MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 111
Das Schlangen-Ei von Jo Zybell
Prolog Mitte Mai, 2520 Sie drehte sich um...
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MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 111
Das Schlangen-Ei von Jo Zybell
Prolog Mitte Mai, 2520 Sie drehte sich um, ging lächelnd an ihm vorbei und verließ die Höhle. Ließ ihn einfach allein mit all den verwirrenden Eindrücken, die er nicht begriff, und den beiden... ja, was? Wesen? Rulfan schloss die Augen und sog die Luft durch die Nase ein. Dieser Duft! Ihr Duft! Bei Wudan und allen Kometen des Kosmos – wie er sie begehrte! Alles andere begann dagegen bereits zu verblassen. Plötzlich hörte er sie schreien. »Rulfan!« Ein Schrei in Todesnot. Er riss die Augen auf. »Hilf mir!« Er fuhr herum, rannte los.
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WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Asiens werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Nach der Eiszeit hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den USPiloten Matthew Drax, dessen Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Nach dem Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde... Während der Wiederaufbau Londons allmählich in Gang kommt, wird Rulfan nach Köln (Coellen) entsandt, um dort und im Ahrtaler Bunker nach Verbündeten gegen die Daa'muren zu suchen. Für die Reise »gräbt« er sein Luftkissenboot wieder aus, das seit seiner Rückkehr nach London in einem Hangar stand. In Doyzland angekommen, muss Rulfan feststellen, dass Coellen und Dysdoor mal wieder im Streit liegen. Diesmal trumpfen jedoch die Düsseldorfer auf: Deren Hauptmann Haynz hat den Flughafen Wahn geplündert. Irgendwie ist es ihm gelungen, zwei der Flugzeuge zu aktivieren und damit Coellen anzugreifen. Rulfan hat keine Erklärung für diesen technischen Fortschritt, bis er herausfindet, dass Haynz einen militärischen Berater hat: einen Techno aus dem Bunker Marienthal namens Conrad von Leyden. Haynz und die Seinen halten ihn für einen Gott, doch Rulfan enttarnt ihn als 17jährigen Knaben mit der Neigung zu Narzissmus, Selbstüberschätzung und Sex. Letzteres hat er bislang nur 3
überlebt, weil sich die Ahrtaler Technos mit einem speziellen Trainingsprogramm abhärten. Conrad wurde wegen Disziplinlosigkeit und Rebellion aus dem Bunker, dessen Regierungschef sein tyrannischer Vater ist, verbannt. Nun will er zurückschlagen. Die Angriffe auf Coellen sind ein Testprogramm; er will Strategien und Mittel erproben, um seinen Vater effektiv zu bekämpfen. Doch Rulfan zähmt ihn, und nicht lange danach frisst Conrad ihm aus der Hand. Mit dem für die Technos bestimmte Immun-Serum als Verhandlungsbasis will er Conrad wieder den Zutritt in seine Heimatkolonie ermöglichen und selbst Kontakt aufnehmen. Begleitet von Honnes machen sie sich auf den Weg ins Ahrtal. Gleichzeitig sucht Conrads Onkel, Franz-Gustav von Leyden, nach dem Jungen. Dabei trifft er auf einen Trupp Amazonen, die einer »Höllenmaschine« folgen, einem russischen AMOTPanzer, der Tod und Verwüstung zurücklässt. Von Leyden wird Zeuge, wie die Barbarinnen auf die schwer bewaffnete Besatzung treffen – und siegreich bleiben! Er schließt sich ihnen an, bereut das aber bald. Irgendetwas stimmt nicht mit den Frauen...
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Raus aus der Höhle, den Hang hinunter. Rulfan stolperte über eine Baumwurzel, schlug auf bemoostes Gestein, rutschte auf seinem Ledermantel dreißig Meter weit fast ungebremst den Steilhang hinunter. Und dort, noch einmal fünfzig Schritte entfernt, sah er sie auf dem Felsvorsprung über dem von Abenddunst verschleierten Flusstal. Sie und einen Mann; einen kahlköpfigen, knochigen Mann. Er hob ein Kurzschwert, schlug zu. Sie schrie noch immer – keine verständlichen Worte mehr; sie brüllte ihre Wut und ihre Panik hinaus. Gleichzeitig duckte sie sich unter dem Hieb des Kahlkopfs weg und wich den einzigen auf dem Felsvorsprung noch möglichen Schritt zurück, während sie ihr Langschwert aus der Rückenscheide riss. Rulfan zerrte sein LP-Gewehr von der Schulter, griff ins Gestrüpp, um sich hochzuziehen. Ihr schwarzes Langhaar peitschte um ihre Schultern, als sie zuschlug. Der Kahlköpfige packte den Griff seines Schwertes mit beiden Fäusten, stemmte sich dem Angriff entgegen. Funken sprühten, als Stahl auf Stahl schlug. Der Mann wankte, fing sich aber, stand wieder fest, wie zum Sprung geduckt. Sie jedoch torkelte. Ihr zur Seite geschlagenes Schwert brachte sie aus dem Gleichgewicht, stürzte sie in den Abgrund! Rulfan brüllte, als hätte eine Klinge ihn durchbohrt. Er stürmte los, zielte im Laufen auf den Mann, zögerte einen Augenblick zu lange – der Kahlkopf sprang in die Tiefe. Niemand war jetzt mehr auf dem Felsvorsprung. Hinter Rulfans Brustbein trommelte sein Herz, seine Lungen brannten. Und dann – hörte er die Frau wieder schreien! Sie lebte! Bei Wudan, sie lebt noch! Er keuchte, er rannte, brüllte ihren Namen, und als er vor der Felskante in die Knie ging, schleuderte das Echo ihm diesen Namen von der anderen Seite des Flusstals entgegen. 5
Rulfan starrte hinunter. Der Kahlkopf stand drei Speerlängen unter ihm auf einem fast vier Schritt langen Felssims, das aus der Wand heraus über das Flusstal ragte. Wie heiß musste die Mordlust brennen, die einen Mann zu einem solchen Sprung verleiten konnte? Schon wieder hatte er ein Schwert zum Schlag erhoben; doch nicht sein kurzes diesmal, sondern ihr so viel längeres Schwert. Rulfan sah sofort, dass sie keine Chance hatte: Sie hing kaum zwei Schritte vom Sims und ihrem Mörder entfernt in der Wand und klammerte sich an einer verkrüppelten jungen Birke fest, die an dieser Stelle aus dem Felsen wuchs. Vergeblich versuchte sie mit den Beinen das Sims zu erreichen. Der Kahlkopf hielt sich mit der Linken in der Wand fest, schlug mit der Rechten zu. Die Klinge traf das rettende Gehölz über ihr. Ein Ast brach, und ruckartig scheuerte sie ein paar Handbreiten tiefer über den Fels. Neunzig, hundert oder mehr Speerlängen unter ihr, am Fuß der Steilwand, rauschte der Fluss. Der Mörder holte erneut aus. »Hilf mir, Rulfan! Schieß endlich!« Der Albino zielte auf den Mann. Der hielt inne in seinem letzten, tödlichen Schlag, legte den Kopf in den Nacken, sah herauf. Ihre Blicke trafen sich. Rulfans Herz schnürte sich zusammen. Nicht er! »Schieß!«, brüllte sie. »Töte ihn endlich!« Rulfan riss sich von den Augen des Mannes los, starrte in ihre vor Wut und Schrecken feuchten Augen. »Töte ihn! Töte ihn doch...!« Und wieder die Augen des Mannes. Rulfan stützte den Gewehrkolben gegen die Schulter, sah die Augen des anderen über dem Ziellaser-Konus. Er legte den Finger auf den Auslöser... und zögerte... *
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Drei Wochen zuvor Coellen, Ende April 2520 Irgendjemand warf ein Holzscheit in den Kamin. Aschenflocken erhoben sich aus der Glut, schwebten auf die roten Steinplatten vor der Kaminöffnung. Eine Phalanx gelber Flämmchen züngelte an der Unterseite des Holzes. Neben dem Kamin öffnete der Lupa das linke Auge halb und ohne den Schädel von den Vorderläufen zu heben. Er blinzelte in die Glut. Längst war es dunkel geworden. Durch die offenen Fenster wehte eine kühle Abendbrise in den kleinen Speisesaal. Der alte Kanzler zog sich seinen Mantel um die Schultern. Seine Schwiegertochter Gittis, die immer noch schrieb, hielt kurz inne, um den wollenen Umhang von ihren Schultern über den Kopf zu ziehen. Auch Rulfan fröstelte ein wenig. Draußen auf der Gasse drängten sich Männer und Frauen vor den drei offenen Fenstern. Sie versuchten einen Blick auf den Jungen zu erhaschen, an dessen Lippen auch die Männer und Frauen innerhalb des Saales hingen. Manche saßen kerzengerade auf den Kanten ihrer Lehnstühle und lauschten mit offenen Mündern. Andere hatten Arme und Kopf auf die Tafel gelegt und kauten an ihren Unterlippen. Wieder andere – Honnes und Juppis zum Beispiel – stützten ihre kantigen Schädel auf die Fäuste und beobachteten den bleichen Jungen aus schmalen Augen, als würden sie jedes seiner Worte abwägen. Und Gittis schrieb und schrieb und schrieb. Schon seit Sonnenuntergang war das eigentliche Festmahl beendet und die Tafel abgeräumt, aber der Junge in dem metallic-goldenen Anzug erzählte immer noch: die Geschichte seiner Heimat, vom Leben in der Bunkerstadt mit dem eigenartigen Namen »Marienthal«, von den Untaten seines Vaters. Und immer wenn er ihn erwähnte, jenen HannsClaudio von Leyden, verfinsterte sich sein Blick und seine roten Augen fixierten die eigenen, goldverhüllten Hände. 7
Rulfan fragte sich, was geschehen musste, bis ein Mann seinen Vater so sehr hasste wie Conrad von Leyden den seinen. Der junge von Leyden war hochgewachsen und dürr, das schmale Gesicht unter dem haarlosen Schädel extrem bleich und voller Pickel dazu. Siebzehn Jahre war er alt. Zwar trug er einen Schutzanzug unter seinem Umhang aus schwerem blauen Tuch – jenen extravaganten Overall aus Goldimitat – hatte sich aber den Helm in den Nacken geklappt. Rulfan sah das nicht gern. Vom Essen – Fisch und Wakudabraten – hatte Conrad von Leyden zwar keinen Bissen angerührt, aber schon ungefiltert dieselbe Luft zu atmen wie der Kanzler und der Bürgerrat, stellte ein Risiko für den jungen Burschen dar. Auch wenn Rulfan ihm das Serum verabreicht hatte, das er im Auftrag der Allianz zum Marienthaler Bunker – der Heimatkolonie Conrad von Leydens – bringen sollte. Das war sein Versprechen gewesen, damit Conrad die Bombardierung des Kölner Doms verhinderte, und Rulfan stand zu seinem Wort. Er würde aber einen Großteil des Beutelinhalts später den Bunkerleuten überlassen, zusammen mit der Formel, um das Immun-Serum zu reproduzieren. Falls sich die Bewohner des Präparates als würdig erwiesen, konnte es sie unabhängig von ihrem Bunker, von Schutzanzügen und Helmen machen; und zu schlagkräftigen Verbündeten im Kampf gegen die Daa'muren. Vor allem das: starke Mitstreiter im unausweichlichen Krieg. Rulfan hatte Conrad gewarnt, dass sein Körper einige Tage brauchen würde, um auf das Serum zu reagieren; trotzdem ging der Junge das Wagnis ein, jetzt schon mit geöffnetem Helm hier zu sitzen und zu erzählen. Rulfan wusste inzwischen, dass die Marienthaler Technos das Risiko ganz bewusst eingingen, um so die Widerstandsfähigkeit zurückzuerlangen, die sie in den Jahrhunderten der Isolation eingebüßt hatten. Eine Art russisches Roulette, seiner Meinung nach. Rulfans Blick fiel auf die Frau neben Conrad von Leyden. 8
Eine liebliche Erscheinung in bunten Tüchern, mit kurzem rotblonden Haar und einem hübschen Gesicht. Sie hieß Hille, stammte aus Dysdoor und war mindestens zehn Jahre älter als der Bursche an ihrer Seite. Rulfan fragte sich, wie von Leyden es anstellte, mit ihr geschlechtlich zu verkehren, ohne sich den Tod zu holen. Dass so was möglich war, wusste er von seinem eigenen Vater – wenn Sir Leonard Gabriel nicht einst eine Barbarin geliebt hätte, säße Rulfan jetzt nicht hier. »Warum habt Ihr Marienthal verlassen, Conrad von Leyden«, wollte Jannes Attenau wissen. »Warum seid Ihr geflohen, und warum bereitet Ihr Euch auf einen Kampf gegen Euren Vater vor?« »Er wollte mich töten, Kanzler Attenau.« »Ein Vater, der seinen Sohn töten will?« Honnes, den sie hier den »Britanier« nannten, gab sich keine Mühe, seine Zweifel zu verbergen. »Weißt du das oder glaubst du es nur, Junge?« »Ich weiß es!« Conrad von Leyden machte eine grimmige Miene und sah sich unter seinen Zuhörern um. »Ja, er wollte mich töten, mich, seinen eigenen Sohn!« Mit pathetischer Geste schlug er mit der geballten Faust gegen seine Brust. Rulfan glaubte ihm, hatte aber dennoch den Verdacht, dass der Bursche etwas verschwieg. Sollte ein Vater seinen Sohn töten wollen, nur weil dieser politisch auf der Seite des Gegners stand? Nein, da musste noch etwas anderes vorgefallen sein. Und ein kurzer Blickwechsel mit seinem Freund Honnes bestätigte ihm: Der alte Veteran sah das ähnlich. »Er ist ein Tyrann, ein Mörder!« Von Leyden schlug mit der Faust auf die Eichentafel. »Die Revolution in Marienthal, all das Blut, das sie gefordert hat, geht auf sein Konto! Man muss ihn mit allen Mitteln bekämpfen!« Rulfan rieb sich nachdenklich das Kinn. Beunruhigend, was 9
der Bursche da verlauten ließ. Hoffentlich übertrieb er. Wenn er nämlich Recht hatte, waren die Marienthaler weder Kandidaten für eine Koalition gegen die Daa'muren, noch für das Serum. Rulfan würde sie sich sehr genau anschauen müssen, diese deutschen Technos. Er beobachtete die Frau an Conrads Seite. Angeblich war sie einst die Lieblingsfrau eines Dysdoorers namens Krautz gewesen. Merkwürdig, dass so eine gestandene und attraktive Frau diesen zehn Jahre jüngeren Lümmel liebte. Und dass sie ihn liebte, war nicht zu übersehen: Ihre strahlenden Augen verschlangen ihn fast, während er erzählte. Stolz und Bewunderung lagen auf ihrer Miene. Nun, vielleicht ist sie von seiner Klugheit und seinen technischen Fähigkeiten beeindruckt, dachte Rulfan. Immerhin konnte der Bursche Bomben bauen und fünfhundert Jahre alte Flugzeugwracks zum Fliegen bringen. Die plötzliche Stille im Raum riss Rulfan aus seinen Grübeleien. Niemand sprach mehr. Conrad von Leyden stierte auf seine in Gold gepackten Hände, sodass seine Nackenhaut sich straffte und man einen Teil der Tätowierung erkennen konnte, die zwischen den Schulterblättern auf der Haut des Jungen prangte. Von Leyden ließ seine Fingerknöchel knacken. Der Lupa hob den Schädel und gähnte. Unter den Leuten vor den Fenstern erhob sich Getuschel. Gittis schob die vielen Wachstafeln zusammen, in die sie von Leydens Erzählung geritzt hatte. Der Kanzler räusperte sich. »Wir danken Euch für Euren Bericht, Conrad von Leyden. Jeder von uns wird über Eure Worte nachdenken...« Jannes Attenau blickte in die Runde, um sich zu vergewissern, dass alle Mitglieder des Bürgerrats seine Anweisung verstanden hatten. »Danach werden wir beraten.« »Ihr müsst mir helfen!«, begehrte Conrad von Leyden auf. »Gemeinsam können wir HCL besiegen!« Die Marienthaler neigten entweder zu langen Namen oder hatten ein Faible für 10
Abkürzungen – HCL war der Spitzname von Hanns-Claudio von Leyden. »Gemeinsam können wir die alte Ordnung in Marienthal wieder herstellen! Wenn dort die rechtmäßige Regierung wieder eingesetzt ist und ich Nashornkönig von Marienthal bin, werde ich euch beibringen, wie man Bomben, Fahrzeuge und Maschinen baut und wie man Eisenvögel zum Fliegen bringt! Gemeinsam werden wir die Welt vor den Daa'muren retten...« Rulfan horchte auf. Worum bei Orguudoo ging es dem jungen Burschen wirklich? »Lass gut sein, Conrad.« Mit einer Handbewegung brachte er das Pickelgesicht zum Schweigen. »Eins nach dem anderen. Der Bürgerrat pflegt sich Zeit zu lassen mit seinen Entscheidungen.« Eine Mischung aus Trotz und Enttäuschung verdunkelte von Leydens Miene. »Ich allerdings habe nicht viel Zeit«, fuhr Rulfan unbeeindruckt fort. »Fern im Osten braut sich ein Verhängnis zusammen, das niemanden von uns verschonen wird. Hier in Coellen oder dort in Marienthal genauso wenig wie in Washington oder London oder sonstwo.« Rulfan hatte natürlich alle tonangebenden Männer und Frauen über die Gefahr informiert, die der Menschheit vom Kratersee drohte: den Bürgerrat, Conrad von Leyden und auch den nach seiner Bruchlandung gelähmten Hauptmann von Dysdoor und seinen Bruder Gleemenz. »Gegen die Daa'muren müssen alle Stämme, Horden, Kolonien und Völker zusammenhalten. Die Communities von London und Salisbury haben mich ausgesandt, um die Bunkerkolonie von Marienthal für das Kriegsbündnis zu gewinnen. Du wirst mich zu deinem Vater führen. Das Serum wird ihn vielleicht zum Einlenken bewegen...« »Und wenn nicht...?« Skepsis und Hoffnung rangen in den Gesichtszügen des Jungen miteinander. »Dann werden wir weitersehen. In zwei Tagen jedenfalls brechen wir auf.« 11
Conrad von Leyden nickte langsam. Keine Spur von Trotz mehr. Seine rötlichen Augen schienen jetzt größer als sonst. Wie Knabenaugen hingen sie an Rulfan, und zwei Atemzüge lang spürte der Albino das grenzenlose Vertrauen, das ihm von Conrad entgegen schlug. Der Rest war Stühlerücken, Händeschütteln und Abschiedskonversation. Rulfan schickte sich an, eines der Fenster zu schließen. Honnes stand plötzlich neben ihm und drückte seinen Oberarm. »Ich gehe mit dir, mein Freund«, raunte er ihm ins Ohr. Ohne Erklärung, ohne die Antwort des Jüngeren abzuwarten drehte er sich um und verließ den Speisesaal. Nach und nach löste die Abendversammlung sich auf. Draußen sah Rulfan den treuen Kampfgefährten in einer dunklen Gasse verschwinden. »Ich habe alles notiert.« Gittis und ihr Mann Harris, Attenaus Sohn, traten zu ihm. Im Arm hielt Gittis die sorgfältig zusammengelegten und in Stoff geschlagenen Wachstäfelchen. Die Schwiegertochter des Kanzlers genoss den Ruf, die klügste Frau in Coellen zu sein. Ihr Großvater hatte seiner Enkelin Lesen und Schreiben beigebracht, kaum dass sie sprechen konnte, und ihr eine beachtliche Bibliothek vererbt, die er und seine Vorfahren im Laufe von Generationen aus den Ruinen geborgen hatten. »Ich habe seinen Bericht in Stichworten aufgeschrieben, aber ich werde es in aller Ausführlichkeit nacherzählen.« Mit fester Stimme sagte sie das, ihre Augen lächelten selbstsicher und in ihrer Miene lag ein Ausdruck der Entschlossenheit. Sie schien das fertige Werk bereits vor sich zu sehen. »Mein Gedächtnis funktioniert wie das Mundwerk dieses pickeligen Knaben. Ich habe mir alles gemerkt, was für eine unglaubliche Geschichte...!« Ein schauriger Gedanke schoss Rulfan durch den Kopf: Was, wenn die Daa'muren die Erde an sich rissen? Wenn 12
niemand übrig bliebe, um Aufzeichnungen wie diese hier weiterzugeben? »Schreib Wort für Wort auf«, sagte er zu Gittis. »Schreib sorgfältig wie eine Chronistin und schreib alles auf Leder, damit es die Zeiten überdauert.« »Das werde ich tun, Rulfan. Und dann werde ich die Geschichte zu den Schriftrollen der Stadtchronik legen.« Gittis' graue Augen blitzten. »Und wie soll ich sie überschreiben?« »Nenne sie ›Historie der Bunkerkolonie Marienthal von den Tagen ›Christopher-Floyds‹ bis zum Zeitalter der Daa'muren‹.« Und hoffentlich wird sich einer finden, der sie einst weiter schreibt, fügte er in Gedanken hinzu. Gittis runzelte die Stirn, neigte den Kopf auf die Schulter und musterte ihn erstaunt. Sie verlor aber kein weiteres Wort. Das Paar verabschiedete sich und verließ den Saal. Die Hände noch immer an den Fensterflügeln, blickte Rulfan in den Nachthimmel. Kalt blinkte die schmale Sichel des Mondes über dem Dom. Und wie so oft in den letzten Wochen überfiel ihn die Erinnerung: Zwischen Grandlord Paacival und Druud Alizan steht er vor den dampfenden Innereien einer Riesenkröte, und der Druud weissagt ihm seine Zukunft aus dem Kwötschi-Gedärm: Lassen Ganzmond veagehen. Noch voa denext wiast dude woom deines Lebens begegne... Rulfan atmete tief durch. »Sei kein Narr...«, murmelte er. Zwei Wochen vor seinem Aufbruch zum Festland hatte der Druud ihm das geweissagt, vor den Ohren amüsierter Lords. Einen Mondzyklus hatte Rulfan seitdem bereits über den Himmel ziehen sehen. Wie lange noch bis zum nächsten? Sieben Tage, acht Tage? Bis dahin würde er kaum auf die britischen Inseln zurückgekehrt sein. Also sollte es hier geschehen...? Unsinn! Es lohnt nicht, einen Gedanken daran zu verschwenden... Rulfans Lippen waren auf einmal ein schmaler Strich. Er 13
schloss das Fenster. * Aus den fragmentarischen Aufzeichnungen Franz-Gustav von Leydens Hier ist die Hölle los. Ich muss das aufzeichnen; in meinem Kopf beginnen sich die Gedanken zu verwirren. Ich muss dokumentieren, was geschehen ist in den letzten vier Wochen. Vielleicht begreife ich dann, vielleicht... Beim Heiligen Rhinozeros, diese Kopfschmerzen...! Hier ist die Hölle los, oder nein, eigentlich auch nicht, ich weiß nicht genau. In meinem Kopf ist die Hölle los. Der Alte ist tot, sie haben mich mit offenen Armen wieder aufgenommen, der Junge ist zurück, er hat... ich begreif es nicht... Langsam, langsam, immer schön der Reihe nach. Manchmal vergesse ich schon, was eigentlich geschehen ist, manchmal halte ich alles für einen Fiebertraum... Manchmal vergesse ich, wo ich bin und was ich bin... Und dann diese verdammten Schmerzen, ich habe mir eine Blutprobe abgenommen, stopf mich mit Acetylsalicylsäure voll... aber eines nach dem anderen... Zunächst mein Name; vielleicht findet ja mal einer diesen Memo-Stick. Fürchte aber, dann wird es zu spät sein für mich. Egal... Also mein Name: Franz-Gustav von Leyden, Mediziner und leitender Psychologe, Bunkerbürger von Marienthal. Da bin ich jetzt auch: in Marienthal. Was geschehen ist: Ich bin krank, oder nein, nicht richtig krank, ich weiß es nicht genau. Jedenfalls ist der Alte tot und nichts mehr so, wie es früher war... Also, folgendes: Ich habe Fieber – alle haben sie Fieber inzwischen, glaub ich, sogar der Fremde. Nur die Weiber nicht, jedenfalls die neuen nicht. Aber das ist jetzt unwichtig. Ich habe eine Blutkultur angelegt – mein Blut auf mit 14
Nährplasma getränkte Watte geträufelt und in den Autoklav gesteckt. Wenn da ein Erreger ist, wird er wachsen, schneller als in meinem Körper, wird wachsen und wachsen... Wo war ich? Ach ja... Es begann mit den Weibern, mit diesen Amazonen, da bin ich mir ziemlich sicher. Ich habe sie in der Gegend von Koblenz am Rheinufer entdeckt. Etwa ein Dutzend mit Schwertern und Spießen bewaffnete Frauen auf Riesenheuschrecken, begleitet von etwa einem Dutzend ähnlich bewaffneter Kahlköpfe. Bis hinauf zu den Überresten der A 61 hab ich sie verfolgt. Es sind verdammt schöne Weiber, und wir hier in Marienthal sind nicht gerade gesegnet mit schönen Frauen... Oben an einer Brückenruine der A 61 stand ein Panzerfahrzeug, irgendein Kettenvehikel irgendeiner Expedition, vermutlich aus irgendeinem russischen Bunker. Und was machen diese Amazonen? Sie greifen den verdammten Panzer an! Und jetzt kommt's: Sie besiegen den verdammten Panzer! Trotz Laserwaffen, trotz Bordgeschützen, trotz dicker Panzerwände! Unglaublich! Nur sieben von ihnen überlebten... oder eigentlich acht. Von der Besatzung blieb kein einziger übrig. Eine der Frauen, eben die achte, fand ich im Wald; verletzt und vor allem völlig durchgedreht. Weinte, zitterte, stand unter Schock. Ein blutjunges Ding. Der Kampf hat sie fertig gemacht. Ich dachte: Solche Weiber brauchen wir in Marienthal. Ich dachte: So einen Panzer sollten wir uns nicht entgehen lassen. Und ich dachte: Wenn ich mit solchen Geschenken vor dem Hauptschott auftauche, wird der Alte mit sich reden lassen. Also bringe ich die Verletzte zu den anderen Mädels zurück. Und was geschieht? Nehmen mich auf wie einen alten Freund. Und nicht nur das: Ihre Anführerin – sie heißt Aunaara – teilt sogar ihr Lager mit mir! Das tun die Frauen von Marienthal 15
nicht so ohne Weiteres, müssen Sie wissen. Sie aber tat es gleich drei Mal! Drei Mal – davon zehre ich den Rest meines Lebens... Möglicherweise ist das nicht mehr lange. Ein Infekt wäre das Letzte, was ich brauchen könnte! Dabei hab ich doch das Anzug-Kondom benutzt und eine Atemmaske. Und mich danach gründlich gereinigt. Ich dachte wirklich, mein Körper wäre inzwischen widerstandsfähig genug, um das Wagnis einzugehen. Aber das hat wohl nur mein Schwanz behauptet. Ich Narr! Wenn ich mich bloß an alles erinnern könnte! Diese verdammten Kopfschmerzen! Schon wieder schweife ich ab; ich wollte ja erzählen. Also: Ich starte den Panzer, und wir fahren Richtung Marienthal. Ich hab sie heiß gemacht auf den Bunker, obwohl sie kein vernünftiges Deutsch sprechen konnten. Aunaara hat es dann aber rasch gelernt; ein richtiges Naturtalent. Wir fahren also los. Die Kleine aus dem Wald jammert die ganze Zeit, kaut sich die Nägel ab, nässt sich ein und so weiter – ein klassischer Nervenzusammenbruch. Wir sind vielleicht zwei Tage unterwegs, da geht das mit den Schmerzen und dem Fieber und den Aussetzern los. Ich konnte kaum noch den Panzer lenken. Aunaara hat natürlich gemerkt, was mit mir los war, und eine Rast vorgeschlagen. Ich hab mich hingelegt, und Aunaara meinte, sie und ihre Kriegerinnen müssten draußen etwas erledigen. Was, wollte sie mir nicht verraten. Sie verlassen also den Panzer, alle bis auf die Kleine, und anstatt liegen zu bleiben, gehe ich ins Cockpit und schalte die Außenkameras ein. Ich hab bis heute nicht richtig begriffen, was da vor sich ging... * 16
Coellen, Ende April 2520 Rulfan verließ Honnes' Haus gleich nach Sonnenaufgang. Die Gassen waren noch feucht von Morgentau. Wulf, sein Lupa, lief ihm voraus. Schwarz und zerklüftet ragte der Dom in den wolkenlosen Himmel. In seinem Schatten waren vier Fischer damit beschäftigt, den ersten Marktstand auf dem Pflastersteinplatz zu errichten. Rulfan erwiderte den Gruß der Männer. Sie sahen müde aus, hatten eine arbeitsreiche Nacht hinter sich. Wulf blieb an einem der vollen Korbe stehen und beschnupperte einen Aal, der sich aus den glitschigen Leibern wand. Im Vorübergehen pfiff Rulfan, und der Lupa folgte ihm mit gestreckter Rute. Rulfan umging einen Krater, den eine der Sprengladungen von Leydens in das Pflaster gerissen hatte. Ein Stück weiter hatte man zwei aufgeschlitzte Wakudas an Schlachtgerüsten aufgehängt. Fast ein Dutzend Männer und Frauen bearbeiteten die Tiere mit Messern, Äxten und Sägen. Aus den Blutlachen unter den Kadavern und aus den Wannen mit den Gedärmen stieg Dampf. »Her zu mir, Wulf!« Der Lupa hatte längst Nase und Zunge ins warme Blut gesteckt. Erst als Rulfan im Laufschritt die östliche Wehrmauer erreichte, setzte der mutierte weiße Wolf seinem Herrn in großen Sprüngen hinterher. Die Wächter schlossen ihnen eines der kleinen Osttore auf. Ruhig und behäbig floss der Strom dahin; die Uferwiese zwischen ihm und der Mauer sah wie ein von unzähligen Edelsteinen übersäter Teppich aus – Tautropfen glitzerten in der Morgensonne. Vor der Anlegestelle – nicht im Wasser, sondern auf dem Gras – lag die Twilight Of The Gods. Angeschlagen von den wahnwitzigen Ereignissen der vergangenen zwei Wochen; so angeschlagen wie auch viele Menschen in Coellen und in 17
Dysdoor. Der Lupa sprang ins seichte Uferwasser und begann zu saufen. Rulfan umschritt langsam sein Luftkissenboot. Conrads Angriff hatte an Backbord ein Loch in den Passagierraum gesprengt. Ein Zimmermann und ein Schreiner der Coelleni hatten die Wand mit Tannenholz geflickt. Die Bruchlinie war noch rußgeschwärzt. Rulfan betrachtete sie und schüttelte den Kopf. Das Pickelgesicht hatte sich in Dysdoor eingenistet und mit dem Glorienschein eines Gottes umgeben. Hauptmann Haynz und seine Mannen waren darauf hereingefallen, versorgten und verehrten ihn; nun ja, es war keine Kunst, die Leute aus Dysdoor zum Narren zu halten. Außerdem hatte von Leyden seinen Helm undurchsichtig gemacht und seine Stimme mit einem Sprachsynthesizer auf »eindrucksvoll« getrimmt. Und was tat er? Stellte Schwarzpulver her, machte zwei Jets aus Haynz' Sammlung flott, testete alte Sprengbomben und flog Übungsangriffe auf Coellen und das Luftkissenboot! Und das alles, um einen Krieg gegen seinen Vater vorzubereiten. Schwamm drüber. Jetzt war der Blick nach vorne angesagt. Auch die Schürze der Twilight Of The Gods hatte einen Riss abbekommen, so lang immerhin, dass das Hubgebläse das Luftkissen nicht mehr vollständig hatte aufbauen können. Aber auch dieser Riss war inzwischen geflickt. Die Reparatur ging auf Conrad von Leydens Konto – er besaß einen Schweißbrenner, konnte Gummi verflüssigen und hatte kaum einen halben Tag gebraucht, um wasserfesten Leim herzustellen. Ein kleines Genie, der Bursche. Fragte sich nur, ob der Flicken halten würde. Rulfan ging in die Hocke und betastete die Nahtstelle auf der zusammengefalteten Schürze. Ob ein zweiter Flicken nicht angebracht wäre? Zumindest musste von Leyden Material und Werkzeug aus Dysdoor holen. Am besten heute noch. Das Knarren des kleinen Tores ließ Rulfan aufhorchen. Er 18
drehte sich um, stand auf. Ein mittelgroßer knochiger Mann schlüpfte aus der Maueröffnung und stapfte durchs Gras dem Ufer und dem Boot entgegen – Honnes. Er hatte noch geschlafen, als Rulfan sein Haus verließ. Wie meist trug Honnes einen Anzug aus dunkelbraunen Lederschuppen. Den braunen Wollmantel hatte er sich über den kahlen Schädel gezogen. Die geschmeidige Art, wie er sich bewegte, und die straffe, leicht angespannte Haltung seines Körpers vermittelten den Eindruck eines Vierzigjährigen. Erst wer ihm ins zerfurchte und zernarbte Gesicht sah, ahnte die siebzig Winter, die dieser Mann bereits gesehen hatte. »Wie wäre es mit einem kräftigen Frühstück?«, fragte er mit seiner wie immer etwas heiseren Stimme. Die Männer begrüßten sich. »Unbedingt«, sagte Rulfan. »Lass uns ein paar Fische fangen.« Später hockten sie hinter der Kommandozentrale auf dem Dach der Twilight Of The Gods und beobachten, wie die Haut von vier Fischen auf dem Grill Blasen warf. Drei Aale und einen ziemlich großen Barsch hatten sie aus dem Großen Fluss geholt. Der Lupa war über den Strom geschwommen und jagte irgendwo im Wald am anderen Ufer sein Frühstück. »Wir werden mit dem Boot reisen«, sagte Rulfan. »Ich denke, es hält. Vorsichtshalber nehmen wir Material und Werkzeug mit. Ich werde Conrad noch vor der Mittagszeit nach Dysdoor schicken.« »Du schickst einen ehemaligen Gott auf Botengang?« Honnes verzog sein ledriges Gesicht zu einem Grinsen. Das tat er selten. »Er frisst dir aus der Hand, der Knabe.« »Ihm fehlt ein Vater«, antwortete Rulfan. »Ein Vater, zu dem er aufblicken kann.« »Und was hältst du sonst von ihm?« Honnes riss zwei Stücke vom Rand eines großen Brotfladens ab und legte sie auf zwei Holzteller. »Er ist unsicher, furchtbar geil und genial.« 19
»Du vertraust ihm also.« Mit seinem Dolch schaufelte Honnes einen Aal vom Grill auf den Teller. »Ich vertraue meinem Verstand und meiner Intuition.« Rulfan nahm Honnes den Teller ab. »Danke. Und danach vertraue ich dir, meinem Vater, Juppis und Wulf. Sonst wüsste ich nicht, wem ich noch vertrauen würde. Dave McKenzie vielleicht.« Aruulas Name sprang ihm auf die Zunge. Er schluckte ihn herunter, sonst hätte der Freund nach Maddrax gefragt. Doch auch so zog etwas wie Staunen durch Honnes' Blick, als wartete er genau auf diesen Namen. Vertraute er dem Mann aus der Vergangenheit? Rulfan hatte sich die Frage noch nie gestellt. »Was Conrad von Leyden betrifft, sehe ich es so...« Weg mit den nutzlosen Gedanken! »Wer kein Risiko eingeht, kann kein Spiel gewinnen.« »Spiel?« Honnes zog sich eine lange Gräte aus dem Mund und warf sie hinter sich. »Ich glaube nicht, dass wir morgen zu einem Spiel aufbrechen werden, mein Freund. Nach meinem Gefühl wird der Junge uns auf geradem Weg in die größte Taratzenscheiße führen...« Deswegen also will er dich begleiten, dachte Rulfan. Weil er sich Sorgen um dich macht... Und er sagte: »Du bist und bleibst ein Pessimist, Honnes...« * Nachfolgend wiedergegeben sind einige Tage aus dem Leben deren von Leyden. Ihr Schicksal fand Jahrhunderte später Erwähnung in der von Conrad von Leyden – natürlich nur fragmentarisch wiedergegebenen – »Historie der Bunkerkolonie Marienthal von den Tagen ›Chris-topherFloyds‹ bis zum Zeitalter der Daa'muren«.
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Mexiko, Herbst 2006 Wie die meisten Namen der Menschheit vor »ChristopherFloyd« hätte der Komet vermutlich auch den Namen »von Leyden« ausgelöscht. Ein Buch rettete einige Mitglieder derer von Leyden und mit ihnen den Namen des alten, ursprünglich aus den Niederlanden stammenden Adelsgeschlechts vor dem großen und umfassenden Vergessen nach der Katastrophe. Ein gewisser Martinez hatte es verfasst, und Margot von Leyden kaufte es im Sommer 2006 im Heritage Book Store in der Melrose Avenue in Los Angeles. »Sieh dir das an, Heinrich-Casper!«, rief sie entzückt. »Ein Buch über die Maya!« »Ach...!« Sein Handy am Ohr, aber scheinbar interessiert beugte sich Margot von Leydens Erstgeborener über die Schulter seiner Mutter. Auf dem Schutzeinschlag waren der Herrscher von Yax-Chilián und seine Gattin abgebildet. Die Frau des Herrschers kniend und sich eine Dornenschnur durch die Zunge ziehend. »Ach...«, wiederholte Heinrich-Casper von Leyden. Er hielt die Gestalten für japanische Comicfiguren und die Dornenschnur für den Schlauch einer Wasserpfeife. Einer seiner Broker in Tokio unterrichtete ihn gerade über die zu erwartende Kursentwicklung seiner Merill-Lynch-Aktien. Hinter Margot von Leyden lagen zwei höchst inspirierende Wochen, in denen es unter anderem auch um die Kosmologie der Maya gegangen war. Darum begeisterte sie die Entdeckung des Buches, und darum kaufte sie es. Im Cabby, auf dem Weg zum Flughafen, las sie die Klappentexte und beglückwünschte sich zu ihrem Kauf. »Stell dir vor, Heinrich-Casper, der Autor ist ein Nachkomme einer uralten Maya-Dynastie! Er gehört zum Volk der Tzotziles!« »Was du nicht sagst!« Heinrich-Casper von Leyden lauschte der Stimme seines Vermögensverwalters in Kuala Lumpur. Seit er denken konnte, begleitete er seine Mutter auf ihren zahlreichen Reisen in aller Herren Länder. Zu 21
Esoteriktagungen, Astrologieseminaren, Meditationswochen und so weiter. In diesem Sommer hatte er sie zu einem Einführungsritus mit drei Schamanen begleitet; kalifornische Hopi-Indianer. Die Entwicklung seines Vermögens im Allgemeinen und Turbulenz an der Frankfurter Börse im Besonderen verfolgte Heinrich-Casper von Leyden die ganzen zwei Wochen über mittels eines seiner Handys; immer in Sichtweite seiner Mutter. Unterm Strich brachte ihm der Crash in Frankfurt dreißig Millionen ein; dreißig Millionen Dollar. Heinrich-Casper von Leyden war ein hochgewachsener Mann Mitte vierzig mit schmalen Schultern und schmaler Brust. Sein volles Haar war schwarz wie das eines Zwanzigjährigen, und was Margot besonders erfreute: Mit seinem schwarzen, buschigen Schnauzer sah er – jedenfalls im Gesicht – ein wenig aus wie ein Schauspieler, den sie in ihren jungen Jahren verehrt hatte. Eine Art Siegelring schmückte seine rechte Hand, ein großer Saphir, hellblau, in den ein schwarzer Stein in Form eines Nashorns eingelassen war. Von Leyden trug ausschließlich Dreiteiler mit bunten Krawatten. Meistens waren es weiße oder zumindest doch helle Anzüge, die seine Mutter ihm kaufte. Seine geschiedene Frau und sein Bruder nannten ihn HCL. Margot und ihr Erstgeborener fanden das ein wenig boshaft. Während von Leyden im Flugzeug nach Frankfurt die Wirtschafts- und Finanzteile von sieben Zeitungen studierte, las seine Mutter Margot das Buch jenes Martinez von der ersten bis zur letzten Seite. Als sie es mitten über dem Atlantik zuklappte, sagte sie: »Sei so lieb und buche Mexiko Stadt und Mérida, sobald wir uns zu Hause wieder akklimatisiert haben, Heinrich-Casper. Wir machen eine Bildungsreise durch die ehemaligen Siedlungsgebiete der Maya.« Heinrich-Casper von Leyden schaltete für einen Augenblick sein Diktiergerät aus. »Kein Problem.« 22
»Wir sollten noch im September reisen.« »Je früher, desto besser.« Heinrich-Casper sah seine Mutter von der Seite an. Da sie nichts weiter verlauten ließ, schaltete er sein Diktiergerät wieder an und fuhr fort, ein paar eMails zu diktieren, die seine Sekretäre noch am selben Abend nach Tokio, Frankfurt und New York City schicken würden. So kam es, dass Mutter und Sohn von Leyden in jenem Herbst 2006 auf den Spuren der Maya acht Wochen lang durch die mexikanische Halbinsel Yukatan reisten; zu Schiff, mit dem Flugzeug, im Leihwagen. Von Chichén Itzá im nördlichen Hochland bis Copán im südlichen Hochland, von den Ufern des Usumacinta bis Izapa. Die zweite Begebenheit, die zur Rettung des Namens von Leyden und gewisser Träger desselben führen sollte, ereignete sich gleich am dritten Tag ihrer Reise auf den obersten Stufen der Pyramide von Chichén Itzá. »Wir haben heute bereits das Observatorium der Maya besichtigt«, sagte der Führer, ein britischer Archäologiestudent von der Universität in Mérida, »und diese Pyramide hier, Ladies und Gentlemen, erzählt uns ein wenig davon, warum die Priester der Maya so erpicht darauf waren, den Lauf der Gestirne und Planeten sorgfältig zu beobachten: Sie legten allergrößten Wert darauf, Jahr, Monat und Tag ihrer Kalendersysteme exakt bestimmen zu können.« Während Heinrich-Casper hinter ihr stand und die Mailbox seines Satellitentelefons abhörte, erfuhr Margot von Leyden, dass die Maya jedem Tag ihrer beiden Hauptkalendersysteme einen Gott zugeordnet hatten, aus einem Datum also Rückschlüsse auf die Ereignisse des angebrochenen Tages zogen. »Einundneunzig Stufen sind Sie mit mir hier hinauf gestiegen, Ladies und Gentlemen«, sagte der Touristenführer. »Die Pyramide hat vier solcher Treppen. Zählen Sie alle Stufen zusammen, kommen Sie unschwer auf die Zahl 23
Dreihundertvierundsechzig.« Er drehte sich um und deutete auf den Hochaltar auf der Pyramidenspitze. »Addieren Sie nun noch die Einzelstufe vor dem Altar dazu, haben Sie dreihundertfünfundsechzig Stufen, und das entspricht der Zahl der Tage im Sonnenkalender Haab. Nicht ohne Grund heißt diese Pyramide ›Kalenderpyramide‹...« Margot von Leyden, im Hinblick auf die Maya dank Martinez belesener als die anderen Touristen, bombardierte den Archäologiestudenten mit Fragen zu den Kalendersystemen. Der junge Touristenführer war kein Spezialist für die MayaKalender. Also produzierte er einen Wortschwall über den rituellen Tzolkin-Kalender und sein Verhältnis zu dem HaabKalender, der eher für die Bestimmung eines Datums taugte, und über die Konflikte jener Maya-Götter, die den einzelnen Tagen beider Systeme zugeordnet waren. Die meisten Touristen machten große Augen und nickten beeindruckt. Margot von Leyden nahm sich vor, so schnell wie möglich ein Buch über die Kalendersysteme der Maya zu kaufen. »An meinen Ausführungen erkennen Sie leicht die Weltsicht der Maya«, wollte der Touristenführer schließen. »Ständig lebten sie in der Angst, in die Streitereien der Götter hinein gezogen zu werden, ständig schwebte eine ungreifbare Bedrohung über ihrer Gesellschaft, ihrer Welt und ihrem individuellen Leben. Ihr kompliziertes Kalendersystem entsprang vermutlich der Sorge, die Schöpfung könnte abermals zwischen den Fronten der sich bekriegenden Gottheiten zermalmt werden, und...« »Abermals?«, unterbrach Margot. Der Touristenführer wollte schon die Augen verdrehen, schaffte es aber irgendwie doch nur milde zu lächeln. »Nun, Ma'am, jetzt wird's kompliziert. Ich mach's ganz kurz: Unsere Maya hatten noch eine sogenannte ›Lange Zählung‹ zur Bestimmung größerer Zeiträume. Zum Beispiel legten sie mit ihr den Beginn der Schöpfung fest, in der sie lebten und in der 24
wir Heutigen noch leben: der 31. August des Jahres 3114 vor Christus...« Margot wusste von Martinez, dass die Maya an kreisförmig verlaufende Zeit glaubten. Und jetzt erinnerte sie sich auch wieder, bei ihm auch etwas von mehreren Schöpfungen gelesen zu haben. »Und wann endet diese Schöpfung?«, unterbrach sie den jungen Mann ein zweites Mal. »Demnächst«, sagte der, und einige Touristen lachten. »Genauer gesagt am 20. Dezember 2012...« Heinrich-Casper beobachtete aus den Augenwinkeln, wie seine Mutter plötzlich die Schultern hochzog und wie ihre Miene erstarrte. Er wusste nicht, was los war, weil er in Gedanken gerade das Risiko, seine Honda Motor Aktien zu verkaufen, gegen das Risiko abwog, sie zu behalten. »Sie sehen, Ladies und Gentlemen, die Zeit wird knapp.« Der Touristenführer feixte und begann die uralte Pyramidentreppe hinab zu steigen. »Kündigen Sie also Ihre Lebensversicherungen und investieren Sie das Geld lieber in eine sechs Jahre währende Abschiedspartie...« Diesmal lachten die meisten Touristen, und wieder verstand Heinrich-Casper von Leyden nicht, was es zu lachen gab. Es beunruhigte ihn allerdings ein wenig, dass seine Mutter Margot nicht lachte. Keine Miene verzog sie, seltsam blass und starr wirkte sie plötzlich. Sie hakte sich bei ihrem Sohn unter, während sie neben ihm Stufe um Stufe hinab stelzte. »Hast du das gehört, HeinrichCasper?«, flüsterte sie. »Aber ja doch, Mama.« Von Leyden entschied sich, die Honda Motor Aktien noch ein Weilchen zu behalten. »Das klang doch sehr interessant...« * Coellen, Ende April 2520 25
Ganz Coellen versammelte sich am Morgen des Aufbruchs bei der Twilight Of The Gods, mindestens vierhundertachtzig Männer, Frauen und Kinder. Vor allem die Halbwüchsigen und die Kinder drängten sich drei Meter unter Rulfan nahe am Schiffsrumpf, wo Hille in Kisten verpackte oder in Lederdecken geschnürte Fracht am Haken des Flaschenzugs befestigte. Conrad von Leyden bediente seine Eigenkonstruktion vom unteren Deck aus. Stück für Stück beförderte die von einem kleinen Elektromotor betriebene Mechanik das Material an Bord. Der Junge – wie immer trug er seinen Goldanzug, hatte den Helm aber abgelegt – verstaute Kisten und Pakete im ehemaligen Passagierraum. Er sprach gut auf das Immun-Serum an; die Gefahr einer Infektion bestand jetzt wohl nicht mehr. Rulfan selbst lehnte neben der offenen Tür zur Kommandobrücke und beobachtete das Treiben dort unten auf der Uferwiese. Über ihm auf dem Dach des Kommandostandes hockte der Lupa, hechelte und spähte abwechselnd auf den Fluss und zur Menge am Ufer. Honnes stand von Menschen umringt zwischen Juppis und dem Kanzler. Die Coelleni schoben sich vorbei, um Honnes auf die Schulter zu klopfen, ihm die Hand zu drücken oder ihn auf die zerknautschten Wangen zu küssen. Jeder wollte sich persönlich von dem nach Rulfan berühmtesten Streiter der Stadt verabschieden. Rulfans Hände waren noch feucht von den Händen der Zurückbleibenden und seine Schultern brannten noch von ihren freundschaftlichen Schlägen. Er musste an die vergleichsweise karge Zeremonie denken, mit der man ihn in London auf die Reise geschickt hatte. Etwas abseits der drei angesehensten Männer von Coellen trat Schoosch Attenau von einem Bein auf das andere. Der achtzehnjährige Enkel des Kanzlers war vollgepackt mit Honnes' Waffen, Decken und Proviant. 26
»Wer ist der Bursche?« Conrad von Leyden war zu Rulfan hinauf geklettert. Seit Rulfan ihn in Dysdoor aufgespürt und verprügelt hatte, wich der Junge kaum noch von seiner Seite. »Er macht einen klugen Eindruck.« »Gittis' Sohn und Attenaus Enkel«, sagte Rulfan. »Er wollte mit uns fahren, stimmt's?« »Ich hab's ihm verboten.« Rulfan fragte sich, woher der Junge das wusste. »Schade, ich mag ihn. Er verehrt diesen Honnes, nicht wahr?« »Honnes hat ihm Jagen und Fischen und den Umgang mit Schwert und Armbrust beigebracht. Er ist sein großes Vorbild, und für Honnes ist Schoosch wie der eigene Sohn.« Wahrscheinlich wäre Maddrax sein Vorbild geworden, dachte Rulfan bei sich. Wenn er hier in Coellen leben würde. Dem Mann aus der Vergangenheit nämlich verdankte Schoosch weit mehr als nur die Kunst des Jagens und des Schwertkampfes. Die Erinnerung stieg in Rulfan auf: an jenen großen und schrecklichen Tag der Revolution, als die Klone im Dom Schooschs Schwester Sabita töteten. Den Jungen und Aruula hatte Matthew Drax retten können, Gittis' schöne Tochter nicht. Fünfzehn Jahre alt war Schoosch damals gewesen. Eine Zeitlang sahen sie zu, wie die Coelleni den alten, kahlköpfigen Streiter drückten und küssten. »Seltsamer Mensch, dieser Honnes«, sagte Conrad leise. »Alle hier scheinen ihn zu lieben.« »Seltsam?« Rulfan runzelte die Stirn. »Sagen wir lieber: selten.« Er nickte langsam. »Männer von seinem Format findest du nicht oft. Er ist treu und klug, und er hat ein starkes Herz. Mit ihm als Freund an deiner Seite widerstehst du auch dem schlimmsten Feind.« Erstaunt blickte Conrad ihn an. »Du liebst ihn auch, nicht wahr?« 27
Rulfan antwortete nicht. Seine roten Augen auf Honnes' Schuppenpanzerrücken geheftet, dachte er an die Jahre, in denen sie Seite an Seite gegen die schwarze Priesterschaft gekämpft hatten, und an den schrecklichen Krieg gegen die Nordmänner vor dreieinhalb Jahren... Wulfs Gebell riss ihn aus seinen Gedanken. Der Lupa war aufgesprungen und zu den Turbinen am Heck gelaufen. Von dort spähte er flussabwärts. Drei Flöße näherten sich. »Sieh an«, sagte Rulfan. »Die Dysdoorer schicken eine Abschiedsdelegation.« Conrad von Leyden kletterte wieder aufs untere Deck hinunter. Er hatte es plötzlich sehr eilig, das restliche Gepäck im Passagierraum zu verstauen und seine Geliebte an Bord zu holen. Als die Flöße an der Anlegestelle festmachten, war nichts mehr von ihm zu sehen. Ein Floß war mit jeweils sechs Dysdoorer Kriegern besetzt. Sie trugen capeartige gelbe Umhänge, hatten aber auf ihre schwarze Hautbemalung verzichtet. Ein Zeichen, dass sie in friedlicher Mission unterwegs waren. Es herrschte ja auch wieder Frieden; seit sie die Schäden der jüngsten Kämpfe mit Bauholz, Fellen und Erz bezahlt hatten. Auf einem der Flöße stand ein mit einer Lederplane zugedeckter Korb, auf einem anderen lag in einem Holzgestell ein kleines Fässchen, und auf dem dritten saß Haynz von Dysdoor in einem Rollstuhl. Er trug einen grünen, weit geschnittenen Anzug. Umhang und Hut waren schwarz. Zu viert hievten seine Leute ihn samt Stuhl auf den Anlegesteg. Zwei wollten das seltsame Gefährt mit ihrem Hauptmann über die Holzplanken ans Ufer schieben. »Nehmt ihr wohl die Wurstfinger da weg?!« Haynz schlug um sich, bis die beiden Männer den Stuhl losließen. »Als ob der gute Haynz sich nicht selbst fahren könnte!« Der Hauptmann von Dysdoor griff nach links und rechts in die großen Räder, wuchtete sie nach vorn und rollte den gaffenden Coelleni entgegen. 28
Rulfan kannte Haynz' seltsames Gefährt bereits – eine Konstruktion Conrad von Leydens. Doch keiner der Coelleni hatte je einen Menschen in einem rollenden Stuhl gesehen. Sie machten große Augen, einige tuschelten aufgeregt und die Kinder liefen an der Stelle zusammen, wo Haynz vom Anlegesteg ins Gras rollte. Dort blieb er stecken, tat aber so, als sei er genau an der Stelle, wo er hingewollt hatte. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Was glotzt ihr so, Leute von Coellen!? Hauptmann Haynz von Dysdoor braucht nicht mehr laufen, ja, ja, er rollt jetzt hin, wo er will, und wenn er keine Lust hat, sich selbst zu rollen, dann lässt er sich schieben! Ho, ho! Seid ruhig ein bisschen neidisch!« Rulfan sah sein Doppelkinn, seine Hängebacken und den tonnenartigen Bauch, der sich unter seiner Brust auf seine Schenkel wölbte. Es kam ihm vor, als hätte Haynz in den letzten drei Wochen noch einmal zwanzig Pfund zugelegt. Er nickte ihm zu, verzichtete aber darauf, zu ihm hinunter zu steigen. »Wo ist der HERR, Rulfan von Coellen?«, krähte Haynz zu ihm hinauf. Er sprach von Conrad von Leyden. »Er hat sich zurückgezogen«, beschied ihm Rulfan. Haynz drehte sich im Rollstuhl nach den Flößen um und winkte. »Bringt das Geschenk zum Schiff!« Rulfan merkte, dass einige Coelleni spöttisch grinsten. Und Haynz merkte es auch. Längst hatte es sich herumgesprochen, dass der Hauptmann von Dysdoor dem jungen Conrad gewaltig auf den Leim gegangen war: Monate lang hatte er ihn als Gott verehrt und ihm jeden Wunsch erfüllt. Zwei Dysdoorer luden das Gestell mit dem Fässchen vom Floß und schleppten es zur Twilight Of The Gods. Rulfan fragte lieber nicht danach, was es enthielt. Er hoffte auf Coelsch, obwohl es seit der Revolution in Coellen gesetzlich verboten war. Die Plörre, die die Dysdoorer selber brauten, war praktisch ungenießbar. 29
»Grüße den HERRN von mir, Rulfan von Coellen. Das hier ist ein Abschiedsgeschenk vom guten Haynz, eine Dankesgabe, sag ihm das!« Haynz wandte sich an die Coelleni, die um ihn herum standen. »Er hat mir nämlich das Fliegen beigebracht, der HERR!« Er grinste gekünstelt. »Hat ihn ganz schön an der Nase herum geführt, der gute Haynz, ho, ho! Hat so getan, als hielte er ihn für einen Gott, nur damit der Rotzbengel ihm das Fliegen beibringt und das Geballer mit scharfen Eierchen dazu, ho, ho!« Dann winkte er zu Rulfan hoch. »Wünsche gute Reise und heile Wiederkehr!« »Danke, Hauptmann Haynz!« Rulfan ging auf die Kommandobrücke. Der Bursche aus Marienthal ließ sich nicht blicken. Schämte sich wohl und hatte auch allen Grund dazu: Er hatte den flugzeugbegeisterten Haynz in einen Jet gesetzt und als Kamikaze-Flieger nach Coellen geschickt. Nur um ihn unter Rulfans Druck in einem zweiten Jet vom Kurs abzubringen und zum Ausstieg zu zwingen. Die Notlandung im Schleudersitz endete für Haynz in der Krone einer Buche und mit zahlreichen Knochenbrüchen. Seitdem konnte er seine Beine nicht mehr bewegen. Rulfan schaltete das Triebwerk ein. Die Dysdoorer brachten das Fässchen an Bord. Honnes stand schon auf dem unteren Deck, und Schoosch reichte ihm seine Waffen hinauf. In der Menge der Coelleni wurden die ersten weißen Tücher geschwenkt. Einige Frauen wischten sich Tränen aus den Augen. Das Hubgebläse dröhnte, die Twilight Of The Gods erhob sich Stück für Stück auf dem wachsenden Luftkissen. Schließlich heulten die Turbinen los, und das Boot schwebte vom Ufergras weg in den Fluss hinein. Durch die Frontfenster sah Rulfan, wie Haynz schon wieder seinen Leuten bei den Flößen winkte. Einige deckten den Korb im mittleren Floß auf. Sie bewegten sich plötzlich sehr schnell; in Windeseile bauten sie seltsame Gestelle auf dem Anlegesteg 30
auf und befestigten kleine röhrenartige Gegenstände daran. Rulfan hatte keinen Schimmer, worauf das hinauslief. Als das Boot die Mitte des Flusses erreichte und Rulfan es auf Südkurs brachte, hörte er schrille Heultöne und danach Explosionen. Er blickte zum Ufer zurück: Die winkende Menge hatte sich ins Gras geworfen. Deutlich sichtbar ragte Haynz in seinem Rollstuhl aus dem Teppich liegender Menschen. Und vom Anlegesteg aus stieg eine Rakete nach der anderen in die Luft. »Ich glaub es nicht«, stöhnte Rulfan. Der Lupa stemmte die Vorderläufe auf das flache Schiffsdach und kläffte die über dem Fluss explodierenden Feuerbälle an. Honnes, neben ihm, schüttelte fassungslos den kahlen Schädel. »Seht euch das an!«, schrie Conrad von Leyden. Wieselflink kam er zum Kommandodeck hinauf geklettert. »Haynz veranstaltet ein Feuerwerk! Das hab ich ihm beigebracht...!« Er beugte sich in den Kommandostand hinein und strahlte über das ganze pickelige Gesicht – bis Rulfans strenger Blick ihn traf. Sofort wich das Grinsen einer betretenen und schuldbewussten Miene. »Ich meine... er wird schon keine Dummheiten damit anstellen, oder...?« * Marienthal, Frühling 2009 Ein guter Tag. Seit dem frühen Morgen hatten sie den Hirsch verfolgt, einen Zwölfender. Pascal von Leyden erwischte ihn schließlich. Wie meistens, wenn er mit seinem Bruder die Jagdpacht durchstreifte, war er auch heute derjenige, der zuerst traf. Sie traten aus dem Wald. Die Sonne stand in einem blauen Himmel. Es war warm, Mückenschwärme schwirrten über den Haselnusssträuchern am Waldrand, eine Lerche stieg aus der 31
Wiese, die sich vom Wald an den Weinbergen entlang bis zum Jagdschlösschen zog. Unterhalb des Weinberges sah man Achim Bergmanns Pick-up über die Landstraße rasen. Der junge Gutsverwalter transportierte den toten Hirsch nach Dernau, wo ein Metzger schon auf die Arbeit wartete. Wie immer fuhr er zu schnell. Heinrich-Casper von Leyden setzte sich auf eine Bank, klemmte das Gewehr zwischen die Knie und zog sein Satellitentelefon aus der ledernen Trachtenjoppe. Pascal, sein jüngerer Bruder, steckte sich einen Zigarillo an. »Was für eine göttliche Gegend«, sagte er. Den Zigarillo zwischen den Fingern der Rechten, hob er den Feldstecher an seine Augen. Sein Blick glitt über die Weinberge, die flachen Buntsandsteingebäude der Winzerei und den Rohbau des Jagdschlösschens, das seine Mutter und HCL am Hang zwischen den Weinbergen bauen ließen. Familienbesitz, so weit das Auge reichte. Alles in den letzten zweieinhalb Jahren erstanden; außer dem Wald und einigen Weinbergen, die schon seit Generationen der Familie gehörten. Eigenartig, dass sein Bruder ausgerechnet in dieser Gegend investierte. Pascal von Leyden hatte den Älteren schon öfter danach gefragt, aber HCL hielt sich bedeckt. Pascal vermutete, dass Mutter Margot dahinter steckte. Beweise hatte er nicht. Ein Fahrzeugkonvoi erschien unten im Tal auf der Landstraße, zwei Daimler-Limousinen und an der Spitze ein Geländewagen. »Schau einer an...« Pascal zoomte die Fahrzeuge heran. Bei zweien konnte er die Nummernschilder entziffern. »Bonner Kennzeichen, ohne Buchstaben... sind das Regierungsvertreter?« Die Fahrzeuge fuhren nach Marienthal hinein. »Was um alles in der Welt führt denn Regierungsbeamte nach Marienthal?« Pascal setzte den Feldstecher ab und wandte sich nach seinem älteren Bruder um. Der hatte seinen aufgeschlagenen Timer auf den 32
zusammengepressten Knien liegen und notierte Zahlen und Daten. Das Gewehr war ihm im Weg. »Hin und wieder sieht der Staat halt nach seinem Eigentum«, sagte er. Er sprach von dem nicht unbeträchtlichen Teil der Weinberge dieser Gegend, die noch unter staatlicher Verwaltung standen. »In einem Konvoi aus drei Fahrzeugen?« Pascal runzelte die Stirn. »Im Frühling und in offiziellen Regierungsfahrzeugen?« Er klemmte sich den Zigarillo zwischen die Zähne und schüttelte ungläubig den Kopf. Eines von Heinrich-Caspers Handys dudelte los. Er klemmte das Satellitentelefon zwischen Schulter und Wange und durchsuchte hektisch die vielen Taschen seiner Trachtenlederjoppe. Das Gewehr kippte um, sein Timer fiel ins Gras. Endlich erwischte er das läutende Gerät und drückte es ans linke Ohr. Pascal beobachtete ihn amüsiert. »Ja, Mama.« Heinrich-Casper zog die Schultern hoch; seine Miene nahm einen halb besorgten, halb ängstlichen Ausdruck an. »Ist gut, Mama...« Pascal betrachtete ihn und sah für Augenblicke das Gesicht eines hilflosen Jungen. In solchen Momenten verabscheute er seinen älteren Bruder. Wieso jongliert dieser kindische Neurotiker mit Milliarden, während ich mich mit einer popligen Supermarktkette und ein paar Kurkliniken über Wasser halten muss?, fragte er sich. »Mutter.« Heinrich-Casper von Leyden steckte beide Handys ein. »Ich soll zur Baustelle kommen.« Er bückte sich nach Gewehr und Timer. »Etwas super Wichtiges, was?« Pascal grinste spöttisch. Der Ältere nickte und schulterte bereits sein Gewehr. »Na, dann werde ich dich mal zu unserer Frau Mutter begleiten.« Seite an Seite liefen sie über die Wiese zum Jagdschloss hinüber. Im Grunde war Pascal nicht unfroh über die pathologische Mutterbindung seines älteren Bruders. Hätte er ihm anders seine Frau ausspannen können? Vermutlich nicht. Und einer 33
von beiden musste sich ja schließlich um die betagte Donna Margot kümmern. Ging immerhin schon auf die Achtzig zu, die Gute, und reiste immer noch durch die Weltgeschichte. Unten auf der Straße rollte der kleine Konvoi wieder aus dem Ort. Pascal blieb stehen und setzte den Feldstecher an. Bevor die Fahrzeuge unterhalb des Weinberges aus seinem Blickfeld gerieten, entdeckte er zwei Frauen im Fond der mittleren Limousine, eine blonde und eine weißhaarige. Er glaubte seine Gattin zu erkennen. »Was hat denn das zu bedeuten?« Auf einmal hatte er es eiliger als sein älterer Bruder. Während sie mit großen Schritten die Wiese überquerten – hier sollte einmal ein MayaPark entstehen – tauchte der Konvoi auf dem schmalen Asphaltweg auf, der sich zwischen den Weinbergen zur Baustelle hinauf schlängelte. Er bog in die Einfahrt zum neuen Jagdschloss ein, als das Brüderpaar den Rohbau erreichte. Die Fahrzeuge stoppten. Aus dem Geländewagen stiegen zwei gefährlich aussehende Burschen in Lederjacken, aus den Limousinen ein halbes Dutzend Männer, drei davon in blauen Anzügen – sie sahen irgendwie offiziell aus – und nach ihnen ein Junge mit einem Stofftier unter dem Arm und zwei Frauen: Margot und Betty von Leyden Pascal fehlten die Worte. »Was hat das zu bedeuten?«, zischte er seiner Frau ins Ohr, als sie ihm einen Kuss auf die Wange hauchte. »Hat HCL dir denn nichts erzählt?« Pascal schüttelte den Kopf. Der Junge begrüßte zuerst ihn, seinen Pflegevater, und dann seinen Vater, Heinrich- Casper von Leyden. Seine Exfrau Betty war schwanger gewesen, als sie sich von ihm scheiden ließ, um seinen jüngeren Bruder zu ehelichen. Der Junge war acht Jahre alt, sein Stofftier war ein Nashorn, und er hieß Hanns-Conradin. Margot von Leyden stellte die Herren im blauen Edeltuch vor: ein Staatssekretär des Verteidigungsministeriums, der für 34
Marienthal zuständige Landrat und ein Staatssekretär des Innenministeriums, ein promovierter Jurist. Pascal rang um seine Fassung. »Wir dachten, dies ist ein angemessener Ort für die Vertragsunterzeichnung.« Margot lächelte und deutete auf den Rohbau des Jagdschlosses. »Für die Vertragsunterzeichnung...?« Heinrich-Casper schnitt eines seiner blödesten Gesichter, und Pascal begriff: Sein Bruder, dieser Trottel, hatte nicht nur einen wichtigen Termin versaubeutelt, sondern sogar den Anlass für diesen Termin vergessen. »Ach so, natürlich...« Jetzt tat er so, als wüsste er Bescheid. Pascal hätte ihm gern in den Hintern getreten. Zwei Männer trugen zwei Tische aus dem Rohbau – Margots Privatkoch Stefan Sonnenfelder und ihr Butler Burkhard Müller. Pascal hatte die Bediensteten aus keinem Wagen aussteigen sehen. Genauso wenig die Haushälterin seiner Mutter, Ramona Schneider, die jetzt einen großen Korb aus dem Kofferraum der hinteren Limousine hievte. Innerhalb kürzester Zeit standen Gläser, Weinflaschen und eine kalte Platte mit Lachs, Geflügelpasteten und Salaten auf dem einen Tisch; auf dem anderen lagen Schreibunterlage, Schreibschale mit Stiften, Aktenordner und eine Dokumentenmappe aus bordeauxrotem Leder. Betty von Leyden lächelte genauso zufrieden wie ihre Schwiegermutter. Seit zwei Jahren etwa gehörte sie zum innersten Kreis des esoterischen Zirkels, der sich wöchentlich in Margots Villa traf. Pascal sah ihr an, dass sie genau wusste, was hier geschah. »Was gibt das, wenn es fertig ist?«, flüsterte er ihr zu. »Warum bin ich nicht informiert?« »Streng geheim...« Burkhard, der Butler, ordnete die drei Exemplare eines offensichtlich umfangreichen Vertragswerkes auf dem improvisierten Schreibtisch an. Die Regierungsvertreter 35
unterschrieben als erste, nach ihnen der Landrat. Dann, nach einem bedeutsamen Blick Margots, setzte sich Heinrich-Casper an den Tisch. Er schluckte und wurde leichenblass, während er den Vertragstext überflog. So tief beugte er sich über die Papiere, dass ihm seine Goldkette aus dem Kragen rutschte und der Anhänger – ein münzgroßes Nashorn aus Elfenbein – über dem Dokument schwebte. Heinrich-Casper richtete sich auf. Hilfesuchend sah er nach seiner Mutter. Deren Augen wurden starr, bekamen etwas Stechendes. Heinrich-Casper unterschrieb mit zitternden Fingern. Pascal tat es seiner Frau und seiner Mutter gleich und erwiderte tapfer das gestriegelte Lächeln der beiden Staatssekretäre. »Um welche Summe und welches Projekt geht es hier?«, zischte er aus dem Mundwinkel. »Um Wertpapiere, Liegenschaften und Bargeld im Wert von insgesamt einhundertzehn Millionen Euro«, flüsterte Betty. »Und um das, worauf wir stehen.« Die absurde Szenerie verschwamm vor Pascals Augen. Plötzlich war ihm übel. »Aber... aber das Land hat er doch schon vor zwei Jahren gekauft...?« Der Landrat applaudierte, und plötzlich klatschten alle in die Hände; sogar Heinrich-Casper, wenn auch mit einer Miene, als hätte er eben einen Blick in sein eigenes Grab getan – und das kam der Wahrheit schon ziemlich nahe. Stefan, der Koch, ging mit den kalten Platten von einem zum anderen, Burkhard, der Butler, reichte gefüllte Weingläser. Man stieß an, man trank, und schließlich hob der Staatssekretär des Verteidigungsministeriums zu einer kleinen Rede an. »Hochverehrter Herr von Leyden.« Er verneigte sich in Richtung Heinrich-Caspers, der sich krampfhaft an seinem Glas festhielt. »Hochverehrteste Frau Dr. von Leyden.« Diesmal galt seine Verbeugung Margot. »Im Namen der 36
Bundesregierung darf ich Ihnen versichern, wie glücklich wir über diesen lange und gründlich vorbereiteten Vertragsabschluss sind...« Der Koch, der Butler und die Haushälterin zogen sich in den Rohbau zurück. Auf Margots feinem Gesicht lag ein feierlicher Ernst. Hanns-Conradin schenkte sich Cola nach, HeinrichCasper schluckte unentwegt. »... mit dem heutigen Tag wechselt nicht einfach nur ein einzigartiges Bauwerk seinen Besitzer, sondern ein Monument bundesrepublikanischer Geschichte. Ganz besonders freuen wir uns – und das darf ich ihnen mit ausdrücklichem Gruß des Altbundespräsidenten versichern – über ihr originelles Konzept, das sie in dem ehemaligen Regierungsgebäude zu verwirklichen gedenken. Wer hätte denn in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch nur im Traum daran gedacht, dass der für einen ABC-Angriff konzipierte Regierungsbunker eines fernen Tages als internationales Weinmuseum in die Hände eines Privatunternehmers übergehen wird? Ein Weinmuseum, das die Geschichte Deutschlands mit der Geschichte des Rebstockes und der des römischen Imperiums verknüpft...?« Pascal von Leyden glaubte zu spüren, dass die Erde unter seinen Schuhsohlen nachgab. »Das ist nicht wahr...«, flüsterte er und hakte sich bei seiner Frau unter. Ihm war plötzlich schwindlig. »Ihr habt doch nicht etwa das alte Bunkerding gekauft...? Sag, dass ihr es nicht gekauft habt, sag es bitte...« * Großer Fluss, Höhe Remaajen, Anfang Mai 2520 Rulfan hatte den größten Teil seines Lebens in den Wäldern von Coellen am Großen Fluss verbracht, selten aber war er so weit flussaufwärts und so weit nach Süden vorgedrungen. Die Reise gestaltete sich beschwerlicher als erwartet. An einer 37
Stelle teilte sich das Flussbett und beide Arme schlossen eine langgestreckte Insel ein. Trümmerhalden stauten das Wasser und Gestrüpp wucherte von der Insel aus an beide Ufer. Rulfan und Conrad mussten ihre Laserwaffen benutzten, um der Twilight Of The Gods den Weg zu bahnen. An einer anderen Stelle war der Große Fluss durch eine vollständig zusammengebrochene Brückenruine unpassierbar. Den Männern blieb nichts anderes übrig, als den Uferwald auf einer Länge von sechzig und einer Breite von zehn Metern zu roden. Auf dem schmalen Streifen zwischen Flussufer und Waldrand gelang es Rulfan schließlich, das Boot an der Brückenruine vorbei zu steuern. Ein mühsamer, zeitraubender Weg. Vier Tage nach dem Aufbruch aus Coellen erreichten sie endlich die Ahr. »Siehst du die Flussmündung dort?« Conrad von Leyden deutete auf das rechte Ufer. »Das ist unser Fluss.« Die Unterbrechung der Uferlinie und eine Einbuchtung des dichten Waldes knapp zweihundertfünfzig Meter entfernt verrieten den Zufluss am Westufer. »Dort müssen wir hinein.« Rulfan nickte, drosselte die Geschwindigkeit und steuerte die Twilight Of The Gods auf die Mündung zu. »Dort gibt es solche Barsche!« Mit den Händen zeigte der junge von Leyden eine Strecke von etwa achtzig Zentimeter. »Ungelogen!« Er saß im Sessel des Navigators, bediente Radar und Infrarotortung. Hille kniete neben ihm am Boden und lehnte ihre blondes Lockenköpfchen gegen seinen Schenkel. Ein Bild für die Götter. Manchmal beneidete Rulfan den jungen Techno. Auch der Albino hatte Barsche dieser Größe schon aus dem Großen Fluss geangelt. Nichts Ungewöhnliches. Was ihn wirklich erstaunte, war die Tatsache, dass die deutschen Technos überhaupt fischten. Der Turbinenlärm flaute ab. »Ihr ernährt euch von der Fischerei?« Mit weniger als zwanzig Stundenkilometern schob sich das Luftkissenboot der Ahrmündung entgegen. 38
»Und von der Jagd.« Conrad von Leyden nickte eifrig. »Wisaaun sind das begehrteste Wild in Marienthal. Wir haben etwa dreiundvierzig Rezepte für ihre Zubereitung.« Nacheinander streckte er die goldverhüllten Finger aus. »Gegrillt, gekocht, mit Traubenfüllung gebraten, mit Kiefernadeln geräuchert, Haxen an Burgunder, Lendchen in Riesling, Gehacktes in Weinblättern...« »Ihr esst das Wild und holt euch keine Infektion?« Rulfan konnte es kaum glauben. »Wer gerade ein bisschen schwach auf der Brust ist, lässt es besser bleiben, aber über die Jahrhunderte haben wir Verfahren entwickelt, Fleisch und Fisch relativ steril hinzukriegen. Ohne dieses Fleisch hätten unsere Vorfahren die Kolonie nicht satt bekommen. Zeitweise lebten über dreitausend Menschen dort unten.« »Und jetzt?« »Vierhundertsiebenundachtzig. Sechsundfünfzig Frauen, etwa dreißig davon im gebärfähigen Alter, achtundzwanzig weibliche Kinder, dreihunderteinunddreißig Männer und zweiundsiebzig Knaben unter sechzehn.« Das unausgewogene Geschlechterverhältnis erstaunte Rulfan nicht mehr. Aus Conrad von Leydens zahlreichen Berichten wusste er darüber schon bestens Bescheid. Das Ufer und die Einmündung rückten näher: Honnes kletterte an Backbord zur Kommandozentrale hinauf. Er winkte, aber Rulfan bemerkte es nicht. »Wir unternehmen regelmäßige, ausgedehnte Jagdzüge«, erzählte Conrad von Leyden. »Schwer bewaffnet jedes Mal, denn solche Expeditionen sind lebensgefährlich. Du glaubst gar nicht, was in dieser Gegend alles an imitiertem Raubzeug herum streunt. Meistens sind wir in kleinen Schlauchbooten mit Außenbordmotoren unterwegs. Wir übernachten dann in Kuppelzelten, in denen ein relativ steriles Milieu herrscht...« Möglicherweise haben sich diese deutschen Technos 39
gewisse Reste ihres Immunsystems erhalten, überlegte Rulfan. Einfach dadurch, dass sie nie aufgehört hatten, sich den Erregern in der freien Natur auszusetzen, oder dadurch, dass sie sich gleich in den ersten Jahrzehnten nach »Christopher-Floyd« der Jagd und dem Fischfang widmeten. Das würde erklären, warum Conrad schon so früh nach Verabreichung des Serums auf den Helm hatte verzichten können. »Vielleicht liegt es auch einfach nur am Wein.« Conrad von Leyden hob gleichgültig die Schultern. »Was soll einfach nur am Wein liegen?« Rulfan drosselte die Geschwindigkeit. Der Bug des Bootes drang in tief hängendes und dicht miteinander verflochtenes Eichen- und Weidengeäst ein, das wie ein Vorhang die Flussmündung vor ihren Blicken verbarg. Obwohl die Sonne ihrem Tageszenit entgegen stieg, wurde es auf einmal düster. »Dass wir weniger infektionsanfällig sind als die Bunkerzivilisationen, von denen du mir erzählt hast.« Die Tür wurde aufgerissen. »Halt an, Rulfan!«, rief Honnes. »Ich kenne den Fluss, jedenfalls den Teil von den Ruinen bis zur Mündung. Wir können da nicht mit der Twilight Of The Gods lang fahren. Viel zu schmal. Und an manchen Stellen verengt sich der Uferwald zu einem regelrechten Tunnel. Viel zu niedrig für das Boot. Wir müssen zu Fuß weiter.« »Er könnte Recht haben«, sagte Conrad von Leyden betreten. »Darauf hätte ich selbst kommen müssen.« »Lass gut sein.« Rulfan stellte die Turbinen ab, drückte auf einige Knöpfe der Instrumentenkonsole, legte ein paar Schalter um. »Dir fehlt die Erfahrung. Eine Frage des Alters.« Der Turbinenlärm verstummte endgültig, das Schiff sank auf sein Kiel. Die Schrauben des Behelfsantriebes bremsten die Fahrt ab, brachten das Boot zum Stehen und trieben es schließlich rückwärts aus der überwucherten Mündung hinaus. Sie ankerten die Twilight Of The Gods in einer der vielen Waldbuchten am Westufer des Großen Flusses. Dichte Weiden 40
tarnten es leidlich. Honnes rieb sich seinen kahlen Schädel. »Der Fluss ist gefährlich.« Er betrachtete grünen Vorhang vor der Mündung der Ahr. »Er führt durch Ruinen, die man meiden sollte. Danach fließt er in ein Tal. Ich hab es noch nie betreten...« Er sprach so leise, dass nur Rulfan ihn verstehen konnte. Etwas in Honnes' Stimme alarmierte den Albino. Der alte Freund war vorsichtig, sicher, aber nicht ängstlich. »Beschleichen dich schon wieder irgendwelche Vorahnungen?« Rulfan versuchte zu grinsen. »Vielleicht«, brummte Honnes. »So könnte man es vielleicht nennen...« * Marienthal, Frühherbst 2011 »Verkaufen, alles verkaufen.« Heinrich-Casper von Leyden stand auf der Terrasse des Jagdschlosses. Ans rechte Ohr drückte er sein Handy, das Linke hielt er sich mit der Hand zu – die Frauen hinter ihm im Salon pflegten ziemlich lautstark zu diskutieren in letzter Zeit. »Alles was in der Versicherungsbranche mit drin hängt, verkaufen.« Er blickte in den Himmel. Blau und fast wolkenlos spannte er sich über den an vielen Stellen schon rötlichen Weinbergen, über den bereits rostig gelblichen Laubwäldern auf der gegenüberliegenden Talseite und den Dächern von Marienthal. Unvorstellbar weit jenseits dieses schönen Himmelszeltes raste angeblich ein Komet der Erdbahn entgegen. Eine abstrakte Information, ein spannendes Thema von Talkshows und Wissenschaftssendungen, ein unscharfer Fleck auf Zeitungsund Fernsehbildern; weiter nichts im Grunde. Nur auf dem Aktienmarkt nahm er konkrete Formen an. »Verzeihen Sie, Sir!« Die Stimme seines Brokers in New York City klang gereizt. »Mehr als die Hälfte Ihres Vermögens 41
besteht aus Aktien irgendwelcher Versicherungskonzerne!« »Weg damit!«, flüsterte von Leyden. »Bevor der verdammte Komet nicht wieder in den Tiefen des Alls verschwunden ist, werden die Leute keine Versicherungen mehr abschließen, ist Ihnen das nicht klar? Haben Sie nicht gelesen, wie viele Kunden bereits ihre alten Verträge stornieren?« Sein Mann an der Wall Street schwieg. Natürlich hatte er davon gehört. »Und was soll ich dafür kaufen? Bankpapiere etwa? Die brechen seit zwei Wochen genauso ein.« »Auch die verkaufen...« Heinrich-Casper zuckte zusammen, denn hinter ihm erhob sich die Stimme seiner Mutter. Sofort verebbte das Gezeter der anderen. Donna Margot hatte den harten Kern des Zirkels eingeladen. Es ging um einen Vertrag, um ein Ritual, um den Bunker. Genaues wusste HeinrichCasper nicht. Er dachte nach. »Kaufen Sie Papiere von Reiseunternehmen und Fluglinien«, zischte er schließlich in sein Handy. »Wahre Pilgerscharen reisen seit letzter Woche zu den großen Observatorien. Die Reisebranche wird richtig brummen, bis der Eisbrocken das Sonnensystem wieder verlassen hat. Und kaufen Sie Optikpapiere, so viel Sie kriegen können – Feldstecher und Teleskope werden bald wie heiße Semmeln weggehen.« Er drehte sich um. Die Flügeltüren der Terrasse standen offen, Heinrich-Casper sah seine Mutter am schmalen Ende der Tafel sitzen. Eine silberne, mit einer weißen Serviette abgedeckte Schüssel stand vor ihr. Und daneben eine kleine Kristallvase, aus der ein paar Perlmuttfederhalter ragten. Ein tadelnder Blick Donna Margots traf Heinrich-Casper – vermutlich hatte er zu laut telefoniert –, und gleichzeitig redete sie mit beschwörenden Gesten auf die Mitglieder des Esoterischen Zirkels ein. Achtundvierzig Frauen und fünf Männer drängten sich um die Tafel und auf den Stühlen an den Wänden des Salons. Und wieder ein typisches 42
Margotkommando per Blickkontakt – diesmal galt es dem Butler. Der Mann, ähnlich gut dressiert wie Heinrich-Casper, begriff sofort. Er erhob sich von seinem Stuhl an der Wand und kam ihrem Wunsch nach. Heinrich-Casper erinnerte sich gut an den Tag vor anderthalb Jahren, als der Zirkel zum ersten Mal im neu eingeweihten Jagdschloss tagte. Neun Frauen gehörten damals dazu, und er als der einzige Mann. Aber eigentlich betrachtete man ihn schon damals nicht als Mitglied des Zirkels, sondern eher als eine Art Dekoration, ein Teil des Inventars, das bei keiner Versammlung fehlen durfte. Er kehrte dem Schloss den Rücken und trat von der Terrasse auf den Rasen. Niemand sollte sich von ihm gestört fühlen. Das Wasserspiel auf dem Altar der Kalenderpyramide – schwarzer Marmor, Maßstab 1:30 – nahm die Form eines Blumenkelchs an, der sich dem Himmel öffnete, bevor er auseinander fiel und über die vier mal einundneunzig Stufen in den zwölf Meter durchmessenden Pool strömte. »Halten Sie mich dreistündlich auf dem Laufenden.« Er verabschiedete sich von seinem Mann in Manhattan und steckte das Handy ein. Auf leisen Sohlen schlich er zum Haupteingang. 874.532.160... Komisch dass diese Zahl ihm plötzlich einfiel. Den ganzen Tag hatte er mit Zahlen zu tun, selbstverständlich, und merkte sie sich, ob sie nun neun, zwölf oder fünfzehn Stellen hatten. »Achthundert-vierundsiebzig Millionen... ?« Stumm bewegten sich seine Lippen. Er betrat das Schlösschen über das Hauptportal. Der Herrscher von Yax-Chilián und seine kniende Gattin mit der Dornenschnur in der Zunge zierten das Eichentor. Lautlos öffnete Heinrich-Casper einen der beiden schweren Türflügel. Im Foyer, links und rechts der Doppeltür zum Salon, standen zwei ausgestopfte Spitzmaulnashörner. Sie sahen gefährlich aus; als wären sie entschlossen, niemanden passieren zu lassen. 43
Ein Vermögen hatten sie ihn gekostet – sie zu schießen, sie präparieren zu lassen, und die Zollbehörden verschiedener Länder und Häfen zu bestechen. Eigentlich hätte er die Nashörner gern in den Park gestellt, doch seine Mutter war der Ansicht gewesen, dass Artefakte der Maya-Kultur und afrikanische Spitzmaulnashörner nicht harmonierten, weder ästhetisch noch spirituell. Wahrscheinlich würde er nie begreifen, was genau seine Mutter unter spirituell verstand, trotzdem hatte er eingewilligt; was sonst? Gedankenverloren ließ er seine Rechte über den Rücken eines der Nashörner gleiten. Und schon wieder die Zahl – 874.532.160... Hatte er eine Information aus Manhattan nicht sorgfältig genug verarbeitet? So behutsam wie nur möglich öffnete er die Tür zum Salon und trat ein. Seine Mutter bedachte ihn mit einem kurzen, unwilligen Blick. »Eine neue Menschheit«, sagte sie, und ihre Stimme vibrierte vor Pathos. »Eine Menschheit der Erleuchteten, eine Menschheit der Wissenden, eine Menschheit auf der höchsten Stufe des göttlichen Entwicklungsplanes...« Heinrich-Casper ging zu seinem Stuhl, und plötzlich fiel es ihm ein: Er hatte die Zahl im Frühstücksfernsehen aufgeschnappt – 874.532.160 Kilometer, die Entfernung zwischen Erde und Komet am heutigen Morgen, richtig! Am 10. Februar des nächsten Jahres sollte der Eisbrocken angeblich die Erdbahn passieren. Heinrich-Casper wünschte, es würde gleich morgen geschehen und endlich wieder Ruhe einkehren an den Börsen der Welt. Noch fast vier Monate! Die weltweite Hysterie würde sicher nicht abnehmen in dieser Zeit. Nun gut, man musste das Beste daraus machen und die richtigen Papiere kaufen... »Und wenn er nun nicht mit der Erde kollidiert? Wenn er nun einfach vorbei rast und wieder in den Tiefen des Alls verschwindet?« Ramona Schneider machte eine skeptische Miene. Die Haushälterin Margot von Leydens gehörte seit 44
Ende August zum esoterischen Zirkel; seit die Nachricht von der Kometenentdeckung einen globalen Flächenbrand an Hysterie entzündet hatte. »Ich meine – all die Vorbereitungen, all die Zeit und all das Geld, das wir investieren. Und was wird mein Mann sagen, wenn ich plötzlich die Hypotheken nicht mehr zahle, unsere Konten auflöse und alle Versicherungen kündige...? »Mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit wird ›Christopher-Floyd‹ die Erde treffen!«, ereiferte sich Betty von Leyden. »Wenn sie das schon offiziell zugeben, wie hoch wird dann erst die Zahl sein, die sie uns verheimlichen? Siebzig Prozent Wahrscheinlichkeit? Achtzig...?« »Gleichgültig was die Experten vorhersagen«, unterbrach Margot von Leyden. »Diese Schöpfung geht ihrem Ende entgegen! Das muss uns kein Experte und kein Regierungssprecher erzählen, das wissen wir aus den Heiligen Kalendersystemen der Maya.« Margot von Leyden sprach mit fester Stimme. »Und es ist kein Zufall, dass wir das wissen, nein, meine Lieben! Der kosmische Schöpfergeist hat uns auserwählt, dies zu erkennen und Ernst zu nehmen. Darum trifft uns das Ende dieser Schöpfung nicht unvorbereitet, o nein! Wir sind die Urzelle der neuen Schöpfung. Wir, und diejenigen, die wir berufen...« »Aber sagen die Astronomen nicht, der Komet würde die Erdbahn schon Mitte Februar passieren?« Wieder war es die Haushälterin, die Margot unterbrach. Heinrich-Casper sah in ihr gerötetes Gesicht und schwankte zwischen Ärger und Bewunderung. »Nach der Großen Maya-Zählung endet diese Schöpfung doch erst am 20. Dezember 2012...!« »Er wird die Erdbahn nicht passieren!« Margot sprach jetzt leise und mit spitzen Lippen. »Verstehst du das nicht?« Ihr knochiger Zeigefinger tippte auf die Tischplatte, so leicht, dass die Fingerkuppe sie kaum berührte. »Er wird die Erde rammen!« Das Wort rammen betonte sie derart laut, dass 45
Heinrich-Casper zusammenzuckte. »Er wird die Menschheit auslöschen! Nur Auserwählte werden überleben!« Margots welker Mund schloss sich und wurde zu einem farblosen Strich. Sie blickte in die Runde, einen nach dem anderen sah sie an. Dann entspannte sich ihre strenge Miene etwas, sie lächelte und wandte sich an einen der wenigen Männer im Salon. »Und was das genaue Datum betrifft, sind wir noch am Rechnen, nicht wahr, Professor Martinez?« Der Angesprochene, ein lateinamerikanischer Autor und Hochschullehrer, erwiderte ihr Lächeln und deutete eine Verbeugung an. »Und jetzt das Ritual.« Margot von Leyden nickte einem zweiten der fünf Männer im Raum zu – Burkhard Müller, ihrem Butler. Der ging zu einem Sekretär an der Stirnwand des Salons, schloss eine seiner Schubladen auf und entnahm ihr eine Schreibunterlage und eine lederne Dokumentenmappe. Mit beidem schritt er zur Tafel, legte dort die Schreibunterlage vor seiner Chefin auf den Tisch, danach die geöffnete Mappe. Sie enthielt nur einen Bogen Papier, und das Papier war mit nur wenigen Zeilen beschriftet. Müller nahm die Serviette von der Silberschüssel. Margot von Leyden zog eines von etwa fünfzig Einweg-Skalpellen heraus, ritzte sich blitzschnell in die Haut ihres linken Unterarms und tunkte einen der Perlmuttfederhalter in das aus der Wunde sickernde Blut. Heinrich-Casper hielt den Atem an. Seine Mutter unterschrieb das Papier. Der Butler reichte ein Pflaster und einen Sektkübel für das gebrauchte Skalpell, Margot schob Schreibunterlage, Dokumappe, Skalpelle und die Vase mit den Federhaltern nach rechts. Ohne zu zögern schnitt sich auch Betty von Leyden in den Unterarm. So machte das Papier die Runde, alle Anwesenden unterschrieben es mit ihrem Blut. Irgendwann schob es jemand in Heinrich-Caspers Blickfeld. Eid, las er in der Kopfzeile. Und 46
dann: Hiermit schwöre und beglaubige ich mit meinem Blut, keinen Unberufenen in das Geheimnis der neuen Schöpfung und ihres Zufluchtsortes unter den Weinbergen Marienthals einzuweihen. Wer diesen Eid bricht, soll seinen Bunkerplatz, ja sein Leben verlieren. Heinrich-Casper von Leyden ritzte seine Haut ein paar Mal, ohne dass Blut fließen wollte. Der Butler half ihm schließlich, tunkte sogar für ihn die Feder ins Blut. Heinrich-Casper unterschrieb – natürlich – und erinnerte sich fortan der Nacht zuvor als der letzten Nacht seines Lebens, in der er gut geschlafen hatte... * Ahrtal, Anfang Mai 2520 Proviant und Material verteilten sie auf drei Tornister. Danach schulterten sie ihre Waffen: Rulfan sein LP-Gewehr und ein Kurzschwert, Honnes seine Armbrust, einen kurzen Spieß und ein Kurzschwert, und Conrad von Leyden zwei Laser-Faustfeuerwaffen, made in Marienthal. Aus irgendeinem Grund bestand Honnes darauf, dass ihre Waffen griffbereit blieben. Weil sie das Fass – es enthielt tatsächlich gutes Coelsch – auf der Twilight Of The Gods zurücklassen mussten, leerte von Leyden drei Wasserflaschen aus seinem Tornister in den Fluss und füllte sie mit dem schäumenden Biir. Honnes runzelte die Stirn, als er das beobachtete. Mit einer Handbewegung bedeutete ihm Rulfan, einfach wegzusehen. Wulf musste einen Lastsattel mit Ausrüstung und Werkzeugen tragen: einen kleinen Grill, zwei Klappspaten, ein Beil und so weiter. Am späten Nachmittag brachen sie auf. Conrad von Leyden und Hille schritten voran. Die Frau hatte sich einen groben Wollmantel über Kopf und Schultern gezogen. Er verhüllte die 47
typisch bunten Kleider der Dysdoorerin nur unvollständig. Sie trug fast doppelt so viel Last wie ihr junger Geliebter. Zähe Weiber wohnten in Dysdoor, und unterwürfige dazu. Rulfan hatte die Hoffnung aufgegeben, dass Hille dem Techno sein Pascha-Gehabe austreiben könnte. Sie folgten dem Lauf der Ahr. Eine geschlossene Waldfläche hatte das Land hier zurückerobert. Wäre Rulfan nicht hin und wieder über Mauerreste oder halb im Waldboden verborgene Masten und Leitplanken gestolpert, hätte er die Ruinen zwischen den Bäumen und unter dem Gestrüpp gar nicht wahrgenommen. Am späten Abend gelangten sie auf eine schneisenartige Lichtung. »Das war mal eine Autobahn«, sagte Conrad. »Führt zur A 61. Wir benutzen die alte Trasse mit unseren Kettenfahrzeugen.« Da es schon dunkel wurde, errichteten sie im Schutz einer flachen Ruine am Trassenrand ihr Nachtlager und teilten Wachen ein. »Wenn wir weiterhin dem Lauf der Ahr folgen würden, müssten wir die Ruinen von Bad Neuenahr durchqueren«, erklärte von Leyden. »Dort haust keine Menschenseele, dafür aber die mutierte Nachkommenschaft einer Rottweilerzucht. Die sollten wir uns ersparen.« Rulfan und Honnes tauschten einen kurzen Blick. Der Albino war einverstanden, der Veteran aus Coellen sowieso. Sie beschlossen den Ruinenwald am nächsten Tag südlich zu umgehen. Conrad von Leyden, der mit Hille erst die letzte Nachtwache übernommen hatte, verkroch sich mit ihr in sein Kuppelzelt. Honnes und Rulfan übernachteten im Freien. Rulfan hatte die erste Wache. Sein Lupa lag neben ihm, hob hin und wieder den Schädel und spitzte die Ohren. Im Südwesten verblasste die letzte Röte am Abendhimmel. Im Kuppelzelt kicherten und schnauften Conrad und Hille im Rhythmus ihres Liebesspiels, und Honnes schnarchte, nachdem 48
er sich eine halbe Stunde oder länger in seinen Fellen hin und her gewälzt hatte. Rulfan wunderte sich über die Unruhe, die seinen alten Freund mit einem Mal befallen hatte. Bald senkte sich die Nacht auf die Waldhänge, das Flusstal und die Ruinen. Nach zwei Stunden etwa hob Wulf plötzlich den Schädel von den Vorderläufen. Er sprang hoch, richtete die Ohren auf und begann zu knurren. »Schhht«, summte Rulfan ihm ins Ohr. »Ganz ruhig, mein Freund, ganz ruhig.« Geräuschlos erhob auch er sich, lauschte in die Dunkelheit. Irgendwo in der Ferne knackte ein Ast und gleich darauf noch einer. Dann kreischte ein Tier wie in Todesnot. Flügelschlag und das Rascheln von Laub waren zu hören. Danach nichts mehr. Die Stille kehrte zurück. Nur Honnes' Schnarchen und gedämpfte Atemzüge aus dem Kuppelzelt störten sie. »Ein Tier.« Rulfan ließ sich wieder neben dem Lupa nieder. »Irgendein nächtlicher Jäger. Vielleicht ein Kollege von dir.« Wulf senkte den Schädel wieder auf die Vorderläufe und schloss träge die Lider. Dennoch – von diesem Moment an wurde Rulfan das Gefühl nicht mehr los, irgendjemand, irgendetwas würde ihn beobachten. Honnes nuschelte im Traum. Einmal stieß er einen heiseren Schrei aus, setzte sich ruckartig auf und stierte Rulfan aus großen Augen an. »Alles in Ordnung, mein Freund«, sagte Rulfan leise. »Schlaf weiter.« Honnes rollte sich in seine Felle. Bald hörte Rulfan ihn wieder schnarchen. Und dann ging der Mond auf. Die Ruine, die Baumwipfel, das Zelt, das weiße Fell des Lupa – alles wurde in sein mildes Licht getaucht. Rulfan sah zum Himmel hinauf und erschrak. Es war Halbmond! Noch zwei oder drei Tage bis Vollmond! Bis zum zweiten Vollmond nach der Weissagung des Druud Alizan.
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* Marienthal, Frühherbst 2011 Am Abend trafen sie sich im Hause von Achim Bergmann, dem Gutsverwalter der von Leydens. Sie tranken einen roten Spätburgunder und Ramona erzählte: »Als alle mit ihrem Blut unterschrieben hatten, führte uns die alte von Leyden in den Keller. Dort öffnete sie eine Falltür. Wir stiegen in einen Keller unter dem Keller. Die Wände waren aus Metall. Ihre Schwiegertochter berührte sie an einer Stelle, an der ich Fugen erkennen konnte. Eine kleine Tastatur kippte heraus und die junge von Leyden tippte eine Geheimzahl ein – und auf einmal schoben sich Türen auf...« »Vier Lifttüren«, ergänzte Burkhard Müller. »... wir stiegen ein, und abwärts ging es, ich weiß nicht wie tief. Die Alte führte uns über lange Stahlwandstollen durch Schlafräume, Klinikbereiche, Maschinenräume, Büros...« Wortreich schilderte Ramona Schneider die fast dreistündige Wanderung durch einen kleinen Teil der Bunkeranlage. Hin und wieder ergänzte Burkhard Müller. Die anwesenden Männer lauschten aufmerksam. Nicht viele Bürger Marienthals hatte Achim Bergmann zu diesem konspirativen Treffen geladen: drei Weinbauern, den Ortsvorsteher von Dernau, den Leiter der staatlichen Weinbaudomäne Marienthal, und Stefan Sonnenfelder, den Privatkoch der von Leydens. »Sie haben das Jagdschloss über einem der Bunkereingänge gebaut«, sagte Bergmann, als Ramona und Burkhard schwiegen. »Ich dachte mir gleich so was. Wahrscheinlich habt ihr nur den kleinsten Teil der Anlage gesehen.« »Die Gerüchteküche im Ahrtal orakelt schon seit zwei Jahren von der Sekte der Alten und ihrem Bunkerausbau«, sagte der Leiter der Staatlichen Weinbaudomäne. »Wie viele Eingänge hat der Bunker?«, wollte einer der Weinbauern wissen. 50
»Achtunddreißig insgesamt«, sagte der Ortsvorsteher, ein schwergewichtiger Mann Ende vierzig mit vollem grauen Haar und kantigem Schädel. Er hieß Kupfer. »Vier Haupteingänge, der Rest Notausstiege, Lüftungsschächte, und eine Straße, die irgendwo in Dernau aus dem Berg führen muss. Das jedenfalls ist der Stand von 1972, nach dem letzten Tunnelausbau.« »Nach dem letzten?«, wunderte Ramona sich. »Der Hauptstollen, ein Eisenbahntunnel, wurde schon vor dem ersten Weltkrieg gebaut«, sagte einer der Weinbauern. »Das erzählte mein Großvater. Drei Kilometer lang das Ding. Im zweiten Weltkrieg haben die Nazis da unten V2-Raketen montieren lassen.« »1972 verliefen unter der Erde zwischen Altenahr und Marienthal Tunnelsysteme von fast zwanzig Kilometern Länge«, erläuterte Kupfer. »Damals hatte die Anlage zwei Teile.« Der Ortsvorsteher schien besser informiert als die meisten anderen. »Beide ziemlich weitläufig, wie gesagt, und von fast hundertzwanzig Metern Schiefergestein bedeckt. Der Taleinschnitt zwischen Dernau und Altenahr trennt beide Teile. Ein Tunnel führt vom Hauptstollenniveau aus noch einmal sechzig Meter in die Tiefe und verbindet die Segmente.« »Meines Wissens hat die Regierung den Bunker damals so konzipiert, dass mindestens vier Segmente unabhängig voneinander arbeiten konnten.« Bergmann rieb sich nachdenklich das Kinn. »Doch wir sollten davon ausgehen, dass von Leyden kräftig umgebaut und die meisten Zugänge verschlossen hat.« »Nicht von Leyden – seine Mutter«, warf Ramona ein. »Vor ein paar Jahren hat die Regierung doch angefangen, das Tunnelsystem zurück zu bauen«, sagte der Koch. »Ich bin nicht sicher, wie weit sie gekommen sind.« Der Ortsvorsteher Kupfer zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, ein Segment unter den Weinbergen bei Dernau haben sie entkernt, bevor von Leyden die Anlage kaufte.« 51
»Er hat sie modernisiert, verlasst euch drauf.« Bergmann stieß ein bitteres Lachen aus. »Er hat alles nach dem neusten Stand der Technik ausgebaut. Ich habe mal mit einem Ingenieur gesprochen, der für ihn gearbeitet hat.« »Und jetzt?« Sonnenfelder, der Koch, wirkte ungeduldig. »Was tun wir jetzt? Zu der Alten gehen und Bunkerplätze für uns und unsere Familien verlangen?« »Sie sucht sich ihre Leute sorgfältig aus. Darum heißen sie auch ›Auserwählte‹.« Burkhard Müller zog die linke Braue hoch – das tat er immer, wenn ihm nach Spott zumute war. »Professoren, Gurus, Musiker, Dichter, und so weiter. Und alles Leute aus der esoterischen Szene. Der Grundstock für ihre neue Menschheit, Erleuchtete eben.« »Und warum gehört ihr dann dazu?«, feixte Bergmann. »Weil wir der Alten tagtäglich so nahe sind, dass sie uns einfach einweihen musste«, sagte Ramona. »Morgen gehen wir zu ihr und verlangen Bunkerplätze für uns und unsere Leute.« Der Koch schlug mit der Faust auf den Tisch. Bergmann sah sich in der Runde um. Die Männer nickten schweigend. Zu viert ließen sie sich am nächsten Tag bei Margot von Leyden melden. Der Gutsverwalter Bergmann, zwei Weinbauern und der Ortsvorsteher von Dernau. Margot empfing sie im Kaminzimmer ihres Jagdschlosses. Kupfer, der Ortsvorsteher, konnte am besten reden, deswegen trug er ihr gemeinsames Anliegen vor. Vollkommen ruhig hörte Margot von Leyden sich seine Worte an. Ihre welken Hände lagen zusammengefaltet in ihrem Schoß, sie zuckte nicht einmal mit der Wimper. Als Kupfer fertig war, seufzte sie. »Eine gute Idee. Das wäre wirklich die Rettung.« In einer Geste des Bedauerns breitete sie ihre Arme aus. »Aber leider ruhen die Bauarbeiten in der alten Bunkeranlage schon seit August 2010. Der Chefarchitekt hat 52
sich von den Geologen falsch beraten lassen und ließ an einer Stelle sprengen, an der ein riesiger Grundwasserarm verläuft. Seitdem ist das Tunnelsystem vollständig überflutet.« Noch einmal seufzte sie tief. »Es würde ein ganzes Jahr dauern, bis wir das Wasser abgepumpt hätten.« Die Männer tauschten teils betretene, teils misstrauische Blicke aus. Doch keiner wagte es, die alte Dame der Lüge zu bezichtigen. »Und was ist mit dem Bunkerteil auf der anderen Talseite?«, hakte Bergmann nach. »Das Wasser kann doch nicht beide Teile überflutet haben.« »Der Bunker unter Altenahr?« Margot winkte ab. »Den hat die Bundesregierung schon zu Beginn des Jahrhunderts zurückbauen und zuschütten lassen.« Sie brachte die Männer persönlich zur Tür. »Hören Sie, Herr Kupfer«, wandte sie sich an den Ortsvorsteher. »Wir sollten uns auf keinen Fall von der allgemeinen Hysterie anstecken lassen. Dieser Komet...« Margot von Leyden schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. »Es ist doch sehr unwahrscheinlich, dass er mit unserer guten alten Erde kollidiert...« Drei Wochen später starb Burkhard Müller bei einem Autounfall. Das BMW-Coupé des Butlers kam oberhalb von Altenahr von der B 257 ab und prallte gegen einen Baum. Das Wrack brannte vollständig aus. Unangepasste Geschwindigkeit und Alkohol, vermerkte der Polizeibericht. Ungefähr zur gleichen Zeit verschwand Ramona Schneider spurlos. Irgendjemand glaubte zu wissen, dass Liebeskummer sie seit Monaten plagte. Erst kurz vor Weihnachten fand man ihre Leiche in Bonn am Ufer der Rheinpromenade. Selbstmord, hieß es. Wahrscheinlich hatte sie Tabletten genommen, bevor sie sich in Koblenz von einer Brücke in den Rhein stürzte. Lange bevor der Strom die Tote wieder hergab, sah man immer häufiger Kleintransporter der Autovermietung Avis 53
durch Dernau, Marienthal und Altenahr fahren. Meistens saß einer der Weinbauern am Steuer, oder der junge Polizist, den Bergmann eingeweiht hatte; ab November dann auch der Bruder des Ortsvorstehers Kupfer, ein Reserveoffizier der Bundeswehr. Die Fahrzeuge hielten vor Bergmanns oder vor Kupfers Haus, häufig auch vor der Klosterruine in Marienthal, wo die Staatliche Weinbaudomäne untergebracht war. Kleine Holz- oder größere Aluminiumkisten wurden von den Ladeflächen der Fahrzeuge gehievt und in Keller oder Speicher geschleppt. Schwere Kisten, Kisten voller Schusswaffen und Munition... * Irgendwo südlich der Ruinen von Bad Neuenahr, Anfang Mai 2520 Schon während des Frühstücks – Trockenfrüchte, Getreidefladen, Pökelfleisch und Wasser – sprachen sie nur das Nötigste miteinander: Wer die Führung übernehmen sollte – Conrad von Leyden natürlich –, wie der vor ihnen liegende Weg beschaffen war – ein schmaler, beschwerlicher Schleichpfad mit vielen Steigungen –, wie lange sie an einem Stück marschieren würden bis zur ersten Rast – vier Stunden –, und wie weit es noch war bis zum Hauptschott Marienthals – für einen Vogel nicht viel mehr als hundert Speerwürfe. Der Fußmarsch über Conrads Schleichpfad und vorbei an den Ruinen würde jedoch einen ganzen Tag und einen halben in Anspruch nehmen. Als sie dann die Trasse der alten Autobahn verließen und in die Düsternis des Waldes eintauchten, redete niemand mehr ein Wort. Rulfan versuchte vergeblich das verdammte Gefühl abzuschütteln, das ihn während seiner Nachtwache beschlichen hatte: das Gefühl beobachtet zu werden. Und ohne sich mit den drei anderen zu verständigen, wusste er, dass es ihnen ähnlich 54
ging. Von Leyden an der Spitze blieb alle zehn Minuten stehen und lauschte. Immer öfter griff er nach der Kunststoffflasche an seinem Gürtel, um sich einen Schluck Coelsch zu genehmigen. Hille, hinter ihm, lief mit merkwürdig hochgezogenen Schultern. Ständig spähte sie nach links und rechts ins Unterholz, und noch häufiger zurück zu Honnes. Irgendwann überholte der Coelleni sie. Von da an hielt er sich dicht hinter Conrad. Manchmal konnte Rulfan hören, wie der Kahlkopf den Jüngeren zur Eile ermahnte. Der Lupa schnüffelte im Gras und im Gestrüpp herum, legte mal die Ohren an, spitzte sie und blieb dabei stehen; von Zeit zu Zeit knurrte er leise und sein Rückenfell sträubte sich. Und wenn Honnes sich nach Rulfan umwandte, der am Ende der kleinen Kolonne marschierte, blickte der Albino jedes Mal in ernste Augen. Irgendwann zog Honnes sein Kurzschwert. Äußerlich war nichts geschehen – keine bedrohlichen Geräusche waren zu hören, kein Angreifer brach aus dem Unterholz, kein Tier floh vor ihnen – dennoch marschierte Honnes mit blanker Klinge weiter. Rulfan zog sein LP-Gewehr von den Schultern, aktivierte den Reaktor und stützte den Kolben in die Hüfte. Sie durchquerten ein kleines Tal, anschließend führte der Pfad einen steilen Waldhang hinauf. Honnes deutete mit dem Schwert nach links und rechts: Überall sahen sie frisch geknickte Halme und Zweige, schließlich Spuren nackter, menschlicher Füße, und dann blieb Conrad von Leyden vor einem Grasbüschel stehen, auf dessen Halmen geronnenes Blut glänzte. Einer nach dem anderen hielt bei ihm an, alle starrten sie auf das Blut. Der Lupa knurrte, schnüffelte zu beiden Seiten des Pfades, rannte schließlich voraus. Die letzte Bestätigung, dass er die Witterung eines oder mehrerer Menschen aufgenommen hatte. 55
Sie folgten ihm. Diesmal setzte Rulfan sich an die Spitze. Mit beiden Händen packte er jetzt sein Laserphasen-Gewehr. Der Pfad durchquerte einen Bachlauf, führte von dort aus steil in einen Hang hinein und durchquerte auf dessen Kamm eine lichte Ebene. Dort stand hohes Gras, und zwischen rostigen, hoch aufragenden Metallgerüsten, Trümmerhalden und zahlreichen von Farn und Moos eroberten Autowracks wucherten Beerenhecken. Vor einer Birkengruppe fanden sie den Torso eines menschlichen Körpers. Beine, Arme und Kopf fehlten, und Maden wimmelten im Mittagslicht. Conrad von Leyden wandte sich ab und erbrach sich hustend. Es waren die Überreste einer Frau. Die schwarze, von Blut und Schmutz steife Lederbluse war zerrissen und gab die blaugraue Haut einer weiblichen Brust frei. Hille schlug beide Hände vor den Mund. Sie stöhnte. Ein paar Schritte weiter fanden sie den Kopf einer Frau. Ihre Gesichtszüge waren Klauen oder Zähnen oder beidem zum Opfer gefallen. »Weiter«, sagte Rulfan. Er packte den tief über die Knie gebeugten Jungen an der Schulter und zog ihn hoch. Aus dem Rückenteil seines Goldanzugs ragte die Tätowierung bis in den Nacken: Schädel und Horn eines Nashorns. »Trink was!« Von Leyden gehorchte. Der Pfad führte wieder hangabwärts in den Wald hinein. Im Unterholz fanden sie Spuren großer Tiere. Eine Stange lag quer über dem Weg, an einem Ende eine Metallplatte. Rulfan bückte sich und versuchte die Lettern auf dem Schild zu entziffern. »Karmelitenkloster... Mariaschnee... Graz...« Verständnislos schüttelte er den Kopf. Neben ihm ging von Leyden in die Hocke. »›Mariaschnee‹ – hat das was mit eurer Bunkerstadt zu tun?«, fragte der Albino. Conrad von Leyden verneinte. »Graz, wart mal... den Namen habe ich in einer alten Datenbank schon gelesen. Ich 56
glaube, so hieß früher mal eine Stadt in einem Land namens Ungarien. Oder Ostertalien? Aber wie kommt das verdammte Schild hier in die Eifel?« Murmelnd las er weiter: »Grabenstraße... Buddhistisches Zentrum... She Drup Ling Graz, Gemeinnütziger Verein zur Förderung buddhistischer Werte.« Er klappte den Helm zurück und schnalzte mit der Zunge. »Vielleicht das Haustürschild irgend 'ner Bank. ›Bank‹, du weißt schon, so hießen die Tempel, wo sie vor der Apokalypse ihr Coelsch und ihren Wein holten...« Er verstummte, weil Rulfan ihn mit hochgezogenen Brauen musterte. »Ich weiß nicht genau, was eine ›Bank‹ war, aber ich weiß, dass du extremen Unsinn redest, Kleiner«, sagte Honnes, der hinter ihnen stand. Von Leyden öffnete den Mund, aber er kam nicht mehr dazu, etwas zu entgegnen: Nicht weit entfernt gellte ein Schrei durch den Wald. Sie sprangen auf. Wulf begann zu bellen und sprang davon. Hinter ihm her liefen sie etwa zweihundert Meter hangabwärts. Bis der Lupa anhielt, weil eine Leiche quer über dem Pfad lag. Er hörte auf zu bellen, beschnüffelte sie von allen Seiten. Es war schon wieder eine Frau. Ihr Gesicht war zerfleischt, vom rechten Arm nur ein schwärzlicher Stumpf zu erkennen. Ein schwarzer Lederharnisch bedeckte ihren Oberkörper, an Schultern und Rücken war er mit gehörnten Schildplatten gepanzert. Aus dem Unterholz am Wegrand ragte ein blutverschmiertes Langschwert, und in ihrem Hüftgurt steckten zwei Dolche mit langen Klingen. »Schade um sie«, sagte Conrad von Leyden und wandte sich ab. »Wirklich schade...« Er würgte und beugte sich erneut ins Gestrüpp. Hille hielt ihn fest, während er mit dem Brechreiz kämpfte. Rulfan brachte kein Wort heraus, während er die 57
Frauenleiche betrachtete. Er musste an die Kriegerinnen denken, die er auf den Dreizehn Inseln gesehen hatte; an Aruula. »Schwer bewaffnet«, sagte Honnes. »Und trotzdem tot.« Er wandte sich an Conrad. »Vermutlich niemand von euch, oder?« Von Leyden schüttelte den Kopf, während er sich erbrach. »Ich versteh dich nicht, Kleiner«, fuhr Honnes fort. »Wie kannst du in diesen verdammten Feuervögeln durch den Himmel fliegen, ohne zu kotzen, aber bei der toten Frau hier dreht sich dein Magen um? Die ist doch tot, die tut dir nichts mehr.« Hille stieß einen kurzen Schrei aus, wich zurück und stolperte über eine Wurzel. Der Lupa knurrte. Tief senkte er den Schädel und stemmte die Vorderläufe in den Boden. Sein Rückenfell war gesträubt. Zuerst dachte Rulfan, es wäre ein junger Wakuda-Stier, der da zwanzig Schritte entfernt zwischen den Büschen auf dem Pfad seinen mächtigen Schädel senkte. »Ruhig«, sagte er, während er das fremde Tier ins Auge fasste. »Ganz ruhig...« Es war gut doppelt so hoch wie Wulf, braunschwarz, und der Schädel sah aus wie ein pelzbezogener Klotz. Stämmig die Läufe, gedrungen der schwere, schlammverschmierte Körper, knotig vor Muskelsträngen das pelzlose Hinterteil – die Bestie wirkte wie fleischgewordene Kraft, wie ein Extrakt von Fresswut und Mordlust. Der armdicke nackte Schweif des Tieres war länger als sein Körper und peitschte rechts und links ins Gestrüpp. Es ließ den zerfetzten Arm, den es zwischen den Zähnen hielt, fallen und stieß ein Knurren aus. Es klang, als würde irgendwo Donner grollen... * Altenahr, Mitte Januar 2012 Heinrich-Casper von Leyden hockte im Ledersessel vor 58
seinem Schreibtisch und starrte das Telefon in seiner rechten Faust an. Jetzt meldete sich auch sein Broker in Tokio nicht mehr! Sämtliche Börsen der Welt hatten geschlossen! Unwirklich kam ihm das vor, wie ein schlechter Witz. Er murmelte einen für seine Verhältnisse derben Fluch und rammte das Gerät zurück in die Konsole. Wie man eine Tür anstarrt, zu der man den Schlüssel verloren hat, so starrte er das Telefongerät an. Das Fachwerkhaus, in dem er sich befand, gehörte zu den zwei Dutzend Immobilien, die er im Ahrtal besaß. Knapp ein Drittel davon nutzte er selbst. Er stieß sich ab, hielt den Sessel nach einer halben Drehung wieder an, betrachtete die Wand vor dem Schreibtisch – ein Gemälde füllte die ganze Fläche aus, eine Urwaldszene: Unter einer Akazie stand ein Spitzmaulnashorn und senkte den schweren Schädel wie zum Angriff. Es kam Heinrich-Casper wirklicher vor als alles, was er in den letzten Wochen erlebt hatte. Er atmete ein paar Mal tief durch, versuchte die Kraft des Tieres zu spüren, versuchte sie in sich einzusaugen. Gab es wirklich einen Kometen, der mit der Erde kollidieren würde? Wieder stieß er sich ab, wieder macht der Sessel eine halbe Drehung. Durch die kleinen Fenster des sechshundert Jahre alten Hauses sah er zur Pfarrkirche hinüber. Schneeflocken umtanzten die Menschen, die in größeren oder kleineren Gruppen über die Straße oder an den gegenüber liegenden Fachwerkfassaden vorbei zum Gotteshaus strömten. Andere öffneten das Portal der Kirche von innen und gaben den Neuankömmlingen die Klinke in die Hand. So ging das den ganzen Tag, die ganze Nacht. Seit Silvester schon. Oder bereits seit Weihnachten? Beide Konfessionen veranstalteten Gebetsgottesdienste, in fast allen Kirchen des Ahrtals und rund um die Uhr. »Beten gegen den Kometen«... Heinrich-Casper stand auf und trat ans Fenster. »Gegen den 59
Kometen beten!« Er schnaubte verächtlich. »Gegen den Kometen treten...« Nein, das konnte nicht die Wirklichkeit sein, das musste ein Film sein, in den er sich verirrt hatte. Andererseits hatte die Bank schräg gegenüber schon seit zwei Wochen geschlossen. Es war einfach niemand mehr zur Arbeit erschienen. Ähnlich die Einzelhandelsgeschäfte des Touristenortes. Es gab nichts mehr zu verkaufen, weil nichts mehr hergestellt wurde und die Lager leer waren. Genauso die Supermärkte seines Bruders – leere Regale, leere Lagerhallen, verschlossene Türen. Die haltbaren Waren lagerten jetzt in der Bunkeranlage, den Rest hatten Pascals Mitarbeiter geplündert. Wer keine Lebensmittelvorräte angelegt hatte, musste betteln gehen. Oder Waffen, Werkzeuge, Decken und so weiter eintauschen; alles eben, was man nach einem Weltuntergang so brauchen konnte. Selbst in Dernau fand man inzwischen Frauen und Mädchen, die sich öffentlich prostituierten; mit Einverständnis ihrer Familien meistens! Sogar in Marienthal, dem kleinen Winzerkaff. »Es ist nicht zu fassen«, flüsterte von Leyden. »Es ist einfach nicht zu fassen...« Seit dem zweiten Januar versuchte Heinrich-Casper seine Banken in den Staaten, in Japan und in Singapur anzurufen. Vergeblich. Nicht mal in Frankfurt bekam er noch jemanden ans Telefon. Das Chaos war perfekt. Vermutlich hatten irgendwelche Gangs längst die Tresore geknackt. HeinrichCasper trauerte um seine Wertpapiere, die über die Welt verstreut in vermeintlich sicheren Depots lagen. Das Einzige, was er mit in den Bunker nehmen konnte, war eine Minidisk. Sie enthielt sämtliche Daten über seine Finanzgeschäfte der letzten sechs Monate. »Gegen den Kometen treten...« Er drehte sich einmal um sich selbst und kickte einen der Stühle des Konferenztisches zur Seite. 60
Ob der Datenträger nach dem Wiederaufbau noch von Bedeutung sein würde, wusste er nicht. Doch mit ein bisschen Glück würde die Katastrophe den einen oder anderen guten Anwalt übrig lassen. Und einige Juristen und Finanzexperten befanden sich ja auch unter den Männer und Frauen, die seine Mutter in den Bunker berufen hatte. »In den Bunker berufen«, murmelte er. »Berufen... berufen in den Kern der neuen Menschheit...« Er betrachtete die Nashornszene an der Wand und stieß ein trockenes Lachen aus. »In meinen Bunker berufen... was für ein Wahnsinn.« Eine silbergraue Limousine rollte über die ungeräumte Straße heran. Sie fuhr mit Schneeketten. Dass es überhaupt noch Benzin gab... Auch so ein Produkt, für das man auf dem Schwarzmarkt tief in die Tasche greifen oder seine Tochter dem Nachbarn ausleihen musste. Es war ein Benz seiner Mutter; er hielt vor seinem Haus. Heinrich-Casper riss die Gardine zur Seite, öffnete das Fenster. Weder seine Mutter stieg aus, noch sein Bruder, der den Wagen in letzter Zeit häufig benutzte – es war Achim Bergmann, der Gutsverwalter. »Ihre Mutter ist verunglückt!«, rief Bergmann von der offenen Fahrertür aus. »Sie verlangt nach Ihnen, Herr von Leyden! Es eilt!« »Mama? Verunglückt? Ja, warum ruft mich denn keiner an?!« Er knallte das Fenster zu, griff sich zwei Handys von seinem Schreibtisch, zog seinen Pelzmantel von der Sessellehne und stürmte aus dem Haus. Panik ergriff ihn – wenn seiner Mutter etwas zustieß, was sollte dann aus ihm werden...? Eiskalter Wind blies ihm Schneeflocken ins Gesicht. Bis zu den Knöcheln versank er im Neuschnee; fast wäre er auf dem Bürgersteig ausgerutscht. Ein Mann hielt ihn fest, der Ortsvorsteher Kupfer. »Warum ruft mich denn keiner an?«, blaffte Heinrich-Casper ihm ins Gesicht. »Was ist passiert?« Er wollte nach dem Griff der Beifahrertür fassen, doch Kupfer 61
drängte ihn zur hinteren Tür. »Erlauben Sie mal...!« Schon fuhr ein Arm aus dem Fond des Fahrzeugs, eine starke Hand griff nach ihm, zerrte ihn auf die Rückbank hinunter. Kupfer zwängte sich neben ihn, zog die Tür zu. Bergmann saß schon wieder am Steuer, der Wagen fuhr an. »Was fällt Ihnen ein!«, schrie Heinrich-Casper. Auf dem Beifahrersitz erkannte er Sonnenfelder, den Koch seiner Mutter. Den Mann, der ihn ins Auto gezerrt hatte, kannte er nur flüchtig – ein junger Polizist, dessen Name ihm entfallen war. Er drückte von Leyden einen Pistolenlauf an die Schläfe, während der Ortsvorsteher seine Mantel- und Jackentaschen durchsuchte. Alles was er finden konnte, nahm er an sich: Handys, Brieftasche, Schlüssel, einfach alles. Nur das Satellitentelefon in der Gürteltasche ließen er ihm. »Das ist...« Heinrich-Casper keuchte schwer, sein Puls raste. Er verstand die Welt nicht mehr. »Das ist ein Raubüberfall...!« Er wandte sich an den Polizisten. Dessen stoppelbärtiges Gesicht war hart und kantig. »Und sogar Sie...« Die Worte blieben ihm im Hals stecken. »Das ist kein Raubüberfall, Herr von Leyden«, sagte der Ortsvorsteher in allergrößter Gelassenheit. »Das ist Notwehr.« Sie bogen in die Altenburger Straße ein, fuhren am Bahnhotel Hübel vorbei. »Ausgebucht«, sagte Sonnenfelder. »Leute aus allen Kontinenten, feine Leute.« Seine Stimme klang gereizt, gehässig sogar. Heinrich-Casper bekam es mit der Angst. »Wir haben diese Leute nicht eingeladen, von Leyden.« Er drehte sich nach Heinrich-Casper um. Himmel, sein Gesichtsausdruck! Warum hasste dieser Mann ihn? Und warum war ihm nie aufgefallen, dass dieser Mann ihn hasste? »Sie haben diese Leute eingeladen, von Leyden. Sie und Ihre Mutter! Fremde Leute! Uns haben Sie nicht eingeladen!« Heinrich-Casper begann zu begreifen. »Auch hier!« Der Koch deutete auf das Hotel Lang, das jetzt links vorbei glitt. »Vier Amerikaner mit Partnerinnen, ein 62
kanadisches Paar, drei Paare aus Schottland. Morgen sollen sie in den Bunker einziehen, nicht wahr, von Leyden? Und in sämtlichen Hotels des Ahrtals sitzen sie, Ihre Auserwählten. Fremde Leute!« Der Mann wurde lauter und lauter. »Fast vierhundert Fremde, von Leyden!« Sonnenfelder packte ihn am Krawattenknoten und riss ihn zwischen Fahrer- und Beifahrersitz. »Keiner unter zwanzig und keiner über fünfundvierzig ! Außer Ihrer Mutter und Ihrem Sohn, von Leyden!« Er schrie. »Was für ein gottverdammtes Spiel!« »Lass ihn.« Der Ortsvorsteher legte seine Hand auf Sonnenfelders Arm. Der Koch ließ von Heinrich-Casper ab. Sie fuhren zum Ort hinaus Richtung Dernau. Eine Zeitlang schwiegen die Männer. Heinrich-Caspers Mund war trocken, seine Kehle wie zugeschnürt. Unwillkürlich tastete er unter seinen Pelzmantel und über seine Hemdtasche. Die Minidisk steckte noch dort, wenigstens die hatte Kupfer ihm gelassen. »Wie viele ihrer vierhundert Gäste befinden sich bereits in der Bunkeranlage?«, fragte Bergmann. Im Rückspiegel begegneten sich ihre Blicke. Heinrich-Casper antwortete nicht. »Sie bringen täglich mindestens ein Paar zum Jagdschloss hinauf, manchmal zwei oder drei«, sagte der Polizist zu seiner Linken. »Seit von Regierungsseite keine Wahrscheinlichkeitsrechnungen mehr veröffentlicht werden, seit Jahresbeginn ungefähr also, stimmt's?« Heinrich-Casper nickte. »Wir beobachten das Schloss. Die Leute hatten ziemlich viel Gepäck bei sich, riesige Koffer und eine Menge Taschen.« Der Mann nahm die Pistole von Heinrich-Caspers Schläfe, bohrte sie ihm dafür in die Rippen. »Keines der Paare kam je zurück. Es müssten etwa neunzig Leute sein, die sich inzwischen unter den Weinbergen eingenistet haben.« Heinrich-Casper schwieg. Er tastete nach dem Satellitentelefon, das der Ortsvorsteher übersehen hatte. Es steckte in einer Gürteltasche, und die Gürteltasche hing unter 63
dem Jackett an seiner Hüfte. »Sie reden besser, Herr von Leyden«, sagte der Ortsvorsteher in einer Seelenruhe, die Heinrich-Casper frösteln ließ. »Sonst müssten wir Herrn Sonnenfelder bitten, seinen Ärger etwas handfester zum Ausdruck zu bringen.« »Sie... Sie drohen mir...?« Endlich erwischte er das Gerät, konnte es aus der Tasche ziehen, schaltete es ein. »Sie wagen es tatsächlich mir zu drohen, Kupfer?« Mit der Fingerkuppe ertastete er die 2, den Code für die Mobiltelefonnummer seines Bruders. Er hielt sie gedrückt, bis das Gerät wählte. »Also, wie viele sind schon unten?«, fuhr der Polizist ihn von der Seite an. Heinrich-Casper riss das Satellitentelefon unter seinem Mantel heraus. »Sie haben mich gekidnappt, Pascal. Kupfer, Bergmann, Sonnenfelder...!« Der Ortsvorsteher versuchte ihm das Gerät zu entwinden. »Sie wollen den Bunker...« Der Polizist schlug ihm den Pistolenknauf in den Nacken. Einmal, zweimal, wieder und wieder – bis Heinrich-Casper von Leyden das Bewusstsein verlor... * Aus den fragmentarischen Aufzeichnungen Franz-Gustav von Leydens ... eine halbe Stunde noch, dann kann ich die Blutkultur aus dem Autoklav holen. Eine halbe Stunde noch, Himmel über Köln! Wenn ich Erreger finde...! Wenn ich mir eine Infektion gefangen habe, dann geb ich mir den Laser, so viel ist klar... Wo war ich stehen geblieben? Verdammte Blackouts! Wenigstens die Kopfschmerzen habe ich einigermaßen im Griff, werfe ja auch Acetylsalicylsäure ein wie andere Leute Traubenzucker... muss aufpassen wegen der Nieren... Was wollte ich erzählen? Richtig, die Amazonen... Ich war also im Cockpit des Panzers und habe sie über die 64
Außenkameras beobachtet. Sie zogen Leichen aus dem Transportraum! Es waren einige ihrer gefallenen Schwestern; ich erkannte es an den Lederharnischen. Dass sie so viele gewesen sind, war mir vorher gar nicht aufgefallen. Sie verteilten die Leichen; einige schleppten sie außer Sichtweite der Kameras, einige legten sie auf den Weg. Verteilten sie sie nach einem bestimmten System? Ich kann mich nicht erinnern. Wieso erinnere ich mich so schlecht? Ist doch erst zwei Wochen her! Aunaara, die Anführerin, stand direkt vor einem der Objektive, ohne es zu bemerken. Ich konnte sie klar und deutlich sehen. Sie trug eine Art Kopfschmuck, und sie schien zu lauschen, bevor sie ihre Anweisungen gab. Was sie sagte, konnte ich nicht verstehen. Besser gesagt: Ich verstand überhaupt nichts mehr. Das alles wurde mir langsam unheimlich. Dazu die Schmerzen und das Fieber, die Angst vor einer Infektion... ich weiß nicht, welcher Teufel mich geritten hat, aber ich beschloss mich abzusetzen. Dann, als ich den Panzer starten wollte, die nächste Merkwürdigkeit: Die Starterplatine fehlte. Jemand hatte das Paneel geöffnet und sie herausgezogen! Aber wer? Die Amazonen? Die hatten doch keine Ahnung von Technik! War vielleicht ein überlebender Russe an Bord, der auf seine Chance lauerte? Ich dachte nicht lange darüber nach – das konnte ich gar nicht –, sondern will durch die offene Luke in den Wald fliehen. Da springt mich die kleine Blonde an und klammert sich an mir fest. Ich denke schon, jetzt brüllt sie den ganzen Amazonentrupp zusammen, aber sie blickt mich nur flehend an und flüstert immer wieder »Mitnahm! Mitnahm!« Ihre ersten halbwegs verständlichen Worte übrigens. Ich hatte keine Wahl – in ihren Augen stand die nackte Panik. Irgendwas machte ihr eine höllische Angst. 65
Keine der Frauen bemerkte uns, als wir durch das offene Schott und zwischen die Bäume huschten. Schnell hatten wir drei-, vierhundert Meter zwischen uns und den Panzer gebracht. Aber dann gerieten wir vom Regen in die Traufe. Plötzlich stehen diese beiden fetten Rottmards auf dem Pfad und fauchen uns ihren aasigen Atem entgegen. Ich hatte zu dieser Zeit mit heftigen Kopfschmerzen zu kämpfen, wie gesagt, und mit dem einen oder anderen Blackout ebenfalls, aber in diesem Augenblick reagierte ich so schnell, wie ein Marienthaler Jäger zu reagieren hat: Ich reiße mein Waffe hoch und drücke ab. Ein Rottmard wälzt sich jaulend und brennend im Farn, der andere flieht in den Wald. Feuer können sie nicht leiden, die Biester. Wir laufen also weiter, schneller und schneller. Die kleine Blonde klammert sich an meinem Arm fest wie ein Kindchen und jammert fast ununterbrochen. Ich verstehe kein Wort. Plötzlich versink ich im Schlamm und höre um mich herum das Gebrüll einer ganzen Rottmardhorde. Die Angst lähmt mich, der Morast blubbert mir schon am Bauch. Die Kleine schreit entsetzlich, mir gellen die Ohren. Sie streckt mir die Arme entgegen, ich packe sie, lasse mich aus dem Schlamm ziehen. Aber wir saßen in der Falle. Hilfe konnten wir uns kaum erhoffen – oder hatten die Amazonen die Schreie gehört? Die Amazonen – wer waren sie wirklich? Warum hatten sie die Leichen ihrer Kameradinnen in der Gegend verteilt? Wer hatte den Panzer lahm gelegt? Wovor hatte die Kleine solche Angst...? Die Fragen schwirrten in meinem Kopf herum, und es gelang mir nicht mehr, auch nur eine davon zu greifen. Ich war wie betäubt von dem Nebel, der zu dieser Zeit bereits in meinem Hirn herrschte... Der lichtete sich übrigens erst, als ich zwei Tage später in meine Wohnzelle im Marienthaler Bunker zurückkehrte und 66
aus lauter Verzweiflung anfing, Acetylsalicylsäure zu schlucken... Moment mal, da kommt mir ein Gedanke: Die Acetylsalicylsäure – keiner der anderen nimmt sie ein, so viel ich weiß, auch dieser Fremde nicht. Die Frauen nicht, weil die Amazonen sie im Schultrakt festhalten – keine Ahnung, warum –, und die Männer nicht, weil dieser Wirkstoff kaum noch in Privatbesitz sein dürfte. Mit den Vorräten habe ich mich hier im Labor eingeschlossen. Es hat mich allerdings niemand nach dem Präparat gefragt, nicht einmal die Kollegen aus der medizinischen Fraktion. Komisch. Vielleicht haben sie keine Kopfschmerzen. Aber dass sie unter Blackouts leiden, weiß ich genau. Die meisten tappen herum wie mondsüchtige Kinder. Manche wissen nicht einmal mehr ihre Namen. Im Vergleich zu dem Jungen oder zur Königin geht es mir richtig gut. Sollte das an der Acetylsalicylsäure liegen? Heiliges Rhinozeros – ich muss unbedingt nach der Blutkultur sehen; acht Minuten noch... * Marienthal, Mitte Januar 2012 Pascal von Leyden hing in seinem Fernsehsessel, als sein Handy läutete. Die Cognacflasche auf dem Tisch war noch nicht einmal halb leer heute. Der Bildschirm füllte den größten Teil der Wohnzimmerwand aus. Nur drei Sender arbeiteten noch: ein Nachrichtensender, ein Kultursender – irgendwelche Musiker und Poeten zelebrierten die letzten Tage der Menschheit – und das Zweite Deutsche Fernsehen. Einige Aufrechte in Mainz hatten beschlossen, bis zum letzten Augenblick zu senden; bis zum 8. Februar gegen 17 Uhr. Am unteren Rand des Bildschirm lief der Countdown: 491 Stunden, 16 Minuten, 29 Sekunden. Die Zahl erschien Pascal 67
von Leyden unwirklich. Vierhunderteinundneunzig Stunden bis zur Apokalypse – gab es wirklich Leute, die das fassen konnten? Über der Fußzeile mit der Zeitangabe sah Pascal Großraumflugzeuge in Köln, Moskau und Berlin starten und in Sydney, Montreal und Johannesburg landen. Flüchtlinge auf dem Weg von einer zukünftigen Hölle in die andere. Eine aktuelle Nachrichtensendung vermutlich; die Schnitte waren ziemlich hart und Pascals Schädel angenehm schwer. Autokolonnen, Hunderte von Kilometern lang, krochen jetzt über den Monitor oder vielmehr auf europäischen Fernstraßen in alle Himmelsrichtungen. NATO-Konvois schnitten ihnen den Weg ab, versuchten die Flüchtlingsströme in eine andere Richtung umzuleiten, nach Westen oder nach Süden, irgendwo hin, wo sie genauso ungeschützt dem Kometen ausgeliefert sein würden wie an den Orten zu denen sie auf Grund irgendeines Gerüchtes, irgendeiner im Fernsehen aufgeschnappter Expertenmeinung flüchten wollten. Wieder Schnitt, und in der nächsten Szene kesselten Schützenpanzer festungsartige Parlamentsgebäude, Rundfunkanstalten oder Lebensmittelfabriken ein, wo sich Rebellen verschanzt hatten und Bunkerplätze und Nahrung verlangten. Die Welt versank im Chaos, der Schatten des Kometen verdunkelte sie bereits. Und jetzt fiel er auch auf ihn, jetzt, in genau diesem Augenblick. »Von Leyden?« Pascal drückte das Handy ans Ohr; nur um es schnell wieder weg zu halten. Eine Stimme schrie, zu undeutlich, um alles zu verstehen. Drei Worte aber hörte er deutlich heraus: gekidnappt, Bunker, und einen Namen: Sonnenfelder. Dann ein dumpfer Knall, dann Schweigen. Pascal war schlagartig nüchtern. Er sprang auf, stieß gegen den Tisch, die Flasche fiel hinunter, lief aus. Der Cognac versickerte im schweren Teppich. Die Stimme seines Bruders, 68
ganz sicher. Und daran, dass Heinrich-Casper sich in höchster Not befand, gab es genauso wenig Zweifel. Pascal versuchte die verschiedenen Mobiltelefone seines Bruders zu erreichen. Nichts. Er rief bei seiner Mutter an – keiner nahm ab. Er wählte die Nummer seiner Frau – der Anrufbeantworter meldete sich. Er wählte das Handy seines Sohnes an – nicht zu erreichen. Das war nicht normal. Pascal versuchte der Wahrheit ins Auge zu sehen. Er lief aus dem Wohnzimmer. Zurück blieb der Duft von Cognac, und unter der vom ZDF übertragenen Ansprache des Papstes eine Fußzeile: 491 Stunden, 8 Minuten, 52 Sekunden... Im oberen Flur riss er den Waffenschrank auf, stopfte sich die Taschen des Lodenmantels voll mit Munition, schulterte zwei Jagdflinten. Irgendwas geschah im Bunker. Oder im Jagdschloss? Hinunter in die Garage. Die Reifen des Jaguars drehten durch, als er startete. Mit einem Satz sprang der Wagen unter dem noch nicht vollständig geöffneten Hubtor auf die verschneite Einfahrt hinaus, pflügte über das Grundstück durch den Schnee und hinaus auf die Straße. Pascal von Leyden wohnte mit seiner Familie am Südrand von Bonn. Das Büro seiner Frau lag in Honnef. Sie hatte sich dort mit ein paar alten Bekannten wegen Tauschgeschäften verabredet. Hanns-Conradin wollte sie begleiten. Fünfzehn Minuten später sah er Bettys Auto eingeschneit vor dem Büro stehen. Das Büro war nicht abgeschlossen, aber Pascal fand weder seine Frau, noch seinen Stiefsohn. Etwas Schlimmes war geschehen, keine Frage... Zurück ins Auto. Über die B 42 fuhr er am Rheinufer entlang nach Süden. Es schneite, die Bundesstraße war nur unvollständig geräumt. Kaum Verkehr in der Gegend, komisch eigentlich, musste mit der Treibstoffknappheit zusammenhängen. In Linz erwischte er die Fähre – gerade noch so. Über die 266 fuhr er durch Bad Neuenahr und auf der 69
267 dann ins Ahrtal hinein. Wegen des Schnees kam er nur langsam voran. Eigentlich wollte er über Dernau nach Altenahr ins Büro seines Bruders fahren, doch eine innere Stimme befahl ihm, zuerst vor der Villa seiner Mutter zu halten. Er hatte sie zuletzt vor zwei Wochen gesehen, als er die medizintechnische Ausstattung einer seiner Kurkliniken in den Bunker verfrachten ließ. Die Haustür stand offen, im Haus hielt sich keine Menschenseele auf. War das normal? Nein, war es nicht. Die Villa Margot von Leydens lag ein wenig erhöht am Hang zwischen den Weinbergen, und als Pascal von Leyden durch den knöchelhohen Schnee auf der Terrasse stapfte, sah er unter dem Schleier der Schneeflocken etwa hundert Menschen durch die Hauptstraße des kleinen Winzerdorfes ziehen. Sie schleppten Koffer, schoben Kinder- oder überladene Einkaufswagen und zogen Trolleys, Leiterwagen oder einachsige Fahrradanhänger hinter sich her. Pascal von Leyden erinnerte sich an die Flüchtlingsströme, die er im ZDF gesehen hatte. Er fragte sich, zu welchem Ziel die Flüchtlinge dort unten unterwegs waren. Verwundert beobachtete er, wie die ersten den Ortsausgang erreichten. Sein Blick blieb am gut geräumten Asphaltweg hängen, der wenige hundert Meter nach dem Ortsausgang in die Landstraße einmündete und sich von dort durch die Weinberge bis hinauf zum Jagdschloss wand. Und plötzlich war ihm alles klar. Pascal hastete aus dem Haus, sprang in seine Luxuslimousine und fuhr in den Ort hinunter. Sein rechter Fuß zuckte zwischen Gaspedal und Bremse hin und her, und seine Faust klopfte unablässig auf die Hupe, während er seinen Jaguar durch die dick vermummten Menschenmassen auf der Hauptstraße steuerte. Bereitwillig machten sie ihm Platz. Als er die Spitze der Kolonne hinter sich hatte, gab er Gas. An der Einmündung des Asphaltweges riss er das Steuer herum. Eine 70
Schneewolke erhob sich, der Jaguar drehte sich einmal um sich selbst, rollte dann etwa zwanzig Meter den Weg hinauf. Quer zur Zufahrtsstraße kam er zum Stehen. Pascal von Leyden sprang aus dem Wagen, holte beide Flinten aus dem Fond und ging hinter dem Jaguar in Stellung. Ein Gewehr legte er geladen auf das Wagendach, mit dem zweiten zielte er auf die Vorhut der Menschenmenge. Jetzt erst fiel ihm auf, dass er es in erster Linie mit Frauen und Kindern zu tun hatte. Sie blieben stehen, als sie ihn hinter seinem Wagen und seinem Gewehr entdeckten. »Verschwindet!«, schrie er. »Das ist ein Privatweg, er führt durch Privatbesitz auf ein Privatgrundstück! Ihr habt hier nichts verloren, rein gar nichts, ist das klar!?« Die Kolonne stockte. Dutzende Menschen sammelten sich vor der Einmündung. Schnee bedeckte ihre Schultern und Köpfe. Ein Hund bellte, Kinder weinten, ein Halbwüchsiger schrie: »Zündet den Bonzenwagen an!« Die Frauen aber schwiegen, beäugten Pascal nur feindselig. Nichts tat sich. Plötzlich hörte er hinter sich den Schnee unter Schritten knirschen. Er fuhr herum – Menschen wankten in kleinen Gruppen den Asphaltweg herunter. Manche bluteten aus Mund oder Nase, zwei wurden von den anderen getragen, viele waren unvollständig bekleidet, und alle wirkten sie gehetzt, verstört und aufgelöst. Pascal erkannte einen Archäologieprofessor aus Guatemala, eine Psychotherapeutin aus San Francisco und die rothaarige Astrologin aus Köln, die schon seit Jahren im Haus seiner Mutter verkehrte. Leute, denen seine Mutter Asyl in der Bunkeranlage gewährt hatte, sogenannte »Berufene«. Seit Jahresbeginn zogen täglich ein paar dort unten ein. Die Kölnerin warf sich an Pascals Brust und weinte. »Was ist passiert?«, fragte er. Sie heulte auf, ein Weinkrampf schüttelte sie. Wieder hörte er Schritte, diesmal von der Landstraße her. Er 71
fuhr herum – eine Gruppe Halbwüchsiger stürmte die Einmündung des Asphaltweges hinauf; Steine flogen, knallten aufs Autodach, auf die Windschutzscheibe. Pascal schoss in die Luft. Die Gruppe der Angreifer stockte, wich zurück. Die Psychotherapeutin aus San Francisco schnappte sich das zweite Gewehr, legte an, schoss erst auf die Jugendlichen, dann in die Menge der Marienthaler und Dernauer Familien. Schreiend liefen die Menschen zurück in den Ort. Sechs Tote ließen sie zurück. Rote Flecken breiteten sich im Schnee aus. »Himmel!«, stöhnte Pascal. »Was geschieht hier?« Er stützte sich auf den Wagen. Neben ihm sammelten sich die Esoteriker. Das Auto schien zu schwanken, die Weinberge fuhren Karussell, er hörte Wortfetzen auf Französisch, Flämisch, Englisch und Norwegisch. »Was macht ihr hier?« Mit dem Gewehr deutete er zum Jagdschloss hinauf. »Was, um alles in der Welt, ist da oben passiert?« * Südlich der Ruinen von Bad Neuenahr, Anfang Mai 2520 Das Biest duckte sich zum Sprung. Schlamm triefte von seiner lederhäutigen Kehle, klebte an seinen stämmigen Läufen. Hille und Conrad von Leyden wichen zurück, Honnes ließ die Klinge fallen und riss seinen Kurzspeer aus der Rückenschlaufe. Das Tier stank nach Aas. Wo kein Dreck seinen Körper bedeckte, sah man dunkelgraue, grobporige Haut. Fell wucherte nur an den muskulösen Oberschenkeln, einem Teil des Bauches und am Schädel. Sein Schweif war so dick wie ein Frauenarm und länger als ein Speer. Rulfan legte den Zeigefinger auf den Auslöser seines LPGewehrs. »Zur Seite, Wulf! Hau ab!« Er konnte nicht schießen, weil der Lupa zwischen ihm und der Bestie stand. Den Kopf gesenkt, das Rückenfell gesträubt und die Ohren angelegt, 72
knurrte er den riesigen Hundemutanten an. Wulf schien sich in den Kopf gesetzt zu haben, seinen Herrn und dessen Begleiter um jeden Preis zu beschützen. Und als das Biest ein dunkles Grollen hören ließ und näher kam, duckte er sich – und sprang zu Rulfans Entsetzen dem Biest an die Kehle. Das warf einmal den Schädel in den Nacken. Wulf überschlug sich und krachte ins Unterholz. Rulfan drückte auf den Auslöser. Der feine Ziellaserstrahl fand die Brust des Hundemutanten, doch im gleichen Moment machte die Bestie einen Satz zur Seite und sprang Honnes an. Rulfans Laserkaskade erwischte immerhin die linke hintere Flanke. Das schwärzliche Oberschenkelgewebe platzte auf; Blut, Sehnen und Muskelfasern warfen Blasen. Das Biest, groß wie ein junger Wakuda-Stier, prallte an der Stelle auf, an der eben noch Honnes gestanden hatte. Der aber lag plötzlich am Rand des Pfades im Farn, und Hille schrie in Todesangst, denn sie war gestolpert, und nurmehr sechs Schritte trennten sie noch von den Fängen der Kreatur. Doch Honnes hatte seinen Kurzspeer nicht mit ins Gestrüpp genommen! Blitzschnell hatte er das stumpfe Ende in den Boden gerammt und sich fast zeitgleich zur Seite gerollt. Das Biest röhrte, als sei es in kochendes Wasser gesprungen, bäumte sich auf, tanzte ein paar Mal um sich selbst und streckte dabei seinen Schweif fast waagrecht aus. Endlich kippte es zur Seite, zuckte und drückte dabei die durchbohrte Brust heraus, als wollte es den Speer erbrechen. Rulfans Laserkaskade traf seinen Schädel. Das Monstrum erschlaffte. Honnes rappelte sich hoch und riss dem Tier den Spieß aus dem Herzen. Er atmete schwer. Entsetzen verzerrte seine Miene. Conrad von Leyden bückte sich nach Hille. Der Lupa hinkte winselnd aus dem Wald. Rulfan drehte sich blitzschnell und zielte in alle Richtungen. Nichts zu sehen. »Weg hier!«, zischte der junge von Leyden. »Wir müssen 73
verschwinden.« Er fasste die Dysdoorerin unter der Achsel. Und dann, wie das Grollen eines Vulkans kurz vor dem Ausbruch, hörten sie es wieder: ein überirdisch tiefes Knurren. Eiskalt perle es Rulfan über Rücken und Schultern. »Es kommt von da!« Conrad von Leyden deutete mit einer seiner Laserpistolen in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Es sind Rottmards, eine ganze Meute!« »Zu viele, um sie alle abzuwehren!« krächzte Honnes. »Wir sollten eine Zuflucht finden, und das schnell!« Wie ein Mann rannten sie los, hetzten hangabwärts den Pfad nach Westen hinunter – in die Richtung, aus der der Hundemutant gekommen war. Sie konnten nur hoffen, dass dort nicht ebenfalls der Tod auf sie lauerte. Rulfan übernahm die Rückendeckung, zielte immer wieder nach hinten und kam deshalb nicht so schnell voran wie die anderen. Dann stolperte der Albino über einen weiteren Torso. Er schlug lang hin, erkannte im Herumrollen einen Stachelpanzer, sah Knochen, roch Verwesung. Das dumpfe Grollen war noch näher gekommen. Wulf bellte und packte ihn mit den Fängen an seinem Ledermantel, als wollte er ihn mit sich zerren. Zwei Rottmards tauchten auf dem Pfad auf – nur zwei, Wudan sei Dank! In langen Sätzen sprangen sie auf Rulfan zu. Er jagte ihnen eine Laserkaskade nach der anderen entgegen – bis sie sich brennend im Unterholz wälzten. Rulfan sprang hoch, spurtete seinem Lupa hinterher. Wo waren die anderen drei? Er konnte sie nirgends mehr entdecken. Offenbar hatten sie seinen Sturz gar nicht mitbekommen. Das Hecheln des Lupa, sein eigenes Keuchen, das Gebrüll hinter ihm und das dumpfe Stampfen seiner eigenen Schritte füllten Rulfans Bewusstsein aus. Auf einmal ertönte ein lang anhaltender Schrei, spitz und hoch, als wollte er Glas zersplittern. Hille – war es Hille, die da 74
schrie? Gleichzeitig gab der Boden unter ihm nach. Vor ihm versank Wulf bis zum Bauch in Schlamm, und zehn oder zwanzig Schritten entfernt weitete sich der Pfad zu einer nur niedrig bewachsenen Kuhle: Conrad von Leyden stand bis zu den Hüften im Morast und hielt die schreiende Hille umklammert. Seine Laserpistolen schien er verloren zu haben. Am Rande der Kuhle, durch etliche dünne Bäumchen verdeckt, senkten sieben oder acht Rottmards ihre quadratischen Schädel. Sie machten Anstalten in den Schlamm hinein zu stapfen. Zwei weitere Bestien zerrten am Körper eines blonden Mädchens. Im Gegensatz zu den anderen Leichen konnte sie noch nicht lange tot sein. Wo aber war Honnes? »Honnes!«, brüllte Rulfan. Angst um den Freund schnürte ihm den Brustkorb zusammen. »Honnes...!« »Keine Chance!«, rief eine Stimme irgendwo im Geäst über Rulfan. »Die Biester haben ihn in den Wald gehetzt! Er hat ebenso wenig eine Chance wie einer von uns!« Der Albino hob den Kopf, suchte die Baumkronen ab – und wurde fündig. Im Geäst einer Eiche am Rande der Morastkuhle hockte ein Mann in einem schlammverschmierten Schutzanzug mit geschlossenem Helm! Er hielt eine ebenfalls verdreckte Faustfeuerwaffe fest. »Sie machen uns fertig!«, keuchte Conrad von Leyden. »Sie werden uns zerreißen! Schieß doch, Franz-Gustav, schieß endlich!« Der Angesprochene oben im Baum kniff die Lider zusammen, und eine steile Falte erschien zwischen seinen haarlosen Brauen. Er musterte Conrad von Leyden, als wäre er kurzsichtig, oder als würde es ihm Schmerzen bereiten. »Bist du das, Conrad?« »Ja, zum Teufel! Schieß endlich!« »Oh. Ich hatte dich gar nicht –« »Schieß, verdammt noch mal!«, kreischte von Leyden. 75
Der Techno hob seine Waffe. »Tut mir Leid, das Scheißding ist mit mir im Schlamm versunken. Funktioniert nicht mehr.« Er zielte auf die Hunde, drückte ein paarmal ab. Nichts tat sich. Dafür jagte Rulfan, der sich endlich zu einer günstigen Schussposition durchgekämpft hatte, ein paar Laserkaskaden auf die Bestien, die sich an das Paar im Schlammloch heranpirschte. Zwei traf er, die anderen wichen zurück und knurrten böse. Es knirschte hässlich, als die beiden Rottmards am Rande der Kuhle den Mädchenkörper zerrissen. Rulfan sah die Fetzen eines Lederharnischs davon wirbeln, »Das heilige Rhinozeros soll euch holen!«, brüllte der Techno auf dem Baum. Er packte seinen unbrauchbaren Strahler am Lauf, holte aus und schleuderte ihn auf die Bestien. Eine traf er am Nacken. Das Biest schüttelte sich nur. Zwischen seinen Fängen splitterten Knochen. Rulfan war der Einzige, der noch über eine funktionierende Waffe verfügte. Wo steckte nur Honnes...?! Die Angst um den Kameraden half jetzt nicht weiter. Rulfan zwang sich zur Ruhe. Im Sekundentakt jagte er den Hundemutanten seine Laserschüsse entgegen. Doch für jeden, der sterbend zusammenbrach, tauchten zwei neue aus dem Wald auf... * Marienthal, Mitte Januar 2012 Irgendjemand leerte einen Eimer eiskalten Wassers über ihm aus. Er hustete, schüttelte sich, riss die Augen auf. Über ihm schwebten die Gesichter von Sonnenfelder, Kupfer und Bergmann. Heinrich-Casper hob den Kopf: Bewaffnete Männer standen vor chromblitzenden Wänden – Weinbauern aus Dernau, Marienthal und Altenahr vor allem. Auch einen Angestellten seiner Hausbank erkannte er, und den Metzger. 76
Alle schwiegen sie. Ja, es war so still, dass man Angst kriegen konnte. Endlich begriff Heinrich-Casper, wo er sich befand. Er rappelte sich hoch. Knie und Nacken taten ihm weh. Als er aufsah, traf sich sein Blick mit dem seiner Mutter. »Mama...«, entfuhr es ihm. Sie trug Handschellen. Rechts von ihr, ebenfalls in Handschellen, hockte seine Exfrau Betty von Leyden. Ihre Unterlippe war aufgeplatzt, eine Blutkruste zog sich über ihr Kinn. Sein Sohn Hanns-Conradin lehnte hinter ihr an der Wand. Sein linkes Auge war zugeschwollen, Blut tropfte aus seiner Nase auf seine gefesselten Hände. In genau dieser Sekunde machte es Klick in Heinrich-Casper von Leydens Hirn. Es war, als würde er aus dem Film herausfallen, nur um festzustellen, dass Film und Wirklichkeit identisch waren. »Ihr habt ihn geschlagen...«, flüsterte er. »Der Bursche wollte sich keine Handschellen anlegen lassen.« Ein zynisches Grinsen flog über die Miene des Polizisten. »Widerstand gegen die Staatsgewalt.« »Er ist noch nicht mal zwölf Jahre alt...« »Kommen wir zum Punkt, von Leyden.« Kupfer trat vor ihn. »Wir gehen jetzt zusammen in die Anlage und besichtigen sie. Wir müssen uns ein Bild von der technischen Ausstattung machen, von der Aufnahmekapazität, den Werkstätten, Lagermöglichkeiten und den Vorräten. Wir rechnen damit, uns gütig mit Ihnen einigen zu können. Die Fremden allerdings müssen wieder raus.« Er reichte ihm Notizblock und Stift. »Also, von Leyden, den Code bitte.« Heinrich-Casper schob den Ortsvorsteher zur Seite, ging zu seinem Sohn, kniete vor ihm nieder und nahm ihn in die Arme. Der Elfjährige drängte sich an seine Brust und begann zu schluchzen. »Kein Wort, Heinrich-Casper!«, zischte Margot von Leyden. »Für den Pöbel ist kein Platz in deinem Bunker. Du verrätst nichts, Junge...!« 77
Sonnenfelder wirbelte herum, griff in Margot von Leydens weißes Haar, riss sie vom Stuhl und presste ihr einen Revolver gegen die Schläfe. »Den Code, oder ich knall die Alte ab!« Zornesröte verdunkelte sein Gesicht. »Nichts verrätst du, Junge, keine einzige Zahl!« Margot schrie. Nicht die Spur von Angst färbte ihre Stimme. Ihre giftigen Blicke durchbohrten den Koch. »Keiner dieser Trottel wird deinen Bunker betreten...!« Heinrich-Casper küsste seinen Sohn, flüsterte ihm ins Ohr und wischte ihm das Blut mit seiner Krawatte von Mund und Nase. Danach stand er auf, sah zuerst seine Exfrau an und dann die Männer, einen nach dem anderen; nur den Blickkontakt mit seiner Mutter mied er. »Sei ein Mann, Heinrich-Casper!«, zeterte die. »Sei einmal ein Mann! Der Pöbel ist nicht berufen! Wir diktieren ihnen die Bedingungen! Wir sagen, was...!« Sonnenfelder riss an ihrem Haar, Margot schrie vor Schmerz. »Lassen Sie meine Mutter los, Herr Sonnenfelder.« Heinrich-Caspers Stimme klang so beunruhigend gelassen, dass der Koch verblüfft gehorchte. »Ich muss mit Ihnen unter vier Augen sprechen, Herr Kupfer«, wandte Heinrich-Casper sich an den Ortsvorsteher. Die beiden Männer zogen sich eine Ecke des großen Raumes zurück. Dort begann Heinrich-Casper zu flüstern. Kupfer nickte meistens nur, erwiderte nur wenige Worte. Zwei, höchstens drei Minuten später berührte HeinrichCasper von Leyden die Metallwand. Die Tastatur kippte heraus, er tippte den Code ein. »Was tust du da, Junge...?!«, schrie seine Mutter. Kupfer trat in die Mitte des Raumes. »Ruf deine Frau an, Achim«, wandte er sich an den Gutsverwalter. »Unsere Familien sollen nach und nach kommen.« Und an den Koch und die Weinbauern gewandt: »Geht hinein und treibt die Fremden heraus.« Die Lifttüren schoben sich auseinander. Fast ehrfürchtig betraten die ersten der Männer die Aufzüge. 78
»Und jetzt zu Herrn von Leydens Bedingungen«, fuhr der Ortsvorsteher fort. Er deutete auf Margot von Leyden. »Begleitet die alte Dame in ihre Villa, und auf dem Rückweg bringt die beiden ausgestopften Nashörner aus dem Foyer des Jagdschlosses mit nach unten...« Betty von Leyden machte große Augen, und Margot begann in höchsten Tönen zu kreischen. Der Polizist und zwei weitere Männer packten sie und zerrten sie zur Treppe. »Tut mir Leid, Mama.« Heinrich-Casper nahm die Hand seines Sohnes und schob ihn samt seiner Exfrau in einen der Aufzüge. »Du bist schon alt, weißt du?« Er wandte nur den Kopf ein wenig über die Schulter, sah sie aber nicht an. »Es gibt Menschen hier, die brauchen den Platz in meinem Bunker dringender...« * Südlich der Ruinen von Bad Neuenahr, Anfang Mai 2520 Fünf der Bestien zuckten im Schlamm und im Unterholz, getroffen von Rulfans Laserstrahlen, da traten die anderen den Rückzug an und trollten sich zwischen brennenden Büschen in den Wald. »Sie geben auf!« Rulfan wühlte sich zum Rand des Morasts, wo Wulf auf ihn wartete. »Raus jetzt aus dem Pfuhl, wir müssen weg hier!« Conrad von Leyden reagierte überhaupt nicht, und der Techno, den er Franz-Gustav genannt hatte, machte keine Anstalten seinen Baum zu verlassen. »Sie kennen die Rottmards nicht, was?« Der Fremde grinste müde unter seiner Helmkugel. »Klettern Sie auf den nächstbesten Baum, Mann! Möglichst nicht auf meinen, dann steigt die Wahrscheinlichkeit ein wenig, dass einer von uns beiden überlebt.« »Was reden Sie? Kommen Sie endlich...!« Die Waffe im 79
Anschlag, drehte Rulfan sich um sich selbst. »Wer ist der Typ, Conrad?« »Franz-Gustav von Leyden ist mein Onkel. Und er hat Recht«, sagte Conrad von Leyden. »Die Rottmards geben niemals auf, sie sammeln sich nur. Wenn dreißig über uns herfallen, töten wir eventuell zehn, und die restlichen zwanzig teilen sich unser Fleisch.« »Sie vermehren sich wie die Fliegen«, sagte der Mann auf dem Baum, »und sie haben sich im Lauf der Jahre auf unsere Waffen eingestellt.« Er deutete auf eine Eiche, deren unteres Geäst bis in den Schlammtümpel reichte. »Klettern Sie da rauf, und beten Sie, dass Sie ein bisschen mehr Glück haben als Conrad und diese entzückende Dame. Und Ihr Kumpel.« »Ich will nicht sterben...!« Hille stimmte wieder ihr hysterisches Geschrei an. »Hilf mir, Rulfan von Coellen.« Sie kämpfte sich durch den hüfttiefen Schlamm, streckte beide Arme nach dem Albino aus. Rulfan watete ihr entgegen, packte sie bei den Handgelenken und zog sie an den Rand der Morastkuhle. »Jetzt du, Conrad! Komm her!« Im Wald brachen Äste, Laub raschelte. Von allen Seiten näherte es sich wieder, dieses tiefe Grollen. Und dann erschienen ihre eckigen, abscheulichen Lederschnauzen neben jedem Busch, in jedem Gestrüpp, zwischen den Eichen- und Buchenstämmen. »Heiliges Rhinozeros!«, ächzte der Mann auf dem Baum. »Sie haben uns eingekesselt!« Rulfan hielt sich zwar noch an seinem LP-Gewehr fest, aber etwas in ihm resignierte. Es war vorbei. Die Bestien pirschten sich mit gesenkten Schädeln und gefletschten Zähnen an die Kuhle heran. Waren es dreißig? Vierzig? Oder noch mehr? Rulfan zog die Schultern hoch, lehnte sich mit aller Kraft gegen die innere Lähmung auf. Statt die Bestien zu zählen, drehte er sich im Kreis, so weit es der Schlamm zuließ, und jagte einen Laserblitz nach dem anderen in das grausame Rund 80
aus Hundeschädeln. Das war für die Rottmards das Signal zum Angriff! Sechs, acht und mehr Bestien sprangen gleichzeitig in den Pfuhl. Hille schrie ihre Todesangst hinaus. Ein Schatten fiel auf Rulfan; instinktiv bog er sich zur Seite. Flüchten konnte er nicht in dem Morast. Wulf wollte seinen Herrn verteidigen, doch der massige Riesenhund begrub den kleineren Lupa einfach unter sich. Halb liegend zielte Rulfan auf den Rottmard. Etwas pfiff durch die Luft, und das Ende eines Hundeschwanzes schlug ihm das LP-Gewehr aus der Hand. Der Strahl fuhr in die Baumkronen, knapp an Franz-Gustav von Leyden vorbei. Vor Rulfan öffnete sich ein mit spitzen Zähnen bewehrter Rachen. Schleim triefte von schwarzen Lefzen und einer grauen Zunge, Aasgeruch wehte ihn an. Rulfan griff nach dem Kurzschwert an seiner Seite, hatte im Grunde aber schon resigniert. Vorbei, dachte er. Das also kommt vor dem nächsten Vollmond – nicht die Frau deines Lebens, sondern der Tod... * Marienthal, Mitte Januar 2012 »Wir brauchen Waffen!«, rief irgendwer auf Französisch. Pascal sah etliche Leute in ihre Handys blaffen, Wörter in allen möglichen Sprachen schwirrten ihm um die Ohren. Er starrte auf die Toten unten an der Einmündung in die Landstraße: die Körper einiger Halbwüchsiger, zweier Frauen und eines Kindes. Trotzdem kam er sich vor, als wäre er gestorben, als wäre eben ein Riss durch sein Leben gegangen. Für Sekunden kam der Rausch zurück, ihm wurde schwindlig. Er legte den Kopf auf das Wagendach und kämpfte gegen den Brechreiz an. Zwei Frauen redeten auf ihn ein, irgendeine slawische Sprache, er verstand kein Wort. Sein Handy läutete. Er drückte 81
es ans Ohr. »Bergmann hier. Sie machen einen Fehler, von Leyden!« Die Stimme des Gutsverwalters. »Es ist Platz genug für Ihre Familie und unsere Familien unter den Weinbergen. Schicken Sie die Fremden nach Hause, geben Sie den Weg für unsere Frauen und Kinder frei!« »Nach Hause?« Pascal brüllte ins Sprechteil. »Wissen Sie, was Sie da reden? Diese Leute haben kein Zuhause mehr, die wollen nur noch überleben, verdammt noch mal! Was soll ich denn tun!?« »Hör auf ihn, Pascal!« Die Stimme seines Bruders. »Ich habe mich entschieden, meinen Bunker für die Familien von Marienthal zu öffnen. Mutter habe ich nach Hause geschickt. Wir sollten nur Leute in einer gewissen Altersspanne nehmen...« »Wie bitte...?« Pascal war wie vor den Kopf gestoßen. Nur noch Krächzen entrang sich seiner Kehle. Plötzlich riss ihm jemand das Gerät aus der Hand und floh damit seitlich zwischen die kahlen Reben in den Schnee. Er war zu verblüfft, um der Frau folgen zu können. Pascal zündete sich einen Zigarillo an. Seine Hände zitterten. Die Leute bestürmten ihn mit Fragen. »Sagen Sie ihnen, die Einheimischen hätten den Bunker besetzt«, wandte er sich an die rothaarige Kölnerin. Er sank in den Fahrersitz, rauchte und registrierte wie durch einen Nebel, dass die siebzig oder achtzig Männer und Frauen rund um seinen Jaguar sich in Rage redeten. Eine halbe Stunde später fielen wieder Schüsse. Bewaffnete tauchten zwischen den Weinstöcken auf, nahmen Pascal und die aus dem Bunker vertriebenen Menschen unter Feuer. Die Weinbauern versuchten ihren Familien den Weg frei zu schießen. Pascal gelang es mit der Kölnerin und drei Holländerinnen in seinem Wagen zu fliehen, andere retteten sich in die Hotels der Nachbarorte zu den »Berufenen«, die dort auf die Zuteilung eines Bunkerplatzes warteten. Siebzehn 82
Menschen blieben tot oder sterbend an der Einmündung des Asphaltweges im Schnee liegen. So begann ein Krieg, der sich fast zwanzig Jahre hinziehen sollte. * Südlich der Ruinen von Bad Neuenahr, Anfang Mai 2520 Hille schrie, Conrad brüllte, Franz-Gustav von Leyden fluchte, und das Gewinsel des Lupa verlor sich irgendwo im Morast. Wie mein Leben, dachte Rulfan. Er bekam sein Schwert nicht richtig zu fassen, erwischte dafür mit der Rechten aber einen abgebrochenen Ast. Alle Selbstbeherrschung musste er aufbieten, um die innere Resignation zu besiegen. Er rammte den armdicken Holzprügel in den Rachen der Bestie. Die biss den Ast einfach durch, spie den Holzbrocken aus und setzte seine Pranke auf Rulfans Brust. Schleim triefte dem Albino ins Gesicht. Und plötzlich: Ein Laserstrahl fuhr dem schwarzen Ungetüm in die Flanke. Es krümmte sich, jaulte – und brach über Rulfan zusammen. Ihm blieb die Luft weg, er strampelte und bog sich, bis er endlich unter dem Tier hervor kriechen konnte. Auf einmal zischten viele Laserstrahlen über den Morasttümpel. Rulfan glaubte zu träumen: Frauenstimmen erfüllten plötzlich die Luft; aber keine, die hysterisch schrien oder panisch oder in Todesnot – nein, die hier schrien vor Wut! Der Albino begriff nicht, was geschah. Einem Reflex gehorchend wälzte er sich zur Seite, erreichte mit den Fingerspitzen das LP-Gewehr, bevor es versinken konnte, zog es an sich und jagte die tödliche Glut im Liegen nach rechts und links. Das Geschrei der Kriegerinnen steckte ihn an. Zwei Bestien hatten Hille gepackt, zerrten sie in den Wald. Noch bevor Rulfan die Hunde unter Feuer nehmen konnte, 83
wälzte einer sich bereits in Flammen und einen Augenblick später auch der andere. Und dann sah er sie zum ersten Mal – ein Lasergewehr in der Linken, ein Langschwert in der Rechten sprang sie aus der Deckung des Unterholzes. Ihr schwarzes Haar peitschte um ihre bleichen Wangen, als sie das Schwert in den noch zuckenden Leib eines ihrer Opfer trieb. Ein Lederharnisch bedeckte ihren Oberkörper zum Teil, gehörnte Schildplatten panzerten ihre Schultern und ihren Rücken. Außer dem Langschwert trug sie noch ein Kurzschwert am Hüftgurt. Die nackten Beine hatte sie sich mit Lederriemen umwickelt. Wie eine Rachegöttin ging sie auf die brennenden Rottmards los, die sich über Hille hermachen wollten. Und während immer mehr der Bestien in letzten Zuckungen lagen oder in den Tümpel sprangen, um ihr brennendes Fell zu löschen, tauchten auch immer mehr Amazonen auf. Alle waren sie ähnlich gepanzert und bewaffnet wie ihre Anführerin. »Da seid ihr ja endlich!«, rief der Techno in der Eichenkrone. »Gott sei Dank...!« Rulfan begriff nicht, dass die Kriegerinnen Laserwaffen besaßen, ja sogar mit ihnen umgehen konnten. Und doch war es so: Gut ein halbes Dutzend Barbarinnen beschossen die Bestien mit Hochenergie-Gewehren und droschen mit Schwertern oder Äxten auf sie ein. Minuten später war der Spuk vorbei. An die zwanzig tote oder sterbende Rottmards lagen im brennenden Unterholz oder versanken getroffen im Morast. Zwei Kriegerinnen fällten eine junge Buche und ließen sie quer über den Pfuhl fallen. Conrad packte das Geäst und zog sich aus dem Schlammloch. »Ihr kommt spät, aber gerade noch rechtzeitig.« FranzGustav von Leyden kletterte schwerfällig aus seinem Baum und ging neben der Leiche der blonden Kriegerin in die Hocke. »Jedenfalls was mich betrifft...« Er zog der Leiche eine Art Kette mit einem großen Anhänger über den Kopf, ein Amulett. 84
Rulfan kümmerte sich um Wulf. Der Lupa versuchte vergeblich auf die Beine zu kommen. Rulfan setzte sich neben ihn und untersuchte nacheinander alle seine Läufe. Dabei beobachtete er die Anführerin der Barbarinnen. Mit federnden Schritten lief sie zu dem Mann namens Franz-Gustav, warf einen Blick auf die Leiche ihrer Gefährtin und nahm ihm dann wie selbstverständlich das Amulett ab. »Es war dumm, fortzulaufen«, sagte sie dabei, und von Leyden senkte den Kopf. Während sie sich die Kette über den Kopf zog, trafen sich ihre und Rulfans Blicke. In ihren Augen blitzte eine Kraft und eine Entschlossenheit, wie der Albino sie selten bei einer Frau erlebt hatte. Doch, bei Aruula vielleicht... Die Fremde lächelte, und Rulfan lächelte zurück, so gut er konnte eben. Conrad von Leyden heulte laut. »Hille! Meine Hille! Was ist mit dir?« Er beugte sich über ihren reglosen Körper, legte sein Ohr auf ihre Brust. Die Anführerin trat hinter ihn. »Sie lebt.« Mit einer Handbewegung winkte sie dem zweiten Techno. »Hilf ihm.« Franz-Gustav von Leyden eilte herbei, öffnete den Tornister seines Neffen und packte Material für die Wundversorgung aus. Die Kriegerin kam zu Rulfan, beugte sich hinunter und streckte ihm ihren sehnigen Arm entgegen. Ihre Haut war bleich, fast so bleich wie seine. Ihre Augen funkelten wie Smaragde. Er griff nach ihrer warmen, kräftigen Hand und ließ sich hochziehen. Einen Atemzug lang standen sie sich gegenüber. Ihre Blicke glitten über seinen dunkelbraunen Ledermantel, blieben einen Moment an dem LP-Gewehr hängen, streichelten sein langes, schlammverschmiertes Weißhaar und bohrten sich schließlich in seine roten Augen. Sie war von einer überirdischen Schönheit, und in ihren Augen glühte etwas, das Rulfan fast die 85
Sprache verschlug. »Euch hat Wudan geschickt«, sagte er heiser. Sie lächelte ein engelhaftes Lächeln und nickte. »Mein Lupa, er ist verletzt.« »Wir werden ihn mit nach Marienthal nehmen.« Sie sprach mit einem harten Akzent und rollte das R. »Ihr kennt Marienthal?« Sie nickte. »Franz-Gustav hat uns davon erzählt.« Sie wollte sich abwenden. »Komm.« »Warte.« Er hielt sie an den Stacheln ihres Handschutzes fest. »Ein Freund von mir muss irgendwo hier im Wald stecken. Bitte helft mir, ihn zu finden...« In einem seltsamen Dialekt rief sie ein paar Befehle. Fünf Kriegerinnen folgten ihm in den Wald. »Honnes!«, brüllte er. »Honnes, wo steckst du...?!« Und bald konnten auch die Barbarinnen den Namen aussprechen. »Honnäs! Honnäs...!« * Marienthal, Mitte Januar bis 8. Februar 2012 Es gab niemanden, der die Spirale der Gewalt noch aufhalten, geschweige denn zurückschrauben konnte. Kaum zwei Stunden nach der Schießerei am Zufahrtsweg zum Schloss rotteten sich dort über zweihundert Männer und Frauen zusammen, Ausländer zum größeren Teil, und alles Esoteriker, die Margot von Leyden für einen Bunkerplatz berufen hatte. Sie fielen über die Familien der Dernauer und Marienthaler Bürger her, die sich eben anschickten, mit ihren Habseligkeiten zum Schloss hinauf zu marschieren. Sie töteten einige Einheimische, nahmen andere als Geisel und verdrängten die Flüchtlingskolonne vom verschneiten Zufahrtsweg. Weitere hundertzwanzig Esoteriker kesselten das 86
Jagdschloss ein, belagerten und blockierten es zugleich. Zu ihren drei Jagdgewehren erbeuteten sie rasch ein halbes Dutzend weitere Schusswaffen, die sie Bergmanns und Kupfers Leuten unter großen Verlusten abnahmen. Rund um das Schloss kam es über mehrere Tage zu einer Art Stellungskrieg. Die Entwicklung verselbstständigte sich, die Barbarei holte ihre verlorenen Kinder heim, und ein Leben galt nichts mehr in jenen Tagen vor »Christopher-Floyd«, vom jeweils eigenen abgesehen. Die Esoteriker unter Pascal von Leyden starben täglich zu Dutzenden, bis es der Psychotherapeutin aus San Francisco und einem Schauspieler aus Stockholm gelang, ein Waffendepot im Haus des Ortsvorstehers zu erobern. Danach gewannen sie vorübergehend die Oberhand, und die Verluste rissen jetzt große Lücken in die Reihen der Weinbauern. Die Kämpfe in Marienthal sprachen sich herum – bis nach Koblenz und Bonn; bis nach Köln sogar. Um den zwanzigsten Januar herum fielen Scharen junger Männer auf Motorrädern mit Kölner Kennzeichen ins Ahrtal ein. Sie besetzten ein paar Häuser in Marienthal, nahmen viele Geisel, schlugen sich mal auf die Seite der Esoteriker, mal auf die der Einheimischen; je nachdem, wer gerade die Oberhand hatte. Ende Januar rollte ein Bundeswehrkonvoi mit sieben Jeeps, fünf Schützenpanzern und drei Leopard-II-Kampfpanzern von Altenahr aus in die Ortseinfahrt des kleinen Winzerdorfes; eine ganze Einheit desertierte Soldaten aus Koblenz. Sie konnten den Belagerungsring um das Jagdschloss zwar durchbrechen und die überlebenden Esoteriker in die Flucht schlagen, es gelang ihnen aber nicht, Heinrich-Casper von Leyden, Bergmann und Kupfer zur Öffnung des Bunkers zu bewegen. Auch Margot von Leyden, von Herzanfällen und Migräne geplagt, gab indes noch lange nicht auf. Sie hatte Beziehungen in alle möglichen Kreise der zerbrechenden Republik, zur Bundeswehr genauso wie zum Bundesgrenzschutz. Anfang 87
Februar fuhr ein gepanzerter Konvoi durch Bad Neuenahr und stoppte unterhalb des halb zerstörten Jagdschlosses vor den Weinbergen. Aus irgendeinem Grund beschossen die schwerbewaffneten Soldaten die Leopard-Panzer im MayaPark mit Panzerabwehrraketen, statt sich mit der desertierten Einheit zu verbünden. Einmal entfesselt, tobte der Blutrausch bis drei Tage vor dem Einschlag, und täglich deckte der Neuschnee mehr Leichen zu. Die Esoteriker spielten Anfang Februar längst keine Rolle mehr im Kampf um die Bunkeranlage. Zweiunddreißig Überlebende sammelten sich in Margot von Leydens Villa, unter ihnen die Astrologin aus Köln, die kalifornische Psychotherapeutin und Professor Martinez; von Pascal abgesehen der einzige überlebende Mann dieser Gruppe. Eines Nachts, vermutlich vom dritten auf den vierten Februar, schlichen sie im Schutz dichten Schneefalls über die Weinberge und durch die Wälder bis nach Altenahr. Die kranke Margot trugen sie in einem auf Rundhölzern befestigten Sessel mit sich. Die Greisin führte sie zu einem von zwei übrig gebliebenen Geheimeingängen ins Bunkersystem. Der Tunneleingang war groß genug für schweres Gerät und durch den Gebäudekomplex einer Kelterei gut getarnt. Von ihm aus führte ein labyrinthisches Tunnelsystem in den Bunkerteil jenseits des Tals. Die Nächte, in denen die verschiedenen Parteien um den Zugang zum Jagdschloss kämpften, nutzte die kleine Gruppe für Raubzüge im Marienthaler Bunkersegment. Heinrich-Caspers und Bergmanns Leute waren viel zu sehr mit der Verteidigung der Lifte unter dem Jagdschloss beschäftigt, um die Plünderungen in den Vorrats- und Waffenlagern zu bemerken. Erst als Margot ein Weinfass rauben ließ, stellte Kupfer bewaffnete Wachen am Eingang des Verbindungstunnels auf. Die Motorradgangs hatten sich inzwischen mit den 88
Deserteuren aus Koblenz verbündet. Sie schlugen die später angekommenen Einheiten des Bundesgrenzschutzes samt ihren Verbündeten aus den Städten des Rheintals zurück. So entstand am 5. Februar eine Kampfpause – Bergmann und Kupfer wussten, dass die Belagerer etwa vierhundertachtzig Dernauer und Marienthaler Bürger als Geiseln hielten. Mit HeinrichCaspers Einverständnis trafen sie sich in der Nacht vom sechsten auf den siebten Februar heimlich mit dem Kommandeur der Bundeswehreinheit, einem gewissen Oberst Rollnick, und einem Anführern der Rocker, der sich Dolfi nannte. Sie vereinbarten, die Lifte unter dem Jagdschloss am achten Februar zwischen zwölf Uhr und sechzehn Uhr freizugeben. In diesem Zeitfenster konnten Soldaten und Rocker sich in das Bunkersystem retten, wobei jeder Mann der Gegenseite jeweils eine Geisel mitzubringen und seine Waffe abzugeben hatte. Sobald alle Geiseln im Bunker waren, sollten Soldaten und Rocker jeweils einen Bürger mitbringen, der sich als Ahrtaler ausweisen konnte. Jeder Neuankömmling sollte darüber hinaus einen eingetopften Weinspross und eine Flasche Wein in den Bunker retten; gleichgültig ob Fremder oder Einheimischer. So geschah es. Am 8.2.2012 Punkt zwölf Uhr öffnete Heinrich-Casper von Leyden die Lifttüren. Kupfer und Bergmann stellten schwerbewaffnete Einheiten im Innenschottbereich auf. Jedes Mal, wenn die Lifttüren auseinander glitten, entwaffneten sie die ankommenden Männer und nahmen die Geiseln und nach ihnen die Einheimischen in Empfang. Herzzerreißende Wiedersehensszenen spielten sich ab. Die Weinflaschen und -pflanzen ließ Heinrich-Casper in die Weinkeller beziehungsweise Gewächshäuser bringen. Seine Mutter hatte solche Räume einst konzipiert. Die Gewächshäuser waren mit Höhensonnen ausgestattet, und in den Weinkellern lagerten bereits Tausende von Hektolitern 89
Wein in Fässern und Flaschen. Als Heinrich-Casper von Leyden um sechzehn Uhr die Lifttüren verschloss und die Falltür über dem Geheimkeller elektronisch verriegelte, hielten sich tausendsiebenhundertdreizehn Menschen im Bunkersystem unter Dernau und Marienthal auf; tausenddreihundertneunzig Männer – unter den Soldaten und den marodierenden Gangs hatte es so gut wie keine Frauen gegeben –, dreihundertsiebenundfünfzig Frauen, der Rest Kinder. Im Bunker unter dem nördlichen Ahrtal lebten – mit einem Großteil des Proviants -zweiunddreißig Frauen und zwei Männer. Hüben wie drüben verbrachten sie die letzten vierzig Minuten der alten Welt vor Großbildleinwänden. Das ZDF übertrug buchstäblich bis zur Apokalypse. Die Erinnerung an eine Faust aus Licht und einen rotglühenden Himmel verfolgte jeden der Marienthaler bis an sein Lebensende, und die mündlichen Berichte darüber wurden mit bebenden Lippen und feuchten Augen von Generation zu Generation überliefert. Die Monitore erloschen, als der Countdown in der Fußzeile auf 0 Stunden, 0 Minuten, 14 Sekunden sprang. Tausende von Kilometern weiter östlich schlug kurz darauf »Christopher-Floyd« ein und zerstörte das vertraute Antlitz der Erde. Zerstörte das vertraute Antlitz der Erde – das zu begreifen gelang den meisten Menschen im Marienthaler Bunker erst Jahre später... * Südlich der Ruinen von Bad Neuenahr, Anfang Mai 2520 Sie fanden Honnes am frühen Nachmittag des folgenden Tages. Wulf nahm seine Witterung auf. Der Lupa hatte sich erholt, konnte sich aber nur noch hinkend fortbewegen. Er führte Rulfan und Conrad zu einem Felshang mitten im Wald. 90
Sie entdeckten einen Höhleneingang, zu schmal für einen Rottmard, groß genug für einen Mann von Honnes' Statur. Und tatsächlich: Der Veteran aus Coellen lag bewusstlos in einer zwei Meter tiefen Felsspalte innerhalb der Höhle. Sie brachten ihn auf das halbwegs erhaltene Flachdach einer Ruine, wo die fremden Kriegerinnen ein Basislager errichtet hatten. Der Platz war leicht zu bewachen und im Notfall gut zu verteidigen. »Schau nach ihm«, befahl die Anführerin dem älteren Techno. Franz-Gustav von Leyden – Rulfan wusste inzwischen, dass er Arzt und Psychologe war – untersuchte Honnes. »Schwere Gehirnerschütterung«, sagte er, während er dem Kahlkopf mit einem Lämpchen in die Pupillen leuchtete. »Möglicherweise sogar eine Schädelfraktur. Ohne diagnostische Geräte kann ich das nicht beurteilen. Solange er bewusstlos ist, würde ich ihn nicht transportieren.« Auch der Dysdoorerin ging es schlecht – über eine Bisswunde am Hals hatte sie viel Blut verloren. Darum beschloss Rulfan, bis zum nächsten Morgen abzuwarten und dann erst eine Entscheidung zu treffen. Die Amazonenführerin willigte ein. Rulfan beobachtete, wie Franz-Gustav von Leyden dem Coelleni eine Kanüle in die Ellenbeugenvene schob und sie mit einem Infusionsschlauch verband. Den Infusionsbeutel befestigte er am Ast einer Tanne, die neben der Ruine wuchs. »Nur physiologische Kochsalzlösung«, sagte er, »damit Ihr Kumpel nicht verdurstet.« Er sprach seltsam schleppend. Irgendwie kam er Rulfan ein wenig apathisch vor, als wäre er krank oder aus anderen Gründen erschöpft. »Geht's Ihnen nicht gut?«, erkundigte er sich. »Kopfschmerzen. Schon seit ein paar Tagen.« Franz-Gustav winkte ab. »Wird schon wieder.« Rulfan nickte nur. Etwas an dem Mann beunruhigte ihn. 91
Wulf streckte sich neben Honnes aus und leckte seine Wunden an der Hinterflanke und den Läufen. »Du warst tapfer.« Rulfan streichelte ihm das Fell. »Wolltest mir beistehen, alter Freund. Danke...« Der Zustand seiner beiden Gefährten bedrückte ihn. Die Amazonenführerin beobachtete ihn von der anderen Seite des Daches aus. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte sie. Er erwiderte ihr Lächeln wehmütig. Wulf hob den Schädel, knurrte leise. Rulfan drückte ihm die Schnauze herunter. Die schöne Kriegerin brachte eine Saite in Rulfans Herzen zum Klingen. Wie hell ihre Haut war und wie nachtschwarz ihr seidenes langes Haar! Ihre Augen ruhten ohne Scheu in seinen, und auf einmal wurde ihm bewusst, wie lange es her war, dass er eine Frau umarmt hatte. Irgendwo im Hintergrund seines Bewusstseins schmerzte der Gedanke an Aruula. Drei Amazonen sprangen vom Ruinendach und verschwanden im Wald. Conrad von Leyden saß die ganze Zeit bei Hille, streichelte sie, flößte ihr Wasser ein, wischte den Schweiß von ihrer Stirn. Sie zitterte, brabbelte unverständliche Worte, als wäre sie im Delirium. Manchmal fluchte der Junge, manchmal weinte er leise vor sich hin. Seine Welt schrumpfte auf die verletzte Geliebte zusammen, nichts anderes interessierte ihn mehr. Er trank viel zu viel Coelsch, fand Rulfan. Und als seine Vorräte aufgebraucht waren, drückte sein Onkel ihm eine Kunststoff-Saugflasche mit Rotwein in die Hand. Die Dämmerung fiel über den Wald, die drei Amazonen kehrten mit ein paar Fischen zurück. Bald brannte ein Feuer, Franz-Gustav von Leyden nahm den Fisch aus und briet ihn. Er selbst verschmähte aber das Fleisch, hielt sich lieber an Nahrungskonzentrat aus seinem Tornistern. Dazu saugte er eine Menge Wein durch das in seinem Helm integrierte Röhrchen ein. Natürlich war ihm aufgefallen, dass sein Neffe den Helm 92
nicht mehr trug, und Rulfan hatte ihm, ohne ins Detail zu gehen, von dem Immun-Serum berichtet, das eigentlich für den Marienthaler Bunker bestimmt war. Die Nacht brach an, es wurde dunkel. Conrad streckte sich neben Hille aus. Er war betrunken. Vier Amazonen setzten sich an die vier Seiten der Ruine. Sie legten ihre Schwerter und Spieße neben sich und stemmten die Kolben der Laserstrahler zwischen ihre Beine. Rulfan rückte näher an die Glut. Es wurde kühl; er zog sich eine Felldecke über Kopf und Schultern. Zwei Kriegerinnen krochen zu Franz-Gustav von Leyden unter die Plane, die er über seine Felle ausgebreitet hatte. Rulfan bekam mit, wie er versuchte, sich der Frauen zu erwehren. Aber die kicherten nur und umarmten FGL von beiden Seiten. Sollte der Techno etwa schon mit den Barbarinnen Verkehr gehabt haben? Dann war es allerdings kein Wunder, dass er krank war – trotz aller Übungen, mit denen sich die Marienthaler seit Jahren abhärteten. Vielleicht war es besser, das Serum an Conrads Brust zu portionieren, um auch dessen Onkel... Der Albino unterbrach seinen Gedankengang, als sich eine Gestalt aus der Dunkelheit löste. Die Amazonenführerin trat ans Feuer, ließ sich neben Rulfan nieder und legte Laserwaffe und Langschwert neben sich ab. Sie duftete nach Walderde. Die Glut spiegelte sich in ihren Augen. Rulfans Herz schlug schneller. Hinter ihm begann Wulf zu knurren. Er drehte sich um und zischte. Der Lupa gab Ruhe. »Woher kommst du?« Ihre Altstimme vibrierte, der harte Akzent hat etwas Erotisches. »Vorgestern von jenseits eines großen Wassers, gestern von Britana, heute von Coellen; und morgen?« Er zuckte mit den Schultern. »Wer weiß?« Sie beugte sich über ihre gekreuzten Knie, um Holz nachzulegen. Dabei rückte sie näher und er konnte die Wärme 93
fühlen, die ihr Körper ausstrahlte. »Und ihr?«, fragte er. »Wo kommt ihr her? Und woher habt ihr diese gefährlichen Waffen?« Rulfan wunderte sich, dass sie keine Decke um sich legte. Immerhin war ihr Oberkörper unterhalb der Brüste weitgehend nackt – und köstlich anzuschauen. »Diese gefährlichen Waffen haben euch gerettet«, lächelte sie. »Ihr habt uns gerettet.« Diese Präzisierung ließ sie sich gern gefallen. Sie begann zu erzählen. Rulfan erfuhr, dass sie auf Frekkeuschern aus dem Südosten gekommen waren, weil sie ihrem Gott die Verfolgung und Vernichtung eines schrecklichen Feindes schuldeten. Über die Art dieses Feindes machte sie nur Andeutungen. Angeblich neigte er zu Kannibalismus und war in einem Eisenwagen unterwegs gewesen, der auf Ketten rollte. »Gewesen?« »Wir haben den Wagen überfallen und unsere Feinde getötet.« Sie klopfte auf die Waffe neben sich, und Rulfan runzelte ungläubig die Stirn. »Erzähl mir von dir«, bat sie. »Was führt dich von Britana hierher?« Rulfan nahm sich vor, gelegentlich Genaueres darüber zu erfahren, wie ein Trupp Amazonen es angestellt hatte, einen Panzer zu stoppen und dessen Besatzung zu überwinden. Franz-Gustav würde ihm das sicher erklären können. Jetzt aber beschloss er die Gegenwart der Schönen zu genießen. Und er erzählte. Von den Communities in London und Salisbury, von der Immunschwäche der Technos und dem rettenden Serum; auch die Expedition zum Kratersee und die Gefahr dort erwähnte er, und einmal ließ er den Namen Matthew Drax fallen. Wie verzaubert hing die Frau an seinen Lippen. Ihre Augen glänzten und ihr Mund war feucht. Irgendwann war sie so nahe 94
gerückt, dass Rulfans Atem sich beschleunigte. Er unterbrach seine Schilderungen und sah sie an. »Ich habe dich noch gar nicht nach deinem Namen gefragt«, sagte er mit heiserer Stimme. »Wie heißt du?« »Aunaara«, sagte sie. »Aunaara«, wiederholte er. Und in Gedanken fügte er hinzu: Klingt fast wie Aruula... Sie beugte sich zu ihm, ganz nah an sein Gesicht. Das Amulett der Toten baumelte an ihrem Hals: eine in einem Klumpen geschmolzenen Glases eingeschlossene Uhr. Und Himmel, sie duftete betörend, diese Frau! »Wie stark du bist, Rulfan von Britana«, flüsterte sie. »Du bist so weit in der Welt herum gekommen, du hast dem Tod so oft ins Auge gesehen und ihm jedes Mal getrotzt...« Ihre Lippen fanden zueinander, und er nahm sie in seine Arme. Über dem Tal des Großen Flusses ging der Vollmond auf... * Marienthal, Sommer 2012 bis Herbst 2106 Dunkle Jahrzehnte begannen: Außerhalb der Bunkeranlage stieg über Feuersbrünsten und Sturmfluten der Staub in die Atmosphäre und der Schmutzhimmel sperrte die Sonne aus; innerhalb der Bunkeranlage herrschten Hunger und Krieg. Das nördliche Bunkersegment bekämpfte das südliche. Etwas mehr als siebzehnhundert hungernde Menschen bekämpften vierunddreißig satte Menschen, Heinrich-Casper von Leyden bekämpfte seine Mutter und umgekehrt; so jedenfalls hörte die Wahrheit sich an, wenn sie hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurde. Im ersten Jahr gab es relativ wenig Verluste, und die ausschließlich im Nordsegment: vier Blinddarmdurchbrüche, fünf Herzinfarkte, zwei Morde, achtzehn Selbstmorde. 95
Außerdem starben dreiundzwanzig Männer und Frauen bei dem Versuch, durch den Verbindungstunnel unter dem Tal in das Südsegment einzudringen. Martinez, Pascal von Leyden und die Frauen hatten keine Probleme, den relativ schmalen Ausstieg zu verteidigen. Zu dieser Zeit etwa ließ Heinrich-Casper sein Bunkerbüro zu einer Art Meditationsraum ausbauen. Er stellte seine beiden Nashörner auf und leitete die Männer an – Frauen waren nicht zugelassen –, sich in den Anblick der Tiere zu versenken und sich mit ihrer Widerstandskraft und Stärke zu füllen. Bald wurden die Lebensmittelvorräte immer knapper. Heinrich-Casper von Leyden verstärkte die Angriffe auf die Gruppe um seine Mutter und seinen Bruder. Betty von Leyden und ihrem Sohn Hanns-Conradin gelang die Flucht auf die anderer Seite. Donna Margot konnte ein paar ausgewählte Männer aus dem Südbunker auf ihre Seite ziehen, unter ihnen Bergmann. Ihre zwei Hauptargumente: Nahrung und Frauen. Der Männerüberschuss im Norden entwickelte sich zu einer sozialen Zeitbombe, zumal die wenigen Frauen krank waren oder schwanger oder beides. Sechs Männer ließen Kupfer und Heinrich-Casper wegen Vergewaltigung hinrichten, drei, weil sie Lebensmittel aus dem Südsegment mit Waffen bezahlt hatten. Mit Beginn des zweiten Jahres nach der Katastrophe trieb der Hunger ein paar Männer unter Heinrich-Casper von Leydens Führung an die Erdoberfläche. In der Finsternis, die nicht mehr zwischen Tag und Nacht unterschied, jagten sie Katzen, Hunde, Vögel, Ratten – alles Getier eben, das den Impact überlebt hatte. Im Laufe der Monate lernten sie Fallen zu bauen, Tierstimmen nachzuahmen, Vogelnetze aufzuspannen oder die Beute einfach durch strategisch platzierten Abfall anzulocken. Vor einem Jagdzug den Nashornraum aufzusuchen, entwickelte sich rasch zu einem festen Ritual. 96
Es gelang den Marienthalern sogar, eine halboffene Form der Tierhaltung zu entwickeln: In den Lager- und Kellerräumen einer Winzerei der Staatlichen Weinbaudomäne hielten und züchteten sie Wildrinder und schweine. Die Tiere konnten die Räume verlassen, kamen aber wegen des Küchen- und Gewächshausabfalls freiwillig wieder. Als der Schnee dann nicht mehr aufhören wollte zu fallen und das Eis wuchs, um den Rest des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu prägen, nahm das Wild die Lagerräume als endgültigen Zufluchtsort an. Die Marienthaler unterhielten fortan eine Art Wildschwein-, Ratten- und Wildrindzucht. Erst gegen Ende des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts starben die letzten dieser Tiere an einer Seuche. Das »Königtum des Nashorns« begründete Heinrich-Casper von Leyden im sechsten Jahr nach » Christopher-Floyd«, indem er sich selbst als Herrscher krönte. Es war das Todesjahr des ehemaligen Ortsvorstehers Kupfer. Margot war zu diesem Zeitpunkt neunzig Jahre alt, dachte aber noch immer nicht daran zu sterben. Sie reagierte, sobald ihre Spione ihr die Inthronisation ihres Sohnes meldeten: Sie ließ sich zur Königin von Marienthal erklären. Für Pascal weiter nichts als ein politischer Schachzug, für die Frauen im Süden wie im Norden eine schicksalhafte Weichenstellung. Anfang 2029 – Margots Todesjahr – lebten im Nordbunker noch etwa elf hundert Männer und Knaben und einhundertvierundfünfzig Frauen und Mädchen. Auf Margots und Pascals Seite gab es knapp vierzig Männer und Knaben und etwa fünfzig Frauen und Mädchen. In diesem Jahr besiegelte das entbehrungs- und verlustreiche Leben im Nordbunker Heinrich-Caspers Königtum und Schicksal. Die Frauen hatten genug davon, ständig den vielen Männern zur Verfügung zu stehen, fast jährlich schwanger zu werden und fast jede zweite Geschlechtsgenossin im Kindbett sterben zu sehen. All die Jahre seit dem Kometeneinschlag 97
hatten sie versucht, Heinrich-Casper zu einem Friedensschluss mit Donna Margot zu bewegen. Vergeblich. Seit Mitte der zwanziger Jahre weigerte sich Heinrich-Casper mit einer Frau überhaupt noch zu reden. Nur Frauen, die er aufforderte sein Lager mit ihm zu teilen, bekamen ihn noch zu Gesicht. Eine von ihnen tötete ihn im August des Jahres 2029 während des Liebesspiels. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion flohen über hundertzwanzig Frauen anschließend mit ihren Söhnen und Töchtern in den Südtunnel und stellten sich unter den Schutz und die Herrschaft der Königin Margot. Oberhalb des Bunkers tobte ein Schneesturm. In den folgenden Wochen kam es zu blutigen Auseinandersetzungen in der Talröhre zwischen den Bunkersegmenten und an ihrem Südausgang. Sonnenfelder, der ehemalige Koch, war zum König ausgerufen worden und scheute vor keinem Opfer zurück, um die Frauen zurückzuerobern. Zweihundertsiebzig Männer fielen. Zum Jahresende – der Schneesturm hatte sich zu einem Orkan entwickelt – waren die Kämpfer des Tötens und Sterbens müde. Sie erschossen Sonnenfelder, schickten seine Leiche in den Südbunker und kapitulierten. Sie wollten Nahrung, Frauen und Frieden. Margot von Leyden ließ sich ihre Waffen ausliefern und legte ihnen eine Verfassung zur Unterschrift vor, die faktisch das Matriarchat konstituierte. Die Männer unterschrieben, der Taltunnel zwischen den beiden Bunkersegmenten wurde geöffnet, Frieden kehrte ein. Um die Weihnachtszeit starb Margot von Leyden. Betty von Leyden übernahm als Königin die Herrschaft über Marienthal; ihr Mann Pascal von Leyden wurde Nashornkönig. *
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Südlich der Ruinen von Bad Neuenahr, Anfang Mai 2520 Der Schmerz war eine dicke Mauer. Aber auch wieder nicht so dick, dass Honnes nicht hörte, was hinter ihr vor sich ging. Hinter ihr knurrte ein Tier, atmete jemand. Baumwipfel rotierten über ihm, als er die Augen öffnete, und über den Baumwipfeln rotierten Sterne und der Vollmond. Die Übelkeit saß wie ein heißer Korken auf seinem Magen. Die Schnauze des knurrenden Lupa ahnte er mehr, als dass er sie tatsächlich neben sich sah. Die Umrisse der Frau aber, die sah er deutlich genug, um zu wissen, dass er nicht träumte. Der Lupa war Wulf, die Frau aber kannte er nicht. Eine Frau mit langem Haar, weißer Haut und stachelbewehrtem Lederharnisch? Nein, nie gesehen. Sie entblößte ihre Brust und fasste nach Honnes' Hand. Plötzlich spürte er heiße Haut an seinen Fingern, und ein halb geöffneter Mund beugte sich über ihn. Wieder knurrte der Lupa. Er schnappte nach der Frau, knurrte wütender. Sie wich zurück, verharrte einen Moment, und da das Tier seine Feindseligkeit nicht aufgab, schloss sie ihren Harnisch und zog sich in die Dunkelheit zurück. Honnes blickte in den Nachthimmel: Mond und Sterne standen jetzt fast still. Um sich herum hörte er Geräusche, die er nicht einordnen konnte. Wind? Laubrascheln? Atemzüge, die zischten und flogen wie bei Fieberkranken? Es interessierte ihn nicht, er schloss die Augen. In seinem Schädel stampfte der Schmerz wie ein müder Wakuda-Stier. Bomm, bomm, bomm... Später riss er die Augen erneut auf. Er wusste nicht warum, und er wusste nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Der Vollmond zuckte noch immer zwischen Sternen. Lallte da nicht ein Betrunkener? Es tat weh, den Kopf zu drehen und ihn anzuheben. Da geschah etwas an der Glut eines Feuers, etwas hob und senkte sich dort rhythmisch, ein Bündel, ein Tier, ein Mensch oder zwei – Orguudoo mochte es wissen. Vielleicht war dem Schmerz sein Schädel zu eng geworden, vielleicht 99
hatte er sich um ihn herum verteilt, um unbeengt pochen und beben zu können. Die Bewegungen und die Geräusche beunruhigten ihn. Etwas Schweres lag auf seiner Brust; er tastete danach: Fell, feuchte Schnauze, Lupaohren. Sie zu spüren beruhigte ihn. Wulf behütete ihn, wie gut, wie gut... Honnes' Bewusstsein torkelte davon, zuerst zurück hinter die dicke Mauer, dann hinunter in eine warme finstere Kuhle, wo man die Welt und sich selbst vergaß. * Marienthal, Dezember 2519 Das Matriarchat in Marienthal dauerte bis ins elfte Jahr der Herrschaft Ruthildas von Leyden im Jahr 2519. Nashornkönig war zu dieser Zeit Hanns-Claudio von Leyden, ein Großonkel der Königin und ein derber, hünenhafter Mann. Der Nashornkönig war übrigens für die Jagd, den Weinbau und die inzwischen glücklicherweise selten gewordenen Militäreinsätze verantwortlich. Außerdem genoss er kraft seines Amtes das Anrecht auf wöchentlichen Geschlechtsverkehr; vorausgesetzt eine der wenigen Frauen stellte sich hierfür freiwillig zur Verfügung. Das kam nur selten vor, was Hanns-Claudio erzürnte. Sein Zorn wuchs mit den Jahren und fand Nahrung in gewissen Gesetzen, die seit einigen Generationen nur noch der Form nach oder gar nicht beachtet wurden, die Ruthilda aber zu aktivieren beliebte, da ihr der Sittenverfall unter den Marienthaler Männern seit der Mitte des fünfundzwanzigsten Jahrhunderts missfiel. Anfang 2519 also – zu dieser Zeit war Königin Ruthilda neununddreißig Jahre alt und erfreute sich bester Gesundheit und Geisteskraft – wurde es Männern wieder verboten, innerhalb des Bunkers Waffen zu tragen, sich mit Messern zu duellieren, mehr als einen halben Liter Wein pro Tag zu 100
verzehren und mit Barbarinnen Zärtlichkeiten irgendeiner Art auszutauschen. Außerdem wurden wie schon zu früheren Zeiten nur noch Männer zur Zeugung zugelassen, die noch nicht strafrechtlich auffällig geworden waren und sich zudem nach Geburt ihres ersten Kindes als fürsorgliche Väter erwiesen hatten. Eine Ausnahmeregel trat in Kraft, wenn eine der Frauen sich in einen der Männer verliebte. In HannsClaudio von Leyden verliebte sich niemand. Statt in der Nashornkapelle zu meditieren und seine Jäger und Weinmeister zur Meditation anzuhalten, stellte sich der Nashornkönig zwischen die beiden Heiligen Rhinozerosse und beschimpfte die Königin und das harte Joch ihrer Gesetze. Die Revolution in Marienthal begann also gewissermaßen im zornigen Herzen des Nashornkönigs, und sie brach aus, als er seinen Sohn Conrad von Leyden eines Tages mit einer Frau erwischte. Es geschah in der Abenddämmerung eines der ersten Herbsttage in der Nähe des Dernauer Geräteeingangs. HannsClaudio war mit einem Trupp Jäger auf der Pirsch, als sie aus einem Seitengebäude der ehemaligen Stallungen Rauch aufsteigen sahen. Sie schlichen sich an und entdeckten in einem der Räume ein kleines Feuer und daneben auf einigen Fellen den halbwüchsigen Conrad in flagranti mit einer Barbarin. Es war eines jener verlausten Mädchen aus einer Horde der Wandernden Völker. Ein oder zwei Mal im Jahr zogen solche Leute am Großen Fluss entlang Richtung Süden. Das Mädchen war sechzehn Jahre alt und hieß Otira. Der Nashornkönig erkannte die Reize des Mädchens sofort. »Du wagst es, das Gesetz unserer Königin zu brechen?«, schrie er seinen Sohn an. Er packte ihn, riss ihn von dem verdutzten Mädchen und öffnete ihm den Helm. »Weißt du, dass du damit von der Zeugung ausgeschlossen bist, du Narr?« Er ohrfeigte ihn nach Kräften, und Conrad, der intensiveren Kontakt mit seinem Erzeuger eigentlich nicht gewohnt war, rammte dem 101
Nashornkönig das Knie zwischen seine Beine. Hanns-Claudio brüllte vor Zorn und vor Schmerz. Sein nächster Faustschlag löschte das Bewusstsein seines Sohnes für längere Zeit aus. Eine Woche später kam Conrad im Kliniksegment von Marienthal wieder zu sich. Sein Onkel Franz-Gustav von Leyden betreute ihn medizinisch. Von ihm erfuhr Conrad, dass sein Vater inzwischen bei Otira ein und aus ging, ja dass der Nashornkönig sie sogar in der Jagdschlossruine einquartiert hatte. Wenige Tage später steckte er sie in einen Schutzanzug, um ihr die Bunkeranlage zu zeigen und sie in seine Privatgemächer zu führen. Das erboste Königin Ruthilda und ihre Beraterinnen erheblich. Und Conrad? Er entließ sich selbst aus der ärztlichen Behandlung, um seinen Vater zur Rede zu stellen. Der bedrohte ihn – innerhalb des Bunkers! – mit einer Laserwaffe. Von der Stunde an ließ Conrad keine Gelegenheit aus, seinen Vater öffentlich zu kritisieren. Auch sein Onkel mauserte sich zu einem lautstarken Gegner seines viel älteren Halbbruders, allerdings aus anderen Gründen als Conrad: Franz-Gustav hatte sich bislang noch nie bei einer Gesetzesübertretung erwischen lassen und schielte nach neuen Zeugungsterminen. Er wollte in erster Linie die Königin und ihre Zeugungskommissarinnen auf sich aufmerksam machen. Ruhe, Ordnung und sozialer Friede in der unterirdischen Stadt gerieten in ernsthafte Schieflage. Ruthilda blieb gar nichts anderes übrig, als Hanns-Claudio vor den königlichen Rat zu zitieren. Sie machte ihm bittere Vorhaltungen. HannsClaudio reagierte ebenso schnell wie nachhaltig: Er erschoss die Leibgarde, ließ die Königin und ihren Rat durch seine Anhänger festnehmen, und erklärte sich zum König von Marienthal und seine junge Geliebte zur Nashornkönigin. Conrad entzog sich dem Säuberungskommando des Putschisten durch Flucht. Eine Gruppe Rebellen sandte den ebenfalls gefährdeten Franz-Gustav aus, den Jungen zu suchen. 102
(Nachtrag der Chronistin: »So viel zur Revolution in Marienthal. Sie läutete den Untergang der Bunkerkolonie ein. Denn eines Tages kehrten Conrad und Franz-Gustav tatsächlich zurück. Sie brachten Fremde mit...«) * Südlich der Ruinen von Bad Neuenahr, Anfang Mai 2520 Jemand schrie. Rulfan schreckte hoch – der Platz neben ihm in den Fellen war leer, aber noch warm. »Hille! Hille!« Es war Conrad, der da schrie. Rulfan erhob sich. Sein Mund war trocken, sein Gesicht heiß. Unter seiner Schädeldecke schwamm etwas Schweres. Von innen stieß es gegen die Stirn, als er aufstand und zu Conrad ging. Der Junge hing mit geöffneten Helm über seiner Geliebten. Ein Weinkrampf schüttelte ihn. Aus gebrochenen Augen blickte Hille durch Rulfan hindurch. Er ging vor dem Paar in die Hocke, legte seine Hand auf den Rücken des Siebzehnjährigen. Nach und nach sammelten sich die Amazonen und Franz-Gustav. »Wir müssen sie begraben«, sagte Rulfan. »Nein, bitte nicht!« Conrad warf sich an Rulfans Brust. »Vielleicht wacht sie wieder auf...!« Er stank nach Coelsch und Wein, war wie von Sinnen, und Rulfan ließ ihm schließlich seinen Willen. Wenn er die Tote lange genug mit sich schleppte, würde er die Wahrheit schon irgendwann akzeptieren. »Was wird mit dem Tier?«, fragte Aunaara. »Es kann sich kaum aus eigener Kraft fortbewegen.« Der Lupa hob den Kopf von Honnes' Bauch und knurrte leise. »Ich werde ihn tragen.« Rulfan streifte ihren Schenkel, als er sich zu Wulf hinunterbeugte. Wie Feuer brannte die Leidenschaft in ihm. Längst war die Sonne aufgegangen, sein Herz aber flatterte noch im süßen Gespinst der Liebesnacht. Er 103
strich über Wulfs Fell, streichelte in Gedanken aber ihre heiße Haut und sah zu ihr hoch. In ihrem verhangenen Lächeln las er, dass sie genauso fühlte. Franz-Gustav von Leyden kniete neben Honnes. Er hatte ihm die Infusionsnadel entfernt und flößte ihm Wasser ein. Rulfan riss sich von der Frau los. »Ist er zu sich gekommen?« Von Leyden nickte. »Er ist noch sehr benommen, wir müssen ihn transportieren.« An Seilen ließen sie den Veteran und die Tote vom Dach. Aus langen Ästen banden sie zwei Tragen zusammen. Auf einer zog Conrad seine Hille durch den Wald, die andere mit Honnes schleppten zwei Amazonen. Rulfan trug Wulf. Sein Kopf schmerzte, das Tier war schwer, und er fiel an den Schluss der Gruppe zurück. Sie kamen nur langsam voran. Der Wald und die Gefährten verschwammen vor seinen Augen. Franz-Gustav von Leyden und Aunaara führten die Gruppe nach Süden. Ein halber Tagesmarsch bis nach Marienthal, aber die Stunden schleppten sich träge dahin. Von Zeit zu Zeit drehte Aunaara sich nach Rulfan um und wartete, bis er ein wenig aufgeschlossen hatte. Er konnte an nichts anderes mehr denken als an die Nacht mit ihr. Vergaß manchmal sogar die neunzig Pfund Lupa auf seinen Schultern. Irgendwann wies Aunaara ihre Kriegerinnen an, eine Trage für Wulf zu bauen. Die Rast tat gut. Rulfan setzte sich zu Franz-Gustav von Leyden, der einen abwesenden Eindruck machte und dessen Blick ins Leere ging. »An was denken Sie?«, fragte er. Von Leyden zuckte zusammen. Sekundenlang schien es, als würde er den Albino gar nicht erkennen. Dann schüttelte er den Kopf – und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Es ist nichts. Mir war nur, als hätte ich etwas Wichtiges vergessen«, sagte er. »Diese verdammten Kopfschmerzen!« »Im Bunker wird man Ihnen helfen können«, ermunterte ihn Rulfan. »Wie weit mag es noch sein?« 104
Von Leydens Blick klärte sich für kurze Zeit. Er sah zum Himmel. »Noch etwas mehr als vier Stunden, schätze ich. Aber... ich bin mir fast sicher, dass es einen Weg gegeben hätte, noch schneller dort zu sein. Wenn ich mich nur erinnern könnte...« Das Holzgestell war fertig. Als Rulfan den Lupa darauf ablegte, schnüffelte der mutierte Wolf, fletschte die Zähne und knurrte. Rulfan musste ihm gut zureden, damit er auf der Trage liegen blieb. Weiter ging es. Über Waldhänge, in Täler hinab, auf Autobahntrassen entlang, die kaum noch von der Wildnis zu unterscheiden waren. Conrad ließ das Astgestell mit der toten Hille in einem Farnfeld liegen. Ohne sich nach ihr umzusehen, trottete er weiter. »Willst du sie nicht wenigstens begraben?«, fragte Rulfan ihn. »Es gibt genug Aasfresser in diesem Wald.« Die Gleichgültigkeit in der monotonen Stimme erschreckte Rulfan. Andererseits: Hatte der Junge nicht Recht? Schließlich langten sie bei den Ruinen eines Dorfes an. Sie errichteten ein Lager am Fuß eines Hanges, auf dem weder Buchen noch Eichen noch wildes Gestrüpp wucherte – Brabeelenstöcke standen dort in Reihen wie mit Bogensehnen gezogen. Ganz oben ragten die Türmchen eines Schlosses aus der grünen Ordnung. Rulfan sah das alles wie durch eine Nebelwand hindurch. Immer wieder kniff er die Augen zusammen und fasste sich an die Stirn. Was war los mit ihm? Fieber? Die beiden deutschen Schutzanzugträger und Aunaara liefen einen Weg hinauf, der zum Schloss führte. Heiß durchfuhr es Rulfan, als er sah, wie die Frau ihren Arm um Conrad legte und vertraulich mit ihm flüsterte. Er griff nach seinem Kurzschwert; fast hätte er es aus der Scheide gerissen. Mühsam nur gelang es ihm, seiner Eifersucht Zügel anzulegen. Er lief hinter den Dreien her und drängte sich zwischen die Amazone 105
und den Burschen aus – wie nannten sie ihr unterirdisches Loch gleich? – Marienthal, richtig. Sie erreichten einen verwilderten Park mit einer Pyramide in einem Wasserbecken. Drei Bewaffnete in Schutzanzügen traten aus dem Schloss. Conrad – so hieß er doch, oder? – begrüßte sie. Zwischen den deutschen Technos entspann sich eine hitzige Debatte. Rulfan registrierte das alles, so wie man im Herbst fallendes Laub registriert, wenn es einen an der Schulter streift. Die Frau an seiner Seite fesselte seine Aufmerksamkeit. »Wenn einer von ihnen seine Waffe hebt, schießt du«, raunte sie ihm zu. Rulfan nickte. »Wir wollen den Alten sprechen«, hörte er Franz-Gustav von Leyden sagen. »Wir bringen schöne Frauen und einen Unterhändler aus Britana mit guten Neuigkeiten. Vielleicht kommen wir ins Geschäft miteinander.« »Nein«, begehrte Conrad auf. »Wir wollen den Alten nicht sprechen, wir wollen seinen Kopf!« Die Wachen lachten ihn aus. »Wir bezahlen mit den Frauen... und damit...« Er öffnete seinen Schutzanzug über der Brust und deutete auf den flachen Beutel. »Mit diesem Serum müssen wir nie mehr eine Infektion fürchten!« Serum? Rulfan überlegte. Was war das gleich für ein Zeug? Ach ja, Queen Victoria... Aber was hatte das Serum mit ihr zu tun? »Es stellt unser Immunsystem wieder her!«, fuhr Conrad fort. »Seht mich an – ich trage seit Wochen keinen Schutzhelm mehr! Setzt Ruthilda wieder als Königin ein und ihr könnt es haben...!« »Wie kommst du zu diesem Saft?«, wollte einer der Wächter wissen. Der junge von Leyden erzählte von den Communities auf den britischen Inseln und ihrem Gesandten, dessen Freundschaft er gewonnen hat. Rulfan hörte nicht mehr zu. Er fühlte eine kräftige Frauenhand seine Finger umschließen. »Wie geht es dir, mein 106
starker Rulfan?«, flüsterte ihm Aunaara ins Ohr. »Weiß nicht... ich werde krank, glaub ich... du sollst den Kerl nicht mehr umarmen, Aunaara. Du gehörst mir allein...« * Aus den fragmentarischen Aufzeichnungen Franz-Gustav von Leydens ... die Würfel sind gefallen: Keime. Und was für Keime! Sie vermehren sich so rasch wie keine der Bakterien oder Viren, die ich je unter dem Mikroskop hatte. Mein Blut spült sie bis in die winzigsten Kapillargefäße meines Körpers. Ich bin jetzt schon ein toter Mann... Unheimliche Keime: Ich habe versucht, den Autoklav, den Objektivträger und die Instrumente zu sterilisieren, stundenlang bei höchsten Temperaturen. Nichts... sie haben sich höchstens noch schneller vermehrt. Ein regelrechter Rhinozeros-Keim, nicht kaputt zu kriegen! Er liebt hohe Temperaturen...! Himmel über Köln, sollte ausgerechnet Acetylsalicylsäure diesen Monsterkeim aufhalten können? Mein Vorrat schmilzt dahin. Was richtet der Keim in meinem Kopf an? Und was wird er erst anrichten, wenn ich keine Acetylsalicylsäure mehr habe...? * Marienthal, Anfang Mai, 2520 Es wurde Abend, es wurde Nacht. Abgesehen von Wulf war er allein. Honnes versuchte aufzustehen, Schwindel packte ihn zunächst, aber es ging. Wo steckte Rulfan? Honnes trank sich satt, gurtete sein Schwert. Der Lupa hob den Schädel, winselte traurig. »Ich komme gleich zurück.« Honnes streichelte sein Nackenfell. Dann machte er sich auf 107
den Weg zum Schloss hinauf. Dort oben vor dem Bunkereingang verhandelten sie schon seit Stunden: der Rotzbengel, der Arzt und die rätselhaften Kriegerinnen auf der einen und die Bunkerführung auf der anderen Seite. Es machte Honnes nervös, nicht zu wissen, was sich da oben abspielte, und gleichzeitig zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Zwischen den Rebstöcken hindurch schleppte er sich den Hang hinauf; aus irgendeinem Grund mied er den Weg. Die Umgebung des Schlösschens war hell erleuchtet. Honnes hörte auf seine innere Stimme und trat nicht aus seiner Deckung, als er die rot blühenden Büsche am Rand des Schlossparks erreichte. Etwa ein Dutzend Technos tummelten sich im Park, die meisten hatten ihre Helme zurück geklappt. Sie scherzten mit den Amazonen, tranken Wein, wirkten seltsam ausgelassen. Nicht weit entfernt von seinem Versteck entdeckte Honnes ein Liebespaar – ein Schutzanzugträger und eine der fremden Kriegerinnen. Er schlich ein Stück um den Park herum, bis er eine Stelle fand, von der aus er das Hauptportal beobachten konnte. Dort kniete ein Mädchen vor Conrad von Leyden. »Ich bin Otira!«, rief sie. »Erkennst du mich denn nicht? Lass mich wieder deine Geliebte sein!« Von Leyden ließ sich im Gras nieder, um das Mädchen zu küssen. Die Szene befremdete Honnes zutiefst. Hatte Conrad nicht erst am Morgen seine tote Hille beweint? Der Arzt – Honnes hatte den Namen Franz-Gustav von Leyden noch nicht bewusst gehört – schritt vor dem Portal auf und ab. Manchmal wankte er, manchmal stolperte er, auf jeden Fall wirkte er beunruhigt. Und dann Rulfan – Hand in Hand mit einer schwarzhaarigen Kriegerin lehnte er unter einer der beiden Tannen, die das Portal des Schlosses flankierten. Sie tuschelten, sie tauschten 108
Zärtlichkeiten aus, und im grellen Licht der Außenbeleuchtung sah Honnes seinen besten Freund lächeln – es war das Lächeln eines Narren! Jemand öffnete das Portal von innen. Sieben oder acht Technos traten ins Freie, unter ihnen eine Frau. »Willkommen zu Hause in Marienthal, Franz-Gustav und Conrad«, sagte sie und machte sechs Schutzanzugträgern Platz, die eine Leiche aus dem Schloss trugen. Vor Conrad warfen sie den schwergewichtigen Toten in den Schmutz. Die Männer im Garten stimmten einen Jubelgesang an. »Der Tyrann ist tot!«, hörte Honnes sie rufen. »Es lebe Königin Ruthilda! Es lebe Conrad unser Nashornkönig!« Auch die Amazonen stimmten in das Gejohle mit ein. Es klang wie das Kreischen junger Eluus. Honnes beobachtete, wie der Arzt ins Schloss huschte. Schutzanzüge wurden nach draußen gebracht. Die fremden Kriegerinnen stiegen hinein; ihre neuen Bekannten halfen ihnen unter großem Hallo. Danach zogen sie durch das Hauptportal ins Innere des Schlosses. Alle bis auf Rulfan. Er hielt die Schwarzhaarige an der Hand fest wie ein trotziges Kind seine Mutter und zog sie bis zum Eingang des Parks. Auch die Frau trug jetzt einen Schutzanzug, hatte den Helm aber noch nicht geschlossen. Sie war schön. Dicht an Honnes' Deckung vorbei zog Rulfan sie zwischen die Brabeelenstöcke. »Ich muss noch einmal nach unten ins Lager«, hörte Honnes seinen alten Freund sagen. Er sprach mit schleppender Stimme. »Was willst du denn dort?« Ihr Akzent war hart, ihre Stimme duldete keinen Widerspruch. »Ich... ich weiß nicht... ach so, Wulf, Wulf und...« Die Frau ließ sich mitziehen, und Honnes schlich ihnen hinterher. Der Lupa hob seinen Schädel, als er Rulfan erkannte. Sein Winseln und sein müdes Jaulen klangen in Honnes' Ohren wie 109
Erleichterung. Es ging Wulf nicht gut, keine Frage. Rulfan lief auf ihn zu. »Bleib stehen«, sagte die Kriegerin im Schutzanzug. Zehn Schritte vor Wulf gehorchte Rulfan, und Honnes traute weder seinen Ohren noch seinen Augen. Ein kalter Schauer rieselte über seinen Nacken. Der Lupa stemmte seinen Körper hoch, schleppte sich von der Asttrage, um seinen Herrn zu begrüßen. Die Frau ging an Rulfan vorbei, näherte sich dem Tier. Der Lupa fletschte die Zähne und knurrte böse. »Er mag mich nicht«, sagte die Schwarzhaarige. Sie packte Wulf im Nacken. Der stemmte sich gegen ihren Griff, doch sie hielt ihn mit übermenschlicher Kraft fest. Irgendetwas geschah mit ihrer Hand. Honnes konnte es nicht genau erkennen, aber sie schien zu wachsen, sich zu verformen – und dann zog sie sich blitzartig zusammen wie eine Schlinge. Der Lupa jaulte auf, röchelte, krümmte sich. Sein mächtiger Körper erschlaffte. Er zuckte noch ein paar Mal, dann war es vorbei. Eine Eisklaue hatte sich um Honnes' Herz gelegt. Kein Atem wollte ihm durch die Kehle strömen. Er spähte nach Rulfan. Im Licht des abnehmenden Mondes wirkte dessen Miene wie die eines Toten. Er schien gar nicht zu begreifen, was da eben geschehen war! Die Frau nahm seine Hand und zog ihn den Weg hinauf zum Schloss. Honnes bohrte seine Stirn in den kühlen Boden und biss sich auf die Faust. Tränen rannen über sein Gesicht. * Aus den fragmentarischen Aufzeichnungen Franz-Gustav von Leydens Gestern scharrte es wieder an der Schleusentür. Leise, unregelmäßig, als würde ein verhungerndes Tier vor dem 110
Labor kauern und auf sich aufmerksam machen wollen. Ich öffnete die Tür – Otira und Conrad lagen davor. Der Junge lebte noch. Ich zog ihn in die Schleuse und verschloss das Schott. Er stammelte nur, zum größten Teil unverständliches Zeug. Und was ich verstand, bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen: Alle Frauen hätten ihre gerechte Strafe gefunden. Marienthal hätte nun sechs neue Königinnen, und der Fremde, dieser Rulfan, sei mit der siebten Königin zu einer langen Reise aufgebrochen. Außerdem habe er mich zu töten, und ich sollte ihm gefälligst seine Waffe entsichern und in die Hand legen. Erst in diesem Moment begriff ich wirklich: Die neuen Königinnen, die Amazonen, sie hatten den fremden Albino in eine Falle gelockt. Ich und die Kleine waren weiter nichts als Köder... Ich habe Otiras Schädel geöffnet und ihr Hirn untersucht. Der Liquor wimmelte von diesen verdammten Keimen. Im Hirngewebe selbst konzentrierten sie sich im Stirnhirn. Bis zu den Frontallappen wies das Stirnhirn Entzündungszeichen auf, ohne die typische Schwellung jedoch. Das Gewebe kam mir wie zersetzt vor. Das also bewirken die Keime: befallen die Persönlichkeitszentren des Gehirns und legen sie lahm. Nach ein paar Tagen ist man empfänglich für jedwede Beeinflussung; ein willenloser Sklave dieser Amazonen. Das steht auch mir bevor. Heute Abend werde ich das letzte Gramm Acetylsalicylsäure einnehmen... Epilog Mitte Mai, 2520 »Ich bin froh, dass ich euch gefunden habe. Es war ein langer Weg, und er ist noch nicht zu Ende.« Ihre dunkle Stimme hallte von den Höhlenwänden wider. Allmählich 111
erfasste Rulfan, mit wem sie da redete, ohne es wirklich zu begreifen. »Ich muss noch weiter ziehen. Keine Sorge, Est'hal'orguu, mein Sohn, sie werden euch abholen. Sobald das Werk im Bunker vollendet ist, werden zwei unseres Volkes euch mit dem Panzer zum Wandler bringen...« Aunaara kniete zwischen zwei Kristallen, jeder einen knappen Meter groß, und hielt die Augen geschlossen. Manchmal schien es, als würde sie lauschen, bevor sie weitersprach. »Projekt Daa'mur hat begonnen und führt mich zu einer Insel, welche die Primärrassenvertreter – die Menschen – Britana nennen.« Ihre Hände, nach links und rechts ausgestreckt, ruhten auf wabenartigen Flächen. Das grüne Licht im Inneren der Kristalle pulsierte und flackerte an den zerklüfteten Wänden der Höhle. Es schien durch Aunaaras Hände hindurch zu strömen, ließ sie fast durchsichtig erscheinen und brach sich in Tausenden winzigster silbriger Schuppen, die plötzlich ihre Arme bis hinauf zu den Ellbogen bedeckten. Rulfan, der nur wenige Schritte vor ihr stand, verzog keine Miene. Er sah die Szene, hörte die Worte, aber sein Geist verarbeitete sie nicht. Er würde sich später nicht daran erinnern können. »Das Zielobjekt heißt Mefju'drex, und dieser da wird mich zu ihm führen.« Sie öffnete die Lider und sah Rulfan an. Dann schloss sie die Augen wieder und fuhr fort: »Wir haben mutierte Modelle angelockt und auf ihn und seine Begleiter gehetzt, um sie anschließend zu erretten und ihr Vertrauen zu gewinnen. Dies ist Teil der komplizierten menschlichen Psyche, die uns Jeecob'smeis offenbart hat und derer wir uns bedienen, bis Projekt Daa'mur vollendet ist. Wir werden uns bald wiedersehen, Est'hal'orguu und Veda'lun'astuuri. Sol'daa'muran leuchte und wärme euch.« Sie erhob sich, und die Schuppen auf ihrer Haut verblassten, ihre Arme verwandelten sich wieder in bleiche Frauenarme. 112
Dann zog sie einen dünnen silbernen Reif unter dem Brustteil ihrer Rüstung hervor; ein Reif, an dessen Stirnseite ein kleiner grüner Kristallsplitter eingelassen war. Sie setzte ihn auf ihr Haupt, konzentrierte sich kurz. »Sende dies an den Sol im Wandler, Lesh'iye Thgáan!«, sagte sie dann zu einem unsichtbaren Übermittler. »Das Unternehmen verläuft besser als erwartet. Wir haben Est'hal'orguu und Veda'lun'astuuri gefunden und den Bunker unter unsere Kontrolle gebracht. Thgáans Hinweis während der Mission erwies sich als korrekt: Unter den Primärrassenvertretern, die unseren Weg kreuzten, befindet sich ein Gefährte von Mefju'drex. Er wurde von mir selbst infiziert. Ich werde ihn konditionieren, mich nach Britana und in unmittelbare Nähe des Primärfeindes zu bringen. – Est'sil'aunaara grüßt euch, Ora'sol'guudo!« Sie nahm den Reif ab, schob ihn wieder unter die Rüstung und ging an Rulfan vorbei, der ihr teilnahmslos hinterher blickte. Am Höhleneingang blieb sie stehen und wandte sich zu ihm um. »Komm, mein starker Rulfan. Ich werde Mefju'drex töten, du musst mich zu ihm führen.« Rulfan zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: Warum nicht? Sie lächelte. Himmel, und wie köstlich sie duftete! Rulfan atmete ihr Odeur ein, das alles andere mit seinem sanften Schleier überdeckte: die Höhle, die beiden Kristalle, das was geschehen war... was war denn geschehen? Er erinnere sich bereits nicht mehr. Nur ihre Gegenwart war noch wichtig. Er wollte ihr gerade folgen, als er sie draußen schreien hörte. »Rulfan! Hilf mir!« Er stürzte aus der Höhle, sah den Fremden, hörte die Klingen aufeinander prallen, sah sie über den Abhang stürzen und den Fremden hinterher springen. Als er endlich unten ankam und über die Felskante in die Tiefe blickte, stand Honnes – Honnes?! – auf dem Felssims und schlug nach ihr. 113
»Hilf mir, Rulfan! Schieß endlich!« Rulfan zielte, Honnes hob das Schwert zum letzten, zum tödlichen Streich – und verharrte. Das war der Augenblick, in dem sie sich zum letzten Mal ansahen. »Schieß!«, schrie Aunaara. »Töte ihn endlich!« »Ich bin es, mein Freund«, sagte Honnes. »Orguudoos Sklavin hat dein Herz gefesselt, aber ich werde dich befreien...« Er holte aus, und Rulfan drückte auf den Auslöser. Die Laserkaskade traf den lederhäutigen Kahlkopf, hüllte ihn in ein Flammenkleid. Honnes schrie, riss die Arme hoch und stürzte dem Langschwert hinterher den Felsen hinab und dem glänzenden Schlangenleib des Großen Flusses entgegen. Aunaara kletterte aus eigener Kraft zu Rulfan hinauf. Oben nahm sie seine Hände. Triumphierend ruhten ihr Blick in seinem. »Nun weiß ich es genau«, sagte sie heiser. »Nun bin ich mir deiner ganz sicher...« ENDE
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Das Abenteuer geht weiter! Im nächsten Band lesen Sie:
Die Nacht der Rache von Michael M. Thurner In den Jahrhunderten nach »Christopher-Floyd« ging durch den Einfluss der Daa'muren das Wissen um die Artefakte der Zivilisation langsam verloren. Im Jahr 2520 weiß kaum noch jemand, zu welchem Zweck einst Automobile oder Computermonitore gedient haben. Nur die »Retrologen« sind bemüht, die Rätsel der Vergangenheit zu entschlüsseln – und werden von den meisten ihrer Mitmenschen als Hexer angesehen. Als Matt Drax nach Mailand kommt – zum zweiten Mal nach über vier Jahren! –, wird ihm das technische Erbe von Jacob Smythe zum Verhängnis. Denn nicht nur der irre Professor hat damals in der Festung des Blutes überlebt...
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