Das neue Abenteuer 452
Honoré de Balzac
Das rote Gasthaus
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Das rote Gasthaus
Verlag Neues Leben Be...
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Das neue Abenteuer 452
Honoré de Balzac
Das rote Gasthaus
Honoré de Balzac
Das rote Gasthaus
Verlag Neues Leben Berlin
Mit Illustrationen von Günther Lück
© Verlag Neues Leben, Berlin 1984 Lizenz Nr. 303 (305/85/84) LSV 7723 Umschlag: G ünther Lück Typografie: W alter Leipold Schrift: 9p Times D ruckerei: (140) Druckerei Neues D eutschland, Berlin Bestell-Nr. 643 673 1 00025
In ich weiß nicht welchem Jahre erwies ein Pariser Bankier, der sehr aus gebreitete Handelsbeziehungen zu Deutschland hatte, einem Geschäfts freund, mit dem er seit langen Jahren in Korrespondenz gestanden, in sei nem Hause Gastfreundschaft. Dieser Freund, der Chef irgendeines bedeu tenden Nürnberger Bankhauses, war ein guter vierschrötiger Deutscher, ein Mann von Bildung und Geschmack, ein Freund der Pfeife. Er hatte ein hübsches, breites Nürnberger Gesicht mit viereckiger offener Stirn, die wenige blonde Haare zierten. Er bot ganz den Typus der Söhne des reinen und edlen Germaniens, so fruchtbar an ehrenwerten Charakteren, deren sanfte Sitten sich selbst nach sieben Invasionen niemals verleugnen. Der Fremde liebte das Lachen, hörte aufmerksam zu und trank ansehnliche Quantitäten: ihm schien der Champagner ebenso zu munden wie der bleichrote Johannisberger. Er nannte sich Hermann, wie fast alle Deut sche, die die Dichter uns vorführen. Als ein Mann, der keine Sache leicht nimmt, saß er an der Tafel des Bankiers sehr gewichtig auf seinem Platz, sprach mit jenem in Europa so berühmten deutschen Appetit den Speisen zu und nahm mit Bewußtsein Abschied.. Um seinen Gast zu ehren, hatte der Hausherr einige nahe Freunde, Ka pitalisten oder Kaufleute, eingeladen, und auch ein paar hübsche, liebens würdige Frauen, deren anmutiges Geplauder und natürliches Wesen mit der deutschen Biederkeit in Einklang standen. Ja wirklich, hätten Sie wie ich das Vergnügen gehabt, inmitten dieser heitern Runde zu weilen, in der jeder die Krallen des Geschäftsmannes eingezogen hatte, um nur auf die Freuden des Lebens zu spekulieren - es wäre Ihnen schwergefallen, die Wucherzinsen zu hassen oder die Zusammenbrüche zu verwünschen. Der Mensch kann nicht immer Böses tun, und selbst unter Piraten muß es hie und da stille Stunden geben, in denen man auf ihrem unheimlichen Schiffe wähnen könnte, auf fröhlicher Schaukel zu sitzen. „Ehe Herr Hermann von uns scheidet, wird er uns hoffentlich eine deutsche Geschichte erzählen, die uns recht gruseln macht!“ Diese Worte sagte beim Dessert ein bleiches, blondes junges Mädchen, das zweifellos die Erzählung Hoffmans und die Romane Walter Scotts ge lesen hatte. Es war des Bankiers einzige Tochter, ein entzückendes Ge schöpf, deren Ausbildung am Gymnase erfolgte und die in alle Stücke, die dort zur Aufführung kamen, vernarrt war. Die Gäste waren jetzt in jenem glücklichen Zustand von Faulheit und Schweigen, in den ein ausgezeich netes Mahl uns versetzt, wenn wir des Guten ein wenig zuviel getan ha ben. Den Rücken behaglich an die Stuhllehne zurückgelegt, die Hand leicht auf dem Tischrande ruhend, spielte jeder Gast nachlässig mit dem vergoldeten Griff seines Messers. Wenn ein Diner bei diesem Punkte an gelangt ist, so zerstückeln die einen das Kerngehäuse einer Birne, andere rollen eine Brotkrume zwischen Daumen und Zeigefinger; wer verliebt ist, ordnet die Schalen seines Obstes zu ungefügen Buchstaben; der Geizhals zählt seine Nüsse und ordnet sie in Reihen, wie ein Regisseur im Hinter gründe des Theaters seine Statisten aufstellt. Das sind so kleine gastrono3
mische Glücksmomente, denen Brillat-Savarin, der sonst so Vollkom mene, in seinem Buche nicht Rechnung getragen hat. Die Diener waren abgetreten. Das Dessert sah aus wie eine Schwadron nach der Schlacht: alles zersprengt und verwüstet. Die Platten irrten auf der Tafel herum, ob wohl die Hausfrau immer wieder eigensinnig versuchte, sie an ihren Platz zurückzubringen. Einige Leute waren in die Betrachtung der Schweizer Landschaften vertieft, die in symmetrischen Abständen die grauen Saal wände zierten. Keiner langweilte sich. Kennen wir doch kaum einen, der sich nach einer guten Mahlzeit mit traurigen Gefühlen der Verdauung überlassen hätte. Wir lieben es dann, uns einer Ruhe hinzugeben, die zwi schen der Träumerei des Denkers und der Befriedigung des Wiederkäuers die Mitte hält und die man als materielle Melancholie der Gastronomie bezeichnen sollte. Jetzt wandten sich alle Gäste eifrig dem guten Deut schen zu, alle begeistert, eine Ballade zu hören zu bekommen, sei es selbst eine langweilige. In solch lässiger Ruhepause scheint unsern erschlafften Sinnen die Stimme eines Erzählers immer köstlich, bringt sie ihnen doch ein negatives Glück. Ein Freund von Bildern, bewunderte ich die von ei nem Lächeln belebten, vom Kerzenlicht erhellten Gesichter, die das gute Mahl gerötet hatte; ihr verschiedener Ausdruck bot inmitten der Kandela ber, der Porzellankörbe und des blinkenden Kristalls einen reizvollen An blick. 4
Plötzlich wurde mein Interesse durch den Gast, der genau mir gegen übersaß, gefesselt. Er war ein Mann mittlerer Größe, ziemlich beleibt, der viel lachte und das Aussehen und Benehmen eines Wechselmaklers hatte; auch seine Geistesgaben schienen recht mittelmäßig zu sein. Ich hatte ihn noch nicht bemerkt. Jetzt schien mir sein Antlitz, das der Schatten des Kerzenlichts verdunkelte, den Ausdruck verändert zu haben: es war erd fahl, violette Lichter glitten darüber hin - man meinte den Totenschädel eines Sterbenden zu sehen. Er saß unbeweglich, wie eine gemalte Figur in einem Diorama, und sein stumpfer Blick hing gebannt an den glitzernden Facetten eines Kristallstöpsels;, er zählte sie aber sicherlich nicht und schien in irgendeine abenteuerliche Betrachtung der Zukunft oder Vergan genheit versunken. Ich besah mir lange dieses verdächtige Gesicht, es gab mir zu denken. Leidet er? fragte ich mich. Hat er zuviel getrunken? Hat die Baisse der Staatspapiere ihn ruiniert? Sinnt er darüber nach, wie er seinen Gläubi gern einen Streich spielen könnte? —„Sehen Sie nur“, sagte ich zu meiner Nachbarin, auf das Gesicht des Unbekannten weisend, „ist das nicht der blühende Bankrott?“ - „Oh“, erwiderte sie mir, „er wird lustiger werden!“ Dann fügte sie mit anmutigem Kopfschütteln hinzu: „Wenn dieser da jemals Bankrott machte, würde ich diese Neuigkeit bis Peking bringen! Er hat für eine Million Grundbesitz! Er ist ein ehemaliger Armeelieferant, ein origineller Kauz. Er hat sich aus Spekulation wiederverheiratet und macht seine Frau dennoch sehr glücklich. Er hat eine hübsche Tochter, die er lange Zeit nicht anerkennen wollte; aber der Tod seines Sohnes, der un glücklicherweise im Duell gefallen ist, hat ihn bestimmt, sie zu sich zu nehmen, da er wohl keine Kinder mehr bekommt. So ist das arme Mäd chen ganz plötzlich eine der reichsten Erbinnen von Paris geworden. Der Tod seines einzigen Sohnes hat den lieben Mann in tiefen Gram gestürzt, der manchmal wiederkehrt.“ In diesem Augenblick hob der Lieferant die Augen zu mir auf; sein Blick ließ mich erbeben, so düster und gedankenschwer war er. Sicherlich: Dieser Blick enthielt sein ganzes Leben, Ganz plötzlich aber wurde sein Antlitz heiter; er nahm den Kristallstöpsel, setzte ihn mit einer mechani schen Bewegung einer Wasserflasche auf, die vor seinem Teller stand, und wandte sich lächelnd Herrn Hermann zu. Jener Mann, den seine gastrono mischen Freuden verklärten, hatte zweifellos keine zwei Gedanken im K opf und träumte von nichts. Ich schämte mich also ein bißchen, meine psychologischen Kenntnisse in anima vili auf einen plumpen Bankier an gewendet zu haben. Während ich so unnützerweise phrenologische Studien machte, hatte der gute Deutsche eine Prise genommen und begann seine Erzählung. Es würde mir schwerfalien, sie in denselben Wendungen, mit ihren zahlreichen Unterbrechungen und geschwätzigen Abschweifungen wiederzugeben. Ich habe sie also auf meine Weise niedergeschrieben, in dem ich die Fehler dem Nürnberger überließ und mir alles nahm, was sie Poetisches und Interessantes haben konnte —mit der Leichtherzigkeit der 5
Schriftsteller, die vergessen, über ihre Bücher zu setzen: aus dem Deut schen übersetzt. 1. Der Gedanke und die Tat
Ende des Vendemaire im siebenten Jahre nach der Zeitrechnung der Re publik, nach unserer Zeit also am 20. Oktober 1799, erreichten zwei junge Leute, die morgens von Bonn aufgebrochen waren, bei Einbruch des Abends die Nähe Andernachs, eines am linken Rheinufer gelegenen Städtchens, das wenige Meilen von Koblenz entfernt ist. Die vom General Augereau befehligte französische Armee manövrierte in Gegenwart der Österreicher, die das rechte Flußufer besetzt hielten. Das Hauptquartier der republikanischen Division war in Koblenz, und eine dem Korps Augereaus zugeteilte halbe Brigade hatte in Andernach Standquartiere bezo gen. Die beiden Reisenden waren Franzosen. Angesichts ihrer blau und weißen Uniformen mit roten Samtaufschlägen, ihrer Säbel und vor allem ihrer mit grüner Wachsleinwand bezogenen und mit einem in den drei Na tionalfarben gehaltenen Federbusch geschmückten Kopfbedeckung hät ten selbst deutsche Bauern sie als Militärchirurgen erkannt — als Leute von Bildung und Verdienst, die nicht nur größtenteils von der Armee, son dern auch von der Bevölkerung der durch unsere Truppen besetzten Landstriche geliebt wurden. Zu dieser Zeit hatten die durch das vom Ge neral Jourdan neuerlassene Gesetz der Aushebung ihrem medizinischen Beruf entrissenen jungen Leute es natürlich vorgezogen, ihre Studien auf dem Schlachtfeld fortzusetzen, anstatt den direkten Militärdienst mitzu machen, der so wenig zu ihrer bisherigen Erziehung und friedlichen Be stimmung paßte. Diese studierten, friedlichen und gefälligen Jungen Leute schafften unter all dem Elend ein gutes Werk und waren mit den Gelehrten aller Gegenden, durch die die grausame Zivilisation der Repu blik hindurchmarschierte, eines Sinnes. Die beiden jungen Männer, die je der mit einem Militärpaß und einer von Coste und Bernadotte Unterzeich neten Vollmacht als Unterwundärzte ausgerüstet waren, begaben sich zur halben Brigade, der sie zugeteilt waren. Beide entstammten leidlich wohlhabenden Bürgerfaftiilien aus Beauvais, in denen sanfte Sitten und bürgerliche Rechtschaffenheit sich wie ein Erbteil fortpflanzten. Eine der Jugend so natürliche Neugier führte sie schon vor der Gestellungszeit auf den Kriegsschauplatz; sie hatten die Reise bis Straßburg mit der Post gemacht. Wenngleich mütterliche Vor sicht ihnen nur eine geringe Summe mitzunehmen erlaubt hatte, hielten sie sich im Besitz einiger Louis doch für reich - ein wahrer Schatz in einer Zeit, in der die Nationalgüter den niedrigsten Stand ihres Wertes erreicht hatten und das Gold einen hohen Geldwert besaß. Die beiden Unterärzte, die höchstens zwanzig Jahre zählten, genossen mit aller Begeisterung der Jugend die Poesie ihrer Lage. Von Straßburg bis Bonn hatten sie das Kur6
fürstentum und die Ufer des Rheins als Künstler, als Philosophen und Be obachter durchwandert. Wenn wir eine wissenschaftliche Bestimmung ha ben, so sind wir in solchem Alter gewiß sehr vielfältige Geschöpfe. Selbst wenn er die Cour schneidet oder auf Reisen ist, muß ein Unterarzt bemüht sein, die Grundlagen zu Vermögen oder künftigem Reichtum zu legen. Die beiden jungen Leute hatten sich also der tiefen Bewunderung hinge geben, von der jeder Gebildete beim Anblick des Rheins zwischen Mainz und Köln ergriffen wird. Es ist das eine reiche und malerische hügelige Gegend, fruchtbar und voller lehnsherrlicher Erinnerungen, doch auch voll vernarbter Wunden, die Schwert und Feuer ihr geschlagen. Ludwig XIV. und Turenne haben dies entzückende Land verheert. Hie und da zeugen Ruinen von dem Hochmut oder vielleicht der Vorsicht des Königs von Versailles, der die wunderbaren Schlösser, mit denen dieser Teil Deutschlands früher geziert war, niederreißen ließ. Angesichts dieser herrlichen Wälder und mittelalterlich malerischen Ruinen begreift man deutsches Genie, deutsche Träumerei und Mystik. Der Aufenthalt der bei den Freunde in Bonn hatte jedoch auch ein wissenschaftliches Ziel. Das große Lazarett der französisch-holländischen Armee und der Division von Augereau war im kurfürstlichen Schloß eingerichtet worden. Die neuge backenen Unterärzte hatten sich also dorthin begeben, um Kameraden zu besuchen, ihren Vorgesetzten Empfehlungsbriefe zu überreichen und sich mit den Grandzügen ihres Berufes vertraut zu machen. Aber auch hier wie anderswo legten sie manche Voreingenommenheit ab, in der wir in bezug auf Bauwerke und Naturschönheiten unseres eigenen Landes befangen sind. Überrascht vom Anblick der Marmorsäulen, die das Palais umgaben, schritten sie dahin, ganz Bewunderung für das Großzügige der deutschen Bauwerke, und fanden bei jedem Schritt neue Schätze aus Altertum und Neuzeit. Hie und da führten die Wege, auf denen die beiden Freunde in der Richtung auf Andernach einherirrten, auf den Gipfel eines Granitber ges, der die ändern überragte; dann erblickten sie durch einen Waldaus schnitt oder ein Felsentor ein Stück des von Sandsteinhügeln eingefaßten oder von üppigem Grün umrahmten Rheins. Täler, Wege und Bäume strömten den herbstlichen Duft aus, der zur Träumerei verlockt. Die Wip fel der Wälder hatten goldene und warme braune Töne, die den Herbst verkündeten; die Blätter fielen, aber der Himmel war noch von schönstem Blau, und die trockenen Wege zeichneten gelbe Striche in die von den Strahlen der untergehenden Sonne erleuchtete Landschaft. Eine halbe Meile vor Andernach fanden sich die beiden Freunde inmitten eines tie fen Schweigens, und nichts ließ ahnen, daß der Krieg dies schöne Land verheerte. Sie schritten einen Ziegenpfad entlang, der über die hohen Mauern aus bläulichem Granit hinüberführte, zwischen denen der Rhein schäumte. Bald stiegen sie den Abhang einer Schlucht hinab, in deren Tie fen die kleine Stadt kokett am Flußufer hingelagert ruht und den Schif fern einen hübschen Hafen bietet. „Deutschland ist ein recht schönes Land!“ rief einer der jungen Leute, 7
mit Namen Prosper Magnan, als er die bemalten Häuser Andernachs er blickte, die wie Eier in einem Korb da drunten beisammenlagen, von ein zelnen Bäumen und Blumengärten unterbrochen. Dann bewunderte er ein Weilchen die spitzen Dächer mit den vorste henden Giebelbalken, die Holztreppen und Galerien tausend friedlicher Behausungen und die von den Hafenwellen geschaukelten Boote ... Als Hermann den Namen Prosper Magnan nannte, griff der Armeeliefe rant zur Karaffe, goß sich ein Glas Wasser ein und leerte es auf einen Zug. Dadurch war ich auf ihn aufmerksam geworden und glaubte nun ein leichtes Zittern der Hände und auf seiner Stirne Schweißtropfen zu be merken. „Wie heißt der frühere Armeelieferant?“ fragte ich meine liebenswürdige Nachbarin. „Taillefer“, erwiderte sie. „Fühlen Sie sich unwohl?“ rief ich, da ich den sonderbaren Mann erbleichen sah. „Durchaus nicht“, entgegnete er mit einer höflichen Geste. „Ich höre zu“, wandte er sich mit einer Kopfbewegung an die Anwesenden, die ihn der Reihe nach anblickten. „Den Namen des ändern jungen Mannes habe ich vergessen“, sagte Herr Hermann, „ich weiß nur aus den Mitteilungen, die Prosper Magnan mir gemacht, daß sein Gefährte brünett und ziemlich mager und ein fröhlicher Bursche war. Wenn sie erlauben, nenne ich ihn Wilhelm, damit meine Er zählung keine Unklarheiten aufweist.“ Nachdem der brave Deutsche also, ohne Rücksicht auf Romantik und Lokalfärbung, den französischen Unterarzt mit einem deutschen Namen belegt hatte, nahm er seine Erzählung wieder auf. Als die beiden jungen Leute in Andernach ankamen, war es bereits Nacht. In der Annahme, daß sie auf der Suche nach ihren Vorgesetzten und bei der Vorstellung dort selbst viel Zeit verlieren und daß es auch schwerhalten würde, in einer bereits von Soldaten überfüllten Stadt ein militärisches Nachtquartier zu finden, beschlossen sie, die letzte Nacht der Freiheit in einer etwa hundert Schritt von Andernach entfernten Her berge zu verbringen, deren schöne Farben sie beim Sonnenuntergang von der Höhe der Felsen aus bewundert hatten. Dieser ganz rot gestrichene Gasthof hob sich sehr reizvoll in der Landschaft ab - sei es, weil er der Hauptmasse der Stadt vorgelagert war oder weil er wie ein roter Vorhang vom Grün des Laubes und Grau des Wassers abstach. Das Haus ver dankte seinen Namen dem Anstrich, den ihm wohl in unvordenklicher Zeit sein Gründer gegeben haben mochte. Ein ganz begreiflicher kauf männischer Aberglaube hatte die verschiedenen Besitzer dieses bei den Rheinschiffern in Ansehen stehenden Hauses veranlaßt, den Brauch bei zubehalten. Als der Wirt vom „Roten Gasthaus“ das Pferdegetrappel ver nahm, erschien er auf der Schwelle. „Meiner Treu, meine Herren“, rief er aus, „ein wenig später, und Sie hät ten bei Mutter Grün schlafen müssen, wie die meisten Ihrer Landsleute, die drüben auf der ändern Seite von Andernach biwakieren! Bei mir ist al-
les besetzt! Wenn Sie Wert darauf legen, in einem guten Bett zu liegen, so kann ich Ihnen nur mein eigenes Zimer anbieten. Was Ihre Pferde an langt, so werde ich ihnen in einer Ecke des Hofes eine Streu hinlegen las sen. Heute ist mein Stall voller Christenmenschen ... Kommen die Herren aus Frankreich?“ fuhr er nach einer kleinen Pause fort. „Von Bonn“, rief Prosper; „und wir haben seit dem Morgen nichts gegessen.“ - „Oh, was das Essen anlangt“, sagte der Gastwirt mit zurückgeworfenem Kopf, „so kommt man aus zehn Meilen in der Runde zum ,Roten Gasthaus“, um hier zu speisen. Sie sollen ein fürstliches Mahl haben, Rheinfisch - das sagt alles!“ Nachdem sie dem Wirt, der vergebens nach seinen Knechten gerufen, ihre ermüdeten Gäule anvertraut hatten, betraten die beiden Unterärzte die allgemeine Gaststube. Es war sehr voll, und der dichte weiße Tabaks qualm erlaubte ihnen zunächst nicht, die Leute zu erkennen, mit denen sie hier zusammensitzen sollten. Mit der geduldigen Erfahrung des philoso phischen Reisenden, der weiß, daß Lärmschlagen nutzlos ist, setzten sie sich an einen Tisch und unterschieden bald im Tabaksqualm die üblichen Requisiten eines deutschen Gasthofs: den Ofen, die Wanduhr, die Tische, Bierkrüge und langen Pfeifen; hie und da wunderliche Gesichter: Juden, Deutsche, ein paar rauhe Schifferköpfe. Durch den Nebel glitzerten die Epauletten französischer Offiziere, und auf dem Steinfußboden ertönte 9
unausgesetzt das Klirren der Säbel und Sporen. Man spielte Karten, stritt und schwieg, aß und trank oder ging auf und ab. Eine kleine dicke Frau mit schwarzer Samthaube, blau und silbernem Mieder, silberner Schnalle, gelockten Haaren und einem Schlüsselbund - die typischen Merkmale al ler deutschen Wirtinnen, deren Tracht übrigens auf so unzähligen Kupfer stichen dargestellt ist, daß sie nicht mehr beschrieben zu werden braucht - , die Frau des Wirtes also, wußte mit großer Geschicklichkeit die beiden Freunde geduldig und ungeduldig zu stimmen. Allmählich ließ der Lärm nach, die Reisenden zogen sich zurück, und die Rauchwolken verflogen. Als für die Unterärzte das Gedeck aufgelegt wurde und der berühmte Rheinkarpfen auf dem Tisch erschien, schlug es elf Uhr, und der Saal war leer. Durch die Stille der Nacht konnte man hören, wie die Pferde ihr Fut ter kauten oder mit den Hufen stampften, man hörte das Murmeln der Rheinwellen und all die Geräusche, die einen vollen Gasthof beleben, wenn jedermann schlafen geht. Fenster und Türen wurden auf- und zuge macht, man hörte Stimmengemurmel und Rufe aus den verschiedenen Zimmern. Die beiden Franzosen horchten in die Stille und den Lärm und auf die Worte des Wirtes, der Andernach und das Essen, seinen Rhein wein, die republikanische Armee und sein Weib pries — da hörte man plötzlich rauhe Schifferworte und das Anlegen eines Bootes am Lan dungsplatz. Der Wirt, dem die Kehllaute der Bootsleute offenbar bekannt waren, ging eilig hinaus und kehrte bald zurück. Er brachte einen kleinen dicken Mann mit, hinter dem zwei Schiffer ein schweres Felleisen und mehrere Ballen herschleppten. Als seine Sachen im Saal niedergelegt wa ren, nahm der Kleine sein Felleisen an sich und setzte sich ohne Um schweife den beiden Unterärzten gegenüber an den Tisch. „Geht und legt euch im Boot schlafen“, sagte er zu den Schiffern, „das Gasthaus ist voll! Da ist es wohl so das beste.“ „Mein Herr“, sagte der Wirt zu dem Ankömmling, „hier sind alle meine Vorräte ...“, und er zeigte auf das den Franzosen aufgetragene Essen; „ich habe keine Brotrinde, keinen Knochen mehr im Haus ..." —„Und Sauer kraut?“ — „Nicht so viel, um einen Fingerhut zu füllen! Wie ich mir be reits zu sagen erlaubte, können Sie kein ander Bett haben als den Stuhl, auf dem Sie sitzen, und kein ander Zimmer als diesen Saal.“ Hier warf der Kleine auf den Gastwirt, den Saal und die zwei Franzo sen einen Blick, in dem sich Sorge und Angst gleichermaßen spiegelten. „Ich muß hier einschalten“, unterbrach sich Herr Hermann, „daß wir niemals den wahren Namen und die Geschichte dieses Unbekannten er fahren haben. Seine Papiere besagten nur, daß er aus Aachen stammte; er nannte sich Walhenfer und besaß in der Gegend von Neuwied eine ziem lich ansehnliche Stecknadelfabrik. Wie alle Fabrikanten seines Landes trug er einen Rock aus derbem Tuch, Hose und Weste aus dunkelgrünem Samt, Zugstiefel und einen breiten Ledergürtel. Sein Gesicht war sehr rund, sein Benehmen frei und freundlich; doch war es ihm an diesem Abend offenbar schwer, eine geheime Besorgnis, vielleicht eine Vorah10
nung zu unterdrücken. Die Ansicht des Gastwirts ging später stets dahin, daß dieser deutsche Kaufmann auf der Flucht aus seinem Vaterland gewe sen sei. Später brachte ich in Erfahrung, daß seine Fabrik durch einen der in Kriegszeiten so häufigen unglücklichen Zufälle niedergebrannt war. Trotz seines eigentlich besorgten Gesichtsausdrucks sprachen seine Mie nen von Wohlwollen und Vertrauen. Er hatte angenehme Züge und einen breiten Hals, dessen Weiße durch ein schwarzes Halstuch so vorteilhaft gehoben wurde, daß Prosper von Wilhelm scherzend darauf aufmerksam gemacht wurde ..." Hier trank Herr Taillefer ein Glas Wasser. Prosper bot dem Kaufmann höflich an, ihr Mahl mit ihm zu teilen, und Walhenfer nahm ohne Umstände an wie einer, der sich in der Lage weiß, solche Liebenswürdigkeit zu erwidern. Er legte sein Felleisen auf die Erde, stellte die Füße darauf, nahm den Hut ab, rückte an den Tisch heran und entledigte sich der Handschuhe und zweier Pistolen, die er im Gürtel getragen. Der Wirt hatte ein drittes Gedeck gebracht, und die drei Gäste begannen schweigend ihren Hunger zu stillen. Die Luft im Saale war so schwül, und der Fliegen gab es so viele, daß Prosper den Wirt bat, das Fenster zu öffnen, das auf den Hafen führte. Dieses Fenster war durch eine Eisenstange verriegelt, deren Enden in zwei im Fensterrahmen ange brachten Löchern ruhten. Zur größeren Sicherheit war jeder Fensterladen mit je einer Schraube in eine Schraubenmutter eingeschraubt. Zufällig be obachtete Prosper die Handgriffe, mit denen der Wirt das Fenster öffnete. „Da ich gerade von den Lokalitätep rede“, sagte Herr Hermann, „so muß ich Ihnen die Anlage des Gasthofs schildern, da das Interesse an dieser Erzählung von genauer Ortskenntnis abhängig ist. Der Saal, in dem un sere drei Leute sich befanden, hatte zwei Ausgänge. Der eine führte auf die Straße nach Andernach, die sich am Rhein entlangzieht. Dort vor dem Gasthaus befand sich natürlich eine kleine Landungsstelle, wo das von dem Kaufmann zu seiner Reise gemietete Boot verankert lag. Die andere Tür führte auf den H of der Herberge. Dieser Hof war von sehr hohen Mauern eingeschlossen und gegenwärtig ganz von Vieh und Pferden ange füllt, da die Ställe voller Menschen lagen. Das große Haustor war so sorg sam verschlossen, daß der Wirt in der Eile den Kaufmann und die Schif fer durch die zur Straße führende Tür eingelassen hatte. Nachdem er dem Wunsche Prosper Magnans nachgekommen war und das Fenster geöffnet hatte, machte er sich daran, diese Tür zu schließen, schob die Riegel vor und schloß die Schrauben. Das Zimmer der Wirtsleute, in dem die beiden Unterärzte schlafen sollten, war der Gaststube benachbart und von der Küche durch eine dünne Wand getrennt; hier in der Küche gedachten wahrscheinlich die Wirtsleute ihr Nachtquartier aufzuschlagen. Die Magd war gegangen, um ihr Lager in irgendeinem Winkel, auf dem Speicher oder sonstwo, aufzusuchen. Man kann leicht begreifen, daß die Gaststube, das Zimmer der Wirtsleute und die Küche gewissermaßen von den ändern Räumen der Herberge isoliert waren. Im Hofe gab es zwei mächtige 11
Hunde, deren scharfes Gebell wachsame und erregte Wächter verriet.“ „Welche Stille und welch eine schöne Nacht!“ sagte Wilhelm,zum Him mel blickend, als der Wirt die Tür verschlossen hatte. Das Klatschen der Wellen am Landungssteg war der einzige Laut, der sich vernehmen ließ. „Meine Herren“, wandte sich der Kaufmann an die zwei Franzosen, „er lauben Sie mir, Ihnen ein paar Flaschen Wein anzubieten, um Ihren Karp fen zu begießen! Wenn wir trinken, vergessen wir des Tages Müdigkeit. An Ihrem Aussehen und dem Zustand Ihrer Kleidung erkenne ich, daß Sie gleich mir heute einen tüchtigen Weg hinter sich haben.“ Die beiden Freunde nahmen an, und der Wirt verschwand durch die Küchentür, um in den Keller hinabzusteigen, der sich anscheinend unter diesem Teil des Gebäudes befand. Als fünf vom Wirt herbeigebrachte stattliche Flaschen auf dem Tisch standen, hatte seine Frau das letzte Ge richt aufgetragen. Sie warf einen prüfenden Hausfrauenblick in den Saal, und als sie sich vergewissert hatte, daß für alle Bedürfnisse der Reisenden gesorgt sei, zog sie sich in die Küche zurück. Die vier Zecher - denn den Wirt hatte man auch dazugeladen - hörten nicht, daß sie sich niederlegte; später aber, in den Pausen, in denen das Gespräch der Zecher ruhte, machten sehr deutliche Schnarchlaute, noch verstärkt durch die gewölb ten Deckenbalken des Hängebodens, auf den sie sich eingenistet, die Freunde und vor allem den Gastwirt selbst lächeln. Gegen Mitternacht, als auf dem Tische nur mehr Gebäck und Käse, gedörrtes Obst und guter Wein standen, wurden die Zecher, vor allem die zwei jungen Franzosen mitteilsam. Sie sprachen von ihrer Heimat, ihren Studien, vom Krieg. Schließlich wurde die Unterhaltung lebhaft. Prosper Magnan entlockte den Augen des ehemaligen Kaufmanns Tränen, als er mit der Freimütig keit der Leute aus der Picardie und der Naivität einer guten und zärtli chen Natur den Gedanken äußerte, was wohl seine Mutter jetzt tun werde, jetzt, da er sich an den Ufern des Rheins befinde. „Ich sehe sie“, sagte er, „wie sie vor dem Schlafengehen ihr Abendgebet liest! Sie vergißt auch meiner nicht und wird sich fragen: ,Wo ist er, mein armer Prosper!1 Wenn sie aber ihrer Nachbarin beim Spiel ein paar Sous abgewonnen hat — deiner Mutter vielleicht“, sagte er, Wilhelm mit dem Ellbogen anstoßend, „so wird sie sie in den großen Tontopf tun, in dem sie die Summe zusammenspart, um die zehn Hektar fremden Landes an kaufen zu können, das sich auf ihrem kleinen Grundbesitz in Lescheville befindet. Diese zehn Hektar haben einen Wert von etwa sechzigtausend Franken. Welch schöne Wiesen! Ja, wenn ich die eines Tages hätte, so wollte ich ohne allen weiteren Ehrgeiz mein lebelang in Lescheville zu bringen! Wie oft hat mein Vater sich jene zehn Hektar gewünscht und das hübsche Bächlein, das sich durch die Wiesen schlängelt. Und er starb, ohne sie kaufen zu können ... Wie oft habe ich dort gespielt!“ - „Herr Walhenfer, haben nicht auch Sie Ihren hoc erat in votis?“ fragte Wilhelm. „Ja, Herr, ja! Aber es ist alles so gekommen, und jetzt ...“ Der Gute 12
schwieg, ohne seinen Satz zu beenden. „Ich“, sagte der Wirt, dessen Ge sicht sich ziemlich gerötet hatte, „ich habe im vorigen Jahr ein Stück Land gekauft, das ich mir seit zehn Jahren gewünscht hatte.“ So plauderten sie, wie Leute, denen der Wein die Zunge gelöst hat, und empfanden füreinander diese vorübergehende Freundschaft, mit der wir auf Reisen nicht zu geizen pflegen, so daß, als die Zeit des Schlafengehens kam, Wilhelm dem Kaufmann sein Bett anbot. „Sie können das um so eher annehmen“, sagte er zu ihm, „als ich bei Pro sper schlafen kann. Es ist das sicherlich weder das erste - noch das letztemal, daß ich das tue. Sie sind unser Alterspräsident; das Alter soll man eh ren!“ „Übrigens“, sagte der Wirt, „hat das Bett meiner Frau mehrere M atrat zen; eine davon können Sie haben und auf die Erde legen.“ Und er schloß das Fenster mit dem Lärm, den dies sorgsame Geschäft erforderte. „Gut, ich nehme an“, sagte der Kaufmann. „Ich bekenne“, fügte er mit leiser Stimme hinzu, „daß es mir sehr erwünscht ist. Meine Bootsleute sind mir verdächtig, und ich bin nicht bös, diese Nacht in Gesellschaft zweier tapferer und braver junger Leute, französischer Soldaten, zuzubrin gen. Ich habe in meinem Felleisen hunderttausend Franken in Gold und Diamanten!“ Die herzliche Zurückhaltung, mit der dies unvorsichtige Bekenntnis ent gegengenommen wurde, beruhigte den guten Deutschen. Der Wirt half seinen Gästen, eins der Betten zu teilen. Dann, als alles zum besten geord net war, wünschte er ihnen gute Nacht und ging ebenfalls zur Ruhe. Der Kaufmann und die beiden Unterärzte scherzten über ihre seltsamen Kopf kissen. Prosper legte seine und Wilhelms Instrumententasche unter seine Matratze, um sie auf diese Weise zu erhöhen und das Keilkissen zu erset zen, das er abgegeben hatte; da sah er, daß Walhenfer sein Felleisen un ters Kopfkissen schob. „Wir schlafen beide auf unserm Vermögen und unsere Zukunft“, sagte er; „Sie auf Ihrem Gold, ich auf meiner Instrumententasche! Bleibt nur zu wissen, ob mein Handwerkszeug mir so viel wert ist, als Sie mit dem Ihri gen erworben haben.“ - „Das dürfen Sie hoffen!“ sagte der Kaufmann. „Arbeit und Rechtschaffenheit erreichen alles, aber Sie müssen Geduld haben!“ Walhenfer und Wilhelm schliefen bald. Prosper Magnan aber blieb wach, sei es nun, daß sein Lager zu hart oder er selbst zu übermüdet oder in zu aufgeregter Seelenverfassung war. Seine Gedanken nahmen unwill kürlich eine böse Richtung. Er dachte fast ausschließlich an die hundert tausend Franken, auf denen der Kaufmann schlummerte. Für ihn waren hunderttausend Franken ein ungeheures Vermögen. Er begann sie auf alle mögliche Art zu verwenden, er baute Luftschlösser, wie wir alle so gern in der Stunde vor dem Einschlafen tun, der Stunde, in der wir uns die selt samsten Bilder ausmalen und in der im Schweigen der Nacht der Ge13
danke fast magische Gewalt hat. Er erfüllte die Wünsche seiner Mutter, er kaufte die zehn Hektar Wiesenland, er heiratete ein Fräulein aus Beauvais, auf das zu hoffen ihn vorläufig das Mißverhältnis ihrer Vermögen zueinander hinderte. Er verschaffte sich mit dieser Summe ein Leben vol ler Köstlichkeiten und sah sich als glücklichen Familienvater, reich, in der ganzen Provinz geachtet, ja, er sah sich sogar als Bürgermeister von Beauvais. Sein picardischer Schädel loderte; er sann auf ein Mittel, seine Träume wahr zu machen. Mit wirklicher Glut ersann er in der Theorie ein Verbrechen. Er träumte vom Tod des Kaufmanns und sah ganz deutlich das Gold und die Diamanten vor sich: seine Blicke waren wie geblendet davon. Sein Herz hämmerte. Schon dieses Überlegen war ja ein Verbre chen. Wie berauscht von der Menge des Geldes, sprach er sich geistig Mut zu - mit der Logik des Mörders. Er fragte sich, ob dieser arme Deutsche wohl nötig hatte zu leben, und nahm an, er sei nie dagewesen. Kurz, er be schloß das Verbrechen, aber so, daß es straflos für ihn ausging. Das an dere Rheinufer war von den Österreichern besetzt; unter den Fenstern lag ein bemanntes Boot; er konnte diesem Menschen den Hals abschneiden, ihn in den Rhein werfen, sich mitsamt dem Felleisen durch das Fenster retten, die Schiffer mit Gold bestechen und ins Österreichische gelangen. Er ging so weit, daß er berechnete, welch große Geschicklichkeit er in der Handhabung seiner Instrumente erworben hatte, so daß es ihm möglich sein würde, den Kopf seines Opfers vom Rumpf zu trennen, ohne daß es einen einzigen Schrei ausstieße... Hier trocknete sich Herr Taillefer die Stirn und trank wieder einen Schluck Wasser. Prosper erhob sich langsam und ohne jedes Geräusch. Er war sicher, niemanden geweckt zu haben, zog sich an und begab sich in den Speise saal. Mit jener verhängnisvollen Geschicklichkeit, Sicherheit und Zielbe wußtheit, die oft so plötzlich in uns erwacht und deren es weder dem Ge fangenen noch dem Verbrecher bei der Ausführung ihrer Pläne ermangelt, löste er die Eisenstangen und hob sie geräuschlos aus ihren Löchern; er lehnte sie an die Wand und öffnete die Schalter, indem er sich mit seinem ganzen Gewicht an die Angeln drückte, um ihr Kreischen zu ersticken. Der Mond, der sein bleiches Licht auf diese Szene goß, gestattete ihm, die Gegenstände im Zimmer nebenan, wo Wilhelm und Walhenfer schliefen, schwach zu erkennen. Hier, so erzählte er mir später, hielt er einen Mo ment inné. Sein Herz schlug so schwer, so stark und laut, daß es ihn fast ohnmächtig machte. Er glaubte daher auch, nicht kaltblütig handeln zu können; seine Hände zitterten, und es war ihm, als ständen seine Füße auf glühenden Kohlen. Doch die Ausführung seiner Absicht erschien ihm so glückverheißend, daß er in dieser Schicksalsfügung eine Art Vorbestim mung sah. Er öffnete das Fenster, kehrte ins Zimmer zurück und nahm seine Instrumententasche, um das für sein Vorhaben geeignete Werkzeug herauszusuchen. „Als ich vor seinem Bett stand“, sagte er später zu mir, „empfahl ich mich unwillkürlich in Gottes Hand!“ 14
Als er den Arm mit aller Kraft erhob, vernahm er eine Stimme und ge wahrte einen Lichtschein. Er warf das Instrument auf sein Bett, floh ins andere Zimmer und stellte sich ans Fenster. Da empfand er ein ungeheu res Grauen vor sich selbst; da er aber fühlte, daß seine Tugend auf schwa chen Füßen stand, und fürchtete, wiederum der Betörung anheimzufallen, deren Beute er gewesen, sprang er rasch aus dem Fenster und wanderte den Rhein entlang, vorm Hause auf und ab, wie eine Schildwache. Oft kam er bei seinem schnellen Gang bis nach Andernach, oft auch führten ihn seine Schritte zum Abhang, an dem er zum Gasthaus heruntergestie gen war.-Doch das Schweigen der Nacht war so tief, und er vertraute den W achhunden so sehr, daß er öfter dem Fenster, das er offengelassen hatte, außer Sicht kam. Seine Absicht war, sich zu ermüden und schläfrig zu werden. Wie er aber so unter dem wolkenlosen Himmel hinschritt und die schönen Sterne; bewunderte, wurde er von der reinen Nachtluft und dem schwermütigen Wellengeplätscher so ergriffen, daß er in eine Träumerei versank, die ihn allmählich wieder zu gesunden, vernünftigen Gedanken brachte. Die Vernunft gewann wieder die Oberhand über den momenta nen Wahnsinn. Seine gute Erziehung, die Religionslehren und vor allem die Bilder, die sein bisheriges Leben im Vaterhaus ihm vorenthielt, sieg ten, so sagte er mir, über die bösen Gedanken ... Als er nach langem Sin nen, dem er sich am Ufer des Rheins auf einem Steine sitzend beseligt hin gegeben, zurückkehrte, hätte er, wie er mir sagte, neben einer ganzen Mil liarde nicht nur schlafen, sondern sogar wachen können. In dem Augen blick, als seine Redlichkeit stolz und stark aus diesem Kampf hervorging, kniete er in einem Gefühl von Glück und Begeisterung nieder und dankte Gott; er fühlte sich glücklich, frei und zufrieden, wie am Tage seiner er sten Kommunion, als er meinte, den Engeln gleich zu sein, weil er den Tag verbracht hatte, ohne weder in Gedanken noch in Worten und Werken zu sündigen. Er kehrte zum Gasthof zurück, schloß achtlos das Fenster und legte sich sogleich aufs Bett. Seine geistige und körperliche Ermattung überlieferte ihm sofort dem Schlaf. Kurz nachdem er sich ausgestreckt, verfiel er in jenen wachträumenden Halbschlummer, der jedem tiefen Schlaf vorangeht. Die Sinne erschlaffen, und das Leben erstarrt allmäh lich; die Gedanken sind unvollständig, und die letzten Zuckungen unserer Sinne gehen in Träume über. Wie schwül die Luft ist, sagte Prosper bei sich; mir ist, als atmete ich ei nen feuchten Dampf ... Er suchte sich diese sonderbare Atmosphäre durch den Unterschied zu erklären, der zwischen der Zimmertemperatur und der frischen freien Luft bestehen mußte. Bald aber hörte er einen regelmäßigen Laut, etwa so, als ob Wasser aus einem Brunnenhahn tropfte. Von panischem Schrecken er griffen, wollte er aufstehen und den Wirt rufen, den Kaufmann oder Wil helm wecken; da fiel ihm aber unglücklicherweise die hölzerne Standuhr ein, und er erklärte sich das Geräusch als deren Pendelschlag; in dieser unklaren, halb traumhaften Vorstellung entschlief er ... 15
„Wünschen Sie etwas Wasser, Herr Taillefer?“ sagte der Herr des Hau ses, da er sah, wie der Bankier mechanisch nach der Karaffe griff. Sie war leer. Herr Hermann setzte seine Erzählung fort. „Am ändern Morgen“, sagte er, „wurde Prosper Magnan durch einen lauten Lärm geweckt. Es war ihm, als habe er gellende Schreie gehört, und er empfand jene heftige Nervenerschütterung, wie sie uns erfaßt, wenn wir noch beim Erwachen einer uns im Schlaf überkommenen unangenehmen Empfindung unterworfen sind. Es vollzieht sich dann in uns ein physiolo gischer Vorgang, wir ,fahren aus dem Schlafe a u f, um mich dieses allge meinen Ausdrucks zu bedienen, der noch nicht genügend aufgeklärt ist, obgleich er sicherlich für die Wissenschaft interessante Vorgänge enthält. Dieses furchtbare Entsetzen, vielleicht eine Folge einer zu plötzlichen Ver einigung unserer im Schlafe fast immer voneinander getrennten zwei Na turen, ist gewöhnlich nur ganz kurz. Bei dem armen Unterarzt aber dau erte es an, steigerte sich sogar und verursachte ihm das fürchterlichste Grauen - als er zwischen seinem Lager und dem Bette Walhenfers ein Meer von Blut gewahr wurde. Der Kopf des Deutschen hing zur Erde, der Körper lag noch im Bett. Das ganze Blut war dem Hals entströmt. Als Pro sper Magnan die noch offenen starren Augen und das Blut bemerkte, das seine Leintücher und selbst seine Hände befleckte, als er sein chirurgi16
sches Instrument auf dem Bette liegen sah, sank er in Ohnmacht und fiel in Walhenfers Blut.“ „Das war schon“, sagte er mir später, „die Strafe für meine Gedanken.“ Als er wieder zur Besinnung kam, befand er sich in der Gaststube. Er saß auf einem Stuhl; französische Soldaten umringten ihn, und eine Menge neugieriger Gaffer stand dahinter. Er sah mit stumpfem Blick auf einen republikanischen Offizier, der Zeugenaussagen entgegennahm und anscheinend bemüht war, den Tatbestand festzuhalten. Er erkannte den Gastwirt, sein Weib, die beiden Bootsleute und die Magd. Das chirurgi sche Instrument, dessen der Mörder sich bedient hatte ... Hier hustete Herr Taillefer, zog sein Taschentuch, schneuzte sich und trocknete sich die Stirn. Diese so bedeutungslosen Vorgänge wurden von keinem außer mir gesehen; alle Anwesenden hatten die Blicke Herrn Her mann zugewandt und hörten fast mit Gier auf seine Worte. Der Bankier stützte den Ellbogen auf, legte den Kopf in die rechte Hand und blickte Hermann aufmerksam an. Von da ab ließ er sich kein Zeichen von Aufre gung oder Interesse mehr entschlüpfen; seine Mienen aber blieben ange spannt und schrecklich, wie in jenem Augenblick, als er mit dem Fla schenstöpsel gespielt. Das chirurgische Instrument, dessen der Mörder sich bedient hatte, lag auf dem Tisch, ebenso das Felleisen, die Brieftasche Prospers und seine Papiere. Die Blicke der Anwesenden richteten sich abwechselnd auf diese Beweisstücke und auf den jungen Mann, der einem Sterbenden glich und dessen erloschene Augen nichts wahrzunehmen schienen. Der verworrene Lärm, der sich draußen vernehmen ließ, wurde von der Menschenver sammlung veranlaßt, die durch die Nachricht von dem Verbrechen und vielleicht auch im Verlangen, den Mörder zu sehen, herbeigelockt worden war. Der Schritt der unterm Fenster aufgestellten Wachtposten und das Klirren ihrer Gewehre übertönten das Gemurmel der Volksmenge; doch das Wirtshaus war geschlossen, und der Hof war leer und still. Unfähig, den Blick des fragestellenden Offiziers auszuhalten, saß Prosper Magnan da; als er seine Hand ergriffen fühlte, sah er auf, um zu sehen, wer wohl unter all diesen Feinden sein Beschützer sei. Er erkannte an der Uniform den Oberwundarzt der in Andernach stationierten halben Brigade. Der Blick dieses Mannes war so durchdringend, so streng, daß der arme junge Mann erschauerte und sein Kopf auf die Stuhllehne zurücksank. Ein Sol dat ließ ihn Essig einatmen, und er erlangte das Bewußtsein zurück. Seine verstörten Blicke schienen jedoch so ganz ohne Leben und Verständnis, daß der Wundarzt, nachdem er Prospers Puls gefühlt, zum Offizier sagte: „Es ist unmöglich, Herr Hauptmann, den Mann sofort zu verhören ..." „So führt ihn ab!“ wandte sich der Hauptmann, dem Wundarzt ins Wort fallend, zu einem Korporal, der hinter dem Stuhl des Angeklagten stand. „’Elender Schwächling!“ schalt ihn der Soldat mit leiser Stimme; „versu che wenigstens die Ehre der Republik zu retten und vor diesen deutschen Hundsfotten Haltung zu zeigen!“ 17
Diese Worte weckten Prosper Magnan, der aufstand und ein paar Schritte machte. Als aber die Tür geöffnet wurde, die frische Luft ihm ent gegenschlug und er die Menge hereindrängen sah, verließen ihn die Kräfte, seine Knie wankten, er drohte umzufallen. „Dieser verdammte Karabinier verdient zweimal den Tod! — Vorwärts marsch!“ sagten die beiden Soldaten, die ihn mit den Armen stützten. „O der Schwächling, der schlappe Kerl! Der war’s, der war’s ...! Da ist er, da ist er!“ Es war ihm, als spräche einer diese Worte, die brausende Stimme der Menge, die ihm mit Verwünschungen nachlief und sich bei jedem Schritt vergrößerte. Während dieser Überführung vom Gasthof zum Gefängnis wandelte der Unterarzt noch immer wie im Traum; der Lärm der Schritte von Pöbel und Soldaten, das allgemeine Gemurmel, der Anblick des Him mels und die Frische der Luft, die Häuser von Andernach und das Gekräusel der Rheinwellen - alles das berührte so matt, verworren und un klar seine Seele wie alles, was er seit seinem Erwachen erlebt und empfun den hatte. Er sagte mir, es gab Augenblicke, da er vermeinte, nicht mehr am Leben zu sein. „Ich war damals im Gefängnis“, unterbrach sich Herr Hermann. „Enthu siast, wie man mit zwanzig Jahren ist, hatte ich mein Vaterland verteidigen wollen und befehligte eine Freischar, die ich in der Gegend von Ander nach organisiert hatte. Einige Tage vorher also war ich nachts einer fran zösischen Truppenabteilung in die Hände gefallen, die aus achthundert Mann bestand. Wir waren alles in allem zweihundert. Meine Spione hat ten mich verraten. Ich wurde in das Gefängnis von Andernach geworfen. Ich sollte erschossen werden, damit das Land durch ein Beispiel einge schüchtert werde. Die Franzosen sprachen auch von Repressalien; aber die Mordtat, die die Republikaner an mir rächen wollten, war nicht im Kurfürstentum begangen worden. Mein Vater hatte einen Aufschub von drei Tagen bewilligt erhalten, um beim General Augereau um meine Be gnadigung nachzusuchen, die ihm gewährt wurde. Ich sah also Prosper Magnan, als er in das Gefängnis von Andernach eingeliefert wurde, und er flößte mir das tiefste Mitleid ein. Obgleich er blaß und verstört aussah und blutbesudelt war, hatte doch sein Gesichtsausdruck etwas so Reines und Unschuldiges, daß es mich sofort für ihn einnahm. Für mich sprach soviel Heimatliches, Deutsches aus seinen langen blonden Haaren, seinen blauen Augen. Wie mein ohnmächtiges Vaterland erschien er mir als Op fer, aber nicht als Mörder. Als er unter meinem Fenster vorbeiging, hatte er das herbe und melancholische Lächeln des Geisteskranken, den plötz lich ein Strahl der Vernunft erhellt. Dies Lächeln war bestimmt nicht das eines Mörders. Als ich den Kerkermeister sah, befragte ich ihn über sei nen neuen Gefangenen. •„Seit er in seiner Zelle ist, hat er noch nicht gesprochen. Er hat sich hin gesetzt, den Kopf in die Hände vergraben, und schläft oder denkt über seine Sache nach. Nach Aussage der Franzosen wird man morgen mit ihm 18
abrechnen, und er wird innerhalb vierundzwanzig Stunden erschossen.“ Die paar Minuten, die man mir zu einem Spaziergang im Gefängnishof freigegeben, verbrachte ich unter den Fenstern des Gefangenen. Wir plau derten miteinander, und er beichtete mir mit naiver Offenherzigkeit sein Abenteuer, indem er meine verschiedenen Fragen aufrichtig beantwortete. Nach diesem ersten Gespräch zweifelte ich nicht mehr an seiner Un schuld. Ich erbat und erhielt die Vergünstigung, einige Stunden bei ihm zu sein. Ich sah ihn also mehrmals, und der arme Junge weihte mich rück haltlos in alle seine Gedanken ein. Er hielt sich gleichzeitig für schuldig und unschuldig. Wenn er der schrecklichen Versuchung gedachte, der zu widerstehen er die Kraft gehabt, fürchtete er, im Schlaf oder in einem An fall von Somnambulismus das Verbrechen, von dem er wach geträumt hatte, vollbracht zu haben. „Aber Ihr Kamerad?“ fragte ich ihn. „Oh“, rief er feurig. „Wilhelm ist u n fä h ig ...“ Er sprach nicht aus. Bei diesen glutvollen Worten, die von so viel Ju gend und Liebe zeugten, drückte ich ihm die Hand. „Bei seinem Erwachen“, fuhr er fort, „war er sicherlich furchtbar ent setzt, verlor den Kopf und entfloh ..." „Ohne Sie zu wecken?“ sagte ich. „Aber dann wäre Ihre Rechtfertigung ja leicht, da Walhenfers Felleisen unangetastet sein müßte.“ 19
Ganz plötzlich brach er in Tränen aus. „Ja, ich bin unschuldig!“ rief er. „Ich habe nicht getötet. Ich erinnere mich meiner Träume: ich spielte Barlauf mit meinen Schulkameraden. Ich kann doch nicht dem Kaufmann den Kopf abgeschnitten haben, während ich träumte, daß ich lief!“ Obgleich hie und da ein Hoffnungsschimmer ihm etwas Ruhe gab, fühlte er sich doch immer von Gewissensbissen zu Boden gedrückt; hatte er doch tatsächlich den Arm erhoben, um dem Kaufmann die Gurgel durchzuschneiden. Er ging mit sich ins Gericht und fühlte sein Gewissen nicht mehr rein, nachdem er das Verbrechen in Gedanken begangen hatte. „Und doch bin ich nicht schlecht!“ rief er. „Oh, meine arme Mutter! Vielleicht sitzt sie jetzt mit den Nachbarinnen im kleinen Salon fröhlich beim Kartenspiel. Wenn sie selbst nur das wüßte, daß ich die Hand erho ben, um einen Menschen umzubringen ..., oh, sie würde sterben! Und ich bin gefangen, eines Verbrechens beschuldigt! Wenn ich den Mann nicht tötete, so töte ich doch sicherlich meine Mutter!“ Bei diesen Worten weinte er nicht mehr; aber von der plötzlichen Rase rei ergriffen, die bei Leuten aus der Picardie so häufig ist, schleuderte er sich an die Mauer und würde sich den Kopf zerschmettert haben, hätte ich ihn nicht zurückgehalten. „Erwarten Sie Ihr Urteil“, sagte ich; „Sie werden freigesprochen. Und Ihre Mutter „Meine Mutter“, rief er wild, „sie wird vor allem meine Anschuldigung erfahren! So geht es immer in den kleinen Städten; und die arme Frau wird vor Kummer sterben. Ich bin nicht mehr unschuldig. Wollen Sie die ganze Wahrheit wissen? Ich fühle, ich habe kein reines Be wußtsein mehr.“ Nach diesem schrecklichen Wort setzte er sich hin, kreuzte die Arme, neigte den Kopf und blickte düster zu Boden. In diesem Augenblick kam der Schließer, um mich in meine Kammer zurückzuführen. Ich war be kümmert, meinen Genossen jetzt, wo er mir so besonders entmutigt er schien, verlassen zu müssen, und schloß ihn freundschaftlich in die Arme. „Haben Sie Geduld“, sagte ich; „vielleicht wird alles gut gehen. Wenn das Wort eines redlichen Mannes Ihre Zweifel beschwichtigen kann, so hören Sie, daß ich Sie achte und Sie liebe. Nehmen Sie meine Freund schaft an, und ruhen Sie in meinem Herzen, wenn Sie mit dem Ihrigen in Unfrieden sind.“ Am anderen Morgen wurde er von einem Korporal und vier Füsilieren geholt. Als ich den Lärm der Soldaten hörte, stellte ich mich ans Fenster. Der junge Mann durchschritt den Hof und hob die Augen zu mir auf. Nie vergesse ich diesen Blick voll Resignation und Vorahnung, voll trauriger Anmut und Melancholie. Es war wie ein stummes und doch beredtes Te stament, mit dem ein Freund sein verlorenes Leben seinem letzten Freund vermachte. Die Nacht war sicherlich sehr hart, sehr einsam für ihn gewe sen; vielleicht aber zeugte die Blässe auf seinem Antlitz von einem gewis sen Stoizismus, den neue Selbstachtung ihm verliehen. Vielleicht fühlte er 20
sich durch Reue geläutert und sah seine Verfehlung durch Schmer/ und Scham getilgt. Er ging mit festen Schritten, und er hatte die Blutflecken entfernt, mit denen er sich unfreiwillig beschmutzt hatte. „Meine Hände müssen im Schlafe hineingetaucht sein, denn mein Schlaf ist stets sehr unruhig“, hatte er zu mir am Abend vorher mit dem Aus druck tiefester Verzweiflung geäußert. Ich erfuhr, daß er vor ein Kriegsgericht gestellt werden sollte. Die Di vision sollte am übernächsten Tag weiter vorgehen, und der Kommandant der halben Brigade wollte Andernach nicht verlassen, ohne das Verbre chen an Ort und Stelle gesühnt zu haben... Ich war während der ganzen Dauer der Gerichtssitzung in tödlicher Angst. Gegen Mittag endlich wurde Prosper Magnan ins Gefängnis zurückgebracht. Ich machte gerade meinen gewohnten Spaziergang; er bemerkte mich und warf sich in meine Arme. „Verloren“, sagte er, „ich bin hoffnungslos verloren! Hier bin ich also für jedermann ein Mörder ...“ Er erhob feurig den Kopf. „Diese Ungerechtigkeit hat mich meiner Unschuld zurückgegeben. Mein Leben wäre zerstört gewesen, mein Tod ist ohne Makel. Aber gibt es ein Jenseits?“ Das ganze achtzehnte Jahrhundert lag in dieser plötzlichen Frage. Er blieb in Gedanken. „Also“, sagte ich, „wie haben Sie geantwortet? Was hat man Sie gefragt? Haben Sie nicht ganz offen den Sachverhalt erzählt, wie Sie es mir gegen über taten?“ Er sah mich einen Augenblick starr an; dann, nach dieser furchtbaren Pause, erwiderte er mit fieberhafter Lebhaftigkeit: „Zuerst haben sie mich gefragt:,Haben Sie das Gasthaus des Nachts verlassen?1 Ich sagte: ,Ja.‘ ,Auf welchem Wege?‘ Ich errötete und antw ortete:,Durch das Fenster/ ,Sie hatten es also geöffnet?1 —,Ja‘, erwiderte ich. ,Sie sind dabei sehr vor sichtig zu Werke gegangen, der Gastwirt hat nichts gehört!4 Ich war ver blüfft. Die Bootsleute sagten aus, sie hätten mich hin und her gehen se hen; bald nach Andernach, bald zum Wald. Ich hätte, sagten sie, den Weg mehrmals gemacht. Ich hätte das Gold und die Diamanten vergraben. Das Felleisen hat sich nicht gefunden! Und ich war die ganze Zeit uneins mit meinem Gewissen. Wenn ich reden wollte, rief mir eine unerbittliche Stimme zu: ,Du hast das Verbrechen begehen wollen!1 Alles war gegen mich, sogar ich selbst! - Sie haben mich über meinen Kameraden befragt, und ich habe ihn durchaus verteidigt. Darauf sagte man mir: ,Wir haben den Schuldigen unter Ihnen, Ihrem Kameraden, dem Gastwirt und seiner Frau zu suchen. Heute morgen fand man alle Fenster und Türen geschlos sen!1 Bei dieser Bemerkung“, sagte er, „versagte mir die Stimme, die Kraft, der Lebensatem. Meines Freundes war ich sicherer als meiner selbst: ich konnte ihn nicht beschuldigen. Ich begriff, daß man uns beide für Kom plizen bei dem Morde hielt und daß ich für den Gefährlicheren galt! Ich 21
wollte die Tat als Somnambulismus geschehen erklären und meinen Freund rechtfertigen; bei dieser Rede verwirrte ich mich vollständig. Ich bin verloren. Ich las mein Todesurteil in den Augen der Richter; sie hatten alle ein ungläubiges Lächeln. Damit ist alles gesagt! Es ist klar, morgen werde ich erschossen. Ich denke nicht mehr an mich“, sagte er noch, „aber an meine arme Mutter!“ Er hielt inne, blickte zum Himmel auf und vergoß keine Tränen mehr. Seine Augen waren trocken und weit aufgerissen. „Friedrich ...“ „Ach ja! Der andere hieß Friedrich ..., Friedrich! Ja, das war der Name!“ rief Hermann triumphierend. Meine Nachbarin stieß mich mit dem Fuß an und machte mir ein Zei chen, indem sie auf Herrn Taillefer deutete. Der Bankier hatte die Hand lässig über die Augen gelegt; zwischen seinen Fingern glaubten wir aber in seinem Blick eine düstere Flamme brennen zu sehen. „Wenn er nun Friedrich hieße?“ flüsterte sie mir ins Ohr. Ich erwiderte mit einem Augenzwinkern, das besagen sollte: still! Hermann fuhr fort. „Friedrich“, rief der Unterarzt aus, „Friedrich hat mich feige verlassen! Er wird Angst gehabt haben. Vielleicht hat er sich im Gasthof verborgen, denn am Morgen waren unsere beiden Pferde noch im Hof ... Welch unbegreifliches Geheimnis!“ fügte er nach einigem Schwei gen hinzu. „Der Somnambulismus, der Somnambulismus! Ich habe in meinem ganzen Leben nur einen Anfall gehabt, noch dazu mit sechs Jah ren ... Soll ich von hier gehen“, sagte er, mit dem Fuß aufstampfend, „und alles mit mir nehmen, was Freundschaft heißt auf dieser Welt? Soll ich denn zweimal sterben, da ich an einer Freundschaft zweifeln muß, die schon im fünften Lebensjahr begann und sich auf der Schule, der Univer sität fortsetzte? Wo ist Friedrich?“ Er weinte. Freundschaft bedeutet uns also mehr als Leben! „Gehen wir hinein“, sagte er zu mir; „ich bin lieber in meiner Zelle. Ich möchte nicht, daß man mich weinen sieht. Ich werde mutig in den Tod ge hen, aber ich kann nicht zur Unzeit heroisch sein, und ich gestehe, daß es mir um mein junges und schönes Leben leid ist ... Ich habe heute nacht nicht geschlafen; ich habe an meine Kindheit gedacht und sah mich durch ebenjene Wiesen laufen, deren Andenken vielleicht die Ursache meines Sturzes i s t ... Ich hatte eine Zukunft“, sagte er, sich unterbrechend; „zwölf Mann, ein Unterleutnant, der ruft: ,Gewehr auf! Schlagt an, gebt Feuer!‘, ein Trommelwirbel, und - verdammt! —das ist jetzt meine Zukunft. Oh! Es gibt einen Gott, oder alles dies ist gar zu dumm!“ Dann packte er mich beim Arm, preßte ihn heftig und sagte: „Sie sind der letzte Mensch, dem ich meine Seele ausschütten kann. Sie werden frei kommen! Sie werden Ihre Mutter Wiedersehen! Ich weiß nicht, ob Sie arm oder reich sind, doch gleichviel! Für mich sind Sie die ganze Welt! — Sie werden sich immer hier herumschlagen. —Wenn also Friede ist, gehen Sie nach Beauvais. Wenn meine Mutter die unheilvolle Nachricht meines To22
des überlebt, so werden Sie sie finden. Sagen Sie ihr die tröstenden Worte: ,Er war unschuldig!“ - Sie wird Ihnen glauben“, fuhr er fort; „ich werde ihr schreiben. Aber Sie werden ihr meinen letzten Blick überbringen, Sie werden ihr sagen, daß Sie der letzte Mensch sind, den ich in die Arme schloß. Ach, sie wird Sie lieben, die arme Frau, Sie, der Sie mein letzter Freund gewesen sind! — Hier“, sagte er nach einem Augenblick des Schweigens, in dem die Last seiner Erinnerung ihn ganz zu überwältigen schien, „hier sind Vorgesetzte und Soldaten mir unbekannt, und ich ent setze sie alle. Ohne Sie wäre meine Unschuld ein Geheimnis zwischen mir und dem Himmel.“ Ich schwor ihm zu, seinen Letzten Willen gewissenhaft zu erfüllen. Meine Worte, meine Herzlichkeit rührten ihn. Kurze Zeit darauf kamen die Soldaten wiederum ihn holen und führten ihn von neuem vor das Kriegsgericht. Er war verurteilt. Ich weiß nicht, welche Formalitäten die sem ersten Urteilsspruch folgten, ich weiß nicht, ob der junge Chirurg sein Leben nach allen Regeln verteidigte, aber er war darauf gefaßt, am kom menden Morgen zur Hinrichtung zu gehen, und verbrachte die Nacht da mit, seiner Mutter zu schreiben. „Wir werden beide frei sein“, sagte er lächelnd, als ich am ändern Mor gen ihn besuchen kam. „Ich habe gehört, daß der General Ihre Begnadi gung unterzeichnet hat.“ Ich blieb stumm und sah ihn an, um mir seine Züge gut einzuprägen. Er machte eine ärgerliche Miene und sagte: „Ich bin sehr feig gewesen! Ich habe die ganze Nacht die Mauern hier um Erbarmen angefleht ...“ Und er \tfies auf die Wände der Zelle. „Ja, ja “, fuhr er fort, „ich habe vor Verzweiflung geheult, ich habe mich empört, ich habe die schrecklichste Todesangst ausgestanden ... Ich fühlte mich allein ... Jetzt denke ich daran, was die ändern sagen werden ... Der Mut ist ein Gewand, das man umlegen muß. Ich muß anständig zu Tode gehen ..., ach ...“ 2. Die zwei Gerechtigkeiten
„Oh, erzählen Sie nicht zu Ende!“ rief das junge Mädchen, das diese Ge schichte verlangt hatte, dem Nürnberger ins Wort fallend. „Ich will in Un gewißheit bleiben und glauben, er sei gerettet worden. Wenn ich heute er führe, man habe ihn erschossen, so würde ich nachts nicht schlafen. Mor gen erzählen Sie mir den Schluß.“ Wir standen vom Tische auf. Meine Nachbarin, der Herr Hermann den Arm bot, nahm diesen an und sagte: „Er ist erschossen worden, nicht wahr?“ - „Ja. Ich war Zeuge der Hinrichtung.“ —„Wie, mein Herr“, sagte sie, „Sie konnten ...?“ - „Er hatte es so gewünscht, Gnädigste. Doch wahrhaft schrecklich ist es, dem Leichenzuge eines Lebenden zu folgen, eines Menschen, den man liebt, eines Schuldlosen! Der arme junge Mann 23
ließ nicht den Blick von mir. Er schien nur noch in mir zu leben! Er sagte, er wolle, ich solle seiner Mutter seinen letzten Seufzer überbringen.“ „Haben Sie sie also aufgesucht?“ - „Nach dem Frieden von Amiens ging ich nach Frankreich, um der Mutter das schöne Wort ,Er war unschuldig!4 zu bringen. Ich hatte diese Pilgerfahrt als fromme Tat auf mich genom men. Aber Frau Magnan war vor Gram gestorben. Ich habe nicht ohne tiefe Rührung den Brief verbrannt, dessen Überbringer ich sein sollte. Sie spotten vielleicht meiner echt deutschen Sentimentalität, für mich aber war es ein Drama voll tiefster Melancholie, dies ewige Geheimnis, das dies zwischen zwei Gräber gebannte Lebewohl verhüllen sollte —dies Le bewohl, von dem die ganze Welt nichts wußte, das verhallen sollte wie der Schrei des vom Löwen angefallenen Wanderers in der Wüste.“ — „Und wenn man Sie nun einem der hier anwesenden Herren von Angesicht zu Angesicht gegenüberstellte und Ihnen sagte: ,Hier ist der Mörder!4, wäre das nicht auch ein Drama?“ fragte ich, ihm ins Wort fallend. „Und was täten Sie?“ Herr Hermann nahm seinen Hut und ging. „Ihr Vorgehen ist gar jugendlich und unbesonnen“, sagte meine Nachba rin zu mir; „sehen Sie Taillefer! Da sitzt er im Lehnstuhl am Kamin, Fräulein Fanny bietet ihm eine Tasse Kaffee; er lächelt. Könnte ein Mör der, den die Erzählung dieser Sache doch auf die Folter spannen müßte, so viel Ruhe zeigen? Macht er nicht geradezu eine patriarchalische Miene?“ - „Ja, aber fragen Sie ihn doch, ob er den Krieg gegen Deutsch land mitgemacht hat!“ rief ich aus. „Warum nicht?“ Und mit jener Kühnheit, die den Frauen selten abgeht, wenn ein Abenteuer ihnen winkt oder eine große Neugier sie beherrscht, näherte sich meine Nachbarin dem Lieferanten. „Sie sind einmal mit nach Deutschland gegangen?“ fragte sie ihn. Taillefer ließ die Tasse fallen. „Ich, Gnädigste ...? Nein, nie.“ - „Was du sagst, Taillefer“, fiel ihm der Bankier ins Wort; „hast du nicht im Feldzug von Wagram den Proviant transport begleitet?“ - „Ach ja“, erwiderte Taillefer, „damals bin ich mit gegangen.“ „Sie sind im Irrtum; er ist ein harmloser Mensch“, sagte meine Nachba rin, zu mir zurückkehrend. „Nun denn“, rief ich aus, „noch ehe die Gesell schaft auseinandergeht, werde ich den Mörder aus dem Schlamm heraus jagen, in dem er sich verborgen hält!“ Alltäglich bietet uns das Leben einen seltsamen psychischen Vorgang von wundersamer Tiefe, der uns dennoch so selbstverständlich scheint, daß wir ihn kaum bemerken. Wenn sich zwei Männer in Gesellschaft be gegnen, von denen der eine das Recht hat, den ändern zu verachten oder zu hassen —sei es nun, weil er von einer geheimen Tatsache weiß, die den ändern befleckt, oder weil er eine Rache zu nehmen hat, so errät einer den ändern, und sie fühlen den Abgrund, der sie scheidet oder scheiden sollte. Sie beobachten einander unbewußt und denken aneinander; ihre Blicke, 24
ihre Gesten hauchen eine unerklärliche Emanation ihrer Gedanken aus; sie fühlen sich magnetisch zueinander hingezogen. Ich weiß nicht, was mehr einander anzieht, die Rachsucht oder das Verbrechen, der Haß oder die Schmach. Gleichwie der Priester die Hostie nicht weihen kann, wenn ein böser Geist in der Nähe ist, so fühlen beide sich bedrückt und miß trauisch, der eine ist höflich, der andere zurückhaltend, ich weiß nicht welcher; der eine errötet oder erbleicht, der andere zittert. Oft ist der Rä cher ebenso feig wie sein Opfer. Nur wenig Leute haben den Mut, ein Un glück zu veranlassen, und sei es selbst ein notwendiges; und viele Leute schweigen oder verzeihen, um Aufsehen zu vermeiden oder aus Furcht vor einer tragischen Lösung. Diese Seelen- und Gefühlsanspannung entfachte einen geheimen Kampf zwischen mir und dem Lieferanten. Seit der ersten Anrede, die ich während der Erzählung des Herrn Hermann an ihn ge stellt, wich er meinen Blicken aus. Vielleicht allerdings mied er die Blicke aller Gäste! Er plauderte mit der unerfahrenen Fanny, der Tochter des Bankiers; offenbar hatte er wie alle Verbrecher das Bedürfnis, sich der Unschuld zu nähern, um dort Frieden zu finden. Doch obgleich ich mich ihm nicht näherte, hörte ich auf seine Worte, und mein durchdringender Blick bannte ihn. Wenn er glaubte, mich ungestraft belauern zu können, so begegneten sich unsere Blicke, und seine Pupillen senkten sich so gleich. Ermüdet von dieser Pein, beeilte sich Taillefer, ihr ein Ende zu ma chen, und ging zum Spieltisch. Ich trat hinzu, um auf seinen Gegner zu wetten, aber mit dem Wunsch, mein Geld zu verlieren. Diese Hoffnung er füllte sich. Ich nahm den Platz des ändern ein und sah mich dem Mörder Aug in Auge gegenüber. „Mein Herr“, sagte ich zu ihm, „wollen Sie es übernehmen, die Karten zu geben?“ Er warf die Karten eilig von rechts nach links. Meine Nachbarin war zu mir getreten; ich machte ihr ein Zeichen mit den Augen. „Sind Sie vielleicht“, wandte ich mich an den Lieferanten, „Herr Fried rich Taillefer, dessen Familie in Beauvais ich gut gekannt habe?“ — „Ja, mein Herr“, erwiderte er. Er ließ die Karten fallen, erbleichte, legte den Kopf in die Hände und bat einen der auf ihn wettenden Herren, sein Spiel zu Ende zu führen; dann erhob er sich. „Es ist zu heiß hier!“ rief er aus. „Ich fürchte ...“ Er endete nicht. Auf seinem Gesicht malten sich plötzlich die furchtbar sten Qualen, und er verließ schnell das Zimmer. Der Herr des Hauses be gleitete Taillefer und schien an seinem Zustand lebhaften Anteil zu neh men. Meine Nachbarin und ich sahen uns an, aber ich fand einen seltsam bittern Zug in ihrem Gesicht. „Ist Ihr Benehmen wohl barmherzig?“ fragte sie, als ich aufstand, nachdem ich das Spiel verloren hatte; und sie führte mich in eine Fensternische. „Möchten Sie die Macht haben, in allen Her zen zu lesen? Weshalb lassen Sie nicht die menschliche und die göttliche Gerechtigkeit ihren Weg gehen? Wenn wir der einen entwischen, so kön 25
nen wir doch der ändern nimmermehr entfliehen! Ist ein Gerichtspräsi dent wohl um seine Privilegien zu beneiden? Sie haben beinahe das Hen keramt geübt - „Nachdem Sie meine Neugier geteilt, ja aufgestachelt haben, halten Sie mir nun eine Moralpredigt!“ — „Sie haben mich zum Nachdenken gebracht“, entgegnete sie. - „Also Friede den Schurken, Krieg den Elenden und Vergötterung dem Gold! Doch lassen wir das“, fügte ich lachend hinzu; „sehen Sie die junge Dame, die soeben den Salon betritt?“ - „Ja?“ —„Ich habe sie vor drei Tagen auf dem Ball des neapoli tanischen Gesandten gesehen; ich habe mich leidenschaftlich in sie ver liebt. Erbarmen! Nennen Sie mir ihren Namen. Niemand h a t ...“ —„Es ist Fräulein Taillefer.“ Mir schwindelte. „Ihre Stiefmutter“, sagte meine Nachbarin, deren Stimme ich kaum ver nahm, „hat sie vor kurzem aus dem Kloster genommen, wo ihre Erziehung etwas verspätet beendet wurde ... Ihr Vater hatte sich lange Zeit gewei gert, sie anzuerkennen. Sie kommt zum erstenmal hierher. Sie ist sehr schön und sehr reich!“ Diese Worte wurden von einem sardonischen Lächeln begleitet. Da hör ten wir plötzlich heftige, aber erstickte Schreie: sie schienen aus einem be nachbarten Zimmer zu kommen und verhallten in den Gartenanlagen. „Ist das nicht die Stimme Taillefers?“ rief ich aus. Wir horchten angespannt, und schreckliche. Seufzer drangen an unser Ohr. Die Gattin des Bankiers lief eilig auf uns zu und schloß das Fenster. „Machen wir kein Aufsehen“, sagte sie zu uns; „wenn Fräulein Taillefer ihren Vater hört, könnte sie einen Nervenanfall bekommen!“ Der Bankier trat wieder in den Salon, suchte Viktorine und sprach zu ihr mit leiser Stimme. Das junge Mädchen stieß einen Schrei aus, eilte auf die Tür zu und verschwand. Dies Ereignis erregte alle Gemüter. Das Ge murmel verstärkte sich, und es bildeten sich Gruppen. „Sollte Herr Taillefer sich ...?“ fragte ich. - „Getötet haben?“ rief meine spöttische Nachbarin. —„Ich denke mir, Sie würden fröhliche Trauer tra gen!“ —„Was ist ihm denn aber zugestoßen?“ - „Der arme Mann!“ erwi derte die Dame des Hauses. „Er hat eine Krankheit, deren Namen ich nicht behalten kann, obgleich Herr Brousson mir ihn oft genug genannt hat; und nun hat er einen Anfall davon.“ — „Welcherart ist denn diese Krankheit?“ fragte plötzlich ein Untersuchungsrichter. „Oh, es ist ein schreckliches Übel, mein Herr“, erwiderte sie, „die Ärzte kennen kein Heilmittel dafür. Es scheint, als seien die Qualen furchtbar. Eines Tages hatte der arme Taillefer während eines Besuches auf unserem Landgut ei nen Anfall, und ich mußte eine benachbarte Familie aufsuchen, um den Schreien zu entfliehen; er stößt entsetzliche Schreie aus und will sich um bringen; seine Tochter mußte ihn auf seinem Bett festbinden und ihm die Zwangsjacke anlegen. Der arme Mann behauptet, Tiere im Kopf zu ha ben, die ihm das Gehirn zernagen: es sind Stöße, Axthiebe, unerhörte rei ßende Schmerzen in jedem Nerv. Er hat solche Schmerzen im Kopf, daß 26
er die Zugpflaster nicht spürte, die man ihm aufgelegt, um die Schmerzen abzulenken. Aber Herr Brousson, sein Arzt, hat sie verboten; er sagt, es sei eine Nervenüberreizung, Nervenentzündung, gegen die er Blutegel im Nacken und Opium auf dem Kopf anwendet. Und tatsächlich sind die Anfälle seltener geworden und erscheinen nur mehr jedes Jahr gegen Ende des Herbstes. Wenn er wiederhergestellt ist, wiederholt Taillefer im mer wieder, daß er lieber gerädert sein möchte, als diese Schmerzen zu ha ben.“ - „Es scheint demnach, daß er sehr leidet!“ sagte ein Wechselmak ler, der Schöngeist der Gesellschaft. - „Oh“, erwiderte sie, „im vorigen Jahr ging er fast zugrunde. Er war allein auf sein Gut gefahren, um eine ei lige Sache zu erledigen. Vielleicht war es aus Mangel an Hilfe, daß er vier undzwanzig Stunden in Erstarrung und wie tot dalag. Er konnte nur durch ein sehr heißes Bad gerettet werden.“ - „Es ist also eine Art Starr krampf?“ fragte der Wechselmakler. — „Ich weiß nicht“, erwiderte sie. „Fast dreißig Jahre ,erfreut4 er sich nun dieser Krankheit, die er sich beim Heeresdienst geholt hat. Er sagt, es sei ihm beim Fallen in ein Boot ein Holzsplitter in den Kopf gedrungen; Brousson hofft aber, ihn zu heilen. Es heißt, die Engländer hätten ein gefahrloses Mittel gefunden, diese Krankheit durch Blausäure zu heilen ...“ In diesem Augenblick hallte ein ganz besonders durchdringender Schrei durchs Haus und machte uns vor Schreck erstarren. „Ach, da ist es, worauf ich jede Minute warte“, fuhr die Bankiersgattin fort; „das wirft mich fast vom Stuhl und erschüttert meine Nerven. Doch wie sonderbar! Der arme Taillefer ist trotz der unsäglichen Schmerzen nie mals in Todesgefahr. Während der Ruhepausen, die das schreckliche Lei den ihm gönnt, ißt und trinkt er wie gewöhnlich. Die N atur ist sehr son derbar! Ein deutscher Arzt hat ihm gesagt, es wäre eine Art Kopfgicht; das stimmt ja ganz gut zu der Ansicht Broussons.“ Ich verließ die Gruppe, die sich um die Dame des Hauses gebildet hatte, und ging mit Fräulein Taillefer, die ein Kammerdiener abgerufen hatte, hinaus. „O mein Gott, mein Gott“, rief sie weinend, „womit hat mein Vater den Himmel erzürnt, daß er solche Leiden verdient? Ein so guter Mensch!“ Ich ging mit ihr die Treppe hinab, und als ich ihr in den Wagen half, sah ich ihren Vater zusammengekrümmt dasitzen. Fräulein Taillefer be mühte sich, das Stöhnen ihres Vaters zu ersticken, indem sie ihm das Ta schentuch auf den Mund preßte; unglücklicherweise erblickte er mich, seine Gestalt schrumpfte noch mehr zusammen, ein furchtbarer Schrei durchschnitt die Luft, er warf mir einen entsetzten Blick zu, und der Wa gen fuhr ab. Dies Diner, dieser Abend hatte einen unseligen Einfluß auf mein Da sein, auf meine Empfindungen. Ich liebte Fräulein Taillefer - vielleicht gerade, weil Ehre und Zartgefühl mir verboten, mich einem Mörder zu verbinden, ein wie guter Vater und Ehegatte er auch sein mochte. Ein un vermeidliches Verhängnis veranlaßte mich, in den Häusern mich zu zei27
gen, in denen ich Viktorine begegnen zu können glaubte. Oft, wenn ich mir selbst das Wort gegeben hatte, auf ihren Anblick zu verzichten, fand ich mich am selben Abend noch an ihrer Seite. Mein Glück war unbe schreiblich. Meine berechtigte Liebe, die von eingebildeten Gewissensbis sen gepeinigt wurde, gewann die Glut einer verbotenen Leidenschaft. Ich verachtete mich, weil ich Taillefer grüßte, wenn er zufällig einmal seine Tochter begleitete; aber ich grüßte ihn doch! Denn unglücklicherweise ist Viktorine nicht nur ein hübsches Mädchen; sie ist mehr: sie ist gebildet, hat Talent und Anmut und ist dabei weder eingebildet noch anmaßend. Sie plaudert mit Zurückhaltung, und ihr Wesen hat eine schwermütige Grazie, der niemand widerstehen kann. Sie liebt mich, oder wenigstens läßt sie mich’s glauben; sie hat ein besonderes Lächeln, nur für mich, und für mich wird ihre Stimme noch sanfter. Oh, sie liebt mich! Aber sie ver ehrt ihren Vater, sie rühmt mir seine Güte, seine Sanftmut, seine hervorra genden Eigenschaften. Diese Lobeserhebungen sind ebenso viele Dolch stöße mitten in mein Herz. Eines Tages machte ich mich fast zum Mit schuldigen des Verbrechens, auf dem die Wohlhabenheit der Familie Tail lefer sich gründet: Ich wollte um Viktorines Hand anhalten. Da floh ich, reiste, ging nach Deutschland, nach Andernach. Aber ich kehrte zurück. Ich sah Viktorine wieder; sie war schmal und blaß geworden! Hätte ich sie gesund und heiter gesehen, so wäre ich wohl gerettet gewesen. Meine Lei denschaft entflammte mit erneuter Heftigkeit. Da ich fürchtete, meine Skrupel könnten zu einer Monomanie werden, beschloß ich, ein Synedrium reiner Herzen zu befragen, um einiges Licht in dieses ethische und philosophische Problem zu bringen. Seit meiner Rückkehr hatte der Fall sich noch viel mehr verwirrt. Ich versammelte also diejenigen meiner Freunde, denen ich am meisten Redlichkeit, Zart- und Ehrgefühl zutraute. Ich hatte zwei Engländer, einen Gesandtschaftssekretär und einen Purita ner, eingeladen; einen schlauen und in aller Politik erfahrenen Beamten; junge Leute, die noch den Reiz der Unschuld hatten; einen Priester, einen Greis; dann meinen alten Vormund, der mir die schönste Vormund schaftsabrechnung geliefert hat, deren man sich beim Gerichtshof je erin nern konnte; einen Advokaten, einen Notar, einen Richter, kurz, alle ge sellschaftlichen Anschauungen, alle ausübenden Tugenden waren vertre ten. Wir begannen damit, gut zu dinieren, zu reden, zu lärmen; dann, beim Dessert, erzählte ich mit einfachen Worten meine Geschichte und erbat mir guten Rat; den Namen meiner Erwählten verschwieg ich. „Ratet mir, meine Freunde“, schloß ich den Bericht; „besprecht den Fall so gründlich, als handle es sich um einen Gesetzesvorschlag! Man wird euch die Urne und die Billardkugeln bringen, und ihr sollt euch in gehei mer Abstimmung für oder gegen meine Heirat aussprechen.“ Abgrundtiefes Schweigen herrschte plötzlich. Der Notar enthielt sich der Abstimmung. „Es handelt sich um einen Vertrag“, sagte er. Meinen alten Vormund hatte der Wein zum Schweigen gebracht, und 29
man mußte ihn unter Vormundschaft stellen, damit ihm auf dem Heim weg nichts zustoße. „Ich verstehe!“ rief ich aus. „Wer sich der Abstimmung enthält, sagt mir sehr etiergisch, was ich zu tun habe.“ Es gab eine Bewegung in der Versammlung. Ein Hausbesitzer, der für die Sammlung für die Kinder und das Grab mal des Generals Foy gezeichnet hatte, rief: „Gleich wie die Tugend hat auch das Verbrechen seine Gnade!“ - „Schwätzer!“ sagte der frühere Be amte leise zu mir und stieß mich mit dem Ellbogen an. „Wo liegt eigent lich die Schwierigkeit?“ fragte ein Hterzog, dessen Vermögen aus den Gü tern bestand, die man nach der Aufhebung des Edikts von Nantes den Protestanten abgenommen hatte. Der Advokat erhob sich. „Was die juristische Seite des Falles anlangt, so dürfte sie nicht die ge ringsten Schwierigkeiten machen. Der Herr Herzog hat recht!“ rief der Mann des Gesetzes. „Gibt es nicht eine Verjährung? Wo kämen wir hin, wenn man dem Ursprung von Besitz und Vermögen nachforschen wollte! Die ist eine reine Gewissenssache. Wenn Sie die Sache durchaus vor ein Richteramt bringen wollen, so gehen Sie damit zum Beichtvater!“ Dies Gesetzbuch in Fleisch und Bein setzte sich und trank ein Glas Champagner. Der Mann, dem .es oblag, das Evangelium zu predigen, der gute Priester, erhob sich. „Gott hat uns schwach und sündhaft geschaffen“, sagte er mit Bestimmt heit; „wenn Sie die Erbin des verbrecherischen Gutes lieben, so ehelichen Sie sie, aber begnügen Sie sich mit dem Heiratsgut, und geben Sie die Hin terlassenschaft des Vaters den Armen!“ —„Aber“, rief einer jener mitleid losen Rechthaber, denen man so oft begegnet, „der Vater hat vielleicht nur deshalb, weil er sich so bereichert hatte, eine günstige Ehe eingehen kön nen. Selbst der kleinste Glücksfall in seinem Leben ist eine Frucht des Verbrechens!“ „Die Erörterung an sich ist schon ein Urteil! Es gibt Dinge, die ein Mann nicht zur Diskussion stellen darf!“ rief mein alter Vormund, der in seiner Trunkenheit vermeinte, die Sachlage durch eine treffende Äußerung zu klären. „Ja!“ rief der Gesandtschaftssekretär. „Ja!“ rief der Priester. Diese beiden konnten sich nicht verständigen. Ein Prinzipienreiter, dem bei hundertfünfundfünfzig Wählern nur hun dertfünfzig Stimmen gefehlt hatten, damit die Wahl auf ihn gefallen wäre, erhob sich. „Meine Herren, dieser außerordentliche Fall im Seelenleben ist einer von denen, die ganz besonders von der normalen Gesellschaftsordnung abwei chen“, sagte er; „die zu fassende Entscheidung muß also eine von unserm Gewissen eingegebene sein, ein lehrreicher Richterspruch, ein blitzartiges Aufleuchten unserer innersten Anschauung gewissermaßen ... Stimmen wir ab!“ —„Stimmen wir ab!“ riefen meine Gäste. Ich ließ einem jeden zwei Kugeln bringen, eine weiße und eine rote. Die weiße, das Symbol der Jungfräulichkeit, sollte die Ehe verwerfen, die 30
rote Kugel sie anraten. Ich selbst enthielt mich taktvollerweise der Ab stimmung. Die Zahl meiner Freunde war siebzehn, neun bildete also die absolute Mehrheit. Ein jeder legte seine Kugel in den enghalsigen Wei denkorb, in den die numerierten Kugeln hineingetan werden, wenn die Spieler die Reihenfolge auslosen, und unsere Neugier war ziemlich stark, denn diese Abstimmung geklärtester Moralanschauung hatte etwas Origi nelles. Als ich nachsah, fand ich neun weiße Kugeln! Dies.Resultat ver wunderte mich nicht; aber ich geriet auf den Einfall, unter meinen Rich tern die jungen Leute meines Alters zu zählen. Dieser Kasuisten gab es neun; sie hatten alle denselben Gedanken gehabt. Oh, oh, sagte ich zu mir, es ist also eine geheime Einmütigkeit unter den Leuten teils für diese Ehe, teils gegen sie. Wie winde ich mich da heraus? „Wo wohnt der Schwiegervater?“ fragte unbesonnenerweise einer meiner Studiengenossen, der aufrichtiger war als die ändern. „Es gibt keinen Schwiegervater mehr!“ rief ich aus. „Früher sprach mein Gewissen deut lich genug, um eure Befragung überflüssig zu machen. Und wenn seine Stimme heute schwächer ist, so seht hier die Ursache meiner Feigheit. Vor zwei Monaten erhielt ich diesen verführerischen Brief.“ Ich zog ein Papier aus der Tasche und hielt es ihnen hin. Es enthielt fol gende Worte: „Man bittet Sie, teilnehmen zu wollen an der Bestattung des Herrn Jo hann Friedrich Taillefer, C hef des Hauses Taillefer & Co., ehemaligen Ar meelieferanten, Ritters der Ehrenlegion und der goldenen Sporen, Haupt mann der I. Kompanie des 2. Linienregiments der Nationalgarde von Pa ris, verschieden am 1. Mai in seinem Hause, Rue Joubert. Das Begräbnis findet statt ...“ usw. „Was also tun?“ fuhr ich fort. „Ich will euch die Frage recht ausführlich darlegen. Wohl fließt ein Meer von Blut durch die Besitzungen des Fräu leins Taillefer; die Hinterlassenschaft ihres Vaters ist ein ungeheures Hacelma ... ich weiß! Aber Prosper Magnan hat keine Erben hinterlassen, auch ist es mir unmöglich gewesen, die Familie des in Andernach ermor deten Stecknadelfabrikanten ausfindig zu machen. Wem also sollte man das Vermögen wiedererstatten? Und soll man das ganze Vermögen wie dererstatten? Habe ich das Recht, ein nur von mir entdecktes Geheimnis zu verraten, das Heiratsgut eines unschuldigen Mädchens um einen abge schnittenen Kopf zu vergrößern, ihr schlechte Träume zu bringen, ihr eine schöne Illusion zu rauben, ihr den Vater ein zweites Mal zu töten durch Worte ,A11 dein Geld ist blutbefleckt!1? Ich habe mir von einem alten Geistlichen den ,Rat in Gewissensfragen1geliehen; er hatte keine Antwort auf meine Zweifel. Sollte man eine fromme Stiftung machen für das See lenheil Prosper Magnans, Walhenfers, Taillefers? Wir sind doch im neun zehnten Jahrhundert! Ein Hospiz erbauen oder einen Tugendpreis errich ten? Der Tugendpreis würde nur Schurken zufallen! Und die meisten unserer Hospitale scheinen mir nichts als Brutstätten des Lasters. Und fer ner: Bedeuten solche der Eitelkeit mehr oder minder schmeichelnden 31
Gründungen wirklich ein Gutmachen? Und bin ich dergleichen schuldig? Ich liebe - und das leidenschaftlich. Meine Liebe ist mein Leben! Wenn ich eine an Pracht und Luxus gewöhnte junge Dame, deren Leben sich je den Kunstgenuß verschaffen kann —eine junge Dame, die es liebt, in der Oper lässig in der Loge zu sitzen und Rossinischer Musik zu lauschen —, wenn ich sie ersuchen wollte, sich zum Besten blöder Greise oder räudiger Schafe einer Summe von anderthalb Millionen freiwillig zu entäußern, so würde sie mir lachend den Rücken kehren, oder ihre Busenfreundin wür de mich als üblen Spaßmacher hinstellen; wenn ich ihr im Liebesüberschwang die Reize einer bescheidenen Lebensführung und mein Häus chen am Ufer der Loire anpreisen, wenn ich von ihr verlangen wollte, im Namen unserer Liebe ihr Pariser Leben aufzugeben, so wäre das zunächst eine tugendsame Lüge; ferner könnte ich dabei irgendeine traurige Erfah rung machen und das Herz jener jungen Dame verlieren, die die Bälle, den Putz und den Tand und vorübergehend auch mich liebt. Irgendein schlanker, schmächtiger Offizier mit einem wohlfrisierten Schnurrbart, der Klavier spielt, für Byron schwärmt und elegant zu Pferde sitzt, wird sie mir wegkapern ... Was tun, meine Herren? Erbarmen! Einen Rat ...!“ Der Biedermann, diesen Puritaner, den ich schon erwähnte und der wohl dem Vater der Jenny Deans gleichen mochte, hatte bisher kein Wort geäußert. Jetzt zuckte er die Achseln und sagte: „Dummkopf, weshalb hast du ihn gefragt, ob er aus Beauvais sei!“
453 Hans
Schneider
Tödliche Kurve Sabine, die eigentlich die Freundin von Jens ist, fühlt sich mehr und mehr zu dem Abiturienten Detlef hingezogen und beginnt ein heimliches Ver hältnis mit ihm, ohne sich von Jens zu trennen. Als es daraufhin zu Aus einandersetzungen kommt, enden diese für alle drei unerwartet und dra matisch.
Napoleon auf dem Lande Roman von ANITA HEIDEN-BERNDT 2. Auflage • 304 Seiten • G anzleinen 8,60 M
Im Mittelpunkt steht Clemens Raduhn, der 45jährige, kluge, erfolgreiche und anerkannte Direktor eines Volksgutes im Mecklenburgi schen. Ein Leiter, der dieser Gegend, in die er einst während der 50er Jahre als „Nordlandfahrer“ gekommen ist, seinen Stempel aufgeprägt hat. Das spüren die Billerbecker und die Bewoh ner der anderen drei zum Gut gehörenden D ör fer täglich aufs neue. Doch da es mit der Arbeit klappt und es sich auch immer besser leben läßt, stört es die Leute schon lange nicht mehr, daß der Chef keinen Widerspruch duldet und seine Anweisungen ohne jede Diskussion ausgeführt wissen will. Auch Marlies Ahrens, Studentin, angehende Rinderzüchterin, Praktikantin auf dem Volksgut in Billerbeck, ist von diesem Raduhn zunächst fasziniert. Doch da kommt es durch sein Verhal ten zu harten Auseinandersetzungen mit unbe quemen Mitarbeitern. Das ist ungewöhnlich für Billerbeck, und das erschüttert den selbstbewuß ten Direktor in seiner bisherigen Sicherheit ge nauso wie die Begegnung mit der jungen M ar lies. N orddeutsche Neueste N achrichten Verlag Neues Leben Berlin
Erich W Iesner
Man nannte mich Ernst 5. Auflage • 296 Seiten ■G anzleinen 7,80 M
„M ein Klassenlehrer, von dem ich die besten Zensuren er hielt, bestärkte mich in m einem W unsch, Lehrer zu werden. Vater aber machte mir klar, daß ich im H ohenzollernstaat niemals mit einem Stipendium rechnen könne. So mußte ich meine H offnung für immer begraben - weil mein Vater ein Arbeiter war. Ich lernte Buchbinder, denn ich glaubte, daß ich die vielen Bücher, die durch meine H ände gingen, auch lesen könnte. ,Lehrjahre sind keine H errenjahre4, die ses Sprichwort wurde für uns ,Stifte1 bald bitterste W ahr heit. Wir m ußten in der Regel zwölf bis vierzehn Stunden täglich tätig sein, außerdem war Sonntagsarbeit gewöhnlich Pflicht. Wer bei der M eisterin Kost und Logis hatte, m ußte ihr nach zwanzig U hr noch im G arten oder im H aushalt helfen. Eines Tages eröffnete ich dem Meister, daß ich am kom m enden Sonntag nicht arbeiten würde. Ein solches Ver langen war in seinen Augen eine unerhörte Frechheit. Er versetzte mir mit der Rechten einen derart wuchtigen Schlag ins Gesicht, daß ich zu Boden taum elte. Im G runde genommen war es nichts Außergewöhnliches, daß Lehr linge verprügelt wurden. In unserer W erkstatt schlugen nicht nur der M eister und der Geselle, sondern auch die Meisterin hatte eine sehr lose H and. Diese Ohrfeige aber hatte es ,in sich* und blieb nicht ohne Folgen.“ Die Lebenserinnerungen von Erich W iesner um fassen ein halbes Jahrhundert Geschichte der revolutionären Arbeiter bewegung. Das Geschehen aus dem Blickwinkel eines un m ittelbar Beteiligten zu erfahren, der auch interessant er zählen kann, ist m ehr als ein Vertiefen von historischem Wissen.
Verlag Neues Leben Berlin