J. G. Kastner
Das stählerne Monster Amerika Band Nr. 18
Das stählerne Monster Das Jahr des Herrn 1863 ist eine düster...
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J. G. Kastner
Das stählerne Monster Amerika Band Nr. 18
Das stählerne Monster Das Jahr des Herrn 1863 ist eine düstere, hoffnungslose Zeit in Deutschland. Das einfache Volk ist verarmt. Wer Arbeit hat, schuftet für Groschen. Menschen sterben an Hunger und Epidemien. In dieser Zeit ist »Amerika« ein Wort der Hoffnung und Sehnsucht – ein Land, wo jeder sein Glück machen und zu Wohlstand kommen kann. Ein magisches Wort auch für den jungen Handwerksgesellen Jacob Adler, der zu Unrecht des Mordversuchs beschuldigt wird und aus Deutschland fliehen muss. Doch sein Leben in Amerika wird härter und gefahrvoller sein, als er es sich in seinen ärgsten Träumen vorzustellen vermag. Ein Abenteuer wartet auf Jacob Adler, wie es kaum ein zweiter je erlebt hat…
*** Der Pazifik vor der kalifornischen Küste im April 1863 Ruhig und majestätisch durchschnitt der gedrungene, wannenförmige Rumpf der CORA SUE auf ihrer Fahrt nach Norden den stahlblauen Ozean. An Bord herrschte eine gelöste, fast heitere Stimmung. Offiziere und Mannschaften waren zufrieden mit dem Ergebnis der Fahrt. Vor der spitzen Landzunge Niederkaliforniens, in der Bahia Magdalena und der Laguna San Ignacio, waren die Männer auf solche Massen von Grauwalen gestoßen, daß es ein wahres Fest gewesen war. Ein blutiges Fest, aber das war der Alltag der Seeleute. Immer wieder bohrten sich die Harpunenspitzen der Fangbootbesatzungen in die mächtigen Körper der Meerestiere. Die Leute an Bord des Dreimasters waren mit
dem Abspecken und Trankochen kaum nachgekommen. Jetzt füllten Fässer der unterschiedlichsten Größen, randvoll mit ausgekochtem Walöl, die CORA SUE fast bis zum letzten Winkel. Ein doppelter Grund zur Freude. Zum einen kehrte das Schiff früher als beabsichtigt nach San Francisco zurück, zum anderen sicherte der reiche Fang den Seeleuten eine fette Provision. Wie alle Männer an Bord eines Walfängers erhielten sie keine Heuer, sondern waren am Gewinn beteiligt. Jetzt, wo es nicht mehr viel zu tun gab, waren einige der Seeleute schon damit beschäftigt, ihren Profit beim Würfelund Kartenspiel umzuverteilen, bevor sie ihn in Händen hielten. John Raven, zu vierzig Prozent Eigner der CORA SUE und ihr Erster Steuermann, stand mit seinem Bruder Charles und seiner Schwägerin Cora Sue auf der Brücke und genoß die leichte Brise frischer Seeluft. Trotz der vielen Wochen und Monate auf See schmeckte die Salzwasserluft wieder, jetzt, da die baldige Heimkehr und der Erfolg der Fangfahrt feststanden. John Raven, der das Steuerrad hielt, warf den beiden anderen unbemerkt neidische Blicke zu. Er selbst wäre gern Cora Sues Mann geworden. Beide Brüder hatten die hübsche Kaufmannstochter aus Monterey umworben. Äußerlich war der große, schlanke John Raven der stattlichere Mann. Aber die kleine, fast zierliche Frau mit dem rabenschwarzen Haar, das ihre spanischen Vorfahren verriet, hatte dem reiferen, ruhigeren Bruder den Vorzug gegeben. Außerdem war Charles Raven zu sechzig Prozent Eigner und Kapitän der CORA SUE, wie er das Schiff nach der Heirat getauft hatte. Die junge Liebe war so groß, daß Cora Sue ihren Mann auf allen Fahrten begleitete. Einerseits war John Raven froh darüber; er liebte die Frau noch immer und genoß jeden Augenblick ihrer Nähe.
Andererseits schmerzte ihn Cora Sues Anblick, gerade weil er sie liebte. Sie so nah vor sich zu sehen und doch unerreichbar zu wissen, tat seinem Herzen so weh, als würde es von einer Harpune durchbohrt werden. »Wal, da bläst er!« hallte auf einmal der kehlige Ruf des Ausgucks über das ganze Schiff. »Wal voraus!« Aber nur ein paar Männer machten sich die Mühe, an die Reling zu laufen, um nach dem gemeldeten Tier auszuspähen. Die Leute waren abgekämpft und wußten, daß kein einziges Faß Walöl mehr an Bord der Bark Platz hatte. Charles Raven drehte sich zu seinem jüngeren Bruder um und sagte grinsend: »So eine Fahrt habe ich noch nie erlebt, John. Die Wale drängen sich uns regelrecht auf. Als fühlten sie in sich einen natürlichen Trieb, sich an Bord der CORA SUE zu Öl verkochen zu lassen.« »Trotzdem seltsam, daß so weit im Norden ein Grauwal schwimmen soll«, erwiderte John Raven und kniff die Augen zusammen, um das Tier zu erspähen. »Vielleicht ist es kein Grauer, sondern ein anderes Tier«, meinte der Kapitän. »Bloß was für eins, ich kann nichts entdecken.« Auch Charles Raven spähte aufs offene Meer hinaus. Über sein Gesicht hielt er die flache Hand, um die Augen gegen die leuchtende Frühlingssonne abzuschirmen, die hoch am azurnen Himmel stand. Schließlich schüttelte er den Kopf und brummte: »Hol's der Klabautermann, ich sehe nur Wasser, aber keinen Wal.« Er hob den Kopf in Richtung Krähennest, legte die Hände trichterförmig vor den Mund und schrie: »He, Matrose, wo steckt der Wal?« »Unter Wasser, Käpten. Hatte ihn kaum erspäht, da ist er auch schon wieder abgetau…« Mitten im Satz brach der Ausguck ab und riß die Augen vor Schreck auf. Seine Stimme überschlug sich, als er schrie:
»Da… da ist er, direkt vor dem Bug. Er greift das Schiff an!« Kaum hatte er ausgesprochen, da ging eine gewaltige Erschütterung durch den Schiffsrumpf. Das Krachen des Zusammenpralls und das Splittern hölzerner Planken vermischten sich mit aufgeregten Schreien. Die CORA SUE wurde am Bug angehoben, als sei der Wal daruntergeschwommen und plötzlich aufgetaucht. Die sonst so standfesten Seeleute purzelten durcheinander wie eingefleischte Landratten auf ihrer ersten Schiffsreise. Der Ausguck konnte sich nur mit Mühe im Krähennest halten. Eine ganze Reihe der auf Deck stehenden Walölfässer stürzte um. Die Fässer rollten übers Deck, prallten gegen Masten und Aufbauten. Ein paar Behälter zersprangen, und das Öl ergoß sich über die hölzernen Planken. Andere Fässer zerschmetterten die Knochen unglücklicher Seeleute. Binnen Sekunden hatte sich die ruhige Heimfahrt der CORA SUE in eine Hölle verwandelt. Eins der herumrollenden Fässer erwischte den Kapitän und riß ihn von den Beinen. »Charles!« schrie Cora Sue Raven auf und wollte ihrem Mann zu Hilfe eilen. In diesem Augenblick senkte sich die Back des Seglers wieder. Dadurch verlor die Frau das Gleichgewicht, taumelte zurück und fiel über die Reling ins Wasser. John Raven zögerte kaum eine Sekunde. Dann hatte er sich entschieden, seine Pflicht gegenüber dem Schiff zu vernachlässigen, um der geliebten Frau zu helfen. Er sprang ins Meer, um Cora Sue zu helfen. Das rettete ihm wohl das Leben. Kaum war er aus den über ihm zusammenschlagenden Wogen wieder aufgetaucht, da dröhnte eine Explosion in seinen Ohren. Der Bug der CORA SUE platzte auseinander wie ein aufgeschlagenes Ei. Schlimmer war noch, daß sich die Bark innerhalb von
Sekunden in ein gigantisches Flammenmeer verwandelte. Das ausgelaufene Walöl fing Feuer, und das Feuer verwandelte die Seeleute in lebendige Fackeln. Nur wenigen gelang es, ins Wasser zu springen. Die meisten verbrannten vorher. John Raven spürte einen heißen, stechenden Schmerz im linken Auge. Ein brennender Holzsplitter hatte sich in die Augenhöhle gebohrt. Der Schmerz überwältigte ihn. Er vergaß das Schwimmen und tauchte unter. Das Wasser tat gut, löschte das Brennen und brachte ihn wieder zu Bewußtsein. Mit zwei schnellen Stößen gelangte er an die Wasseroberfläche und spürte die Hitzewelle der verbrennenden Bark. Um ihn herum stürzten flammende Trümmer ins Meer wie ein Schwarm vom Himmel fallender Kometen. Endlich entdeckte er in dem Chaos die geliebte Frau. Er konzentrierte seinen Blick auf sie und mißachtete, daß es nur noch ein halber Blick war. Auch Cora Sue hatte ihn gesehen und schwamm auf ihn zu. Er rief ihren Namen. Sie antwortete etwas. Was, das ging im Inferno des auseinanderbrechenden Walfängers unter. Der brennende Fockmast knickte um und schleuderte den Ausguck aus dem Krähennest. Das schwere Holz stürzte auf die schwimmende Frau und begrub sie unter sich. John Raven schwamm mit aller Kraft auf die Stelle zu, wo er zuletzt Cora Sues schönes, erschrockenes Gesicht gesehen hatte. Aber er kam nicht an die geliebte Frau heran. Die Trümmer des Fockmastes standen in hellen Flammen. Er versuchte es unter Wasser, immer und immer wieder. Vergebens. Cora Sue blieb verschwunden.
Meer und Feuer hatten sie gefressen wie das nach ihr benannte Schiff. * San Francisco, elf Monate später, am 2. März 1864 Als die geschlossene Kutsche mit der berittenen Eskorte auf dem Kai vorfuhr, wußte Piet Hansen schon, daß sie ihn abholen kamen. So wie gestern, als sie ihn zum Verhör in die hiesige Kommandantur der US-Navy gebracht hatten. Schon gestern hatte es ihn nicht verwundert. Gewundert hatte er sich aber, als er abends auf sein Schiff zurückkehren durfte. Andererseits – fliehen konnte er kaum. Ständig befand sich eine Wache von acht Soldaten unter dem Kommando eines Lieutenants an Bord der ALBANY. Und wenn der Kapitän fliehen wollte, dann höchstens in die überfüllten Straßen der Stadt. Er hatte kaum noch genug Männer, um die Bark auf See zu bringen. Die verlockende Nähe der kalifornischen Goldfelder hatte mehr als zwei Drittel seiner Mannschaft von Bord geholt. Als ein herausgeputzter Offizier, ein junger Lieutenant, an Bord des Seglers kam, trat Hansen ihm schon entgegen und fragte: »Verhör oder Verhaftung?« »Erst einmal Verhör«, erwiderte der Yankee-Offizier in der blauglänzenden Uniform sachlich kühl. »Alles andere wird danach entschieden.« »Alles andere?« echote der alte Seebär. »Was meinen Sie damit?« »Ich weiß nichts Genaues. Besprechen Sie das mit Commodore Lewis.« Commodore Morgan H. Lewis von der US-Navy war der Mann, der Piet Hansen schon am gestrigen Tag eingehend vernommen hatte. Ein schlanker, fast schmächtig wirkender Offizier, dessen Diensteifer trotz der Tatsache, daß er hoch in
den Fünfzigern stand, nicht nachgelassen hatte und der ständig auf der Schwelle zur chronischen Nervosität stand. So auch an diesem Morgen, als Piet Hansen sein geräumiges, aber etwas düsteres Büro in der Marinekommandantur betrat. Der grauhaarige Offizier zündete sich gerade eine Zigarre an, so ungeschickt, daß er sich die Finger verbrannte und fast noch seinen graubraunen buschigen Backenbart angekokelt hätte. Mit einem Seemannsfluch schleuderte er das fast gänzlich abgebrannte Zündholz in einen gläsernen Aschenbecher, der die grobe Form eines Ruderbootes hatte. Diese äußere Ungeschicktheit täuschte, wie Hansen vom Vortag nur zu gut in Erinnerung hatte. Im Verhör hatte sich Lewis als scharfsinnig und gut informiert erwiesen. Hansen hatte sich zwar längst entschlossen, alles zuzugeben, aber er hätte auch nichts leugnen können. Er hatte alles gestanden, die ganze Geschichte mit dem Schmuggel der Kanonen, die er auf der ALBANY von Hamburg an die mexikanische Küste transportieren sollte, von wo aus sie über Land zu den konföderierten Truppen in Texas gebracht werden sollten. Der Commodore bot Hansen und einem jüngeren Offizier, einem Captain Driscoll, Zigarren aus einer mit feinen Schnitzereien verzierten Elfenbeinschatulle an. Driscoll griff zu, aber Hansen lehnte ab. Er rauchte gern und oft, aber jetzt war ihm nicht danach zumute. Zwar wußte der Kapitän der ALBANY nicht genau, was dieses zweite Verhör zu bedeuten hatte, aber ihm war klar, daß er an der Schwelle des Todes stand. Auch wenn er Deutscher war, konnten die Nordstaatler ihn zum Tode verurteilen. Nach dem Gesetz war er wohl so etwas wie ein Saboteur oder Agent der Konföderierten. Dabei waren den Yankees die wahren Südstaaten-Agenten nicht in die Hände gefallen. Mit Unbehagen dachte Hansen an die beiden Südstaatler, Vivian Marquand und Captain Alec
McCord, die mit ihrem mexikanischen Komplizen Don Emiliano Maria Hidalgo de Tardonza und mit dem verbrecherischen Geschäftsmann Arnold Schelp nächtens mit einem Ruderboot von der ALBANY geflohen waren. Wo mochten sie jetzt stecken? Hatte das Meer sie verschluckt? Hatten sie die Küste von Niederkalifornien erreicht? Waren sie von einem Schiff aufgenommen worden? Commodore Lewis riß Hansen aus den Gedanken, als er ein Stück Papier hochhielt und mit seiner leicht näselnden Offiziersstimme fragte: »Wissen Sie, was das ist, Kapitän Hansen?« »Keine Ahnung, Sir. Aber Sie werden es mir sicher gleich sagen.« Lewis' dünne Lippen wurden noch dünner, was wohl eine Art Lächeln oder Grinsen darstellen sollte. »Sie haben es erfaßt, Kapitän. Sie sind ein kluger Mann, aber nicht klug genug. Denn sonst hätten Sie sich niemals mit den Rebellen eingelassen.« Er streckte die schmale, ein wenig damenhaft wirkende Hand mit dem beschriebenen Papier über den Schreibtisch und fuhr fort: »Das hier, Kapitän Hansen, ist meine Empfehlung an die Militärstaatsanwaltschaft, Anklage gegen Sie zu erheben. Ersparen Sie mir das Aufzählen der einzelnen Delikte; wir haben das gestern bereits ausführlich erörtert. Nur soviel, daß ich hinsichtlich zweier Umstände keinerlei Zweifel hege: Erstens wird die Staatsanwaltschaft meiner Empfehlung folgen, und zweitens wird für Sie, wie immer Sie sich verteidigen mögen, am Ende das Todesurteil stehen!« Es war seltsam, fand Hansen. Hätte ihm bei dieser Mitteilung nicht ein eisiger Schauer über den Rücken laufen müssen? Doch er nahm es relativ gefaßt hin, vielleicht deshalb, weil er mit so etwas schon gerechnet hatte. Er war mehr verwundert als erschrocken. Verwundert über die Art und Weise, wie ihm
Commodore Lewis seine Entscheidung mitteilte. Erst die formelle Vorladung mit Eskorte, dann die angebotene Zigarre! »Sie müssen über viel Zeit verfügen, Commodore«, sagte der deutsche Seemann. »Wie kommen Sie darauf?« »Statt mich einfach arrestieren zu lassen, holen Sie mich in Ihr Büro, um mir das Todesurteil zu verkünden.« »Es ist nicht das Todesurteil.« »Aber doch so gut wie, wenn ich Ihre Worte richtig verstanden habe.« Lewis nickte. »Ja, Kapitän, sobald ich meinen Namen unter dieses Stück Papier gesetzt habe. Die Tinte, die aus meiner Feder fließt, wird sich dann in das Blei verwandeln, das Sie tötet.« »Nett formuliert. Warum haben Sie es noch nicht unterschrieben?« »Weil ich erst Ihre Entscheidung abwarten wollte, Kapitän.« »Meine Entscheidung?« fragte Hansen verständnislos. Wieder nickte der hohe Marineoffizier. »Ganz recht, Sie halten Ihr Leben in Ihrer eigenen Hand. Sie können entweder vor dem Erschießungskommando sterben oder mit uns zusammenarbeiten.« »Ich verstehe Sie nicht, Sir«, meinte der Deutsche kopfschüttelnd. »In welcher Form soll ich mit Ihnen zusammenarbeiten?« »Sie sollen für uns das tun, was Sie schon für die Konföderierten tun wollten. Die Kanonen an Bord Ihres Schiffes sind von der Union beschlagnahmt. Bringen Sie die Fracht für uns ums Kap Horn in den Osten. Dort werden Waffen immer benötigt.« »Wenn ich das tue, lassen Sie die Anklage fallen?« Ein drittes Nicken des Commodore leitete die Antwort ein. »Wie ich schon sagte, Sie sind ein kluger Mann, Kapitän.« »Ich würde es gern tun, sofort«, sagte Hansen, und sein eben
noch aufblühendes Gesicht verfinsterte sich wieder. »Aber es geht nicht. Ich habe nicht genug Leute an Bord. Die meisten sind gestern zu den Goldfeldern abgehauen.« »Kein Problem«, kam es zwischen den dünnen Lippen hervor. »Wir beschaffen Ihnen die nötige Mannschaft. Geben Sie Captain Driscoll eine Liste, welche Leute Sie benötigen. Wann können Sie auslaufen?« »Das kommt drauf an, wann ich die Männer habe.« »Hm, sagen wir, morgen vormittag.« »Sobald die Mannschaft vollzählig ist, mache ich die ALBANY klar zum Auslaufen. Wohin soll es eigentlich gehen?« »Das genaue Ziel werden Sie unterwegs von Captain Driscoll erfahren. Er begleitet Sie als, äh, Beobachter.« Jetzt grinste Piet Hansen. Es fiel ihm leichter, da der eben noch sichere Tod in weite Ferne gerückt schien. »Ist nicht vielleicht Aufpasser der passendere Ausdruck, Commodore?« »Beides paßt.« »Ja«, brummte Hansen. »Ich dachte mir schon, daß Ihr Vertrauen nicht so weit geht, mich ohne Eskorte lossegeln zu lassen.« »Natürlich nicht«, erwiderte Lewis fast entrüstet. »Für wie leichtsinnig halten Sie mich?« Die Frage war nur rhetorisch. Ohne auf eine Antwort zu warten, fügte der Commodore an: »Warten Sie doch im Vorzimmer auf Captain Driscoll, Mr. Hansen. Ich habe noch etwas mit ihm zu besprechen.« Sobald Piet Hansen das Büro verlassen hatte und die schwere Nußbaumholztür ins Schloß gefallen war, ließ Lewis das Papier achtlos fallen. Es rutschte vom Schreibtisch und segelte zu Boden, fast vor Driscolls Füße. Der Captain bückte sich, hob es auf und reichte es seinem Vorgesetzten.
»Bitte, Sir, das Dokument.« »Dokument?« Wieder lag das dünnen Lächeln auf Lewis' Lippen, als er das Papier entgegennahm. »Es ist nur die Einkaufsliste, die ich gestern abend mit meiner Frau erarbeitet habe, wissen Sie, für mein Geburtstagsessen am nächsten Wochenende. Ich kaufe die Zutaten aus alter Tradition persönlich ein.« Der Commodore faltete das Papier zusammen und steckte es in eine Tasche seines blauen Uniformrocks. »Sie scheinen sich sehr sicher gewesen zu sein, daß Hansen Ihr Angebot annimmt, Commodore«, sagte ein verblüffter Captain Driscoll. »Er hatte keine Wahl. Außerdem glaube ich ihm. Er ist kein Rebellen-Agent aus Leidenschaft oder auch nur aus Überzeugung. Hansen ist durch unglückliche Umstände in diese Sache reingerutscht und jetzt mehr als froh, wenn er wieder herauskommt. Geben wir ihm diese Gelegenheit!« »Ich weiß nicht recht, Sir«, erwiderte der breitschultrige junge Captain mit dem breiten, stets etwas verbissen wirkenden Gesicht zögernd. »Ich würde diesem Deutschen nicht so bedingungslos vertrauen wie Sie, mit Verlaub.« »Das tue ich doch gar nicht, Captain. Sonst würde ich Sie nicht mit auf die Reise schicken.« »Warum übernehme ich nicht gleich das Kommando über die ALBANY, Sir? Sie könnten das Schiff so problemlos konfiszieren wie die Ladung.« »Wir wollen den Lockvogel nicht zu offensichtlich machen. Es reicht, wenn Sie bei der Rekrutierung der Mannschaft in der ganzen Stadt verbreiten lassen, daß es sich um einen Waffentransport der Union handelt. Halten Sie sich derweil im Hintergrund. Im Notfall können Sie immer noch das Kommando auf dem Segler übernehmen.« »Jawohl, Sir.« Driscolls Züge verhärteten sich. »Ich hoffe, diesmal schnappen wir diese verfluchten Rebellen!«
»Haß ist ein unfehlbarer Antrieb, aber nicht alles, Captain!« sagte Commodore Lewis mit düsterem Gesicht. »Wie meinen Sie das, Sir?« »Ich weiß, daß Ihr Bruder im Kampf gefallen ist. Er war auf der CARONDOLET, nicht wahr?« »Ja«, antwortete Driscoll leise. »Mein Bruder Stephen war dort Zweiter Offizier. Außerdem diente noch mein Schwager als Fähnrich auf der CARONDOLET. Auch er ist gefallen.« Levander Driscolls Gedanken wanderten zurück zu dem Tag im Juli 1863, als die Trauerfeier für seinen kleinen Bruder Stephen und für seinen Schwager abgehalten wurde. Er sah wieder die versteinerten Gesichter seiner Familie vor sich, besonders das seiner Mutter, deren Lieblingskind Stephen immer gewesen war. Die Mutter folgte ihrem Sohn keinen Monat später ins Grab. Für Levander Driscoll stand fest, daß sie an gebrochenem Herzen starb. Er diente zu dieser Zeit noch als Kapitän in der Handelsmarine. Aber nach der Beerdigung seiner Mutter hielt ihn nichts mehr zurück. Er bewarb sich um einen Posten bei der Kriegsmarine, wurde akzeptiert – und ausgerechnet nach San Francisco versetzt, wo der Krieg manchmal so weit entfernt schien wie die Feldzüge von Julius Caesar. In letzter Zeit hatte sich das geändert. Levander Driscoll hoffte, bald Gelegenheit für seine Rache zu haben! »Vergessen Sie über Ihre persönliche Rache nicht Ihre Pflichten gegenüber dem Land, dessen Uniform Sie tragen, Levander!« ermahnte ihn der Commodore; es war selten, daß er seine Untergebenen mit dem Vornamen ansprach. »Es reicht schon, wenn unser ziviler Verbündeter von seiner ganz persönlichen Rache getrieben wird.« Driscoll nickte. Er wußte, wen der Commodore meinte. Wenig später trat Captain Driscoll ins Vorzimmer, wo Piet Hansen ihm eine eilends erstellte Liste der benötigten Männer
und des aufzufrischenden Proviants überreichte. Der Captain überflog sie, nickte dann und sagte: »Geht in Ordnung, Mr. Hansen. Die Eskorte wird Sie jetzt zu Ihrem Schiff zurückbringen, damit Sie alles für das Auslaufen der ALBANY vorbereiten können.« »Die Eskorte?« Hansen legte den Kopf schief und blickte den Soldaten mit gerunzelter Stirn an. »Vertrauen Sie mir nicht, Captain Driscoll?« »Nein!« Vergebens hoffte Piet Hansen, bei seiner Rückkehr zur ALBANY eine Nachricht von seinen beiden jungen Freunden, Jacob Adler und Irene Sommer, vorzufinden. Wenn er morgen tatsächlich schon San Francisco verließ, würde er sie wohl aus den Augen verlieren. Die Aussicht betrübte ihn. Sie waren für den alten Seebären eine Art Ersatz für die Familie geworden, die er niemals gehabt hatte. Schon damals, als sie mit der ALBANY von Hamburg nach New York gefahren waren. Er konnte nicht wissen, in welche Schwierigkeiten die deutschen Auswanderer an diesem Morgen geraten waren. Und auch nicht, unter welch dramatischen Umständen er Jacob Adler wiedersehen sollte. * Am Portsmouth Square, im obersten Stockwerk des Vergnügungspalastes Golden Crown, etwa zur selben Zeit. »Wo steckt Jacob Adler?« Die Stimme war nur ein Flüstern. Aber dieses Flüstern war bedrohlicher, erschreckender, als es jeder laute Gefühlsausbruch hätte sein können. Henry Black, der offizielle Inhaber des Golden Crown, schwitzte aus jeder Pore. Das teure französische Rüschenhemd und die graublau gestreifte Seidenhose klebten an seinem korpulenten Körper wie eine zweite Haut. Er verschränkte die
Hände hinter seinem breiten Rücken, damit der Mann hinter dem Schreibtisch das Zittern nicht bemerkte. Natürlich war das eine Illusion. Der Hai von Frisco bemerkte alles. Er sah und hörte, was in der ganzen großen Stadt vor sich ging, obwohl er das oberste Stockwerk seines Hauptquartiers, die ›Krone‹ des Golden Crown, so gut wie niemals verließ, seitdem er sich hier eingenistet hatte. Henry Black erinnerte sich noch gut an den Abend, als er den Hai zum ersten Mal gesehen hatte. Schon damals war er in Begleitung des stummen Schwarzen namens Buster gewesen, der auch jetzt mit unbeweglicher Miene, aber um so beweglicheren Augen neben der Tür stand. Ohne die Hilfe des hünenhaften Negers wäre der Mann, der jetzt halb Frisco beherrschte, ziemlich verloren gewesen – jedenfalls körperlich. Ja, der gefürchtete Hai von Frisco war ein Krüppel! Äußerlich ein gutaussehender Mann, aber einer, der auf Krücken ging, und auch das nur mühsam. Damals hatte Black den Fehler begangen, aus der körperlichen Behinderung des Fremden darauf zu schließen, daß er auch sonst nicht viel hermachte. Als der Fremde den Inhaber des Golden Crown aufforderte, mit ihm Monte zu spielen, hätte Black fast abgelehnt. Aber irgend etwas hatte im Blick des Krüppels gelegen, das den in jeder Hinsicht gewichtigen Geschäftsmann an den Spieltisch zwang. Wie eine hypnotische Kraft. Anfangs waren die Einsätze gering und die Gewinne und Verluste ausgeglichen. Die Einsätze schaukelten sich hoch, und der Krüppel, der seinen Namen nicht nannte, gewann immer öfter. Mehrmals ließ Black neue Karten bringen. Der Krüppel gewann. Vergebens suchte Black nach einer Betrugsmöglichkeit. Der Krüppel gewann. Schließlich wollte Black trotz des Widerspruchs seines
Gegenübers aufhören, da zischte dieser leise: »Spielen Sie weiter, Herr Schwarz!« Es hatte genauso eindringlich und gefährlich geklungen wie die Frage nach diesem Jacob Adler eben. Erst nach einigen Sekunden wurde Black bewußt, daß der andere auf deutsch zu ihm gesprochen hatte – in seiner Muttersprache. Und wie es sich anhörte, war es auch die Muttersprache des Fremden. Viel mehr traf den Geschäftsmann aber, daß der Krüppel seinen wahren Namen kannte: Heinrich Schwarz, vormals Hufschmied in einem kleinen Ort nahe Ingolstadt. Woher wußte der Fremde das? Und was wußte er noch über Henry Black alias Heinrich Schwarz? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, spielte Black weiter. Und er verlor weiter. Aber er konnte nicht aufhören. Der Krüppel machte es ihm mit seinen Andeutungen bewußt. Woher auch immer, er wußte so ziemlich alles über die dunklen Geschäfte, die Black zu seinem Reichtum und zum Golden Crown verholfen hatte. Am Ende dieses Abends gehörte das große Haus im Zentrum von San Francisco dem Fremden, so hoch waren Blacks Schulden. So kam es, daß Black fortan nur noch nominell der Inhaber des Golden Crown, in Wahrheit aber die Marionette des Mannes war, der als Hai von Frisco über die Grenzen der Stadt hinaus gefürchtet wurde. Der mit jedem Tag mächtiger und reicher wurde, weil mit jedem Tag mehr Männer für ihn arbeiteten, freiwillig oder – wie Black – gezwungenermaßen. »Ich stelle die Frage zum letzten Mal«, sagte der Hai mit leiser, drohender Bestimmtheit. »Wo ist Jacob Adler? Warum ist nur die Frau mit dem Kind hier, Henry?« »Es… es ist die Schuld von Louis Bremer«, stammelte der korpulente Mann. Auf seinem stets geröteten Cholerikergesicht
tanzten hektische weiße Flecken. »Ich habe ihm gesagt, er soll alle drei herschaffen, den Mann, die Frau und das Kind.« Der Hai legte die Ellbogen auf die mit Papieren übersäte Schreibtischplatte, preßte die Fingerspitzen beider Hände zusammen und stützte sein eingekerbtes Kinn darauf. »Und warum ist der Mann nicht hier, Henry?« »Bremer hat gehört, daß der Kapitän dieses Seelenverkäufers noch dringend Männer benötigt. Er hat Adler für zweihundert Dollar an ihn verkauft. Bremer glaubte, das wäre Ihnen egal, Sir. Hauptsache, der Kerl verschwindet aus Frisco.« Blacks Wurstfinger nestelten, unbeholfen vor Panik, ein paar Geldscheine aus der Jackentasche. »Hier ist das Geld, Chef. Ich habe Bremer alles abgenommen, auch seine Provision.« Der Mann hinter dem Schreibtisch beachtete das Geld gar nicht, sondern fragte: »Was für ein Seelenverkäufer?« »Ein alter Walfänger, die LUCIFER.« Der Kopf des Hais ruckte vor und pendelte erregt hin und her. Der Mann wirkte wie eine Schlange, die sich darauf vorbereitet, ihr Opfer anzufallen. »Wann will der Kahn Frisco verlassen?« schnappte die furchteinflößende Mischung aus Mensch, Hai und Schlange. Black biß so fest auf seine Unterlippe, daß Blutstropfen austraten, bevor er antwortete: »Ich glaube, die LUCIFER verläßt den Hafen zur Stunde.« Der Hai sagte nichts, jedenfalls nicht mit der Stimme. Eine winzige Handbewegung und die Sprache seiner Augen genügte. Plötzlich bewegte sich der statuenhafte Neger mit der Schnelligkeit und Geschmeidigkeit einer Katze. Und seine Schläge waren wie die Prankenhiebe eines Raubtiers. Obwohl es nur Ohrfeigen waren, die Blacks aufgeschwemmte Wangen trafen. Henry Black hatte sich immer für einen standfesten Mann
gehalten. Aber jetzt verlor er das Gleichgewicht und krachte mit lautem Poltern zu Boden. Sein Kopf krachte so schwer gegen einen Bücherschrank, daß die ledergebundenen Folianten wackelten. »Ich habe gesagt, ich will Jacob Adler hier haben!« zischte der Hai. »Von einem Schiff war nie die Rede.« »Es ist Bremers Schuld«, versuchte sich Black zu verteidigen. »Er hat…« »Es ist Ihre Schuld, Henry«, zerschnitt die scharfe Stimme des Hais seine Rede. »Sie haben Bremer für die Mission ausgewählt, also müssen Sie auch dafür einstehen! Sehen Sie zu, daß Sie die LUCIFER noch erreichen, bevor sie Frisco verläßt. Wie immer Sie das auch anstellen, bringen Sie mir Jacob Adler!« Black nickte nur schwach. Seine Stimme versagte ihm den Dienst. Seine Beine waren weich wie Pudding. Er schaffte es einfach nicht aufzustehen. Der Mann hinter dem Schreibtisch nickte kaum merklich, und der Neger half dem Korpulenten. Black war heilfroh, als er die Krone, das Reich des Hais, verlassen konnte. Erst auf der Treppe spürte er die Schmerzen: das Brennen auf seinen Wangen und das Hämmern in seinem Kopf. * Das Hämmern in seinem Kopf weckte Jacob Adler. Der Schmerz riß den jungen Deutschen aus der Bewußtlosigkeit. Der große, breitschultrige Mann, der rücklings auf hartem Holzboden lag, bedauerte es. Der gnädige Schlaf hatte sich wie ein Polster lindernder Kräuter über die Schmerzen gelegt. Ihm war schlecht. Und er wußte nicht, wo er war.
Er riß die Augen auf, aber um ihn herum war nichts als Dunkelheit. Er zwang seinen brummenden Kopf zum Denken. Allmählich kehrte die Erinnerung zurück. Erst hatte er angenommen, auf der ALBANY zu sein. Er und Irene hatten sich in der Stadt Fogerty an der Küste von Oregon bei Piet Hansen eingeschifft, um nach San Francisco zu gelangen. Zwei Umstände veranlaßten ihn, an die ALBANY zu denken. Das sanfte Schlingern des Bodens und das leise Geräusch irgendwo zwischen Rauschen und Plätschern. Es fühlte und hörte sich an wie ein Schiffsrumpf, der die Wellen des Ozeans durchschnitt. Aber dann erinnerte er sich daran, daß Irene und er die ALBANY im Hafen von San Francisco verlassen hatten. Sie hofften, dort eine Spur von Carl Dilger zu finden. Dilger war der Vater von Irenes Sohn Jamie. Der Mann, den Irene heiraten wollte. Den sie auf den kalifornischen Goldfeldern vermuteten. Carl Dilger! Als Jacob an diesen Namen dachte, stand alles wieder vor ihm. Er hatte Plakate drucken lassen mit der Hilfe eines Journalisten, der sich Mark Twain nannte. Plakate, die jeden, der etwas über Dilger wußten, aufforderten, sich bei Jacob zu melden. Und tatsächlich war früh am Morgen ein kleiner, rattengesichtiger Mann namens Louis Bremer in dem Boarding-House erschienen, in dem Jacob und Irene untergekommen waren. Er wollte sie zu Dilger bringen, der sich aus mysteriösen Gründen in San Francisco versteckte. Angeblich! In Wahrheit war es eine Falle gewesen. Ein Schlägertrupp überfiel die Auswanderer. Jacob streckte zwei der brutalen
Kerle nieder, dann traf es ihn selbst. Es war ein harter Stiefeltritt gewesen. Er erwischte Jacobs Kopf an der Stelle, wo er kurz zuvor durch Vivian Marquands Derringer-Geschoß verwundet worden war. Die frühere Wunde war noch nicht ganz verheilt. Deshalb der überstarke Schmerz und die überwältigende Ohnmacht. Was war dann geschehen? Er wollte, mußte es herausfinden! Doch Jacobs Versuch aufzustehen, scheiterte kläglich. Jetzt erst bemerkte er, daß er an Händen und Füßen gefesselt war. So stark, daß ihm die Stricke durch die Kleidung ins Fleisch schnitten. Er war hilflos. Ein hilfloser Gefangener. Noch stärker betrübte ihn der Gedanke, daß er nichts über das Schicksal von Irene und dem kleinen Jamie wußte. Er sah die junge Mutter noch am Ende der Sackgasse stehen, mit dem Rücken gegen eine Wand gelehnt, ohne Aussicht auf Rettung oder Flucht, das Kind eng gegen ihren vermeintlich schützenden Körper gepreßt. Und jetzt? Wo steckten Irene Sommer und ihr Sohn? Was war mit ihnen geschehen? * Zur selben Zeit wie Jacob waren auch Irene und Jamie in völliger Dunkelheit gefangen. Nur mit dem Unterschied, daß sie nicht gebunden waren. Sonst schien ihre Lage ebenso düster und hoffnungslos wie die des jungen Zimmermanns. Irene hatte gesehen, wie Jacob zusammenbrach. Wie der Stiefel ihn am Kopf traf und in den Schmutz der engen, noch in morgendlicher Dämmerung liegenden Sackgasse schleuderte. Dann kamen die Schläger über sie, und sie befürchtete schon
das Schlimmste. Doch Louis Bremer warnte Irene nur, sich nicht zu wehren, wenn es nicht zum Schaden ihres kleinen Jungen sein sollte. Nur deshalb ließ sie es zu, daß man sie von Jacob trennte. Einer der kräftigen Kerle verband ihre Augen mit einem speckigen, nach Schweiß riechenden Tuch. Sie führten Irene durch Straßen, die sie auch sehenden Auges nicht gekannt hätte. Es waren abgelegene, in der frühen Morgenstunde noch entvölkerte Straßen, sonst wäre die Gefangene mit den verbundenen Augen jemandem aufgefallen. Dann ging es in ein Haus, das stark nach Alkohol, Tabak, Parfüm und menschlichen Ausdünstungen roch. Es mußte ein großes Haus sein. Durch Gänge und über Treppen dauerte es eine Weile, bis man sie in den engen, dunklen Raum sperrte. Hier nahm man ihr die Binde ab, was wegen der völligen Finsternis nicht viel änderte. Das letzte, was sie sah, bevor sich die Tür schloß, war das grinsende Rattengesicht des Mannes, der sich ihr als Carl Dilgers Freund Louis Bremer vorgestellt hatte. Höhnisch wünschte er ihr einen angenehmen Aufenthalt. Dann entfernten sich seine Schritte und die seiner Begleiter polternd und knarrend über eine Treppe. Jamie begann zu weinen. Die Dunkelheit schien ihn zu ängstigen. Sie drückte ihn an sich, streichelte ihn sanft und sprach ihm Worte eines Trostes zu, den sie selbst gut hätte gebrauchen können. So saßen sie eine ganze Weile auf dem Boden ihres Gefängnisses, Mutter und Kind, als seien sie ganz allein auf der Welt. Bis ein Kratzen und Klacken verkündete, daß ein Schlüssel herumgedreht wurde. In der Tür des Verlieses. Aber Irene hatte niemanden kommen hören! Die Tür wurde aufgestoßen. Als das plötzlich einfallende Licht ihre daran nicht mehr
gewöhnten Augen blendete, zog die junge Frau sich ängstlich in den hintersten Winkel zurück. Sie rutschte über den Boden und hielt dabei Jamie noch fester als zuvor. Ein Rechteck aus Helligkeit füllte die Türöffnung aus. Ein großer Schatten trat in diese Helligkeit und linderte die Stärke des Lichts. Irenes Augen gewöhnten sich wieder ans Sehen. Der Mann, den sie erblickte, war groß, knochig und schwarz. Ein Neger. Das Fehlen einer Kopfbedeckung offenbarte seinen völlig kahlen Schädel. Aber sonst war der Mann so gut gekleidet, wie sie es selten bei einem Schwarzen gesehen hatte. Der taubengraue Dreiteilige, der seinen hünenhaften Körper einzwängte, und die schwarzweiß gelackten Schuhe ließen ihn fast wie einen Stutzer wirken. Doch sein unbewegliches, hartes Gesicht verriet, daß er alles andere als ein Prahler war. Das einzige, was sich in dem Gesicht bewegte, waren die wachsamen, kalten Augen. Am liebsten hätte sich die junge Frau noch weiter verkrochen, als der unheimliche Schwarze in den vollkommen nackten Raum trat. Aber sie hockte schon in der hintersten Ecke. Und es gab kein einziges Einrichtungsstück, hinter dem sie Schutz hätte suchen können. So konnte sie nur auf dem Boden bleiben und zu dem dunklen Gesicht aufschauen, das hart wie Granit wirkte. Der Neger streckte eine große Hand vor, außen schwarz, innen dagegen seltsam weiß. Seine kräftigen Finger hielten ein längliches schwarzes Tuch, ähnlich der Augenbinde, die sie vor kurzem noch getragen hatte. Ihr war sofort klar, was die Geste bedeuten sollte. Zögernd stand sie auf und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand. Da bedeckte das Tuch schon ihre Augen. Der Neger verknotete es so fest an ihrem Hinterkopf, daß es weh tat. Dann packte er sie am Arm und führte sie hinaus.
Wäre nicht seine fest zupackende Hand gewesen, die Irene leitete, hätte sie geglaubt, ihr Bewacher sei nicht mehr da. Er ging so lautlos wie eine Katze auf ihren weichen Pfoten. Das Ganze hatte etwas Unheimliches an sich. Um so mehr, da der Schwarze nicht einen Ton sagte. Er brachte sie in einen anderen Raum. Dort ließ er die Frau los, nahm ihr aber die Binde nicht ab. Sie hörte ihn nicht, aber er war noch im Raum. Das leise Atmen verriet es ihr. Erst mit der Zeit merkte sie, daß außer ihr und Jamie mindestens zwei andere Menschen anwesend waren. Doch keiner von ihnen sagte ein Wort. Weshalb nicht? Was wollten sie von der Frau mit den verbundenen Augen? Sie fand keine Antwort. Doch ihre Angst wuchs ins Unermeßliche. Eisige Schauer liefen über ihren Rücken. Jamie wurde unruhig. Er quengelte. Seine kleinen Händchen tasteten über das Gesicht der Mutter, das wegen der schwarzen Binde fremd und furchteinflößend wirkte. Irene hielt den Sohn im rechten Arm. Ihre Linke fuhr an die Binde, zögerte aber, sie abzunehmen. »Die Hand runter!« zischte eine Männerstimme in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Die Frau gehorchte umgehend. »Brav«, lobte die Stimme, als beurteile sie das anerzogene Verhalten eines Hundes oder Pferdes. »Wenn Sie keine Schwierigkeiten machen, Fräulein Sommer, wird Ihnen nichts geschehen. Und Ihrem Kind auch nicht!« Die Drohung in den Worten war unüberhörbar. Sie heizte Irenes Furcht weiter an. Zu der Angst gesellte sich Verwunderung. Darüber, daß der unbekannte Fremde ihren Namen kannte. Und darüber, daß er deutsch sprach. »Wer… wer sind Sie?« fragte Irene zögernd.
»Ich frage, Sie antworten, Irene!« Irene! Daß der Unbekannte sie mit ihrem Vornamen ansprach, verlieh seinen Worten eine seltsame Vertrautheit. Als würden sie sich kennen. Aber das war es nicht allein. Diese Stimme! Irene glaubte, sie schon einmal gehört zu haben. Kannte sie den Mann tatsächlich? Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, fragte er: »Was suchen Sie in San Francisco?« »Wir sind gestern hier angekommen.« »Warum?« »Ich suche meinen… meinen Verlobten.« Offiziell waren sie gar nicht verlobt. Aber da sie sich das Eheversprechen gegeben hatten, kam es dem gleich. »Carl Dilger?« fragte die seltsam vertraute Stimme. »Ja, Carl. Ich habe gehört, er sucht in Kalifornien nach Gold.« »Und Ihr Freund Jacob Adler, was will er hier?« »Er begleitet mich und meinen Sohn.« »Ah, er spielt also immer noch den barmherzigen Samariter.« Sarkasmus schwang in diesen Worten mit, aber auch Verachtung und Haß. Der unheimliche Fremde kannte sie also beide. Doch woher? »Und der andere, dieser Bauer, Martin Bauer – was ist mit ihm?« Er kennt uns alle! durchfuhr es Irene. Plötzlich glaubte sie zu wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Anfangs war sie nicht darauf gekommen, weil sie den Mann für tot hielt. Aber konnte das sein? Er?
War er denn nicht gestorben? Vor ihren eigenen Augen! »Ich habe Sie nach Martin Bauer gefragt!« ermahnte sie der Mann. »Ist er auch in Frisco?« »In Frisco?« Irene schüttelte den Kopf. »Nein, er ist in Oregon geblieben. Er hat sich dort niedergelassen.« »In Oregon also«, brummte er leise und fuhr lauter fort: »Sie scheinen ja weit herumgekommen zu sein. Bei Gelegenheit müssen Sie mir davon erzählen. Jetzt muß ich mich um andere Dinge kümmern. Da das Schicksal so freundlich war, uns wieder zusammenzuführen, muß ich die Gunst der Stunde nutzen.« »Sind Sie es?« fragte Irene und nannte den Namen des Mannes, den sie bis zu dieser Stunde für tot gehalten hatte. »Ein Name ist Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsglut, meine Gute, das wissen Sie doch.« Der Mann sprach mit einem meckernden Lachen. »Aber nein, verzeihen Sie. Ein Dienstmädchen hat natürlich nicht den Faust gelesen.« Irene überging die scharfe Spitze. Sie war bedeutungslos gegenüber ihrer Sorge. Wenn ihre Vermutung hinsichtlich der Identität ihres Gegenübers stimmte, schwebten sie alle in höchster Gefahr: Jamie, sie selbst und Jacob. Jacob! Was war mit dem Freund, der tief in ihrem Herzen noch viel mehr war als ein bloßer Freund, geschehen? Was hatte der Mann, der von jenseits ihrer schwarzen Binde mit Irene sprach, mit ihm angestellt? Sie öffnete die zitternden Lippen und erkundigte sich nach Jacob Adler. »Eigentlich wollte ich Sie beide hier begrüßen. Leider ist etwas dazwischengekommen. Aber ich hoffe, Sie bald mit Herrn Adler vereinen zu können.« Er seufzte tief. »Wirklich, ich würde mich sehr darüber freuen!«
Die Art, wie er das sagte, überzeugte Irene, daß die Freude sehr einseitig ausfallen würde. Trotzdem war sie über die Mitteilung erleichtert. Sie hatte schon das Schlimmste befürchtet. Nun wußte sie, daß Jacob lebte. So sehr sie sich jetzt auch seine Nähe wünschte, viel mehr als die von Carl Dilger, so innig hoffte sie, ihr unheimlicher ›Gastgeber‹ – Entführer war wohl der passendere Ausdruck –, möge ihn nicht in seine Hände bekommen. Sie war erleichtert, als dieser sagte: »Ich habe noch zu arbeiten. Buster, bring Miß Sommer in ihr Quartier zurück!« Jetzt hatte er englisch gesprochen. Buster mußte der Name des riesigen Negers sein. Irene spürte seinen festen Griff wieder an ihrem Arm. Gleichwohl fühlte sie sich erleichtert, als sie den Raum verließ. Allein die körperliche Anwesenheit des Mannes, für den Buster arbeitete, hatte ihr Furcht bereitet. Seine feindselige, haßerfüllte Ausstrahlung hatte sich wie eine dicke Decke über sie gelegt und ihr fast die Luft zum Atmen genommen. Da war es in ihrem ›Quartier‹ schon angenehmer, auch wenn es nur der enge, ungemütliche, dunkle Raum von vorhin war. Buster nahm ihr die Binde ab und verschloß die Tür. Irene konnte nicht sagen, ob er sich entfernte oder auf dem Gang verharrte. Seine katzenhafte Lautlosigkeit machte es unmöglich. Jedenfalls waren sie allein in dem Raum. Allein mit Jamie und ihren trüben, sorgenerfüllten Gedanken, die um Jacob kreisten. Und allein mit der Dunkelheit. * Einen Tag später.
Jacob Adler war nicht allein in der Dunkelheit. Immer mehr Stimmen meldeten sich. Stöhnend, schreiend oder zögerlich fragend. Andere antworteten, und Namen wurden ausgetauscht. Ungefähr zwölf Menschen mußten sich hier befinden, und alle waren Gefangene. Aber neben den menschlichen gab es noch andere Wesen, die gerade in der Dunkelheit aktiv wurden. Jacob selbst bemerkte es, als er erst ein Kribbeln an Hals und Kinn und dann ein Kratzen und Stechen an der Unterlippe spürte. Mehr erschrocken als verängstigt wischte er mit seiner Mundpartie an der Schulter entlang. Dann erst kam er darauf, was es gewesen war: eine Kakerlake auf der Suche nach Speiseresten, die das widerliche Tier, wäre der Mann noch bewußtlos gewesen, vielleicht bis in seinen Mund geführt hätte. Die Männer riefen ihre Namen in die Dunkelheit und immer wieder Fragen nach ihrem Schicksal. »Wo sind wir?« »Wer, zur Hölle, hat mich gefesselt?« »Was sollen wir hier?« Da antwortete eine tiefe Stimme ganz dicht bei Jacob: »Wir warten auf unsere Einteilung, schätze ich.« Der Sprecher mußte rechts neben Jacob liegen. Der Deutsche drehte sich um und fragte: »Was denn für eine Einteilung?« »Zum Dienst. Wenn mich nicht alles täuscht, liegen wir im Bauch eines Walfängers. Und ich habe noch niemals von 'nem verdammten Walfänger gehört, der Leute befördert, die nicht an Bord arbeiten müssen.« Walfänger! schoß es durch Jacobs Kopf. Also liege ich doch auf einem Schiff! »Woher willste das wissen?« fragte eine heisere Stimme. »Wer biste überhaupt?« »Ich heiße Elihu Brown und bin die meiste Zeit meines Lebens als Harpunier auf Walfängern gefahren«, brummte der
Mann mit der tiefen Stimme. »Vorgestern abend habe ich die Auszahlung des letzten Gewinnanteils in Whiskey und Rum umgesetzt. Ich erinnere mich noch, daß ich in einer Spelunke in Sidney Town mit einer süßen Braut gebechert habe, als da ein Steuermann von der LUCIFER reinkam und mich unbedingt für seinen Seelenverkäufer anheuern wollte. Ich wollte das nicht. Sieht aber ganz so aus, als sei es dem Hund trotzdem gelungen. Muß mir was in den Rum geschüttet haben, der Bastard!« »Sieht ganz so aus«, kicherte der Heisere. »Ich heiß übrigens Jock Moulder und hatte auch eine Begegnung mit ein paar Jungs von der LUCIFER. Mit mir ham'se nich' so viele Umstände gemacht. Als ich deren ihr freundliches Angebot abgelehnt hab, ham'se mir einfach 'nen Knüppel übern Kopp gezogen, die zehnmal verwünschten Satansbrüder!« »Yeah, ausgerechnet die LUCIFER!« knurrte Elihu Brown unwillig in die Dunkelheit. »Jedes andere Schiff wäre mir lieber.« »Warum?« fragte Jacob. »Wer bist du denn?« wollte der baßstimmige Harpunier wissen. Der Deutsche nannte seinen Namen. »Bist wohl kein Seemann, wie?« fragte Brown. »Nein, Zimmermann.« »Na, als dämliche Landratte kannste natürlich nicht wissen, daß die LUCIFER nicht den besten Ruf weghat. Was, Leute?« Er erntete zustimmendes Gelächter. Es schien eine Art Galgenhumor zu sein. »Schon der Name dieses Kahns ist nicht gerade angetan, einem den Pott sympathisch zu machen«, fuhr der Harpunier fort. »Aber auch sonst erzählt man sich wenig Gutes über ihn. Deshalb muß Raven sich seine Leute shanghaien.« »Wer ist Raven?« hakte Jacob nach. »John Raven ist der verdammte Käpten dieses verdammten
Seelenverkäufers, Junge. Man sagt, in seinem Kopf ist es nicht mehr ganz in Ordnung, seit letztes Jahr die CORA SUE in die Luft geflogen ist. War das Schiff seines Bruders, und Raven war Erster Steuermann. Ein Wal griff die CORA SUE an, dabei entzündete sich das ausgekochte Öl – und wumm!« »Wumm!« krähte Jock Moulder bestätigend und brach in heiseres Gelächter aus. »Und dann?« erkundigte sich Jacob, der offenbar von allen Männern hier am wenigsten über die LUCIFER und ihren Kapitän wußte. »Die Versicherung hat gezahlt«, erklärte Brown. »Da Ravens Bruder und dessen Frau mit der CORA SUE untergegangen sind, bekam John Raven die ganze Summe. Dafür kaufte er sich dieses Schiff. Früher hörte es auf den friedlichen Namen SEAGULL. Weiß der Teufel, warum Raven es in LUCIFER umbenannte.« »Raven wird es wissen«, meinte Jacob. »Sicher«, bestätigte der Harpunier. »Schließlich halten ihn nicht wenige für vom Teufel besessen. Ist vielleicht die Erklärung für die seltsame Umtaufe, was?« Wieder erfüllte zustimmendes Gekicher aus mehreren unsichtbaren Kehlen den dunklen Raum. »Nun ja«, machte Brown. »Jedenfalls weiß keiner so recht, was Raven jetzt umtreibt. Er kreuzt ständig vor der Küste von Kalifornien, bringt aber nie einen einzigen Wal mit nach Hause.« Die tiefe Stimme schwang sich zu einem schrillen Lachen auf. »Wo kein Gewinn ist, da ist auch keine Gewinnbeteiligung. Kein Wunder, daß niemand drauf versessen ist, unter Raven zu segeln.« »Aber wozu kreuzt er vor der Küste, wenn er keine Wale fängt?« stellte Jacob die angesichts dieser seltsamen Geschichte natürliche Frage. »Das fragen sich noch mehr Leute als du, Landratte. Einige sagen, er sucht den Wal, der die CORA SUE versenkt hat.
Wenn das stimmt, muß Raven wirklich meschugge sein. Der Wal kann sonstwo stecken oder längst von einem anderen Pott gefangen und zu Öl verkocht worden sein.« »Still!« zischte Jock Moulder. »Da kommt wer!« Angestrengt lauschten die gefesselten Männer. Viele von ihnen hielten den Atem an. Schritte näherten sich und verhielten, als sie ziemlich laut waren. Sie hörten Stimmen, die etwas Unverständliches sagten. Das Kratzen eines herumgedrehten Schlüssels und das Klirren von Ketten folgten. Quietschend schwang die Tür auf, und Laternenschein stach in die Dunkelheit. Wegen des blendenden Lichts wandte Jacob, trotz seiner großen Neugier, den Kopf ab. So sah er als erstes den Harpunier Elihu Brown. Es war ein beeindruckender Anblick. Brown war groß, nur einen halben Kopf kleiner als Jacob. Dafür aber um einiges massiger. Sein Kopf wirkte wie ein Urwald. Dichtes rotbraunes Haar stand nach allen Seiten vom Kopf ab und vermischte sich übergangslos mit einem gleichfarbenen Vollbart. Brown, Jacob und die anderen Gefangenen lagen in einem großen Frachtraum zwischen zahlreichen Kisten und Fässern. Es waren rauhe, teilweise recht abgerissene Burschen. Jacob eingerechnet, waren es dreizehn Gefesselte. Keine beruhigende Zahl. »Willkommen an Bord der LUCIFER, Männer«, sagte mit unüberhörbarem Spott der Mann, der in den zum Kerker umfunktionierten Frachtraum getreten war. »Ich heiße Cyrus Stanford und bin der Erste Steuermann.« Er war mittelgroß und schlank. Unter einer ehemals schwarzen, jetzt speckig glänzenden Seemannsmütze ringelten sich farblich an die Mütze angepaßte Haarsträhnen hervor. Der schwarze Schnurrbart, der an den Mundwinkeln tief nach unten gezogen war, verlieh dem hageren Gesicht einen dämonischen Zug.
Er hatte die schwere, dunkle Jacke zurückgeschlagen, so daß man die Waffen sehen konnte, die in seinem Gürtel steckten: eine Fischbeinpeitsche, ein langgriffiges Haifischmesser und ein mattbraunes Lederholster, aus dem der mit Fischbein verschalte Griff eines Revolvers ragte. Hinter ihm standen zwei weitere Männer im Eingang, von denen einer eine große Öllaterne hielt. Jeder der beiden war mit einem beeindruckenden Holzknüppel bewaffnet. Ihre Gesichter blickten ebenso düster wie das des Ersten Steuermanns, dessen Leibwache sie offenbar bildeten. »Ich rate euch, keinen Ärger zu machen«, fuhr Cyrus Stanford in einem drohenden Ton fort. »Käpten Raven und ich, wir halten nicht viel von Meuterern. Machen kurzen Prozeß mit solchen Kerlen. Also benehmt euch anständig!« Er drehte den Kopf über die Schulter und schnarrte: »Frenchy, schneid ihnen die Fußfesseln durch!« Der Mann ohne Laterne trat vor, klappte ein rostiges Messer auf und befolgte den Befehl. »Aufstehen!« kommandierte Stanford, als sämtliche Gefangene ihre Füße endlich wieder frei bewegen konnten. »Hinauf an Bord mit euch. Der Käpten will euch sehen.« Schwankend erhoben sich die Männer. Es war nicht ganz einfach, mit gefesselten Händen aufzustehen. Außerdem hatten die engen Fußfesseln ihnen das Blut abgeschnürt. Die Füße schmerzten stark und versuchten immer wieder, den Dienst zu versagen. »Ein bißchen schneller, ihr lahmen Flundern!« krähte der Steuermann. »Käpten Raven wartet nicht gern.« Einer nach dem anderen gingen die entführten Männer an ihm vorbei, um den Frachtraum zu verlassen. Elihu Brown, der vor Jacob ging, blieb stehen, als er mit Stanford auf einer Höhe war. So abrupt, daß der junge Zimmermann gegen den Harpunier prallte. Aber der bärtige Seemann achtete gar nicht auf den
Schicksalsgefährten. Sein Kopf ruckte zur Seite und starrte unverwandt den Ersten Steuermann der LUCIFER an. Seine Augen wirkten wie glühende Kohlen in dem undurchdringlichen Bartgestrüpp. »Geh weiter, Mann!« rief der kugelbäuchige Frenchy von hinten. Elihu Brown beachtete ihn gar nicht. Seine Welt schien nur noch aus Cyrus Stanford und ihm selbst zu bestehen. »Ich erkenne dich«, murmelte der Harpunier mit Lippen, deren Bewegung nur durch das Zittern der sie überwuchernden Barthaare verraten wurde. »Du bist der Kerl, der mich für die LUCIFER anheuern wollte. Der Lump, der mir irgendein Teufelszeug in meinen Rum geschüttet hat!« Der Schiffsoffizier grinste unter seinem dünnen Bart und deutete eine Verbeugung an, Höflichkeit vortäuschend, aber in Wahrheit verächtlichen Spott ausdrückend. »Willkommen auf der LUCIFER, Master Brown. Gute Harpuniere können wir hier gebrauchen. An Land wäre es dir nicht lange gut gegangen. Wäre ich nicht gewesen, hätte dich irgend 'ne dreckige Landratte übertölpelt. Kerle wie du, die mehr Muskeln als Hirn haben, sind für die See geschaffen.« »Du dreckiger Bastard eines Klabautermanns und einer Nixe, dir werde ich meine Muskeln schon zeigen!« Noch ehe Elihu Brown ganz ausgesprochen hatte, senkte er seinen Kopf und rannte wie ein wütender Stier auf den Steuermann los. So überraschend und schnell, daß Stanford seine Hand zwar noch zum Gürtel bewegen konnte, aber nicht mehr dazu kam, eine seiner Waffen zu ziehen. Browns haariger Schädel krachte gegen seine Brust und riß ihn von den Beinen. Als der Angegriffene stürzte, rutschte seine speckige Mütze vom bereits recht kahlen Kopf. Das Haar wuchs nur noch an den Rändern üppig. Der Harpunier stolperte über sein Opfer und verlor, da er den Schwung seiner Körpermasse wegen der gefesselten Hände
nicht ausgleichen konnte, das Gleichgewicht. Mit lautem Poltern schlug er neben Stanford auf die Planken. Das unerwartete Schauspiel erfüllte die Männer mit Begeisterung. Vergessen waren die Entführung, ihre mißliche Lage und die bevorstehende Begegnung mit Kapitän Raven. Sie dachten jetzt nur an den Zweikampf, dessen Ausgang ungewiß schien. Elihu Brown hatte auf seiner Seite die größere Körperkraft und den gerechten Zorn. Aber die wichtigsten natürlichen Waffen eines Mannes, die Hände, konnte er nicht bewegen. Cyrus Stanford hatte die Hände frei. Und er war bewaffnet. Die Sache war so spannend, daß die sich um den Kampfplatz scharenden Männer eilige Wetten abschlossen. Sie setzten Geld, das sie vielleicht gar nicht hatten, Medaillons, Schuhe und einer sogar sein Glasauge. Der Steuermann kam vor dem Harpunier auf die Füße. Die eingeengte Bewegungsfreiheit seiner gefesselten Hände behinderte den Bärtigen. »Das sollst du büßen!« knurrte Stanford. Seine Rechte umspannte den Fischbeingriff des Revolvers und zog ein ölglänzendes Navy-Modell von Remington Beals aus dem Holster. Noch in der Bewegung des Ziehens richtete er die Waffe auf den am Boden liegenden Gegner und spannte den Hahn mit dem Daumen. Das Aufleuchten in Browns Augen zeigte, daß er die Gefahr erkannte. Und er reagierte mit derselben Schnelligkeit, die er schon bei seinem Angriff auf den Steuermann bewiesen hatte. Seine von den Fesseln befreiten Beine schlossen sich um die Unterschenkel des Schiffsoffiziers. So fest, daß Stanford gequält aufstöhnte, als er zu Boden stürzte. In das Stöhnen mischte sich das Krachen des Revolvers. Wegen des Sturzes hatte Stanford die Waffe verrissen. Die Kugel pfiff zwischen den erschrockenen Schaulustigen hindurch und klatschte, einen kleinen Splitterregen auslösend,
in einen dicken Stützpfeiler. »Ohne Waffe bist du Lump wohl wehrlos, wie?« grinste Brown verächtlich. »Kommst nicht mal gegen einen Mann an, dessen Hände gefesselt sind!« Stanford, der ganz in seiner Nähe am Boden lag, schüttelte die Benommenheit von sich ab und wollte erneut auf den Harpunier anlegen. Da warf sich Brown auch schon mit seinem ganzen Gewicht auf den Offizier. Es sah aus, als wolle der Harpunier den anderen einfach unter sich zerquetschen. Browns linke Schulter drückte hart auf das Gelenk von Stanfords rechter Hand. Mit einem Aufschrei ließ der Steuermann den Navy-Revolver los. »Schon besser!« quetschte der Bärtige zwischen vor Anstrengung zusammengepreßten Zähnen hervor. »Wollen mal sehen, wie du ohne Kanone klarkommst, Mr. Steuermann!« Stanford, der rücklings unter dem Gegner lag, atmete schwer. Das Gewicht des Harpuniers preßte die Luft zum Atmen aus seinen Lungen. Die Augen in dem hageren Gesicht des Steuermanns traten bereits aus ihren tiefen Höhlen hervor. Der Offizier bekam die Linke frei und verkrallte sie in Browns üppigem Haar. Mit aller Gewalt zog Stanford an der rotbraunen Mähne. Zoll um Zoll zerrte er den Kopf des Harpurniers zur Seite. Auch Stanford mußte ein starker Mann sein. Oder in ihm war die Flamme der Verzweiflung entbrannt und setzte die ungeahnten Kräfte frei, über die Menschen nur in Augenblicken höchster Not verfügen. Der Steuermann war stark, aber nicht stark genug. Mit dem Aufschrei eines wilden Tieres befreite Elihu Brown seinen Kopf aus dem eisernen Griff. Stanford hielt nur noch ein Büschel ausgerissener Haare zwischen den verkrampften Fingern. War es Absicht oder nur die Kraft der Bewegung? Browns
Kopf krachte gegen den des Gegners. So hart, daß die Knochen hörbar knackten. Stanford schloß die Augen. Mit ihm schien es zu Ende zu gehen. Plötzlich wurden seine beiden Begleiter aktiv. Bis jetzt hatten sie den Kampf ebenso fasziniert verfolgt wie die anderen Männer. Jetzt, wo ihr Steuermann zu unterliegen drohte, mußten sie etwas unternehmen, wollten sie sich nicht seinem Zorn und dem des Kapitäns aussetzen. Sie drängten sich durch den Ring der Zuschauer nach vorn. Frenchy schwang den schweren Knüppel und ließ ihn auf Elihu Browns Schädel krachen. Der Harpunier stöhnte auf, ließ aber nicht von seinem Opfer ab. Ein zweiter Schlag auf dieselbe Stelle änderte die Sachlage. Browns Körper erschlaffte, rollte von dem Steuermann und zeigte nur durch leichte Zuckungen, daß noch Leben in ihm war. Frenchy griff nach Stanfords Revolver, spannte den Hahn und hielt den ermatteten Harpunier mit der Waffe in Schach. Der andere Seemann kümmerte sich um Stanford. Durch leichte Schläge, die er mit der flachen Hand auf die Wangen des Steuermanns ausführte, brachte er diesen wieder zu Bewußtsein. Erst machte Stanford das verwirrte Gesicht eines kleinen Kindes, das zum erstenmal bewußt die Welt um sich herum wahrnahm. Er kniff die Augen zusammen und schüttelte sein Kopf. Das war mit Schmerzen verbunden, wie seine plötzlich verzerrten Züge und sein gedehntes Stöhnen verrieten. Aber der Schmerz schaffte es besser als alles andere, ihn an das zu erinnern, was sich abgespielt hatte. Sein Gesicht ruckte zu Brown herum. Jetzt drückte es nicht mehr Schmerz aus, sondern grenzenlosen Haß. »Gottverfluchter Hurensohn!« knurrte er, als er die Hände
auf einer Kiste abstütze und sich ächzend auf die Beine zog. »Dir werde ich den Gehorsam einprügeln!« Er riß die Fischbeinpeitsche aus dem Gürtel und schlug wie ein Besessener auf den noch halb bewußtlosen Harpunier ein. Immer wieder pfiff die dünne Gerte durch die stickige Luft des Frachtraums, klatschte auf den Körper des wehrlosen Harpuniers und riß Kleider wie Haut in Fetzen. Auch Elihu Brown erlangte durch den Schmerz sein Bewußtsein wieder. Aber Frenchy und sein Kamerad vereitelten alle Bemühungen des Harpuniers, den Schlägen auszuweichen. Wollte er sich erheben, rissen sie ihn wieder von den Beinen. Jacob wurde übel bei dem Anblick des bloßgelegten, blutigen Fleisches. Doch Stanford schien keinen Abscheu zu empfinden. Ganz im Gegenteil. Mit der Unermüdlichkeit des Rasenden drosch er weiter auf den jämmerlich stöhnenden Harpunier ein. Jacobs eng an den Leib gefesselte Hände ballten sich zu Fäusten. Dieser Ausdruck seiner Hilflosigkeit und seines Zorns war die einzige Bewegung, die ihm mit den Händen möglich war. Hätte er sie nur frei gehabt! Er hätte dem Schläge austeilenden und dabei viehisch keuchenden Steuermann zu gern gezeigt, wie es war, wenn man verprügelt wurde. Schließlich hielt Jacob es nicht mehr aus. Der Anblick von Elihu Browns zerschundenem Oberkörper, vor lauter Blut so rot wie eine vollreife Tomate, riß den jungen Deutschen mit einem wuterfüllten Aufschrei nach vorn. Er rammte seine Schulter in Stanfords Kreuz. Der Steuermann stolperte vorwärts, über sein sich vor Schmerzen am Boden windendes Opfer. Darüber und vielleicht auch wegen des Blutes, das die Planken glitschig machte, kam Stanford zu Fall.
Aus den Augenwinkeln sah Jacob, wie Frenchys Rechte mit dem Navy-Revolver in seine Richtung schwenkte. Fast mechanisch tauchte der junge Zimmermann nach unten weg. Zugleich bemerkte er den Flammenstrahl, der aus der dunklen Mündung in seine Richtung leckte. Die schnelle Reaktion bewahrte Jacob vor einer schweren Verwundung, rettete ihm vielleicht sogar das Leben. Die Kugel zerteilte die Luft dort, wo sich eben noch sein Kopf befunden hatte. Es gab ein häßliches Kreischen, als das Bleigeschoß irgendwo hinter Jacob etwas Metallisches schrammte, vielleicht ein Scharnier. Frenchy wollte den Hahn erneut spannen. Jacob war schneller und rannte ihn einfach über den Haufen. Als der untersetzte Mann mit dem Kugelbauch zwischen Stanford und Brown fiel, nahm Jacob einen Schatten hinter sich wahr. Er wirbelte herum und sah das pockennarbige Gesicht des anderen Mannes aus Stanfords Begleitung. Der Seemann hatte den rechten Arm hochgereckt. Jetzt sauste die Hand mit dem Knüppel auf den Deutschen nieder… Jacob duckte sich und konnte verhindern, daß das schwere Holz seinen in letzter Zeit reichlich lädierten Kopf traf. Aber der Schlag gegen die linke Schulter war schmerzhaft genug. Er schickte den großen Mann aus Deutschland zu Boden. In regelmäßigen, kurzen Abständen gingen heiße Schmerzwellen von der getroffenen Schulter aus und überfluteten den ganzen Oberkörper. Der Pockennarbige hob den Knüppel schon zum nächsten Schlag. Jacob lag auf der rechten Seite. Er wollte die Linke hochreißen, um den Schlag, wenn schon nicht abzuwehren, dann wenigstens abzumildern. Aber es ging nicht. Er hatte die Fesseln vergessen.
»Du greifst nicht noch mal einen Steuermann an, Bastard!« knurrte der Pockennarbige, und ein wölfisches Grinsen umspielte seine von Natur aus schrägstehenden Lippen. Er zögerte mit dem Zuschlagen, wollte die Angst auf Jacobs Gesicht auskosten. »Halt!« lähmte eine schneidend scharfe Stimme den Pockennarbigen in der Sekunde, als er den vernichtenden Schlag ausführen wollte. »Was ist hier los, Petrov? Ich habe zwei Schüsse gehört. Wer hat geschossen?« »Mr. Stanford und Frenchy, Käpten«, antwortete der Mann namens Petrov. Noch immer hielt er den Holzknüppel hoch über seinem Kopf, was seiner Haltung etwas Groteskes verlieh. Mit einer Art widerwilliger Faszination starrte Jacob, wie alle anderen auch, den Mann an, der an der Spitze eines kleinen Trupps von Seeleuten im Eingang des Frachtraums stand. Auch wenn Petrov ihn nicht als ›Käpten‹ angesprochen hätte, hätte der Deutsche sofort gewußt, daß er es mit John Raven zu tun hatte. Der Mann strahlte jene Kraft und Autorität aus, die man einfach benötigte, um ein Schiff voller rauher Burschen monatelang auf See zu führen. Überlagert wurde diese Autorität von dem schrecklichen Aussehen des Kapitäns. Seine linke Gesichtshälfte war verunstaltet. Eine einzige blutunterlaufene Narbe, die erst am Kinn schmaler wurde und am Hals schließlich mit der Haut verschmolz. Auch das Auge war in Mitleidenschaft gezogen. Jedenfalls wurde es von einer schwarzen Klappe verdeckt. Später erfuhr Jacob von Mannschaftsmitgliedern der LUCIFER, daß beim Untergang der CORA SUE ein brennender Holzsplitter das Auge ausgestochen hatte. Der Kapitän der LUCIFER kam näher. Die shanghaiten Männer traten ehrfürchtig zurück und bildeten eine Gasse für
den großen, hageren Mann. Jacob konnte ihnen diesen Respekt nicht verdenken. Ebensowenig kamen ihm die Gerüchte übertrieben vor, nach denen Raven mit dem Teufel im Bunde sein sollte. Wenn man den Mann ansah, schien dieser Verdacht nahezuliegen. Sein hageres, unten spitz zulaufendes Gesicht war von der Sonne so tief gebräunt, daß es fast schwarz wirkte. Die Haut schien aus ledernen Lappen zu bestehen. Das rechte Auge war blutunterlaufen. Die große, krumme Nase verstärkte den satanischen Eindruck noch. Ebenso der zerknitterte schwarze Anzug, dessen zahlreiche Flecken verrieten, daß sein Besitzer nicht viel auf Äußerlichkeiten gab. Der Kapitän, gefolgt von seinen mit Knüppeln und Speckmessern bewaffneten Begleitern, blieb dicht vor den am Boden liegenden Männern stehen. Sein rötlich schimmerndes Auge musterte jeden von ihnen eingehend und heftete sich anschließend so eindringlich auf Petrov, daß der Pockennarbige unwillkürlich einen Schritt zurück machte. Bis ihn ein festgezurrter Kistenstapel in seinem Rücken aufhielt. »Mr. Stanford und Frenchy haben also geschossen«, brummte Raven nachdenklich. Laut und schnell fragte er dann: »Warum?« Die Frage traf Petrov wie ein Stück heißes Blei. »Weil… weil die Gefangenen gemeutert haben«, stotterte er. »Und wen wollten Sie mit Ihrem Prügel treffen, Mr. Petrov?« »Den da!« Die zitternde Linke des Pockennarbigen zeigte auf Jacob. »Er hat Mr. Stanford und Frenchy angegriffen und zu Boden geschleudert.« Die buschige schwarze Braue über dem Auge des Kapitäns hob sich vor Erstaunen, während das Auge auf Jacob ruhte. »Der Mann hat das getan?« vergewisserte sich Raven.
»Aye, Käpten.« Petrov nickte beflissen. »Aber er ist doch gefesselt!« stieß Raven überrascht hervor. »Er kann seine Hände nicht bewegen!« Sein jetzt wieder auf Petrov gerichtetes Auge machte klar, daß er eine Erklärung von dem Untergebenen erwartete. Was der Pockennarbige herausbrachte, klang kläglich. Sowohl inhaltlich als auch in Bezug auf seine zitternde Stimme. Anscheinend war er sich bewußt, daß er und seine beiden Begleiter im Auge des Kapitäns ein jämmerliches Bild abgaben. »Aye, Sir, er ist gefesselt.« »Dann muß er entweder ein besonders mutiger oder ein besonders verrückter Mann sein«, stellte John Raven mit einer gewissen Anerkennung in der Stimme fest. »Weder noch«, sagte Jacob, während er seinen Oberkörper mühsam aufrichtete und gegen ein großes Faß lehnte. »Ich sehe nur nicht gern dabei zu, wie ein wehrloser Mann in Fetzen geschlagen wird!« Ravens Auge wanderte weiter zu dem unentwegt stöhnenden Elihu Brown. »Ein Freund von dir?« »Nein. Ich habe ihn erst hier kennengelernt. Ich hätte es für jeden getan.« »Nein, Käpten!« verbesserte John Raven den shanghaiten Mann und blickte ihn auffordernd an. »Nein, Käpten«, keuchte Jacob, während er gegen eine neue Schmerzwelle aus seiner Schulter ankämpfte. Raven wandte sich wieder an Petrov und fragte, was sich abgespielt hatte. Der Pockennarbige antwortete wahrheitsgetreu. Jacob spürte den Blick des blutunterlaufenen Auges auf sich und hörte auch schon die Frage des Kapitäns: »Wie heißt du?« »Jacob Adler… Käpten.«
»Holländer?« »Deutscher, Käpten.« »Hast du der Aussage des Steuermannsmaates Petrov etwas hinzuzufügen, Adler?« »Nein, Käpten. Genauso hat es sich abgespielt.« Raven seufzte kaum hörbar und fragte: »Adler, kennst du das schwerste Verbrechen auf See?« »Ich bin kein Seemann.« »Meuterei!« Ravens ausgezehrte Züge verhärteten sich. »Wenn ein Kapitän sich nicht auf den unbedingten Gehorsam seiner Untergebenen verlassen kann, sind alle in Gefahr: Offiziere, Mannschaften und das Schiff. Deshalb ist es die oberste Aufgabe eines Kapitäns und seiner Offiziere, jeden Anflug von Meuterei rigoros zu ersticken. Genau das hat Mr. Stanford getan, als er diesen Aufrührer bestrafte. Und indem du dich gegen den Ersten Steuermann meines Schiffes wandtest, Adler, hast du dich ebenfalls der Meuterei schuldig gemacht!« »Meuterei?« kreischte Jacob entrüstet. »Meutern können nur Ihre Seeleute, Käpten. Aber dazu gehören weder Mr. Brown noch ich. Wir wurden entführt und an Bord Ihres Schiffes verschleppt.« Raven legte den schmalen Kopf ein wenig schief. »Du gibst also zu, dich an Bord meines Schiffes zu befinden, Adler?« Jacob zog die Stirn in Falten. Er verstand den Sinn der Frage nicht. »Natürlich, Käpten. Warum sollte ich die Tatsachen leugnen?« »Dann gibst du gleichfalls zu, ein Meuterer zu sein!« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung des Kapitäns. »Auf diesem Schiff reisen keine Passagiere, nur der Kapitän und seine Mannschaft. Da du dich an Bord der LUCIFER befindest und ich ihr Kapitän bin, gehörst du zwangsläufig zur Mannschaft, Adler. Und damit fällt dein Verhalten
unzweifelhaft unter den Begriff der Meuterei!« Ein dünnes, kaltes Lächeln umspielte Ravens Lippen. Nur im linken Mundwinkel, nahe der großen Narbe, blieben die Lippen unbewegt. »Dieser Brown hat seine Strafe bereits erhalten«, fuhr der Kapitän fort. »Mit dir will ich nachsichtig sein, Adler. Ich halte dir deine Erregung und Unerfahrenheit zugute. Aber natürlich muß ich ein abschreckendes Exempel statuieren, um die anderen Männer von einer möglichen Nachahmung abzuhalten. Ich denke, fünfundzwanzig Peitschenhiebe auf den nackten Rücken sollten genügen.« Raven wandte sich an seinen Ersten Steuermann, der sich gerade vom Boden erhob und seine schmerzende Stirn rieb. »Mr. Stanford, sind Sie bereit, das Urteil an dem Besatzungsmitglied Adler zu vollstrecken?« Ein böses Glitzern trat in Stanfords Augen. »Aye, Käpten, mit dem größten Vergnügen.« »Gut«, nickte der Mann mit der Augenklappe. »Dann schaffen Sie den Delinquenten an Bord und rufen Sie die gesamte Mannschaft zusammen!« * San Francisco, am selben Vormittag. Daß sich der Dreimastsegler ALBANY zum Auslaufen bereitmachte, fiel in dem überfüllten Hafen der überfüllten Stadt am Golden Gate kaum auf. In den frühen Morgenstunden hatten immer wieder Wagen auf dem Kai gehalten, um Kisten und Fässer mit Proviant abzuladen. Jetzt, rechtzeitig zur Flut, war alles verstaut. Eine Dampfbarkasse hatte sich vor die schwere Bark gesetzt, in deren Bauch stählerne Geschütze und die dazugehörige Munition lagerten. Quietschend drehte sich die Ankerwinde der ALBANY, und
die schwere Ankerkette rasselte nach oben. Zwischen dem kleinen Seitenraddampfer und dem gegen ihn mächtig wirkenden Segler wurden Signale ausgetauscht. Klar zum Auslaufen, lautete die Botschaft von der ALBANY. Die Dampfpfeife des Schleppers tutete unternehmungslustig, und die beiden Schaufelräder begannen sich zu drehen, wühlten das brackige Hafenwasser auf. Erst sah es aus wie ein hoffnungsloses Unterfangen. Die dicken Schleppleinen, die beide Wasserfahrzeuge miteinander verbanden, spannten sich zwar, aber sonst tat sich nichts. Trotz der gewaltigen schwarzen Rauchfahne, die der Dampfer jetzt ausstieß, schien ihn das immer schnellere Drehen der Schaufelräder nicht von der Stelle zu bringen. War für ihn die Fracht zu schwer, die im Bauch der ALBANY lagerte? Da ging ein Ruck durch den hölzernen Rumpf des Dreimasters. In majestätisch wirkender Langsamkeit glitt er an der Vielzahl von Schiffen vorbei, die in der großen Bucht vor Anker langen. »Hat lange gedauert, bis sich die ALBANY bewegte«, brummte Piet Hansen. »Die gute alte Dame ist ziemlich schwer beladen.« Er stand neben Joe Weisman, der das Steuer führte, auf dem Achterdeck. Der gedrungene Deutsch-Amerikaner war vom Zweiten zum Ersten Steuermann aufgerückt, nachdem Georg Möller, der bisherige Erste, es vorgezogen hatte, in den Spelunken von Frisco oder irgendwo auf den Goldfeldern sein Glück zu versuchen. Hansen war darüber nicht im mindesten gram. Der ehemalige Vertrauensmann des verbrecherischen Geschäftemachers Arnold Schelp war kein Schiffsoffizier gewesen, dem Hansen seinen Pott mit ruhigem Gewissen anvertraute. Dumm war nur, daß so viele Männer das Weite gesucht
hatten, um goldene Nuggets zu finden. Die Männer, die Captain Levander Driscoll in aller Eile als Ersatz zusammengetrommelt hatten, war recht abgerissene Gestalten. Unter normalen Umständen hätte Hansen mindestens der Hälfte von ihnen den Eintrag in die Musterrolle verweigert. Aber aufgrund der gebotenen Eile, deren genauen Grund der alte Seebär nicht kannte, durfte man nicht wählerisch sein. Auch der neue Zweite Steuermann, ein gewisser Jed Cooper, war nicht ganz nach Hansens Geschmack. Sein schiefes Gesicht hatte etwas Verschlagenes, Hinterlistiges an sich. Auch in diesem Augenblick, wo er auf der Back stand und ein prüfendes Auge auf die Schleppleinen warf, kam es dem Kapitän so vor, als brüte Coopers fliehende Stirn irgendeine Untat aus. »Hauptsache, die schwere Ladung zieht Ihr Schiff nicht auf den Meeresgrund, Käpten«, grinste der blauuniformierte Soldat, der neben Hansen und Weisman stand. Die fast heitere Stimmung des jungen, breitschultrigen Marineoffiziers war dem Kapitän der ALBANY reichlich suspekt. Sie waren in geheimer Mission unterwegs, um die eigentlich für die Konföderierten bestimmten Geschütze an ein Ziel zu bringen, das nicht einmal Hansen kannte. Trotz aller nötiger Geheimhaltung schien es Driscoll nicht zu kümmern, daß die schwere Ladung der ALBANY den Verdacht von zufälligen oder bewußten Beobachtern erregen konnte. Ebenso wie die blauen Uniformen an Deck. Hansen hatte Driscoll darauf hingewiesen. Der Captain der Vereinigten Staaten hatte brüsk geantwortet, die militärische Seite des Unternehmens ginge ihn nichts an. So boten sich alle zehn Blauuniformierten der Öffentlichkeit feil. Gerade das Gegenteil von dem, was Hansen, wäre es nach
ihm gegangen, angeordnet hätte. Außer Driscoll befanden sich noch acht Marine-Infanteristen unter dem Kommando eines blutjungen Lieutenants namens Palmer an Bord. Anläßlich des Auslaufens hatte Palmer seine Männer unter dem Sternenbanner antreten lassen. Sie tun alles, um aufzufallen, wo ihnen doch am Gegenteil gelegen sein müßte! dachte der Kapitän mit leichtem Kopfschütteln. Ihm war unwohl zumute bei dem Gedanken an die bevorstehende Fahrt. Fast noch unwohler als vor einigen Wochen beim Verlassen des Hamburger Hafens. Damals hatte Arnold Schelp ihn für seine Zwecke benutzt, wenn auch mit Hansens Wissen. Jetzt benutzte ihn das Yankee-Militär, das wußte er. Aber er wußte nicht, wozu! Vielleicht war das der Grund für sein Unwohlsein: die bohrende Ungewißheit! Ein Kapitän, der das Ziel seines Schiffes nicht kannte, mußte sich einfach Sorgen machen. In tiefen Zügen atmete er die salzige Meeresluft ein. Er hoffte, sie würde die Sorgen ein bißchen vertreiben. Spätestens dann, wenn die ALBANY aus der San Francisco Bay heraus war. Aber er täuschte sich. Auch als der Schleppdampfer längst mit der dünnen Linie des Horizonts verschmolzen und seine schwarze Rauchwolke nur noch eine bloße Ahnung war, als der Dreimaster von der natürlichen Kraft des Windes, der in sein Segelwerk blies, durch die Wellen des Pazifischen Ozeans getragen wurde, wurde Piet Hansens Herz nicht leichter. Lag es nur an der Ungewißheit? Oder auch an dem seltsamen Blick, mit dem Jed Cooper alles und jeden an Bord musterte?
* Etwa zehn Seemeilen südwestlich, an Bord der LUCIFER. »Eins!« zählte der kugelbäuchige Frenchy laut und mit Freuden. Gebannt hingen die Blicke der versammelten Mannschaft an der rechten Hand des Ersten Steuermanns. Diese schwang die Fischbeinpeitsche in einer eleganten Bewegung, die verriet, wie geübt Cyrus Stanford im Gebrauch des Instruments war. Jacob hielt es für überaus wahrscheinlich, daß Kapitän Raven ihm stets das Auspeitschen renitenter Besatzungsmitglieder übertrug. Und er hielt es für nicht minder wahrscheinlich, daß an Bord der LUCIFER eine Menge Männer so bestraft wurden. Es war eine gute Lektion für die Shanghaiten und auch für die anderen Seeleute. Gleich am Beginn der Reise wurde ihnen klargemacht, was ihnen bevorstand, wenn sie nicht spurten: eine gefürchtete und harte Strafe. Sehr hart! Das spürte Jacob schon beim ersten Schlag. Er hätte laut schreien mögen vor Schmerz, wollte Stanford und Frenchy aber den Triumph nicht gönnen. Also biß er die Zähne zusammen und ließ nur ein unterdrücktes Stöhnen hören. Aber das heftige, krampfartige Aufbäumen seines mit Händen und Füßen in die Unterwanten des Großmastes gebundenen Körpers war ebenso deutlich wie ein lauter Schrei. »Das war erst der Anfang, du Ratte!« raunte Stanford in Jacobs Ohr und umhüllte dabei den Delinquenten mit einer unsichtbaren Wolke von Fäulnis, die dem Mund mit den vom vielen Tabakkauen dunkelbraun gewordenen Zähnen entströmte. »Frenchy und ich werden es hübsch langsam machen, damit du es genießen kannst!« »Lieber nicht«, grinste Jacob ihn mit über die nackte Schulter gedrehtem Kopf frech an. »Länger als eine Minute kann ich
deinen erbärmlichen Gestank nicht ertragen. Mit was spülst du dir den Mund, mit Kloakenwasser?« »Du Hund!« zischte der Steuermann. Sein zweiter Schlag war von seinem Zorn geführt. Er sah gefährlich aus, weil Stanford diesmal weiter ausholte. In Wahrheit aber war er nicht so gut plaziert und daher weniger schmerzhaft als der erste. Genau das hatte Jacob mit seiner gezielten Beleidigung beabsichtigt. Für die um den Großmast versammelte Mannschaft des Walfängers aber sah es besonders brutal aus. Entsprechend bedachten sie den zweiten Schlag mit erregten Ausrufen und aufgerissenen Augen – sei es vor Schreck oder aus Sensationsgier. Jacob las beides in den Augen der Männer. Es waren viele Männer, bestimmt an die hundert. Was ihn verwunderte. Für einen Walfänger dieser Größe hätte er weniger als die Hälfte für ausreichend erachtet. Aber er mochte sich irren, schließlich war er kein Seemann. »Drei!« gellte Frenchys Stimme über Deck. Der dritte Schlag war wieder wohlüberlegt und sehr schmerzhaft. Noch schmerzhafter als der erste, fand Jacob. Wahrscheinlich verstand Stanford es gut, seine Fischbeinpeitsche so zu führen, daß sich der Schmerz von Schlag zu Schlag steigerte. Die folgenden Schläge bestätigten diese Überlegung auf für Jacob sehr unangenehme Weise. Er versuchte sich dadurch abzulenken, daß er in die fremden Gesichter sah. Den meisten Gesichtern waren einige Dinge gemeinsam: Sie waren noch jugendlich, und trotzdem hatte die brennende Sonne ihre Haut zu Leder werden lassen und der scharfe Wind tiefe Falten in sie gegraben. Gesichter, Kleidung und vor allem Gesprächsfetzen, die durch den seine Sinne allmählich betäubenden Schmerzschleier zu ihm herüberwehten, zeigten Jacob, daß die Mannschaft aus
den unterschiedlichsten Nationalitäten zusammengewürfelt war. Er hörte holländische, französische, spanische und russische Wörter, verstand aber den Sinn der meisten nicht. Und er sah exotische Gesichter, die ihn an die Indianer erinnerten, die er auf dem langen Treck nach Oregon und auf dem Weg zur Pazifikküste kennengelernt hatte. Viele Neger. Andere Mienen waren unverkennbar asiatisch. »Fünfzehn!« Wieder fraß sich die schlanke Gerte in Jacobs Fleisch. Diesmal war es ein Gefühl wie heißes, flüssiges Metall, das über seinen von blutigen Striemen überzogenen Rücken gegossen wurde. Und diesmal konnte der Gepeinigte nicht verhindern, daß ein lauter, langer Schrei über seine Lippen drang. Sein Verstand wollte den Schrei nicht ausstoßen, doch sein gemarterter Körper gehorchte nicht länger. Er war zu schwach, um Frenchy und Stanford anzublicken. Er wollte es auch gar nicht. Er konnte sich die Befriedigung nur zu gut vorstellen, die sich jetzt auf ihren Mienen abzeichnete. Durch den Schleier vor seinen Augen, der alles verschwommen wirken ließ, suchte er den Blickkontakt zu den anderen Shanghaiten, die noch immer ihre Handfesseln trugen. Hier fand er Mitgefühl. Nur Elihu Browns bärtiges Gesicht fehlte. Trotz seiner Bärenkräfte war der Harpunier durch Stanfords ›Bestrafung‹ zu sehr geschwächt, um an Bord zu erscheinen. »Achtzehn!« Der Schleier wurde noch undurchsichtiger. Die Mienen der Umstehenden verschwammen zu einer teigigen Masse. »Zwanzig!« Ein Gesicht stach aus der Masse heraus, war plötzlich ganz nah vor ihm. Als wolle der Teufel sein Werk begutachten.
»Zweiundzwanzig!« Ja, der Teufel! Es war das Gesicht eines Teufels. Mit der großen, abstoßenden Narbe und der schwarzen Augenklappe. Mit den unbarmherzigen Zügen. Mit der Ausgemergeltheit eines Menschen, der in der Hölle schmorte. Ein Teufel oder ein Besessener. »Vierundzwanzig!« Neuer Schmerz, an der Grenze zum Unerträglichen, ließ das Gesicht wieder verschwinden. Später konnte Jacob nicht sagen, ob Kapitän Raven tatsächlich so dicht vor ihm gestanden hatte oder ob seine geschwächten Sinne ihm einen Streich gespielt hatten. »Fünfundzwanzig!« Jacob wartete auf das heiße Brennen, das kommen mußte. Er wartete lange. Offenbar zögerte der Erste Steuermann der LUCIFER den letzten Schlag besonders lange heraus, um den Delinquenten ein letztes Mal leiden zu sehen. Dann kam der Schmerz. Der größte Schmerz! Aber auch der letzte! Dieses Wissen hielt Jacobs Geist aufrecht, wenn sein Körper auch zusammenbrach, als man ihn losband. Auch als er, mit rotzerfetztem Rücken, bäuchlings auf den Planken lag, schwach und hilflos wie ein Neugeborenes, dem erlösenden Schlaf der Bewußtlosigkeit widerstand er. Es kostete ihn seine letzte Kraft und verursachte weiteren Schmerz. Doch das war es ihm wert. Sie mochten seinen Körper gebrochen haben, aber nicht seinen Geist. Diesen letzten Triumph sollten Frenchy, Cyrus Stanford und auch der böse Geist dieses Schiffes, Kapitan John Raven, nicht erleben!
* An Bord der ALBANY. Piet Hansen hockte, den bärtigen Kopf in beide Hände gestützt, an dem großen Tisch in der geräumigen Kapitänskajüte, die noch den protzigen Luxus von Hansens Vorgänger Josiah Haskin atmete. Auf dem Tisch war eine Seekarte ausgerollt und mit verschiedenen Navigationsinstrumenten beschwert: Sextant, Chronometer und Kompaß. Er benötigte die Instrumente jetzt nicht. Sie dienten nur als Gewichte, um das ungewollte Zusammenrollen der Karte zu verhindern. Und selbst die Karte war eigentlich überflüssig. Der auf ihr eingezeichnete Kurs erst an den amerikanischen und mexikanischen Teilen Kaliforniens und dann am südamerikanischen Kontinent entlang bis zum sturmumtosten Kap Horn war so fest in sein Gedächtnis eingebrannt wie die Namen sämtlicher Schutzheiliger, die ein Seemann in Notzeiten anflehte. Der Kapitän der ALBANY hatte die Karte nur auf dem Tisch ausgebreitet, um sich ein wenig von der düsteren Stimmung abzulenken, die seine Seele bedrückte. Doch als er über der Karte saß, war er wieder in dumpfes Brüten verfallen. Wenn nur schon alles vorbei wäre und er die Fracht an ihrem geheimnisvollen Bestimmungsort abgeliefert hätte! Er würde sich wohler fühlen, wenn er wieder Auswanderer von Deutschland nach Amerika und auf der Rückfahrt Tabak, Reis oder Baumwolle transportierte. Keine Kanonen! Er mußte von Sinnen gewesen sein, als er sich auf dieses Abenteuer einließ. Ein lautes Geräusch riß ihn aus seinen trüben Gedanken, ein energisches Klopfen.
»Herein!« rief er, froh über die Störung. Als er die blaue Uniform und das verbissene Gesicht von Captain Driscoll erblickte, verschwand der leichte Anflug von Frohsinn wieder. Der Offizier der US-Navy gehörte zu den Männern, die Hansen für seinen Kummer verantwortlich machte. Bewundernd blickte sich Driscoll in der prunkvoll ausgestatteten Kajüte um, während er zum Tisch trat. Aber rasch wurde sein Gesicht wieder dienstlich, und er richtete seine dunkelgrauen Augen auf den Deutschen. »Sie kümmern sich gerade um den Kurs, wie ich sehe«, nickte er und zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Rocktasche. »Da komme ich ja richtig.« Als er das dicke Papier auseinanderfaltete, entpuppte es sich ebenfalls als Seekarte. Etwas kleiner als die Hansens, über die Driscoll sein Papier ausbreitete. Seine Karte war mit dem Geheimhaltungsvermerk der Navy versehen. »Erfahre ich also endlich unseren Zielhafen«, brummte Hansen, halb befriedigt und halb vorwurfsvoll. »Nein, Käpten. Dies hier ist nur der Kurs, den die ALBANY bis zum Kap Horn einschlagen wird.« »Das ist kein Kurs«, sagte Hansen mit zerfurchter Stirn, nachdem er sich die gezackte rote Linie, die auf der NavyKarte eingezeichnet war, eingehend angesehen hatte. »Das ist bloßer Unsinn. Wenn die ALBANY das da« – alles in dem alten Seebären weigerte sich, den wirren Zickzack als ›Kurs‹ zu bezeichnen – »befolgt, fährt sie so ziemlich jeden Umweg, den sie nur machen kann. Wir werden Kap Horn mit mindestens zweiwöchiger Verspätung erreichen.« »Genau«, lächelte Driscoll kalt. »Das ist unsere Absicht.« Hansen war klar, daß der Soldat damit sich selbst, Commodore Lewis und vielleicht noch andere hochrangige Offizier der US-Navy meinte. »Ihre vielleicht«, knurrte der alte Seebär unwillig. »Meine
bestimmt nicht! Ich bin froh, wenn ich die Fracht endlich löschen kann.« Das Lächeln verschwand von Driscolls Gesicht. Es war sowieso kein freundliches Lächeln gewesen. Der Soldat stützte seine Hände auf der Tischplatte auf und beugte sich so weit vor, daß seine Stirn fast die des Kapitäns berührte. »Ihre persönliche Befindlichkeit ist in keiner Weise maßgebend, Kapitän Hansen«, sagte er im scharfen Ton. »Halten Sie sich immer vor Augen, daß Ihr Kriegsgerichtsverfahren nur aufgeschoben ist, aber noch nicht aufgehoben. Das wird es erst sein, wenn unsere Mission beendet ist. Erfolgreich beendet! Um diesen Erfolg zu garantieren, muß ich darauf bestehen, daß Sie den rot eingezeichneten Kurs genau befolgen.« Driscoll legte eine Hand auf die Nußholzverschalung des Chronometers, bevor er fortfuhr: »Und geben Sie sich keinen Illusionen hin, mich täuschen zu können, Käpten. Ich kann mit diesen Instrumenten ebensogut umgehen wie Sie. Ich werde den Kurs der ALBANY nachprüfen!« Hansen versuchte gar nicht erst, seinen Unwillen zu verhehlen. Er konnte aus seinem Herzen keine Mördergrube machen und sagte und zeigte stets, was er dachte. Sein zerfurchtes Seefahrergesicht wirkte wie ein Gewitter, das auf den Soldaten herniederging. Der aber ließ sich davon nicht beeindrucken. »Und was sage ich meinen Männern?« fragte Hansen. »Sie werden merken, daß die ALBANY so orientierungslos durch den Pazifik kreuzt, als sei die Ruderanlage demoliert.« »Sagen Sie die Wahrheit«, schlug Driscoll zu Hansens Verblüffung vor. »Die Wahrheit?« ächzte der Kapitän. »Die kenne ich selbst nicht so genau.« »Sagen Sie, es sei eine Order der Navy. Die ALBANY fährt
diesen Kurs, um mögliche Verfolger zu verwirren und abzuschütteln.« Hansen bohrte seinen Blick forschend in Driscolls breites Gesicht und fragte lauernd: »Und? Stimmt das?« Die Miene des Soldaten blieb unbewegt. »Je weniger Sie wissen, Käpten, desto weniger können Sie verraten.« »Wem sollte ich hier etwas verraten, Captain Driscoll? Wir sind allein auf hoher See.« »Wir sind im Krieg«, meinte Driscoll düster. »Da kann es immer unangenehme Überraschungen geben.« Wie zur Bestätigung seiner Worte hallten in diesem Augenblick Schüsse durch das Schiff. Immer und immer wieder. Schreie mischten sich in das heftige Geknatter. Hektische Befehle. Und das Geheul Verwundeter oder Sterbender. Levander Driscoll erbleichte und stieß einen Fluch aus. Seine rechte Hand fuhr zur Hüfte, riß die Klappe des Lederholsters auf und zog einen Navy Colt heraus. * An Bord der LUCIFER. »Das tut gut«, seufzte Jacob, als die Hände des kleinen, dürren Jock Moulder mit sanfter Geschicklichkeit über seinen Rücken strichen und die zerschundene, brennende Haut mit einer kühlenden Paste einrieben. Moulders Hände waren jetzt frei wie die von allen Shanghaiten. Nach seiner Machtdemonstration schien Kapitän Raven zu glauben, die Männer ausreichend eingeschüchtert zu haben. Und so war es wohl auch. Kreuzbrav standen die Entführten in einer ordentlichen Reihe vor dem Achterdeck, wo John Raven und Cyrus Stanford einen nach dem anderen in die
Musterrolle eintrugen. Jacob lag bäuchlings unter dem Großmast und bemühte sich, ruhig und kräftig durchzuatmen, um rasch wieder zu Kräften zu kommen. Er schämte sich, daß sein Körper nach der Strafe derart geschwächt war. Gewiß, es war eine harte Strafe. Aber er hatte schon von Schiffen gehört, auf denen aufsässigen Mannschaftsmitgliedern noch viel mehr Peitschenhiebe verabreicht wurden. Daß ihn, der er doch jung und stark war, schon die fünfundzwanzig Hiebe so mitgenommen hatten, führte er auf Stanfords besondere Kunstfertigkeit in dieser blutigen Tätigkeit zurück. Der Erste Steuermann des Walfängers hatte es nur zu gut verstanden, den Delinquenten so zu treffen, daß jeder Schlag die Wirkung von mehreren besaß. Jock Moulder tauchte seine Hände wieder in den hölzernen Kübel und verteilte eine weitere dicke Schicht der gelblichen Paste auf Jacobs Rücken. »Was ist das für ein Zeug?« erkundigte sich der Deutsche. »Keine Ahnung. Sie ham Elihu Brown auch damit behandelt. Ich hab nach Walfett gefragt, aber das hatten'se nicht. Erstaunlich für einen Walfänger.« Seine Stimme wurde leiser, und er raunte: »Überhaupt is' auf diesem Schiff einiges seltsam.« »Wieso? Was meinen Sie?« »Ich hab mich ein wenig auf dem Kahn umgesehen, als ich das Fett holen ging. Ich war ja in meinem Leben schon auf mehreren Walfängern, aber solch einen hab ich noch nich' kennengelernt.« Eine von Moulders schlanken, jetzt fettbeschmierten Händen zeigte mit ausgestrecktem Finger in Richtung Fockmast, vor dem sich das Schutzdach der Trankocherei erhob. »Muß lange her sein, daß sie hier Wale gefangen ham, ziemlich lange. Hab mir kurz die Kocherei angesehen, die
Kessel und auch den Kühlbehälter. Das sieht aus wie abgelegt. Als sei die ganze Anlage niemals auch nur mit einem Tropfen Walöl in Berührung gekommen. Nicht mal Feuerholz ham'se dort gelagert, um die Öfen im Fall eines Fanges schnell anheizen zu können.« »Und?« fragte Jacob verständnislos. »Wenn du keine verfluchte Landratte wärst, wüßtest du, was das bedeutet. Wenn ein Walfänger auf einen Wal oder eine ganze Bande von diesen Riesenviechern stößt, is' Eile geboten. Die Tiere müssen schnell zerlegt und zerkocht werden, damit man möglichst viele erwischt, bevor sie weiterziehen. Darauf is' man hier an Bord aber gar nicht vorbereitet.« Er kicherte verächtlich und schnaubte: »Sie ham ja noch nicht mal leere Fässer an Bord!« »Leere Fässer?« echote Jacob. »Wozu braucht man die?« »Na, um das Walöl reinzufüllen«, antwortete Moulder und schüttelte den Kopf über soviel Unwissenheit der Landratte. Jacob nickte. Jetzt verstand er. Und er machte sich seine Gedanken über John Raven und sein seltsames Schiff. »Das alles ist sehr geheimnisvoll«, murmelte der Deutsche. »Was?« fragte der Seemann, während er seine Hände an der bunten, viel zu weiten Kalikohose abwischte. »Die Fahrt der LUCIFER, Jock. Sie haben ganz recht, es sieht nicht so aus, als wolle Kapitän Raven auf Walfang gehen. Aber was hat er dann vor? Schließlich hat er eine ziemlich große Mannschaft hier versammelt.« Bitter fügte er hinzu: »Und das zum Teil mit roher Gewalt!« »Yeah, Kumpel, is' mir auch schon aufgefallen. Sind doppelt so viele Männer an Bord, als nötig wäre. Eine kleine Armee.« Moulder kicherte wieder. »Wirkt eh wie ein Kriegsschiff, die LUCIFER.« »Wie kommen Sie darauf?« »Mußt dich nur mal über die Reling beugen, wenn dein Rücken das wieder zuläßt. Dann siehst du die Stückpforten,
neun auf jeder Seite. Hatte leider keine Zeit nachzusehen, ob auch Kanonen dahinter stecken.« »Vielleicht war die LUCIFER früher mal ein Kriegsschiff«, suchte Jacob nach einer sinnvollen Erklärung. »Vielleicht is' sie es jetzt noch, auf irgendeine Art und Weise«, erwiderte Moulder und streckte wieder seine Hand aus, erst zum Bug, dann zum Heck. »Ob im Bauch dieses Teufelsschiffes Kanonen stecken, weiß ich nich'. Aber an Bug und Heck ist je eine Drehbasse mit 'ner eisenrohrigen Lady aufgebaut. Zweiunddreißigzigpfünder, wenn ich mich nich' irre.« Eine fremde Stimme mischte sich in das Gespräch: »Was quatscht ihr da, he?« es war der harte, russisch gefärbte Dialekt des Steuermannsmaates Petrov. Der Pockennarbige hatte sich von der Steuerbordseite genähert und starrte die beiden Shanghaiten kalt an. In der Rechten hielt er mit nur scheinbarer Lässigkeit seinen schweren Holzprügel. »Ich hab dem Dutch nur erklärt, daß er noch lange Freude an seinem kaputten Rücken ham wird«, sagte Moulder eilig. »Das wird er«, kicherte Petrov mit heftigem Nicken. »Jeder einzelne Schmerz wird ihn daran erinnern, daß man seinen Vorgesetzten bedingungslos zu gehorchen hat.« Das sadistische Lächeln, das Petrovs schiefe Lippen umspielte, verschwand wieder und machte einem dienstlichsachlichen Ausdruck Platz. »Ihr beide müßt euch noch in die Musterrolle einschreiben. Beeilt euch!« »Aber der Dutch kann bestimmt noch nich' laufen«, wandte Moulder ein. Der Steuermannsmaat hob die Hand mit dem Knüppel. »Wenn er nicht weiß, wie man läuft, werde ich es ihm einprügeln!« »Es wird schon gehen«, sagte Jacob. Seine Hände umklammerten die Wanten am Fuß des
Großmastes, und er zog sich nach oben. Dort stand er ein wenig unsicher. Die beiden erfahrenen Seeleute Moulder und Petrov fingen das Schlingern der LUCIFER mit leicht gespreizten Beinen mühelos ab. Jacob aber mußte sich erst wieder daran gewöhnen. Trotz der kühlenden Paste, die Moulder großzügig auf seinem Rücken verteilt hatte, war der Schmerz ziemlich stark. So stark, daß der Deutsche kurzzeitig vergessen hatte, wie man sich auf einem fahrenden Segler bewegte. Moulder hob Jacobs Hemd und Jacke auf und legte beides ganz vorsichtig über die Schultern des viel größeren Mannes. Der blickte den wieselhaften Seemann dankbar an. Es tat gut, besonders in dieser Lage, daß es nicht nur Schurken wie Raven, Stanford, Petrov und Frenchy gab, sondern auch aufrechte, verläßliche Männer wie Moulder und Elihu Brown. »Los jetzt!« schnaubte der Steuermannsmaat. »Käpten Raven wartet nicht gern.« Er drückte seinen Knüppel in Jacobs Rücken, um den hünenhaften Deutschen in Richtung Achterdeck zu schieben. Daß Jacobs Wunden dabei wieder aufbrachen, kam dem verschlagenen Russen gewiß nicht ungelegen. Tatsächlich waren Jacob und Jock Moulder, abgesehen von dem noch unter Deck liegenden Elihu Brown, die letzten, die sich noch in die Musterrolle eintragen mußten. Der dicke, ledergebundene Foliant lag auf einer Kiste vor Kapitän Raven, der sich auf einem grob zusammengezimmerten Schemel niedergelassen hatte. Schräg hinter dem Kapitän stand Cyrus Stanford und musterte Jacob mit brennendem Haß in den tiefliegenden Augen. »Du siehst mir aus wie ein echter Seemann, Kerl«, sagte John Raven zu Moulder. »Du bewegst dich mit der Sicherheit eines Mannes über das Schiff, der die meiste Zeit seines
Lebens nichts als ein paar gischtumspülter Planken unter den Füßen gehabt hat.« »Aye, Käpten.« Moulder lächelte, schien erfreut zu sein, daß Raven ihn so richtig einschätzte. »Bin Seemann gewesen, immer schon. Auch schon auf Walfang gewesen. Jock Moulder is' mein werter Name.« Raven nickte zufrieden und zeigte auf das schwere Buch. »Dann trag deinen Namen ein, Jock Moulder, oder mach dein Zeichen.« »Hierher!« schnarrte der Erste Steuermann und legte die Kuppe des Zeigefingers an die entsprechende Zeile der Musterrolle. Ohne zu zögern, griff der wieselhafte Moulder nach dem Bleistiftstummel und malte mit fast heiliger Andacht ein sich in einem Kreis befindendes Kreuz in die Zeile. Jacob sah ihm über die Schulter und stellte fest, daß mehr als die Hälfte der angemusterten Seeleute ihre Namen nicht schreiben konnten. Statt dessen gab es alle möglichen Zeichen: wellenförmige Linien, stilisierte Fische und Schiffe, Dreiecke, Rechtecke, Kreise und immer wieder Kreuze in den unterschiedlichsten Variationen. »Und du, Mann aus Deutschland?« fragte Raven. »Du bist kein Seemann, das sehe ich sofort. Verfügst du über besondere Fähigkeiten, mit denen du dich an Bord nützlich machen kannst?« »Ich bin Zimmermann.« Jacob drehte den Kopf zur Seite, damit Raven den goldenen Ring sehen konnte, der im rechten Ohr des Deutschen steckte. Das Zeichen der Zimmermannszunft, das Jacob von seinem Vater, dem Zimmermannsmeister Heinrich Adler, nach Bestehen der Probezeit erhalten hatte. »Ein Zimmermann, aber vermutlich kein Schiffszimmermann«, zeigte sich Cyrus Stanford skeptisch. »Ich habe schon auf einem Schiff als Zimmermann
gearbeitet!« »So?« fragte Kapitän Raven interessiert. »Auch welchem?« »Auf der Bark, mit der ich von Hamburg nach New York gekommen bin. Das war die ALBANY, die jetzt in Frisco vor Anker liegt.« Täuschte sich Jacob? Es kam ihm so vor, als tauschten der Kapitän und sein Erster Steuermann bei der Erwähnung der ALBANY bedeutungsvolle Blicke aus. Aber es mußte ein Irrtum sein. Alles andere ergab keinen Sinn. »Ich denke, der alte Esteban, unser Schiffszimmermann, kann eine Hilfe ganz gut gebrauchen«, meinte der Mann mit der schwarzen Augenklappe. »Kann sein, daß die LUCIFER einen Ersatzmast oder etwas ähnliches benötigt. Da sind vier Hände besser als zwei. Schreib dich also ein, Adler!« Und Jacob schrieb sich ein. Auch wenn Raven der Sache den Anschein der Freiwilligkeit verlieh, war Jacob doch bewußt, daß ihm keine Wahl blieb. Außer der, sich weiteren Peitschenhieben auszusetzen. Und doch war es seltsam. Als der Kapitän ihn nach seinen Fähigkeiten fragte, wollte Jacob sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Er wollte anerkannt werden. Schließlich hatte er hart gearbeitet, um ein guter Zimmermann zu werden. Drei Jahre lang war er in der Heimat auf der Walz gewesen. Doch als er zurückkam, war die erhoffte Freude schnell in Ernüchterung und Entsetzen umgeschlagen. Seine Braut war mit einem anderen verheiratet. Seine Mutter war tot. Sein Vater und die Geschwister waren verschwunden, vermutlich nach Amerika ausgewandert. Jacob wollte sie finden. Aber statt nach ihnen zu suchen, mußte er jetzt widerwillig Dienst auf diesem seltsamen Walfänger tun.
Moulder drängte sich an die Kiste, auf der die Musterrolle lag. Mit zusammengekniffenen Augen und gerunzelter Stirn starrte er auf das Papier. Immer näher kamen seine Augen dem dicken Buch. »Stimmt was nicht, Seemann?« fragte Stanford rüde. »Willst dich wohl im Lesen üben, was?« »Nein«, antwortete Moulder ernst und zeigte auf die hinterste Vertikalspalte. »Ich wunder mich nur, daß hier nichts eingetragen is'. Hier müßte doch stehen, wie hoch jeder von uns am Gewinn der Fahrt beteiligt is'.« »Kluges Kerlchen«, grinste der Erste Steuermann wölfisch. »Meinst wohl…« Stanford unterbrach sich, denn John Raven erhob sich von dem Schemel und straffte seine hagere Gestalt. Das zog die Aufmerksamkeit der Mannschaft auf sich. »Männer, viele von euch haben sich gewundert, warum in der Musterrolle der Eintrag der Beteiligung am Fanggewinn fehlt«, rief er mit schallender Stimme über das Deck. Mit Leichtigkeit übertönte er das Rauschen der Wellen und das Knattern der Segel im munteren Wind. »Die Antwort ist ganz einfach: Es gibt keine Beteiligung, weil es keinen Gewinn gibt. Und es gibt keinen Gewinn, weil wir keine Wale fangen werden.« Ravens Worte lösten beim größten Teil der Mannschaft Verwirrung aus. Außer den Offizieren schienen nur sehr wenige zu wissen oder zumindest zu ahnen, in welcher Mission die LUCIFER unterwegs war. Fragen wurden laut. Die Verwirrung der Männer und ihre Furcht, mit leeren Taschen heimzukehren, ließen sie ihren übergroßen Respekt vor Raven vorübergehend vergessen. »Wozu sind wir auf See, wenn wir keine Wale fangen?« schrie ein vollbärtiger Mann mit dem Körper eines Fasses. »Ich dachte, die LUCIFER ist ein Walfänger«, rief ein olivhäutiger Mann mit spanischem Akzent.
»Ich muß zu Hause Frau und Kinder ernähren!« beschwerte sich ein kräftiger, rotschöpfiger Ire. »Ihr sollt nicht leer ausgehen«, versprach Raven und verschaffte sich durch das Ausbreiten seiner Arme Gehör. In dieser Stellung wirkte der schwarzgekleidete Mann wie ein heidnischer Gott, der über seine Anhänger gebot. »Ich zahle jedem einfachen Seemann pro Tag auf See zwei Golddollar, Maaten und Offizieren entsprechend mehr. Und falls wir unsere Beute fangen, gibt's das Doppelte! Selbst wenn wir schnell zum Ziel kommen, soll das nicht zu eurem Schaden sein. Ich garantiere jedem tapferen Mann hier an Bord eine Mindestheuer von zwanzig Golddollar, auch falls wir morgen schon zurück nach Frisco fahren sollten.« Einige der Männer brachen in lautes Jubelgeschrei und in Hochrufe auf Kapitän Raven aus. Andere blieben skeptisch. Einer der Skeptiker war der Ire mit Frau und Kindern. »Was für eine Beute, Käpten?« übertönte sein rauhes Organ die Stimmen der anderen. »Eben haben Sie gesagt, die LUCIFER fährt nicht auf Walfang aus.« »Wir jagen auch keinen Wal«, bestätigte John Raven, und ein fanatischer Ausdruck trat in sein einziges Auge. »Das Wild, dem wir nachspüren, ist das stählerne Monster!« Schlagartig brachen alle Gespräche und Rufe ab. Ungläubig starrten die Männer ihren Kapitän an. In vielen Gesichtern lag nicht nur Unglauben, sondern pure Angst. * An Bord der ALBANY »Haben Sie eine Waffe, Hansen?« fragte Captain Levander Driscoll, während er mit gezogenem Navy Colt neben der Kajütentür in Deckung ging.
Durch das Schiff hallten noch immer die Schüsse und Schreie, die so urplötzlich wie ein heimtückischer Orkan über die Bark hereingebrochen waren. Der alte Seebär nickte verstört. »Ich habe einen Revolver in meiner Seekiste.« »Dann holen Sie ihn, in Gottes Namen!« fauchte der blauuniformierte Soldat. »Wenn mich nicht alles täuscht, bekommen wir bald mächtigen Ärger.« Die Lethargie fiel von Hansen ab. Er sprang so hastig auf, daß sein Stuhl umstürzte, und beugte sich über die alte, abgeschabte Kiste, die neben der Koje stand und so gar nicht zum polierten Prunk der übrigen Kajüteneinrichtung passen wollte. Darin bewahrte er seine persönlichen Sachen auf. Und den sechsschüssigen Kerr-Revolver, der obenauf lag und jetzt von der wettergegerbten Pranke des Kapitäns ergriffen wurde. »Versorgen Sie sich mit genügend Munition«, ermahnte ihn Driscoll. »Könnte sein, daß Sie später keine Gelegenheit dazu haben.« »Ist gut.« Diesmal mußte Piet Hansen tiefer in der Kiste kramen, bis er die Schachtel mit den Patronen fand. Er steckte sie in eine Jackentasche. Driscoll zog derweil mit der linken Hand vorsichtig die Tür auf. In der Rechten hielt er den schußbereiten Colt. »Können Sie etwas sehen?« fragte Hansen, während er die Trommel des Kerrs ausklappte und die Ladung überprüfte. »Nichts. Der Gang und der Decksaufgang sind so leer wie Armeleutebäuche am Wochenende. Aber an Deck scheint die Hölle los zu sein. Den Schüssen nach zu urteilen…« Driscoll brach mitten im Satz ab und rief, das Gesicht noch angespannter und den Revolver durch den Türspalt stoßend: »Stehenbleiben, sofort! Oder ich schieße!« »Was ist?« ächzte Hansen, als er sich neben den Soldaten
kniete. »Auf dem Gang ist ein Mann. Aber ich weiß nicht, ob er Freund oder Feind ist.« Der Kapitän legte den Kopf schief, um durch den schmalen Spalt hinaus auf den von Öllaternen erhellten Gang zu blicken. Dort krümmte sich ein Mann, offenbar vor Schmerzen, und fiel auf den Boden. »Das ist Grosser!« rief Hansen aus. »Einer von der alten Besatzung.« »Fragt sich nur, auf welcher Seite er jetzt steht«, blieb Driscoll skeptisch. »Grosser hat mir beim Kampf gegen Arnold Schelp und seine Bande geholfen. Für ihn lege ich meine Hand ins Feuer.« »Aber nehmen Sie die Linke, Käpten!« »Verdammt, ich vertraue ihm!« Hansens von Driscoll erwähnte Linke ballte sich zur Faust. »Grosser scheint verwundet zu sein. Ich gehe raus und helfe ihm.« »Es könnte eine Falle sein«, warnte ihn Driscoll. »Der Decksaufgang ist von hier nur zum kleinen Teil einzusehen.« Seine Augen blickten zur Decke. »Wer immer dort oben Rabatz macht, er könnte auf der Treppe lauern und darauf warten, daß wir uns aus der Deckung wagen.« »Bleiben Sie in der Deckung, Driscoll. Und falls tatsächlich da hinten jemand auf mich schießen sollte, schießen Sie zurück. Ich hole jetzt Grosser!« Hansen wartete einen möglichen Widerspruch gar nicht erst ab. Er zog die Tür noch ein Stück weiter auf, zwängte sich hindurch und lief geduckt zu der Stelle, wo Grosser zusammengebrochen war – oder dies vorgetäuscht hatte, um in Driscolls Denkweise zu bleiben. Wachsam blickte der Kapitän zum Decksaufgang. Aber niemand sprang von der Treppe, um ihn anzugreifen. Keine Feuerlanze leckte aus dem Halbdunkel nach ihm, um tödliches Blei in seinen Körper zu stoßen.
Er steckte den Sechsschüsser in eine Jackentasche, aber so, daß der Kolben griffbereit herauslugte. Als er sich neben Grosser hinkniete und den bäuchlings liegenden Mann vorsichtig umdrehte, waren seine Hände in wenigen Augenblicken warm, feucht und rot. Nein, Grosser war bestimmt kein Simulant! Sein blaues Kattunhemd war vorn nur noch ein roter, nasser Lappen. Vorsichtig schob Hansen es hoch. Ein Bauchschuß, wie er es sich gedacht hatte. Eine ziemlich üble Angelegenheit. Die Wunde hörte gar nicht mehr auf zu bluten. »Wie sieht's aus?« fragte der jenseits der Kajütentür kauernde Soldat. »Schlecht«, knurrte Hansen und faßte unter die Achseln des stöhnenden Seemanns. »Ein Bauchschuß.« Er zog Grosser zur Kajüte. Nur für wenige Sekunden öffnete Driscoll die Tür. Gerade so lange, daß Hansen den Verwundeten hereinziehen konnte. Der Kapitän der ALBANY legte Grosser auf seine Koje und kümmerte sich nicht darum, daß die seidene Tagesdecke bald blutverschmiert war. »W-Wasser«, stöhnte der Verletzte. »Bitte, Wasser!« »Nein«, sagte Hansen hart, auch wenn es ihm schwerfiel. »Du darfst jetzt nichts trinken, Grosser!« Trotz der wahnsinnigen Schmerzen, die der Seemann ausstehen mußte, verzog er die Lippen zu einem Lächeln. Wenigstens versuchte er es. Es kam nur die Karikatur eines Grinsens dabei heraus. »Bauchschuß, ich weiß«, keuchte er und brach in ein unkontrolliertes Husten aus. Als er sich wieder einigermaßen in der Gewalt hatte, fuhr er fort: »Trinken ist… gefährlich. Aber bei mir… gleichgültig… Nichts mehr zu machen…« »Das darfst du nicht sagen, Grosser!« sagte Hansen.
Aber er wußte selbst, daß ihm die rechte Überzeugungskraft fehlte. »Doch… weiß es… Wasser, bitte!« »Geben Sie ihm schon das Wasser, Käpten«, sagte Driscoll. »Vielleicht lindert es die Leiden des Mannes ein wenig. Und vielleicht kann er uns dann sagen, was da oben los ist. Wir können nicht ewig hier hocken und die Mäuse im Loch spielen.« Seufzend ging Hansen zu einer Anrichte, auf der eine gläserne Wasserkaraffe und mehrere umgedrehte Zinnbecher standen. Er füllte einen Becher, ging zur Koje zurück, stützte Grossers Kopf mit der freien Hand und flößte ihm ganz vorsichtig etwas von der Flüssigkeit ein. Wieder hustete der Verletzte wild. Blut mischte sich in seinen Auswurf. War es doch ein Fehler gewesen, seinem drängenden Wunsch nach Wasser nachzukommen? Aber dann wurde der Blick von Grossers Augen wieder klar und richtete sich auf den Kapitän. »Es war ein… plötzlicher Überfall«, sagte er unter schmerzerfülltem Stöhnen. »Sie kamen von allen Seiten… schossen auf die Soldaten… und auf alle, die ihnen halfen…« »Wer?« fragte Hansen. »Wer hat auf die Soldaten geschossen?« »Die neuen Männer, die heute… an Bord gekommen…« Captain Driscoll stieß einen Fluch aus, der eines Offiziers der Vereinigten Staaten ganz und gar unwürdig war, und fragte erregt: »Wer führt diese Verräter an?« »Cooper ist dabei«, antwortete Grosser unter stärker werdenden Schmerzen. Sein Körper bäumte sich auf, fiel aber sofort wieder auf die Koje zurück. »Cooper!« knurrte Piet Hansen wütend. »Der Mann kam mir gleich verdächtig vor. Eine schöne Bande haben Sie mir da
angeschleppt, Driscoll. Gemeine Mörder!« »Das wußte ich nicht«, erwiderte der Soldat fassungslos. »Da war auch… Mexikaner…«, fuhr der Verletzte fort. So leise jetzt, daß er nur noch schwer zu verstehen war. Der Kampflärm auf Deck übertönte seine Worte fast. »Und… die Frau…« »Eine Frau?« hakte Hansen eilig nach, von plötzlicher Erregung ergriffen. »Wie sah sie aus?« »Sie war… verschleiert… ganz in Schwarz…« »In Schwarz!« preßte Piet Hansen zwischen dünnen Lippen hervor. Er glaubte genau zu wissen, um wen es sich bei dem Mexikaner und der Frau handelte. Und in Gedanken verfluchte er die Götter des Meeres, daß sie die beiden nicht zu sich in die Tiefe gezogen hatten. »Ja… die Frau in Schwarz…« Das waren Grossers letzte Worte. Noch einmal bäumte sich sein Körper auf. Dann lag er vollkommen still auf der blutigen Seidendecke. Seine auf Hansen gerichteten Augen waren noch geöffnet. Aber der Blick ging durch den Kapitän hindurch. Es war der Blick eines Toten. Grosser hatte sein Leben für seinen Kapitän geopfert. Trotz seiner schweren Verwundung hatte er sich unter Deck geschleppt, um Hansen zu warnen. Vielleicht war er auch erst bei diesem Versuch angeschossen worden. Piet Hansen blieb keine Zeit, den bis in den Tod treu ergebenen Seemann zu betrauern. Auf einmal waren Schüsse und Schreie ganz nah. »Sie kommen unter Deck!« rief Driscoll, der unablässig durch den Türspalt nach draußen blickte. »Wer?« Der Soldat wartete so lange mit der Antwort, bis er die anderen genau sehen konnte. »Marines!« jubelte er dann. »Es ist Lieutenant Palmer mit
seinen Männern!« Hansen kehrte zur Tür zurück und spähte nach draußen. Driscoll hatte recht. Der Kapitän sah das jugendliche Gesicht des Lieutenants. Vier Männer in der Uniform der Marine-Infanterie waren bei ihm: dunkelblaue Käppis und Röcke, weiße Hosen und kreuzweise über die Oberkörper gespannte Gurte. Palmer hielt einen Revolver in der Rechten. Seine Männer trugen ihre Musketen. Die beiden hinteren Soldaten drehten sich um und feuerten ihre Waffen in Richtung Decksaufgang ab. Offenbar wurden sie von den Männern verfolgt, die als scheinbar ehrliche Seeleute die Musterrolle der ALBANY unterschrieben hatten und sich jetzt anschickten, das Schiff mit Gewalt zu übernehmen. Driscoll sprang auf, riß die Kajütentür weit auf und rief: »Hierher, Palmer!« Mit ernstem, besorgtem Gesicht blickte der Lieutenant den Captain an. Palmers glatte Züge zeigten nicht die geringste Spur von Erleichterung angesichts der Zuflucht, die sich ihm und seinen Männern bot. Die fünf Uniformierten stürmten in die Kajüte. Als Driscoll die Tür wieder schließen wollte, ließ einer von Palmers Leuten die Muskete fallen und zog einen Revolver, der an seinem Rücken im weißen Koppel gesteckt hatte. Er richtete den Lauf auf den Captain. Piet Hansen erkannte das breite Gesicht des angeblichen Marine-Infanteristen, das von einem großen Schnurrbart mit nach oben gezwirbelten Enden beherrscht wurde. Er wollte einen Warnruf ausstoßen, aber der Mann mit dem Revolver war zu schnell. Hemmungslos jagte der Schnurrbärtige eine Kugel in Driscolls Brust. Auf die kurze Entfernung war die Wucht des Geschosses
erheblich. Der Captain wurde durch den ganzen Raum geschleudert und krachte mit dem Rücken gegen die Anrichte, auf der die Wasserkaraffe stand. Sie kippte um, fiel herunter und zersprang auf dem hölzernen Boden in tausend Stücke. Driscoll rutschte an der Anrichte herunter und fiel in die von Scherben durchsetzte Wasserpfütze. »Dreckiger Mörder!« kreischte Lieutenant Palmer und wollte sich auf den Schützen werfen. Es war offensichtlich, daß Palmers Revolver nicht geladen war. Er versuchte, ihn als Schlagwaffe einzusetzen. Aber der Uniformierte hinter dem Lieutenant hielt einen Revolver in der Linken, den er bisher in Palmers Rücken gepreßt hatte. Jetzt drückte der Mann ebenso hemmungslos ab wie zuvor der Schnurrbärtige. Zwei Kugeln fuhren in Palmers geraden Rücken und ließen den jungen Offizier zu Boden gehen, ehe er den Mann mit dem riesigen Schnurrbart erreichte. Hansen spürte einen rasenden Schmerz, der von seiner rechten Hand aus durch seinen ganzen Arm jagte. Einer der Unformierten hatte den Kolben seiner Muskete auf die Hand des Kapitäns krachen lassen. Der Kerr-Revolver polterte auf den Boden. »So sieht man sich wieder, Käpten«, sagte der Mann mit dem Schnurrbart und grinste breit. »Hätte nicht gedacht, daß ich mal in die Uniform dieser verdammten Blaubäuche schlüpfen würde. Aber was tut man nicht alles fürs Vaterland!« Abel McCord, Captain der Konföderierten Staaten von Amerika, riß das blaue Käppi mit dem goldglänzenden Signum der US-Marines von seinem Kopf und schleuderte es in einer befreienden Bewegung weit von sich fort. »McCord!« Hansen sagte es voller Grimm. Er bereute, nach der nächtlichen Flucht der Gefangenen von Bord der ALBANY nicht nach ihnen gesucht zu haben.
»Don Emiliano und Mrs. Marquand sind auch an Bord, nicht wahr?« Der Südstaatler nickte. »Yeah. Und auch Ihr Freund Schelp.« »Aber wie…« »Wie wir das geschafft haben? Mit dem Glück, das auf der Seite der Gerechten ist. Wir wollten zur kalifornischen Küste rudern, wurden unterwegs aber vom Postdampfer aufgesammelt.« »Etwa von der PACIFIC PRINCESS?« »Ganz recht«, grinste McCord selbstgefällig. »Von dem Schiff, das fast zeitgleich mit Ihrer ALBANY in Frisco einlief. Wir standen an der Reling und sahen zu Ihnen herüber. Lustig, nicht?« »Ich lache später«, murrte Hansen. »Hat der Kapitän der PACIFIC PRINCESS Sie nicht den Behörden übergeben?« »Oh, das hätte er sicher getan. Schließlich mußten wir ihm als Erklärung für unsere Bootspartie die rührselige Geschichte von einem gesunkenen Schiff erzählen, dessen einzige Überlebende wir angeblich waren. Deshalb haben wir uns von Bord der PACIFIC PRINCESS gestohlen, sobald der Dampfer am Kai lag. Der Rest war überraschend einfach. Wir trommelten eine Truppe von Männern zusammen, die für Geld zu allem bereit ist. Mit ihnen wollten wir die ALBANY übernehmen, solange die Kanonen noch an Bord waren. Da kam es uns überaus gelegen, daß Sie so eilig nach neuen Männern für Ihre Mannschaft suchten. Und daß die Yankees die ALBANY zum Transport der konfiszierten Geschütze benutzten, kam uns nicht minder gelegen.« »Verstehe«, stieß Hansen einen tiefen Seufzer aus. »Aber wie sind Sie, Don Emiliano, Mrs. Marquand und Schelp an Bord gekommen?« »Als Konservenfrüchte«, lautete die verblüffende Antwort. Hansen bedachte den Südstaatler mit einem verwirrt
fragenden Blick. »Wir haben uns in Kisten versteckt, die als Konservenfrüchte deklariert waren«, erläuterte der Südstaatler in seinem breiten Texas-Akzent. »Jed Cooper hat dafür gesorgt, daß wir uns befreien konnten.« »Dieser dreckige Lump!« »Aber, Mr. Hansen, so sollten Sie nicht vom neuen Kapitän der ALBANY sprechen. Ganz recht, Cooper wird das Schiff für uns zur Küste von Sonora bringen.« Betreten blickte Hansen zu Boden, und sein Blick fiel auf Lieutenant Palmer. Der Blick des jungen Offiziers war genauso gebrochen wie der von Grosser. »Was haben Sie mit den Soldaten gemacht, deren Uniformen Sie und Ihre Männer tragen, McCord?« »Wir haben sie getötet. Sie wollten sich einfach nicht ergeben. Ein paar von unseren Männern sind auch dabei draufgegangen. Aber wir hatten das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Die Hälfte der Marines hatten wir zusammengeschossen, bevor sie wußten, wie ihnen geschah. Das Milchgesicht hier« – der Südstaatler schaute auf Palmers Leiche – »konnten wir nur überwältigen, weil sich ein Mann von hinten an ihn heranschlich und ihm einen Karabinerkolben über den Schädel zog.« Ein leises Stöhnen kam von der Stelle, wo Captain Driscoll lag. Überrascht blickten Hansen und McCord zu ihm. Beide hatten den Mann mit der blutigen Brustwunde für tot gehalten. »Ein zäher Bursche«, meinte McCord und richtete seinen Revolver auf den Verwundeten. »Schade, daß er den falschen Uniformrock trägt.« »Nein!« rief Hansen, als McCords Daumen den Hahn des Revolvers spannte. Der Kapitän der ALBANY stellte sich schützend vor Driscoll.
In McCords Augen flackerte es auf. »Wollen Sie zusammen mit dem Yankee zur Hölle fahren, Käpten?« »Wenn es sein muß!« Der Südstaatler grinste, dann entspannte sein Daumen den Hahn wieder. »Sie haben recht, man soll nicht zu blutrünstig sein«, nickte McCord. »Vielleicht brauchen wir Sie und den Yankee noch. Verbinden Sie ihn!« Hansen hatte sich gerade erst neben Driscoll auf den feuchten, vor lauter kleinen Scherben knirschenden Boden gekniet, als ein Mann im teuren, wenn auch zerknitterten Dreiteiler in der Kajüte erschien. Er trug sogar weiße Handschuhe. Zur gesellschaftlich vorschriftsmäßigen Kleidung fehlte nur die Kopfbedeckung. So sah man das feuerrote Haar über dem derben, gar nicht zu der feinen Kleidung passenden Gesicht. In der Hand hielt er den unvermeidlichen Gehstock mit dem schweren Silberknauf, den er als gefährliche Waffe einzusetzen pflegte. McCords Leute machten dem Mann respektvoll Platz. »Ah, Kapitän Hansen«, lächelte Arnold Schelp falsch und verschlagen. »Es freut mich sehr, daß wir unsere Reise nun doch gemeinsam fortsetzen. Nur schade für Sie, daß Sie sich auf die falsche Seite gestellt haben. Nun gehen Sie leer aus bei diesem Geschäft. Mehr noch, Sie haben Ihr Schiff verloren. Verrat zahlt sich eben nicht aus.« »Trotzdem bereue ich nicht, was ich getan habe«, erwiderte Hansen kalt. Schelp tippte mit der Stockspitze gegen Hansens Brust und sagte überzeugt: »Dazu, mein Lieber, werden Sie noch reichlich Gelegenheit haben!« *
An Bord der LUCIFER »Das stählerne Monster!« Die ums Achterdeck des Walfängers versammelte Mannschaft griff die Worte von Kapitän John Raven auf. Erst nur als ängstliches Flüstern. Aber bald wurden laute Rufe daraus. Und beileibe nicht die meisten dieser Rufe klangen begeistert. Jacob, der vor der Kiste mit der aufgeschlagenen Musterrolle und damit ganz dicht bei Raven stand, fragte unwillkürlich: »Sprechen Sie von dem Seeungeheuer, Käpten?« »In der Tat«, nickte Raven. »Wir alle haben wohl schon davon gehört.« Jacob hatte vorgestern in San Francisco erfahren, daß ein unheimliches Seeungeheuer den Pazifik unsicher machte. Es griff Handelsschiffe an und versenkte sie. Vor zwei Wochen erst hatte es einen Postdampfer erwischt. Dieser wettfreudige Journalist, der sich Mark Twain nannte, hatte Jacob davon erzählt. »Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, dieses Ungeheuer zur Strecke zu bringen«, fuhr der Mann mit der Augenklappe laut fort. »Denn das stählerne Monster ist verantwortlich für den Untergang der CORA SUE. Es hat meinen Bruder Charles und seine Frau auf dem Gewissen.« »Aber wie sollen wir gegen ein Monster aus Stahl bestehen?« fragte der irische Familienvater. »Seine Haut ist undurchdringbar. Und es heißt, das Tier habe hundert Augen und ebenso viele Tentakel. Mehr als der gefährlichste, größte Krake.« »Unsinn!« schmetterte Raven den Einwand ab. »Es hat keine Tentakel. Ich habe es gesehen. Und es ist auch kein Tier.« »Was dann?« rief jemand. »Ein Boot«, antwortete der Kapitän der LUCIFER. »Es ist ein Fischboot der Konföderierten. Das ist die Erklärung dafür, daß es stets nur Schiffe angreift, die Fracht für die Union transportieren.«
»Was ist ein Fischboot?« fragte Jacob. »Ein Boot, das wie ein Fisch unter der Wasseroberfläche schwimmt«, erklärte Raven ein wenig herablassend. »Der Name sagt es schon.« »So etwas… gibt es?« »Gewiß, Adler. Die Konföderierten haben solche Boote schon verschiedentlich erprobt, aber meistens in Küstennähe. Dies hier muß ein besonders ausgereiftes Modell sein. Aber das macht nichts, wir werden es erwischen!« »Was macht Sie so sicher, Käpten?« hakte der Deutsche nach. »Ich habe die diversen Schiffsuntergänge, für die das stählerne Monster verantwortlich gemacht wird, genau studiert. Deshalb weiß ich, in welchen Bereichen das Fischboot operiert. Nie zu weit von der Küste entfernt oder in der Nähe kleiner Inseln. Wir werden dort kreuzen und das Monster aufspüren.« »Und wenn wir es trotzdem nicht finden?« rief der skeptische Ire. »Der Pazifik ist kein Ententeich!« »Für den Fall, mein wißbegieriger Freund, haben wir einen besonderen Lockvogel, in dessen Nähe wir uns aufhalten. Sobald wir das Fischboot aufspüren, geben wir ihm Zunder. Die LUCIFER ist an jeder Seite mit neun schweren Hundertachtzigpfündern bestückt. Außerdem halten wir ein paar ganz besondere explosive Überraschungen für das Seeungeheuer bereit.« Raven löste seinen Blick von dem Iren und schaffte es irgendwie, der versammelten Mannschaft das Gefühl zu geben, er blicke jedem einzelnen tief in die Augen. »Was ist mit euch, Männer? Wollt ihr mir helfen, dieses angebliche Monster zu erlegen? Glaubt mir, dabei kommt ihr schneller zu Geld als auf den Goldfeldern!« Es war fast, als verfüge John Raven über übernatürliche Kräfte. Die Skepsis der Männer wich zugunsten einer begeisterten Zustimmung.
Mit einem befriedigten Lächeln, das auf seinem entstellten, verbitterten Gesicht seltsam fremd wirkte, nahm der Kapitän das zur Kenntnis. Er zog einen Lederbeutel aus der Tasche, hielt ihn hoch und schüttelte ihn. Dabei klimperte es verlockend. »Die Topgasten sollten besonders wachsam sein. Hier drin sind zwanzig Golddollar. Eine Extrabelohnung für den, der das Fischboot zuerst erspäht und meldet.« Während Raven aus einer Kiste Hammer und Nagel nahm, wurde er von begeisterten Hochrufen geradezu überschüttet. Lächelnd ging er zum Besanmast und schlug den Lederbeutel dort fest. »Hier hängt die Prämie, Männer. Jeder, der wach ist und über gute Augen verfügt, kann sie sich verdienen!« »Für das Geld klettere ich sogar bis zum Großmasttop!« Der Mann, der das ausgerufen hatte, war der kleine Jock Moulder. Der Mann mit der Augenklappe drehte sich zu ihm um und musterte ihn eindringlich. »Wirklich?« fragte er scharf. »Aye, Käpten!« stieß Moulder hervor. Angesichts der zwanzig Golddollar wirkte er wie von Sinnen. »Soll ich's beweisen?« Raven nickte nur. Da war Moulder auch schon unterwegs, bahnte sich einen Weg durch die zusammengedrängte Mannschaft und stieg in die Groß-Unterwanten. Atemloses Schweigen machte sich auf Deck der LUCIFER breit, als Moulder wieselflink am Großmast emporkletterte, höher und höher. Er erreichte die Bramsaling, die kleine Plattform etwa ein Viertel der Masthöhe unterhalb der Mastspitze, die als höchster Aussichtspunkt galt. Höher zu klettern, war zu gefährlich auf dem schwankenden Segler.
Aber Jock Moulder kümmerte sich nicht darum. Die zwanzig goldenen Münzen, die träge am Besanmast hingen, hatten seine Sinne verwirrt. Und tatsächlich sah es so aus, als würde er den Großmasttop – den höchsten Punkt des ganzen Schiffes – erreichen. Ja, er schaffte es! Die Männer auf Deck brachen, die Köpfe in die Nacken gelegt, in lauten Jubel aus. Moulder löste eine Hand von der Mastspitze, um ihnen und besonders dem Kapitän zuzuwinken. In diesem Augenblick erwischte ein besonders starker Brecher den Rumpf der LUCIFER. Vielleicht war es nur das unerwartet heftige Schwanken der dünnen, biegsamen Mastspitze. Vielleicht war es auch der Umstand, daß Moulders Hände noch glitschig waren von dem Fett, mit dem er Jacobs Rücken eingerieben hatte. Jedenfalls verlor er den Halt und stürzte in die Tiefe. Er wedelte dabei wild mit den Armen. Es wirkte wie ein groteskes Zuwinken an die Kameraden unten, die seinen Flug bewundern sollten. In Wahrheit war es die verzweifelte Suche nach einem Halt. Moulder fand keinen. Das hölzerne Schutzdach der Kocherei fing ihn auf – und brach ihm das Rückgrat. Jock Moulder war das erste Todesopfer, das John Ravens Rachsucht gefordert hatte. In Jacob breitete sich neben der Trauer das ungute Gefühl aus, daß der kleine gutmütige, unbesonnene Seemann nicht der letzte Tote an Bord bleiben sollte. * An Bord der ALBANY. Die Gefangenen lagen gebunden im Zwischendeck, dort, wo auf der Fahrt von Fogerty nach San Francisco die Passagiere
gehaust hatten, die mit der ALBANY rasch zu den kalifornischen Goldfeldern wollten. Alle waren so stark gefesselt, daß sie sich kaum bewegen konnten. Piet Hansen, der verletzte und von Hansen verbundene Captain Driscoll, der Erste Steuermann Joe Weisman und die Besatzungsmitglieder, die dem richtigen Kapitän treu ergeben waren. Das waren ein guter Teil der Leute, die schon länger auf dem Dreimaster fuhren und Piet Hansen schätzten. Deshalb hatten sie auch im Hafen von San Francisco der Verlockung der nahen Goldfelder widerstanden. Nur wenige von ihnen waren zu den Meuterern übergelaufen. Die Meuterer waren in der Mehrzahl die Männer, die erst am Morgen dieses Tages in San Francisco an Bord gekommen waren. Jetzt bildeten sie unter Jed Coopers Befehl die Besatzung des Schiffes. Aber die eigentlichen Befehlshaber waren Arnold Schelp und seine drei Komplizen, die auf fast schon widernatürliche Weise vom Glück begünstigt zu sein schienen. Die ALBANY glitt in rascher, aber verhältnismäßig ruhiger Fahrt dahin. Piet Hansen nahm an, daß Cooper auf Schelps Befehl den Kurs geändert hatte und jetzt geradewegs nach Süden fuhr. Schließlich lag es im Interesse der Waffenschmuggler, den Einflußbereich der US-Navy möglichst rasch zu verlassen. Die Bark würde um die Spitze von Baja California, wie die Mexikaner den ihnen gehörenden südlichen Teil Kaliforniens nannten, herumsegeln, um in den Golf von Kalifornien einzulaufen. An der Küste der mexikanischen Nordost-Provinz Sonora, nahe der Stadt Guaymas, lag das Ziel der Waffenschmuggler. Von dort sollten die in Deutschland gefertigten Geschütze über Land nach Texas gebracht werden, um den bedrängten Konföderierten im Kampf gegen Abraham Lincolns Armeen zu helfen. Levander Driscoll, der neben Hansen lag, stöhnte plötzlich
laut. Als der Seemann den Soldaten nach besten Kräften mit einem seiner Sonntagshemden verband, war der Nordstaatler bewußtlos geworden. Kein Wunder, steckte Abel McCords Kugel doch tief in seiner Brust. Driscoll hatte Glück im Unglück gehabt, daß weder Herz noch Lungen verletzt worden waren. Schätzungsweise drei bis vier Stunden war das jetzt her. Stunden, in denen Driscoll reglos wie ein Toter im Zwischendeck gelegen hatte. Nur wenn Hansen sein Gesicht ganz dicht über das des Captains hielt, spürte er erleichtert dessen schwachen Atem. Jetzt beugte sich der Seebär, so gut es seine engen Fesseln erlaubten, erneut über den Soldaten. Flatternd hoben sich Driscolls Lider, und die dunkelgrauen Augen blickten den älteren Mann fragend an. Allmählich trat der Ausdruck der Erkenntnis in den trüben Blick des Nordstaatlers. »Wie fühlen Sie sich, Captain?« fragte Hansen. »Als hätte mich jemand durch den Fleischwolf gedreht.« Die Antwort kam leise und endete in einem heftigen Stöhnen. »Was ist das für ein verfluchter Schmerz in meiner Brust?« »Captain McCord hat Ihnen ein Stück Blei da reingejagt. Leider steckt es noch drin. Ich konnte nur die Wunde verbinden.« »Vielen Dank, Käpten.« Driscoll versuchte sich an einem reichlich gequält wirkenden Lächeln. »Schätze, das Schiff ist in der Hand dieses Rebellen-Captains und seiner Sympathisanten.« »So ist es, schon seit ein paar Stunden. Sieht ganz so aus, als seien wir geliefert.« »Nicht unbedingt«, knurrte Driscoll mit einem verbissenen Optimismus, der Hansen ganz und gar unverständlich erschien. »Sie scheinen aus irgendeinem kühnen Grund zu hoffen, daß
sich das Blatt wenden könnte«, bemerkte der deutsche Seemann erstaunt. »Gibt es irgend etwas, das ich als Kapitän der ALBANY wissen sollte? Ich meine, nur für den hoffentlich nicht eintretenden Fall, daß Sie nicht mehr einsatzfähig sein sollten.« »Sie meinen, wenn ich an meiner Verletzung krepiere, Käpten. Sprechen Sie's ruhig aus!« »Die Wunde ist nicht so schlimm wie die von Grosser. Sie haben gute Aussichten durchzukommen.« »Mag sein.« Driscoll holte tief Luft. »Ich denke, ich kann Ihnen vertrauen, Mr. Hansen. Wie ist es mit den anderen hier?« »Die Männer hier unten sind mir bedingungslos ergeben. Sonst lägen sie nicht in Fesseln. Allerdings steht am Decksaufgang ein bewaffneter Posten. Wir sollten also leise reden.« »Wird mir nicht schwerfallen«, stöhnte Driscoll, dessen Sprechen aufgrund seiner schmerzenden Wunde sowieso nicht mehr als ein Flüstern war. Dann klärte er den deutschen Kapitän darüber auf, daß sein Schiff als Lockvogel für ein Fischboot der Konföderierten gedacht war, das seit über einem Jahr die Gewässer vor der kalifornischen Küste heimsuchte. Und darüber, daß ein Walfänger namens LUCIFER in der Nähe kreuzen sollte und im Falle eines Angriffs durch das ›stählerne Monster‹, wie dieses Fischboot genannt wurde, der ALBANY zu Hilfe kommen sollte. Das angebliche Walfangschiff war speziell für die Jagd auf das Fischboot ausgerüstet. »Deshalb also haben Sie sich so auffällig benommen«, brummte Hansen, endlich verstehend. »Sie wollten, daß die angeblich geheime Mission der ALBANY bekannt wird, um eine andere Geheimmission, das Aufspüren dieses von Menschenhand geschaffenen Monsters, zu ermöglichen.« »Right«, grinste Driscolls trotz der kühlen Atmosphäre im Zwischendeck schweißglänzendes Gesicht.
»Aber warum ein Walfänger und nicht ein Kriegsschiff?« »Wir befürchten, daß konföderierte Spione in San Francisco das Fischboot über alle unsere militärischen Maßnahmen unterrichten. Kriegsschiffe als Geleitschutz wären zu sehr aufgefallen. Die Rebellen hätten den Braten vielleicht gerochen. Da kam es uns zupaß, daß John Raven, der Kapitän der LUCIFER, aus privaten Gründen einen Rachefeldzug gegen das angebliche Seeungeheuer führt.« Driscoll berichtete vom Untergang der CORA SUE und fuhr fort: »Übrigens sind auch drei unserer Kriegsschiffe Bestandteil des Plans, der Raddampfer GENERAL STEUBEN sowie die Schrauben-Fregatten RELIANCE und HORNET. Sie sollen sich für den Fall zur Verfügung halten, daß die Konföderierten mit weiteren Seekräften angreifen. Oder für andere Notfälle. Aber weit genug entfernt, um nicht den Verdacht des Feindes zu erregen.« »Dann verstehe ich nicht, wie Ihre Kriegsschiffe im Notfall rechtzeitig zur Stelle sein sollen. Besonders jetzt, wo die ALBANY mit größter Wahrscheinlichkeit einen anderen Kurs fährt. Das kann übrigens auch verhindern, daß uns die LUCIFER zu Hilfe kommt.« Das Gesicht des Navy-Captains verdüsterte sich schlagartig. »Ja, das ist wirklich ein Problem«, ächzte er matt. »Man müßte die Signalraketen abfeuern!« »Was für Signalraketen?« »Grüne Leuchtraketen. Wir haben gleich drei Kisten davon an Bord der ALBANY gebracht.« Driscolls Kopf ruckte zur Seite, und er richtete den Blick in die Tiefe des Zwischendecks. »Wenn mich nicht alles täuscht, lagern die Kisten sogar dort hinten. Man müßte nur irgendwie herankommen. Der massive Einsatz der Raketen sollte für die LUCIFER und für die NAVY-Geleitschiffe das Zeichen zum Einsatz sein.« »Man müßte irgendwie freikommen und die Raketen
hochjagen«, flüsterte Hansen und begann, seinen gefesselten Körper in grotesken Verrenkungen auf den hölzernen Planken hin und her zu schieben. »Was tun Sie da?« »Die Planken hier sind ziemlich rauh. Vielleicht kann ich die Fesseln durchscheuern.« Driscoll blickte Hansen zweifelnd an. »Falls Ihnen das gelingt, Käpten, wird es sehr lange dauern. Darüber kann es Nacht werden.« »Na und?« fragte Hansen, ohne seine seltsam aussehende Tätigkeit einzustellen. »Ich habe gerade nichts anderes vor!« * Ein paar Stunden später, an Bord der GREY SHARK. Die riesige Zigarre aus Stahl glitt durch den Pazifik. Nur der obere Teil des Zylinders mit den beiden Einstiegsluken schaute aus dem Wasser. Die vordere Luke war ein ganzes Stück höher als die hintere, um das Hereinschwappen von Wasser zu verhindern. Hier war der Platz des Ausgucks, den Lieutenant Alva Devane einnahm. Der Kommandant der GREY SHARK – des grauen Hais –, ein drahtiger junger Mann, der einen Ölumhang über die graue Uniform der konföderierten Marine gezogen hatte und einen Südwester auf dem Kopf trug, kniff das linke Auge zu und preßte ein im Licht der immer tiefer sinkenden Sonne funkelndes Fernrohr gegen das rechte. Fast den ganzen Tag hatte er in dieser Haltung verbracht und sich nur für kurze Ruhepausen von Bill Brixton, dem kantigen Maat und Stellvertreter des Bootskommandanten, ablösen lassen. Zu wichtig war die Mission, den scheinbar harmlosen Frachter ALBANY abzufangen. Devane wußte um die brisante Ladung der Bark: hochmoderne Geschütze aus Deutschland, die eigentlich für die
Konföderierten bestimmt gewesen waren. Wenn der Süden die Kanonen schon nicht bekommen konnte, sollten sie auch nicht vom Norden gegen die Südstaatler eingesetzt werden. Der Auftrag der GREY SHARK lautete deshalb, die ALBANY abzufangen und mitsamt ihrer Ladung zu versenken. Daß sich die Bark derzeit in der Hand Arnold Schelps und seiner Komplizen befand, den Agenten des Südens, wußte der junge Marineoffizier nicht. Er machte sich vielmehr Sorgen um den roten Sonnenball, der sich anschickte, mit den Fluten des Pazifiks zu verschmelzen. Wenn das geschah, minderten sich die Chancen der GREY SHARK, den Dreimaster abzufangen. Das durch die Muskelkraft seiner Besatzung angetriebene Fischboot war bei weitem nicht so schnell wie der vom kräftigen Wind profitierende Segler. Wenn erst einmal die Nacht über den Pazifischen Ozean sank, würde die ALBANY einen Vorsprung gewinnen, der nicht mehr einzuholen war. Alva Devane bezwang die trüben Gedanken mit der Erinnerung an die vielen Schiffe, die schon von der GREY SHARK auf den Grund des Pazifiks geschickt worden waren. Kürzlich erst war ein großer Postdampfer dem ›stählernen Monster‹ zum Opfer gefallen, und es gab keinen heißersehnten Steamer-Day in San Francisco. Die Konföderierten waren selbst überrascht, mit welchem Erfolg ein einziges Fischboot den Handel der Union vor der kalifornischen Küste störte. Die ersten Versuche mit den stählernen, unter Wasser angreifenden Zigarren waren nicht sehr erfolgversprechend gewesen. Die PIONEER, ein frühes, tümmlerähnliches Modell, ein ganzes Stück kleiner als die GREY SHARK, sank Anfang des Jahres 1862 bei einer Übungsfahrt auf dem Lake Pontchartrain bei New Orleans. Zwar gelang die Bergung, aber dann wurde das Boot freiwillig wieder versenkt, als die verhaßten Yankees die Stadt eroberten.
Die Blaubäuche selbst hatten auch ihre schlechten Erfahrungen mit Fischbooten gemacht. Im Sommer 1862 sank ihre ALLIGATOR bei stürmischer See bei Kap Hatteras, als sie gerade für einen Angriff in Position geschleppt wurde. Alva Devane war schon immer für alles Moderne, was mit der Seefahrt zusammenhing, aufgeschlossen und begeistert gewesen. Das Erbe seines Vaters, eines reichen Plantagenbesitzers aus Georgia, ermöglichte ihm Entwicklung und Bau der GREY SHARK. Damit machte der fanatische Südstaatler Jagd auf die Handelsschiffe des Nordens. Die GREY SHARK war vielleicht das größte und modernste Fischboot auf der Welt. Jedenfalls war sie der HUNLEY weit überlegen, dem Boot, auf das die Menschen in der vom Norden belagerten Hafenstadt Charleston ihre Hoffnung setzten. Nach mehreren verheerenden Probefahrten, die einige tapfere Seeleute das Leben gekostet hatte, befand sie sich noch immer im Erprobungsstadium. Jedenfalls glaubte Lieutenant Devane das. Die Nachricht war noch nicht zu ihm durchgedrungen, daß vor zwei Wochen, am 17. Februar 1864, die HUNLEY ein US-Blockadeschiff, die Fregatte HOUSANTONIC, versenkt hatte. Allerdings wäre Devanes Ansicht über die HUNLEY dadurch bestätigt worden, hätte er erfahren, was sich danach ereignet hatte: Infolge des Schocks, den die Explosion des Spierentorpedos auslöste, sank auch das Fischboot mit der kompletten neunköpfigen Besatzung. »Sie müssen etwas essen, Sir«, rief der treue Bill Brixton aus dem länglichen Rumpf der GREY SHARK zu dem Offizier herauf. »Ich löse Sie ab.« »Nein!« erwiderte Devane, ohne das Fernrohr auch nur für eine Sekunde abzusetzen. »Ich bleibe auf Wache, bis die Sonne untergeht.« Der kantige Maat seufzte ergeben. Er kannte seinen Kommandanten und wußte, daß Devane trotz seiner Jugend
starrsinniger war als mancher auf See ergraute Kapitän. Murrend fuhr er fort, die Lenzpumpe zu bedienen. Sie beförderte das trotz der erhöhten Umrandung der vorderen Luke in unablässigen Rinnsalen ins Boot plätschernde Wasser wieder nach draußen, ins Meer. Doch eine bissige Bemerkung konnte er sich nicht verkneifen: »Bei allem Respekt, Sir, wenn Sie vor Hunger umkippen, haben nur die blaubäuchigen Yankees was davon.« »Ich werde nicht vor Hunger umkippen, Bill, ganz bestimmt nicht«, erwiderte der Lieutenant in einem seltsam erregten Ton, der Brixton und die zehn Männer an der das Boot antreibenden Kurbelwelle aufhorchen ließen. »Ich werde nämlich gleich gut essen, sobald wir die ALBANY in Treibholz verwandelt haben!« »Haben Sie das Schiff etwa gesichtet, Sir?« rief Brixton herauf. »So ist es«, knurrte Devane, ohne den Blick von den weißen Segeln zu nehmen, die noch zu weit entfernt waren, um sie mit bloßem Auge zu erkennen. »Das ist eindeutig die Takelage einer Bark. An Fock- und Großmast hängen Rahsegel, aber der Besanmast verfügt nur über Gaffelbesegelung. Es muß die ALBANY sein!« Der Lieutenant kletterte nach unten, verschloß die Einstiegsluke, riß den triefnassen Südwester von seinem blondbehaarten Kopf und drückte sein unrasiertes Gesicht gegen das mit Guttapercha abgedichtete Bullauge am Bug. Nein, auf diese Entfernung sah er die ALBANY mit bloßem Auge wirklich nicht! Aber das machte nichts. Er hatte sich die Position gut eingeprägt, an der die GREY SHARK den Dreimaster treffen würde. Vorausgesetzt, das Fischboot war schnell genug. Devane brüllte seine Befehle. Die zehn kräftigen Männer, die in leicht gebeugter Haltung an der Kurbelwelle standen, arbeiteten sich in Schweiß. Es sah
fast aus wie ein Bild aus der Hölle. Im Fischboot herrschte ein Halbdunkel. Nur wenig Licht drang durch das einzige Bullauge am Bug ein. Nicht viel stärker waren die offenen Kerzenflammen. Ihr flackernder Schein ließ die vor Anstrengung verzerrten Gesichter der Männer an der Kurbelwelle wie die von Teufeln erscheinen. Aber die Anstrengung machte sich bezahlt. Die GREY SHARK nahm rasch Fahrt auf, in solche Betriebsamkeit versetzten die Seeleute die große Schraube am Bug. Fünf oder sechs Knoten, schätzte Devane. Mit feuchten Händen betätigte er die Hebel, um das Ruder am Heck in die richtige Position zu bringen. Feucht waren seine Hände nicht nur wegen des pazifischen Salzwassers, das ihn im Ausguck reichlich überspült hatte, sondern auch vor Schweiß. So war es jedesmal, wenn die GREY SHARK kurz vor dem Versenken eines Schiffes stand. Das Jagdfieber hatte Lieutenant Alva Devane gepackt! Es verstärkte sich noch, als endlich der gewaltig wirkende Rumpf des Seglers vor dem Bullauge auftauchte. Sich in regelmäßigen Abständen leicht hebend und senkend, durchschnitt er die Wellen. Devane kniff die Augen zusammen und erkannte endlich den Namen des Schiffes, der in großen Lettern am Bug stand: ALBANY »Sie ist es!« rief er jubelnd. »Es ist die ALBANY! Wenn wir leicht nach Steuerbord drehen, erwischen wir sie voll!« Und schon drehte er das Heckruder herum. Anschließend veränderte er durch die Schwenkung weiterer Hebel die Tiefenruder, die an beiden Seiten des Bugs angebracht waren. Fast gleichzeitig klappte er den Schnorchel ab, der das Boot mit Frischluft versorgte. »Ballasttanks an Bug und Heck fluten!« rief er dabei. Zwei Seeleute ließen die Handgriffe der Kurbelwelle los und betätigten die Handpumpen, um die Tanks mit Meerwasser zu
füllen. Die GREY SHARK sank unter die Oberfläche, bereit für den Angriff. Nur noch die Kerzen sorgten jetzt für Licht. Aber sie hatten noch eine zweite wichtige Aufgabe: Ihr Verlöschen würde den zwölf Männern in dem stählernen Rohr anzeigen, wann die Atemluft verbraucht war. Die konföderierten Seeleute waren sich der Tatsache bewußt, daß ihr Boot für sie alle sehr schnell zum stählernen Sarg werden konnte. Das hielt sie nicht davon ab, auf dem gefürchteten ›stählernen Monster‹ Dienst zu tun. Jeder von ihnen hatte sich in voller Kenntnis der Risiken freiwillig gemeldet. Jeder hatte seinen ganz persönlichen Grund, die Yankees bis aufs Blut zu hassen oder vehement für die Sache des Südens einzutreten. Gründe, die schwerer wogen als die Angst ums eigene Leben. Durch das dicht an der Oberfläche klare Meerwasser sah Lieutenant Devane, dessen Augen unentwegt am Bullauge hingen, verschwommen den dunklen Rumpf der ALBANY, der jetzt fast das gesamte Sichtfeld ausfüllte. Die GREY SHARK schoß auf die Steuerbordseite der Bark zu. »Gut festhalten!« brüllte der junge Offizier. »Feindberührung in zwanzig Sekunden!« Im Geiste zählten die Männer im stählernen Fischboot mit. Obwohl sie auf den Zusammenprall vorbereitet waren, ließ die starke Erschütterung viele das Gleichgewicht verlieren. Sie stürzten auf den Boden, gegen die Wände oder übereinander. Sie zogen sich Prellungen und Hautabschürfungen zu. Unwichtig! Wichtig war nur ihre Aufgabe. Der stählerne Dorn am Bug der GREY SHARK bohrte sich tief in den hölzernen Leib des attackierten Seglers. Von der Wucht der schnellen Fahrt angetrieben, fraß sich die mit Sägezähnen besetzte Spitze immer weiter durch das Holz. Sobald das Fischboot stillstand, gab Devane auch schon den Befehl zum Zurücksetzen. Wieder bedienten seine Männer die
sich längs fast durch den ganzen Bootsrumpf ziehende Kurbel mit aller Kraft, diesmal in umgekehrter Richtung. Sie hörten das Splittern und Ächzen, als sich die GREY SHARK von der ALBANY löste. Nur die Spitze blieb zurück. Die Sägezähne bissen sich im Holz fest und hielten sie dort. Alles verlief nach Plan. Die Leine, die das Fischboot mit dem zurückbleibenden Spier verband, rollte beim Zurücksetzen ab. Sobald sie ganz abgerollt war, wurde dadurch der Zünder des Spierentorpedos betätigt. Eine Hundertzwanzig-Pfund-Schwarzpulverladung am Spier zerfetzte den Leib der ALBANY In der stählernen Zigarre brach Jubel aus. Erleichterung und Freude zeichneten die Gesichter der Männer. Auch Devane fühlte, wie die Anspannung von ihm abfiel, als er den Befehl zum Auftauchen gab. Die Handpumpen drückten das Wasser aus den Ballasttanks, und die GREY SHARK durchbrach die Wasseroberfläche. Devane öffnete die vordere Luke und zwängte seinen Oberkörper hindurch. Die Sonne versank gerade im Pazifik, aber der Himmel war hell erleuchtet. Was einmal ein stolzer Segler gewesen war, war jetzt nur noch ein Trümmerhaufen, der unablässig von weiteren Explosionen erschüttert wurde. »Das ist die Fracht, die Geschützmunition«, rief der Kommandant den Männern unten zu. »Sie reißt die ALBANY in tausend Stücke!« Die flammendrote Helligkeit des Himmels wurde plötzlich von einem leuchtend grünen Mantel überlagert, als eine Vielzahl von Signalraketen mit pfeifendem Geheul nach allen Seiten losjagte. Es wirkte wie ein, unverschämt farbenfrohes Leichentuch, das sich über das sterbende Schiff ausbreitete. Alva Devane zog nachdenklich die Stirn in Falten und beobachtete das seltsame Schauspiel.
* An Bord der LUCIFER. »Das grüne Leuchten!« schrie der muskulöse Neger, der auf der Bramsaling des Großmastes kauerte. »Es ist an Backbord. Das grüne Leuchten an Backbord!« Der tiefschwarze Seemann brüllte es aus Leibeskräften, damit es auch ja gehört wurde. Es ging um zwanzig Golddollar. Kapitän Raven hatte seinen Männern eingeschärft, auf grünes Signalfeuer zu achten. Dort, wo das grüne Leuchten war, würde sich auch das stählerne Monster aufhalten. Die Männer auf Deck stürzten zur Backbord-Reling und blickten in die bezeichnete Richtung. Es war nur schwer zu erkennen. Hätte die Sonne noch hoch am Himmel gestanden, wäre der grünliche Schimmer wohl gar nicht aufgefallen. Aber gegen den tiefblauen Dämmerhimmel zeichnete er sich ab. Es war einer der wenigen Momente, in denen John Raven die äußere Erregung zeigte, die seinem innerlich aufgewühlten Zustand entsprach. »Mr. Stanford, das Fernrohr!« zischte er ungeduldig und verformte seine Rechte zu einer fordernden Klaue. Hastig legte der Erste Steuermann das Rohr in die Hand des Kapitäns. Raven drückte es gegen sein einziges Auge, spähte nach Backbord und stieß erregt hervor: »Ja, beim Satan, es ist das Signal! Gut, daß wir vom vereinbarten Kurs abgewichen sind und näher an der Küste kreuzen. Sonst hätten wir es nicht bemerkt.« Er wandte sich an Frenchy, der das Steuerrad hielt: »Bring die LUCIFER auf den neuen Kurs, Rudergänger!« »Auf welchen?« fragte der Steuermannsmaat, dessen Gehirn weit hinter der Größe seines kugelförmigen Bauches zurückblieb. Raven stieß das schmale Ende des Fernrohrs in die Richtung,
wo der grüne Schimmer mit dem Blauschwarz des Himmels verschmolz. »Dorthin natürlich, Mann! Halte voll auf das grüne Licht zu!« Raven hielt sich wieder an seinen Ersten Steuermann: »Mr. Stanford, rufen Sie die Männer zusammen!« Ein grimmiges Lächeln überzog das Gesicht des Kapitäns, nur vor der entstellten linken Wange machte es Halt. »Alles soll sich bereitmachen zum Fang!« * »Alles an Deck! Fertigmachen zum Fang!« Der Ruf wurde endlos wiederholt und drang bis in den hintersten Winkel des Walfängers. Auch bis zu Jacob und Elihu Brown, die in ihren Kojen hockten. Beiden Männern ging es wieder einigermaßen. Das Fett, woraus auch immer es bestand, bewirkte wirklich Wunder. »Sieht so aus, als ginge es los«, seufzte der bärtige Harpunier. »Hätte nicht gedacht, daß Raven so früh erfolgreich ist.« »Ich habe es ihm und allen anderen an Bord auch nicht gewünscht«, meinte Jacob. »Nenn mich eine Unke, Eli, aber irgendwie glaube ich, Jocks Tod war nur der Anfang.« Ein Schauer lief über Jacobs Rücken, als er an den Absturz des Seemanns vom Großmasttop dachte. Er sah ihn noch in unnatürlicher Haltung auf dem Dach der Kocherei liegen. Jeder Knochen in Moulders Körper schien gebrochen gewesen zu sein. So fühlte es sich jedenfalls an, als Jacob und ein paar andere ihn von dem Schutzdach holten, damit er in eine Segeltuchplane eingenäht werden konnte. Als Kapitän Raven bei der Bestattung die Bibel zitierte, klang das wie Hohn in Jacobs Ohren. Der Mann mit der
Augenklappe, der sich selbst zum Gott über das Schiff und die Besatzung aufschwang, redete von der Furchtsamkeit, die jeder Mensch gegenüber dem Schöpfer empfinden sollte! Dann glitt das Segeltuch mit der Leiche über eine breite Planke ins Meer. Jock Moulder wurde von dem Wasser verschluckt, auf dem er die meiste Zeit seines viel zu kurzen Lebens verbracht hatte. »Komm schon, Jacob!« Ein kräftiger Schulterschlag des Harpuniers riß den jungen Zimmermann aus den Gedanken. »Wenn wir noch länger herumtrödeln, hat der dreimal verfluchte Stanford wieder 'nen Grund, seine Peitsche auf unseren Rücken tanzen zu lassen.« Brown hatte recht, sie waren die letzten Männer im Mannschaftslogis. Alle anderen trampelten bereits über die Treppe an Deck. Rasch standen Zimmermann und Harpunier auf, um sich ihnen anzuschließen. Oben erschollen bereits die Befehle des Kapitäns und seiner Offiziere: »Ladet die Geschütze!« »Ausrüstung in die Fangboote!« Noch einmal schlug Elihu Brown seine flache Hand auf Jacobs Schulter. »Viel Glück, Junge. Und bleib am Leben!« »Dasselbe wünsche ich dir, Eli. Ich kann schließlich an Bord bleiben.« »Das muß nicht unbedingt ein Vorteil sein«, orakelte der bärtige Seemann und lief dann zu seinem Fangboot. Es war ausgerechnet das Boot, das von Cyrus Stanford kommandiert wurde. Jacob stand ruhig inmitten der Hektik. Noch gab es für ihn nichts zu tun. Als Gehilfe des Schiffszimmermanns kam er erst zum Einsatz, wenn die LUCIFER im Kampf beschädigt werden sollte. Daß es einen Kampf geben würde, schien sicher. Das grüne Licht, auf das der Walfänger mit vollen Segeln zuhielt, füllte
zusehends den Horizont aus. * An Bord der GREY SHARK. Das stählerne Fischboot dümpelte antriebslos am Rand des Trümmerregens im Meer. Gerade außerhalb der Gefahrenzone, wo immer wieder brennende Splitter der von Explosionen erschütterten ALBANY zischend ins Wasser fielen. Fasziniert und befriedigt verfolgte Lieutenant Alva Devane das infernalische Schauspiel. Er rief immer wieder seinen sich abwechselnd vor das Bullauge drängenden Männern zu, was er sah. Gewiß, dies war nur ein kleiner Sieg für den Süden. Besser wäre es gewesen, die ALBANY wäre gar nicht erst in die Hände der Yankees gefallen, sondern hätte ihre für die Konföderierten bestimmte Fracht durchgebracht. Aber vielleicht waren es gerade viele solcher kleinen Siege, die schließlich zum großen Sieg führten. Vielleicht war die Sache des Südens trotz aller Schwarzmalerei noch nicht verloren. Zwar drangen die Nordstaatler immer tiefer ins Herz der Südstaaten ein. Zwar erwies sich die Küstenblockade durch die US-Navy als höchst effizient und höhlte die Moral der Menschen im Süden immer stärker aus. Doch solange es Männer wie ihn und seine Besatzung gab, die alles wagten für die Sache, an die sie glaubten, so lange konnte der Süden nicht untergehen! Daran glaubte Devane fest. Daran klammerte er sich. Plötzlich sah er den hellen Fleck am dunklen Horizont. Segel! Sie wuchsen schnell.
»Bill, mein Fernrohr!« rief er nach unten. Brixton reichte es ihm und fragte, was los sei. »Ein Schiff kommt auf uns zu. Also war es doch eine Falle!« »Was für eine Falle, Sir?« »Die Leuchtraketen! So viele, wie da hochgehen, benötigt ein normales Schiff nicht. Die ALBANY war ein Lockvogel – für uns!« Devane blickte durch das Fernrohr dem sich nähernden Segler entgegen. »Seltsam«, murmelte er. »Sollte ich mich getäuscht haben?« »Wieso, Sir?« erkundigte sich der kantige Maat. »Es ist kein Kriegsschiff, sondern ein Walfänger«, antwortete der Kommandant des Fischbootes. »Wie auch immer, es ist ein Yankee-Schiff. Wir werden es versenken!« »Aber wir haben keinen Torpedo mehr!« wandte Brixton ein. »Dann rammen wir es einfach«, entschied Lieutenant Devane und rutschte ins Innere seines schmalen Gefährts. »Alles fertigmachen zum Tauchen!« * An Bord der LUCIFER. Mit weit aufgerissenen Augen stand Jacob am Bug des Walfängers und starrte auf das entsetzliche Bild voraus. »Das… das ist die ALBANY!« keuchte er. »Oder vielmehr das, was von ihr übrig ist.« Das war nicht viel. Ein brennender Trümmerhaufen, über dem sich eine dunkle Rauchwolke erhob und das grüne Himmelslicht allmählich absorbierte. Noch immer wurde der zerfetzte Leib der Bark von Explosionen erschüttert. Keiner der drei Masten stand mehr aufrecht. Sie trieben mit anderen rauchenden und brennenden Trümmern im Meer.
Und die LUCIFER hielt genau auf dieses Inferno zu. Da schrie der Schwarze auf dem Großmast, der schon als erster das grüne Leuchten entdeckt hatte: »Das Monster! Es ist das Seeungeheuer!« Die schrille Stimme überschlug sich fast. »An Backbord des brennenden Schiffes. Es taucht gerade unter!« »Fiert die Boote!« hallte Kapitän Ravens schneidende Stimme übers Deck. »Jetzt machen wir dem Spuk ein Ende!« Und schon wurden die schlanken Fangboote zu Wasser gelassen. Vier Stück waren es, jedes bemannt mit sechs Männern. Befehligt wurden sie von Cyrus Stanford, vom Zweiten Steuermann, einem kahlköpfigen Franzosen namens Lapierre, sowie von den beiden Maaten Frenchy und Petrov. Raven selbst hatte das Steuer der LUCIFER übernommen, um das Schiff in die beste Position zum Abfeuern der Geschütze zu bringen. Aber es gab keine geeignete Position! Während die Fangboote auf der Suche nach dem stählernen Monster ausschwärmten, war dieses einfach unter der Wasseroberfläche verschwunden. Ratlos starrten die Männer in den Booten ins Wasser. Ihre Handgranaten und Raketengeschosse, die John Raven eigens für die Jagd auf das Fischboot angeschafft hatte, nützten ihnen gar nichts, solange sie den stählernen Zylinder nicht sahen. Jacob wollte vom Bug zum Achterdeck laufen, um Raven aufzufordern, die Boote lieber nach Überlebenden der ALBANY suchen zu lassen. Vielleicht hatte das stählerne Monster längst das Weite gesucht. Er machte sich Sorgen um die Besatzung, von denen er viele Männer kannte. Und um seinen Freund Piet Hansen. Der junge Deutsche hatte sich kaum in Bewegung gesetzt, als der schwarze Topgast schrie: »Monster voraus! Es kommt auf unseren Bug zu!« Raven reagierte schnell und befahl: »Feuer frei für das
Buggeschütz!« Aber die Bedienung konnte den Zweiunddreißigpfünder nicht abfeuern. Als die Männer das Schimmern der stählernen Riesen-Zigarre sahen, war das Fischboot genau zwischen zwei Fangbooten. Das Fischboot stieg höher und rammte die beiden Boote, stürzte sie um. Lapierre und Petrov fielen mitsamt ihren Besatzungen ins Meer. Dann hatte das Seeungeheuer den Walfänger auch schon erreicht und trieb seine spitze Nase in den Bug der LUCIFER. Das ganze Schiff wurde angehoben. Jacob verlor das Gleichgewicht. Er stürzte, rutschte über das Deck und stieß schmerzhaft mit der Schulter gegen den Aufbau des Backniedergangs. Um ihn herum herrschte das Chaos. Schreie vermischten sich mit dem Splittern von Holz. Kisten und Fässer stürzten um, rutschten und rollten übers Deck, klemmten Menschen ein, zerquetschten Glieder. Und wieder wurde der Walfänger durchgeschüttelt, als sich das Fischboot von seinem Opfer löste. * »Legt euch in die Riemen, Männer!« fuhr Cyrus Stanford die Besatzung seines Fangboots an. »Das verfluchte Stahlvieh steckt im Rumpf der LUCIFER. Jetzt kriegen wir es!« Sein Fangboot war dem Fischboot am nächsten. Und es kam ihm noch näher, als die Bootsgasten den Befehl des Ersten Steuermanns ausführten. Dieser hielt mit eiserner Hand die Ruderpinne und steuerte das Fangboot direkt auf den Stahlzylinder zu. Der Bug des Fischbootes ragte zusammen mit dem des Walfängers aus dem Wasser. Aber schon drohte er wieder in der Tiefe zu verschwinden.
»Schneller, Leute!« schrie Stanford und machte eine Handgranate klar. Er schleuderte die Explosivladung im hohen Bogen in Richtung des Fischboots. In dem Moment, in dem die GREY SHARK wieder unter der Wasseroberfläche verschwinden wollte, explodierte die Sprengladung genau über seinem Bug. Das Fangboot war jetzt so nah an dem Fischboot, daß es von der Druckwelle erfaßt und umgerissen wurde. * »Stanford hat es erwischt!« jubelte John Raven im Ruderhaus. »Er hat das verfluchte Untier zur Hölle geschickt.« Die Freude des Kapitäns währte nicht lange. Der Explosion von Stanfords Handgranate folgten weitere. Sie kamen aus dem Bauch der LUCIFER. »Verdammt!« fuhr Raven einen Bootsmaat an. »Was ist da los?« »Ich weiß nicht, Käpten. Ich müßte mich erkundigen.« »Dann tu es!« »Aye, Käpten.« Hastig verließ der Maat das Ruderhaus und stieg unter Deck. Nach nur zwei Minuten kehrte er zurück. Auf seinem Gesicht stand Panik zu lesen, Todesangst. »Käpten«, stammelte er. »Wir sinken!« »Was? Das kann nicht sein! Das Loch im Bug muß man doch abdichten können!« »Das ist es nicht. Als die LUCIFER durchgeschüttelt wurde, ist bei der Steuerbordbatterie Feuer ausgebrochen. Mehrere Pulverfässer sind explodiert. Die Lecks dort sind riesig. Ich habe sie gesehen.« Als wolle das Schiff die Worte des Maats bestätigen, neigte es sich in diesem Moment stark nach rechts.
An Bord brach allgemeine Panik aus. Die Geschützbedienungen rannten an Deck. Ein Teil der Männer sprang ins Wasser. Die Besonneneren versuchten, die beiden Reserve-Fangboote zu wassern. Da erschütterte eine neue Serie von Explosionen die LUCIFER… * Die GREY SHARK sank. Die Sprengladung hatte das Fischboot an seiner verwundbarsten Stelle erwischt, am Bullauge. Das Glas, obwohl besonders stark, war zersplittert. Jetzt drang eine wahre Sturzflut in das Schiff ein, machte es von Sekunde zu Sekunde schwerer und zog es hinunter zum tiefen Grund des Pazifiks. Lieutenant Alva Devane, der Maat Bill Brixton und alle anderen Männer an Bord wußten, daß es ihr Ende war. Von einem sinkenden Schiff konnte man versuchen zu entkommen, indem man ins Wasser sprang. Diese Möglichkeit gab es hier nicht. Sie konnten die beiden Luken nicht öffnen. Zu groß war der Wasserdruck, der auf ihnen lastete. Sie konnten nur sterben. Vielleicht war es das Wissen um die Unausweichlichkeit des Todes, das die zwölf Männer ihr Schicksal so ruhig ertragen ließ. Sogar als ihnen das Wasser buchstäblich bis zum Hals stand, lächelten einige von ihnen noch. Sie dachten an die Hügel und Wälder der Heimat und an die Liebsten daheim. Der ungeheure Wasserdruck ließ Nieten und Fugen aufplatzen. Von überall strömte Wasser ins Innere des Bootes. Es war vorbei, lange bevor die GREY SHARK den Boden des Pazifiks erreichte.
* Die zweite Explosionsserie ließ die LUCIFER auseinanderbrechen. Jacob, der gerade wieder auf die Füße kam, verlor erneut den Boden unter den Füßen. Erst als die Fluten über ihm zusammenschlugen, wurde ihm bewußt, daß er ins Meer gestürzt war. Sofort begann er mit den Schwimmbewegungen, stieß zur Oberfläche durch, spuckte das verschluckte Wasser hustend aus und füllte seine Lungen mit frischer Luft. Mehr und mehr Männer von dem Walfänger sprangen freiwillig oder fielen gezwungenermaßen ins Wasser. Es war auch besser so. Die LUCIFER verwandelte sich, wie zuvor die ALBANY, in eine Flammenhölle. Jacob sah, wie das Feuer aufs Ruderhaus übergriff. Er dachte an John Raven, der am Ruder gestanden hatte. Verbrannte der Kapitän des Teufelsschiffes in diesem Augenblick bei lebendigem Leib? War Raven dem Untergang der CORA SUE nur entkommen, um jetzt mit der LUCIFER zu sterben? Eine brennende Planke, die, von einer Explosion losgerissen, dicht bei Jacob ins Wasser fiel, machte ihm die Gefahr bewußt, in der er sich befand, wenn er in unmittelbarer Nähe des sinkenden Walfängers blieb. Also schwamm er, wie so viele andere, von der LUCIFER fort. Ein großer Teil der Männer hielt auf das letzte Fangboot zu, das unter dem Kommando von Frenchy noch im Wasser schwamm. Aber das war ein hoffnungsloses Unterfangen. Das Boot hatte bereits Cyrus Stanford und seine Männer, darunter Elihu Brown, aufgenommen und war jetzt schon überfüllt. Als Jacob weiter weg war, sah er, daß die Männer im Boot mit den Riemen auf die Schicksalsgefährten im Wasser einschlugen, weil letztere nicht in dem Bemühen aufgaben, an
Bord zu klettern. Auf den ersten Blick erschien das hart und herzlos. Aber es war das einzig Vernünftige, was die Leute im Fangboot tun konnten. Sonst wäre auch dieses Boot gekentert. Der junge Deutsche schwamm auf die im Meer treibenden Trümmer der ALBANY zu. Erst unbewußt, dann mit voller Absicht. Vielleicht hatte jemand von der Mannschaft überlebt! Aber er fand nur Tote. Viele von ihnen waren grausam verstümmelt. Die explodierende Ladung hatte ihnen Glieder abgerissen, oder das Feuer hatte ihre Haut verbrannt. Ein weiterer Schock wartete auf ihn. Ein paar der im Wasser treibenden Leichen waren an Händen und Füßen gefesselt. Erst dachte er an sein eigenes Schicksal. Hatte auch der Kapitän der ALBANY Männer shanghait, um seine Mannschaftszahl zu stärken? Aber nein, das hätte Piet Hansen niemals getan! Es mußte eine andere Erklärung geben. Jacob stellte fest, daß die Gefesselten ausnahmslos zu den Männern gehörten, die schon auf der Fahrt nach San Francisco Hansen die Treue gehalten hatten. Eine ungefähre Ahnung von dem Drama, das sich an Bord der ALBANY abgespielt haben mochte, überfiel ihn. »Jacob!« Erst allmählich wurde dem Zimmermann bewußt, daß jemand seinen Namen rief. Er drehte seinen Kopf und sah eine müde winkende Gestalt, die auf einer im Wasser treibenden Planke lag. Rasch schwamm Jacob zu ihr hin. Es war Piet Hansen! Der Kapitän war schrecklich zugerichtet. Er blutete aus mehreren tiefen Wunden. In abgehackten Sätzen, immer wieder Atem schöpfend, erzählte er dem Freund, was geschehen war. »Ich wollte meine Fesseln durchscheuern, um die Signalraketen zu zünden… Hatte gerade eine Hand frei, als die
ALBANY explodierte… Es war schrecklich… Überall Feuer und Tod… Wollte noch Captain Driscoll helfen… Es ging nicht… Er verbrannte vor meinen Augen…« Jacob nickte verständnisvoll und fragte dann: »Was ist mit Schelp? Mit McCord und dem Mexikaner? Und mit Vivian Marquand?« »Keine Ahnung…«, röchelte Hansen. »Habe sie nicht mehr gesehen…« »Vielleicht hat das Meer sie verschluckt«, meinte Jacob. »Hoffen wir's«, flüsterte der Verwundete. Die Stimme des Kapitäns wurde immer schwächer. Das Wasser um ihn herum war besonders dunkel. Dunkel von Piet Hansens Blut. Jacob zog seine Jacke aus. »Was tust du?« fragte der alte Seebär mit brüchiger Stimme. »Mit irgend etwas muß ich Ihre Wunden verbinden, Piet.« »Das ist… zwecklos…« Jacob ließ sich nicht beirren. Er legte mehrere Verbände um Hansens verwundetes Fleisch, so gut das im Wasser ging. Der Kapitän blickte den jungen Mann dankbar an, als Jacob fertig war. Mit Dankbarkeit und Freundschaft in den Augen starb Piet Hansen in Jacobs Armen. Die Nacht senkte sich über den Pazifik… * In der Nacht starben viele. Sie ertranken oder erlagen ihren Verletzungen. Immer wieder hörte Jacob Schreie und Wimmern. Aber er konnte nichts tun. Er fühlte sich völlig ausgelaugt. Die Strapazen der letzten Tage forderten ihren Tribut von ihm. Mit letzter Kraft klammerte er sich an der Planke fest und versuchte auch, Piet Hansens Leiche über Wasser zu halten. Er wollte, daß der alte Seebär ein würdiges Begräbnis erhielt.
Doch irgendwann nickte Jacob ein. Er kam wieder zu sich, als Hansens ergrauter Kopf gerade ins Wasser tauchte. Jacob wollte nach ihm greifen, kam aber zu spät. Er sah noch eine Hand des Kapitäns, die sich im Wasser bewegte, als wolle der Alte ihm ein letztes Mal zuwinken. Mit unendlicher Trauer im Herzen sah Jacob zu, wie Piet Hansen in der Tiefe verschwand. * Der Morgen brachte die Rettung in Gestalt schwarzgrauer Rauchfahnen. Wie riesige Trauerflore angesichts der großen Katastrophe hingen sie am blaugrauen Himmel. Sie wuchsen, während die Schiffe näherkamen, aus deren Schornsteinen der Rauch entwich. Es waren die USKriegsschiffe GENERAL STEUBEN, RELIANCE und HORNET. Die drei Dampfer sammelten die Überlebenden der Katastrophe ein. Es waren etwa vierzig Männer von der LUCIFER, aber kein einziger von der ALBANY. An Bord der HORNET traf Jacob Elihu Brown wieder. Wie uralte Freunde schlössen sie sich in die Arme. Auch Cyrus Stanford, Petrov und Frenchy kamen an Bord der zur Schrauben-Fregatte umgerüsteten Brigg. Aber das war Jacob und dem Harpunier egal. John Raven schien ebenso von der See verschluckt zu sein wie Schelp und seine Komplizen. Jacob dachte nur kurz an sie. Dann wanderten seine Gedanken voraus, dorthin, wo hinter dem Horizont San Francisco lag. Das Ziel der kleinen Flottille. Der deutsche Auswanderer konnte die Ankunft in der Stadt am Golden Gate kaum erwarten. Das Ungewisse Schicksal von Irene und Jamie bohrte in ihm. Was war mit der Frau, die er insgeheim liebte, und mit ihrem
kleinen Sohn geschehen, nachdem sie vorgestern morgen überfallen worden waren? Hatte der heimtückische Überfall in der Sackgasse nur Jacob gegolten oder auch ihnen? Wenn es die Schlägertruppe auch auf die Frau und das Kind abgesehen hatte, aus welchem Grund? Und wer hatte die Männer beauftragt? Was hatten die Männer doch gesagt? Der Hai von Frisco schicke sie! Doch wer war das? Je länger Jacob über die Sache nachdachte, desto mehr Fragen türmten sich auf. Aber keine Antworten. Die würde er erst in San Francisco erhalten. Obwohl die drei Schiffe der Stadt an der kalifornischen Küste mit jeder Minute näherkamen, wuchs Jacobs Unruhe. Er befürchtete das Schlimmste und hoffte das Beste. Er schwor sich, Irene und Jamie zu finden. Eher würde Jacob Adler keine Ruhe geben.
ENDE
Und so geht das Abenteuer weiter… CHINATOWN – der Bezirk San Franciscos, wo neben dem Zentrum am Portsmouth Square und den Lasterhöhlen in Barbary Coast am meisten nächtliches Leben pulsierte. Hier drängten sich nicht nur die langbezopften Asiaten in ihrer geschäftigen Gangart durch die engen Gassen, sondern auch jede Menge Amerikaner und Angehörige anderer Nationalitäten. Sie suchten die speziellen Vergnügungen, für die Chinatown berühmt war, in den rauchgeschwängerten Opiumhöhlen und den parfümerfüllten Häusern der Freude. Es war ein Ort, der auch Jacob Adler in seinen Bann schlug. Denn hier residierte eine geheimnisvolle, erotische Frau, die gleichermaßen Schicksal und Erfüllung für den jungen Deutschen werden sollte:
Die CHINA-QUEEN von J.G. Kastner