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DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Tom Wittgen Das Schwarze-Peter-Spiel
Kriminalroman
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DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Tom Wittgen Das Schwarze-Peter-Spiel
Kriminalroman
Bernhard Ramsun, über Jahre zuverlässiger Geldfahrer der Westberliner Wach- und Transportgesellschaft „Edmund“, geht ein Geldbeutel mit 820 000 DM verloren. Ehrliche Müllmänner geben ihn ab. Reporter mischen sich ein, ein Artikel erscheint, der Rausschmiß folgt. – Ramsun ist ruiniert. Abrupt aus seinem gewohnten bürgerlichen Dasein gerissen, wird er mit der Schattenseite des Lebens konfrontiert. Gegen seinen Willen und ohne sein Verschulden findet er sich auf der Kehrseite des Gesetzes wieder. Ihm hat man die Schwarze-Peter-Karte zugeschoben. Er gibt sie weiter. Ramsun sieht sich nicht als Gangster, sondern als ein Mensch, der aus Notwehr gegen seine Vorstellungen von Moral und Ethik handeln muß.
Tom Wittgen
Das SchwarzePeter-Spiel
Verlag Das Neue Berlin
5
I
1 „Gewiß kommen die auch zu Ihnen.“ Die Kellnerin flüsterte und stellte die Nachspeise, die Bernhard Ramsun beiseite schob, wieder aufs Tablett. „Mokka“, sagte Ramsun. In kurzen Abständen zuckte Blitzlicht durch den Raum. Der Fotograf gab akrobatische Vorstellungen zum besten, um Direktor Kruse aufs Zelluloid zu bannen. Mit kleinen Tricks versuchte die Kellnerin, mit ins Bild zu kommen, doch der Mann mit dem Fotoapparat vereitelte das durch einen warnenden Blick oder eine ärgerliche Handbewegung. Vom Nebentisch aus beobachtete Bernhard Ramsun diese Szenen. Er lächelte verächtlich. „Warum eigentlich“, fragte der Reporter, „hat sich Ihre Wach- und Transportgesellschaft den Namen Edmund zugelegt?“ „Oh, das hat symbolische Bedeutung“, erklärte Direktor Kruse bereitwillig. „Edmund heißt der BesitzSchützer. Gäbe es eine treffendere Bezeichnung für ein Unternehmen, das mit rund eintausend Angestellten Beschützerfunktionen übernimmt?“ „Sie beschirmen Personen und ebenso deren Besitz?“ „Ganz recht.“ 6
Direktor Kruse drückte seine Zigarre aus, für Ramsun ein Zeichen, daß er zu einer längeren Rede ansetzte. Die Serviererin brachte den Mokka. Da ihr Versuch, zusammen mit dem Direktor in einer Illustrierten zu erscheinen, gescheitert war, hatte sie nur noch Augen für Ramsun. Doch der beachtete sie heute noch weniger als sonst. Er nahm die Tasse auf, trank und verfolgte über den Rand hinweg die Gesten seines Chefs, die Miene des Reporters und die Artistik des Fotografen. „Für Personen- und Objektschutz sind wir ebenso verantwortlich wie für Transporte von Geld- und Sachwerten“, erklärte Kruse. „Vierzig mit Funk ausgerüstete Wagen durchqueren diese Stadt zur Kontrolle von Gebäuden – Privathäusern zumeist“, fuhr er schnell fort, als der Reporter etwas fragen wollte. „Berühmte Persönlichkeiten vertrauen sich uns an. Verlangen Sie keine Indiskretion von mir. Ich kann Ihnen jedoch versichern, daß wir hochgestellten Personen aus den Sphären der Kunst und Politik Begleitschutz gewähren.“ Wieder öffnete der Reporter den Mund zu einer Frage, doch Direktor Kruse beantwortete sie schon, ehe sie gestellt wurde. Ramsun setzte die Mokkatasse ab und beobachtete jetzt offen und ungeniert die Szene am Nebentisch. In der Kantine gab es ohnehin keinen Mitarbeiter der Wachgesellschaft mehr, der das nicht getan hätte. Ramsun brachte es jedoch ein wenig überheblicher, herausfordernder zustande. Er verzog einfach den rechten Mundwinkel, nur so viel, daß sein Gesicht nicht zur Grimasse wurde, sondern lächelnd Geringschätzung ausdrückte. „Außerdem versieht unser Personal Aufseherdienste in Museen, bei Behörden, in Rundfunkanstalten. Und zweihundert Angestellte – ich wiederhole: zweihundert! – haben die Fluggastkontrolle in Tegel übernommen. Sie sehen, wir bieten Sicherheit in vielfältiger Weise.“ Diese Worte erinnerten Bernhard Ramsun an sein 7
Einstellungsgespräch vor sechs Jahren. „Wir verkaufen Sicherheit“, hatte Kruse ihn damals belehrt. „Wir leben von der Angst der Banken um ihr Geld, von der Furcht der Politiker und Show-Stars um ihr Leben, und wenn in der Stadt die Zahl der Überfälle steigt, wird es für uns ein gutes Jahr.“ Der Direktor bemerkte Ramsuns zuckenden Mundwinkel und schwieg irritiert. Gelegenheit für den Reporter, etwas mehr als einen Statisten aus sich zu machen. „Mit welchen Problemen müssen Sie sich in der Hauptsache herumschlagen?“ „Das von uns Erreichte ist noch längst nicht das Erreichbare. Zwar ist Sicherheit garantiert, wo unsere Leute arbeiten, doch wir können leider kaum noch neue Kundschaft annehmen, obwohl vielerorts der Wunsch besteht, sich unserem Unternehmen anzuvertrauen …“ Du Armleuchter, dachte Ramsun, und im nächsten Augenblick: Nein, du bist nichts als ein cleverer Bursche in deinem Geschäft. Und aus dem Spiel, wer am besten lügt, der kriegt die Kasse, bist du noch immer als Sieger hervorgegangen. Museumsdiebstähle trotz Wachgesellschaft Edmund. Überfall auf einen von uns beschützten Pop-Star. Vor acht Wochen wurde der Beifahrer eines Geldtransporters angeschossen. Das Geld blieb zwar unangetastet, aber beim Überfall auf die ABC-Kreditbank in Wilmersdorf sind die Täter mit ihrer Beute entkommen. „… denn es hat sich herumgesprochen: Wach- und Transportgesellschaft Edmund – nomen est omen.“ Damit war das Interview beendet. Direktor Kruse bekräftigte seine Absicht durch zwei Gesten, die ineinander überflossen: Er winkte Reporter und Fotograf, sich vom Tisch zu entfernen, und der Kellnerin, ihm zu servieren. Der Reporter verneigte sich leicht, murmelte „Danke schön“ und sagte mit harmloser Dreistigkeit: „Ihre Zustimmung vorausgesetzt, werde ich noch ein oder zwei Ihrer Angestellten interviewen.“ 8
Er trat an den Nebentisch, an dem Bernhard Ramsun saß. Direktor Kruse wurde weiß um die Nasenwurzel. Seine Augen waren kleine, stechende Pünktchen. „Der künftige Einsatzleiter unserer Geldtransporter“, sagte er. „Stellen Sie ihm zwei, drei Fragen und verschwinden Sie.“ „Würden Sie mir Ihren Namen nennen und Ihre jetzige Tätigkeit?“ fragte der Reporter. „Bernhard Ramsun. Seit sechs Jahren Fahrer beziehungsweise Sicherheitsbegleiter der Edmund-Geldtransporter.“ „Berliner?“ „Düsseldorfer.“ „Durch Ihre Arbeit oder durch Heirat in diese Stadt gekommen?“ Ramsun ließ die Frage unbeantwortet, sah sein Gegenüber an wie einen, dessen Dummheit Mitleid erregt. Er mochte nicht, daß jedermann in der Zeitung etwas über sein Privatleben nachlesen konnte. „Hatten Sie schon früher mit Geld zu tun, bevor Sie bei Edmund eingestiegen sind?“ „Ich war stellvertretender Hauptkassierer beim Düsseldorfer Kaufhof.“ „Welche Summen wanderten da täglich durch Ihre Hände?“ „Zwischen dreihunderttausend und anderthalb Millionen Mark.“ „Papier, aus dem die Träume sind“, sagte der Reporter. Ramsun schwieg. „Sich mit Geld zu beschäftigen war also Ihr täglich Brot. Aber was qualifizierte Sie zum Sicherheitsbegleiter?“ „Ich habe mich in Karate getrimmt und verstehe mit Schießeisen umzugehen.“ „Mußten Sie von diesen Fähigkeiten schon Gebrauch machen?“ 9
„Das ist jetzt ungefähr die siebente Frage“, sagte Ramsun und winkte der Kellnerin, um zu zahlen. Direktor Kruses Augen weiteten sich und blickten fast mit Wohlwollen aus dem fleischigen, etwas gedunsenen Gesicht. Reporter und Fotograf packten ihre Utensilien und verschwanden. „Von welcher Zeitung waren denn die Jungs?“ fragte jemand. „Tagesspiegel“, sagte Ramsun. Er zahlte, blieb aber sitzen und wartete, bis sein Chef mit dem Essen fertig war. Dann trat er an dessen Tisch. „Vielleicht steht morgen in der Zeitung, daß ich der künftige Einsatzleiter unserer Geldtransporter bin.“ „Ja und? In vier Wochen sind Sie es bereits.“ „Man wird mich für alle Pannen verantwortlich machen, die es bei Transporten gibt.“ „Was wollen Sie eigentlich? Wovor haben Sie Schiß? Lehnen Sie die Beförderung ab?“ Kruse erhob sich. Er überragte den 1,80 m langen Ramsun um einen halben Kopf und war fast doppelt so breit wie er. Trotz der Fettpolster, die der maßgeschneiderte Anzug nicht völlig vertuschen konnte, war er eine imposante Erscheinung: jovial, wenn er jovial wirken wollte, furchteinflößend, wenn er es darauf abgesehen hatte. Jetzt war er nichts als verärgert. „Ich übernehme einen Wagenpark teils moderner, mit allen Raffinessen ausgerüsteter Panzerautos“, sagte Ramsun, „teils mit Feldcontainerautos, die so sicher sind wie eine Seifenkiste auf einem Kinderdreirad.“ „Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Keine Gesellschaft kann es sich leisten, mit einem Schlag rundum zu modernisieren. Die veralteten Exemplare werden nach und nach aus dem Verkehr gezogen und durch neue ersetzt. Das ist doch eine ganz normale Angelegenheit.“ „Nach und nach“, wiederholte Ramsun bedächtig, „kann eine Menge geschehen, was die Gesellschaft in 10
Mißkredit bringt – und was ich nicht verantworten möchte.“ „Mit anderen Worten, Sie wollen den Job nicht.“ „Ich will ihn. Aber ich will ihn auch behalten und nicht nach der ersten Pleite, die es mit einer der alten Kutschen gibt, die Treppe runtergeschmissen werden und mir den Hals brechen.“ „Also doch der richtige Mann.“ Jetzt wirkte er so gönnerhaft, daß Ramsun mit den Zähnen knirschte. „Weitblickend für die Gesellschaft und für sich selbst, intelligent, energisch. Sie werden Schwung in den Laden bringen, und Sie werden meine Unterstützung haben.“ „Fein.“ Ramsuns rechter Mundwinkel zuckte ein wenig. „Was die Unterstützung betrifft, da hätte ich einen kleinen Vorschuß nötig. Ich brauche heute nachmittag ein ordentliches Containerauto. Der Panzerwagen, mit dem wir die Einnahmen von Hertie aus Steglitz abholen, hat kaum noch Spielzeugwert. Die elektrischen Sicherungen waren zum Teufel und wurden nicht durchgehend erneuert. An der Seitentür sind sie durch ein einfaches Schnappschloß ersetzt worden.“ „Ein Provisorium. Für den heutigen Transport müssen wir’s in Kauf nehmen.“ „Wir“, wiederholte Ramsun. „Okay. Übrigens sind auch die Kontrollampen nicht in Ordnung.“ „Bei nächster Gelegenheit wird die gesamte elektrische Anlage überprüft und, wenn nötig, erneuert. Das ist doch selbstverständlich.“ Die letzten Worte sprach Direktor Kruse über die Schulter, denn er hatte sich schon zum Gehen gewandt. Düster blickte Bernhard Ramsun zur Tür, die sein Chef heftig aufstieß und die noch eine Weile hin und her schwang.
11
2 Der weißgelbe Panzerwagen mit der tintenblauen Aufschrift „Edmund-Wach- und Transportgesellschaft“ fuhr im Pulk der Innenstadt zu. Am Steuer saß Bernhard Ramsun, neben sich einen jungen Kollegen, mit einem Gesicht wie vom Fließband und Augen, die versuchten, alles gleichzeitig zu registrieren, was um sie herum geschah. Plötzlich gab er Ramsun durch ein Handzeichen zu verstehen, den Wagen anzuhalten. Im gleichen Augenblick bremste der Audi vor ihnen, Reifen quietschten, der schrille hohe Warnton eines Polizeiautos kam näher und übertönte alle Straßengeräusche. Nur wenige Zentimeter hinter dem Audi brachte Ramsun seinen Transporter zum Stehen. Knapp gelang es der nachkommenden Kolonne, einen Auffahrunfall zu vermeiden. „Glück gehabt“, sagte Ramsun und atmete tief. Sein Begleiter sah rasch nach den Kontrollampen und dann nach draußen, wo der Polizeiwagen hinter einem Renault herjagte. Im nächsten Augenblick hatte er beide aus den Augen verloren, und der Pulk setzte sich wieder in Bewegung. „Na“, fragte Ramsun, „haben Sie’s zusammen?“ „Ich denke schon. Der Renault wollte der Polente entwischen und kam, ohne die Vorfahrt zu beachten, aus einer Seitenstraße geprescht.“ „Die kriegen ihn ja doch.“ „Sagen Sie das nicht. Wenn der Fahrer was drauf hat, saust die Polizei noch mit Musike die Bundesallee entlang, während der schon in einer Kaufhaus-Garage den Wagen umfrisiert.“ „Ich hoffe aber, daß sie ihn kriegen, und zwar bevor er andere in einen Unfall verwickelt.“ „Scheint Ihnen ganz schön in die Knochen gefahren zu sein“, sagte der Junge mit dem Allerweltsgesicht mitleidig. 12
„’n Pappkasten zum Geldtransportieren und ’n Klugscheißer als Begleiter. Ist heut vielleicht der Dreizehnte?“ grummelte Ramsun. Er bog scharf links ab und konzentrierte sich aufs Fahren. Auch in den Nebenstraßen herrschte starker Verkehr. „Ich halte mal an, und Sie drehen ’ne Runde.“ „Wie ist denn das zu verstehen“, fragte der Junge in einem Ton, als hätte Ramsun einen unflätigen Witz gerissen. „Herzelchen, Sie sollen bloß mal aussteigen und nachgucken, ob alles in Ordnung ist.“ „Was soll denn nicht in Ordnung sein?“ Ramsun seufzte. „Schon gut. Wahrscheinlich ist außer Ihnen wahrhaftig alles in Ordnung.“ Er haßte gedankenlose Gegenfragen, wie sie ihm dieser grüne Heinrich stellte, der ihn an Stelle von Werner Bahl begleitete. Natürlich sollte alles in Ordnung sein. Nichts wünschte er sich mehr, als seine Aufgaben ohne Zwischenfälle zu erledigen. Ebendeshalb kontrollierte er lieber dreimal zuviel als einmal zu wenig. Sein Begleiter, der Ramsuns Verstimmung bemerkte, sagte: „Wir würden bloß den Verkehr aufhalten, und ich würde einen Unfall riskieren.“ Mit so einer Landplage fahre ich nicht noch einmal, dachte Ramsun. Ich streike oder werde krank. „Aussteigen lohnt wirklich nicht mehr“, nörgelte der Bursche. „Wir sind gleich da.“ Wahrscheinlich werde ich krank, dachte Ramsun. Kurze Zeit später fuhren sie in den Hof des Bankgebäudes ein. Der junge Wachmann sprang aus dem Wagen, und vom Hintereingang der Bank her kamen zwei Sicherheitsbeamte, um sie zu begleiten, wenn sie die Geldsäcke ins Haus trugen. „Mist verfluchter!“ Ramsun horchte auf. Es war die Stimme von seinem 13
Kollegen, und sie klang weinerlich. Ramsun zog den Zündschlüssel ab, stieg aus und ging mit unbewegter Miene um den Wagen. „Es ist doch etwas passiert.“ Ramsun blieb stehen. Natürlich war es nicht glatt gegangen. Stets geschah etwas Unangenehmes, wenn er dieses undefinierbare Gefühl ignorierte, das ihn warnte, das eine Vorahnung war. Sie hatte auf ihm gelastet, seit er wußte, das Hertie-Geld sollte mit dem schlecht reparierten Transporter befördert werden. „Was gibt’s denn?“ Überflüssig, zu fragen. Er wußte es, ohne den Sachverhalt zu kennen. Nur das hingeschluderte Türschloß konnte aufgesprungen sein. Sie hatten Geld verloren. „Das scharfe Bremsen war wohl schuld“, sagte der junge Wachmann. Seine Stimme wurde immer piepsiger. Mit blutleeren Lippen lehnte er am Kühler. „Vielleicht ist es auch in der Kurve passiert. Das Schloß hat nicht standgehalten. Die schwere Geldtasche hat gegen die Tür gedrückt – wahrscheinlich ist es doch in der Kurve passiert –, die Tür ist aufgesprungen, und wir haben eine Geldtasche mit achthundertzwanzigtausend verloren.“ Ramsun untersuchte das Türschloß und fand bestätigt, was sein Begleiter ihm erzählte. „Keine Kontrollampe hat was angezeigt.“ Der junge Mann sah wächsern aus, seine Stimme zitterte. Wäre auch ein Wunder gewesen, dachte Ramsun, die Kabel waren überhaupt nicht mit der Tür verbunden. „Achthundertzwanzigtausend!“ „Nun beruhigen Sie sich mal“, sagte Ramsun. „Und ich hatte gehofft, hier vorwärtszukommen. Warum haben Sie bloß das Geld in dieser zusammengepfuschten Kiste transportiert! Da konnten wir’s doch gleich in ’n Kinderwagen packen. Sie hätten sich weigern müssen, Herr Ramsun.“ Er schrie. Mit schriller Stimme wie ein hysterischer Teenager. 14
Ramsun warf ihm einen besorgten Blick zu und sah hektische rote Flecken auf dessen Gesicht brennen. „He, Sie sollten sich jetzt aber zusammennehmen. Sie schnappen sonst über.“ „Zusammennehmen! Das sagen Sie! Ich bin neu in der Branche, aber Sie sind ’n alter Hase, Sie mußten wissen, was passieren kann. Sie hätten anhalten und mir befehlen müssen auszusteigen und den Wagen zu kontrollieren. Und wenn noch so’n Gedränge war. Es war einfach Ihre …“ „Schluß jetzt!“ Ramsun zog ihm mit der Rückhand eins über die Wange. Nicht hart. Nur, so, daß er nach Luft schnappte und zu sich kam. „Waschlappen“, sagte Ramsun. „Los, packen Sie mit an.“ Sie trugen das Geld in die Bank, Ramsun ließ es quittieren, dann ging er zum Telefon und rief Direktor Kruse an.
3 Ramsun fand den Wagen für die Stadt zu schnell, besonders im Berufsverkehr, und für seine Verhältnisse zu aufwendig. Ein Ford Granada GL, viertürig, Schiebedach, 20 000 DM. Die närrische Idee einer närrischen Frau. Und wenn sie nicht hin und wieder ein bißchen verrückt wäre, dachte Ramsun, könnte ich nicht seit sieben Jahren mit ihr glücklich sein. Er hatte ihren Wunsch erfüllt, hatte von jeher Spaß daran gefunden, ihre Einfälle zu verwirklichen. Einen neuen Wagen brauchte man ohnehin, der VW Käfer hatte ausgedient. Warum also keinen Ford Granada, wenn Elke es so wollte? Leider mußte man das gesamte Spargeld hineinbuttern, aber Elke setzte auf seine Zukunft und ließ sich ihre Wünsche von jemandem erfüllen, der er noch nicht war: Einsatz15
leiter des Edmund-Wagenparks. Das ist nicht gerade fair von ihr, dachte er jetzt. Er dachte es schon seit dem Kauf des Wagens, ohne es sich einzugestehen. Und es gab noch andere Gedanken, denen er den Zugang zu seinem Bewußtsein versperrte. Bis heute, bis Direktor Kruse ihn angeraunzt hatte wie einen Schuljungen, an dem der Lehrer seine schlechte Laune ausläßt. Blöder Vergleich, dachte er, welcher Schuljunge läßt sich denn heutzutage von einem Lehrer anbrüllen? Aber das war wohl seine Schwäche – er schluckte zuviel. Manche legten es ihm als Stärke aus, daß er in gewissen Situationen schwieg. Wenn er provoziert wurde, zum Beispiel. Warf ihm jemand Ungerechtigkeiten an den Kopf, schien er sie nicht wahrzunehmen, blieb sachlich und wortkarg. Nein, er wollte sich nichts vormachen – es war Schwäche. Es war seine Art, sich vor Auseinandersetzungen zu drücken, sich Ruhe zu verschaffen. Auch vor seiner Frau. Er liebte sie. Sieben Jahre lang waren sie verheiratet, und er hatte sie nie betrogen. Es hätte ihn einfach nicht glücklich gemacht, an eine andere Frau seine Zärtlichkeiten zu verschwenden. Das einzige, was ihre Ehe belastete, war, daß sie kinderlos blieb. Elke hatte mehrere Fachärzte konsultiert und ihm eines Abends eröffnet: „Also, an mir liegt es nicht.“ Eine unmißverständliche Aufforderung, nun seinerseits etwas zu unternehmen. Doch das brachte er nicht über sich. Er hatte einfach geschwiegen. Der verdammte Wagen! Nicht ein Pfennig war mehr auf dem Konto. Und wenn er nach dem heutigen Vorfall den Wagenpark nicht so schnell bekam? Ach was, die kleine Durststrecke würden sie schon gemeinsam durchstehen. Die Ampel! Rot! Hart trat er auf die Bremse. Zu nichts führte es, über Ungewißheiten zu grübeln. Schluck’s runter, Ramsun, sagte er sich, nimm das Le16
ben, wie es sich bietet. Bis jetzt ist alles glatt gegangen, warum soll es nicht weiterhin so sein? Er überquerte den Kurt-Schumacher-Platz und fuhr die Scharnweberstraße entlang. Sie freut sich so auf Frankreich, dachte er. Kein Abend vergeht, ohne daß sie von Paris schwärmt. Seine Frau war Mannequin. Früher, als er Elke noch nicht kannte, war das für ihn ein Beruf gewesen, in dem leichte Mädchen auf leichte Art Geld verdienen. Seit Jahren erlebte er mit, wieviel Schufterei, Ausdauer, Tränen, Schikane, Konkurrenzkämpfe, Beziehungen und immer wieder harte Arbeit dahintersteckten, bevor eine gutaussehende Frau mit Idealmaßen die Träume aus Stoff darbieten durfte. Elke war zäh. Sie geht ihren Weg, dachte er oft voller Stolz. Erst waren es kleine, unbedeutende Boutiquen, die sie zu Vorführungen anforderten. An manchem Abend saß Ramsun allein zu Hause, doch niemals waren ihm Bedenken gekommen, sie könnte gewisse Gelegenheiten ausnutzen. Wirklich nie? fragte er sich. Nun, er hatte keine Zweifel haben wollen und jede Befürchtung, jeden Argwohn nach ihrer Rückkehr in der ersten Umarmung erstickt. Ich lasse mich in eine Stimmung hineinreißen, die zu nichts Gutem führt, dachte er. Bei Elke ist jedes Mißtrauen unangebracht. Selbst wenn man sie mit einem netten Freund bekannt macht, hat man Mühe, sie vom hohen Roß herunterzukriegen. Dem Manne, der die Hand nach ihr ausstreckt, frieren die Finger ab, soviel Kälte kann sie ausstrahlen. Sie fuhr also nach Frankreich, bekam die Chance, in Paris vorzuführen. Gewiß kein steiler Aufstieg, aber ein schwer errungener, steter Weg nach oben. Er bog in den Eichborndamm ein, parkte den Wagen im Hof des Hauses, in dem er zusammen mit seiner Frau drei Zimmer bewohnte. Sie legte das Telefon auf, als er zur Tür hereintrat und kam ihm entgegen. Er umarmte sie. Ihr Haar duftete, ihre Haut duftete. Sie trug 17
ein fliederfarbenes, ärmelloses Kleid, denn der September brachte sommerliche Temperaturen, und am Abend war es schwül in der Stadt. Ramsun ging ins Bad. Als er wieder auftauchte, nur in einen hellblauen Bademantel gehüllt, setzte er sich zu ihr an den kleinen Ecktisch, öffnete eine Dose Bier und trank. „Das zischt aber“, sagte sie, „und du siehst aus, als hättest du Sand im Getriebe.“ „Paar Hände voll. Wegen ’nem jungschen Schnösel, der an Werner Bahls Stelle Wachmann spielt. Ach, der kann auch nicht dafür. Einfach ’ne dumme Geschichte, die man am besten vergißt.“ „Na fein“, sagte sie, „übrigens bleiben wir zwei Tage länger in Frankreich. Wir führen noch in Rouen vor.“ „Das ist ja phantastisch“, sagte Ramsun. Sie aßen, tranken, witzelten. Stellten das Radio an und wieder ab. Es war die Stunde der Nachrichten, Informationen und Wahlreden, doch ihnen war nach Musik zumute. Oder nach Ruhe. „Gegenüber vom Zoogelände“, bemerkte Elke, „stand heute an einer Mauer: Strauß – gehört in den Zoo.“ „Könnten nicht alle Wahlreden so kurz und treffend sein?“ fragte Ramsun. Vor dem Fenster schilpten Spatzen. In der Ferne heulte eine Sirene auf. Ramsun sah im Geiste die Ereignisse wieder vor sich, die am Nachmittag abgerollt waren. Denk doch nicht mehr daran, befahl er sich. Du hast Kruse gewarnt. Es gibt nichts, was du dir vorwerfen müßtest. „Schade, daß der Käfer weg ist“, sagte Elke unvermittelt. Fragend blickte er auf. Sie winkte ab. „Ist schon in Ordnung. Ohne ihn loszuschlagen, hätten wir uns den Ford nicht leisten können. Es ist nur – ich brauchte einen Wagen für die Frankreich-Tour. Irina und Jochen haben sich auch einen organisiert. Natürlich könnte ich 18
mit der Bahn fahren, aber es macht einfach mehr her, wenn ich sagen kann, ich komme mit meinem Wagen. Man muß halt ein bißchen investieren, wenn man vorwärtskommen will.“ „Das ist doch kein Problem“, erwiderte Ramsun, „die paar Tage kann ich gut und gern mit der U-Bahn zur Arbeit fahren.“ „Du bist großartig“, sagte Elke. „Mit dir macht’s Spaß. Alles.“ Und nach einer Weile: „Bernhard, ich liebe dich.“ „Ich liebe dich auch.“ An jenem Abend gingen sie bald schlafen. Sie lagen eine Weile still nebeneinander. Im Zimmer war es stark dämmrig, doch sie konnten einander noch sehen. Langsam wandte sie ihm ihr Gesicht zu. „Sag es mir.“ „Was?“ „Etwas ist heute geschehen.“ Er stützte sich auf den Unterarm, blickte sie an, streichelte ihr Gesicht. „Stimmt. Eine häßliche Sache. Saudumm und schrecklich ungerecht. Ich wollte, ich könnte dich damit verschonen. Aber es kann sein, daß dein Mann den Wagenpark von Edmund nicht übernehmen wird, und du hast dich doch so auf seine Beförderung gefreut.“ Morgens, wenn Ramsun das Haus verließ, nahm er den Tagesspiegel aus dem Briefkasten. Elke kaufte sich später irgendwo die BZ. Er setzte sich in den Wagen, überflog die Zeitung und verweilte am längsten bei der Berliner Seite, die Lokalnachrichten brachte. An jenem Septembermorgen starrte ihn dort sein Konterfei entgegen. Sekundenlang war er fassungslos, dann fiel ihm der Reporter ein, der in der Kantine Direktor Kruse und ihn interviewt hatte. Ein Foto von Kruse war nicht zu sehen, und das irritierte ihn. Er suchte nach der Überschrift, die zu seinem Abbild und dem danebenstehenden Artikel gehören mußte, und las mit einiger Verblüffung: 19
„Hertie hat’s – Hertie hat’s wieder!“ – Und darunter, etwas kleiner gedruckt: „Edmund bietet Sicherheit – auch wenn das Geld im Müll liegt.“ Was soll denn dieser Blödsinn, dachte Ramsun und las weiter: „Am gestrigen Nachmittag holte der Fahrer der Edmund-Wach- und Transportgesellschaft mit einem Sicherheitsbegleiter die Einnahmen von Hertie aus Steglitz ab …“ Es folgte eine Beschreibung ihrer Fahrtroute, der Renault, der aus der Seitenstraße herausschoß, wurde erwähnt und das Polizeiauto, das ihn verfolgte. Dann begann die Story, die ihn zum Sündenbock stempelte. Dem Sicherheitsbegleiter hatte er verweigert auszusteigen und den Wagen zu überprüfen, obwohl er wissen mußte, daß durch das scharfe Bremsen die nachlässig reparierte Tür aufspringen konnte. Er war in ziemlichem Tempo weitergefahren, ohne die Mahnungen seines Begleiters überhaupt zu beachten. Im Hof des Bankgebäudes, als sich herausstellte, daß eine Geldtasche mit 820 000 DM aus dem Panzerauto gefallen war, hatte er, Ramsun, nur gleichgültig die Schultern gezuckt, als wolle er andeuten: Was geht es mich an, es ist ja nicht mein Geld. Und als der Sicherheitsmann ihn fragte, wie er das verantworten wolle, war er wütend geworden und hatte ihn zusammengeschlagen. Dieser Mann, Bernhard Ramsun, sollte im nächsten Monat nicht nur wie bisher einen Geldtransporter fahren, sondern den gesamten Wagenpark der Edmund-Gesellschaft als verantwortlicher Leiter übernehmen! Die Zeitung stellte Betrachtungen darüber an, in welchem Zustand die als so sicher gepriesenen Panzerautos unter seiner Führung wohl Geld transportieren würden, wenn er schon einen einzigen Wagen nicht in Ordnung halten konnte. Ein Gefühl von Kränkung, Wut und dem Verlangen, 20
sich zu rächen, breitete sich in Ramsun aus, verursachte ihm Übelkeit und einen dumpfen Schmerz im Kopf. Was hier gedruckt stand, war seine Grabesrede, gehalten von dem rückgratlosen Burschen, der ihn gestern begleitet hatte und der auf diese Weise die eigene Haut zu retten suchte; aufgeschrieben von einem sensationslüsternen Reporter, dem es zu aufwendig erschien, die Wahrheit zu erforschen. Wahrscheinlich war es derselbe, der Direktor Kruse und ihn während der Mittagspause interviewt hatte und zu dem sie nicht freundlich genug gewesen waren. Ramsun zwang sich, den Artikel zu Ende zu lesen. Und während ihm die bisherigen Verdrehungen der Tatsachen Zornesröte ins Gesicht getrieben hatten, wich nach und nach das Blut aus seinem Kopf, als er folgendes las: „Diesmal ist niemand zu Schaden gekommen. Das Hertie-Geld liegt wohlverwahrt auf der Bank. Doch nicht, weil Edmund die Sicherheit bietet, die die Gesellschaft propagiert, sondern weil sie unverschämtes, lächerliches Glück gehabt hat. Drei Müllmänner waren es, die gestern abend den Geldbeutel mit 820 000 DM zwischen zwei überfüllten Containern inmitten von zerknüllten Zeitungen, Bierdosen und Bananenschalen fanden und noch in der Nacht bei Edmund ablieferten. Die Nation darf lachen …“ In seiner Schlußbemerkung wies der Reporter noch einmal auf die Gefahr hin, die durch einen, selbst auf den Reporter mürrisch wirkenden, an seiner Arbeit sichtlich uninteressierten Beamten einem Unternehmen drohen kann und all denen, die diesem Unternehmen ihr Geld anvertrauen. Ramsuns erster Gedanke war, aus dem Wagen zu springen und zu seiner Frau zurückzulaufen. Zum Glück gab er selten der ersten Regung nach. Was wäre gewonnen damit? Er würde sie, halb aus dem Schlummer gerissen, mit einer bösen Nachricht überfallen und ihr unnütz Sorge bereiten. Besser, er erzählte es ihr am Abend, 21
nachdem er sowohl Kruse als auch dieses hinterhältige Allerweltsgesicht und vielleicht den Reporter gesprochen und geradegerückt hatte, was hier verdreht und gegen ihn gerichtet geschrieben stand. Er fuhr los, versuchte, sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren und alle Erinnerungen an diese vertrackte Geschichte aus seinem Kopf zu verbannen. Trotzdem zwängten sie sich in sein Denken, überfluteten ihn wie heranrollende Wellen – und in diesen Augenblicken hätte er den jungen Wachmann packen und ihm die Kehle zudrücken können –, dann verebbten sie wieder. Ich muß mich beruhigen, befahl er sich und dachte, hoffentlich läuft mir dieser Bursche heute morgen nicht als erster über den Weg.
4 Womit man umgeht, das hängt einem an, sagte sich Kommissar Albrecht Fox. Von seinen Mitarbeitern schlicht „der Fuchs“ genannt. Er beschäftigte sich mit Leuten, die Banken ausraubten, Geldboten überfielen, Sicherheitstransporter in ihre Gewalt brachten. Sein Umgang mit diesen Leuten bestand darin, daß er sie jagte. Zumeist erfolgreich, wenn sich auch in manchen Fällen der Erfolg erst nach Jahren einstellte. Das Auffallendste an Fox’ Äußerem war die Farbe seiner Augen – ein helles, stechendes Blau, doch seine hervorragendste Eigenschaft war Geduld, die kein Nachgeben kannte. Außerdem verfügte Kommissar Fox über ein gutes Gedächtnis und die Fähigkeit, sich in die Situation eines anderen Menschen hineinzudenken und dessen Reaktion in etwa vorauszubestimmen. Besonders diese Eigenschaft war es, die er pflegte, trainierte und mit technischen Hilfsmitteln untermauerte. Fox überließ nichts dem Zufall. Doch was der Zufall 22
ihm bot, wußte er zu nutzen. Er hatte eine Kartei angelegt, die er unter dem Namen Potentielle Täter führte. Anfangs wurde er belächelt. Nach den ersten Erfolgen, die ihm die Arbeit mit dieser Kartei einbrachte, wurden etliche nachdenklich. Dieser und jener hatte sich sogar seiner Sammlung bedient – Zeitungsausschnitte, Berichte, Notizen, die während Ermittlungen und Verhören entstanden. Jeder, von dem Fox wußte, daß er Grund hatte, sich an jemandem zu rächen, der aus eigenem oder fremdem Verschulden in eine Zwangslage geraten war, oder in Existenznot, und der auf irgendeine Weise reagieren mußte, wurde von ihm katalogisiert und, soweit das möglich war, beobachtet. Drogenabhängige und -süchtige, die stets große Summen brauchten und sie sich zumeist auf ungesetzlichen Wegen beschafften, nahm Fox nicht in seine Sammlung auf. Führte eine Spur in diese Gefilde, konnte er sich an das Rauschgiftdezernat wenden. An jenem Morgen, als Ramsun verwirrt und aufs äußerste erbost über einen Artikel, der seine Zukunft zu ruinieren drohte, stadtwärts fuhr, beendete Kommissar Fox seinen Nachtdienst. Es war eine verhältnismäßig ruhige Nacht gewesen, deren Kuriosum darin bestand, daß drei Männer, die Müllcontainer leeren sollten, einen Geldsack der Edmund-Sicherheitsgesellschaft auf seinen Schreibtisch warfen. Deshalb dachte er jetzt, als er die Schubladen abschloß, womit man umgeht, das hängt einem an. Einer der Müllmänner hatte ihm erklärt, er habe den Beutel am Straßenrand zwischen Kehricht gefunden, der andere hatte um Begleitschutz gebeten, und der dritte hatte gefragt, wieviel Belohnung dieser Fund wohl abwerfen würde. Sofort hatte der Kommissar Direktor Kruse angerufen, mit dem er aus beruflichen Gründen des öfteren zu tun bekam, und konnte sich bald den Sachverhalt zusammenreimen. Der Geldbeutel landete schließlich, von zwei Polizisten begleitet, im Tresor der Bank. 23
Nun saß Fox, seiner Gewohnheit folgend, vor einem Stapel Zeitungen und beschäftigte sich wie Ramsun in der Hauptsache mit dem Lokalteil. Eben schnitt er Ramsuns Foto und den dazu gehörenden Artikel aus. Zuwachs für seine Kartei. Reporter, dachte er, eine Mischung von fixen Kerlchen, Klatschbasen und Bluthunden. Dieser Ramsun war ein unbescholtener Bürger. Sechs Jahre lang hatte er sich um die Edmund-Gesellschaft verdient gemacht und stand kurz vor seiner Beförderung. Der Artikel schmiß ihm die Karriere. Wie würde er sich verhalten? Es gab Menschen, die in ähnliche Situationen geraten und zum Verbrecher geworden waren. Andere hatten in einem zähen Kampf ihr Recht erstritten und ihre Rehabilitation vor der Gesellschaft erreicht. Der Kommissar rechnete sich Ramsuns Chancen aus. Wahrscheinlich würde Kruse ihn feuern. Das war er auf Grund dieses Artikels der Edmund-Gesellschaft schuldig. Ramsun konnte diesen Reporter verklagen, der Fakten verdreht und ihn sowohl bei seinem Arbeitgeber als auch in der Öffentlichkeit in Mißkredit gebracht hatte. Ging der Prozeß zu seinen Gunsten aus, würde der Tagesspiegel eine Randnotiz darüber veröffentlichen, die von den meisten Lesern unbeachtet blieb. Was dagegen im Gedächtnis haftete, war der leichtfertige Ramsun, durch dessen Schuld 820 000 DM aus einem Geldtransporter kippten, die unter dem Gelächter der Nation von drei Müllmännern zurückgegeben wurden. Fox verstaute den Artikel in seiner Kartei, schrieb: „Ramsun überprüfen, Lebensstandard, Gewohnheiten, persönliche Verhältnisse“ auf einen Zettel, schob ihn in den Schreibtisch, schloß ab und ging nach Hause.
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5 „Einen Tag früher, Werner“, sagte Ramsun, „und die ganze Chose wäre anders gelaufen. Wenn du deine verdammte Grippe bloß einen Tag früher auskuriert hättest.“ Wie jeden Mittag saßen sie in der Kantine von Edmund. An Ramsuns Tisch saß Werner Bahl, ein rotköpfiger breitschultriger Mann, Anfang Dreißig. Seit Jahren waren sie gut aufeinander eingespielte Partner beim Geldtransport. Entweder fuhr Ramsun, und Bahl begleitete ihn als Wachmann, oder Bahl setzte sich ans Steuer und Ramsun übernahm die Sicherung. In den großen Kaufhäusern, die Edmund ihre Einnahmen anvertrauten, kannte man sie ebenso wie bei den Banken. Gemeinsam hatten sie einen Überfall auf eines ihrer Panzerautos abgewehrt und vor Monaten zwei Bankräuber gestellt. Sie waren in jenem Moment vor einer Berliner Bank-Filiale vorgefahren, als die Geldräuber aus dem Kassenraum stürzten, sich die Masken vom Gesicht rissen und in ihren Wagen sprangen. Ohne Worte wußten Ramsun und sein Begleiter, was zu tun war, und handelten, als würden sie von einem Kopf befehligt. „Ich bin gar nicht so sicher, ob ich bei dem Verkehr wirklich ausgestiegen wäre“, sagte Werner Bahl. Ramsun zuckte die Schultern. „Wir sind beide von der vorsichtigen Sorte. Aber noch nie ist einer von uns ein Armleuchter gewesen und hat den anderen in die Pfanne gehauen.“ „Dem Pressefritzen hätt’ ich empfohlen, sich nachts um zwölf ’n Arsch an Muttis Bauch aufzuwärmen, statt mir blöde Fragen zu stellen. Du weißt ja, wie ich auf die Jungs zu sprechen bin. Laß ’n Kopf nicht hängen, Bernhard. In der Zeitung steht jeden Tag ’ne Sensation. Diesmal warst du eben dran. Das kommt alles wieder ins rechte Geleis.“ Die Kellnerin brachte das Essen, warf einen sehn25
süchtig-mitleidsvollen Blick auf Ramsun und wollte etwas sagen, als Kruses Sekretärin mit einem Brief in der Hand an den Tisch trat. „Vom Chef.“ Sie nickte den beiden Männern zu und ging zu ihrem Platz zurück. Mit einem kleinen Seufzer trat die Kellnerin zum Nebentisch und servierte dort. „Klar“, sagte Ramsun, der den Brief geöffnet und gelesen hatte, „das kommt alles wieder ins rechte Geleis. Der Zug fährt weiter. Bloß der Fahrer wird ausgetauscht.“ Sein Mundwinkel verzog sich stärker als sonst. Werner Bahl legte das Besteck aus den Händen und griff nach dem Schreiben. Kündigung … „Geh auf die Barrikaden! Geh bis zum Gericht! Aber sprich zuerst mit dem Alten.“ „Gut“, sagte Ramsun, „ich werd’s versuchen.“ Schweigend aßen sie ihre Teller leer, schweigend steckte Ramsun den Brief ein und ging quer durch den Raum, von neugierigen Blicken gefolgt, von hämischen, Anteil nehmenden und solchen, die Achtung verrieten vor der Haltung, die er bewahrte. Als er an dem Tisch vorbeikam, an dem der junge Wachmann saß, der ihn tags zuvor begleitet hatte, blieb er stehen und sagte leise, mit der ihm eigenen Schärfe: „Ich dachte, du wärst bloß ein Waschlappen, aber du bist auch ein Arschkriecher.“ Der junge Mann sprang auf, griff mit beiden Händen nach Ramsun – und lag im nächsten Augenblick auf dem Teppich zwischen Tisch und Stuhl. Ramsun stieg über ihn hinweg und ging zur Tür. „Das werden Sie mir büßen.“ Er rappelte sich hoch. „Der letzte Dreck ist das – Geld veruntreuen und Kollegen niederschlagen! Ich werde …“ „Du wirst jetzt mal die Luft anhalten“, unterbrach ihn jemand. Der Wachmann klopfte und strich an seinen Hosen herum. 26
„Brauchst doch nicht beleidigt zu sein“, sagte einer, „Arschkriecher, das ist doch noch ’n Kosename für dich.“ Irritiert blickte der Junge von einem zum anderen, sah aber nur Männer über ihre Teller gebeugt, die sich ihr Essen schmecken ließen. „So ist das also, ihr …“ „Ja, wir geben dir einen guten Rat“, unterbrach ihn ein älterer, bullig aussehender Sicherheitsbeamter. Er saß am Nebentisch und blickte ihn nicht an, doch er sprach so laut, daß man es in jeder Ecke der Kantine hörte. „So’n Brief, wie dem Bernhard eben auf den Tisch geflattert ist, kriegst du sicherlich nicht. Aber du wirst von dir aus einen schreiben und in Kruses Büro tragen.“ „Und wenn nicht?“ fragte der Wachmann trotzig. „Na so was!“ Der Alte schien fassungslos über soviel Begriffsstutzigkeit und fragte mitleidig: „Junge, hast du denn überhaupt keine Phantasie?“ Währenddessen war Ramsun am Büro des Direktors angelangt, klopfte und trat ein, Kruse saß am Schreibtisch, blinzelte, als traue er seinen Augen nicht. Plötzlich erhob er sich, wies mit ausgestrecktem Arm zur Tür und brüllte: „Raus!“ Ramsun fand dessen Gehabe eine Spur zu dramatisch, um den Rausschmiß ernst zu nehmen. Wahrscheinlich war es dem Direktor nur peinlich, mit ihm sprechen zu müssen. Er blieb stehen, wo er stand und suchte Kruses Blick. „Bitte, Herr Direktor.“ Kruse setzte sich. „Unglaublich, wie Sie meine Gutmütigkeit strapazieren“, murmelte er. „Herr Direktor, wir wissen beide, daß dieser Artikel eine einzige Ungerechtigkeit mir gegenüber ist. Mir ist klar, daß Sie darauf reagieren müssen …“ Er zögerte. Warum stand er hier wie ein Bettler, warum … 27
„Nun, ich habe reagiert“, sagte Kruse. „Mit meiner Kündigung. Das ist das größte Unrecht, was Sie mir zufügen können.“ „Es ist eine notwendige Konsequenz.“ „Ich habe seit dem Vorfall gestern nicht mehr damit gerechnet, den Wagenpark zu übernehmen, aber wenn Sie mich davonjagen, bin ich erledigt …“ „Wenn die Edmund-Gesellschaft Sie nicht rausschmeißt, kann sie in Zukunft bestenfalls Müll transportieren.“ „Es wird Gras wachsen über die Sache.“ Warum demütige ich mich so, dachte Ramsun. Ich werde ihm den Wisch ins Gesicht schleudern und gehen. – Wohin? Nach Hause? Zu Elke? Ihr sagen, wir müssen deinen geliebten Ford Granada verkaufen und die teure Wohnung? Wir können uns in Zukunft nur das leisten, was du zu finanzieren imstande bist? „Wenn wir Sie behalten, sind wir für keine Firma mehr vertrauenswürdig. Und bevor Gras zu wachsen beginnt, wird der gestrige Skandal noch ein Weilchen im Blätterwald rauschen. Haben Sie denn mein Schreiben überhaupt genau gelesen? Sie sind erst ab ersten Oktober gekündigt. Großzügiger kann ich wohl kaum sein. Lassen Sie es mich nicht bereuen.“ „Wenn ich in der Fluggastüberwachung oder beim Personenschutz arbeiten könnte, aber ich darf jetzt nicht gefeuert werden. Auch die Zukunft meiner Frau steht auf dem Spiel.“ Es widerstrebte ihm, in diesem Zusammenhang von Elke zu sprechen, doch jetzt war nicht die Zeit, zimperlich zu sein. Er mußte alle Register ziehen, um Kruse zum Nachgeben zu bewegen. „Reden Sie nicht mit mir, als wäre ich der Chef der Heilsarmee!“ Der Direktor schlug mit der flachen Hand auf irgendwelche Papiere auf seinem Schreibtisch. „Stellen Sie sich 28
nicht so an, Ramsun. Sie haben zwei Wochen Zeit, sich nach einem anderen Job umzusehen.“ „Wenn Sie mich in Verbindung mit diesem Artikel feuern, habe ich mein Leben lang Zeit, mich nach einem anderen Job umzusehen.“ „Ihr Problem. Meins ist es, das angegriffene Ansehen unserer Gesellschaft wiederherzustellen.“ Er wies mit dem Daumen zur Tür. „Sie sind doch sonst nicht so schwer von Begriff. Oder möchten Sie hinausbegleitet werden?“ „Lieber nicht, ich bin heut etwas durcheinander und könnte Ihr Zimmer mit meinem Karateclub verwechseln.“ Ramsun verließ den Raum. Er überlegte, ob er in den Speisesaal zurückkehren sollte, fühlte sich aber dazu nicht imstande. Die Augen brannten ihm, der Schmerz über die Demütigung schnürte ihm die Kehle zu. An einem Fenster, durch das er in den Hof hinunterblicken konnte, blieb er stehen. Wachposten eilten hin und her, Fahrer stiegen in Panzerautos, Sicherheitsbegleiter prüften ihre Waffen, Geldtransporter rollten in den Hof. … Am 31. August 1972 wurde bei Offenbach ein 21jähriger Fahrer der deutschen Sicherheitstransport GmbH erschossen. Als Tatverdächtiger und Räuber von 1,8 Millionen DM gilt sein Beifahrer A. B., nach dem noch gefahndet wird. Warum kam ihm diese Zeitungsmeldung jetzt in den Sinn? Nach sieben Jahren wußte er sie wörtlich, obwohl er gewiß jahrelang nicht an diesen Vorfall gedacht hatte. Er schwitzte. Mit zwei Fingern zog er den Pulloverrand vom Hals weg und ließ ihn zurückschnipsen. Immer wieder. Eins-Komma-acht Millionen DM. Er hatte vergessen, ob die Fahndung nach dem Beifahrer erfolgreich gewesen war. Einen Menschen töten und fast zwei Millionen kassieren. – Einen Artikel schreiben und damit einen Menschen töten. Er sah Werner Bahl im Hof stehen und ungeduldig auf 29
die Uhr blicken. Minuten später saß er am Steuer und fuhr mit Bahl als Begleiter in die Stadt. Am Abend regnete es, Elke hatte das Fenster im Wohnzimmer geöffnet, und ein kühler, erfrischender Windhauch strich ins Zimmer. Schweigend saßen sich die Eheleute gegenüber, das Geschirr vom Abendessen war schon abgeräumt, nur Zeitungen lagen noch auf dem Tisch. Die Abendausgaben berichteten schon von Ramsuns Kündigung. Edmund als Gesellschaft war vertrauenswürdig, war es stets gewesen, würde es immer sein. Daß in einer Herde auch einmal ein schwarzes Schaf auftauchte, war normal. Selbstverständlich mußte man sich von ihm distanzieren. Edmund tat es sowohl mit Konsequenz als auch mit Großzügigkeit. Die Kündigung war ausgesprochen. Doch um einem langjährigen, bisher unbescholtenen Mitarbeiter Zeit zu geben, sich nach einer neuen Existenzgrundlage umzusehen, durfte er noch bis Ende des Monats in Arbeit bleiben, auch aus Rücksicht auf seine Frau, die eine Zukunft als Mannequin vor sich hatte. Das Panzerauto, das er bis dahin fuhr, war eines der modernsten Modelle und bestens ausgerüstet, sein Sicherheitsbegleiter ein erfahrener Mann, der Gesellschaft ergeben, zuverlässig, gewissenhaft … „Bemerkungen über mich und meine Zukunft hättest du zurückhalten sollen“, sagte Elke. „Ich hab mit Mühe zurückgehalten, Kruse ins Gesicht zu schleudern, er besitze soviel Rückgrat wie ein Pfund Sülze.“ „Vielleicht war’s auch richtig, von deiner Frau zu sprechen. Der Artikel liest sich, als würden sie deshalb auf die Mitleidskurve einschwenken.“ Sie überflog den Artikel noch einmal. Ramsun schüttelte den Kopf. „Das ist bloß ihre Art, sauber aus einem Dreckhaufen rauszukriechen.“ „Was willst du denn jetzt tun? Irgend etwas mußt du doch tun!“ 30
… wurde in Hamburg-Alsterdorf ein DST-Auto um 860 000 DM erleichtert. Der ehemalige Geldfahrer M. L., 25 Jahre alt, hatte den Tip und die Nachschlüssel zum Panzerauto geliefert … Auch das lag jahrelang zurück. Achthundertsechzigtausend. Kein Mensch hatte dabei Schaden erlitten. Ein Weilchen konnte man sich mit einer solchen Summe über Wasser halten, falls sie einem nicht auf die Schliche kamen. Ihn würden sie natürlich zuerst verdächtigen. „Du hast recht, wir müssen nicht heute abend darüber sprechen“, sagte Elke. Sie hat den Stolz einer Aristokratin, dachte Ramsun. Randvoll von Angst, aber nicht bereit, auch nur ein Quentchen davon zu zeigen. „Wir können nicht schnell genug darüber sprechen“, entgegnete er, „in vierzehn Tagen vermehre ich die Statistik der Arbeitslosen.“ „Ab morgen sehen wir die Stellenangebote durch.“ „Ich habe nichts gelernt, als mit Geld umzugehen. Geld kassieren, Geld auszahlen, Geld transportieren, Geld beschützen. Niemand wird mir mehr eine Arbeit anvertrauen, bei der ich mit Geld zu tun habe.“ „Wir leben in einem Rechtsstaat. Wir können uns gegen Ungerechtigkeiten wehren.“ „Ich könnte natürlich einen Anwalt aufsuchen und mich über meine Chancen beraten lassen. Das kostet Geld. Kommt es zum Prozeß, kostet das noch mehr Geld. Herausspringen wird weiter nichts als die Feststellung, der Artikel ist eine Ungerechtigkeit und eine Verdrehung der Tatsachen. Aber das macht ihn nicht ungeschrieben. Einen Job in meiner Branche würde mir trotzdem niemand bieten, und das Geld für den Wagen, von dem wir ein Weilchen leben könnten, hätte das Gericht geschluckt.“ „Du willst unseren Ford Granada verkaufen?“ Ihr Blick wurde gespannt. 31
„Ich will nicht, wir müssen.“ „Natürlich. Denk jetzt nicht daran. – Weißt du eigentlich, daß du als Mann ausgesprochen attraktiv bist?“ „Ich weiß nur, daß ich ein Mann bin, der seine Frau nicht ernähren kann.“ Mit dem Handrücken fuhr sie ihm über die Wangen, über das dunkle, gewellte Haar. Doch in ihrem Blick lag ein Ausdruck, wie ihn Boxfans bekommen, wenn der Mann, auf den sie gesetzt haben, nur noch Schläge einsteckt, statt auszuteilen. Mit beiden Händen umspannte sie seinen Oberarm. „Beschreiben würde ich dich so: Muskeln wie aus Eisen, männliches Profil, harte Züge, die Nase kräftig. Genau der Mann, der immer eine Chance findet.“ „Ich bin nicht sicher, ob du ein guter Schriftsteller wärst.“ Er stand auf, nahm sie in die Arme und trug sie zum Bett. „Aber du bist eine gute Frau. Meine Frau.“ „Weißt du, was mich an dir am meisten verrückt macht?“ Er stellte sich in Positur. „Mein stahlharter Blick natürlich.“ Sie zog ihn zu sich aufs Bett. „Dein Mund. Du hast einen verflixt sensiblen Mund. Von vorn wirkt er etwas klein, doch man kann an ihm deine Stimmung ablesen; und wenn du in leiser Verachtung den rechten Mundwinkel hochziehst, bist du einfach unwiderstehlich.“ „Du hast mich ziemlich genau studiert.“ „Ich hatte sieben Jahre lang Gelegenheit dazu.“ Er kam zu ihr. Ihre Liebe war noch immer leidenschaftlich, war Genuß und Höhepunkt im Alltagsleben. „Wenigstens das können sie uns nicht nehmen“, murmelte Ramsun, ehe er einschlief. Sie betrachtete ihn, bis seine Atemzüge tief und regelmäßig wurden. „Aber wir können nicht leben davon“, sagte sie leise.
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II
1 Der Mann trug hautenge schwarze Hosen mit Glimmereffekt, ein Hemd, dessen Farbe an unreife Zitronen erinnerte, und schwarze Schuhe, die so spitz waren, daß er damit hätte Spinat stechen können, wenn er in einer Gegend gewesen wäre, wo Spinat wuchs. Er stand aber in der Steglitzer Schloßstraße, warf einen Blick auf seine Quarzuhr, rückte seinen Cowboyhut zurecht und ging zu Neckermann. Im Erdgeschoß sah er durch die wandhohen Glasfenster flüchtig zu Montana hinein, wo Schallplatten, Zeitschriften und Bücher verkauft wurden. Das einzig Interessante in dieser Abteilung war für ihn eine Rothaarige, die im Schallplattenangebot herumsuchte. Eine Platte zwischen zwei Fingern haltend, ging sie schließlich zur Kasse. Das waren nur wenige Schritte, aber Schritte, die Blicke auf sich lenkten. Ihr Hinterteil schwenkte ausladend, rhythmisch, gerade noch so, daß es nicht ausrenkte. Der Mann vor der Glaswand fuhr mit der Zungenspitze die Oberlippe entlang, bedauerte, dem Mädchen nicht folgen zu können, riß seinen Blick los und betrat die Rolltreppe. Sie trug ihn mitten ins Blumen- und Kakteenland in der ersten Etage. Tulpen, Levkojen, Gladiolen, Astern, hier blühten alle vier Jahreszeiten. Der Mann in den 33
Glimmerhosen erstand einen Rosenstrauß und spazierte durch die Kakteen-Ecke. Einige Exemplare davon überragten ihn. Bizarre Formen; Blätterkakteen; nadelspitze, rötlich gefärbte Stacheln; von weißem Flaum überzogene Greisenhäupter – der Mann überflog das Angebot mit unruhigen Augen. Seine Gedanken schienen sich in anderen Gefilden zu bewegen als sein Körper. Er kaufte eine Opuntie, groß und schwer genug, um sie nicht zu Fuß nach Hause tragen zu können, rollte die Treppe hinunter und verließ das Kaufhaus. Draußen verlagerte er das Gewicht des Opuntientopfes von einem Arm zum anderen und schwenkte in die Gutsmuthsstraße ein, in der sein VW-Käfer parkte. Er verstaute Kaktus und Rosenstrauß, setzte sich hinters Steuer und legte den Sicherheitsgurt um. All seine Bewegungen waren fahrig. Nach einem Blick auf die Armbanduhr zündete er eine Zigarette an, rauchte sie zu einem Drittel auf, zerdrückte sie und warf sie durchs Fenster. Wieder interessierte ihn die Zeit. Es war 14.20 Uhr. Er ließ den Motor anspringen und fuhr los bis zur Ecke Maßmannstraße, zuckelte sie bis zur Schildhorn entlang, bog ein, fuhr dann auf der Schloßstraße etwas schneller weiter, bog am Wilhelm-Schreiber-Platz vor dem Ebbinghaus links ab und fuhr nun an Hertie, Neckermann und Karstadt so langsam vorbei, daß er schon fast zum Verkehrshindernis wurde. Karstadt versprach Niedrigpreise. Aus dem weitgeöffneten Eingang flutete Licht, verebbte draußen in der hellen Septembersonne. Passanten mit Taschen und Einkaufsnetzen kamen und gingen. Zwei Frauen hielten ihnen Zettel entgegen, doch nur wenige griffen zu. Der Aufmachung nach hätten die beiden Betschwestern sein können, doch die Zettel sahen nach Werbung für Kaffee oder billige Strumpfhosen aus. Die eine trug ein kleines, altmodisches Hütchen und nickte vor sich hin, als der VW-Käfer an ihr vorbeikroch. Das Auto bog in die nächste Seitenstraße ein. 34
2 In allen Etagen schloß sich den Verkaufsräumen der Verwaltungstrakt an. Im Parterre sortierten vier Angestellte von Karstadt Geldscheine. Die Uhr über der Tür zeigte 14.25 Uhr an. In fünf Minuten würde der Transporter vorfahren. Sie waren so im Geldzählen und -bündeln vertieft, daß sie zu spät reagierten, als an der Eingangstür zur Hauptkasse das Sicherheitsglas splitterte, eine Hand durch das Loch fuhr und von innen den Riegel öffnete. Nur einer ließ geistesgegenwärtig die Scheine fallen und griff nach der Pistole. Zu spät. Zwei Männer mit Strumpfmasken vor dem Gesicht stürmten in den Raum. „Überfall!“ Der eine, hinter dem man einen Kleiderschrank verstecken konnte, warf den Wachmann, der vor der Tür gestanden hatte, in den Raum. Er blieb liegen wie eine Kleiderpuppe. Der andere stand nahe der Tür, eine Maschinenpistole im Anschlag und scheuchte die vier Angestellten in die äußerste Ecke, Gesicht zur Wand, Hände im Nacken gefaltet. Sein Komplize stopfte schon fleißig Geldbündel in einen blau und weiß karierten Kopfkissenbezug. „Tilo Resch!“ Einer der Angestellten zuckte zusammen, wandte den Kopf zu dem Mann mit der MPi. „Schön langsam den Schlüssel zum Hoffenster aus der Tasche ziehen“, sagte der mit verstellter Stimme, „so, daß ich’s sehen kann. Und jetzt fallen lassen. Mit dem Fuß in meine Richtung stoßen. Nicht so hastig, sonst krieg ich ’n Schreck und drück womöglich auf ’n Abzug.“ Tilo Resch zitterte und gehorchte. Der Gangster mit dem Kopfkissenbezug hob den Schlüssel auf und öffnete das vergitterte Fenster. Der andere trat zu ihm, raunzte: „Hinlegen. Alle. Pfoten wieder hinterm Kopf verschränken.“ 35
Die Zeremonie sah nach ungewohnten Turnübungen aus, ließ den Räubern aber genügend Zeit, aus dem Fenster zu springen und über den Hof zu rennen. Kaum waren sie in einem Hausflur verschwunden, rollte der Geldtransporter in den Hof. Bei Karstadt drückte der erste der vier Angestellten, der sich hochgerappelt hatte, den Knopf der Alarmanlage. Während die Männer durch den Flur flüchteten, rissen sie sich die Strumpfmasken herunter, ließen die Maschinenpistolen mit abgesägtem Lauf in einem zweiten Kopfkissenbezug verschwinden und traten durch die Haustür auf die Markelstraße. In dem orangefarbenen BMW, der genau vor der Tür parkte, wurde der Motor angelassen. Sie rissen die nur angelehnte Tür auf, warfen die beiden Kopfkissenbezüge hinein und sprangen hinterher. Im gleichen Moment, als der Wagen davonsauste, jaulte in der Hackerstraße der Polizeiwagen auf. Der VW-Käfer, der die Markelstraße entlangkroch, fuhr plötzlich schneller, verschärfte sein Tempo, daß er an der Kreuzung Hackerstraße ins Schleudern kam, weil er heftig bremsen mußte. Mit dem Hinterteil streifte er den Kotflügel des Polizeiautos. Die Wagen tanzten umeinander herum und blieben schließlich Seite an Seite stehen, nur daß die Fahrer in entgegengesetzte Richtungen blickten. Der Mann in den Glimmerhosen griff nach dem Rosenstrauß, glitt aus dem Wagen und lief los. „Stehenbleiben! Verdammt noch mal, bleiben Sie doch stehen! – Der ist meschugge“, sagte einer der Polizisten, die ebenfalls aus dem Wagen gesprungen waren und nun auf der Straße standen. Den Rosenstrauß wie eine Fahne schwenkend, rannte der VW-Fahrer auf ein Mädchen zu, blond, Fransenschnitt. „Engelchen“, sagte er, „herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.“ Er küßte sie. „Du bist verrückt, Harry!“ Sie mußte lachen. „Kannst 36
du mir nicht, wie das unter normalen Menschen üblich ist, zu Hause gratulieren?“ „Nein, Engelchen, kann ich nicht. Du weißt es, findest ’s prima, und wär’s anders, würdest du dich mit irgendeinem Spießbürger verloben und nicht mit Harry Bellmann.“ Die Polizisten kamen näher. „Verloben?“ fragte sie erwartungsvoll. „Na, ich will nicht zuviel versprechen …“ Ihre Augen verrieten Enttäuschung. „… aber wenn ich dich so ansehe …“ Schon blickte sie zuversichtlicher. „Gleich wirst du dir was anderes ansehen müssen“, sagte sie, „und anhören auch.“ Harry Bellmann seufzte und schien den Blick nur schwer von ihr lassen zu können. „Nehmen wir Haltung an, schöne Frau. Die Staatsmacht naht.“ Als die Polizisten heran waren, standen die beiden Hand in Hand. Den Rosenstrauß hielt jetzt das Mädchen.
3 In dem orangefarbenen BMW sahen die Fahrgäste noch den Tanz, den das Polizeiauto und der VW-Käfer aufführten, dann bogen sie in die Maßmannstraße ein. Der Mann, der einen Kleiderschrank verdecken konnte, sagte: „Der gute Harry. Das hat er doch wirklich nett gemacht.“ „Ich weiß nicht“, erwiderte sein Partner, „vielleicht kommt uns die Polizei durch ihn auf die Schliche.“ „Wie denn das? Ich lebe seit vier Wochen in Hamburg, und du hast Düsseldorf nicht verlassen.“ „Harry Bellmann kennt dich.“ „Das ist lange her. Er weiß nicht, daß ich es bin, für 37
den er im Moment arbeitet. Außerdem leidet der an Gedächtnisschwund, wenn Geld in Aussicht steht.“ „So ’nem John-Travolta-Typ trau ich nicht gern.“ Der andere lachte. „Ich hätt ja dir zuliebe ’n Punker ins Geschäft nehmen können.“ Ohne sich umzusehen, rief der Fahrer den beiden zu: „Philosophieren könnter zu Hause oder im Knast. Jetzt schlagt mal die Arme durch.“ Sie schwiegen und rackerten sich damit ab, das Geld aus dem karierten Kissenbezug in einen Koffer zu packen. „Fertig?“ „Zum Absprung“, sagte der Breitschultrige. In seinen Pranken sah der Koffer nicht größer aus als eine Aktentasche. Der Fahrer parkte den Wagen am Winterfeldplatz. Sie stiegen aus und nahmen nur den Koffer mit. Die Gegend war ziemlich menschenleer, der Zeitungskiosk geschlossen. Nur vor dem Toilettenhaus saßen zwei lumpige Gestalten. Der eine schlief gegen die Wand gelehnt mit offenem Mund. Der andere riß sich die Mütze vom Kopf und hielt sie den Männern hin. Sein Kinn war schwarz von Bartstoppeln, und in seinen Augenfalten steckte die Freundlichkeit der Gauner. Der Breitschultrige riß ihm die Mütze aus den Händen, stülpte sie ihm über den Kopf, so daß auch die Augen darunter verschwanden, und lachte. „Pißbudenbrüder“, sagte er verächtlich. „Selbst die solltest du in Ruhe lassen, wenn ein Geschäft noch läuft“, meinte sein Begleiter unwillig. „Wenn ihr nich grad mit’m Geldsack unner Knarre innem Kassenraum steht, könnter euch wohl nie vertragen.“ Der Fahrer öffnete die Tür zu einem Audi, der am Straßenrand parkte. „Bitt schön, die Herrschaften.“ Sie stiegen ein, und der Wagen jagte davon. Der Pißbudenbruder hatte seine Mütze wieder geradegerückt, sah ihnen nach, wie sie die Winterfeldstraße auf die Potsdamer zurasten, setzte sich wieder, lehnte 38
den Kopf an die Schulter seines Kumpels und starrte in den Himmel. Der Audi jagte im Bezirk Tiergarten an der Grenze entlang, bog in die Seilerstraße ein und hielt hinter dem Bewag-Gebäude. Zu Fuß gingen die drei Insassen auf den U-Bahn-Eingang Reinickendorfer Straße zu, lösten Fahrscheine und nahmen die nächste Bahn in Richtung Tegel. Doch nach zwei Stationen, am Leopoldplatz, stiegen sie aus, hielten sich rechts, und der Chauffeur riß zur Abwechslung mal eine Haustür auf. „Bitt schön, die Herrschaften. Hier isses.“ Sie stiegen zur zweiten Etage hoch und blieben vor der Wohnung mit dem Namensschild Franziska Heusler stehen. Wieder war es der Chauffeur, der sich als Türöffner betätigte. Er zog einen Schlüssel aus der Hosentasche und steckte ihn ins Schloß. „Paßt. Bitt schön, die Herrschaften.“ Vom Korridor aus, der ziemlich eng war, führten drei Türen in zwei Zimmer und ins Bad. „Pardon“, sagte der Chauffeur, der in das kleine Schlafzimmer geraten war, in dem außer einem Toilettenschränkchen nur ein Doppelbett stand. Zwei Ehepaare hätten darin bequem Platz gehabt. „Heut is nischt mit Spielwiese.“ Nebenan im Wohnzimmer standen sechs Schuhkartons auf dem Tisch, daneben ein Stapel Packpapier, Schnur, Klebeband, Adressenaufkleber und drei Schreibstifte. Sie holten das Geld aus dem Koffer und verteilten es, genau abgezählt, in die Kartons. Einen siebenten, weitaus kleineren Packen verstauten sie in einem leeren Schubfach, das zur Hälfte aus dem Schrank gezogen war und irgendwie hungrig aussah. Als sie ihre Arbeit getan hatten, klemmte sich jeder zwei Schuhkartons unter den Arm. „Das war’s, Brüder“, sagte der Breitschultrige. „Gehabt euch wohl bis zum nächsten Mal.“ 39
„Wollen wir nich der Franzi paar nette Worte hinterlassen?“ fragte der Chauffeur. „Was Netteres als das, was sie jetzt in der Schublade hat, gibt’s überhaupt nicht.“ Er wies mit dem Daumen zur Tür. „Abmarsch.“ Als erster verließ der Chauffeur das Zimmer. Auf dem nächsten Postamt gab er eines der Pakete auf, das zweite in der Post am Zoo. Dann kaufte er sich eine Fahrkarte und reiste in eine süddeutsche Kleinstadt. Einige Minuten nach ihm trat der zweite aus Franzis Wohnung, schickte seine Post ebenfalls von verschiedenen Ämtern aus in verschiedene Städte und fuhr mit der U-Bahn nach Tegel. Der Schrankmann verschloß kurze Zeit später das Appartement und warf den Schlüssel durch den Briefkastenschlitz. Mit dem Bus kreuzte er durch die Stadt, bis auch er seine Post untergebracht hatte, mietete ein Taxi und ließ sich direkt zum Flughafen bringen. Er kaufte ein Billett für die nächste Maschine nach Hamburg.
4 Bei Karstadt in Steglitz also. Kommissar Fox überflog seine Notizen. Mit einem orangefarbenem BMW geflohen. Und zufällig rammt ein VW einen zufällig aus der Seitenstraße kommenden Streifenwagen. Trick siebzehn. Und klappt immer noch. Also gab es einen Zusammenhang zwischen dem VW-Fahrer Harry Bellmann und den drei Ganoven, die den Karstadt-Leuten das Geldzählen erspart hatten. In der Kartei stand Bellmann nicht. Das Telefon klingelte. Wassek meldete sich. „Kommissar, der Fluchtwagen wurde eben am Winterfeldplatz aufgefunden. Natürlich ohne Geld. Aber der Kissenbezug, in dem es steckte, ist vorhanden und ein zweiter Bezug mit einer MPi darin. Außerdem habe ich 40
Herrn Tilo Resch bei mir, der als einziger die Räuber einigermaßen beschreiben kann.“ „Bringen Sie ihn her.“ Fox legte auf. Vielleicht kriegen wir durch die Waffe einen Hinweis, dachte er. Es klopfte, Fox grunzte, und Wassek schob den Karstadt-Angestellten ins Zimmer. Sieht schlapp aus wie ein abgegriffener Geldschein, dachte Fox, verkraftet hat er die Geschichte noch nicht. Er schob ihm einen Stuhl zu, Tilo Resch setzte sich und zuckte die Schultern. „Es ging alles so schnell“, sagte er, „und kam so unerwartet.“ „Das haben Überfälle so an sich. Machen Sie sich deshalb keinen Kopf. Immerhin haben Sie noch die Pistole gezogen, wie ich hörte.“ „Die anderen waren schneller.“ „Wie sahen sie aus?“ „Der uns den Wachmann vor die Füße schmiß, war seine zwei Meter groß. Und breit, na, ich würde sagen, er paßte gerade noch durch eine normale Wohnungstür. Aber er wirkte nicht fett, einfach nur breit und kräftig. Er fing sofort an, Geld in ein blau und weiß kariertes Kopfkissen zu stopfen und …“ „Wissen wir“, unterbrach Fox, „beschreiben Sie den zweiten Mann.“ „Mindestens einsfünfundachtzig groß, schlank, aber nicht dürr. Gute Figur. Länglicher Kopf. Ich konnte ihn ein Weilchen ansehen, weil ich mich zu ihm umdrehen und ihm den Schlüssel für das Gitterfenster zuschieben mußte.“ „Stimmt es, daß er Ihren Namen wußte?“ „Ja, er rief mich mit Vor- und Zunamen.“ „Wie war seine Stimme?“ „Man merkte, daß er sich Mühe gab, sie zu verstellen. Er sprach tief, also muß seine normale Stimmlage wohl etwas höher liegen.“ 41
Fox ging auf den Angestellten zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Das war eine ganze Menge. Ich bedanke mich. Überlegen Sie mal in nächster Zeit, wer alles weiß, daß Sie den Schlüssel zum Gitterfenster haben. Oder wandert der?“ „Nein, den darf nur ich besitzen.“ „Gut. Gehen Sie jetzt, und grübeln Sie vorerst nicht darüber nach, warum die anderen flinker gewesen sind, sondern wer denen Tips gegeben haben könnte.“ Tilo Resch ging aufrechter hinaus, als er hereingekommen war. Fox rief telefonisch nach Wassek, setzte sich hinter seinen Schreibtisch, schrieb Notizen und fragte „Harry Bellmann?“, als Wassek eintraf. „Wer ist dieser Bursche? Und das Mädchen?“ „Von ihr wissen wir vorerst, daß sie Karina Ott heißt und als Platzanweiserin im Kino ›Zoo-Palette‹ arbeitet. Sie behauptet, mit Bellmann so gut wie verlobt zu sein, aber sie hatten sich gestritten – Eifersüchteleien –, und ihr Harry, den so was außer sich bringt, ist ihr mit Rosenstrauß und Auto gefolgt, zumal sie heute Geburtstag hat, um sie zu versöhnen. Dabei ist die Panne passiert.“ „Hat sie heute Geburtstag?“ „Ja, wir haben’s nachgeprüft.“ Der Kommissar notierte nur den Namen. Dahinter Freundin mit einem dicken Fragezeichen versehen und unter dem Namen „Zoo-Palette“. „Harry Bellmann ist vierundzwanzig Jahre alt, Fensterputzer bei ‚Glanz und Glas‘, nicht vorbestraft …“ Er unterbrach seinen Bericht, da das Telefon schrillte und Fox nach dem Hörer griff. Als er ihn wieder auflegte, sagte er zu Wassek: „Ich gebe auch mal was zum besten: Die MPi im Kopfkissen lag noch in der vorigen Woche im Wagen einer Berliner Funkstreife. Die Jungs hatten das Auto auf dem Hof des Reviers hundertvierundsechzig in der Pacelliallee in Dahlem abgestellt.“ 42
„Davon habe ich gehört“, sagte Wassek. „Fein. Haben Sie auch schon mal was von der Großen Drei gehört?“ „Eine Bande von drei überdurchschnittlich großgewachsenen Männern, einer davon sehr stark. Auf deren Konto kommen in der Bundesrepublik mehrere Überfälle auf Geldinstitute. Auf der Flucht wechseln sie ein- bis zweimal den Wagen, und diese Wagen sind entweder gestohlen oder mit gefälschtem Ausweis ausgeliehen worden. Sie arbeiten mit Schnellfeuerwaffen, die sie kurz vor der Tat stehlen und danach wegwerfen. Man wird, sollten sie in Verdacht geraten, niemals eine Waffe bei ihnen finden.“ „Lehrbuchreif“, sagte Fox, „diese Große Drei war Ehrengast in Berlin und hat sich bei Karstadt bedient. Es spricht alles dafür. Und jetzt sind Sie wieder an der Reihe mit Bellmann. Fensterputzer, sagten Sie und nicht vorbestraft.“ „Ein zuverlässiger Arbeiter. Vom Einkommen her gesehen, sollte man annehmen, daß er sein Auskommen hat …“ „Aber auch größere Einsichten“, unterbrach der Kommissar mit fuchsartig gespanntem Blick, „während er Glanz aufs Glas bringt, kann er sehen, was hinter den Scheiben vor sich geht, in Kaufhäusern, Büroräumen, Sparkassen. Wetten, daß auch Karstadt von Glanz und Glas die Fenster reinigen läßt und daß Harry Bellmann zu denen gehört, die dort zu schaffen hatten?“ „Im Dienst ist mir wetten untersagt“, entgegnete Wassek steif. „Wer hat mir bloß diesen Stockfisch in die Abteilung gejubelt“, grummelte Fox, „setzen Sie sich gefälligst hin, damit Sie mir nicht immerzu so von oben runter kommen können. Hat also sein Auskommen, der Bellmann. Die von der Funkstreife sagten, er sei so ein Ich-weißnicht-wer-bin-ich-Typ. Schon was bekannt, ob er sein 43
Geld einigermaßen zusammenhält oder den Weibern nachwirft oder wettet?“ Wassek, der jetzt auf dem Besucherstuhl saß, erwiderte: „Über Wetten ist nichts bekannt. Er gibt gern an im Kollegenkreis und spendiert Runden. Abends ißt er fast nie zu Hause, was ja auch ziemlich kostspielig wird mit der Zeit. Er macht viele Modetrends mit, zur Zeit ahmt er, wie viele, John Travolta nach. Er ist keineswegs ein verweichlichter Typ, er trimmt sich und besucht regelmäßig die Karateschule in der Scharnweberstraße einhundertachtunddreißig.“ Der Kommissar legte den Stift aus der Hand, mit dem er Stichworte aufschrieb. Seine blauen, hellen Augen ruhten nachdenklich auf Wassek, den er überhaupt nicht wahrnahm, dann senkte er die Lider ein wenig, sein Blick drückte die Überraschung eines Menschen aus, der die einfache Lösung einer komplizierten Angelegenheit gefunden hat. Seine Mitarbeiter nannten das „den blauen Blick der Erkenntnis“. „Scharnweberstraße einhundertachtunddreißig, sagten Sie?“ „Gewiß, Kommissar.“ Fox kramte schon in seiner Kartei für potentielle Täter und zog ein Blatt heraus. Er hatte sich nicht getäuscht. Es war dieselbe Karateschule, die auch Bernhard Ramsun besuchte.
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III
1 In der U-Bahn, Eingang Leopoldplatz, kontrollierten zwei Beamte die Fahrausweise. Bernhard Ramsun zeigte seine Karte, setzte sich auf die Bank, wartete auf den Zug Richtung Tegel und beobachtete indessen das Treiben an der Kontrolle. „Ihren Fahrausweis, bitte.“ „Danke, den hab ich.“ Dem kleinen, mageren Beamten klappte der Kiefer herunter. Als er ihn wieder gebrauchen konnte, rief er: „Zeigen Sie Ihre Fahrkarte vor!“, und es klang, als ritze jemand Glas. „Hamse noch nie ’ne Fahrkarte gesehen? Und so was is bei de Bevauge!“ Er trug einen Jeansanzug, war ungefähr halb so alt und doppelt so lang wie der Beamte, auf den er mitleidig herabblickte. Der Kleine packte ihn, als er vorbei wollte, und krallte sich an der Jacke fest. „Pfoten weg von meine Jeans!“ Er sprang nach hinten, und der Kleine hing noch immer an ihm. Plötzlich rutschte seine Hand ab, ein Knopf fiel zu Boden, kullerte ein Stück. „Hebense den Knopf auf, Sie Zahnstocher“, sagte der Junge kalt. 45
Die Bahn fuhr ein, und die Ansammlung um die Streitenden löste sich auf. Der kleine Beamte bückte sich nach dem Knopf. Einer, der vorüberging, trat ihm aus Versehen auf die Finger. Schon hatte ihm der im Jeansanzug den Knopf aus den Händen gerissen und flitzte zur Bahn. „Ihre Fahrkarte …!“ „Der ist aber zäh“, sagte jemand und lachte. Der Junge sprang in die Bahn, rempelte Bernhard Ramsun an, entschuldigte sich und sagte: „Das war Sachbeschädigung. Sie hams gesehen.“ Ramsun wandte sich ab. „Ach du Stulpe. Na, leck mich am Arsch. Pfui Deibel, was stinkt denn hier so?“ Auch Ramsun zog die Nase hoch, drängte wie alle im Abteil weg von einer alten Frau, die in der Ecke saß, zusammengeklappt, der Kopf hing ihr über die Knie, die Arme hatte sie unter den Bauch geschoben. Sie war klein und schmal wie ein Kind, ihre Füße steckten in ausgetretenen Schuhen, ihre Knochen in Lumpen, die säuerlich und penetrant stanken. Um den Kopf hatte sie ein Tuch gewunden. Es roch übel, wie alles an ihr. Ein Vakuum bildete sich um sie. Dahinter Naserümpfen, Kopfschütteln, peinliches Abwenden. Manche hielten ein Tuch vor die Nase. „Wie lange sitzt ’n die schon hier?“ fragte der im Jeansanzug. Das Gemurmel wurde lauter, direkte Antwort gab niemand. „Also seit vorgestern. Und ihr Rucksäcke steigt lieber aus, wo ihr gar nich raus wollt, aber bloß nich mal die feine Hand ausstrecken, die hilfreiche.“ Er trat in das Vakuum, verzog das Gesicht. „Oma, du duftest wie ’n Klobecken. Und siehst auch so lebendig aus. Was iss’n?“ Er tippte ihr auf die Schulter und schien auf eine Sprungfeder gedrückt zu haben. Ihr Oberkörper schnellte hoch. Sie lächelte, gutmütig, verträumt und total ab46
wesend. Das Gesicht runzlig wie eine vorjährige Kartoffel und käsefarben, hellgraue große Augen, die nichts wahrnahmen. Langsam kippte der Oberkörper wieder nach vorn. Die U-Bahn fuhr Haltestelle Seestraße ein. „Komm, Oma.“ Der im Jeansanzug zog sie hoch. „Wer packt denn mal ’n Stück Dreck mit an?“ Die Leute stiegen aus, verbissene Gesichter, ein paar verlegene darunter, keiner warf einen Blick auf die beiden. Kurz entschlossen hob der im Jeansanzug die Alte hoch und trug sie, schlaff wie eine Kasperpuppe aus dem Abteil. „Ihr Eisheiligen! Ihr menschliches Defizit! Oma, du stinkst wie ’n vierzehn Tage alt beschissenes Hemd. Du mußt in die Waschmaschine. Durch und durch, dann biste wieder richtig. Aber die verfaulten Milchhäute hier, die stinken weiter – in sich rin.“ Der Zug fuhr an. Ramsun verlor den im Jeansanzug und die Alte aus den Augen. Aufatmen im Abteil. Würde er jetzt täglich solche Szenen erleben? Ihm war, als sei er aus der Geborgenheit seines Wagens hinausgeschleudert worden. Gelandet war er in einer Welt, die er zwar vom Fernsehen kannte und aus der Zeitung, über die er aber nicht sonderlich nachgedacht hatte. Wozu auch? Sein Problem zwischen Wohnung und Edmund-Sicherheitsgesellschaft war rotes Licht, grünes Licht, Vorfahrt, überholen gewesen. Ohne von schützendem Blech umgeben, berührte einen das Leben unmittelbar und ließ sich nicht abstellen wie ein Fernsehbild, das einem die Laune verdirbt. Ab jetzt konnte er nicht mehr als Unbeteiligter beobachten, wie Menschen einander behandelten. Er nahm teil an ihrem Umgang. Und er dachte: Wie wird es mir ergehen? Werde ich mich eines Tages auch durch die Kontrolle mogeln, weil mir anderthalb D-Mark für eine Fahrkarte fehlen? Er wollte mit Elke darüber sprechen, ihr sagen, du, ich bin mit einem Stück Leben konfrontiert worden, dem ich 47
künftig nicht mehr ausweichen kann, doch ihm fiel ein, Elke würde nicht dasein, wenn er nach Hause kam. Sie war mit dem Ford nach Frankreich gefahren. Investition für ihre Karriere. An der Scharnweberstraße stieg Ramsun aus. Linker Hand vor der Kreuzung bog er ab zu einem Kiosk mit Gaststätte „Zum Runden Eck“. Er aß Wurst und trank Bier, hatte keine Lust, nach Hause zu gehen in die leere Wohnung, und war gleichzeitig froh über die leere Wohnung. So brauchte er mit Elke jetzt nicht darüber zu sprechen, daß sein Job verloren war und damit seine Zukunft. Über dem Spielautomaten hing ein Kalender. Noch während Ramsun daraufstarrte, fiel ihm ein, daß er abends in den Club gehen konnte. Die Wohnung war immer seltsam leer ohne Elke. An jenem Abend erschien sie ihm auf andere Weise vereinsamt als sonst. Bedrückend, feindlich beinahe. Das Schlafzimmer war so lange gelüftet worden, daß es kühl und frisch wie in einem Sanatorium roch, statt anheimelnd nach Schlaf und nach Elkes Haut. Der Kleiderschrank stand einen Spalt breit offen. Ehe er ihn zudrückte, schaute er hinein und erschrak. Er war zur Hälfte leer. In diesem Augenblick wußte er, was geschehen war. Er fror innerlich. Er wäre gern traurig gewesen, aber in ihm war nur Kälte. Sieben Jahre Ehe. Geblieben war ein gut durchlüftetes Schlafzimmer. Warum? Menschliches Defizit hatte der im Jeansanzug seine Mitmenschen genannt. Wo lag der Fehlbetrag in seiner Ehe? Wer hatte ihn verschuldet? Der Abschiedsbrief lag auf dem kleinen Mosaiktisch im Wohnzimmer. „Lieber Bernhard, ich habe immer Angst davor gehabt, arm zu sein. Unsere Ehe war ohne Höhen und Tiefen, aber sieben Jahre lang frei von Sorgen. Auf dieser Grundlage konnte ich mich 48
aufbauen. Jetzt bin ich auf dem Weg nach oben, wie man das wohl nennt. Ich habe dafür hart gearbeitet, das weißt du, und das darf nicht umsonst gewesen sein, nicht wahr? Es gibt in Frankreich einen Modezeichner, der mehrmals hier gewesen ist und sich für mich interessiert hat. Nein, ich habe dich nie mit ihm betrogen. Um solche Probleme geht es nicht. Ich kann aber dort meinen Weg fortsetzen. Das ist gewiß auch in deinem Sinne. Du warst mir gegenüber doch immer großzügig. Bernhard, unsere sieben guten Jahre sind vorüber. Was jetzt kommt, muß jeder allein durchstehen. Oder kannst Du Dir unsere Ehe vorstellen in einer kleinen Wohnung, ohne Wagen, und jedesmal, wenn ich mir ein Kleid oder Schuhe gekauft habe, muß gerechnet und diskutiert werden? Die Liebe kann uns niemand nehmen, sagst Du, aber durch so ein Leben würde sie von selbst kaputtgehen. Lebe wohl. Ohne die Sorge um mich wirst Du sicherlich leichter, weil unbeschwerter, einen neuen Anfang finden. Und es kommen auch wieder sieben gute Jahre! Wer weiß, vielleicht begegnen wir uns dann wieder. Elke PS. Bernhard, spätestens wenn ich die Clochards in Paris sehe, werde ich sicher sein, daß ich mich richtig entschieden habe.“ Ramsun las den Brief ein zweites Mal, zog den Mundwinkel hoch und erinnerte sich im gleichen Augenblick, daß ihn diese Bewegung für Elke unwiderstehlich gemacht hatte. Sieben gute Jahre. Vom Glück war nicht die Rede. Aber wir waren doch glücklich, dachte er schmerzvoll. Ich war glücklich. Und bin für sie nichts weiter gewesen als die zuverlässige materielle Grundlage, auf der sie aufbauen konnte? Mein Herz hat an ihr gehangen, und ich habe nichts anderes gewollt als ihr Glück – aber ich habe sie 49
nicht gekannt, nichts von ihren Träumen und Ambitionen gewußt. Oder doch? Habe ich nicht manches Zeichen, das diesen Weg wies, übersehen? All die kleinen und großen Wünsche bis hin zum Ford Granada mit Schiebedach? Ich konnte sie ihr erfüllen, und wir hatten sieben gute Jahre. Plötzlich dachte er: Ob sie wirklich kein Kind bekommen konnte? Oder wollte sie keins? Ein Kind wäre hinderlich gewesen für ihre Karriere, so wie ich, der sozial absteigt, ihr jetzt hinderlich bin. Die Erregung legte sich. Etwas in ihm war am Sterben. Kälte breitete sich aus in seinem Inneren, lähmte sein Fühlen und Denken, fror auch die Enttäuschung ein. Was blieb, war ratlose Traurigkeit. Mit mechanischen Bewegungen zog er den Mantel über, verschloß die Wohnung und ging zur Scharnweberstraße 138.
2 „Spazierfahrt nach Steglitz“, sagte Fox, als er mit Wassek in den Wagen stieg. „Die Schloßstraße lang, gerade so, daß wir nicht zum Verkehrshindernis werden, und ab und zu in paar Seitenstraßen rein. Die Tour, die Harry Bellmann angeblich gefahren ist.“ Er steckte dem Fahrer einen Zettel zu, lehnte sich zurück und grübelte. Es gab keinen ersichtlichen Zusammenhang zwischen dem Überfall bei Karstadt und Harry Bellmann, der das Polizeiauto gerammt hatte, einerseits und Bernhard Ramsun, der die Geldbeutel aus dem Edmund-Transporter verloren hatte, gefeuert worden war und vor einem existentiellen Nichts stand, andererseits. Außer der Karateschule in der Scharnweberstraße. Bellmann und Ramsun trimmten sich dort. Sie kannten sich. Nun, er konnte warten. Er war es gewohnt, ein Geflecht von Verbindungen und Scheinverbindungen über lange Zeit im Auge zu behalten. 50
Sie bogen in die Schloßstraße ein, schoben sich langsam an Neckermann vorbei, wo Harry Bellmann angeblich einen Rosenstrauß gekauft hatte. Sie bummelten durch Nebenstraßen, fuhren an Hertie und Karstadt vorüber, die schon alle geschlossen hatten. Vor dem Karstadt-Eingang stand ein ältliches Mädchen und verteilte Reklamezettel. „Moment mal“, sagte Kommissar Fox, sprang aus dem anhaltenden Wagen und lief ein paar Schritte zurück. „Friede sei mit euch.“ Eine magere, sehnige Hand, aus einem abgewetzten Ärmel ragend, hielt ihm ein buntes Blättchen hin. Ein religiöses Traktätchen. „Das ist ein guter Wunsch“, sagte Fox und blieb stehen neben dem ältlichen Fräulein, das nur noch fünf Zettel in der Hand hielt. „Und Sie sind ein prachtvoller Mensch. Stehen stundenlang da und wünschen den Menschen Frieden und tun etwas dafür.“ Er schwenkte den Zettel. Sie bekam fieberglänzende Augen und warf Fox einen hungrigen Blick zu, aus dem die Sehnsucht nach Erlösung einer ganzen Kirchengemeinde sprach. An drei Vorübergehende vergaß sie Zettel auszuteilen. „Die Welt hat ermahnende Worte nötig“, sagte Fox ernst, „und Wachsamkeit, denn das Böse lauert in allen Ecken.“ „Sie sind wunderbar“, hauchte das Fräulein und sah plötzlich um zehn Jahre jünger aus. „Sie gehören zu uns, nicht wahr?“ „Ich hoffe, auch Sie haben einen Blick für das Böse“, sagte Fox statt einer Antwort, „in welcher Gestalt es sich auch immer verbirgt.“ Ihr Gesicht nahm die Farbe eines Weihnachtsapfels an. „Ja, natürlich … ich weiß nicht …“ „Seit wann, sagten Sie, stehen Sie heute schon hier?“ „Seit fünf Stunden. Weil die Franzi gleich wieder gehen 51
mußte. Sie gehört noch nicht fest zu uns, hilft nur ab und zu, da muß man schon mal ein Auge zudrücken. Ich habe ihre Zettel mit übernommen.“ „Um vierzehn Uhr dreißig ungefähr sind hier zwei Kerle rein, einen Kopf größer als normale Leute und böse wie der Satan. Sie haben einen Mann niedergeschlagen und das Geld der Karstadt-Kasse gestohlen. Vielleicht haben Sie denen auch Zettelchen in die Hand gedrückt?“ „Ja, vielleicht … Was wollen Sie denn?“ „Wissen, ob Ihnen heute nachmittag irgend etwas aufgefallen ist, etwas, das anders war als sonst, worüber Sie sich gewundert haben. Es kann die Passanten betreffen oder den Verkehr auf der Straße. Es kann noch so geringfügig sein. Sagen Sie es mir.“ „Aber … warum? Wer sind Sie eigentlich?“ „Kommissar Fox, Kriminalpolizei.“ Ihr Blick wurde stumpf. „Wenn mal jemand nett ist, hat das immer einen Haken“, sagte sie enttäuscht. „Ich kann Ihnen da nicht helfen. Ich bin kurzsichtig. Fragen Sie die Franzi. Die ist noch jung und hat gute Augen, und heute nachmittag war sie sowieso nicht mit ihren Gedanken bei unserer Sache. Vielleicht hat die was bemerkt, was Ihnen hilft. – Hat der Mann, der niedergeschlagen wurde, auch keinen Schaden genommen?“ „Soviel ich weiß, nicht“, sagte der Kommissar, „Sie sind wirklich eine gute Seele.“ Er notierte Namen und Adresse von Franziska Heusler und hätte dem alten, enttäuschten Mädchen gern noch etwas Nettes gesagt. Doch ihm fiel nichts ein, das nicht auch ironisch geklungen hätte. So nickte er ihr nur zu und ging davon. Der Polizeiwagen parkte in einer Seitenstraße. Fox reichte Wassek den Zettel. „Ich brauche alles, was es über diese Dame Wissenswertes gibt. Sie war am Nachmittag hier – aushilfsweise – und hat sich kurz nach dem Überfall verzogen.“ 52
„Wird erledigt, Kommissar“, sagte Wassek und dachte, die Fährte möchte ich sehen, die dieser Fuchs nicht aufstöbert. Traktätchen verteilende Fräuleins, Losverkäufer, Kaufhausangestellte, die vor den Geschäften zur Reklame Gemüse schnitzelten oder Suppe verkosteten, führten erfahrungsgemäß zu Spuren, die nur allzu leicht im Sande verliefen, doch mit Geduld und ein wenig Kriminalistenglück konnte man sie an irgendeiner entfernten Stelle wieder auffinden. Sie fuhren zum Winterfeldplatz, parkten den Wagen dort, wo man nach Angaben ihrer Kollegen den orangefarbenen BMW mit den karierten Kopfkissenbezügen und der MPi gefunden hatte. Sie stiegen aus und schauten sich um. Es dunkelte, doch sie konnten noch die parkenden Autos erkennen und die Gerüste der Verkaufsstände, auf denen sonnabends auf dem Winterfeldplatz Obst, Gemüse, Blumen, Backwaren, Fleisch und Kleinkram angeboten wurden. Auch der geschlossene Zeitungsstand, das Toilettenhäuschen und die zerlumpten Figuren davor heben sich als graue Silhouette gegen den sich verfinsternden Abendhimmel ab. Sie gingen auf die Gestalten zu. „Von denen plaudert keiner“, sagte Wassek, und der Kommissar antwortete: „Das kommt drauf an.“ Es waren jetzt drei. Einer lag lang und schnarchte, der zweite rappelte sich auf und stieß den dritten in die Seite. „Bullen.“ „Setz dich hin und guck so doof wie du bist.“ Er rückte an seiner Mütze herum. Kommissar Fox und Wassek waren herangekommen. „Ihre Ausweise, meine Herren“, forderte Wassek. Zwei suchten in den tiefsten Tiefen, in Falten und Ritzen ihrer schäbigen Mäntel und zerschlissenen Jacken. „Wie ich sehe, sind Sie überfordert“, sagte Fox, „man kann nicht zeigen, was man nicht hat. Mitnehmen!“ Das letztere galt seinem Mitarbeiter. 53
„Wäre vielleicht ’n Fehler“, sagte der mit der Mütze. Seine Bartstoppeln stachen schwarz und hart von der weißen Haut ab. „Hier is so schön interessant. Man kann ’ne Menge beobachten. Autos, zum Beispiel, die aussehen wie Orangen und Männer mit einem großen Koffer.“ Da er nicht weitersprach, zuckte Fox die Schultern. „So was sieht man heutzutage überall. – Wann soll denn das gewesen sein?“ Das Stoppelgesicht grinste. „Wie’s so geht. Heut hab ich alles verlegt, Ausweis und Uhr.“ „Ihr Pech. Also los. Bei uns ist’s auch interessant. Rütteln Sie mal das Sägewerk da wach.“ „Jammerschade!“ Der gähnte. „Wollt mir’s auch grad bequem machen. Hab den ganzen Nachmittag lang geluchst, während der Kumpel hier gegrunzt hat. Nix hat der mitgekriegt, dabei ging’s hier zu wie auf ’nem Umsteigebahnhof.“ Fox lenkte ein. „Vielleicht haben Sie wirklich Ihre Ruhe verdient, aber weshalb sollten Sie mir was über einen Umsteigebahnhof erzählen?“ „Weil ’n Mann dabei war, ’n Scheunentor ohne Benehmen. Trägt in der einen Hand ’n Koffer, und mit der anderen drückt er ’nem ehrbaren Bürger die Mütze über die Augen, als wär der ’n Mistkäfer, den man zertreten muß.“ Wenn Haß Menschengestalt annimmt, dachte Fox, sieht sie so aus: schlotteriger Leib im schwarzen Mantel, ein Leinentuchgesicht mit kleinen, rachsüchtigen Augen, schwarze Mütze und schwarze Stoppeln um einen sabbernden Mund. „Das ist ja beinahe ein Fall für die Polizei“, sagte der Kommissar mitfühlend. „Schade, daß Sie Ihre Uhr verlegt haben.“ Das Stoppelgesicht wurde einen Deut heiterer. Mit dem Arm nach hinten, irgendwo auf den Platz weisend, sagte es: „Der Kirchturm hat ’ne Uhr. Schlug grad halb drei.“ 54
„Na also. Wer fuhr den orangefarbenen BMW?“ „’n Kerl, so lang wie gemein. Ein dünner.“ „Nur zwei sind umgestiegen?“ fragte Fox. „Drei. Der dritte war nicht ganz so lang, hatte Muskeln und ’n Eierkopp.“ „Wo stand der zweite Wagen?“ Der Mann nickte zur Winterfeldstraße jenseits des Platzes hin. „Ich hoffe, Sie kennen sich ein bißchen aus in der Autobranche und sind auch nicht farbenblind“, sagte der Kommissar. „’n Audi is’n alter Wunschtraum von mir. Wenn er rot lackiert ist, gucke ich den besonders gern an. Wenn aber ’ne Dame so was am Straßenrand stehenläßt wie ’n ausgedienten Schuhkarton, krieg ich die Augen gar nich mehr weg davon.“ „Wann hat sie ihn denn vergessen?“ „’n Stündchen, ehe er gebraucht wurde.“ „Und sie ist zu Fuß los?“ Er nickte. „Maaßenstraße lang zum Nollendorfplatz.“ „Eine Dame, sagten Sie?“ „Weißer Sommermantel, weiße Baskenmütze, weiße Schuhe.“ Er grinste, pfiff die Melodie von „Eine Dame ganz in Weiß“, sagte dann noch: „Stellnse sich das Bild vor: Nachmittagssonne auf Frauenhaar. ’n Glanz wie ’n blankgeputzter Kupferkessel. – Jetzt bin ich richtig ruhebedürftig.“ „Mit Recht“, sagte Fox, „Ihre Ausweise sind allesamt in Ordnung. Und wenn Sie hier noch ein kleines Schwätzchen zur Abendstunde halten wollen, hat niemand etwas dagegen.“
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3 „Wenn ich an meinen Geburtstag denke“, sagte Karina Ott, Bellmanns Freundin, „krieg ich’s Grübeln.“ „Dann denk doch nicht dran.“ „In die Hackerstraße hast du mich bestellt und mir eine Überraschung versprochen. Die bestand darin, daß du deinen Führerschein riskiert hast.“ „Nanu?“ rief Harry Bellmann verdutzt. „Ich dächte, da wären ein Rosenstrauß und ein Prachtexemplar von Stachelmann gewesen für deine Sammlung.“ Er drückte den Hut tiefer in die Stirn und wiegte sich beim Gehen leicht in den Hüften. Sie bummelten durch die Grünanlagen im Tiergarten zum See hin. Auf den Wiesen saßen Pärchen und Einzelgänger, einige lagen rücklings im Gras und schliefen oder blinzelten in die untergehende Herbstsonne. Die Luft war mild wie an einem Sommerabend. „Verkauf mich nicht für dumm, Großstadtcowboy. Ich weiß, wie du Autofahren kannst. Du wärst ohne Schwierigkeit an der Bullentaxe vorbeigezogen, wenn du’s gewollt hättest. Aber du hast’s nicht gewollt, sondern deinen Führerschein riskiert.“ „So ’n hübsches Fransenköpfchen und so verdrehte Ideen!“ Harry Bellmann ließ sich plötzlich umfallen, wirbelte das Mädchen mit einem Griff, dem sie sich nicht widersetzen konnte, hoch und ließ sie neben sich landen, ohne daß sie sich weh tat. Er nutzte ihre Verblüffung aus und küßte sie. Ihre Abwehr war nicht gerade heftig, aber immerhin so, daß er um seine Chancen wußte. Als er sie losließ, sagte sie: „Du hast verrückte Ideen und machst viel Unsinn. Aber du zahlst nicht drauf. Wenn du so ’ne Show inszenierst wie zu meinem Geburtstag, steckt was dahinter. Also, warum hast du’s getan?“ „Um einem Freund zu helfen, mein kluges Engelchen.“ 56
„Wobei?“ Er tastete ihren Oberschenkel ab. „Du bist ein ganz reizendes Fragezeichen.“ „Wobei hast du ihm geholfen?“ Ärgerlich stieß sie seine Hand beiseite. „Und gefühlvoll bist du wie ein Holzwurm.“ Jählings setzte er sich auf, lachte. „Mein Freund hat eine Sexbombe aufgerissen, aber die explodiert nur, wenn er nach jemandem aussieht, der was darstellt. Dazu brauchte er einen Wagen. Den hat er sich geborgt, ohne den Besitzer davon zu unterrichten. Damit sein Start nicht gleich in die Binsen ging, habe ich die geschätzte Aufmerksamkeit der Polizei ein bißchen auf mich gelenkt.“ „Warum hast du ihm nicht einfach deinen Wagen geborgt?“ „Holzwürmchen, wenn ich dir doch sagte, er wollte was darstellen!“ „Na schön. Und was springt dabei raus für dich?“ „Du hast nicht zugehört, Fransenköpfchen. Es handelt sich um einen Freund.“ „Bis jetzt hat auch unter Freunden eine Hand die andere gewaschen.“ Bellmann seufzte theatralisch, streichelte ihre Wange, den Hals bis zum Brustansatz und sagte unvermittelt: „Morgen abend bei mir, meine Süße, ja?“ „Bei dir“, wiederholte sie spöttisch. „Und wenn ich hungrig bin, kann ich einen Brotkanten kauen bei dir. Hör zu, ich habe dir und deinem Freund geholfen, und morgen abend gehen wir zu Kranzler.“ „Prima.“ Harry Bellmann faßte sie um die Hüfte, drückte sich den Hut auf. „Bin lange nicht so nett eingeladen worden.“ „So nicht! Du wirst …“ Er packte und küßte sie, brutal und ohne Lust. „Ich mag dich, Engelchen“, sagte er, als er sie losließ, „ganz gleich, ob du sanft, keß, doof, kratzbürstig oder 57
geil bist, auch wenn du versuchst mich auszunehmen. Nur als Holzwürmchen, dem man den Nerv für Humor amputiert hat, da bist du ein Alptraum für mich. – Bis morgen. Neunzehn Uhr bei deinem geliebten Harry in der Knesebeckstraße.“ Er ließ sie stehen, pfiff und schnipste mit den Fingern einen Rhythmus dazu. Wenige Minuten nach Bernhard Ramsun betrat er die Karateschule, ging in die Garderobe und zog sich um. Doch erst nach dem Training, im Duschraum, kam er dazu, Ramsun zu begrüßen, den er manchmal „Alter“ nannte. Die beiden mochten sich, obwohl Bellmann sieben Jahre jünger war und sie recht verschiedenartige Temperamente aufwiesen. Sie hatten sich nie außerhalb der Schule verabredet. Während seiner Ehe hatte Ramsun die freien Stunden nur mit Elke verbracht, und wenn sie zu Vorführungen unterwegs war, hatte er sich ein Buch genommen oder war allein ein Bier trinken gegangen. „Bernhard“, sagte Bellmann und drehte seine Dusche ab, „du hast heute gekämpft wie einer, der Grund hat dazu.“ „Liest du keine Zeitung?“ fragte Ramsun und griff nach dem Handtuch. „Natürlich. Hertie hat’s wieder. – Diese Knallköppe von Müllmännern.“ Fragend blickte Ramsun ihn an. „Na, stimmt doch. Hätten die sich die Penunse geteilt und den leeren Beutel verbrannt, hätte kein Hahn mehr danach gekräht.“ Diese Möglichkeit war Ramsun überhaupt noch nicht in den Sinn gekommen. Nun grübelte er darüber nach, während er sich langsam anzog. Harry hatte recht. Zumindest was die Öffentlichkeit betraf. Die wäre nicht informiert worden. Höchstens durch eine kurze Zeitungsnotiz, in der kein Name gestanden hätte. Wahrscheinlicher wäre gewesen, daß Hertie und die Edmund58
Gesellschaft sich intern mit Hilfe der Versicherung geeinigt hätten. In diesem Augenblick spürte Ramsun eine unergründliche Wut auf die Männer von der Müllabfuhr. Was hätten die ihm erspart, wenn sie … Sein Zorn schlug – ebenso schnell, wie er aufgeflammt war – um, in Depression. Warum richtete jemand Schaden an, indem er ehrlich war? Warum galten die Weisheiten von ehemals nicht mehr. Hochmut kommt vor dem Fall. Ehrlich währt am längsten. Lügen haben kurze Beine. Arm, aber ehrlich. Sprüche. Das Leben kombinierte anders: Ehrlichkeit kommt vor dem Fall. Er war immer ehrlich gewesen. Edmund gegenüber und Elke. Sie wollte hoch hinaus, Karriere um jeden Preis. Nein, sie würde nicht zu Fall kommen, sie wußte, wie Armut zu umgehen war. „He, Alter, du hast deinen Pullover verkehrt rum an.“ Auf Bellmanns Gesicht trat ein leicht besorgter Ausdruck. „So was ist dir noch nie passiert. Wo hast du denn deine Gedanken?“ „Bei dem ganzen verdammten Müll“, erwiderte Ramsun, zog den Pullover wieder über den Kopf und wendete ihn. „Mußt die drei Doofköppe verstehen. Die konnten nicht anders. Stell dir das vor, du findest einen Geldsack und hast natürlich sofort eine Idee, wie du den Inhalt zu deinem Eigentum machen kannst. Aber da ist schon der Kollege zugegen, bei dem du nicht recht weißt, woran du bist. Vielleicht könntest du dich doch einigen mit ihm, und da guckt dir der dritte über die Schulter. Aus der Traum. Das denkt übrigens auch der zweite, weil er nicht sicher ist, wie weit er mit Nummer eins und drei gehen kann, und der dritte flucht nur leise vor sich hin. Die beiden denken, das ist wegen der Scherereien, die sie nun haben, zur Polizei gehen, Erklärungen abgeben und so, aber nein, der flucht, weil er den Beutel nicht gefunden hat und nicht er allein …“ 59
Um Ramsuns Mund legten sich Lachfältchen. „Man sollte nicht glauben, was dir so alles durch den Kopf geht für dein Alter.“ Sie waren fertig angekleidet, verabschiedeten sich von den anderen und vom Trainer und verließen das Haus in der Scharnweberstraße. „Hast du’s eilig?“ fragte Ramsun. Bellmann warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Leider ja. Eine Verabredung. Ich muß mit der Bahn fahren. Sicherlich trinke ich nicht nur Brause, und bei der Verkehrspolizei habe ich keinen Kredit mehr.“ „Ich komme mit bis zum U-Bahn-Eingang.“ Ein paar Schritte legten sie schweigend zurück, dann sagte Bellmann leise: „Bei dir stimmt auch zu Hause was nicht, mein Alter.“ „Elke ist fort.“ „Manche müssen für Tage ausrasten, wenn sie einen Schreck weg haben. Nimm’s nicht so tragisch.“ „Elke rastet nicht aus. Ihr Verstand ist noch immer ein gut funktionierendes Räderwerk. Da greift eins ins andere. Sie ist für immer fort. Zu einem Kerl nach Frankreich.“ „Mensch, Bernhard! Das sagst du so daher …“ „Vielleicht hab ich’s noch nicht ganz begriffen. Unsinn. Ich hab’s begriffen, durch und durch und mit einem Schlag. Sieben Jahre lang bin ich ein verdammter Narr gewesen, und das Schlimme ist, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich der gleiche verdammte Narr wieder sein. Oder hast du schon mal einen Menschen über seinen Schatten springen sehen?“ „Alter, du machst mir Angst. Wenn die Verabredung heute abend nicht so wichtig wäre …“ „Ist ganz gut, wenn ich erst mal allein bin.“ „Hast du schon ’ne Vorstellung, wie das weitergeht mit dir?“ „Nein. Einen Job in meiner Branche kriege ich nicht mehr, und was anderes als in meiner Branche zu arbei60
ten habe ich nicht gelernt. Elke hat den Wagen mitgenommen. Aber das macht mir im Augenblick keinen Kopf. Das einzige, was ich verkraften muß, ist, daß sich seit zwei Tagen die Welt geändert hat.“ Harry Bellmann löste in der Halle der Station Scharnweberstraße eine Fahrkarte und ließ sie entwerten. Ramsun ging bis zur Treppe mit. „Die Welt war schon immer so“, sagte Bellmann, „geändert hat sich, daß du jetzt gezwungen wirst, sie so zu sehen, wie sie ist. Ich bin da besser dran, ich hab von Anfang an den richtigen Blick gehabt.“ Er boxte Ramsun in die Seite. „Wenn du dich drauf eingestellt hast, schwimmst du wieder oben. Alter, du schaffst das. Sogar ’n Ford Granada kriegst du wieder, einen Rolls-Royce, wenn du willst. Jedenfalls, wenn ich Geldfahrer wäre, hätte ich keine Not. Tschüs, Alter.“ Als er die Treppe fast hoch und auf dem Bahnsteig war, rief Ramsun ihm nach: „Ruf mich mal an demnächst.“ Dann ging er nach Hause. Harry Bellmann stieg am Leopoldplatz um und fuhr bis Zoologischen Garten. Während er in der Bahn saß, ging draußen ein kurzer, gewittriger Regen nieder. Bellmann schlenderte zum Ku’damm hinüber. Als er bei Kranzler vorüberkam, fiel ihm das Ansinnen seiner Freundin ein. Seit fünf Monaten ging er schon mit ihr und wußte doch, daß auch sie noch nicht die Frau war, die ihn halten konnte. Er überquerte die Straße. Der Regen hatte den Asphalt in ein dunkles, glänzendes Band verwandelt, in dem sich die Scheinwerfer der Autos, die hell erleuchteten Schaufenster und die Lichtreklame spiegelten. Aus einem Café drang Musik. Menschen drängelten auf den Gehsteigen, ein Bus bremste, Mädchen lachten. Eine laute, frohe, farbige GroßstadtAbendstunde, wie Harry Bellmann sie liebte. Nicht um die schönste der griechischen Inseln und um keine Alpenlandschaft würde er die Stadt eintauschen. Sie bot 61
ihm alles, was er draußen nur vereinzelt finden konnte, sie war Dschungel und Prärie, einsame Insel, Zitadelle, Räuberhöhle, Tummelplatz für Abenteuer, Gefahr und Geborgenheit zugleich. Mit etwas Geld in der Tasche – dafür mußte eben gesorgt werden – und dem nötigen Wagemut konnte man sich sein Leben hier einrichten. Mochten andere von der Seefahrt oder Kanadas Wäldern schwärmen, er würde immer ein Großstadtcowboy bleiben. Bellmann bog in die Joachimstaler Straße ein und verschwand in der Nr. 15 im Restaurant Ku’dorf. An der Garderobe gab er Mantel und Cowboyhut ab, schlenderte den Mittelgang entlang, der durch Bier- und Weinstuben, Imbißräume, Bars führte, ausgestattet nach dem jeweiligen Namen, der neben oder über dem Eingang prangte: Willems gute Stube, Klostergarten, Backstube, Pub und viele andere, die zum Teil noch ohne Besucher waren. In der Metzgerei kaufte er ein belegtes Brötchen, setzte sich in die Apotheke und bestellte ein Bier. Während er aß und trank, beobachtete er die Vorübergehenden und mischte sich unter sie, als er fertig war. Er schlenderte zum Bierbrunnen, umrundete ihn und ging zurück; in der Kutscherkammer, die vorhin leer gewesen war, saß jetzt ein Mädchen in einem beigefarbenen Schlabberlook-Kleid und rauchte; die Beine, schlank, an den Fesseln zierlich, hatte sie übereinandergeschlagen, ihre Füße steckten in weißen Schuhen. Sie zog an der Zigarette wie jemand, den diese Welt anödet und der sich mit Rauchen ein paar Minuten Langeweile vertreibt. Neben einem Glas Bier, aus dem nur wenige Schlucke fehlten, lag die Hälfte eines Reklamezettels auf dem Tisch. Aus blauem Meer stieg eine Sonne auf, und über ihren Strahlen stand in schwarzen Buchstaben geschrieben: Hoffnung … Harry Bellmann nahm dem Mädchen gegenüber auf einer hölzernen Bank mit Ledersitzen Platz, zog ein Stück 62
Papier aus der Tasche seiner Glimmerhose und legte es auf den Tisch. Auf einer blauen Fläche, die das Meer darstellen sollte, stand in schwarzen Buchstaben geschrieben: für Hoffnungslose. Er schob sein Papierstück an das heran, das auf dem Tisch lag, an der Rißstelle paßten die Hälften zusammen. Das Mädchen legte eine schmale Hand mit rotlackierten, langen Fingernägeln darauf und sagte: „Bestellen Sie sich etwas zu trinken.“ Bellmann wandte sich um und sah die Kellnerin im rot und grün karierten Schürzchen auf sich zukommen. Er bat sie um ein Charlottenburger Pilsner. Das Mädchen ihm gegenüber hatte das zerrissene Traktätchen Hoffnung für Hoffnungslose in ihrer Handtasche verschwinden lassen, rauchte noch immer, saß zurückgelehnt und betrachtete Bellmann mit uninteressiertem Blick aus kalten, rauchgrauen Augen. Ihr Gesicht war schmal und streng und verriet Intelligenz. Das matte Licht einer Stallaterne, die hinter ihr an der Holzwand hing, zauberte einen kupfernen Schein auf ihr Haar. Sie wartete gelassen, bis die Kellnerin das Pilsner gebracht hatte. „Okay“, sagte sie mit dunkler, etwas rauher Stimme. Bellmann hob sein Glas. „Prost, Franzi.“ Sie nickte, rauchte weiter, die Beine übereinandergeschlagen, und betrachtete mit dem gleichen gelangweilten Blick das Pferdehalfter an der Wand, die Peitsche, die Fotos von Kutschern mit ihren Pferden und Wagen. „Himmel“, sagte Bellmann, „laß mich doch auch mal zu Wort kommen.“ Ein leerer Blick glitt über ihn hinweg. Franzi zog die Augenbrauen etwas hoch, blies Zigarettenrauch über den Tisch und drückte den Rest der Zigarette aus. „Wir duzen uns nicht“, sagte sie. „Wenn ich aufstehe, rücken Sie auf meinen Platz. Ich lasse einen neutralen Plastebeutel hier liegen.“ „Hoffentlich.“ 63
Ihre Nasenflügel bebten leicht. „Wieviel?“ fragte Bellmann. „Zehntausend.“ „Ich hatte mit ein bißchen mehr gerechnet.“ Sie kramte einen Taschenspiegel aus der Handtasche und zog sich die Lippen nach. „Das muß doch an die achthunderttausend gebracht haben“, sagte Bellmann. Ihre Handtasche schnappte zu. Lippenstift und Spiegel waren verschwunden. „Ohne mich wären sie an das Ding nie rangekommen.“ Groll lag in seiner Stimme. Franzi lächelte, doch nur mit dem Mund. Ihre Augen blieben kalt und teilnahmslos. „Hören Sie zu“, sagte Bellmann gereizt, „ich lasse mich nicht auf den Arm nehmen. Schon gar nicht von einem Eiszapfen. Wer sagt mir denn, daß Sie nicht bloß mit der Hälfte von dem angetanzt sind, was mir zusteht?“ „Ich.“ „Na, besten Dank auch. Ich hab denen die Bullentaxe vom Hals gehalten und meinen Führerschein riskiert.“ „Das war Ihre Arbeit.“ „Ich muß meiner Mieze was abgeben, die für mich geschwindelt hat.“ „Wahrscheinlich sind Sie ein kompletter Idiot“, sagte sie langsam und nachdenklich. „Stimmt. Ich komme gerade dahinter.“ „Was haben Sie dem Mädchen erzählt?“ „Daß mein Freund zum Angeben einen Wagen brauchte und sich einen ausgeborgt hat, ohne dem Besitzer Bescheid zu sagen. Ich habe für seinen reibungslosen Start gesorgt. So einen Freund hätten sogar Sie mir abgenommen.“ „Also, ich geh jetzt.“ Bellmann machte Anstalten aufzuspringen und sie blieb sitzen. 64
„Eine kleine Garantie kann man wohl verlangen. Erstens, daß die drei mich wirklich nur mit zehn Riesen bedacht haben, zweitens, daß die Scheinchen auch wirklich in dem Beutel stecken.“ „Wenn ich betrügen würde“, sagte das Mädchen verächtlich, „wäre ich nicht mehr im Geschäft.“ Noch einmal glitt ihr Blick über die holzgetäfelte Wand mit den Fotos, der Peitsche und dem Pferdehalfter, und mit ihrer kalten, rauhen Stimme fügte sie hinzu: „Dann wäre ich nicht mal mehr am Leben.“
4 In jener Nacht fand Bernhard Ramsun keinen Schlaf. Anfangs lag er reglos auf dem Rücken, die Augen geschlossen, dann kroch seine Hand unwillkürlich zum Nebenbett hinüber, fühlte Kälte, glattes Leinentuch. Er ließ den Arm ausgestreckt. Die Traurigkeit lähmte ihn. Plötzlich sprang er auf, lief zur Tür, riß sie auf und knipste im Treppenhaus das Licht an. Er stand in wartender Haltung, lauschend, bis das Licht wieder ausging. Dann trottete er ins Schlafzimmer zurück. Er wußte, daß es unsinnig war, was er eben getan hatte, und er wußte, daß er noch viel Unsinniges tun würde, bevor der Tag graute. Er wälzte sich zur Seite, drückte den Kopf tief ins Kissen. Er war sehr müde, doch der Schlaf kam nicht. Nach einer Weile suchte er die Toilette auf, ging dann zum Fenster, öffnete es und beugte sich weit hinaus. Er lauschte auf jedes Motorengeräusch in der Ferne, sein Herz schlug schneller, als die Schritte einer Frau übers Straßenpflaster klapperten. Wieder kroch er ins Bett, und die Traurigkeit legte sich wie ein schmerzender Ring um sein Herz. Elke war tot. Sie trat an sein Bett, und er wußte, daß sie ihn auch töten wollte. Er erschrak nicht, fühlte keine 65
Angst und auch keine Freude darüber, sie wiederzusehen. Ihre Gegenwart vertiefte nur dieses alles betäubende Wehgefühl. Es blieb, auch als er aus dem kurzen Traum aufschreckte, und er wußte, daß er von nun an damit leben mußte. Bis er erlöst wurde. Wodurch? Gegen Morgen verfiel er wieder in Träume, die ihn nicht nachhaltig berührten und die er beim Erwachen schon vergessen hatte. Er duschte kalt, zog sich an, ging in die Küche, stellte Kaffeewasser auf den Gasherd und nahm es wieder herunter. Er warf einen Blick in den Kühlschrank und schlug die Tür wieder zu. Als im Wohnzimmer das Telefon klingelte, meldete er sich mit einer ihm selbst fremden Stimme. „Hier ist Harry. Ich wollte dich einladen, Alter. Herrenfrühstück im Bierpinsel.“ Erst da fiel Ramsun ein, daß sein freier Samstag war. Wahrscheinlich wäre er zu Edmund gefahren, wenn Harry nicht angerufen hätte. „Erzähle mir nicht, daß du eben gegessen hättest.“ „Ich komme“, sagte Ramsun, „ich geh gleich los.“ Er schlug die Brieftasche auf, um zu sehen, wieviel Geld er bei sich hatte, und sah Elkes Foto. Irgendwann wird sie mir gewiß schreiben, dachte er ohne Hoffnung und fand verwunderlich, daß er nichts anderes als ebendas denken konnte. Er legte ihr Foto zurück. In der Brieftasche lag ein Zehnmarkschein. Er ging zum Schrankfach, wo sie eine kleine Geldkassette aufbewahrten. Der Schlüssel steckte. Wahrscheinlich hatte Elke noch etwas herausgeholt. In der Kassette lag ein Hunderter. Sein letztes Geld. Sie besaßen kein Konto mehr, seit sie den Ford Granada gekauft hatten. Vorläufig gab es nichts, worauf sie sparen mußten, und sie gaben ihr Geld von einem Gehaltstag zum anderen aus, ohne sich Sorgen zu machen. Ramsun legte den Hunderter in die Brieftasche, steckte sie ein, schloß die Wohnung ab und fuhr mit der 66
U-Bahn nach Steglitz. Er hätte bis zur Schloßstraße fahren können, stieg aber aus Gedankenlosigkeit schon am Walter-Schreiber-Platz aus. Die Kaufhäuser hatten geöffnet, doch es war nicht sonderlich viel Betrieb. Am Zeitungskiosk, zwischen Neckermann und dem Jeans-Supermarkt im Kellergeschoß des Titania-Palastes, kaufte er eine Tageszeitung. Zu Hause steckte sicherlich die Wochenpost im Briefkasten. Er hatte vergessen nachzuschauen, verspürte aber das Bedürfnis, zu wissen, was die Lokalseite brachte. Sein Kleingeld reichte nicht, er ließ einen Schein wechseln. Hinter dem Kiosk schlug er die Zeitung auf, überflog sie ohne Interesse, selbst die Lokalseite. Ihm war, als habe er eben etwas falsch gemacht, kam aber nicht darauf, was es sein konnte. Sein Kopf schmerzte ein wenig, er fühlte sich müde. Seit Jahren rauchte er nicht mehr. Jetzt verspürte er Verlangen danach. Wieder trat er auf den Kiosk zu, um sich Zigaretten zu kaufen. Wahrscheinlich würde er sie ebenso lustlos beiseite legen wie die Zeitung, wenn er sie erst einmal in der Hand hielt. Er zog die Brieftasche und wußte, was er falsch gemacht hatte. Der Hunderter war verschwunden. Er hatte ihn am Kiosk ausgegeben in der Annahme, daß es der Zehnmarkschein sei, und die Frau hatte ihm auch nur auf zehn Mark herausgegeben. Er wartete, bis eine Kundin mit ihrer Zeitung beiseite trat. „Entschuldigen Sie“, sagte er, „eben habe ich bei Ihnen eine Morgenpost gekauft und mit einem Hunderter bezahlt. Aus Versehen haben Sie mir nur auf zehn Mark herausgegeben.“ „Das ist mir auch noch nicht vorgekommen“, sagte die Frau, „daß mir jemand so was nachsagt.“ „Bitte, ich will Sie doch nicht anführen. Sie können das gewiß ganz schnell nachprüfen. Heute morgen werden noch nicht viel Kunden mit einem Hunderter bezahlt haben.“ 67
Er trat beiseite, da jemand eine Illustrierte und Zigaretten verlangte. „Sehen Sie“, sagte die Kioskbesitzerin, „so mache ich das, in der einen Hand die Ware, die der Kunde bekommt, in der anderen das Geld, bis ich dem Kunden die Ware ausgehändigt habe. Dann lege ich es in die Kasse, nehme das Wechselgeld heraus und drücke es dem Kunden in die Hand. – Besten Dank, die Dame.“ „Ich zweifle nicht an Ihrer Gewandtheit, Fakt ist nur, daß Sie mir auf zehn, statt auf hundert Mark herausgegeben haben.“ „Bissel aufpassen müssen Sie schon, wenn Sie was kaufen.“ Ramsun gab ihr recht, entschuldigte sich mit einer schlechten Nacht, die er gehabt hatte, bat sie nochmals, nach dem Geld zu sehen. Sie bedachte ihn mit einem frostigen Blick und bediente wieder einen Kunden. Bescheiden trat Ramsun einen Schritt nach hinten, ließ sie aber nicht aus den Augen. Sie hatte helles Haar von unbestimmter Farbe, sah aus wie Mitte Dreißig, ihr Gesicht war ausdruckslos, ohne Make-up, in ihrem Blick lag Unnachgiebigkeit und um ihren Mund ein falsches Lächeln, wenn sie Kundschaft bediente. Wieder trat Ramsun vor. „Bitte, schauen Sie doch mal nach …“ „Was soll ich denn nachsehen?“ fragte sie ungerührt. „Es ist bloß, weil es mein letztes Geld übers Wochenende war“, sagte Ramsun und ärgerte sich über seine Worte. Was gingen diese Frau sein Geld, seine Sorgen, sein Leben an? „Wahrscheinlich liegt Ihr Schein zu Hause auf dem Küchentisch.“ „Aber warum zeigen Sie denn nicht einmal ein bißchen guten Willen und werfen einen Blick in die Kasse?“ „Weil ich keine Zeit habe.“ Ihre Stimme wurde ärgerlich. „Meinetwegen versuchen Sie’s in einer Stunde noch mal, da ist mein Mann da und kann überfliegen, wie vie68
le Zeitungen verkauft wurden und wieviel Geld in der Kasse ist.“ „Danke“, sagte Ramsun, „in einer Stunde also.“ „Ich weiß aber nicht, ob er heute überhaupt herkommt.“ Ramsun ging, lief die Schloßstraße entlang bis zum Bierpinsel. Warum regte er sich wegen neunzig Mark auf, um die man ihn betrogen hatte? Er konnte sich von Harry so viel Geld borgen, wie er übers Wochenende und am Montag brauchte. Dienstag gab es Gehalt. Zum letzten Mal. Dann mußte er sparsam leben, achtgeben auf jede Mark. In den kommenden Monaten würde er von der Arbeitslosenunterstützung ausgehalten werden. Auch das war keine Katastrophe, vorausgesetzt, man fand irgendwann wieder einen Job. Nein, es war nicht das Geld, das ihm Sorgen machte, das war nur eine Art Auslöser. Der Grund waren die Menschen, die ihn umgaben und die miteinander umgingen wie die Aasgeier, wenn Geld, Macht und Wohlleben auf dem Spiel standen. Harry hatte gesagt, so sei es schon immer gewesen, er habe es nur nie wahrgenommen. Wenn das stimmte, war er dann überhaupt lebenstüchtig? Mit dieser Stimmung von Wehmut, Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit gewiß nicht. Harry Bellmann saß schon im Restaurant und las die BZ. „Prima, Alter, daß du gekommen bist.“ „Ich brauch erst mal ’n Mokka“, sagte Ramsun zur Kellnerin, dann studierte er die Karte. „Hier steht, gestern wurde bei Karstadt die Kasse ausgeraubt, kurz bevor der Geldtransporter kam.“ „Für Karstadt arbeiten wir nicht“, erwiderte Ramsun. „Keine Spur von den Tätern.“ „Noch nicht. Irgendwann werden die schon geschnappt.“ „Sag das nicht. Es gibt einige Fälle, wo es glatt gegangen ist. Die sich erwischen lassen, sind selber schuld. Entweder stecken zuviel im Geschäft, und es kommt zu Reibereien, oder die Methode war zu primitiv oder zu ausgeklügelt.“ 69
„Du kennst dich da aus?“ fragte Ramsun. Bellmann lachte. „Ich habe einen Sammlertick. So wie andere Briefmarken oder Münzen sammeln, schneide ich Artikel und Berichte von Überfällen auf Banken, Geschäftskassen und Geldtransporter aus. Ein Arsenal menschlicher Dummheit, Verzweiflung, Brutalität und Spitzfindigkeit.“ „Warum tust du das?“ „Nur so. Andere lösen Kreuzworträtsel, ich nehme mir so einen Fall vor, einen schiefgegangenen, und spiele in Gedanken verschiedene Möglichkeiten durch. Zumeist stoße ich darauf, daß die Leute zu primitiv oder zu spitzfindig vorgegangen sind. Die primitiven zum Beispiel rammen einen Transporter und schießen, bis sie am Geld sind. Die Panzerung wird zersägt, Tote liegen herum, irgend jemand hat längst die Polizei alarmiert. Bevor sie mit dem Geld auf und davon sind, schießt man auf sie. Ausnahmen sind zumeist kuriose Fälle. Da wurde mal ein Geldtransporter auf einer einsamen Landstraße von zwei Lieferwagen gerammt, einer kam von vorn, einer von hinten. Während das Personal mit einer MPi in Schach gehalten wurde, haben die anderen die Panzerung aufgesägt. In aller Ruhe. Inzwischen hatten sich kilometerlange Staus in beiden Richtungen gebildet, ohne daß jemand begriff, was geschehen war.“ „Sind sie geschnappt worden?“ fragte Ramsun. „Viel später. Einer ist zu großzügig mit dem Geld umgegangen und hat sich verdächtig gemacht. – Das andere Extrem, das sind die Superschlauen, die tüfteln was ganz Raffiniertes aus und sichern sich gegenseitig ab, vermeiden Knallerei, verkleiden sich, verstellen die Stimme, wollen das Geld für längere Zeit an einem sicheren Ort deponieren und nur kleine Summen zusätzlich ausgeben, um nicht aufzufallen. Nur, daß sie vielleicht vergessen haben, genügend Benzin aufzufüllen 70
und während der Verfolgungsjagd zur Freude der Polente plötzlich brav stehenbleiben. Einer hat sich mal zu früh den Strumpf vom Gesicht gezogen, als er die Bank verließ und siegessicher in die automatische Kamera gegrinst.“ „Ob primitiv oder spitzfindig“, sagte Ramsun, „Verbrechen bleibt Verbrechen.“ „Kommt drauf an.“ Bellmann sprach bedächtig und taxierte den Freund. „In manchen Fällen würde ich’s Selbsthilfe nennen.“ Ramsun trank seinen Mokka, dachte: Warum sagt er das? Redet er nur so daher oder … „So was kann nie gut gehen“, sagte er schnell und glaubte das Thema damit beendet. Aber Bellmann ging auf seine Worte ein. „Doch, es kann. Zum Beispiel, wenn sich zwei als Sicherheitsbeamte verkleiden, bis zur Kasse vordringen, das Geld an sich nehmen und als Sicherheitsbeamte wieder verschwinden.“ Ramsun verzog den Mundwinkel. „Die meisten Firmen kennen ihre Sicherheitsbeamten“, sagte er. „Na schön, ich stecke ja auch nicht drin im Gewerbe. Es ist nur so ein Gedankenspiel für mich. Wenn man’s selbst vorhätte, müßte man sich wohl die Mühe machen, auf eine eigene Idee zu kommen. Manchmal hat man doch noch eigene Ideen, nicht wahr?“ Ramsun zuckte die Schultern. Sein Kopf schmerzte jetzt. Die Nacht ohne Schlaf machte sich bemerkbar. Warum war er hierhergefahren? Er hätte zu Hause etwas essen können. Vielleicht – wenn sie inzwischen zurückkam … Zu einem künftigen Empfänger von Arbeitslosenunterstützung? Die Schwermut, die ihn seit dem Vorabend lähmte, überfiel ihn wieder stärker. Wie doch eins das andere nach sich zieht, dachte er. Ein Wagen wird schlecht repariert, um Geld zu sparen, ein Geldbeutel geht verloren, drei verdammt ehrliche Müllmänner geben ihn ab. Reporter mischen sich ein … Man ist nur 71
ein Spielball. Wenn ihn keiner mehr braucht, wird er in die Ecke geworfen. „He, mein Alter, das Essen steht vor dir. Wo bist du denn mit deinen Gedanken?“ „Alles zum Kotzen“, sagte Ramsun. „Meine Großmutter meinte: Jeder ist seines Glückes Schmied.“ „Ich kenne auch jede Menge blöde Sprüche.“ „Ist aber was dran. Einfach nehmen, was man braucht. Gelegenheiten nutzen …“ Die am Zeitungskiosk hatte auch eine Gelegenheit genutzt, sich genommen, was sie brauchte. „Wenn ich an deiner Stelle wäre, das Wasser bis zum Hals, da hätte ich sicherlich einen rettenden Einfall. Da ist man ja geradewegs verpflichtet dazu, auf Ideen zu kommen.“ „Du bist nicht an meiner Stelle, Harry. Also, warum sagst du so was?“ In Ramsuns Stimme schwang nicht nur Abwehr, es klang auch, als frage ein Verirrter ohne große Hoffnung nach dem Weg. „Bloß so, mein Alter“, erwiderte Bellmann. „Bloß um was zu erzählen zum Frühstück. Und auch weil ich dachte, ich könnte dich ein bißchen aufheitern damit.“ Harry Bellmann schnitt sein Schinkenbrot und aß.
5 Im Marmorhaus löste Ramsun eine Karte für die Dreizehn-Uhr-Vorstellung. Die Eintrittspreise waren auch nicht mehr das, was sie früher mal waren. Acht Mark für jeden Platz! Nun besaß er nur noch das Wechselgeld, das man ihm auf zehn Mark statt auf hundert herausgegeben hatte. Seine Finger zitterten, als er nach der Karte griff. Er war erschöpft, müde, überdreht. Gleich nach dem 72
Frühstück hatte er den Bierpinsel verlassen, war zurückgegangen zum Kiosk. Harry hatte er nichts erzählt, auch kein Geld geborgt von ihm. Die Besitzerin des Kiosks tat, als kenne sie ihn nicht, hörte sich seine Geschichte mit skeptischer Miene an, während sie Kunden bediente. Jetzt hatte sie mehr zu tun als am Morgen. Sie sagte, da könne jeder kommen und ihr was erzählen. Wie käme sie dazu, von ihrem schwer verdienten Geld neunzig Mark an ihn herauszugeben. Um die zu verdienen, müsse sie stundenlang, ob Sonnenschein oder Kälte, im Kiosk stehen. „Sehen Sie“, sagte Ramsun, „und weil neunzig Mark nicht so schnell zu verdienen sind, muß es Ihnen doch auffallen, wenn ein Hunderter zuviel im Kasten liegt. Ihr Mann wollte außerdem einen Überschlag über Geld und Zeitungen machen.“ Der Mann war nicht gekommen. Überschlag, wie er sich das vorstelle! Sie arbeite ohne Bon. Die Zeitungen ließen sich vielleicht noch überschauen, aber inzwischen habe sie jede Menge Zigaretten verkauft. Sie müsse den Laden schließen und Inventur machen, weil er sie beschuldige, ihm das Wechselgeld falsch herausgegeben zu haben. Am Kiosk standen schon vier, fünf Kunden hintereinander, einige murrten, andere starrten neugierig auf Ramsun. Er solle lernen, auf sein Geld zu achten. Jeden ihrer Stammkunden könne er fragen, ob sie jemals eine Unredlichkeit begangen habe. „Hallo, Fräulein! Sie bekommen noch fünfzig Pfennig.“ Die Kundin wandte sich ihr wieder zu. „Oh, danke!“ „Sehen Sie, so bin ich!“ Ramsuns Mundwinkel zuckte. So bist du. So geschäftstüchtig. So gerissen … So ehrlich … Große Schau um 50 Pfennige und bei Gelegenheit läßt man einen Hunderter verschwinden. 73
Sie wolle ihm ja nichts unterstellen, aber ein Männeranzug hat so viele Taschen. Nachgucken, junger Mann. Gründlich. Mancher denkt auch, er habe einen Schein eingesteckt, dabei liegt der noch zu Hause auf dem Tisch. Zu Hause auf dem Tisch lag nichts als Elkes Abschiedsbrief. … Irgendwann werden wieder sieben gute Jahre kommen … Wo sollten denn sieben gute Jahre für ihn herkommen? Natürlich hatte Harry recht. Er mußte sich einen Kopf um seine Chancen machen. … spätestens, wenn ich die Clochards in Paris sehe, werde ich sicher sein, daß ich mich richtig entschieden habe … Wie schön für diese Menschen, die sich immer richtig zu entscheiden wußten. Elke für Frankreich. Direktor Kruse für das Ansehen der Edmund-Gesellschaft. Die Kioskbesitzerin für einen Gelegenheitsbetrug. Sie redete noch immer auf ihn ein, während sie behende nach Zeitschriften, Zigaretten und Geld langte. „Das ist auch eine Stammkundin. Kauft seit Jahren hier. Fragen Sie doch, ob ich jemals einen Kunden auch nur um einen Pfennig betrogen habe.“ Ein Pfennig wäre vielleicht nicht aufgefallen. Ramsun stand nicht mehr hier, weil er Hoffnung hegte, sein Geld zurückzubekommen. Es war nur so fassungslos, was hier geschah, so enttäuschend, billig und doch irgendwie stimmig. Seit der Kündigung. Seit Elkes Verschwinden. „Um was geht’s denn?“ fragte die ältere Frau, die seit Jahren hier Stammkunde war. Sie sah gutmütig aus. „Um Wechselgeld“, entgegnete Ramsun mechanisch. „Sie hat nur auf zehn statt auf hundert Mark herausgegeben und will’s nicht wahrhaben.“ „So“, sagte die Frau, und ihre Augen strahlten. „Da will ich Ihnen mal was sagen!“ Nichts mehr von Gutmü74
tigkeit. Mit einemmal wirkte sie dumm wie eine Henne, die sich plustert. „Ausgenommen wird man überall. Wie kann man sich darüber noch aufregen! Erst vorige Woche kriege ich hier meine dreißig Pfennig Wechselgeld nicht raus. Was tue ich? Ich lege noch zwanzig Pfennig aufs Brett und sage: ‚Damit’s wenigstens ’n Fuffziger wird!‘ Sehen Sie, so bin ich!“ Ramsun lachte. So bist du. Und so ist die Kioskhyäne. Und so ist Kruse. Und jeder weiß, wie er ist, und alles zusammen ist Irrsinn. Die Leute sahen sich nach ihm um, wandten sich ab und gingen weiter. Er lachte, bis ihm die Tränen kamen. Als er merkte, daß er vor Hilflosigkeit heulte, lief er davon. Er wußte nicht mehr, wohin und wie lange er gelaufen war. Seine Füße schmerzten, er fühlte sich schlaff und zerschlagen. In dem kleinen Kinosaal ließ er sich in einen der weinroten Polstersessel fallen, ungefähr in der Mitte des Raumes. Nur acht Besucher waren außer ihm noch da. Aus dem Lautsprecher strömte Musik, leise, wohltuend. Ramsun streckte die Beine aus, schloß die Augen. In the streets of San Francisco … Es war ein Streicheln. Warum sollte nicht alles gut werden? Es gab viele Städte, viele Straßen … Plötzlich brach die Musik ab, der flimmernde Vorhang glitt zur Seite. Reklame auf der Leinwand: Im Bauhaus gibt’s so ziemlich alles! – Nimm zwei – Trink Coca-Cola! – Mit Sonderbussen zum Oktoberfest … Dann Kinoreklame. „Shining“. Jack Nicholsens bartstoppeliges, panikverzerrtes Gesicht. Eine Stimme im Raum. Du denkst, die glänzende Welt gehört dir, aber du bist schon verloren. Um dich Gewalt, Betrug, Verrat. Du hast keine Chance – mach was draus! Der Film begann. Miou-Miou als Aussteigerin aus dem ältesten Gewerbe der Welt. Im Kampf mit den Zuhältern. Im Kampf mit der Polizei. Im Kampf mit der Konkurrenz. Ihr Zuhälter war ein brutaler Zuschläger. Jedesmal, wenn 75
er sie sich vornahm, stand einer, der hinter Ramsun saß, auf und brüllte: „Verflucht soll er sein! Verflucht! Ihr alle, die ihr hurt und sauft und Frauen schlagt, verflucht!“ Ein Pärchen, das zu keuchen begann, wenn die Damen auf der Leinwand ihrem Gewerbe nachgingen, kicherte. Ramsun sehnte sich nach Hause, wo er abends mit Elke vor dem Fernseher saß und Filme sehen konnte ohne perverse Anteilnahme und fanatische Zwischenrufe. Doch das war die vergangene Welt. Er mußte in dieser leben. Er blieb sitzen, weil er sich zu elend fühlte, aufzustehen und hinauszugehen. Erst als der Film zu Ende war, rappelte er sich hoch. Die Aussteigerin hatte es geschafft. Angeblich. Sie hatte ihr Gewerbe hinter sich gelassen und den Zuhälter. Und nun? Ramsun fuhr nach Hause, zog sich sofort aus, trank einen Napoleon und warf sich aufs Bett. Etwas in seinem Leben war zusammengebrochen. Er kam nicht dahinter, was es war. … was jetzt kommt, muß jeder allein durchstehen. Elke hatte das geschrieben. Seine Frau. Vor Ewigkeiten. Irgendwann hatten sie ein Leben zusammen gelebt. Es mußte unendlich weit zurückliegen. Er konnte sich schon ihr Gesicht nicht mehr vorstellen.
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IV
1 Die Pizza war dünn wie ein durchgelegenes Bettlaken und zäh wie Steifleinen, doch sie schmeckte würzig. Harry Bellmann bestellte einen zweiten Schoppen Wein. Als der Wirt, ein ältlicher Italiener, ihn brachte, schlug im vorderen Zimmer die Tür zu, und kleine, rasche Schritte kamen durch den Raum. Bellmann saß in einer Nische, beobachtete, wie der Vorhang aus bunten Holzperlen geteilt wurde und ein blonder Kopf mit Fransenschnitt sich durchschob. „Hallo!“ sagte Harry Bellmann leise. Das Mädchen kam auf ihn zugestöckelt, den Po schwenkend, als gälte es, die Aufmerksamkeit von drei Divisionen der Heilsarmee auf sich zu lenken. Sie setzte sich an Bellmanns Tisch. „Pizza und ’n Schoppen Wein?“ fragte er. Statt zu antworten, legte sie einen Zettel auf den Tisch, an dem noch eine Reißzwecke steckte. Bin unten Pizza essen. Harry stand darauf. Schließlich sagte sie: „Ich habe mit dir zu reden. Aber nicht hier.“ Bellmann bestellte einen Schoppen Wein für sie. Sie war gereizt wie eine Wildkatze, der man die Jungen verschleppt hat, nippte an ihrem Wein und stieß das Glas beiseite, daß es überschwappte. Bellmann runzelte die Stirn. 77
„Versuche nicht, mich bis morgen früh hinzuhalten in diesem Schuppen“, sagte sie. „Dieser Schuppen hat nicht bis morgen früh geöffnet. – Engelchen, ich möchte dich mal lachen sehen. So ganz von Herzen.“ Er zahlte, sie trank ihren Wein aus, dann verließen sie das Lokal durch den Hintereingang und stiegen die Treppen hoch zum Dachgeschoß. Bis zu jenem Tag waren die beiden kleinen Zimmer und die Küche mit Duschecke für Karina Ott eine „dolle Bude“ gewesen. Nun saß sie mokant lächelnd im Sessel, blickte sich um, als sähe sie das alles zum ersten Mal und sagte: „Der König, der den Bettler spielt. – Aber ohne mich.“ „Die Verzweiflung macht mich sprachlos.“ Bellmann streckte die Hand aus, um das Mädchen aus dem Sessel hochzuziehen. „Mach’s kurz und mach’s gut, Engelchen.“ Sie übersah die Hand und überhörte seine Worte. Sie sagte: „Dein Sexbombenfreund hat allen Grund, sich auch mir gegenüber erkenntlich zu zeigen.“ Wortlos ging Bellmann zum Schrank und kam nach einer Weile mit einem Briefumschlag zum Tisch zurück. „Weil du so unwiderstehlich bist, mein Schatz. Setz dich zu Kranzler oder zu Kempinski und vergiß den verrückten Harry mit der Dachbodenwohnung.“ Sie öffnete das Kuvert und zählte die Scheine. Vier Hunderter, zwei Fünfziger. Sie legte sie zurück und schob das Kuvert zu Harry Bellmann hin. „Schlitzohr“, sagte sie. „Nanu? Du wirst zärtlich?“ „Ich werd auch gleich noch humorvoll“, erwiderte sie. „Gestern hast du dich noch darüber beschwert, daß ich keinen Humor besitze, nicht wahr?“ Sie zog die BZ aus ihrer Handtasche, faltete sie auseinander und wieder zusammen, bis der Artikel Geldraub bei Karstadt obenauf kam. Dann legte sie die Zeitung vor 78
Bellmann auf den Tisch. Der Brief mit dem Geld verschwand darunter. „Hier steht, siebenhundertfünfzigtausend haben die kassiert.“ „Wie schön für sie“, entgegnete Bellmann ungerührt, zog das Kuvert mit den fünfhundert Mark unter der Zeitung hervor und schob es wieder zu Karina Ott hinüber. „Manche machen große Geschäfte, manche kleine. Die stehen dann nicht in der Zeitung. Und das ist gut für alle Beteiligten.“ „Die sind mit einem orangefarbenen BMW entwischt.“ „Ich hab’s gelesen.“ „Die konnten entwischen, weil ein Großstadtcowboy der Polente an den Wagen gefahren ist. Vielleicht hat’s die Polente noch nicht kapiert, aber ich hab’s kapiert, und wenn ich dann dieses Almosen hier sehe, könnt ich wirklich ’s Lachen kriegen. So ganz herzhaft, wie du’s gern möchtest.“ „Fein“, sagte Harry Bellmann. „Renk dir nur nicht den Kiefer aus dabei.“ Doch sie lachte nicht. Sie ging auch auf seinen Sarkasmus nicht ein. Sie rechnete. „Siebenhundertfünfzigtausend. Ich nehme an, fünfzigtausend sind für dich rausgesprungen. Und warum konnten die rausspringen? Weil ich mich zu meinem Geburtstag aufs Nudelholz hab schieben lassen von dir.“ Bellmann streichelte mit der Rückhand ihre Wange, und sie zuckte zurück. „Du bohrst ziemlich heftig, Holzwürmchen, aber du hast das falsche Brett erwischt. Und gelacht hast du auch noch nicht.“ „Ich will dich nicht ausnehmen, aber seit Monaten teile ich meine wertvolle Zeit und mein Bett mit dir. Also Grund genug, ehrlich zu teilen. Fünfundzwanzigtausend, Großstadtcowboy.“ Bellmann lachte, rückte nahe an sie heran und küßte sie auf die Stirn. 79
„Wahrhaftig, ich habe dich unterschätzt. Du bist zu kurz gekommen, als der liebe Gott mit Humor und Gefühlen um sich geworfen hat, aber als die Phantasie ausgegeben wurde, bist du gleich mit dem Wäschekorb ran.“ „Jedenfalls habe ich genug, um mir auszurechnen, daß für mich mehr ’rausspringt aus der Sache als fünf Hunderter. Selbst wenn ich jetzt, nachdem ich den Artikel gelesen habe, zur Polizei gehe, komme ich besser weg.“ „Also gut, Holzwürmchen, reden wir Fraktur miteinander. Du hältst die richtige Rechnung in der Hand, aber du zählst falsch zusammen. Ich bin brandneu im Geschäft, kriege also Anfängergehalt. Das waren ganze zehntausend. Ich hatte auch auf mehr gehofft, aber als neuer Partner muckt man besser nicht auf. Weil du den alten Harry fünf Monate lang so fein in Atem gehalten hast und so hübsch mit dem Hintern wackeln kannst, leg ich noch fünf Hunderter zu.“ „Ich feilsche nicht mit dir“, sagte Karina Ott. „Wenn du blöd genug warst, nur zehntausend zu kassieren, geschieht’s dir nur recht, wenn du neuntausend davon wieder loswirst. Das ist mein letztes Angebot. Du gibst mir noch achttausendfünfhundert zu diesem Kleinkram hier dazu. Danach bist du mich ein für allemal los, wenn du willst, und kannst dich vom Anfänger zum Profi hochrackern. – Wenn nicht, kannst du’s mit deinen Fünfhundert-Mark-Angeboten bei der Polizei versuchen.“ Harry Bellmann wußte, daß sie Ernst machen würde. Er nahm das Kuvert und ging zum Schrank zurück. „Holzwürmchen“, sagte er, „du bist eben dabei, meinen Nerv anzubohren.“ „Vielleicht bin ich eben dabei, eine große Dummheit zu machen, indem ich dir glaube, daß es nur zehntausend waren.“ „Wenn du Wert darauf legst, daß ich es dir beweise“, sagte Harry Bellmann ohne jede Spur von Ironie, „kann ich dich jemandem vorstellen. Dem Überbringer des Gel80
des. Nur, wie lange du danach noch mit deinem hübschen Arsch wackelst, dafür kann ich nicht garantieren.“
2 Ungefähr alle zwei Jahre startete die Große Drei einen Coup. Kommissar Fox hatte Unterlagen angefordert, die es über diese Überfälle gab. Er las sie, wie er Kriminalromane zu lesen pflegte. Wer konnten die Täter sein? Wer geriet am meisten in Verdacht, wer erschien am harmlosesten? Welche Personen tauchten mehrmals am Rande des Geschehens auf? Welche Technik wurde bevorzugt? Wie ging die Flucht vonstatten? Wo gab es Übereinstimmungen, wo Lücken in den Aussagen? Was erschien vordergründig, was ließ sich hinter Hinweisen, Handlungen, Benehmen von Opfern, Verdächtigen und Zeugen vermuten? Fox brachte die Akten persönlich zurück. Er flog nach Frankfurt, fuhr von dort nach Düsseldorf und Celle und sprach überall mit seinen Kollegen, die im Fall der Großen Drei Ermittlungen geführt hatten, und nun saß er wieder in Berlin hinter seinem Schreibtisch, zeichnete sein Bild von dem, was geschehen war und demnächst zu geschehen hatte. Wassek sagte: „Der Fuchs steckt sein Jagdrevier ab.“ Es war ein großes Revier und vom Wild nichts zu sehen. Doch Fox war sicher, daß er es aufspüren würde, früher oder später. Wichtig war, jede Fährte zu beachten. Im Jahre 1976 am 2. August hatten drei überdurchschnittlich großgewachsene Männer in Frankfurt einen Purolator-Geldtransporter ausgeräumt. Sie erbeuteten 380 000 DM. Mit zwei Fluchtwagen, die sie nacheinander benutzten, entkamen sie. Einer der Wagen, der in einer Seitenstraße der Stadt gefunden wurde, war gestohlen. Man verdächtigte einen Angestellten von Purolator, das 81
Ding ausbaldowert zu haben. Er erwies sich als unschuldig. Erst sehr viel später kam man dahinter, daß ein anderer Angestellter, der häufig seine Mädchen wechselte, für kurze Zeit mit einer schlanken Blondine befreundet war, der er allerhand über seinen Job erzählte. Sie interessierte sich dafür, ihr imponierte seine Arbeit. Nach einem vom Zaune gebrochenen Streit trennte sie sich von ihm. Er bekam sie nie wieder zu Gesicht. Die Waffe, die die Gangster benutzten, um die GeldtransporterBesatzung in Schach zu halten, war kurz zuvor einem Angehörigen der Bundeswehr gestohlen worden, den man nachts auf seinem Wachposten überfallen hatte. Zwei Jahre später teilte in einem Frankfurter Supermarkt ein Weihnachtsmann, groß und stark wie ein Bär, Bonbons aus und verschwand im Verwaltungstrakt. Zwei Männer in Zivil folgten ihm. Als der Wachmann aus einem der Zimmer trat, um die Übergabe der Tageseinnahmen an den anrollenden Geldtransporter zu überwachen, wurde er von dem Weihnachtsmann und seinen Helfern niedergeschlagen und entwaffnet. Nichts weiter. Die Geldübergabe verlief bis auf diesen Zwischenfall reibungslos. Doch mit dieser MPi wurden Tage später drei Bankangestellte bedroht, die eine Kiste mit einer Million D-Mark in den Transporter schieben wollten. Sie mußten sich mit dem Gesicht zur Wand stellen, während die Räuber die Geldkiste aus dem Wagen zogen und mit einem Messer die Anschlüsse des Funkgerätes durchschnitten. Wieder entkamen sie. Diesmal mit einem Leihwagen. Der Ausweis, den der Ausleihende vorgezeigt hatte, gehörte einem vor Jahren gefallenen Fremdenlegionär. Ein Angestellter der Leihfirma erinnerte sich, daß dieser Mann jung, mittelgroß und fast damenhaft schlank gewesen war. Er hatte eine rauchige, aber keine männliche Stimme. Er hätte auch ein Mädchen sein können. Zu Beginn des Jahres 1980 waren der Großen Drei und 82
ihren Helfershelfern das Geld schon wieder knapp geworden. In Niedersachsen, am Stadtrand von Celle, lagen in der Filiale der Supermarktkette „Blau-Gelb“ die Tageseinnahmen zum Abholen bereit. Wachmann Groblich, vierzig Jahre alt, nahm die Geldbombe mit 200 000 DM und trug sie quer über den kleinen Hof zum Panzerwagen. Aus der Dunkelheit heraus wurde er angerufen, kurz bevor er das Fahrzeug erreichte. Seine Antwort war der Griff zur Dienstpistole. Schüsse peitschten … Getroffen sackte er zusammen, feuerte noch im Fallen das Magazin leer. Sekunden später fanden ihn Angestellte des Supermarktes. Er war tot. Die Geldbombe hielt er an seinen Körper gepreßt. Diesmal war die Sache gründlich schiefgegangen. Die Gangster hatten getötet und mußten ohne Beute flüchten. Zeugen sagten aus, kurz nach dem Schußwechsel seien zwei großgewachsene Männer auf einen Wagen zugelaufen, der sofort anfuhr und mit ihnen in der Dunkelheit verschwand. Der Überfall bei Karstadt war sorgfältiger geplant und reibungslos verlaufen. Wieder waren sie mit zwei Wagen geflüchtet. Harry Bellmann hatte vorsorglich die Polizeistreife beschäftigt. Der erste Fluchtwagen, ein orangefarbener BMW, war kurz vorher gestohlen worden, wie man bereits ermittelt hatte. Ebenso die Maschinenpistole. Den zweiten Fluchtwagen, einen roten Audi, hatte eine junge, schlanke Frau gefahren. Eine attraktive Dame in Weiß. Kommissar Fox legte den Stift beiseite und sinnierte. Ein attraktives Mädchen mit Audi hier, ein Traktätchen verteilendes Fräulein, das noch nicht „dazu gehörte“ zur Sekte dort – genau vor dem Karstadt-Eingang. Das Fräulein hat an jenem Tag keine Ruhe und verschwindet bald wieder. Ihre Blätterchen zu verteilen, übernimmt ein älteres Mädchen, das ihrer Sache treu ergeben und obendrein kurzsichtig ist. Ein dritte Frau taucht auf. Bellmanns Freundin. Durch sie wird die Karambolage mit dem Polizeiwagen glaubhaft. 83
Mit einem skeptischen Blick auf seine Notizen murmelte Fox: „Zuviel Personal. Da spielt jemand eine Doppelrolle. Und jemand wird entweder durch Zufall reingezogen oder kennt die Bedeutung seiner Rolle gar nicht. Aber wer ist mit wem identisch? Franziska Heusler, das Mädchen vor dem Karstadt-Eingang im grauen Mantel, flachen Schuhen mit einem Hütchen auf dem Kopf, konnte sie die Audi-Fahrerin sein? Warum nicht? Auf jeder Kundentoilette läßt sich eine Dame in Weiß in eine graue Existenz verwandeln.“ Doch ebensogut, dachte Fox, konnte diese Karina Ott, Bellmanns Freundin, ihre Betschwester verlassen und sich umgezogen haben und in der Nähe des Tatortes herumgeschlichen sein, falls sie gebraucht wurde. Der Kommissar griff zum Telefon und beorderte Wassek zu sich. „Was haben Sie inzwischen über die beiden Mädchen herausgefunden?“ fragte er, und als Wassek ihn irritiert anblickte, wurde er ärgerlich. „Na, was war das größte Ding in der letzten Woche? Karstadt ! Oder …?“ „Ja natürlich. Nur, während Ihrer Abwesenheit hat es einige kleinere Überfälle gegeben, und mit denen müssen wir uns auch beschäftigen. – Karina Ott und Franziska Heusler meinen Sie. Ich hole die Berichte.“ Er verschwand wieder. Kommissar Fox schob den Stuhl zurück, stand auf und ging zum Fenster. Wassek hat recht, dachte er. Wir können nicht nur an einer Sache dranbleiben, bis sie bereinigt ist. Er warf einen Blick vom achten Stockwerk auf die Straße hinunter. Allein hier, so weit er sehen konnte, Bankfilialen, Gaststätten, Geschäfte. Filiale der Berliner Bank, daneben Polstermöbel-Schmidt, ein Schultheiß-Restaurant, eine Filiale der Bank für Handel und Industrie, Uhren-Glöckner, Imbißstube, Hut-Moden, Filiale der ABC-Kredit-Bank. Und so ging das weiter, durch die ganze Stadt hindurch. Es vergingen keine zwei Tage ohne Bankeinbrüche, klei84
nere Überfälle auf Geschäftskassen, Wagen oder Geldboten. Hatte man einen, zwei, zehn Täter dingfest, tauchten ein Dutzend andere unter. Ins reine kam man nie. Wie Sisyphus. Der mußte in der Unterwelt zur Strafe für seine Verschlagenheit ein ungeheueres Felsstück auf den Gipfel eines steilen Berges wälzen. Doch es rollte immer wieder herab. Vielleicht stimmte mit dem Berg etwas nicht. Es gab doch Gipfel, die ein Felsstück trugen. Fox ging zum Schreibtisch zurück. Er würde weiterwälzen. Es war sein Los. Er würde die Große Drei aufspüren und vernichten. Das war er sich und seinem Ansehen schuldig. Bis dahin mußte die Abteilung kleinere Fälle ohne seine Regie aufklären. Wenn Leoparden durchs Gelände schlichen, durfte man sich nicht auf Mäuse konzentrieren. „Ich habe außerdem mitgebracht, was in den vergangenen Tagen über Harry Bellmann ermittelt wurde“, sagte Wassek, als er wieder eintrat. „Falls wir gewettet hätten, wären Sie der Gewinner. Das Karstadt-Gebäude wird von der Gebäudereinigung Glanz und Glas saubergehalten. Bellmann war mehrmals zur Fensterreinigung dort eingesetzt.“ „Mit wem hat er sich in den vergangenen Tagen getroffen?“ „Wir wissen nur, daß er an einem Abend im Ku’dorf war. Sein Beschatter wurde abberufen, da kam der Überfall auf eine Kassiererin dazwischen und …“ Der Kommissar winkte ab. „Am folgenden Abend besuchte er mit Fräulein Ott eine unscheinbare Pizzeria in der Knesebeckstraße, im gleichen Haus, in dem er wohnt. Anschließend sind sie zu ihm hochgegangen. Nichts Auffälliges also, und wir mußten den Beschatter wieder abziehen, zu viele andere …“ „Ab morgen“, schnitt Fox ihm das Wort ab, er warf seinen blauen, zornigen Blick auf ihn, „hängt der Beschatter wieder dran. Hier geht’s nicht um Pfennig85
sammler, sondern um die Großen Drei, die in den letzten vier Jahren über zwei Millionen geraubt und einen Wachmann erschossen haben. Das sind Burschen, die man entweder am Tatort erwischt und erledigt oder nie kriegt. Es sei denn, man tastet sich durch Nebenfiguren an sie heran.“ „Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob dieser Bellmann überhaupt eine ihrer Nebenfiguren ist“, wandte Wassek ein, „wir schlußfolgern das nur aus der zeitlichen Übereinstimmung beider Ereignisse.“ „Wir schlußfolgern überhaupt nichts.“ Fox’ Augen wurden schmale, dunkelblaue Schlitze, und der Leutnant trat unwillkürlich einen Schritt zurück. „ Ich schlußfolgere. Weil die Sache stinkt! Und weil ich für solchen Gestank eine Nase habe! – Wir wissen nichts mit Sicherheit!“ wiederholte er. „Wann wissen wir denn etwas mit Sicherheit? Dieses Wort sollte überhaupt aus unserem Sprachschatz gestrichen werden.“ Mit einer Handbewegung wischte er seine Gedanken beiseite. „Harry Bellmann kriegt ab sofort wieder einen Schatten.“ „Jawohl, Kommissar. – Fräulein Franziska Heusler wohnt in der Nazarethkirchstraße fünfzehn, Bezirk Wedding. Sie ist sechsundzwanzig Jahre alt, Postangestellte, arbeitet als Telefonistin. Vor vierzehn Monaten ist sie aus dem Rheingebiet nach Berlin gezogen. Nachteiliges über sie ist nicht bekannt.“ „Mit sechsundzwanzig“, grummelte Fox, „sollte man auch mal was Nachteiliges anstellen.“ „Sie fährt einen Citroën“, ergänzte Wassek, „lebt verhältnismäßig zurückgezogen, also kaum Besucher, keine lauten Parties. Ab und zu widmet sie ihre Zeit einer religiösen Gemeinschaft.“ „Auch da gehört sie noch nicht dazu“, sagte Fox. „Ein seltsames Kind. So brav, so unauffällig. An vielem interessiert, an nichts gebunden. Ich möchte wissen, ob sie am Tag des Karstadt-Überfalls ihren Wagen benutzt 86
oder einen roten Audi ausgeliehen hat. Lassen Sie nachforschen bei sämtlichen Auto-Ausleihen.“ Wassek sah ziemlich wächsern aus, sagte aber mit fester Stimme: „Jawohl, Kommissar.“ Als er gegangen war, griff Fox zum Telefon. „Wie weit seid ihr mit der Überprüfung der KarstadtAngestellten?“ „So ziemlich durch“, antwortete die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Morgen bekommen Sie einen Stoß Papier auf den Tisch. Übrigens – dieser Tilo Resch, der die Schlüssel zum vergitterten Hoffenster aufbewahrt, möchte Sie noch mal sprechen.“
3 In der Grundkreditbank Nürnberger-, Ecke Kurfürstenstraße löste Werner Bahl zwei Millionenschecks ein und transportierte das Geld mit Bernhard Ramsun zu dem weißgelben Panzerwagen, der im Hof parkte. Zwei Wachmänner der Bank sicherten sie ab. Als die letzte Geldbombe verstaut und der Wagen geschlossen war, sagte Ramsun: „Was hältst du von einer Kaffeepause, Werner?“ „Muß nicht sein.“ „Dann warte hier einen Moment. Ich geh mal verschwinden.“ Bahl schlug den Mantelkragen hoch. Das sommerwarme Herbstwetter war passe, die Temperaturen gesunken, es nieselte. „Wenn das so ist, warte ich doch lieber in der Kantine.“ Er ging zum Fahrstuhl. „Bestell einen Mokka für mich!“ rief Ramsun ihm nach und verschwand in der Toilette. Er blieb im Vorraum, trat zum Spiegel, musterte sein Bild. Sensibler Mund, hatte Elke gesagt. Er verrät deine Stimmung. Wie 87
gut, wenn man um seine schwachen Stellen wußte. Durch nichts würde er seine Gedanken und seine Stimmung verraten. Es klappte also, Werner Bahl ging Kaffee trinken. Was sollte auch gefährlich daran sein? Der Panzerwagen stand sicher im Hof. Das Tor würde sich nur öffnen, wenn er am Steuer saß oder Werner Bahl. Jemand betrat den Toilettenraum. Ramsun drehte den Wasserhahn auf, wusch und trocknete sich ab, dann ging er hinaus zum Fahrstuhl. Sein Mokka stand schon auf dem Tisch. Er wechselte ein paar belanglose Worte mit Werner Bahl. Sie bezahlten, fuhren ins Erdgeschoß, überquerten den Hof und setzten sich in den Wagen. Ramsun chauffierte. Er reichte dem Wachposten am Eingang seinen Frachtschein durchs Fenster und zeigte seinen Ausweis. Der Mann nickte und tippte zum Gruß mit dem Finger gegen die Mütze. Er kannte Ramsun. Er wußte auch, daß er im kommenden Monat auf ein neues Gesicht hinter dem Lenkrad achten mußte. Nach Feierabend bummelte Ramsun durch die Stadt. Seit Elke fort war, schob er die Stunde, zu der er die leere Wohnung betrat, weit hinaus. In einem Zimmer dieser Wohnung stand sein Bett, das er zum Schlafen brauchte, es gab eine Küche, in der er Nahrung aufbewahrte. Sonst bot sie ihm nichts. Heimstätte war sie längst nicht mehr. Sich heimisch fühlen hieß für ihn, täglich an einen Ort zurückzukehren, wo Elke ihn erwartete. Der Geruch ihrer Haut. Ihr Lächeln. Ihre Stimme. Das Abendbrot auf dem kleinen Ecktisch. Die Nähe seiner Frau, wenn er auf der Couch lag und las. Die Vorfreude auf das Wiedersehen, wenn sie für ein paar Tage weggefahren war. Ihr Körper, den er unbewußt noch im Schlaf spürte. Nichts von diesen gewohnten Dingen geschah mehr. Er fühlte sich in der Wohnung fremder als irgendwo in der Stadt. Seit Tagen war er auf Arbeitssuche gewesen. Für ihn fand sich nichts, wie er vorausgesehen hatte. Einem wegen Unzuverlässigkeit gefeuerten Wachmann von Edmund 88
traute niemand. Er hatte sich auch auf Stellenangebote in der Zeitung beworben, als Büroangestellter für Abfertigung und Disposition einer GmbH, als Speditionskaufmann. Er hatte auf alles reagiert, was in irgendeiner Weise seiner Ausbildung nahekam. Ohne Erfolg. Der Ramsun von Edmund ? Der Sicherheitsmann, dem die Städtische Müllabfuhr das Geld hinterhertrug? Mitleidiges Lächeln, bedauerndes Schulterzucken. Sinnlos. Du hast keine Chance – mach was draus. Er war am Wittenbergplatz ausgestiegen und lief die Tauentzien entlang Richtung Zoologischer Garten. Auf den Stufen vor der Gedächtniskirche saßen nur noch wenige Jugendliche. In den vorangegangenen warmen Tagen hatte er hier Bilder gesehen, die er aus seinem Ford Granada weder wahrnehmen konnte noch für möglich gehalten hätte. Jugendliche auf dem Trip. Zusammengesunken, aneinandergelehnt, quer über Stufen liegend, ihrer Umwelt entrückt. Was ihn noch mehr erschüttert hatte: die Umwelt nahm keine Notiz von ihnen. Sie gehörten zum Straßenbild wie die Kinoreklame und die Müllcontainer. Eine Wahrheit von vielen, die Ramsun zwar bekannt war, die er nun aber hautnah erleben mußte. Auf einem Vorsprung des alten Gebäudes der Gedächtniskirche saß Tag für Tag ein Langhaariger, der seine vier Jahrzehnte auf dem Buckel trug, in einem zerschlissenen Hemd, in kurzen, ausgefransten Hosen, barfuß, aber Füße wie Lederschuhe. Ein Einzelgänger. Mit Rauschgift schien er nichts zu tun zu haben. Er beachtete die Gruppen auf der Treppe nicht, und sie respektierten ihn. Niemand machte ihm sein Plätzchen streitig. Er saß und nähte aus kleinen bunten Lederflicken eine Hose. Manchmal sprach ihn jemand an, und er schien freundlich zu antworten. Hin und wieder hockten sich zwei, drei Mädchen zu ihm hin. In den vergangenen Tagen war Ramsun dieses Bild um die Gedächtniskirche 89
herum vertrauter geworden, als sein verlassenes Wohnzimmer. Um so enttäuschter war er, als an jenem ersten kühlen Herbsttag der Platz auf dem Mauervorsprung leer war. Nur ein Pärchen saß auf den Stufen. Der Junge vornübergesunken, in seinem Schoß den Kopf des Mädchens. Ihr Rock war hochgerutscht bis über den Po. Sie spürte weder das Obszöne der Situation noch die herbstliche Kälte. Spätestens wenn ich die Clochards in Paris sehe …, hatte Elke geschrieben, und in den vergangenen Tagen dachte Ramsun oft: Spätestens wenn ich die Gestalten rings um den Bahnhof Zoo sehe … In solchen Augenblicken drängte sich ihm das Gespräch mit Harry Bellmann wieder ins Bewußtsein. Der hatte recht, es galt, sich Gedanken um seine Chancen zu machen. Weder zu primitiv noch zu überschlau sein. Wer sich erwischen läßt, ist selber schuld. Nun gut, man konnte davonkommen, aber womöglich den Tod eines anderen verschulden? Nein, um den Preis nicht, sagte sich Ramsun. Man konnte auch anständig durchs Leben gehen. Bernhard Ramsun, der kleine, arme, anständige Zeitungsausträger, der Sozialhilfeempfänger, der Versager! Von eigenen Ideen hatte Bellmann gesprochen. Oh, er hatte Ideen. Aber leider auch Skrupel.
4 Das Haus war ein Dutzendhaus und die Wohnung eine Dutzendwohnung. Frau Resch war auch kein Original. Seltsam, dachte Kommissar Fox, daß man von manchen Leuten glaubt, man träfe sie täglich beim Einkaufen, obwohl man ihnen noch nie begegnet ist. Er hatte Tilo Resch, den Karstadt-Angestellten, der die Schlüssel zum vergitterten Hoffenster besaß, nicht zu sich bestellt, sondern besuchte ihn in seiner Woh90
nung. Alle vier Angestellten, die man beim Geldzählen überfallen hatte, waren von den Kriminalisten überprüft worden. Die meiste Zeit hatte man auf einen Gerhard Kunze verwandt, den Jüngsten von ihnen, der seine Freundinnen nicht nur häufig wechselte, sondern mehrere zugleich mit seinem Charme beehrte. Jede, die man befragte, versicherte, er habe etwas an sich, das die Frauen verrückt, zumindest neugierig mache, er sei ein Talent als Charmeur, ein Ereignis als Liebhaber, doch über seine Arbeit habe er nichts erzählt. Ihn interessierte auch die Tätigkeit seiner jeweiligen Gespielin nicht. Den meisten von ihnen war unbekannt, wo er arbeitete. Sie wußten, daß er sich mit mehreren vergnügte. Einige wandten sich sofort ab von ihm, als sie es herausfanden, andere lockerten ihr Verhältnis erst nach und nach. Manche kannten einander. Es befand sich kein Mädchen unter ihnen, auf das die Beschreibung einer Franziska Heusler gepaßt hätte, denn eines hatten sie alle gemeinsam: sie waren nicht älter als achtzehn und ein wenig pummelig. Herr Kunze liebte Babyspeck. Nun war Kommissar Fox gespannt, was Tilo Resch für ihn auf Lager hatte. Sein Einfall, ihn zu Hause aufzusuchen, erwies sich als interessant, vielleicht sogar, so hoffte er, als nützlich. Frau Reschs Gesicht, weder anziehend noch häßlich, war sorgenvoll. Sie hatte geweint, und nun, als Fox ihr die Hand drückte, mühte sie sich um ein tapferes Lächeln. Sie schenkte Kaffee ein, setzte sich in die Ecke der Couch und nagte an ihrer Unterlippe. Ein Kind mit schlechtem Gewissen. „Vielleicht“, sagte Tilo Resch zögernd, „sind Sie mit Ihren Ermittlungen schon so weit, daß Sie überhaupt keine Hinweise mehr brauchen. Bitte … falls das so ist, lassen Sie uns einfach eine Tasse Kaffee zusammen trinken, und wenn Sie gegangen sind, weiß ich, daß ich weder mir noch meiner Frau etwas vorzuwerfen habe.“ 91
„Nur zum Kaffeetrinken herzukommen wäre zu aufwendig“, erwiderte Fox. „Also gut. Was erzählen sich Eheleute am Abend? Ärger, Freuden, Neuigkeiten von der Arbeit. Ich habe meiner Frau erzählt, daß mir der Schlüssel zum vergitterten Hoffenster anvertraut wurde, für den Raum, in dem wir die Tageseinnahmen zählen und bündeln für die Leute vom Geldtransport.“ „Und was ist daran schlimm?“ fragte Fox. „Ich fürchte, es ist nicht in der Familie geblieben.“ Der Kommissar warf einen Blick auf die Frau in der Couchecke. Sie sah immer noch schuldbewußt aus. Sie hielt die Lider gesenkt. „Wer hat es erfahren?“ „Sie müssen wissen, meine Frau arbeitet nicht. Aus gesundheitlichen Gründen. Wir haben auch keine Kinder. Ich versteh’s ja, daß ihr manchmal die Decke auf den Kopf fällt, und was sollte ich dagegen haben, daß sie einen Schneiderkurs besucht? Aber sie hat sich da nicht so recht wohl gefühlt. Sie konnte nicht mitreden. Die einen erzählten von ihren Kindern, die anderen von ihrer Arbeit, und sie saß zwischen ihnen …“ Als könne sie nicht bis drei zählen, ergänzte Fox in Gedanken. So wie jetzt. Sie hat sich minderwertig gefühlt und versucht es wettzumachen, indem sie mit ihrem Mann prahlte, mit seiner Verantwortung, seiner Vertrauensstellung bei Karstadt. „Es tut mir leid“, murmelte sie, ohne ihren Mann oder den Kommissar anzusehen. Sie wiederholte es mehrmals. „Nehmen Sie sich’s nicht gar so zu Herzen“, sagte Fox, „wer weiß, ob die Burschen auf diesem Weg dahintergekommen sind. Wir werden das nachprüfen. Jedenfalls ist’s in Ordnung, daß Sie es mir gesagt haben.“ Er ließ sich Namen und Adresse der Dame geben, die den Kursus leitete und fragte, ob sich jemand besonders 92
für ihre Geschichte interessiert habe. Sie schüttelte den Kopf, doch ihr Mann sagte ärgerlich: „Ich denke, diese Claudia hat dich eingeladen.“ „Das hat doch damit nichts zu tun“, sagte sie mit leisem Trotz. „Erzählen Sie es trotzdem“, forderte Fox freundlich. „Claudia, ich weiß ihren Nachnamen nicht, hat etwas Besonderes an sich. Sie ist sehr elegant, auch ein bißchen unnahbar. Wir verehren sie alle, aber sie scheint sich überhaupt nichts daraus zu machen. Damals, als ich mal etwas von mir, das heißt von meinem Mann, erzählt habe, hat sie mich nach dem Kursus gefragt, ob sie mich zu einer Tasse Kaffee einladen darf. Sie lebt allein, und ich glaube, wenn sie nicht so unnahbar tun würde, könnte sie sich vor Kerlen nicht retten.“ „Beschreiben Sie sie mal.“ „Sie ist sehr schlank. Aber nicht dünn, sondern so, wie Sportlerinnen schlank sind. Sie hat kastanienbraunes Haar und dunkelgraue Augen.“ „Wo arbeitet sie denn?“ fragte der Kommissar. „Oh, ich weiß nicht recht. Sie ist Dolmetscherin, sagte sie.“ „Worüber haben Sie gesprochen?“ „Sie hat von ihren Reisen erzählt …“ „Und Sie?“ „Ich – habe wohl gar nicht viel gesprochen. So genau kann ich mich da nicht erinnern.“ „Das macht nichts“, sagte Fox, „nur um eines bitte ich Sie: wenn Sie beim nächsten Kursus diese Claudia wiedersehen, verraten Sie mit keinem Wort unser Gespräch. Man wird Sie nach dem Überfall fragen, da man weiß, daß Ihr Mann bei Karstadt angestellt ist. Erzählen Sie, daß Ihr Mann es war, der als einziger geistesgegenwärtig die Pistole gezogen hat, aber gegen eine MPi nichts ausrichten konnte. Erzählen Sie es in allen Variationen, die Ihnen einfallen, aber nur das!“ 93
Sie versprach es und blieb in ihrer. Ecke sitzen, als der Mann den Kommissar zur Tür geleitete. Noch eine Frau, dachte Fox. Die Große Drei, umgeben von einem Frauenbataillon. Unwahrscheinlich. Ich muß herausfinden, wer wer ist in dieser vertrackten Geschichte, wer von Anfang an hineingehört und wer durch Zufall darin herumgeistert – oder mehrere Rollen spielt. Vor der Tür wandte er sich noch einmal nach Herrn Resch um. „Sie zählen die Tageseinnahmen immer in demselben Raum?“ Tilo Resch bestätigte es. Im selben Raum, zur gleichen Stunde. „Falls der Transporter später kommt, werden wir angerufen. Erfahren wir’s rechtzeitig, schieben wir das Sortieren entsprechend hinaus. Kommt die Meldung, wenn wir mit dem Geld schon im Raum sind, bleiben wir dort, bis der Panzerwagen vorfährt und alles verladen ist.“ „Während Sie mit dem Geld beschäftigt sind, steht ein Wachmann vor der Tür?“ „Ja. Bis der Transporter das Gelände verlassen hat. Also bis wir herauskommen.“ „Zu jeder anderen Stunde des Tages ist das Zimmer unbewacht?“ „Weshalb sollte sich einer vor einem leeren und verschlossenen Zimmer postieren?“ fragte Herr Resch zurück. „Ganz recht. Übrigens, kennen Sie die Männer, die im Karstadt-Gebäude die Fenster putzen?“ „Nicht persönlich. Manchmal sieht man einen auf der Leiter oder am Seil.“ „Die reinigen auch das vergitterte Fenster des Raumes, in dem Sie die Tageseinnahmen zählen?“ „Natürlich. Aber nur von außen.“ „Hat mal einer die Scheiben gesäubert, während sie drinnen mit dem Geld beschäftigt waren?“ „Auf keinen Fall. Das wäre eine grobe Vernachlässi94
gung der Sicherheitsbestimmungen. Der Mann wüßte genau, wie viele Angestellte im Raum sind und wer das ist. Er könnte die Geldsumme schätzen und unsere Gepflogenheiten beobachten.“ „Zum Beispiel, wer den Schlüssel zum Gitterfenster besitzt.“ „Zum Beispiel. Aber das ist niemals geschehen. Dafür kann ich mich verbürgen.“ Kommissar Fox verabschiedete sich mit einem freundlichen Lächeln. – Er setzte sich in das nächstbeste Café, um seine Gedanken zu ordnen. Die Frau, die er suchte, hatte einen roten Audi ausgeliehen und ihn am Winterfeldplatz für die Geldräuber bereitgestellt. Sie war – hübsch auffällig – ganz in Weiß gekleidet, zu Karstadt nach Steglitz gefahren und hatte sich auf der Kundentoilette verwandelt. Möglicherweise in die unscheinbare Betschwester Franziska Heusler. Von den Verkaufsräumen war sie hinüber zum Verwaltungstrakt gewechselt. Irgendeinen offenen Durchgang gab es wohl immer. Sie hatte beobachtet, wann der Wachmann seinen Posten bezog. Dann war sie nach draußen gegangen, um ihrer kurzsichtigen Kollegin beim Traktätchenverteilen zu helfen. Dabei konnte sie den Räubern unauffällig den verabredeten Wink geben, daß das Geld im Raum und der Wachmann vor der Tür war. Falls Sie Harry Bellmann kannte, war es möglich, daß sie auch ihm bedeutet hatte, in der Nähe zu bleiben, da die Aktion laufe. Doch ebensogut konnte sich die Dame in Weiß in Karina Ott verwandelt haben, überlegte der Kommissar. Deren Haar war so kurz geschnitten, daß es vollständig unter einer rötlichblonden Perücke verschwunden wäre. Warum sollte die Dame in Weiß keine Perücke getragen haben? Sie konnte als harmlose Passantin mit einer eben gekauften Schallplatte ebensogut den Geldräubern und Harry Bellmann die nötigen Tips gegeben haben 95
wie die Betschwester. Dann war sie in der Nebenstraße umhergestrichen und hatte Bellmann aus der Patsche geholfen, als er den Polizeiwagen rammte. Da paßte eins zum anderen. Doch woher wußte sie, vor welcher der vielen Türen im Verwaltungstrakt sie nach dem Wachmann suchen mußte. Das hätte ihr nicht einmal Frau Resch erklären können. Hatte das Harry Bellmann für sie ausbaldowert? Und wer war nun dieses Mädchen? Karina Ott oder Franziska Heusler?
5 Die Frau, die Kommissar Fox die Tür öffnete, war ein wenig größer als er, hatte tiefschwarzes, im Nacken lose verknotetes Haar, schwarze Augen und einen kirschrot geschminkten Mund. Ihr Lächeln konnte alles mögliche bedeuten. Es verschwand auch nicht, als Fox sich vorgestellt hatte. Sie bat ihn ins Zimmer. Der Weg dahin führte durch einen Korridor. Aus einem der Zimmer drang das Gekicher junger Mädchen. Im Vorübergehen drückte die Frau die Tür in die Angel. Schließlich betraten sie einen Büroraum, in dem zwei gutgehende Agenturen untergekommen wären, ohne sich gegenseitig zu belästigen. An einer der drei fensterlosen Wände hing eine Tafel. Die Frau nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz, Fox wies sie einen Sessel zu, der in einiger Entfernung stand. Fox überlegte, ob er nicht besser gleich an der Tür mit ihr gesprochen hätte. „Mein Name ist Hübner“, sagte die Frau. „Ich leite das Unternehmen. Die Schneidermeisterei und die Schule. Bitte, weshalb sind Sie gekommen?“ Wegen eines Mädchens, erklärte Fox, von dem er leider nur den Vornamen wisse, Claudia. 96
„Anfängerkursus oder Kursus für Fortgeschrittene eins oder zwei?“ Der Kommissar fühlte sich wie ein schlecht aufs Examen vorbereiteter Schüler. „Ich weiß nicht. Aber, sie besucht denselben Kursus wie Frau Resch.“ Kaum ausgesprochen, bereute er seine Worte. Gewiß würde sie einen Zusammenhang sehen zwischen seinem Auftauchen und dem Karstadt-Überfall, bei dem Resch eines der Opfer war. Lieber hätte er alle Claudias überprüfen sollen. „Frau Resch ist mir ein Begriff“, sagte die Dame mit dem undeutbaren Lächeln. Dann schwieg sie. „Ich brauche ihren vollständigen Namen, ihre Adresse, Beruf, Personenbeschreibung und alles, was sie über das Mädchen wissen.“ Die Frau sagte noch immer nichts, lächelte auch nicht mehr. Sie dachte nach. Ihr schien eine Menge durch den Kopf zu gehen. „Na, was ist!“ drängte der Kommissar. „Sie ist sehr talentiert“, sagte Frau Hübner, „und hat eine tadellose Figur. Ich verliere wegen Schwangerschaft eine Vorführdame und trage mich mit dem Gedanken, Claudia diese Stelle anzubieten. Sie hat das gewisse Etwas, das auf Kunden ausstrahlt, falls Sie wissen, was ich meine.“ „Vor allem meinen Sie, ich könnte Ihnen eine künftige Vorführdame entziehen.“ „Das ist das eine. Das andere – was Sie alles wissen wollen, gibt mir zu denken. Falls diese Claudia eine ist, auf die ich hereingefallen bin, wäre das für unser Unternehmen nicht gut. Sie wissen, wie schnell sich etwas herumspricht, besonders wenn’s nichts Angenehmes ist.“ „Das alles bewahrt Sie nicht davor, meine Fragen zu beantworten.“ „So? Vielleicht haben Sie recht, vielleicht sollte ich un97
seren Rechtsanwalt zu Rate ziehen. Jedenfalls finde ich mich übervorteilt, wenn ich die einzige bin, die hier Informationen preisgibt. Was ist los mit dieser Claudia?“ Der Kommissar stand auf, ging zu ihrem Schreibtisch, den er leider zu hoch fand, um die Hände darauf zu stützen. „Ich halte Ihnen zugute“, sagte er und wies auf den Platz, den er eben verlassen hatte, „daß sonst in diesem Sessel Geschäftspartner sitzen, mit denen Sie aus Existenzgründen feilschen müssen. Ich habe mich Ihnen doch wohl deutlich genug vorgestellt!“ Er schickte einen seiner zornigen blauen Blicke über den Schreibtisch. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung. „Ich überlasse es Ihnen, ob Sie mir hier antworten oder in meinem Büro. Falls Sie letzteres vorziehen, bleibt eine polizeiliche Ladung auf Ihrem Schreibtisch zurück. Es ist mir auch gleichgültig, ob Sie mir unter vier Augen, im Beisein Ihres Anwaltes oder Ihres gesamten Personals antworten wollen, aber antworten werden Sie mir. Bald und wahrheitsgemäß.“ Ohne ihn anzusehen, kam Frau Hübner hinter ihrem Schreibtisch hervor, trat an einen der Rollschränke, holte einen Hefter heraus und las laut vor. Das Mädchen hieß Claudia Kühne, war 27 Jahre alt, hatte als Beruf Dolmetscherin angegeben und wohnte draußen in Zehlendorf, Nähe Krumme Lanke. Fox verabschiedete sich von Frau Hübner nur mit einem Kopfnicken. Das Lächeln, das alles und nichts bedeuten konnte, stand wieder in ihrem Gesicht. Fräulein Claudia Kühne wohnte in einem kleinen, frisch verputzten Häuschen inmitten eines gepflegten Gartens. Ein Mann, Mitte Dreißig, stellte den Rasenmäher ab, als der Kommissar an den Zaun trat und nach Fräulein Kühne fragte. Sekundenlang blickte er neugierig, verlor aber sofort wieder das Interesse an dem Besucher und öffnete ihm die Gartentür. 98
„Meine Schwester ist in der Küche. Wenn Sie reinkommen gleich links. Sie riechen’s schon.“ Fox betrat einen kleinen Hausflur. Linker Hand war spaltbreit die Tür geöffnet, es roch nach frischgebackenem Apfelkuchen. Fräulein Kühne schien wahrhaftig vielseitig begabt zu sein. Fox klopfte kurz und trat ein. Kühnes Schwester schob eben den Kuchen vom Blech. Das Alter konnte stimmen, obwohl Fox sie nicht älter als 25 geschätzt hätte. Ihr Haar war rötlichbraun, auch das war in Ordnung. Doch sie war klein, rundlich, gut proportioniert und hübsch auf eine brave, hausbackene Art. Was sie ausstrahlte, war lediglich Freude über den gelungenen Kuchen. „Nehmen Sie doch Platz“, sagte sie. Wer er war, schien ihr ebenso gleichgültig zu sein wie ihrem Bruder. „Herbert hat’s mit dem Rasen gleich geschafft, und das Kaffeewasser kocht auch schon.“ „Ich möchte mit Ihnen sprechen“, sagte Kommissar Fox, „Sie sind doch Fräulein Kühne?“ Er erntete einen kurzen, verwunderten Blick, doch im nächsten Moment interessierte sie nur noch der Kuchen, den sie in Stücke zu schneiden begann. „Natürlich bin ich das. Um was geht’s denn?“ „Sie besuchen in der Stadt einen Schneiderkursus bei Frau Hübner?“ „Soll das ein Witz sein?“ fragte sie zurück, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. „Ich bin in einer Gärtnerei beschäftigt, fünf Minuten von hier entfernt. Einmal habe ich versucht, mir eine Bluse zu nähen, stand aber vor dem Schnittbogen wie Schweinchen vorm Uhrwerk. – Habe ich Sie jetzt enttäuscht? Na, wenigstens ein Stück Kuchen sollten Sie mit uns essen.“ „Und Sie sind Fräulein Claudia Kühne?“ Die Heiterkeit erstarb auf ihrem Gesicht. Das Messer glitt ihr aus der Hand und fiel zu Boden. Sie starrte Fox an. 99
„Was haben Sie gesagt? – Wer sind Sie eigentlich?“ „Kommissar Fox. Kriminalpolizei. Ich muß Fräulein Claudia Kühne sprechen.“ Sie hob das Messer auf, wischte es am Schürzenzipfel ab. „Da kommen Sie zwei Jahre zu spät“, sagte sie, „Claudia war Herberts Frau. Sie ist mit fünfundzwanzig Jahren an Krebs gestorben.“
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V
1 Ramsun betrat die Kirche, war umgeben von Blau. So hatte er sich als Kind den Himmel vorgestellt. Blau. Er liebte blau, die Farbe, die ihm das Gefühl von Weite gab und von Größe. Könige kleideten sich in Gold und Blau. Der wolkenlose Himmel war blau. Das Meer. Vor dem Altarkreuz brannten zwölf Kerzen. Das Blau über ihnen war einen Schein heller, weniger streng. Mit ausgebreiteten, segnenden Armen und Wehmut schaute die Christus-Statue herab. Bernhard Ramsun blieb neben dem Eingang stehen. In der Kirche waren nur wenige Besucher. Er wandte sich nach einem Platz in den hinteren Reihen um, und da sah er ihn, den Einzelgänger. Er trug seine Flickenhose. Ramsun lächelte ihm zu und erntete einen abweisenden Blick. Nein, dachte er, ich gehöre nicht in deine Welt, aber ich bin froh, daß du es geschafft hast, bevor die Kälte kommt. Wir haben alle unsere Ziele, unsere kleinen und großen. Wohl dem, der eines hat, und wohl dem, der es erreicht. Ein Pfarrer trat ans Mikrofon und hielt einen zehnminütigen Gottesdienst. Ramsun achtete nicht auf seine Worte. Er war nicht aus Gründen der Erbauung hier, sondern um in Ruhe seinen Gedanken nachzuhängen. Tagsüber saß er hinter dem Lenkrad, abends versetzte 101
ihn die leere Wohnung in einen apathischen Zustand. Stätten, an denen er etwas bedenken konnte, waren das Kino, das Café, die Kirche; ein Raum mit Menschen. Menschen, denen er nicht verpflichtet war, Lebewesen seiner Gattung, die ihm das Gefühl gaben, dieser Stern ist noch nicht ausgestorben. Mehr brauchte er nicht. Mehr würde stören. Weniger auch. Wann ihm diese Idee, über die er grübelte, in den Kopf gekommen war, wußte er nicht mehr, doch sie forderte, durchdacht, geprüft, ausgebaut zu werden. Er spielte mit ihr, jonglierte, variierte, und es wurde Zeit, Harry Bellmann zu Rate zu ziehen. Hatte er sich getäuscht in ihm, würde er die Idee fallenlassen. Er konnte sie nur mit einem Freund wie Harry Bellmann verwirklichen. Den wurmte etwas. Den hatte jemand hintergangen. Der war enttäuscht, wütend und bereit, etwas Ungewöhnliches zu unternehmen. Am Abend waren sie bei Nolle verabredet, im Flohmarktrestaurant, und an diesem Abend mußte zwischen ihnen etwas Verbindliches geschehen. Ramsun blickte auf die Armbanduhr. Noch war Zeit. Er konnte in Ruhe zur U-Bahn-Station bummeln und zum Nollendorfplatz fahren. Er konnte sogar noch zehn Minuten sitzen bleiben und nachdenken. Es war eine ungeheuerliche Sache, auf die er da gekommen war. Für wen ungeheuerlich? Doch nur für ihn selbst, für sein eigenes privates, bisher unbescholtenes Leben. Um ihn herum geschahen derartige hanebüchene Dinge täglich. Der Ladendieb praktizierte sie ebenso wie dieser Habisch, dessen gegenwärtiger Skandal die Zeitungen füllte. Als Leiter der Bauverein KG hatte er dem Senat und den Banken insgesamt an die 120 Millionen DM Kredit abgeluchst, den größten Betrag zu einer Zeit, als er kurz vor dem Konkurs stand. Je mehr ein Gaunerstück alles Dagewesene an Niedertracht und Frechheit überstieg, um so größer waren die Erfolgschancen. Senat und 102
Banken hatten darauf verzichten können. Er, Ramsun, würde nur den, an dieser Summe gemessenen, kleinen Betrag von rund zweieinhalb Millionen entführen. Dieser Habisch hatte sicherlich auch keine Chance gehabt – und etwas daraus gemacht. In seiner Größenordnung schrieben die Zeitungen von Subventionsbetrug. Was würden sie über ihn schreiben? Daß es Edmund hätte voraussehen müssen. Einem unzuverlässigen, verantwortungslosen Angestellten hatten sie noch drei Wochen lang Geld anvertraut! Vertrauen zahlt sich nicht aus, Herrschaften. Er hatte Elke vertraut. Und Direktor Kruse. Auch dem jungen Allerweltsgesicht, das ihn an Bahls Stelle begleitet hatte. Nichts als Enttäuschungen. Er zahlte sie ihnen heim. Elke hatte recht, man durfte nicht zu denjenigen gehören, die unter den Brücken wohnten. Man mußte sich etwas einfallen lassen, wollte man kein Versager sein. Daß die Edmund-Gesellschaft draufzahlte, empfand er nach allem, was man ihm angetan hatte, als gerecht. Auch Kruse hatte einen Schlag verdient. Werner Bahl! Sein Kollege, sein Freund. Daß er ausgerechnet ihm den Schwarzen Peter zuschieben mußte! Für Werner Bahl wird die Welt ebenso zusammenbrechen, wie sie für ihn zusammengebrochen war. Er wird es verkraften, dachte Ramsun, ich hab’s doch auch verkraftet. Werner wird genau wie ich den Schwarzen Peter weiterreichen müssen. Wann mochte das begonnen haben, dieses Spiel? Wer mischte die Karten? Würde es jemals zu Ende sein? Ramsun erhob sich und verließ die Kirche. Ab jetzt sollte es kein Grübeln mehr geben über das, was ihm geschehen war und über Dinge, die er nicht beeinflussen konnte. Er würde sich nur noch auf seinen Plan konzentrieren. Der erste Teil sah vor, Harry Bellmann zu gewinnen. Flohmarkt in ausrangierten U-Bahn-Wagen. Nostalgie im Angebot. Alte Gläser, alte Ansichtskarten, altes Silber. Weiße gestärkte Küchenschürzen der Mamsell, 103
Kinderwagen, kupfernes Kochgeschirr. Wer auf diesem Markt kaufte, mußte wahrhaftig Flöhe springen lassen. Die Vergangenheit stand hoch im Kurs. Ramsun lief bis zum Ende der U-Bahn. Hinter dem Schild Antiquitäten und Trödel – sofort Bargeld für alles Alte und Schöne aus Omas Zeiten, befand sich der erste, als Restaurant eingerichtete Wagen. Harry Bellmann saß nicht darin. Ramsun entdeckte ihn in der großen Gaststätte am hintersten Tisch. Er saß mit dem Rücken zum Eingang und zu dem runden Tresen, der sich um einen Aufbau aus Brötchen, Würsten und Salaten wand. Bellmann blickte durch die Glaswände des Wintergartens, in dem die Stühle hochgestellt waren, hinüber zum Rockpalast. Es schien nicht, als interessiere ihn, was er sah. Sein Bierglas war fast leer. „Hallo!“ sagte Ramsun und nahm Platz. Der Kellner kam, Ramsun bestellte Weiße mit Sekt und „Nolle“-Spezialteller für zwei Personen. „Hast wohl ’n Job gefunden“, sagte Bellmann, „oder geht die Welt vornehm zugrunde?“ Ramsun verzog die Mundwinkel ein wenig. „Mit dem Zugrundegehen wollen wir mal nicht voreilig sein. – Und für jeden Dreck von Arbeit bin ich auch nicht geschaffen.“ „Nanu“, sagte Bellmann. Er blickte hoch, und Ramsun bemerkte eine Bitternis in seinen Augen, die ihm bislang nicht aufgefallen war. „Wie auf ’ner Wippe“, sagte Bellmann, „mal ist der eine oben, mal der andere. Damals im Bierpinsel hat’s um dich nicht gut gestanden.“ „Ich bin auch jetzt noch nicht oben“, erwiderte Ramsun. „Mir ist jetzt zumute wie dir nach der verlorenen Geldbeutel-Story. Ich kapier überhaupt nichts mehr.“ „Was gibt’s denn?“ fragte Ramsun. Wenn Bellmann in irgendeiner Sache steckte, für die sich die Polizei interessierte, war er wertlos für ihn. Dann taugte der ganze Plan nichts mehr. Und vielleicht 104
war es das beste so. Dieser ahnungslose Bahl! Wieviel Jahre hatten sie die Geldtransporter gemeinsam gefahren, bewacht und verteidigt? Und sie hatten sich immer aufeinander verlassen können. „Dich hat man angeschmiert, und nun hat man mich auch angeschmiert“, sagte Bellmann. „Auf ’ner anderen Strecke, aber immerhin.“ Er nahm einen kräftigen Schluck von der Weißen mit Sekt. „Ich hatte einem guten Freund Geld geborgt. So an die zehntausend, ohne Sicherungen, eben weil er ein Freund war, wie ich dachte. Jetzt erinnert er sich nicht mehr daran.“ Ramsun atmete auf. „Borge einem Freund Geld, und du bist das Geld los und den Freund dazu. Ich dachte, von solchen Lebensweisheiten würdest du triefen.“ „Ich triefe wie ’ne lecke Dachrinne.“ „Laß dich nicht hängen, Menschenskind. Du hast deine Arbeit, dein Monatseinkommen.“ „Das reicht bei mir von der Hand zum Mund. Ich dachte, dieser Freund wäre ’ne Art Sparkasse, und ich krieg den ganzen Zaster mit einem Schlag zurück. Ich hätte nämlich nichts dagegen, mir von ’ner besseren Hand feinere Sachen ins Maul zu stopfen. Jetzt seh ich so alt aus, wie ich gar nicht werden kann.“ „Angenommen, du kämst plötzlich zu einer Menge Geld, was würdest du anfangen damit?“ „’ne Menge – wieviel ist bei dir ’ne Menge?“ „Sagen wir eine Million. Etwa.“ Bellmann sah auf, begegnete dem gespannten, konzentrierten Blick eines Karatekämpfers, der seinen Gegner abschätzt. Um Ramsuns Mund lag ein strenger Zug. Ob das nur eine rhetorische Frage ist, dachte Bellmann, oder hat er seit unserem Gespräch im Bierpinsel gegrübelt und ist auf eine Idee gekommen? Eine Million! Er sagte: „Eine Million, ich glaube, ich würde ausrasten.“ Ramsun verzog den Mundwinkel, Spott und Enttäuschung ausdrückend. 105
„Ja, ich fürchte auch, das würde passieren. Bei zehntausend Minus rastest du nach der einen Seite hin aus und bei einer Million Plus nach der anderen. Und schwupp, wärest du den Segen wieder los.“ „Nein, mein Alter, so nicht. Das mit den zehntausend Verlust kam zu überraschend. ’ne Million legt mir bestimmt keiner neben die Frühstücksbrötchen. Da hätte ich wohl genug Zeit, mich mit dem Gedanken anzufreunden, wie ich sie erstens verdienen und zweitens anlegen könnte.“ Da der Kellner ihre Spezialplatte brachte, sagte Ramsun nur schulterzuckend: „Na ja“, dann aßen sie schweigend. Harry Bellmann dachte nach, wie lange und wie gut er Ramsun eigentlich kannte. Gut genug, meinte er, um zu wissen, daß Hand und Fuß hatte, was der anpackte. Nur war er nicht sicher, ob Ramsun wirklich auf etwas Konkretes hinauswollte. „Ich würde reisen“, sagte er schließlich. „Ich liebe große Städte. Von einer Hauptstadt in die andere würde ich fahren und sie genießen, wie andere eine Frau genießen. Na und die natürlich noch obendrein. Bernhard, so was wie eben solltest du mich nicht fragen. Wenigstens heute nicht.“ „’tschuldige“, murmelte Ramsun und aß weiter, offensichtlich mit gutem Appetit. Bellmann schob seinen Teller schon bald beiseite. „Hast du die Sache über Habisch gelesen?“ fragte er. „Hundertzwanzig Millionen Kredit. Letzten Endes müssen wir Steuerzahler dran glauben. Jeden Tag stehen solche Schurkereien in den Zeitungen. Von Gaunern in Jeans bis zu Gaunern im Frack. Man möchte sich reineweg schämen, daß man ehrlich ist.“ „Laß ruhig Dampf ab, Junge“, sagte Ramsun. „Besser hier als sonstwo.“ „Ich bin aber auch in einer Laune. Ich könnte was anstellen – das gibt’s noch gar nicht.“ 106
Ramsun legte das Besteck aus der Hand und sah Bellmann in die Augen. „Im Bierpinsel hast du gesagt, der Mensch soll eigene Ideen haben.“ „So. Hab ich noch was gesagt?“ Ramsun vermochte nicht gleich zu antworten, da der Kellner das Geschirr abräumte. Ramsun bestellte noch zwei Pils. „Bißchen aufgeplustert hast du dich. Von wegen wenn einer in meiner Branche arbeitet, braucht er keine Geldsorgen zu haben.“ „Das war nur so ein Einfall. Du weißt, ich sammele Berichte über Bankräuber, Transportüberfälle und so ’n Kram. Liest sich für mich wie ’n Krimi in Fortsetzungen, mit Tätern, so intelligent wie ’ne Plastikente oder arglistig im Zickzack, so daß sie am Ende nicht mehr wissen, wie sie ein Ding am Anfang eingefädelt haben, oder solchen, die ’s mit einem Ruck bewältigen.“ „Meines Erachtens haben die letzteren gewisse Aussichten“, sagte Ramsun. „Könnte sein. Unter anderem stand mal folgende Geschichte in der Zeitung: Vor Jahren hat ein Fahrer von der Geldtransportfirma Securios seinem Beifahrer freigegeben, als der kurzfristig was vorhatte und keine Zeit blieb, den offiziellen, langen Instanzenweg zu marschieren. Er hat ihn damit beruhigt, daß er Beziehungen zur Zentrale habe und ausnahmsweise sofort Ersatz bekomme. Der Mann macht also blau, aber der Fahrer gibt bei der Kontrollmeldung dessen Namen an und kriegt die Freigabe für einen Geldtransporter vom Hof, rafft das Geld und verschwindet.“ „Ist er später geschnappt worden?“ „In der Zeitung stand nichts darüber. Mit knapp zwei Millionen konnte der sich Pässe beschaffen, soviel er brauchte, und überall schmieren, wo’s quietscht.“ „Dafür muß er entsprechende Verbindungen gehabt haben.“ 107
Harry Bellmann zuckte die Schultern. „Für mich war das der perfekteste Coup auf diesem Gebiet.“ „In solchen Berichten steht nie was von Skrupeln, die einer gehabt hat“, erwiderte Ramsun nachdenklich. Überrascht blickte Bellmann auf. „Zwei Millionen! Beschafft, ohne daß jemand einen blauen Fleck abbekommen hat. Wo soll da einer Skrupel hernehmen?“ „Der Beifahrer“, sagte Ramsun, „der sich so kurzfristig freigenommen hat, wird die Sache ausbaden müssen.“ „Vielleicht hast du recht. Aber das ist kein Grund zum Resignieren, ’s trifft halt jeden mal. Dich hat auch keiner gefragt, ob dir das paßt, für Edmund den Sündenbock zu spielen.“ Ramsun wandte sich um. Außer ihm und Harry Bellmann saßen nur noch vier junge Leute in der Gaststube nahe dem Tresen. Einer las Zeitung, drei diskutierten ziemlich erregt. Jeder wußte das Wichtigste. Vielleicht hörte nur der zu, der Zeitung las. Einer der Kellner spülte Gläser, der andere zählte Geld. „Also, ich geb auch mal eine Geschichte zum besten“, sagte Ramsun schließlich. „Die Hauptperson ist der Fahrer eines Geldtransporters. Gegen Ende dieses Monats holt er von der Berliner Commerzbank in Schöneberg Geld ab. Nicht unter zwei bis drei Millionen. Zusammen mit seinem Beifahrer, der als Sicherheitsinspektor fungiert, löst er die Schecks ein, transportiert das Geld unter Bewachung zum Panzerwagen. Dann sagt er: Laß uns einen Kaffee trinken, ehe wir losfahren. Es ist nicht das erste Mal, daß sie das tun. Das hat sich eingespielt, ist seit Wochen zum Ritual geworden. Manchmal fährt der Sicherheitsinspektor allein hoch zur Kantine, weil der Fahrer erst mal verschwinden muß. So passiert’s auch an jenem Tag. Nur – daß er für immer verschwindet.“ „So einfach …?“ Ramsun schüttelte den Kopf. „Keiner würde ihm die Hofeinfahrt öffnen, wenn er allein im Transporter sitzt. 108
Er hat einen Sicherheitsinspektor zur Seite. Einen geborgten. Der betritt die Bank kurz vorher durch den Haupteingang und ruft am Video-Gerät irgendeine Information ab. Katalog liegt aus. Neben dem Gerät ist eine Tür. In jenen Minuten ist sie nicht verschlossen, und der Ersatzmann geht in einem günstigen Augenblick durch. Er wird erwartet. Er wird zur Personaltoilette geführt. Dort zaubert er sich Ähnlichkeit mit dem Inspektor an, der in die Kantine hochfährt zum Kaffeetrinken. Der Ersatz-Wachmann wird vom Fahrer abgeholt. Zusammen besteigen sie den Panzerwagen. Am Tor gibt der Fahrer den Berechtigungsschein zur Ausfahrt ab und zeigt beide Ausweise. Der Wächter wirft kaum einen Blick darauf. Alles Routine für ihn. Routine ist der Tod der Vorsicht. Außerdem kennt er den Fahrer. Die beiden sind draußen.“ Das ist seine Geschichte, dachte Bellmann, und sie ist gut. Dabei kommt keiner zu Schaden, das muß er doch einsehen. Er sagte: „Bei Edgar Wallace bliebe der echte Wachmann geknebelt im Kellerverlies zurück, und bei den Gangstern, die man so aus der Presse kennt, wäre er von ’ner MPi durchlöchert worden. In deiner Story trinkt er Kaffee. Das gefällt mir.“ „Man wird ihn fertigmachen“, erwiderte Ramsun leise, „und das gefällt mir nicht, denn sein Kollege, der auch sein Freund für ihn war, hat ihn ans Messer geliefert.“ „Mach die Geschichte nicht sentimentaler, als sie ist. Denke dran, wie man dir mitgespielt hat und wieviel Zufall dabei im Spiel gewesen ist. Wärst du krank gewesen und dein Kollege hätte den Wagen gefahren, würde er jetzt den Schwarzen Peter in der Hand halten. Du hättest deinen Job und sicherlich auch deine Frau noch.“ Ja, dachte Ramsun. Es kann jeden treffen. Werner Bahl kann eines Tages auch ohne mein Zutun über die Klinge springen müssen. Außerdem, wenn ich’s schaffe, könnte ich ihm Geld überweisen … 109
„Deine Geschichte“, sagte Harry Bellmann, „hat noch keinen Schluß. Der Wagen fährt und fährt, aber irgendwann hat der Inspektor seinen Kaffee ausgetrunken, und der Wagen fährt in sein Unglück.“ Sie saßen einander zugewandt, hielten sich fest mit Blicken und wußten, daß sie sich mit jedem weiteren Wort einander auslieferten. Noch konnte Ramsun sagen: Laß den Karren fahren, was geht es uns an. Es ist nur eine Geschichte. Doch Ramsun war sicher, daß Harry Bellmann seine Rolle in diesem Stück erkannt hatte und bereit war, sie anzunehmen. Er sagte: „Es muß einen dritten Mann geben, der mit einem Personenwagen startbereit steht.“ „Wohin geht die Fahrt?“ „Flughafen Tegel. Für den Fahrer. Nur für ihn.“ „Nanu?“ „Für jeden kommt die Zeit, wo er auf sich selbst gestellt ist. Die suchen zwei. Einen von ihnen kennen sie. Der muß sofort raus aus Berlin. Sofort. Noch ehe dem Wachmann der Kaffee hochkommt. Von dem zweiten Mann haben sie keine Ahnung.“ „Stimmt, der ist wohl am sichersten, wenn er an seine Kindheit denkt. Ans Versteckspielen. Bleib, wo du bist, und rühr dich nicht.“ „Wenigstens für ein Weilchen.“ „Da sind noch immer ’ne Menge Fragezeichen im zweiten Teil der Geschichte. Und Fragezeichen sind leider Dinge mit ’nem Haken.“ „Ich weiß“, erwiderte Ramsun. „Der dritte Mann.“ „Das Auto.“ „Gefälschte Papiere.“ „Ein Sicherheitsinspektor trägt auch eine Waffe.“ „Von den Fragezeichen müssen die Haken verschwinden“, sagte Ramsun. „Nur die Punkte dürfen bleiben. Solide Punkte hinter soliden Tatsachen. – Oder die Story war nur eine Beigabe zu Nolles Spezialteller.“ 110
„Als Fensterputzer steigt man rauf und steigt man runter. Ich war mal ziemlich unten.“ „Man muß wissen, wo man steht, und seine Rolle kennen“, entgegnete Ramsun. „Entweder Hase oder Jäger. Zum Beispiel sollte sich jemand, den die Polizei sucht, aus einer solchen Geschichte heraushalten.“ „Das ist auch meine Meinung. Damit deine Geschichte schön rund wird, könnte ich ein Kapitel dazuschreiben: Verbindungen, wie man an die gewünschten soliden Tatsachen rankommt.“ „Dann schreibe“, sagte Ramsun, „und bedenke, nichts darf dem Zufall überlassen bleiben.“
2 Den Eingang des Mehringplatzes überspannte ein Transparent. Herz für Berliner – Arbeiterwohlfahrtsfest. Eine Dreimannkapelle schmetterte Berliner Weisen. Harry Bellmann hörte sie schon, als er am Halleschen Tor aus der U-Bahn stieg. Er trug einen schwarzen Pullover zu seinen Glimmerhosen, eine Lederjacke darüber, um den Hals ein buntes Tuch und seinen Cowboy-Hut. In den schwarzen Spinatstecher-Schuhen konnte er sich notfalls spiegeln, wenn er an sich herabblickte. Noch waren mehr Veranstalter als Gäste auf dem Fest, doch jede U-Bahn, die am Halleschen Tor einlief, schwemmte auch Besucher heran. Aus dem Rohr der Gulaschkanone kräuselten graue Schwaden. Es roch nach Erbsensuppe, Speck und Wurst. Bellmann schlenderte die Reihe der Verkaufsstände entlang. Bücher, im Kilo billiger, trotzdem wurde gefeilscht. Frauen in einfacher Kleidung wühlten in Wäschekörben, liebäugelten mit ausgestellten Pullovern, Blusen, Röcken. Ein junger Mann hatte ein solides Möbellager um sich errichtet, gebrauchte Tische, Stühle, Schränkchen, Radioapparate, Musikanla111
gen, Fernseher. Auf der gegenüberliegenden Seite ein Informationsstand. Jemand verteilte Heftchen, Blätter und Broschüren, winkte Harry Bellmann heran, riet ihm, sich zu informieren durch die Broschürenreihe BürgerService und hielt ihm die Tips für Arbeitnehmer hin. Harry Bellmann dachte nur: Nie war es so wertlos wie heute. Den Tip, den er brauchte, hatte er von Ramsun erhalten. Einen Millionentip. Und an jenem Samstag war er unterwegs, um den Teil der Arbeit zu verrichten, der ihm zugefallen war. Hinter den Verkaufsständen für gebrauchtes Spielzeug und Geschirr entdeckte er einen langen, hageren Burschen im Jeansanzug. „Hallo, Jackie.“ Der andere wandte ihm sein Gesicht zu. Ein interessantes Gesicht, blaß, glatt, helle, wäßrige Augen und einen Mund, an dem eine Kleinigkeit nicht stimmte. Er war schmallippig und ein wenig zu groß. Nicht übermäßig, nicht störend, nur so viel, daß er einem im Gedächtnis blieb. „He, Otto Travolti“, sagte Jackie beiläufig und stellte sich eine Kollektion hübscher farbiger Weingläser zusammen. „Wieviel?“, fragte er die Verkäuferin von der Arbeiterwohlfahrt. „Eine Mark pro Stück.“ „Schleim“, sagte Jackie. „Wer was auf sich hält, kauft zwölfe, aber in Ihrem Angebot der Woche stehen ganze elf Stück rum. Und so ’ne Unglückszahl is nich mehr wert als ’n Zehner.“ „Na gut, weil Sie gleich alle kaufen.“ Sie wickelte die Gläser sorgfältig in Papier, legte sie in einen Karton und verschnürte ihn. Jackie schob zehn Mark über den Tisch. „Kommste mit rüber zu den Heulen?“ Er lief auf den Mann zu, der inmitten von Möbeln, Tonträgern und Fernsehern stand. Bellmann blieb an seiner Seite. 112
„Richtest du dir einen Haushalt ein, Jackie?“ „Quatsch, ich hab freie Marktwirtschaft studiert. Und jetzt bin ich im Praktikum.“ „Läßt du dir einen Eintopf spendieren?“ Bellmann kaufte zwei Portionen. Sie setzten sich auf eine Kiste und löffelten. „Die Gläser sind Klasse“, sagte Bellmann. „Und das Stück für ’ne Mark ist geschenkt. Warum die nicht mehr nehmen?“ „Weil die Arbeiterwohlfahrt sind. Aber auf’n Flohmarkt, da krieg ich ’n Fünfer pro Stück dafür. Die verkaufen sie dann wieder für zehn Mark weiter, weil die ’ne Handelsklasse höher liegen. Siehste, das hab ich rausstudiert, und jetzt geh ich gucken, ob ’ne defekte Heule bei is. Die wird für ’n Dreck gekauft, repariert und mit Gewinn verscheuert.“ „Und davon lebst du.“ „Davon lebt ein großer Teil der Menschheit.“ „Aber doch nicht so kleinkariert, Jackie. Wenn man’s zu was bringen will, muß man was Großes aufziehen. Vielleicht schaffst du einen miesen, miefigen Laden mit der Aufschrift An- und Verkauf. Jackie Stöhr.“ „Halt’s Maul, Kaulquappe. Ich und ’n Laden! Ein Wolf, der Pfötchen gibt! Is nich drin. Ich etablier mich nich in diese Scheißgesellschaft. Ich studier ihr was ab und leb mein eigenes Leben.“ „Millionär wirst du bei deinem Kleinkram nicht werden. Und auch nicht nach Kanada kommen. Oder willst du nicht mehr nach Kanada?“ „Das is Gottes eigenes Land. Die kanadischen Wälder. Frei, unabhängig sein. Leben in der Natur. Irgendwann komm ich hin. Ich fühl’s. Ich will’s.“ Sein Blick wurde verzückt. „Komm zu dir, Jackie. Noch bist du in Berlin und kaufst defekte Heulen zum Reparieren. Was kannst du sonst noch?“ 113
„Alles. Ich kann einfach alles, Travolti. Wenn’s sein muß, kann ich mir sogar in der Nase bohren.“ „Ich dachte an ein Papier, so echt, daß die in Tegel vor Langeweile gähnen, wenn einer damit zum Flugzeug will. Das müßte schnell gehen.“ Jackie stand auf. „Komm, wir gucken uns die Heulen an.“ Er schlenderte los. „Ein zweites Papier hat ein bißchen länger Zeit.“ Der Lange im Jeansanzug hörte nicht mehr hin. Er verhandelte mit dem Verkäufer, nahm zuletzt einen defekten Recorder. „Bist du nicht interessiert?“ fragte Harry Bellmann. „Ich hätte noch mehr Bestellungen. Deine Kanadareise wäre dir sicher.“ „Trag die Gläser, Quasselstrippe.“ Jackie Stöhr, drückte ihm das Paket in die Hand und griff nach dem Recorder. „Ab zur U-Bahn, Richtung Zoo.“ „Ich versteh nicht, warum …“ „’n Moment mal Sendepause.“ Harry Bellmann schwieg. Als sie auf dem Bahnsteig standen, sagte Jackie: „Einer von uns beiden is nicht sauber. Der eben die Treppen raufkommt, is hinter einem von uns her.“ Bellmann zwang sich, nicht zur Treppe zu sehen. Er schwitzte plötzlich. „Trennen wir uns“, schlug er leise vor, „dann wissen wir’s.“ Jackie schüttelte den Kopf. „Am Mehringplatz hat er uns zusammen fotografiert. Wir brauchen den Film.“ Die Bahn fuhr ein. Beim Einsteigen warf Harry Bellmann einen Blick auf den älteren, korpulenten, solide gekleideten Herrn. Er hielt einen Stadtplan in der Hand. Tourist mit Fotoapparat. „Jackie, bist du ganz sicher?“ Wenn Jackie lächelte, wurde sein Mund wie ein Strich quer über die untere Gesichtshälfte. Nach einer Weile 114
sagte er: „Ich bin nur noch nicht ganz sicher, daß er mich meint. Hab mich in letzter Zeit nich grad um ’nen Schatten verdient gemacht.“ Seine wäßrigen Augen blickten starr und scheinbar abwesend. „Keine Angst, Bruder“, er sprach, fast ohne die Lippen zu bewegen, „der is nich von der ersten Garnitur. Das Ding kriegen wir in’n Griff.“ Der Mann saß über den Stadtplan gebeugt und verfolgte aufmerksam die Stationen, die sie durchliefen. Sie stiegen am Zoo aus, gingen durch die Halle. Vor den Gepäckfächern saßen Jugendliche. Einer blies auf dem Kamm, einer lag ausgestreckt auf der Erde. „Warte dort drüben auf mich“, sagte Jackie, drückte Harry Bellmann den Recorder in die Hand und verschwand in der Toilette. Bellmann stellte sich ans Schaufenster des Buchladens. Der Mann mit dem Stadtplan trödelte am Souvenirgeschäft herum. Sein Anblick lähmte Bellmann. Unternehmungslust und Selbstbewußtsein erstarben. Er war wütend auf sich selbst. Damals, als ein Polizeiwagen aus der Seitenstraße bog, kaum daß die Karstadt-Räuber in ihrem BMW saßen, hatte er blitzschnell reagiert, ob’s nötig gewesen war oder nicht. Die Lust, mit denen seine Kräfte zu messen, hatte ihn gepackt. Warum fühlte er jetzt sein Herz irgendwo in der Kehle klopfen? Machte ihn die Ungewißheit darüber, wer dieser korpulente Herr mit Fotoapparat war, so schlaff und ängstlich? Oder Ramsuns Mahnung, man könne nicht Hase und Jäger zugleich sein? Warum sollte ihn dieser Mann verfolgen? Er hatte einmal die Vorfahrt nicht beachtet, weil er wegen seiner Freundin ziemlich mit den Nerven runter gewesen war. Man hatte ihn bestraft. Aber einen Schatten anhängen deswegen? War der überhaupt noch da? Natürlich. Nur daß er jetzt am Blumengeschäft stand und nichts kaufte. Er konnte sich nicht satt sehen, der Blumenfreund. Jackie Stöhr trat aus der Toilette, sagte zu Bellmann: 115
„Moment noch“ und kaufte eine Zeitung. Er schlug sie auf, tippte auf irgendeinen Artikel. „Das Übergewicht steht also noch da. Guck gefälligst interessiert, wenn ich dir über’n Wahlkampf vorlese. – Die Jungens brauchen paar Minuten Zeit.“ Heftig schlug er mit der Rückhand gegen das Blatt. „Alles Schorf, was die uns bieten!“ brüllte er. „Meine Wahlparole is: Strauß oder Schmidt, ich mach nich mit!“ Einige der Vorübergehenden blickten kurz auf. Der Mann mit dem Stadtplan und Fotoapparat ging zum Automaten und holte Zigaretten. Jackie Stöhr zerknüllte die Zeitung, stopfte sie in den nächsten Papierkorb und griff nach seinem Recorder. „Komm jetzt.“ Sie verließen das Bahnhofsgebäude, überquerten den Vorplatz, ließen die Gedächtniskirche linker Hand liegen und betraten den Kudamm. Langsam, immerzu aufeinander einredend, stiegen sie die Treppe zur U-Bahn hinunter. Zur gleichen Zeit verschwanden im Eingang auf der gegenüberliegenden Seite vier Jugendliche. Eine Bahn fuhr ein. Auf der Treppe erschien jetzt der Mann mit Stadtplan und Fotoapparat, reckte den Hals, schien unschlüssig, ob er sich beeilen sollte, die Bahn zu erreichen, beeilte sich aber nicht. Bellmann und Stöhr saßen auf der Bank. In dem Stau, der plötzlich entstand, als Fahrgäste aus der Bahn drängten und andere hinein wollten, wurde der Tourist hart angerempelt. Jemand riß ihm den Fotoapparat von der Schulter. Heftig fuhr er herum, bekam einen Tritt gegen das Schienbein, gleichzeitig einen Schlag in den Nacken, der ihn nach vorn warf. Stöhnend platschte er auf den Bahnsteig. „Besoffenes Schwein“, sagte jemand verächtlich. „ Je oller, je toller.“ „Hat Glück gehabt, daß er nicht unter der Bahn gelandet ist.“ Dann war der Mann mit dem Stadtplan und Fotoap116
parat allein. Auch die beiden Burschen, die auf der Bank gesessen hatten, waren verschwunden. Mühsam rappelte er sich hoch, anstelle des rechten Armes einen Sandsack, schwer und gefühllos, stechender Schmerz im Schienbein, Schädelbrummen und eine Nase, die blutete. Er griff nach der Hand, die sich ihm entgegenstreckte, und zog sich hoch. „Krank oder besoffen?“ fragte der Mann, der ihm aufgeholfen hatte und der in der Uniform eines BVGAngestellten steckte. Wieder kamen Fahrgäste die Treppe herunter, betraten den Bahnsteig. Eine Frau bückte sich nach dem kleinen braunen Ding, das neben einem Papierkorb lag. Ein Fotoapparat. Sie sah den Beamten, der eben in ihre Richtung blickte, und den Mann, auf den er einredete und der sich ein Taschentuch ins Gesicht drückte. Hier und da sickerte Blut durch. „Das lag an der Treppe“, sagte die Frau. Der Mann mit der blutenden Nase griff nach dem Apparat. „Nun mal langsam!“ Der Beamte wollte ihm den Fotoapparat wieder abnehmen, doch der andere preßte ihn unter die Achselhöhle. „Ach, lassen Sie ihm doch das Ding“, sagte die Frau mitleidig, „taugt ohnehin nicht mehr viel.“ Wieder glitt eine Bahn heran. Der Mann mit dem blutigen Taschentuch im Gesicht stieg ein und ließ sich auf den nächsten Sitz fallen.
3 Der Felsbrocken war wieder vom Gipfel gerollt und Sisyphus um den Erfolg seiner Mühe betrogen. Vor Kommissar Fox saß ein Mann im unauffällig mausgrauen Anzug und hatte traurige Augen sowie eine Nase von Tomatengröße. 117
„Am Abend zuvor“, sagte er, „saß Bellmann bei Nolle. Hat sich dort mit Ramsun getroffen. Der war leicht zu identifizieren. Hatte sein Bild noch aus der Zeitung in Erinnerung.“ „Konnten Sie Gesprächsfetzen auffangen?“ Kopfschütteln. „Es waren kaum Gäste da. Hätte ich mich näher rangesetzt, wären sie woanders hingegangen. Sie sprachen leise und nur, wenn der Kellner weit genug entfernt war. Harry Bellmann schien schlecht gelaunt. Oder deprimiert.“ „Und Ramsun?“ fragte der Kommissar. „Wirkte ruhig. Gelassen.“ Ruhig, gelassen, wiederholte Fox in Gedanken. Ein Mann, der vor dem Nichts steht. Er war hart, dieser Ramsun, hart wie Diamant. Aber ein aus der Fassung gebrochener Diamant. „Beinahe heiter“, fuhr der Mann nachdenklich fort. „Schließlich ist es ihm sogar gelungen, Bellmann aus seiner Apathie zu reißen.“ Durch Vertrauensleute bei Edmund wußte der Kommissar, daß Ramsun beim Chef gewesen war, sich gedemütigt hatte, um nicht gefeuert zu werden. Um seiner Frau willen hatte er es getan. Vergebens. Er war ein häuslicher Typ, dieser Ramsun, ein anhänglicher treuer Ehemann mit dem Aussehen eines Casanovas. Doch wie es hieß, hatte ihn seine Frau verlassen, und Ramsun war noch immer ohne Aussicht auf eine neue Anstellung. Nur noch ein paar Tage, dann mußte er bei Edmund den Hut nehmen. Trotzdem blieb er gelassen und heiterte deprimierte Freunde auf. „Bevor sie gingen, bestellten sie noch ein Bier und prosteten sich zu. Sah aus, als ob zweie ein gutes Geschäft begießen.“ „Sie brauchen sich nicht als Hellseher aufzuspielen“, fauchte Fox, „die beiden haben Bier getrunken. Basta. Wo war denn Ihr wissender Blick in der U-Bahn-Station 118
Kudamm? Oder ein paar Minuten früher, als Bellmanns Begleiter seine Schlägertypen organisierte?“ Er griff nach dem ramponierten Fotoapparat, warf ihn dem Mann wie einen Fangball zu. „Ein übertölpelter Beschatter, ein Fotoapparat ohne Film, eine verlorene Spur. – Ein großartiges Wochenende.“ Er griff zum Hörer und brüllte nach Wassek. Wahrscheinlich verstand ihn der Oberleutnant fünf Zimmer weiter auch ohne Telefon. Als er in Fox’ Zimmer stürmte, stieß er mit einem zusammen, der wie ein geprügelter Hund das Weite suchte. „Haben Sie noch nicht kapiert, wie wichtig dieser Bellmann möglicherweise ist?“ rief Fox noch immer aufgebracht. „Möglicherweise“, wiederholte Wassek skeptisch und so herablassend, als habe er zum wiederholten Male einen Patienten mit einer eingebildeten Krankheit vor sich. Ein verächtlicher Blick aus blauen Augen traf ihn. Leise, aber mit schneidender Stimme sagte der Kommissar: „Harry Bellmann wird ab sofort nicht nur schlechthin rund um die Uhr beschattet, sondern Sie setzen auf ihn die erste Garnitur an. Sollten Sie davon überzeugt sein, daß Sie selbst der beste Mann im Hause sind, dann übernehmen Sie diese Aufgabe persönlich.“ „Jawohl, Kommissar. Übrigens haben wir den Überfall auf die Kassiererin geklärt und einen jungen Burschen dingfest gemacht, der den Geldboten überfallen hat.“ „Jawohl“, äffte Fox ihn nach. „Und für mich ist jetzt Feierabend. Ich geh ins Kino! In einen Film, in dem es noch Männer gibt, die sich nicht mit Fliegenfangen wichtig tun, weil sie für eine Jagd auf Großwild zu dämlich sind.“ Die Tür schlug hinter ihm zu. Wütend verließ er das Haus. Wütend über seinen Wutausbruch. Aber hätte sich ein Polizist nicht von ein paar Ganoven übers Ohr hauen lassen, besäße er jetzt das Foto von einem Bur119
schen, der dafür sorgte, daß im Bahnhof Zoo nicht nur Züge ein- und ausfuhren. Bellmann hatte diesen Prachtjungen bewußt und zielstrebig gesucht. Er war zuerst zum Bahnhof Zoo gefahren, hatte dort mit diesen und jenen ein paar Worte im Vorübergehen gewechselt, dabei sicherlich den Tip erhalten, wo er den treffen konnte, den er brauchte. Der trieb sich zur Zeit am Mehringplatz herum. Was mochten die beiden abgesprochen, was geplant haben? Hing es noch mit dem Karstadt-Überfall zusammen, oder bereiteten sie schon einen neuen Coup vor? Logischerweise hätte sich Bellmann nach der Karstadt-Geschichte ruhig verhalten müssen und sich eine Zeitlang mit niemandem außer seiner Freundin treffen dürfen. Aber die hatte er, laut Bericht seines Schattens, seit jenem Abend in der kleinen Pizzeria nicht wiedergesehen. Und deshalb ging Kommissar Fox an jenem Samstagnachmittag ins Kino. In die Zoo-Palette. Spiel mir das Lied vom Tod. Klassischer Western. Fox war mehr darauf aus, zu erfahren, was ein klassisches Liebespaar am Wochenende trieb. Falls es überhaupt noch ein Liebespaar war. Er zahlte acht Mark für seine Eintrittskarte und stand ein Weilchen im Vorraum herum. Die dunkelhaarige, etwas üppige Dame war nicht Karina Ott, von der er sich ein Foto besorgt hatte. Sonnabends war bedeutend mehr Andrang im Kino als wochentags. Die Platzanweiserin verlor die Übersicht, fürchtete, daß Besucher ohne Karte die Hochflut ausnutzten, stellte sich auf die Zehen und rief: „Karina, dein Typ wird gebraucht.“ Fox blickte in die Richtung, in die die Anweiserin ihren Hilferuf schickte, und entdeckte in einer Ecke Karina Ott. Sie löste sich vom Körper eines jungen Mannes, der die Arme um ihre Taille geschlungen hatte. Sie küßte ihn flüchtig, kam zum Eingang des Kinos und sagte: „Ihre Karte bitte.“ Der Kommissar gab ihr seine Karte, und sie riß eine 120
Ecke ab. Dann stand er im Kinosaal mit dem Gefühl, in einen Schlauch gekrochen zu sein. Weit vorn eine Art Heimkino-Leinwand, die üblichen gutgepolsterten, bequemen Sitze, nur wenige neben-, aber schier unendlich viele hintereinander. Er suchte sich einen Platz weit hinten in der Nähe des Eingangs. Musik. Reklame. Karina Ott und ihre Kollegin ließen noch immer Besucher ein. Plötzlich jaulte die Musik, die Leinwand flimmerte. Aus. Noch bevor die Lichter angingen, tobten die Insassen dieser Angströhre, als habe man ihnen das Hemd gestohlen und die Hose dazu. Auf der Bühne erschien der Direktor, bat um Ruhe und Verständnis. Kleine Panne. Behoben in spätestens zehn Minuten. Nutzen Sie inzwischen unser Angebot an Speisen und Getränken. Die Menge wogte hinaus. Schob ihn mit. Er fand sich wieder mit einer Wurst in der Hand. Neben ihm biß jemand in ein Lachsbrötchen. Massenpsychose, dachte er, und ich laß mich einfach anstecken. Hätte die Technik nicht versagt, wären dann Menschen in diesem Saal verhungert? Ohne Appetit aß er seine Wurst und vertrat sich die Beine noch ein wenig. Er hielt sich dicht neben Karina Ott, die dem Jungen schöne Augen machte. Sie schlug ihm vor, sich endlich eine Bude zu suchen und zusammenzuziehen. Und wenn’s in Kreuzberg sei. Fox ahnte, daß er zwei künftige Hausbesetzer vor sich hatte, doch das fiel weder in sein Ressort noch in sein Interessengebiet. Eines jedoch schien ihm sicher, wenn Karina Ott einen Kerl mochte, dann war es dieser hier und nicht Harry Bellmann.
4 Oktoberfest schon im September. Samstags Feuerwerk. Samstag war in drei Tagen. Nie hatten für Harry Bellmann 121
drei Tage in so unerreichbarer Ferne gelegen. Er teilte die Zeit ein in vor und nach dem „Ding“. Der Tag des „Dings“ war Freitag. Dann kam nach seinen Vorstellungen die Stunde Null in seinem Leben. Der Neubeginn. Die große Ungewißheit. Doch bis dahin war die Zeit aufgeteilt in Vierundzwanzig-Stunden-Portionen, für das „Ding“ selbst in noch kleinere Parts. Da würde in jeder Minute eine genau vorher bedachte Handlung zu verrichten sein. An jenem Tag, rund siebzig Stunden vor dem „Ding“, gab es einen Treff auf dem Oktoberfest am Funkturm. Bernhard Ramsun und Jackie Stöhr mußten sich zumindest einmal gesehen haben, bevor sie zusammen in einem gestohlenen und umfrisierten Wagen zum Flughafen rasten. Zufälle, soweit sie vorausgeahnt werden konnten, wurden ausgeschlossen. Auch der, daß Jackie womöglich dem falschen Mann die Tür öffnete und ihn nach Tegel fuhr. Auch der, daß sich Ramsun hereinlegen ließ oder unwissentlich selbst hereinlegte, weil er „seinen“ Mann nicht kannte. Manchmal war Harry Bellmann nahe daran gewesen, Ramsun die Sache mit dem Schatten zu beichten. Die Frage, warum er es dennoch bleiben ließ, beantwortete er sich nicht. Es war ihm ungewohnt, sich selbst zu analysieren. Nur mit Jackie hatte er sich noch einmal darüber unterhalten. „Schade, daß wir ’n opfern mußten“, hatte Jackie gesagt und den Mann gemeint, von dem sie nicht wußten, wen von beiden er beobachtete. „Schuld war der blöde Fotoapparat, sonst hätten wir ’n immer hübsch hinter uns herzuckeln lassen, bis auf die paar Gänge, bei denen wir seinen Typ nicht brauchen.“ Ein durchschauter Beobachter ist nicht gefährlicher als ein Holzpferd, das man hinter sich herzieht und stehenläßt, wenn es einem lästig wird. Nervenzehrend dagegen war der Zweifel, ob wieder jemand hinter einem her war und auf wen er es abgesehen hatte. Sie trafen beide alle Vorsichtsmaß122
nahmen, die ihnen einfielen, doch Bellmann wußte, daß er längst nicht so gewieft war wie Jackie Stöhr. Auch jetzt, als er inmitten einer Menschenmenge aus dem UBahnhof Kaiserdamm auftauchte und hinüber zu den BVG-Sonderbussen lief, die zum Funkturm fuhren, sah er sich immer wieder um nach einem Gesicht, daß er vielleicht vor Stunden schon oder auch am vergangenen Tag in seiner Nähe bemerkt hatte. Falls sie ihm wirklich jemanden nachschickten, war es jedenfalls nicht der unauffällig auffällige Typ wie der auf Tourist getrimmte Verfolger vom Mehringplatz. Bellmann hielt es für wahrscheinlich, beinahe für sicher, daß sich die Polizei nicht für ihn, sondern für Jackie interessierte. Als Asozialer mit anarchistischen Tendenzen bot er der Polizei Grund, ihn im Auge zu behalten. Aber es gab kaum einen jungen Mann, der so schwer zu bewachen war wie er. Der Bus hielt am Eingang des Festplatzes. Bellmann brauchte nur noch die Straße zu überqueren, die Eintrittskarte zu kaufen, und schon stand er drin im Wunderland der Kinder, Träumer und Phantasten. Heimstatt auch für Schlemmer. Musik. Jedes Karussell spielte seine eigene, sie floß ineinander zu einem Ton-Inferno. Losverkäufer versprachen nichts als Gewinne, Stände mit Lebkuchenherzen, Zuckerkringeln, Plüschbären, Würsten. Karussells schwenkten Gondeln aus, ließen sie kreisen, waagerecht und schräg gestellt. Und über allem das Riesenrad. Bellmann stupste mit dem Zeigefinger seinen Cowboy-Hut einen Zentimeter aus der Stirn. Alles Bedrückende, der Gedanke, sich Ramsun gegenüber nicht exakt zu verhalten, einen Schatten nicht zu bemerken, das unangenehme Gefühl, einen Fehler zu begehen, der zum Verhängnis wurde, fiel von ihm ab. Er war in seiner Welt. Solche Festwiesen konnte es nur in Großstädten geben. Ringsum Lärm, Lachen, grelle Farben, Glanz und Glimmer. Stimmen, die einen beschwatzen und etwas anzudrehen versuchen. 123
Kommse rüber, kommse ran … Und ob ich komme, dachte Harry Bellmann, jeden Tag von mir aus. Aber heute muß ich mein Geschäft mit Ramsun abwickeln. Er fand ihn, wie vereinbart, vor dem „Verhexten Schloß“, einem Haus auf Rollen, die man nicht sah. Selten stand es ruhig und gerade, wie es Pflicht eines soliden Hauses ist. Es neigte sich nach links, bewegte sich nach rechts. Ramsun schaute mit ernstem, beinahe mürrischem Gesicht auf das Schild: Ein Spaß für die ganze Familie. Er erschrak ein wenig, als Harry Bellmann ihm die Hand auf die Schulter legte.
5 Keine Grübeleien mehr, hatte Ramsun sich vorgenommen. Volle Konzentration auf die Arbeit. Mit Arbeit meinte er, was Harry Bellmann im stillen das „Ding“ nannte. Tagsüber gelang es ihm, sich darauf zu konzentrieren, doch sobald er abends, mochte es auch spätabends sein, die Wohnung betrat, überfiel ihn die Wehmut wieder, die Erinnerung, das quälende Nichtverstehen dessen, was ihm geschehen war. Jedesmal ein Fünkchen Hoffnung, wenn er in den Briefkasten griff. Er wußte im voraus, daß kein Brief, keine Karte, kein Lebenszeichen von ihr gekommen war, trotz des Wissens glomm schmerzhaft dieses Fünkchen auf, und schmerzhaft verlosch es wieder. Manchmal trank er eine Flasche Rotwein, um schnell und ohne zu sinnieren einzuschlafen, doch oft schreckte er nachts oder gegen Morgen aus dem Schlaf, die Sinne verwirrt, er hatte eine Tür gehört und glaubte, seine Frau sei aufgestanden und hinausgegangen. Er sah das leere Bett neben sich und vermochte sich nicht zu erinnern, wieviel Zeit verstrichen war, seit sie ihn verlassen 124
hatte. Jetzt eben? Vor Tagen oder Monaten? In solchen Augenblicken geistiger Desorientierung stürzte er ins Bad und ließ einen Strahl kalten Wassers über Kopf, Nacken und Gesicht laufen, rubbelte sich ab, ging zurück ins Schlafzimmer, in dem nur Stille war und Erinnerung. Alles wurde ihm wieder gegenwärtig. Auch daß er die Barriere zwischen seinem früheren Leben, das war das Leben mit ihr, und seinem jetzigen längst überschritten hatte. Warum ließ ihn die Erinnerung nicht in Ruhe? Warum brach sie immer wieder in sein neues Leben ein? Warum gehörte er nicht zu jenen Menschen, die mit ihrem Verstand die Gefühle meistern? Übrigens glaubte man das von ihm, weil er ausgeglichen und bedachtsam wirkte. Dabei war er nichts als phlegmatisch. Keiner traute ihm das zu, was er zu tun vorhatte. Lange Zeit hatte er selbst nicht geglaubt, daß er dafür geschaffen sei. Selbst als der Plan ausgereift und im Detail durchdacht war, kam es ihm vor, als müsse er nun noch denjenigen finden, der ihn ausführte. Doch zu seinem eigenen Erstaunen hatte er die Welt der braven Bürgerlichkeit verlassen, war mehr und mehr hineingeglitten in die Welt der Skrupellosen, in der sich keineswegs nur Verbrecher bewegten. Von sich selbst hatte er geglaubt, daß er wohl Pläne für sie entwerfen, sich ihre Tricks und Ausdrucksweise aneignen könne, aber niemals die Rücksichtslosigkeit, die einen Verbrecher erst gefährlich macht, die Kruse zum Direktor der Edmund-Gesellschaft befähigte, die den Reporter jenen verhängnisvollen Artikel schreiben ließ und Elke in die Lage versetzte, zu einem Kerl nach Frankreich zu fahren. Nun gehörte auch er zu den Skrupellosen. Er würde seinen Freund Werner Bahl in eine ausweglose Situation bringen. Er besaß eine Schußwaffe und würde sie mit Vorbedacht gebrauchen, wenn es erforderlich war; doch für nichts, was geschehen würde, fühlte er sich verantwortlich. Man hat mir meine Existenzgrundlage entzogen 125
und mich damit von jeglicher Verantwortung befreit, sagte er sich. Er tat nun, was alle – auf verschiedenen Ebenen natürlich – taten, die aus dieser Welt gedrängt worden waren. Er suchte eine ihm gemäße Daseinsweise. Für manche war es Alkohol oder Rauschgift, für andere die Einsiedelei einer Bücherstube, etliche verschlossen ihre Wohnungen und waren nur noch auf Reisen, einige hielten sich Frauen, die ihnen Geld einbrachten, stiegen ein in großangelegte internationale Schmuggelringe. Es gab auch welche, die töten mußten. Jedenfalls, so fand Ramsun, rollte das Geschehen von einem bestimmten Punkt an im Selbstlauf ab. Manchmal fragte er sich, was wohl nach getaner „Arbeit“ geschah. Natürlich wußte er, daß er erst einmal in Griechenland untertauchen würde. Aber würden die Wehmut und seine Erinnerungen ihn auch dort befallen? Er hoffte freizukommen, vergessen zu können. Es war Berlin, es waren die beiden Räume am Eichborndamm, vor allem aber das leere Bett neben dem seinen, das die Vergangenheit so quälend heraufbeschwor und unsinnige Hoffnungen weckte. Tagsüber, wenn er an seine „Arbeit“ dachte, war er jetzt schon frei davon, und die getane Arbeit würde ihn gewiß vollends erlösen. Noch drei Tage. Er hatte für Harry Bellmann eine Lederjacke gekauft, wie sie Werner Bahl trug. Eine Schirmmütze, wie Bahl sie aufsetzte, seit die Temperaturen herbstlich geworden waren. Eines Tages hatte ein Gepäckfachschlüssel in seinem Briefkasten gelegen. So war er zu Waffen für sich und seinen falschen Sicherheitsbegleiter gekommen. Hier auf dem Oktoberfest würde Bellmann ihm die neuen Papiere übergeben und das Flugticket. Er sollte auch denjenigen kennenlernen, der ihm einen frisierten Fluchtwagen zuspielte, aber er würde nicht mit ihm sprechen. Aus Gründen der Sicherheit. Dort drüben vor der Schaubude mit der Aufschrift Krokodil-Ringkampf würde er stehen. Vorläufig saß nur ein Affe draußen, ange126
kettet. Er benahm sich sehr menschlich, fand Ramsun. Er zerrte an den Fesseln, tobte, bis er entkräftet war und saß dann auf seiner Stange, zusammengesunken, freudlos, mit leerem Blick. Plötzlich glaubte Ramsun ein bekanntes Gesicht unter den Schaulustigen zu entdecken, die sich vor dem traurigen Affen angesammelt hatten. Ein Junge im Jeansanzug. Langaufgeschossen, helle Augen, den Blick fast so leer wie der angekettete Affe und ebenso freudlos. Um seinen Mund, breit und dünnlippig, lag ein verächtlicher Zug. Ramsun hörte ihn wieder rufen: „Ihr menschliches Defizit“ und sah ihn die zusammengeklappte stinkende Alte aus der U-Bahn tragen. War das sein Mann? Jetzt saß er auf dem Mauervorsprung, neben sich die Jeansjacke, so lang wie sie war. Der Affe spielte wieder verrückt, einen Moment lang gab es Gedränge. Wer nahe bei dem Tier gestanden hatte, sprang erschrocken zurück. Eine Frau taumelte, suchte Halt, stützte sich auf die Jeansjacke. Die Augen des Jungen wurden einen Schein dunkler. Brutal stieß er die Hand zurück. Die Frau sah ihn nur an. Sie protestierte nicht. Er strich die Jacke glatt. So streichelte man ein Mädchen. So hatte Ramsun seine Frau gestreichelt. Ausdruck der Verbundenheit mit dem Liebsten, vielleicht dem Einzigen, was man besaß. Ramsun hatte ihn wohl zu auffällig angestarrt. Ein kalter, abweisender Blick traf ihn. Er wandte den Kopf zu dem Plakat, das Spaß für die ganze Familie versprach. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, und wieder erschrak er ein wenig. „Tag, mein Alter“, sagte Harry Bellmann, „amüsierst du dich?“ Ramsun verzog die Mundwinkel. „Der Bursche da drüben – hast du dir sein Gesicht eingeprägt?“ „Ich werd’s so bald nicht vergessen“, erwiderte Ramsun. 127
„Dann komm jetzt.“ An Schaubuden und Karussells vorbei schlenderten sie zum Riesenrad. Obwohl noch immer Sonderbusse eintrafen, gab es kein Gedränge auf dem Festplatz, auch nicht vor den Karussells. Das Riesenrad wurde schon in Bewegung gesetzt, wenn fünf bis sechs Gondeln belegt waren. Harry Bellmann sah sich um, als erwarte er jemanden, ehe er neben Ramsun Platz nahm. Ob ihm einer gefolgt war? Selbst wenn es der junge Mann in der Gondel über ihnen oder das Ehepaar zwei Gondeln weiter war, sie würden weder verstehen, was er mit Ramsun besprach, noch sehen, was er ihm in die Hand drückte. „Du heißt jetzt Lothar Wolf“, sagte Bellmann, „wie abgesprochen. Du besitzt im Rheinland eine große Weinkelterei, die auch ohne dich läuft. Du bist auf Tapetenwechsel aus. Istanbul ist dir gerade recht. Hier dein Flugticket.“ Ramsun nahm Ausweis und Ticket an sich. Er ließ Bellmann in dem Glauben, nach Istanbul zu fliegen. Sollte etwas schiefgehen, Bellmann oder der Junge geschnappt werden und plaudern, würden sie die Maschine nach Istanbul im Auge behalten und ihn zuerst in der Türkei suchen. Er flog nach Athen. „Ich habe drei Tage Urlaub bekommen“, sagte Harry Bellmann, „manchmal trifft jemanden der Schlag zur rechten Zeit. Mein Vater liegt im Krankenhaus.“ Ramsun nickte. „Der Junge, der alles besorgt hat, was ist das für einer?“ „Das weiß niemand. Nicht mal er selbst. Er lehnt alles ab, will alles anders. Anarchist. Weltverbesserer, der weder weiß, womit verbessern, noch wie sie künftig aussehen soll, die Welt. Vielleicht ein bißchen nach Kanada. Das ist sein Traum. Dort fliegt er hin, sobald er das Geld dafür hat, und verschwindet in der Einsamkeit der Wälder.“ „Hoffentlich“, erwiderte Ramsun, „Geld wirkt sich auch auf Wunschvorstellungen aus.“ 128
„Auf jeden Fall ist er zuverlässig. Daran wird auch ’ne Menge Geld nichts ändern. Mag er sein, wie er will, aber das hat er vielen Zeitgenossen voraus.“ „Und du?“ fragte Ramsun, „wie geht’s bei dir weiter?“ „Hängt von meinem Vater ab. Wird’s schlimmer mit ihm, wird’s zu auffällig, wenn ich plötzlich ’ne Mücke mache. Ich bleib besser noch ein Weilchen und leb mein Fensterputzerleben. Eines Tages löse dann auch ich mich in Luft auf.“ „Hast du schon Papiere?“ „Na, hör mal! Jackie kann nur mittelmäßige Wunder sofort vollbringen. Deine Papiere und die Waffen innerhalb einer Woche zusammenzukriegen, war schon etwas über Mittelmäßigkeit hinaus.“ Das Riesenrad hielt an. Drei Gondeln unter ihnen stieg ein Ehepaar aus. „Mach dir keinen Kopf um uns, mein Alter. Spuck in den Bosporus und vergiß, was hinter dir liegt.“ Ihre Gondel glitt zu Boden. Drüben am Stand von Kindl-Pils trank ein schmalhüftiger junger Mann, der ein wenig mit der Kellnerin geflirtet hatte, sein Glas leer, legte ein Geldstück auf den Tisch und erhob sich. Ramsun und Bellmann schlugen verschiedene Richtungen ein. Der junge Mann mit dem Cowboy-Hut lief zum Ausgang, und der Schmalhüftige verließ ebenfalls die Festwiese. Ramsun bummelte weiter. Vorbei am großen Bierzelt bis zur Alten Liebe, einem imitierten Schiffsrumpf, der sich hoch in die Lüfte schwang. Eigentlich hatte er sich eine Karte fürs Electronic-Theater kaufen wollen, Supershow aus USA, doch er fühlte sich seltsam schlaff. Ungefähr, als habe er bereits neunzig Prozent aller Karussells ausprobiert. Seine Gedanken umkreisten noch immer die Arbeit, die in drei Tagen um diese Zeit bereits getan war. Er, Ramsun, war dann gestorben. Für Edmund, für die Poli129
zei, für Harry Bellmann, Werner Bahl und für Elke. Hoffentlich auch für alle Erinnerungen. Er war dann Lothar Wolf. Was sollte der mit Ramsun-Erinnerungen? Plötzlich sah er ihn vor sich – den Tod. Er war groß, schlank, mit einem schwarzen Fellkleid behangen, hatte schwarzes Haar, ein weißgraues Gesicht und lebhafte dunkle Augen. Darüber eine hohe Denkerstirn. Denken ist wichtig für den Tod, kam es Ramsun in den Kopf, sonst wird das, was er tut, dumm und sinnlos. Dieser hier war ein schöner Tod. Einer, mit dem man sich gern unterhalten hätte. Doch er war beschäftigt. Bald sprang er auf einen Wagen der Geisterbahn, der für Sekunden durchs Tageslicht fuhr, bald schritt er prüfend die Reihe der Gespenster ab. Manchmal winkte er lächelnd den Kindern zu, im nächsten Augenblick verschränkte er die Hände auf dem Rücken und pflanzte sich herrisch vor den drei Drachenköpfen auf, die mit feuerrotem Rachen, zwischen King-Kong und ihm pendelten. Immer war er wendig. Immer ein wenig arrogant, mit einem kleinen, verächtlichen Lächeln um die blassen Lippen. Er sah aus, als ließe er sich nicht mit jedem ein.
6 Nerven wie Charles Bronson müßte man haben, dachte der Kommissar, als er die Zoo-Palette verließ. Sitzt einfach da, den Hut tief in die Stirn, und spielt Mundharmonika, wenn’s um ihn herum kracht und stirbt. Der greift keine Sekunde zu früh zum Colt. Aber wenn er greift, dann schießt er auch. Und trifft. Seine Ausdauer wurde belohnt. Nach Jahren erwischte er den, den er suchte. Und er, Fox, dem man ebenfalls Ausdauer nachsagte, war bereits Tage nach dem Überfall bei Karstadt nervös geworden. Die Ungewißheit hatte ihm zu schaffen gemacht, ob er hinter der richtigen Nebenfigur her war, 130
die ihm den Weg zu den Großen Drei weisen konnte. Jetzt fühlte er sich sicherer. Dieser Fensterputzer war gewiß sein Mann. Der hatte den Start des Fluchtwagens gesichert und sich selbst von einem Mädchen absichern lassen, das er als Freundin ausgab oder das bis vor kurzem seine Freundin gewesen war. Vielleicht kam es ihm gelegen, daß sie sich einem neuen Liebhaber zuwandte. Der Kommissar betrat ein Restaurant am Kudamm, bestellte Abendbrot und einen Schoppen Rotwein. Karina Ott vernehmen, überlegte er, was bringt das ein? Ich erfahre lediglich, ob sie Bellmann bewußt geholfen oder ahnungslos ihre Rolle gespielt hat. Nichts weiter. Einen Beweis dafür, daß Harry Bellmann die Flucht der Karstadt-Räuber gedeckt hatte, besaß er deshalb noch längst nicht. Bellmann würde Lügen aus dem Ärmel schütteln wie ein Gaukler weiße Kaninchen. Der war der Typ dazu. Und er wäre gewarnt. Vielleicht würde er auch die Großen Drei warnen. Nicht die zufällig ins Spiel gekommene Frau brachte ihn im Moment weiter, sondern diejenige, die von Anfang an dazu gehörte und die Karten mitgemischt hatte. Seit jenem Nachmittag war Fox sicher, daß diese Frau nicht Karina Ott war, sondern das Mädchen, das er unter dem Namen Franziska Heusler kannte. Und das bedeutete für ihn, eine brauchbare Fährte gefunden zu haben. Franziska Heusler war die Blondine gewesen, die 1976 dem Purolator-Angestellten im Bett Dienstgeheimnisse entlockt und an die Gangster weitergegeben hatte, so daß der Überfall auf den Transporter reibungslos verlaufen konnte. Alles sprach dafür, daß sie 1978 als junger Mann mit dem Ausweis eines gefallenen Fremdenlegionärs einen Wagen ausgeliehen und der Großen Drei zur Flucht überlassen hatte. Wo aber war sie zu Jahresbeginn gewesen, als der Überfall in Celle mißglückte und ein Wachmann erschossen wurde? Ihrem Versagen war diese Panne wohl kaum zuzuschreiben, sonst hätte man sie Monate 131
später nicht noch einmal eingesetzt. Wieder hatte sie eine Doppelrolle zu spielen: Dolmetscherin Franziska Heusler und Claudia Kühn. Nur, daß diese Claudia vor zwei Jahren an Krebs gestorben war. Wandelbar wie ein Chamäleon, dachte der Kommissar, Dame in Weiß, Betschwester, freundliche zurückhaltende Teilnehmerin eines Schneiderkursus. Ganz wie es gebraucht wurde. Nun wußte er also, daß sie all diese Rollen spielte. Er wußte überhaupt eine Menge, nur beweisen konnte er nichts. Während er seinen Wein trank, dachte er wieder an den Film. Bronson hatte auch eine Menge gewußt und lange warten müssen, bevor seine Stunde gekommen war. Doch in zwei Dingen war der Film der Wirklichkeit voraus: Der Held hatte immer die richtigen Männer zur Seite, und er konnte sich genau die Zeit lassen, die er brauchte. Er stand nicht unter Erfolgszwang. Kommissar Fox fuhr zum Leopoldplatz und suchte das Haus auf, in dem Franziska Heusler wohnte. Er wollte sie sehen, die Verwandlungskünstlerin, und das nicht aus Neugier. Wenn er Glück hatte, nahm sie weiter am Schneiderkursus teil. Begegnete er dort einer jungen Frau namens Claudia Kühn, die er hier als Franziska Heusler gesehen hatte, konnte er zupacken. Dann lohnte es sich auch, Karina Ott und Harry Bellmann festzunehmen. Das mußte nur Schlag auf Schlag gehen. Vielleicht konnte er die drei gegeneinander ausspielen, möglicherweise mußte er sie hart anfassen, bis sie mehr Angst vor der Polizei als vor den Geldräubern hatten. Fox ging an der Wohnung mit dem Namensschild Heusler vorbei und klingelte ein Stockwerk höher bei Helmut Eisenreich. Er hatte Glück, es öffnete niemand. Nun konnte er bei Franziska Heusler eine Nachricht für Eisenreich hinterlassen. Doch Fräulein Heusler war ebenfalls noch nicht zu Hause. Wieder stieg er die Treppe hoch Und wartete. Zweimal klappte die Haustür. Im Erdgeschoß wurde eine Wohnung aufgeschlossen, später 132
fuhr jemand mit dem Fahrstuhl in eine der oberen Etagen. Nach einer halben Stunde etwa betrat eine Frau das Haus. Kleine feste Schritte, hohe Absätze, registrierte Fox, die wie Klopfzeichen durchs Haus hallten. Der Fahrstuhl blieb unbenutzt, die Schritte kamen die Treppe herauf. Höher als ein oder zwei Etagen steigt niemand, wenn der Fahrstuhl funktioniert, dachte der Kommissar, steckte eine Zigarette zwischen die Lippen und setzte sich in Bewegung. Er klopfte und tastete an sich herum wie jemand, der in einem versteckten Winkel einer Jacken- oder Hosentasche nach dem Schlüssel, dem Feuerzeug oder dem Flaschenöffner sucht. Die junge Frau, die dabei war, ihre Wohnung aufzuschließen, warf ihm einen kurzen, prüfenden Blick zu. Fox nahm die Zigarette aus dem Mund, grüßte und sagte: „Entschuldigen Sie, dürfte ich bei Ihnen eine Nachricht für Herrn Eisenreich hinterlassen?“ „Stecken Sie sie ihm doch in den Briefkasten.“ Ihre Stimme klang hart und rauh. Das Hauslicht warf einen matten Schein auf ihr kupferfarbenes Haar. Das Mädchen war groß, schlank – so wie Sportlerinnen schlank sind, hatte Frau Resch gesagt. Fox traute ihr ein paar Judo- oder Karategriffe zu. Sie trug einen eleganten Ledermantel, weich, leicht, bestes Material. „Ich müßte sie an die Hauswand schreiben“, sagte Fox, „kein Schnipselchen Papier in der Tasche.“ Sie zuckte die Schultern und schloß die Tür auf. Fox wies auf die Zeitung, die in ihrer Manteltasche steckte. „Ein Stückchen Zeitungsrand würde mein Problem lösen.“ Sie riß ein kleines Stück ab und gab es ihm. Eine Geste, die ebensogut Hilfsbereitschaft wie Widerwillen ausdrücken konnte. Dieses Mädchen jedoch wirkte einfach uninteressiert, wie jemand, der Gedanken und Gefühle nicht gern an Nebensächlichkeiten verschwendet. Fox bedankte sich, lächelte. 133
„Um das Maß Ihrer Güte voll zu machen – dürfte ich Sie noch um Feuer bitten?“ Er steckte die Zigarette wieder zwischen die Lippen. Sie erwiderte nichts, zog ein kleines Feuerzeug aus der Tasche und ließ die Flamme aufspringen. Während Fox seine Zigarette anzündete, blickte er in große, graue Augen, kalt wie ein unfreundlicher Novembertag.
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VI
1 Wer keine Garage besaß, stellte seinen Wagen auf dem kleinen unbewachten Parkplatz zwischen den Häusern ab. Er faßte sechzehn Autos. In jener Nacht parkten fünfzehn dort. Jackie Stöhr, der seit zwei Stunden im Gebüsch hockte, das den kleinen Platz umgab, saß in Gedanken in dem grauen Porsche. Es war nicht die erste Nacht, in der er den Platz beobachtete. Der Besitzer des Porsche stellte den Wagen selten vor Mitternacht ab und benutzte ihn frühestens gegen zwölf Uhr Mittags wieder. Wahrscheinlich ein Künstler, ein Geschäftsmann, ein Manager, irgendwer, dessen Beschäftigung auf die späten Stunden des Tages fiel. Der Mann, dem der Porsche gehörte, war um die Vierzig, klein und korpulent. Auch das wußte der Beobachter im Gebüsch. Morgen, dachte er, wird der seinen Wagen in einem anderen Stadtteil suchen müssen. Aber das ist sein Problem. Mein Problem ist dann gelöst. Seit zwei Tagen fehlte ein Golf auf dem Parkplatz. Möglicherweise war eine Familie in Urlaub gefahren, oder jemand befand sich mit ihm auf einer Geschäftsreise. Jackie Stöhr konnte nicht länger warten. Er glitt aus seinem Versteck, ging hinüber zu dem Porsche und be135
schäftigte sich mit der Tür. Er wußte, wie man Türen von Autos öffnete, deren Besitzer man nicht war. Als er hinter dem Lenkrad saß, bog ein Wagen von der Straße ab und schwenkte in die Zufahrt zum Parkplatz ein. Ehe die Scheinwerfer den Porsche erfaßten, ließ sich der Junge auf die Polster fallen. Der Golf fuhr in die Parklücke. Türen wurden aufgestoßen. Babygeschrei, Hundegekläff. Eine Frau rief: „Vergiß den Korb mit den Äpfeln nicht!“ Die Lärmwoge rollte vom Parkplatz auf das Haus zu. Der Bursche auf den Wagenpolstern wartete, bis die Tür zuschlug, dann hob er vorsichtig den Kopf – und blickte in ein fahles Gesicht, das Verwunderung ausdrückte, aber plötzlich hart und entschlossen wurde. Mit einem Aufschrei riß der Mann den Wagen auf. „Zum Teufel! Was suchen Sie in meinem Auto?“ Der Junge warf sich rücklings auf die Sitze, zog die Beine an und schnellte das rechte vor. Der Aufschrei klang tierisch. So ein Schrei konnte sonstwen in Schwung bringen. Der Mann war vom Wagen weggetaumelt, und Jackie hätte losfahren können – Minuten später von der Polizei verfolgt. Der Porsche-Besitzer hatte ihn genau gesehen und konnte ihn beschreiben; ein Bursche mit einem Mund wie ein Breitmaulfrosch. Da war auch nichts gewonnen, wenn er den Wagen stehenließ und einfach davonlief. Jackie Stöhr fühlte ein Kribbeln in den Schläfen. Was, zum Teufel, hatte das Teiggesicht mitten in der Nacht an seinem Wagen zu suchen? Er hätte ihn zurückbekommen ohne einen Kratzer. Vielleicht schon morgen oder einen Tag später. Was spielte das für eine Rolle. Nun hockte er stöhnend neben dem Porsche, rappelte sich wieder auf. Jackie blieb im Wagen sitzen, die Füße auf dem Trittbrett, den Mann beobachtend, der hochkam und alle Kraft in einen Sprung legte. Jackie griff nach dem Messer, ließ die Klinge herausschnellen. Er brauch136
te nicht zuzustoßen, er brauchte es nur im richtigen Augenblick dem Mann entgegenzuhalten. Ein paar Straßenzüge weiter ließ Jackie Stöhr den Wagen stehen und rannte los. Drei Stationen fuhr er mit einem leeren Nachtbus, mit dem Rücken zum Fahrer, stieg aus und lief weiter. Irgendwo im Bezirk Wedding knackte er einen cremefarbenen Volvo-Kombi und fuhr nach Reinickendorf. Vor einer Autoschlosserei schaltete er die Scheinwerfer aus, hupte zweimal kurz, lang, wieder kurz. Die Garagentür schob sich hoch. Jackie Stöhr fuhr ins Dunkel. Erst als die Tür wieder heruntergerasselt war, flammte Licht auf. Jackie stieg aus. Der Mann mit dem Schraubenschlüssel in der Hand, der auf ihn zukam, hätte sein Vater sein können. Er sah verärgert aus. „Zwanzig Minuten Verspätung“, sagte er vorwurfsvoll, „und wenn das da ’n Porsche ist, bin ich ’n Gewürzständer.“ „Meinetwegen ’n Dudelsack“, sagte Jackie, „aber frisier ihn bißchen.“ „Der ist doch sauber?“ fragte der Alte argwöhnisch. „Und du bist’s hoffentlich auch?“ „Sauber schon. Aber ich werde auch leicht ungeduldig, und dann kenne ich nicht mal meine Verwandten mehr. Fang an.“ Der Alte schraubte das Nummernschild ab. „Und alles ohne ’n Pfennig Vorschuß.“ Plötzlich verlor Jackie die Beherrschung. „Du Fetzen, du verfluchter, du Schorf, du Dreck! Soll ich vielleicht erst ’n Ding drehen und den Wagen, den ich dazu brauch, ’n Tag später klauen? Bloß damit du Ratte deine Penunse sicher hast?“ „Pst, Jackie! Pst! Beruhige dich, Junge.“ Der Alte zitterte. „Hab’s doch nicht so gemeint. Du bist in Ordnung, Jackie. Das weiß doch jeder.“ Jeder, dachte Jackie Stöhr grimmig. Auch der, der 137
seinen verschwundenen Porsche nun nicht mehr sucht. Er fühlte Trockenheit im Mund, die Zunge schien zu schwellen und dick und schwer am Gaumen zu kleben. Er rang nach Luft. Kanada, dachte er. Den ganzen Dreck hinter sich lassen. Kanada …
2 Am Vorabend des Tages, der eine Wende in seinem Leben bringen würde, strich Harry Bellmann ziellos durch die Straßen. Unruhe trieb ihn, Gereiztheit. Manchmal war er nahe daran, zu Bernhard Ramsun zu laufen und ihm zu sagen, er steige aus. Daß er nicht zu ihm ging, war nicht Unentschlossenheit und hatte nichts mit Feigheit zu tun – er wußte für seinen Rückzug keinen Grund zu benennen. Es war nur so ein Gefühl. In den vergangenen Tagen hatte er die Möglichkeit, daß er noch beschattet wurde, nahezu ausgeschlossen. Er war zum Grunewald gefahren, in einsamen Gegenden spazierengegangen, hatte sich in kaum besuchte Cafés gesetzt und nie jemanden bemerkt, der sich in seiner Nähe aufhielt. Es war auch keine Angst, dieses Gefühl, das er nicht zu definieren vermochte. Zumindest nicht Furcht vor einem konkreten Ereignis. Er schlenderte durchs Ku’damm-Karree, verweilte bei den Auslagen der internationalen und Berliner Presse. Wahlreden; Sex; Entführungen, unter einer Million Lösegeld ging es selten ab; Hausbesetzungen, das war der Kampf um besseres Leben, kleinkariert gemessen an dem, was die Lösegelderpresser taten und was er mit Ramsun vorhatte; Mord; Diebstahl; ein Rauschgiftring aufgeflogen, wieder ein Kokaintoter; noch immer keine Spur von Habisch, dem Leiter der Bauverein KG, der dem Senat mit 120 Millionen DM Kredit durchgebrannt war. Was fing ein Mensch mit 120 Millionen an? Bellmann 138
würde eine Million besitzen und – plötzlich glaubte er, den Grund seines Unbehagens zu kennen. Er hatte noch nie soviel Geld besessen. Er war immer der Großstadtcowboy gewesen, der von heute auf morgen lebte. Als Besitzer einer Million war er nicht mehr Harry Bellmann, auch nicht, wenn er von einer Stadt in die andere fuhr. Er war nicht mehr der Großstadtcowboy, er konnte ihn nur noch spielen. Der Preis für das ersehnte Geld war er selbst, war seine Identität. Er war kein Habisch, keiner, der täglich mit Millionen umging, damit spekulierte und betrog und eines Tages mit ihnen verschwand, um an anderer Stelle und vielleicht unter anderem Namen weiterhin mit Millionen zu leben, zu spekulieren, zu betrügen. Habisch blieb Habisch, ob ein paar Millionen mehr oder weniger. Bellmann wäre Bellmann geblieben, hätte er neben seiner Arbeit ein paar Helferdienste geleistet, wie er das bei dem Karstadt-Überfall getan hatte. Im Jahr ein oder zwei undurchsichtige Zehntausendmark-Jobs. Das gehörte nachgerade zu einem Großstadtcowboy, so wie es auch zu ihm gehörte, einmal um den Erfolg seiner Mühe betrogen zu werden. Wie es Karina Ott fertiggebracht hatte. Allerdings passierte das einem Bellmann nur einmal. Doch kannte er denjenigen nicht, der morgen in seiner Haut steckte und Millionär war. Er fuhr nach Hause, nahm eine Schlaftablette und legte sich ins Bett. Er schlief, bis die Sonne ins Zimmer schien. Eine milchige Herbstsonne, die alles, was sie berührte, mit einem Schleier überzog, der die Dinge seltsam fremd und interessant erscheinen ließ. Harry Bellmann fühlte sich ausgeruht, frisch und hatte das Gefühl, an einem Tag wie diesem könne überhaupt nichts schiefgehen. Sorgfältig kleidete er sich an. Die schwarzen Glimmerhosen, ein zartgrünes Hemd, buntes Tuch, nur die Schuhe ließ er stehen. Bernhard 139
Ramsun würde dafür sorgen, daß er sich in der Toilette die Kleidung anlegen konnte, die der Sicherheitsinspektor Werner Bahl trug. Also mußte er die Hose und den leichten Herbstmantel in seine Aktentasche stopfen können. Für die Schuhe war kein Platz mehr. Sie hatten ausgemacht, daß er schon vorher dunkelbraune Wildlederschuhe anzog, solche, wie sie Werner Bahl zu seiner braunen Lederjacke zu tragen pflegte. Ramsun hatte einfach an alles gedacht, fand Harry Bellmann, sogar an seine verräterischen hochhackigen spitzen Schuhe. Es war durchaus möglich, daß die einem der Wachposten auffielen und dazu animierten, die Gestalt des Inspektors Bahl besonders unter die Lupe zu nehmen. Das Gefühl, von dem Harry Bellmann an jenem Morgen beherrscht wurde, kannte er noch aus seiner Schul- und Lehrzeit. Es war die Stimmung eines Prüfungstages. Nach der Zeit der Vorbereitung, den Tagen der Nervosität, der Gereiztheit und des Unbehagens kam die Stunde, in der er sich zu bewähren hatte, und je näher sie rückte, überkamen ihn Sicherheit und Ruhe. Er nahm seine Aktentasche und fuhr in die Stadt. Im KaDeWe setzte er sich in die Frühstücksstube. Nirgends, so fand er, frühstückte man so preiswert und gut wie hier. Man ging ans Büfett, ließ sich auf den Teller legen, wonach einem der Sinn stand, belegte Brötchen, Hering, Kuchen. Nur schnell mußte man seine Entscheidung treffen, denn die nächsten drängten nach, und die Entscheidung war unwiderruflich. Man konnte Übersehenes, Vergessenes nicht nachbestellen, wurde zum Schalter hin weitergeschoben, erhielt eine Tasse Kaffee und zahlte seine 5,50 DM Einheitspreis, egal, ob man nur eine Schrippe auf dem Teller hatte oder eine Portion davontrug, an der sich drei Personen krank aßen. Vom KaDeWe aus fuhr er mit der U-Bahn zur Kurfürstenstraße und lief die Potsdamer entlang bis zur Nummer 143, der Berliner Commerzbank-Filiale in Schö140
neberg. Zur verabredeten Zeit betrat er – auf die Minute genau – durch den Haupteingang das Bankgebäude.
3 Kommissar Fox sprach noch einmal bei Frau Hübner vor. „Die Rennstrecke zu Ihrem Büro zurückzulegen lohnt nicht“, sagte er gleich unter der Tür. „Ich möchte Ihnen nur ein paar Anweisungen geben.“ Ihre Augenbrauen wurden steil, die kirschroten Lippen schmollten. „Anweisungen? Mir?“ „Sie betreffen die nächsten Stunden Ihres Schneiderkursus für Fortgeschrittene eins, und sie betreffen Fräulein Claudia Kühne. Ich muß die Dame bei Ihnen erwischen und – verhaften.“ Sie schüttelte den Kopf, wehrte sich mit Worten und Gesten gegen dieses Ansinnen, als sei er darauf aus, ihr ein übles Verlustgeschäft anzudrehen. Fox achtete nicht darauf, gab ihr seine Anweisungen, fragte, in welchem Raum der Kursus stattfinde. Es war jenes Büro, das er schon kannte. „Ich werde nicht zulassen …“ „Die Polizei wird nicht zulassen“, fiel der Kommissar ihr ins Wort, „daß Sie eine Dame als Schneiderin ausbilden, die seit zwei Jahren unter der Erde liegt. Und woher sollen wir wissen, daß Sie diesen ganzen Schwindel nicht unterstützen.“ So knapp wie möglich erzählte er ihr, was sie über die angebliche Claudia Kühne wissen mußte, und sie sah ein, daß ihr ein schlechtes Geschäft nicht durch die Polizei drohte, sondern bereits vor Wochen unterlaufen war. Kühl und beherrscht sagte sie Kommissar Fox ihre Hilfe zu. Auf der Dienststelle sah er sich noch einmal an, was 141
Bellmanns Bewacher ihm mitgeteilt hatten. Wassek ließ den jungen Mann abwechselnd von drei Polizisten beschatten, einer davon war er selbst. Bellmann war mehrmals mit Bernhard Ramsun zusammengewesen, im Karateclub, in Gaststätten, auf dem Oktoberfest. Das konnte eine Menge bedeuten oder auch nichts. Fox hatte keine Ahnung, ob sich die beiden auch früher schon, bevor er Bellmann observieren ließ, gelegentlich getroffen hatten. Vielleicht hatten sie sich, seit Ramsun ohne Frau war, einander etwas enger angeschlossen. Ihr Zusammensein konnte sich als ganz harmlos erweisen. Auf dem Oktoberfest allerdings war es dem Beobachter vorgekommen, als wären sie nur für eine kurze, geheime Absprache zusammengekommen. Sie trafen sich vor dem Verhexten Haue, fuhren Riesenrad und trennten sich wieder. Harry Bellmann ging nach Hause, etwas später in ein Restaurant, aß Abendbrot, bändelte mit einem Mädchen an, verließ das Lokal jedoch ohne sie. Mit seiner Freundin Karina Ott traf er sich kein einziges Mal. An jenem Tag, an dem Harry Bellmann im blassen Licht der Septembersonne die Potsdamer Straße zum Haupteingang der Berliner Commerzbank lief, hatte Wassek die Beschattung übernommen. In wenigen Stunden würde Fox die Hübnerschen Büroräume betreten und, wenn er Glück hatte, Claudia Kühne als Franziska Heusler identifizieren und verhaften. In jenem Augenblick mußten sie wissen, wo sich Bellmann aufhielt, um ihn ebenfalls festnehmen zu können. Aufträge, bei denen jedes erkennbare Risiko auszuschließen war, überließ Wassek nach Möglichkeit keinem anderen. Niemandem vertraute er so wie sich selbst. Fox saß in seinem Dienstzimmer, bemüht, seiner inneren Unruhe Herr zu werden. In einer halben Stunde würde er losfahren. Falls Claudia Kühne nicht zum Kursus erschien, mußte er andere Möglichkeiten finden, sie 142
zu identifizieren. Dann blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf seinen Spürsinn zu verlassen, der ihm sagte, sie ist niemand anderes als Franziska Heusler. Er würde die Heusler verhaften und sich darauf verlassen müssen, daß Frau Hübner und Frau Resch sie als Claudia Kühne wiedererkannten. Um sich von seinen Grübeleien abzulenken, zog Fox aus seiner Kartei für potentielle Täter die Karte Bernhard Ramsun. In zwei Tagen lag dieser Mann auf der Straße. Unverschuldet. Von der Presse und der Edmund-Wachgesellschaft gleichermaßen aus der Bahn geworfen und seiner Existenz beraubt. Dem Kommissar war nur der Fakt bekannt, daß Ramsun keine neue Arbeitsstelle gefunden hatte. Gewußt hätte er gern, was in dessen Kopf vorging. Noch einmal überflog er, was er über Ramsun zusammengetragen hatte. Geboren war er in Bottrop, als Sohn eines Kokereiarbeiters. Er besuchte die katholische Volksschule, die er mit 14 Jahren verließ. Mit guten Noten. Auch in Religion. In Betragen stand stets „sehr gut“, das blieb so bis zum Abschluß der Handelsschule. Auch die Lehre als Industriekaufmann schloß er erfolgreich ab und bekam seine erste Anstellung als Rechnungsführergehilfe bei der Mittleren Transportkompagnie 174 in Theine-Bentlage. Später, als er seinen Dienst bei der Bundeswehr ableistete, zahlte er den Wehrsold an seine Kameraden aus. Das Geld ließ ihn nicht mehr los. Nach der Bundeswehrzeit bewarb er sich bei der Sparkasse Bottrop und wurde Kassierer. Seine Chefs stellten ihm einmütig ein gutes Zeugnis aus. Er war arbeitsam, pünktlich und ehrlich. Mit einem ähnlichen guten Zeugnis, ausgestellt vom Düsseldorfer Kaufhof, wo er stellvertretender Hauptkassierer war, bewarb sich Ramsun bei der Edmund-Wachgesellschaft. Er war durch seine Heirat nach Berlin gezogen. Hier ging er täglich mit Millionen um, ehrlich, zuverlässig, auch dann noch, als der Tagesspiegel das 143
Gegenteil von ihm behauptete. Ramsun hatte für den Kommissar etwas Roboterhaftes an sich. Er tat seine Pflicht wie ein programmiertes, gefühlloses Wesen bis zu dem Tag, an dem er ausrangiert wurde. Bis übermorgen also. Und dann? Hatte der Umgang mit Geld sein Gefühlsleben wahrhaftig reduziert? Waren seine Zuverlässigkeit, seine eheliche Treue, seine Uninteressiertheit an Dingen außerhalb seiner engen Lebenssphäre nichts als Gleichgültigkeit? Ging er nun mit dieser Gleichgültigkeit in seine ungewisse Zukunft? Denn seine Chancen, eine Arbeit zu finden, die seiner Ausbildung entsprach, standen gleich Null, darüber war sich Fox im klaren. Er steckte die Karteikarte zurück als das Telefon klingelte. Wassek meldete sich. „Chef, ich stehe in der Potsdamer in einer Telefonzelle gegenüber der Berliner Commerzbank. Er ist vor einiger Zeit hineingegangen. Vor langer Zeit möchte ich sagen. Vor zu langer Zeit. Um diese Stunde ist doch kaum Betrieb da drinnen, aber er kommt einfach nicht zurück.“ „Vielleicht braucht er eine Beratung für einen Kredit oder für die lukrativste Möglichkeit einer Geldanlage. Die Bank, mit der man reden kann und so. Steht doch in jeder Zeitung.“ „Vielleicht sollte ich mal reingehen und nachschauen“, sagte Wassek, „nur wenn nicht viel Leute drinnen sind, bemerkt er mich, und ich scheide für die weitere Observation aus.“ „War sonst irgendwas Auffälliges?“ fragte der Kommissar. „Eigentlich nicht. Er hat gut gefrühstückt im KaDeWe. Das heißt, merkwürdig ist die Sache mit seinen Schuhen. Heute trägt er seine hochhackigen schwarzen spitzen nicht, sondern einfache braune Wildlederschuhe, die überhaupt nicht zu seiner Travolta-Aufmachung passen.“ „Vielleicht hat er die schwarzen zur Reparatur gebracht.“ 144
„Wir beobachten ihn rund um die Uhr, Chef“, erwiderte Wassek vorwurfsvoll. „Er hat keine Schuhe reparieren lassen.“ „Vielleicht tut er’s heute nachmittag.“ „Wozu eigentlich?“ fragte Wassek. „Die sahen nicht aus, als müßte was dran herumgebessert werden. Keine schiefen Absätze, keine geplatzte Naht. Ich vermute, er hat zwei oder drei Paar von der gleichen Sorte, die er abwechselnd trägt. Aber heute hat er braune Wildlederschuhe an. Das ist ein Stilbruch, Kommissar, der mir zu denken gibt.“ „Also gut, gehen Sie ihm ins Bankgebäude nach“, entschied Fox. „Ich schicke jemanden los, der die weitere Beobachtung übernimmt, falls es Ihnen dann nicht mehr möglich ist.“ „Danke, Kommissar.“ Wassek legte auf, verließ die Telefonzelle, überquerte die Straße und verschwand im Haupteingang der Berliner Commerzbank.
4 Neben dem weißgelben Panzerwagen in der Tresorgarage der Commerzbank standen zwei Wachmänner, jeder mit einer schußbereiten MPi. „Da wollen wir mal“, sagte Ramsun. Werner Bahl hatte zwei Millionenschecks und einen Scheck über achthunderttausend eingelöst. Nun gingen sie daran, die Geldbündel in große Ledertaschen zu packen und diese Fracht im Panzerauto zu verstauen. Einer der Wachleute blieb neben ihnen, der andere stand am Eingang der Tresorgarage. Als sie fertig waren, fragte der vom Eingang her: „Fahrt ihr gleich los, oder macht ihr erst eine Kaffeepause?“ „Kaffeepause“, sagte Ramsun. 145
Werner Bahl warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „In Ordnung. Wir liegen gut im Rennen.“ „Und wir? Wollen wir knobeln?“ fragte der Wachmann von der Tür her. „Geh du. Mir ist noch nicht nach Frühstück. Mir liegt von gestern abend noch was quer im Magen.“ Sie verließen alle vier die Garage. Der Wachmann, der keinen Appetit hatte, postierte sich neben dem Pförtner, der die Hofeinfahrt zur Steinmetzstraße bewachte. Ramsun, Werner Bahl und der zweite Wachmann liefen über den Hof zum Hintereingang der Bank. Im Hausflur sagte Ramsun: „Fahrt schon rauf. Ich verschwind noch mal.“ „Mir ist’s auch so“, erwiderte Bahl. Zusammen mit Ramsun betrat er die Herrentoilette. Der Fahrstuhl kam herunter, der Wachmann und ein Bankangestellter fuhren zur Kantine hoch. Werner Bahl benutzte eines der Becken. „Mir grimmt der Darm schon den ganzen Morgen über“, sagte Ramsun und verschwand in einer der drei Toilettenzellen. Nebenan war besetzt, doch es war seltsam still darin. Werner Bahl ließ Wasser über die Hände laufen und trocknete sich ab. „Wirst du fahren können?“ fragte er besorgt zu der Tür hin, hinter der Ramsun leise stöhnte. „Klar. Ich brauch nur ’n starken Mokka. Der hat mich noch immer auf die Beine gebracht.“ „In Ordnung. Ich bestell schon mal.“ Werner Bahl verließ den Toilettenraum. Neben Ramsun hüstelte jemand in einem bestimmten Rhythmus. „Alles klar?“ fragte Ramsun leise. „Bin startbereit.“ Es war Harry Bellmanns Stimme. „Laß dich mal sehen“, sagte Ramsun. Bellmann trat heraus. Oberflächlich gesehen, hatte er jetzt gewisse Ähnlichkeit mit Werner Bahl. Braune Le146
derjacke, beigefarbene Hosen, braune Schuhe und die Schirmmütze in die Stirn gedrückt, wie es Bahls Art war. Die Figur stimmte nicht ganz, doch das würde nicht auffallen, wenn er erst im Wagen saß. „Na?“ fragte Bellmann. „Wir riskieren’s.“ An der Tür lauschend, flüsterte er: „Warte noch einen Augenblick. Der Fahrstuhl muß erst abfahren, sonst steht Bahl womöglich noch draußen. Und wir müssen über den Hof sein, bevor der Fahrstuhl wieder herunterkommt. Könnte doch jemandem auffallen, daß der Sicherheitsinspektor im Dachgeschoß eben zur Kantine ging und im nächsten Augenblick den Transporter besteigt. – Los. Jetzt.“ Sie verließen die Toilette und durchquerten den leeren Hausflur. Am Fahrstuhl leuchtete das Kontrollicht in der zweiten Etage auf, gleich darauf in der dritten. Ramsun öffnete die Tür, die zum Hof führte. Von der Einfahrt Steinmetzstraße her fuhr ein PKW herein. „Unterhalte dich mit mir“, sagte Ramsun, „und lach auch mal.“ Bellmann wandte ihm das Gesicht zu, so daß der Bankangestellte, der aus dem Wagen stieß, ihn nur von hinten sehen konnte. Doch der beachtete die beiden kaum. Er schien es eilig zu haben, an seinen Arbeitsplatz zu kommen. Als Ramsun das Garagentor aufschob, drängten nebenan aus dem Raum, in dem die Putzfrauen ihr Domizil hatten, drei Frauen, klapperten mit Eimern, schwenkten Besen, schwatzten, lachten. Ramsun grüßte sie, als sie zu ihm und Bellmann herüberblickten, Harry Bellmann nieste, hielt sein Taschentuch vors Gesicht und verschwand in der Garage. Sekunden später rollte der Panzerwagen über den Hof auf die Einfahrt Steinmetzstraße zu. Ramsun reichte dem Pförtner die Papiere, sein Sicherheitsinspektor blickte auf die Armbanduhr und dann geradeaus auf die Straße. Sorgfältig prüfte der Pförtner die Papiere, warf einen 147
kurzen Blick auf Ramsuns Ausweis und sagte: „Nächste Woche fährt dann wohl ein anderer.“ „Ja“, erwiderte Ramsun, „dann also Tschüs. Alles Gute für Sie.“ Der Pförtner winkte ab. „Wir sehen uns heute noch. Habe bis abends Dienst.“ „Ach so.“ Ramsun fuhr los. Der Wachmann mit der MPi, der beim Geldverladen die Garageneinfahrt gesichert hatte, tippte zum Gruß mit dem Finger an den Mützenrand. Hinter ihnen schloß sich das schwere Tor. Es war jener Augenblick, in dem Leutnant Wassek in der Potsdamer Straße die Commerzbank durch den Haupteingang betrat. „Erste Etappe“, sagte Ramsun. Harry Bellmann schnaufte. „Nun mal ehrlich“, fragte er, „Hattest du Angst?“ „Keine Zeit“, entgegnete Ramsun, „ich konzentriere mich nur auf den Augenblick. Und du solltest das auch tun.“ Sie schwiegen, bis der Panzerwagen in den weitflächigen Grünanlagen in Tiergarten verschwand. An den Bäumen färbte sich das Laub, doch es war noch dicht und ließ an manchen Stellen kaum einen Strahl Sonne durch. In der Nähe des Gartenbauamtes bogen sie in einen schmalen, als Einbahnstraße gekennzeichneten Weg ein. Hinter ihnen sprang eine lange, dünne Gestalt im Jeansanzug aus dem Gebüsch und stellte ein Umleitungsschild auf. Der Transporter fuhr so langsam, daß der Junge ihn einholen und sich aufs Trittbrett schwingen konnte. Sie hielten dicht hinter dem Volvo-Kombi. „Hattest du nicht ’ne todsichere Sache mit einem Porsche ausgeguckt?“ fragte Bellmann. „Wenn dir ’n Volvo nicht fein genug ist, kannste abzischen.“ Inzwischen hatte Ramsun den Panzerwagen aufgeschlossen. 148
„Beeilung!“ Die beiden brachten Koffer aus dem Volvo. Bevor sie das Geld umluden, streckte Ramsun dem Jungen die Hand hin. „Wollen wir uns wenigstens bekannt machen. Ramsun. Ohne Sie wäre meine Idee nicht viel wert gewesen.“ Breitbeinig stand der Junge vor ihm. Die schmalen wäßrigen Augen verrieten Gereiztheit. Sein Händedruck war heftig, beinahe schmerzhaft. „Ohne mich wäre … Ach zum Teufel mit Ihrem Gesülze. Greifen Sie lieber in den verdammten Selbstbedienungsladen.“ Er wandte sich ab und packte gebündelte Geldscheine in die Koffer. „Achthunderttausend für Sie“, sagte Ramsun. „Jackie, das reicht, um in Kanada ’n Blockhaus damit zu tapezieren“, frotzelte Bellmann. „Schleim! Pack du deine Fetzen dort unters Gebüsch. Fünf Meter weiter steht ’ne Maschine. Du braust erst ab, wenn wir außer Sichtweite sind.“ Sie verstauten Ramsuns Überseekoffer im Volvo und packten auch Jackie Stöhrs Anteil, in Koffer und Aktentasche untergebracht, noch dazu. Jackie holte einen dunkelblonden Bart und eine ebensolche Perücke aus dem Handschuhfach. „Komm her, du Anbaufläche“, forderte er Ramsun auf. Er schien noch immer gereizt. „Bissel Ähnlichkeit mit dem Onkel auf deinem Paßbild mußte schon haben.“ Er klebte ihm den Bart an, stülpte die Perücke auf. „Guten Tag, Herr Lothar Wolf“, sagte Bellmann. Ramsun faßte ihn an beiden Schultern. „Laß dir’s gut gehen, Großstadtcowboy.“ „Leb wohl, mein Alter. Paß auf dich auf.“ Jackie ließ den Motor an, und Ramsun stieg ein. Sie fuhren Richtung Tegel. Kurz vor dem Ziel sagte Ramsun: „Viel Glück in Kanada, Jackie.“ 149
„Erst dort sein. Verdammt, ich hab jahrelang davon geträumt.“ „Ich denke, man muß seine Träume ernst nehmen, egal was draus wird.“ Und nach einer Weile: „Vielleicht ist es das einzige, was man ernst nehmen sollte. Die Wirklichkeit …“ „Aussteigen“, sagte Jackie Stöhr. „Holen Sie sich mal so’n fahrbaren Untersatz für Ihre Koffer.“ Ramsun lief zum Eingang und kam mit einem Gepäckroller zurück. „Lassen Sie den Volvo hier, oder fahren Sie mit ihm in die Stadt zurück?“ fragte er. „Ab jetzt kümmern Sie sich nur noch um Ihren Dreck, Wolf.“ „Trotzdem, Dank für alles.“ Er wandte sich ab und schob die Koffer auf die Halle zu. Jackie Stöhr stieg in den Wagen und sah ihm nach, bis er verschwunden war. „Scher dich zum Teufel, du nationales Unglück“, murmelte er. „Träume ernst nehmen! Scheiß – Sabberlatz du! Jede Nacht werde ich träumen, daß sich der verdammte Dickwanst mein Messer aus’m Bauch zieht und sagt: Hoppla, das war die falsche Richtung! Und sich ’n Wurstfetzen fürs Frühstück damit absäbelt. Und lebt. Lebt!“ Vorsichtig lancierte er den Volvo aus der Parklücke und lenkte ihn stadtwärts. Ramsun fuhr seine Koffer zur Gepäckabfertigung, passierte anstandslos alle Kontrollen. Unter den Fluggast-Kontrolleuren glaubte er hier und da ein bekanntes Gesicht zu sehen, doch niemand warf einen mißtrauischen Blick auf ihn. Da er einer der letzten Fluggäste für die Maschine nach Athen war, mußte ohnehin alles schnell gehen. In der Potsdamer Straße, dachte Ramsun, würden sie inzwischen bemerkt haben, daß er mit dem Transporter verschwunden war. Jeden Augenblick konnten sie auf dem Flughafen die Kontrollmaßnah150
men verschärfen, doch er spürte nicht die geringste Furcht. Er kam sich vor wie der Hauptdarsteller in einem Film, und die Szene in Tegel hatte laut Drehbuch ohne Zwischenfall zu verlaufen. In letzter Minute kaufte er noch eine Tageszeitung. Vielleicht im Flugzeug, vielleicht irgendwann in einem anderen Land wollte er nachlesen, was an jenem denkwürdigen Tag in der Welt alles geschehen war. Kaum saß er in den Polstern und hatte sich angeschnallt, rollte die Maschine schon zur Startbahn. Ramsun fühlte keinerlei Abschiedsschmerz, als sie vom Boden abhob. Er empfand weder Freude noch Erleichterung. Er dachte ganz einfach: Nun fliegt Herr Lothar Wolf nach Athen.
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VII
1 In der Kantine aß Werner Bahl Brot mit Landleberwurst und trank außer seinem Kaffee noch den Mokka, den die Serviererin für Ramsun gebracht hatte und der bereits auskühlte. An seinem Tisch hatten zwei Angestellte der Commerzbank Platz genommen, die er flüchtig kannte. Als sie sich verabschiedeten, blieb er noch ein Weilchen sitzen, zahlte aber seine Zeche schon. Der Wachmann, der mit ihm heraufgekommen war, ging eben zur Tür. Werner Bahl rief ihn zurück. „Guck doch mal in die Herrentoilette rein“, bat er ihn. „Ramsun hat Darmgrimmen, aber irgendwann muß er sich doch ausgegrimmt haben. Oder wir müssen einen anderen Fahrer anfordern.“ „Bleib in der Nähe des Telefons“, sagte der Wachmann, „ich schau nach dem Rechten und ruf hoch.“ „Danke.“ Werner Bahl blieb am Tresen stehen und ließ sich eine Schachtel Camel geben. Kurze Zeit später klingelte das Telefon. „Für Sie, Herr Bahl.“ „Hallo, Werner, in der Toilette ist er nicht mehr. Wird entweder mit dem Fahrstuhl zu dir unterwegs sein, oder er läßt sich ’ne Tablette aus dem Giftschrank 152
geben. Ich geh jetzt Einfahrt Steinmetzstraße, Richard ablösen.“ „Schönen Dank auch.“ Bahl legte auf, verließ die Kantine, wartete, bis der Fahrstuhl heraufkam. Eine Bankangestellte und eine der Putzfrauen stiegen aus. Läßt mich einfach hier oben beim kalten Kaffee sitzen, dachte Bahl verwundert, das paßt überhaupt nicht zu ihm. Wenn er zum Sanitäter mußte, hätte er übers Haustelefon Bescheid gesagt. Hoffentlich ist er nicht umgekippt. Gewissenhaft wie er war, schaute er im Erdgeschoß in den Toilettenraum, als könne der Wachmann einen Kerl wie Ramsun dort übersehen haben. Auf dem Weg zum Sanitäter stieß er mit Richard zusammen, dem Wachmann, der eben abgelöst wurde. „Bei euch schneit’s wohl!“ rief er Bahl ärgerlich zu. „Erst fahrt ihr den Transporter vom Hof, dann geistert ihr durchs Gebäude und spielt Versteck miteinander.“ „Quatsch, wir sind noch nicht losgefahren.“ „Verstehe“, sagte Richard, „was da vor zwanzig Minuten an mir vorbei ist, war ein Kinderwagen, und auf den Papieren, die Ramsun abgegeben hat, steht, daß er mal schnell mit ’nem Baby vor die Tür gehen darf. Und du warst ohnehin nur ’n Geist.“ Beiläufig nahm er die MPi von der Schulter. „Was für ’n Scheißspiel habt ihr euch denn da ausgedacht?“ „Ramsun? An dir vorbei?“ Werner Bahl starrte den Wachmann an. Plötzlich stürzte er zur Tür, riß sie auf, rannte über den Hof auf die Garage zu. Der Wachmann folgte ihm, langsam, die MPi hatte er jetzt im Anschlag. Das Tor stand offen, und die Garage war leer. „Laß dir ruhig Zeit und guck in jeden Winkel“, sagte der Wachmann, „so’n Panzerwägelchen möcht vielleicht hinter ’nen liegengebliebenen Putzlappen gerutscht sein. Immer schön Zeit rausschinden, damit der Kumpel Boden gewinnt.“ 153
Bahl wandte sich um, aschfahl im Gesicht. „Ich hau dir die Fresse ein!“ „Natürlich. Aber erst gehst du an die hintere Garagenwand und hebst die Pfoten hoch. Gesicht zur Wand, einen Schritt zurück, Beine gespreizt. He, Kumpel, das kennst du doch. Also stell dich nicht so an.“ Er schob die Garagentür zu und schloß ab, dann rannte er über den Hof und löste Alarm aus. Inzwischen hatte Wassek den großen, aber übersichtlichen Raum betreten. Auf den ersten Blick konnte er Harry Bellmann nicht entdecken. Er schritt über weiche, dicke Teppiche, mit denen der gesamte Fußboden ausgelegt war, auf die Schreibpulte zu. Ein Kunde füllte Formulare aus, eine Frau schaute abwechselnd auf ihr Sparbuch und den Auszahlschein, auf dem nur ihr Name stand, und konnte sich nicht entschließen, die Summe einzusetzen. Bellmann saß an keinem der Pulte. Er stand auch an keinem Schalter. Wassek durchquerte mehrmals den Raum. Es gab keine Nischen, keine Verstecke, keine Nebenausgänge. Vor dem Video-Gerät saß ein Ausländer mit Bismarckbart und fettigem schwarzglänzendem Haar. Er rief ein Programm ab, das ihn über irgendwelche Finanzmanipulationen im Orient informierte. Wahrscheinlich geht’s um Ölaktien, dachte Wassek. Neben dem Fernseher bemerkte er eine Tür. Er ging hin, klinkte. Sie war verschlossen. Hinter einem der Schalter glitt ein Herr in Grau hervor und auf Wassek zu. „Was können wir für Sie tun?“ Allein die Stimme verriet, daß der Herr im grauen Anzug keinen Spaß verstand. „Seltsamerweise“, sagte Wassek, „ist vor einiger Zeit mein Freund hier hereingegangen und verschwunden. Könnte er jene Tür dort als Ausgang benutzt haben?“ „Jene Tür dort“, wiederholte der Herr mit der kühlen Stimme eines Hausdetektivs, der von seinen Fähigkeiten 154
überzeugt ist, „bleibt verschlossen.“ „Sie sollten sie zumauern“, sagte Wassek. „Bleibt für den Besucherverkehr verschlossen. Nur einige Angestellte besitzen einen Schlüssel.“ „Und wo führt sie hin, die Tür?“ „Bankinterne Angelegenheiten, mein Herr. Wir beraten Sie gern in Ihren finanziellen …“ Wassek zog seinen Ausweis. . „Oh“, sagte der Herr überrascht, doch keine Spur liebenswürdiger. „War Ihr verschwundener Freund auch Polizist?“ „Keineswegs. Nur jemand, für den wir uns interessieren. Wo kann er hin sein?“ „Nirgends. Er ist entweder noch in diesem Raum“, er blickte sich um, „oder Sie haben einen Augenblick lang zur Seite gesehen, als er hinausging. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.“ „Doch“, erwiderte Wassek böse, „er hat sich in Luft aufgelöst. Das tut er leider manchmal.“ Er schob den Herrn beiseite und verließ das Bankgebäude. Draußen wartete seine Ablösung, blickte in eine andere Richtung und tat, als kenne er ihn nicht. Wassek ging auf ihn zu. „Er ist verschwunden“, sagte er, „einfach so. Und bevor wir ihn nicht wiederhaben, können wir ihn ja wohl auch nicht beschatten.“ In diesem Augenblick heulte im Hof die Sirene los. „Hier ist doch was oberfaul“, sagte Wassek. „Wie es aussieht, brauchen die ein paar tüchtige Polizeibeamte. Kommen Sie, vielleicht können wir uns nützlich machen.“ Sie rannten um das Gebäude herum zur Einfahrt Steinmetzstraße.
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2 Während Wassek noch im Schalterraum der Commerzbank nach dem verschwundenen Harry Bellmann suchte, stieg Kommissar Fox vor dem Hübnerschen Schneidersalon aus dem Wagen. Von der Hausecke her kam ein älterer korpulenter und solide gekleideter Mann auf ihn zu. Vor Tagen noch hatte eine tomatenähnliche rotgeschwollene Nase sein Gesicht verunziert, jetzt hatte sie wieder normale Ausmaße. „Das Mädchen, das Sie beschrieben haben, ist vor drei Minuten ins Haus gegangen“, sagte er. „Gut. Bleiben Sie beim Wagen.“ Fox sprang die Treppe hoch, wollte klingeln. Hinter der Tür hörte er Frau Hübners Stimme. Irgend jemand hatte erreicht, was er nicht geschafft hatte: Frau Hübner wirkte fassungslos. „Aber ich bitte Sie, meine Liebe, laufen Sie doch nicht einfach davon. Vielleicht können wir telefonisch etwas unternehmen.“ Ihre Stimme schrillte und überschlug sich vor Ratlosigkeit. Schon wurde die Tür aufgerissen. Franziska Heusler preßte sich an die Wand und schlüpfte an Fox vorbei. Mit einem Satz holte er sie ein, packte ihr Handgelenk, drehte den Arm leicht nach hinten. Wahrscheinlich schmerzte es, doch sie gab keinen Laut von sich, sah ihn nur mit kalten Augen an und lächelte. „Ich habe mein Möglichstes getan“, sagte Frau Hübner hinter seinem Rücken. Ihre Stimme klang nicht mehr so schrill, zitterte aber ein wenig. „Ihr fiel plötzlich ein, daß sie die Kochplatte nicht ausgeschaltet hat.“ „Wann fiel es ihr ein?“ fragte Fox und lockerte den Griff ein wenig. „Sie hatte sich eben mit Frau Resch unterhalten.“ „Alles klar. Besten Dank.“ 156
Frau Hübner zog die Tür ins Schloß. Der Kommissar wandte sich der jungen Frau zu, die ihn noch immer verächtlich anlächelte. Dieses Lächeln schien festgefroren auf ihrem Gesicht. „Sie hatten schon bessere Ideen als die mit der Kochplatte“, sagte Fox. „Ich lasse Sie jetzt los, und Sie bleiben hübsch an meiner Seite. Vor der Tür steht ein Wagen. In den steigen wir beide ein.“ „Ich wüßte nicht, wieso.“ Es war die gleiche schöne, rauchige Stimme, die ihn schon im Hausflur am Leopoldplatz gereizt hatte. „Dann erkläre ich’s Ihnen mit Vergnügen, Fräulein Heusler“, sagte er und stieg die Treppe hinunter. Langsam folgte sie ihm. „Falls Ihre Kochplatte wahrhaftig noch eingeschaltet ist, fahren wir einen kleinen Umweg über den Leopoldplatz. Das bringt uns nicht weiter in Verlegenheit.“ Er hielt ihr die Haustür auf, doch sie blieb stehen. „Wer sind Sie eigentlich?“ fragte sie, und nun war auch das Lächeln aus ihrem Gesicht verschwunden. „Sie benehmen sich halb wie ein Flegel, halb wie ein Hanswurst. Ich heiße nicht Heusler, und den Witz vom Leopoldplatz verstehe ich nicht. Falls es ein Witz sein sollte.“ Fox hielt ihr seine Marke hin, nannte Namen und Dienstgrad. „Ich nahm an, Sie konnten sich’s zusammenreimen. Damit mußten Sie doch rechnen, daß Ihnen eines Tages jemand aus meiner Branche über den Weg läuft. Aber so ist’s natürlich exakter. Und jetzt kommen Sie. Verhöre im Hausflur sind mir zuwider.“ Er schob sie auf die Straße. Der solide gekleidete Herr kam auf sie zu, und flankiert von den beiden Polizisten ging sie zum Wagen. Eine Szene, die kaum einer der Passanten beachtete. „Übrigens“, sagte Fox, „lasse ich Ihnen den Flegel durchgehen, den Hanswurst nicht.“ Bis zur Dienststelle sprach keiner ein Wort. Der Kom157
missar führte Franziska Heusler in sein Zimmer und gab Anweisung, daß er nur für Wassek zu sprechen sei, falls er anrufe. Für niemanden sonst. „Aber außer Wassek, der seit einer Viertelstunde nebenan auf Sie wartet, möchte Sie noch der Filialleiter der Berliner Commerzbank Schöneberg sprechen, Doktor Kruse von der Edmund-Wachgesellschaft und der Leiter unserer Mordkommission“, sagte Fox’ Stellvertreter. „Die Herren rufen ungefähr alle zehn Minuten an. – Na bitte“, fügte er hinzu, als das Telefon schrillte. „Kümmern Sie sich um die da“, sagte Fox mit einem Blick über die Schulter. Seine Augen waren bei jedem Namen, den der Kriminalist nannte, schmaler und einen Schein dunkler geworden. „Vorläufige Festnahme. Verdacht auf Beihilfe zu mehreren schweren Überfällen und noch ein paar Kleinigkeiten. Jetzt raus mit ihr.“ Er hob den Hörer ab und meldete sich. Am anderen Ende der Leitung fluchte Direktor Kruse. Verdammt noch mal, wo er denn stecke? Das schwerste Ding seit Jahren passiert der Edmund-Wachgesellschaft, aber der Kommissar ist nicht aufzutreiben. Ein Panzerwagen, der zwei-Komma-acht Millionen DM zu befördern hatte, sei verschwunden. Mitsamt dem Fahrer. Und dieser Fahrer war Bernhard Ramsun. Das habe er, Kruse, nun von seiner dreimal verfluchten Menschenfreundlichkeit. Statt diesen Ramsun nach dem Vorfall mit dem verlorenen Geldbeutel sofort auf die Straße zu setzen, gibt er ihm drei Wochen Frist, und zum Dank dafür brennt der mit knapp drei Millionen durch. „Er allein?“ fragte der Kommissar ahnungsvoll. „Zusammen mit einem, den er als falschen Sicherheitsinspektor eingeschleust hat. Ihr Mann hängt da einer ganz bestimmten Idee nach, ob sie was taugt, weiß ich nicht. Das ist Ihr Bier, Kommissar. Die Fahndung läuft, aber ich verlange von Ihnen, daß Sie Ihre besten Leute einsetzen. Ich will das Geld zurück, ich will den 158
Transporter und ich will vor allem diesen Ramsun haben, diesen Mistkerl. Ich will sehen, wie der …“ „Ich hab’s kapiert, was Sie wollen“, sagte der Kommissar frostig, „und jetzt hab ich zu tun.“ Er legte auf. Der nächste Anruf kam von Granitz, dem Leiter der Mordkommission. „Mir ist von dem Millionending was zu Ohren gekommen“, sagte er, „das Sie jetzt auf dem Hals haben. Heute nacht ist ein Mord geschehen, der möglicherweise was damit zu tun hat.“ „Können Sie zu mir rüberkommen?“ fragte Fox. „Mein Telefon spielt verrückt.“ Granitz sagte, in einer halben Stunde sei es ihm möglich. Der nächste Anruf kam vom Filialleiter der Commerzbank. Er wiederholte, was Fox inzwischen von Direktor Kruse erfahren hatte. „Ramsun ist also mit einem falschen Sicherheitsinspektor gefahren“, sagte der Kommissar, „und wo, bitte schön, ist der echte geblieben?“ „Zur Zeit im Krankenhaus. Durchgedreht, als ihm klar wurde, was er angerichtet hat.“ „Er?“ fragte Fox zurück. „Was er angerichtet hat?“ „Der Mann saß in der Kantine, als Ramsun mit dem Transporter los ist. Hatte sich so eingebürgert bei den Brüdern, erst noch Kaffee trinken zu gehen, ehe sie losfuhren. Ramsun hat ihn ausgetrickst. Ist erst noch zur Toilette gegangen. Dieser Bahl hätte einfach bei ihm bleiben müssen. Na, der ist am längsten Sicherheitsinspektor gewesen!“ brüllte der Filialleiter. „Leider hilft mir das im Moment nicht weiter. Ich verlasse mich auf Sie und Ihre Leute, daß Sie das Geld auftreiben und …“ „… den Transporter und vor allem Ramsun“, fiel der Kommissar ihm ins Wort. „Ich weiß Bescheid.“ Er legte auf. Einen Moment lang stützte er den Kopf in die Hände, fühlte sich müde und enttäuscht, ohne sich darüber im klaren zu sein, worüber er den Kopf 159
hängen ließ. Er hatte die Heusler festgenommen, die rechte Hand der Großen Drei. Er würde sie dazu bringen zu gestehen. Auch Harry Bellmann würde er fassen. Gegen den arbeitete die Zeit, denn er fühlte sich sicher. Der ahnte nicht, daß er seit Wochen beschattet wurde als Helfershelfer beim Karstadt-Raub und daß dadurch seine Chance, als Ramsuns Mittäter unentdeckt zu bleiben, gleich Null war. So schlecht standen die Möglichkeiten nicht, diesen Fall zu klären. Und den Karstadt-Überfall. Er hatte schon weniger in der Hand gehabt und war erfolgreich gewesen. Erfolg, dachte er, es gibt Berufe, die diesem Wort einen makaberen Klang geben. Er hatte es von dem Tag an gewußt, an dem er sich entschlossen hatte, Kriminalist zu werden, jung und voller Elan. Und nicht frei von Idealismus. Elan sagte man ihm auch jetzt noch nach, mit vierzig, und nie war er so weltfremd gewesen, zu glauben, er könne die Menschheit von ihren Übeltätern säubern, doch als nutzbringend hatte er seine Tätigkeit wohl angesehen. Je älter und gereifter er wurde, desto mehr stellten sich nun Zweifel ein am Nutzen seiner Tätigkeit. War es wesentlich mehr als Selbstbefriedigung, wenn er die Großen Drei mit all ihren Mittätern zur Strecke brachte? Formierten sich nicht in dieser oder jener Stadt bereits die Großen Vier oder Fünf? Das enttäuschendste für ihn aber war, daß nicht nur die brutal Veranlagten, charakterlich Defekten sich immer hemmungsloser ausleben konnten, sondern daß harmlose, anständige Durchschnittsbürger plötzlich aus der Bahn geworfen und zu Kriminellen wurden. Was nützte es, sie zu finden, zu strafen, zu isolieren, wenn dieser Prozeß kein Ende nahm? Der Kommissar holte aus seiner Kartei der potentiellen Täter Ramsuns Karte hervor. Er hatte damit rechnen müssen, daß Ramsun in dieser oder ähnlicher Weise reagieren würde, doch nun, wo er es getan hatte, war Fox enttäuscht. Natürlich würde er ihn eines Tages finden, wo 160
immer er sich auch verkrochen hatte, doch er mußte durch dessen Schuld einen neuen Namen aufnehmen in seine Kartei – Werner Bahl. Nun war er derjenige, für den es im gewohnten bürgerlichen Leben keine Chance mehr gab. Eines Tages würde er entsprechend reagieren … Es klopfte kurz, Wassek trat ins Zimmer. Geh an deine Arbeit, Sisyphus, befahl sich der Kommissar, du hast diesen Job gewählt und hast deine Pflichten zu erfüllen. Ob enthusiastisch, gleichgültig oder pessimistisch, greif den nächsten, Stein und wälze ihn nach oben. „Dieser falsche Sicherheitsinspektor“, sagte Fox, „war das Harry Bellmann?“ „Alles spricht dafür. Das häufige Treffen der beiden in den vergangenen Wochen, Bellmanns Verschwinden in der Schalterhalle der Commerzbank. Ramsun muß ihm die Tür neben dem Fernseher geöffnet haben. Von dort konnte er geradewegs in der Herrentoilette verschwinden. Das untrügliche Zeichen jedoch sind für mich die Schuhe, die nicht zu seiner Kleidung paßten, aber haargenau denen glichen, die dieser Bahl trug, der echte Sicherheitsinspektor.“ Das Telefon klingelte. Eine Meldung über den entführten Geldtransporter. Er war im Bezirk Tiergarten gesehen worden, wie er eben in die Entlastungsstraße einbog. Ein weißlich gelber Panzerwagen mit taubenblauer Aufschrift Edmund-Wachgesellschaft. „Davon kreuzen viele in der Stadt rum“, sagte Fox, „nachprüfen, ob einer zu dieser Stunde in dieser Gegend zu tun hatte.“ Er trat zur Stadtkarte an der Wand und steckte ein Fähnchen Ecke Potsdamer, Anfang Entlastungsstraße. „Die Fahndung nach Ramsun und Bellmann läuft?“ fragte der Kommissar. „Auf vollen Touren. Tegel ist verständigt, die Bahnhöfe, alle Grenzübergangsstellen.“ „Sie müssen einen dritten Mann gehabt haben. Ram161
sun ist nicht so vernagelt, mit dem Panzerwagen an einem Grenzübergang oder auf dem Flughafen aufzutauchen. – Wassek, Sie bleiben hier, nehmen alle Anrufe und Hinweise entgegen und koordinieren entsprechend. Veranlassen Sie, daß diese Karina Ott hergebracht wird. Ich knöpfe mir jetzt Fräulein Heusler vor, habe dann ein Treffen mit Granitz, anschließend fahre ich ins Krankenhaus und verhöre den Sicherheitsinspektor.“
3 Sie rauchte eine Zigarette, hatte die Beine übereinandergeschlagen und sah den Kommissar gelangweilt an. „Das erste, was ich Ihnen vorwerfe“, sagte Fox, „ist Paßvergehen. Sie geben sich für jemanden aus, der Sie nicht sind. Ich nehme an, daß Heusler Ihr wirklicher Name ist, aber da kann ich mich auch täuschen.“ „Sie täuschen sich. Ich heiße Claudia Kühne.“ „Erinnern Sie sich nicht an unsere abendliche Begegnung in einem Haus Nähe Leopoldplatz?“ „Dort wohne ich nicht.“ „Schade“, sagte Fox, „denn wenn Sie nicht dort wohnen, dann auf dem Friedhof in Zehlendorf. Seit zwei Jahren. Sie sind an Krebs gestorben, Fräulein Claudia Kühne.“ Sie verriet weder Überraschung noch sonst irgendeine Gefühlsregung, sie sagte lediglich: „Das ist lächerlich.“ Fox nickte zufrieden. „Sie benehmen sich ganz nach meinem Geschmack und so, wie ich es von Ihnen erwartet habe. Keinerlei Emotionen, keine Hysterie und zum Glück auch keine Tränen. Solche Ausbrüche machen mich manchmal etwas hilflos. Ihnen kann ich sachlich mitteilen, was ich über Sie zusammengetragen habe, und als scharfsinniges Mädchen werden Sie einsehen, daß das eine ganze Menge ist. Jedenfalls so viel, daß Sie reden müssen und 162
wir über Sie an die Großen Drei herankommen oder – daß diese Drei, einer wie der andere, darauf erpicht sein wird, Sie für immer zum Schweigen zu bringen.“ Sie drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und ließ ihren gelangweilten Blick durchs Zimmer schweifen. „Wo waren Sie an jenem Tag, als Karstadt ausgeraubt wurde?“ Sie zuckte die Schultern und sagte: „Ich dachte, Sie wollten mir etwas mitteilen?“ „Einverstanden. Die vom Staatsanwalt genehmigte Durchsuchung kann jeden Moment hier eintreffen. Nicht, daß ich mir große Hoffnungen mache, das Karstadt-Geld bei Ihnen zu finden. Aber paar kleine Hinweise springen immer raus. Zum Beispiel ein weißer Mantel, weiße Schuhe, genau das, was Sie getragen haben, als Sie den Leihwagen, einen roten Audi, am Winterfeldplatz abstellten. Als Franziska Heusler haben Sie ihn nicht ausgeliehen. Sie werden den Claudia-Kühne-Paß verwendet haben. Wir sind dabei, das nachzuprüfen. Sie wurden gesehen, wie Sie als Dame in Weiß den Wagen verließen, den eine Stunde später die Karstadt-Räuber zur Flucht benutzten. Die Männer, die beobachteten, wie Sie aus dem Audi stiegen, können Sie identifizieren. Danach haben Sie sich auf der Kundentoilette in ein graues Mäuschen verwandelt. Für manche Dinge haben Toilettenfrauen ein gutes Gedächtnis. Als Betschwester wird Sie dieses kurzsichtige Seelchen identifizieren, dem Sie Ihre Traktätchen aufgehalst haben, weil Sie es eilig hatten, Ihren drei Verbündeten Schützenhilfe zu leisten. Und das nicht das erste Mal. Neunzehnhundertsechsundsiebzig haben Sie einem Purolator-Angestellten den Kopf verdreht und Dienstgeheimnisse entlockt. Daraufhin wurde ein Geldtransporter ausgeräumt. Für den jungen, verliebten Mann waren Sie wie vom Erdboden verschwunden. Er wird sich freuen, Sie nach vier Jahren wiederzusehen. – Besitzen Sie den 163
Ausweis des gefallenen Fremdenlegionärs noch, in dessen Namen Sie vor zwei Jahren einen Wagen ausgeliehen hatten? Der Angestellte der Leihfirma wird Sie identifizieren, Gestalt, Gesicht, Stimme. Und nun werden Sie mir erzählen, wer das Ding bei Karstadt ausgeguckt hat. Sie? Harry Bellmann?“ „Den Teufel werde ich“, sagte sie. „Wir haben Bellmann beschattet. Wir wissen, daß Sie ihn im Ku’dorf getroffen haben. Über kurz oder lang wird er auftauchen und uns haargenau das erzählen, was Sie zum Teufel nicht erzählen wollen. Nun kann ich Ihnen nur noch raten“, sagte Fox sarkastisch, „halten Sie Ihr Niveau, und beginnen Sie nicht zu feilschen um diese oder jene Kleinigkeit. Tragen Sie es mit der Gelassenheit, die Sie sich anerzogen haben, daß Ihr Spiel aus ist. Und wenn Sie klug sind, nehmen Sie nicht die ganze Schuld auf sich, sondern lassen Ihre drei Hintermänner das büßen, was ihnen zukommt.“ „Ich bin klug genug, sie nicht zu kennen. Ich weiß weder ihre Namen, noch habe ich sie je zu Gesicht bekommen.“ „Demnächst gebe ich eine Pressekonferenz“, sagte Fox, „die Reporter werden alles über Sie erfahren, mit dem Hinweis, daß Sie gewillt sind, nicht für andere die Dumme zu sein und uns die Namen der Drei nennen und vor Gericht als Zeuge gegen sie aussagen wollen. Bis zur Ergreifung und Verhandlung der sogenannten Großen Drei werden Sie dafür auf freien Fuß gesetzt.“ „Sie Schwein“, sagte das Mädchen verächtlich, fingerte eine Zigarette aus der Schachtel, und diesmal zitterten ihre Hände, als sie sie anzündete. „Das klingt schon besser“, sagte Fox, „jedenfalls besser als Hanswurst. Übrigens, wer hat Anfang dieses Jahres bei dem Überfall in Celle den Wachmann erschossen?“ „Damit habe ich nichts zu tun.“ „Ich hab gefragt, wer es getan hat. Damals ist doch was schiefgelaufen. Wer war schuld an der Panne?“ 164
„Ich war krank.“ Sie rauchte hastig. „Mit der Sache in Celle habe ich absolut nichts zu tun.“ „Was sollte mich denn daran hindern, das zu glauben nach all Ihren Verstellungskünsten, Ausreden und Schwindeleien? Was sollte mich denn daran hindern, zu beweisen, daß Sie geschossen haben?“ „Sie widerlicher, kleiner, mieser …“ „Stopp!“ rief Kommissar Fox. „Sie kommen wieder einer meiner empfindlichsten Stellen nahe. Die Mittel, mit denen ich jemanden weichkriege, kann ich mir selten aussuchen. Zumeist drängt sie mir die Gegenseite auf.“ Er sprach sehr laut. In seinen dunkelblauen Augen lag der Widerwille eines Kämpfers, der gezwungen wird, betrügerische Mittel anzuwenden. Dem Blick dieser Augen hielt das Mädchen nicht stand. Sie sah zu Boden und suchte irgendeinen Punkt im Zimmer, auf den sie sich konzentrieren konnte. Solange er auf sie einredete, konnte sie keinen klaren Gedanken fassen, war unsicher, woher ihr die größere Gefahr drohte, von ihm oder ihren Kumpanen. „Aber ich weiß alle Mittel wirkungsvoll einzusetzen, die man mir in die Hand spielt. Darauf können Sie sich verlassen. Hoffen Sie bloß nicht auf irgendwelche Skrupel, die ich haben könnte, die bringen mich nur in Nachtrab, denn ihr habt auch keine. Und ich dreh nicht so auf, weil irgend jemand die Rosinen vom Kuchen klaubt, sondern Leute terrorisiert, überfällt, ihnen Schießeisen unter die Nase hält und gelegentlich auch abdrückt – um zu kassieren. Nur um des verdammten lieben Geldes willen, das den, der’s hat, zum Größten macht. – Und wenn’s zum größten Lumpen ist. Ich lasse Ihnen jetzt Zeit zum Nachdenken. Ich will die Namen der Räuber und Mörder haben, die im Volksmund ‚Die Großen Drei‘ heißen. Oder die bekommen Sie zum Fraß vorgeworfen. Die fressen doch Verräter, nicht wahr? Da Sie zweifellos ein zäher Brocken sind, kauen sie womöglich so lange 165
drauf herum, daß wir sie dabei noch schnappen. Sollten Sie aus deren Klauen ungeschoren davonkommen, mache ich Sie fertig. Vom Paßvergehen bis zum Mord wird Ihnen nichts erspart bleiben.“ Er rief den Wachtmeister herein und schloß die Tür hinter sich. Franziska Heusler saß vornübergebeugt, die Ellenbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände gestützt. Sie stieß einen kleinen Schrei aus, als der Wachmeister ihr die Hand auf die Schulter legte.
4 Kommissar Granitz bat telefonisch noch um eine Viertelstunde Geduld, und Fox ließ Karina Ott vorführen. Sie war nervös und versuchte ihre Unsicherheit hinter einer trotzigen Miene zu verbergen. Das Format einer Franziska Heusler besaß sie nicht. Der Kommissar schätzte, sie würde mit dem, was sie wußte, nicht hinterm Berg halten, wenn er energisch genug mit ihr sprach. „Wir haben uns lange genug mit angesehen“, sagte er, „wie Sie versuchen, uns an der Nase herumzuführen. Sie hatten die Chance, sich auf unsere Seite zu stellen oder zu einem Ganeff wie Bellmann zu halten.“ Sie sah Fox an wie jemand, dessen Anblick man sich lieber erspart hätte. Ihr Atem ging schnell und flach. „Was heißt, ich hatte die Chance? Vielleicht wollte ich bloß ein bißchen Zeit verstreichen lassen, damit er denkt, ich halte zu ihm. Er hat mir nämlich gedroht.“ „Ach so“, sagte Fox verächtlich. „Aber jetzt droh ich Ihnen, und wenn Sie zu jedem halten, der Ihnen einen erhobenen Finger zeigt, werden Sie bald in Teufels Küche kommen. Sie haben ihm geholfen, drei Bankräuber entkommen zu lassen.“ „Davon hatte ich keine Ahnung. Er hat mich zu meinem Geburtstag in die Hackerstraße bestellt und mir 166
dort eine Überraschung versprochen. Plötzlich kam er mit einem Blumenstrauß auf mich zugerannt …“ „Zeitung lesen Sie wohl nicht?“ fragte Fox. Keine Antwort. „Also war der Blumenstrauß die ganze Drohung. Und den wollten sie erst verwelken lassen, ehe Sie zu uns kommen, oder wie?“ Sie dachte nach, wie sie sich aus der Klemme ziehen konnte, kam aber nicht zurecht damit und wiederholte nur, daß sie keine Ahnung davon hatte, warum sie zur Hackerstraße kommen sollte. „Sie waren mit Ihrem Freund noch mal Pizza essen in einer kleinen miesen Italienerkneipe und sind dann mit rauf zu ihm. Haben Sie an jenem Tag Ihren Anteil abgeholt und dann mit ihm Schluß gemacht? Ich behalte Sie hier wegen Beihilfe zu einem schweren Überfall, und wenn Sie mir erzählen, Sie wüßten nicht, wovon ich rede, geh ich mal kurz raus und schütte mich aus vor Lachen.“ „Ich schwöre Ihnen“, sagte sie, „daß ich’s nicht von Anfang an gewußt hab. Erst als von dem Karstadt-Überfall in der Zeitung stand, ist mir ’n Licht aufgegangen. Ich hab mich mit ihm getroffen, um ihn zu überreden, daß er sich stellen soll, wenn er da mit drin steckt.“ „Ach, nun auch noch die Heilsarmee-Tour. Steckt wohl nicht für ’n Sechser Grips in diesem Fransenköpfchen! Mit jeder Lüge, Mädchen, gehen Sie einen Schritt auf die Anklagebank zu. Und wer auch nur am Rande mit diesem Karstadt-Überfall zu tun hat, wird sich für ’ne Weile von der Öffentlichkeit zurückziehen müssen. Also, wie tief stecken Sie drin? Ich hätte es ganz gern von Ihnen selbst erfahren, ehe ich Bellmann verhöre. Schätzungsweise wird der nicht zimperlich sein, wenn’s um Ihre Person geht, und wenn ich dann feststellen muß, daß Sie mich angelogen haben, sieht’s mies aus für Sie. Aber das ist Ihr Bier.“ Er warf einen ungeduldigen Blick zur Uhr. „Meine letzte Frage und Ihre letzte Chan167
ce. Fangen Sie damit an, was Sie wollen. – Was wissen Sie über Bellmanns Anteil am Karstadt-Raub, und wie weit stecken Sie selbst drin.“ Sie erzählte. Diesmal blieb sie bei der Wahrheit, gab zu, daß sie ihn um Schweigegeld erpreßt hatte, um neun Tausender. Ob er selbst wirklich nur zehntausend erhalten hatte, wußte sie nicht mit Sicherheit, doch sie nahm es an. Er habe eine sehr ernsthafte Bemerkung darüber fallenlassen, daß es für sie lebensgefährlich sein könnte, sich bei der Überbringerin des Geldes nach der Höhe der Summe zu erkundigen, sagte sie. Der Kommissar schickte sie nach Hause. Ein kleines Fischlein, das versucht hatte, den größeren einen Bissen wegzuschnappen. Doch für ihn war jetzt klar, weshalb Harry Bellmann nach dem Coup bei Karstadt sofort auf Ramsuns Plan eingegangen war, er hatte seinen Anteil an seine kleine Erpresser-Freundin abtreten müssen. Und die Überbringerin dieses Anteils war Franziska Heusler gewesen. Wahrscheinlich hatten sie dieses Geschäft im Ku’dorf getätigt. Überfall, Raub, Mord und Totschlag reihen sich aneinander wie die Glieder einer Kette. Die Kommissare Fox und Granitz arbeiteten seit Jahren eng zusammen, um nach Möglichkeit die ganze Kette des Verbrechens überschauen und in die Hand bekommen zu können. An jenem Tag, als Granitz Fox besuchte, fragte er ihn, ob bei diesem Raub eines Geldtransporters möglicherweise ein gestohlener Fluchtwagen eine Rolle spielen könne. Kommissar Fox wiederholte seine Theorie, Ramsun sei unmöglich mit dem Panzerwagen zum Flughafen, zum Bahnhof oder an einen der Grenzübergänge gefahren. „Vergangene Nacht“, sagte Granitz, „wurde in Wilmersdorf der Besitzer eines Porsche auf dem Parkplatz vor seinem Haus ermordet. Nach unseren Ermittlungen ist folgendes geschehen: Der Mann ist allabendlich unterwegs als Unterhaltungskünstler. In der Regel kommt 168
er zwischen dreiundzwanzig Uhr und Mitternacht nach Hause, parkt seinen Wagen an einer ganz bestimmten Stelle und benutzt ihn erst am nächsten Mittag wieder, um zum Essen zu fahren. Der Mann ist seit Monaten geschieden und lebt seitdem allein. Gestern abend konnte er nicht einschlafen. Er hatte ein unangenehmes Völlegefühl im Magen. Er spürte das Bedürfnis, frische Luft zu atmen und sich Bewegung zu verschaffen. Also zog er seinen Mantel über und verließ die Wohnung. Wir wissen das von einer Nachbarsfamilie, die um diese Zeit vom Kurzurlaub nach Hause kam und ihm im Treppenhaus begegnete. Auf dem Parkplatz, wo auch sie ihren Wagen abgestellt hatten, war ihnen nichts Besonderes aufgefallen. – Was nun folgt, sind Vermutungen, die aber mit großer Wahrscheinlichkeit dem entsprechen, was geschehen ist. Der Mann muß über den Parkplatz gelaufen sein und aus welchen Gründen auch immer nach seinem Wagen gesehen haben. Vielleicht war es Zufall, vielleicht hat ihn irgend etwas stutzig gemacht. In seinem Porsche hat einer gesessen. Einer, der vorher im Gebüsch gesteckt und sich von dort aus wahrscheinlich den Wagen ausgeguckt hat, den er stehlen wollte. Auf der Fußmatte lagen Erdkrümel, die eindeutig von der Erde aus jenem Gebüsch stammen. Dieser Wagendieb hat dem Besitzer des Porsche das Messer in den Leib gestoßen. Welche Szene diesem Drama vorausgegangen ist, wissen wir nicht, doch ich vermute, daß der Unterhaltungskünstler denjenigen, der in seinem Wagen saß, zu Gesicht bekommen hat und deshalb sterben mußte.“ „Panikhandlung“, kommentierte Fox. „Danach sieht’s nicht aus. Der Mörder ist ein Stück vorgefahren und wieder zurückgestoßen, genau über den Körper des Niedergestochenen, und das mehrmals. Der Mann sah scheußlich aus. Und nun habe ich das große Grübeln. Weshalb zieht es einer nicht vor, sich wegen Autodiebstahls drankriegen zu lassen, statt wegen Mordes 169
vor Gericht zu kommen? Denn eines Tages schnappen wir ihn doch. Er hätte sich sogar noch rausreden und behaupten können, sich einen dummen Scherz erlaubt oder eine Mutprobe geleistet zu haben oder sich einfach in dem Wagen auspennen zu wollen. Aber weshalb tötet er den Mann und fährt noch ein paarmal über ihn hinweg …“ „Um sicherzugehen, daß der wirklich keinen Piep mehr sagen kann“, ergänzte Fox. „Also muß er etwas auf dem Kerbholz haben, vielleicht schon in irgendeiner Verbrecherkartei aufgenommen sein.“ „Oder …“ Fox zögerte. Dann sagte er: „Angenommen, es hing viel davon ab für ihn und für andere, daß er in jener Nacht einen Wagen stiehlt. Angenommen, der sollte noch umfrisiert werden, weil man ihn am nächsten Tag für ein ganz bestimmtes Ding brauchte, das gedreht wurde oder gedreht werden sollte, dann hätte er sich und seinen Kumpanen den Coup vermasselt, wenn er von dem Wagenbesitzer auch nur als Penner der Polizei präsentiert worden wäre.“ „Ähnliches ging mir auch durch den Kopf“, erwiderte Kommissar Granitz, „und als ich vorhin von dem Millionending hörte, daß da einer der Panzerwagenfahrer gedreht hat, dachte ich, etwas von dieser Größenordnung könnte es gewesen sein, was den Mann zum Messer greifen ließ.“ Fox fragte, ob der Porsche auf dem Parkplatz stehengelassen wurde, doch sie hatten ihn ein paar Straßenzüge weiter gefunden. Kommissar Granitz ließ noch ermitteln, ob in jener Gegend eine Taxe angehalten wurde oder der Fahrer des Nachtbusses einen Hinweis geben konnte, mit dem etwas anzufangen war. Er hatte sich alle in jener Nacht als gestohlen gemeldeten Wagen beschreiben lassen, die Nummern und den ehemaligen Standort registriert. Die Liste übergab er Fox. Als er das Zimmer verlassen hatte, steckte Wassek den Kopf herein. 170
„Chef? Sind Sie noch da? Der Panzerwagen ist gefunden worden. In Tiergarten: nähe Gartenbauamt. Jemand hat Sperrschilder aufgestellt. Neben dem Transporter hat ein PKW gestanden. Am Straßenrand konnten guterhaltene Reifenspuren gesichert werden. Könnte ein Volvo gewesen sein. Und im Gebüsch hatte einer ein schweres Motorrad mit Seitenwagen versteckt.“ Der Kommissar drückte ihm die Liste der gestohlenen Wagen in die Hand. „Drei Volvos sind dabei. Über die möchte ich alles wissen. Und sofort Meldung, wenn einer davon wieder auftaucht. Ich fahre ins Krankenhaus zu diesem Sicherheitsinspektor, den Ramsun ausgetrickst hat.“
5 Alles im Zimmer war weiß: Wände, Gardinen, Bettgestell und Bettlaken, das Nachthemd des Patienten. Auch sein Gesicht. Inmitten dieser Schneelandschaft saß eine junge Frau, nicht hübsch, nicht häßlich. Sie wirkte hilflos und ziemlich verloren. Hin und wieder fuhr sie mit schneller, scheuer Geste über die Augen. „Du mußt das nicht so schwernehmen“, sagte sie und versuchte, Kraft und ein bißchen Optimismus in ihre Stimme zu legen. „Was ist denn schon geschehen? So was passiert ab und zu, und da kann nur der dafür verantwortlich gemacht werden, der es getan hat. Sie finden ihn schon noch.“ Der Patient saß, das Kopfteil des Bettes hochgestellt, mit einem Kissen im Rücken und blickte ins Leere. Kommissar Fox wünschte ihm einen guten Tag und stellte sich der Frau vor. „Ich bin Frau Bahl“, sagte sie. „Nicht wahr, Sie finden diesen Fahrer? Und dann wird sich herausstellen, daß mein Mann überhaupt nichts mit der Sache zu tun hat.“ 171
„Er hat nichts damit zu tun“, sagte Fox, „da bin ich jetzt schon ziemlich sicher. Dürfte ich ihn ein paar Minuten allein sprechen?“ Sie erhob sich, strich ihrem Mann sacht über den Unterarm, faßte seine Hand. Er erwiderte ihren Druck und blickte auf, als sei er erstaunt, sie hier zu sehen. „Sorg dich nicht so. Den Kindern geht’s gut, mir geht’s gut. Und wenn du ein Weilchen für die Arbeit ausfällst, geht es uns trotzdem noch gut.“ Sie verließ das Zimmer. Die Schwester kam herein. Mit prüfendem Blick auf den Patienten sagte sie: „Er wird müde. Nicht länger als zehn Minuten, Herr Kommissar.“ Dann ließ sie die beiden allein. Bei dem Wort Kommissar hatte Werner Bahl sich nach Fox umgeblickt. Der stellte den Besucherstuhl so, daß sie sich bequem ins Gesicht sehen konnten. Bahl hatte eine Beule an der Stirn und daneben ein Pflaster, das eine Platzwunde bedeckte. Eingesperrt in die dunkle Garage, aus der der Geldtransporter entführt worden war, verdächtigt, diesen Raub begünstigt zu haben, war Werner Bahl in Raserei verfallen. Er hatte sich gegen die Garagentür geworfen, immer wieder, bis er zusammengebrochen war. Fox wußte es vom Arzt. Nach dem Zusammenbruch war die Depression gekommen. Man hatte ihn in die Psychiatrische eingeliefert und mit Medikamenten behandelt, die ihn stimulieren sollten. Vorläufig schienen sie nichts als müde Gleichgültigkeit zu bewirken, fand der Kommissar. „Der Transporter ist gefunden“, sagte Fox, „in Tiergarten, Nähe Baumschule. Natürlich leer.“ „Und Ramsun?“ fragte er. „Den finden wir auch noch.“ „Ich versteh’s nicht“, sagte Bahl. „Manchmal bin ich immer noch in dem dunklen Loch von Garage.“ „Der Wachmann, der Sie da eingesperrt hat, war ein Idiot“, sagte Fox und dachte, daß er sich an dessen Stelle 172
wahrscheinlich genauso verhalten hätte. „Ich kann Ihnen versichern, daß ich Sie in keiner Weise verdächtige.“ „Ach du lieber Himmel“, sagte Bahl und schien das Interesse am Gespräch wieder zu verlieren. Das war also nicht Bahls Problem, überlegte der Kommissar. „Haben Sie in den letzten Tagen irgendeine Veränderung an Ramsun bemerkt? Etwas Auffälliges, was Ihnen vielleicht jetzt erst in den Sinn kommt, weil es Ihnen vorher bedeutungslos erschien?“ „Ramsun ist Ramsun“, sagte der Patient bedächtig. „Nur wer dieser Ramsun ist, haben wir alle nicht gewußt. Vielleicht hat er’s selbst nicht gewußt.“ Das also war die Klippe, über die er nicht kam – Ramsun, mit dem er jahrelang Tag für Tag Millionen transportiert, beschützt und gelegentlich verteidigt hatte. Demnach hatte sich Ramsun bis zur letzten Minute mit keiner Geste oder Äußerung verraten. Der Schlag war auch für Werner Bahl ein Blitz aus heiterem Himmel gewesen. „Einen Kerl wie Ramsun“, sagte Bahl, „den wollten die feuern, die Armleuchter! Und seine Frau ist ihm davongelaufen. Er hat nicht mit der Wimper gezuckt und hat da drinnen …“, er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, „die ganze Zeit über diesen teuflischen Plan gehabt, und da drinnen …“, jetzt preßte er die Hand gegen die Brust, „da muß er einen Stein gehabt haben. Und das alles kapier ich nicht. Das ist doch einer, der Ramsun, der sein letztes Hemd weggibt, wenn jemand friert. Wieso kann er dann einen, der noch nicht friert, in ein dunkles, kaltes Loch stoßen und drin umkommen lassen?“ Jetzt tanzten viele Fünkchen in Bahls Augen, irrlichterten und gaben dem Gesicht einen ratlosen, gehetzten Ausdruck. Er sprach schnell und leise. „Was spielt denn das für eine Rolle, ob ihr ihn findet oder nicht findet? Ob ihr mich verdächtigt oder nicht 173
verdächtigt? Es hat’s getan, und jetzt bin ich er. Jetzt bin ich gefeuert und muß mir was einfallen lassen, weil ich auch nichts anderes kann, als mit Geld umzugehen. Nun schwirrt’s mir immer im Kopf rum, hat er daran gedacht oder hat er nicht daran gedacht. Was macht man, wenn man nichts mehr machen kann, so wie Ramsun, so wie ich? Schaffe ich auch so’n Ding wie er? Ich meine, krieg ich’s fertig? Und wer ist dann der nächste?“ Er packte Fox am Arm und starrte ihn mit seinem verständnislosen, ein wenig irren Blick an. Der Kommissar drückte mit der freien Hand den Klingelknopf, der die Schwester alarmierte. „Sagt einfach, er hat Darmgrimmen, und klaut unseren Geldtransporter. Ich hab ihn gern gehabt, diesen Ramsun, und er hat mich auch gemocht.“ Er nahm die Hand vom Arm des Kommissars und sank in die Kissen. Mit geschlossenen Augen murmelte er immer wieder: „Du lieber Himmel, du lieber Himmel.“ Die Schwester kam, kurbelte das Kopfteil seines Bettes herunter, bis er flach lag wie auf einer Wasserwaage. Sie strich ihm Kissen und Bettdecke glatt, und der letzte Eindruck, den Kommissar Fox von ihm mitbekam, war der eines friedlichen Mannes, der sich noch im Schlaf über irgend etwas zu wundern schien.
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VIII
1 Im Gebüsch verwandelte sich der falsche Sicherheitsinspektor wieder in den Großstadtcowboy, verbarg die Kleidung in einem Stoffbeutel, den er zusammen mit Koffer und Tasche im Beifahrersitz deponierte. Dann schob er das Krad auf die Straße, stieg auf und raste davon. Er fuhr westwärts, bis er die Avus erreichte, und bog in Wilmersdorf ins Berliner Forstgelände ein. In der Nähe der Havel stoppte er an einem Campingplatz. Der Wohnwagen, zu dem er den Schlüssel besaß, gehörte einem ehemaligen Arbeitskollegen, der nach Süddeutschland geheiratet hatte. Da er sich nicht so leicht entschließen konnte, alle Zelte in Berlin abzubrechen, ließ er den Wagen stehen, nutzte ihn für acht oder zehn Tage während des Urlaubs oder an Wochenenden, die übrige Zeit stand er Harry Bellmann zur Verfügung. Bellmann ließ Koffer und Tasche im Beiwagen, schloß auf, ließ die Tür offen und schlenderte über den Platz wie einer, der nach bekannten Gesichtern Ausschau hält. Doch nur am anderen Ende des Platzes war noch ein Wagen bewohnt. Der alte Steinen hatte es im Frühjahr eilig herauszukommen und blieb, bis ihn die ersten Fröste vertrieben. Vom Fenster aus nickte er Bellmann einen Gruß zu. Der ging zurück zum Krad, schob es an 175
eine Stelle, die Steinen nicht einsehen konnte und trug Koffer, Tasche und Beutel ins Haus. Mehr war im Augenblick nicht zu tun. Das Motorrad mußte erste gegen Abend an einer bestimmten Stelle in der Stadt geparkt werden. Von dort würde es sein Besitzer, ein Bekannter von Jackie Stöhr, der es ihnen geliehen hatte, wieder abholen. Es war geschafft. Es war alles ganz einfach gewesen, beinahe im Vorbeigehen erledigt worden. Und nun war er Millionär. Plötzlich mußte er lachen, laut, befreiend. Er war tatsächlich Millionär! Und er fühlte sich großartig. Was waren das für Gedanken gewesen gestern! Natürlich machte ihn das Geld zu einem anderen Menschen, aber zu einem sorgenfreien. Nein, er brauchte nicht mehr von der Hand in den Mund zu leben, ein Zustand, an den er sich schnell gewöhnen würde. War es nicht prächtig, den Großstadtcowboy zu spielen, statt einer zu sein? Er warf sich auf die Couch, zündete eine Zigarette an, überlegte, was er kaufen würde demnächst, ohne aufzufallen. Als erstes neu einkleiden. Seine Vorliebe für die neueste Mode war bekannt, damit erregte er keinen Argwohn. Doch sonst durfte er sich nicht viel leisten, mußte sogar arbeiten gehen. Na, wennschon. Er würde Jackie Stöhr ordentlich einheizen, damit er bald einen falschen Paß bekam, mit dem er in einer anderen Großstadt untertauchen und sein Geld etwas sorgloser anlegen konnte. Eine Million! Und keine Freundin, die darum wußte und ihn erpressen konnte. Kein Brötchengeber, der nach der Uhr sah, wenn er sich um fünf Minuten verspätete. Schaufenster – nur noch um hineinzusehen und auszuwählen, was man kaufen wollte. Er drückte die Kippe aus und schloß die Augen. Ehe er einschlief, sah er sich angeseilt an einem Hochhaus die Glasscheiben sauberreiben, den Blick weithin über die Stadt schweifen. Das hatte er geliebt, da hatte er sich stolz gefühlt und erha176
ben. Ob ihm das fehlen würde? Er konnte Aussichtstürme besteigen, alle Aussichtstürme der Welt … Es dämmerte schon stark, als er erwachte. Erschrocken griff er nach dem Koffer, nach der Tasche. Draußen war Wind aufgekommen, verfing sich in den Baumwipfeln, ein Geräusch, das Bellmann fremd war und ihn irritierte. Er trat vor die Tür. Drüben bei Steinen drang ein schwacher Lichtschein durch die vorgezogenen Gardinen. Sonst lag der Zeltplatz wie ausgestorben. Bellmann nahm einen Tausender aus der Tasche, legte Koffer und Tasche in den Bettkasten, verschloß die Tür und fuhr mit dem Krad in die Stadt zurück. Wie abgesprochen, stellte er es in Kreuzberg in einer Seitenstraße ab, verbarg den Schutzhelm in seinem Beutel, in dem noch die Bekleidung des Sicherheitsinspektors steckte, und lief zur U-Bahn Kottbusser Tor. In der Nähe eines Abrißhauses ließ er den Beutel in einem Müllcontainer verschwinden. Vor dem Eingang der U-Bahn kaufte er am Kiosk Zigaretten und eine Abendzeitung. Er war neugierig, ob die Entführung des Geldtransporters schon publik war. Wenn, dann hatten sie sicherlich auch Ramsuns Foto wieder veröffentlicht. Der Artikel stand auf der dritten Seite. Fahrer der Edmund-Wachgesellschaft raubt Panzerwagen mit ca. 3 Millionen! Darunter das Foto, das ernste männliche Gesicht, die harten Augen, der Mundwinkel ein klein wenig nach oben gezogen. Ramsun schien sich auf überhebliche, abweisende Art zu amüsieren. Mit Recht, mein Alter, dachte Harry Bellmann. Er ging durch die Sperre, schlug auf dem Bahnsteig die Zeitung noch einmal auf. Ihm war, als habe er flüchtig etwas Bedeutungsvolles wahrgenommen, ohne dessen Sinn zu begreifen. Sein Blick glitt über den Artikel. Den konnte er in Ruhe in der Bahn lesen. Da! Da war es! Ein zweites Foto am Ende des Artikels. Daneben: In diesem Zusammenhang wird gesucht: Harry Bell177
mann, 24 Jahre alt, zuletzt bekleidet mit schwarzer enger Glimmerhose, braunen Wildlederschuhen … trägt zumeist einen Cowboyhut … Bellmann schloß die Augen. Der Zug fuhr ein. Er erhob sich, wankte ins Abteil. Nur wenig Fahrgäste saßen darin. Er setzte sich so, daß er kein Visavis hatte, versteckte obendrein sein Gesicht hinter der aufgeschlagenen Zeitung und starrte sein Konterfei an. Es war unfaßbar. Sie beschrieben ihn so, wie er am heutigen Tag aussah. Nur heute trug er braune Wildlederschuhe. Natürlich war auch sein Cowboyhut erwähnt. Panik ergriff ihn. Er fand, dieser Hut sei das Verräterischste an ihm. Er riß ihn vom Kopf. Die Angst überflutete ihn in Wellen, drückte ihm das Herz zusammen, die Kehle. Die Schuhe, dachte er. Diese verdammten braunen Schuhe, die nicht zu seiner sonstigen Aufmachung paßten. Doch die konnte er schließlich nicht von den Füßen streifen. Wieder griff er zur Zeitung, starrte sein Bild an. Es war das gleiche, das in seinem Ausweis klebte. Ohne den Cowboyhut würde man ihn sofort erkennen. Er setzte den Hut wieder auf, zwang sich zur Ruhe, las den Artikel. Der schien von einem geschrieben, der dabeigewesen war. Sie hatten alles bis aufs kleinste rekonstruiert. Den Trick mit Ramsuns Darmgrimmen und den Mokka, den der Sicherheitsinspektor gutmütig und ahnungslos in der Kantine für ihn bestellte. Übrigens lag er im Krankenhaus, dieser Bahl. Der verschwundene Panzerwagen und möglicherweise die Tatsache, daß er kurze Zeit lang verdächtigt wurde, Ramsun geholfen zu haben, hatten ihn schockiert. Doch jeglicher Verdacht war von ihm genommen. Sie wußten, daß Ramsuns Mittäter er, Harry Bellmann, war. Sie wußten, daß er vom Kassenraum durch die Verbindungstür, zu der nur das Personal den Schlüssel besaß, in die hinteren Räume gelangt war und sich in der Toilette umgezogen hatte. Woher zum Teufel … 178
Eine neue Angstwelle überrollte ihn. Er rang nach Atem. Jackie Stöhr! Er würde die Zeitung lesen, sein Bild sehen, wissen, daß er, Bellmann, es gewesen war, den sie beobachtet hatten. Er war nicht sauber gewesen, als er in diesen Coup einstieg. Wer würde ihm glauben, daß er das für unmöglich gehalten hatte? Ramsun? Jackie Stöhr? Wie würde Jackie reagieren? Sein Schlägertrupp hatte den Polizisten, der sie observierte, blitzschnell, überzeugend und obendrein schmerzhaft belehrt, daß man einem Jackie Stöhr nicht in die Quere kommen durfte. Was würde Jackie mit ihm anstellen, durch den er womöglich statt nach Kanada ins Gefängnis wanderte? Er mußte sich mit ihm in Verbindung setzen, so schnell wie möglich. Über ihr Gepäckfach am Zoo, zu dem sie beide einen Schlüssel besaßen. Am liebsten wäre er gleich am Bahnhof Zoo ausgestiegen und hätte eine Notiz hinterlegt, in der er Jackie beschwor, daß er sich diese Überwachung nicht erklären konnte, und ihn bat, schnellstens einen Paß für ihn zu hinterlegen. Er würde ihm eine Viertelmillion bieten. Jackie mußte ihm helfen. Sonst lief er Gefahr, daß man ihn, Bellmann, aufgriff und zum Reden brachte. Die hatten schließlich ihre Methoden, jemanden singen zu lassen, auch wenn derjenige glaubte, ein hartgesottener Bursche zu sein. Jackie mußte ihm helfen – oder ihn töten. Am Bahnhof Zoo stiegen etliche Fahrgäste zu. Harry Bellmann hatte seinen Hut wieder abgenommen, sich vornübergebeugt und das Gesicht mit den Armen bedeckt. Er mimte den Trunkenen, Müden, der sich nicht mehr aufrecht halten konnte. Um so einen kümmerte sich erfahrungsgemäß niemand. Am Kaiserdamm stieg er in einen Bus und fuhr Richtung Grunewald. Im Schutze der Nacht lief er durch den Berliner Forst bis zum Campingplatz. Der lag still und verlassen da. Auch in der Behausung des Alten brannte kein Licht mehr. 179
Harry Bellmann schlich im Dunkeln in den Wohnwagen, tastete nach dem Koffer im Bettkasten und dem Geld darin. Dann warf er sich, bekleidet wie er war, auf die Couch. Schlafen konnte er ohnehin nicht. Er fühlte sich enttäuscht und voller Angst, wenn er an die kommenden Stunden dachte. Harry Bellmann, der Millionär. Der Versager. Der Großstadtcowboy, auf den der Sheriff mit der Schlinge wartete. Weit nach Mitternacht sprang er auf, durchsuchte das Medizinschränkchen, schluckte zwei Schlaftabletten und schlief nach kurzer Zeit ein.
2 Kaum war Bernhard Ramsun im Gebäude des Flughafens verschwunden, startete Jackie und fuhr stadtwärts. Irgendwo in einer Nebenstraße ließ er den Volvo mit dem falschen Nummernschild stehen, nahm Koffer und Aktentasche, sprang in den nächsten Bus, stieg später in die U-Bahn und fuhr nach Hause. Am Kiosk kaufte er eine „Morgenpost“. Im Lokalteil berichteten sie vom Überfall auf eine alte Frau, von etlichen in der Nacht entwendeten Autos und von dem grausigen Mord an dem Unterhaltungskünstler. Die Zeitung flog auf den Koffer, vollgestopft mit Geldscheinen. Jackie lief mit angeekelter Miene im Zimmer hin und her. Warum war dieser verdammte Porsche-Besitzer zum Parkplatz gekommen? Konnte er sich nicht an einem anderen Abend überfressen und nächtens Spazierengehen? Nichts lag ihm ferner, als einen Menschen zu töten. Nach Kanada wollte er, in die Wälder, in die Freiheit, weg von diesen Konsumzweibeinern, diesen Masken und Schleimern. Aber da kommt der Unterhaltungskünstler und vermasselt ihm alles, und er muß ihn ins Messer laufen lassen! Ob man das je vergißt? Freude an den 80 000 DM konnte sich nicht einstellen. 180
Ich muß fort, dachte Jackie, und das Ganze muß schneller passieren als geplant. Noch heute muß ich sie vorantreiben, meine Reise nach Kanada. Ich werde einen Flug buchen, und zwar auf den eigenen Namen. Einen falschen Paß besorgen, kostet Zeit. Niemand sucht mich. Sollten Ramsun oder Bellmann irgendwann geschnappt werden und singen oder sollte mich jemand mit dem Mord heute nacht in Verbindung bringen, bin ich längst in den Wäldern verschwunden. Nur Bellmanns Paß muß ich noch abholen und hinterlegen. Sonst geht womöglich eher etwas schief, als man ahnt. Er zog die Jeansjacke wieder über und verließ sein Zimmer. Abends, ungefähr zur gleichen Zeit, als Harry Bellmann in der U-Bahn saß, sein Foto in der Zeitung anstarrte und sich nicht traute, am Bahnhof Zoo auszusteigen, legte Jackie Stöhr für Bellmann einen falschen Paß in das Gepäckfach, zu dem sie beide den Schlüssel besaßen. Dann kaufte auch er sich die Abendzeitung, um zu erfahren, was bereits über die Entführung des Panzerautos bekannt war, und fuhr nach Hause. Er briet sich Speck mit Eiern, riß eine Büchse Bier auf, kurbelte am Radio, bis er Musik nach seinem Geschmack fand, und aß. Erst dann zog er die Zeitung aus der Tasche. Das erste, was ihm auffiel, war Bellmanns Foto. Er sprang auf. Er fluchte, zerknüllte die Zeitung, warf sie in eine Ecke, trampelte darauf herum, rannte brüllend durchs Zimmer. Als er sich ein wenig beruhigt hatte, hob er die Zeitung auf und strich sie glatt. Obwohl er wußte, was in dem Artikel stehen würde, las er ihn nun sehr aufmerksam und war darüber im Bilde, daß sein weiteres Schicksal von Harry Bellmann abhing. Ausgerechnet von dieser John-Travolta-Imitation, die sich als dümmer erwiesen hatte als die dümmste Kuh, dachte Jackie wütend. Er hatte sich also nicht getäuscht, Bellmann war beschattet worden. Was zum Teufel mochte er verbrochen haben, daß die sich so hartnäckig an ihn gehängt 181
hatten? Und was mochte er jetzt tun? Hoffentlich hatte er sich eine Zeitung gekauft und war untergetaucht. Doch bei diesem Typ mußte man mit allem rechnen, auch damit, daß er mit seiner Million nach Hause spazierte, wo die Bullen schon auf seiner Couch saßen. Leider vermochte Jackie nur richtig zu reagieren, wenn er wußte, was Bellmann bis jetzt unternommen hatte und weiterhin plante. Aber woher sollte er das erfahren? Zu Bellmanns Wohnung zu gehen wäre Idiotie, überlegte er. Irgendwo an der Havel stand ein Wohnwagen, zu dem Bellmann den Schlüssel besaß. Vielleicht hatte er sich dort eingenistet. Doch wozu einnisten? Das gescheiteste war, so schnell wie möglich zu verschwinden. Der Paß lag im Schließfach. Vielleicht hatte er ihn bereits abgeholt und war dabei, Berlin zu verlassen. Verschwinden, wiederholte Jackie in Gedanken, raus aus dieser Stadt, die man bis zum letzten Winkel durchstöbern würde nach dem Mörder an einem Unterhaltungskünstler und nach den Entführern eines Geldtransporters. In beiden Fällen würden sie letztlich auf ihn stoßen. Er überlegte, auf welchem Weg er Berlin am sichersten verlassen könnte und wußte gleichzeitig, daß es keine Sicherheit mehr für ihn gab, wenn Bellmann nicht entkam. Am liebsten wäre er zum Bahnhof Zoo gelaufen und hätte im Schließfach nachgesehen, ob der Paß schon abgeholt war. Doch womöglich würde gerade der Bahnhof Zoo zur Falle für ihn. Der gestohlene Volvo mit dem falschen Nummernschild fiel ihm ein. Mit ihm zu fliehen war ebensogut, wie sich ins Flugzeug oder in die Bahn zu setzen, nur daß es ihm größeres Vergnügen bereiten würde, mit dem Wagen zu entkommen. Hatten sie Bellmann geschnappt und waren auch hinter ihm her, würden sie ihn am Flughafen ebenso erwischen wie im Zug oder im Wagen. Entkam Bellmann, entkam auch er. Nach Hamburg. Ja, er würde nach Hamburg fahren. Dort wußte er Möglichkeiten unterzutauchen, sein Äußeres zu verän182
dern, einen neuen Paß zu bekommen und ins Ausland zu fliehen. Irgendwann würde er sein Ziel Kanada erreichen, wenn auch auf Umwegen. Man muß seine Träume ernst nehmen, hatte Ramsun gesagt. Er wollte es tun. Selbst auf die Gefahr hin, daß es ein böses Erwachen gab. Am Nachmittag, als Bellmanns Foto und der dazugehörige Artikel noch in der Druckerpresse steckten, ließ Kommissar Fox bereits ganz Berlin nach ihm durchkämmen. In seiner Wohnung war er nicht anzutreffen, doch für den Fall, daß er dort auftauchen sollte, ließ Fox jemanden zurück, der das Haus observierte. Bellmanns Eltern wurden befragt, wußten aber über den Aufenthalt ihres Sohnes nicht Bescheid. Trotzdem wurde das Haus der Eltern bewacht. Einen Schatten erhielt auch Karina Ott. Konnte man wissen, ob Bellmann nicht doch noch einmal versuchte, bei ihr zu landen? Durchkämmt wurden Bahnhöfe, Flughafen, Gaststätten, Grünanlagen, verlassene Strände, Campingplätze. Harry Bellmann war ebensowenig aufzufinden wie Bernhard Ramsun. Dabei war der Kommissar sicher, Bellmann hielt sich noch in der Stadt auf. Erst wenn er aus der Zeitung erfuhr, daß man nach ihm fahndete, würde er zu fliehen versuchen. Den Campingplatz im Berliner Forst nahe der Havel kontrollierten Polizisten in jener Stunde, als Harry Bellmann in die Stadt fuhr, um das Motorrad an die verabredete Stelle zu bringen. Beim alten Steinert brannte Licht, sie betraten seinen Wohnwagen, prüften seinen Ausweis, fragten, ob zur Zeit außer ihm noch jemand hier wohne und erfuhren, daß am Nachmittag der Besitzer eines Wohnwagens mit dem Motorrad hergekommen war. Kurz nur, vielleicht um etwas abzuholen, was er vergessen hatte, als er in die Stadt zurückzog. Ein netter junger Mann, meinte Steinert, immer höflich. Nein, den Namen wisse er nicht. Wie er aussieht? Wie alle jungen Leute. Und heute hatte er ausgesehen wie alle jungen Leute in Motorradkluft und Sturzhelm. 183
Von der nächsten Polizeidienststelle aus ließ einer der Polizisten ermitteln, wem dieser Bungalow gehörte, und rief Kommissar Fox an. Beim nächsten Anruf schon konnten sie Fox mitteilen, daß der Besitzer des Bungalows kurz nach seiner Eheschließung nach Nürnberg gezogen war. Unwahrscheinlich, daß er von dort mit dem Krad zum Berliner Forst gefahren war, um etwas Vergessenes aus dem Campingwagen abzuholen. Es sei denn etwas, das besser niemand zu sehen bekam. Wer aber war dann der Mann mit dem Motorrad gewesen? Möglichkeiten gab es viele, von einem Freund und Mitnutzer über einen Penner, der dort sein Quartier aufschlagen wollte, einen Einbrecher oder jemanden, der einen verlassenen Wagen zum kurzzeitigen Unterbringen von Sore brauchte, bis hin zu Harry Bellmann, der sich hier verkriechen wollte. Doch wie man die Angelegenheit auch betrachtete, die Sache war nicht koscher, und Fox befahl, den Campingplatz zu beobachten. Inzwischen telefonierte der Kommissar mit Nürnberg. Die dortige Polizei hatte ein Weilchen zu tun, ehe sie den Besitzer des Wohnwagens auftreiben konnte. Er war mit seiner Frau für ein paar Tage verreist. Fox, der über alles informiert wurde, knurrte ärgerlich: „Wahrscheinlich wieder ein Plasthase, dem wir da nachjagen! Aber warten wir ab, und jagen wir weiter.“ Erst am frühen Morgen entdeckte eine Streife den PKW des Ehepaares, das auf einer Spritztour im Bayerischen Wald gewesen war. Also nicht in Berlin. Man fragte sie nach ihrem Wohnwagen im Berliner Forst, wann hatten sie ihn zuletzt benutzt? „Das ist fast sechs Wochen her“, erwiderte der Mann. „Was ist mit dem Wohnwagen? Einbruch?“ fragte er erschrocken. „Die Berliner wissen’s noch nicht genau. Die lassen anfragen, ob außer Ihnen den Wagen noch jemand nutzt oder den Schlüssel besitzt, um nach dem Rechten zu sehen.“ 184
Der Mann atmete auf. Erzählte von seinem ehemaligen Arbeitskollegen Harry Bellmann, der einen Zweitschlüssel besaß und den Wohnwagen betreten konnte, wann immer er wollte. „Fährt Herr Bellmann ein schweres Motorrad mit Seitenwagen?“ fragte der Polizist. „Der fährt alles mögliche, wenn er’s bekommt. Vor sechs Wochen allerdings besaß er noch einen VW Käfer. Warum er auf ein Krad umgestiegen sein soll …?“ Er zuckte die Schultern, Schien erleichtert und ein wenig amüsiert. Plötzlich sah er wieder besorgt aus. „Falls mit dem Wohnwagen doch was ist, geben Sie mir da gleich Bescheid?“ Der Polizist versprach es. Kurze Zeit später erfuhr Kommissar Fox, was man im Bayerischen Wald herausgefunden hatte und holte sich die Staatsanwaltliche Erlaubnis, den Wohnwagen zu durchsuchen. Die Beobachter meldeten, der Kradfahrer sei nicht wieder aufgetaucht und der Kommissar vermutete, Bellmann habe nur seinen Anteil an der Beute dort versteckt. Die beiden Polizisten, die den Campingwagen beobachteten, warteten auf einen Kradfahrer. Sie hielten sich nicht unmittelbar am Wagen auf, um bei demjenigen, der ihn betreten wollte, keinen Verdacht zu erregen. Sie starrten ihn auch nicht unentwegt an, dazu war Zeit, wenn der Kradfahrer kam. Und den konnten sie in der Stille der Nacht nicht überhören. Keiner der beiden rechnete damit, daß jemand nachts durch den Berliner Forst laufen und den Campingplatz zu Fuß aufsuchen würde. Harry Bellmann schloß von ihnen ungesehen die Tür auf und verschwand im Innern des Wohnwagens, als sie sich im Windschatten eines Nachbarwagens ihre Zigaretten anzündeten. Nichts erregte ihren Argwohn, da Bellmann, ohne Licht anzudrehen, sich sofort auf die Couch warf. Der fahle Schein des Mondes genügte ihm, nach 185
Mitternacht aus dem Medizinschrank die Schlaftabletten zu langen. Während er endlich in einen schweren, unruhigen Schlaf sank, fröstelten draußen die Polizisten, fluchten hin und wieder und warteten auf ihn. Am Morgen wurden sie abgelöst. Die neuen wußten schon, daß Kommissar Fox persönlich erscheinen würde, um die Durchsuchung zu leiten. Als er kam, brachte er noch drei Kriminalisten mit. Und in jenem Moment glaubte einer der Beobachter die Umrisse eines Mannes hinter dem Fenster des Wohnwagens zu sehen. „Du spinnst“, sagte sein Begleiter, „der Wagen ist die ganze Nacht bewacht worden.“ „Es ist trotzdem einer drin.“ „Selbst, wenn die mal weggeguckt haben, die überhören doch ein Motorrad nicht.“ „Vielleicht ist er gar nicht mit dem Motorrad gekommen?“ „Du spinnst schon wieder.“ Der Polizist ließ sich nicht davon abhalten auf die Vierergruppe zuzulaufen und Fox zu melden, was er eben wahrgenommen hatte. „Nichts ist unmöglich“, erwiderte Fox, „wenn er drin ist, hat er womöglich eine Waffe. Also unsichtbar machen, ranschleichen, Wagen umstellen.“ Das Geräusch, das Bellmann endgültig zu sich brachte, klang wie ein in der Nähe bremsendes Auto. Er sprang auf, trat ans Fenster. Nichts zu sehen. Noch immer lag der Platz wie ausgestorben. Auch drüben in Steinerts Domizil war alles ruhig. Jenseits der Zufahrtsstraße bewegten sich die Baumwipfel. Bellmann wurde an Massensport erinnert. Beugen nach vorn, jetzt seitlich, und keiner tanzte aus der Reihe. Der Wind war ein unerbittlicher Trainer und sorgte für gleichförmige Schwingungen. Ein ungewohnter Anblick für einen Großstadtcowboy. Ungewohnt und deshalb irritierend war auch das eintönige Rauschen, unterbrochen von Lauten, die wie 186
kurzes, hastiges Ausatmen klangen, wenn der Wind, der stärker würde, an dem Wohnwagen vorbeistrich. Das ist keine Gegend für mich, sagte sich Harry Bellmann, ich kann nicht unterscheiden, welches Bild und welche Laute hergehören oder artfremd sind. Ich muß zurück in die Stadt. Der kurze Schlaf hatte ihm die lähmende Angst genommen, mit der er nachts auf sein Lager gesunken war. Jetzt fand er seine Lage zwar bedenklich, doch keinesfalls ausweglos. Sie suchten Harry Bellmann mit schwarzen Glimmerhosen, Cowboyhut und dunkelbraunen Wildlederschuhen. Schon stand er vor dem Kleiderschrank. Sein ehemaliger Kumpel besaß ungefähr seine Statur. Er ließ stets etwas Garderobe im Wohnwagen zurück. Auch von der Frau hing noch ein Kleid im Schrank. Bellmann wählte beigefarbene Hosen, etwas sommerlich für die Jahreszeit, doch besser als seine eigenen, ein weißes Hemd, grau und gelb gemusterten Binder, braunen Sakko. Seine Wildlederschuhe schienen wie ausgesucht zu dieser Aufmachung. Er trat zum Spiegel und sagte gutgelaunt: „Lackaffe, du.“ Draußen hatten die Polizisten Stellung bezogen. Harry Bellmann zog einen grauen Trenchcoat über und wählte aus dem Fond des Wohnwagenbesitzers eine flache Mütze mit Schild. Selbst auf den dritten Blick hatte man Mühe, Harry Bellmann zu erkennen. Bis zum Schließfach schaffe ich’s, sagte sich Bellmann, und steckte noch je einen Tausender in die Manteltaschen. Mit einem Fußtritt beförderte er den Geldkoffer unter die Couch. Vor dem Wagen hörte Kommissar Fox ein schleifendes Geräusch, und seine Augen wurden vor Aufmerksamkeit einen Schein dunkler. Hoffentlich liegt der Paß schon da, dachte Bellmann, dann wird sofort ein Flug gebucht, der Koffer abgeholt, und raus geht’s aus der Falle. Sollte ich noch warten müssen, verkrieche ich mich in der Stadt. Er ging zur Tür. Die Tür flog in dem Moment auf, als Kommissar Fox 187
dazu ansetzte, sein Sprüchlein zu rufen – herauskommen, der Wagen sei umstellt, es gäbe keine Chance, und Widerstand sei sinnlos. Überrascht darüber, daß Bellmann ruhig und, wie es schien, ahnungslos heraustrat, sagte er: „Guten Morgen, Herr Bellmann.“ Bellmann stand angewurzelt, sein Gesicht wurde grau, ähnlich der Farbe des geborgten Trenchcoats. Es war zu Ende. Doch weder die Angst, die ihn am Vorabend überrollt hatte, als er sein Bild in der Zeitung entdeckte, noch die Verzweiflung, die ihm bis tief in die Nacht hinein den Schlaf geraubt hatte, stellten sich ein. Das, was sein Leben gewesen war, ging hier vor der Tür eines fremden Wohnwagens zu Ende. Was weiterhin mit ihm geschah, war nicht mehr von Interesse. „Hände hoch!“ rief der Kommissar. „Und kommen Sie langsam drei Schritt nach vorn.“
3 Franziska Heusler hielt wahrhaftig ihr Niveau. Sie machte keinerlei Szenen, versuchte weder einen ihrer Bewacher für sich zu gewinnen, noch Mitleid zu erwecken. Kühl und scheinbar gleichgültig saß sie in ihrer Zelle, aß den Teller leer, den man ihr brachte, und wenn sie aufsah, lag tödliche Langeweile in ihrem Blick. Nach einer fast schlaflosen Nacht, sie hatte lange über Kommissar Fox’ Worte gegrübelt, wusch sie sich, kleidete sich mit Sorgfalt und legte genau das richtige Make-up auf, um weder abgespannt noch aufgetakelt zu wirken. In der Nacht war ihr klargeworden, daß sie sich durch Leugnen oder Schweigen keinen Vorteil verschaffen konnte. Dieser Kommissar verstand sein Handwerk, auch wenn es Denkwerk wurde. Er hatte eine Menge Personen aufgetrieben, die sie identifizieren konnten. Und was ihr weit gefährlicher dünkte, er kannte beileibe keine Skru188
pel. Darin war er ihren Auftraggebern ebenbürtig. Er würde nicht zögern, eine Lüge in die Welt zu setzen, um die Wahrheit aus ihr herauszuholen. Wenn aber der Bandenchef in der Zeitung las, daß sie nur deshalb wieder auf freiem Fuß lebte, weil sie willens war, auch vor Gericht die drei Namen zu nennen, wobei sie nur seinen Namen vollständig wußte, würde er sie umbringen lassen. Vielleicht konnte sie den Kommissar davon überzeugen, daß sie auch später noch in Lebensgefahr schwebte, wenn sie selbst und wenn der Chef aus der Haft entlassen waren. Doch das würde lange dauern, das waren die Sorgen von übermorgen. So wie die Dinge jetzt lagen, war es das beste, soviel wie möglich von dem, was sie über die Drei wußte, anzugeben. Vor allem Details, damit sie schnell und so überraschend gegriffen wurden, daß sie keinerlei Pläne gegen die Verräterin schmieden konnten. Als sie aus der Zelle geholt wurde, war sie innerlich ruhig und entschlossen, die Drei ans Messer zu liefern. Das würde ihr zwar eine langjährige Haft einbringen, doch die Chance lassen, mit dem Leben davonzukommen. Im Zimmer des Kommissars stand Harry Bellmann, mit stupidem Gesichtsausdruck und einer Aufmachung, die nicht zu ihm paßte. Auch er ein verkrachter Hasardeur und ein Strohkopf dazu, dachte sie. „Sie kennen sich“, sagte der Kommissar. Es war eine Feststellung, keine Frage. Bellmanns Blick blieb dumpf. In Franziska Heuslers Augen entdeckte Fox ein Fünkchen, das aufblitzte und sofort wieder verlosch. Doch er verstand das Signal. „Führen Sie Bellmann hinaus“, befahl er, und zu Fräulein Heusler gewandt: „Sie setzen sich hierher.“ Sie nahm auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz. Fox hielt nichts von Redensarten wie „Haben Sie sich die Sache überlegt?“ oder „Hoffentlich sind Sie heute gesprächiger“. Er fragte auch nicht nach ihrem Befinden. Das alles würde sich beim Verhör ohnehin herausstellen. 189
„Zuerst die Namen“, sagte er. „Die Namen Ihrer drei Hintermänner.“ „Peter Kahne. Er ist der Boß.“ Unwillkürlich blickte Fox auf. Es war weniger die Überraschung darüber, daß sie unvermittelt antwortete, sondern der Klang ihrer dunklen, rauhen Stimme, die er bis in sein Innerstes fühlte. Was für eine Frau! Er begegnete ihrem frostigen, uninteressierten Blick. Wenn diese Frau einen anderen Weg eingeschlagen hätte und er wäre ihr eines Tages begegnet … „Weiter“, sagte er. „Die beiden anderen kenne ich nur mit Vornamen, kann sie aber einigermaßen beschreiben.“ „Tun Sie’s.“ „Derjenige, der Peter Kahne nicht von der Seite weicht, ist ein Kraftprotz. Zwei Meter groß und so breit, daß er sich am Pfosten die Ärmel blank scheuert, wenn er durch eine Tür geht. Er heißt wahrscheinlich Dietrich, denn er wird Diddie gerufen.“ Fox notierte und forderte sie auf weiterzusprechen. „Der dritte ist der lange Claus. Der chauffiert. Nur im Notfall packt er selbst mit an. Er ist der längste und dümmste, und Sie können ihn an seiner Sprache erkennen. Er spricht einen fürchterlichen Slang.“ Auch alles, was sie über bisherige Unterschlupfe der Drei wußte, teilte sie Fox mit. Diddie konnte er mit Sicherheit in Hamburg und Peter Kahne in Düsseldorf finden. Sie selbst war zu den dreien gestoßen, als ihr nach ihrer Meinung nichts anderes zu tun geblieben war, als auf den Strich zu gehen oder ins Rauschgiftgeschäft einzusteigen. An ehrliche Arbeit als Hauptbeschäftigung schien sie noch keinen Gedanken verschwendet zu haben. Ohne zu zögern, berichtete sie, was sie über die bisherigen Überfälle wußte. In Celle hatte sie nichts für die Drei tun können. Sie war erkrankt, und Kahne hatte es riskiert, das Ding ohne die übliche, mit Akribie geführte 190
Vorbereitung zu drehen. Er war es gewesen, der den Wachmann erschossen hatte. Sie wußte es aus späteren Gesprächen. Fox rief per Telefon nach einem Polizisten, der bei Franziska Heusler blieb, während der Kommissar die Fahndung nach Peter Kahne einleitete und die Hamburger Kriminalpolizei um Mithilfe bei der Suche nach Dietrich bat, dem Mann mit den Ausmaßen eines Kleiderschrankes. Er gab alle Einzelheiten durch, die er von Fräulein Heusler erfahren hatte. Dann schickte er den Polizisten aus dem Zimmer und wandte sich wieder dem Mädchen zu. „Mir ist noch etwas eingefallen“, sagte sie. „Harry Bellmann kennt diesen Diddie. Schätzungsweise erinnert der sich sogar an dessen Nachnamen. Sie sind zusammen zur Schule gegangen.“ „Hat Dietrich den Gebäudereiniger als Helfer für den Karstadt-Raub gewonnen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Das war ich. Der dicke Diddie hat nur den Tip gegeben und Peter Kahne fand den Coup in Ordnung.“ „Wie ging denn das vor sich?“ „In Celle hatten sie nichts erbeutet. Das nächste Ding mußte bald gedreht werden. Nach Berlin hatte ihnen schon immer mal der Sinn gestanden. Da erinnerte sich der Dicke an einen Schulfreund, von dem er wußte, daß er in Berlin als Gebäudereiniger arbeitete. Ich zog hierher, legte mir für alle Fälle einen zweiten Namen zu und machte mich mit Bellmann bekannt.“ Am liebsten hätte Kommissar Fox gefragt, wie weit diese Bekanntschaft gegangen war. Er konnte sich eine Franziska Heusler nicht in Bellmanns Armen vorstellen. „Wählerisch durften Sie also nicht sein, wenn Kahne Sie für seine Geschäfte einsetzte“, sagte er spöttisch. Ihr frostiger Blick glitt mit einigem Erstaunen über ihn hin. 191
„Warum fragen Sie nicht direkt, was Sie wissen möchten? Ich habe Ihnen doch versprochen, alle Fragen zu beantworten.“ „Das ist unwichtig für die weitere Ermittlung“, erwiderte der Kommissar schroff. „Was haben Sie Bellmann wissen lassen und was durch seine Hilfe herausbekommen?“ „Bei diesem Typ braucht man nicht bis zum Äußersten zu gehen“, sagte sie. „Da genügt es, Überlegenheit zu zeigen und mit dem Geldbeutel zu klappern. Ich habe alles über den Personaltrakt hinter den Verkaufsräumen von Karstadt erfahren. Als Fensterputzer kannte Bellmann ihn genau. Zwar hat er das Fenster nie gereinigt, wenn die Angestellten mit dem Geld schon im Raum waren, aber er wußte um die Gepflogenheiten beim Geldsortieren, kurz bevor der Transporter kommt. Ich habe durch ihn erfahren, wer sich zu welcher Zeit wo aufhält. Wir konnten alles in Ruhe planen. Peter Kahne und Diddie haben das Kaufhaus betreten, nachdem ich ihnen – beim Verteilen von religiösen Schriften – ein Zeichen gegeben habe. Es bedeutete, drinnen zählen sie jetzt das Geld, ein Wachmann steht vor der Tür. Dann kam wie ausgemacht Bellmann mit seinem VW Käfer, und ich bedeutete ihm, daß die Aktion läuft und er in der Nähe zu bleiben habe. Er hat zuviel des Guten getan. Als der Polizeiwagen aus der Querstraße schoß, hätte er abwarten müssen, ob der wirklich hinter dem BMW her ist oder bloß seine gewöhnliche Tour absolviert.“ „Wußte Bellmann, daß sein ehemaliger Schulfreund an dem Überfall beteiligt ist?“ „Nein. Er hat keinen der drei zu Gesicht bekommen oder auch nur einen Namen erfahren.“ Also muß ich seine Schulzeit heraufbeschwören, dachte der Kommissar und darauf hoffen, daß er sich an den dicken Dietrich erinnert und an dessen Nachnamen. Er klingelte wieder nach dem Polizisten, kam hinter dem 192
Schreibtisch hervor und blieb vor Franziska Heusler stehen. Er betrachtete sie lange, ungeniert und mit dem Ernst eines Menschen, der sich etwas ins Gedächtnis meißelt, das ihm wertvoll erscheint und das er doch weggeben muß. „Aus welchem Grunde es auch immer geschehen ist“, sagte er, „es spricht für Sie, daß Sie uns geholfen haben. Doch was gegen Sie spricht, wiegt ungleich schwerer.“ Abrupt wandte er sich um, kehrte hinter seinen Schreibtisch zurück und blickte ihr nicht nach, als sie hinausgeführt wurde.
4 Der Flug verlief ohne Zwischenfälle. Nur Herrn Lothar Wolfs Paß wurde kontrolliert, einer der Zöllner warf einen kurzen Blick in sein Handgepäck, die Koffer blieben ungeöffnet. Vom Flughafen aus mietete Ramsun eine Taxe und ließ sich zum Syntagmaplatz fahren, dem Zentrum Athens, mit seinen großen Hotels, Restaurants und Konditoreien. Im „Hadrian“ bekam er ein Zimmer nach seinem Geschmack, geräumig, ohne protzig zu wirken, mit Blick zum Parlamentsgebäude oberhalb des Syntagmaplatzes und dem Denkmal des unbekannten Soldaten, flankiert von einem malerischen Wachsoldaten in traditioneller Uniform und Taubenschwärmen. Ramsun stieß das Fenster weit auf, die Luft war sommerlich warm. Er ließ sich in einen Sessel fallen und blickte hinaus. Rasch brach Dunkelheit über die Stadt herein, und er sehnte sich nach der Dämmerung, den blauen Stunden in Berlin, dachte an die Abende in der Wohnung am Eichborndamm, an die Stunden mit Elke. – Was ging Herrn Wolf diese Elke Ramsun an! Er verstaute seine wenigen Habseligkeiten im Schrank. Morgen würde er einkaufen gehen. Nichts Überflüssiges, 193
ein paar Toilettenartikel, noch etwas Unterwäsche. Sich nur nicht belasten. Er würde gewiß nicht lange in diesem Hotel wohnen, sondern weiterziehen durch ZentralGriechenland zu den Inseln. Je mehr neue Eindrücke, um so leichter das Vergessen. Er wusch sich, kämmte die dunkelblonde Perücke und den Schnauzbart. Beides war ihm lästig. Er würde sich das Haar färben und einen eigenen Bart wachsen lassen. Als er zum Abendessen ins Restaurant hinuntergehen wollte, fiel sein Blick auf die Zeitung, die er achtlos auf den Tisch geworfen hatte. Wieder ließ er sich in den Sessel fallen, schlug die Zeitung auf. Wahlreden. Er suchte den Lokalteil. Reklame: Geschenke aus dem Philips-Sortiment, Neumann-Hustenkapseln. Noch immer Sonderbusse zum Oktoberfest. Überfälle. Einer Frau hatte man die Handtasche entrissen, in einem Hausflur einen Mann niedergeschlagen und ausgeraubt, auf einem Parkplatz den Besitzer eines Porsche erstochen, den Wagen vom Platz gefahren und in einer unbelebten Straße stehengelassen. Mit dem Zeigefinger fuhr sich Ramsun den Hemdkragen entlang, schließlich öffnete er sich den oberen Knopf. Er brauchte Luft. Der Besitzer eines Porsche? – Was besagte das schon. Wieviel davon mochte es geben in Berlin. Aber warum war Jackie Stöhr mit einem VolvoKombi gekommen? Er hatte Abende lang einen Porsche ausgeguckt, dessen Besitzer stets gegen Mitternacht nach Hause kam und den Wagen nicht vor dem nächsten Mittag benutzte. Also hätte man nach diesem Porsche erst gefahndet, nachdem Ramsun schon im Flugzeug saß. Eine sichere Sache, die Jackie mit Harry Bellmann abgesprochen hatte. Dann war er mit einem Volvo gekommen, hatte also auf sein Glück vertraut, und es war gut gegangen. Aber warum war er ein Risiko eingegangen? Mit dem Porsche mußte etwas schiefgegangen sein. Bedrückt verließ Ramsun sein Zimmer und fuhr mit dem Lift zum Restaurant. Er suchte einen Ecktisch aus 194
und stellte sich à la carte ein Abendbrot zusammen. Stimmengewirr drang an sein Ohr, fremde Laute. Auf dem Tisch lag ein Prospekt, er blätterte darin, las, daß er die berühmte attische Erde betreten habe, die Erde des Lichts, die die unsterbliche Kultur des goldenen Zeitalters hervorbrachte. So wie er kamen angeblich Tausende von Menschen aus allen Ecken und Enden der Welt, um den Ort, wo Perikles, Sokrates, Platon, Sophokles und Demosthenes lebten, zu besuchen. Wenn ihr wüßtet, dachte Ramsun unfroh, weshalb ich hierhergekommen bin! Wenn das Flugzeug, das er nach dem Raub erwischen konnte, nach Tokio geflogen wäre, hätte er dahin einen Flug gebucht. Nein, Sokrates und Platon interessierten ihn nicht. Aber Jackie Stöhr! Ob es wahrhaftig Jackie gewesen war, der diesen PorscheBesitzer … Vergangenheit, Ramsun! Reiß dich zusammen, du bist Lothar Wolf und interessierst dich augenblicklich nur für Athen. Hastig las er weiter im Prospekt, erfuhr, daß er nicht nur von glänzenden Denkmälern der Antike umgeben war, sondern auch von Naturschönheiten, und daß er vom heutigen Leben in Griechenland bezaubert sein würde. – Das alles ließ ihn seltsam uninteressiert. Wenn Jackie es war, der den Mann erstochen hat, dachte er, dann bin ich an einem Mord mitschuldig. Kommissar Fox verhörte Bellmann in den ersten Stunden selbst. Über den Karstadt-Raub erfuhr er nichts, was er nicht schon aus Franziska Heusler herausgefragt hatte. Bellmann wirkte ohne Kraft und Willen. Er schien alles zu sagen, was er wußte, doch er war unkonzentriert, gleichgültig, und Fox mußte ein und dieselbe Frage oft drei-, viermal stellen, ehe Bellmann begriff, was man von ihm wissen wollte. Er schien etwas verwundert, als der Kommissar ihn nach Mitschülern seiner ehemaligen 195
Schulklasse fragte, doch letztlich war auch das unwichtig für ihn. Interesselos erzählte er, was er wußte. Einen Dicken, der Diddie gerufen wurde? Nein, den gab’s nicht. Ein großer, bärenbreiter Kerl war in seiner Klasse gewesen, aber den nannten sie Helmi, weil er Diethelm hieß. Nachname? Er dachte nach, verfiel ins Grübeln, die Gedanken liefen ihm davon. Hoffentlich kriegen sie Jackie nicht! Ramsun ist in Istanbul in Sicherheit. Ganz gewiß … Ach so, den Nachnamen. Helmi. Diethelm Ko… nein, Kunnert. Jawohl, so hieß er. Was aus dem geworden ist? Keine Ahnung. Der Kommissar unterbrach das Verhör. Bellmann durfte essen gehen. Er selbst löste die Fahndung aus nach Diethelm Kunnert. Dann ließ er Bellmann wieder hereinführen und fragte ihn nach dem Raub des Panzerwagens. Daß der Geldfahrer Ramsun die Hauptperson war und der geistige Kopf des Coups, war kein Geheimnis, und Bellmann gab es unumwunden zu. Er schien jetzt besser auf die Fragen des Kommissars aufzupassen und die Antworten zu durchdenken. Besonders dann, wenn Fox auf den dritten Mann zu sprechen kam, der ihnen geholfen haben mußte. Dessen Existenz stritt Bellmann kurzweg ab. Das Fahrzeug, mit dem Ramsun geflüchtet war? Das hatte Ramsun selbst besorgt. Wagentyp? Ein VolvoKombi. Nein, die Wagennummer hatte er sich nicht gemerkt. Wozu auch? Das Krad, das Bellmann selbst benutzt hatte? Ausgeborgt. Natürlich ohne daß der Besitzer davon erfuhr. Aber er hatte es genau dort wieder hingestellt, wo er es entwendet hatte. Wohin war Ramsun geflohen? Bellmann hatte keine Ahnung. Falsche Papiere? Durchaus möglich. Doch wenn, dann hatte Ramsun auch sie organisiert. Waffen? Er wußte angeblich nur von der MPi des Sicherheitsinspektors, die er im Panzerwagen zurückgelassen hatte. Nein, so ein Tausendsassa ist Ramsun nicht, überlegte Fox. Der Plan, gut, der ist in allen Einzelheiten in sei196
nem Kopf entstanden. Aber er besitzt keine Verbindung zur Unterwelt. Falsche Papiere und Fluchtfahrzeuge zu besorgen, lagen auf einer Ebene der Kriminalität, die dem unbescholtenen Angestellten der Edmund-Wachgesellschaft und dem getreuen Ehemann Ramsun von jeher fremd gewesen war. Der Kommissar ließ sich ablösen. Er ging nach Hause, legte sich schlafen und wollte nur geweckt werden, falls Bellmann den Namen des dritten Mannes, Ramsuns Fluchtort oder den neuen Namen, den er sich zugelegt hatte, verriet. Seine Vertretung ließ sich wiederum ablösen, und als Fox morgens zum Dienst kam, fühlte er sich frisch und ausgeruht, Harry Bellmann dagegen wirkte schlafbedürftig, erschöpft und stumpfsinnig. Der Kommissar ließ ihn in eine Zelle bringen, wo Bellmann auf die Pritsche fiel und augenblicklich einschlief. Inzwischen studierte Fox die Protokolle der nächtlichen Verhöre. Immer dieselben Fragen, verschieden formuliert, offen oder versteckt gestellt. Und stundenlang dieselben Antworten. Dann erste Widersprüche, Entschuldigungen, nein, das hatte er nicht so gemeint, war nur Unaufmerksamkeit gewesen. Natürlich war er das. Je näher der Morgen kam, um so schwerer fiel es ihm, seine Gedanken zusammenzunehmen. Für Fox war das Fazit des nächtlichen Verhörs, daß Harry Bellmann sowohl den dritten Mann als auch Ramsuns Aufenthaltsort kannte, ohne daß er es direkt zugegeben hatte. Entschlüpft war ihm, daß sein Kumpan per Flugzeug die Stadt verlassen hatte. Der Startplan der Flugzeuge, die nach dem Coup in Frage kamen, lag schon auf dem Schreibtisch. Fox ließ seinen Delinquenten aus dem Schlaf reißen und wieder vorführen, überfiel ihn mit Fragen, die er scheinbar nur noch pro forma stellte, nur um sich bestätigen zu lassen, was Bellmann in der Nacht schon ausgeplaudert hatte. Brachte man es schnell hinter sich, konnte 197
das nur gut sein für Bellmann, zumindest würde Fox ihn dann schlafen lassen. Harry Bellmanns Widerstandskraft, die er an jenem Morgen dem Kommissar noch entgegenzusetzen hatte, war nicht stärker als eine Flaumfeder, die gegen den Wind zu tanzen versucht. Seinem Wissen entsprechend, nannte er Istanbul als Ramsuns Fluchtort. Als Herr Lothar Wolf reiste Ramsun mit dunkelblondem Haar und Schnauzbart. Ja, auch den dritten Mann hatte er vermittelt, doch weder gesehen, noch wußte er dessen Namen. Es lief alles über ein Schließfach am Zoo. Fox drohte ihm eine Anklage wegen Beihilfe zum Mord an, da feststand, daß dieser dritte Mann den Besitzer des Porsche erstochen hatte. Wieso das feststand, begriff Bellmann nicht, doch er hatte wohl vieles nicht begriffen, und der Schreck über diese Androhung verwirrte ihn vollends. „Nein“, rief er, „das ist unmöglich! Wir sind keine Mörder, wir haben alle drei unseren Stolz reingelegt, die Sache durchzuziehen, ohne jemandem zu schaden.“ „Und Bahl?“ fragte der Kommissar, „hat der nicht einen Knacks fürs ganze Leben weg? Der Wagenbesitzer ist unerwartet aufgetaucht, und ihr Freund hat zugestochen …“ „Nein! Das hätte Jackie nie getan!“ Den Vornamen haben wir schon, dachte Fox. Wenn es Jackie nicht getan hat, vielleicht war Bellmann bei ihm gewesen, und er war’s, der zugestochen hatte? Wie will er denn das Gegenteil beweisen? Kurze Zeit später wußte Fox, daß derjenige, den er suchte, Jackie Stöhr hieß. Ob er den Unterhaltungskünstler getötet hatte, würde sich herausstellen, wenn man ihn aufgriff. Harry Bellmann durfte in seine Zelle zurück und schlafen. Fox ließ nach Jackie Stöhr fahnden und nach Lothar Wolf alias Bernhard Ramsun. Unklar war ihm, wieso Bellmann Istanbul als dessen Fluchtort angegeben hatte. Die Fluggäste dieser Maschine waren eingehend über198
prüft worden, ihre Pässe, ihr Gepäck. Es stellte sich heraus, daß sich kein Lothar Wolf unter ihnen befunden hatte. Zeitlich zu schaffen gewesen wären möglicherweise noch die Maschinen nach Paris und Athen. In Paris lebte Ramsuns Frau. War die Trennung Theater gewesen? Hatte sie etwa dort ein Nest für ihn gebaut? Er rief den Flughafen an und ließ sich die Namen der Passagierliste der Pariser und Athener Maschine durchgeben. Herr Lothar Wolf? Ja, der hatte schon einige Zeit vorher diesen Flug gebucht. Es war an Bord der Athener Maschine gegangen, natürlich. Eine verschärfte Kontrolle hatte nicht stattgefunden, die Fahndung nach den Entführern des Geldtransporters war erst später eingetroffen. Athen also, dachte der Kommissar zufrieden. Er würde Ramsun finden. Noch ehe er Interpol bei der Suche nach Wolf alias Ramsun einschalten konnte, traf die Meldung ein, daß man in Hamburg Peter Kahne aufgegriffen hatte, den Boß der Großen Drei.
5 Nach dem Abendessen war Ramsun in sein Zimmer zurückgekehrt, hatte geduscht und sich schlafen gelegt. Am nächsten Morgen fühlte er sich ausgeruht und unternehmungslustig. Der Tod des Unterhaltungskünstlers, von dem er gestern in der Zeitung gelesen hatte, kam ihm wieder in den Sinn, doch jetzt schien es ihm unwahrscheinlich, daß Jackie Stöhr ihn erstochen haben könnte. Du mußt dir abgewöhnen, befahl er sich, solche Ereignisse mit dir und deiner Vergangenheit in Zusammenhang zu bringen. Übrigens geht es dich nichts an, was in Berlin geschehen ist, du kommst aus dem Rheinland, Lothar Wolf, und warst nur auf einen Abstecher in Berlin. Er frühstückte. Dann unternahm er einen ersten Spaziergang, schlenderte durch den nahe gelegenen Natio199
nalgarten mit seinen imposanten Bäumen und gepflegten Teichen, lief um den Syntagmaplatz, vorbei an Supermärkten, kleinen Geschäften, Büros verschiedener Fluggesellschaften und Banken. Banken! Sollte er ein Konto eröffnen? Wie lange konnte man leben von einer Million, wenn man das Geld weder zum Fenster hinauswarf noch damit geizte? Nein, die Frage war nicht, wie lange er mit diesem Geld, sondern wie lange er ohne jegliche Beschäftigung zu leben vermochte. Er konnte weder die griechische noch sonstige Kultur mit den Augen eines Wissenschaftlers sehen. Er nahm sie als Neuheit, als schöne Abwechslung seines Alltagslebens in sich auf. So hatte er es während des Urlaubs mit Elke gehalten, und sie waren voll von neuen Eindrücken, die sie mit naiver Freude genossen, an ihre Arbeit zurückgekehrt. Was geschah, wenn er übervoll vom Impressionen nirgendwohin zurückkehren konnte? Er bog in eine enge Gasse ein und gelangte zur Plaka, einen alten Athener Stadtteil, dem „Viertel der Götter“. Er schlenderte vorbei an schönen alten Häusern, blumenüberwucherten Balkonen, schaute in kleine Höfe, in denen Jasmin und Geißblatt wuchsen, mied die luxuriösen Unterhaltungslokale, setzte sich in eine malerische Taverne und bestellte Retsinawein. Überall, wohin er auch ging, begleiteten ihn die Einsamkeit und eine leise Wehmut. Von der Plaka aus stieg er eine steile Straße zur Akropolis hinan. Ein Weg wie durch ein Jahrmarktsviertel. Fliegende Händler, die schreiend ihre Ware feilboten, Stände mit Getränken, Imbiß, Süßigkeiten und ein unzähliges Angebot an Souvenirs. An einem Kiosk mit internationalen Zeitungen kaufte er die Berliner Abendausgabe vom Vortag, setzte sich abseits auf eine Bank und schlug sie auf. Sein Foto sah ihm entgegen und darunter das von Harry Bellmann. Er schloß die Augen. Nein, er brachte es nicht fertig, als Lothar Wolf sich über Ramsuns Ver200
gangenheit hinwegzusetzen. Aber er wollte sich nur so weit um die Vergangenheit kümmern, wie es zum Schutz seiner Existenz vonnöten war, und keineswegs Emotionen daran verschwenden. So zwang er sich, in Ruhe die Artikel zu lesen, die zu seinem und Bellmanns Foto gehörten. Armer Harry, dachte er, du hast meinen Rat nicht befolgt. Du hast in irgendeiner bösen Geschichte gesteckt und bist beschattet worden. Nun mußt du sehen, wie du dich herauswindest aus der Sache. Hoffentlich wird dir Jackie schnurstracks mit falschen Papieren aus der Falle helfen. Mir kann diese ganze Geschichte nicht gefährlich werden. Mich sucht man schlimmstenfalls in der Türkei. Und den Namen, dachte er, wenn Harry den Namen Lothar Wolf preisgibt. Vielleicht durchkämmen sie die großen Städte, aber ich werde von Insel zu Insel fahren und mich auf jeder nur so lange aufhalten, wie es einem neugierigen Touristen zukommt. Die erste Gelegenheit, die sich bietet, um einen neuen Namen anzunehmen, wird genutzt. Er trank ein weiteres Glas Retsinawein. Zwei Tage später fuhr er von Piräus zu den Inseln der nordöstlichen Ägäis. Vor dem Auslaufen des Schiffes kaufte er noch einen Tagesspiegel vom Vortag. Er brachte in großer Aufmachung die Verhaftung eines gewissen Peter Kahne in Düsseldorf. Kahne war angeblich Boß der sogenannten Großen Drei, die mehrere Banken überfallen, in Celle einen Wachmann erschossen und in Berlin die Karstadt-Kasse ausgeraubt hatten. Ramsun erinnerte sich an diesen Vorfall. Kahnes Mittäter war man angeblich dicht auf den Fersen. Neben diesem Ereignis, das Ramsun, wie er meinte, nichts anging, schien der Raub des Geldtransporters zu verblassen. Jedenfalls fand er in dieser Ausgabe keine Zeile darüber. Während Bernhard Ramsun die sieben paradiesischen Inseln der nördlichen und östlichen Ägäis besuch201
te, fahndete Interpol nach Herrn Lothar Wolf und entdeckte eine Spur, die vom Flughafen Athen zum Hotel „Hadrian“ führte. Dort brach sie ab. Niemand wußte, wohin Herr Wolf abgereist war, er hatte mit keinem Kontakt gepflegt, war nichts als ein angenehmer, ruhiger Gast gewesen, der dem Personal ein angemessenes Trinkgeld zugesteckt hatte. Eine Weile schien es Ramsun, als habe ihn einer seiner Reisegefährten bereits verlassen. Die bittere Wehmut war gewichen, hatte einer tiefen Ruhe Platz gemacht. Ramsun war beeindruckt von der smaragdgrünen Reinheit des Meeres, den felsigen oder grünbewaldeten Inseln, den malerischen tiefen Buchten, dem Wohlgeruch von Mandarinen- und Mastixbäumen. Eindrücke, die seine innere Unrast tilgten, aber auf seltsame Weise seine Empfindungen lähmten. Das Meer, die Natur schienen ihre Gefühllosigkeit auf ihn zu übertragen. Es störte ihn auch nicht mehr, daß er auf jedem Schiff und auf jeder Insel in einer Zone der Einsamkeit lebte. Um ihn herum suchte man Kontakt, lachte miteinander, setzte sich zum Essen zusammen, unternahm gemeinsame Ausflüge. Doch der gutaussehende dunkelblonde Mann, dem Sonne und Meer eine kupferfarbene Haut verliehen hatten, wurde gemieden. Sein abweisender Blick und der spöttisch hochgezogene Mundwinkel zeichneten ihn mit einer Arroganz und Unnahbarkeit aus, vor der man zurückschreckte. Auf der Insel Samos kaufte Ramsun nach Tagen wieder eine Zeitung. In Hamburg war Kahnes Mittäter festgenommen worden, den dritten Mann zu finden, erschien der Polizei kein Problem mehr. Auch zwei Helfershelfer der ehemaligen Großen Drei waren inhaftiert, eine junge Frau namens Franziska Heusler und Harry Bellmann, nach dem im Zusammenhang mit dem entführten Geldtransporter gefahndet worden war. Bellmann hatte in beiden Fällen als Helfershelfer fungiert, und das war 202
ihm und den Räubern des Panzerwagens zum Verhängnis geworden. Die Unschuld des ehemaligen Sicherheitsinspektors Werner Bahl war erwiesen. Er hatte an dem Coup weder teilgenommen noch irgend etwas davon geahnt. Doch durch sein unangebrachtes Vertrauen zu Ramsun hatte er ihm die Durchführung seines Planes erst ermöglicht. Mit Recht von der Edmund-Wachgesellschaft seines Amtes enthoben, lag er seit der Entführung des Transporters in der Nervenklinik, die er wohl so bald nicht verlassen würde. In seinen Wahnvorstellungen sprach und lachte er oft mit seinem ehemaligen Freund und Kollegen Bernhard Ramsun. Die Polizei nimmt an, auch den 3-Millionen-Raub demnächst klären zu können … Zwei Worte prägten sich ein und peinigten Ramsun: unangebrachtes Vertrauen. Die Erinnerung an jahrelange Gemeinsamkeit kehrte zurück. Wie ein Mann, befehligt von einem Kopf, fühlend mit einem Herz, hatten sie ihre Arbeit getan, Geld transportiert, bewacht und verteidigt. Werner Bahl war nicht der Kerl, den Schwarzen Peter wieder loszuwerden. Unangebrachtes Vertrauen – der Weg zum Irrenhaus. Ramsun hielt sein Reiseziel ein. Er fuhr zu den Kykladen, kleinen ägäischen Inseln, bizarr geformt, die ihre braunen Rücken aus dem Meer erheben, doch die Ruhe des Meeres und der Zauber der Natur wirkten nicht mehr, und mit ihnen schwand auch die wohltuende Gefühllosigkeit. Warum trieb er hier wie ein Holzsplitter auf dem Ägäischen Meer? Wie sinnlos das alles war, dieses Weglaufen, dieses Vergessenwollen, dieses Verwandeln in einen Herrn Lothar Wolf, der er nie sein würde! Er blieb zwei Tage auf Naxos und wanderte die endlosen Strände entlang. Er wollte versuchen, auf einer der kleinsten und einsamsten Inseln wieder zur Ruhe zu kommen, um zu sich selbst zu finden. Was er dort 203
beschloß, nach reiflicher Überlegung, sollte geschehen. Er nahm die neueste Ausgabe des „Tagesspiegel“, die zu haben war, mit aufs Schiff. Es fiel ihm leicht, ein abseitiges Plätzchen zu finden und unbehelligt seine Zeitung zu lesen. Interpol jagt Ramsun alias Lothar Wolf! Darunter ein Phantombild Lothar Wolfs mit dem leicht in die Stirn gekämmten Haar und dem Schnauzbart. Das Ende der Affäre um den Raub des Geldtransporters der EdmundWachgesellschaft sei abzusehen, hieß es. Jackie Stöhr, der dritte Mann, der für falsche Pässe und Fluchtfahrzeuge gesorgt hatte, war im Hamburger Hafen aufgegriffen worden und, wie bereits vermutet, hatte man mit ihm den Mörder, der in der Nacht vor dem Panzerwagen-Coup den Unterhaltungskünstler erstochen hatte, gefunden. Stöhr war auf Grund kriminaltechnischer Analysen des Mordes überführt und inzwischen geständig. Noch fehlte Ramsun, der den Raub des Panzerwagens geplant und sich rechtzeitig abgesetzt hatte. Er war zumindest moralisch mitschuldig an Bahls Irresein und dem Tod des Porsche-Besitzers. Doch Interpol war ihm bereits auf der Spur. Übrigens hatte seine Frau, die es wohl schon seit langer Zeit an der Seite dieses seelenlosen Verbrechers nicht mehr aushalten konnte und ihn vor Wochen verließ, in Paris die Scheidung eingereicht … Vom getreuen Ehemann und vertrauenswürdigen Geldfahrer zum seelenlosen Verbrecher. Welch eine Karriere, dachte Ramsun verbittert. Ein schlecht reparierter Geldtransporter, tadelloses Zusammenspiel zwischen Edmund und einer führenden Tageszeitungen, und den Schwarzen Peter krieg ich. Aber ich bluffe und spiel weiter und merke nicht, daß ich denen nicht gewachsen bin. Unsinn. Ich habe überhaupt nichts von einem Spiel gewußt, sondern geglaubt, dies sei mein Leben und ich sei derjenige, der es bestimme. Er faltete die Zeitung zusammen, sah auf. Drei Tische 204
weiter begegnete er Augen, die er zu kennen glaubte. Sie haben alle dieselben Augen, im Vordergrund wache Gespanntheit, dahinter glimmt der leise Triumph des Erfolges und manchmal weit in der Tiefe ein Fünkchen Bedauern. Der Mann, dessen Namen und Dienstrang Ramsun nicht wußte, bewegte leicht den Kopf. Es war ein angedeutetes Nicken. Ramsun zog den Mundwinkel leicht nach oben, stand auf und ging zur Toilette. Als er zurückkam, legte das Schiff an, er nahm sein Gepäck auf und ging von Bord. Der andere stand schon draußen, sprach ihn jedoch inmitten der Fahrgäste nicht an. Ramsun nahm den Weg zum nahe gelegenen Badestrand. Sein Verfolger hielt gemessen Abstand. Ramsun entkleidete sich und lief ins Wasser. Nach wenigen Schritten schon verlor er den Boden unter den Füßen und schwamm. Dumpfe wohltuende Müdigkeit überfiel ihn. Irgendwo hatte er gelesen, Freitod habe etwas mit Befreiung zu tun. Jemand rief seinen Namen. Vielleicht Werner Bahl. Oder Elke. Er stand in dem blauen Raum der Kirche, dem Himmel seiner Kindheit, und suchte nach dem gekreuzigten Jesus. Das Blau wurde dunkler und dunkler … Als Ramsun ins Wasser lief, beschleunigte der Mann seine Schritte, stutzte aber, als er neben Ramsuns Kleidung und Gepäck einen Prospekt und eine leere Schachtel Schlaftabletten liegen sah. Er blickte aufs Meer. Ramsun versank und tauchte nicht wieder auf. Sanfter Wind strich den Strand entlang, blätterte eine Seite des Prospektes um, auf der zu lesen stand: Keros – das Inselchen für Menschen, die Frieden suchen.
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1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1983 Lizenz-Nr.: 409-160/160/83. • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 573 1 DDR 2,– M