Limper schließlich. »Du hast uns vor einem schweren Fehler bewahrt.« Sie wußten jetzt, was sie zu tun hatten. Josser kannte einen Halbbuhrlo, der einer oppositionellen Gruppe angehörte. Ihn würden sie aufsuchen. »Warum tust du das für uns?« fragten sie die Frau. Karjanta erschien ihnen schlanker und größer zu werden. Sie ragte vor ihnen auf, als sei sie Elvin Glador persönlich. Sie hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt. Die Hypertechnikerin erwiderte nicht viel. Es ging jedoch genug aus ihren Worten hervor. Die augenblickliche Lage in der SOL und ihrer Führung war gefährlich. Sie würde zum Untergang des Schiffes und des Volkes der Solaner führen. Sympathie für Karjanta überkam sie. Die Frau machte ein, zwei Schritte in die Halle hinein, wandte sich zur Seite. »Geht jetzt!« sagte sie. »Wenn ihr mich braucht, werde ich zur Stelle sein!« In sicherem Abstand beobachtete sie, wie die Solaner die Halle verließen. Sie schloß das Schott und wandte sich den Robotern zu, die sie außer Betrieb gesetzt hatte. Sie waren unbrauchbar geworden. Karjanta berührte das Antischwerkraftgerät an ihrem Gürtel und ließ sie umstürzen, einen nach dem anderen. Erst als die alle am Boden lagen, war sie zufrieden und wandte sich ebenfalls dem Ausgang zu. Auf ihrem Gesicht lag ein spitzbübisches Grinsen, wechselte mit dem zufriedenen Lächeln eines Kindes, das einen Streich gespielt hatte, den es für besonders gelungen hielt. Übergangslos aber war sie wieder die alte. Ihre Gestalt straffte sich, sie verließ die Halle. Alles ist vergänglich wie die Roboter, dachte sie bei sich. Manches aber ist wert, erhalten zu bleiben. Die Solaner, das Schiff. Den bedrohten Menschen wollte sie helfen, deshalb hatte sie sich an die Öffentlichkeit gewagt.
Irgendwie, begriff sie, hing das Schicksal von Gemeinschaften immer von den Handlungen einzelner ab, egal ob es Helden oder Feiglinge waren. Ein Feigling war jemand, der Angst hatte, etwas zu tun. Wenn jemand Angst hatte, etwas Gutes zu tun, war er ein Versager. Wenn er Angst hatte, Schlechtes zu tun, war er ein Vorbild, ein Idol. Alles hing von den Relationen ab, von den Maßstäben, die eine Gemeinschaft sich setzte. Gut und Schlecht waren subjektive Begriffe. Zu welcher Gruppe gehörte sie selbst? Sie dachte an ihre Begegnungen mit Mitchmiller. Sie war eine Solanerin, er ein Solaner. Gab es eine Zukunft, in der sie beide eine Lebensberechtigung besaßen? Karjanta spürte, daß sie dem Mann aus Halberland Sympathie entgegenbrachte, obwohl sie sich kaum kannten. Sie wußten, daß sie sich irgendwann noch einmal begegnen würden. Bald. Karjanta verschwand aus der SZ-1. Ein rätselhaftes Glucksen blieb zurück, es klang ähnlich wie das Lachen Mitchmillers, wenn er den Komiker spielte. »Glador, ich passe auf!« flüsterte die seltsame Frau in ihrer seltsamen Kombination.
* Die Hauptzentrale im Mittelteil glich einer waffenstrotzenden Festung. Cleton Weisel hatte die Verteidigungsringe verstärkt. Er rechnete damit, daß sich bald etwas ereignete. Er konnte den Lauf der Dinge nicht mehr aufhalten. Sie hatten es längst aufgegeben, ein Entkommen aus der Raumfalle zu suchen. Der Versuch mit dem Transmitter war der Selbsttäuschung einiger Techniker entsprungen. Die Enttäuschung hinterher war um so größer gewesen.
Der Chef der Arge rechnete bereits in Minuten. Er wich nicht mehr von Fridans Seite. Die beiden Männer beäugten sich pausenlos, jeder ständig auf einen üblen Schachzug des anderen gefaßt. Sie hatten einander wortlos den Krieg erklärt. Irgendwann in dem bevorstehenden Getümmel würde eine Entscheidung fallen. Fridan provoziert den Aufstand gegen die Zentrale noch, überlegte Cleton Weisel. Er kann mich nicht jetzt vor versammelter Mannschaft erschießen. Umgekehrt ging es ebensowenig. Weisel schätzte seine Position ungefähr ein. Jeder Fehler konnte ihm den Kopf kosten. Die Entwicklung hatte sich verselbständigt. Niemand war in der Lage, sie aufzuhalten. Tanar Fridan hatte sie schulterzuckend mit den Worten kommentiert: »Wir hätten auf Chircool nicht fünfhundert, sondern fünfzigtausend aussetzen sollen. Dann gäbe es keine Versorgungsprobleme, wir hätten Zeit, uns um die Raumfalle zu kümmern!« Und irgendwann hättest du einen legalen Grund, mich abzulösen, ergänzte Weisel. Er bezweifelte nicht, daß es Fridan egal war, ob er erlaubte oder unerlaubte Mittel dazu benutzte. Einen letzten Triumph hatte Fridan bisher nicht ausspielen können. Noch befanden sich Glador und Karjanta nicht in seinen Händen. Seine Häscher versuchten ständig, der beiden habhaft zu werden, aber jedesmal kam etwas dazwischen. Wie Spukgestalten verschwanden sie, und die Techniker begannen an Geister zu glauben und brachten sie mit der Raumfalle in Verbindung. Das totale Nichts gewann an Gestalt, wurde in ihrer Phantasie mit Leben erfüllt, das die Solaner durcheinanderbrachte. Erste Anzeichen des beginnenden Wahnsinns? »Sie kommen!« rief ein Techniker an den Bildschirmen. Aber es war lediglich eine Delegation aus zehn Buhrlos, die Weisel zu sprechen wünschte. Unter scharfer Bewachung ließ er sie in die Zentrale ein.
»Was sucht ihr hier?« herrschte er sie an. Einer der Buhrlos trat vor. »Ich bin Troilus, Sohn des Priamus«, erklärte er. »Wir sind gekommen, um dir mitzuteilen, daß sich die Buhrlos aus den Auseinandersetzungen heraushalten werden. Wir erwarten dafür, daß auch wir in Ruhe gelassen werden.« Weisel nickte. Die Gläsernen wußten Bescheid, daß die Solaner bald zum Sturm auf die Zentrale ansetzen würden. Sie sollten nur kommen. Sie würden ihr blaues Wunder erleben. »Wir sind eine kleine Minderheit«, fuhr der Buhrlos fort. »Wir stehen nicht auf der Seite der Gewalt!« »Ihr steht auf der Seite der Schiffsführung?« forschte Weisel. »Wir unterstützen jede Schiffsführung, die uns den Erhalt unserer Heimat garantiert«, erwiderte Troilus diplomatisch. »Wenn du erlaubst, werden wir uns jetzt zurückziehen!« Die Buhrlos wandten sich ab und schritten zum Ausgang. Die Techniker blickten ihnen mit gemischten Gefühlen nach. Sie bewunderten die Gläsernen, weil sie eine neue Stufe der Evolution erreicht hatten. Auf der anderen Seite hatten sie Mitleid mit ihnen, denn ihr kleines Volk hatte sich im Lauf der Zeit als eine Sackgasse in der Evolution herausgestellt. Die Buhrlos wußten es, aber sie wollten es nicht wahrhaben. Ihr Desinteresse für verschiedene Vorgänge in der SOL war Resignation, nichts weiter. Dennoch, Weisel hatte ein dumpfes Gefühl. Die Augen dieses Gläsernen, sie hatten eine lebendige Sprache gesprochen. Mehrmals hatte er unbewußt Gesten mit den Fingern gemacht, die Weisel nicht deuten konnte. Er verstand sie nicht, die Weltraumsprache dieser Menschen. »Sagt euch der Begriff ›Solanokraten‹ etwas?« fragte der Chef der Arge unvermittelt. Troilus drehte sich um. Die Bewegung wirkte auf Grund seiner Gestalt sehr plump. Wäre er ein gewöhnlicher Mensch gewesen,
hätten sie ihn jetzt erröten sehen. So aber ließ seine von filigranen Blutgefäßen durchzogene Glashaut es nicht zu. »Wir haben ihn gehört, aber wir können ihn nicht einordnen«, sagte er mit fester Stimme. »Er interessiert uns auch nicht!« Die Buhrlos zogen ab, und Weisel gab die Anweisung an jene Techniker, die sich gleichmäßig über das Schiff verteilt hatten, daß die Buhrlos sich in ihren Wohnbereichen oder den Außenbezirken des Schiffes aufzuhalten hatten. Der Schwerpunkt der Auseinandersetzung lag eindeutig um die Hauptzentrale herum. Er hielt sie für uneinnehmbar. Ohne größere Schäden anzurichten, konnte sie niemand erobern. Obwohl, wer garantierte dafür, daß die Solaner es nicht doch schafften? Sirenen heulten auf, Meldungen gingen ein. Der äußere Sicherheitsring wurde in die ersten Feuergefechte verwickelt. Feindberührung, nannte Fridan es, und Weisel stimmte ihm zu. Beide hatten sie die Hand am Strahler, belauerten sich. Weisels Pulsschlag beschleunigte sich spürbar. Seine Halsadern traten hervor. Leicht war es nicht, was sie zu tun hatten. Aus einer ihm verständlichen Notwendigkeit heraus kämpften Menschen gegen Menschen. In seinen Augen war es unvermeidbar. Die Waffen waren sein einziger Trumpf. Bis jetzt. Aber er wartete auf die beiden Geiseln. Auf Glador und Karjanta. Er sah Fridan an und wußte, sie würden kommen.
* Es war die Wahrheit, die er verkündete. Seine Worte öffneten auch den letzten Solanern die Augen. Seine Anhängerschaft war vollständig. Nie hätte er es sich träumen lassen. Alle Solaner standen hinter ihm.
Die Vorgänge um ihn herum, die in Zusammenhang mit seinem Auftreten standen, sie waren der deutlichste Beweis für das, was er predigte. Die SOL war am Sterben, aber sie war nicht tot. Das Schiff besaß Leben, und dieses Leben mußte erhalten werden. Das Generationenschiff und seine Bewohner bildeten eine atmende Einheit, die nur so lange existieren konnte, wie beide Komponenten gesund waren. Im Augenblick sah es so aus, als würden beide absterben, wenn nicht etwas geschah. Es geschah etwas. Bisher hatte es Techniker gegeben, die da und dort eingriffen und Fehler behoben, Ersatzteile verwendeten oder aus zwei beschädigten Beibooten ein einziges, intaktes machten. Aber sie waren nicht nur Techniker, sondern auch Technokraten. Und in ihrer Grundhaltung hatten sie sich verselbständigt. Sie standen nicht mehr auf dem Boden dessen, auf dem sie einmal angefangen hatten. Damals. Sie waren zum Selbstzweck verkommen, ihr einziges Ziel war die Machterhaltung. Dabei hatten sie sich immer weiter von dem entfernt, was ihre Existenz als Solaner ausmachte. In ihren Herzen schlummerte keine Begeisterung mehr, was sie taten, war die Aufrechterhaltung eines leblosen Gerippes. Es hatte bereits Züge des Todes angenommen. »Es ist unsere letzte Chance, es zu ändern. Sonst wird das Volk der Solaner untergehen!« rief Glador eindringlich. Eine Rückkehr zur Demokratie der Anfangsjahre war unmöglich. Bereits damals hatte sich gezeigt, daß die Solaner unfähig waren, die demokratischen Grundregeln ihrer Vorfahren zu übernehmen. Es hing mit ihrer Entwicklung zusammen, die sich nie in verantwortungsbezogenen Bereichen abgespielt hatte. In den 64 Jahren, die seither vergangen waren, hatte sich dieser Prozeß zwangsläufig fortgesetzt. Die Abhängigkeitsstrukturen hatten sich immer deutlicher ausgeprägt.
Glador kannte jedes Detail auswendig. Es bereitete ihm keine Mühe, die Bezüge zwischen scheinbar allein dastehenden Ereignissen herzustellen und diese in die Zukunft zu transponieren, die seine Gegenwart war. Sein Gedankengerüst stimmte fast in jeder Beziehung mit den tatsächlichen Zuständen überein, und wenn er weiterdachte, kam er auf jene Zustände, die in zehn, zwanzig Jahren sein würden. Wenn alles so weiterlief wie bisher. Glador glaubte persönlich nicht daran, daß die SOL an ihrem Ende angelangt war. Mit der Zeit würde sich ein Weg finden lassen, das absolute Nichts zu besiegen und in den gewohnten Weltraum zurückzukehren. Vielleicht war die Raumfalle auch eine zeitbedingte Erscheinung und löste sich irgendwann auf. Der Heimatpfleger hob seine Stimme an. Die Stunde war gekommen. Zögerte er weiter, würden ihn die Schergen Weisels in ihre Hände bekommen und verschwinden lassen. Glador erschien es rätselhaft, wie er in den letzten Tagen immer wieder unbeschadet entkommen war. Alles sah wie Zufall aus, aber der Solaner wurde den Eindruck nicht los, daß ein Unbekannter seine Hand im Spiel hatte. Einer, der ihn unterstützte, sich aber nicht zeigen durfte? Einer von der Arge! »Ich werde das Schiff retten«, versprach er, »ich werde es heilen. Es ist meine Berufung. Dazu bin ich geboren. Aber ich bedarf eurer Unterstützung. Ich werde ein System aufbauen, in dem es für alle wichtigen Funktionen der Heimat eine eigene Gruppierung geben wird!« Sie brauchten Piloten, die mit den Beibooten umgehen konnten, wenn es galt, das Schiff mit Versorgungsgütern zu bestücken, wie es immer geschehen war. Sie brauchten technisch begabte Leute, die sich speziell um die anfallenden Reparaturen kümmerten. Sie benötigten besonders ausgebildete Männer und Frauen, die alle technischen und positronischen Vorgänge in ihrer Gesamtheit verstanden und die Anweisungen an die untergeordneten Chargen
weitergaben. Jeder mußte dem nächsthöheren Rechenschaft ablegen. Und über allen stand ein einzelner Mann, der sie unablässig kontrollierte. Einer, den alle Solaner schätzten und zu denen er von Zeit zu Zeit sprach. Ein Kastensystem würde sich herausbilden, es würde Solaner mit speziellen Aufgaben und speziellem Wissen geben. Nicht diese Techniker der Arge mit ihrem technischen Allgemeinverstand, der sich immer mehr als Unverstand entpuppte. Glador wurde die Frage gestellt, wer denn die Solaner ausbilden sollte. Bestimmt nicht die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft, die das Vertrauen der Bewohner verloren hatten. Elvin Glador erzählte ihnen, welche verschiedenen technischen Ausbildungen er in seiner Jugend durchgemacht hatte. Er sprach zum ersten und letzten Mal davon. Da vertrauten sie ihm endgültig, und die Worte seiner Rede eilten wie der Wind durch alle Teile des Schiffes. »Heile die SOL«, baten sie erneut. »Ich habe bereits damit begonnen, ohne daß ihr es gemerkt habt«, eröffnete er ihnen. »Bald werdet ihr die Fortschritte sehen.« Wieder mußte er unauffällig verschwinden, um nicht den Häschern der Arge in das Netz zu gehen. Seine Anhänger und die vielen hundert Vertrauten, die er bereits besaß, halfen ihm dabei. Wieder ereignete sich ein dummer Zufall, der ihn entschlüpfen ließ und für den er keinen Verantwortlichen ausfindig machen konnte. Flüchtig dachte er an Karjanta, die bekannte Helferin, von der gesagt wurde, daß sie alle technischen Probleme lösen könne. Der Name setzte sich in seinem Gedächtnis fest, und er erkannte, daß diese Frau das besaß, was ihm noch fehlte. Mit der Lösung der technischen Schwierigkeiten würde er seine Macht in der SOL festigen. Glador nannte sein System das System der totalen Hierarchie. Er würde es ohne Abstriche durchsetzen.
Nur manchmal, wenn er sich ein paar Minuten Ruhe gönnte und über die nahe Zukunft nachdachte, bekam er Angst. Angst davor, daß einer kommen und sich in das gemachte Nest setzen könnte.
6. Die fünf Männer waren bis an die Zähne bewaffnet. Mit angehaltenem Atem lauerten sie in der Dunkelheit, die den Zugang zu der kleinen Anlage ausfüllte. Ab und zu traten sie ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Über zwei Stunden warteten sie. Dann wurden sie für ihre Geduld belohnt. Schritte näherten sich. Es waren leichte Schritte wie von einem jungen Mädchen. Sie gehörten zu einer Frau, die in Gedanken versunken den Korridor entlangschritt. Als sie sich auf der Höhe des Zugangs befand, schrak sie auf. Die Männer hatten sie blitzschnell umstellt, einer griff nach ihrem Arm. Mit einer geschickten Drehung brachte sie sich aus seiner Reichweite. »Keiner rührt mich an!« zischte sie. »Was wollt ihr?« »Du sollst mitkommen, Fridan will dich sehen!« »Ich denke, der Chef der Arge heißt Cleton Weisel?« gab sie spitz zurück. Ohne weiteren Kommentar setzte sie sich in Bewegung. Die Männer brachten sie auf einem Schleichweg bis in die Nähe der Hauptzentrale. Immer wieder hörten sie durch die Wände Geräusche, wie sie entstanden, wenn sich Menschenmassen irgendwo aufhielten. Der Bereich um die Hauptzentrale war jedoch frei. Dennoch stellte Karjanta fest, daß hier bereits gekämpft worden war. Die Strahlerspuren an den Wänden und im Fußboden waren frisch, teilweise noch nicht einmal abgekühlt. Nirgends waren Blutspuren zu sehen, ein Zeichen, daß es sich lediglich um ein
harmloses Geplänkel einiger Hitzköpfe gehandelt hatte. Karjanta war sich unschlüssig. Sie wollte Glador unterstützen, dessen Ordnungswille in ihren Augen die einzige Möglichkeit war, das Chaos in der SOL zu beenden. Aber sie wollte es nicht tun, bevor sie sich nicht endgültig über die Zustände bei der Schiffsführung informiert hatte. Danach erst würde sie ihre Entscheidung treffen. Das war auch der Grund, warum sie sich freiwillig in den Hinterhalt begeben hatte. Einer der Männer sprach in seinen Minikom am Handgelenk. Er machte seinen Begleitern ein Zeichen. Sie begannen zu rennen, und Karjanta hatte Mühe, sich in ihrer Mitte zu halten, ohne einen von ihnen anzustoßen. Vor dem Eingang zur Hauptzentrale blieben die Männer stehen, ihr Kreis öffnete sich. »Hinein!« kommandierte einer. Karjanta betätigte den Öffner und trat ein. Die Männer blieben draußen und bewachten die Tür. Mit einem raschen Blick vergewisserte sich die Solanerin, daß sie nicht bedroht wurde. Sie prägte sich die Gesichter der Umstehenden ein, musterte die Berge automatischer und halbautomatischer Handwaffen, die überall an den Wänden herumlagen. Dann richtete sie ihren Blick auf die beiden Männer, die nebeneinander an den Bildschirmkonsolen standen und sie beobachteten. »Ganz richtig, ich bin Karjanta. Was wollt ihr von mir?« legte sie los. Auf Weisels Gesicht zeichnete sich einen Gedanken lang Verblüffung ab. Fridan verzog säuerlich den Mund. »Das ist die Aufrührerin, Cleton!« stellte er fest. Weisel sagte nichts. Er schien Fridan die Unterhaltung überlassen zu wollen. Karjanta bedauerte es. Fridan leuchtete die Verschlagenheit aus den Augen. »Wir haben dich verhaftet, weil du einen Unsicherheitsfaktor für die Schiffsführung darstellst«, fuhr Fridan fort. »Du hetzt die
Solaner gegen uns auf!« »Du weißt selbst, daß das gelogen ist«, stellte Karjanta eisig fest. »Ich bin ohne Pause unterwegs, um die wichtigsten Defekte zu beheben, wozu die Arge offensichtlich nicht mehr in der Lage ist. Mehr tue ich nicht!« »Du steckst mit diesem Glador unter einer Decke!« rief Weisel jetzt. »Jeder weiß es!« Die Solanerin widersprach ihm. Sie hatte Glador noch nie gesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen. »Es muß einen Grund geben, daß ihr so widersinnig handelt«, sagte sie. »Leicht hättet ihr meinen Einsatz als euer Verdienst hinstellen können. Das hätte die Wut der Solaner abgeschwächt und dazu geführt, daß Kämpfe vermieden worden wären. Wollt ihr euch gegenseitig zerfleischen?« Cleton Weisel zauderte, aber Fridan schüttelte ungeduldig den Kopf. Weisel erwiderte: »Wie du siehst, läßt es sich nicht vermeiden.« Karjanta setzte sich in Bewegung. Sie schritt durch die Hauptzentrale. Vor jedem Solaner blieb sie stehen und betrachtete ihn. Zum Schluß gelangte sie an die Kontrollen des Schiffes. Sie tat, als verstände sie auch davon etwas. Als sie sich umwandte, schimmerten ihre Augen in dunklem Glanz. »Ihr Armen!« rief sie aus. »Wie tief seid ihr gesunken! Wie viele Schalter dieser Tafeln beherrscht ihr noch?« Sie kehrte an ihren Platz zurück und wartete schweigend, was geschehen würde. Fridan gab ein paar Technikern einen Wink. Sie näherten sich ihr. »Abführen!« befahl Weisel schnell. »Sperrt sie ein wie verabredet!« Noch einmal ließ Karjanta ihre Augen durch die Zentrale schweifen. Die Stimmung zwischen den Wänden machte sie betroffen. Sie spürte die Entschlossenheit der Männer und Frauen, die vor nichts mehr Achtung zu haben schienen.
»In diesem Raum wohnt der Tod!« rief sie aus. Die Männer führten sie hinaus und brachten sie in eine kleine Kammer ganz in der Nähe. Dort sperrten sie sie ein. Weisel sagte in der Zentrale: »Glador ist der wichtigere Faktor. Er läuft noch immer frei herum. Tu etwas, Fridan!«
* Über dreihundert Buhrlos hatten sich in dem kleinen Raum neben der Schleuse versammelt. Sie standen dicht gedrängt. Ihre Augen lagen tief zwischen den Halswülsten, ein paar Alte hielten die Köpfe gesenkt. Sie fühlten sich nicht wohl. Eine Gruppe von ihnen war soeben von draußen zurückgekehrt. Sie hatten es nicht lange ausgehalten. Nicht lange genug, um dem natürlichen Prozeß ihrer Häutung Rechnung zu tragen. Ihre Haut schälte sich nicht, die alten, abgestorbenen Zellen wurden nicht erneuert. Sie wußten, was es bedeutete. Wenn der Zustand länger anhielt, würden sie es seelisch und körperlich nicht verkraften. Oft in letzter Zeit hatten sie versucht, den Aufenthalt im totalen Nichts hinauszuzögern. Ein aufkommendes Gefühl des Abscheus hatte sie jedesmal zurückgetrieben. Sie schafften es nicht. Die Gläsernen hofften, daß die Auseinandersetzungen, die durch das Schiff tobten und wie kurzfristig aufflammende Feuer anmuteten, bald ein Ende haben würden. Wenn nicht Weisel, dann würde es Glador gelingen, dem Schiff die alte Selbständigkeit und Beweglichkeit zurückzugeben. »Nicht Glador sollt ihr vertrauen«, hörten sie Troilus sagen. »Ihr wißt nicht, was er eigentlich plant. Seine Worte klingen gut, aber seine Augen sind nicht ehrlich!« Wem konnten sie dann vertrauen außer sich selbst? Karjanta?
Mitchmiller? Von diesen beiden wußten sie noch weniger. Troilus gehörte zu seinen Bekannten, sonst niemand unter den Anwesenden. Im Grund waren es drei Personen, die sich um die Nachfolge Weisels stritten. Glador, Karjanta und Mitchmiller. Selbst wenn sie unterschiedliche Vorstellungen hatten, Glador besaß die größere Popularität und würde siegen. Es würde ihm leichtfallen, seine Konkurrenten auszuschalten. »Die Solanokraten, sie sind eine vierte Kraft«, bemerkte eine Frau. »Sie denken in demokratischen, nicht in absolutistischen Bahnen. Sie sollten wir unterstützen!« Ihre Äußerung stieß auf Ablehnung. Es hieße, ein ehernes Prinzip der Gläsernen zu brechen, wenn sie sich mit einer politischen Gruppierung eingelassen hätten. Schon immer waren sie eine zurückgezogen lebende Minderheit gewesen, die sich nicht um Politik kümmerte. Für sie ging es um anderes. Sie waren die Weltraummenschen. Höhen und Tiefen in rasch wechselnder Reihenfolge bestimmten ihre Existenz seit der Geburt des ersten von ihnen, des Halbbuhrlos, der dem ganzen Evolutionsstamm seinen Namen gegeben hatte, Corun Han Buhrlo. 64 Jahre war es her. Seit dieser Zeit wußten die Solaner, daß sich mit dem Aufbruch des Schiffes alles verändern würde. Ein stetiger Prozeß hatte begonnen. Cleton Weisel und seine festgefahrene Arge hatten diesen Prozeß durchbrochen. Er mußte fortgesetzt werden. »Die Solanokraten sind keine vierte Kraft«, sagte Troilus. Er hob zwei Finger der linken Hand, was so viel bedeutete wie »Alles in Ordnung«. In diesem Fall wollte er damit ausdrücken, daß seine Äußerung verläßlich und glaubwürdig war. »Und Karjanta und Mitch streiten sich mit niemandem«, fügte er hinzu. Das Spiel war völlig offen, wer die Nachfolge der Arge SOL antreten würde. Troilus rechnete damit, daß es vielleicht ein oder
zwei Übergangszeiten geben würde. »Mitchmiller und Karjanta stehen sich näher, als sie ahnen«, behauptete der Sohn des Priamus. Erklären konnte er seine Aussage nicht. Die Frage, die die Buhrlos in diesen Stunden am meisten beschäftigte, war die Verläßlichkeit Gladors. Würde er wieder zu der alten Entwicklung zurückkehren, wie sie am Anfang gewesen war? Er sagte es und bewies seine genaue Geschichtskenntnis, indem er die Existenz der Buhrlos von den Zuständen im Schiff abhängig machte. Es klang plausibel, und sie waren nur allzu gern bereit, es zu glauben. Seine Augen sind nicht ehrlich. Troilus deutete auf Nert Böhm, den ältesten unter den Anwesenden. Er empfand die drückenden Last des absoluten Nichts besonders stark. »Wie lange wirst du noch aushalten können, Nert?« Der alte Mann hob die gespreizte rechte Hand, was Müdigkeit und Krankheit signalisierte. Er wußte nicht, wie lange. Er war fast schon ein Sterbender. Die knapp dreieinhalbtausend Buhrlos im Schiff taten, was sie schon immer getan hatten. Sie warteten. Die Evolution hatte ihnen das Warten in die Wiege gelegt. Sie warteten in der Nähe der Außenhaut ihrer Heimat, und viele mochten mit ihren Gedanken weit weg sein. Was hätte aus diesem Schiff werden können, wenn es die Solaner ihnen allein überlassen hätten. Ein Paradies. Ein Traum. Es blieb ein Traum, würde immer einer bleiben. Die Wirklichkeit war grausam. Mit einem Mal richteten sich alle Gläsernen in dem großen Schiff auf. Sie schienen nach innen zu lauschen, als empfingen sie etwas. Ein Gedanke erfüllte sie, eine Schwingung. Sie kam aus dem Mittelteil. Die dreihundert Buhrlos in dem kleinen Raum neben der Schleuse drängten plötzlich zur Tür. Sie ergossen sich hinaus auf den
Korridor und strebten alle in Richtung eines einzigen Wohnbereichs. Obwohl sie es eilig hatten, behinderten sie sich nicht gegenseitig. Geordnet bewegten sie sich vorwärts. Es hatte sich etwas ereignet, und Freude stand in ihren Gesichtern. Sie gelangten in den betreffenden Wohnbereich, zu dem sie ihr Empfinden hingesteuert hatte. Höchst selten war es, daß sie die leicht telepathisch gelagerten Instinktkontakte an sich erfuhren. Meist dann, wenn ein Bewußtsein erlosch oder entstand. Die Gläsernen hielten auf dem Gang an. Nur ein paar wenige von ihnen betraten die Wohnung. Sofort wußten sie, daß sie ihr Gefühl nicht getrogen hatte. Aus dem Nebenraum kam die Amme, sie erkannten sie an ihren schweren Brüsten. Geschrei ertönte. Der Vater erschien und trug das Neugeborene auf den Armen. Es war ein Mädchen. Es glänzte nicht und sah gar nicht aus wie ein erwachsener Buhrlo. Und doch wußten sie, daß es ein vollwertiges Mitglied ihrer Gemeinschaft werden würde. »Wir freuen uns!« verkündeten die Buhrlos im Chor. »Wir möchten dem Kleinen eine Freude machen!« Wie hergezaubert hielt Troilus ein Modell der SOL in der Hand, aus eigener Anschauung gefertigt. Es war von einem schwarzen Himmel umgeben, der sich wie ein Schirm über ihm wölbte. Viele tausend weiße Punkte waren daraufgemalt. Sterne. Er überreichte es dem Vater. Ein Kind war geboren, ein Buhrlo. Es war ein kleiner Lichtblick, und er kam gerade zur rechten Zeit. Der Roboter! Er kam den Korridor entlang und hielt auf seine Überwachungszentrale zu. Fasziniert beobachtete er die Gestalt. Nein, es kann doch kein Roboter sein, dachte Ahlnat und schaltete den Außenbildschirm ab. Er erhob sich und strich seine Kombination glatt. Der Lagerverwalter vernahm die Schritte und rief: »Herein!« Karjanta trat ein. Als er sie von Angesicht zu Angesicht sah, meinte Ahlnat, ihm müßte etwas einfallen, was er mit halbem Ohr
hörte, als er sich in das Interkomnetz eingeschaltet hatte. Etwas, das Karjanta persönlich betraf. »Wunderst du dich, daß ich zurückkehre?« fragte die Solanerin mit melodischer Stimme. »Oder hast du etwas dagegen?« Ahlnats offener Mund sprach Bände. Er war verwirrt. »Nein, nein«, beeilte er sich zu sagen. »Ich freue mich, daß du mich besuchst. Immerhin habe ich dir einiges zu verdanken!« »Tatsächlich?« Der Lagerverwalter nickte heftig. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn die gesamte Lagerhalle ausgebrannt wäre. »Ich weiß nicht, ob ich dir einen Gefallen getan habe, als ich deine Aggregate und Positronikterminals in Ordnung brachte«, begann Karjanta. »Sie könnten dir jetzt zum Verhängnis werden!« Ahlnat rätselte und rätselte. Er kam nicht darauf. Etwas schwirrte in seinem Geist herum, ohne Gestalt anzunehmen. Er fühlte sich mit einem Mal krank. »Ich … ich …«, stotterte er, doch Karjanta legte die Hand auf ihren Mund. Sie eilte mit kleinen Schritten hinüber zu den Terminals und schaltete sämtliche Funktionen ab. »Komm«, sagte sie. »Ich bringe dich in Sicherheit!« Der Lagerverwalter verstand nicht, was sie meinte. Wovor sollte er sich fürchten? »Was tust du?« fragte er rasch und setzte die Anlage wieder in Betrieb. »Was willst du von mir?« »Glador hat nicht alle Solaner unter Kontrolle. Es ist ihm noch nicht möglich, viele Zehntausende zu steuern. In ihrer Wut und ihrem Haß auf die Arge sind sie unaufhaltbar!« Die Nennung der Arbeitsgemeinschaft ließ Ahlnat zusammenzucken. Die Erinnerung kam ihm. »Weisel hat dich einsperren lassen«, stieß er hervor. »Bist du ihm entkommen?« »Du kennst die Antwort«, erwiderte Karjanta. Positronische Schlösser waren für sie kein Problem. »Aber komm jetzt! Die
Solaner sind auf dem Weg hierher. Sie wissen, daß hier auch große Mengen Ausrüstung und Waffen lagern. Entziehe dich der Verantwortung, überlaß die Hallen ihnen!« Sie wandte sich zur Tür, aber Ahlnat folgte ihr nicht. »Ich weiß nicht, warum du das tust«, sagte er. »Ich bleibe hier. Ich gehöre nicht zur Arge, aber ich bin der Schiffsführung für diese Hallen verantwortlich. Genauso wie die Wissenschaftler über mir für ihre Labors und Versuche. Mein Platz ist in diesem Sessel!« »Du hast letztendlich die Entscheidung darüber, ob du mir folgst oder nicht«, gab Karjanta zu. »Aber du hast die Solaner nicht gesehen und die Stimmung, in der sie sich befinden. Ich fürchte um dein Leben und will es dir erhalten. Deshalb bitte ich dich, mit mir zu gehen und deinen Sessel hier im Stich zu lassen!« In dem Lagerverwalter arbeitete es. Er machte ein paar Schritte zur Tür, kehrte wieder um. Er wollte nicht glauben, was er hörte. Er setzte sich in seinen Sessel. »Was wirst du tun, wenn sie kommen?« fragte die Solanerin. »Ich werde ihnen den Zutritt verwehren, werde alle Eingänge blockieren. Die Hallen sind nur zugänglich mit Genehmigung der Schiffsführung.« Er sprach nie von der Arge, mit der er sich nicht identifizierte. »Sie werden sich mit Gewalt Zutritt verschaffen und kurzen Prozeß mit dir machen!« »Es wird nicht dazu kommen!« »Geh mit mir!« Karjantas Stimme klang flehentlich. Am liebsten wäre sie hingegangen und hätte ihn aus dem Sessel gezogen. »Ich bleibe.« Es war sein letztes Wort. Karjanta ging. Sie ahnte, was kommen würde. Eine halbe Stunde später war Ahlnat tot. Er starb in Erfüllung seiner Pflicht. Er war der erste Tote in der beginnenden Auseinandersetzung. Seine Person würde bald vergessen sein. Kaum jemand hatte ihn gekannt.
Sein Name jedoch würde weiterbestehen.
7. Die Mitglieder der einzelnen Kasten sollten sich körperlich und geistig besonders für die ihnen zugedachten Arbeiten eignen. Sie würden in ihren speziellen Arbeitsbereichen perfekt sein und alles in den Schatten stellen, was die Arge jemals geleistet hatte. Glador ging sogar soweit, daß er behauptete, Weisel und seine Techniker hätten von Anfang an versagt und die Heimat konstant in den Untergang gesteuert, der jetzt, nach 64 Jahren, erreicht war. Der Heimatpfleger hatte sich mit einigen seiner getreuesten Mitarbeiter in einen Wohnbereich des Mittelteils zurückgezogen, der weitab von der Hauptzentrale und den wichtigsten Konzentrationen der Arge lag. Er wartete. Mehrere Solaner waren in einer Mission unterwegs, die allergrößte Vorsicht verlangte. Eigentlich waren es zwei Missionen und zwei Gruppen, die suchten. Drei Männer tasteten sich an die Hauptzentrale und ihre nähere Umgebung heran. Dort war Karjanta gefangen. Glador brauchte den Rat dieser Frau dringend. Er mußte sich ein Bild von ihrem Können verschaffen. Wenn nur die Hälfte von dem stimmte, was die Solaner von ihr erzählten, dann reichte es völlig aus. Dann konnte er den Bewohnern der SOL endlich das versprechen, was sein dringlichstes Anliegen war. Daß ausgerechnet eine Solanerin in der Lage sein sollte, alle technischen Probleme zu meistern; selbst Elvin Glador bereitete es Schwierigkeiten, das auf Anhieb zu glauben. Die zweite Gruppe war unterwegs, um nach Solanokraten zu suchen. Diese Bewegung existierte, doch sie war nicht faßbar. Niemand schien zu wissen, wer dazugehörte und welche Ziele die Bewegung verfolgte.
Glador betrachtete sie zunächst einmal als Konkurrenz, die ihm gefährlich werden konnte. Wenn er meditierte und seine innersten Gedanken befragte, stellte er fest, daß es die Solanokraten waren, die ihn ab und zu zu Befürchtungen hinrissen. Seine Angst, er könnte für andere arbeiten. War das Wirken der Unbekannten nicht überall zu spüren? Gab es in diesen Tagen nicht genug unerklärte Vorkommnisse, die auf die heimlichen Drahtzieher zurückzuführen waren? Der Heimatpfleger vergaß für ein paar Stunden seine Gedanken um den Aufbau seiner neuen Organisation. Die Namen und Kastenbezeichnungen, die noch latent in ihm schlummerten, sie blieben weiter dort, ohne konkrete Form anzunehmen. Glador hegte eine gezielte Befürchtung. Er wußte, daß er derjenige war, der die Solaner stimulierte, der sie aufhetzte und endgültig gegen die Arge aufgebracht hatte. Er steuerte die Massen mehr schlecht als recht, in der entscheidenden Phase würde er sie kaum noch kontrollieren können. Das war erst möglich, wenn die Entscheidung gefallen und der Haß verraucht war und alle auf ein Zeichen von ihm hofften. Dann erst kam seine Bewährungsprobe, wenn es darum ging, Versprechungen wahrzumachen. Moralisch und psychologisch agierte er perfekt. Niemand konnte ihm seinen Platz als Retter streitig machen. Seine Bedenken galten einem anderen Thema. Die Arge hatte technisch völlig versagt. Dennoch gab es Solaner in dem großen Schiff, die Forschungen betrieben und vielleicht Dinge herausfanden oder gefunden hatten, die über die Möglichkeiten der Arge hinausgingen. Oder es hatte jemand Relikte aus alter Zeit gefunden, als die Solaner noch nicht frei gewesen waren. Elvin Glador hatte Angst davor, daß ihn jemand technisch übertrumpfen und mit technischen Mitteln die Macht an sich reißen könnte. Sobald die Schmutzarbeit getan war. Eigentlich rechnete er mit einer Einzelperson, die sich dann in den Vordergrund spielen würde und all das tat, was er versprochen
hatte. Die Solanokraten als große Unbekannte kamen dafür weniger in Frage. Der Heimatpfleger und Retter löste sich aus seinen Gedanken. Er lief Gefahr, sich selbst verrückt zu machen. Unruhig begann er in seinem Schlupfwinkel auf und ab zu gehen. Bald würde er soweit sein, daß er sich in der SOL frei bewegen konnte und kein Mitglied der Arge mehr unterwegs war. Immer wieder wurde ihm von kleinen Gefechten und Auseinandersetzungen berichtet. Sie spielten sich überall ab, in der SZ-1 und der SZ-2, auch in den Randbezirken des Mittelteils. Nur in der unmittelbaren Umgebung der Hauptzentrale war es seit Stunden ruhig. Es ist die Ruhe vor dem Sturm, sagte Glador sich. Wie so oft kamen viele Dinge zusammen. Beide Gruppen meldeten sich gleichzeitig zurück und teilten ihm ihre Beobachtungen mit. Glador brach sofort auf. Er rückte gegen die Hauptzentrale vor und wies die Solaner an, den Verteidigungsringen ein paar Scheingefechte zu liefern. In dieser Zeit drang er auf einem nur der Arge und ihm bekannten Weg in den Korridor vor, in dem Weisel Karjanta eingesperrt hatte. Im Schutz von zehn Begleitern durchsuchte er nach und nach alle Räumlichkeiten, ohne eine Spur von ihr zu finden. Ein einziger Raum blieb übrig, mit einer Sicherheitstür versehen, die er erst nach mehreren Minuten öffnen konnte. Vorsichtig traten sie ein und sahen sich um. Auch dieser Raum war leer, aber die Tür schloß sich mit einem harten Knacken. Deutlich war das Einrasten mechanischer Sicherungen in der stählernen Türfüllung zu hören. Glador fuhr herum. Er schlug mit der flachen Hand auf den Öffnungskontakt. Die Tür reagierte nicht. Der Heimatpfleger starrte seine Begleiter an. Ein einziger war draußen geblieben und klopfte gegen den Stahl. Sie hörten Rufe, zorniges Geschrei. Kein Schuß fiel. Draußen wurde es ruhig, die
Arge hatte den Mann mitgenommen. »Wir sind verraten worden«, schrie Glador unterdrückt. »Ihr habt einen Fehler gemacht!« »Nicht einmal das«, kam eine amüsierte Stimme aus verborgenen Lautsprechern. Sie gehörte Tanar Fridan. »Wir konnten uns ausrechnen, wer sich da nähert.« Elvin Glador begann in dem Raum auf und ab zu rennen. Er hielt den Kopf gesenkt wie ein eingerosteter Roboter, von denen es genug im Schiff gab, denn die Solaner hielten nicht viel von den positronischen Maschinen und hatten zu Beginn ihrer Odyssee die meisten außer Betrieb gesetzt. Daß die Arge versuchte, einen Teil wieder zu aktivieren, war als letztes Aufbäumen zu werten. Damit war es jetzt vorbei. Glador hatte hoch gespielt. Er hatte Karjanta befreien wollen und saß nun selbst in der Falle. Der Heimatpfleger hatte verloren. Er war eine Geisel der Arge, mit der sie die Solaner in Schach halten würde. Weisel würde dafür sorgen, daß er niemandem mehr gefährlich werden konnte. Glador ließ sich zu Boden sinken, wo er gerade stand. Er stützte den Kopf in die Hände, schloß die Augen. »Aus«, sagte er. »Es ist aus.« Er war hochintelligent, wußte, wann sein Spiel zu Ende war. Niemand konnte ihm jetzt noch helfen. Höchstens … Vielleicht arbeitete die Zeit für ihn. Plötzlich empfand er die Existenz der Solanokraten als letzten Rettungsanker für sein eigenes Leben. Er rechnete sich aus, daß sie in das entstehende Vakuum hineinstoßen und seine Arbeit mit anderen Mitteln und anderen Zielen fortsetzen würden. Irgendwann würden sie ihn befreien, wenn er bis dahin nicht verhungert oder liquidiert war. Ein Gedanke durchzuckte ihn, der ihn frieren ließ. Er hörte seine eigenen Zähne klappern und beherrschte sich mühsam. Die Solanokraten als Tarnorganisation für die Angehörigen der Arbeitsgemeinschaft? Bereit zum problemlosen Machtwechsel? Es fiel ihm ein, daß da noch ein anderer Name war, für den er sich
ebenfalls interessierte. Mitchmiller. Offensichtlich ein Einzelgänger ohne großen Unterbau, der auch auf seine Chance wartete. Mußte er mit ihm rechnen? Auch über ihn wollte er Erkundigungen einziehen. Ein Tag und eine Nacht vergingen, ohne daß sich etwas ereignete. Weisel kam nicht. Die Luft in dem Raum wurde schlecht, die Klimaanlage funktionierte nicht. Die kleinen, im Durchmesser kaum kopfdicken Belüftungsschlitze in den oberen Ecken waren geschlossen. Sie wollen uns auf bequeme Art und Weise aus dem Weg schaffen! erkannte Glador. Er hatte alle Hoffnung verloren und flüchtete sich in die Visionen seiner Macht. Als sich dann doch die Tür öffnete, achtete er nicht einmal darauf. Er war nicht Weisel, auch keiner von der Arge. Eine Frau stand vor ihnen und machte ihnen schweigend Zeichen, ihr zu folgen. Für Elvin Glador war es wie ein Traum, daß er wieder in seinem Unterschlupf saß. Hätte ihn jemand gefragt, er hätte nicht beantworten können, wie er hierher gelangt war. Er stierte immerfort auf die Frau, die mit ihm allein war und ihn in ihren Bann zog. Das also war sie! Ohne daß sie sich vorstellte, erkannte er sie. Brünett, mit einer Kombination voller Verwirrung und einem Gesicht voller Gegensätze. Keine besonders hübsche Frau und dennoch anziehend und interessant. Ein Durchschnittstyp mit einem geheimnisvollen Hauch. »Du hast gewußt, wo du uns finden würdest?« fragte der Heimatpfleger zögernd. »Es war leicht. Ich brauchte nur zu fragen, wo du hingegangen warst. Es gibt genug Solaner, die dich gesehen hatten.« Und sie hatten geglaubt, unbeobachtet gewesen zu sein. Elvin Glador ließ sich vom Nachhall ihrer weichen Stimme einfangen. Sie klang mädchenhaft, und doch hatte er eine
erwachsene Frau vor sich, deren Augen aufmerksam auf ihn gerichtet waren und ihn regelrecht durchbohrten. Unter ihrem Blick wurde ihm ungemütlich. »Ich danke dir«, brachte er hervor. Seine Stimme gewann an Festigkeit. »Wir sind ausgezogen, dich zu befreien. Dafür hast du uns geholfen.« »Elvin Glador!« Die beiden Worte aus ihrem Mund hörten sich wie ein Urteil an, wie eine Überzeugung. Der Heimatpfleger verstand plötzlich, daß auch sie den Kontakt zu ihm gesucht hatte. Sie wollte mit ihm in Verbindung treten, wie er das mit ihr zu tun beabsichtigte. »Elvin Glador, ich habe viel von dir gehört«, sagte Karjanta. »Du hast dir vorgenommen, die unmenschlichen Zustände in diesem Schiff zu beenden. Du stehst kurz vor deinem Erfolg. Deshalb ist es eine Selbstverständlichkeit für mich, dir zu helfen!« Sie schwieg, als erwarte sie eine Antwort darauf. Glador erhob sich aus seinem Sessel. Er nickte freundlich. »Wir danken dir«, erwiderte er. »Das Schicksal dieses Schiffes und seiner Bewohner hing an einem dünnen Faden. Du hast ihn verstärkt.« Er musterte sie fragend. Sie hielt den Abstand von etwa drei Metern zu ihm aufrecht. Karjanta zögerte, er stellte es an ihren Lippenbewegungen fest. Etwas schien die Frau zu irritieren. Dann sagte sie auf einmal: »Es ist Blut geflossen! Ein Lagerverwalter in der SZ-1 ist von Solanern getötet worden, weil er sich ihnen widersetzte, als sie seine Lager plündern wollten. Das darf nicht mehr geschehen!« Elvin Glador schaltete sofort. Er wußte, daß er jetzt keinen Fehler machen durfte. »Das war mir nicht bekannt«, entschuldigte er sich. »Die meisten Solaner, die auf meinen Befehl warten, sind bewaffnet. Aber sie tragen sie nicht, um andere Solaner zu töten. Sie wollen sich verteidigen!«
»Ich weiß, daß die Mitglieder der Arge keine Gewissensbisse haben. Sie werden töten, um zu überleben. Sie bereuen bereits, daß sie dich nicht sofort erschossen haben!« Glador verfärbte sich bei diesen Worten sichtlich. Er ärgerte sich über die Leichtsinnigkeit, mit der sie zur Hauptzentrale vorgedrungen waren. »Du bist kein Mann der Waffe, obwohl du viele technische Ausbildungen und Fertigkeiten mit dir bringst«, stellte Karjanta fest. »Versuche, unnötiges Blutvergießen zu vermeiden.« »Ich verspreche dir, alles zu tun, was in meinen Kräften liegt«, versprach Glador. Er hatte Magendrücken. Karjanta lächelte ihn verführerisch an. Sie hatte ihre Zurückhaltung abgelegt. »Es ist bekannt, daß ich alle technischen Probleme lösen kann, die auftreten. In jeder Beziehung. Wenn es irgend etwas gibt, dann sage es mir. Ich werde dich unterstützen!« Endlich ist es heraus, dachte Glador zufrieden. Sie steht auf meiner Seite. Damit hatte sich ein Problem von allein gelöst. »Das absolute Nichts, die Raumfalle«, murmelte er. »Es ist das, was mich am meisten beschäftigt. Wie können wir daraus entkommen?« Seine Frage war mehr rhetorisch. Er glaubte nicht, daß die Solanerin etwas dafür tun konnte. Schließlich war sie keine Zauberin. Karjanta faßte die Frage völlig normal auf. Sie nickte zustimmend. »Ich bin bereit, dir die Pläne für eine Maschine zu entwerfen, nach denen SENECA einen Hypervakuum-Verzerrer bauen kann«, eröffnete Karjanta ihm. Glador konnte es kaum fassen. »Was ist das?« fragte er vorsichtig. »Es ist ein Gerät, mit dem du eine Öffnung in dem Hypervakuum schaffen kannst. Bei dem totalen Nichts handelt es sich um ein Hypervakuum!« Woher wußte sie das? Wie kam sie dazu, eine solche Maschine zu
entwerfen? Wer bist du? wollte Glador sie fragen, aber er schluckte die Frage hinunter. Etwas anderes kam ihm in den Sinn. »Warum hast du die SOL nicht längst aus diesem Hypervakuum herausgeführt?« »Es hätte an den Zuständen im Schiff nichts geändert«, erwiderte sie, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Glador war verunsichert. Bedeutete das nicht, daß sie Interessen vertrat? Steckte sie hinter den Solanokraten? Er dachte wieder an die technischen Mittel, die ihn aus seiner Position hinausfegen konnten. Karjanta eine Spionin? »Für wen hast du bisher gearbeitet?« fragte er direkt. »Für keine der Gruppen, die sich um die SOL bemühen«, sagte sie, und er zeigte nicht, ob er ihr glaubte. Ihrem Versprechen, die Maschine zu entwerfen, traute er. Er bezog es in seine eigenen Pläne mit ein. »Ich werde mich jetzt zurückziehen und an die Arbeit machen«, teilte sie ihm mit. »Jedoch habe ich eine Bitte.« Sie erzählte ihm von Ahlnat und knüpfte ihren Wunsch daran. Ihre Worte zeigten Glador, daß sie über seine Ziele und seine nächsten Schritte sehr genaue Vorstellungen hatte. »Ich danke dir im Namen aller Solaner«, sagte er und beobachtete, wie sie sich mit wiegenden Schritten entfernte.
* Alles hing nur noch an ihm. Die Solaner vertrauten ihm und hofften, daß er sie führte. Sie behandelten ihn wie einen König, wie einen Erlöser. Sie erwarteten, daß er endlich handelte und wahrmachte, was er versprochen hatte. Noch war es nicht soweit. Noch mußte er einmal zu ihnen sprechen. Sobald sie ihn als die Person akzeptiert hatten, die in jeder
Situation unfehlbar war und immer eine Lösung wußte, durfte er das Signal geben. Er wußte, daß er dann keinen einzigen Gegner mehr in diesem Schiff hatte außer der Arge. Andere Widerstandsbestrebungen würden ihm nicht das Wasser reichen können. Wenn sich nicht einer in das gemachte Nest setzte? Elvin Glador sah ein, daß es höchste Zeit war, seine neue Organisation herauszubilden, damit sie reibungslos den Platz der Arge einnehmen konnte. Um sich herum versammelte er eine Gruppe aus zunächst zehn Personen, die in alle Funktionen und Geheimnisse des Schiffes eingeweiht waren und noch fehlendes Wissen von ihm erhalten würden. Diese Solaner waren seine verlängerten Arme, und über ihnen stand nur er, der alles wußte. Glador hatte auch schon einen Namen für sie. Er nannte sie Magniden, ein alter Begriff derselben Sprache, die die Solaner noch heute in Abwandlungen sprachen. Es waren die größten und wichtigsten, auch die erfahrensten. Er gab ihnen weiße, wallende Gewänder, die er seit langer Zeit vorbereitet hatte. Weiß war die Farbe der Weisheit. Die Magniden bezeichnete er als die Brüder der ersten Wertigkeit. Nach ihnen in der Hierarchie kamen die Haematen, eigentlich die Blutenden genannt. Sie waren die nächstgrößere Gruppe von vorläufig fünfzig Solanern. Wie ihr Name andeutete, waren sie für die Reinerhaltung des Blutes aller Solaner verantwortlich. Ihnen gab er Kombinationen in einem stählernen Blauschwarz. Geführt wurden die Haematen von wenigen Offizieren in silbernen Folienkleidung. Für sich hieß er sie Vystiden oder Vestiden, was soviel bedeutete wie Feuerträger oder Diener des Feuers. Haematen und Vystiden waren die Brüder der zweiten Wertigkeit. Die Brüder der dritten Wertigkeit bezeichnete er in Erinnerung an den Wunsch Karjantas als Ahlnaten. Sie sollten in Zukunft die Lehrer seiner Hierarchie sein und ähnlich wie die Priesterinnen der
VESTA über die Riten der Kasten und ihre Befolgung wachen. Sie erhielten soviel Wissen, daß sie in der Lage wären, die unteren Kasten in ihre Arbeiten einzuweisen und sie zu dirigieren. Den Ahlnaten gab er langfallende hellblaue Gewänder, wie er selbst eines trug. (Es war einer seiner Fehler, denn später würden die Ahlnaten eine Mentalität entwickeln, sie kämen in der Rangordnung direkt nach den Magniden oder noch vor ihnen). Die Riten, in denen er die Brüder der dritten Wertigkeit unterwies, hoben die Bedeutung ihres Tuns optisch hervor. Sie verblüfften die gewöhnlichen Solaner von Anfang an und ließen sie eine Zeitlang die wahren Erkenntnisse vergessen. Nach den Ahlnaten kamen die Pyrriden. Sie trugen hellrote Kombinationen und wurden besonders für den Aufenthalt in Beibooten außerhalb der SOL und für den Besuch fremder Welten oder Sternsysteme ausgebildet. In der SOL selbst erhielten sie keine Aufgabe. Pyrriden nannte er sie im Gedanken an die verschollene Space-Jet PYRRID. Damit schmeichelte er den Solanern erneut und wies sie darauf hin, wie dumm und töricht die Mitglieder der Arge waren. Als fünfte und letzte Kaste führte er die Ferraten ein. Sie waren die einfachen technischen Arbeiter, die Reparaturen und Wartungen zu erledigen hatten und ihre Anweisungen direkt von den Ahlnaten erhielten. Ihnen fehlte tiefergehendes Wissen um die technischen Zusammenhänge. Jeder konnte Ferrate werden. In vielen Dingen orientierten sie sich an den Ahlnaten, ihre Arbeit glich rituellen Dingen. Sie trugen einfache, dunkelblaue Uniformen. Glador trat vor die Solaner und weihte sie in das Kastensystem ein. Sie wußten bereits, welche Bewandtnis es damit hatte, und hießen seine Maßnahmen ohne Ausnahme gut. Daß er auf dem richtigen Weg war, hatten sie alle begriffen, und die Worte, die er ihnen voller Inbrunst jetzt entgegenschleuderte, ließen sie jede Vorsicht vergessen. »Das totale Nichts hält uns noch immer gefangen«, verkündete er
mit lauter Stimme. »Nicht mehr lange. Sobald wir die Arge aufgelöst und die Macht in der SOL übernommen haben, werde ich euch aus der unbekannten Falle herausführen. Die Voraussetzungen dafür habe ich bereits geschaffen!« Unbeschreiblicher Jubel brauste durch das Schiff. Die Solaner ließen ihn einfach stehen, ohne auf sein verblüfftes Gesicht zu achten. Erst nach einiger Zeit begriff er, daß er mit seiner Verkündung das Signal zur endgültigen Konfrontation gegeben hatte. Die Solaner sammelten sich und machten sich auf, die Hauptzentrale des Schiffes zu erstürmen. Elvin Glador aber zog sich zurück. Er vergaß sein Versprechen an Karjanta und hoffte, daß die Männer und Frauen mit der Arge kurzen Prozeß machten. Er schickte einen seiner Magniden aus, den Angriff auf Weisel zu führen. Wieder überkam ihn Unruhe, während er die auffallend leeren und ruhigen Korridore durchwanderte. Mit dem Zeitpunkt der Machtübernahme rückte auch jener näher, an dem sich die übrigen Gruppierungen gegen die Arge zeigen würden. Sie würden teilhaben wollen an der Macht oder versuchen, ihn zu verdrängen. Und wer ließ sich schon gern um die Früchte eigener Arbeit bringen. Glador beschloß zu kämpfen. Er rief eine kleine Schar der neuen Haematen herbei, bewaffnete sie mit allem Möglichen und wartete. Wartete auf Nachricht seiner Vertrauten, die in neuer Mission unterwegs waren. Sie hatten die Anweisung, schnell zu sein. Zwei Stunden nach dem Beginn der Kampfhandlungen um die Hauptzentrale erhielt er eine Botschaft. Zum ersten Mal erfuhr er Einzelheiten über die Solanokraten, über Mitglieder dieser Bewegung. Buhrlos gehörten dazu, stellte er überrascht fest. Der Name Mitchmiller wurde genannt. Ein Einzelkämpfer. Noch immer unterwegs. Bereit zum Griff nach der Macht. Und dann fiel ein Wort, das Elvin Glador aus seinem Sessel riß. Er verstand sofort, daß er möglicherweise die Macht über das Schiff
schon verschenkt hatte. Gefolgt von seinem Haematen verließ er seinen Aufenthaltsort. Er wollte dort nach dem Rechten sehen, wo seine Solaner ihre Beobachtungen gemacht hatten. »Was ist ein Simultantäter?« schrie er mit sich überschlagender Stimme. »Warum kann es mir keiner sagen?«
8. Es war aussichtslos. Sie konnten nichts mehr tun. Rehgys half Cleton Weisel ein wenig aus der Klemme. Sie stützte sich auf die Kontrollkonsole der Bildschirme. »Wir haben es von Anfang an gewußt«, sagte sie. »Seit fünf Jahren war es uns klar, daß wir eine Revolution nicht überstehen würden. Nur hat keiner gedacht, daß es so schnell gehen würde.« Es war eine Verkettung unglücklicher Umstände. Dem Phänomen Elvin Glador allein hätten sie widerstehen können. Aber die anhaltende Hilflosigkeit des Schiffes und der drohende Untergang in der gelben Riesensonne hatten die Gemüter mobilisiert. Dann war die SOL im totalen Nichts gestrandet, die Hilflosigkeit war durch äußere Umstände festgeschrieben worden. »Ich wünsche ihnen viel Glück«, rief Tanar Fridan durch die Zentrale. Sie konnten nicht feststellen, ob es gehässig oder ehrlich sein sollte. Weisel dröhnte dumpf: »Wir kämpfen, solange es geht!« Niemand widersprach ihm. Sie hatten alle ihr Bekenntnis zur Arge abgelegt. Ob sie sich daran hielten oder nicht, würden erst die letzten Stunden zeigen. Dann, wenn in der Zentrale der Kampf tobte. Weisel hatte gut lachen. Alle Nebenräume, die nur von der Zentrale aus betretbar waren, lagen bis unter die Decke voller Lebensmittel und Getränke. Zwei Toilettenkabinen waren zusätzlich
als Notbehelf herbeigeschafft worden. Die Zentrale selbst bildete ein einziges Waffenarsenal. Von einfachen Handstrahlern bis zu stationären Desintegratoren war alles vorhanden, die Energieanschlüsse waren geschaffen. Schwere Metallplatten standen bereit, die zusätzlich über das Eingangsschott geschweißt werden konnten. Der Chef der Arge hätte viel darum gegeben, wenigstens ein paar tragbare Schutzschirmprojektoren zu besitzen oder Schwerkraftneutralisatoren. Zu Beginn der langen Odyssee der SOL hatten sie in ausreichender Zahl zur Verfügung gestanden. Nichts war geblieben. Neue wurden nicht hergestellt, es gab keine entsprechenden Programme für die Robotfabriken mehr. Die alten konnten nicht repariert werden, da es an den Ersatzteilen fehlte. Die Arge hatte sich von Anfang an ihr eigenes Grab gegraben. Weisel beneidete seinen Nachfolger nicht um das Amt und die Würde, die SOL zu führen. Er wußte, daß er vor unüberwindlichen Schwierigkeiten stand. Gladors Mitteilung, er wisse einen Ausweg aus dem totalen Nichts, hielt er für Augenwischerei. Er wird die Selbstvernichtung des Schiffes meinen, dachte er. Das Kastensystem, es konnte eine zentralere Führung gewährleisten, als dies bei der Arge der Fall war. Es würde eine rein auf Befehle ausgerichtete Organisation sein. Eigeninitiative war nicht mehr gefragt. Weisel war ein Herrscher. Er hatte die Arge immer diktatorisch geführt. Anders hätte er sich bei den Solanern nicht durchsetzen können. Dennoch, was Glador verkündet hatte, war mehr. Noch klang es verlockend, aber wenn jetzt noch jemand kam, der kein Prediger, sondern Praktiker war und die neue Ordnung übernahm, dann war der Weg der Solaner vorherbestimmt. Es würde ein teuflischer Weg sein. Die totale Hierarchie würde aus den Solanern Marionetten machen. Ein Schiff voller lebendiger Roboter! Daß Elvin Glador selbst Techniker und ein vollendeter Praktiker
war, wußte Weisel nicht. Ein alter Spruch der Terraner fiel ihm ein, den die meisten im Schiff nicht mehr kannten. Nur ein paar Alten aus der Anfangszeit war er noch geläufig. Sie kommen vom Regen in die Traufe! Es hätte vielleicht genützt, wenn man die Solaner gewarnt hätte. Er selbst konnte es nicht tun, ihm würde keiner glauben. Und es war längst zu spät dazu. Alarm gellte durch die Zentrale. Die Bildschirme zeigten Unmengen von Solanern, die sich durch alle Korridore und Schächte der Hauptzentrale näherten. Innerhalb kürzester Zeit war sie von allen Seiten eingeschlossen. Die Computer errechneten, daß etwa vierzigtausend Solaner in Richtung Zentrum drängten. »SENECA!« versuchte Weisel es ein letztes Mal. »Halte sie auf! Riegle den betroffenen Sektor ab!« Die Biopositronik reagierte nicht. Wie schon so oft seit dem Jahr 59 interessierte sie sich nicht für die Vorgänge im Schiff. Es war, als hielte sie sich die Augen und Ohren zu. Bleich und schweigsam verfolgten die Techniker in der Zentrale, wie die Solaner stetig näherrückten. Ein Verteidigungsring nach dem anderen brach zusammen und wurde überrollt. Weisel hatte die genauen Zahlen im Kopf. Über dreitausend Techniker waren dort draußen. Tot, verwundet oder gefangen, falls die Solaner überhaupt Gefangene machten. Die Bildschirme zeigten die ersten Szenen in unmittelbarer Nähe der Zentrale. Es gab Überläufer in Masse. Nach einer halben Stunde sah man kein Abzeichen der Arge mehr an irgendwelchen Kombinationen. »SENECA!« diesmal war Fridan es, der schrie. Die Augen des Technikers funkelten bösartig. Weisel hatte keine Ahnung, was er beabsichtigte. »Automatische Abwehr einschalten!« befahl Weisel. Eine Technikerin tat es.
Nichts rührte sich. Die Waffen, die um die Zentrale herum als Sicherheit eingebaut waren, sprachen nicht an. Das hatte nichts mit SENECA zu tun. »Sabotage!« schrie Weisel. Er stürzte an die Kontrollen, versuchte alles Mögliche. Schweißgebadet blickte er auf die Bildschirme. Draußen waren Männer. Sie machten sich am Eingangsschott zu schaffen, brachten flache Gegenstände an. Haftminen! »Zurück!« brüllte der Chef der Arge. »Weg von der Tür! Schießt auf alles, was hereinkommt!« Ein Donnern und Bersten ließ ihn verstummen. Er warf sich zu Boden. Die Fetzen des Schotts flogen quer durch die Zentrale. Ein scharfkantiges Stück bohrte sich dicht neben Weisel in den Boden und riß den Plastikbelag über eine Länge von zehn Metern auf. Erste Schüsse fauchten. Spitze Schreie erfüllten die Luft. Durch das zerstörte Tor drängten bis an die Zähne bewaffnete Solaner. Sie verteilten sich nach allen Seiten. Ab und zu brach einer von ihnen zusammen. Auch die Solaner feuerten. Sie schickten eine Salve nach der anderen in die Reihen der Techniker. Und dann herrschte übergangslos Stille. Die Arge hatte das Feuer eingestellt. Sie gab den Kampf auf und ließ die Waffen fallen. Der Kampf um das Schiff war entschieden. Ein einzelner Schuß fiel noch. Es war das letzte, was Weisel in seinem Leben noch hörte. »Es lebe Elvin Glador!« brüllte Tanar Fridan. Weisel nahm es nicht mehr wahr. Cleton Weisel, 62 Jahre lang Chef der Arge SOL, hatte das Ende der Welt erreicht. Seiner Welt. Es war eine Welt voller Irrtümer gewesen.
*
Mitchmiller auf dem Weg zur Macht. Es war Zeit! Glador hatte die Initiative ergriffen. Die Solaner gingen gegen die Hauptzentrale vor. Alles war vorbereitet. Mitch eilte zum Antigrav und ließ sich nach oben tragen. Die Beförderungsgeschwindigkeit war ihm viel zu langsam. Er war ungeduldig und bewegte sich unruhig. Er geriet aus dem Gleichgewicht und stieß mit der Schulter gegen die Schachtwand. Als er endlich den Ausstieg im zwölften Deck erreichte und festen Boden unter den Füßen hatte, rannte er sofort weiter. Noch fünf Minuten, im Spurt vielleicht vier. Der Simultantäter funktionierte. Ein kurzer Probelauf hatte gezeigt, daß sie ihn würden einsetzen können. Noch immer wollte es der Solaner aus Halberland nicht glauben. Cliff und Ponder hatten das kopfgroße Gerät konstruiert. Ausgehend vom technischen Stand der SOL hätte er es nicht für möglich gehalten, daß Solaner so etwas bauen konnten. Karjanta, ja ihr hätte er es zugetraut. Aber Cliff und Ponder? Er schüttelte im Laufen den Kopf. Es hatte keinen Sinn, sich darüber Gedanken zu machen. Später, wenn alles ausgestanden war, konnte er sie fragen. Vielleicht waren sie dann bereit, nähere Auskünfte zu geben. Karjanta, ich muß sie unbedingt sehen. Noch heute! Es war nötig. Wenn jemand helfen konnte, die SOL in vernünftige Bahnen zu lenken, dann war sie es. Mitchmiller hatte in den vergangenen Stunden keine Zeit gehabt, sich zu informieren. Er wußte nichts von der Zusammenarbeit zwischen Karjanta und Glador. Er rechnete fest damit, daß der Heimatpfleger Schiffbruch erlitt. Gegen den Simultantäter kam er nicht an. Mitchmiller bog ab, wechselte in einen Seitengang über, der in
einen Parallelkorridor führte. Dort lag die Halle, in der sie arbeiteten. Dort würden sie die ersten Gefangenen unterbringen. Keine Gefangenen in dem Sinn, nur Solaner, die aus taktischen Gründen aus dem Verkehr gezogen und vorübergehend paralysiert werden mußten. Glador fühlte sich bereits als Sieger. Er schien nicht im Traum daran zu denken, daß die Solaner ihm nur folgten, weil er der lauteste gewesen war, Sie wären auch jedem anderen Heilsverkünder hinterhergelaufen. Die Tatsache, daß Glador die Bestimmung der Solaner als Weltraummenschen noch radikaler und absoluter durchführen wollte als seine Vorgänger, hatte ihn zum Volkshelden prädestiniert. Er gab den Solanern den seelischen Halt, den sie so lange vermißt hatten. »Alles Irrwege!« keuchte der Solaner. In Sichtweite tauchte das vordere der beiden Hallentore auf. »Die Menschen in diesem Schiff müssen unbedingt zur Demokratie zurückkehren!« Das war sein Ziel. Für dieses Ideal lebte und kämpfte er. Um dieses Ziel zu erreichen, hatte er die Idee der Solanokraten geboren. Ihre Anhängerschaft war nicht groß, aber sie war gut eingeschworen. Sie besaßen Mitglieder in allen Teilen der solanischen Bevölkerung. Der harte Kern bestand aus zweiundzwanzig Personen. Mitchmillers Taktik war eindeutig. Er würde Glador einen Schreck einjagen, würde ihn einfach zu sich holen und ihm ins Gewissen reden. Dann würde er ihn wieder wegschicken. Glador konnte ihm nichts antun, der Simultantäter verhinderte es. Mitch stellte sich vor, wie Troilus, Cliff und die anderen in der Halle die Bildschirme beobachteten, auf Lebensmittelkisten sitzend. Bildschirme, die die Hauptzentrale zeigten und das, was dort vorging. Ponder würde den Simultantäter einschalten und ihm codierte Anweisungen eintippen. Ein Verwirrspiel. In der Zentrale würden Solaner plötzlich entwaffnet und umstellt,
ohne jemanden zu sehen. Nur aufgrund der Tatsache, daß die Solanokraten in der Halle einen Kreis bildeten, der die betreffenden Personen entsprechend des Hallenkoordinatensystems in der Überlagerung einschloß, würde den Raum austauschen, und die Betroffenen erschienen umgehend in dem Kreis in der Halle, wo sie problemlos überwältigt werden konnte. Es war eine Arbeit, Tausende so zu behandeln, aber das brauchte es gar nicht. Die wichtigsten taten es auch. Mitchmiller erreichte den Eingang. Der Öffner sprach an, die Tür glitt auf. Mitch trat ein. Er blieb sofort stehen. Ein dumpfer Schrei kam aus seiner Brust. Alle lagen sie am Boden. Dort drüben Troilus, seine Frau und die Kinder. Die Buhrlos hatten eingeschlagene Schädel. Am zerschmetterten Bildschirm lagen Cliff, Ponder, Barbarin und Lennart. Die Brandflecken auf ihren Kombinationen stammten von Strahlwaffen. In der Mitte der Halle lag der kopfgroße Simultantäter. Zerstört! Es mußte den Männern gelungen sein, ihn zu vernichten, bevor er in falsche Hände geriet. Mitch fühlte, daß seine Knie nachgaben. Seine Gedanken kreisten immer schneller. Ihm wurde schwindelig. Er hörte hinter sich ein Geräusch und drehte sich schwerfällig um. »Glador!« brachte er hervor. »Elvin Glador!« Der Heimatpfleger trug eine schwere Waffe im Arm. Sie zeigte auf Mitchs Brust. »So haben wir den letzten von euch auch noch«, zischte er leise. Er deutete auf die Kisten und Bildschirme. »Was soll das alles? Was hattet ihr vor? Was war das für ein Gerät, das wir vernichteten?« Sein Blick war fast ängstlich, den er auf die Überreste warf. Mitchmiller suchte krampfhaft irgendwo Halt. Er fand keinen. In
seinen Augen erschien ein wahnsinniges Flackern. »Ihr habt den Simultantäter zerstört? Ihr wart das?« Er lachte schrill, sank in die Knie. »Mitchmiller, welche sind deine Ziele?« schrie Glador! Vor Mitchs Augen verschwamm die Umgebung. Er sah Glador und die Männer in den dunkelblauen Uniformen nicht mehr. Nur noch die Gestalten seiner Kameraden. Edna, die Kinder, tot. »Warum?« stammelte er. »Warum habt ihr die Kinder getötet?« »Wie heißt der Buhrlo?« Gladors Stimme war glashart. Mitchmiller streckte die Hände nach vorn, halb ohnmächtig vor Zorn. Seine Finger krallten sich zusammen, als wollten sie den Heimatpfleger erwürgen. »Glador, du bist ein Idiot«, brachte er einigermaßen verständlich hervor. »Du hast die wertvollste Waffe zerstört, die es auf der SOL je gegeben hat. Du bist ein kompletter Idiot!« Elvin Glador schoß. Er traf Mitchmiller mitten in die Brust, und der Körper des Solaners kippte hintenüber. Glador wandte sich abrupt ab. An der Spitze der Haematen kehrte er in die Nähe der Hauptzentrale zurück. Er erfuhr es nie, welch wichtige Persönlichkeit Mitchmiller gewesen war. Er konnte sich nicht damit brüsten, die letzten Aufrechten getötet zu haben, die letzten Demokraten, die wußten, was Demokratie überhaupt war. Es war die letzte Chance gewesen für die SOL. Mit Mitchmiller war sie endgültig vertan. Die letzte Chance in dieser Geschichte des Generationenschiffs.
* Es wimmelte von blauen Uniformen. Die Hauptzentrale des Schiffes befand sich in der Hand der Solaner und wurde von Haematen beaufsichtigt. Zwischendurch leuchteten die silbernen Uniformen
mehrerer Vystiden. Sie schrien Befehle und versuchten, Ordnung in das Getümmel zu bringen. Auf einer Antigravliege transportierten zwei Männer den letzten Toten ab. Es war Cleton Weisel. Er hatte eine Wunde im Rücken. Es hieß, er sei von seinen eigenen Leuten umgebracht worden. Über die Interkomanlage forderten die Vystiden alle Solaner auf, sich wieder in ihre Wohnbereiche zurückzuziehen. Langsam leerte sich der Bereich um die Schiffsmitte. Rund um die 500-Meter-Kugel SENECAS zogen Wachen auf. Glador hatte seine Getreuen genau in ihre Rolle eingewiesen. Nach dem Kampflärm wirkte das leise Gemurmel der Solaner in der Hauptzentrale beruhigend. Die Trauben aus Männern und Frauen, die noch immer herumstanden und das Wunder gar nicht glauben konnten, verteilten sich langsam. Es wurde ruhig. Drei Männer in weißen Gewändern betraten den Schauplatz der Auseinandersetzung. Sie schritten zielbewußt auf die Kontrollanlagen zu, stellten sich vor den integrierten Mikrofonen auf. Vystiden mit Elektrostäben flankierten sie. »Elvin Glador!« riefen sie gemeinsam. Überall im Mittelteil und den zwei SOL-Zellen waren sie zu hören. »Die Magniden erwarten dich in der Zentrale. Willkommen Heimatpfleger!« Glador hatte sie nicht in alle Einzelheiten eingeweiht. Er wollte sich fortan nicht mehr Heimatpfleger nennen. Das hatte er nur getan, um sein Ziel zu erreichen. Jetzt war er auf dem Weg zu den Magniden, die ihn gerufen hatten. Er fühlte sich als Sieger. Niemand in dem großen Schiff besaß die Macht, um sein Ziel zu erreichen. Überall, wo er mit seinen Haematen auftauchte, wurde er freudig begrüßt. Die Solaner wußten gar nicht, was sie alles tun und sagen sollten, um ihrer Erleichterung Ausdruck zu geben. Manche riefen sinnloses Zeug. Ein Volksfest bahnte sich an. Es fand ohne Prunk und Völlerei
statt. Es wurde gesungen, geschrien und getanzt. Für Stunden verwandelte sich die SOL in einen Hexenkessel. Niemand kümmerte sich um etwas. Ruhe entstand, und in dieser Ruhe vollzog sich der schnelle Wandel. Elvin Glador manifestierte seine Macht. Alles, was er versprochen und angedeutet hatte, nahm eine Realität an, die von den meisten vorerst nicht wahrgenommen wurde. Sie sahen nur, daß sich etwas tat. Und weil Glador es tat, war es gut. Der Heimatpfleger erreichte die Zentrale. In seiner Begleitung befanden sich weiße Gewänder, dunkelblaue, stahlblaue, rote und silberne Uniformen. Auch hellblaue Gewänder waren zwischendurch zu erkennen. In einer geordneten, nach Rängen gestaffelten Formation nahmen sie Aufstellung. Gespannt beobachteten die Solaner, was sich jetzt abspielen würde. Die zehn Magniden in den weißen Umhängen traten vor. Sie faßten sich an den Händen und begannen zu sprechen. »Die Magniden, Vystiden, Haematen, die Ahlnaten, Pyrriden und Ferraten begrüßen dich als den neuen Herrn des Schiffes«, sagten sie feierlich. »Du hast sie auf deinen Befehl eingeschworen. Sie sind bereit, zu tun, was du ihnen gebietest!« Elvin Glador hob seine Arme, wie er es immer getan hatte, wenn er seine magere Gestalt aufwerten wollte. Er breitete die Arme aus, als wolle er alle Anwesenden umfassen. Wie ein Fels verharrte er, die Augen nach oben gerichtet, irgendwohin in die Unendlichkeit. »Die totale Hierarchie hat den Sieg errungen«, verkündete er mit tiefer Stimme. »Die SOL hat eine neue Regierung. Eine neue Zeit bricht an. Solange ich lebe, will ich für das Schiff und seine Erhaltung arbeiten.« Von der Freiheit und den Zielsetzungen der Weltraummenschen sagte er nichts mehr. Er vereidigte die Mitglieder der fünf Kasten, schwor sie auf seinen
Namen ein. Er war jetzt die Verkörperung der SOL, auf die alle Schiffsbewohner zu schauen hatten. Noch taten sie es mit Begeisterung. Die totale Hierarchie aber nannte er SOLAG.
9. Sie waren unter sich. Glador, die zehn Magniden, die Vystiden und ein paar Haematen, die den Eingang bewachten. Noch immer trug der Heimatpfleger das hellblaue Gewand. Bald jedoch würde er es ablegen und sich eine Kleidung beschaffen, die ihn von den Angehörigen der Kasten unterschied. »Ich bin der Bruder ohne Wertigkeit«, verkündete er. »Ich bin der erste High Sideryt der SOL.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und musterte die Angehörigen der SOLAG der Reihe nach. Fast alle Gesichter waren ihm schon bekannt. Glador hatte es geschafft. Seine Augen leuchteten im Triumph des Sieges. Niemand konnte ihm widerstehen, dem High Sideryt. Für einen kurzen Augenblick erinnerte er sich an seine Angstgefühle. Nein, es gab niemanden, der ihm die Macht streitig machen konnte. Mitchmiller. Lächerlich! Der Solaner hatte ihn narren wollen. Er hatte von einem wertvollen Gerät gesprochen, dem Simultantäter. Bestimmt hatte er versucht, ihn zu bluffen. Der High Sideryt strich das Erlebnis aus seinem Gedächtnis und wandte sich den anliegenden Dingen zu. Er gab den Magniden Befehle. Diese leiteten sie an die Vystiden weiter. Während mehrere hundert Solaner eingekleidet wurden und Uniformen der SOLAG erhielten, entstanden überall im Schiff erste Überwachungszentralen mit angeschlossenen Mannschafts- und
Aufenthaltsräumen. Sie waren in erster Linie für die Pyrriden und Ferraten gedacht, die dort ausgebildet würden. Glador schuf aber auch ein Zentrum für die höheren Kasten, für die Vystiden und Haematen und einen besonderen Sektor für die Lehrer, die Ahlnaten. Eine Gruppe aus sieben noch funktionsfähigen Robotern tauchte auf. Sie errichteten auf dem Korridor neben der Hauptzentrale einen abgegrenzten Bereich und schnitten Wände auf, ließen Türen verschwinden. Sie bauten eine kleinere Kommandozentrale auf mit zwei abgeteilten Kabinen und installierten in ihr ein Computerterminal, das mit der Positronik der Hauptzentrale nebenan gekoppelt wurde. Sicherheitsschaltungen sorgten dafür, daß das Terminal autark blieb und von außen nicht manipuliert werden konnte. Die Roboter schufen sieben Podeste in diesem neuen Raum, und auf das eine setzten sie einen Thron. Aus der Wohnung Gladors schafften sie massive Möbel herbei. Der High Sideryt nannte sein neues Domizil seine »Klause«. Die Roboter behielt er bei sich als seine persönliche Leibwache. Er programmierte sie auf seinen Befehl. Sie nahmen nur Anweisungen von ihm selbst entgegen. Glador nahm die Klause in Besitz und bestellte die Magniden zu sich. »Wozu der Thron?« fragten sie verwundert. »Und wozu die restlichen sechs Podeste?« »Der Thron ist das Symbol meiner Macht«, erklärte er ihnen im Tonfall eines Lehrers gegenüber ungelehrigen Schülern. »High Sideryt bezeichnet den höchsten Punkt über der Ebene des Betrachters, ist gleichzeitig aber auch etwas, das über das Begriffsvermögen eines einfachen Menschen geht. Der Träger dieses Namens ist einer, der über allen anderen steht und gleichzeitig einen wesentlich höheren Horizont besitzt als alle.« Auf die zweite Frage gab er ihnen keine Antwort. Tief in seinem
Innern schlummerte ein Plan, der über die Vorstellungskraft selbst der Magniden ging. Er träumte davon, daß eines Tages sieben Männer in Thronen auf diesen Podesten sitzen würden. Siebenmal Elvin Glador. Sechs Duplikate seiner selbst, und alle unsterblich oder jederzeit durch ein neues Duplikat ersetzbar. Glador schickte die Magniden hinaus und befahl ihnen, dafür zu sorgen, daß sich alle Solaner in ihre Wohnbereiche zurückzogen. Auch die Buhrlos durften in den nächsten fünf Stunden das Schiff nicht verlassen. Die SOLAG handelte. Entsprechend der Eile, die geboten war, ging sie nicht besonders zimperlich vor. Mancher Ferrate oder Kastenbruder erntete böse Blicke oder gar giftige Worte. Dennoch befolgten die Solaner Gladors Anweisung. Noch sahen sie in ihm den Befreier. Seine Maßnahmen bedeuteten etwas, wenn sie auch nicht wußten, was es war. Sie sollten es erfahren. Nach Eingang der letzten Klarmeldung handelte der High Sideryt. Er stellte unter Beweis, daß er kein Zauderer, sondern ein Praktiker war, wie sie ihn sich wünschten. Glador kam in die Zentrale. Noch erhielt er keine Verbindung mit SENECA, aber er hoffte, daß dies in absehbarer Zeit der Fall sein würde. Er machte sich seine eigenen Gedanken zum Schweigen der Biopositronik. Bildschirme flammten auf. Sie zeigten die Durchgänge vom Mittelteil zu den beiden SOL-Zellen. Vystiden mit schußbereiten Waffen waren dort in Stellung gegangen. Weit und breit war kein Solaner zu sehen. Elvin Gladors Finger eilten über die Tasten der Kontrollanlagen, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Lampen leuchteten auf, die noch nie in Betrieb gewesen waren. Nach 64 Jahren Ruhe funktionierten sie noch. Ein Rumoren ging durch das Schiff. Maschinen sprangen an und bewegten die riesigen Schotte. Zeitlupenhaft schoben sie sich
zwischen die Durchgänge, jeweil zwei. Eines am Mittelteil, eines an der SOL-Zelle. Mit singendem Schaben rasteten sie ein, die Sperrverriegelung klickte. Langsam liefen die Maschinen aus. »Ab sofort wird es keinen freien Durchgang für Solaner mehr geben«, verkündete Glador. »Ich verhänge eine Ausgangssperre über alle Wohnbereiche. Die Bewohner des Schiffes werden neu eingeteilt und nach Kenntnissen klassifiziert!« Nur die Angehörigen der SOLAG konnten in Zukunft zwischen den einzelnen Schiffszellen hin und her pendeln, um ihre Aufgaben zu erfüllen. In der Nähe des Ausgangs trat ein Bruder der ersten Wertigkeit zu einem Vystiden in seiner silbernen Uniform. »Ich kenne dich von früher her«, sagte der Magnide Raibohm zu Tanar Fridan. »Ich werde ein wachsames Auge auf dich haben!«
* Alle warteten sie. Die SOLAG kontrollierte die Lage und hoffte, daß Glador bald seine unwahrscheinliche Ankündigung in die Tat umsetzen würde. Die Solaner, aufgeschreckt durch die Abschottung der SOL-Zellen, begannen sich zu fragen, was eigentlich vorging in diesem Schiff. Der High Sideryt selbst war Psychologe genug, um zu wissen, daß er nicht zu lange zögern durfte. Auch er wartete. Glador hatte Haematen ausgeschickt, die Karjanta suchen sollten. Die Solanerin war jedoch unauffindbar. Dabei hatte er eine Überraschung für sie. Er wollte sie zur Magnidin machen mit der Nummer 11. Ihr technisches Gespür, ihre Fähigkeit, die weit über sein eigenes Wissen hinausging, machte sie für die SOLAG unentbehrlich. Gleichzeitig wollte er sie ständig unter seinen Augen haben. Karjanta blieb verschwunden, und der High Sideryt machte sich auf in seine Klause, um das Warten mit Überlegungen zu anderen
Dingen zu verkürzen. Er achtete dabei nicht so sehr auf seine Umgebung und setzte sich in seinen Thron. Plötzlich spürte er eine Bewegung hinter seinem Rücken. Er fuhr herum. Sie war es! »Was ist?« rief er. »Hattest du Erfolg?« Karjanta lächelte geheimnisvoll. »Wie man es nimmt«, flüsterte sie. »Es ist mir gelungen, mit SENECA gegen dessen Willen in Kommunikation zu treten. Daraus haben sich einige Vorteile ergeben!« Die Mitteilung riß den High Sideryt aus seinem Sessel empor. Er streckte seine Hand nach Karjanta aus, doch sie wich zur Seite und stelle sich auf das übernächste Podest. »High Sideryt nennst du dich«, stellte sie fest. »Ein schöner Name. Auch ich kenne einen Namen, der sehr schön ist. Du solltest ihn übernehmen.« »Die Pläne, was ist mit den Plänen!« sagte Glador energisch. Er fühlte, sie wich ihm aus, wollte ihn auf die Folter spannen. »Die Zeit drängt, ich muß mein Versprechen den Solanern gegenüber einlösen«, redete er ihr ins Gewissen. »Also gut«, antwortete die Solanerin. »Die Pläne sind fertig. Sie sind in SENECA gespeichert und können von dort abgerufen werden. SENECA wird ein entsprechendes Gerät herstellen, daß ich als Hypervakuum-Verzerrer bezeichnet habe. Es wird der SOL ein Entkommen aus dem Hypervakuum ermöglichen.« »Umsonst, alles umsonst!« schrie Glador. »Wir kommen an SENECA nicht heran! Er antwortet uns nicht!« Karjanta hielt ein stabförmiges Gebilde in Händen, das mit silbern schimmernden Lamellen bestückt war und aussah wie ein Elektrostab, wie ihn die Pyrriden in ihrer Ausrüstung hatten. Sie hielt ihm das Gerät hin. »Es ist ein speziell programmierter Codegeber, der nur auf den jeweiligen High Sideryt anspricht«, erklärte sie. »Mit ihm kannst du jederzeit mit SENECA in Verbindung treten, wenn du seiner Hilfe
bedarfst. Mit ihm kannst du auch den Spezialspeicher für deinen Nachfolger programmieren. Es könnte ja der Fall sein, daß eines Tages die Magniden um deinen Thron streiten!« Oh nein, auf keinen Fall, wollte Glador rufen. Er hatte ja ganz andere Pläne. Er wollte nicht an Altersschwäche sterben und dieses Zepter, den Codegeber, aus der Hand legen. Für einen anderen. Karjanta mußte helfen! Der High Sideryt nahm das Gerät in Empfang und steckte es unter sein Gewand. »Ich möchte dich in den Kreis der Magniden aufnehmen«, sagte er, doch Karjanta lachte darüber. Übergangslos wurde sie ernst. »Ich bin nicht geeignet für ein solches Amt«, lehnte sie ab. »Es widerstrebt mir, Befehle zu geben. Ich helfe, wo Not ist!« Glador überlegte verzweifelt, wie er sie fest an sich binden könnte. Es fiel ihm nichts ein. »Ich danke dir für alles«, brummte er schließlich. »Was kann ich für dich tun?« »Ich habe einen schönen Namen für dich!« erinnerte sie ihn. »Es ist mir gelungen, in SENECA eine Macht zu speichern, die sehr wertvoll ist. Ihr dürft sie nur dann einsetzen, wenn es euch selbst unmöglich geworden ist, die Probleme im Schiff aus eigener Kraft zu lösen. Ein tödlicher Kampf wie der vergangene soll für alle Zeiten vermieden werden. Diese Macht sind die Troiliten. Es sind Energiewesen, die immer zu dritt auftreten. Sie folgen der Programmierung SENECAs und können nur durch SENECA oder den High Sideryt aktiviert werden.« »Wo sind diese Kunstwesen?« »In SENECA. Sie gehören fest zu deinem Gefüge der SOLAG, sind wichtiger als die einfachen Soldaten. Sie sind deine ›Fünfte Kolonne‹.« Elvin Glador versank in Nachdenken. Nach einer Weile kehrte er zu seinem Sessel zurück und setzte sich wieder hinein.
»Gut«, sagte er, »ich werde sie in die SOLAG aufnehmen. Als Brüder der fünften Wertigkeit. Die Ferraten rutschen damit auf den sechsten Rang. Ich werde verkünden, daß es sie gibt, aber nie wird sie jemand zu Gesicht bekommen.« Eines Tages würde er das Geheimnis ihrer Entstehung mit ins Grab nehmen, wenn er auch glaubte, bald unsterblich zu sein. Niemand würde es je erfahren. Aber das Gerücht um die Troiliten würde bleiben, die fünfte Kaste würde existieren. Vielleicht wurde sie eines fernen Tages gebraucht. Karjanta eilte zur Tür. Er wollte sie aufhalten. »Ich habe keine Zeit«, rief sie über die Schulter zurück. »Vielleicht sehen wir uns bald wieder!« Wie bist du hereingekommen, trotz der Roboter! wollte er sie noch fragen, aber da war Karjanta bereits draußen. Die geheimnisvolle Solanerin verschwand, und er fragte sich immer wieder, ob er das nicht alles geträumt hatte. Der Codegeber in seiner Hand war real. Glador machte sich daran, die SOL aus dem Hypervakuum zu führen, während Karjanta die Halle und Mitchmiller fand. Beim Anblick des Toten und der vielen unschuldigen Opfer warf sie sich zu Boden und beugte sich über Mitch. Ihre Gedanken jagten sich. Sie schrie: »Glador, ist das deine neue Herrschaft?« Karjanta tat etwas, was sie bisher immer vermieden hatte. Sie berührte Mitchmiller, und Mitchmiller löste sich auf. Karjanta verließ die Halle, schritt die SOL entlang und tauchte irgendwo unter. Es war, als hätte es sie nie gegeben.
* EPILOG
Elvin Glador schaffte es, die SOL aus dem Gefängnis des totalen Nichts hinaus in den vertrauten Weltraum zu führen. Damit festigte er seine Position und die Macht der SOLAG endgültig. Gleichzeitig aber vervollständigte er sein System der totalen Hierarchie in einer Weise, die niemand hatte ahnen können. Er dehnte sein Kastensystem auf alle Solaner aus, steckte sie in neue, separate Wohnbezirke und gliederte sie ein in ein neues System der Abhängigkeit, das ihnen gerade das Essen, Schlafen und Arbeiten erlaubte. Er brachte die Solaner gegen sich auf und wußte, daß es ihm und der SOLAG Mühe bereiten würde, die Solaner im Zaum zu halten und kein neues Chaos zu entfesseln. Je stärker die Beschränkungen für die Masse waren, desto besser konnte er sie dirigieren. Im Prinzip war es ihm egal, ob sie ihn Diktator nannten oder High Sideryt. Letzterer Name sagte mehr aus, deshalb gefiel er ihm. Glador lehrte die Ahlnaten und alle anderen Kasten ihr Geschäft. Er bildete sie in seinem Sinn aus, und sie faßten Fuß in dem riesigen Schiff. Er ließ Tanar Fridan heimlich verschwinden, und so wies nichts mehr auf die früheren Zeiten und auf die Arge hin. Die Erinnerung an jene Zeit geriet langsam in Vergessenheit. Glador befahl es. Und Karjanta? Tatsächlich hat keiner sie mehr gesehen seit jenem Zeitpunkt, da die SOL wieder im Normalraum erschien.
* Sanny hob den glühend heißen Kopf vom Logbuch empor. Ihre Augen brannten vom intensiven Lesen. Die entscheidende Wende in der tragischen Geschichte eines Generationenschiffs, das war es, was sie erfahren hatte. Ein Kulminationspunkt in der Entwicklung.
Die Molaatin kannte die Zustände unter der SOLAG aus eigener Anschauung. Sie hatte sie unter der Herrschaft Chart Deccons noch am eigenen Leib erlebt. Für kein intelligentes Wesen war es ein Spaß, als Monster gejagt und beschossen zu werden. Jetzt wußte sie auch dafür den Grund. Gladors Lehre von der Reinheit des Blutes, die den Haematen ihren Namen eingebracht hatte. Auch in der SOLAG hatte es im Lauf von fast hundertfünfzig Jahren Verschiebungen und Abweichungen gegeben. Am besten hatten eigentlich die Ahlnaten ihre ursprünglichen Aufgaben beibehalten. Und die Magniden. Bei den übrigen Kasten war nicht mehr sehr viel von den Riten ihrer Lehre zu sehen gewesen. Vielleicht hatten sie sich zu Beginn auch gar nicht so entwickelt, wie Glador das ursprünglich vorgehabt hatte. Sanny versuchte herauszufinden, wann der erste High Sideryt gestorben war. Es ging aus dem Text nicht hervor. Sie hätte weiterlesen müssen. Ob es irgendwo verzeichnet war, wußte sie nicht. Höchstens SENECA hätte ihr helfen können. Die Molaatin kannte sich mit menschlichen Handschriften nicht besonders gut aus. Dennoch hatte sie festgestellt, daß der Bericht von zwei verschiedenen Solanern stammte. Die Abschnitte über Glador und Karjanta, die Hinweise über das Hypervakuum und die Troiliten, sie stammten vom ersten High Sideryt selbst. Der übrige Bericht schien von einer anderen Person, die die Geschehnisse aus eigener Beobachtung kannte, hinzugefügt oder drum herum geschrieben worden zu sein. Ein Name war nicht vermerkt. Chybrain, danke! dachte Sanny. Sein Hinweis war richtig gewesen. Sie hatte die Stelle gefunden, an der ein Hypervakuum auf die SOL Einfluß genommen hatte und das Schiff mit Hilfe einer Maschine daraus befreit worden war. Und da war noch etwas ganz anderes, was die Molaatin bereits beim Lesen wachgerüttelt hatte. Etwas Großartiges. Chybrain hatte auch darüber gesprochen, aber erst jetzt wurde ihr klar, was es
eigentlich bedeutete. Karjanta hatte damals die Pläne in SENECA gespeichert. Sie mußten noch vorhanden sein. Dann wehe dem Hypervakuum und dem Flekto-Yn. Wehe HiddenX! Die Molaatin sprang auf und eilte hinaus. Sie besorgte sich eine kleine Antigravscheibe und transportierte das Logbuch hinüber in die Hauptzentrale. Sie übergab es Atlan. Eilig kehrte sie in ihre Kabine zurück. Sie hätte SENECA von der Zentrale aus anrufen können, aber sie hatte Mühe, alle ihre Gedanken zusammenzuhalten. Sie mußte allein sein und sich konzentrieren. Sanny rief SENECA. Die Biopositronik meldete sich sofort. »Ja, Sanny?« In abgehackten Sätzen berichtete sie von ihrer Entdeckung und dem, was sie von Karjanta über die Pläne gelesen hatte. »Es tut mir leid, aber davon ist mir nichts bekannt«, erklärte SENECA. Sanny erschrak. »Es muß einen Hinweis geben!« beteuerte sie. »Das Wissen über das absolute Nichts und die Pläne waren in dir gespeichert!« SENECAS berühmtes »Das wüßte ich aber!« blieb aus. Statt dessen räumte er ein: »Ein Teil meiner Speicherkapazität aus jener Zeit wurde irgendwann durch einen unbekannten Einfluß entfernt, gegen den ich auch mit meiner Abschirmung nichts ausrichten konnte!« »Dann ist das Wissen verloren. Wenn jemand es gelöscht hat.« »Nicht gelöscht, Sanny!« rief SENECA. »Die betreffenden Speicher wurden ausgebaut und entfernt!« Sanny mußte wieder an Chybrain denken. Er konnte es gewesen sein. Er hatte die Speicher in Sicherheit gebracht, um sie vor den Solanern zu schützen oder vor SENECA. Oder die Biopositronik vor sich selbst!
»Wenn die Speicher noch auf der SOL sind, wo könnten sie dann sein?« fragte sie. »Berücksichtige die damaligen Verhältnisse!« teilte SENECA mit. »Ich weiß es nicht!« »Danke!« Sanny unterbrach die Verbindung. Sie kauerte sich auf das Bett und dachte nach. Sie mußte suchen. Irgendwo mußten die Speicher sein. Sie benötigte Anhaltspunkte, dann konnte sie den Standort vielleicht berechnen. Es war so wichtig! Sie beschloß, mit Atlan und Hayes darüber zu sprechen. Eine groß angelegte Suchaktion würde mit Sicherheit zum Erfolg führen. Und wenn die Pläne erst vorlagen, wenn SENECA wieder über seine Speicher verfügte, war es für ihn kein Problem mehr, eine Maschine zu bauen, mit der sie das Hypervakuum knacken konnten. Sie mußten an das Flekto-Yn und Hidden-X heran. Wieder standen der Molaatin das Schicksal ihres eigenen Volkes sowie das der Roxharen vor Augen. Sie dachte an Oserfan, der noch immer auf Krymoran verschollen war. Ein bißchen Wehmut überkam sie, und ein Stich in ihrer Brust ließ sie aufstöhnen. Plötzlich glaubte sie, Oserfan schwebe in Lebensgefahr oder sei schon tot. Dann redete sie es sich wieder aus. Es durfte nicht sein. Sie lenkte sich ab, versuchte die vielen anderen Völker aufzuzählen, denen sie seit ihrer Rettung durch Atlan begegnet war, die alle unter dem Einfluß von Hidden-X gestanden hatten. Dem Spuk mußte ein Ende gemacht werden. Hidden-X, das sie aufgrund ihrer Berechnungen ebenfalls für ein Ergebnis einer Spiegelungstechnik hielt, war ein negatives Wesen. Sie mußten es überwinden. Es liegt an dir, erkannte Sanny. Du hast den Faden aufgenommen, der durch das Labyrinth zum Hypervakuum führt. Finde die Pläne, baue die Maschine.
Würde Chybrain helfen? Wo war er jetzt? Das Großartige. Es war ihr sofort aufgefallen, und sie bedauerte es, daß sie den Namen jenes Solaners nicht wußte, der die trefflichen Schilderungen verfaßt hatte. Karjanta und ihre Kombination! Jene aus irrationalen rosa und hellgrünen Mustern zusammengesetzte Kleidung, die auf den Betrachter so verwirrend wirkte. Ihr Bemühen, niemanden zu berühren. Ihre an Wunder grenzende technische Begabung, die sie so gut wie möglich verborgen gehalten hatte. Demgegenüber Chybrain. Ein Ei aus Jenseitsmaterie, rosa und hellgrün schillernd. Nicht zum Anfassen für alle. Nur für Sanny. Es gab keinen Zweifel. Chybrain war Karjanta gewesen. Den Namen hatte er sich einfach entliehen. Er war in die Maske einer Solanerin geschlüpft und hatte den Solanern in einer auswegslosen Situation geholfen. Er hatte die SOLAG und die Diktatur des High Sideryt an die Macht gebracht und Mitchmiller und andere Kräfte vernachlässigt. Er hatte das Schiff gerettet und war in späterer Zeit, der jungen Vergangenheit, immer wieder zu diesem Schiff zurückgekehrt. Gewissensbisse? Sanny lächelte ernst. Chybrain, das Kind. Chybrain, das übergeordnete Wesen. Chybrain und sein seltsames, unverständliches Spiel, das sie so gut hatte verstehen gelernt. Geschwächt hatte er die SOL aufgesucht, um sich zu stärken. Er hatte geholfen, aber sie hatten es ihm nicht gedankt. Enttäuscht von der neuen Ordnung hatte er sich von dem Schiff zurückgezogen. Die Solaner hatten ihren Fehler nicht erkannt. Guter Chybrain. Wann würden die Solaner die Gelegenheit haben, ihren Fehler gutzumachen?
ENDE
Während man auf der SOL eine hektische Suche nach den Unterlagen über eine Waffe gegen das Hypervakuum veranstaltet, geht ein Aktionsplan Atlans seiner Vollendung entgegen. Der Plan sieht einen Vorstoß zum Flekto-Yn vor. Ausgeführt wird dieser Plan durch DIE FÜNFTE KOLONNE DER MOLAATEN DIE FÜNFTE KOLONNE DER MOLAATEN – so lautet auch der Titel des nächsten AtlanBandes. Als Autor des Romans zeichnet Hans Kneifel.