Ernst Bloch
Das Prinzip Hoffnung
Erster Band
[Klappentext] Ernst Bloch wurde am 8. Juli 1885 in Ludwigshafen geboren,...
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Ernst Bloch
Das Prinzip Hoffnung
Erster Band
[Klappentext] Ernst Bloch wurde am 8. Juli 1885 in Ludwigshafen geboren, studierte Philosophie und Physik und lebte zunächst als freier Schriftsteller in München, Bern und Berlin. 1933 emigrierte er in die Tschechoslowakei und 1938 in die USA. Von 1949 bis 1957 war er Ordinarius für Philosophie an der Universität Leipzig und seit 1961 an der Universität Tübingen. 1967 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Werke. Geist der Utopie, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, Spuren, Erbschaft dieser Zeit, Subjekt-Objekt, Das Prinzip Hoffnung, Naturrecht und menschliche Würde, Verfremdungen, Tübinger Einleitung in die Philosophie. Als Ernst Blochs «Prinzip Hoffnung« 1959 im Suhrkamp Verlag erschien, war es schon, obwohl bis dahin noch nicht vollständig publiziert, ein berühmtes Werk. Heute ist die Wirkung vielleicht nicht mehr die eines Lauffeuers, aber sie reichttiefer: Das Antizipieren der Zukunft, das »Träumen nach vorwärts«, das in diesem Werk philosophisch demonstriert wird, hat nicht nur das wissenschaftliche Denken ungemein angeregt, sondern ist tief in das Lebensgefühl der heutigen Generation eingedrungen. / Geschrieben 1938-1947 in den USA durchgesehen 1953 und 1959 Suhrkamp taschenbuch wissenschaft 3 Dritte Auflage 26-35 Tausend 1976 / Meinem Sohn Jan Robert Bloch /
INHALT Vorwort 21 ERSTER TEIL (BERICHT) KLEINE TAGTRÄUME 1. Wir fangen leer an
21
2. Vieles schmeckt nach mehr
21
3.Täglich ins Blaue hinein
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4.Versteck und schöne Fremde Unter sich 22 - Daheim schon unterwegs 23
22
5. Flucht und die Rückkehr des Siegers Ab zu Schiff 25 - Die funkelnde Schale 26
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6.Reifere Wünsche und ihre Bilder 30 Die lahmen Gäule 31 - Nacht der langen Messer 32 - Kurz vor Torschluß 33 Erfindung eines neuen Vergnügens 35 - Gelegenheit, freundlich zu sein 36 7. Was im Alter zu wünschen übrigbleibt 37 Wein und Beutel 38 - Heraufbeschworene Jugend; Gegenwunsch: Ernte 38 - Abend und Haus 41 8. Das Zeichen, das wendet
44
ZWEITER TEIL (GRUNDLEGUNG) DAS ANTIZIPIERENDE BEWUSSTSEIN 9. Was als Drängen vor sich geht
49
10. Nacktes Streben und Wünschen, nicht gesättigt.
49
11. Der Mensch als ziemlich umfängliches Triebwesen 52 Der einzelne Leib 52 - Kein Trieb ohne Leib dahinter 52 - Die wechselnde Leidenschaft 54 12. Verschiedene Auffassungen vom menschlichen Grundtrieb 55 Der geschlechtliche Trieb 55 - Ichtrieb und Verdrängung 56 Verdrängung, Komplex, Unbewußtes und die Sublimierung 59 Machttrieb, Rauschtrieb, Kollektiv-Unbewußtes 63 - »Eros« und die Archetypen 67 13.Die geschichtliche Begrenztheit aller Grundtriebe; verschiedene Lagen des Selbstinteresses; gefüllte und Erwartungs-Affekte 71 Der dringende Bedarf 71 - Verläßlichster Grundtrieb: Selbsterhaltung 72 Geschichtlicher Wandel der Triebe, auch des Selbsterhaltungstriebs 74 Gemütsbewegung und Selbstzustand, Appetitus der Erwartungsaffekte, vorzüglich
der Hoffnung 77 - Selbsterweiterungstrieb nach vorwärts, tätige Erwartung 84 14 Grundsätzliche Unterscheidung der Tagträume von den Nachtträumen. Versteckte und alte Wunscherfüllung im Nachttraum, ausfabelnde und antizipierende in den Tagphantasien 86 Neigung zum Traum 86 - Träume als Wunscherfüllung 87 - Angsttraum und Wunscherfüllung 91 - Eine Hauptsache: Der Tagtraum ist keine Vorstufe des nächtlichen Traums 96 - Erster und zweiter Charakter des Tagtraums: freie Fahrt, erhaltenes Ego 98 - Dritter Charakter des Tagtraums: Weltverbesserung 102 Vierter Charakter des Tagtraums: Fahrt ans Ende 107 - Ineinander nächtlicher und täglicher Traumspiele, seine Auflösung 111 - Nochmals Neigung zum Traum: die «Stimmung« als Medium von Tagträumen 116 - Nochmals die Erwartungsaffekte (Angst, Furcht, Schreck, Verzweiflung, Hoffnung, Zuversicht) und der Wachtraum 121 15. Entdeckung des Noch-Nicht-Bewußten oder der Dämmerung nach Vorwärts. Noch-Nicht-Bewußtes als neue Bewußtseinsklasse und als Bewußtseinsklasse des Neuen: Jugend, Zeitwende, Produktivität. Begriff der utopischen Funktion, ihre Begegnung mit Interesse, Ideologie, Archetypen, Idealen, Allegorien-Symbolen 129 Die zweiRänder 129 - Doppelte Bedeutung des Vorbewußten 130 Noch-Nicht-Bewußtes in Jugend, Zeitwende, Produktivität 132 Weiteres zur Produktivität: ihre drei Stadien 138 - Unterschiede des Widerstands, den das Vergessene und das Noch-Nicht-Bewußte der Erhellung entgegensetzen 144 Epilog über die Sperre, die den Begriff des Noch-Nicht-Bewußten so lange verhindert hat 149 - Die bewußte und die gewußte Tätigkeit im Noch-NichtBewußten, utopische Funktion 161 - Weiter utopische Funktion: das Subjekt in ihr und der Gegenzug gegen das schlecht Vorhandene 167 - Berührung der utopischen Funktion mit Interesse 171 - Begegnung der utopischen Funktion mit Ideologie 174 Begegnung der utopischen Funktion mit Archetypen 181 - Begegnung der utopischen Funktion mit Idealen 189 - Begegnung der utopischen Funktion mit Allegorien-Symbolen 199 16. Utopischer Bildrest in der Verwirklichung; ägyptische und trojanische Helena204 Träume wollen ziehen 204 - Nicht-Genügen und was darin stecken kann 205 - Erster Grund der Enttäuschung: Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück; zweiter Grund: Verselbständigter Traum und die Sage der doppelten Helena 206 - Einwand gegen den ersten und zweiten Grund: Odyssee des Stilliegens 113 - Dritter Grund der utopischen Reisebilder: die Aporien der Verwirklichung 217 17. Die Welt, worin utopische Phantasie ein Korrelat hat; reale Möglichkeit, die Kategorien Front, Novum, Ultimum und der Horizont 224 Der Mensch ist nicht dicht 224 - Vieles in der Welt ist noch ungeschlossen 225 Militanter Optimismus, die Kategorien Front, Novum, Ultimum 227 - Das «nach Möglichkeit« und das «in Möglichkeit Seiende«:, Kälte- und Wärmestrom im Marxismus 235 - Künstlerischer Schein als sichtbarer Vor-Schein 242 - Falsche Autarkie; Vor-Schein als reales Fragment 250 - Es geht um den Realismus, alles Wirkliche hat einen Horizont 256
18. Die Schichten der Kategorie Möglichkeit 258 Das formal Mögliche 258 - Das sachlich-objektiv-Mögliche 259 Das sachhaftobjektgemäß Mögliche 264 - Das objektiv-real Mögliche 271 - Erinnerung: Logisch-statischer Kampf gegen das Mögliche 278 - Möglichkeit verwirklichen 284 19. Weltveränderung oder die Elf Thesen von Marx über Feuerbach288 Zeit der Abfassung 289 - Frage der Gruppierung 293 - Erkenntnistheoretische Gruppe: Die Anschauung und Tätigkeit (Thesen 5, 1, 3) 295 Anthropologisch-historische Gruppe: Die Selbstentfremdung und der wahre Materialismus (Thesen 4, 6, 7, 9, 10)304 - Theorie-Praxis-Gruppe: Beweis und Bewährung (Thesen 2,8) 310 - Das Losungswort und sein Sinn (These 11) 319 Der archimedische Punkt; Wissen nicht nur auf Vergangenes, sondern wesentlich auf Heraufkommendes bezogen 328 20. Zusammenfassung / Antizipatorische Beschaffenheit und ihre Pole: Dunkler Augenblick - Offene Adäquatheit 334 Puls und gelebtes Dunkel 334 - Platz für möglichen Vormarsch 335 - Quell und Mündung: das Staunen als absolute Frage 336 - Nochmals: Dunkel des gelebten Augenblicks: Carpe diem 338 - Dunkel des gelebten Augenblicks, Fortsetzung: Vordergrund, schädlicher Raum, Melancholie der Erfüllung, Selbstvermittlung 343-NochmaIs Staunen als absolute Frage, in Angst- wie Glücksgestalt; der schlechthin utopische Archetyp: höchstes Gut 350 - Das Nicht im Ursprung, das Noch-Nicht in der Geschichte, das Nichts oder aber das Alles am Ende 356 - Utopie kein dauernder Zustand; also doch: Carpe diem, aber als echtes an echter Gegenwart 364 21. Tagtraum in entzückender Gestalt: Pamina oder das Bild als erotisches Versprechen 368 Der zärtliche Morgen 368 - Wirkung durchs Porträt 369 - Nimbus um Begegnung, Verlobung 373 - Zuviel Bild, Rettung davor, Nimbus um die Ehe 375 - Hohes Paar, Corpus Christi oder kosmisch und christförmig gewesene Utopie der Ehe 381 Nach-Bild der Liebe 385 22. Tagtraum in symbolischer Gestalt: Lade der Pandora; das gebliebene Gut
387
DRITTER TEIL (ÜBERGANG) WUNSCHBILDER IM SPIEGEL (AUSLAGE, MÄRCHEN, REISE, FILM, SCHAUBÜHNE) 23. Sich schöner machen, als man ist
395
24. Was einem heute der Spiegel erzählt Schlank sein 396 - Stark im Ducken 396
396
25. Das neue Kleid, die beleuchtete Auslage Gut aufgebaut 398 - Licht der Reklame 400
397
26. Schöne Maske, Kukluxklan, die bunten Magazine
401
Die krummen Wege 402 - Erfolg durch Schrecken 403 - Erfolgsbücher, Geschichten aus Syrup 406 27. Bessere Luftschlösser in Jahrmarkt und Zirkus, in Märchen und Kolportage
409
Mut des Klugen 411 - Tischleindeckdich, Geist der Lampe 412 Auf Flügeln des Gesanges, Herzliebchen, trag ich dich fort« 415 - »Fort nach den Fluren des Ganges, dort weiß ich den schönsten Ort« 418 - Südsee in Jahrmarkt und Zirkus 421 - Das wilde Märchen: als Kolportage 426 28. Reiz der Reise, Antiquität, Glück des Schauerromans 429 Schöne Fremde 430 - Fernwunsch und historisierendes Zimmer im neunzehnten Jahrhundert 435 - Aura antiker Möbel, Ruinenzauber, Museum 442 - Schloßgarten und die Bauten Arkadiens 449 - Tolles Wetter, Apollo bei Nacht 453 29. Wunschbild im Tanz, die Pantomime und das Filmland 456 Neuer Tanz und alter 457 - Neuer Tanz als ehemals expressionistischer, Exotik 460 - Kulttanz, Derwische, seliger Reigen 462 - Die taubstumme und die bedeutende Pantomime 467 - Neuer Mimus durch die Kamera 471 - Traumfabrik im verrotteten und im transparenten Sinn 474 30. Die Schaubühne, als paradigmatische Anstalt betrachtet, und die Entscheidung in ihr 478 Der Vorhang geht auf 478 - Die Probe aufs Exempel 479 - Weiteres zur Probe aufs zu suchende Exempel 483 - Lektüre, Sprachmimik und Szene 485 - Illusion, aufrichtiger Schein, moralische Anstalt 490 - Falsche und echte Aktualisierung 494 Weitere echte Aktualisierung: Nicht Furcht und Mitleid, sondern Trotz und Hoffnung 497 31. Verspottete und geballte Wunschbilder, freiwillig humoristische500 Das Wörtchen Wenn 500 - «Die neumodischen Dinge taugen alle nichts 501 - Le Néant; Un autre monde 502 - Die «Vögel« des Aristophanes und das Wolkenkuckucksheim 505 - Fröhliche Überbietung: Lukians «Vera historia« 507 Freiwillig-humoristische Wunschbilder 509 32. Happy-end, durchschaut und trotzdem verteidigt.
512
[Band 2] VIERTER TEIL (KONSTRUKTION) GRUNDRISSE EINER BESSEREN WELT (HEILKUNST, GESELLSCHAFTSSYSTEME, TECHNIK, ARCHITEKTUR, GEOGRAPHIE, PERSPEKTIVE IN KUNST UND WEISHEIT) 33. Ein Träumer will immer noch mehr
523
34. Übung des Leibs, tout va bien
523
35. Kampf um Gesundheit, die ärztlichen Utopien 526 Ein warmes Bett 526 - Irre und Märchen 527 - Arznei und Planung 529 - Zögerung und Ziel im wirklichen leiblichen Umbau 536 - Malthus, Geburtenziffer, Nahrung 542 - Die Sorge des Arztes -545 36. Freiheit und Ordnung, Abriß der Sozialutopien 547 I. Einführung / Ein schlichtes Mahl 547 - Die gebratenen Tauben 548 - Irrsinn und Kolportage auch hier 548 - New Moral Worlds am Horizont 551 - Utopien haben ihren Fahrplan 555 II. Soziale Wunschbilder der Vergangenheit / Solon und die bescheidene Mitte 558 Diogenes und die musterhaften Bettler 559 - Aristipp und die musterhaften Schmarotzer 560 - Platons Traum vom dorischen Staat 562 - Hellenistische Staatsmärchen, Sonneninsel des Jambulos 566 - Stoa und internationaler Weltstaat 569 - Bibel und Reich der Nächstenliebe 575 - Augustins Gottesstaat aus Wiedergeburt 582 - Joachim di Fiore, drittes Evangelium und sein Reich 590 -Thomas Morus oder die Utopie der sozialen Freiheit 598 - Gegenstück zu Morus: Campanellas Sonnenstaat oder die Utopie der sozialen Ordnung 607 - Sokratische Frage nach Freiheit und Ordnung, unter Berücksichtigung von »Utopia« und »Civitas solis« 614 - Fortgang: Sozialutopien und klassisches Naturrecht 621 - Aufgeklärtes Naturrecht an Stelle von Sozialutopien 629 - Fichtes geschlossener Handelsstaat oder Produktion und Tausch nach Vernunftrecht 637 - Föderative Utopien im neunzehnten Jahrhundert: Owen, Fourier 647 - Zentralistische Utopien im neunzehnten Jahrhundert: Cabet, Samt-Simon 654 - Individuelle Utopisten und die Anarchie: Stirner, Proudhon, Bakunin 662 -Proletarisches Luftschloß aus dem Vormärz: Weitling 670 - Ein Fazit: Schwäche und Rang der rationalen Utopien 674 III. Projekte und Fortschritt zur Wissenschaft / Aktueller Rest: bürgerliche Gruppenutopien 680 - Anfang, Programm der Jugendbewegung 683 - Kampf ums neue Weib, Programm der Frauenbewegung 687 - Altneuland, Programm des Zionismus 698 - Zukunftsromane und Gesamtutopien nach Marx: Bellamy, William Morris, Carlyle, Henry George 714 - Marxismus und konkrete Antizipation 723 37. Wille und Natur, die technischen Utopien 729 I.Magische Vergangenheit / Ins Elend gestürzt 730 - Feuer und neue Rüstung 731 Irrsinn und Aladins Märchen 731 - »Professor Mystos« und die Erfindung 734 Andreäs »Chymische Hochzeit Christiani Rosenkreutz anno 1459« 740 - Nochmals Alchymie: mutatio specierum (Umwandlung der anorganischen Arten) und ihr Brutofen 746 - Ungeregelte Erfindungen und »Propositiones« im Barock 754 -
Bacons Ars inveniendi; Fortleben der Lullischen Kunst 758 - Nova Atlantis, das utopische Laboratorium 763, II. Nicht-euklidische Gegenwart und Zukunft, technisches Anschlußproblem / Auch Pläne müssen angetrieben werden 767 - Spätbürgerliche Drosselung der Technik, abgesehen von der militärischen 768 - Entorganisierung der Maschine, Atomenergie, nicht-euklidische Technik 771 - Subjekt, Rohstoffe, Gesetze und Anschluß in der Entorganisierung 778 - Elektron des menschlichen Subjekts, der Willenstechnik 788 - Mitproduktivität eines möglichen Natursubjekts oder konkrete Allianztechnik 802 Technik ohne Vergewaltigung; ökonomische Krise und technischer Unfall 807 -, Gefesselter Riese, verschleierte Sphinx, technische Freiheit 813 38. Bauten, die eine bessere Welt abbilden, architektoni[ni]sche Utopien819 I. Figuren der alten Baukunst / Blick durchs Fenster 819 -Träume an der pompejanischen Wand 820 - Festschmuck und barocke Bühnenbauten 821 Wunscharchitektur im Märchen 827 - Wunscharchitektur in der Malerei 830 - Die Bauhütten oder architektonische Utopie bei der Ausführung 835 - Ägypten oder die Utopie Todeskristall, Gotik oder die Utopie Lehensbaum 844 - Weitere und einzelne Exempel von Leitraum in der alten Baukunst 850, II. Die Bebauung des Hohlraums / Neue Häuser und wirkliche Klarheit 858 Stadtpläne, Idealstädte und nochmals wirkliche Klarheit: Durchdringung des Kristalls mit Fülle 863 39. Eldorado und Eden, die geographischen Utopien. 873 Die ersten Lichter 873 - Erfinden und Entdecken; Eigenart der geographischen Hoffnung 874 - Wiederum Märchen, Goldenes Vlies und Gral 880 - Phäakeninsel, der schlimme Atlantik, Lage des irdischen Paradieses 884 - Meerfahrt St. Brendans, Reich des Priesterkönigs Johannes; amerikanisches, asiatisches Paradies 892 Kolumbus am Orinoko-Delta; Kuppel der Erde 904 - Südland und die Utopie Thule 909 - Bessere Wohnstätten auf anderen Sternen; hic Rhodos 915 - Die Kopernikanische Beziehung, Baaders »Zentralerde« 918 - Geographische Verlängerungslinie in Nüchternheit; der Fundus der Erde, mit Arbeit vermittelt 924 40. Dargestellte Wunschlandschaft in Malerei, Oper, Dichtung 929 Die bewegte Hand 930 - Blume und Teppich 930 - Stilleben aus Menschen 931 Einschiffung nach Cythera 932 - Perspektive und großer Horizont bei van Eyck, Leonardo, Rembrandt 935 Stilleben, Cythera und weite Perspektive in der Dichtung: Heinse, Roman der Rose, Jean Paul 939 - Die Wunschlandschaft Perspektive in der Ästhetik; Rang der Kunststoffe nach Maßgabe ihrer Tiefen- und Hoffnungsdimension 945 - Maler des gebliebenen Sonntags, bei Seurat, Cézanne, Gauguin; Giottos Legendenland 952 - Legendenland in der Dichtung: als himmlische Rose in Dantes Paradiso, als transzendentes Hochgebirge im Faust-Himmel 961 - Prunk, Elysium in Oper und Oratorium 969 - Berührung des Interieurs und des Unbegrenzten im Geist der Musik: Kleists Ideallandschaft; Sixtinische Madonna 977 41. Wunschlandschaft und Weisheit sub specie aeternitatis und des Prozesses982 Die Suche nach dem Maß 982 - Das »Eigentliche« in Urstoff und Gesetz 984 - Kant und intelligibles Reich; Platon, Eros und die Wertpyramide 987 - Bruno und das unendliche Kunstwerk; Spinoza und die Welt als Kristall 993 - Augustin und Zielgeschichte; Leibniz und die Welt als Erhellungsprozeß 1000 -Der wachtbabende
Begriff oder das «Eigentliche« als Aufgabe 1011 - Zwei Wunschsätze: Die lehrbare Tugend, der kategorische Imperativ 1016 - Der Satz des Anaximander oder Welt, die sich ins Gleiche stellt 1026 - Leichtheit in der Tiefe, Freudigkeit des Lichtwesens 1031 42. Achtstundentag, Welt im Frieden, Freizeit und Muße 1039 Die Peitsche des Hungers 1040 - Aus den Kasematten der Bourgeoisie 1040 Allerhand Milderung durch Wohltat 1045 - Bürgerlicher Pazifismus und Friede 1048 Technische Reife, Staatskapitalismus und Staatssozialismus; Oktoberrevolution 1053 - Täuschungen der Freizeit: Ertüchtigung zum Betrieb 1062 - Gebliebene ältere Formen der Freizeit, verdorben, doch nicht hoffnungslos: Steckenpferd, Volksfest, Amphitheater 1065 - Die Umgebung der Freizeit: Utopisches Buen Retiro und Pastorale 1073 - Muße als unerläßliches, erst halb erforschtes Ziel 1080 [Band 3] FÜNFTER TEIL (IDENTITÄT) WUNSCHBILDER DES ERFÜLLTEN AUGENBLICKS (MORAL, MUSIK, TODESBILDER, RELIGION, MORGENLAND NATUR, HÖCHSTES GUT) 43. Nicht im reinen mit sich
1089
44. Haus und Schule leiten an
1090
45. Leitbilder selber, um menschenähnlich zu werden
1093
46. Leittafeln des gefährlichen und des glücklichen Lebens 1097 So manches offen 1097 - Zu warm gekleidet 1097 - Wilde, verwegene Jagd 1098 Französisches Glück und Freude 1100 Abenteuer des Glücks 1101 47. Leittafeln der Willenstempi und der Betrachtung, der Einsamkeit und der Freundschaft, des Individuums und der Gemeinschaft 1103 Ein anständiger Mensch 1103 - Fabios oder der zaudernde Täter 1104 - Sorel, Machiavelli oder Tatkraft und Glücksrad 1106 - Bruchproblem, Herkules am Scheideweg, Dionysos-ApolIo 1113 Vita aetiva, Vita contemplativa oder die Welt des erwählten guten Teils 1119 - Doppellicht Einsamkeit und Freundschaft 1125 Doppellicht Individuum und Kollektiv 1134 - Rettung des Individuums durch Gemeinsamkeit 1139 48. Der junge Goethe, Nicht-Entsagung, Ariel 1143 Der Wunsch zu zerschlagen 1143 - Glück und Leid des Wertherschen 1144 - Die Forderung, Prometheus, Ur-Tasso 1146 - Intention der Erhabenheit, Faust-Gotik und Metamorphose 1152 - Ariel und die dichterische Phantasie 1158 -Das Dämonische und die sich sagende allegorisch-symbolische Verschlossenheit 1162 - Nur wer die Sehnsucht kennt: Mignon 1167 - Wünsche als Vorgefühle unserer Fähigkeiten 1172 49. Leitfiguren der Grenzüberschreitung; Faust und die Wette um den erfüllten Augenblick 1175 Kein nasses Stroh 1175 - Die Laute schlagen und die Gläser leeren 1176 - Don Giovanni, alle Frauen und die Hochzeit 1180 - Faust, Makrokosmos,Verweile doch,
du bist so schön 1188 - Faust, Hegels Phänomenologie und das Ereignis 1194 Odysseus starb nicht in Ithaka, er fuhr zur unbewohnten Welt 1201 - Hamlet, verschlossener Wille; Prospero, grundlose Freude 1206 50.Leittafeln abstrakter und vermittelter Grenzüberschreitung, angezeigt an Don Quichotte und Faust 1214 Der gärende Wille 1214 - Don Quichottes traurige Gestalt und goldene Illusion 1216 - Verwandtes: Unrecht und Recht Tassos gegen Antonio 1235 - Das LuziferischPrometheische und die Klangschicht 1238 51. Überschreitung und intensitätsreichste Menschwelt in der Musik 1243 Glück der Blinden 1243 - Die Nymphe Syrinx 1244 - Bizarrer Held und Nymphe: Symphonie fantastique 1246 - Menschlicher Ausdruck als unabtrennbar von Musik 1248 - Musik als Kanon und Gesetzwelt; Sphärenharmonie, humanere Leitsterne 1258 - Tonmalerei, nochmals Naturwerk, die Intensität und Moralität Musik 1270 Der Hohlraum; Subjekt der Sonate und Fuge 1280 - Trauermarsch, Requiem, Kondukt hinter den Tod 1289 - Marseillaise und Augenblick in Fidelio 1295 52. Selbst und Grablampe oder Hoffnungsbilder gegen die Macht der stärksten Nicht-Utopie: den Tod 1297 I. Einführung / Vom Sterben nicht reden 1298 - Utopien der Nacht, die auf dieser Welt keinen Morgen mehr hat 1299 II. Religiöse Kontrapunkte aus Tod und Sieg / Vom Toten nur Gutes 1304 - Schatten und griechische Dämmerung 1306 - Bejahung der Wiederkehr; orphisches Rad 2308 - Elixiere der Seele und gnostische Himmelsreise 1312 - Der ägyptische Himmel im Grab 1319 - Biblische Auferstehung und Apokalypse 1323 Mohammedanischer Himmel, Stärke des Fleischs, Zaubergarten 1333 - Lauter Ruhe sucht auch noch Befreiung vom Himmel, Wunschbild Nirwana 1336 III. Aufgeklärte und romantische Euthanasien / Der Freigeist als Starkgeist 1343 Jüngling mit der umgekehrten Fackel und mit der neu entzündeten 1344 - Auflösung ins All, letale Rückkehr zur Natur 1350 - Gletscher, Erdmutter und Weltgeist 1355 IV. Weitere säkularisierte Gegenzüge, Nihilismus, Haus der Menschheit / Immer noch Färbendes des Nichts 1360 - Vier Zeichen eines beliehenen Glaubens 1361-Die metaphorische Unsterblichkeit: im Werk 1366 - Der Tod als Meißel in der Tragödie 1372 - Verschwinden des letalen Nichts im sozialistischenBewußtsein 1378 V. Lebenslust und Fragment in allen Dingen / Forschende Reise in den Tod 1384 Der Augenblick als Nicht-Da-Sein; Exterritorialität zum Tod 1385 53. Wachsender Menscheinsatz ins religiöse Geheimnis, in Astralmythos, Exodus, Reich; Atheismus und die Utopie des Reichs 1392 1. Einführung / In guter Hand 1392 - Wiederum Irre, okkulter Pfad 1393 - Häuptling und Zauberer; jede Religion hat Stifter 1399 - Ein Numinoses, auch im religiösen Humanum 1405 II. Stifter, Frohbotschaften und Cur Deus homo / Der fremde Lehrer: Kadmos 1417 Sänger des rauschhaften Heils: Orpheus 1418 - Dichter apollinischer Götter und ihres Beistands: Homer und Hesi0d; römische Staatsgötter 1419 - Der unaufgeblühte Glaube an Prometheus und die tragische Liturgie: Äschylos 1427 Fischmensch und Mondschreiber des Astralmythos: Oannes, Hermes Trismegistos-Thot 1432 - Frohbotschaft des irdisch-himmlischen Gleichgewichts und
des unscheinbaren Welttakts (Tao): Konfuzius, Lautse 1438 - Stifter, der zur Frohbotschaft bereits selber gehört: Moses. sein Gott des Exodus 1450 - Moses oder das Bewußtsein der Utopie in der Religion, der Religion in der Utopie 1456 Kriegerischer Selbsteinsatz, gemengt mit Astrallicht: Zorosster, Mani 1464 Erlösender Selbsteinsatz, begrenzt auf Akosmos, bezogen auf Nirwana: Buddha 1474 - Stifter aus dem Geist Mosis und des Exodus, völlig zusammenfallend mit seiner Frohbotschaft: Jesus, Apokalypse, Reich 1482 - Jesus und der Vater; Paradiesschlange als Heiland; die drei Wunsch-Mysterien: Auferstehung, Himmelfahrt, Wiederkehr 1493 - Fanatismus und Ergebung in Allahs Willen: Mohammed 1504 III. Der Kern der Erde als wirkliche Exterritorialität / Die Straße des uns vorhandenen Wozu 1509 - Unabwendbares und wendbares Schicksal oder Kassandra und Jesajas 1511 - Gott als utopisch hypostasiertes Ideal des unbekannten Menschen; Feuerbach, Cur Deus homo nochmals 1515 - Rekurs auf Atheismus; Problem des Raums, in den der Gott hinein imaginiert und utopisiert wurde 1524 - Verweile-doch in religiöser Schicht: Die Einheit des Nu in der Mystik 1534 - Wunder und Wunderbares: Augenblick als Fußpunkt der Nike 1540 54. Der letzte Wunschinhalt und das höchste Gut 1551 Trieb und Speise 1551 - Drei Wünsche und der beste 1552 -Wertbilder als Abwandlungen des höchsten Guts; Cicero und die Philosophen 1555 Verweile-doch und höchstes Gut, Problem eines Leitbildes im Weltprozeß 1562 Nochmals Trieb und Speise oder Subjektivität, Objektivität der Güter, der Werte und des höchsten Guts 1566 - Schwebung und Strenge im Bezug aufs höchste Gut (Abendwind, Buddha-Statue, Reichsfigur) 1577 Zahl und Chiffer der Qualitäten; Natursinn des höchsten Guts 1593 55 Karl Marx und die Menschlichkeit: Stoff der Hoffnung 1602 Der rechte Schmied 1602 - Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist 1604 Säkularisierung und die Kraft, auf die Füße zu stellen 1609 - Traum nach vorwärts, Nüchternheit, Enthusiasmus und ihre Einheit 1616 - Gewißheit, unfertige Welt, Heimat 1622
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VORWORT
Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns? Viele fühlen sich nur als verwirrt. Der Boden wankt, sie wissen nicht warum und von was. Dieser ihr Zustand ist Angst, wird er bestimmter, so ist er Furcht. Einmal zog einer weit hinaus, das Fürchten zu lernen. Das gelang in der eben vergangenen Zeit leichter und näher, diese Kunst ward entsetzlich beherrscht. Doch nun wird, die Urheber der Furcht abgerechnet, ein uns gemäßeres Gefühl fällig. Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern. Hoffen, über dem Fürchten gelegen, ist weder passiv wie dieses, noch gar in ein Nichts gesperrt. Der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus, macht die Menschen weit, statt sie zu verengen, kann gar nicht genug von dem wissen, was sie inwendig gezielt macht, was ihnen auswendig verbündet sein mag. Die Arbeit dieses Affekts verlangt Menschen, die sich ins Werdende tätig hineinwerfen, zu dem sie selber gehören. Sie erträgt kein Hundeleben, das sich ins Seiende nur passiv geworfen fühlt, in undurchschautes, gar jämmerlich anerkanntes. Die Arbeit gegen die Lebensangst und die Umtriebe der Furcht ist die gegen ihre Urheber, ihre großenteils sehr aufzeigbaren, und sie sucht in der Welt selber, was der Welt hilft; es ist findbar. Wie reich wurde allzeit davon geträumt, vom besseren Leben geträumt, das möglich wäre. Das Leben aller Menschen ist von Tagträumen durchzogen, darin ist ein Teil lediglich schale, auch entnervende Flucht, auch Beute für Betrüger, aber ein anderer Teil reizt auf, läßt mit dem schlecht Vorhandenen sich nicht abfinden, läßt eben nicht entsagen. Dieser andere Teil hat das Hoffen im Kern, und er ist lehrbar. Er kann aus dem ungeregelten Tagtraum wie aus dessen schlauem Mißbrauch herausgeholt werden, ist ohne Dunst aktivierbar. Kein Mensch lebte je ohne Tageräume, es kommt aber darauf an, sie immer weiter zu kennen und dadurch unbetrüglich, hilfreich, aufs Rechte gezielt zu halten. Möchten die Tagträume noch voller werden, denn das bedeutet, daß sie sich genau um den nüchternen Blick bereichern; nicht im Sinn der /(2) Verstockung, sondern des Hellwerdens. Nicht im Sinn des bloß betrachtendenVerstands, der die Dinge nimmt, wie sie gerade sind und stehen, sondern des beteiligten, der sie nimmt, wie sie gehen, also auch besser gehen können. Möchten die Tagträume also wirklich voller werden, das ist, heller, unbeliebiger, bekannter, begriffener und mit dem Lauf der Dinge vermittelter. Damit der Weizen, der reifen will, befördert und abgeholt werden kann. Denken heißt Überschreiten. So jedoch, daß Vorhandenes nicht unterschlagen, nicht überschlagen wird. Weder in seiner Not, noch gar in der Bewegung aus ihr heraus. Weder in den Ursachen der Not, noch gar im Ansatz der Wende, der darin heranreift. Deshalb geht wirkliches Überschreiten auch nie ins bloß Luftleere eines Vor-uns, bloß schwärmend, bloß abstrakt ausmalend. Sondern es begreift das Neue als eines, das im bewegt Vorhandenen vermittelt ist, ob es gleich, um freigelegt zu werden, aufs Äußerste den Willen zu ihm verlangt. Wirkliches Überschreiten kennt und aktiviert die in der Geschichte angelegte, dialektisch verlaufende Tendenz. Primär lebt jeder Mensch, indem er strebt, zukünftig, Vergangenes kommt erst später, und echte Gegenwart ist fast überhaupt noch nicht da. Das Zukünftige enthält das Gefürchtete oder das Erhoffte; der menschlichen Intention nach, also ohne Vereitlung, enthält es nur das Erhoffte. Funktion und Inhalt der Hoffnung werden unaufhörlich erlebt, und sie wurden in
Zeiten aufsteigender Gesellschaft unaufhörlich betätigt und ausgebreitet. Einzig in Zeiten einer niedergehenden alten Gesellschaft, wie der heutigen im Westen, läuft eine gewisse partielle und vergängliche Intention nur abwärts. Dann stellt sich bei denen, die aus dem Niedergang nicht herausfinden, Furcht vor die Hoffnung und gegen sie. Dann gibt sich Furcht als subjektivistische, Nihilismus als objektivistische Maske des Krisenphänomens: des erduldeten, aber nicht durchschauten, des beweinten, aber nicht gewendeten. Die Wendung ist auf dem bürgerlichen Boden, gar in seinem gekommenen und bezogenen Abgrund, ohnehin unmöglich, selbst dann, wenn sie, was keineswegs der Fall, gewollt wäre. Ja das bürgerliche Interesse möchte gerade jedes andere, ihm entgegengesetzte, in das eigene Scheitern hineinziehen; so macht es, um das neue Leben zu ermatten, die eigene Agonie scheinbar grundsätzlich, scheinbar ontologisch. Die Ausweglosigkeit des bürgerlichen Seins wird als die der menschlichen Situation überhaupt, des Seins schlechthin ausgedehnt. Auf die Dauer freilich vergebens: das bürgerlich Leergewordene ist so /(3) ephemer wie die Klasse, die sich darin einzig noch ausspricht, und so haltungslos wie das Scheinsein der eigenen schlechten Unmittelbarkeit, dem sie verschworen ist. Die Hoffnungslosigkeit ist selber, im zeitlichen wie sachlichen Sinn, das Unaushaltbarste, das ganz und gar den menschlichen Bedürfnissen Unerträgliche. Weshalb sogar der Betrug, damit er wirkt, mit schmeichelhaft und verdorben erregter Hoffnung arbeiten muß. Weshalb gerade wieder die Hoffnung, doch mit Einsperrung auf bloße Inwendigkeit oder mit Vertröstung aufs Jenseits, von allen Kanzeln gepredigt wird. Weshalb selbst die letzten Miseren der westlichen Philosophie ihre Philosophie der Misere nicht mehr ohne Lombardierung eines Übersteigens, Überschreitens vorzubringen imstande sind. Das heißt, nicht mehr anders, als daß der Mensch wesenhaft von der Zukunft her bestimmt, jedoch mit dem zynisch-interessierten Bedeuten, dem aus der eigenen Klassenlage hypostasierten, daß die Zukunft das Ladenschild der Nacht-Bar zur Zukunftslosigkeit sei und die Bestimmung der Menschen das Nichts. Nun: mögen die Toten ihre Toten begraben; der beginnende Tag hört noch in der Verzögerung, die ihm die überständige Nacht zuzieht, auf anderes als auf das verwesend schwüle, wesenlos nihelistische Grabgeläute. Solange der Mensch im Argen liegt, sind privates wie öffentliches Dasein von Tagträumen durchzogen; von Träumen eines besseren Lebens als des ihm bisher gewordenen. Im Unechten, wieviel mehr erst im Echten, ist jede menschliche Intention auf diesen Grund aufgetragen. Und noch wo der Grund, wie so oft bisher, bald voller Sandbänke, bald voller Chimären täuschen mag, kann er nur durch objektive Tendenz-, subjektive Intentionsforschung in einem denunziert und gegebenenfalls bereinigt werden. Corruptio optimi pessima: die schwindelhafte Hoffnung ist einer der größten Übeltäter, auch Entnerver des Menschengeschlechts, die konkret echte sein ernstester Wohltäter. Wissendkonkrete Hoffnung also bricht subjektiv am stärksten in die Furcht ein, leitet objektiv am tüchtigsten auf die ursächliche Abstellung der Furcht-Inhalte hin. Mit der kundigen Unzufriedenheit zusammen, die zur Hoffnung gehört, weil sie beide aus dem Nein zum Mangel entspringen. Denken heißt Überschreiten. Freilich, das Überschreiten fand bisher nicht allzu scharf sein Denken. Oder wenn es gefunden war, so waren zu viel schlechte Augen da, die die Sache nicht sahen. Fauler Ersatz, gängig-kopierende Stellvertretung, die Schweinsblase eines reaktionären, aber auch schematisierenden Zeitgeistes, sie verdrängten das /(4) Entdeckte. Im Bewußtwerden des konkreten Überschreitens bezeichnet Marx die Wende. Aber um sie her haften zäh eingelebte Denkgewohnheiten an eine Welt ohne Front. Hier liegt nicht nur der Mensch, hier
liegt auch die Einsicht in seine Hoffnung im Argen. Das Intendieren ist nicht in seinem allemal antizipierenden Klang gehört, die objektive Tendenz nicht in ihrer allemal antizipatorischen Mächtigkeit erkannt. Das Desiderium, die einzig ehrliche Eigenschaft aller Menschen, ist unerforscht. Das Noch-Nicht-Bewußte, Noch-Nicht-Gewordene, obwohl es den Sinn aller Menschen und den Horizont alles Seins erfüllt, ist nicht einmal als Wort, geschweige als Begriff durchgedrungen. Dies blühende Fragengebiet liegt in der bisherigen Philosophie fast sprachlos da. Träumen nach vorwärts, wie Lenin sagt, wurde nicht reflektiert, wurde nur mehr sporadisch gestreift, kam nicht zu dem ihm angemessenen Begriff. Erwarten und Erwartetes, im Subjekt hier, im Objekt dort, das Heraufziehende insgesamt hat bis zu Marx keinen Weltaspekt erregt, worin es Platz findet, gar zentralen. Das ungeheure utopische Vorkommen in der Welt ist explizite fast unerhellt. Von allen Seltsamkeiten des Nichtwissens ist diese eine der auffälligsten. M. Terentins Varro soll in seinem ersten Versuch einer lateinischen Grammatik das Futurum vergessen haben; philosophisch ist es bis heute noch nicht ganz adäquat bemerkt. Das macht ein überwiegend statisches Denken nannte, ja verstand diese Beschaffenheit nicht, und immer wieder schließt es das ihm Gewordene fertig ab. Ist als betrachtendes Wissen per definitionem einzig eines von Betrachtbarem, nämlich der Vergangenheit, und über dem Ungewordenen wölbt es abgeschlossene Forminhalte aus der Gewordenheit. Folgerichtig ist diese Welt, auch wo sie geschichtlich erfaßt wird, eine Welt der Wiederholung oder des großen Immer-Wieder; sie ist ein Palast der Verhängnisse, wie Leibniz das nannte, ohne es zu durchbrechen. Geschehen wird Geschichte, Erkenntnis Wiedererinnerung, Festlichkeit das Begehen eines Gewesenen. So hielten es alle bisherigen Philosophen, mit ihrer als fertig-seiend gesetzten Form, Idee oder Substanz, auch beim postulierenden Kant, selbst beim dialektischen Hegel. Das physische wie metaphysische Bedürfnis hat sich dadurch den Appetit verdorben, besonders wurden ihm die Wege nach der ausstehenden, gewiß nicht nur buchmäßigen Sättigung verlegt. Die Hoffnung, mit ihrem positiven Korrelat: der noch unabgeschlossenen Daseinsbestimmtheit, über jeder res finita, kommt derart in der Geschichte der Wissenschaften nicht vor, weder als psychisches noch als /(5) kosmisches Wesen und am wenigsten als Funktionär des nie Gewesenen, des möglich Neuen. Darum: besonders ausgedehnt ist in diesem Buch der Versuch gemacht, an die Hoffnung, als eine Weltstelle, die bewohnt ist wie das beste Kulturland und unerforscht wie die Antarktis, Philosophie zu bringen. Im Zusammenhang, dem kritischen, weiter durchgeführten, mit dem Inhalt der bisher erschienenen Bücher des Autors, den »Spuren», besonders dem »Geist der Utopie«, dem »Thomas Münzer», der »Erbschaft dieser Zeit», dem »Subjekt-Objekt«. Sehnsucht, Erwartung, Hoffnung also brauchen ihre Hermeneutik die Dämmerung des Vor-uns verlangt ihren spezifischen Begriff, das Novum verlangt seinen Frontbegriff. Und all das im Dienst des Zwecks, daß durch das vermittelte Reich der Möglichkeit endlich die Heerstralle zum notwendig Gemeinten kritisch gelegt werde, unabgebrochen orientiert bleibe. Docta spes, begriffene Hoffnung, erhellt so den Begriff eines Prinzips in der Welt, der diese nicht mehr verläßt. Schon deshalb nicht, weil dieses Prinzip seit je in ihrem Prozeß darin war, philosophisch so lange ausgekreist. Indem es überhaupt keine bewußte Herstellung der Geschichte gibt, auf deren tendenzkundigem Weg das Ziel nicht ebenso alles wäre, ist der im guten Sinn des Worts: utopisch-prinzipielle Begriff, als der der Hoffnung und ihrer menschenwürdigen Inhalte, hier ein schlechthin zentraler. Ja, das damit Bezeichnete liegt dem adäquat werdenden Bewußtsein jeder Sache im Horizont, im aufgegangenen, weiter aufgehenden. Erwartung, Hoffnung, Intention auf noch
ungewordene Möglichkeit: das ist nicht nur ein Grundzug des menschlichen Bewußtseins, sondern, konkret berichtigt und erfaßt, eine Grundbestimmung innerhalb der objektiven Wirklichkeit insgesamt. Es gibt seit Marx keine überhaupt mögliche Wahrheitsforschung und keinen Realismus der Entscheidung mehr, der die subjektiven und objektiven Hoffnungs-Inhalte der Welt wird umgehen können; es sei denn bei Strafe der Trivialität oder der Sackgasse. Philosophie ,wird Gewissen des Morgen, Parteilichkeit fur die Zukunft, Wissen der Hoffnung haben, oder sie ,wird kein Wissen mehr haben. Und die neue Philosophie, wie sie durch Marx eröffnet wurde, ist dasselbe wie die Philosophie des Neuen, dieses uns alle erwartenden, vernichtenden oder erfüllenden Wesens. Ihr Bewußtsein ist das Offene der Gefahr und des in seinen Bedingungen herbeizuführenden Siegs. ihr Raum ist die objektiv-reale Möglichkeit innerhalb des Prozesses, in der Bahn des Gegenstands selbst, worin das von den Menschen radikal Intendierte /(6) noch nirgends besorgt, aber auch noch nirgends vereitelt ist. Ihr mit allen Kräften zu betreibendes Anliegen bleibt das wahrhaft Hoffende im Subjekt, wahrhaft Erhoffbare im Objekt: Funktion und Inhalt dieses zentralen Dings für uns gilt es zu erforschen. Das gute Neue ist niemals so ganz neu. Es wirkt weit über die Tagträume hinaus, von denen das Leben durchzogen, die gestaltende Kunst erfüllt ist. Utopisch Gewolltes leitet sämtliche Freiheitsbewegungen, und auch alle Christen kennen es in ihrer Art, mit schlafendem Gewissen oder mit Betroffenheit, aus den Exodus- und messianischen Partien der Bibel. Auch hat das Ineinander von Haben und Nicht-Haben, wie es die Sehnsucht, die Hoffnung ausmacht und den Trieb, nach Hause zu gelangen, in großer Philosophie immerhin gewühlt. Nicht nur im Platonischen Eros, auch in dem weittragenden Begriff der Aristotelischen Materie als der Möglichkeit zum Wesen, und im Leibnizschen Begriff der Tendenz. Unvermittelt wirkt Hoffnung in den Kantischen Postulaten des moralischen Bewußtseins, welthaft vermittelt wirkt sie in der historischen Dialektik Hegels. Jedoch trotz all dieser Aufklärungs-Patrouillen und selbst Expeditionen in terram utopicam ist an ihnen allen ein Abgebrochenes, eben ein durch Betrachtung Abgebrochenes. Fast am stärksten bei Hegel, der am weitesten ausgefahren war: das Gewesene überwältigt das Heraufkommende, die Sammlung der Gewordenheiten hindert völlig die Kategorien Zukunft, Front, Novum. Also konnte das utopische Prinzip nicht zum Durchbruch gelangen, weder in der archaisch-mythischen Welt, trotz Exodus aus ihr, noch in der urban-rationalistischen, trotz explosiver Dialektik. Der Grund hierzu bleibt allemal der, daß sowohl die archaisch-mythische wie die urban-rationalistische Geistesart betrachtend-idealistisch ist, folglich als nur passiv-betrachtende eine gewordene Welt, eine abgeschlossene, voraussetzt, einschließlich der hinüberprojizierten Überwelt, in der sich Gewordenes widerspiegelt. Die Vollkommenheitsgötter hier, die Ideen oder Ideale dort sind in ihrem illusionären Sein genau so res finitae wie die sogenannten Tatsachen des Diesseits in ihrem empirischen Sein. Zukunft der echten, prozeßhaft offenen Art ist also jeder bloßen Betrachtung verschlossen und fremd. Nur ein auf Verändern der Welt gerichtetes, das Verändern wollen informierendes Denken betrifft die Zukunft (den unabgeschlossenen Entstehungsraum vor uns) nicht als Verlegenheit und die Vergangenheit nicht als Bann. Entscheidend ist daher: nur Wissen als bewußte Theorie-Praxis betrifft Werdendes und darin Entscheid- /(7) bares, betrachtendes Wissen dagegen kann sich per definitionem nur auf Gewordenes beziehen. Der unmittelbare Ausdruck dieses Zugs zum Gewesenen, Bezugs zum Gewordenen ist im Mythos das Sichversenken, ist der Drang zum Unvordenklichen, auch das beständige Übergewicht des eigentlich Heidnischen, nämlich des Astralmythischen,
als der festen Umwölbung alles Geschehens. Der methodische Ausdruck der gleichen Vergangenheitsbindung, Zukunftsfremdheit ist im Rationalismus die Platonische Anamnesis oder die Lehre, daß alles Wissen lediglich Wiedererinnerung sei. Wiedererinnerung an die vor der Geburt geschauten Ideen, an rundum Urvergangenes oder geschichtslos Ewiges. Wonach Wesenheit schlechthin mit Ge-wesenheit zusammenfällt und die Eule der Minerva allemal erst nach einbrechender Dämmerung, wenn eine Gestalt des Lebens alt geworden, ihren Flug beginnt. Auch Hegels Dialektik, in ihrem letzthinnigen »Kreis aus Kreisen«, ist derart vom Phantom Anamnesis gehemmt und ins Antiquarium gebannt. Erst Marx setzte Statt dessen das Pathos des Veränderns, als den Beginn einer Theorie, die sich nicht auf Schauung und Auslegung resigniert. Die starren Scheidungen zwischen Zukunft und Vergangenheit stürzen so selber ein, ungewordene Zukunft wird in der Vergangenheit sichtbar, gerächte und beerbte, vermittelte und erfüllte Vergangenheit in der Zukunft. Isoliert gefaßte und so festgehaltene Vergangenheit ist eine bloße Warenkategorie, das ist ein verdinglichtes Factum ohne Bewußtsein seines Fieri und seines fortlaufenden Prozesses. Wahre Handlung in der Gegenwart selber geschieht aber einzig in der Totalität dieses rückwärts wie vorwärts unabgeschlossenen Prozesses, materialistische Dialektik wird das Instrument zur Beherrschung dieses Prozesses, zum vermittelt-beherrschten Novum. Dafür ist die Ratio des noch fortschrittlich gewesenen bürgerlichen Zeitalters das nächste Erbe (minus der standortgebundenen Ideologie und der wachsenden Entleerung von Inhalten). Aber diese Ratio ist nicht das einzige Erbe, vielmehr, auch die vorhergehenden Gesellschaften und selbst mancher Mythos in ihnen (wieder minus bloßer Ideologie und erst recht minus vorwissenschaftlich erhaltenem Aberglauben) geben einer Philosophie, die die bürgerliche Erkenntnisschranke überwunden hat, gegebenenfalls fortschrittliches Erbmaterial ab, wenn auch, wie sich von selbst versteht, besonders aufzuklärendes, kritisch anzueignendes, umzufunktionierendes. Man denke etwa an die Rolle des Zwecks (Wohin, Wozu) in vorkapitalistischen Weltbildern oder auch an die Bedeutung der Qualität in ihrem /(8) nicht-mechanischen Naturbegriff. Man denke an den Mvthos des Prometheus, den Marx den vornehmsten Heiligen im philosophischen Kalender nennt. Man denke an den Mythos vom Goldenen Zeitalter und an dessen Zukunfts-Verlegung im messianischen Bewußtsein so vieler unterdrückter Klassen und Völker. Die marxistische Philosophie als diejenige, welche sich endlich adäquat zum Werden und zum Heraufkommenden verhält, kennt auch die ganze Vergangenheit in schöpferischer Breite, weil sie überhaupt keine Vergangenheit außer der noch lebendigen, noch nicht abgegoltenen kennt. Marxistische Philosophie ist die der Zukunft, also auch der Zukunft in der Vergangenheit: so ist sie, in diesem versammelten Frontbewußtsein, lebendige, dem Geschehen vertraute, dem Novum verschworene Theorie-Praxis der begriffenen Tendenz. Und entscheidend bleibt: das Licht, in dessen Schein das prozeßhaft-unabgeschlossene Totum abgebildet und befördert wird, heißt docta spes, dialektisch- materialistisch begriffene Hoffnung. Das Grundthema der Philosophie, die bleibt und ist, indem sie wird, ist die noch ungewordene, noch ungelungene Heimat, wie sie im dialektisch-materialistischen Kampf des Neuen mit dem Alten sich herausbildet, heraufbildet. Dem wird hier weiter ein Zeichen gesetzt. Ein Zeichen nach vorwärts, das überholen, nicht nachtraben läßt. Seine Bedeutung heißt Noch-Nicht, und es gilt, sich auf sie zu verstehen. Dem gemäß, was Lenin in einer allmählich viel gelobten, doch nicht ebenso fleißig beherzigten Stelle bedeutet hat: »>Wovon wir träumen müssen?< ich habe diese Worte niedergeschrieben
und bin erschrocken. Ich stellte mir vor, ich sitze auf einer >Vereinigungskonferenz<, und mir gegenüber sitzen die Redakteure und Mitarbeiter des Ich gehe weiter. Ich frage, ob ein Marxist überhaupt das Recht hat zu träumen, wenn er nicht vergißt, daß sich die Menschheit nach Marx immer nur Aufgaben stellt, die sie lösen kann, und daß die Taktik ein Prozeß des Wachstums der Aufgaben ist, die zusammen mit der Partei wachsen?< /(9) Bei dem bloßen Gedanken an diese drohenden Fragen überläuft es mich eiskalt, und ich überlege nur, wo ich mich verstecken könnte. Ich will versuchen, mich hinter Pissarew zu verstecken. >Ein Zwiespalt gleicht dem anderen nicht<, schrieb Pissarew über den Zwiespalt zwischen Traum und Wirklichkeit. >Meine Träume können den natürlichen Gang der Ereignisse überholen, oder sie können ganz auf Abwege geraten, auf Wege, die der natürliche Gang der Ereignisse nie beschreiten kann. Im ersten Falle ist das Träumen ganz unschädlich; es kann sogar die Tatkraft des arbeitenden Menschen fördern und Stärken... Solche Träume haben nichts an sich, was die Schaffenskraft beeinträchtigt oder lähmt. Sogar ganz im Gegenteil. Wäre der Mensch aller Fähigkeiten bar, in dieser Weise zu träumen, könnte er nicht dann und wann vorauseilen, um in seiner Phantasie als einheitliches und vollendetes Bild das Werk zu erblicken, das eben erst unter seinen Händen zu entstehen beginnt, dann kann ich mir absolut nicht vorstellen, welcher Beweggrund den Menschen zwingen würde, weitläufige und anstrengende Arbeiten auf dem Gebiete der Kunst, der Wissenschaft und des praktischen Lebens in Angriff zu nehmen und zu Ende zu führen... Der Zwiespalt zwischen Traum und Wirklichkeit ist nicht schädlich, wenn nur der Träumende ernstlich an seinen Traum glaubt, wenn er das Leben aufmerksam beobachtet, seine Beobachtungen mit seinen Luftschlössern vergleicht und überhaupt gewissenhaft an der Realisierung seines Traumgebildes arbeitet. Gibt es nur irgendeinen Berührungspunkt zwischen Traum und Leben, dann ist alles in bester Ordnung.< Träume solcher Art gibt es leider in unserer Bewegung allzu wenig. Und schuld daran sind hauptsächlich diejenigen, die sich damit brüsten, wie nüchtern sie seien und wie >nahe< sie dem >Konkreten< stünden, und das sind die Vertreter der legalen Kritik und der nicht legalen Nachtragpolitik<« (Lenin, Was tun?, Ausgewählte Werke, 1946, I, S. 315). Dem Träumen nach vorwärts werde so ein weiteres Zeichen gesetzt. Vorliegendes Buch handelt von nichts anderem als vom Hoffen über den gewordenen Tag hinaus. Das Thema der fünf Teile dieses Werks (geschrieben 1938-47, durchgesehen 19535 und 1959) sind die Träume vom besseren Leben. Ihre unvermittelten, vor allem aber ihre vermittelbaren Züge und Inhalte werden in Breite aufgenommen, erforscht, geprüft. Und der Weg geht über die kleinen Wachträume zu den starken, über die schwankenden und mißbrauchbaren zu den strengen, über die /(10) wechselnden Luftschlösser zum Einen, das aussteht und nottut. Begonnen also wird mit Tagträumen durchschnittlicher Art, leicht und frei ausgewählt von der Jugend bis ins Alter. Sie füllen den ersten Teil: Bericht, den Mann auf der Straße betreffend und die ungeregelten ,Wünsche. Es folgt sofort, alles Weitere fundierend und tragend, der zweite und grundlegende Teil: Die
Untersuchung des antizipierenden Bewußtseins. Dieser Teil ist, aus Gründen, aus Grundlegung der Sache selber, in vielen seiner Partien keine mühelose Lektüre, sondern von mählich wachsender Schwierigkeit. Doch wird sie dem dadurch kundig werdenden, immer tiefer hineingeführten Leser ebenso eine abnehmende. Auch erleichtert das Interesse des Gegenstands die Mühe seiner Aneignung, so wie das Licht droben zum Bergsteigen gehört und das Bergsteigen zur ergiebigen Aussicht. Der Haupttrieb Hunger muß hier herausgearbeitet werden, wie er zur verneinten Entbehrung, also zum wichtigsten Erwartungsaffekt: Hoffnung weitergeht. Ein Hauptgeschäft ist in diesem Teil die Entdeckung und unverwechselbare Notierung des »Noch-Nicht- Bewußten«. Das ist: eines relativ noch Unbewußten nach seiner anderen, vorwärts, nicht rückwärts gelegenen Seite. Nach der Seite eines heraufdämmernd Neuen, nie bisher bewußt gewesenen, nicht etwa eines Vergessenen, als gewesen Erinnerbaren, verdrängt oder archaisch ins Unterbewußtsein Gesunkenen. Von Leibnizens Entdeckung des Unterbewußten über die romantische Psychologie der Nacht und Urvergangenheit bis zur Psycho-Analyse Freuds war bisher wesentlich nur die «Dämmerung nach rückwärts« bezeichnet und untersucht worden. Man glaubte entdeckt zu haben: alles Gegenwärtige ist mit Gedächtnis beladen, mit Vergangenheit im Keller des Nicht-Mehr-Bewußten. Man hat nicht entdeckt: es gibt im Gegenwärtigen, ja im Erinnerten selber einen Auftrieb und eine Abgebrochenheit, ein Brüten und eine Vorwegnahme von Noch-Nicht-Gewordenem; und dieses Abgebrochen-Angebrochene geschieht nicht im Keller des Bewußtseins, sondern an seiner Front. So geht es hier um die psychischen Vorgänge des Heraufkommens, wie sie vor allem für die Jugend, für Wendezeiten, für die Abenteuer der Produktivität so charakteristisch sind, für alle Phänomene mithin, worin Ungewordenes steckt und sich artikulieren will. Das Antizipierende wirkt derart im Feld der Hoffnung; diese also wird nicht nur als Affekt genommen, als Gegensatz zur Furcht (denn auch die Furcht kann ja antizipieren), sondern wesentlicher als Richtungsakt kognitiver Art (und hier ist dann der (11) Gegensatz nicht Furcht, sondern Erinnerung). Die Vorstellung und Gedanken der so bezeichneten Zukunftsintention sind utopisch, das aber wieder nicht in einem engen, gar nur aufs Schlechte hin bestimmten Sinn dieses Worts (affekthaft unbesonnene Ausmalerei, Spielform abstrakter Art), sondern eben im neu vertretbaren Sinn des Traums nach vorwärts, der Antizipation überhaupt. Wobei also die Kategorie des Utopischen außer dem üblichen, berechtigt abwertenden Sinn den anderen, keinesfalls notwendig abstrakten oder weltfremden, vielmehr zentral weltzugewandten besitzt: den natürlichen Gang der Ereignisse zu überholen. So verstanden ist das Thema dieses zweiten Teils die utopische Funktion und ihre Inhalte. Die Ausführung untersucht das Verhältnis dieser Funktion zur Ideologie, zu Archetypen, zu Idealen, zu Symbolen, zu den Kategorien Front und Novum, Nichts und Heimat, zum Urproblem des Jetzt und Hier. Hierbei muß, gegen allen schal-statischen Nihilismus, beherzigt werden: auch das Nichts ist eine utopische Kategorie, wenn auch eine extrem gegen-utopische. Weit davon entfernt, nichtend zugrunde zu liegen oder ein eben solcher Hintergrund zu sein (dergestalt, daß der Tag des Seins zwischen zwei ausgemachten Nächten liege), ist das Nichts - genau so wie das positive Utopikum: die Heimat oder das Alles - lediglich als objektive Möglichkeit «vorhanden«. Es geht im Prozeß der Welt um, aber sitzt ihm nicht auf; beide: Nichts wie Alles - sind als utopische Charaktere, als drohende oder erfüllende Resultatsbestimmungen in der Welt noch keineswegs entschieden. Und ebenso ist das Jetzt und Hier, dies immer wieder Anfangende in der Nähe, eine utopische Kategorie, ja die zentralste; ist sie
doch, zum Unterschied vom vernichtenden Umgang eines Nichts, vom aufleuchtenden eines Alles, noch nicht einmal in Zeit und Raum eingetreten. Vielmehr gären die Inhalte dieser unmittelbarsten Nähe noch gänzlich im Dunkel des gelebten Augenblicks als des wirklichen Weltknotens, Welträtsels. Das utopische Bewußtsein will weit hinaussehen, aber letzthin doch nur dazu, um das ganz nahe Dunkel des gerade gelebten Augenblicks zu durchdringen, worin alles Seiende so treibt wie sich verborgen ist. Mit anderen Worten: man braucht das stärkste Fernrohr, das des geschliffenen utopischen Bewußtseins, um gerade die nächste Nähe zu durchdringen. Als die unmittelbarste Unmittelbarkeit, in der der Kern des Sich-Befindens und Da-Seins noch liegt, in der zugleich der ganze Knoten des Weltgeheimnisses steckt. Das ist kein Geheimnis, das etwa nur für den unzulänglichen Verstand /(12) bestünde, während die Sache an und für sich selbst völlig klarer oder in sich ruhender Inhalt wäre, sondern es ist jenes Realgeheimnis, das sich die Weltsache noch selber ist und zu dessen Lösung sie überhaupt im Prozeß und unterwegs ist. Das Noch-Nicht-Bewußte im Menschen gehört so durchaus zum Noch-Nicht-Gewordenen, Noch-Nicht-Herausgebrachten, Herausmanifestierten in der Welt. Noch-Nicht-Bewußtes kommuniziert und wechselwirkt mit dem Noch-Nicht-Gewordenen, spezieller mit dem Heraufkommenden in Geschichte und Welt. Wobei die Untersuchung des antizipierenden Bewußtseins grundsätzlich dazu zu dienen hat, daß die eigentlichen, nun folgenden Spiegelbilder, gar Abbildungen des erwünscht, des antizipiert besseren Lebens psychischmateriell verständlich werden. Vom Antizipierenden also soll Kenntnis gewonnen werden, auf der Grundlage einer Ontologie des Noch-Nicht. Soviel hier über den zweiten Teil, über die darin begonnene subjekt-objekthafte Funktionsanalyse der Hoffnung. Zurück nun zu den einzelnen Wünschen, so tauchen wieder erst die bedenklichen auf. Statt der ungeregelten kleinen Wunschbilder des Berichts werden nun die bürgerlich gegängelten, geleiteten sichtbar. Als derart geleitete können ihre Bilder auch niedergehalten und mißbraucht werden, in Rosa und blutig. Der dritte Teil: Übergang zeigt Wunschbilder im Spiegel, in einem verschönenden, der oft nur wiedergibt, wie die herrschende Klasse das von den Schwachen Gewünschte wünscht. Doch reinigt sich der Fall völlig, sobald der Spiegel vom Volk stammt, wie ganz sichtbar und wunderbar im Märchen. Die gespiegelten, so oft genormten Wünsche erfüllen im Buch diesen Teil; ihnen allen ist ein Trieb zum Bunten als vermeintlich oder echt Besserem gemeinsam. Reiz der Verkleidung, beleuchtete Auslage gehören hierher, aber dann die Märchenwelt, die geschönte Ferne in der Reise, der Tanz, die Traumfabrik Film, das Exempel Theater. Dergleichen macht entweder besseres Leben vor, so in der Vergnügungsindustrie, oder malt ein essentiell gezeigtes wirklich vor. Geht aber nun das Vormalen zum freien und gedachten Entwurf über, dann erst befindet man sich unter den eigentlichen, nämlich den Plan- oder Grundriß-Utopien. Sie erfüllen den vierten Teil: Konstruktion, mit historisch reichem, nicht nur historisch bleibendem Inhalt. Er breitet sich aus in den ärztlichen und den sozialen, den technischen, architektonischen und geographischen Utopien, in den Wunschlandschaften der Malerei und Dichtung. So treten die Wunschbilder der Gesundheit hervor, die fundamentalen der /(13) Gesellschaft ohne Not, die Wunder der Technik und die Luftschlösser in so viel vorhandenen der Architektur. Es erscheinen Eldorado-Eden in den geographischen Entdeckungsreisen, die Landschaften einer uns adäquater gebildeten Umwelt in Malerei und Poesie, die Perspektiven eines Überhaupt in Weisheit. Das alles ist voll Überholungen, baut implizit oder explizit an der Strecke und dem Zielbild einer
vollkommeneren Welt, an durchgeformteren und wesenhafteren Erscheinungen, als sie empirisch bereits geworden sind. Viel beliebiges und abstraktes Fluchtwesen gibt es auch hier, doch die großen Kunstwerke zeigen wesentlich einen reell bezogenen Vor-Schein ihrer vollendetherausgebildeten Sache selbst. Wechselnd ist darin der Blick aufs vorgestaltete, aufs ästhetisch-religiös experimentierte Wesen, doch jeder Versuch dieser Art experimentiert ein Überholendes, ein Vollkommenes, wie die Erde es noch nicht trägt. Der Blick darauf ist verschieden konkret, der jeweiligen Klassenschranke entsprechend, doch gehen die utopischen Grundziele des jeweiligen sogenannten Kunstwollens in den sogenannten Stilen, diese »Überschüsse über Ideologie, mit ihrer Gesellschaft nicht gleichfalls immer unter. Ägyptischer Bau ist das Werdenwollen wie Stein, mit Todeskristall als gemeinter Vollkommenheit; gotischer Bau ist das Werdenwollen wie der Weinstock Christi, mit dem Lebensbaum als gemeinter Vollkommenheit. Und so zeigt sich die gesamte Kunst mit Erscheinungen gefüllt, die zu Vollkommenheitssymbolen, zu einem utopisch wesenhaften Ende getrieben werden. Allerdings war es bisher nur bei den Sozialutopien selbstverständlich, daß sie - utopisch sind: erstens, weil sie so heißen, und zweitens, weil das Wort Wolkenkuckucksheim meist im Zusammenhang mit ihnen, und nicht nur mit den abstrakten unter ihnen, gebraucht worden ist. Wodurch, wie bemerkt, der Begriff Utopie sowohl ungemäß verengert, nämlich auf Staatsromane beschränkt wurde, wie vor allem auch, durch die überwiegende Abstraktheit dieser Staatsromane, eben jene abstrakte Spielform erhielt, die erst der Fortschritt des Sozialismus von diesen Utopien zur Wissenschaft weggehoben, aufgehoben hat. Immerhin kam, mit allen Bedenklichkeiten, das Wort Utopie, das von Thomas Morus gebildete, wenn auch nicht der philosophisch weit umfangreichere Begriff Utopie hier vor. Hingegen wurde an anderen, etwa technischen Wunschbildern und Plänen wenig utopisch Bedenkenswertes bemerkt. Trotz Francis Bacons Nova Atlantis« wurde in der Technik kein Grenzland mit eigenem Pionierstatus und eigenen, in die Natur gesetzten Hoff- /(14) nungsinhalten ausgezeichnet. Noch weniger sah man es in der Architektur, als in Bauten, die einen schöneren Raum bilden, nachbilden, vorbilden. Und desgleichen blieb Utopisches erstaunlicherweise in den Situationen und Landschaften der Malerei und Poesie unentdeckt, in deren Verstiegenheiten wie besonders in deren weit hinein- und hinausschauenden Möglichkeits-Realismen. Und doch ist in allen diesen Sphären, inhaltlich abgewandelt, utopische Funktion am Werk, schwärmerisch in den geringeren Gebilden, präzis und realistisch sui generis in den großen. Eben die Fülle der menschlichen Phantasie, Samt ihrem Korrelat in der Welt (sobald Phantasie eine sachverständig-konkrete wird), kann anders als durch utopische Funktion gar nicht erforscht und inventarisiert werden; sowenig wie sie ohne dialektischen Materialismus geprüft werden kann. Der spezifische Vor-Schein, den Kunst zeigt, gleicht einem Laboratorium, worin Vorgänge, Figuren und Charaktere bis zu ihrem typisch-charakteristischen Ende getrieben werden, zu einem Abgrund oder einer Seligkeit des Endes; dieses jedem Kunstwerk eingeschriebene Wesentlichsehen von Charakteren und Situationen, das man nach seiner sinnfälligsten Art das Shakespearesche, nach seiner terminisiertesten das Dantesche nennen kann, setzt die Möglichkeit über der bereits vorhandenen Wirklichkeit voraus. Hier überall zielen prospektive Akte und Imaginationen, ziehen subjektive, doch gegebenenfalls auch objektive Traumstraßen aus dem Gewordenen zu dem Gelungenen, zur symbolhaft umkreisten Gelungenheit. Dergestalt hat der Begriff des Noch-Nicht und der ausgestaltenden Intention daraufhin in den Sozialutopien nicht mehr sein einziges, gar erschöpfendes Exempel; so wichtig auch die Sozialutopien, von allem anderen
abgesehen, für die kritische Kenntnisnahme eines ausgeführten Antizipierens geworden sind. Doch Utopisches auf die Thomas Morus Weise zu beschränken oder auch nur schlechthin zu orientieren, das wäre, als wollte man die Elektrizität auf den Bernstein reduzieren, von dem sie ihren griechischen Namen hat und an dem sie zuerst bemerkt worden ist. Ja, Utopisches fällt mit dem Staatsroman so wenig zusammen, daß die ganze Totalität Philosophie notwendig wird (eine zuweilen fast vergessene Totalität), um dem mit Utopie Bezeichneten inhaltlich gerecht zu werden. Daher die Breite der im Teil: Konstruktion versammelten Antizipationen, Wunschbilder, Hoffnungsinhalte. Daher - vor wie hinter den Staatsmärchen - die angegebene Notierung und Interpretation medizinischer, technischer, architektonischer, /(15) geographischer Utopien, auch der eigentlichen Wunsch-Landschaften in Malerei, Oper, Dichtung. Daher schließlich ist hier der Ort zur Darstellung der mannigfachen Hoffnungs-Landschaft und der spezifischen Perspektiven darauf im Eingedenken der philosophischen Weisheit. Das trotz überwiegendem Pathos des Gewesenen in den bisherigen Philosophien; - die fast stets intendierte Richtung: Erscheinung - Wesen zeigt trotzdem deutlich einen utopischen Pol. Die Reihe all dieser Ausgestaltungen, sozial, ästhetisch, philosophisch Kultur des »wahren Seins« betreffend, endet sinngemäß, auf den immer entscheidenden Boden niedergehend, in den Fragen eines Lebens der erfüllenden, von Ausbeutung befreiten Arbeit, aber auch eines Lebens jenseits der Arbeit, das ist im Wunschproblem der Muße. Der letzte Wille ist der, wahrhaft gegenwärtig zu sein. So daß der gelebte Augenblick uns und wir ihm gehören und «Verweile doch« zu ihm gesagt werden könnte. Der Mensch will endlich als er selber in das Jetzt und Hier, will ohne Aufschub und Ferne in sein volles Leben. Der echte utopische Wille ist durchaus kein unendliches Streben, vielmehr: er will das bloß Unmittelbare und derart so Unbesessene des Sich-Befindens und Da-Seins als endlich vermittelt, erhellt und erfüllt, als glücklich-adäquat erfüllt. Das ist der utopische Grenzinhalt, der im «Verweile doch, du bist so schön« des Faustplans gedacht ist. Die objektiven Hoffnungsbilder der Konstruktion drängen so unweigerlich zu denen der erfüllten Menschen selber und ihrer mit ihnen voll vermittelten Umwelt, also Heimat. Die Aufnahme dieser Intentionen versucht der fünfte, letzte Teil: Identität. Es erscheinen als Versuche, menschenähnlich zu werden, die verschiedenen moralischen Leitbilder und die, so oft antithetischen, Leittafeln des rechten Lebens. Die gedichteten Figuren menschlicher Grenzüberschreitung treten dann vor: Don Giovanni, Odysseus, Faust, dieser genau nach dem vollkommenen Augenblick unterwegs, in weltdurcherfahrender Utopie; Don Quichotte warnt und fordert, in Traum-Monomanie, Traum-Tiefe. Als Ruf und Zug sehr unmittelbarer, sehr fernhintreffender Ausdruckslinien geht die Musik auf, die Kunst der zum Singen und Tönen gebrachten stärksten Intensität, des utopischen Humanum in der Welt. Und dann: die Hoffnungsbilder gegen den Tod sind versammelt, gegen diesen härtesten Gegenschlag zur Utopie; er ist deshalb ihr unvergeßbarer Erwecker. Er vorzüglich ist ein Umgang jenes Nichts, das vom utopischen Zug ins Sein verschlungen wird; es gibt kein Werden und keinen Sieg, in /(16) welche die Vernichtung des Schlechten nicht aktiv verschlungen wird. Mythisch, gegen Tod und Schicksal, kulminieren all die Frohbotschaften, welche die Phantasie der Religion ausmachen, die völlig illusionären und die mit humanem Kern, letzthin bezogen auf Erlösung vom Übel, auf Freiheit zum »Reich«.Es folgt, gerade was diesseitige Intention auf solche Heimatwerdung angeht, das Zukunftsproblem im tragenden, umfassenden Raum der Heimat: der Natur. Zentralpunkt hier überall bleibt das Problem des
Wünschenswerten schlechthin oder des höchsten Guts. Dessen Utopie des Einen Notwendigen, obgleich gerade sie noch so völlig in Ahnung steht wie das Gegenwärtigsein der Menschen selber, regiert alle übrigen. Wären freilich nur erst die minder hohen Güter erreicht und zugänglich, auf dem Weg der abgeschafften gemeinen Not. Auf dem Weg, der zuvor zu den Schätzen führt, die von Rost und Motten gefressen werden, und dann erst zu denen, die verweilen. Dieser Weg ist und bleibt der des Sozialismus, er ist die Praxis der konkreten Utopie. Alles an den Hoffnungsbildern Nicht-Illusionäre, Real-Mögliche geht zu Marx, arbeitet - wie immer jeweils variiert, situationsgemäß rationiert - in der sozialistischen Weltveränderung. Die Baukunst der Hoffnung wird dadurch wirklich eine an den Menschen, die sie bisher nur als Traum und hohen, auch allzu hohem Vor-Schein sahen, und eine an der neuen Erde. Die Träume vom besseren Leben, in ihnen war immer schon eine Glückswerdung erfragt, die erst der Marxismus eröffnen kann. Dies gibt auch pädagogisch-inhaltlich einen neuen Zugang zu schöpferischem Marxismus und von neuen Prämissen her, subjektiver und objektiver Art. Das so Gemeinte will hier breit bezeichnet sein. An Geringem wie Großem, tunlichst geprüft, mit dem Willen, das Wirkliche darin freizusetzen. Damit nach Maßgabe der realen Möglichkeit das in realer Möglichkeit Seiende, real noch Ausstehende (alles andere ist Spreu des bloßen Meinens und Narrenparadies) zum positiven Sein gerate. Dieses ist letzthin eine große Einfachheit oder das Eine, was nottut. Eine Enzyklopädie der Hoffnungen enthält öfter Wiederholungen, doch nirgends Überschneidungen, und was erstere angeht, so gilt hier Voltaires Satz, er werde sich so oft wiederholen, bis man ihn verstanden habe. Der Satz gilt desto mehr, als die Wiederholungen des Buchs tunlichst stets auf neuer Ebene geschehen, folglich unterdessen sowohl etwas erfahren haben, wie sie das identisch Gezielte immer neu erfahren lassen mögen. Die Richtung aufs Eine, was nottut, lebte auch in den /(17) bisherigen Philosophien; wie wären sie Sonst Liebe zur Weisheit gewesen? Und wie hätte es sonst große Philosophie gegeben, das ist, aufs Eigentliche, Wesenhafte unablässig und total bezogene? Wie gar materialistisch große, mit der Fähigkeit zu wirklicher Abbildung des zusammenhängend Wesentlichen? Mit dem Grundzug auf Erklärung der Welt aus sich selbst (und der Gewißheit des Vertrauens, sie so erklären zu können), auf diesseitiges Glück (und der Gewißheit des Vertrauens, es zu finden)? Aber die bisherigen Freunde der Weisheit, auch die materialistischen, haben bis Marx das Eigentliche bereits als ontisch-vorhanden, ja als statisch-abgeschlossen gesetzt: vom Wasser des einfachen Thales bis zur An-und-für-sich-Idee des absoluten Hegel. Es war letzthin immer wieder die Decke der Platonischen Anamnesis über dem dialektisch-offenen Eros, welche die bisherige Philosophie einschließlich Hegels vom Ernst der Front und des Novum abgehalten, kontemplativantiquarisch abgeschlossen hat. So brach die Perspektive ab, so entspannte Erinnerung die Hoffnung. So kam die Hoffnung gerade auch an der Erinnerung nicht auf (an der Zukunft in der Vergangenheit). So kam die Erinnerung auch an der Hoffnung nicht auf (an der historisch vermittelten, Historie ausschüttenden, konkreten Utopie). So schien man bereits hinter die Tendenz des Seins gekommen, das ist, hinter ihr angekommen zu sein. So schien der Realprozeß der Welt schon selber hinter sich gekommen, angekommen, stillgelegt zu sein. Das BiIdend-Abbildende des Wahren, Wirklichen ist aber nirgends so abbrechbar, als wäre der in der Welt anhängige Prozeß bereits entschieden. Erst mit der Verabschiedung des geschlossen-statischen Seinsbegriffs geht die wirkliche Dimension der Hoffnung auf. Die Welt ist vielmehr voll Anlage zu etwas, Tendenz auf etwas, Latenz von etwas, und das so intendierte Etwas heißt Erfüllung des
Intendierenden. Heißt eine uns adäquatere Welt, ohne unwürdige Schmerzen, Angst, Selbstentfremdung, Nichts. Diese Tendenz aber steht im Fluß als einem, der gerade das Novum vor sich hat. Das Wohin des Wirklichen zeigt erst im Novum seine gründlichste Gegenstandsbestimmtheit, und sie ruft den Menschen, an dem das Novum seine Arme hat. Marxistisches Wissen bedeutet: die schweren Vorgänge des Heraufkommens treten in Begriff und Praxis. Im Problemgebiet Novum liegt an sich selber die Fülle noch weißer Felder des Wissens; die Weltweisheit wird daran wieder jung und originär. Versteht sich das Sein aus seinem Woher, so daraus nur als einem ebenso tendenzhaften, noch unabgeschlossenen Wohin. Das /(18) Sein, das das Bewußtsein bedingt, wie das Bewußtsein, das das Sein bearbeitet, versteht sich letzthin nur aus dem und in dem, woher und wonach es tendiert. Wesen ist nicht Ge-wesenheit; konträr: das Wesen der Welt liegt selber an der Front.
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ERSTER TEIL (Bericht) KLEINE TAGTRÄUME
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WIR FANGEN LEER AN
Ich rege mich. Von früh auf sucht man. Ist ganz und gar begehrlich, schreit. Hat nicht, was man will. 2
VIELES SCHMECKT NACH MEHR
Aber wir lernen auch zu warten. Denn was ein Kind wünscht, kommt selten rechtzeitig. Ja man wartet sogar auf das Wünschen selber, bis es deutlicher wird. Ein Kind greift nach allem, um zu finden, was es meint. Wirft alles wieder weg, ist ruhelos neugierig und weiß nicht, worauf. Aber schon hier lebt das Frische, Andere, wovon man träumt. Knaben zerstören, was ihnen geschenkt wird, sie suchen nach mehr, packen es aus. Keiner könnte es nennen und hat es je erhalten. So rinnt das Unsere, ist noch nicht da. 3
TÄGLICH INS BLAUE HINEIN
Später greift man tüchtiger zu. Wünscht sich dorthin; wo es benannter hergeht. Das Kind will Schaffner werden oder Zuckerbäcker. Sucht lange Fahrt, weit weg, jeden Tag Kuchen. Das sieht nach etwas Rechtem aus. Auch an Tieren träumt man sich groß. An kleinen besonders, sie ängstigen weniger, sie laufen in die Hand. Oder können mit Netzen gefangen werden, fernes Wünschen wird dadurch tätig. Der Zuckerbäcker geht zum Jäger über, im merkwürdig gefüllten Freien. Grün und blau läuft die Eidechse, ein unfaßlich Buntes
fliegt als Schmetterling. Auch die Steine leben; sind hierbei nicht flüchtig, mit ihnen läßt sich spielen, sie spielen mit. »Ich mag alles /(22) so«, sagte ein Kind und meinte die Marmel, die weggerollt war, dann aber auf das Kind wartete. Spielen ist Verwandeln, obzwar im Sicheren, das wiederkehrt. Wunschgemäß verändert Spielen das Kind selbst, seine Freunde, all seine Dinge zu fremd vertrautem Vorrat, der Boden des Spielzimmers selber wird ein Wald voll wilder Tiere oder ein See, mit jedem Stuhl als Boot. Doch eben Angst bricht aus, läuft das Gewohnte zu weit weg oder kehrt es nicht mühelos ins alte Gesicht wieder zurück. »Sieh, der Knopf ist eine Hexe«, rief ein spielendes Kind schreiend, rührte den Knopf auch später nicht mehr an. Er war nicht zu mehr geworden, als was das Kind gewünscht hatte, aber er war es auf zu lange geworden. Der häusliche Stall darf sich noch nirgends zu weit in den Traum strecken. Er muß als Ort erhalten bleiben, den die Eidechse noch nicht beschädigt, der Schmetterling noch nicht bedroht. Von ihm her werden am liebsten also Fensterblicke gespielt und gesammelt, tief und kurz ins Andere hinein. Das bunte Tier ist selber ein buntes Fenster, dahinter liegt die gewünschte Ferne. Es ist bald nicht anders wie die Briefmarke, die von fremden Ländern erzählt. Es ist die die Muschel, in der das Meer rauscht, wenn man sie nahe genug ans Ohr hält. Der Junge zieht aus, sammelt überall ein zu ihm Hergeschicktes. Das mag zugleich Zeuge sein für die Dinge, die zu sehen der Junge zu früh ins Bett muß. In seinem Blick auf einen farbigen Stein keimt schon viel, was er später für sich wünscht. 4
VERSTECK UND SCHÖNE FREMDE Unter sich
Dabei die Lust, selbst unsichtbar zu sein. Ein Winkel wird gesucht, er schützt und verbirgt. Wohlig geht es in der Enge zu, deutlich aber läßt in ihr sich tun, was man will. Eine Frau erzählt: »Ich wünschte mich unter den Schrank, dort wollte ich leben und mit dem Hund spielen.« Ein Mann erzählt: »Wir bauten uns als Knaben einen Stand zwischen den Ästen, der von unten nicht gesehen werden konnte. Saß man oben, wurde gar noch die Leiter /(23) hochgezogen und jede Verbindung mit dem Boden unterbrochen, dann fühlten wir uns vollkommen glücklich.« Darin malt sich das eigene Zimmer vor, das freie Leben, das kommt. Daheim schon unterwegs Der versteckte Knabe brennt auch, auf scheue Weise, durch. Er sucht das Weite, obwohl er sich einkapselt, er hat sich nur, während er ausreißt, um und um mit Wand bewaffnet. Desto besser sogar, wenn das Versteck sich bewegt, das heißt, wenn es aus Lebendigem besteht. Das ist hier: aus verfemten oder fremdartigen Menschen, mit denen man zieht, unter denen man nicht vermutet wird. Nicht immer setzen Schüler alles hintan im Vergleich mit dem Bestreben, ihren Eltern und Lehrern Freude zu bereiten, doch die Eltern und Lehrer verstehen zuverlässig, zu betrüben. Das Leid in der Schule kann widerlicher sein als später irgendein anderes, das des Gefangenen ausgenommen. Daher der dem Gefangenen verwandte Wunsch, auszubrechen; da das Draußen noch undeutlich ist, wird es wunderlich. Eine Frau erzählt: «Ich wünschte mir als Mädchen ständig, daß Einbrecher kämen. Denen wollte ich alles zeigen, Silber, Bargeld, Wäsche, alles sollten sie mitnehmen, zum Dank dafür auch mich.« Ein Mann erzählt: »Als ich zum erstenmal einen Dudelsack
hörte, lief ich ihm nach wie allem, was sonderbar ist. Aber ich kehrte nicht nach einigerWeile um, wie sonst bei den Merkwürdigkeiten, die auf der Straße ziehen, dem Scherenschleifer, der Heilsarmee und so fort, sondern ich folgte vor die Stadt hinaus, die Landstraße weiter, in die Dörfer, die ich kannte, in die Dörfer, die ich nicht kannte. Und es zog nicht nur der phantastische Mann, es verführte der sausende Geist, von dem ich glaubte, daß er im Dudelsack stecke, und der ich schließlich selber wurde.« So wird die Enge mit sieben oder acht Jahren weit, das Fremdeste trägt sich in ihr zu (wenn die Leiter vom Boden hochgezogen). Nur erst das Versteck freilich will hier verlegt werden, der Knabe in ihm reißt mit Freunden nur unsichtbar aus. Verschleppt sich selbst auf schnaubendem Roß, mit wehender Feder in die Sicherheit des Abenteuers. Die Nacht steckt voll Schenken und Schlössern, in jedem sind Felle, Waffen, brausende Kaminfeuer, Männer wie Bäume, keine Uhr. /(24) Bezeichnend für die gesprenkelte Lust am Versteck wirken zu dieser Zeit auch Zeichnungen auf Löschblättern im Schulheft. Eine stachlige Sicherheit wird aufs Papier gebracht, ein Haus, eine Stadt, eine Festung am Meer, mit Kanonen gespickt. Inseln sind ihr vorgelagert, sie weisen den Feind von der Seeseite ab; auf der Landseite aber liegt ein dreifacher Gürtel von Forts. Diese bewachen die Straße, sie ist die einzige, die in die Traumfestung führt, und ist unterminiert. So ruht die Meerstadt, unsichtbar von Schule und Haus, unansprechbar, mit Augen wie im Schlummer. Doch eben: die Festung war nicht bloß als uneinnehmbar gezeichnet, auch als machtvoll, als ausstrahlend; fernhin wirkt sie über den Rand des Papiers, ins Unbekannte. Das eigene Leben war hoch oben durch Zinnen geschützt und gerändert, sie konnten aber jederzeit bestiegen werden, zum Ausblick. Diese Verbindung von Enge und schöner Fremde geht auch nachher nicht unter. Soll heißen: das Wunschland ist von dieser Zeit her eine Insel. 5
FLUCHT UND DIE RÜCKKEHR DES SIEGERS
Träumt einer, so bleibt er niemals auf der Stelle stehen. Er bewegt sich fast beliebig von dem Ort oder Zustand weg, worin er sich gerade befindet. Ums dreizehnte Jahr wird das mitreisende Ich entdeckt, daher wachsen um diese Zeit die Träume vom besseren Leben besonders üppig. Sie bewegen den gärenden Tag, überfliegen Schule und Haus, nehmen mit sich, was uns gut und teuer ist. Sind Vorreiter auf der Flucht und machen für unsere deutlicher werdenden Wünsche ein erstes Quartier. Die Kunst wird geübt, sich über das zu unterhalten, was man bis jetzt noch nicht erlebt hat. Auch der durchschnittliche Kopf erzählt sich in dieser Zeit Geschichten vor, leichte Fabeln, worin es ihm wohlergeht. Er spinnt die Geschichten auf dem Schulweg aus oder auf dem Spaziergang mit Freunden, und immer steht der Erzählende, wie auf einem gestellten Bild, in der Mitte. Haß gegen den Durchschnitt erfüllt in dieser Zeit fast alle, auch wenn sie selber nicht weit vom Stamm gefallen sein sollten. Die junge Gans will sich verbessern, der junge Flegel spuckt auf häuslichen Muff. /(25) Mädchen arbeiten an ihrem Vornamen herum wie an ihrer Frisur, sie machen ihn pikanter, als er ist, und erlangen dadurch den Start für ein geträumtes Anderssein. Jünglinge treiben auf ein edleres Leben, als es gegebenenfalls der Vater führt, auf ungeheuerliche Taten zu. Das Glück wird versucht, es schmeckt verboten und macht alles neu. Ab zu Schiff
Nicht immer, mindestens nicht deutlich, arbeiten geschlechtliche Reize mit. Mädchen bewahren lange eine erworbene Scheu, Knaben ehren an sich selber eine gewisse trockene Kühle. Oft verhindern Hochmut und Selbstverliebtheit, der Liebe einen besonders ausgeträumten Platz zu geben. Der Rechte oder die Rechte scheinen nicht da oder nur im eigenenGeschlecht zu sein, oft sind sie nicht einmal im Wünschen da. So wird das Luftschloß auf dieser Stufe selten zum Lustschloß, der Harem und die Traumfrau kommen erst später. Auch erhalten sich in der trockenen Phantasie ziemlich lange infantile Bildungen; ihre Einsamkeit gerade erfüllt das Fluchtmotiv. Eine Frau erzählt von dieser Zeit: «Ich wollte Malerin werden, träumte mich in ein orientalisches Schloß auf einem Berg, lebte dort allein mit meinem unehelichen Kind, das hatte ich von einem sehr distinguierten Mann.« Ein Mann, nach seiner fünfzehnjährigen Fabel befragt, erzählt folgendes: «Ich wollte aufs Meer und ersann mir dazu ein Kriegsschiff ohnegleichen. Es hieß Argo, machte so viele Knoten die Stunde, daß es an allen Küsten der Erde fast allgegenwärtig war. Ich war der Herr der Argo, mit dem Titel und Rang eines Fürstadmirals, herrschte über alle Kaiser und Könige, verteilte die Erdkarte neu, kraft der elektrischen Kanonen, setzte vor allem die geliebte Türkei wieder in ihre alten Grenzen ein. Einmal im Jahr kam die Flugnacht, das Schiff verließ das Wasser, landete auf dem höchsten Berg der Erde. Dort bewirtete ich meine Freunde, ließ sie durch ein besonders gelegenes Fenster in die Zukunft sehen, übte die Geheimnisse des grünen Strahls. Dieser Strahl leuchtet kurz nach Untergang der Sonne auf dem Stillen Ozean; und ich wußte ihn so zu handhaben, daß man mit ihm alle untergegangenen Reiche erblicken konnte.« Das sind noch bürgerliche Aus- /(26) schweifungen juveniler Art; bei proletarischen Jugendlichen dieses Alters sind sie weit gedämpfter, auch bereits erzogener und reeller. Doch wenn hier die Inhalte auch nachgelassen haben, so phantastisch zu sein, ist der Zug zu ihnen ein märchenhafter geblieben, scharf übers Gegebene hinaus. Klar, solche Fabeleien steigen nicht nur aus den Tiefen des Gemüts, sondern ebenso aus Zeitungen, aus dem Abenteuerbuch und seinen herrlich lackierten Bildern. Aus Buden auf dem Jahrmarkt, wo Ketten rasseln und gesprengt werden, wo sich das Lied an den Abendstern singt und der Halbmond strahlt. Argo, Türkei und dergleichen kommen von daher, auch die roh- oder rauh-abenteuerliche Farbe, worin diese Gebilde strahlen. Das urtümliche Schiffsbild bezeichnet den Willen zur Ausreise, den Traum von fahrender Rache und exotischem Sieg. Argo (und das Auswechselbare, das fast jede individuelle Erfahrung an ihre Stelle setzen kann) ist eine Art Arche für die hauptsächlichsten Wünsche dieser Zeit: für die Trumpfwünsche. Der Wille zerbricht das Haus, worin er sich langweilt und worin das Beste verboten ist. So baut er in der endlosen Geschichte sein Bergschloß an den Wolken oder die Ritterburg als Schiff. Die funkelnde Schale Dann erst melden sich süß gewordene Lüste, schäumen sogleich. Die Liebe läßt keinen allein ins geträumte Schloß oder auf die See. Einsamkeit wird nicht mehr gesucht und ausgefabelt, sondern ist unerträglich, sie ist das Unerträgliche des siebzehnjährig beginnenden Lebens schlechthin. Wenn daher das wirklich richtige Mädchen zu lange ausbleibt, erscheint das Mädchen, das wir uns denken, ausdenken, irgendwo. Ungeheuerlich wird dann die Qual des Versäumthabens: jedes Fest, woran man nicht teilnahm, bietet Platz für ausgemalte Wunschbilder, und der Jüngling glaubt, gerade am versäumten Abend sei eines von ihnen auf die Erde
niedergestiegen. Nun ist es zu spät, ihm zu begegnen; denn das Mädchen, auch wenn man es finden sollte, kommt gegen die überstarke Malerei seines Bildes nicht auf. Doch auch bei glücklichen Begegnungen spielt die erotische Verzauberung, sie kleidet das Mädchen in ihren Traum. Die Straße oder Stadt, worin die /(27) Geliebte wohnt, vergoldet sich, wird zum Fest. Der Name der Geliebten strahlt auf die Steine, Ziegel und Gitter aus, ihr Haus liegt allemal unter unsichtbaren Palmen. Der eigenen Kräfte ist man ungewiß, weil ihrer zu viele sind und sie einander stören. Daher ist der junge Mensch meist hin und her gerissen zwischen äußerster Niedergeschlagenheit (bis zu der Frage, ob man es überhaupt verdiene, auf der Welt zu sein) und ausgleichender Überhebung. Verlegenheit und Frechheit hängen hier zusammen; der Jugendliche, der nicht zum Durchschnitt gehört oder der ihn haßt, fühlt sich als kleiner Gott, und da die anderen sich keine Mühe geben, ihn zu beweisen, tut er es selbst. Er will als Erster durchs Ziel, will übertreffen; das Ziel kann ein ganz äußerliches sein, es steht für ein unbekanntes. Was bei Kindern die feine Haut oder das Glück der langen Beine, der harten Muskeln war, das wird bei jungen Mädchen Stolz auf die sogenannten Herrenbekanntschaften, bei Jünglingen die Eitelkeit, mit dem schönsten Fräulein der Stadt oder des Viertels gesehen zu werden. Tiefer geht das Unbestimmte oder seiner selbst Ungewisse, indem Verschmähtwerden niemals so bitter, Gewähltwerden (Platz an der Spitze) niemals so überschwenglich empfunden wird wie in der Pubertätszeit. Die Jugend wird sich hier selbst zur Geißel oder zum Lorbeer, es gibt keine Mitte; jenseits der Einsamkeit, der so heftig geflohenen, gibt es nur Niederlage, die die Geltungsansprüche, Zukunftsansprüche widerlegt, oder Sieg, der sie beweist. Die Unreife an sich ist eine Einladung zum Auftrumpfen, dieses ist nicht leer wie in späteren Jahren, sondern eher vexatorisch, versucherisch zu sich selbst. Schwankt derart alles und will gestellt, festgestellt werden, so erst recht das Lebenslicht, das künftige Lebensbild, das von der Jugend erwartet wird. Gewiß ist nur, daß es keine Kleinigkeiten enthalten soll und daß keine andere Jahreszeit darin gilt als der Frühling. Der junge Mensch quält sich mit dem Vorgenuß dieser Zukunft, er will mit einem Mal die ganze herausfordern, auch mit Stürmen, Leid, Ungewitter, sofern sie nur Leben ist, wirkliches, bisher nicht gewordenes. Und mit der eigenen Jugend fängt die Welt an: nichts ist einem Jüngling merkwürdiger, als sich die Brautzeit seiner Eltern vorzustellen, und nichts vertrackter, als sich selbst im Alter vorzustellen, mit Kindern, die nun selber seine eigene Brautzeit /(28) haben und seinen eigenen - scheinbar unübertrefflichen Frühling. In dieser Jugendzeit zeigt sich auch: eigentlich verbindend und Freundschaft stiftend ist nur die gemeinsame Erwartung einer gemeinsamen Zukunft; das eint so sachlich wie in späteren Jahren die Arbeitsgemeinschaft. Ist die gemeinsame Zukunft weggefallen, dann zieht von der Jugendfreundschaft (wenn sie nichts als solche war) der Lebensgeist ab; daher ist nichts schaler und gezwungener als das Wiedersehen früherer Schulkameraden nach langen Jahren. Sie sind wie die Lehrer geworden, wie die Erwachsenen von damals, wie alles, wogegen man sich verschworen hatte. Solche Reunion wirkt, als seien die jugendlichen Gesichter und Träume nicht bloß, wie selbstverständlich, verschwunden, sondern als seien sie verraten worden. Aus diesem ungemäßen Chok geht aber hervor, wieviel Hochtrieb und Rütlischwur, wieviel Bergluft über richtigen Siebzehnjährigen noch war und ist. Auch die Bergluft aber ist voller Böen, sie nimmt an dem hin und her jagenden Windwechsel des unbestimmtesten aller Lebensalter teil. Das auch intellektuell: nur wenige junge Menschen erfreuen sich einer jener unausweichlichen Begabungen, die den Beruf zur Berufung machen und so die Wahl ersparen. So viele junge Mädchen möchten zwar zum Film, fast jeder junge Mann hat eine Rosine im Kopf,
die auf dem Markt der üblichen Berufe nicht gehandelt wird. Indes das sind mehr allgemeine Wünsche und Richtungen, sie werden zum Glück nicht lange weiterverfolgt, sie ermangeln des begabten Details. Ja auch dort, wo ein - in diesen Jahren häufiger - Drang zur produzierenden Aussage treibt, zur malenden, musikalischen oder schreibenden, überrascht es, daß bei der Ausführung noch alles schrumpft. Jugendliche dieser Art kennen das: wie ein Feuer in einem brennt, wie die Kunst so nahe liegt, aber will man das Wesen fassen, so wird es trocken, ja schrumpft so, daß nicht eine Seite damit zu füllen ist. Rede ist in dieser Zeit verbreitet und leicht, Schreibe schwer, und kommt sie zustande, so erscheint gerade dem Überströmenden die Frucht »wie eine gedörrte Pflaume, verhutzelt und verkohlt«. Bettina von Arnim, die das sagt, und die ihr Leben lang über dies Jugendliche nicht hinauskam, hat daher meist Briefe zur Aussage gewählt. Eine andere Form ist das Tagebuch, das nicht ohne Grund verschwiegen genannte oder als verschwie- /(29) gen mitgeteilte. Mancher Erwachsene hat an solchen Aufzeichnungen, wenn er sie gemacht hat, und wenn er sie eitel-treu erhalten hat, einen Pegel, um zu sehen, wie weit sein Wasserstand gesunken ist. Liebe, Schwermut, Bilderkeime und Denklarven, alles wird hier gefischt und bleibt im Anfang. Doch das Lebenslicht, nichts Abgestandenes enthaltend, glänzt vexatorisch, versucherisch zu sich selbst. So wirkt diese Zeit unglücklich und selig zugleich; das Frühlingsgefühl enthält später noch beides. Allgemein aber ist die Lust zum Mut, zu Farbe, Weite, Höhe; der rechte Jüngling entsteht aus einem Willen, der in diesen Jahren immer noch ein ritterlicher ist. Daher der Traum von Abenteuern, die zu bestehen sind, von Schönheit, die entdeckt, von Größe, die erkämpft zu werden begehrt. Weil das eigene Leben noch weit liegt, wird jede Ferne verschönt. Der Wunsch reißt nicht nur zu ihr hin, sondern er reißt nun ohne Versteck in sie aus, desto heftiger, je enger die eigene Lage ist. Als Zeichen kann schon die Ferne genügen, die der abendliche Schnellzug in die kleinsten Städte bringt, die Ferne der Hauptstadt, von der Provinz her gesehen. Auf diese Art bildet sich ein liederlich-kühnes, fahrlässig-schönes Wunschbild aus, ohne Verwandte, weit fort von ihnen. Innen ist die ausgedehnte Seele, worin die Sehnsucht arbeitet, draußen ein geträumtes Stadtbild, das sie erfüllen könnte. Wenn einer der stärksten Wünsche der menschlichen Natur und einer, der am häufigsten verletzt wird, dieser ist, wichtig zu sein, so verbindet er sich überdies besonders stark mit dem Wunsch nach importanter Umgehung. Begabte Mädchen wünschen in diese durchzubrennen; München zog so an um 1900, Paris weit länger. Hingerissen betritt der Student die große Stadt, sie ist ihm außer dem sichtbaren Glanz mit lauter ungeduldigen Hoffnungen bevölkert. Hier glaubt er den Grund und Hintergrund zu einem endlich gemäßen Dasein zu haben; die Häuser, die Plätze, die Bühnen wirken utopisch erleuchtet. Im Café, an einem stolzen kleinen Tisch, sind die Auserwählten versammelt, welche Verse schreiben, ein Himmel voller Baßgeigen wartet auf den, der sie spielt, an die Fenster klopft der Ruhm. Nicht erstaunlich, daß mit dem Wunschbild des Triumphs auch jenes des Trumpfs wiederkehrt oder im erotischen Glanz mit eingeschlossen ist. War das Elternhaus nicht nur /(30) eng, sondern auch schlecht, dann ist die ausgemalte Heimkehr des Siegers eine besonders beliebte und träumerisch weit verbreitete Genugtuung, so überbietend, daß sie den früheren Jammer fast als Folie begrüßt. Die berühmte Schauspielerin kehrt zurück, scheu stehen die Eltern und Nachbarn beiseite, leutselig verzeiht sie, was man ihr angetan. Der gedrückte Junge von damals kommt vierspännig wieder, das schöne reiche Mädchen zur Seite, das er sich als Frau erobert hat; er ist nun nicht mehr
unverstanden, kommt als Schlachtenlenker oder als großer Künstler, kommt auf jeden Fall mit beschämender Pracht. Sein ist die Prinzessin, anmutig, stolz und mild, mit Duft von hoch droben, und um sie wallt der silberne Reiseschleier, all das ist Liebchens gewonnene Herrlichkeit, all das wie Nizza daheim. Das sind besonders unreife Wunschträume, doch sie finden sich heute noch im westlichen Glanzbild dieser Jahre enthalten. Begierig, kundig, eingedenk, teilhaftig, mächtig, voll, diese Worte regieren den Genitiv und die bürgerlichen Jugendwünsche. Der oft berufene Silberstreif am bürgerlichen Himmel wurde freilich zum Blutstreif; für die Dummen oder Betäubten hieß der starke Mann ihrer selbst Hitler. Doch nie schien das Grau eines jungen Durchschnittsmanns ohne kapriziöse Gestalten; der Wunsch selber legt sie in den Arm. In dieser Zeit, zwischen dem März und Juni des Lebens, gibt es keine Pause, entweder Liebe füllt sie aus oder der Blick auf eine Art stürmische Würde.
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REIFERE WÜNSCHE UND IHRE BILDER
Diese brauchen nicht weniger unruhig zu sein. Denn das Wünschen nimmt späterhin nicht ab, es verringert sich nur das Gewünschte. Der älter gewordene Trieb zielt näher, er kennt sich aus, er richtet sich diesseitig ein. Nicht aber, als nähme er dadurch das Leben hin, wie es ihm geworden ist; gerade das kleinbürgerlich Gewordene ist halb und schal. Wichtiges fehlt nach wie vor, also hört der Traum nicht auf, sich in die Lücken einzusetzen. Wohl nimmt Geschlagenes ebenfalls Platz, oft senkt sich der Flug. Gemeines kommt hervor, das nicht mehr die glatten /(31) roten Backen hat, sondern ist ausgekocht. Aber der Träumende glaubt endlich erfahren zu haben, was das Leben ihm bieten sollte. Die lahmen Gäule Zunächst geht sein Wunsch rückwärts, er macht etwas wieder gut. Der Traum malt aus, was wäre, wenn eine Dummheit unterlassen, eine Klugheit nicht unterlassen worden wäre. Die lahmen Gäule und die guten Einfälle kommen zuletzt; das ist der Treppenwitz. Er quält, weil er die Gelegenheit verpaßt hat, also wird das Versäumte nachträglich in der Einbildung getätigt, gesagt. Diese Einbildung ist reumütig und sehnsüchtig zugleich, die Reue macht sie zu einem Wunschtraum, der Vergangenes verbessert. Im Wunschtraum des Treppenwitzes werden Ohrfeigen ausgeteilt, zu denen der Träumende im Augenblick, wo sie fällig waren, nicht den Mut besaß. Der Wunschtraum des Treppenwitzes macht Verluste gut, indem er bis zu jenem Zeitpunkt zurückgeht, wo es noch möglich war, sie zu vermeiden. Er kostet, mit bitterem Genuß, Gewinne aus, die zuverlässig erzielt worden wären, wenn man rechtzeitig ins Geschäft eingestiegen wäre. Man hat die falsche Marke gesoffen - wie schön wählt man im Traum oder im Bericht, den man nicht nur anderen vormacht, die richtige. Oder die Quelle des Flußlaufs, auf dem die Felle davongeschwommen sind, wird als Wasserhahn gedacht; man dreht ihn nachträglich zu, als sei alles so gut wie gut. Reue ist ein Gefühl, das die bürgerliche Welt fast nur noch im Geschäftsleben kennt, also spielt der von Reue erfüllte Traum meistens um verlorenes Geld. Doch dazwischen eben hat unter Kleinbürgern immer noch die Heldenpose Platz, jenen, den sie zur rechten Zeit nicht eingenommen hat, und das
donnernde Wort, das nur damals nicht geblitzt hat. Der Traum spielt das Erwünschte auf, wie es hätte sein können, das Rechte, wie es hätte sein sollen. Alles Aufschneiden gehört hierher, auch aller dumme Stolz schlägt in diese Kerbe, und das Gedächtnis, daß die Sache anders war, gibt eitel-wunschgerecht nach. /(32)
Nacht der langen Messer
Nicht so fern von hier sind die mannigfachen Träume, die heimzuzahlen belieben. Sie sind besonders wohlschmeckend, die Rache ist süß, als bloß vorgestellte aber auch schäbig. Die meisten Menschen sind zu feig zum Bösen, zu schwach zum Guten; das Böse, das sie nicht oder noch nicht tun können, genießen sie im Rachetraum voraus. Besonders das Kleinbürgertum liebt seit alters die Faust im Sack; es paßt zu ihr, daß sie den Falschen schlägt, da sie vorzüglich in der Richtung des geringsten Widerstandes herausfährt. Aus der Nacht der langen Messer ist Hitler gestiegen, aus dem Traum dieser Nacht wurde er von den Herren gerufen, als er ihnen nützlich wurde. Der nazistische Rachetraum ist auch subjektiv verdrückt, nicht aufsässig; ist dumpfe Wut, nicht revolutionäre. Was gar den sogenannten eisernen Besen angeht, den Haß gegen das sittenlose Leben der Krummnasen und der Oberen, so verriet damit mittelständische Tugend, wie immer in solchen Fällen, nur ihren eigensten Traum. Wie sie, mit ihrer Rache, nicht die Ausbeutung haßt, sondern nur dieses, nicht selbst ein Ausbeuter zu sein, so haßt die Tugend nicht das Lotterbett der Reichen, sondern nur dieses, daß es ihr persönlich, ganz speziell, nicht geworden ist. Darauf zielten seit je die Schlagzeilen der Blätter, die gerne erröten, der Schmutz- und Schundpresse. »Die Wahrheit, heute neu: Die Suppenhühner im Warenhaus Wertheim - Der Harem in der Tiergartenvilla, aufsehenerregende Enthüllungen.« Es sind aber nur Enthüllungen über das Ärgernis des Spießers selbst, sowohl was den Rebbach Wertheims wie was die jüdische Geilheit angeht. Daher die sofortige Neigung, sich an die Stelle des vernichteten Wertheim zu setzen, nach einer Heimzahlung, die in der angeblich gehaßten Mißwirtschaft nur das Subjekt austauscht, das sie ausübt. Das Tückisch-Brutale hierbei, das gleich Uringeruch durchdringend Ekelhafte an dieser Wunschart hat seit je den Pöbel bezeichnet. Er ist käuflich und sinnlos gefährlich, folglich kann er von denen, die die Mittel haben und die an den faschistischen Pogromen wahrhaft sachlich interessiert sind, verblendet und gebraucht werden. Der Anstifter, das Wesen der Messernächte war selbstredend das Großkapital, doch der rasende Kleinbürger war die erstaunliche, die /(33) gräßlich verführbare Erscheinung dieses Wesens. Von ihr ging der Schrecken aus, er ist das noch lange nicht ausgeschiedene Gift im Average man on the street, wie man den Kleinbürger jetzt auf amerikanisch nennt. Seine Rachewünsche sind verfault und blind; wehe, wenn sie umgerührt werden. Ein Glück nur, daß der Pöbel ebenso treulos ist; auch wird er besonders gern wieder Faust im Sack, wenn das Verbrechen keine Freinacht mehr von oben herab erhält. Kurz vor Torschluß Wie wird nun das häufigste Leben, nämlich das still alltägliche, umgeträumt? Wir verlassen die rachsüchtigen Wünsche, es gibt außer ihnen auch warme, harmlos närrische und bunte. Im allgemeinen begnügt sich der kleine Mann, der nicht
klassenbewußte, damit, das Seine nur etwas umzustellen. Er verändert nichts, aber er gießt das Waschwasser seines bisherigen, als so unzureichend empfundenen Daseins vorübergehend aus. Seine Wachträume bleiben privat, sie sind - besonders gern - sexuelle, sodann geschäftliche und moussieren in beidem. Einsame Spaziergänge geben diesen Bildern Platz, selbstverfaßte Romane beginnen sich auszuspinnen, das Ich betreffend. Sie sind nicht mehr jung, nicht mehr voll Übermann, Traumschiff, Fürstadmiral. Doch sie sind genügend abenteuerlich, um das häusliche Setzei mit Bratkartoffeln bis zur Unkenntlichkeit zu garnieren. Der Schüchterne oder mäßig Verheiratete genießt die Vergnügungen eines vollendeten Liebhabers, erhitzte Einbildung bewirtet doppelt und dreifach, unerschöpfliche Kräfte stehen zu Gebot. Es gibt sogenannte Scherzkarten, worauf ein nacktes Weib als Gummiballon erscheint: ohne Gewicht, allseits drehbar, beliebig gebrauchsfähig; höheren Sinns widerstandslos ist so die Kalypso des entbehrenden Babbits halluziniert. Meist sind es mehrere, ein Gemisch aus freier Liebe und Harem, voll abgerichteter Frauen. Mit auswechselbaren Stellungen und Gruppen, die einen geschändet, die anderen zusehend; ein Traumwald aus heißen Augen und gespreizten Beinen. Normalerweise ist der vorgestellte Harem mit jenen Frauen besetzt, die der gesittete, oft auch impotente Wüstling im Leben nicht erlangt hat. Doch macht freilich die Ausschweifung /(34) allein nicht satt, auch die der so üppig gereiften Wünsche nicht. Denn der Mann ist nicht nur für die Liebe geschaffen, daher wird der Wachtraum des Spießers auch praktisch. Jüngere Kräfte müßten heran, also ist man im Wunsch diese Kräfte selber, erfahren überdies. In aufblühenden Gemeinwesen ist noch etwas zu machen, also faßt der träumende Spaziergänger sich spekulativen Mut. Längst hat er in seinem Traum das gutgehende Geschäft an der Ecke gekauft, erweitert, auf die Höhe der Zeit gebracht; längst ist er Stadtrat geworden, ein Mann, vor dem mancher, der ihm jetzt kaum dankt, den Hut zieht. Längst ist das Geschäft wieder verkauft, die große Welt nimmt ihn auf, wie der Film sie zeigt, das Jagdschloß im Wald, die Burg am Meer, die eigene Jacht. Das alles fast wie in der Pubertät, nur eben mit Geld versehen statt mit Idealen; vor der allzeit wachen, doch gesetzt gewordenen Sehnsucht erhebt sich eine Gruppe kaufbarer Annehmlichkeiten, genau imaginierter, nur unbesessener. In diesem Wald kann man anders als in dem der Jugend zu Ende gehen; hinter dem tropischen Meer, durch das die Jacht pflügt, steht das Strandkasino, wo gejeut wird. Doch hören die privaten Träume reiferer Art, wie sichtbar, nicht auf, bald närrisch, bald exotisch zu sein. Obwohl sie mehr Vergangenes als Zukünftiges durchbilden, mehr Bekanntes und nur dem Träumer nicht Zugefallenes als trotzige Ahnung. Nahender Torschluß, sexueller wie der der geschäftlichen Leistungsfähigkeit, tut das Seine; zumal es mit dem: «Freie Bahn dem Tüchtigen« in der Welt, die diese Parole ausgab, in der kapitalistischen, ohnehin zu Ende ist. Der kleine Mann, der Kleinbürger, proletarisiert, aber ohne proletarisches Bewußtsein, er träumt daher bedeutend mehr Schlösser, die im Monde liegen, als der besitzende Bürger, der weiß, was er hat. Letzterer spintisiert eher in der Schwimmrichtung des bereits Erreichten, der kleine Mann dagegen findet um sich nur Stränge, und er haut über sie. Wenn auch, solange kein Rattenfänger zur Hand ist, oder aber solange er die Verhältnisse seines Mißvergnügens nicht durchschaut, nur in der stillen Einbildung. Er übt sie in Bildern, die aus dem Kursaal des Lebens, den er nie betreten hat, ihm entgegenschimmern. /(35)
Erfindung eines neuen Vergnügens
Die meisten Leute auf der Straße sehen aus, als ob sie an etwas ganz anderes dächten. Das andere ist überwiegend Geld, doch auch dasjenige, in das es umgesetzt werden könnte. Sonst wäre es nicht so leicht, mit Schmuck zu locken, mit schöner Gestalt zu reizen. Es gäbe nicht den Flaneur, nicht die beständige Neigung jedermanns, sich in ihn zu verwandeln. Derart ist auch die Geschäftsstraße überträumt, nicht nur der mehr ländliche Spaziergang oder das Leben und Treiben in der Vorstadt. Eine Frau steht vor dem Schaufenster, sie blickt auf Eidechsenschuhe mit sämisch Lederbesatz, ein Mann geht vorüber, blickt auf die Frau, und so hat jeder von beiden ein Stück aus dem Wunschland. Glück genug ist in der Welt, nur nicht für mich: das sagt sich überall der so umhergehende Wunsch: Damit beweist er freilich zugleich, daß er aus der Welt nur etwas herausbrechen, nicht, daß er sie ändern will. Der Angestellte, der Kleinbürger, von dem hier die Rede, diese zwar keineswegs gleichmäßige, aber wachsend gleichmäßig gemachte Schicht, begnügt sich damit, die Bedürfnisse zu haben, die durch die auf sie gestimmte Auslage erweckt werden. Das eint alle bürgerlichen Träume und macht sie, selbst bei fernerer Ausschweifung, bis an die überblaue Küste im Reisebüro und darüber hinaus, doch wieder rationiert: so daß sie das Gegebene nicht sprengen. Die Menschen dieser Art Wünsche leben über ihre eigenen Verhältnisse, doch niemals über die allgemein vorhandenen Verhältnisse. Gilt das für den Angestellten, in mittleren Jahren und mit dem bis jetzt so wolkigen Bewußtsein des Mittelstandes, so hat der Großbürger, dessen Verhältnisse ihm ausreichen, in seinen kühnsten Träumen erst recht keinen Anlaß, Vorhandenes zu sprengen. Er hat es am leichtesten, Ideale der Jugend aufzugeben, seinen Willen nur an Erreichbares zu setzen. Seinen tüchtigen Mann zu stellen, dick im Erwerbsleben stehend, das wirklich eines ist, voll gewinnversprechender Pläne, aber im ganzen ohne das, was er, meist verächtlich, utopisch nennt. Da der Reiche, zum Unterschied vom Gehaltsempfänger, sich jeden Wunsch zu Gemüt führen kann, hat er sozusagen gar keinen bestimmten, das heißt, lang gehegten und so ausgebildeten. Und doch, so sehr hier auf Speisekarten jeder Art nur die linke /(36) Seite studiert wird, nicht, wie beim Angestellten, die rechte, wo der Preis steht, so bewirkt doch gerade dieser Überfluß, daß ein ganz spezifischer Erzeuger reiferer, sich gesetzt habender Wünsche auftritt: statt der Not die Langeweile. Keine Geschwindigkeit, kein Luxus, keine noch so blaue Küste helfen, dem zu entfliehen; sogar Aufregungen des Spiels werden auf die Dauer schal. Im Abgrund des Besitzes wogt dieser Nebel der Langeweile, und die Höhe, weil sie keine ist, erhebt sich nicht darüber. Die Wünsche, die sich trotzdem darüber erheben, sind einzig die des dringend ersehnten Kitzels, des snobistischen Flattergeistes, der Mode und ihres Wechsels, vorausgesetzt, daß dieser nicht zu grell ist. Wohl wird auch für die Massen immer frische Fasson hergestellt, damit Umsatz sei (der durch schundige Herstellung allein noch nicht gesichert ist); aber der Anreiz kam zuerst von oben und ist älter als die Umsatzfreude. Der Reiche, der sonst nichts ist und kann, der Reiche freilich in einer immer selteneren Weise, in der des Großrentiers, sieht darauf, daß ihm die Langeweile wenigstens interessant gemacht wird. Schon Xerxes setzte einen Preis auf die Erfindung eines neuen Vergnügens; in modernerer Form biegt der .Fluchtversuch aus dem Fett in den Snobismus ein. Oder auch in den Spleen: ein reicher Engländer reiste durch alle Länder, wo Spitzbögen vorkommen, um sie zu photographieren. So enden die bürgerlichen Wünsche, wenigstens die des privaten Lebens, für die kleinen Leute derart, daß sie aus dem vorhandenen Kuchen, bei unveränderter Bäckerei, sich auch ihr Teil schneiden wollen, wie es in Brechts
«Dreigroschenoper« heißt; bei den Reichen enden sie notgedrungen wunderlich, das ist, immer mehr aufgeputscht in immer mehr Nichtigkeit. Gelegenheit, freundlich zu sein Auch dem nichtbürgerlichen Träumer gefällt manches von dem, was die anderen haben. Aber wesentlich stellt er sich ein Leben ohne Ausbeutung vor, dieses muß gewonnen werden. Er ist nicht die festgeklebte Muschel, welche warten muß, was der Zufall ihr zuführt, er überholt das Gegebene, wie in Handlungen so in Träumen. Das glückliche Dasein, das er antizipiert, liegt hinter einem Rauch, hinter dem Rauch einer gewaltigen Veränderung. /(37) Die Welt, welche dann erscheint, ist ebenfalls verändert, kein Babbit hat darin Platz oder streckt sich behaglich ins Faule, ins Faulige, das er ist. Nicht, als sei die Behaglichkeit selbst zweifelhaft oder auf ihre bürgerliche Gestalt begrenzt. Jedem sein Huhn im Topf und zwei Autos im Stall, das ist auch ein revolutionärer Traum, nicht bloß ein französischer oder amerikanischer oder «allgemein menschlicher«. Aber die Valeurs des behaglichen Glücks verschieben sich in den Aussichten des revolutionären Wunschtraums schon deshalb, weil Glück nicht mehr aus dem Unglück des anderen entsteht und sich daran mißt. Weil der Nebenmensch nicht mehr die Schranke der eigenen Freiheit ist, sondern das, woran sie sich verwirklicht. Statt der Freiheit des Erwerbs leuchtet die Freiheit vom Erwerb, statt der vorgestellten Gaunerfreuden im Wirtschaftskampf der vorgestellte Sieg im proletarischen Klassenkampf. Und noch über diesem leuchten der ferne Friede, die ferne Gelegenheit, mit allen Menschen solidarisch, zu allen freundlich zu sein, als Gelegenheit, um derentwillen der Kampf im fernen Ziel geht. Die Bewegung, in der das alles noch liegt, bewirkt freilich, daß die nicht-bürgerlichen Träume im einzelnen noch bedeutend undeutlicher sind als jene, die nur in die vorhandene Auslage zu greifen haben. Kein Warenhaus schickt ihnen die Liste zu, kein Gönner, der von oben her verwirklicht, lebt für sie. Dafür eignet ihnen nicht nur ein unvergleichlich höherer Rang, sondern auch eine Erwartung des Unbekannten, eine Planbildung des Unverwirklichten, die das bürgerliche Wunschbild der reiferen Jahre überhaupt nicht mehr besitzt.
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WAS IM ALTER ZU WÜNSCHEN ÜBRIGBLEIBT
Wir lernen im Alter vergessen. Aufreizende Wünsche treten zurück, obzwar ihre Bilder bleiben. Sie malen Flucht vor, wie einst im März: der Backfisch und das gefährliche Alter, der geschniegelte Halbwüchsige und der alte Geck können sich in einer wirren Lust zum neuen Leben berühren. Immerhin, der Lockung wird nicht mehr so willig nachgegeben. Läßt der Wunsch nicht /(38) nach, so die Kraft, die ihn sich zu erfüllen zutraut. Läßt die Kraft nicht nach, so die enttäuschte Gabe, vorauszumalen. Insofern also, oft nur insofern, nimmt die Unruhe ab. Wein und Beutel Dafür mehren sich die verständigen Ängste, sie wollen vermieden werden. Der Leib
erholt sich nicht mehr so rasch wie früher, jede Mühe verdoppelt sich. Die Arbeit geht nicht mehr so flink von der Hand, wirtschaftliche Ungewißheit drückt schwerer als vorher. Die Bedürfnisse als Sucht, diejenigen, deren Befriedigung nicht erfreut, aber deren Ausfall schmerzt, nehmen zwar ab. Doch dafür mehrt sich das Verlangen nach Bequemlichkeit, und unbequem kann einem mürrischen Alten alles werden, auch das Gewohnte, wieviel mehr erst das Neue. Der Jüngling ist mit der üblichen Umwelt zerfallen und bekriegt sie, der Mann setzt an sie seine Kraft, oft mit Verlust seiner Träume, ja seines besser gewesenen Bewußtseins, aber der Ältere, der Greis, wenn er an der Welt sich ärgert, kämpft nicht wie der Jüngling gegen sie an, sondern steht in Gefahr, verdrießlich gegen sie zu werden, maulend streitbar. Wenigstens dort, wo die alte Person sauer wird, wo sie sich auf Geiz und Selbstsucht schlechthin zusammenzieht. Wünschbarer als je erscheint im bourgeoisen Alter das Geld, sowohl aus dem neurotischen Haltetrieb zusammengekrallter Hände, denen ein Mittel völlig zum Zweck wird, wie freilich auch aus der Lebensangst eines invaliden Wesens. Wein und Beutel bleiben dem trivialen Alter als das ihm bleibend Erwünschte, und nicht immer nur dem trivialen. Wein, Weib und Gesang, diese Verbindung löst sich, die Flasche hält länger vor. Fiducit, fröhlicher Bruder; deshalb wirkt auch ein alter Trinker schöner als ein alter Liebhaber. Heraufbeschworene Jugend; Gegenwunsch: Ernte Auch der junge Mensch, er sogar besonders, wünscht lange zu leben. Aber selten ist darin der Wunsch enthalten, ein Alter zu sein, er wird wenig geübt. Ein Jüngling kann sich als Mann vorstellen, aber kaum als Greis; der Morgen deutet auf Mittag, nicht /(39) auf Abend. An sich ist es merkwürdig, daß das Altwerden, sofern es sich auf den Verlust eines früheren, eines mit Recht oder Unrecht als schöner empfundenen Zustands bezieht, erst um die Fünfzig herum so recht empfunden wird. Gibt es für den Jüngling, der das Kind hinter sich läßt, keinen Verlust? Keinen für den Mann, wenn er aus der Jugendblüte heraustritt, wenn der Trieb verholzt? Stirbt nicht schon das Kind im geschlechtsreifen Mädchen und Jüngling, im Ich und seiner Verantwortung, wie sie nun hervortritt? Die Mutter fühlt das, wenn der erste Bartanflug ihres Sohnes kitzelt und sticht, der Jüngling selber fühlt wenn das Leben als Spiel völlig versinkt, wenn dem wachsenden Körper die kleinen Dinge und Verstecke unzugänglich werden. Und Wehmut ist sogar herkömmlich beim Übergang ins erste Mannesalter, dort wo Burschenherrlichkeit verschwindet, Philisterium beginnt. Jedoch der Einschnitt des Alters ist deutlicher als jeder frühere und brutaler negativ; Verlieren schlechthin scheint sich zusammenzudrängen. Die Zeugungsfähigkeit nimmt ab, die Gebärfähigkeit hört völlig auf, der Schmelz verschwindet, der Sommer geht zu Ende. Und merkt es der Bejahrte selber nicht, daß er es ist, so merken es die anderen, an der Wirkung sieht er die Ursache, ganz gleich, wie jung er sich zu fühlen gedrungen ist. Den meisten Alten ist es sehr belehrend, wenn ein .Mädchen zum erstenmal vor ihnen aufsteht, um Platz zumachen; diese Höflichkeit wirkt nur durchaus nicht als Plus, das das Alter ihnen zugezogen hat, sie wirkt fatal. Und selbst den alten Gecken, der sonst durch Oberflächlichkeit, die leichteste Jugendgabe, sich betrügen will, überrascht die Wahrnehmung, wie kurz das Leben ist. Ein längst Vergangenes kann im Alter so nahe aussehen wie ferne Berge kurz vor dem Regen. Fast ungläubig wird diese Wahrnehmung auch vom gediegenen Greis hingenommen; ein Gestern erst scheint
es zu sein, daß die Jugend ringsum gleichaltrig war. Zweifellos also: das spezifische Altersgefühl, das um die Fünfzig herum, zuweilen schon früher, einsetzt, wird durch die vorher erlebten und eben keineswegs so scharf erlebten Stufenwechsel wenig präpariert, wird mit einigem Recht als ein nicht Bekanntes wahrgenommen. Der Grund liegt im Undeutlichen oder im nicht deutlich Gemachten des Gewinns, den das Alter bringt, bei allem brutal Negativen, das damit verbunden sein /(40) kann und zuletzt verbunden ist. Daher wird der Gruß des Alters überwiegend nur als einer des Abschieds empfunden, nämlich mit dem Tod am dünnen Ende. Dieser, in jedem Lebensalter möglich, aber fürs höhere Alter unvermeidlich, gibt der Ebbe überhaupt keine Aussicht mehr auf eine erlebbare Flut; und das macht den Stufenwechsel, wenn er Alter heißt, dermaßen dezidiert. Macht ihn zum Unterschied von den früheren, unter neuem Laub versteckten, so unverwechselbar; gleich als ob der Abschiedsschmerz, den der Jüngling, der Mann beim Austritt aus dem Kindes-, dem Jugendalter gefühlt und ebenso nicht gefühlt haben mag, hier nachgeholt und zum eigenen Herbst noch hinzuaddiert würde. Daher zeigt auch ein nicht triviales Alter Rückkehrwünsche zu einer Jugend, die damals doch an Ort und Stelle eher als etwas empfunden werden konnte, das noch mangelhaft war, nämlich unfaßliche Blüte und noch keine faßliche, begrenzte, bilanzreife Frucht. Gerade ein arbeitender Alter, der also nicht in seiner Winterhöhle an den Tatzen der Erinnerung saugt, wird mindestens die viele Zeit zurückwünschen, die er mit zwanzig Jahren vor sich hatte. Den Zauber der langen Hintergründe wird er zurückwünschen, den das Leben damals noch für ihn besaß und der mit abnehmender Zukunft (mit den Jahren, die «gezählt« werden können) allerdings abnimmt. So lebt im normalen Alter doch die Resignation, die die Jugend nur als halb echte und vorübergehende kennt, als echte und gesammelte. Kein bloßer Abschied von einem Lebensabschnitt wird hier bezeichnet, mit verwehenden Träumen, vereitelten Erfüllungen, sondern Abschied vom langen Leben selbst. Es bleibt trotzdem seltsam, daß ein Druck des Alterns so stark hervortreten kann. Und bezeichnenderweise tritt er ja nicht bei allen Menschen und auch nicht zu allen Zeiten gleich stark, gleich ungehemmt hervor. Vielmehr muß zur organischen Ebbe auch noch eine psychische Leere hinzukommen, mindestens, wie bemerkt, das Undeutliche oder nicht deutlich Gemachte des Gewinns, den das Alter bringt. Ganz summarisch kann deshalb gesagt werden: zum bloßen Leiden am Alter, sofern es nur einigermaßen ein gesundes ist, aufgebaut auf einem tüchtigen Leben, gehören ein Tropf, der es erfährt, und eine spätbürgerliche Gesellschaft, die sich verzweifelt auf Jugend schminkt. Wenn's aus /(41)ist, sagt ein Sprichwort, wird es offenbar, ob's Wachslicht oder Talglicht war: also ist nicht das Alter selber daran schuld, wenn die Gestalt, die es aus Schein und Erscheinung hebt, nur noch häßlich ist. Und Gesellschaften, die nicht wie die heute untergehende bürgerliche vor jedem Blick aufs Ende zurückscheuten, besaßen und sahen im Alter eine blühende Frucht, eine sehr wünschbare und begrüßenswerte. So im spartanischen Rat der Alten, im Senat des noch republikanischen Rom, gar im Neuen sozialistischer Erfahrung. Da bleibt allemal anderes Schicksal zu hören als das untergehende, ist bedeutend mehr geblieben als »die Ehre und dies alternde Haupt«; denn eine blühende Gesellschaft fürchtet nicht, wie die Untergehende, im Altsein ihr Spiegelbild, sondern begrüßt darin ihre Türmer. Insgesamt zeigt das Alter, wie jede frühere Lebensstufe, durchaus möglichen, spezifischen Gewinn; einen, der den Abschied von der vorhergehenden Lebensstufe gleichfalls kompensiert. Altwerden bezeichnet also nicht nur eine wünschenswerte Zeitstrecke, auf der Möglichst viel erlebt worden ist, möglichst viel in seinem Ausgang erfahren werden kann. Altwerden kann auch ein Wunschbild
dem Zustand nach bezeichnen: das Wunschbild Überblick, gegebenenfalls Ernte. Derart sagte Voltaire, für Unwissende sei das Alter wie der Winter, für Gelehrte sei es Weinlese und Kelter. Das schließt Jugend nicht aus, sondern nachreifend ein; der Rückkehrwunsch zu ihr verliert gerade sein Leid kraft dieser gereiften Fühlung mit dem Anrückenden, er kompensiert, ja erfüllt sich mit erlangtem Halt, mit Einfachheit und Bedeutung. Im allgemeinen werden derart die Spätjahre eines Menschen desto mehr Jugend enthalten, dem unkopierten Sinne nach, je mehr Sammlung bereits in seiner Jugend war; die Lebensabschnitte, also auch das Alterverlieren dann ihre isolierte Schärfe. Das gesunde Wunschbild des Alters und im Alter ist das der durchgeformten Reife; das Geben ist ihr bequemer als das Nehmen. Abend und Haus So gesammelt sein zu können, das verlangt, daß kein Lärm ist. Ein letzter Wunsch geht durch alle Wünsche des Alters hindurch, ein oft nicht unbedenklicher, der nach Ruhe. Er kann genau so /(42) quälend, selbst gierig sein wie die frühere Jagd nach Zerstreuung. Auch das sexuelle Aufflackern, besonders bei Frauen sehr oft an Vorpubertät erinnernd, wird dadurch durchkreuzt. Selbst das gegebenenfalls produktive Wesen, das der Jugend so sehr verwandte, mit ihr so vertraute, braucht mehr als früher (oder noch mehr) Freiheit von Störung. Und jeder Alte wünscht die Erlaubnis, vom Leben erschöpft zu sein; steht er selbst im Weltgetümmel, so doch zu einem Teil, als stünde er darin nicht. Die Eitelkeit ist das letzte Kleid, das der Mensch auszieht, aber selbst sie pflegt nur ein komischer Alter auf Kosten der Stille zu strapazieren. Wunderbar verschönt sich gerade im Nichtphilisterium des Alters das Bild dieser Stille, des Lands statt der Stadt, der Entronnenheit, wo die nassen Kleider trocknen, ohne Vielgeschäftigkeit. Der Wunsch nach Ruhe dämpft in bedeutenderen Fällen sogar die Reue über früher begangene Unterlassungen und lrrtümer; auf die Länge erschienen dem alten Goethe Fehlschläge seines Lebens fast gleichgültig, wo nicht gut geworden. Ausgeschlagenes Glück, gar unvollendete Arbeit peinigen noch, aber in der Erinnerung nimmt mindestens letztere, mit Recht oder Unrecht, fast Form an. All diese freundlichen Spätwünsche und Spätgefühle erhellen sich aus Jacob Grimms Rede über das Alter, die er selber im fünfundsiebzigsten Jahr gehalten hat. Diese Rede ist, durchaus mehr nolens als volens, von dem dankbaren Bewußtsein getragen, Altwerden sei ein Glück. Körperliche Behinderungen empfindlicher Art werden hier im allgemeinen Ruhewunsch gemildert, ja seinem Inhalt zugeschlagen. Sogar mögliche Taubheit hat nach Grimm das Gute, daß überflüssige Rede, unnützes Geschwätz nicht mehr unterbrechen, Abnahme des Augenlichts bewirke, daß viele störende Einzelheiten verschwinden; Grimm erinnert an den blinden Seher. Und er beschreibt den Genuß, den der einsame Spaziergang dem Greis gewährt, wie denn überhaupt das Gefühl für Natur steige. Der Mensch ist in ihr mit sich allein, die geschwätzige Unterhaltung der Nährpflanzen verstummt, die Welt wird am Abend dunkel, aber das Wasser wird hell, die letzte Neige des Lebens wird der Beschaulichkeit geweiht. Vergangene Not wird nicht mehr empfunden, vergangenes Glück windstill, durch Erinnerung erneuert, die Meißelschläge des Lebens haben eine wesentliche Gestalt herausgearbei- /(43) tet, und Wesentliches ist ihr besser als je erblickbar. Indes freilich: auch diese Art Abtrennung von anderen Lebensaltern, betont durch Ruhewunsch und eine Art lustwandelnden Stillstands, ist nach Zeiten verschieden. Das Biedermeier ist längst dahin, das die alte Seele, auch in manch weniger reinen Gestalten als der Jacob
Grimms, einkehren ließ in die eigene Brust und sie sich bewirten ließ an der langen Table d'hote der Erinnerungen. Die spätkapitalistische Welt hält für die Alten am wenigsten eine Bank der guten Hoffnung. Durch die Schrumpfung oder Fragwürdigkeit der Sparguthaben ist die Winterruhe auch dem Mittelstand sehr gestört. Nur die sozialistische Gesellschaft kann den Alterswunsch nach Muße erfüllen, jedoch auch hier ist diese, freilich mit positivem Sinn, eine andere als früher, indem der Unterschied der Generationen nicht mehr so scharf trennt. Das jetzige Leben ist viel schärfer politisch tranchiert, und es läßt sich nicht mehr sagen, daß das Alter, trotz seiner Bedächtigkeit, schlechthin reaktionär, die Jugend, trotz ihrer Frische, schlechthin fortschreitend sei. Häufig liegt der Fall umgekehrt, und der Alterswunsch nach Ruhe fällt in einer Zeit, wo es, um ein Symptom herauszugreifen, immer noch faschistische Jugendbünde gibt, mit dem Kopf im Nacken, nicht überall mit dem nach ewiggestriger Beharrung zusammen. Leichter als je ist es dem Alter geworden, an zwei Enden zu brennen, nämlich mit Mut und Erfahrung zugleich, mit neuem Bewußtsein und mit dem des gekannten Erbes. Der Altgewordene, der, in abendlicher Kühle auf der Bank vor seiner Haustür sitzend, das verbrachte Leben überschlägt und sonst nichts, dieser Zug des Grimmschen Wunschbildes ist wirtschaftlich wie inhaltlich außer Kurs gekommen. Nicht aber außer Kurs ist der tüchtige Wunsch, der dem nach Stille so angemessene, daß der Leerlauf des Lebens ringsum aufhöre. Gerade Liebe zur Stille kann so der kapitalistischen Hetze ferner stehen als eine Jugend, die die Hetze mit Leben verwechselt. Hier hat das Alter (mit dem die bürgerliche Welt nichts mehr anfangen kann) das Recht,-altertümlich zu sein. Vornehm zu sein, eine Haltung gebend, Worte gebrauchend, überblickende Blicke sendend, die nicht aus dem jeweiligen Tag und nicht für ihn sind. Zeiten verkörpernd, worin noch nicht alles Betrieb war, vor allem: worin er wieder aufhören wird. Das ermöglicht eine /(44) auffallende und doch verständliche Verbindung manches Alten von heute, sofern er weise wurde, mit einer neuen Zeit, der Zeit ohne die kessen, patenten, strammen Wölfe, also der sozialistischen Zeit. Wunsch und Vermögen, ohne gemeine Hast zu sein, das Wichtige zu sehen, das Unwichtige zu vergessen: dergleichen ist eigentliches Leben im Alter.
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DAS ZEICHEN, DAS WENDET
Es ist schal, gestört zu werden. Aber merkwürdig leicht lassen wir uns durch Neues unterbrechen, durch Unerwartetes. Als sei keine Stelle des Lebens so gut, daß sie nicht jederzeit verlassen werden könnte. Die Lust am Anderssein entführt, oft betrügt sie. Doch aus dem Gewohnten treibt sie allemal hinaus. Ein Neues soll kommen, das mit sich nimmt. Die meisten reizt schon der leere Unterschied zum Bisher, die Frische, gleichviel zunächst, was ihr Inhalt ist. Hier bringt es bereits Genuß, daß etwas geschieht, es soll nur kein Unglück für uns selbst enthalten. Im niedersten Fall verführt der Klatsch, die Nachricht von fremdem Streit. Doch auch die Zeitung lebt großenteils von dem Bedürfnis nach Ungewohntem, das jeweils Neueste ist ihr Reiz. Nichts ist daher gleichgültiger, auch so unverdient gleichgültig wie ein Blatt, das einen, gar mehrere Tage alt ist. Die heutige Zeitung wird überschätzt, die gestrige unterschätzt, der Stachel der Überraschung ist aus ihr herausgezogen. All dies gemeine oder mittelmäßige Bedürfen setzt Langeweile voraus, die vertrieben werden soll, bringt aber zugleich ein Höheres in Bewegung; es
läuft letzthin einer erwünschten, einer befreienden Nachricht entgegen. An ihr ist der Inhalt durchaus nicht gleichgültig, sondern er macht das Neue zum Erwarteten, endlich Angelangten, Gelungenen. Das Neue wird als Bruder begrüßt, aus der Gegend hergereist, wo die Sonne aufgeht. Der sensationelle Wunsch ist bei weichgeschaffenen, platten Seelen selber platt und belügbar, bei kräftigen, blickfähigen gründlich. Er will, daß der Mensch nicht schief liege, daß er mit seinem Ort und seiner Arbeit zusammenstimme. Daß diese Arbeit ihn nicht mit /(45) Almosen beschicke, sondern das alte Lied vom Entbehren endlich aufhöre. Nach dorthin wird gehört, kräftig ausgesehen. Der Wille, um den es sich handelt, stammt aus dem Mangel und verschwindet nicht, bis der Mangel ausgetilgt ist. So fuhren wir als Kinder auf, nicht immer im Schreck, sobald draußen die Klingel ging. Ihr Laut zerreißt die stille, dumpfe Stube, besonders gegen Abend. Vielleicht kommt nun ein dunkel Gemeintes, dieses, was wir suchen, was uns wieder sucht. Sein Geschenk verwandelt und bessert alles; es bringt eine neue Zeit. Der Laut dieser Klingel bleibt in jedem Ohr, er verbindet sich mit jedem guten Ruf von draußen. Mit dem großen Wecken, das da ist und kommt; die Erwartung allein bringt es freilich nicht. Aber sie läßt den Klang, wenn sie auf ihn und auf das, was er bedeutet, gut ausgerichtet ist, auch nicht überhören. Sie läßt sich nicht auf die Dauer betrügen, denn die Lüge hält nicht vor. Und ebensowenig kann jene feinere, das ist, fast noch abgefeimtere Lüge auf die Dauer betrügen, die pharisäisch greint und verleumdet, weil das sozialistische Neue mit Macht geschieht und nicht mit Geschwätz, mit der sauren Arbeit der Bewährung und nicht mit abtrünnigen Flausen. Die Sucht nach dem Besseren bleibt, auch wenn das Bessere noch so lange verhindert wird. Tritt das Gewünschte ein, so überrascht es ohnehin.
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ZWEITER TEIL (Grundlegung) DAS ANTIZIPIERENDE BEWUSSTSEIN
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WAS ALS DRÄNGEN VOR SICH GEHT
Wer treibt in uns an? Wir regen uns, sind warm und scharf. Was lebt, ist erregt, und zwar zuerst durch sich selbst. Es atmet, solange es ist, und reizt uns auf. Um immer wieder zu kochen, von unten her. Daß man lebt, ist nicht zu empfinden. Das Daß, das uns als lebendig setzt, kommt selber nicht hervor. Es liegt tief unten, dort, wo wir anfangen, leibhaft zu sein. Dieser Stoß in uns ist gemeint, wenn man sagt, der Mensch lebe nicht, um zu leben, sondern »weil« er lebt. Keiner hat sich diesen drängenden Zustand ausgesucht, er ist mit uns, seit wir sind und indem wir sind. Leer und daher gierig, strebend und daher unruhig geht es in unserem unmittelbaren Sein her. Aber all dies empfindet sich nicht, es muß dazu erst aus sich herausgehen. Dann spürt es sich als »Drang«, als ganz vagen und unbestimmten. Vom Daß des Drängens kommt kein Lebender los, so müde er auch davon geworden sein mag. Dieser Durst meldet sich stets und
nennt sich nicht.
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NACKTES STREBEN UND WÜNSCHEN, NICHT GESÄTTIGT
Aus dem bloßen Innern greift etwas hervor. Das Drängen äußert sich zunächst als »Streben«, begehrend irgendwohin. Wird das Streben gefühlt, so ist es »Sehnen«, der einzige bei allen Menschen ehrliche Zustand. Das Sehnen selber ist nicht weniger vage und allgemein als der Drang, doch es ist deutlich wenigstens nach außen gerichtet. Es wühlt nicht wie das Drängen, sondern schweift, das freilich gleichfalls ruhelos schlechthin, süchtig. Und verbohrt es sich dabei in sich, so bleibt das Sehnen bloße allgemeine Sucht. /(50) Als blind und leer schweifende kann diese sich gar nicht dorthin begeben, wo sie gestillt würde. Dazu muß das Sehnen erst auf etwas deutlich hintreiben. Als so bestimmtes hört es auf, nach allen Richtungen zugleich auszuschlagen. Es wird ein »Suchen», das hat und nicht hat, was es sucht, wird ein gezieltes Treiben. Dessen Hintreiben teilt sich ab je nach dem Etwas, auf das es gerichtet ist, wird also der oder jener einzeln benennbare »Trieb«. Unter diesem Begriff, einem zweifellos reaktionär oft verdumpften und verdinglichten, ist das gleiche wie »Bedürfnis« zu verstehen. Aber da das Wort Bedürfnis nicht ebenso das gezielte Treiben in sich anklingen läßt, mögen das Wort und der undumpf verstandene Begriff Trieb erhalten bleiben. Allemal sucht dieser ein Hohles, ein Mangelndes im Streben und Sehnen, etwas, das fehlt, durch ein äußeres Etwas zu füllen. Das verschiedene Etwas, als Brot vor allem oder als Weib oder als Macht und so fort, teilt eben das gezielte Hintreiben jeweils in die mehreren Triebe ab. Daher auch: wenn das gefühlte Streben nur allgemeine Sehnsucht ist, so ist der gefühlte Trieb nun das Besondere von jeweils einzelnen »Leidenschaften«, »Affekten«. Das Etwas macht, daß der Trieb, wenn er daran gesättigt ist, abnehmen, ja vorübergehend aufhören kann, zum Unterschied von der unersättlich fortlaufenden Sucht. Das Ziel also, worauf der Trieb geht, ist zugleich dasjenige, woran er (sofern und soweit es zur Hand ist) gestillt wird. Das Tier bezieht sich auf das Ziel in derArt seiner jeweiligen Begierde selbst, der Mensch malt es sich auch noch aus. Daher kann der Mensch nicht nur begehren, sondern wünschen. Letzteres ist weiter, setzt mehr Farbe an als das Begehren. Denn das »Wünschen» ist auf eine Vorstellung hin gespannt, in der die Begierde das Ihre sich ausmalen läßt. Das Begehren ist gewiß viel älter als das Vorstellen des Etwas, das begehrt wird. Doch eben indem das Begehren zum Wünschen übergeht, legt es sich die mehr oder minder bestimmte Vorstellung seines Etwas zu, und zwar als eines besseren Etwas. Das Verlangen des Wunsches steigt gerade mit der Vorstellung des Besseren, gar Vollkommenen seines erfüllenden Etwas. So daß zwar nicht fürs Begehren, wohl aber fürs Verlangen des Wunsches gesagt werden darf: Wünschen geht, wenn auch aus Vorstellungen nicht hervor, /(51) so doch erst mit ihnen auf. Es wird durch sie zugleich weiter aufgereizt, im selben Maß wie das Ausgemalte, Vorgemalte Erfüllung verspricht. Wo also die Vorstellung eines Besseren, schließlich wohl Vollkommenen, da findet Wünschen statt, gegebenenfalls ungeduldiges, forderndes. Die bloße Vorstellung wird so zu einem Wunschbild, sie ist mit dem Cachet versehen: So sollte es sein. Aber hierbei ist das Wünschen, so heftig es auch sei, vom eigentlichen »Wollen» durch seine passive, dem Sehnen noch verwandte Art unterschieden. Im
Wünschen liegt noch nichts von Arbeit oder Tätigkeit, alles wollen dagegen ist ein Tunwollen. Man kann wünschen, daß morgen schönesWetter sei, obwohl man nicht das mindeste dazu tun kann. Wünsche können sogar völlig unvernünftig sein, sie können darauf gehen, daß X oder Y noch am Leben seien; es ist gegebenenfalls sinnvoll, das zu wünschen, aber sinnlos, es zu wollen. Daher bleibt der Wunsch auch dort, wo der Wille nichts mehr ändern kann. Der Reumütige wünscht, daß er eine Handlung nicht vollbracht hätte, er kann dies nicht eben wollen. Auch der Mutlose, der Zauderer, der oft Enttäuschte, der Willensschwache, sie haben Wünsche, sogar besonders starke, ohne daß sie zum Tunwollen bewegen. Ferner läßt sich Verschiedenes wünschen, die Wahl ist hier eine Qual, aber nur eines davon läßt sich wollen; der Wollende dagegen hat bereits vorgezogen, er weiß, was er lieber will, die Wahl liegt hinter ihm. Das Wünschen kann unentschlossen sein, trotz der bestimmten Zielvorstellung, auf die es hingespannt ist; dasWollen dagegen ist notwendig aktives Fortgehen zu diesem Ziel, geht nach außen, hat sich mit lauter als wirklich gegebenen Dingen zu messen. Wobei der Weg, den das ums Wollen vermehrte, damit gehärtete Wünschen einschlägt, selber unerwünscht, nämlich rauh oder bitter sein kann. Dennoch läßt sich letzthin nichts anderes wollen als Gewünschtes: der interessierteWunsch ist die »Triebweise», »Trieb-Weise», die Wollen auslöst, ihm das zu Wollende vorsingt. Gibt es daher Wünschen ohne Wollen, nämlich lahmes, untätiges, sich in der Einbildung erschöpfendes oder unmögliches, so doch kein Wollen, dem kein Wünschen vorher ginge. Und desto stärker wird das Wollen sein, je lebhafter seine mit dem Wünschen gemeinsame Zielvorstellung zu einem Wunschbild gestaltet worden ist. Wünsche tun nichts, aber sie /(52) malen und behalten besonders treu, was getan werden müßte. Das Mädchen, das sich glänzend und umworben fühlen möchte, der Mann, der von künftigen Taten träumt, tragen Armut oder Alltag wie eine vorläufige Hülle. Sie fällt dadurch nicht ab, doch der Mensch wächst dadurch auch weniger leicht in sie hinein. Bloße Begierde und ihr Trieb halten sich zunächst an das, was sie haben, aber das ausmalende Wünschen in ihnen meint mehr. So hält es sich ungenügsam, das ist, nichts Vorhandenes tut ihm recht Genüge. Trieb als bestimmtes Streben, als Begierde nach etwas, bleibt in all dem lebendig.
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DER MENSCH ALS ZIEMLICH UMFÄNGLICHES TRIEBWESEN Der einzelne Leib
Der Trieb muß jemanden hinter sich haben. Wer ist aber der Reizbare, der sucht? Wer bewegt sich in der lebendigen Bewegung, wer treibt im Tier, wer wünscht im Menschen? Es geht hier sicher nicht überall ichhaft her; denn ein Trieb »überkommt« uns. Das bedeutet aber nicht, daß überhaupt kein einzelnes, in sich geschlossenes Sein da wäre, das die Triebe trägt, spürt und durch ihre Befriedigung Unlustgefühle abführt. Sonderndies Sein ist zunächst der lebendige einzelne Körper; er als reizbewegter, reizüberfüllter hat die Triebe, sie schweben nicht allgemein. Und frißt das Tier, so wird sein eigener Leib befriedigt, sonst nichts.
Kein Trieb ohne Leib dahinter Gewiß, was sich als Leib fühlt, ist selber recht allgemein. Er »befindet« sich nur, als wohl oder übel; das aber ist kein sehr deutlicher Befund. Wogegen jeder Trieb bestimmt als ein Wer aufzutreten scheint und so, als zöge er den Leib hinter sich her. Als hätte nicht der Leib den Trieb, sondern der Trieb den Leib und bestimmte ihn, färbte ihn jeweils, rot vor Wut, gelb vor Neid, grün vor Ärger, wie ein Stück Tuch. Dazu nun noch die lange Dauer /(53) und scheinbar subjektlose Erscheinung, welche die Triebe im sogenannten Instinkt besitzen. Die eben ausgekrochenen Kücken picken sogleich nach Körnern, in vorbestimmter Bahn, worin sie das Ihre auf zweckmäßigste Weise erreichen. Die Bahn ist vom Kleinhirn gesteuert, dann freilich, nach Pawlows Entdeckungen, als verändernd steuerbare von der Großhirnrinde und der durch sie verändert erfahrenen Umgebung; das vorzüglich bei höheren Tieren. Doch der sogenannte Instinkt wirkt fälschlich wie ein sich selber peilender Trieb, und auch Menschen kennen ihn, besonders Frauen, wenn nicht in der Liebe, so in der mütterlichen Sorge. Hier hat es in der Tat den Anschein, als ob Triebe selbständig lebten und den Leib beherrschten, um von der Seele zu schweigen. Auch weniger zweckgemäße Triebe geben sich zuweilen als unabhängig, machen den Menschen zu ihrer Beute. So bei den Neurotikern, wo eine isolierte, fast autark erscheinende Triebrichtung nicht nur den Leib, sondern das bewußte Ich überwältigt und ihm als ein Fremdes gegenübersteht. So auch bei Gesunden im Augenlllick, wo sie von einem Triebgefühl »übermannt« werden, als wäre der Affekt ein Herr an sich. Dann läßt sich sagen: nicht das Mädchen ging aus Liebesgram ins Wasser, sondern der Liebesgram ging mit dem Mädchen ins Wasser. Aber trotzdem, trotz diesem vielfach subjektlosen Anschein: nichts im Leib läßt Triebe zu ihren eigenen Trägern machen. Baut der Vogel sein Nest, findet die Schwalbe das Nest vom vorigen Jahr, so arbeitet in solch rätselhaften Vorgängen zwar noch kein Ich, doch auch kein selbständiger Trieb, der gleichsam ohne Körper auskäme. Auch der Triebinstinkt gehört zum Haushalt des einzelnen Körpers und wird nur soweit verwendet, als er dazugehört, als der Leib das Seine treibt, fliehend, was ihm schadet, suchend, was ihn erhält. Deshalb gibt es auch mehrere Triebfedern, je nachdem, nicht nur eine einzige und alles betreibende. Durchgehend vorhanden ist nur der Körper, der sich erhalten will, deshalb ißt, trinkt, liebt, überwältigt und so allein in den Trieben treibt, in den noch so vielfältigen, auch durch das auftretende Ich und seine Beziehungen verwandelten. /(54)
Die wechselnde Leidenschaft
Besonders der Mensch trägt allemal mehrere Triebe mit sich. Denn er bewahrt nicht nur die meisten tierischen, er erzeugt auch neue; das heißt, nicht nur sein Körper, auch sein Ich ist affekthaft. Der bewußte Mensch ist das am schwersten zu sättigende Tier; er ist - in der Befriedigung seiner Wünsche - das Umwege machende Tier. Fehlt ihm das zum Leben Notwendige, so spürt er den Mangel wie kaum ein anderes Wesen: Hungervisionen tauchen auf. Hat er das Notwendige, so tauchen mit dem Genuß neue Begierden auf, die anders, doch nicht weniger quälen als vorher nackter Mangel. Die Reichen und Übersättigten (doch nicht nur sie) leiden gegebenenfalls am sonderbaren Kitzel des Ichweißnichtwas; der Luxus vor allem (der scheinbar doch alles erfüllt) ist ein unersättlicher Treiber. Xerxes setzte einen Preis auf die Erfindung eines neuen Vergnügens; da war nicht nur Langeweile im
Spiel, sondern ein unbekannter Trieb, mindestens als Schrei danach, der ebenfalls gestillt sein wollte. Gar im Lauf der Geschichte und ihren wechselnden Formen, sich mehrenden Ausmaßen der Bedarfsdeckung bleibt kaum eine Triebart sich gleich, und keine stellt sich als fertig dar. Mit den neuen Gegenständen erwachen verändert ausgerichtete Süchte und Leidenschaften, von denen gestern keiner etwas gespürt hatte. Der ohnehin erst erworbene Erwerbstrieb etwa hat sich in einem Umfang gesteigert, der vorkapitalistischen Zeiten ganz fremd war; sogar die sexuelle Libido wird vielfach von ihm durchkreuzt. Ziemlich neu ist auch der Rekordtrieb in der spätkapitalistischen Gesellschaft, gar die leere technische Sucht nach immer größerer Geschwindigkeit; letztere Sucht ist erst durch die motorisierten Fahrzeuge gebildet worden. Vor allem aber muß das Monopolkapital einen abstrakten Rekordtrieb zum Zweck der Anpeitscherei steigern; denn sonst wäre der Maximalprofit nicht so rasch aus den Arbeitern auspreßbar. Und wie fast rasend neuartig wiederum ist der faschistische Todestrieb beschaffen, verglichen etwa mit dem sentimentalen der Wertherzeit, auch dem romantisch-nachthaften; welch anderer sozialer Auftrag heizt ihn an, richtet ihn aus. Er wird prämiiert teils für den Schlachtentod im imperialistischen Krieg, teils für die Aussichts- /(55) losigkeit des spätbürgerlichen Daseins insgesamt. Dafür ging der religiöse Trieb zurück, wenn man dieses weithin mit Überbau versehene Wesen so nennen kann, der Auftrieb nach oben, der Eros zum Wechsellosen. Und wo er auf verkommene oder betrogene Weise aufgereizt wurde, so in verschiedenen faschistiedien Verführungen, ist der vorige Auftrieb kaum noch einer geblieben, ja in den Boden gesunken, in Blut und Boden. Kurz, es erhellt: der Mensch ist ein ebenso wandelbares wie umfängliches Triebwesen, ein Haufe von wechselnden Wünschen und meist von schlecht geordneten. Und eine bleibende Triebfeder, ein einziger Grundtrieb, sofern er nicht verselbständigt wird und dergestalt in der Luft hängt, will sich schwer fassen lassen. Die hauptsächhche Triebfeder wird nicht einmal an Menschen der gleichen Zeit und Klasse sichtbar, etwa indem man ihr scheinbar rein inneres Uhrwerk psychoanalytisch auseinanderlegt. Es gibt sicher mehrere Grundtriebe; bald tritt der eine, bald der andere stärker hervor, bald wirken sie zugleich, wie entgegengesetzte Winde um ein Schiff, und sie bleiben nicht einmal sich selber ähnlich. Der Mensch will sein Glück machen, dies Wort sieht gewiß recht alt aus und ist auch zweifellos ganz anders verläßlich als die Übelrede vom ewigen Raubtiertrieb, aber fragt man: welches , Glück und für was, dann beginnen gerade hier die Fragen und Finessen allemal. Es wäre auch zu merkwürdig, wenn in der Klassengeschichte, wo immer wieder neue Zielvorstellungen des Strebens auftauchten, gerade das gezielte Treiben der Triebe einsinnig, fest und fertig vor sich ginge.
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VERSCHIEDENE AUFFASSUNGEN VOM MENSCHLICHEN GRUNDTRIEB Der geschlechtliche Trieb
Aber nach etwas muß der Leib zuerst und besonders streben. Was ist immerhin die hauptsächliche Triebfeder unseres Sinnens und Trachtens, des gegenwärtig vorliegenden? Freud setzt, wie bekannt, den geschlechtlichen Trieb als ersten und
als stärksten. /(56) Libido regiert danach das Leben, sie ist zeitlich wie inhaltlich grundlegend. Bereits das Saugen des Säuglings soll mit geschlechtlicher Lust verbunden sein und großenteils um dieser Lust willen geschehen. Auch der Hunger soll sexuellem Trieb untergeordnet sein, die Sättigung wird sexuelle Entspannung. Die Beziehung zum eigenen Leib und nachher zu äußeren Gegenständen, erst recht zu Personen der Umgebung erscheint derart überall als primär sexuell. Nur ist Libido nicht der einzige Antrieb bei Freud geblieben, wenigstens nicht Libido im Sinne der positiven Lust. Der spätere Freud pointierte daneben eine Strebung zur negativen Lust, nämlich den Todestrieb. Der kreatürliche Wille ist dann auch dem Tod zugeordnet, der ihm bevorsteht, nicht nur der Begattung.Wie die Mehrzeller von Anfang auf den Tod zutreiben und letaler Abbau schon in der Jugend einsetzt, etwa in derVerengerung der Gefäße, so geht auch ein eigenerTrieb dem Vorgang des Sterbens, dem Kaltwerden entgegen. Es ist der Vernichtungs- und Angriffstrieb; Freud wollte ihn als eigenen, wenn auch allemal libidinös gefärbten, an den sadistischen Begierden kenntlich machen. Der Lärm des Lebens, der von der Liebe ausgeht, werde von der gleichen Libido auch wieder stumm gemacht oder zerstört. Der Wunsch zur Zerstörung äußere sich dem eigenen Leib gegenüber in der Freude an karger Zucht, in den mannigfachen asketischen Neigungen. Fremden Leibern und Gegenständen gegenüber äußere sich der Todestrieb als Grausamkeit, als unleugbarer Rausch der nun auf andere schlagenden Vernichtung. Daß aber auch der Todestrieb libidinös ist, darauf soll die durchgängige Verbindung von Grausamkeit mit sexueller Lust, vor allem auch das Gefühl des Liebestods hinweisen. Der Kern jedenfalls ist und bleibt hier geschlechtlich, von daher wird sein Mensch bewegt. !chtrieb und Verdrängung Nur nachträglich kommt noch eine andere und engere Kraft hinzu. Freilich ist dies Enge, auch Scharfe im Menschen wichtig; denn es ist sein Ich. Freud weist immer wieder, nicht ohne Rückzüge, darauf hin, daß er außer dem geschlechtlichen und dem ihm verwandten Todestrieb einen rein menschlichen ausgezeichnet /(57) hat. Denn gäbe es nur Libido, sonst nichts, so könnten in uns weder Konflikte noch Neurosen entstehen.Neben dem «dunklen Es« des Leibes und seiner Triebe steht nach Freud aber das Ich. Den sexuellen Kräften stehen die Ichtriebe gegenüber; ja, die gesamte Psychoanalyse, sagt Freud, »hat sich auf der scharfen Sonderung der sexuellen Triebe von den Ichtrieben aufgebaut«. Das Ich bejaht, verneint und zensiert die Triebe, an ihm hängt das Bewußtsein, es ist die Macht, welche unser seelisches Leben zusammenhängend macht. Es ist die Macht, »welche zur Nachtzeit schlafen geht und dann immer noch die Traumzensur handhabt«. Der Ichtrieb verdrängt,was ihm an den Sexualtrieben und ihren Inhalten nicht in die Linie paßt (wovon sogleich). Derart ist unser Seelenleben dualistisch, trotz der Libido, die hier alles begonnen; es bewegt sich »zwischen dem zusammenhängenden Ich und dem von ihm abgespaltenen Verdrängten«. Diese Spannung eben führt,wenn sie zum Gegensatz führt, zum pathogenen Konflikt, als einem zwischen den Ichtrieben und den Sexualtrieben. Vom Ich gehen «die Verdrängungen aus, durch welche gewisse seelische Strebungen nicht nur vom Bewußtsein, sondern auch von den anderen Arten der Geltung und Betätigung ausgeschlossen werden. Dies durch die Verdrängung Beseitigte stellt sich in der Analyse dem Ich gegenüber, und es wird der Analyse die Aufgabe gestellt, die Widerstände aufzuheben, die das Ich gegen
die Beschäftigung mit dem Verdrängten äußert.« Das Ich besorgt die Abfuhr der Unlustgefühle durchTrieberfüllung, aber es besorgt diese Erfüllung auf seine Weise, nämlich zensierend, moralisierend und vor allem mit Rücksicht auf das Erreichbare, auf die «Realität«.Dies Moralisierende, soll heißen: an die Usancen von Freuds bürgerlicher Umwelt Angepaßte, ist nach Freud die erworbene Linie des Ichtriebs. Dadurch entsteht sogar eine Durchbrechung der Libido, also des Lustprinzips, das sonst alle Triebvorgänge bestimmt; der erwachsene, oder besser aber: der von Freud bürgerlich gesehene bürgerlich individuelle Mensch läuft sich an der «Realität«, wie Freud seine bürgerliche Umwelt nennt (der Warenwelt und ihrer Ideologie), die dionysischen Hörner ab. «Das so erzogene Ich ist >verständig< geworden, es läßt sich nicht mehr vom Lustprinzip beherrschen, sondern folgt dem Realitätsprinzip, das im Grund auch Lust erzielen will, aber /(58) durch die Rücksicht auf die Realität gesicherte, wenn auch aufgeschobene und verringerte Lust.« Und doch wäre das Ich, wäre selbst die «Realität« oder bürgerliche Außenwelt zur Zensur, auch zur Sublimierung der libidinösen Triebe noch nicht ausreichend, gäbe es daneben, darüber nicht außerdem das «Über-Ich« oder «Ich-Ideal«. Das Über-Ich ist der andere Inhalt des Ichs; es repräsentiert nach Freud unsere Elternbeziehung; es schafft alle Ersatzbildungen der Pietät. Das Ich vertritt die Rechte der Außenwelt, das Über-Ich aber ist «der Anwalt der Innenwelt«, der «Ursprung des Gewissens und des Schuldgefühls« (als der Spannungen zwischen den Ansprüchen des Gewissens und den Leistungen des Ichs); es ist der «Keim, aus dem sich alle Religionen gebildet haben«. Indem das Über-Ich Vater und Mutter vertritt, beobachtet, bedroht und lenkt es das Ich wie früher die Eltern das Kind; so gibt es dem Ich ein Leitbild und ist der Quell der Idealbildung. Doch eben wegen der nachwirkenden Elterninstanz lebt im Über-Ich leicht ein Drohendes; das Gewissen ist streng, das Pflichtgefühl finster, auch bewahrt das Über-Ich, von seiner Elternseite her, sehr oft die Überlieferungen und Ideale der Vergangenheit. Demungeachtet schlägt es um das wache Ich herum einen Bogen zur Libido, als dem gemeinsam Dunklen, im Dunklen geeinten. Es der Innenwelt. All das kommt zur ursprünglichen Libido hinzu, wenigstens beim späterenFreud; so besteht ein außerordentlicher Trieb-Überbau. Freilich einer, der durch Analyse doch wieder, großenteils, abgebaut werden soll und der, was die Inhalte des Über-Ichs angeht (zu denen doch nicht nur Religion, sondern beispielsweise auch Postulate der Weltveränderung gehören), in bezug auf die Außenwelt ausschliefllich aus «Illusionen« bestehen soll.Die Innenwelt selbst, die im Über-Ich ihren Anwalt findet, bleibt zu guter Letzt aber allemal die der Libido oder der verdrängten Triebe, des «unbewußten Es« im Menschen. Das Es dieser Libido ist und bleibt nach Freud das den Leib erfüllende, das uns rings umgebende unbewußte Triebreich, nach seiner animalischen wie nach seiner Über-Ich-Seite. Es bewirkt, «daß wir >gelebt< werden von unbekannten, unbeherrschbaren Mächten« (soll heißen: von der bei Freud zum Libido-Es gemachten Fremdherrschaft der kapitalistischen Produktionsweise). Die Psychoanalyse dagegen ist «ein /(59) Werkzeug, welches dem Ich die fortschreitende Eroberung des Es ermöglichen soll«. Dadurch freilich wird wieder nur der libidinöse Grundtrieb frei, das heißt, er ist weder in den Verdrängungen verringert noch in den Bindungen des Ich-Ideals überboten. Freud will zwar das Verdrängte, das Unbewußte darin rationell ans Licht bringen, also den heuchlerischen, auch neurotisierenden Muff verringem. Aber was dann kommen soll, ist lediglich ein Tag innerhalb der privaten Libido und dem «Unbehagen« einer Kultur, der angeblich nichts als psychoanalytische Zugluft fehlt.
Verdrängung, Komplex, Unbewußtes und die Sublimierung So bleibt hier der geschlechtliche Trieb, wenn nicht ein und alles, immerhin grundlegend. Das anständige Mädchen wird ihn bloß nicht wahrhaben wollen, das sittsame Ich unterdrückt den Sexus. Dadurch gärt und drängt er aber erst recht, er kann sich im vorhandenen oder erlaubten Leben nicht abreagieren. Der Sexus und seine Wünsche werden von den bürgerlichen Menschen, wie Freud sie vorfand, in ein dickes Gewebe von Verschwiegenheit, von Heuchelei und Lüge eingehüllt. Denn eben: die Libido unterliegt im Individuum selbst, nicht nur im gesellschaftlichen Cant, einer moralisierenden Zensur, die unser wahres Wesen nicht über die Schwelle des Bewußtseins treten läßt. Diese Zensur riegelt ab, sie verdrängt den sexuellen Antrieb, sie verleumdet ihn, sobald die Verdrängung nicht ganz gelingt, sie sperrt sich gegen seine Erkenntnis. Hierbei bleibt für Freud die Libido wie der einzige Grundtrieb, so auch der wesentliche Inhalt des menschlichen Daseins; denn das Ich ist, wie bemerkt, doch nur Kontrollinstanz. Es prüft das von der Libido eingebrachte Gepäck, es zwingt die Libido, sich zu verstellen, gegebenenfalls sich ins Geistige zu «sublimieren«, aber das Ich selber ist unproduktiv. Indem die moralisierende Zensur verdrängt, beseitigt sie allerdings das Verdrängte nur an der Oberfläche. Die unerfüllten, gar totgeschwiegenen Wünsche sinken im Vorgang der Verdrängung lediglich ins mehr oder minder Unbewußte herab. Dort faulen sie, bilden neurotische Spannungen und Komplexe, ohne daß dem Leidenden die Ursache bekannt wäre. Die bloß vergessene, /(60) nicht verschwundene sexuelle Affektuierung arbeitet in allerhand Verkleidungen weiter, Freud suchte den libidinösen Stachel bereits in den Psychopathien des Alltags aufzuweisen, im Versprechen, Vergreifen, in Fehlleistungen der scheinbar zufälligsten, bedeutungslosesten Art. Nicht abreagierte Triebe, unvollendete Erlebnisse, vergessene Wunden und Enttäuschungen brennen fort; sie sind aus dem Ichbewußtsein, doch nicht aus der Seele verschwunden. Von ihnen her stammt die scheinbar grundlose Empfindlichkeit, die überbetonte Reaktion, die zwangsneurotische Handlung, schließlich die sinnlos verselbständigte, inhaltlos gewordene Affektgruppe: der Komplex. Alle Gespenster oder auch nur FreudschenGespenster tauchen hier auf: derPenisneid, der Kastrations-, der Ödipuskomplex und was mehr. Sämtlichen Komplexen liegt nach Freud eine sexuelle Irritierung zugrunde, sie seien fixiert an ein infantiles, vergessenes Trauma. Aus Erlebnissen der Kindheit stamme der Kastrationskomplex, stamme der sogenannte Ödipuskomplex des Vaterhasses (ohwohl Ödipus selbst, wie Chesterton einmal sagt, der einzige Mensch war, der zuverlässig keinen Ödipuskomplex hatte; denn er wußte bis zuletzt nicht, daß Laertes, den er erschlug, sein Vater, Jokaste, die er heiratete, seine Mutter war). All dies seltsam Benannte, seltsamer Hochgedonnerte sei nun gänzlich aus »unterbrochenen, irgendwie gestörten Vorgängen, die unbewußt bleiben mußten, hervorgegangen«. Wenn es daher gelänge, in den Keller des Verdrängten mit Bewußtsein binabzusteigen, die unbewußten Vorbedingungen der neurotischen Symptome bewußt zu machen, so würde der Neurotiker geheilt, das heißt, sein Ich bekäme gegen sein Es das Heft in die Hand. Der Mensch, der die Ursache seiner Komplexe weiß, heile sich selbst; freilich könne nur Psychoanalyse ihm zu diesem Wissen verhelfen. MühseligeTiefenbohrung, Achtung auf scheinbar nebensächliche, besonders auf nebensächlich gemachte Instanzen, aber auch auf Mißtrauen gegen viel zu schön klingende Ideologien (wie »Heiligkeit« der Mutterschaft und dergleichen) - all diese Detektivkunst sei notwendig, um den Inhalt des neurotischen Symptoms zu
erkennen und dem Patienten ins Bewußtsein zu rufen.Hauptstraße hierzu, via regia, soll bekanntlich die Traumdeutung sein, und zwar die Deutung der nächtlichenTräume als solcher, worin /(62) das zensierende Ich schläft, die harte Außenwelt unwahrnehmbar geworden ist. Jeder Traum ist bei Freud die Erfüllung einer unbewußten Wunschphantasie; aus der Symbolik, worin sie im Traum sich einkleidet, gilt es, das wunschhaft Angemeldete analytisch zu entziffern. Überall setzt der Neurotiker dieser Entzifferung einen charakteristischen Widerstand entgegen: das Vergessene will vergessen und sein Symptom verkleidet bleiben. Aber es ist hier schon wichtig zu bemerken: der Widerstand gegen das Bewußtwerden liegt nach Freud lediglich im Willen des Patienten, nicht etwa im Material des Unbewußten selbst, das heißt jenes Unbewußten, das Freud statuiert und das - außer der Groteske seiner wesentlich nur libidinösen Inhalte - wesentlich ein Produkt oder mindestens ein Zufluchtsort der Verdrängung ist. Verdrängung selbst ist dieses Sinns ein Vorgang, »durch welchen ein bewußtseinsfähiger Akt, also einer, der dem System Vorbewußtsein angehört, unbewußt gemacht, also in das System Unbewußtsein zurückgeschoben wird. Und ebenso nennen wir es Verdrängung, wenn der unbewußte seelische Akt überhaupt nicht ins nächste vorbewußte System zugelassen, sondern an der Schwelle von der Zensur zurückgewiesen wird«. Die bewußt gemachte Libido zeigt so überhaupt keine andere Tür als die ins wiederbetretene und aufgespulte Ehemals. Psychoanalyse will ab ovo subkortikale Erinnerung sein, einsam, abgekapselt und, wie sie selber sagt, unterirdisch, acherontisch. Das Unbewußte ist bei Freud darum eines, in das lediglich etwas zurückgeschoben werden kann. Oder das bestenfalls, als Es, das Bewußtsein wie einen abgeschlossenen Ring umgibt: ein stammesgeschichtliches Erbwesen rundherum um den bewußten Menschen. »Mit Hilfe des Über-Ich schöpft das Ich in einer für uns noch dunklen Weise aus den im Es angehäuften Erfahrungen der Vorzeit.» Das Unbewußte der Psychoanalyse ist mithin, wie erkennbar, niemals ein Noch- Nicht-Bewußtes, ein Element der Progressionen; es besteht vielmehr aus Regressionen. Demgemäß macht auch das Bewußtwerden dieses Unbewußten nur Gewesenes kenntlich; das heißt: im Freudschen Unbewußtsein ist nichts Neues. Das wurde noch klarer, als C. G. Jung, der psychoanalytische Faschist, die Libido und ihre unbewußten Inhalte gänzlich auf Urzeitliches reduzierte. Im Unbewußten sollen danach /(62) ausschließlich stammesgeschichtliche Urerinnerungen oder Urphantasien wohnen, fälschlich «Archetypen« genannt; auch alle Wunschbilder gehen in diese Nacht zurück, meinen lediglich Vorzeit. Jung hält die Nacht sogar für so bunt, daß das Bewußtsein vor ihr verbleicht; er setzt es, als Verächter des Lichts, herab. Freud hält demgegenüber zwar das aufhellende Bewußtsein aufrecht, doch ein solches eben, das selber vom Ring des Es, vom fixen Unbewußtsein einer fixen Libido umgeben ist. Auch die noch so produktiven Kunstbildungen führen aus diesem Fixum nicht heraus; sie sind lediglich Sublimierungen der in sich beschlossenen Libido: Phantasie ist Ersatz für Trieberfüllung. «Die zu lösende Aufgabe ist dann«, sagt Freud, »die Triebziele solcher Art zu verlegen, daß sie von der Versagung der Außenwelt nicht getroffen werden können.« Der Sexualtrieb kann zur Caritas verfeinert werden, zur Hingebung ans Wohl des Nächsten, schließlich der Menschheit. Höher sublimierte Libido macht die Freude des Künstlers an seinem Schaffen aus, aber auch den Genuß und die (Ersatz-)Befriedigung des Nichtkünstlers am Kunstwerk. Gibt dieses doch lauter Wunscherfüllung gestaltet-ungehemmter Art: Weiber, Hochzeit, Helden und noch die schöne, die tragische Leiche. Gibt dem Mann im Parkett, was dem Mann im Leben fehlt, gibt
Goldstoff wie ein schöner Traum in der Nacht. Der Betrachter oder Miterleber reagiert dergestalt seine Wünsche ab, so daß er kein Leid mehr an ihnen hat. Aber jede »Katharsis« dieser Art bleibt vorübergehend, ja scheinhaft: die Kunst arbeitet nach Freud ausschließlich mit den Illusionen, die die unbefriedigte Libido sich vormachen läßt. Wie weit und mechanistisch ist hier Freud von Pawlows Einsicht entfernt, daß gerade die höheren psychischen Prozesse, mit dauerndem Einfluß der von ihnen erfaßten Veränderungen der Umwelt, auf die affekthaften und die organischen wirken; daß sie keineswegs nur Äbhängige, gar an sich wesenlose Ersatzweisen sind. Bei Freud aber bleiben einzig nur sexuelle Libido, ihr Konflikt mit den Ichtrieben und der Bewußtseinskeller insgesamt, aus dem dann die Illusionen steigen. /(63)
Machttrieb, Rauschtrieb, Kollektiv-Unbewußtes
Aber auch im noch so dumpf gefaßten Leib lebt der geschlechtliche Trieb nicht allezeit, nicht allein. Daher wurde Freud, nachdem er die Bahn genommen hatte, von einigen seiner Schüler bekanntlich widersprochen. Diese Schüler beeilten sich, entweder eine ganz andere Triebkraft auszuzeichnen oder aber die Libido zu bronzieren. Das erste versuchte Alfred Adler, der Urheber der sogenannten Individualpsychologie, das zweite (mit mythischer Patina) C. G. Jung. So wurde, wie Freud beiden vorwirft, »das auf allen lastende Problem der Sexualität mit einem Hieb beseitigt«. Immerhin, es schien beseitigbar, im System anderer Triebfedern, es ist nicht ausgemacht ein und alles. Adler setzt, kapitalistisch schlechthin, über einer bisexuellen Grundlage den Willen zur Macht als menschlichen Grundtrieb: der Mensch will primär herrschen und überwältigen. Er will von unten nach oben gelangen, will oben liegen, von der weiblichen Linie in ihm zur männlichen übertreten, sich als Sieger individuell bestätigt fühlen. Eitelkeit, Ehrgeiz, «männlicher Protest« sind danach die Affekte, worin dieser Grundtrieb am sichtbarsten erscheint, verletzte Eitelkeit, gescheiterter Ehrgeiz sind der Quell der meisten Neurosen. Sexus ist selber nur ein Mittel fürs Endziel, die Machtgewinnung: »Diesem Leitgedanken ordnen sich auch Libido, Sexualtrieb und Perversionsneigung, wo immer sie hergekomsein mögen, ein« (Adler, Der nervöseCharakter, 1922,S.5).Am Anfang der Entwicklung zur Neurose steht drohend das Gefühl der Unsicherheit und Minderwertigkeit; unerfüllter Machttrieb erzeugt den Minderwertigkeitskomplex. Aber wie über einer Wunde sich die Haut verdickt, gleichsam als Schutzvorkehrung gegen künftige Schädigung, und wie bei Ausfall einer Niere sich die Funktion der anderen Niere verstärkt, so werden vom Ich auch seelische Minderwertigkeiten überkompensiert. Teils durch Masken und Fiktionen: Wille zur Macht wird dann Wille zum Schein; teils aber auch durch erhöhte Leistungen: Wille zur Macht hält sich dann schadlos, gegebenenfalls in einer schönen, einer Phantasiewelt. Man sieht freilich nicht, woher sie hier ihren Stoff nehmen mag; denn der an sich notwendig kahle Wille zur Macht kann ja nicht inhaltlich sublimiert werden. Wesentlich bleibt in /(64) diesemWillen trotzdem Zielsetzung, eben gemäß demVornliegenwollen; sie tritt an die Stelle bloßer angeborener Getriebenheit von unten her, also derFreudschen sexuellen Libido. Der Einzelmensch baut sich selber auf, mittels eines Leitbilds oder auch nur mittels Schauspielerei und Fiktion: »Die peinlich empfundene Unsicherheit wird auf ihr kleinstes Maß reduziert und dieses in sein krasses Gegenteil, in seinen Gegensatz verkehrt, der als fiktives Ziel zum Leitpunkt aller Wünsche, Phantasien und Bestrebungen gemacht wird.« So formt der Mensch - ein anderes als der
Einzelmensch kommt in dieser lndividualpsychologie nicht vor - seinen Charakter: »Um den Weg zur Höhe nicht zu verfehlen, um die Sicherung vollkommen zu machen, zeichnet er konstant wirkende Leitlinien in Form der Charakterzüge in die weiten chaotischen Felder seiner Seele.« Grundsätzlich wird so bei Adler alles Persönliche von Anfang an gemacht und gezüchtet, durch einen zwar weithin unbewußten, doch keineswegs mehr naiven Zweckwillen. Grundsätzlich regiere so die causa finalis, ordne das biologische Moment dem kapitalistisch interessierten Ziel unter, welches auf Sicherung der Persönlichkeit, auf Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls abgestellt ist. Indem Adler derart aus der Libido das Geschlecht austreibt, die individuelle Macht einsetzt, ist seineTriebbestimmung den immer verschärfter kapitalistischenWeg von Schopenhauer zu Nietzsche gegangen und reflektiert diesenWeg ideologisch-psychoanalytisch. Freuds Libidobegriff berührte sich mit dem »Willen zum Leben« in Schopenhauers Philosophie; Schopenhauer hatte eben die Geschlechtsteile als »Brennpunkte des Willens« bezeichnet. Adlers «Wille zur Macht« dagegen deckt sich wörtlich, zumTeil auch inhaltlich mit Nietzsches Grundtrieb-Bestimmung aus seiner letzten Periode; insofern hat hier Nietzsche überSchopenhauer, also der imperialistische Ellbogen über den rentierhaften Lust-Unlust-Leib in der Psychoanalyse gesiegt. Der Konkurrenzkampf, der für geschlechtliche Sorgen kaum mehr Zeit übrigläßt, pointiert die Strebsamkeit statt der Geilheit; der heiße Tag des Geschäftsmannes überdeckt so die heiße Nacht des Lebemanns und seiner Libido. Doch blieb auch das nicht, denn immer weniger Menschen zog der unwirtlich gewordeneTag an. Immer stärker wuchs dem /(65) Kleinbürger der Wunsch, sich nach rückwärts in ein verantwortungsloses, aber auch mehr oder minder wildes Dunkel entspannen zu lassen. Vor allem verlor der Weg zur sogenannten Höhe im gleichen Maß, wie die freien Unternehmer monopolkapitalistisch ahnahmen, an Interesse und Aussicht. Anziehender wurde derWeg in eine sogenannteTiefe, in eine, worin die Augen übergehen, statt daß sie ein Ziel visieren. C. G. Jung, der faschistisch schäumende Psychoanalytiker, setzte infolgedessen statt des Machttriebs den Rauschtrieb. Wie derSexus an dieser dionysisch allgemeinen Libido nur einTeil ist, so auch der Wille zur Macht, ja letzterer eben wird gänzlich zum Schlachtrausch verwandelt, zu dieser keineswegs individuell zielstrebigen Betäubung. Libido also wird bei Jung eine archaisch ungeschiedene Ur-Einheit aller Triebe oder «Eros« schlechthin: so reicht sie vom Essen bis zum Abendmahl, vom Coitus bis zur unio mystica, vom schäumenden Maul des Schamanen, gar Berserkers, bis zurVerzückung des Fra Angelico. Auch hier mithin siegt Nietzsche über Schopenhauer, doch er siegt als Bejahung eines Mescalin-Dionysos über die Verneinung des Willens zum Leben. Folgerichtig wird auch das Unbewußte an dieser mystifizierten Libido nicht bekämpft und ins heutige Bewußtsein aufzulösen versucht wie bei Freud. Vielmehr stammt die Neurose, besonders die der modernen, allzu zivilisierten und bewußten Menschen, nach Jung gerade daraus, daß die Menschen aus dem unbewußt Wachsenden, aus der Welt des «urtümlichen Fühldenkens« zu weit ausgetreten sind. Hier berührt sichJung nicht nur mit dem faschisierten Dionysos, sondern zum Teil mit der vitalistischen Philosophie Bergsons. Bergson hatte bereits, in freilich noch sezessionistisch-liberaler Weise, die Intuition gegen den Verstand ausgespielt, die schöpferische Unruhe gegen geschlossene Ordnung und starre Geometrie. Aber weit mehr als mit Bergsons »Elan vital« berührt sich der Faschist Jung mit den romantisch-reaktionären Ausbiegungen, die Bergsons Vitalismus gefunden hat; so bei sentimentalen Penis-Dichtern wie D. H. Lawrence, bei kompletten Tarzan-Philosophen wie Ludwig
Klages. Bergsons Elan vital war noch nach vorwärts gerichtet; er entsprach dem «Jugendstil« oder «Sezessionismus« der neunziger Jahre, er enthielt Freiheitsparolen, keine der rückläufigen Gebundenheit. D. H. /(66) Lawrence dagegen, und Jung mit ihm, singt die Wildnisse der urtümlichen Liebeszeit, aus der der Mensch zu seinem Unglück ausgetreten ist; er sucht den nächtlichen Mond im Fleisch, die bewußtlose Sonne im Blut. Und Klages spielt abstrakterweise auf demselben Stierhorn; er ruft nicht bloß, wie die früheren Romantiker, zum Mittelalter zurück, sondern zum Diluvium, ebendorthin, wo auch Jungs unpersönliche, pandämonische Libido wohnt. Es gebe, lehrt Jung, zwar Ichs und Individuen, aber das reiche in der Seele nicht tief; gar die Persönlichkeit sei nur eine Maske oder sozial gespielte Rolle. Was in der Persönlichkeit und als diese wirkt, soll vielmehr Vitaldruck sein, aus viel tieferen, viel älteren Schichten, aus magisch-kollektiven wie etwa der Rasse. Die individuelle Person sei auf ihrem Boden kollektiv, führe dahin wieder zurück: »Da das Individuum nicht nur Einzelwesen ist, sondern auch kollektive Beziehungen zu seiner Existenz voraussetzt, so führt auch der Prozeß der Individuation nicht in die Vereinzelung, sondern in einen intensiveren und allgemeineren Kollektivzusammenhang« (Jung, PsychologischeTypen, 1921, S.637). Wettbewerb und freie Konkurrenz, die bei Adler noch zur Überbietung stachelten und zu immer schärferer Individualpsychologie, gehen hier in der »Volksgemeinschaft« unter und in »Psychosynthese«, das ist eben: in archaischkollektiver Regression. Unpersönlich, ja unmenschlich Unbewußtes geht auf, weit hinter der jeweiligen individuellen Erfahrung, wo nicht hinter den archaischen Resten bloßer Menschheitserinnerung. Urerinnerungen sollen danach lebendig sein aus der Zeit unserer tierischenVorfahren, also noch weit hinter dem Diluvium; Jung greift dafür den Begriff der »Engramme» auf, den Semon in die Biologie eingeführt hat, den Begriff eines Gedächtnisses der organischen Materie insgesamt und ihrer Gedächtnisspuren. Die sind in Libido als ur-animalischer Plan eingeformt, sie halten aber auch das Unbewußte schlechthin im archaisch Urgewesenen. Also löst gerade die Psychosynthese nicht in denTag auf und in äußerlicheTeile, sondern »besinnt« sich und geht mit dem neurotisch oder Sonst gegebenen Symbol zurück in die ihm angestammte Nacht: »Genau wie die Analyse (das kausalreduktive Verfahren) das Symbol in seine Komponenten sondert, verdichtet das synthetische /(67) Verfahren das Symbol zu einem allgemeinen und verstehbaren Ausdruck.« Freuds Unbewußtes war trotz stammesgeschichtlicher archaischer Elemente, die er wohl zu sehen glaubte und die in seiner Schule bis zu Urerinnerungen der ersten Landtiere »ausgegraben« worden sind - Freuds Unbewußtes also war im großen ganzen individuell, das heißt von individuell erworbenen Verdrängungen und von Verdrängungen aus der kurz zurückliegenden Vergangenheit eines modernen Individuums erfüllt. Das Unbewußte Jungs dagegen ist vollkommen generell, urzeitlich und kollektiv, es gibt sich als »der fünfhunderttausendjährige Schacht unterhalb der paar Jahrtausende Zivilisation«, erst recht unterhalb der paar Jahre des individuellen Lebens. In diesem Grund ist nicht nur nichts Neues, sondern er enthält dezidiert Uraltes; alles Neue ist eo ipso wertlos, ja wertfeindlich; neu ist nach Jung und Klages lediglich die heutige Instinkt Zerstörung, die Zersetzung des uralten Phantasiegrunds durch den Intellekt. Auch der neurotische Konflikt ist Leiden dieses Trieb- und Phantasiegrunds am Intellekt; oder wie Lawrence sagte: die Menschen haben den Mond aus ihrem Fleisch, die Sonne aus ihrem Blut verloren. Daher dürfe der Neurotiker aus dem Unbewußten, das er noch hat, nicht vollends entfernt werden, nötig sei vielmehr Leitung zum Kollektiv-Unbewußten zurück, als zu den »uralten Mächten des Lebens«. Psychosynthese Gegenwart fliehend, Zukunft
hassend, Urzeit suchend - wird so dasselbe wie »Religion« im etymologischen Sinn des Worts: nämlich re-ligio, Rückverbindung. Wobei eben zwischen dem schäumenden Maul des Schamanen und Meister Eckart kein Unterschied erscheint, in wahrer Nacht-Toleranz; ja, der Schamane ist besser. Erst recht rangiert dann noch der wüsteste Aberglaube über der Aufklärung; denn selbstverständlich fließt Jungs Kollektiv-Unbewußtes im Hexenwahn dicker als in der reinen Vernunft. »Eros« und die Archetypen Dahin kommt es unter anderem, wird dem Leib das bewußte Ich genommen. Wird gar Libido gänzlich ins Dunkel getrieben, ins Unbewußte als Ziel. Bei Freud war der Kranke ans Unbewußte /(68) nur erinnert, damit er sich davon befreie. Bei C. G. Jung aber wird er daran erinnert, damit er gänzlich ins Unbewußte hinabtauche, und zwar in immer tiefer liegende, immer tiefer zurückliegende Schichten. Libido wird archaisch; Blut und Boden, Neandertalmensch und Tertiärzeit schlagen daraus zugleich entgegen. Der Jung- und Klages-Jünger Gottfried Benn gab dem einen ebenso psychosynthetischen wie lyrischen Ausdruck: » Wir tragen die frühen Völker in unserer Seele, und wenn die späte Ratio sich lockert, im Traum und Rausch, steigen sie empor mit ihren Riten, ihrer prälogischen Geistesart, und vergeben eine Stunde der mystischen Partizipation. Wenn der logische Oberbau sich löst, die Rinde, müde des Ansturms der vormondalten Bestände, die ewig umkämpfte Grenze des Bewußtseins öffnet, ist es, daß das Alte, das Unbewußte erscheint in der magischen Ichumwandlung und Identifizierung, im früheren Erlebnis des Überallund Ewigseins.« Immer stärker hat Jung die Libido zu diesen archaischen Anschlüssen hingetrieben, zugleich eben hat er diese Anfänge so neblig und allgemein gefaßt, daß sämtliche Irratio von ehedem, ganz gleich, was sie sagt, vertauschbaren Platz findet. Hier ist wirklich die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind, die Nacht jener maßlos geweiteten, zum Naturbauch kollektivierten Libido, die nun auch Weltseele heißt. Eros, Platon, indische Theosophie, alchimistische und astrologischeBilder, Plotin oder das, was sich C. G. Jung darunter vorstellt, wirbeln durcheinander, alle geeint in der »vormondalten« Libido: »Was das Psychologische dieses Begriffs anbelangt, so erinnere ich hier an die kosmogonische Bedeutung des Eros bei Platon und bei Hesiod, sowie an die orphische Figur des Phanes, des >Leuchtenden<, des Erstgewordenen, des Vaters des Eros ... Die orphische Bedeutung des Phanes kommt der des indischen Kama gleich, dem Liebesgott, der auch kosmogonisches Prinzip ist« (Wandlungen und Symbole der Libido, 1925, S.127). Hinzugesetzt wird, über Abgründe hinweg, als sei es, weil es so kosmisch klingt, dasselbe: »Beim Neuplatoniker Plotin ist die Weltseele die Energie des Intellekts.« Derart öffnet sich die Libido Jungs als ein ganzer Sack unverdaut-atavistischer Geheimnisse, besser Abrakadabras, ja es schleppt dieser Sack, nach Jungs eigenen Worten, »einen unsichtbaren Saurierschwanz hinter sich her; /(69) vorsichtig abgetrennt,wird er zur Heilsschlange des Mysteriums« (Über die Archetypen des kollektiven Bewußtseins, 1935,S. 227). Denn Diluvium bleibt dem Eros, der alles begonnen, sinngemäß das Nächste, und dahin strebt er zurück, prälogische Linien entlang, fort vom Bewußtsein. Anatomischer Ort dieser Libido ist der uralte Sympathikus, nicht das Zerebrospinalsystem; ihr Organon, ihr schon selber halb unzureichendes, allzu aufgeklärtes, bleibt die Mythologie. Die Mutterbindung etwa ist nach Jung keine an die individuelle Mutter, sondern an ein uraltes generelles Mutterbild. Sie ist die Bindung an Gaea oder Kybele, an jene
archaische Wesenheit (Ge-wesenheit), die ebenso der Astarte, Isis, Maria zugrunde liegen soll. Libidobesetzung wird hier im weiteren also »urbildliche« schlechthin, durch jede einzelne Mutter hindurch scheinen und siegen die »Archetypen der Erdmutter«. Archetypus überhaupt, Lévy-Bruhls »representation collective«, ist das Stichwort, womit Jungs Libido ihr Kollektiv-Unbewußtes ruft. Das Unbewußte, und nur dieses, wird danach durchgängig von Archetypen bevölkert: Schlange, Küche, Feuer, Topf auf dem Feuer, Wassertiefe, Mutter Erde, alterWeiser sind einige ihrer Exempel. Gerade im heutigen Menschen, als einem der mythischenVermischung, soll dies Urbildhafte hochentzündlich sein: wer inArchetypen spricht, spricht mit tausend Zungen, und das nach Jung nur deshalb, weil das Intellektgeschöpf mit dem Triebbildleben des urtümlichen Menschentiers, mit der riesigen Resonanz von Blut und Boden sich vermittelt. Kollektiv Unbewußtes ist aber nicht nur der Ort dieser Art Gesundheit, es enthält nach Jung auch sämtliche Grundformen der menschlichen Phantasie: was immer als bessere oder schönere Welt geträumt wurde, ist Rassenseele, Archetypenzeit. So betäubend also wurde hier der Auftrag befolgt, aus dem Hellen ins Dunkle zu streben. Die kapitalistischen Geschäfte sind nur noch betreibbar, wenn das Bewußtsein ihrer Opfer in der Freizeit betäubt wird. Folgerichtig hat Jung das Unbewußte Freuds auf der ganzen Linie generalisiert und archaisiert; es soll rationalistisch nicht aufgelöst werden. Auch findet hier keine Sublimierung statt (als welche ja immerhin, nach Freud, zur Kultur führt); der Freudschüler Jung sagte sich, als die Konjunktur erfüllet war, auch in diesem Punkt von der »jüdischen /(70) Psychologie« los. Statt der Sublimierung gilt die »heilig dunkle Urnacht«, gefüllt mit Blutschein und Bilderorgie an sich; diese Macht ist selber bereits in Ordnung, ja das einzige, was in Ordnung lebt. Wohl stieß Jung hierbei auf einen, wie man noch sehen wird, nicht unwichtigen Phantasiebestand, auf den der Archetypen. Doch wie er ihren Begriff von der Romantik bezog, so hat er ihn nie aus dem ungegliederten romantischen Dilettantismus herausgebracht. Der sogenannten Psychosynthese ist einzig die Urbilderei in Bausch und Bogen brauchbar, und das magische Wischiwaschi (kommandiert vom Monopolkapital) ist ihr nützlich. Der Rapport dieser panischen Libido mit dem deutschen Faschismus ist offenbar; hierin setzt das Bewußtsein der C. G. Jung-Somnambule keineswegs aus. Auch dem Faschismus ist der Intelligenzhaß das, wie Jung wörtlich sagt, »einzige Mittel, um die Schäden der heutigen Gesellschaft zu kompensieren«. Auch der Faschismus bedarf des Totenkults einer frisierten Urzeit, um die Zukunft zu verstellen, die Barbarei zu begründen, die Revolution zu blockieren. Der Grundtrieb wird mit alldem ein Trieb zu jenem Grunde, wo der Dionysos nur noch Moloch heißen will. Ein Regressio-Grund wird als Medizin wie Moral gepriesen, dem alles Menschliche wieder fremd geworden ist. So stellen, wie gesagt, der immerhin noch liberal aufklärenwollende Freud, der faschistisch-mystifizierende Jung weithin Gegensätze in der gemeinsamen »Tiefenpsychologie« dar (wie sie sich bescheiden nennt): der Liberale will Verdrängtes bewußt machen, der Reaktionär will Bewußtes mit Verdrängtem rückverbinden, ja es immer tiefer ins Unbewußte zurückstoßen. Bei Freud wird das Unbewußte bekämpft und, soweit es ein individuell Erworbenes ist, im Umkreis des Individuums gehalten. Bei Jung wird das Unbewußte begrüßt und völlig im Archaisch-Kollektiven angesiedelt, dazu mit schrankenloser Toleranz gegen alles betrachtet, was als Nebel, Numen oder Tabu darin herumwogt. Doch wieder auch: im Hauptpunkt steht der Lehrer Freud mit seinem pervertierten Schüler auf gleicher Ebene; beide fassen das Unbewußte lediglich als ein entwicklungsgeschichtlich Vergangenes, als ein in den Keller Abgesunkenes und nur darin Vorhandenes. Sie
kennen beide, wenn auch mit höchst verschiedener Art und Ausdehnung der Regression, nur ein Unbewußtes nach /(71) rückwärts oder unterhalb des bereits vorhandenen Bewußtseins; sie kennen eben kein Vorbewußtsein eines Neuen. Und was die zur Rede stehende Trieblehre selber angeht, so verbindet es die gesamte psychoanalytische Schule, daß sie lauter paprizierte Triebe betont, sie dazu auf begriffsmythische Weise von dem lebenden Körper abhebt. Auf diese Art entsteht ein Götze Libido oder Wille zur Macht oder Ur-Dionysos und vor allem eine Verabsolutierung dieser Götzen.Wie das Verabsolutierte vom lebenden Körper abgehoben wird, der doch nur sich selber und sonst gar nichts erhalten will, so wird es bei Freud wie Adler wie gar bei Jung überhaupt nicht als Variable ökonomischgesellschaftlicher Bedingungen diskutiert. Sollen aber überhaupt Grundtriebe ausgezeichnet werden, so werden sie beim Menschen nach den einzelnen Klassen und Zeiten materiell weitgehend variiert sein, folglich auch intentional oder als Triebrichtung. Und am wichtigsten ist: die psychoanalytisch jeweils betonten Grundtriebe sind gar keine im strengen Sinne, sie sind zu partial. Sie schlagen nicht so eindeutig durch wie etwa - der Hunger, der psychoanalytisch überall ausgelassene; sie sind nicht so letzte Instanz wie der schlichte Trieb, sich am Leben zu erhalten. Dieser Trieb ist der Selbsterhaltungstrieb, er allein dürfte so grundlegend sein - bei allem Wechsel -, daß er die anderen Triebe überhaupt erst ins Werk setzt.
13
DIE GESCHICHTLICHE BEGRENZTHEIT ALLER GRUNDTRIEBE VERSCHIEDENE LAGEN DES SELBSTINTERESSES GEFÜLLTE UND ERWARTUNGS-AFFEKTE Der dringende Bedarf
Sehr wenig, allzu wenig wurde bisher vom Hunger gesprochen. Obwohl dieser Stachel ebenfalls recht ursprünglich oder urtümlich dreinsieht. Denn ein Mensch ohne Nahrung kommt um, während sich ohne Liebesgenuß immerhin eine Weile leben läßt. Erst recht läßt sich ohne Befriedigung des Machttriebes leben, /(72) erst recht ohne Rückkehr ins Unbewußte fünfhunderttausendjähriger Vorfahren. Aber der zusammenbrechende Arbeitslose, der seit Tagen nicht gegessen hat, ist wirklich an die ältest bedürftige Stelle unseres Daseins geführt worden und macht sie sichtbar. Das Mitgefühl mit Verhungernden ist ohnehin das einzig verbreitete, ja überhaupt in Breite mögliche. Das Mädchen, gar der Mann, der sich nach Liebe sehnt, diese sind nicht mitleiderregend, die Hungerklage dagegen ist wohl die stärkste, einzige, die ohne einen Umweg dargeboten werden kann. Dem Hungernden glaubt man sein eigenes Unglück; selbst der Frierende, selbst der Kranke, gar erst der Liebeskranke wirken dagegen luxushaft. Auch die hartherzigste Hausfrau vergißt gegebenenfalls den Ärger ihres Geizes, wenn der Bettler die geschenkte Suppe ißt. Hier ist zweifellos, bereits im üblichen Mitgefühl, die Not und ihr Wünschen klar. Der Magen ist die erste Lampe, auf die Öl gegossen werden muß. Sein Sehnen ist genau, sein Trieb so unvermeidlich, daß er nicht einmal lange verdrängt werden kann.
Verläßlichster Grundtrieb: Selbsterhaltung Doch so laut der Hunger brüllt, so selten wird er hier ärztlich genannt. DieserAusfall zeigt, daß psychoanalytisch stets nur die besseren Leidenden behandelt worden sind und werden. Die Sorge, wie man Nahrung findet, war für Freud und seine Besucher die unbegründetste. Der psychoanalytische Arzt wie vor allem sein Patient entstammen einer Mittelschicht, die bis vor kurzem sich wenig um den Magen zu sorgen brauchte. Als Freuds Wien allerdings weniger sorglos wurde, gab es eine psychoanalytische Beratungsstelle für verhinderte Selbstmörder, wo Gelegenheit war, auch mit Trieben unterhalb der Libido bekannt zu werden. Denn über neunzig Prozent aller Selbstmorde geschehen aus wirtschaftlicher Not und nur der Rest aus Liebeskummer (übrigens aus unverdrängtem). Jedoch auch im bürgerlich deklassierten Wien hing an der Wand der psychoanalytischen Beratungsstelle die Inschrift: »Wirtschaftliche und soziale Fragen können hier nicht zur Behandlung kommen.« Verständlicherweise war vom Innenleben des verhinderten Selbstmörders auf diese Art wenig /(73) erfahrbar, ebensowenig wurde der allerhäufigste Komplex, derjenige, den die Franziska Reventlow so ganz unmedizinisch Geldkomplex nannte, dadurch nicht behoben. Der Hungerstachel also wird von der Psychoanalyse genauso sekretiert wie die Libido vom Cant des Salons. Das ist die klassenmäßige Begrenztheit der psychoanalytischen Grundtriebforschung; eine nationale kommt hinzu. Vielleicht nicht, was Libido, wohl aber, was moralische Ichzensur und folglich Verdrängung angeht. Hierin besteht ein charakteristischer Unterschied zwischen der Mittelklasse verschiedener Länder, besonders Frankreichs und Deutschlands. Nimmt in Paris ein Junggeselle nicht mindestens einmal in der Woche ein Mädchen aufs Hotelzimmer oder verbringt er eine Nacht nicht außerhalb, so wird der Direktor besorgt wegen der Rechnung: denn der Mieter scheint sexuell nicht normal zu sein, folglich ist ihm zuzutrauen, daß er auch die Miete schuldig bleibt. Der französische Bourgeois hat derart weniger Cant in Vorrat als der durchschnittliche deutsche, gar englische; demgemäß zeigt er weniger Sexualmuff, weniger libidinöse Verdrängungskomplexe. Und im Proletariat haben weder der Cant noch vor allem die Libido so breiten Platz, wie die Wiener Psychoanalyse ab origine annahm. Hunger und Sorge engen in der Unterklasse Libido ein; da sind weniger edle Leiden, und sie haben eine handgreiflichere, kunstloser benennbare Ursache. Die neurotischen Konflikte des Proletariats bestehen leider nicht aus so Wohlsituiertem wie aus Freuds »Fixierung der Libido auf bestimmte erogene Zonen» oder aus Adlers »schlecht sitzender Charaktermaske» oder aus Jungs »unvollkommener Regression zur Urzeit«; auch ist die Angst vor Verlust der Arbeit schwerlich ein Kastrationskomplex. Psychoanalyse kann zwar nicht umhin, von Hunger und Durst zuweilen Notiz zu nehmen, ebenso vom Interesse der Selbsterhaltung; aber der Selbsterhaltungstrieb wird von Freud merkwürdigerweise nicht dem Magen und Leibsystem insgesamt zugeordnet, worin er doch zuinnerst verankert ist, sondern der Gruppe von späten Ichtrieben, derselben also, der auch die moralische Zensur obliegt. Er sieht mithin drein wie ein Hinzugekommener, von dem in der Beratungsstelle nicht gesprochen wird, wie ein acte accessoire gegenüber dem Allestreiber Eros. Ersichtlich gibt es aber keine erotische Geschichtsauf- /(74) fassung an Stelle der ökonomischen, keine Welterklärung aus Libido und ihren Entstellungen statt aus Wirtschaft und ihren Überbauten. Daher bleibe man endlich auch hier beim realen Ausdruck der Sache. beim wirtschaftlichen Interesse, als dem gleichfalls nicht einzigen, aber grundlegenden. Die sich darin bekundende Selbsterhaltung ist der solideste unter
den mehreren Grundtrieben und, bei allen zeitlichen, klassenmäßigen Abwandlungen, denen auch er unterliegt, sicher der durchgängigste. Daher kann gesagt werden, bei aller Reserve und bekundeten Abneigung gegen Verabsolutierung: Selbsterhaltung - mit dem Hunger als sinnfälligstem Ausdruck - ist der einzige Grundtrieb unter den mehreren, der diesen Namen verläßlich verdient, er ist die letzte und konkretest auf den Träger bezogene Triebinstanz. Selbst der Idealist Schiller muß lehren, die Welt erhalte ihr Getriebe »durch Hunger und durch Liebe«; so setzt er überdies den Hunger an die erste Stelle und die Liebe an die zweite. Solche Notierung war damals, wenn auch ohne rechte Folgen, im aufsteigenden Bürgertum noch möglich; in der Spätbourgeoisie, der auch Freuds Psychoanalyse zugehört, wurde der Hunger gestrichen. Oder er wurde zur Unterart der Libido, etwa ihrer »oralen Phase«; Selbsterhaltung kommt dann überhaupt nicht als ursprünglicher Trieb vor. «Suum esse conservare«, sich an seinem Sein erhalten, das ist und bleibt aber nach Spinozas unbestechlicher Definition der »appetitus « allerWesen. Hat die kapitalistische Konkurrenzwirtschaft ihn über die Maßen individuell gemacht, so geht er doch, wie immer auch abgewandelt, durch alle Gesellschaften unablässig hindurch. Geschichtlicher Wandel der Selbsterhaltungstriebs
Triebe,
auch
des
Wie kein Trieb starr bleibt, so auch das nicht, was ihn trägt. Ein für allemal gesetzt ist hier gar nichts, etwa am Anfang, sondern gerade unser Selbst ist uns nicht vorgegeben. Indem es einen geschichtlichen Wechsel der Leidenschaften gibt, neue mit neu gesetzten Zielen entspringen, verändert sich auch der subjektive Herd, auf dem sie alle kochen. Es gibt weder mehr einen «ursprünglichen «Trieb, noch gibt es einen «Urmenschen« oder auch /(75) «alten Adam«. Die angebliche «Natur des Menschen«, im Sinn der starren Grundtriebsforschung,wurde im Lauf der Geschichte hundertmal umgezüchtet und umgebrochen. Unter Zuchtpflanzen und Zuchttieren mag sich, wegen des Äußerlichen und Herangetragenen der Züchtung, eine Ursprungsart erhalten haben, unter Menschen nicht. Unter Zuchtpflanzen und Zuchttieren, gewiß,da gibt es noch die schlichte Heckenrose, die zu den Luxusrosen veredelt wurde, und die wilde Felstaube,von der all unsere Zuchttauben stammen, zu der sie sich gegebenenfalls zurückfinden. Der historische Mensch dagegen wird auch als verwildernder niemals wieder der Urmensch, von dem die verschiedenen historischen Domestizierungen ausgegangen. Er wird ein dekadenter Barbar mit wohlbekannter, historisch eingeordneterTrieb Psychopathie; er wird ein Stück Blaubart oder Nero oder Caligula oder Hitler, aber kein Neandertal-Mensch aus dem »gesunden Diluvium«. Auch sehr viele sogenannte Primitive von heute sind, wie bekannt, mitnichten solche, sie sind nicht die älteste menschliche Kreatur. Sie stellen vielmehr die Zerfallsprodukte großer Kulturen dar; sie sind nicht alte Physis, sondern längst zur neuen Physis geworden, kraft der Vererbung historisch erworbener Eigenschaften. Der « Heide «,den ein Missionar tauft, der «alte Adam«, den der Christ auszieht, ist selbst wieder der «Christus« einer früheren Sitte und Religion, das heißt, eines früheren Umbruchs der Kreatur. Mithin ist der sogenannte Urtrieb-Mensch unterhalb des historischen und des modernen Menschen unauffindbar und wissenschaftlich nicht vorhanden. Was man so nennt, ist entweder (bei Freud) der bürgerliche Triebmensch, unter dem Cant des viktorianischen Jahrhunderts entstellt und begraben, oder er ist gar (bei Jung) eine faschistische
Phantasmagone, auf mythologischen Flaschen gezogen. Weil die Grundtriebforschung mehr als jede andere der Zeiten eigenen Trieb widerspiegelt, deshalb ist sie auch allenthalben so verschieden ausgefallen. Rousseaus «Naturmensch« war arkadisch und vernunftgemäß, Nietzsches «Naturmensch« dagegen war dionysisch und vernunftfremd; das heißt, der eine erfüllte die Wünsche der Aufklärung, der andere die Wünsche des Imperialismus (und zugleich der unter Bürgern schwelenden «antikapitalistischen Sehnsucht«). Entsprechend ist auch der historische /(76) Ort der «Kreatur«, wie Freud sie auszeichnet, genau bestimmbar: dieser Libido-Mensch lebt - mitsamt seinen geträumten Wunscherfüllungen - in der bürgerlichenWelt einige Jahrzehnte vor und einige Jahrzehnte nach 1900 (als dem Stichjahr der sezessionistischen «Befreiung des Fleisches vom Geist«). Auch die sexuelle Wahrnehmungsart, folglich Erregbarkeit der Libido ist in jeder Gesellschaft und in jeder Schicht dieser Gesellschaft jeweils variant. Es gibt sogar für den Hunger keine »natürliche« Triebstruktur, schon desbalb nicht, weil auch die ihm zugeordnete Wahrnehmungsart, folglich Reizwelt geschichtlich variabel ist. Selbst er ist beim Menschen keine biologisch gehaltene Grundrichtung mehr, keine im fixen Instinkt der Nahrungssuche und ihrer festliegenden Wege bleibende. Er steht vielmehr als gesellschaftlich gewordenes und gesteuertes Bedürfnis in Wechselwirkung mit den übrigen gesellschaftlichen, daher geschichtlich variierenden Bedürfnissen, denen er zugrunde liegt und mit denen er sich gerade deshalb ebenso verwandelt wie er - je mehr und je anspruchsvoller immer weitere Schichten auf den Appetit kommen verwandeln läßt. Kurz, alle Grundtriebsbestimmungen gedeihen nur im Boden ihrer Zeit und sind darauf begrenzt. Schon deshalb lassen sie sich nicht verabsolutieren, und noch weniger lassen sie sich vom jeweils ökonomischen Sein der Menschen entfernen. Libido (die bei den Tieren auf die Brunstzeit beschränkt ist), Machttrieb (der frühestens mit der Klassenteilung einsetzt) erscheinen dagegen sekundär, haben übrigens allesamt den Hunger, den Appetit in sich. Sein Bedürfnis nach Bedarfsdeckung ist das Öl auf der Lampe der Geschichte, doch je nach der wechselnden Art der Bedarfsdeckung sieht selbst dies primäre Bedürfnis verschieden drein. Letzte Instanz im geschichtlich vorliegenden Triebgefüge bildet das wirtschaftliche Interesse, doch selbst dieses, genau wieder dieses hat, wie bekannt, seine wechselnden historischen Gestalten, seine Veränderungen in der Produktions- und Austauschweise. Ja, noch das sich erhaltenwollende Selbst der Menschen, das sich durch Nahrungsaufnahme reproduziert, das durch die jeweilige Wirtschaftsform und Naturbeziehung mitproduziert wird, ist selber das historisch variabelste Wesen. Nämlich eines, das - trotz seinem verläßlichsten, relativ allgemeinst bleibenden Grundtrieb: /(77) dem Hunger - immer wieder durch Geschichte laufen muß, damit es mittels der Arbeit sei und werde. Die Geschichte ist, als mögliche Gewinnung des Menschen, die Metamorphose des Menschen gerade auch in Ansehung unseres Kerns, des sich erst bildenden Selbst. Nicht auf das selfish system, nicht auf diese kapitalistische Phase des Egoismus beschränkt, sondern vor ihr, erst recht nach ihr vorhanden, sucht Selbsterhaltung, Menschenerhaltung auch keineswegs die Konservierung des dem Selbst bereits Zugezogenen und Gewordenen. So bedeutet Selbsterhaltung letzthin den Appetit, unserem sich entfaltenden, erst in und als Solidarität sich entfaltenden Selbst angemessenere und eigentlichere Zustände parat zu halten. Rücken diese Zustände heran, so bereitet sich an ihnen Selbstbegegnung vor; und Selbstbegegnung beginnt hoch-betroffen an allen einen Endzustand anschlagenden Erscheinungen und Werken. Doch immer bleibt unser Selbst, mit seinem Hunger und dessen variablen Erweiterungen, noch offen, bewegt, sich selber erweiternd.
Gemütsbewegung und Selbstzustand, Appetitus der Erwartungsaffekte, vorzüglich der Hoffnung Um wieder vom Hunger zu beginnen, so kommen nicht bloß die unmittelbaren Triebe davon her. Sondern sie entstammen ihm auch als «gefühlte«, als die Triebgefühle, worin Begehren oder Verabscheuung in Stärke ihrer innewerden. Diese nicht nur unmittelbar, sondern als Gefühl treibenden Triebe sind die Gemütsbewegungen oder Affekte; wirft der ganze Mensch sich in einen einzigen Affekt, so wird dieser zur Leidenschaft. Durch alle Gemütsbewegungen aber fließt ein ganz besonderer Saft, er kommt vom Herzen, als ein auch psychisches Blut. Und wie in jedem Affekt, zum Unterschied vom Empfinden, Vorstellen, eine innere Temperatur ist, so spürt sich diese auch selbst. Also unterscheiden sich Affekte von Empfindungen, Vorstellungen nicht zuletzt dadurch, daß sie vor sich gehen, indem sie ihres Vorgangs als eines doch noch halb unmittelbaren Selbstgefühls nahe innewerden. Ja sie können in diesem «zuständlichen« Sich-innewerden gegenständlich vage vor sich gehen, bevor noch ein deutlicher äußerer Gegenstand auftritt, auf den sich das bewegte Gemüt /(78) bezieht. Das nicht nur in dem diffusen und unentschiedenen Zustand, der »Befinden«, weiterhin, weniger unmittelbar, «Stimmung« heißt, wovon später, sondern auch in entschiedenerem Zustand, bei jenen Gemütsbewegungen wenigstens, die von früh auf zu organischen »Anlagen« gehören. So gibt es in jungen Menschen und in erotischen Typen das ganze Leben hindurch eine Art intransitive Gemütsbewegung der Verliebtheit, in die erst nachträglich ihre Gegenstände eintreten; sie waren der Verliebtheit auch nicht narzistisch, also am eigenen Leib, vorhergegeben. So gibt es - nicht als Gemütsbewegung, wohl aber als Gemütszustand - charakterhafte Leichtmütigkeit, auch Hoffnung; sie erscheint keineswegs erst, wenn sie deutlich weiß, worauf sie hofft. Man spricht oder sprach dieser Art, die ganze organische «Anlage« zu einem Gemütszustand erhebend, von einem sanguinischen (oder entgegengesetzt: von einem melancholischen) «Temperament«. Dieses kann weit über den bloßen Gemütszustand hinaus in intransitive Gemütsbewegungen hineinreichen, mit gar keinen oder sehr schwach »fundierenden« Vorstellungsinhalten. Je mehr freilich Empfindungs- und Vorstellungsinhalte hinzutreten, desto deutlicher werden diese intransitiven Vorgänge auch gegenstandsbezogen und transitiv: wie das vage Begehren durch Vorstellen seines Etwas zu Wünschen mit Wunschinhalten übergeht, so regiert erst recht nun in der Affektwelt Liebe zu etwas, Hoffnung auf etwas, Freude an etwas. Ohnehin gäbe es ja gar keine Verabscheuungen oder Begehrungen ohne das äußere Etwas, das sie hervorruft; nur eben: dieses äußere Etwas muß nicht von vornherein deutlich sein. Die Affekte bleiben nun nicht auf das bloße Erleben ihres Erlebnisses beschränkt, gar mit der idealistischen Deutung, daß ihr Inhalt nur als »Gehalt« und nicht auch als deutlich erregender äußerer Gegenstand konkret hervorträte. Aber der Unterschied zu Vorstellungen und Gedanken ist doch auch innerhalb des Transitivwerdens der Affekte unverwischbar. Der Unterschied wird durch die besonders in sich geschehende, noch halb unmittelbar in sich zurückgebogene Beschaffenheit des affektiven Intendierens gekennzeichnet. Auch beim Vorstellen, Denken gibt es einen Akt des Intendierens, er ist, wenn auch idealistisch heillos übertrieben, bei Franz Brentano, dann bei Husserl vom »gemeinten /(79) Gegenstand« abgetrennt worden. Aber dieser Akt wird eben im Vorstellen, Denken nicht selber vorgestellt, gedacht, er mußte vielmehr
erst mühselig der «inneren Wahrnehmung « zugänglich gemacht werden. Bei den Affekten dagegen ist eine nachträgliche Analyse in Brentanos Sinn, eine Befreiung der «Aktpsychologie« von der «Inhaltspsychologie«, gar nicht erst erforderlich: die Affekte selber sind als Intentionsakte sich zuständlich gegeben. Und sie sind sich zuständlich-intensiv gegeben, weil sie vorzüglich von dem Streben, dem Trieb, dem Intendieren bewegt sind, das allen Intentionsakten, auch den vorstellenden und denkendurteilenden, zugrunde liegt. Das «Interesse« liegt ihnen letzthin zugrunde und ist dasjenige, was die Menschen wirklich am nächsten berührt. Gleich dem Grundaffekt Hunger, der primär in sich selber wühlt, sind also alle Affekte primär Selbstzustände; und gerade als diese Selbstzustände sind sie die aktivsten Intentionen. Wegen ihrer Selbstbetreffung ist das Affektleben aber nicht nur ein nächst-intensives, in sich eminent intendierendes, es ist auch der Seinsmodus dessen, was Kierkegaard seinerzeit existentiell nannte. Mit anderen Worten: nur das «Gemüt«, als Inbegriff der Gemütsbewegungen, ist ein «existentieller« Begriff, einer der «Betroffenheit« geworden, nicht der theoretisch-objektive «Geist«. Nicht grundlos fing daher das sogenannte existentielle Denken, das heute so nichtig verfaulte, bei Augustin mit den hochemotionalen «Confessiones« an; sogar das Bewußtwerden des Bewußtseins ging hier am Selbstreflex einer intensiven Willensnatur auf. Und nicht grundlos spielte Kierkegaard sein «Sich-in-Existenz-Verstehen« als eine Erlebniserscheinung moralisch-religiöser Affekte gegen Hegels objektive «Abstraktionen« aus. Nicht grundlos endlich reicht von hier aus eine Art blutrünstig gewordenes und ebenso stockendes Existere bis in Heideggers animalisch-kleinbürgerliche Erlebnisphänomenologie herab, bis zu dessen «Grundbefindlichkeit« Angst und der sich anschließenden Sorge; und diese «existentiellen Modi« sollen sogar besonders «fundamentale« Erschließungen gewähren, eben das Existieren selbst betreffende. All das ist schließlich verfaulter Subjektivismus, doch auf Affekte des Absterbens wenigstens wirft selbst der kleinbürgerlich-reaktionäre Existenzialismus einen wahlverwandt-verruchten Blick. Indes hierher gehörig /(80) ist, statt dieses bewußten Obskurententums, einzig das Originale, ist der immerhin grundehrliche Kierkegaard, mit seinem Ausspielen des affektionierten Subjekt-Denkens gegen das nur objekthafte. Wobei die Gegenprobe sein mag, daß das gesamte objekthafte Denken von den Affekten, als einem Erkenntnis-Organ, sich notwendig abkehrt. »Die ganze Natur des Geistes«, sagt Descartes in den »Meditationen«, »besteht darin, daß er denkt«; also kommt bei Descartes sogar noch aus seiner Affektenlehre keine Lehre, die nicht den lediglich denkenden Geist zum Urheber hätte. Und Spinoza, der dem extensiv Objekthaften so zugewandte, bat, wenn er in seine Marmorhalle eine Definition der Affekte einfügte (Ethik, 3. Buch), diese nicht in ihren Zuständlichkeiten, sondern wesentlich hinsichtlich ihrer Zielvorstellungen oder »Ideen» definiert. Spinoza betont zwar, daß einzig Affekte das menschliche Wollen bestimmen, aber sie selber werden einzig bestimmt unter der Form ihrer Objekte. Descartes wie Spinoza mußten darum, als rationale Objektivdenker, die Affekte auch methodisch eliminieren; sie beide geben, wie Dilthey diesmal nicht ganz mit Unrecht anmerkt, in der Affektlehre notwendig »Betrachtungen von außen, mit Beziehungen, die in keiner inneren Wahrnehmung gegeben sind«. So unverbrüchlich also ist jedes »Sich-in-Existenz-Verstehen» mit Affektnähe, jede reine Objektbetrachtung mit Affektabkehr verbunden. Daher läßt sich sagen: wo Philosophie sich nur an die Emotionen hält, dort gilt alles, was sich daraus berausbegibt, als »Welt des Geschwätzes«, in Kierkegaards Sinn; wo dagegen Philosophieren sich rein an die Cogitatio hält, dort gilt alles, was im Affektiven cum ira et studio zielt, als »perturbatio animi« auch methodisch, mithin als
»Asyl der Unwissenheit«, in Spinozas Sinn. Aber intellektuelle Berührung (obzwar nicht mehr) mit den Affekten ist für jede Selbsterkenntnis nötig, und wo immer Selbsterkenntnis umfassend versucht wurde, stellte sich diese Berührung ein. Auch bei Hegel, trotz Kierkegaard; es gibt kein Buch, das in seinem begrifflichen Arbeitsgang mehr von Affektumtrieben und Affekteinsichten zugleich durchzogen wäre als die »Phänomenologie des Geistes«. Das gerade wegen einer Erledigung des weltlos Pektoralen, die den »Puls der Lebendigkeit« vor allem im Äußeren, in der Welt erfassen wollte. Und /(81) wie nach Hegel nichts Großes ohne Leidenschaft vollbracht worden ist, so kann zweifellos auch nichts Großes, das Selbst betreffend, ohne Affekteinsicht begriffen werden. Von außen her wurden die Triebgefühle stets nur unzulänglich geordnet und eingeteilt. Man unterschied die jähen von den langsam reifenden, die rasch verschwindenden von den sich eingrabenden: so etwa den Zorn vom Haß. Man unterschied nach der Stärke, die die einzelnen Triebgefühle annehmen können, sodann nach dem Ausdruck der Gemütsbewegungen bei Mensch und Tier. Äußerlich ist auch die Einteilung nach asthenischen und sthenischen Affekten, das heißt nach solchen, die die Herzinnervation ebenso wie den Tonus der äußeren Muskeln lähmen oder verstärken. Danach sind plötzlich hereinbrechende Affekte, wie Angst, Schreck, aber auch übermäßige Freude, stets asthenisch, ebenso Unlustaffekte von geringerer Stärke, wie Kummer und Sorge. Schwache wie mäßig starke Lustaffekte dagegen sind stets sthenisch, aber auch Zorn, allmählich ansteigend, kann sthenisch sein, während eben Freude, trotz ihres Lustcharakters, bei plötzlichem Ausbruch, als eine von Überraschung begleitete, asthenisch auftritt. So äußerlich also ist noch diese Einteilung, daß Affekte mit verschiedenem, ja entgegengesetzem Gefühlsinhalt in die gleiche sthenische oder asthenische Klasse fallen. Näher dem Sachverhalt, etwas mehr schon aus der psychischen Erfahrung kommt die Einteilung der Affekte in solche der Abwehr oder der Zuwendung, folglich in die beiden Grundgruppen des Hasses und der Liebe. Der Hunger, der alle Affekte begleiten können muß, bricht in der Gruppierung von Libido und Aggression am sinnfälligsten aus. Und fast alle Affekte lassen sich den Willens-Polen Verneinung oder Bejahung zuordnen, der Unzufriedenheit oder der Zufriedenheit mit sich und seinem Gegenstand. Wobei die Abwehraffekte: Angst, Neid, Zorn, Verachtung, Haß einerseits, die Zuwendungsaffekte: Behagen, Großmut, Vertrauen, Verehrung, Liebe andererseits überwiegend mit der alten Zweiheit Unlust-Lust zusammenfallen. Ganz glatt geht freilich auch die Rechnung mit Abwehr-Unlust, Zuwendung-Lust nicht auf. Auch hier finden sich Affekte mit konträrem Gefühlsinhalt gelegentlich lustvoll vereint: Rache, in der sich der Haß entladet, schmeckt süß, fast so wie das Stück Wollust, in /(82) der sich die Liebe entladet. Ebenso gibt es Affekte, wie Habsucht, die, auf der Seite der Zuwendung liegend, doch mit Lust nicht das mindeste gemein haben. Oder es gibt Mischaffekte, wie das Ressentiment, in denen sich die Abwehrintention Neid und die Zuwendungsintention Verehrung ganz vertrackt vertragen, sofern eben der Neid die vorhandene Verehrung, damit sie nicht zum Unmut des Neids Veranlassung gebe, in Verleumdung umwandelt. Item, auch Abwehr und Zuwendung, Haß- und Liebespol teilen das merkwürdige, an Verschleifungen so reiche Gebiet der affektiven Selbstmodi nicht ab. Man hat deshalb, bei Beibehaltung von Liebe und Haß als Grundgruppen, die bloße PolRelation beider in eine wertmäßige zu verwandeln gesucht. Die Abwehraffekte geraten dadurch in eine niedere, selber zu verneinende Gegend (was sich übrigens, da auch der Klassenkampf dahin gehört, der reaktionären Psychologie, bei Scheler, empfahl); die Zuwendungsaffekte dagegen (mit Burgfrieden, Kosmopolitismus, pax
capitalistica) stehen im Licht. Aber dem Stück Warhrheit, mindestens psychische Erfahrenheit, das in der Abwehr-Zuwendungs-Reihe trotz ihres Durcheinanders sein mag, wird solche Verteufelung oder Verhimmlung am wenigsten gerecht. In summa also: das von außen an die Affektenlehre Herangebrachte muß gänzlich beseitigt werden; so erst geht die richtige Ordnung der Triebgefühle auf. Diese Ordnung muß an dem erfahrenen Appetitus selber entdeckt werden; und der Effekt ist dann, als einzig befriedigend, die Einteilung der Affekte in folgende zwei Reihen: in gefüllte und Erwartungs- Affekte. Wobei auch dem relativ Berechtigten an der Abkehr-Zuwendungs-Reihe Genüge getan wird: diese Reihe reicht mindestens in die Gruppe der Erwartungsaffekte herein, und zwar als Unwunsch oder als Wunsch. Die Reihen auf der wirklichenTafel der Affekte sind nun folgendermaßen definierbar: Gefüllte Affekte (wie Neid, Habsucht, Verehrung) sind solche, deren Triebintention kurzsinnig ist, deren Triebgegenstand bereit liegt, wenn nicht in der jeweiligen individuellen Erreichbarkeit, so doch in der bereits zurhandenen Welt. Erwartungsaffekte (wie Angst, Furcht, Hoffnung, Glaube) dagegen sind solche, deren Triebintention weitsinnig ist, deren Triebgegenstand nicht bloß in der jeweiligen individuellen Erreichbarkeit, sondern auch in der bereits zur- /(83) handenen Welt noch nicht bereit liegt, mithin noch am Zweifel des Ausgangs oder des Eintritts statthat. Die Erwartungsaffekte unterscheiden sich derart, sowohl ihrem Unwunsch wie ihrem Wunsch nach, von den gefüllten Affekten durch den unvergleichlich größeren antizipierenden Charakter in ihrer Intention, ihrem Gehalt, ihrem Gegenstand. Alle Affekte sind auf den Horizont der Zeit bezogen, indem sie eminent intentionierte sind, aber die Erwartungsaffekte öffnen sich völlig in diesen Horizont. Alle Affekte sind auf das eigentlich Zeithafte in der Zeit bezogen, nämlich auf den Modus der Zukunft, aber während die gefüllten Affekte nur eine unechte Zukunft haben, nämlich eine solche, worin obiektiv nichts Neues geschieht, implizieren die Erwartungsaffekte wesentlich eine echte Zukunft; eben die des NochNicht, des objektiv so noch nicht Dagewesenen. Als banale intendieren auch Furcht und Hoffnung unechte Zukunft, doch insgeheim oder zutiefst ist selbst dann in der banalen Erfüllung eine totalere eingeschlagen, die ganz anders als bei den gefüllten Affekten über die zurhandene Gegebenheit hinausliegt. Derart bricht der Drang, der Appetitus und sein Wunsch in den Erwartungsaffekten am meisten frontal aus. Er bricht als Drang, als Wunsch sogar in den bloß negativen Erwartungsaffekten aus, als denen der Angst und Furcht; denn wo kein Drang wäre, gäbe es keinen Unwunsch, der nur die Kehrseite eines Wunsches ist. Überdies wirkt hier überall ein Gegensinn der negativen und positiven Affekte, dergestalt, daß, wie zu sehen sein wird, auch im Angsttraum noch Wunscherfüllung mitgeschieht. Erst recht mögen sich in den Furcht- und Hoffnungsbildern des Tagtraumes oft die Gesichter zwischen Furcht und Hoffnung, zwischen dem negativen und dem positiven Erwartungsaffekt tauschen, als die noch utopisch unentschiedenen. Der wichtigste Erwartungsaffekt, der eigentlichste Sehnsuchts-, also Selbstaffekt bleibt aber bei all dem stets die Hoffnung. Denn die negativen Erwartungsaffekte der Angst, Furcht sind bei aller Abwehr doch völlig leidend, gepreßt-unfrei. Ja in ihnen meldet sich gerade ein Stück von dem Selbstuntergang und dem Nichts, in das am Ende die bloße passive Leidenschaft hineinströmt. Hoffnung dieser Erwartungs-Gegenaffekt gegen Angst und Furcht, ist deshalb die menschlichste aller Gemütsbewegungen und nur Menschen zugänglich, /(84) sie ist zugleich auf den weitesten und den helIsten Horizont bezogen. Sie steht jenem Appetitus im Gemüt, den das Subjekt nicht nur hat, sondern aus dem es, als unerfülltes, noch wesentlich besteht.
Selbsterweiterungstrieb nach vorwärts, tätige Erwartung Der Hunger kann nicht umhin, sich immer wieder zu erneuern. Wächst er aber ununterbrochen, durch kein sicheres Brot gesättigt, dann schlägt er um. Das Körper-Ich wird dann aufsässig, geht nicht mehr nur im alten Rahmen auf Speise aus. Es sucht die Lage zu verändern, die den leeren Magen, den hängenden Kopf gebracht hat. Das Nein zum vorhandenen Schlechten, das Ja zum vorschwebenden Besseren wird von Entbehrenden ins revolutionäre Interesse aufgenommen. Mit dem Hunger fängt dies Interesse allemal an, der Hunger verwandelt sich, als belehrter, in eine Sprengkraft gegen das Gefängnis Entbehrung. Also sucht sich das Selbst nicht nur zu erhalten, es wird explosiv; Selbsterhaltung wird Selbsterweiterung. Und diese wirft um, was der aufsteigenden Klasse, schließlich dem klassenlosen Menschen im Weg steht. Aus dem ökonomisch aufgeklärten Hunger kommt heute der Entschluß zur Aufhebung aller Verhältnisse, in denen der Mensch ein unterdrücktes und verschollenes Wesen ist. Lange vor diesem Entschluß wie noch lange in ihm wird der Trieb zur Sättigung ein das Zurhandene vorstellungshaft überlebender. Und in der menschlichen Arbeit, wie sie zum Zweck der Bedarfsdeckung als Umwandlung der Rohstoffe zu immer reicheren Gebrauchswerten unternommen wird, läuft das Bewußtsein als ein das Zurhandene vorstellungshaft überholendes. Noch lange nicht genug bedacht, sagt Marx gerade darüber folgendes: «Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie den Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut, am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Be- /(85) ginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Wirklichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt, und dem er seinen Willen unterordnen muß« (Das Kapital 1, 1947, S. 186). Folgerichtig daher: bevor ein Baumeister - in allen Gebieten des Lebens seinen Plan weiß, muß er den Plan selber geplant haben, muß er dessen Verwirklichung als einen glänzenden, auch entscheidend anfeuernden Traum nach vorwärts vorweggenommen haben. Das ideell desto notwendiger, je kühner, vor allem je unwegsamer der Plan, auf den der Mensch zum Unterschied von der Spinne oder Biene hinblickt, vorausblickt, im Augenblick: noch beschaffen sein mag. Und genau an dieser Stelle nun bildet sich das, was das Wunschhafte in den Erwartungsaffekten, den allemal dem Hunger entspringenden, aufreizt, was gegebenenfalls ablenkt und erschlafft, gegebenenfalls aber auch aktiviert und aufs Ziel des besseren Lebens hinspannt: es bilden sich Tagträume. Sie kommen allemalvon einem Mangeln her und wollen es abstellen, sie sind allesamt Träume von einem besseren Leben. Kein Zweifel, unter ihnen gibt es niedere, windige, trübe, bloße entnervende Fluchtträume, mit lauter Ersatz darin, wie bekannt. Solche Wirklichkeitsflucht ist mit Billigung und Unterstützung des bestehenden Zustands oft verknüpft gewesen; wie das am stärksten aus den Vertröstungen aufs bessere Jenseits erhellt. Aber wie viele andere Wunsch-Tagträume haben, indem sie vom Wirklichen nicht wegsahen, sondern konträr in seinen Fortgang, in seinen Horizont hineinsahen, Menschen am Mut und an der Hoffnung erhalten. Wie viele haben das Nicht-Entsagenwollen bekräftigt, im Gang des Vorwegnehmens, des Überschreitens
und seiner Bilder. Was von diesem Überschreiten in den Tagträumen sich zuträgt, bezeichnet demgemäß auch psychologisch kein Verdrängtes, kein aus bereits vorhanden gewesenem Bewußtsein lediglich Abgesunkenes, auch keinen atavistischen Zustand, der aus Menschen der Urzeit lediglich übriggeblieben ist oder durchbricht. Der Überschreitende bezieht keinen Bodenschacht unterhalb des vorhandenen Bewußtseins, mit einzigem Ausgang entweder in die bekannte Tagwelt von heute, wie bei Freud, oder in ein romantisiertes Diluvium, /(86) wie bei C. G. Jung-Klages. Was dem Selbsterweiterungstrieb nach vorwärts vorschwebt, ist vielmehr, wie zu zeigen sein wird, ein Noch-Nicht-Bewußtes, ein in der Vergangenheit nie bewußt und nie vorhanden Gewesenes, mithin selber eine Dämmerung nach vorwärts, ins Neue. Das ist die Dämmerung, die bereits die einfachsten Tagträume umgeben kann; von da reicht sie in die weiteren Gebiete der verneinten Entbehrung, also der Hoffnung.
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GRUNDSÄTZLICHE UNTERSCHEIDUNG DER TAGTRÄUME VON DEN NACHTTRÄUMEN VERSTECKTE UND ALTE WUNSCHERFÜLLUNG IM NACHTTRAUM, AUSFABELNDE UND ANTIZIPIERENDE IN DEN TAGPHANTASIEN Neigung zum Traum
Es besser haben zu wollen, das schläft nicht ein. Vom Wunsch wird man nie oder nur täuschend frei. Es wäre bequemer, diese Sehnsucht zu vergessen als sie zu erfüllen, doch zu was würde das heute führen? Die Wünsche hörten doch nicht auf, oder sie verkleideten sich in neue, oder gar: wir Wunschlosen wären die Leichen, über die die Bösen zu ihrem Siege schreiten. Es ist nicht die Zeit, um wunschlos zu sein, die Entbehrenden denken auch gar nicht daran. Sie träumen davon, daß ihre Wünsche einmal erfüllt werden. Sie träumen davon, wie die Redensart heißt, bei Tag und bei Nacht, also nicht nur bei Nacht. Das wäre auch, da Entbehren und Wünschen tagsüber am wenigsten aussetzen, zu sonderbar. Es gibt Tagträume genug, man hat sie nur nicht ausreichend beobachtet. Auch offenen Auges kann es bunt genug oder träumerisch im Innern hergehen. Wenn der Hang, das uns Gewordene zu verbessern, selbst im Schlaf nicht schläft - wie sollte er im Wachen? Wenige Wünsche sind nicht träumerisch beschwert, gerade dann, wenn sie etwas zu sich kommen. Und nun: der tagsüber Träumerische ist ersichtlich ein anderer als der Träumer in der Nacht. Der Träumerische zieht oft Irrlicht nach, /(87) kommt vom Wege ab. Aber er schläft nicht und sinkt mit dem Nebel nicht nach unten. Träume als Wunscherfüllung Wie das allerdings der nächtlich Träumende tut und tun muß. Dieser mag zuerst vortreten, denn immerhin, im Schlaf fängt das bunte Spiel an. Das Wort Traum kommt vom Nächtlichen her, der Träumer setzt den Schläfer voraus. Die äußeren Sinne werden blind, die Muskeln entspannen sich, das Großhirn ruht. So wichtig ist
hier die Verdunklung, daß der Schlafende oft sogar nur träumt, damit er nicht erwache. Damit er nicht durch äußere oder innere Reize über die Schwelle des Bewußtseins gehoben werde. Ist der Reiz ein äußerer (etwa Klopfen oder Licht oder verschobene Lage im Bett), so wird gewünscht, er soll nicht sein. Ist er ein innerer (Durst, Hunger, Harndrang, sexuelle Erregung), so ist er selber ein Wunsch, dessen Reiz verschwinden soll. Denn jede Reizung ist unangenehm: die Lust, sagt Freud, ist «an die Verringerung, Herabsetzung oder das Erlöschen der im Seelenapparat vorhandenen Reizmenge gebunden, die Unlust aber an eine Erhöhung derselben«. Würde der Schläfer nicht träumen, so würde er durch den Reizlärm erwachen; der Traum hütet also den Schlaf, indem er Klopfen, Lichteinfall, körperliche Unruhe in sich einarbeitet. Jedoch nicht dadurch allein; es ist seit Freud ausgemacht (und das wird von ihm bleiben), daß der Traum nicht nur bloßer Schlafschutz oder Mohnwelt ist, sondern - seinem Motor wie Inhalt nach - auch noch Wunscherfüllung. Der Traum kann die Störungen überhaupt nur dadurch in sich einarbeiten, daß er ihnen den fordernden Stachel abbricht. Oder wie Freud sagt: «Die Träume sind Beseitigung schlafstörender (psychischer) Reize auf dem Weg der halluzinierten Befriedigung.« Wie bekannt, ist die eigentlichste Entdeckung Freuds diese: daß die Träume keine Schäume sind, selbstverständlich auch keine prophetischen Orakel, sondern daß sie zwischen beiden gleichsam in der Mitte liegen: eben als halluzinierte Wunscherfüllungen, als fiktive Erfüllungen einer unbewußten Wunschphantasie. Und das Thema: Träume vom besseren Leben schließt streckenweise, mit Vorsicht und /(88) Bedeutung, auch die nächtlichen Träume als Wunschträume ein; auch sie sind ein Teil (ein freilich verschobener und nicht ganz homogener) auf dem riesigen Feld des utopischen Bewußtseins. Nämlich: sie sind der Teil, worin sehr frühe Wünsche umgehen. Worin recht altes, lange verflossenes Bilderlicht unterhalb von Ich und Großhirn erscheint. Der Nachttraum hat drei charakteristische Eigenschaften, die ihm ermöglichen, Wunschvorstellungen zu halluzinieren. Erstens ist im Schlaf das erwachsene Ich geschwächt, kann das ihm unschicklich Erscheinende nicht mehr zensieren. Zweitens bleiben aus dem Wachzustand und seinem Inhalt nur noch die sogenannten Tagesreste übrig, das beißt assoziativ stark gelockerte Vorstellungen, an die sich die Traumphantasie assimiliert. Drittens ist, im Zusammenhang mit dem abgeschwächten Ich, die Außenwelt mit ihren Realitäten und praktischen Zweckinhalten blockiert. Das Ich kehrt zum Ich der Kindheit zurück, so erscheint zunächst die volle unzensurierte Triebwelt aus der Kinderzeit oder, besser gesagt: wie in der Kinderzeit. Freud betont derart: »Jeder Traumwunsch ist infantiler Herkunft, alle Träume arbeiten mit infantilem Material, mit kindlichen Seelenregungen und Mechanismen.« Sofern überdies die Gegentendenz des sinnlich Wirklichen durch die Blockade der Außenwelt aufhört, erhalten die Wunschvorstellungen psychische Kraft und psychischen Raum genug, um sich zu Halluzinationen zu steigern. Aber das moralisch, ästhetisch und auch realitätsgemäß zensierende Ich ist im Traum nur geschwächt, nicht ganz ausgeschaltet. Es zensiert auf gleichsam betrunkene Weise weiter und zwingt die halluzinierten Wunscherfüllungen, sich vor seinem Blick zu verkleiden. Daher ist fast kein Nachttraum Wunscherfüllung in bar, sondern fast jeder ist entstellt und maskiert, zeigt sich »symbolisch« verkleidet. Und der Träumende versteht das Symbolische gar nicht, in das seine Wunscherfüllung sich verkleidet; es genügt hier, daß die Unruhe der Libido in einem symbolisch entstellenden Traumbild sich betätigt und sättigt. Nur die Kinderträume entbehren der Traumentstellung, da das Kind überhaupt kein zensierendes Ich kennt. Auch sehr wollüstige Nachtträume
physiologisch normaler, gleichsam zulässiger Art, etwa im Gefolge von Pollutionen, gehen einen direkten Weg, ohne nennenswerte /(89) Traumentstellung; manifester und realer Trauminhalt fallen auch hier leidlich zusammen. Doch alle anderen «anstößigen Wünsche«: die Inzestwünsche, die Todeswünsche gegen geliebte Personen und andere Elemente des Infantil-Bösen in uns greifen zur Einkleidung, um sich zu befriedigen, um sich vor der - wenn auch geschwächten - Zensur des Traum-Ichs zu verstecken. Die Umwandlung des latenten (tief unterbewußten) in den manifesten (symbolisierten) Trauminhalt nennt Freud die Traumarbeit; den entgegengesetzten Weg, den Weg zur entsymbolisierten Wunscherfüllung zurück, geht die analytische Traumdeutung. Gegen die analytische Traumdeutung besteht beim Erwachten ein Widerstand, wie er analog, in verstärkter Weise, beim Neurotiker gegen die Symptomdeutung seiner Neurose besteht; es ist der Widerstand des wiedererstarkten Tages-Ichs gegen die Aufdeckung seiner anderen Seite. Diese andere Seite pflegt beim sittenbewußten, gar korrekten Mann recht beklemmend zu sein; er ahnte darin seit alters manches, dessen er sich erwacht genierte. Dergestalt kann sich das Tages-Ich sogar für das so sehr geschwächte nächtliche verantwortlich fühlen, sobald nur ein sinnlicher Nachklang aus dem Symbol-trubel übrig ist. Jean Paul bemerkt hierzu: »Fürchterlich tief leuchtet der Traum in den von uns gebauten Epikur- und Augiasstall hinein; und wir sehen in der Nacht alle die wilden Grabtiere und Abendwölfe lebendig umherstreifen, die am Tage die Vernunft in Ketten hielt.« Ja, es wurde sogar, von intakter bürgerlicher Rechtschaffenheit und ihrem Tages-Ich her, die kuriose Frage gestellt, ob dem Menschen das Gute und Böse, das er im Traum denkt und tut, moralisch anzurechnen sei. Ein Moralist und Psychologe aus der letzten Aufklärungszeit bejahte das und schloß, recht komisch, doch für den Widerstand lehrreich: «Man kann daher behaupten, daß es eine sittliche Pflicht des Menschen sei, auch in den Träumen die Reinheit der Phantasie zu bewahren, soweit dies durch Freiheit möglich ist, und daß ihm auch das Gute und Böse zugerechnet werden könne, was er im Traume sagt oder tut, sofern nämlich sein Traum durch seine Begierden erzeugt oder modifiziert ist und diese Begierden von der Freiheit abhängig sind« (Maaß, Versuch über die Leidenschaften I, 1805, S. 175). Wenn also schon, für /(90) ein korrektes Ich, die relativ harmlosen Traumausschweifungen der Kreatur unangenehm sind - wieviel mehr die infantil wilden, unter der symbolischen Verdeckung. Daher also der Widerstand gegen die psychoanalytische Traumdeutung, daher die Unlust, die Traumbilder zu Kriminalgeschichten seiner selbst machen zu lassen. (Eine Unlust, welche der alten, der sogenannten prophetischen Traumdeutung bezeichnenderweise nicht zustieß: Pharao freute sich an Joseph, denn Joseph durchschaute ihn nicht, die prophetische Traumdeutung ließ die Interna des Subjekts unberührt.) Aus der moralisierenden Unlust stammt vor allem eben der nächtliche Ichtrieb zur Maskerade, zur Verdeckung und Verkleidung des Trauminhalts; Hauptteil für den Freud der Libido ist freilich nur sexuelle Symbolbildung. Danach gibt es Hunderte von Symbolen für das männliche und weibliche Genitale (Dolch und Schatulle sind die Urmodelle), für den Geschlechtsverkehr (Urmodell ist das Treppensteigen). Die Schatulle kann zum Coupé werden, der Dolch zum Mond, der unwirklich nahe am Fenster steht, zur Deckenlampe im Coupé, zum Licht dieser Lampe, mit einem milden Gelb wie zerschlagener Eidotter. Der gesamte Reichtum sexueller Anspielungen und Vergleiche, wie ihn Rabelais' oder Balzacs »Contes drolatiques« zeigen, wird vom Traum erreicht, wo nicht übertroffen; und das, fürs Bewußtsein, in allegorischer Unschuld. Balzac spricht von dem Schreiner, der die Tur seines Vorderhauses fortan
geschlossen zu halten dachte, von dem Pagen, der seine Standarte schon auf königlichem Feld aufgepflanzt hatte, und so fort; alle diese Vergleiche sind auch traumhafte. Hinzu treten Bilder, die selbst dem großen pornographischen Schrifttum fehlen, nämlich abhanden gekommene; so die Symbole Holz, Tisch, Wasser fürs Weib. Sie scheinen in stammesgeschichtliche Tiefe zu gehen, in eine, wie bemerkt, auch Freud und seiner engeren Schule nicht fremde, um von C. G. Jung zu schweigen. Tisch steht eindeutig für Stube oder Haus, das Holzsymbol führt zum Stammbaum, einem sehr alten Mutterbild; auch Lebensholz, Baum des Lebens klingen daran an. Das Wassersymbol wird von Ferenczi, einem der ältesten Mitarbeiter Freuds, aufs mütterliche Fruchtwasser zurückgebracht, dann in völlig phylogenetischer >Ausschachtung« auf die geologischen /(91) Urmeere, in denen das Leben entstand. Mythengeschichtlich geht hierzu noch eine ganz anders erhaltene Sage auf, die vom Storch, der aus einem Teich die Kinder bringt; aber auch das Wasser der Tiefe erscheint, worüber der Geist Gottes brütet, selber gleich einer Henne. Der Brunnen ist ein altes Mutterbild, der Schilfteich sogar ein noch älteres, hetärisch-archaisches; Bachofen hat es ausgegraben. Wie dem auch sei, kaum ein Traum wird von Erwachsenen unverwickelt, uneingewickelt geträumt. Freud bemerkt hierzu mit schlagendem Paradox: der Träumer weiß nicht, was er weiß. Für Freud ist der manifeste Trauminhalt schlechthin nur verkleidet oder Maskenball; die Deutung wird der Aschermittwoch. Die Ichzensur ließ die Wahrheit, welche Libido und ihre Wunscherfüllung ist, nur in Narrenlarve oder scheinheilig durch die Nacht passieren; immerhin intendiert die Freudsche Traumdeutung wieder den nackten Text. Geht über die Symbole, ohne sich in sie zu verlieren, zur mehr oder minder eingesehenen Wunscherfüllung über, die so bunt verklausuliert sich äußert. Darin ist eine Erkenntnis, auch wenn sie durch den Eng- und Mißbegriff bloßer Libido nur verzerrt auftritt. Ein Nachgeholtes wirkt jedenfalls im nächtlichen Traum, ein Gutmachen und bilderreich Gesättigtes; gleich noch, ob diese Sättigung nur mittels dieser Bilder oder in ihnen geschieht. Angsttraum und Wunscherfüllung Aber werden dem, der nächtlich träumt, wirkllich immer Wünsche erfüllt? Es läuft doch genug gleichgültiges Zeug mit unter, das verfliegt und keinerlei Lücke auszufüllen scheint. Auch unter den starken Träumen sind die glücklichen, also wunscherfüllenden, durchaus nicht in der Mehrzahl. Neben ihnen gibt es die Angstträume, von den üblichen Prüfungsträumen bis zu ganz und gar entsetzlichen; aus diesen erwacht der Schläfer mit einem Schrei. Er war auf der Flucht vor Fratzen, die nur die Nacht kennt, aber sein Auto verwandelt sich zum Schneckenhaus, er springt ab und rennt um sein Leben, aber die Füße kleben im Grund, bald wurzeln sie fest. Freud hat selbstverständlich Schwierigkeit, auch die Nachtfurie als schenkende Fee zu deuten, dennoch ordnet er die Angstträume auf dreifache Weise in die /(92) Erfüllungstheorie ein. Erstens kann ein Traum abbrechen, dann besteht der peinliche Reiz weiter, der ihn verursacht hat, die Wunscherfüllung ist mißlungen. Zweitens kann ein Traum gerade deshalb zum Angsttraum werden, weil die Wunscherfüllung in ihm zustande kam; diese Absurdität erscheint vor allem bei unentstellten, unzensurierten Träumen. In dieser Art Angstträume wird ein dem Traum-Ich nicht genehmer, ein besonders verworfener Wunsch auf besonders unverhüllte Art befriedigt; die Angst ist dann keine der Kreatur, sondern eine des Traum-Ichs, und die Angstentwicklung vertritt die Stelle der Zensur. Auch Neurosen
dieser Art, zum Beispiel die dauernde Angst, seine Eltern zu verlieren, können mit dem Wunsch danach verbunden sein. Die Phobie ist dann lediglich das sogenannte moralische dicke Ende oder der sich zur Schau stellende Katzenjammer. Drittens aber kommt Freud der Schwierigkeit geradezu ungewollt dialektisch bei, dadurch nämlich, daß er Angst und Wunsch nicht nur als harte Gegensätze faßt. Letzter Ursprung der Angst soll hiernach der Geburtsakt sein; er brachte »jene Gruppierung von Unlustempfindungen, Abfuhrerregungen und Körpersensationen, die das Vorbild für die Wirkung einer Lebensgefahr geworden sind und seitdem als Angstzustand von uns wiederholt werden«. Schon der Name Angst (angustia = Enge) betone die Beengung im Atmen, die damals als Folge der unterbrochenen inneren Atmung eingetreten ist. Am allerwichtigsten aber sei, daß jener erste Angstzustand aus der Trennung von der Mutter hervorgegangen ist, also Verlassenheit signalisiert, Schutzlosigkeit, Preisgegebenheit. Dem ersten Angstzustand schließt sich bei Freud die sogenannte Kastrationsangst an, und diese hat ihre das ganze Leben durchziehenden moralischen Weiterungen: «Vom höheren Wesen, welches zum Ichideal wurde, drohte einst die Kastration, und die Kastrationsangst ist wahrscheinlich der Kern, um den sich die spätere Gewissensangst ablagert, sie ist es, die sich als Gewissensangst fortsetzt.« Einleuchtender freilich ist die Erklärung der Angst aus der allerersten Verlassenheit, die sämtliche späteren psychisch präformiert, aus der Losreißung von der Mutter durch die Geburt; von daher auch die wirkliche Kinderangst, der pavor nocturnus ohne sogenannten Kastrationskomplex, die Angst /(93) vor fremden Gesichtern, Dunkelheit und dergleichen. Die Sehnsucht und Liebe des Kindes zur Mutter wird von fremden Gesichtern enttäuscht, seine «Libido« ist unverwendbar geworden, sie findet ihr Objekt nicht. So schlägt sie um und wird auch in der Erwachsenenzeit als Angst abgeführt; die Konsequenz ist danach: alle verdrängten Wunschaffekte wandeln sich in diesem Unbewußten zu Phobien. Ein ähnlicher Umschlag unbesetzter, objektlos gewordener Libidoaffekte findet nach Freuds Vermutung bei der Todesangst statt (entgegen dem Todestrieb), besonders bei der neurotischen, melancholischen: «Die Todesangst der Melancholie läßt nur die eine Erklärung zu, daß das Ich sich aufgibt, weil es sich vom Über-Ich gehaßt und verfolgt anstatt geliebt fühlt... Das Über-Ich vertritt dieselbe schützende und rettende Funktion wie früher der Vater, später die Vorsehung oder das Schicksal.« Und auch im gesunden Zustand wird die Angst vor einer übergroßen realen Gefahr um die Todesangst der Verlassenheit vermehrt; das Ich gibt sich auf, weil es die Gefahr aus eigener Kraft nicht überwinden zu können glaubt. «Es ist übrigens«, fügt Freud erinnernd hinzu, »immer noch dieselbe Situation, die dem ersten großen Angstzustand der Geburt und der infantilen Sehnsuchtsangst zugrunde lag, die der Trennung von der schützenden Mutter« (Das Ich und das Es, 1923, S.76). Und es ist der gleiche Umschlag der Libido in ihr dialektisches Gegenteil, der schon bei der Kinderangst zu bemerken war, wenn der Libidoaffekt verdrängt werden mußte, weil sein Objekt, die geliebte Mutter, fehlte. Nur daß bei der Todesangst das Libidoobjekt das eigene Ich, genauer: das vom Über-Ich geliebte Ich geworden ist; eben diese (narzistische) Besetzung hat nun aufgehört. »Der Mechanismus der Todesangst könnte nur sein, daß das Ich seine narzistische Libidobesetzung in reichlichem Ausmaß entläßt, also sich selbst aufgibt, wie sonst im Angstfalle ein anderes Objekt«; dadurch aber wird, im Umschlag, nur ungeheures Grauen frei. Libido freilich wieder, nichts als Libido die ganze Zeit (und damit das Freudsche das nicht bleibt, es läßt sich schon sagen: nicht blieb); und mit der Libido lauter Psychologismus wieder, ohne soziale Umwelt. Reicht denn sexuelle Libido zu dieser Angsterzeugung aus, ja ist sie überhaupt zu ihr notwendig? Kommt denn die
/(94) negative Wunscherfüllung oder Angst ausschließlich von dem Subjekt her, ausschließlich vom »objektlos gewordenen Libidoaffekt«? Und gibt es nicht auch Gegenstände, Zustände, die objekthaft bedrohend genug sind, von Libido unbesetzt, dafür aber mit anderem besetzt genug? Der spätere Freud drückte das selber dahin aus, daß nicht die Verdrängung die Angst mache, sondern die Angst die Verdrängung; sie ist dann also vor der gestauten Libido und bildet die Stauung. Der letzte Freud statuiert gar, weit über das biologische Innen- und Anfangserlebnis des Geburtsakts hinaus, »daß eine gefürchtete Triebsituation im Grunde auf eine äußere Gefahrensituation zurückgeht« (Neue Folge der Vorlesungen, 1933, S.123). Das Gefühl der Preisgegebenheit hätte ja gar keinen Inhalt, wären die fremden Gesichter, die Dunkelheit und dergleichen lediglich - Nicht-Mutter und sonst neutral. Statt dessen gibt es auch hier Hunger, Nahrungssorge, ökonomische Verzweiflung, Lebensangst, positiv und objektiv genug. Die bürgerliche Gesellschaft war bis vor kurzem tatsächlich und ist heute noch ihrer Anlage nach auf freie Konkurrenz gegründet, folglich auf ein antagonistisches Verhältnis, auch in der gleichen Klasse und Schicht. Die derart gesetzte, ja geforderte feindliche Spannung zwischen Individuen produziert unaufhörliche Angst; und diese braucht nicht erst Libido und Geburtsakt, um sich daran anzusetzen. Sie ist mit dieser Art Außenwelt genügend gesetzt, zuletzt noch mit zwei Weltkriegen in ihr. Und mit einer Angsterzeugung durch den Faschismus dazu, die kaum erst infantiles Trauma brauchte, um entbunden zu werden. Also mag zwar mancher ausgeruhte Nachttraum nach rückwärts orientiert sein, vielleicht auch mancher pavor nocturnus behüteter Kinder. Mag aus verdrängter Libido, aus objekthaft unbesetzten Triebeswünschen bestehen und so aus Angst. Aber selbst im Traum liefert, was Angst angeht, der Tag. ja die objektive Sorge des Kommenden Anlaß und Ursprung genug. Einen Ursprung, der sich auf nackte Selbsterhaltung und ihre zerfleischten, nicht bloß unbesetzten Wünsche bezieht. Besonders aber läuft wache Angst, zuhöchst Todesangst nicht erst nach rückwärts, um dort, im verschwindenden Libidoobjekt des eigenen Ichs, als der transponierten Mutter, ihre Erklärung zu finden. Gerade sie erklärt sich nicht, in der Hauptsache nicht, /(95) narzistisch-regressiv, sondern aus dem Beil, das das Leben zukünftig endet, aus dem Schmerz und Grauen objektiv erwarteter Nacht. Entließe nur das Ich sich selbst in der Todesangst und entließe es nur seine narzistische Libidobesetzung, dann würden weder Tiere ohne Ich noch sehr sachlich hingegebene, in ihr Ich unverliebte Menschen Todesangst kennen. Sind derart die Freudschen Libido-Subjektivismen der Angst unhaltbar, so bleibt doch die von ihm statuierte Zuordnung der Phobien zu verdrängten Wunschaffekten wichtig und wahr; sie ist ja auch nicht an Narzißmen, sondern am objektiven Inhalt der Wunschaffekte orientiert. Die Angst und ihre Träume mögen im Geburtsvorgang ihren ersten Erreger haben, so wie am Tod ihren letzten biologischen Inhalt. Wo Angst aber als nicht nur biologische, sondern in einer nur bei Menschen vorfindlichenWeise, vorzüglich gerade als Angsttraum, auftritt: dort hat sie wesentlich gesellschaftliche Blockierungen des Selbsterhaltungstriebs zur Grundlage. In der Tat ist es einzig der vernichtende, ja der in rein Gegenteil gewandelte Inhalt des Wunsches, der Angst, zuletzt Verzweiflung macht. Und wie hält das der wache Träumer, wenn er recht gesprenkelt wünscht? Wenn er Salz und Pfeffer zum Wünschen braucht, auch einen Schuß Chok, nicht bloß Honig? Freud verweist selber auf ein Ineinander entgegengesetzter Triebgefühle, nicht bloß auf ihren Übergang. Er verweist auf gleichzeitigen »Gegensinn der Urworte«, dergestalt, daß »Angst und Wunsch im Unbewußten zusammenfallen«. Sie fallen aber zweifellos auch im Bewußtsein weithin zusammen,
so beim Hypochonder, auch beim allgemeinen Schwarzseher, die beide darauf hoffen, ihre Nicht-Hoffnung erfüllt zu sehen. Und war nicht die Empfindsamkeit aus dem gleichen achtzehnten Jahrhundert, worin der Hypochonder blühte, auf dieses Mischgefühl aufgetragen, mitTrauerweiden und Tränenkrügen, mit schmerzlicher Lust am Vergehen? Erst recht entdeckte der Schauerroman, welcher zur gleichen Zeit entstand, das rätselhaft Heimliche im Unheimlichen; er lebte von einem Wunschzuhause unter Schatten, von Heimat auf Kreuzwegen, im Nachtgrauen. Dergleichen bereits zeigt Wunscherfüllungsphantasien der Angst, zeigt einen Gesichtertausch zwischen Wunsch und jener Qualität von Angst, die durch die auf sie gerichtete Hoffnung, ja die als vertrackter, sogar positiver /(96)Hoffnungsinhalt selber überschauernd geworden ist. Es ist diese unglatte, nicht ganz geheure Wunscherfüllung, welche auch in höheren Regionen bloßes Rosenrot verhindert, mindestens erschwert. Ein Stück Schwärze kommt hinzu, vertieft die Farben, macht in allzu übersichtliches, also fades Glück Dissonanz, markiert eine Wunschhöhe als ebenso abgründige. Viele zu Ende getriebene Gefühlsaussagen verstanden sich auf dieses Ineinander der Betroffenheit, bis hin zum sogenannten süßen Grauen in Wagners Ring des Nibelungen, in der Exhibition dieses neurasthenisch-kolossalen Kunstwerks. Und so gilt selbst für den Nachtmahr wie erst für die Wiese unter dem Brunnen und ihre Symbole: jeder Traum ist Wunscherfüllung. Eine Hauptsache: Der Tagtraum ist keine Vorstufe des nächtlichen Traums Doch eben, die Menschen träumen nicht nur nachts, durchaus nicht. Auch der Tag hat dämmernde Ränder, auch dort sättigen sich Wünsche. Anders als der nächtliche Traum zeichnet der des Tages frei wählbare und wiederholbare Gestalten in die Luft, er kann schwärmen und faseln, aber auch sinnen und planen. Er hängt auf müßige Weise (sie kann jedoch der Muse und der Minerva nahe verwandt werden) Gedanken nach, politischen, künstlerischen, wissenschaftlichen. Der Tagtraum kann Einfälle liefern, die nicht nach Deutung, sondern nach Verarbeitung verlangen, er baut Luftschlösser auch als Planbilder und nicht immer nur fiktive. Sogar noch in der Karikatur hat der Träumerische ein anderes Gesicht als der Träumende: er ist dann Hans-guck-in-die-Luft, also keineswegs der Nachtschläfer mit geschlossenen Augen. Einsame Spaziergänge oder schwärmerisches Jugendgespräch mit einem Freund oder die sogenannte blaue Stunde zwischen Tag und Dunkel sind für die Wachträumerei besonders geeignet. Der Bericht über kleine Tagträume, mit dem dieses Buch begann, gab ja von leichteren, auch bloß erst inwendigen Bildern dieser Art einen kurzen Überblick; nun gilt es, die Struktur der Sache, wie ihre Weiterungen, zu erforschen, damit gerade ihre, wie man sehen wird, gewaltigen Weiterungen: die der Hoffnung überhaupt im subjektiven Faktor, verstanden werden. /(97) Wurde doch, erstaunlicherweise, die Tagphantasie bisher kaum als originärer Zustand psychologisch ausgezeichnet, auch nicht als eigene Art Wunscherfüllung, mit viel bloßem wishful thinking, doch nicht ausgeschlossener Schärfe, ja Verantwortlichkeit gerade des thinking. Psychoanalyse aber wertet die Tagträume den Nachtträumen völlig gleich, sieht in ihnen lediglich anfangende Nachtträume. Freud bemerkt hierzu: »Wir wissen, solche Tagträume sind Kern und Vorbilder der nächtlichen Träume. Der Nachttraum ist im Grund nichts anderes als ein durch die nächtliche Freiheit der Triebregungen verwendbar gewordener, durch die nächtliche Form der seelischen Tätigkeit entstellter Tagtraum« (Vorlesungen, 1935, S. 417). Und vorher, an gleicher Stelle: »Die bekanntesten Produktionen der Phantasie sind
die so genannten Tagträume, vorgestellte Befriedigungen ehrgeiziger, großsüchtiger, erotischer Wünsche, die um so üppiger gedeihen, je mehr die Wirklichkeit zur Bescheidung oder zur Geduldung mahnt. Das Wesen des Phantasieglücks, die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Lustgewinnung von der Zustimmung der Realität, zeigt sich in ihnen unverkennbar.« Psychoanalyse freilich, die alle Träume nur als Wege zu Verdrängtem achtet, Realität nur als die der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer vorhandenen Welt kennt, mag die Tagträume konsequent als bloße Vorstufe zu nächtlichen bezeichnen. Der mit Tagträumen versehene Dichter ist dem Bourgeois ohnehin nur der Hase, der mit offenen Augen schläft, und das in einem bürgerlichen Alltag, der sich als Maß alles Wirklichen vorkommt und anwendet. Wird aber dieses Maß sogar für die Bewußtseinswelt bestritten, wird sogar der nächtliche Wunschtraum nur als verschobener und nicht ganz homogener Teil auf dem riesigen Feld einer noch offenen Welt und ihres Bewußtseins geachtet, dann ist der Tagtraum keine Vorstufe zum Nachttraum und durch diesen nicht erledigt. Nicht einmal in Ansehung seines klinischen Inhalts, geschweige seines künstlerischen, seines vorscheinenden, fronthaft antizipierenden. Denn Nachtträume speisen sich allermeist aus zurückliegendem Triebleben, aus vergangenem, wo nicht archaischem Bildermaterial, und es geschieht nichts Neues unter ihrem bloßen Mond. Also wäre es absurd, Tagträume: als jene Vorgriffe der Einbildungskraft, die man seit /(98) alters zwar gleichfalls Träume, doch ebenso Vorauseilungen, Antizipationen nennt, unter den Nachttraum zu subsumieren oder ihm gar nachzusetzen. Das Luftschloß ist keine Vorstufe zum nächtlichen Labyrinth, eher liegen noch die nächtliche Labyrinthe als Keller unter dem täglichen Luftschloß. Und die angebliche Gleichheit des Phantasieglücks hier wie dort, als »Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Lustgewinnung von der Zustimmung der Realität«? Schon mehr als ein Tagtraum hat, bei genügender Tatkraft und Erfahrung, die Realität zu dieser Zustimmung umgearbeitet; wogegen Morpheus nur die Arme hat, worin man ruht. Also verlangt der Tagtraum spezifische Auswertung, denn er geht in ein ganz anderes Gebiet und öffnet es. Er reicht vom Wachtraum bequemer, läppischer, roher, fluchthafter, abwegiger und lähmender Art bis zum verantwortlichen, scharf-tätig in die Sache eingesetzten und zum gestalteten der Kunst. Vor allem zeigt sich: die »Traumerei« kann zum Unterschied vom nächtlich üblichen »Traum« gegebenenfalls Mark enthalten und statt des Müßiggangs, ja der Selbstentnervung, die es gewiß hier gibt, einen unermüdlichen Antrieb, damit das Vorgemalte auch erreicht werde. Erster und zweiter Charakter des Tagtraums: freie Fahrt, erhaltenes Ego Erstens hat es der wache Traum an sich, nicht drückend zu sein. Er steht in unserer Macht, das Ich startet eine Fahrt ins Blaue, stellt sie ein, wann es will. So entspannt der Träumer hier auch sein mag, er wird von seinen Bildern nicht verschleppt und überwältigt, sie sind dazu nicht selbständig genug. Die wirklichen Dinge erscheinen zwar gedämpft, sie werden oft entstellt, doch sie verschwinden vor den erwünschten, selbst noch so subjektiven Bildern nie ganz. Und die Tagtraum-Bilder sind normalerweise nicht halluziniert; so kommen sie von der weitesten Ausschweifung auf einen Wink wieder zurück. Kein Bann ist in diesem Zustand, mindestens keiner, den der Tagträumer nicht sich freiwillig aufgelegt hat und den er widerrufen könnte. Auch wird das wache Traumhaus mit lauter selbstgewählten Verstellungen eingerichtet, während der Einschlafende nie weiß, was /(99) hinter der Schwelle zum
Unterbewußtsein erwartet. Zweitens ist das Ego im Tagtraum lange nicht so geschwächt wie im Nachttraum, trotz der Entspannung, die auch hier statthat. Selbst in der passivsten Form, wo das Ich seinen Träumereien lediglich nachhängt oder nachsieht, sieht es ihnen recht intakt nach, bleibt im Zusammenhang seines Lebens und seiner Wachwelt. Das Nachttraum-Ich dagegen ist spaltbar, oft gar wie Brei; es spürt keinen Schmerz, es stirbt nicht, wenn es den Tod erleidet. Ja die Verschiedenheit des Ich-Seins im Nacht- und im Tagtraum ist so groß, daß gerade die Entspannung, an der auch das Tagtraum-Ich teilnimmt, ihm subjektiv zum Gefühl einer, wie immer fragwürdigen, Erhöhung ausschlagen kann. Denn das Ich wird sich dann sich selber zu einer Wunschvorstellung, zu einer von Zensur befreiten, es nimmt selber am Grünlicht der Lockerung teil, die für alle anderen Wunschvorstellungen aufgegangen zu sein scheint. Die Entspannung des Ichs im Nachttraum ist nur Versinken, die im Tagtraum dagegen Aufsteigen mit dem allgemeinen Schwarm-Aufstieg. Derart sind sogar die Drogen verschieden, die künstlich die beiden Genera Traum hervorrufen: das heißt, selbst pharmakologisch, innerhalb der künstlich erregenden Phantastica, differiert noch die Phantasie des schlafenden Großhirns, mit seiner Ichverdunklung, von der des Tags. Und zwar so: das Opium erscheint dem Nachttraum zugeordnet. das Haschisch dem in Freiheit schweifenden, schwärmenden Tagtraum. Auch im Haschischrausch wird das Ego wenig alteriert, weder das individuelle Naturell noch sein Verstand werden hier eingezogen. Die Außenwelt ist zwar ziemlich abgeriegelt, doch keineswegs wie im Schlaf, gar Opiumschlaf ganz, sondern nur insoweit, als sie zu den erscheinenden Bildern nicht paßt, als ihre Dreinrede nur dumm erscheint, mitleiderregend dumm. Wogegen umgekehrt eine Außenwelt, die in die Phantasie greift und dem Niveau des Parnasses oder auch Narrenparadieses zu entsprechen scheint, wie Gärten, Schlösser, alt-schöne Straßen, zur Belebung des Haschischtraums sogar besonders geeignet ist. Die schiitische Sekte der Haschaschin oder Assasinen, diese religiöse Mördersekte des arabischen Mittelalters, mit dem Scheich vom Berge an der Spitze, führte die Jünglinge, die zu einerBluttat ausgewählt waren, durchaus offenen Auges, trotz dem /(100) Haschischrausch, in die glänzenden Gärten des Scheichs, in einen Überfluß sinnlichenVergnügens. Und die Haschischbilder schlossen sich genau an diese Außenwelt an, als eine dem Wachtraum gemäße, übersteigerten sie freilich so über jedes irdische Maß, daß die Jünglinge mit dem Utopiegift im Leib, einen Vorgeschmack des Paradieses zu empfinden glaubten; daß sie bereit waren, ihr Leben für den Scheich einzusetzen, um das wirkliche Paradies zu gewinnen. Haschischträume modernerer Versuchspersonen werden angegeben als von bezaubernder Leichtigkeit, eine Art Elfengeisterweise fehlt ihnen nicht, der Asphalt der Straße verwandelt sich in ausgespannte blaue Seide, beliebige Passanten lassen sich zu Dante und Petrarca umbilden, anachronistisch in Gespräch vertieft, kurz, die Welt wird dem begabten Haschischträumer ein Wunschkonzert. Auch noch andere Art von Leichtigkeit fehlt dem Haschischrausch nicht: »Verworrene Pläne, deren Klärung bisher unmöglich schien, glaubt das Individuum entworren vor sich und der Verwirklichung entgegengehen zu sehen« (Lewin, Phantastica, 1927,S. 159ff.). Auch Größenwahn stellt sich vorübergehend ein, vorweggenommene Leistung, fast wie in Paranoia. Ganz anders nun der Opiumrausch, der gänzliche Schlaf von Ego und Außenwelt; hier ist nichts als Nachttraum, bis auf den Boden. Statt imaginierter Erhöhung des Ichs, utopistisch dirigierter Erleichterung der Umwelt ist im Opiumrausch alles versunken. So öffnet sich einzig ein Raum aus verhängtem, besonders unentwirrtem Unterbewußtsein: Weib, Wollust, Höhle, Fackel, Mitternacht drängen durcheinander, meist in schwerer, gepolsterter Luft. Primär wirkt
Vergessenheit im Opium, nicht Licht; die Nacht ist es, die dem Morpheus, auf antiken Gemmen, den Mohn des Opiums austeilt. Mohnsamen lag in den Händen chthonischer Priesterinnen, zur Betäubung des Schmerzes, in den Mysterien der Ceres wurde Lethe gereicht, als dieses Opiumwasser der Vergessenheit, Isis-Ceres selber wird von der Spätantike dargestellt mit Mohnköpfen in der Hand. Wenn Baudelaire die Rauschgegenden des Opium und Haschisch gleichmäßig «paradis artificiels« nennt, so ist und bleibt unter diesen verruchten Entzückungen die durch Haschisch doch die einzige dem Wachtraum pathologisch zugeordnete. So viel zur Illustrierung eines Unterschieds selbst noch /(101)von den Entnervungen her, von denen des Morpheus hier, des Phantasus dort. Also findet sich das Ich im wachen Traum recht lebhaft, auch strebend vor. Es ist besonders eng und grundfalsch, wenn Freud über die Tagträume bemerkt, sie seien alle solche von Kindern, sie seien nur mit einem unerwachsenen Ich versehen. Wohl wirken in ihnen Erinnerungen an ein mißhandeltes Kinder-Ich gegebenenfalls mit, auch infantile Minderwertigkeitskomplexe, aber sie machen nicht den Kern aus. Der Träger der Tagträume ist erfüllt von dem bewußten, bewußt bleibenden, wenn auch verschiedengradigen Willen zum besseren Leben, und Held der Tagträume ist immer die eigene erwachsene Person. Als Cäsar in Gades vor der Bildsäule Alexanders stand und, gänzlich voll Tagtraum, ausrief: «Vierzig Jahre, und noch nichts für die Unsterblichkeit getan!«, war das Ego, das so reagierte, nicht das des kindlichen, sondern des gewordenen, ja künftigen Cäsar. So wenig regredierte damals das Ich, daß sich sagen läßt: in diesem Unsterblichkeitstraum wurde der uns bekannte Cäsar überhaupt erst geboren. Das Ego ist hier allemal in erwachsener Kraft, als erwachsene Einheitserfahrung bewußter seelischer Vorgänge erhalten; mehr noch: es ist das Leitbild dessen da, was ein Mensch utopisch sein und werden möchte. Gerade in diesem Punkt ist es vom Nachttraum-Ich, erst recht vom völlig alterierten, abgesetzten des Opiumtraums verschieden. Bleibt doch, wie erinnerlich, das Nachttraum-Ich bei Freud nur noch so weit vorhanden, daß es die halluzinierten Wunscherfüllungen zwingt, sich vor seinem Blick zu verkleiden; es übt derart moralische Zensur aus, wenn auch lückenhafte. Das Ich des Wachtraums dagegen ist weder abgesetzt, noch übt es Zensur gegen seine oft unkonventionellen Wunschinhalte. Konträr: Die Zensur ist hier nicht bloß geschwächt und lückenhaft wie im Nachttraum, sondern sie hört, trotz völliger Ungeschwächtheit des Tagtraum-Ichs und eben wegen ihrer, völlig auf, hört eben wegen der Wunschvorstellung auf, die das Tagtraum-Ich selber ergreift und es gerade stärkt, mindestens aufdonnert. Tagträume also haben überhaupt keine Zensur durch ein moralisches Ego, wie der Nachttraum; vielmehr: ihr utopistisch übersteigertes Ego baut sich und das Seine als Luftschloß in ein oft verblüffend unbeschwertes Blau. Das /(102) zeigt sich bei privat-rohen Träumereien gerade besonders deutlich und jedenfalls viel sichtbarer als bei denen des überlegten Plans, gar Zukunft-Weges. Der kleine Mann, der seine Rachewünsche stillt oder der seiner sonst leidlich geliebten Frau den Tod insofern wünscht, als er mit einer jüngeren im Wunschtraum unverhohlen Hochzeitsreise macht, spürt keine Gewissensbisse. Er büßt keine Lust, er entwickelt auch, bei der imaginierten Erfüllung solch verworfener Wünsche, keine Angst, als Ersatz der Zensur. Erst recht läßt ein ehrgeiziger Träumer seinen Wünschen freien Lauf, er fliegt mit ausgebreiteten Flügeln zum Tempel des Nachruhms empor, ob er nun ein Cäsar ist oder, wie meist doch, ein Spiegelberg. Auch er spürt keine Zensur, vom Hindernis der äußeren Verhältnisse abgesehen, nicht einmal die Zensur der Komik, geschweige die einer Ikarus- oder Prometheus-Angst. Hemmungslos wohnen im noch so durchschnittlichen
Wachtraum Circe, die die Menschen in Schweine, König Midas, der die Welt in Gold verwandelt-stets mit auffallendem Dispens von Verhaltensregeln, mit desto auffallenderem, als der Bezug zur Außenwelt hierbei keineswegs, wie beim Nachttraum, abgeblendet ist. All dies Überholende ist aber nur möglich wegen des unalterierten Wachtraum-Ego und genauer wegen der bemerkten utopisierenden Stärkung, die das Tagtraum-Ich sich selbst und dem ihm Gemäßen hinzubringt. Eben auch hinzubringen muß, wo immer der Tagtraum sich nicht mit Chimären wie Circe und Midas, gar mit privaten Exzessen ausgibt. sondern zur gemeinsamen verbindlichen Steigerung kommt: eine bessere Welt zu malen. Wie erst, wenn ein solcher Tagtraum zum Ernst übergeht, der ihm zugeordnet ist, zum klug-erfahrenen Plan. Hierzu ist am wenigsten alteriertes Ego zuständig. wie im Nachtrausch, sondern eines mit gespannten Muskeln und konkretem Kopf. Mit Erweiterungswillen im Kopf, als einem obengehaltenen, der sich auf Umsicht versteht. Dritter Charakter des Tagtraumes: Weltverbesserung Das Ich des wachen Traums mag so weit werden, daß es andere mit vertritt. Damit ist der dritte Punkt erreicht, der Tag- und Nachtträume unterscheidet: menschliche Breite unterscheidet /(103) sie. Der Schläfer ist mit seinen Schätzen allein, das Ego des Schwärmers kann sich auf andere beziehen. Ist das Ich dergestalt nicht mehr introvertiert oder nicht nur auf seine nächste Umgebung bezogen, so will sein Tagtraum öffentlich verbessern. Selbst noch privat verwurzelte Träume dieser Art wenden sich aufs Inwendig nur an, indem sie es in Gemeinschaft mit anderen Egos verbessern wollen; indem sie vor allem den Stoff dazu aus einem ins Vollkommene geträumten Außen nehmen. So lehrreich bei Rousseau, im vierten Buch seiner Konfessionen: »Ich erfüllte die Natur mit Wesen nach meinem Herzen; ich schuf mir ein goldenes Zeitalter nach meinem Geschmack, indem ich mir die Erlebnisse früherer Tage, an welche sich süße Erinnerungen knüpften, ins Gedächtnis zurück rief und mit lebendigen Farben die Bilder des Glücks ausmalte, nach denen ich mich sehnen konnte. Ich stellte mir Liebe und Freundschaft, die beiden Ideale meines Herzens, in den entzückendsten Gestalten vor und schmückte sie mit allen Anziehungen des Weibs. « So treten selbst aus dem schwimmenden Nebel des Phantasma Gestalten hervor, die das Ego in ihren Kreis ziehen als in einen besseren äußeren, in einen, worin Millionen umschlungen werden. Weltverbesserungsträume insgesamt suchen Auswendigkeit ihrer Innerlichkeit, sie ziehen als extravertierter Regenbogen oder überwölbend auf. An dieser Stelle wiederholt sich zugleich die unterschiedene Zuordnung von Nacht- und Tagtraum, die oben an Opium und Haschisch erschienen war; und zwar wiederholt sie sich in Psychosen. Das Mohnhafte des Nachttraums zeigt sich entsprechend in der Schizophrenie, als einer Regression, das Haschischhafte in der Paranoia, als einem Projektenwahn. Zwar sind diese beiden so benannten Erkrankungen nicht scharf getrennt zu halten, ihre Eigenschaften fließen zuweilen ineinander. Beide sind extreme Abkehrungen von der gegenwärtigen oder zurhandenen Wirklichkeit, die Schizophrenie allerdings ist förmliche Abspaltung von ihr, mit verschüttetem Rückweg. Der Schizophrene läßt die Welt los, geht auf den autistisch-archaischen Zustand der Kindheit wieder zurück; der Paranoiker aber bezieht aus diesem Zustand immerhin viele seiner durchaus nicht weltabgewandten, sondern weltverbessernden Wahnbilder. Oft endet freilich Paranoia in Schizophrenie; trotzdem: zwischen beiden Erkrankungen /(104) besteht ein unverwechselbarer, ein
durchs Utopische bezeichenbar gewordener Unterschied der Richtung. Ist Psvchose insgesamt ein unfreiwilliges Nachgeben des Bewußtseins gegenüber einem Einbruch des Unbewußten, so zeigt das paranoisch Unbewußte, zum Unterschied vom schizophrenen, jedenfalls utopistische Ränder. Der Schizophrene unterliegt wehrlos überkommenen Mächten, ist durchaus gebannt, steht mit den Regredierungen seines Wahns in archaischer Urzeit und malt, reimt, stottert aus ihrem verschollenen Traum ; der Paranoiker dagegen reagiert auf die überkommenen Mächte mit Querulantenturn und Verfolgungswahn, er bricht sie zugleich durch abenteuerliche Erfindungen, Sozialrezepte, Himmelsstraßen und dergleichen mehr. Verwandte Unterschiede des Abwärts oder Aufwärts, der Verdunklung oder Überhellung scheinen auch dort zu wirken, wo das Abwärts oder Aufwärts des neurotischen Bewußtseins ins Rasende übergehen. Wo also das Regredieren zum Außersichsein der Ekstase aufkocht, das Projektieren zum Übersichsein der Entzückung. Jamblichos, der syrische Neuplatoniker, der sich im falschen Bewußtsein der Besessenen auskannte, bekundet in seiner Schrift über die Mysterien von dieser Art Abwärts und Aufwärts folgendes: «Ganz mit Unrecht hat man angenommen, daß auch die Entzückung durch Einwirkung der Dämonen erreicht werden kann. Letztere bringen nur Ekstasen zustande, die Entzückung (Enthusiasmus) aber ist das Werk der Götter. Daher ist sie durchaus nicht Ekstase, vielmehr, Entzückung ist eine Wendung zum Guten, während Ekstase ein Fallen nach dem Bösen hin ist« (De mysterus II, 3). Das sind wüste und mythologische Deutungen, doch das, was ihnen zugrunde liegt, wiederholt gerade auch im religiös-parapsychischen Feld die verschiedene Bedeutungsrichtung von Schizophrenie und Paranoia. Kurz, bezeichnet Schizophrenie die Erkrankung (abgeblendete Übersteigerung) der archaisch regredierenden Akte, so leistet Paranoia das gleiche an den utopisch progredierenden, besonders aber an der Tendenz des Wachtraums zur Weltverbesserung. Weshalb es so viele dieser Irren unter Projektemachern gegeben hat und immerhin einige unter den großen Utopisten. Ja fast jede Utopie, ob medizinische, soziale oder technische, hat paranoische Karikaturen; auf jeden wirklichen /(205) Bahnbrecher kommen Hunderte von phantastischen, unwirklichen, irren. Könnte man die Wahnideen abfischen, die in der Aura der Irrenanstalten schwimmen, so fände man neben der durch GG. Jung allzu berühmt gewordenen Archaik der Schizophrenie die erstaunlichsten Vorgestalten aus Paranoia. Und unter ihnen finden sich keinerlei brütende Nachtsymbole, von der Art wie ein Herz im Weiher, ein Kreuzigungsbrunnen und andere gemalte oder gedichtete Altertümer aus der Schizophrenie, sondern neue Zusammenfügungen, Weltveränderungen, Projektemachereien nach vorwärts, kurz, feurige Eulen einer verrückten, doch voll Morgenrot glimmenwollenden Minerva. Selbst in so großer Erkrankung also zeigt sich noch, was es mit dem Wachtraum, in seiner spezifischen Weltverbesserung, auf sich hat. Als Verrücktheit macht er feurige Eulen, als Märchen malt er arabische Feenpaläste in die Welt, aus Gold und Jaspis. Dem wachen Traum als weitem ist es ferner wichtig, sich nach außen hin mitzuteilen. Er ist dazu fähig, wogegen der Nachttraum, wie jedes allzu private Erlebnis, nur schwer erzählt werden kann, so erzählt, daß auch der Hörer den besonderen Gefühlston der Sache mitgeteilt erhält. Dagegen sind die Tagträume wegen ihrer Offenheit verständlich, wegen ihrer allgemein interessierenden Wunschbilder kommunizierbar. Die Wunschbilder setzen hier sogleich äußere Gestalt, in einer besser geplanten Welt oder auch in einer ästhetisch gesteigerten, in einer ohne Enttäuschung. Freud selber gibt an diesem Punkt den Tagträumen einen
eigenen Akzent, sie werden, wider die Abrede, neben der Vorstufe des Nachttraums nun doch auch zu einer der Kunst: «Sie sind das Rohmaterial der poetischen Produktion; denn aus seinen Tagträumen macht der Dichter durch gewisse Umformungen, Verkleidungen und Verzichte die Situationen, die er in seine Novellen, Romane, Theaterstücke einsetzt (Vorlesungen, 1922 ,S. 102). Freud hat an dieser Stelle die Wahrheit des Utopisch-Kreativen, des ins gute Neue gerichteten Bewußtseins, gestreift; doch der bloße, bei Freud sogleich folgende Verdünnungsbegriff «Sublimierung« machte die Psychologie des Neuen wieder unkenntlich. Der Tagtraum in seiner Gemeinsamkeit erstreckt sich aber wie in die breite, so in die tiefe Weite, in die nicht sublimierte, sondern konzentrierte, in die der utopischen /(106) Dimensionen. Und diese setzt die bessere Welt ohne weiteres auch als die schönere, im Sinne vollendeter Bilder, wie die Erde sie noch nicht trägt. Planend oder gestaltend werden in Not, Härte, Roheit, Banalität Fenster geschlagen, weithinblickende, lichtvolle. Der Tagtraum als Vorstufe der Kunst intendiert so besonders sinnfällig Weltverbesserung, hat diese als kerngesund-reellen Charakter: »Voran, gesenkten Blicks, das Leid der Erde, / Verschlungen mit der Freude Traumgestalt«: so kennzeichnet Gottfried Keller im Poetentod« die Gefährten des Dichters samt Phantasie und ihrem Witz. Kunst enthält vom Tagtraum her dieses utopisierende Wesen, nicht als leichtsinnig vergoldetes, sondern als eines, das ebenso Entbehrung in sich hat und das, wenn diese von Kunst allein gewiß nicht überwunden, so in ihr auch nicht vergessen, sondern umschlungen wird von der Freude als kommender Gestalt. Der Tagtraum geht in die Musik und hallt in ihrem unsichtbaren, doch zur Welterweiterung gehörigen Haus, nun ist er in ihr, als dynamischer wie als ausdrucksvoller. Er setzt sämtliche Figuren des Überschreitens, vom edlen Räuber bis zu Faust, sämtliche Wunschsituationen und Wunschlandschaften, von Aurora in Öl bis zu den symbolhaften Zirkeln des Paradiso. Menschen, Situationen werden kraft des zu Ende reitenden Tagtraums in großer Kunst selber bis an ihr Ende getrieben: das Konsequente, ja objektiv Mögliche wird sichtbar. Bei realistischen Dichtern werden solche objektiven Möglichkeiten in der von ihnen dargestellten Welt ganz deutlich. Das, indem die Natur nicht etwa phantastisch gemacht wird, wohl aber, indem durch Phantasie, als einer konkret bezogenen und vorauseilenden, jener Traum von einer Sache in Natur und Geschichte kenntlich gemacht wird, den die Sache von sich selber hat und der zu ihrer Tendenz wie zum Austrag ihres Totum und Wesens gehört. Wo extravertierte Phantasie gänzlich fehlt, wie bei Naturalisten und denen, die Engels »Induktionsesel« nannte, da erscheinen freilich nur matters of fact und Oberflächenzusammenhänge. So ist überall Wachtraum mit Welterweiterung, als tunlichst exaktes Phantasieexperiment der Vollkommenheit dem ausgeführten Kunstwerk vorausgesetzt; ja nicht nur dem Kunstwerk. Zuletzt kommt auch die Wissenschaft über den Oberflächenzusammenhang nur durch eine Antizipation hinaus, /(107)durch eine - wie sich von selbst versteht - spezifischer Art. Diese kann lediglich aus den sogenannten heuristischen »Annahmen« bestehen, die sich ein Bild der ganzen Sache, noch außerhalb der Details, in reinem Umriß vor Augen stellen. Doch kann auch ein vollkommener Wachtraum von harmonischem Naturzusammenhang voranstehen: Kepler intendierte solche Weltvollkommenheit, und er entdeckte die planetarischen Bewegungsgesetze. Die Wirklichkeit dieser Gesetze entsprach dem sphärenharmonischen Vollkommenheitstraum zwar gewiß nicht; immerhin: der Traum ging voraus, war der Überschlag einer harmonisch völlig geordneten Welt. Dergleichen ist der Regression des Nachttraums, so fern wie möglich denn dieser zeigt, in seiner Versenkung und Archaik, einzig prälogische
Bilder, als Kategorien einer längst verflossenen Gesellschaft, keine eines rationalen Kosmos. Vorwegnahme und Steigerungen, die sich auf Menschen beziehen, sozialutopische und solche der Schönheit, gar Verklärung sind erst recht nur im Tagtraum zu hause. Vorab erst das revolutionäre Interesse, mit der Kenntnis, wie schlecht die Welt ist, mit der Erkenntnis, wie gut sie als eine andere sein könnte, braucht den Wachtraum der Weltverbesserung, ja es hält ihn ganz und gar unheuristisch. ganz und gar sachgemäß, in seiner Theorie und Praxis fest. Vierter Charakter des Tagtraums: Fahrt ans Ende Viertens versteht es der wache, also offen Traum, nicht entsagend zu sein. Er lehnt es ab, fiktiv satt zu werden oder auch nur Wünsche zu vergeistigen. Die Tagphantasie startet wie der Nachttraum mit Wünschen, aber führt sie radikal zu Ende. will an den Erfüllungsort. Zwei typische Tagträume von Dichtern gehören hierher; denn sie setzen, aller Schwäche und Flucht ungeachtet, diesen Ort recht prototypisch. Die zwei Tagräume, übrigens von stillen Dichtern ,gehören desto eher hierher, als sie eine Ankunft intendieren, nicht nur eine weltverbessernde Schweifung. Der eine stammt aus der Kindheit Clemens Brentanos, der andere aus der Jugend Mörikes und enthält bereits alle Keime einer poetischen Ideallandschaft. Nachdem Brentano mit seiner Schwester Bettina und anderen Kindern sich auf dem /(108) Frankfurter Dachboden ein Königreich errichtet hatte mit Namen Vaduz, war es, wie Brentano sagt, eine Vertreibung aus dem Paradies, als er später erfuhr, daß ein Vaduz wirklich existiere und daß es die Hauptstadt des Fürstentums Liechtenstein sei. Da tröstete aber Goethes alte Mutter: «Laß dich nicht irre machen, glaub du mir, dein Vaduz ist dein und liegt auf keiner Landkarte, und alle Frankfurter Stadtsoldaten und selbst die Geleitsreiter mit dem Antichrist an der Spitze können es dir nicht wegnehmen... Dein Reich ist in den Wolken und nicht von dieser Erde, sind so oft es sich mit derselben berührt, wird's Tränen regnen, ich wünsche einen gesegneten Regenbogen.« Der Bericht Mörikes, den unmittelbaren Übergang von Tagphantasie in Dichtung betreffend, findet sich in seinem Roman «Maler Nolten« und lautet, als transponierte Autobiographie, folgendermaßen: »Ich hatte in der Zeit, da ich noch auf der Schule studierte, einen Freund, dessen Denkart und ästhetisches Bestreben mit dem meinigen Hand in Hand ging: wir trieben in den Freistunden unser Wesen miteinander, wir bildeten uns bald eine eigene Sphäre von Poesie . . Lebendig, ernst und wahrhaft stehen sie noch alle vor meinem Geiste, die Gestalten unserer Einbildung, und wem ich nur einen einzigen Strahl der dichterischen Sonne, die uns damals erwärmte, so recht golden, wie sie war, in die Seele spielen könnte, der würde mir wenigstens ein heiteres Wohlgefallen nicht versagen, er würde selbst dem reiferen Manne es verzeihen, wenn er noch einen müßigen Spaziergang in die duftige Landschaft dieser Poesie machte und sogar ein Stückchen alten Gesteins von der geliebten Ruine mitbrächte. Wir erfanden für unsere Dichtung einen außerhalb der bekannten Welt gelegenen Boden, eine abgeschlossene Insel, worauf ein kräftiges Heldenvolk gewohnt haben soll. Die Insel hieß Orplid, und ihre Lage dachte man sich im Stillen Ozean zwischen Neuseeland und Südamerika.« Soweit hier Brentanos auf dem Kinder-Dachboden gegründetes Vaduz, Mörikes weithin vertragenes Orplid. Die bloße Zuordnung des Tagtraums zu Nachtgespinst oder auch zur Kunst als einer Spielerei wird solchen oder ähnlichen Phantasielandungen am wenigsten gerecht. Denn sie sieht nur Sublimierungen in ihnen oder auch archaische Rückkehr, statt versuchter Artikulierung eines
utopischen Hoffnungsinhalts. Auch /(109) entspricht diesen Inhalten bei einem Freud gar nichts in der Außenwelt (die der Spätbourgeoisie in der Tat als bleierne Nüchternheit und Nichtigkeit erscheinen muß); Kunst insgesamt ist Schein, Religion insgesamt Illusion. Was dem Tagtraum, besonders in der Fahrt ans Ende, wesentlich ist: Ernst eines Vor-Scheins von möglich Wirklichem, das wird ihm hier fast bestimmter als dem immerhin symptomhaften Nachttraum versperrt. Die bürgerlich übliche schlechthinnige Illusionstheorie des Tagtraums läßt in ihm wie um ihn nur den Spielraum für Infantilismen und Archaismen schöner Spielerei: «In der Phantasietätigkeit genießt also der Mensch die Freiheit vom äußeren Zwang weiter, auf die er in Wirklichkeit längst verzichtet hat... Die Schöpfung des seelischen Reiches der Phantasie findet ihr volles Gegenstück in der Einrichtung von Schonungen, Naturschutzparks dort, wo die Anforderungen des Ackerbaus, des Verkehrs und der Industrie das ursprüngliche Gesicht der Erde rasch bis zur Unkenntlichkeit zu verändern drohen. Der Naturschutzpark erhält diesen alten Zustand, welchen man sonst überall mit Bedauern der Notwendigkeit geopfert hat. Alles darf darin wuchern und wachsen, wie es will, auch das Nutzlose, das Schädliche. Eine solche dem Realitätsprinzip entzogene Schonung ist auch das seelische Reich der Phantasie« (Freud, Vorlesungen, 1922, S.416). Wäre Kunst überall und allezeit dasselbe wie bloße formale oder unverpflichtende Betrachterei vom Fauteuil her, also wie schonender Kunstgenuß, dann wäre die Lehre vom Naturschutzpark vielleicht in Ordnung; und eine Art Narrenfreiheit, zum Zweck der Lusterzeugung, käme - vom Nachtklub bis zur Nationalgalerie - hinzu. Aber auch das Bürgertum war nicht immer nur dem kontemplativen Parkett verschworen, es hatte einmal von ästhetischer Erziehung des Menschen geträumt, mithin von Kunst, die ergreift, ja angreift, und von einem Morgentor des Schönen. Wie wenig hat erst der sozialistische Realismus mit philisterhaftem Kunstgenuß gemein, gar mit einer «dem Realitätsprinzip entzogenen Schonung«. Bei Freud erscheint die Realität allemal als unveränderliche, und sie erscheint als die mechanische, im Einklang mit dem Weltbild des vergangenen Jahrhunderts. Dadurch eben wird dann utopischer Tagtraum, besonders als Fahrt ans Ende, reflexiv gemacht oder, /(110) psychologisch gesprochen, rein introvertiert, wie der Nachttraum auch. Bei C. G. Jung mußte dies Introvertierte nur noch senkrecht hinab ausgeschachtet werden, um Orplid in Archaik zu verlegen; aus dem Naturschutzpark ins Tertiär. Dadurch wurde Phantasielandung nur als archetypische möglich, das ist, bei Jung, nur im längst versunkenen Land des Mythos. Entscheidend aber steht gegen all das fest: Vaduz und Orplid, das mit diesen Radikalismen Gemeinte hat seinen Erfüllungsort nie anders als in der Zukunft gesucht. Auch die Verlegung solcher Märchenbilder in ein Es-war-einmal läßt das Einst als Kommendes in dem Einst als Vergangenes allemal durchschimmern. Auch die Verlegung in abgeschlossene Täler oder Südseeinseln, wie das bei älteren Staatsromanen der Fall, involviert in der Entlegenheit Zukunft, in der Entfernung utopisches Fahrtziel. Auch der wirklich archaische Erinnerungsgrund, auf den sich so viele Hoffnungsbilder zurückbeziehen: der Archetyp Goldenes Zeitalter, Paradies steht ebenso, als erwarteter - im Dereinst der Zeit. Mit Hunderten von kleinen und großen Perlen hängt so das Orplidische am wenig erforschten roten Faden Traumutopie und wird dadurch immer wieder zusammengehalten. Durch die Intention auf ein Vollkommenes wird es zusammengehalten, wie immer die Inhalte dieses Vollkommenen je nach den bisherigen Klassen und Gesellschaften variabel ausgemalt worden sind. Fahrtwillen ans gut gewordene Ende durchzieht derart allemal utopisches Bewußtsein, durchtönt dies Bewußtsein mit nie vergessenem Märchenwesen, arbeitet in den Träumen vom besseren Leben, aber auch, was
endlich begriffen werden muß, suo modo in Kunstwerken. Die weltverbessernde Phantasie landet in ihnen nicht bloß dergestalt, daß alle Menschen und Dinge an die Grenzen ihrer Möglichkeit getrieben werden, all ihre Situationen ausgeschöpft und durchgestaltet. Vielmehr ist jedes große Kunstwerk, außer seinem manifesten Wesen, auch noch auf eine Latenz der kommenden Seite aufgetragen, soll heißen: auf die Inhalte einer Zukunft, die zu seiner Zeit noch nicht erschienen waren, ja letzthin auf die Inhalte eines noch unbekannten Endzustands. Nur aus diesem Grund haben die großen Werke jeder Zeit etwas zu sagen, und zwar Neues, das die vorige Zeit an ihnen noch nicht bemerkt hatte; nur aus diesem Grund hat die märchenhafte /(111) Zauberflöte, aber auch die historisch streng fixierte Göttliche Komödie ihre »ewige Jugend«. Wichtig ist das, wie Goethe sagte, »Weitstrahlsinnige « dieser großen Phantasiegebilde, wo nach sie in der gegebenen Realität mindestens noch den Ausweg halten, gegebenenfalls den Durchblick auf ein Überhaupt. Wobei die großen, also realistischen Kunstwerke durch die Notierung der Latenz, ja durch den - wie immer ausgesparten - Raum des Überhaupt nicht weniger realistisch werden, sondern mehr; denn alles Wirkliche verläuft mit Noch-Nicht in ihm. Bedeutende Tagtraumphantasiegebilde machen keine Seifenblasen, sie schlagen Fenster auf, und dahinter ist die Tagtraumwelt einer immerhin gestaltbaren Möglichkeit. Unterschiede zwischen den beiden Traumarten bestehen also auch an diesem Ende genug; Weise wie Inhalt der Wunscherfüllung gehen in ihnen ununterschlagbar auseinander. Das macht immer wieder: der Nachttraum lebt in Regression, er wird in seine Bilder wahllos hineingezogen, der Tagtraum projiziert seine Bilder in Künftiges, durchaus nicht wahllos, sondern noch bei ungestümster Einbildungskraft dirigierbar, mit objektiv Möglichem vermittelbar. Der Inhalt des Nachttraums ist versteckt und verstellt, der Inhalt der Tagphantasie ist offen, aus fabelnd, antizipierend, und sein Latentes liegt vorn. Er kommt selber aus Selbst- und Welterweiterung nach vorwärts her, ist Besserhabenwollen, oft Besserwissenwollen durchaus. Sehnsucht ist beiden Traumarten gemeinsam, denn sie ist, wie bemerkt, die einzige ehrliche Eigenschaft aller Menschen; doch das Desiderium des Tags kann zum Unterschied von dem der Nacht auch Subjekt, nicht nur Objekt seiner Wissenschaft sein. Der Tages-Wunschtraum bedarf keiner Ausgrabung und Deutung, sondern der Berichtigung und, sofern er dazu fähig ist, der Konkretion. Kurz, er hat zwar sowenig wie der Nachttraum von Haus aus ein Maß, doch er hat, zum Unterschied vom Nachtspuk, ein Ziel und macht sich zu ihm nach vorwärts heraus. Ineinander nächtlicher und täglicher Traumspiele, seine Auflösung Von einander verschieden sein, das heißt freilich nicht, ohne Bezug sein. Zwischen der Schicht des Träumers und der des Träu- /(112)merischen gibt es zuweilen einen Tausch. Es gibt Farbenspiel in der Nacht, das auch untertags bestehen kann, nach etwas Seltenem aussieht und zweifellos so dargestellt werden kann. Bemerkenswerte Sammlungen dieser Art liegen vor, so gab Friedrich Huch hundert Aufzeichnungen »Träume« heraus, so stammt eine besonders verstrickte Seltsamkeit: der Roman »Die andere Seite «(von dem Zeichner Alfred Kubin) überwiegend aus Mond und Schlaf. Umgekehrt nehmen auch Tagdichtungen durchaus Träume auf, am auffallendsten und schönsten sogar bei dem Realisten Keller. Sie werden berichtet wie andere Geschehnisse auch, sie verschmelzen aber auch mühelos mit dem märchenhaft soliden Überfluß, worin bei Keller jede
Anschauung liegt. Der grüne Heinrich verfällt, kurz vor seiner traurigen Rückkehr in die Heimat, einer wahren Orgie von Träumen, sie alle sind vorwurfsvolle Wunscherfüllungen. Dahin gehört der Blick auf die Vaterstadt, die verklärte, veränderte, ein tolles Luftbild auf dem Boden, in das man nicht hineingelangen kann. Täler und Ströme treten auf, mit unerhörten, doch wohlbekannten Namen, Rosengärten wandern in die Ferne, am Horizont eine Röte ausbreitend: - «das Alpenglühen rückt aus und geht um das Vaterland herum«. Es ist eine andere als die Morgenröte, die wache von damals, als der grüne Heinrich von der Vaterstadt auszog und sich aufs Gebirge zurückwandte: »nur noch über dem letzten Eisaltar glimmte der Morgenstern«; das Licht kommt jetzt aus dem Hades ,gibt sich als diese einzig gebliebene Hoffnung. Das Haus der Mutter erscheint, eigentlich die nach außen gekehrte Dämmerstube, unvergeßlich, nur der Nachttraum gibt dazu Rohstoff und Bild: »Auf den Gesimsen und Galerien standen altertümliche silberne Kannen und Becher, Porzellangefäße und kleine Marmorbilder aufgereiht. Fensterscheiben von Kristallglas funkelten mit geheimnisvollem Glanze vor einem dunklen Hintergrunde zwischen gemaserten Zimmer-und Schranktüren, in denen blanke Stahlschlüssel steckten. Über dieser seltsamen Fassade wölbte sich der Himmel dunkelblau, und eine halb nächtliche Sonne spiegelte sich in der dunklen Pracht des Nußbaumholzes, im Silber der Krüge und in den Fensterscheiben.« Dergleichen zeigt allerdings Wechselverkehr zwischen den Antipoden Nacht und Taglicht, sie scheinen gänzlich ineinander- /(113) getaucht, unheimlich und sonderbar ahnungsvoll. Wie wahlverwandt konnte gar die Romantik dies Mischlicht verwenden, als Traumspiel und nicht nur als Spiel. Jeder Traum war für Novalis «ein bedeutsamer Riß in dem geheimnisvollen Vorhang, der mit tausend Falten in unser Inneres hereinfällt«. Es war vor allem auch die Metamorphose der Traumbilder, welche der romantischen Antistatik und ihrem Wachtraum sich empfahl, fast gelehrt empfahl. Nachttraum als verwilderter Roman wird von der romantischen Naturphilosophie entdeckt: «Diese Gestaltungen denn sind nicht ohne Stimme und Sprache; Töne und Worte, wie aus allen verschiedenen Richtungen kommend, verständlich und unverständlich, begegnen und verdrängen sich wechselseitig, und so scheint jener inneren Natur, im Vergleich mit der äußeren, nichts abzugehen als die Stetigkeit und Ruhe, welche diese hat. Denn solche inneren Gebilde, wie aus flüchtigem Gewölk geschaffen, kommen und zerrinnen; es schützt da nicht das Hochgebirge seine Größe oder den Baum die Kraft der Wurzeln vor der schnellen Hinwegbewegung, und wo in demselben Augenblick noch Fels und Wald gewesen, da erscheint Ebene oder ein von Wänden umschlossenes Zimmer« (G. H. Schubert, Die Geschichte der Seele, 1830, S.549). So entstand gar der Schein, als unterhielten Nacht- und Tagtraum außer dem Tausch sogar ein Ineinander ihrer Bilder, auf gleichem Boden, romantisch-gegenständlich geeint. Der pure Romantiker will gar nicht mehr wissen, ob in seiner Poesie unterbewußtes Chaos oder bewußt gestaltende, umgestaltende Phantasie vorherrscht. Ihm ist der Nachttraum ohnehin von allen Zeit-Raumbegriffen der jetzigen Nüchternheit entfernt, von allen Kausalund Identitätsformen der grauen oder Zivilisationsrinde; er ist prälogisch beschaffen und also ein archaisches Element gegen die Weite, den Morgen, die Zukunft des Tags. Das ist eine Erbschaft, welche die Romantik aus der Nacht- in die Tagschicht brachte, doch freilich arbeitete auch immer wieder ein Stück neuer Verbindung zwischen beiden Schichten. Sinngemäß kam die Überschneidung der schwarzen und der blauen Stunde wieder, so oft beide stolz darauf waren, nicht Tag im Sinn von Oberflächenklarheit, bloßem Oberflächenzusammenhang zu sein. Der Sprung in bisheriger Oberfläche riß dann Höhle und Fernblau zugleich /(114) auf; zuletzt noch
im Expressionismus, besonders im Surrealismus. Allerdings nun mit dem wichtigen Unterschied von der Romantik, daß Utopisches sich nicht so sehr dem Vergangenen, als Vergangenes sich einem Utopischen zukehren mochte. So sehr es auch im expressionistischen Gedicht lunarisch hergeht: »bleiche Abendbäume, Weiden, die dem mondholden Weiher entleuchten, Mondflocken, durchs Fenster silbernd«, und dergleichen Däubler-Worte mehr: so bemüht wurden Nachtlinien in utopische eingearbeitet. Auch stammelnder Un-Sinn der Nacht in dem Versuch, auf Grund solcher Auflösungen des bisherigen Tagzusammenhangs nach einem neuen Land zu fahren, an bessere Küsten, gar an vernünftig geordnete. Ein ganzes Studienobjekt dieser Übergänge lieferte James Joyce im »Ulysses«; höchst nachromantisch, höchst unromantisch. Der Keller des Unbewußten entlädt sich bei Jovce in ein transitorisches Jetzt, liefert ineinander prähistorisches Gestammel, Schweinerei und Kirchenmusik; der Autor fällt dem Absud, der sich über die eingeebnete Bewußtseinsschwelle wälzt, achtzig Seiten lang mit keinem Komma in die Rede. Aber mitten im Affengeschwätz (aus einem Tag und tausend Unterbewußtheiten der Menschheit streng durcheinander) erscheint Übersehenes, angewandte Montage zeigt ganz rationale Querverbindungen oder analogiae entis; Lots Weib und die Old Ireland Taverne dicht am Salzwasser bei den Docks feiern quer durch Zeit und Raum hindurch ihre Begegnung, ihren Alltag jenseits von Raum und Zeit. »So daß«, sagt Stephan Dädalus, »so daß Geste, nicht Musik, nicht Duft eine allgemeine Sprache wurde, die nicht den lauschen Sinn, sondern die erste Entelechie, den strukturalen Rhythmus sichtbar macht« (Ulysses II, 1930, S.86). Urhöhlen, mit Gelalle und mit Zungenreden darin, werden derart in Tagphantasien heraufbeschworen und diese wieder abgesenkt; ein ständiges Ineinander aus Nachtfratzen und Grundrissen entsteht. Wobei im Surrealismus, also der Zeit des Einsturzes selber entsprechend, zu der der Surrealismus gehört, wie immer bei plötzlicher Vereinung des Unvereinbaren, der Witz nicht fehlt; ein schnöder Witz zuweilen, einer, der dann die bloß epatisierende Konstruktion entlarvt, oder selbst einer des kleinen Arrangements, und im Traumhaus zu den doppelten Seltsamkeiten wird es ganz /(115) gemütlich. Aber wesentlicher am Surrealismus bleibt die grundsätzliche Verkoppelung von Hekate und Minerva, bleibt das Visionsgesicht, aus lauter Fetzen und Einstürzen montiert. Das eben ist ein Unterschied zur Romantik als der Zeit der Restauration; dort war der Tagtraum grundsätzlich in Nachtlinien eingearbeitet, ohne zu phosphoreszieren. Immerhin, es ist eine lange Mischwelt zwischen Unterbewußtsein und Morgenrot, eine Kontaktwelt, in der die Regressio sich die Endfahrt oder die Endfahrt sich die Regressio zunutze macht. Das Labyrinth des Nachttraums ist auch ästhetisch keine Vorstufe zum Luftschloß, doch eben: soweit es dessen Souterrain bildet, kann Archaisches mit Wachphantasie kommunizieren. Und vor allem: am Beispiel des Gottfried Kellerschen Traumhauses, dieses styxhaft blinkenden, dieses Nachtstücks von Mutter- und Jugendhaus, erhellt auch, warum umgekehrt der Wachtraum nicht minder mit Archaischem zu kommunizieren vermag. Er vermag es, weil nicht nur psychologisch, auch objektiv noch Zukunft in der Vergangenheit lebt, weil auch manches Nachtstück nicht abgegolten oder fertig ist und deshalb Tagtraum, Vorwärts-Intention verlangt. Diese Nacht hat noch etwas zu sagen, nicht als brütend Urgewesenes, sondern als Ungewordenes, noch nirgends recht Lautgewordenes, das darin streckenweise eingekapselt ist. Doch sie kann nur etwas sagen, sofern sie von Wachphantasie belichtet wird, von einer, die aufs Werdende gerichtet ist; an sich selber ist das Archaische stumm. Lediglich als ein unabgegolten, unentwickelt, kurz, utopisch Brütendes hat es die Kraft, in dem Tagtraum aufzugehen, erlangt es
die Macht, sich vor ihm nicht verschlossen zu halten; als solches aber, wenn auch nur als solches, kann es umgehen in freier Fahrt, erhaltenbewahrtem Ego, Weltverbesserung, Fahrt ans Ende. Die Einsicht also, daß archaisches Brüten in Wahrheit ein utopisches sein kann, erklärt schließlich die Möglichkeit des Ineinander von Nacht- und Tagtraum, gibt einem streckenweise möglichen Ineinander der Traumspiele seine Erklärung wie Auflösung. Und eben mit beständigem Primat der Wachphantasie: nicht das Utopische kapituliert hier vor der Archaik, sondern die Archaik kapituliert, wegen ihrer unabgegoltenen Bestandstücke, gegebenenfalls vor dem Utopischen; jedes andere Ineinander und jede andere Erklärung seiner ist /(116) Schein. Die Ausarbeitung ist ohnehin Tagesgeschäft; der verdächtige Gott, der es den Seinen im Schlaf schenkt, braucht Apollo zur Aussage, jenen Apollo, der zwar auch Dämpfe und Orakel kennen mag, aber sie als besiegt und dienend in seinem Tempel hat. Sonst käme die Phantasie, im Sinne der Jung und Klages, gänzlich auf Prähistorie zurück, auf eine romantisiert-gefälschte dazu. Item, erst das Taglicht schließt das wunderlich-betreffende Material der Nachtträume auf, des Archaischen überhaupt, und es Ist nur deshalb dieses Material, weil und sofern es selber noch utopisch ist, versetzt utopisch. Regredieren also geschieht künstlerisch erst dann mit Gewinn, wenn auch im Archetyp noch ein Ungewordenes, ein künftig Mögliches eingekapselt ist. Anderenfalls werden die Schätze, die aus dem Nachtboden entgegenblicken, Spreu und welke Tannenzapfen, wie Rübezahls Geschenke am Tag. Aber der Tagtraum, und was er ergreift, enthält menschliche Angelegenheiten statt der Medusen im Labyrinth. Tagträume haben das bessere Teil erwählt; so ziehen sie allesamt, obzwar mit so viel wechselnder Fähigkeit und Qualität, aufs Feld des antizipierenden Bewußtseins.
Nochmals Neigung zum Traum: die »Stimmung« als Medium von Tagträumen Schlafend ist der Leib verdunkelt, nur wach spürt man ihn. Er spürt sich zuerst im Gefühl des Befindens; darin werden lediglich körperliche Zustände ihrer gewahr. Und auch sie werden dann nur verwischt, diffus gewahr, noch nicht auf eine besondere Stelle des Leibes oder auf eine besondere Art von körperlichem Schmerz oder Genuß bezogen. Es gibt laues, krankes und gesundes Befinden, Wohlbefinden und Übelbefinden, doch allemal nur als ganz allgemeines; ein klarer Magenschmerz, eine spezifische Lustempfindung, auf die Zunge oder auf erogene Zonen lokalisiert, fällt sogleich daraus heraus. Und: das Befinden ist nicht etwa so oder so »gelaunt«, wie die Stimmung; denn es ist nicht wie diese aus eigentlichen Triebgefühlen oder Affekten zusammengemischt. Es hat eben nur das Kochen der Leibvorgänge in sich, besonders Eingeweideempfindungen und mehr oder minder unterbewußte des Blutkreislaufs, doch noch keine /(117) Affektgefühle, mit einem Ich dahinter. Das unterscheidet das mehr organische Zustandsgefühl des »Befindens« von dem weit mehr ichhaften der »Stimmung«; so gibt es das Diffuse hier, das Organgefühle meldet, und das Diffuse dort, das Affektgefühle wiedergibt, in welche ein Mensch sich allemal erst, launenhaftgelaunt, hineinkniet. Das Befinden gleicht einem Rauschen, das, wie jedes Geräusch, aus einem Durcheinander vieler, naturhaft gegebener, unregelmäßig sich folgender Töne entsteht. Die Stimmung gleicht dem Klangdurcheinander eines Orchesters, das vor Beginn eines Musikstücks einzelne Passagen abgebrochen und gleichzeitig spielt, keine Naturtöne, sondern solche, die ein musizierendes, komponierendes Ich hinter sich haben. Die Stimmung hat auch
nicht einen solch dumpfen, unterirdischen »Grundton« wie das Befinden, sondern ihr «Grundton« ist wogend, wetterhaft, atmosphärisch, er kann sich in Extremen bewegen (wie »himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt«), die das Befinden in solcher Nachbarschaft gar nicht kennt. Und ferner weist jede Stimmung eine eigentümliche, an die Ausbreitung von Duftstoffen erinnernde Weite auf. Th. Lipps betonte gerade dieses, dem Körperbefinden fremde Weite; er notiert, im Fall »Heiterkeit» beispielsweise, »das fühlbare Sichausbreiten der Lust an einem Erlebnis in eine mehr oder minder weite, das psychische Gesamterleben erfassende Stimmung« (Leitfaden der Psychologie, 1903, S.271). Oder in einer neueren Darstellung (die immerhin nicht mit dem gekommenen existenzialistischen Stimmungsdrang à la Bollnow krebst): »Die seelische Stimmung ist der verhältnismäßig beharrende atmosphärische Grund unseres Lebensgefühls, auf dem sich die wechselnden Wahrnehmungen mit besonderer Färbung abheben, von dem aber auch unsere Vorstellungen und unser Verhalten durchtränktwerden« (Lersch, Der Aufbau des Charakters, 1948, S.41). Wegen dieses atmosphärisch-weiten und zugleich diffusen Gesamtwesens dehnt sich das Stimmungsgefühl sogar über das Ich hinaus, an dem es primär haftet. Ein Zimmer, eine Landschaft scheinen eine »Stimmung» zu haben, und auch hier desto entschiedener, je unentschiedener, das heißt diffuser der übertragene Affektzustand dreinsieht. So ist der helle Mittag dafür wenig geeignet, mehr der Vormittag, am bequemsten der Abend; bekannt ist die /(118) Gewitterstimmung (die der erste Blitz vertreibt). Schlechter dafür geeignet sind einfache große Gegenstände wie das Meer, besser die unübersichtlicheren wie der Wald. Dabei darf jedoch nie vergessen werden, daß die Stimmungsbreite, die sich dermaßen selber nach außen zieht, auch als extravertiertes Naturgefühl nie gegliedert auftritt, sondern im Wogen einer Allgemeinheit bleibt. Der Stimmung ist es wesentlich, nur als diffuse total zu scheinen; sie besteht nirgends aus einem herrschend-überwältigenden Affekt, sondern aus einer selber weiten Mischung vieler, noch nicht zum Austrag gelangter Affektgefühle. Das eben macht sie zu einem so leicht irisierenden Wesen, das läßt sie zugleich - noch jenseits des Klangdurcheinanders vor Beginn eines Musikstucks, auch ganz ohne intensive Dichte - so leicht als bloß impressionistische Erlebniswirklichkeit (Debussy, Jacobsen) ausgeben und entformen. Aus diesem impressionistischen Ungefähr kommt auch noch Heidegger her, sofern er es beschreibt und ihm zugleich erliegt. Dabei hat Heidegger innerhalb dieses Dumpfen den sozusagen tautologischen Vorzug, beachtet zu haben, »daß das Dasein je schon immer gestimmt ist«, im Sinn eines ursprünglichen Aufschlusses, wie einem ist und wird. Das Ursprüngliche ist danach nicht ein wahrnehmendes Sichvorfinden, wohl aber ein gestimmtes Sichbefinden: »Was wir ontologisch mit dem Titel Befindlichkeit anzeigen, ist ontisch das Bekannteste und Alltäglichste: die Stimmung, das Gestimmtsein« (Sein und Zeit, 1927, S.134). Doch ist Heidegger eben über das Dumpfe, deprimiert Stockende, zugleich Flache dieser seiner Aufdeckung nicht hinausgekommen. Es bleiben Befinden und Stimmung hier ungetrennt; so hindert die Flachheit in diesem ungeschieden animalischen Gewoge jede Ahnung vom Dunkel des wirklich unmittelbaren Existere, das auch in der Stimmung sein Sein (Dunkel des gelebten Augenblicks, wovon später) noch keineswegs als Da vor sich selbst bringt. So hält das interessiert Deprimierende von aller Erhellungstendenz der Stimmung ab, um statt dessen einzig das Gedrückte wiederzugeben: »Die oft anhaltende, ebenmäßige und fahle Ungestimmtheit, die nicht mit Verstimmung verwechselt werden darf, ist so wenig nichts, daß gerade in ihr das Dasein ihm selbst überdrüssig wird. Das Sein ist als Last offenbar geworden... Und wiederum
kann /(119) die gehobene Stimmung der offenbaren Last des Daseins entheben; auch die Stimmungsmöglichkeit erschließt, wenngleich enthebend, den Lastcharakter des Daseins» (1. c., S. 134). Und nicht der ganzen Menschheit Jammer, sondern einzig der des unerhellt-hoffnungslosen Kleinbürgertums faßt einen an, kommt es bei Heidegger, was die »Abgründe« solcher Befindlichkeit angeht, zu diesem Satz: »Die tiefe Langeweile, in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin und her ziehend, rückt alle Dinge, Menschen und einen selbst mit ihnen in eine merkwürdige Gleichgültigkeit zusammen. Diese Langeweile offenbart das Seiende im Ganzen« (Was ist Metaphysik? 1929, S. 16). Hier also fällt aus der Stimmung, indem sie einzig als eine von erlöschendem Leben, das ist hier: von niedergehender Klasse sich kundgibt, völlig der Wunschcharakter aus, ohne den doch auch diese Diffusheit von Affekten, als eine von Affekten, nicht bestehen kann; es sei denn, wie Heidegger selber sagen muß, als »Ungestimmtheit». Gerade das Farbmittel für Wachträume fällt aus, mit dem die Stimmung ihre blaue Stunde ausmalt, ohne daß sie allerdings existentiell-ontisch uninteressant wird und existential-ontologisch zum Nihilismus absinkt. Nicht jeder mögliche Alltag, nicht einmal jeder, der geschichtlich bereits aufgetreten, ist mit »fahler Ungestimmtheit« versehen, gar mit der Langeweile, die angeblich das »Seiende im Ganzen« offenbar macht; solche Alltagsstimmung ist vielmehr wesentlich, wo nicht einzig, dem mechanisiert-kapitalistischen Betrieb zugeordnet. Und selbst innerhalb dieses Betriebs besteht, außer der Ungestimmtheit, auch neben der fraglosen Last eines so beschaffenen Daseins jenes Klangdurcheinander lebender Triebgefühle, das eigentlich erst »Stimmung« ausmalt und worin die Neigung zum Traum, als eine zum Wachtraum, nun erst ihr Medium findet. Indem dem Schlafenden der Leib verdunkelt ist, fällt auch sein Befinden aus. Wie sehr erst die das Ich voraussetzende Stimmung, sie gehört zu der blauen Stunde, nicht zu der schwarzen. Sie verlangt gleichfalls Entspannung, gewiß, doch eine, die nicht den Schlummer, sondern ein Ausreisen sucht. Dieser besonders der Bläue zugeneigte Zustand Stimmung wurde im Verhältnis zum Tagtraum bisher nicht beachtet; das ist nun nach- /(120) zuholen. Die fahle Ungestimmtheit selber mag noch nicht träumensch sein, auch die gedrückte Stimmung, das Durcheinander von unlustigen Affekten, ist als Medium nicht leicht genug, um ohne weiteres Tagträume sich entwickeln zu lassen. Desto eher aber ist der beständige Hang zum Besseren im Grundton von allen Erwartungsaffekten dazu geneigt, sich gerade die gedrückte Stimmung zu erleichtern, in gehobene zu fliehen. Und genau an dieser Übergangsstelle, zwischen Trübe und Heiterkeit, wohnt das Medium, worin Wachtraumbilder an bequemsten sich entwickeln. Flucht und Zuwendung, Abwehrund Hingebungsaffekte sind in dieser helldunklen Stimmung gleichzeitig gemischt und bilden so die Aura, worin die jeweilige Einschiffung nach Cythera stattfindet. Ob sie eine kleine oder großartige, eine fahrige oder überlegt fahrende ist, ob Cythera aus einer bloßen Situationsverbesserung oder aus bislang Unerhörtem besteht, ob es um ein Butterbrot feil ist oder nicht um die ganze Welt: das freilich hängt nicht von der Stimmung ab, sondern von der Stärke und dem Inhalt der Zuwendungsaffekte, die aus ihr sich erheben, vom Rang und der Konkretheit der Phantasie, die diesen Affekten ihre Intentionserfüllung vormalt. Doch hell-dunkle Stimmung bleibt in jedem Blaulicht, Fernlicht dieser Art hängt dem Wachtraum lange an, reicht also auch in die eigentlich gestalteten Wachträume noch weit herein, negativ wie positiv. Sonst gäbe es in ihnen das Wetterhafte nicht, das ja nicht nur auf den Impressionismus beschränkt ist, auf dies Stimmungswesen relativ bequemster, nämlich schwach gestalteter und schwach verpflichtender Art. Es gäbe sonst den Lyrismus nicht, der
auch streng gestaltete Tagtraumbilder begleitet, wo immer sie noch situationshaft sind. Helldunkle Stimmung ist darum, an Tagtraumwerken, nicht nur auf Weichheit à la Debussy oder Jacobsen beschränkt. Sie füllt auch so gehaltene und gehämmerte Affektbildmusik wie die bei Brahms (vierte Symphonie, vorzüglich letzter Satz), sie macht hier, statt der Weichheit, gerade das Rauhe und die Herbheit aus. Erst bei entschiedener Situation und einer Darstellung, die sich demgemäß atmosphärefrei geben kann, läßt Stimmung nach. Nicht bloß die impressionistische und die ältere sentimentalische läßt dann nach, diejenige, deren Irisierung nie über ein Gemisch abgebrochener /(121) Affekte und verschwommener Umrisse hinauskommt, sondern auch noch die Atmosphäre der Herbheit, mitsamt der ganzen Romantik dieses Mediums klärt sich auf, gibt den Blick auf Entschiedenes, nicht mehr so Situationshaftes frei. Das überall dort, wo eine im künstlerischen Wachtraum zur Vollendung getriebene Situation, mindestens eine durch Haltung zum Anhalten gebrachte, das Situationshafte selber von sich abweist. Dies ist täuschend wetterlos auch in aller erstrebten Kunst ohne Unruhe der Fall, ohne Bewegungs- und Zeitpathos, also in der hartkristallisch seinwollenden. Um ein Cythera, das ägyptisches Relief, byzantinisches Mosaik oder auch nur Alfieris Klassizismus heißt, ist nicht mehr so viel Stimmung wie um Gotik, Barock oder auch nur um Byrons Sturmwelt. Trotzdem liegt auch hier noch Stimmung als Pathos zugrunde; auch die ägyptische Kunst hat die Unruhe in sich, indem sie sie stillt, ja indem sie, qua ihres Wunschtraums, ein einziges steinernes Requiem sein will. Selbst der intendierten Antistimmung eines Kunstwerks liegt so immer noch, wegen des Atmosphärischen der Phantasie, Stimmung zu Füßen. Dieses Tagtraumwasser gehört zu jedem Tagtraum, Phantasietraum, auch wenn er es, in letzthin errungener Trockenheit, verläßt. Derart bestätigt es sich: die helldunkle Stimmung gibt das Medium, worin alle Tagträume, auch die mit Härte, wie sehr erst die mit dem erregenden Blau (Azur), beginnen. Nochmals die Erwartungsaffekte (Angst, Furcht, Schreck, Verzweiflung, Hoffnung, Zuversicht) und der Wachtraum Die Triebgefühle selber sind freilich nicht mehr so stimmungshaft, bleiben es nicht. Sie heben sich aus diesem allgemeinen Zumutesein bald deutlich heraus als »blanker« Neid, »offener« Haß, »rückhaltloses« Vertrauen. Heiterkeit etwa, dieses unbeschwert-allgemeine Lebensgefühl, ist eine Stimmung; die scharfglänzende Freude aber ist ein Affekt. Und nicht nur aus dem Diffusen treten derart die Affekte aus, auch aus dem verhältnismäßig Unbezogenen. Mithin, auch wenn das stimmungshafte Medium abzieht, tönt der Wachtraum fort: dann aber als einer, der vor allem doch im Medium aus Erwartungseffekten trieb. Diese, ein ganz besonderer Schlag von Affekten, haben ohnehin /(122) den Wachtraum im Stimmungs-Medium befördert; so erscheinen sie hier aufs neue, als die von den gefüllten Affekten durch ihre stark antizipierende Intentionsrichtung verschiedenen (vgl. S.82). Die Intention in allen Erwartungsaffekten ist eine vorausweisende, die Zeitumgebung ihres Inhalts ist Zukunft. Je näher diese bevorsteht, desto stärker, »brennender« ist die Erwartungsintention als solche; je umfassender der Inhalt einer Erwartungsintention das intendierende Selbst betrifft, desto totaler wirft sich der Mensch hinein, desto »tiefer« wird sie zur Leidenschaft. Auch Erwartungsintentionen mit einem zur Selbsterhaltung negativen Inhalt, wie Angst und Furcht, können so zur Leidenschaft werden, nicht weniger als Hoffnung. Sie wirken dann auf den Unbeteiligten
«übertrieben« und sind es auch in pathologischen Fällen; zuweilen freilich läßt sie auch nur die Kenntnislosigkeit der Realsituation als «übertrieben« erscheinen, als ihr Objekt «vergrößernd«. Aber auch dann reicht der Erwartungsaffekt über seinen «fundierenden « Vorstellungsinhalt hinaus; der Erwartungsinhalt zeigt eine größere «Tiefe« als der jeweils gegebene Vorstellungsinhalt. Jede Furcht impliziert, als Erfüllungskorrelat, totale Vernichtung, die so noch nicht da war, hereinbrechende Hölle; jede Hoffnung impliziert das höchste Gut, hereinbrechende Seligkeit, die so noch nicht da war. Das unterscheidet zuletzt Erwartungsaffekte von den gefüllten (wie Neid, Habsucht, Verehrung), die allemal nur durch Bekanntes «fundiert« sind und äußerstenfalls eine «unechte« Zukunft ihres Gegenstands intendieren, das heißt, eine genau vorstellbare, objektiv nichts Neues enthaltende. Die Intentionsinhalte der gefüllten Affekte liegen, wie Husserl fälschlich von allen Affekten sagt, in einem «gesetzten Horizont«, als dem Horizont der Erinnerungsvorstellung, zum Unterschied von dem der Hoffnungsvorstellung, der vorausgreifenden, also echten Phantasie und der möglichen «echten« Zukunft ihres Gegenstands. Zwar ist überall, auch in der erinnernden Vorstellung, qua Intention, zugleich ein Erwarten wirksam, und Husserl bestimmt selber, recht unerwartet: »Jeder ursprünglich konstituierende Prozeß ist beseelt von Protentionen, die das Kommende als solches leer konstituieren und auffangen« (Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 1928, S.40). Jedoch /(123) diese »Protentionen« haben in der Erinnerung und den von ihr »fundierten« Affekten das Ihre bereits empfangen, sie haben nur einen »auf die Zukunft des Wiedererinnerten gerichteten Horizont«, der, mit seiner unechten Zukunft, eben »gesetzter Horizont« ist. Wogegen die Erwartungsaffekte und die echte Phantasievorstellung, welche ihnen ihren Gegenstand im Raum aufweist, diesen Raum zugleich als entschiedenen Zeitraum besitzen, das heißt, mit dem ungeschwächt Zeithaften in der Zeit, das echte Zukunft heißt. Wonach jeder Erwartungsaffekt, auch wenn er im Vordergrund selber nur unechte Zukunft intendieren sollte, eines Rapports mit objektiv Neuem fähig wird. Das ist das Leben, das der Erwartungsaffekt den dadurch antizipierenden Wachträumen implicite mitteilt. Jedes nicht nur stimmungshafte Triebgefühl ist auf ein ihm äußeres Etwas bezogen. Doch wird freilich das innere Gewoge hierbei verschieden rasch oder stark verlassen. Der erste und grundlegende negative Erwartungsaffekt, die Angst, beginnt noch als der am meisten stimmungshaft-unbestimmte. Der Angstvolle sieht niemals das Etwas bestimmt vor sich oder um sich, aus dem es ihn anweht; dieses Gefühl ist nicht nur in seinem leiblichen Ausdruck, sondern auch in seinem Gegenstand schlotternd. Freud hat die Angst, wie angegeben, primär auf den Geburtsakt, auf die erste Beengung (angustia) im Atmen, auf die erste Trennung von der Mutter zurückgeführt. Jedes spätere Angstgefühl macht danach dies Urerlebnis von Beklemmung und von Preisgegebenheit rezent; das Reagieren auf alle Gefahrsituationen, selbst die Todesangst, soll also lediglich subjektiv und darin regressiv sein. Aber mit den vorhandenen sozialen Zuständen, die Lebens- wie Todesangst reichlich aus Eigenem beleben, wo nicht erzeugen dürften, ist der negative Bezugsinhalt überhaupt hier ausgelassen, das heißt, das objektiv Angsterregende, ohne das sich Angst gar nicht konstituieren könnte. Heidegger andererseits regrediert zwar seine Angst nicht, aber er prozessiert auch nicht über sie zu ebenso originären positiven Erwartungsaffekten hinaus, ohne die die Angst gleichfalls nicht da sein könnte, so wenig wie ein Talabgrund ohne Berg. Heidegger macht statt dessen aus der Angst das schlechthinige, das unterschiedslose «Sosein« in allem, die existentielle «Grund- /(124) befindlichkeit«, und zwar auf eine
den Menschen erst recht subjektiv vereinzelnde, ihn auf sich als solus ipse zurückführende Weise. Angst erschließt danach dem Menschen »sein eigenstes In-der-Welt-Sein«; das Wovor aber, »wovor die Angst sich ängstigt, ist das In-der-Welt-Sein selbst« (Sein und Zeit, 1927, S.187). Und dieses Wovor ist im Grunde das gleiche, worin die Angst sich auflöst, nämlich das Nichts, das »Es war nichts«; Sein selber »hängt über in das Nichts«. So stellt hier die Angst ganz unmittelbar und par excellence vor das Nichts, als den GrundFundus des Unheimlich-Seins, Tod-Verfallenseins alles In-der-Welt-Seins. Die »Grundbefindlichkeit« der Angst erschließt nach Heidegger genau diesen Abgrund; von daher noch »das ständige, obzwar meist verborgene Erzittern alles Existierenden« als solchen. Heidegger, mit viel absichtlicher Erlebnis-Unmittelbarkeit (Erlebnisserei),aber auch mit, man kann sagen: viel Affekthascherei, dazu mit einem Unmaß bloßer Wortbedeutungsinterpretation, deren die Philosophie vor der Philologie sich schämt und selber nichts dabei gewinnt, außer metaphysischem Dilettantismus - Heidegger also reflektiert und verabsolutiert mit seiner Angstontologie ersichtlich nur die «Grundbefindlichkeit« einer untergehenden Gesellschaft. Er reflektiert vom Kleinbürgertum her die Gesellschaft des Monopolkapitals, mit Dauerkrise als normalem Zustand; einzige Alternative zur Dauerkrise sind Krieg und Kriegsproduktion. Was für den Primitiven noch das «Unzuhause « in der unübersichtlichen Natur war, das ist für die ahnungslosen Opfer des Monopolkapitals ihre Gesellschaft geworden, der gigantisch entfremdete Betrieb, in den sie gestellt sind. Heidegger aber - mit einer soziologischen Unwissenheit, die dem metaphysischen Dilettantismus die Waage hält - macht diese Angst zur Grundbefindlichkeit des Menschen überhaupt einschließlich des Nichts, in das er angeblich immer und überall und unabstellbar geworfen ist. Das einzige, was von Heideggers Angst- «Hermeneutik« übrigbleibt, ist bestenfalls eine Art kleinbürgerlich geschärfte Vertrautheit mit Angst als Ahnungslosigkeit. «Daß das Bedrohende nirgends ist, charakterisiert das Wovor der Angst« (1. c., S. 186); in der Tat ist sie von Haus aus Erwartung eines negativ Unbestimmten. Indem das die Angst Veranlassende wie Begründende von /(125) allen Seiten kommen kann, waren ihre offenbarendsten Erscheinungen die Gespensterangst und das nächtliche Grauen. Wobei beide eben durch die heutigen, im Fleisch wandelnden, doch im Dunkel wirkenden Monster und Nachtmahre ersetzt sind. So ist die Angst allerdings noch nicht deutlich auf ihr äußeres Etwas bezogen, zum Unterschied nun von dem zweiten negativen Erwartungsaffekt, der Furcht: mit ihrem jäh-konzentrierten Modus, dem Schreck, und ihrem gesteigert-konzentrierten, dem Entsetzen. Die Bedrohung kommt hier mindestens aus einem Wetterwinkel, der durch bisherige Erfahrung bekannt ist; oder gar: das Furchterregende ist räumlich so sichtbar, daß man sich der Art seines Schlags versehen kann, wenn auch nicht seines Eintritts. Tritt das Wovor der Furcht völlig und überdies plötzlich hervor, entsteht also das Entsetzen, mit den schwächeren Graden des Schrecks, dann darf das Plötzliche dieser Affekte nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch sie solche der Erwartung sind, obzwar gegebenenfalls (keineswegs immer) einer in statu nascendi ihres Gegenstands selbst erst geborenen. Ohne Erwartung könnte nichts Entsetzen einjagen, nichts durch Schreck betäuben; gleich einer Kugel aus dem Hinterhalt erregt ein völlig zu den Erwartungsintentionen disparates Ereignis überhaupt keinen Affekt. Es bewirkt zwar Betäubung, Blendung (sofern das Ereignis überlebt wird), also Körperempfindungen, die dem Schreck, als einem Schock, ebenfalls eignen, doch es bewirkt nicht die eigentliche Gemütsbewegung Entsetzen oder Schreck, welche allemal Erwartungsintention des Eingetretenen voraussetzt. Schließt doch diese
Erwartung selbst das Überraschende ihres Gegenstands so wenig aus, daß der Gefühlscharakter des Überraschenden, sowohl des negativ wie des positiv Überraschenden (»Wunderbaren«), ohne Bereitschaft einer Erwartung überhaupt nicht eintritt. Die aktivierte Erwartung des Entsetzlichen ist allerdings kurz; dehnt sie sich, gleich der Furcht, aus, doch mit völliger Bestimmtheit (zeitlicher Unausweichlichkeit, inhaltlicher Bekanntheit) des Gegenstands, dann tritt der äußerste, härteste Grenzmodus der Furcht, der absolut negative Erwartungsaffekt auf: die Verzweiflung. Und sie erst, nicht die Angst, ist wirklich bezogen auf das Nichts; die Angst ist noch Fragend-schwebend, noch von Stimmung und vom /(126) Unbestimmten, auch Unausgemachten ihres Gegenstands bestimmt, wogegen eben Verzweiflung in ihrem Gemütszustand ein Definitives, in ihrem Gegenstand, außer dem Definitiven, ein schlechthin Definiertes an sich hat. Sie ist Erwartung als aufgehobene, also Erwartung eines Negativen, an dem keinerlei Zweifel mehr statthat; mit ihr schließt daher die Reihe der negativen Erwartungsaffekte. Ihre sämtlichen Wachträume (nur das Entsetzen hat keine Zeit dazu, einen zu bilden) kreisen letzthin um ein negativ Unbedingtes: das Höllenhafte. Gänzlich im Gegensatz dazu erscheinen nun in wie hinter all diesem die positiven Erwartungsaffekte. Ihre Zahl ist freilich viel geringer, es gab bisher nicht so viel Anlaß für sie. Ihrer sind nur zwei: die Hoffnung, welche die Furcht zuschanden macht, und die Zuversicht, welche der Verzweiflung korrespondiert. Die Hoffnung hat als aufziehende mit der Angst noch ein Stimmungshaftes gemein: nicht als das Unbehauste des Nächtlichen, wohl aber als das Dämmernd-Ausgegossene des Aurorahaften. Dieses ist im Widerhall oder Widerschein aus der Landschaft besonders treffend bezeichnet in Thomas Manns »Der Tod in Venedig«, als das unsäglich holde Blühen der Morgenröte mit all ihrem fernherscheinenden Arpeggio ante lucem. Doch steht die Hoffnung ebenso als einer der exaktesten Affekte über jeder Stimmung; denn sie ist wenig wandelbar, sehr charakteristisch in ihrer Intention und vor allem, was weder der Stimmung noch auch den negativen Erwartungsaffekten zukommt, fähig zu logisch-konkreter Berichtigung und Schärfung. Infolgedessen ist Hoffnung nicht nur ein Gegenbegriff zur Angst, sondern auch, unbeschadet ihres Affektcharakters, zur Erinnerung; das ist ein Bezug zu einem rein kognitiven Vorgang und Vorstellungswesen, der sonst keinem Affekt zukommt. Und zur Angst, gar zum Nichts der Verzweiflung verhält sie sich mit derart bestimmter Macht, daß sich sagen läßt: die Hoffnung ersäuft die Angst. Keine »Existentialanalyse« der Hoffnung wird diese jemals als eine »vorlaufende Entschlossenheit zum Tod« erschließen können, wenn anders die Analyse wirklich eine des Existere und nicht des Corrumpere ist. Hoffnung hat sich statt dessen gerade an der Todesstelle als eine auf Licht und Leben hin entworfen, als eine, die dem Scheitern nicht das letzte /(127) Wort gibt; so hat sie durchaus den Intentionsinhalt: es gibt noch Rettung - im Horizont. »Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch», dieser Hölderlinvers gibt schlechthin das positiv-dialektische Wendemoment an, dem die Furcht der Todesstelle verschwunden ist. So zwar, daß Ungewißheit des Ausgangs bleibt, genau wie bei der Furcht, jedoch eine, die nicht wie die Furcht an die passive Sorge grenzt, an das Sorge-Tragen, an die Nacht, in der das Nichts ist, sondern an den Tag, der des Menschen Freund ist. Gefahr und Glaube sind die Wahrheit der Hoffnung, dergestalt, daß beide in ihr versammelt sind und die Gefahr keine Furcht, der Glaube keinen trägen Quietismus in sich hat. Die Hoffnung ist derart zuletzt ein praktischer, ein militanter Affekt, sie wirft Panier auf. Tritt aus der Hoffnung gar Zuversicht vor, dann ist der absolut positiv gewordene Erwartungsaffekt da oder so gut wie da, der Gegenpol zur Verzweiflung. Wie diese
ist auch Zuversicht noch Erwartung, nämlich als aufgehobene, als Erwartung eines Ausgangs, an dem kein Zweifel mehr statthat. Aber während die Erwartungsintention im Verzweiflungsaffekt nur als Leiche vorkommt, gibt und ergibt sie sich in der Zuversicht als kluge Jungfrau, die, in die Kammer des Bräutigams eingehend, darin ihre Intention so darbringt wie aufgibt. Die Verzweiflung berührt fast völlig jenes Nichts, dem alle negativen Erwartungsaffekte sich annähern; die Zuversicht dagegen hat im Horizont fast das Alles, auf das sich bereits die schwächste, sogar die mit unechter Zukunft versetzte Hoffnung wesentlich bezieht. Die Verzweiflung transzendiert, indem ihr Nichts die Intention in Untergangsgewißheit niederschlägt, die Zuversicht, indem ihr Alles die Intention in Heilsgewißheit eingehen läßt. Während also die negativen Erwartungseffekte und ihre utopischen Bilder letzthin das Höllenhafte als ihr Unbedingtes intendieren, haben die positiven Erwartungsaffekte ebenso unausweichlich das Paradiesische im Unbedingten ihres letzthinigen Intentionsgegenstands. Item: wenn die Stimmung das allgemeine Medium des Tagträumens ist, so geben die Erwartungsaffekte (samt dem Anbau, den sie an die gefüllten, etwa an Neid oder an Hochachtung, setzen können) die Direktion des Tagträumens. Sie geben die Linie, auf der sich die Phantasie der antizipierenden Vorstellungen bewegt und auf der diese Phantasie dann ihre Wunschstraße baut oder auch (bei negativen Erwartungsaffekten) ihre Unwunschstraße. Die Wunschstraße mit der Landschaft, wohin sie zielt, ist als Hoffnungsstraße nicht reicher, aber evidentermaßen beliebter und belebter als die Unwunsch- oder Furchtstraße; das wenigstens bei Geschlechtern, die vom Dunkeln ins Helle streben. Beide zukunftshafte Intentionen, die der Erwartungsaffekte wie der Erwartungsvorstellungen, reichen sinngemäß in ein Noch-Nicht-Bewußtes hinein, das heißt in eine Bewußtseinsklasse, die selber nicht als gefüllte, sondern als antizipatorische zu bezeichnen ist. Die Wachträume ziehen, sofern sie echte Zukunft enthalten, allesamt in dieses Noch-Nicht-Bewußte, ins ungeworden-ungefüllte oder utopische Feld. Seine, zunächst psychische, Beschaffenheit muß nun untersucht werden; durchaus cum ira et studio, mit Parteilichkeit für die begriffene Phantasie nach vorwärts, für das objekthaft Mögliche in psychischer Annäherung daran. Denn nur in der Entdeckung des Noch-Nicht-Bewußten gewinnt die Erwartung, vor allem die positive, ihren Rang: den Rang einer utopischen Funktion, sowohl im Affekt wie in der Vorstellung und im Gedanken.
/(129) 15
ENTDECKUNG DES NOCH-NICHT-BEWUSSTEN ODER DER DÄMMERUNG NACH VORWÄRTS
NOCH-NICHT-BEWUSSTES ALS NEUE BEWUSSTSEINSKLASSE UND ALS BEWUSSTSEINSKLASSE DES NEUEN: JUGEND, ZEITWENDE, PRODUKTIVITÄT BEGRIFF DER UTOPISCHEN FUNKTION, IHRE BEGEGNUNG MIT INTERESSE, IDEOLOGIE, ARCHETYPEN, IDEALEN, ALLEGORIEN-SYMBOLEN The cistern contains, the fountain overflows. William Blake Der Seele ist das Gemeinsame eigen, das sich mehrt. Heraklit
Die zwei Ränder Nirgends macht der innere Blick gleichmäßig hell. Er spart Licht, leuchtet immer nur wenige Stücke in uns an. Was von dem aufmerkenden Strahl überhaupt nicht getroffen wird, ist uns nicht bewußt. Was nur schräg getroffen wird, ist halb bewußt, auf abnehmende oder zunehmende Weise, je nach dem Grad des Aufmerkens. Das bewußte Feld ist derart eng, und ringsum verläuft es in dunklere Ränder, löst sich darin auf. Auch bevor, ja ohne daß ein Seelisches vergessen wird, ist vieles darin nicht bewußt. So kann ein Schmerz ungefühlt bleiben, ein äußerer Eindruck unempfunden, obwohl er psychisch durchaus vorhanden ist. Er liegt unter der Schwelle, sei es, daß der Reiz zu schwach ist, um eben merklich zu sein, sei es, daß das Aufmerken mit anderem beschäftigt, also abgelenkt ist, sei es, daß die Wiederholung selbst starke Reize abstumpft. Es gibt also auch im bewußten Feld, ganz ohne Vergessen, bereits mancherlei dunklere, nicht oder nur schwach bewußte Stellen. Die eigentlichen Ränder des Bewußtseins liegen freilich nicht im gegenwärtigen Erleben, im bloß abgeschwächten. Sie finden sich vielmehr dort, wo Bewußtes verklingt, im Vergessen und /(130) Vergessenen, wo Erlebtes unter den Rand, die Schwelle sinkt. Und nun: sie finden sich auf andere Weise auch auf der dem Vergessen entgegengesetzten Seite, wo ein bisher nicht Bewußtes aufdämmert. Auch dort ist im Bewußtsein ein Rand, eine Schwelle, diesesfalls eine obere, mehr oder minder weit vorgeschobene, hinter der es psychisch nicht ganz hell hergeht. Unter der Schwelle des Verklingens, jedoch auch über der Schwelle des Aufdämmerns ist relativ Unbewußtes, der aufmerkende Blick muß sich erst gewaltsam, oft mit Mühe darauf richten. Es ist allerdings fähig, vorbewußt zu sein, sowohl im Unten des nicht mehr merklichen wie erst recht dort, wo Neues aufzieht, das noch niemand in den Sinn kam. Beides kann hinter seinen Rändern hervorgeholt, mehr oder minder erhellt werden. Doppelte Bedeutung des Vorbewußten Seelisches Leben ist allemal abendlich und morgendlich zugleich eingefaßt. Der Nachttraum bewegt sich im Vergessenen, Verdrängten, der Tagtraum in dem, was überhaupt noch nie als gegenwärtig erfahren worden ist. Was außer dem bewußten Feld liegt, nennt man seit etwa zweihundert Jahren allgemein das Unbewußte. Es war eine große Entdeckung, daß seelisches Leben mit Bewußtsein nicht zusammenfällt. Unbewußtes freilich gilt, wo immer es als bewußtseinsfähig gedacht wird, nicht als seiner schlechthin unbewußt, wie etwa ein Stein, sondern als vorbewußt. Aber auch so wurde und wird bis heute das psychisch Unbewußte lediglich als eines verstanden, das unterhalb des Bewußtseins liegt und aus diesem herabgesunken ist. Das Unbewußte liegt - nach dieser Auffassung - im Bodensatz; es beginnt rückwärts von dem immer weiter verminderten Bewußtsein. Das Unbewußte ist hier also ausschließlich Nicht-Mehr-Bewußtes; als solches bevölkertes einzig die Mondscheinlandschaft des zerebralen Verlusts. Demgemäß ist es auch dann, wenn die Psychoanalyse es ein Vorbewußtes nennt, kein neu heraufdämmerndes Bewußtsein von inhaltlich Neuem, sondern ein altes mit alten Inhalten, das lediglich unter die Schwelle gesunken ist und sie durch mehr oder minder glattes Erinnertwerden wieder übertreten kann. Dergestalt ist das Unbewußte /(131) bei Freud einzig das Vergessene (bei ihm das eigentlich Vorbewußte, das normalerweise ohne weiteres wieder Bewußtseinsfähige) oder das Verdrängte (bei
ihm das eigentlich Unbewußte, das »nicht nur deskriptiv, sondern auch dynamisch Unbewußte«, das nicht ohne weiteres wieder Bewußtseinsfähige). Zwar betont der spätere Freud, daß es außer dem vergessenen und verdrängten Unbewußten noch eine dritte Art gebe, nämlich ein Unbewußtes »im Ich selbst«. «Auch ein Teil des Ichs, ein Gott weiß wie wichtiger Teil des Ichs kann unbewußt sein, ist sicher unbewußt«; indes fährt Freud gleich danach fort: «Wenn wir uns so vor der Nötigung sehen, ein drittes, nicht verdrängtes Unbewußtes aufzustellen, so müssen wir zugestehen, daß der Charakter des Unbewußtseins für uns an Bedeutung verliert« (Das Ich und das Es, 1923, S.17). An Bedeutung deshalb, weil dies dritte Unbewußte (Freud gibt als seine Erscheinungen überraschenderweise sogar die bedeutende geistige Produktion an) dem Schema der Verdrängung sich nicht fügt. Es ist damit aber jenes Vorbewußte gestreift, das überhaupt nicht in Freuds Konzept paßt, das Vorbewußte in der anderen Bedeutung, nach der anderen Seite, in dem kein Verdrängtes, sondern ein Heraufkommendes zu klären ist. Der Nachttraum mag sich aufs Nicht-Mehr-Bewußte beziehen, er regrediert darauf hin. Aber der Tagtraum ist auf ein mindestens dem Träumer Neues, wohl gar auf ein an sich selber, in seinem objektiven Inhalt Neues aufgetragen. Im Tagtraum eröffnet sich so die wichtige Bestimmung eines Noch-Nicht-Bewußten, als die Klasse, wozu er gehört. Eine letzte psychologische Bestimmtheit des Tagtraums geht damit auf, es gilt, sie zu erläutern. Sie ist bis jetzt gänzlich außer Begriff geblieben, es gibt noch keine Psychologie des Unbewußten der anderen Seite, der Dämmerung nach vorwärts. Dies Unbewußte blieb unnotiert, obwohl es den eigentlichen Raum der Bereitschaft zum Neuen und der Produktion des Neuen darstellt. Das Noch-Nicht-Bewußte ist zwar ebenso Vorbewußtes wie das Unbewußte der Verdrängtheit und Vergessenheit, es ist sogar in seiner Art ein ebenso schwieriges und Widerstand leistendes Unbewußtes wie das der Verdrängtheit. Aber ihm ist keinesfalls das heutige, manifeste Bewußtsein übergeordnet, sondern ein künftiges, erst heraufkommendes. /(132) Das Noch-Nicht-Bewußte ist so einzig das Vorbewußte des Kommenden, der psychische Geburtsort des Neuen. Und es hält sich vor allem deshalb vorbewußt, weil eben in ihm selber ein noch nicht ganz manifest gewordener, ein aus der Zukunft erst heraufdämmernder Bewußtseinsinhalt vorliegt. Gegebenenfalls sogar ein erst objektiv in der Welt entstehender; so in allen produktiven Zuständen, die mit nie Dagewesenem in Geburt stehen. Dazu ist der Traum nach vorwärts disponiert, damit ist Noch-Nicht-Bewußtes als Bewußtseinsweise eines Anrückenden geladen; das Subjekt wittert hier keinen Kellergeruch, sondern Morgenluft. Noch-Nicht- Bewußtes in Jugend, Zeitwende, Produktivität Alle frische Kraft hat dies Neue notwendig in sich, bewegt sich darauf hin. Seine besten Orte sind: die Jugend, die Zeiten, die im Begriff sind, sich zu wenden, die schöpferische Hervorbringung. Bereits ein junger Mensch, der etwas in sich stecken fühlt, weiß, was das bedeutet, das Dämmernde, Erwartete, die Stimme von morgen. Er fühlt sich zu etwas berufen, das in ihm umgeht, in seiner eigenen Frische sich bewegt und das bisher Gewordene, die Welt des Erwachsenen überholt. Gute Jugend glaubt, daß sie Flügel habe und daß alles Rechte auf ihre herbrausende Ankunft warte, ja erst durch sie gebildet, mindestens durch sie befreit werde. Mit der Pubertät beginnt das Geheimnis der Frauen, das Geheimnis des Lebens, das Geheimnis der Wissenschaft; wie viele unerforschte Regale sieht die lesende
Jugend vor sich glänzen. Die grüne Zeit ist mit Dämmern nach vorwärts überfüllt, sie besteht über die Hälfte aus noch nicht bewußten Zuständen. Diese sind bei jungen Menschen gewiß bedroht, im Alter zwischen fünfundzwanzig bis dreißig Jahren. Was sich aber bis dahin an Jugend erhielt, wird sich bei Menschen, die nicht von der Fäulnis des Gestrigen angesteckt und ihm verschworen sind, immer erhalten - als ein Warmes, Helles, mindestens Trostreiches vor dem Blick. Die Stimme des Andersseins, Besserseins, Schönerseins ist in diesen Jahren so laut wie unabgenützt, das Leben heißt «Morgen«, die Welt «Platz für uns«. Gute Jugend geht allemal den Melodien aus ihren /(133) Träumen und Büchern nach, hofft, sie zu finden, kennt das heiße dunkle Irren durch Feld und Stadt, wartet auf die Freiheit, die vor ihr liegt. Sie ist ein Heraussehnen, Heraussehen aus dem Gefängnis des äußeren, muffig gewordenen oder muffig erscheinenden Zwangs, aber auch der eigenen Unreife. Die Sehnsucht nach dem Leben als Erwachsener treibt an, doch so, daß dieses Leben gänzlich umgeändert werden sollte. Fällt Jugend gar in revolutionäre Zeiten, also in Zeitwende, und steht ihr nicht, wie heute im Westen so oft, der Kopf, durch Betrug, im Nacken, so weiß sie erst recht, was es mit dem Traum nach vorwärts auf sich hat. Er geht dann vom vagen, vor allem privaten Ahnen zum mehr oder minder sozial geschärften, sozial beauftragten über. Das breiteste Exempel gaben ehemals die russischen Narodniki, die ins russische Volk gingen, um mit ihm für den Sturz des Zarismus zu kämpfen, mit sentimentaler oder zorniger Morgenröte. Hier utopisierten die Gespräche junger Kursistinnen und Studenten auf dem staubigen Boulevard der russischen Kleinstadt. Und später, bei wachsender, sozialistischer Klarheit, in den Großstädten, mit den Arbeitern vereinigt, wuchs die Morgenröte solid heran, die im Bewußtsein und über der Zeit lag. Länger als ein halbes Jahrhundert vor der Oktoberrevolution stellte selbst der russische Unterhaltungsroman Jugend mit Zeitwende im Sinn immer wieder dar. Deutschland hatte seine revolutionären Studenten im Sturm und Drang, im Vormärz, und hat sie heute, mit dem Ziel vor Augen, in der neuen Republik; Jugend und Bewegung nach vorwärts sind darin Synonyme. Während dieser Zeiten und so oft sie aktuell sind, ist also nicht bloß physiologisches Frühlingsgefühl in der Luft, sondern mehr noch: Wendezeiten sind schwül, es scheint eine Donnerwolke in ihnen eingesperrt. Wetter oder Geburtskategorien wurden daher von je auf sie angewandt: als Ruhe vor dem Sturm oder als März in der Geschichte oder am stärksten, konkretesten: als Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Zeiten wie die unsere verstehen den Wendezustand gut; selbst seine Feinde, die Faschisten in Italien und Deutschland, konnten nur noch betrügen, indem sie sich revolutionär verkleideten, ein Marasmus als Frühlingssonne. Die Zeitwenden sind selber die Jugendzeiten in der Geschichte, das beißt, sie /(134) stehen objektiv so vor den Toren einer neu heraufkommenden Gesellschaft, wie die Jugend sich subjektiv vor der Schwelle eines bisher unaufgeschlagenen Lebenstags stehen fühlt. Das überblickbarste Exemplar solcher Wende ist bis jetzt die Renaissance, besonders auch nach der ideologisch-kulturellen Seite. So deutlich wie kaum irgendwo gibt es hier, beim ersten Umschlag der feudalen Gesellschaft zur bürgerlich-modernen, Aufbruch und Erwartung, Noch-Nicht-Bewußtheit als bewußte Ahnung. Incipit vita nova, das bezeichnete damals auch psychisch die Aurora-Qualität der Zeit: der noch progressive Unternehmer stand auf, mit ihm das Gefühl der Individualität; das Bewußtsein der Nation tauchte über den Horizont; Individuation und Perspektive traten ins Naturgefühl und Landschaftsbild; die ferne Erde ging selber auf und öffnete neue Kontinente; die Himmelsdecke sprang und gab den Blick auf Unendlichkeit frei. Alle Zeugnisse aus der Wende des fünfzehnten und sechzehnten
Jahrhunderts bekunden davon ein ganz mächtig Vorbewußtes, ein raumschlagendes, das über die bisher gesetzten Säulen des Herkules hinauszog. Es begann totale Erneuerung der Kunst, des Lebens, der Wissenschaft, oder schien zu beginnen; dies Dreiviertelstund-vor-Tag erscheint noch spät genug in Bacons »Novum Organon«, doch ebenso artikuliert genug: »Ich weiß, daß geschäftsfreie Menschen in gemeinsamer Arbeit auf meiner Bahn Großes erreichen werden. Und wäre ich dessen nicht so sicher, wehte der Wind von den Küsten einer neuen Welt nicht so stark und unverkennbar herüber, wir müßten dennoch den Versuch machen, aus der Stockung unseres elenden Naturwissens herauszukommen.« Die Luft solcher historischen Frühlinge schwirrt von Planungen, die ihre Ausführung suchen, von Gedanken in der Inkubation. Nie sind die prospektiven Akte häufiger und gemeinsamer als hier, nie das Antizipatorische in ihnen inhaltsvoller, nie die Fühlung mit dem Anrückenden unwiderstehlicher. Alle Wendezeiten sind derart von NochNicht-Bewußtem gefüllt, auch überfüllt; und eine aufsteigende Klasse trägt es. Der die Renaissance nacherfahrende Ausdruck dieses Zustands ist der Monolog in Goethes Faust; auch hier sind Überdruß, Wachtraum, Morgenrot die Ingredienzien des Voran. Und ebenso schaffen solche Zeiten an Problemen, die in /(135) der vorhandenen Wirklichkeit noch kaum keimhaft hervorgetreten sind. So gräbt die Renaissance wie noch nachher das Deutschland der Genieperiode die Entwicklungstendenzen der Epoche hervor, stellt sie ins Frühlicht, neue Taglicht. Der Mensch fühlt sich in solchen Zeiten deutlich als nicht festgestelltes Wesen, als eines, das zusammen mit seiner Umwelt eine Aufgabe ist und ein riesiger Behälter voll Zukunft. Wie sehr erst geht dem Schaffen selber ein Aufdämmern vorauf, wie eigentümlich steht es darin. Geistige Produktivität, Schöpfung zeigt sich besonders von Noch-Nicht-Bewußtem erfüllt, das ist, von Jugend, die sich im Schaffen potenziert; auch hier ist sie vorausgesetzt und dauernd tätig. Jugend hat als begabte ihren leicht verlorengehenden Anfang wie bei Lenau im raunenden Schilf: Und ich mein', ich höre wehen leise deiner Stimme Klang und im Weiher untergehen deinen lieblichen Gesang. Jugend hat im Fortgang die Dankbarkeit des Werdens und dessen gebärend wundersames Bild, wie bei Goethe im Vorspiel auf dem Theater, das zu bilden ist: So gib mir auch die Zeiten wieder, da ich noch selbst im Werden war, da sich ein Quell gedrängter Lieder ununterbrochen neu gebar, da Nebel mir die Welt verhüllten, die Knospe Wunder noch versprach, da ich die tausend Blumen brach, die alle Täler reichlich füllten. Jugend bleibt in der Produktion, auch nach ihrer Beendigung, auf dem gleichen Fleck, spürt auch nach beendetem Werk die ungarantierte Kühnheit oder kühne Antizipation; so bei Klopstock in der Ode »An Freund und Feind«, noch dreiunddreißig Jahre später, nachdem der »Messias« begonnen war:
/(136) Voll Durstes war die heiße Seele des Jünglings nach der Unsterblichkeit. Ich wacht', und ich träumte von der kühnen Fahrt auf der Zukunft Ozean. Dank dir noch einmal, mein früher Geleiter, daß du mir, wie furchtbar es dort sei, mein Genius, zeigtest. Wie wies dein goldner Stab! Hochmast'ge, vollbesegelte Dichterwerke und dennoch gesunkene schreckten mich! Bis zu der Schwermut wurd' ich ernst, vertiefte mich in den Zweck, in des Helden Würd', in den Grundton, den Verhalt, den Gang, strebte, geführt von der Seelenkunde, zu ergründen, was des Gedichts Schönheit sei, flog und schwebt' umher unter des Vaterlands Denkmalen, suchte den Helden, fand ihn nicht: bis ich zuletzt müd' hinsank, dann, wie aus Schlummer geweckt, auf einmal rings um mich her wie mit Donnerflammen es strahlen sah. Und Jugendlicht, produzierendes, das auch im uralt Geschehenden, als wäre es gar kein Uraltes, sondern Verkündigung, sich zu begegnen versteht, hält bei Hölderlin den Morgen in der Welt noch unter Verfinsterungen wach, mit der großen Hymne auf Ex oriente lux, auf den neuen und sprechenden Tag:
/(137)
Denn, wie wenn von der herrlich gestimmten, der Orgel, Im heiligen Saal, Reinquillend aus den unerschöpflichen Röhren, Das Vorspiel, weckend, des Morgens beginnt, Und weit umher, von Halle zu Halle, Der erfrischende, der melodische Strom rinnt, Bis in den kalten Schatten das Haus Von Begeisterungen erfüllt, Nun aber erwacht ist, nun, aufsteigend ihr, Der Sonne des Fests antwortet Der Chor der Gemeinde, so kam Das Wort aus Osten zu uns, Und an Parnasses Felsen und am Kithäron hör ich, O Asia, das Echo von dir, und es bricht sich Am Kapitol, und jählings herab von den Alpen Kommt, eine Fremdlingin, sie Zu uns, die Erweckerin, Die menschenbildende Stimme.
Produktivität läßt nicht nach, sich dergestalt zu wecken, wie sie vom Stachel des Sagenmüssens erweckt wird. Das Sagenmüssen zwingt erst recht, wenn das Vorschwebende, das zu gestalten wäre, sich verbirgt, wenn es mit seinem Rückzug gar zu kokettieren scheint. Wenn die Arbeit vor dem Durchbruch eines neuen Ansturms ihren Täter fliehen mag, indem sie besonders dringend nach ihm verlangt; wenn das Arbeitsthema sich verdinglicht zu einem schwankenden, flüsternden,
selber zaudernden Wesen und scheint dem Sagenmüssen seine Saumseligkeit vorzuwerfen. Doch wer an einen Stern gebunden ist, sagt Lionardo, kehrt nicht um, und die Moral der Produktivität bewährt sich daran, alles Angefachte zu vollenden, die Kontur des vorschwebenden Inhalts rein und gefaßt an den Tag zu bringen. Wie erst, wenn Jugend, Zeitwende und Produktivität zugleich in glücklich angetretenen Begabungen zusammenfallen. Wie das im jungen Goethe gelang, im Prometheus-Fragment, in der riesigen Intentions-Dimension des «Faust« und bereits des Urfaust, aber auch von daher noch - in dem vertrauensvollsten aller Sätze (aus «Wilhelm Meisters Lehrjahre«): »Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden.« Dann arbeiten und gelingen die prospektiven Akte aus dem mächtigen Erwarten, das seiner mächtig geworden ist; aus Affinität zum Stern, der sich noch unter dem Horizont befindet; aus der Kraft zum Unbetretenen, die Dante sagen läßt: «L'acqua che io prendo giammai non si corse« (das Wasser, das ich fasse, hat man noch nie befahren). Letztere Sentenz ist schließlich diejenige, welche Jugend, Zeitwende, Produktivität am besten in einem einzigen Griff vereinigt; nicht mit Hochmut, sondern mit Beschreibung dessen, was bei Schöpfungen der Fall ist, der Fall zu sein hat. /(138)
Weiteres zur Produktivität: ihre drei Stadien
Soviel zur großen Unruhe, wenn sie sich mit Traum nach vorwärts überzieht. Als eine tätige, mit dem neuen Ursprung gegen die Starre, der sieh ahnungsvoll bildet. Diese Ahnung ist auch in ihrem gewöhnlichen Vorkommen der Sinn für das sich Anbahnende. Wird sie schöpferisch, so verbindet sie sich mit der Phantasie, vorzüglich mit der des objektiv Möglichen. Die arbeitsfähige Ahnung ist geistige Produktivität, nun als werkbildend betrachtet. Des näheren setzt sich Produktivität als dreifache, dreifach wachsende Erstreckung ins Ungekommene: als Inkubation; als sogenannte Inspiration, als Explikation. Alle drei gehören zum Vermögen, über die bisherigen Ränder des Bewußtseins nach vorwärts hinauszufahren. In der Inkubation ist ein heftiges Meinen, es zielt auf das Gesuchte, das im dämmernden Anzug ist. Nebel sind auch psychisch die beste Zeit zum Säen, es darf nur nicht bei ihnen bleiben; sogar ein Stadium von Dunkelheit besteht, doch eben mit der intensiven Anlage, sich zu lichten. Der Zustand der Anlage ist an sich bereits ein Widerspruch, der sich auflösen will; sie ist der unhaltbare, der so angstvolle wie glückliche Zustand, nicht zu sein, was unsere Natur ihrem reellsten Streben nach ist, und eben so zu sein, was sie noch nicht ist. In diesem Widerspruch befindet sich auch noch die entwickeltere Anlage oder die Gärung, worin sich die bereits konturvollere Aussage und Gestalt vor- und zubereitet. Immer jedenfalls ist hier Erwartung präsent, ganz gleich noch, mit welch größerer oder geringerer Ladung das Dreiviertelstund-vor-Tag erscheint. Dieser Inkubation nun folgt weiter meist jähe Klärung, blitzhafte; sie kommt wie von außen oder, in der falschen Auslegung, wie von oben herab. Deshalb kam der Ausdruck Inspiration dafür in Gebrauch; er macht das Jähe kenntlich, das erhellend und begeisternd Einschlagende, den plötzlichen Durchblick. Die Inkubation, welches ein Sprachloses an sich hatte, ja zuweilen aus Überfülle eine Art Bewußtseinsleere hervorrufen kann, diese Verschlossenheit löst sich nun. Die Lösung kann in leichteren Fällen durch einen Überfall von Einfällen geschehen, als solchen, die den Hauptgedanken nur umgeben oder ihn ankündigen; zuweilen folgen sie ihm auch, /(139) nach geschehener Erscheinung des Hauptgedankens, nach. Dessen Erscheinung selber kommt übermächtig und anscheinend so sehr als Lösung des Problems, als habe es während der Inkubation
und ihrer Grübelei gar keines gegeben. Auch die äußerste Konzentration löst sich, welche die Verschlossenheit des letzten Stadiums ausgezeichnet hatte und welche in Dürers Blatt «Melancolia « als Steinkugel im Zimmer liegt, das ist: als rings zusammengezogenes Denksymbol des Grübelnden. Die Lösung taucht mit einem Sprungprozeß auf, scheinbar so unvermittelt, das heißt ohne Bewußtsein der lange gärenden Inkubationszeit, daß die Inspiration, neben dem Glücksgefühl der Befreiung, leicht eben das Wundergefühl eines magischen Geschenks mit sich führt, vielmehr mit sich geführt hat. Die mit ihr gegebene Vision ist aber in jedem Fall mit Glücksrausch verbunden, mit höchster Leichtigkeit dazu, obzwar davon sowohl die magisch-archaischen wie die transzendenten Auslegungen gestrichen werden müssen, als all dies muffig Geweihte. Der Produktive ist kein Schamane, auch kein psychologisches Stück Urzeit; er ist weder ein Rußfeuer aus diesem Abgrund noch aber auch, wie das noch Nietzsche kokett erinnern möchte, ein Mundstück höherer Gewalten. Diese transzendente Mythisierung der Inspiration, als ob sie von oben herabfahre, ist erst recht gegenstandslos; sie ist der magisch-archaischen nur insofern überlegen, als sie wenigstens dem Transcendere, soll heißen: dem übersteigend Erweiternden der geistigen Schöpfung gerecht werden will und diese nicht zu einem Absinken, einer Nachtsprache verfälscht. Daß hier im Akt der Produktivität keine archaische Regression vor sich geht, zeigt eben die beständige Lichterfahrung, die mit der Inspiration verbunden ist. Auch sie ist in den meisten Fällen ganz hell, auf der Höhe des Bewußtseins notierbar, so am berühmtesten bei Descartes, als er das Prinzip des Cogito ergo sum gefunden hatte: «Am 10. November 1619, wo mir das Licht einer wunderbaren Entdeckung tagte.« Und was ist nun die Zündungsgegend dieses Tagens, nachdem weder Schamanisches von unten her noch Enthusiastisches von oben herab mehr als abergläubische Auslegungen geliefert haben? Die Zündungsgegend der Inspiration liegt in der Zusammenkunft einer spezifischen genialen, das heißt schöpferischen Anlage mit /(140) der Anlage einer Zeit, den spezifischen Inhalt zu liefern, der für die Aussage, Formung, Durchführung spruchreif geworden ist. Nicht nur die subjektiven, auch die objektiven Bedingungen zur Aussage eines Novum müssen also bereit sein, müssen reif sein, damit dieses Novum aus bloßer Inkubation zum Durchbruch und plötzlichen Durchblick seiner gelangen kann. Und diese Bedingungen sind allemal ökonomisch-soziale progressiver Art: ohne kapitalistischen Auftrag hätte der subjektive Auftrag zum Cogito ergo sum nie seine Inspiration gefunden; ohne beginnend proletarischen Auftrag wäre die Erkenntnis der materialistischen Dialektik unfindbar gewesen oder ein bloßes brütendes Apercu geblieben und auch nicht als Blitz in den nicht mehr naiven Volksboden eingeschlagen. Item, der Durchbruch, der oft plötzliche gewaltige Lichtschlag im genialen Individuum gewinnt sowohl das Material, an dem er sich entzündet, wie das Material, das er beleuchtet, einzig aus dem zum Gedanken drängenden Novum des Zeitinhalts selbst. Das ist, wohlverstanden, noch dann der Fall, wenn, wie so oft, die Rezeptivität einer Zeit nicht selber auf der Höhe dieser Zeit, gar ihrer Weiterungen, ihrer fortwirkenden Tendenzen und Latenzen steht. Auch dann kommt die Inspiration aus dem Auftrag der Zeit, der im genialen Individuum sich vernimmt und im Einklang mit dessen Anlage sich auslegt, mit dessen Potenz sich potenziert. Das Geheimnis der Welt, das als unsere Aufgabe in der Zeit vorrückt und der großen Begabung vorgerückt wird, ist zwar mächtig genug, um die zu seiner Artikulierung Berufenen mit Inkubation geladen zu halten, aber noch nicht mächtig genug, um den Schuß der jeweils möglichen, gesellschaftlich bevorstehenden Erhellungsweise zu lösen. Mit
dem Weltgeheimnis noch allein im Blick, ohne konkretes Verhältnis zur Zeit, kommt selbst bei größten Begabungen nur jener Engpaß von Inkubation zustande, den Hegel, auf eine Flaute in seinen Anfängen rückblickend, einmal so beschreibt: «Ich kenne aus eigener Erfahrung diese Stimmung des Gemüts oder vielmehr der Vernunft, wenn sie sich einmal mit Interesse und mit ihren Ahndungen in ein Chaos der Erscheinungen hineingemacht hat und... des Ziels innerlich gewiß noch nicht zur Klarheit und Detaillierung des Ganzen gekommen ist ... Jeder Mensch hat wohl überhaupt einen solchen /(141) Wendungspunkt in seinem Leben, den nächtlichen Punkt der Konzentration seines Wesens« (Briefe von und an Hegel I, 1887, S.264). Und was die nötige Übereinstimmung mit dem historischen Kairos als konstituierende Eigenschaft des Geniehaften überhaupt angeht, so bemerkte hierzu, seinen Meister im Kopf, der Hegelianer Rosenkranz höchst sachgemäß: «Das Genie ist nicht, wie das Talent, durch formelle Vielseitigkeit, obwohl es dieselbe besitzen kann, sondern dadurch groß, daß es das objektiv in einer Sphäre Notwendige als sein individuelles Schicksal vollbringt. Eben darum hat es nur in der geschichtlichen Entwicklung sein Maß, denn es muß über alles Gegebene unmittelbar hinaus sein und das, was nach dem objektiven Gang der Sache gerade an der Zeit ist, als eine private Befriedigung erarbeiten. Innerhalb dieser Aufgabe herrscht es mit dämonischer Gewalt, außerhalb derselben ist es machtlos und kann sich wohl mannigfaltig bilden, aber nicht das Neue schaffen« (Psychologie, 1843, S. 54f.). Und wie vortrefflich hätte diese Bestimmung damals, 1843, auf Marx zugetroffen, als auf ein junges Genie, das wie wenig andere das objektiv in einer Sphäre Notwendige als sein individuelles Schicksal zu vollbringen begann und das den damals geschehenden Inspirationsdurchbruch seines Werks wie kein anderer in völlig begriffener Übereinstimmung mit der gesellschaftlich-historischen Tendenz seiner Zeit erfuhr. Die Inspiration insgesamt kommt derart, wann immer sie eine werkbildende ist, aus der Zusammenkunft von Subjekt und Objekt, aus der Zusammenkunft ihrer Tendenz mit der objektiven Tendenz der Zeit, und ist der Blitz, womit diese Konkordanz anhebt. Dann geschieht die Zündung, die durchaus immanente; Inspiration ist so der Lichtausbruch im jeweiligen Tendenz-Latenz-Sein selbst, hervorgerufen durch dessen jeweils stärkstes Bewußtsein. Herauf kommt nun im Autor die klare Idee des Werks und als eine, die wie vorher in der lnkubation, so jetzt in der Inspiration sich noch keineswegs Genüge tut, die vielmehr weitertreibt und die aus dem Blitz, der die neue Landschaft zeigte, in die Topographie dieser Landschaft zu gelangen hat. Darin schließlich wird ausgeführt, was von der Unruhe und ihrer Ahnung gezeigt war. Das geschieht im letzten Akt der Produktivität, im qualvollen, arbeitsseligen der Explikation. Genie ist Fleiß, doch einer, der gerade die Ausarbeitung nirgends altern, nirgends ohne fortdauernde Besessenheit lassen will. Es darf kein Bruch eintreten, weder zwischen Vision und Werk noch zwischen Werk und Vision: »Das erste Licht«, sagt van Gogh, »worin der zündende Eindruck lag, muß schon selber begonnen haben mitzumalen.« Genie ist derart spezifischer Fleiß des fortgeführten Lichtblicks zu seiner Aussage hin, so daß das Gemeisterte dem Geplanten nicht nur Stärke, sondern auch Tiefe hinzugibt. Gemäß der wahren Beobachtung in Schopenhauers Satz: »Das Talent gleicht einem Schützen, der ein Ziel trifft, welches die übrigen nicht erreichen können; das Genie dem, der eines trifft, bis zu welchem sie nicht einmal zu sehen vermögen.« Genau diese Wahrheit hebt auch Sehopenhauers sonstige grundfalsche Geniedefinition auf, wonach Genie reines statisches Weltauge sei, also keinesfalls vorauseilend sein könne. Gerade aber indem Genialität über den jeweils vorhandenen Horizont hinaussieht,
hinaustrifft, ist sie nicht kontemplativ-statisches Weltauge, sondern Pionier an den Grenzen einer vorrückenden Welt, ja selber ein wichtigster Teil der Welt, die sich erst bildet. Psychologisch ist Genialität die Erscheinung eines besonders hohen Grades von Noch-Nicht-Bewußtem und der Bewußtseinsfähigkeit, letzthin also Explizierungskraft dieses Noch-Nicht-Bewußten im Subjekt, in der Welt. Nach der Fülle seines Noch-Nicht-Bewußten, das heißt seines vermittelten Hinausseins über das bisher bewußt Gegebene, bisher in der Welt Explizierte und Ausgestaltete ist der Grad der genialen Begabung bestimmt. Künstlerisches und wissenschaftliches Genie hier zu unterscheiden, ist an diesem Punkt noch nicht notwendig; denn die Sentenz des Danteschen »L'acqua che io prendo giammai non si corse« gilt psychologisch sowohl für künstlerische wie wissenschaftliche Werke von Rang. Gestaltung des bisher noch nicht Gestalteten, dies Werkkriterium des Genialen, ist in Kunst (der bildhaften Abbildung eines realen Vorscheins) und in Wissenschaft (der begrifflichen Abbildung der Tendenz-, Latenz-Struktur des Realen) das gleiche. Die Explikationen in Kunst und Wissenschaft haben freilich auch noch in dieser verschiedenen Objektivitätsschicht dasjenige miteinander gemeinsam, daß sie jeweils im Prozeß der Objektivität selber sich befinden und, soweit sie /(143) genügend Genie enthalten, an dessen Front stehen. Genie als fortgeschrittenstes Bewußtsein und Lehrer dieses Bewußtseins ist eben deshalb auch höchste Empfindlichkeit für die Umschlagspunkte in der Zeit und ihrem materiellen Prozeß. Ist Kraft und Fähigkeit, auf der Höhe dieser Zeit zu stehen und sie über Landschaft wie Horizont dieser Prozeßepoche mitwissend zu informieren. Deshalb ist es nicht ganz uneben, wenn Carlyle das Geniewort geradezu als Lösungswort der Zeitahnung feiert: »Was der geistige Vorkämpfer sagt, waren alle Menschen schon nicht weit entfernt zu sagen, sehnten sich danach, es auszusprechen. Die Gedanken aller fahren wie aus einen schmerzlichen Zauberschlaf bei seinem Gedanken auf und erwidern ihm mit Zustimmung.« Kommt diese Zustimmung oft auch erst bei der nächsten Generation oder noch später, so lag doch das Pulver zum Schuß schon vorher bereit, und die Publizität der Zeit hat den Schuß nur nicht gehört, eben weil er an ihr im Horizont geschah. Ja an der Explikation eines bisher Noch-Nicht-Bewußten zeigt sich am stärksten: Das Noch- Nicht-Bewußte insgesamt ist die psychische Repräsentierung des Noch-Nicht- Gewordenen in einer Zeit und ihrer Welt, an der Front der Welt. Das Bewußtmachen des Noch-Nicht-Bewußten, das Gestalten des Noch-Nicht-Gewordenen ist nur in diesem Raum, als einem der konkreten Antizipation, nur in ihm steht der Vulkan der Produktivität und wirft sein Feuer. Nur als Phänomen des Novum ist auch die Meisterschaft im Geniewerk verständlich, die der gewohnten Gewordenheit fremd ist. Jedes große Kunstwerk bleibt daher, außer seinem manifesten Wesen, noch auf die Latenz der anderen Seite aufgetragen, das ist, auf die Inhalte einer Zukunft, die zu seiner Zeit noch nicht erschienen war, wo nicht auf die Inhalte eines noch unbekannten Endzustands. Nur aus diesem Grund haben die großen Werke allen Zeiten. Etwas zu sagen, und zwar ein weiterdeutendes Novum, das die vorige Zeit an ihnen noch nicht bemerkt hatte;. nur aus diesem Grund hat eine Märchenoper wie die Zauberflöte, aber auch ein historisch lokalisiertes Epos wie die Ilias sogenannte ewige Jugend. Das macht: zum Geniewerk gewordene Explikationen haben nicht nur ihren eigenen Tag vollkommen ausgesprochen, es geht in ihnen auch die dauernde Implikation des Plus ultra um. Sein Platz, der Platz /(144) des Noch-Nicht-Bewußten, ist hier am wenigsten im Boden des Unterbewußtseins, als dem Ort, wohin bereits bewußt Gewesenes, bereits Erlebt-Erschienenes lediglich untergesunken ist. Sein Platz ist an der Front, wo die Genesis weitergeht, ja wo sie, als die des Rechten, immer noch erst im
Begriff ist, mit dem Anfang zu beginnen. Die Wasser der Vergessenheit fließen in der Unterwelt, aber der kastalische Quell der Produktivität entspringt auf dem Parnaß als einem Berge. So arbeitet Produktivität, obwohl sie aus der Tiefe kommt, gerade erst am Licht und setzt immer wieder neuen Ursprung, nämlich einen auf der Höhe des Bewußtseins. Es gehört zu dieser Höhe, daß über ihr Blau ist, als die Gegenfarbe zum Orkus, als der dunkle und doch transparente Nimbus um alle wirkliche Explikation. Dieses Blau, als Fernfarbe, bezeichnet ebenso anschaulichsymbolisch das Zukunftshaltige, Noch-Nicht-Gewordene in der Wirklichkeit, worauf bedeutende Aussagen, eben als vorrückende, letzthin bezogen sind. Das Dunkle nach vorwärts, als ein sich lichtendes, ist auch in seiner Aussage jenem hellsten Bewußtsein zugeordnet, an dem der Tag die Morgenröte nicht aufgegeben hat, sondern gerade ihre wachsende ist. Unterschiede des Widerstands, den das Vergessene und das Noch-Nicht- Bewußte der Erhellung entgegensetzen Stets macht es verschiedene Mühe, ins rückwärts oder ins vorwärts gelegene Dunkel einzudringen. Gewiß, beim Erinnern wie beim arbeitsfähigen Ahnen wird die Schwelle des Bewußtseins verlegt. Aber beim einen gilt es, sie nach unten zu senken, damit Vergessenes oder Verdrängtes darübertrete, beim andern wird eine Grenze nach der Höhe verrückt. Gewiß auch, in beiden Fällen sperrt sich etwas gegen das Bewußtwerden, macht sich ein Widerstand gegen die Verschiebung der Schwelle geltend. Aber dieser Widerstand ist nicht minder ein charakteristisch anderer, je nachdem, ob Verdrängtes erinnert oder Geahntes gestaltet werden soll. Die Psychoanalyse hat in ihrem unterbewußten Gebiet solchen Widerstand längst kenntlich zu machen versucht: als einen des Unwillens, Verdrängtes wieder auszupacken. Das /(145) Verdrängte selbst soll hier ja dadurch entstanden sein, daß sich ein Sträuben gegen das Bewußtwerden des ihm zugrunde liegenden seelischen Vorgangs oder Ereignisses erhoben hatte. So blieb oder wurde der Vorgang unbewußt, schickte nur noch ein neurotisches Symptom seiner ins Bewußtsein; dies Symptom aber gilt allemal als Anzeichen, das ein Vorgang nicht zu Ende gelebt, daß er abgebrochen wurde, daß der Patient mit etwas in sich nicht fertig geworden ist. Und das gleiche Sträuben, das einen Menschen krank gemacht hat, widersetzt sich während der analytischen Kur von neuem dem Bemühen, Verdrängt-Unterbewußtes ins Bewußtsein zu heben; dies eben ist der Widerstand des Nicht-Mehr-Bewußten gegen sein Bewußtwerden. Kurz, ein deutlich vorhandener Wille fundiert hier den Widerstand; wird dieser Wille gebrochen, dann taucht das Vergessene angeblich ohne weiteres auf. Und dieser Wille gilt als rein negierender, weshalb auch Freud sagt: »Verdrängung ist die infantile Vorstufe der Verurteilung.« Die gleichen Motive, die das alte Trauma sich verfestigen ließen, legen sich seinem Bewußtmachen in den Weg. Und vor allem: kommt das Verdrängte trotzdem an den Tag, so ist es verjährtes altes Zeug, das nun erst recht vergessen, nämlich überwunden wird. Durchaus anders jedoch ist das Nichtwollen dort beschaffen, wo die Fahrt ins Dunkel nach vorwärts geht. Der Widerstand gegen das Bewußtwerden im Gebiet des Noch-Nicht-Bewußten zeigt selten oder nie neurotische Züge. Er zeigt sie nur dann, wenn im Produzieren wollen ein Mißverhältnis zwischen Kraft und Wille auftritt; dieses Mißverhältnis erzeugt allerdings, wie bekannt, eines der herbsten Leiden. Durchaus jedoch fehlt auch dann ein Sichsperren im Erhellungswillen selbst, von der Art also, wie es im Subjekt bei der bloßen Hebung eines Verdrängten, also beim Marsch ins Nicht-Mehr-Bewußte, eintritt. Ein Widerstand im Subjekt des
Produktionswillens gegen diesen Willen und seine Inhalte, gar gegen das Gelingen der Fahrt ins Noch-Nicht-Bewußte und gegen dessen Schätze: ein Nichtwollen dieser Art kommt beim Produzierenden überhaupt nicht vor. Er überläßt das vielmehr den Empfängern des Werks, der, wie so oft, sich sperrenden Rezeptivität, dem also, was man früher den Widerstand der stumpfen Welt genannt hat. Die Psychologie des /(146) Produzierens selber aber weist keinerlei inneren Widerstand gegen die hier vorliegenden Erhellungsakte auf; vielmehr ist der zur Produktion gehörige und in ihr einheimische Widerstand überhaupt keiner im menschlichen Subjekt. Er steckt vielmehr in der vom Subjekt bearbeiteten Sache und wird von den spezifischen Mühen der Explikation nur gespiegelt. Er steckt im schwierigen Fahrwasser des Novum, in dem noch Ungestalten, jeder Gewohnheit Baren des neuen Materials. Ja sogar der bloße Rezeptivitäts-Widerstand, wenn er sich gegen Geniewerke sperrt, sie über die Maßen nicht versteht oder nur Ärgernis an ihnen nimmt, leitet sich, trotz des eingemischten, der Psychoanalyse zugehörigen Ressentiments, am Ende von einer Unlust zu der Schwierigkeit des sachlich Neuen her; womit selbst hier der der Erhellung des Noch-Nicht-Bewußten eigene Widerstand letzthin kenntlich gemacht wird als der des noch ungebahnten Materials. Aller Anfang ist in diesem Gebiet schwer, desto schwerer, weil eben das Neue, in das die produktive Pionierschaft geht, wesentlich auch eines der heraufkommenden Sache an und für sich ist. Nur deshalb also treten die neuen Wahrheiten als die des objektiv Neuen in ihrer Artikulierung so zögernd vor und immer nur als astra per aspera. Leicht beieinander wohnen die Gedanken lediglich als Plan oder als Skizze, aber ein Schritt weiter, und die konkrete Schwierigkeit des Werks beginnt. Bewirkt sie doch auch bei ausreichendem Können, und gerade bei ihm, die vielen zurückgeworfenen Expeditionen im Atelier, im Laboratorium, in der Studierstube, die zahllosen Schlachtfelder ohne Sieg oder mit hinausgeschobenem. Item, gar nichts Verdrängtes, sondern Schwierigkeit des Wegs ist im Noch-Nicht-Bewußten, NochNicht-Gewordenen dasjenige, was der Produktivität zu schaffen macht. Die Gründe hierfür liegen ausschließlich auf dem Terrain der Sache, als einem noch nicht abgeschlossenen, gar glatt arrondierten; kurz, es gibt eigene Hüter der oberen Schwelle, und sie liegen im Material. Die derart wirksame Sperre tritt zunächst und überall als eine geschichtliche auf. Genauer als eine gesellschaftliche; das auch dann, wenn das Auszusagende oder zu Erkennende an und für sich selber keinesfalls neu ist. Wenn also nur eine neue Erkenntnis und mit ihr nicht auch eine Erkenntnis von sachlich Neuem, /(147) das ist: jetzt erst sachlich Heraufkommendem gewonnen werden soll. Es gibt dieser Art in der Geschichte eine ökonomisch-soziale Blickschranke, sie ist auch dem kühnsten Geist unüberspringbar. Vorwegnahmen, Vorblicke traten viele ins vorhandene Bewußtsein und wurden von ihm selber im Noch-Nicht-Bewußten pointiert, erhellt; jedoch die gesellschaftliche Schranke hemmte die Ausführung. So haben Forscher ersten Ranges wegen ihres gesellschaftlich-geschichtlichen Standorts und von ihm her oft nicht einmal die halbe Minerva an sich gebracht (wie die Alten selber dies Widerständige nannten). Kein griechischer Mathematiker hätte die Differentialrechnung verstanden, auch Zenon nicht, so nahe er ihr gekommen war. Das Unendlichkleine, die variable Größe lagen total unter dem Horizont der griechischen Gesellschaft; erst der Kapitalismus ließ das bisher Feste und Endliche so in Fluß geraten, daß Ruhe als unendlich kleine Bewegung, daß unstatische Größenbegriffe gedacht werden konnten. Hierher gehört auch, daß der griechischen Sklavenhaltergesellschaft der Begriff der Arbeit fremd war, auch erkenntnistheoretisch und gerade hier. Sie hat das Erkennen stets nur als ein
empfangendes Schauen, nirgends als eine Tätigkeit pointiert; so nahe das etwa der Stoa und dem »subjektiven Faktor« in ihr hätte liegen können. Nicht alle Einsichten und Werke sind zu allen Zeiten möglich, die Geschichte hat ihren Fahrplan, oft sind die ihrer Zeit transzendierenden Werke nicht einmal intendierbar, geschweige ausführbar. Das pointierte Marx mit dem Satz, daß die Menschheit sich immer nur Aufgaben stellt, die sie lösen kann. Die ihre Zeit transzendierenden Aufgaben sind selbst dort, wo sie ausnahmsweise abstrakt stellbar sein mögen, konkret unlösbar. Auch diese Schranke aber ist letzthin einzig im historischen Zustand des Materials fundiert, vor allem in seinem eigenen prozessualunabgeschlossenen Zustand, wie er selber in Mühe, Front und Fragmenten steht. Das auch dort, wo nur neue Erkenntnis und noch keine Erkenntnis eines sachlich Neuen fragmentiert; wie sehr erst dort, wo, wie beim Arbeitsbegriff, die ganze Sache -als bürgerliche Gesellschaft - noch unter dem Horizont liegt. Das den Produktivitäts-Widerstand letzthin Bestimmende bleibt auch hier das schwierige Fahrwasser der Sache, bleibt die nur rationiert sich lichtende Verschlossenheit des Novum im Gesamt- /(148) prozeß überhaupt, der als Welt vor sich geht. Der keinesfalls grundsätzliche, wohl aber historisch-temporäre Widerstand darin wird selbst dort noch notiert, wo er als überwunden ausgegeben wird, nämlich durch Mut. So in dem herrlich antiagnozistischen Prospekt Hegels: «Das verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft in sich, welche dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte, es muß sich vor ihm auftun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genusse bringen« (Werke VI, 1840, S. XL). Man sieht, auch hier fehlt das Wort Widerstand nicht, obwohl es sich am allerwenigsten um Gegenstände eines Unterbewußtseins handelt. Vielmehr ist die Verschlossenheit eines ganzen Universums zitiert, und diese gerade im Verhältnis zum hemmungslosen Mut eines Erkennens. Wieviel größer erst der Widerstand der Objekthaftigkeit zur Subjekt-Objekt-Beziehung der Erkenntnis, wo ein Universum nicht, wie bei Hegel, panlogisch und darin zugleich geschlossen vorliegt. Wo ein unabgeschlossener Prozeß anhängig ist, der überdies mit keinem so vertrauten, jedem idealistischen Professor verwandten Namen signiert ist wie Geist. Recht im Gegenteil dazu heißt der Träger des Prozesses Materie und ist ein Wesen, das keineswegs an sich schon, gleich der sogenannten Weltidee, das Subjekt mit dem Objekt zusammenschließt, es sei denn im Gefolge harter, eben durch Mühe des Widerstands geschärfter Arbeit. Das noch verschlossene Wesen des Universums, das gerade als Materie noch in einem unabgeschlossenen Prozeß seiner Objektivierungen liegt, läßt sich am wenigsten als bereits Fertiges, gar überschwenglich Sonnenklares abspiegeln oder deklarieren. Das noch Ungewordene, noch Ungelungene ist eine eigene Wildnis, an Gefahren der unbetretenen vergleichbar, an ungekommenen Möglichkeiten ihr überlegen. Dieses Noch-Nicht-Gewordene, ja Noch-Nicht-Gelungene im Objekt fundiert also den letzten Widerstand, er ist ersichtlich erst recht ein anderer als der der Verdrängtheit oder versteckten Vorhandenheit. Das Weltgeheimnis selber liegt nicht in einer Art kosmoanalytischer Abfallsgrube, sondern im Horizont der zu gewinnenden Zukunft, und der Widerstand, den es seiner Eröffnung entgegensetzt, ist nicht der eines verschlossenen Kastens, wie in dämonischen Schatzmythen, mit boshaft blickenden Hunden zur /(149) Seite, die ihn bewachen, sondern der Widerstand ist hier der einer in sich selbst noch im Prozeß befindlichen, noch nicht manifesten Fülle. Das macht bezeichnenderweise, daß der objektive Idealismus, gar Spiritualismus das ihm Wesenhafte hinter der Erscheinung kraft der falschen Gleichung: Denken = Sein meist zu bestimmen unternahm, als wäre es nur geographisch an einem anderen Ort, während Marx, der doch gewiß nicht des »Agnostizismus« Verdächtige, bereits
vom »Reich der Freiheit« fast nur privativ spricht, nämlich als bloßem Nichtdasein der Merkmale der Klassengesellschaft, oder äußerstenfalls in der ferntiefen, durchaus noch schwebenden Bedeutung einer «Naturalisierung des Menschen, Humanisierung der Natur«. Das sogenannte Wesen des Universums also ist noch an und für sich verschlossen im Sinne von: Noch-Nicht-Erscheinung seiner selbst; diese seine eigene Aufgabe- Natur macht es schwierig. Das Schwierige aufzuheben, dazu ist nicht nur Erkenntnis nötig im Sinn einer Ausgrabung dessen, was war, sondern Erkenntnis im Sinn einer Planbestimmung dessen, was wird; Erkenntnis mithin ist nötig, die zu diesem Werden, als einem gut verändernden, selber entscheidend beiträgt. Revolution und Genie geben Vertrauen darauf, daß dies schwierige heliotropische Geschäft nicht umsonst war oder umsonst gewesen sein wird; trotz des Widerstands in ihm selbst und im Sauerteig Welt. Epilog über die Sperre, die den Begriff des Noch- Nicht-Bewußten so lange verhindert hat Sonderbar schwer macht der innere Blick gar sich selber hell. Hier ist ein eigener Widerstand im allgemein sachlichen; seelisches Leben wirkt flüchtig, schattenhaft. Wie lange dauerte es, bis man überhaupt nur merkte, daß dieses Leben sieh selber bemerkt, also ein bewußtes ist. Und unterbewußte seelische Vorgänge werden als solche erst seit wenig mehr als zweihundert Jahren bei Namen genannt. Dem mag allenfalls zugute gehalten werden, daß die unterbewußten Vorgänge nicht ohne weiteres bemerkbar gegeben sind, daß sie erst aus Zeichen erschlossen werden, daß sie inhaltlich Vergessenes enthalten. Doch schwerer verständlich wirkt es, nach der immerhin geschehenen Notierung /(150) des Bewußten, gar Unterbewußten, daß das Noch-Nicht-Bewußte solange unbeachtet geblieben ist. Denn es wird nicht durch den Akt des Erinnerns erst ausgegraben, sondern ist sich gerade als eigener Akt unmittelbar gegeben, nämlich im Ahnen, außer diesem, was inhaltlich darin vorgeht. Trotzdem wurde das Schwebende, Offene, Ausmalende dieser Vorgänge so dargestellt, als ob es, wie gesehen ward, gleichfalls nur unterbewußt wäre; und eben: in diesem Dunkel lag es bis heute versteckt. Wie bekannt, wurde Unbewußtes überhaupt erst von Leibniz psychologisch kenntlich gemacht, auf weitem Umweg. Nicht nur Beobachtung, auch Theorie bewirkte die Entdeckung; Beobachtetes kam zum Teil nachträglich als ein Beispiel dazu, das die Theorie illustrierte. Eines der Leibnizschen Grundgesetze war das vom lückenlosen Weltzusammenhang; diese lex continui duldet keine Unterbrechung, keine Leerstelle, nirgendwo. Scheint sie sich dennoch zu finden, so ist sie in Wahrheit mit unmerklich kleinstem Etwas besetzt, mit anfangendem und wachsendem; die Differentialrechnung drückt dies Unendlich-Kleine als Bewegungsmoment mathematisch aus. Wie es aber nun kleinste Impulse der Bewegung gibt, so auch solche der Vorstellungsintensität des nach Klarheit und Deutlichkeit graduierten Bewußtseins: das sind die »petites perceptions insensibles«. Und als ihre Beispiele führt Leibniz kleinste Wahrnehmungen an, die wegen ihrer Schwäche unmerklich oder unbewußt bleiben, doch bei hinreichender Summierung, etwa als Wogengeräusch oder Stimmengewirr, durchaus bewußt werden. Also müssen sie auch vorher in der Seele vorhanden gewesen sein, desgleichen vergessene Vorstellungen, die durch genügende Verstärkung ins Bewußtsein treten. Die petites perceptions werden von Leibniz in der Vorrede zu den »Nouveaux Essais« sogleich als große Entdeckung ausgezeichnet: »Die unmerklichen Wahrnehmungen sind mit einem Wort in der
Geisteslehre von ebenso großer Bedeutung, wie es die unmerklichen Körper in der Physik sind; und es ist gleich unvernünftig, die einen wie die anderen unter dem Vorwand, daß sie außerhalb des Bereichs unserer Sinne fallen, zu verwerfen.« So wird der Begriff des Unbewußten aus der lex continui geboren, ja es läßt sich cum grano salis sagen: aus der Differentialrechnung, als deren Pendant in der Seele. Zugleich /(151) jedoch wird der so gewonnene Begriff des Unbewußten gänzlich unter den des vorhandenen Bewußtseins gebeugt. Unbewußtes ist von seiner ersten Notierung ab als Unterbewußtes abgestempelt. Die petites perceptions werden durch das im Menschen bereits erreichte Bewußtsein allemal überboten, auch aufgelöst; so kommen sie nach einer erlangten Klärung, und jenseits ihrer nicht abermals etwa gebärend, als Schöpfungselemente vor. Trotzdem war durch den Heros der Aufklärung selber noch ein anderes als vorhandenes Bewußtsein in der Seele aufgezeigt worden, wenn auch nur als Mondlicht im Ahnensaal des Bewußtseins. Schieres Bewußtsein galt nun nicht mehr als das Wesensmerkmal des menschlichen Geistes, der bis dahin so paradoxe Begriff einer unbewußten seelischen Tätigkeit begann. Und eben, auch das besondere Versteck des Noch-Nicht-Bewußten in diesem Dunkel begann, die Beugung des Noch-Nicht-Bewußten unter eine vergangen brütende Mondscheinwelt: diese Maske des Noch-Nicht-Bewußten trat nun auf. Mit eigentümlichen, jetzt erst durchschaubaren Pseudomorphosen, zuerst im Sturm und Drang, dann in der Romantik. Fünfzig Jahre nach dem Tod von Leibniz, mit dem Erscheinen seiner posthumen »Nouveaux Essais« schallte das Stichwort der petites perceptions in die Vorwehen jener bürgerlichen Revolution, die dann in Deutschland nicht kam. Das Unbewußte blieb dem Sturm und Drang zwar durchaus ein Unteres, lag im bloßen Anfang der Geistesgeschichte, aber es schien darin quellend und wallend. So blieb auch das Unbewußte nicht mehr infinitesimal wie die kleinsten Impulse, nicht mehr schmal wie die petites perceptions, vielmehr, aller Nebel des Nordens und der Vorzeit wogte darin, die Fingalshöhle wie Macbeth' Heide, der Geist der hebräischen Poesie wie das Straßburger Münster schienen darin Platz zu finden. Das Unbewußte hatte bei all seinem dumpfen Schwalm die Urstimme, die Glut, die Jugend, den wildschaffenden, hinwerfenden Genius. So erschien freilich das Dämmernde im Sturm und Drang, der ja weithin zur Aufklärung gehört, zum ersten Mal auch mit Zukunft versehen und sich dessen, mitten im Nachtwind der Vorzeit, auch bewußt zu sein: »Wer will«, ruft Hamann, als Magus dieser raunenden Aufklärung, »wer will vom Gegenwärtigen richtige Begriffe nehmen, ohne das Zukünftige /(152) zu wissen? Das Zukünftige bestimmt das Gegenwärtige und dieses das Vergangene, wie die Absicht Beschaffenheit und den Gebrauch der Mittel.« Und weiter sagt Hamann, mit Bezug auf Ezechiel 37, 1-6: »Das Feld der Geschichte ist mir daher immer wie jenes weite Feld vorgekommen, das voller Beine lag, und siehe! sie waren sehr verdorret. Niemand als ein Prophet kann von diesen Beinen weissagen, daß Adern und Fleisch darauf wachsen und Haut sie überziehe.« Auch an der Regel, diesem Stolz des rationalistischen Bewußtseins, wurde vor allem doch das Erloschene abgelehnt, das Geworden-Tote, im Gegensatz zur Entspringung oder Natur, die allemal als Quell-Natur andrang. Trotzdem jedoch blieb selbst dieses, auf betäubende Weise, noch mit Regressio gemischt, mit dem Mondschein Ossians, mit moosbedeckten Malen und Heldengräbern. Die Unreife Deutschlands zur bürgerlichen Revolution, die dadurch bedingten unklaren Durchkreuzungen der progressiven revolutionären Vernunft haben so das Originalgenie zuletzt doch mehr zu einem Boten aus der Urzeit als der Zukunft gemacht. Dergleichen steigerte sich in den erst recht merkwürdigen Verwicklungen der Romantik. Das Quellen war hier
gewiß lebhaft, und Unerhörtes schien darin in Gang zu kommen, aber das Gefühl eines verlorenen Gestern schlug mit einer Kraft dagegen an, die der Sturm und Drang nicht kennen wollte noch konnte. Diese Kraft wurde von dem reaktionären, gegen die bürgerliche Revolution gerichteten Auftrag geliefert, wie er wachsend die deutsche Romantik bestimmte und trotzdem vorhandene unleugbar progressive Züge durchkreuzte. Auf kaum mehr nacherfahrbare Weise war der Romantiker Vergangenem verfallen, und das mit einer lex continui, die - dem reaktionären Auftrag gemäß - in der mondbeglänzten Zaubernacht vorzugsweise nur Ritterburgen ragen ließ. Das Geschichtliche verband sich noch wachsend mit Archaischem und dieses mit Chthonischem, so daß das Geschichts-Innere bald wie Erd-Inneres selber dreinsah. Dies Truhengefühl, dies Inzestwesen des Eingehenwollens in den Mutterschoß Nacht und Vergangenheit kulminiert spät bei Bachofen, dem Lehrer des Mutterrechts, doch mit Grabliebe für die chthonische Demeter schlechthin. Der Nachtsicht gemäß kommt auch psychologisch jegliches Gute, Ahnungsvolle an den Nachtpol des Bewußtseins: /(153) Schöpfung geht mit Trieb und Instinkt, mit atavistischem Hellsehen und Raunen des Abgrunds heimatlich zusammen; auf der Tagseite, sogar auf der Gestalt- und Erfüllungsseite wohnte dem Romantiker nichts halb so Vertrautes. Jede Produktivität, ja gerade der Erwartungscharakter, an dem die Romantik so paradox reich ist, meditierte sich hier in antiquarische Bilder ein, in Vergangenheit, in Unvordenkliches, in Mythos, als Halt gegen die Zukunft, welche immer mehr nur als Spreu, Leere, Wind gilt. Nicht überraschend also, wenn hier Jugend und Produktivität jedes Bewußtseins ihres Noch-Nicht-Bewußten bis zum Ahnenkult redressierten: die andere Sprengkraft, außer der Produktivität: die erfaßte Zeitwende fehlte. Nicht überraschend auch, wenn die trotzdem stark-vage Erwartungsstimmung in der Restaurationswelt Romantik sich immer nur zu einem Advent erhob, in dem Vinetaglocken läuten, die Glocken einer versunkenen Stadt. Görres, der Renegat der phrygischen Mütze, hat dieses Pathos Vergangenheit am leidenschaftlichsten formuliert: »So reich war jene vergangene Welt, sie ist versunken, die Fluten sind darüber hingegangen, da und dort ragen die Trümmer noch hervor, und wenn sich die Trübe der Zeitentiefe klärt, sehen wir am Grunde ihre Schätze liegen. Wir sehen aus großer Ferne in den wunderbaren Abgrund nieder, wo alle Geheimnisse der Welt und des Lebens verborgen ruhen, aber ist es uns gelungen zu ergründen die Wurzel der Dinge, die in Gott verborgen ruht? Es zielt hinab der Blick in die Tiefe, es locken die Rätsel aus der Ferne, aber nach aufwärts drängt die Strömung und wirft den Taucher aus in die Gegenwart« (Mythengeschichte, 1810, Seite 599f). Bezeichnend führt hier das Aufwärts nur mit Trauer in die Gegenwart, und die Zukunft ist überhaupt nicht im Blick; es gibt zwar Rätsel der Ferne, sie sind dem Romantiker die allerdringlichsten, doch sie liegen fast einzig im Abgrund, die Ferne ist und bleibt Urgewesenheit. Zweifellos hatte die deutsche Romantik - was gegenüber einer veralteten abstrakten Unterschätzung ihrer nicht oft genug betont werden kann - auch progressiven Charakter; eben der Sinn fürs Quellen, Werden, Wachsen gehört hierher, der berühmte »historische Sinn«, der ganze Wissenschaften, wie Rechtsgeschichte, Germanistik, erst schuf; gar das Vaterländische ist nicht zu vergessen und ihm gemäß das /(154) Organ für alles große Nationalwerk in der Weltliteratur. Es gibt durchaus, wie allein schon das Wartburgfest 1817 zeigt, auch Revolutionär-Romantisches in der deutschen Romantik: indes selbst das leidenschaftlichst utopisierte Morgenrot ist hier immer wieder mit den angegebenen Nachtgedanken eines Antiquaritums durchsetzt, mit der Projektion überfeierter Vergangenheit auch noch in die Neuheit Zukunft. Und fast nur außerhalb Deutschlands, in der englischen, der russischen Romantik, die beide
nicht unter einem so reaktionären Stern standen, sondern unter dem wild erinnerten der Französischen Revolution, bei Byron, bei Shelley, bei Puschkin, wird das den Menschen angemessene, wahrhaft Heimatliche explosiv und Zukunft haltend, nicht versinkend gesucht. Doch das war in Deutschland Anomalie; gegen die romantische Reaktion kam eine revolutionäre Romantik damals noch nicht unverwechselbar auf. Selbst Jean Paul, der ohnehin nur uneigentlich zur Romantik gehört, der blühendste und ungehemmteste Wachtraum-Dichter, dessen Liberalismus sicher war und dessen Morgenrotsprache, wenn sie in Nacht steht, so in Johannisnacht, hat die Hoffnung, die bei ihm freilich unablässige, unter die Erinnerung gebeugt oder dort letzthin angesiedelt. Selbst Jean Paul also, der Dichter der schönsten vorschwebenden Wunschlandschaften, hat das Licht, sobald er es nicht dichtete, sondern darüber reflektierte, am Ende doch nur in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft gesucht. »Aus eben diesem Grunde glänzt jedes erinnerte Leben in seiner Ferne wie eine Erde am Himmel, nämlich die Phantasie drängt die Teile zu einem abgeschlossenen heiteren Ganzen zusammen. Sie könnte zwar ebensowohl ein trübes Ganzes bauen; aber spanische Luftschlösser voll Marterkammern stellt sie nur in die Zukunft und nur Belvederes in die Vergangenheit. Ungleich dem Orpheus gewinnen wir unsere Euridice durch Rückwärts- und verlieren sie durch Vorwärtsschauen« (Vorschule der Ästhetik, § 7). Derart verführte Romantik, mit dem Brunnenland in den petites perceptions, das Noch-Nicht-Bewußte doch immer wieder. Der Blick auf den utopischen Zustand, die Ausbeute seines Inhalts fanden so, bei aller Erwartung, die durchs romantische Gefühl ging, an der Anamnesis, als einer geradezu beschwörenden Wiedererinnerung, die stärkste Sperre. /(155) Und sie blieb nicht die einzige, wie noch Freud mit seinem nur unterbewußten Traum zeigte. Wohl wenig Zeiten haben so unvermeidlich den Übergang zu einem Anderswerden, einem Heraufkommenden gespürt wie die jetzige. Aber desto betretener und blinder verhält sich das Bürgertum hierzu, ist am Widerschein des Morgen gar nicht oder nur feindlich interessiert. Kommende Ereignisse werfen diesem Bürgertum lediglich ihren Schatten voraus, nichts anderes als Schatten; die kapitalistische Gesellschaft spürt sich von der Zukunft verneint. Mehr als je fehlt zu einer Trennung des Noch-Nicht-Bewußten vom Nicht-Mehr-Bewußten im Bürgertum der materielle Anlaß. Jede Psychoanalyse, mit Verdrängung als Hauptbegriff, Sublimierung als bloßem Nebenbegriff (für Ersatz, für Hoffnungs-Illusionen), ist darum notwendig retrospektiv. Sie entstand zwar in einer früheren Zeit als der heutigen, sie nahm, um die Jahrhundertwende, an einem sogenannten Kampf gegen die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit teil. Trotzdem ist Psychoanalyse in einer schon damals überalterten Klasse entstanden, in einer Gesellschaft ohne Zukunft. So überdimensionierte Freud die Libido der Parasiten und kannte keinen anderen Antrieb, gar Auftrieb. Keine anderen Träume als diejenigen, die der Herr, der jetzt Eros heißt, den Seinen im Schlaf gibt. Und je länger, je lieber verstärkte sich das durchaus interessierte Mißtrauen gegen die Zukunft durch den neuen Angst-, den alten Resignationsvorrat der Bourgeoisie. Und dieses eben bezeichnet die Schranke, die sich, wie gesehen, auch Freud vor dem Begriff eines NochNicht-Bewußten, vor der Dämmerung nach vorwärts auftut. Von daher der schlechthin unvermeidliche, schlechthin regredierende Satz: »Das Verdrängte ist uns das Vorbild des Unbewußten« (Das Ich und das Es, 1923, S. 12). Die Schranke wurde schließlich in der sogenannten Tiefenpsychologie absolut; dort also, wo die psychoanalytische Regression für den Blut-Boden-Zauber ideologisch brauchbar wurde. Das Unbewußte C. G. Jungs begab sieh desto gänzlicher in den Keller des Bewußtseins, als nur in ihm das Opium geraucht werden kann, womit der
Faschismus Utopie betäubt. Jung interpretiert auch Heraufdämmerndes ganz und gar archaisch-okkult, nach Analogie des prophetischen Tempelschlafs. Auch das »inconscient superieur«, /(156) auch die noch so geschwollen ausgedrückte »prospektive Tendenz subliminaler Kombinationen« wird derart, wie begriffen wurde, gänzlich unter Regression gebeugt. Die Stelle bei Jung, worin »ein das Zukünftige vorahnender Gedanke« dermaßen archaisiert wird und bleibt, ist gerade für die Geschichte der verhinderten Novum-Psychologie aufschlußreich genug, um in extenso zu erscheinen: »Die Psychoanalyse arbeitet rückwärts wie die Geschichtswissenschaft. So wie ein großer Teil der Vergangenheit dermaßen entrückt ist, daß ihn die Kenntnis der Historie nicht mehr erreicht, so ist auch ein großer Teil der unbewußten Determination unerreichbar. Die Historie weiß aber zweierlei Dinge nicht, nämlich das in der Vergangenheit Verborgene und das in der Zukunft Verborgene. Beides wäre vielleicht mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erreichen, ersteres als Postulat, letzteres als historische Prognose. Insofern im Heute schon das Morgen enthalten ist und alle Fäden des Zukünftigen schon gelegt sind, könnte also eine vertiefte Kenntnis der Gegenwart eine mehr oder minder weit reichende und sichere Prognose des Zukünftigen ermöglichen. Übertragen wir dieses Räsonnement. auf das Psychologische, so muß sich notwendig dasselbe ergeben: so wie nämlich dem Unbewußten nachweisbar längst unterschwellig gewordene Erinnerungsspuren noch zugänglich sind, so auch sehr feine subliminale Kombinationen nach vorwärts, welche für das zukünftige Geschehen, insofern solches durch unsere Psychologie bedingt ist, von allergrößter Bedeutung sind. So wenig aber die Geschichtswissenschaft sich um die Zukunftskombinationen bekümmert, welche vielmehr das Objekt der Politik sind, so wenig sind auch die psychologischen Zukunftskombinationen Gegenstand der Analyse, sondern wären vielmehr Objekte einer unendlich verfeinerten psychologischen Synthetik, welche den natürlichen Strömungswegen der Libido zu folgen verstünde. Das können wir nicht, wohl aber das Unbewußte, denn dort geschieht es, und es scheint, als ob von Zeit zu Zeit in gewissen Fällen bedeutsame Fragmente dieser Arbeit wenigstens in Träumen zutage träten, woher dann die vom Aberglauben längst geforderte prophetische Bedeutung der Träume käme. Die Abneigung der Exakten von heutzutage gegen derlei wohl kaum als phantastisch zu bezeichnende Gedankengänge ist /(157) bloß eine Überkompensation der Jahrtausende alten, aber allzu großen Neigung der Menschen, an die Wahrsagerei zu glauben« (Wandlungen und Symbole der Libido, 1925, S. 54f.). Das ist alles, was Jung gerade bei Gelegenheit der psychischen Repräsentation des Heraufkommenden zu sagen weiß: Das utopische Bewußtsein erscheint als ägyptisches Traumbuch. Nur das archaisch Unbewußte, im tiefsten Dunkel, vollzieht hier die sogenannten Zukunftskombinationen; tritt ein Geringes von diesem Dunkel aber ins Licht, so an jenes, das letzthin Regressio zeigt. Gerade im geschichtlichen Zusammenhang mit den petites perceptions wird so die nochmals erinnerte Archaisierung des Unbewußten nochmals warnend: die Schranke vor dem Novum bei dem großen progressiven Leibniz wird zum Fallbeil fürs Novum in der letzten bürgerlichen Psychologie des Unbewußten. Haben doch, wie nun völlig deutlich wird, selbst die aufsteigenden Zeiten der bürgerlichen Psychologie die Bewußtseinsklasse des Neuen nicht oder mindestens nicht unverwechselbar notiert. Leibniz legte den Akzent auf den Aufstieg des Bewußtseins, doch eben die petites perceptions, in welchen der Keim ist, lagen ausnahmslos unterhalb des bereits gewonnenen Bewußtseins, zeigen also genau jene historische Topik, die dem Vorbewußten bis Freud geblieben ist. Auch die Konstruktion der Wunschträume, die die Neuzeit
entwickelt hat: die sozialen Utopien und die einer technisch beherrschten Welt, selbst diese Vorwegnahmen haben in der philosophischen Beachtung, die sie von Morus, Campanella, Bacon bis Fichte und fortan fanden, weder eine Psychologie ihrer erweiternden Tagträume noch eine Erkenntnistheorie ihres möglich-realen Orts in der Welt ausbilden lassen. Der Grund hierfür liegt diesesfalls nicht in einem interessierten Mißtrauen gegen die Zukunft, gewiß nicht, wohl aber in einem sozusagen uninteressierten, nämlich im nachwirkenden Bann des statischen Lebens und Denkens. Auch das Bewußtsein des aufsteigenden Bürgertums war noch zu wenig aus dem Begriff einer vorgeordneten, letzthin fertigen Welt (ordo sempiternus rerum) ausgetreten; nachwirkende feudale Statik hemmte den Begriff Neuheit. Sie hemmte ihn bei Leibniz, sie hemmte und depravierte ihn sogar in der entschiedensten aller bisherigen Werdens Eröffnungen, Prozeßphilosophien wie der Hegels. So abgeriegelt /(158) muß selbst der berühmte Prozeß-Satz aus der »Phänomenologie des Geistes« gelesen werden: »Aber wie beim Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Atemzug jene Allmählichkeit des nur vermehrenden Fortganges abbricht - ein qualitativer Sprung - und jetzt das Kind geboren ist, so reift der sich bildende Geist langsam und still der neuen Gestalt entgegen, löst ein Teilchen des Baues seiner vorhergehenden Welt nach dem andern auf, ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet; der Leichtsinn wie die Langeweile, die im Bestehenden einreißen, die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten sind Vorboten, daß etwas anderes im Anzug ist. Dies allmähliche Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt« (Werke II, 1832,S.10). Der Reflex der Französischen Revolution ist hier wie im gesamten Sprungcharakter der Hegelsehen Dialektik unverkennbar; dennoch ist das Ganze ebenso gedacht als fertiges Zugleichsein, als - Erinnerung. Der Blitz des neuen Anfangs ist auch hier nur Aufgang mit längst entschiedener Abgeschlossenheit des Aufgehenden und darum im Kreis geschehend, ohne Hoffnung zu einem noch Ungekommenen. Ewig ist das ungeheure Unternehmen schon in Pension gegangen, in die Ruhe fertiger Gelungenheit: »Die Erscheinung ist das Entstehen und Vergehen, das selbst nicht entsteht und vergeht, sondern an sich ist und die Wirklichkeit und Bewegung des Lebens der Wahrheit ausmacht... In dem Ganzen der Bewegung, es als Ruhe aufgefaßt, ist dasjenige, was sich in ihr unterscheidet und besonderes Dasein gibt, als ein solches, das sich erinnert, aufbewahrt, dessen Dasein das Wissen von sich selbst ist« (1. c. S. 36f.). Die utopische Verborgenheit, welche im Keim oder An-sich gewiß besteht und auf jeder Stufe des Hegelsehen Prozesses wieder hervorbricht, ist danach ebenso durchs Ganze der begriffenen Manifestationen von je enthüllt. Die Lehre Platons, wonach alles Wissen lediglich Anamnesis, Wiedererinnerung an ein einstmals Geschautes sei, diese einzig auf Ge-wesenheit ausgerichtete Erkenntnis wurde derart immer wieder reproduziert; das allerletzt ideologisierte die Sperre vor dem Sein sui generis eines Noch-Nicht-Seins. Eben die nachwirkende Statik des reaktionär Ruhebedürftigen, /(159) diese fertig abgemachte, abgeschlossene Anamnesis-Welt leistete hier, was in der Niedergangszeit der Horror vor dem Unbekannten leistet, das im Anzug ist. Von dieser Sperre ist kein noch so scheinender Neutöner der alten Art befreit. Auch dort nicht, wo, wie bei Bergson, ausschließlich, allzu ausschließlich gerade die Neuheit auszuzeichnen versucht wird. Bergson sagt einmal, in seiner »Einführung in die Metaphysik«, die großen Erkenntnisse seien bisher betrachtet worden, als erleuchteten sie Punkt für Punkt eine in den Dingen längst vorgeformte Logik, »so wie man an einem Festabend nach und nach den Gasflammenkranz anzündet,
welcher schon die Konturen eines Ornaments zeichnete«. Aber was sich bei Bergson nun als Novum gibt: Anti-Wiederholung, Anti-Geometrie, Elan vital und mit dem Lebensstrom fließende Intuition - all diese Lebendigkeit ist impressionistisch, auch liberalanarchistisch, nicht antizipatorisch. Der Elan vital Bergsons ist eine »immer von neuem, wie etwa in einer Kurve, einsetzende Richtungsänderung«; die sogenannte Intuition setzt sich in dies bewegend Überraschende hinein, ohne jedoch vor lauter schlechter Unendlichkeit und unablässiger Veränderlichkeit das Novum je als ein wirkliches anzutreffen; - wo alles immer wieder neu sein soll, bleibt ebenso alles beim alten. Darum ist auch an Bergsons Überraschungsstrom in Wahrheit alles verabredet und zur Formel erstarrt, zu jenem selber toten Gegensatz zur Wiederholung, der das Neue zu bloß ewigem, inhaltslosem Zickzack herabsetzt, zu jenem absolut gemachten Zufall, an dem weder Geburt noch Sprengung noch eine inhaltlich fruchtbare Überschreitung des bisher Gewordenen statthat. Bergson wendet sich gegen einen Prozeßgedanken mit Ziel, aber er wendet sich nicht dagegen, weil das Ziel bereits vereinbart wäre, so daß der genannte Prozeß - auf höchstem Niveau - fast wie Schiebung aussieht, sondern er eliminiert alles und jedes Voran, Wohin und offen betreibbare Ziel überhaupt. Wonach das angebliche Novum auch nicht anders dreinsieht als in der Anamnesis, nämlich immer gewesen, immer Phönix, immer gebannte Rückkehr in das Unveränderliche, das hier Veränderlichkeit heißt. Im Ganzen also bleibt fast überall das Erstaunliche, daß die Aufdämmerung im Fixum steckenbleibt, letzthin unnotiert oder mit Gewesenem /(160) zugestellt. Ein riesiges psychisches Reich des Noch-Nicht-Bewußten, ein dauernd befahrenes, blieb bis jetzt unentdeckt, oder seine Entdeckungen blieben unbemerkt. Desgleichen: ein riesiges physisches Reich des Noch-Nicht-Gewordenen, wie es dem Noch-Nicht-Bewußten sein Korrelat bildet, blieb stabil, und die eng zusammengehörigen Realkategorien: Front, Novum, objektive Möglichkeit, die der Anamnesis unzugänglichen, blieben in der Welt vor Marx ohne Kategorienlehre. Der Epigone befindet sich stets nur auf den gangbaren Straßen, welche Produktivität vor ihm gebaut und geschmückt hat, in der Notierung des Neuen verhielt sich aber auch die bisherige Produktivität so, als kenne sie nur Epigonentum. Der Niedergang der bürgerlichen Klasse hat weit über die reaktionär gewesene Romantik hinaus diese Unlust am Begriff Aurora besiegelt. Und - wie jetzt spruchreif - erst Erfahrung der heutigen Zeit, als positive, soll heißen: als Bejahung ihres heraufziehenden Inhalts, läßt einen Bewußtseinszustand bezeichnen, der die Jugend, die Zeitwenden, die kulturelle Produktion ebenso erfüllt, wie er stets verdeckt war. Erst unsere Gegenwart besitzt die ökonomisch-sozialen Voraussetzungen zu einer Theorie des Noch-Nicht-Bewußten und was damit im Noch-Nicht-Gewordenen der Welt zusammenhängt. Erst der Marxismus vor allem hat einen Begriff des Wissens in die Welt gebracht, der nicht mehr wesentlich auf Gewordenheit bezogen ist, sondern auf die Tendenz des Heraufkommenden; so bringt er erstmalig Zukunft in den theoretisch-praktischen Griff. Solche Tendenzkenntnis ist notwendig, um sogar noch das Nicht-Mehr-Bewußte und das Gewordene nach seiner möglichen Fortbedeutung, das heißt, Unabgegoltenheit, zu erinnern, zu interpretieren, aufzuschließen. Der Marxismus hat derart ebenso den rationellen Kern der Utopie herübergerettet und ins Konkrete gebracht wie den der noch idealistischen Tendenz-Dialektik. Die Romantik versteht nicht Utopie, nicht einmal ihre eigene, aber konkret gewordene Utopie versteht Romantik und dringt dahin ein, sofern und soweit Archaisches und Historisches, in seinen Archetypen und Werken, ein noch nicht Lautgewordenes, ein Unabgegoltenes enthalten. Das fortgeschrittenste Bewußtsein arbeitet derart auch in der Erinnerung und
Vergessenheit nicht als in einem abgesunkenen und so geschlos- /(161) senen Raum, sondern in einem offenen, im Raum des Prozesses und seiner Front. Dieser Raum aber ist ausschließlich mit Dämmerung nach vorwärts erfüllt, auch noch in seinen Exempeln aus fortbedeutender Vergangenheit; er ist mit bewußtseinsfähiger, gewußtseinsfähiger Lebendigkeit eines Noch-Nicht-Seins gefüllt. Wo die Romantik als archaisch-historische ins lediglich antiquarische Quellen, als in eine falsche Tiefe, hinabgezogen wurde, dort legt das utopische Bewußtsein auch noch das Heraufkommende im alten frei, wie sehr erst im Bevorstehenden selbst. Es entdeckt die wirkliche Tiefe - in der Höhe, nämlich in der des hellsten Bewußtseins, wo noch helleres dämmert. Die bewußte und die gewußte Tätigkeit im Noch- Nicht-Bewußten, utopische Funktion Der hier gemeinte Blick nach vorwärts ist wählerisch, nicht trüb. Er vorab verlangt, daß das Ahnen ein gesundes sei und auch kein dumpfes, das selber wie im Keller steckt. Das gar nicht darauf angelegt ist, sich in seinem Dämmer, obwohl es gegen Morgen gerichtet sein mag, bewußt zu machen. Auch haben sich, da die Wissenschaft fehlte, hier Hysterisches und Abergläubisches angesiedelt. Man hat Nervenzustände wie Hellsehen, zweites Gesicht und dergleichen als Ahnung bezeichnet, eben als dumpfe. Aber das ist ein Ausgeartetes, in welches echtes Ahnen, wie sich von selbst versteht, weder herabreichen kann noch will. Gesetzt den Fall, daß sogenanntes zweites Gesicht noch vorkommt, so haftet ihm ein Winkelwesen an, auch eine Nachbarschaft zu Krämpfen und anderen nicht eben hoffnungsvollen Gaben. Dergleichen gehört zu jenem kränklichen Feinsinn (dem Feinsinn einer Wunde), der in den legitimen Fällen nur einen Wetterumschlag vorherfühlt, hier aber angeblich Feuersbrünste oder Todesfälle. Wobei es zum selber Unterbewußten, Abgesunkenen, Atavistischen, Ausgelebten dieser Art Ahnung paßt, daß sie sich immer nur auf tausendfach bereits Geschehenes bezieht, das morgen oder übermorgen immer wieder geschieht. Somnambules Vorgefühl überhaupt mag bestenfalls ein verkommener Rest des tierischen Instinkts sein, aber der Instinkt ist erst recht stereotyp; seine Handlungen, wiewohl bis ins einzelnste /(162) zweckgemäß, werden sofort widersinnig, sobald das Tier, in eine neue Situation geratend, noch nie Dagewesenes vorauszuwittern hätte. Eiablage, Nestbau, Wanderung werden durch den Instinkt vollzogen, als bestünde genaues »Wissen« der Zukunft, doch eben diese ist eine, worin nur die jahrmillionenalten Schicksale der Art geschehen. Sie ist eine inhaltlich alte, automatische Zukunft, folglich, da in ihr nichts Neues geschieht, die erwähnte unechte. Vieles am Körperinstinkt wirkt noch dunkel, die Forschung der Signalsysteme ist noch nicht beendet, das Triebbilderleben im Instinkt, wenn es eines gibt, ist unenträtselt, mitsamt der Peilung, die es den Trieben angedeihen läßt. Auch wird eine noch so große Schwellensenkung menschlicher Ahnung schwerlich die Tätigkeit nacherfahren können, die im tierischen Instinkt der Vor-Sorge Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft noch völlig zusammengezogen zu besitzen scheint und nach Maßgabe des Artgeschäfts relativ beherrscht. Gleichwohl ist nichts gewisser, als daß die Zukunft hier, wie noch in der Weissagerei, von der die Folklore erzählt, eben eine völlig unechte ist, eine Wiederholung, ein vorgeordnetes Stück in immer gleichem Kreis. Instinkt-Zukunft und die ihr verwandte der atavistischen Ahnung fängt, wenn sie beginnt, immer wieder auf gleicher Stufe das Gleiche an und auf.
Produktive Ahnung, selbst in Gestalt sogenannter Intuition, ist daher ein ganz anderes als seiner bewußt gewordener Instinkt. Sie bleibt nicht dumpf und winkelhaft, gar qualmig, sie steht von Anfang an in Stärke und Gesundheit. Ist sich ihrer offen bewußt, eben als eines Noch-Nicht-Bewußten, zeigt in ihrer Wachheit die Lust zu lernen, zeigt die Fähigkeit, im Vorhersehen sich umzusehen, Umsieht, ja Vorsieht in ihrer Vor-Sicht zu haben. Indem echte Ahnung mit Jugend, Zeitwende, Produktion beginnt, ist sie ohne weiteres in menschlichen Zuständen aufrechtester Art zu Hause, nicht in animalischen, gar parapsychischen. Die deutschen Bauern von 1525, die Massen der Französischen, der Russischen Revolution hatten neben den Parolen gewiß auch eine Art Triebbilder der Revolution; im »Ca ira« lag Peilung. Doch die Triebbilder waren angezogen und erhellt von einem wirklich zukünftigen Ort: vom Reich der Freiheit. Das sogenannte Vermögen, Todesfälle vorherzusehen oder auch gewinnende Lotterienummern, /(163) ist ersichtlich von weniger produktivem Rang. Eine der stärksten Somnambulen, die Seherin von Prevost, sagt in der Mitteilungen, die Justinus Kerner seinerzeit von ihr herausgab, (Reclam, S.274): »Mir ist die Welt ein Kreis, ich konnte in diesem Kreise vor- wie rückwärts und sehen, was war und was kam.« Die Romantik, auch Hegel, kannte und ehrte Ahnung einzig in diesem atavistischen, abergläubischen, heute gänzlich trivial gewordenen Sinn. Es ist nur Witterung da für eine alte Welt, worin das einzig Neue der Hahnenschrei ist, jener, der auf den Friedhof dringt und selber zum Spuk gehört. Bei keinem dieser kranken Zwerchfell-Propheten, von der Sibylle bis Nostra damus, steht begreiflicherweise, wenn sie «Zukunft« aussagen, ein Wort, das über die vorhandenen Bekanntheiten hinausginge und sie nicht etwa bloß umstellte. Wogegen etwa Bacon, kein Weissager, sondern ein überlegter Utopist, in seiner «Nova Atlantis« verblüffend echte Zukunft sah. Das allein auf Grund seiner sich durchaus bewußt machenden Witterung für die objektive Tendenz, objektiv-reale Möglichkeit seiner Zeit. Wird doch der Blick nach vorwärts gerade stärker, je heller er sich bewußt macht Der Traum in diesem Blick will durchaus klar, die Ahnung, als rechte, deutlich sein. Erst wenn Vernunft zu sprechen beginnt, fängt die Hoffnung, an der kein Falsch ist, wieder an zu blühen. Das Noch-Nicht-Bewußte selber muß seinem Akt nach bewußt, seinem Inhalt nach gewußt werden, als Aufdämmern hier, als Aufdämmerndes dort. Und der Punkt ist damit erreicht, wo gerade die Hoffnung, dieser eigentliche Erwartungsaffekt im Traum nach vorwärts, nicht mehr nur, wie im 3. Kapitel dargestellt, als bloße selbstzuständliche Gemütsbewegung auftritt, sondern bewußt-gewußt als utopische Funktion. Deren Inhalte repräsentieren sich zunächst in Vorstellungen, und zwar wesentlich in denen der Phantasie. In Phantasievorstellungen zum Unterschied von jenen erinnerten, die lediglich gewesene Wahrnehmungen reproduzieren und sich hierbei mehr und mehr ins Vergangene abschatten. Und auch die Phantasievorstellungen sind hier nicht solche, die sich aus Vorhandenem lediglich zusammensetzen, auf beliebige Weise (steinernes Meer, goldener Berg und dergleichen), sondern die Vorhandenes in die zukünftigen Möglichkeiten seines Anders- /(164) Seins, Besserseins antizipierend fortsetzen. Wonach sich die so bestimmte Phantasie der utopischen Funktion von bloßer Phantasterei eben dadurch unterscheidet, daß nur erstere ein NochNicht-Sein erwartbarer Art für sich hat, das heißt, nicht in einem Leer-Möglichen herumspielt und abirrt, sondern ein Real-Mögliches psychisch vorausnimmt. Zugleich gewinnt der so oft betonte Unterschied zwischen dem Wachtraum als reell möglicher Vorwegnahme dadurch neue Klarheit: die utopische Funktion ist im bloßen wishful thinking überhaupt nicht anwesend oder sie zuckt nur auf. Ibsen hat
in der Gestalt des Ulrich Brendel, in »Rosmersholm«, einen bloßen, also fruchtlosen Plänemacher ergreifend gezeichnet. Auf sehr viel tieferer Stufe, ganz und gar nicht ergreifend, gehört der Spiegelberg der »Räuber« zum utopisch-bramarbasierenden Gewerbe, auf unvergleichlich viel höherer Stufe gehört Marquis Posa dazu, auf Grund allzu großer, lediglich abstrakt-postulativer Reinheit. Pures wishful thinking diskreditierte seit alters die Utopien, sowohl politisch-praktisch wie in der ganzen übrigen Anmeldung von Wünschbarkeiten; gleich als wäre jede Utopie eine abstrakte. Und ohne Zweifel ist die utopische Funktion im abstrakten Utopisieren erst unreif vorhanden, das heißt, noch überwiegend ohne solides Subjekt dahinter und ohne Bezug aufs Real-Mögliche. Folglich ist sie leicht Abwegen verfallen, ohne Kontakt mit der wirklichen Tendenz nach vorwärts, ins Bessere. Doch mindestens ebenso verdächtig wie die Unreife (Schwärmerei) der unentwickelten utopischen Funktion ist die weit verbreitete und freilich ausgereifte Platitüde des Vorhandenheits-Philisters, des Empiristen mit den Brettern vorm Kopf, die nicht die Welt bedeuten, kurz, ist die Bundesgenossenschaft, worin der dicke Bourgeois wie der flache Praktizist das Antizipierende allemal, in Bausch und Bogen nicht nur verworfen, sondern verachtet haben. Ja die Bundesgenossenschaft - aus Abneigung gegen jeden Modus von Wünschbarkeiten, vorab gegen die vorwärtstreibenden - hat sich zuletzt sogar, konsequenterweise, um den - Nihilismus vermehrt. Wonach gerade dieser Anti-Utopisches von sich zu geben vermochte gleich folgendem: »Im Wunsch entwirft das Dasein sein Sein auf Möglichkeiten, die im Besorgen nicht nur unergriffen bleiben, sondern deren Erfüllung nicht /(165) einmal bedacht und erwartet wird (!). Im Gegenteil: die Vorherrschaft des Sich-vorweg-Seins im Modus des bloßen Wünschens bringt ein Unverständnis der faktischen Möglichkeiten mit sich... Das Wünschen ist eine existenziale Modifikation des verstehenden Sichentwerfens, das, der Geworfenheit verfallen, den Möglichkeiten lediglich noch nachhängt« (Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 195). Dergleichen klingt, auf unreifes Antizipieren schlechthin angewandt, zweifellos so, als ob ein Eunuche dem kindlichen Herkules Impotenz vorwürfe. Es braucht nicht betont zu werden, daß der echte Kampf gegen das Unreife und Abstrakte, soweit es der utopischen Funktion anhing oder potentialiter noch anhängt, mit dem Bourgeois-»Realismus« nichts gemein hat und auch vor dem Praktizismus sich hütet. Sondern wichtig ist: der mit Hoffnung geladene, der phantasievolle Blick der utopischen Funktion wird nicht von der Froschperspektive her berichtigt, sondern einzig vom Reellen in der Antizipation selbst. Also von jenem einzig reellen Realismus her, der nur einer ist, weil er sich auf die Tendenz des Wirklichen versteht, auf die objektiv-reale Möglichkeit, der die Tendenz zugeordnet ist, mithin auf die selber utopischen, nämlich zukunfthaltigen Eigenschaften der Wirklichkeit. Und die so bezeichnete Reife der utopischen Funktion - von allen Abwegen unverführt - bezeichnet nicht zuletzt den Tendenzsinn des philosophischen Sozialismus, zum Unterschied vom schlechten »Tatsachensinn« des empiristisch abgeglittenen. Der Berührungspunkt zwischen Traum und Leben, ohne den der Traum nur abstrakte Utopie, das Leben aber nur Trivialität abgibt, ist gegeben in der auf die Füße gestellten utopischen Kapazität, die mit dem Real-Möglichen verbunden ist. Ja, die nicht nur in unserer Natur, sondern in der der gesamten äußeren Prozeßwelt das jeweils Vorhandene tendenzhaft übersteigt. Hier mithin wäre der nur scheinbar paradoxe Begriff eines Konkret-Utopischen am Platz, das heißt also, eines antizipatorischen, das keinesfalls mit abstrakt-utopischer Träumerei zusammenfällt, auch nicht durch die Unreife des bloß abstrakt-utopischen Sozialismus gerichtet ist. Es bezeichnet gerade die Macht und Wahrheit des Marxismus, daß er die Wolke in den Träumen
nach vorwärts vertrieben, aber die Feuersäule in ihnen nicht ausgelöscht, sondern durch Konkret- /(166) heit verstärkt hat. Solcherart mithin hat sich das BewußtseinGewußtsein der Erwartungsintention als Intelligenz der Hoffnung zu bewähren mitten im immanent aufsteigenden, materiell-dialektisch übersteigenden Licht. So auch ist die utopische Funktion die einzig transzendierende, die geblieben ist, und die einzige, die wert ist zu bleiben: eine transzendierende ohne Transzendenz. Ihr Halt und Korrelat ist der Prozeß, der seinen immanentesten Was-Inhalt noch nicht herausgegeben hat, der aber immer noch im Gang steht. Der folglich selber in Hoffnung steht und in objekthafter Ahnung des Noch-Nicht-Gewordenen als einem Noch-Nicht-Gutgewordenen. Bewußtsein der Front gibt dafür das beste Licht, utopische Funktion als begriffene Tätigkeit des Erwartungsaffekts, der Hoffnungs-Ahnung hält die Allianz mit allem noch Morgendlichen in der Welt. Utopische Funktion versteht so das Sprengende, weil sie es selber in sehr verdichteter Weise ist: ihre Ratio ist die ungeschwächte eines militanten Optimismus. Item: der Akt-Inhalt der Hoffnung ist als bewußt erhellter, gewußt erläuterter die positive utopische Funktion; der Geschichts-Inhalt der Hoffnung, in Vorstellungen zuerst repräsentiert, in Realurteilen enzyklopädisch erforscht, ist die menschliche Kultur bezogen auf ihren konkret-utopischen Horizont. An dieser Erkenntnis arbeitet, als Erwartungsaffekt in der Ratio, als Ratio im Erwartungsaffekt, das Kombinat Docta spes. Und in ihm überwiegt nicht mehr die Betrachtung, die seit alters nur auf Gewordenes bezogene, sondern die mitbeteiligte, mitarbeitende Prozeß-Haltung, der deshalb, seit Marx, das offene Werden methodisch nicht mehr verschlossen ist und das Novum nicht mehr materialfremd. Das Thema der Philosophie steht seitdem einzig auf dem Topos eines unabgeschlossenen gesetzmäßigen Werde-Felds im abbildend-eingreifenden Bewußtsein und in der Welt des Gewußtseins. Dieser Topos ist erst vom Marxismus mit Wissenschaft entdeckt worden - eben mit der Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. /(167) Weiter utopische Funktion: das Subjekt in ihr und der Gegenzug gegen das schlecht Vorhandene Doch ohne Kraft eines Ich und Wir dahinter wird selbst das Hoffen fade. An der bewußt-gewußten Hoffnung ist nie Weiches, sondern ein Wille setzt in ihr: es soll so sein, es muß so werden. Energisch bricht darin der Wunsch- und Willenszug hervor, das Intensive im Überschreiten, in den Überholungen. Aufrechter Gang ist vorausgesetzt, ein Wille, der sich von keinem Gewordensein überstimmen läßt; er hat in diesem Aufrechten sein Reservat. Dieser eigentümliche Punkt, worauf das Subjekt stehen kann und von dem her es reagiert, ist abstrakt im stoischen Selbstbewußtsein so bezeichnet: wenn die Welt einstürzt, werden die Trümmer einen Unerschrockenen treffen. Der Punkt ist anders abstrakt, von nicht mehr tugendstolzen, sondern verstandesstolzen Voraussetzungen her, im transzendentalen Ego des deutschen Idealismus bezeichnet. Das Selbstbewußtsein ist darin zum Akt eines erkennenden Erzeugens übergegangen; ja bereits bei Descartes erscheint Erkenntnis streckenweise als Manufaktur, nämlich ihres Gegenstands. Die verstandesstolzen Voraussetzungen waren freilich heillos aufgebläht, mit dem Schein ihres absoluten Machens; der Verstand schreibt der Natur durchaus nicht ihre Gesetze vor. Auch ist die Welt dieses
erkenntnistheoretischen Idealismus keineswegs eine utopische; konträr: der Ehrgeiz des transzendentalen Ego war überwiegend der, gerade die vorhandene Gesetzeswelt, die Welt der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erfahrung zu erzeugen. Trotzdem verstand das transzendentale Ego Kants und Fichtes über eine schlechte Vorhandenheit moralisch hinaus zu postulieren, wenn auch, der deutschen Misere entsprechend, nur auf inhaltlos-abstrakte Weise. Kant, der fast an keinem Punkt mit Neukantianismus verwechselt werden darf, baute wenigstens postulativ eine schönere Welt auf, nach Goethes Wort, eine der Willens-Spontaneität, die in der mechanistischen Vorhandenheits-Erfahrung nicht satt wurde, nicht unterging. So zeigt sich - durch Abstraktheit freilich durch und durch beschädigt - im stoischen Selbstbewußtsein und viel näher eben im deutschen Idealismus die Anzeigung des eigentümlichen Punkts, von dem /(168) her das Subjekt die Freiheit eines widersprechenden Gegenzugs gegen das schlecht Vorhandene sich vorbehält. Trotz der noch abstraktformalen Anzeigung eines solch subjektiven Faktors wurde dieser doch kenntlich gemacht; er stand damals philosophisch für den Citoyen. Derart hängt jede bürgerlich-revolutionäre Forderung in Deutschland, vom Sturm und Drang bis zum sogenannten Völkerfrühling von 1848, noch mit dem Ego des Idealismus zusammen. Indes real, nicht bloß im Kopf, auch völlig frei von heillos idealistischer Aufgeblähtheit, wurde ein subjektiver Faktor erst sozialistisch erfaßt, nämlich als proletarisches Klassenbewußtsein. Das Proletariat erfaßte sich als der selber aktiv widersprechende Widerspruch im Kapitalismus, als derjenige mithin, der dem schlecht Gewordenen am meisten zu schaffen macht. Ebenso real hat sich der subjektive Faktor - gegen alle Abstraktheit und die ihr entsprechende uferlose Spontaneität des Bewußtseins - mit dem objektiven Faktor der gesellschaftlichen Tendenz, des Real-Möglichen vermittelt. So wurde die Tätigkeit des Besserwissens zu jenem Mehr, das den begonnenen Weg der Welt, ihren »Traum von der Sache«, wie Marx sagt, mit Bewußtsein fortsetzt, lenkt und humanisiert. Dazu reicht der objektive Faktor allein nicht aus, vielmehr rufen die objektiven Widersprüche die Wechselwirkung mit dem subjektiven Widerspruch dauernd auf. Sonst entsteht die letzthin defaitistische Irrlehre eines objektivistischen Automatismus, wonach die objektiven Widersprüche allein ausreichen, um die von ihnen durchsetzte Welt zu revolutionieren. Beide Faktoren, der subjektive wie der objektive, müssen vielmehr in ihrer beständigen dialektischen Wechselwirkung begriffen werden, in einer unteilbaren, unisolierbaren. Wobei gewiß auch der menschliche Aktionsteil vor Isolierung bewahrt sein muß, vor dem üblen putschistischen Aktivismus an sich, der los saust und dessen zu subjektiver Faktor die objektiv-ökonomische Gesetzmäßigkeit überschlagen zu können glaubt. Doch nicht minder schädlich ist der sozialdemokratische Automatismus an sich, als Aberglaube an eine Welt, die von selber gut wird. Es ist also unmöglich, ohne subjektiven Faktor auszukommen, und es ist ebenso unmöglich, die Tiefendimension dieses Faktors zu unterschlagen, eben die des Gegenzugs gegen das schlecht Vorhandene, als Mobilisie- /(169) rung der im schlecht Vorhandenen selber auftretenden Widersprüche zu dessen völliger Unterhöhlung, zu dessen Einsturz. Die Tiefendimension des subjektiven Faktors ist aber ebendeshalb in seinem Gegenzug, weil dieser nicht nur negativ ist, sondern genauso das Andrängen einer antizipierbaren Gelungenheit in sich enthält und dieses Andrängen in der utopischen Funktion vertritt. Die Frage ist nun, ob und wieweit sieh der vorwegnehmende Gegenzug mit einem bloß verschönernden berührt. Besonders dann, wenn das bloß Verschönernde, obwohl es durchaus überleuchtet, über die Hälfte gar keinen
Gegenzug, sondern ein bloßes bedenkliches Polieren des Vorhandenen in sich hat. Und das mit keineswegs revolutionärem Auftrag dahinter, sondern mit apologetischem, mit einem also, der das Subjekt mit dem Vorhandenen versöhnen soll. Diese Absicht erfüllt vor allem die Ideologie in den nicht mehr revolutionären, obzwar noch aufsteigenden, weil die Entwicklung der Produktivkräfte noch fördernden Zeiten einer Klassengesellschaft. Das Überleuchten des Vorhandenen geschieht dann als täuschende, bestenfalls verfrühte Harmonisierung, und es ist umgeben von lauter Rauch oder Weihrauch des falschen Bewußtseins. (Die faule Ideologie in den absinkenden Zeiten einer Klassengesellschaft, besonders also die des Spätbürgertums von heute, gehört freilich überhaupt nicht hierher; denn sie ist bereits gewußtes falsches Bewußtsein, mithin Betrug.) Weiterhin aber gibt es in der Ideologie gewisse Verdichtungs-, Vervollkommnungs- und Bedeutungsfiguren des Vorhandenen, die, wenn überwiegend auf Verdichtung bezogen, als Archetypen, wenn überwiegend auf Vervollkommnung bezogen, als Ideale, wenn überwiegend auf Bedeutung bezogen, als Allegorien und Symbole bekannt sind. Die in alledem, auf so verschiedene Weise, intendierte Verschönerung des Vorhandenen ist immerhin keine des Schlecht-Vorhandenen, und sie will von letzterem nicht bewußt, also betrügerisch ablenken. Vielmehr wird hier das Vorhandene ergänzt, zwar auf weitgehend idealistisch-abstrakte Weise und allemal auf keine dialektisch sprengende und reale, jedoch so, daß eine eigentümliche, eine uneigentliche Antizipation des Besseren nicht fehlt: eine Antizipation gleichsam im Raum, nicht oder nur uneigentlich /(170) in Zukunft und Zeit. Und nun ist die Frage konkreter geworden: ob und wieweit sich der vorwegnehmende Gegenzug mit einem bloß verschönernden berührt. Denn in Ideologie, anders in Archetypen, anders in Idealen, anders in Allegorien und Symbolen liegt zwar kein Gegenzug vor, wohl aber ein Übersteigen des Vorhandenen durch seine verschönernde, verdichtende, vervollkommnende oder bedeutungshafte Übersteigerung. Und diese wiederum ist nicht möglich ohne eine verzerrte oder versetzte utopische Funktion, genauso, wie sie ohne einen ungeregelt gesehenen »Traum von einer Sache« am vorderen Rand des Vorhandenen nicht möglich ist. Dann muß aber auch die originale und konkret gehaltene utopische Funktion in diesen uneigentlichen Verbesserungen wenigstens streckenweise entdeckbar sein, müssen die nicht gänzlich heillosen Verzerrungen und Abstraktheiten konfrontierbar sein. Die jeweiligen Produktionsverhältnisse erklären, wieso es zu den jeweiligen Ideologien und anderen uneigentlichen Verbesserungen gekommen ist, aber die jeweiligen Verwirrungen am Humanum der jeweiligen Produktionsverhältnisse machten eine Anleihe bei der utopischen Funktion notwendig, um die angegebenen Ergänzungen mit ihrem kulturellen Überschuß überhaupt bilden zu können. Die Ideologien als die herrschenden Gedanken einer Zeit sind, nach dem schlagenden Marxsatz, die Gedanken der herrschenden Klasse; da aber auch diese eine selbstentfremdete ist, kam auch in die Ideologien außer dem Interesse, das eigene Klassenwohl als das der Menschheit überhaupt hinzustellen, jenes Vermissungs- und Überholungsbild einer Welt ohne Entfremdung, das vor allem im Bürgertum Kultur heißt und das die utopische Funktion zum Teil auch in jener Klasse am Werk zeigte, die sonst in ihrer Entfremdung sich wohlfühlte. Es ist selbstverständlich, daß diese Funktion erst recht, ja fast ganz die noch revolutionären Ideologien solcher Klassen belebt hat. Ohne die utopische Funktion ist überhaupt kein geistiger Überschuß übers jeweils Erreichte und so Vorhandene erklärbar, sei dieser Überschuß auch noch so voll von Schein statt von Vor-Schein. Darum weist sich vor der utopischen Funktion jedes Antizipieren aus, und sie beschlagnahmt in dessen Überschuß jeden möglichen
Gehalt. Auch denjenigen, wie zu zeigen sein wird, im fort- /(171) schrittlich gewesenen Interesse, in Ideologien, die mit ihrer Gesellschaft nicht ganz vergangen sind, in Archetypen, die noch verkapselt, in Idealen, die noch abstrakt, in Allegorien und Symbolen, die noch statisch sind. Berührung der utopischen Funktion mit Interesse Ein kühler Blick bewährt sich nicht darin, daß er untertreibt. Sondern er will richtigstellen und kann es, will nicht selber das Maß verlieren. Er löst die trügenden Gefühle und Worte auf, will Ich, Streben, Antrieb nackt sehen, aber freilich nicht zerschnitten und halbiert. Gewiß, zum rein Niederträchtigen ist der wirtschaftliche Antrieb im heutigen Geschäftsleben gelangt, im durchwegs vergaunerten, und ganz daran ist nur die schonungslose Gemeinheit. Die Gier nach Profit überschattet hier sämtliche menschlichen Regungen, hat sie doch nicht einmal, wie die Mordlust, Pausen. Und ebenso steht fest: auch in früheren, vergleichsweise ehrlicheren Zeiten des Kapitals setzte sich das Profitinteresse nicht eben aus den edelsten menschlichen Antrieben zusammen. Bei Strafe des Untergangs war stets mächtige Selbstsucht im Wirtschaftskampf tätig. Hätte diese Triebfeder nachgelassen, wären altruistische Motive an ihre Stelle getreten, so hätte, wie Mandevilles Bienenfabel so zynisch-wahrhaft zeigte, das ganze kapitalistische Getriebe stillgestanden. Und doch: wäre es nicht häufig wenigstens gebremst gewesen, bei einer ziemlichen Mehrzahl der damaligen Unternehmer, wenn sich der egoistische Antrieb als dermaßen nackt gegeben hätte? Wenn er nicht auch sich selber, rein inwendig also und verschieden von bewußter Roheit, ein Edleres, Gemeinsameres vorgemacht, ja subjektiv nicht ganz unecht vorgeträumt hätte? Darum kann über den künstlichen Bienen der Zustand der wirklichen Egoisten von damals nicht übersehen werden, als ein Zustand, der sich auch altruistisehe Ausreden und Einreden machen mußte, um auf honorige, scheinend menschenfreundliche Weise den sogenannten redlichen Profit zu machen. Derart kamen bei Adam Smith in das selfish system deutlich Züge eines auch inwendig falschen Bewußtseins; und sie waren nicht, wie calvinistisch so oft, gerissen und zerrissen, sondern subjektiv ehrlich /(172) und geglättet. Es waren Züge der Überzeugung, des guten Gewissens, des ehrbaren Kaufmanns und Unternehmers, wie er tatsächlich an redlichen Gewinn glaubte, wie er vor allem, im Spiel von Angebot und Nachfrage, sich als eine Art Wohltäter der Konsumenten fühlte. Der zahlungskräftigen, wie sich von selbst versteht, jener also, an denen der von den Arbeitern erpreßte Mehrwert durch Verkauf des Arbeitsprodukts zu Geld gemacht werden kann. Jedoch das gute Gewissen machte sich dadurch stark, daß sich das kapitalistische Interesse dauernd auf das des Verbrauchers, auf dessen Befriedigung beziehen sollte. Das gute Gewissen des wechselseitigen Vorteils wurde noch dadurch geschönt, daß alle Menschen als wachsend austauschkräftige Freihändler angesehen waren, deren wohlverstandener Eigennutz sich in dem dergestalt hergestellten Gesamtnutzen ausglich. Mit alldem erschien die kapitalistische Wirtschaft als die endlich entdeckte einzig natürliche, der Smith seinen vollkommenen Beifall so umständlich wie - utopisch aussprach. Das Interesse selbst also wurde utopisch beeinflußt, vielmehr das falsche Bewußtsein von ihm, das aber ein durchaus aktives war. Ohne dieses Verschönern wäre die Ausbeutung bei den großen Bestien, den bürgerlich-sittlich ganz unbeschwerten, zweifellos ebenso vorangegangen, die Herren der Ostindischen Gesellschaft führten keinen Anteil einer utopischen Funktion in ihrem Geschäft, er hätte nur geschadet.
Aber der durchschnittliche Geschäftsmann der Manufaktur, auch der beginnenden industriellen Umwälzung, brauchte und pflegte noch einen Glauben ans größtmögliche Glück der größten Zahl, er brauchte ihn als Verbindung zwischen seinen egoistischen Antrieben und den vorgemachten, vorgeträumten, bei Smith eigens notierten wohlwollenden. Das desto mehr, als die zynische Selbstsucht dem Adel zugeschrieben wurde, vorab den Wüstlingen unter ihm (vergleiche die gleichzeitigen Romane Richardsons). Wogegen der aufsteigende Bürger die »Tugend« brauchte, um desto eifriger an anderen so zu verdienen, als verdiente er für diese anderen. Und als es gar zum letzten Kampf gegen die feudalen Hemmnisse ging, mußte der Bourgeois, eine wenig heroische Klasse, sich besonders stark utopisch aufpulvern. Er hätte sonst nicht selber gekämpft, was doch zum Teil der Fall war, sondern aus- /(174) schließlich die Männer aus der Vorstadt für sich kämpfen lassen. Er hätte sonst nicht gutgläubig die Gracchen und den Brutus sich verwandt gefühlt, was doch wieder zum Teil der Fall war, während der Brautzeit der bürgerlichen Freiheit von 1789. Die aufsteigende, ökonomisch fällige Klasse benötigte also auch inwendig eine weitausgreifende Leidenschaft im damaligen Gewirre der Gefühle, um, wie Marx sagt, »den bürgerlich beschränkten Inhalt ihrer Kämpfe sich selbst zu verbergen«. Hier war Selbsttäuschung durchaus, der privatwirtschaftliche Mensch der Menschenrechte, die Abstraktheit des Citoyen als moralischer Person wurden nicht durchschaut, konnten damals noch nicht durchschaut werden. Dennoch zeigte diese Art Selbsttäuschung eben auch ein Vorwegnehmendes, sie zeigte sogar besonders humane Züge, obzwar abstrakt ausgedrückte, abstrakt-utopisch eingesetzte. Und sogar: an deren Interesse war nicht alles Täuschung; sonst könnte man sich sozialistisch nicht auf den doch nicht nur privatwirtschaftlich abgezielten Menschen der Menschenrechte, gar auf den Citoyen beziehen. Was der Citoyen versprach, dieses Versprechen läßt sich gewiß erst sozialistisch halten. Immerhin, es läßt sich halten, also war damals ein utopisch beigesteuerter Überschuß im bürgerlichen Streben selber. Die gesellschaftliche Gesinnung, die sich im Citoyen moralisch abstrahiert, das heißt, von den wirklichen individuellen Menschen weggehoben hatte, muß mit deren eigenen Kräften, als nicht mehr bürgerlich-individualistischen, erst vereinigt werden. Immerhin, diese Gesinnung, damals »Tugend« genannt, war doch vorhanden, sie war dieses Falles als eine nicht nur aufpulvernde, sondern auch überschußhafte vorhanden; wie ließe sich sonst, von den echten Jakobinern abgesehen, noch ein Jefferson ehren? Also konnte bereits im Antrieb, wenn er ein zu seiner Zeit fortschrittlicher war, ein anderer, haltbarer Zug wirken, ein über den unmittelbar zu befördernden Fortschritt hinausgehender. Er ist moralisch beerbbar, in gleicher Weise, wie der gestaltete, der zu Werken gewordene Überschuß im eigentlich ideologischen Bewußtsein kulturell beerbhar ist. Gutes, ja das Beste war schon mehrmals in der Vergangenheit gewollt und blieb nur überwiegend dabei. Gerade aber weil dieses Wollen ein nicht anlangendes war, zieht es in dem, worin es mit dem /(174) fällig Erreichbaren, hier also mit der kapitalistischen Gesellschaft, nicht zusammenfällt, weiter mit im Gang der Befreiung. Utopische Funktion entreißt diesen Teil der Täuschung; sie bewirkt derart, daß alles je Menschenfreundliche sich wachsend miteinander verwandt fühlt. Begegnung der utopischen Funktion mit Ideologie Ein scharfer Blick bewährt sich nicht bloß darin, daß er durchschaut. Sondern ebenso in der Weise, daß er nicht jedes als so klar wie Wasser sieht. Indem eben
nicht alles so fertig klar ist, sondern zuweilen ein Gären, Sich-Bilden vorliegt, dem gerade der scharfe Blick gerecht wird. Am breitesten wie gemischtesten erscheint dieses Unabgeschlossene in der Ideologie, sofern sie mit der bloßen Bindung an ihre Zeit nicht erschöpft ist. Und auch nicht mit dem bloßen falschen Bewußtsein über ihre Zeit, das alle bisherigen Kulturen begleitet hat. Gewiß, die Ideologie selber stammt aus der Arbeitsteilung, aus der nach der Urkommune eingetretenen Trennung zwischen materieller und geistiger Arbeit. Erst von da ab konnte eine Gruppe, die die Muße zu Vorstellungen hatte, mittels dieser sich und vorab andere täuschen. Da also Ideologien von Haus aus immer solche der herrschenden Klasse sind, so rechtfertigen sie den bestehenden gesellschaftlichen Zustand, indem sie dessen ökonomische Wurzel verleugnen, die Ausbeutung verschleiern. Das ist das Bild in allen Klassengesellschaften, am deutlichsten in der des Bürgertums. Hierbei gibt es allerdings in der ideologischen Bildung dieser Gesellschaften drei Phasen mit sehr verschiedenem Wertrang, mit verschiedenem Auftrag an den geistig allzu geistigen Überbau: die vorbereitende, die siegreiche, die absteigende. Die vorbereitende Phase einer Ideologie hilft dem eigenen, noch nicht gefestigten Unterbau, indem sie dem morschen Überbau der bisher herrschenden Klasse ihren frisch fortschrittlichen entgegensetzt. Die selber dann zur Herrschaft gelangte Klasse setzt die zweite ideologische Phase, indem sie - unter Weglassung, streckenweise auch mehr oder minder klassischer »Equilibrierung« vorhergegangener revolutionärer Antriebe - den eigenen, unterdes zur Existenz gekommenen Unterbau sichert, politisch- /(175) juristisch fixiert, politisch-juristisch-kulturell überschönt. Sicherung wie Verschönerung werden unterstützt durch eine erlangte, obzwar nur temporäre Harmonie zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Die absteigende Klasse setzt danach die dritte ideologische Phase, indem sie - bei fast völlig verschwindender Gutgläubigkeit des falschen Bewußtseins, also mit fast gänzlich bewußtem Betrug - die Fäulnis des Unterbaus parfümiert, auch die Nacht zum Tag, den Tag zur Nacht phosphoreszierend umtauft. Gewiß also wird in der Klassengesellschaft der ökonomische Unterbau vom Nebel eines interessiert falschen Bewußtseins zugedeckt, gleichviel noch, ob dessen Illusion als feurig, klassisch oder dekadent, als Aufstieg, Blüte oder geschminkte Verwendung sich inhaltlich gliedert. Kurz, da keine Ausbeutung sich nackt darf sehen lassen, so ist Ideologie nach dieser Seite die Summe der Vorstellungen, worin sich eine Gesellschaft mit Hilfe des falschen Bewußtseins jeweils gerechtfertigt und verklärt hat. Nun aber: wann immer Kultur gedacht wird, erscheint dann nicht - bereits in der moralisch und inhaltlich so verschiedenen Beschaffenheit der drei Phasen erkennbar noch eine andere Seite der Ideologie? Es ist eben die mit bloß falschem Bewußtsein und mit der Apologetik einer bloßen, historisch abgetanen Klassengesellschaft nicht im ganzen Umfang zusammenfallende. Nach der kritischen Seite sagt Marx in der »Heiligen Familie« schlagend: »Die >Idee< blamierte sich immer, soweit sie von dem >Interesse< verschieden war», und knüpft mit diesem Satz an die begonnene Selbstdurchschauung der bürgerlichen Gesellschaft im französischen Materialismus an, die bei Labruyèe, Larochefoucauld, besonders bei Helvétins erst erkennen ließ, das wohlverstandene persönliche Interesse sei die Grundlage all dieser Moral. Aber Marx fährt ebenso an gleicher Stelle fort: »Andererseits ist es leicht zu begreifen, daß jedes massenhafte, geschichtlich sich durchsetzende >Interesse<, wenn es zuerst die Weltbühne betritt, in der >Idee< oder >Vorstellung< weit über seine wirklichen Gedanken hinausgeht und sich mit dem menschlichen Interesse schlechthin verwechselt.« Dadurch entsteht Illusion oder das, »was Fourier den Ton jeder Geschichtsepoche nennt»; indem jedoch die so beschaffene Illusion, außer
den enthusiastischen Blumen, womit eine Gesellschaft ihre /(176) Wiege bekränzte, gegebenenfalls auch jene Kunstgebilde enthält, die, wie Marx in der »Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie« an den Griechen erinnert, »in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten«, ist eben das Ideologieproblem nach Seite des kulturellen Erbproblems betreten, des Problems, wieso Werke des Überbaus auch nach Wegfall ihrer gesellschaftlichen Grundlagen im Kulturbewußtsein sich fortschreitend reproduzieren. Gerade der inhaltliche Unterschied der drei Phasen ist hier nicht unterschlagbar, auch dann nicht, wenn das fortwirkende Tua res agitur keinesfalls auf die aufsteigende, die revolutionäre Epoche einer der bisherigen Klassengesellschaften beschränkt wird. Ja gerade dann wird das eigentliche, hier gemeinte, auf der anderen Seite wohnende Phänomen: kultureller Überschuß erst recht sichtbar. Denn dieses Phänomen, als das der ausgebildeten und ebenso zukunftweisenden Kunst, Wissenschaft, Philosophie, tritt uns in der klassischen Epoche einer Gesellschaft viel reicher entgegen als in ihrer revolutionären, wo freilich der unmittelbar-utopische Impetus gegen das Vorhandene, über das Vorhandene hinaus stärker ist. Und die Blüten der Kunst, Wissenschaft, Philosophie bezeichnen allemal noch mehr als das falsche Bewußtsein, das eine Gesellschaft jeweils über sich selber hatte und zu ihrer Verschönerung standortgebunden verwandte. Vielmehr lassen sich diese Blüten durchaus von ihrem ersten gesellschaftlichhistorischen Boden wegheben, indem sie selber, ihrer Essenz nach, an ihn nicht gebunden sind. Die Akropolis gehört zwar zur Sklavenhaltergesellschaft, das Straßburger Münster zur Feudalgesellschaft, dennoch sind sie mit dieser ihrer Basis bekanntlich nicht vergangen und führen, anders als die Basis, anders als die damaligen, wenn auch noch so progressiv gewesenen Produktionsverhältnisse, nichts Beklagenswertes mit sich. Die großen philosophischenWerke enthalten zwar, infolge der jeweiligen gesellschaftlichen Schranke des Erkennens, mehr Zeitgebundenes und so Vergängliches, jedoch zeigen auch sie, gerade sie wegen der Höhe des Bewußtseins, das sie auszeichnet und das weit in Künftiges, Wesentliches hineinblicken läßt, jene echte Klassik, die nicht aus Abrundung besteht, sondern aus ewiger Jugend, mit immer neuen Perspektiven in ihr. Nur die Schein- /(177) probleme und die Ideologie an Ort und Stelle sind beim Symposion, der Ethica, gar der Phänomenologie des Geistes niedergesunken und abgetan, dagegen der Eros, die Substanz, die Substanz als Subjekt stehen mitten in allen Veränderungen als Variationen des Ziels. Kurz, die großen Werke sind nicht mangelhaft wie zur Zeit ihres ersten Tags und auch nicht herrlich wie am ersten Tag: sie streifen vielmehr ihren Mangel wie ihre erste Herrlichkeit ab, indem sie einer späteren, ja einer intendierbar letzten fähig sind. Das Klassische in jeder Klassik steht vor jeder Zeit genauso als revolutionäre Romantik da, nämlich als vorwärts weisende Aufgabe und als Lösung, die aus der Zukunft, nicht aus der Vergangenheit entgegenkommt und selber noch voll Zukunft spricht, anspricht, weiterruft. Das aber, samt Bescheidenerem, ist nur deshalb der Fall, weil Ideologien nach dieser Seite mit dem falschen Bewußtsein ihrer Basis und auch mit der aktiven Arbeit für ihre jeweilige Basis nicht erschöpft sind. Keine Suche nach dem Überschuß ist möglich im falschen Bewußtsein selbst, wie es die Ideologie der Klassengesellschaften getragen hat, und keine ist notwendig in der Ideologie der sozialistischen Revolution, an der überhaupt kein falsches Bewußtsein teilnimmt. Der Sozialismus als Ideologie des revolutionären Proletariats ist überhaupt nur wahres Bewußtsein, bezogen auf die begriffene Bewegung und die ergriffene Tendenz der Wirklichkeit. Wohl aber gilt für das Verhältnis dieser wahren Ideologie zum Vorwegnehmenden im falschen, darin nicht nur falschen Bewußtsein der
früheren dieser Marxsatz (an Ruge, 1843):»Unser Wahlspruch muß also sein: Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst noch unklaren Bewußtseins. Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, daß es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit.« Auch die Klassenideologien, worin die Großwerke der Vergangenheit stehen, führen genau auf jenen Überschuß über das standortgebundene falsche Bewußtsein, der fortwirkende Kultur heißt, also Substrat des antretbaren Kulturerbes /(178) ist. Und es erhellt nun: eben dieser Überschuß wird erzeugt durch nichts anderes als durch die Wirkung der utopischen Funktion in den ideologischen Gebilden der kulturellen Seite. Ja, falsches Bewußtsein allein wäre noch nicht einmal ausreichend, um die ideologische Einhüllung so, wie es geschah, zu vergolden. Es allein wäre außerstande, eines der wichtigsten Merkmale der Ideologie herzustellen, nämlich verfrühte Harmonisierung der gesellschaftlichen Widersprüche. Wie viel weniger erst ist Ideologie als Medium fortwirkenden Kultursubstrats ohne ihre Begegnung mit utopischer Funktion begreifbar. All das überschreitet ersichtlich sowohl das falsche Bewußtsein wie die Kräftigung, gar bloße Apologetik des jeweiligen gesellschaftlichen Unterbaus. Item: ohne utopische Funktion hätten es die Klassenideologien nur zur vergänglichen Täuschung gebracht, nicht zu den Mustern in Kunst, Wissenschaft, Philosophie. Und es ist eben dieser Überschuß, der das Substrat des Kulturerbes bildet und hält, als jener Morgen, der nicht nur in den Frühzeiten, sondern höher auch im vollen Tag einer Gesellschaft enthalten ist, ja streckenweise sogar im Zwielicht ihres Untergangs. Alle bisherige große Kultur ist Vor-Schein eines Gelungenen, sofern er immerhin in Bildern und Gedanken auf der fernsichtreichen Höhe der Zeit, also nicht nur in und für seine Zeit, angebaut werden konnte. Kein Zweifel, der Traum vom besseren Leben wird durch all das sehr breit wahrgenommen. Oder, was dasselbe bedeutet, Utopisches wird außer dem üblichen rein abwertenden Sinn nicht nur in dem angegeben antizipatorischen Sinn gebraucht, sondern - als Funktion - auch in einem umfassenden. So zeigt sich: die Breiten- und Tiefenerstreckung des Utopischen ist zunächst schon in historischem Betracht nicht auf seine populärste Erscheinung: die Staatsutopie beschränkt. Sinngemäß reicht der Traum vom besseren Leben weit über sein sozial-utopisches Stammhaus hinaus, nämlich in jede Art von kultureller Antizipation. Jeder Plan und jedes Gebilde, das an die Grenzen seiner Vollkommenheit getrieben worden ist, hatte Utopie berührt und gab, wie angegeben, gerade den großen, den immer weiter progressiv wirkenden Kulturwerken einen Überschuß über ihre bloße Ideologie an Ort und Stelle, mithin nichts Ge- /(179) ringeres als das Substrat des Kulturerbes. Die Erweiterung einer bisher so beschränkt aufgefaßten Antizipationsmacht wurde in Ernst Blochs »Geist der Utopie«, 1918, begonnen, und zwar an Zeugen, Ornamenten und Figuren, die bisher gänzlich außerhalb eines Noch-Nicht-Gekommenen in der Wirklichkeit behandelt worden waren, obwohl sie diesem doch zugehören und mit seiner Artikulierung beschäftigt sind. Der parasitäre Kulturgenuß erlangt durch die Einsicht in die immer adäquatere Richtung zu unserem Identischwerden und durch die Verpflichtung hierzu ein Ende; Kulturwerke gehen strategisch auf. Die Frage bleibt nun allerdings, ob und wieweit Ausdruck und Angriff Utopie ohne überflüssiges Mißverständnis auch auf Intentionen und Interesse übertragen werden können oder sollen, die keinesfalls solche der Vergangenheit
sind. Sondern die völlig gegenwärtig-neu innerhalb der geschehenen Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft liegen. Zwar kennt die Geschichte der Terminologie mehrere solcher Erweiterungen eines vorigen Wortsinns, unter teilweisem Abzug der negativen Bedeutungen, die an ihm hafteten; das Wort romantisch etwa gehört hierher. Eine noch viel größere Differenzierung wurde zwischen den Bedeutungen des Begriffs Ideologie selber vorgenommen; Lenin hat auf Grund dieser Differenzierung den Sozialismus die Ideologie des revolutionären Proletariats zu nennen vermocht. Und trotzdem ist noch allermeist die Antizipationsmacht, mit ihrem offenen Raum und ihrem zu realisierenden, sich realisierenden Gegenstand nach vorwärts, die oben - zum Unterschied vom Utopistischen und von bloß abstraktem Utopisieren - konkrete Utopie genannt worden ist, ganz außerhalb der terminologischen Berichtigung und Erweiterung geblieben, wie sie etwa das Romantische in der »revolutionären Romantik«, das Ideologische in der »sozialistischen Ideologie« erfahren hat. Obwohl doch vor allem in den Gebieten der technischen, architektonischen oder geographischen Utopien, aber auch aller derer, die zuletzt um das »Überhaupt«, das »Eigentliche« unseres Wollens kreisten und kreisen, sachlich und daher begriffsgerecht die Kategorie: utopische Funktion regierend ist. Wohlverstanden: mit Kenntnis und unter Abzug des erledigt Utopistischen, mit Kenntnis und unter Abzug /(180) der abstrakten Utopie. Was dann aber bleibt: der unerledigte Traum nach vorwärts, die nur vom Bourgeois zu diskreditierende docta spes, - das kann in wohldurchdachtem und wohlangewandtem Unterschied zum Utopismus mit Ernst Utopie heißen; in seiner Kürze und neuen Schärfe bedeutet dieser Ausdruck dann das Gleiche wie: methodisches Organ fürs Neue, objektiver Aggregatzustand des Heraufkommenden. Also haben auch alle großen Kulturwerke implicite, obzwar nicht immer (wie in Goethes Faust) explicite einen dermaßen verstandenen utopischen Hintergrund. Sie sind nun, vom philosophischen Utopiebegriff her, kein Ideologiespaß höherer Art, sondern versuchter Weg und Inhalt gewußter Hoffnung. Nur so holt Utopie das Ihre aus den Ideologien und erklärt das Progressive historisch weiterwirkender Art in den Großwerken der Ideologie selbst. Geist der Utopie ist im letzten Prädikat jeder großen Aussage, im Straßburger Münster und in der Göttlichen Komödie, in der Erwartungsmusik Beethovens und in den Latenzen der h-Moll-Messe. Er ist in der Verzweiflung, die ein Unum necessarium noch als Verlorenes innehat, und im Hymnus an die Freude. Kyrie wie Credo gehen im Begriff der Utopie als dem der begriffenen Hoffnung auf ganz andere Art auf, auch wenn der Reflex bloßer zeitgebundener Ideologie von ihnen weg ist, eben dann. Exakte Phantasie des Noch-Nicht-Bewußten ergänzt derart gerade die kritische Aufklärung, indem sie das Gold sehen läßt, das vom Scheidewasser nicht angegriffen wurde, und den guten Inhalt, der gültigst übrigbleibt, ja aufsteigt, wenn Klassenillusion, Klassenideologie vernichtet worden sind. So hat Kultur hinter dem Ende der Klassenideologien, denen sie bisher bloße Dekoration sein konnte, keinen anderen Verlust als den des Dekorationswesens selbst, der falsch abschließenden Harmonisierung. Utopische Funktion entreißt die Angelegenheiten der menschlichen Kultur solchem Faulbett bloßer Kontemplation. sie öffnet derart, auf wirklich gewonnenen Gipfeln, die ideologisch unverstellte Aussieht auf den menschlichen Hoffnungsinhalt. /(181) Begegnung der utopischen Funktion mit Archetypen Ein tiefer Blick bewährt sich darin, daß er doppelt abgründig wird. Nicht nur nach
unten, was die leichtere, die mehr buchstäbliche Art ist, in den Grund zu gehen. Sondern eben, es gibt auch eine Tiefe nach oben und vorwärts, diese nimmt Abgründiges von unten in sich auf. Zurück und vorwärts sind dann wie in der Bewegung eines Rades, das zugleich eintaucht und schöpft. Wirkliche Tiefe geschieht allemal in doppelsinniger Bewegung: »Versinke denn! Ich könnt' auch sagen steige! ‘s ist einerlei«, ruft Mephisto Faust zu. Er ruft es sogar dort, wo ein Ergötzen an längst nicht mehr Vorhandenem angehen soll, an Helena. Und nicht nur Mephisto ruft das, als Intrigant der gefährliche Herr doppelsinniger Bedeutungen, es ruft durch Mephisto eine doppelte Bedeutung selber: die der ebenso archaischen wie utopischen Bildbeziehungen. So hat utopische Funktion sehr oft doppelten Abgrund, den der Versenkung mitten in dem der Hoffnung. Was aber nur heißen kann: hier ist der Hoffnung in dem archaischen Rahmen streckenweise vorgearbeitet. Genauer: in jenen immer noch Betroffenheit erregenden Archetypen, die aus der Zeit eines mythischen Bewußtseins als Kategorien der Phantasie, folglich mit einem unaufgearbeiteten nichtmythischen Überschuß gegebenenfalls übriggeblieben sind. Die Hoffnung hat folglich außer weiter-bedeutenden Ideologien auch jene Archetypen, in denen noch Unausgearbeitetes umgeht, utopisch zu besorgen. Hat sie derart zur Utopie zu schlagen wie, mutatis mutandis, bedeutendfortschreitende Ideologie zu ihr geschlagen wird. Klar hierbei, daß das nicht nur von unten, vom Versinken, sondern wesentlich von oben, vom Überblick des Steigens, vollziehbar ist. Denn immer wieder steht fest: das ausschließlich nach unten Verdrängte, unterbewußt Findbare ist an sich nur der Boden, aus dem die Nachtträume hervorgehen und zuweilen das Gift, das die neurotischen Symptome erregt: dieses Unten kann weithin ins Bekannte aufgelöst werden, ist nicht aufsteigende Dämmerung nach vorwärts, hat also eine im Grund nur langweilige Latenz. Das Erhofft-Erahnte dagegen enthält den möglichen Schatz, woraus die großen Tagphantasien stammen, die durch lange Zeit unveraltbaren; dieses Vorwärts und Oben /(182) kann nirgends ins bereits Bekannte und Gewordene aufgelöst werden, hat also eine im Grund unerschöpfliche Latenz. Sieht Faust, mit dem Zaubertrank der Jugend, Helena in jedem Weibe, so bewegt sich hier der Schönheits-Archetyp Helena gänzlich aus dem Archaischen hervor; er bewegt sich bereits im Archaischen empor. Aber: er kann nur vom utopischen Standpunkt her berufen werden, und nur vom Überblick des Steigens her, nicht in purer Versenkung, wird wahlverwandt Utopisches an Archetypen gegebenenfalls sichtbar. Was im Orkus des Gewesenen noch Eurydike ist, die selber nicht ausgelebte, das findet nur Orpheus, und nur für ihn ist es Eurydike. Einzig dies Utopische an einigen Archetypen ermöglicht deren fruchtbare Zitierung, vorwärts, nicht rückwärts blickend; wie das bereits beim scheinbaren Ineinander der Traumspiele erschienen ist und bei der Auflösung dieses Scheins. Alle derartigen Rationalismen an den Müttern, als noch gebärenden, zeigen ein von der Utopie her einfallendes Licht, selbst in der Romantik mit der sehnsüchtigen Gräber- und Unterwelt-Lampe. Das eigentümlich Brütende in Archetypen, gerade dieses, zeigt ihre Unfertigkeit; aber die Wärme, die das Reifegeschäft zustande bringt, sitzt nicht in der Regressio. Die Archetypen selbst wurden oben bereits erwähnt, bei Gelegenheit C. G. Jung, aber dieser Erzreaktionär, bei dem überdies das Archaische wie Timbuktu in Zürich auftrat, hat das ganze Wesen nur fälschlich, rein als Finsternis berufen. Der Ausdruck Archetypos selber findet sich zuerst bei Augustin, noch als erklärende Umschreibung des Platonischen Eidos, also jeder Gattungsgestalt, doch eben erst die Romantik bezog den antiken Ausdruck auf einen an bestimmten, gleichsam gedrungenen Vorkommnissen durchschlagenden und aufleuchtenden
Kategorialbestand bildhaft-objektiver Art. So werden Romeo und Julia bei Novalis zum Archetyp der jungen Liebe, Antonius und Kleopatra zu dem der reiferen, interessanteren; Philemon und Baucis, mitsamt ihrer Hütte, werden als Ensemblebild uralter, entronnener Ehe visiert. Entscheidend ist nach Novalis die außerordentliche Zusammenstimmung aller Elemente in diesen Archetypen, sie reicht bei Philemon und Baucis »bis auf den Schinken, der geschwärzt im Rauchfang hängt«. Aber weit entscheidender wirkte der /(183) eigentümliche Nimbus, der zur Übereinstimmung der Elemente hinzukam, ein Nimbus wie um Landschaften, mit gelungener Architektur der Situation und ihrer Bedeutung. Die beginnende Achtung auf Ähnlichkeit in den Märchenstoffen, in Konflikttypen, Rettungstypen, in wiederkehrenden »Motiven« tat viel, um auf Archetypen hinzuweisen; vergleichende Literaturgeschichte eröffnete eine Fülle solcher Elemente. So ist es etwa das äußerst eindrucksvolle Motiv des Wiedererkennens (Anagnorisis), das so weit entfernte Stoffe wie Joseph und seine Brüder in der Bibel, die Begegnung Elektras und Orests in der Sophokleischen Tragödie archetypisch eint. Vor allem schien die Mythologie sämtliche Ursituationen und ihr Ensemble zu enthalten; das ist zwar heillose Übertreibung, ganz dem Reaktionären am romantischen Archaismus entsprechend, jedoch enthalten die mythengeschichtlichen Darstellungen von Karl Philipp Moritz, gar Friedrich Creuzer, kraft versuchter Kategorisierung der «Motive«,in der Tat eine Fülle von Archetypen. Sie erscheinen hier als Symbole; vorzüglich Creuzer setzt deren Archetypik unverkennbar bereits in vier Momente: in »das Momentane, das Totale, das Unergründliche ihres Ursprungs, das Notwendige«. Und er erläutert das Momentane, auch Bildhaft-Lakonische vorher selber durch eine Archetype: »Jenes Erweckliche und zugleich Erschütternde hängt mit einer anderen Eigenschaft zusammen, mit der Kürze. Es ist wie ein plötzlich erscheinender Geist oder wie ein Blitzstrahl, der auf einmal die dunkle Nacht erleuchtet, ein Moment, der unser ganzes Wesen in Anspruch nimmt« (Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker 1, 1819, Seite 118, 59). Creuzer nannte solche Lakonismen Symbole im Sinn der Romantik, als Erscheinungen einer Idee; es hätte nur weniger Hypostase einer bereits ewig durchscheinenden Idee dazu gehört, um die Archetypen auch in Form der Allegorie zu sehen, nicht nur in der des Symbols. Sind doch die Allegorien, in ihrer echten Gestalt, also vor dem Klassizismus des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, keineswegs versinnlichte Begriffe, mithin dasjenige, was man so gern frostig nennt und abstrakt. Sie enthalten vielmehr - im Barock, anders im Mittelalter - ebenfalls Archetypen, sogar deren Mehrzahl, nämlich die der Vergänglichkeit und ihrer Vielheit. Gerade /(183) in der Allegorie geht erst die Fülle der poetisch arbeitenden Archetypen auf, der noch in der Alteritas des Weltlebens gelegenen, während das Symbol durchgehends der Unitas eines Sinnes zugeordnet ist, deshalb auch wesentlich die religiösen Archetypen formiert oder aber die Archetypen religiös formiert. Ganz als in Religion befindlich hat daher ein größerer Creuzer und vollendeter Mythologe, Bachofen, das Archetypenwesen der alten Völker sowohl entdeckt wie erstmals zu ordnen versucht. Es erschien in hetärischer, mutterrechtlicher, vaterrechtlicher Reihe: in den hetärischen Ornamenten von Schilf und Sumpf, in den mutterrechtlichen von Ähre und Erdhöhle, in den vaterrechtlichen von Lorbeer und Sonnenkreis; eine ebenso sozialgeschichtliche wie naturmythische Ordnung sollte derart in die Archetypen insgesamt geraten. Sie wurden dadurch freilich - von dem Hypothetischen der drei Reihen abgesehen - nicht auch umfassender katalogisiert, weder in ihrer allegorischen Form und Beziehung noch in ihrer religiös-symbolischen. Immerhin erhellte, gerade aus der Arbeit der Romantik, dies
utopisch Entscheidende: Archetypen haben trotz ihres ursprünglich Augustinischen Gleichklangs mit Urbildern im Sinn Platonischer Ideen mit diesen und ihrem puren, letzthin gar transzendenten Idealismus wenig oder nichts gemein. Sie sind, wie schon aus den angegebenen Beispielen hervorgeht, wesentlich situationshafte Verdichtungskategorien, vorzüglich im Bereich poetisch-abbildlicher Phantasie, und nicht, gleich den Platonischen Ideen gattungshaft hypostasierte. Die Archetypen der Romantik oder vielmehr: wie sie von der Romantik aufgefaßt wurden, waren mit den Platonischen Ideen einzig durch die sogenannte Wiedererinnerung verbunden, wenn auch das in einer Weise, die gleichfalls die Unterschiede von unabänderlichen Ideen kenntlich macht. Wiedererinnerung, Anamnesis, war bei Platon eine an den vorweltlichen Zustand, wo die Seele sich im urbildlichen Himmel befand; Wiedererinnerung in der Romantik dagegen bewegt sich historisch, geht in Urzeiten innerhalb der Zeit selbst zurück, wird archaische Regression. Daß diese allerdings möglich war, zeigt, wenn auch keinerlei Nähe zum Platonismus der himmlischen Ideen, doch eine von der Romantik besonders benutzte - Mißverstehbarkeit der /(185) Archetypen in ihrem Verhältnis zur utopischen Funktion. Bloß in der Regression gehaltene verwandeln die Utopie zu einer rückwärts gewandten, reaktionären, schließlich gar diluvialen. Sie sind dann gefährlicher als das übliche Vernebelungsgebilde Ideologie; denn während dieses nur von der Erkenntnis der Gegenwart und ihrer realen Triebkraft ablenkt, verhindert die nach rückwärts bannende und im rückwärtigen Bann gehaltene Archetype überdies noch die Aufgeschlossenheit zur Zukunft. Sind doch keineswegs alle Archetypen utopischer Behandlung fähig, selbst wenn diese echt ist und nicht reaktionärer Utopismus wie oft in der Romantik. Durch das Pathos bloßer Archaik wird die ganze Sphäre verfehlt, die in Poesie, auch Philosophie oft so lebhaft und, im großen Stil, lichtvoll kräftige. Wie bemerkt, sind einzig jene Archetypen utopischer Behandlung fähig, in denen noch ein Unausgearbeitetes, relativ Unabgelaufenes, Unabgegoltenes umgeht. Bezeichnenderweise waren gerade feudal-abgelaufene Archetypen die beliebtesten in der Regression, die der politischen Reaktion entsprach, gleich als ob der Archetyp, das Wahrzeichen, woran sich, wie die Romantik sagte, alle Poetischen in dem älter gewordenen Lehen immer wiedererkennen, lediglich Auslieferung an die Vergangenheit wäre und nicht auch (wie die Erstürmung der Bastille) Emblem der Zukunft, in echter utopischer Funktion. Hier beginnt deshalb wieder ein Scheiden, damit die echten Freunde sich erkennen und beieinander bleiben. Nur der utopische Blick kann dies ihm Wahlverwandte finden, daran hat er, statt des kahlen kapitalistischen Ornamentmords auch im Denken, ein wichtiges Amt. Die verrotteten Archetypen müssen von den utopisch wirklich unabgegoltenen erst gesondert werden, nämlich durch ihre Zuordnung zu schlechthin verjährtem Gewesenen. Ersichtlich aber sind die vorhandenen Archetypen der Freiheitssituation oder des Lichtglücks nicht ans derart Vergangene gebunden, sie sind ihm entronnen, mindestens zu ihm exterritorial. Es ist hier nicht der Ort, die Archetypen zu mustern, sie gehören, wie später darzustellen sein wird, in einen neuen Teil der Logik, in die Kategorientafel der Phantasie. Sie finden sich, wie gesehen, in allen großen Dichtungen, Mythen, Religionen, und eben: sie gehören nur mit ihrem unabgegoltenen /(186) Teil einer Wahrheit zu, einer hüllenhaften Abbildung utopischer Tendenzinhalte im Wirklichen. Ein Archetypus mit unabgegoltener Tendenz-Latenz unter der phantastischen Hülle ist das Schlaraffenland, ist der Kampf mit dem Drachen (St. Georg, Apollo, Siegfried, Michael), ist der Winterdämon, der die junge Sonne töten will (Fenriswolf, Pharao, Herodes, Geßler). Ein verwandter Archetypus ist die Befreiung der Jungfrau (der
Unschuld insgesamt), die der Drache gefangenhält (Perseus und Andromeda), ist die Drachenzeit, das Drachenland selbst, wenn es als notwendiger Vorraum zum letzten Triumph erscheint (Ägypten, Kanaan, Reich des Antichrist vor Beginn des Neuen Jerusalem). Ein Archetypus höchsten utopischen Ranges ist das Trompetensignal im letzten Akt des »Fidelio«, konzentriert in der Leonoren-Ouvertüre, das die Rettung verkündet: die Ankunft des Ministers (er steht für den Messias) verkörpert den Archetypus der rächend-erlösenden Apokalypse, den alten Gewittersturm- und Regenbogen-Archetypus. Ja, ein Archetypus uralter, hier aber völlig konkret bezogener Art ist noch in dem Marxsatz: »Wenn alle inneren Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns.« Man bemerkt an diesen Beispielen rein immanent: das Utopische an Archetypen ist zuletzt überhaupt nicht in Archaik fixierbar, es wandert vielmehr höchst tauglich durch die Geschichte. Vor allem auch: es sind nicht alle Archetypen archaischen Ursprungs, manche tauchten ab origine erst im Verlauf der Geschichte auf, so der Tanz auf den Trümmern der Bastille - ein neu ergreifendes Urbild, von den archaischen Reigen der Seligen durch ganz neue Inhalte abgetrennt. Seine Musik ist Beethovens Siebente Symphonie, keine mithin, die zu Asphodelos wiesen, auch keine, die zu orgiastischen Frühlings- und Dionysosfesten gestimmt hätte. Selbst Archetypen deutlich archaischen Ursprungs haben an historischen Umbildungen sich immer wieder erfrischt, variiert: auch das Trompetensignal im »Fidelio« hätte kaum seine durchdringend echte Wirkung ohne den Bastillesturm, der die Vorlage und den unablässigen Hintergrund der Fidelio-Musik bildet. Durch ihn erst erfuhr der Gewittersturm- und RegenbogenArchetyp, auf den das Signal und die Rettung bezogen sind, /(187) einen ganz neuen Ursprung: er trat aus dem Astralmythos in die Revolutionsgeschichte; er wirkt nun, obzwar Archetyp, ohne eine Spur von Archaik. So sind zu guter Letzt nicht alle Archetypen nur Bildverdichtungen archaischer Erfahrung; immer wieder ist von ihnen ein Reis entsprungen, das den vorhandenen Inhalt der Archetypen mehrt. Wie erst, wenn in die uralten wie in die historisch frischen der utopische Einbruch geschieht, die Umfunktionierung, welche sich auf Befreiuung der archetypisch eingekapselten Hoffnung versteht. Wäre Archetypisches völlig regressiv, gäbe es keine Archetypen, die selber nach der Utopie greifen, während die Utopie auf sie zurückgreift, dann gäbe es keine vorschreitende, dem Licht verpflichtete Dichtung mit alten Symbolen; Phantasie wäre ausschließlich Regressio. Sie müßte sich als progressiv bestimmte vor allen Bildern, auch Allegorien, Symbolen hüten, die aus dem alten mythischen Phantasiegrund stammen, sie hätte jeweils nur Realschul-Intellekt für sich, mithin, da dieser traumlos ist, gegen sich. Aber die Zauberflöte - um ein Phantasiestück zu nehmen, das fraglos humanisiert - gebraucht fast lauter archaische Allegorien und Symbole: den Führer und Priesterkönig, das Reich der Nacht, das Reich des Lichts, die Wasser- und Feuerprobe, die Magie der Flöte, die Verwandlung in eine Sonne. Demungeachtet haben sich alle diese Allegorien und Symbole, darunter solche, in deren heiligen Hallen ehemals keine Menschenliebe gesungen wurde, dem Dienst der Aufklärung als verwendbar gezeigt, ja sie kamen in der Mozartschen Märchenmusik, als undämonischem Tempel, wahrhaft nach Hause. So zieht produktiv-utopische Funktion auch Bilder aus dem unverjährt Gewesenen, soweit sie, trotz allem Bann in ihnen, doppelsinnig zukunftsfähig sind, und macht sie zum Ausdruck für das immer noch nicht Gewesene tauglich, für Sonnenaufgang. Derart entdeckt die utopische Funktion nicht nur den kulturellen Überschuß als zu sich gehörig, sie holt auch aus der doppelsinnigen Archetypen-Tiefe ein Element ihrer selbst zu sich zurück, eine archaisch gelagerte Antizipation noch von
Noch-Nicht-Bewußtem, Noch-Nicht-Gelungenem. Um mit einem dialektischen Archetyp selber zu reden: der Anker, der hier in den Grund sinkt, ist zugleich der Anker der Hoffnung; das Versinkende enthält das Auffahrende, /(188) kann es enthalten. Ja das gleiche mit all dem bezeichnete Doppelwesen, das zur Utopie fähige, zeigt und bewährt sich schließlich, wenn Archetypen deutlich zu den objekthaften Chiffern übergehen, die sie ohnehin nach der Natur abgebildet haben. So in zahlreichen verdichteten Gleichnissen (stille Wasser sind tief, alle Höhe ist einsam), so im Gewittersturm-Regenbogen-Archetyp, so eben im Licht- und Sonnenbild der Zauberflöte. Archetypen dieser Art sind überhaupt nicht bloß aus menschlichem Material gebildet, weder aus Archaik noch aus späterer Geschichte; sie zeigen vielmehr ein Stück Doppelschrift der Natur selbst, eine Art Realchiffer oder Realsymbol. Realsymbol ist eines, dessen Bedeutungsgegenstand sich selber, im realen Objekt, noch verhüllt ist und nicht etwa nur für die menschliche Erfassung seiner. Es ist mithin ein Ausdruck für das im Objekt selber noch nicht manifest Gewordene, wohl aber im Objekt und durchs Objekt Bedeutete; das menschliche Symbolbild ist hierfür nur stellvertretend-abbildlich. Bewegungslinien (Feuer, Blitz, Klangfigur und so fort), Gestalten ausgezeichneter Objekte (Palmform, Katzenform, menschliches Gesicht, ägyptischer Kristallstil, gotischer Waldstil und so fort) machen diese Realchiffer kenntlich. Ein scharf geprägter Teil der Welt erscheint derart als Symbolgruppe objekthafter Art, deren Mathematik und Philosophie noch gleichmäßig ausstehen. Die sogenannte Gestaltlehre ist davon nur abstrakte Karikatur; denn Realchiffern sind nicht statisch, sie sind Spannungsfiguren, sind tendenziöse Prozeßgestalten und vor allem eben, auf diesem Weg, symbolische. Dergleichen grenzt an das Problem einer objekthaft-utopischen Figurenlehre, also letzthin an das vergessene (pythagoräische) Problem einer qualitativen Mathematik, einer erneut qualitativen Naturphilosophie. Hier jedoch zeigt sich bereits: auch objekthafte Archetypen, zu Realchiffern übergegangen, wie sie im riesigen Antiquarium Natur, näher im gestalteten Menschenwerk sich finden, werden nur durch utopische Funktion erhellt. Ihre nächste Existenz haben Archetypen freilich allemal in menschlicher Geschichte; soweit nämlich Archetypen sind, was sie sein können: konzise Ornamente eines utopischen Gehalts. Utopische Funktion entreißt diesen Teil der Vergangenheit, der Reaktion, auch dem Mythos; jede dermaßen /(189) geschehende Umfunktionierung zeigt das Unabgegoltene an Archetypen bis zur Kenntlichkeit verändert. Begegnung der utopischen Funktion mit Idealen Ein aufgeschlossener Blick bewährt sich darin, daß er sich zuwendet. Ihm schwebt ein Ziel vor, das seit der Jugend selten aus den Augen verloren wird. Indem es nicht zuhanden ist, aber fordert oder leuchtet, wirkt es als Aufgabe oder als Richtpunkt. Scheint das Ziel nicht nur Wünschens- oder Erstrebenswertes, sondern Vollkommenes schlechthin zu enthalten, so wird es Ideal genannt. Jedes Ziel, ob erreichbar oder nicht erreichbar, ob Sparren oder objektiv sinnvoll, muß erst im Kopf vorgestellt werden. Aber die Zielvorstellung Ideal unterscheidet sich von der gewöhnlichen eben durch den Akzent Vollkommenheit; von ihm kann nichts heruntergehandelt werden. Aktives Streben und Wollen werden sonst aufgegeben, oder sie werden empirisch-klug abgelenkt, wenn die Vorstellung empirisch zwingender Gegengründe in die Zielvorstellung eindringt. Dagegen die Zielvorstellung Ideal wirkt als solche unnachlaßlich, ein auf sie gerichteter
Willensentscheid ist unaufhebbar. Er ist es selbst dann, wenn er nicht vollzogen wird; denn der Nichtvollzug wird gerade wegen der sachlichen Unaufhebbarkeit von schlechtem Gewissen, mindestens vom Gefühl einer Entsagung begleitet. Der Gegenstand der Idealvorstellung, der ideale Gegenstand, wirkt so als fordernder, scheinbar als hätte er ein eigenes Wollen, das als Sollen an den Menschen ergeht. Die gewöhnliche Zielvorstellung wie die des Ideals zeigen den Charakter eines Werts, und bloße Wertillusion findet sich hier wie dort. Aber während diese Illusion bei gewöhnlichen Zielvorstellungen empirisch korrigierbar ist, hält das bei Idealen bedeutend schwerer, eben wegen ihrer verdinglichten Forderung. Erscheint ein Gegenstand als idealer, so gibt es von seinem fordernden, gegebenenfalls berückend fordernden Bann nur durch Katastrophen eine Heilung; und auch dann nicht immer. Es gibt das Unglück einer Idolatrie der Liebe, die selbst ans durchschaute Objekt noch weiter bannt; es wirken illusionäre politische Ideale auch nach empirischer Katastrophe zuweilen weiter, als seien sie - echte. /(190) Eine eigene Macht zieht so von der Idealbildung her, eine, die die gleichsam helle und mündige Überzeugung vom Ideal als einer Vollkommenheit mit sehr viel dunkleren Antrieben durchsetzt. So daß Idealbildung, nach ihrer unfreien und illusionären Seite, eminent viel falsches Bewußtsein, archaisches Unterbewußtsein zu enthalten vermag. Dergleichen erschien bereits bei Gelegenheit der Verdrängung im Freudschen Sinn, anders bei Gelegenheit der Adlerschen Machtpsychologie, - die überkompensierende Bildung des Leitideals betreffend. Bei Freud ist das Über-Ich der Quell der Idealbildung, und das Über-Ich selbst, mit all der Drohung, dem Sollen, das von ihm ausgeht, soll der nachwirkende Vater sein. Das Ich steht zum Über-Ich im Verhältnis eines Kindes zu den Eltern; deren Gebote sind im Ideal-Ich, in jedem Ideal-Gebot überhaupt wirksam geblieben, üben jetzt als Gewissen die moralische Zensur aus. Diese Idealtheorie führte also ausschließlich nach rückwärts zum Vater und, bei genügender Ausbohrung, in die patriarchalisch-despotische Zeit insgesamt. Demgemäß sind bei Freud alle nichtdrohenden, alle leuchtenden Züge des Ideals ausgelassen, auch ist dieses gänzlich aufs Moralische eingeengt. Die eigentlich leuchtenden Züge sucht Adlers Überkompensierungstheorie zu erklären, zugleich ist sie nur hinsichtlich dessen, was das Leitideal überwinden mag, auf Vergangenheit gerichtet, auf die ehemalige »Däumlings-Situation«. Das Leit- oder persönliche Charakterideal soll hier kein erinnert-eingepreßtes Ziel, sondern ein relativ frei gewähltes sein: die Menschen finalisieren sich in der Charaktermaske zur Idealmaske um, um das Gefühl der Überwertigkeit zu erreichen. Freilich wieder sind nach dieser Theorie alle Idealbilder auf moralische, ja letzthin auf persönlich eitle beschränkt; objektivere Ideale, etwa künstlerische, fehlen durchaus. Sogar Alternativ-Ideale der richtigen Lebensführung, wie sie aus vorkapitalistischer Zeit herüberreichen, als Einsamkeit oder Freundschaft, als vita activa oder vita contemplativa, haben in dieser puren Konkurrenz-Psychologie keinen Platz. Ebenso bleiben Idealsituationen, Ideallandschaften bei Beschränkung auf rein persönliche Leitbilder unbegriffen-heimatlos. So machten Freud und Adler doch nur den drückenden Bann kenntlich, der der Idealbildung zugrunde liegen kann: hier den Vater-Bann, dort min- /(191) destens den Bann der Minderwertigkeit. Auch die Marschroute ist nicht offen, die von hier aus sowohl zu den Surplus-Eigenschaften wie zu den Surplus-Bildern hinführt. Alles bleibt beim Sollen, das vorgestellte Zielbild des Werdenwollens wird über die Hälfte mehr ertragen als erhofft. Doch ist damit der Wille, der auf Türme sieht, sie auch besteigt, noch nirgends erschöpft. Die Idealbildung ist keinesfalls auf Sollen und Bann begrenzt, sie hat ihre freiere, hellere Seite außerdem. Zeigt diese hellere Seite auch gleichfalls
starke Negativitäten: die des Ersatzes, der Verblasenheit, Abstraktheit, wozu im neunzehnten Jahrhundert noch die Verlogenheit des Ideals kam: so hängen diese doch nicht mit den finsteren oder sinistren Momenten der Idealbildung zusammen. Nicht mit Sollen von oben herab, mit Bann, Druck des Über-Ichs, Wendung gegen Kreatur schlechthin; was hier verführt, ist vielmehr die hochschwebende Vollkommenheit selber. Die freien Charaktere des Tagtraums prägen sich auf dieser helleren Seite aus, besonders die Fahrt ans Ende, wo es recht unendlich hergeht. Wird selbst wirkliche Fahrt zum Ideal gar nicht unternommen oder bleibt sie nur in seinem Bilde, als Einschiffung nach Cythera, einem überdies rein erotischen Ideal: so ist doch immer Ende intendiert, und dieses als Perfektum. Vollkommenheit nun ist nicht bloß leichter zu fühlen, sie ist auch einladender zu denken als mittlere Kulturkategorien. Daher wurde denn das Ideal viel deutlicher zu Begriff gebracht als die Ideologien (was sich wegen des interessierten Verhüllungscharakters der Ideologie von selbst versteht), aber auch deutlicher als die Archetypen. Es gibt bis jetzt keine Bestimmung und Tafel der Archetypen, dagegen mehrere des Ideals; und sie reichen herunter bis zu Termini wie: idealeHausfrau, idealer Bach-Bariton und dergleichen, sie reichen hinauf bis zum Ideal des höchsten Guts. Es gibt Leitideale des rechten Lebens, scharf kontrastierende, es gibt eine von den Sophisten und Sokrates bis zu Epikur und der Stoa reich nuancierte Wertwägungslehre, eine Kriterienlehre des Ideals. Nach allen Seiten gar, nach denen des Drucks wie der finalen Richtungseinheit wie der Hoffnung, erscheint das Ideal bei Kant, der den Philosophen selber einen Lehrer des Ideals, die Philosophie eine Unterweisung im Ideal nennt. Wieder als Druck, ja Angriff erscheint dieses /(192)im kategorischen Imperativ des Sittengesetzes: die Würde des Menschen, die in diesem Gesetz Achtung fordert, steht zu allen natürlichen Antrieben im Gegensatz. Dann aber erscheint das Ideal bei Kant als finale Richtungskraft, dergestalt, daß diese nicht selber fordert, sondern umgekehrt gefordert wird, und zwar in der postulierenden Dreieinigkeit des Unbedingten: Freiheit, Unsterblichkeit, Gott. Ebenso erscheint das Ideal als Hoffnung, nämlich als das wahrhaft höchste Gut der praktischen Vernunft; dieses soll dann die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit sein, die (freilich immer nur approximative) Verwirklichung eines Reichs Gottes auf Erden. Dann wieder erscheint das Ideal in der Kantischen Ästhetik: als das einer naturgemäßen Vollkommenheit, also ohne höchstes Gut, hierbei mit lehrreichstem Gegensatz zu dem moralischen Druck-Ideal. Kant wendet von diesem in der Kunst sich ab, so wie überhaupt Gesolltsein in der Kunst allemal läppisch gerät: es gibt eine donnernde Ethik, aber ihr entsprechend - nur eine schulmeisterliche Ästhetik. Kant will sie nicht, das künstlerische Genie ist bei ihm nicht mit seiner natürlichen Triebfeder entzweit wie der sittliche Mensch. Konträr: Genie gibt gerade »als Natur die Regel«,Genie ist eine «Intelligenz, welche wirkt wie die Natur«. Und alle Verschönerungen gemäß dem ästhetischen Ideal werden definiert als «vollkommene Verkörperung einer Idee in einer einzelnen Erscheinung«. So vielfältig also, nach seinen verschiedenen Gesichten, denen des Banns und denen des Sternlichts vor allem, als einer Hoffnung der Zukunft, schlägt sich gerade bei Kant, dem formalen, doch dadurch besonders abstrakt-radikalen Lehrer des Ideals, die Vollkommenheit auseinander. Seine ästhetische Fassung, die «vollkommene Verkörperung einer Idee in einer einzelnen Erscheinung«, geht überdies aus einem formalen bereits in einen objektiven Idealismus über. So berührt sich dieser Idealbegriff letzthin mit der Idee, wie sie durch Aristoteles aus Platons Gattungsform oberhalb der Erscheinung in die Zielform oder Entelechie innerhalb der Erscheinung gebracht worden ist. Die Entelechie, welche wegen hemmender Nebenursachen in den Einzeldingen sich
nicht vollkommen ausprägt, wird bei Aristoteles von der Bildhauerei, auch von der Dichtung sichtbar gemacht. Ästhetische Idealdarstellung wird derart eine solche, /(193) welche zugleich nachahmend trifft und der Entelechie gemäß verschönert, das heißt, welche zeigt, was der Natur der Sache nach geschehen müßte; daher der berühmte Aristotelische Satz: das Drama sei philosophischer als die Geschichtsschreibung. Es ist zuletzt noch dieser ans Ende treibende Vollkommenheitscharakter des ästhetisch Idealen, der bei Schopenhauer wie Hegel an Kants «vollkommener Verkörperung einer Idee in einer Einzelerscheinung« sich anschließen läßt. Mit viel Aristoteles bei Schopenhauer: «Je nachdem nun dem Organismus die Überwältigung jener tieferen Stufen der Objektivität des Willens ausdrückenden Naturkräfte mehr oder weniger gelingt, wird er zum vollkommeneren oder unvollkommeneren Ausdruck seiner Idee, das heißt, steht näher oder ferner dem Ideal, welchem in seiner Gattung die Schönheit zukommt.« Und weiter, mit deutlicher Streifung einer utopischen Funktion (im statischen Grenzwesen der Gattung): «Nur so konnte der geniale Grieche den Urtypus der menschlichen Gestalt finden und ihn als Kanon der Schule, als Skulptur aufstellen; und auch allein vermöge einer solchen Antizipation ist es uns allen möglich, das Schöne da, wo es der Natur im einzelnen wirklich gelungen ist, darzustellen. Diese Antizipation ist das Ideal; es ist die Idee, sofern sie, wenigstens zur Hälfte, a priori erkannt ist und, indem sie als solche dem a posteriori durch die Natur Gegebenen ergänzend entgegenkommt, für die Kunst praktisch wird« (Werke, Grisebach, I, S.207, 297). Hegel läßt die Ideale überhaupt nur in der Kunst vorkommen und nicht in der sonstigen Wirklichkeit, am wenigsten in der politisch-sozialen; hier sind sie für Hegel, soweit er Restaurationsphilosoph ist, einzig Chimären einer eingebildeten Vollkommenheit. Dagegen hat ihm die Kunst, als Kontemplationsgebilde, schlechterdings nichts als Ideale zum Substrat, orientalisch-symbolische, griechisch-klassische, abendländisch-romantische (Ehre, Liebe, Treue, Abenteuer, Glauben). Und ihre ästhetische Manifestation zeigt erst recht Erinnerung des Aristoteles in sich, der Entelechie: »Die Wahrheit der Kunst darf also keine bloße Richtigkeit sein, worauf sich die bloße Nachahmung der Natur beschränkt, sondern das Äußere muß mit einem Inneren zusammenstimmen, das in sich selbst zusammenstimmt und eben dadurch sich als sich selbst im Äußeren offen- /(194) baren kann. Indem die Kunst nun das in dem sonstigen Dasein von der Zufälligkeit und Äußerlichkeit Befleckte zu dieser Harmonie mit seinem wahren Begriffe zurückführt, wirft sie alles, was in der Erscheinung demselben nicht entspricht, beiseite und bringt erst durch diese Reinigung das Ideal hervor« (Werke, XI, S. 199f.). Ersichtlich wird hier erst recht nicht das Ideal als gleichgültig gegen Wirkliches überhaupt betrachtet, auch nicht als fade Schönfärberei (wie sie den Schwindelgegensatz von Poesie und Prosa, schließlich Kultur und Zivilisation behaupten ließ). Sondern ein stärkerer Wirklichkeitsgrad selber ist gemeint, einer der im Erscheinungsprozeß realiter intendierten jeweiligen Vollkommenheit, auch wenn diese Schichtung bei Hegel nirgends als die eines realiter Noch-Nicht-Gewordenen zugelassen wird. Trotzdem zeigt das Ideal überall dort, wo nicht Über-Ich, wo nicht rückwärtiger Vater-Bann oder auch fixe Bilder einer bloß nachahmenden Überkompensierung ihr Wesen treiben, noch viel genuinere Antizipation in sich als die meisten Archetypen. Und die utopische Funktion am Ideal wird so weniger seine Aufsprengung als seine Berichtigung: kraft einer Vermittlung mit konkreten Vollkommenheitsbewegungen in der Welt, mit materieller Idealtendenz. Außerhalb dieser freilich bleiben inwendig wie erst recht auswendig nur große
Worte übrig. Sollen, Forderung, Druck gehören zum Ideal als Bann, aber wie bemerkt: Verblasenheit, unverpflichtend Abstraktes, ungeschichtliche Statik bedrohen es in seiner Freiheit und intendierten Vollkommenheit. Wozu eben gar noch die Lüge kam, die das neunzehnte Jahrhundert hinzubrachte: das Wahre, Gute, Schöne als bourgeoise Phrasen. Fontane hat an der Kommerzienrätin Jenny Treibel, geborenen Bürstenbinder, eine Bourgeoise mit Idealen dargestellt, die sich für alle ihresgleichen sehen lassen kann. Auch für ihre ganze Umgebung: «Sie liberalisieren und sentimentalisieren beständig, aber das alles ist Farce; wenn es gilt, Farbe zu bekennen, dann heißt es: Gold ist Trumpf - und weiter nichts.« Ibsen hat in seinen meisten Dramen die Leidenschaft, zu zeigen, wie die verkündeten bürgerlichen Ideale und die bürgerliche Praxis überhaupt nichts mehr miteinander gemein haben. «Das Puppenheim«, «Gespenster«, «Die Wildente« sind lauter Abwandlungen des /(195) Themas Ideal-Phrase; und es hätte nur wenig dazu gehört, um diese tiefernsten, fast tragischen Stücke als Komödien herauszuarbeiten. Gregers Werle in der «Wildente« ist genau der Don Quixote der bürgerlichen Ideale, mitten in einer verkommenen Bourgeoisiewelt, und der Zynismus Rellings, wenn er diese Ideale nicht bloß Lügen, sondern dem Durchschnittsmenschen notwendige Lebenslügen nennt, ist gar nicht nur zynisch, er nennt den Sonntags-Schwindel des spätbürgerlichen Ideals nur bei Namen. Mit der Grenze, daß Ibsen selber noch an die bürgerlichen Ideale glaubt, glauben will und sie in den Dramen nach der «Wildente« so darzustellen versucht, daß sie der Kritik Rellings nicht verfallen. Neue Welt war weder bei Fontane noch bei Ibsen, dafür wurde die alte immanent denunziert, mit ihrem Mißverhältnis zwischen Theorie und Praxis, mit ihrer tief eingefressenen Heuchelei. Das zu durchschauen, dazu genügt ein kritischer Realismus, es ist keine Ideologieforschung noch gar utopische Funktion notwendig. Wohl aber ist diese, mit ergriffener materieller Tendenz, notwendig, damit das Ideal mit seiner verblasenen, bourgeoisen Existenz nicht einig gesehen wird. Damit es erst recht aus seiner gesamten bisherigen Existenzweise: aus Abstraktheit, Statik möglicherweise hervorgeholt werden kann. Zunächst aus der Abstraktheit, als der abgehobenen, schlecht allgemeinen, kraftlos schwebenden. Sie ist wesentlich formell, der Inhalt hat sich aus dem wirklichen Leben herausgestohlen oder steht ihm unvermittelt in den leeren großen Worten gegenüber. Indem die Ideale sich derart mit keiner Tendenz vermittelten, kam zur Abstraktheit die undialektische Statik. Beides vermehrt die Wertillusion; sie wird nun durch eine Haltung unterstützt, die die Ideale in den Silberschrank stellt, zur ewig gleichen Erbauung. Abstraktheit und Statik zusammen machen dann die sogenannten idealen Prinzipien aus, als Richtpunkte für Worte, nicht für Handlungen. Derart Formales blüht vor allem in England und, zur Religion aus toten Schlagworten übergehend, in Nordamerika. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, dann die amerikanische Verfassung enthielten ihre Rights of life, liberty and the pursuit of happiness, ihre Principles of liberty, justice, morality und law noch von der Citoyen Seite her (das Principle of property, das weniger bengalisch /(196) beleuchtete, als basic principle freilich nicht zu vergessen). Doch nun steht das alles in starrer Luft, und das einzig wirkliche, das ökonomische basic principle erlaubt wegen der formalen Abstrakt-Statik der anderen Prinzipien jeden Opportunismus des Inhalts, vor allem in der Liberty. Das so beschaffene Ideal kann und will sich gegen diesen bis zur völligen Umkehrung gehenden Opportunismus seines Inhalts theoretisch nicht absetzen; es kann nicht wegen seiner formal irreführenden Allgemeinheit, es will nicht wegen seiner energielosen Starre. Wie groß ist diese Kraftlosigkeit erst in Deutschland gewesen, im Luther-Deutschland der doppelten Buchführung oder des Dualismus von Werk
und Glauben. In den kalvinistischen Ländern blieb das Ideal wenigstens ein verbaler, ja formaldemokratischer Richtpunkt für bald aufgegebene Handlungsweisen; Heuchelei bildet sich aus als Tribut des Lasters an die Tugend. In Deutschland dagegen stand das Ideale so hoch über der Welt, daß es in gar keinen Kontakt zu dieser kam, außer in den des ewigen Abstands. Aus diesem Richtpunkt wurden Sterne, die zu weit waren, um erreichbar zu sein, also Sterne der Velleität, nicht der Tat. Daraus entstand das Phantom bloßer unendlicher Annäherung ans Ideal oder, was dasselbe heißt, seiner Verlegung ins ewige Streben nach ihm hin. Die Welt blieb so im argen, die sittlichen Ideale hingen in himmlischer Ferne, die ästhetischen Ideale begehrte man nicht einmal, sondern freute sich nur ihrer Pracht. So leicht ist der Sprung von unendlichem Wollen zu bloßer Kontemplation; denn auch das ewig Approximative ist Kontemplation, nur gestört durch beständigen Handlungsschein, durch Handeln um des Handelns willen, ut aliquid fieri videatur. Kam selbst ein konkreter Idealsinn in Deutschland herauf, so war er im Punkt der Verwirklichung durchaus nur die Kehrseite der unendlichen Nicht-Verwirklichung, nämlich totaler Friede in der Welt; so bei Hegel. Hier verschwindet zwar das Unendliche der Annäherung ans Ideal, aber damit auch jede Annäherung durch Menschenwerk ans Ideal überhaupt. Der Weltprozeß als solcher wird Selbstrealisierung der in ihm gesetzten idealen Zwecke, und der Mensch ist bloßes Hilfsmittel, zuletzt gar, als philsophischer, bloßer Zuschauer von Idealen, die angeblich ohnehin verwirklicht sind. Das alles mithin hält das Ideal ohnmächtig, gleichviel ob in /(197) unendlicher Annäherung oder in allzu viel Deckung mit der Welt, als einer angeblichen Idealwelt. In beiden herrscht Statik des Ideals mit einer in sich bereits fertigen Vollkommenheit; und eben gegen diese Fertigkeit hat utopische Funktion sich hier zu bewähren. Das aber ist eine andere Bewährung als an Archetypen, eine dem Stoff viel verwandtere, freilich auch eine mit viel mehr Bruderstreit. Die gemeinte Vollkommenheit eben, ihre ganz eingestandene Antizipation, ist es, welche das Ideal utopischer Behandlung zugänglich macht. Die Archetypen haben das Antizipierende eingekapselt, und es muß herausgesprengt werden; die Ideale dagegen zeigen es abstrakt oder statisch, und es muß nur berichtigt werden. Die Archetypen zeigen die Hoffnung sehr oft im Abgrund und diesen im Archaischen, sie sind dann wie die versunkenen Schätze im Mythos selber, welche an einem Johannistag sich heben und sonnen; die Ideale dagegen zeigen ihre Hoffnung von vornherein am Tag, auf seiner nach aufwärts sich dehnenden Wölbung. Die Erneuerung der meisten Archetypen hat den stillen Orplidvers Mörikes für sich: «Uralte Wasser steigen verjüngt um deine Hüften, Kind!«; der Auftritt eines Ideals dagegen hat den entschiedenen Tagruf für sich, aus Brownings »Pippa«: »Dein Stundenstrom, lang, blau, klar, festlich fließend, der stark, ich fühl's, die Erde schützt und segnet, alles wird mein.« Es gibt gewiß auch Archetypen, die nicht im Abgrund hausen, der Tanz auf den Trümmern der Bastille gab davon das stärkste Exempel, und umgekehrt ist ein Archetyp wie das Mutterbild in Isis-Maria zugleich ein tief verwurzeltes Ideal. Doch im Ganzen lebt das Ideal rein an der Front, so sehr, daß sein Vollendungsbild eher zu fern als zu versunken erschien. Nicht grundlos sind die abstrakten Utopien als abstrakte, doch eben auch als Utopien wesentlich mit Idealen gefüllt und bedeutend weniger mit Archetypen, auch nicht mit denen des ohne weiteres revolutionären Sinns. Die einsame Insel, worauf Utopia liegen soll, mag ein Archetyp sein, doch stärker wirken in ihr die Idealgestalten erstrebter Vollkommenheit, als freie oder geordnete Entfaltung des Lebensinhalts. Utopische Funktion also hat sich am Ideal wesentlich in der gleichen Linie zu bewähren wie an Utopien selber: in der Linie konkreter Vermittlung mit materieller Ideal-Tendenz in der Welt, wie bemerkt. Keinesfalls kann /(198)
Idealisches durch bloße Tatsachen belehrt und berichtigt werden; konträr: es gehört zu seinem Wesen, daß es zur bloßen faktischen Gewordenheit in gespanntem Verhältnis steht. Wohl aber hat Idealisches, wenn es etwas taugt, Anschluß an den Prozeß der Welt, wovon die sogenannten Tatsachen verdinglicht-fixierte Abstraktionen sind. Es hat in seinen Antizipationen, wenn sie konkrete sind, ein Korrelat in den objektiven Hoffnungsinhalten der Tendenz-Latenz; diesKorrelat ermöglicht ethische Ideale als Vorbilder, ästhetische als Vor- Scheine, die auf ein möglicherweise Realwerdendes deuten. Solche durch utopische Funktion berichtigte und ausgerichtete Ideale sind dann allesamt solche eines menschlich-adäquat entfalteten Selbst- und Weltinhalts; deshalb sind sie - was hier zu guter Letzt das ganze Idealwesen so zusammenfassen wie vereinfachen mag - sämtlich Abwandlungen des Grundinhalts: höchstes Gut. Ideale verhalten sich zu diesem obersten Hoffnungsinhalt, möglichen Weltinhalt als Mittel zum Zweck; daher gibt es eine Hierarchie der Ideale, und ein unteres kann dem oberen geopfert werden, indem es ohnehin in der Realisierung des oberen wieder aufersteht. Zum Exempel: die oberste Abwandlung des höchsten Guts in der politisch-sozialen Sphäre ist die klassenlose Gesellschaft; folglich stehen Ideale wie Freiheit, auch Gleichheit zu diesem Zweck im Mittelverhältnis und erlangen ihren Wertinhalt (ihren im Fall Freiheit besonders vieldeutig gewesenen) vom politisch-sozialen höchsten Gut her. Dergestalt, daß es nicht bloß die Mittelideale inhaltlich bestimmt, sondern je nach Erfordernis des obersten Zweckinhalts auch variiert, gegebenenfalls die Abweichungen temporär rechtfertigt. Ebenso: die oberste Abwandlung des höchsten Guts in der ästhetischen Sphäre ist immanenter Vor-Schein einer humanvollkommenen Welt: folglich stehen alle ästhetischen Kategorien zu diesem Ziel in Relation und sind seine Abwandlungen - als l’art pour l'espoir. Und vernehmlicher als bei Archetypen tönt im Ideal die Antwort des Subjekts auf schlechte Gewordenheit, die tendenzhafte Antwort gegen das Unzulängliche, für das human Angemessene. Sagt daher Marx, die Arbeiterklasse habe keine Ideale zu verwirklichen, so trifft dieses Anathema gewiß nicht die Verwirklichung von tendenzhaft-konkreten Zielen, sondern nur die von abstrakt-heran- /(199) gebrachten, von Idealen ohne Geschichts- und Prozeßkontakt. Der Sozialismus ist durch Marx, Lenin selber in seinem jeweils nächst zu betreibenden Stadium ein konkretes Ideal geworden, eines, das durch seine planmäßig vermittelte Solidität nicht weniger, sondern mehr als das abstrakt gewesene anfeuert. Und gerade das politisch höchste Ideal: das Reich der Freiheit, als politisches Summum bonum, ist der bewußt hergestellten Geschichte so wenig fremd, daß es, als konkretes, ihre Finalität ausmacht oder das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt. Denn ein Anti-Summum-bonum oder Umsonst, die ebenso mögliche Alternative, wäre nicht das letzte Kapitel dieser Geschichte, sondern ihre Streichung, und nicht Finalität, sondern Ausgang zum Chaos. Entweder ist im Prozeß, trotz menschlicher Arbeit, Tod ohne Hinterland, oder es ist, kraft menschlicher Arbeit, Realismus des Ideals in seinem Gang - tertium non datur. Die Freiheit der utopischen Funktion hat aber ihre Tätigkeit und ihr eigenes Ideal darin, das noch nicht gewordene «Sein wie Ideal« (höchstes Gut), das in den Dämmerungen, an der Front der Prozeßwelt sich mit realer Möglichkeit entwickelt, gegenständlich zu bedeuten und in Freiheit zu setzen. Begegnung der utopischen Funktion mit Allegorien-Symbolen Bleibt noch der betroffene Blick, der sich auch am noch nicht Klaren klar bewährt.
Letzteres ist hier jenes noch nicht Klare, das nicht nur seine eigene Sache, sondern darin zugleich noch eine andere bedeutet. Tritt das in dichterischer Sprache auf, so können deren Worte zwar durchaus sinnlich und gegenwärtig sein, jedoch sie hallen wie in einem großen Saal. Schon das Sprichwort gibt sich als mehrschichtig und bedeutsam, sofern es gleichnishaft zu werden versteht, ja es mit Vorliebe ist. «Stille Wässer sind tief«, das ist derart bereits eine allegorische Aussage, und sie steigert sich im großen dichterischen Gleichnis. «Gedichte sind gemalte Fensterscheiben«, dieser große Goethische Gleichnissatz gibt das Dunkel-Helle des Bedeutens seiner eigenen Sache und darin zugleich einer andern aufs beste wieder. Solch ein Satz ist eine perfekte Allegorie, freilich als diese selber wieder mit dem noch nicht Klaren ihrer selbst behaftet, weshalb /(200) wieder keine Allegorie perfekt sein kann. Denn sie ist per definitionem mehrdeutig, das heißt, der Gegenstand, von dem sie ihr erhellendes Gleichnis nimmt (hier: die gemalten Fensterscheiben), ist selber keinesfalls eindeutig. Er enthält mehrere Bedeutungen in sich, auch solche, die sich nicht vergleichsweise auf Gedichte beziehen, und deutet vor allem, auch im GedichtBezug, im Transparenzbezug, zwischen Dunkel und Licht, weiter über sich fort. So ist keine Allegorie perfekt; wäre sie es, wäre ihr Fortbezug nicht einer, der kreuz und quer, aber auch in der gleichen Linie immer wieder zu anderem schickt, dann wäre diese Art Aussage nicht allegorisch, sondern symbolisch. Sie wäre es, obwohl das dann erreichte Perfekte immer noch eines des sachlich noch nicht Klaren bleibt, nämlich eines des Verhüllten im Offenbaren, des Offenbaren als eines immer noch Verhüllten. Die Allegorie besitzt dieses Sinns dem Symbolischen gegenüber eine Art Reichtum aus Ungenauigkeit; so eben steht ihre Gleichnisart hinter der unschwankenden, obzwar gleichfalls noch schwebenden des Symbols und des Einheitspunkts seiner Beziehung zurück. Das freilich darf nicht mit dem anderen Wertunterschied verwechselt werden, den man seit wenig mehr als hundert Jahren zwischen dem Allegorischen und Symbolischen auf grundfalsche Weise vorgenommen hat. Wonach das Allegorische bloß aus versinnlichten oder sinnlich dekorierten Begriffen bestünde, während das Symbolische - nun, allemal auf der sogenannten Unmittelbarkeit beruhte. Oder wie Gundolf das nachher, an dem von ihm georgisierten Goethe, so töricht ausdrückte: der junge Goethe hätte seine »Urerlehnisse« symbolisch ausgesagt, indes der ältere seine sogenannten bloßen »Bildungserlebnisse« nur noch allegorisch wiederzugeben vermocht hätte. Diese Wertunterscheidung ist nicht nur an Goethe sinnlos, sie folgt auch insgesamt der konventionellen Falschmeinung nach, die man sich seit der Romantik über Allegorien gemacht hat. An Hand der verständig entspannten Halballegorien, ja bloßen Abstraktionsillustrierungen, die im Rokoko und Louis seize (als Figuren der Tugend, der Wahrheit, der Freundschaft und so fort) vom Phänomen Allegorik allein noch im Bewußtsein waren. Der darauf bezüglichen romantischen Abwertung der Allegorien fehlte die erfahrene /(201) Kenntnis wirklicher Allegorik: der des Barock, mit seiner Orgie von Emblemen, der des Mittelalters, der der frühchristlichen Patristik. Die Allegorie war in ihrer Blütezeit keineswegs Versinnlichung von Begriffen, Dekorierung von Abstraktionen, sondern eben versuchte Wiedergabe einer Dingbedeutung mittels anderer Dingbedeutungen, und zwar auf Grund des Gegenteils von Abstraktionen: nämlich auf Grund von Archetypen, welche die jeweiligen Gleichnis-Glieder in ihrem Bedeutungsgehalt einen. Und ebenso sind es Archetypen, welche den Bedeutungs-Durchklang, den freilich verbindlichen und zentralen, im Symbol-Gleichnis fundieren: dieses nicht als Archetypen des Unterwegs und der Vergänglichkeit, sondern eines strengen Überhaupt oder End-Sinns. Ersichtlich kann also der letzt angegebene Wertunterschied zwischen
Allegorie und Symbol, als der einzig legitime, nicht mit dem zwischen dekorierten Abstraktionen, gar fixester Art, und leibhaften Theophanien konfundiert werden; die Rangverschiedenheit ist vielmehr eine innerhalb des gleichen Archetyp-Felds selbst. Oben (vgl. S.183) wurde bereits der Unterschied so bestimmt, daß die Allegorie die Archetypen der Vergänglichkeit enthält, weshalb ihre Bedeutung allemal auf Alteritas geht, während das Symbol durchgehends der Unitas eines Sinns zugeordnet bleibt. Und für das jetzt fällige Problem einer Begegnung utopischer Funktion mit Allegorie und Symbol muß in beiden die Kategorie der Chiffer betont werden, als der geformten, ja auch realiter in den Objekten vorkommenden Bedeutung des im Archetyp verbundenen Allegorischen oder Symbolischen. Danach gibt die Allegorie an jeweiliger Einzelheit eine Chiffer auf einen gleichfalls noch in Einzelheit (Vielheit, Alteritas) ausgebreiteten, in Vergänglichkeit, ja Zerbrochenheit befindlichen Sinn. Das Symbol dagegen gibt an jeweiliger Einzelheit eine Chiffer auf eine in der Einzelheit (Vielheit, Alteritas) transparent erscheinende Einheit des Sinnes; es ist so auf das Unum necessarium einer Ankunft (Landung, Versammlung) gerichtet, nicht mehr auf hin und her geschickte Vorläufigkeit, Mehrdeutigkeit. Diese Intention auf eine Ankunft macht daher das Symbol verbindlich, zum Unterschied von den blühend sich verschiebenden, der währenden Unentschiedenheit des Wegs hingegebenen Allegorien. Was schließ- /(202) lich macht, daß die Allegorie wesentlich in der figurenreichen Kunst zu Hause ist und in polytheistischen Religionen, während das Symbol wesentlich der großen Einfachheit in der Kunst sowie heno- und monotheistischen Religionen zugehört. Vorwegnahme nun hat in beiden etwas zu melden, denn in beiden meldet sie sich selbst. Das ist gleichzeitig ein Verschlossenes, das sich offenbart, und ein Offenbarendes, Eröffnendes, das sich noch verschließt, weil - gerade auch im Symbol - die Zeit noch nicht reif, der Prozeß noch nicht gewonnen, die in ihm anhängige Sache (der Sinn) noch nicht herausproduziert und entschieden ist. Also gibt es eine im Stoff selber fundierte Begegnung der utopischen Funktionen mit Allegorie wie Symbol; es ist das objektive Bedeuten selber, worin die utopische Funktion sich hier begegnet. Wir wiederholen: jedes Gleichnis, das in der Vielheit, Alteritas bleibt, stellt eine Allegorie dar, so in dieser Weise: »Schon stand im Nebelkleid die Eiche, / ein aufgetürmter Riese, da, / wo Finsternis aus dem Gesträuche / mit hundert schwarzen Augen sah.« Spricht das Gleichnis jedoch Einheit, Zentrales überhaupt, konvergiert es dazu bin mit beginnend erscheinender, wenn auch immer noch in Hülle befindlicher Fraglosigkeit, dann wird eindeutig Symbolik getroffen, so in dieser Weise: «Über allen Gipfeln ist Ruh.« Und die Form beider ist jene dialektische, die Goethe, mit einem selber dialektisch gespannten Ausdruck, «öffentlich Geheimnis« nannte, eben als noch währendes Ineinander von Eröffnetem und Verhülltem, noch nicht aus der Hülle Herausgebrachtem. Dergestalt aber, daß - in allen echten, das ist, auch objektiv stimmenden Allegorien, gar Symbolen - das «öffentlich Geheimnis« nicht nur für die auffassenden Menschen eines ist, etwa auf Grund seiner unzureichenden Fassungskraft, sondern ebenso in der vom Menschen unabhängigen Außenwelt Realqualitäten der Bedeutung ausmacht; so die Tendenzgestalten des in seinen jeweiligen Erscheinungen sich bedeutenden charakteristisch Typischen, so das gesamte dialektische Daseinsformen- (Figuren-) Experiment der Welt auf ihre noch latente zentrale Figur. Es ist lehrreich, auch dieses wirklich Öffentliche eines Geheimnisses mit Goethes so realistischerWelt-Eröffnung zu vergleichen: die in der Welt sich lebend entwickelnden Entelechien sind allesamt ebenso viele /(203) lebende, objekthaft vorhandene Allegorien und Symbole. Es gibt derart diese Chiffer auch in der
Realität, nicht bloß in allegorischen und symbolischen Bezeichnungen dieser Realität; und es gibt eben deshalb solche Real-Chiffern, ,weil der Weltprozeß selber eine utopische Funktion ist, mit der Materie des objektiv Möglichen als Substanz. Die utopische Funktion der menschlich bewußten Planung und Veränderung stellt hierbei nur den vorgeschobensten, aktivsten Posten der in der Welt umgehenden Aurora-Funktion dar: des nächtlichen Tags, worin alle Real-Chiffern, das heißt Prozeßgestalten noch geschehen und sich befinden. Allegorische Figurenbildung, symbolische Zielbildung zeigen darum in der Tat alles Vergängliche als ein Gleichnis, doch als ein solches, das ein eigener realer Weg der Bedeutung ist. Jedes treffende Gleichnis ist darum zugleich ein Wirklichkeit abbildendes, im selben Maß, wie es in seiner Bedeutungsrichtung voll objektiver utopischer Funktion und in seiner Bedeutungsgestalt voll Real-Chiffer ist. Und das Symbol, zum letzten Unterschied von der Allegorie, bewährt sich von hier aus als versuchter Übergang vom Gleichnis zur Gleichung, das heißt zur versuchten Identität von Inwendigkeit und Auswendigkeit. Wobei es eben zur Ehrlichkeit der Aussage selber gehört, daß das Unum necessarium (höchstes Gut) eines solchen Identitäts-Inhalts immer erst in der Stimme eines Chorus mysticus erschienen ist und noch nicht mit jener adäquaten Prädizierung, objekthaften Gelungenheit, die das Grenzziel und die letzte Aufgabe der Weltaufklärung ist. Sehnsucht, Vorwegnahme, Abstand, noch währende Verhülltheit, das sind Bestimmungen im Subjekt wie im Objekt des Allegorisch-Symbolischen. Es sind Bestimmungen von keinerlei bleibender Art, sondern Aufgaben zur wachsenden Erhellung des darin noch Unbestimmten, kurz, zur wachsenden Auflösung des Symbolischen. Doch gerade die realistische Tendenz-Erkenntnis, mit dem Gewissen der Latenz in ihr, hat dem als öffentlich Geheimnis Bezeichneten gerecht zu werden.
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UTOPISCHER BILDREST IN DER VERWIRKLICHUNG ÄGYPTISCHE UND TROJANISCHE HELENA
Aber kommt, wie der Strahl aus dem Gewölke kommt, Aus dem Gedanken vielleicbt, geistig und reif die Tat? Folgt die Frucht, wie des Haines Dunklem Blatte, der stillen Schrift? Hölderlin Träume wollen ziehen Wie lange weist es in uns immer nur nach vorwärts? Das Wünschen will doch etwas, ist nicht bloß irgendwie, quält nur selten leer. Beeilt es sich aber zu landen, kommt der Trieb, der in ihm arbeitet, an? Der Trieb vielleicht, eine Zeitlang, auch jede Begierde kann, fürs erste, überraschend gestillt werden. Dem Satten ist nichts gleichgültiger als ein Stück Brot, dem Neugierigen nichts veralteter als die eben erst gelesene Zeitung. Dahinter jedoch steht alles wieder auf, es gibt, mit dem Hunger beginnend, nie gekühlte Wünsche. Und die Bilder, die sich auch ein sich stillender Wunsch vorgemalt hat, stehen zuweilen in der Luft, als könnten sie sich nicht
niederschlagen. Der Wunsch und Wille zu ihnen lebt fort, sie selbst leben fort. Auch von erfüllbaren Träumen kommt, wenn sie auf ebenem Boden landen, nicht immer alles an; oft bleibt ein Rest. Er ist luftig, ja windig, ist aber stärker als das Fleisch, ist trotzdem merkbar. Ein Mann erwartet ein Mädchen, das Zimmer ist voll zärtlicher Unruhe; letztes Licht vom Abend ist darin, erhöht die Spannung. Tritt jedoch die Erhoffte über die Schwelle und ist alles gut. alles da, so ist das Hoffen selber nicht mehr da, dieses ist verschwunden. Es hat nichts mehr zu sagen und trug doch noch etwas mit sich, was in der seienden Freude nicht laut wird. Völlige Deckung ist selten, wahrscheinlich noch nie eingetreten. Im Traum von etwas, bevor das Herz sich labt, war's besser oder schien so. /(205)
Nicht-Genügen und was darin stecken kann
Nicht immer gelingt es, selbst ein gekommenes Jetzt zu pflücken. Das Fleisch kann schwach sein, doch auch ein feinerer Grund ist häufig. Desto bedenklicher gar, auch in guter Lage, wenn vorher zu viel Träume hinzukommen, zu viel überholende. Dann hat die Einbildung den Stoff der bevorstehenden Erfahrung für sich verbraucht, in Liebe wie bei jeder Art von Debüt. Stendhals Schrift »De l'amour« gelangt von hier aus zu ihrer berühmten Diagnose des Fiaskos. Nach Stendhal entsteht unmittelbares Glück nur dort, wo ein Mann die Frau ohne Aufschub, das heißt: im Augenblick des Begehrens besitzt. Sicheres Liebesglück ist nur dann verbürgt, »wenn ein Liebhaber noch keine Zeit gehabt hat, sich nach der Frau zu sehnen und sich mit ihr in der Einbildung zu beschäftigen«. Ja, Stendhal braucht nicht einmal die vollen Spiele der Einbildungskraft, um ein Zurückbleiben hinter der Wirklichkeit zu erklären; er wagt den Satz: »Sowie nur ein Körnchen Leidenschaft ins Herz kommt, ist auch ein Körnchen, eine Möglichkeit des Fiaskos da.« Und weiter, mit gefährlicher, entnervender Erzeugung von Lampenfieber: «Je höher die Liebe eines Mannes ist, desto größere Gewalt muß er sich antun, ehe er es wagt, die Geliebte vertraulich zu berühren. Er wähnt, ein Wesen zu erzürnen, das ihm als etwas Göttliches erscheint, das ihm gleichzeitig grenzenlose Liebe und grenzenlose Ehrfurcht einflößt... Nun ist die Seele schamerfüllt und damit beschäftigt, diese Scham zu überwinden; die Wollust ist versperrt.« Man vergleiche damit die Unlust romantischer Dichter, ihre Himmelsbilder der Weiblichkeit in Erfahrung fallen zu lassen, fallen zu sehen, vorab bei E. Th. A. Hoffmann. Aus einem so unersättlich wie verdinglicht werdenden Traumwesen stammt nicht zuletzt der romantische Haß gegen die Ehe: »Der Zauber ist vernichtet«, ruft ein Künstler in Hoffmanns »Fermate«, mit übersexuellem Fiasko im Sinn, »und die innere Melodie, sonst Herrliches verkündend, wird zur Klage über eine zerbrochene Suppenschüssel.» Dieselbe Tragikomödie meint ein Gespräch des Kapellmeisters Kreisler mit der Prinzessin in Hoffmanns «Kater Murr«; Kreisler rühmt die »echten Musikanten«, die nicht lieben wollen wie die guten Leute mit der Traumschändung im Ehebett. Damit /(206) aber die Künstler weder als verstiegen noch gar als liebesunfähig erscheinen, vergleicht sie Kreisler mit Minnesängern, Höfischkeit, Marienkult und fährt, die »echten Musikanten« betreffend, fort: »Diese tragen die erkorene Dame im Herzen und wollen nichts als ihr zu Ehren singen, dichten, malen; kurz, sie sind in der vorzüglichsten Courtoisie den galanten Rittern vergleichbar.« Nun, das Ende aus Verwirklichung haben mehrere Ehemänner erfahren, auch wenn sie keine Kreisler waren; genau in Kreislers Voraussicht traf es aber einen wirklichen Musiker: Hector Berlioz, und einen der romantischsten dazu. Hier war sogar Bühne vorhanden,
worauf das Idol doppelt strahlte: Berlioz verliebte sich in eine junge englische Schauspielerin, die Shakespeares Mädchen und edle Frauen verkörperte. Diese Julia, Ophelia, Desdemona erhöhte ihren Glanz, indem sie alle Annäherungen abwies, wurde für Berlioz dadurch desto vernichtender strahlend. In der Furcht, daß der verzweifelte Liebhaber sich das Leben nehme, haben seine Freunde Chopin und Liszt eine ganze Nacht die Ebene von St. Quentin durchsucht, in deren Richtung man Berlioz, gänzlich von Sinnen, hatte fortstürzen sehen. Als es aber dem berühmt gewordenen Musiker einige Jahre später gelang, die Geliebte zu gewinnen, als das Idol sein Weib wurde, brach die vordem so gewaltige Liebe mit der Verwirklichung (die nicht nur »zerbrochene Suppenschüsseln» mit sich gebracht haben mochte) zusammen. Madame kam gegen das Traumbild, das sie von der Bühne her in einen Jüngling ergossen hatte, nicht auf. Die Erfahrung war nicht nachsichtig gegen die Hoffnung, doch diese auch nicht gegen die Erfahrung; und letztere wurde übertrieben enttäuschend. Erster Grund der Enttäuschung: Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück; zweiter Grund: Verselbständigter Traum und die Sage der doppelten Helena Zunächst liegt hier zugrunde, daß das Jetzt und Da zu dicht vor uns steht. Das Erleben in bar versetzt aus dem ziehenden Traum in einen anderen Zustand: in den der unmittelbaren Nähe. Der gerade gelebte Augenblick trübt als solcher, er hat eine zu dunkle /(207) Wärme, und seine Nähe macht gestaltlos. Dem Jetzt und Hier fehlt der Abstand, der zwar entfremdet, doch deutlich und überblickbar macht. Daher wirkt das Unmittelbare, worin Verwirklichung geschieht, von vornherein dunkler als das Traumbild, ja zuweilen wüst und leer. Selbst wenn uferloses Imaginieren nicht das Erdreich weggeschwemmt hat, auf dem die Verwirklichung steht, wenn das Treffen mit der Wirklichkeit auch stattfindet, selbst dort kann das Paradox statthaben, daß der Traum fester und jedenfalls heller erschien als seine Verwirklichung. Die leuchtendeWolke legt sich beim Näherkommen als grauer Nebel um uns her; das Fernblau der Berge verschwindet an Ort und Stelle ganz. Tamino in der »Zauberflöte», als einer Märchen-Oper, soll zwar die Pamina genauso, wie sie auf dem Bild dreinsieht, in Sarastros Burghof erblicken. Jedoch trotz des glückhaften Ausrufs: »Sie ist es!» taucht die Frage auf, ob sie es wirklich sei, ob das Gefühl, das sich in Taminos Sehnsuchtslied: »Dies Bildnis ist bezaubernd schön» ausgesprochen hatte, ob dies utopische Imaginieren, mit seiner Imago, an einem noch so vollkommenen Original seine Erfüllung gefunden hat und finden konnte. Man vergleiche zu diesem Bild-Blau zwei Erprobungen, die, wie beim Berlioz-Fall, im Leben sich zugetragen, vorgefallen sind, und zwar bei so verschiedenen Personen wie dem zerrissenen Lyriker Lenau hier, dem eitelstrengen Christologen Kierkegaard dort; es war aber dieselbe Katastrophe an der Fata Morgana. Lenau fuhr nach Amerika, nicht ohne den Willen, das Bild seiner Braut durch die Trennung besser präsent zu haben, als wenn er sie neben sich hätte; mit Ungenügen am bloßen Bild, mit verstärktem Willen zum Original kehrte er heim, nun aber entstand folgendes Gedicht, »Wandel der Sehnsucht« überschrieben: Wie doch dünkte mir die Fahrt so lang, o wie sehnt' ich mich zurück so bang
aus der weiten, fremden Meereswüste nach der lieben, fernen Heimatküste.
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Endlich winkte das ersehnte Land, jubelnd sprang ich an den teuren Strand, und als wiedergrüne Jugendträume grüßten mich die heimatlichen Bäume. Hold und süßverwandt, wie nie zuvor, klang das Lied der Vögel an mein Ohr; gerne, nach so schmerzlichem Vermissen, hätt' ich gerne jeden Stein ans Herz gerissen. Doch da fand ich dich, und - todesschwank jede Freude dir zu Füßen sank, und mir ist im Herzen nur geblieben grenzenloses, hoffnungsloses Lieben. O wie sehn' ich mich so bang hinaus wieder in das dumpfe Flutgebraus! Möchte immer auf den wilden Meeren einsam nur mit deinem Bild verkehren!
Soweit Lenau und seine Unfähigkeit zum realen Wiedersehen: Pamina zerfiel hier in der Nähe sogleich. Diese Art Liebe hat die feierliche Eitelkeit, in sich selbst verliebt zu sein; sie ist ein Fest, das keinen Montag erleben kann. Eben aus gleichem Grund blieb auch Kierkegaard, der allzu absolute Liebhaber, auf dem hohen Meer einsam mit dem Bild verkehrend. Kierkegaard löste das Verlöbnis mit seiner Braut Regine Olsen, Regine nahm einen ihrer früheren Verehrer zum Mann, und Kierkegaard schrieb in sein Tagebuch: »Heute sah ich ein schönes Mädchen, das interessiert mich nicht. Kein Ehemann kann seiner Frau treuer sein, als ich ihr bin.« Und weiter, in der angenommenen Maske des Lüstlings und ebenso in der des Asketen: «Gut hat sie die Pointe verstanden, daß sie heiraten muß.« Hier ist die tollste Verschränkung der Platonismen: hier ist das Liebesideal des Troubadours und der Asketenliebe zu Maria, doch hier ist eben auch die Verlegung Paminas an einen Bildhorizont als ihre ideenhafte Heimat. Der Platoniker, gar der homo religiosus Kierkegaard versagt sich nicht überall der Gegenwart, aber er beschränkt sich auf das Absolute, so wie das Absolute sich selber die Gegenwart vorbehält: »Denn dem Absoluten gegenüber gibt es nur /(209) eine Zeit: die Gegenwart; wer mit dem Absoluten nicht gleichzeitig ist, für den ist es gar nicht da.« Infolgedessen ist nach Kierkegaard nicht nur die unbedingte Gegenwart der Liebe schwerst erreichbar, sondern, ganz entsprechend, auch die der christlichen Nachfolge, christlichen Liebe: »Es hat seit den Tagen der Apostel keinen Christen mehr gegeben.« Daß hierbei, sowohl im Verhältnis zum sogenannten Absoluten wie besonders zum Nächsten, nichts mehr erschien als horizontlose Innerlichkeit: dieser tiefe Verlust hebt die Gewalt der Kierkegaardschen Aporie an der Verwirklichung nicht auf. Gegenwart ist hier Bewährung, und zum reaktionären Auftrag in der Romantik paßt es bei Kierkegaard, die Bewährung gerade vor hohen, also der vorhandenen Gesellschaft gegebenenfalls unbequemen Idealen als so schwer wie möglich darzustellen. Kierkegaards Ideale waren im Verhältnis zur damaligen Gesellschaft gewiß nur
paradox und alles andere wie revolutionär: dennoch paßt dieser absolut gemachte Bewährungsskrupel - selber nicht paradoxerweise - sehr gut zu dem reaktionären Defaitismus gegenüber den (aufgegebenen) Idealen des ehemals revolutionären Bürgertums selber. So hat sich der Bourgeois zum Lippendienst gegenüber Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit »resigniert«; so wich aber auch die Sozialdemokratie, indem sie ihren angeblichen Sozialismus aufs höchste »idealisierte«, gerade der Realisierung einer Gesellschaft aus, worin die Menschen - wieder mit absoluter Idealisierung - angeblich Engel werden müßten, vor allem vorher schon wie Engel zu handeln hätten. Und trotzdem steckt im Fortglänzen des großen Bilds vor dem Jetzt und Da seines Inhalts auch echter Ernst; er könnte sonst nicht mißbraucht werden. Was sich sogleich, vollkommen, mit Haut und Haaren, mit Fleisch und Bein verwirklicht, was mitten in unserer Vorgeschichte, unserer doch noch so wenig zum vollen Da-Sein entwickelten Daseinssphäre gar keinen Rest läßt, erscheint auch dem planenden Realisten, den keine absolute Forderung bankerott macht, schwerlich sogleich als das Rechte. Das in der Tat ist der unromantische Rest und Kern in Kierkegaard, selbst in Lenaus so verstiegener, ja defaitischer und impotenter Skrupulosität, - ein Rest, den anderwärts gerade die Vorsicht in der Hoffnung merkt. Daher macht die Hoffnung - mit Recht und /(210) Genauigkeit, ja mit der höchsten Art des Gewissens: dem des Ziels - gegen jede allzu dick sich schon gebende Verwirklichung mißtrauisch; Apotheosen sind auch einem Bewußtsein, das nicht Kierkegaards abstrakte Radikalismen ehrt, allemal flach und dekorativ. Selbst noch eine so vollkommene Musik der Erfüllung, wie die, welche in Beethovens »Fidelio« ertönt, wenn Leonore Florestan die Ketten abnimmt, selbst diese unirdische Glücksmusik mediatisiert die vorige Musik der Hoffnung nicht. »Da leuchtet mir ein Farbenbogen, der hell auf dunkeln Wolken ruht« - dieser frühere Gesang Leonores, obwohl er mitten aus der Nacht kommt, hat eine eigene Art von Glück an sich. »Komm, 0 Hoffnung, laß den letzten Stern der Müden nicht erbleichen, erhell mein Ziel, sei's noch so fern, die Liebe wird's erreichen« - die Musik dieses puren Gebets an die Hoffnung verbleicht nicht ganz vor dem erfüllten Jubel, womit die Oper »Fidelio« schließt und uns entläßt. Die Hoffnungsarie Leonores hat zwar keinesfalls solche Tiefe, wie sie nachher im Augenblick der verwirklichten Hoffnung, im Augenblick der Kettenabnahme erscheint, in der fast stillstehenden Mystik dieses Augenblicks, aber sie behält trotzdem einen ungesenkten Farbenbogen, mit offen scheinendem Raum. Die Nähe also macht schwierig; leichter, selbst füllender als sie erscheint oft noch die Hoffnung, mindestens das Vorgefühl eines baldigen Eintritts des Erhofften. Als zweites macht der allzu weit ziehende und tönende Flug hier schwierig. Er ist das verselbständigt gewordene Leben im Traum, ein sich sehnsüchtig vermehrendes. Dieses Leben wird an der Erfüllung nicht sterben, will von seiner langgewohnten Bühne nicht restlos abtreten. Selbst dann nicht, wenn Trauminhalt und Erfüllung sich menschenmöglich zu decken scheinen; auch dann tritt ein zum Idol Gewordenes nicht ohne weiteres zurück. Ja die Anomalie ist möglich: das Idol setzt sich als einzig real, und gerade die Erfüllung wirkt dann als Phantom. Das Motiv dieser nicht normalen, doch jedem Wunschbild drohenden Verselbständigung ist in der Sage der ägyptischen Helena gedacht. Ein Drama des Euripides befaßt sich mit diesem eigentümlichen, ja wesenhaft fragmentarischen Stoff; er hätte in der Folge einen Shakespeare verdient und hat nicht einmal einen Hebbel gefunden. Zuletzt hat Hofmannsthal ein Opernlibretto daran /(211) gesetzt, das ohne die Straußsche Musik wenig bedeutet, dazu einen Essay. Der Mythos selber ist einer der lebensechtesten, auch bedeutsamsten, die auf der Straße Utopie-Wirklichkeit zu
finden sind. Hofmannsthal berichtet über ihn folgendermaßen: «Wir sind in Ägypten oder auf der zu Ägypten gehörigen Insel Pharos, vor einer Königsburg. Menelaos tritt auf, allein auf der Rückfahrt von Troja. Seit Monaten irrt sein Schiff umher, von Strand zu Strand verschlagen, immer von der Heimkehr abgetrieben. Helena, seine zurückeroberte Frau, hat er mit seinen Kriegern in einer verdeckten Bucht zurückgelassen; er sucht einen Rat, eine Hilfe, ein Orakel, das ihn belehren soll, wie er den Heimweg findet. Da tritt ihm aus dem Säulengang der Burg - Helena entgegen, nicht die schöne, allzu berühmte, die er im Schiff zurückgelassen hat, sondern eine andere und doch die gleiche. Und sie behauptet, seine Frau zu sein die andere dort im Schiff sei niemand und nichts, ein Phantom, ein Trugbild, von Hera (der Beschützerin der Ehe) damals dem Paris in den Arm gelegt, um die Griechen zu narren. Um dieses Phantoms willen sind zehn Jahre Krieg geführt worden, sind Zehntausende der besten Männer gefallen, ist die blühendste Stadt Asiens in Asche gesunken. Sie aber, Helena, die einzig wirkliche, habe indessen von Hermes übers Meer getragen - hier in dieser Königsburg gelebt.« Rein also, entrückt, treu hat sie gelebt, die schönste Frau, doch eine, die vom Paris nichts weiß, die Helena ohne trojanischen Krieg, nicht die ungeheuerliche Kokotte, nicht das Idol, das bei allen Kämpfen gegenwärtig war, nicht der Siegespreis. Der Wechsel ist zu jäh, der Idol-Entzug zu umfangreich, als daß Menelaos ohne weiteres daran glauben kann, ja eben: glauben will. Zehn Jahre Fixierung an die trojanische Helena stehen der ägyptischen im Wege; auch Euripides läßt derart den Menelaos sagen: «Der Wucht erlittener Leiden trau ich mehr als dir!« Menelaos wendet sich zum Gehen, da kommt vom Schiff ein Bote und meldet, auf dem Schiff habe sich das Wesen, das man für Helena hielt, in feurige Luft aufgelöst. Wonach also an der bloßen Phantom-Existenz der trojanischen Kokotte so wenig ein Zweifel bleibt wie an der Wirklichkeit der ägyptischen Tugendfrau: ein Streif feurige Luft hier (doch noch im Verschwinden, noch im Untergang glühend), ein Leib- /(212) haftiges, einzig Reelles dort. In der Tat muß sich Menelaos bei Euripides zufrieden geben, er fährt mit der ägyptischen, nicht der trojanischen Helena nach Hause, in den Königshof nach Sparta, wo sie auch von Homer, im vierten Gesang der Odyssee, geschildert wird. Nicht viel bewundert, viel gescholten, sondern als ruhig waltende fürstliche Gutsfrau, deren Gemüt kaum noch von einer Erinnerung an Troja bewegt wird. Es sei denn von einer kurzen und lächelnden, von einer weniger leichtfertig als unbeteiligt ausgesprochenen (Od. IV. v. 145): die Frau des Menelaos erwähnt, daß um ihres lockenden Hundeblicks willen die Achäer vor Troja ziehen mußten (die Hündin ist eine alte Allegorie des Hetärischen). Sonst gibt sie an, den Jammer, den sie geschaffen hat, beweint zu haben, und gibt alle Schuld der Aphrodite, die sie entführt hat (v. v. 251-264) - ganz distanziert, ganz als wäre sie stets die ägyptische Helena gewesen. Insoweit scheint nicht nur auf dem Schiff, auch in Sparta alles in Ordnung; um die große Liebesgöttin wurde Menelaos beneidet, zur tugendhaft gebliebenen Ehefrau wird er beglückwünscht. Indes in der wahren Tiefe der Sache trägt sich dieses zu: die trojanische oder Traum-Helena hat vor der ägyptischen voraus, daß sie zehn Jahre lang einen Traum bewohnt, ja den Traum als Traumgestalt erfüllt hat. Eben gegen dieses kommt die spätere reale Erfüllung nur schwer, jedenfalls nicht vollständig auf; es bleibt der leuchtende Rest des Traums, es bleibt ein Streif feurige Luft, es verselbständigt sich Fata Morgana. Denn das Objekt der realen Erfüllung war bei den Abenteuern selber nicht anwesend, zum Unterschied vom Traumobjekt; das Verwirklichte stellt eine sehr späte Bekanntschaft dar. Nur die trojanische, nicht die ägyptische Helena zog mit den Fahnen, hat die Sehnsucht der zehn utopischen Jahre in sich aufgenommen, die Erbitterung und die
Haßliebe des Hahnrei, die vielen Nächte fern von der Heimat, das wilde Feldlager und den Vorgenuß des Sieges. So eben tauschen sich leicht die Gewichte: die Luftsirene in Troja, mit der sich eine Welt von Schuld, Leid, vor allem aber von Hoffnung verbindet, bleibt in dieser merkwürdigen Aporie fast das Reale, die Wirklichkeit wird fast zum Phantom. Vom Kokottenglanz der trojanischen Helena ganz abgesehen hat eben die ägyptische nicht den Utopieglanz /(213) der trojanischen für sich, sie zog nicht mit in der Sehnsucht der Fahrt, den Abenteuern des Kampfs, dem Wunschbild der Erringung; so scheint die ägyptische Wirklichkeit als solche von geringer Dimension. Mindestens schafft der Untergang der Phantasie an der Realisierung (wenn auch an ihrer eigenen, sie erfüllenden) in letzterer Ausfallserscheinungen, die das Bewußtsein der Realisierung selbst vermindern, wo nicht diese selbst relativieren. Die ägyptische Helena kann viele Namen haben - ihr Euripidesproblem, nicht bloß als literarisch, antiquarisch erscheinend, ist folglich stellvertretend. Es droht weithin, als Verdinglichung des Zieltraums, mindestens als dessen wirklichkeitsähnlich gewordenes Fortleben. In jeder Erfüllung, sofern und soweit diese totaliter schon möglich ist, bleibt ein eigentümliches Element Hoffnung, dessen Seinsweise nicht die der vorhandenen oder vorerst vorhandenen Wirklichkeit ist, folglich mitsamt ihrem Inhalt übrigbleibt. Jedoch freilich: sie ist, wenn sie nicht abstrakt ist, sondern in der konkreten Verlängerungslinie des von ihr Überholten läuft, nie ganz außerhalb des objektiv Möglichen in der Wirklichkeit; vielmehr ist dies trojanisch Helenahafte auch in Helena vorgepunktet. Sonst hätte es an ihr gar keinen Raum gefunden und keine Glaubwürdigkeit des Allbegehrten, des Kampfziels. Und weiterhin: die an einem Objekt entzündbare Imago ist auch als eine nach Erreichung fortschwebende nicht in der Luft, sondern gegebenenfalls in der noch weiter deutenden real-utopischen Möglichkeit des Objekts selbst. Dort kann erst die volle Kongruenz von Intentions- und Erreichtheits-Inhalt latent sein, das ist: die Identität des Identischen und des Nicht-Identischen (letzteres hier als Intentions-, als Hoffnungs-Abstand verstanden). Ruhe aber ist der Tag, wo die ägyptische Helena auch den Glanz um die trojanische mitenthält. Einwand gegen den ersten und zweiten Grund: Odyssee des Stilliegens Will doch das Träumen keineswegs dauernd nach vorwärts weisen. Der Trieb dahinter wird von lauter Ausgemaltem durchaus nicht satt. Auch das Träumen selbst geht nicht auf Traum, derart, /(214) daß es sich nur an Bildern freute. Der Mensch im Wachtraum genießt vielmehr die Vorstellung, wie das wäre, wenn etwas wie das Geträumte wäre, gerade also wirklich würde. Daher gibt es bereits subjektiv ein Gegengewicht gegen die Verdinglichung des Traums und gegen das Hoffen, das in der Ankunft nicht selber ankommt, vielmehr, im doppelten Sinn des Worts, zurückbleibt. Das Gegengewicht ist im Daß des Intendierens, im Wunsch und Willen zum Wirklichwerden selber gesetzt. Der Traum als solcher verwirklicht sich nicht, das ist ein Minus, aber Fleisch und Bein kommen hinzu, das ist ein ersetzendes Plus. Auch sind die Fälle bekannt, wo das Gewünschte, wenn es eintritt, nicht bloß durch die Gewalt des Landens, des Stilliegens, der Verwirklichung überraschen mag, sondern sogar durch ein gewisses inhaltliches Surplus, das nicht geträumt war. Ist die Blüte als solche nicht mehr in der Frucht, so war das Fruchthafte als solches auch nicht in der Blüte; und die vorige Traumstraße kann kürzer erscheinen als die nun betretene reale Straße. So wird das Dunkel des Jetzt und Da, wird selbst der
Verlust der Traumfarbe zuweilen überpointiert, als wären sie nicht vorhanden. Als gäbe es präsent erfahrene Erfüllung toto coelo bereits im vorhandenen Aggregatzustand des Wirklichseins. Die Hoffnung scheint es denn gar nicht mehr nötig zu haben, enttäuscht an der Entbehrung zu sein, so wenig wie die Erfahrung unnachsichtig gegen die Hoffnung. Das Gefühl erster Liebe gehört hierher, als alle Knospen sprangen, das Gefühl packender Begegnung, begeistert erfahrener Zeitwende, Zeitgröße. Dauernd merkwürdig, nämlich präsent wirkt hierzu die Bekundung Gottfrieds von Straßburg über Isolde, gerade an Helena erinnernd, als an die schönste Frau: Von diesem Wahn bin ich gekommen, den hat Isolde mir benommen, so daß ich fortan nimmer wähne, die Sonne komme von Mykene. Solch reiner Glanz ertagte in Griechenland nie, er tagt nur hie! Es bleibt unbenommen, dies Bewußtsein Gottfrieds auch auf sein anderes, auf ein werkhaftes Über-Griechenland seiner Zeit zu übertragen, etwa aufs Straßburger Münster: als dessen Inschrift /(215) im Geist des zeitgenössischen Beschauers. Überhaupt ist Werkstolz selber, im Geist des Produzenten, zu großer Präsenz imstande, am Tag der Vollendung, wenn die Sonne, die so oft herangewachte, als Krone aufgeht. Am deutlichsten scheint dieser Augenblick, endlos antizipiert und trotzdem endlich gelingend, bei Klopstock, nach Beendigung des Messias: Ich bin an dem Ziel, an dem Ziel! und fühle, wo ich bin Es in der ganzen Seele leben! So wird es (ich rede menschlich Von göttlichen Dingen) uns einst, ihr Brüder des, Der starb und erstand, bei der Ankunft im Himmel sein! All dergleichen wirkt als historische Geistesgegenwart schlechthin, als Stilliegen, das doch die ganze vorige Odyssee in sich zu haben scheint. Klopstocks Vergleich weist selber auf jenes stärkste Exempel der Landung hin, das in der Unio mystica mythisch bezeichnet war: keine Erwartung bleibt vor ihr zurück, keine Intention hält sich, nicht einmal die des Sursum corda, erst recht kein Abstand. Und doch tritt auch hier ein Rest, ein nie verschwundener, auf die Dauer wieder vor. Denn alle diese Berührungen sind noch keine, selbst der Blick auf sie ist bloß Vorblick, selbst das Gefühl, das sie erregen, bloß Vorgefühl. Wenig Ruhenderes wird damit erreicht, als daß das Dunkel des Jetzt und Da sowie der Verlust der Traumfarbe am Erreichten kurz überpointiert werden. Objektiv berechtigt bleibt, auch bei noch so Klopstockschen Krönungen, doch nur Fausts Vorgefühl eines höchsten Augenblicks. Es bleibt die Odyssee in Fahrt, so gelingt noch nicht eine Odyssee des Stilliegens mit Idendität der Ankunft und des Fahrt-Inhalts. Das Vorgefühl selber, das durchaus doch auf Erreichbarkeit und Ankunft bezogene, ist allerdings höchst wichtig; denn ihm entspricht die auf Realisierung gezielte, Realisierung setzende Daß-Tendenz des Wachtraums und seiner antizipierenden Vollkommenheit. Keinesfalls also schmuggelt sich hier wieder die sogenannte unendliche Annäherung ans Ideal ein, jene Skrupelart, die es mit der Realisierung gar nicht ernst meint. Jedoch das Gegenteil zur unendlichen Annäherung ist eben nicht die schiere Präsenz, nicht die behauptete Total-Gelungenheit der Ankunft /(216) im Ziel, sondern das Gegenteil ist die Endlichkeit des Prozesses und des dadurch immerhin überblickbaren Antizipationsabstands zum Ziel hin. Dieses echte,
nämlich einen erreichbaren Endzustand implizierende Vorgefühl erfüllt zweifellos am weitesten, demokratischsten, humansten die ungeheuren Augenblicke der glücklich begonnenen, dann sieghaft sich feiernden Revolution. Doch wieder nur und gerade hier nur derart, daß sie auf den Lorbeeren des Präsens nicht ausruht, daß sie vielmehr, in der noch so andringenden Geschafftheit von Sieg, diesen Sieg erst recht als Aufgabe erfaßt und so das glückliche Präsens gleichzeitig als Unterpfand der Zukunft erfaßt. Die Revolutionen verwirklichen die ältesten Hoffnungen der Menschheit: eben deshalb implizieren sie, verlangen sie die immer genauere Konkretion des als Reich der Freiheit Gemeinten und der ungeschlossenen Fahrt darauf hin. Nur wenn ein Sein wie Utopie selber (folglich die noch völlig ausstehende Realitätsart: Gelungensein) den Treibens-Inhalt des Jetzt und Da ergriffe, wäre auch die Grundbefindlichkeit dieses Treibens: die Hoffnung total in das Gelungensein der Wirklichkeit einbezogen. Bis zu dieser möglichen Erfüllung ist die Intention Wachtraumwelt in Gang; keine Abschlagszahlung läßt sie vergessen. Keine Verabsolutierung eines bloßen Vorgefühls darf das Eingedenken in dieser Intention vergessen lassen. Denn es ist das Eingedenken des Grundinhalts in unserem Treiben, als überhaupt noch nicht ins Bewußtsein, gar ins Gelungensein eingetretenen, welcher eben deshalb noch in Utopie steht. Die höchste Gewissenhaftigkeit dieses Eingedenkens ist in dem Psalmwort gesetzt: »Meine Rechte soll verdorren, wenn ich dein vergesse, Jerusalem.« Auch ohne religiöse Akzente, auch ohne Kontrastakzente zu einem sogenannten Exil des Daseins wurde noch nie eine Verwirklichung verabsolutiert, ohne daß ein letzter Teil ihres Wachtraums übriggeblieben, also über das Erlangte zu dessen möglichem Nochbessersein weitergezogen wäre. Ein neuer Gipfel erscheint hinter dem bisher erreichten: dies Plus ultra läßt so die Verwirklichung nicht schwächen, sondern macht sie schärfer zum Zweck hin. Ohnedies haben die Dauer, die Nicht-Entsagung des Hoffnungsbilds im Dauerproblem: Verwirklichung und in den Gründen dieses Problems selber ihren Ursprung. (217)
Dritter Grund der utopischen Restbilder: die Aporien der Verwirklichung
Auch im Eintreten von etwas ist noch ein Etwas, das hinter sich zurückbleibt. Täter und Tun des Verwirklichens sind nicht herausgeführt, sie leben weiter an sich. Sie bleiben von der Tat, die sich von ihnen loslöst, weg, wie das Werkzeug vom fertigen Gerät wegbleibt oder der Dichter von seinem Gedicht. Und in jeder Erfüllung, selbst in der, die dem Zielbild sozusagen zum Verwechseln ähnlich scheint, steckt ein Stückwerk des Aktiven, das der Schwäche des Verwirklichens zur Last fällt, der quantitativen wie der qualitativen. Aus der quantitativen Schwäche stammt der rastlose Wille zur Fortarbeit ohne Abschluß; gegen diesen Willen ergeht der römische Rat: manum de tabula. Aus der qualitativen Schwäche stammt der Entschluß, sogar ein fertiggestelltes Werk von Grund auf neu zu beginnen, im Einklang mit einem Vollendungsbild, das während der wachsenden Arbeit selber mitgewachsen ist und so doppelt unverwirklicht scheint. Darin liegt der Ursprung eines Fiaskos und eines ägyptischen Helena-Problems auch in dieser Sphäre. Hoffmanns Phantasiestück «Ritter Gluck« läßt den Komponisten der »Armida« (oder den Irren, der ihn verkörpern will) «etwas Weniges« sogar nach seinem Tod umgehen, um »Armida« neu zu spielen, »gleichsam in höherer Potenz«, so zu spielen, wie sie »aus dem Reich der Träume kam«. Das quantitative wie erst recht
das qualitative Defizit im Akt des Verwirklichens selbst ist bisher kaum noch hinreichend philosophisch durchdacht worden; und das trotz der überwältigenden inneren, äußeren Erfahrung daran. Ein Grund hierfür liegt auch darin, daß die menschliche Tätigkeit als solche erst spät sich ihrer bewußt wurde. Arbeit war Sache der Sklaven und der Handwerker, der Gedanke nahm von deren Vollbringen, Verwirklichen nur kurze Notiz. Schaffen wie Erkennen galten antik als reines Abbilden eines Gegebenen, herrschend ist passive Schau, das Werk zeichnet sie bloß nach. Das auch ethisch: nach Sokrates kann niemand freiwillig Unrecht tun, das Wissen des Guten setzt unweigerlich zugleich dessen Tun. Es gibt hier also weder einen Trotz gegen das sittlich Aufgezeigte noch einen Willen zu ihm; das Verwirklichen ist so passiv und darin schein- /(218) bar so selbstverständlich, daß es nicht einmal genannt, geschweige gedacht wird. Diese geringe Achtung auf den eigenen, aktiven Akt des Verwirklichens änderte sich auch grundlegend nicht, als mit der neueren Zeit der homo faber, der Macher, Unternehmer, Erzeuger philosophisch durchaus reflektiert wurden. Ja indem der Akt der Erzeugung ausschließlich rationalisiert, das heißt, als ein rein logischer Akt gefaßt wurde, lieferte die rationalistische, wo nicht panlogische Ideologie ein weiteres Motiv, die Nicht-Reflexion der Verwirklichung betreffend. Damals, im Rationalismus, war aus der anfänglich rein mathematisch gefaßten Erzeugung, die nur Formalgegenstände setzt und bestimmt, schließlich, nach vielen Umqualifizierungen dieser »Konstruktion«, die Weltbildung selber geworden. Sie ist eine noch überwiegend formale, das heißt an Mathematik orientierte, so bei Kant, worin Vernunft die Erfahrungswelt macht. Dann wurde Erzeugung gar eine inhaltlich versuchte, an der künstlerischen Produktion orientierte; so bei Schelling, indem die Spontaneität hier nicht nur der Natur ihre Gesetze vorschreibt, sondern - als die mit Bewußtsein produktive Natur - die Natur schafft, das ist, sie zu ihrer Freiheit belebt und in ihre eigene Entwicklung versetzt. Und Erzeugung wurde schließlich bei Hegel eine vollendet, inhaltlich versuchte, an der Geschichte und ihrer Genesis orientierte, indem hier aus der »gediegenen fortwaltenden Vernunft« sämtliche Forminhalte der Welt dialektisch entspringen sollten. Das also ist in nuce der klassisch-idealistische Gedanke der Erzeugung, des Ursprungs, der Wirklichkeitsbildung, und er wird ersichtlich dem Problem der Verwirklichung, obwohl es gesehen wurde, nicht viel mehr gerecht als die Antike. Denn die Verwirklichung erscheint auch hier nicht als ein eigener Akt, sie erscheint lediglich als ein sich ohnehin entfaltender Logos. Der Erkenntnisgrund bleibt der gleiche wie der Realgrund; denn der Realgrund ist selber nur ein logisch-panlogischer, einer innerhalb des Weltgedankens, aus dem bei Hegel schließlich die ganze Welt besteht. Und vor allem: die antike Passivität des Verwirklichens ist trotz dem homo faber und seiner Philosophie nicht aufgegeben: der Pan-Logos bindet das Erzeugen immer wieder in ein bloßes Offenbarmachen ein. Das macht: dem kontemplativen Denken insgesamt (und jedes idealistische Denken ist kontem- /(219) plativ) bleibt Verwirklichung bloße »Verleiblichung« einer Zielidee, als einer ohnehin existenten und als einer sozusagen fertigen, wie sie sich durch den Täter oder Bildner lediglich noch mit Fleisch bekleidet. Die Verwirklichung kommt hier aus der logischen Konsequenz der Sache selbst; sie kommt daraus sogar bei dem einzigen Denker, der, obwohl er in der Antike lebte, die Verwirklichung wenigstens zur Kategorie, wenn auch nicht zum Problem machte: bei Aristoteles. Er sah die vielfachen Störungen der Realisation, und trotzdem legte er diese, sogar besonders dicht, ans Herz der zur «Entelechie« gewordenen Idee, als deren eigenste Angelegenheit. Verwirklichung ist nach Aristoteles einzig Selbstverwirklichung der den Dingen innewohnenden Gestalt-Idee oder Entelechie;
die Entelechie ist so selber die Energie (oder der actus) zu ihrer Realisation. Ein nicht so Logisches allerdings zeigt sich bei dem ersten Denker der Verwirklichung gleichfalls: eben ein nicht so Logisches, das den Störungen, wohl gar Aporien der Verwirklichung von ferne gerecht zu werden versucht. Aristoteles legt das vorhandene, hinter der Entelechie zurückbleibende Stückwerk der Verwirklichung der - mechanischen Materie zur Last, sofern diese «störende Nebenursachen« in die entelechetischen Zweckursachen hineinschickt. Auf diese Weise entsteht das nicht Bestimmte, entsteht das Zufällige in der Natur und das launenhafte Geschick auf dem Gebiet des absichtlichen Geschehens, der Geschichte. Ein immerhin dem Problem zugewandter, obzwar idealistischer Gedanke, und wie verwandt ist ihm das Goethesche im Faust: »Dem Herrlichsten, was auch der Geist empfangen, / Drängt immer fremd und fremder Stoff sich an.« Wie verwandt selbst das Hegelsche, bei allerEinschränkung des Nicht-Panlogismus auf die Natur: «Am größten ist diese Zufälligkeit im Reiche der konkreten Gebilde, die aber als Naturdinge nur unmittelbar konkret sind... Es ist die Ohnmacht der Natur, die Begriffsbestimmungen nur abstrakt zu erhalten und die Ausführung des Besonderen äußerer Bestimmbarkeit auszusetzen« (Enzyklopädie § 230). Und doch zeigt sich auch daran das Problem der Verwirklichung nicht an und in ihr selbst gestellt, sondern es wird auf einen Sündenbock abgeschoben: auf die mechanische Materie oder, bei Hegel, aufs Außersichsein der ganzen Natur selbst, als des «unaufgelösten Widerspruchs«. /(220) Drängen sich aber nicht Täter und Tun selber immer fremd und fremder an? Das ist ein Gedanke, der das Verwirklichen an sich in sein noch dunkles Herz treffen möchte. Zuletzt läßt sich darum von den philosophiegeschichtlichen Erinnerungen, Realisierung und ihre Schwäche betreffend, nicht scheiden, ohne noch auf den späteren Schelling hingewiesen zu haben, der als einziger immerhin das Realisierungs-Problem vom totalen Rationalismus losreißen wollte, es dafür freilich heilloser Mythologie überantwortet hat: der Mythologie vom Sündenfall und vom Abfall Luzifers. Nach dem späteren Schelling folgt aus dem Quid oder dem rational erfaßbaren Wesen einer Sache überhaupt nicht ihr Quod oder ihr Daß-Dasein und Eintritts-Ursprung. Vielmehr: Wirklichwerden der Idee ist an seinem unvordenklichen Ursprung partikulärer Wille, als «Abfall von der Idee«, und zwar einer, der bereits in Gott selbst geschieht, im Abgrund oder Ungrund des göttlichen Grundes. Schellings Schrift «Philosophie und Religion« vereint so den Logos als Schöpfer und setzt eine Art Urverbrechen, den finster-bösen Partikularwillen, an die Quelle des Seins: »Mit einem Wort, vom Absoluten zum Wirklichen gibt es keinen stetigen Übergang, der Ursprung der Sinnenwelt ist nur als vollkommenes Abbrechen von der Absolutheit, durch einen Sprung, denkbar« (Werke VI, S.38). Damit hat Schelling die Verwirklichung in der Tat auf ein anderes Blatt gebracht als das von der Idee beschriebene; sie hört auf, eine bloße Manifestierungs-Funktion des objektiv Logischen zu sein. Diese Verweisung vom Logischen auf ein Willenhaftes und Daß-Intensives geschah allerdings um den Preis, daß die Verwirklichung sowohl in Mythologie gebracht wie innerhalb dieser Mythologie schlechthin verteufelt worden ist. Wobei noch hinzukommt: nicht nur der irrationale erste Weltanstoß, auch jede Einzelverwirklichung in der Welt erzeugt nach Schelling, indem sie vom irrationalen Anstoß her weiterläuft, ausschließlich Zwietracht und Regellosigkeit, Mißgeburt, Krankheit und Tod. So weit also hat Schelling Verwirklichendes und Idee auseinandergerissen, so sinnlos-total hat er die Aporien der Verwirklichung selber zur Unlösbarkeit verabsolutiert. Und die überlieferte Bindung des Realisierens an eine fertige, lediglich zu manifestierende Idee hat auch Schelling nicht gelöst. Die Bindung ist nur als eine negative /(221) ausgesprochen worden: der böse
Partikularwille verwirklicht das dem guten Universalwillen Entgegengesetzte. Offener Horizont ist auch hier weder dem Realisierungsfaktor noch seinem Zielbild zugebilligt, so wenig wie bei den Optimisten der Fleischwerdung. Das also sind die Gründe, warum die quantitative wie qualitative Schwäche der Verwirklichung noch recht unbehandelt vorliegt. Ersichtlich sind deren Aporien - vom Stückwerk bis zur noch vorhandenen Nichtdeckung auch der besten Verwirklichung mit dem Zielbild außerhalb des Utopieproblenis überhaupt nicht behandelbar. Desto weniger sind sie das, als ja Utopisches am Verwirklichten so mannigfach übrigbleibt und nach ihm, zu neuen Zielen, wieder hervortritt. Wir sagten, auch im Eintreten von etwas sei noch etwas, das hinter sich zurückbleibt. Es dunkelt etwas an ihm und kommt von diesem Nicht, diesem Nicht-Da mitten in der unmittelbaren Nähe des Geschehens nicht ganz los. Oben wurde das Trübende des gerade gelebten Augenblicks bereits kenntlich gemacht; und eben dieses Trübe erschwert, auf unmittelbarste Weise, ein Eingetretenes ganz als solches zu erfahren. Zugleich aber ist dieses Unmittelbarste an sich nichts anderes als das Treibende, der Daß-Faktor, folglich das Intensive des Verwirklichenden selbst. Und dieses Verwirklichende steht erst recht noch im Nicht-Haben seines Akts wie Inhalts; das Dunkel des gerade gelebten Augenblicks zeigt genau dieses Sich-Nicht-Haben des Verwirklichenden an. Und es ist eben dieses noch Unerlangte im Verwirklichenden, welches primär auch das Jetzt und Da eines Verwirklichten überschattet. Darin also liegt die letzte, die prinzipielle Lösung des Nicht-, Noch-Nicht-Carpe diem, durchaus ohne Romantismen: das Verwirklichte ist prall und leicht verschattet zugleich, weil im Verwirklichenden selber etwas ist, das sich noch nicht verwirklicht hat. Das unverwirklicht Realisierende bringt dieses sein eigentümlichstes Minus ins Plus der Realisierung, sobald eine solche geschieht. Das ist das Primäre, weshalb, wie Goethe sagt, die Nähe schwierig macht; weshalb auch eine hinreichend vollkommen erscheinende Erfüllung rebus sie stantibus noch ebenso eine Melancholie der Erfüllung mit sich führt. Und weshalb das vorhergehende Zielbild, mit seinem utopisch antizipierten Gehalt, in die Erfüllung doch nicht ganz eingehen mag, also /(222) weitertreibend, oft sogar ins Sinnlose weitertreibend, übrigbleibt. Stand doch der Wunsch- oder Ziel-Inhalt selber nicht in der Nähe, die der Erreichung des Ziels eignet; gerade der ferne Zielinhalt war wegen seines Abstands, wegen seines vom Jetzt und Da Abgehaltenseins noch außerhalb des Dunkels des gerade gelebten Augenblicks. Indem das Utopisch-Antizipierte jedoch ins Verwirklichte einrückt, rückt es eben zugleich in den Schatten jener zentralsten Unmittelbarkeit heran, die als die des Verwirklichenden selbst noch nicht gelichtet ist. Aus diesem Primären ergibt sich im Weiteren zugleich das ganze Zwielicht, worin auch der Prozeß der Verwirklichung noch liegt und liegen muß, der Geschichtsprozeß heißt. Da er, infolge seines noch nicht verwirklichten Treibensund Ursprungs-Inhalts, noch ein unentschiedener ist, kann seine Mündung ebensowohl das Nichts wie das Alles, das totale Umsonst wie die totale Gelungenheit sein. Und so beglückend es in dieser so sehr dunkelhell gesprenkelten Welt ein Aufblitzen des möglichen Alles gibt, so bedrohend gehen auch Verfinsterungen des möglichen Nichts vorauf. Weit davon entfernt, daß das Sein im Tod zentriert ist, gibt es doch einen Anhauch und Umgang von Negation ohne allen Spaß, auch ohne automatische Negation der Negation. Jede Lebensgefahr gehört dazu und jeder individuelle Tod, die Millionen gefallener Jugend in den Weltkriegen gehören dazu und der durchdringende Stumpfsinn, der nichts daraus lernt. Das sind die Verzögerungen oder Vereitlungen, welche die Bedingungen positiver Verwirklichung unterbrechen; item, indem das Nicht im Sich-Nicht-Haben des
Verwirklichenden ebenso zur Nicht-Verwirklichung des wesentlichen Tendenz-Inhalts, letzthin Realisierungs-Inhalts führen kann, erzeugt dieser drohende Umgang von Umsonst und Nichts bereits die Störung, anders den Widerstand im Material, anders den riesengroßen Schlaf der Dummheit oder Disparatheit in dem so schweren Fahrwasser unserer Prozeßwelt. Dieser Nichts-Umgang ist das, was Aristoteles fälschlich der mechanischen Materie zur Last legte. Was Schelling gar als den alten Satan aus der Vernunft heraussetzen, in den Urgrund der Welt setzen wollte. Beide suchten einen Sündenbock für das Unvollkommene in ihrer vollendeten, das heißt, statisch bereits zu Ende definierten Welt. Dagegen die Einsicht in den Prozeß als /(223) eine Unentschiedenheit - mit Nichts oder Allem in der realen End-Möglichkeit - braucht keinen Sündenbock, weder in Ansehung des vorhandenen Stückwerks noch des nicht ganz eingelösten Zielbilds in seiner denkbar besten Erfüllung. Vielmehr: noch nicht hervorgetretenes Verwirklichtsein des Verwirklichenden und - damit eng zusammenhängend - noch nicht entdecktes, positiv manifestiertes, verwirklichtes Überhaupt und Wesen, das sind die Elemente in den Aporien der Verwirklichung. Nur wenn ein Sein wie Utopie wäre, wenn folglich die noch völlig ausstehende Realitätsart Gelungensein den Treibens-Inhalt des Jetzt und Da selber radikal präsent gemacht hätte, wäre auch der Grundbestand dieses Treibens: die Hoffnung als solche ganz in die verwirklichte Wirklichkeit einbezogen. Der Inhalt des Verwirklichten wäre dann der Inhalt des Verwirklichenden selber, das Was-Wesen (quidditas) der Lösung wäre genau der aufgeschlagene Daß-Grund (quodditas) der Welt. Das Wesen - die höchstqualifizierte Materie - ist noch nicht erschienen, daher repräsentiert die Vermissung in jeder bisher gelingenden Erscheinung dessen noch nicht manifestiertes Überhaupt. Aber auch zu dieser Vermissung gibt die Welt Platz, an der Front ihres Prozesses ist der Zielinhalt selber in Gärung und realer Möglichkeit. Auf diesen Zustand des Zielinhalts ist das konkret antizipierende Bewußtsein gerichtet, in ihm hat es seine Offenheit und Positivität. /(224) 17 DIE WELT, WORIN UTOPISCHE PHANTASIE EIN KORRELAT HAT REALE MÖGLICHKEIT, DIE KATEGORIEN FRONT, NOVUM, ULTIMUM UND DER HORIZONT Der Kritiker kann also an jede Form des theoretischen und praktischen Bewußtseins anknüpfen und aus den eigenen Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln ... Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Marx, Brief an Ruge, 1843 Ich halte mich daran, daß der Weltgeist der Zeit das Kommandowort, zu avancieren, gegeben; solchem Kommando wird pariert; dies Wesen schreitet wie eine gepanzerte, festgeschlossene Phalanx unwiderstehlich und mit so unmerklicher Bewegung, als die Sonne schreitet, vorwärts, durch dick und dünn; unzählbare leichte Truppen gegen und für dasselbe flankieren darum herum, die meisten wissen gar von nichts, um was es sich handelt, und kriegen nur Stöße durch
den Kopf, wie von einer unsichtbaren Hand. Die sicherste Partie ist wohl, den Avanceriesen fest im Auge zu behalten. Hegel, Brief an Niethammer, 1816 Der Mensch ist nicht dicht Sich ins Bessere denken, das geht zunächst nur innen vor sich. Es zeigt an, wieviel Jugend im Menschen lebt, wieviel in ihm steckt, das wartet. Dies Warten will nicht schlafen gehen, auch wenn es noch so oft begraben wurde, es starrt selbst beim Verzweifelten nicht ganz ins Nichts. Auch der Selbstmörder flüchtet noch in die Verneinung wie in einen Schoß; er erwartet Ruhe. Auch die enttäuschte Hoffnung irrt quälend umher, ein Gespenst, das den Rückweg zum Friedhof verloren hat, und hängt widerlegten Bildern nach. Sie vergeht nicht an sich selber, sondern nur an einer neuen Gestalt ihrer selbst. Daß man derart in Träume segeln kann, daß Tagträume, oft ganz ungedeckter Art, möglich sind, dies macht den großen Platz des noch offenen, noch ungewissen /(225) Lebens im Menschen kenntlich. Der Mensch fabelt Wünsche aus, ist dazu imstande, findet dazu eine Menge Stoff, wenn auch nicht immer vom besten, haltbarsten, in sich selbst. Dies Gären und Brausen oberhalb des gewordenen Bewußtseins ist das erste Korrelat der Phantasie, das zunächst nur inwendige, ja in ihr selbst befindliche. Auch die dümmsten Träume sind immerhin seiend als Schäume; die Tagträume enthalten sogar einen Schaum, woraus zuweilen eine Venus gestiegen ist. Das Tier kennt nirgends dergleichen; nur der Mensch, obwohl er viel wacher ist, wallt utopisch auf. Sein Dasein ist gleichsam weniger dicht, obwohl er, mit Pflanze und Tier verglichen, viel intensiver da ist. Das menschliche Dasein hat trotzdem mehr gärendes Sein, mehr Dämmerndes an seinem oberen Rand und Saum. Hier ist gleichsam etwas hohl geblieben, ja ein neuer Hohlraum erst entstanden. Darin ziehen Träume, und Mögliches, das vielleicht nie auswendigwerden kann, geht inwendig um. Vieles in der Welt ist noch ungeschlossen Freilich ginge auch inwendig nichts um, wäre das Auswendige völlig dicht. Draußen aber ist das Leben so wenig fertig wie im Ich, das an diesem Draußen arbeitet. Kein Ding ließe sich wunschgemäß umarbeiten, wenn die Welt geschlossen, voll fixer, gar vollendeter Tatsachen wäre. Statt ihrer gibt es lediglich Prozesse, das heißt dynamische Beziehungen, in denen das Gewordene nicht völlig gesiegt hat. Das Wirkliche ist Prozeß; dieser ist die weitverzweigte Vermittlung zwischen Gegenwart, unerledigter Vergangenheit und vor allem: möglicher Zukunft. Ja, alles Wirkliche geht an sein er prozessualen Front über ins Mögliche, und möglich ist alles erst Partial-Bedingte, als das noch nicht vollzählig oder abgeschlossen Determinierte. Hierbei freilich muß zwischen dem bloß erkenntnisgemäß oder objektiv-Möglichen und dem Real-Möglichen, als dem einzigen, worauf es im vorliegenden Zusammenhang ankommt, unterschiedenwerden. Objektiv möglich ist alles, dessen Eintritt auf Grund einer bloßen Partial-Erkenntnis seiner vorhandenen Bedingungen wissenschaftlich erwartbar ist oder wenigstens nicht ausgeschlossen werden kann. Real möglich dagegen ist alles, dessen Bedingungen /(226) in der Sphäre des Objekts selber noch nicht vollzählig versammelt sind; sei es, daß sie erst noch heranreifen, sei es vor allem, daß neue - obzwar mit den vorhandenen vermittelte -
Bedingungen zum Eintritt eines neuen Wirklichen entspringen. Bewegtes, sich veränderndes, veränderbares Sein, wie es als dialektisch-materielles sich darstellt, hat dieses unabgeschlossene Werdenkönnen, Noch-Nicht-Abgeschlossensein in seinem Grund wie an seinem Horizont. So daß von hier ab gesagt werden kann: das real Mögliche zureichend vermittelter, also dialektisch-materialistisch vermittelter Neuheit gibt der utopischen Phantasie ihr zweites, ihr konkretes Korrelat: eines außerhalb eines bloßen Gärens, Brausens im inneren Kreis des Bewußtseins. Und solange die Wirklichkeit noch keine vollständig ausdeterminierte geworden ist, solange sie in neuen Keimen wie neuen Räumen der Ausgestaltung noch unabgeschlossene Möglichkeiten besitzt: solange kann von bloß faktischer Wirklichkeit kein absoluter Einspruch gegen Utopie ergehen. Es kann Einspruch gegen schlechte Utopien ergehen, das heißt gegen abstrakt ausschweifende, schlecht vermittelte, jedoch gerade die konkrete Utopie hat in der Prozeßwirklichkeit ein Korrespondierendes: das des vermittelten Novum. Nur diese Prozeßwirklichkeit und nicht eine aus ihr herausgerissene, verdinglicht-verabsolutierte Tatsachenhaftigkeit kann daher über utopische Träume richten oder sie zu bloßen Illusionen herabsetzen. Gibt man jeder bloßen Tatsächlichkeit in der Außenwelt dieses kritische Recht, so verabsolutiert man das fixiert Vorhandene und Gewordene zur Realität schlechthin. Es wird aber allein schon innerhalb der stark gewandelten Wirklichkeit von heute klar, daß die Begrenzung aufs Faktum eine sehr wenig realistische war; daß die Realität selber unaufgearbeitet ist, daß sie Anrückendes, Hervorbrechendes am Rand hat. Der Mensch dieser Zeit versteht sich durchaus auf Grenzexistenz außerhalb des bisherigen Erwartungszusammenhangs von Gewordenheit. Er sieht sich nicht mehr von scheinbar vollendeten Tatsachen umgeben und hält diese nicht mehr für das einzig Reale; mögliches faschistisches Nichts ist, erschütternd, in diesem Realen aufgegangen und vor allem, endlich betreibbar und fällig, der Sozialismus. Ein anderer Realitätsbegriff als der verengte und erstarrte der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahr- /(227) hunderts ist so fällig, ein anderer als der des prozeßfremden Positivismus und auch noch seines Pendants: der unverbindlichen Idealwelt aus purem Schein. Der erstarrte Realitätsbegriff war zuweilen selbst in den Marxismus eingedrungen und machte ihn dadurch schematisch. Es genügt nicht, vom dialektischen Prozeß zu reden, dann aber die Geschichte als eine Reihe aufeinanderfolgender Fixa oder auch geschlossener »Totalitäten« zu behandeln. Hier droht eine Verschmalerung und Schmälerung der Wirklichkeit, eine Abkehr von »Wirkungskraft und Samen« in ihr; und das ist kein Marxismus. Vielmehr: die konkrete Phantasie und das Bildwerk ihrer vermittelten Antizipationen sind im Prozeß des Wirklichen selber gärend und bilden sich im konkreten Traum nach vorwärts ab; antizipatorische Elemente sind ein Bestandteil der Wirklichkeit selbst. Also ist der Wille zur Utopie mit objekthafter Tendenz durchaus verbindbar, ja in ihr bestätigt und zu Hause. Militanter Optimismus, die Kategorien Front, Novum, Ultimum Es tut not, daß gerade der geschlagene Mann das Draußen wieder versucht. Was heraufkommt, ist noch nicht entschieden, was als Sumpf steht, kann durch Arbeit ausgetrocknet werden. Durch das Doppelte von Mut und Wissen kommt die Zukunft nicht als Geschick über den Menschen, sondern der Mensch kommt über die Zukunft und tritt mit dem Seinen in sie ein. Das Wissen, das der Mut und das vor allem die Entscheidung braucht, kann aber hierbei nicht die häufigste Weise des
bisherigen haben: nämlich eine betrachtende. Denn das nur betrachtende Wissen bezieht sich notwendig auf Abgeschlossenes und so Vergangenes, es ist hilflos gegen Gegenwärtiges und blind für Zukunft. Ja es kommt sich desto mehr als Wissen vor, je weiter zurück seine Gegenstände im Vergangenen und Abgeschlossenen liegen, je wenigeres also dazu beiträgt, daß aus der Geschichteals einer in Tendenz geschehenden - für Gegenwart und Zukunft etwas gelernt werde. Das zur Entscheidung notwendige Wissen hat sinngemäß eine andere Weise: eine nicht nur betrachtende, vielmehr eine mit dem Prozeß gehende, die dem sich durcharbeitend Guten, das ist, Menschenwürdigen des Prozesses aktivparteiisch verschworen /(228) ist. Überflüssig zu sagen, daß diese Weise des Wissens auch die einzig objektive ist, die einzige, die das Reale in der Geschichte wiedergibt: nämlich das von arbeitenden Menschen hergestellte Geschehen samt den reichen Prozeßverfechtungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und das Wissen dieser Art ruft eben dadurch, daß es kein nur betrachtendes ist, durchaus die Subjekte der bewußten Herstellung selber auf. Es huldigt, indem es nicht Quietismus ist, auch in der Beziehung auf die entdeckte Tendenz nicht jenem banalen, automatischen Fortschritts-Optimismus an sich, der nur eine Reprise des kontemplativen Quietismus ist. Er ist diese Reprise, weil er auch die Zukunft als Vergangenheit verkleidet, weil er sie wie ein in sich selber längst Beschlossenes und so Abgeschlossenes anblickt. Vor dem Zukunftsstaat, der derart als abgemachte Konsequenz innerhalb der sogenannten eisernen Logik der Geschichte dasteht, kann dann das Subjekt genauso die Hände in den Schoß legen, wie es sie vor Gottes Ratschluß gefaltet hatte. Dergestalt wurde, beispielsweise, der Kapitalismus, dadurch, daß man ihn zu Ende funktionieren läßt, als sein eigenerTotengräber angegeben, und sogar noch seine Dialektik erschien als sich selbst genügsam, als autark. Das alles aber ist grundfalsch, ja so sehr neues Opium fürs Volk, daß cum grano salis selbst ein Schuß Pessimismus dem banalautomatischen Fortschrittsglauben an sich vorziehbar wäre. Denn ein Pessimismus mit realistischem Maß ist immerhin nicht so hilflos überrascht vor Fehlschlägen und Katastrophen, vor den entsetzlichen Möglichkeiten, die gerade im kapitalistischen Fortgang gesteckt haben und weiter stecken. Denken ad pessimum ist jeder Analyse, die es nicht wieder verabsolutiert, ein besserer Mitfahrer als die billige Vertrauensseligkeit; es macht so die kritische Kälte gerade im Marxismus aus. Automatischer Optimismus ist für jede wendende Entscheidung nicht viel weniger Gift als verabsolutierter Pessimismus; denn wenn letzterer ganz offen der unverschämten, der sich bei Namen nennenden Reaktion dient, zum Zweck der Entmutigung, so hilft ersterer der verschämten Reaktion, zum Zweck der augenzwinkernden Duldung und Passivität. Was also statt des falschen Optimismus - zum Zweck des wahren - dem Wissen der Entscheidung, der Entscheidung des erlangten Wissens einzig zugeordnet ist, ist /(229) wiederum das konkret-utopisch begriffene Korrelat in der realen Möglichkeit: begriffen als eines, worin zwar keineswegs bereits aller Tage Abend ist, doch ebensowenig bereits - im Sinn des nicht-utopischen Optimismus - aller Abende Tag. Die Haltung vor diesem Unentschiedenen, jedoch durch Arbeit und konkret vermittelte Aktion Entscheidbaren heißt militanter Optimismus. Mit ihm werden, wie Marx sagt, zwar keine abstrakten Ideale verwirklicht, wohl aber die unterdrückten Elemente der neuen, vermenschlichten Gesellschaft, also des konkreten Ideals, in Freiheit gesetzt. Es ist die revolutionäre Entscheidung des Proletariats, welche heute, im Endkampf der Befreiungen, sich einsetzt, eine Entscheidung des subjektiven Faktors im Bund mit den objektiven Faktoren der ökonomisch-materiellen Tendenz. Und nicht, als
wäre dieser subjektive Faktor, als der der Verwirklichung und Weltveränderung, eine andere als eine materielle Tätigkeit; er ist eine solche, so gewiß er auch, wie Marx in der 1. These über Feuerbach betont, als die tätige Seite (Erzeugung, Produktivität, Spontaneität des Bewußtseins) zuerst vom Idealismus und nicht vom (mechanischen) Materialismus entwickelt worden ist. Und wieder nicht, als ob die Aktivität, die zur Weltveränderung, also zum militanten Optimismus gehört, auch nur einen Augenblick ohne Bündnis mit den real-gegenwärtigen Tendenzen wirklich eingreifend, haltbar umwälzend sein könnte; denn bleibt der subjektive Faktor isoliert, so wird er lediglich ein Faktor des Putschismus, nicht der Revolution, der Spiegelbergereien, nicht des Werks. Sind jedoch die Anschlüsse der Entscheidung eingesehen - und es ist eben das Wissen in der Entscheidung, das diese Einsicht garantiert -, dann kann die Macht des subjektiven Faktors nicht hoch, auch nicht tief genug eingeschätzt werden, gerade als die militante Funktion im militanten Optimismus. Konkrete Entscheidung zum Lichtsieg in der realen Möglichkeit ist das Gleiche wie der Gegenzug gegen das Mißlingen im Prozeß. Ist das Gleiche wie der Gegenzug der Freiheit gegen das vom Prozeß abgehobene, ihn aus Stockung und Verdinglichung konterkarierende sogenannte Schicksal. Ist das Gleiche wie der Gegenzug gegen alle diese Todeserscheinungen aus der Familie des Nichts und gegen den Umgang des Nichts als der anderen Alternative der realen Möglichkeit selber. Ist so letzthin /(230) der Gegenzug gegen das durchdringend Ruinöse purer Negation (Krieg, Einbruch der Barbarei), damit durch Umlenkung dieser Vernichtung auf sich selbst gegebenenfalls auch hier die Negation der Negation Platz erlange und die Dialektik aktiv siege. Konkrete Entscheidung steht dabei allemal im Kampf gegen die Statik, doch indem sie eben nicht Putschismus, sondern als militanter ebenso fundierter Optimismus ist, steht sie im Frieden mit dem Prozeß, der die Todes-Statik selber gegen den Strich bürstet. Mensch und Prozeß, besser: Subjekt wie Objekt im dialektisch-materiellen Prozeß stehen demgemäß gleichermaßen an der Front. Und es gibt für den militanten Optimismus keinen anderen Ort als den, welchen die Kategorie der Front eröffnet. Die Philosophie dieses Optimismus, das ist, der materialistisch begriffenen Hoffnung, ist selber, als das pointierte Wissen der Nicht-Betrachtung, mit dem vordersten Abschnitt der Geschichte beschäftigt, und das auch dann noch, wenn sie sich mit Vergangenheit beschäftigt, nämlich mit der noch unabgegoltenen Zukunft in der Vergangenheit. Philosophie der begriffenen Hoffnung steht darum per definitionem an der Front des Weltprozesses, das ist, an dem so wenig durchdachten vordersten Seinsabschnitt der bewegten, utopisch offenen Materie. Nicht alles, was bekannt ist, ist auch gekannt, am wenigsten, wenn Frische vorliegt. So liegt mit dem Begriff der Front auch der damit so eng verbundene der Neuheit im argen. Das Neue: es geht seelisch in der ersten Liebe um, auch im Gefühl des Frühlings; letzteres hat trotzdem kaum einen Denker gefunden. Es erfüllt, immer wieder vergessen, den Vorabend großer Ereignisse, mitsamt einer höchst bezeichnenden Mischreaktion von Bangen, Gewappnetsein, Zuversicht; es fundiert, bei verheißenem Novum des Glücks, Adventsbewußtsein. Es geht durch die Erwartungen fast sämtlicher Religionen, soweit primitives, auch altorientalisches Zukunftsbewußtsein überhaupt richtig verstanden werden kann; es durchzieht die ganze Bibel, von Jakobs Segen bis zum Menschensohn, der alles neu macht, und dem neuen Himmel, der neuen Erde. Trotzdem ist die Kategorie Novum nicht im entferntesten zulänglich bezeichnet worden, und in keinem vormarxistischen Weltbild fand sie Raum. Oder schien sie ihn zu finden, wie bei Boutroux und vor allem in der Jugend- /(231) oder Sezessionsphilosophie Bergsons, dann wurde das
Neue lediglich unter dem Aspekt sinnlos wechselnder Moden betrachtet und so gefeiert; es entstand dadurch nur die andersartige Starre einer immer gleichen Überraschung. Dergleichen wurde bereits bei der Sperre klargestellt, die den Begriff des Noch-Nicht-Bewußten solange verhindert hat; derart, daß die Aufdämmerung, das Incipit vita nova, auch in der sogenannten Lebensphilosophie immer wieder ein Fixum bleibt. So erscheint der Begriff des Neuen bei Bergson lediglich als abstrakter Gegensatz zur Wiederholung, ja oft als bloße Kehrseite mechanischer Gleichförmigkeit; zugleich wurde er jedem Lebensmoment ausnahmslos und deshalb entwertend zugeschrieben. Selbst die Dauer eines Dings, die als fließend vorgestellte durée, wird von :Bergson auf fortwährendes Anderssein gegründet; angeblich, weil bei wirklich unverändertem Verharren, Anfang und Ende dieses Zustands ununterscheidbar wären, objektiv zusammenfielen und so das Ding gerade nicht dauerte. Und das Novum insgesamt wird bei Bergson nicht durch seinen Weg erläutert, seine Sprengungen, seine Dialektik, seine Hoffnungsbilder und genuinen Produkte, sondern eben immer wieder durch den Gegensatz zum Mechanismus, durch die inhaltlose Beteuerung eines ·Elan vital an und für sich. Große Liebe zum Novum ist wirksam, große Inklination zur Offenheit springt in die Augen, doch der Prozeß bleibt leer und produziert immer wieder nichts als den Prozeß. Ja, die ewige metaphysische Vitalitätstheorie erlangt schließlich statt des Novum nur Taumel, eben wegen der beständig verlangten, um ihrer selbst willen verlangten Richtungsänderung; so entsteht mit ihr nicht die von Bergson gepriesene Kurve, sondern ein Zickzack, in dem - vor lauter Entgegensetzung zur Gleichförmigkeit - nur die Figur des Chaos ist. Folgerichtig endet auch das abstrakt gefaßte Futurum in einem l'art pour l'art der Vitalität, das Bergson selbst der Rakete vergleicht oder »einem immensen Feuerwerk, das stets neue Feuergarben aus sich heraussprühen läßt« (L'Evolution créatrice, 1907, p. 270). Wie auch an dieser Stelle zu betonen: es gibt bei Bergson überhaupt kein echtes Novum; seinen Begriff hat er aus lauter Übersteigerung eben nur zur kapitalistischen Moden-Novität hingebracht und so stabilisiert; Elan vital und nichts sonst ist /(232) und bleibt selber ein Kontemplations-Fixum. Der gesellschaftliche Grund für Bergsons Pseudo-Novum liegt im Spätbürgertum, das überhaupt kein inhaltlich Neues mehr in sich hat. Der dem entsprechende ideologische Grund liegt letzthin in der alten, bemüht reproduzierten Ausschaltung zweier der wesentlichsten Beschaffenheiten des Novum überhaupt: der Möglichkeit und der Finalität. In beiden sieht Bergson die gleiche Schematik des tötenden, wechselfeindlichen Verstands, die er Sonst als Verräumlichung, Kausalität, Mechanismus am Werk sieht. Das mächtige Reich der Möglichkeit wird ihm derart ein Schein der Retrospektion: es gibt gar kein Mögliches bei Bergson, es ist ihm eine Projektion, die von dem neu Entstehenden in die Vergangenheit hinein entworfen wird. Im Möglichen wird nach Bergson das soeben entspringende Novum nur als »möglich gewesen seiend« gedacht: »Das Mögliche ist nichts anderes als das Wirkliche plus einem geistigen Akt, der das Bild dieses Wirklichen in die Vergangenheit zurückwirft, sobald das Wirkliche entstanden ist... Das wirkliche Hervorquellen unvorhersehbarer, in keinem Möglichen vorhergezeichneter Neuheit ist aber ein Wirkliches, das sich möglich macht, nicht ein Mögliches, das wirklich wird« (La Pensée et le Mouvant, p. 133). Bergson reproduziert damit bezeichnenderweise fast den Anti-Möglichkeits-Beweis des Megarikers Diodoros Kronos, der gerade den Eleaten, den Lehrern einer absoluten Ruhe, nahestand. Und ebenso verschließt sich Bergson dem Begriff des Novum, indem er die Finalität als ledigliche Statuierung eines starren Endziels ansieht, statt als Zielstrebigkeit des Menschenwillens, der in den offenen Möglichkeiten der
Zukunft gerade sein Wohin und wozu erst sucht. Besser: als Zielstrebigkeit einer Arbeit, vor allem einer Planung, die ihr Wohin und Wozu pointiert hat und die Wege dahin geht. Indem Bergson aber alle Vorhersehbarkeit mit statischer Vorausberechnung zusammenfallen läßt, hat er nicht nur die schöpferische Antizipation verfehlt, diese Morgenröte im Menschenwillen, sondern das echte Novum insgesamt, den Horizont der Utopie. Und die beständig pointierte Wetterwendigkeit, Uferlosigkeit machten Bergsons Neuheits-Universum schwerlich zu dem, als was er es, mit dennoch unvermeidlicher Finalität, phantasmagorierte: zur «Maschine, um Götter zu erzeugen«. In Summa: zum /(233) Novum gehört, damit es wirklich eines sei, nicht nur der abstrakte Gegensatz zur mechanischen Wiederholung, sondern selber eine Art spezifischer Wiederholung: nämlich des noch ungewordenen totalen Zielinhalts selber, der in den progressiven Neuheiten der Geschichte gemeint und tendiert, versucht und herausprozessiert wird. Daher weiterhin: Das dialektische Entspringen dieses totalen Inhalts wird nicht mehr durch die Kategorie Novum, sondern durch die Kategorie Ultimum bezeichnet, und an dieser freilich hört die Wiederholung auf. Doch nur dadurch hört sie auf, daß im gleichen Maß wie das Ultimum die letzte, also höchste Neuheit darstellt, die Wiederholung (die unablässige Repräsentiertheit des Tendenzziels in allem progressiv Neuen) sich zur letzten, höchsten, gründlichsten Wiederholung: der Identität steigert. Wobei die Neuheit im Ultimum kraft des totalen Sprungs aus allem Bisherigen heraus geradezu triumphiert, doch eines Sprungs zur aufhörenden Neuheit oder Identität. Die Kategorie Ultimum liegt nicht so undurchdacht vor wie die des Novum; das Letzte war allemal ein Gegenstand jener Religionen, die auch der Zeit eine Zeit setzten, und so vor allem der jüdisch-christlichen Religionsphilosophie. Jedoch machte es sich gerade in dieser Kategorialbehandlung kenntlich, daß die ihr sachgemäß vorherzugehende des Novum so gut wie nicht vorhanden war. Denn das Ultimum ist in der gesamten jüdisch-christlichen Philosophie, von Philon und Augustin bis Hegel, ausschließlich auf ein Primum und nicht auf ein Novum bezogen; infolgedessen erscheint das Letzte lediglich als erlangte Wiederkehr eines bereits vollendeten, verloren oder entäußert gegangenen Ersten. Die Form dieser Wiederkehr nimmt die vorchristliche des sich verbrennenden und wieder erneuernden Phönix auf, sie nimmt die Heraklitische und stoische Lehre vom Weltbrand auf, nach der das Zeus-Feuer die Welt in sich zurücknimmt und sie ebenso wieder, in periodischem Kreislauf, aus sich entläßt. Und dieses eben: der Kreislauf ist die Figur, welche das Ultimum dermaßen ans Primum heftet, daß es darin logischmetaphysisch verschießt. Gewiß, Hegel sah in dem Fürsichsein der Idee, das sein Ultimum ist und worin der Prozeß wie in einem Amen aushallt, das Primum des Ansichseins der Idee nicht nur reproduziert, sondern erfüllt: die »vermittelte Unmittelbarkeit« /(234) ist im Fürsichsein erreicht, statt der unvermittelten im Anfang des bloßen Ansichseins. Aber dieses Resultat blieb, wie in jeder einzelnen Gestaltepoche des Weltprozesses, so auch in seiner Gesamtheit, hier dennoch ein zyklisches; es ist der vom Novum gänzlich freie Kreislauf der Restitutio in integrum: »Jeder der Teile der Philosophie ist ein philosophisches Ganzes, ein sich in sich selbst schließender Kreis,... das Ganze stellt sich daher als ein Kreis von Kreisen dar« (Enzyklopädie § 15). Item, trotz größerer Durchdachtheit wurde hier überall auch das Ultimum entspannt, dadurch, daß sein Omega ohne Macht des Novum sich wieder ins Alpha zurückschlingt. Auch dort gilt das schließlich, wo das Alpha-Omega mechanisch-materialistisch zum Dunstball säkularisiert worden ist, aus dem die Welt stammt und wohin sie sich wieder auflöst. Das Original und der Archetyp von alldem bleibt das Alpha-Omega im
Umfassungsring eines Urwesens, zu dem der Prozeß fast als verlorener Sohn zurückkehrt und die Substanz seines Novum ungeschehen macht. Das alles eben sind Gefängnisbildungen gegen die reale Möglichkeit oder eine Desavouierung ihrer, die sogar noch das progressivste historische Produkt einzig als Wiedererinnerung oderWiederherstellung eines einst Besessenen, Ur-Verlorenen visieren will. Folglich ist, wie gerade am Ultimum erhellt, bei diesem, aber auch bei allem Novum vorher, einzig Anti-Wiedererinnerung, Anti-Augustin, Anti-Hegel philosophisch am Platz, Anti-Kreis und Verneinung des Ring-Prinzips, des bis Hegel und Eduard von Hartmann, ja bis Nietzsche intendierten. Die Hoffnung aber, die an keinem Ende nur so weit sein will, wie sie am Anfang schon war, hebt den scharfen Zyklus auf. Die Dialektik, die in der Unruhe ihren Motor hat und im unerschienenen Wesen ihren keineswegs ante rem vorhandenen Zielinhalt, hebt den zähen Zyklus auf. Die Spannungsfiguren und Tendenzgestalten, die Real Chiffern in der Welt, auch diese Proben auf ein noch ungelungenes Exempel heben durch ihren besonders hohen Prozentgrad von Utopie den grundsterilen Zyklus auf. Die Humanisierung der Natur hat kein Elternhaus am Anfang, dem sie entlaufen ist, zu dem sie, mit einer Art von Ahnenkult in der Philosophie, wieder zurückkehrt. Entspringen doch im Prozeß selber, noch ohne Problem des Ultimum, eine Unzahl realer Möglichkeiten, die dem /(235) Anfang nicht an der Wiege gesungen worden sind. Und das Ende ist nicht die Wiederbringung, sondern es ist-gerade als Einschlag des Was-Wesens in den Daß-Grund - die Aufsprengung des primum agens materiale. Anders gesagt: das Omega des Wohin erläutert sich nicht an einem urgewesenen, angeblich allerrealsten Alpha des Woher, des Ursprungs, sondern konträr: dieser Ursprung erläutert sich selbst erst am Novum des Endes, ja er tritt als ein an sich noch wesentlich unverwirklichter erst mit diesem Ultimumin-Realität. Der Ursprung ist gewiß das Verwirklichende selbst; doch eben: wie gerade im Verwirklichen noch etwas unreif und noch nicht verwirklicht ist, so fängt die Verwirklichung des Verwirklichens, des Verwirklichenden selbst immer erst noch an, zu beginnen. In der Geschichte ist sie die Selbstergreifung des geschichtlichen Täters, als des arbeitenden Menschen; in der Natur ist sie die Verwirklichung dessen, was man hypothetisch natura naturans oder Subjekt der materiellen Bewegung genannt hat, ein noch kaum berührtes Problem, obwohl es mit der Selbstergreifung des arbeitenden Menschen deutlich zusammenhängt und in der Verlängerungslinie der Marxschen »Humanisierung der Natur« liegt. Der Austragsort für beiderlei Selbstergreifung und ihr Novum, ihr Ultimum befindet sich aber einzig an der Front des Geschichtsprozesses und hat überwiegend erst vermittelt reale Möglichkeit sich gegenüber. Diese bleibt dasjenige, was der exakten Antizipation, der konkreten Utopie als objektiv-reales Korrelat korrespondiert. Im gleichen Sinn, wie das konkret Utopische ein objektiv-realer Realitätsgrad an der Front der geschehenden Welt ist, als Noch-Nicht-Sein der »Naturalisierung des Menschen, Humanisierung der Natur«.Das so bezeichnete Reich der Freiheit bildet sich sinngemäß nicht als Rückkehr, sondern als Exodus - wenn auch ins stets gemeinte, durch den Prozeß gelobte Land. Das »nach Möglichkeit« und das »in Möglichkeit Seiende«, Kälte- und Wärmestrom im Marxismus Auf dem Weg zum Neuen muß meist, wenn auch nicht immer, schrittweise vorgegangen werden. Nicht alles ist jederzeit möglich und ausführbar, fehlende
Bedingungen hemmen nicht nur, /(236) sondern sperren. Rascherer Gang ist zwar dort erlaubt, ja geboten, wo die Strecke keine anderen Gefahren zeigt als überängstlich oder pedantisch ausgedachte. So brauchte Rußland nicht erst vollkapitalistisch zu werden, bevor es mit Er folg das sozialistische Ziel verfolgen konnte. Auch die vollständigen technischen Bedingungen zum sozialistischen Aufbau konnten in der Sowjetunion nachgeholt werden, soweit sie in anderen Ländern bereits entwickelt und von dort übernehmbar waren. Dagegen kann, wie selbstverständlich, ein Weg, der überhaupt noch nicht begangen worden ist, nur mit Mißerfolgen überschlagen und übersprungen werden. Denn möglich ist zwar alles, wozu die Bedingungen zureichend partiell vorliegen, jedoch ebendeshalb ist alles noch faktisch unmöglich, wozu die Bedingungen überhaupt noch nicht vorliegen. Das Zielbild erweist sich dann subjektiv wie objektiv als Illusion; die Bewegung darauf hin geht dann unter; bestenfalls setzt sich, wenn sie vorankommt, infolge der vorhandenen und determinierenden ökonomisch-sozialen Bedingungen ein ganz anderes Ziel durch als das überschlagend-abstrakt intendierte. Gewiß, im bürgerlich-idealen Traum von den Menschenrechten waren von Anfang an schon die Tendenzen tätig, die hernach den reinsten Kapitalismus brachten. Aber selbst hier schwebte überdies eine Stadt der Bruderliebe, ein Philadelphia vor, besonders weit von dem wirklichen Philadelphia gelegen, das auf der Tagesordnung der Wirtschaftsgeschichte stand und so an den Tag kam. Und nicht viel anderes als ein solches Philadelphia dürfte auch die Frucht der reinen, der schlechthin nur chiliastischen Utopien geworden sein, wenn sie nicht untergegangen, sondern nach dem Maß des damals Möglichen ans Ziel gelangt waren. Die ökonomischen Bedingungen, die der radikale Wille zum tausendjährigen Reich von Joachim di Fiore bis zu den englischen Millenariern überschlagen hat und noch überschlagen mußte, hätten sich doch gemeldet, im Erreichten selbst gemeldet: und sie wären, wieder kraft der noch bevorstehenden kapitalistischen Tagesordnung, durchaus keine gewesen, die zum Liebesreich prädestinieren. All das ist völlig begreifbar geworden mittels der marxistischen Entdeckung, wonach konkrete Theorie-Praxis aufs engste zusammenhängt mit dem erforschten Modus objektiv-realer Möglichkeit. Sowohl die kritische Vor- /(237) sicht, die das Tempo des Wegs bestimmt, wie die fundierte Erwartung, die einen militanten Optimismus in Ansehung des Ziels garantiert, werden durch Einsicht in das Korrelat der Möglichkeit bestimmt. Und zwar so, daß dieses Korrelat, wie jetzt spruchreif wird, selber wieder zwei Seiten hat, gleichsam eine Rückseite, auf welche die Maße des jeweils Möglichen geschrieben sind, und eine Vorderseite, worauf das Totum des zu guter Letzt Möglichen sich als immer noch offen kenntlich macht. Eben die erste Seite, die der maßgeblich vorliegenden Bedingungen, lehrt das Verhalten auf dem Weg zum Ziel, während die zweite Seite, die des utopischen Totum, grundsätzlich verhüten läßt, daß Partialerreichungen auf diesem Weg für das ganze Ziel genommen werden und es zudecken. Bei alldem muß festgehalten werden: auch das dergestalt doppelseitige Korrelat: reale Möglichkeit ist nichts anderes als die dialektische Materie. Reale Möglichkeit ist nur der logische Ausdruck für materielle Bedingtheit zureichender Art einerseits, für materielle Offenheit (Unerschöpftheit des Materie-Schoßes) andererseits. Oben, im vorigen Kapitel (vgl. S.219), wurde, bei Gelegenheit der »störenden Nebenursachen» während der Verwirklichung, bereits ein Teil der Aristotelischen Materie- Definitionen herangezogen. Es wurde erwähnt, daß nach Aristoteles die mechanische Materie einen Widerstand darstellt, demgemäß die entelechetische Tendenzgestalt sich nicht rein ausprägen kann. Daraus will Aristoteles die vielen Hemmungen, Zufalls-Durchkreuzungen, auch die zahllosen
Fortschritts-Torsi erklären, deren die Welt voll ist. An der angegebenen Stelle wurde diese Definition der Materie als die eines Sündenbocks bezeichnet, und das ist sie auch, sofern sie verabsolutiert wird, und sofern sie dazu dienen soll, die Materie zur Entlastung der Entelechie insgesamt zu verteufeln. Doch ist freilich von solchem Insgesamt, solcher Verabsolutierung bei Aristoteles keine Rede, vielmehr ist seine Materie keineswegs auf die mechanische beschränkt, und selbst diese, woraus diese stammt, ist eben dem höchst umfassenden Begriff oder objektiv-realen Möglichkeit bei Aristoteles erstmals zugeordnet. Diese Zuordnung eröffnet nun auch dem Begriff der hemmenden Materie einen neuen, nicht durchkreuzenden, sondern determinierenden Sinn: die »mechanische Materie« ergänzt und /(238) erweitert durch das nach Möglichkeit, nach den Maßen der Möglichkeit Seiende. Materie ist also nach dieser Seite der Ort der Bedingungen, nach deren Maßgabe Entelechien sich ausprägen; sie heißt so nicht nur Mechanik, sondern viel weiter: durchgehender Bedingungszusammenhang. Und erst aus diesem Nach-Möglichkeit-Seienden schreibt sich letzthin die Hemmung her, welche die entelechetische Tendenzgestalt auf ihrem Weg erfährt. Es schreibt sich davon auch die Folge her, daß der Bildhauer, unter »günstigeren Bedingungen« arbeitend, schönere Leiber bilden kann als die physischen, die geboren sind, und daß ein Dichter seinen Gestalten die Zufälligkeit und die Enge vom Pfad entfernt, sie, wie Aristoteles in der »Poetik« sagt, aus dem jeweils Einzelnen in die reicheren Möglichkeiten eines Ganzen versetzt. All das wäre aber nicht möglich, wenn Aristoteles - und das ist von zentralster Wichtigkeit - nicht bereits auch die andere Seite, die Vorderseite der Möglichkeits-Materie ausgezeichnet hätte, ja sie als die gänzlich hemmungsfreie erkannt hätte; Materie ist nicht nur nach Möglichkeit, also das nach dem gegebenen Maß des Möglichen jeweils Bedingende, sondern sie ist das In-Möglichkeit- Seiende, also der - bei Aristoteles freilich noch passive - Schoß der Fruchtbarkeit, dem auf unerschöpfte Weise alle Welt gestalten entsteigen. Mit dieser letzteren Bestimmung ist genau die freundliche, wo nicht die Hoffnungs-Seite der objektiv-realen Möglichkeit eröffnet worden, so lange es auch dauerte, bis sie begriffen wurde; das utopische Totum ist impliziert. Wir wiederholen und fassen zusammen: der kritischen Beachtung des jeweils zu Erreichenden ist das Nach- Möglichkeit-Seiende der Materie vorgeordnet, der fundierten Erwartung der Erreichbarkeit selber das InMöglichkeit- Seiende der Materie. Und indem in der pantheistischen Schule der Aristoteliker aus letzterer Bestimmung das Passive gestrichen wurde, indem es nict mehr wie bestimmungsloses Wachs erschien, auf dem die Form-Entelechien sich ausprägen, wurde das Potential Materie schließlich Geburt wie Grab wie neuer Hoffnungs-Ort der Weltgestalten überhaupt. Diese Entwicklung des Aristotelischen Materiebegriffs zieht sich über den peripatetischen /(239) Physiker Straton, über den ersten großen Aristoteles-Kommentator Alexander von Aphrodisias, über die morgenländischen Ariststoteliker Avicenna, Averroes und seine natura naturans, über den neuplatonisierenden Aristoteliker Avicebron, über die christlichen Ketzerphilosophen des dreizehnten Jahrhunderts Amalrich von Bena und David von Dinant bis hin zur weltschafenden Materie Giordano Brunos (vgl. dazu Ernst Bloch, Avicenna und die Aristotelische Linke, 1952, S. 3off.). Ja noch das sich ausgebärende Substrat der Hegelschen Weltidee, diese von Materie sich so bald fortbewegende, enthält trotzdem ein Großteil der Materie-Potentialität, der potenzhaft gewordenen. Lenin merkt im »Philosophischen Nachlaß« (S.62) dazu besonders den Satz aus Hegels Logik an: »Dies, was als Tätigkeit der Form erscheint, ist ferner ebenso die eigene Bewegung der Materie selbst.« Es gibt mehrere ähnliche Sätze Hegels, auch in seiner Pbilosophiegeschichte (Werke XIII,
S.33), den Aristoteles-Begriff der Entwicklung betreffend, wo er mindestens das Ansichsein seiner Idee der Aristotelischen Materie gleichsetzt. Und die Vermutung ist gerechtfertigt, daß ohne dieses Aristotelisch-Brunosche Erbstück Marx mehreres an der Hegelschen Weltidee nicht so natürlich hätte auf die Füße stellen können. Noch wäre die Dialektik des Prozesses vom sogenannten Weltgeist materialistisch herüberzuretten gewesen und an der Materie als Bewegungsgesetz erfaßbar geworden. So aber erschien eine vom mechanischen Klotz recht verschiedene Materie, die Materie des dialektischen Materialismus, als eine, woran Dialektik, Prozeß, Entäußerung der Entäußerung, Humanisierung der Natur keineswegs nur äußerliche Beiworte sind, gar angeheftete. Soviel hier über die Korrelate zur kritischen Beachtung des Erreichbaren, zur fundierten Erwartung der Erreichbarkeit selber innerhalb des umfassenden Korrelats: reale Möglichkeit oder Materie. Kälte wie Wärme konkreter Antizipation sind darin vorgebildet, sind auf diese beiden Seiten des real Möglichen bezogen. Seine unerschöpfte Erwartungsfülle bescheint die revolutionäre Theorie-Praxis als Enthusiasmus, seine strengen unüberschlagbaren Determinierungen fordern kühle Analyse, vorsichtig genaue Strategie; das letztere bezeichnet kaltes, das erstere warmes Rot. Diese zwei Weisen Rotsein gehen gewiß stets zusammen, /(240) dennoch sind sie unterschieden. Sie verhalten sich zueinander wie das Unbetrügbare und das Unenttäuschbare, wie Säure und Glauben, jedes an seinem Ort und jedes zum gleichen Ziel verwendet. Der situationsanalytische Akt des Marxismus ist mit dem begeisternd-prospektiven verschlungen. Die beiden Akte sind in der dialektischen Methode, im Pathos des Ziels, in der Totalität des behandelten Stoffs vereint, dennoch zeigt sich deutlich auch die Blick- und Lagen-Verschiedenheit. Sie wurde als eine zwischen der jeweiligen Bedingungs-Erforschung nach Maßgabe des Möglichen und der Aussichts-Erforschung des In-Möglichkeit-Seienden erkannt. Die bedingungsanalytische Forschung zeigt ebenfalls Aussicht, aber mit dem Horizont als einem begrenzenden, als dem des begrenzt Möglichen. Ohne solche Abkühlung käme Jakobinertum oder gar völlig verstiegene, abstraktest-utopische Schwärmerei heraus. So wird hier dem Überholen, Überschlagen, Überfliegen Blei in die Sohlen gegossen, indem das Wirkliche erfahrungsgemäß selber einen schweren Gang hat und selten aus Flügeln besteht. Aber die Aussichts-Erforschung des In-Möglichkeit-Seienden geht auf den Horizont im Sinn unverstellter, ungemessener Weite, im Sinn des noch unerschöpft und unverwirklicht Möglichen. Das ergibt dann freilich erst Aussicht im eigentlichen Sinne, das ist: Aussicht aufs Eigentliche, auf das Totum des Geschehenden und zu Betreibenden, auf ein nicht nur jeweils vorliegendes, sondern gesamthistorisch-utopisches Totum. Ohne solche Erwärmung der historischen wie erst der aktuell-praktischen Bedingungsanalyse unterliegt letztere der Gefahr des Ökonomismus und des zielvergessenen Opportunismus; dieser vermeidet die Nebel der Schwärmerei nur insofern, als er in den Sumpf des Philistertums gerät, des Kompromisses und schließlich des Verrats. Erst Kälte und Wärme konkreter Antizipation zusammen also bewirken, daß weder Weg an sich noch Ziel an sich undialektisch voneinander abgehalten und so verdinglicht-isoliert werden. Wobei die Bedingungsanalyse auf der ganzen geschichtlichsituationshaften Strecke ebenso als Entlarvung der Ideologien wie als Entzauberung des metaphysischen Scheins auftritt; gerade das gehört zum nützlichsten Kältestrom des Marxismus. Dadurch wird der marxistische Materialismus nicht nur zur Bedingungswissenschaft, sondern im gleichen Zug /(241) zur Kampf- und Oppositionswissenschaft gegen alle ideologischen Hemmungen und Verdeckungen der Bedingungen letzter Instanz, die immer ökonomische sind. Zum Wämestrom des
Marxismus gehören aber die befreiende Intention und materialistisch-humane, human-materialistische Realtendenz, zu deren Ziel all diese Entzauberungen unternommen werden. Von hier der starke Rekurs auf den erniedrigten, geknechteten, verlassenen, verächtlich gemachten Menschen, von hier der Rekurs auf das Proletariat als die Umschlagstelle zur Emanzipation. Das Ziel bleibt die in der sich entwickelnden Materie angelegte Naturalisierung des Menschen, Humanisierung der Natur. Diese letzte Materie oder der Inhalt des Reichs der Freiheit nähert sich im Aufbau des Kommunismus, als seinem einzigen Raum, erst an, hatte noch nirgends Präsenz; das ist ausgemacht. Doch ebenso ist ausgemacht, daß dieser Inhalt im historischen Prozeß steht und daß der Marxismus sein stärkstes Bewußtsein, sein höchst praktisches Eingedenken darstellt. Marxismus als Wärmelehre ist dergestalt einzig auf jenes positive, keiner Entzauberung unterliegende In-Möglichkeit-Sein bezogen, das die wachsende Verwirklichung des Verwirklichenden, zunächst im menschlichen Umkreis, umfaßt. Und das innerhalb dieses Umkreises das utopische Totum bedeutet, eben jene Freiheit, jene Heimat der Identität, worin sich weder der Mensch zur Welt noch aber auch die Welt zum Menschen verhalten als zu einem Fremden. Das ist Wärmelehre im Sinn der Vorderseite, der Front der Materie, also der Materie nach vorwärts. Der Weg eröffnet sich darin als Funktion des Ziels, und das Ziel eröffnet sich als Substanz im Weg, in dem auf seine Bedingungen hin erforschten, auf seine Offenheiten hin visierten. In diesen Offenheiten ist Materie nach Richtung ihrer objektiv-realen Hoffnungsinhalte latent: als Ende der Selbstentfremdung und der mit Fremdem behafteten Objektivität, als Materie der Dinge für uns. Auf dem Weg dazu hin geschieht das objektive Übersteigen des Vorhandenen in Geschichte und Welt: dies transzendenzlose Transzendieren, welches Prozeß heißt und durch die menschliche Arbeit so gewaltig auf der Erde beschleunigt wird. Materialismus nach vorwärts oder Wärmelehre des Marxismus ist derart Theorie-Praxis eines Nachhause-Gelangens oder des Ausgangs aus unangemessener /(242) Objektivierung; die Welt wird dadurch zur Nicht-mehr-Entfremdung ihrer Subjekte-Objekte, also zur Freiheit entwickelt. Das Freiheitsziel selber wird zweifellos erst vom Standort einer klassenlosen Gesellschaft her als bestimmtes In-Möglichkeit-Sein deutlich visierbar. Immerhin ist es jener Selbstbegegnung kaum fern, die unter dem Namen Kultur bildhaft gesucht worden ist; mit so viel Ideologien, doch auch mit so mancherlei Vor-Schein, Antizipationen im Horizont. Das Mittel der ersten Menschwerdung war die Arbeit, der Boden der zweiten ist die klassenlose Gesellschaft, ihr Rahmen ist eine Kultur, deren Horizont von lauter Inhalten fundierter Hoffnung, als dem wichtigsten, dem positiven In-Möglichkeit-Sein, umzogen ist.
Künstlerischer Schein als sichtbarer Vor-Schein Vom Schönen wird gesagt, daß es erfreue, ja sogar genossen werde. Doch hat es seinen Lohn damit noch nicht dahin, Kunst ist keine Speise. Denn sie bleibt auch nach ihrem Genuß, sie hängt selbst in den süßesten Fällen noch in ein »vorgemaltes« Land hinaus. Der Wunschtraum geht hier ins unstreitig Bessere hinaus, dabei ist er, zum Unterschied von den meisten politischen, bereits werkhaft geworden, ein gestaltet Schönes. Allein: lebt in dem so Gestalteten mehr als einiges scheinendes Spiel? Das zwar äußerst kunstvoll sein mag, doch zum Unterschied vom Kindlichen auf nichts Ernstes vorbereitet und es bedeutet. Ist in dem
ästhetischen Klingeln oder auch Klingen irgend bare Münze, irgendeine Aussage, die unterschrieben werden kann? Gemälde reizen weniger zu dieser Frage, denn die Farbe steht nur in sinnlicher Gewißheit, ist sonst aber schwächer mit Wahrheitsanspruch belastet als das Wort. Dient doch das Wort nicht nur der Dichtung, sondern auch der wahrheitsgemäßen Mitteilung; Sprache macht für letztere empfindlicher als Farbe, selbst als Zeichnung. Jede gute Kunst freilich beendet in gestalteter Schöne ihre Stoffe, trägt Dinge, Menschen, Konflikte in schönem Schein aus. Wie steht es aber ehrlich mit diesem Ende, mit einer Reife, in der doch nur Erfundenes reift? Wie verhält es sich mit einem Reichtum, der nur illusionär, im Augenschein, im Ohrenschein sich mitteilt? Wie verhält es sich andererseits mit Schillers /(243) immerhin prophetischem Satz, daß, was als Schönheit hier empfunden, uns als Wahrheit einst entgegengehen werde? Wie verhält es sich mit dem Satz Plotins, dann Hegels, daß Schönheit sinnliche Erscheinung der Idee sei? Nietzsche, in seiner positivistischen Periode, stellt dieser Behauptung die bedeutend massivere entgegen, daß alle Dichter lügen. Oder: die Kunst mache den Anblick des Lebens erträglich dadurch, daß sie den Flor des unreinen Denkens darüberlege. Francis Bacon sieht die goldenen Apfel in silbernen Schalen erst recht nicht weit vom Blendwerk, ja sie gehören zu den überlieferten Idola theatri. Er vergleicht die Wahrheit dem nackten, hellen Tageslicht, worin die Masken, Mummereien und Prunkzüge der Welt nicht halb so schön und stattlich erscheinen wie im Kerzenlicht der Kunst. Hiernach sind Künstler von Anfang bis Ende dem Schein verschworen, sie haben keinen Hang zur Wahrheit, sondern den entgegengesetzten. In der gesamten Aufklärung liegen Prämissen zu dieser Antithese: Kunst-Wahrheit, und sie haben die künstlerische Phantasie vom Tatsachensinn her verdächtig gemacht. Das sind die empirischen Einwände gegen das Einschmeichelnd-Trübe, gegen den goldenen Nebel der Kunst, und sie sind nicht die einzigen, die aus der Aufklärung stammen. Denn neben ihnen stehen die rationalen Einwände, die zwar ursprünglich dem Platonischen Begriffslogos und dessen besonders berühmter, besonders radikaler Kunstfeindschaft zugehören, die aber in der kalkulatorischen Verstandesrichtung der bürgerlichen Neuzeit sich gegen die Kunst aufs neue vornehm machten. Das auch dort, wo sich die von Marx bezeichnete spezifische Kunstfeindschaft des Kapitalismus im neunzehnten Jahrhundert (mit l'art pour l'art als Gegenschlag und der Kriegserklärung der Goncourts ans «Publikum«) noch nicht bemerkbar machen konnte. Allein schon die skurrile Erkundigung jenes französischen Mathematikers gehört hierher, der nach Anhören der Racineschen »Iphigénie« fragt: «Qu'est-ceque cela prouve?« So skurril, auch fachfetischistisch diese Frage dreinsieht, so steht sie doch als rein rationale in einer eigenen und großen Schule von Kunstfremdheit, in einer der empirischen ebenbürtigen. Bedeutsam fällt in allen großen Verstandessystemen der rationalistischen Neuzeit die ästhetische Schicht aus; die darin wohnenden Vorstellungen gelten als wissenschaftlich über- /(244) haupt nicht diskutierbar. Überwiegend nur kunsttechnische Lehren, wenn auch bedeutender Art, vorab die Poetik betreffend, blühten im französisch-klassizistischen Rationalismus, und einzig die mathematische Seite der Musik fand bei Descartes Interesse. Jedoch sonst weiß man weder bei Descartes noch gar bei Spinoza, daß es eine Kunst im Ordnungs-Zusammenhang der Ideen und der Sachen gibt. Selbst der universale Leibniz zog aus ihr höchstens einige Beispiele an, so über die die Harmonie erhöhende Wirkung von Schatten und Dissonanzen, weil ihm dergleichen für viel Wichtigeres: für den Beweis der besten aller möglichen Welten brauchbar war. Das harmonisch Schöne ist bei Leibniz zwar eine Art Andeutung der wissenschaftlich
erkennbaren Weltharmonie, aber es ist eine nur verworrene Andeutung, und die Wahrheit kann ihrer deshalb entraten. Folgerichtig begann die Ästhetik des Rationalismus, als sie endlich sehr spät, von dem Wolffianer Baumgarten, zur philosophischen Disziplin gemacht wurde, recht seltsam; sie begann nämlich mit ausgesprochener Geringschätzung ihres Gegenstands, ja mit Entschuldigungen ihres Daseins. Der ästhetische Gegenstand war einzig das in der sinnlichen Wahrnehmung und ihren Vorstellungen wirksame sogenannte niedere Erkenntnisvermögen. Und wenn Schönheit auch Vollkommenheit in diesem Gebiet darstellte, so war sie an Wert mit der vollständigen Deutlichkeit begrifflicher Erkenntnis doch nicht vergleichbar. Die rationalistische Herabsetzung der Kunst reiht sich nach alldem der empirisch-positivistischen an; und doch ist auch damit die Feindesgruppe noch nicht erschöpft. Ja, Kunsthaß wird erst dort völlig grell, wo er nicht aus der Vernunft, sondern, oft umgekehrt, aus dem Glauben, mindestens aus der Setzung eines spirituell Wahren herstammt. Dann ergeht Bildersturm dieses Falls nicht gegen den goldenen Nebel Kunst, wie das empiristisch und schließlich auch rationalistisch üblich war, sondern gegen das Festland Kunst, das ist, gegen die in ihr überakzentuierte Erscheinung. Die Schönheit, so lautet hier das Verdikt, verführt zur Oberfläche, vergafft sich in die wesenlose Außenseite und lenkt so vom Wesen der Dinge ab. »Was ist Gutes daran, die Schatten der Schatten nachzuahmen?« fragt Platon und macht damit seinen Begriffslogos fast schon geistlich schroff. Andererseits. »Du sollst dir kein /(245) Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel noch unten auf der Erde noch im Wasser unter der Erde ist«, gebietet in der Bibel das vierte Gebot und gibt das Stichwort zum Bildersturm von der Unsichtbarkeit Jahves, vom Verbot jedes Götzendienstes her. Kunst insgesamt wird so gleißende, letzthin luziferische Vollendung, die der wahren ungleisnerischen im Weg steht, ja, sie verleugnet. Das ist Kunstfeindschaft als religiöse und spirituelle; ihr entspricht in der Moralität nicht grundlos die Abwendung von der allzu großen Sichtbarkeit der »Werke«, die Hinwendung zum Unsichtbar-Echten der «Gesinnung«. Puritanertum in solch umfassendem (bis auf Bernhard von Clairvaux zurückreichendem) Sinn kulminierte zuletzt noch in Tolstois ungeheuerlichem Shakespeare-Haß, gegen das Buhlwerk Schönheit insgesamt. Ein Horror pulchri hat selbst im Katholizismus, unter dem Papst Marcellus, bis zum geplanten Verbot der reichen Kirchenmusik geführt, und dem Protestantismus gab dieser Horror, aufs Sichtbare angewandt, den kahlen Gott, der in moralischem Glauben, im Wort, das die Wahrheit ist, angebetet sein will. So verschiedener Gestalt also, empiristisch-rationalistisch, spirituell-religiös, tritt der Wahrheitsanspruch gegen das Schöne hervor. Und sind diese verschiedenen Wahrheitsansprüche (denn subjektiv ist auch der spirituelle einer gewesen) noch so untereinander entzweit, ja gegen sich selber höchst gegensätzlich aufgetreten, so sind sie trotzdem geeint im Willen zum Ernst gegen das Spiel des Scheins. Der Fall hat auch die Künstler allemal bewegt, gerade indem sie selber ernste waren. Gerade diese fühlten sich, indem sie keine Spieler sein wollten, abgeriegelte oder dekadente, der Wahrheitsfrage verpflichtet. Wie hinreichend will Schönes auch bildhaft wahr sein in den Beschreibungen und Erzählungen großer realistischer Dichter. Das nicht nur in der Schicht sinnlicher Gewißheit, sondern auch in derjenigen breit eröffneter gesellschaftlicher Zusammenhänge, naturhafter Prozesse. Wie legitim ist der Realismus Homers, ein Realismus von solch genauer Fülle, daß sich mit ihm fast die ganze mykenische Kultur vergegenwärtigen läßt. Und vom Buch Hiob, seinem 37. Kapitel, bekundet zwar kein französischer Mathematiker, wohl aber Alexander von Humboldt, als Naturforscher: «Die meteorolo- /(246)
gischen Prozesse, welche in der Wolkendecke vorgehen, die Formbildung und Auflösung der Dünste bei verschiedenerWindrichtung, ihr Farbenspiel, die Erzeugung des Hagels und des rollenden Donners werden mit individueller Anschaulichkeit beschrieben; auch viele Fragen sind vorgelegt, die unsere heutige Physik in wissenschaftlicheren Ausdrücken zu formulieren, aber nicht befriedigend zu lösen vermag« (Kosmos II, Cotta, S.35). Dergleichen Präzision und Wirklichkeit ist jeder großen Dichtung zweifellos eigen und wesentlich, oft auch in entschieden spirituell-religiöser Dichtung, wie im Bildwerk der Psalmen. Und die Forderung des bedeutenden, des jeder Oberfläche, aber auch jeder Verstiegenheit fremden Realismus, diese Ehre Homers, Shakespeares, Goethes, Kellers, Tolstois, wird in der Kunst selber (neuerer Zeit mindestens im Roman) so sehr anerkannt, wo nicht, an Höhepunkten, erfüllt, als hätte es nie ein Mißtrauen aus Wahrheitsliebe gegen den Magister ludi und sein Spielwerk gegeben. Und doch haben die Künstler, auch als noch so konkrete, die ästhetische Wahrheitsfrage nicht erledigt, sie haben sie höchstens auf wünschenswerte und bedeutende Weise ihrerseits vermehrt und präzisiert. Denn gerade am realistischen Kunstwerk zeigt sich: es ist als Kunstwerk doch noch etwas anderes als ein Quell historischer, naturkundlicher Kenntnisse, gar Erkenntnisse. Es eignen ihm kostbare Worte, die das durch sie so treffend Bezeichnete doch ebenso über seinen gegebenen Stand hinaus übertreiben, es eignet ihm vor allem eine Ausfabelung, welche mit einer der Wissenschaft höchst fremden Lizenz zwischen Personen und Ereignissen schaltet und waltet. Als eine Ausfabelung und, im doppelten Sinn des Worts, als eine Kunst-Fertigkeit dazu, mittels derer Erfundenes die Zwischenräume im konkret Beobachteten ausfüllt und die Handlung in wohlgeschwungene Bogen rundet. Ein Schein des Rundens, Überrundens ist jedenfalls auch in noch so realistischen Kunstgebilden, besonders Kunstromangebilden unübersehbar. Und ganz »überbietend« wirkt großer Schein in jenen Kunstwerken, die sich selbst nicht als primär realistisch anbieten, sei es, daß sie neben oder über der Vorhandenheit bewußt romantisieren, sei es, daß sie weit über ein bloßes »Sujet« hinaus - Mythos fruktifizieren, diesen ohnehin ältesten Nährstoff der Kunst. Giottos «Erweckung des Lazarus«, /(247) Dantes »Paradiso«, der Himmel im Schlußteil des Faust: wie verhalten sie sich - jenseits aller Realistik in Einzelheiten - zu der Philosophenfrage nach Wahrheit? Sie sind zweifellos nicht wahr im Sinn aller unserer erworbenen Welterkenntnis, aber was bedeutet dann, in legitimer, auf Welt bezogener Weise, die ungeheure Betroffenheit von dem, doch untrennbaren, Form-Inhalt dieser Werke? So wird nun doch, erstaunlicherweise, obzwar auf ganz anderer Ebene, dis »Qu'est-ce que cela prouve?« jenes französischen Mathematikers unabweisbar, auch ohne Mathematik und ganz ohne Skurrilität. Anders gesagt: die Frage nach der Wahrheit der Kunst wird philosophisch die nach der gegebenenfalls vorhandenen Abbildlichkeit des schönen Scheins, nach seinem Realitätsgrad in der keineswegs einschichtigen Realität der Welt, nach dem Ort seines Objekt-Korrelats. Utopie als Objektbestimmtheit, mit dem Seinsgrad des Realmöglichen, erlangt so an dem schillernden Kunstphänomen ein besonders reiches Problem der Bewährung. Und die Antwort auf die ästhetische Wahrheitsfrage lautet: Künstlerischer Schein ist überall dort nicht nur bloßer Schein, sondern eine in Bilder eingehüllte, nur in Bildern bezeichenbare Bedeutung von Weitergetriebenem, wo die Exaggerierung und Ausfabelung einen im BewegtVorhandenen selber umgehenden und bedeutenden Vor- Schein von Wirklichem darstellen, einen gerade ästhetisch-immanent spezifisch darstellbaren. Hier wird belichtet, was gewohnter oder ungestumpfter Sinn noch kaum sieht, an individuellen Vorgängen wie an gesellschaftlichen, wie an naturhaften. Eben dadurch wird dieser
Vor-Schein erlangbar, daß Kunst ihre Stoffe, in Gestalten, Situationen, Handlungen, Landschaften zu Ende treibt, sie in Leid, Glück wie Bedeutung zum ausgesagten Austrag bringt. Vor-Schein selber ist dies Erlangbare dadurch, daß das Metier des Ans-Ende-Treibens in dem dialektisch offenen Raum geschieht, worin jeder Gegenstand ästhetisch dargestellt werden kann. Ästhetisch dargestellt, das bedeutet: immanent-gelungener, ausgestaltet er, wesenhafter als im unmittelbar-sinnlichen oder unmittelbar-historischen Vorkommen dieses Gegenstands. Diese Ausgestaltung bleibt auch als Vor-Schein Schein, aber sie bleibt nicht Illusion; vielmehr alles im Kunstbild Erscheinende ist zu einer Entschiedenheit hin geschärft oder verdichtet, die /(248) die Erlebniswirklichkeit zwar nur selten zeigt, die aber durchaus in den Sujets angelegt ist. Das macht die Kunst mit fundiertem Schein kenntlich, in der Schaubühne als paradigmatischer Anstalt betrachtet. Sie bleibt virtuell, doch im selben Sinn, wie ein Spiegelbild virtuell ist, das heißt, einen Gegenstand außerhalb seiner, mit aller Tiefendimension, auf der Reflexionsfläche wiedergibt. Und der Vor-Schein bleibt, zum Unterschied vom religiösen, bei allem Transzendieren immanent: er erweitert, wie Schiller gerade den ästhetischen Realismus am Exempel Goethes definierte, er erweitert die »Natur, ohne über sie hinauszugehen«. Schönheit, gar Erhabenheit sind derart stellvertretend für ein noch nicht gewordenes Dasein der Gegenstände, für durchformte Welt ohne äußerlichen Zufall, ohne Unwesentlichkeit, Unausgetragenheit. Dergestalt lautet die Losung des ästhetisch versuchten Vor-Scheins: wie könnte die Welt vollendet werden, ohne daß diese Welt, wie im christlich- religiösen Vor-Schein, gesprengt wird und apokalyptisch verschwindet (vgl. dazu: Ernst Bloch, Geist der Utopie, 1923, S.141). Kunst mit ihren jederzeit einzeln-konkreten Gestaltungen sucht dieseVollendung nur in ihnen, mit dem Totalen als durchdringend angeschautem Besonderen; indes Religion allerdings utopische Vollendung in Totalität sucht und noch das Heil der individuellen Sache gänzlich ins Totum hineinstellt, in das: »Ich mache alles neu«. Der Mensch soll hier wiedergeboren werden, die Gesellschaft zur Civitas dei verwandelt, die Natur ins Himmlische verklärt werden. Kunst dagegen bleibt gerundet, als »klassische« liebt sie Küstenschiffahrt ums Gegebene, selbst als gotische hat sie, bei allem Überschreiten, Ausgeglichenes, Homogeneisiertes in sich. Sprengend, im offenen Raum geschehend, wirkt nur Musik, als welche Kunst deshalb auch stets ein Exzentrisches gegenüber den anderen Künsten an sich trägt, gleich als wäre sie auf die Ebene des Schönen oder Erhabenen nur transponiert. Alle übrigen Künste betreiben die Darstellung des reinen Karats an einzelnen Gestalten, Situationen, Handlungen der Welt, ohne daß diese Welt gesprengt ist; daher die vollkommene Sichtbarkeit dieses Vor-Scheins. So ist Kunst Nicht-Illusion, denn sie wirkt in einer Verlängerungslinie des Gewordenen, in seiner gestaltet-gemäßeren Ausprägung. Das geht so weit, daß ein antiker Schriftsteller, Juvenal, um alle /(249) möglichen Schrecken eines Ungewitters auszudrücken, dasselbe »poetica tempestas« nennt. Das geht so tief, daß Goethe, in seinen Anmerkungen zu Diderots »Versuch über die Malerei«, gegen den bloß reproduzierenden Naturalismus die Konzentration als Realismus setzt: »Und so gibt der Künstler, dankbar gegen die Natur, die auch ihn hervorbrachte, ihr eine zweite Natur, aber eine gefühlte, eine gedachte, eine menschlich vollendete zurück.« Diese humanisierte Natur ist aber zugleich eine in sich selbst vollendetere; nicht zwar in der Weise des sinnlichen Scheinens einer ohnehin fertigen Idee, wie Flegel lehrt, wohl aber in der Richtung auf wachsend entelechetische Ausprägung hin, wie Aristoteles angibt. Ja eben dieses entelechetisch oder wie Aristoteles auch sagt: typisch zum Austrag Bringende ist
kräftig neu erinnert in dem Engelsschen Satz, realistische Kunst sei Darstellung typischer Charaktere in typischen Situationen. Wobei das Typische in der Engelsschen Definition selbstverständlich nicht das Durchschnittliche bedeutet, sondern das bedeutsam Charakteristische, kurz, das an exemplarischen Instanzen entschieden entwickelte Wesensbild der Sache. In dieser Linie liegt also die Lösung der ästhetischen Wahrheitsfrage: Kunst ist ein Laboratorium und ebenso ein Fest ausgeführter Möglichkeiten, mitsamt den durcherfahrenen Alternativen darin, wobei die Ausführung wie das Resultat in der Weise des fundierten Scheins geschehen, nämlich des welthaftvollendeten Vor-Scheins. In großer Kunst sind Übersteigerung wie Ausfabelung am sichtbarsten aufgetragen auf tendenzielle Konsequenz und konkrete Utopie. Ob allerdings der Ruf nach Vollendung - man kann ihn das gottlose Gebet der Poesie nennen - auch nur einigermaßen praktisch wird und nicht bloß im ästhetischen Vor-Schein bleibt, darüber wird nicht in der Poesie entschieden, sondern in der Gesellschaft. Erst beherrschte Geschichte, mit eingreifendem Gegenzug gegen Hemmungen, mit ausführender Beförderung der Tendenz, verhilft dazu, daß Wesenhaftes im Abstand der Kunst auch wachsend Erscheinung im Umgang des Lebens werde. Das ist dann allerdings dasselbe wie richtig gewordener - Bildersturm, nicht als Vernichtung der Kunstbilder, noch als Einbruch in sie - zum Zweck der Fruktifizierung des in ihnen, gegebenenfalls, nicht nur typisch, sondern paradigmatisch, also beispiel-/(250) gebend Enthaltenen. Und überall dort, wo Kunst sich nicht zur Illusion verspielt, ist Schönheit, gar Erhabenheit dasjenige, was eine Ahnung künftiger Freiheit vermittelt. Oft gerundet, nie geschlossen: diese goethische Lebensmaxime ist auch die der Kunst - mit dem Gewissens- und Gehalt-Akzent letzthin auf dem Ungeschlossenen. Falsche Autarkie; Vor- Schein als reales Fragment Oft gerundet: es paßt nicht zu einem schönen Bild, sich als unfertig zu geben. Das Unbeendete ist ihm äußerlich, unzugehörig, und der Künstler, der das Seine nicht fertigmachte, ist darüber unglücklich. Das ist völlig richtig und selbstverständlich, sofern und soweit es sich um die zureichende Formkraft handelt. Der Quell der Kunstfertigkeit ist das Können, das seine Sache versteht und so völlig besorgen will. Aber freilich muß gerade um des nichtisolierten Besorgens willen immer wieder auch die Bedrohung durch jene Kunstfertigkeit notiert sein, die nicht aus dem Können, sondern aus dem Anteil des bloßen Scheins entspringt, den selbst der Vor-Schein hat. Dem bloßen Schein genügt der Reiz der wohlgefälligen Anschauung und ihrer Darstellung, wie imaginär das Dargestellte auch gegebenenfalls sein mag. Ja, das Imaginäre oder imaginär Gewordene kann dem bloßen Schein eine besonders dekorative Gerundetheit verleihen, eine, worin der Ernst der Sache das schön zusammen hängende Spiel am wenigsten stört, gar unterbricht. Gerade indem der bloße Schein die Bilder besonders leicht, besonders irreal beisammen wohnen läßt, garantiert er jenen wohlgefälligen Oberflächenzusammenhang, der keinerlei Interesse und Anwesenheit einer Sache jenseits der glatten Illusion zeigt. Der Unglaube an die dargestellte Sache kann der reibungslosen Illusion sogar eine Hilfe sein, mehr noch als die Skepsis. Das zeigte sich in der Renaissancemalerei, antiken Göttern gegenüber, bei deren Abbildung der Maler nicht zu befürchten brauchte, sich gegen das Heilige nicht umwittert genug verhalten zu haben; das gleiche zeigte sich wenig später in der mythologisch-gerundeten Dichtung. Camöes in den «Lusiaden« läßt seine Göttin Themis ganz ironisch und doch in den blühendsten
Versen sagen, sie selber /(251) wie auch Saturn, Jupiter und alle anderen auftretenden Götter seien »eitle Fabelwesen, die blinderWahn den Sterblichen gebar, nur dazu dienend, dem Liede Reiz zu geben«. Zwar wurden hierbei durch den Gebrauch des schönen Scheins mythologische Gehalte in Erinnerung gehalten, ja eben zu den möglichen Allegorien eines Vor-Scheins eingebracht, doch mit den Mitteln jener fertigen Gefülltheit, zu der der nirgends unterbrochene Schein besonders einladet. Und schließlich, eine weitere Einladung hierzu ergeht von der Seite der Immanenz ohne sprengenden Sprung, wie sie jede Kunst umgibt, nicht nur die antik oder antikisierend-klassische. Gerade das Mittelalter gibt in seiner Kunst manches Beispiel einer abgerundeten Befriedigung ästhetischer Art, trotz des religiös-transzendenten Gewissens. Die Gotik enthält dies Gewissen, doch in ihr selbst gab es ebenso eine merkwürdige, vom griechisch-klassischen Gleichgewicht herstammende Harmonie. Der frühere Lukács hat seinerzeit recht scharf, wenn auch übertreibend festgestellt: »So ward aus der Kirche eine neue Polis . . . , aus dem Sprung die Stufenleiter der irdischen und himmlischen Hierarchien. Und bei Giotto und Dante, bei Wolfram und Pisano, bei Thomas und Franziskus wurde die Welt wieder rund, übersichtlich, der Abgrund verlor die Gefahr der tatsächlichen Tiefe, aber sein ganzes Dunkel ward, ohne an schwarzleuchtender Kraft etwas einzubüßen, zur reinen Oberfläche und fügte sich so in eine abgeschlossene Einheit der Farben zwanglos ein; der Schrei nach Erlösung ward zur Dissonanz im vollendeten rhythmischen System der Welt und machte ein neues, aber nicht minder farbiges und vollendetes Gleichgewicht möglich als das griechische: das der inadäquaten, der heterogenen Intensitäten« (Die Theorie des Romans, 1920,S. 20f. ) Deutsche Sezessionen der Gotik wie die Grünewalds sind von dieser Art Vollendung allerdings nicht betroffen. Desto geschlossener jedoch blickt uns, wenn auch keinesfalls in klassischer Stärke, aus dem mittelmeerisch bestimmt gebliebenen Mittelalter diese Hypostase des Ästhetischen an. Und darin ist eine Ausgewogenheit und eine Fertigkeit des Zusammenhangs, die nicht nur eine idealistische ist, sondern ihrer letzten Herkunft nach aus dem - großen Pan stammt, diesem Urbild aller Rundung. Pan ist das Ein und Alles der Welt, das ebenso als jenes Ganze verehrt worden war, dem /(252) nichts fehlt. Von daher die letzthinnige Verführung zu nichts als Rundung, von daher aber auch das griechische Gleichgewicht als säkularisierte Weise des völlig heidnischen, also sprunglosen Weltbilds: des Astralmythos. In ihm war der Kosmos wirklich »Schmuck«,nämlich ausgeglichen schön; er war ein unaufhörlich in sich Kreisendes und Hen kai pan ein Kreis selber und keine offene Parabel, eine Kugel und kein Prozeßfragment. Nicht grundlos ist daher Kunst in dieser allzu rundendenGestalt sehr oft pantheistisch angelegt, und nicht grundlos wirkt umgekehrt ein fertig gefügtes System auch in außerkünstlerischem Vorkommen als wohlgefällig schön. Die Lust an der sinnlichen Erscheinung, an der Gottheit lebendigem Kleid, trägt gewiß zu diesem pantheistischen Zug das ihre bei, doch stärker verführt zu ihm der harmonischungestörte Zusammenhang, der »Kosmos« auch ohne »Universum«. Das alles mithin sind die verschiedenen Gründe, weshalb im Kunstwerk auch eine veritable Kunst-Fertigkeit, eine Autarkie der scheinhaften Abgeschlossenheit leben kann, die als übersteigert-immanent den Vor-Schein zunächst verdeckt. Doch ebenso, und das eben ist das entscheidend Andere, entscheidend Wahre - zeigt alle große Kunst das Wohlgefällige und Homogene ihres werkhaften Zusammenhangs überall dort gebrochen, aufgebrochen, vom eigenen Bildersturm aufgeblättert, wo die Immanenz nicht bis zur formalinhaltlichen Geschlossenheit getrieben ist, wo sie sich selber als noch fragmenthaft gibt. Dort öffnet sich - ganz unvergleichbar mit bloßer Zufälligkeit
des Fragmentarischen im vermeidbaren Sinn - noch ein Hohlraum sachlicher, höchst sachlicher Art, mit ungerundeter Immanenz. Und gerade darin zeigen die ästhetisch-utopischen Bedeutungen des Schönen, gar Erhabenen ihren Umgang. Nur das Zerbrochene im allzu gestillten, mit Galerieton versetzten Kunstwerk als einem zum bloßen Objet d'art gewordenen oder aber, weit besser: das selber bereits gestaltet Offene im großen Kunstwesen gibt das Material und die Form zu einer Chiffer des Eigentlichen. Nie geschlossen: so schlägt es gerade dem allzu Schönen gut an, wenn der Lack springt. Wenn die Oberfläche bleicht oder nachdunkelt, wie am Abend, wo das Licht schräg fällt und die Gebirge hervortreten. Das Zertrümmern der Oberfläche wie /(253) weiter auch des bloß kulturhaft-ideologischen Zusammenhangs, worin die Werke gestanden haben, legt Tiefe frei, wo immer sie vorhanden ist. Gemeint ist hierbei nicht die sentimentale Ruine und auch nicht jene Art Torso, die, wie öfter bei griechischen Statuen, die Figur enger zusammenhält, größere Blockeinheit und plastische Strenge herstellt. Dergleichen ist zwar gegebenenfalls Formverbesserung, aber nicht unbedingt die Chifferverstärkung, worauf es hier ankommt. Diese geschieht lediglich durch die Risse des Zerfalls, in dem ganz spezifischen Sinn, den Zerfall am Objet d'art und als Verwandlung des Objet d'art besitzt. Es entsteht auf diese Weise statt Ruine oder Torso ein nachträgliches Fragment, und zwar eines, das gerade dem Tiefeninhalt der Kunst besser gerecht werden kann als die Beendetheit, die das Werk an Ort und Stelle aufweisen mochte. Ein nachträgliches Fragment wird dergestalt, im Zerfall zur Verwesentlichung, jede große Kunst, auch eine an sich so völlig geschlossene wie die Ägyptens; denn der utopische Grund geht auf, in den das Kunstwerk eingetragen war. Wenn die Aneignung des Kulturerbes immer kritisch zu sein hat, so enthält diese Aneignung, als besonders wichtiges Moment, die Selbstauflösung des zum musealen Objet d'art Gemachten, aber auch der falschen Abgeschlossenheit, die das Kunstwerk an Ort und Stelle haben mochte und die sich in der musealen Kontemplation noch steigert. Das Inselhafte springt, eine Figuren-Folge voll offener, versucherischer Symbolbildungen geht auf. Wie sehr erst, wenn sich das Phänomen des nachträglichen Fragments mit dem im Kunstwerk selbst geschaffenen verbindet: eben nicht im üblichen, gar platten Sinn des Fragmentarischen als des Ungekonnten oder durch Zufall nicht Beendeten, sondern im konkreten Sinn des bei höchster Meisterschaft Ungeschlossenen, des durch utopischen Druck Transformierten. Das ist der Fall bei der großen Gotik, zuweilen auch im Barock, die bei aller Werkgewalt, ja wegen ihrer, einen Hohlraum hatten und dahinter eine fruchtbare Finsternis. So führt gerade die völlig ausgeführte Gotik, trotz des Pan auch hier, ein Fragment aus zentralem Nicht-Enden-Können aus. Eigentümlich, wenn danach sogar im üblichen Sinn der Abgebrochenheit Fragmente entstehen, jedoch im unüblichen, obzwar einzig legitimen Sinn eines nur angedeutet /(254) erscheinenden Ultimum. So bei Michelangelo, der mehr Fragmente hinterlassen hat als irgendein anderer großer Meister, und zwar nachdenklicherweise in seiner eigensten Angelegenheit, in seiner Plastik, nicht in seiner Malerei. Denn hierin hat er alles Angefangene beendet, wogegen er an Bildsäulen, auch in Architektur ganz unverhältnismäßig viel Halbvollendetes beiseite geschoben, nie wieder vorgenommen, zurückgelassen hat. Vasan gab der Kunstgeschichte das Signal, sich über die geringe Zahl des völlig zu Ende Geführten bei Michelangelo zu wundern und desto mehr zu wundern, als die Übergröße im vorgenommenen Ziel doch so völlig der Kraft und Natur dieses Genius entspreche. Was aber der Kunstrundung, Kunstvollendung hier Widerstand leistete, war gerade das Entsprechende zur Übergröße in Michelangelo selbst, war das
Einverständnis zwischen einer übergewaltigen Natur und dem Übergewaltigen einer Aufgabe, dergestalt, daß nichtsAusgeführtes dieser Adäquation Genüge leisten konnte, ja die Vollendung selber, als eine so tief ins Überhaupt getriebene, ein Fragment wird. Solche Art Fragment ist dann nichts Geringeres als ein Ingrediens des Un-Tempelhaften, des unharmonisiert Kathedralischen, ist das Gewissen: Gotik auch noch Post festum. Die Tiefe der ästhetischen Vollendung bringt selber das Unvollendete in Gang: insofern reicht sogar das im üblichen Sinn Nicht-Fragmentarische bei Michelangelo, die Figuren des Mediceergrabs so gut wie die Petersdomkuppel, in jenes Unmaß, das das Maß des Ultimum in der Kunst ist. Von daher schließlich das legitim, nämlich sachlich Fragment arische an allen Werken dieser ultimativen Art, im Westöstlichen Diwan, in Beethovens letzten Quartetten, im Faust, kurz, überall dort, wo das Nichtendenkönnen im Enden groß macht. Und sucht man den ideologisch durchaus fortwirkenden Grund für solch inneren Bildersturm in der groß vollendeten Kunst und gerade in ihr, so liegt er im Weg- und Prozeßpathos, im eschatologischen Gewissen, das durch die Bibel in die Welt kam. Die Totalität ist in der Religion des Exodus und des Reichs einzig eine total verwandelnde und sprengende, eine utopische; und vor dieser Totalität erscheint dann nicht nur unser Wissen, sondern auch das gesamte bisherige Gewordensein, worauf unser Gewissen sich bezieht, als Stückwerk. Als Stückwerk oder objektives Fragment /(255) gerade auch im produktivsten Sinn, nicht nur in dem der kreatürlichen Begrenztheit, gar der Resignation. Das »Siehe, ich mache alles neu«, im Sinn der apokalyptischen Sprengung, steht darüber und influenziert alle große Kunst mit dem Geist, nach dem Dürer sein gotisches Gebilde Apocalypsis cum figuris benannt hat. Der Mensch ist noch undicht, der Gang der Welt ist noch unbeschlossen, ungeschlossen, und so ist es auch die Tiefe in jeder ästhetischen Information: dieses Utopische ist das Paradox in der ästhetischen Immanenz, das ihr selber am gründlichsten immanente. Ohne solche Potenz zum Fragment hätte die ästhetische Phantasie zwar Anschauung in der Welt genug, mehr als jede andere menschliche Apperzeption, aber sie hätte letzthin kein Korrelat. Denn die Welt selber, wie sie im argen liegt, so liegt sie in Unfertigkeit und im Experiment-Prozeß aus dem Argen heraus. Die Gestalten, die dieser Prozeß aufwirft, die Chiffern, Allegorien und Symbole, an denen er so reich ist, sind allesamt selber noch Fragmente, Realfragmente, durch die der Prozeß ungeschlossen strömt und zu weiteren Fragment formen dialektisch vorangeht. Das Fragmentarische gilt auch fürs Symbol, obwohl das Symbol nicht auf Prozeß, sondern auf das Unum necessarium darin bezogen ist; aber gerade durch diese Beziehung und dadurch, daß sie nur erst eine Beziehung ist und kein Angelangtsein, enthält auch das Symbol Fragment. Das Realsymbol selber ist ja nur eines, weil es, statt bloß für den Betrachter verhüllt und an und für sich klar zu sein, genau an und für sich noch nicht manifest ist. Das also macht die Bedeutung des Fragments aus, von der Kunst und nicht bloß von der Kunst her gesehen; das Fragment steckt in der Sache selber, es gehört, rebus sic imperfectis et fluentibus, noch zur Sache der Welt. Konkrete Utopie als Objektbestimmtheit setzt konkretes Fragment als Objektbestimmtheit voraus und involviert es, wenn auch gewiß als ein letzthin aufhebbares. Und deshalb ist jeder künstlerische, erst recht jeder religiöse Vor-Schein nur aus dem Grund und in dem Maße konkret, als ihm das Fragmentarische in der Welt letzthin die Schicht und das Material dazu stellt, sich als Vor-Schein zu konstituieren. /(256)
Es geht um den Realismus, alles Wirkliche hat einen Horizont
An den Dingen zu kleben, sie zu überfliegen, beides ist falsch. Beides bleibt äußerlich, oberflächlich, abstrakt, kommt, als Unmittelbares, von der Oberfläche nicht los. Das Kleben hält sich an sie ohnehin, das Überfliegen hat sie in seinem eigenen ungeregelten Innen wie in dem anderen, bloß verdunstet Unmittelbaren, wohin es entflieht. Dennoch freilich gehört das Überfliegen einem höheren Menschentyp zu als das Nehmen der Dinge, wie sie sind. Und vor allem: das Kleben an diesen Dingen bleibt auch als überlegtes flach, nämlich empiristisch, während die Schwärmerei als überlegte durchaus aufhören kann, bodenlos zu sein. Der flache Empirist wie der überschwengliche Schwärmer sind von dem Fluß des Wirklichen, den sie beide nicht erfassen, stets überrascht, aber der erstere, als Fetischist der sogenannten Tatsachen, bleibt verstockt, während der Phantast gegebenenfalls belehrbar ist. In der Welt entspricht nur die Verdinglichung, welche einzelne Momente des Prozesses festhält und zu Tatsachen verfestigt, dem Empiristen, und er steht und fällt mit ihr. Das Überfliegen dagegen ist selber mindestens in Bewegung, also in einem Verhalten, das mit der wirklichen Bewegung nicht grundsätzlich unvermittelbar bleiben muß. In der Gestaltung hat das Überfliegen die Kunst für sich, wenn auch mit viel Schein, viel bedenklicher Flucht nach einem geradezu absichtlich unwahren Traum-Schein. Aber die konkrete Berichtigung des Überfliegens eröffnet in der Kunst, und nicht allein in der Kunst, Bilder, Einsichten, Tendenzen, welche im Menschen wie in dem ihm zugeordneten Objekt zugleich geschehen. Gerade dies Konkrete geht nicht vom kriecherischen Empirismus und dem ihm ästhetisch entsprechenden Naturalismus her auf, welcher von der Feststellung dessen, was faktisch ist, niemals zur Erforschung dessen, was wesentlich geschieht, vordringt. Wogegen die Phantasie, sobald sie als konkrete auftritt, nicht nur den sinnlichen Überfluß, sondern ebenso die VermittlungsRelationen in der wie hinter der erlebniswirklichen Unmittelbarkeit zu vergegenwärtigen versteht. Statt des isolierten Fakts und des vom Ganzen gleichfalls isolierten Oberflächenzusammenhangs der abstrakten Unmittelbarkeit geht nun die Bezie- /(257) hung der Erscheinungen zum Ganzen ihrer Epoche auf und zum utopischen Totum, das sich im Prozeß befindet. Die Kunst wird mittels einer so beschaffenen Phantasie Erkenntnis, nämlich durch treffendeEinzelbilder und Gesamtgemälde charakteristisch-typischer Art; sie geht dem »Bedeutenden« der Erscheinungen nach und führt es aus. Die Wissenschaft erfaßt mittels einer so beschaffenen Phantasie das »Bedeutende« der Erscheinungen durch Begriffe, als niemals abstrakt bleibenden, niemals das Phänomen verblassenden oder gar verlierenden. Und das »Bedeutende« ist in Kunst wie Wissenschaft das Besondere des Allgemeinen, die jeweilige Instanz für den dialektisch-offenen Zusammenhang, die jeweilige charakteristisch-typische Figur des Totum. Und das eigentliche Totum, dieses, worin auch das erfaßt epochal Ganze aller epochalen Momente selber wieder ein Moment ist, stellt sich gerade in den breit vermittelten Großwerken nur am Horizont dar, nicht in einer bereits ausgestalteten Realität. Alles Lebendige, sagte Goethe, hat eine Atmosphäre um sich her; alles Wirkliche insgesamt, indem es Leben, Prozeß ist, Korrelat der objektiven Phantasie sein kann, hat einen Horizont. Einen inneren, gleichsam senkrecht sich erstreckenden, im Selbstdunkel, einen äußeren von großer Weite, im Weltlicht; und beide Horizonte sind in ihrem Dahinter mit derselben Utopie gefüllt, folglich im Ultimum identisch. Wo der prospektive Horizont ausgelassen ist, erscheint die Wirklichkeit nur als gewordene, als tote, und es sind die Toten, nämlich Naturalisten und Empiristen, welche hier ihre Toten begraben. Wo der prospektive Horizont durchgehends mit visiert wird, erscheint das Wirkliche als das, was es in concreto ist: als Wegegeflecht von
dialektischen Prozessen, die in einer unfertigen Welt geschehen, in einer Welt, die überhaupt nicht veränderbar wäre ohne die riesige Zukunft: reale Möglichkeit in ihr. Mitsamt jenem Totum, das nicht das isolierte Ganze eines jeweiligen Prozeßabschnitts darstellt, sondern das Ganze der überhaupt im Prozeß anhängigen, also noch tendenzhaft und latent beschaffenen Sache. Das allein ist Realismus, er ist allerdings jenem Schematismus unzugänglich, der schon vorher alles weiß, der seine einförmige, ja selber formalistische Schablone für Realität hält. Die Wirklichkeit ohne reale Möglichkeit ist nicht vollständig, die Welt ohne zukunfttragende /(258) Eigenschaften verdient sowenig wie die des Spießers einen Blick, eine Kunst, eine Wissenschaft. Konkrete Utopie steht am Horizont jeder Realität; reale Möglichkeit umgibt bis zuletzt die offenen dialektischen Tendenzen- Latenzen. Von ihnen ist die unabgeschlossene Bewegung der unabgeschlossenen Materie - und Bewegung ist, nach dem tiefen Aristotelischen Wort, »unvollendete Entelechie« - erzrealistisch durchzogen.
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DIE SCHICHTEN DER KATEGORIE MÖGLICHKEIT
Wie oft stellt sich etwas so dar, daß es sein kann. Oder gar, daß es anders sein kann als bisher, weshalb etwas daran getan werden kann. Das wäre aber selber nicht möglich ohne Mögliches in ihm und vor ihm. Hier ist ein weites Feld, es muß mehr als je befragt werden. Bereits daß ein Kannsein gesagt und gedacht werden kann, ist keinesfalls selbstverständlich. Da ist noch etwas offen, kann anders als bisher gemeint werden, kann in Maßen umgestellt, anders verbunden, verändert werden. Wo nichts mehr zu können und möglich ist, steht das Leben still. »Nun muß sich alles, alles wenden«, wie wäre dieser durchaus junge Ausruf sonst selber möglich? Gewiß, es ist viel Vages im bloß Möglichen, auch Schlüpfriges, nicht nur Flüssiges oder dasjenige, was flüssig hält. Aber wie der Mensch vorzugsweise das Geschöpf ist, das sich ins Mögliche hineinbegibt und es vor sich hat, so weiß er auch, daß dieses mit Vagem nicht zusammenfällt, daß gerade sein Offenes durchaus nichts Beliebiges ist. Auch das Kannsein ist gesetzlich, selbst im bloßen Spiel der Worte wie gar im bald eintretenden Ernst. Und der vorliegende Stoff, der so manch Luftiges in sich hat, ist zugleich einer der schwersten und verlangt, streng behandelt zu werden. Anders werden vor allem die verschiedenen Schichten des Kannseins nicht sichtbar. Das formal Mögliche Zunächst freilich kann viel zu viel nur so dahin gesagt werden. Sprechen läßt sich an sich alles, Worte lassen sich sinnlos zusam- /(259) menstellen. Gefüge sind möglich wie: »ein Rundes oder«; »ein Mensch und ist». Außer diesem, daß sie sagbar sind, ist gar kein Mögliches darin; sie sind bedeutungsloser Unsinn. Anders aber liegt bereits der Fall bei den nicht unsinnigen, sondern widersinnigen Aussagen, bei solchen, wo der Hörer sich immerhin an den Kopf greift. Dann nämlich, wenn die Aussage sich unmittelbar widerspricht, wie in dem Begriff »rundes Viereck« oder in dem Urteil: »Er besteigt ein Schiff, das abgefahren war.« Eine solche, sich im Merkmal oder Prädikat unmittelbar widersprechende Bedeutung ist absurd, jedoch durchaus nicht Unsinn, sondern eben Widersinn. Dieser ist zum Unterschied vom
bloß sagbaren Unsinn durchaus ein Denkmögliches, ein formales Kannsein; denn denkmöglich ist alles, was überhaupt als in Beziehung stehend gedacht werden kann. Ja selbst Beziehungen, deren Glieder sich nicht nur absurd, sondern völlig disparat zueinander verhalten, jedoch als disparate immer noch eine formal notierbare Beziehung darstellen, nämlich eben eine disparate, gehören zum Denkmöglichen. So die Aussagen: »jähzorniges Dreieck« oder: »belesene Kettenbrücke« oder: »das Pferd, das Donner ist« und anderes Unverträgliche mehr. Solche Zuspitzung zeigt zugleich, wie uferlos das bloß Denkmögliche sein kann. Hatte doch selbst die Beziehung in der Aussage, daß es zwischen den Dingen überhaupt keine Beziehung gebe, im Denkmöglichen einen unfruchtbaren Platz. Wie es Fülle im Denken aus Ungenauigkeit geben kann, schlechte Fülle also, so gibt es im Denkmöglichen auch schlechte Offenheit. Und diese neben der guten, die vor allem im formalen Kannsein des Sich-Widersprechenden sich eröffnet. Das sachlich-objektiv Mögliche Nicht nur gesagt, auch gedacht werden kann also noch viel zu vieles. Bestimmter sieht darum das nicht nur im Denken, sondern im Erkennen anzutreffende Kannsein drein. Dies Mögliche ist kein uferloses, sondern ein jeweils benennbares und ein nach Maßgabe der bekannten Bedingungen gradweise angebbares. Indem solche Benennungen und Grade zunächst aber nur Grade des Kennens-Erkennens ausdrücken, nicht Grade der inneren /(260) Bedingungsreife des sachhaften Gegenstands selbst, ist das Mögliche hier noch kein streng sachhaftes, sondern ein sachliches, das ist, erkennend-sachgemäßes. So gibt es sich als Aussage der Vorsicht, danach als eine des begründeten Dafürhaltens, der begründeten Vermutung seines Seinkönnens, kurz als sachlich-objektiv begründete Möglichkeit. Die Begründung ist es, die hier für die Bedingung oder den Realgrund steht, dergestalt aber, daß die Begründung, also die erkenntnismäßig vorhandene Bedingung zu einer bejahenden, sachlich gültigen Aussage selber nicht vollständig vorliegt. Denkmöglich ist alles, wobei überhaupt etwas als in Beziehung stehend gedacht werden kann, doch darüber hinaus gilt für alle weiteren Arten des Kannseins: Mögliches ist partiell Bedingtes, und nur als dieses ist es möglich. An der so gegebenen Definition ist von hier ab festzuhalten, denn sie enthält das Kriterium für das Mögliche in allen seinen Abwandlungen. Mit anderen Worten: jedes Mögliche jenseits des bloß Denkmöglichen bedeutet eine Offenheit infolge eines noch nicht vollständig zureichenden, also mehr oder minder unzureichend vorliegenden Bedingungsgrunds. Indem nur einige, jedoch nicht alle Bedingungsgründe vorliegen, läßt sich von dem dergestalt Möglichen noch nicht auf das Wirkliche schließen, daher gilt der alte scholastische Grundsatz: a posse ad esse non valet consequentia. Zurück nun zum sachlich Möglichen selber, um das es hier geht, so ist es ebenfalls partielle Bedingtheit, jedoch des Genaueren einzig sachlich-partielle Kenntnis- Erkenntnis der Bedingtheit. Partiell ist diese Bedingtheit und muß es sein, weil vollzählig versammelte Bedingungen den Eintritt eines Ereignisses nicht mehr bloß vermutbar, mehr oder minder wahrscheinlich, also sachlich möglich, sondern unbedingt gewiß machten. So ist es unfair, nach voller Kenntnis voll vorhandener Bedingungen noch auf den Eintritt eines Ereignisses zu wetten; so ist es feige oder dumm, mit solcher Kenntnis in der Tasche noch den Fabius Cunctator zu spielen. Das sachlich-objektive Mögliche (wie übrigens auch das sachhaft-objekthaft und das real Mögliche, wovon später) wird in einem hypothetischen Urteil ausgesagt oder,
bei noch geringerer Gewißheit, in einem problematischen. Das hypothetische Urteil unterscheidet sich, in dieser Beziehung, vom problematischen dadurch, daß es noch /(261) nicht bestätigte Vordersätze voraussetzt, während das problematische Urteil, das in seiner Form die Vordersätze verschweigt: »es kann heute regnen«, «Leukippos hat vielleicht gelebt«, «möglicherweise kommen die Höhenstrahlen von einer Sterngruppe in der Milchstraße her« - außer den noch nicht bestätigten Vordersätzen noch unbekannte voraussetzt. Das problematische Urteil ist daher das eigentlich entwickelte Urteil der Möglichkeit als einer sachlich modalen Bestimmung: P ist im Modus des Kannseins S zugeordnet. Einen hierher gehörigen Sonderfall stellen noch die uneigentlichen, ja unechten Urteile der Möglichkeit dar; es sind die der nicht forschend, sondern nur aufnehmend unzureichenden Kenntnis. Man hat dieses unechte sachliche Kannsein bisher kaum von dem echten getrennt, und doch springt der Unterschied, der um des Rangs des Möglichen willen so wichtige, in die Augen. Ein unechtes Modalurteil ist etwa dieses: »Wasser kann durch den elektrischen Strom zerlegt werden.« Wirklich aber wird das Wässer stets durch den elektrischen Strom zerlegt (falls keine neuen, gegebenenfalls störenden Bedingungen vorliegen). Ebenso ist die Kenntnis dieses Vorgangs völlig begründet, es liegen alle Bedingungen zu ihr vor; wonach der genannte Urteilsinhalt unbezweifelbar ist. Nicht so unbezweifelbar ist einzig der Wissensstand des den Lehrsatz aufnehmenden Bewußtseins, und nur in diesem psychologisch-pädagogischen, also außerlogischen Betracht ist das angezogene Urteil modal geformt, modal verkleidet. Sachlich ist es ein kategorisches oder assertorisches Urteil durch und durch, kein hypothetisches oder problematisches. Weshalb also nur nicht-pädagogische Aussagen nur Forschungs-Aussagen, bei denen ein non liquet der Kenntnis-Bedingungen zur kategorischen oder assertorischen Form vorliegt, echte sachlich-modale sind. Sachlich-objektive Möglichkeit bezeichnet derart allemal einen Gradzustand der wissenschaftlich-objektiven Begründetheit gemäß der unvollständigen wissenschaftlichen Bekanntheit der sachlich vorliegenden Bedingungen. So wird hier das Urteil in Schwebe gelassen, ist nur mehr oder weniger von der Frage entfernt. Vielmehr das Bejahen und Verneinen des Urteils bleibt in Schwebe, also die bloße Beurteilung oder das qualitative Urteil über ein Urteil. Und nur in diesem /(262) Urteil über ein Urteil wohnt das sachlich Mögliche, hierin allerdings durchaus; es beginnt darin zu wohnen, bevor es weiterhin abbildlich wird. Sachliche Möglichkeit ist dieser Art bereits in der Annahme oder den Vermutungen, die zu einer formulierten Fragestellung an naturwissenschaftliche oder historisch-gesellschaftswissenschaftliche Gegebenheiten führen. Die Vermutung antizipiert in einem problematischen Urteil die hauptsächliche Bedingung oder einen Gruppenzusammenhang der Bedingungen, auf Grund derer der Untersuchungsgegenstand in seinem Realgrund geklärt und demnach in seinem Verlauf verstanden werden kann. Diese methodische Vermutung leitet die Fragestellungen und Bedingungsvariationen des naturwissenschaftlichen Experiments, sie erfüllt aber auch den eigentümlichen Überschlag, dieses also, was man das vorläufige, das arbeitshypothetische Bild von einer Sache genannt hat. Der Ausdruck Arbeitshypothese enthält zwar Bedenkliches in sich selbst, sofern er von den spätbürgerlichen Relativisten strapaziert wurde; daher sei der ältere und solidere Ausdruck gebraucht: heuristisches Prinzip. Ein solches wirkt etwa in der hypothetischen Vereinfachung oder in einer hypothetischen Analogie zu bereits Bekannterem, womit an die Erforschung unübersichtlicher oder verwickeltet Erscheinungen historisch-gesellschaftswissenschaftlicher Art zunächst
herangetreten werden mag. Die Fragestellung dieses sachlich Möglichen im methodischen Gebrauch wird bestätigt oder nicht bestätigt durch Induktionen, welche in Richtung des vermuteten Bedingungszusammenhangs angestellt werden. Wobei freilich auch eine noch so umfassende Induktion ihr Resultat nie anders als wieder in einem Urteil der sachlich-objektiven Möglichkeit aussprechen kann. Denn selbst die vollständigste Induktion vermag keine vollzählige zu sein, das ist, eine Kenntnis sämtlicher Bedingungselemente als gleichartiger in allen Gegenden des Raumes oder gar gleichbleibender in der Zeit. So findet sich auch in der induktiven Bestätigung einer methodischen Vermutung noch jener Rest eines sachlich Möglichen, eines nicht total Gewissen, welcher - in Gradstufen bis hinauf zur »astronomischen Sicherheit« - komparative Wahrscheinlichkeit heißt. Und die Deduktion, die angeblich allemal ausgemachte Großform eines erschöpfend zureichenden, wesen- /(263) haft-allgemeinen Bedingungsgrunds? Es ist wahr, sie läßt nicht nur die Besonderheiten der induktiven Empirie als Momente eines Gesamtzusammenhanges erkennen, von dieser Allgemeinheit des Besonderen her, sie will auch, in einem überliefert-höchsten Anspruch, die Erkenntnis dieser Besonderheiten mit Notwendigkeit ableiten, folglich mit nicht partieller, sondern totaler Bedingtheit. Das ganz deutlich im ersten Modus der ersten Schlußfigur: Cajus ist auf Grund seines Menschseins notwendig sterblich. Der MitteIbegriff Menschsein gibt hier den vollständig ausreichenden «Wesensgrund « des Sterblichseins her; so entsteht das, was Aristoteles einen vollkommenen Schluß nennt, das heißt eben: einen Schluß der Notwendigkeit. »Vollkommen nenne ich einen Schluß, der, damit seine Notwendigkeit einleuchtet, außer den Voraussetzungen keiner weiteren Bestimmung bedarf« (Aristoteles, Erste Analytik, 1. Kapitel): - das sachliche Seinkönnen weicht so dem sachlichen Seinmüssen. Indes, die so behauptete Unmöglichkeit des Anders-Seinkönnens, gar des Gegenteil-Seinkönnens, findet sich nur in künstlich rein gemachten Gebieten höchster Abstraktion, und auch da nur bei Begrenzung auf das aus Axiomen Ableitbare oder auch auf das in Theoremen beherrschend Enthaltene. Die Axiome (mathematische, logische, in kopierter Form sogar die früheren naturrechtlichen) sind zwar nicht willkürlich gesetzt, also bloße Spielregeln, wie das - mit heilloser Beliebigkeit - manche luftidealistische, angeblich tatsachenfreie »Grundlagenforschung« des Mathematischen behauptet. Die Axiome enthalten vielmehr durchaus eine Abbildung außergedanklicher Sachverhalte, wenn auch in abstraktest abgekürzter und allgemeiner Form. Jedoch sie sind auf bestimmte Gebiete ihrer rein konstruktiven Herrschaft begrenzt, und diese Grenzen sind vor allem fließend (man denke nur an den bloßen »Grenzfall« unseres euklidischen Raums und seiner Axiome oder an die Wandlung des Satzes vom Widerspruch in der elementaren, gleichsam euklidischen, und dann in der dialektisch entwickelten Logik). Sodann aber sind alle diese Axiome weit davon entfernt, mit dem von Aristoteles bezeichneten »Wesensgrund« (dem wirkenden Totum der Sache, der »Entelechie«) zusammenzufallen; sie sind dafür viel zu abstrakt gehalten. Und der «Wesensgrund« selber, etwa das angegebene /(264) Menschsein des Cajus als Mittelbegriff im ersten Modus der ersten Schlußfigur: auch der Mittelbegriff dieses Menschseins, worin Aristoteles sowohl den vollkommenen logischen Erkenntnisgrund wie zugleich den unausweichlichen Realgrund des Sterblichseins erblicken wollte, ergibt keine ein für allemal ausgemachte Notwendigkeit, im Sinn des strengen Deduktionsbeweises. Denn auch das Menschsein (wie jeder andere »Wesensgrund«) steht im Prozeß, kann also, im strengenSinn, nicht einmal einer so ausnahmslosen Erscheinung wie der Sterblichkeit logische Notwendigkeit verleihen. Folglich erweist sich sachlich
Notwendiges auch in der Deduktion nur als sachlich Mögliches, obzwar gegebenenfalls als eines kleinsten Grades. Insgesamt: die Bedingungsvordersätze des schließenden Erkennens können, ohne in geschlossen-weltfremden Schematismus zu fallen, nicht vollständiger sein als das unabgeschlossene Sachhafte selber, das das Sachliche auf seine Weise, in Begriff, Urteil, Schluß abzubilden hat. Auch im Sachlich-Objektiven ist das Gebiet des Möglichen, sui generis, sehr groß; es kann hier, contra Faulbett und fixiertes Ableiten, zum Leben der Forschung gehören. Das sachhaft- objektgemäß Mögliche Soviel über offen Bleibendes, das es ist, weil es nicht oder nicht starr ausgemacht ist. Das Kannsein dieser Art gibt derart sachliche Vorsicht in Urteilen wieder, meist in der Weise einer noch mitschwingenden Frage, eines sachlichen Vorbehalts. Anders aber als dies sachlich Mögliche ist das nun auftauchende sachhaft Mögliche beschaffen; insofern nämlich, als es nicht unsere Kenntnis von etwas, sondern dieses Etwas selber, als so oder so werden könnendes, betrifft. Das sachhaft Mögliche lebt nicht von den unzureichend bekannten, sondern von den unzureichend hervorgetretenen Bedingungsgründen. Es bezeichnet mithin nicht eine mehr oder minder ausreichende Kenntnis der Bedingungen, sondern es bezeichnet das mehr oder minder ausreichend Bedingende in den Gegenständen selbst und in ihren Sachverhalten. Sachverhalt, das ist das »Verhalten von Sachen» als Gegenständen der Erkenntnis; zum Sachverhalt gehören einmal die Arten des Habens von gegenständlichen Beschaffenheiten und /(265) Beziehungen, dann des Stehens in gegenständlichen Beziehungen. Modale Sachverhalte, als die Gegenstände der Erkenntnis, fallen mithin nirgends mit modalen Aussagen zusammen, als den bloßen Verfahrensweisen der Erkenntnis, von der Art der Annahmen, der Vermutungen, des antizipierenden Überschlags, der induktivwahrscheinlichen oder auch deduktiven Schlüsse. Sondern eben: es ergibt sich ein noch offen Mögliches auch bei sonst hinreichend abgeschlossener Kenntnis der vorhandenen Bedingungen; mithin: das Mögliche erscheint hier als gegenständlich-strukturelles So-Verhalten selber. Damit ist die Abbild-Schicht der Sachhaftigkeit, der Objektgemäßheit betreten, zum Unterschied von der bloßen Sachlichkeit, der Objektivität. Das bedingt auch einen Unterschied der Disziplin, in der das sachhaft Mögliche zu behandeln ist. Während die Sachlichkeit einzig die Erkenntnis betrifft und darum das Anliegen ihrer Objektivität ein erkenntnistheoretisches ist, betrifft die Sachhaftigkeit den Gegenstand der Erkenntnis, der ja nicht, nach Angabe der Neukantianer, die Erkenntnis selber ist; das reale Anliegen dieser Objektgemäßheit ist demgemäß ein kategorial gegenstandstheoretisches. Der Begriff Gegenstandstheorie trat zuerst deutlich bei Meinong auf, doch war er hier rein apriorisch auf die angeblich daseinsfreie Beschaffenheit eines Soseins bezogen, das unabhängig vom Dasein oder Nicht-Dasein der Gegenstände spuken sollte. Als Muster dieses »daseinsfreien Wissens» galt hier, wie erst recht in der späteren Husserlschen Phänomenologie, die Mathematik, soll freilich heißen: eine von all ihrem abbildlichen Realbezug künstlich entfernte, in ihrer Abstraktheit heillos verdinglichte. Und so erst recht wurde hier die Logik verdinglicht, im Sinn einer rein apriorischen »Beschreibung« ihrer Akte, einer rein apriorischen »Bedeutungsanalyse» ihrer Kategorien - mit »eingeklammertem Dasein«. Real bezogene Gegenstandstheorie dagegen ist eine,
in der das Apriori noch weniger eine Verführung darstellt als in der Erkenntnistheorie. Denn obwohl die Gegenstände und ihre Sachverhalte nicht nur vom Sachlichen des Erkenntnisverfahrens, sondern auch von den eigentlichen Objekten und ihrem Realverhalten noch unterschieden werden müssen, fungieren sie gerade als die tunlichst treuesten Gestalten realistischer Abbildung. Und das hier notierte Vorangelegtsein einer Gegen- /(266) standstheorie vor der Objektstheorie enthält deshalb keinen Idealismus, weil die forschend-materialistische Abbildung selber zu der Gegenstandstheorie gehört, erst im Angesicht des Objekthaft-Realen, nicht in ihm am Werk ist und nicht mit ihm zusammenfällt. Weiter: die Abbildung der strukturellen Sachverhalte gehört nicht mehr zum methodischen ErkenntnisVerfahren, weil sie ein Erkenntnis-Resultat ist, und sie ist ein solches Resultat, indem und sofern sie, als objektgemäßes, genau auf das reale Objekt bezogen ist. Die Form des Erkenntnisresultats ist die Realdefinition, als Angabe nicht bloß von sprachlichen Kennzeichen, begrifflichen Merkmalen, sondern von gegenständlichkonstitutiven Eigenschaften; und genau diese Realdefinition, als bezeichnenderweise »konzise«, nicht ausgebreitete, repäsentiert das Objekt nach seiner strukturellen Gegenstandsseite. Um ein Beispiel zu geben: Die sozialistische Realdefinition der Nation bildet ohne alle fremd hergeholten nationalistischen Schnurrbärte oder auch kosmopolitischen Groß-Chicagos, Hotelsaucen, Einebnungen von heute genau die konzise Gegenstandsseite des Realen ab, das heißt eben: sie macht am Objekt seine konstitutiv-reale Struktur kenntlich. Die Gegenstandslehre ist so der Ort der Kategorien als allgemeinster und sodann als charakteristisch-typischer Daseinsweisen, Daseinsformen. (Wäre sie nicht dieser spezifische Ort und an ihm, so fiele die Kategorienlehre mit der gesamten Realphilosophie zusammen und diese ebenso mit der Kategorienlehre.) Dergestalt nun muß, innerhalb der so beschaffenen Schicht der Sachhaftigkeit, der strukturellen Objektgemäßheit, auch die Möglichkeit in dieser Schicht eigens und als eigen bestimmte ausgezeichnet werden. Wichtig dazu ist die angegebene Unterscheidung zwischen Gegenstand und realem Objekt: die rein strukturelle Möglichkeit der Anlage zu etwas ist noch nicht das gleiche wie diese reale Anlage selber, wie die Disposition in all den reich verflochtenen, auch reich gestörten, gehemmten, wieder siegreichen Metamorphosen der Wirklichkeit. Das sachhaft-objektgemäß Mögliche, gegenstandstheoretisch erfaßt und definiert, macht also durchaus eine eigene Differenzierung in der Kategorie der Möglichkeit aus und ist nicht etwa eine überflüssige Verdopplung des objekthaft-real Möglichen. Das sachhaft Mögliche ist das sachhaft-partiell Bedingte gemäß /(267) dem strukturellen Genus, Typus, Gesellschaftszusammenhang, Gesetzeszusammenhang der Sache. Partiell Bedingtes erscheint hier mithin als eine strikt im Gegenstand fundierte und so erst der hypothetischen oder problematischen Erkenntnis mitgeteilte Offenheit mehr oder minder strukturell-determinierter Art. Es treten dabei überall zweierlei Bedingungen auf, innere und äußere. Sie verflechten sich wechselwirkend, so jedoch, daß beider Eigenart durchaus erhalten bleibt. Aber das sachhaft bloß Mögliche bleibt bestehen, auch wenn eine von den beiden Bedingungen, die innere oder die äußere, fast erfüllt sein sollte. So kann eine Blüte die Frucht mit vollzähliger innerer Bedingtheit sicher in sich heranreifen lassen, fehlt indes die vollzählige äußere Bedingung des guten Wetters, dann ist die Frucht dennoch bloß möglich. Noch herabsetzender als die fehlende äußere wirkt umgekehrt die Schwäche innerer Bedingungen bei gleichzeitiger Fülle äußerer. Die Menschheit stellt sich zwar immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, findet jedoch der große Moment zur Lösung ein kleines Geschlecht, dann ist diese Lösung erst
recht bloß möglich, nämlich nur noch schwach möglich. Die revolutionäre Folgenlosigkeit des 9. November 1918 in Deutschland gibt davon ein Beispiel, oder, in anderer Sphäre, die ungereifte Frucht einer großen deutschen Malerei nach Dürer, obwohl doch die äußeren Bedingungen, auch im noch so kleinstaatlichen Ideologie- und Bestellerkreis, dazu vorhanden waren. Die partielle Bedingtheit darf also in keiner der beiden Bedingungsarten unter einen bestimmten Bruchteil sinken, sonst ist Überkompensierung durch die andere Bedingungsart selber unmöglich. Doch die Verflechtung freilich bleibt, was besonders deutlich wird, wenn die Struktur der inneren wie der äußeren Bedingung schärfer gefaßt wird, das heißt, mit Aufhebung jener Aequivokation, die gerade in der Gegenstandskategorie Möglichkeit seit alters enthalten ist. Möglichkeit bedeutet hier nämlich sowohl inneres, aktives Können wie äußeres, passives Getanwerdenkönnen; mithin: Anders-Seinkönnen zerfällt in Anders-Tunkönnen und Anders-Werdenkönnen. Sobald diese beiden Bedeutungen konkret unterschieden sind, dann tritt die innere partielle Bedingung als aktive Möglichkeit, das ist, als Vermögen, Potenz hervor und die äußere partielle Bedingung als Möglichkeit im passiven Sinn, als Poten- /(268) tialität. Verflochten eben sind beide: es gibt kein tätiges Können des Vermögens und seiner aktiven »Anlage« ohne die Potentialität in einer Zeit, Umgebung, Gesellschaft, ohne die brauchbare Reife dieser äußeren Bedingungen. Die politische Gestalt der aktiven Möglichkeit ist das Vermögen des subjektiven Faktors; und er am wenigsten kann ohne Verflechtung, ohne Wechselwirkung mit den objektiven Faktoren der Möglichkeit wirken das heißt, mit den Potentialitäten dessen, was nach Maßgabe der Reife der äußeren Bedingungen wirklich geschehen oder wenigstens in die Wege geleitet werden kann. Aber nicht, als ob hierbei die äußeren Bedingungen selber aus der Möglichkeit in ihrem bedeutendsten Sinn, nämlich aus der Offenheit fatalisierend herausfielen. Konträr: wenn die Möglichkeit als Vermögen das Anders-Tunkönnen, das nicht Aufhebende, wohl aber Umdeterminierende in allen Determinierungen ist, so ist die Möglichkeit als objektive Potentialität das Anders-Werdenkönnen, das nicht Aufhebbare, wohl aber Lenkbare, Umdeterminierbare in allen Determinierungen. Und dieses stets mit solcher Verflechtung, daß ohne Potentialität des Anders-Werdenkönnens weder das AndersTunkönnen der Potenz Raum hätte, noch ohne das Anders-Tunkönnen der Potenz das Anders-Werdenkönnen der Welt einen mit den Menschen vermittelbaren Sinn hätte. Folglich auch enthüllt sich die Gegenstandskategorie Möglichkeit dominierend als das, was sie nicht durch sich selber, wohl aber durch den fördernden Eingriff der Menschen in das noch Veränderbare ist: als möglicher Heilsbegriff. Sie enthüllte sich zum Teil freilich ebenso als möglicher Unheilsbegriff, und zwar eben wegen des Anders-Tunkönnens, aber auch wegen des Anders-Werdenkönnens in ihm, das nicht minder einer Wendung zum Schlechteren Raum gibt, gemäß dem Prekären, das gerade in der Veränderlichkeit, hier also Unsicherheit einer Lage liegen kann. Dieses Prekäre, als negativer Bestand der sachhaften Möglichkeit, reicht von dem Unfall, der zustoßen kann, bis zu dem faschistischen Höllenausbruch, der als Möglichkeit im letzten Stadium des Kapitalismus steckte und immer noch steckt. Der Unheilscharakter des Möglichen konterkariert so dem angegebenen Heilscharakter, Hoffnungscharakter des Möglichen, als welcher nicht minder in der Veränderlichkeit einer Lage liegt, hier aber nicht in ihrer /(269) Unsicherheit, sondern in ihrer Kassierbarkeit, positiven Aufhebharkeit. Dieses Nicht-Prekäre, sondern Segensreiche, als der so höchst positive andere Bestand sachhafter Möglichkeit, reicht von dem Glücksfall, dem Menschen begegnen können, bis zu dem Reich der Freiheit, das als sozialistische Möglichkeit in der Geschichte sich entwickelt und
endlich wirklich zu werden beginnt. Alles derart Wendungsfähige (fortuna vertit) enthält freilich stets ein Stück Zufall, doch wiederum auf verschiedene Art. Es gibt das bloß Singuläre und Unvermittelte eines Unfalls oder Glücksfalls. Es gibt aber auch ein Anders-Seinkönnen, das nicht so an der Oberfläche geschieht. Hegel hat solcher Art die äußere Zufälligkeit vom dialektisch vermittelten Wandel des Prozesses mit großer Eindringlichkeit unterschieden; und zwar, indem er die äußere Zufälligkeit auf die bloß äußere Notwendigkeit begrenzt, ja sie mit ihr identisch erklärt. Demgemäß wird die Kontingenz von Hegel allein im unmittelbar-, nicht im vermittelt-Konkreten gesehen oder eben nur am Rand des Prozesses: »Das unmittelbar Konkrete nämlich ist eine Menge von Eigenschaften, die außereinander und mehr oder weniger gleichgültig gegeneinander sind, gegen die eben darum die einfache, für sich seiende Subjektivität« (das beginnende Zentrierende des Prozesses) »ebenfalls gleichgültig ist und sie äußerlicher, so mit zufälliger Bestimmung überläßt« (Enzyklopädie§ 250).Das ist die Zufälligkeit im überhaupt nicht vertrauenswürdigen Sinn, diejenige, welche mehr noch in der bisherigen Geschichte als in der Natur die normale und typische Entwicklung äußerlich zerstreut und verstört. Dialektisch-vermittelt- Unabgeschlossenes aber, als die Möglichkeitsstruktur des währenden Prozesses, hat gar nichts gemein mit schlecht-vermittelt-Beliebigem. Freilich wieder nicht, als wäre nun das im Anders-Seinkönnen des Prozesses Umgehende das strikte Gegenteil von jeder Art Zufall und Kontingenz. Das riesige Experiment des vermittelten Anders-Seinkönnens im Prozeß besitzt dieses Gegenteil noch nicht und hat noch weder Beruhigung noch auch einen Rechtstitel dazu, es zu besitzen. Vielmehr arbeitet in diesem Anders-Seinkönnen Möglichkeit gerade wieder dasjenige, was Kontingenz auf höchster Stufe genannt werden kann, mit dem Charakter dauernder, doch eben partieller Vermittlung. Diese Art Kontingenz, im endlich vertrauenswür- /(270) digen Sinn der Sache, heißt schöpferischer, zu Bildungen und Schöpfungen offener Reichtum der Variabilität. Es ist das eine nicht äußerliche, sondern gesetzmäßig-sachhaft vermittelte Variabilität, doch eben eine der unvereitelten Richtungsänderung, vor allem der unerschöpften Neubildung. Hier ist selbst eine sogenannte Zufälligkeit nicht mehr mit bloß äußerer Notwendigkeit zusammenfallend, sondern sie bildet, als eine mit dem gesetzhaft Notwendigen dialektisch vermittelte, gerade das Blühende, Charakteristische, die geordnete Entwicklungsfülle der offenen Welt. Kontingenz dieser Art ist zwar gleichfalls noch situationshaft, jedoch nicht im Sinn des Prekären, sie erfüllt vielmehr den mundus situalis des Neues gebärenden Prozesses. Striktes Gegenteil von jeder Kontingenz wäre erst das abgeschlossen Notwendige, das der Variabilität nicht mehr fähige, jedoch auch nicht bedürftige. Erst diese strukturell abgeschlossene Notwendigkeit wäre das schlechthin Vollbedingte, worin die inneren wie vor allem die äußeren Bedingungen nicht bloß völlig gereift sind, sondern zusammenfallen. Freilich ist noch keine Gegenständlichkeit der Sache in ihr so auf den Grund gegangen, daß die Gegenständlichkeit selber mit ihrer totalen Begründung zusammenfiele; wodurch sie eben strukturell notwendig wäre. Dieser Zusammenfall war bei Spinoza in der Definition der Gott-Natur als der causa sui gedacht und - mit viel größerer Hypostase logischer Identität - bei Anselm von Canterbury in der Selbstbegründung, der »Aseitas« (a se esse) Gottes. Wonach das vollkommenste Wesen notwendig existiere, indem es aus seiner eigenen Wesenhaftigkeit existiere, folglich seine Essenz ebenso notwendig seine Existenz einschließe wie seine Existenz seine Essenz. Es braucht nicht versichert zu werden, daß solche Objekthaftigkeiten jenseits ihrer Definition nicht vorliegen, es sei denn in bloßen mehr oder minder
konkret antizipierbaren Wertidealen des vollkommenen Zusammenfalls von Grund und Manifestierung. Der Rahmen eines solchen Wertideals ist - auch außerhalb und gegen alle Theologie - das »Eine, was nottut«, mithin das seit alters als »höchstes Gut« Bezeichnete. Jedoch da rebus sic imperfectis auch das so Bezeichnete noch keinesfalls wirklich, sondern bestenfalls im Prozeß ist, so steht auch das strukturell Notwendige dieser Art doch wiederum erst in - struktureller Möglichkeit. Letz- /(271) tere allerdings erweist sich nun, mit dem Horizont der causa sui oder der gelungenen Identität von Existenz und Essenz, als entschiedenste Heilskategorie. Denn der ideale Punkt, wo Wesen und Erscheinung zusammenfallen, ist allemal zugleich der absolute Richtpunkt für die Strukturlinie des human-positiv Möglichen. Das objektiv-real Mögliche Das Kannsein würde fast nichts bedeuten, wenn es folgenlos bliebe. Folgen hat das Mögliche aber nur, indem es nicht bloß als formal zulässig oder auch als objektiv vermutbar oder selbst als objektgemäß offen vorkommt, sondern indem es im Wirklichen selber eine zukunfttragende Bestimmtheit ist. Es gibt derart realpartielle Bedingtheit des Objekts, die in diesem selber seine reale Möglichkeit darstellt. So ist Mensch die reale Möglichkeit alles dessen, was in seiner Geschichte aus ihm geworden ist und vor allem mit ungesperrtem Fortschritt noch werden kann. Er ist eine Möglichkeit mithin, die nicht bloß wie eine Eichel in der abgeschlossenen Verwirklichung des Eichbaums erschöpft ist, sondern das Ganze ihrer inneren wie äußeren Bedingungen, Bedingungsdeterminanten noch nicht gereift hat. Und im unerschöpften Ganzen der Welt selber: die Materie ist die reale Möglichkeit zu all den Gestalten, die in ihrem Schoß latent sind und durch den Prozeß aus ihr entbunden werden. In diesem umfassendsten Begriff realer Möglichkeit hat das dynamei on (In-Möglichkeit-Sein) seinen Ort, als das eben Aristoteles die Materie bestimmt hat. Denn wie Heraklit als erster den Widerspruch in den Dingen selber sah, so hat Aristoteles als erster die Möglichkeit realiter, im Weltbestand selber erkannt. Real Mögliches wird von hier ab begreifbar als Substrat: »Alles, was von Natur oder Kunst wird, hat Materie, denn jedes Werdende ist vermögend (dynaton) zu sein und nicht zu sein, das (was sein und nicht sein kann) ist aber in jedem die Materie« (Aristoteles, Metaphysik VII, 7). Und es ist lehrreich, daß das tätig in dieser Potentialität sich Ausprägende: die sich selbst verwirklichende Form (Entelechie), die bei Aristoteles noch dualistisch von der Materie getrennt wird, im gleichen Maße zurücktritt und selber /(272) materiell wird, wie zum Begriff der passiven Potentialität der der aktiven Potenz hinzutritt. Ex contrario beweisend ist hierfür der Kampf arabischer strenger Theisten, der sogenannten Motakhalim (das heißt, Lehrer des Worts, des geoffenbarten Glaubens) gegen die Gleichung: reale Möglichkeit = Materie. Um die Allmacht der höchsten Form (des göttlichen actus purus) absolut zu halten, mußten sie statt des dynamei on das gänzlich nichtige Nichts in einem Primum vor der Welt ausbreiten: Gott hat die Welt aus dem Nichts geschaffen, nicht aus der Materie herausgerufen, aus der realen Möglichkeit. Umgekehrt dagegen wird bei pantheistisch-materialistischen Philosophen des Mittelalters, so bei Avicenna, Averroes, Amalrich von Bena, David von Dinant, die reale Möglichkeit Materie zum gesamten Grund der Welt, und der göttliche Schöpfungswille ist stets ein Moment der Materie; ja, Gott und Materie werden identisch. Entwicklung ist bei Averroes «eductio formarum ex materia«, mit dem «dator formarum «im Weltall selbst. So erscheint die Schöpfung-mit Wegfall jedes Dualismus - einzig als Selbstbewegung, Selbstbefruchtung der Gottmaterie; in ihr ist die Potentialität und
zugleich jene ihr immanente Potenz, welche einen außerweltlichen Beweger überflüssig macht. Und dieser halbe Materialismus realer Möglichkeit mehrt sich renaissancegemäß bei Giordano Bruno, bei ihm wird die Welt völlig zur Realisierung der Möglichkeiten, die in der einheitlichen Materie und als sie enthalten sind. Natura naturans und natura naturata fallen nun unten wie oben zusammen »in der dauernden, ewigen, zeugenden, mütterlichen Materie«. Das Substrat reale Möglichkeit wird dadurch, in kühner Erweiterung des Aristoteles zugleich die Quelle, nicht nur das Gefäß der Formen: «Daher muß die Materie, die . . . immer fruchtbar bleibt, das bedeutsame Vorrecht haben, als einziges substanzielles Prinzip und als das, was ist und bleibt, anerkannt zu werden . .. Darum haben auch einige unter jenen, da sie das Verhältnis der Formen in der Natur wohl erwogen hatten, soweit man es aus Aristoteles und anderen von ähnlicher Richtung erkennen konnte, zuletzt geschlossen, daß die Formen nur Akzidenzien und Bestimmungen an der Materie seien und daß deshalb auch das Vorrecht, als Actus und Entelechie zu gelten, der Materie angehören müsse« (Bruno, Von der Ursache, dem Prinzip und /(273) dem Einen, Meiner,S.60f.).Das also sind die ersten Konsequenzen, wenn die reale Möglichkeit als so real genommen wird, daß sie den Schoß und die Zeugung, das Leben und den Geist, geeint in der Materie, zugleich umgreift. Wobei der Schoß auch weiter fruchtbar bleibt, dieTendenz-Latenz dessen, was realiter werden kann, im materiellen Substrat nicht abgeschlossen ist. Diese Bestimmung des dynamei on ist freilich eine, die im bloß mechanischen, im mechanistischen Materialismus unterging. Materie als Fülle mußte zunächst mit Recht hier schrumpfen, weil die quantitative Naturwissenschaft nichts davon zeigte und weil totale Mechanik die beste Brechstange gegen Jenseiterei war. Aber nicht minder war diese Schrumpfung möglich, weil die christliche Scholastik selber den Aristotelischen Materiebegriff und gar den mannigfach vorsokratischen (auf den sich Bruno ebenfalls bezieht) aus dem keimträchtigen Gebiet der Natura naturans entfernt hatte. Weshalb auch für den mechanischen - allzu mechanischen Materiebegriff, vor allem für seine tote Nachwirkung im vorigen Jahrhundert, das Wort des englischen Naturforschers John Tyndall gelten mag: «Wenn der Stoff als ein Bettler in die Welt tritt, so darum, weil die Jakobe der Theologie ihn seines Erstgeburtsrechts beraubt haben.« Die nur mechanisch gefaßte Materie wurde jedenfalls in der Folge ein geschichtsfremder Klotz, dem seine ganze reale Möglichkeit bereits statische Wirklichkeit geworden ist, im Sinn eines gleichsam von Geburt an erfrorenen Anfangs. Jedoch die fortwirkende Aristotelische Bestimmung, die mutationsfähig gewordene des dynamei on, geht selber mutatis mutandis - ein in den historisch-dialektischen Materialismus. Subjektiver Faktor, Reife der Bedingungen, Umschlag der Quantität in Qualität, gar Veränderbarkeit: alle diese dialektisch-materialistischen Entwicklungsmomente sind in einer Klotz-Materie substratlos. Das Dialektische fällt von ihr, als einem zwar mechanisch bewegten, doch sogleich mechanisierten Quantum, ab oder bleibt an ihr ein Epitheton ornans; Übergang aus dem Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit hat nur an unabgeschlossener Prozeßmaterie Land. Genau die bisher entferntest gehaltenen Extreme: Zukunft und Natur, Antizipation und Materie schlagen in der fälligen Gründlichkeit des historisch-dialektischen Materialismus zusammen. Ohne Materie ist kein /(274) Boden der (realen) Antizipation, ohne (reale) Antizipation kein Horizont der Materie erfaßbar. Die reale Möglichkeit wohnt derart in keiner fertig gemachten Ontologie des Seins des bisher Seienden, sondern in der stets neu zu begründenden Ontologie des Seins des Noch-Nicht-Seienden, wie sie Zukunft selbst noch in der Vergangenheit entdeckt und in der ganzen Natur. Im alten Raum pointiert sich so folgenreichster Weise sein neuer Raum: reale
Möglichkeit ist das kategoriale Vor-sich der materiellen Bewegung als eines Prozesses; sie ist der spezifische Gebietscharakter gerade der Wirklichkeit, an der Front ihres Geschehens. Wie anders sonst die zukunfttragenden Eigenschaften der Materie? - es gibt keinen wahren Realismus ohne die wahre Dimension dieser Offenheit. Das wirklich Mögliche beginnt mit dem Keim, worin das Kommende angelegt ist. Das darin Vorgebildete treibt dahin, sich zu entfalten, aber freilich nicht, als wäre es vorher schon, auf engstem Platz eingeschachtelt. Der »Keim« sieht selber noch vielen Sprüngen entgegen, die »Anlage« entfaltet sich in der Entfaltung selber zu immer neuen und präziseren Ansätzen ihrer potentia-possibilitas. Das real Mögliche in Keim und Anlage ist folglich nie ein eingekapselt Fertiges, das als ein erst Klein-Vorhandenes lediglich auszuwachsen hätte. Vielmehr bewährt es seine Offenheit als wirklich entwickelnde Entfaltung, nicht als bloße Ausschüttung oder Ausfaltung. Potentia-possibilitas macht die ursprüngliche Wurzel und Origo prozessual fortdauernder Erscheinung immer wieder auf neuer Stufe originär, mit neu latentem Inhalt. So reicht der arbeitende Mensch, diese Wurzel der Menschwerdung, verwandelt durch seine ganze weitere Geschichte und entwickelt sich in ihr immer genauer. Ja man kann sagen, auch der aufrechte Gang des Menschen, dieses unser Alpha, worin die Anlage zur vollen Ungebeugtheit, also zum Reich der Freiheit liegt, geht selber immer wieder verwandelt und genauer qualifiziert durch die Geschichte der immer konkreteren Revolutionen. Bis zum klassenlosen Menschen, der insgesamt die letzthin intendierte Anlagemöglichkeit der bisherigen Geschichte darstellt. Das real Mögliche hält daher nicht nur, als Anlage zu seinem Wirklichen, diese treibend, sondern verhält sich ebenso, als das immer weiter sich entwickelnde letzthinnige Totum dieser /(275) Anlage, zu der bereits gewordenen Wirklichkeit essentiell. Derart ist das bisher Wirkliche sowohl vom ständigen Plus-ultra essentieller Möglichkeit durchzogen wie an seinem vorderen Rand von ihr umleuchtet. Diese Umleuchtung, ein vor-scheinendes Horizontlicht, das auch in fast allen Sozialutopien, auf mehr oder minder abstrakte Weise, reflektiert war, gibt sich psychisch als Wunschbild nach vorwärts, moralisch als menschliches Ideal, ästhetisch als naturobjekthaftes Symbol. Die Wunschbilder nach vorwärts haben das mehr oder minder erfaßt Mögliche eines besseren Lebens überhaupt zum Inhalt; sie sind deshalb heitervorspielend. Die Ideale haben in der Hauptsache das mehr oder minder realisiert Mögliche eines versucht vollkommenen Menschseins, vollkommener gesellschaftlicher Verhältnisse zum Inhalt; sie sind deshalb, in ihren Leitbildern, Leittafeln, anfeuernd-vorbildlich. Hierher gehören der unverzerrte und unverdinglichte, der schöne Menschentyp, das klassenlose Verhältnis, worin er Platz hat. Die Symbole schließlich haben, erst recht inderHauptsache, das überall nur andeutungsweise realisiert Mögliche eines unentfremdeten Identischseins von Existenz und Essenz in der Natur insgesamt zum Inhalt; Symbole sind daher betroffentiefenhaltig. Sie sind, zum Unterschied von den Idealen, verhüllt, das heißt, sie bedeuten das Ihre mit besonders starkem Pathos der «Bedeutung«, und das deshalb, weil sie nicht wie die Ideale ein mehr oder minder realisiert Mögliches, sondern eben ein in sich selber nur andeutungsweise realisiert Mögliches zum Inhalt haben. Und weiterhin vor allem: dieser Inhalt steht deshalb so sehr in der «Bedeutung« oder, wie sich bei Symbolen spezifischer sagen läßt: in der «Chiffer«, weil er zentraler, folglich vorerst weniger manifestierbar ist als der Inhalt der Ideale. Die jeweiligen Träger, Existenzen einer symbolischenBedeutung sind zwar weit zahlreicher, ja fast beliebiger als die des Ideals, jedoch sie sind dafür allemal weit umfassender in der ganzen Natur auf Essentielles bezogen. Und sie
sind zentral darauf bezogen; was andererseits den Unterschied des Symbols von der Allegorie ausmacht, als dem Gleichnis eines Dings mit wieder lauter anderen Dingen, ohne daß also das Gebiet von lauter Mannigfaltigem verlassen wird. Das Verweisen des Symbols dagegen geht, wie gesehen, gerade auf eine Einheitlichkeit der Bedeutung; weshalb /(276) auch, zum Unterschied von der allemal vieldeutigen Mannigfaltigkeits-Verweisung der Allegorien, die echten Symbole in ihrer Bedeutung schließlich konvergieren, nämlich eben im Zentralen ihrer Bedeutung. Die gesellschaftlich bedingte jeweilige Richtungslinie aufs Zentrale hat - in der- lange Strecken durch Religion führenden - Geschichte des Symbols differiert, nicht differiert aber hat der jeweils immer wieder gemeinte Grundbezug des SymbolGleichnisses auf ein »Unum Verum Bonum« der Essenz. Indem jedoch gerade diese Essenz nur im andeutungsweise realisiert Möglichen liegt und noch nirgends anders liegen kann, ist das Symbolische - was nun entscheidend wichtig - nicht nur in seinem Ausdruck, sondern, bei allen echten Symbolen, ebenso in seinem Inhalt selber noch verhüllt. Denn der echte symbolische Inhalt selber ist noch im Abstand von seiner vollen Erscheinung, er ist darum auch objektiv-real eine Chiffer. Genau vom Licht des real Möglichen her geschieht dieser Art die fällige Notierung eines realen Kerns im Begriff des Symbolischen, eines Begriffs also, der bisher, einige objektiv-idealistische Fassungen in Hegels Ästhetik abgerechnet, fast ausschließlich subjektiv-idealistisch gefaßt worden war. Subjektiv-idealistisch deshalb, weil eben jeder Symbol-Inhalt nur als ein für den beschränkten Menschenverstand verhüllter dargestellt wurde, während der Inhalt als völlig ausgemacht galt - ohne jeden Abstand zu sich, in transzendent vorhandener Statik strahlend. Konträr zudem ist die Wahrheit aber so: das Symbolische teilt sich einzig vom Objektinhalt her seinem Ausdruck mit, differenziert die einzelnen Symbole vom objektiv realen Material her, dessen verschieden situierten Verhülltheits-Inhalt, Sachidentitäts-Inhalt sie als dies Verhüllte und Sachidentische jeweils abbilden. Und es ist einzig diese Abbildlichkeit einer Realchiffer, eines Realsymbols, welche schließlich Symbolen ihre Echtheit mitteilt. Die Echtheit eines Konvergierens der Bedeutung, welche sich mit der Realität dieser Bedeutung in bestimmten besonders latenzhaltigen Objekten der Außenwelt verbindet. Hierher gehören Symbole wie der Turm, der Frühling, gehören die Abendlüfte in Mozarts Figaro, sodann der Schneesturm in Tolstois »Tod des Iwan Iljitsch», der Sternhimmel über dem zu Tod verwundeten Andrej Bolkonskij in Tolstois »Krieg und Frieden«, das Hochgebirge am Schluß des /(277) Faust, überhaupt alle Symbole der Erhabenheit. Die Dichtung hat kraft ihres Bildcharakters die Symbolgegend des real Möglichen deutlicher erfaßt als die bisherige Philosophie, aber die Philosophie nimmt diese Gegend mit der Strenge des Begriffs und dem Ernst der Zusammenhänge auf. Beide aber, realistische Dichtung wie Philosophie, eröffnen: die Welt selber ist voller Realchiffern und Realsymbole, voller » signatura rerum«im Sinn zentral bedeutungshaltiger Dinge. Sie weisen in dieser ihrer Bedeutsamkeit ganz realiter auf ihre Tendenz und Latenz von »Sinn«, von einem den Menschen und seine Angelegenheit möglicherweise einst ganz empfangenden. Die partielle Bedingtheit, also Möglichkeit zur Reifung dieser Anlage geht durch sämtliche Proben aufs humane Sinn-Exempel, an denen die Welt so reich ist. Doch eben mit mehr oder minder großem Abstand vom Exempel, mit mehr oder minder großem Noch-Nicht der vollen Erscheinung, mit jenem Abstand also, der so vielfach erstWunschbilder, Ideale, Symbole statt der Gelungenheit darbietet. Und der das essentielle Totum der Welt im schweren Prozeß seiner Heraufbringung zeigt, noch nirgends als Resultat. Wird der Abstand unterschlagen, so entsteht abstrakt-ruchloser Optimismus; wird der Abstand aber als die vermittelte
Perfektibilität begriffen, die er ist, mit aller Beschaffenheit der Gefahr, so entsteht das Gegenteil der Ruchlosigkeit: militanter Optimismus. So viel hier über das real Mögliche und die Essenz darin im Anlagezustand jenes Perfektibeln, das den Menschen - mit einer Ahnung seiner künftigen Freiheit - empfängt. Die Essenz des Perfektibeln ist nach der allerkonkretesten Marxschen Antizipation »die Naturalisierung des Menschen, die Humanisierung der Natur». Das ist die Abschaffung der Entfremdung in Mensch und Natur, zwischen Mensch und Natur oder der Einklang des unverdinglichten Objekts mit dem manifestierten Subjekt, des unverdinglichten Subjekts mit dem manifestierten Objekt. Solche Perspektive absoluter Wahrheit, das ist hier, völligen Realseins im Wirklichen selbst - und ihre Weite wie Tiefe ist unumgänglich, bei Strafe des mündungslosen Relativismus eröffnet freilich wieder erst real-essentielle Möglichkeit, noch nicht die, in ihr selber erst angelegte real-essentielle Notwendigkeit. Denn diese wäre eine mit völlig zureichenden, also unausweichlichen Bedingungen zur /(278) Existenz der Essenz, zur Essenz der Existenz. Diesseits dieser äußersten Nicht-Kontingenz oder Situationslosigkeit ist auch die real-essentielle Notwendigkeit nur erst-Möglichkeit, ja eine mit realiter kaum erst partiell vorliegenden Bedingungen. Währender Prozeß, tätiges, mit der Tendenz vermitteltes Hoffnungsbild einer besseren Welt, anfeuerndes Ideal, tiefenhaltiges Symbol, das bleiben die selber antizipierenden Realperspektiven der realen Möglichkeit - als der Frontdimensionen katexochen. Erinnerung: Logisch-statischer Kampf gegen das Mögliche Leicht zu sehen, wie noch manches Blatt sich wenden kann. Ein Noch-Nicht lebt überall, sovieles ist in dem Menschen noch nicht bewußt, so vieles in der Welt noch nicht geworden. Beiderlei Noch-Nicht aber wäre nicht, wenn es sich nicht im Möglichen bewegen und dessen Offenheit sich zuwenden könnte. Dennoch ist das Kannsein noch erstaunlich wenig durchdacht, in Griff gebracht. Die Kategorie des Möglichen, obgleich so wohl bekannt und stündlich gebraucht, war logisch eine Crux. Diese Kategorie ist unter den Begriffen, welche philosophisch im Lauf der Jahrhunderte herausgearbeitet und zur Schärfe gebracht worden sind, wohl die bis jetzt unbestimmteste geblieben. Sicher ist sie die am wenigsten ontologisch durchverfolgte; daher kommt sie herkömmlicherweise fast nur in der formalen Logik vor. Auch wenn die Kategorienlehre sich mit dem Möglichen befaßt, wird es überwiegend nur als Erkenntnis-, nicht als Objekt-Bestimmung bezeichnet. Gewiß, Logiker wie Job. v. Kries, kleinere und größere Epigonen des Üblichen, so Verweyen, so zuletzt N. Hartmann, der sich sogar einen Ontologen nennt, haben diverse eigene Bücher über Möglichkeit geschrieben. Aber da bei letzteren Epigonen das Mögliche nur als Begriffsverhältnis anerkannt wird, haben sie so gut wie nichts, das heißt, nichts Reelles darüber geschrieben. Hier überall, doch nicht minder auch bei originalen Philosophen, wovon sogleich, geschieht die auffallende Entleerung des Möglichen zunächst durch Nicht-Unterscheidung von noch partieller Kenntnis der Bedingungen und partiell vorliegenden Bedingungen selbst. So wird immer von neuem das problematisch schwankende Urteil über einen objektiv-entschie- /(279) denen Sachverhalt gleichgesetzt mit dem assertorisch entschiedenen Urteil über einen objektiv schwankenden Sachverhalt, also über die objektiv vorhandene Möglichkeit. Das problematische Urteil: »Es ist möglich, daß Luise zu Hause ist«, überzieht so das assertorische Urteil: »Es steht fest, daß in absehbarer Zeit die Fahrt eines Raketenflugzeugs auf den Mond möglich ist.« Der Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Urteil weist aber deutlich auf den nicht nur logisch-, gar
psychologischimmanenten, sondern eben auf den Außenwelt-Charakter eines großen Teils der Modalität hin. Wird die Kategorie Möglichkeit ausschließlich auf die bloße Kenntnis-Schicht des Vermutens reduziert, dann allerdings muß objektive Möglichkeit in der Außenwelt subjektiv-idealistisch verdampfen. Das Mögliche wird dann wegdemonstriert, als ob sich noch nie ein Mensch ins Modale einer Gefahr begeben hätte, als ob er ihr nie real entgangen, ausgewichen oder zur Beute gefallen wäre. Das Mögliche wird dann zur bloßen »anthropomorphen Introjektion« gemacht, als ob nicht sämtliche Organismen mit ihrem Reflex- und Reaktionsapparat auf eine objektiv-reale Welt der Möglichkeit eingestellt wären; von der Seeanemone bis zum witternden Wild, bis zur Umsicht des homo sapiens. Das Mögliche wird zur »Fiktion« entwirklicht, als ob der Begriff objektive Möglichkeit nicht das Zivilrecht wie Strafrecht erfüllte (Haftpflicht, impossibilium nulla obligatio, Bedingungsklausel, Fahrlässigkeit und so fort). Trotzdem sieht auch Sigwart, obwohl er bloße Möglichkeit richtig definiert als ein dem Einzelnen Zukommendes, «sofern es den partiellen Grund dessen enthält, was sein wird« (Logik 1, 1904, 5. 274), im Möglichen nur einen Ausdruck subjektiver Unentschiedenheit oder auch der Resignation unseres beschränkten Wissens. Übersteigerung der problematischen Urteilsmodalität, Verkennung der Gegenstands- und Objektsmodalität geben so das erste Motiv für die idealistische Leugnung realer Möglichkeit ab. Hinzu kommt aber noch ein zweites Motiv für die Leugnung der realen Möglichkeit, und es findet sich auch bei großen Denkern, bei solchen zudem, die in keinem Punkt subjektiv-idealistisch sind. Die Sperre ist hier die gleiche wie diejenige, welche auch die Schwesterkategone des Möglichen: das Neue bis jetzt undurchdacht gelassen hat. Die Sperre ist die klas- /(280) senmäßig bedingte Küstenschiffahrt rings ums Gegebene, ja Vergangene, ist die Abneigung des statischen Denkens gegen den Weltbegriff der tätigen Offenheit und Bläue. Diese Abneigung findet sich auch bei so prozessualen Philosophen wie Aristoteles und Hegel, trotz der riesigen Konzeption eines realen dynamei on beim ersten, der realen Dialektik beim zweiten. Die Setzung eines fertigen Ein und Alles, eines Universums, bei dem alles Mögliche wirklich ist ( »Possest«, vollendetes »Könnensein« nennt Nikolaus von Cusa Gott, und selbst Giordano Bruno läßt im Ganzen der Welt nichts unverwirklicht Mögliches übrig): diese statische Setzung hat den Raum des Offen-Möglichen vor allem verstellt. So liegt der Kategorialbegriff Möglichkeit insgesamt in fast lauter jungfräulichem Land; er ist der Benjamin unter den großen Begriffen. Stets scheint es das Frische, Kommende zu sein, dessen hier nicht gedacht werden soll. Selbst die Sophisten, bei denen alles Feste geistig ins Wanken geriet, zogen aus dem Möglichen nichts als Spott. So daß ebenso alles wie nichts möglich sei, da, wie Gorgias sagt, überhaupt nichts sei, weder Nichtsseiendes noch Seiendes noch aber auch etwas dazwischen, das vergehen oder werden könne, also zum einen oder anderen sich als möglich verhielte. Nicht noch radikaler, aber noch zentrierter wurde die Leugnung des Möglichen in der megarischen Schule, wo sie sich auch deutlich mit der eleatischen Lehre des unbewegten Seins verband. Der Megariker Diodoros Kronos erfand, charakteristischerweise im Anschluß an Zenos Demonstration gegen die Bewegung, seinen angeblichen Beweis gegen das Mögliche. Dieser angebliche Beweis blieb (unter dem Namen des Kyrieuon) noch Jahrhunderte hindurch berühmt, sowohl als angebliches dialektisches Meisterstück, wie vor allem eben wegen des Interesses, das das statitische Denken an ihm nahm (vgl. darüber Zeller, Sitzungsberichte der Berliner Akademie, 1882,S. 151 ff.). Diodoros bildete einen Syllogismus: aus Möglichem kann nichts Unmögliches hervorgehen; da aber ein Mögliches das nicht wirklich würde, Unmögliches aus sich
hervorgehen ließe, nämlich ein anderes Ist als das Ist, das ist, so ist dieses Mögliche selber unmöglich und das Wirkliche als das einzig Mögliche gewiesen. So schwach dieser Svllogismus ist, so hat ihn doch noch die römische Stoa übernommen; /(281) er spielt bei Epiktet und bei Marc Aurel eine bedeutende Rolle in der Zufriedenheit mit der möglichkeitsfreien, notwendigkeitsvollen Weltordnung und wurde durch Cicero (De fato 6, 7) dem späteren amor fati übermittelt. Verneinung des Möglichen, Neustoizismus, amor fati reichen sich in großer Verwandtschaft die Hand bei Spinoza: sub specie aeternitatis sehen (Ethik II, Lehrsatz 44, Zusatz 2), heißt per definitionem, alles Mögliche schon als notwendig-wirklich sehen. Denn unter dem Gesichtspunkt der spinozistischen Ewigkeit gibt es, weil sie mit unbedingtem Grund-Folge-Verhältnis zusammenfällt (als dem mathematischen Fatum der Welt), kein partiell Bedingtes, also kein Mögliches mehr. Was für Spinozas Gott die Wahl zwischen den unendlich zahlreichen logischen Möglichkeiten ausschließt, die ein Leibniz vor seinem Gott (als Realisator) allerdings noch ausgebreitet sein ließ. Sogar innerhalb der vorhandenen Welt, als einer von ihrem Schöpfer aus unendlich viel möglichen realisierten, kennt Leibniz noch Möglichkeit als Anlage, obzwar als eine, die ebenfalls nichts realiter Neues, das heißt, in der ganzen bisherigen Welt nicht Enthaltenes entwickeln kann. Und gibt Leibniz, dieser einzige große Denker des Möglichen seit Aristoteles, auch einer unendlichen Zahl möglicher anderer Weltzusammenhänge Raum, so leben auch diese »primae possibilitates« wieder nur im Verstand des Schöpfers und nicht als noch realisierfähige in diese nun einmal realisierte Welt hineinragend. Spinoza jedoch bestimmt, mit aller Grundgewalt des amor fati, auch noch gegen die Möglichkeiten in Gott: » Die Dinge konnten auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung von Gott hervorgebracht werden, als sie hervorgebracht sind« (Ethik 1, Lehrsatz 33). Das also ist, in Ansehung des Möglichen, Diodoros Kronos großen Stils in der Metaphysik. Und wieder nicht, als wäre damit die Unlust zum Möglichen beendet, als lebte diese Unlust nicht auch in Philosophien, die dem Möglichen ziemlich offen huldigen könnten; so bei Kant, so konkreter bei Hegel. Kant hat das Ideal ausgesteckt, Hegel den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit; trotzdem pointiert die »Kritik der reinen Vernunft« das Mögliche ebensowenig wie, mutatis mutandis, Hegels Logik und Enzyklopädie. Kant also bringt die Möglichkeit (sowohl die »der Dinge durch Begriffe a priori« wie diejenige, »die /(282) nur aus der Wirklichkeit in der Erfahrung kann abgenommen werden«) auf die Seite der reinen Denkformen. Zwar konstituiren alle reinen Denkformen oder Kategorien, also auch die modalen, hier die Erfahrung, als das durch die Kategorien gegründete «System der Erscheinungen«, doch für die Kategorien der Modalität (Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit) mahnt Kant gerade im Hinblick auf Erfahrung zu betonter Vorsicht. Daher der Satz: «Die Kategorien der Modalität haben das Besondere an sich, daß sie den Begriff, dem sie als Prädikat beigelegt werden, als Bestimmung des Objekts nicht im mindesten vermehren, sondern nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrücken« (Werke, Hartenstein, III, S.193). Objektiv-real Mögliches kennt Kant folglich überhaupt nicht, objektiv-real Wirkliches kommt zu dem modal Wirklichen auch nur durch Anschauung und nicht im mindesten durch Anschluß an ein assertorisches Urteil, also an ein Wirklichkeitsurteil der Modalität hinzu. Trotzdem muß Kant, wenn auch um den Preis des Dualismus, der Möglichkeit Raum geben, nämlich in dem eigentümlichen Denkgebiet über der erkennbaren Erfahrung, welches der moralischen «Vernunft«, nicht dem erkennenden «Verstand« zugehört; welches also vom «Postulat« und vom «Ideal« bewohnt wird. Das von Fichte nachher so stark mobilisierte Postulat: «Du kannst, denn du sollst«, meint Möglichkeit als Vermögen,
als Potenz. Das bei Kant durchgehends herrschende, abstrakt auch der Politik vorgeordnete Ideal: «Ausbreitung der Herrschaft sittlicher Freiheit« - meint andererseits Möglichkeit als Potentialität einer, leider unendlichen, Annäherung an dieses Ideal in der Geschichte. Doch ist die so gefaßte Möglichkeit keine objekthaft-reale; es gibt in der Erfahrungswelt des transzendentalen Idealismus keine Wege zu ihr. Und sie wird auch als Möglichkeit des Sollens, des Postulats, des Ideals durchaus nicht eigens ausgezeichnet; im geschichtslosen Sehfeld eines «Bewußtseins überhaupt« gab es für die Zukunft, für die »Hoffnung der Zukunft«, wie Kant in den «Träumen eines Geistersehers« sagte (Werke II, S.357) wohl Zuneigung, doch keinen konstitutiven Platz. So hat sich nicht nur der »Verstand« der Erfahrungskategorien, sondern auch die »Vernunft« als »Mutter der Ideen« ihren Raum fürs Mögliche beengt. Und wie steht die Möglich- /(283)keit schließlich bei Hegel da, dem betonten Denker der (konkreten) Vernunft statt des (abstrakten) Verstandes? Der sonst so objektiv-idealistische Hegel zitiert überraschenderweise mit Zustimmung die oben angegebene Kantstelle, die die Modalität vom realen Objekt fernhält, eine Zustimmung zu Kant, die bei Hegel ja selten ist. Er fügt dem Kantzitat hinzu: «In der Tat ist die Möglichkeit die leere Abstraktion der Reflexion-in-sich, das, was vorhin das Innere hieß, nur daß es nun als das aufgehobene, nur gesetzte, äußerliche Innere bestimmt, und so allerdings als eine bloße Modalität, als unzureichende Abstraktion, konkreter genommen nur dem subjektiven Denken angehörig, auch gesetzt ist... Insbesondere muß in der Philosophie von dem Aufzeigen, daß etwas möglich oder daß auch noch etwas anderes möglich, und daß etwas, wie man es auch ausdrückt, denkbar sei, nicht die Rede sein« (Enzyklopädie, § 143). Und auch dort, wo Hegel die Möglichkeit nicht nur als leere Abstraktion der Reflexion-in-sich faßt, sondern ebenso als ein An-sich-Moment der Wirklichkeit, wird diese bei ihm so genannte reale Möglichkeit gänzlich vom Kreis der gewordenen Wirklichkeit umschlossen: «Was daher real möglich ist, das kann nicht mehr anders sein; unter diesen Bedingungen und Umständen kann nicht etwas anderes erfolgen« (Logik, Werke IV, S 211). Hegel spricht hier ersichtlich auch als Feind des leeren Meinens, des müßigen Umstellens der Geschichte nach dem, was hätte geschehen können, des abstrakten Ideals, des «Mädchens, wie es sein soll«, des «Staats, wie er sein soll« und so fort. Aber er spricht auch als Nichtdenker der Zukunft, als Kreis-Dialektiker des Vergangenen oder, was aufs Gleiche herauskommt, des ewig Geschehenden, ewig in seine Kreise Zurückkehrenden, kurz, hier spricht jenes Reaktionäre an Hegel, dem die Philosophie, um zu verändern, ohnehin immer zu spät kommt. Dem der Gedanke, laut Vorrede zur Rechtsphilosophie, ohnehin erst in der Zeit erscheint, »nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat«. Auch noch in diesem Satz ist ein Stück Diodoros Kronos, groß gewordenen Stils, diesesfalls als Feier der Vergangenheit, der angeblich die ganze Welt umfassenden. Genau dieses Pathos der Statik, so erstaunlich am gewaltigen Dialektiker, ließ also Hegel die Möglichkeit hintansetzen oder ins untergeordnet /(284) Abgetane versetzen. Hierher gehört auch folgender, den Prozeß abschließender Lehrsatz Hegels: «Was innerlich ist, ist auch äußerlich vorhanden und umgekehrt; die Erscheinung zeigt nichts, was nicht im Wesen ist, und im Wesen ist nichts, was nicht manifestiert ist« (Enzyklopädie, § 139). Dazu halte man freilich die frühere Bekundung aus der Vorrede zur Phänomenologie: »Es ist... nicht schwer zu sehen, daß unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung«
(Werke II, S. 10). So wäre denn die Konsequenz aus dieser Bekundung, die Hegel nur nicht gezogen hat, allerdings diese: wo eine Zeit der «Geburt« ist, ist auch der Schoß eines real Möglichen, dem sie entspringt, und wo «Arbeit der Umgestaltung« ist, muß die Potenz des Umgestaltens wie die Potentialität des Umgestaltbaren mehr sein als nur leere Abstraktion der Reflexion-in-sich. Item, die Logik und Ontologie des weiten Reichs des Möglichen ist erdrückt worden von dem statischen Wahn, daß alles Mögliche im Wirklichen bereits ausgestaltet sei. Daß es deshalb so gleichgültig sei wie die Ähre, aus der das Korn heraus ist, oder wie Schachfiguren nach beendetem Spiel. Die Wahrheit ist aber die Marxsche, die von aller bisherigen Philosophie sich abhebende, daß es darauf ankomme, die Welt als richtig interpretierte, das heißt eben als dialektisch-materialistisch prozeßhafte, als unabgeschlossene, zu verändern. Veränderung der veränderbaren Welt ist die Theorie-Praxis des realisierbar real Möglichen an der Front der Welt, des Weltprozesses. Und an diesem Ende ist das real Mögliche, das in jeder kontemplativ-statischen Philosophie heimatlose, das Realproblem der Welt selber: als das noch Unidentische von Erscheinung und wirklichem Wesen, schließlich von Existenz und Essenz in ihr. Möglichkeit verwirklichen Der Mensch ist dasjenige, was noch vieles vor sich hat. Er wird in seiner Arbeit und durch sie immer wieder umgebildet. Er steht immer wieder vorn an Grenzen, die keine mehr sind, indem er /(285) sie wahrnimmt, er überschreitet sie. Das Eigentliche ist im Menschen wie in der Welt ausstehend, wartend, steht in der Furcht, vereitelt zu werden, steht in der Hoffnung, zu gelingen. Denn was möglich ist, kann ebenso zum Nichts werden wie zum Sein: das Mögliche ist als das nicht voll Bedingte das nicht Ausgemachte. Daher eben ist dieser realen Schwebe gegenüber von vornherein, wenn der Mensch nicht eingreift, ebenso Furcht wie Hoffnung angemessen, Furcht in der Hoffnung, Hoffnung in der Furcht. Deshalb haben die Stoiker - weise oder auch allzu passiv weise geraten, der Mensch solle sich nicht in der Nähe von Verhältnissen ansiedeln, über die er keine Macht hat. Doch indem beim Menschen das aktive Vermögen besonders zur Möglichkeit gehört, so macht der Einsatz dieser Aktivität und Tapferkeit, sobald und soweit er stattfindet, ein Übergewicht der Hoffnung. Tapferkeit dieses Sinns ist Gegenzug gegen die negative Möglichkeit des Abwegs ins Nichts. Sie ist aber nur Gegenzug, indem sie, statt der raschen, abstrakten Heldentat, sich der genauesten Vermittlung mit den gegebenen Bedingungen versichert. Das ist: mit der Reife dieser Bedingungen sich vermittelt und mit ihrem auf der gesellschaftlichen Tagesordnung stehenden Inhalt. Nur dieses ist Praxis nach Maßgabe des jeweils Möglichen im Feld des insgesamten Möglichkeit-Seins der unabgeschlossenen Geschichte und Welt. Nur solche Praxis kann die im Geschichtsprozeß anhängige Sache: die Naturalisierung des Menschen, die Humanisierung der Natur aus der realen Möglichkeit zur Wirklichkeit überführen. Ein Zukunftsland, wie alles Totum des Möglichen, aber es ist voll genau verfolgbarer geschichtlichtendenzieller Vermittlung. Wie die Zeit, nach Marx, der Raum der Geschichte ist, so ist der Zukunftsmodus der Zeit der Raum der realen Möglichkeiten der Geschichte, und er liegt allemal am Horizont der jeweiligen Tendenz des Weltgeschehens. Das ist theoretisch-praktisch: an der Front des Weltprozesses, wo die Entscheidungen fallen, neue Horizonte aufgeben. Und der Prozeß in diese Zukunft ist einzig der der Materie, die sich durch den Menschen als ihrer höchsten Blüte zusammenfaßt und zu Ende bildet.
Das Unsere wie auch das noch nicht Unsere hat diesen Weg vor sich, er ist rauh und offen. Menschen und Dinge sind in dieser /(286) Bahn vereint, auf diese Art hängen Mensch und Welt am besten zusammen. Wobei durch die Menschen, vor nicht mehr als einigen tausend Jahren, der entscheidende Stoß gekommen ist, durch den eröffnet wurde, was man in unbescheidener, doch nur vorläufig übertriebener Weise Weltgeschichte nennt. Der Mensch und seine Arbeit ist derart im historischen Weltvorgang ein Entscheidendes geworden; mit der Arbeit als Mittel zur Menschwerdung selber; mit den Revolutionen als Geburtshelfern der künftigen Gesellschaft, womit die gegenwärtige schwanger ist; mit dem Ding für uns, der Welt als vermittelter Heimat, wozu die Natur in kaum erst betretener, gar aufgesprengter Möglichkeit ist. Der subjektive Faktor ist hierbei die unabgeschlossene Potenz, die Dinge zu wenden, der objektive Faktor ist die unabgeschlossene Potentialität der Wendbarkeit, Veränderbarkeit der Welt im Rahmen ihrer Gesetze, ihrer unter neuen Bedingungen sich aber auch gesetzmäßig variierenden Gesetze. Beide Faktoren sind miteinander stets verflochten, in dialektischer Wechselwirkung, und nur die isolierende Überbetonung des einen(wodurch das Subjekt zum letzten Fetisch wird ) oder des anderen (wodurch das Objekt, in scheinbarem Selbstlauf, zum letzten Fatum wird) reißen Subjekt und Objekt entzwei. Die subjektive Potenz fällt zusammen nicht nur mit dem Wendenden, sondern mit dem Realisierenden in der Geschichte, und desto mehr fällt sie damit zusammen, je mehr die Menschen bewußte Hersteller ihrer Geschichte werden. Die objektive Potentialität fällt zusammen nicht nur mit dem Veränderbaren, sondern mit dem Realisierbaren in der Geschichte, und desto mehr fällt sie damit zusammen, je mehr die vom Menschen unabhängige Außenwelt ebenso eine wachsend mit ihm vermittelte ist. Realisierendes ist gewiß auch, mit wilder Wirkungskraft und Samen, auch großer Breite, in der vormenschlichen und außermenschlichen Welt. Ist hier, obzwar mit keinem oder schwachem Bewußtsein, von der gleichen intensiven Wurzel, aus der dann auch die menschlich subjektive Potenz entsprungen ist. Doch noch gewisser faßt der Mensch als Realisierendes - vor allem sofern und nachdem es nicht mehr mit falschem Bewußtsein versehen ist - die zentrale Potenz in der Potenz-Potentialität der prozessualen Materie zusammen. Diese zentrale Potenz steht derart wachsend in der Möglichkeit, das /(287) treibende Kern-Interesse alles Geschehens, diesen Ursprung und Inhalt der letzten realen Möglichkeit, selber wachsend zu treffen, anzutreffen, ihn zu identifizieren, ja sich mit ihm manifest-identisch zu machen. So transfinit auch alle dergleichen Ausrichtungen sind, so liegen sie doch in der strengen und konsequenten Verlängerungslinie des mit bewußter Herstellung der Geschichte Bezeichneten - contra undurchschautes Schicksal. Wonach eben die Realisierung des Realisierenden selber, das heißt, die adäquate Manifestierung des Geschichtsbildenden, Prozeß-Erregenden, als des Kerns der Realmöglichkeit, die ebenso entlegenste wie positiv-tiefste Realmöglichkeit ausmacht; mit kaum erst partiell vorliegenden Bedingungen. Dennoch ist hier das Ganze des bewußten Herstellens der Geschichte sichtbar: erfaßte, erlangte, ausgebreitete causa sui in Gesellschaft und Natur. Wodurch die Realisierung des Realisierenden, diese letzte Realmöglichkeit, das gleiche ist wie das letzte Realproblem: Gesellschaft wie Natur in die Angeln zu heben. Und eben die Welt dieser letzten Realmöglichkeit, die wenigstens definitorisch antizipierbare Welt der causa sui, stellt sich im Exempel dar als: Einklang des unverdinglichten Objekts mit dem manifestierten Subjekt, des unverdinglichten Subjekts mit dem manifestierten Objekt. Das sind die - einer nahen wie fernen Zukunft zugekehrten Grundproportionen der menschlichen Entwicklung. Die Angel in der menschlichen
Geschichte aber ist ihr Erzeuger der arbeitende Mensch, der endlich nicht mehr veräußerte, entfremdete, verdinglichte, für den Profit seiner Ausbeuter unterjochte. Marx ist der verwirklichte Lehrer dieser Aufhebung des Proletariats, dieser möglichen, wirklich werdenden Vermittlung der Menschen mit sich selbst und ihrem normalen Glück. Die Angel in der Geschichte der Natur aber, die der Mensch zum Unterschied von seiner eigenen Geschichte zwar beeinflußt, doch nicht macht, ist jenes mit uns kaum noch vermittelte, ja noch hypothetische Agens des außermenschlichen Geschehens, das abstrakt Naturkraft heißt, unhaltbar-pantheistisch natura naturans genannt worden war, das jedoch in dem Augenblick konkret zugänglich gemacht werden kann, wo der arbeitende Mensch, dieser stärkste, höchstbewußte, von der übrigen Natur keinesfalls abgetrennte Teil des universalen materiellen Agens, aus /(288) dem halben Inkognito seiner bisherigen Entfremdung herauszutreten beginnt. Marx ist der essentielle Lehrer dieser sich annähernden Vermittlung mit dem Produktionsherd des Weltgeschehens insgesamt, der, wie Engels sagt, Verwandlung des angeblichen Dings an sich zum Ding für uns im Maß einer möglichen Humanisierung der Natur. Freies Volk auf freiem Grund, so total gefaßt, das ist das Endsymbol der Realisierung des Realisierenden, also des radikalsten Grenzinhalts im objektiv real Möglichen überhaupt. 9
WELTVERÄNDERUNG ODER DIE ELF THESEN VON MARX ÜBER FEUERBACH
Das Denken nach vornhin ist seit langem angesagt und zu hören. Nur die Feigen reden sich aus allem heraus, und die Lügner bleiben allgemein. Nur sie verstecken sich in weiten oder spinösen Gewändern, suchen immer woanders zu sein als dort, wo man sie ertappt. Aber das Wahre kann überhaupt nicht genug bestimmt sein, auch dann und gerade dann, wenn die Sache vor dem Blick noch dämmert. Durch diesen frühen Spürsinn fürs Wesentliche gelangen bereits dem neunzehnjährigen Marx, im erhaltenen Brief an seinen Vater, scharf gefaßte Hauptsätze schlechthin. Diese Art will von Anfang an in den Kern der Sache, verspielt sich nirgends ins Unnütze, wirft es, sobald es erkannt ist, sogleich ab. So ist sie fähig, bei allem breit Erblickten, lang Durchdachten, das hinzukommt, jederzeit wieder in Form zu sein, zuschlagend und pointierend. Das Erfaßte, das sich so zu fassen versteht, zeigt die Pointen auf dem Weg. Mit und an ihnen schärft sich nun der Zug nach vorwärts, damit ihm selbst mögliche Umschweife noch dienen. Freilich auch ist dies Weisende, in seiner Folge, nicht immer so rasch überblickbar, wie es, in seiner Kürze, zitierbar ist. Denn bedeutende Kürze ist zusammenhängend, darum ist ihr Wort am wenigstens schnell fertig. /(289)
Zeit der Abfassung
So muß sich der Verstand an solchen Sätzen immer wieder neu bewähren. Das nirgends frischer als an der gedrängten Sammlung gedrängtester Weisungen, die als die Elf Thesen über Feuerbach bekannt sind. Marx hat sie im April 1845 in Brüssel niedergeschrieben, höchst wahrscheinlich im Zug der Vorarbeit zur »Deutschen Ideologie«. Veröffentlicht wurden die Thesen erst 1888 durch Engels, als Anhang zu dessen »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen
deutschen Philosophie«. Hierbei hat Engels den zuweilen nur skizzierten Text von Marx stilistisch leicht redigiert, selbstredend ohne die leiseste inhaltliche Veränderung. Engels schreibt in der Vorbemerkung zu seinem »Ludwig Feuerbach« über die Thesen: »Es sind Notizen für spätere Ausarbeitung, rasch hingeschrieben, absolut nicht für den Druck bestimmt, aber unschätzbar als das erste Dokument, worin der geniale Keim der neuen Weltanschauung niedergelegt ist.« Feuerbach hatte vom reinen Gedanken auf die sinnliche Anschauung, vom Geist auf den Menschen, samt der Natur als seiner Basis, zurückgerufen. Wie bekannt, hatte diese so »humanistische« wie »naturalistische« Absage an Hegel (mit Mensch als Hauptgedanke, Natur statt Geist als Prius) auf den jungen Marx einen starken Einfluß. Feuerbachs «Das Wesen des Christentums«, 1841, seine »Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie«, 1842, auch noch seine «Grundsätze der Philosophie der Zukunft«, 1843, wirkten desto befreiender, als auch die linke Hegelschule von Hegel nicht loskam, vielmehr über eine lediglich innerhegelsche Kritik am Meister des Idealismus nicht hinausging. »Die Begeisterung«, sagt Engels im »Ludwig Feuerbach« noch an die fünfzig Jahre später, rückblickend, »war allgemein: wir waren alle momentan Feuerbachianer. Wie Enthusiastisch Marx die neue Auffassung begrüßte, und wie sehr er - trotz aller kritischen Vorbehalte - von ihr beeinflußt wurde, kann man in der >HeiligenFamilie< lesen« (Ludwig Feuerbach, Dietz, 1946,S. 14). Die deutsche Jugend von damals glaubte statt Himmel endlich Land zu sehen, menschlich, diesseitig. Indessen hat sich Marx vor diesem allzu vagen diesseitigen Menschsein recht bald gelöst. Die Tätigkeit an der «Rheinischen /(290) Zeitung« hatte ihn in weit engeren Kontakt mit politischen und ökonomischen Fragen gebracht, als die Links-Hegelianer, aber auch Feuerbachianer besaßen. Eben dieser Kontakt führte Marx von der Kritik der Religion, auf die Feuerbach sich beschränkte, ,wachsend zur Kritik des Staats, ja bereits der gesellschaftlichen Organisation, die - wie die »Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie« 1841-1843 erkennt - die Form des Staats bestimmt. In Hegels Unterscheidung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat, von Marx pointiert, steckte schon selber mehr ökonomisches Bewußtsein als bei seinen Epigonen, auch bei Feuerbachianern. Die Ablösung von Feuerbach geschah hochachtungsvoll und zunächst nur wie eine Korrektur oder gar bloße Ergänzung, doch der gänzlich andere, der gesellschaftliche Blickpunkt ist von Anfang an klar. Am 13. März 1843 schreibt derart Marx an Ruge: «Feuerbachs Aphorismen sind mir nur in dem Punkt nicht recht, daß er zu sehr auf die Natur und zu wenig auf die Politik hinweist. Das ist aber das einzige Bündnis, wodurch die jetzige Philosophie eine Wahrheit werden kann« (MEGA I, 1/2, S.308). Die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte «, 1844, enthalten noch eine bedeutende Feier Feuerbachs, freilich als Gegensatz zur Hirnweberei Bruno Bauers; sie rühmen so unter Feuerbachs Taten vor allem die »Gründung des wahren Materialismus und der reellen Wissenschaft, indem Feuerbach das Verhältnis >des Menschen zum Menschen< ebenso zum Grundprinzip der Theorie macht« (MEGA I, 3,S. 152). Doch sind die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte « bereits viel weiter, als sie aussprechen, über Feuerbach hinaus. Das Verhältnis »des Menschen zum Menschen« bleibt in ihnen kein abstrakt-anthropologisches überhaupt, wie bei Feuerbach, vielmehr dringt die Kritik der menschlichen Selbstentfremdung (von der Religion auf den Staat übertragen) bereits zum ökonomischen Kern des Entfremdungsvorgangs. Das nicht zuletzt in den großartigen Partien über die Hegelsche Phänomenologie, in denen die geschichtsbildende Rolle der Arbeit kenntlich gemacht wird, in denen Hegels Werk daraufhin interpretiert wird. Zugleich
aber kritisieren die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte « dieses Werk, weil es die menschliche Arbeitstätigkeit nur als geistige, nicht als materielle auffaßt. Der Durchbruch zur politischen Öko- /(291) nomie, also weg von Feuerbachs allgemeinem Menschen, vollzieht sich in dem ersten zusammen mit Engels unternommenen Werk, in der »Heiligen Familie«, ebenfalls 1844. Die »Ökkonomisch-philosophischen Manuskripte « enthielten bereits den Satz: «Arbeiter selbst ein Kapital, eine Ware« (1. c. S.103), wonach also vom Feuerbachschen Menschsein hier nichts übrigbleibt als seine Negation im Kapitalismus; die »Heilige Familie« notierte den Kapitalismus selber als den Quell dieser stärksten und letzten Entfremdung. Statt des Feuerbachschen Gattungsmenschen, mit seiner gleichbleibenden abstrakten Natürlichkeit, erschien nun deutlich ein historisch wechselndes Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse und vor allem: ein klassenmäßig antagonistisches. Die Entfremdung freilich umfaßte beide: die Ausbeuterklasse wie die der Ausgebeuteten, vor allem im Kapitalismus, als der stärksten Form dieser Selbstentäußerung, Verobjektivierung. »Aber«, sagt die »heilige Familie«, »die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigene Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz« (MEGA I, 3, S. 206).Was eben die jeweils arbeitsteilige, klassenhafte Produktion und Austauschweise, zuhöchst die kapitalistische, als den endlich entdeckten Quell der Entfremdung erwies. Spätestens von 1843 ab war Marx Materialist; die »Heilige Familie« hat 1844 die materialistische Geschichtsauffassung geboren, mit ihr den wissenschaftlichen Sozialismus. Und die »Elf Thesen«,zwischen der »Heiligen Familie« von 1844/45 und der «Deutschen Ideologie« von 1845/46 entstanden, stellen so den formulierten Abschied von Feuerbach dar, zusammen mit höchst originalem Erbantritt. Politisch-empirische Erfahrung aus der rheinischen Zeit plus Feuerbach haben Marx gegen den »Geist« und wieder »Geist« der linken Hegelschule immun gemacht. Der bezogene Standpunkt des Proletariats hat Marx ursächlich-konkret, also wahrhaft (aus dem Fundament) humanistisch werden lassen. Wie sich von selbst versteht, ist der Abschied hier kein völliger Bruch. Beziehungen zu Feuerbach gehen durch weite Teile des Marxschen Werks, auch nach dem Abschied der «Elf The- /(292) sen«. Am nächsten steht dem verlassenen Land, schon aus zeitlichen Gründen, die den Thesen unmittelbar nachfolgende »Deutsche Ideologie«. Manche kritische Fassung der Thesen kehrt in ihr wieder, wobei freilich die Kritik an Feuerbach und die mörderische Erledigung schlechter Hegelepigonen sich hier sehr unterscheiden. Feuerbach gehörte noch zur bürgerlichen Ideologie, also mußte die Auseinandersetzung mit ihren scheinradikalen Zerfallserscheinungen, wie Bruno Bauer und Stirner, auch ihn in die »Deutsche Ideologie« verwickeln. Doch so, daß der Philosoph stellenweise noch selber den Griff der konsequenten Waffe lieferte, mit der Marx auch gegen ihn, vor allem aber gegen die Linkshegelianer dreinfuhr. Demgemäß beginnt die »Deutsche Ideologie« grundlegend mit dem Namen Feuerbach und kritisiert, von seiner Religionskritik ausgehend, die lediglich inneridealistische «Überwindung« des Idealismus. »Keinem von diesen Philosophen ist es eingefallen, nach dem Zusammenhange der deutschen Philosophie mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhange ihrer Kritik mit ihrer eigenen materiellen Umgebung zu fragen« (MEGA I, 5, S 10). Marx betont auf der anderen Seite jedoch Feuerbacbs »großen Vorzug vor den >reinen< Materialisten, daß er einsieht, wie auch der
Mensch >sinnlicher Gegenstand< ist«. In der Tat ist mit der angegebenen Anerkennung genau so die Wichtigkeit Feuerbachs für die Heranbildung des Marxismus bezeichnet wie mit der Kritik an seinem abstrakten, geschichtslosen Menschwesen das Un-, ja Anti-Feuerbachsche des ausgebildeten Marxismus selbst. Die Anerkennung sagt: ohne den Menschen als ebenfalls »sinnlichen Gegenstand« wäre Menschliches als Wurzel aller gesellschaftlichen Dinge sehr viel schwerer materialistisch herausgearbeitet worden. Feuerbachs anthropologischer Materialismus bezeichnet so den erleichtert möglichen Übergang vom bloß mechanischen Materialismus zum historischen. Die Kritik sagt: ohne die Konkretisierung des Menschlichen zu wirklich existierenden, vor allem gesellschaftlich tätigen Menschen, mit wirklichen Verhältnissen zueinander und zur Natur, wären Materialismus und Geschichte eben dauernd auseinandergefallen, trotz aller «Anthropologie«. Hierbei bleibt aber Feuerbach für Marx stets bedeutend, sowohl als Durchgang wie als der einzige zeitgenössi- /(293) sche Philosoph, mit dem eine Auseinandersetzung überhaupt möglich, klärend und fruchtbar ist. Die Grundgedanken, auf die Marx derart kritisch reagiert, über die er produktiv wegschreitet, stehen wesentlich in Feuerbachs Hauptschrift »Das Wesen des Christentums «,von 1841. Weiter kommen in Betracht Feuerbachs »Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie«, von 1842, und die »Grundsätze der Philosophie der Zukunft«, von 1843. Die früheren Schriften des Philosophen dürften für Marx kaum Bedeutung gehabt haben, da Feuerbach mindestens bis 1839 zu unoriginell war, zu sehr unter Hegels Einfluß stand. Erst von da ab hat Feuerbach den Hegelschen Begriff der Selbstentfremdung auf die Religion angewandt. Erst von da ab sagte der frühere Hegelianer, sein erster Gedanke sei Gott gewesen, sein zweiter Vernunft, sein dritter und letzter sei der Mensch. Das heißt: so wie die Hegelsche Vernunftphilosophie den Kirchenglauben überwunden habe, so setze nun die Philosophie den Menschen (mit Einschluß der Natur als seiner Basis) an Hegels Statt. Bei alldem aber konnte Feuerbach den Weg nicht finden zur Wirklichkeit; gerade das Wichtigste an Hegel: die historisch-dialektische Methode warf er fort. Erst die »Elf Thesen« wurden die Wegweiser aus bloßem Anti-Hegel in die veränderbare Wirklichkeit, aus dem Materialismus der Etappe in den der Front. Frage der Gruppierung Eine alte und neue Frage ist, wie die Thesen geordnet werden müssen. Denn so, wie sie dastehen, zur Selbstverständigung, nicht für den Druck bestimmt, überschneiden sie sich mehrfach. Bringen auch den gleichen Inhalt an anderer Stelle, machen den Einteilungs- und Abfolgegrund nicht überall sichtbar. Bedürfnisse des Unterrichts haben daher mancherlei Versuche gezeitigt, die Thesen nach ihrer Zusammengehörigkeit umzuordnen und sie so in Gruppen zu gliedern. Dabei wird zuweilen versucht, die Nummernabfolge bestehen zu lassen, gleich als wären die »Elf Thesen« hintereinander, in Reih und Glied subsumierbar. Solch nummerntreue Gruppierung sieht etwa folgendermaßen aus: Thesen «1, 2, 3 stehen unter: Einheit von Theorie und Praxis /(294) im Denken, Thesen 4 und 5 unter: Verständnis der Wirklichkeit in Widersprüchen, Thesen 6, 7, 8, 9 unter: Die Wirklichkeit selber in Widersprüchen, Thesen «10,«11 unter: Ort und Aufgabe des dialektischen Materialismus in der Gesellschaft. Das ist die Ordnung nach Ziffern; indem es noch mehrere solcher gibt und inhaltlich ganz verschiedene, ergibt sich, wie wenig der bloße Stellenwert der Zahlen hier lehrt. Jede solcher Ordnungen behandelt die Reihenfolge einerseits zu hoch, indem sie sie ewig eingegraben sein läßt, wie im
Zwölftafelgesetz oder in den Zehn Geboten, andererseits behandelt sie sie so niedrig und formalistisch, als ob sie eine Briefmarkenserie wäre. Numerierung aber ist nicht Systematik, und am wenigsten hat Marx diesen Ersatz nötig. Daher also muß philosophisch, nicht arithmetisch gruppiert werden, daß heißt, die Reihenfolge der Thesen ist einzig die ihrer Themen und Inhalte. Es gibt, soweit zu sehen ist, noch keinen Kommentar zu den Elf Thesen; erst mit ihm aber, als aus der gemeinsamen Sache selber geschehend, geht auch der sich fortproduzierende Zusammenhang ihrer Kürze wie Tiefe auf. Dann erscheint: Erstens die erkenntnistheoretische Gruppe, Anschauung und Tätigkeit betreffend (Thesen 5, 1, 3); zweitens die anthropologisch-historische Gruppe, Selbstentfremdung, ihre ,wirkliche Ursache und den wahren Materialismus betreffend (Thesen 4,6, 7,9, 10); drittens die zusammenfassende oder Theorie-Praxis-Gruppe, Beweis und Bewährung betreffend (Thesen 2, 8). Zuletzt erfolgt die wichtigste These, als das Losungswort, woran sich nicht nur die Geister endgültig scheiden, sondern mit dessen Gebrauch sie aufhören, nichts als Geister zu sein (These 11). Sachgemäß wird die erkenntnistheoretische Gruppe mit These 5 eröffnet, die anthropologisch-historische mit These 4; denn diese Thesen bezeichnen die beiden Grundlehren Feuerbachs, die Marx relativ anerkennt, und über die er in den übrigen Thesen der jeweiligen Gruppen hinausgeht. Die übernommene Grundlehre ist in These 5 die Abkehr vom abstrakten Denken, in These 4 die Abkehr von der menschlichen Selbstentfremdung. Und entsprechend dem ersten Grundzug der materialistischen Dialektik, dessen Abbildung sich hier anmeldet, besteht zwischen den einzelnen Thesen innerhalb der jeweiligen Gruppe freie, sich ergänzende Bewegung /(295) der Stimmen; so wie zwischen den Gruppen selber ständige Wechselbeziehung geschieht, ein zusammenhängendes einheitliches Ganzes. Erkenntnistheoretische Gruppe: Die Anschauung und Tätigkeit Thesen 5, 1, 3 Anerkannt wird hier, daß auch denkend nur vom Sinnlichen auszugehen ist. Die Anschauung, nicht der von ihr nur abgezogene Begriff ist und bleibt der Anfang, an dem jedes materialistische Erkennen sich ausweist. Daran hatte Feuerbach in einer Zeit erinnert, wo noch jede akademische Straßenecke von Geist, Begriff und wieder Begriff wider klang. These 5 betont dieses Verdienst: Feuerbach ist mit dem Kopfwesen »nicht zufrieden«, er will die Füße auf dem angeschauten Boden. Aber These 5, sodann vor allem These 1 machen zugleich kenntlich, daß bei betrachtender Sinnlichkeit, wie Feuerbach sie einzig kennt, die Füße noch nicht gehen können und der Boden selber ungangbar bleibt. Der so Anschauende versucht auch gar keine Bewegung, er bleibt im Stand des bequemen Genießens. Daher lehrt These 5: bloßes Anschauen »faßt die Sinnlichkeit nicht als praktische, als menschlich-sinnliche Tätigkeit«. Und These 1 wirft dem ganzen bisherigen Materialismus vor, daß die Anschauung nur «unter der Form des Objekts« gefaßt wird, »nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv«. Daher geschah es, daß die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus, «vom Idealismus entwickelt wurde - aber nur abstrakt, da der Idealismus natürlich die wirkliche sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt«. An Stelle der untätigen Betrachtung, worin aller bisherige Materialismus, einschließlich des Feuerbachschen, verharrt, tritt so der Faktor menschliche Tätigkeit. Und das bereits innerhalb des sinnlichen, also unmittelbaren, als grundlegend anfangenden Wissens: Sinnlichkeit als Kenntnis, als wirkliche Basis der Erkenntnis ist so
keineswegs dasselbe wie (kontemplative) Anschauung. Der von Marx nun in These 1 derart betonte Begriff Tätigkeit stammt eben aus der idealistischen Erkenntnistheorie, und zwar nicht aus der idealistischen schlechthin, sondern erst aus der in bürgerlicher Neuzeit entwickelten. Denn /(296) dieser Begriff setzt eine Gesellschaft als Basis voraus, wo die herrschende Klasse sich selber in Tätigkeit, also Arbeit sieht oder sehen möchte. Das aber ist erst in der kapitalistischen Gesellschaft der Fall, sofern hier die Arbeit, soll heißen: der Arbeitsschein um die herrschende Klasse, zum Unterschied von allen vorbürgerlichen Gesellschaften nicht mehr schändet, sondern geehrt wird. Das aus Notwendigkeit des Profits, der in dieser Profitgesellschaft sich entfesselnden Produktivkräfte. Die in der antiken Sklavenhalter-, auch in der feudalen Leibeigenengesellschaft verachtete Arbeit (sogar die Bildhauer zählten in Athen zu den Banausen) reflektiert sich selbstverständlich auch in den Gedanken der herrschenden Klasse nicht, gänzlich eben zum Unterschied von der Ideologie des Unternehmers, des Bourgeois, des sogenannten homo faber. Dessen in der Neuzeit freiwerdende, die bürgerliche Neuzeit bildende, noch lange fortschrittliche Profitdynamik sich auch im Überbau durchaus kenntlich macht und die Basis selber aktiviert. Das sowohl moralisch, in Gestalt eines sogenannten Arbeitsethos, wie erkenntnistheoretisch, in Gestalt eines Begriffs der Tätigkeit, eines Arbeitslogos in der Erkenntnis. Das Arbeitsethos, vorzüglich von den Calvinisten zwecks Kapitalsbildung gepredigt, diese kapitalistische vita activa setzte sich gegen die aristokratische Muße ab, auch gegen die vita contemplativa der beschaulichen, mönchisch-gelehrten Existenz. Parallel unterschied sich der Arbeitslogos in der Erkenntnis, dieser vorzüglich im bürgerlichen Rationalismus übersteigerte Begriff des »Erzeugens«,von dem antiken wie noch scholastischen Erkenntnisbegriff des bloßen Empfangens: der Schau, der visio, der passiven Abbildung. Wie sie im Begriff der »Theoria« selber erhalten ist, gemäß dem ursprünglichen Schau-Sinn des Worts. Auch Platon ist derart am Ende, cum grano salis, empfangender Sensualist; denn wie immer ideal und wie immer rein auf Ideen bezogen sich seine Schau gibt, so ist sie doch eben wesenhaft rezeptive Schau, und der Denkvorgang wird durchgehends entsprechend der sinnlichen Anschauung gefaßt. Nun aber steht selbst Demokrit, also der erste große, ja der bis Marx tonangebende Materialist, ebenfalls in dieser arbeitsfremden, den Arbeitsvorgang nicht reflektierenden Ideologie. Auch Demokrit faßt die Erkenntnis nur als passive; das Denken, wodurch /(297) bei ihm das wahrhaft Wirkliche erkannt wird, das Wirkliche der Atome samt ihrem Mechanismus, wird hier einzig durch den Eindruck entsprechender Bilderchen (eidola) erklärt, die von der Oberfläche der Dinge sich ablösen und in den Wahmehmend-Erkennenden einfließen. Im Punkt erkenntnistheoretische Nicht-Tätigkeit ist zwischen Platon und Demokrit mithin gar kein Unterschied; beide Erkenntnistheorien eint die Sklavenhaltergesellschaft, das ist hier: die Abwesenheit der verachteten Arbeitstätigkeit im philosophischen Überbau. Und nun: das Paradox erscheint, daß der Rationalismus, der Idealismus der Neuzeit, der sich von Platon oft weit entfernt hat, viel stärker den Arbeitsvorgang erkenntnistheoretisch reflektierte als der Materialismus der Neuzeit, der sich von seinem antiken Stammvater Demokrit ja nie so weit entfernt hat. Der ruhend abbildende Spiegel, diese Auslassung des Arbeitsbegriffs, ist derart, bis Feuerbach einschließlich, materialistisch häufiger als das Pathos der »Erzeugung«, gar der dialektischen Wechselabbildung von Subjekt-Objekt, Objekt-Subjekt aufeinander. Unter den neueren Materialisten lehrt einzig Hobbes rationale »Erzeugung«, mit dem Grundsatz, der bis zu Kant gilt: Nur solche Gegenstände sind erkennbar, die mathematisch konstruierbar sind. Doch so sehr Hobbes mittels dieses Grundsatzes
die Philosophie gerade als Lehre von der mathematisch-mechanischen Bewegung der Körper, mithin als Materialismus definieren konnte, so wenig kam er doch auch seinerseits über die von Marx gerügte »Form des Objekts«, nämlich über bloß kontemplativen Materialismus hinaus. Ein anderes geschah innerhalb des Idealismus dort, wo die »Erzeugung« aus der geometrischen Konstruktion in die wirkliche Arbeitsgestalt der historischen Genesis überging. Das gelang entschieden erst bei Hegel; erst die »Phänomenologie des Geistes« machte mit der Dynamik des erkenntnistheoretischen Arbeitsbegriffes immerhin historisch-idealistischen Ernst. Dieser lag auch weit über dem bloß mathematisch-idealistischen »Erzeugungs«-Pathos, wie es bei den großen Rationalisten der Manufakturperiode, bei Descartes, Spinoza, Leibniz, in ihren Halb-oder Ganz-Idealismus hineingewirkt hatte. Kein besserer Zeuge für diese Bedeutung der Hegelschen Phänomenologie, der von Feuerbach überhaupt nicht verstandenen, als Marx in den »Öko- /(298) nomisch-philosophischen Manuskripten«: die Größe der Phänomenologie wird von Marx eben darin gesehen, daß sie »das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift« (MEGA I, 3, S. 156). Dieser Satz also erläutert aufs beste das angegebene Manko des bloß anschauenden Materialismus, bis Feuerbach einschließlich: dem bisherigen Materialismus fehlt die dauernd oszillierende Suhjekt- Objekt-Beziehung, die Arbeit heißt. Daher eben faßt er den Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur «unter der Form des Objekts«, mit Auslassung der »menschlich-sinnlichen Tätigkeit«. Hegels Phänomenologie dagegen stand, wie Marx sagt, «auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomie« (1. c. S.157). Feuerbach aber stand erkenntnistheoretisch noch auf dem Standpunkt der Sklavenhaltergesellschaft oder auch der Leibeigenschaft, wegen des Nicht-Tätigen, noch Betrachterischen in seinem Materialismus. Dabei macht Marx selbstverständlich klar, daß die bürgerliche Tätigkeit noch keine ganze, rechte ist. Sie kann das nicht sein, weil sie eben nur Arbeitsschein ist, weil die Werterzeugung nie vom Unternehmer, sondern vom Bauern, Handwerker, zuletzt Lohnarbeiter ausgeht. Und weil der abstrakte, verdinglichte, unübersichtliche Warenumlauf auf freiem Markt gar nichts anderes als ein letzthin passives, äußerliches, abstraktes Verhältnis zu ihm zuließ. Deshalb betont These 1: auch der erkenntnistheoretische Reflex der Tätigkeit konnte nur ein abstrakter sein, «da der Idealismus natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt«. Jedoch auch der bürgerliche Materialist Feuerbach, der vom abstrakten Denken weg will, der statt verdinglichter Gedanken wirkliche Gegenstände sucht, läßt die menschliche Tätigkeit aus diesem wirklichen Sein aus; er faßt sie »selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit«. Das wird in der Einleitung zur »Deutschen Ideologie« schlagend weiter ausgeführt: »Feuerbach spricht namentlich von der Anschauung der Naturwissenschaft, er erwähnt Geheimnisse, die nur dem Auge des Physikers und Chemikers offenbar werden; aber wo wäre ohne Industrie und Handel die Naturwissenschaft? Selbst diese >reine< Naturwissenschaft erhält ja ihren Zweck sowohl wie ihr /(299) Material erst durch Handel und Industrie, durch sinnliche Tätigkeit der Menschen. So sehr ist die Tätigkeit, dieses fortwährende sinnliche Arbeiten und Schaffen, diese Produktion die Grundlage der ganzen sinnlichen Welt, daß, wenn sie auch nur für ein Jahr unterbrochen würde, Feuerbach eine ungeheure Veränderung nicht nur in der natürlichen Welt vorfinden, sondern auch die ganze Menschenwelt und sein eigenes Anschauungsvermögen, ja seine eigene Existenz sehr bald vermissen würde. Allerdings bleibt dabei die Priorität der äußeren Natur bestehen, und allerdings hat dies alles keine Anwendung auf die ursprünglichen,
durch generatio aequivoca erzeugten Menschen; aber diese Unterscheidung hat nur insofern Sinn, als man den Menschen als von der Natur unterschieden betrachtet. Übrigens ist diese, der menschlichen Gesellschaft vorhergehende Natur ja nicht die Natur, in der Feuerbach lebt, nicht die Natur, die heutzutage, ausgenommen etwa auf einigen australischen Koralleninseln neueren Ursprungs, nirgends mehr existiert, also auch für Feuerbach nicht existiert« (MEGA 1, s, S.33 f.). Wie entscheidend ist mit diesen Sätzen die menschliche Arbeit, die gerade als Gegenstand bei Feuerbach ganz heimatlose, als wichtiger, wenn nicht wichtigster Gegenstand in der die Menschen umgebenden Welt hervorgehoben. Wonach also das Sein, das alles bedingt, nun selber tätige Menschen in sich hat. Das bringt ganz erstaunliche Folgen, sie machen vor allem These 3 besonders wichtig - nicht nur gegen Feuerbach, auch gegen Vulgärmarxisten. Zwei weitere Begriffe der »sinnlichen Welt«, ein schlechter und ein oft mißverstandener, sind deshalb in diesem wahrhaft gegenständlichen Zusammenhang bemerkenswert, sie gehören engstens zu ihm. Betreffen sie doch die empiristischen Lieblingskinder oder auch Trümpfe jener angeblich tätigkeitsfremden Anschauung, die die »Umstände« nur als das sieht, was um die Menschen herumsteht. Da ist einmal die sogenannte Gegebenheit, ein besonders objekthaft, also scheinbar materialistisch bezogener Begriff. Jedoch abgesehen davon, daß es bedeutungsgemäß ein Wechselbegriff ist, der nicht gälte, wenn es kein Subjekt gäbe, dem allein etwas gegeben wird oder gegeben sein kann, ist in der Welt, die die Umgebung der Menschen ausmacht, kaum ein Gegebenes, das /(300) nicht ebenso ein Bearbeitetes wäre. Marx spricht daher vom »Material«, wie es die Naturwissenschaft ja erst durch Handel und Industrie erhält. In der Tat zeigt nur die Oberflächenbetrachtung Gegebenes; bei einigem Eindringen dagegen enthüllt sich jeder Gegenstand unserer normalen Umgebung als ein keineswegs schieres Datum. Er erweist sich vielmehr als Endresultat vorhergehender Arbeitsvorgänge, und noch der Rohstoff, außer dem, daß er gänzlich verändert ist, wurde mit Arbeit aus dem Wald geholt oder aus Felsen gehauen oder aus der Erdtiefe gefördert. So viel über den ersten passiven Trumpf, der ersichtlich gar keiner ist, sondern nur am Standort der Oberfläche gilt und sticht. Der zweite Trumpf angeblich tätigkeitsfremder Anschauung benutzt zunächst allerdings einen völlig legitimen, ja entschieden materialistischen Begriff, nämlich das Prius des Seins vor dem Bewußtsein. Erkenntnistheoretisch spricht sich dieses Prius aus als die unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existierende Außenwelt, geschichtlich als Priorität der materiellen Basis vor dem Geist. Aber Feuerbach wiederum hat diese Wahrheit einseitig verhärtet, er hat sie mechanistisch übertrieben, indem er auch hier die Tätigkeit ausgelassen hat. Unabhängigkeit des Seins vom Bewußtsein ist im Bereich der normalen menschlichen Umgebung keineswegs das Gleiche wie Unabhängigkeit des Seins von menschlicher Arbeit. Durch die Arbeitsvermittlung mit der Außenwelt wird die Unabhängigkeit dieser Außenwelt vom Bewußtsein, ihre Gegenständlichkeit vielmehr so wenig aufgehoben, daß sie gerade dadurch endgültig formuliert wird. Denn wie die menschliche Tätigkeit selber eine gegenständliche ist, also aus der Außenwelt nicht herausfällt, so ist auch die Subjekt-Objekt-Vermittlung, indem sie geschieht, ebenso ein Stück Außenwelt. Auch diese Außenwelt existiert unabhängig vom Bewußtsein, indem sie ja selber nicht unter der Form des Subjekts, aber freilich auch nicht nur »unter der Form des Objekts« erscheint. Sondern eben die wechselwirkende Vermittlung von Subjekt und Objekt darstellt, dergestalt, daß zwar überall das Sein das Bewußtsein bestimmt, aber gerade wieder das historisch entscheidende Sein, nämlich das ökonomische, außerordentlich viel objektives Bewußtsein enthält. Alles Sein aber ist
für Feuerbach autarkes Prius als rein vormenschliche Basis, Natur- /(301) basis, mit dem Menschen als Blüte, doch eben lediglich als Blüte, nicht als eigener Naturkraft. Die menschliche Produktionsweise, der im Arbeitsprozeß geschehende und regulierte Stoffwechsel mit der Natur, gar die Produktionsverhältnisse als Basis, all das hat aber einleuchtenderweise selber Bewußtsein in sich; ebenso wird die materielle Basis in jeder Gesellschaft vom Bewußtseins-Überbau wieder aktiviert. Was die Wechselwirkung in dieser Seins-Bewußtseins-Relation angeht, bei aller Priorität des ökonomischen Seins, so gibt eben These 3 darüber vorzüglichen Aufschluß. Es ist ein Aufschluß, der allerdings dem Vulgärmaterialismus keine Freude bereitet; dafür aber gibt er dem menschlichen Bewußtsein den reellsten Platz in den »Umständen», also gerade innerhalb der von ihm mitgebildeten Außenwelt. Die mechanistische Milieutheorie behauptet, »daß die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind«. Über diese einseitige, auch oft ganz naturalistische Abbildlehre (Milieu gleich Boden, Klima) setzt nun These 3 die dem bisher üblichen Materialismus so überlegene Wahrheit, »daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden, und daß der Erzieher selbst erzogen werden muß«. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß diese Veränderung der Umstände nun ohne Bezug auf jene objektive Gesetzmäßigkeit geschehen könnte, welche auch den Subjekt- und Aktivitätsfaktor bindet. Marx führt vielmehr einen Zweifrontenkrieg an diesem Punkt, er kämpft sowohl gegen die mechanistische Milieutheorie, im Seins-Fatalismus endend, wie gegen die idealistische Subjekttheorie, im Putschismus, mindestens in übersteigertem Tätigkeits-Optimismus endend. Eine Stelle aus der »Deutschen Ideologie» ergänzt derart These 3 durchaus, und zwar auf Grund der heilsamsten Wechselbewegung von Menschen und Umständen, von SubjektObjektVermittlung dauernd wechselwirkender, dauernd dialektischer Art. Dergestalt, daß in der Geschichte »auf jeder Stufe ein materielles Resultat, eine Summe von Produktionskräften, ein historisch geschaffenes Verhältnis zur Natur und der Individuen zueinander sich vorfindet, die jeder Generation von ihrer Vorgängerin überliefert wird, eine Klasse von Produktivkräften, Kapitalien und Umständen, die zwar einerseits von der neuen Generation /(302) modifiziert wird, ihr aber auch andererseits ihre eigenen Lebensbedingungen vorschreibt und ihr eine bestimmte Entwicklung, einen speziellen Charakter gibt - daß also die Umstände ebensosehr die Menschen wie die Menschen die Umstände machen« (MEGA I, 5, S. 27 f.). Wie gesagt, die Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt wird an dieser Stelle besonders betont, auch mit hörbarer Voranstellung der Umstand-Mensch-Relation vor die umgekehrte, so jedoch, daß der Mensch und seine Tätigkeit allemal das Spezifische der materiellen Geschichtsbasis bleiben, ja gleichsam deren Wurzel darstellen und ebenso deren Umwälzbarkeit. Selbst die Idee (in der Theorie) wird nach Marx eine materielle Gewalt, wenn sie die Massen ergreift; wie sehr erst ist die technisch-politische Veränderung der Umstände eine solche Gewalt, und wie deutlich bleibt auch der so verstandene Subjektfaktor innerhalb der materiellen Welt. Eine letzte Ausführung zu These 3 gibt das »Kapital«, den Menschen nun ganz entschieden zur Außenwelt schlagend, ja zur Natur: »Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eigenes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur... Die Erde selbst ist ein Arbeitsmittel, setzt jedoch zu ihrem Dienst als Arbeitsmittel in der Agrikultur wieder eine ganze Reihe
anderer Arbeitsmittel und eine schon relativ hohe Entwicklung der Arbeitskraft voraus« (Das Kapital 1, Dietz, 1947, S. 185, 187). Damit also ist die menschliche Tätigkeit mit ihrem Bewußtsein selber als Stück Natur erklärt, als wichtigstes dazu, eben als umwälzende Praxis gerade an der Basis des materiellen Seins, das primär wieder das folgende Bewußtsein bedingt. Jener Feuerbach, der keinerlei revolutionären Auftrag spürte, der auch über den Menschen als naturhaftes Gattungswesen nie hinauskam, hatte für dieses vermehrte, um die menschliche Aktivität vermehrte Prius Natur keinerlei Sinn. Das ist allerletzt der Grund, weshalb die Geschichte in seinem rein anschauenden Materialismus nicht vorkommt und weshalb er über das kontemplative Verhalten nicht hinausgelangt. So bleibt sein Verhältnis zum Objekt antik-aristokratisch, in inkonsequentem Gegensatz zum /(303) Pathos des Menschen, das er - wieder nur rein theoretisch und eben als bloße Blüte der vorhandenen Natur - in den Mittelpunkt seiner Religionskritik (und keiner anderen) stellte. Hoch sieht er daher auf die Praxis herab, die er nur als gemeines Geschäft kennt: »Die praktische Anschauung ist eine schmutzige, vom Egoismus befleckte Anschauung« (Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 1841, S.264). Es ist diese Stelle, auf die sich Marx in der These 1 zuletzt bezieht, wenn er sagt, daß bei Feuerbach «die Praxis nur in ihrer schmutzig-jüdischen Erscheinungsform gefaßt und fixiert wird«. Und wieviel Hochmut dieser Art gab es erst später, als die immer mehr »vom Egoismus befleckte Anschauung «,eine sogenannte reine Anschauung, dann eine sogenannte Wahrheit um ihrer selbstwillen sich ideologisch beibog. Wieviel «equestrische Wissenschaft« entstand da, hoch zu Roß, au dessus de la melée (außer dem Schmutz in ihr selber); wieviel Aristokratie des Wissens (ohne aristoi), verständnisinnig der schmutzigen Praxis verschworen, von der rechten abhaltend. Ahnungsvoll setzte Marx bereits gegen ein so reines Unverständnis wie dasjenige Feuerbachs das Pathos der »revolutionären, der praktisch-kritischen Tätigkeit«. Derart betont Marx gerade als Materialist, gerade innerhalb des Seins selber, den subjektiven Faktor der Produktionstätigkeit, als welcher, genau wie der objektive, ein gegenständlicher ist. Und das hat gewaltige, gerade auch anti-vulgärmaterialistische Konsequenzen; sie machen diesen Teil der Feuerbach-Thesen besonders kostbar. Ohne den begriffenen Arbeitsfaktor selber kann das Prius Sein, das ja keinerlei factum brutum oder Gegebenheit ist, in der Menschengeschichte nicht begriffen werden. Es kann erst recht nicht mit dem Besten der tätigen Anschauung, womit These 1 schließt, vermittelt werden: mit «der revolutionären, der praktisch-kritischen Tätigkeit«. Der arbeitende Mensch, diese in allen »Umständen« lebendige Subjekt-Objekt-Beziehung, gehört bei Marx entscheidend mit zur materiellen Basis; auch das Subjekt in der Welt ist Welt. /(304)
Anthropologisch-historische Gruppe: Die Selbstentfremdung und der wahre Materialismus Thesen 4, 6, 7, 9, 10
Anerkannt wird hier, daß menschlich stets von der Entfremdung auszugehen ist. These 4 gibt das Thema an: Feuerbach entschleierte die Selbstentfremdung in ihrer religiösen Gestalt. Seine Arbeit bestand also darin, »die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Aber«, fährt Marx fort, »er übersieht, daß nach Vollbringung dieser Arbeit die Hauptsache noch zu tun bleibt.« Feuerbach hatte, wie These 6 genauer bestimmt, das religiöse Wesen auf eine weltliche Grundlage insofern gebracht, als er es in das menschliche Wesen auflöste. Das war an sich ein bedeutendes Unternehmen, zumal da es scharf auf den Anteil menschlicher
Wünsche blickte. Feuerbachs »anthropologische Kritik der Religion« leitete die gesamte transzendente Sphäre aus Wunschphantasie ab: die Götter sind die in wirkliche Wesen verwandelten Herzenswünsche. Zugleich entsteht durch diese Wunsch-Hypostase eine Verdoppelung der Welt in eine imaginäre und eine wirkliche; wobei der Mensch sein bestes Wesen aus dem Diesseits in ein überirdisches Jenseits schafft. Es gilt also, diese Selbstentfremdung aufzuheben, das heißt, durch anthropologische Kritik und Ursprungsbezeichnung den Himmel zu den Menschen wieder zurückzuholen. Hier nun aber setzt die Marxsche Konsequenz ein, die bei dem Abstrakt-Genus Mensch, dem klassenmäßig-geschichtlich ganz ungegliederten, nicht haltmachte. Feuerbach, der Hegel so sehr wegen seiner Begriffs-Verdinglichungen getadelt hatte, lokalisiert zwar sein Abstrakt-Genus Mensch empirisch, doch nur dergestalt, daß er es dem einzelnen lndividuum innewohnen läßt, gesellschaftsfrei, ohne Sozialgeschichte. These 6 betont darum: »Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« Ja, Feuerbach ist mit diesem seinem hohlen Bogen zwischen einzelnem Individuum und abstraktem Humanum (unter Auslassung der Gesellschaft) wenig anderes als ein Epigone der Stoa und ihrer Nachwirkungen im Naturrecht, in den Toleranzideen der bürgerlichen Neuzeit. Auch /(305) die stoische Moral hatte sich, nach dem Untergang der griechischen öffentlichen Polis, aufs private Individuum zurückgezogen: das war, sagt Marx in seiner Doktor-Dissertation, »das Glück ihrer Zeit; so sucht der Nachtschmetterling, wenn die allgemeine Sonne untergegangen, das Lampenlicht des Privaten» (MEGA I, 1/1, S. 133). Andererseits aber sollte sich in der Stoa, unter Überspringung aller nationalgesellschaftlichen Verhältnisse, das Abstrakt-Genus Mensch als einziges Universale über den einzelnen Individuen geltend machen, als Ort der communis opinin, der recta ratio zu allen Zeiten, unter allen Völkern: das ist, als das allgemeine Menschenhaus, eingeordnet in das ebenso allgemein-gute Welthaus. Dieses Menschenhaus war nur nicht die verschwundene Polis, sondern es war halb - mit dienstfertiger Ideologie-die Pax romana, das kosmopolitische Imperium Roms, halb mit abstrakter Utopie - ein Menschheits-Bruderbund weise gewordener Individuen. Nicht grundlos ist derart der Begriff humanitas, als Gattungs- und Wertbegriff zugleich, am Hof des jüngeren Scipio entstanden, und der Stoiker Panaitios war sein Urheber. Feuerbach nun hat mit seinem Abstrakt-Genus Mensch vor allem den Neu-Stoizismus aufgenommen, wie er - wiederum mit hohlem Bogen zwischen Individuum und Allgemeinheit - in der bürgerlichen Neuzeit hervorgetreten war. Das zuletzt im abstrakt-erhabenen Citoyenbegriff und im Kantischen Pathos einer Menschheit überhaupt, das den Citoyen deutsch-moralisch reflektierte. Die Individuen der Neuzeit freilich sind Kapitalisten, keine stoischen Privat-Säulen, und ihr Universale war nicht die antike Ökumene, die die Völker auslöschen sollte, sondern - mit Idealisierung gerade der antiken Polis - die Generalität der bürgerlichen Menschenrechte mit dem abstrakten Citoyen darüber, diesem moralisch-humanen Gattungs-Ideal. Trotzdem sind hier wichtige ökonomisch bedingte Entsprechungen (es hätte ja sonst keinen Neu-Stoizismus im siebzehnten und achtzehntenJahrhundert gegeben): hier wie dort ist die Gesellschaft in Individuen atomisiert, hier wie dort hebt sich über sie ein Abstrakt-Genus, Abstrakt-Ideal von Menschheit, Menschlichkeit. Marx aber kritisiert genau dieses Abstraktum über bloßen Individuen, definiert das menschliche Wesen eben als »Ensemble der gesellschaftlichenVerhältnisse«. Deshalb /(306) wendet sich These 6 sowohl gegen Feuerbachs geschichtslose Betrachtung der Menschlichkeit an sich
wie - damit zusammenhängend - gegen den rein anthropologischen Gattungsbegriff dieser Menschheit, als einer die vielen Individuen bloß natürlich verbindenden Allgemeinheit. Den Wertbegriff Menschheit behält Marx freilich noch durchaus bei; so deutlich in These 10. Der Ausdruck »realer Humanismus«, womit die Vorrede der »Heiligen Familie« beginnt, wird zwar von der »Deutschen Ideologie« aufgegeben, im Zusammenhang mit der Absage an jeden Rest bürgerlicher Demokratie, mit der Gewinnung des proletarisch-revolutionären Standpunkts, mit der Schöpfung des dialektisch-historischen Materialismus. AberThese 10 sagt trotzdem mit allem Wertakzent einer humanistischen Entgegensetzung, eines »realen Humanismus« also, der jedoch nur als sozialistischer gilt und gelten gelassen wird: »Der Standpunkt des alten Materialismus ist die bürgerliche Gesellschaft; der Standpunkt des neuen die menschliche Gesellschaft oder die vergesellschaftete Menschheit.« Das Humanum steht also nicht überall in jeder Gesellschaft »als innere, stumme, die vielen Individuen bloß natürlich verbindende Allgemeinheit«, es steht überhaupt nicht in irgendeiner vorhandenen Allgemeinheit, es befindet sich vielmehr in schwierigem Prozeß und gewinnt sich einzig mit dem Kommunismus zusammen, als dieser. Eben deshalb hebt der neue, der proletarische Standpunkt den Wertbegriff Humanismus so wenig auf, daß er ihn praktisch überhaupt erst nach Hause kommen läßt; und je wissenschaftlicher der Sozialismus, desto konkreter hat er gerade die Sorge um den Menschen im Mittelpunkt, die reale Aufhebung seiner Selbstentfremdung im Ziel. Indes gewiß nicht in Feuerbachs Manier, als eines Abstrakt-Genus, versehen mit allzu erhabenen Human-Sakramenten an sich. Marx nimmt daher in These 9 genau das Motiv der erkenntnistheoretischen Thesengruppe auf, dieses Falls contra Feuerbachs Anthropologie: »Das Höchste, wozu der anschauende Materialismus es bringt, das heißt, der Materialismus, der die Sinnlichkeit nicht als praktische Tätigkeit begreift, ist die Anschauung der einzelnen Individuen in der >bürgerlichen Gesellschaft<.« Eine Klassensehranke ist damit endgültig notiert, die gleiche Schranke, welche in der Erkenntnistheorie Feuerbachs /(307) die revolutionäre Tätigkeit versperrte, in seiner Anthropologie nun die Geschichte und Gesellschaft. Marxens Fortführung der Feuerbachschen Anthropologie, als einer Kritik der religiösen Selbstentfremdung, ist daher nicht nur Konsequenz, sondern erneute Entzauberung, nämlich Feuerbachs selbst oder der letzten, der anthropologischen Fetischisierung. So führt Marx vom generell-idealen Menschen, über bloßen Individuen, auf den Boden der wirklichen Menschheit und möglichen Menschlichkeit. Dazu war der Blick auf die Vorgänge vonnöten, die der Entfremdung wirklich zugrunde liegen. Die Menschen verdoppeln ihre Welt nicht nur deshalb, weil sie ein zerrissenes, wünschendes Bewußtsein haben. Vielmehr entspringt dieses Bewußtsein, samt seinem religiösen Widerschein, einer viel näheren Entzweiung, nämlich einer gesellschaftlichen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse selber sind zerrissen und geteilt, zeigen ein Unten und Oben, Kämpfe zwischen diesen beiden Klassen und dunstreiche Ideologien des Oben, von denen die religiöse nur eine unter mehreren ist. Dieses Nähere der weltlichen Grundlage zu finden, war für Marx eben die Arbeit, die der Hauptsache nach noch zu tun blieb, - selber ein Diesseits gegenüber dem abstrakt-anthropologischen Diesseits von Feuerbach. Dafür hatte der geschichtsfremde, undialektische Feuerbach keinen Blick, aber die These 4 gewinnt ihn: «Die Tatsache nämlich, daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich, ein selbständiges Reich, in den Wolken fixiert, ist eben nur aus der Selbstzerrissenheit und dem Sichselbst-Widersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muß also erstens in ihrem Widerspruch
verstanden und sodann durch Beseitigung des Widerspruchs praktisch revolutioniert werden. Also zum Beispiel, nachdem die irdische Familie als das Geheimnis der heiligen Familie entdeckt ist, muß nun erstere selbst kritisiert und praktisch umgewälzt werden.« Die Kritik der Religion verlangt also, um wahrhaft radikal zu sein, das ist, nach Marxens Definition: um die Dinge an der radix, der «Wurzel« zu fassen, die Kritik der dem Himmel zugrunde liegenden Verhältnisse, ihres Elends, ihrer Widersprüche und ihrer falschen, imaginären Lösung der Widersprüche. Bereits in der »Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«, von 1844, hatte Marx das so packend /(308) wie unmißverständlich formuliert: »Die Kritik der Religion endet ... mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verachtliches Wesen ist« (MEGA I, 1/1 S. 614f.). Erst nach dieser auch praktisch revolutionär fortgeschrittenen Kritik wird ein Zustand erreicht, der keiner Illusionen mehr bedarf, weder als Täuschung noch aber auch als Ersatz: »Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche« (1. c. 5. 6o8). Dazu eben muß erst die irdische Familie als das Geheimnis der himmlischen entdeckt werden, bis hin zu jener gereiften ökonomisch-materialistischen »Geheimwissenschaft«, die Marx im »Kapital« dann sagen läßt: «Es gehört übrigens wenig Bekanntschaft zum Beispiel mit der Geschichte der römischen Republik dazu, um zu wissen, daß die Geschichte des Grundeigentums ihre Geheimgeschichte bildet« (Das Kapital 1, Dietz, 1947,S.88). Folglich geht die Analyse der religiösen Selbstentfremdung, damit sie eine wahrhaft wurzelhafte sei, grundsätzlich über die Ideologien zur näheren Rolle des Staats, zur allernächsten politischen Ökonomie und erlangt hier erst die reale »Anthropologie«. Erlangt sie als gesellschaftswissenschaftliche Grundeinsicht in die »Beziehung der Menschen zu Menschen und zur Natur«. Indem, wie These 7 pointiert, »das religiöse Gemüt selbst ein gesellschaftliches Produkt ist«, kann und darf also über dem Produkt das Produzieren nicht vergessen werden, wie Feuerbach, der unhistorische, undialektische, es tut. Gerade auf diese letzte Halbheit, also Unhaltbarkeit des Feuerbachschen Auflösens ist folgende Stelle noch im «Kapital« bezogen: »Es ist in der Tat viel leichter, durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden, als umgekehrt aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln. Die letztere ist die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode. Die Mängel des abstrakt naturwissenschaftlichen Materialismus, der den geschichtlichen Prozeß ausschließt, ersieht man schon aus den abstrakten und ideologischen Vorstellungen seiner Wortführer, sobald sie sich über ihre Spezialität hinauswagen« /(309) (Das Kapital I, Dietz, 1947, S.389). Weiter: »Bei Feuerbach fallen Materialismus und Geschichte ganz auseinander«, sagt die »Deutsche Ideologie«, hiermit den Grundunterschied des dialektisch-historischen Materialismus vom alten mechanischen statuierend: »Soweit Feuerbach Materialist ist, kommt die Geschichte bei ihm nicht vor, und soweit er die Geschichte in Betracht zieht, ist er kein Materialist« (MEGA 1, 5, S.34). Feuerbach selber hatte das so ausgedrückt, daß er nach rückwärts (also in Ansehung der Naturbasis) Materialist, nach vorwärts aber (also in Ansehung der Ethik und selbst Religionsphilosophie) Idealist sei. Gerade die Auslassung von Gesellschaft, Geschichte und ihrer Dialektik in Feuerbachs Materialismus, gerade die dadurch bewirkte Lebensvermissung am alten mechanischen Materialismus, den Feuerbach einzig kannte, bedingt zwangsläufig bei diesem Philosophen, am Ende seiner Philosophie, einen Idealismus von
verlegener Art. Er machte sich in seiner Lebensethik kenntlich, er zeigt sich in den Anmutungen einer gewissen Sonntags-Bruder-Empfindsamkeit. Wieder regiert hier nur, wie These 9 sagt, «die Anschauung der einzelnen Individuen in der >bürgerlichen Gesellschaft<«, wieder macht sich aber auch die scheinbar erledigte Religion bei Feuerbach bemerkbar, als eine von ihm nur anthropologisch abgeleitete, nicht gesellschaftlich kritisierte. Das in der Weise, daß Feuerbach nicht eigentlich die religiösen Inhalte kritisiert, sondern wesentlich nur deren Verlegung in ein Jenseits und damit die Schwächung des Menschen und seines Diesseits. Sofern er dadurch die »menschliche Natur« an ihren verschleuderten Reichtum wieder erinnern wollte, stecken zwar in dieser Reduktion zweifellos Probleme. Wer wollte gerade die Tiefe der Humanität, die Humanität der Tiefe in religionsgeladener Kunst verkennen, bei Giotto, bei Grünewald, bei Bach und zuletzt vielleicht noch bei Bruckner? Aber Feuerbach, mit Herz, Bruderherz und Seelenschmelz ohnegleichen, macht aus alldem fast eine Art freireligiöse Pektoral-Theologie. Überdies läßt er, in der unvermeidlichen Leere seines »Idealismus nach vorwärts «, fast sämtliche Attribute des Vatergottes übrig, sozusagen als Tugenden an sich, und nur der Himmelsgott ist von ihnen gestrichen. Statt: Gott ist barmherzig, ist die Liebe, ist allmächtig, tut Wunder, erhört Gebete - muß es dann einzig heißen: die /(310) Barmherzigkeit, die Liebe, die Allmacht, das Wundertun, das Gebeterhören sind göttlich. Wonach also der ganze theologische Apparat erhalten bleibt, er ist nur aus dem himmlischen Ort in eine gewisse Abstrakt-Gegend umgezogen, mit verdinglichten Tugenden der »Naturbasis«. Auf diese Art aber entstand nicht ein Problem: humanes Erbe der Religion, wie Feuerbach es wohl im Sinn hatte, sondern es kam Religion zu herabgesetztem Preis, einem schlecht entzauberten Gewohnheits-Philisterium zuliebe, das Engels mit Recht an Feuerbachs abgestandenen Religionsresten kenntlich macht. Der Marxismus dagegen ist auch in Ansehung der Religion kein »Idealismus nach vorwärts«, sondern Materialismus nach vorwärts, Fülle des Materialismus ohne einen schlecht entzauberten Himmel, der auf die Erde geführt werden müßte. Die wahrhaft totale Erklärung der Welt aus sich selbst, die dialektisch-historischer Materialismus heißt, setzt auch die Verwandlung der Welt aus sich selbst. In ein Jenseits der Beschwerde, das weder mit dem Jenseits der Mythologie, noch gar mit ihren Herrn- oder Vater-Inhalten das Mindeste gemein hat. Theorie- Praxis-Gruppe: Beweis und Bewährung Thesen 2, 8 Nicht anerkannt wird hier, daß der Gedanke blaß und kraftlos sei. These 2 setzt ihn über die sinnliche Anschauung, mit und an der er bloß anhebt. Feuerbach hatte den Gedanken schlecht gemacht, weil er vom Einzelnen ins Allgemeine wegführe; das war nominalistisch gewertet. Bei Marx aber zielt der Gedanke durchaus nicht ins schlecht Allgemeine, Abstrakte, sondern umgekehrt: er erschließt genau den vermittelten, den Wesenszusammenhang der Erscheinung, als einen, der der bloßen Sinnlichkeit an der Erscheinung noch verschlossen ist. So ist gerade der Gedanke, den Feuerbach nur als abstrakten zuläßt, als vermittelter ein konkreter, während umgekehrt das gedankenlose Sinnliche ein abstraktes ist. Der Gedanke muß zwar wieder auf Anschauung führen, um sich an ihr, als durchdrungener, zu beweisen, aber diese Anschauung ist auch an diesem Ende keineswegs die passive, unmittelbare Feuerbachs. Der Beweis kann /(311) vielmehr nur in der Vermitteltheit der Anschauung liegen, also einzig in jener Sinnlichkeit, die
theoretisch bearbeitet und so Ding für uns geworden ist. Das aber ist am Ende die Sinnlichkeit der theoretisch vermittelten, theoretisch gewonnenen Praxis. Die Denkfunktion also ist mehr noch als die sinnliche Anschauung eine Tätigkeit, eine kritische, eindringliche, aufschließende; und der beste Beweis ist deshalb die praktische Probe auf diese Entschlüsselung. Wie alle Wahrheit eine Wahrheit wozu ist und es keine um ihrer selbst willen gibt, außer als Selbsttäuschung oder als Spintisiererei, so gibt es keinen vollen Beweis einer Wahrheit aus ihr selbst als einer bloß theoretisch bleibenden; mit anderen Worten: es gibt keinen theoretisch- immanent möglichen vollen Beweis. Nur ein partialer ist rein theoretisch vollziehbar, so am meisten noch in der Mathematik; aber auch hier erweist er sich nur als ein partialer spezifischer Art, indem er nämlich über bloße innere »Stimmigkeit«, logisch-konsequente »Richtigkeit« nicht hinauskommt. Richtigkeit aber ist noch nicht Wahrheit, das heißt: Abbildung der Wirklichkeit sowie Macht, in die Wirklichkeit nach Maßgabe ihrer erkannten Agentien und Gesetzmäßigkeiten einzugreifen. Mit anderen Worten: Wahrheit ist kein Theorie-Verhältnis allein, sondern ein Theorie-Praxis- Verhältnis durchaus. Derart bekundet These 2: »Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, das heißt, die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit eines Denkens, das sich von der Praxis isoliert, ist eine rein scholastische Frage.« Soll heißen, eine schulmäßige im Sinn geschlossener Gedanken-Immanenz (einschließlich mechanisch-materialistischer Gedanken); dieses kontemplative Internat war der Raum aller bisherigen Wahrheitsbegriffe. Mit dem TheoriePraxis-Verhältnis ist These 2 also völlig schöpferisch und neu; die bisherige Philosophie erscheint demgegenüber wirklich als »scholastisch«. Denn entweder hatte, wie bemerkt, die antike und die mittelalterliche Erkenntnistheorie die Tätigkeit nicht reflektiert, oder aber die Tätigkeit war als bürgerlich-abstrakte keine mit ihrem Objekt wahrhaft vermittelte. In beiden Fällen, /(312) zur Zeit der antiken und feudalen Arbeitsverachtung wie zur Zeit des bürgerlichen Arbeitsethos (ohne Arbeitskonkretheit) galt die Praxis, die technische wie politische, bestenfalls als »Anwendung« der Theorie. Nicht als Bezeugung der Theorie, daß sie eine konkrete sei, wie bei Marx, nicht als Umfunktionierung des Schlüssels zum Hebel, der wahren Abbildung zum seinsmächtigen Eingriff. So wird der rechte Gedanke mit der Tat des Rechten endlich eines und dasselbe. Tätigkeit, dazu parteiische Haltung ist von vornherein in ihm darin, tritt mithin als wahrer Schluß am Ende wieder hervor. Die Farbe der Entschließung ist in diesem Schluß seine eigene, keine nachträgliche, von woanders her. Jede philsophiegeschichtliche Konfrontierung bestätigt diesesfalls das Novum des Theorie-Praxis-Verhältnisses gegenüber bloßer »Anwendung« der Theorie. Das selbst dann, wenn ein Teil der Theorie schon auf Praxis abgezielt war: so bei Sokrates, so bei Platon, als er in Sizilien seine Staatsutopie durchführen wollte, so in der Stoa, mit der Logik als bloßer Mauer, der Physik als bloßem Baum, der Ethik aber als der Frucht. So bei Augustin, dem Ortsgründer der mittelalterlichen Papstkirche, so am Ende des Mittelalters bei Wilhelm von Occam, dem nominalistischen Destruktor der Papstkirche zugunsten der heraufkommenden Nationalstaaten. Ein gesellschaftlich-praktischer Auftrag war bei diesen allen zweifellos dahinter, doch die Theorie führte trotzdem ihr abstraktes, praktisch unvermitteltes Eigenleben. Sie ließ sich zur »Anwendung« auf die Praxis nur herab, wie ein Fürst zum Volk, bestenfalls wie eine Idee zu ihrer Verwertung. Und selbst
Bacon, im scharfen bürgerlich-praktischen Utilitarismus der Neuzeit: er lehrte zwar, Wissen sei Macht, er wollte die gesamte Wissenschaft neu gründen und abzielen als ars inveniendi, doch bei aller Gegnerschaft zum rein theoretischen Wissen und der kontemplativen Erkenntnis bleibt die Wissenschaft autark, und nur ihre Methode soll geändert werden. Geändert im Sinne des induktiven Schlußverfahrens, des methodisch gezielten Experiments; der Beweis jedoch liegt nicht in der Praxis, diese gilt vielmehr auch hier nur als Frucht und Lohn der Wahrheit, nicht als deren letztes Kriterium und als Demonstration. Noch weniger haben die mehreren »Philosophien der Tat«, wie sie aus Fichte /(313) und aus Hegel, dann wieder, zurückgehend auf Fichte, in der linken Hegelschule entsprungen waren, mit dem Marxschen Praxis-Kriterium eine Ähnlichkeit. Fichtes »Tathandlung« selber, sie zeigte zwar an wichtigen nationalpolitischen Punkten Kraft und Linie, doch zuletzt wurde sie allemal Äther. Sie diente am Ende nur dazu, die Welt des Nicht-Ich durch Bearbeitung weniger zu bessern als gänzlich aufzuheben. Sozusagen bewiesen wurde durch diese au fond weltfeindliche »Praxis« nur der ohnehin ausgemachte subjektive Ausgangspunkt des Fichteschen Ich-Idealismus, nicht aber eine objektive Wahrheit, die sich mit und an der Welt erst herausbildet. Am nächsten kommt noch Hegel der Ahnung eines Praxiskriteriums, und zwar bezeichnenderweise auf Grund der Arbeitsbeziehung in seiner Phänomenologie. Weiter geschieht in Hegels Psychologie ein Übergang vom »theoretischen Geist« (Anschauung, Vorstellung, Denken) zur Antithese »praktischer Geist« (Gefühl, Triebwille, Glückseligkeit), woraus dann, synthetisch, der »freie Geist« resultieren sollte. Also proklamierte sich diese Synthese als der sich wissende Wille, als Wille, der sich denkt und weiß, der schließlich, im »vernünftigen Staat«, will, was er weiß, und weiß, was er will. Ebenso findet sich schon in der Hegelschen Logik eine Überordnung der »praktischen Idee« über die »Idee des betrachteten Erkennens«, sofern dem praktisch Guten »nicht nur die Würde des Allgemeinen, sondern auch des schlechthin wirklichen« zukomme (Werke V, 5. 320 f.). »Alles das«, notiert Lenin, »im Kapitel >Die Idee des Erkennens<..., was unzweifelhaft bedeutet, daß bei Hegel die Praxis als Kettenglied in der Analyse des Prozesses der Erkenntnis steht ... Marx knüpft folglich unmittelbar an Hegel an, wenn er das Kriterium der Praxis in die Erkenntnistheorie einführt; siehe die Thesen über Feuerbach« (Aus dem philosophischen Nachlaß, Dietz ,949, S 133). Indes Hegel führt am Ende seiner Logik, genauso wie am Ende seiner Phänomenologie und des ausgeführten Systems, die Welt (den Gegenstand, das Objekt, die Substanz) doch fast so ins Subjekt zurück wie Fichte; wonach am Ende doch nicht die Praxis, sondern »Er-innerung« die Wahrheit krönt, »Wissenschaft des erscheinenden Wissens« und sonst nichts. Auch kommt nach Hegels berühmtem Satz, am Schluß der Vorrede zu /(314) seiner Rechtsphilosophie, »ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertiggemacht hat.« Der geschlossene Kreislauf-Denker Hegel, das Antiquarium des unverrückbar Vorhandenen, sie haben so den dialektischen Prozeßdenker mit seiner Krypto-Praxis letzthin besiegt. Bleibt noch - um den Abstand der Marxschen Praxislehre auch unmittelbar in der Umgebung seiner Jugend zu ermessen - die Praxis, bald auch Praktik der Hegelschen Linken und was damit zusammenhängt. Das war die »Waffe der Kritik«, die sogenannte »Philosophie der Tat «, zur Zeit des jungen Marx. Doch hier eben wirkte wesentlich nur ein Rückgang vom objektiven Idealismus Hegels zum subjektiven Fichtes; Feuerbach selber hat das an Bruno Bauer festgestellt. Begonnen wurde die Reihe der sogenannten Philosophien der Tat durch die sonst nicht uninteressante Schrift Cieszkowskis: »Prolegomena zur
Historiosophie«, 1838, eine Schrift, die es ausdrücklich als notwendig darstellt, die Philosophie für eine Veränderung der Welt zu benützen. So finden sich in diesen »Prolegomena« sogar Aufrufe zu einer rationalen Tendenzforschung der Geschichte: damit richtig gehandelt werden könne; damit nicht instinkthafte, sondern bewußte Taten die Weltgeschichte bilden; damit der Wille auf dieselbe Höhe gebracht werde, auf die die Vernunft durch Hegel gebracht worden sei; damit dergestalt eine nicht nur vor-, sondern nachtheoretische Praxis Raum gewinne. Das alles klingt bedeutend und blieb doch nur deklarativ, auch in den weiteren Schriften Cieszkowskis völlig folgenlos, ja das »Interesse der Zukunft« wurde bei ihm immer mehr irrational, obskur. Die Absage Cieszkowskis an die Spekulation wurde zu einer an die Vernunft, die Tätigkeit wurde eine der »tätigen Intuition«, und der ganze Zukunftswille endete zuletzt in einer Theosophie des - Amen in der orthodoxen Kirche, herausgegeben zur Zeit des »Kommunistischen Manifests«. Im Marx-Kreis selber lebte schließlich noch Bruno Bauer, ebenfalls eine »Philosophie der Tat«, sogar eine des Weltgerichts, doch in facto die subjektivste von allen. Als die Reaktion unter Friedrich Wilhelm IV. diese »Waffe der Kritik« auf die Probe stellte, zog sie sich bei Bruno Bauer sogleich in Individualismus, ja in massen- /(315) verachtende Egozentrik zurück. Bauers »kritische Kritik« war lediglich ein Gefecht in und zwischen Gedanken, eine Art l'art pour l'art-Praxis des Hochmutsgeistes mit sich selbst, schließlich wurde Stirners »Einziger und sein Eigentum« daraus. Marx selber hat das Entscheidende darüber in der »Heiligen Familie« gesagt, in eigener Sache, wie ersichtlich, zum Zweck der echten Praxis und ihrer Unverwechselbarkeit. Zum Zweck der revolutionären Praxis: mit dem Proletariat beginnend, versehen mit dem Fruchtbaren an der Hegelschen Dialektik und nicht mit Abstraktionen aus der »verwelkten und verwitweten Hegelschen Philosophie« (MEGA I, 3, S. 189), gar des Fichteschen Subjektivismus. Fichte, der tugendhaft Zornige, hatte immerhin noch energische Weisungen jeweils im Blick, vom »Geschlossenen Handelsstaat« bis zu den »Reden an die Deutsche Nation«, er hat die Franzosen aus Deutschland hinausphilosophiert; die »kritische Kritik« dagegen ritt einzig im Tattersall des Selbstbewußtseins. Und, näher zu Marx, so hatte selbst bei dem grundehrlichen Sozialisten Moses Heß das Handeln eineTendenz, sich von der gesellschaftlichen Tätigkeit abzulösen, sich auf Reform des moralischen Bewußtseins zu reduzieren eine »Philosophie der Tat« ohne ausgebildete ökonomische Theorie hinter sich, ohne Fahrplan dialektisch begriffener Tendenz in sich. Die Praxisbegriffe bis Marx sind also völlig verschieden von dessen Theorie-Praxis- Konzeption, von der Lehre der Einheit zwischen Theorie und Praxis. Und statt der Theorie nur angeklebt zu sein, dergestalt also, daß der Gedanke seine »Anwendung« rein wissenschaftlich gar nicht braucht, daß die Theorie ihr Selbstleben wie ihre immanente Selbtsgenügsamkeit auch im Beweis weiterführt, oszillieren eben, nach Marx wie Lenin, Theorie und Praxis beständig. Indem beide wechselnd und wechselseitig ineinander schwingen, setzt die Praxis ebenso Theorie voraus, wie sie selber wieder neue Theorie zum Fortgang einer neuen Praxis entbindet und nötig hat. Höher ist der konkrete Gedanke nie gewertet worden als hier, wo er das Licht zur Tat wurde, und höher nie die Tat als hier, wo sie zur Krönung der Wahrheit wurde. Hierbei will auch dem Denken, indem es ein helfendes ist, durchaus Wärme innewohnen. Die Wärme des Helfenwollens /(316) selber, der Liebe zu den Opfern, des Hasses gegen die Ausbeuter. Ja diese Gefühle bringen die Parteilichkeit in Gang, ohne die überhaupt kein wahres Wissen mit guter Tat sozialistisch möglich ist. Aber Liebesgefühl, das selber nicht von Erkenntnis erleuchtet ist, versperrt gerade die helfende Tat, zu der es sich doch aufmachen möchte. Es sättigt sich
allzu leicht an seiner eigenen Vortrefflichkeit, wird zum Dunst eines neuen scheinaktiven Selbstbewußtseins. Dieses Falls eines nicht l'art pour l'art-kritischen, wie bei Bruno Bauer, sondern eines sentimentalkritiklosen, einer Schwüle und Vagheit. So bei Feuerbach selbst: er hat statt Praxis allemal wieder seine Äquivokation »Empfindung» gesetzt. Er entspannt die Liebe zur allgemeinen Gefühlsbeziehung zwischen Ich und Du, er offenbart den Ausfall jeder gesellschaftlichen Erkenntnis auch hier durch einen Rückzug auf lauter bloße Individuen und ihre ewig schmelzende Beziehung. Er effiminiert so die Humanität: »Die neue Philosophie ist in Beziehung auf ihre Basis (!) selbst nichts anderes als das zum Bewußtsein erhobene Wesen der Empfindung - sie bejaht nur in und mit der Vernunft, was jeder Mensch - der wirkliche Mensch - im Herzen bekennt« (Werke II, 1846, S.324). Dieser Satz ist aus den »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft«, in Wahrheit ist er der Tat-Ersatz aus der Vergangenheit, aus einer spießbürgerlichen, pfäffischen, ja, wie oft, tartüffehaft-sabotierenden. Aus einer Vergangenheit, die eben wegen ihrer abstrakt-deklamierenden Menschenliebe die Welt heute erst recht nicht zum Guten verändern will, sondern im Schlechten verewigen. Feuerbachs Bergpredigt-Karikatur schließt jede Härte in der Verfolgung des Unrechts aus, jede Laxheit im Klassenkampf ein; genau deshalb empfiehlt sich genereller Liebes-»Sozialismus« allen Krokodilstränen einer kapitalistisch interessierten Philanthropie. Daher Marx und Engels: »Man predigte eben der schlechten Wirklichkeit, dem Hasse gegenüber das Reich der Liebe ... Wenn aber die Erfahrung lehrt, daß diese Liebe in 1800 Jahren nicht werktätig geworden ist, daß sie die sozialen Verhältnisse nicht umzugestalten, ihr Reich nicht zu gründen vermochte, so geht daraus doch deutlich hervor, daß diese Liebe, die den Haß nicht besiegen konnte, nicht die zu sozialen Reformen nötige energische Tatkraft verleiht. Diese /(317) Liebe verliert sich in sentimentalen Phrasen, durch welche keine wirklichen, faktischen Zustände beseitigt werden; sie erschlafft den Menschen durch den enormen Gefühlsbrei, mit dem sie ihn füttert. Also die Not gibt dem Menschen Kraft; wer sich selbst helfen muß, der hilft sich auch. Und darum sind die wirklichen Zustände dieser Welt, der schroffe Gegensatz in der heutigen Gesellschaft von Kapital und Arbeit, von Bourgeoisie und Proletariat, wie sie in dem industriellen Verkehr am entwickeltsten hervortreten, die andere, mächtiger sprudelnde Quelle der sozialistischen Weltanschauung, des Verlangens nach sozialen Reformen ... Diese eiserne Notwendigkeit schafft den sozialistischen Bestrebungen Verbreitung und tatkräftige Anhänger, und sie wird den sozialistischen Reformen durch Umgestaltung der gegenwärtigen Verkehrsverhältnisse eher Bahn brechen als alle Liebe, die in allen gefühlvollen Herzen der Welt glüht« (Rundschreiben gegen H. Kriege, einen Anhänger Feuerbachs, II. Mai 1846). Seitdem hat sich das, was Thomas Münzer nicht nur «gedichteten Glauben«, sondern «gedichtete Liebe« genannt hätte, noch ganz anders als zu Feuerbachs relativ harmlosenZeiten ausgebreitet, unter Renegaten und Pseudosozialisten. Deren erheuchelte Menschenliebe ist allerdings nur die Kriegswaffe eines noch viel totaleren Hasses: nämlich gegen den Kommunismus; und nur um des Kriegs willen ist die neugedichtete Liebe da. Mitsamt dem Mystizismus, der schon bei Feuerbach nicht fehlt, hier immerhin noch »Idealismus nach vorwärts«, also ein progressiver sein möchte, und der im gestaltlosen Sausen seiner Herzenserfüllung, seiner anthropologisch gemachten Gottväterlichkeit noch kein schlimmeres Manko hatte als das angegebene schlecht entzauberte, freireligiöse Philistertum. Aber die Mvsterien des heutigen, des nicht einmal mehr idealistischen Tiefsinngeschwätzes - vom Mystizismus Feuerbachs fast so verschieden wie dieser von der Mystik Meister
Eckeharts - machen aus dem Herzen eine Mördergrube, und statt des leeren Rosennebels steht heute ein von der Bourgoisie gebrauchtes Nichts. These 8 sagt: »Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus verleiten, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichenpraxis und in der rationellen Lösung dieser Praxis.« Das freilich unterscheidet zwei Arten von Mysterien: nämlich diejenigen, /(318) welche Ungeklärtes, Aporien, Dickicht unbegriffener Widersprüche in der Wirklichkeit noch unbegriffen darstellen, und diejenigen, eigentliche Mystizismen genannt, welche Idolatrie des Dunkels um seiner selbst willen sind. Aber auch bloße Undurchschautheiten, gar die Nebel-Linie in ihnen können zum Mystizismus verleiten; eben deshalb ist hier einzig rationelle Praxis die menschliche Lösung, und die rationelle Lösung einzig die menschliche Praxis, die bei der Menschheit (statt dem Dickicht) sich haltende. Und auch das Wort Mystizismus wird nicht ohne Grund von Marx bei Gelegenheit Feuerbachs gebraucht, eben gegen das Nicht-Schwert abstrakter Liebe wird es gebraucht, das den gordischen Knoten beläßt. Wir wiederholen: Feuerbachs Mysterien, die Liebesmysterien ohne Klarheit, haben mit dem, was später als Fäulnis und Nacht-Irratio hervortrat, gewiß nichts gemein; Feuerbach steht vielmehr auf jener deutschen Heilslinie, die von Hegel zu Marx führt, so wie die deutsche Unheilslinie von Schopenhauer zu Nietzsche und den Folgen führt. Und die Menschenliebe, sofern sie sich klar als eine zu den Ausgebeuteten faßt, sofern sie zu wirklicher Erkenntnis fortgeht, ist zweifellos ein unerläßliches Agens im Sozialismus. Doch wenn schon das Salz dumm werden kann, wie sehr erst der Zucker, und wenn schon Gefühlschristen im Defaitismus bleiben, wie sehr erst Gefühlssozialisten, im pharisäischen Verrat. Daher schlägt Marx auch an Feuerbach eine gefährliche Verblasenheit, eine, die es sich bei sich wohl seinläßt, eine letztlinige Pektoral-Praxis, die das Gegenteil von dem bewirkt, was ihr angepredigter Altruismus und ihre unsäglich universelle Liebe bezwecken. Ohne Parteiung in der Liebe, mit ebenso konkretem Haßpol, gibt es keine echte Liebe; ohne Parteilichkeit des revolutionären Klassenstandpunkts gibt es nur noch Idealismus nach rückwärts statt Praxis nach vorwärts. Ohne den Primat des Kopfes bis zuletzt gibt es nur noch Mysterien der Auflösung statt der Auflösung der Mvsterien. Am ethischen Schluß von Feuerbachs Philosophie der Zukunft fehlen so Philosophie wie Zukunft; Marxens Theorie um der Praxis willen hat beide in Funktion gesetzt, und die Ethik wird endlich Fleisch. /(319)
Das Losungswort und sein Sinn These 11
Anerkannt wird hier, daß das Zukünftige am nächsten und wichtigsten sei. Doch eben nicht in der Weise Feuerbachs, die nicht auf die Schiffe geht. Die sich von Anfang bis Ende mit der Betrachtung begnügt, welche die Dinge läßt, wie sie sind. Oder noch schlimmer: die nicht umhin zu können glaubt, die Dinge umzustellen, jedoch nur im Buch, und die Welt selber merkt nichts davon. Sie merkt schon deshalb nichts davon, weil die Welt gerade in falschen Darstellungen so leicht umgestellt werden kann, daß Wirkliches im Buch gar nicht vorkommt. Jeder Schritt nach außen wäre hier dem zusammengereimten, in seinem eigenen Schutzpark wohnenden Buch schädlich und störte das Selberleben erfundener Gedanken. Doch auch tunlichst sachgetreue Bücher, Lehren zeigen oft die typisch betrachterische Lust, sich in ihrem gerahmten Zusammenhang, als einem nun einmal »werkhaft« gelungenen, Genüge zu tun. Wonach sie eine aus ihnen möglicherweise entspringende Veränderung der dargestellten Welt sogar fürchten, indem das Werk -
und stelle es selbst, wie das Feuerbachsche, Grundsätze der Zukunft auf -dann nicht mehr so autark durch die Zeiten schweben könnte. Kam gar, wie wieder bei Feuerbach, eine erstrebte oder naive politische Gleichgültigkeit hinzu, so wurde das Publikum gänzlich auf den gleichfalls betrachtenden Leser begrenzt; seine Arme, sein Handeln wurden nicht angesprochen. Der Standpunkt mochte ein neuer sein, doch er blieb ein bloßer Aussichtspunkt; der Begriff ergab so keine Anweisung zum Eingriff. Daher setzt Marx kurz und antithetisch die berühmte These 11: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.« Ein Unterschied zu jedem bisherigen Denkantrieb ist damit packend bezeichnet. Kurze Sätze scheinen, wie eingangs bemerkt, zuweilen rascher überblickbar, als sie es sind. Und berühmte Sätze haben es zuweilen an sich, sehr wider ihren Willen, daß sie kein Nachdenken mehr erregen, oder daß man sie zu roh herunterschlingt. Sie verursachen dann mitunter Beschwerden, diesesfalls intelligenzfeindliche, mindestens intelligenzfremde, wie sie dem Sinn /(320) des Satzes nicht ferner sein könnten. Was ist also mit der These 11 genau gedacht, wie muß sie im allemal philosophischen Präzisionssinn von Marx verstanden werden? Sie darf nicht verstanden oder besser: mißbraucht werden in irgendeiner Vermischung mit dem Pragmatismus. Letzterer stammt aus einer dem Marxismus völlig fremden Gegend, aus einer ihm feindlichen, geistig inferioren, zuletzt schlechthin ruchlosen. Trotzdem hängen sich immer wieder busy bodies, wie man gerade in Amerika sagt, Betriebsamkeiten also, am Marxsatz an, gleich als wäre er amerikanische Kulturbarbarei. Dem amerikanischen Pragmatismus liegt die Meinung zugrunde, Wahrheit sei überhaupt nichts anderes als geschäftliche Brauchbarkeit der Vorstellungen. Es gibt danach ein sogenanntes Aha-Erlebnis der Wahrheit, sobald und sofern diese auf einen praktischen Erfolg abgezielt ist und sich auch tatsächlich geeignet zeigt, ihn herbeizuführen. Bei William James (»Pragmatism«, 1907) sieht der Geschäftsmann, als »american way of life«,nochgewissermaßen allgemeinmenschlich aus, ist sozusagen human, auch geradezu lebensfördernd-optimistisch garniert. Das sowohl wegen der damals noch möglichen Rosapackung des amerikanischen Kapitalismus, wie vor allem wegen der Tendenz jeder Klassengesellschaft, ihr Spezialinteresse als das der ganzen Menschheit auszugeben. Deshalb gab sich der Pragmatismus anfangs auch als Gönner jener verschiedenen, auswechselbaren logischen »Instrumente«, mittels deren der Geschäftsmann höherer Ordnung geradezu »Humanerfolg« erzielt. Aber es gibt so wenig und noch weniger einen humanen Geschäftsmann, wie es einen marxistischen Lebemann gibt; so hat sich der Pragmatismus in Amerika, in der gesamten Weltbourgeoisie rasch nach James als das kenntlich gemacht, was er ist: als letzten Agnostizismus einer von jedem Wahrheitswillen entblößten Gesellschaft. Zwei imperialistische Kriege, der erste generell-imperialistische von 1914 bis 1918, der zweite partial-imperialistische der Nazi-Aggressoren, haben den Pragmatismus gar zur Roßtäuscher-Ideologie reif gemacht. Auf Wahrheit kommt es nun überhaupt nicht mehr an, auch nicht im Sinn, als wäre sie ein immerhin zu pflegendes »Instrument«; und die Rosapackung des »Humanerfolgs« ging völlig zum Teufel, der von Anfang an darin war. Nun schwank- /(321) ten und änderten sich die Ideen wie Börsenpapiere, je nach der Kriegslage, Geschäftslage; bis endlich der volle Schandpragmatismus der Nazis erschien. Recht war, was dem deutschen Volk, soll heißen: dem deutschen Finanzkapital nützte; Wahrheit war, was das Leben, soll heißen: den Maximalprofit förderte, ihm zweckdienlich erschien. Das also wurden, nachdem die Zeit erfüllt war, die Konsequenzen des Pragmatismus; und wie
harmlos, ja wie täuschend mochte er doch ebenfalls nach »Theorie-Praxis« aussehen. Wie scheinhaft wurde auch hier eine Wahrheit um ihrer selbst willen abgelehnt und nicht gesagt, daß es wegen einer Lüge um des Geschäfts willen geschieht. Wie schein-konkret wurde auch hier von der Wahrheit die Bewährung in der Praxis verlangt, sogar in der »Veränderung« der Welt. Wie groß also ist die Verfälschbarkeit der These 11 im Kopf von Intelligenzverächtern und Praktizisten. Gewiß, was die Praktizisten in der sozialistischen Bewegung angeht, so haben sie moralisch, wie sich von selbst versteht, mit den Pragmatisten nicht das Mindeste gemein; ihr Wille ist sauber, ihre Absicht revolutionär, ihr Ziel human. Doch indem sie den Kopf dabei auslassen, folglich nichts Geringeres als den ganzen Reichtum der marxistischen Theorie mitsamt der kritischen Aneignung des Kulturerbes in ihr, entsteht doch, am Ort der »trial-and-error-method«, der Handwerkelei, des Praktizismus, jene grausame Verfälschung der These 11, die an Pragmatismus methodisch erinnert. Praktizismus, der an Pragmatismus angrenzt, ist eine Konsequenz dieser Verfälschung, eine wie immer unbegriffene; doch Unkenntnis einer Konsequenz schützt nicht vor Verdummung. Die Praktizisten, mit dem bestenfalls kurzfristigen Kredit für Theorie, gar für komplizierte, machen mitten im marxistischen Lichtwesen die Finsternis ihrer eigenen privaten Ignoranz und des Ressentiments, das mit Ignoranz sich so leicht verbindet. Zuweilen sogar ist nicht einmal Praktizismus, also doch immerhin eine Tätigkeit nötig, um solche Theoriefremdheit zu erklären; denn Schematismus der Gedankenlosigkeit lebt auch aus eigener, aus untätiger Antiphilosophie. Kann aber so noch weniger auf die kostbarste These über Feuerbach sich berufen; aus Mißverständnis wird dann Blasphemie. Immer wieder muß darum betont werden: bei Marx ist nicht deshalb ein Gedanke wahr, /(322) weil er nützlich ist, sondern weil er wahr ist, ist er nützlich. Lenin formuliert das Gleiche in dem schlagenden Diktum: »Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.« Und fährt fort: »Sie ist die rechtmäßige Erbin des Besten, was die Menschheit im neunzehnten Jahrhundert in Gestalt der deutschen Philosophie, der englischen politischen Ökonomie und des französischen Sozialismus geschaffen hat.« Und bekundet wenige Zeilen vorher: »Die ganze Genialität Marxens besteht gerade darin, daß er auf die Fragen Antwort gegeben hat, die das fortgeschrittene Denken der Menschheit bereits gestellt hatte« (Lenin, Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, Ausgewählte Werke 1, S.63 f.). Mit anderen Worten: Wirkliche Praxis kann keinen Schritt tun, ohne sich ökonomisch und philosophisch bei der Theorie erkundigt zu haben, der fortschreitenden. Sowie es daher an sozialistischen Theoretikern gefehlt hat, bestand allemal die Gefahr, daß gerade der Kontakt mit der Wirklichkeit Einbuße erlitt, dieser nie schematisch und simplizistisch zu interpretierenden, wann anders Praxis sozialistisch gelingen soll. Sind das offene Türen, die der Antipragmatismus der größten Praxis-Denker, weil treuesten Wahrheits-Zeugen offenhält, so können sie doch durch eine interessierte Fehlinterpretation der These 11 immer wieder geschlossen werden. Durch eine, welche groteskerweise aus dem - in These 11 geschehenden - höchsten Triumph der Philosophie eine Abdankung der Philosophie, eben eine Art unbürgerlichen Pragmatismus herauszuhören glaubt. Genau jenem Zukünftigen ist damit schlecht gedient, das nicht weiter unbegriffen auf uns zukommt, sondern dem umgekehrt unsere tätige Erkenntnis hinzukommt; Ratio wacht auf dieser Strecke der Praxis. So wie sie auf jeder Strecke humaner Heimkehr wacht: gegen das Irrationale, das sich letzthin auch in der begrifflosen Praxis zeigt. Denn wenn die Zerstörung der Vernunft ins barbarische Irrationale zurücksinkt, so die Unkenntnis der Vernunft ins dumme; wobei letzteres zwar nicht
Blut vergießt, aber den Marxismus ruiniert. Auch die Banalität ist so Gegenrevolution gegen den Marxismus selber; denn er ist der Vollzug (nicht die Amerikanisierung) der fortschrittlichsten Gedanken der Menschheit. Soviel über falsches Verstehen, ganz zuletzt, wo es auftaucht. /(323) Das Falsche bedarf ebenfalls der Beleuchtung, gerade weil These 11 die wichtigste ist corruptio optimi pessima. Zugleich ist diese These die am prägnantesten gefaßte; so muß ein Kommentar hier viel mehr als bei den anderen aufs Wörtliche gehen. Was also ist in These 11 der Wortlaut, was ist ihr scheinbarer Gegensatz zwischen Erkennen und Verändern? Der Gegensatz ist keiner; selbst das hier nicht konträre, sondern erweiternde Partikel «aber» fehlt im Marxschen Original (vgl. MEGA I, 5, S.535); ebensowenig findet sich ein Entweder-Oder. Und den bisherigen Philosophen wird zum Vorwurf gemacht, oder besser: es wird an ihnen als Klassenschranke kenntlich gemacht, daß sie die Welt nur verschieden interpretiert haben, nicht etwa, daß sie - philosophiert haben. Interpretation aber ist der Kontemplation verwandt und folgt aus ihr; nicht-kontemplative Erkenntnis also wird nun als neue, als wahrhaft zum Sieg tragende Fahne ausgezeichnet. Doch als Fahne der Erkenntnis, als die gleiche Fahne, die Marx - freilich mit Aktion, nicht mit betrachtender Ruhe - seinem Hauptwerk gelehrter Forschung aufgesetzt hat. Dies Hauptwerk ist lautere Anweisung zum Handeln, doch es heißt »Das Kapital«, nicht »Führer zum Erfolg« oder auch »Propaganda der Tat«; es ist keinerlei Rezept zur raschen Heldentat ante rem, sondern steht mitten in re, in sorgfältiger Untersuchung, philosophierender Zusammenhangs-Erforschung schwierigster Wirklichkeit. Mit dem Kurs auf begriffene Notwendigkeit, auf Erkenntnis der dialektischen Entwicklungsgesetze in Natur und Gesellschaft insgesamt. Von den Philosophen also, die »die Welt nur verschieden interpretiert haben«, und von sonst nichts stößt die Kenntlichmachung des ersten Satzteils ab; sie geht auf die Schiffe, doch eben auf höchst durchdachte Fahrt, wie sie der zweite Satzteil kenntlich macht: auf die einer neuen, einer aktiven Philosophie, einer zur Veränderung so unumgänglichen wie tauglichen. Zweifellos hat Marx scharfe Worte durchaus gegen Philosophie gerichtet, doch nicht einmal gegen kontemplative schlechthin, wann immer sie eine bedeutende aus großer Zeit war. Sondern genau gegen eine bestimmte Art kontemplativer Philosophie, nämlich die der Hegel-Epigonen seiner Zeit, welche vielmehr eine Nicht-Philosophie war. Am härtesten polemisiert daher, bezeichnender- /(324) weise, die gegen diese Epigonen gezielte »Deutsche Ideologie«: »Man muß die Philosophie beiseite liegenlassen, man muß aus ihr herausspringen und sich als ein gewöhnlicher Mensch an das Studium der Wirklichkeit begeben, wozu auch literarisch ein ungeheures, den Philosophen natürlich unbekanntes Material vorliegt; und wenn man dann wieder einmal Leute wie Kuhlmann oder Stirner vor sich bekommt, so findet man, daß man sie längst >hinter< und unter sich hat. Philosophie und Studium der wirklichen Welt verhalten sich zueinander wie Onanie und Geschlechtsliebe« (MEGA I, 5, S.216). Die Namen Kuhlmann (ein damaliger pietisischer Theologe) und gar Stirner zeigen überdeutlich, an welche Adresse oder Art Philosophie diese mächtige Invektive gerichtet war; sie war an philosophische Windbeutelei gerichtet. Nicht war sie an die Hegelsche Philosophie und andere große der Vergangenheit gerichtet, so kontemplativ diese auch gehalten war; Marx war der letzte, der am konkreten Hegel, am kenntnisreichsten Enzyklopädisten seit Aristoteles, ein »Studium der wirklichen Welt» vermißt hätte. Dergleichen haben grundsätzlich andere Köpfe als Marx und Engels Hegel vorgeworfen, es waren die Köpfe der preußischen Reaktion, später des Revisionismus und ähnliche »Realpolitiker«, wie bekannt. Von der wirklichen
bisherigen Philosophie dagegen spricht Marx auch in der »Deutschen Ideologie« ganz anders, nämlich im Sinn eines schöpferischen reellen Erbantritts. Vorher hatte das die »Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«, von 1844, bereits dahin klargestellt, daß die Philosophie nicht aufgehoben werden könne, ohne sie zu verwirklichen, nicht verwirklicht werden könne, ohne sie aufzuheben. Das erstere, mit dem Akzent auf der Verwirklichung, ist für die »Praktiker« gesagt: »Mit Recht fordert daher die praktische politische Partei in Deutschland die Negation der Philosophie. Ihr Unrecht besteht nicht in der Forderung, sondern in dem Stehenbleiben bei der Forderung, die sie ernsthaft weder vollzieht noch vollbringen kann. Sie glaubt, jene Negation dadurch zu vollbringen, daß sie der Philosophie den Rücken kehrt und abgewandten Hauptes einige ärgerliche und banale Phrasen über sie hermurmelt. Die Beschränktheit ihres Gesichtskreises zählt die Philosophie nicht ebenfalls in den Bering der deutschen /(325) Wirklichkeit oder wähnt sie gar unter der deutschen Praxis und den ihr dienenden Theorien. Ihr verlangt, daß man an wirkliche Lebenskeime anknüpfen soll, aber ihr vergeßt, daß der wirkliche Lebenskeim des deutschen Volkes bisher nur unter seinem Hirnschädel gewuchert hat. Mit einem Worte: Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen.« Das zweite, mit dem Akzent auf der Aufhebung, ist für die »Theoretiker» gesagt: »Dasselbe Unrecht, nur mit umgekehrten Faktoren, beging die theoretische, von der Philosophie her datierende politische Partei. Sie erblickte in dem jetzigen Kampf nur den kritischen Kampf der Philosophie mit der deutschen Welt, sie bedachte nicht, daß die seitherige Philosophie selbst zu dieser Welt gehört und ihre, wenn auch ideelle Ergänzung ist. Kritisch gegen ihren Widerpart verhielt sie sich unkritisch zu sich selbst, indem sie von den Voraussetzungen der Philosophie ausging und bei ihren gegebenen Resultaten entweder stehenblieb oder anderweitig hergeholte Forderungen und Resultate der Philosophie ausgab, obgleich dieselben - ihre Berechtigung vorausgesetzt - im Gegenteil nur durch die Negation der seitherigen (!) Philosophie, der Philosophie als Philosophie, zu erhalten sind. Eine näher eingehende Schilderung dieser Partei behalten wir uns vor.« (sie geschah in der »Heiligen Familie» und der »Deutschen Ideologie«, mit schwerster Kritik der verkommenen Kontemplation, der kritischen »Ruhe des Erkennens«). lhr Grundmangel läßt sich dahin reduzieren: Sie glaubte, die Philosophie verwirklichen zu können, ohne sie aufzuheben« (MEGA I 1/1 S.613). Marx gibt also beiden damaligen Parteien ein Antidoton zu ihrem Verhalten, eine jeweils umgekehrte Medicina mentis: er legt den Praktikern von damals ein Mehr-Verwirklichen von Philosophie auf, den Theoretikern von damals ein Mehr-Aufheben von Philosophie. Jedoch auch die »Negation« der Philosophie (ein selber so höchst philosophisch geladener, aus Hegel stammender Begriff) bezieht sich hier ausgesprochenerweise auf die »seitherige Philosophie«, nicht auf jede mögliche und künftige überhaupt. Die »Negation» bezieht sich auf Philosophie mit Wahrheit um ihrer selbst willen, also auf autark-kontemplative, auf eine die Welt lediglich antiquarisch interpretierende, sie bezieht sich nicht auf eine die Welt revolutionär verändernde. /(326) Ja auch innerhalb der »seitherigen Philosophie«, der von den Hegel-Epigonen freilich so grundverschiedenen, gibt es, bei aller Kontemplation, so viel »Studium der wirklichen Welt«, daß eben die deutsche klassische Philosophie nicht ganz unpraktisch unter den »drei Quellen und drei Bestandteilen des Marxismus« figuriert. Das schlechthin Neue in der marxistischen Philosophie besteht in der radikalen Veränderung ihrer Grundlage, in ihrem proletarisch-revolutionären Auftrag; aber das schlechthin Neue besteht nicht darin, daß die einzige zur konkreten Weltveränderung fähige und bestimmte Philosophie keine - Philosophie mehr wäre.
Weil sie das ist wie nie, daher gerade der Triumph der Erkenntnis im zweiten Satzteil der These 11, die Veränderung der Welt betreffend; Marxismus wäre gar keine Veränderung im wahren Sinn, wenn er vor und in ihr kein theoretisch-praktisches Prius der wahren Philosophie wäre. Der Philosophie, die, mit langem Atem, mit vollem Kulturerbe, nicht zuletzt auf Ultraviolett sich versteht, soll heißen: auf die zukunfttragenden Eigenschaften der Wirklichkeit. Verändern im unwahren Sinn läßt sich freilich vielfach, auch ohne Begriff; die Hunnen haben gleichfalls verändert, es gibt auch eine Veränderung durch Cäsarenwahnsinn, durch Anarchismus, ja durch die Geisteskrankheit der Faselei, die Hegel ein «vollkommenes Abbild des Chaos« nennt. Aber gediegene Veränderung, gar die zum Reich der Freiheit, kommt einzig durch gediegene Erkenntnis zustande, mit immer genauer beherrschter Notwendigkeit. Durchaus Philosophen haben seitdem dergestalt die Welt verändert: Marx, EngeIs, Lenin. Praktizisten aus der hohlen Hand, Schematiker mit Zitatenschatz haben sie nicht verändert und auch nicht jene Empiristen, die Engels »Induktionsesel« genannt hat. Philosophische Veränderung ist eine mit unaufhörlicher Kenntnis des Zusammenhangs; denn wenn Philosophie auch keine eigene Wissenschaft über den anderen Wissenschaften darstellt, so ist sie doch das eigene Wissen und Gewissen des Totum in allen Wissenschaften. Sie ist das fortschreitende Bewußtsein des fortschreitenden Totum, da dieses Totum selber nicht als Faktum steht, sondern einzig im riesigen Zusammenhang des Werdens mit dem noch Ungewordenen umgeht. Philosophische Veränderung ist derart eine nach Maßgabe der analysierten Lage, der /(327) dialektischen Tendenz, der objektiven Gesetze, der realen Möglichkeit. Darum also geschieht philosophische Veränderung letzthin wesentlich im Horizont der überhaupt kontemplationsunfähigen, interpretierungs-unfähigen, wohl aber marxistisch erkennbaren Zukunft. Und unter diesem Aspekt erhob sich Marx auch über die oben angegebene, nur antithetisch gesetzten Wechselakzente: Verwirklichung oder Aufhebung der Philosophie betreffend (Verwirklichung akzentuiert gegen die »Praktiker«, Aufhebung akzentuiert gegen die »Theoretiker«). Die dialektische Einheit der recht verstandenen Akzente lautet, am Ende der zitierten »Einleitung« (MEGA I, 1/1, S. 621 ), wie bekannt: »Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.« Und die Aufhebung des Proletariats, sobald es nicht nur als Klasse, sondern ebenso, wie Marx lehrt, als schärfstes Symptom der menschlichen Selbstentfremdung gefaßt wird, ist ohne Zweifel ein langer Akt: die völlige Aufhebung dieser Art fällt mit dem letzten Akt des Kommunismus zusammen. Des Sinns, den Marx in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« ausdrückt, mit einer Perspektive, die sich gerade aufs philosophisch äußerste «Eschaton« versteht: «Erst hier ist ihm (dem Menschen) sein natürliches Dasein sein menschliches Dasein und die Natur für ihn zum Menschen geworden. Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur« (MEGA I, 3,S.116). Hier leuchtet die von Marx zu formulieren gesuchte letzte Perspektive des Veränderns der Welt. Ihr Gedanke (das Wissen-Gewissen jeder Praxis, worin das noch ferne Totum sich spiegelt) verlangt zweifellos ebensoviel Neuheit der Philosophie, wie er Resurrektion der Natur schafft. /328)
Der archimedische Punkt; Wissen nicht nur auf Vergangenes, sondern wesentlich auf Heraufkommendes bezogen
Erstmals wurde der Geist so mächtig, endlich versteht er sich darauf. Und genau deshalb, weil er sich seines früheren, oft falsch erhabenen Wesens begeben hat. Weil er ein wahrhaft politisches Lied geworden ist, sich endlich selber aus dem Betrachteten und Vergangenen zur Gegenwart herausmachte. Zu einer damaligen Gegenwart überdies, die den Geist nicht als Äther zuließ, sondern als materielle Gewalt brauchte. Hierfür ist erneut der Zeitpunkt wichtig, wo mit den anderen Frühschriften auch die »Elf Thesen« an dieses kräftige Licht traten. Marx schrieb darüber im »Kommunistischen Manifest«, 1848, also wenig später: »Auf Deutschland richten die Kommunisten ihre Hauptaufmerksamkeit, weil Deutschland am Vorabend einer bürgerlichen Revolution steht, und weil es diese Umwälzung unter fortgeschritteneren Bedingungen der europäischen Zivilisation überhaupt und mit einem viel weiter entwickelten Proletariat vollbringt als England im siebzehnten und Frankreich im achtzehnten Jahrhundert, die deutsche Revolution also nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann.« Von daher also der besondere Anstoß, ein von Feuerbach nicht empfundener, der die neue Philosophie sogleich, in statu nascendi, auf die Barrikaden brachte. Bereits in der These 4 war der archimedische Punkt entdeckt, von dem dergestalt die alte Welt aus den Angeln, die neue in die Angeln zu heben ist, der archimedische Punkt in der »weltlichen Grundlage« von heute: »Diese selbst muß also erstens in ihrem Widerspruch verstanden und sodann durch Beseitigung des Widerspruchs praktisch revolutioniert werden.« Und nun, was ist es endgültig, was den Ansatzpunkt der »Elf Thesen«, also die beginnende Philosophie der Revolution entdeckt hat? Es ist doch nicht der neue, der proletarische Auftrag allein, so entscheidend er von der Betrachtung losriß, die Dinge nicht hinnehmen, gar verewigen ließ, wie sie sind. Auch ist es nicht nur das kritisch-schöpferisch angetretene Erbe der deutschen Philosophie, der englischen politischen Ökonomie, des französischen Sozialismus, /(329) so notwendig diese drei Fermente, vorab Hegels Dialektik und Feuerbachs erneuerter Materialismus, für die Herausbildung des Marxismus waren. Sondern dasjenige, was endgültig zum archimedischen Punkt führte und mit ihm zur Theorie-Praxis, kam in gar keiner Philosophie bisher vor, ja ist in und an Marx selber noch kaum völlig reflektiert worden. »In der bürgerlichen Gesellschaft«, sagt das Kommunistische Manifest, »herrscht die Vergangenheit über die Gegenwart, in der kommunistischen die Gegenwart über die Vergangenheit.« Und es herrscht die Gegenwart zusammen mit dem Horizont in ihr, der der Horizont der Zukunft ist, und der dem Fluß der Gegenwart den spezifischen Raum gibt, den Raum neuer, betreibbar besserer Gegenwart. Also wurde die beginnende Philosophie der Revolution, das ist, der Veränderbarkeit zum Guten, allerletzt am und im Horizont der Zukunft eröffnet; mit Wissenschaft des Neuen und Kraft zu seiner Leitung. Alles Wissen aber war bisher wesentlich auf Vergangenes bezogen, indem nur dieses betrachtbar ist. Das Neue blieb so außer seinem Begriff, die Gegenwart, in der das Werden des Neuen seine Front hat, blieb eine Verlegenheit. Das Denken in Warenform hat diese alt überkommene Ohnmacht besonders gesteigert; denn das kapitalistische Zur-Ware-Werden aller Menschen und Dinge gibt ihnen nicht nur Entfremdung, sondern es erhellt: die Denkform Ware ist selber die gesteigerte Denkform Gewordenheit, Faktum. Über diesem Faktum wird das Fieri besonders leicht vergessen und so über dem verdinglichten Produkt das Produzierende, über dem scheinbaren Fixum im Rücken der Menschen das Offene vor ihnen. Aber die falsche Wechselbeziehung zwischen Wissen und Vergangenheit ist sehr viel älter, ja ihren Ursprung hat sie eben dort, wo der Arbeitsvorgang in der Erkenntnis überhaupt nicht reflektiert war, so daß das Wissen nicht nur, wie oben gezeigt, schlechthin
Schau, sondern der Gegenstand des Wissens schlechthin Ausgestaltetes, die Wesenheit schlechthin Ge-wesenheit sein mußte. Hier hat die Platonische Anamnesis ihren Ort: »Denn wahrlich«, sagt Sokrates im Dialog »Menon« (81 B - 82 A) und weist auf Schau gerade in der Urvergangenheit der Seele, »Suchen und Lernen sind ganz und gar nur - Erinnerung.« Es ist der Bann dieses kontempla/(330) tiven Antiquariums, der - aller gesellschaftlichen Veränderungen des Erkenntnisbegriffs ungeachtet - die Philosophie bis Marx nicht nur in der Betrachtung, sondern eben auch in der bloßen, jeder Betrachtung eingeschriebenen, Relation zur Gewordenheit gehalten hat. Selbst dem Entwicklungsdenker Aristoteles ist das Wesen das »Was-war-Sein«, im Sinn der abgeschlossenen Bestimmbarkeit, statuarischen Ausgeprägtheit. Selbst dem großen dialektischen Prozeßdenker Hegel ist das Geschehen völlig unter seine fertige Geschichte gebeugt, und das Wesen ist die gewordene Wirklichkeit, worin es »mit seiner Erscheinung eins ist«. Nicht zuletzt bei Feuerbach notiert Marx selber diese Sperre: »Feuerbachs ganze Deduktion in Beziehung auf das Verhältnis der Menschen zueinander geht nur dahin, zu beweisen, daß die Menschen einander nötig haben und immer gehabt haben. Er will das Bewußtsein über diese Tatsache etablieren, er will also, wie die übrigen Theoretiker, nur ein richtiges Bewußtsein über ein bestehendes Faktum hervorbringen, während es dem wirklichen Kommunisten darauf ankommt, das Bestehende umzustürzen« (Deutsche Ideologie, MEGA I, 5, S 31) Der Effekt von alldem war nun der, daß der Geist der Anamnesis seine Erkenntniskraft gerade dort gesucht hat, wo am wenigsten Gegenwart, gar Zukunft zur Entscheidung steht. Während also die bloße Relation: Wissen-Vergangenheit zu Fragen der Gegenwart gar zu Entscheidungsproblemen der Zukunft in einem fast nur kannegießernden Verhältnis steht oder im Verhältnis des kurzsichtigsten bürgerlichen Klassenstandpunkts, wird ihr (freilich ohne daß der verewigte Klassenstandpunkt aufhörte) erst in der Abgeschiedenheit des Präteritum gleichsam heimatlich zumute. Und zwar desto heimatlicher, je ferner die Objekte zeitlich zurückliegen, je adäquater also ihre Abgeschlossenheit zu der Ruhe der Kontemplation erscheint. Daher erlauben in der Relation: Wissen-Vergangenheit die Kreuzzüge sozusagen mehr »Wissenschaftlichkeit« als die beiden letzten Weltkriege, Ägypten wiederum, das noch fernere, mehr als das Mittelalter. Gar das scheinbare totale Vorbei der physischen Natur steht oder stand da als eine Art Über-Ägypten oder Potenz von Ägypten, ganz weit zurück, mit der granitnen Gewordenheit einer Materie, die, nicht ohne methodischen Jubel, /(331) tot genannt wurde. Wie anders aber das alles im Marxismus, wie groß ist dessen Macht gerade an der Gegenwart geraten. Wie bewährt sich seine neue, seine durchgängige Geschehens- und VeränderungsWissenschaft gerade an der Front des Geschehens, in der Aktualität der jeweiligen Entscheidung, in der Tendenz-Beherrschung zur Zukunft hin. Marxistisch ist auch die Vergangenheit nicht wachsend antiquarisch gestaffelt, denn die Geschichte als urkommunistische wie als eine von Klassenkämpfen macht auch ihre weitest zurückliegende Epoche zu keinem Museum; noch weniger aber macht sie die näherliegende, wie in der bürgerlichen Kontemplation, zum wissenschaftsfreien Moratorium. Wonach so große Teile der bürgerlichen Gelehrsamkeit, ohne alles konkrete Wissensverhältnis zur Gegenwart, dieser, als sie Entscheidung verlangte, entweder hilflos gegenüberstanden oder, in letzter Zeit, sich dem Anti-Bolschewismus noch über alles Klasseninteresse hinaus mit skandalöser Unwissenheit, Unweisheit verkauften. Sogar noch die damit unvergleichlichen wissenschaftlichen Bahnbrecher der bürgerlichen Gesellschaft, die gewiß zur Gegenwarts- und Zukunfts-Relation gehaltenen großen und reinen Ideologen des
siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts standen dem Heraufkommenden ihrer eigenen revolutionären Klasse allemal mit Illusionen oder unkonkret überschießenden Idealen gegenüber; das also nicht nur wegen der jeweiligen Klassenschranke, sondern ebenso wegen der Schranke vor der Zukunft, die bis Marx mit der Klassenschranke durchgehends gesetzt war. Dies alles eint sich, je länger, je mehr, eben mit der Anamnesis oder der kontemplativ-statischen Wissensperre gegen das wirklich Anrückende, Heraufkommende. Und ebenso, nun völlig entschieden: wo das Wissen- Vergangenheits- Verhältnis in der Gegenwart nur Verlegenheit sieht und in der Zukunft Spreu, Wind, Gestaltlosigkeit, dort erfaßt das Wissen- Tendenz- Verhältnis das Wozu seines Wissens überhaupt: als den vermittelten Neubau der Welt. Die dialektisch-historische Tendenzwissenschaft Marxismus ist derart die vermittelte Zukunftswissenschaft der Wirklichkeit plus der objektiv- realen Möglichkeit in ihr; all das zum Zweck der Handlung. Der Unterschied zur Anamnesis des Gewordenen, samt ihren sämtlichen Abwandlungen, könnte nicht einleuchtender sein; er gilt sowohl /(332) für die erleuchtende marxistische Methode wie für die in ihr erleuchtete unabgeschlossene Materie. Erst der Horizont der Zukunft, wie ihn der Marxismus bezieht, mit dem der Vergangenheit als Vorraum, gibt der Wirklichkeit ihre reelle Dimension. Unvergeßlich ist hier auch der neue Ort des archimedischen Punktes selber, von dem her in die Angeln gehoben wird. Er liegt gleichfalls nicht weit hinten, im Vergangenen, Abgetanen, zu dem der frühere, bloß betrachtende Materialismus die Welt herunteranalysiert hatte. Das wirkte in der Folge, gerade als seine entzaubernde Rolle längst dahin war, hemmungslos retrograd; er löste die historischen Erscheinungen in biologische, diese in chemisch-physikalische auf, bis herab auf die atomare »Basis« von allem und jedem. Dergestalt, daß auch von historisch höchst geladenen Erscheinungen, etwa der Schlacht bei Marathon, nur noch Muskelbewegungen übrigblieben, also die Griechen und Perser samt dem gesellschaftlichen Inhalt dieser Schlacht in gänzlich unterhistorische Muskelbewegungen verschwanden. Diese lösten sich dann wieder aus der Physiologie in organisch-chemische Vorgänge auf, und die organische Chemie wiederum, die ohnehin allen Lebewesen gemeinsame, landete schließlich beim Tanz der Atome, eben als der generellsten »Basis« von allem und jedem. Damit war freilich nicht nur die Schlacht bei Marathon, die doch erklärt werden sollte, völlig verschwunden, sondern die ganze gebaute Welt zeigte sich im Allgemeinen einer totalen Mechanik untergegangen - mit Verlust sämtlicher Erscheinungen und ihrer Unterschiede. Der mechanische Materialismus erblickte in dieser Zerlegung auf Atomistik und sonst nichts des Pudels Kern; in Wahrheit war hier wirklich erst jene Nacht, von der einmal Hegel sprach, die Nacht, wo alle Kühe schwarz sind. Dasjenige fehlte, was gerade Demokrit, der erste große Materialist, Retten der Erscheinungen genannt und methodisch gefordert hatte. Hier leistete Feuerbach mit seinem nicht physikalischen, sondern »anthropologischen« Materialismus dem jungen Marx allerdings einen großen Dienst, einen im ganzen Tenor der »Elf Thesen« anerkannten. Atome und dann die ganze Biologie liegen zwar entwicklungsgeschichtlich jedem weiteren Bau zugrunde, doch der »starting pomt«, wie später Engels in der «Dialektik der Natur« das /333) nannte, dann der archimedische Punkt (für die Geschichte) ist dem Marxismus der arbeitende Mensch. Seine gesellschaftlichen Weisen der Bedürfnisbefriedigung, das »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«, wie es an Stelle des Feuerbachschen Mensch-Abstraktums trat, der gesellschaftliche Austauschprozeß mit der Natur selber: all das wurde nun als die einzig relevante und wirkliche Basis
erkannt, was das Reich der Geschichte und Kultur angeht. Es war das gleichfalls eine materielle Basis, ja eine viel ausgeprägter materielle als die der unsichtigen Atomvorgänge, doch gerade als ausgeprägtere, als historisch-charakteristische machte sie die geschichtlichen Erscheinungen und Charaktere nicht zur Nacht. Sie brachte vielmehr erstmals Licht, ein genuines Licht, worin zugleich der archimedische Punkt lag, der heißt: Beziehung der Menschen zu Menschen und zur Natur. Und eben weil der historische Materialismus, zum Unterschied vom einseitig naturwissenschaftlichen, kein betrachtender war, entdeckte er am spezifischen Ort seines archimedischen Punkts nicht nur den Schlüssel der Theorie, sondern den Hebel der Praxis. Marxismus also zerstört am wenigsten diesen Hebel und, dem entsprechend, nicht die höhere, die neue Organisation lebendiger Materie, zu der der Hebel hebt. So nochmals These 10: »Der Standpunkt des alten Materialismus ist die >bürgerliche< Gesellschaft, der Standpunkt des neuen die menschliche Gesellschaft oder die vergesellschaftete Menschheit.« Und Weltveränderung dieser Art geschieht sinngemäß einzig in einer Welt der qualitativen Umschlagbarkeit, Veränderlichkeit selber, nicht in der des mechanischen Immer-Wieder, der puren Quantität, des historischen Umsonst. Es gibt ebenso keine veränderbare Welt ohne den erfaßten Horizont der objektiv-realen Möglichkeit in ihr; sonst wäre selbst ihre Dialektik eine des Auf-der-Stelle-Tretens. Ja noch viel mehr Gewalt der Schöpfung hat sich in der weltumfassenden Dialektik des Marxismus erkennbar gemacht und kommt zur Wissenschaft. Die Hoffnung, die Herder im »Genius der Zukunft« hymnisch anzurufen suchte: «...denn was ist Lebenswissen! und du, / Der Götter Geschenk, Prophetengesicht! und der Ahndung / Vorsingende Zauberstimme!«, gerade die Hoffnung des Lebenswissens wurde, damit es wirklich eines sei, bei Marx Ereignis. Das Ereignis ist nicht /(334) abgeschlossen, denn es ist selber ein einziges Vorwärts in der veränderbaren, Glück implizierenden Welt. So bekundet die Gesamtheit der »Elf Thesen«: Die vergesellschaftete Menschheit im Bund mit einer ihr vermittelten Natur ist der Umbau der Welt zur Heimat. 10
ZUSAMMENFASSUNG ANTIZIPATORISCHE BESCHAFFENHEIT UND IHRE POLE: DUNKLER AUGENBLICK - OFFENE ADÄQUATHEIT
Wer aber treibt in uns an? Einer, der sich selbst nicht innehat, noch nicht hervorkommt. Mehr ist auch jetzt nicht zu sagen, dies Innen schläft. Das Blut läuft, das Herz schlägt, ohne daß zu verspüren ist, was den Puls in Gang setzt. Ja, tritt keine Störung hinzu, so ist überhaupt nichts unter unserer Haut spürbar. Was in uns reizfähig macht, reizt sich selber nicht. Das gesunde Leben schläft, als in sich webend. Es steckt ganz in dem Saft, worin es kocht. Puls und gelebtes Dunkel Daß man lebt, ist eben deshalb nicht zu empfinden. Gerade dieser unmittelbare Puls schlägt einsam. Akte wie Vollzug des Wollens, Vorstellens und so fort treten aus dem unmittelbaren Dunkel ihres Geschehens nicht heraus. Aber am meisten dunkel bleibt schließlich das Jetzt selber, worin wir als Erlebende uns jeweils befinden. Das Jetzt ist der Ort, worin der unmittelbare Herd des Erlebens überhaupt steht, in Frage steht; so ist das gerade Gelebte selber am meisten unmittelbar, also am wenigsten bereits erlebbar. Nur wenn ein Jetzt gerade vergangen ist oder wenn und solange es
erwartet wird, ist es nicht nur ge-lebt, sondern auch er-lebt. Als unmittelbar daseiend, liegt es im Dunkel des Augenblicks. Nur das gerade Heraufkommende oder das gerade Vergangene hat den Abstand, den der Strahl des Bewußtwerdens braucht, um zu bescheinen. Das Daß und Jetzt, der /(335) Augenblick, worin wir sind, wühlt in sich und empfindet sich nicht. Dementsprechend also wird der jeweilige Inhalt des gerade Gelebten nicht wahrgenommen. Platz für möglichen Vormarsch Aber was im Jetzt treibt, stürzt zugleich dauernd vorwärts. Es bleibt darum nie in sich selber webend, denn das Daß des Lebens ist gierig. So ungeäußert sein Innen noch sein mag, darin äußert es sich, daß es das Seine nicht bat, vielmehr draußen sucht und meint, also daß es Hunger hat. Und das Draußen, in das das Subjektive greift, muß wenigstens so liegen, daß sich nach ihm greifen läßt. Wäre um das Drängen nach dem, was ihm fehlt, nichts als lauter enge, erstickende, fest gewordene Mauer, dann wäre nicht einmal Drängen da. So aber ist ihm noch etwas offen, sein Drängen, Wünschen, Tun hat Platz. Was nicht ist, kann noch werden, was verwirklicht wird, setzt Mögliches in seinem Stoff voraus. Es gibt im Menschen dies Offene, und Träume, Pläne wohnen darin. Das Offene ist ebenso in den Dingen, an ihrem vorderen Rand, dort, wo noch Werden möglich ist. Und das Drängen hat daran nicht nur den Auslauf oder das Freie, wo noch gegangen, noch gewählt, noch geschieden, Weg eingeschlagen, Weg gelegt werden kann, sondern außer dem Weg ist im objektiv Möglichen ein uns möglicherweise Entsprechendes, woran das Drängen nicht endlos ungesättigt weitergeht. Das Entsprechende ist als solches nicht selber ausgemacht und garantiert, es ist nicht empfangend, gar lösend, aber es ist seines Möglichen gewärtig und so immerhin als Gewärtiges empfangend. In den Dingen ist ein Treiben, worin unsere Angelegenheiten noch betrieben werden können, eine Front, worin unsere Zukunft, gerade diese, entschieden werden kann. Solch Veränderbares ist keinesfalls selbstverständlich: es könnte ja auch nichts Neues mehr unter der Sonne geschehen. So aber gibt es im Fluß der Dinge, also der Ereignisse, noch durchaus ein Noch und Noch-Nicht, was dasselbe ist wie echte, das heißt, aus nie so Gewesenem bestehende Zukunft. Zeiten, in denen nichts geschieht, haben das Gefühl fürs Novum fast verloren; sie leben in Gewohnheit und das Kommende ist keines, sondern abgezir- /(336) kelt wie das Gestrige auch. Aber Zeiten wie die heutige, in denen Geschichte, vielleicht für Jahrhunderte, auf der Waage steht, haben das Gefühl fürs Novum extrem, sie spüren, was Zukunft ist, mit angehaltenem Atem, mit befördernder Arbeit am Heraufziehenden, heraufziehend Möglichen. Solche Zeiten sind der Ort, um das Korrelat des Möglichen besonders zu erfahren, über zersprungener Gewordenheit. Das Jetzt des Treibens hat nur unter ungeschlossenen Dingen Platz, um zu verwirklichen, um seine Inhalte wachsend manifest zu machen. Quell und Mündung: das Staunen als absolute Frage Wird recht verwirklicht, so kommt das Leben dorthin, wo es noch nie war, nämlich nach Hause. Zwei Momente aber machen, in dieser möglichen Verwirklichung eines noch Möglichen, letzthin Quell und Mündung aus. Der Quell ist bezeichnet durch das Dunkel des Jetzt, worin Verwirklichen entspringt, die Mündung durch die Offenheit des objekthaften Hintergrunds, wohin die Hoffnung geht. Es wurde erkannt: im Verwirklichen ist selber etwas unreif und noch nicht verwirklicht, daher schwächt es
(vgl. S.221); dieses Unreife macht sich kenntlich im Dunkel des gelebten Augenblicks. Es wurde weiter erkannt: im objekthaften Hintergrund oder Korrelat ist Offenheit, noch entscheidbar Real-Mögliches, ist Utopie als Frontbestimmtheit der Objekte selbst (vgl. S.235); dies Reifbare macht sich kenntlich als immer noch währende Tendenz, immer noch dämmernde Latenz. Dunkler Augenblick hier, adäquate Offenheit dort bezeichnen folglich Quell und Mündung des Heraufkommens; sie sind die Pole des antizipierenden Bewußtseins wie dessen, was ihm objekthaft entspricht. Mündung allerdings, das bezeichnet ein Moment des Endzustands, der noch mehr bedeutet als adäquate Offenheit, vielmehr: in dem sich diese als offene Adäquatheit gibt. Invarianz eines stets Gemeinten oder utopischen Endes, das in der Richtung ist, diese einzig gültige Invarianz wurde ebenfalls ausgezeichnet (vgl. S.255); sie ist Unum necessarium in der Richtung, ist überal[l] identisch angelegtes Element des utopischen Endzustands. Und nun: die offene Adäquatheit macht sich nicht in Erfahrungen des weiterlaufenden Weltprozesses kenntlich, /(337) mit experimentierter Mündung, sondern in kurzer, seltsamer Erfahrung eines antizipierten Stillehaltens. Erfahren wurden in diesem Stillehalten allemal knappste Symbolintentionen eines Überhaupt, subjektiv zunächst, ja lyristisch scheinend und doch erzphilosophisch in der Sache selbst fundiert, nämlich in einem Aufblitzen von utopischem Endzustand. Solche Erfahrungen eines utopischen Endzustandes fixieren ihn gewiß nicht, sonst wären sie keine Erfahrungen bloßer Symbolintention und keine utopischen, gar zentralutopischen. Aber sie betreffen in der Tat den Kern der Latenz, und zwar als letzte Frage, in sich selbst widerhallend. Diese Frage ist auf keine bereits vorhandene Antwort hin konstruierbar, auf kein irgendwo in der vorhandenen Welt bereits geschlichtetes Material beziehbar. Beispiele hierfür sind in dem Buch »Spuren« gegeben, wo »das fragende, das bodenlose Staunen« an einer Stelle aus Hamsun erläutert wird (Ernst Bloch, Spuren, 1930,S. 274ff). Besonders aber im »Geist der Utopie», worin solch letzthinnige Symbolintention als »Gestalt der unkonstruierbaren Frage», das heißt eben, als Gestalt der auf keine bereits vorhandenen Lösungen hinbiegbaren, hinkonstruierbaren Fragen zuerst bezeichnet worden ist: »Ein Tropfen fällt, und es ist da; eine Hütte, das Kind weint, eine alte Frau in der Hütte, draußen Wind, Heide, Herbstabend, und es ist wieder da, genauso, dasselbe; oder wir lesen, daß sich Dimitri Karamasow im Traum verwundert, wie der Bauer immer >Kindchen< sagt, und wir ahnen, hier wäre es zu finden; >die Ratte, die raschle, solange sie mag! Ja wenn sie ein Bröselein hätte!<, und wir fühlen, bei diesem kleinen, schnöden, sonderbaren Vers aus Goethes >Hochzeitslied<, hier, in dieser Richtung liegt das Unsagbare, das, was der Knabe liegenließ, als er wieder aus dem Berg herauskam, >vergiß das Beste nicht!< hatte der Alte zu ihm gesagt, aber noch keiner konnte dieses Unscheinbare, tief Versteckte, Ungeheure jemals im Begriff entdecken» (Ernst Bloch, Geist der Utopie, 1918, S.364). Man sieht daran, es sind ganz uneigentliche Anlässe und Inhalte, zu denen derart das Subjekt gegebenenfalls inkliniert, doch in ihnen, den für jeden Menschen verschiedenen, obzwar allemal bedeutungsidentischen Anlässen und Inhalten, kündigt sich der Gehalt des tiefsten Staunens an, zwischen Subjekt und Objekt, beide in durchdringender /(338) Betroffenheit auf einen Augenblick identifizierend. So läuft die unkonstruierbare, die absolute Frage allerdings auch wieder auf den Augenblick zu, in sein Dunkel hinein. Nicht als Lichtung, doch als unverwechselbarer Hinweis auf das unmittelbare Dunkle des Jetzt, sofern dessen inhaltlich zentrale Latenz sich immerhin in solch staunendem Fragen, fragendem Staunen abbildet. Wäre der Inhalt des im Jetzt Treibenden, im Da Berührten positiv heraus, ein »Verweile doch, du bist so schön«,
dann wären gedachte Hoffnung, gehoffte Welt am Ziel. Nochmals: Dunkel des gelebten Augenblicks; Carpe diem Was in uns reizfähig macht, wurde gesagt, reizt sich selber nicht. Es schläft als warm und zugleich verdunkelt, weckt sich selber am wenigsten empfindend auf. Auch das Empfinden innerer und äußerer Reize nimmt an dem Punkt, wo diese ins Jetzt eintauchen, an dessen Dunkel teil. So wenig wie das Auge an der Stelle des blinden Flecks sieht, wo der Nerv in die Netzhaut tritt, so wenig wird von irgendeinem Sinn das gerade Erlebte wahrgenommen. Dieser blinde Fleck in der Seele, dieses Dunkel des gelebten Augenblicks muß bei alledem vom Dunkel vergessener oder vergangener Vorgänge durchaus unterschieden werden. Wenn sich Vergangenes zunehmend mit Nacht bedeckt, so ist das aufhebbar, Erinnerung hilft auf, Quellen und Funde können ausgegraben werden, ja historisch Vergangenes steht, wenn auch lückenhaft, gerade fürs betrachtende Bewußtsein besonders objektivierbar da. Das Dunkel des gerade gelebten Augenblicks dagegen bleibt in seiner Schlafkammer; aktuelles Bewußtsein ist gerade nur in bezug auf ein eben vergangenes oder für ein erwartet anrückendes Erlebnis und seinen Inhalt da. Der gelebte Augenblick selber bleibt mit seinem Inhalt wesenhaft unsichtbar, und zwar desto sicherer, je energischer Aufmerksamkeit sich darauf richtet: an dieser Wurzel, im gelebten Ansich, in punktueller Unmittelbarkeit ist alle Welt noch finster. In punktueller Unmittelbarkeit: - geschieht freilich alles Erleben punktuell und atomistisch, folglich in Augenblicken und als diese? Das wird von vitalistischen Psychologen verneint, sie lassen Seelisches pulslos fließen. So sieht James, ungeachtet daß er »transitive /(339) parts of the consciousness« zuläßt, psychisches Leben als einen Strom. Teilung gilt bei Vitalisten insgesamt, besonders bei Bergson, als künstlich, als wissenschaftlich-ideale Abstraktion, angeblich nach mathematischem Muster hergestellt; auch der Augenblick wäre danach kein unmittelbares Sichbefinden, gleitend und diskret zugleich, sondern eine hergestellte Fiktion. Jedoch all diese vitalistische Augenblicksleugnung bleibt im vorliegenden Fall gänzlich unzuständig; denn eben zum Leben gehört der punktuelle Puls, er ist an ihm keine Abstraktion. Abstrakt dagegen ist der Strom der Bewußtseins-Vitalisten selber; denn ihm fehlt gerade der schlagende Puls, dies Element des Lebensstroms zum Unterschied von einem wellenlosen, ununterbrochenen Geschiebe. Das Bild des Bewußtseinsstroms zeigt seine eigene Abstraktheit darin, daß es von einem wirklichen Strom fast nichts mehr enthält, vielmehr in sich selber stationär ist. Der Bewußtseinsstrom der Vitalisten ist auch darin so wenig wirklicher Strom, daß er weder Quell noch Mündung aufweist, und vor allem hat er mit dem einzigen konkreten Begriff des Stroms, mit dem des Prozesses, nichts gemein, als welcher dezidiert aus Unterbrechungen besteht, nämlich aus dialektischen Momenten des dialektischen Zusammenhangs. So gewiß der Prozeß aus ihnen nicht »zusammengesetzt« ist, nach einer selber verdinglicht mechanistischen Auffassung, so verdankt er ihnen doch seinen diskontinuierlichen Charakter, eben den »Puls der Lebendigkeit«, wie Hegel sagt. James, auch Bergson sind in diesem Punkt nicht nur hinter Hegel, sondern selbst hinter den ihnen so viel näherstehenden, nämlich undialektischen Hume zurückgefallen. Dessen Lehre von den »indivisible moments of time and consciousness» ist bedeutend konkreter als die bloße Oberflächenanschauung: Bewußtseinsstrom, mit der pulslosen Abstraktheit, wozu sie verdinglicht worden ist. Selbst von Husserl wäre hier das Rechte zu erfahren, wenigstens was das Zeithafte im angeblichen »Aktkontinuum» angeht: »Während
eine Bewegung wahrgenommen wird, findet Moment für Moment ein Als-Jetzt Erfassen statt, darin konstituiert sich die aktuelle Phase der Bewegung selbst.« Und weiter: »Das Fließen ist nicht nur überhaupt Fließen, sondern jede Phase ist von einer und derselben Form... Die Form besteht darin, daß ein Jetzt sich konstituiert /(340) durch eine Impression, und daß an diese ein Schwanz von Retentionen sich angliedert und ein Horizont der Protentionen« (Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 1928,S.391,476). Kein Fluß kann überhaupt gedacht, gar dialektisch verstanden werden ohne jenes Jetzt-Inmitten in seiner Zeit, welches nicht einmal selber Zeit ist, sondern »das sonderbare Etwas«, nach Platons Wort, woraus die Zeit (nicht nur die Zeitauffassung) des wirklichen Bewegungsstroms entspringt und worin Bewegung mit unruhiger Ruhe selber geeint ist. Platon, der sich besser als James und Bergson auf das diskontinuierliche Kontinuum versteht, zeichnet eben deshalb den Augenblick (das Plötzliche) entschieden aus. Er figuriert hier als Momentum des Übergangs zwischen Bewegung und Ruhe, Ruhe und Bewegung: »Denn aus der Ruhe geht nichts über, solange es noch ruht, noch aus der Bewegung während es sich noch bewegt, in die Ruhe; sondern der Augenblick, dieses sonderbare Etwas, liegt zwischen der Bewegung und der Ruhe, keiner Zeit angehörig; und in ihm, aus ihm geht das Bewegte in die Ruhe über und das Ruhende zur Bewegung« (Parmenides, 156 D-E). Und zuletzt den Fluß als einen zur Mündung (Ruhe) betreffend - hat sowohl der Tenor des Faustplans wie der ihm verwandte der Mystik den Augenblick als keine Abstraktion in sich. »Verweile doch, du bist so schön«: es soll zum Augenblick als einem höchsten gesagt werden können, auch zu jenem vollkommen erfüllten und so standhaften, bestandhaften der in Eckardts Mystik als das Nu (nunc stans) der Vollkommenheit pointiert ist. Derart einen sich alle diese, untereinander so verschiedenartigen, Bekundungen in der Anerkennung eines realen Jetzt; zum Unterschied vom Abstraktionsstrom der Vitalisten. Und es bleibt letzthin der Puls, der auch dem intermittierenden Augenblickscharakter des Bewußtseins das Modell gibt oder besser: als Entsprechung im Leib geschieht. Vom Pulsschlag her wird der seelische Augenblick im Klopfen seines Jetzt erfahren, im Vorwärtsstürzenden, auch Transitiven aller Augenblicke. Mehr allerdings geht in dieser Unmittelbarkeit noch nicht davon auf, auch erstreckt sich das Gewahrwerden nur so weit, daß der gelebte Augenblick eben als dunkler erfahren und bezeichnet werden kann. Wobei das Entscheidende hinzutritt, das ohnehin im ganzen Bisherigen das /(341) Problem über bloße Psychologie hinaustrieb: das Dunkel des gelebten Augenblicks ist abbildlich für das Dunkel des objektiven. Also für das Sich-nicht-Haben jenes intensiven Zeitelements, das sich noch nicht selber in die Zeit und den Prozeß als inhaltlich manifestiert entfaltet hat. Nicht das Fernste also, sondern das Nächste ist noch völlig dunkel und ebendeshalb, weil es das Nächste, das Immanenteste ist; in diesem Nächsten steckt der Knoten des Daseinsrätsels. Das Leben des Jetzt, das eigentlichst intensive, ist noch nicht vor sich selbst gebracht, als gesehen, als aufgeschlossen zu sich selbst gebracht; so ist es am wenigsten Da-Sein, gar Offenbar-Sein. Das Jetzt des Existere, das alles treibt und worin alles treibt, ist das Unerfahrenste, was es gibt; es treibt noch ständig unter der Welt. Es macht das Realisierende aus, das sich am wenigsten realisiert hat - ein tätiges Augenblicks-Dunkel seiner selbst. Woraus auch das Seltsame aufgeht, daß noch kein Mensch richtig da ist, lebt. Denn Leben heißt doch Dabeisein, heißt nicht nur Vorher oder Nachher, Vorgeschmack oder Nachgeschmack. Es heißt den Tag pflücken, im einfachsten wie gründlichen Sinn, heißt sich zum Jetzt konkret verhalten. Aber indem gerade unser nächstes eigentlichstes, unaufhörliches Dabeisein keines ist, lebt noch kein Mensch
wirklich, gerade von dieser Seite her nicht. Carpe diem im raschen, gedankenlosen Genuß, es scheint so einfach, auch verbreitet, ist jedoch so selten, daß es als wirkliches Pflücken gar nicht vorkommt. Nichts ist gerade gegenwartsflüchtiger als jenes übliche Carpe diem, das ganz im Genuß des Jetzt aufzugehen scheint, nichts weniger seinsmächtig, nichts mehr Banalität ante rem. So rasch also läßt sich das Pflücken des Tags nicht vollziehen, es sei denn, das Verweile doch, zum Augenblick gesprochen, wird in der Tat mit einem Faulbett verwechselt. So sehr urkräftiges Behagen seine Ehre hat, so ist es doch nur scheinbar in Auerbachs Keller oder gar in philisterhafter Besitzeslust zu Hause. Oben bereits (vgl. S. 207ff.) wurden Lenau und Kierkegaard als nicht unbedenkliche, doch sehr bedenkenswerte Nicht-Meister des Carpe diem erinnert. Sie waren beide dazu verdammt, das Bild der Geliebten mit ihr selber im Gedränge zu sehen. Das mag oft Lebensschwäche sein, jedoch das gewaltige Sujet der ägyptischen Helena zeigt an, daß mit Schwäche, auch /(342) mit romantischem Überschwang, auch mit einer Art utopischer Neurose der Fall nicht erschöpft ist. Über das bloße Impressible, über die Oberfläche des Lustund Schmerzmoments kommt das übliche Carpe diem nicht hinaus, ja es ist konträr zu seiner Horazischen Lesart - das Zerstreute, das Unverweilende, das Gegenwartlose selber. Kurz: so wenig wie die Neugier utopisch ist, so wenig ist das übliche Carpe diem, das doch gerade von einem »Augenblick» zum anderen springende, den Tag im Tag vertuende, seinsmächtig. Echtere Berührung des Moments gibt es einzig in starken Erlebnissen und an scharfen Wendestellen des Daseins, sei es des eigenen, sei es der Zeit, sofern sie von geistesgegenwärtigem Auge bemerkt werden. Außerordentliche Tatmenschen scheinen ein echtes Carpe diem zu bieten, als Entscheidung im geforderten Augenblick, als Kraft, dessen Gelegenheit nicht zu versäumen. Mommsen exemplifiziert diese Kraft an Cäsar, nennt sie »geniale Nüchternheit« und fährt bedeutsam fort: »Ihr verdankte er das Vermögen, unbeirrt durch Erinnern und Erwarten energisch im Augenblick zu leben; ihr die Fähigkeit, in jedem Augenblick mit gesammelter Kraft zu handeln.« Aber hat Cäsar, haben die meisten Täter der Klassengesellschaft, das heißt hier: der undurchschauten Geschichte, den Augenblick, den sie taten, auch ebenso nach seinem geschichtlichen Inhalt erfaßt? Dieser Fall ist so selten, daß sich als einziges Beispiel fast nur das Goethesche anbietet, eines Mannes zudem, der kein Täter war, wohl aber ein Konkretblick ohnegleichen. So gehört Goethes Satz am Tag der Kanonade von Valmy hierher: »Von hier ab und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen«; es gibt aber dergleichen Vergegenwärtigungen nicht viele. Nicht viele solcher Bemerkungen eines sonst unbemerkten Augenblicks: als eines transitorischen, mit fruchtbarstem Motiv, als einer Treffstelle weitverzweigter Vermittlungen zwischen Vergangenheit und Zukunft - mitten im unsichtigen Jetzt. Ein plötzliches, nicht historisch-horizontales, sondern senkrecht einschlagendes Licht fällt dann auf Unmittelbarkeit, so daß sie fast vermittelt zu sein scheint, ohne freilich aufzuhören, unmittelbar oder überdichte Nähe zu sein. Das großartigste Beispiel für durchschaute Vergegenwärtigung geben die Situationsanalysen von Marx und /(343) Engels, an der Spitze der »Achtzehnte Brumaire«.Und Lenin hat sein Leben lang Gegenwärtiges mit historischem Durchblick erfaßt, bis zu jenem durchdachten Carpe diem, welches Große Sozialistische Oktoberrevolution heißt. All das setzte freilich bereits ein völlig unkontemplatives Verhalten voraus, nämlich Begreifen-Ergreifen der aktuellen Triebkräfte des Geschehens selbst. Das ist der Klassengesellschaft unvollziehbar, die notwendig über dem Produkt das wirklich Produzierende übersah; doch der rechte Weg zur aktiven Aktualität ist auch mit der
Situationsanalyse erst begonnen. Sein Ziel bleibt die Erhellung dessen, was im letzten Daßgrund des Geschehens so treibt wie sich noch verborgen ist. Gewiß auch: durch alle Gesellschaften hindurch ziehen sich die keineswegs nur lyristischen, vielmehr erzphilosophischen Erfahrungen der unkonstruierbaren Frage, als des absoluten Staunens, ein beginnendes Carpe diem des unüblichen, echten Sinns; doch wie viel Scheu, wie viel bloße Symbol-Intention wiederum ist in dieser unscheinbaren Alltags-Mystik, der einzigen, die geblieben ist, die wert ist, zu bleiben. Sonst überall ist Nicht-Da der Zustand des Jetzt und selbst noch das Hier dieses Nicht-Da bildet eine Zone des Schweigens genau dort, wo die Musik gespielt wird. Dadurch steht nicht nur das Existieren, sondern vor allem doch das Subjekt des Existierens im Inkognito, gerade also das Treibende, letzthin Inhaltliche des Existierenden selbst. Hierfür erst wäre das volle Carpe diem entscheidend, dergestalt, daß das Existierend-Aktuelle und seine zeitlich-räumlich angrenzende Umgebung durch die Nähe, die diese noch unmittelbare Erlebnisschwierigkeit hat, keineswegs trübe und schwierig gemacht würde. Aber die Augenblicke schlagen noch ungehört, ungesehen, ihr Präsens ist bestenfalls im Vorhof seiner noch nicht bewußten, noch nicht gewordenen Präsenz. Dunkel des gelebten Augenblicks, Fortsetzung: Vordergrund, schädlicher Raum, Melancholie der Erfüllung, Selbstvermittlung Das gelebte Dunkel ist so stark, daß es nicht einmal auf seine unmittelbarste Nähe begrenzt ist. Vielmehr wirkt es auch in /(344) seine Umgebung ein, in die ans gerade Jetzt sich anschließende Zeit, sodann in den ans gerade Hier sich anschließenden Raum. Diese Wirkung verhindert, daß die erlebniswirkliche Nähe, besonders als geschehende, in gehörigen und beruhigenden Abstand kommt, also auf übliche Weise betrachtet werden kann. Dadurch entsteht das eigentümliche, nicht leicht betrachtbare, aber auch nicht leicht faßbare und wißbare Zwielicht des jeweils aktuellen Vordergrunds. Einige Sprichwörter wissen darüber besser Bescheid als die meisten bisherigen Denker; so etwa: Was er webt, weiß kein Weber, oder: Am Fuß des Leuchtturms ist kein Licht. Und merkte nicht Ödipus, weil er sich selber im Licht stand, als letzter, daß er seine eigene Mutter geheiratet hatte? Das Rätsel der Sphinx, das von außen betrachtbare, hatte er leidlich gelöst, zu seinem eigenen Fall aber, als einem unmittelbar nahen, verhielt er sich hilflos. Und so weiter im unverstandenen Text der Jetzt-Zeit, des Hier-Raums, wo immer bloße Betrachtung, vom Abstand, vom Gewohnten her, sich dazu vorwagt. Am verräterischsten erscheint dergleichen, wie oft bemerkt (vgl. S. 330), sobald die verdinglichte Betrachtung, als die eines Erstarrten, Gewordenen, in der Gegenwart ankommt und zu diesem Nahen, Geschehenden, Werdenden ihr Wort zu sagen versucht. Dann zerreißt die Gewöhnung an die Art Zusammenhänge, zu der das Abstandhafte weit hinten in der Vergangenheit Anlaß gegeben hatte. Schon die relative Nähe des neunzehnten Jahrhunderts macht die bürgerlichen Historiker, wenn sie bei diesem Jahrhundert im Verlauf ihrer Darstellung ankommen, charakteristisch verlegen; Meinungen schieben sich an Stelle der bisherigen Zusammenhangsurteile. Und die vollends verblüffende Unwissenschaftlichkeit dieser Historiker ist erinnerlich, als die Geschichte zum Weltkrieg ging; aus dem Gelehrten wurde der kannegießernde oder auch hurrapatriotische Oberlehrer. Das aber nicht nur wegen des klassenmäßig bedingten unkonkreten Verhaltens des Bourgeois zu den Annexen des Jetzt, sondern diese besondere Sehschwäche, samt dem ideologischen
Fälschungsinteresse dazu, wird durch den allgemeinen Einsturz der sozusagen objektiven Betrachtung, wie ihn die Nähe bewirkt, zentral begünstigt, und die Fehlurteile der bürgerlichen Parteilichkeit schlagen sich besonders interessiert in die Bresche /(345) der aktuellen Unmittelbarkeit, der durch bloße Betrachtung nie zu bewältigenden. All das mag, indem es und soweit es die Schwierigkeit des Aktuellen samt dem sich daran anschließenden Jetzt- Vordergrund, Hier- Vordergrund angeht, durch ein Problem der Landschaftsmalerei verdeutlicht werden. Das Problem des Aktuellen lautet malerisch: Wo denn fängt in einem Bild die dargestellte Landschaft an? Der Maler malt nicht sich selber mit, obwohl er sich unmittelbar, als innerster Ring des Unmittelbaren, ebenfalls in der Landschaft befindet. Indes auch der zweite Ring der Unmittelbarkeit: der eigentliche Vordergrund des Bilds, ist nur schwierig objektivierbar; sie hat immer noch zuviel Nähe zum Standort des Malers. Und genau das Durcheinander aus Nähe bewirkt die relative Undurchformtheit auch des räumlichen Vordergrunds, seine Unzugehörigkeit zur eigentlichen Landschaft. Die dargestellte Landschaft beginnt also nicht nur, wie selbstverständlich, außerhalb des Malers, der sie malt, sondern auch jenseits der noch zerstreuten Gegenstände seiner näheren Umgebung. Mit einem Begriff, der aus der Physik der Luftpumpe entnehmbar ist, wird klar: der Vordergrund ist für die Darstellung schädlicher Raum, das heißt, ein solcher, aus dem die Atmosphäre noch nicht ganz entwichen ist. Dieses Falls die Atmosphäre der Unmittelbarkeit, das währende Dunkel und die währende Unordnung des Jetzt und Hier, der Nähe. Auf die Frage: wo fängt die Landschaft an? wo beginnt zusammenhängende Objektivierung? kann daher nur geantwortet werden: jenseits des schädlichen Raums, im Abstand von ihm, genau dort, wo das Dunkel der Unmittelbarkeit samt ihren Ausläufern aufzuhören beginnt. Und da zwischen Subjekt und Objekt der Betrachtung überall dieser merkwürdige Zwischenraum liegt, eben als schädlicher Raum sui generis, aus dem die Atmosphäre der unvermittelten Unmittelbarkeit noch nicht hinreichend entfernt ist: so entspricht der schwierige Vordergrund des Landschaftsbilds und sein Problem methodisch scharf der angegebenen Schwierigkeit geschehender, in der Zeit geschehen der Aktualität. Innerhalb dieser allerdings ist die Einwirkung des gelebten Dunkels noch unvergleichlich folgenreicher als im räumlichen Beachtungsrelief die Sache selbst, und ist nicht nur ein Exempel ihrer, wie in der malerischen Komposition. Das zeigt sich schon /(346) daran, daß der Hier-Raum als räumlicher Vordergrund doch schließlich in Landschaft übergehen, mit ihr gleichsam abschließen kann, daß ein unerledigter Rest von Nähe in der Ruhe dieses Abschlusses sich nicht meldet. Die Jetzt-Zeit dagegen als Vordergrund der Zeit läuft nicht ohne weiteres in Faßbares, Gestaltbares, Wißbares über, und zwar - eine neue Schwierigkeit auch nicht ohne weiteres in die Wißbarkeit, die keine passive Betrachtung, sondern aktive Tendenzkunde ist. Denn sonst müßte diese Wißbarkeit das die Jetzt-Zeit nachher Umgebende, also die Zukunft, so völlig in den objektiven Griff bekommen wie, mutatis mutandis, das Landschaftsbild die Landschaft hinter dem Hier-Raum. Was höchst bekanntlich in Ansehung der Zukunft, außer den nächst, übernächst zu vollziehenden Schritten und der großen Perspektive, nicht der Fall sein kann, auch nicht in der Grundwissenschaft des beherrschten Geschehens, in der endlich konkreten Tendenzwissenschaft: Marxismus. Und zwar deshalb nicht, weil das Zukünftige - anders als das Raumferne - selber so unbeherrschtes Jetzt, also Dunkel enthält, wie das Jetzt selber noch unaufgeschlossene Zukunft, also Neuheit enthält und sich nach dorthin vorwärts stürzt. Vergangenheit, dieses auch nur scheinbar, auch nur für die Betrachtung Geschlossene und so mit der objektivierbaren Raum-Landschaft scheinbar Vergleichbare, kommt im
Zeitbewußtsein wie in der Zeitphase erst später, erst nach dem Stürzen in Zukunft auf und ist mit der objektivierten Landschaft, wie sie direkt an die Raum-Aktualität sich anschließt und hinter ihr als fertig dasteht, deshalb doch nicht vergleichbar. Konträr: Das Zukunfthaltige der Jetzt-Aktualität setzt sich - über alle Vergangenheitsformen hinweg - auch in seiner Vordergrundsaktualität und in allen ihren Horizont-Umgebungen immer wieder fort. Indem aber Zukunft derart zur Aktualität gehört, nimmt auch sie, die Zukunft, mit allen ihren Vordergrunds- und Horizont-Objektivitäten am Dunkel des gelebten Augenblicks teil. Und sie nimmt daran in einerWeise teil, die die wesentlichste Eigenschaft der Zukunft ausmacht: der Betrachtung verschlossen, aber auch der Tendenzkunde noch relativ unbekannt zu sein. Dieser Zusammenhang von Augenblicks- und Zukunftsdunkel wurde im »Geist der Utopie« erstmals so formuliert: »Das Dunkel verstärkt sich, sobald nicht nur wir, son- /(347) dem auch die andere, gedrehte Seite unentschieden bleibt, sobald wir uns also dem Zukünftigen zuwenden, das selber, sofern es vor allem logisch neu ist, nichts anderes bedeutet als unser vergrößertes Dunkel, als unser Dunkel in der Ausgebärung seines Schoßes, in der Vergrößerung seiner weiteren Geschichte; und ebenso verstärkt es sich Gott als dem Problem des radikal Neuen gegenüber, der nicht etwa für uns nur sichtbar werden muß, um zu sein, so daß sich der ganze Weltprozeß elastisch zu einer Bewegungsbeziehung zwischen zwei >getrennten< Realitäten reduzierte, sondern der sich selber nur als Hoffnung, als Nicht Fürsichsein, gleich uns im schattenhaft Ungeschehenen, noch Unrealen innehat« (Geist der Utopie, 1918 S. 372). Gemäß dieser unheimlichen Formulierung fällt also das Dunkel des gelebten Augenblicks in seiner völligen Tiefe mit der essentiellen, doch nicht da-seienden Existenzweise des Zielinhalts selber zusammen, der einmal unter der mythologischen Bezeichnung Gott intendiert war, und der nach der zitierten Stelle eben der noch nicht da-seiende, noch nicht herausgebrachte Zielinhalt des Existierens selber ist. Das Carpe diem oder Präsens des absoluten Zielinhalts steht aber in dem gleichen Grund, in dem das Subjekt des Existierens steht, und aus dem gleichen Grund wie dieses steht der Zielinhalt als realisierter noch aus: aus dem Grund jenes ungelichteten Existenzherds, der mit unmythologischer Bezeichnung Agens wie Kern der sich entwickelnden Materie ist. So weit, so tief also reicht das Wurzeldunkel des gelebten Augenblicks; so genau ist es dem Novum in beiden zugeordnet, dem Ultimum des Inhalts. Und es ist ebenso die gleiche Zukunft: das in der Zeiten Schoß Enthaltene, welches das im Augenblick Enthaltene zu erschließen berufen ist. Einzig das Seinkönnen, das leitungsmächtig beförderte und aufgeschlossene, bringt das unmittelbare Sein des treibend-verborgenen Augenblicks zu sich und herauf; einzig dieses aufgeschlossene Transzendere ins Novum schließt das immanente Existieren inhaltlich auf. Je näher hierbei die Anwesenheit zum existentiellen Erzeuger des Geschehens, also - geschichtlich - zum Menschen, je radikaler die Selbstergreifung des geschichtsbildenden Subjekts, desto mehr löst sich die blinde Aktualität, desto eingreifender kann sie als Durchgangspunkt weitverzweigter dialektischer Vermittlungen /(348) erkannt werden. Das eigentliche, metaphysische Dunkel des gelebten Augenblicks erhellt sich mittels solch geschichtlicher Subjekterfassung noch nicht oder erst in Anfängen, doch das Vordergrundproblem, mit dem Riß des Jetzt und Hier in den Abbildungen des Weltzusammenhangs, wird endlich in Griff gebracht. Es wird zum Problem des vermittelten Durchgangspunkts und darin der aktuell-konkreten Entscheidung an der Front des Weltgeschehens aufgehoben. Nicht, daß dieser Riß im Leben, also selbst bei einem nicht betrachtenden, damit verschwände. Denn letzthin ist die Wirkung des gelebten Dunkels auch auf die
angegebenen mannigfachen Vordergründe nicht beschränkt. Sondern der blinde Fleck, dieses Nicht-Sehen des unmittelbar eintretenden Jetzt und Hier, tritt eben auch bei jeder Verwirklichung auf. Ja, das Sehen wird durch allzu nahen Abstand nur getrübt, während die bis jetzt vorhandene Art des Verwirklichens nicht an irgendeinem Vordergrund, sondern im Verwirklichten selber sich verfinstert. Auch echtes Carpe diem ist von dieser Melancholie nicht ausgenommen, dann nämlich, wenn es nicht bloß geistesgegenwärtig ist, sondern die Früchte einer erfüllten Hoffnung pflückt. Und die Erfahrungen des zentralen Staunens, in der unkonstruierbaren Frage, werden von dieser Melancholie nur deshalb verschont, weil sie eben nur blitzhafte Anzeichen eines da-seienden Jetzt, Hier und Da enthalten, und das an stellvertretenden, oft skurrilen Gegenständen, aber nicht, noch nicht an der verwirklichten Sache an und für sich selbst. Sonst überall ist ein Riß, ja Abgrund im Verwirklichen selbst, im aktuiert-aktuellen Eintreten des so schön Vorhergesehenen, Ausgeträumten; und dieser Abgrund ist der des ungefaßten Existere selbst. Also gibt das Dunkel der Nähe auch den letzten Grund für die Melancholie der Erfüllung: kein irdisches Paradies bleibt beim Eintritt ohne den Schatten, den der Eintritt noch wirft. Es ist ja nicht nur so, daß ein Fiasko droht, wenn zu weit überholende Träume verwirklicht werden sollen oder wenn allzu erhabene Träume ihren Vollzug gefährden. Ein Rest im Realisieren selbst wird auch dort noch gefühlt und liegt vor, wo angemessene Ziele realisiert worden sind, oder wo monumentale Traumbilder mit Haut und Haaren, mit Leib und Seele in Wirklichkeit getreten zu sein scheinen. Es gibt ein /(349) Verwirklichen, das von der Tat der Verwirklicher selber absieht und sie nicht enthält; es gibt Ideale, die sich als abgehobene, tendenzfremde, abstraktfixe geben und so auch das Unfertige, Unverwirklichte ihrer Verwirklicher unterschlagen. Gerade in der Melancholie der Erfüllung meldet sich genauso dies zutiefst noch nicht Erfüllte im Subjekt, wie sich das Unzureichende im Fixierten des Ideals darin kritisiert. Auch das Element des Verwirklichens also gilt es, im gleichen Zug mit dem Element der künftigen Gesellschaft, wachsend in Freiheit zu setzen. Derart eben wurde beim Problem der Verwirklichung bereits gesehen (ägyptische Helena): der Wunsch- oder Idealinhalt kommt, gerade wenn er sein Verwirklichungsziel erreicht, an einem Punkt dunklerer Wirklichkeit an, als er sie vorher, im schwebenden, utopischen, bloß wesenden Realcharakter besaß. Wie zu wiederholen: Realisierung, so sehr sie den kontemplativen Abstand aufhebt, wirkt nie schon gänzlich als Realisierung, weil im Subjektfaktor der Realisierung selbst etwas ist, das sich noch nirgends verwirklicht hat. Der Subjektfaktor der Daseinsgebung ist selber noch nicht da, er ist nicht prädiziert, nicht objektiviert, nicht realisiert; das zuletzt kündet sich im Dunkel des gelebten Augenblicks. Und dies Inkognito bleibt noch das mitgehende Grundhindernis in jeder Verwirklichung, als einer vollen. Es zu entfernen, den Erzieher selbst zu erziehen, den Erzeuger selbst zu erzeugen, den Realisierenden selbst zu realisieren, darauf gehen alle humanistischen Wunschträume; sie sind die radikalsten wie die praktischsten. Wachsende Selbstvermittlung des Herstellers der Geschichte ist derart nicht bloß die Hilfe, um konkrete Tendenz-Antizipationen konkret zu verwirklichen, sie ist auch die Hilfe, um Verwirklichung ohne ihren eigentümlich bitteren Rest einzuleiten. Ohne jenes bleibende Minus, das das dunkel gebliebene Unmittelbare des Existierens selber bezeichnet und letzthin das Stück Nicht-Ankunft in der Ankunft ausmacht. Ein Menschsein, das in seinem Daseinskreis mit nichts ihm Fremden mehr behaftet ist, ein Realisierendes, das selber realisiert ist: dieses ist der Grenzbegriff der Verwirklichung als Erfüllung.
/(350)
Nochmals Staunen als absolute Frage, in Angst- wie Glücksgestalt; der schlechthin utopische Archetyp: höchstes Gut
Was im Jetzt treibt, wurde gesagt, stürzt ebenso zukünftig in ein Offenes vorwärts. Dies Offene aber hat einen seelisch doppelten Ort hinter sich, von dem her seine Früchte erwartet, auch getrieben werden. Der eine Ort bleibt die Angst, eben als solche, die desto größer ist, je ungewisser sie ihre Anlässe von überall her erwarten kann. Nicht mehr die neurotische Angst, die aus unverwendbarer Libido stammen mag, auch nicht die normale Realangst in gefährlichen Lagen ist hier zuständig, wohl aber eine ebenso unbedingte wie auf Endgültiges bezogene. Auch Angstträume, wie angegeben, selbst Kindergrauen vor der Dunkelheit, selbst Gespensterfurcht grenzen an sie nur atavistisch an, doch sie bezeichnen die Richtung. Die Hölle war dem Gläubigen mit lauter solchen Phobien bevölkert, auch dann noch, als die äußere Angst, die vor der unbekannten Natur, gar nicht mehr so groß zu sein brauchte. Die Hölle ist kraft der Aufklärung verschwunden, doch das Korrelatsproblem des ganz und gar durchdringenden, des metaphysischen Grauens ist geblieben. Sein Aufenthalt ist allemal das Jetzt, ein blutiger Spalt im Dunkel des Jetzt und des in ihm Befindlichen. Daß ein solch unmittelbares Grauen existiert, daß es von anderer Art ist als die entsetzliche Realangst vor wirklich Gewordenem, steht außer Zweifel. Sein Element ist der unerträgliche Augenblick, ein oft, doch nicht immer pathologisches Gebilde, ein fast fällendes Entsetzen an sich selbst. Epilepsie, in der Aura vor dem Anfall, scheint zu diesem Unerträglichen besonders genauen Bezug zu haben, Paranoia liefert davon die dem Angsttraum nächsten Bilder, den Angsttraum am Tag. Büchners Fragment über den wahnsinnig werdenden Dichter Lenz berichtet hierüber unvergeßlich: »Hören Sie denn nichts?« fragt der irre Dichter, »hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich die Stille heißt?« Und in Büchners »Wovzeck« wird die Angst überall von einem brüllenden Nichts erweckt, vom Wind, vom Abendhimmel, von der Erwartung eines unbestimmt Negativen unter, über allen Dingen, von jeder Richtung her den armen Teufel bedrohend. Angst erscheint in diesen /(351) sämtlichen, untereinander noch so weit abstehenden Zeugnissen als eine Erwartung nach der unbestimmt-finstersten Seite, nach Seite des würgenden, starrenden Nichts im Real-Möglichen. Bildhaft ist dies Unbildbare gleichfalls notiert, in Dürers »Melaneholia«, und zwar diesseits wie jenseits der darin enthaltenen astrologischen Beziehungen. Auch jenseits des Saturn, der der Frauengestalt aus den Augen herausscheint, dessen Embleme das Blatt füllen, nur unterbrochen durch das freundlichere Quadrat des Jupiter, an der Wand hinter der Figur. Aber Saturn, der Stern der Grübelei und doch auch Sammlung, erklärt, obwohl er ebenso der Stern des Unglücks ist, nicht den Grund, in den Melancholia blickt. Sammlung ist nur im Auge der Figur, vielleicht in der Kugel des Vordergrunds, vielleicht sogar im schlafend gekrümmten Hund, doch nicht im Ensemble der Gegenstände, noch im Objekt, worauf die Figur blickt. Dieses Objekt selber ist nicht auf dem Bild, doch gerade seine völlig ungesammelte Beschaffenheit ist vom Ensemble angedeutet. Treffend wurde von Dehio aufs Dissolute dieses Interieurs hingewiesen: der Zirkel ruht müßig in der Hand, zerstreutes, gramseliges Licht liegt auf zerstreuten Gegenständen, die Ordnung, welche sonst Gelehrtenstuben des sechzehnten Jahrhunderts auszeichnet, ist völlig fern, kein größerer Gegensatz als zwischen diesem Ensemble und dem aufgeräumten des Blatts »Hieronymus im Gehäus«. Das eben macht: Dürers Blatt »Melancholia« zeichnet, mit astrologischen Hilfsmitteln, die Angst als die Berührung mit einem möglichen Abgrund, der nicht einmal einen
Boden hat, auf dem das Fallen zerschellt. Das Blatt zeichnet Stupor, worin eine in dauerndem Jetzt eröffnete Verzweiflung starrt; Dürers «Melancholia« ist so das unschätzbare Dokument negativen Staunens, gerade ohne Spuk und Hölle, selbst ohne die Bestimmtheit Saturn. Auch im Negativen gibt es also Gestalten der unkonstruierbaren, der absoluten Frage, es gibt unerträgliche Augenblicke des Staunens. Sie sind sinngemäß verwischter als dessen positive Beschaffenheiten, denn sie sind nur darin präzis, daß sie radikal unbestimmtes Grauen bedeuten, am Ort des Abgrunds. Freilich: der Abgrund ist nicht allein vorhanden an diesem Ort, das Gorgonische ist selbst in der Melancholia nicht allein auf der Welt, sondern außer dem Stupor des Staunens gibt es eben eine Hiero- /(352) nymus-Ruhe des Staunens, und diese zeigt intentional den anderen Ort des noch Offenen an. Denn der Gesichtertausch, der »Gegensinn der Urworte«, der bereits in allen radikalen Affektzuständen, besonders in den Erwartungsaffekten zu sehen war, fehlt im radikalen Staunen am wenigsten. Daher oft der gleiche Anlaß, welcher das negative Staunen hervorruft, Glück als das Positivum des Staunens hervorzurufen vermag. Und auch hier ist der Ort allemal das Jetzt, doch nicht als blutiger Spalt im Dunkel des Jetzt und des in ihm Befindlichen, sondern Hoffnung fängt an zu blühen, beim Einschlag der positiven Symbolintention in dieses Dunkel, rätselhaft an Unscheinbarem bestätigte. Das Element dieses positiven Staunens ist der ruhemächtige Augenblick, jener, wo eine sonst ganz gleichgültige Wahrnehmung oder ein Bild das Existierend-Intensive glücklich erschüttert und-stellt. Tolstoi spricht im »Tod des Iwan Iljitsch« von Stauden im Schneesturm, Sturm und Kälte herrschten lebensfeindlich, die Landschaft selber lag in äußerster Verlassenheit; dennoch oder deshalb erschien, in einem unsäglichen Nebenbei, an dieser Landschaft plötzlich Heimkehr und Antwort, zentraler als an jeder Apotheose. Tolstoi verbindet sogar das kleine, fast lächerliche zentrale Nebenbei der Stauden im Schneesturm durchaus mit den seltenen großen Augenblicken, worin Menschen, meist im Moment des Tods, Ein und Alles aufgeht, aufzugeben scheint. Ein Bogen zieht zu dem Erlebnis des tödlich verwundeten Andrej Bolkonskij auf dem Schlachtfeld von Austerlitz, der den Sternhimmel erblickt wie nie zuvor, auch zu dem Einheitserlebnis von Karenin und Wronski am Sterbebett Annas;-aber freilich auch: diese Unio mystica mit Sinn, Ewigkeit, Ganzheit ist wieder viel zu groß und zu bestimmt, viel zu verabredet in ihrem theologischen Gegenstand, um gegen die Bescheidenheit des Abseitigen, nirgends Formulierten anzukommen. Das Haus steht in allen herkömmlich religiösen Erfahrungen als bereits wirklich, gleich als läge es nur an der Blindheit der Menschen, es nicht zu sehen, nur an der Schwäche des Fleischs, nicht einzutreten. Dennoch ist der Bezug zu den unscheinbaren Symbolintentionen unvermeidlich, sie sind in allen diesen Betroffenheiten enthalten wie Keime eines Summum bonum, eines absolut menschlich-adäquaten Da. Das so sich kundgebende Da jedoch /(353) steht in bloßer realer Möglichkeit, und sämtliche positiven Symbolintentionen rufen nur sein Zeichen im Menschen hervor, dieses allerdings; sie rufen den verständlich-unverständlichen Namen der guten Existenz, in antizipierter Stille. Und ebenso rufen sie ihn in zentraler Abseitigkeit, dicht neben der Angst-Betroffenheit, mit ebenso jäher, ebenso unentschiedener Konzentration. Utopie des Endes rührt den Menschen in solch objektivem, zugleich objekthaftem Staunen an; wobei ein Inhalt des Grauens durchaus in den des Wunderbaren verwoben sein kann. Als Zeichen der Paradoxie des Wunderbaren oder eben der Noch-Nicht-Bestimmtheit, Noch-Nicht-Entschiedenheit, die dem Endcharakter des Eigentlichen und überhaupt der Tendenz zukommt. Hier überall ist diese Adäquatheit (die Naturalisierung des Menschen, die Humanisierung der Natur) noch
offen: nicht nur ihrem erst künftigen Eintritt nach, sondern auch ihrem noch unfixierbaren, durch einen Sprung über jedes bis jetzt Gewonnene hinausliegenden Inhalt nach. Dergleichen trägt sich im eigenen Jetzt nur zu, weil es am Quell von allem sich zuträgt. Und in dem Quell ist eine Mündung angelegt, ob sie erreicht wird, ist eine andere Frage. Aber die Mündung selber ist als lebende Frage allem vorgesetzt, als die nach dem Überhaupt, als die des noch nicht vorhandenen Überhaupt selbst. Unkonstruierbare Frage und ihr Staunen wurden oben definiert als der in sich selbst einschlagende Blitz des letzt Real-Möglichen, den Kern der Latenz betreffend; indem das Real-Mögliche so in sich selbst einschlägt, reicht es sich die Hand zu einem Anhalt, hört es auf, endlos zu sein. Und dieser Anhalt geschieht eben am Treiber des Real-Möglichen selbst: die überhelle Betroffenheit des Staunens vor aufblitzenden Momenten und Signaturen der Adäquation hat daher genauestens Bezug zum Daß des Existierens in der Schlafkammer des gelebten Augenblicks. Wie also das Dunkel des gelebten Augenblicks den einen Pol des antizipierenden Bewußtseins, der antizipatorischen Weltbeschaffenheit selber darstellt, so das Realstaunen mit der offenen Adäquatheit als Inhalt den anderen; und sie ziehen sich heftig an, die Symbolintention des Überhaupt und Omega weist auf das Dunkel des Alpha oder der nächsten Nähe. Es ist der im Dunkel des gelebten Augenblicks immer noch trei- /(354) bende und immer noch verborgene Quell oder Anfang der Welt, der in den Signaturen seiner Mündung sich erstmalig faßt und löst. Nur antizipierend faßt und löst, an ganz schwachen, ganz kleinen Zeichen: der Weltknoten, der nirgends anders als im unmittelbaren Daß des Existierens steckt, wird ebenso nur durch intensivste Nähe zu dieser immanentesten Daß-Intensität, durch Evidenzen in Nähe entwirrt. Gerade das dermaßen allernächst Unscheinbare, die feine Signatur dieser Evidenzen ist das einzige, was von der früheren vermeintlichen Götternähe geblieben ist, ja was in ihr, soweit sie ein Ens perfectissimum zu enthalten schien, allemal den Kern ausgemacht hat. Die großen Vor-Scheine der echten Mystik bleiben als solche in experimentierender Geltung, denn was auch in ihnen als letzte Symbole, als Real-Symbole erschienen war, hatte Anschluß an feine Signatur und nahm sie auf. Hier steht der Vor-Schein des Andante, ja der Idylle als Finale, mit jenem Tao der Welt, das Laotse ohne Geschmack nennt, und das deshalb den durchdringendsten Geschmack hat. Ruhe, Tiefe war allemal in diesem Unscheinbaren fundiert und ist als bezeichenbare geblieben: »Aber nicht, als ob das geheime Fach in jedem Objekt noch große Entrollungen und Dokumente enthalten müßte wie in früheren Zeiten, als eine riesenhafte Emballage noch mit allerTiefe mitgegeben war und dieser Götter, Himmel, Mächte, Herrlichkeiten, Throne - als wesentlich gehalten wurden. Sondern schlafend, lautlos kam Odysseus nach Ithaka, gerade nach Ithaka kam er schlafend, jener Odysseus, der Niemand heißt, und in jenes Ithaka, das eben die Art sein kann, wie diese Pfeife daliegt oder wie sich sonst ein Unscheinbarstes plötzlich gibt und das stetig Gemeinte sich endlich anzublicken erscheint. So fest, so sehr unmittelbar evident, daß ein Sprung ins Noch-Nicht-Bewußte, ins tiefer Identische, in die Wahrheit und das Lösewort der Dinge getan ist, der nicht zurückgeht; daß mit der plötzlich letzten Bedeutungsintention des Beschauers am Objekt zugleich das Gesicht eines noch Namenlosen, das Element des Endzustands, allenthalben eingebettet, in der Welt auftaucht und diese nicht mehr verläßt« (Ernst Bloch, Geist der Utopie, 1923, S.248). Der Donner, der glaubt, daß er noch das Letzte und sein erscheinender Ausdruck sei, ist dekadent geworden; denn das Endgültige ist lautlos und einfach. Daß /(355) aber der Endzustand auch im unscheinbarsten Staunen, vor
und hinter jedem Vor-Schein, noch nicht gestellt ist, das erwies sich an der ebenso negativen wie positiven Utopie, wie sie an diesem Ende aufgeht und eben in ihrem Letzten noch nicht Wirklichkeit geworden ist, weder als negative des Pessimum und seines Nichts noch als positive des Optimum und seines Alles. Zwischen beiden besteht selbst im unbedingten Staunen noch das gefährliche Ineinander einer letzthin unentschiedenen Alternative, und sie besteht objekthaft im Mündungsproblem der Welt. Doch ebenso freilich - und das ist auch ihrer Aussicht nach das gewaltige Plus der Hoffnungs-Betroffenheit - ebenso hat das Optimum des Zielinhalts die Offenheit des weiterwährenden, bis jetzt keineswegs niedergeschlagenen Geschichtsprozesses für sich: noch ist nicht allerTage Abend, noch hat jede Nacht einen Morgen. Auch die Niederlage des erwünscht Guten schließt seinen künftig möglichen Sieg solange in sich ein, als in Geschichte und Welt nicht alle Möglichkeiten des Anderswerdens, Besserwerdens erschöpft sind; als eben das Real-Mögliche mit seinem dialektisch-utopischen Prozeß noch nicht zu Ende fixiert ist. Als noch Wunsch, Wille, Plan, Vor-Schein, Symbolintention, Chiffer des Einen-Gemeinten im Prozeß Raum haben, ja im Prozeß virtuelle Paradiese bilden. Und die letzte Symbolintention bleibt eben die heimathafte der unkonstruierbaren Frage des «Verweile doch, du bist so schön« in seinem Optimum. Die Invariante dieser Richtung führt am Schluß, wie jetzt spruchreif wird, auf den einzigen Archetyp, der nichts Archaisches an sich hat. Das ist: auf den rein utopischen Archetyp, der in der Evidenz der Nähe wohnt, auf den des Summun bonum als ein noch unbekanntes, allüberbietendes. Der Archetyp: höchstes Gut ist der Invarianzinhalt des glücklichsten Staunens, sein Besitz wäre der, welcher verwandelt im Augenblick und eben als dieser Augenblick, zu seinem völlig gelösten Daß. Der Archetyp des höchsten Guts ist deshalb nicht archaisch, nicht einmal historisch, weil es keine einzige Erscheinung bereits gegeben hat, die ihm sein Bild auch nur annähernd erfüllt hätte. Noch viel weniger kehrt er, mit Platons Anamnesis, zum Unvordenklichen einer Vollkommenheit zurück, um an ihr sein Optimum zu füllen. Wohin dieser Archetyp des unkonstruierbaren /(356) Glücks zurückkehrt, das ist einzig der selber völlig unerschienene Ursprung, in den er einkehrt und den er, durch sein Omega, erst zum Alpha bringt, zur erscheinenden Genesis von Alpha und Omega zugleich. Sämtliche Gestalten der unkonstruierbar-absoluten Frage, in ihrem hellen Teil, umkreisen oder umgeben daher das Optimum dieses Einschlags ins Gelungensein des Omega, worin das Rätsel-Alpha des Daß oder Weltanstoßes als gelöst hervortritt. Summum bonum wäre völlig gelungene Erscheinung des Gelungenen: daher ist es ebenso aus der Erscheinung ausgetreten; daher ist es selber unscheinbar, ein utopisches Summum jener unscheinbaren Symbolintentionen, an denen jede Erscheinung in die Sache selbst übergeht. Der Inhalt der gründlichsten Wünschbarkeit, den das höchste Gut bezeichnet, ist zwar noch genauso im gärenden Inkognito wie dasjenige in den Menschen, was diesen Inhalt wünscht. Doch sein intendiertes Alles bezeichnete allemal die Spitze der Träume vom besseren Leben, sein utopisches Totum regiert durchgehends die Mündungs-Tendenzen im gut betriebenen Prozeß. Das Nicht im Ursprung, das Noch-Nicht in der Geschichte, das Nichts oder aber das Alles am Ende Was an sich und unmittelbar als Jetzt vor sich geht, ist so noch leer. Das Daß im Jetzt ist hohl, ist nur erst unbestimmt, als ein gärend Nicht. Als das Nicht, womit alles ansetzt und beginnt, um das jedes Etwas noch gebaut ist. Das Nicht ist nicht da,
aber indem es derart das Nicht eines Da ist, ist es nicht einfach Nicht, sondern zugleich das Nicht-Da. Als solches hält es das Nicht bei sich nicht aus, ist vielmehr aufs Da eines Etwas treibend bezogen. Das Nicht ist Mangel an Etwas und ebenso Flucht aus diesem Mangel; so ist es Treiben nach dem, was ihm fehlt. Mit Nicht wird also das Treiben in den Lebewesen abgebildet: als Trieb, Bedürfnis, Streben und primär als Hunger. In diesem aber meldet sich das Nicht eines Da als ein Nicht-Haben, und zwar durchaus als ein Nicht, nicht als ein Nichts. Weil das Nicht Anfang zu jeder Bewegung nach etwas ist, so ist es eben darum keineswegs ein Nichts. Vielmehr: Nicht und Nichts müssen zunächst so weit voneinander gehalten werden wie möglich; das /(357) ganze Abenteuer der Bestimmung liegt zwischen ihnen. Das Nicht liegt im Ursprung als das noch Leere, Unbestimmte, Unentschiedene, als Start zum Anfang; das Nichts dagegen ist ein Bestimmtes. Es setzt Bemühungen voraus, lang ausgebrochenen Prozeß, der schließlich vereitelt wird; und der Akt des Nichts ist nicht wie der des Nicht ein Treiben, sondern eineVernichtung. Auf das Nicht bezieht sich das Dunkel des gelebten Augenblicks, auf das Nichts erst das negative Staunen, genau wie das positive sich auf das Alles bezieht. Das Nicht ist freilich Leere, aber zugleich der Trieb, aus ihr herauszubrechen; im Hunger, in der Entbehrung vermittelt sich die Leere gerade als horror vacui, gerade also als Abscheu des Nicht vor dem Nichts. Und auch an diesem Punkt, besonders an diesem, zeigt sich, daß kategoriale Grundbegriffe (Gründlichkeiten) einzig durch die Affektlehre hindurch zugänglich gemacht werden. Denn nur die Affekte, nicht die affektlosen, vielmehr affektlos gemachten Gedanken reichen so tief in die ontische Wurzel, daß an sich so abstrakt scheinende Begriffe wie Nicht, Nichts, Alles samt ihren Unterscheidungen mit Hunger, Verzweiflung (Vernichtung), Zuversicht (Rettung) synonym werden. Diese Begriffe erhellen so die Grundaffekte, wie die Grundaffekte die ontologischen Grundbegriffe, indem sie ihnen den intensiven Stoff kenntlich machen, dem sie entspringen, durch den sie brennen, und den sie erhellen. Ontologische Grundbegriffe: hier werden also das Nicht, das Noch-Nicht, das Nichts oder aber das Alles als diejenigen ausgezeichnet, welche in abgekürztester Terminologie den intensiv sich bewegenden Weltstoff in seinen drei Hauptmomenten kenntlich machen. Darum bezeichnen diese scharf-gedrängten Grundbegriffe Realkategorien, nämlich Gebietskategorien der Realität durchaus; denn ihre konzise Ontologie bildet den objektiven Affektgehalt, also Intensitätsgehalt in den drei Hauptmomenten der Prozeßmaterie aufs Angenähertste ab. Dergestalt aber, daß das Nicht, wie es sich nicht bei sich aushält, den intensiven, schließlich interessehaften Ursprung (das Daßhaft-Realisierende) von allem charakterisiert. Das Noch- Nicht charakterisiert die Tendenz im materiellen Prozeß, als des sich herausprozessierenden, zur Manifestierung seines Inhalts tendierenden Ursprungs. Das Nichts oder aber das Alles charakterisiert die Latenz in dieser /(358) Tendenz, als zu uns negative oder positive, vorzüglich am vordersten Frontfeld des materiellen Prozesses. Auch diese Latenz aber bezieht sich wieder nur auf den Inhalt des intensiven Ursprungs, das ist, auf die Füllung des in seinem Hunger Gemeinten, auf die einschlagende Befriedigung dieses Interesses. Weiter, wie bemerkt: im Hunger, in der Entbehrung vermittelt sich die Leere (der Nullpunkt des unmittelbaren Daß des Existierens) gerade als horror vacui. Dieser horror vacui ist der originäre Daßund Setzungsfaktor, der intensive Verwirklichungsfaktor, der die Welt in Gang bringt und in Gang hält, sie als Experiment der Ausschüttung ihres Daß-Inhalts in Gang hält. Der Start zum Anfang allen Da-Seins liegt hierbei allemal in dem mit sich noch unvermittelten Dunkel selbst, nämlich im Dunkel des Jetzt oder gerade gelebten Augenblicks; das Fiat aller Weltbewegungen geschieht unmittelbarst in diesem
Dunkel. Und das Dunkel ist eben kein weit entferntes, kein unvordenkliches am Anfang der Zeiten, als einem längst passierten und mit Fortsetzung oder Kosmos überdeckten Anfang. Sondern konträr: das Dunkel des Ursprungs bleibt als unmittelbares unverändert in der nächsten Nähe oder im währenden Daß jedes Existierens selbst. Dieses Daß ist in jedem Augenblick als noch ungelöst; die Rätselfrage, warum überhaupt etwas ist, wird vom unmittelbaren Existieren selber als seine eigene gestellt. Ihr Ausdruck ist die in und durch jeden Augenblick erneute Schöpfung; die Welt als Prozeß ist das Experiment zur Lösung der immer und überall treibenden Ursprungsfrage. Oben wurde dies Ungelöste als der Weltknoten bezeichnet, der im ungelösten Daß des Existierens steckt; so erschafft sich die Welt in ihrem unmittelbaren Da-Sein jeden Augenblick neu, und diese fortgesetzte Schöpfung erscheint ebenso als Erhaltung der Welt, nämlich des Weltprozesses. Der Start zum Anfang und das punktuelle des Starts, das Ursprung und Weltgrund heißt, befindet sich in eben jenem Jetzt und Hier, das noch nicht aus sich hervorgetreten ist, also sich überhaupt noch nicht von seiner Stelle bewegt hat. Dieser Ursprung im strengen Sinn ist selbst noch nicht entsprungen, aus sich entsprungen; sein Nicht also ist zwar genau jenes, das die Geschichte letzthin treibt und Geschichtsprozesse zu seiner Bestimmung setzt, aber selber noch nicht /(359) geschichtlich geworden ist. Der Ursprung bleibt das durch die Zeiten sich hindurchbewegende und ebenso aus sich noch nicht herausbewegte Inkognito des Kerns. Jeder gelebte Augenblick wäre mithin, wenn er Augen hätte, Zeuge des Weltanfangs, der in ihm immer wieder geschieht; jeder Augenblick ist, als unhervorgetreten, im Jahr Null des Weltanfangs. Der Anfang geschieht in ihm solange immer wieder, bis das unbestimmte Nicht des Daßgrunds durch die experimentellen Bestimmungen des Weltprozesses und seiner Gestalten entweder zum bestimmten Nichts oder zum bestimmten Alles dem Inhalt nach entschieden ist; jeder Augenblick enthält mithin ebenso, als potentiell, das Datum der Weltvollendung und die Data ihres Inhalts. Indem das Nicht in seine Was- oder Inhalts-Objektivierungen hineingerät, verändert es sich, soweit es ein vermitteltes wird, allerdings unaufhörlich, denn es steht nun selber im zeiträumlichen Prozeß, den es setzt und in dem es seinen Inhalt experimentell ausschüttet. Die Schöpfung, die es ständig neu setzt, ist nun nicht Erhaltung im Sinn des Gewordenseins, sondern Erhaltung im Sinn des Werdens, das heißt des Experimentierens auf den Inhalt des Daß-Kerns. Und die ständig neue Setzung vermittelt sich historisch zu besonders ausgezeichneten Punkten: zum Durchbruch eines historisch Neuen. Eben indem der gründlichste Inhalt des Existierens, als noch nicht manifestiert, historisch fort und fort herausgetrieben werden muß, entwickelt der Prozeß der Herausbildung immer wieder Fronterscheinungen dieses Ungekommenen, also das Noch-nie-so-Gewesene oder Novum am Horizont, in jenem, wohin er einströmt, wohin er schließlich einsinnig zu münden tendiert. Die ganze mannigfaltige Fülle in dieser Recherche des Kerns nach seiner Frucht ist freilich, samt dem immer wieder möglichen Novum, ebenso fortdauernder Mangel, nämlich an Einem, das noch nicht gefunden ist; weshalb die zeiträumliche Wirkungssphäre mit Scherben und Schalen ohne Zahl, mit wilden, saurierhaften Ausgeburten nicht minder bedeckt ist, wie sich fortschreitende Anstalten zum Einen, Guten, Lösenden zeigen. Derart zeigt sich aber auch das Nicht - in diesem seinem Fortgang genommen - zugleich unweigerlich als Noch-Nicht: es geht geschehend-geschichtlich als dieses auf. Das Nicht als Noch-Nicht zieht quer durchs Gewordensein und /(360) darüber hinaus; der Hunger wird zur Produktionskraft an der immer wieder aufbrechenden Front einer unfertigen Welt. Das Nicht als prozessuales Noch-Nicht macht so Utopie zum Realzustand der
Unfertigkeit, des erst fragmenthaften Wesens in allen Objekten. Daher ist die Welt als Prozeß selber die riesige Probe aufs Exempel ihrer gesättigten Lösung, das ist, auf das Reich ihrer Sättigung. Das Nicht äußert sich, wie bemerkt, als Hunger und was sich tätig anschließt. Als Meinen und Intendieren, als Sehnsucht, Wunsch, Wille, Wachtraum, mit allen Ausmalungen des Etwas, das fehlt. Aber das Nicht äußert sich ebenso als die Unzufriedenheit mit dem ihm Gewordenen, daher ist es, wie das Treibende unterhalb alles Werdens, so das Weitertreibende in der Geschichte. Das Nicht erscheint in jeder bisherigen Bestimmung zum Etwas als die unberuhigte Verneinung, welche besagt: dieses Prädikat ist doch nicht die letzthin adäquate Bestimmung seines Subjekts. So eben macht sich das Nicht im Prozeß als aktivutopisches Noch-Nicht kenntlich, als utopisch-dialektisch weitertreibende Negation. Als eine in der positiven Setzung selbst erwachsende Verneinung, und zwar letzthin vom adäquaten Endzustand des Alles her, worin das Nicht einzig zur Ruhe käme, nämlich zum positiven Austrag des in ihm Gemeinten. Derart ist das Noch-Nicht freilich auch zerstörend oder der auflösende Widerspruch in allem Gewordensein, gemäß der materialistischen Dialektik. Und es ist dieser Widerspruch genau deshalb, weil jede Stufe der Bestimmung für das dadurch Bestimmte und Großgezogene wieder zur Schranke werden muß, mit anderen Worten: weil kein Gewordensein in der Tendenz zum Alles bereits ein Gelungensein darstellt. Der Widerspruch zum Gewordensein äußert sich im Subjekt wie im Objekt des Prozesses, als den zwei Seiten der gleichen bewegten Realität. Im bewußten oder Menschensubjekt entsteht der subjektive Widerspruch zur unzureichenden oder hemmend gewordenen Gewordenheit, im Objekt entspricht ihm der objektive Widerspruch, welcher im Gewordenen selbst auftritt, als die herangereifte Tendenz zur nächstfälligen, mit den Produktivkräften vermittelteren Daseinsform. Das Noch-Nicht wird hierbei desto bestimmter, seine Tendenz aufs Erfüllende desto stärker, je mehr die Aufgaben, die /(361) es sich stellt, objektiv lösbare geworden sind. Nun aber muß weiterhin festgehalten werden und ist höchst entscheidend: das Nicht als bloßes Noch- Nicht allein könnte subjektiv wie objektiv das inadäquate Gewordensein doch nur beunruhigen, es könnte es nicht in der angegebenen Weise immanent sprengen. Sprengung ist Vernichtung: und der Akt des Vernichtens per definitionem wie der Sache nach ist nur vom umgehenden Nichts beziehbar. Das Nicht, wie es sein Alles sucht, geht daher - im Stirb und Werde - ebenso eine Verbindung mit dem Nichts ein, wie es eine mit dem Alles hat. Bereits Vergehen, wie gar Vernichtung, wird nur dadurch konstituiert, daß im Wechsel des Prozesses und als dieser Wechsel ebenso das Nichts umgeht oder die ständig drohende Vereitlung. Desgleichen aber geht im Vergehen ein - wie immer noch unzureichendes - Alles um, als jenes, welches relative Gelungenheit, vor allem in Meisterwerken, möglich macht: sonst gäbe es von der Vergangenheit überhaupt nur Vergessen und nicht auch das partial Gerettete und Rettbare, welches Geschichte und Nachreif e heißt. Die Verbindung des Nicht und Noch-Nicht mit dem Alles ist eine des Ziels, sie wurde angegeben als diejenige, welche besagt und erkennen läßt: dieses Prädikat ist doch nicht die letzthin adäquate Bestimmung eines Subjekts; oder konkret: die Menschen wie die ganze Welt befinden sich rebus sic stantibus immer noch in der Vorgeschichte, im Exil. Die Verbindung des Nicht und Noch-Nicht mit dem Nichts dagegen ist keine des Ziels, wohl aber ist sie eine des Gebrauchs, den die dialektische Negation mit dem Nihil der Vernichtung anstellt, nämlich im Sinn der Vernichtung inadäquaten Gewordenseins durch immanente Sprengung. Dieser dialektische Gebrauch des Nichts verdeckt in keiner Weise den angegebenen
Grundunterschied zwischen Nicht und Nichts, zwischen dem Start und Horror vacui hier, dem möglichen Definitum der Vernichtung und Mors aeterna dort. Die dialektische Gebrauchbarkeit des Nichts verdeckt auch nicht die gänzlich antihistorische Vor-Erscheinung, welche das Nichts als schlechthinnige Zerstörung hat, als eine in der Geschichte immer wieder aufgehende Mördergrube; denn gewiß ist in dieser Grube gerade ein Stück Geschichte, ein Stück Licht im Aufgang vernichtet. Von der dezidierten Mächtigkeit, dezidierten Vor-Erscheinung eines solchen Nichts gibt es keine /(362) Dialektik, das heißt, keine fortschreitende Negation der Negation: Vernichtungen wie der Peloponnesische Krieg, der Dreißigjährige Krieg sind bloß Unglück, nicht dialektische Wendung; die Mortifikationen Neros, Hitlers, alle diese satanisch wirkenden Ausbrüche gehören zum Drachen des letzten Abgrunds, nicht zu den Beförderungen der Geschichte. Anders jedoch wirkt eben die Verbindung des Gebrauchs, welche an nicht so dezidierten Erscheinungen des Nichts, gar an den der Sache immanenten Negationen statthat, mithin an solchen, worin Geschichte weitergeht. Dann muß das Nichts durchaus zum Besten dienen, und der Akt der Vernichtung wird als Negation, vor allem als Negation der Negation produktiv. Derart besteht Dialektik durch Nichts darin, daß alles noch ungelungen Seiende den Keim seines Vergehens in sich selbst trägt, wodurch eben zugleich der Beharrung im Vorläufigen der jeweils erreichten Gewordenheit der Krieg erklärt wird. Dieser Krieg muß sich der steten Ungenügsamkeit des Noch-Nicht verbinden und ihm zu Diensten sein: Inadäquates wird aus dem Weg zum Alles fortgeräumt, geht aus dem Gewordensein ins Nicht-Mehr-Sein des Orkus. Ja, die Dialektik durch Nichts bezieht sich sogar auf den ungeheuren Komplex des Gewordenseins, der sich nicht als das Alles, sondern als bloßes All oder Universum aus dem Prozeß heraushebt, auch in allen rein kosmischen Perspektiven der Philosophie, von Parmenides bis Spinoza, dem Alles sich substituiert. Das All ist das erst astralmythische, dann pantheistische, dann mechanistische Substitut des Alles und steht an seinem Platz als Inbegriff der gegebenen Welt und des Genügens an ihr. Es erscheint so als das Ganze der Bewegung, das sich nicht bewegt, als Harmonie des Gewordenseins, worin die Differenzen des Werdens und das Defizit der Einzelheiten, wie nach dem Gesetz der großen Zahl, sich ausgleichen; eine entronnene, eine positive Stabilität. Aber die Dialektik durch Nichts hat sogar noch Weltvernichtung in sich einbezogen, hat dem Universum Vorläufigkeit testiert, mit Gebrauch des Nichts. Der physikalisch als Kältetod, mythologisch ganz umgekehrt als Weltbrand bezeichnete Orkus hat physikalisch die Geburt eines anderen Alls oder Universums in sich, utopisch sogar die Geburt eines total erfüllenden Alles. Neuer Himmel, neue Erde, die Logik der Apokalypse /(363) setzen die dialektische Umfunktionierung des sonst satanisch gewerteten Vernichtungsfeuers voraus; jeder Advent enthält den Nihilismus als verwendet-besiegten, den Tod als verschlungen in den Sieg. Die Vereitlung und Vernichtung ist zwar die ständige Gefahr jedes Prozeß-Experiments, der ständige Sarg neben jeder Hoffnung, sie ist aber auch das Mittel, welches inadäquate Statik bricht. Und nicht zuletzt mischt sich Dialektik durch Nichts in sämtliche bedeutende Positivitäten ein, hier nicht als ihre Gefahr, sondern als ihre wichtige Folie, als Erschwerung ihrer Evidenz. In dieser Erschwerung ist die Schwärze zu Hause, das einbezogene Element von Rauhigkeit, von Nicht-Geheurem, welches auch in höheren Regionen bloßes Rosenrot verhindert. Die Schwärze verhindert Verflachung, soweit sie durch billigen Glanz, durch faule Apotheose erzeugt wird; an deren Stelle wird gerade durch Nicht-Glätte, durch Rauhigkeit das Tiefe wie das Erhabene getroffen. Ist das Schaudern der Menschheit bestes Teil, so ist genau das
Nichts zu aller Glätte, zu aller verabredeten Lösung im Schauder der Erhabenheit gedacht und mitverschlungen. So ist das Nihil, wohin Dürers Melancholia blickt, auch ein Gebrauchs- und Bildungselement des positiven Staunens oder der Alles-Perzeption im zuversichtlichen Sinn. Ja, erst wenn mit dem riesig heraufgezogenen Bewußtsein des Nichts in der Welt, gar in der scheinbaren Überwelt Ernst gemacht wird, tritt die zentrale Unscheinbarkeit einer Landung, eines Alles hervor, das bisher vom Kosmosjubel oder auch von Thronen, Mächten, Herrlichkeiten verdeckt worden war. Dadurch hat der vorgerückte Zustand des Nichts, der in der Geschichte immer stärker ausbrechende und nicht etwa von ihr steigend Zugedeckte, der Dialektik zum Alles selber konstitutive Macht gegeben. Utopie dringt vor, im Willen des Subjekts wie in der Tendenz-Latenz der Prozeßwelt; hinter der zersprungenen Ontologie eines angeblich erreichten, gar fertigen Da. So ist der Weg des bewußten Realitätsprozesses gerade steigend einer des Verlustes des fixierten, gar hypostasierten Statik-Seins, ein Weg des steigend perzipierten Nichts, freilich dadurch auch der Utopie. Diese erfaßt nun gänzlich das Noch-Nicht wie die Dialektisierung des Nichts in der Welt; sie unterschlägt im Real-Möglichen aber ebensowenig die offene Alternative zwischen absolutem /(364) Nichts und absolutem Alles. Utopie ist in ihrer konkreten Gestalt der geprüfte Wille zum Sein des Alles; in ihr also wirkt nun das Seinspathos, das vordem einer vermeintlich bereits fertig gegründeten, gelungen-seienden Weltordnung, gar Überweltordnung zugewandt war. Aber dies Pathos wirkt als eines des Noch Nicht-Seins und der Hoffnung aufs Summum bonum darin; und: es sieht, nach allem Gebrauch jenes Nichts, in dem die Geschichte noch weitergeht, eben von der Gefahr der Vernichtung, selbst vom immer noch hypothetisch möglichen Definitivum eines Nichts nicht weg. Auf die Arbeit des militanten Optimismus kommt es hierbei an: wie ohne sie Proletariat und Bourgeoisie in der gleichen Barbarei untergehen können, so kann ohne sie im Weiteren wie Tieferen immer noch Meer ohne Ufer, Mitternacht ohne Ostpunkt als Definitivum drohen. Diese Art Definitivum bezeichnete dann das schlechthinnige Umsonst des Geschichtsprozesses, und es ist, als noch nicht geschehen, so wenig ausgeschlossen wie, im positiven Sinn, das Definitivum eines allerfüllenden Alles. Zuletzt also bleibt die wendbare Alternative zwischen absolutem Nichts und absolutem Alles: das absolute Nichts ist die besiegelte Vereitlung der Utopie; das absolute Alles - in der Vor-Erscheinung des Reichs der Freiheit - ist die besiegelte Erfüllung der Utopie oder das Sein wie Utopie. Triumph des Nichts am Ende ist mythologisch als Hölle, Triumph des Alles am Ende als Himmel gedacht gewesen: in Wahrheit ist das Alles selber nichts als Identität des zu sich gekommenen Menschen mit seiner für ihn gelungenen Welt. Der Daß-Satz: Am Anfang war die Tat, der Alles-Satz: Das Unzulängliche, hier wird's getan - beide unidealistischen Sätze bestimmen den Tendenzbogen der sich qualifizierenden Materie. Unsere Intentions-Invariante darin bleibt: Naturalisierung des Menschen, Humanisierung der Natur - als der mit den Menschen total vermittelten Welt. Utopie kein dauernder Zustand; also doch: Carpe diem, aber als echtes an echter Gegenwart Das Jetzt als nur flüchtiges ist mit alldem nicht richtig, soll nicht so sein. Aber ebensowenig soll ein endlos hinziehendes Träumen /(365) sein, worin anwesender Genuß erschwert, gar geflohen wird. Ist doch Utopisches letzthin nichts, wenn es nicht auf das Jetzt hinweist und dessen ausgeschüttete Gegenwart sucht. Als echte Gegenwart, nicht mehr als eine aus Jetzt, gerade Vergangenem und dem Zugleich
des umgebenden Raums zusammengestückte. Gewiß, das bloße unmittelbare, vorüberfliegende Jetzt ist zu wenig, es yergeht und weicht dem nächsten, weil noch nichts darin richtig gelungen ist. Daher fühlt Jean Paul Wahres, wenn er sagt: »Gäbe es für das Herz nichts als den Augenblick, so dürftest du sagen, um mich und in mir ist alles leer.« Aber er sagt gegen diese Leere Falsches, wenn er Vergangenheit, selbst Zukunft statt dessen verdinglicht; wenn er sie, auf romantische und idealistische Weise, überhaupt nicht in Gegenwart einrücken lassen will. Wenn er mit echt gefühltem Dunkel des gelebten Augenblicks, doch ebenso mit verabsolutiertem Aufenthalt in Erinnerung, selbst Hoffnung - nicht nur ein noch unzureichendes, schlecht äußerliches Carpe diem, sondern jedes Präsens folgendermaßen herabsetzt: »Da ihr schöne Tage nie so schön erleben könnt, als sie nachher in der Erinnerung glänzen oder vorher in der Hoffnung: so verlangtet ihr lieber den Tag ohne beide; und da man nur an den beiden Polen des elliptischen Gewölbes der Zeit die leisen Sphärenlaute der Musik vernimmt und in der Mitte der Gegenwart gar nichts; so wollt ihr lieber in der Mitte verharren und aufhorchen, Vergangenheit und Zukunft aber - die beide kein Mensch erleben kann, weil sie nur zwei verschiedene Dichtungsarten unseres Herzens sind, eine Ilias und eine Odyssee, ein verlorenes und wiedergefundenes Milton-Paradies - wollt ihr gar nicht anhören und heranlassen, um nur taubblind in einer tierischen Gegenwart zu nisten.« Selbst wo der Zukunft von dem Idealismus Jean Pauls eine völlige Gegenwart und Wirklichkeit zugegeben wird, zeigt sich Herabsetzung dieser Greifbarkeit, folglich Verdinglichung des Strebens, Verewigung der Utopie: «Wenn hinieden, sag ich, das Dichten Leben würde und unsere Schäferwelt eine Schäferei und jeder Traum ein Tag: so würde das unsere Wünsche nur erhöhen, nicht erfüllen, die höhere Wirklichkeit würde nur eine höhere Dichtkunst gebären und höhere Erinnerungen und Hoffnungen - in Arkadien würden wir nach Utopien schmachten, /(366) und auf jeder Sonne würden wir einen tiefen Steinhimmel sich entfernen sehen, und wir würden seufzen wie hier« (Titan, 45. Zykel, Schluß). Dergleichen ist allerdings nur melancholisch gesagt und nicht mit Zustimmung, auch ergeht in der prophezeiten Endlosigkeit der Sehnsucht eine Warnung gegen jenen Utopismus, der ein Arkadien als gesteigerte Sommerfrische oder auch als resignierte Schäferei für den letzten Wunschinhalt hält. Doch wo von vornherein, wie im Fall Arkadien, nur Flucht- und müder Kontrastwunsch antreiben, läuft die Flucht allerdings leicht weiter - eben aus Arkadien sich wieder heraussehnend, herausseufzend. Womit nun freilich Jean Paul selber, als der mit Goethe und Gottfried Keller größte Meister der Anschaulichkeit in deutscher Sprache und des goldenen Überflusses der Welt, dem verewigt Utopischen schließlich absagt. Auch ist es das Politikum des Demokraten in ihm, das sich, um der »Dämmerungen für Deutschland« willen, von bloßer romantischer Traum-Vergaffung ins Nicht-Jetzt am Ende auch losreißt. Jean Paul selber gibt darum einem Willen zum Präsens, zum utopischen Präsens das letzte Wort: »Die Gegenwart ist an die Vergangenheit gefesselt wie sonst Gefangene an Leichen, und Zukünftiges zerrt am anderen Ende; aber einst wird sie frei.« Nichts widerstrebt derart gerade utopischem Gewissen mehr als Utopie mit unbegrenzter Reise; Unendlichkeit des Strebens ist Schwindel, Hölle. Wie statt der immer wieder vorüberfliegenden Augenblicke oder bloßen Schmeckpunkte ein Anhalt sein soll, so soll auch statt der Utopie Gegenwart sein und in der Utopie wenigstens Gegenwart in spe oder utopisches Präsens; es soll zu guter Letzt, wenn keine Utopie mehr nötig ist, Sein wie Utopie sein. Der wesentliche Inhalt der Hoffnung ist nicht die Hoffnung, sondern indem er eben diese nicht zuschanden werden läßt, ist er abstandslos Da-Sein, Präsens. Utopie arbeitet nur um der zu erreichenden Gegenwart willen,
und so ist Gegenwart am Ende, als die schließlich intendierte Abstandslosigkeit, in alle utopischen Abstände eingesprengt. Gerade weil utopisches Gewissen sich mit Schlecht-Vorhandenem nicht abspeisen läßt, gerade weil das weitest reichende Fernrohr notwendig ist, um den wirklichen Stern Erde zu sehen, und das Fernrohr heißt konkrete Utopie: gerade deshalb intendiert Utopie nicht einen ewigen /(367) Abstand von dem Objekt, mit dem sie vielmehr zusammenzufallen wünscht, als mit einem dem Subjekt nicht mehr fremden. Das Daß, weshalb und zu dessen Erhellung die Welt-Odyssee in Fahrt und noch nicht Odyssee des Stilliegens ist, wirft sich nicht ewig in Entwerfen und Prozeß; denn das Intensivum dieses Daß will in seinem Grunde statt endlosem Prozeß einzig knappes Resultat. Ist auch ein stehenbleibendes Anhalten auf dem Unterwegs so schlimm und noch schlimmer als verabsolutiertes Unterwegs selbst, so ist doch jeder Anhalt richtig, in dem das utopische Gegenwartsmoment des Endzustands selber nichtvergessen ist, konträr, in dem es durch Zusammenstimmung des Willens mit dem antizipierten Endzweck (summum bonum) behalten ist. Solche Momente sind in jeder konkreten revolutionären Arbeit, in der Verwirklichung des Proletariats als Aufhebung der Philosophie, in der Aufhebung des Proletariats als Verwirklichung der Philosophie. Sie sind in jeder Artikulierung des unbekannten Selberseins durch künstlerischen Vor-Schein und im Herd aller Artikulierungen der zentralen Frage. Sie sind selbst im Stupor des negativen Staunens, wie erst im Überrieseln des positiven, als einer angeläuteten Landung. Darin ist durchaus utopisches Präsens, eben im Sinn begonnener Aufhebung des Abstands von Subjekt und Objekt, also auch des sich aufhebenden utopischen Abstands selbst. Die Magnetnadel der Intention beginnt sich dann zu senken, denn der Pol ist nahe; der Abstand zwischen Subjekt und Objekt läßt nach, indem der Einheitspunkt vorbewußt dämmert, wo die beiden Pole des utopischen Bewußtseins: dunkler Augenblick, offene Adäquatheit (zur Daß-Intention) auf den Punkt geraten, zusammenzufallen. Daran geht Utopie sinngemäß nicht weiter, sie geht vielmehr in den Inhalt dieser Präsenz hinein, das ist, in die Anwesenheit des Daß-Inhalts, zusammen mit seiner nicht mehr entfremdeten, nicht mehr fremden Welt. Das als solche Anwesenheit, als solch manifestierte Identität Intendierbare steht, wie leider nur zu erweisbar, noch nirgends in einer Gewordenheit, aber es steht unabweisbar in der Intention darauf hin, in der nirgends abgerissenen, und steht unverkennbar im Geschichts- und Weltprozeß selber. Für diesen kam erst recht noch kein Abbruch durch ein entschiedenes Umsonst und Nichts. Darum gibt sich die /(368) Identität des zu sich gekommenen Menschen mit seiner für ihn gelungenen Welt zwar als bloßer Grenzbegriff der Utopie, ja als das Utopissimum in der Utopie und gerade in der konkreten: jedoch dieses Allererhoffteste in der Hoffnung, höchstes Gut genannt, stellt ebenso die Region des Endzwecks dar, an der jede solide Zwecksetzung im Befreiungskampf der Menschheit teilnimmt. Das Alles im identifizierenden Sinne ist das Überhaupt dessen, was die Menschen im Grunde wollen. So liegt die Identität allen Wachträumen, Hoffnungen, Utopien selber im dunklen Grund und ist ebenso der Goldgrund, auf den die konkreten Utopien aufgetragen sind. Jeder solide Tagtraum meint diesen Doppelgrund als Heimat; er ist die noch ungefundene, die erfahrene Noch-Nicht-Erfahrung in jeder bisher gewordenen Erfahrung. 21
TAGTRAUM IN ENTZÜCKENDER GESTALT: PAMINA ODER DAS BILD ALS EROTISCHES VERSPRECHEN
Das erhitzt mir nun die Seele, da wird es immer größer; und ich breite es immer weiter und heller aus; und das Ding wird im Kopf wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, so daß ich's hernach mit einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen im Geist übersehe und es auch gar nicht nacheinander, wie es hernach kommen muß, in der Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen. Mozart
Der zärtliche Morgen Desto mehr wird geträumt, je weniger bereits erlebt ist. Vor allem Liebe malt das Ihre stets früher, als sie es hat. Sie stellt sich die Eine, den Einen vage vor, bevor das dadurch liebenswerte Geschöpf leibhaftig aufgetreten ist. Ein Blick, ein Umriß, eine Art zu gehen, wird geträumt, so müßte die Erwählte aussehen, um eine zu sein. Die geliebten Züge schweben bildhaft vor, und der äußere Reiz muß ihnen gemäß sein, sonst kann er nicht als /(369) ein zu liebender zünden. Der äußere Reiz wird also hier, damit er zündet, nicht nur hingenommen, etwa als der erste, der vorgekommen ist, sondern er wird aus innerer Neigung, Vorbereitung als zündender ausgewählt. Das dann Gemeinte, die kommenden Züge der Gestalt werden zwar nicht deutlich gesehen, doch deutlich und auslesend erfragt. Ein erfüllender Schein derer schwebt und schreitet vor, die erwartet werden, selber erwarten. Mit diesem Auge, diesem Umriß kommt ein zu Liebendes den Morgen herauf, steht ein Fernes vor der Tür. Sehr früh haben so manches Mädchen, mancher Knabe diese ihre schwärmerische Wahl getroffen, oft wirkt sie dauernd nach. Zuweilen geschah die Wahl zu Hause, an einzelnen Zügen von Vater und Mutter, zuweilen auf der Straße, zuweilen an einem abgebildeten Gesicht. Vieles bleibt hier inwendig, ein Traum von dem, was man nicht kennt oder was noch nicht erreichbar ist. Der Traum mit dem Bild darin wird lange, ja allein geliebt. Wirkung durchs Porträt Er drückt sich deutlicher aus, wenn er sich in einem Bild selber ansieht. So glaubten Mädchen vor alters, ihren künftigen Mann in der Andreasnacht zu erblicken. Oder die Mädchen gingen zu einer Hexe, die ihnen, nachdem eine ängstliche Neugier sie trunken gemacht hatte, den Bräutigam im sogenannten Erdspiegel zeigte. Käthchen von Heilbronn und Graf Wetter vom Strahl erscheinen einander über Zeit und Raum in der somnambulischen Silvesternacht, Elsa von Brabant sieht in gleicher Entrückung ihren Ritter. Ein Erdspiegel wiederum ist im Zauberspiegel der Hexenküche aufgestellt, mit dem »schönsten Bild von einem Weibe«; selbst Helena im Kaiserpalast erscheint zunächst als dieser Schemen. Dann aber, mit verweltlichter, weit mehr erfahrbarer Magie, tritt das eigentliche Porträt auf, den Willen, gegebenenfalls auch Nicht-Willen durch Bezauberung erotischzwingend. Die Bezauberung reicht vom Schattenriß und der Photographie bis zum stellvertretenden Gemälde der noch nicht gekannten Frau; das Original kann überdies, was die Aura erhöht, von Gefahr umgeben oder selber eine Gefahr sein. Das so entstellende besondere Medium der Liebe wird, wie rechtens, /(370) am ehesten durch ein
Märchen bezeichnet, durch Grimms Märchen vom treuen Johannes: »Nach meinem Tode«, sprach der alte König zum treuen Johannes, «sollst du meinem Sohn das ganze Schloß zeigen, aber die letzte Kammer in dem langen Gang sollst du ihm nicht zeigen, worin das Bild der Königstochter vom goldenen Dache verborgen steht. Wenn er das Bild erblickt, wird er eine heftige Liebe zu ihr empfinden und wird in Ohnmacht niederfallen und wird ihretwegen in große Gefahren geraten.« Der junge König sieht trotz allem das verbotene Gemälde und scheut keine Gefahr, bis er die Geliebte gewonnen hat und heimführt. So entsteht Bezauberung durchs Porträt, und zwar nicht, wie im Analogiezauber, eine, die das Dargestellte treffen soll, sondern eine, die umgekehrt den Beschauer trifft, vom gemalten Objekt her erotisierend. Der Bann einer fernen Sonne trifft, durchs Brennglas des Gemäldes, den Menschen davor, erregt in ihm utopische Unruhe. Diese Art Liebestrank-Wirkung, überreicht durch gemalte Antizipation, ist ausführlicher als bei Grimm dargestellt in der Geschichte des Prinzen Kalaf und der Prinzessin Turandot, aus Tausendundein Tag. Prinz Kalaf will das Bild der gefährlichen Turandot ohne Erregung betrachten, die sieghaften und mörderischen Züge, hofft sogar, dennoch Fehler darin zu entdecken, aber sogleich verfällt er dem Feuer, das aus dem Vor-Schein ihn anglüht. Das chinesische Motiv gelangte aus dem Orient in die europäische Ritterschaft und in ihre Traumfigur, den Amadis von Gallien. Amadis von Gallien also, das Original der europäischen Traumritter, sah das Bild der Oriana, einer englischen Prinzessin, keiner chinesischen: trotzdem macht Porträtmagie gerade hier aus der Liebe vollen Orient. Treibt in Abenteuer, Hindernisse, Gefahren ohne Zahl, in die ganze damals bekannte Welt, zum Sultan des alten Babylon dazu und in Höllenspuk, bis die Vereinigung gelungen ist und Oriana dem Preis der Ritterschaft in die Arme sinkt. Was Turandot als Bild versprach, hat die Lady des Amadis auf der ganzen Strecke ihrer Gewinnung gehalten und nach der Gewinnung nicht verloren. Schiller hat das Thema der Turandot nur überarbeitet, aber von Amadis allerdings und seinem Minnedienst, vom Weib als Bild und wie ein Bild fiel noch ein voller Strahl in »Maria Stuart«; der erste Auftritt Mortimers vor der Königin steht durchaus in diesem Zeichen: /(371) Eines Tags, als ich mich umsah in des Bischofs Wohnung, fiel mir ein weiblich Bildnis in die Augen, von rührend wundersamem Reiz, gewaltig ergriff es mich in meiner tiefsten Seele, und des Gefühls nicht mächtig stand ich da. Da sagte mir der Bischof: Wohl mit Recht mögt Ihr gerührt bei diesem Bilde weilen. Die schönste aller Frauen, welche leben, ist auch die jammernswürdigste von allen, um unsres Glaubens willen duldet sie, und Euer Vaterland ist's, wo sie leidet. So sah Mortimer Marias Porträt in Frankreich, der sinnlich-übersinnliche Glanz des Katholizismus strahlte daraus und entzündete einen Bildrausch, der den Ritter im selben Zug zur schottischen Königin wie zur himmlischen Maria trieb. Als Motiv aber bleibt die Bildnis-Utopie des gotischen und noch des barocken Ritterromans: Leidenschaft verbindet sich mit frommer Bildverehrung, mit einer so stark ausgewechselten und säkularisierten Anbetung Marias, daß sie den Ritter zu
Perseus macht, der Andromeda befreit, zum Kreuzzugsritter um das gefangene Weib. Die Fahrten der Ritter sind verschollen, doch das Barock, das das fernhinschickende Motiv aufnahm, klingt in wunderbarer und reiner Weise bei Mozart nach, an einer Miniatur, wie sich versteht, wozu das Gemälde geworden ist, im Lied Taminos: »Dies Bildnis ist bezaubernd schön.« Pamina gibt die süßeste Gestalt aller Traumgeliebten und durch die Musik ihres Vor-Scheins die wesentlichste. Die feine Miniatur Paminas liegt in Taminos Hand und wird von ihr umschlossen, als zärtlichstem Rahmen, Pamina blickt den Jüngling in den unirdischen Schönheiten seines Lieds selber an, sie zieht als Zauberbild wie als Musikgestalt seiner Liebe vor Tamino her. Mit starker Vergröberung, freilich auch Magnetisierung der Miniatur aus der »Zauberflöte« kehrt das Turandot-Motiv bei Wagner wieder, im »Fliegenden Holländer«. Sein Bild hält Sent in Bann und Hoffnung: als optisch in dem bedenklichen Konterfei über der Tür, als Musik in der dämonischen Ballade. /(372) Wagners Neu-Barock überhaupt wandelt diesen Bann mit Vorliebe ab; ungemalt in der Lohengrin-Vision Elsas, lange bevor sie ihn sah, gemalt in der, wenn auch indirekten, Vorbereitung Evas in den »Meistersingern«, Stolzing betreffend. »Das eben schuf mir so schnelle Qual, daß ich schon längst ihn im Bilde sah«, im Bild Davids, »wie ihn uns Meister Dürer gemalt.« Bezeichnenderweise hat das immer noch barocke Gebäude der Oper das Turandot-Bild häufiger an seinen Wänden hängen als das Schauspiel. Solcher Beispiele sind viele, sie reizen alle zum Traum und versprechen. Es ist nicht einmal nötig, daß das Bild, das ihn erregt, selber ein vorzügliches sei. Ja, in der Erfahrung, fern von Märchen und Oper, bietet sich für die utopische Zärtlichkeit sogar die Photographie an. Dostojewskij, im »Idioten«, läßt Myschkin durch Rogoschin von Nastasja Filippowna hören, er sieht ihr Bild, er sieht den leidenden, doch hochmütigen Ausdruck, schnell führt er die Photographie des Mädchens an die Lippen und küßt sie. Das Porträt ist in dieser Dostojewskij Welt »der gesammelte Widerspruch einer Person, das Menetekel von Schönheit in Leid«; es erregt nicht nur den Willen, diese Frau zu finden, sondern sie durch Liebe von ihrem Gesicht zu befreien, ihr die Sehnsucht nach Kindheit und Unschuld zu erfüllen, die das Bild außer der Schönheit verspricht. Grund genug für den kranken Heiligen oder weisen Toren, in diese Frau durch ihr Bildnis eingeweiht zu sein. Haben doch fast stets die Bezauberten außer der Gefahr, von der die Geliebte umgeben ist, noch das Leid der Geliebten mit gesehen, daß sie selber von dem Geliebten fern ist, an fremdem Ort, fern von der Liebe; dies schafft neben der Schönheit die tiefste Verführung. Selbst hinter dem Gemälde der unselig-spröden Prinzessin Turandot wirkt noch der Archetyp der Andromeda, die sich in der Gewalt eines Drachens befindet. So zuletzt auch dann, wenn das Idol nun bei keinem, selbst nicht bei dem vorzüglichsten Bildwerk stehen bleibt; wenn dieses von der Liebe ganz übermalt, wo nicht im Grunde selber von ihr gemalt ist. Das letztere war schließlich bei allen den angegebenen Porträtzaubern der Fall und kulminiert nur bei der reinsten Traumfrau, die es gibt, und ihrem treuesten Träumer: bei Dulcinea und Don Quichote. /(373) Daher ist und bleibt keine andere als Don Quichotes Dulcinea für all diese Bild-Geliebten die Konzentration, die warnende wie die vollständigst utopische. Ausgeführt bis zur Komik: ein lächerliches Glücksbild in lächerlichem Unglück; verdichtet bis zum Urphänomen aller erotischen bloßen Traumwesen: zu Dulcinea als der femme introuvable. Das Bild der Geliebten schafft aber den ersten starken Wachtraum auch in glücklichen Lebenslagen; Imago ersetzt sowohl, wie sie ins Unbekannte hinausschickt.
Nimbus um Begegnung, Verlobung Anders wieder, wo die Frau leibhaftig bereits gesehen worden ist, aber flüchtig. Dann rückt gleichfalls ein Bild um das Ereignis, ein aus dem ersten oder dem letzten Eindruck gewonnenes. So kurz der erste Eindruck gewesen sein mag, er hält als solcher an, umreißt und färbt sich. Der Blick auf die Vorübergehende, Verschwindende bleibt stehen, qualvoll, unausgelebt, doch bildhaft entschieden. Oder aber, es kommt zu sehr raschem Abschied bei unerwiderter, erfrorener, erstickter Liebe, zu einem Abschied, worin das kurz Durchlebte schon wieder versinkt, sich freilich auch faßt. Dann bleibt nicht der erste, sondern der letzte Eindruck stehen, wird mit den wenigen Zügen eines versäumten Glücks geschmückt. Der Eindruck erhält sich in beiden Fällen als Erinnerungsbild, das trotzdem nichts zu Ende Gelebtes besitzt, sondern immer noch vor der möglich gewesenen Fülle steht. Wieder kann ungesunde Imago in diesem Nimbus sein, und wieder kann er eine menschlichste Art Liebe mit bezeichnen. Heines Gedicht: Ich stand in dunklen Träumen und starrte ihr Bildnis an geht ganz in diese fruchtlose Wehmut ein. Mörikes Peregrina-Lieder halten das gleiche unterbrochene Wesen nicht sentimental, sondern erschütternd fest: Ach, gestern in den hellen Kindersaal, beim Flimmer zierlich aufgesteckter Kerzen, /(374) wo ich mein selbst vergaß in Lärm und Scherzen, tratst du, 0 Bildnis mitleid-schöner Qual; es war dein Geist, er setzte sich ans Mahl, fremd saßen wir mit stumm verhaltnen Schmerzen; zuletzt brach ich in lautes Schluchzen aus, und Hand in Hand verließen wir das Haus. In diesem unerfüllten, obzwar leibhaftig gewesenen Wunschbild ist die Qual einer Liebe, die nicht lebt und nicht vergeht, die in ihrem Morgenzwielicht wandert, ewig wiederkehrt und ewig scheidet. Das gleiche Bildmotiv ahasverischer Anfänge wiederholt sich, sehr viel schwächer, doch gerade im Unausgesprochenen ergreifend, in Mörikes Mozart-Novelle; der Dichter Peregrinas erzählt die Begegnung einer jungen Braut (der glücklichen Braut eines anderen) mit Mozart und den Nachglanz dieser Begegnung: »Einige Augenblicke später, als sie durchs große Zimmer oben ging, das eben gereinigt und wieder in Ordnung gebracht worden war, und dessen vorgezogene gründamastene Fenstergardinen nur ein sanftes Dämmerlicht zuließen, stand sie wehmütig vor dem Klaviere still. Durchaus war es ihr wie ein Traum zu denken, wer noch vor wenigen Stunden davorgesessen habe. Lang blickte sie gedankenvoll die Tasten an, die Er zuletzt berührt, dann drückte sie leise den Deckel zu und zog den Schlüssel ab in eifersüchtiger Sorge, daß so bald keine andere Hand wieder öffne.« Hier hat sich eine flüchtige, freilich außerordentlich bedeutsame Wirklichkeit gleichsam gerahmt; wenigstens ihr Gedankenbild, ihr utopisch weiter deutendes, wurde von unerfüllbarer Liebe gewonnen. So ist die Imago der vorübergehenden, der nie wieder gefundenen Frau auch den Wunschbildern aus abgebrochener oder unvollendeter Wirklichkeit radikal beigemischt. Hebbel schrieb derart ein schweres Lied auf die Unbekannte:
Nun wird mein Auge nimmer dich erkennen, wenn du auch einst vorübergehst an mir, und hör ich dich von fremder Lippe nennen, so sagt dein Name selbst mir nichts von dir. Und dennoch wirst du ewig in mir leben, /(375) gleichwie ein Ton lebt in der stillen Luft, und kann ich Form dir und Gestalt nicht geben, so reißt auch keine Form dich in die Gruft. Ja selbst bei gelingender Liebe ist in ihren Anfang ein Bild dieses Bevorstehenden, Nicht-Bevorstehenden eingesprengt; seltsam, in feine Fetische gebannt, steht dann der aufgehende Morgen still. Tolstoi läßt, in der »Kreutzersonate«, den roten Gürtel eines Mädchens leuchten, hieran entzündet sich Liebe, auch die spätere asketische Erinnerung hat den Gürtel nicht vergessen. Mit welch glücklichem Blitz steht gar der Raum um Werthers Lotte still: sie selber tritt vor, scharf und dauernd bis auf die blaßroten Schleifen an Arm und Brust und das schwarze Brot in ihrer Hand, die Kinder um sie her, ihnen die zärtliche Geste des Brotausteilens zugewendet, so weiblich echt geraten, ein ganzes vorleuchtendes Schauspiel von Güte. Mitten im schönen Beginn springt so das Bild heraus, bleibt auch nachher als Gestalt der heimlichen Verlobung, bewahrt diese in ihrer unberührten Landschaft. Keine Miniatur zieht hier vorher, wie diejenige Paminas, aber sie bildet sich selber in der Liebe auf den ersten Blick und macht mit einer in diesem Rahmen so rein affektionierten Weise »Traum der höchsten Hulden, himmlisch Morgenglühn«, wie das Quintett der »Meistersinger« singt. Zuviel Bild, Rettung davor, Nimbus um die Ehe Ist die gemeinte Frau gewonnen, so ebbt freilich das Fabeln um sie ab. Jedoch es braucht nicht zu verschwinden, ja zu viel anfängliches Bild wird ungern Fleisch. Vor allem, wenn das Traumbild sich mehr von dem Liebhaber nährte, der es hatte, als vom Geliebten, dem es galt. Sehr romantische, sehr in die Märchenzeit der jungen Liebe verliebte, dazu wirklichkeitsschwache Seelen haben sich daher allgemein in Erfüllungsscheu, speziell in Ehehaß hervorgetan. Hier darf nochmals an Lenau erinnert werden, gewillt, ewig nur auf wilden Meeren mit dem Bild der Geliebten zu verkehren. Und an die gedichtete, doch ebenso greifbare Gestalt kann als Exempel erinnert werden, an E. Th. A. Hoffmanns Kapellmeister Kreisler, der in der Liebe /(376) nur die Himmelsbilder, in der Ehe nur die zerbrochene Suppenschüssel sah und so die Bilder gegen die Schüssel nicht eintauschen wollte. Dunkel des gelebten Augenblicks und Verdinglichung der trojanischen Helena sind in all dergleichen, wie gesehen ward, romantisch travestiert, aber auch, als pathologisch geschärft, in Darstellung gebracht und kenntlich gemacht. Sogar noch ein naturalistischer Spätoder Halbromantiker wie Ibsen hat, auf besonders lehrreiche Weise, den bloßen Morgenwert der Liebe, die Liebe als bloßen Morgenwert gefeiert, exaggeriert. Das in der »Komödie der Liebe« ganz bohemehaftradikal, wo Falk und Schwanhild sich freiwillig verlassen, gerade aus höchster Zuneigung verlassen, damit ihre »Frühlingsliebe« nicht in der Ehe verschwinde, als in der Wirklichkeit, wo die Blätter fallen. Das ist verstiegen, gewiß, doch nicht verstiegener als der hier wiederkehrende und all das umfassende, für all das wieder einschlägige Chock des Menelaos vor seiner ägyptischen Helena. Und nicht verstiegener als eine andere
Reaktionsgestalt Ibsens, eine zu ihrer Zeit gar nicht als romantisch, sondern sozusagen als hypermodern verrufene: die »Frau vom Meer«, mit dem gleichen Anfangswertkomplex. Auch diese Frau, Ellida Wangel, verdinglicht einen kaum realisierten Anfang und ruiniert ihre Ehe damit. Freilich ist das Hausfremde, Meerverwandte auch in Ellida Wangel selber, wenn sie stets auf den Ozean hinausblickt und auf den fremden Mann ihrer ersten Liebe, auf die Silhouette, die er fern im Ozean bildet. Aber wesentlich bleibt das grenzenlose Entführungsbild dezidiert unrealistisch einer Welt entgegen gestellt, die vor ihm ausnahmslos als Fjord-Enge erscheint. Und das abstrakt-utopische Gewerbe in eroticis arbeitet weiter; zuletzt noch hat es Spitteler dargestellt in dem traumbesessenen Helden seines Romans «Imago« und der schönen Theuda, der aus Treue zu ihrem Bild Verschmähten. An einen anderen, den »Statthalter«, verheiratet, ist sie dadurch »ein abgeschnitten Stück Brot«; doch ihr Phantastdichter will das Wirkliche nicht wahrhaben, und nicht eher wird ihm die aus der Welt verrückte Situation wieder gut, als bis er aus dem sinnlich-übersinnlichen Freier wieder in den übersinnlichen sich verwandelt. Theuda-Imago darf nicht wirklich werden, gerade die Muse des Dichters leidet das nicht, wie von /(377) Spitteler angegeben wird; die Wirklichkeit nach soviel Phantasie würde es gleichfalls nicht leiden. »Imago« ist bizarr-exzessiv, doch wahr daran bleibt: allzu himmlische Liebe wird keine irdische, die eine stört die andere. So tönt gerade auch in Liebe-Ehe das so viel allgemeinere Problem der Verwirklichung an, das Decrescendo durchs Dunkel des gelebten Augenblicks und durch seine Auswirkungen. Die Hungerleiderei nach dem reinen Traumbild ante rem kommt dadurch fast in den Zustand, sich unbesehen, ja besonders beim Weltlicht besehen, als das Höhere vorzukommen. Erhalten die mannigfachen Kapellmeister Kreisler doch selbst vom antiromantischen Feind aller Wunschträume scheinbar recht, vom Advokaten der Wirklichkeit: »Mag einer auch noch soviel mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben worden sein, zuletzt bekommt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister so gut wie die anderen auch; die Frau steht der Haushaltung vor, Kinder bleiben nicht aus, das angebetete Weib, das erst die Einzige, ein Engel war, nimmt sich ohngefähr ebenso aus wie alle anderen, das Amt gibt Arbeit und Verdrießlichkeiten, die Ehe Hauskreuz, und so ist der ganze Katzenjammer des Übrigen da« (Hegel, Werke X, S. 216f.). Manches davon mag auch außerhalb dieses biedermeierlichen Philisteriums wahr geblieben sein, eben als die dem Zu-viel-Bildhaften auf dieser Stufe sich anschließende Melancholie der Erfüllung. Es ist diese Melancholie, welche in den Liebestraum vor der Sache oder auch im Anfang der Sache so bedenklich zurücktreibt, ihn als Fernliebe an sich sich einkapseln und verdinglichen läßt. Und zwar gerade deshalb, weil seine Fabel, als eine, die wesentlich nur Fernliebe enthält, in der erblickten Wirklichkeit abebbt; desto sicherer erinnert sich dann abstrakte Utopie. Hier ist ein Quell für die eigentlich utopistische Neurose: nämlich für das Verbleiben im Wachtraum, für die Verfestigung des Bilds im Anfangszeichen, im bloßen Initiale von Wirklichkeit. Anders jedoch liegt der Fall sogleich, wo sich die Fabel vor dem Kommenden nicht sperrt. Wo das Bild in ihr nicht nur bewahrt, sondern in Fleisch und Blut bewährt sein will. Und das wird der Verlauf der Sache selbst, sobald der Vorschein, statt nur subjektiv in sich zu wuchern, hinreichend vom Gegenstand /(378) selber miterregt worden ist. Denn die Imago einer bereits erblickten geliebten Person kann durchaus Züge aufweisen, die im Gegenstand nicht ganz unbegründet sein mögen. Hat doch nicht jedes Liebesobjekt die Kraft, durch Imago in die Phantasie zu greifen, sie auf sich hin zu bewegen, selbst bei noch so empfänglicher Disposition oder bei
bloßer Analogie des Originals mit seinem Bild. Bei besonders scharfer Evidenz der lebenden Bildwirkung muß in dem Objekt selber eine Lockung enthalten gewesen sein, nämlich ein fundiertes Wunschbild in ihm selbst, mindestens so zu scheinen, und die Kraft, als dieses wirken zu können. Pamina ist im angetroffenen Zustand ihrer Wirklichkeit vielleicht nicht so, wie sie Tamino im Bild erscheint, doch die utopische Imago, die sie erregte, ist eben ihre eigene. Für Erotik gilt dann besonders, was für jede Imago an Menschen gilt: diejenigen, welche sie zu erregen verstehen, sind poetische Naturen, das ist, solche mit einem starken Anteil objektiver Phantasie in sich. Mit realer Möglichkeit, in gutem Klima das in die Phantasie Greifende zu werden, was sie nicht grundlos zu sein scheinen und als Vorschein ausstrahlen. Liebe, die sich im Genuß oder in der Enttäuschung ihrer Bilder nicht Post festum erschöpft, hält daher dem Liebesobjekt die Treue zu dem, was auch im Objekt ein Wunschbild seiner selbst gewesen sein mag, mithin, gegebenenfalls, eine Anlage zum Selbst-Transzendieren übers Angeborene, Gewordene hinaus. So geschieht Bewährung der Imago am Objekt und mittels des Objekts; so findet es Quartier. Fehlt allerdings diese Kraft zum Belichten durch ein Bild oder war gar nur der Liebhaber allein die poetische Natur, in so haltlos überströmender Irrealität, daß ihm wirklich Helena in jedem Weib erscheint: dann ist die Katastrophe des Bilds im ganzen Umfang unvermeidlich. Nicht bloß die Jugend der Liebe zieht dann vor Hegels enthülltem Hauskreuz ab, die unglückliche Ehe kennt überhaupt kein Heilmittel mehr als äußerstenfalls dieses, eine banale zu werden, ein Schatten in der empfindungslosen Vorhölle. Das Geliebte wird in ihr nie wieder das werden, was es zuvor war, zum Unterschied von der glücklichen Ehe, worin Raum für ein konstitutiv gewesenes Traumbild bleibt, sich zu bewähren, das heißt, sein Belichtetes zu entwickeln. Und hierbei bewährt sich zugleich ein Frisches, /(379) das die ganze gewohnte, allzu gewohnte Alternative zwischen Anfangstraum und Phlegma auf diesem Feld aufzuheben imstande sein kann. Denn gerade Utopisches ist keineswegs, gemäß der romantischen Psychologie, auf das Alpha beschränkt, dergestalt, daß das folgende Alphabet der Dinge bloß problematische Streckung eines schon Bekannten wäre. Vielmehr hat auch die Ehe ihre spezifische Utopie und einen Nimbus darin, der mit dem Morgen der Liebe nicht zusammenfällt, daher keineswegs mit ihm vergeht. Diese Utopie entspringt eben der Bewährung der Liebes-Imago, und immer ist ihre Poesie eine der Prosa, allerdings der hintergrundreichsten: des Hauses. Das Haus ist selber ein Symbol, und zwar bei aller Geschlossenheit ein offenes; es hat als Hintergrund die Zielhoffnung des Heimatsymbols, das sich durch die meisten Wunschträume durcherhält und am Ende aller steht. So originär ist diese Hoffnung, daß sie vor den Morgenbildern der Liebe nicht nachgibt; konträr, sie hat sich bereits dem Lotte-Bild mitgeteilt, der Landschaft der heimlichen Verlobung und des vorleuchtenden Schauspiels von Güte zugleich. Das Wunschbild ist hier freilich keines der Leidenschaft, als welche zur Ehe niemals ein Konstituens ist; in der Neigung bereits löst sich der Mensch von der Leidenschaft ab. Das Wunschbild ist erst recht keines der sexuell-sozialen Versorgtheit, der rationalisierten Sexualität, welche die Ehe zur bürgerlichsten Einrichtung im Bürgertum werden ließ. Ebensowenig ist Ehe als Kunstgewerbe visiert, mit Befristung schon am Anfang, als eine innerbürgerliche Revolte gegen das antizipierte Philistertum. Sondern Imago der Ehe setzt genau um zwei Menschen den Entwicklungsraum Haus, mit seinen vielen Karrieren über das Philistertum hinaus. Das vor allem in der sozialistischen Gesellschaft, indem sie die Familie nicht mehr als Refugium vor dem Lebenskampf zu setzen nötig hat, sondern als nächste Erscheinung der Solidarität in Gang hält. Mit dem Partner als ständigem Gast im
Haus, mit dem Bund einzigartiger Vertrautheit auf dem Grund besonderer Verschiedenheit. Dies Wesen ist voll Spannung, trotzdem ist es nicht dramatisch, sondern episch durchaus; so sagt der mit Glück hier konservative Chesterton mit viel Recht: >Alle die Dinge, die aus der Monogamie einen Erfolg machen, sind ihrer Natur nach undramatische /(380) Dinge, das stille Wachsen eines instinktiven Vertrauens, die gemeinsamen Wunden und Siege, die Ansammlung alter Gewohnheiten, das reiche Reifen alter Scherze; gesunde Ehe ist ein undramatisches Ding.« Und trotzdem ist Ehe so fern von einem bloßen moralischen Nachtrag zur Liebe, daß sie gerade im Vergleich zu ihr ein seltsam Neues darstellt: das Abenteuer erotischer Weisheit. So daß sie das gelingende oder nicht gelingende Experiment einer Kommunion darstellt, die weder in Sexualliebe noch in irgendeiner bisher erschienenen sozialen Gemeinschaft ihresgleichen findet. Derart erscheint Ehe als die Utopie einer der freundlichsten wie strengsten Ausprägungen des menschlichen Lebensgehaltes; derart ist ihre Bewährung nicht nur, ja zuletzt überhaupt nicht mehr, die des gemalten Paminabilds, des jungfräulichen der Begegnung. Vielmehr kommt zur Utopie des Paminabilds in Taminos Hand die Musik der Feuer- und Wasserprobe hinzu; diese bezeichnet und bedeutet nun nicht weiter die Braut, sondern die Ehe, nicht weiter die Leidenschaft, sondern die Freundschaft der Liebe, die eben Ehe heißt. Pamina selber leitet die Musik der Treue an oder die Bewährung der Imago weit über die erste bloße Bezauberung durch diese Imago hinaus. Die Ehe eröffnet und besteht die Feuerprobe der Wahrheit im Leben der Gatten, der standhaften Befreundung des Geschlechts im Leben des Alltags. Gast im Haus, ruhende Einheit bei feiner, brennender Andersheit, dieses wird mithin die Imago der Ehe und der Nimbus, den zu gewinnen sie unternimmt. Oft mit falscher Wahl, wie bekannt, mit Resignation als Regel, mit Glück als Ausnahme, fast noch als Zufall. Und selten wird Ehe gar die überbietende Wahrheit des initial Erhofften, mithin tiefer, nicht bloß wirklicher als sämtliche Brautlieder. Dennoch hat sie ihren utopischen Nimbus zu Recht: nur in dieser Form arbeitet das keineswegs einfache, das hintergründige Wunschsymbol des Hauses, ist überhaupt Aussicht auf gute Überraschung und Reife. So tausendmal besser Liebesleid ist als unglückliche Ehe, an der überhaupt nur noch Leid ist und fruchtloses, so zerstreut sind die Landabenteuer der Liebe gegen die große Schiffahrt, die Ehe sein kann, und die mit dem Alter nicht aufhört, nicht einmal mit dem einseitigen Tod. /(381)
Hohes Paar, Corpus Christi oder kosmisch und christförmig gewesene Utopie der Ehe
Das Schiff, das so aufnimmt, wurde doppelt leuchtend gemalt. In irdischer und überirdischer Farbe, zwei mythische Utopien der Ehe bieten sie dar. Die eine kann bezeichnet werden als die des Hohen Paars, sie ist aristokratisch-heidnisch, die andere ordnet die Ehe als Corpus Christi. Die Kategorie Hohes Paar wurde bisher wenig beachtet, obwohl sie sogleich nach der mutterrechtlichen Gesellschaft hervorgetreten ist. Bachofen hat sie auffallenderweise umgangen, hat immer nur Weib oder Mann allein auf die jeweilige, entweder mutter- oder vaterrechtliche Höhe gesetzt. Dabei hat das hohe Zwei das eigentümlichste Wunschbild der Ehe entwickelt, auch in den Augen ihrer Beschauer, nicht nur der Partner. Weib und Mann werden hier jeder in sich konzentrisch als Bild vorgestellt, das eine anmutig und gewährend-gut, das andere kraftvoll und herrschend-gut; erst die Verbindung aber wird Segen an sich. Sie erscheint als Einheit von Zartheit und Strenge, von
Huld und Macht, ja von Hure und Prophet, das alles hier mit dem alten astral-mythischen Hintergrund von Mond und Sonne, auch Erde und Sonne. Das Weib hat die glitzernde Mondgöttin oder die urweise Erdgöttin für sich, der Mann das strahlende Lichtwesen; beide können oder sollen im Hohen Paar zusammen am menschlichen Himmel wirken und spenden. Der Hohe-Paar-Nimbus liegt um Perikles und Aspasia, um Salomo und die Königin von Saba, um den «Helios« Antonius und die »Isis« Kleopatra, um Simon Magus und Helena. Die beiden letzten, Simon, der Gnostiker zur Zeit Jesu, Helena, eine Hetäre aus Tyrus, wurden - als »Dynamis« und »Sophia« in Einheit - von ihren Gläubigen besonders verehrt; die Welt erschien ihnen durch das Wiederfinden dieses Urmännlichen, Urweiblichen als erlöst. Lebt doch noch durchs ganze Mittelalter hindurch ein Nachklang dieses Simon-Helena-Kults zur Zeit Christi und hat sich, durch Vertauschung der Personen, im Verhältnis Fausthomerische Helena erhalten. Die Spätantike dagegen lieferte der Kategorie Hohes Paar auch besonders abenteuerliche Beispiele: so hat sich der Kaiser Eleagabal, als Priester des syrischen /(382)Sonnengotts Baal, mit der Priesterin der karthagischen Mondgöttin Tamit vermählt - Tag und Nacht, Baal und Tamit in einem. Dicht strömte hier noch ein weiterer Astralmythos herein, der babylonische einer »heiligen Hochzeit« in Gott selbst. Er lebte in der Gnosis, wenn sie ihre herabstrahlenden Bildekräfte mann-weiblich abteilte (»Urgrund und Stille«, »Licht und Leben«, »Begriff und Sophia«), er hielt sich in der Kabbala. Das Christentum, mit dem weiblosen Gottvater, ließ keine oder nur undeutliche Hohe Paare auf Erden zu, das gnostisch-kabbalistische Judentum dagegen durchaus. So hatte noch der Pseudomessias Sabbatai Zewi, um 1650, sein Weib Sara, wie die tyrische Helena eine Hetäre, als »zweite Person in der Gottheit« neben sich. Ja, das - aus hellenistischen Quellen stammende - Tamino-Pamina-Bild, das - von Simon Magus und der tyrischen Helena her nachwirkende Faust-Helena-Bild, sie vollziehen poetisch die uralte Vermählung nach. An zwei Menschen, am erotisch fixierten Zwei wollte so die Kategorie des Hohen Paares erscheinen lassen, was in den Kulten, am äußeren Firmament nicht zusammenkam: Mond und Sonne zugleich, mit gleicher Stärke am Himmel, im Himmel. Ob die misera contribuens plebs je selber zu diesem Traumbild kam, steht dahin; wahrscheinlich hat sie sich mit dem Anblick an ihren Halbgöttern begnügt. Dennoch läuft das Bild solcher Union noch durch den Nimbus jeder jungen Ehe, wenn sie zwischen wohlgeratenen Menschen geschieht. Das Bild hat sich im Kitsch wie an dynastischen Paaren (Räuber und Räuberbraut, Erbprinz und seine hohe Gemahlin) ausdrücklich erhalten und gab auch bei verschwundenem aristokratischem Hintergrund, bei verschwundenem Astralmythos starkes Glanzlicht auf die Ehe. Der equilibrierende Partner zur schönsten Frau hat die erotische Vollendungsphantasie lange beschäftigt, als perfektes Paarbild aus Anmut und Kraft. Und hat das Christentum die Hohen Paare theologisch nicht mehr begründet, so lebt doch eben in der Faust-Helena-Sage, in der Pamina-Tamino-Union (von Goethe in »Der Zauberflöte zweiter Teil« weiter behandelt) dieser leitbildhafte Paar-Mythos fort. Ja, als »Bild von unserer Wonne« steht er sehr hoch im Buch Suleika des »Westöstlichen Divan«, ausdrücklich auf das Zugleich von Mondsichel und Sonnenaufgang /(383) bezogen und darauf, was es bedeute, deren Feinheit und dessen Macht zu vereinen: Der Sultan konnt' es, er vermählte Das allerhöchste Weltenpaar, Um zu bezeichnen Auserwählte, Die tapfersten der treuen Schar.
So eigentümlich groß erscheint in alldem die Zweieinigkeit von Sexualität und ruhte nicht, bis sie am Firmament selber ihren Halt zu finden glaubte. Eine Einheit von Menschen, die in vollerem Sinn als Adam und Eva Mann und Weib sind, ein Sakrament von Sonne und Mond. Das Christentum aber hat nicht nur wegen seines weiblosen Gottvaters, sondern vor allem doch als nichtastralmythische Religion dafür keinen Ort mehr. Keinen Ort in einer Welt, worin Mond und Sonne nun gleichmäßig untergehen, als Äußerlichkeiten, mit denen die kosmische Utopie der Ehe gleichfalls untergeht. Dafür aber taucht ihr zweites Gesicht auf, ein inneres, das anders verspricht und bindet. Hingabe und Kraft, Magdliches und Führung sollen nicht welthaft, sondern außerweltlich verbunden und so vollendet werden. Ehe wird Gemeinde in nuce, also das von Frau und Mann nachgebildete Corpus Christi. Auch hierin ist ein Bild, das erst mit der Ehe einsetzt und in ihr, als dem Haus, sein erotisches Versprechen hat, mit sinnlich-übersinnlichem Glanz. Millionen haben noch den Glauben daran, als ans Sakrament der Ehe, ihnen wird die Ehe im Himmel geschlossen und bleibt darin, bis zum Tod, trotz möglicher irdischer Armseligkeit oder Katastrophe. Die Ehepartner selbst vollziehen durch Heirat das Sakrament, sie selber treten bereits mit Gott, als dem Schöpfer der Kinderseelen, in Bezug. Jede Ehe, schärfte Pius IX. ein, ist an sich selbst ein Sakrament, wenn auch noch ein leeres; nicht damit die Ehe heilig werde, sondern weil die Ehe heilig ist, ist die Mitwirkung des Priesters erforderlich, im einzigen Sakrament, das die Kirche nicht selber spendet, das sie durch ihre Ratifizierung nur zu einem vollen macht. Dann allerdings, im Sacramentum plenum, soll dem Gläubigen ein ungeheurer Goldgrund in der Ehe vortreten; Gattin und /(384) Gatte stehen in Imago ohnegleichen. Nach der Kirchenlehre treten sie als geweihte Glieder des Leibes Christi zusammen, um sich der Erweiterung dieses Leibes zu widmen, der Ausbreitung des Gottesreichs in der vernünftigen Kreatur. Bild und Vorbild der Ehe bleibt eben der Bund Christi mit seiner Gemeinde: »Denn wir sind Glieder seines Leibs, von seinem Fleisch und von seinem Gebein. Um deswillen wird ein Mensch Vater und Mutter verlassen und seinem Weib anhangen, und werden zwei sein ein Fleisch. Das Geheimnis ist groß: ich sage aber, in Christus und der Gemeinde« (Eph. 5, 30-32). Die Liebe Sulamiths zu Salomon im Hohen Lied, mit Brüsten lieblicher denn Wein, mit dem Freund, der hinabgegangen ist, daß er sich weide unter den Gärten und Rosen breche, dies glühende Hochzeitslied wird klerikal verwandelt und allegorisch dargestellt als Liebesgespräch Christi mit seiner Gemeinde, als Hingabe des Haupts an den Leib, als Reinigung des Leibs durch das Haupt. Trotz Sündenfall sind die Leiber Glieder Christi, Tempel des Heiligen Geists (1. Kor. 6, 16-19), immer dergestalt, daß die Ehe in der Ehe Christi mit der Gemeinde wurzelt und deren Erweiterung und Fortwirkung, deren Organ und Abbild in der vernünftigen Kreatur ist. Sexuelle Kommunion und Treue zu ihr verbinden sich in diesem Ehebild völlig mit religiöser und mit sozialer Kommunion - freilich nur in Form der aufs Jenseits bezogenen christlichen Gemeinde. Die Ehe wird bei Paulus die Verbindung von Jünger und Jüngerin aus Verwandtschaft und Herkommen, um im Bild des neuen Gottes sich zu vermischen, um im neuen Haus ihm anzugehören; die Geschlechtsgenossenschaft wird dem Ideal nach Kultgenossenschaft. Die Kreatur freilich setzte dem Wein dieses Wunders gewaltig Wasser und Unglück zu, erst recht die ganz und gar nicht christförmige Gesellschaft, in der nun, als spätrömischer, feudaler, kapitalistischer, das Corpus Christi nicht eben vollkommen im Sozialzusammenhang sich ausprägte.
Doch wirkte die Utopie vom Weinstock und den Reben immerhin in dem Refugium, als das die Familie innerhalb der Klassengesellschaft sich nicht-antagonistisch halten wollte. Trotz aller stark vaterrechtlich-patriarchalischer Züge und trotz des außerweltlichen Flucht- und Bezugspunkts gab es keine Liebesutopie, die so tief wie diese /(385) die Ehe wichtig genommen und ihr Bild verpflichtend gemacht hätte. Der patriarchalische Grundzug, mit dem Mann als »Haupt«, war immerhin in eine Liebesgemeinschaft weiter Ordnung einbezogen, worin keine Herrschaft mehr sein sollte, auch keine Einsamkeit zu zweien. Unus Christianus nullus Christianus, dieses Prinzip eines hintergründigen Kollektivs reflektierte sich hier als Glaube, Liebe, Hoffnung der Ehe. Nach-Bild der Liebe Ist ein Traum nun wirklich geworden, so wird er das nicht immer bleiben. Wird nicht er zu Grabe getragen, so der Leib, den er gefunden hat. Der Tod schneidet nicht die Liebe ab, doch dasjenige, was für sie sichtbar und lebendig war. Der Wünschelrute des ersten Eindrucks wurde gefolgt, das Gold war gediegen, seine Zeit ist vorüber. Dann aber stellt sich wieder ein Wachtraum bildhaft her, es bleibt ein Nach-Bild von Liebe, als erfüllter und doch wieder nicht erfüllter. Dieses Nach-Bild ist der Peregrina-Vision aus unerfüllter Liebe, der Vision des nie gelingenden Abschieds so fern wie möglich und trotzdem in einem Punkt verwandt. Denn auch die glücklich Geliebte kann durch den Tod Peregrina werden, sofern der Tod fremd an ihr ist, sofern er nur äußerlich unterbricht. Zweifellos gibt es hier weitverbreitete Selbsttäuschung, bis zum Kitsch herab, der sich in der Erinnerung um die oder den sogenannten Seligen ansetzt; von dieser Karikatur ist nirgends die Rede, nicht einmal von verklärender Erinnerung weniger abgeschmackter Art. Sondern kein Nach-Bild der Liebe ist zweifelsfrei, wenn es sich nicht schon bei Lebzeiten des Gegenstands bilden konnte; dann allerdings ist es, gerade in seinem Glanz, untrüglich. Wie bei der Peregrina-Vision geht auch in solchem Fall aus Erinnerung immer wieder Hoffnung auf, und aus dem Nach-Bild ein Versprechen; Theodor Storms Novelle «Viola Tricolor« kreist zweimal um dieses Problem. Denn ungesättigt-erinnerndes Wunschwesen arbeitet hier sowohl im Kind, das das Gemälde der toten Mutter mit Rosen schmückt und über der Stiefmutter die eigene am wenigstens vergißt, wie es in dem Mann arbeitet, der die zweite Ehe einging, und auch er hat seinen langen Nachblick. Er /(386) hat ihn auf einsamen Wegen, in seiner einsamen Studierstube mit dem Bild der Verstorbenen über dem Schreibtisch, am Fenster, das in den Garten geht, auf die kleine Hütte, die er so lange nicht mehr betreten hatte. Dort geht der Nachblick hin, dort geht und lebt das Nach-Bild: »Der Himmel war voll Wolken; das Licht des Mondes konnte nicht herabgelangen. Drunten in dem kleinen Garten lag das wuchernde Gesträuch wie eine dunkle Masse; nur dort, wo zwischen schwarzen pyramidenförmigen Koniferen der Steig zur Rohrhütte führte, schimmerte zwischen ihnen der weiße Kies durch. Und aus der Phantasie des Mannes, der in diese Einsamkeit hinabsah, trat eine liebliche Gestalt, die nicht mehr den Lebenden angehörte; er sah sie unten auf dem Steige wandeln, und ihm war, als gehe er an ihrer Seite.« Storms Held unterliegt so der Verführung der Toten, eigentümliche, ganz und gar vertrackte Untreue erscheint: mit einem Schatten bricht er der zweiten Frau die Ehe. Merkwürdigerweise kommt diese sehr beunruhigende Art Nach-Bild in großer Poesie selten vor, gleich wie wenn nur die Hochzeitstafel aus Leichenschmaus, auf Grund eines Verbrechens, ein Problem wäre, für den Rächer Hamlet. Jedoch Shakespeares »Wintermärchen« ist ganz von
der Kraft des erotischen Nach-Bilds erfüllt: es wirkt in der schuldhaften Sehnsucht des Königs vor dem Standbild Hermiones; und nur hier, in Shakespeares geheimnisvoll-leichtem Spiel, läßt ein tiefer Scherz wieder zurückwollen, läßt er mit Kraft in die Vergangenheit ziehen und sie wieder zur Gegenwart machen; nur hier wird die Statue eines vergangen-unvergangenen Lebens wieder lebendig. Das ist Märchen-Lösung; überall sonst haben im Leben schwere Verwicklungen ums erotische Nach-Bild Platz, als einem, das daran unruhig ist, bloß Bild von Gewesenem zu sein. Einer anders schönen Liebe werden hier leicht Hexentränke gereicht, die nicht verjüngen, sondern sie nur in einen Zwischenzustand zwischen gespenstischem Frühling und Nachreife reißen. Doch ist zu unterscheiden: das falsch zelebrierte Nach-Bild schließt neues Leben ab und altes in ein unechtes Jetzt ein, mit allem Nachteil dessen, was auch in der seelischen Optik »wiederholte Spiegelung« heißen kann. Das recht bestandene Nach-Bild dagegen, das weder mit Rückkehr durch Nachgeschmack noch mit /(388) Totenkult das Mindeste gemein hat, mag das fruchtbarste sein; denn es strahlt in jene Sphäre, worin auch in der Vergangenheit noch ein Ungewordenes erwartet und entgegenkommt. Die tote Geliebte hat sich aus der bloßen Erinnerung herausbewegt, die Imago läßt nicht fruchtlos zurücksehnen, sondern wirkt wie ein Stern aus der Zukunft her. Epimetheus, in Goethes »Pandora«, sieht das Nach-Bild sogar in Greifbarkeiten der vorhandenen Welt, obzwar transparent; die verschwundene Pandora scheint hindurch: Sie steiget hernieder in tausend Gebilden, sie schwebet auf Wassern, sie schreitet auf Gefilden, nach heiligen Maßen erglänzt sie und schallt, und einzig veredelt die Form den Gehalt, verleiht ihm, verleiht sich die höchste Gewalt; mir erschien sie in Jugend-, in Frauengestalt. An Dantes Beatrice hat diese Art erotisches Versprechen seine stillste Gewalt gefunden, eine der fortwirkenden Begegnung mit Vollkommenheit, als heiliger. Sancta erhellt im Tod das Drüben, kommt selbst aus dieser Zukunft noch entgegen, erwartet, empfängt, vollendet. Wo immer solch unbegreiflich Trosthaftes entsteht, erweist sich die Geliebte, der das Nach-Bild gilt, als aus Beatrices Geschlecht. So wenig endet das Bild als Versprechen, so sicher pflanzt die fundierte Treue zu ihm Hoffnung auf, nicht nur am Grab, auch in der Vergegenwärtigung. 22
TAGTRAUM IN SYMBOLISCHER GESTALT: LADE DER PANDORA; DAS GEBLIEBENE GUT
Jeder Traum bleibt dadurch einer, daß ihm noch zu wenig gelungen, fertig geworden ist. Darum kann er das Fehlende nicht vergessen, hält er in allen Dingen die offene Tür. Die mindestens halboffene Tür, wenn sie auf erfreuliche Gegenstände zu gehen scheint, heißt Hoffnung. Wobei, wie gesehen, es keine Hoffnung ohne Angst und keine Angst ohne Hoffnung /(388) gibt, sie erhalten sich gegenseitig noch schwebend, so sehr die Hoffnung dem Tapferen, durch den Tapferen überwiegt. Indes auch sie, als möglicherweise trügerische mit Irrlicht, muß eine wissende sein, eine in sich selber voraus-bedachte. Die allemal merkwürdige Pandorasage läßt die Hoffnung den Menschen durch ein Weib bringen, doch in dämonischer Weise. Pandora ist zart wie Pamina, blendend wie Helena, aber böse oder mit böser Absicht
geschickt und so doch wie die übliche Schlange im Sündenfallmythos. Sie kommt von Zeus, der durch sie den Raub des Feuers an Prometheus rächen will, ein Lockbild des Schönen schlechthin, aber mit einer verschlossenen Sammlung gefährlicher Geschenke, Prometheus schlägt sie aus, Epimetheus aber, der Nach-Bedenkende, läßt sich verführen, Pandora öffnet so die mitgebrachte Lade. Nun enthielt diese, nach Hesiods Darstellung der Sage, das ganze Heer von Übeln, das seither über die Menschen gekommen ist: Krankheit, Sorge, Hunger, Mißwachs, sie flogen heraus. Erst zuletzt verschloß der angeblich mitleidige Zeus den Deckel, ehe noch die Hoffnung ausfuhr. Es ist das aber eine sehr widerspruchsvolle Sage oder Fassung der Sage; denn die Hoffnung, durch welche Zeus die von Prometheus geschaffenen Menschen doch auch trösten wollte, über ihre Schwäche, liegt hier mitten unter den eindeutigen Übeln. Sie unterscheidet sich in der Hesiodschen Fassung von den anderen Übeln nur dadurch, daß sie im Faß geblieben, also sich unter den Menschen gerade nicht verbreitet hat. Das aber ergibt in der Hesiodschen Überlieferung keinen rechten Verstand, es sei denn eben, daß Hoffnung als Übel sich auf ihr Trügerisches bezieht, auch auf das Kraftlose, das sie für sich allein noch darstellt. So hatten die Alten Elpis abgebildet, zart, voller Schleier und entfliehend, so wollten die Stoiker die Bilder der Hoffnung hinter sich lassen, genau wie die der Angst und Furcht. So wirkt noch die unvergeßliche Spes, die Andrea Pisano auf dem Portal des Florenzer Baptisteriums abgebildet hat: sie sitzt wartend, obwohl sie geflügelt ist, und trotz der Flügel erhebt sie, wie Tantalus, die Arme nach einer unerreichbaren Frucht. Also mag die Hoffnung, so viel besitzloser als die Erinnerung, nach Seite der Ungewißheit ein Übel scheinen, und die täuschende, die unfundierte ist es gewiß. Aber freilich, auch die /(389) unfundierte Hoffnung kann unter die üblichen Übel der Welt nicht so einrangiert werden, als sei sie das gleiche wie Krankheit oder Sorge. Erst recht ist die fundierte, das heißt, mit dem real Möglichen vermittelte Hoffnung vom Übel, selbst vom Irrwisch so weit entfernt, daß sie eben die mindestens halboffene Tiir darstellt, die auf erfreuliche Gegenstände zu gehen scheint, in einer nicht zum Gefängnis gewordenen, kein Gefängnis seienden Welt. Die Alten haben sich je länger, je mehr der Hoffnung nicht zu entschlagen gesucht. Eine spätere, hellenistische Fassung (auch Goethes «Pandora« hat sie sich zu eigen gemacht) stellt daher Pandoras Mitgift nicht als Behälter des Unglücks, sondern konträr der Güter dar, letzthin als Mysterienlade. Die Lade der Pandora ist in dieser Fassung Pandora selbst, das heißt: die «Allbegabte«, voller Reize, Geschenke, Glücksgaben. Auch diese sind, nach der hellenistischen Fassung des Mythos, aus der Lade gefahren, doch anders als die Laster sind sie gerade gänzlich entflogen und haben sich nicht unter den Menschen ausgebreitet; als einziges Gut blieb sonach die Hoffnung, immerhin diese, in der Lade. Sie unterhält den Mut zu den fehlenden Gütern, die Standhaftigkeit und Nichtresignation vor den ausbleibenden, und wo sie verschwindet, geht der in der Welt anhängige Prozeß verloren. So ist auf die Dauer die zweite Fassung des Pandoramythos doch die einzig wahre; Hoffnung ist das den Menschen gebliebene, das keineswegs bereits gereifte, aber auch keineswegs vernichtete Gut. Ja, die halbgeöffnete Tür mit adventistischer Dämmerung voraus, wodurch subjektiv und objektiv die Hoffnung bezeichnet wird, ist die Pandora- Lade der unfertigen Welt selbst, samt dem Hohlraum mit Funken (Chiffern, positiven Symbolintentionen), den ihre Latenz darstellt. Mit einem historischen Symbol, dem freundlichsten, das es gibt, öffnet sich die Lade als die tiefe, warme Stube, die Kajüte an Land, in der das versprechende Licht des Zuhause brennt. Mit einem Landschaftssymbol, dem stärksten, das es gibt,
öffnet sich die Lade als das offene Meer, mit schweren Abendwolken im Sturm, mit den goldroten Morgenwolken über dem Horizont, wenn die Sonne nicht mehr fern ist und der Tag beginnt, der auch vor dem Abend zu loben ist. Beide Anblicke sind ebenso /(390 die Perspektive der Philosophie, die endlich auf die Hoffnung materialistisch- offen antwortet und der neuen Erde des Totum verschworen ist. Dieses Totum oder Alles steht noch im Prozeß und dessen Tendenz, es nähert sich, mit utopischen Elementen des Endzustands, an der Front des Prozesses, in der Latenz. Die Illusionen und ihre ohnehin nie existent gewesenen Güter sind aus der Lade der Pandora weggeflogen, aber die realiter fundierte Hoffnung, worin der Mensch dem Menschen Mensch und die Welt den Menschen Heimat werden kann, ist geblieben. Also versteht sich die konkrete Antizipation aus dem gleichen Grund so auf Aufklärung (Zerstörung der Illusionen), wie sie sich auf echtes Geheimnis (Daß-rätsel, utopisches Totum) versteht. So auf ein Maximum von Illusionslosigkeit wie auf ein (entscheidungsträchtiges) Maximum von Optimismus. Und deshalb fällt auch kein Moment der begriffenen Hoffnung aus der Theorie-Praxis des total gehaltenen, des nicht künstlich angehaltenen Marxismus heraus. Der mechanische Materialismus, gewiß, er ist wahr als Materialismus, das heißt, als Erklärung der Welt aus sich selbst, aber er ist unwahr, wenn er als bloß mechanischer eine gleichsam dumme, sicher eine halbe und enge Welt lehrt, bewegt ohne Ziel, mit dem alten Kreislauf von Werden und Vergehen, an die Kette immer gleicher Notwendigkeit geschlossen. Das aber ist nicht die Welt, in der die forttreibenden Widersprüche geschehen, der besseres Leben, Menschwerdung, Ding für uns real möglich sind, in der Entwicklung und Entwickelbarkeit nach vorwärts Platz haben. Die wirkliche offene Welt ist die des dialektischen Materialismus, der keine mechanistischen Eierschalen trägt. Von den Idealismen eines Verstands als Erzeuger, eines Geistes als Demiurg, von Pfaffentum und Jenseits-Hypostasen ist er so mächtig weit entfernt wie der mechanische Materialismus, aber auch von der Statik im Einzelnen, vor allem im Ganzen der Welt, dem dieser, zusammen mit dem Idealismus, noch huldigt. Man kann von der Materie nicht gut und groß genug denken; ihre Tage, die ebenso unsere sind, haben weder immer gleiche Zahl und Maß noch gar schon ihr volles Gewicht. Nicht nur Bewegung und ein scheinbar so »Anthropomorphes« wie Widerspruch (mit der Bewegung selber als ersten Widerspruch) sind ihre Daseinsweisen, sondern auch /(391) ein scheinbar so viel mehr »Anthropomorphes« wie Antizipation. Diese ist herausgefühlt und erschlossen durch Hoffnung, abgebildet durch deren objektiv-positiven Tendenz- und Latenzbegriff. Und solch Aurorisches bricht nicht nur menschlich-historisch immer wieder vor, es qualifiziert und umfaßt auch die Landschaft der physischen Welt, der keineswegs nur quantitativen und kreislaufhaften. Es gibt auch darin, gerade darin, Chiffern einer Heimatbildung, in Vermittlung mit der menschlich-historischen, auf Grund des bisher so wenig durchreflektierten Morgenlands: objektiv-reale Möglichkeit. Die Stoffbildungen der Welt - bis hin zur Entfesselung der intensivsten Produktivkraft, des wahrhaften Atomkerns: Existere, Quodditas - sind voll von der Tendenz des Noch-Nicht zum Alles, des Entfremdeten zur Identität, der Umwelt zur vermittelten Heimat. Auch nach und gerade nach dem Bau einer klassenlosen Gesellschaft arbeiten diese Stoffprobleme (Aufgaben) der Bergung, Humanisierung. Die Hoffnung des Ziels aber ist mit falscher Sättigung notwendig uneins, mit revolutionärer Gründlichkeit notwendig eins; - Krummes will gerade werden, Halbes voll.
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DRITTER TEIL (Übergang) WUNSCHBILDER IM SPIEGEL (Auslage, Märchen, Reise, Film Schaubühne)
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SICH SCHÖNER MACHEN, ALS MAN IST
Nicht jeder sieht nach etwas aus. Aber die meisten wollen angenehm auffallen und streben danach. Die äußerlichste Art ist hierbei die leichteste. Der Matte färbt sich, als ob er glühe. Da scheint mancher vor anderen, tut sich hervor. Das Herrichten ist bald gelernt und flüchtig. Die Frau, der Bewerber zeigen sich, wie man zu sagen pflegt, von der besten Seite. Soll heißen von jener, die am flottesten verkäuflich ist. Das Ich wechselt sich in Ware um, in gangbare, auch glänzende. Es sieht, wie andere sich geben, was andere tragen, was in der Auslage liegt, und legt sich selber hinein. Freilich kann kein Mensch aus sich machen, was nicht vorher schon in ihm angefangen hat. Ebenso zieht ihn draußen, an schönen Hüllen, Gebärden und Dingen, nur an, was im eigenen Wünschen lange schon, wenn auch vage, lebt und sich daher gern verführen läßt. Stift, Schminke, fremde Federn helfen dem Traum von sich gleichsam aus der Höhle. Da geht er und posiert, pulvert das bißchen Vorhandene auf oder fälscht es um. Doch eben nicht so, als ob einer sich ganz verfälschen könnte; wenigstens sein Wünschen ist echt. In der gestellten Haltung zeigt, ja verrät es sich. Das Wünschen geht aber nur herkömmlich nach oben, der strebsame junge Mann dieser Art ist mit dem Zustand unzufrieden, worin er sich befindet, aber nicht mit dem von reich und arm überhaupt. So lächelt er zu diesem recht freundlich, so macht er sich heraus, dem Bild gemäß, das er als seines sieht, vielmehr, das man ihn als seines sehen läßt. Mehr scheinen als sein, das ist alles, was ihm derart gestattet wird, im kleinbürgerlichen Drang, als besserer Herr zu gelten. Mehr sein als scheinen aber, dies Umgekehrte wird durch kein Herrichten nachgemacht; weshalb es nirgends so viel Kitsch gibt wie in der Schicht, die sich selber als unecht erträgt. Das Unsere als lichtecht, es wird außer dem Schlips noch wenig getragen. /(396) 24
WAS EINEM HEUTE DER SPIEGEL ERZÄHLT
ich durfte dienen. Spruch Schlank sein Keinen Blick auf sich werfen, das ist etwas. Aber für den kleinen angestellten Mann heißt es gewöhnlich nur, zu Ende zu sein. Ist er das noch nicht, und will er nicht dazu kommen, dann muß sich der Bewerber als adrett bewußt sein und als so bekleidet. Zum Ankleiden gehört ein Spiegel, mit den Augen seines Herrn sieht sich der Bedrohte an. Mit den Augen, wie der Boß ihn wünscht, wenn er auf seine Angestellten sich verlassen will. Zwar glaubt der Gespiegelte sich zu sehen, wie er sich selber zu sehen, selber zu sein wünscht, ja, auch der notgedrungen Gespiegelte glaubt das, kurz vor seinem Auftritt unter Menschen, im Geschäft. Das
Gesicht legt sich nun so glatt wie möglich, der Angestellte will so schlank, so faltenlos sein wie sein Kleid und hält sich danach. Er setzt sich damit in Vorteil, aber in jenen, den die wirklichen Herrn von dem kleinen Mann haben. Also wirft ihn das Glas nicht einmal zurück, wie er sich selber wünscht, sondern eben wie er gewünscht wird. Dergleichen ist genormt gleich den Handschuhen im Laden, gleich dem Ladenlächeln des Verkäufers, das zum allgemeinen und vorgeschriebenen geworden ist. Unter Angst und und Öde lächeln, das ist jetzt das amerikanische Zeichen der Herren, die keine sind. Gewollt ist damit, sie sollen sich gleichen wie ein Ei dem anderen, und lauter Hühner kriechen aus. Stark im Ducken Wer sich zum Kauf anbietet, hat zu gefallen. Das Mädchen, wie es sein soll, der junge Mann, wie er sich halten soll, sie werden deshalb auch draußen vorgeführt. Wie die herrschende Schicht das braucht, bei Strafe ihres Untergangs. Das Weibliche an der angestellten Person besteht aus Rosa, das Männliche aus Wachs (muß aber patent sein). Beide ganz dabeizuhalten, dazu also hängt ein Spiegel auch auf der Straße, in jeder Öffentlichkeit, es hängen ihrer viele, auf Schritt und Tritt. Die Auslage spiegelt /(397) und vermehrt dadurch, was im Käufer vorgehen sollte, was er kleinbürgerlich sein möchte, damit er kauft. Der übliche Lese- und Filmstoff des Westens liefert viele solche Bilder des erwünschten Wohlverhaltens, des fruchtlosen Scheins. Betrügerische Wegweiser sind hier aufgestellt: zum tanzenden Arbeitstier, zur Reise des Angeketteten, zur Glanzehe des Verschnittenen. Alles in der Art Lüge, die süß und wiederum unmöglich genug sein muß, um zu berauschen und doch im Geschirr zu halten. Ein wirklicher Ausweg aus der Öde scheint der Sport; echte Wünsche fühlen sich hier im Start; Wettbewerb, für kleine Leute fast ausgestorben, hat Zuflucht. Aber das Feld ist schmal, das Vorwärtskommen Spielform, der Ernst bleibt unbewegt. Der Schwimmer verbessert Rekorde nur im Wasser, der Boß aber im Profit. Freilich: ganz andere Spitzenleistungen kämen heraus, würde der Erste im Dulden, der Starke im Ducken, der Champion im Herunterschlucken, in guter Miene zum bösen Spiel ausgezeichnet. Hier sind die unbekannten Sieger jenes Lebens, das den Menschen im kapitalistischen Lebensweg noch wirklich geboten wird, ohne Lüge. Der Boxer steht im Ring, gibt Saures, aber der beste Nehmer steht vor den Seilen, als Zuschauer. Ist der wahre Meister im Empfang von Kinnbaken, im Aufstehen, wenn die Glocke tönt. So vor allem gefällt er denen, die das getäuschte Stehaufmännchen beider Stange halten. 25
DAS NEUE KLEID, DIE BELEUCHTETE AUSLAGE
Ein samtener Kragen putzt. Spruch Nun kann keiner aus seiner Haut heraus. Aber leicht in eine neue hinein, daher eben ist alles Herrichten Ankleiden. Das frische Hemd liegt ohnehin morgens ausgebreitet wie der junge Tag, ein neuer Mantel deckt dem entlassenen Sträfling alles Vergangene zu. Das wählbare Kleid unterscheidet den Menschen vom Tier, und der Schmuck ist noch älter als dies Kleid, er teilt sich ihm bis heute heraushebend mit. Gar Frauen ziehen mit dem Gewand ein neues Stück ihrer selbst an. Sie ist eine andere im /(398) anderen Kleid, im feinen Schaum des weiblichen Putzes. Der Wunsch, sich vielfach zu versuchen, beginnt aber auch bei den meisten übrigen Menschen mit dem ebenso makellosen wie variablen Schein, den ein Schneider
spenden kann. Daher ist es alten oder seßhaften Leuten bequem, immer auf gleiche Art angezogen zu sein. Andere fühlen sich sofort ohne Falte, wenn die Hose keine wirft. Gut aufgebaut Danach hinaus auf die belebte Straße, selber müßig, schauend. Licht kommt zwischen den Bäumen von den hellen Häusern her, von dem Platz am Ende, und ruft. Was aber hier ruft, ist die glänzend beleuchtete Ware hinter Glas, die Kunden sucht. Zum Schnittmuster kommt also die Auslage hinzu, um elegantes Wunschleben zu erregen. Die Auslage ist erst mit dem offenen kapitalistischen Markt entstanden, und sie trägt, bezeichnenderweise am meisten im Westen, immer noch die Eigenschaft: Bedürfnisse zu erregen, vorab solche mit »persönlicher Note«. Zum Zweck, daß dadurch der Herzenswunsch des Geschäftsmanns selber erfüllt werde: Profit zu machen. Die gute Auslage muß darum suggestiv sein, setzt allemal Teile fürs Ganze und die Teile selbst wieder als bloß andeutende, so wird der Aufenthalt vor Schaufenstern unruhig gemacht. Hier der Feinkostladen, mit Schüsseln, die man nicht umhin kann, appetitlich zu nennen. Kaffee, Tee, Schnäpse stehen am besten vor Delfter Kacheln, auf rotem Lack; holländisch-indische Luft lullt den Käufer ein. Hier ein Porzellangeschäft: in der Mitte der gedeckte Tisch, blütenweiß, kristallen, kerzenbeschienen, auf Gäste wartend, die so vornehm sind wie er selber. Hier eine Damenkonfektion höherer Ordnung: unwahrscheinlich schlank geraffte Kostüme auf der Höhe der Zeit wie wenig anderes auf der Welt und doch eine Art Jenseits: so schreiten keine ird'schen Weiber. Hier ein Schneidersalon für Generaldirektoren und solche, die ihnen ähnlich werden wollen: unnachahmlich hat sich der Ulster über den Chippendalestuhl geworfen, ein weicher Hut wartet daneben, schweinslederne Handschuhe, Schuhe wie aus dem Einband eines altflorentinischen Buchs. Der Wanderer jedoch und wer all /(399) dergleichen, wie die meisten, nicht kaufen kann, wird bei noch so erregter Unruhe der Besitzlust doch gerade durch das allzu Hohe nicht aufsässig gemacht. Wem es aber nach mehr gemütlichem Glück zumute sein sollte, der findet es hinter den Scheiben des Möbelgeschäfts. Speisezimmer, Schlafzimmer, Studio, Salon - alles ist vorhanden wie ein gemachtes Bett, und der junge Beamte, der es nicht mehr nötig hat, im Park zu schwärmen, braucht die Braut nur hineinzuwerfen. Er sieht hinter den Scheiben, in Daunen und Lachsfarbe, den legitimsten, aber auch den den wenigsten erfüllbaren bürgerlichen Wunschtraum: das Traumhaus zu zweit von innen. Der Traum vom schönen Haus füllt sich mit den ausgestellten Möbeln, die selber über ihre Verhältnisse leben, mit Fabrikware, die immer wieder Maskerade macht: odaliskenhaft der breite Sessel, kalifornisch der Barschrank, faustisch das Studio. An jeder Ecke formt so das Schaufenster Wunschträume, um den reichen Leuten, die kein Geld haben, es aus der Tasche zu ziehen. Und keiner versteht sich besser auf diese Art Träume als der Dekorateur, der ihre Auslagen ordnet. Er stellt nicht nur Waren aus, sondern das Lockbild, das zwischen Mensch und Ware entsteht; er baut aus Glück und Glas. Und der Passant baut an diesem kapitalistischen Lockbild, wie es dicht neben Slums oder trostlosen Spießerstraßen besteht, diese voraussetzt und vergessen lassen soll, rein menschlich weiter. Unruhig, gewiß, jedoch nicht aufsässig gemacht (denn der Zauber hinter Glas zeigt ja keinen beneidbar sichtbaren Besitzer) bejaht der Kleinbürger gerade vor den ihm unerschwinglichen Auslagen den eleganten und lobenswerten Anblick, zu dem die Herren ihr Leben formen. Es muß die Frau für diese Blumen, für dies Parfüm, es muß des Lebens
Überfluß geben; aber wo ihn finden? Um Weihnachten, wo man nicht sich selbst, sondern andere beschenkt, wird die weltstädtische Ladenstraße geradezu fromm. Doppelt und dreifach glüht die Lichtreklame, die Wünsche hinauf und herunter, wird blau, gelb, rot, grün, gießt Tränke aus, wellt als Tabakrauch, macht aus der Ware allenthalben ein sogenanntes Christkind. Ein putziges Bild, so wie die überfüllten Schaufenster ein täuschendes sind. Den Kaffee, der ins Meer geschüttet wird, braucht man nicht erst auszustellen. /(400)
Licht der Reklame
Stets aber braucht die Ware noch einen Zettel dazu, der sie lobt. Der sie im Wettbewerb besonders ansprechend macht und sie nicht nur im Schaufenster glänzen läßt. Die gezeichnete und gesprochene Auslage, die große Glocke ihrer heißt Reklame. Sie besonders verwandelt den Menschen ins Heiligste, was es neben Eigentum gibt, in den Kunden. Auch frühere Zeiten, andere Länder als kapitalistische hatten eine Art Reklame, doch sie war mehr zufriedenes Selbstlob als Mittel im Erwerbskampf. Sie übersprang, sie ironisierte sogar die Ware; so wie sich heute noch ein Kohlengeschäft, fast höhnisch, als »Orkus« anpreisen mag. Bereits im alten Peking gab es folgende Firmenschilder: über einem Korbgeschäft »Die zehn Tugenden«; über einem Opiumladen »Die dreifache Rechtschaffenheit«; über einer Weinhandlung «Nachbarschaft der Hauptschönheit« ; über einem Holzkohlenladen »Springbrunnen aller Schönheit«; über einem Steinkohlenladen »Die himmlische Stickerei«; über einem Metzgergeschäft »Hammelladen des Morgenzwielichts«. Doch das sind Gedichte, nicht Kassenmagnete, wenn sie auch als Lockung und sozusagen Übertreibung lange der kapitalistischen Reklame vorhergehen. Noch schöner als der Dekorateur spielt nun der Reklamefachmann auf dem Klavier der Wunschträume, sie im Gereizten unwiderstehlich machend, bis ein Kunde aus ihnen reift. Es entstehen nun atlantische Schlager wie folgende: Frühjahrshüte sind kein Kostenpunkt mehr heutzutage; Call for Philipp Morris; Purity and a big bottle, that's Pepsicola; Modern design is modern design; Buick, der Wagen des erfolgreichen Geschäftsmanns. Erwerb von Damenstrümpfen ruft, nach der Versicherung der New York Times, förmliche Neugeburt hervor: »Van Raalte covers you with Leg Glory from sunrise till dark.« Sparsamkeit, Wunsch zum letzten Schrei und Morgenrot haben ein Rendezvous auch für Herren und in billigerer Preislage: «Howard Clothes, styled with an eye for the world of tomorrow.« Die Reklame macht aus der Ware, auch aus der beiläufigsten, einen Zauber, worin alles und jedes gelöst ist, wenn man sie nur kauft. Die Dame der Zeichnung, die Kölnisch Wasser auf die Schläfen tupft, die von Herren eine Schweizer Scho- /(401) kolade entgegennimmt, ist eben dadurch die Glücklichgewordene schlechthin. Schaufenster und Reklame sind kapitalistisch ausschließlich Leimruten für die angelockten Traumvögel. Die so glänzenden und angepriesenen Waren werden, wie Marx sagt, der Köder, womit man das Wesen des anderen, sein Geld, an sich locken und jedes wirkliche und mögliche Bedürfnis in eine Schwachheit verwandeln will. Das alles vermögen gemalte, gut gesprochene Waren, eine Parade von Christmas-, von Easter-Values durch das ganze Jahr. So werden die Angestellten aufgepulvert, ohne daß sie explodieren, und das viele Licht der mehreren und doch allesamt verrotteten Berlin W dient nur dazu, die Dunkelheit zu vermehren. 26
SCHÖNE MASKE, KUKLUXKLAN, DIE BUNTEN MAGAZINE
Ja, ich hab die Schönheit von Mama, doch das Geld von Papa. Jazzlied Noch stärker lockt die Sucht, sich zu verwandeln. Der Mensch zieht dann nicht nur ein neues Gewand an, sondern wird darin unkenntlich. Das Mittel dazu ist nicht das Kleid, sondern die Verkleidung. Es entsteht der Wunsch zur ganz und gar nicht alltäglichen Maske. Die Maske ist zunächst Larve, als solche verbirgt, ja verneint sie das bisherige, das im bisherigen Leben dargestellte Ich. Die Hausfrau, der Kaufmann verschwinden, an die Stelle tritt ein buntes Bild ihrer selbst. Das wird nun auf den Leib aufgetragen, damit bewirtet sich der Träger. Es geschieht jene Verkleidung, die in vielen Fällen gar keine ist, sondern eine kleine Erfüllung. Die Maske ermöglicht dem Bürger nicht nur, so auszusehen, wie er auf Festen zu sein und genommen zu werden wünscht, sie erlaubt ihm auch, recht ausgelassen zu handeln. Ja, sie sitzt ihm, wenn er als Verbrecher, Henker oder Pascha verkleidet ist, oft besser am Leib als sein alltäglicher, sozusagen aufgezwungener Rock. Er wirft damit einen Traum über sich, den Traum vom bunten oder großen Tier. Und man begreift, /(402) welche Rolle der Vermummte im Leben spielen möchte, auch könnte, wenn er nicht verhindert wäre. Er ist als Henker, Lustmörder, Prinz gar nicht nur maskiert. Der gut Verkleidete hat sich entkleidet, so sieht er inwendig aus. Die krummen Wege Seltener macht es sich, auch draußen ein buntes Tier zu sein. Es überrascht, daß, um reich hervorzustechen, nicht noch mehr Verbrechen geschehen. Alle Verbrecher, auch wenn sie aus der Hefe kommen, sind kleinbürgerlich, nur im Wohlstand lebt sich's angenehm, das wollen sie. Das Verbrechen, so scheint es, macht über Nacht reich, wenn man die Nacht so zu benutzen versteht wie der besitzende Herr seinen Tag. Zweifellos besteht für arme, also verhinderte Ausbeuter ein beständiger Reiz, in die Unterwelt zu gehen, in dieses ihr Schlacht- und Gauklerfest. Dem Reiz des Revolvers wird im Kleinbürgertum nur deshalb verhältnismäßig selten nachgegeben, und er bleibt geplant, weil seine Folge sehr gute Nerven verlangt, auch viele schwarze Freitage hat. So sagt ein alter Spruch, rechtschaffen sei der, welcher von den Verbrechen nur träumt, welche die anderen tun; der Hochstapler ist aber auch außerhalb des Maskenballs dasjenige, was er zu sein wünscht, ein Prinz. Ja, das Gauklerfest hält sich als Berufskleidung oft auch bei kapitaleren Verbrechern: die krumme Straße soll zugleich die farbig-unheimliche sein und bleiben, das Verbrechen selber liebt und hält die anarchische Romantik, die der Kleinbürger darüber legt. So wird verwahrloste Jugend durch das Gangsterbild, das Blutwunschbild verführt; es gibt aber auch wirklich spaßhafte Raubmörder, vor allem Lustmörder, die ihr Gewerbe zu allem übrigen in einer Art Traumspiel, vor allem mit Rächerwünschen, agieren und so komödiantisch vermehren. Sie narren die Polizei in Briefen, die zur Entdeckung führen; die Lust an der Rolle, an der endlich nicht bloß gespielten, ist zu groß. Das als solche Rolle Ersehnte und Gemeinte wird durch Zeugnisse belegt; sie sind überdies auf fürchterliche Art dichterisch. So ein Brief des neunzehnfachen Düsseldorfer Lustmörders Kürten, um 1930, an die Polizei; triefend von Blutdurst, grinsendem, sogar moralisch /(403) drapiertem Leid und schmierigem, doch sehr sich auskostendem Verbrecherstil. Der Lustmörder versteht sich auf doppelte Schaurigkeit und schreibt: »Sie interessieren sich wohl für mein Tun. Da mein Anfang in einer anderen Gegend liegt, dürfte Nachfolgendes Ihre besondere
Aufmerksamkeit verdienen. In Langenfeld (nördlich von Köln) war der Anfang und, wenn meine Stunde dafür gut ist, dann auch das Ende meiner Not. Dort lebt ein Wesen, das im moralischen Leben und auch im Denken kaum einem Menschenkinde zu vergleichen ist. Daß die mir nicht gehören kann, hat mich zu all dem furchtbaren Tun getrieben. Die muß noch sterben, und wenn es auch mein Leben kostet, vergiften habe ich sie wollen, doch der gänzlich reine Körper hat das Gift überwunden. Jetzt habe ich bessere Zeit, die Meine muß abends von Hilden nach Hause, die Zeichnung des Wegs liegt bei. Sie ist mein nächstes Opfer« - und ein späterer Brief schließt mit Versen wie aus dem Abort der Schlaraffia, doch ihr Inhalt stimmte: Am Fuß von Pappendelle An der angekreuzten Stelle, Wo kein Unkraut wächst, Und die mit einem Stein bezeichnet ist, Liegt eine Leiche anderthalb Meter tief. Die Briefe steckten in schwarzgerändertem Trauerkuvert; der Selbstgenuß am ausgeführten, trotzdem noch drapierten Mord ist groß. Ein Teil Nazi meldete sich in alldem an, er nahm später viel spaßhafte Raubmörder, moralische Lustmörder auf. Die krummen Wege sind derart besonders genau mit grausamen Wunschbildern besetzt, einschließlich denen des Hochgerichts am Ende, mit dessen unausdenklicher Grausamkeit sich der christliche Bürger jahrhundertelang das Unglück versüßte, nicht selber rädern, vierteilen, brennen zu dürfen. Erfolg durch Schrecken Immer mehrere dergleichen drängten dazu, auch im Leben vermummt zu sein. Fratze und Kapuze sind dem Möchtegern nicht /(404) nur auf Bällen, sie sind auch untertags erwünscht. Die Maske hat sich nicht nur bei den altmodischen Privatverbrechern aus dem Kostümfest herausbewegt, sie wurde faschistischer Ernst. Öffentlicher, politisch gemachter, es kam die Nacht der langen Messer und ihr Tag. «Wolfsgebiß« und «Kupeeschrecken«, Scherzartikel, die sich Handlungsreisende anlegten, um Mitreisende zu belustigen, wurden Parteiabzeichen. Eben hatte Papa im Kostümfest des Vereins Frohsinn noch den Richter Lynch dargestellt, und er wurde einstimmig zur gelungensten Maske des Abends erklärt. Nun war er das gleiche auf der Straße, aber wirklich und tadellos; und die Juden mit abgeschnittenen Hosen und mit launigen Tafeln um den Hals, die Judenliebchen mit geschorenen Köpfen im Zug lösten Lachsalven aus, bevor sie andere Salven auslösten. »Regression« brach aus, Apachen, Totenköpfe, Ritter vom feurigen Nachthemd belebten die Straße, Polizei machte sie doppelt unsicher. Alle Wünsche kamen an, die der Kleinbürger im Karneval markiert hatte, jedes Feurio und Mordio, wie sehr erst die Wünsche derer, die als Fememörder, Kukluxer, Kapuzenmänner und dergleichen falsche Revolte in die echte Barbarei getrieben haben. Der faschistische Scharlatan griff zur Werwolfsmaske, er magisierte mit halb-irren Namen, mit Szenerien aus dem Schauerroman, wo dieser in den Kitsch übergeht, aber auch in die gut gebrauchte, nützlich gebaute Schizophrenie des Spießers. Also der Schlaraffia des Ernstfalls, auch sie kommt aus dem goldenen Westen. Tonangebend bleibt hier der amerikanische Kukluxklan, die reaktionäre Untergrundbewegung der amerikanischen Südstaaten nach dem Bürgerkrieg, dann erneut nach dem ersten Weltkrieg. Die Bande trug Dominos mit Kapuze, der Stoff
war dunkel und mit weißen Zeichen benäht, die im Fackellicht gespenstisch wirken sollten. Es gab Zeichen in Gestalt eines Bowiemessers, es gab unter ihnen Kugeln, Halbmonde, Kreuze, Schlangen, Sterne, Frösche, Räder, Herzen, Scheren, Vögel, Rinder. Der Klan selbst nannte sich Invisible Empire; das Reich hat einen »Kaiserlichen Zauberer« an der Spitze, ihm folgen der «Große Drache«, der »Große Titan«, der »Große Zyklop«. Es gibt »Klan-Wölfe« und »Klan-Adler«, die Namen der Gemeinen stimmen mit den Figuren auf ihren Dominos überein; auf den Bergen der Versammlung /(405) aber brennt ein Feuerkreuz. Extremes Anderssein wird mit dieser Mummerei vorgemacht, barbarisch buntes, wodurch der blutrünstige Babbit aus sich Tabu macht. Im Anschluß an Indianergeschichten und Totems, auch an mittelalterliche Feme, überhaupt ans ausschließlich finstere Mittelalter, wie das amerikanische Magazin es sich vorstellt. Die Masken des Klans waren so die erste faschistische Uniform, und seine Aufrufe kolorierten mit ihren Wunschbildern als erste die »Revolution« von rechts, die Lynchrevolution. Lehrreich hierzu der Start der Bewegung, der vielleicht noch einmal erscheinende, der Aufruf des Arkansas-Klan April 1868, wie folgt: KKK Special Order No. 2 Spirit Brothers; Shadows of Martyss; Phantoms from gory fields; Followers of Brutus!!! Rally, rally, rally. When shadows gather, moons grow dim an stars tremble, glide to the Council Hall und wash your hands in tyrant's blood; and gaze upon the list of condemned traitors.The time has arrived. Blood must flow. The true must be saved. Work in darkness Bury in waters Make no sound Trust not the air Strike high and sure Vengeance! Vengeance! Vengeance! Das klingt ohne weiteres wie des Lustmörders Kürten zitierte Verbrechersprache, doch mit revolutionärer Maskerade. In der wirklichen Primitive drängte der Maskenträger durch seine Vermummung sich in das Wesen ein, das durch die Maske dargestellt ist. Der Wilde mit Löwenmaske wird zum Löwengott selbst, er glaubt, als dieser handeln zu können. Noch der tanzende Derwisch, wenn er sich um seine Achse dreht, fühlt sich als Himmelskörper, der sich um die Sonne dreht; dadurch zieht /(406) er in der Einbildung die Kräfte der Sonne auf sich herab. Die zivilisierte Barbarei aber gebraucht die Maske, dieses Falls die des Menschenfressers, gar nicht nur, um an diesem ihrem Wunschidol noch mehr als ohnehin zu partizipieren, sondern vor allem auch, um Entsetzen zu erregen, um durch Schreck zu lähmen. Und die Maske saß wie angegossen, als das Großkapital sie rief, als wirklich »Monde verblichen und Sterne zitterten« und die Kristallnacht auf die Straße kam. Erfolgsbücher, Geschichten aus Syrup Doch diese Lust, sich zu verwandeln, muß auch in freundlichere Felder schweifen
können. Denn hinter all ihren verbrecherischen Bildern steht eben ein kleinbürgerlich gelecktes, zu ihm flieht der wilde Babbit zuletzt. Es findet sich sowohl prosaisch, in den Erfolgsbüchern, wie in der sozusagen poetisch behandelten Süßigkeit, in der Süßigkeit mit Handlung, kurz in der Magazingeschichte. Die Erfolgsbücher sind solche, die mit und ohne Ellbogen den Weg zum gemachten Glück versprechen. Das können bereits kosmetische sein, sie sind wie jener französische Koch, der aus einem Handschuh ein Beefsteak zu machen verstand. Ihnen schließen sich die Ratgeber im Lebenskampf an, für die verhinderte Schönheitskönigin, für den Glückspilz in spe. Abbildungen (gute Manieren lehrend) unterstützen die Darlegung, zuletzt wird dem Angestellten im Großtableau sein Ziel gezeigt: er sitzt am Eßtisch zwischen der Familie des Chefs, neben ihm die halb gewonnene Tochter; Monogamie, mit Einheirat übersetzt, schließt das Erfolgsbuch ab. Am verbreitetsten blüht diese Gattung in Nordamerika; how to win friends and to influence people, gerade das gehört zum Geschäft. Die Rubriken eines «Popular Guide to desirable living« lauten: «How to live your life; The secrets of health; Love and marriage; How to make money; The way to charm; Success with your children; How to sharpen your memory; Unmarried, but -; Never too old to love; How to make people to like you; How to talk about books, theatre, music, arts.« Kurz, hier ist ein wahrer Pharus im kleinbürgerlichen Wunschmeer, und er führt zum perfekten Babbit, das ist, zum Wunschziel des Babbits mit Kredit. Soviel /(407) über rationale Erfolgskurse und ihren Siegerpreis; es gibt aber auch, was am wenigsten erstaunt, irrationale. Sie erwecken »die geheimen Kräfte« im Menschen, sie stellen fest: «Die intensive Inanspruchnahme des heutigen Erwerbslebens bedingt bei vielen Herren eine vorzeitige Abnahme ihrer besten Kraft«, sie machen magnetisch. Sie beheben Schüchternheit im Verkehr mit dem anderen Geschlecht, bilden Salonlöwen und den Mann, dem Damen das Ruder ihres Lebensschiffleins gern übergeben. Zu Erfolgsbüchern gehören sogar die verschiedenen Ratgeber sexueller Gelehrsamkeit, soweit sie nicht purer Ersatz oder für bloße Voyeurs da sind. Der spießbürgerliche Gipfel wurde in van de Veldes »Vollkommener Ehe« erreicht, dem ehrbaren Zotenbuch, dem pedantischen Wegweiser auf dem Umweg zur Lust. Der Privatdruck für Weinhändler, zu dem längst schon die ars amandi geworden, wird nun Muttermilch mit Whisky; zugleich entsteht Ersatz für den klugen, ratgebenden Beichtvater von ehedem. Aber die Liebe vergeht und die Versicherungsgesellschaft bleibt; ihr ist deshalb jedes Erfolgsbuch zuletzt gewidmet oder den Instinkten, die zu ihr hinführen. Das Traumbuch des vollendeten Beischlafs versinkt vor dem bedeutend amerikanischeren der well-to-do-Bilanz, des Schäfleins im Trocknen. Ganz am Ende, wo sonst Torschlußpanik droht, erscheint im Versicherungsprospekt daher ein vornehm zurückgezogenes Haus, mit Wald und See und dem freundlichen Briefträger am Gitter, der dem rosenzüchtenden Hausherrn und der schlummernden Gemahlin gerade die Versicherungsrente bringt. Das alles verspricht der Führer zum Leben und fällt aus der Prosa völlig in Poesie, nämlich in das Rosarot, das es für keinen Möchtegern-Kapitalisten, der zu einem Erfolgsbuch greifen muß, mehr gibt. Werden alle anspruchsvoll Strebenden enttäuscht, so nicht die, welche ohne Anspruch lesen. Ihnen bietet sich die Magazingeschichte an, sie schummert deutsch aus der Zeit her, wo sie sich allemal kriegen, sie lügt schlechthin amerikanisch. Darin werden vorgetäuschte Lebensläufe in aufsteigender Linie besichtigt, empor zu Geld und Glanz, auf dem Papier. Und der Pfiff, wodurch der Aufstieg gemacht wird, ist immer derselbe, er ist, wie Upton Sinclair einmal sagte, der des unmöglichen /(408) Zufalls. Dienstmädchen heiraten erfolgreiche Goldgräber oder Männer mit einem goldenen Herzen, die bald darauf ein Petroleumlager entdecken. Arme
Stenotypistinnen, die sich jede Kalorie für Seidenstrümpfe absparen, begegnen einem Angestellten, Liebe entspinnt sich, der Liebhaber spendet bescheidene Ausflüge, die ihm Gelegenheit geben, das edle Wesen seiner Geliebten zu entdecken, zuletzt aber entdeckt er ihr sich selbst, nämlich als Chef in eigener Person, und führt die Braut heim sounds like magic, doesn't it? Oder ein so armer wie hübscher Bursche hält ein durchgegangenes Pferd auf, lernt auf diese Weise die reiche Erbin kennen, die dann seine Frau wird - ein goldenes Bett der freien Unternehmung mitten im Monopolkapital. Die Magazingeschichte zeigt, mit unmöglichem Zufall, lauter solch private Umwälzung, nämlich hinauf auf die Höhen der Gesellschaft. Sie vermittelt den Zaunblick, den falsch hoffnungsvollen, in die reichsten Kreise, sie ist, besonders in Amerika, das millionenfach verbreitete Fusel-Epos vom großen Los. Das alles, dieses Falls im Spießer-Deutschland, durchsetzt mit Gemüt, aus der Plüschzeit des vorigen, keineswegs ausgestorbenen Jahrhunderts: »Ich weiß eine Bank, wo der wilde Thymian blüht.« Oder immer noch a' la Marlitt: »Und dann ging's kling, kling, mit fröhlichem Schall in die Winterpracht hinein, wie Glücksgeläute klang's in den Herzen der Jugend wider, als künde es nur Frohes und Schönes fürs ganze Leben.« Oder romantisch solid: »Wie mollig es im Gutshaus war! In allen unteren Zimmern brannten die farbig verhüllten Lampen, denn früher noch als gewöhnlich war heute bei dem Schneetreiben die Dämmerung hereingebrochen. Und in allen Öfen knisterte die von kernigen Holzscheiten entfachte Glut, und selbst draußen im großen Vorflur strömte ein großer altmodischer Kachelofen Wärme aus.« Oder romantisch-dämonisch, wieder hinauf, wenn auch mit gleich kerniger Prosa, zum aristokratischen Hochland des Spießer-Respekts, der Verklärung: »Diese alten Schlösser, düster und schweigsam von außen, feenhaft im Innern - mit ihren prunkvollen Brokatwänden, ihren Portieren aus schweren Stoffen. Welch fremdartiges und phantastisches Schauspiel schlägt uns da entgegen! An jeder Tür lauert die Intrige, aber längs der halbdunklen Korridore knüpft die Liebe ihr zartes Band.« Die /(409) Magazingeschichte bleibt derart die ergriffenste in ihren feudalen, die wundergläubigste in ihren kapitalistischen Bildern. Tiefen Frieden mit der Oberschicht atmet sie aus, will ihn lehren, verbreiten, intakt erhalten. Das alles, was den Erfolgstraum angeht, mit ständig offenen Armen des happy-end, eben des kapitalistisch-feudalen; ein anderes Ende gibt es nicht, kann, darf, wird nicht sein. Das Parasitenleben der Oberschicht wird dadurch dargestellt als hoch in Ordnung, Reichtum ist Gnade. Der arme Teufel rebelliert nicht, er fliegt von selber der reichen Erbin in den Schoß. Dies Wohlgefällige, dies Unmögliche, doch keine Spielregel Störende unterscheidet allein schon den Glückskitsch der Magazingeschichte von der weit weniger passiven, daher edlen Spießern verhaßten Kolportage. Insgesamt geschieht in den Spiegeln dieses geschriebenen Kitschtraums nichts als Zufall, und der Segen, den er dem Glückspilz bringt, mehrt im ganzen atlantischen Zauber die billigen Don Quichotes der sinnlosen Hoffnung. 27
BESSERE LUFTSCHLÖSSER IN JAHRMARKT UND ZIRKUS, IN MÄRCHEN UND KOLPORTAGE
Entchen, Entchen, da steht Gretel und Hänsel. Kein Steg und keine Brücke, nimm uns auf deinen weißenRücken.
Hänsel und Gretel Dann gingen wir schlafen. Ich schlief aber nicht, sondern ich wachte. Ich sann auf Hilfe. Ich rang nach einem Entschloß. Das Buch, in dem ich gelesen hatte, führte den Titel: »Die Räuberhöhle an der Sierra Morena oder der Engel aller Bedrängten.« Als Vater nach Hause gekommen und dann eingeschlafen war, stieg ich aus dem Bett, schlich mich aus der Kammer und zog mich an. Dann schrieb ich einen Zettel: »Ihr sollt Euch nicht die Hände blutig arbeiten, ich gehe nach Spanien; ich hole Hilfe.« Diesen Zettel legte ich auf den Tisch, steckt ein Stückchen trockenes Brot in die Tasche, dazu einige Groschen von meinem Kegelgeld, stieg die Treppe hinab, öffnete /(410) Die Tür, atmete da noch einmal tief und schluchzend auf, aber leise, leise, damit ja niemand es höre, und ging dann gedämpften Schritts den Marktplatz hinab und die Niedergasse hinaus, den Lungwitzer Weg, der über Lichten-Stein und Zwickau führt, nach Spanien zu, dem Land der edlen Räuber, der Helfer aus der Not. Karl May, Mein Leben und Streben Wenn Seemannsgarn zu guten Seemaunsweisen Von Glut und Kälte, Stürmen und Passaten, Von Schiffen, Inseln, Abenteuerweisen, Von Ausgesetzten, Schätzen und Piraten, Kurz all der Zauber alter Heldentaten, Wie er von je mein ganzes Herz bezwungen, Berichtet nach der Weise der Janmaaten, Auch euch noch reizt, ihr neunmalklugen Jungen. So lauscht mir denn! - Doch war ich zu vermessen, Will keine Sehnsucht sich mehr offenbaren, Seid ihr zu nüchtern, habt wohl gar vergessen, Wer Kingston, Ballantyne und Cooper waren, Für die ich einst geschwärmt in jungen Jahren: So sei's. Dann will ich schweigend und bezwungen Mit meinen Helden in die Grube fahren, Die sie und ihre Werke längst verschlungen. Stevenson, Die Schatzinsel, Widmungsgedicht an den zögernden Käufer Durch das planlose Umherstreifen, durch die planlosen Streifzüge der Phantasie wird nicht selten das Bild aufgejagt, das die planvolle Philosophie in ihrer wohlgeordneten Haushaltung gebrauchen kann. Licbtenberg Gegen Abend mag am besten erzählt werden. Das gleichgültig Nahe verschwindet, Fernes, das besser und näher scheint, rückt heran. Es war einmal: das bedeutet märchenhaft nicht nur ein Vergangenes, sondern ein bunteres oder leichteres Anderswo. Und die dort Glücklichgewordenen leben, wenn sie nicht gestorben sind, heute noch. Auch im Märchen ist Leid, doch es wendet sich, und zwar auf immer. Das sanfte, übel gehaltene Aschenbrödel geht zum Bäumchen auf seiner Mutter Grab, Bäumchen rüttel dich und schüttel dich, ein Kleid fällt herab, so prächtig und
glänzend, wie Aschenbrödel noch keines gehabt, und die Pantoffel sind ganz golden. Das Märchen wird zuletzt immer golden, genug Glück ist da. Gerade die kleinen /(411) Helden und Armen gelangen hier dorthin, wo das Leben gut geworden ist. Mut des Klugen Nicht alle sind so sanft, diese Güte nur abzuwarten. Sie ziehen aus, ihr Glück zu finden, klug gegen roh. Mut und List sind ihr Schild, ihr Spieß der Verstand. Denn Mut allein hülfe den Schwachen wenig gegen die dicken Herren, er würfe ihnen nicht den Turm zu Boden. List des Verstandes ist dem Schwachen sein menschlicher Teil. So phantastisch das Märchen ist, so ist es doch, in der Überwindung der Schwierigkeiten, immer klug. Auch reüssieren Mut und List im Märchen ganz anders als im Leben, und nicht nur das: es sind, wie Lenin sagt, allemal die schon vorhandenen revolutionären Elemente, welche hier über die gegebenen Stränge fabeln. Als der Bauer noch in Leibeigenschaft lag, eroberte so der arme Märchenjunge des Königs Tochter. Als die gebildete Christenheit vor Hexen und Teufeln zitterte, betrog der Märchensoldat Hexen und Teufel von Anfang bis Ende (nur das Märchen pointiert den »dummen Teufel«). Gesucht und gespiegelt wird das goldene Zeitalter, wo bis ganz hinten ins Paradies hineinzusehen war. Aber das Märchen läßt sich von den heutigen Paradiesbesitzern nichts vormachen; so ist es aufsässig, gebranntes Kind und helle. Man kann auf einer Bohnenranke in den Himmel klettern und sieht dort, wie die Engel Geld mahlen. Im Märchen »Der Gevatter Tod« bietet sich einem armen Mann der liebe Gott selbst als Gevatter an, aber der arme Mann antwortet: «Ich begehre dich nicht zum Gevatter, denn du gibst dem Reichen und läßt den Armen hungern.« Hier überall, in Mut wie Nüchternheit wie Hoffnung, ist ein Stück Aufklärung, lange bevor es diese gab. Das tapfere Schneiderlein in Grimms Märchen, ein Fliegentöter von Haus aus, zieht in die Welt, weil es meint, die Werkstätte sei zu klein für seine Tapferkeit. Es begegnet einem Riesen, der Riese nimmt einen Stein in die Hand und drückt ihn zusammen, daß das Wasser heraustropft, wirft einen anderen Stein so hoch, daß man ihn kaum noch sehen kann. Doch der Schneider übertrifft den Riesen, indem er statt eines Steins einen Käse zu Brei /(412) zerdrückt und einen Vogel so hoch in die Luft wirft, daß er überhaupt nicht wiederkommt. Schließlich, am Ende des Märchens, besiegt der Kluge alle Hindernisse, erringt die Königstochter und die Hälfte des Reichs. So kann im Märchen aus einem Schneider ein König werden, ein König ohne Tabu, der den ganzen feindseligen Mutwillen der Großen abserviert hat. Und wo die Welt noch voller Teufel war, widersteht ein anderer Märchenheld, der Bursche, der auszog, das Fürchten zu lernen, der Angst auf der ganzen Linie, er setzt Leichen ans Feuer, daß sie sich wärmen, kegelt mit Gespenstern im verwunschenen Schloß, nimmt den Obersten der bösen Geister gefangen und erlangt dadurch einen Schatz. Der Teufel selber läßt sich im Märchen betrügen, ein armer Soldat betrügt ihn, indem er ihm die Seele verkauft unter der Bedingung, daß er den Soldatenschuh mit Gold fülle. Aber der Schuh hat ein Loch, der Soldat stellt ihn über eine tiefe Grube, und so muß der Teufel Säcke über Säcke voll Gold beischleppen, bis zum ersten Hahnenschrei, um dann geprellt davonzufahren. Also müssen im Märchen selbst durchlöcherte Schuhe dem, der sich darauf versteht, zum Besten dienen. Leiser Spott über bloßes Wünschen und die märchenhaft einfachen Mittel, ans Ziel zu kommen, fehlt nicht, ebenfalls aufgeklärter, doch er entmutigt nicht. In alten Zeiten, beginnt das Märchen vom Froschkönig, wo das Wünschen noch geholfen hat, - das Märchen gibt sich
mithin nicht als Ersatz fürs Tun. Wohl aber übt der kluge August des Märchens die Kunst ein, sich nicht imponieren zu lassen. Die Macht der Riesen wird als eine mit einem Loch gemalt, durch das der Schwache siegreich hindurch kann. Tischleindeckdich,, Geist der Lampe Auch gute Dinge, wie sie noch nie gesehen waren, stehen hier bei. Vor allem Wunschgeräte der bequemsten Art bieten sich dem Schwachen an, magisch. Am sinnfälligsten wirkt derart Grimms Märchen Tischleindeckdich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack: ein Held, ein armer verstoßener Junge; kommt zu einem Schreiner in die Lehre und erhält dort, als seine Zeit um ist, ein Tischlein ohne besonderes Ansehen, aber mit besonderer /(413) Bewandtnis. Spricht man zu ihm »Tischlein deck dich«, so bedeckt es sich augenblicklich mit Speisen so gut, wie kein Wirt sie hätte herbeischaffen können, und ein großes Glas mit rotem Wein steht daneben. Hinzu kommt ein wundertätiger Esel, der speit nach Wunsch Goldstücke aus, hinten und vorn; zuletzt erscheint der Knüppel aus dem Sack oder die magische Waffe, ohne welche der Arme, auch wenn er reich und glücklich geworden, in dieser Welt nicht bestehen kann. Das Tischleindeckdich hat in der Märchen-Wunschmagie viele Brüder: die fliegenden Pantoffel in Hauffs Geschichte von dem kleinen Muck und sein Spazierstöckchen als Wünschelrute; das Stück Holz im Märchen «Saids Schicksale«, unter dem Schiffbrüchigen verwandelt sich das Holz in einen Delphin, der Said pfeilschnell ans Ufer trägt. Grimms Märchen »Bruder Lustig« kennt einen Ranzen, in den der Bruder alles hineinzaubern kann, was er wünscht: gebratene Gänse, acht Teufel, zuletzt, nachdem er den Ranzen in den Himmel geworfen hat, schafft er sich mit ihm selber in den Himmel. Grimms Märchen »Die Wassernixe«, das mit einem ungeheuren Knüppelausdemsack versehen ist, läßt Kinder gegen die böse Nixe eine Bürste, dann einen Kamm, dann einen Spiegel hinter sich werfen. Daraus wird zuerst ein großer Bürstenberg mit Tausenden von Stacheln, dann ein Kammberg mit Zinken, dann ein Spiegelberg, so glatt, daß die Nixe ablassen muß und nicht mehr herüber kann. Spiel und Magie haben im Märchen so insgesamt Freipaß, Wunsch wird Befehl, Mühe der Ausführung fällt weg, auch trennender Raum, trennende Zeit. Bei Andersen bringt ein fliegender Koffer ins Land der Türken, Galoschen des Glücks führen einen Justizrat zurück ins Kopenhagen des fünfzehnten Jahrhunderts. In Tausendundeiner Nacht fliegt das »Zauberpferd« am Himmel trägt es hin, und ebendort wartet, mit gekreuzten Armen, der stärkste Wunscherfüller: der Geist der Lampe. Höchst bezeichnend ist gerade dies reichste Märchen »Aladin und die Wunderlampe« auf lauter Wunschutensilien zur Erlangung des Nichtzuhandenen aufgebaut. Räucherwerk wird entzündet, der falsche Oheim murmelt geheimnisvolle Worte, und alsbald geht die Höhle auf mit den verborgenen Schätzen, die auf den Namen Aladins gehäuft sind. Ein unterirdischer Garten erscheint, und /(414) die Bäume sind mit Edelsteinen bewachsen statt Früchten. Der Sklave des Rings, der Geist der Lampe treten vor - beide halluzinierte Urwünsche nach Macht, nach einer, die nicht auf bestimmte Güter beschränkt ist wie beim Tischleindeckdich, sondern die Lampe bringt ihrem Herrn alles, unbegrenzt alles, was er begehrt. Der Geist der Lampe verleiht Schätze ohne Zahl, Schönheit des Körpers und augenblickliche ritterliche Kunst, Feinheit der Rede wie des Geistes. Er baut über Nacht einen Palast, wie die Erde keinen getragen, mit Schatzkammer, Marställen und Rüsthaus; die Steine sind aus Jaspis und Alabaster; die Fenster aus Juwelen. Ein leichter Befehl: und im Augenblick versetzt die Lampe den Palast von China nach Tunis, dann zurück an die alte Stelle, ohne daß nur der Teppich vor dem
Portal sich im Wind bewegt hätte. Nicht übersehbar ist auch die magische Tafel, die dem falschen Oheim fast Allwissenheit über die Vorgänge auf der Erde verleiht: »Nun aber entwarf er an einem Tage unter den Tagen eine Sandtafel, und er streute die Figuren hin und erforschte ihre Folge genau; und alsbald stellte er die Folge der Figuren, der Mütter sowohl wie der Töchter, sicher fest« - es ist dieselbe geomantische Tafel, kraft deren der Zauberer in Tunis von dem fernen Schatz in China erfahren hatte, den Aladin dann hob. Lauter Wunschmittel, lauter via regia, um auf kürzestem Weg (im Märchen) zu erlangen, was die Natur selber, außerhalb des Märchens, dem Menschen verweigert. Überhaupt ist technisch-magische Schatzgräberei das Märchenhafte selber in dieser Art Märchen; denn der gefundene Schatz symbolisiert wie wenig anderes das Wunder der plötzlichen Veränderung, des jähen Glücks. Scharfsinn und Räucherwerk sind im Aladin-Märchen dazu vonnöten, Scharfsinn allein genügt in dem verweltlichten Schatzgräbermärchen Edgar Allan Poes »Der Goldkäfer«, in Stevensons »Schatzinsel«. Aber noch in diesen Halbmärchen (zur Abenteuergeschichte übergehend) macht der Schatz Spannung wie Wende; er selbst ist die Springwurzel, die das Leben aufriegelt und seinen Glanz erwerben läßt. Das technisch-magische Märchen geht derart nur indirekt oder notgedrungen auf Besitz; es geht auf die Verwandlung der Dinge zu jederzeit vorhandenen Gebrauchsgütern. Es malt statt der kurzen Decke, nach der fast /(415) jeder Mensch sich strecken muß, ein Lotterbett der Natur. Es intendiert um das Heimatgebiet aller Tischleindeckdich und auch der Wunderlampe wieder mit einem Märchen zu bezeichnen - es intendiert Schlaraffenland. Die gebratenen Tauben darin: das klingt zudem, als hörte man bereits ein soziales, bereits ein Staatsmärchen, einfacher in seinen Gütern, aber noch nahrhafter als alle anderen. »Auf Flügeln des Gesanges, Herzliebchen trag ich dich fort« Der Bursche, der das Fürchten lernen wollte, träumte nur erst schwach. Auch das tapfere Schneiderlein erlangte die Prinzessin fast absichtslos, weil sie nun einmal auf seinem Wege liegt. Alle Märchenhelden finden ihr Glück, doch nicht alle sind bereits deutlich im Traum von ihm zu ihm hin bewegt. Nur die Helden der späteren, doch deshalb nicht schlechteren Kunstmärchen oder märchenhaften Legenden (mit so verschiedenen Autoren wie Hauff, E. Th. A. Hoffmann, Keller) sind auch psychologisch Märchengestalten, nämlich träumerisch-utopischer Natur. Der kleine Muck bei Hauff: er war ausgezogen, sein Glück zu suchen, gerade seinem Traum vom Glück zog er nach. »Wenn er einen Scherben auf der Erde im Sonnenschein glänzen sah, so steckte er ihn gewiß zu sich, im Glauben, daß er sich in den schönsten Diamant verwandeln werde; sah er in der Ferne die Kuppel einer Moschee wie Feuer strahlen, sah er einen See wie einen Spiegel blinken, so eilte er voll Freude darauf zu, denn er dachte, in einem Zauberland angekommen zu sein. Aber ach, jene Trugbilder verschwanden in der Nähe, und nur allzubald erinnerten ihn seine Müdigkeit und sein vor Hunger knurrender Magen, daß er noch im Lande der Sterblichen sich befinde.« In eine anders kuriose, doch ebenfalls zum Märchen geborene Gattung gehört der Student Anselmus aus E. Th. A. Hoffmanns »Goldenem Topf«, dem erklärt romantischen «Märchen aus der neuen Zeit«. Auch Anselmus hat den Kopf voller Träume, und die Geisterwelt ist ihm nicht verschlossen, eben deshalb ist er im Leben der Ungeschickteste. »Also wie gesagt, der Student Anselmus geriet ... in ein träumerisches Hinbrüten, das ihn für jede äußere Berührung des gewöhnlichen Lebens unempfindlich /(416) machte. Er fühlte, wie ein unbekanntes Etwas in seinem Innersten sich regte und ihm jenen
wonnevollen Schmerz verursachte, der eben die Sehnsucht ist, welche dem Menschen ein anderes, höheres Sein verheißt. Am liebsten war es ihm, wenn er allein durch Wiesen und Wälder schweifen und wie losgelöst von allem, was ihn an sein dürftiges Leben fesselte, nur im Anschauen der mannigfachen Bilder, die aus seinem Innern stiegen, sich gleichsam selbst wiederfinden konnte.« Und so errang Anselmus doch noch die tönende Serpentina, wenn auch mit Kampf gegen die Pechsträhne, die ihn hemmte, gegen feindliche Mächte, die in eben dieses Pech und Schlimmeres sich verkleidet haben. Im blauen Palmbaumzimmer des Archivarius Lindhorst, im starken Dreiklang heller Kristallglocken erscheint Serpentina, und er wird ihrer wert. Anselmus gelangt nach Atlantis, wohin er mit der Tochter des Lichtfürsten auf ein Rittergut zieht, nachdem er so lange schon einen Meierhof dort besessen hatte, einen Meierhof in Träumen, als Besitztum des inneren Sinns. Das ist Anselmus, Student aus dem untergegangenen Deutschland; und neben ihm stehen, wie es sich gehört, alle anderen Wunschnaturen des Kunstmärchens wie der Legende aus Don Quichotes Geschlecht. Besonders wenn sie Quichote nur in der starken Phantasie, nicht aber in der Handlungskraft zugehören. Der Ritter Zendelwald in Kellers Legende »Die Jungfrau als Ritter« ist der Verträumteste dieser Art. Daher lebte er völlig unentschlossen, wußte fast nichts von den Dingen, die außerhalb vorgehen. Desto besser freilich kannte er die Wunschgedanken, welche er, in seiner einsamen Burg, von Welt und Frauen aufbaute. »Wenn sein Geist und sein Herz sich eines Dinges bemächtigt hatten, was immer vollständig und mit Feuer geschah, so brachte es Zendelwald nicht über sich, den ersten Schritt zu einer Verwirklichung zu tun, da die Sache für ihn abgemacht schien, wenn er inwendig damit im reinen war. Obgleich er sich gerne unterhielt, redete er doch nie ein Wort zur rechten Zeit, welches ihm Glück gebracht hätte. Aber nicht nur seinem Munde, auch seiner Hand waren seine Gedanken so voraus, daß er im Kampfe von seinen Feinden öfters beinahe besiegt wurde, weil er zögerte, den letzten Streich zu tun, den /(417) Gegner schon im voraus zu seinen Füßen sehend.« Da kam zu dem träumerischen Ritter eine Kunde, die, obwohl sie mitten aus der vollen und wirklichen Welt einlief, doch ziemlich mit dem Gegenstand sich deckte, der seine Einbildungskraft gerade erfüllte. Zendelwald hatte nämlich auf einer seiner spärlichen Reisen die Gräfin Bertrade gesehen, eine junge, überaus schöne und reiche Witwe; er war auf ihrer Burg, in schwerer Verliebtheit, doch schweigsam trennte er sich. Während Zendelwald viele Monate hindurch an nichts anderes mehr dachte als an die ferne Herrenfrau, kam nun die Botschaft, daß der Kaiser ein Turnier ausgeschrieben habe und die Gräfin dem Sieger über alle ihre Hand reichen wolle, fest darauf vertrauend, daß die göttliche Jungfrau sich ins Mittel legen und dem Rechten, der ihr gebühre, die Hand zum Siege lenken werde. Der Ritter machte sich endlich auf den Weg, fiel aber bald wieder in sein altes Bild- und Gedankenwesen, antizipierte wunschgemäß und arbeitete sein Traumwerk aus. »Zug für Zug fand jetzt in seiner Vorstellung das Abenteuer statt und verlief auf das beste, ja er hielt bereits tagelang, während er durch das sommergrüne Land ritt, süße Zwiegespräche mit der Geliebten, worin er ihr die schönsten Erfindungen voraussagte, daß ihr Antlitz in holder Freude sich rötete, alles dies in seinen Gedanken.« Da aber Sinnieren den Schritt hemmt, so kam der Ritter erst an, als das Turnier schon vorüber war, und alles wäre für ihn vergebens gewesen, hätte die himmlische Jungfrau den Graben zwischen Wunschträumen und Wirklichkeit nicht ausgefüllt. Denn sie selber hatte das Turnier in Gestalt des Ritters Zendelwald gekämpft, ja mehr: wie der verspätete Träumer, mit höchstem Erstaunen, seine eigene Person als Sieger und Bräutigam neben der schönen Gräfin sah, wie er, von
wirrer Eifersucht gepeinigt, durch die Reihen brach, um den DoppelgängerNebenbuhler zu sehen, da verschwand im Augenblick das Ebenbild von Bertrades Seite, die Gräfin wandte sich dem wirklichen Zendelwald zu und setzte die Unterhaltung fort, ohne den Wechsel der Person im mindesten bemerkt zu haben. »Allein Zendelwald wußte nicht, wie ihm geschah, als Bertrade ihm wohlbekannte Worte sprach, auf welche er einige Male, ohne sich zu besinnen, Worte erwiderte, die er auch schon irgendwo gesprochen hatte; ja, /(418) nach einiger Zeit merkte er, daß sein Vorgänger genau das nämliche Gespräch geführt haben mußte, welches er während der Reisetage phantasierend ausgedacht hatte.« So wurde der Ritter mit der Gräfin glücklich; aus eigenem Traum wie eigenem Märchen ist dieses Glück hervorgetreten und wirklich geworden. Märchenhaft wirklich; die Jungfrau Maria, selber ein gläubiger Traum, half einem Träumer, mit höchst weichem, fast ruinösem wishful thinking, ins Wunderland. Aus ihrer Inwendigkeit traten freilich weder Anselmus noch der schwache Zendelwald heraus, auch dort nicht, wo ihnen die Fee Legende Boden verschaffte. »Fort nach den Fluren des Ganges, dort weiß ich den schönsten Ort« Und doch wird der Morgen dieser Art nicht nur von innen her gespeist. Die glänzenden Scherben, die der kleine Muck zu sich steckte, leuchteten ihm auch draußen, auf dem äußeren Feld, wo sie lagen, durchaus. Lange bevor das Inwendige von Wunschbildern strömt, werden sie durch märchenhafte Züge der Natur erregt, besonders durch Wolken. In ihnen erscheint zum erstenmal die hohe Ferne, ein getürmtes und wunderbares Ausland, über unseren Köpfen. Kinder halten weiße Kuppelwolken für Eisgebirge, für eine Schweiz am Himmel; auch Burgen finden sich dort, höher als auf der Erde, hinreichend hohe. Die Sehnsucht ist dieser Jugend ohnehin das gewisseste Sein, und das abreisende Abendrot, wohin die Sonne weggeht, verstärkt es noch. Der Junge im Märchen der Lagerlöf: »Reise des kleinen Nils mit den Wildgänsen« zieht mit den Vögeln ihre glänzende und singende Bahn, die Bahn nach Süden, wo die himmlische Burg auf der Erde steht, wo die glückseligen Inseln Wak-Wak im Meer zu Hause sind. Denn auch das erste Bild des Meeres stammt den meisten Menschen vom weiten Himmel und zieht dahin; das heißt: die Wolke ist dem märchenhaften Blick nicht nur Burg oder Eisgebirge, sie ist auch eine Insel im Himmelsmeer oder ein Schiff, und der blaue Himmel, worin sie segelt, spiegelt den Ozean. Ist doch die Ferne über unseren Köpfen, das Luftmeer mit seinen Wolken, nicht einmal auf irdische Küsten /(419) begrenzt oder spiegelt sie wider. Also tauchen alle Märchen, in denen das Himmelsblau vorkommt, dieses in ein riesiges oberes Wasser, und die Reise geht unbeschwert zur Küste, die besonders in diese Phantasie greift: zum Morgenstern. In alldem wirken noch astralmythische Reste, bis hin zum Märchen von den Sterntalern; aber sie sind den Märchen, die noch weiter oder höher als die Vögel fortziehen, so wenig nötig wie der christliche Himmel. Auch ohne all das hat es seine wunderlichen Blicke, und sind sie wunderlich, so tragen sie doch den Glanz eines eigenen Gemüts ganz kosmisch hinaus, und alles duftet darin von Poesie. So in dem Märchenwesen, das Gottfried Keller im »Grünen Heinrich« seine Frau Margret mit dem Regenbogenlicht treiben läßt, gleichwie mit einem Boten. Als ein anderer kleiner Muck mit Scherbenglanz und Utopie in einer Unwissenheit, die sich nicht zu schämen braucht, wenn sie Schöneres enthält als die entzauberte Welt, lebt Frau Margret unter dem Strandgut ihresTrödel- und Raritätenladens, Verschollenes dringt an und läßt sich hören, das Tageslicht selber wird illustriert mit Bildern aus fernen Ländern und Heidenbüchern:
»Alles war ihr von Bedeutung und belebt; wenn die Sonne in ein Glas Wasser schien und durch dasselbe auf den hell polierten Tisch, so waren die sieben spielenden Farben für sie ein unmittelbarer Abglanz der Herrlichkeiten, welche im Himmel selbst sein sollten. Sie sagte: >Seht ihr denn nicht die schönen Blumen und Kränze, die grünen Geländer und die roten Seidentücher? diese goldenen Glöcklein und diese silbernen Brunnen?< und so oft die Sonne in die Stube schien, machte sie das Experiment, um ein wenig in den Himmel zu sehen, wie sie meinte.« Es ist der Realist Keller, der diese Kinderei aufnahm und aufzeichnete; sie setzt, in einem schuldlosen Gemüt, immerhin den Drang zur Sonne fort, der alles Lebende erfüllt, und schmückt ihn aus. Wenn die Ferne in der Muschel wie Meer braust, so mag sie im Prisma wie Hafenlicht aussehen, wie Frau Margrets schrulliges Wunderlicht, und das Märchen hat nichts dagegen. Sogar das ist möglich, daß sein Traum zeichnet, das ist, daß er eine förmliche Karte von seinen Küsten entwirft. Dazu ladet das äußere Feld ohnehin ein, worin er sich bewegt, woraus er hineingelebte Phantasiebilder, märchenhaft geordnet, herausliest und aufnimmt. Kipling, in dem /(420) Traummärchen »The Brushwood Boy», läßt seinen Knaben ganz genau solch eine Karte entwerfen, er reist auf ihr. Hongkong ist hier eine Insel, mitten im »Ocean of Dreams«, und an seiner Küste liegt Merciful Town, die gnadenvolle Stadt, »wo der Arme seine Bürde niederlegt und der Kranke vergißt zu weinen«. Der Brushwood Boy reitet im Traum seinen Dreißigmeilenritt mit dem Mädchen, das er sich seit seiner Kindheit denkt, er reitet mit dem erträumten Brushwood Gin durch die Dünen und Steppen, durchs Abendlicht seiner Wunschgeographie, durch »die Täler aus Wunder und Unvernunft«. Ja auch vor der Realität Ostasien, in die nun später der erwachsene Mann als Kolonialoffizier gelangt, verschwindet das Traumland nicht; Hongkong ist eine Stadt und bleibt doch eine Insel, die Traumkarte wird nicht ungültig. »Policeman Day« weckt regelmäßig zur schlechten Wirklichkeit auf, die Traumkarte bleicht in der wirklichen Welt trotzdem nicht. Das Wunschbild des Helden mischt sich in diesem Märchen mit bloßen Nachtträumen, doch so, daß er diese zur Versinnlichung des eigentlichen Tagtraums zwingt, zum Wunschland Indien und zur Wunschprinzessin, die aus ihm hervortritt. Auch wird die Geliebte in Kiplings Märchen zuletzt nicht nur das Mädchen, das ein Einsamer sich denkt, das er mit Traumschmuck behängt und in Fata Morgana unterbringt. Sondern das Brushwood Girl existiert gleichfalls, durchaus, ist ihrem Helden im eigenen und identischen Wunschtraum begegnet; so entdecken sich am Ende die beiden Traumsubjekte auch real und finden aneinander, in realer Liebesmystik, ihr Indien wieder. Ein reales Indien höherer Ordnung, eines, zu dem das geträumte ein Versprechen war und der Anlaß, der Phantasiestoff, der unwiderlegte Hintergrund. Ist es doch, außer Wolken, Himmelsblau, Regenbogen, der Orient überhaupt, weit um die Ufer des Ganges herum, eine selber fabelhafte Außenwelt, wodurch dem Märchen sein Anschluß an Vorhandenes im äußeren Feld erleichtert wird. Dort ist The Brushwood Boy zu Hause, dort nimmt der Dschungel auf und gibt den Blick auf ein Ausland frei, das im Märchen lauter Inland und Heimat ist. Südmeer, türkisgrüner Himmel, Basargewölbe, das geheimnisvolle Haus - all diese orientalischen Szenerien geben dem Märchenwunsch am wahlverwandtesten /(421) nach, nehmen ihn auf. Der Grund dafür ist keineswegs einfach: gewiß - die meisten Märchenstoffe stammen aus dem Orient, besonders aus Indien, und inklinieren dahin wieder zurück, doch auch die Märchennatur, eben die Wolke und Abendburg aus Himmel, ja sogar der deutsche Märchenwald grenzen ans Morgenland. Dort kulminiert zwar nicht die angegebene Aufsässigkeit in so manchem Grimmschen Märchen, wohl aber das Wunderhafte, das Abenteuer und die Landschaft des Magischen; sie
machen den archetypischen Glanz von Tausendundeiner Nacht. Der mag auch auf der Insel Hongkong liegen oder in der Imago des Brushwood Girls selbst, der Wunderfrau: das inwendigste Märchen enthält dieses Stück auswendigen Ort. Im indischen Ocean of Dreams, im Bild, das aus der Ferne anläuft und selber auf Fahrt schickt. Südsee in Jahrmarkt und Zirkus Die Ferne kann dem Jungen auch ganz sinnenhaft anlaufen und gegenwärtig sein. In Farben und Gestalten, roh wie Fleisch, bunt wie das Fähnchen, das italienische Metzger an dieses stecken. Die Buden auf dem Jahrmarkt sind gleichfalls nicht hier gewachsen, so wenig wie der immer wieder abgestaubte, immer wieder frisch enthüllte Zauber, den sie mit sich führen. Er wirkt wie aus abnormer Fremde, ist zweifellos ordinär und voller Schwindel, aber immerhin noch gehaltvoller als der Ärger, den der Spießer an der uralten Jugend- und Volksfreude nimmt. So fahren diese Schiffsbuden auf, getragen von Südsee für das einfache und für das unverdorben komplizierte Gemüt; die Zeltschiffe machen in den staubigen Städten auf kurze Zeit fest. Sind mit blaßgrünen oder blutrünstigen Gemälden tätowiert, in denen Votivbilder für Rettung aus Seenot sich mit Harem kreuzen. Der Motor treibt das Orchestrion mit fremdem, fettem, unmenschlichem, atemlos-trägem Klang, zuweilen ist er mit einem Wachsmädchen verbunden, das neben dem Eingang festgeschraubt tanzt. Und mit wahnsinniger Verrenkung, mit einer, die aus angeschraubtem Wachs zu tanzendem übergeht, von Zeit zu Zeit den Kopf in den Nacken wirft, um gerade in dieser Lage zitternd stillzustehen, dicht hinter dem Ausrufer, der sich /(422) selber vor nichts fürchtet. Die Welt, die solcherart angepriesene, hat die Geheimnisse des Brautbetts, auch der Mißgeburt an ihrem einen Rand, die Geheimnisse der Bahre an ihrem anderen. »Die Dame wird ihren herrlich gebauten Oberkörper entblößen, man wird sehen die Geheimnisse der menschlichen Plastik«; aber auch: «Professor Mystos ruft um neun Uhr abends, um die Stunde, wo sie gestorben, eine ägyptische Mumie ins Leben zurück.« Seltene Menschen und ihre Kunst geben sich zur Schau, in lauter Seitenkapellen der Abnormität. Der Schwertschlucker und der Feuerfresser, der Mann mit der unzerreißbaren Zunge und dem eisernen Schädel, der Schlangenbeschwörer und das lebende Aquarium. Kümmeltürken, Kürbismänner, Riesenweiher sind da: »die Natur ist mit dem Stoff ihres Körpers so verschwenderisch umgegangen, daß in der Zeit, wo dieser zur höchsten Vollkommenheit gediehen war, die Masse vierhundert Pfund erreichte«. Und zur abnormen Fremde tritt immer wieder die des Märchens, auch des Schauerromans: orientalischer Irrgarten, Höllenrachen, Geisterschloß. Das ist Jahrmarkt, eine buntbäuerische Phantasie, sie ist in amerikanisierten Großstädten zwar steigend mit Lautsprechern, technizistischen Jux-Etablissements durchsetzt, doch das Wunschland mittelalterlicher Südsee, sozusagen, blieb. Und hält sich, aus dem Mittelalter viel weiter zurückgehend, erst recht im Jahrmarkt höherer Ordnung, in der Schauart der Circenses ganz ohne Vorhang. Denn kommen die Budenwunder mehrfach unter ein Dach, in einen Ring, und bricht die Menagerie dahin aus, so entsteht nun aus der Südsee Kolosseum oder der Zirkus. Das Wachsfigurenkabinetthafte muß freilich fehlen, jeder Scheintod, jede mechanische Orgel, weil hier im Zirkus alles Leben ist. Und zum Unterschied vom Jahrmarkt, der mit Verhüllung arbeitet, mit Bühne, Vitrine, Vorhang, ist der Zirkus völlig offen; die Manege bringt das mit sich. Ja, er ist die einzige ehrliche, bis auf den Grund ehrliche Darbietung, die die Kunst kennt; vor Zuschauern in lauter Kreis ringsum kann
nirgends eine Wand gemacht werden. Dennoch geschieht Verfremdung, die Saltos sind das Äußerste, was der menschliche Körper hergibt, aber er gibt sie her, Gaukler treten auf, doch ohne Gaukelei. Gemacht wie von lauter Zigeunern im grünen Wagen, älter als der älteste Leser /(423) sich entsinnen kann, vielleicht schon vorgeschichtlich, ist die Zirkuskunst doch eine Art bürgerliche Rechtschaffenheit in der Kunst und das Vorbild dafür. Er ist das Lokal ohne Hinterräume, außer Garderobe und Stall, und der kann in der Pause besichtigt werden, alles geht hellbeleuchtet in der Manege her, auf dem Trapez unter der Decke, und ist trotzdem Zauber, eine eigene Wunschwelt aus Exzentrik und präziser Leichtigkeit. Wenig haben sich die Typen verändert, die gestrengen, komischen und gymnastischen, sie sind verabredet wie die Tierarten, die man zu sehen bekommt: die Elefanten, Löwen, rundum trabende Pferde, der Herr Direktor mit der Peitsche und der Stallmeister im Entreakt, die Schulreiterin, die Seiltänzer und andere Ärialisten, halb Sylphen, halb am Rand des Todes, die Tierbändiger und Kettenbrecher. Daß aber der Zirkus auch das Volksvergnügen ohne Pause ist, dazu helfen die Clowns, die in dieser Pause auftreten. Sie reichen vom glitzernden und gepuderten des elisabethanischen Zeitalters bis zum Tramp mit roter Kugelnase, schwarz-weißem Freudenmaul, bis zur Krone der Armut, dem dummen August. Es sind sämtlich Figuren aus einem freundlich gewordenen Kolosseum, und so sind erst recht die Schaustellungen des zweiten Teils oder Pantomimen. Die Vorstellung wird eingeleitet von der schönsten Musik dieser Art, von Fuciks Gladiatorenmarsch, geschlossen mit dem Marsch Per aspera ad astra. Der Zirkus stellt heute noch die farbigste Massenschau dar oder das Bild der Sensation; er ist arabische Fantasia in der aufgeheitertsten römischen Arena. Was Bude und Zelt spiegeln, wird selten nochmals gespiegelt. Selbst surrealistisch nicht recht, obwohl der Spaß wenig geheuer sein kann, sein Gesicht abseitig. Obwohl die Wachsfigur in Schreck eintaucht, der Glitzerclown in Unbekanntes überhängt. Nur Meyrink hat das eigene Märchen, die eigene Kolportage aus dieser Welt herausgeholt, witzboldig, wahlverwandt, schlecht geschrieben, unheimlich, alles zusammen. So Mohammed Daraschekohs orientalisches Panoptikum beschreibend: «Der Motor am Eingang schlapfte sein Tempo und trieb ein Orgelähnliches Instrument. Eine stolpernde, atemlose Musik spielte - mit Klängen, die, laut und dumpf zugleich, etwas Sonderbares, Aufgeweichtes hatten, als tönten sie unter Wasser. Geruch von /(424) Wachs und schwelenden Öllampen lag im Zelt. Die Programmnummer: Fatme, die Perle des Orients, war vorüber, und die Zuschauer strömten hin und her oder sahen durch die Gucklöcher an den mit rotem Tuch bespannten Wänden in ein roh bemaltes Panorama hinein, das die Erstürmung von Delhi darstellte. Stumm standen andere vor einem Glassarg, in dem ein sterbender Turko lag, schweratmend, die entblößte Brust von einer Kanonenkugel durchschossen - die Wundränder brandig und bläulich. Wenn die Wachsfigur die bleifarbenen Augenlider aufschlug, drang das Knistern der Uhrfeder leise durch den Kasten.« Gestelltes, dadurch nicht geringeres Entsetzen wird hier nochmals gestellt, in Impression und zu ihr hin, aber zusammenhängende Traumlichter von Jahrmarkt und Zirkus fehlen gleichfalls nicht. »Der Golem« Meyrinks ist Märchenkolportage vom Jahrmarkt, seine Kolportage «Das grüne Gesicht« desgleichen, mit Schau vom Zirkus eingesprengt. «Der Golem«: er behandelt in seiner Kolportage nicht mehr, doch auch nicht weniger als das Budengeheimnis, zu dem keine Nachzahlung verhilft. Hier ist das Dudeln, das von der Straße hereindringt, der Mondschein am Fußende des Betts, eine bleiche Tafel, die aussieht wie ein Stück Fett, das Zimmer ohne Tür, irgendwo in der
Pragerstadt, mit dem Golem als Bewohner, das Gesims aus Stein am Golemzimmer, woran der Gast sich anklammert und sieht und sieht und abstürzt, denn der Stein ist glatt wie ein Stück Fett. Auch eine schöne Mirjam geht um, ein Wachstraum aus Vollendung, und ihr Haus steht im Morgenlicht, unbetretbar wie die Bude zu den Geheimnissen Griechenlands für Besucher unter sechzehn Jahren, wie das siderische Leben. Die seltsame Mischung aus Jakob Böhmischem und Witzmacherei verstimmt, die eben dieser Art Schrifttum eignet, bis in den Surrealismus hinein, aber sie hängt mit dem zweideutigen, zweiköpfigen, durchweg allegorischen Genre zusammen. Die Bilder Dalis, zuweilen selbst Max Ernsts bewegen sich in einer ähnlichen Mischluft aus Spaß und Tiefe, ja Gemütlichkeit und Grauen; das Modell zu alldem gibt die gleichzeitige humoristisch bewegte und medusisch starrende Wachsfigur. Meyrink wie der gesamte Jahrmarktszauber verschiedener Grade sind ein Nonsens, woran Schausteller wie Autor keinen Zweifel /(425) lassen, doch eine Sehnsucht wohnt darin, selber nicht unsinnig, obzwar grell und betrügbar, billig und ungeregelt. Es ist die Sehnsucht nach einer aus Abseitigkeiten und Seltsamkeiten bestehenden Figurenbildung in der Welt, nach Kuriosem als objektiver Eigenschaft. Dali und Meyrink zusammen werden freilich übertroffen, was dieses Falls selbstverständlich, ja sie werden, was nicht so selbstverständlich, gerade im schnöden Grauen erledigt, sobald sich ein großer Dichter, der sich aber ebenso aufs Schnurrig-Seltsame, Schlimm-Humoristische versteht und ihm verschworen sein mag, des metaphysischen Schimpfs annimmt. Der Dichter ist Gottfried Keller, und sein «Traumbuch« von 1848 bekundet über das in Rede Stehende, nie ganz zur Rede Kommende folgendes: «Ich trat in ein Wachskabinett; die Gesellschaft des Potentaten sah sehr liederlich und vernachlässigt aus, es war eine erschreckende Einsamkeit, und ich eilte durch sie hin in einen abgeschlossenen Raum, wo eine anatomische Sammlung zu sehen war. Da fand man fast alle Teile des menschlichen Körpers künstlich in Wachs nachgebildet, die meisten in kranken, schreckbaren Zuständen, eine höchst wunderliche Generalversammlung von menschlichen Zuständen, welche eine Adresse an den Schöpfer zu beraten schien. Ein ansehnlicher Teil der ehrenwerten Gesellschaft bestand aus einer langen Reihe Gläser, welche vom kleinsten Embryo an bis zum fertigen Fötus die Gestalten des angehenden Menschen enthielten. Diese waren nicht aus Wachs, sondern Naturgewächs und saßen im Weingeist in sehr tiefsinnigen Positionen. Diese Nachdenklichkeit fiel um so mehr auf, als die Burschen eigentlich die hoffnungsvolle Jugend der Versammlung vorstellten. Plötzlich aber fing in der Seiltänzerhütte nebenan, welche nur durch eine dünne Bretterwand abgeschieden war, eine laute Musik mit Trommeln und Zimbeln zu spielen an, das Seil wurde getreten, die Wand erzitterte, und dahin war die stille Aufmerksamkeit der kleinen Personen, sie begannen zu zittern und zu tanzen nach dem Takte der wilden Polka, die drüben erklang: es trat Anarchie ein, und ich glaube nicht, daß die Adresse zustande kam.« Soweit der junge Keller, und wieder fällt der Humor auf, zusammen mit jener Art von höhnischem Tiefgang, der des Witzes sich hier doppelt spaßhaft bedient. Uralte Volkslust, /(426) keineswegs einfache, aber auch keineswegs dekadente, erhält sich im Jahrmarkt, wandert darin aus. Ein Stück Grenzland ist da, zu sehr herabgesetztem Eintrittspreis, aber mit erhaltenen Bedeutungen, mit kuriös-utopischen, konserviert in brutaler Schau, in vulgärer Hintergründigkeit. Es ist eine Welt, die zu wenig auf ihre spezifischen Wunschgegenden untersucht worden ist. Eben »Curiöses«, wie dergleichen zuletzt noch im Barock genannt worden ist, hält sich hier über Wasser, über Land.
Das wilde Märchen: als Kolportage Auch im Märchen läuft ja nicht alles von vornan sanft dahin. Es gibt darin Riesen und Hexen, sie sperren ab, lassen spinnen die ganze Nacht, führen irre. Und es gibt, gegen das allzu sanfte oder eilige Himmelblau, eine Märchenart, die selten als solche angesehen wird, eine wilde, gleichsam reißende Art. Sie ist überhaupt wenig angesehen, nicht sowohl deshalb, weil sie leicht zum Schund abfällt, als weil die herrschende Klasse tätowierte Hänsel und Gretel nicht liebt. Das reißende Märchen also ist die Abenteuergeschichte, sie lebt am besten heute als Kolportage fort. Auf ihrem Gesicht liegt der Ausdruck eines anerkannt unfeinen Wesens, und ist auch öfters so. Doch zeigt die Kolportage durchgehends Märchenzüge; denn ihr Held wartet nicht ab, wie in der Magazingeschichte, bis ihm das Glück in den Schoß fällt, er bückt sich auch nicht, damit er es auffängt wie einen zugeworfenen Beutel. Sondern ihr Held bleibt dem armen Schwartenhals des Volksmärchens verwandt, dem kühnen, setzt Leichen ans Feuer, haut den Teufel übers Ohr. Am Helden der Kolportage ist ein Mut, der, meist wie sein Leser, nichts zu verlieren hat. Und ein bejahtes Stück vom bürgerlichenTunichtgut dringt an, vom durchgebrannten, doch nicht umgekommenen; erbat, wenn er zurückkommt, Palmen, Messer, die wimmelnden Städte Asiens um sich her. Der Traum der Kolportage ist: nie wieder Alltag; und am Ende steht: Glück, Liebe, Sieg. Der Glanz, auf den die Abenteurergeschichte zugeht, wird nicht wie in der Magazingeschichte durch reiche Heirat und dergleichen gewonnen, sondern durch aktive Ausfahrt in den Orient des Traums. Hat die Magazingeschichte etwas von einer unsäg- /(427) lich verkommenen Legende, so ist die Kolportage der letzte, doch noch erkennbare Schein aus Ritterromanen, aus Amadis von Gallien. Von daher das Ruhmredige, wie es schon aus den ältesten Heldengedichten bekannt ist, so dem Waltharilied, wo der Held zehn Ritter zugleich übermannt, oder aus der Sage vom König Rother und dem starken Asprian, der einen Löwen an die Wand wirft, daß er zerbricht. Von daher aber auch das Pathos gegen die Philister, gegen ein Leben, dessen Grabschrift schon mit zwanzig Jahren feststeht, gegen Ofenwinkel und juste milieu. Es entsteht echte Märchenaura wilder Art; die Aura der Stevenson-Welt »von Glut und Kälte, Stürmen und Passaten, von Schiffen, Inseln, Abenteuerweisen, von Ausgesetzten, Schätzen und Piraten«. Und immer wieder hat die ganze Gruppe, besonders wo sie gleichsam ohne Entschuldigung, also ohne literarische Feinheit auskommt, einen Ludergeruch. Der ist zweideutig, kann auf Kukluxer und Faschisten weisen, ja ihnen ein besonderes Reizmittel sein; doch der Ludergeruch weist eben auch auf das berechtigte Mißtrauen der ruhigen Bourgeoisie gegen zuviel Lagerfeuer des armen Teufels. Jede Abenteuergeschichte bricht die Moral des »Bete und arbeite«; statt des ersten herrscht Fluchen, statt des zweiten erscheint das Piratenschiff, der Schütze, nicht in des Regenten Sold. Die Räuberromantik zeigt so noch ein anderes, ein das arme Volk seit alters ansprechendes Gesicht, und die Kolportage weiß darum. Der Brigant war der mit der Obrigkeit Zerfallene, oft hatte er einen mit dem Volk gemeinsamen Feind, desgleichen besaß er häufig Stützpunkte in der Bauernschaft. Nicht grundlos berichten darum italienische, serbische, vor allem russische Volksüberlieferungen von Räubern mit einer anderen Wertung als die Polizeiberichte. Schillers Räuberstück - mit dem Motto: In tyrannos! - ist nur die sozusagen klassische Erscheinung in einem Schrifttum, worin Brigant und Brutus ihre Gestalten tauschen konnten. Hier ist unreifer, doch ehrlicher Revolutionsersatz, und wo anders drückte er sich aus als in der Kolportage? Wäre Schiller, ihr eigentliches Genie, ihr nur treuer geblieben, diese Gattung wäre eindeutig noch ein
anderes geworden als abgesunkener Ritterroman und Schatzgräbergeschichte. Kukluxklan und Faschismus setzen von der Kolportage lediglich die kriminelle /(428) Abkürzung und die Wildnis ins Leben. Dagegen das ungemeine Ziel in der Wildnis: Gefangenschaft und Befreiung, Betäubung des Drachens, Rettung des Mädchens, Klugheit, Durchbruch, Rache - all diese Stücke gehören zur Freiheit und zum Glanz dahinter. Nicht der Faschismus, sondern der revolutionäre Akt in seiner romantischen Zeit ist lebendig gewordenes Volksbuch dieser Art. Daher traten außer Schillers »Räubern« unmittelbar vor und nach 1789 die Rettungsstücke, man kann sagen: die Rettungsmärchen, auf; nach Gefangenen wurde gegraben wie nach Schätzen in der Höhle. Und wichtig: das Textbuch zu Fidelios, das Trompetensignal selber wären nicht und nicht so ohne die Kolportage, die sie darstellen. Gerade die Fidelio-Handlung ist schärfste, brisante Kolportage, wie bekannt, und sie gehört der Befreiung zu. Tiefer Kerker, Pistole, Signal, Rettung: Dinge, die im gehobenen Schrifttum neuerer Art keinesfalls oder nie von Haus aus derart vorkommen, ergeben eine der stärksten überhaupt vorhandenen Spannungen: die von Nacht zum Licht. Wonach eine Umwertung dieser Gattung, kraft des höchst legitimen Wunschbilds in ihrem Spiegel, besonders evident ist. Hier überall sind verschollene Bedeutungen frisch, unverschollene wartend, wie im Märchen. Glücklicher Ausgang wird erobert, vom Drachen bleibt kein Rest, außer in Ketten, der Schatzgräber findet sein Traumgeld, die Gatten sind vereint. Märchen wie Kolportage sind Luftschloß par excellence, doch eines in guter Luft und, soweit das bei bloßem Wunschwerk überhaupt zutreffen kann: das Luftschloß ist richtig. Es stammt zu guter Letzt aus dem goldenen Zeitalter und möchte wieder in einem stehen, im Glück, das von Nacht zu Licht dringt. Derart schließlich, daß dem Bourgeois das Lachen vergeht und dem Riesen, der heute Großbank heißt, der Unglaube an die Kraft des Armen. /(429) 28
REIZ DER REISE, ANTIQUITÄT, GLÜCK DES SCHAUERROMANS
Ach, in der Berliner Atmosphäre Wird der Mensch im Juli meistens krank, Wenn ich doch ein Kassenbote wäre Bei der Dresdner Bank. O der dunklen Lust, wie Orgeln brausend, Wenn das Herz in alle Fernen schreit Denn mit Dreimalhunderrtausend Kommt man ziemlich weit. Heil dem Jüngling, der vom Zwang genesend Diesen wundersamen Traum gebiert, Wie ein Mensch den eigenen Steckbrief lesend Fern im Bad soupiert. Traurig wisch ich meine stille Zähre, Unterdrücke diesen schoflen Drang Schon im Hinblick auf die Aktionäre Bei der Dresdner Bank. Peter Scher
Da ich jetzt von weitem die Türme und den blauen Rauch von Nürnberg sah, vermeinte ich schier, nicht etwa eine einzige Stadt, sondern eine ganze Welt zu sehen. Des Johannes Butzbach Wanderbüchlein Dieselben Dinge täglich bringen langsam um. Neu zu begehren, dazu verhilft die Lust der Reise. Sie frischt die Erwartung nicht bloß an, bevor die Fahrt angetreten, sondern tut das mitten im Genuß des Sehens. Wünsche, denen nicht mehr zu helfen ist, überalterte, altjüngferlich gewordene, fallen fort. Das Stockige fällt fort, das nicht nur dem immer gleichen Alltag, sondern auch allzu lange herumgetragenen Wünschen eignen mag. Können doch Wunschträume derart aus der Zeit geraten sein, die ihnen angestanden hat, daß sie nie wieder erfüllt werden können. Wer sich in der Jugend einen Kodak gewünscht hat und ihn nicht bekam, wird den Kodak seiner Wünsche nie mehr finden, auch wenn er als Mann imstande ist, sich den besten zu kaufen. Solche Dinge wurden dem Verlangen nicht zu der Zeit oder in den Umständen teilhaftig, wo sie das äußerste Vergnügen würden bereitet haben. Der Hunger danach ist grau geworden, ja fast /(430) jedes Ziel kann, wenn zu lange, zu vergebens oder eben auf zu gewohnte Weise dahin gestartet wird, langweilig werden. Neue Waren dagegen erregen neue Bedürfnisse, neue Eindrücke erst recht. Schöne Fremde Jede Reise muß freiwillig sein, um zu vergnügen. Sie braucht dazu eine Lage, die gern, mindestens nicht unlustig, verlassen wird. Das erste Gefühl im Wagen oder Zug, wenn er endlich abfährt, entscheidet über das Kommende. Ist Reisen erzwungen oder Beruf, also nicht abbrechend-glücklich, so ist es keines. Geschieht es aus der Langeweile, weil einem sonst nichts mehr einfällt, so fährt diese mit. Sie ist das Gepäck und Geschick, das mit einem selber in der stählernen Kiste über die Schienen geschleift wird. Der Zug hat dann nicht die vergnügte Eigenschaft, die so selten sonst vorkommt: genau in der Richtung zu fahren, in die man sich wünscht. Auch Geschäftsreisende, Matrosen, Emigranten sind nicht auf Reise, letztere trotz der möglichen Befreiung nicht. Reise ist bei allen diesen erzwungen oder Beruf, Bann hier, Verbannung dort. Ist laufendes Band, wie in Fahrstuhl und Fabrik, nicht ein blaues, das der Frühling wieder flattern läßt durch die Lüfte. Glück der Reise jedenfalls ist und bleibt zeitweiliges Entrinnen ohne Nachforderung von zu Hause, ist durchgreifende Umstellung ohne äußeren Zwang zu ihr. Der Reisende des kapitalistischen Zeitalters muß zudem noch Konsument sein können, nicht Bewerber, er verliert sonst die Welt anziehender Fremdlinge, unter denen er nichts zu tun hat, unter denen er keine Gewohnheit hat. Zwar bleibt wahr: nichts ist in der Fremde exotisch als der Fremde selbst; doch dieser sieht als bürgerlicher Enthusiast zunächst gar nicht den Alltag der Fremde, am wenigsten will er das Elend in ihr sehen, das ihm den Wechsel auf Schönheit nicht einlöst; er sieht in der Fremde, mit oft heillosem Subjektivismus, sein persönlich mitgebrachtes Wunschbild von ihr. Und dieses allerdings ist meist exotisch genug, entweder so, daß Enttäuschung erfolgt, etwa deshalb, weil Italien nicht aus Lampions besteht, oder so, daß das alte Wunschbild, wenn es die Sache selbst nicht verfehlt, sondern /(431) übersteigert hat, neben dem der gewonnenen Erfahrung stehenbleibt, unbelehrt, doch stellenweise auch unenttäuscht. Indem das Wunschbild unbelehrt bleibt, dringt es
nicht richtig ins nüchtern Vorhandene ein; der Durchschnittsreisende, ohnehin durch Hotel, Fremdenführer, Wagenfahrten isoliert, nimmt eben die Armut noch weniger wahr als zu Hause. Andererseits aber ist der gleiche Bürger imstande, kraft der eigenen Verfremdung, die er den Gegenständen gibt, keine Abstumpfung des Alltags zu haben und an den Gegenständen gegebenenfalls Bedeutungen zu sehen, die im Alltag nur ein tüchtiger Maler entdeckt. Verfremdung ist hier das genaue Gegenteil zur Entfremdung; innerhalb der bürgerlich-privaten Welt ist die Reise der Mai, der alles neu macht, der einzige. Und die erfrischende Verfremdung wird unterstützt durch ein anderes Paradox der Reise, durch eines, das nun nicht nur dem bürgerlichen Enthusiasten widerfährt, das vielmehr mit dem sich scheinbar aufblätternden Nebeneinander des Raums auch sachlich zusammenhängt. Daraus entsteht eine Art subjektiver Verzeitlichung von Raum, subjektiver Verräumlichung der Zeit, dann besonders, wenn die Schauplätze rasch einander folgen. Die Reisezeit wird so gefüllt wie sonst nur der Raum, und der Raum wird das Medium der Veränderungen wie sonst nur die Zeit. Es entsteht also eine Umkehrung der gewohnten Wahrnehmungsordnungen, es entsteht gefüllte Zeit im bewegt, verändert erscheinenden Raum. Die alten Abenteuergeschichten rollten den Raum gänzlich in dieser Reise auf, störten seine mythische Starre; jede Reise lebt noch, selber mutatis mutandis, vom Paradox dieses Wandeltraums. Das vor allem in der Jugend, und besonders in der zu zweien. Ist die Liebe selber eine Reise, in gänzlich neues Leben, so wird der Wert der Fremde, der gemeinsam erfahrenen, durch sie verdoppelt. Wie die Geliebte bereits die Straße verzaubert, in der sie wohnt, samt den geringsten Merkzeichen in ihrem Quartier, den Fenstern, den Laternen, Bäumen, so geht dieser Zauber erst recht auf das über, was die Liebesfahrt zu sehen bekommt. Frisch eingeschenkte Liebe in ihrem ersten aufbrausenden Schaum entführt ohnehin, und erotische Verwandlung sucht auch Verwandlung des Draußen. Den eigenen Überraschungen verbinden sich die des ungekannten Lands, der fremd-schönen Stadt; noch in /(432) den Stumpfsten fällt dann Licht, und die Lebhaften werden voll Figur. Wanderer, Weg und Ziel werden in der Liebesreise wie eines; weshalb auch dem Liebhaber und der Liebhaberin, wenn sie getrennt sind, nichts Schönes erscheint, von dem sie nicht wünschen, daß es der andere zugleich sehe, daß es gemeinsam gesehen werde. Noch die bürgerliche Hochzeitsreise kopiert das, wenn sie auch einen Teil der Aussteuer daraus machte. Erotik macht die Welt eindringlich und überall zu Cythera; alles Schöne wird der Erotik eine Flucht von Wunschträumen, von Entführungen und Eröffnungen. Das indische Liebesbuch Kamasutra rät derart in großer Feinheit, man möge der Geliebten nach dem Liebesakt schöne Gegenstände zeigen und erhabene, besonders ungewohnte, seien es Kunstwerke oder Sternbilder. Ihre erste wahre Liebesreise bleibt den meisten Menschen die traumreichste, die am jugendlichsten, also am stärksten utopisch umwitterte Erinnerung. Der fremde Ort besiegelt alle früheren Wünsche nach Ferne; Verfremdung in Schönheit ist der Abend und die Nacht der Liebesstadt, lebt untertags. Und wie Reise der Erotik verwandt ist, so auf anders verbindende Art den Geschäften der Atuse. Der glückhaft verwandelte Aufenthalt mag nicht grundlos zu dem Wunsch verpflichten, daß Bedeutendes an diesem ungemeinen Ort zustande gebracht werde. Nichts wirkt stärker auf solche Pläne und Hoffnungen ein als eine von der gewohnten Zerstreuung entfernte, selber vorgeformt wirkende, plastische Umgebung. Am bäurischen Tisch in der Loggia dieses Landhauses, den Wein vor sich, unter alten kräftigen Bögen, durch die römischer Himmel siebt - hier scheint die Arbeit zu gelingen. Blicken gar Objekte großer Natur, großer Geschichte in den Fluß der Sätze, dann entsteht der Anschein,
als spiegelten sie sich darin ab, als teilten Vesuv oder Monreale sich ihnen mit. Es ist das ein feiner Aberglaube, und er hat Ungewöhnliches, das zum Glauben berechtigt, zustande gebracht. Aus diesem anders erotischen, produktiven Pathos der Reise heraus schrieb Shelley seinen »Entfesselten Prometheus« in den Büschen des Palatin; in der Vorrede legt er Gewicht darauf, er wolle vor einer majestätischen Vergangenheit verpflichtet sein, er wolle vor ihr bestehen. Auch Gegensatz kann derart wirken: Ibsens »Nora«, in einem normannischen Wachturm bei /(433) Amalfi entstanden, gar Goethes Hexenküchenszene, gedichtet im Garten der Villa Borgliese: am Kontrast des Entstehungsorts zum Ort und Tenor der Handlung gediehen Abgeschlossenheit und sonst nie so komplementär erschienene Gegenlandschaft des Autors wie des Werks. »Wie man nach Norden weiterkommt, so nehmen Ruß und Hexen zu«: aber der gestaltbare Hexenrauch nahm gerade unter Pinien zu, in der Klarheit des Pincio; selbst die Walpurgisnacht wurde im Süden konzipiert. Nichts Heimisches alterierte oder machte, zwischen Werk und zerstreutem Alltag, verwischte Ränder. Die Verfremdung, die jeden bedeutenden Gegenstand noch doppelt erhöht macht, wie eine Bergspitze überWolken, legt gegebenenfalls, mit oder ohne Komplementärwirkung, die Größe des Werks selber frei. Das sind die Wirkungen der reisenden Verfremdung auf die Hoffnung; mit Eros in beiderlei Gestalt, der der Liebe und der der Schöpfung. Und schließlich zu guter Letzt, mit so häufigem Umschlag, was Verfremdung angeht: eine der Neuerungen der Reise mag sogar sein, daß sie auch das Gewohnte zu Hause verfremdet. Der so entstehende Affekt heißt Heimweh; er ist sinngemäß einer der durch Ferne so ausgelösten wie ausgewechselten Sehnsucht. Wird doch Heimweh nicht nur durch die Unlust erregt, die das Nichtvorhandensein gewohnter Gegenstände hervorruft, sondern außer dem Heimweh aus Verlust der gewohnten Merkwelt gibt es das produktive, das die verlassene, längst abgestumpft erfahrene Umgebung selber farbig, ja utopisch macht und ihr neue Seiten abgewinnt. Dann wird das Heimweh so von einem Wunschbild getragen wie die Fremde vor Antritt der Reise und in ihr. Und es wird von der gleichen, oft ungerecht, oft aber auch gerecht vergoldeten Erinnerung getragen, die den Reisegang selber nachher vollendet, und die die utopischen Länder im Exotischen kennzeichnet. Mit dem Unterschied freilich, daß die Vergoldung des Heimwehs bei der Rückkehr verschwindet, während das Reisebild Post festum noch exotischer wird, gar eine Verwandlung erlangt, die sich ans gute Wunschland der Kunst und anderer Entführungen anschließt oder anzuschließen vermag. Der übers Meer fährt, sagt zwar Horaz, verändert nur den Himmelsstrich, nicht sich selbst. Aber er verändert wenigstens den Himmelsstrich: im einfachen Fall ist das /(434) eine Umstellung der Kulissen, im bedeutenderen erwächst aus dem veränderten Bewußtseinsinhalt eine veränderte Bewußtseinslage, die dem Inhalt angemessen werden will. Weiter bezieht sich der Reisereiz gewiß auf eine über die Hälfte nur subjektive Schönheit, auf eine also, die mit Verfremdung vom bloßen Beschauer her und vom bloßen Wunschbild der hochgesteigerten Sache überzogen ist. In der Fremde ist niemand exotisch als der Fremde selbst, so ist auch die Fremde sich selber keineswegs schön verfremdet, und der dort Einheimische hat außer der eigenen Not, die der bloße reisende Enthusiast nicht sieht, selber den Wunsch nach Fremde. Etwa nach derjenigen, woher der reisende Enthusiast selber kommt; all das aus dem gleichen, dem beiderseits vorhandenen Subjektwunsch nach Entfremdung. So daß man sehen kann, wieviel Subjektivität von Haus aus in jedem Reiseerlebnis als solchem steckt, und wie schwierig sie es letzthin machen kann, zu jener veränderten Bewußtseinslage vorzudringen, die dem erblickten Inhalt nicht nur gerecht werden will, sondern gerecht werden kann. Auch
Goethes »Italienische Reise«, die so großartig objektiv gerichtete, gelangt dadurch, daß sie tunlichst nur Pro-Klassik, Anti-Barock zu erblicken sucht, aus dieser Subjektivität erst zur Hälfte des wirklichen Italien. Aber die Reise geht einem Wunschbild des schönen Andersseins wenigstens an diesem fernen Punkt nach und einem, das in der Fremde, mit ihren frisch erblickten Wundern, sich dennoch oft leibhaftig bekleidet. Weshalb eben auch Post festum das Reisebild so nahe der Kunst verwandt bleiben mag, ja anderer Verwandlung dazu, nämlich der sammelnden zu einer letzten Reise. Der oft berichtete Erinnerungszug in der Sterbestunde, wohl schon im höheren Alter, hat darum nicht nur Menschen, Figuren, Gegenstände an seinem konzentrierten Weg, die gleichsam an der Wiege oder im eigenen Haus gesungen worden, sondern vorzüglich Reisebilder - auch Post festum mit utopischer Festlichkeit nochmals verschönte. Und dies letzte Gewürz war wohl schon beim ersten Anblick ungemeiner Gegenstände am Werk, brennend und überdeckend oder aber den wahren Geschmack der Sache verstärkend. Nicht nur Geschichte, auch Geographie hat so darin das Beste, daß sie Enthusiasmus erregt; freilich als einen, der sich zur desto /(435) intensiveren Einsicht in die - zum Gewohnten nicht nur kontrastierenden - Gegenstände an ihrem Ort und ihrer Stelle zusammenfindet und aufmacht. Fernwunsch und historisierendes Zimmer im neunzehnten Jahrhundert Eine Geschichte aus dem zehnten Jahrhundert? - »Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?« Scheffel, Vorwort zu »Ekkehard« Seit die Reise bequem geworden ist, führt sie nicht mehr so weit. Sie nimmt mehr häuslich Gewohntes mit und dringt in den Landes Brauch noch weniger ein als früher. An Stelle der Wanderschaft, des Ritts, des nie vermeidbaren Abenteuers ist im neunzehnten Jahrhundert Verkehr getreten, ein - verglichen mit den heutigen Fluglinien - verblüffend rasch ausgebautes Eisenbahnnetz. Weniges wurde so kanalisiert wie das Reisen; zwei Weltkriege gehörten dazu, um diesen nützlichen Fortschritt zu stören. Das neunzehnte Jahrhundert hatte es immerhin zustande gebracht, daß der Schnellzug ungestört an einer Stelle vorbeisaust, wo nach alten Reisebüchern sich vordem eine Räuberhöhle befunden hatte, und das gefährliche Leben zu Hause war noch nicht recht aufgeblüht. Dafür aber wurde eben die schöne Fremde zu einem kleinbürgerlichen Ferienschmaus umgefälscht. Es kamen die sogenannten Reisegesellschaften, als Mittel, nicht nur die Reise, sondern auch die ihr zugewandten vormaligen Wunschbilder billig auszuführen. Es begannen die sogenannten Sehenswürdigketen, und sie standen innerhalb einer für die Tour zurechtgestellten Welt, einer verabredet-italienischen, verabredet-orientalischen. 1864 organisierte der frühere Bahnbeamte Louis Stangen die erste seiner nachmals so beliebt gewordenen Gesellschaftsreisen; sie eröffneten dem gemäßigten Fernweh nicht nur sein Italien, sondern auch seinen vorderen Orient. Sorrent wurde gegrüßt, die schimmernde Blüte der Wellen, auch die blaue Adria, die Inselperle Korfu, Kairo, die Pforte des Morgenlands, und die gigantischen Pyramiden. Alles garantiert, samt Trinkgeldern, alles am Schnürchen, Er- /(436) klärer inbegriffen, für eine Pauschalsumme pränumerando. Aber auch der ungegängelte Fremdenverkehr wuchs seit der Mitte des Jahrhunderts mit gemehrtem Wohlstand der Mittelklasse immer rationalisierter an; die Welt wurde für die Besichtigung von acht Tagen, von vierzehn Tagen, von vier bis sechs Wochen katalogisiert. Einzig die Alpinistik
lieferte, stellenweise, noch Platz für Ungebahntheit, auch für spezifische Fern-, nämlich Höhenwünsche. Ebenso blieb, ja wuchs die lesende Teilnahme des Publikums an den letzten übriggebliebenen Entdeckungsreisen, an denen ins dunkle Afrika und an den Nordpolfahrten; Nansens Buch »Durch Nacht und Eis«, mit den hocharktischen Photographien und den Farbdrucken: Nordlicht-Krone, Nordlicht-Baldachin, gab breitesten Kreisen noch eine Ahnung von unverkaufter Natur. Die unverkaufte suchte der Normalreisende allerdings auch dort, wo er seine ganze häusliche Komfortzelle (living room) mitnahm, und wo die gleiche Coca-Cola-Welt, die die Touristik begünstigte, immer mehr die erträumte Andersheit, auch Märchenferne der Besuchsorte aufhob. Vor allem aber an der Basis dieser sämtlichen Organisierungen: die Touristik gewann, indem sie Seefahrt machte, den Vorderen Orient bespülte oder zu Hause wenigstens die Bilder »Im Fluge durch die Welt« verbreiten ließ, wachsende propagandistische Bedeutung für die heimischenWeltmarkt-,Weltmachtwünsche. Denn das imperialistische Zeitalter beförderte und umgab die Reisebüros dauernd; zugleich aber hat es die Fremdwelt erst recht deformiert. Sie wurde bestenfalls in Gebiete abseits von der Kapitalstrecke zurückgedrängt, hauptsächlich aber wurde sie ein immobiler Fremdenartikel, so lange, bis sie ein anderer, kolonialer ward; - alles geht unter, mit Ausnahme des Abendlands, das ist von hier aus ein gültiger Satz. Die Beschäftigung mit Volksleben, der Streifzug ins Ungestellte, diese konkrete Wahrnehmung wirklicher Merkwürdigkeiten ist lange dahin. Goethes »Italienische Reise«, noch Viktor Hehns Italien-Buch zeigten diese Sachlichkeit, vor allem auch, was erfahrene Folklore angeht. Der sonst so präzise Baedeker zeigt Folklore nicht mehr oder nur noch mit Beschimpfungen, sofern sie nicht ins genormte Aussichtsfenster paßt. Und der Ferntraum erhielt sich erst recht nur um den Preis, daß Kontrastwünsche das Exotische überströmten, freilich auch den /(437) immobilen Fremdenartikel nochmals zu einem Artikel gemacht haben, zu einem, der schlechthin die Marke: Nicht-Zuhause trägt. Als wenn die Fremde lediglich das Gegenteil von Krefeld oder auch Minneapolis oder auch Liverpool wäre, als wenn sie nicht ihre eigenen Bedeutsamkeiten, ihre nur mit sich selbst vergleichbaren, mit sich führte. Dem bloßen Kontrastwunsch steht nun so Eigenes wie etwa süditalienische Kirchenfeste oder wie die noch erhaltenen Karawanen, Kamelmärkte und Basare des Orients nicht etwa disparat zur heimischen Welt, auch schließt dies Mittelalter vor den Toren Europas nicht etwa Züge des eigenen gewesenen Mittelalters auf, sondern konträr: genaues Widerspiel zur Heimat des Besuchers wurde gesucht, ein Kontrast, den das Besuchte doch gar nichts angeht. Solche Kontrastwünsche sind freilich älter als das neunzehnte Jahrhundert, wenn auch nicht viel älter als das achtzehnte. Sie leiteten bei Winckelmann, in der Suche nach edler Einfalt, stiller Größe, sie wirkten bei Goethe, soweit dieser nicht italienisches Volk und Landschaft, sondern bestimmte italienische Kunstwerke beurteilt, und machten ihn, der von deutschen »Tabakpfeifensäulen« genug hatte, blind für das so sehr vorhandene, so sehr überwiegende Barock Italiens. Anders hatte Delacroix in seinen Algier- und Marokkobildern Gegensatz gesucht, dieses Falls romantisch. Die Glut seiner Raubtiere, Haremsfrauen, Wüstenszene (»férocité et verve») ist nicht nur Afrika, sondern Anti-Louis-Philippe, Anti-Bürgerkönigtum. Delacroix hatte sogar, aus lauter Anti-Klassizismus, gepredigt, daß die wahre Antike bei den Arabern zu suchen sei. Aber von diesen früheren Kontrastwünschen unterscheiden sich die des späteren neunzehnten Jahrhunderts nicht bloß durch das gesunkene Niveau ihrer Träger, sondern vor allem auch durch dasjenige der Welt, die sie, wenn auch negiert, zu kontrastieren suchten. Indem Venedig nun einfach den Gegensatz zu dem
Krefeldschen oder Liverpoolhaften zu geben hatte, erschien es leicht selber als ein überdonnertes Nicht-Liverpool; woran das wirkliche Venedig doch ganz unbeteiligt ist. Und die sogenannte italienische Nacht ist ein ganz anderes als das Gegenteil zu einem nordeuropäischen Industrietag; es sei denn, daß die Nacht für die Fremden gestellt wird. Aber nur auf diese Art erschien das Nie-Erhörte, Nie-Gesehene, das die Ausfahrt /(438) subjektiv, sogar objektiv darbieten sollte. Ein Wonnetraum aus Flucht und Ferne, aus Kontrastbildern mitten im kanalisierten Zierat machte seine Reiseandenken, und Sphinxhaftes, das überall liegt, wartete auf bessere Zeiten. Denn die Wunder der schönen Ferne erschließen sich nur ohne transferierten Maskenball, nur mit dem bedeutenden, gar ahnungsvollen Gegenstand im eigenen Saft, an Ort und Stelle. Nicht zuletzt sollten nach 1850 die vier häuslichen Wände selber unkenntlich werden. Auch dieses mit fern hergeholtem Schmuck, mit einem, den die eigene dürre Zeit nicht gab. Von allem Weißen, Unverhüllten wandte man sich ah, gleich als ob man daran eines Leichnams gewahr würde. Dem hochkapitalistischen Jahrhundert war verräterisch viel daran gelegen, daß jedes seiner Stücke maskiert sei. Das Biedermeier hatte noch, mit besonderer Liebe, ungetünchte Wände oder solche in schlichtem Grün, seine Möbel waren so ehrlich-klar, hell-schön wie wenige andere vorher. Geraffter Mull ließ das Tageslicht doppelt weiß herein, es fiel auf die Vitrine und den Kirschbaumschrank, auf den reinen Rundtisch mit den schlanken Beinen oder der wohlgestalteten Säule, die ihn trug, auf bescheiden-reiche Lyrastühle, auf das sanftmächtige Kanapee. Und wenn man damals dies ganze Wesen auch neugriechisch nannte, so war es doch völlig bei sich zu Hause, war überall mehr Sein als Scheinen. Mit einem feinen Duft von Märchen, Punsch, von der diesen Zimmern eng verbundenen Kunst E. Th. A. Hoffmanns. Das nun hörte um die Mitte des Jahrhunderts mit einem Schlag auf, kopierter Fernzauber, maschinelle Butzenscheibe begannen. Ein reich werdendes Bürgertum legte sich ins Adelsbett, träumte dort vergangene Stile nach, altdeutsche, französische, italienische, orientalische, lauter Andenken. Eine immer wieder erstaunliche Lust kam auf, gar Kein-Sein in Scheinen zu verwandeln, die alltägliche Wohnung unter anderer Flagge segeln zu lassen. Reise-Ersatz, ja Reise-Überbietung in den eigenen vier Wänden wurde die Parole, teils als historische, teils als exotische. Von daher die StoffDrapiersucht der Gründerjahre, die Versammlung von Nippes, neureichem Protzenstil, Samt und Atlas durcheinander. Von daher Büfetts als Ritterburgen, die Hellebarden und der Haremsprunk, die Moscheelampen und die Stierhörner - eine ganz /(439) rätselhafte Montage. Und sie lag in schummerigem Licht, durch vielfache Draperien des Fensters fallend, durch tunlichst pseudoorientalische Vorhänge, um die Straße fernzuhalten, um dem Ensemble seine Maskerade zu hüten. Und in das Ensemble klangen die Salonstücke der höheren Töchter, die mit Schleifchen, Tromperchen, Amoretten verzierten, all das falsche Rokoko der »Cascades«, »Carillons« und »Papillons«, der »Pensees fugitives« und »Cloches du monastére«, die »Souvenirs de Varsovie« nicht zu vergessen. Quer ins Zimmer hing überdies sehr gerne eine polierte Stange mit einem riesigen Kelim, als wäre hier Mast und Segel und das Zimmer kreuze arabisch auf dem Weltmeer oder läge im Hafen vor einer indischen Stadt. Daneben fehlte das Spinnrad nicht und das Reiseandenken aus Venedig: die Perlmuttergondel vor einem himmelhohen Muranospiegel. Zu all dieser Wunschmaske als Einrichtung (in den verschiedensten Preislagen ausgeführt, wie sich von selbst versteht) gab aber letzthin das Atelier des Wiener Malers Makart das Modell: hier war das Original historisch-exotischer Verkleidung. Jeder Kommerzienrat entnahm sich daraus, von Tapezierern beraten,
die Anregung zum heimischen Fremdleben, bis auf die Staffelei in der Ecke mit dem soeben beendeten Ölgemälde. Um die noch nie so dagewesene Glanz-Utopie des nouveau riche zu schildern, müßte man selber seinen Pinsel in den Makart tauchen, wo er am tiefsten ist. »Das Atelier an der Gußhausgasse« schreibt ein Zeitgenosse Makarts 1886, »gewann durch die verschwendetische Pracht und Kunstliebe des Meisters mehr und mehr den Charakter eines malerisch angeordneten Museums, welches der Phantasie Makarts den Apparat seiner Hilfsmittel und Vorbilder zu bequemer Benutzung darbot, in dem sich ihm die eigene Existenz und die glänzende Geselligkeit, mit welcher er sich umgab, in ein farbenschimmerndes Kunstwerk verwandelte.« Farbenschimmernd, Tizian, Venedig und vor allem eben Orient, das war die Traum- und Fluchtparole dieser so tief spießbürgerlichen, gelangweilten und pessimistischen Zeit, der Verdeckungszeit, Dekorationszeit, Maskenzeit par excellence. Verkleidung regierte nicht minder den historischen Roman, altdeutsch hei Scheffel (Elkehard), römisch-germanisch bei Felix Dahn (Ein Kampf um Rom), ägyptisch bei Georg Ehers (Uarda, /(440) Semiramis); alle im Butzenscheibenlicht, auch an Tiber und Nil. Und es bedurfte dieser historischen Verfremdung, weil die exotische Wohnung doch nicht ganz ausreichte, um den Protzentraum von Ritterburg zu erfüllen, und weil die Geschäftsstraße draußen erst recht nicht mit Spinnrädern versehbar war. Trotz der Mühe, die sich auch die Außenarchitektur, wenn man das so nennen kann, mit Kostümen gegeben hat, mit den romanischen Bahnhöfen und gotischen Postämtern, mit indischen Musikpavillons und maurischen Affenhäusern. Und da der rohe Mechanismus dieser Zeit sich mit alldem doch nicht zudecken ließ, so bezog er noch, damit er ebenfalls, gleichsam mit einer gigantischen Wohnungseinrichtung, dekoriert werde, ein Reiseandenken ganz großer Art: die Natur. Der Genießer des neunzehnten Jahrhunderts sah in ihr die Nachbildung einer an sich trostlosen, doch gut drapierten mechanisch-materialistischen Aussicht, eine Art Simili-Panorama aus Kraft und Stoff. Die letzteren beiden blieben zwar, wie Ludwig Büchner sagte, »die Rohstoffe, aus denen sich das ganze Weltall mit seinen Wundern und Schönheiten aufbaut«, indes für die Ferien, die sich nicht um ihre Schönheit bringen lassen wollten, wurde die Natur zur Prachtausgabe. Hier gebrauchte sogar der Aufgeklärteste die Wörter »Göttin« und »Tempel«; dergleichen leuchtete wie ein Diorama von Firn und Alpenglühen am häuslichen Fenster. »Die Göttin der Wahrheit wohnt im Tempel der Natur«, sagen Häckels »Welträtsel«, die Stoff und Kraft so sehr koloriert und veredelt haben, »sie wohnt im grünen Walde, auf dem blauen Meere, auf den schneebedeckten Gebirgshöhen.« Ja in dem Maße, wie die Makartwelt um die Jahrhundertwende gegen Böcklin, anders gegen Klinger nachließ, wurde die überfüllte Wohnung wieder klassischer, sozusagen, und der Orient gegen lauter Mittelmeer eingetauscht, ohne daß freilich die Draperie verschwunden wäre. Der Raum legte nur gleichsam Weiß-Gold-Maske an; zur Gasbeleuchtung trat Cäsar Flaischlens »Sonne im Herzen«, zur Architektur des historischen Romans trat Carl Larssons »Haus in der Sonne«, von 1895, als eine Art von kosmisch, nicht mehr bengalisch beleuchteter Lebensform. Das ergab jetzt eine Jugendstil-Erotik neben der der gemalten Sklavinnenmärkte in Kairo, eine »halkyonische» Erotik neben der /(441) des Palmbaums im Salon und der deutschen Renaissance auf türkisch. Die spezifische, nur im neunzehnten Jahrhundert vorhanden gewesene Traumschicht, worin der überfüllte Kitsch und alle die angegebenen Seltsamkeiten gestanden haben, historisch-exotisch-utopisch dekorierend, besetzte sich jetzt mit heller Beschworenem, aber immer noch mit Beschworenem. Ein Haremshimmel hatte fast über der ganzen Zimmereinrichtung des neunzehnten Jahrhunderts gestanden, nun
wird das orientalische Zypern im eigenen Heim, im eigenen Naturtempel mit einem sezessionistisch-antikischen vertauscht - und bleibt doch Zypern als Genrestück, als Exotik des Schein-Jahrhunderts. So nicht zuletzt in dem Prospekt, den der Häckelianer Wilhelm Bölsche gleich einer Draperie »edler Nacktheit« vom Tempel der Natur gemalt hatte: »Lichte Zukunftswelt eines besseren, auch von seinen Schlacken gereinigten Griechentums; wo Sitte und Nacktheit, reine Weihe der Kunst und heißer Duft des Liebesfrühlings auf gemeinsamer Blumenwiese beieinander lagern können, ohne sich zu stören, während der weiße Tempel mit seinem heiligen Vorhang vor den tiefsten Mysterien des Lebens wie des Denkens still darüber zum Himmelsblau ragte... Wann werden wir aus dem tiefen Schattental unserer Irrungen deine Insel der Seligen erreichen?« Wie ersichtlich, fehlt auch hier der Vorhang nicht, eine Art antiker Portiere, die man sich gern vor dem Eingang des Tempels vorstellt, gleich Reizwäsche vor der Geliebten oder auch gleich dem hängenden Kelim im früheren Salon, nur nicht als Segel gedacht. Solch antiken Tempel mit Vorhang auf Blumenwiesen gab es nicht, er ist gleichfalls geträumtes Kontrastbild aus Reisebildern. Er fand sich, mehr weiße Ölfarbe als Marmor, auf damaligen Ausstellungen, sein Urbild erscheint als Spielwerk, zuweilen in Schloßgärten des späten Rokoko, auch auf klassizistischen Stichen. Überall wirkt hier, noch um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts, schöne Fremde dekorativ, nämlich als die besondere Art von angeordneter, von gestellter Utopie. Vor allem über Zimmer- und Bilderwelt der Gründerzeit lag der echte Fluch der Kopie (hergestellt durch Fabriken), der falsche Segen einer Exotik in Plüsch, einer Passage als Wohnung, eines Panoramas als Einrichtung. Die reiche, die korinthische Säule in allen Ehren, aber sie besonders muß die /(442) allerechteste sein; denn ihr Ort ist nicht die Protzerei des kleinbürgerlichen nouveau riche, nicht der zugestellte Mangel an Phantasie, sondern deren Überfluß. Aura antiker Möbel, Ruinenzauber, Museum Das Sammeln ist eine besonders vertrackte Art abzureisen, seit je. Es zieht zusammen, hält alles bei sich, berührt sich mit Habgier und Geiz, insofern bleibt es ganz eng zu Hause. Es sucht andererseits das Seine so weit umher wie möglich, durchstreift alle Winkel nach altem Gerät, macht sich nichts daraus, den davon Besessenen zu ruinieren, insofern ist es hinlänglich extravertiert. Das ist widersprüchlich, aber in dem Wunsch einig, sich mit Seltenem zu umgeben, zeitlich oder räumlich Fernes gleichsam als Kapsel zu haben. Gesammelt werden kann alles: Knöpfe, Weinetiketten, Schmetterlinge, besonders häufig Briefmarken. Das Sammeln antiker Gegenstände, nicht mehr vorhandener oder exotischer Kunst ist nur die edelste Jagdart unter den übrigen. Auch die Sucht nach Vollständigkeit findet sich beim Markensammler ebenso wie beim Porzellansammler; der Wunsch, einen Satz, und der, ein Service komplett zu haben, ist der gleiche. Und die Seltenheit bestimmt hier wie dort den Preis, handle es sich um eine abweichende Zähnung oder um eine auch seitlich geschweifte Barockkommode, die die Hälfte mehr kostet als eine nur vorn, an den Schubladen, geschweifte. Bei allen Sammelobjekten ist die Arbeit des Händlers, als eines Finders von Raritäten, produktiv (eine der wenigen produktiven im Verteilungsgeschäft); bei allen reguliert die Konkurrenz der Liebhaber den Preis. Trotzdem unterscheidet sich Kunstsammeln wesentlich von dem übrigen, denn das Seltene ist in diesem Feld zugleich das Nicht-Wiederherzustellende, das Unwiederbringliche. Während Briefmarken und ähnliches heute so ziemlich dasselbe sind wie vor hundert Jahren, eignet dem alten Möbel, Samt, Porzellan eine
verlorene Güte, ein verschwundenes Handwerk, eine versunkene Kultur; und dieses qualifiziert die Seltenheit. Zum Unterschied von der eintönigen und immer eintöniger werdenden Maschinenware geht ein ungenormter Reichtum im Antiquitätenland auf, ein stets aufs Neue verblüffender. Die einfachsten /(443) Fayenceteller sind bereits verschieden, wenn ihre Herstellungsorte fünf Wegstunden voneinander getrennt waren. Kein Orientteppich, mit Ausnahme der Buchara und Afghan, ist dem anderen gleich; zwischen einem Frankfurter und einem Danziger Schrank, obwohl sie beide barock sind, bestehen Unterschiede wie zwischen Hoftor und Schloßportal. Das alles ist getrennt durch Lokalität, Auftrag, Überlieferung, doch alles ist unwiederholbar geeint im soliden Handwerk, Stück für Stück eigens angefertigt, und alles verband eine geschlossene, langsam gewachsene Kultur. Heutiges Sammeln von Altertümern bedeutet daher Abkehr von der Maschinenware, Hinwendung zu einem unwiederbringlich gewordenen Hausbild, das zugleich das behaglichste und phantasievollste war. Dieser Sammler-Eros wird auch durch die unleugbare Herkunft seiner heutigen Gestalt aus dem vorigen Jahrhundert nicht geschwächt, genauer: aus dessen Dekorationszimmern. Er wird nicht geschwächt, weil sich ja die Antiquitätenfreude auf alles andere eher beziehen will als auf protzig hergerichtete Kopien und die sogenannten Stilmöbel. Sogar die gefälschten Antiquitäten sind selten an die Bedürfnisse und Schmuckwünsche eines neureichen Protzentums adaptiert. Alle echten aber sind Zeugen einer durch den Kapitalismus zerstörten Formgewißheit, erhaltenes Strandgut aus verlorener Schönheit. Mit romantisch-reaktionärem Antikapitalismus hat die Einschiffung nach dem Antiquitätenland gar nichts zu tun, wohl aber mit der Einsicht, daß der späte Kapitalismus der Todfeind der Kunst war, vorzüglich der im Hausgerät. Als ehedem schön gelungenes bildet es weiter sein beglückendes Ensemble, aus dem gleichen Boden stammend, aus der gleichen, phantasievollen Fruchtbarkeit. Auch verstehen sich alle diese guten Stücke untereinander, schließen sich, noch in der Mischung, einander an, wie, um Beispiele aus Architektur zu gebrauchen, aus Würzburg, aus Worms, ein Seitenportal aus reinem Rokoko sich bruchlos an einen romanischen Dom angeschlossen hat. Es bleibt zwar wahr, der Wunsch abzureisen liegt auch dem Sammeln echter Altsachen zugrunde. Das verbindet in etwas mit dem faulen Fernzauber von ehedem, das kannte der wirklich echte Bewohner wirklich echter Umgebung nicht. Aber erkannte den Wunsch, der heute noch einen wichtigen Teil des antiqua- /(444) rischen Aufenthalts ausmacht: den Wunsch, in mehreren alten Zeiten, fernen Landen gegenwärtig zu sein. Es ist der Wunsch des Justizrats aus Andersens »Galoschen des Glücks«, ins gotische Kopenhagen zu gelangen; die vielen Zauberei-Geschichten, die den Adepten ins alte Troja oder an den fernen Ganges versetzen, sind von gleicher Art. Welch ein Traum, einen Tag, nur eine Stunde im Porzellanjahrhundert verweilen zu können, gar im alten Athen, Rom, Byzanz, Memphis, Babylon. Lebend durch die alten Straßen und Häuser gehen zu können, in einer Zeitreise nach rückwärts, gegen den Tod, hinter die eigene Geburt. Der Besucher findet einen Widerschein dieses unnatürlichen, gegen den Lauf der Dinge gestemmten Wunschbildes in Pompeji. Und sicher ist ein Stück Pompeji in jedem alten Weinkrug, lebt im Klang, womit die barocke Schranktür ins mächtige Schloß fällt, im entlegenen Schein der Zinnteller. Am wildesten, auch am meisten voll ineinander gestellter Spiegelungen ist diese Rückwärtsreise mit Wünschen in jedem gut überfüllten Antiquitätenladen. Balzac beschreibt eine so gegebene Wunschserie oder Spiegelmontage ganz unvergeßlich im »Peau de chagrin«. Ein junger Dichter betritt hier das Magazin, »betrunken vom Leben und vielleicht schon vom Tod«, und
als solcher Voyeur erfaßt er die Quer-Montage, erfährt er den ineinander gestellten Aufenthalt in Vergangenheit, in Ferne, in Spiegelgalerie. »Er mußte die Gebeine von zwanzig Welten sehen ... Krokodile, Affen, ausgestopfte Riesenschlangen grinsten Kirchenfenster an, schienen nach Büsten zu schnappen, Lackkästchen haschen und auf Kronleuchter klettern zu wollen. Eine Sévresvase, auf die Madame Jacotot Napoleon gemalt hatte, stand neben einer dem Sesostris geweihten Sphinx ... Gerätschaften des Todes, Dolche, fremdartige Pistolen und geheime Waffen, waren kunterbunt mit den Gerätschaften des Lebens durcheinandergeworfen: mit porzellanenen Suppentöpfen, Meißner Tellern, durchsichtigen chinesischen Tassen, antiken Salzfässern und feudalen Konfektdosen, ein elfenbeinernes Schiff mit vollen Segeln schwebte auf dem Rücken einer bewegungslosen Schildkröte. Eine Luftpumpe drang in das eine Auge des Kaisers Augustus, der in regloser Majestät verharrte ... Auf diesem Kehrichthaufen der Welt fehlte nichts, nicht das Kalumet der Indianer, noch die grüngol- /445) denen Pantoffeln des Harems, nicht der maurische Jatagan noch das Idol der Tataren. Alles gab es bis zum Tabaksbeutel des Soldaten, dem Ziborium des Priesters und dem Federschmuck eines Thronsessels. Dieser Bilder Verwirrung war überdies noch von tausend launenhaften, spielenden Lichtern überflogen, voll eines wilden Durcheinanders von Nuancen und des stärksten Gegensatzes von Helle und Finsternis. Das Ohr meinte, abgebrochene Schreie zu hören, der Verstand holte tausend unbeendete Trauerspiele aus dem Chaos, und das Auge glaubte, kaum verhülltes Leuchten zu gewahren.« Dem jungen Dichter wurde die Verzweiflung gestillt, die ihn in dieses Magazin getrieben hatte, er verwandelte sich in Ritter und Bajaderen, in verschollenes Wachs, Eisen, Sandelholz, rings um ihn komprimierten sich hundert Zeiten und Räume in eine einzige Perspektive. »Bald wurde er zum Seeräuber und umgab sich mit dessen ganzer düsterer Poesie, dann bewunderte er zarte Miniaturen, azurne und goldene Ornamente, die eine kostbare Meßbuch-Handschrift zierten, und vergaß die Erregungen des Meeres wieder. Eingelullt von einem Gedanken voll Frieden, vermählte er sich von neuem der Wissenschaft, lag in den Tiefen einer Zelle und sah durch ihr Spitzbogenfenster über die Wiesen, Wälder und Weinberge seines Klosters hin.« Die so geschilderten Ausschweifungen ergehen sich ersichtlich stets in Strandgut-Montage, nicht in den Dekorationszimmern des französischen, gar des deutschen zweiten Kaiserreiches. Balzacs Betroffenheit ist nicht einmal romantisch, sondern sie ist, auf neue Weise, in ihrem Verfallensein ans Trümmerhafte schlechthin barock. Der Antiquitätenladen Balzacs ist ein Schausaal von Vergangenheit und Ferne, Strandgut wird so allegorisch. Was bedeutet, daß das verschwunden Erhaltene wirkt, als gäbe es nun erst seine letzte Schöne frei. Das Verwitterte erscheint dann, als ein bloßes der Oberfläche, wie schwermütig-heiteres Lichten, wie Lichtung; so entstand manieristisch, bei Balzac noch anklingend, der Kult der Ruine. Die Vergänglichkeit, am menschlichen Leib und Glück so beklagt, erlangte, als gestaltete und ebenso eröffnete, damals einen seltsam-figürlichen Wert. »Mit blassen Leichen prangen«, das gab dem Schluß barocker Trauerspiele seinen Schmuck; nicht anders wurden die Trümmer als /(446) solche geehrt, welche aus der Antike herüberstarrten (vgl. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, 1928, S. 176 f.). Der gesamte barocke Manierismus reflektierte das Zwielicht, das aus dem Ineinander von aufsteigendem Bürgertum und tonangebendem, prekär-mächtigem Neufeudalismus entstand; wobei freilich die Vergänglichkeit, als eine im Sturz aufgehaltene, durchaus noch Form bildete, also keineswegs in Nihilismus fiel. Die Ruine mußte so ziemlich genau die Mitte halten zwischen dem Zerfall und einer
hindurchscheinenden, sozusagen erst integren Linie; diese schwebende, in der Schwebung gleichsam angehaltene Mitte machte sie, im barocken Sinn, malerisch. Die Ruine hatte weiterhin, fürs barocke Christentum, den Blick in die Vergänglichkeit mit dem einer Welt am letzten Tag verbinden lassen; diese Mischung von Vergänglichkeit und Apotheose machte die antiken Trümmer ehrwürdig, nicht nur schön. Also wurde die Ruine - ungebrochenen Zeiten mehr ein Schreck als ein Wunschbild - die Kategorie, unter der die Antiquität zum erstenmal erbaulich wurde. Und mehr als das: ein Abglanz der vielen Märtyrerszenen in den Bildern des Barock fiel auch auf die Trümmer vergangener Schöne. Die Renaissance hatte, wo sie Ruinen antiker Tempel darstellte, diese noch aus lauter herausgelösten und gleichsam vorzeigbaren Mustern bestehen lassen. Aber Bilder und Stiche der zwei nachfolgenden Barockjahrhunderte verwenden die Ruine, um gerade das klassische Muster, als eines des Maßes und der Symmetrie, barock umzuformen. Die Trümmer wurden neue Elemente eines eigenen, entschieden unklassischen Emblems, einer Allegorie der Vergänglichkeit, auf der die Ewigkeit sich niederläßt. So wurden die Reste des Altertums vom barocken Darsteller eher im Zerfallenen überschönt, als ins Intakte restauriert; das selbst bei Piranesi, wie erst bei den Empfindsamen der Antike als Sonnenuntergang. Piranesis »Vedute di Roma« sind sehr genau, sie wollen Anschauung geben und wurden so, im beginnenden WinckelmannJahrhundert, empfangen, doch auch hier sind die Torsi als solche, in ihrer elegisch erwünschten Schönheit, durchaus überbetont. Gar die eigentlichen Barockmaler, die der melancholisch-trunkenen Phantasie, haben Trümmer-Antike auch dorthin gesetzt, wo sie an Ort und Stelle überhaupt nicht vorkommt: Chisolfis »Ruinen /(447) von Karthago« (Dresden) gehen um 1650 ein vorzügliches Exemplar dieser Gattung. Büsche, geborstene Mauern, malerisch herabgerollte und verstreute Säulen machten hier die Herrlichkeit des Altertums durch Vergänglichkeit besonders kostbar. Drückt die gemalte Architektur allemal Wunschträume am zwanglosesten aus, so hier die: christliche Elegie im antiken Hymnus zu haben. Und ein Abklang des Barock war noch die Empfindsamkeit, »wo der Vorwelt Schauer uns umwehen«; daher ist sie von künstlichen Säulenstümpfen bevölkert, nicht nur auf Gräbern, auch von künstlichen Ruinen insgesamt, so im Schloßgarten von Schwetzingen. Zudem traten außer den antiken Trümmern nun auch die der mittelalterlichen Burgen in den Gesichtskreis, sonderlich zum Spuk geeignet, neben der antiquarischen Erbaulichkeit. Ruinen galten seit je, schon in der Antike selbst und in Tausendundeiner Nacht, als guter Aufenthaltsort für Abgeschiedene: also wurde diese Szenerie, besonders als sie sich in heimischen, in gotischen Mondschein verschob, der legitime Ort des mit dem achtzehnten Jahrhundert beginnenden Schauerromans. Wie verschieden wirken diese sentimental gesuchten Ruinen voll den entsetzlich wirklichen, die die amerikanischen Terrorangriffe hinterlassen haben. Wie verschieden aber auch war damals schon die Aura, welche bloße Vergänglichkeit und ihre Elegie verliehen, von dem Grauen, das ohne alle Aura (es sei denn der der Sinnlosigkeit) in den öden Fensterhöhlen wohnt. Wie weit aber auch war die damalige Kategorie Antiquität, diese mit Ruinenzauber, ja Ruinenchiffern vermehrte, von den Restaurierungsbegriffen des neunzehnten Jahrhunderts entfernt; wie verschieden ist die Andacht zum Torso vom Trieb zu seiner Ergänzung. Als 1820 die Venus von Milo ausgeackert worden war, wurden die fehlenden Arme, bald nachher und das ganze Jahrhundert hindurch, in mehr als hundert Rekonstruktionen ex ingenio wiederhergestellt; das Barock hätte gerade am Torso seine Erbauung gehabt, eben die der Vergänglichkeit und des Endlichts auf ihr. Aber in wichtigen Bezügen allerdings ist der Ruinenblick auch heute noch
geblieben, außerhalb der verklärten facies hippocratica: so im Pathos der Patina, so in dem der Blockeinheit. Das Wunschoathos der Patina reicht von irisierenden Gläsern bis zum Goldton von Pästum, von verwitterten /(448) Dachziegeln (Mönch und Nonne) bis zur edelgrünen Bronze; dies Pathos will die seitdem verflossene Zeit, will sie wie alten Wein oder wie den Abend eines wohlverbrachten Lebens. Anders, ganz unromantisch, aber gleichfalls der Zerstörung nicht undankbar, ehrt Liebe zur Blockeinheit den Einfluß der Zeit, namentlich in plastisch-griechischem Feld: die armlose Venus von Milo erscheint hier als strengere Form, verglichen mit der illusionistischen des kompletten Originals. So kann das kostbare Strandgut überall Bedeutungen herzeigen, die es über seinen ursprünglichen Zustand und ehemaligen, gar alltäglichen, Zusammenhang erhöht macht. Das am stärksten in leeren Zeiten; nicht grundlos stieg das Museum selber, aus der fürstlichen Schatzkammer entstanden, erst im neunzehnten Jahrhundert zu seinem belehrenden, bewundert-mahnenden Glanz. Antiquität insgesamt: sie ist großenteils gewiß ein Unwiederbringliches, ein Vineta unter den Wassern der Vergangenheit. Aber sie ist im Zeitalter der Maschinenware und der formalistischen Bauhausimpotenz, die die dekorative des neunzehnten Jahrhunderts so stolz abgelöst hat - ebenso ein utopisches Zeichen. Ein mahnend-utopisches Zeichen dessen, was Fülle, was Ornament, was tüchtig umgebende Phantasie war und nicht bloß war, sondern unbeendet ist. Selbst eine wirkliche Neuschöpfung wird und muß als solche - auch Altertum in sich haben, mit- und fortarbeitendes, wie sich versteht, nicht kopiertes. Der Grad von Neuheit macht ein Werk wichtig, aber der Grad von Altertum macht es kostbar, und beide Bestimmungen gehen im Werk, das ein Kulturerbe so antritt wie selber hinterläßt, Hand in Hand. Die Maschine hat andere Bedingungen geschaffen, als sie die handwerklichen waren, denen alle Antiquitäten entstammen, aber sowenig wie der kapitalistisch erzeugte Maschinenmensch von heute bleibt, so wenig ist eine Maschinenware, die bloß der allgemeinen Mechanei und ihrer Einfallslosigkeit entspricht, das letzte Wort. »Eine Geburtszange muß glatt sein, aber eine Zuckerzange mitnichten« (Geist der Utopie, 1918, S.22); jeder echte Künstler liebt das Ornament, auch wenn das echte Ornament eine Epoche, die durch Mechanei wie Kitsch so sehr dezimiert worden ist, noch nicht wiederliebt. Die Reinigung von den Greueln des neunzehnten Jahrhunderts ist vorausgesetzt, dies /(449) allerdings als conditio sine qua non, doch jenseits dieser Reinigung steht als Aufgabe eine Ausdruckswelt, die die Fülle des zur Antiquität Gewordenen fortsetzt, nicht vernichtet. Ein heftiger, wenn auch keineswegs schon gesegneter oder gar vom Epigonentum des Epigonentums befreiter Farben-, Formen-, Ornament-Wille geht durch die von der Mechanei befreite Welt. Er erweist, daß das Licht, das die ganze Geschichte hindurch bis zum Einbruch der Maschinenware geschienen hat und alle unsere Museen erfüllt, nicht im Bauhaus und ähnlichem Leerjubel erloschen ist. Je drastischer der architektonische Pseudo-Fortschritt, nämlich ins Nichts, desto mehr werden Antiquitäten im alten Wunschbild ein neues Vergißmeinnicht, ein nicht romantisches. Die jetzt im Lauf befindliche Realität hat genug Vor-Schein, um gegen allen Lombard beim neunzehnten Jahrhundert - Gebilde von bisher unbekanntem Menschen-Ausdruck hervorbringen zu können. Es ist das Zeichen eines schlecht Gebauten, also der meisten neuen Geräte und Straßen, daß es nicht alt werden kann, sondern im Lauf der Jahre nur verrottet. Und ebenso ist es das Zeichen einer geborenen Kostbarkeit, daß sie nach angemessener Zeit ans große alte Erbe sich anschließt und seiner wert ist. Schloßgarten und die Bauten Arkadiens
Hier ist's jetzt unendlich schön, mich hat's gestern abend, wie wir durch die Seen, Kanäle und Wäldchen schlichen, sehr gerührt, wie die Götter dem Fürsten erlaubt haben, einen Traum um sich herum zu schaffen. Es ist, wenn man so durchzieht, wie ein Märchen, das einem vorgetragen wird, und hat ganz den Charakter der elysischen Felder... Goethe 1778 an Ch. v. Stein über den englischen Park bei Dessau Kein heiteres Haus, das nicht im Grünen steht oder dahin blicken möchte. Dies Freie gehört zu ihm, vor allem das nach eigenen Wünschen gestaltete: der Garten. Er sammelt und ordnet die Blumen, zähmt Fels und Wasser, gibt Wände, die sich von selber öffnen. Der Garten gehört zum Lustwandel und nimmt ihn auf, er gehört zur Frau und zu Cythera. Nicht grundlos schloß /(450) sich der arabische Garten dem Harem an, eine Landschaft von Liebe, Überraschung und Friede. Zu diesem Ende war er von Kühle und Versteck belebt, von Wasserspielen und Kiosken, Seltsamkeiten fehlten nicht. Der Park der Bagdader Kalifen enthielt Bäche aus Zinn, einen Teich, der mit Quecksilber gefüllt war, ringsum hingen Goldkäfige mit geblendeten Nachtigallen, die auch am Tage sangen, Aolsharfen klangen in den Bäumen. Die Wand der Liebespavillone war durchbrochen wie Filigran aus Elfenbein, durch sie schien der türkisgrüne, morgenländische Himmel. Irrgänge waren beliebt, Spiegelwirkungen, die die Liebesfreude vermehrten (die berühmtesten waren in den Schloßgärten des arabischen Palermo, auch Rom hatte solche Künste bereits aus dem alten Orient geholt). Und wie die Schöne mit Silberspangen und Schmuckketten behängt ist, so der orientalische Garten mit Metallarbeit, Glasblumen, Jade aus China ein feiner Lusttraum von Natur selber, von Natur als Weib. Die zweite Blüte des Gartens nun kam im Barock; das Interesse des abendländischen Absolutismus am orientalischen Despotismus ließ hier zugleich in die arabische Phantasie greifen. So vor allem in den Schloßgärten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, trotz des neuen, vordringlich gewordenen Elements der Repräsentation. Dies neue Element nun siegte in der zweiten Glanzzeit aller Gartenkunst, in der barocken, doch es siegte nie ganz. Der Barockpark wurde der gemessene, geometrisch ausgemessene Schauplatz für zeremonielle Feste, aber auch für eine Natur, die überall chargiert. Sie hatte sich als Randzone des Hofs zu verhalten, halb mathematisches Wesen, halb gebändigte Ausschweifung; sie war Panorama. Es zeigten sich hierbei barbarisch komische Exzesse, die dem Barockwunsch nach Emblembildung aus allem und jedem entsprachen: Adam und Eva in Taxus, St. Georg in Buchs, ein Drache mit Schwanz aus kriechendem Efeu, hervorragende Dichter in Lorbeer. Doch ebenso schuf der Barockgarten das Nonplusultra dessen, was sich die damalige Gesellschaft unter einer Natur »sans la barbe limoneuse«, obzwar mit Allongeperücke, wünschte und vorstellte. Das aber war Nachahmung der Oper. Es war überdies noch illuminierte Natur nicht nur gestellte Kulisse, im Sinn eines damaligen Edelmanns, der sagte, er liebe die Natur; denn sie sei eine so vollkommene /(451) als rationale Verblüffung, große Veduta, als Mischung aus antiken Verhältnissen und orientalischen Launen, kurz als Ensemble aus Reglement und Wunderlichkeit zugleich. Das Rokoko brachte die in alldem wirkende Repräsentation zum Verschwinden, es entfernte von der Natur auch noch die Allongeperücke, doch die orientalische Laune blieb selbst in arkadischem Gewand. Neu kamen marmorne Wunschbilder hinzu, deren Allegorie sich zur
sogenannten Tändelei entspannt hat: Amor und Grazien, ziegenfüßige Pane, welche Nymphen umarmen, schwelgerischer Mädchenraub. Alles in verkleinerter, an Porzellan und Kindlichkeit erinnernder Form, unter grünem Laubdach, neben einem träumerisch rieselnden Quell, zur Nachahmung einladend, ein Jardin Eden auf amouröse Weise, in stille Boskette versteckt. Wirklich trat hier ja, wie im orientalischen Garten, der Harem ins Freie, durch außerordentliches, nur katholisch erreichbares Raffinement vermehrt. Und im Barockpark ist sentimentalischer Orient auch ohne sein Raffinement erkennbar, wenigstens dann, wenn diese Wunschwelt nochmals konzentriert, nämlich gemalt wird. Durch die hochantikische Barockgartenwelt, als die Claude Lorrain und der heroische Poussin die südliche Landschaft dargestellt haben, blickt ein durchaus östlich-antikes Mittelmeer; es blickt im hellgoldenen Licht hinter glänzenden Gebüschen, es blickt noch in den Säulentempeln und Ruinen, die allesamt wie Palmyra erscheinen, nicht wie Rom. Veduta herrscht auch im Barockgarten durchaus, échappée de vue ins Unendliche, doch ebenso in Versteck und Fülle. Natur erscheint als vorgeordnetes Abenteuer von Repräsentation und Lust, mit einem Zauberschloß in der Mitte. Also wurden Häuser aufs reizvollste mit einem Grün vermehrt, das von selber nirgends so wuchs. Auch die scheinbare Abkehr vom künstlichen Wesen, das ein künstlerisches war, hat den Garten dieser Art nicht aufgehoben. Die Abkehr vom französischen Garten geschah um 1750, auf Grund der immer stärker vordringenden bürgerlichen Lebensform; der englische, der sozusagen natürliche Stil begann. Aber auch die englische Anlage pflegte ihre Wildnis als eine sehr kultivierte, und sie behielt den Menschen in der Landschaft, die Landschaft für den Menschen. Zwar entfernt sich der englische Park, auch der im Rokoko mit /(452) dem französischen noch oft gemischte, scheinbar vom Schloß, auch soll er keine Grenze gegen die freie Natur mehr haben. Auch wurde dem Mittelgebirgsgarten wieder Vorzug gegeben vor dem künstlich in der Ebene angelegten: Romantik kündete sich an, die Heidelberger Landschaft begann entdeckt zu werden, der Zürchersee, die angebliche Garten-Natur für sich selbst, scheinbar ohne menschlichen Eingriff. Aber was so entstand, war wiederum nicht gegebene, sondern Wunschnatur durchaus, diejenige Addisons und Popes, dann vor allem Rousseaus, die eines sentimentalisch gewordenen Arkadien, und der englische Park war seine Einleitung. Er entfernt sich nur insofern vom Schloß oder Haus, als er in Wiesen und Gehölz, in Trauerweiden, Schilfseen und Urnen ein neues Parterre bildete, nämlich eines zum Empfindungsbau oder Romantikhaus der ganzen Welt. Daß die Natur in ihrem ursprünglichen, vollkommenen Zustand ein Garten war: diese biblische Vorstellung wurde nun die heidnische, sie durchzog einen elysischen Traum. Selbst die Einöde, der scheinbar äußerste Gegenpol zur Mensch- und Pflanzenwelt, wurde so in Rousseauismus einbezogen, wenn auch erst auf dem Umweg der Romantik. »Der Garten«, sagt derart Friedrich Schlegel, »in diesem symbolisch-künstlerischen Sinn ist schon ein erhöhter, schön gewordener und verklärter Zustand; in der Einöde aber ist es die wirkliche Natur selbst, deren Gefühl mit jener tiefen Trauer erfüllt, die zugleich ein so wunderbar Anziehendes hat« - das Anziehende der Versunkenheit, ja Abgeschiedenheit, die sich selber lebend genießt. Allmählich hatten auch Wüsten und Eisgebirge darin Platz, bereits seit Hallers Gedicht über die Alpen. Sie waren mit Unheimlichkeit versehen, sie lagen an den Rändern, wo Natur zum alten Chaos abfällt, doch auch, wo sie sich über die bewohnten Grenzen ins einsam Erhabene erstreckt. Der englische Garten als architektonisches Gebilde konnte dergleichen selbstverständlich nicht mehr andeuten, aber seine Anlage liebte solche Verdämmerungen oder Abbrüche der Gewohnheiten, er baute noch die Kuriositäten,
die er vom Barock übernahm, in Einsamkeit, Entlegenheit. Besonders lehrreich und gleichsam enzyklopädisch wirkt hier ein Garten im Übergang vom Rokoko zur englischen Anlage: der schönste, der Schwetzinger Schloßgarten. Neben /(453) Schilfseen und Urnen wollte hier das Gedächtniswürdige der Welt in Attrappen und Fassaden zusammengetragen werden, ein grüner Schausaal. Aber ein Schausaal, der wiederum nur geäußerte Stimmungen und Wunschbilder zeigte, eine natürliche Schatzkammer aus lauter künstlichen und sentimentalischen Schätzen. Grüner Taxus und weiße Götter, Voliere und verschwiegenes Badehaus, Apollotempel und Moschee - all diese Wunschbauten frühester Montage sind vereinigt. Es findet sich ein Tempel des Merkur, einer der Minerva (mit unterirdischer Kammer, als Kultraum der »Weisheit«), eine künstliche Ruine, ein Tempel der Botanik und ein römisches Wasserkastell - alle aus dem Theater des Barock oder Rokoko in den offenen Park übertragen. Das war der Lustgarten großer Herren, der Raum höfischer Naturfeste und Promenaden, doch ebenso liegt bleibend der Hauch einer phantastischen Entführung und Entlegenheit darüber. Die Arie der Susanne aus » Figaros Hochzeit« wohnt genau in dieser Gegend, der Adel Mozartscher Musik klingt in solchen Gärten dicht neben einer Extravaganz, die aus Geschichte, Mythologie, fremden Zonen ihr sentimentalisches und kuriöses Panorama macht. Selbst Voltaire schrieb 1768 an Collini über den schönsten dieser Parks: »Ich will, bevor ich sterbe, noch einer Pflicht genügen und einen Trost genießen: ich will Schwetzingen wiedersehen, dieser Gedanke beherrscht meine ganze Seele.« Und unter all den Baumasken, mit denen solche Gärten versehen waren, fehlte ständig eine einzige, die der Kirche. Statt dessen eben sollte Arkadien versinnlicht oder versinnbildlicht sein: im Barockgarten ein Arkadien mit Kuriosität, im englischen Garten eines mit Zephyr, Mondsichel und Nocturno. Tolles Wetter, Apollo hei Nacht Es gibt auch eine Art, sich die Dinge lesend zu verfremden. Und zwar in eben die Gegend hin, wo es weht und raunt und ahndungsvoll hergeht. Dergleichen liegt von der feinen Abendempfindung des englischen Gartens freilich weit weg, hat aber vergröbert, bisweilen sogar vertieft noch das Empfindsame in sich. Dieses ist nun eine völlig bürgerliche Lust geworden, sie /(454) wird lesend zu sich genommen, kann also auf dem Lehnstuhl geschehen, besonders leicht sogar. Nicht nur das vorige Jahrhundert leistete Erkleckliches im Lesegenuß von Schauern bei behaglicher Lampe. Die warme Stube machte für tolles Wetter draußen doppelt empfänglich und für die gelesenen Vorgänge, zu denen dieses Wetter pfiff. Rauher Wind bewirkte die Entführung des Lesers in Umstände, die merkwürdig zum Anti-Kaminfeuer gänzlicher Fremde gehören. Diese Entführung geschieht meist schon zu Beginn solcher Geschichten; das öde Haus, »schauriges Zwielicht« sind dazu erwünscht. Am besten bieten sich sogar, erstaunlicherweise, unfreundliche Welt an sich selber, Novembernächte, Schreie, wirre, auch spukhafte Vorgänge zur Wärme des Ausblicks an. Hier landen - obzwar zu einem, gegebenenfalls, noch so herabgesetzten Preis -Wünsche, die jenen nicht ganz unähnlich sind, die einmal zur Ossianwelt getrieben haben, zu Sturmwind, Heide, Nebel, verwehtem Ächzen. Hier wirkt am sichersten der Schuß Chok und Rauhnacht, ja Angstwunsch in den Wünschen, von dem oben gehandelt wurde (vgl. S.95), der »Gegensinn der Urworte «,der immer dialektische. Ohne diesen, ohne den Mischaffekt, ja Mischgegenstand, der im Schaudern wirkt, wären die Requisiten des Nachtgrauens nicht so voll verhängter Lust. Denn von ihnen ist auch die Verfremdung erfüllt, die das völlig
sensationelle Behagen des Grauens ausmacht: der Schauerroman. Gerade sein schlechtes Wetter beginnt in der Ossianzeit, es meldet sich zuerst in Horace Walpoles «Castle of Otranto« 1764, läuft weiter zu E. Th. A. Hoffmann, wo stets Geisterstunde ist. Aber auch zu Jean Paul, dessen «Titan« mit Flackerlicht und Hades ebenso reichlich schaltet wie mit Sonne, Alpen und Rom. Edgar Allan Poe wäre erst recht nicht denkbar ohne solchen Aufenthalt im letzten Schein des Abendlichts und in der hereingesunkenen Nacht. Reisebilder dieser Art wohnen in einer Grotte, gleichsam in der Meeresgrotte, worin nach der nordischen Sage Salz gemahlen wird, nicht attisches, aber gotisches. Die Landschaft wird von bitterem Wasser und Nacht durchströmt, die Szenerie wird möbliertes Niflheim. Dunkler Gang und Treppe, Nacht, Friedhof, Eulen, Uhren, unbestimmtes Licht, rätselhaftes Geräusch, Falltüren, gotische Zimmer, Versteck schlechthin, unheimliche Gemälde mit allzu lebhaften Augen: /(455) dies Ensemble füllt vor allem den Schauerroman, wesenhaft. Und geistig-wesentlich bleibt ihm, immer wieder, das sonderbare Wunschglück im Grauen: »Es war wirklich eine sturmrasende, aber doch sehr schöne Nacht, eine Nacht, die grausig seltsam war in Schrecken und in Pracht. Ganz in unserer Nachbarschaft mußte sich ein Wirbelwind erhoben haben, denn die Windstöße änderten häufig ihre Richtung. Die ungewöhnliche Dichtigkeit der Wolken, die so tief hingen, als lasteten sie auf den Türmen des Hauses, verhinderte nicht die Wahrnehmung, daß sie wie mit bewußter Hast aus allen Richtungen herbeijagten und ineinander stürzten - ohne aber weiterzuziehen. Selbst ihre ungewöhnliche Dichtigkeit verhinderte nicht, dies wahrzunehmen, dennoch erblickten wir keinen Schimmer von Mond oder von den Sternen, ebensowenig aber einen Blitzstrahl. Doch die unteren Flächen der jagenden Wolkenmassen und alle uns umgebenden Dinge draußen im Freien glühten im unnatürlichen Licht eines schwach leuchtenden und deutlich sichtbaren gasartigen Dunstes, der das Haus umgab und einhüllte« (Poe, Der Untergang des Hauses Usher). So akklimatisiert wie nirgends ragen auch die Atavismen der Geisterwelt in den Schauerroman herein, mit bleichem oder rußigem Feuer, mit Schlürfen und Klopfen, mit billig-preziösem und jedenfalls disparatem Zauber. Der wunderlichste Spiegel ist hier aufgetan, aber wie immer er phosphoresziert, er zeigt ein Nicht-Geheures der Erfahrung dazu. Gerade dieser Blick, bei Hoffmann mitten in der genausten Beschreibung seiner Biedermeierwelt am Werk, macht den eigentümlichen Realismus Hoffmanns aus. Als einen, der so eindringlich den Abstand zwischen der mittleren Daseinsmisere und den Hoffnungsbildern zeigt, der aber auch, wenn er diese Misere dämonisiert und die Hoffnungsbilder lokalisiert, eine Dimension in der wirklichen Welt aufschließt, die den Schauerroman wie die Hoffnungsbilder darin hier nicht nur als soziologischen Realismus, mit Unterhaltungsfasson darum herum, eingrenzen läßt. Vielmehr: vergessene Grenzsituationen gehen in der gedrückten Reinlichkeit, dem heißen Punsch der biedermeierlichen auf; Hoffmann rapportiert, mit Humor belichtend, was alles noch aus den verlassenen Sektoren hereinreichen, den Alltag durchsetzen mag. Mitternacht ist für diesen Hoffmann zu /(456) jeder Tageszeit, aber zugleich sind die Menschen dem sogenannten Graus der Geisterwelt weder hilflos verfallen, noch behält gar deren Bann das letzte Wort. Sondern noch das tollste Gezeuge erweckt wie im Märchen kluge Gegenkräfte; sie kehren die Entlegenheit zum Hellen um, zu dem in seiner Nachtfolie besonders blau erscheinenden Äther, zum Humanismus. Also wirft der Justitiar im »Majorat«, einer echten Schauergeschichte, den abgeschiedenen Daniel ins Wesenlose zurück, also besiegt der Archivanus Lindhorst, im »Goldenen Topf«, die Hekate Apfelweib und treibt die Verfremdung fort bis in das Licht eines wolkenlosen Atlantis. Das ist
objektiver Gegensinn zum Grauen in der Antiquitätenreise des Schauerromans.
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WUNSCHBILD IM TANZ, DIE PANTOMIME UND DAS FILMLAND
Nune pede libero pulsanda tellus. Horaz Hippolyta: Doch diese ganze Nachtbegebenheit Und ihrer aller Sinn, zugleich verwandelt, Bezeugen mehr als Spiel der Einbildung.Es wird daraus ein Ganzes voll Bestand, Doch seltsam immer noch und wundervoll. Shakespeare, Ein Sommernachtstraum Auch was tanzt, will anders werden und dahin abreisen. Das Fahrzeug sind wir selbst, verbunden mit dem Partner oder der Gruppe. Der Leib bewegt sich in einem Takt, der leicht betäubt und zugleich in ein Maß bringt. Werben und Fliehen vor allem, eine Bewegung, die allemal auch die sexuelle anklingen läßt, das macht einen Grundzug des gesellschaftlichen Tanzes aus, und je verrohter dieser ist, desto deutlicher. Aber er ist damit nicht erschöpft, auch ein anderer Schritt oder Wirbel wird nachgeahmt, in Form gebracht, der zierliche, der gemessene und, in vielen, besonders russisch erhaltenen Volkstänzen, der der Freude nach getaner Arbeit. Doch auch im sexuellen Tanz ist ein Gehobenes, Abgehobenes, das sich sichtlich fühlbar macht, gefühlt sichtbar /(457) wird. Der Tanz läßt völlig anders bewegen als am Tag, mindestens am Alltag, er ahmt etwas nach, das dieser verloren oder auch nie besessen hat. Er schreitet den Wunsch nach schöner bewegtem Sein aus, faßt es ins Auge, Ohr, den ganzen Leib und so, als wäre es schon jetzt. Leicht, beschwingt oder streng, in jedem Fall tritt hier der Leib anders an, in anderes ein. Wobei ein Trieb besteht, immer stärker darin fortzufahren. Neuer Tanz und alter Wo freilich alles zerfällt, verrenkt sich auch der Körper mühelos mit. Roheres, Gemeineres, Dümmeres als die Jazztänze seit 1930 ward noch nicht gesehen. Jitterbug, Boogie-Woogie, das ist außer Rand und Band geratener Stumpfsinn, mit einem ihm entsprechenden Gejaule, das die sozusagen tönende Begleitung macht. Solch amerikanische Bewegung erschüttert die westlichen Länder, nicht als Tanz, sondern als Erbrechen. Der Mensch soll besudelt werden und das Gehirn entleert; desto weniger weiß er unter seinen Ausbeutern, woran er ist, für wen er schuftet, für was er zum Sterben verschickt wird. Um aber vom wirklichen Tanz zu sprechen, so kam aus dem gleichen Zerfall, der in breiten Kreisen den amerikanischen Unflat hochbrachte, in bedeutend engeren eine Art Reinigungsbewegung auf. Sie richtete sich freilich nicht gegen den Jazz, schon aus dem Grund nicht, weil sie schon vor dem ersten Weltkrieg begann. Sie richtete sich, im Zusammenhang mit der gleichzeitigen Reform des Kunstgewerbes, gegen den linderen Zerfall, gegen die Verhäßlichungen des neunzehnten Jahrhunderts, denen der Jazz dann erst die beendete Scheußlichkeit aufsetzte. Die neuen Tanzschulen, von der Isidora Duncan, dann von Dalcroze her, suchten ein schöneres Menschenbild im Fleische vorzuzeigen; wobei sie allerdings den Bau vom hohen Dach her begannen, folglich äußerst »weltanschaulich« sein mußten. Als eine von vielen sei die Loheland-Schule
erinnert, und zwar deshalb, weil sie die natürliche sein wollte. Sie sah auf die schönen Tiere mit dem in sich gut eingehängten, kerngesunden Gang. Sie ging darauf aus, die zweckhaft verborgene oder eingefrorene Haltung, die das Herr-Knecht-Verhältnis mit sich brachte, von oben herab auf- /(458) zulösen. Die Glieder wurden in Kursen, die nichts mehr mit Anstandslehre, nicht einmal etwas mit den ritterlichen Haltungen gemeinhaben wollten, zu unverkrampfter Bewegung angehalten, »um die Leibmitte spielend«. Unter den Zuschauern haben Frauen wie auch Männer, besonders nach dem ersten Weltkrieg und in Deutschland, entzückt auf den Spiegel gesehen, wovor und worin so studierte Tänzer sich bewegten. Eine neuartige Boheme, eine sozusagen natürlich-stilvolle, schlank-fechterhafte, wurde damals dekorative Mode; sie hat mindestens einen neuen Frauen- und Schauspieler-Typ gebracht. Formen wurden angenommen und vorgeführt, mittels deren der Mensch als in Freiheit dressiert erschien. Wobei das Beste, was allda so künstlich gesucht wurde, jederzeit dort hätte gefunden werden können, wo die Menschen sich einzig naturhaft bewegten - im Volkstanz. Er allein steht wirklich auf dem Boden, den der immer weiter verkommende bürgerliche Erholungstanz verloren hat. Und er braucht kein Kunstgewerbe, um sich der sogenannten Leibmitte zu erinnern, um gut in den Leib eingehängt zu sein. Die bäuerlichen Gebiete haben diesen Tanz, auch nach der kapitalistischen Vernichtung der Trachten, der Verwüstung der Festbräuche, noch lange erhalten; eine neue sozialistische Heimatliebe belebt ihn wieder und macht ihn wahr. Der Volkstanz ist überall national gefärbt und so überhaupt nicht, wenn er echt bleibt, übertragbar. Es sei denn als Zeuge und Maß jedes unverdorbenen, gruppenhaft gelingenden Ausdrucks von Trieb- und Wunschbildern. Ob deutscher Ländler, spanischer Bolero, polnischer Krakowiak oder russischer Hopak: die Form ist genau und verständlich, der bedeutete Inhalt ist Freude jenseits des Lasttags. Die Gelassenheit wie die Ausgelassenheit besagen: Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein. Und zwar Mensch mit Menschen in der Gruppe, eine rhythmisch bewegte Formfolge unisono. Einzelne Burschen und Mädchen treten durchaus und jederzeit vor, ganze Tänze können der Darstellung herausgehobener Sagenhelden dienen, so der grusinische vom Bergadler, aber wesenhaft bleibt auch dann die Gruppe, die Bewegungen wieder auffangend, abschließend. Jeder Volkstanz ist so Übereinstimmung, die Zeit der Gemeinwiesen, des Gemeinackers ist noch darin erinnert, mitsamt uralten pantomimischen Formen. /(459) Hier macht überall der ganze Körper mit, gibt sich dem Fluß hin. Aber auch Tanz, der nur auf künstliche Haltung gestellt war, starb zu gleicher Zeit nicht aus. Er lebt im exakten Ballett, höfischer Herkunft, dem Volkstanz ursprünglich höchst fern, aber auch unvereinbar mit dem Kunstgewerbe des neuen Tanzes, das sich auf entspannte Bewegung so viel zugute getan hatte. Welcher Gegensatz zu dem Leib um seine Mitte spielend, in der Loheland-Schule und zu allem Ähnlichen, was als eine Art künstliche Natur wogen mochte. Das Ballett hat keinerlei Sehnsucht danach, wohl aber eine nach der graziös oder erlaucht beherrschten Haltung, die einmal zu Rokoko und noch Empire gestimmt hatte, vorab zu feinen Leiden und kühlem Jubel. Beider Ausdruck geht lautlos auf Fußspitzen, in einer Wolke von Gaze und Puder. Dem bloßen Kreisen um die eigene Leibesmitte stellt das klassische Ballett ein recht spiritualisiertes Handwerk zur Seite oder besser entgegen. Denn es zeichnet eine menschliche Landschaft vor, der wie der leibliche Schwerpunkt, so auch die Schwere fehlen soll; noch der Boden wird verneint. Hier trifft es sich merkwürdig, daß das Leicht-Exakte, wie es diesen völlig künstlichen Tanz auszeichnet, mit dem Mechanischen sich berührt; Kleists Versuch über das
Marionettentheater grenzt in diesem Punkt bedeutend ans Ballett. Zwar versetzt sich nach Kleist der Maschinist durchaus in den Schwerpunkt seiner Marionetten und läßt die Kurven ihrer Bewegung darum spielen, und doch »haben diese Puppen den Vorteil, daß sie antigrav sind«. Das gelingt hier noch vollendeter als in der erstrebten Elfengeisterweise des Balletts, wenn es den Boden verneint: »Die Puppen brauchen den Boden nur, wie die Elfen, um ihn zu streifen und den Schwung ihrer Glieder durch die augenblickliche Hemmung neu zu beleben; wir brauchen ihn, um darauf zu ruhen und uns von der Anstrengung des Tanzes zu erholen: ein Moment, der offensichtlich selber kein Tanz ist und mit dem sich weiter nichts anfangen läßt, als ihn möglichst verschwinden zumachen.« Kleist läßt den Vorsprung der Marionette weiter darin begründet sein, daß das Bewußtsein, das ihr fehlt, viel Unordnung in der natürlichen Grazie des Menschen angerichtet habe. Und er zielt damit keineswegs etwa auf irrationale Vorurteile, sondern eben auf das Mechanische, dem die Marionette zugehört, und das ihr mit /(460) der Exaktheit zugleich die Grazie gibt. Wobei diese vollendete Grazie dem Menschen erst auf der anderen Seite der Erkenntnis, nach völliger Durchmessung des Bewußtseins und der Erkenntnis, wieder zufallen soll. Nun, so weit auch das Ballett von der Art einer solchen Durchmessung entfernt ist, seine völlige Ratio zeigt das hier Darzustellende, Abzubildende in der Tat mit jener Grazie, die die Schwere, gleich den Marionetten, aufgehoben zu haben scheint. Elegante Lösung, das ist zwar kein mechanischer, wohl aber ein mathematischer Begriff, vielmehr Ehrenpunkt; die gekühlte Ratio des Balletts ist derart anmutig und präzis in einem. So bedachte, was das Ausdrucksvoll-Wesentliche im Exakten angeht, der «Sterbende Schwan« der Pawlowa ein Weißes, Reines, Hinfälliges in der Erscheinung, und im japanischen Ballett wird selbst eine Schlacht nur durch einige sparsam bezeichnende Bewegungsfiguren des Fächers ausgedrückt. Das Ballett ist die Schule jedes durchdachten Tanzes; kein Zufall, daß es in der Sowjetunion mit dem Volkstanz, dieser anderen, buntbäurischen Echtheit, zusammen blüht. Und zwar so, nach dem Wort des praktischen Theoretikers Moissejew, daß ohne diesen Volkstanz das sowjetische Ballett im heutigen Ausdruck gar nicht möglich wäre. Auch können der Volkstanz (mit seinen pantomimisch-dramatischen Mitteln) und das allemal nicht dramatische Ballett je nach den Wunschaffekten und der Handlungsfolge nacheinander, im gleichen «Tanzpoem« verwendet werden. Das sowjetische Ballett (denn das Balletthafte bleibt auch in der Mischform leitend) zeigt deshalb doch keinen Stilbruch. Der gebärdenhaft-reiche Ausdruck des Volkstanzes und der sparsam-präzise des Balletts einen sich realistisch in der abzubildenden Handlung. Neuer Tanz als ehemals expressionistischer, Exotik Wo alles zerfällt, fehlt oder fehlte auch der Weg ins Fremde nicht. Er war sogar in der Loheland-Schule schwach eingeschlagen, hinzu den schönen, gut eingehängten Tieren, mit dem kerngesunden Gang. Aber die Spiele um die Leibmitte und ähnliches reichten nicht aus, wo die erstrebte »Haltung« eines großen Teils der bürgerlichen Jugend zu verwildern begann. Wo ein Auf- /(461) ruhr gegen das Menschenbild Bourgeois gar keiner war, auch dort nicht, wo der scheinbare Aufruhr nicht sein faschistisches Gegenteil wurde. Es gab hier, im Reflex des Tanzes, merkwürdige Bildungen, flach- und gewiß auch mißverständlich-irrationale, in denen ein Rapport mit unkontrolliertem Anderssein, mit unzivilisierter Fremde gesucht wurde. Noch spießig wirkte das bei der Impekoven, wenn sie unkenntlich aufgeputzte Genrebilder tanzte. Banalverrückt wurde das gleiche bei der
sogenannten Eurhythmie, einer anthroposophischen Tanzschule voller Derwische und Derwischinnen aus der guten Stube, doch sehr kosmisch, wie das Modewort lautete. Hier sollte in den Tanzenden der sogenannte Ätherleib entwickelt werden, überdies das Sonnengeflecht und die Verflechtung mit den sogenannten kosmischen Werdekräften. Zu diesem Zweck wurden auf mehr als wörtliche Weise Gedichte getanzt, derart, daß jedem Vokal sozusagen symbolische Bewegung entsprach, - eine astrologische Übung der abgeschmacktesten Art, doch eben, mitsamt der ganzen Anthroposophie, banal-irrational wirksam. Fremde im geographischen Sinn, aber zugleich archaische zeigte die Tanzlandschaft, die bei der Sent M'ahesa geboten wurde. Diese war völkerkundlich und vor allem kunstgewerblich-mythisch dekoriert, grundfalsch, doch dem Wunsch nach Exotik gemäß in indianischen, siamesischen, indischen Kopie-Tänzen. Bleibt die Mary Wigman oder echter Expressionismus im Tanzbild, mit dem Bisherigen, als irrationalem Spießertum, unvergleichbar. Die Aussage-Grenzen des Tanzes hat die Wigman am meisten vorgerückt, vieles an diesem vorgerückten Tanz und seinen imaginären Szenen war bloß andeutend, doch weniges war abstrakt, nichts war leer. Die Landschaft, die sich im Gongschlag um den neuen Tanz dehnt, schien hier mit einem bezeichnenden Ineinander von Niflheim und Bagdad gefüllt, darin bewegte sich, wie man sagen kann, eine durch Chagall gesehene Hoffmannswelt. Sie war selbst dann darin, wenn die Wigman Bizets Arlésienne tanzte, und höchst verbesserte Hoffmann das Genrebild von Saint-Saens’ Danse macabre. Dazu nahm allerdings auch die Wigman mit ihrer Schule, mit ihrem Nebel-Flamme-Wesen, an der Nachtseite des Expressionismus teil, die er - so gebannt wie geflogen, so geflogen wie gebannt -neben seiner utopischen Grelle /(462) oder Helle aufwies. Und die ganze Tanzheit-im Original selber, nicht bloß in seinen Nachahmungen war einem Dionysischen im mehrdeutigen Sinn zugehörig; wie es denn ohne Nietzsche nie zu dieser Art neuer Tanz gekommen wäre. Da ist der Dionysos, der nach unten hin zum Tanz der Mörder rief, und für den am Ende selbst die Negerplastik nur ein Umweg zur blonden Bestie war. Da ist der andere Dionysos, der den Tanz gegen den Geist der Schwere pries, der in freilich vagerem Dithyrambus den Lebensgott pries, gegen die Mechanei der Verkleinerung und Denaturierung: »Meine weise Sehnsucht schrie und lachte also aus mir, die auf Bergen geboren ist, eine wilde Weisheit wahrlich! -meine große flügelbrausende Sehnsucht.« Auch diese Art Flügelbrausen ließ teilweise, an seinem sehr kurzen Ende, nicht zu fernen Meeren, sondern in den nahen Blutsee des Faschismus tragen; als welchem solche Art Flügelbrausen bereits an seinen imperialistischen Prämissen gesungen war. Dennoch steckt Mehrdeutigkeit im Dionysos und so auch im expressionistischen, selbst exotisierenden Tanz, der ohne das Pathos dieses Lebensgottes auch nicht in Ekstase geraten wäre. Nicht in die dekorative und noch weniger in die echte, welche mit Schleichen, Keuchen, Kauern ebenso das unterdrückte Leben wie mit Flügelbrausen das befreite darstellen wollte. So ist die Wigman-Welt, als freilich einzige und echteste aus der expressionistischen Tanzzeit, noch in ihrer Nachtseite frei von Blut und eine Figurenbildung gewesen, die aus dem ihr zugefügten wie ihrem eigenen Dunkel phantasiereich ins Helle strebte. An originalen Tanzschöpfungen dieses Typs ist ein Erbe antretbar, das sie nochmals, anders auf die Füße stellt, auf diejenigen, welche wissen, wohin zu gehen. Kulttanz, Derwische, seliger Reigen Der Tanz war stets die erste und leibhaftigste Form, auszufahren. An einen anderen
Ort als den gewohnten, wo man sich als Gewohnter befindet. Und zwar fühlt sich der primitive Tänzer durchgängig, mit Haut und Haaren verzaubert. Sein Tanz beginnt orgiastisch, soll aber auch ein weithin vertragendes Werkzeug sein. Denn gerät der Besessene außer sich, so hofft er sich zugleich in die Kräfte zu verwandeln, die außerhalb seiner, außer- /(463) halb des Stamms und seiner Hütten im Busch, in der Wüste, am Himmel hausen. Mit der Maske, welche die Dämonen abbildet, macht er diese sichtbar gegenwärtig, wird er der Baumgeist, Leopardgeist, Regengott; zugleich aber will der Tänzer, indem er in diesen Göttern zu stecken meint, ihre Kräfte zu den Menschen hinüberziehen. Vom geweihten Platz, auf dem der Kulttanz vor sich geht, sollen Saat, Ernte, Krieg vor ihren bösen Dämonen geschützt, mit ihren günstigen oder günstig gestimmten umgeben werden. Trommelschlag, Klatschen der Hände, eintönig rasender Gesang verstärken die Trance, worin das Entsetzen selber helfen soll und eingemeindet wird. Und wichtig ist nicht die Maske allein, sondern eben der Tanz, der sie bewegt, in dessen Sprüngen sie sich schüttelt und Prozession macht. Nichts hierbei ist willkürlich, jeder Schritt ist geschult und vorgeschrieben, doch nicht anders, wie Krämpfe nicht willkürlich sind, und der Besessene keinen Gestus frei hat. Magischer Tanz ist Einschulung in diese Krämpfe, er ist durchaus dämonisch und will es sein. Seine Träger sind auf überlegte Art bewußtlos und auf geregelte wild. Es geht dem Tanz immer wieder nach, daß er zur Nacht gehört und mit ihr begann. Die Griechen, gewiß, sie haben das Maß erfunden, das Rasende scheint nicht nur unter, auch hinter ihnen zu liegen. Aber auch bei ihnen kam es in dem Haufen bacchantischer Weiber wieder, die im Frühjahr fast rätselhaft ausschwärmten. Fast rätselhaft in einer Kultur, deren Sichtbares wie Geheimes gerade in der Bewegung ganz anders beschaffen ist, dem Willen zum Maß nach genau so beschaffen ist, wie es Goethe sieht oder ersehnt: Wenn zu den Reihen der Nymphen, versammelt in heiliger Mondnacht, Sich die Grazien heimlich herab vom Olympus gesellen; Hier belauscht sie der Dichter und hört die schönen Gesänge, Sieht verschwiegener Tänze geheimnisvolle Bewegung. Die Mänaden aber, weit hinter den Nymphen zu Hause, zeigten von alldem nur verschwiegener Tänze unheimliche, dionysische Bewegung. Die Arme der Mänaden waren mit Schlangen /(464) umwunden, und ihr Gang beschwor den unterirdischen Bacchus mit dem doppelten Geschlecht und dem Stierkopf. Doch verschwand freilich die abbildliche Bewegung um die Nacht-, Fruchtbarkeits-, Abgrundgötter im gleichen Grad wie der dionysische Abgrund überbaut wurde. Und das nicht nur in Griechenland, auch in den Ländern Vorderasiens mit ihren gleichfalls, ja erst recht orgiastischen Tanzriten, Nachtkulten. Der Abgrund wurde zweifach überbaut, mutterrechtlich und vaterrechtlich; das ergab neue und untereinander verschiedene magische Tänze, doch sie waren in der versuchten Abkehr vom nur Orgiastischen geeint. Mutterrechtlich-chthonisch waren die phrygischen Tänze um den Lebensbaum beschaffen, sie leben sogar noch in den Maitänzen fort, den über die ganze Erde verbreitet gewesenen. Die Paare hatten in ihnen lange bunte, um den Maibaum geknüpfte Bänder, die Bänder verflechten und entflechten sich in der Bewegung des Tanzes, die so die Verschlingung von Werden, Vergehen, neuem Werden abbilden soll. Die Paare nehmen mit ihrem Bändertanz an diesem chthonischen Weben teil, am glückhaft gedachten oder so gewünschten. Vaterrechtlich-uranisch aber waren die Tempeltänze Babylons beschaffen, sie
gaben ein Aufsteigen auf den sieben Planetenstufen des Himmels wieder, zugleich ein Abstreifen der sieben »Schleier« dieser Sphären, damit die Seele rein zum höchsten Gott komme. Eine Erinnerung an diese nicht mehr chthonische, sondern kosmische Pantomimik hat sich im Islam erhalten, und zwar im Tanz der Derwische. Die Trance gilt hier als Vorbereitung, als das sich Umkleiden der Seele gewissermaßen, um am Reigen der Huri, ja der Engel teilnehmen zu können. Die Huri aber wurden in diesem Orden nicht nur als die Himmelsmädchen, sondern eben als die Sterngeister angesehen, die - ganz babylonisch, ganz chaldäisch - die menschlichen Geschicke lenken. Indem sich der Derwisch in die Drehung der Huri abbildend hineindrängt, sucht er folglich den Gestirnen konform zu werden, ihre Drehung in den eigenen Tanzfiguren motorisch widerzuspiegeln, sucht er den Erguß des primum agens aufzunehmen, um das die Sterne selber kreisen. Ibn Tofail erläuterte das im zwölften Jahrhundert so, daß die Derwische, deren Orden um die gleiche Zeit begann, die »himmlischen Kreisbewegungen als Pflicht über sich nehmen«. Da- /(465) durch glaubten sie, am Ende einen Abglanz der göttlichen Bewegung auf sich herabzuziehen, nicht mehr dämonisch, aber siderisch, dem äußeren Himmel zugetan, der Astrologie. So deutlich ist in alldem, mutterrechtlich wie vaterrechtlich, erdmythisch wie astralmythisch, die uralte orgiastische Trance zu überformen versucht. So sichtbar freilich auch hielt in diesen außerchristlichen Kulten immer noch Schamanisches dem Gesetz des Tags die Waage. Schwieriger allerdings ließ sich der Tanz an, als der Leib selber nicht mehr dreinsprechen sollte. Das Christentum hat der Absicht nach nicht nur den sinnlichen, auch den religiösen Tanz zurückgedrängt. Bedenken gegen ihn, wenigstens als trancehaften, beginnen bereits bei den Juden: Tanz gehört zu den Baalpriestern. Diese schäumen, diese hinken um den Altar (1. Kön. 18, 26), diese haben ihre Derwische, und auch noch die jüdischen «Prophetenhaufen« zur Zeit Sauls traten wie Derwische auf, Pauken schlagend und ekstatisch (1. Sam. 10, 5); eben deshalb wurden sie verachtet. Und eben deshalb wurde verwundert gefragt: «Ist Saul auch unter den Propheten?« (1. Sam. 10, 12); letztere also galten damals noch als heidnisch besessen. Wird daneben oder darüber, mit hoher Ehrung, der Tanz Davids vor der Bundeslade berichtet, so empfand nicht nur Michal, sein Weib, das als eine Erniedrigung, sondern David selber gab ihr die Erniedrigung zu (2. Sam. 6, 22), obzwar mit umgekehrten heiligen Vorzeichen, als Trance vor Jahwe. Diese Heiligung aber blieb sowohl im frühen Christentum wie in der Kirche aus; der Tanz blühte im Mittelalter als höfischer und als Volkstanz, doch nicht liturgisch. «Es ist keinem gestattet«, so bestimmt ein Konzil von 680, »Spiele und Tänze aufzuführen, welche, vom Teufel eingegeben, die Heiden erfunden haben«; - die Gesten des Leibs sind der transzendierenden seelischen Bewegung nicht mehr der Ort, worin sie sich einheimisch macht. Die vorgeschriebenen Schritte der katholischen Priester vor dem Altar enthalten zwar vielleicht noch eine Erinnerung an römische Tempeltänze, aber sie ist auf sparsamste symbolische Andeutungen reduziert, und die Prozession hat einen steifen Schritt. Ekstatischer Tanz bricht nur noch irregulär aus, so bei den Geißlern zur Zeit des schwarzen Tods, und ist dann konvulsivisch. Drüben aber ist /(467) seliger Reigen, so wie ihn Fra Angelico gemalt; als ein Wunschsein von Bewegung, für das der irdische Körper gewogen und zu schwer befunden wird. Die Bewegungen der Seligen und der Engel wurden vor allem so definiert, daß sie nicht im Raum geschehen, sondern ihren Bewegungsraum mit sich tragen, ja erst bilden. Der Ort, sagt Thomas mit solcher, höchst merkwürdiger Bewegungsutopie (perfectio motus), wird vom Engel, nicht der Engel vom Ort umschlossen, die Engel sind auf virtuelle, nicht auf körperliche Weise ausgedehnt.
Der himmlische Tanz wurde daher als einer ohne Schritte und Entfernungen gedacht, als Flug, der seine Strecke nicht kontinuierlich zu durchmessen braucht, und der, als immateriell, überhaupt keine Mühe und keinen trennenden Raum mehr kennt. Aber dergleichen ist nicht für Menschen gebaut; der einzig christliche Tanz war als himmlischer, nicht als irdischer imaginiert. Das Wunschbild eines solchen Tanzes bestand, konnte jedoch - anders als die Tänze der participation magique nicht menschliche Bewegung hervorrufen oder werden. Es lebte noch im Barock, ja hier besonders eindringlich, wenn es seine jubelnd schwebenden Engel an die Wölbung malte; doch dieses kanonische Schweben ist für die im Fleische wandelnden, die unbeflügelten Menschen kaum im Traum vollziehbar. Nicht grundlos also ist auch jeder neuere Versuch einer Tanzkunst unchristlich gehalten oder aber: das schwerelose Flugwesen derer, die im Fleische wandeln, nimmt, im Ballett, Verwandtschaften mit einem so gänzlich Unspirituellen auf und an, wie es die - Marionette darstellt. So wirkt die weiter bleibende durchaus unabgeschlossene Tanzkunst allemal als eine, die den höchst irdisch verwandelten Leib bejaht; sei es, daß sie aus der Folklore schöpft oder aus der Überlieferung höfischer Tänze, deren letzte das Ballett ist. Wobei wahre neue Tanzkunst nur entstehen kann, wenn ein begründeter, vom Zuschauer geteilter Anlaß zur Freude da ist, zum «nunc pede libero pulsanda tellus«. Die substanziierteste Freude entsteht mit der Erstürmung der Bastille und ihren Folgen, dem freien Volk auf freiem Grund; sie war nicht vor dieser Erstürmung und wird nicht ohne sie sein. /(467)
Die taubstumme und die bedeutende Pantomime
Der Tanz braucht keine Worte, er will auch nicht singen. Was er in die Luft, in die unbekannte Gegend zeichnet, liegt unter der Sprache oder ist ihr entlegen. Liegt er unter der Sprache, dann entsteht, wo immer der Tanz, besonders auch in Gruppen, auf Mitteilung angelegt ist, die übliche Pantomime. Sie wirkt wie taubstumm, ist seit langem so beschaffen, als ob sich die übrigen Glieder nur als Ersatz der Zunge abmühten. Das beginnt schon bei so graziösen Gestalten wie Pierrot und Colombine, es kulminiert aber, sobald keine Gebärde mehr sagen kann als: »Ich liebe dich« oder: »Ich hasse dich« oder äußerstenfalls: »Ich bin von Eifersucht verzehrt.« Im antiken Mimus, dem erstaunlich ausführlich und schlagkräftig gewesenen, war diese Gestik bedeutend ausdrucksvoller und vielsagender, erst recht im Ostasiatischen. Das kommt nicht davon, daß man hier noch einer angeblich primitiveren Gebärdensprache nahegestanden hätte, die der Lautsprache vorhergegangen wäre. Die Lautsprache, als Grundlage des Denkens, entwickelt mit dem Geistigen erst die Fähigkeit, sich auch wortlos-mimisch auszudrücken. Sich mindestens so viel reicher, variierender, vor allem mehr im Mimus eines Zusammenhangs ausdrücken zu können als die sprachlosen Tiere. Der Grund also für den überragenden Mimus der Mittelmeervölker, verglichen mit dem des Nordens, liegt in der hier erhaltenen Wechselwirkung zwischen Lautsprache und Gebärdensprache. Und die Gebärdensprache, die nach der Lautsprache erst menschlich-geistig ausgebildete, konnte hier deshalb einen Ausdruck außerhalb der Sprache kultivieren, weil im Süden einmal die plastische Verleiblichung stärker ist und weil zum anderen der Affekt-Ausdruck - mindestens in der Mittelschicht, von der Unterschicht zu schweigen - nicht verknappt, verkümmert wurde. »Jede seelische Erregung hat von Natur aus ihre Miene und Geste (quendam vultum et gestum)«, sagt darum Cicero recht südländisch in seinem Buch vom Redner. Und obwohl die Griechen die Pantomime nicht sonderlich pflegten, war ihnen doch die seelische
Erregung so eng mit körperlicher Darbietung verbunden, daß Aristoteles die Affekte, bezeichnenderweise, nicht so sehr in seiner Schrift von der Seele als in der über /(468) Rhetorik behandelt hat. Denn wie heute noch bei den Mittelmeervölkern sind es die Affekte, die sich vorzugsweise in der oratorischen Mimik ausdrückten, ja erläutern. Auch das Barock hat von seinem überwiegend italienischen Ursprung her die Gebärdensprache nicht ausgetilgt, sondern sie ganz im Gegenteil outriert; so brachte das Barock die Pantomime besonders groß heraus. Die Italiener, aber auch die Franzosen haben damals, Gesten und Attitüden betreffend, ein ganzes sogenanntes Wörterbuch der Natur ausgebildet; wobei noch Batteux, in seiner sonst so rationalistischen Kunstlehre, betonte, daß die Gebärdensprache auch ungesitteten Völkern, selbst Tieren ohne weiteres verständlich sei. Der dergestalt ausgebildete Kanon stand in Wechselwirkung mit dem der Barockplastik, die ja gleichfalls in ausdrucksvollen Attitüden sich überbot. Auch die Statuen standen damals wie auf der Bühne; und der Mime auf der Bühne profitierte von dem höchst ausgebildeten Expressivo der barocken Statue. Gerade hier freilich zeigte sich, wie sehr jede kompliziertere Gestik, samt Batteux's »naturel dictionnaire de la nature«, die ausgebildete Sprache voraussetzt, obwohl sie sie ausläßt und suo modo lakonisiert. Der über ein Unrecht Empörte, das er nicht zu ändern vermag, wendet den Blick nach oben, den rächenden Blitzstrahl herabrufend: diese und ähnliche Attitüden waren ungesitteten Völkern, auch Tieren keineswegs verständlich, ja sie enthielten so wenig »Natur«, daß sie außerhalb des barocken Idioms, des barocken Katholizismus und des durch ihn gesehenen Blitz-Zeus kaum vorkommen. Dennoch war die so beschaffene Pantomimik nirgends wie taubstumm, konträr, sie wirkte damals beredter als jede Interjektion und auch Tirade. Noch im achtzehnten Jahrhundert ging eine Pantomime »Medea und Jason«, mit reichem Gefühls- und Handlungsstoff, über die Londoner Szene und erlangte europäischen Ruhm. Terpsichore, die Muse des Tanzes, hat sich hier überall mit Polyhymnia, der tönenden Muse der Mimik, verbunden; die Skala des Ausdrucks, besonders des pathetischen, war offenbar groß. Sie ist seitdem auffallend viel kleiner geworden, hat aber ihre Sprossen nicht ganz verloren. Noch im Niedergang hielt sich ein Rest des Bedeutens, mindestens des eigenartigen Anklangs, den das Spiel ohne Worte erregt. Kommt doch ohnehin das verständ- /(469) liche Schweigen bei vorhandener Bewegung dauernd im Traum vor, in dessen sonst so verschiedener Gestalt: der nächtlichen und der des Wachzustands. Auch im Nachttraum werden weit mehr Gestalten, Geschehnisse, Handlungen gesehen als Stimmen gehört; und die Geschehnisse sprechen für sich selbst. Erst recht im Wachtraum laufen ganze lange Spiel- und Wunschreihen stumm ab; denn das optische Vorstellen bedarf bei den meisten Menschen weniger Anstrengung als das akustische. Stumme Bilder steigen fast automatisch aus dem Reich der Wachtraumstimmung, dagegen Rede und Gegenrede müssen meistens erst erfunden werden. Und von diesem überwiegend optischen Wesen, sei es unter dem Schlafwasser oder im Rauch des Wachtraums, gibt die bedeutende Pantomime einen Spiegel. Ja, der wortlose Grund, der die Pantomime sprechend macht, erstreckt sich über den Traum hinaus ebenso in die terra firma des nicht immer gesprächigen Lebens. Auch der Coitus ist unberedt, auch der erbitterte Kampf, auch der feierliche Empfang, zusammen mit langen Strecken jedes Zeremoniells, und als archetypische Erinnerung bleibt: die Ur-Pantomime, lange vor dem antiken Mimus und außerhalb seiner, war, gleich dem Tanz, mit dem sie zusammenfiel, wortlos-magisch. Sie wollte die gleichfalls wortlosen Kräfte der Natur befördern: Feuer wird bei den Navajos umtanzt in der Richtung des Sonnenlaufs, das Bild der
Sonne wird schweigend hochgezogen. Bei den Azteken wurde beim Frühlingsfest selbst der Kampf der alten und neuen Dämonen pantomimisch dargestellt, in Japan führten Priesterinnen die Kagura-Tänze auf, den Hervortritt der Sonne mit allen mythisch überlieferten Einzelheiten nachahmend. Kurz, es gibt keinen Kult, worin gerade Pantomime fehlte; der Gemeinde sollte sie in der Sprache der Gebärde sagen, was in Worten so nicht auszudrücken war. Und eben der Traum hat dies lautlos-ausdrucksvolle Spiel, den Lauf und Ablauf von Gestalten bewahrt; der Tagtraum setzt, in seiner bewegten Ausmalung erwünschter Vorgänge, diese stumme Prozession bewußt, aus Eigenem fort. Daher also wurde auch die geformte und überlegte Pantomime nie ganz vergessen, daher wollte und konnte sie, nach dem Tiefstand im vorigen Jahrhundert, als die Skala des schweigenden Ausdrucks auf ein halbes Dutzend grober oder komisch-outrierter Konven- /(470) tionen zusammengeschrumpft war, expressiv erneuert werden. Nichts ermunterte mehr dazu als die merkwürdige Neuform der Pantomime im Film; sie kam sehr bald, nachdem die verschränkten Arme, die ausgestreckten Zeigefinger von dessen Bildfläche verschwunden waren. Indem Asta Nielsen, die erste große Filmschauspielerin, die Kunst besaß, mit einem Zucken des Augenlids, einer Hebung der Schulter mehr auszudrücken als hundert mittlere Dichter zusammen, war das Schweigen noch nicht dumm geworden. Ebenso wurde vom expressionistischen Tanz her eine Erneuerung der Pantomime versucht, so in der bedeutsamen rhythmischen Allegorie, die der Dichter Paul Claudel in den zwanziger Jahren mit dem schwedischen Ballett hergestellt hat; diese Pantomime führt den klaren Wachtraumtitel: » Der Mensch und seine Sehnsucht«. Erinnerung und Sehnsucht umspielen hier den Menschen, er erhebt sich vom Schlaf, tanzt seinen eigenen Willen und den aller Geschöpfe. Claudel erläutert das so: »Alle Tiere, alle Geräusche des unendlichen Walds lösen sich los, kommen herbei, ihn anzusehen... So taumeln in langen Nächten Fiebernde, die von Schlaflosigkeit gepeinigt sind, so werfen sich gefangene Tiere wieder und wieder und noch einmal gegen Eisenstäbe, die nicht zu durchbrechen sind.« Eine Frau erscheint, dreht sich wie gebannt um den Menschen, er ergreift einen Zipfel ihres Schleiers, »sie aber dreht ihn immer weiter um ihn, wickelt dabei den Schleier von sich ab, bis er wie eine Schmetterlingspuppe ihn einhüllt, sie aber fast nackt ist» (vgl. Blaß, Das Wesen der neuen Tanzkunst, 1922, S.77). Blaß nannte diese allegorische Tanzfolge allzu georgisch einen bewegten Teppich des Lebens, das ist Literatur, aber er konnte sie auch aus ihr selbst erläutern, »als die unendlich wiederkehrende, nicht zu beruhigende Menschenbewegung, wie sie zuletzt aus allen kunsthaften Verkleidungen und Vollendungen unvollendet und als sie selbst sich wieder erhebt«. In der Tat erzeugte dergleichen nicht unbedeutende Pantomime und eine, die sich ohne die früheren mythologischen Stoffe mit menschlicher Sehnsucht und ihren Wachtraumgestalten beschäftigt. Wie erst, wenn nicht der allgemeine Mensch und seine noch allgemeiner geschweifte Sehnsucht tanzen, sondern endlich Konkretheit aufzieht, abgezielte. Das geschieht in Asafjews Ballett-Pantomime »Die Flamme von Paris«, den Sturm /(471) auf die Tuilerien während eines Fests Ludwigs XVI. betreffend. Im Gegensatz zwischen dem Schrittmaterial der Hoftänze und dem Ca ira der Revolution entsteht eine völlig verständliche Handlung, fast ein Drama ohne Worte. Das alles wird möglich, sobald der Sinn der Fabel in Gebärden des Schweigens sich vermittelt, in der eigentümlich offenen Aura um wortloses Zeigen und Handeln. »Saltare fabulam».. dieser Ruhm des alten Mimus ist der Pantomime also nicht versunken oder unzugänglich geworden. Ja, auch die Hälfte des gesprochenen Schauspiels geschieht noch im Gestus und macht so eigentlich erst Schauspiel, Schau im Spiel.
Neuer Mimus durch die Kamera Auffallend nun, wie die Geste gerade filmhaft so reich werden konnte. Denn hier flimmerte sie in den Anfängen besonders arm und grob, schien Kitsch zu bleiben. Der Freier auf Knien, die wogende Angebetete, sie waren der Clou des Kintopps. Aber bald gab der einigermaßen entwickelte Film selber der verkommenen Pantomime einen erstaunlichen Zuschuß. Insgesamt wurde durch das Glück, daß der Film als stummer, nicht als Tonfilm begann, eine mimische Kraft ohnegleichen entdeckt, ein bislang unbekannter Schatz deutlichster Gebärden. Die Quellen dieser Kraft liegen keineswegs klar zutage, so unbestreitbar auch ihr Effekt ist, verglichen mit dem der üblichen Pantomime, aber selbst des Theatergestus, im stummen Spiel. Einiges mag im Film ohne weiteres als ungespreizt erscheinen, weil die gestierenden Filmmenschen sich ohne Rahmen, aber auch ohne betonten Abstand von uns bewegen. Die Kamera nimmt das Auge mit, wechselt dauernd die Gesichtspunkte des Beschauers, die die der Akteure selber werden, nicht mehr die des Beschauers im Parkett. Seit gar Griffith zum erstenmal die Köpfe der Menschen in die Handlung hineingeschnitten hat, seit dieser Verwendung der Großaufnahme erscheint auch das Muskelspiel der Gesichter wie aufgeschlagenes Leiden, Freuden, Hoffen. Der Zuschauer erfährt nun an der Großaufnahme eines riesig isolierten Kopfs weit sichtbarer als an dem des sprechenden Schauspielers auf der ganzen Bühne, wie fleischgewordener Affekt selber aussieht. /(472) Aber all dies Kamera-Leben wäre nichts ohne besondere Schauspieler, die - im noch stummen Film - die Gebärde zu konzentrierter Feinheit oder Vielseitigkeit geschärft haben. Der Weg ging hierbei gerade von der Nuance aus, also von einer in der früheren Halbkunst Film besonders überraschenden Vornehmheit. Asta Nielsen hat, wie gesehen, zuerst jenes Kammerspiel in die Gebärde gebracht, das den Film von der üblich gewordenen, arg verkommenen Pantomime so weit entfernt hat. Erst mit solchem Kammerspiel war es überhaupt möglich, zu vergrößern, ohne zu vergröbern, Zwischentöne oder scheinbar Nebensächliches ins Blickzentrum zu stellen, Übergänge rascher oder flüchtiger Art (wie das Reichen eines Löffels, das Spiel der Augenbraue bei hoffnungsloser Liebe und so fort) wesentlich zu machen, ja zu einem Ecce homo. Der Film ist gefüllt mit lauter gespiegeltem Auf und Ab von Wunschtraumbewegung oder - jenseits der immer schwindelhafter gewordenen »Traumfabrik« - mit erwünscht-realen Tendenzbewegungen der Zeit, aber damit dieses auf Filmweise an Gestalten und ihrer Handlung nahe gebracht werden kann, dazu bedarf es eines mikrologisch ausgeformten Tonfalls nicht des Worts, sondern der Gebärde. Solcher Tonfall ist auf der Sprechbühne am Wort selbstverständlich, und seine Wirkungen sind erstaunlich: »Gebt mir den Helm», ist der erste Satz der Jungfrau von Orleans, wird das »gebt« betont, auch leicht gezogen, nicht das »mir«, dann hört das ganze Hoftheater des neunzehnten Jahrhunderts auf, und die scheu Besessene steht da. Der gute Film hat diese Umbetonung oder Sichtbarmachung auf den Leib und die Bewegung bezogen, offensichtlich belehrt vom neuen Tanz; wonach dieser also das Rätsel lösen mag, wie die Geste gerade filmhaft so reich werden konnte. Beispiele für die Mikrologie des Nebenbei, das keines ist, sind tausendfach; mit mimischen Instanzen aus dem Unterbewußten wie Geahnten ist bereits jeder gute Spannungsfilm geladen, wie erst - ganz ohne Panoptikum und Attrappe - der kritische Gesellschafts- und der Revolutionsfilm. Ja nicht nur auf Menschen dehnte sich der merkwürdige neue Mimus aus, selbst auf die Dinge, die natürlich stummen, aber auch, wenn der Regisseur es kann, unnatürlich beredten.
Hierher gehören die mit dem Schiff schwingenden Kochtöpfe in Eisensteins »Potemkin« oder ebenda /(473) die isoliert dargebotenen großen, rohen, zertretenden Stiefel auf der Treppe in Odessa. Der Film «Zehn Tage, die die Welt erschütterten« zeigt im Petersburger Winterpalais nicht die wankenden Verteidiger, er zeigt einen riesigen Kronleuchter, dessen Kristalle leise und immer stärker zittern - wegen der Einschläge, wie sich versteht, mit Übersinn, wie sich erst recht versteht. Aber auch diese Pantomime der Film-Dinge ist erst von der der Film-Menschen gelernt; alle Künste der Kamera hätten nichts dergleichen zu zeigen, wenn vorher kein Wimperzucken der Asta Nielsen oder kein Handschlag in Großaufnahme das Ihre gegeben hätten. Vor allem die Gegenstände des neunzehnten Jahrhunderts sprechen im Film ihre vertrackte Lächerlichkeit oder ihr unheimliches Versteckspiel aus; so in Rene' Clairs Meisterstück »Chapeau de paille« (1927), so in dem Tonfilm «Gaslight« (1943). Und der Tonfilm, als Form selber, sah nur in seiner ersten Zeit, als er Theaterersatz photographierte, danach aus, als ob die Pantomime, die durch den stummen Film erneuerte, nun zum zweitenmal sterben sollte. Jedoch auch der Tonfilm ist noch überall pantomimisch, wo der Dialog schweigt, es gibt sogar ein besonderes, nur durch den Tonfilm erlangtes Plus pantomimischer Art. Denn die Dinge gewinnen hier dadurch, daß sie auch akustisch aufgenommen werden, eine ganze eigene Schicht von Mimik hinzu. Ja man kann sagen: der Tonfilm brachte das Paradox einer sozusagen hörbaren Pantomime zustande, nämlich einer auf Geräusche bezogenen. Das Mikrophon macht das Schneiden einer Schere durch Leinwand hörbar, durch Wolle, durch Seide, und das recht verschiedene Geräusch, das dadurch entsteht; Anschlagen der Regentropfen ans Fenster, der Fall eines silbernen Löffels auf Steinfußboden, knarrende Möbel gelangen in eine mikrologische Merk- und Äußerungswelt. Überhaupt wird die Kulisse nicht nur beweglich wie im stummen Film, sondern eine Schallkulisse, und ihr Laut verwandelt sich in dinghafte Gebärden. Bisher Unbeachtetes wird belauschbar, auch das leiseste Flüstern, eben so, daß es durchs Mikrophon immer noch ein Flüstern bleibt, ein heimliches, ein verräterisches, eines, das der Geste und dem Zeichen nahe steht. Insgesamt also gehört der Film, indem er durch Photographie und Mikrophon das ganze Erlebniswirkliche in einen flußhaften /(474) Mimus aufzunehmen fähig ist, zu den stärksten Spiegel-, auch Verzerrungs-, aber auch Konzentrierungs-Bildern, die dem Wunsch der Lebensfülle als Ersatz und Glanzbetrug, aber auch als bilderreiche Information aufgestellt werden. Hollywood ist Fälschung ohnegleichen geworden, dagegen der realistische Film in seinen antikapitalistischen, nicht mehr kapitalistischen Spitzenleistungen kann als kritischer, als typisierender und als Hoffnungsspiegel durchaus den Mimus der Tage darstellen, die die Welt verändern. Das Pantomimische des Films ist letzthin das der Gesellschaft, sowohl in den Weisen, wie es sich ausdrückt, als vor allem in den abschreckenden oder anfeuernden, verheißungsvollen Inhalten, die hervorgestellt werden. Traumfabrik im verrotteten und im transparenten Sinn Je grauer der Alltag, desto Bunteres wird gelesen. Aber ein Buch verlangt Hocken in der Stube, man kann mit ihm nicht ausgehen. Auch wird gelesenes Wunschleben nur insoweit anschaulich, als es der Leser aus seiner Umwelt, wie ausdeutend immer, schon kennt. Die Liebe hat jeder in sich, doch bereits eine noble Abendgesellschaft ist nicht jedem gegeben, also nicht jedem ganz vorstellbar. Weit täuschender als die Bühne führt der Film dergleichen Begebnisse vor, mit der wandernden Kamera als dem Auge des hindurchschauenden Gast-Beschauers
selber. Erst recht brauchen die meisten die Leinwand, um Wüste und Hochgebirge zu sehen, Monte Carlo und Tibet, das Kasino von innen. Im neunzehnten Jahrhundert gab es für solche Fernsicht eigene optische Etablissements, sie hatten bereits großen Zulauf. Es gab die sogenannten Kaiserpanoramen: der Besucher saß vor einem der stereoskopischen Operngläser, die in einer Rotunde eingeschraubt waren, und hinter dem Glas zogen gefärbte Photos aus aller Herren Länder ruckweise, nach einem Klingelzeichen, an ihm vorüber. Es gab vor allem die großen Rundpanoramen, 1883 wurde das erste in Berlin eröffnet, es stellte die Schlacht von Sedan dar, vielmehr: es führte den Beschauer unmittelbar in sie hinein, als wäre er ein Augenzeuge. Wachsfiguren, echter Erdboden, echte Kanonen, gemalter Rundhorizont machten den Besucher bei einem historischen Moment gleichsam gegenwärtig; /(475) das Gebilde war seines Schöpfers würdig, des Hof- und Uniformmalers Anton von Werner. Damals wurde freilich darüber gestritten, ob solche Zusammenstellung auf ebener Erde eine Kunst sei, fast so, wie man heute beim Kino darüber gestritten hat; aber das »Panoramische« wurde mit derselben sehr ästhetischen Miene diskutiert wie heute das »Filmische«. Die Verächter nannten Anton von Werners Gebilde zu »naturalistisch«, die Bewunderer wiesen umgekehrt auf ganz ähnliche Mischkunst im Barock hin, auf die barocken Weihnachtskrippen, auf die Stationen des Kalvarienbergs. Das Moderne im Jahr 1883, bei der Wachs-, Waffen- und Öl-Pantomime Sedan, bei diesem Ersatz fürs Nicht-Dabeigewesensein, war immerhin ein Triumph der Technik, den die Dabeigewesenen von 1870 noch nicht gekannt hatten; denn für die Abende verhieß der Führer «electrische Glühlichtbeleuchtung« sowie eine »Electrofontaine aus Bogenlicht« (vgl. Sternberger, Panorama, 1938, S. 21). Der Film braucht das nicht mehr, er ist selber neue Technik durchaus, mitsamt den echten Kunstfragen, die aus neuer Technik, neuem Material entspringen; und seine Zugehörigkeit zur Kunst ist entschieden durch seine Zugehörigkeit zur echten Pantomime. Trotzdem hat sich auch das Kino, gerade dieses, nicht ungestraft im Zeitalter des Lebensersatzes entwickelt, in einer Gesellschaft, die ihre Angestellten ablenken oder durch ideologische »Electrofontainen« täuschen muß. Lenin nannte den Film eine der wichtigsten Kunstarten, und in der Sowjetunion hat er sich mindestens als wichtigstes Mittel zur politischen Erziehung der Massen ausgebildet. Von solcher Aufklärungsarbeit ist er in Hollywood bekanntlich so weit entfernt, daß er die Roheit und Verlogenheit der Magazingeschichten fast überbietet; der Film ist durch Amerika die geschändetste Kunstart geworden. Das Hollywood-Kino liefert nicht nur den alten Kitsch: die Saugkuß-Romanze, den Nervenbrecher, wo zwischen Enthusiasmus und Katastrophe kein Unterschied mehr ist, das happy-end innerhalb einer völlig unveränderten Welt; es benutzt diesen Kitsch auch ausnahmslos zur ideologischen Verdummung und faschistischen Aufhetzung. Und selbst die Sozialkritik, die früher hie und da in einigen Amerika-Filmen vorkam: sie war damals schon, dem Kapitalismus gegenüber, wenig mehr als das Raffinement einer /(476) kritischen Apologie; sie ist seit der Faschisierung der Liberty gänzlich verschwunden, mit Stacheln nur noch gegen die Wahrheit. Ilja Ehrenburg nannte in den zwanziger Jahren Hollywood eine Traumfabrik und bezog sich damit auf die bloßen Ablenkungsfilme, mit verrottetem Glanzlicht. Seitdem aber ist die Traumfabrik eine Giftfabrik geworden, zum Zweck, daß hier nicht mehr nur Flucht-Utopie verabreicht wird («there is a goldmine in the sky far away«), sondern eben weißgardistische Propaganda. Das Kino-Panorama zeigt - in der vom Faschismus wunschgesteuerten Phantasie - das Morgenrot als Nacht und den Moloch als Kinderfreund, Volksfreund. So verkommen ist das kapitalistische Kino geworden, das zur Technik des
Angriffskriegs geschlagene. Eine gute Traumfabrik, eine Kamera der kritisch anfeuernden, planhumanistisch überholenden Träume, hätte, hatte und hat zweifellos andere Möglichkeiten - und das innerhalb der Wirklichkeit selbst. Denn bezeichnend bleibt, was alles im Film immer wieder an Rechtem auftaucht. Unter so viel Nieten, so viel Opium, so raschem Umsatz, so wenig Muße. Die technischen Gründe, die den Film retten, wurden angegeben: kein Abstand, kein Guckkasten, sondern Mitwandeln des Beschauers; Kammermusik-Pantomime, selbst in der Massenware nicht ganz verlorengegangen, in guten Filmen vorwiegend; Aufgang der weiten Welt, gerade in der Nähe, im Nebenbei, im pantomimischen Detail. Hinzu kommt die durch die Filmtechnik ermöglichte und dem Wachtraum so verwandte Verschiebbarkeit des Details, der fest gewordenen Gruppierungen selbst. Was nun bei so gutem, wenn auch durchkreuztem technischem Wie das Was des Films angeht, nämlich seine ihm spezifischen Stoffe, so wirkte hier die Zeit, in die die Ausbildung des Filmes fällt, nicht nur kapitalistisch verheerend, sondern in begrenztem Sinn zugleich - sage man: ironisch verwertbar ein. Denn sie ist als bürgerliche Zerfallszeit auch eine der gesprungenen Oberfläche, der zerfallenden bisherigen Gruppierungen und Zusammengehörigkeiten; sie ist folglich, wie in der Malerei, so im Film, die Zeit einer nicht nur subjektiv, sondern objektiv möglichen Montage. Indem diese objektiv möglich wurde, ist sie also keineswegs notwendig willkürlich und ausgemacht irreal (im Hinblick auf die objektiven /(477) Vorgänge); sie ist vielmehr imstande, Veränderungen im äußeren Bezug von Erscheinung und Wesen selbst zu entsprechen. Hier ist das Feld neuer Fingerzeige und dinglicher Instanzen, das Feld entdeckt-realer Trennungen zwischen bisher ganz benachbart erscheinenden Objekten, entdeckt-realer Verbundenheit zwischen scheinbar, in der bürgerlichen Bezugsordnung, ganz entfernten; der gute Film machte dementsprechend von solch realistisch möglich gewordener Verschiebbarkeit auch an Stoffen stets Gebrauch. Derart ging der sowjetische Regisseur Pudowkin (»Sturm über Asien«, 1928) so weit, zu behaupten: «Der Film versammelt die Elemente des Wirklichen, um mit ihnen eine andere Wirklichkeit zu zeigen; die Maße von Raum und Zeit, die in der Bühne feststehen, sind im Film gänzlich verändert.« Der Zauber verbindet sich mit jener photographierbaren Transparenz, die der Sowjetfilm des öfteren gezeigt hat, historisch wie modern, und die besagt, daß eine andere Gesellschaft, ja Welt in der gegenwärtigen ebenso verhindert ist wie umgeht. Das ist das Rechte und Beste, was aus dem Film herauskommt, nicht zuletzt durch die völlig neue Form erleichtert, worin das «Transitorische« hier gezeigt werden kann. Die Kunst des Filmscheins, obwohl sie weder Malerei noch Dichtung ist, auch nicht in ihren besten Exemplaren, gibt doch ein Bild, welches Bewegung erlaubt, und eine Erzählung, welche gegebenenfalls den beschreibenden Stillstand einer Großaufnahme verlangt. Das Kino wird dadurch kein Mischgebilde, von der Art, wie, in soviel höheren Gebieten, Lessings «Laokoon« erzählende Malerei, beschreibende Dichtung definiert hat. In höheren Gebieten mögen erzählende Malerei, beschreibende Dichtung abgeschmackt sein; Lessing weist der Malerei einzig Handlungen durch Körper, der Dichtung einzig Körper durch Handlungen zu. Dagegen die Filmtechnik zeigt Handlungen durch ganz andere Körper als die der Malerei, nämlich durch bewegte, nicht stillstehende; wodurch die Grenzen zwischen beschreibender Raumform, erzählender Zeitform hinfallen. Eine Soi-disant-Malerei denn der Film ist dadurch, daß er sämtliche Gegenstände darzustellen vermag, zum Unterschied vom Bühnenbild, wenigstens so weit geworden wie Malerei, und das Bild ist auch im Tonfilm allemal das Primäre - eine Soi-disant-Malerei also /(478) ist nun selber Handlungs-Nacheinander geworden, eine Soi-disant-Poesie selber
Körper-Nebeneinander: und der Laokoon des Films, zum Unterschied von dem der Statue, schreit. Er kann schreien, ohne erstarrte Grimasse, weil der Film auch im Stillstand der Großaufnahme diesen Stillstand nur als übergehenden, nicht als erstarrten zeigt. Jeder Hintergrund dreht sich hier nach dem Vordergrund, und die dem Film so wesentliche Wunschhandlung oder Wunschlandschaft steigt, obzwar nur photographiert, ins Parterre.
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DIE SCHAUBÜHNE, ALS PARADIGMATISCHE ANSTALT BETRACHTET, UND DIE ENTSCHEIDUNG IN IHR
Sie sitzen schon, mit hohen Augenbrauen, gelassen da und möchten gern erstaunen. Der Direktor im »Faust«
Der Vorhang geht auf Seit alters kommen hier sonderlich gespannte Leute zusammen. Die Antriebe, die sie an die Kasse und in den fensterlosen Raum geführt haben, sind verschieden. Ein Teil ist gelangweilt und will sich nur in einen Abend einkaufen, wo man schlecht oder recht zerstreut wird. Ein besserer, sich heute mehrender, werktätiger Teil will keine Zeit totschlagen, sondern sie füllen. Auch diese Besucher wollen in der Vorstellung unterhalten, also gelöst und frei werden, aber nicht ohne weiteres oder lediglich frei von etwas, sondern frei zu etwas. Bei allen aber treibt, was man mimisches Bedürfnis nennen kann. Dieses Bedürfnis ist weiter verbreitet als das poetische, es hängt positiv mit der nicht nur willfährigen oder heuchelnden, sondern versucherischen Lust, sich zu verwandeln, zusammen. Es teilt mit dem Schauspieler selber diese Lust, sucht sie durch ihn, das heißt in allen besseren Fällen durch das, was er jeweils vorstellt, zu befriedigen. Weiter aber, vor allem will der Zuschauer nicht sehen, was der Schau- /(479) spieler mimisch vorstellt, sondern was er und die ganze Gruppe der Spieler als sinnlich farbige, sprechend bewegte Vorstellung von etwas geben. Wird der Zuschauer in das Leben der Bühne hineingezogen, so wird er damit keineswegs wie der Freund bloßer Zerstreuung aus dem vorhergehenden Alltag schlechthin herausgezogen. Das auch dann nicht, wenn die Bühne sogenannte leichte Kost verabreicht, wenn anders diese von Kitsch, der nicht einmal zerstreut, sondern verblödet, unterschieden ist. Der Vorhang geht auf, die vierte Wand fehlt, an ihrer Stelle ist der offene Bühnenrahmen und hinter dieser Schauseite hat es auf gefallende, auf unterhaltende Art bedeutend, das ist, Etwas bedeutend herzugehen. Vom gehabten Leben verschwindet die Enge, in die es so oft geraten ist; merkwürdige und entschiedene Menschen, ein weiterer Schauplatz, kräftige Geschicke ziehen nun auf. Der Zuschauer ist ebenso erwartend wie miterfahrend der Dinge gewärtig, die da kommen sollen. Die Probe aufs Exempel Aber er bleibt nicht nur gewärtig, die leibhaftig packenden Spieler reizen zu mehr auf. Sie verlangen vom Zuschauer, sich zu entscheiden, sich mindestens über sein Gefallen an der Darbietung als solcher zu entscheiden. Und dargeboten wird ein objektives Stück, so daß sich das Klatschen oder Pfeifen, worin die Entscheidung sich äußert, auf das Stück ausdehnen muß, das dem Schauspieler doch erst seine Rolle gibt. Wie erst dann, wenn der Zuschauer, der kein Backfisch und kein Starkult ist, den Mimen überhaupt nicht anders vernimmt denn als Medium der dramatischen Person innerhalb einer ebensolchen Handlung. Das Mißfallen, das hier geäußert, der Beifall, der hier gezollt wird, zuweilen in die offene Szene hinein: sie sind von der lautlosen oder auch noch so temperamentvollen Stellungnahme zu gelesener Literatur recht verschieden. Denn erst, indem der Zuschauer auf der Bühne wirklich sieht, was er zu sehen wünscht oder auch, was er nicht zu sehen wünscht, wird er üblicherweise zu einer Stellungnahme gebracht, die über die Entscheidung des bloßen Geschmacksurteils erheblich hinausgeht. Nicht zuletzt ist dafür auch wichtig, daß sich in jedem Theater eine förmliche /(480) Versammlung von Stimmfähigen befindet, während sich vor dem Buch in der Regel immer nur ein einzelner Leser befindet. Sehr interessant wird diese Entscheidung bei Brecht zum Hauptpunkt gemacht und eben dadurch, daß sie sich von dem bloß »kulinarischen« Geschmacksurteil reichlich loslöst. Auch dadurch, daß sie die dargestellten
Menschen, Begegnungen, Handlungen nicht nur wertet, »wie sie sind, sondern auch, wie sie sein könnten«; daß der theaterhafte Aufbau eines Menschen »nicht von ihm, sondern auf ihn ausgeht«. Zu diesem Zweck wird bei Brecht die Entscheidung so scharf und so bedacht aufgezeigt, in Regie und Handlungsführung, daß sie sich allemal über den Theaterabend hinaus zu erstrecken hat. Und zwar auf aktiviertbelehrte Weise, ins besser zu tätigende Leben hinein, also wirklich in die Dinge hinein, die in des Worts verwegenerer Bedeutung kommen sollen. Das erstens, indem der Zuschauer sich nicht mehr in das Spiel bloß einfühlt. Er bleibt wachen Sinns und versetzt sich in die Handlung und ihre Spieler, während er sich ihr ebenso gegenübersetzt. Richtig ist so einzig »die Haltung des RauchendBeobachtens« (Anmerkung zur Dreigroschenoper), nicht die des gebannten Manns, der seine Gefühle schwelgend abreagiert, statt daß er sich Gedanken macht und sie vergnügt, erheitert erlernt. Vergnügen am Spiel muß sein, mehr als je, der tierische Ernst ist hier falscher als irgendwo, ja, »das Theater muß etwas Überflüssiges bleiben können« (Brecht, Kleines Organon für das Theater § 3), doch der gehabte Genuß hat den Zuschauer nicht zu schmelzen, sondern er macht ihn unterwiesen und aktiv. Zweitens wird der Schauspieler selber sich nie ganz mit der Figur und ihrer Handlung verschmelzen, die er nachahmt. »Er bleibt immer nur der Zeigende, der nicht selbst Verwickelte«, er steht neben der Stückfigur, sogar als ihr Kritiker oder Lober, und seine Gebärden sind nicht die des unmittelbaren Affekts, sondern machen die Affekte eines anderen mittelbar kenntlich. Durch dieses mehr epische als dynamische Theaterspielen soll die Vorstellung - von aller Exhibition der Schauspielerseelen oder des sogenannten Theaterbluts befreit - nicht weniger, sondern mehr Lebendigkeit, Wärme, Eindringlichkeit erhalten. Wonach Brecht gerade im Hinblick auf die Publikumswirkung des /(481) epischen Mimenstils betont: »Es ist nicht der Fall - wiewohl es mitunter vorgebracht wurde -, daß episches Theater, das übrigens - wie ebenfalls mitunter vorgebracht - nicht etwa einfach undramatisches Theater ist, den Kampfruf hie Vernunft - hie Emotion (Gefühl) erschallen läßt. Es verzichtet in keiner Weise auf Emotionen. Schon gar nicht auf das Gerechtigkeitsgefühl, den Freiheitsdrang und den gerechten Zorn: es verzichtet so wenig darauf, daß es sich sogar nicht auf ihr Vorhandensein verläßt, sondern sie zu verstärken oder zu schaffen sucht. Die >kritische Haltung<, in die es sein Publikum zu bringen trachtet, kann ihm nicht leidenschaftlich genug sein« (Brecht, Theaterarbeit, 1952, S.254). Dem Objektivwerden des Schauspielers entspricht aber jenes Kunstmittel des objektiven Heraushebens einer Szene insgesamt, das Brecht Verfremdung nennt. Das bedeutet: »Bestimmte Vorgänge des Stückes sollten durch Inschriften, Geräusch- und Musikkulissen und die Spielweise der Schauspieler - als in sich geschlossene Szenen aus dem Bezirk des Alltäglichen, Selbstverständlichen, Erwarteten gehoben (verfremdet) werden« (Brecht, Stücke VI, 1957, Seite 221). Der Effekt soll dann der sein, daß Verwundern eintritt, also jenes wissenschaftliche Stutzen, philosophische Staunen, womit das gedankenlose Hinnehmen von Erscheinungen, auch Spiel-Erscheinungen aufhört und Fragestellung, erkennenwollendes Verhalten entspringt. Der »Rat der Spieler«, die sich auf den Verfremdungseffekt verstehen, heißt demgemäß in einem Brechtschen Lehrstück (recht mit Staunen als Anfang des Nachdenkens): Ihr saht das Übliche, das immerfort Vorkommende. Wir bitten euch aber: Was nicht fremd ist, findet befremdlich! Was gewöhnlich ist, findet unerklärlich!
Was da üblich ist, das soll euch erstaunen. Was die Regel ist, das erkennt als Mißbrauch Und wo ihr den Mißbrauch erkannt habt Da schafft Abhilfe! Epilog zu »Die Ausnahme und die Regel« /(482) Und zum Unterschied von der folgenlosen Literatur macht die Verfremdung einen besonders heftigen Aufruf zur Nachdenklichkeit mit antizipierenden Folgen. Da das lange nicht Geänderte leicht als unänderbar erscheint, geschieht die Verfremdung des im Theater abgebildeten Lebens letzthin also dazu, »den gesellschaftlich beeinflußbaren Vorgängen den Stempel des Vertrauten wegzunehmen, der sie heute vor dem Eingriff bewahrt« (Kleines Organon für das Theater, § 43). Damit nun ist drittens und letztens das Hauptanliegen dieser Regie erreicht: nämlich das Theater als Probe aufs Exempel. Die Haltungen und Vorgänge sollen daraufhin durchgeformt, spielhaft durchexperimentiert werden, ob sie zum Verändern des Lebens taugen oder nicht. Man kann derart sagen: Das Brechtsche Theater beabsichtigt, eine Art von variierenden Herstellungsversuchen des richtigen Verhaltens zu sein. Oder was das gleiche heißt: Ein Laboratorium von richtiger Theorie-Praxis im kleinen, in Spielform, gleichsam im Bühnenfall zu sein, der dem Ernstfall experimentierend unterlegt wird. Als Experiment in re und doch ante rem, das heißt, ohne die realen Fehlfolgen einer gleichsam undurchprobten Konzeption (vgl. das Lehrstück »Die Maßnahme«) und mit der Pädagogik, solche Fehlfolgen dramatisch vorzuführen. Auch mögliche Alternativen werden derart versuchend dargestellt, mit dem auf der Bühne ausgetragenen Ende jeder dieser Alternativen (vgl. die entgegengesetzten Lehrstücke «Der Jasager«, «Der Neinsager«). Ein ähnlicher Duktus zeigt sich nicht zuletzt in Brechts reifem Galilei-Drama, wo die Frage durchexekutiert sein mag, ob es sich mit Galileis Widerruf, um des noch zu schreibenden Hauptwerks willen, richtig verhält. Mit alldem wird »Parabeldramatik« erstrebt, an konstruiert verschärften, auch oft vereinfachten Beispielen und Entscheidungen. Und das Brechtische warf, was die zu erfolgende Auskunft angeht, immer mehr, immer weiser die Abstraktheit ab. Nirgends findet sich Vereinfachung in jener wahrhaft schrecklichen Gestalt, die Schematismus heißt, weil er das ihm zugängliche Gebiet mit fünf bis sechs Formeln oder Hurra-Abschlüssen schon auswendig gelernt hat; weshalb er auch das Brechtische haßt. Brechts Theater sucht eine Handlungsweise, in der einzig kommunistische, also immer wieder frisch zu erprobende Schlüssigkeit /(483) des Tuns steckt und führt, zum Ziel der zu bewirkenden Herstellung des wirklich Nützlichen und seiner Vernunft. Weiteres zur Probe aufs zu suchende Exempel Es ist zweifellos ungewohnt, daß Stücke lehren, indem sie selber erst lernen. Daß ihre Menschen und deren Handlungen fragenduntersuchend gewendet und auch umgewendet werden. Trotzdem kommt eine offene Form in allen Dramen schon vor, wo ein Mensch, eine Lage gerade in ihrem währenden Widerspruch gezeigt werden. Nur wo eine Hauptfigur - als Charakter oder als soziale Funktion einsinnig-unvermeidlich handelt, dort gibt es keine derartigen Variabilitäten. Othellos Eifersucht wankt nicht und kann nicht anders gedacht werden, in all ihren Konsequenzen und Situationen Schlag auf Schlag; ebensowenig wanken Antigones mutterrechtlich überkommene und durchgehaltene «Pietät«, Kreons gesellschaftlich siegreich gewordene «Staatsräson«. Die Konflikte sind hier unausweichlich, das
Experiment eines Anders-Seinkönnens, Anders-Handelnkönnens, Anders-Endenkönnens wäre hier selbst in bloßen Andeutungen einer Interpretation und ihrer Regie grotesk. Aber gibt es nicht in einer großen Reihe von Dramen mehrseitige Naturen und solche mit mehrfach möglichen Wegen vor sich? Gibt es nicht Hamlet oder, in so viel kleinerem, unbedeutenderem, abgestempeltem Alternativwesen, den zwischen Republik und Monarchie schwankenden Monolog Fiescos? Gab es nicht stets schon Dramen mit mehreren möglichen Fassungen; Wertungen des Verlaufs, des Ausgangs? - Goethes »Stella«, Tasso im Verhältnis zum Ur-Tasso? »Stella« wurde von Goethe 1776 versöhnungsvoll, 1805 tragisch geschlossen, »Tasso« zeigte in der Urfassung den Prosaiker Antonio verneint, den schwärmenschen Dichter bejaht, in der zweiten Fassung wird das fast umgekehrt. Allerdings gab es keine bisherige Dramatik - und die groß ausgeformte am wenigsten - mit einem eigenen Theorie-Praxis-Verhältnis, gar mit dem Drama als einem sich immer wieder berichtigenden (tableauhaft unterbrechenden) Lehrgang. Doch selbst die unabänderlichen Dramen: waren sie keine Proben aufs zu suchende Exempel, so doch Exempel eines zu /(484) Ende geführten Wegs, eines guten oder schlechten, eines zu suchenden oder zu fliehenden, mit der empfohlenen Devise: exempla docent. Das vor allem dort, wo die Schaubühne, mit oder ohne lehrhaftes Pochen darauf, mit einer moralischen Anstalt begabt worden ist. Ja, das Unerwartete geschieht, daß Brecht weit weniger moralisch-pädagogisch sein will als etwa Schiller. Gerade der Verfasser von Lehrstücken und Schulopern lehnt, als freundlicher Materialist, ein Theater ab, das nur moralisierte und so gar keines wäre: »Keineswegs könnte man es in einen höheren Stand erheben, wenn man es zum Beispiel zu einem Markt der Moral machte; es müßte dann eher zusehen, daß es nicht gerade erniedrigt würde, was sofort geschähe, wenn es nicht das Moralische vergnüglich, und zwar den Sinnen vergnüglich machte - wovon das Moralische allerdings nur gewinnen kann« (Kleines Organon, § 3). Doch hindert diese Ablehnung der Waschzettel und Leitartikel, des »Sichtwerbung«-Kitschs auf der Bühne das alte Brechtprogramm nicht: das Programm des bewußtseinsbildenden, Entscheidung schulenden Theaters. So will dies Programm «das Theater so nahe an die Lehr- und die Publikationsstätten rücken, wie es ihm möglich ist«. Das Theater, wie sich von selbst versteht, als gekonnte Unterhaltungsstätte, deren Einfluß durch Dichtung geht, nicht durch Leitartikel und Hurra-Konformismus. Gerade letzterer hätte ja gar keine Proben aufs Exempel nötig, weil er ohnehin schon alles weiß und weil er das Wort Exempel mit Musterknabe übersetzt. Gemeint ist statt dessen moralische Anstalt mit Beglückung, wobei die Tiefe der bewirkten Aufklärungen und Impulse direkt proportional zur Tiefe des Genusses zu sein pflegt. Nicht ohne Grund ließe sich hier gerade auf den sinnlich lustvollsten Theaterschein, den der Oper, hinweisen: progressive Meisterwerke ihrer, wie die «Zauberflöte», »Figaros Hochzeit», geben im nobelsten Genuß gleichzeitig das aktivierendste humane Wunschbild. Und wie die Mittel, so ist der Inhalt der durchs progressive Theater vermittelten Belehrung (Medizin und Unterweisung) einer der Freude; als solcher wirkt er im Spiel als der kämpfend herzustellende oder als hergestellt voraufscheinende. »So ist die Wahl des Standpunkts ein anderes Hauptteil der Schauspielkunst, und er muß außerhalb des Thea- /(485) ters gewählt werden. Wie die Umgestaltung der Natur, so ist die Umgestaltung der Gesellschaft ein Befreiungsakt, und es sind die Freuden der Befreiung, welche das Theater eines wissenschaftlichen Zeitalters vermitteln sollte« (Kleines Organon, § 56). Soviel hier über das Theater, wenn es als Haus der entscheidenden Handlungen erscheint, über die und zwischen denen entschieden wird. Sobald Probe aufs Exempel gespielt
wird, ist das Ziel deutlich sichtbar, aber die Bühne als experimentelle (Vorschau-Bühne) traktiert die Verhaltungsweisen aus, es zu erreichen. Lektüre, Sprachmimik und Szene Oben wurde gesagt, alle rechten Stücke seien besser zu sehen als zu lesen. Weil vor der Bühne weit weniger geschmackshaft, weit gemeinsamer entschieden werden kann als vor dem Buch. Aber in beklagenswerten Fällen erscheint es dennoch denkbar, das gespielte Stück ebenso gut, gar besser zu lesen als zu sehen. Dann nämlich, wenn sich die Schauspieler vor ihre Rolle stellen, wenn es etwa den »Intriganten« Müller statt des Jago zu sehen und zu hören gibt. Es wird noch unerfreulicher, wenn ein Star Dichtungen als Vorwand benutzt, um seine ach so persönliche Leiblichkeit und Sprachmanier nochmals zu verkörpern. Hinzu kommt, auch bei weniger großspurigen Darbietungen, daß wegen sogenanntem Temperament oder auch wegen Zeitmangel auf der Bühne in der Regel viel zu schnell gesprochen wird, vor allem, wenn Verse zu erledigen sind oder auch kunstvolle Perioden. Wieviel Kostbares geht bei dieser Abspulung verloren, wie übel wird zu einem Hindernisrennen, was bei der verweilenden Lektüre eine sich immer reicher erschließende Landschaft war. Aber das Theater hat sich doch allemal als ein Plus gegenüber der Lektüre zu bewähren, ganz gleich, wie lebhaft Ohr und Auge beim Lesen schon genossen haben. Und es muß so sehr ein Plus sein, daß selbst das best erfaßte Lesedrama sich zu dem aufgeführten so verhält wie die Schatten aus der Odyssee, die nach dem Blut drängen, um wirklich Rede und Antwort stehen zu können. Sind es doch selten gute und niemals werkgerechte Dramen, die unaufgeführt die schöneren sind, wann immer die /(486) Aufführung selber werkgerecht geschieht. Es sind bestenfalls Lyrismen mit Hin- und Widerrede, denen Handlungen Schlag auf Schlag, Knotenbildungen, Auftritt, Abgang, dicke Luft, gleichsam die edle, nicht nur Schillersche, auch Shakespearesche Kolportage des zur Bühne Drängenden fehlen. Es gibt keine Welt im Drama ohne den sichtbaren Platz für Figuren und Wechselszenen, welchen die Akteure, vor allem die Regisseure herausstellen. Und auch große Lyrik, sofern sie in Handlung, also in Drama steht, wird erst in der Szene auf die Bewegung der Stimmung oder der Reflexion, kurz auf das Drama in intravertierter Gestalt abgebildet, zu der sie gehört. Gerade deshalb - und nicht, wie sich hier von selbst versteht, Innenwelt des Leseverses, als Theaterflucht - ist der Satz Brechts so bedeutend-wahr: Über die ab endliche Heide schrieb uns der Elisabethaner Verse, die kein Beleuchter erreicht, noch die Heide selber! und der Satz ist wahr, der Beleuchter erreicht die Verse nicht, weil die abendliche Heide des Elisabethaners bis zu ihrem wahrsten Wesen poetisch fortgetrieben ist, doch innerhalb des Theaters, innerhalb der Lear-, der Macbeth-Szenen, für die Shakespeare alle diese Verse geschrieben hat. Das Erreichen, das Übertreffen, das Aufschließen der abendlichen Heide durch große Dichtung geschieht unzweifelhaft durch die Schlüsselgewalt solcher Dichtung über die Natur (vgl. S. 248), doch das Theater zeigt eben die gedichtete Heide als den Boden, auf dem selbst ihr eigenes Stück endlich gespielt wird. Nicht zuletzt auch realisiert ein dermaßen vollkommenes Theater erst die bedeutende Pause, die im Drama nicht sowohl zwischen den Zeilen
als zwischen den Worten, Sätzen stehen mag und zwischen den Auftritten. Horchen, Klopfen, Achtung auf ferne Rufe, ein Erwartendes mithin wohnt vorzüglich in solchen Pausen, samt dem Ablauf oder Faltenwurf bedeutender Gebräuche. Noch der wundervolle Trompetensatz in Verdis Othello, die Gesandtschaft des Dogen ankündigend, stammt diesseits oder jenseits der Oper /(487) aus der der Shakespeare-Pause immanenten Form. Also ist das Theater, zum Unterschied von seinem Buch, die sinnliche Erlebniswirklichkeit, worin Ungehörtes öffentlich gehört wird, worin das der Erlebniswirklichkeit Entlegene plastisch publik wird, worin das Gedichtet-Verdichtete, das Voll-endete wirklich auftritt, als wäre es im Fleisch. Und es ist allemal Mimik, durch welche die Dichtung auf die Ebene des Theaters sich abbildet; es ist Sprachmimik plus Gestusmimik plus der Aura-Mimik der vom Bühnenbildner geschaffenen Szenerie. Der Bühnenrahmen wird hier wie ein Fenster, durch das sich die Welt bis zur Kenntlichkeit verändert, sieht und hört. So ist das Theater die Institution einer neuen, nirgends mehr unmittelbaren Erlebniswirklichkeit, freigelegt durch die darauf bezogene dramatische Dichtung. Alles hängt hierbei ab von dem Ton, mit dem eine Rolle versehen wird. Ja, man kann sagen, der gespielte Mensch ist eine Klangfigur, als dieser wird er für die Bühne geboren. Am Anfang steht daher die Sprechform, das heißt, die schwierige Kunst, welche den Tonfall moduliert, modelliert. Der Grundton nun, auf den solche Sprachmimik gestellt ist (der vorzügliche Ausdruck stammt von Schleiermacher, Prediger und Philosoph dazu), ist nicht etwa mit dem abstrakten Umriß einer Figur gegeben, gar mit dem Klischee, das sich aus ihm gebildet hat. Der wahre Grundton stammt einzig aus der Anlage, der Bindung und dem Zielbild der Figur, mithin aus der durch ihren Charakter samt ihren Umständen eröffneten Möglichkeit, zu handeln, zu sein. Das meint nicht einen Charakter im statischen Sinn des Eingegrabenen, Eingemeißelten, sondern der Charakter bezeichnet hier die Bestimmung zu einer sich erst bildenden Handlung. Nur in dieser Richtung kommt wahrheitsgemäß eine dramatische Klangfigur zustande, nur von der Destination her wird sie variiert. Als Beispiel führt der große Regisseur Stanislawskij Hamlet an, dergestalt, daß man im Hamlet etwa die Aufgabe entdecke: ich will meinen Vater rächen. Man könne aber auch eine höhere Aufgabe entdecken: ich will die Geheimnisse des Seins entdecken. Man könne aber auch eine noch höhere Aufgabe entdecken: ich will die Menschheit retten (vgl. Trepte, Leben und Werk Stanislawskijs, S.78 f.). Stanislawskijs Regie /(488) entwickelte die Figur Hamlets, mitsamt allen Hemmungen, nach dieser letzten »Grundformel«. Schwieriger allerdings wird der gezielte Duktus in der Sprachmimik, sobald diese bereits durch eine gewisse abstrakte, ja unwahr-pathetische Höhenlage traditionell festgelegt ist. Das ist immer noch angesichts Schillers der Fall, als Problem, Schillerverse auch kühl, auch gänzlich unsonor sprechen zu können; das ist in der Gesangsmimik und nicht minder in der des Orchesters angesichts Wagners der Fall. Der zäh haftende Hoftheaterton, sein schmachtendes oder rollendes Pathos ist im Sprechen selbst Wallensteins rätselhaft schwer durchbrechbar. Ebenso rätselhaft schwer (obwohl es im neuen Bayreuth nicht ohne Glück versucht zu werden scheint) ist das Plüschheroinen-, dann Siegesallee-Barock vom Tonfall des Nibelungenrings entfernbar. Diese Verjährtheiten haben gewiß auch im originalen Schiller und Wagner einen Teil ihres Ursprungs: den Ursprung aus einer Rhetorik in allzu gleicher, also oft nur gewaltsam haltbaren Höhenlage. Doch liegt ebenso in der scharf logischen Sprachkraft Schillers, in der scharf kontrapunktischen Ausdruckskraft Wagners das Gegengewicht; und die restitutio Schillers und Wagners bedeutet bei Schiller, das in ihm sprechbare Piano des Nachdenklichen,
bei Wagner, das in ihm singbare Bel canto der unendlichen Melodie darzustellen. Bei Richard Wagner ist, als mehr von Haus aus, mehr von seiner eigenen Zeit her im Überdonner steckend, der gleichsam fälligere Fall der restitutio in integrum: vollziehbar zunächst von der Gesangsmimik her und damit auf den ganzen Aufbau übergreifend. Desto wichtiger ist die Aufgabe, die Aufführung Wagners genau von dieser Seite her, dem Blühenden und Scharfen, dem Gewaltigen und jäh Tiefen des Werks endlich gemäß zu machen. Die Gestusmimik samt Szenerie, nicht mehr verschwült und ranzig, nicht mehr mit Donnerhall, Schwertgeklirr und Wogenprall, folgt dann unverstockt nach. Gestusmimik nun selber, sie setzt die durch Worte vermittelte dramatische Handlung an den Leibern der Schauspieler, aber auch am Leib, sozusagen, der hingestellten Dinge in Szene. Diese Szene kann karg sein, wie bei Brecht, wie im altenglischen und altspanischen Theater, sie kann üppig sein wie in einigen guten Beispielen der ehemaligen Meininger und den Ausstattungen Max Reinhardts, /(489) sie kann vor allem die Dichtung selber sich im Bühnenbild aurahaft ausbreiten und niederschlagen lassen wie in der Kunst Stanislawskijs. Von dem mit Recht gesagt wurde, daß er die Schlüssel zu allen Türen und Wohnungen besaß, ja daß er mit gleicher hausherrlicher Gewalt im Ibsenzimmer des Doktor Stockmann, in der Höhle des Nachtasyls, in den riesigen Gemächern des Zaren Berendij zu schalten verstand. Der Gestusmimik nahe verwandt entsteht so die angegebene Auramimik der vom Bühnenbildner geschaffenen Szenerie. Die Calderon-, gar die Shakespeare-Bühne übte dergleichen zwar nicht, doch bei aller Kargheit, eine Höhle, einen Wald, einen Prunksaal bloß durch Beschriftung andeutend, fehlten keineswegs der Dolch oder die Strickleiter als die nötigen Requisiten, und: das allegorische Bühnenbild wird die Weiterung dieser Requisiten, gleichsam deren Abdruck und Ausdruck im Raum. Etwas zugespitzt, doch nicht minder aurahaft ausgedehnt, drückt Stanislawskijs Mitarbeiter Nemirowitsch-Dantschenko diese Gestusmimik samt Szenerie so aus: »Eine Inszenierung ist nur dann gut zu nennen, wenn man die Aufführung von einem beliebigen Zeitpunkt an ohne Worte weiterlaufen lassen kann und der Zuschauer trotzdem versteht, was auf der Bühne vorgeht.« In der Tat ist auch bei Calderon der Dolch in einem Eifersuchtsdrama, bei Shakespeare die Strickleiter in einem Liebesdrama mimisch schlechthin. Ja, der Dolch ist bei Calderon die Eifersucht selber in ihrer äußeren Gestalt, und das Frühlicht zwischen Nachtigall und Lerche ist bei Shakespeare nicht mehr die Äußerlichkeit, sondern die Auswendigkeit der Romeo-Julia-Liebe und ihres Tods. Dergleichen lenkt selbst als hochgetrieben nicht von der Handlung ab, sondern die homogen gewordene Ding-Aura lenkt in die Handlung hinein, sofern, wie Shakespeare seinen Hamlet zu den Schauspielern sagen läßt, »zu gleicher Zeit irgendein notwendiger Punkt des Stückes zu erwägen ist« die sich von selbst versteht, bleibt die gesprochene Sprache auch bei der noch so gelungenen Gestusmimik und ihrer Szenerie allerdings das Alpha und Omega. So daß sich nicht etwa eine Pantomime verselbständigt oder auch nur vordringlich macht, sondern noch die gelungenste Pantomimik in Nemirowitsch-Dantschenkos Sinn dem Dichtwerk dient. Aber von der Mimik her gesehen /(490) ist das Theater aufs Beste die Plastik der Dichtung und eine, worin auch die stärkste Bewegtheit, als eine zur Mimik hin, die Plastik nicht aufhebt. Illusion, aufrichtiger Schein, moralische Anstalt Die alte Frage ist, zu was und zu welchem Ende die Bühne wirklich aufhebt. Sie
arbeitet mit Schminke und auch sonst überwiegend mit Mitteln und Lichtern, die überlegt vorspiegeln. Die Bühne ist deshalb mehr Schein als jede andere Kunstweise und eben deshalb, weil sie ihren Schein, trotz des abtrennenden Rahmens, erlebniswirklich werden läßt. Das gibt dem Theater zwar seine gleichzeitig entzückende und illusionistische Macht, unterstreicht aber den Schein so stark wie keine einzige reine Kunst. Ja, der Bühnenschein kann für einen unfreundlichen Blick - und er hat ihn öfter gefunden, nicht nur unter Muckern - mehr dem höchst unedlen einer Wachsfigur nahestehen als dem vornehm durchscheinenden, in nichts erlebniswirklichen eines Bilds. Dazu kommt das sozusagen Sich-Verstellende der Theaterhelden oder auch Theatermärtyrer; auf reale Heuchelei übertragen stammt der Begriff Komödiant von hierher. Doch lag freilich der Unterschied zwischen moralischem Schein und theaterhaftem auch damals schon auf der Hand, als die Schauspielerei noch kein »ehrliches Gewerbe» war. Der Komödiant heuchelt, während der Schauspieler sich verwandelt oder besser, die Rolle, die er spielt, leibhaftig kenntlich macht. Und indem die Bühne sich kraft der gespielten Dichtung ebenso als Statthalterin eines nicht Erlebniswirklichen in diesem gibt, fehlt doch wieder jeder Zusammenhang mit der Wachsfigur oder auch mit sogenannten lebenden Bildern, überhaupt mit Blendwerk. Trotzdem bleibt nun, auf der angemessen gewordenen Ebene, die Frage: ist das Theater, wenn nicht Blendung, so immerhin nichts als Illusion? Im bürgerlich-ästhetischen Gebrauch fehlt diesem Begriff zwar jedes Herabsetzende, indes bezieht er sich auch dann auf ein Etwas, das kein äußerlich reales ist, das als pure-, obzwar gleichsam anständiger Schein mit irgendwelchem Vor-Schein nichts gemein hat. Dieser Art wurde Illusion auf alle, auch auf die sogenannt reinen Künste /(491) ausgedehnt, allerdings stets mit Nachklang vom Theaterschein her. E. v. Hartmann etwa statuiert in seiner dreiviertel spießig-trivialen, einviertel resümierenden «Philosophie des Schönen« die Illusion als Kunstcharakter schlechthin und definiert sie als »subjektives Korrelat zum objektiven ästhetischen Schein.« Aber real an diesem Schein wirkt dann gar nichts; dergleichen ist seit Kant-Schillers Definition des Schönen: als der Freiheit von realer Erscheinung, bei fast allen davon herkommenden Ästhetikern ausgemacht. Die Erscheinung wird auch als zweckgemäße erst schön, »sobald sie von der Realität, welche sie hervorgerufen hat, und damit auch von der Realität des Zweckes, dem dieselbe dient, abgelöst und zum reinen ästhetischen Schein verklärt ist« (E. v. Hartmann, Philosophie des Schönen, 1887,S. 174). Doch die Überraschung freilich, nicht bei E. v. Hartmann, wohl aber bei Schiller, der der beste Kantianer in der Ästhetik war, folgt auf dem Fuße. Denn wenn wirklich Freiheit von der Realität des Zwecks das objektive Korrelat zur subjektiven Illusion sein soll, dann ist nicht einmal der Theaterschein eine Illusion, ja dieser am wenigsten, wie man gleich sehen wird. Und wenn ihn auch Schiller selber eine «wohltätige Illusion« nennt, so hebt doch gerade dieses hier betonte Wohltätige seinen Illusionscharakter entscheidend, ein für allemal, auf. »Die Schaubühne, als eine moralische Anstalt betrachtet«, sagt dieses Sinns: »Wir werden uns selbst wiedergegeben, unsere Empfindung erwacht, heilsame Leidenschaften erschüttern unsere schlummernde Natur und treiben das Blut in frischeren Wallungen«; - item, gerade die angebliche bloße Illusion setzt in Realität, erfrischt sie und weist selber zu einer stärkeren, entbindbaren. Die genannte Schillersche Auslassung belebt seine Frühschrift mit dem so wenig der Illusion verhafteten Programm einer Schaubühne, die eben als moralische, folglich keinesfalls realitätsfreie Anstalt betrachtet wird. Wenn aber und indem die Schaubühne eine solche Anstalt ist, so ist jeder Illusionscharakter mit ihr unvereinbar; denn keine Illusion aktiviert den realisierenden Willen und den Willen
zur Realität. Einer Bourgeoisie, die Wirklichkeit einerseits, Kunst und Ideal völlig auseinanderriß, weit über Kant hinaus, mußte auch das Theater als Illusion gewiß entsprechen. Wahr aber ist: Kunst als Illusion wäre und bliebe auf der /(491) ganzen Strecke Lüge, im moralischen wie außermoralischen Sinne genommen. Das heißt, sowohl in der Absicht zu täuschen wie in Ansehung der Unmöglichkeiten, die eine solche Kunst entwickelt. Der vorhandene Schein des Theaters dagegen ist nirgends illusionärer Schein, sondern schlechthin aufrichtiger auch er »in einer Verlängerungslinie des Gewordenen, in seiner gestaltet-gemäßeren Ausprägung« (vgl. Seite 248). Sein Spiel quiesziert nicht, vermag vielmehr gerade den Willen von dieser Welt, in ihren realen Möglichkeiten zu beeinflussen - als paradigmatische Anstalt. Nun aber darf an dieser, damit sie wirksam sei, der schöne Schein nicht vergessen werden. Die Bühne ist zwar nicht illusionär, doch in ihrem Wappen steht auch nicht der erhobene Zeigefinger. Wo er auftauchte, war viel bürgerlich-puritanischer Kunsthaß, war mindestens Fremdheit zur Kunst am Werk. Nicht zu selten leider wurde diese Fremdheit auch von Sozialisten betätigt, gleich als wäre das Theater kein Vergnügen, sondern eine Sonntagsschule (mit nichts als Bösewichtern und Musterknaben). Oben wurde gezeigt, wie gerade Brecht vom Theater als Abrichtung zurückrief, der gleiche Autor, der zuerst, statt der bloß kulinarischen, die bewußtseinsbildende Bühne pries. Aber das Theater sollte bei Brecht keine ungeschmückte moralische Anstalt sein und jedenfalls keine aufdringliche. Konträr: die Moral geht auch hier durchs Vergnügen, als die »nobelste Funktion, die wir für >Theater< gefunden haben«. Aber das Gottschedsche Schulmeistertum im deutschen Gesicht der moralischen Anstalt stirbt so leicht nicht aus; weshalb immer wieder Toleranz für das Licht mit Glück erbeten werden muß. Weshalb Goethe, im Aufsatz »Deutsches Theater«, folgendes Bekenntnis zum schön-heiteren Schein zu setzen hat: »Aus rohen und doch schwachen, fast puppenspielhaften Anfängen hätte sich das deutsche Theater nach und nach durch verschiedene Epochen zum Kräftigen und Rechten vielleicht durchgearbeitet, wäre es im südlichen Deutschland, wo es eigentlich zu Hause war, zu einem ruhigen Fortschritt und zur Entwicklung gekommen; allein der erste Schritt, nicht zu seiner Besserung, sondern zu seiner sogenannten Verbesserung, geschah im nördlichen Deutschland von schalen und aller Produktion unfähigen Menschen.« Und nach/(493) dem Goethe die Gottschedsche Reform dermaßen reserviert beurteilt, nachdem er gar den Hamburger Streit für und wider, ob ein Geistlicher das Theater besuchen dürfe, ventilieren muß, fährt er, nicht ganz ohne Erinnerung an den Titel von Schillers Jugendarbeit, fort: »Dieser Streit, der von beiden Seiten mit vieler Lebhaftigkeit geführt wurde, nötigte leider die Freunde der Bühne, diese der höheren Sinnlichkeit eigentlich nur gewidmete Anstalt für eine sittliche auszugeben... Die Schriftsteller selbst, gute, wackere Männer aus dem bürgerlichen Stande, ließen sich's gefallen und arbeiteten mit deutscher Biederkeit und gradem Verstande auf diesen Zweck los, ohne zu bemerken, daß sie die Gottschedsche Mittelmäßigkeit durchaus fortsetzten.« Diesem scharfen Plädoyer entsprechend wollte Goethe ja auch, daß man die berühmte Aristotelische Katharsis nicht auf die Zuschauer beziehe und in sie verlege, sondern auf die Personen des Dramas. Zweifellos wirkt mit alldem bei Goethe nicht sowohl eine aristokratische Reaktion gegen die Gemeinnützigkeit der deutschen bürgerlichen Aufklärung, als die Abneigung gegen das säkularisierte Muckertum, das selbst an die moralische Anstalt sich gehängt hat, an eine schließlich minus -Theater. Item, Apollo ohne Musen und Minerva ohne Epikur passen noch weit schlechter zum Materialismus in der Kunst, als sie zu ihrem
Idealismus gepaßt haben. Was aber Schiller mit seiner moralischen Anstalt meinte, war statt Gottschedscher Hausbackenheit blühendes Theater und dadurch erst moralische Zweckmäßigkeit, war Szene und dadurch erst Tribunal. Dann erst, durch den Reichtum der Szene hindurch, kann das Theater der Moral dienen, wie so oft in der Kunst, gerade als höchster, geschehen. Die isolierte Vollendung dessen steht in der Hamletszene, wo das Schauspiel den königlichen Mörder zur Entlarvung zwingt; die sozialrevolutionäre moralische Anstalt steht in »Kabale und Liebe« und »Wilhelm TeIl«, im »Egmont«, sie ist mit lauter Brutus-Musik versehen im »Fidelio«. Und diese moralische Anstalt ist nicht nur ein Tribunal, denn über dem gerichteten, selbst über dem triumphierenden und dadurch gerade Entsetzen erregenden Lasterbild auf der Bühne erscheinen die Wege der Rettung, mindestens die Zeichen ihres Lichts. Die deutsche Klassik insgesamt war der Versuch, aus der klassenmäßig zerstückelten Gesellschaft den /(494) ganzen, unzerstückelten Menschen zu entwickeln. Dieser Versuch - rein auf den Glauben an ästhetische Erziehung gebaut - war selbstverständlich ein abstrakter, doch er stellte ebenso unzweifelhaft bemerkenswerte Leitbilder auf die Bühne. Und unter ihnen sind solche, die heute erst ihren richtigen Auftrag finden, ganz ohne Abstraktion oder gar überschwengliche Misere um sie herum. Der aufrichtige Schein der Bühne ist also am wenigsten, gleich der Illusion, von der Realität des Zwecks abgelöst; er ist vielmehr deren Beförderung durch Lustbarkeit. Falsche und echte Aktualisierung Die guten Stücke kehren aufgeführt wieder, doch nie als dieselben. Für jedes neue Geschlecht muß darum auch neu inszeniert werden, und das mehrmals. Der Wechsel der Darbietung wird besonders scharf, wenn eine andere Klasse im Parkett Platz zu nehmen beginnt. Aber bleibt die Bühne dann auch nicht unverändert, folglich plunderhaft, so ist sie ebenso keine Garderobe, an deren Haken immer neue Kleider aufgehängt werden können. Soll heißen: die Menschen und Schauplätze eines alten Stücks können nicht gänzlich und radikal »modernisiert« werden. Auf jeden Fall bleibt das Kostüm der Zeit, worin das gegebene Stück spielt. Dem widerspricht durchaus nicht, daß das Barock seine antiken Helden a la mode eingekleidet hat und sie ebenso agieren ließ. Denn das Barock spielte zwar antike Helden, doch eben keine antiken Dramen, sondern selbstgeschriebene; so entstellte es auch keine antiken Dramen, wenn es deren Stoff in die eigenen bürgerlich-höfischen Figuren und Konflikte versetzte. Aus weit weniger schöpferischem, doch noch überlegterem Grund tragen etwa Cocteaus Orpheus und Euridike, in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts verfaßt, Polohemd und Hornbrille; das ebenfalls ohne jeden Anstoß. Jedoch gibt es nicht leicht einen abgeschmackteren Unsinn, als Hamlet im Frack zu spielen oder, mit bescheidenerem Beispiel, den ersten Akt von »Hoffmanns Erzählungen« in eine Chromnickel-Bar zu legen. Oder auch Schillers Räubern Proletenkluft anzulegen und Spiegelberg eine Trotzky-Maske. All das ist ein snobistischer, mindestens übertriebener Rückschlag gegen die ohnehin längst abgelaufene histo- /(495) risierende Theaterspielerei. Richtig ist nur das Selbstverständliche, daß jedes Theater dasjenige seiner Zeit ist und weder ein getreuer Maskenball noch ein pedantischer Philologenspaß. Darum braucht die Szene zu ihrer Erfrischung zwar einen überall neuen und neu in sie eingearbeiteten Blick, jedoch so, daß das Zeitaroma der Dichtung und ihres Bühnenbilds nirgends verfliegt. Denn gerade die neue Parteilichkeit des Blicks braucht die Personen und Handlungen am Ort ihrer
durch die Dichtung gegebenen Ideologie, wenn anders Haß und Liebe, Abschaum und Vorbild den vom Dichter gezeigten Gegenstand haben sollen. Das Bühnenbild, auf das hin der Autor komponiert hat, muß also, statt weggeworfen, zur Kenntlichkeit verändert werden, zur Kenntlichkeit etwa der in ihm sich zutragenden, jetzt erst spruchreif gewordenen Klassenkonflikte. So erst wird das Theater nicht aktuell stilisiert, sondern wirklich aktualisiert, und das, wie im Bühnenbild, so noch viel genauer in der erfrischten Belichtung, Modellierung des Bühnentextes. Hier gibt es außer den altbekannten Strichen sogar die Umarbeitung eines Stückes, sofern dieses in mehreren Stellen verstaubt oder auch ungereift und unbeendet vorliegt, und sofern - als conditio sine qua non - der Neubearbeiter oder auch Ergänzer dem Autor verwandt und ebenbürtig ist. So hat Karl Kraus nicht nur Offenbach-Texte, sondern den ganzen Diamant dieser Musik aus dem Schlendrian gerettet, wohin er gefallen war. So hat Brecht den »Hofmeister« von Lenz als eine Menschenpflanze besichtigt, die aus der feudalen Misere des achtzehnten Jahrhunderts in die kapitalistische des zwanzigsten weiterwächst. Aber die Sache wird auch hier sofort prekär, wenn freche Regisseure, verhinderte Autoren oder kummervolle Epigonen Altes als Krücke und Produktionsersatz benutzen wollen. Die Epigonal-Ergänzer (Modell: Abschluß des Schillerschen »Demetrius«) sind in der Literatur, was die entsetzlichen Burg- und Schloß-Restauratoren des vorigen Jahrhunderts in dem waren, was man damals Architektur nannte. Sie sind gleich letzteren seltener geworden, dagegen forsche Regisseure übertragen immer wieder eine unsägliche Aktualisierung in den Dramentext, auf Grund vulgärpolitischer »Auffassung« desselben. Alles zum Zweck, eine - sei sie noch so löbliche - Tendenz außerhalb des Werkspiegels sicht- /(496) bar zu machen, statt in ihm. Es braucht nicht erst bei höchst unlöblicher, nämlich vorfaschistischer Tendenz - an einen »Wilhelm Tell« erinnert zu werden, wo Geßler, unter Dämpfung und Retusche der Freiheitsmänner, als »interessanteste« Figur in die Mitte gerückt wurde. Oder gar, wo das Lustspiel «Der Kaufmann von Venedig« zu einem antisemitischen Radaustück herhalten mußte. Denn auch bei richtigster Tendenz fährt die vulgärpolitische Aktualisierung auf ein werkfremdes Feld, mit Verlust des gegebenen Dramas. So etwa, wenn «Maria Stuart« dermaßen in Mißszene gesetzt und aus den Maßen gerückt wird, daß das Stück kein Trauerspiel mehr abgibt, sondern den bejubelten Triumph der Elisabeth. Weil sie nämlich - kraft eines dramaturgischen Neubaus ohnegleichen den aufsteigenden Kapitalismus gegenüber der französisch-katholisch-neufeudalen Maria repräsentieren soll. Das ist historisch zwar nicht unrichtig, fürs gegebene Drama jedoch (letzter Akt) noch schlimmer, vor allem weit überflüssiger als eine Schloß-Restaurierung im Geschmack der achtziger Jahre. Nur bei einer in der Dichtung selber mehrdeutigen Figur, an der Spitze Hamlet, ist die Outrierung einer ihrer Züge, ihrer gegebenenfalls bisher übersehenen, allenfalls zu rechtfertigen; indes müssen auch diese Züge bei Shakespeare belichtet gewesen sein, und der Regisseur hat sie nur zu entwickeln. Nur als diese Art Entwicklung und Nachreife geschieht Erneuerung auf dem Theater, und nur zu diesem Ende werden Meisterwerke, mit einem wie immer glücklichen Zerfall ihres «Galerietons«, Museumswerts, auf die Bretter zitiert. Auch Richard der Dritte, er spielt nicht, als wäre er Hitler, sondern er versinnlicht heute einen Teil des Hitlerischen desto klarer, je mehr er durch Shakespeare seine eigene Haut und die seiner Zeit darstellt. Verwandtes gilt im gleichen Stück, wenigstens was das Allegorische der Rettung angeht, von Richmond und dem schönen Tag von morgen um ihn. Vielsagend allerdings muß diese Darstellung sein und kein geschichtliches Panoptikum mit »Zeitlosem «, mit »Allgemein-Menschlichem« darin. Aber Vielsagendes bedeutet
hier: das klassische Drama muß so gesprochen und dargestellt werden, daß nicht die Gegenwart dem Drama aufgepreßt wird, sondern das Drama die Gegenwart mitbedeutet. Und das auf Grund seiner temporär nie erschöpften Konflikte, /(497) Konfliktsinhalte und Lösungen, vielmehr: jedes klassisch große Drama zeigt an diesen seinen Konflikten und Lösungen ein gleichsam überholendes, das Temporäre übergreifendes Anliegen. Ja selbst die in der Gegenwart verfaßten Stücke besitzen nur dann dramatisch aktuelle Bedeutung (im Sinne von Hinweis wie Erhellung), wenn sie sich auf solch übergreifendes Anliegen verstehen. Es gibt einen gesellschaftlichen Prozeß (zwischen Individuum und Gemeinschaft, zwischen kontrastierenden Gemeinschaftsformen selber), der von den griechischen Anfängen des Dramas in die Zukunft reicht, bis in die Gesellschaft der nicht mehr antagonistischen, doch selbstverständlich nicht verschwundenen Widersprüche. Dieser Prozeß, dramatisch zwischen typischen Trägern konzentriert, macht jedes große Drama eben deshalb groß, weil es neuer Aktualität fähig ist, und macht es ebendeshalb aktuell, weil es zur künftigen Aufgabe: optimistische Tragödie transparent ist. In »Rameans Neffe «läßt Diderot sagen: »Der Säulen standen viele am Weg, und die aufgehende Sonne schien auf alle, aber nur Meimnons Säule klang.« Diese Säule bedeutet Genie zum Unterschied von Mediokrität, aber reiner sachlich bedeutet sie die dauernde Klangkraft und Aktualität großer Dramen in Richtung Tagesanbruch. Die aktuelle Inszenierung wird also dann am besten einrichten, wenn sie sich nach dieser Richtung richtet. Sie ist den wahrsten Dramen, vom »Gefesselten Prometheus« bis »Faust«, immanent; sie braucht keine an- und zugefügte Sichtwerbung, sondern eben Sichtbarmachung. Weitere echte Aktualisierung: Nicht Furcht und Mitleid, sondern Trotz und Hoffnung Das Maß für diese Frische muß jedoch immer wieder frisch erarbeitet werden. Es gewinnt sich am sichersten aus dem Dasein bedeutender neuer Stücke und aus dem Verständnis für sie. Es gewinnt sich nicht zuletzt aus dem großen Unterschied, worin sich das Wunschbild in einer sozialistischen Zeit gegen die frühere befindet. Greifbar wird dieser Unterschied an dem, was Schiller den «Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen« nannte. Noch Schiller kommt in dem so bezeichneten Auf- /(498) satz und deutlicher in dem nachfolgenden »Über die tragische Kunst« von der Aristotelischen Definition der Tragödie scheinbar nicht los. Wobei er überdies zwischen Trauerspiel und Tragödie nicht zu trennen beabsichtigt, indem beide den Zuschauer zu rühren hätten. Und Rührung ist es auch, von der her Aristoteles zu seiner berühmten Zwecklehre der Tragödie gelangt. sie habe die Affekte der Furcht und des Mitleids zu erregen. Schiller akzentuiert daran nur das Mitleid, doch auch im Aristotelischen Original zeigt uns die Tragödie Menschen, vorab ihre Helden, in einem Zustand des Leidens. Und die dramatisch bewirkte Hochsteigerung der Furcht vor dem Leiden, des Mitleids mit ihm, soll den Zuschauer bekanntermaßen von diesen Affekten befreien. Das heißt, die Affekte sollen durch die tragische Steigerung wieder zu ihrer normalen Höhe im Leben abreagiert werden. Das ist der Sinn der Aristotelischen Katharsis oder Reinigung, als einer solchen, die immer eben Rührung durch dramatisch erfahrenes Leiden einschließt. Erst Euripides freilich hat die Rührung in die Tragödie gebracht, weshalb ja auch Aristoteles dem Euripides die stärkste dramatische Wirkung im angegebenen Sinn zuschrieb. Vorausgesetzt ist hierbei aber nicht nur das spezifische Drama, von dem Rührung ausgeht, sondern vor allem doch auch ein Verhalten, das weniger das Aufbegehren gegen das Schicksal als das -wie immer standhaft ertragene Leiden an
ihm, das Unterliegen vor ihm pointiert. Die gesamte antike Sklavenhaltergesellschaft nahm ein tragisch Aufsässiges im Leiden, nahm Prometheus als tragischen Grundhelden nicht wahr oder wollte ihn mindestens nicht voll wahrhaben. Das trotz der Prometheus Trilogie des Äschylos und trotz des Wissens, daß die tragischen Helden besser sind als die Götter, gar als das Schicksal. Und nun ist es gerade für das Maß der Erfrischung des dramatischen Aspekts lehrreich, wie vor allem die Furcht-, dann die Mitleid-Reinigung der uns fremdest gewordene tragische Effekt ist. Einzuräumen bleibt, daß ihn, wie gesehen, noch Schiller liebte (allerdings mit ausschließlicher Betonung des Mitleids); daß ihn vorher Lessing in der »Hamburgischen Dramaturgie« verteidigte oder nochmals reinigte (allerdings gleichfalls mit Reduktion der Furcht, die das auf uns selbst bezogene Mitleid sein soll). Aber bereits die unternehmerische, /(499)dynamische bürgerliche Gesellschaft verstand den antiken Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen nur noch mit Mißverständnissen; bereits ihr wird mit dem tragischen Helden, auch dem der griechischen Tragödie, ein ganz anderes Wunschbild Theater aktualisiert als dasjenige, welches die bloß passiven Affekte Furcht und Mitleid mit sich führt. Der Furchtaffekt ist mit der Schicksalstragödie ohnehin gefallen, und das Mitleid? Diese Art Rührung ist am Äschyleischen Prometheus und dem, was damit zusammenhängt, weit geringer als die Bewunderung. Ja es läßt sich noch weit mehr, noch ganz anderes in der dermaßen eingetretenen Affektverschiebung feststellen, in dieser wesentlichsten Art von Aktualisierung. Denn ist der tragisch erregte Grund nicht mehr Furcht und Mitleid, so bleibt er auch nicht nur Bewunderung. Er ist vielmehr - und nun als solcher auch in den tragischen Personen selber gesehen Trotz und Hoffnung. Das erst sind die beiden tragischen Affekte im revolutionären Verhältnis, und sie kapitulieren nicht vor dem sogenannten Schicksal. Der Trotz schwindet zwar an und in den Helfend-Siegreichen, als den Helden der sozialistischen Gesellschaft und Dramatik; den nicht mehr antagonistischen Widersprüchen, der substanziellen Solidarität entsprechend. Desto wichtiger aber ist er an und in den Scheiternd-Siegreichen, als den Helden der klassisch überlieferten Dramatik, die - nach Hebbels Wort - an den großen Schlaf der Welt gerührt haben. Und die spezifische Hoffnung, als eine, die in diesem Scheitern allemal ihr sachgemäßes Paradox trieb und die den besten Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen bildet, kommt im sozialistischen Theater überhaupt erst ohne Paradox nach Hause. (Dergestalt daß hier allerdings, im Sinn der letzten Stücke [«Romanzen«] Shäkespeares, des Goethischen Faust, das Tragische aufgehoben sein mag.) Insgesamt erhellt sich so das Theater in seiner moralischen, seiner paradigmatischen Anstalt als eine heiter-antizipierende. Darum ist es heiter auch in der Tragödie, nicht nur in der kritischen Komödie, nicht nur im Lustspiel. Darum spannt sich gerade um die tragischen Helden, ja noch um die echte Rührung, nämlich um die edlen Untergänge des Trauerspiels der Rundhorizont Morgen. Wenn Schiller sagt: »Was sich nie und nirgend hat begeben, das allein veraltet nie«, /(500) so ist dieser Satz zweifellos, sage man, übertrieben; und doch steckt in ihm, unter so viel pessimistischer und idealistischer Resignation, ein materieller Kern. Nur muß der Satz lauten: Was sich noch nie und nirgends ganz begeben hat, doch als menschenwürdiges Begebnis bevorsteht und die Aufgabe bildet, gerade das veraltet nie. Der wirkende Anteil Zukunft gibt also das eigentliche Maß für Frische, auch in der Komödie, die die Gegenwart kritisiert, im Lustspiel, das sie behaglich ausgehen läßt, wie sehr erst in der Erhabenheit der tragischen Welt. Weil an der hoffnungsreichen Wirkung ihrer Helden klar wird, daß deren Untergang nicht ganz stimmt, daß das Element Zukunft darin erhebt.
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VERSPOTTETE UND GEHASSTE WUNSCHBILDER, FREIWILLIG HUMORISTISCHE
Wenn nächstens jemand ein Kapital von hundert Millionen darauf verwendet, alle Neger mit weißer Ölfarbe anzustreichen oder Afrika viereckig zu machen, mich soll's nicht wundern. G. Freytag, Die Journalisten Das Wörtchen Wenn Über vieles wird sich schief gelacht, was nicht heiter ist. Über jeden, der Pech hat, liebt man zu schmunzeln, und ist er klug, so tut er selber mit. Eine besonders schale, doch auffallende Art von Spaß hat hier Platz. Wie lustig, daß einer seinen Schlüssel verloren hat und deshalb zu spät kommt. Daß man seinen Schnupfen nicht los wird, wird gemeinhin erzählt und quittiert wie ein guter Witz. Das Lachen dient hier dazu, die Sache klein zu machen, nebensächlich und fast so, als wäre sie nicht da. Andererseits macht es Spaß, ist auch selber spaßhaft, die Dinge, die einem nicht passen, oder die man als nichtpassende an andern gewohnt ist, so für sich allein umstellen zu können, mit einem kleinen, nur innerlichen Finger sozusagen. Schön, wenn es so ginge, doch daß es nicht so geht, erregt ebenfalls Gelächter. /(501) Daher das Sprichwort: Wenn das Wörtchen Wenn nicht wär', wär' gar mancher Millionär. Oder: Wenn die Wünsche Pferde wären, würden alle Bettler reiten. Dieser Spott ist richtig, trotzdem bleibt vieles darin merkwürdig, noch mehr wird bald bedenklich. Denn hebend gern verbreitet sich ein so fröhlicher Ton dorthin, wo er nur noch grinst und höhnt. Er verbreitet sich auf Kosten des Vorwegnehmens überhaupt, des ungewohnten. So mag schon der Urmensch gelacht haben, als ihm ein Träumer vormachen wollte, Fleisch könne und werde einmal gebraten verzehrt werden. Die Auswüchse sind es, sie haben immer die Lacher gegen ihre Seite. Die Sache ist Wind und wird zu Wasser werden wie jeder Wind. Das tut zwar nicht jeder Wind, doch der Spießer hört es gern. »Die neumodischen Dinge taugen alle nichts« Von hierher wird das Neue am leichtesten, auch innigsten verspottet. Seine Bringer stören, denn angeblich gewöhnt sich der Mensch an alles, auch ans Schlechte. Ungewohntes bleibt dem Kleinbürger eine Fundgrube von Spaß und Abneigung; das hängt mit seiner unsicheren Selbstzufriedenheit zusammen. Der Komiker sagt es frei heraus, die neuen Damenhüte sind ein Graus; nach diesem Rezept wird nun der Ulk der Zukunft ausgekocht und angerichtet. Aber freilich, es kommt hinzu, daß der so beschaffene Witz auch Wurzeln in ganz anderer Klasse und in sehr alten Zeiten aufweist. Davon lebt er, lebt die Abneigung des Spießers, ohne es zu wissen, und nur die Hämischkeit ist dessen eigenes Gewächs. Auch der Bauer frißt nicht, was er nicht kennt, er hatte dazu, solange ihm das Neue vom Gutsherrn kam und von der Stadt, die den Bauern ausplünderten, guten Grund. Das hat sich bei dem Bauern, als eine erworbene Eigenschaft, lange erhalten, das ließ ihn, von ganz anderer Basis her, mit dem Kleinbürger in den Ruf einstimmen: Die neumodischen Dinge
taugen alle nichts. Und ein anderer Grund liegt sogar in einer sehr alten, fast archetypisch nachwirkenden Neuerungsscheu: im Aberglauben als dem Restbestand aus längst vergangener magischer Zeit. Nachdem die ersten eisernen Pflüge in Polen eingeführt waren und schlechte Ernte folgte, schrieben die /(502) Bauern das dem Eisen zu und kehrten zum Holzpflug zurück. Das macht: in der guten alten Zeit, in der Holz-, Stein-, Bronzezeit war Eisen nicht dabei, so taugt das spätere Material nicht zu den hier überkommenen Bräuchen. Ebenso: die Beschneidung wird bei allen Stämmen, die sie als letzten Rest des primitiven Menschenopfers pflegen, mit einem Holz- oder Steinmesser ausgeführt; die Tempel der uralten Erdgötter durften nicht mit eisernen Werkzeugen gebaut oder repariert werden. Dem verwandt ist, vom alten Steinmesser auf die Priesterkaste übertragen: in Rom haben die Plebejer als letztes das Amt des sacerdos erlangt, das bis dahin einzig den Patriziern archaisch vorbehaltene. Und der römisch-katholische Gott wiederum versteht nur Latein; eine deutsche Messe wäre hier, was das Eisen für die alte Erdmutter bei den alten polnischen Bauern war: Herausforderung, Greuel. So tragen für den Aberglauben alle Neuerungen das Zeichen: es ist kein Segen daran. Ein Rest der alten Angst wird von zurückgebliebenen wie von ungleichzeitigen Schichten analog auch gegen die Zukunft verwendet, die ihnen nicht paßt. Ungewohntes ist hier in jeder Weise landfremd, so wird es, mit auffallendem Gegenschlag gegen den Wunsch nach Überraschung, verspottet. Le Néant; Un autre monde Kühner wird der Witz, wenn er Neues selber schnöde vormacht. Wenn er gar mit dem Dunkeln darin spielt und es in ein prickelndes Grauen auflöst. Das Prickelnde darin bezeichnet allemal das Vergnügen daran, daß etwas nun nicht mehr mit rechten, das heißt gewohnten Dingen zugeht. Sehr früh flickte das Zaubertheater der Magie am Zeug, nicht sowohl, um sie zu entzaubern, als um dem Publikum einen kuriosen, einen komischen Schatten auch über das technisch Wunderhafte fallen zu lassen. Das Wunschbild, über die alten Grenzen zu steigen, wird damit, unter anderem, zum Sensationsspaß verkleinert; ein Komödiant kann einen Erfinder lehren. Hierher gehören Feuertricks: die Kunst, auf glühenden Kohlen zu gehen, der Flammenesser, Flammenspeier. Powel the Fire-Eater briet 1762 ein Beefsteak auf seiner Zunge, indem er eine glühende Kohle darunter legte; die /(503) Zunge war mit einem unbekannten Schutzmittel gesalbt. Hierher gehören die optischen Illusionen, vor allem die Arbeit mit Spiegelreflexen, die seit dem sechzehnten Jahrhundert bezeugt sind. Benvenuto Cellini berichtet von Phantomen, die, während einer Vorstellung im Kolosseum, auf Rauch projiziert wurden; die dazu gebrauchten Spiegel wurden vom Hof der Tatarenchane nach Rom eingeführt. Erhalten hat sich davon der Trick, lebende Personen durch Spiegelwirkung verschwinden und wieder erscheinen zu lassen: »Le Néant«,auf Montparnasse, ist eine Bude, die noch heute Menschen, auch Dinge, die eben noch auf der Bühne standen, spurlos aus dem Gesicht bringt und aus dem Nichts ins Da-Sein zurückkehren läßt. 1865 konstruierten Tobin und Pepper »The Cabinet of Proteus«,worin Männer und Frauen verwandelt wiedererschienen: nackt im Liebesbett oder mit Büßerhemd auf dem Scheiterhaufen. »Le Néant« auf Montparnasse aber, wirkt er nicht, als wollte er so lange vor Sartre schon entwerten und spotten: Aller Fortschritt ist einer ins - Nichts. Dergleichen fehlt erst recht nicht, wo in Bildern Neues übertrieben wird. Witzblätter ziehen seit hundert Jahren Stoff daraus, wie der Mensch in hundert Jahren aussehen wird. Der Spott wird desto stärker, je sonderbarer der Spötter
selber von seinen voraus gemalten Fratzen betroffen ist. Dann kann sich freilich die Karikatur auf eine Höhe schwingen, die dem Witzblatt notwendig fehlen mag. Bedeutend hierfür ist ein Grotesk-Bilderbuch mit Text aus dem neunzehnten Jahrhundert auf der romantisch-technischen Kippe: Grandvilles »Un autre monde« (1844); der Autor starb drei Jahre später im Irrenhaus. Umgestiegen wird hier aus der alten Welt in eine neue, und die Sittenschilderung des Umstiegs mischt sich mit freundlichen Genreszenen der Hölle. Auf dem Titelblatt werden verheißen: «Transformations, Visions, Incarnations, Ascensions, Locomotions..., Metamorphoses, Zoomorphoses, Lithomorphoses, Métempsychoses, Apotheoses et autres choses.« Gehalten wird von diesen Versprechungen nicht alles, immerhin rollt der Vorhang auf vor einer vertrackt-utopischen Zucht. Da sind umgebaute Menschen, Doppelfresser, vorn und hinten tragen sie Kopfgebisse und greifen zu. Werkzeuge haben sich längst verselbständigt, sie sind riesige Insekten aus Eisen, ihre Gliedmaßen Zangen oder /(504) Hebebalken, ihr Kopf ein Schmiedehammer, der nietet, indem er nickt. Ein »Concert à la vapeur« zischt, rasselt, klirrt menschenlos und präzis herauf: alle Instrumente werden durch Dampf betrieben, fast sind sie selber Dampfmaschinen geworden; eine oszillierende Kolbenstange, mit Hand daran, gibt den Dirigenten ab. Auch die »Mystères de l'infini« werden vertechnisiert: Jupiter, Saturn, Erde, Mars sind durch eine Eisenbrücke verbunden; die Brücke zeigt sich durch Gaslampen beleuchtet, so groß wie ein kleiner Mond. Baudelaire sagte von Grandville und seinen Zeichnungen: »Es ist ein krankhaftes literarisches Gehirn, stets auf illegitime Kreuzungen versessen... Dieser Mensch hat mit übermenschlichem Mut sein Leben damit zugebracht, die Schöpfung zu verbessern.« Aber eher und einzig richtig war er das Talent, technische Gargantuas auszubildern und mit diesem Scherz sein Entsetzen zu treiben. Jedes dieser Bilder karikiert, überzerrt die Mittel, die Menschen durch Technik glücklich zu machen. Auf dem Justizpalast der Zukunft steht als Axiom: «Les crimes sont abolis, il n'y a plus que des passions« - ein ernster Gipfel im aufgebäumten Spott utopischen Unsinns. Soweit Grandville und sein Orakel; ein schizophrener Kleinbürger, ein bedeutendes Grauen technischer Phantasie hat hier zuviel von Proteus oder auch Prometheus gegessen, davon ward ihm übel. Wobei ohnehin jede Seltsamkeit, wie gesehen, ein Stück Witz mit sich führt (vgl. S.114), als ihre Kehrseite; was ja auch an manchen Produkten des Surrealismus bemerkbar wurde. Außerhalb des Surrealismus ist das am besten erweisbar an den Höllenmontagen, den »paradisi voluptatis« Hieronymus Boschs, deren Misch-Nonveantés vom spanischen Hof einzig um der Belustigung willen gesammelt worden waren. Und nicht ganz unverwandt erscheint das eigentümliche Witzgrauen auch in der übertriebenen Prothesen-Familie Grandvilles, als einer, worin Irrsinn und Spaß zugleich ausbrechen. Schwer, dem beizukommen; Heiterkeit rettet, selber frivol, vor jener dämonisch werdenden Entlegenheit, zu der der Mensch und später die Maschine die Welt umstellen können. Witz rettet vor der äußersten Künstlichkeit oder Ungesundheit abstrakter und doch darstellbarer Mischfiguren, vor dem Schattenreich technischer Unzucht, schwarzer Utopie. Zugleich aber ist Witz objektiv in ihr: /(505) als ein Anfang des »Grotesken«, das sprachlich wie sachlich aus der »Grotte« oder Unterwelt stammt, als Vater oder Bruder eines Gelächters, das gerade der Hölle nicht fehlen darf. Einiges davon erscheint in den angegebenen Karikaturen, den Furchtkarikaturen der Technik und ihrer Prothesen. Mit hämischem oder höhnischem Angsttraum, voll Schreck vor der technischen Herausforderung und dem, was sie ruft. Riesige Schlitzaugen öffnen sich auf einem Bild Grandvilles am Himmel; die Großbomber der Zukunft freilich und die Atombombe wurden vom schrecklichsten Hohn nicht vorgesehen.
Die »Vögel« des Aristophanes und das Wolkenkuckucksheim Der Spott übers Neue macht sich ganz groß, wo ein Auftrag vorliegt. Ein Auftrag der herrschenden Klasse gegen um sich greifende Unzufriedenheiten und ihre Bilder. Dann werden Lobredner der alten Zeit gesucht, und lange bevor sie das Neue romantisch wegbliesen, hieben sie satirisch darauf ein. An sich liegt die politische Satire der unterdrückten Klasse zweifellos näher als der besitzenden, der es im Alten wohlgeht und die sich darin erhalten will. So lebte der Spott des sizilischen Mimus durchaus im Volk, und auch die altattischen Komödienschreiber sahen dem Volk nicht nur aufs Maul, auch ins Herz, wenn sie über hergebrachten Schlendrian lachen machten. Aber die Reaktion während und nach dem unglücklichen peloponnesischen Krieg bewirkte, daß der Spott sich immer mehr gegen Besserwissenwollen selber kehrte und durchaus nicht gegen Überaltertes. Wobei mit überlegenen Mitteln auch der Haß des Spießbürgers im Demos mobilisiert wurde, eben der Haß gegen Ungewohntes und seine Art. Die erste politische Satire war demgemäß reaktionär, war genau gegen Utopien gerichtet; ihr Meister: Aristophanes machte etliche seiner besten Komödien auf Kosten revolutionärer Hoffnung. »Ekklesiazusen« heißt die eine Komödie, sie verspottet den Plan des Frauenstimmrechts und der Gütergemeinschaft; die andere heißt «Vögel« und verspottet sozialistische Utopie schlechthin. Sogar der Spitzname »Wolkenkuckucksheim« (Nephelokokkygia) geht wörtlich auf die »Vögel« zurück, ebenso die Mehrzahl humoristischer Genre- /(506) bilder, womit der sogenannte Zukunftsstaat seitdem bedacht worden ist. Zwei Athener suggerieren den Vögeln, eine Stadt in den Wolken zu gründen, nicht ohne Absicht, selber dahin zu fliegen. Der eine: Peisthetairos (Rätefreund) hält Finken, Meisen, Schwalben eine »Hetzrede«, er belehrt sie, daß sie einstmals die Welt statt der Götter beherrscht haben und wieder beherrschen sollen. Der andere: Euelpides (Hoffegut) glaubt dumm und treu an die Stadtgründung in der Luft, an Nephelokokkygia hoch droben, zwischen Erde und Himmel, beide kontrollierend. Der Vogelstaat soll das Reich der Freiheit werden: Zucht und Sitte sind dort verbannt, es herrscht »Natur«. Ganz im Sinn des Vorrangs der »Natur« vor der «Satzung«, wie die sophistische Aufklärung ihn gelehrt hatte, wendet sich der Chorführer an die Zuschauer: Wer von euch mit uns, den Vögeln, Seine Tage fernerhin Fröhlich lebend will verbringen, Diesen lad ich freundlich ein. Alles, was Gesetz verbietet Dort bei euch als frevelvoll, Ist bei uns im Reich der Vögel Durchaus schön und tugendhaft. Wie schön und tugendhaft aber dies Natürliche ist, geht daraus hervor, daß Aristophanes einen Genossen einfügt, der alles beschmutzt, was ihm in den Weg kommt. Und ein Gesetz wird erwogen, in der vollendeten Bosheit, der genialischen Verleumdungs-Strategie dieser Komödie, »wonach es Ruhm bringt, wenn man den Vater henkt und beißt«. So erscheint hier der gesamte soziale Wunschtraum als Gemisch aus Verbrechen und Posse; seine »Natur« selber hat keinen Boden, außer dem des Wolkendunsts. Sonderbar nur, daß die schöne Stadt in den Wolken, dieser
Reflex aller fernen Glücksinseln, zuerst durch das Medium des Spotts literarisch erschien. /(507)
Fröhliche Überbietung: Lukians «Vera historia«
Seit alters wird vom besseren Leben so erzählt, als wäre es irgendwo schon da. Auch fremdartige Dinge können als ein Besseres erscheinen, indem sie mindestens andersartig sind und unerhört. Die Form, worin von dergleichen berichtet wird, ist das Reisebuch oder aber Erzählungen in der Art Sindbads. Auch Staatsmärchen haben sehr oft diese Form gewählt; liegt doch das Glücksland bezeichnenderweise weit weg. Auf ferner Insel, in einer Südsee; die davon berichteten Wunder sind gewollt unkontrollierbar. Der heiterste Spott über diese Art Lüge ist Lukians «Vera historia«, auch ein Modell Münchhausens ist darin. Gottfried Bürger entnahm von hier einige Geschichten fast wörtlich, und Thomas Morus, der Lukians Dialoge übersetzt hat, ließ sich nicht abhalten, seine Utopia gleichfalls mit Seemannsgarn anzuspinnen. Auch Rabelais' wunderbare Riesenbilder (die Welt in Pantagruels Mund, bestehend aus fünfundzwanzig bewohnten Königreichen, die Wüsten und ein breiter Meerstrich nicht mitgerechnet) haben aus der «Vera historia« großen Nutzen gezogen; und Rabelais ist der einzige, der Lukian in solcher Groteske übertraf, nämlich mit Renaissance-Dimension. Dem bloßen Spötter Lukian, in absteigender, skeptisch zerstörender Gesellschaft, fehlte Größe des utopischen Spotts durchaus; doch machte ihn seine Skepsis nun gerade dem liederlichen Element verschworen, das an Wunderkunden als einziges aufging. Nicht ohne daß, wie es bei Ironie recht oft der Fall, die Fabelei so lange verspottet wurde, bis der Spott sie nachmachte und übertraf. Derart gab Lukian eine ausgesuchte, fast selber utopische Phantasterei über Unvorhandenes, ganz leicht, ganz sorglos, wie ein Bewohner der glücklichen Inseln selber. Er will, wie die ehrgeizige Einleitung sagt, den großen Lügnern nachfolgen, dem Odysseus an der Spitze, aber auch Dichtern, Philosophen, Geschichtsschreibern und vor allem der legendären Geographie. Er verspottet besonders Fabulantes von der Art des Antonios Diogenes, der in nicht weniger als 24 Büchern die «Wunder jenseits Thules« behandelt hatte. Über diese Vorgänge sagt Lukian: «Ich werfe ihnen ihre Lügenhaftigkeit nicht vor; was mich aber überrascht, ist, daß sie keine Entdeckung /(508) fürchteten. Indem ich wünsche, an der Welt der Schriftsteller und Lügner teilzunehmen, und außerstande, Tatsachenberichten zu können (indem mir nichts von Bedeutung zustieß), sage ich im voraus das einzig Wahre, nämlich daß ich Lügen erzählen werde. So beginne ich also mit dem, was ich weder sah noch hörte, und, was mehr ist, ich schreibe über Dinge, die nie geschahen und je geschehen könnten.« Dergestalt segelt Lukian, selbst noch die Möglichkeit seiner eigenen Phantasieländer verlachend, mit fünfzig anderen Lügnern über die Säulen des Herkules. Die bekannte Welt bleibt zurück (soweit sie nicht im Mond, einem aufgehängten Erdspiegel, von Zeit zu Zeit reflektiert wird). Und in der unbekannten gibt es alles, was Tantalus begehrt und Zeus vorenthält. Lukian hat Motive aus seiner syrischen Heimat verwendet, die sich später in Tausendundeiner Nacht wiederfinden, so in den Geschichten Sindbads des Seefahrers. Es gibt eine Art Vogel Rok, es gibt einen Riesenfisch, der Lukians Schiff verschluckt, und anderen Gruselglanz mehr. Dazu finden sich alkoholische Motive, «Vinland«-Motive, wie sie erst in mittelalterlichen Reiselegenden, Entdeckungsbildern wieder auftauchen. Denn auf der Insel jenseits der Säulen des Herkules sieht der Reisende riesige Fußspuren, die des Herkules und des Dionysos. Und letzteren folgend erreicht er einen Fluß, der Wein führt, mit Fischen, die Rausch
erzeugen, mit Frauen am Flußufer, die teilweise zu Weinstöcken verwandelt sind und so doppelt trunken machen. Andererseits weist Lukian den Mondbewohnern flüssige Luft als Getränk an, 1700 Jahre vor deren Herstellung, während (damit Unsinn trotzdem recht behalte) kolossale Spinnen den Raum zwischen Mond und Morgenstern mit einem gangbaren Gewebe überziehen. Aber weit sonderbarer ist dieses: das Lügenschiff auf seiner Fahrt in den Atlantik ist nämlich unterwegs, um zu erfahren, wörtlich: um zu erfahren, »was die Grenze des Ozeans sei und welche Menschen auf seinem entgegengesetzten Ufer wohnen«. Das ist deutlicher als die berühmte Prophezeiung des Seneca, daß einst der Gürtel des Ozeans zerreißen werde, aber die Vorhersage der entgegengesetzten Ufer des Atlantik - steht in einer Spottschrift über Lug und Phantasterei. Freilich: erreicht dann der wahrhaftige Erzähler eine Wunderstadt, so stellt er sie wieder dar als /(509) abgeschmackt vor lauter Zauber, und das Wunderland besteht überhaupt nur noch aus Unmöglichkeit. Insofern gibt Lukianisches sogar ein ganz gutes, nämlich lustiges Antidoton gegen die Dichter, die lügen, gar gegen die Münchhausens, die utopisieren. Jedoch es bleibt ein anderes, ob ein Münchhausen gelegentlich, um des erhöhten Jägerlateins willen, auch utopisiert, oder ob ein Utopist Reisewunder beizieht, um seine glückliche Insel recht stark zu kolorieren. Die Absichten bei beiden sind grundverschieden, so wie die Windbeuteleien Münchhausens und die Glücksmärchen eines Thomas Morus methodisch verschieden sind. Selbst der abstrakteste Utopist hatte nichts Unmögliches, sondern lauter Möglichkeiten im Sinn, auch wenn deren wahre Geschichte noch so im sehr argen lag und ausstand. Es gibt keinen Fluß, der Wein führt, aber ein ,Überfluß für alle, den es gleichfalls nicht gibt, geht aus der heiteren Lüge sogleich in die heiterste Aufgabe über. Freiwillig humoristische Wunschbilder Zuletzt gibt es voreilende Träume, die an Neues glauben und doch darüber lachen. Sie tun es freiwillig, brauchen keinen Spötter von außenher, sie werden bereits humoristisch geboren. Und eben deshalb, weil sich Vorhandenes in ihnen verblüffend verschiebt, mit Zukunft allerorten und nicht als wahr geglaubter. Sonderlich lustig bietet sich für solches Spiel die Bildung ausgewechselter Lebewesen an. Mit dem Messer besorgte das Maurice Renard im Schauerroman «Docteur Lerne«, die Vertauschung von Gehirnen betreffend. Ein Arzt setzt Kalbsgehirne in Löwenköpfe ein, Affengehirne in Menschenköpfe und umgekehrt. So verändert und mischt er die Arten, sein eigener Neffe tobt in einem Stier, in den er das Gehirn dieses Neffen eingesetzt hat. Längst vorher hat der verbrecherische Arzt sich selbst ermordet und sein Gehirn dem Kopf seines großen Lehrers implantiert, in dessen Leib und Würden er nun lebt. Ist das chirurgischer Wünschspott, so wird er elektrisch-erotisch bei Villiers de l'Ile Adam im Edison-Roman »L'Eve future«, einer Art Jahrmarktsbude mit mechanischen Meermädchen, doch wirklich lebendig. Erzählt wird hier die Erschaffung (Umschaffung) einer Frau /(510) durch Edison, den amerikanischen Wundermenschen selber. Der Erfinder stellt für Lord Ewald eine kostbare Nachahmung Alicias her, der sehr schönen Geliebten des Lords, noch schöner durch die technisch hinzugefügte Seele eines höheren weiblichen Wesens. Reines Metall, parfümiertes Fleisch, die neuen Rätsel des Mikrophons, Phonographen, elektrischen Stroms («L'Eve future« erschien 1886) vereinen sich zum »Automate-electro-humain«. Was die Automatenkünstler des Rokoko, was Spallanzani in »Hoffmanns Erzählungen« begonnen, wird hier sozusagen vollendet;
denn die neue Olympia ist keine Puppe mehr, sondern faktisch Ideal von Weib. Trotz Edison ist die Linie freilich nicht modern, der Plan selber: die virgo optime perfecta ist sogar antik. Magisch ist sie im Pygmalion-Mythos gedacht, und Aphrodite war dem Bildhauer gnädig, indem sie die makellose, von keinem organischen Verdruß gestörte Statue belebte. Und weiter, wieder ins Komische gehend: In einem erhaltenen Fragment des römischen Gelehrtenspaßes, in M. Terentius Varros »Befreiter Prometheus « eröffnet der Titan nach seiner Befreiung eine Menschenfabrik, von der Goldschuh, ein Reicher, sich ein Mädchen bestellt »aus Milch und feinstem Wachs, wie die milesischen Bienen es sammeln«. Der Witz ist allerdings der gleiche wie im Edison-Roman, und sein Ziel bleibt der alte Homunculus, der nur sogleich als synthetische Jungfrau gezüchtet wird. Eine eigentlich neue Bahn im elektrisch-utopischen Humorfeld, sogar Paradoxfeld betrat erst H. G. Wells mit seiner »Time-Machine«. Diese Maschine ist auch hinsichtlich ihrer Erzählung viel besser gelungen als Wells' spätere limonadenhaft-liberale Staatsmärchen. Die Zeitmaschine fährt nicht nach rechts noch nach links, sondern einzig auf der Zeitlinie vor und zurück, als nicht mehr imaginärer Raumachse. Der Erfinder schwingt sich im Laboratorium auf das unerhörte Fahrzeug, stellt den Hebel in die Zukunft. Um ihn wird es Nacht, nämlich die kommende, wird es Tag von morgen, wird es in einer Stunde die nächste Woche, wird es künftiger Winter und Sommer, mit wachsender Tourenzahl der Maschine nur noch als Reflex von Weiß und Grün erscheinend. Jahrzehnte werden durchrast, Jahrhunderte. Endlich stellt der Fahrer den Motor in der Landschaft ab, die - auf der gleichen Raumstelle wie sein Zimmer - im Jahre 802701 sein /(511) wird. Dort trifft er völlig harmlose, auf der Kinderstufe stehengebliebene Menschen, singend, tanzend, Blumen flechtend; unter der Erde aber hausen die Morlaken, klebrig-schwärzliche Geschöpfe von weit höherer Intelligenz. Es sind die Proletarier von ehemals, und die Blumenmenschen sind die im Müßiggang verblödeten Reichen, sie werden jetzt von den Morlaken als Viehherde gehalten, als lebender Fleischvorrat. Der Zeitfahrer kehrt nach mancherlei Gefahren aus dem Jahr 802 701 zu seinen gegenwärtigen Freunden zurück, eine Blume in der Hand, die auf der ganzen jetzigen Erde nicht vorkommt. Er verspricht, das Geheimnis der Maschine zu enträtseln, sobald er mit ihr auch die andere Richtung der Zeit, die vergangene, erprobt habe. Doch von dieser Reise, versichert Wells, kam der Fahrer nicht mehr zurück, sei es, daß er sich im Diluvium angesiedelt, sei es, daß er, noch tiefer in die Vergangenheit geraten, einem Ichthyosaurus zum Opfer gefallen sei. Soweit dieser interessante Spaß, er spielt virtuos auf dem populären Zeitbegriff, er spielt weniger virtuos auf dem populären Spießerbegriff, wonach es, »da der Mensch sich nicht ändert«, auch in Jahrhunderttausenden noch Klassen geben wird. Die Klasse der Müßiggänger droben, wenn auch eßbar geworden, der Arbeiter drunten, wenn auch mit der einzig übriggebliebenen Intelligenz, der von Kanalgeschöpfen. Ganz reaktionär aber endet das letzte, das totale Morlaken-Gemälde, das über Wells hinaus Aldous Huxley noch geliefert hat, mit dem ironischen Shakespeare-Titel: «Brave New World«. Einzig Reflexmenschen bewohnen darin die Zukunft, sauber, gefühllos, unsentimental in die Reflexgruppen der Roboter und der Führer eingeteilt. Individuen sind abgeschafft, die Gesellschaft funktioniert als Schaltwerk, und das idiotische Wunschbild, das Huxley als eines der Kommunisten oder der Faschisten hinstellt, ihm angeblich gleichviel, ist sozusagen schreiend komisch. Es erbricht sich dermaßen vor Lachen, daß es nicht einmal Monopolkapitalismus von Vergesellschaftung der Produktionsmittel zu unterscheiden weiß. So ist die liberale Bourgeoisie zu utopischem Humor unfähig geworden; sein Spiel endet in Grausen
und Dummheit. Ist, wie der Individual-Agitator Huxley zeigt, nur noch zu Hoffnungsmord und Anti-Utopie fähig. Halte man sich statt dessen an «L,Eve future«, besonders an /(512) die »Time-Machine«, soweit sie technisch bleibt, und an verwandte Humoresken. Gerade der Sozialismus hat Platz für freiwillig humoristische Wunschbilder echter, künftiger Art; ja sie werden in ihm eine eigene heitere Schriftgattung bilden können, die der moussierenden Projekte. Wenn einmal ein kleines goldenes Zeitalter anfängt zu beginnen, dann wird manches Wunschbild übertreibbar, doch keines mehr karikierbar sein. 32
HAPPY-END, DURCHSCHAUT UND TROTZDEM VERTEIDIGT
Ich möchte einen Cancan tanzen, So frech wie die Pompadour, Denn wir Pariser Pflanzen Denken nur l’amour, l’amour. Offenbach, Pariser Leben Der Kommis hat auch Stunden, wo er sich auf ein Zuckerfaß lehnt und in süße Träumereien versinkt; da fällt es ihm dann wie ein Fünfundzwanzig Pfund aufs Herz, daß er von Jugend auf ans Gewölb gefesselt war wie ein Hund an die Hütten. Wenn man nur aus unkompletten Makulaturbüchern etwas vom Weltleben weiß, wenn man den Sonnenuntergang nur vom Bodenfenster, die Abendröte nur aus Erzählungen von Kundschaften kennt: da bleibt eine Leere im Innern, die alle Ölfässer des Südens, alle Heringsfässer des Nordens nicht ausfüllen, die alle Muskatblüt' Indiens nicht würzen kann. Nesrroy, Einen Jux wiIl er sich machen Man weiß zu gut, die Menschen wollen betrogen werden. Doch dieses nicht nur, weil die Dummen in der Mehrzahl sind. Sondern weil die Menschen, zur Freude geboren, keine haben, weil sie schreien nach Freude. Das erst macht auch die klügeren zeitweise einsinnig, einfältig, sie fallen auf Glanz herein, und es ist nicht einmal nötig, daß der Glanz Gold verspricht, hier kann bereits genügen, daß er glänzt. Schaden macht klug, doch binnen kurzem arbeitet die Sucht wieder und hofft, daß man sie diesmal nicht betrügt. Sie hält sich für den Ernstfall frisch und will ihn /(513) nicht versäumen; unterdessen aber wachsen immer neue, ungebrannte Kinder heran, immer neue Betrüger haken in eine Schwäche ein, die ebenso eine Stärke sein könnte. Denn immerhin hat sie eine Schwäche fürs Glück, fürs Lachen zuletzt und ist nicht der verprügelten Meinung, selten käme etwas Besseres nach. Die Benutzung der Schwäche braucht nicht durch Schwindler zu geschehen, kleinen wie großen Stils. Schönfärben wird überall gesucht, schlechte Bücher sind voll davon. Aber bezeichnenderweise mehrt sich der Zucker gegen das Ende, er steigt sozusagen an oder auf. Das Leben ist bedenklich, doch per saldo soll es sich rentieren. Auch der sonst Gewitzigte wird derart vom Ende gut, alles gut beeindruckt. Viel steht dafür, den Schein am Ende schlechthin zu verurteilen. Im Anblick des Unheils, das er angerichtet hat, heute, in steigender Weise, anrichtet. Wo die Arbeit gar keine Freude mehr macht, muß die Kunst dazu herhalten, Spaß zu sein, fröhlicher Schwindel, aufgesetztes happy-end. Das hält die Hörer bei der Stange; am
Ende der faschistischen Volksgemeinschaft oder des American way of life wird jeder etwas kriegen, und zwar ohne daß das Geringste an der vorliegenden Wirklichkeit geändert werden müßte. Die Besucher der Kinos und die Leser der Magazingeschichten erblicken rosenrote Aufstiege, als wären sie in der gegenwärtigen Gesellschaft die Regel, und nur der Zufall hätte sie für den zufälligen Beschauer verhindert. Ja, das happy-end wird kapitalistisch desto unumgänglicher, je geringer die Aufstiegschancen in der heutigen bestehenden Gesellschaft geworden sind, je weniger Hoffnung diese bieten kann. Dazu kommt die »moralische« Dosierung des guten Ausgangs; denn nicht jeder wird reich und glücklich, soviel Zucker ist selbst in der Magazinwelt nicht da. Sondern nur dem Tugendhaften wird ein Bankkonto, dem Bösen, und nur ihm, ist das Elend vorbehalten; derart findet eine der frechsten Umkehrungen des wirklichen Zustands statt. Das Hotel zum Reichen Mann ist allerorten von Guten bewohnt; das viele Schlechte aber, Hunger, Slums, Gefängnisse, das die herrschende Gesellschaft nicht abschaffen und nicht einmal wegleugnen kann, wird zweckgemäß auf die sittlich Schlechten verteilt. Es sind die allen Sonntagspredigten der gerissenen Erbaulichkeit, nun gänzlich zur Heu- /(514) chelei geworden, zur Schminkindustrie dazu. »Wenn das Geld«, sagt Marx, »mit natürlichen Blutflecken auf einer Backe zur Welt kommt, so das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren blutend schmutztriefend «; also braucht es, je länger, je mehr, Maske für den Ausgang, Glück der Bravheit am Ausgang. Das happy-end ist aber nicht nur verlogen, es ist auch flach geworden wie noch zu keiner Zeit, es beschränkt sich auf das Lächeln der Auto- und Parfümreklame. Gepflegte Herren und Damen zeigen das High-Life einer untergehenden Gesellschaft, ohne daß sich in dieses Ende Süßigkeit des Lebens zusammendrängte wie im Rokoko. Das Glück des bürgerlichen Reichtums ist selber so plump wie leer geworden, sein happiness grenzt in Wahrheit mehr ans Nichts als selbst die Toten. Trotzdem betrügt dies vorgelogene, vorgeschriebene happy-end Millionen, denen es die Jenseits-Vertröstung der Kirche ersetzt, und nur um des Betrugs willen ist es vorgeschrieben. Mit immer neu erwärmter Einbildung soll der arme Teufel, der in goldenen Träumen sich heraufspielt, des Glaubens bleiben, diese Träume seien im Kapitalismus, mindestens in Kapitalismus plus Geduld und etwas Wartezeit sicher erfüllbar. Doch für den kleinen Mann gibt es keinen Börsengewinn des Lebens, jedes Rosenrot endet für ihn als schwarzer Freitag. Es gibt sehr geschicktes kapitalistisches Feuerwerk, nicht nur in optischer Beziehung, dem gegenüber die sozialistische Welt kaum mitkommt. Aber nach all den Blitzschlangen und Sternkästen, venezianischen Prachtbomben und der Königin der Nacht folgt die gewaltige Kanonenschlagbombe, und das ist der Clou wie der Abschluß der Sache. Was immer der Kapitalismus mit happy-end aufzieht, Geschäft wie nie, Großdeutschland, America first, selbst keep smiling, führt in den Tod. Auf platteste Weise wird das Schöne in der Welt der übertünchten Gräber zu des Schrecklichen Anfang. Und trotzdem ist das nur die eine Seite des Scheins, die selber falsche. Ein unüberhörbarer Trieb arbeitet in der Richtung des guten Endes, er ist nicht nur auf die Leichtgläubigkeit beschränkt. Daß Betrüger sich diesen Trieb zunutze machen, widerlegt ihn au fond fast so wenig, wie der «Sozialist« Hitler den Sozialismus widerlegte. Die Betrügbarkeit des happy-end-Triebs besagt nur etwas gegen den Stand seiner Vernunft; dieser /(515) aber ist so belehrbar wie verbesserbar. Der Betrug stellt das gute Ende dar, als sei es in einem unveränderten Heute der Gesellschaft erreichbar oder gar schon das Heute selbst. Doch indem Erkenntnis den faulen Optimismus zuschanden macht, macht sie nicht auch die dringende
Hoffnung aufs gute Ende zuschanden. Denn diese Hoffnung ist zu schwer zerstörbar im menschlichen Glückstrieb begründet, und zu deutlich war sie allemal ein Motor der Geschichte. Sie war es als Erwartung und Aufreizung eines positiv sichtbaren Ziels, um das zu kämpfen wichtig ist und das in die öde fortlaufende Zeit ein Vorwärts schickt. Mehr als einmal hat die Fiktion eines happy-end, wenn sie den Willen ergriff, wenn der Wille sowohl durch Schaden wie eben durch Hoffnung klug geworden war, und wenn die Wirklichkeit in keinem zu harten Widerspruch dagegen stand, ein Stück Welt umgebildet; das heißt: eine anfängliche Fiktion wurde wirklich gemacht. Zuweilen gelang sogar, bei kräftigem Glauben, ein Paradox: der Sieg des Dringlichen über den mächtigen Feind, des Heiteren über das übel Wahrscheinliche. Fehlt der Willensinhalt des Ziels, dann bleibt selbst das gut Wahrscheinliche ungetan; bleibt aber das Ziel, dann kann selbst das Unwahrscheinliche getan werden oder mindestens, für später, wahrscheinlicher gemacht. Nicht einmal das Zerreißen der Kette an ihrem schwächsten Glied gelang und gelingt, wenn den Zerreißenden nicht das Positivum: Anti-Kette gänzlich im Gemüt steht. Die Menschen verkleinern sich, wenn ihr Zweck verkleinert wird, dagegen als großer und heiterer macht er sich in einer Welt unvermeidlich, die nur noch die Wahl zwischen Sumpf oder energischem Neubau vor sich hat. So steht es der roten Farbe nirgends an, freiwillig schüchtern zu sein. Bereits jede Schranke, wenn sie als solche gefühlt wird, ist zugleich überschritten. Denn schon das Anstoßen an ihr setzt eine über sie hinausgehende Bewegung voraus und enthält sie keimhaft. Das ist das einfachste dialektische Zugleich im objektiven Faktor, vorab, wenn er das Bewußtsein der Schranke vervollständigt und aktiviert. Dann gelangt das Bewußtsein vermittelt auf die andere Seite, in den Kampf ums happy-end, wie es im Ungenügen am Vorhandenen sich schon verspürt, fast meldet. Der Unzufriedene sieht dann in Einem, wie schlecht /(516) die kapitalistischen Verhältnisse sind und wie dringend ihn die sozialistischen Anfänge brauchen, wie gut deren Folge sein kann und wird. Dergleichen macht die Schranke zur Staffel, vorausgesetzt, daß die andere Seite, das Glück des Ziels, stets auf dem Weg anwesend bleibt. Und die unabdingbare Einsicht in die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten beglaubigt: diese Gesetze haben, als erkannte und verwendete, das Zeug in sich, zu einem guten Ende zu leiten. Also braucht der Sozialismus auch keine Anleihen bei anderen Farben, Gebräuchen, Mächten, gleich als ob seine eigene Farbe nicht ausreichte. Er braucht das vor allem nicht, wenn diese Farben oder Stellagen so sehr diesseits der überschrittenen Schranke liegen und schon so ganz anderes gestellt haben, daß sie nicht leicht, auch nicht unmißverständlich umfunktioniert werden können. Der Sozialismus, der seinen Weg zum happy-end als eigenen besitzt und hält, ist gerade auch als Kulturerbe eines aus eigener Schöpferkraft, eigenem Fülle-Ziel, ohne Plüsch, ohne geistige Schüchternheit. Das neureiche Bürgertum der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts kam nicht mit Eigenem aus; so trieb es Putz und Ersatz mit Schleifchen, Deckchen, maskierten Häusern und Bildern, unverstandenen Ornamenten, hochherrschaftlichen Fassaden, Historismen; und der Ersatz war danach. Dem Sozialismus, der nie mit fremdem Kalbe pflügt, der die Maskerade wie das Protzentum gesellschaftskritisch entlarvt, ästhetisch verdammt, liegt das alles meilenfern. Gründerzeiten sind hier Fremdkörper, im Sozialismus besonders merkbare; auch zum Kulturerbe geht ihm kein Weg durch die gute Stube. Politisch grenzt das revolutionäre Proletariat nirgends ans Kleinbürgertum, wie sollte es das kulturell? Tatsächlich wird ja auch dergleichen nie praktiziert; denn eine Praxis, die keine realistische Theorie hinter ihr und für sich hat, wäre keine, ist im Sozialismus unmöglich. Ja, auch noch das echte
Kulturerbe nimmt der Sozialismus nicht so auf, daß er damit beginnt und dann auf ihm, als wäre es eine fertige Bel-Etage, weiterbaut, sozusagen. Sondern der Bautrieb ist hier, zum ersten Mal in der Geschichte der Kultur, moralisch, ist der Bau einer Welt ohne Ausbeutung und ihre Ideologie. Weder Kahlheit noch Epigonentum bezeichnen des weiteren dieses Werk, sondern der Farbenakkord Rot und Gold, ein offenbar /(517) herrlich-kühner. Im Rot aber steckt zugleich das Gold, das dem Besten aus der Tradition wahlverwandt macht und ihr Klassisches ausmacht - als wachsenden Gehalt, nicht als ehemalige Lokalform. Darum: frische Luft und große Weite gehören zu diesem Ausgang, als demjenigen, worin auch kein happy-end aus Plüsch mehr hängt und keines aus dem Lorbeerschema des Historismus. Es gibt genug fröhliche Umschlagplätze am Strom zum wahren happy-end; denn dieser fließt einzig durch den Sozialismus. Wie bemerkt, jede Schranke, wenn sie als solche gefühlt wird, ist bereits überschritten. Doch ebenso: keine Schranke wird tätig überschritten, ohne daß gemeintes Ziel in echten Bildern und Begriffen vorherzieht und in dergestalt bedeutende Verhältnisse versetzt. Sieh den Ausgang der Dinge als freundlich an, das also ist nicht immer leichtsinnig oder dumm. Der dumme Trieb zum guten Ende kann ein kluger werden, der passive Glaube ein kundiger und aufrufender. Insofern kann zu einer Verteidigung des alten fröhlichen Kehraus geschritten werden, denn er ladet, streckenweise, zum Essen ein, nicht nur zur Betrachtung. Und dies Essenwollen hat zuweilen gegen die Sperre erst empfindlich gemacht, die sich - in Gestalt der vorhandenen Gesellschaft - zwischen Vorstellung und Lustgelag schiebt. Wogegen Menschen; die überhaupt an kein happy-end glauben, die Weltveränderung fast ebenso hemmen wie die süßen Schwindler, die Heiratsschwindler, die Charlatane der Apotheose. Bedingungsloser Pessimismus also befördert nicht viel weniger die Geschäfte der Reaktion als künstlich bedingter Optimismus; letzterer ist immerhin nicht so dumm, daß er an gar nichts glaubt. Er verewigt nicht das Geschleppe des kleinen Lebens, gibt der Menschheit nicht das Gesicht eines chloroformierten Grabsteins. Er gibt der Welt nicht den todtraurigen Hintergrund, vor dem sich überhaupt nichts zu tun lohnt. Zum Unterschied von einem Pessimismus, der selber zur Fäulnis gehört und ihr dienen mag, verneint ein geprüfter Optimismus, wenn die Schuppen von den Augen fallen, nicht den Zielglauben überhaupt; konträr, nun heißt es, den richtigen zu finden, zu bewähren. Deshalb ist selbst über einen bekehrten Nazi mehr mögliche Freude als an sämtlichen Zynikern und Nihilisten. Deshalb ist der sturste Feind /(518) des Sozialismus nicht nur, wie verständlich, das große Kapital, sondern ebenso die Menge der Gleichgültigkeit, Hoffnungslosigkeit; sonst stünde ja das große Kapital allein. Sonst gäbe es ja, trotz aller Fehler in der Propaganda, nicht die Verzögerungen, bis der Sozialismus in der ungeheuren Majorität zündet, deren Interessen zu ihm gehören, ohne daß sie es weiß. Also ist der Pessimismus die Lähmung schlechthin, während selbst der verrottetste Optimismus noch die Betäubung sein kann, aus der es ein Aufwachen gibt. Noch die Zufriedenheit mit dem Existenzminimum, solange es da ist, die Kurzsichtigkeit im täglichen Kampf ums Brot und die armseligen Triumphe in diesem Kampf stammen letzthin aus dem Unglauben ans Ziel; in ihn daher gilt es, primär einzubrechen. Nicht grundlos hat das Kapital außer dem falschen happy-end seinen echten eigenen Nihilismus zu verbreiten gestrebt. Denn er ist die stärkere Gefahr und kann, zum Unterschied vom happy-end, überhaupt nicht berichtigt werden, außer durch seinen eigenen Untergang. Die Wahrheit ist sein Untergang, als enteignende wie als befreiende, hin zu einer endlich gesellschaftlich möglichen Humanität. So ist denn die Wahrheit, als wegräumende, als Anweisung zum Bau, keineswegs Grämen noch
Eis. Konträr, ihre Haltung ist, wird, bleibt kritisch-militanter Optimismus, und dieser orientiert sich im Gewordenen allemal aufs Noch-Nicht-Gewordene, auf betreibbare Möglichkeiten des Lichts. Er macht die unausgesetzte und tendenzkundige Bereitschaft, den Einsatz ins noch Ungelungene zu wagen. Solange kein absolutes Umsonst (Triumph des Bösen) erschienen ist, ist darum das happy-end des rechten Sinns und Wegs nicht nur unser Vergnügen, sondern unsere Pflicht. Wo die Toten ihre Toten begraben, mag das Grämen mit Recht stattfinden und das Scheitern der existenzielle Zustand sein. Wo Snobs als Verräter sich so lange an der Revolution beteiligten, bis sie ausbrach, mag in der Tat nur mehr zu beten sein: Unsere tägliche Illusion gib uns heute. Wo die kapitalistische Rechnung nirgends mehr aufgeht, mag der Bankrotteur in der Tat veranlaßt sein, einen Tintenklecks über das Heft des ganzen Daseins zu gießen und auszubreiten, damit die Welt insgesamt kohlschwarz aussehe und kein Prüfer den Nachtmacher zur Rechenschaft ziehe. All das eben ist eine noch schlimmere /(519) Täuschung als die der strahlenden Fassaden, die man nicht mehr halten kann. Die Arbeit dagegen, womit die Geschichte weitergeht, ja längst weitergegangen ist, führt zu der gutseinkönnenden Sache, nicht als Abgrund, sondern als Berg in die Zukunft. Die Menschen wie die Welt tragen genug gute Zukunft; kein Plan ist selber gut ohne diesen gründlichen Glauben in ihm.
Ernst Bloch
Das Prinzip Hoffnung Zweiter Band
[Klappentext] Ernst Bloch wurde am 8. Juli 1885 in Ludwigshafen geboren, studierte Philosophie und Physik und lebte zunächst als freier Schriftsteller in München, Bern und Berlin. 1933 emigrierte er in die Tschechoslowakei und 1938 in die USA. Von 1949 bis 1957 war er Ordinarius für Philosophie an der Universität Leipzig und seit 1961 an der Universität Tübingen. 1967 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Als Ernst Blochs «Prinzip Hoffnung« 1959 im Suhrkamp Verlag erschien, war es schon, obwohl bis dahin noch nicht vollständig publitiert, ein berühmtes Werk. Heute ist die Wirkung vielleicht nicht mehr die eines Lauffeuers, aber sie reicht tiefer: Das Antizipieren der Zukunft, das »Träumen nach vorwärts«, das in diesem Werk philosophisch demonstriert wird, hat nicht nur das wissenschaftliche Denken ungemein angeregt, sondern ist tief in das Lebensgefühl der heutigen Generation eingedrungen. Geschrieben 1938-1947 in den USA durchgesehen 1953 und 1959 suhrkamp taschenbuch wissenschaft 3 Dritte Auflage, 26.-35. Tausend 1976 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1959 Suhrkamp Taschenbuch Verlag
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VIERTER TEIL (Konstruktion) GRUNDRISSE EINER BESSEREN WELT (HEILKUNST, GESELLSCHAFTSSYSTEME, TECHNIK, ARCHITEKTUR, GEOGRAPHIE, PERSPEKTIVE IN KUNST UND WEISHEIT)
/(522) Der Akt-Inhalt der Hoffnung ist als bewußt erhellter, gewußt erläuterter die positive utopische Funktion; der Geschichtsinhalt der Hoffnung, in Vorstellungen zuerst repräsentiert, in Realurteilen enzyklopädisch erforscht, ist die menschliche Kultur bezogen auf ihren konkret-utopischen Horizont. Das Prinzip Hoffnung, S. 166 /(523) 33
EIN TRÄUMER WILL IMMER NOCH MEHR
Zu viele stehen draußen an. Wer nichts hat und sich dabei bescheidet, dem wird auch noch genommen, was er hat. Nur hört der Zug nach dem, was fehlt, nie auf. Wovon geträumt wird, dessen Fehlen tut nicht weniger weh, sondern mehr. So hindert das, sich an die Not zu gewöhnen. Was immer wehtut, drückt und schwächt, soll weg. Ein wenig nur aufzuatmen, das genügte nie lange. Vor allem lebte stets ein Träumen über den kurzen und privaten Tag hinaus. Hier geht also ein anderes an als die Lust, sich so zu putzen, zu siegeln, wie man von seinen Herren gewünscht wird. Hier zeichnet sich ein größeres Bild in die Luft, ein wünschend überlegtes. Auch bei diesem Überlegten wurde weithin geirrt, doch mit ihm kann nicht so weithin betrogen werden. Auch läßt es sich nicht billig abspeisen, sein Wille zielt auf mehr, und dieses Mehr ist es, wonach alles, was er erlangt, schmeckt. So daß er nicht nur über die eigenen, sondern über die schlecht vorhandenen Verhältnisse insgesamt zu leben sucht. Die Sehnsucht hält ihre Kraft fest, gerade als betrogene, auch noch als eine bald hierhin, bald dorthin leerlaufende. Wie sehr erst, wenn der Weg richtig und sorgend vorwärts geht. 34
ÜBUNG DES LEIBS, TOUT VA BIEN Frisch, fomm, fröhlich, frei. Spruch
Nur was klein ist, rückt nach unten. Das Kind hat nichts zu melden, die Frau kocht und wäscht. Der Arme steht krumm, nicht viele werden noch täglich einmal satt. Wie bleiben wir gesund, ist da die Frage, wie nährt man sich gut und billig. Wo ist der /(524)grüne Ast, er kann an anderen gesehen werden, sie sitzen darauf. Vierzehn Tage frei, das ist schon sehr viel für die meisten, dann zurück in ein Leben, das
keiner will. Die frischere Luft steht hier für viel, was strahlen könnte. Sie bietet sich dem Körper an, der ohnehin jedem gehört. Nie wurde mehr Sport gewünscht, getrieben, geplant als heute, nie mehr von ihm erhofft. Er gilt als gesund, das Sportherz hat das Bierherz verdrängt. Gebräunte Haut macht ohne weiteres blühend, bringt Süden oder Höhe fleischgeworden herbei. In Kauf wird genommen, daß Sport in gebliebenen bürgerlichen Zuständen oft verdummt, also schon deshalb von oben gefördert wird. Nicht bloß der freie Wettbewerb, zu dem kein Platz mehr ist, wird im Verbessern der Rekorde ersetzt, auch der wirkliche Kampf um Besserung. Ein kräftiges Bedürfnis treibt die Massen ins Freie, aber das Wasser reinigt nur die Körper, und die Wohnung, zu der der Freiluftmensch abends heimkehrt, ist nicht frischer geworden. Freilich im Vormärz, als das Turnen aufkam, schien der Ruck durch die gelähmten Glieder noch mit einem anderen Ruck verbunden. Stahl, fahr aus dem Rost, aus dem Schlauch der Most, durch den Dunst läuft der Ost, ein Pereat dem Frost, so lautete damals, als Turnen statt Drill kam, ein Sang. Sturm und Drang des Leibs trat in der Bürgerjugend vor, der sogenannte Turnvater Jahn schrieb 1815:»Die Seele des Turnwesens ist das Volksleben, und dieses gedeiht nur in Öffentlichkeit, Luft und Licht.« Vom gestrafften Rückgrat gingen so gefährliche Anregungen aus oder verbanden sich mit ihm, und der junge Turner dachte an Freiheit. Dies Freie allerdings: aufrechter Gang, Kraft, vor dem Feind sich nicht zu ducken, sondern seinen Mann zu stehen, Männerstolz vor Königsthronen, Zivilcourage ist danach nicht gekommen, wie bekannt. Es ist auch nachher arm geblieben, unter Deutschen besonders, weil hier eine Doppelschicht von Herren war, die bourgeoise und die feudale. So entstand der Händler selber als Held, der Bourgeois selber im Stechschritt, und die Nazis, sich gar noch auf den Turnvater Jahn berufend, haben all das vollendet. Leibesübung, ohne die des Kopfs, hieß schließlich: Kanonenfutter sein und vorher Schläger. Es gibt keinen unpolitischen Sport; ist er frei, so steht er links, ist er verblendet, so vermietet er sich an rechts. Und erst in einem un- /(525)geduckten Volk, in einem, wo der tüchtige Leib weder mißbraucht noch als Ersatz für Männerstolz steht, wird Jahns Wunsch sinnvoll. Erst wenn der Schwimmer auch sonst das Gegebene teilt, hat er sich freigeschwommen und liebt das tiefe Wasser. Auch die sportliche Übung bleibt eine wünschende, hoffende. Sie will des Körpers nicht nur mächtig werden, derart, daß an im kein Fett ist und jede Bewegung wohlig-ungehemmt hergeht. Sie will auch mit dem Körper mehr machen, mehr sein können, als ihm an der Wiege gesungen wurde. Das ist in den Sporthaltungen nun anders als in den kosmetischen Haltungen vorm Spiegel, als beim make up, das nachts von den weiblichen Zügen wieder weggewischt wird, oder beim sonstigen Umbau, der mit den Kleidern wieder ausgezogen wird. Der Körper soll gerade nicht verdeckt werden, sondern aus den Verzerrungen und Entstellungen herauskommen, die auch ihm die arbeitsteilige, entfremdende Gesellschaft zugefügt hat. Gewünscht ist ihm mit so vielen, ehemals nur ritterlichen Übungen und so vielen neu gefundenen dazu in der neuen Gesellschaft ein »Gesunden« zu geben. Als eines nämlich, das gar kein Kranksein voraussetzt, das vielmehr das Verb, das Tun von Gesundheit selber ist, ein Heilen gerade ohne Kranksein. Wobei der Sport auch dem bürgerlichen Notzustand enthoben wird, den sogenannten Ausgleich zur überwiegend sitzenden Lebensweise im engeren wie auch weiteren Sinn zu schaffen, die dem Stubenarbeiter eigen ist. Sitzende Lebensweise wird es immer geben, doch ihre Weiterungen, wie sie aus dem Mangel an Freiluft jeder Art herkommen, nicht immer. Es ist ein sportlicher Wunsch, seinen Leib derart in der Hand zu haben, daß noch auf der Sprungschanze, wenn der Mensch fliegt, jede
Lage vertraut ist, auch die neue, übertriebene. Mitnichten baut so der Geist den Körper, doch er hält ihn, oft über das angeborene Maß, in Form. Frisch gewagt, halb gewonnen, das ist freilich leicht gesagt. So wird es dargestellt, als sei es auch leicht zu tun, ja, als zeige der Spruch das Beste, was hier zu tun ist. Denn scheinbar gibt es noch eine andere Art, den Leib mächtig zu machen, diejenige nämlich, welche fröhlich blind von ihm wegsieht. Coué, mit der Devise: Tout va bien, tauchte dergestalt auf (um von völlig läpischen Gesundbetern zu schweigen). Dem Mutigen gehört diese /(526) Art Welt, auch ohne daß er sonderlich mutig zu sein braucht. Durch Tout va bien soll Schnupfen und Schwereres vertrieben werden, gleichsam leicht-sinniger Weise. Der bekannte Reiter auf dem Bodensee erscheint als vorbildlich: indem er so tüchtig wie unwissend über die Gefahr hinritt, kam sie gar nicht zum Zuge, und das Eis unter ihm brach nicht. Hier ist das gefährlihche Vorbild für das Wegsehen vom Übel; indem es ignoriert wird, soll es wie nicht da sein. Allerdings kommt ein Schuß Wahres an der Sache ebenfalls zustande, sobald der Mut nicht blind oder billig ist, sondern - wieder recht sporthaft - Kopf-oben heißt. Je heller hier die Stimmung, je mehr vom Kopf-oben erhofft wird, desto mehr tut dieser Anspruch der Schlappheit Abbruch. Und diese kann sogar der Anfang zu einer Krankheit sein, nicht nur ihre Wirkung. Tout va bien heißt keineswegs: alles ist so gut wie gut, doch zum Traum des Besseren gehört bereits hier, daß ein Wille auf seinem Weg ist. Auch ist nicht einmal unser Leib so beschaffen, daß er unverändert, gleichsam unverlängert auskommt. Diesem Manne kann durchaus geholfen werden, samt dem Weib, auf der planbaren Straße. 35
KAMPF UM GESUNDHEIT, DIE ÄRZTLICHEN UTOPIEN
Der Geheilte muß sich als neuer Mensch fühlen, er müßte gesünder Sein als vorher. Inschrift Ein warmes Bett Was leiblich schwach ist, muß üben statt zu ruhen. Kann nicht wünschen, zu rasten, ohne daß es vollends rostet. Aber der Kranke will durchaus rasten und ruhen, das Bett verbirgt und birgt ihn zugleich. Und schlafend fühlt sich auch der Kranke gesund, nämlich gar nicht. Er ist dann wie der heile Leib selber, der sich nicht einmal im Wachen spürt. Sehr einfach scheinbar, das fortzusetzen, Unbehagen abzuschütteln wie ein Hund das Wasser. Krankes gehört nicht zu uns, ja, es ist etwas schändlich daran, /(527) es ist von der Art eines Alps, über Nacht muß es verschwinden. Nichts anderes als dieses bloße Verschwinden wird zunächst gewünscht, sowie der Schlaf die Müdigkeit fortschafft. Der schmerzende Zahn soll weg, selbst ein krankes Glied soll weg, da gibt es eine selber wieder kranke Lust des Abschüttelns. Wie bei einem geilen Weib, das sich am liebsten noch die Haut ausziehen möchte. Oder auch wie bei Fetten, die sich am liebsten als Gerippe sehen möchten. Der Kranke hat so nicht das Gefühl, daß ihm etwas fehlt, sondern daß er etwas zu viel hat. Das Unbehagen soll als ein Herumhängendes, Überflüssiges weg, Schmerz ist wildes Fleisch. Vom Leib wird geträumt, der wieder auch behaglich zu schweigen weiß. Irre und Märchen
Derart wünscht sich jeder Kranke, im Nu gesund zu werden. Ein ehrlicher Arzt kann ihm das nicht geben, doch immer wurde dies Plötzliche ausgemalt. Morgens im Blut herumgeschwommen, mittags gesund und frisch auf zwei Beinen. Selbst Ärzte hingen Träumen dieser Art nach, meist betrügerisch, oft selber betrogen. Die zwei allgemeinsten Lieblingswünsche der Menschen heißen: jung bleiben, lange leben. Und ein dritter eben ist, beides nicht auf schmerzlichen Umwegen, sondern überrumpelnd, märchenhaft zu erlangen. Indem der Kranke nicht hüpft und springt, tun es desto mehr seine Wünsche. Der. Kurpfuscher lebt von diesem Willen zum Schlagartigen, und dann das wirklich Irre. Ein Arzt stürzte im Nachthemd auf die Straße, rief, die feurige Eule sei gekommen, Tod und Krankheit seien abgeschafft. Heiltränke, Heilwasser, wie abkürzend und kondensiert wirken sie selber, wie gesteigert hat sich das Märchen mit ihnen beschäftigt. Es gibt die Salbe, die mit einem Schlag die Schäden heilt, es gibt den Brunnen, woraus die Alten wieder jung auftauchen, vorzüglich ist er dazu geeignet, das flüchtige Gut der weiblichen Schönheit stetig zu machen. Ein Schlaraffenland aus Gesundem breitet sich aus, ohne Schmerz, mit springenden Gliedern und immer lustigem Magen. Nicht grundlos grenzen Kurpfuscher leicht ans medizinische Märchen an, mit zaubernden Salben, Stäben, Wassern; sie sind allesamt lebende Altweiber- /(528) mühlen. Der Graf St. Germain, der sein Alter, ein blühendes Mannesalter, selber auf viele hundert Jahre ausgab, verkaufte einen «Tee zum langen Leben«; es war ein alltägliches Gemisch aus Sandelholz, Sennesblättern und Fenchel. In höherer Schicht gehörte Mesmer zur Gilde der halb betrügerischen, halb utopischen Abkürzung; er glaubte Krankheiten durch Streichen und sanfte Töne, folglich hypnotisch zu heilen. Und gänzlich zum Erneuerungsgeschäft gehörte, zu Mesmers Zeit, Dr. Grahams »Celestial Bed«, das die Eigenschaft haben sollte, den darin Liegenden durch süßen Schock zu verjüngen; elektrische Ströme, Parfüm und Glasglocken waren in das Gestell eingebaut. Älter und gleichsam solider wirkt der Glaube an wundertätige Kräuter; das Märchen teilt ihn mit dem Volksglauben: eben das Plötzliche, Ungeduldige ist auch der Hoffnung auf Heilkräuter eigen, das Brechende, alles Wendende: die Blätter des Bocksdorn etwa wirken als Pflaster gegen Geschwüre, seine Abkochung soll in einem Aufwaschen gut sein gegen kranke Ohren und faules Zahnfleisch, schlechte Augen und schrumpfende Lippen; wie von fernen Inseln scheint bereits diese so gewöhnliche Pflanze herübergebracht. Es ist, als stünden Kräuter aus Frau Holles Wiese überall umher, und man brauche sie nur kundig aufzugreifen. Ungemeines wurde erhofft und verlangt, nicht nur in der irren, sondern in dieser gleichsam kolportagehaften Heilkunst. Aber nicht zu vergessen: Ungemeines hat auch, bei höchst verändertem Weg, sämtliche groß-medizinischen Pläne begleitet. Es ist immer ein Abenteuerliches und Sonderbares in ihnen, im Gift, das nicht tötet, sondern schmerzfrei macht, im Messer, das nicht mordet, sondern heilt, in Grenzgebilden wie dem künstlich hergestellten Magen. Daß das dermaßen Geflickte oder Ersetzte nicht sonderlich hält und zuverlässig nicht besser ist als das gesunde Organ, macht das Abenteuer nicht geringer, sicher nicht erfolglos. Die Krankheit ist nicht abgeschafft, aber ihr Ende: der Tod, ist verblüffend zurückgedrängt. Wäre das ausgebeutete Leben etwas wert, dem so viele zurückgegeben werden, und holte nicht ein Krieg in Tagen auf, was in Jahren an Sterben versäumt wurde, dann könnte der Arzt seit hundert Jahren halb zufrieden sein. Hier kann gestorben werden, diese Inschrift ist jedenfalls nicht mehr über Krankenhäusern richtig, /(529) sondern über den Staaten, worin sie stehen. Heilen ist ein Wachtraum, dem nur durch die Wiederherstellung der alten Gesundheit ein
Ende gesetzt ist; und gibt es alte Gesundheit? Hier tauchen die eigentlichen medizinischen Träume auf, hier branden sie um einen Felsen, der selber nicht so dauernd ist, wie er scheint. Das Lager, von dem der Kranke aufsteht, wäre erst vollkommen, wenn er erfrischt statt nur geflickt wäre. Arznei und Planung Das bedeutet nichts weniger, als den Leib umzubauen. Als das Leben in Gänge zu leiten, wo es bisher nicht oder nicht so leicht floß. Von vornherein neu, dem Leib hinzugesetzt sind die schmerzstillenden Mittel. Sie waren seit je gesucht; hinzu kommt der Traum des Kranken, während des Eingriffs in seinen Leib nicht anwesend zu sein. Auch der Leib kann seinen Schmerz zuweilen betäuben, so im Schock nach einem Unfall. Doch wird kein Arzt während des Schocks operieren, die Zahl der tödlichen Ausgänge ist zu groß. Anders bei narkotischer Betäubung, bei dieser unnatürlichen, von außen hinzugefügten Wohltat. Und von außen kommen die meisten Arzneien, die pflanzlichen, metallischen, darunter viele umadressierte Gifte. Den Fingerhut etwa schützt sein Gift vor Tierfraß, in der Droge dient es dem kranken Herz: welch ein Umweg, welch weithergeholte Hilfe. Nun gar erst der Schnitt ins Leben, die Entfernung kranken Gewebes, die Vernähung des geöffneten Leibs nach geschehener Veränderung seines Inhalts, die antiseptische Behandlung, der Kampf gegen Bazillen. All das ist künstlich und liegt nicht in der Linie des ohnehin vorhandenen Selbstschutzes, der ohnehin möglichen Regenerierung. Kühnes Planen gehörte dazu, weit davon entfernt, die Dinge hinzunehmen, wie sie sind. Wunschbilder gegen die Krankheit dürften neben denen gegen Hunger die ältesten sein, und von vornherein galt die Heilung als gewonnene Schlacht. Andererseits folgt der hinfällige Körper auch den schönsten Träumen von einem besseren Leben nach; so können sogar die Staatsmärchen, in denen doch sonst keine Not mehr gilt, nicht umhin, die Krankheit und den Arzt zu bedenken. Platons «Politeia« (3. Buch) verlangt vom idealen Arzt sogar, daß er »selbst /(530) auch am eigenen Leib alle Krankheiten durchkosten müßte und selbst keine kerngesunde Natur habe«. Denn nur so könne er aus sich heraus die Krankheiten aus eigener Erfahrung beurteilen, mit freilich unbefleckt gebliebener Seele; »diese allerdings darf nicht schlecht sein, sonst kann sie unmöglich gute Heilung bewirken«. So verstiegen das Verlangen ist, daß der Arzt die Krankheiten, gar alle Krankheiten leibhaftigst kennen müsse, die er heilt, so schließt Platon in die Krankheit doch auch die Behandlung ein, die vom allzu gesunden Arzt allzu unbeteiligt verhängte. Und die Behandlung kann in der Tat nicht nur schmerzhafter, sondern gefährlicher, auch längerandauernd sein als die Krankheit selbst. Auch die neueren Staatsmärchen, Morus' »Utopia«, gar Bacons »Nova Atlantis«, lassen die Heilkunde leichter, schmerzloser, abgekürzter werden, eine Kunst des neu aufgebauten Lebens oder, wenn dieses nicht zu erhalten ist, des mühelosen Tods. Morus zeigt auf einer glücklichen Insel statt der mittelalterlichen düsteren Spitäler freundliche, geräumige Krankenhäuser für alle. Bacon fügt Speisen und Getränke hinzu, die den Körper in nichts mehr beschweren, dazu heilsame Bergluft, künstlich erzeugt, Serum und undeutlich beschriebene Bäder, die aber aus jedem einen Herkules machen sollen. Was desto nötiger, als gerade der vorhandene Körper in diesen Utopien nicht auf der Höhe des übrigen, so reibungslos erträumten Daseins lebt. Im Hintergrund steht deshalb auch hier, gerade hier, der Wunsch, einen weniger anfälligen Leib zu bilden. Wie das zuletzt in einer sehr späten Sozialutopie herauskommt, unverhohlen, in Swesens »Limanora, The Island of Progress«, 1903.Die Herrschaften auf dieser
Insel lachen über den Gedanken, daß Medizin nur therapeutisch sei. Sie sind weit hinaus »over the crude stage of mere cure of disease«, sie greifen in das bloße laissez faire, laissez aller des Körpers zurückhaltend, befördernd, stimulierend, ordnend und umordnend ein. So wird der Arzt hier überall nicht als Schuhflicker gedacht, der schlecht und recht das Alte wieder herrichtet. Sondern er wird als Erneuerer gewünscht, das Fleisch nicht nur von seiner erworbenen, sondern sogar von seiner angeborenen Schwäche befreiend. Denn auch dem gesunden Leib könnte noch viel weiter geholfen werden. In diese Linie gehören alle Pläne, die nicht mit jeweils /(531) einzelner Heilung, sondern mit erstrebter Abschaffung gattungsmäßiger Übel beschäftigt sind. Sie heißen: Beeinflussung des Geschlechts, künstliche Zuchtwahl, Abschaffung des Alterns. Diese Pläne, so utopisch sie sind, werfen freilich zum Teil noch einen reaktionären Schatten. Nicht umsonst schmeckt das Wort »Ertüchtigung« vorläufig mehr nach Kanonenfutter als nach Übermensch. Am stillsten ist es um den Plan für Beeinflussung des Geschlechts geworden, er war lang der lauteste. Dieser Traum ist meist spießig, sucht männliche Stammhalter für Müller und Schulze, als wäre Wappen mit Schwert zu vererben. Er ist überdies sinnlos; denn würden nach dem Wunsch der Eltern selbst mehr Knaben als Mädchen geboren, so würden die Mädchen besonders begehrt, also besonders kostbar, und die Liebesfrüchte kämen im Lauf der Zeit aus dem Wechsel ihrer Geschlechtsteile gar nicht heraus. Zweitens lebte schon vor den Nazis der Plan einer rationellen Züchtung, er erinnert an landwirtschaftliche Versuchsanstalt. Ist doch auch keine unserer Nähr- und Zierpflanzen noch so, wie sie von Haus aus war, alle sind künstlich gezüchtet und verändert. Ebenso die meisten Haustiere, auch sie wurden sozusagen okuliert und gekreuzt, bis das fetteste Schwein oder der schnellste Renner oder auch nur das geduldigste Maultier herauskam. Das nun soll, nach den Mendelschen Regeln der Vererbung, auf den Menschen übertragen werden, es gilt planbewußte Kreuzung, es gilt die besser sortierte Mischung der Erbmasse. Aber: sortiert wird durch Eingriffe in die menschliche Liebe, die als solche nicht aus einer besonderen Auslese der gegenseitigen Keimzellen besteht. Auch wäre es dann nur konsequent, die Liebe abzuschaffen und, wie bei edler Pferdezucht, die Pravazspritze zu verwenden, gefüllt mit dem Sperma der besten Zuchthengste, unter Umgehung der übrigen nicht so rassigen Männer. Campanella hatte in seinem autoritären Staatsroman »Civitas solis«, 1623, die Zeit des Beischlafs durch Sterndeuter bestimmen lassen; die Sterndeuter nun sind unterdessen die Zucht- und Hegemeister geworden. Auch suchen sie nicht bloß die Stunde der Paarung aus, sondern die Paare selber, nach den Auspizien der Erbmasse. Das vor allem mit Rücksicht auf ein Produkt, das der herrschenden Klasse dienlich ist, im Zeitalter des Kleinmenschen am laufenden Band. Solche Zuchtwahl /(532) soll vor der Geburt geschehen, nach ihr aber gelten nicht mehr die immerhin komplizierten Mendelschen Regeln, sondern die schlichten des Mords. Dieser wird angewandt auf alle außerhalb der Norm Stehenden, und Norm war bei den Nazis nur der Esel unten, die Bestie oben. Im noch gehemmten Bürgertum findet sich dafür der Babbit als Maß; alles andere soll, nach der Wertung durch den gleichen Typ, im ungehemmten ausgerottet werden. Dazu also ist die sogenannte Eugenik verkommen; Beethoven, der Sohn eines unheilbaren Trinkers, wäre nach ihr nie geboren worden, und wäre dies trotzdem passiert, so hätte ihn »der Krieg als Züchter« ausgetilgt. Erst eine nicht mehr kapitalistische Gesellschaft könnte im Problemgebiet der Eugenik, mit anderen Mitteln und Maßen der Auslese, nach dem Rechten sehen. Wobei die beste Eugenik vermutlich in guter Kost und Wohnung, in ungetrübter Kindheit besteht. Das befördert Wohlgeratenes, macht
auch die Auslese nach der merkwürdigen Tinktur überflüssig, die man reines Blut genannt hat und die vermutlich nur aus Inzucht herstammt, mit ihren seltenen Vorteilen, überwiegenden Gefahren. Der Adel hat sich sehr lange dieses Sinns eugenisch fortgepflanzt, und er hat sich nicht, rein physiologisch sozusagen, als Gold erwiesen, das durch die lange Reihe der individuellen Umschmelzungen hindurch seinen Wert erhalten oder sich gar immer reiner geläutert hätte. Was den Adel als solchen, nämlich nicht individuell, sondern als Gattung, heraus- und hervorhob, war einzig der Standeskodex, der ihm Verpflichtung und Halt gab, war primär die gute Kinderstube, folglich keine Vererbung. Und dasjenige im Gesicht, zu dem man Herr sagen möchte, kommt dem König Lear nicht vom Stammbaum her zu; in seinen beiden Töchtern zeitigte der Stammbaum vielmehr Hundsföttisches genug. Selbst die Chance zum Adel kommt also nicht von Züchtung her, vielmehr: soziale Hygiene, eine Gesellschaft, in der keine aufrechte Haltung mehr unterdrückt ist, in der keine Gemeinheit sich mehr rentiert, legt ohnehin Noblesse frei, ja nur sie legt sie wirklich frei. Erst recht reüssiert erst hier die »Züchtung« der Genies, dieser wirklichen und allein erwünschbaren » Blutminoritäten «. Solange wenigstens die sonderbare Art »Hormon« oder wie man das nennen mag, was schöpferische Begabung hervorruft, sowohl der Art wie auch /(533) den Bedingungen seines Entstehens nach physiologisch unbekannt ist. Gewiß: vom Vater die Statur, von Mütterchen die Frohnatur, oder auch, in vielen anderen Fällen: Mütterchen zeigte Hysterie, und diese scheint nun wie eine Voraussetzung zur Glanzgeburt. Doch wiederum: wie viele pünktliche Väter, fabulierende Mütter haben nur unauffälliges Wesen hervorgebracht oder wohl gar ärmliches und gebrechliches? Die Blutmischung, welche große Begabung macht, liegt also noch zu sehr im Dunkel, um sie mit einiger Aussicht physiologisch zu befördern und zu ermuntern. Dagegen ist, nach geschehener Glanzgeburt, die Geschichte überfüllt mit jenen ungünstigen Umständen, die die große Begabung verhinderten, sich überhaupt nur wahrzunehmen, dann: sich auszubilden. Allezeit schwamm der größte Teil der Goldfische unten, es gab Tausende von Solons als Viehhirten, von Newtons als Tagelöhner, und niemand kennt ihre Namen. Hier hätte die rationelle Züchtung lange ein soziales Feld, bevor sie das noch weithin undurchsichtige der beherrschten Befruchtung betritt, betreten kann. Die Beherrschung des individuell-biologischen Habitus und die Abschaffung seiner als eines «Schicksals« sind gewiß ein Ziel, doch erst wird diese Planung die wirklichen Slums niederreißen, bevor sie dem Slum des schwächlichen Leibs nahetritt. Alles spricht dafür, auch auf dem Weg organischer Züchtung die Aggressionstriebe zu reduzieren, die sozialen zu befördern; so wie der Nährwert des Getreides, die Süßigkeit der Kirschen gesteigert worden ist. Aber die züchtende Gesellschaft muß selbst erst gezüchtet werden, damit der neue menschliche Nährwert nicht nach den Anforderungen der Menschenfresser bestimmt wird. Reiner, das heißt ohne Menschenfresser, sieht schließlich die dritte Planung aus: der Kampf gegen das Alter. Er greift wohl am kühnsten aus, bei der Frau fängt er früh an. Er will die sonderbare Wunde nicht aufsichtslos lassen, die der Leib sich selber schlägt. Was die Erneuerung verlorengegangener oder schadhafter Organe angeht, ist die menschliche Natur die sprödeste. Nur in seinem Gehirn ist der Mensch das höchstentwickelte Lebewesen, nicht dagegen in anderen organischen Fähigkeiten. Stellt doch in der gesamten organischen Entwicklung Fortschritt häufig auch einen gewissen Rückschritt dar, indem er einseitige /(534) Ausbildungen fixiert. Indem er Organe sich überspezialisieren läßt, so daß Entwicklung nach einer anderen als der festgewordenen Richtung aufhört, ja Fähigkeiten einer früheren
Stufe verlorengehen. Gerade die Fähigkeit des Regenerierens nimmt auf höheren organischen Stufen stetig ab: beim Regenwurm genügen einige Ringe zur Herstellung des übrigen, bei Molchen wachsen noch Beine und Augen nach, bei Eidechsen der verlorengegangene Schwanz. Bei Säugetieren dagegen, beim Menschen ist in diesem Punkt die mütterliche Natur keineswegs freigebig. Die Menschen sind bei Verlust auf Prothesen angewiesen, und die allerstärkste Abnutzung: das Altern, das immerhin bei vielen Tieren so viel später eintritt, ist ihnen die empfindlichste. Auf dieses Feld wurde der Wunschtraum vom Jungbrunnen gelegt, und die Linie darauf zu fand, kurpfuscherisch oder nicht, dauernd Anpflanzung. Der »Tee zum langen Leben« des Grafen St. Germain ist erwähnt, ebenso Dr. Grahams »Celestial Bed« aus dem so aufgeklärten achtzehnten Jahrhundert. Von Persien kam der Rat zur Atemtechnik, von Tibet Atembeherrschung, von den Gesundbetern der Glaube, nächstens im Fleisch unsterblich zu sein. Bescheiden richtig klingt gegenüber solchem der Rat Hufelands in seiner »Makrobiotike von 1796: »Schlaf und Hoffnung sind die beiden besten Elixiere.» Doch fehlte auch unter stofflicheren Elixieren der rationalere Wunschweg nicht: Chinesen nahmen Keimdrüsen von Hirschen und Affen ein, Inder von Tigern; und wirklich entdeckte 1879 Brown-Sequard in der Keimdrüse den vermeintlichen Stoff der Verjüngung, das Hormon. Die weitere Annahme, daß jedes Organ die Stoffe herstelle, die seine Erkrankung heilen (»Dentin», im Zahn, »Cerebrin« im Hirn), fiel rasch dahin; obwohl sie, etwas verändert, von Bier noch in den zwanziger Jahren verteidigt wurde. Aber die Hoffnung, welche die Keimdrüse angefacht hatte, betrog nicht ganz bei Stoffen, welche aus Drüsenorganen selbst ausgezogen werden, sie lassen Krankheiten aus der Unterfunktion dieser Drüsen wenigstens erfolgreich behandeln. Seitdem ging hier ein gänzlich neues medizinisches Traumland auf: 1922 wurde aus der Bauchspeicheldrüse ein Hormon gegen Zucker gewonnen, 1929 aus dem Harn trächtiger Stuten ein Eierstockhormon, das sechsmal so stark ist wie das natürliche. Alle Krankheiten, die auf /(535) Unterfunktion der endokrinen Drüsen beruhen (Hypophyse, Nebenschilddrüse, Schilddrüse, Nebennieren, Eierstöcke und anderen), können in der Tat durch Präparate aus diesen Drüsen behandelt werden. Nur eben mit dem allgemeinst interessanten Traum, mit dem Wirkstoff gegen das Alter, will Erwartbares noch nicht gelingen, trotz Mobilmachung kreuz und quer. Steinach unterband den Samenstrang, erzielte dadurch ein Wachstum der Pubertätsdrüse, die im Übermaß produzierten Hormone gelangten ins Blut; Voronoff überpflanzte Keimdrüsen von Affen. Beides war umsonst, Verjüngung trat zwar ein, doch so vorübergehende, als läge die Ursache des Alterns überhaupt nicht in den Keimdrüsen und als wäre deren Abnutzung selbst nur eine Wirkung unbekannter Ursachen. Bleiben noch Träume um die Thymusdrüse übrig, die Wachstumsdrüse bis zur Pubertät, mit sechzehn Jahren ist sie aufgebraucht, hat nur noch irgendwelche, nicht hinreichend klargestellte Funktionen während der Schwangerschaft. Darin nun, nicht in Keimdrüsen, soll die Verjüngung warten, und Mittel werden gesucht, dies Organ bis ins hohe Alter funktionsfähig zu halten, damit das hohe Alter, wenn kein zeugungsfähiges, so doch ein aufrechtes, lebhaftes, aufgeschlossenes sei. Der utopische Apfel der Verjüngung hängt trotzdem noch in ziemlicher Ferne, und - was Prüfung auf Herz und Nieren angeht - bleibt das Alter fast wie zu Großvaters Zeit auch. Geändert hat sich die Weise, es zu nehmen, nämlich nicht mehr hypochondrisch, nicht mehr übertrieben. Doch das ist ein psychischer Eingriff, keiner vom Unterbau, von den Drüsen und der inneren Sekretion her, aus der wahrscheinlich die Vitalität gespeist wird. Am bewußtesten, auch glücklichsten wird
in der Sowjetunion gegen die herabwertenden Wirkungen des Alters gekämpft; und das aus Gründen, die die kapitalistische Gesellschaft sich gar nicht gestatten kann. Bei ihr, als der konkurrierenden, müssen alte Menschen schon deshalb Platz machen, abtreten, damit die sogenannte jüngere Kraft sich setzen kann. Sozialistisch dagegen wird der Kampf für ein gesundes kräftiges Alter das gleiche wie der Kampf für die Erhaltung wertvoller Kader auf allen Gebieten des großen Aufbaus. »Das Alter», sagte derart Metschnikow, »das unter allen früheren Verhältnissen eine überflüssige Belastung für die Gemeinschaft war, wird nun zu einer /(536) sozial besonders nützlichen Periode der Arbeit. Es kann seine unersetzlichen Erfahrungen den schwierigsten Aufgaben des gesellschaftlichen Lebens zuwenden.« Damit ist eine Zukunft bezeichnet, in der ein bedeutend mögliches Altern an die Stelle des pathologischen getreten ist, ja selbst noch die physiologische Abnahme nicht mehr als unabwendbare anerkannt wird. Die gelungenen sowjetischen Versuche der Wiederbelebung kurz nach eingetretenem Tod greifen selbst in die definitivste Tatsache, die im Leben der Menschen vorkommt, und zeigen sie als verfrüht. Das Leben über seine bisherigen Grenzen hinauszutreiben, über die für unsere Fähigkeiten, ungetanen Arbeiten, Zweckreihen viel zu engen, das ist der Wunsch, der den nach Heilung einschließt und ersichtlich überbietet. Zögerung und Ziel im wirklichen leiblichen Umbau Dem Kranken selber geht sein Wünschen nicht so weit hinaus. Ihm liegt daran, daß das Leiden weggeräumt wird, das ist genug. Er will wiederhergestellt werden, ist zufrieden, wenn er den Schaden los ist, wenn er als der alte wieder aufstehen kann, und verlangt unmittelbar nicht mehr. Ebenso sind dem Arzt, am Bett des Patienten, die Pläne weit gedämpfter als die oben genannten allgemeinen, umbauenden. In jedem besonderen Fall, bei jeder wirklichen Krankheit (das Altern ist ja keine) genügt ihm Rückführung zur früheren Gesundheit. Der Chirurg sieht in seiner Arbeit keineswegs einen Umbau zum Besseren, sondern einen Notbehelf. Der künstliche Magen übertrifft den angeborenen mitnichten, Glücks genug, wenn ein Mensch mit solchen und ähnlichen Prothesen es einige Jahre ohne Beschwerde aushält. Und Glücks genug für den praktisch tätigen Arzt, wenn ein Patient von der interessanten Kegelbahn chirurgischer Möglichkeiten wieder zu seinem Leisten zurückkehrt. Vielleicht fühlte selbst Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand, obwohl er Tischenden mit ihr abschlägt und als Pochwerk auftritt, sich durch diese Prothese nicht nur verstärkt. Hier also ist eine Gegenbewegung gegen den utopischen Umbau des Leibs, gegen den bei gattungsmäßigen Übeln (künstliche Zuchtwahl, Kampf gegen das Altern) so weit vorgewagten. Der praktische /(537) Arzt begnügt sich wesentlich damit, das Ende der Krankheit: den Tod, zurückzudrängen, er kämpft gegen die erworbene Schwäche des Fleisches, nicht gegen die angeborene. Seine Medizin unterwindet sich noch nicht des hohen Amts, so ein Leibverbesserer zu sein, wie es Umbau der Gesellschaft zum Besseren gibt und die riesig verändernden Kühnheiten der anorganischen Technik. Das ist ein starker Unterschied zwischen den medizinischen Wünschen, soweit sie einzeln-praktisch sind, und denen der weitergreifenden Weltveränderung. So können die Eingriffe und Veränderungen noch so kühn sein, das Ziel selbst ist im Bewußtsein der meisten Ärzte stationär: eben Wiederherstellung des status quo ante. Daher denn die Ärzte dem faschistischen Blut- und Bodenruf oft viel leichter verfielen als andere, weniger restaurierende Berufe. Daher auch dem Arzt in den meisten sozialen Utopien eine
bedeutende, durchaus eingreifende Rolle gegeben wird, aber rein ärztliche Utopien wenige erschienen sind oder gar keine; es sei denn, man nehme Hufelands oder Feuchterslebens ruhige Schriften als solche. Sprengende Träume wird man darin nicht finden, sowohl Hufelands «Makrobiotik« wie Feuchterslebens «Diätetik der Seele« enthalten wenig mehr als die Wünsche und Bilder, die ein kluger Mann ohnehin während der Brunnenzeit in den Kolonnaden des Biedermeier gebrauchte. Ein Grund für dieses utopische Zögern mag gegebenenfalls in der ärztlichen Vorsicht und Verantwortlichkeit liegen. Ein anderer Grund liegt gegebenenfalls in dem empirischen Sinn, der mit Vorsicht nahe verwandt ist und der dem beflügelten Geist Blei an die Sohlen heftet. Aber der letzte Grund für die erstaunliche, oft auch selber heilsame utopische Zurückhaltung, neben aller «schöpferischen« Medizin, dürfte philosophisch sein, ob er bewußt ist oder nicht: die Herkunft der europäischen Heilkunde aus der Stoa. Diese Schule vertraute dem natürlichen Lauf der Dinge, wollte ihn nirgends sprengen, überall ihm gemäß werden. Hippokrates, der ältere medizinische Lehrer, wirkte freilich vor der Stoa, aber überliefert wurde auch er durch Galen, das Haupt der stoischen Heilschule. Gesundheit ist nach ihr die rechte Mischung der vier Hauptsäfte des Körpers (Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim), Krankheit dagegen Störung dieses Gleichgewichts. Darin steckt bereits /(538) Glaube ans Gleichgewicht als an einen nur störbaren, aber nicht überschreitbaren Zustand. Galen aber brachte außerdem das ganze stoische Vertrauen auf Natur hinzu, den erstrebten Einklang mit ihr, ohne die geringste Abweichung oder Überholung. »Die Welt hat alles in sich, dessen sie bedarf«, sagt völlig stoisch Plutarch, und so genügsam ist auch unsere kleine Welt, der Leib. Diese Überzeugung hinderte zwar die Stoa nicht, was den Staat angeht, sich einen sehr viel besseren zu denken, eine Art allgemeinen Bruderbund, doch die Leiber in ihm, wenn sie »vernünftig«, das ist naturgemäß lebten, galten als richtig, wie sie sind. Sogar die Krankheiten waren für den stoischen Arzt nicht nur Übel, sondern selber ein Stück Heilung, nämlich von der in den Körper eingerissenen Unordnung; lange wurden von den Galenisten sogar chemische Kuren, als künstlich, abgelehnt. Zweierlei Gegenmittel gegen utopische, auch allzu utopische Kühnheit wirkten von der Stoa schließlich nach: bon sens und Vertrauen auf die natürlichen Heilkräfte. Ein guter Arzt folgt der Natur, unterstützt sie, widerspricht ihr niemals: das ist stoisches Erbe. »Peu de médecin, peu de médecine«: mit diesem Satz aus dem achtzehnten Jahrhundert, der Blütezeit der Klystiere, hob sich schließlich der Arzt selber auf, auch der empirisch mutige, nicht nur der utopistisch übermütige. Und die sogenannte Naturheilkunde begann mit bon sens genug, um dem instinktiven Verlangen nach Luft, Licht, Wasser Ehre zu geben, aber auch mit dilettantischer Verrücktheit genug, um bei der Behandlung mit Weißkäse zu enden. So kommt hier doch wieder ein utopischer Zug heraus, freilich der schlechteste, einer des unwissenden wishful thinking, mit bald abergläubisch werdenden Hoffnungen. Dergleichen ist von der trotzdem eingeborenen ärztlichen Utopie: dem schließlichen Umbau des Leibs so verschieden wie möglich, nämlich das Gegenteil. Aber der Schlag gegen sie kommt doch von naturfrommer Gesinnung her, praktisch-empirisch wie vor allem auch durch das stoische Erbe nahegelegt. Und das Gute an dieser Gesinnung ist zweifellos, daß sie die abstrakte Verbesserei ärztlich fast stets gehindert hat. Gibt es wenig rein medizinische Utopien, so auch keine abstrakten, wie die Staatsmärchen. So ist der geringere utopische Sinn des praktisch behandelnden Arztes doch zum Teil selber /(539) heilsam; denn alles, was vom gewohnten Leben des Leibs sich zu weit, zu künstlich trennt, wird brandig wie ein abgeschnürtes Glied. Verantwortung und stoisches Erbe hielten den Anschluß
ans objektiv Mögliche; anders als oft bei der Eugenik und dem Kampf gegen das Alter. Nur darf diese Gesinnung den anders gründlichen utopischen Mut nicht unterbrechen, ohne den auch in der Heilkunst nichts Großes geschieht. Der Mut bezieht sich gerade nicht-utopistisch auf ursächliche Befreiung von körperlichem Übel. Da die letzte Ursache hier doch nicht in Bazillen liegt oder in dem merkwürdigen »imperialistischen« Wachstum einzelner Zellen und Zellgruppen, wie beim Krebs, sondern eben in der korruptiblen Anfälligkeit und Hinfälligkeit des Fleisches selbst, bleibt der Wunschtraum von dessen Umbau doch unvermeidlich und darum - auch bei Wegblick davon - im Hintergrund. Ja, ein Verdacht entsteht, daß die so sehr nur auf den status quo ante gezielte ärztliche Vorsicht selber nicht ganz geheuer ist. Der Satz darf letzthin gewagt werden: gerade weil der Arzt, auch am einzelnen Krankenbett, einen fast ,wahnwitzigen utopischen Plan vor sich latent hat, weicht er ihm scheinbar aus. Dieser endgültige Plan, der letzte medizinische Wunschtraum, ist nichts Geringeres als Abschaffung des Tods. Der Kranke, der genesen ist, will sich wie neu geboren fühlen. Das meint mehr als: wiederhergestellt, obwohl der Kranke froh ist, wenn er immerhin dieses ist. Heilfroh, wie man sagt, kann er nun wieder seinen Geschäften nachgehen. Wiederhergestellt freilich, aber zu welchem Wieder denn im Lauf seines Lebens? Gibt es überhaupt alte Gesundheit, solche, die nur wiederherzustellen wäre? Ist sie ein dauernder Felsen, zu allen Zeiten fest, so festgemacht wie ausgemacht? Sie ist keiner, Gesundheit ist ein schwankender Begriff, wenn nicht unmittelbar medizinisch, so sozial. Gesundheit ist überhaupt nicht nur ein medizinischer, sondern überwiegend ein gesellschaftlicher Begriff. Gesundheit wiederherstellen, heißt in Wahrheit: den Kranken zu jener Art von Gesundheit bringen, die in der jeweiligen Gesellschaft die jeweils anerkannte ist, ja in der Gesellschaft selbst erst gebildet wurde. Also sind selbst für die bloße Absicht der Wiederherstellung die Ziele des Wieder wechselnd, mehr: sie werden selber erst von der jeweiligen Gesellschaft als «Norm« gesetzt. /(540) Gesundheit ist in der kapitalistischen Gesellschaft Erwerbsfähigkeit, unter Griechen war sie Genußfähigkeit, im Mittelalter Glaubensfähigkeit. Krankheit galt damals als Sünde (daher vor allem die furchtbare Behandlung der Irren, in Ketten und Kerker), also war der sündenarme Mensch der bestgeratene. Also galt Katharina von Siena, die für jeden bürgerlich-aufgeklärten Arzt von heute eine Hysterische ist, als hochgradig normal. Dergleichen heilen zu wollen, darauf wäre kein mittelalterlicher Arzt verfallen, es wäre auch keine Wiederherstellung eines sogenannten ursprünglichen Zustands gewesen, sondern Verwandlung in einen viel späteren, modern-normalen, der damals kaum erst bestand. Auch die Gesundbeterei, so sehr Jesus hier ein Doktor und seine Kirche eine Apotheke ist, wäre in dem, was sie unter Gesundheit meint, frommen Zeiten völlig unverständlich gewesen. Denn das Mittelalter kannte unter seinen Gebeten vielleicht auch schweißtreibende, abführende, krampfstillende, doch keine zu dem Ziel, einen Geschäftsmann wieder leistungsfähig zu machen. Sogar das sogenannte Urwüchsige von damals war, von heute aus gesehen, keineswegs ein »Urbild« von Gesundheit; denn es brachte den Kinderkreuzzug hervor, die Flagellanten und anderes. Dergleichen widerspricht der Waldesfrische und wurde doch zu seiner Zeit genau als die des rechten Christkinds, des rechten Waldbruders betrachtet. Und die sogenannten Primitiven selber? - sie bauen ihren Leib so magisch um, daß er kaum mehr wiederzuerkennen ist, sie meißeln und färben das Gebiß, damit sie nicht, wie sie von den Europäern sagen, »aussehen wie Hunde«, sie erstreben und ehren eine Art Gesundheit, die eher der eines Somnambulen gleichkommt als der eines Sportlers. Eine vorgegebene, gleichbleibende Gesundheit ist derart nirgends
vorhanden; es sei denn in der allgemein-materialistischen und nur darin ewig jungen Formel: Auf einem vollen Bauche sitzt ein fröhlich Haupt. Doch jeder weitergehende Text von mens sana in corpore sano ist keine Erfahrung, sondern ein Ideal, und zwar ein in der jeweiligen Gesellschaft verschiedenes. Also gibt der Arzt jeder jeweiligen Gesellschaft, statt uranfänglich allgemeine Gesundheit wiederherzustellen, dem Kranken vielmehr eine hinzu. Er baut eben jenes Normale wieder auf, das sozial jemals im Schwang /(541) ist, und: er kann es wieder aufbauen, weil eben auch der Leib des Menschen imstande ist, sich funktionell zu verändern, gegebenenfalls zu verbessern. Der Leib wurde bisher nur auf begrenzte, auch fragwürdige Arten von Gesundheit orientiert, auch hat die Gesellschaft eine Menge Krankheiten möglich gemacht (venerische, tuberkulöse, neurotische), von denen die Tierwelt wenig oder gar nichts weiß. Dafür aber meinte der organische Wunschtraum mindestens einen Leib, auf dem nur Lust, nicht Schmerz serviert wird und dessen Alter nicht Hinfälligkeit, als Schicksal, ist. Es ist also dieser Kampf gegen das Schicksal, der medizinische und soziale Utopien trotz allem verbindet. Das Vermögen, verlorengegangene Teile zu ersetzen, ist im menschlichen Körper geringer als bei niederen Tieren, dafür wird erst im Menschen das utopische Vermögen zu bisher nie Besessenem wirksam. Es ist unwahrscheinlich, daß diese dem Menschen so wesentliche Kraft, die Kraft des Überschreitens und Neubildens, an seinem Leib stillsteht. Die Erforschung dieser Tendenz ist freilich nicht möglich ohne Kenntnis dessen, was im Leib selber schon auf sie hin angelegt ist; alles andere wäre Narretei. Indem der Leib sämtlicher Mehrzeller auf den Tod angelegt ist, hängt auch der geheimste medizinische Plan, die Abschaffung des Tods, so völlig in Luft, daß ihm schwindelt. Ebendeshalb erscheint solch ein Plan wahnwitzig und wird, obwohl er mindestens dem Kampf gegen das Altern vorschwebt, nirgends seriös eingestanden. Was verständlich ist, sogar schon ante rem, weil die Fortdauer im Fleisch selbst als Wunschtraum nicht ohne gemischte Gefühle vorkommt, ja nicht ohne Grauen; die Sagen vom Ewigen Juden, vom Fliegenden Holländer zeigen das an. An den sozialen Nicht-Sinn einer sich unaufhörlich überfüllenden Erde braucht gar nicht erst gedacht zu werden: kein Auftritt ohne allen Abgang, keine mögliche Gesellschaft ohne geräumigen Friedhof. Insgesamt, auch ohne Groteske, hängt jedes organische Besserseinwollen in der Luft, wenn das soziale nicht gekannt und berücksichtigt ist. Gesundheit ist ein sozialer Begriff, genau wie das organische Dasein der Menschen, als Menschen, insgesamt. So ist sie überhaupt erst sinnvoll steigerbar, wenn das Leben, worin sie steht, nicht selber von Angst, Not und Tod überfüllt ist. /(542) Malthus, Geburtenziffer, Nahrung Vom Leib allein her wird so kaum eines seiner Übel beseitigt. Darum sind alle nur gesundheitlichen Verbesserer unserer Lage so kleinbürgerlich und kurios, die Rohköstler, die leidenschaftlichen Pflanzenesser, oder auch die mit der Atemtechnik. All das ist Hohn gegenüber dem soliden Elend, gegenüber Krankheiten, die nicht durch schwaches Fleisch, sondern durch starken Hunger erzeugt werden, nicht durch falschen Atem, sondern durch Staub, Rauch, Blei. Sicher gibt es Menschen, die richtig atmen, die mit gut durchlüfteten Lungen und aufrecht getragenem, bis ins hohe Alter beweglichem Brustkorb ein angenehmes Selbstbewußtsein verbinden. Doch vorausgesetzt bleibt, daß diese Menschen Geld haben; was heilsamer für gebeugte Haltung ist als Atemkunst. Die prachtvolle Franziska Reventlow schrieb dieser Art ein Buch über den Geldkomplex, den ursächlich zu beseitigen keiner von
seinem Arzt verlangen kann; er ist der wahre Nimmersatt, der 90prozentige Krebsschaden. Desto interessierter freilich war und blieb die kapitalistische Lust, rein medizinisch in den sozialen Knoten zu schneiden. Die Züchtung, vielmehr dasjenige, was mit ihr angefangen wurde, gibt davon nur das vorerst abschreckendste, nicht das einzige Beispiel. Doch nicht weniger abschreckend ist die Urgroßmutter der imperialistischen Dezimierung, die Malthussche Bevölkerungstheorie. Während keine ausgeführte rein ärztliche Utopie vorliegt, erschien hier eine sozusagen soziale Utopie auf ärztlichem Boden; übrigens von einem Ökonomen, der gar keiner mehr war, sondern bereits der erste Klopffechter für die kapitalistische Wirtschaft. Malthus bestimmte im »Versuch über das Bevölkerungsgesetz», 1798: der Grund des Elends liegt im »natürlichen« Widerspruch zwischen dem grenzenlosen Streben des Menschen nach Fortpflanzung und der beschränkten Zunahme der Nahrungsmittel. Malthus verspricht: Das Massenelend besteht nur so lange, bis ein Volk in vernünftiger Erkenntnis dieses Zusammenhangs seine Vermehrung auf ein Maß einschränkt, das dem Maß des vorhandenen Brotlaibs entspricht. Die proletarische Geilheit also, nicht das Kapital, produziert das soziale Elend; und das sogenannte Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag spricht dem proletarischen Sündenbock vollends /(543) das Urteil. Auch erscheint die Krise nur erst als Mangelkrise, unter Annahme sehr langsam wachsender Produktivkräfte, nicht als eine des Überflusses. Trotzdem wurde diese Lehre noch vielfach abgewandelt, ja ein sogenannter Kathedersozialist, Adolf Wagner, verkündete noch in den neunziger Jahren, Malthus habe in allem Wesentlichen recht. Sein Wesentlichstes kam aber erst zur Geltung, als die kapitalistische Zeit erfüllt war und nur noch Gemeinheit mit Lüge und Mord sie strecken kann. Von Hause aus war die Malthus-Theorie schon menschenfeindlich und borniert, Marx hatte als ihr Merkmal bereits »eine tiefe Niedrigkeit des Denkens» attestiert, in beiderlei Sinn, im moralischen wie wissenschaftlichen. Folglich brach im imperialistischen Stadium des Kapitalismus vollends ihre Brutalität aus; gefeiert aber wird sie nicht nur unter amerikanischen Mördern, sondern bei Rechtssozialisten, wie Eduard Heimann, wird sie mindestens entschuldigt, bei besonders schmierigen Faschisten, wie Edgar Salm, sogar georgisch veredelt. Der erneuerte Malthusianismus rechtfertigt den Krieg, die Verschrottung der »überzähligen» Arbeitslosen, die faschistische Ausrottung ganzer Völker, und zugleich soll er jene Proletarier, denen das Dasein, nach dem numerus clausus des Profitinteresses an ihnen, geduldet wird, von den wahren Ursachen des kapitalistischen Elends ablenken. All das macht Malthus dem Endspurt des Kapitalismus empfehlenswert; ist dieser doch ohnehin nicht mehr imstande, originelle Gedanken hervorzubringen, selbst nicht zu seiner Gemeinheit und für sie. Sobald der Wunsch kein progressiver mehr ist, wird er nicht einmal der Vater eines Gedankens, sondern des Anschlags, mindestens der Vertuschung. Das Malthussche, als abgelenkte Diagnose auf unzureichende, gesellschaftlich isolierte Ursachen, ist daher nicht nur Übervölkerungslehre und darauf beschränkt. Denn auch in Kreisen, die von Klopffechterei nichts wissen oder wissen wollen, ersetzt oder verdrängt der lediglich medizinische Rückgriff jenen auf die sozialen Ursachen des Elends. Der Hebel zur Besserung wird hier überall so weit unten, so tief unter dem wirklichen Menschen und seinem Milieu angesetzt wie möglich. Von daher auch ohne buchstäblichen Malthus der interessierte, mindestens ahnungslose Schmalblick, der aus einem Tropfen Blut sozusagen, /(544) ins Laboratorium geschickt, die ganze Krankheit der Menschen zu erkennen glaubt. Vom lebendigen ganzen Leidträger wird weggesehen, besonders aber von den Umständen, worin er sich befindet. Von daher die Überschätzung der Bazillen, als der einzigen
Seuchenerreger; die Mikrobe verdeckte vor allem andere Begleiterscheinungen der Krankheit, schlechtes Milieu und dergleichen; so enthob sie von der Pflicht, auch dort die Ursachen zu suchen. Die Schwindsucht etwa wütet vorzugsweise unter den Armen, doch zöge man das in Rechnung, so müßte die Armut bekämpft werden, als besonders feuchter Fleck; wozu bürgerliche Heilkunde weniger Neigung zeigt. Einseitig ärztliche Abtreibung der Übel ist dergestalt oft nur ein absichtlich oder unabsichtlich gewähltes Mittel, um die wirklichen Übel nicht beheben zu müssen (ut aliquid fien videatur, wie es auf Scheinrezepten heißt). So bezeichnet das gesamte Malthuswesen, auch abgesehen von dem Mann selbst und seiner Lehre, ein ganzes Feld der Verdrängung. Bloßer mechanistischerPflasterkasten, ohne Primat des sozialen Milieus und ohne Plan seiner Veränderung, ohne Pawlow und Kenntnis des ganzen Menschen als eines zerebral-sozial gesteuerten Wesens, das verhindert die Zusammenarbeit von Arzt und roter Fahne, unter Vorantritt der letzteren. Die soziale Frage wird durch geschlechtliche Selbstbeherrschung der Armen am wenigsten gelöst, es muß anders in die Produktion eingegriffen werden und in eine andere. Ein Stück Malthus wirkte auch auf Darwin, der die Übervölkerung ins Tierreich zurückprojizierte; sowjetische Darwinisten haben gerade den Darwinismus von den malthusianischen Fehlern befreit. Bleibt nur der Plan einer Geburtenkontrolle, einer für viele allerdings heilsamen und insofern progressiven. Solange es nämlich kapitalistische Gesellschaft gibt und das Leben in ihr so prekär ist, daß sie dergleichen Einschränkung oder Abtreibung braucht. Solange sie in dem Zustand bleibt, den sie heute hat: nämlich ihre Sklaven nicht mehr füttern zu können. Raum für alle hat die Erde, oder sie hätte ihn, wenn sie mit der Macht der Bedarfsdeckung statt mit der Bedarfsdeckung der Macht verwaltet wäre. /(545)
Die Sorge des Arztes
Dann erst finge auch die ärztliche Arbeit wirklich sauber an. Der Arzt wäscht seine Hände, bevor er beginnt, alle Geräte sind blank, doch das allein hilft nichts. Die Gesellschaft selber ist schmutzig und krank, sie in erster Reihe bedarf klinischer Aufmerksamkeit und Planung. Krankheit ist von hier aus gesehen wirklich schuld, doch nicht die des Einzelnen, sondern der Gruppe selbst. Das könnte auch für den Arzt auf der Hand liegen, wann immer er Slums betritt. Und auch während der Behandlung spricht alles seinem medizinischen Gewissen Hohn: der arme Teufel mit kranker Niere fährt, um seinen Verdienst nicht zu verlieren, auf dem ratternden Lastwagen, die Zähne vor Schmerz zusammengebissen, während der Reiche unter der Steppdecke ruht. Und nach der Behandlung: was ist das Leben der meisten, zu dem der Arzt wieder »leistungsfähig« macht? Was ist eine Gesundheit, die lediglich dazu reif macht, wieder geschädigt, verbraucht, angeschossen zu werden? Ein deutscher Kinderarzt schrieb noch 1931, mit einem common sense, der zu gewissen nichtbürgerlichen Folgerungen führen sollte: »Kurieren, curare, Sorge für jemanden tragen, heißt vermeiden, daß seine Gesundheit überhaupt gestört wird. Ist dies trotzdem geschehen, so soll die cura des Arztes darauf gerichtet sein, den Erkrankten in Verhältnisse zu bringen, die für ihn möglichst günstige sind.» Ein schönes Ziel, ein menschenökonomisches, doch ein erst in der sozialistischen Gesellschaft erreichbares. Wie es jetzt steht, zeigt sich (Amerika ist in der Zahl seiner Geisteskranken führend): der Kapitalismus ist ungesund - sogar für die Kapitalisten. Und erst recht werden erst in einer anderen als der Profitwirtschaft die Träume des Eingriffs und organischen Umbaus entgiftet. Das von der Wiege bis zum Grabe, ja bereits vor der Wiege, all das als Hilfe für das Zoon politikon, aber das
rechte. Es ist marxistisch, bewußt Geschichte zu machen und sie nicht mehr passiv zu erleiden. Ja es ist auch marxistisch, bewußt bereits in das Vorbedingende einzugreifen, woraus die Menschen kommen und worin sie körperlich leben, bevor sie überhaupt geschichtlich auftauchen. Das ist ihr Dasein im Mutterleib, weiter der ihnen von daher mitgegebene körperliche Zustand. Sich /(546) mit ihm nicht mehr abzufinden, wie er gerade geworden, liegt dem Menschen, der nirgends Geschick hinnimmt, nahe. Die Kühnheit liegt ihm nahe, den Leib vor der Geburt bereits in seinen Anlagen richten zu wollen, gleichsinnig mit der Zeit, wie man eine Uhr richtet. Ihn nach der Geburt bewußt, gegebenenfalls verändernd, vital fortzuformen, von der beherrschten inneren Sekretion her oder aus noch unbekannten Bildekräften. Das alles nicht, um die Menschen gleichzumachen, wozu weder Aussicht noch auch Anlaß ist, wohl aber, damit ihr organischer Start nicht viel ungehinderter sei als ihr sozialer. Damit sie nicht Leibeigene ihrer selbst bleiben, nachdem sie es in der Gesellschaft nicht mehr sind. Sie alle möchten Gutgeratene sein, in dem Maß der Freiheit, das ihnen sozial bevorsteht und kommt. Aber als sichtbarste Hoffnung bleibt bei alldem der zentral steuernde Einfluß des Lebens in einer gesund gewordenen Gesellschaft auf die Krankheiten des Geboren- und Erwachsenseins selber, vorzüglich auf deren Verhütung, und auf die Lebensdauer. Ein weiter Weg bis dahin und einer, der vielleicht, was das heikle Fleisch angeht, noch auf lange nicht sehr zufriedenstellend zurückgelegt werden kann. Innerhalb der Leistungsfähigkeit zum kapitalistischen Betrieb wird er zweifellos nicht zurückgelegt; denn Gesundheit ist etwas, das genossen, nicht verbraucht werden soll. Schmerzloses, langes, bis ins höchste Alter, bis in einen lebenssatten Tod aufsteigendes Leben steht aus, wurde stets geplant. Wie neu geboren: das meinen die Grundrisse einer besseren Welt, ,was den Leib angeht. Die Menschen haben aber keinen aufrechten Gang, wenn das gesellschaftliche Leben selber noch schief liegt. /(547) 36
FREIHEIT UND ORDNUNG, ABRISS DER SOZIALUTOPIEN
Die Erde gehört niemand, ihre Früchte gehören allen. John Ball Ich kann mir die gegenwärtige Lage der Menschheit schlechthin nicht denken als diejenige, bei der es nun bleiben könne, schlechthin nicht denken als ihre ganze und letzte Bestimmung. Dann wäre alles Traum und Täuschung; und es wäre nicht der Mühe wert, gelebt und dieses stets wiederkehrende, auf nichts ausgehende und nichts bedeutende Spiel mitgetrieben zu haben. Nur wiefern ich diesen Zustand betrachten darf als Mittel eines besseren, als Durchgangepunkt zu einem höheren und vollkommeneren, erhält er Wert für mich; nicht um sein selbst, sondern um des Besseren willen, das er vorbereitet, kann ich ihn tragen. Fichte, Die Bestimmung des Menschen An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin
die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Kommunistisches Manifest I. EINFÜHRUNG Ein schlichtes Mahl Vieles fiele leichter, könnte man Gras essen. Hierin hat es der Arme, sonst als Vieh gehalten, nicht so gut wie dieses. Nur die Luft ist ohne weiteres da, aber der Acker muß erst bestellt werden, immer wieder. In gebückter, mühsamer Haltung, nicht so, wie man feines Obst aufrecht an der Mauer zieht. Sammeln von Beeren, Früchten, freie Jagd sind lange vorbei, wenige Reiche leben von vielen Armen. Beständiger Hunger zieht durch das Leben, nur er zwingt zur Fron, dann erst zwingt die Peitsche. Wäre der tägliche Bissen so sicher wie die Luft, dann gäbe es kein Elend. So aber wächst nur im Traum das Brot wie Laub auf den Bäumen. Vorhanden ist nichts dergleichen, das Leben ist hart, und trotzdem war stets ein Gefühl des Auswegs da, und daß er /(548) möglich sei. Da er so lange nicht gefunden wurde, schwärmte träumerischer Mut nach überallhin aus. Die gebratenen Tauben Ein Leib, der satt ist, hätte über nichts zu klagen. Falls es ihm nicht an Kleidung und Obdach fehlte, also fast an allem. Falls es nicht an Freunden fehlte und falls das Leben leicht und friedlich liefe statt des Unwetters, als das es den meisten geworden ist. Aber nur das Märchen, das immer lehrreiche, und das Staatsmärchen wissen vom Tischleindeckdich, vom Schlaraffenland zu erzählen. Wie der Jungbrunnen in ärztliche Wunschbilder, so reicht das Schlaraffenland in soziale, präludiert ihnen heiter. Alle Menschen sind dort gleich, nämlich gut dran, es gibt weder Mühe noch Arbeit. Gebratene Tauben fliegen ins Maul, jede Taube auf dem Dach ist bereits wie eine in der Hand, alle Dinge und alle Träume sind als Gebrauchsgüter zur Hand. So leben die Schlaraffen angenehm, lassen sich von den Reichen nicht mehr vorsagen, wie wenig beneidenswert Reichtum sei. Wie ungesund der lange Schlaf, wie tödlich die Muße, wie sehr es der Not bedürfe, damit nicht alles Leben stillsteht. Fröhlich hat das Volk sein nahrhaftestes Märchen, sein sinnfälligstes utopisches Modell weiter ausgemalt, sogar karikiert: die Weinstöcke sind mit Bratwürsten zusammengebunden, die Berge haben sich in Käse verwandelt, die Bäche fließen mit bestem Muskatellerwein.Tischleindeckdich, indische Zauberfluren sind hier als öffentliche Einrichtung da, als Glückslage schlechthin. Irrsinn und Kolportage auch hier Nicht zu leugnen, die feurige Eule fliegt auch in diese Bilder herein. Sie fliegt darin weiter als bei den medizinischen Träumen, und: Ende der Not, das klingt nicht verrückt. Aber mehrere Weltverbesserer waren paranoisch oder bedroht, es zu sein, auf nicht ganz unverständliche Weise. Irrsinn, als Lockerung für einen Einbruch des Unbewußten, für Besessenheit durchs Unbewußte, kommt auch an Noch-Nicht-Bewußtem vor. Der Paranoiker ist häufig ein Projektenmacher, und es gibt zwischen /(549) beiden zuweilen auch Gegenseitigkeit. Derart, daß ein
utopisches Talent paranoisch ausgleitet, ja fast freiwillig dem Wahn nachgibt (vgl. Seite 103 ff.). Das Beispiel liefert einer der größten Utopisten, Fourier; bei ihm wachsen neben scharfer Tendenzanalyse die eigentümlichsten Zukunftsbilder. Nicht die Gesellschaft, aber die Natur betreffend, soweit sie in unsere eigene harmonisch-höfliche Ordnung einbezogen ist und mit ihr gleichsam mitsingt. Da plant Fourier, als Draufgabe zur sozialen Befreiung, eine Nordpolkrone, soll heißen, eine zweite Sonne, die dem Norden andalusische Wärme verschaffen wird. Die Krone duftet, wärmt und leuchtet, von ihr geht ein Fluidum aus, das das Meer entsalzt, ja zur Limonade verbessert. Hering, Kabeljau und Auster werden sich, durch Verschiebung der fehlerhaft gelagerten Erdachse, ins Ungemessene vermehren, die Meerungeheuer dagegen zugrunde gehen. Statt der Ungeheuer erscheinen ein Anti-Hai, ein Anti-Walfisch, freundlich-paradiesische Wesen, »die die Schiffe in den Windstillen ziehen«. Auf dem Land aber prophezeit Fourier »einen elastischen Träger, den Anti-Löwen, mit dem ein Reiter, der morgens von Calais auszieht, sein Frühstück in Paris einnimmt, seinen Mittag in Lyon und seinen Abend in Marseille zubringt«. Allerdings sieht man - bei großen Utopisten - der Wahnsinn hat auch Methode, nichtbloß seine eigene, auch die technische einer späteren Zeit: der Anti-Walfisch ist der Dampfer, der Anti-Löwe der Expreßzug, ja das Auto. Ebenso närrisch, ebenso vorwegnehmend ist Fouriers Lehre, daß sich dem Menschen ein neues Organ bilden werde, wenn auch am Ende eines Tierschwanzes, der ihm wachsen wird (Daumier hat von dieser Phantasie eine Zeichnung geliefert). Mittels dieses Organs nehmen Menschen die »ätherischen Fluida« auf, können mit den Bewohnern anderer Sterne in Verbindung treten, während die Planeten sich begatten. Die »ätherischen Fluida» sind durchs Radio unterdessen empfangen worden, obwohl der Rapport mit den Sternen noch im argen liegt, der technische Leib, die Begattung der Planeten erst recht. Der Erscheinung nach sind diese Märchen von denen Jules Vernes, mindestens von den sternhaft-utopischen Kolportagen bei Laßwitz, gar Scheerbart nicht ganz verschieden. Doch es fehlt bei Fourier alle Spielerei; der Farbtopf dieses Ernstes steht in Paranoia, nicht nur in der /(550) Kolportage, freilich wird auch die Kolportage überfärbt durch Paranoia. Spürt man nicht das feine Stück Wahnsinn, das selbst den liberal-utopisierenden Freimaurern des achtzehnten Jahrhunderts beigemischt war, den Bürgern mit Winkelmaß und Pyramiden? Sitzt nicht eine Art Narrenmütze auf dem ganzen Zeremoniell, auf den Zurüstungen und Symbolen, die den jungen Maurer »dem Reich Astraeas« entgegenführen sollen? Sogar Saint-Simon, der große Utopist, streifte in seinen letzten Schriften, den Industriepapst betreffend, leise den Wahn, der Weltverbesserer zuweilen bedroht; ganz in ihn war, in der letzten Phase, sein Schüler Auguste Comte versunken. Comte setzte Saint-Simons Kirche der Intelligenz dermaßen fort, daß nicht nur Menschheit, auch Raum und Erde angebetet werden sollten. Die Menschheit als das »Große Wesen«, der Raum als das »Große Medium«, die Erde als der »Große Fetisch«; Clotilde, Comtes tote Geliebte, wurde die neue Maria. Das sind die Bizarrerien, die einige der energischsten Luftschlösser ornamentieren. Doch sind sie, wie gemerkt, auch der Kolportage nicht ganz fremd, jener Kolportage, die der Staatsroman berührt und zuweilen auf fruchtbare Weise aufnimmt. Fast alle älteren Utopien benutzen Raummaschinen, fast alle neueren die Zeitmaschinen einer exotischen Phantasie, wenn sie ins soziale Traumland fahren. Viele suchen wenigstens in ihrem Titel der glücklichen Insel den Glanz greller Kolportage zu geben. Da gibt es ein »Kingdom of Macaria«, eine so berühmt gewesene »Insel Felsenburg«, ein »Crystal Age«: Namen wie die von Jahrmarktsbuden, worin Meermädchen ferner Gestade gezeigt
werden; auch der Geheimklang einer unsichtbaren Loge, weit draußen, fehlte nicht. Die Märchen von Wunderländern, von Wunschzeiten und Wunschräumen geben hier Glanz; seit Alexander sind die schönsten Utopien in Inseln der Südsee eingebaut, in ein Ceylon des Goldenen Zeitalters, ins Wunderland Indien. Schiffermärchen leihen selbst bedeutenden Sozialutopien, so bei Thomas Morus, die Einkleidung; in diesem Rahmen erscheint Glück, lange bevor die Zeiten dazu reif waren; seit mehr als zweitausend Jahren ist in Utopien die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abgeschafft. Sozialutopien kontrastierten die Welt des Lichts gegen die Nacht, malten ihr Lichtland breit aus, mit dem gerecht gewordenen /(551) Glanz, worin der Unterdrückte sich erhoben, der Entbehrende sich zufrieden fühlt. Daß dieser phantastisch gemalte Zustand so oft nur in Kolportage vorstellbar war, als der einzig gebliebenen Form des Abenteuers und des verständlich-guten Siegs, überrascht nicht. Es ist der Zustand, wie ihn heute noch der Soldat in Brechts »Dreigroschenroman« als endlich eingetretenen träumt: »Die Gemeinheit verlor ihren hohen Ruhm, das Nützliche wurde berühmt, die Dummheit verlor ihre Vorrechte, mit der Roheit machte man keine Geschäfte mehr.« Sind die Sonneninseln erreicht, durch Irrsinn, Schiffermärchen oder auch nur, in den spätesten Sozialutopien, bei Bellamy oder Wells, durch magnetischen Schlaf hindurch: so geht es auf ihnen, von Prunknatur abgesehen, gar nicht mehr so hoch, es geht mehr normal her. Denn normal, denkt man, ist es doch, oder müßte es sein, daß sich Millionen Menschen nicht durch Jahrtausende von einer Handvoll Oberschicht beherrschen, ausbeuten, enterben lassen. Normal ist, daß eine so ungeheure Mehrheit es sich nicht gefallen läßt, Verdammte dieser Erde zu sein. Statt dessen ist gerade das Erwachen dieser Mehrheit das ganz und gar Ungewöhnliche, das Seltene in der Geschichte. Auf tausend Kriege kommen nicht zehn Revolutionen; so schwer ist der aufrechte Gang. Und selbst wo sie gelungen waren, zeigten sich in der Regel die Bedrücker mehr ausgewechselt als abgeschafft. Ein Ende der Not: das klang durch unwahrscheinlich lange Zeit gar nicht normal, sondern war ein Märchen; nur als Wachtraum trat es in den Gesichtskreis. New Moral Worlds am Horizont Weit von hier nur scheint alles besser, die Dinge sind gemeinsam. So leben die Bürger bei Thomas Morus: mäßige Arbeit, nicht über sechs Stunden, der Ertrag ist gleichmäßig verteilt. Es gibt kein Verbrechen mehr und keinen Zwang, das Leben ist ein Garten, behagliches wie edles Glück hängen offen umher. Streng dagegen geht es im großen Gegenstück zu Morus' Utopia her, in Campanellas Sonnenstaat. Nicht durch Freiheit, sondern durch eine bis ins Einzelnste vorgesehene Ordnung kommt das Glück aller hier ins Lot. Trotz einer noch kürzeren Arbeitszeit als bei Morus, einer nur vierstündigen, und wiederum kommunistischer /(552) Verteilung des Ertrags liegt wohltätige Last der Regel auf jeder Stunde, auch jedem Genuß. Die Regel wird erforscht und aufrechterhalten von Wissenden, besonders astrologisch Wissenden; der Sonnenstaat ist genau ins All eingebaut. Langer Weg von hier, über 1789, über die formelle Freiheit und Gleichheit aller, die folgte und zum härtesten Elend ausschlug, langer Weg zu den Utopisten des Industriezeitalters, zu Owen, Fourier, Saint-Simon. Naturrecht liegt auf diesem Weg, auch Fichtes Traum von einem geschlossenen Handelsstaat, worin jeder de jure, also utopisch in facto, die Lebensmittel und Güter besitzt, auf die er ein Urrecht hat. Aber unterdessen war die Barzahlung das einzige Bindeglied der Gesellschaft geworden, es wurde ein anderes Bindeglied gesucht, etwa die vergessene Brüderlichkeit. Owen wandte sich
zuerst unmittelbar an die Arbeiter und blieb in ihrer Mitte tätig, nicht nur als Fabrikant. Privateigentum, Kirche und die gegenwärtige Form der Ehe vernichten das menschliche Glück; New Harmony kennt sie nicht mehr. Die Kapitalisten der Verteilung und Herstellung: Kaufmann und Fabrikant, gelten als entbehrliche Erscheinungen; statt ihrer sollen Basars entstehen, in denen der Arbeiter nach dem Maß seiner geleisteten Arbeitsstunden die Ware eintauscht, die andere Arbeiter hergestellt haben und die er braucht. Fourier, der andere, härtere Utopist, vormarxistisch in der Schärfe seiner Analyse, Fourier baute Nouveau Monde industriel et soaétaire nicht so sehr auf Menschenliebe als auf Kritik auf. Auf Kritik der bürgerlichen Zivilisation, als der letzten Ordnung, die erschienen ist, sie ist der Fluch, gegen den Fourier das Traumbild der Milde setzt, der verschwundenen Lebensangst. Fourier sah als erster, wie in der bisherigen Gesellschaft die Armut aus dem Überfluß selbst entspringt; Heilmittel ist Auszug in kommunistische Inseln, in die Sozialinseln, die Fourier Phalanxen nennt; und alle sind zusammengestimmt untereinander wie unter der Weltleitung. Eine Art Harmonielehre der Leidenschaften ergänzte die reibungslos entworfene Wirtschaft; harfenklar sollte die neue Welt zusammenklingen. Owen wie Fourier entwarfen ihren Staat (mehr Glücksgruppe als Glücksstaat) föderalistisch; zentralisiert dagegen, wieder mehr der Ordnung als der individuellen Freiheit nahe, erscheint er bei Saint-Simon. Fast glühender als bei Owen /(553) und Fourier geht hier der Haß gegen arbeitsloses Einkommen und das Elend, das es voraussetzt, gegen die feudalen und bourgeoisen Rentiers, wie sie Goya und Daumier gemalt. Alle Liebe gilt der Arbeit, und das Zauberwort Saint-Simons heißt l'industrie. Arbeiter freilich sind bei ihm auch die Fabrikanten, Kaufleute, Bankiers; so fiel das »Systeme industriel«( hinter Owen zurück, der ohne diese Typen auskam. Aber der Industrielle Saint-Simons bleibt nicht privat, er wird ein öffentlicher Beamter und die Gesellschaft insgesamt zur Kirche der Intelligenz. Ausbeutung wird ausgerottet, weil individuelle Wirtschaft ausgerottet wird, an ihrer Stelle blüht das Morgenrot Planland, die selige Schenkung Industrie - mit einem sozialen Hohenpriester an der Spitze. Das alles mithin verläßt das alte Land, mehr oder minder friedlich und schnell. Am schnellsten schien das Behagen zu gelingen, wenn ihm auch noch neue Erfindungen zu Hilfe kamen. Die neueren Staatsmärchen sind oft mit ihnen durchsetzt, Morus malt flache Dächer und große Lichtfenster ins Traumland, Campanella sogar Autos. Es gibt auch Staatsmärchen, die gar nicht so sehr soziale Träume ausmalen als vielmehr technische. So Bacons »Nova Atlantis«, das Land jenseits der Säulen des Herkules, jenseits der bekannten Welt. Dort lebt ein glückliches Volk, glücklich vor allem, weil es sich nicht mit dem begnügt, was die Natur gleichsam als Strandgut abwirft. Sondern die Atlantier dringen in die natürlichen Kräfte selber ein, mit instrumentell aufs höchste geschärften Sinnen, und sie machen sich, nachdem sie einen tiefen Blick getan, das Erblickte dienstbar. Neue Pflanzen und Nutztiere umgeben den Menschen, das Leben wird chemisch verlängert, selbst der alte Vogeltraum ist dort erfüllt, durch Wagen, die sich in die Luft erheben. Ein sozialer Teil dieses Romans, mit seinen vielen offenen Türen nach Morgen, blieb unausgeführt; unbekannt also, durch welche Mittel das riesig gewordene Tischleindeckdich nur Gutes bergab, nicht auch, für feindseligeWünsche, Gift. Rein technische Fortschrittsbilder haben so jederzeit den Fortschritt zu billig, zu gradlinig erscheinen lassen; so wie sie heute, isoliert dargeboten und mit weggelassener sozialer Veränderung, Täuschungen oder Betrugsmittel sind. In den ehrlichen, doch abstrakten Utopien bat der technisch unterstützte /(554) Fortschrittsglaube sehr oft den Schein des ungestörten Gelingens und Fortgangs
erleichtert. Unter allen Utopisten hat nur einer, Fourier, behauptet, daß auch in der besseren Zukunft jede Phase ihre aufsteigende, doch ebenso die Gefahr absteigender Linie habe. Abstrakte Utopie, auch der sogenannte sozialistische Zukunftsstaat, nämlich erst der für Kindeskinder, kennt noch selten rechte Gefahr; auch sein Sieg, nicht nur sein Weg, wirkt dann undialektisch. Das, obwohl über der ersten und berühmtesten, wenn auch kühlsten Utopie: der Platons, unzweifelhaft mehr traurige Stimmung liegt als vertrauensvolle. Freilich wird hier ohnehin Unfreundlichkeit aus dem bestehenden Staat in den idealen hinübergenommen: Abneigung der Oberschicht gegen die Masse. Nicht dieser, als dem Nährstand, dient das Wunschbild, sie soll vielmehr niedergehalten werden. Ein Militärstaat wird erträumt, der auch nach innen einer ist, mit Brahmanen von dieser Welt an der Spitze. Es ist der idealisierte dorische Staat, wenn auch philosophisch gekrönt, wovon Sparta weit entfernt war. Und das »Alles sei gemeinsam«, das bei Platon nicht fehlt, ja von ihm her zum vornehmsten utopischen Stichwort wurde, dies gefährliche Wesen wurde auf die beiden oberen Stände begrenzt; es war ein mönchisches Privileg, keine demokratische Forderung. So ist Zurückhaltung in dieser Utopie, um den Preis allerdings, daß sie die reaktionärste ist, ja überhaupt keine im Märchensinn, im Sinn des Goldenen Zeitalters. Und Zurückhaltung ist selbst in der zweiten berühmtesten Utopie der Antike, in Augustins Gottesstaat. Er war zwar in seinem Heil bereits für Adam und Eva bestimmt, deren Fall hat ihn aber vereitelt, seitdem pilgert der Gottesstaat auf Erden. Er kann als irdischer Staat nicht erscheinen, denn er umfaßt nur die Auserwählten, er ist eine Arche Noah. Sein Frieden ist bedroht und einsam, eingesenkt ins Meer von Gram und Unrecht, woraus die Welt besteht. Aber weder Platons Zurückhaltung, die gewiß teuer erkaufte, reaktionär begründete, noch die pessimistische Augustins haben das sozialutopische Glücksbild in seiner Leichtigkeit sehr betroffen. Die Staatsromane sahen sehr oft mit ihrem Rezept alle Widersprüche gelöst, die Gesundheit ist darin gleichsam starr geworden. Keine frischen Fragen, keine anderen Länder erscheinen weiter am Rand, die Insel ist, obwohl selber zukünf- /(555) tig, gegen Zukunft weitgehend abgedichtet. Das hängt vielfach mit technischem Optimismus zusammen, wie bemerkt, es hängt aber letzthin vor allem mit der Verengerung zusammen, die das Utopische, in dieser seiner sinnfälligsten Aussprache, erfahren hat: Utopie wurde auf die beste Verfassung beschränkt, auf eine Abstraktion von Verfassung, statt im konkreten Ganzen des Seins erblickt und betrieben zu werden. So hat Utopisches vom Staatsroman her außer Leichtmütigkeit oder schwärmerischer Abstraktion auch einen Ressortcharakter erhalten, der seinem alle Reiche durchdringenden Grundstoff völlig unangemessen ist. Statt dessen muß utopisches Wesen, das heißt intendiert vollkommene Bedarfsdeckung, ohne die schalen Wünsche, die zu vergessen sind, mit den tiefen Wünschen, die noch zu wünschen sind und deren Befriedigung auf das so unabstumpfbare Glück immer weiterer menschlicher Füllesteigerung bringt, als ein Totum begriffen werden, von dem die Sozialutopien selbst abhängen. Und zu dem sie am Ende innerhalb ihres Ressorts auch überschießen wollten und mußten, sozial-radikale, unbedingt gute Verhältnisse im Sinn. Dies Totum macht, daß die alten Staatsmärchen noch neu und vielsagend sind, daß noch ihr Irrtum lehrreich ist und ihr Anspruch verpflichtend. Sie erheben den Anspruch, auf den Oscar Wildes Satz sich bezieht: keine Weltkarte sei eines Blicks wert, die das Land Utopia nicht enthält. Die alten Sozialträume malten das Eiland der Abstraktion und der Liebe; wegen beider Eigenschaften sollte auch nichts darauf schwierig sein.
Utopien haben ihren Fahrplan Die Träume, besser zusammen zu leben, wurden lang nur innerlich ausgedacht. Dennoch sind sie nicht beliebig, nicht so gänzlich freisteigend, wie es den Urhebern zuweilen selber erscheinen mochte. Und sie sind untereinander nicht zusammenhanglos, so daß sie nur empirisch aufzuzählen wären wie kuriose Begebenheiten. Vielmehr: sie zeigen sich in ihrem scheinbaren Bilderbuch- oder Revuecharakter als ziemlich genau sozial bedingt und zusammenhängend. Sie gehorchen einem sozialen Auftrag, einer unterdrückten oder sich erst anbahnenden Tendenz der bevor- /(556) stehenden gesellschaftlichen Stufe. Dieser Tendenz geben sie Ausdruck, wenn auch mit privater Meinung vermischt, sodann mit dem Traum der besten Verfassung schlechthin. Die Sozialutopien spiegeln die vorhandene Tendenz zwar lange nicht so bemüht oder gar scharf, wie dies einer anderen Form der Vorwegnahme eigen ist: dem bürgerlichen Naturrecht. Aber sie sind vom Drang zur nächsten Stufe doch keineswegs unabhängig, trotz allem Überfliegen, allem Roman eines unbedingten sozialen Glücks. Sie sprechen betroffen, wenn auch selten konkret vermittelt, vom Bevorstehenden, sie kleiden ihr kommunistisches Endglück in Formen einer jeweils nächsten Tendenz. So bei Augustin, so deutlich bei Thomas Morus und Campanella, bei Saint-Simon. Bei Augustin hat die beginnende Feudalwirtschaft eingewirkt, bei Morus das freie Handelskapital, bei Campanella die absolutistische Manufakturperiode, bei Saint-Simon die neue Industrie. Wenn auch auf jedesmal transparente Weise, mit dem Himmel auf Erden und nichts Geringerem im Sinn. Auch Utopien haben derart ihren Fahrplan, selbst die kühnsten sind in ihren unmittelbaren Vorwegnahmen an ihn gebunden. Verschiedenheit des jeweiligen Standorts kommt hinzu, er beeinflußt den Engländer Morus, den Italiener Campanella ganz entschieden. Morus' Utopie der Freiheit entspricht in ihren nicht-kommunistischen Teilen so der kommenden parlamentarischen Form der englischen Innenpolitik wie Campanellas Utopie der Ordnung der absolutistischen des Kontinents. Dergleichen zeigt: auch der noch so privat aufgehende Traum enthält Tendenz seiner Zeit und der nächsten Zeit in Bildern gefaßt, in allerdings auch hier überschießenden, fast allemal zum »Ur- und Endzustand« überschießenden Bildern. So viel über den sozialen Auftrag und Zusammenhang in der Folge der Sozialutopien; er ist jederzeit stärker als die individuellen Eigenheiten der Utopisten. Und noch weniger als aus den Tiefen des puren privaten Gemüts sind Utopien etwa aus den Schubladen apriorischerMöglichkeiten gezogen, unabhängig von der Geschichte. Alle Möglichkeiten kommen erst innerhalb der Geschichte zur Möglichkeit; auch das Neue ist historisch. Selbst das Novum einer Abschaffung des Privateigentums (die von den meisten Sozialutopien vorweggenommen wird, in jenem nicht mehr aktuellen Teil, der zur /(557) letzten Stufe transzendiert), selbst dies Novum ist nicht apriorisch unwandelbar. Es sieht beim wenig liberalen Platon ganz anders drein als bei Thomas Morus, bei diesem wieder ganz anders als bei Robert Owen. Nicht einmal das Neue selbst, in seiner jeweiligen Dimension, nicht einmal das Utopische, als zum Überbau gehörig, ist invariant. Die »künftigen Zeiten«, wie sie Jakob seinen Söhnen auf dem Sterbebett anzeigt, sind nicht nur ihrem Inhalt, sondern auch ihrem Zukunftsbegriff nach nicht dieselben, die der Chiliast Joachim von Calabrese im dreizehnten Jahrhundert im Sinn hatte, gar die Saint-Simon meint. Invariant ist lediglich die Intention auf Utopisches, denn sie ist erkennbar durchlaufend durch die Geschichte: doch selbst diese Invarianz wird sofort variabel, wenn sie sich über das erste Wort hinaus äußert, wenn sie die allemal historisch variierten Inhalte spricht.
Diese Inhalte ruhen nicht als Leibnizsche possibilités eternelles, von denen der Antizipator bald diese, bald jene herausgreift, sie bewegen sich einzig in der Geschichte, die sie erzeugt. Was für alle utopischen Inhalte gilt, nicht bloß für die sozialutopischen der besten aller Gesellschaften. Die sozialen Wachträume selber, gewiß, sie sind unter den gestalteten noch nicht die bedeutsamsten oder tiefsinnigsten, doch dafür bildet sich in ihnen Utopisches an seiner gesellschaftlichen Basis. So zeigen sie nicht bloß den größten Umfang, sondern sind auch, zusammen mit technischen Utopien, die praktischste Erscheinung menschlicher Wunschlandschaft. Zugleich eine stolze; denn Sozialutopien, selbst in ihren tastenden Anfängen, waren stets imstande, zum Niederträchtigen nein zusagen, auch wenn es das Mächtige, selbst wenn es das Gewohnte war. Letzteres ist ja subjektiv meist noch hemmender als das Mächtige, indem es sich unaufhörlicher und darum weniger pathetisch darstellt; indem es das Bewußtsein des Widerspruchs betäubt, den Anlaß zum Mut herabsetzt. Aber Sozialutopie ist fast allemal im Unterschied von dieser Betäubung entstanden, im Unterschied von jener Art Gewohnheit, die unter Niederträchtigkeiten, gar unter unhaltbaren, die Hälfte moralischer Phantasielosigkeit und das Ganze politischer Dummheit ausmacht. Sozialutopie arbeitete als ein Teil der Kraft, sich zu verwundern und das Gegebene so wenig selbstverständlich zu finden, daß nur seine Veränderung einzuleuchten vermag, Als /(558) Veränderung zu einem Zustand der Gesellschaft, der, wie Marx sagt, nicht bloß die Isolierung vom politischen Gemeinwesen beendet, sondern die Isolierung vom menschlichen Wesen. Die Sozialträume haben sich mit einer Fülle von Phantastik ausgebildet, aber zugleich, wie Engels hinzufügt, mit einer Fülle »der genialen Gedankenkeime und Gedanken, die unter der phantastischen Hülle hervorbrechen«. Bis das Entwerfen der Zukunft bei Marx konkret berichtigt und in den wirklich begriffenen Fahrplan einer fälligen Tendenz gebracht wird, so daß es nicht aufhört, sondern erst kraftvoll beginnt. Ohne die wachsende Fülle der Antizipationen, der noch abstrakten Pläne und Programme, die nun zu erinnern sind, wäre auch der letzte Sozialtraum nicht gekommen. Er befindet sich nun auf der Höhe des Bewußtseins und wird so, erst recht voller Planung, Sozialerwachen. II. SOZIALE WUNSCHBILDER DER VERGANGENHEIT Solon und die bescheidene Mitte Solange man Kind ist, läßt man sich nicht viel gefallen. Anders hält es ein Armer, der an den Druck gewöhnt worden ist. Erst spät kommt ein Gefühl, wie schlecht es die Menschen treiben, und ein Blick, wie es anders sein könnte. Der ist zuerst entweichend, ausweichend, der Einzelne zieht sich möglichst schnell auf sich zurück, bedürfnislos. So sagte Bias, daß er alles Seine mit sich trage; er brauchte nicht viel und verlangte von den anderen nicht viel. Leben ohne Gepäck erschien wirtschaftlich wie gesellschaftlich als das beste, dergleichen wurde nie ganz vergessen. Die Reibung wird gering, Neid wie Übervorteilung hören auf, unter Müßigen fehlt zu beidem der Anlaß. Sinnsprüche aus der Zeit der sieben Weisen meinten hierin alle dasselbe, in übertragenem Sinn wünschen sie sämtlich, der Mensch solle sich bescheiden. Er kann mit Wenigem glücklich sein und nur mit Wenigem; zu großer Besitz, sagt Solon, soll geteilt werden. Nicht Reichtum ist uns wünschbar, sondern Tugend, und sie erst macht das gemeinsame Leben leicht. Niemand ist vor seinem Tod glücklich zu preisen, dieser Satz bedeutet auch, daß
auf Reichtum kein Verlaß ist, /(559) daß er sich weder für einen Einzelnen noch als Zustand vieler empfiehlt. So allgemein und von oben herab das noch alles ist, so sucht es doch eben eine stille Mitte. In ihr sollte das Glück spielen, das jedem das Gleiche gönnt und so besteht. Diogenes und die musterhaften Bettler Wurde das zu fette Leben mager gemacht, wo dann halten? Bei gar nichts, das dem Menschen bisher üblich war, auch nicht bei holdem Bescheiden. Diogenes lebte für alle den Wunsch vor, auf den Hund zu kommen; denn der Mensch und die Gruppe, die er bildet, sind das falsche, künstlich gewordene, Umwege machende Tier. Antisthenes, als Kopf der Kyniker, lehrte die rechte Gemeinschaft von vornherein als eine wie unter Hunden, die zu betteln verstehen und sich nicht genieren; eine freie, sich einfach befriedigende Herde. Alle Menschen sollen als diese lockere Herde zusammenleben, kein Volk vom anderen durch Grenzen getrennt sein. Gold ist abgeschafft, auch Ehe und Hauswesen, äußerste Bedürfnislosigkeit (welche den Hunden freilich nicht eignet) macht die Menschen voneinander und von der Umgebung frei. Indem der als Hund geträumte Mensch nicht mehr in überflüssigen Genuß verwickelt ist, hören seine übrigen Verwicklungen auf. Er wird von den Lebensumständen unabhängig, die um das Leben herumstehen, er und seinesgleichen sind in jeder Lage zu Hause, wenn sie nur eine ungestörte ist, eine möglichst wenig staatliche. Die Freiheit beginnt hier also durchaus nicht kühn und üppig, sie beginnt entlaufend und anstößig. So hat Diogenes aus dem Faß unter anderem öffentlich onaniert, auch nur bedauert, daß er sich den Hunger nicht ebenso einfach vertreiben könne. Krates und Hipparchia, ein Mädchen aus reichem Haus, das mit dem Kyniker das Bettlerleben annahm, haben ihr Beilager in einer Säulenhalle öffentlich vollzogen. Nächst den Hunden erschien als Muster der Väter einfache Sitte, ohne Lebensangst zufrieden. Die Vorzeit mit Schwarzbrot, Milch und Rüben war die einzig gesunde, naturgemäße, und Menschen, die sich zu ihr bekennen, kommen so leicht miteinander aus wie lauter Gesättigte. Auch fällt unter Bedürfnislosen fast jede Arbeit weg, nur ein wenig Schlagen auf das Wasser ist notwendig, um den /(560) nackten Schwimmer oben zu halten. Und eine Stadt aus Fässern, worin der Freie wohnt, macht nicht viel Mühe, damit sie sich neidlos erhält. Vor allem schläft der so Frugale ungeschreckt in der Nacht, wandelt aufrecht bei Tag; denn er siedelt sich nicht in der Nähe von Verhältnissen an, über die er keine Macht hat. Aristipp und die musterhaften Schmarotzer Daneben aber lief und lockte das fröhliche Leben, dem nichts abgeht. Die goldene Urzeit wurde dann nicht als die frugal-gleiche, sondern als die üppig-gleiche gedacht. Statt der rauhen füllt hier genießerische, auch schmarotzende Boheme das rechte Dasein aus. Lust, wurde von ihr gelehrt, ist der menschliche Teil, Genuß um seiner selbst willen, unabhängig von der Stillung des Bedürfnisses, das unterscheidet den Menschen vom Tier. Kraft zu genießen, so wurde hier versichert, erhebt den Menschen über den Hund, übers Tier, über den zufriedenen Entbehrer (Marx hätte das keineswegs verneint). Die menschlichen Wünsche gehen zum Unterschied von den tierischen letzthin auf Orgie, und darin sind sie durchaus naturgemäß. Also lehrte Aristipp, der Kopf der Hedoniker, daß nicht Bedürfnislosigkeit, sondern unbegrenzte, kluge Genußfähigkeit der natürliche
menschliche Zustand sei; und er war zu kultivieren. Hedonische Rasse, im Gegensatz zur kynischen, stand derart auf, und ihr Staat ist geträumt als einer der gegenseitigen oder gönnerischen Egoisten. Unter Gemeinschaften ist die die beste, die dem möglichst hohen Lustgewinn ihrer Bürger am wenigsten hinderlich ist. Die hedonische Gruppe verlangt kein individuelles Opfer, kennt weder Familie noch Vaterland, am wenigstens Verbote, welche den Glückswunsch eines Individuums hemmen oder auch nur von vornherein bestimmen. Das verbindet Kyniker und Hedoniker, die Freigeister der Bedürfnislosigkeit und der Lust; sie sind beide anarchisch. Ihr eigenes Leben soll der Staat sein, den man ordnet, das soziale Leben soll unaufdringlich sein wie Flanieren auf dem Markt. Aristippos freute sich seiner gesellschaftlichen Ungebundenheit, die ihm erlaubte, Bettlermantel und Prunkkleid mit gleichem Anstand zu tragen. Er freute sich, wie Xenophon berichtet, der staatlichen Ungebundenheit seines Wanderlebens, seines ubi /(561) bene, ibi patria, und er setzte sie als vorbildlich. Gebundenheit galt äußerstenfalls innerhalb der Freundschaft, ein späterer Hedoniker, namens Annikeris, lehrte sogar, es solle eine Stadt der Freunde errichtet werden, nicht wegen des Nutzens, sondern wegen des sich erzeugenden Wohlwollens und des Vergnügens, das sich daraus ergibt. Der Demokratisierung dieses an sich aristokratischen Genußbilds kam entgegen, daß ja auch der ärmere Bürger den Nutzen von Sklavenarbeit zog; auf dieser Grundlage konnte eine Kommune des Genusses allgemein vorgestellt werden. Vor allem aber deckte sich das hedonistische Bild viel genauer als das kynische mit den Vorstellungen vom Goldenen Zeitalter, mit den lebhaft erhaltenen. Den Umfang wie die Gewalt, welche die Volkstümlichkeit des Lustbilds angenommen hatte, machte Aristophanes in seiner bösartigen Komödie »Die Vögel« kenntlich. Das Lustbild wurde darin aufsässig, insofern als es nirgends unterkam, nirgends ungestört blieb. Beschlossen doch die Helden der Komödie, Euelpides (Hoffegut) und Peisthetairos (Rätefreund), die mit den irdischen Glücksinseln wenig zufrieden waren, in den Wolken bei den Vögeln zu bleiben und ihnen in der Luft die Gründung eines neuen Staates vorzuschlagen. Doch findet sich in der Komödie auch bereits die anders lautende, bedeutend irdischere und wirklich vorhandene Utopie von damals zitiert. Gegen sie erst richtet Aristophanes seinen Aufwand an Witz: Aus Mangel wird nie mehr ein Mensch vergehen, Denn alles ist Eigentum aller, Brot, Kuchen, Gewänder, gepökeltes Fleisch, Wein, Erbsen, Linsen und Kränze. Dieser Vers - seinesgleichen erschien bereits bei Gelegenheit der verspotteten Wunschbilder (Seite 505 f.) - bezieht sich unzweifelhaft auf Erinnerungen des Goldenen Zeitalters, die damals anfingen, gefährlich und ernsthaft zu werden. Der Vers persifliert mit den Linsen ebenso den plebejischen »Naturstaat« wie mit der Fülle der übrigen Güter das hedonische Ideal, besser: den demokratischen Ausverkauf dieses Ideals. Das gewaltige Rülpsen, das solche Travestien erfüllt, ist gleichsam Epikur im /(562) Volk; die Freiheit soll als Völlerei erscheinen. Sie erschien bei den Hedonikern selber als Wein für alle, soweit sie Menschen sind und nicht Sklaven. Die Lustfreiheit war demokratisch, trotz des schrankenlosen Egoismus; denn das Glück wurde wiederum als großzügig gedacht, als Leben und Lebenlassen, mit höflichguten Manieren. Platons Traum vom dorischen Staat
Ein anderes ist es, solche Wünsche zu verspotten, ein anderes, sie unschädlich zu machen. Letzteres unternahm Platon, derart, daß er den utopischen Trieb ebenso aufnahm wie seine freiheitliche Richtung umkehrte. Platon schrieb die erste ausgeführte Schrift über den besten Staat, die «Politeia«, und diese Schrift ist so durchdacht wie reaktionär. Hier wird nicht mehr vage geträumt, Vages ausgeträumt, doch ebensowenig goldene Urzeit ersehnt und angepriesen. Statt verlorener Freiheit (rustikaler oder üppiger Art) erscheint unerreichte Ordnung: die Träumerei festigt sich mit ihrem Inhalt und wird gebietend. Wobei ihr sogar ein empirisches Modell nicht fehlt, ja das Modell ganz in der Nähe gefunden wird (mit einem Wirklichkeitssinn, der bei dem großen Idealisten überrascht), nämlich in Sparta. Die Liebe zu Sparta und seinen Aristokraten begann nach dem Peloponnesischen Krieg den Interessen der athenischen Oberschicht zu entsprechen, dem Interesse am Abbau der Demokratie. Die herrschende Klasse neigt allemal zum Abbau der Demokratie, sobald die Zustände so geraten, wie Platon sie beschreibt: »Der jetzige Staat zerfällt in zwei Staaten, den der Armen und den der Reichen, die sich mit unversöhnlichem Haß verfolgen. »In solchen Zeiten besteht eine Tendenz zur totalen staatlichen Autorität, zum Polizei- und Ordnungsstaat. Also wurde Platons Utopie (das Paradox einer Utopie der herrschenden Klasse) zur Idealisierung Spartas; die wachsende Klassenspannung empfahl Sparta als den strengsten griechischen Staat, als das Heilmittel aus Autorität. Nährstand, Wehrstand, Lehrstand, diese drei Kasten des platonischen Idealstaats finden sich auf dem Peloponnes vorgebildet; es sind die Heloten, die Spartiaten und der Rat der Alten (Gerusia). So nimmt Platon die volkstümliche Staatsträumerei /(563) auf und kehrt sie um; so baut er ein großartiges sozialutopisches Schiff und gibt ihm Gegenwind; so verlegt er dem Schiff das Land seiner Bestimmung und setzt statt des Goldenen Zeitalters das der schwarzen Suppe. Nur im Vorübergehen erinnert auch Platon ans Goldene Zeitalter als das des Überflusses, ja, er fügt hinzu: erst durch die »Verschlimmerung der Welt« seien Obrigkeit und Gesetze notwendig geworden. Und das berühmte Verdikt über den Naturstaat als einen von Schweinen bezieht sich nicht auf dessen obszönen, sondern auf dessen genügsamen Charakter. Sokrates berichtet im zweiten Buch der »Politeia« über die Genügsamen, und wie ihr gesunder Staat zu beschreiben sei: »Felderbsen und Bohnen wollen wir ihnen vorsetzen, und Myrten und Eicheln sollen sie sich am Feuer rösten, dazu dann einen mäßigen Schluck trinken.« Und Glaukon nennt das darauf »einen Staat von Schweinen, denn andere Dinge würde man diesen auch nicht zum Fressen vorwerfen« - womit also der kynische Staat auch nach Seite seiner Genügsamkeit abgelehnt ist, nicht bloß nach Seite seiner Zuchtlosigkeit und Boheme. Doch gleich darauf geht Sokrates, im selben Buch der »Politeia«, auch gegen den hedonischen Staat, den Schlemmerstaat, an. Er ironisiert als dessen unmännliches Glück: «Die Malerei müssen wir herbemühen und Gold und Elfenbein und alles Ähnliche... Dazu gehören auch alle Jagdhelden, die nachahmenden Künstler, die Dichter und ihre Diener, die Rhapsoden, Schauspieler, Tänzer, Schauspielunternehmer, die Künstler in allerlei Fächern, unter anderem die für Frauenschmuck.« Und dem Goldenen Zeitalter wurde nur insoweit ein höheres Glück zugestanden, als die damaligen Menschen die Vorteile ihrer Lage zur Gewinnung eines höheren Wissens verwertet haben. Keine Saturnalien also haben in Platons Tempelstaat Raum, kein Karneval der Natur, keiner der Kunst und überflüssigen Schönheit: eine durchherrschte Welt geht auf, der Vernunftbau eines ständigen Reichs. Seine Menschen sind von dorischer Härte, seine Ordnung bleibt eben die des spartanischen Aristokratismus.
Selbst die Weiber- und andere Gemeinschaft (der obersten Kasten), selbst diese so gefährlich anmutende Ähnlichkeit des Platonischen Idealstaats mit der kynischen wie hedonischen Anarchie stammt aus dem spartanischen Heerlager. Auch in Sparta konnte ein bejaarter Mann /(564) seiner Frau einen anderen zuführen, ein Unverheirateter vom Freund sich dessen Frau ausleihen; auch in Sparta war der Kriegerkaste der Besitz von Gold und Silber verboten, fremde Vorräte und Werkzeuge konnten mitbenutzt werden. Die Gerusia allerdings, Lykurgs Rat der Alten, gab dem Staat Platons nur den Rahmen ab für seine oberste Kaste, die philosophische; denn auch die ältesten Geronten waren keine Platonischen Akademiker, durchaus das Gegenteil. Wenn also Platon den HerrscherWeisen forderte, wenn er lehrte, der Staat würde nicht eher gut, als bis die Regenten Philosophen oder die Philosophen Regenten würden, so ist das geistfeindliche Modell Sparta in diesem einen Punkt, was den Inhalt des Geronten-Rahmens angeht, allerdings verlassen. Aber es ist bemerkenswert, daß auch die Philosophenkaste in Platons Utopie sich nicht hält: die tief enttäuschte Altersschrift »Nomoi« kommt gänzlich ohne Aristokratie der Bildung aus. Statt dessen wird in dieser Schrift die Idealgesellschaft vollkommen als Polizeistaat gesetzt, jetzt übrigens unter Beibehaltung von Privateigentum und Ehe. Die »Nomoi« sind lehrreich als zurückhaltende, sozusagen gebrannte Sozialutopie; sie begnügen sich mit dem Entwurf des zweit-, ja drittbesten Staats. Wächst freilich in diesem verminderten Ideal, gerade als vermindertem, die Reaktion besonders stark, bis hin zum Strafrecht gegen politische und besonders kulturelle Neuerer: so scheint es fast, als betrachte selbst Platon - konservativst geworden aus Pessimismus solches Ordnungsideal nicht mehr als Ideal. Staatsfindung wie Staatskritik jedoch sind in der »Politeia« wie erst recht in den «Nomoi « ausschließlich an der Idee gestufter Architektur, gestufter Menschenarchitektur orientiert. Und zwar soll dieser Bau schon in der menschlichen Anlage genau vorbestimmt sein. Der Mensch hat danach drei Kräfte oder Teile in seiner Seele, die Begierde, den Mut, die Vernunft. Diese drei Tätigkeitsformen sind wertmäßig von unten nach oben geordnet, daher ist verschiedener Rang schon hier. Begierde, Mut, Vernunft verteilen sich auf Unterleib, Brust, Kopf; sie formen als jeweils überwiegende den hitzigen Charakter der Südländer, den kühnen der Nordländer, den besonnenen der Griechen. Sie formieren unter den Griechen die drei Arten oder Richtungen ihrer Besonnenheit: die Besonnenheit der Begierde /(565) ist der Gehorsam, des Mutes die Tapferkeit, der Vernunft die Weisheit. Aus Besonnenheit kommt griechische Tugend: die Tugend des Gehorsams formiert so weiterhin den Nährstand, die Tugend des Muts den Soldatenstand, die Tugend der Weisheit den Stand der philosophischen Gesetzgeber. Auf diese Weise also soll ein gleichsam naturgewollter Staat entstehen, ein Staat, dessen Gesetz der Natur so wenig widerspricht, daß es die Natur in der sozialen Schicht vollendet und krönt. Sehr zum Unterschied von den Kynikern und Hedonisten leitet Platon aus der Natur folglich kein libertinistisches Naturrecht ab, sondern ein unmittelbar hierarchisches: das Prinzip des Suum cuique steckt in der Physis selbst. Das dritte Buch der »Politeia« behauptet sogar, in buchstäblicher soziologischer Verwendung von Chemie: denen, welche sich zu Regenten eignen, sei Gold in der Seele beigemischt, den Kriegern Silber, den Gewerbetreibenden Kupfer und Eisen. Derart scheint das Suum cuique freilich leicht; auch wird hinzugefügt, daß in der Regel die Kinder den Eltern ähnlich sein werden, so daß nur selten ein Sohn aus niederem Stand «seiner Natur nach« in einen höheren passe oder gar ein Soldatenkind ins Gewerbe. Staatskunst insgesamt ist die Zusammenfügung der charakterologisch-sozialen Grundverhältnisse zu einem
harmonischen Ganzen, zur Harmonie der »Gerechtigkeit«. Man wird der Struktur des Platonischen Idealstaats später noch oft begegnen; denn sie ist die einer ersehnten »Staatssittlichkeit«. Daß es (neben den Sklaven) die breite ausgebeutete Masse der Bauern und Gewerbetreibenden im Idealstaat gab, diese durchdringende Unsittlichkeit wurde durch die Ideologie einer gestuften Gerechtigkeit zugedeckt; wobei die Ausbeutung, wie ersichtlich, durch die Lehre einer angeborenen Bedientenseele (aus unedlem Metall) ideologisiert worden ist. Die oberen Stände ruhen ökonomisch vollkommen auf der Arbeit des dritten Standes, und ihr Kommunismus ist keiner der Arbeit, sondern einer der Nicht-Arbeit: der Polizei und der gelehrten Gerusia. Es ist ja nicht so, als ob Platon dem unteren Stand den Lager- und Klosterkommunismus der oberen Stände etwa nicht «zumuten« wollte; gleich als wäre er zu hart. Er ist ihm vielmehr zu edel, die Banausen sind seiner nicht würdig, sie müssen durchaus weiter Sorge haben, zum Unterschied von der aristokratischen Kom- /(566) mune, die keine Sorge mehr hat, sondern, für ihren Staat, Sorge trägt. Auch die Aufgabe, welche Platon den oberen Ständen zuweist, darüber zu wachen, »daß nicht unbemerkt in den Staat die Armut und der Reichtum sich einschleichen«, - auch diese Abart von Geldaskese, angewandt auf den dritten Stand, hat lediglich die Bedeutung, keine reichen, also gefährlichen Plebejer aufkommen zu lassen. Trotz dieser nicht eben revolutionären Inhalte hat Platons »Politeia« in der Folge nicht aufgehört, wie eine sozialistische, ja kommunistische Schrift zu wirken. Sie galt besonders in der Renaissance als eine Art Anweisung zum Sozialismus, gestützt durch die gewaltige Autorität des großen Philosophen. Ebenso zitiert Thomas Münzer, der Theologe der deutschen Bauernrevolution, Platons Utopie, und zwar im Sinn des Omnia sint communia, nicht im Sinn des Suum cuique. Es ist das ein produktives Mißverständnis: das Goldene Zeitalter-Bild, das Platon spartanisch gewendet hatte, wurde nun wieder urkommunistisch erinnert, und so, als wäre Platon, indem er Kommune als das Beste für seine Adelsstände auszeichnete, auch der Führer zu diesem Besten für alle gewesen. So stellte sich am großen Idealisten gleichsam die »Idee« der sozialen Utopie wieder her, als eine ohne Klassen und Stände. An Ort und Stelle sah Platons bester Staat freilich anders aus; er wunschträumte, im Rahmen Spartas, eher ein mittelalterliches, ja militär-klerikales Kirchenreich als ein sozialistisches Gebilde. Und lange bevor die Freiheit ihren Staatsroman fand, hat Platons »Politeia« Ordnung utopisiert. Eine vollendet spartanische, mit Menschen als SockeIn, Mauern, Fenstern, wobei alle nur dazu frei sind, tragend, schützend, erhellend im Gliedbau zu sein. Hellenistische Staatsmärchen, Sonneninsel des Jambulos Die lebhafteren und volkstümlicheren Wünsche liefen weiter, als wäre nichts geschehen. Kamen sie zu Hause nicht unter, so suchten sie in der Ferne das Ihre und nicht nur im Goldenen Zeitalter von einst und morgen. Sondern diese zeitliche Ferne kleidete sich in räumliche, sie wurde die eines entlegenen Wunderlands. Entscheidend hierfür war die Erweiterung des geographischen Horizonts durch die Feldzüge Alexanders. Die Berichte über Arabien /(567) und Indien, welche Nearch, der Admiral Alexanders, nach Hause schickte, haben den Hoffnungen des Goldenen Zeitalters sozusagen Land gegeben. Die hellenistische Utopie wurde durch die Entdeckung Indiens ganz ähnlich verstärkt und illustriert wie die neuzeitliche durch die Entdeckung Amerikas: der Staatsraum fand einen geometrischen Ort. Auch wird nur noch in einem einzigen utopischen Bericht, in dem des Theopompos über das fabelhafte Meropis, vom Glücksland als einem in der Vorzeit erzählt (wie in Platons
»Kritias « über Atlantis). Aber der merkwürdige, als Fragment erhaltene Roman des Euemeros »Heilige Inschrift« (um 300 v.Chr.) hat zum erstenmal die Fiktion von gegenwärtiger Utopie. Durch die Verbindung mit Schiffermärchen entsteht ein fast paradoxer Gewinn: utopische Anschaulichkeit. Von Arabien fährt Euemeros nach einem bisher verborgenen Land, der Insel Panchaea; dort wird gemeinsam produziert, der Ertrag gleichmäßig verteilt, der Boden (auch dies Motiv tritt zum erstenmal auf) gibt Frucht ohne Bebauung und Saat. Hier lebt ein Volk, dessen Glück und Segen aus dem Zusammenhang mit jener Zeit stammen, als Zeus noch auf der Erde war. Königtum und Obrigkeit, außer der milden von Priestern, sind unbekannt und überflüssig: denn Zeus hatte die Gesetze der Glückseligkeit so vollkommen gelehrt, daß es keiner weiteren Eingriffe von oben bedarf. Aber Euemeros berichtete nicht nur Sozialutopie von einem weit entfernten Land, sondern diese selber war wieder Einkleidung für ein Aufklärungsmärchen über Zeus und die Götter. In einem Tempel will Euemeros eben die »Heilige Inschrift« entdeckt haben, nach der seine Utopie benannt ist: die Göttergeschichte der Urzeit, aus der das weltabgeschlossene Glück Panchaeas übergeblieben ist. Uranos, Kronos, Zeus, Rhea waren Fürsten und Fürstinnen, wurden erst später - genau wie Alexander und die Diadochen zur Zeit des Euemeros - zu Göttern erhoben. Es ist das blanker Atheismus, die Götter wurden wohltätige menschliche Lokalgrößen, haben mit Weltleitung, Himmel und dergleichen nichts gemein, sind Produkte der Fama. In diesem Punkt stand Euemeros der hedonistischen Schule nahe, besonders dem Vorgänger Epikurs, dem ersten griechischen Atheisten Theodoros. Sinngemäß wurde das Glücksland Panchaea auch in dem großen epikureischen Lehr- /(568) gedicht des Lukrez erwähnt (De nat. rerum, 2,417); ein Weihrauchland des Diesseits. Glücksutopie und religiöse Aufklärung werden in diesem Land einheitlich: die irdischen Tyrannen und die Götter, vor allem die strengen, abgehobenen, fallen in gleichem Zug. Lag doch gerade im Zeustempel Panchaeas die Urkunde, die Zeus wie alle Götter als ehemalige Menschen verehren ließ, als Menschen aus einer milderen, fast mutterrechtlichen Zeit, aus einer Zeit, wo auch Zeus noch dem Ackerbau vorstand. Euemeros nun hat wesentlich nur mit dieser Ableitung der Götter aus guten Königen nachgewirkt, nicht mit seinem Staatstraum; doch der Hellenismus brachte noch einen anderen Staatstraum hervor, worin nur Lust und Überfluß selber waren. Unbeschwert von heiligen Inschriften, aber auf verstärkte Weise mit der guten Natur versehen, mit der außer dem Menschen, der auch Euemeros vertraut hatte. Es ist die »Sonneninsel« des Jambulos, ein kommunistisches und kollektives Fest; darum volkstümlich durchaus und doch in seinem politischen Festcharakter neu. Hier mögen auch mehr als volkstümliche, nämlich aufständische Wünsche mitgewirkt haben. Jambulos zeigt keine Spielerei, das erhaltene Bruchstück seiner Schrift ist zugleich kräftig, feierlich und fröhlich. Kehrt Sklaven wie Herren aus, setzt gemeinsame Arbeit und Freude, ist in beidem konsequent. Deshalb blieb dieser Staatsroman auch Jahrhunderte hindurch erinnert, er wurde fast neben den Platons gestellt. Die Fragmente waren der Renaissance wohlbekannt, auch in italienischen und französischen Übersetzungen verbreitet. Einfluß auf Thomas Morus und seine »Utopia« ist wahrscheinlich; Campanellas »Civitas solis« berührt sich mit Jambulos nicht nur im Titel, auch in der kollektiven Gesinnung. Der Kollektivismus bei Jambulos ist ausgeführter und ökonomisch durchdachter als der bei Euemeros. Fabelhafter Naturmythos, nämlich tausendfältige Fruchtbarkeit, fehlt allerdings auch hier nicht. Es ist dies Tropische romanhaft durch die Lage der »Sonneninsel« bedingt, sachlich ist es ein Lückenbüßer für noch unentwickelte Produktivkräfte.
Freilich mag auch dionysischer und Helioskult, aus anderer als der vaterrechtlichen oder Herrenzeit, auf hellenistische Utopie eingewirkt haben. Solche Kulte lebten noch ums östliche Mittelmeer, und /(569) zwar als dionysisch befreiende, als Aufhebung aller Standesunterschiede in Rausch und Fest. Jambulos verlegt seinen Staatsroman auf sieben Äquatorinseln: das Glück aller ist dort durch die völlige Eigentumslosigkeit begründet. Durch Wechsel der Arbeit in regelmäßigem Turnus, durch Beseitigung der Arbeitsteilung, durch überlegte Erziehung zu Einverständnis und Eintracht. Sklaverei ist ebenso abgeschafft wie jede Art von Kaste und Platonischer Kastenutopie; gleiche Arbeitspflicht gilt für alle, eine in der Antike, auch in der ihr nachfolgenden Feudalgesellschaft ganz unerhörte, rückwärts wie vorwärts vereinsamte Forderung. Daß hierbei selbst für Haus, Hof, Familie keine abgesonderten Wirtschaftsformen übrigbleiben, vollendet das Kollektivbild dieser Utopie, der letzten und radikalsten, zu der es die Antike gebracht. Was das Fest noch an Verbindendem enthielt, sollte auch die Arbeitspflicht beseelen und fröhlich machen; die tropische Natur half mit, fügte dem Turnus der Arbeit Überfluß und Mühelosigkeit hinzu. Die sieben Äquatorinseln wirken darum durchaus, als lägen sie im Land des kürzesten Schattens, im Weinland ohne Mein und Dein, wo noch eine dionysische Sonne scheint, eine verschmelzende. Helios leuchtet hier gleichmäßig über Gerechte und Ungerechte, beseitigt die Gerechtigkeit des Suum cuique, als wäre er wirklich ein Wohltäter aus dem Goldenen Zeitalter, ja es selbst. Stoa und internationaler Weltstaat Die bisher gesehenen Träume waren in Einem noch bescheiden, gewissermaßen. Sie siedelten sich auf einer Insel an oder in einer Stadt, gingen darüber nicht hinaus. Die Insel war zwar die vorbildliche schlechthin, sie machte aufreizend sichtbar, wie ein Gemeinwesen sein sollte, ja fast: sein könnte. Doch hielt sich das Vorbild in kleinen Verhältnissen, es verlor in sich den griechischen Stadtstaat nicht. Das änderte sich mit den stoischen Staatsentwürfen, sie haben größere Räume für sich, zuletzt sogar römische. Das allerdings auf Kosten des ausgeführten, sicher des radikalen Inhalts, auch des Feuers, das von einer Person auszugehen pflegt, nicht von einer Schule. Die Stoa ist ein langes und weitschichtiges Schrifttum, sie war zwar wirksamer als Platon /(570) und Aristoteles zusammen, hat aber zum Unterschied von deren Schulen keinen Stern ersten Ranges in der Mitte (wie der weitschichtige Neuplatonismus in Plotin). Dazu kommt die dreifache, wenn auch zusammenhängende Erscheinung der Schule: die griechische mit Zenon und Chrysippos, die hellenistische mit Panaitios und Poseidonios, die römische mit Epiktet und Seneca. Trotz dieser Weitschichtigkeit zeigt aber die Stoa als geschichtliche Erscheinung etwas von dem Konzentrierten und Unerschütterlichen, das sie in ihrer Lehre dem Weisen zuteilte. So überdauert sie das Alexandrinertum, diesen merkwürdigen Wintergarten Griechenlands, wird im antiquarischen Treibhaus keinesfalls verzwickt und weichlich. Wird in der ungeheuren Verarbeitung des Wissenstoffs, worin die Stoa mit Alexandrien wetteiferte, auch vielfach einig ging, keineswegs selber leblos, gelehrtenhaft, parteilos. Behält Männlichkeit, Bezug zur Praxis, bei aller Abstraktion, erlangt Zeit- wie Zukunftsnähe, ist reif für Rom, selbst noch für den christlichen Bruch mit Rom. Die Stoa zieht besonders in ihren Sozialträumen Konsequenz aus geschichtlichen Wendungen, sie ideologisiert und utopisiert zugleich deren Tendenz. So eben im Bild, das Zenon um 300 v.Chr. entworfen hat, im Bild des idealen Weltstaats, des Staats aus Humanität (dieser
Begriff wurde erst von Panaitios in der Gesellschaft des jüngeren Scipio gebildet). Der Idealstaat sollte so groß wie so gut sein, daß sich neben ihm überhaupt nichts anderes sehen lassen konnte; er steckte als erste Utopie die Fahne der Universalrepublik, später der Universalmonarchie aus. Platons utopische Polis wollte zeitlos seiend sein wie die Idee des Guten; das Alexanderreich, das römische Weltreich fügten utopische Breite hinzu. Der Auszug aus kleinen Verhältnissen begann bereits in Zenons Sozialutopie; als Untergang und Übergang der griechischen Polis, auch der utopisierten, zum Alexanderreich, dem übernationalen. Plutarchs Rede de fortuna Alexandri bringt noch in spätem Rückblick, mit der üblichen kausalen Umkehrung von Wirklichkeit und Reflex, Alexandergeschichte mit Erinnerungen aus Zenons »Politeia« zusammen. Alexander erscheint hier als Vollzieher des stoischen Idealstaats, er wird dargestellt, wie er »in einem festlichen Mischkrug« Leben, Gesinnung, Ehe, Lebensweise der Völker zusammenbringt. Wie er sie lehrt, die /(571) Guten überall für Verwandte, die Schlechten überall für Fremde, die Ökumene für ihr Vaterland zu halten. Das Alexanderreich zerfiel sehr rasch wieder in Einzelstaaten, doch nach den Punischen Kriegen stieg Rom auf, und sein Imperialismus führte einen noch viel gewaltigeren Mischkrug mit sich. Auch für Rom: wie die griechische Nation im Alexanderreich unterging, so die lateinische in Cäsars Mittelmeermonarchie. Das Schicksal selber, die der Stoa so wichtige und noch als Ordnung erscheinende Tyche, schien die römische Vergrößerung zu enthalten. Der der Stoa nicht fernstehende Historiker Polybios datiert so vom Zweiten Punischen Krieg an eine ganz andere Weltlage: bisher waren die Ereignisse verzettelt, nun hängen sie gleichsam körperlich zusammen, mit groß gelingendem Zug. Die Tyche läßt bei Polybios die Weltläufte konvergieren, schafft für alle ein raum-zeitliches Gesamtschicksal: Rom. Pax romana und stoischer Universalstaat ergänzten sich am Ende derart, daß kaum recht unterscheidbar, wo gefügiger oder aber patriotischer Kompromiß der stoischen Literaten dann anfängt, wenn ihre kosmopolitische Utopie schließlich wie das Römische Reich selbst aussieht (»unter Absehung seiner menschlichen Schwächen«,wie Cicero sagt). Es ist gewiß nicht die erdrückende Militärmacht, wohl aber das Universale, die Ökumene, welche Rom der Stoa verführerisch machte. Wobei eine zwar rigorose, doch spitzfindige und keineswegs rebellische Schule es durchaus ertrug, wenn diese Verführung ihr nützlich war; wenn Utopie des Bruderbunds späterhin, in wieviel rhetorischen Darbietungen, zur Lobrednerei des römischen Imperiums überging. Zenon hatte bereits den Weltstaat prophezeit; dies in betontem Gegensatz zur Enge der Platonischen Polis, auch zu ihrer Kasten-Enge. Und wenn Zenon die Individuen sogar mit dem Universum verknüpft hatte unter Überspringung von Völkern, so erst recht bereits unter Überspringung von Grenzen. Er ging von einzelnen, innerlichen, sittlich frei gewordenen Menschen aus. Ihnen sollte ein Verband werden, ein riesiger, darin wurden die weniger Weisen durch Vorbild erzogen. Zenon duldet in seiner »Politeia« keine Münze, keine Macht über Menschen, nicht Gerichte, nicht einmal Ringerschulen. Chrysippos nannte alle bestehenden Gesetze und Verfassungen falsch, vor /(572) allem wegen der Macht, die sie enthalten, mit der sie sich erhalten. Ein Dasein ohne gesetztes Recht, ohne Krieg, wiederum das Goldene Zeitalter wird erträumt, und Freundschaft, wie in kleinen Kreisen, so in groß verbundenen, bürgt für ungestörten Zusammenhang. Vom Besonderen dieser Utopie, auch von den phantastischen Teilen, zeigen die erhaltenen Fragmente nur ein blasses Bild. Doch ist wegen der Innerlichkeit, von der sie ausgeht, wegen der Gleichgültigkeit, wegen der gespielten und echten Verachtung der Stoa gegen die äußeren Umstände wahrscheinlich, daß die Utopie
mindestens ökonomisch unausgeführt blieb. Und was das Politische angeht, die »beste Verfassung«, so wurde die Stoa, trotz Chrysippos, bald eklektisch. Sie predigte Mischungen von Demokratie und Aristokratie, hierin einem Nicht-Utopisten wie Aristoteles folgend. Sie verstand sich sogar auf Monarchen, ja, sie pries zuletzt die einheitliche Spitze des idealen Einheitsstaats. So daß ein der Stoa ergebener Diadochenkönig, Antigonos Gonatas, das Königtum zum erstenmal als »ruhmreichen Knechtsdienst «(am Volk) bezeichnete; der Kaiser Marc Aurel leitete erst rechtHerrschermoral aus stoischem Staatsideal ab. So weit taucht hier eine Sozialutopie in Gegebenes ein; die als sittlich angegebene Ökumene bricht noch nicht - wie später, unter Augustin, die religiöse - mit dem Cäsar. Doch liegt die Bedeutung der stoischen Utopie ohnehin nicht in ihren Einrichtungen, auch nicht in dem konsequenten Kommunismus, den sie deklamiert. Die Bedeutung liegt im Programm des Weltbürgertums, das bedeutet hier: der Einheit des Menschengeschlechts. Unten bleibt das Individuum ihr Träger; der »obere Staat« beginnt als Aussonderung Einzelner zu sittlicher Bildung und gewaltfreier Gemeinsamkeit. Aber keineswegs endet er damit; es ist einseitig und übertrieben, wenn Wilamowitz einmal sagt, das Idealgebilde Platons sei eine Gemeinschaft, das Zenons ein Individuum. Bereits in dem Idealbild des Weisen überwiegen die nicht-persönlichen, die typischen Züge einer allgemeinen vernünftigen Lebensregel. Und auch im stoischen Staat herrscht viel mehr Pathos der Gemeinsamkeit, gemäß dem allgemeinen Vernunftgesetz, das ihn zu durchdringen hat, als Pflege der Inwendigkeit, von der die Stoa ausging. Die Gemeinsamkeit ist nicht einmal auf die menschliche beschränkt, die menschliche wird /(573) vielmehr durch die kosmische fundiert, deren einen Teil sie bildet. Den wichtigsten Teil; denn die Erde ist, nach dem Bild des Stoikers Kleanthes, »der gemeinsame Herd der Welt«, und über diesem Herd waltet, Menschen und Götter verbindend, planvolle Vernunft. Sie gibt allen Menschen ihr einheitliches Lebensgesetz, fordert die Internationale aller vernünftigen Wesen, ordnet ein in den Kosmos als »oberstes Gemeinwesen«, als »Stadt des Zeus«, von der die einzelnen Staaten die einzelnen Häuser bilden sollen. Die kosmische Vernunft »am gemeinsamen Herd der Welt« zeigt in der Stoa sogar mutterrechtliche Züge; sie waren bereits am Ackerbau-Zeus des Euemeros sichtbar geworden, die stoische Utopie hat sie insgesamt gesteigert. Bona Dea und Zeus, Kosmos als Stadt des Zeus und als Mutterhaus, Weltvernunft und vertrauenswürdigste, alles schlichtende Naturmutter tauschen hier oft die Gesichter. Verstärkt wird dadurch der Halt des Goldenen Zeitalters im Universum selbst, im synkretistisch gefaßten Zeus, gütig wie eine Demeter des Himmels. Das Dasein ohne Geld, Gericht, Krieg, Macht, welches Zenon erträumt hatte, bekommt in dieser «welthaften Megalopolis« den kosmisch geglaubten Halt, der ihm ökonomisch-politisch nicht gegeben worden war. Der Kosmos im Staat ebnet nun alle Rangunterschiede, auch den der Geschlechter, ein: Mann und Weib, Grieche und Barbar, Freier und Sklave, sämtliche Unterschiede aus Beschränktheit verschwinden im geistig wie quantitativ Unbeschränkten. Auch Blut und Familie, die Bindungen aus der Agrar- und Poliszeit, halten die neuen Menschen nicht zusammen, vielmehr Gleichheit der sittlichen Neigungen, sie bestimmt die Bünde in Megalopolis. Die Schwierigkeiten werden gleichsam durch das Gesetz der großen Zahl gelöst, mehr: durch die Ausdehnung, welche kosmomorph macht, durch die Weltharmonie. Das ist «das große Systema, die Götter und das Göttliche im Menschen vereinigend«, nach dem Ausdruck des Poseidonios; ein Pantheon auf Erden, am gemeinsamen Herd der Welt. Das ist der neue Naturstaat, jener, worin Physis gegen die Satzung (Thesis) steht, aber mit dem rechten Gesetz (Nomos)
zusammenfällt. Eine weittragende Gleichung; sie hat weniger auf die späteren Sozialutopien, aber entscheidend aufs Naturrecht eingewirkt. Praktisch einzeln allerdings haben sich die /(574) Stoiker für diesen Freimaurerstaat beinahe nicht mehr eingesetzt, als seine formale Innerlichkeit samt dem kolossalen Kosmos erwarten ließ. So blieb der Brudersinn ökonomisch unausgeführt, die gepredigte Erhabenheit über äußere Verhältnisse ließ diese neben der Utopie unangefochten bestehen. Auch Stoiker außerhalb der Oberschicht, etwa der Sklave Epiktet, waren von sozialrevolutionären Umtrieben so weit entfernt wie ihre Innerlichkeit oder selbst ihre Weltvernunft von der leidenden Erde. Also mochte auch dieserseits ein Kompromiß mit Rom leichtfallen, abgesehen von der Dankbarkeit, wovon Propheten bewegt sind, wenn ihre Prophezeiung (hier die vom Weltstaat) halbwegs erfüllt scheint. Hinzu kommt der betont antiquarische Sinn, den das Goldene Zeitalter und die Gleichsetzung des Wunschstaats mit ihm allmählich angenommen hatten. Denn das Goldene Zeitalter galt der Stoa als unwiederbringlich verloren, erst ein neuer Weltlauf könnte es wieder in Gang setzen, und dieser neue Lauf setzt nichts Geringeres voraus, als daß Zeus die gesamte Welt durch Weltbrand wieder in sich zurücknimmt. Ja selbst dann, nach dieser etwas zu gewaltigen, auch von Menschen unabhängigen Umwälzung, wird sich das - in der neuen Welt wiedergebrachte Goldene Zeitalter nicht halten: unbekannt übrigens, warum, in der Lehre eines universalen Optimismus, wie die Stoa ihn vertritt. Gerade ihm wieder, als dem betonten Frieden mit der statisch gefeierten Weltvollkommenheit, als der pantheistischen Einwohnung ins gutgeheißene Fatum, liegt das Verändern schlecht, es sei denn, als ein Milderndes oder Reformierendes (hier sind Einflüsse auf Sklavenwirtschaft, Eheleben, sogar Staatsführung erkennbar). Wenn die Krankheiten in der stoischen Medizin wie eine Art Purgiermittel dreinsehen, womit vernünftige Natur sich gleichsam selber heilt, so finden Gesetz und Recht zwar keinen solchen Pardon, aber sie werden auch nicht annähernd so bekriegt wie in anderen Utopien. Es wird ihnen das Ganze vorgehalten, ein waltendes Muster, damit die Teile sich danach halten und gehalten werden. Auch die Utopie der Stoa ist nicht auf das Sprengende, sondern auf das Vollendete gerichtet, auf immer besseren Einklang mit der vorhandenen Gottnatur Welt. Prätendierte Weltvollkommenheit verhindert derart die intendierte Weltveränderung ebenso, wie sie sie leiten /(575) will; das macht die Stoa auch als Utopie merkwürdig reformistisch und konformistisch zugleich. Einige Ausnahmen liegen vor: Lehrer des spartanischen Königs Kleomenes, der eine Art sozialistische Wirtschaft befahl, war der Stoiker Sphairos, ein Schüler Zenons; und er soll mit Zenons «Politeia« den König beeinflußt haben. Lehrer des Tribunen Tiberius Gracchus war der Stoiker Blossius, und das Ergebnis: Forderung der Landaufteilung, Kampf gegen die patrizische Oberklasse, war immerhin ein anderes als bei Marc Aurel, der den Zustand des Römischen Reichs bekanntlich nicht erschüttert hat. Begeisternd wirkte vor allem der stoische Utopiebegriff Ökumene, er überleuchtete die bloße, von späteren Stoikern unternommene Ideologisierung des Römischen Reichs, er wirkte auch außerhalb der Stoa. So im Judentum, alte prophetische Universalismen wieder berührend, die der jüdisch-nationale Kirchenstaat, nach der Rückkehr aus Babylon, verschüttet hatte. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß das Weltbürgertum, das Paulus im Gegensatz zu Petrus vertrat, durch stoische Einflüsse erzeugt, mindestens verstärkt worden ist. Sein Zitat aus Kleanthes oder Aratus, in der Rede an die Athener (Apostelgesch. 17, 28), beweist, daß Paulus stoische Schriften gelesen hat; und das Zitat bezieht sich auf die Einheit des Menschengeschlechts in der Weltvernunft Zeus. Aber das Sprengende war im Urchristentum, zum Teil sogar bei Paulus,
erheblich deutlicher als das reformatorisch Vollendete, das zur Stoa gehört, selbst wo sie christianisiert. Hier endet die Ähnlichkeit der Stoiker, als der antiken Freimaurer, mit dem frühen Christentum, auf die Paulus angespielt hatte; die stoische Utopie meint Verklärung durch Übereinstimmung mit der Natur, die christliche durch deren Kritik und Krisis. Bibel und Reich der Nächstenliebe Was erzählt denn die Schrift, sogleich nachdem sie geschichtlich wird? Sie erzählt von den Leiden eines versklavten Volkes, es muß Ziegel schleppen, auf dem Feld fronen, «und wurde ihnen ihr Leben sauer«. Moses tritt auf, erschlägt einen Fronvogt, es ist die erste Handlung des nachmaligen Stifters, er muß außer Landes. Der Gott, den er in der Fremde imaginiert, ist bereits /(576) von Haus aus kein Herrengott, sondern einer freier Beduinen, im Sinaigebiet des kenitischen Nomadenstamms, in den Moses eingeheiratet hatte. Jahwe beginnt als Drohung an den Pharao, der Vulkangott des Sinai wird bei Moses zum Gott der Befreiung, des Auszugs aus der Knechtschaft. Exodus dieser Art gibt der Bibel von hier an einen Grundklang, den sie nie verloren hat. Und es gibt kein Buch, worin die Erinnerung an nomadische, also halb noch urkommunistische Einrichtungen so stark erhalten bleibt wie in der Bibel. Gemeinschaft ohne Arbeitsteilung und Privateigentum erscheinen lange noch als gottgewollt, auch als in Kanaan Privateigentum entstanden war und die Propheten es, in bescheidenem Maß, anerkannten. Jeremias nannte die Wüstenzeit die Brautzeit Israels (nach dem Vorgang des älteren Hoseas), und das nicht nur wegen der größeren Nähe Jahwes, auch wegen der ökonomischen Unschuld. Im Gelobten Land allerdings, nachdem man festsaß, hörte das gemeinsame Leben rasch auf. Von den unterworfenen Kanaanitern, die längst auf der Agrar- und Stadtstufe standen, wurden Acker- und Weinbau übernommen, Handel und Gewerbe, Reich und Arm bildeten sich aus, in grellem Klassengegensatz, Schuldner wurden vom Gläubiger als Sklaven ins Ausland verkauft. Die beiden Bücher Könige sind sowohl von Hungersnot wie von dem Reichtumsglanz erfüllt, der sie produziert hat. Einerseits: »Es war eine große Teuerung zu Samaria« (1. Kön. 18, 2), andererseits: «Der König Salomo machte, daß so viel Silber in Jerusalem war wie Steine« (1. Kön. 10, 27). Mitten in dieser Ausbeutung und gegen sie donnernd traten die Propheten auf, entwarfen das Gericht, im gleichen Zug die ältesten Grundrisse von Sozialutopie. Und dieses wodurch die Kontinuität mit der halbkommunistischen Beduinenzeit erweisbar ist - in Verbindung mit halbnomadischen, den Beduinen noch nahestehenden Opponenten, mit ungefügen und abgesonderten Gestalten, den sogenannten Nasiräern. Es bestand auch Verbindung mit den Rehabiten, einem Stamm im Süden, der der Üppigkeit und Geldwirtschaft Kanaans ferngeblieben war, dem alten Wüstengott Treue hielt. Die Nasiräer selbst trugen auch äußerlich Wüstenhabit, härenen Mantel, ungeschorenes Haar, enthielten sich des Weins; ihr Jahwe, dem Privateigentum noch fremd, wurde ihnen zum /(577) Gott der Armen. Simson, Samuel, Elias waren Nasiräer (1. Sam.1, 11; 2. Kön. 1,8), aber genauso Johannes der Täufer (Luk. 1, 15): sämtlich Feinde des Goldenen Kalbs, auch der üppigen, vom kanaanitischen Baal herstammenden Herrenkirche. Vom halben Urkommunismus der nasiräischen Erinnerung bis zur Prophetenpredigt gegen Reichtum und Tyrannei, bis zum frühchristlichen Liebeskommunismus geht so eine einzige, an Biegungen reiche, doch erkennbar einheitliche Linie. Sie hängt im Untergrund fast lückenlos zusammen, und die berühmten prophetischen Ausmalungen vom sozialen
Friedensreich der Zukunft nehmen ihre Farbe von einem Goldenen Zeitalter, das hier nicht nur Legende war. Ebenso ist ihre Kritik des »Abfalls« von Jahwe am Nasiräertum orientiert: denn Abfall ist Hinwendung von dem gleichsam vorkapitalistischen Jahwe zu Baal, auch zu jenem Herren Jahwe, welcher Baal um den Preis besiegt hat, daß er selbst zum Luxusgott geworden ist. Sinngemäß trat das Prophetentum in Zeiten großer innerer und äußerer Spannung auf, als Mahnung zur Umkehr. Amos, der von sich selber sagt, er sei ein armer Kuhhirte, der Maulbeeren abliest, ist unter den Propheten der älteste (um 750 v. Chr.), vielleicht der größte: und sein Jahwe setzt den roten Hahn. »Ich will ein Feuer in Juda schicken, das soll die Paläste in Jerusalem verzehren ... Darum, daß die Gerechten um Geld und die Armen um ein Paar Schuhe verkauft werden. Sie treten den Kopf der Armen in Kot und hindern den Weg der Elenden« (Amos 2, 5-7 ).Und weiter, die Herrenkirche vernichtend: «Ich bin euren Feiertagen gram und mag nicht riechen in eure Versammlung ... Es soll aber das Recht offenbart werden wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom« (Amos 5, 2 und 25). Es ist das der gleiche Geist, aus dem Joachim di Fiore, der große Chiliast des Hochmittelalters, nachher sagt: «Man schmückt die Altäre, und der Arme leidet bitteren Hunger.« Zum Religionsgespräch mit Expropriateuren ist dieser Gott ungemein schlechtgelaunt, seine Kollegen sind weder Baal noch Merkur. »Er wartet auf Recht«, ruft Jesajas, «siehe, so ist es Schinderei, auf Gerechtigkeit, siehe, so ist es Klage. Wehe denen, die ein Haus an das andere ziehen und einen Acker zum anderen bringen, bis daß kein Raum mehr da sei, daß sie allein das Land besitzen« (Jes. 5, 7). Jahwe ist derart aufgerufen als /(578) Feind der Bauernleger und der Kapitalsakkumulation, als Rächer und Volkstribun: «Ich will den Erdboden heimsuchen um seiner Bosheit willen und die Ungerechten um ihrer Laster willen; und will dem Hochmut der Stolzen ein Ende machen und die Hoffart der Gewaltigen demütigen, damit ein Mann teurer werden soll als feines Gold und ein Mensch werter als Goldstücke aus Ophir (Jes. 13, 11 f.). Deuterojesajas aber, der große Unbekannte, fügt hinzu: »Es gibt ein geraubtes und geplündertes Volk, sie sind verstrickt in Höhlen und versteckt in den Kerkern; sie sind zum Raub geworden und ist kein Erretter da; geplündert und ist niemand, der sage: Gib sie wieder her« (Jes. 42, 44). Bis zur glücklich-reichen Zeit für alle, als sozialistischer Reichtum wird sie charakterisiert: »Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser; und die ihr nicht Geld habt, kauft und esset; kommt her und kauft ohne Geld und umsonst, beides, Wein und Milch« (Jes. 55, 1). Der Tag ist gewiß, wo der Geist der Befreiung wieder lebendig wird, Jahwe als Exodusgott. Auf ihn geht die berühmte Utopie, die bei Jesajas und dem wenig jüngeren Micha fast gleichlautend sich findet, vielleicht sogar einem noch älteren Propheten entnommen ist: »Von Zion wird das Gesetz ausgehen, und des Herren Wort von Jerusalem. Und er wird richten zwischen vielen Völkern, schiedsrichten bis in die Ferne, daß sie schmieden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert aufheben und werden fortan nicht mehr Krieg führen. Dann wohnt jeder unter seinem Weinstock und Feigenbaum, und niemand schreckt« (Jes. 2, 4; Micha 4, 3 f.). Hier ist das Urmodell der pazifizierten Internationale, die den Kern der Stoa-Utopie ausmacht: mit realem Einfluß lag die Jesajas-Stelle sämtlichen christlichen Utopien zugrunde. Es ist zwar eine Frage, ob der Zukunfts-, folglich Zeitbegriff der altisraelitischen Propheten (und im weiteren Zusammenhang des alten Orients) sich mit dem seit Augustin ausgebildeten deckt. Die Zeiterfahrung hat sicher viele Wandlungen durchgemacht, das Futurum vor allem hat sich erst in neuerer Zeit um das Novum vermehrt und sich mit ihm geladen. Doch der Inhalt der biblisch intendierten Zukunft
ist allen Sozialutopien verständlich geblieben: Israel wurde zu Armut schlechthin, Zion zu Utopia. Die Not macht mes- /(579) sianisch: »Du Elende, über die alle Wetter gehen, und du Trostlose siehe, ich will deine Steine wie einen Schmuck legen und einen Grund mit Saphiren... Du sollst durch Gerechtigkeit bereitet werden, wirst ferne sein von Gewalt und Unrecht, daß du dich davor nicht darfst fürchten, und vom Schrecken, denn er soll nicht zu dir nahen« (Jes. 54, ii und 14). Eine Aura dieses Lichts in der Nacht liegt immer wieder, bis Weitling, über den Sozialutopien. Der Römer kam ins Gelobte Land, das immer weniger eines geworden war. Die Reichen vertrugen sich nicht schlecht mit der fremden Besatzung, sie schützte vor verzweifelten Bauern und patriotischen Kämpfern. Sie schützte vor Propheten, die man jetzt ganz unbeschwert Aufwiegler nennen konnte. Der Nasiräer Johannes der Täufer predigte zu dieser Zeit unter niederstem Volk und verhieß das Ende seines Elends. »Schon ist die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt, welcher Baum nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen« (Matth. 3, 10). Raum für Frohbotschaft war damals übergenug, für sozialrevolutionäre, nationalrevolutionäre, die Wende schien nah. »Der nach mir kommt«, sagte Johannes, »hat die Wurfschaufel in seiner Hand, er wird die Tenne fegen und den Weizen in seiner Scheune sammeln, aber die Spreu wird er verbrennen mit ewigem Feuer« (Matth. 3, 12). Und Jesus selbst kam durchaus nicht so inwendig und jenseitig, wie eine der herrschenden Klasse stets gelegene Umdeutung seit Paulus das wahrhaben will. Seine Botschaft an die Mühseligen und Beladenen war nicht das Kreuz, dieses hatten sie ohnehin, und den Kreuzestod erfuhr Jesus in dem furchtbaren Ausruf: «Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« als Katastrophe und nicht paulinisch. Das große Logion in Matth. 11, 25-30 ist Diesseits, nicht Jenseits, ist Regierungserlaß des Messiaskönigs, der dem Leid in jeder Gestalt ein Ende setzt und auf der Erde ein Ende setzt, als einer, dem alle Dinge zur Wende übergeben sind: » Mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.« Jesus hat nie gesagt: «Das Reich Gottes ist inwendig in euch«; der folgenreiche Satz (Luk. 17,21) lautet wörtlich vielmehr: »Das Reich Gottes ist unter euch«; und er war zu den Pharisäern gesagt, nicht zu den Jüngern. Er bedeutet: das Reich ist bereits unter euch Pharisäern lebend, als auserwählte Gemeinde, /(580) in diesen Jüngern; der Sinn ist folglich ein sozialer, kein inwendig unsichtbarer. Jesus hat nie gesagt: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt«, diese Stelle ist von Johannes interpoliert (Joh. 18, 36), sie sollte den Christen vor einem römischen Gericht von Nutzen sein. Jesus selbst hat nicht versucht, sich vor Pilatus mit feigem Jenseits-Pathos ein Alibi zu geben. Das hätte dem bekundeten Mut und der Würde des christlichen Stifters widersprochen, es widerspricht vor allem dem Sinn, welchen die Worte »diese Welt«, »jene Welt« zu Jesu Zeiten besessen haben. Der Sinn ist zeithaft und entstammt den astral-religiösen Spekulationen des alten Orients, das ist der Lehre von den Weltperioden. »Diese Welt« ist gleichbedeutend mit der jetzt bestehenden, mit dem «gegenwärtigen Äon«, dagegen «jene Welt« mit dem «künftigen Äon« (so Matth. 12,32; 24,3). Gemeint ist folglich, mit dem Gegensatz dieser Begriffe, keine geographische Trennung von Diesseits und Jenseits, sondern eine zeitlich-nachfolgende auf dem gleichen, hier befindlichen Schauplatz. »Jene Welt« ist die utopische Erde, mit utopischem Himmel über ihr; in Übereinstimmung mit Jes. 6, 17: »Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen; daß man der vorigen nicht mehr gedenken wird noch zu Herzen nehmen.« Erstrebt ist kein Jenseits nach dem Tod, wo die Engel singen, sondern das ebenso irdische wie über-irdische Liebesreich, wozu die Urgemeinde bereits eine Enklave darstellen sollte. Das Reich von jener Welt wurde erst nach der Kreuzeskatastrophe als
jenseitig interpretiert, vor allem, nachdem die Pilatus, gar die Nero selber Christen geworden waren; denn es lag der herrschenden Klasse alles daran, den Liebeskommunismus so spirituell wie möglich zu entspannen. Das Reich dieser Welt war für Jesus das Reich des Teufels (Joh. 8, 44), ebendeshalb bekundete er nirgends, es bestehen zu lassen, er schloß mit ihm keinen Nichteinmischungspakt. Die Waffe wird abgelehnt, - auch das nicht immer: «Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert« (Matth. 10, 34) - doch die Ablehnung der Waffe, in der Bergpredigt, setzt bei jeder Seligpreisung (Matth. 5, 3-10) das Himmelreich bedeutsamerweise ans sofortige Ende. Die Waffe also wird abgelehnt, weil sie für den Apokalyptiker Jesus überflüssig, weil sie bereits veraltet ist. Er erwartet eine Umwälzung, die /(581) ohnehin keinen Stein auf dem anderen läßt, und erwartet sie im nächsten Augenblick, von der Natur, von der Überwaffe einer kosmischen Katastrophe. Die eschatologische Predigt hat vor der moralischen bei Jesus den Primat und bestimmt sie. Nicht nur die Wechsler werden, wie Jesus tat, aus dem Tempel mit der Peitsche herausgetrieben, sondern der ganze Staat und Tempel fällt, gründlich, durch Katastrophe, in kurzem. Das große eschatologische Kapitel (Marc.13) ist eines der bestbezeugten im Neuen Testament; ohne diese Utopie kann die Bergpredigt gar nicht verstanden werden. Wird die alte Veste so bald und so gründlich geschleift, dann erscheinen dem Jesus, der den «gegenwärtigen Äon« ohnehin als beendet ansah und an die unmittelbar bevorstehende kosmische Katastrophe glaubte, auch ökonomische Fragen sinnlos; daher ist der Satz von den Lilien auf dem Feld viel weniger naiv, mindestens auf ganz anderer Ebene befremdlich und disparat, als er erscheint. Und die Weisung: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist« wurde von Jesus aus Verachtung gegen den Staat und im Blick auf seinen baldigen Untergang gesagt, nicht, wie bei Paulus, als Kompromiß. Naturkatastrophe ist zwar revolutionärer Ersatz, doch ein äußerst umfangreicher, er entspannt zwar, wie noch in dem Bericht des alten Dieners in «Kabale und Liebe« (2. Akt, 2. Szene), in diesem Rekurs aufs Jüngste Gericht, jede reale Revolte, doch er machte deshalb noch keinen Burgfrieden mit der vorhandenen Welt, kein Vergessen des »künftigen Äon«. Die Katastrophe des Reichs von dieser Welt wird bei Jesus sogar grausam vollzogen, beim Jüngsten Gericht ist von Feindesliebe wenig mehr die Rede. Vereidigt war die neue Mannschaft einzig auf Jesus; durch ihn, in ihm, zu ihm ist die neue Sozialgemeinde, die aus dem bisherigen Äon herausgelöste. «Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben« (Job. 15,5), hatte der Stifter statuiert; so löste sich Jesus im gleichen Maß, wie er sie umfaßte, in die Gemeinde auf. »Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Matth. 25, 40): dieser Satz fundiert die urchristlich gemeinte Sozialutopie in ihrem Liebeskommunismus und in der Internationale dessen, was Menschengesicht trägt, gar armes. Der Satz gibt, in folgenreicher Weise, auch das hinzu, was der Stoa völlig gefehlt hat: sozialen Auftrag von unten und mythisch- /(582) mächtige Person, die über ihn wacht. Auch wo der soziale Auftrag fast verschwunden war, wie bei Augustin, ist der Gegensatz gegen die Macht dieser bestehenden Welt und gegen ihren menschenfeindlichen Inhalt übermächtig geblieben; durch allen Kirchenbau und allen Kompromiß hindurch. Wie erst in den christlichen Revolutionen, mit dem erschlagenen ägyptischen Fronvogt, dem Exodus, dem Prophetendonner, der Austreibung der Wechsler und der Verheißung an die Mühseligen und Beladenen im Sinn. Die Bibel hat keine Sozialutopie ausgeführt, und sie erschöpft sich gewiß nicht in ihr oder hat darin ihren entscheidenden Wert; das zu glauben, wäre die Bibel falsch überschätzend und platt zugleich. Das Christentum ist nicht nur ein Schrei gegen die
Not, es ist ein Schrei gegen den Tod und die Leere und setzt in beide den Menschensohn ein. Aber enthält die Bibel auch keine ausgeführte Sozialutopie, so zeigt sie doch aufs heftigste, im Verneinenden wie Bejahenden, auf diesen Exodus und dieses Reich hin. Und wenn die Kundschafter vom Land berichten, wo Milch und Honig fließt, so fehlten weder die Krieger, die es erobern wollten, noch nachher, als das Land kein Kanaan war, die harten und brennenden Träumer, die es immer weiter suchten, in immer aufreizenderen Superlativ setzten, immer näher zu den Menschen führen wollten. Der großen Babel wurde kein Pardon gegeben: »Sie ist gefallen, ist gefallen, Babylon, die große, und werden sie beweinen und sie beklagen die Könige auf Erden... Und die Kaufleute auf Erden werden weinen und Leid tragen bei sich selbst, daß ihre Ware niemand mehr kaufen wird «(0ff. Joh. 18, 2 ff.). Das Reich aber gilt in der Bibel nirgends als getaufte Babel, nicht einmal - wie nachher das Tausendjährige Reich bei Augustin - als Kirche. Augustins Gottesstaat aus Wiedergeburt Die griechischen Träume nach vorwärts liefen fast alle gut diesseitig. Das Leben selbst, ohne fremden Zuschuß, sollte in ihnen verbessert werden, auf verständige, obzwar bunte Weise. Auch die fernen Inseln des heidnischen Wunschbilds lagen in einer noch zusammenhängenden Welt, mitsamt ihrem Glück. Dieses, mit seinen Einrichtungen, wurde ins bestehende Leben imma- /(583) nent eingesetzt, ihm als Vorbild vorgehalten. Aber dem Rom nun, das in Scherben ging, war nichts mehr als Vorbild immanenter Art hinstellbar. Ein gänzlich anderes, gänzlich Neues war ersehnt, zuletzt, im Wettbewerb der Rettungen, siegte - dies Neue politisch benutzend - das paulinische Christentum. Jesus hatte den Sprung verlangt, keineswegs zwar, wie ersichtlich wurde, aus dem Diesseits heraus ins Innerliche und Jenseitige, sondern frisch auf eine neue Erde. Um den Kern Jesus bildete sich der christlich-utopische Gemeinschaftswunsch aus, dergestalt freilich, daß er immer mehr ins Jenseits rückte, in innerlich transzendente Sammlung, auch Vertröstung. Statt des radikal zu erneuernden Diesseits erschien ein Institut des Jenseits: die Kirche; und sie bezog die christliche Sozialutopie auf sich selbst. Beziehungen zur stoischen Utopie traten hinzu, in Gestalt des »oberen Staats«, wie bereits Chrysippos ihn gelehrt hatte; seine Ökumene gab - außer dem Römischen Reich den Rahmen. Doch in der stoischen Utopie eben fehlte der Sprung ins Neue: die allgemeine Welt erschien als eine mit sich abgeschlossene. Unfähig, in der ganzen antiken Anlage auch ungewillt, neue Anlagen, Aufgaben, gar Durchbrüche aus sich herauszubilden. Dazu war ein Impuls des Exodus notwendig, der sich auf heidnischem Boden nicht fand. Erst der Impuls Jesus hob das Vollendete auf, setzte das Sprengende: der Vernunftstaat, in der Welt, mit Zeus, wurde der Gottesstaat, gegen die Welt, mit Christus. Augustins Utopie »De civitate Dei« (um 425) gab der neuen Erde als einem Jenseits auf Erden den kraftvollsten, den freilich auch Kirche bildenden utopischen Ausdruck. Die irdischen Wünsche können hier nur nebenher bedacht, nie erfüllt werden. Sie sind die schlechten, so haben sie sich bisher ausgetobt, vom rechten Leben abgetrieben. Ihr Ort ist der weltliche Staat, und der Wille, der diesen macht, ist böse. Also kann er nicht verbessert, er muß umgekehrt werden, der bisherige Wille wie der bisherige Staat. Zielpunkt der Umkehr ist Jesus, wobei Augustin zunächst noch die Not zugibt, die die Guten zwingt, mit den Bösen zusammenzuleben. Ihre beiden Staaten sind noch ineinander, und der heilig erwünschte muß das Übel des unheiligen vorerst hinnehmen. Wobei an diesem Punkt (hier überall ist Augustin
noch ein Schüler des Paulinischen Sozial- /(584) kompromisses) der Kirchenvater so weit geht, daß er selbst die Sklaverei billigt, die fast alle Stoiker verworfen hatten. Es sei geboten, sich zu bescheiden, es sei immer noch besser, einem fremden Herrn als den eigenen Lüsten zu dienen. Weiter schreibt Augustin der vorhandenen Obrigkeit das Recht zur Strafe zu, als einem - man weiß nicht woher - guten Hausvater; und das sogar im Zusammenhang mit sogenannter Heilsgeschichte. Denn der weltliche Staat ist der schlechte, aber nicht der schlechteste; unterhalb der civitas terrena rangiert noch der vollkommen teuflische Urstand, der anarchische. Demgemäß gibt es, wo nicht Heils-, so doch Heilungsgeschichte auch in den vorhandenen Erdstaaten; die erste Zuflucht bieten Haus und Familie; die zweite Geschlechtsverband und Stadtstaat (civitas als urbs), die dritte der internationale Völkerstaat (civitas als orbis). Ohne weiteres ist in diesem Völkerstaat das Römische Reich erkennbar, das gleiche, dem Augustin von der Utopie der civitas Dei her mit Verachtung gegenübersteht. Augustin hat, zum Unterschied von anderen Kirchenvätern, besonders Tertullian, keine Sehnsucht nach einem Goldenen Zeitalter des Anfangs, als welches ihm vor jeder Art civitas überhaupt liegt, daher nie anders denn als teuflisches Tierreich beschrieben wird. Wohl aber nahm der praktische Kirchenfürst - gegen jene Antithese von civitas terrena und civitas Dei, von der noch zu sprechen ist - das römische Imperium als Boden der kirchlichen Ökumene. Fast wie die spätere Stoa Rom auf ihren »oberen Staat« bezog; mit dem Unterschied allerdings, daß der »obere Staat« in Rom politisch machtlos war. Wogegen Augustin dem Imperium die Kirche überordnete und fast schon überordnen konnte, der fragwürdigen Heilungsanstalt die von Christus angeblich eingesetzte obere Heilanstalt. Damit ist die relative Anerkennung des irdischen Staats bei Augustin zu Ende; die Verhältnisse waren noch nicht zu weitergehender Ausgleichung geeignet. Die Verhältnisse zwischen Staat und Kirche waren noch so wenig gefestigt, daß Augustin als Vollzieher der christlichen Utopie dem praktischen Kirchenfürsten konträr entgegentritt. Die kluge, wenn auch angeekelte Bewunderung Roms weicht im weiteren Fortgang der civitas Dei dem völlig dualistischen Haß, die Nacht-Licht-, Ormuzd-Ahriman-Spannung aus Augustins manichäischer Ju- /(585) gendzeit rezipierend. Ist Jesus und nur Jesus der Zielpunkt der Umkehr, gibt es nur Heilsgeschichte und keine Heilungsgeschichte: dann sind die historischen Staaten, einschließlich Roms, ausschließlich Feinde Christi; sie selbst, nicht nur die Anarchie, aus der sie sich erheben, sind das Reich des Teufels. Das ist der entscheidende Gedanke in Augustins Werk ,jenseits seines Kompromisses, und er wird prozeßhaft dargestellt: Staatsutopie erscheint erstmalig als Geschichte, ja erzeugt sie, Geschichte entsteht als Heilsgeschichte zum Reich hin, als lückenlos-einheitlicher Vorgang, eingespannt zwischen Adam und Jesus, auf Grund der stoischen Einheit des Menschengeschlechts und des christlichen Heils, das ihm werden soll. Zwei Staaten also kämpfen seit je in der Menschheit unversöhnbar, die civitas terrena und die civitas Dei, die Gemeinschaft der gottfeindlichen Sünder und die der Erwählten (erwählt durch göttliche Gnade). Augustins Geschichtsphilosophie gibt sich als Archiv dieses Kampfes: die Selbstzersetzung der irdischen Staaten, der keimende Sieg des Christusreichs werden an heftigen Beispielen antithetisch verdeutlicht. Der erste Teil der Schrift »De civitate Dei« (Augustin selber nennt sie ein «magnum opus et strenuum«), in Buch 1-10, enthält eine Kritik des polytheistischen Heidentums an sich: die heidnischen Götter sind hier böse Geister, als solche beherrschen sie auf Erden bereits die Gemeinschaft der Verdammten. Der zweite Teil aber, von Buch 11-19, entwickelt den antithetischen Heilsprozeß der Historie, und zwar in Periodisierungen, die ihre Einschnitte wie den Blickhorizont auf die historischen
Inhalte überwiegend dem Alten Testament entnehmen. Die Menschheit erscheintvom Sündenfall bis zum Gericht - als einzige zusammengedrängte Person, so ist die historische Periodik nach Analogie der Lebensalter durchgeführt; es ist gläubige Geschichtsphilosophie der Bibel. Hiernach dauert die Stufe der Kindheit von Adam bis Noah, die Knabenzeit von Noah bis Abraham, die Jünglingszeit von Abraham bis David, das Mannesalter von David bis zur babylonischen Gefangenschaft; die beiden letzten Perioden reichen bis zur Geburt Christi und von da bis zum Jüngsten Gericht. Das bedeutet in bezug auf das Reich Gottes und seine Durchbruchsgeschichte: die civitas terrena (der Sündenstaat) ging in der Sintflut unter, /(586) die civitas Dei erhielt sich in Noah und seinen Söhnen, doch schon in deren Kindern erneuerte sich der Fluch des falschen Staats. Die Hebräer-Juden versammelten sich wiederum unter dem Baldachin, »ein Volk von Priestern, ein heiliges Volk sollt ihr mir sein«; während alle anderen Völker, am bittersten die Assyrer, dem Regiment des Bösen verfielen, dem Machtstaat, der des Teufels ist. Durch die ganze civitas Dei zieht so als Fazit ihrer Geschichtsphilosophie Kritik der Gewalt, Kritik des politischen Staats als eines Verbrechens. Prophetenzorn donnert wieder über Babylon und Assyrien, Ägypten, Athen und Rom (worin das Christentum doch »offizielle Staatsreligion» geworden war): »Die erste Stadt, der erste Staat sind von einem Brudermörder gegründet worden; ein Brudermord hat auch die Anfänge Roms befleckt, so befleckt, daß man sagen kann: es ist Gesetz, daß da, wo sich ein Staat erheben soll, vorher Blut geflossen sein muß» (De civ. Dei XV). Dasselbe besagt der berühmte Satz, ein Beispiel realistischer Staatskritik aus so wenig realistischer Utopie: »Was sind die irdischen Staaten, da die Gerechtigkeit aus ihnen sich zurückgezogen hat, anderes als große Räuberhöhlen? Remota igitur justitia quid sunt regna nisi magna latrocinia?» (De civ. Dei IV.) Gerechtigkeit freilich muß hier im Paulinischen Sinn verstanden werden; sie ist Rechtfertigung durch Ergebung in Gottes Heilswillen und Einklang mit ihm; justitia ist justificatio. Der politische Staat aber ist von nichts erfüllt als vom Streit um irdische Güter, vom innen- und außenpolitischen Hader, vom gottfernen Krieg der Macht; von der Essenz der Hoffart und des Sündenfalls ist er erfüllt. So wenig bleibt Augustin als heilverlangender Denker (»Deum et animam scire cupio nihil ne plus? nihil omnino», »Gott und die Seele verlange ich zu wissen; sonst nichts? sonst gar nichts«) dem vorhandenen Staat zugeneigt. So heftig arbeitet in ihm, von den manichäischen Überzeugungen seiner Jugend her, die Spannung zwischen Lichtgott und Nachtgott, zwischen Ormuzd und Ahriman, als politische. Der Gottesstaat ist eine Arche, oft auch nur eine immer wieder versteckte Katakombe; seine Offenbarung geschieht erst am Ende der bisherigen Geschichte. Weshalb sogar die Kirche mit der civitas Dei sich nicht ganz deckt, wenigstens seit die Kirche das Recht der Sündenvergebung auch auf Todsünde, auch auf /(588) Abtrünnige ausgedehnt hat (seit der Decianischen Christenverfolgung), mithin eine recht gemischte Gesellschaft umfaßt. Nur als Zahl der Erwählten, als das corpus verum ist die Kirche gänzlich Gottesstaat, dagegen die vorhandene Kirche, als das corpus permixtum aus Sündern und Erwählten, deckt sich mit dem Gottesstaat nicht, grenzt nur vorbereitend an ihn an. Die vorhandene Kirche deckt sich bei Augustin freilich mit dem Tausendjährigen Reich, als dem ersten Erwachen, der ersten Auferstehung vor der zweiten endgültigen (0ff. Joh. 30, 5 f.); dieses erste Erwachen wird durch die Gnadenmittel der Kirche eingeleitet und festgehalten. Damit ist der Chiliasmus entspannt, nicht jedoch wird civitas Dei an die vorhandene Kirche ausgeliefert; civitas Dei baut sich vielmehr von Abel an, in Fragmenten, für den Himmel auf, offenbart sich als vollendet erst mit Erscheinung des Reichs. Civitas Dei ist eine Gründung wie Platons ideale Polis, aber
konsequenter als diese ist sie in ihrer vollendeten Ordnungshaftigkeit nicht als von Menschen gegründet, sondern als in einem Ordnungsgott gegründet gedacht. Jede Ordnungs-Utopie reiner Art setzt, damit sie nicht ins Gegenteil ihrer Ordnung, nämlich ins bloße Angeordnete und nicht Geordnete von Zufall oder Schicksal, Tyche oder Moira fällt, eine Heilsökonomie voraus, die die Ordnung gründet und in der sie selbst gegründet ist. Dieses Fundament transzendent mitgeteilter oder eingeflößter Ordnung fand sich, ohne alle Beimischung von Zufall-Moira, nicht in Platons, auch nicht in der stoischen Polis- und Polisgott-Idee; es fand sich erst im christlichen Gottesbegriff. Nicht in und nicht hinter der bestehenden Welt, sondern nach ihr tritt die civitas Dei, als zeitlos-entronnene Polis höchster Gestalt, vollends in Erscheinung. Und es bleibt als utopisches Grundziel der Gesellschaft, dem nur die Kirche entgegenführen kann: Erwerbung des göttlichen Ebenbilds für den Menschen (De civ. Dei XXII). Das ist das radikal überzeitliche Richtungs- und Ordnungsprinzip des einzig besten Staats gegen die anderen, die Systeme der Sünde. Civitas Dei war ganz buchstäblich gedacht als ein Stück Himmel auf Erden, nach der Seite des Glücks wie vor allem nach der der Reinlichkeit, die die Menschen zwar nicht zu Engeln macht, aber zu Heiligen, also nach der katholischen Lehre zu mehr. Dem dunklen Pessimismus /(188) Augustins in Anschauung des weltlichen Staatslebens steht eine Art pfäffisch-brennender, doch raumschlagender, auch in der Folgezeit reich säkularisierbarer Optimismus der civitas Dei entgegen, gegründet auf das Dasein von Heiligen und ihr Wachstum in der Kirche. Das Abtun der Werke des alten Adam, das Anziehen Christi, kurz die Hoffnung auf geistliche Wiedergeburt immer zahlreicherer Menschen wurde so in Augustins Gottesstaat zum utopischen Politikum. Und doch ist es merkwürdig, diese Träume zielen nicht ohne weiteres auf Künftiges hin. Sie eilen voraus wie nur irgendwo, aber die Zukunft kleidet sich scheinbar in Vorhandenes. Die Frage wird so möglich: ist civitas Dei im genauesten Sinn eine Utopie? Oder ist sie die Erscheinung einer bereits vorhandenen und im Diesseits umgehenden Transzendenz? Wird hier der Wachtraum eines sozial Noch-Nicht-Gewordenen wirklich entwickelt, oder wird ein fertig Transzendentes («ecclesia perennis«) in die Welt eingesenkt? Oft zwar wirkt der Gottesstaat als erst keimend in Augustins Geschichte, mithin als utopischkünftig. Oft aber auch als vorhandene Großmacht, Anti-Großmacht, ähnlich zur Existenz gelangt wie die andere dramatis persona, der Teufelsstaat. Civitas Dei wird bei Augustin als fast gegenwärtig gefeiert im jüdischen Levitenstaat und in der Kirche Christi. Eben ein so gewaltiger Zukunftstraum wie der vom Tausendjährigen Reich wird der Kirche aufgeopfert; in ihr soll er bereits erfüllt sein. Und ein Hauptpunkt: die Vorhandenheit der civitas Dei gibt sich zuletzt als fixes Gnadengebilde, prädestinierte Erwählte umfassend. Ob sie die Bürgerschaft wünschen oder nicht, ob sie das Gottesreich erstreben, erträumen, erarbeiten oder nicht. Das Gottesreich kann so wenig wie irgendein Gutes in Augustins Theologie erarbeitet werden, es kommt aus Gnade und ist aus Gnade da, nicht aus Verdienst der Werke. Kraft göttlicher Vorherbestimmung steht auch der Ausgang der Geschichtsdifferenz (zwischen civitas terrena und civitas Dei) von vornherein fest; wie die Gnade, so siegt ihr Licht- und Himmels-Inhalt unwiderstehlich. All das entfernt Augustins Idealstaat in der Tat vom eigentlich utopischen Willen und Plangedanken: dennoch ist die civitas Dei Utopie. Sie ist zwar keine verändernwollende, es gibt nach Augustin über- /(589) haupt nur eine Freiheit des psychischen Wollenwollens, aber seit Adams Fall keine des moralischen Wollenkönnens (non possumus non peccare). Doch indem Gnade den Menschen nicht bloß zum Guten, sondern schon zur Bereitschaft des Guten anrührt, zieht auch
der Gottesstaat dem Menschen vorher und ist in ihm utopisch lebendig; als eine der in Auserwählten prädestinierten Erwartung. Und sein wesentlicher Gehalt: die Gemeinschaft der Vollendeten und Heiligen auf Erden erscheint, wie erinnerlich, erst am Ende der bisherigen Geschichte. Civitas Dei gerät erst ganz, wenn der Weltstaat zum Teufel geht, dem er angehört. Civitas Dei geht so nicht bloß als entschiedene dramatis persona in der Geschichte um, sie wird auch als »Erwerbung des göttlichen Ebenbildes« von der Geschichte hergestellt, vorsichtiger: herausgestellt. Und sie schwebt über dem Geschichtsprozeß insgesamt, sie ist »die ewige Körperschaft, wo niemand geboren wird, weil niemand stirbt, wo wahres und starkes Glück herrscht, wo die Sonne nicht aufgeht über Gute und Böse, sondern Sonne der Gerechtigkeit allein die Guten bescheint« (De civ. Dei V). Das ist gewiß Transzendenz, doch keine, die als fix vorhandene der Utopie widerspricht. Socialis vita sanctorum ist historisch-utopische Transzendenz, denn sie ist, zum Unterschied von Paulus, wieder eine auf der Erde. Auch Paulus führt den Ausdruck Gottesstaat, doch - wie für den Weg von Jesus zu Paulus charakteristisch - im pur transzendenten Sinn als »Staat in den Himmeln«, abgetrennt droben; Augustin dagegen setzt wieder etwas wie neue Erde. Dadurch eben kann seine Transzendenz utopisch sein, denn sie verflicht sich mit der produktiven Hoffnung menschlicher Geschichte, hat darin Umgang, Gefahr und Triumph, nicht, wie die pure Transzendenz, bereits Entschiedenheit, also Fixum. Folglich ist civitas Dei bei Augustin nur als Stein des Anstoßes und höchst bedrohte Vor-Erscheinung präsent: als Utopie ist sie erst am Ende der bisherigen Geschichte. Ja Augustin setzt selbst dem vollkommenen Gottesstaat noch ein weiteres Ziel; zu ihm ist auch er nur Vorstufe. Denn civitas Dei ist nicht das Reich, um das im Vaterunser gebeten wird; dies Reich heißt bei Augustin regnum Christi. Auch civitas Dei wird zwar gelegentlich so genannt, mit apologetischer Schmückung, doch nie heißt das regnum bei /(590) Augustin civitas; denn es steht nicht mehr in der Zeit. Wie also der irdische Sabbat für Augustin ein utopisches Erwartungsfest des himmlischen ist, so hat civitas Dei, die nur scheinbar vorhanden-fertige, selbst noch ihre Utopie in sich: eben regnum Christi als letzten, himmlischen Sabbat. Der siebente Schöpfungstag steht noch offen, über ihn setzte Augustin gerade das zentralste utopische Wort: »Der siebente Tag werden wir selbst sein, Dies septimus nos ipsi erimus« (De civ. Dei XXII). Das ist eine Art Transzendenz, die, wenn sie im Menschen durchgebrochen ist, zugleich, gegen Augustins Abrede, den Willen erregt, selber den Durchbruch vollzogen zu haben. Da hinderte das angebliche »Wir können nicht nicht-sündigen« (non possumus non peccare) wenig, zumal die radikale moralische Unfreiheit des Willens nicht einmal kirchlich durchdrang. Da hinderte die Entspannung des Tausendjährigen Reichs zur Kirche wenig, zumal civitas Dei, als so hohes Traumbild, die korrumpierende Kirche ständig Lügen strafte, Tausendjähriges Reich zu sein. Chiliasmus brach in allen Unruhezeiten wieder vor, Reich Gottes auf Erden wurde das revolutionäre Zauberwort durchs Mittelalter und die erste Neuzeit hindurch, noch bis zum frommen Radikalismus in der englischen Revolution. Civitas Dei bei Augustin selbst ist in ihrer Definition der Machtstaaten dauernder als in ihrer Apologie der Kirche, in ihrer Utopie der Brüderlichkeit dauernder als in ihrer Theologie des Vaters. Die Menschen wurden fortan auch dort als Brüder utopisiert, wo an keinen Vater mehr geglaubt wird - civitas Dei blieb ein politisches Wunschbild auch ohne Gott. Joachim di Fiore, drittes Evangelium und sein Reich Alles hing davon ab, ob man mit dem Erwarteten Ernst machte. Die revolutionären
Bewegungen waren in dieser Lage, und sie schufen vom Reich ein neues Bild. Sie lehrten auch eine andere Art Geschichte, eine, die das Bild belebte und ihm Fleischwerdung versprach. Die folgenreichste Sozialutopie des Mittelalters wurde von dem kalabrischen Abt Joachim di Fiore aufgestellt (um 1200). Ihm ging es nicht darum, Kirche, gar Staat von ihren Greueln zu reinigen, sie wurden statt dessen abge- /(591)schafft. Und das erloschene Evangelium wurde wieder angezündet, vielmehr lux nova in ihm: das von den Joachiten so genannte Dritte Reich. Es gibt, lehrt Joachim, drei Stufen der Geschichte, und jede ist näher zum betreibbaren Durchbruch des Reichs. Die erste Stufe ist die des Vaters, des Alten Testaments, der Furcht und des gewußten Gesetzes. Die zweite Stufe ist die des Sohnes oder des Neuen Testaments, der Liebe und der Kirche, die in Kleriker und Laien geschieden ist. Die dritte Stufe, die bevorsteht, ist die des Heiligen Geistes oder der Erleuchtung aller, in mystischer Demokratie, ohne Herren und Kirche. Das erste Testament hat das Gras gegeben, das zweite die Ähren, das dritte wird den Weizen bringen. Joachim führt diese Folge vielfach aus, meist mit unmittelbarem Bezug auf seine Zeit, als eine geglaubte Endzeit, und mit der politischen Prognose, daß die Herren und die Pfaffen nicht mehr so weiterleben können, die »Laien« nicht so weiterleben wollen wie bisher. Die Predigt Joachims handelte so, frühbürgerlich-schwarmgeistig; vom Fluch und radikalen Ende des verdorbenen Feudal- und Kirchenreichs; mit einem Zorn der Hoffnung, einem Satis est, wie es seit Johannes dem Täufer kaum mehr gehört ward. Daher auch die Stärke des Losungsworts in seinen drei Kategorien: Zeitalter der Herrschaft und Furcht = Altes Testament, Zeitalter der Gnade = Neues Testament, Zeitalter der geistigen Vollendung und Liebe = heraufsteigendes Endreich (»Tres denique mundi status: primum in quo fuimus sub lege, sccundum in quo sumus sub gratia, tertium quod e vicino expectamus sub amplion gratia... Primus ergo status in scientia fuit, sccundus in proprictate sapientiae, tertius in plenitudine intellectus«). Zwei Personen der Dreifaltigkeit haben sich bereits gezeigt, die dritte: der Heilige Geist, kann in einem absoluten Pfingstfest erwartet werden. Die Idee des dritten Testaments, die Joachim in seiner Schrift »De concordia utriusque testamenti» dergestalt ausführt, reicht in ihren Fundamenten - nicht in ihrer sozialutopischen Macht - zurück ins dritte Jahrhundert, zu Origenes, dem von seiner Kirche keineswegs kanonisierten Kirchenvater. Hatte dieser doch eine dreifach mögliche Auffassung der christlichen Urkunde gelehrt: eine leibliche, eine seelische, eine geistige. Die leibliche ist die buchstäbliche, die seelische die moralisch-alle-/(592) gorische, die geistige aber (pneumato intus docente) offenbart das in der Schrift gemeinte »ewige Evangelium«. Dies dritte Evangelium war bei Origenes allerdings gleichfalls nur eine Auffassungsform, wenn auch die höchste, es entwickelte sich nicht etwa selbst erst, in der Zeit. Auch trat das dritte Evangelium bei Origenes aus dem Neuen Testament, als einem bis ans Ende der Zeiten fertig gegebenen, nicht heraus. Es ist die Größe Joachims, die überlieferte Dreiheit bloßer Standpunkte zu einer dreifachen Stufung in der Geschichte selbst verwandelt zu haben. Noch folgenreicher wurde die damit zusammenhängende volle Verlegung des Lichtreichs aus dem Jenseits und der Jenseitsvertröstung in die Geschichte, wenn auch in einen Endzustand der Geschichte. Die ideale Gemeinschaft lag bei Jambulos (wie später bei Morus, Campanella und so noch oft) auf einer fernen Insel, bei Augustin in der Transzendenz: doch bei Joachim erscheint Utopia, wie bei den Propheten, ausschließlich im Modus und als Status historischer Zukunft. Joachims Erwählte sind die Armen, und sie sollen lebendigen Leibs, nicht bloß als Geist, ins Paradies. In der Gesellschaft des dritten Testaments leben keine Stände mehr; ein «Zeitalter der
Mönche« wird sein, das ist der allgemein gewordene Kloster- und Konsumtionskommunismus, ein »Zeitalter des freien Geistes«, das ist spirituelle Erleuchtung, ohne Sondersein, Sünde und ihre Welt. Auch der Leib wird dadurch schuldlos froh, wie im paradiesischen Urzustand, und die gefrorene Erde wird mit der Erscheinung eines geistlichen Mai erfüllt. Es gibt von dem Joachiten Telesphorus (Ende des vierzehnten Jahrhunderts) einen Hymnus, der beginnt: «0 vita vitalis, dulcis et amabilis, semper memorabilis - 0 lebendiges Leben, süßes und liebenswertes, immer gedenkenswertes« - die »libertas amicorum« ist nicht puritanisch. Ihr Thema eben ist Auszug aus Furcht und Knechtschaft oder dem Gesetz und seinem Staat, Auszug aus dem Regiment der Kleriker und der Unmündigkeit der Laien oder der Liebesgnade und ihrer Kirche; also ist die Lehre Joachims, mit ihrem Bruderbund, keine Weltflucht in Himmel und Jenseits. Konträr: das Reich Christi ist bei Joachim so entschieden von dieser Welt wie nirgends mehr seit dem Urchristentum. Jesus ist wieder der Messias einer neuen Erde, und Christentum geschieht in der Wirklichkeit, nicht nur /(593) in Kult und Vertröstung; es geschieht ohne Herren und Eigentum, in mystischer Demokratie. Dazu geht das dritte Evangelium und sein Reich an, selbst Jesus hört auf, ein Haupt zu sein, er löst sich in der »socictas amicorum« auf. Es ist kaum möglich, alle Wege zu bestimmen, die dieser höchst geschichtlich gemeinte Traum genommen hat. Er lief durch lange Zeiten und in weit entfernte Länder, echte und gefälschte SchriftenJoachims waren jahrhundertelang verbreitet. Sie liefen nach Böhmen und Deutschland, auch nach Rußland, die urchristlich gemeinten Sekten zeigen dort deutliche Einflüsse der kalabresischen Predigt. Das Reich Gottes in Böhmen - hundert Jahre später bei den Wiedertäufern in Deutschland - bedeutete Joachims civitas Christi. Hinter ihr lag das Elend, das schon lang gekommen war, in ihr lag das Tausendjährige Reich, dessen Ankunft im Schwange war: so wurde losgeschlagen, es zu empfangen. Besonders genau wurde auf Abschaffung von Arm und Reich geachtet, die Predigt der scheinbaren Schwärmer nahm brüderliche Gesinnung bei der Tasche und beim Wort. Augustin hatte geschrieben: »Der Gottesstaat zieht während seiner Wanderschaft auf Erden Bürger an sich und sammelt Pilgerfreunde in allen Nationen ohne Hinblick auf die Unterschiede in Sitten, Gesetzen und Institutionen, die dem Erwerb und der Sicherung des irdischen Friedens dienen« (De civ. Dei XIX). Der Gottesstaat der Joachiten dagegen warf einen sehr scharfen Hinblick auf Institutionen, die dem Erwerb und der Ausbeutung dienen, und er übte jene Toleranz, die einer Kirchen-Internationale notwendig fremd war, nämlich gegenüber Juden und Heiden. Die Bürgerschaft des bevorstehenden Gottesstaats war nicht durch Taufe bestimmt, sondern durch Vernehmen des Brudergeistes im inneren Wort. Nach der großen überchristlichen Bestimmung Thomas Münzers bildet sich das künftige Reich »aus allen Auserwählten unter allen Zerstreuungen oder Geschlechtern allerlei Glaubens«. Hier wirkt das Dritte Reich Joachims deutlich nach: »Ihr sollt wissen«, sagt Münzer in der Schrift »Von dem gedichteten Glauben« und rühmt das Zeugnis des echten Christen gegen die Fürstendiener und Schriftpfaffen, »Ihr sollt wissen, daß sie diese Lehre dem Abt Joachim zuschreiben und heißen sie ein ewiges Evangelium mit großem /(594) Spott.« Der deutsche Bauernkrieg vertrieb den Spott sehr; noch die Radikalen der englischen Revolution, die agrar-kommunistischen Diggers, die Millenarier und Quintomonarchisten tragen alle das Erbe Joachims und der Täufer zugleich. Erst seitdem der joachitisch-taboritische Geist aus dem Täufertum ausgeschieden wurde, durch Menno Simons, wurden die westlichen Sekten, nicht nur die Mennoniten, stille evangelische Gemeinden, besonders stille.
Aber auch die andere Irredenta, die aus dem Täufertum losgelöste, die beginnend rationale, nicht mehr irrationale Utopie der Neuzeit, verließ das Tausendjährige Reich; Platon und die Stoa siegten über Joachim di Fiore, sogar über Augustin. Dadurch entstand eine größere Genauigkeit der institutionellen Einzelzüge in den Utopien, es kam ein Anschluß an bürgerliche Emanzipation, die bereits zu sozialistischen Tendenzen ausutopisiert wurde, aber die Elemente Endzweck und Endziel, wie die Utopie Joachims sie enthält, wurden abgeschwächt. Sie wurden bei rationalen Utopisten wie Thomas Morus, auch Campanella - zur sozialen Harmonie; ein liberaler oder auch ein autoritativer Zukunftsstaat beerbte so das Tausendjährige Reich. Die mythologisierend christliche Denkart in den mittelalterlich-christlichen Utopien hat das Element Endzweck gewiß nicht präzisiert, aber auch nie aus dem Gesichtskreis verloren. Es hielt sich in dem gärenden, traumschweren Morgenrot, das die joachitische, die täuferische Utopie bis zum Rand erfüllte und ihr den ganzen Himmel zum Osten machte. Diese Denkart hatte weniger ausgeführte Sozialutopie als Platon oder die Stoa, gar als die rationalen Konstruktionen der Neuzeit, aber sie hatte mehr als diese utopisches Gewissen in ihrer Utopie. Gewissen und Problem des letzten Wozu bleiben derart den chiliastischen Utopien verpflichtet; ganz unabhängig von den unhaltbar mythologischen Bezeichnungen ihres Inhalts. Und Joachim war zwingend der Geist christlich-revolutionärer Sozial-Utopie: so hat er gelehrt und fortgewirkt. Er setzte fürs Gottesreich, nämlich fürs kommunistische, zuerst einen Termin und rief zu seiner Einhaltung. Er hat die Theologie des Vaters abgesetzt, ins Zeitalter der Furcht und Knechtschaft zurückversetzt, Christus aber in eine Kommune aufgelöst. Hier wie nirgends war die soziale Erwartung Ernst, die Jesus in den neuen /(595) Äon gesetzt hatte und die von der Kirche zu Heuchelei und Phrase gemacht worden war. Oder wie Marx hierzu mit großem Recht sagt, das Christentum der Kirchenjahrhunderte betreffend (Nachlaß II, S.433 f.): »Die sozialen Prinzipien des Christentums haben jetzt achtzehnhundert Jahre Zeit gehabt, sich zu entwickeln... Die sozialen Prinzipien des Christentums haben die antike Sklaverei gerechtfertigt, die mittelalterliche Leibeigenschaft verherrlicht und verstehen sich ebenfalls im Notfall dazu, die Unterdrückung des Proletariats, wenn auch mit etwas jämmerlicher Miene, zu verteidigen. Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen die Notwendigkeit einer herrschenden und einer unterdrückten Klasse und haben für die letztere nur den frommen Wunsch, die erstere möge wohltätig sein. Die sozialen Prinzipien des Christentums setzen die konsistorialrätliche Ausgleichung aller Infamien in den Himmel und rechtfertigen dadurch die Fortdauer dieser Infamien auf der Erde. Die sozialen Prinzipien des Christentums erklären alle Niederträchtigkeiten der Unterdrücker entweder für gerechte Strafe der Erbsünde und sonstiger Sünden oder für Prüfungen, die der Herr über die Erlösten nach seiner Weisheit verhängt. Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen die Feigheit, die Selbstverachtung, die Erniedrigung, die Unterwürfigkeit, die Demut, kurz alle Eigenschaften der Kanaille, und das Proletariat, das sich nicht als Kanaille behandeln lassen will, hat seinen Mut, sein Selbstgefühl, seinen Stolz und seinen Unabhängigkeitssinn noch weit nötiger als sein Brot. Die sozialen Prinzipien des Christentums sind duckmäuserisch, und das Proletariat ist revolutionär; soviel über die sozialen Prinzipien des Christentums.« All das trifft die Kirche, oder was seit achtzehnhundert Jahren ex cathedra oder ex encyclica Christentum genannt wird; und Joachim di Fiore, wenn er wiederkehrte, Albigenser, Hussiten, militante Täufer dazu, würden diese Christentums-Kritik sehr verstehen. Wenn auch seinerseits mit Anwendung dieser Kritik auf die Kirchenjahrhunderte und vor allem: mit Herleitung der Kritik aus
einem Christentum, das die Kirchenjahrhunderte gerade mit Joachim, Albigensern, Hussiten, Täufern unterbrochen hat. Aller Joachitismus kämpfte aktiv gegen die sozialen Prinzipien eines Christentums, das sich seit Paulus mit der Klassen- /(596) gesellschaft unter tausend Kompromissen verbunden hat. Das in seiner irdischen Heilspraxis selber ein einziges Sündenregister darstellt, bis herab oder hinauf zum letzten Glied: dem Verständnis des Vatikans für den Faschismus. Bis zur Todfeindschaft des zweiten oder Pfaffenreichs in Joachims Sinn gegen das dritte, das in der Sowjetunion anfängt zu beginnen und von der Finsternis nicht begriffen oder auch wohl begriffen und verleumdet wird. Sogenanntes Naturrecht des Eigentums, gar »Heiligkeit« des Privateigentums sind ein soziales Kernprinzip dieses Christentums. Und die Monstranz, welche Priester dieses Christentums den Mühseligen und Beladenen vorzeigen, zeugt von keinem neuen Äon, sondern vergoldet den alten. Mitsamt der Feigheit und Unterwürfigkeit, die der alte Äon an seinen Opfern braucht, doch ohne den Tag des Gerichts und den Triumph über Babel, ohne die Intention auf neuen Himmel und neue Erde. Das Sich-Schicken in Furcht, Knechtschaft und Jenseits-Vertröstung sind die sozialen Prinzipien eines Christentums, die von Marx verachtet und von Joachim in den Orkus geworfen werden; es sind aber nicht die Prinzipien eines längst verlassenen Urchristentums und einer sozialrevolutionären Ketzergeschichte aus ihm her. Joachim di Fiore drückt mit der Erwartung des Reichs nur aus, was von der eschatologischen Predigt Christi durch die Jahrhunderte nachgewirkt hat, was er von einem künftigen »Geist der Wahrheit« gesprochen hat (Joh. 16, 13), was mit der ersten »Ausgießung des Heiligen Geistes« am Pfingstfest (Apostelgesch. 2, 1-4) nicht abgeschlossen schien. Die Westkirche hat dergleichen für abgeschlossen erklärt, unabgeschlossen war lediglich ihr Kompromiß mit der Klassengesellschaft; die Ostkirche ließ immerhin einen Fortgang dieser Ausgießung offen. Die Westkirche hat seit dem Lateran-Konzil von 1215 alle Klöster der geistlichen Gewalt ihres Diözesanbischofs unterstellt; die Ostkirche hat selbst nach, geschehener Übernahme der abendländischen Sakramentsordnung dem Mönchtum, ja den Sekten eine charismatische, oft ketzerische Selbständigkeit lassen müssen. Die Westkirche hat den Enthusiasmus auf Apostel und die alten Märtyrer eingeschränkt, um dem Adventismus jede Sanktion zu nehmen; die Ostkirche dagegen, die so viel weniger durchorganisierte, lehrt eine fort- /(597) wirkende Beiwohnung des Geistes außerhalb der Priesterkirche, unter Mönchen wie Laien. So fehlt dort das Monopol einer Hostienverwaltung, der gesamte juristisch festgelegte oder eingeschraubte Erlösungsbetrieb; die russische Orthodoxie unter den Zaren war hierzu überdies zu unwissend, sie hatte keine Scholastik, erst recht nicht das juristisch Scharfe, dogmatisch Formulatorische der Scholastik. Statt dessen lebte im russischen Christentum, vom Heiligen Synod unbehinderbar, eben ein ständiges ungeschriebenes Wesen Joachim di Fiore: es lebte im leicht entzündbaren Brudergefühl, im Adventismus der Sekten (die Sekte der Chlysten lehrt russische Christusse, deren sie sieben aufzählt), im Grundmotiv von allem: in der unabgeschlossenen Offenbarung. Einige große Merkwürdigkeiten konnten daher christromantisch auf bolschewistischem Boden noch entspringen; der unbestreitbare Bolschewik und ebenso unbestreitbare Chiliast Alexander Block gab davon ein Zeichen, durchaus im joachitischen Geist. Geht in Blocks Hymnus, dem »Marsch der Zwölf«, das ist der zwölf Rotarmisten, ein bleicher Christus der Revolution voran und führt sie: so ist diese Art Beiwohnung des Geistes den westlichen KirchenKonzernen genauso fern, wie sie in der Ostkirche immerhin theologische Offenheiten findet. Nur die Ketzersekten, mit Joachim unter ihnen, ließen auch im
Westen Offenbarung neu entspringen, und der Heilige Geist riet ihnen demgemäß erstaunliche Pfingstfeste. Er riet soziale Prinzipien des Christentums, die, wie das Beispiel Thomas Münzers angibt, nicht duckmäuserisch waren und das Proletariat nicht als Kanaille behandelten. Das war Ketzerchristentum und schließlich revolutionär-adventistische Utopie; mit den sozialen Prinzipien Baals wären sie nicht entstanden. Sie blühten in der Predigt Joachims, dergestalt, daß hier eine einzige Antithese die Herrenkirche bloßlegte: »Man schmückt die Altäre, und der Arme leidet bitteren Hunger.« Eben diese Antithese wirkt, wie gesehen, als wäre sie aus der Bibel, von Amos, von Jesajas, vom Jesus, den Münzer zitierte. Ja sogar die Staatskonstruktionen aus reiner Vernunft, wie sie vom sechzehnten Jahrhundert an den Sozialismus vorbereiteten, sind selber noch, trotz aller Ratio, in den dritten Äon eingebaut. Sie halten diesen Raum nicht mehr besetzt, doch sie halten ihn, trotz verschwie- /(598) gener Finalität, im Grund: es gibt keine solchen Utopien ohne Unbedingtes. Der Wille zum Glück spricht für sich selbst, doch die Pläne, gar Zeitbilder einer New Moral World sprechen noch anders, nämlich chiliastisch. Wie immer auch säkularisiert und zuletzt, endlich, auf die Füße gestellt, hat die Sozialutopie seit Joachim socictas amicorum in sich, diese zur Gesellschaft gewordene Christförmigkeit. Glück, Freiheit, Ordnung, das ganze regnum hominis, tönen davon nach, in utopischem Gebrauch. Eine Auslassung des jungen Engels von 1842 (Mega I 2, S. 225 f.) führt selbst wenige Jahre vor dem Kommunistischen Manifest einen Klang aus Joachim mit sich: »Das Selbstbewußtsein der Menschheit, der neue Gral, um dessen Thron sich die Völker jauchzend versammeln... Das ist unser Beruf, daß wir dieses Grals Templeisen werden, für ihn das Schwert um die Lenden gürten und unser Leben fröhlich einsetzen in den letzten heiligen Krieg, dem das Tausendjährige Reich der Freiheit folgen wird.« Utopisch Unbedingtes stammt aus Bibel und Reichsidee, letztere blieb jeder New Moral World ihre Apsis. Thomas Morus oder die Utopie der sozialen Freiheit Der Bürger regte sich, suchte das Seine, worin er blühen konnte. Er war für Arbeit, freie Bahn dem Tüchtigen, Ende der ständischen Unterschiede. 1516 erschien die Schrift des englischen Kanzlers Thomas Morus: »De optimo rei publicae statu sive de nova insula Utopia« (Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia). Zum erstenmal seit langem wird hier der Traum vom besten Staat wieder als eine Art Schiffermärchen vorgetragen. U-topia, Nirgend-wo heißt die Insel des Morus, mit einem feinen, leicht melancholischen, aber scharfen Titel. Das Nirgendwo ist als postulativ gedacht für das Wo, in dem sich die Menschen wirklich befinden. Ein Weltreisender erzählt hier, nachdem jede Störung ferngehalten ist, seinen Freunden von der fernen glücklichen Insel. Das Schiffermärchen, das Morus im Anschluß an die utopischen Fabeln der Euemeros und Jambulos wieder verwendet, beruht sogar auf einem gründlichen Bericht; Morus benutzte in seinem Buch erwiesenermaßen die Denkschrift des Amerigo Vespucci über seine zweite Amerika/(599) fahrt. Vespucci hatte von den Bewohnern der Neuen Welt mitgeteilt, daß einzig dort die Menschen »naturgemäß leben«, daß sie »eher Epikureer als Stoiker zu nennen sind«, auch kommen sie ohne Sondereigentum aus. Und der Humanist Petrus Martyr, damaliger Historiker der Entdeckungen, pries den Zustand der amerikanischen Insulaner als einen »ohne Fluch des Geldes, ohne Gesetze und unbillige Richter«. Es mag überraschen, daß Thomas Morus, der Hofmann und der nachmalige Märtyrer der Kirche (gegen den »Reformator« Heinrich VIII.), dem primitiven Kommunismus dieser Berichte so geneigt war und die »Neue Insel
Utopia« mit ihm ausgestattet hat. Man muß die egalisierenden, gegen Standesvorurteile angehenden Tendenzen des beginnenden Bürgertums heranziehen; Gleichheit war bis zum Thermidor ein ernstgemeintes, wenn auch noch so formal bleibendes Losungswort der kapitalistischen Befreiung. Im Jahrhundert der »Utopia« selber, um 1550, war von einem Freund Montaignes eine demokratische Schrift geschrieben worden: Etienne de la Boeties «Le Contr'un ou de la servitude volontaire«; Morus lebte vom gleichen Inhalt. Ein Satz aus dieser rhetorischen, doch interessanten Schrift zeigt zur Genüge, wie wenig die gebildete Renaissance aristokratisch sein mußte: »Die Natur hat uns alle aus demselben Holz geschnitzt, damit einer in dem anderen ein Ebenbild, besser: seinen Bruder erkennen kann.« Man darf weiterhin auf die Eigentumslosigkeit der oberen Stände in Platons »Politeia« hinweisen, diesem von Humanisten so hochverehrten Buch; Morus, der sonst Platons Idealstaat nicht nachfolgt, entnimmt ihm den vornehmen Kommunismus, macht ihn jedoch aus dem Privileg weniger zum Anspruch aller. Man darf nicht zuletzt auf die Liebe des Christen Morus zur Urgemeinde hinweisen; eher kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich - von diesem Wort gibt auch dem treuesten Sohn der Kirche kein Papst Dispens. Auffallend allerdings bleibt der diesseitsfrohe Epikureismus, der die kommunistische Insel gleichfalls belebt; er steht als äußerst unkirchlicher Himmel über Utopia. Noch auffallender ist die Abschaffung des Glaubensstreits: Thomas Morus, seit 1935 ein Heiliger der katholischen Kirche, wirkt mit seiner Toleranz fast als ein früher Roger Williams, um nicht zu /(600) sagen: Voltaire. Sicher ist er in diesem Punkt ein naher Vorläufer Jean Bodins, des Ideologen (wenn auch aus anderen Gründen) eines konfessionslosen Staats. Dieser überraschende Widerspruch ermöglichte es einem späten, nicht mehr utopisch interessierten Bürgertum, Morus nur zum Kirchenmann zu machen und ihn zu desinfizieren vom revolutionären Geruch. Unter anderem lieferte ein kapitalistisch interessierter Philologe, Heinrich Brockhaus, eine Hypothese, die gerade den kommunistisch-epikureisch-toleranten »Fremdkörper« in der »Utopia« bedenkt und ihn sorgfältig ausmerzt. Denn nach Brockhaus (Die Utopia Schrift des Thomas Morus, 1929) soll das Werk des Morus, wie es vorliegt und über die Jahrhunderte hinweg gewirkt hat, als demokratisch-kommunistisches Dokument, eine Fälschung sein. Danach war Morus nicht der Verfasser, sondern nur der offizielle Herausgeber, vielmehr: auch Morus hat eine »Utopia« geschrieben, doch was nachher als diese in Umlauf kam, ist nicht mehr das Original, sondern eine von fremder Hand vorgenommene Entstellung der Ur-Utopia. Die fremde Hand ist die des Erasmus von Rotterdam; auf ihn, nicht auf Morus geht der Epikureismus der Schrift zurück, desgleichen der Kommunismus, der Sechsstundentag, die religiöse Toleranz. Ausgetilgt dagegen wurde von Erasmus »der herbe reformatorische Hauptinhalt«, soll heißen, das nicht politische, das ausschließlich religiöse Interesse, das Morus bei Abfassung seiner Ur-Utopia angeblich bewegt haben soll. Dieses Interesse wird von Brockhaus dahin interpretiert, daß Morus der Kirche in letzter Stunde das asketische Gewissen wiederbringen wollte und seine heilsame Würde, ein Jahr bevor 1517 die Katastrophe der gewaltsamen, der schismatischen' Reformation geschah. Demgemäß soll in der Ur-Utopia nicht England kritisiert worden sein, sondern der Kirchenstaat, und vor allem: das Modell des Idealbilds war keinesfalls die Urkommune amerikanischer Insulaner, sondern - das Kloster auf dem Berg Athos. Statt England und die Urkommune soll Morus einzig die beiden Mittelpunkte der Christenheit: Rom und Athos, kontrastiert haben; Utopia ist nichts anderes als »das durch Zusätze umgebildete Athos-Land«. Im Einzelnen wie im Ganzen intendierte danach Morus keinen Entwurf des besten Staats, sondern eine
Reform der Kirche; /(601) doch Erasmus hat dies Konzept verdorben, indem er das Konzept der Ur-Utopia verdarb, die schon zur Absendung ans entscheidende Konzil im Vatikan bereitlag. Also möchte Brockhausens Theorie Morus vom Ludergeruch des Kommunismus befreien, ebenso von der Lebensfreude, ebenso von der religiösen Toleranz; alle diese (historisch wirksam gewordenen) Hauptideen der »Utopia« sind »Entstellungen» des Erasmus. Und nicht, als ob es sich hier um einen gleichgültigen Namenstausch im Bereich des gleichen Werks handelte (wie etwa im Fall Shakespeare-Bacon), konträr: die Werke selbst sind so verschieden wie ein Freigeist und ein Engel. Es gibt ja eine Ur-Utopia, eine einwandfrei von Morus verfaßte, und diese Schrift eben ist ein Religionsdokument, zum Unterschied vom Politikum des Erasmus, - auch das Reich der »Utopia« ist nicht von dieser Welt. Soweit Brockhaus; der soziale Auftrag dieser Art Philologie ist ganz offenbar: einem der edelsten Vorläufer des Kommunismus soll das Wort entzogen werden. Doch hat die suspekte Hypothese den Nutzen, daß sie energischer als bisher auf die Mitarbeit des Erasmus achten läßt und unleugbare Schwierigkeiten dadurch behebt. Daß Erasmus die »Utopia» vor dem Druck redigiert hat, war bekannt; gewisse Elemente von Leichtigkeit, ja von ironischer Spielerei (die Thomas Morus nicht zu Gesicht stehen) dürften durch den großen Literaten hineingearbeitet worden sein. Erasmus konnte tolerant sein, denn er hatte gesagt, der Heilige Geist schreibe im Neuen Testament ein sehr schlechtes Griechisch. Erasmus konnte epikureisch sein, denn er ist der Verfasser der vorurteilsfreiesten pädagogischen »Colloquia« (sie enthalten ein Lehrgespräch über Umgangsformen der Jugend im Bordell). Auch ist der Ton in den beiden Teilen der »Utopia« merkwürdig verschieden: der erste Teil enthält scharfe Anklagen gegen die sozialen Verhältnisse Englands (freilich nicht des Kirchenstaats ),der zweite Teil dagegen, der doch das Idealbild verkünden sollte, ergeht sich in einer freundlich-vornehmen Mischung zwischen Spiel und Ernst, er vermeidet den erwarteten Orgelklang der Hoffnung. Der Thomas Morus jedenfalls, der durch seinen Märtyrertod bekundete, was unter Glauben an eine Sache zu verstehen sei, macht aus dem besten Staat nicht nur eine Märchenerzählung, wie bemerkt, /(602) im Einklang mit spätantiken Formen, sondern er fügt, jenseits dieses Einklangs, Elemente eines höfischen Fabelspiels ein. Vor allem aber ist der Thomas Morus, der in der »Utopia« für die Resultate einer Sozialrevolution wirbt, ein anderer als jener, der wenige Jahre hernach, als diese Revolution in Deutschland ausgebrochen war, den vorhandenen Staat verteidigte, das Königtum, den Klerus, kurz, genau die Festung des Besitzes, die in »Utopia» fehlte. Und der Inhalt, für den der Märtyrer schließlich starb, war nicht der der sozialen, gar religiösen Toleranz; es starb ein treuer Anhänger der Papstkirche, dessen Gedächtnis dem Katholizismus lediglich in dieser Gestalt erhalten geblieben ist. Dazu kommen Unverträglichkeiten der Schrift selbst, besonders in ihrem zweiten Teil; Dissonanzen keineswegs nur zwischen höfischem Fabelton und Kommunismus, sondern zwischen Humanität und Gleichgültigkeit, zwischen Sozialparadies und der alten Klassenwelt. Der erste Teil hatte das Verbrechen aus ökonomischen Ursachen erklärt, demgemäß menschenwürdige Behandlung der Gefangenen verlangt; der zweite Teil kennt mitten in »Utopia« Verbrechersklaven, die schwere Arbeit in Ketten zu leisten haben. Als verwandte Inkonsequenz wirken das Kriegswesen und die Annexionslust der Utopier: »Sie halten es«, bemerkt Morus, »sie halten es für einen höchst gerechten Kriegsgrund, wenn ein Volk Nutzung und Besitz des Bodens, den es selber nicht braucht, sondern wüst und unfruchtbar liegenläßt, einem anderen untersagen will, das nach der Vorschrift der Natur seinen Unterhalt davon ziehen sollte.« Hermann Oncken betont in seiner Ausgabe der »Utopia» mit Recht, daß dieser martialische
Passus mit der isolierten und vorbildlichen Friedensexistenz der Utopier überhaupt nichts mehr gemein habe, wohl aber mit der Praxis des späteren England: »Der kommunistische und primitiv-agrarische Idealstaat, der sich bereits in der Sklavenfrage als Klassenstaat enthüllte, stellt sich nunmehr als ein machtpolitischer Herrschaftsstaat mit Ansätzen zu einem fast modern anmutenden kapitalistischen Imperialismus dar.« So zeigt sich »Utopia« keineswegs aus einem Guß, keineswegs als aus einer einheitlichen Person und ihrer sozialen Christusliebe entsprungen. Doch das eminent Englische vieler dieser Inkonsequenzen spricht eben wieder nicht für Eras- /(603) mus, sondern zeigt, daß auch Morus sich auf Bruchstellen verstand, mehr noch: daß Abschaffung des Eigentums (mit allen Folgen) innerhalb der bürgerlichen Antizipationen eine Anomalie ist, die auch der edelste Christusglaube nicht verschwinden läßt. Träume des frühen Bürgertums, worin der Bürger selbst als Stand verschwindet, können nicht ohne Ironie und Dissonanzen sein. Derart wird der Erklärungswert der Brockhausschen Hypothese auch jenseits der Verdächtigkeit ihres sozialen Auftrags recht reduziert: eine Reihe von Schwierigkeiten stammt zuverlässig nicht erst aus der Redaktion des Erasmus. Keine Ideologie ist englischer als die eines sittlich gerechten Kolonialkriegs, wie »Utopia« ihn lehrt, keine liegt der Mönchsrepublik auf dem Berg Athos ferner. Die »Utopia« ist höchstwahrscheinlich ein Mischgebilde mit zwei Verfassern, doch bereits von Morus, nicht erst von Erasmus wird England kritisiert, und ausschließlich dieses, nicht Rom, soll wiederum zum besten Staat werden. Die »Utopia« ist und bleibt, mit allen ihren Schlacken, das erste neuere Gemälde demokratisch-kommunistischer Wunschträume. Im Schoß eben erst beginnender kapitalistischer Kräfte antizipierte sich eine künftige und überkünftige Welt: sowohl die der formalen Demokratie, welche den Kapitalismus entbindet, wie die der materiell-humanen, welche ihn aufhebt. Zum erstenmal wurde hier Demokratie im humanen Sinn, im Sinn öffentlicher Freiheit und Toleranz mit Kollektivwirtschaft verbunden (als welche allemal leicht von Bürokratischem, ja Klerikalem bedroht ist). Zum Unterschied von den bisher erträumten Kollektivismen des besten Staats ist bei Thomas Morus Freiheit dem Kollektiv eingeschrieben, und echte, materiell-humane Demokratie wird sein Inhalt. Dieser Inhalt macht die »Utopia«, wesentlichen Partien nach, zu einer Art liberalem Gedenk- und Bedenkbuch des Sozialismus und Kommunismus. Die Menschen werden erst durch Not böse gemacht, »wozu so hart strafen«? Mit dieser Frage hebt Morus an, sogleich macht er die Umgebung für den Einzelnen verantwortlich. »Man setzt den Galgen für Diebe fest, während man viel eher dafür sorgen sollte, daß sie ihr Auskommen haben, damit nicht einer in den harten Zwang gerät, erst stehlen, danach sterben zu müssen.« /(604) Dicht nebenan zeigt Morus die Welt, die den Armen schuldig werden läßt und sich als Richter aufspielt: »Wie groß ist doch die Zahl der Edelleute, die selber müßig wie die Drohnen von anderer Leute Arbeit leben, die sie bis aufs Blut schinden; obendrein aber scharen sie einen Schwarm von Tagedieben und Trabanten um sich her.« Und der Schluß des ersten Teils der »Utopia« sagt unverhohlen: »Wo es noch Privatbesitz gibt, wo alle Menschen alle Werte am Maßstab des Geldes messen, da wird es kaum jemals möglich sein, eine gerechte und glückliche Politik zu treiben... So kann denn der Besitz durchaus nicht auf irgendeine billige oder gerechte Weise verteilt werden, so kann das Glück der Sterblichen überhaupt nicht begründet werden, wenn nicht vorher das Eigentum aufgehoben ist. Solange es bestehen bleibt, werden vielmehr auf dem weitaus größten und weitaus besten Teil der Menschheit Armut, Plackerei und Sorge als unentrinnbare Bürde lasten. Die Bürde mag ein wenig erleichtert werden, sie gänzlich zu beseitigen, ist (ohne Abschaffung des Eigentums)
unmöglich.« All diese Worte legt Morus dem Weltreisenden in den Mund, den er als Berichterstatter aus »Utopia« einführt und der nun, vom besten Staat her, entsetzt auf den englischen blickt. Der vorsichtige Kanzler nennt den Mann Raphael Hythlodaeus (das heißt »Schaumredner«), zweifellos aber vertritt Raphael des Morus radikalste Auffassungen. Die Insel »Utopia« nun, von der der Berichterstatter im zweiten Teil erzählt, ist vor allem deshalb eine menschenwürdige, weil ihre Bewohner so weitgehend von der Arbeitsfron befreit sind. Sechs Stunden mäßige Mühe reichen aus, um alle notwendigen Bedürfnisse zu befriedigen und auch genügend Vorrat für die Annehmlichkeiten herzustellen. Dann beginnt das Leben jenseits der Arbeit; es ist ein Leben der glücklichen, der liberalen Einheit der Familie, im schön bereiteten Haus, das mehrere Familien gleich Gästen verbindet. Um nicht einmal den Schein eines Privateigentums aufkommen zu lassen, werden die Häuser alle zehn Jahre nach dem Los gewechselt; auf dem Forum befinden sich die unentgeltlichen Speisehäuser, die Lehranstalten für alle und die Tempel. »Die Wirtschaftsverfassung Utopias hat in erster Linie das Ziel vor Augen, allen Bürgern möglichst viel Zeit freizumachen für die Pflege geistiger Bedürfnisse.« Zu dieser Pflege /(605) geistiger Bedürfnisse gehört nicht zuletzt die Kunst des Essens und Trinkens, ferner die Verehrung körperlicher Schönheit und Kraft; scharf ist an dieser Stelle die Wendung gegen Askese: »Sich selber aufzureiben, ohne irgendeinem Menschen zu nützen, bloß um eines nichtigen Schattens von Jugend willen- das erscheint den Utopiern ganz unsinnig: als Grausamkeit gegen die eigene Person und als höchste Undankbarkeit gegen die Natur.« Weibergemeinschaft kennt Utopia freilich nicht, im Gegenteil: Ehebrecher werden mit härtester Sklaverei, bei Rückfall mit dem Tode bestraft. Doch ist die Ehe löslich und wird auch nur eingegangen, nachdem Braut und Bräutigam sich nackt gesehen; »denn die Utopier meinen, die Natur selbst habe uns das Vergnügen als Ziel unserer Handlungen vorgezeichnet, und nach ihrer Vorschrift leben, nennen sich Tugend«. Allerdings rühmen andere Stellen der Schrift wieder die mönchische Entsagung, die Lust an schmerzlicher, ja ekelhafter und kreaturwidriger Arbeit; doch regierend bleibt, trotz dieser Inkonsequenzen, der Epikureismus. »Das ist die Ansicht der Utopier über Tugend und Vergnügen, und falls nicht eine vom Himmel herabgesandte Religion dem Menschen einen frömmeren Gedanken einhauchen sollte, so meinen sie, es sei keine Ansicht zu finden, die nach menschlicher Vernunft der Wahrheit näher käme.« Auch das Christentum scheint den Utopiern einen »frömmeren Gedanken« nicht zu enthalten; sie haben die christliche Religion vorzüglich nur deshalb angenommen, »weil sie hörten, Christus habe die kommunistische Lebensführung seiner Jünger gutgeheißen«. Sonst haben alle Religionen in großartig unierender Toleranz Platz, auch Sonne-, Mond- und Planetenanbetung. Die Utopier haben sich über einen gemeinsamen Kultus geeinigt, den jede Partei in ihrem Sinn und durch besondere Kultformen ergänzt; Utopia ist das Eldorado der Glaubensfreiheit, um nicht zu sagen: das Pantheon aller guten Götter. »Denn das ist eine der ältesten Verfassungsbestimmungen der Utopier, daß keinem seine Religion Schaden bringen darf... Diese Bestimmung hat der Gründer Utopias getroffen, nicht nur mit Rücksicht auf den Frieden, sondern weil er der Meinung war, daß eine solche Festsetzung auch im Interesse der Religion liege. Er hatte nicht die Vermessenheit, über die Religion irgend etwas endgültig zu /(606) bestimmen, da es ihm nicht sicher war, ob Gott vielleicht selber eine vielfältige Art der Verehrung wünsche und daher dem einen diese, dem anderen jene Eingebung schenke.« Es sind dies freilich die erstaunlichsten Sätze aus dem Mund eines nachmaligen Märtyrers der Papstkirche; sie stellen die Absolutheit des Christentums selbst in Frage. Sie geben nicht nur
einen ersten Hauch der Aufklärung, sondern gleich deren volles Aroma; sie brechen den Obrigkeitsstaat an seiner härtesten Stelle entzwei, an der des Glaubens- und Gewissenszwangs. Die Kraft aber zu dieser Freiheit stammt bei Morus immer wieder aus der Abschaffung des Eigentums, und zwar aus genereller Abschaffung, nicht aus bloßem Klosterkommunismus. Das Eigentum allein schafft Herren und Knechte, schafft Parteiungen unter den Herren selbst, Bedürfnis nach Macht und Obrigkeit, Kriege um Macht und Obrigkeit, Glaubenskriege und unchristliche Auspressung durch Staat wie Kirche. Derart taucht am Schluß der »Utopia« eine Ahnung des Mehrwerts auf: »Was soll man dazu sagen, daß die Reichen von dem täglichen Lohn der Armen alle Tage noch etwas abzwacken, nicht nur durch privaten Betrug, sondern sogar auf Grund öffentlicher Gesetze?« Ebenso schimmert-rückwärts wie vorwärts vereinsamt - eine Art vormarxistischer Begriff des Klassenstaats hindurch: »Wenn ich alle unsere Staaten, die heute irgendwo in Blüte stehen, betrachte, so stoße ich auf nichts anderes als auf eine Verschwörung der Reichen, die den Namen und Rechtstitel des Staats mißbrauchen, um für ihren eigenen Vorteil zu sorgen. Sie hecken sich alle möglichen Methoden und Kunstgriffe aus, zunächst um ihren Besitz, den sie mit verwerflichen Mitteln zusammengerafft haben, ohne Verlustgefahr festzuhalten, sodann, um die Mühe und Arbeit der Armen so billig als möglich zu erkaufen und zu mißbrauchen... Aber selbst wenn diese abscheulichen Menschen die Güter des Lebens, die für alle gereicht hätten, unter sich aufgeteilt haben, - wie weit sind sie dennoch entfernt von dem glücklichen Zustand des utopischen Staats!« Mit einem Hymnus darauf schließt das heilsame und festliche Buch ab: »Welche Last von Verdrießlichkeiten ist in diesem Staat abgeschüttelt, welche gewaltige Saat von Verbrechen mit der Wurzel ausgerottet, seit dort mit dem Gebrauch des Geldes zugleich die Geldgier beseitigt ist. Denn wer sieht /(607) nicht, daß Betrug, Diebstahl, Raub, Streit, Aufruhr, Zank, Mord, Verrat und Giftmischerei, jetzt durch tägliche Bestrafungen mehr nur geahndet als eingedämmt, mit der Beseitigung des Geldes alle zusammen absterben müßten und daß überdies auch Furcht, Kummer, Sorgen, Plagen und Nachtwachen in demselben Augenblick wie das Geld verschwinden müßten?« Thomas Morus findet in der Würdigung des Raphaelschen Berichts, es gebe in der Verfassung der Utopier sehr vieles, was er in unseren Staaten eingeführt sehen möchte, freilich fügt er hinzu, sei das mehr Wunsch als Hoffnung. Eine Wunschkonstruktion ging auf, eine rationale, in der keinerlei chiliastische Hoffnungsgewißheit mehr ist, dafür aber postuliert sich diese Konstruktion als eine aus eigenen Kräften herstellbare, ohne transzendente Unterstützung oder Eingriff. »Utopia« ist weithin ins irdisch Ungewordene, in die menschliche Freiheitstendenz hinein entworfen - als Minimum an Arbeit und Staat, als Maximum an Freude. Gegenstück zu Morus: Campanellar Sonnenstaat oder die Utopie der sozialen Ordnung Der Bürger blühte späterhin auf, gerade indem er neuen Zwang bejahte. Ausgeübt vom König gegen die kleinen, feudalen Herrn und ihre zersplitterte Wirtschaft. Das war der Fall im siebzehnten Jahrhundert, als die Produktion vom Handwerk in große Werkstätten, in Manufaktur überging. Als sie infolgedessen, in den vorgeschrittenen Ländern, auf einen großen, einheitlich verwalteten Wirtschaftskörper tendierte. Das Barock ist die Zeit der zentralisierten Königsgewalt, sie war damals progressiv. Dem Einklang des bürgerlichen Interesses mit der Monarchie entsprach nun eine völlig obrigkeitliche, auch bürokratische Utopie: Campanellas »Civitas solis«, erschienen
1623. Statt der Freiheit, wie bei Morus, klingt jetzt das Lied der Ordnung, mit Herr und Aufsicht. Statt eines Vorstehers der Utopier, im schlichten Franziskanermantel, mit Getreidekrone, erscheint ein Herrscher, ein Weltpapst. Auch liebte Campanella an den Verführungen Amerikas nicht mehr, wie Morus, die paradiesische Unschuld unter Insulanern, sondern das hochgebaute Inka-Reich von einst. Lewis Mumford, in »The Story of Utopias«, 1922, nennt Cam- /(608) panellas Utopie geradezu eine »Heirat zwischen Platons Politeia und dem Hof des Montezuma«. War doch, wie oben bemerkt, Platons »Politeia« die erste utopisierende Ordnung, lange bevor es einen Staatsroman der Freiheit gab. Im Titel wie in der geographischen Lage berührt sich Campanellas »Sonnenstaat« mit dem des Jambulos; wobei jedoch die Staatssonne bei Campanella nicht mit mühelosem hellenistisch-orientalischem Überfluß scheint, sondern eben mit zentralisierter Strenge, wie sie auch der künstliche Jesuitenstaat in Paraguay recht campanellahaft praktizierte. Insgesamt standen Campanellas Träume in Zusammenhang mit damaligen Machteinheiten; er hat diese auf eine utopische Bildwand projiziert. Nicht um sie zu ideologisieren, sondern er glaubte an das Kommen seines Traumreichs und pointierte die vorhandenen Großmächte lediglich als Werkzeuge der beschleunigten Ankunft. Obwohl er siebenundzwanzig Jahre in den Kerkern der spanischen Reaktion verbrachte, die ihm nicht traute, bejubelte Campanella, der erst Beziehungen zu den Türken gehabt haben soll, ganz überstark die spanische Weltherrschaft, zuletzt die französische, in beiden Fällen aber ausschließlich als Bereitungsorte des messianischen Sonnenreichs. Bezeichnenderweise hat er noch die Widmung seiner 1637 neu erschienenen Schrift »De sensu rerum et magia« an Richelieu mit messianischem Anspruch beschlossen, nicht mit höfischer Schmeichelei: »Der Sonnenstaat, der von mir entworfene, von dir zu errichtende«; - in dieser hochmütigen Hoffnung begrüßte Campanella auch die Geburt des nachmaligen Ludwig XIV., des später wirklich so genannten Sonnenkönigs. Des näheren nun ist die Schrift über den »Sonnenstaat« ein pünktlicher Bericht, von einem weit gereisten Genueser seinem Gastfreund abgestattet. Der Gubernator Genuensis erzählt, wie er bei einer Weltumsegelung bei der Insel Taprobane (Ceylon) gelandet und in einen Haufen Bewaffneter geraten sei, die ihn in die Sonnenstadt geführt und über deren Einrichtungen aufgeklärt hätten. Bei aller Kühnheit und der üblichen romanhaften Einkleidung hat der Bericht ein Ingenieurtechnisches an sich: die civitas ist konstruiert wie ein gleichzeitiger Festungsplan von Vauban. Im Ganzen muß Campanellas Utopie konform mit dem Weltsystem ihres Urhebers verstanden werden; Campanella ist außer Bacon und dem Fichte /(609) des »Geschlossenen Handelsstaats« der einzige Philosoph unter den neueren Utopisten. Nicht grundlos ist die »Civitas solis« als Anhang zu einer »Philosophia realis« erschienen, das ist als Paralipomenon, aber auch als Probe aufs Exempel einer Natur- und Moralphilosophie. Wie der Mensch, so ist auch seine Erweiterung, der Staat, ein Abbild Gottes; wonach diese Sozialutopie vom obersten Wesen zum Staat herabsteigt und zeigen will, daß er als vollkommen gedachter den Ausstrahlungen eines göttlichen Sonnensystems gleicht. Die kommunistischen Züge einer solchen Herrschafts-Utopie mögen überraschen; nur eben: hier ist nicht Utopie der Freiheit am Werk, sondern der personlosen Ordnung, gedacht im Weltstaat. Dessen administrative Durchorganisiertheit wurde in einem Inselmodell gespiegelt, wobei der Widerspruch zwischen Universalreich und Inselstadt unterdrückt wird. Das Leben geht militärmonarchisch nach der Uhr, strengste Pünktlichkeit und Vorgeordnetheit zeigen ihren Nutzeffekt sowohl zeit- wie verwaltungs- wie wirtschaftstechnisch. Das beginnende Manufaktursystem, das Arbeiter und technische Produktionsmittel in
großen Werkstätten vereinigte, wird staatssozialistisch utopisiert. Andererseits verklärt Campanella die damalige Hispanisierung des Kontinents, die gezielte Intoleranz (wenn auch mit eigenen Inhalten, nicht mit denen der Inquisition). Es erscheint ein Staatssozialismus, besser: ein papistischer, mit viel byzantinischem und astrologischem Pathos im Grund. Mit dem Pathos der rechten Zeit, rechten Lage, rechten Ordnung aller Menschen und Dinge; ein befehlendes Zentrum stellt Ordnung klassenlos, doch extrem hierarchisch her. Wird so verwaltet, dann gibt es weder Reiche noch Arme, Eigentum ist abgeschafft. Alle Bürger müssen arbeiten, ein Vierstundentag genügt, man kennt weder Ausbeutung noch Profit. Die Gewerbe werden jeweils gemeinsam, unter Aufsicht und ohne Einzelgewinn betrieben, gemeines Wohl ist höchste Aufgabe. Die jetzigen Staaten knirschen vor Selbstsucht: »Wenn es aber kein Eigentum mehr gibt, so wird sie zwecklos und verliert sich.« Die Laster der Armut wie die größeren des Reichtums sind verschwunden, es gibt keine anderen als Ehrenstreitigkeiten: »Die Solarier behaupten, daß Armut die Menschen niedriggesinnt, hinterlistig, diebisch, heimatlos, lügenhaft mache. Aber /(610) der Reichtum macht unverschämt, hochmütig, unwissend, verräterisch, prahlerisch und herzlos. In einem wahren Gemeinwesen dagegen sind alle reich und arm zugleich - reich, weil sie nichts wünschen, was sie nicht gemeinsam haben, - arm, weil keiner etwas besitzt, und folglich sind die Solarier nicht den Sachen versklavt, sondern die Sachen dienen ihnen.« Indem aber das Eigentum derart abgestorben ist, wird nicht auch der Staat verringert, wie bei Morus, er wird vielmehr höchster Zweck der Gesellschaft; von der provincia zum regnum, zum imperium, zur monarchia universalis und schließlich zum Papstreich aufsteigend. Der Staat garantiert gerade den angenehmen Teil der Ordnung, die Güterverteilung: »Alles, was die Solarier brauchen, erhalten sie vom Gemeinwesen, und die Obrigkeit sorgt streng dafür, daß keiner über Gebühr empfange, keinem ein Benötigtes verweigert werde.« Vor allem sucht noch Campanellas Staat seine Macht in der präsenten Metaphysik, die er darstellt, im Abbild Gottes, nach Campanellas Philosophie. Die Obrigkeit spiegelt die Grundkräfte der kosmischen Ordnung, jene drei »Primalitäten« des Seins, welche die menschlichen Erfahrungen wie Wirkungskreise beherrschen. Es sind Sapientia, Potentia, Amor, ihre Einheit ist Gott, sie greifen und emanieren aus Gott durch vier immer körperlicher werdende Welten ins jeweils geschichtliche Dasein, den »mundus situalis«. In ihm brauchen die »Primalitäten« selber eine Verkörperung, um die Ordnung zu schaffen, die allemal nur eine der rechten Zuordnung sein kann: Gott wird der päpstliche Weltherrscher, in Campanellas Utopie auch Sol oder Metaphysicus genannt. Ihm unterstehen drei Fürsten, deren Wirkungskreis den Regionen Sapientia, Potentia, Amor genau entspricht, wie in einem kabbalistischen Raum. Geschichte wird Herstellung dieses einzig rechten, nämlich senkrechten Staatsraums; wie denn der Raum überhaupt bei Campanella überall gefeiert wird, »als unvergängliches und fast göttliches, alles durchdringendes Behältnis der Dinge«, das selber nach Erfüllung strebt und den horror vacui füllt, das Grauen vor Chaos und Nichts. Notwendigkeit als Ausdruck der göttlichen Potentia besiegt den Zufall (contingentia), Bestimmtheit (fatum) als Ausdruck der göttlichen Sapientia besiegt den Einzelfall (casus), Ordnung aber (harmonia), vor allem diese, als /(611) Ausdruck des göttlichen Amor besiegt den Glücksfall, Wechselfall (fortuna). Das aufsteigende Bürgertum steht derart bei Campanella (wie vorher bei Cusanus) durchaus im Kampf gegen das Nichts; anders als das absteigende, sich ins Nichts hineinkniende, panchaotische. Campanellas Weisheits-, Macht-, Liebe-Ordnung, die der drei »Primalitäten« also, ist dem Chaotischen: dem Zufall, dem Einzelfall, dem
Wechselfall, aber entgegengesetzt. Und die Ordnung ist genau als aktive entgegengesetzt, indem contingentia, casus, fortuna lediglich »a nihilo contracta «, eben die Überreste des toten Nichts sein sollen (De monarchia p. 1), aus dem Gott die Welt ins Dasein rief. Recht emanatistisch freilich wollte Campanella das Nichts oder Non-Ens in der Welt zuletzt durch Einstrahlung des Ens, des Sol, des Sonnenwesens besiegen. Es überrascht daher nicht, daß die weitere Weisung einer so durchherrschten Welt der Mythos der Astrologie werden konnte; denn sie vor allem garantiert die Abhängigkeit von oben. Astrologie entsprach dem Fanatismus dieser Ordnung, sie wirft den Menschen mit allen Dingen unter Planeten und die regierenden Häuser des Tierkreises. Das häusliche wie das öffentliche Leben der Solarier, der Verkehr wie die Stadtanlage, selbst Bad, Mahl und rechter Beischlaf geschehen nach Sternstunden: »Männer und Frauen schlafen in zwei getrennten Kammern, erwarten den Moment ihrer fruchtbaren Vereinigung: zur bestimmten Zeit öffnet eine Matrone die beiden Türen von außen. Diese Zeit bestimmen der Arzt und der Astrologe, welche den Moment zu treffen suchen, in welchem Venus und Merkur östlich von der Sonne in einem günstigen Hause stehen, im glückverheißenden Anblick des Jupiter.« Die Wahlfreiheit und die Freiheit überhaupt sind derart aus dem Menschen herausgenommen, nicht zwar in mechanisierender, wohl aber in Weise einer Sterndiktatur, von oben herab, überall. Astrologie ist heute nur noch eine Ruine abergläubischer Baukunst, damals aber war sie noch lebendig und anerkannt, eine Art Ständehaus, das mit seinen Patriarchalismen sich durch die ganze Welt erstreckt. Und nur nebenbei wohnen einige Freigelassenheiten - nicht Freiheiten in der totalen Hierarchie, sie sind einzig fehlende Verbote. Es gibt mehrere solcher fehlenden Verbote: »Die freie Zeit kann der Solarier mit angenehmem Studium, Spaziergang, geistigen /(612) und körperlichen Übungen und mit Vergnügen zubringen.« Ebenso erreicht der Venusberg nicht die Höhe der sonstigen Pedanterie, die astrologischen Gesetze des Beischlafs sind nur für prospektive Eltern verpflichtend: »Die übrigen, die entweder zum Vergnügen oder auf ärztliche Verordnung oder als Reizmittel Umgang mit Unfruchtbaren oder Prostituierten pflegen, lassen diese Gebräuche außer acht.« Ja es gibt sogar liberalistischen Schein an der Stelle, wo der Staat am ernstesten hervortritt, bei Gelegenheit eines Todesurteils: »Der schuldig Befundene muß sich in diesem Fall mit dem Kläger und dem Zeugen versöhnen, indem er ihnen, gleichsam als den Ärzten seiner Krankheit, Kuß und Umarmung gibt. Überdies wird das Todesurteil in Solarien an keinem Verurteilten vollzogen, als bis dieser selbst durch überlegene Gründe zur Überzeugung gelangt ist, es sei nötig, daß er sterbe, und bis er dahin gebracht worden ist, selbst die Vollziehung des Todesurteils zu wünschen.« Eine ähnliche Forderung stellt zwar Rousseaus »Contrat social«, doch der Unterschied zwischen der Gesinnung hier und der Campanellas könnte nicht größer sein. Rousseau will die Selbstbestimmung noch im Akt ihrer Vernichtung wahren, Campanella dagegen gebraucht die Liberalität als Hilfsmittel des stärksten autoritativen Triumphs. Denn das rechtens verurteilte Individuum will sich hier selber als Abweichung vernichtet sehen oder in der Kirchensprache: laudabiliter se subjecit. Die Subjektivität ist nur genau so weit vorhanden, als sie ihrer Austilgung zustimmt. Das heißt, es wird ihr sogar das Refugium genommen, ein Rebell sein zu können oder ein beharrender Ketzer. So triumphiert totaler Konformismus eben dort, wo er eine Ausnahme zu erleiden scheint; Campanellas »Sonnenstaat« stellt auch in seiner Humanität den äußersten Gegenpol zur Utopie der Freiheit dar. Ordnung ist die Tugend selbst und ihre Versammlung: »Bei den Solariern gibt es soviel Obrigkeiten als bei uns Namen von Tugenden: Großmut, Tapferkeit, Keuschheit,
Freigebigkeit, Heiterkeit, Nüchternheit und so fort. Und zu den Ämtern werden sie ausgewählt, je nachdem sie schon als Kinder in der Schule den größten Hang zu dieser oder jener Tugend verraten haben.« Glück bleibt auch in dieser harten Utopie Summum bonum, doch eben das Glück des Dienens, angeschirrt zu einem Gottesdienst, /(613) der - bei völliger Einheit geistlicher und weltlicher Gewalt dasselbe ist wie Staatsdienst. Soviel über Campanellas Zukunftsstaat, er enthält Zwangsrausch ohnegleichen, er überbietet Platons Sparta-Ideal durch Verwendung der ganzen seitdem gekommenen bvzantinischen und katholischen Hierarchie. Außer den Eigentumsverhältnissen ist das Leben nur deshalb so schlecht, weil die Menschen nicht an ihrem Ort sind, weil mundus situalis, der bloße Situationszustand des Lebens, in den Situationszufällen seines Halb-Nichts taumelt. Weil keine Eintracht herrscht und kein Einverständnis mit den durchwaltenden Himmelskräften, kein Einklang mit ihnen; weil der Staat nicht im Lot ist. Das ist immer wieder der Grundgegensatz zu den Freiheits-Utopien, so verschiedener Gestalt, von den Kynikern bis Thomas Morus, bis schließlich zum Anarchismus; bei Campanella bricht der Gegensatz bewußt aus. Die Abschaffung des Privateigentums löst den Gegensatz nicht auf: denn bricht sie bei Morus Unter- und Überordnung überhaupt, setzt sie völlige Gleichheit, so wird diese Gleichheit bei Campanella gerade zum Baugrund, worauf sich neue Hierarchie erhebt, die der Begabungen, Tugenden und »Primalitäten«. Verdeutlicht man sich den Gegensatz Morus - Campanella an den beiden mehr miteinander konkurrierenden als verbundenen Naturmythen ihrer Zeit, so läßt sich sagen: Morus oder die Utopie der Freiheit entspricht fast so sehr der Alchymie, wie Campanella oder die Utopie der Ordnung eben der Astrologie entspricht. Morus erwähnt die Alchymie nirgends, schon deshalb nicht, weil Gold auf seiner Insel verachtet ist und weil Metallveredlung im symbolischen Sinn, als Weltveredlung, dort nicht mehr nötig zu sein scheint. Aber wenn Morus gleich eingangs erzählen läßt, daß der Gründer seiner Insel sie vom Festland erst abgesprengt habe, wenn sie, wie Morus sagt, gerade von der Welt der »plumbei« oder Bleiernen abgeschieden ist, so wurden diese Stellen bald alchymistisch gedeutet und waren, im Sinn der späteren Rosenkreuzer oder eingeweihten »Generalreformatoren« (Andreä, Comenius), so deutbar. »Utopia« wird aus der schlechten Welt herausdestilliert wie Gold aus Blei, - Alchymie galt als die Mythologie dieser Befreiung. Campanella dagegen erwähnt zwar Alchymie durchaus, bereits der Goldglanz in Sol und Civitas solis legte diese Erinnerung nahe, doch /(614) das bei ihm durchgehende Pathos der Astrologie verhinderte, daß soziale Goldbefreiung aus dem vorgeordneten Raum herausbrach und ihn sprengte. Harmonie der unteren Welt war auch bei Campanella eine erst zu gründende, doch bleibt » Civitas solis « scharf an die Sternregenten angeschlossen. Utopie muß hier nicht herausprozessiert werden, sondern sie ist kosmischer Einklang, und es ist nicht zuviel, sondern zuwenig Regierung in der bisherigen Gesellschaft, folglich zuwenig Astrologie. Derart ist der Gegensatz zwischen dem Morus- und dem Campanella Modell auch ein mythologischer; und er reicht - ohne mythologische Hülle - in sämtliche nachfolgende Utopien. Der liberalföderative Sozialismus (von Robert Owen an) hat Morus zum Ahnen, der zentralistische (von Saint-Simon an) berührt sich mit Campanella, mit breitliegendem, hochgebautem Regiment, mit Sozialutopie als Strenge und disponiertem Glück. Sokratische Frage nach Freiheit und Ordnung, unter Berücksichtigung von »Utopia« und »Civitas solis«
Je größer die Worte, desto eher kann sich Fremdes in ihnen verstecken. Dies ist besonders mit Freiheit, mit Ordnung der Fall, wobei oft jeder sich das Seine denkt. Die Insel, auf der die eine oder die andere sich angesiedelt hat, vermindert trotz ihrer Kleinheit das ausgedehnt Vieldeutige dieser Grundsätze nicht. Ein Sokrates stellte sich unwissend über Begriffe, die jeder zu verstehen glaubte, und er wollte sich bei sogenannten Kennern ironisch Rats erholen. Doch wie bald verwickelten sich diese in Widersprüche, wurden verwirrt, Nachdenken kam endlich in Fluß. Auch Freiheit, sodann Zwang und Ordnung müssen derart befragt werden, um nicht Schlagworte für bloße, oft betrogene Meinungen zu sein. Setzen Thomas Morus demokratische Freiheit, Campanella autoritäre Ordnung als synonym zu sozialem Glück, so haben vorher wie nachher diese Politika schon ganz Verschiedenes erlebt und bedeutet. Das Problem der Freiheit ist ihre Vieldeutigkeit und ihr besonders großer Funktionswandel während der Geschichte. So sind nicht nur psychologische oder Wahlfreiheit, politische oder Selbstbestimmungsfreiheit voneinander zu trennen. Auch innerhalb der Selbstbestimmungs- /(615) freiheit kommt alles auf die Gruppe an, die sie anstrebt, auf den jeweiligen Zustand der Gesellschaft, worin der Liberté-Ruf noch jungfräulich ist. So reicht er von freier Konkurrenz, wirtschaftlichem Manchestertum bis zum Kampf gegen eben diese liberalen Herren. Er reicht von dem bürgerlich-revolutionären Akt, der die freie Konkurrenz gegen Zunftschranken und feudale Bevormundung durchsetzte, bis zur freien revolutionären Tat des Proletariats, die genau wieder vom emanzipierten Bürger emanzipiert. Der Freiheits-Ruf reicht von der »Libertät« der deutschen Territorialfürsten, stabilisiert gegen den Kaiser in Wien, bis umgekehrt zur Abschaffung der Fürsten, des beherrschenden Klassenstaats insgesamt. Freiheit: sie wird verlangt von der neufeudalen Libertät der Industriefürsten und Monopole, und sie erfüllt, mit radikalem Gegensatz, das Programm: Expropriation der Expropriateure. Die phrygische Mütze deckt sowohl den nationalen Befreiungskrieg wie den revolutionären Bürgerkrieg gegen die Geßlerschicht in der Nation selbst. All das zeigt Freiheit als einen in seinen Inhalten variierbaren Beziehungsbegriff; sogar das Formale dieser Beziehung ist noch verschieden, je nachdem, ob Befreiung von etwas oder zu etwas erstrebt wird. Das Eigentum an den Produktionsmitteln bedingt eo ipso Unterdrückung derer, die als einziges Kapital ihre Arbeitskraft besitzen. Ein noch so gründlich gemeinter Liberté-Ruf, wenn er innerhalb der Eigentums-Gesellschaft geschieht, verändert nur die Abhängigkeit wirtschaftlich schwächerer Klassen, unterhalb der siegenden Freiheitsklasse, oder setzt neue Sklaven, so das Industrieproletariat. Die Freiheit des Erwerbs endete, indem sie keine Freiheit vom Erwerb geworden ist, eindeutig in Tyrannei, und zwar in besonders drückender; kapitalistische Demokratie ist Plutokratie, Sokrates hätte also in der vielerlei ökonomisch-politischen Freiheit wenig Übereinstimmendes und wahrhaft Emanzipierendes entdeckt, es sei denn dort, wo von den Eigentums-Herren, als dem Quell jeder politischen Nicht-Freiheit, emanzipiert wird. Überall sonst besteht nur das spezielle Interesse an einer Freiheit, die die Freiheit eines speziellen Interesses ist. Dagegen, wo das Eigentum weggehoben wird, gibt Freiheit, im politisch-sozialen Gebrauch, das Gemeinsame heraus, worauf ja Sokrates bei seinen Fragen intendiert hatte, oder /(616) wenigstens einiges von diesem Wesen. Es ist das, was Morus trotz allem zu einem Exempel der Freiheitsutopien macht und was das Verhältnis Herr - Knecht angreift. Wesenhaft lebt in Freiheit die Opposition gegen ein ohne Zustimmung Vorgeordnetes, gegen das die Abhängigen überkommende, ihnen überkommene soziale Schicksal. Wesenhaft wirkt in Freiheit der Gegenzug eines subjektiven Faktors gegen jene
Notwendigkeit, woran die Menschen ohne Willen, wider Willen und jedenfalls ohne Begriff angeschlossen sind. Der subjektive Faktor braucht keiner des Individuums zu sein, er ist sicherer einer der Gemeinschaft, welche in corpore unterdrückt ist und in corpore, ihre Individuen mitbefreiend, gegen Unterdrückung aufsteht. Die Notwendigkeit andererseits muß nicht nur eine schlechthin feindliche sein, wie in ihren überalterten Zeiten, wo sie nur noch durch Tyrannei künstlich aufrechterhalten wird. Sie kann auch in Gesellschaft wie in Natur die blinde sein, welche blind ist, insofern sie nicht begriffen wird. Gegen diese Notwendigkeit tritt sozial-politische Freiheit an, und sie wird erst Freiheit in ihrem völligen oder Wesens-Sinn, indem sie sich mit den Kräften der Notwendigkeit konkret vermittelt. Dieser Art definiert Engels im Anti-Dühring soziale Freiheit in concreto: »Die objektiven fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.« An dieser Freiheit sind noch tausend Probleme, nämlich des Wozu und Inhalts, des Selbst, das in der Selbstbestimmung bestimmt wird, doch es gibt keine Vieldeutigkeit mehr. Vorausgesetzt dazu ist, bei Morus und den meisten Utopien, die Abschaffung des Privateigentums und der von daher erzeugten Klassen. Vorausgesetzt ist der Konsequenzwille zur Negation des Staates als einer Herrschaft über Personen, als eines Unterdrückungsinstruments in den Händen Privilegierter. Bei Engels wird der Staat nicht primär negiert, aber schließlich zurückgebracht auf die Verwaltung von Sachen und die Leitung /(617) der Produktionsprozesse; irgendein Pathos hat er auch hier nicht mehr der Staat wird unfühlbar, als Druck stirbt er ab. Weniger vieldeutig als schlechthin rückschrittlich wirkt das harte Wort Zwang, es schreckt. Und doch schwankt selbst hier etwas, so sehr alles wie Schraube, nichts wie Freiheit aussieht. Denn zu beachten ist, wer denn den Zwang, mithin die Aufrechterhaltung der Ordnung ausübt und wozu diese ausgeübt wird. Ist das beachtet, dann erhellt, auch Ordnung hat mehrere Gesichter, und der Staat, der mit ihr gemacht wird, bleibt nicht der gleiche. Es gibt eine des puren Zwangs, womit schlechte Gemeinschaft sich gegen einige ihrer Wölfe, vorab aber gegen alle ihre Opfer durchsetzt, und eine andere aus der Gemeinschaft selbst, aus ihrem Halt und Bau. Im ersten Fall ist gar keine wirkliche Ordnung, sondern einzig regulierte oder aber gewaltsam aufrechterhaltene Unordnung. Auch die kapitalistische Gemeinschaft wird dann nur möglich, indem individuelle Freiheit, das ist hier die der Warenbesitzer, im sogenannten Rechtsstaat auf das Maß eingeschränkt wird, das die so individuelle Freiheit jedes anderen Bürgers unangetastet läßt. Diese Einschränkung ist nicht aus dieser Freiheit genommen, obwohl das im liberalen Naturrecht versichert wird, sondern schwebt über ihr, ist als Notstand ihr aufgesetzt. Der Notstand heißt bürgerliche Ordnung: als Zwang steht sie den wirtschaftlich ohnehin Unterdrückten und ihrem Aufruhr entgegen, als Schlauheit ist sie den Starken und ihrer Konkurrenz verschworen. Ganz anders zeigt sich die Ordnung im zweiten Fall beschaffen, im Fall sozialistischer Wirtschaft und Gesellschaft. Sie erscheint dann nicht als purer Zwang oder erzwungener Notstand, nicht als Bedingung des Zusammenlebens, gar der Gemeinschaft selbst. Sondern Gemeinschaft ist dann ohnehin primär, der Mensch hat, wie Marx in der Schrift »Zur Judenfrage« hierzu sagt, seine forces propres als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert. Er trennt daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr als politische
von sich ab, als abstrakten politischen Ordnungsstaat, im Gegensatz zu dessen egoistisch wirtschaftenden Elementen. Ordnung verliert dann den Zwang der individuellen Einschränkung; denn der Zustand homo homini lupus ist beendet, Einschränkung des Erwerbsbürgers durch einen abstrakten Staatsbürger nicht mehr /(618) notwendig. Jeder hat die Gelegenheit, ein Mensch zu sein, weil keiner mehr die Gelegenheit hat, ein Monstrum zu sein; so geht der sozialen Ordnung sowohl ihr Zwangscharakter wie ihre abstrakte Idealität verloren. Das gesellschaftliche Individuum hat den abstrakten Staatsbürger in sich zurückgenommen und sich in ihn aufgenommen; so wird Gemeinschaft selbstverständlich, Ordnung konkret. Sie hat sich, sobald die kapitalistische Bedrohung an den Grenzen aufgehört hat, nicht mehr bewaffnet aufrechtzuerhalten, gegen eine unterdrückte Klasse, sondern stellt sich, bei verschwundenem Anlaß zur Unterdrückung, als einverständliche Organisation und Umfassung dar. Solch konkrete Ordnung ist zuletzt dasselbe wie klassenlose Gesellschaft, ist die Struktur dieser nicht-antagonistischen Gemeinschaft schlechthin. Konkrete Ordnung erscheint im unwesentlich Gewordenen als Leitung von Produktionsprozessen, im wesentlich Bleibenden als Bau immer zentralerer Zieleinheit des Menschengeschlechts oder als Bau des Reichs der Freiheit. Ersichtlich liegt damit ein anderer Ordnungsbegriff vor als der des puren Zwangs und der Einschränkung; Ordnung wirkt in der Gemeinschaft selbst, als ihr immanenter Halt. Allerdings wird Ordnung so nicht Spiel, sie bewahrt vielmehr ihren Organisations- und Reichscharakter. Gerade als Organisation verhält sie sich darum nicht unbedingt konträr zum wichtigsten Motiv in Campanellas Ordnungs-Utopie: zur Aufhebung von unbeherrschtem Zufall, Einzelfall, Glücksfall (contingentia, casus, fortuna); zum Willen, die Dinge aus einem Zentrum her ins Lot zu bringen. Und nicht grundlos lebt im Marxismus außer dem gleichsam Toleranten, das sich im Reich der Freiheit ausdrückt, auch das gleichsam Kathedralische, das eben im Reich der Freiheit, in der Freiheit als einem Reich sich ausdrückt. Die Wege dazu sind gleichfalls nicht liberal; sie sind Eroberung der Macht im Staat, sind Disziplin, Autorität, zentrale Planung, Generallinie, Orthodoxie. Und das Ziel, welches jeder künftigen Freiheit den Halt gibt, zeigt gleichfalls mit dem Liberalismus der Dissoziierung keinerlei Verwandtschaft; konträr: gerade totaleFreiheit verliert sich nicht in einen Haufen hüpfender Beliebigkeiten und in die substanzlose Verzweiflung, die an deren Ende steht, sondern siegt einzig im Willen zur Orthodoxie. Ordnung ist also gleichfalls kein einfacher Begriff, /(619) und Sokrates hätte viel Hebammenkunst nötig, bis ihr Wesen erschiene. Als ein Wesen, das ohnehin - noch deutlicher als die Freiheit - erst in eigentumsloser, klassenloser Gesellschaft auf gehen kann. Das Wesen der Freiheit hat den Willen hinter sich, das Emotional-Intensive, das durchbrechen und sich schrankenlos verwirklichen will; das Wesen der Ordnung dagegen hat das vollendet Logische für sich, die Faßbarkeit eines Gutgeworden, oder Gelungenseins. Davon lebt zuletzt sogar der Versuch: Ordnung in allen möglichen Feldern und Sphären, von Sauberkeit und Pünktlichkeit bis zum Überblick des Männlichen und des Meisterlichen, vom Zeremoniell bis zum Baustil, von der Zahlenreihe bis zur philosophischen Systematik. In einigen dieser Dispositionen ist die Ordnung nur äußerlich oder auferlegt, gleich dem Staatsgesetz in den Unterdrückungs- und Klassengesellschaften. In anderen Dispositionen aber, so vor allem in den künstlerisch-genauen und in denen philosophischer Systeme von Rang, kommt die Ordnung zum Teil bereits aus dem Material selbst. Sie ist ihm der Tendenz nach eingeschrieben, derart, daß Chaos, das keines ist oder bleibt, selber den Stern und die Sternfigur latent in sich hält. Die Freiheit hat in ihren Manifestationen das Gemeinsame, nicht von einem dem Willen Fremden oder
Entfremdeten determiniert sein zu wollen: das Gemeinsame der Ordnung aber ist der Wert der Gebautheit, die keiner Emotion mehr bedürftige Entronnenheit. Es ist dies Enthobene und an seinen Platz Gelangte, ja dies Reichshafte, das in anderen Welten, die weniger im argen liegen als die politische, beste Ruhe kenntlich macht und als Bestes kenntlich macht; so bei Giotto, so bei Bach. Das Wesen der Ordnung - und alles Wesen ist noch ein anderes als Erscheinung - bleibt so die Utopie der Zufallslosigkeit, der Situationslosigkeit. Selbst in den abstrakten oder Zwangsordnungen der Klassengesellschaft ist dieser Reichsgeist ein Tribut des Lasters an die Tugend. Er macht die Verführung oder halbe Wahrheit in Campanellas Strenge-Pathos, sozialem Baupathos aus, in der Harmonie, welches aus dem mundus situalis gegen contingentia, casus, fortuna aufsteigt und Sein der Situationslosigkeit setzt. Insofern ist Ordnung der Freiheit entgegengesetzt, nämlich der Freiheit im bürgerlich-antagonistischen Sinn, mit lauter kapitalistischen Einzelfällen als Trägern /(620) und Erwerbsglück als Ziel. Dieser Art Freiheit war teilweise bereits die bürgerliche Ordnung notgedrungen entgegengesetzt; nicht aber ist konkrete Ordnung der konkreten Freiheit entgegen gesetzt. Denn konkrete Freiheit ist ebenso der gemeinschaftlich offenbar gewordene und sozial gelingende Wille, wie konkrete Ordnung die gelungene Figur der Gemeinschaft selber ist; beide, auch die Freiheit sind nun konstruktiv. Konkrete Freiheit, konkrete Ordnung sind in diesem Postulat der Unabhängigkeit verbunden, in der Utopie eines situationslosen Seins, die das Freiheits- wie Ordnungs-Postulat regiert. Diese Verbindung ist keine stille Identität (wie etwa in der Kantischen Ethik, wenn sie Identität ihrer Freiheit mit dem Sittengesetz supponiert). Wohl aber ist die Verbindung dialektisch: Freiheit und Ordnung schlagen immer wieder ineinander über, zur Herstellung der Situationslosigkeit. Die Freiheit wird durch Ordnung beendet, indem sie sie in einem gebauten Raum oder Reich landen läßt, statt daß Freiheit in der Willenszeit endlos weiterläuft. Die Ordnung wiederum findet in der Freiheit ihr Ende, nämlich ihren einzigen Inhalt, oder das Eine, was in Ordnung zu sein not tut: den menschlichen Willen, das wesenhafte Selbst und Was dieses Willens. Das weist die Ordnung letzthin auf die Freiheit, auf dieses allerdings einzig Substantielle der Ordnung, sei es Freiheit der unterdrückten Klasse oder schließlich der klassenlos gewordenen Individuen, mit einem aus ihnen entspringenden Kollektiv. Nur der Wille Freiheit hat einen Inhalt, der Logos Ordnung hat keinen eigenen Inhalt; mit anderen Worten: das Reich der Freiheit enthält nicht wieder ein Reich, sondern es enthält die Freiheit oder jenes Fürsichsein, zu dem hin einzig organisiert und geordnet wird. Marx hat das Frei-Konföderative bei Morus und seinen Nachfolgern, das Geordnet-Zentralistische bei Campanella und seinen Nachfolgern gleichmäßig verbunden und überwunden. Ordnung ist hier das Novum: demokratischer Zentralismus, ist gemeinsame Organisation der Produktionsvorgänge, gemeinsam-einheitlicher Plan der menschlichen Information und Kultivierung. Wie der abgehobene politische Staat abstirbt, so verliert nun Kultur ihre abgehobene Verdinglichung und schwebende Abstraktheit; sie kommt in konkreten Rahmen, in konkret zusammenhaltendes /(621) Relief. Kultur verliert das Beliebige und Ziellose, sie gewinnt den scharf orientierenden Hintergrund eines Wozu; neue Heilsordnung, nämlich für den Menschenstoff, zieht auf. Freiheit erlangt einzig durch diese Ordnung ihren Inhalt als bestimmten, mindestens als immer präziser artikulierten. Aber was in der Ordnungsfigur möglicherweise hervortritt, ist und bleibt eben nichts anderes als bestimmte Freiheit; Ordnung ist demgegenüber einzig der Raum, jedoch der unabdingliche, für den bestimmten Freiheits-Inhalt. Nur der Weg über »Campanella« (als Ordnungspathos gedacht) führt dergestalt zu einer Demokratie des » Morus«
(als Freiheitspathos gedacht), an der kein liberalistisches juste milieu, in keinerlei Gestalt, möglich ist, sondern ein Reich von Individuen anfangen könnte, die aus der räuberisch-vereinzelten Freiheit wie aus der lauen Ungeordnetheit heraus sind und sich aufs beste Erbe aus Föderation und Zentralisierung verstehen: auf Fülle in Einheit. Das ist das gleiche wie Solidarität, als reich bewegter Zusammenklang der individuellen und der gesellschaftlichen Kräfte. Freiheit und Ordnung, harte Gegensätze in den abstrakten Utopien, gehen so in der materialistischen Dialektik ineinander über, stehen sich bei. Konkretes Freisein ist Ordnung, als die seines eigenen Felds, konkretes Geordnetsein ist Freiheit, als die seines einzigen Inhalts. Fortgang: Sozialutopien und klassisches Naturrecht Es mußte nicht immer fernhin geträumt werden, um Licht zu sehen. Besonders dann nicht, wenn ein Anspruch aufs Bessere gestellt wurde, statt seines bloßen Vormalens. Dann kam allemal Näheres, scheinbar Erinnertes, sicher Einleuchtendes auf, nämlich das sogenannte Recht, das mit uns geboren. Das unveränderlich ist oder sein soll und als natürliches Recht allen willkürlichen Satzungen überlegen. Es rechtfertigt, ja fördert gegebenenfalls Widerstand gegen die Satzung, von einem höheren Standort aus als dem des geschriebenen Rechts. Dies uralte, bezeichnenderweise mutterrechtlich bestimmte Antigone-Motiv kam, durch stoisches Naturrecht vermittelt, im sechzehnten Jahrhundert zu neuem Glanz. Seine mutterrechtlichen Züge, obwohl in der Stoa noch deutlich erkennbar, sind freilich ziem- /(622) lich geschwunden. Ziemlich, nicht ganz; denn bei Rousseau, im Preis der ebenso gütigen wie gleichmachenden Natur, sind sie noch deutlich wirksam. Doch tritt das Naturrecht, indem es im erstarkenden Bürgertum ein revolutionäres, ein tyrannenfeindliches wird, sogleich hart auf. Es ist aus anderem Stoff als die sozialen Utopien, wenngleich das Wunschziel verwandt ist, und hat sie vorübergehend ersetzt. So fremdartige Brüder wie Hugenotten (nach der Bartholomäusnacht) und Jesuiten (in der Bekämpfung der Ketzerstaaten) haben, durch juristische Legitimierung des Tyrannenmords, die Theorie der bürgerlichen Revolution vorbereitet; Naturrecht gegen geschriebenes erlangte von da an seine politisch wie methodisch scharfe Gestalt. Althus (Politica, 1610) lehrte, daß der Widerstand gegen ungerechte Herren nicht Aufruhr, sondern Wahrung eigener verletzter Rechte sei. Er benutzte dazu die epikureische Lehre vom Vertrag, den die Menschen freiwillig zur Gründung eines Staats eingegangen sind. Bei Epikur war von einer Kündigung dieses Vertrags noch keine Rede; Althus aber begründet durch sie den Widerstand. Wird der Vertrag von Seite der Obrigkeit gebrochen, wird nicht mehr nach dem Willen und Wohl des Volkes regiert, dann ist er auch nach der anderen Seite nicht mehr verbindlich. Das Volk widersteht nun mit Recht der ungerecht gewordenen Obrigkeit, es entzieht ihr seine Vollmacht. Mit geminderter Widerstandslehre, aber verstärkter Trennung von positivem und ungeschriebenem Gesetz erscheint der logisierte Traum vom Rechten bei Grotius (De jure belli et pacis, 1625); er begann das neuere Naturrecht als System. Das heißt: der Trieb und seine Absicht, womit hier ein Gemeinschaftsvertrag geschlossen worden ist, erscheinen zugleich als das »Prinzip«, woraus die Sätze des Naturrechts a priori abgeleitet werden. Der derart begründende Ursprung des Staats ist der, appetitus socialis, der Trieb zur geordneten und friedlichen Gemeinschaft; infolgedessen wird Unrecht alles, was diese Gemeinschaft stört oder verunmöglicht (wie Bruch des Versprechens, Aneignung fremden Guts), Recht bleibt alles, ewig zu forderndes Recht, was sie gemäß dem Anfangsprinzip in Gang hält. Dies ideale Recht ist
ersichtlich bürgerlich-demokratisch, nicht nur im Schutz des privaten Eigentums, sondern vor allem in der erhobenen /(623) Forderung nach Allgemeinheit, nach genereller Geltung der Rechtssätze für alle. Hierin ist die Theorie des Grotius fortgeschrittener als seine politische Meinung, die in vielem noch ständisch war, noch Sonderinteressen der republikanischen Aristokratie Hollands vertrat. Aber theoretisch sucht Grotius durchaus generell-richtige Vernunft im Befehlen und Verbieten, die »recta ratio«, wie er mit Cicero sagt. Er hat die «Ökumene« seines Naturrechts, als das für alle Menschen gleichmäßig geltende, deutlich in Anlehnung an die Stoa gefaßt. Hatte diese doch zuerst das Naturrecht dargestellt als ein zu allen Zeiten und bei allen Völkern gleiches, jenseits der menschlichen Willkür, jenseits der wechselnden Meinungen und der Interessen (die das positive Recht gebildet haben). Grotius nimmt die stoische Lehre vom consensus gentium auf, als empirischen Beweis des Naturrechts, und die Lehre von den communes notiones, die nur zum wissenschaftlichen Bewußtsein gebracht werden müssen, als apriorische. Die Übereinstimmung in der Gewißheit des Rechten ist so in der Natur der Vernunft, in der Vernunft der Natur begründet als der causa universalis (1. c. Proleg. 40). Von diesem allgemein bestehenden, obwohl immer wieder durch partikulare Interessen verhinderten Vernunftgesetz gibt es keinen Dispens; es ist gleich zwei mal zwei ist vier, könnte also selbst von Gott nicht geändert werden, ja wäre lex divina, auch wenn kein Gott existierte (1. c., Proleg. 71). Das Sonderbare ist, daß die apriorische Konstruktion nicht einmal ganz das Gegenteil hergab, als der Inhalt ihres «Prinzips« geändert wurde. So bei Hobbes (De cive, 1642, Leviathan, 1651), dem ursprünglichen Anwalt der royalistischen Partei Englands, dem schärfsten Verfechter absoluter Zentralgewalt und dennoch einem - Demokraten. Grundtrieb und Absicht von Natur aus sind nun nicht mehr appetitus socialis, freundlich-optimistischer, sondern schrankenlose Selbstsucht, daher homo homini lupus, daher bellum omnium contra omnes als Naturzustand. Die gleiche Selbstsucht schließt folglich den Staatsvertrag nicht als einen der Einigung, sondern der Unterwerfung, der gewollten Unterdrückung der Wolfsnatur. Diese Natur wird an einen Einzigen abgedankt, der sie behält und nun erst de jure verwendet: zur Niederhaltung aller Subjekte, zur Herstellung des /(624) Friedens und der Sicherheit, die die Selbsterhaltung, ihrem »Prinzip« nach, sucht. Außerhalb des Staats gibt es überhaupt kein Recht, und in ihm ist alles Recht, was der Herrscher befiehlt, obzwar dem «Prinzip« des Friedens und der Sicherheit aller gemäß -»auctoritas, non veritas facit legem « (Leviathan, cap. 26). Freilich kam zuletzt auch hier Demokratie heraus, sogar unumschränktere als bei dem aristokratisch-ständischen Politiker Grotius; eine vertrackte Demokratie gewiß, doch eine, die Karl II. über den Leviathan immerhin ausrufen ließ: »I never read a book which contained so much sedition, treason and impiety. « Treten Menschen mit der Absicht der Errichtung eines Staats zusammen, so ist dieser Grundakt selbst ein demokratischer; »der Eine, dem die Gewalt übergeben wird, ist einzig von der Mehrheit Gnaden« (De cive, 5, 7). Weiter bricht die Nullität, worin alle vor ,der absoluten Staatsgewalt bestehen, die ständisch-feudalen Unterschiede: alle Menschen sind gleich, weil alle Menschen vor dem Herrscher nichts sind; die Generalität des Gesetzes gerät auf diese paradoxe Weise lückenlos. Vor allem aber hat Hobbes nicht das absolute Königtum als demonstrabel dargestellt, sondern lediglich die absolute Souveränität und Einheit der Staatsgewalt. Diese war auch in republikanischer Form durchführbar; bereits in der Schrift »de cive« hatte Hobbes den demokratischen Staat dem aristokratischen als grundsätzlich gleichberechtigt gegenübergestellt; auch vertrug sich die Definition der Monarchie als erhaltener Wolfsnatur schlecht mit gesalbter Würde von Gottes
Gnaden. So seltsam ebnete sich hier Bourgeoisie, mit völlig zynisch gefaßtem Herrschertum über ihr, den Weg; und Leviathan, der Staat, ist ein Ungeheuer. Die Feindschaft von Adel und Kirche gegen Hobbes hinderte allerdings nicht, daß alles künftige Naturrecht den Worten nach als Anti-Hobbes auftrat. Dies deutlich bereits bei Locke (Civilgovemment, 1689), er kehrt zu Grotius zurück: Ursprung der Gesellschaft, also das Maß ihrer Richtigkeit, ist wieder gegenseitiges Wohlwollen, nicht gegenseitige Furcht. Hier, bei Locke, nicht bei Rousseau, wird die natürliche Güte des Menschen ungeheuerlich übersteigert, man weiß nicht, wieso es dann überhaupt zu einem Not- und Zwangsstaat kommt. Malt Hobbes in seinen Naturzustand einen Wolfs-Kapitalismus hinein, wie es /(625) zu seiner Zeit nicht einmal einen gab, so Locke eine Utopie, die an die des Morus erinnert; Naturzustand ist »Friede, guter Wille, gegenseitiger Beistand, Schutz«. Dies Wohlgeratene wirkt in gewordenen Rechtsverhältnissen und über ihnen normativ weiter: «Die Natur hat ein Gesetz, das jeden verpflichtet, und die Vernunft, die dieses Gesetz ist (reason which is that law - wiederum eine wörtliche Übereinstimmung mit der Logos Natur der Stoa), lehrt jeden Menschen, der sie befragt, daß, da alle gleich und unabhängig sind, keiner den anderen an Leben, Gesundheit, Freiheit und Besitz schädigen darf.« Ersichtlich ist hier überall Natur zwar eine Leitidee, aber noch keine Kontrastidee zur bürgerlichen Gesellschaft. Auch ist noch keineswegs das ganze Volk, sozusagen ungemildert, Träger des vernunftrechtlichen Ideals, sondern nur dessen repräsentativer Teil, in Ständen oder im ständisch gebauten Parlament. Erst in der letzten, feurigsten Gestalt des klassischen Naturrechts, bei Rousseau (Contrat social, 1762), tritt mit voller Macht das Volk auf, ständisch ungeteilt, unrepräsentiert. Der Bürger wollte selber nach dem Rechten sehen, wünschte keinen mehr, der ihn ersetzt. Haben die oberen Stände seinen Willen mißachtet, so will er keinen neuen verdächtigen Anwalt beauftragen, der ihn verfälscht. Daher Rousseaus schweizerische Vorliebe für kleine Staaten, kleine Städte, wo der öffentliche Wille unmittelbar sich kundgeben und eingreifen kann. Daher der Spott über das englische Parlament und die demokratische Farce, die die Oberschicht mit ihm vorspielt. Die Einsicht des Genfers ist in diesem Punkt verblüffend: das englische Volk, höhnt Rousseau, glaubt frei zu sein, ist es aber nur im Moment der Wahlen; wie diese vorüber, »ist es Sklave, ist es nichts«. Das völlig Neue an Rousseaus Naturrecht ist die Lehre von der Unveräußerlichkeit der Freiheit; sie und einzig sie zu erhalten, ist Sinn und Maß des wahren Staats. Und wie die Freiheit beim Einzelnen, so ist die Souveränität unübertragbar, unteilbar, unvertretbar, unbeschränkbar beim Volk. Sowenig also ein Mensch sich vertragsmäßig in Sklaverei begeben kann, sowenig kann ein Volk sich einem Fürsten übergeben: jeder Zusatz von Herrschaftsvertrag fällt mithin aus dem contrat social fort, er bleibt mehr noch als bei Grotius ein Einigungsvertrag. Und die große /(626) Frage Rousseaus lautet: »Wie kann ein Staat geschaffen werden, worin es keinen einzigen Unfreien mehr gibt, worin der Einzelne in der Gemeinschaft nicht das geringste vom Urrecht seiner Freiheit opfert« (Trouver une forme d'association qui defende et protège de toute la force commune la personne et les biens [!] de chaque associé et par laquelle chacun s'unissant à tous, n'obéit pourtant qu'à lui meme et reste aussi libre qu'auparavant? Tel est le probleme fondamental dont le contrat social donne la solution [Contrat social I, 6]). Die Antwort auf diese ungeheure Frage ist verständlicherweise weniger erschöpfend, gemäß dem bürgerlichen Klasseninhalt; sie lautet: indem Entäußerung an alle geschieht, an die ganze Gemeinschaft, bleibt der Einzelne ja selbst ein gleicher Teil dieser Allheit und erhält aus dem von ihr restlos empfangenen Freiheitsschatz genau so viel zurück,
wie er aufgegeben hat. Durch diese Reziprozität soll die Freiheit nicht aufgegeben werden, ja der Zwang, der durch den Staatsvertrag übernommen wird, soll kein anderer sein, als daß der allgemeine Wille sein Mitglied zwingen wird, frei zu sein (on le forcera d etre libre). Das ist eine ebenso formal-arithmetische wie spitzfindige Auskunft; konkret bedeutet sie wenig mehr als die Garantie der einzelnen freien Unternehmung durch einen solidarischen Interessenverband freier Unternehmer. Der allgemeine Wille, die volonté générale, wird nun gleichsam erst das sittliche Naturrecht, das dem bloßen sittlich-neutralen Naturzustand noch fehlt. Denn nur aus dem »Emile« und anderen Schriften Rousseaus, keineswegs aber aus dem «Contrat social« kann entnommen werden, daß der Mensch, folglich das Volk., unter allen Umständen gut sei. Nach dem «Contrat social« ist der Mensch im Naturzustand «ni bon ni méchant«; er wird auch zum letzteren erst durch die schlechte Gesellschaft gebracht, durch die soziale Erweckung der Selbstsucht, durch die Ungleichheit des Eigentums, die Sonderung der Stände. Ist der Mensch nun, nach dem »Contrat social«, an sich weder gut noch schlecht, so ist doch seine Artikulierung und Organisierung in der volonté générale schlechthin gut. Volonté générale kann nicht irren (II, 3), sie ist Sprache des wirklichen Rechts (II, 6), sie ist die Vernunft selbst, von der sie mit derselben Notwendigkeit bestimmt wird wie das Naturgesetz in der physischen Welt /(627) (II, 4). Wobei der allgemeine Wille, sonst auf annähernde Gleichheit des Privateigentums gerichtet, gegebenenfalls auch auf Sozialismus sich verstehen mag, wenigstens laut »Emile «. Hier berührt sich der sonstige Ideologe des Privateigentums fast mit dem kommunistischen Grundmotiv der meisten Utopien: »Der Souverän (volonté générale) hat kein Recht, das Eigentum eines oder mehrerer Individuen anzutasten. Aber er hat jedes Recht, sich die Eigentümer aller (in gleichzeitig generellem Enteignungsakt) anzueignen« (Emile V). Das ist freilich, wenn nicht die einzige, so eine der wenigen Stellen, worin Naturrechtssysteme Expropriation enthalten. Sie war Rousseau durch Morellys »Code de la Nature«, 1755, nahegelegt, neben Mably, dem wichtigsten Vorläufer des utopischen Sozialismus, mit völliger egalité in der Wirtschaft. Doch das klassische Naturrecht hatte seine Stärke nicht darin, daß es ökonomisch, sondern daß es politisch rebellierte, soll heißen: daß es den Respekt vor der Obrigkeit abtrug. Es baute die subjektiven öffentlichen Rechte in die sogenannten Grundrechte des Individuums ein, kodifiziert in den Droits de l'homme der französischen Nationalversammlung. Diese Droits de l'homme (Liberté, proprieté, sureté, résistance a l'oppression) sind das Postulat, stellenweise auch bereits der juristische Überbau einer fälligen Bourgeoisie, eines Durchbruchs der individuell-kapitalistischen Wirtschaftsweise gegen Zunftschranken, Ständegesellschaft, gebundenen Markt. Doch diese Ideologie zeigt eben einen Überschuß, der Begeisterung erregte; das Ideal Freiheit erregte diese Begeisterung, sofern es mit bloßer Freizügigkeit oder mit freier Konkurrenz eben nicht ganz gedeckt oder abgegolten war. Es band sich im revolutionären Naturrecht ans Individuum (und ans Volk als Aggregat von Individuen), allein das verwendete Pathos der Person war weit älter, stammte aus dem Christentum, aus dessen metaphysischer Schätzung der Einzelseele. Die Droits de l'homme selber sind auch historisch und literarisch genauso vom religiösen Idealismus der jungen amerikanischen Staaten und ihrer Verfassung beeinflußt wie vom Naturrecht Rousseaus. All das sprengte das Gottesgnadentum der Obrigkeit, in seinem eigenen Feld; es sprengte aber auch die polizeistaatliche Rechtsordnung, wonach nur der Staat sui juris, aus eigenem Recht, das /(628) Subjekt dagegen lediglich altenus juris, aus abgeleitetem Recht, besteht. Die ganze Reinigungsgewalt des Naturrechts wird erst am gleichzeitigen Hintergrund der Willkürdespotie klar;
Beaumarchais und der junge Schiller machen die Folie zu Rousseau kenntlich. Gegen den damals nicht nur polizeistaatlichen Geist der Fürstenvergötterung ging das Naturrecht an; es steht diametral zu Versailles. Vor dem Doppelgeschütz Staatsvertrag natürliche Menschenrechte wurde die besonders kostbare Materie der Könige und Herren wehrlos. Das alte Gerüst des Unrechts stürzte ein, Vernunft und Natur wurden die Zeichen, worunter eine Welt menschlicher Würde einzuziehen gedachte. Diese Würde war damals rein individualistisch gefaßt und konnte nicht anders sein, der durchbrechenden privaten Wirtschaftsweise entsprechend, auf die sie noch bezogen war. Aber sie war ebendeshalb, als eine der individuellen Freiheit, genau visiert gegen feudale Unterdrückung, auch gegen das patriarchalische System des aufgeklärten Despotismus. Solche Art Staatsfeindschaft brach damals selbst in Preußen durch, wenn auch nur literarisch, in W. v. Humboldts: »Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen«, 1792. Dessen 15. Kapitel lehrt (freilich folgenlos, sowohl im aristokratischen Buch selber wie in der preußischen Wirklichkeit): »Wenn die Staatsverfassung den Bürgern, sei's durch Übermacht oder Gewalt oder Gewohnheit und Gesetz, ein bestimmtes Verhältnis anweist, so gibt es außerdem noch ein anderes, freiwillig von ihnen gewähltes, unendlich mannigfaltiges und oft wechselndes. Und dies Letztere, das freie Wirken der Nation untereinander, ist es eigentlich, welches alle Güter bewahrt, deren Sehnsucht die Menschen in eine Gesellschaft führt. Die eigentliche Staatsverfassung ist diesem ihrem Zweck untergeordnet und wird immer nur als ein notwendiges Mittel, und da sie allemal mit Einschränkung der Freiheit verbunden ist, als ein notwendiges Übel gewählt.« Junkertum, das noch vor den progressiven Tendenzen der Bürokratie liegt, und Hoffnung Rousseaus, die bereits gegen den beginnenden Militärstaat angeht und ihn denunziert, sind in diesem Libertätsbuch wunderlich vereint. Doch enthüllt es zugleich eine im Traum der Würde selbst gelegene Folge: Naturrecht als Demokratie bedeutet eine /(629) allen Menschen geschenkte Aristokratie. Freies Wirken der Nation untereinander ist hier nicht Handel, wurde nicht als Markt gedacht, sondern als Agora im griechisch-urbanen, utopisch-urbanen Sinn beschworen: für den aufrechten Gang aller. Der aufrechte Gang aller ist zwar gerade in der Klassengesellschaft, worin das Naturrecht blühte, eine Illusion, doch die heroische einer Welt ohne Korruption und Druck, mit Menschenwürde. Das Naturrecht hat diese Welt als eine des noch bürgerlich-humanen, gesellschaftlich garantierten (nicht nur erlaubten) Wollendürfens auskonstruiert. Aufgeklärtes Naturrecht an Stelle von Sozialutopien Sehr lehrreich, von hier aus das Verhältnis zu beachten, das das klassische Naturrecht zum immerhin wahlverwandten sozial-topischen Entwurf einnimmt. Es gibt sich nicht wie dieser als bloß gewünscht, sein Traum ist nicht üppig. Würdig-karg trat das Rechte unter seinen Verfechtern auf, nicht ausgemalt, sondern scharf gedacht. Das gedacht Abgeleitete gibt sich als bindend, als schlechthin geltend, statt des Nirgendwo der Vernunft erscheint ihr ableitbares Überall. Deshalb griff das Naturrecht auch viel näher, freilich auch zum Teil einverstandener in die jeweils aktuellen Verhältnisse ein als Staatsromane. Diese haben zwar, wie gesehen wurde, ebenfalls ihre Zeit in sich und die unmittelbar nachfolgende über sich, doch sie überfliegen beide zugleich. Naturrecht dagegen schärfte, visierte, forderte an Ort und Stelle, griff in bürgerliche Verfassungen ein, schrieb neue. Das Völkerrecht wurde von Grotius in den Linien seines Naturrechts entworfen, gar die Französische
Revolution zog aus Rousseau den wichtigsten Impuls und besonders auch die Fassung ihrer Grundsätze. Paragraph 6 der »Déclaration des droits de l'homme« bestimmt wörtlich nach Rousseau: «La loi est l'expression de la volonté générale.« Selbst in Deutschland, dem nie eine Revolution gelang, hat Naturrecht immerhin Reformgesetzgebungen wie die Stein-Hardenbergsche beeinflußt und, durch Anselm Feuerbach vermittelt, das liberale Bayrische Strafgesetzbuch von 1813. Sogar das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 hat vom Naturrecht. wenigstens die Form seiner /(630) Gliederung übernommen - ein Tribut des wohlwollend bevormundenden Polizeistaats an formal unvermeidliche Vernunft. Dieser Einfluß ist allerdings um den Preis erkauft, daß das Naturrecht auch insofern weniger Sozialutopie ist, als es für halb durchgesetzte Tendenzen hellhöriger ist als für künftige, gar für künftig-radikale. Indem das bei Sozialutopien umgekehrt ist, indem sie die Tendenz zur unmittelbar nächsten Stufe zwar enthalten, dem angezeigten Fahrplan der Utopien entsprechend, und ihren überschießenden Wunschtraum weitgehend in diesem bloß relativen ausdrücken, hierbei aber den überschießenden Wunschtraum selten vergessen, welcher in fast allen Sozialutopien ein kommunistischer ist: indem Sozialutopien derart ins Unbedingte transzendierten und vorhanden Fälliges nur selber unmittelbar oder nebenbei oder aber als Einkleidung des Unbedingten behandelten, hatten sie notwendigerweise auf Befreiung der bürgerlichen Produktivkräfte nicht entfernt soviel Einfluß wie das viel mehr lokalisierte Naturrecht und kommen während der Französischen Revolution kaum dem Namen nach vor. Das Recht insgesamt ist eine der Klassengesellschaft viel nähere Materie als die Utopie, und sicher ist im Recht keine christliche, gar chiliastische. Jesus lehnt Rechtsprechung ausdrücklich als sein Amt ab (Luk. 12, 14), der Volksmund bewahrt den alten Satz »Juristen - böse Christen«. Und nur das Naturrecht der Sekten, also das juristisch unausgeführte, hielt sich, indem es auf den paradiesischen Urstand als Maß zurückging, von der Verquickung mit Sachenrecht, Obligationenrecht, Schuld, Strafe und dergleichen fern. Das ausgeführte klassische Naturrecht hat das keimende Unternehmerinteresse in sich; von daher sein fast durchgehender Schutz der Privatheit, von daher seine liberalistischen Eierschalen. Doch tritt, wie bemerkt, der Überschuß im Freiheitsideal hinzu, jener Männerstolz vor Königsthronen, der mit Ideologie für freie Konkurrenz und individuelle Wirtschaft nicht ganz zusammenfällt. Und von diesem Überschuß kommt schließlich die große bürgerlich-revolutionäre Ausweitung her, die das Naturrecht in seinem Einfluß auf empirische Verhältnisse dem subjektiven öffentlichen Recht angedeihen ließ. Sozialutopien haben dem deshalb nichts an die Seite zu setzen, weil sie kaum von Revolution selber handeln, /(631) weil sie deren erträumtes Ergebnis bereits als geschehen voraussetzen. So sehr Sozialutopien mehr Zukunft enthalten, so ist diese doch mehr eine aus glücklicher Menschenflora als aus durchgekämpfter Forderung. Anders im pointierten Rechtsbegriff, wie er naturrechtlich entwickelt worden ist; hat er doch von Anfang an einen aufreizenden Doppelsinn des Postulierens an sich. Recht als individuelle Berechtigung und Recht als angebliche Vertretung eines Gesamtinteresses, als objektive Rechtsvorschrift von oben herab: diese beiden Momente haben im gleichlautenden Ausdruck: Recht eine merkwürdige Äquivokation. Sie war noch keine, als das subjektive Recht lediglich einen Anspruch von Gläubigern an Schuldner darstellte und lediglich eine Berechtigung, den Vollzug einer Leistung von anderen Privaten zu erzwingen; in diesem unpolitischen Stadium waren Berechtigung und Rechtsvorschrift, facultas agendi und norma agendi, noch Kehrseiten der gleichen Medaille. Das Gesetzbuch Justinians sah in Privatrecht und Staatsrecht (dem Recht des Staats) nur zwei
Positionen innerhalb des gleichen Geländes (lnst. VI, 4): »Publicum jus est, quod ad statum rei Romanae, privatum, quod ad singulorum utilitatem pertinet« (Öffentliches Recht ist, was auf den römischen Staat, privates, was auf den Nutzen der Einzelnen sich bezieht). Tritt jedoch Spannung ein zwischen einer ökonomisch progressiven Klasse und dem Staat als Repräsentanten einer ökonomisch überholten Klasse, dann sehen Recht als Berechtigung und Recht als objektive Rechtsordnung nicht mehr als Kehrseiten der gleichen Medaille drein. Dann sind die beiden inhaltlich nicht mehr äquivok, die zwei juristischen Äste werden getrennt sichtbar, und auf dem einen sitzt das Volk, auf dem anderen die Obrigkeit. Dann kann das Naturrecht eine postulativ-revolutionäre Kraft entfalten, zu der Sozialutopien, mit ihrer bloßen Einladung oder auch Aufreizung zum ausgemalten Glücksziel, nicht imstande waren. Genau das klassische Naturrecht hat das subjektive Recht mit dem ganzen Überschuß des Freiheitsideals ausgestattet: Recht wird wesentlich Recht auf etwas, und zwar von den vordem Beherrschten her. Subjektives Recht hört auf, eine bloße erlaubte Ausnahme zu sein, eine bloße Ausnahme aus der Sphäre des Beherrschtseins. Naturrecht machte aus dieser Ausnahme die /(632) Regel und Hauptsache: facultas agendi schlägt die bisherige obrigkeitliche norma agendi und setzt eigene demokratische Rechtsnormen. Daraus eben entwickelte sich letzthin die Theorie der Französischen Revolution: als Befreiung der Bourgeoisie, aber auch, wie Kant von der Aufklärung sagt, als Ausgang der Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Und hier zeigt sich ein weiterer Punkt, weshalb die Sozialutopien im achtzehnten Jahrhundert nicht die gleiche Zündung abgeben konnten wie das Naturrecht: letzteres zeigte, im Rahmen der fälligen Widerstandsbewegung, das stärkere sittliche Pathos. Die Utopien sind weniger mit den Verhältnissen und der unmittelbar fälligen Tendenz in ihnen einverstanden, sind hellhöriger für künftig-radikale Tendenzen, wie von Diogenes bis zu den letzten vormarxistischen Staatsentwürfen erweisbar, aber sie setzen auch mehr auf Menschenflora im Unterschied von der Eisenseite und dem Charakter. Die Akzente sind verschieden, womit die beste Verfassung hier sozialutopisch, dort naturrechtlich ausgesprochen wird. Die Sozialutopie geht überwiegend auf menschliches Glück und überlegt sich, in mehr oder minder romanhafter Form, seine wirtschaftlich-soziale Form. Das Naturrecht (mit nur teilweiser Ausnahme von Hobbes) geht überwiegend auf menschliche Würde und leitet, in tunlichst durchdachter Deduktion, aus dem Begriff eines a priori freien Vertragssubjekts die Rechtsbedingungen ab, unter denen die Würde sozial gesichert und erhalten wird. Einzig Thomasius (Fundamentum juris naturae et gentium, 1705) lehrt Glück als ein Soll des Naturrechts, doch auch hier ist Glück nie ohne Rückgrat. Daher denn eine Sozialutopie wie die stoische, worin das Naturrecht vorwaltet, weit mehr Pathos des Männerstolzes zeigt als bequeme Einrichtungen oder eingenommene Plätze. Wegen dieses republikanischen Charakterwesens (man vergleiche im bürgerlichrevolutionären Drama die Helden Alfieris, Odoardo aus Lessings Emilia Galotti, Verinna aus Schillers Fiesco, auch noch Tell) auch wegen dieser Eisenseite hat das Naturrecht, während des Bürgerkampfs gegen die oberen Stände, die Sozialutopien weitgehend ersetzt. Und der höchst individuelle, der nicht-kommunistische Inhalt gab dem Ersatz den Segen, gab dem Charakterpathos die ideologische Empfehlung. Es ist zwar wahr, im /(633) achtzehnten Jahrhundert sind fast dreimal soviel Utopien erschienen wie im siebzehnten, aber gerade Utopien müssen nicht gezählt, sondern gewogen werden. Selbst ein so edles Gebilde wie Fénelons »Aventures de Télémaque«, 1698, wandelt in seinen zwei Kapiteln Glücksland nur den Thomas Morus ab, klassizistisch proportioniert. Auch eine
unzweifelhaft interessante Diktatur-Utopie wie »L'Histoire des Sévérambes«, 1672, von Vayrasse ist Kombination aus Morus und Campanella; was überdies erschien, ist wesentlich Satire und sonst nur Fabelei. Nur eine einzige Sozialutopie ragt in ihren Einrichtungen aus dem siebzehnten auch ins achtzehnte, sonst so rein naturrechtliche Jahrhundert herüber: Harringtons » The Commonwealth of Oceana«, « 1656; ja dieser Staatsroman stand sogar Pate bei der amerikanischen Verfassung. Aber gerade das zeigt an, daß er Staatsroman nur noch in der äußerlichsten Einkleidung war: »Oceana« ist in Wahrheit ein einziges Verfassungsprojekt, mit Unterhaus, Senat, kurzfristiger Präsidentenwahl, und nur als solcher Entwurf (»society of laws«) gewann das Buch seinen bürgerlich-revolutionären Einfluß. Harringtons » Oceana « stellt so geradezu eine Usurpation der üppigen Sozialutopie durch präzises Naturrecht auf ihrem eigenen Boden dar. Hier besonders zeigt sich: nur das bürgerlich-abgegrenzte Naturrecht, nicht die fast allemal kommunistisch-überschießende Utopie konnte der kapitalistischen Demokratie den Grundriß geben; so wie dieser Grundriß andererseits ohne das Naturrecht nicht entstanden wäre. Noch das klassische Grundbuch der bürgerlichen Ökonomie, Adam Smith's »Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations«, wäre ohne Naturrecht in seiner progressiven Größe gar nicht möglich gewesen, im »natürlichen System«, als das die damalige individuelle Entfesselung der Produktivkräfte auftrumpfen konnte. Dazu aber war das ganze Anspruchs-Pathos, Gewißheits-Pathos: Law of Nature erforderlich; nur dieses konnte die scharf-aktuellen Formeln und Hoffnungen der bürgerlichen Revolution entwickeln. Die Sozialutopie dagegen erträumte unternehmerfreie Bedarfsdeckungswirtschaft, also Kommunismusglück, lange vor seinen empirischen Möglichkeiten; so hatte sie im achtzehnten Jahrhundert wenig zu melden. Erst im beginnenden neunzehnten Jahrhun- /(634) dert, mit Owen, Fourier, Saint-Simon, änderte sich wieder das Bild, Morus und Campanella fanden ebenbürtige Nachfolger. Denn das »natürliche System« des Kapitalismus wurde von ganz erstaunlichen Sorgen gestört, Ricardo und Sismondi haben innerhalb dieses Systems die ersten Krisentheorien entwickelt. Langsam also brachten gerade die ökonomischen Tendenzen der Zeit darauf, manches an dem alten kommunistischen Wolkenkuckucksheim nicht ganz so entlegen oder als Roman zu finden. Aber zwischen Campanella und Owen ist charakteristischerweise ein von originalen Sozialutopien fast leerer Raum, den Anforderungen der bürgerlichen Emanzipation entsprechend. Ihnen kam, wie ersichtlich geworden, das Naturrecht weit näher; es steht enger in der Ideologie, wenn auch keineswegs mit ihr zusammenfallend. Das Erbe des Naturrechts: die durchdachte facultas agendi - wurde von der Sozialutopie nicht angehäuft, es wird von ihr, unter nicht mehr kapitalistischen Zeichen, nur angetreten. Im ganzen war, wie bemerkt, der Recht suchende Traum keineswegs üppig. Er bleibt vielmehr begrifflich, läßt nicht von Fleiß und kalter theoretischer Mühe. Ein Staatsroman hätte vielleicht noch die Lehre vom gesellschaftlichen Urvertrag entwickeln können, nicht aber die strengen Folgerungen, an denen das Naturrecht wesenhaft hängt. Ohnehin ist dem Naturrecht der Urvertrag nicht wesentlich, findet sich doch dieser zuerst bei Epikur, der gar kein Naturrecht braucht, während das reiche der Stoa dafür von einem contrat social nichts weiß. Ohnehin ist die Vertragstheorie die logisch schwächste im Naturrecht: setzt doch der Vertrag, als hochentwickeltes Rechtsinstrument, die gesamte Rechtssphäre schon voraus, die durch contrat social erst gebildet und legitimiert werden soll. Also ist und bleibt dem Naturrecht nicht der Urvertrag wesentlich, dieses Bestandstück wie aus einem prähistorischen Staatsroman, sondern die rationale Konstruktion der besten
Verfassung - mit einem Naturaxiom, einer deduktionsfähigen Prinzip-Natur, nicht mit einer tropisch fruchtbaren und verklärten, wie auf den Sonneninseln des Staatsromans. Die rationale Geschlossenheit des Naturrechts verlangte dergestalt Entwicklung aller Folgerungen aus einem tunlichst einzigen Prinzip (Nutzwille oder Gemeinschaftswille /(635) oder Sicherungswille); dies auf strengste deduktive Weise, nach dem Satz des Nichtwiderspruchs und des zureichenden Grunds. Modell des klassischen Naturrechts war die Mathematik, und das Naturrecht kam diesem Vorbild unter allen geometrisch behandelten Wissenschaften dieser Zeit am nächsten. Gewiß, auch die Sozialutopien waren konstruktiv, doch locker, sie waren konstruktiv, wenn sich so sagen läßt, nur aus der Phantasie reiner Vernunft, nicht aus ihrer Logik. Das klassische Naturrecht dagegen stellt mindestens seit Pufendorf einen der bewußtesten Versuche angewandter Logik dar, es verhält sich von dieser Seite her zu den Sozialutopien wie ein strenger Kanon zu einem Lied oder wie ein Racinesches Drama zu einem Vaudeville. Und es war der Mathematiker Leibniz, der dem Juristen dieser Zeit folgendes versicherte: »Aus jeder Definition kann man, indem man sich der unbestreitbaren logischen Regeln bedient, sichere Folgerungen ziehen. Und eben das tut man im Aufbau der notwendigen und streng beweisenden Wissenschaften, die nicht von den Tatsachen, sondern allein von der Vernunft abhängen, wie dies für die Logik, die Metaphysik, die Arithmetik, die Geometrie, die Wissenschaft von der Bewegung und auch für die Wissenschaft vom Recht gilt. Denn diese alle haben ihr Fundament nicht in Erfahrung und Tatsachen, sondern dienen dazu, von den Tatsachen Rechenschaft zu geben und sie im voraus zu regeln: und das hätte für das Recht selbst dann Geltung, wenn es auch in der ganzen Welt kein Gesetz gäbe« (Leibniz, Hauptschriften, Meiner, II, S.510f.). Der Kalkül innerhalb des aufsteigenden Bürgertums dient also nicht nur der rechnerischen Bestimmung des Warenumlaufs, sondern - auf weniger äußerlich formale Weise - auch der Antithese zu Tatsachen, die den bürgerlichen Aufstieg hemmen. Hier, im Naturrecht, ist die reine Vernunft revolutionär; und statt der Beugung vor Tatsachen setzt sie Geborgenheit in der Natur. In einer höchst vielseitig zusammengesetzten Natur: in einer des rationalen Gesetzeszusammenhangs dann freilich auch, bei Rousseau, in einer des Gegensatzes zu jeder Künstlichkeit, in der Natur als Ursprünglichkeit, Gewachsenheit, Unverdorbenheit. Rousseaus Naturbegriff hat den rationalen Gesetzescharakter fast völlig verloren, dafür steht er im engen Zusammenhang mit allen /(636) damaligen Begeisterungen für Ursprünglichkeit und demokratische Generalität, mit der Natursprache, Naturpoesie, Naturreligion, Naturerziehung; all diese Ideale waren die Monstranzen im Naturaxiom. So gewann auch von hier aus das Naturrecht einen Glanz, dem die Sozialutopien, nachdem ihr Chiliasmus abgeschwächt war, lange nichts zur Seite stellen konnten. Was aber nun die seinerzeit revolutionäre Wirkung des Naturrechts anlangt, so blieb sie allerdings geschichtlich begrenzt und reichte weniger als Sozialutopien in die Zukunft. Man beachte die nahe Bindung des Naturrechts an unmittelbare Strömungen der damaligen Gesellschaft, an durchaus individualistische dazu: konnte die soziale Revolution davon etwas übernehmen? Der Fall ist zweifellos kompliziert, Marx steht zum Naturrecht sehr oft so, als sei es zu den Akten gelegt, zu den bürgerlichen Akten. Andererseits spricht die bürgerliche Reaktion das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch über das Naturrecht nur mit Verachtung und Haß. Gereicht dieser Haß dem Naturrecht nicht zur Ehre, zeigt er nicht ein mögliches, ein bedenkenswertes Erbsubstrat an ihm an? Und wenn die älteren Gegner, von Hugo (Lehrbuch des Naturrechts, 1799) bis Bergbohm (Jurisprudenz und
Rechtsphilosophie, 1892), das Naturrecht vom »historisch gewordenen Recht« her verurteilten, so tun moderne »Soziologen» wie Pareto, gar Gentile das gleiche von ihrem Vitalismus oder von der faschistischen Elitetheorie her. Es ist das etwas, das sehr zum Vorteil des Naturrechts spricht; sein Rationalismus ist der angestammten Peitsche immer noch gefährlich und dem Industriefeudalismus ein merkwürdig lebendiger Feind. Das Naturrecht scheint sich also doch nicht nur auf die fast durchgesetzten Tendenzen seiner Zeit beschränkt zu haben, oder auf die, die ohnehin schon mit einem Fuß im Zimmer stehen. Es hat trotz seines bürgerlichen Unterbaus, trotz der statischen Geschlossenheit seiner Abstrakt-Ideale eben jenen Überschuß, der alle Revolutionen miteinander verwandt erscheinen läßt. Derart zeigt die naturrechtlich geschehene Anmeldung der subjektiven öffentlichen Rechte in Totalität den ökonomischen Individualismus zuweilen weniger als Unterbau denn als Hilfskonstruktion. Die Anmeldung der subjektiv öffentlichen Rechte setzte diese als einen Kader, in den auch Rechte gegen den Unternehmer einge- /(637) setzt werden konnten, nicht nur gegen die Obrigkeit. So das Streikrecht, Koalitionsrecht, das Prinzip der Gleichberechtigung aller Menschen und Nationen, kurz der ehemalige Kodex der bürgerlichen Menschenrechte, von deren Zustand Stalin immerhin zu sagen hatte: »Das Banner der bürgerlich-demokratischen Freiheiten ist über Bord geworfen. Ich denke, daß Sie, die Vertreter der kommunistischen und demokratischen Parteien, dieses Banner wieder erheben und vorantragen müssen, wenn Sie die Mehrheit des Volkes um sich sammeln wollen. Es gibt sonst niemand, der es erheben könnte.« Naturrecht war Anmeldung dieser Rechte, es hat ermöglicht, sie auszusprechen, das ist und bleibt sein Erbe. Selbst sein Pathos der freien Person wirkt wie ein Menetekel gegen jede Verwechslung oder Vermischung von Kollektivität mit Herde und Herdencharakter. Eben der Bezug konkreter Ordnung auf den Willensinhalt konkreter Freiheit hält das Erbe Naturrecht gegen jedes nur abstrakt und isoliert gefaßte Kollektiv, gegen ein Kollektiv, das den Individuen entgegengesetzt wird, statt daß es aus ihnen, aus klassenlosen, entspringt. Das kommunistisch definierte Ziel: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen» erhält ersichtlich selber ein ausgereiftes Naturrecht - wenn auch ohne Rekurs auf Natur und vielleicht ohne gebliebene Notwendigkeit eines Rechts. So ist die Sache Naturrecht-seine ehemals revolutionär beschaffene Sache, selbstverständlich nicht das »ewige Recht« des kapitalistischen sogenannten Rechtsstaats - noch nicht erledigt, obwohl es dem Marxismus weder zeitlich noch sachlich so genau vorhergeht wie die Sozialutopien. Diese traten augenblicklich wieder vor, als Fragen auftauchten, die mit der juristischen Freilegung nicht zu vereinigen waren. Der Traum von geschützter menschlicher Würde ersetzte auf die Dauer nicht den dringenderen, wo nicht zentraleren Traum vom menschlichen Glück. Fichtes geschlossener Handelsstaat oder Produktion und Tausch nach Vernunftrecht Ist es doch die Not, welche am meisten würdelos ducken läßt. Der Arme ist gar nicht imstande, den Kopf so hoch zu tragen, wie der Stolz es verlangt. Wie also, wenn vor allem Rechtens /(638) wäre, daß jeder Mensch so angenehm lebt wie möglich? Wenn richtiges Recht gerade auch auf Glück angewendet würde und auf sein hungerndes Gegenteil? Wenn die Würde selber Not und Elend als Zustand ansähe, der am wenigsten aus ihr folgt, ja mit ihr unverträglich ist? Das waren Fragen, die aus der urrechtlichen zur wirtschaftlichen Erwägung führen mußten. Weit über ältere
Sorgen und gemäßigte Gewissensbisse oder Ehrbarkeiten hinaus, nach Art des gerechten Preises und dergleichen. Es kam so das Neue eines wirtschaftlichen, nicht nur politischen Rechtsanspruchs, einer naturrechtlichen Marktkritik. In ihrem Gefolge entstand die merkwürdige Mischform: juristische Sozialutopie; Fichte hat sie ausgeführt. Die Schrift: »Der geschlossene Handelsstaat«, 1800, erschien als »Anhang zur Rechtslehre«, aber auch, deutlich utopisch, als »Probe einer künftig zu liefernden Politik«. Die Unterschiede in Methode und Darstellung zwischen Naturrecht und Sozialutopie sind in Fichtes Mischform nicht aufgehoben, doch abgeschwächt. Eine bessere Verfassung wird hier sowohl scharf durchdacht wie sichtbar ausgemalt, sowohl als schlechthin und überall gültig dargestellt wie doch wieder auf eine Art Insel verlegt, nämlich in einen abgeschlossenen Staat. Rechtsanspruch a priori meldet sich durchgehends an, doch nicht nur auf Würde, sondern ausdrücklich auf Glück. Ja auf sozialistisches Glück, ohne jene Abart von Männerstolz, die im Naturrecht, unter anderem, freies Unternehmertum bekleidet hatte. »Leben und leben lassen«, das ist die Regel, nach der Naturrecht hier sozial, nicht individualistisch antritt. Nach der es vor allem eudämonistisch antritt, wie in Sozialutopien: »Jeder will so angenehm leben als möglich: und da jeder dies als Mensch fordert, und keiner mehr oder weniger Mensch ist als der andere, so haben in dieser Forderung alle gleich recht« (Werke, Meiner, III, Seite 432). Und der Staat wird nicht als Schützer des Eigentums vorgestellt, das er in ungleicher Verteilung vorfindet und beläßt, sondern umgekehrt, es wird «Bestimmung des Staats, jedem erst das Seinige zu geben, ihn in sein Eigentum erst einzusetzen, und sodann erst ihn dabei zu schützen« (1. c., S.429). So gingen hier Deduktion aus reinen Rechtsgrundsätzen und soziale Utopie ineinander, mit früher Absicht, beides zu vereinigen. Schon 1793 hatte Fichte an Kant geschrie- /(639) ben, er glühe von dem großen Gedanken, »das Problem der Platonischen Republik, des vernünftigen Staates, in Angriff zu nehmen«. Und Frucht wurde ein gänzlich Paradoxes: Staatssozialismus aus dem Geiste Rouiseaus, so deduzierend wie kolorierend dargestellt. Ein Drittes freilich kam hinzu, das Fichtes Verfahren, das sonst so wenig empirische oder dem Gegebenen befreundete, vom bisherigen Utopisieren wie vom bisherigen Naturrecht abheben wollte. Blick auf die vorhandenen Verhältnisse kam hinzu, mit der Absicht, sich praktisch in ihnen zu bewegen, ohne ihnen anzugehören, und sie dem idealen Staat anzunähern. Die spekulativen Politiker, sagt Fichte, sind fiktiv geblieben, und »so gewiß in ihren Gedanken Ordnung, Konsequenz und Bestimmtheit ist, so gewiß passen ihre Vorschriften aufgestelltermaßen nur auf den von ihnen vorausgesetzten und erdichteten Zustand der Dinge, an welchem die allgemeine Regel, wie an einem Exempel der Rechenkunst, dargestellt wird. Diesen vorausgesetzten Zustand findet der ausübende Politiker nicht vor, sondern einen ganz anderen. Es ist kein Wunder, daß auf diesen eine Vorschrift nicht paßt, welche aufgestelltermaßen auf ihn nicht berechnet ist« (1. c., S.420). Was zwar Fichte an die Stelle der reinen Gedankenwelt setzt, ist - wie in einem ökonomisch-politisch so wenig entwickelten Deutschland selbstverständlich - wieder Gedanke mit allgemein-abstrakten Bestimmungen, nur »daß diese für einen gegebenen wirklichen Zustand weiter bestimmt werden«. Wird jedoch der Idealismus auf diese Art nicht Praxis, so entwickelt er sich bei Fichte, dem zornig Tugendhaften, als Kritik. Fichte nimmt die indirekte Kritik auf, welche das Bild eines utopischen Glückslands an den heimischen Zuständen implicite dargestellt hat. Und er nimmt die direkte Kritik auf, welche die Vernunft des Naturrechts an der Unvernunft der vorhandenen Staatsverfassung explicite geübt hat. Fichtes Kritik wurde hierbei desto schärfer, als er Naturrecht völlig in Vernunftrecht verwandelte, das heißt, von allen
urzuständlichen und vorgeschichtlichen Fiktionen loslöste. Es gibt bei diesem großen Naturhasser überhaupt keine Freiheit in und durch die Natur; Existenz in Tier- oder Urmenschengesellschaft ist nicht arkadisch, sondern zwanghaft und despotisch; erst soziales Leben macht es möglich, Freiheit zu denken. Ein elysisches /(640) Ziel bleibt, aber nicht als arbeitslos gegebenes oder irgendwo vorhandenes, sondern, im Zusammenhang mit Fichtes radikalidealistischer »Tathandlungs«-Philosophie, als erzeugtes. Das in konstruktivem, doch teilweise auch in arbeitstechnischem Sinn: »Wenn nicht entweder die Kräfte unserer eigenen Natur sich ins Ungeheure vermehren, oder wenn nicht die Natur außer uns sich ohne unser Zutun durch ein plötzliches Wunder umwandelt und ihre eigenen bisher bekannten Gesetze vernichtet, so haben wir jenen Wohlstand nicht von ihr, wir haben ihn lediglich von uns selbst zu erwarten; wir müssen uns ihn durch Arbeit erwerben« (1. c., S.453). Es ist das eine Art Einbringung von Arbeitswertlehre in Utopie, in eine, die nicht mehr von Rohstoffen oder auch Manna lebt. Das Pathos der tätigen Vernunft bleibt aber bei Fichte trotzdem so idealistisch, daß es seine Sozialutopie nicht ökonomisch, sondern - syllogistisch, in Schluß form, entwickelt. Auch hierin ist die Übung des Naturrechts stärker als eine genetische Entwicklung vom Arbeitsvorgang her. Daher beginnt Fichtes Schrift mit einem Obersatz als erstem Hauptteil: »Was in Ansehung des Handelsverkehrs im Vernunftstaate Rechtens sei.« Dem folgt ein spezieller Untersatz als zweiter, kritischer Hauptteil: «Vom Zustand des Handelsverkehrs in den gegenwärtigen wirklichen Staaten.« Dem folgt der Schlußsatz als dritter, idealisch resultierender Hauptteil: »Wie der Handelsverkehr eines bestehenden Staates in die von der Vernunft geforderte Verfassung zu bringen sei.« Auf Freiheit geht das Ganze, aber auf Freiheit, die nur durch wirtschaftliche Gebundenheit Platz erlangt. Es bleibe dahingestellt, ob der ethische Individualist Fichte zum wirtschaftlichen Sozialisten wurde, weil er durch den wirtschaftlichen Individualismus seinen ethischen bedroht sah. Aber gerade auch an Fichte erhellt: Sozialismus ist das, was man unter dem Namen Moral so lange vergebens gesucht hat. Bei alledem wird noch durchaus der einzelne Mensch zugrunde gelegt, aus ihm folgt alles. Nur aus ihm als einem denkenden Wesen wird entwickelt, was als Recht vorzugehen hat. Die Urrechte sind die des vernünftigen Einzelnen, und es ist sein »Ich denke«, das die Rechte nicht nur hat, sondern entwickelt. Fichte zeichnet drei Urrechte aus: Verfügung des Individuums über seinen Leib, sein Eigentum, seine Sphäre als Person. Es sollen /(641) das unendliche Freiheiten sein, und sie werden nur durch die Freiheit aller anderen Individuen beschränkt, also durch nichts den Urrechten Fremdes. Damit Menschen zusammen leben können, muß die Freiheit des Einzelnen verendlicht werden, aber so, daß sie erstens nur durch die Freiheit und zweitens nur um der Freiheit willen begrenzt sein darf. Auffallende Folgerungen werden hierbei aus dem Urrecht auf Eigentum gezogen, ganz und gar nicht privatkapitalistische. Es gibt bei Fichte kein Eigentumsrecht auf Sachen, sondern nur eines auf Handlungen, derart, daß kein anderer befugt sein solle, dieses Stück Boden zu bebauen, oder es nur einer Gruppe erlaubt sein soll, Schuhe herzustellen. Alte Zunftrechte werden so funktionell erneuert, als das gesicherte Vermögen des Einzelnen, »ausschließend eine größere Kunst zu treiben«. An Grund und Boden gibt es schlechthin kein Eigentum, er gehört niemand und dem Ackerbauer nur insofern, als er ihn bebaut (folglich kein müßiger Feudalherr ist). Nachdem Fichte derart Besitz wie Eigentum aus dem Sachenrecht in eine Art Erzeugungsrecht gebracht hat, schreitet er zur sozialistischen Konsequenz fort. Gerade wegen des Urrechts auf Eigentum muß es jedem vom Staat gegeben
werden: »Wenn einer nicht so viel hat, um leben zu können, so hat er nicht, was er zu haben berechtigt ist; er hat das Seinige nicht. Im Vernunftstaat erhält er es; in der Teilung, welche vor dem Erwachen und der Herrschaft der Vernunft durch Zufall und Gewalt gemacht ist, hat es wohl nicht jeder erhalten, indem andere mehr an sich zogen, als auf ihren Teil kam« (1. c., S.433). Und weiter im staatssozialistischen Text: »Man hat die Aufgabe des Staates bis jetzt nur einseitig und nur halb aufgefaßt, als eine Anstalt, den Bürger in demjenigen Besitzstande, in welchem man ihn findet, durch das Gesetz zu erhalten. Die tiefer liegende Pflicht des Staates, jeden in den ihm zukommenden Besitz erst einzusetzen, hat man übersehen. Dieses Letztere aber ist nur dadurch möglich, daß die Anarchie des Handels ebenso aufgehoben werde, wie man die politische allmählich aufhebt, und der Staat ebenso als Handelsstaat sich schließe, wie er in seiner Gesetzgebung und seinem Richteramte geschlossen ist« (1. c., S.483). Fichte dehnt damit, in seinem postulierten Idealstaat, die Generalität des Gesetzes, die die Stände- und Privilegienrechte aufgehoben hatte, /(642) auf eine Generalität der Arbeitsbeschaffung aus. Hinzu tritt, als Mittel dazu, die Ausscheidung des freien Unternehmers, die Stillegung der freien Konkurrenz. Hinzu tritt die Abschaffung des offenen Markts, kurz: die Bestimmung des idealen Staats, dirigierte Wirtschaft zu sein. Dieses in einem Deutschland, das noch kaum einen freien Unternehmer aufwies und das deshalb leichter als die vorgeschrittenen Weststaaten zu einer Art vorkapitalistischem Antikapitalismus einlud; wie bereits an Fichtes Arbeitszünften sichtbar geworden. Wahrscheinlich wirkten auch die romantischen Verklärungen der mittelalterlichen Gesellschaft ein, die Novalis kurz zuvor (»Die Christenheit oder Europa«, 1 799) vorgetragen hatte. Ein einziges gemeinschaftliches Interesse, meinte Novalis, verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. Der sonst so wenig romantische Fichte hat jedenfalls als einer der ersten die rückwärts gewandte antikapitalistische Utopie berührt, die bei Saint-Simon nicht gänzlich fehlt und die bei Ruskin oder William Morris noch als eine Art gotischer Sozialismus hervorgetreten ist. Abwegig wäre es, wie Mehring meint, beim geschlossenen Handelsstaat an eine bloße Idealisierung des »friderizianischen Staats« zu denken; sie wäre selbst in Deutschland verspätet gewesen. Und dann vor allem widerspricht dem Fichtes Intention, »jeden in den ihm zukommenden Besitz erst einzusetzen«; was die geringste Sorge der Manufakturperiode war. Fichtes Sorge, die sozial beschaffene, machte ihn hierbei besonders bitter gegen das Manchestertum der vorgeschrittenen kapitalistischen Länder. Es findet sich im zweiten und dritten Teil seiner Utopie eine Kritik an den Übelständen der freien Konkurrenz (Absatzstockungen, Erwerbslosigkeit), die in manchem Fouriers Kritik vorwegnimmt. Die »Harmonie der Interessen«, die der große Ökonom Adam Smith vorausgesetzt, ist von Fichte durchschaut, bevor sie noch ihren ganzen Trug praktisch sichtbar gemacht hatte. Ein ökonomischer Laie, aber ein spekulativer Politiker wendet sich gegen die Spekulanten und ihren sogenannten Spieltrieb: »Zufolge dieses Hanges will man nichts nach einer Regel, sondern alles durch List und Glück erreichen, durch Ränke, Bevorteilung anderer, Zufall. Diese Menschen sind es, die unablässig nach Freiheit rufen, Freiheit des Handels und Erwerbs, Freiheit von aller /(643) Ordnung und Sitte. Diesen kann der Gedanke einer Einrichtung des öffentlichen Verkehrs, nach welcher keine schwindelnde Spekulation, kein zufälliger Gewinn, keine plötzliche Bereicherung mehr stattfindet, nicht anders als widerlich sein« (1. c., S. 541). Entsprechend dieser Antipathie gegen Gründerjahre, die noch so fern waren, predigt Fichte statt des Getriebs von Angebot und Nachfrage (nach Adam Smith), statt des freien Interessenkampfs eine
relative Ordnungs-Utopie, als erste nach Campanella. Mit drei arbeitenden Hauptständen, alle unter Aufsicht der Regierung (der wirklich arbeitende Stand, das Proletariat, ist noch nicht bemerkbar). Organisierung der Arbeitsverhältnisse erscheint als Organisierung der Gewerbe- und Handelsverhältnisse, mit Abschaffung des Militärs und des Feudaladels. Einem Stand obliegt die Gewinnung der Rohstoffe, einem anderen ihre Bearbeitung, einem dritten die gleiche Verteilung der vorhandenen Produkte an alle nach stabilem Grundpreis. Aber Tauschhandel und Distribution durch Private findet nur innerhalb des Staats statt, nicht über die Landesgrenze hinaus. Der (sehr zu beschränkende) Einkauf ausländischer Rohstoffe und Fabrikate wird einzig von der Regierung besorgt, sie hat das Außenhandelsmonopol. Es könnte zwar an dieser Stelle der Fichteschen Utopie gefragt werden, warum die Regierung nicht auch den inländischen Handelsverkehr besorgt, also den Stand der Kaufleute überflüssig macht. Aber Fichte drückt die Handelshäuser selber sehr herunter, sie werden zu bloßen Kanälen eines geschlossenen, regulierten, profitarmen Markts. Sie sind sozusagen nur Speditions-, nicht Spekulationsfirmen, sie sind Vermittler innerhalb einer ausschließlichen Bedarfsdeckungswirtschaft, »indem ja die verstattete Produktion und Fabrikation schon in der Grundlage des Staats berechnet ist« (1. c., S.443). Also glaubt Fichtes Staat den inländischen Tauschverkehr nicht übernehmen zu sollen, er begnügt sich mit der sozialen Aufsicht über die Durchführung der eingegangenen Verträge. Er begnügt sich damit schon deshalb, weil der eigentlich oberste oder Staatsstand in dieser Utopie, wie bei Platon, aus Lehrern und Gelehrten besteht; diese aber haben Fichtes Wissenschaftslehre im Sinn, nicht Buchführung, Wechsel, Wechselkredit. Auch ist das Außenhandelsmonopol des Staats lediglich als abwehrend gedacht, als /(644) Schutz des Produktionsbudgets gegen »den nicht zu ordnenden Einfluß des Ausländers«. Und gerade aus diesem Willen zur Übersicht folgt nun der radikalste Abschluß des Plans, der am meisten wieder ans glückliche Eiland erinnernde: die Autarkie. Das Weltgeld aus Gold und Silber wird abgeschafft, ein Landesgeld aus wertlosem Material tritt an die Stelle, das nicht gehortet werden kann und das zum Einkauf ausländischer Produkte untauglich ist. Vielleicht, sagt Fichte, gibt es dann im utopischen Deutschland keine Pelze und Seidenkleider mehr, sicher keinen chinesischen Tee, doch dafür auch keine Wirtschafts- und Eroberungskriege. Ausländische Guthaben sind der Regierung zu übergeben (eine verblüffende Vorwegnahme der Devisengesetzgebung), ja Fichte deutet sogar heimische Ersatzproduktion für Baumwolle und andere Importstoffe an (eine verblüffende Vorwegnahme der synthetischen Chemie). Die chinesische, die patriotische Mauer wird so utopisch: »Es gibt ein bestimmtes Ziel, dessen Erreichung vor der völligen Verschließung des Staats die Regierung sich vorsetzen muß: dieses, daß alles, was im Zeitpunkt der Verschließung irgendwo hervorgebracht wird, von nun an im Lande selbst hervorgebracht werde, inwiefern es in diesem Klima irgend möglich ist« (1. c., S.537). Bekanntlich hat dieser Autarkiegedanke in der halbfaschistischen, der Brüning-Zeit der Weimarer Republik reaktionär gezündet. Er empfahl sich als Mittel, um ohne Golddeckung, ohne internationales Clearing zu wirtschaften, um die Kriegswirtschaft vorzubereiten. Er empfahl sich aber für Fichte wegen der Geschlossenheit, die jedes System organisierter Arbeit braucht, solange es in anderen Staaten nicht gleichfalls eingeführt ist, und sodann allerdings wegen des Patriotismus. Fichte hat unter dem Einfluß der Napoleonischen Kriege seinen anfänglichen Grundsatz: ubi lux, ibi patria wachsend aufgegeben. Doch darf der sogenannte Übergang vom Weltbürgertum zum Nationalstaat in Fichtes Utopie nicht überschätzt werden; auch die Deutschheit bewährt und begründet sich hier nur so,
daß sie am allgemeinsten menschlich oder das stärkste Humanum sei. Fichtes Unterscheidungsgrund der Deutschheit von der Ausländerei liegt ja selbst in den Reden an die deutsche Nation darin, »ob man an ein Ursprüngliches im Menschen, an Freiheit, unendliche Verbesserlichkeit und ewiges Fortschreiten /(645) unseres Geschlechts glaube, oder ob man an alles dieses nicht glaube«. Und das Recht, sich zum jeweiligen Lichtstaat, außerhalb seines Geburtsstaats, hinzuwenden, wird nur durch die Hoffnung begrenzt, daß Deutschland selber dem Licht am meisten zugetan sei. Es wird von dem bleibenden Naturhasser nicht als heimische Scholle, sondern als sittlicher Lichtquell angesetzt: »Unter allen Völkern seid ihr es, in denen der Keim der menschlichen Vervollkommnung am entscheidendsten liegt.« Nur von dieser Hoffnung her hat Fichte die Nation, besonders die deutsche, zwischen Individuum und Menschheit gelegt; Deutschland sollte nicht isoliert, sondern vorbildlich und am menschlichsten innerhalb des Menschengeschlechts stehen. Nationalehre, Nationalcharakter, alles derart Geschlossene hat bei Fichte seinen einzigen Wert von der humanen Idee, die es ausprägt; und die Wissenschaft bleibt ohnehin international. »Diesen Zusammenhang wird kein geschlossener Staat aufheben; er wird ihn vielmehr begünstigen, da die Bereicherung der Wissenschaft durch die vereinigte Kraft des Menschengeschlechts sogar seine abgesonderten irdischen Zwecke befördert« (1. c., 5. 542). Und sowenig schließlich wie Schollenpatriotismus will Fichtes Utopie, daß man in ihrem Staatssozialismus den Staat verabsolutiert. Das würde dem Urrecht der Freiheit widerstreiten oder dem erwähnten Grundsatz, daß diese nur um der Freiheit willen, innerhalb menschlicher Koexistenz, beschränkt werden darf. Auch der geschlossene Handelsstaat ist derart nicht ewig, hinter seiner Utopie wirkt noch eine andere. Er gilt nur als Übergang vom Zwangs- oder Notstaat zu einem Vernunftstaat, worin, bei wachsender Freiheit und Sittlichkeit, kein Zwang mehr nötig ist. Lenin sagte einmal, es müsse dahin kommen, daß jede Köchin den Staat regieren könne; Fichte, dem alle ökonomischen Voraussetzungen und Kenntnisse zu solcher Hoffnung fehlten, hätte der Köchin immerhin als einem Zeichen verwirklichter politischer Weisheit zugestimmt. Und er prophezeit: »Die Leichtigkeit der Staatsverwaltung, sowie aller Arbeit, hängt davon ab, daß man mit Ordnung, Übersicht des Ganzen und nach einem festen Plan zu Werk schreite« (1. c., S.537). Was derart als Vernunftstaat entsteht, macht sich selber durch Vernunft (die den Inhalt der Autorität erzeugt) als Staat überflüssig. »Vernunft- /(655) kunst« entsteht oder Harmonie erzogener, sittlich mündiger Individuen als Reich der schönen Seelen. Ja beim späten Fichte drang fast joachitische Musik in diese edlen Räume, in die Gesellschaftsräume der Vernunftkunst. Die Staatslehre von 1813 verwandelt die sozialen Dirigenten der Zukunft zu Brückenbauern der Ewigkeit: »Die Gelehrtengemeine ist das Lehrerkorps des Christentums, des Reiches Gottes, die angefangene Gesellschaft, aus deren ununterbrochener Fortdauer jene Regenten und Bildner im geschilderten Reiche hervorgehen werden« (Werke, Meiner, IV, S.615). Wie und wodurch es allerdings auch nur zu den Anfängen eines geschlossenen Handelsstaats, gar einer so schwärmerischen Vernunftkunst, kommen mag, über diese Praxis gibt Fichte nichts oder wenig an. Im damaligen Deutschland trat noch kein Proletariat auf, und es war schon viel, wenn Fichte zugab und verurteilte, »daß die verbundene Menge der Eigentümer den einzelnen Schwächeren durch Gewalt abhalten könne, seinen Rechtsanspruch laut werden zu lassen.« (1. c., S.475). Selbst diese geringe Andeutung von sozialer Revolution, als geäußertem Rechtsanspruch, war damals abstrakt, war fast so spekulativ wie Fichtes ganzer Entwurf selbst. So bescheidet sich sein Entwerfer damit, daß das Ganze »eine bloße Übung der Schule ohne
Erfolg in der wirklichen Welt bleiben möge«. Er verwundert sich über die bestehenden Zustände und findet in diesem Verwundern jenen philosophischen Stachel, der erst viel später zu einem praktischen werden konnte. Obwohl Fichte seine sozialistische Schlußfolgerung, wie jede richtig deduzierte, für begrifflich notwendig hält, so wird doch Staatssozialismus in dieser Welt nur für abstrakt-möglich gehalten, nur für »gefordert durch das Rechtsgesetz«. Anderes als Vorschlag und Forderung wurde auch von Fichtes späteren Schülern nicht angemeldet, etwa von Rodbertus, dem Ahnherrn der Kathedersozialisten. Und übers Agitatorisch-Reformistische kam auch der durch Fichte mannigfach beeinflußte Lassalle nicht hinaus, trotz proletarischem Kontakt. Ja, mehr als Fichte schloß sich Lassalle an den gegenwärtigen Staat an, vorzüglich an den preußisch-autoritativen. Arbeiterproduktivgenossenschaften mit Staatskredit sollten einen Übergang zur künftigen sozialistischen Gesellschaft bilden: zu diesem Revolutionsersatz konnte aller- /(648) dings Fichtes Utopie mißbraucht werden. Doch hat ein Sozialismus im Deutschland von 1800 eine geschichtliche Frische und Ehre, die gar nicht mißbraucht werden kann. Er zeigt genau die genialische Naivität, die intuitive Jugendlichkeit, die einem Lassalle um 1860 fehlten, die dem späteren Reformismus selbst als Ausrede fehlten. Der geschlossene Handelsstaat bleibt das erste, aus Urrechten deduzierte und utopisch ausgemalte System organisierter Arbeit. Mehr noch: Fichtes Schrift hält Sozialismus für möglich in einem einzigen, genügend großen und autarken Land. Föderative Utopien im neunzehnten Jahrhundert: Owen, Fourier Das Elend blieb unterdes nicht müßig, es wuchs befremdend an. Hatte es bisher Bauern als Träger, so trat nun der Arbeiter hinzu. Gerade je wirtschaftlich fortgeschrittener ein Land, desto grauenhafter wurde die Lage seiner Armen. Der leibeigene Bauer hatte es hart genug, das Maß des Leidens schien voll. Doch selbst die schlimmste Zeit der mittelalterlichen Bauernnot wird überboten vom Elend der ersten Fabrikarbeiter. Die frühen Fabriken waren dasselbe wie Galeeren; ein verhungertes, schlafloses, verzweifeltes Proletariat wurde an Maschinen gekettet. Der Unternehmerprofit kannte weder Schonung noch Pausen, achtzehn Stunden und darüber dauerte die tägliche Arbeit, ein Schmutzwerk ohnegleichen. Niemals war ein so großer Teil Menschen so unglücklich wie in England um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts. Der erste, der sich dagegen wandte, war ein Arzt namens Hall, er sah das Mark des Landes verfaulen. 1805 erschien seine Schrift »The effects of civilisation«; in ihr finden sich neben ärztlicher und sittlicher Empörung mehrere utopische Vorschläge der Verbesserung. Die Armen, sagt Hall, erhalten kaum ein Achtel vom Ertrag ihrer Mühe; es sei der Zug der Zeit, die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer zu machen. Einzige Rettung sei, die industrielle Entwicklung zurückzuschrauben, aber nicht, damit eine sogenannte gute alte Zeit wiederkehre. Hall sah bereits, daß noch nicht alles gewonnen sei, wenn die Fabriken verschwinden, aber die Grundherren bleiben. Der Boden sollte wieder in gleichen Anteilen unter alle /(648) Familien des Lands aufgeteilt werden: hinter dem Maschinensturm kommt so eine Zukunft voll freier Bauern. Hatte dieser Aufruf gegen das Fabrikelend wenig Widerhall erweckt, als ausgehend von einem bloßen Menschenfreund, so um so größeren der Appell eines Fabrikbesitzers selbst, vor allem, da er mit äußerst nützlichem Beispiel verbunden war. Dem Beispiel, daß ein gut genährter und nicht unzufriedener Arbeiter in der halben Zeit dasselbe und Besseres schafft wie ein Galeerensklave. Robert Owen hatte diese Entdeckung
gemacht, aber nicht bloß diese: Owen, eine anima candidissima, »ein Mann von bis zur Erhabenheit kindlicher Einfachheit des Charakters und zugleich ein geborener Lenker von Menschen«, wie Engels sagt, wurde zugleich einer der ersten Utopisten des neunzehnten Jahrhunderts mit föderativ-sozialistischer Zielsetzung. Unter seinen vielen Schriften ragen hervor «The Social System«, 1820, und «The Book of the New Moral World«, 1836; in der ersteren wendet er sich von der patriarchalischen Wohlfahrtseinrichtung hin zum Kommunismus, in der zweiten sucht er ihn seinen Berufskollegen, von der Güte her, zu empfehlen. Aber wenn der Utopist so den Ast absägt, auf dem er als Kapitalist sitzt, so war es phantastisch, von Kapitalisten, die nicht einmal im Nebenberuf Utopisten waren, ein Gleiches zu verlangen. Owen hielt noch das soziale Heil durch Reformen für erreichbar; er verwarf den Streik, sogar den Kampf um politische Freiheiten, er suchte Versöhnung, er erwartete, daß Herzöge, Minister, Fabrikanten aus lauter Einsicht und Menschenliebe dem Kapitalismus absagen. Auch schätzte der Industrielle Owen die künftige Rolle der Industrie merkwürdig gering ein; er verlangte zwar die Einführung der Dampfkraft und Maschinerie in den Haushalt, er setzte nirgends Maschinensturm, die große Industrie aber spielte in den Zukunftsträumen des Fabrikbesitzers von New Lanark noch keine Hauptrolle. Trotz dieser Schwächen organisierte Owen seinen philanthropischen Kommunismus, in Berührung mit Quäkern, über die er aber zu den Schriften Winstanleys vordrang, des Agrarkommunisten der englischen Revolution. Vor allem machte sich Owen die eben erschienene Arbeitswerttheorie Ricardos zu eigen, mit allen Konsequenzen, ohne Spur eines Reservats für »Wirtschaftsführer«. Ricardo hatte entdeckt: das /(649) einzige Wertmaß eines Produkts ist die in ihm enthaltene Arbeitsmenge; Owen baute auf dieser Theorie den Plan einer Zukunftsgemeinde, worin jeder in den vollen Genuß der von ihm produzierten Wertmenge gelangt, unter Wegfall des kapitalistischen Profits, der aus unbezahlter Arbeit stammt. Der Weg zu dieser Gemeinde ist allerdings noch vollkommen reformistisch: Es soll jedem Produzenten durch die Errichtung eines großen Magazins ermöglicht werden, die von ihm hergestellten Gebrauchsgüter zu deponieren. Als Entgelt dafür erhält er eine Arbeitsnote, welche auf den Wert der in dem abgelieferten Produkt verkörperten Arbeit lautet und zur Entnahme von gleichwertigen Produkten berechtigt. Tatsächlich wurde von Owen ein solcher Tauschbasar in London 1832 errichtet, als Arbeitsbörse, worin Produzenten ohne Vermittlung der Kapitalisten zusammenkamen und den Aufschlag des Profits zu umgehen trachteten. Es überrascht nicht, daß die naive Organisation nach wenigen Jahren zusammenbrach, und zwar auf Grund jener noch vorkapitalistischen Utopie, die von der Verteilung, statt von der Produktion her die Wirtschaft regeln wollte. So setzte sich das Überangebot der kapitalistischen Anarchie im Tauschbasar fort; trotz der »Distriktsräte«, die Owen einführte, »mit Übersicht über die vorhandenen Bedürfnisse«. Radikaler als die Konsumgenossenschaft war die eigentliche Zukunftsgemeinde gedacht; hier findet sich, wie Engels mit ebensoviel Spott wie Verehrung sagt, »die vollständige Ausarbeitung des Gebäudes für die kommunistische Gemeinde der Zukunft, mit Grundriß, Aufriß und Ansicht aus der Vogelperspektive«. Unter völliger Abschaffung des Privateigentums soll in genossenschaftlichen Siedlungen ein neues Produktionssystem gegründet werden, auch dieses freilich ohne Zulassung großer Produktion, auf agrarisch-handwerklicher Grundlage. Und das ohne Familie; Owen wandte sich heftiger als je ein Utopist gegen die vorhandene Form der Ehe. Sie war ihm lebenslängliche Geschlechts- und Umgangssklaverei, war die Lüge, welche einen
Grenzfall von dauernder Liebe normativ macht und konventionell vortäuscht. Privateigentum, Ehe, positive Religion nannte Owen die »Dreieinigkeit des Bösen«, alle drei sind Idole, schaffen nur menschliches Unglück. So reproduziert die agrarisch-handwerkliche Grundlage nichts /(650) von ihren alten sozialen Formen, trotz der geplanten alten Dorfanlage. Föderierte Gruppen von dreihundert, höchstens zweitausend Personen werden die Erde bedecken, mit kollektiver Hilfsbereitschaft in sich und untereinander. Die einzige Siedlung allerdings, die dergestalt die Erde bedeckte, New Harmony in Indiana, angeschlossen an die »Nachbarschafts-Ethik« der amerikanischen Pionierzeit, ging noch entschiedener zugrunde als der Londoner Tauschbasar; denn die Zeit von Sektenkolonien war um. In kapitalistisch reifer Zeit konnten solche Kleingebilde nicht höher stehen als ihre kapitalistische Umwelt, ja sie blieben - mindestens produktionstechnisch - weit hinter ihr zurück. Aber Owen wollte ja nicht in erster Linie die Produktion verbessern, um auf die verbesserte menschliche Lage zu stoßen, er wollte von vornherein das edelste Produktionsmittel: den Menschen, verbessern und ihn gereinigt aus dem Fabrikschmutz heben. Von daher die Beschränkung auf kleine, menschlich erfüllbare Lebenskreise; von daher nicht zuletzt Owens pädagogischer Traum in großem sozialem Umfang, der Traum, eine neue Menschheit zu bilden. Die Menschen haben nach Owens Lehre zwar einen in Umrissen angeborenen Charakter, jedoch endgültig bestimmt wird dieser Umriß erst durch die Verhältnisse, wohin das Individuum gerät. Kommen die Verhältnisse in Ordnung, so kommt auch der Mensch in Ordnung, er wird heiter und gut. Diese seine Heilung soll also in kleinen föderierten Gemeinschaften am besten bewerkstelligt werden, ohne Arbeitsteilung, ohne Trennung von Stadt- und Landwirtschaft, ohne Bürokratie. Eben wegen des pädagogisch-humanen Ziels, das einen nahen menschlichen Kontakt zu brauchen schien, steht in Owens Wunschtraum kein zusammenhängender Großbetrieb, sondern die Internationale zerfällt in föderierte Inseln. All dies Gute sollte mit einem Schlage kommen, gegründet werden. Das bisherige Leben war für Owen eine einzige bewegungslose Nacht, das neue setzt sich unvermittelt dagegen ab. Owen denkt fast völlig ungeschichtlich; das unterscheidet ihn von dem anderen großen föderativen Utopisten, von Charles Fourier. Bereits dessen erste Schrift: »Théorie des quatre mouvements«, 1808, kritisiert die Gegenwart auf geschichtlicher Grundlage. Fourier hat diese Schrift später verworfen, dennoch /(651) bleibt sie die Grundlage der anderen Hauptschriften. Sowohl »Traité de l'association domestique agricole«, 1822, wie »Le Nouveau Monde Industriel«, 1829, enthalten, gleich der ersten Schrift, Zeitkritik, Geschichte, Chöre der Zukunft zusammen. Des Näheren gibt es nach Fourier vier Epochen, von denen die frühere der jeweils späteren zustrebt und die spätere nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Die erste Epoche ist die der glücklichen urkommunistischen Instinktzeit, die zweite die der Piraterie und unmittelbaren Tauschwirtschaft, die dritte die des Patriarchats und der Entwicklung des Handels, die vierte die der Barbarei und der ökonomischen Privilegien. Letztere dauern fort in der fünften Epoche (die mit der vierten noch weithin zusammenfällt): im Zeitalter der kapitalistischen Zivilisation, welche die Gegenwart ist. Es bezeichnet die historische Kraft Fouriers, diese Gegenwart nicht wie alle früheren Utopisten aus dem Aspekt eines Idealstaats zu kritisieren, sondern als Degenerationsprodukt bereits an Ort und Stelle, als unerträgliche Zuspitzung der Barbarei. Fourier weist nach, »daß die zivilisierte Ordnung jedes Laster, welches die Barbarei auf eine einfache Weise ausübt, zu einer zusammengesetzten, doppelsinnigen, zweideutigen, heuchlerischen Daseinsweise erhebt«; er wird auf diese historisch fundierte Weise
nicht nur zum Satiriker, sondern zum Dialektiker. Obwohl Fourier sowenig wie Owen die Klasseninteressen des Proletariats im Sinn des Klassenkampfs vertritt, glaubt er nicht, daß die bürgerliche Gesellschaft als solche oder aus sich heraus verbesserbar sei. Ohne Kenntnis Hegels, über ein Menschenalter vor Marx entdeckt Fourier den außerordentlichen Satz, daß »in der Zivilisation die Armut aus dem Überfluß selbst entspringt«. Elend gilt nicht mehr (wie bei bürgerlichen Ökonomen nochJahrzehnte nachher und in Amerika heute noch) als vorübergehender Zustand, der durch das Füllhorn des wachsenden Reichtums von selbst beseitigt würde. Konträr: Elend ist die dialektisch notwendige Kehrseite des kapitalistischen Glanzes, mit ihm gesetzt, von ihm unabtrennbar, mit ihm wachsend; daher kann und wird die kapitalistische Zivilisation die Armut nie eliminieren. Die gleiche dialektische Genialität machte Fourier für die Tendenzen hellhörig, welche innerhalb der gegenwärtigen »incohérence industrielle« selbst zur Reife und zum /(652) Umschlag drängen. Was die nähere Zukunft des Kapitalismus angeht, so hat Fourier bereits 1808 das schließliche Ende der freien Konkurrenz, die Bildung von Monopolen vorhergesagt. Er prophezeite in einer Zeit, die soeben erst die Zunftschranken durchbrochen hatte und die Anfänge der freien Konkurrenz sah, mit ganz unerhörtem Durchblick den Bankrott des ökonomischen Liberalismus. Hierbei hoffte Fourier, daß bereits vor der Monopolbildung eine soziale Umwälzung die » Handelsanarchie« aufhebe und der Menschheit garantierte Existenz hinter dem Kapitalismus beschere. Auch diese Garantie sei in den Tendenzen der kapitalistischen Zivilisation angelegt, so daß Fourier definiert: »Es strebt die Zivilisation in sich selbst, nach dem Willen der Natur, dem Garantismus zu.« Ersichtlich riß hier allerdings, am Ende der Kritik, auch Prophetie, Fouriers historisch-dialektische Vermittlung ab; rein subjektive Wunschphantasie schrieb der Zukunft ihre Bilder vor. Das Ziel war genossenschaftliche Organisation der Gütererzeugung und Güterverteilung; Anfänge dazu sah Fourier merkwürdigerweise in den vorhandenen Sparkassen, in genossenschaftlichen Versicherungsgesellschaften und dergleichen bourgeoisen Karikaturen eines sozialistischen Garantismus. Obwohl Fourier spätere Stufen der Produktion vorausgesehen hat: eben die industriellen Monopolbildungen, hat er sie nur gefürchtet, nicht, wie Saint-Simon, gar Marx, als reifere Stadien begrüßt und utopisch einbezogen. Fouriers Blick und Wertung blieben hier kleinbürgerlich fixiert, überdies meldeten sich in seinem föderalistischen Garantismus anarchistische Sympathien. Wie Owen projektiert er kleine Kommunen, sogenannte Phalanstères, ja sogar - eine Anomalie in den Utopien - ohne vollkommene Abschaffung des Privateigentums. Vielmehr soll auch dem Menschen der Zukunft erlaubt sein, durch Erarbeitung eines kleinen Vermögens seine Unabhängigkeit zu erwerben; gewiß nicht zur Ausbeutung anderer (es gibt kein Eigentum an den Produktionsmitteln), wohl aber zu dem Zweck, die individuelle Nullität im Kollektiv zu verhindern. Auch die Phalanstères sind lauter individuell-autonome Gemeinwesen, übersichtlich vertraute Kommunen aus anderthalbtausend Personen oder wenig darüber; jede Phalanx wahrt in sich selbst ein sorgfältiges Gleichgewicht zwischen Individuum und Kollektiv. Auch unter- /(653) einander sind die Phalanstères lediglich assoziiert, obzwar unter einer phantastisch ausgeschmückten Weltleitung; kein anderer Sozialismus gilt hier als der personhaft-föderative. Der Agrar- und Handwerksbetrieb in den Phalanstères, die Abwesenheit großer Industrie sollte der Gemeinschaft die Süßigkeit eines Pastorale erhalten mitten in sozialistischer Front. Zwei Stunden Arbeitszeit genügen, damit die Arbeit eine Lust bleibe, ebenso ist reicher Wechsel der Beschäftigung vorgesehen - der »Schmetterlingsleidenschaft« der Menschen entsprechend und dem Zeug zu wenigstens dreißig Berufen, das nach Fourier jeder
in sich hat. An diesem Punkt wird der Utopist fast amerikanisch: die Wendigkeit und Vielseitigkeit des Pioniers wird zwar nicht in die Prärie, wohl aber in die sicheren Gartenstädte der künftigen Phalanstères eingesetzt. Auch dient, ähnlich wie bei Owen, all dies freie Wesen ohne Arbeitsteilung und diese ausgesprochene Föderativ-Utopie weniger einer üppigen Produktion als dem Sieg unserer »Grundpassion«; diese ist nach Fourier - mit plötzlichem erstaunlichem Optimismus - christliche Menschenliebe. Die kapitalistische Zivilisation hat zwar in sich bereits die Tendenz auf den neuen Gesellschaftszustand (wie jede Epoche die ihr nachfolgende in sich angelegt hat), trotz der gefürchteten Monopole, der im Keim bereits sozialistisch zu erstickenden: doch mit mehr als historischer, mit »geometrischer Notwendigkeit« erfließt Fouriers Zukunftsstaat aus dem »obersten Prinzip des Christentums«. Fourier denkt sich seine Kommune als eine Musik aus lauter christlicher Harmonie, und die Stimmen, die nach dieser höheren Föderation verlangen, sind nicht nur die einzelnen Menschen, sondern auch die einzelnen Triebe in den Menschen. Dergestalt hat Fourier sogar eine Art anthropologischen Kontrapunkts entworfen, mit zwölf Leidenschaften und nicht weniger als achtzehnhundert Charakteren; alle diese leben sich, ist die Gesellschaft reingestimmt und dissonierender Betrug beseitigt, zu allgemeiner Menschenliebe aus. Reicher Einklang insgesamt ist die Bestimmung des Menschen, für sich selbst wie im Verhältnis zur Welt. »Seine industrielle Bestimmung ist, die materielle Welt zu harmonisieren; seine soziale Bestimmung ist, die affekthaft-moralische Welt zu harmonisieren; seine intellektuelle Bestimmung ist, die Gesetze der universalen Ordnung und /(654) Harmonie zu entdecken.« Demgemäß konstruiert Fouriers Utopie lauter Verbindungen aus, worin notwendig Konsonanz herrscht; Utopie ist Medizin und Unterweisung zum Einverständnis. Ohne Armut, ohne jene Aufteilung in Berufe, die den Menschen selber tranchiert; hier ist föderative Kommune, Glücksbau fast aus einer Art frühem Walt Whitman-Amerika, jedoch ohne Kapitalismus. Zentralistische Utopien im neunzehnten Jahrhundert: Gabet, Saint-Simon Was Glück statt Elend bringt, braucht nicht selber immer freundlich zu sein. Ebenso ist der Plan, der die Härte des Lebens abzuschaffen denkt, nicht immer weich. Bei Owen und Fourier erscheint das bessere Leben als individuell und föderativ, sein Rahmen ist locker. Die Zentralisten dagegen, die jetzt auftreten, der Industrie näher, machen die Freiheit organisiert, die Solidarität mächtig. Statt in Siedlungen wird in großen Wirtschaftskomplexen gedacht, statt der »Distriktsräte« Owens taucht ein strenges Verwaltungssystem auf. Man könnte auch sagen: in der Freiheit taucht wieder strengere Ordnung auf, die Freiheit wird nicht mehr als eine ökonomisch-individuelle, sondern nur noch als eine soziale, das heißt an gemeinsamen Zielen orientierte bejaht. Es ist daher mehr als bezeichnend, es ist entscheidend, daß die zentralistischen Utopisten ihre Träume nicht mehr mit Feld, Haus und Werkstatt ausstaffieren, mit Bauern- und Handwerker-Ensemble. Sondern sie bejahen die kollektiven Produktionsmittel der Industrie, sie verneinen lediglich den «Subjektivismus«, womit diese gebraucht und verwaltet werden. Cabet war einer der ersten, der sich derart an Arbeiter wandte und als Sprecher ihrer kraftvollen Zukunft empfunden wurde. Auch er glaubte freilich, glaubte immer noch, daß die Spannung zwischen Arm und Reich auf einer Art Mißverständnis beruhe, das sich ohne Klassenkampf beheben ließe. Er vertraute zwar nicht mehr dem Zephir einer humanen Suada, wohl aber hoffte er, daß die Krisen dazu hinreichten, dem Kapitalisten, wenn nicht ins Gewissen, so in den Verstand zu reden. Doch davon
abgesehen liegt Cabets Utopie durchaus auf der strengen, unsentimentalen, organisierenden Seite. Seine «Voyage en Icarie«, 1839, liefert nur scheinbar /(655) einen neuen Insel- und Siedlungstraum; sein Ikarien war vielmehr modern und komplex. Dieses Sinns verwandte Cabet, im Programm von 1840, zuerst das Wort communiste; Heine führte die Neubildungen communiste, communisme ins Deutsche ein. Keine communités partielles sollen die Erde bedecken, Ikarien ist ein einheitliches, hochindustrielles Gebilde, getragen von einer mächtigen Arbeiternation. Cabet preist die Industrie und ihre revolutionäre Kraft: «Durch das schlichte Feuer und das einfache Wasser wird die Aristokratie in die Luft gesprengt und in die Erde geschmettert werden. Es gibt die alten vier Elemente, aber der Dampf ist ein fünftes und nicht unwichtiger als jene, denn er schafft die Welt der Zukunft, er scheidet unsere Gegenwart von der Vergangenheit.« Der Zukunftsstaat, der der organisierten Industrie entspringen sollte, war ausgedacht mit aller Eleganz und Präzision des Dezimalsystems. Ein Diktator sollte den politischen Urmeter schaffen, das Dezimalsystem selber bedeutet übersichtlichste Logik der Ordnung. Das Projekt-Land ist in hundert Provinzen geteilt, von annähernd gleicher Ausdehnung und Bevölkerung; jede dieser Provinzen zerfällt wieder in zehn Kommunen; Provinzen und Kommunen werden beherrscht vom Arbeitsgehirn ihrer Stadt, zuhöchst von Icara, dem Zentrum, einem völlig durchrationalisierten Kristall. Minutiös ist der Tag geregelt, ein Siebenstundentag der Frühaufsteher, ein Campanella-Tag, von oben bis unten besetzt mit Arbeitsuniform und Komitees. Es gibt nur Amtszeitungen und auch sonst kein Hilfsmittel einer organisierten Kritik; Ingenieure und Beamte regieren eine Fachwelt - der Kontrast zu Fouriers Phalansteres könnte nicht schärfer sein. Des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr wurde in keiner anderen Utopie mit so wenig Überdruß totalisiert, mit so viel Vergötzung der Exaktheit. Durchgehends aber - ein Reales neben der Vergötzung herrscht sozialistische Planwirtschaft: ein Industrie-Komitee setzt im voraus die Zahl und Art der Güter fest, die im Jahr produziert werden müssen. So kommt die Produktion ohne die Krisen aus, die die Wohlfahrt vernichten und den Kapitalisten selber ihr System zur Hölle machen. Die Kapitalisten waren indessen nicht geneigt, sich von ihrer Krankheit dadurch befreien zu lassen, daß man ihnen das Leben nahm: es gibt kein /(656) freiwilliges Ikarien. So experimentierte Cabet zu schlechter Letzt, ganz gegen seine Lehre, mit Siedlungsplänen minimalster Art, genau wie Owen. Ikaria war entworfen als glanzvoller Arbeiterstaat mit Metropolis in der Mitte; zur Wirklichkeit wurde eine mühselige Kolonie, von kommunistischen Pionieren an den Missouri gesetzt. Sie ging trotz Dampfkraft, weitgehender Mechanisierung, versuchtem Musterbetrieb zugrunde, verschluckt von Sumpf und Prärie. Immerhin war Klein-Ikarien stets als Ersatz gedacht; das echte Ikaria liegt an der Seine, war gedacht als das vollendete Frankreich des Dezimalsystems und der Departements, aus dem, nach dem vielen mittelalterlichen Wust oder Durcheinander, auch die Zufälligkeiten des Privateigentums entfernt worden sind. Der Dampf warf damals rascher und gründlicher um, als geträumt worden war. Noch nicht zum Besseren, was die Arbeiter angeht, das war vorerst nur Hoffnung. Sie wurde besonders von Saint-Simon verfochten, er glüht noch mehr als Cabet vom Lob des industriellen Lebens. Dafür faßte jedoch Saint-Simon dieses Leben, als tätiges, wieder zu weit, zu ununterschieden. er utopisierte mit dem Arbeiter auch den Unternehmer. Der Zeitgenosse Fouriers hatte nicht dessen dialektischen Scharfblick; so entging ihm die Erzeugung des Elends durch den Reichtum, der Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie. So setzte er auf eine »arbeitende Klasse« schlechthin, als auf die »arbeitenden Glieder des Volkes«;
zu diesen zählten, weil ihr Profitinteresse immerhin nicht müßig zu sein schien, auch die Kapitalisten, Bauern, Arbeiter, Händler, Unternehmer, Ingenieure, Künstler, Wissenschaftler - alle Typen ohne ererbtes feudales Privileg gehörten bei Saint-Simon zum schaffenden Teil der Menschheit, folglich zu ihrer Zukunft. Saint-Simon durchschaute die Bourgeoisie noch nicht als eigene Klasse, daher schien ihm, obwohl er sein Leben lang auf der Seite der »Zahlreichsten und Ärmsten« zu stehen wünschte, ebenfalls ein friedlicher Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit möglich. Was heute Demagogie ist oder harmonisierende Dummheit des hintersten Stammtisches, war damals noch Geblendetsein durch junges industrielles Up to date, durch die Modernität aller, die mit der Dampfkraft beschäftigt waren, mit Industrie und Fort- /(657) schritt. Arbeiter und Unternehmer standen gleichzeitig an der Spitze der Entwicklung; so hoben sie sich gleichmäßig ab von der verrotteten Feudalität. Selbsterworbenes Eigentum, ohne Erbrecht, war ein anderes als das überkommene der adligen Grundbesitzer, der Parasiten mit zwanzig Ahnen; Reichtums-Macht auf Grund eigener Arbeit war progressiver als Macht-Reichtum auf Grund feudaler Tradition. Bleibt das Proletariat; doch dieses, in seiner damaligen Schwäche und Unreife, erschien Saint-Simon in der «Reorganisation de la société européenne«, 1814, noch als gänzlich passiv und unmündig. »Helden der Industrie« wurden aufgerufen, die das Proletariat aus einem Objekt der Ausbeutung zum ebenso passiven der Beglückung überführen sollten - im »Fortgang der industriellen Revolution«. Saint-Simon und seine Schüler berührten sich, in diesem Glauben, mit manchem, was heute die (auch schon wieder halb verschollenen) Technokraten betreiben oder hoffen; es waren Schüler Saint-Simons, die zuerst Pläne für den Suez- wie den Panama-Kanal ausgedacht haben, und all das im Rahmen sozialer Weltverbesserung. Saint-Simon selbst rühmte an den aktiven Vertretern der aufsteigenden Bürgerklasse die »capacité administrative«; besonders die Bankiers, als Vertreter der Zentralinstitute des modernen Wirtschaftslebens, seien dazu ausersehen, ihre Hilfe dem Volk zu leihen, öffentliche Beamte der industriellen Volksgemeinschaft zu werden. Bazard, der Theoretiker der Schule, erklärte, die Bankiers könnten den Königen und feudalen Parasiten das Geld entziehen; Bankinstitute überhaupt seien die «germes organiques« des sozialen Zukunftssystems. Das alles, obwohl Bazard als erster Saint-Simonist den Glauben seines Meisters an einen einheitlichen »Industrialismus« verlassen und den Klassenkampf innerhalb der industriellen Gesellschaft geschildert hat. Louis Blanc wiederum, der späte und bedenkliche Praktiker aus Saint-Simons Schule, glaubte die kapitalistischen Einrichtungen dadurch zu sozialistischen machen zu können, daß er alle Privaten, auch die Bankinstitute, aus ihnen herauswarf und den Staat einsetzte. Der Staat soll durch seine eigene Konkurrenz die private aufheben, »Nationalwerkstätten« zur Gütererzeugung werden mit Staatskredit eröffnet werden, die Regierung selber ist die höchste Ordnerin der /(658) Produktion. Auf diese Art entsteht, nach dem verständnisvollen Ausdruck Lorenz von Steins, das Novum eines »gouvernementalen Sozialismus«. Dieser aber ist, auch im Herzen Louis Blancs, eher durch einen Staatsstreich erreichbar als durch eine Revolution. Saint-Simons Bewunderung für die »Capacité administrative« der Bankiers erschien bei Louis Blanc zu guter Letzt nicht einmal mehr als Staatssozialismus, sondern als Staatskapitalismus, mit dem paradoxen Auftrag, sozialistisch zu funktionieren. Jede Verbindung von Sozialismus mit Staatskapitalismus, als der kapitalistischen Ausbeutung auf dem Amtsweg, jede Maskierung von Staatskapitalismus mit Sozialismus geschieht auf dem Weg, den der Kompaß Louis Blancs gezeigt hat. Gewiß, auch hier »übernimmt die Gesellschaft die Produktionsmittel«, doch eben
eine, die keine soziale Revolution hinter sich hat, die auf verschärfte Weise die alte ist und das Profitsystem mittels einer Kreuzung von sozialistischen Formen und politischer Polizei widerspruchslos, streikfrei, formidabel machen möchte. Zu solchen Bedenklichkeiten verkam, unter solchen Wunderlichkeiten versteckte sich Saint-Simons großartige Einsicht - ein wahrer Frontgedanke -, daß das Großunternehmen selbst sozialistische Elemente enthalte. Weit steht Saint-Simon hinter der gleichzeitigen Gesellschaftskritik Fouriers zurück, aber weit überholt er auch den föderativen Sozialisten in der Ahnung, daß nicht Assoziation, sondern Organisation dem Sozialismus näher bringe. Dabei ist der Haß des Grafen gegen die früheren Herren, soweit sie eine eiserne Stirn haben, ebenso echt wie gesprenkelt. Nicht grundlos stellte sich Saint-Simon selber unter zwei Titeln vor, nämlich gleichzeitig als »Soldat unter Washington« und als »Nachkomme Karls des Großen«. Als der erste, als Kämpfer gegen die Lords, stellte er die Kehrseiten des industriellen Betriebs, die er nicht leugnen kann, ausschließlich als erhaltene oder erneuerte Formen der alten Leibeigenschaft dar. Hiernach hält Saint-Simon jeden ausbeuterischen Unternehmer für einen Neu-Feudalen, das heißt: nicht die Industrie ist der primäre Ursprung der Ausbeutung und Unterdrückung, sondern lediglich der feudale Habitus in der Industrie. Als solcher Habitus, geschickt verwandelt und übernommen, erscheint nach Saint-Simon sogar der ökonomische Liberalismus, jene Haltung also, /(659) die man gewohnt ist, als das äußerste Gegenteil der Zunft- und Standeswelt von einst zu betrachten. Der Liberalismus sei auch in seinen Anfängen dieses Gegenteil gewesen, er habe den Feudalismus gestürzt, aber vielfach nur zu dem Zweck, um sich mit gleich erbarmungslosen Mitteln der Unterdrückung an seine Stelle zu setzen. »Die wahre Devise der Führer dieser Partei ist: Ote-toi de là que je m'y mette«, - mit diesem Satz hat Saint-Simon in der Tat das neue Raubrittertum, auch die neufeudalen Herrschafts-Ideologien und Luxusformen des Kapitalismus im neunzehnten, gar zwanzigsten Jahrhundert vortrefflich vorausbezeichnet. Nur glaubt Saint-Simon, daß die Auswucherung des Schwachen dem »industriellen System« nicht wesentlich sei: werden daher Erbrecht und andere Herrenformen des arbeitslosen Einkommens abgeschafft, dann können die Segnungen des Industrialismus sogleich beginnen. Soweit der pure Haß gegen die Feudalität; ihr jedoch schließt sich an die zweite Gestalt dieses Hasses, nämlich die Haß- Liebe zur Feudalität, und hierzu bietet die Verdammung des Liberalismus eine erstaunliche Brücke. Der Graf Saint-Simon, der angegebene Nachkomme Karls des Großen, lebte mitten in der Restaurationszeit; bereits aus Gründen der »capacité administrative«, besonders aber des Zentralismus war er autoritären Gedanken nicht unzugänglich. So glaubte er auf der anderen Seite, gerade am vorkapitalistischen System (und dem ihm verbundenen Katholizismus) bedeutend haltbarere Elemente zu entdecken als nur Volksfeindschaft und Unterdrückung. Der Prophet der Industrie gibt dem Feudalismus nirgends Pardon, jedoch der Prophet des zentralisierten Kollektivs sieht im Mittelalter, als dem gebundenen, das bessere Europa. Saint-Simon berührt sich darin mehrfach mit den Restaurationsdenkern seiner Zeit, mit Revolutionshassern und »Traditionalisten« wie de Bonald und de Maistre, mit den reaktionären Antikapitalisten und Predigern. Man vergleiche dazu de Maistres Hoffnung: «Tout annonce que nous marchons vers une grande unité« oder die andere, aus seiner «Etude sur la Souveraineté«, ganz Heilige Allianz: «Le gouvernement est une vraie religion, il a ses dogmes, ses mystères, ses pretres.« Das ist mystifiziertes Ordnungspathos, stark in Campanellas Stil, und zu ihm hin schlägt nun auch Saint-Simon einen Bogen, mitten in /(660) der Industrie, als einer
zu organisierenden. Indem nämlich der Liberalismus die Feudalen gestürzt hat, hat er auch dort, wo er nicht in ihre Stellungen eingerückt, nur halbe Arbeit geschafft, denn sein Produkt ist negativ oder bloße Zerstörung des Gewesenen. Der ökonomische und sonstige »Subjektivismus« (enthalten im Manchesterprinzip, im laissez faire, laissez aller) hat die Gesellschaft aufgelöst und atomisiert; mitten im entfesselten Aufschwung der Industrie herrschen Chaos und Anarchie. Saint-Simons Absicht war, sie auszuscheiden und den entfesselten Produktivkräften jene »capacité administrative« vorzusetzen, die eben mit den Jakobinismen nichts gemein hat. Die vielmehr Ordnung schafft, Überblick von den Höhen eines Zentralinstituts her, ja neue Hierarchie. Das ist im Saint-Simonismus eine höchst folgenreiche, höchst paradoxe Begegnung zwischen Reaktion und Sozialismus, geeint im Haß gegen individuelle Wirtschaftsfreiheit. Es begegnet sich nicht nur die Karikatur »feudaler Sozialismus«, den das »Kommunistische Manifest« an den französischen und englischen »Legitimisten« verspottet, sondern die bösartige Kehrseite des Paradoxes wirkte fort bis in Lassalles Koketterie mit Bismarck, bis in die mannigfachen Legierungen von »Preußentum und Sozialismus«, von Staatskapital und Sozialismus. Aber der Zentralist Saint-Simon griff die illiberale Romantik gänzlich ohne Seitenblick auf reaktionären Gebrauch auf und selbstverständlich ohne reaktionären Auftrag. Er wollte den Illiberalismus umfunktionieren, um durch ihn hindurch zum Licht und Human- Wert der Gebundenheit zu gelangen. Wie Fourier war auch Saint-Simon davon überzeugt, daß keine frühere Epoche als solche wiederherstellbar sei; und wie dieser nahm er seine Überzeugung aus einem Phasensystem der Geschichte selbst. So siegt am Ende trotzdem der Soldat Washingtons über allerhand Enkel-Erbe Karls des Großen; und aus dem historischen Bewußtsein, das hier Fortschritt bedeuten will, keinesfalls Restauration: »Die Wasser der Vergangenheit haben das ritterliche Feuer ausgelöscht, und Notre Dame, eine geborene Ruine, wurde eine wirkliche.« Denn drei Stadien durchläuft hier die Geschichte: ein theologisches, das die Welt von Göttern geschaffen sein läßt, ein metaphysisches, das sie aus abstrakten Naturkräften oder Ideen deduziert, /(661) ein positives, das sie durch Zergliederung der Tatsachen und aus immanenten Ursachen begreift. Die moderne Industriegesellschaft nun ist die positive, folglich ist sie aus der religiösen und halbreligiösen Mythologie der beiden ersten Stadien völlig herausgetreten, folglich kann sie in die eigentlich religiös-metaphysische Lebensidee des Feudalismus nicht mehr zurück. Wohl aber kann sie auf der Grundlage des Wissens die soziale und geistige Bindung (Substanz) wiedergewinnen, welche früher auf der Grundlage des Glaubens vorhanden war. An Stelle der Feudalität und Kirche sind Industrie und Wissenschaft getreten, an Stelle religiöser Metaphysik Materialität; aber die Materialität selber verlangt einen Zentralbau, worin sie - und hier ist doch wieder entgiftet geglaubtes, säkularisiertes Mittelalter - eine Art intelligenter Sakramente durch die »capacité administrative« austeilen kann. Saint-Simons »Système industriel«, 1821, wie vor allem das letzte Werk »Nouveau Christianisme«, 1825, erstreben dergestalt eine streng hierarchische Gliederung der industriellen Funktionen und ein zentralisiertes Ende der dilettantischen Störungsfreiheit, der Freiheit als Anarchie. Die intellektuelle Obrigkeit, die im Mittelalter der Klerus innehatte, fällt den Forschern und Gelehrten zu; der organisierte Industriestaat wird und zwar unabsterbend, ewig - zur »Kirche der Intelligenz«. Ein sozialer Hoherpriester, eine Art Industriepapst, wird an ihrer Spitze stehen, der Geist eines verjüngten Christentums wird sie leiten. Es sind das alles Gedanken, die ein Menschenalter später in der letzten Periode von Auguste Comtes Philosophie sich
wiederholt haben, und sie füllen immer wieder die phantastischen Traumhochzeiten zwischen heiligem Sozialismus und profanem Vatikan. Protestantismus ist hier eine lax-individuelle Halbheit, Deismus eine lax-agnostische Allgemeinheit; ohne Hierarchie ist keine Religion, also auch keine der neuen Intelligenz. Der englische Naturforscher Huxley hat dergleichen Katholizismus minus Christentum genannt, und aus der Schule Comtes kam darauf eine Berichtigung, die eine Bestätigung war: die positive Zukunftsreligion sei Katholizismus plus exakter Wissenschaft. Gilt das für Comte, so freilich nicht für Saint-Simon; dessen Sozialpapismus war keinesfalls ohne Christentum gemeint. Er gründete sich nicht auf hierarchische /(662) Baukunst allein, sondern auf eine scharf gemachte, durchorganisierte christliche Humanität. Der Vorläufer all dieser Zukunfts- oder Intelligenzkirchen war trotz der antideistischen Stimmung Comtes - selbstverständlich ein Deist, und zwar im Sinn der sogenannten Naturreligion: John Toland. Dieser bereits hatte im »Pantheistikon«, 1721, nicht bloß, wie alle Deisten, eine Religion verlangt, welche unter gänzlicher Beseitigung jenseitiger Offenbarung »mit dem wissenschaftlichen Verstand übereinstimmt«. Toland errichtete auch seinem Naturgott (»dem All, aus dem alles geboren wird und zu dem alles zurückkehrt«) einen eigenen Kultus, den »der Wahrheit, Freiheit und Gesundheit, der höchsten Güter der Weisen«. Und er installierte vor allem, ganz wie Comte, neue Heilige und Kirchenväter, nämlich »die erhabenen Geister und die vorzüglichsten Schriftsteller aller Zeiten«. Hier ist bereits die »Kirche der Intelligenz«, Saint-Simon brachte im Zeitalter der Fabriken und der Romantik den Industriepapst hinzu und allerdings gewisse fortwirkende Korrespondenzen der Gebundenheit, die vordem nicht waren: die Korrespondenzen Sozialismus - Kirchenorganisation. Davon abgesehen ist bei alldem das Pathos der sozialen Organisation, das ist hier noch: einer sozialen Staatsindustrie, glänzend illiberal gefaßt. Saint-Simons Utopie steht Campanella bedeutend näher als Morus und hat in sich alle Vorteile, auch Gefahren eines Kollektivgedankens, der in der zentrierenden Organisation nicht mit demokratisch-föderativen Elementen versehen ist, ja mit ihnen nicht die Strenge der Organisation selber solidarisch erbaut. Individuelle Utopisten und die Anarchie: Stirner, Proudhon, Bakunin Wirkt nicht jenes Leben überhaupt als das beste, das gewaltfrei verläuft? Als sein eigener Herr, unabhängig, ungebunden, wildwachsend, wenigstens nach eigenem Maß wachsend. Selbst Saint-Simon sagte auf dem Sterbebett: »Mein ganzes Streben faßt sich in dem einen Gedanken zusammen, allen Menschen die freieste Entwicklung ihrer Anlagen zu sichern.« Jener Vormund, auch jener soziale, erscheint als der beste, der mit einem Schlag nicht mehr vorhanden ist. Die Anarchisten freilich, die diesen Schlag /(663) utopisch führen, tragen, alles Trotzes ungeachtet, stets ein kleinbürgerliches Betragen zur Schau. Nicht wegen ihrer überwiegend ebensolchen Herkunft, sondern wegen ihrer unvermittelten Ziele; denn diese wirken oft als aus einer rentierhaft »unabhängigen« Privatwelt. Stirner, mehr ein wilder Oberlehrer als ein Löwe, hat mit dem Ruf nach dem Ich an sich, nach dem Eigner seiner selbst begonnen. Der Eigner ist einer der Helden in Marxens »Heiliger Familie«; die merkwürdige Schrift »Der Einzige und sein Eigentum«, 1844, will den Einzelnen, sonst niemand, von den letzten »Sparren« oder »Gespenstern« befreien, die aus dem Jenseits übriggeblieben sind. Übriggeblieben sind so, vom Standpunkt des völligen Privatmanns aus, die sozialen und sittlichen Sparren. Der Einzige verschmäht es, sich weiter zu solch idealem Dienst abrichten zu lassen, zu einem Dienst am Nächsten, am Volk, an der Menschheit. Der Einzige ist bereits Mensch, er
braucht es nicht erst durch Erfüllung sogenannter allgemeiner, folglich spukhafter Pflichten zu werden. Jedes Über-Ich fällt fort und jede Forderung von ihm her: »Ich lebe so wenig nach einem Berufe, als die Blume nach einem Berufe wächst und duftet.« Das Ich ist sich selbst sein Über-Ich und auch sein utopischer Staat, es unterhält mit anderen seinesgleichen äußerstenfalls einen »Verkehr oder Verein«, und zwar so lange, wie dieser dem Selbstgenuß nützt. Sobald der Verein sich verfestigt, sobald er Gesellschaft, gar Staat zu werden droht, muß er vom Einzigen gekündigt werden. Kurz, der Einzige, der den contrat social nur für sich schließt, ist freier Außenseiter nicht bloß der vorhandenen Gesellschaft, sondern jeder denkbaren. Er zeigt freilich auch, wie sehr Außenseitertum und Gesellschaft korrelativ zusammenhängen: der Einzige ist selber nur eine gesellschaftliche Erscheinung. Stirners Individuum und sein Verein hat manches mit dem kynischen gemein, außer der Bedürfnislosigkeit; auch wurde der Kyniker vollends zum Zyniker. Das naturalistische Schauspiel hat mit Vorliebe solche Einzigen dargestellt, nur: sie gerieten nicht als ihr eigener Zukunftsstaat. Sondern als höhnisch-unglückliche Bohemiens, oder als ergreifend-bankerotte, oder eben als Zyniker der Lebenslüge (Braun in Hauptmanns »Einsame Menschen«, Ulrik Brendel in Ibsens »Rosmersholm«, Relling in der «Wildente«). Und das /(664) Pendant des Einzigen, im gleichen Kreis, ist der Philister: dessen totale Freiheit enthält, wenn sie keine andere als die der Privatsphäre ist, ebensoviel totale Begrenzung. Das losgelassene Individuum kommt auch als sozialer Traum nicht weiter als die Gesellschaft von Privatunternehmern, gar Kleinrentnern, die es entbunden hat. Der Einzige und sein Eigentum, - diese Aufschrift schmückt folgerichtig nicht nur das Wappen der Libertinage, sondern auch das Hausschild der Philisterei; das letztere nun ist ganz der Fall bei dem Anarchisten Proudhon. Ursprünglich freilich, gleichsam an seiner Wiege, klang Proudhons Gesang noch rauh, ja sein Text, sein bald so kleinbürgerlich gewordener, erschien voll Kraft, ein Angriff gegen das Eigentum, wie er vordem noch nicht ergangen war. Proudhons erste Schrift stellte bereits im Titel die Grundfrage: »Qu'est-ce que la proprieté? und beantwortete sie mit dem berühmt gewordenen Satz: Eigentum ist Diebstahl. Dies Schlagwort, so allgemein es im Grund auch gehalten war, wirkte nicht nur epatierend, sondern als Schändung des bürgerlichen Heiligtums und der Voraussetzung des bürgerlichen Individuums schlechthin. Indes gab Proudhon, das spätere Objekt in Marxens »Elend der Philosophie«, schon in seiner zweiten Denkschrift der proprieté eine sympathischere Herkunft; er sagt: »Das Eigentum hat seine Wurzel in der Natur des Menschen und in der Notwendigkeit der Dinge.« Die Grundlage des bürgerlichen Individuums bleibt also erhalten, jedoch in utopischer Breite: alle Menschen werden zu bescheidenen Besitzern erhoben, das Eigentum des Besitzers muß nur so klein gehalten werden, daß es kein Mittel zur Unterjochung anderer bildet. Auch Fourier, auch Saint-Simon haben das Privateigentum nicht ganz aufgehoben, doch diese Anomalie ist auch eine in ihrer eigenen Lehre, steht im Widerspruch zu ihr, steht darin ganzen passant. Bei Proudhon jedoch folgt Erhaltung des Eigentums aus einer Regel, aus einem Prinzipienwesen a priori, das für den Anarchismus charakteristisch ist. Es stammt aus dem abstrakten Liberalismus des achtzehnten Jahrhunderts, dem der Anarchismus so nahesteht, und erinnert merkwürdig an veraltete Deduktionen des Naturrechts, übertragen auf Utopie. Also ist Proudhons Utopie auf lauter »Axiomen« und »Prinzipien« gegründet, auf bürgerlich-revolutionären gewiß, doch /(665) auf ebenso statisch-idealistischen. Das erste Axiom setzt die Selbstherrlichkeit der Personen, mit ihr ist jede durch soziale Umstände bewirkte Ungleichheit unvereinbar. Das zweite Axiom setzt die Idee der Gerechtigkeit als die der Person
innewohnende Kraft, in jeder anderen Person die menschliche Würde zu achten und zu fördern. Soweit die Axiome, ihnen schließen sich Prinzipien an, vor allem zu historischem Gebrauch, das heißt zur Erkenntnis der Triebkräfte der Geschichte. Proudhon setzt sogar das Abstraktum, das ihm als das Prinzip oder die ökonomische Hauptkategorie einer Zeit erscheint, mit der Triebkraft in dieser Zeit gleich; er verwechselt derart Erkenntnisgrund, ja das bloße Schlagwort summarischer Zusammenfassung mit Realgrund. Dialektik kommt im Reich dieser Prinzipien zwar vor, jedoch eine mißverstandene: Proudhon betrachtet die ökonomischen Widersprüche nicht als Fermente der Veränderung, sondern er hält sie in einem schlichten statischen Gegensatz, in bloßer Zweiheit: Dialektik bezeichnet nichts anderes als die Licht- und Schattenseite jeder ökonomischen Kategorie. Soll heißen: Eigentum, Wert, Arbeitsteilung, Kredit, Monopol und so fort haben jede ihr Positivum und Negativum; das Negativum wird durch die beiden »Axiome« gerichtet und ausgeschieden. Im »Systeme des Contradictions économiques ou Philosophie de la Misere«, 1846, vor allem aber in seinem Hauptwerk »De la Justice dans la Revolution et dans l'Eglise«, 1858, entwickelt Proudhon diese seine »widerspruchslose Zukunftsharmonie«. Sie bringt ein gesellschaftliches Dasein, das seine Mitte gefunden hat, seine Mittelklasse, und darin so ruhig läuft wie ein Rad um einen Mittelpunkt; sie bringt eine Gesellschaft ohne Reibung, folglich ohne Gewalt, folglich ohne Staat. All das ist aufgebaut auf der Grundlage der beiden »Axiome«: auf der individuellen Selbständigkeit der als Kleinbauern und Kleinbürger gedachten Produzenten; auf der wechselseitigen Würdigung der Person und der daraus entspringenden mutualité oder gegenseitigen Hilfe. Das Privateigentum, das aus dem Axiom der selbstherrlichen Person ebenso abgeleitet ist, wie es diese individuelle Freiheit wieder garantiert, muß freilich geläutert werden. Es ist verunreinigt erstens durch die Erscheinung des gemünzten Gelds, zweitens durch den Zins des Leihkapitals. Beide Entheiligungen des Privat/(666) eigentums sollen mittels eines umfassenden sozialen Kredits behoben werden, eben im Geist der gegenseitigen Hilfe. Genauer: in Gestalt einer Tauschbank, welche statt Geld Zirkulationsbons ausgibt, in Höhe der eingelieferten Güter. Proudhons Utopie will derart Kapitalismus und Proletariat zugleich abschaffen, also nicht etwa zuerst den Kapitalismus (durch proletarische Aktion), und dann das Proletariat (durch Selbstaufhebung dieser letzten Klasse zur klassenlosen Gesellschaft). Sondern es geschieht Einebnung oder Harmonie der Mitte: Bourgeoisie wie Proletariat lösen sich auf in den petit propriétaire rural ou industriel. Marx spricht einmal vom Kleinbürgertum als der Schicht, worin sich die Widersprüche zweier Klassen zugleich abstumpfen: genau dieser Zustand ist in Proudhons Ideal, der entproletarisierten, entkapitalisierten Mitte, verewigt. Oder wie Marx des Spezielleren von Proudhon sagte und seiner proklamierten »Gleichheit des Besitzes«: er hebe die nationalökonomische Entfremdung innerhalb der nationalökonomischen Entfremdung auf. Wobei eben die Anarchie doch nicht alle Widersprüche aufhebt, nämlich den des bürgerlichen Asts nicht, auf dem sie sitzt und den sie zugleich absägt. Die Anarchisten verwerfen zwar die äußeren Merkmale des bürgerlichen Rechts: den staatlichen Zwang und die Gesetze, aber sein inneres Wesen: den freien Vertrag zwischen unabhängigen oder als unabhängig fingierten Produzenten lassen sie bestehen. Sehr deutlich wird das gerade bei Proudhon, als dem Theoretiker des »Einzigen und seines Vereins«; bei Bakunin oder Krapotkin ist dergleichen in der größeren Feuer- oder Liebeswelt verwischt. Proudhon, in seiner »Idee generale de la revolution«, erklärt einmal: »Ich will den Vertrag und nicht Gesetze; damit ich frei bin, muß das ganze soziale Gebäude auf Grundlage des
gegenseitigen Vertrags umgebaut werden« (p. 138). Später jedoch, wo es sich um ein dem Vertrag so von vornherein Wesentliches handelt wie die Erfüllung, muß der Anarchist im gleichen Buch hinzufügen: »Die Norm, nach der der Vertrag zu erfüllen ist, wird nicht ausschließlich in der Gerechtigkeit (dem zweiten Axiom), sondern auch in dem gemeinsamen Willen der zusammenlebenden Menschen fußen. Dieser Wille wird die Erfüllung des Vertrags im Notfall auch mit Gewalt erzwingen« (p. 293). /(667) Von Gewalt hatte kein Axiom gehandelt, nicht einmal von gemeinsamem Willen. Doch läßt sich eben keine Sozialutopie auf dem Vertrag, als dem Zentrum des bürgerlichen Zivilrechts, gründen, ohne daß die Konsequenzen der Gewaltgesellschaft wieder zum Vorschein kommen. Der Anarchismus hebt sich an diesem Widerspruch selber auf; das Individuum des freien Vertrags kommt - auch als noch so idealer Kleinbürger - nicht ohne Zwang aus. Was vom juristischen Grundinstrument der Eigentumsgesellschaft ausgeht, kann nicht in gewaltlosen Assoziationen landen. Ein amerikanischer Schüler Proudhons, der Anarchist Josia Warren, gab zwar das noch völlig Stirnersche Bekenntnis: »Every man should be his own govemment, his own law, bis own church, a system within himself!« Aber die radikalen Freiheitsworte lösen sich schließlich auf im Ideal des Familieneremiten und im Krähwinkel der Spießerei, worin er sich konform fühlt. Das Ende der Proudhonschen Utopie wäre Allmacht der Provinz, also, da als Mehrheit gerade die Mittelklasse verewigt wird, Diktatur der Mittelmäßigkeit. Diese Diktatur der Mittelmäßigkeit droht übrigens überall dort, wo eine Demokratie sich auf breite Mittelschichten stützt und zwangsläufig deren Gute-Stube-Infektion, ein Gemisch aus Ressentiment und Kulturlosigkeit, in sich aufnimmt. Es gibt dann - im Geist, obzwar nicht im Buchstaben Proudhons - eine Art von kleinbürgerlich versetztem, drapiertem Kommunismus. Proudhons Anarchie, mit ihrem philiströsen Inhalt und der Billigkeit des gesunden Menschenverstands, der diesem Inhalt entspricht, hat jedenfalls ein System Babbit-Boheme, auch Revolutionskitsch in sich. Daß Anarchie das trotzdem nicht ganz ist, daß sie als Bourgeois-Schreck erschien, vorübergehend, dies hat sie ihrem vehementesten Vertreter zu danken: Michael Bakunin. Er rief nicht Mitte auf, sondern Unbändiges, das gerade ungesichert zu leben wünscht und versteht. Er hielt das Feuer in den sogenannten Bünden oder Gewerkvereinen, lehrte eine gefährlich leere Begeisterung. Wilder Wald und freie Steppe, südrussisches Räuberleben wurden in sie zuweilen eingetragen, meist nur eingesungen. Von Bakunin stammt der abstrakte Satz, die Lust der Zerstörung sei eine schaffende Lust, und er wandte diese »Dialektik« auf die /(668) Reaktion in Deutschland an. Von hierher kam die gewalttätige Propaganda der Tat, mittels derer Einzelne durch Austilgung Einzelner den Staat vernichten wollten. Von Bakunin stammt aber auch die schreckhafte Äußerung (1868, in einem Brief an Chassin, ein Mitglied der Bakuninschen »Fraternité international«): »Unser aller großer Lehrer Proudhon sagte, die unglückseligste Kombination, die kommen könnte, sei die, daß der Sozialismus sich mit dem Absolutismus verbände: die Bestrebungen des Volkes nach ökonomischer Befreiung und materiellem Wohlstand mit der Diktatur und der Konzentration aller politischen und sozialen Gewalten im Staat. Mag uns die Zukunft schützen vor der Gunst des Despotismus; aber bewahre sie uns vor den unseligen Konsequenzen und Verdummungen des doktrinären oder Staatssozialismus... Es kann nicht Lebendiges und Menschliches gedeihen außerhalb der Freiheit, und ein Sozialismus, der sie aus seiner Mitte verstieße oder sie nicht als einziges schöpferisches Prinzip und als Basis annähme, würde uns geradewegs in die Sklaverei und die Bestialität führen.« In diesen Sätzen steckt eine ganze Monomanie von Autoritätshaß, zugleich
enthalten sie die deklamierende Verblasenheit wie das undurchdachte, in Unmittelbarkeiten sich erschöpfende Freiheitsgefühl der anarchistischen Utopie: Nicht das Kapital ist ihr das Hauptübel, sondern der Staat; auf diesen ist der Haß Bakunins primär fixiert, alles andere erscheint ein Übel zweiten Grades, ja ein abgeleitetes. Schafft man den Staat ab, so geht auch das Kapital zugrunde, denn es lebt nur von Gnaden dieses Konglomerats aus Kerkern, Soldaten und Gesetzen, ja ist angeblich von ihm, als dem ältesten Unterdrücker, abgeleitet. Nach der anarchistischen Theorie wurde der Staat einzig von Eroberern geschaffen und den Unterworfenen auferlegt, die eben dadurch erst zur Fronarbeit und zum Helotentum gebracht worden sind. Der politische Unterdrücker Staat geht hiernach zeitlich wie ursächlich der Ausbeutung voran und bleibt ihr übergeordnet. Folgerichtig diagnostiziert Bakunin den Staat, bei Marx eine bloße ökonomische Funktion, als Herd und Ursprung des gesamten Ausbeutungsverhältnisses und stellt, zum Unterschied von den Marxisten, die Abschaffung dieser Funktion ins Zentrum. Bei den Marxisten geschieht dem Staat nicht einmal die /(669) Ehre, eigens abgeschafft zu werden, er stirbt vielmehr, nach dem berühmten Satz von Engels, mit dem Verschwinden der Klassen von selber ab. Diese Auffassung ist eine ökonomischreale; nach den Anarchisten dagegen werden Profit, Börse, Akkumulation vom Staat her in Gang gesetzt, sogar, gewissermaßen, vom Jenseits her. Denn auch das Staatsinstrument wird hier immer weiter fetischisiert: Bakunins «Dieu est l'e'tat«, 1871, führt den Quell der Unterdrückung auf Gott selbst zurück; der Glaube an Gott (also ein bloßes falsches Bewußtsein) ist der Lehensherr aller Autorität, alles Erbrechts, daher alles Kapitals. An die Stelle von Staat und Kirche tritt im anarchistischen Zukunftsbild die freie, gottlose Internationale der Arbeiter, und zwar tritt sie sofort an die Stelle, nicht durch Besitzergreifung, sondern durch Zertrümmerung der Staatsmacht; ökonomische Freiheit folgt dann unmittelbar nach. Bakunin, im abstrakten Machthaß, lehnt trotz Propaganda der Tat die Macht auch dann ab, wenn sie eine revolutionäre geworden ist, eine Regierungsgewalt in den Händen des siegreichen Proletariats. Vom ersten Tag an beginnt in der neuen Gemeinschaft, durch bloße Abschaffung der Autorität, die »egalisation des dasses«, die wilde Ehe, die wilde Brüderlichkeit. Ja, sobald nur das Staatsschiff versinkt, verschwindet und versinkt gewissermaßen der ganze unwirtliche Ozean, der Ozean Heteronomie, mit seinen Haien und seiner Nacht; freiwillige Solidarität blüht unter der Sonne von Autonomie. Das ist anarchistischer Glaube, aufgebaut, wie evident, auf der Überzeugung von einer ursprünglich guten, nur durch das Herr-Knecht-Verhältnis verdorbenen Menschennatur. Im Ganzen bleibt also das anarchistische Freiheitsbild teils überalterte individualistische Ideologie des achtzehnten Jahrhunderts, teils ein Stück Zukunft in der Zukunft, zu dem nirgends gegenwärtige Voraussetzungen bestehen. Außer in Putsch, rascher Heldentat, politischem Lyrismus, der sich nicht auf die Epik und noch weniger auf die Dialektik der Geschichte versteht. So läuft Anarchie heimatlos in vitalistisch-idealistischer Schweifung, ohne Materie, ohne Detektivwissen um ökonomische Materie. Wäre allerdings einmal deren Umwälzung gelungen, dann würden gewisse anarchische Motive, als an den rechten Platz gebracht, auch marxistische. Ja, sie finden sich bereits im Marxismus, /(670) nur sinnvollerweise nicht als Gegenwartspostulate, sondern als Prophezeiungen und Konsequenzen. Hierher gehört die erwähnte Vorhersage von Engels, seine Hoffnung, daß der Staat einst absterbe, daß er aus einer Herrschaft über Menschen in eine Verwaltung von Sachen übergehe. Hierher gehört erst recht die Formel, die Lenin in »Staat und Revolution« als eine des kommunistischen Ziels zitiert: »Jeder produzierend nach seinen Fähigkeiten,
konsumierend nach seinen Bedürfnissen.« Wobei freilich diese so anarchisch klingende Formel - eine Quintessenz der Zwanglosigkeit - gar nicht von Anarchisten stammt, sondern merkwürdigerweise von einem Saint-Simonisten, von Louis Blane, dem sonst recht bedenklichen Erfinder der Nationalwerkstätten. In Summa kann gesagt werden: Der Traum von der herrschaftslosen Gesellschaft ist, wenn taktisch aufgefaßt, das sicherste Mittel, ihn nicht zu verwirklichen; grundsätzlich verstanden wird er, nach geschehener Aufhebung der ökonomischen Grundlagen des Staates, zur Selbstverständlichkeit. Proletarisches Luftschloß aus dem Vormärz: Weitling Kurz bevor ein Mensch erwacht, pflegt er am buntesten zu träumen. Weitling, einer der letzten rein utopischen Köpfe, gab nicht das reichste, wohl aber das sehnsüchtigste, wärmste Bild einer neuen Zeit. Er war als Proletarier geboren, das allein schon unterscheidet ihn von den anderen hier behandelten Weltverbesserern. Auch Proudhon war zwar plebejischer Herkunft, doch er schwang sich bald in die kleinbürgerliche Klasse auf und sprach aus ihr. Der Druckereibesitzer Proudhon sprach aus seinen Kreditsorgen, der Handwerksbursche Weitling sprach aus proletarischem Elend und aus dem dämmernden Bewußtsein seiner Klasse. Demgemäß fehlt auch der Ton des Mitleids, den vornehmere Utopisten so oft gegen die Ärmsten an den Tag legen; bei Weitling kommen Erbitterung und Hoffnung aus eigenem Leid. Weitling hat, wie Franz Mehring sagt, »die Schranke niedergeworfen, die die Utopisten des Westens von der Arbeiterklasse schied«; das ist sein geschichtliches Verdienst. Weitling wurde zwar kein Vorstand und Führer der deutschen Arbeiter- /(671) klasse, diese fing im Deutschland des Vormärz eben erst an, sich zu bilden. Wohl aber war hier Anschluß, mehr noch: Identität eines Mannes aus der enterbten Klasse mit ihrer damals vorhandenen Klarheit über sich selbst. Demgemäß zeigt Weitling ebenso durchdringend Echtes wie Zurückgebliebenes; sein Pathos ist dem eines anderen früh-proletarischen Sprechers verwandt, dem Babeufs. Weltling ist die früheste proletarische Stimme Deutschlands, Babeuf eine der frühesten Frankreichs, und zuverlässig vertrat er als erster nach der Abwürgung der Französischen Revolution jene Forderungen realer Gleichheit, um die der Bourgeois den Citoyen betrogen hatte. So bestehen Zusammenhänge, solche der Reinheit wie der Primitivität, zwischen dem Haupt der »Egalitaires« und Weitling. Zu Unrecht halb vergessen ist das. frühproletarische Manifest, 1795, das die »Egalitaires« ausgehen ließen; in ihrer Gefühlswelt (man könnte sagen: in ihrer verworrenen Fernsicht und Radikalität) steht auch Weitling. Man höre dazu einige Sätze des Babeufschen Manifests: »Die Französische Revolution ist nur die Vorläuferin einer viel größeren, viel ernsteren, die die letzte sein wird. Kein individuelles Eigentum des Bodens mehr, der Boden gehört niemand, wir fordern, wir wollen den gemeinsamen Genuß der Früchte der Erde, die Früchte gehören allen. Verschwindet, ihr empörenden Unterschiede zwischen Reich und Arm, zwischen Herrscher und Beherrschten. Der Augenblick ist gekommen, eine Republik der Gleichen zu bilden, das große gastliche Haus (hospice),das allen geöffnet ist.« Diese »Republik der Gleichen« konnte sich freilich, beim damaligen Stand der Produktionskräfte, nur als solche darstellen, wie der Kleinbürger während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts sich den »Zukunftsstaat« gedacht hat: als einen des Teilens, Aufteilens, Nivellierens. Marx verspottet daher die »rohe, asketische Gleichmacherei« Babeufs; ein Spott, den er dem ebenso reinen, ebenso primitiven Auftritt Weitlings nicht angedeihen ließ. Marx war anfangs sogar geneigt, Weitling zu
überschätzen, er schrieb über dessen »Garantien der Harmonie und Freiheit«, von 1842: «Vergleicht man die nüchterne, kleinlaute Mittelmäßigkeit der deutschen Literatur mit diesem maßlosen und brillanten Debüt der deutschen Arbeiter: vergleicht man diese riesenhaften Kinderschuhe des Prole- /(672) tariats mit der Zwerghaftigkeit der ausgetretenen politischen Schuhe der Bourgeoisie, so muß man dem deutschen Aschenbrödel eine Athletengestalt prophezeien.« Später allerdings neigte Marx eher zu einer Unterschätzung: »Der utopische Dünkel Weitlings war nicht mehr zu kurieren, und so blieb nichts übrig, als der Entwicklung des Proletariats diesen Hemmschuh aus dem Weg zu räumen.« In der Tat: Weitling war Mitglied eines recht verschwärmten und unklaren »Bunds der Gerechten« geworden, Einflüsse Proudhons fehlten nicht, die Parole lautete: »Alle Menschen sind Brüder.« Der Unterschied dieser Parole zu der von Marx pointierten: «Proletarier aller Länder, vereinigt euch« ist der Unterschied des militanten Sozialismus vom immer noch lyrischen. Auch verfiel Weitling zuletzt sozialen Experimenten, in Columbia gründete er eine Gewerbeaustauschbank, dies sogar zum Zweck eines harmonischen Zusammenwirkens von Bourgeoisie und Proletariat. Immerhin dürfte dieser vorgegebene Zweck ein taktischer, wo nicht demagogischer gewesen sein; auch hat Weitling (er starb 1871) die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten ins Werk gesetzt. Auch ist Weitling, obwohl von Proudhon beeinflußt, durchaus nicht anarchistisch; der Einfluß Saint-Simons ist größer und brachte Ordnung in die soziale Freiheit. Bereits die erste Schrift: »Die Menschheit, wie sie ist, und wie sie sein sollte«, 1838, malt eine »Konstitution des großen Familienbunds der Menschheit «,worin die Arbeitszeit genau geregelt, die Produktion dem Verbrauch genau angepaßt ist. Regelung wie Anpassung geschehen auf handwerklicher Grundlage und so, daß die »zwei wesentlichen Bedingungen des menschlichen Lebens: Arbeit und Genuß« in allgemeiner, gleicher Ordnung behandelt werden. »Die eine ist die Familienordnung oder die Ordnung des Genusses, die andere die Geschäftsordnung«; erstere besteht aus Familien unter Aufsicht der Ältesten, letztere aus dem Bauern-, Werk- und Lehrstand und der industriellen Armee. »Die künftige Gütergemeinschaft ist das gemeinschaftliche Recht der Gesellschaft, unbesorgt in dauerndem Wohlstand leben zu können; und die Mehrzahl wird nie einen Versuch machen, dieses Recht zu zerstören, weil es ihr eigenes, das Recht der Mehrzahl ist.« Das ist naive und ergreifende Volkssprache, voll von altem Urstand und christ- /(673) lichem Traum; was aber die Herbeiführung dieses Zustands angeht, so spricht der Proletarier Weitling bedeutend weniger naiv als die meisten bürgerlichen Utopisten. Er hat den Wirklichkeitssinn des geprüften Mannes, mehr noch: des kapitalistischen Opfers, er glaubt nicht mehr an sozialistische Maßnahmen »mit Hilfe« der herrschenden Klasse. Der Prolet Weitling ist insofern den bisherigen Illusionisten weit überlegen, er durchschaut die verschlagenen, kritisiert die dilettantischen Gläubigen jedes Sozialismus von oben. Das bezeugt folgender Satz: »Mißtrauen wir den mittels Kapitalien berechneten Reformen sowie den Geldmännern, von beiden haben wir das Vollkommene nicht zu erwarten, wohl aber gleiche Fallen, vor denen sich die Guten nie genug in acht nehmen können.« Hier ist eine Mahnung, auf dem Marsch zum Glücksland sich nicht durch Schlimmeres als durch falsche Propheten: durch falsche Freunde vom harten Weg abbringen zu lassen. Der Mahnung schließen sich weniger realistische Ratschläge an, alle aber ungebeugt und von einer lange nicht gehörten Christlichkeit. So im »Evangelium des armen Sünders« und besonders in den »Garantien der Harmonie und Freiheit«, 1842, einem Traumzusammenhang, der vielfach an die Hoffnungen des deutschen Bauernkriegs erinnert. Akt wie Inhalt der
sozialen Revolution werden knapp in zwei Sätzen ausgedrückt: «Die Furcht ist die Wurzel der Feigheit, und der Arbeiter soll sie ausrotten, diese schädliche Pflanze, und an ihrer Stelle den Mut und die Nächstenliebe Wurzel schlagen lassen. Die Nächstenliebe ist das erste Gebot Christi, der Wunsch und Wille und folglich das Glück und die Wohlfahrt alles Guten ist in ihm enthalten.« Auch adventistische Hoffnung klingt an, kurz vor dem «Völkerfrühling« von 1848: »Ein neuer Messias wird kommen, um die Lehre des ersten zu verwirklichen. Er wird den morschen Bau der alten gesellschaftlichen Ordnung zertrümmern, die Tränenquellen in das Meer der Vergessenheit leiten und die Erde in ein Paradies verwandeln.« Weitling war kein großer Architekt, aber sein Luftschloß hat besonders humane Maße. Etwas von der guten Hand der Frauen ist darin, ein Stück weiblich-mütterlicher Utopie, welche Krieg und Roheit, Ausbeutung und Tyrannei aus dem Grund des Herzens verabscheut. Erst recht ist ein Stück Arbeit des Zimmermannssohns in Weit- /(674) lings Bau enthalten, ein Bestandstück urchristlicher Liebe. Auch Saint-Simon hatte die Verbindung zwischen Jesus und Volkstribun wiederherzustellen versucht, doch es entstand daraus nicht so sehr ein neues Christentum als eine neue Art Kirche. Weitlings sanfterer Traum baut nirgends ins Herrentum, auch nicht ins sozialistische Saint-Simons; er ist Herzensbruder, freundlich von Natur aus, aber zum erstenmal seit langem wieder, zum letztenmal auf lange, versteht er die Bibel zu lesen, wie ein Täufer sie gelesen hatte. Im Aspekt eines unentwickelten Proletariats entstand zwar mehr das Bild einer Klein-Leute-Gesellschaft als einer klassenlosen; ja, nicht einmal die Klein-Leute-Gesellschaft könnte auf diese Weise verwirklicht werden. Aber »der große Familienbund der Menschheit«, ermöglicht durch »genossenschaftliche Geschäftsordnung«, ist trotzdem mehr als Biedermeierstil in der Utopie. Er hat die Grazie und Reinheit dieses Stils, doch es fehlt nicht grobe Größe, gründliches Erstrebnis und darin ein Problem, von dem die radikalen Bewegungen ein Jahrhundert lang absehen sollten. Es ist das Problem Zimmermannssohn und Sozialismus oder Heimkehr Christi zu den Mühseligen und Beladenen. Weitling suchte eine rote Gewerkschaft des Proleten Jesus, er meinte einen Sozialismus, der sich nicht einmal davor hütet, erbaulich zu sein. Weitlings Traum hat, mit viel Bitterkeit und Reinheit, in ein Gelobtes Land geblickt, als Marx und Engels gerade begonnen hatten, die wirklichen Zugänge dahin zu entdecken und zu eröffnen. Ein Fazit: Schwäche und Rang der rationalen Utopien Immer wieder überrascht, daß großer Haß noch zutraulich bleiben kann. In dieser Lage befanden sich viele bisher erschienene Traumdenker, sie waren zuletzt versöhnend. Die gleichen Todfeinde der Ausbeutung, welche eben erst deren erbarmungsloses Grauen geschildert haben, wenden sich an die Ausbeuter und schlagen ihnen vor, mit sich ein Ende zu machen. Aus den Herzen haben die Utopisten das Unrecht verdammt, das Rechte gewünscht, aus dem Kopf suchten sie - als abstrakte Utopisten die bessere Welt auszukonstruieren, und im Herzen wiederum /(675) hofften sie den Willen zu dieser Welt zu entzünden. Einige freundliche, auch snobistische Ausnahmen, einige Überläufer aus dem »hündischen Kommerz« wurden zur Regel gemacht; der Appell bei alldem ging an Gerechtigkeit und Vernunft. Erst um 1848 bahnte sich allgemeiner die Erfahrung an, die Herwegh so ausdrückte: »Nur der Blitz, der sie trifft, kann unsere Herren erleuchten.« Ebenso aber, wie die Unternehmer zu ihrem Gegenteil überredet werden sollten, ebenso sollte die übrige Wirklichkeit, die Gesellschaft insgesamt, zu ihrem Gegenteil gebracht werden, unvermittelt, wie durch jähe Lösung eines Banns. Obwohl einige
Utopisten, so Fourier und Saint-Simon, geschichtliche Vermittlungen, Ahnungen vorhandener Tendenzen erforschten, siegt doch auch hier die wesentlich private und abstrakte Ergründung eines von Geschichte und Gegenwart (von den »Schlacken der Gegenwart«) unabhängigen Phantasiestaats. Fourier, der einzige Dialektiker dieser Reihe, ging noch am meisten auf reale Tendenzen ein; doch auch bei ihm ist mehr Dekret als Erkenntnis, mehr abstrakte als konkrete Utopie. Die Traumlaterne scheint bei abstrakten Utopisten in einen leeren Raum, das Gegebene hat sich der Idee zu fügen. Ungeschichtlich und undialektisch, abstrakt und statisch wurden derart die konstruktiven Wunschbilder an eine Wirklichkeit herangebracht, die wenig oder nichts von ihnen wußte. Nur selten freilich ist diese Schwäche eine persönliche der Utopisten; vielmehr gerade hier kam der Gedanke nicht zur Wirklichkeit, weil die damalige Wirklichkeit nicht zum Gedanken kam. Die Industrie war unentwickelt, das Proletariat unreif, die neue Gesellschaft in der alten kaum sichtbar. Marx bemerkt darüber im »Elend der Philosophie« (zwar nur contra Proudhon, doch alle älteren Utopisten mitbezeichnend ): »Solange das Proletariat noch nicht genügend entwickelt ist, um sich als Klasse zu konstituieren, und daher der Kampf des Proletariats noch keinen politischen Charakter trägt, solange die Produktivkräfte noch im Schoß der Bourgeoisie selbst nicht genügend entwickelt sind, um die materiellen Bedingungen durchscheinen zu lassen, die notwendig sind zur Befreiung des Proletariats und zur Bildung einer neuen Gesellschaft, solange sind diese Theoretiker nur Utopisten, die, um den Bedürfnissen der unterdrückten Klasse abzuhelfen, Systeme ausdenken und /(676) nach einer regenerierenden Wissenschaft suchen. Aber in dem Maße, wie die Geschichte fortschreitet und mit ihr der Kampf des Proletariats sich deutlicher abzeichnet, haben sie nicht mehr nötig, die Wissenschaft in ihrem Kopf zu suchen; sie haben nur sich Rechenschaft abzulegen von dem, was sich vor ihren Augen abspielt, und sich zum Organ desselben zu machen. Solange sie die Wissenschaft suchen und nur Systeme machen, sehen sie im Elend nur das Elend, ohne die revolutionäre Seite darin zu erblicken, welche die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird. Von diesem Augenblick an wird die Wissenschaft bewußtes Erzeugnis der historischen Bewegung, und sie hat aufgehört, doktrinär zu sein, sie ist revolutionär geworden.« Und doktrinär waren die alten Utopien, weil sie ihr sonst so phantasievolles, ja phantastisches Wesen mit dem rationalistischen Denkstil des Bürgertums verbunden haben. Bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts war die Grundwissenschaft des Bürgertums Mathematik, nicht Geschichte; die Methode dieser Mathematik aber war formal, war »Erzeugung« des Gegenstands aus reinem Denken. Sie war nicht zuletzt das methodische Muster für die Ableitungen des Naturrechts, dieses strengen Vetters der Utopien. So wenig auch das utopistische Konstruieren mit dem exakt mathematischen, selbst naturrechtlichen, gemein hat, so wenig der Utopismus überhaupt eine Wissenschaft darstellt, so bewegt er sich doch zuweilen in Auskonstruktionen (bei Proudhon sogar «Axiome« zugrunde legend), als ob er ebenfalls eine Formalwissenschaft wäre. Das konstruktive Wesen wirkte so stark, daß sowohl der vorhandene Staat wie erst recht der utopische »Vernunftsstaat« als Mechanismus erscheinen konnten, und der neuere Utopist war Sozialingenieur (aus reiner Vernunft). Er wartete nicht mehr auf das gnadenhaft herabfahrende Jerusalem, er wechselte eine schlecht funktionierende Sozialmaschine durch eine vollkommene aus. Und keiner der Utopisten hat ganz verstanden, weshalb »die Welt« für seine Pläne sich nicht interessierte und weshalb sie so wenig Auftrag zur Ausführung des Neubaus gab. Dennoch haben diese Träumer einen Rang, den ihnen niemand nehmen
kann. Unzweifelhaft ist allein schon ihr Wille zum Verändern, sie sind trotz des abstrakten Gesichts niemals nur /(677) betrachtend. Das unterscheidet die Utopisten von den politischen Ökonomen ihrer Zeit, auch von den kritischsten (hinter denen sie an Wissen und Forschung so oft weit zurückstehen). Fourier sagt mit Recht, die politischen Ökonomen (etwa seine Zeitgenossen Sismondi, Ricardo) hätten das Chaos nur belichtet, er aber wolle daraus herausführen. Dieser Wille zur Praxis kam zwar fast nirgends zum Ausbruch; wegen der schwachen Beziehung zum Proletariat, wegen der geringen Analyse der objektiven Tendenzen in der vorhandenen Gesellschaft. Doch freilich auch: die vermehrte Beachtung dieser Tendenzen kann, wenn sie mechanisch vermehrt wird, wenn sie zu Ökonomismus übergeht, den Willen zur Praxis erst recht schwächen. Sie kann ihn weit gründlicher schwächen als die abstrakte Utopie, sie kann bewirken, daß der Sozialist (oder sage man genauer: der Sozialdemokrat) als völlig utopieloser Typ ein Sklave der objektiven Tendenzen wird. Objektivistische Idolatrie des objektiv Möglichen wartet dann zwinkernd ab, bis die ökonomischen Bedingungen zum Sozialismus sozusagen völlig reif geworden sind. Sie sind aber niemals völlig reif oder so perfekt, daß sie keinen Willen zum Handeln brauchten und keinen antizipierenden Traum im subjektiven Faktor dieses Willens. Lenin, wie bekannt, hat nicht abgewartet, bis die Bedingungen in Rußland überall die Erlaubnis zum Sozialismus gaben, in bequem-ferner Zeit der Kindeskinder: Lenin überholte die Bedingungen, vielmehr: er half ihrer Reife durch überholende Zielsetzungen konkret-antizipierender Art nach, welche ebenfalls zur Reife gehören. Und wenn die Erkenntnis, daß der Kapitalismus mit der Herrschaft der Monopole sein letztes Stadium, das des Sterbens und der Fäulnis, erreicht hatte, daß die Kette an ihrem schwächsten Gliede reißen mußte, wenn diese Erkenntnis auch der objektiven Bedingungen des revolutionären Sieges sicher war, wie hätte die Stunde des Großen Oktober genutzt, wie die Macht behauptet werden können ohne das überholende Zielbild Sozialismus, ohne den subjektiven Faktor in der höchstorganisierten, disziplinierten, bewußten Form der Partei? Marxismus ist Anweisung zum Handeln; wird er aber ebenso subjektlos wie zielfremd, dann entsteht fatalistischer Antimarxismus, degeneriert zur Rechtfertigung dafür, daß man nicht gehandelt hat, weil der Prozeß schon von /(678) selber seinen Weg gehe. Solcher Automatismus wird darum ein Kochbuch versäumter Gelegenheiten, ein Kommentar verpaßter Chancen, geräumter Stellungen. Marxismus aber ist nur dann eine Anweisung zum Handeln, wenn er in seinem Griff zugleich ein Vorgriff ist: das konkret-antizipierte Ziel regiert den konkreten Weg. Noch entscheidender mithin als der Wille zur Veränderung spricht das Pathos des Grundziels, das bei den alten Utopisten meist so lehrreich für ihren Rang und für die Bedeutung ist, die ihnen heute noch zukommt, ja sie zu Verbündeten macht gegen Sozialdemokratismus, dem seit Bernstein die Bewegung alles, das Ziel aber nichts bedeutet. Unbeschadet dessen, daß das Zielpathos der Utopisten, als allzu unmittelbares, ein anders Bedenkliches ist, denn es ersetzte den Weg, es überschlug ihn abstrakt. Es wirkte vor allem als statisches Pathos, als eines der bloßen Freilegung bestehender Kathedralen; es setzte gute Ordnung als fertig vorhandene, fertig entgegenzusetzende. Insofern ist im Ziel bei Utopisten sehr oft gar keine echte, historisch neue Zukunft, sondern falsche, nicht-neue; schlechte Utopisten wie Proudhon imaginierten sogar einen bloßen verklärten Kleinbürger in die Idee generale de la revolution. Und auch große Utopisten dekorierten, ja überfüllten ihren Bau mit falschem Ideal, das ist: mit inhaltlich (essentiell) genau bekanntem und fertigem, nur sozusagen noch nicht realisiertem. Aber wenn Marx statt solcher Ideale (sie stammen allesamt aus einer statischen Zweiweltentheorie) die Arbeit des
nächsten Schritts lehrt und wenig über das »Reich der Freiheit« vorherbestimmt, so bedeutet das nicht, wie bekannt, daß diese Zielgehalte bei ihm fehlten. Konträr, sie bewegen sich in der gesamten dialektischen Tendenz als ihr letzthin begeisterndes Wozu, sie fundieren den Sinn der gesamten revolutionären Arbeit. Marx hat ebenfalls Ideale als Kritik- und Wegmaß, nur eben nicht transzendent herangebrachte und fixe, sondern in Geschichte befindliche und so unabgeschlossene, das ist: Ideale konkreter Antizipation. Oben wurde das deutlich als der Wärmestrom des Marxismus ausgezeichnet (vgl. Seite 241 f.), als »Theorie-Praxis eines Nachhause-Gelangens oder des Ausgangs aus unangemessener Objektivierung«. Hätte der Marxismus nicht seinen dialektischmaterialistischen Humanismus, in historisch dämmernder, auch /(679) erbender Vorwegnahme: so könnte nie von kapitalistischer »Entfremdung «, »Entmenschlichung« gesprochen werden; Marx lehrt sogar eine »Wiederherstellung des Menschen«. Nur daß dies Menschliche oder die Weiterungen eines Reichs der Freiheit insgesamt nicht starre Genera sind, sondern Ensembles gesellschaftlicher Verhältnisse, daß sie vor allem nicht als unveränderliche Essenz hinter der Geschichte stehen, vorhanden gleich einem Goldenen Vlies, das aus vorhandenem Kolchis nur herbeizuholen wäre, nachdem es beschrieben und abgebildet ist. Das war das Vorhaben der abstrakten Utopien, jedoch eben nicht ihr einziges: die Intention auf die bessere Welt selber ist mitnichten abgegolten, sie und sie allein ist eine Haupt-Invariante in der Geschichte. Ohne solche Antizipation überhaupt gibt es keine Unenttäuschbarkeit, keinen Glauben ans Ziel, keinen austeilbaren Überfluß des Glaubens. «Und hat auch Marx den Anstoß zum neuen Leben mit Recht entscheidend auf den homo oeconomicus, auf die Beherrschung der ökonomischen Interessenpunkte gestellt, damit die allzu arkadisch vermutete hinterweltliche Paradiesordnung des rationalen, im Kern chiliastischen Sozialismus hart und mit weltklugem Kampf gegen die Welt erobert werde: so stirbt man doch nicht für ein bloßes durchorganisiertes Produktionsbudget, so kehrt doch gerade auch im bolschewistischen Vollzug des Marxismus der alte gotteskämpferische, der taborisch-joachitische Typus des radikalen Täufertums erkennbar wieder, mit einem noch verdeckten, geheimen Mythos des Wozu, als dessen Vorspiel und Korrektiv jedoch der Chiliasmus dauernd figuriert «(Ernst Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, 1921, S.128). Das Abstrakte ist der Schaden, das Unnachläßliche und Unbedingte ist die Gewalt großer alter Utopiebücher. Und als Bedingung zu diesem Unbedingten nannten sie fast immer die gleiche: Omnia sint communia, alles sei gemeinsam. Es gereicht dem vormarxistisch-politischen Schrifttum zur Ehre, unter seinen vielen ideologischen Klugheiten diese vereinzelten und aufrührerischen Schwärmereien zu besitzen. Auch wenn sie gar keine Möglichkeit zu enthalten schienen und der nackte wie erst recht der ideologisch bekleidete Augenschein ihren Träumereien widersprach. Kam doch die darin projektierte Gesellschaft ohne Eigennutz auf Kosten des anderen aus und /(680) sollte ohne den Stachel des bürgerlichen Erwerbstriebs in Gang bleiben. Jahrtausende hindurch wurde besonders diese Hoffnung der Sozialutopien als besonders weltfremd ausgegeben und viel belacht. Bis dergleichen, statt auf einer Trauminsel, in einem riesigen Land wirklich anfing zu beginnen; worauf das Lachen verging. Es war also zuletzt doch auch Klugheit in den Schwärmereien und trotz allem recht viel Wirklichkeit: erst eine noch unreife, die die bessere Welt auf ein abstrakt ausgemaltes, unvermittelt antizipierendes System im Kopf seines Urhebers beschränkte, dann aber eine gewaltsam verhinderte, die, wenn auch mit noch so schwerer Geburt, schließlich durchbricht. Seit Marx ist der abstrakte Charakter der Utopien überwunden;
Weltverbesserung geschieht als Arbeit in und mit dem dialektischen Gesetzeszusammenhang der objektiven Welt, mit der materiellen Dialektik einer begriffenen, bewußt hergestellten Geschichte. Seit Marx ging bloßes Utopisieren, von immer noch lebendigem Teilwerk in einigen Emanzipationsbestrebungen abgesehen, zu reaktionären oder überflüssigen Spielformen über. Diese ermangeln zwar nicht der Verführung, sind mindestens zur Ablenkung brauchbar, doch eben deshalb sind sie bloße Ideologien des Bestehenden geworden, unter kritisch-utopischer Maske. Das Werk der echten Sozialträumer war anders, ehrlich und groß; so muß es verstanden und beherzigt werden, mit allen Schwächen seiner Abstraktheit und seines allzu behenden Optimismus, aber auch mit seinem unaufhörlichen Drängen auf: Friede, Freiheit, Brot. Und die Geschichte der Utopien zeigt: der Sozialismus ist so alt wie das Abendland, ja in dem ständig mitziehenden Archetyp: Goldenes Zeitalter, weit älter. III PROJEKTE UND FORTSCHRITT ZUR WISSENSCHAFT Aktueller Rest: bürgerliche Gruppenutopien Die bisherigen geselligen Träume luden nicht einzeln zu sich ein. Sie gaben sich nicht mit einer besonderen, gar kleineren Gruppe ab. Sie wollten vielmehr die ganze Gesellschaft kurieren, das Leben aller, auch dann, wenn dies eine einzelne unzufriedene /(681) Schicht besorgen sollte. Jetzt aber treten Gruppen allein auf und schälen sich, mit vermeintlicher oder echter Eigenart, aus dem Ganzen heraus, um ihr spezifisch Bestes zu suchen, vorauszumalen. Sie sondern sich in einem Längsschnitt aus, der vermeintlich durch alle Klassen gehen sollte; verbindend waren organische und nationale Eigenschaften. Und freilich unterdrückte oder verfolgte, wie Jugend, weibliches Geschlecht, gar Judentum. So entstanden hier ganz späte Sozialutopien, sozusagen neben Marx, solche einer gruppenhaften Emanzipation. Sie arbeitet als Jugendbewegung, als Frauenbewegung, als Zionismus; Abgründe liegen dazwischen, doch auch das Gemeinsame, sich auf Grund einer Eigenschaft in der vorhandenen Gesellschaft unterdrückt zu fühlen. Es ist nicht Revolution, sondern Sezession im Programm dieser Gruppen, Auszug aus mannigfachem Ghetto. Erstrebt und erträumt wird zwar ein Einfluß auf die Gesellschaft, gewissermaßen eine aus Jugend, Weiblichkeit, nationalem Judentum sich ergießende neue Tugend. So will oder wollte sie heraus aus Muff, Druck, auch dem Dunstkreis träger Skepsis. Doch fehlt der Wille zum Umbau der gesamten Gesellschaft, wie dies in den großen Sozialutopien üblich war. Trotzdem ist bemerkenswert, daß die auf Gruppen beschränkten Programme einen gewissen spezialistischen Rang haben: sie kennen sich in ihren Gruppen aus und machen dort utopische Ährenlese. Manches aus diesen spezialisierten Utopien wurde sogar marxistisch einbezogen, was mit keiner bürgerlichen Gesamtutopie nach Marx geschehen ist. Es fehlt den emanzipatorischen Plänen zwar nicht die Kurzsichtigkeit, die jedem bloßen Reformertum eignet, aber es fehlt oder fehlte ihnen der Betrug. Sie sind daher von den bürgerlichen Gesamtutopien der Gegenwart so verschieden wie der Flicken auf einem Kleid von dem Festgewand aus appretierten Lumpen. Utopische Reste, wie sie die kapitalistische Demokratie und danach der Faschismus vorsetzten, waren lauter Betrug, entweder objektiver, mit persönlicher Selbsttäuschung, oder durch und durch bewußter, überlegter. Man vergleiche nur mit dem Spezialisiert-Kurzsichtigen der angegebenen Gruppen-Utopien das
Total-Unechte der jetzt noch entsprungenen bürgerlichen Gesamtutopien. Eine Zukunft, wie sie Moeller van den Bruck in seinem »Dritten Reich«, Rosenberg im «Mythos des zwanzigsten /(682) Jahrhunderts« vorausmalten, ist Kapitalismus plus Mord. Was Ernst Jünger sich als Einheit von Arbeitertum und Soldatentum ausgedacht, ist die gleiche Demagogie im Kommandoton, die Rosenberg in Blut und Waberlohe vorgeführt hat. Was Spengler schon um 1920 »Preußentum und Sozialismus« nannte, ist ein Zukunftstraum, der mit Recht auf den Untergang des Abendlandes folgte. Noch früher hatte Kjellén, ein anderer utopistischer Reaktionär, die »Ideen von 1914« denen von 1789 als überlegen erklärt, und zwar als preußisches Heil, als »drittes Rom« in Brandenburg; so sah Gesamtutopie faschistisch aus. Bleibt die bürgerlich-demokratische Zukunft, mit H. G. Wells als erstem Champion. Sie trägt gewiß keine so martialische Totenmaske wie der Faschismus. Dafür trägt sie moralische Schminke, heuchelt Menschenrechte, als könne die kapitalistische Hure nochmals eine Jungfrau werden; an Wilsons Geschick wurde sichtbar, was herauskommt. Freiheit von Furcht kann von denen nicht gebracht werden, die den Anlaß zur Furcht selber darstellen und produzieren; Freiheit als Utopie des westlichen Kapitalismus ist Chloroform. Also stechen die kleineren oder Gruppen-Utopien noch ehrlich davon ab, sie wollten wirklich ans Licht. Nochmals ging hier ein Traum vom besseren Leben an, wenn auch mit untauglichen Mitteln, auf ganz untauglich gewordenem Boden. Immerhin bestand Anlaß zu dem Traum und ein Freiheits-Ziel; auch ist oder war wirkliche Bewegung da und dahinter, die allen bürgerlichen Gesamtutopien nach Marx fehlt. Ausgang aus Unmündigkeit, aus Puppenheim, aus Paria-Volk war in diesen Bewegungen ersehnt; dahin läuft die spezielle Utopie ihres Programms. Die Frauenbewegung enthält sogar eine eigene utopische Fragestellung: die nach der Grenze des Geschlechts, und sie hegt den Zweifel, ob überhaupt eine solche Grenze bestehe. Ein Stück Thomas Morus, ein Johannistrieb von Liberalismus geht in diesen Bewegungen zum letztenmal um. Jene »Zugluft« weht streckenweise in ihnen, die ein Ibsen noch so lebhaft-rein durchs bürgerliche Haus und Gemeinwesen schicken wollte. Die Bewegung endet aber an den bürgerlichen Schranken, die ihr gezogen sind und nur Korruption oder Abstraktheit dulden. Wie lauter Adelsmenschen, lauter Sonntagswetter sollte das Leben werden, aber man sah nicht den Zusammenhang, wonach /(683) das bürgerliche Leben nicht so ist. Damit das liberal Abstrakte aufhöre, dazu liegt auch für diese gesellschaftlichen Träume die Auskunft nur noch im Sozialismus. Beides liegt in ihm: das Ende ihrer Bewegung wie das Ende der Not, die den Anfang dieser Bewegung hervorrief. Die Partialutopien von heute zeigen mehrfach Emanzipationsträume, die nachgespieltes oder nachgereiftes achtzehntes Jahrhundert sind; obwohl oder weil dieses, von einigen Programmpunkten des Sturm und Drang abgesehen, so weitgehende Emanzipation noch gar nicht geträumt hat. Anfang, Programm der Jugendbewegung Das Kind soll nur dann sprechen, wenn es gefragt wird. Auch heranwachsend gehört es den Eltern, war stets mehr oderweniger liebenswürdig versklavt. Aber um 1900 ging unter den Jungen mit ziemlicher Breite ein Wille an, niemand zu gehören als sich selber. Jugend fühlte sich als Anfang, trug eigene Tracht, liebte Fahrt, Abkochen, war bewußt grün. Wünschte neues, eigenes Leben, verschieden vom erwachsenen und in allem besser, nämlich zwanglos und aufrichtig. Hierbei wurde der familiäre Druck im selben Maß gefühlt, wie er nachließ. Denn nur die ihrer selbst
nicht mehr sicheren Eltern, nur das selber nicht mehr feste Haus hatten Kinder, die ihnen aufkündigten und sich mit ihresgleichen zu einem anderen Anfang verbanden. Das frühere bürgerliche Haus ebenso wie die ihm entsprechende Schule gab immerhin noch einen Halt, der nicht nur mit Zwang zusammenfiel oder mit leerer Gewohnheit. Die Väter gaben noch ein Vorbild, die Lehrer waren kraft der Strenge gegen sich selbst und der Kenntnis ihrer Stoffe so beschaffen, daß Jugend ihnen vertraute und sich führen ließ. Es war erst möglich, in Breite respektlos zu werden und eigene Ziele zu setzen, als die Alten nur noch zu unterdrücken und zu lügen, nicht mehr zu leiten verstanden. Als vor allem neue Wege aufzugehen schienen, auf denen die unsicheren Alten sich nicht zurechtfanden. Ein offenes Feld lag da, es schien nur der Jugend betretbar, ja sichtbar zu sein. Erst Knaben, dann auch Mädchen schlossen sich zusammen, wanderten gleichsam aus. Grün, das war die bejahte Farbe, um frisch zu beginnen. Um /(684) frisch zu bleiben und nicht zu verholzen, auch nicht als späterer Mann. Pfadfinder war jeder, die Führer bildeten sich aus dem Kreis heraus. Jugendbewegung, in diesem Gegensatz zu den Alten, ist geschichtlich neu. Einzig die Burschenschaft des Vormärz mag sich damit berühren, war aber politisch deutlicher, das ist, von ihren älteren Freiheitsmännern, mit Vollbart, nicht abgetrennt. Auch die bündische Form ist alt, sogar sehr alt, man hat sie neben die urtümliche Gemeinschaft gestellt, neben die sogenannte organische, von Bräuchen erfüllte, von Überlieferung getragene und zusammengehaltene. Aber die früheren Bünde waren gerade, wenn sie Jugend enthielten, Zwischenformen, sie bereiteten aufs erwachsene Leben vor. Wie das in gebundener Gesellschaft selbstverständlich, erst recht in der Horde, im primitiven Stamm. So sorgfältig auch die ursprünglichen Männerbünde von älteren Jahrgängen abgeschlossen waren, ehelose Jugend unter sich, so führte von hier doch kein Weg aus dem Brauch der Alten heraus, noch wurde er gesucht. Auch waren die Junggesellen des Männerbunds keineswegs immer junge Männer; erst um das vierzigste Jahr heiratet der Primitive, das Jungvolk von damals war also stark mit gesetzten Typen gemischt. Ganz anders ist die Spannung, worin sich die modernen Jugendbünde und ihre utopischen Ziele zur älteren Welt fühlten. Von dieser Spannung kamen die Begeisterungen im Krieg gegen die zweckrationale Gesellschaft, oft rauschhafte, aus dem »Herzen« oder der «Seele« quellende Ströme des Liebens oder Hassens. Das in Formen allerdings, die die Gesellschaft, gegen die man protestierte, vielfach nachmachten, ja ihr nachhalfen. War doch eben die Gesellschaft selber nicht mehr solide, die Würde liebte sich jung zu schminken, ihr erschien sogar rebellische Jugend, als verworren-rebellische, langsam ganz brauchbar. Der bündisch emotionale Nebel, in dem Jugend vorher focht, ohne den richtigen Gegner zu sehen, ließ sich mit dem faschistischen Rauschnebel verbinden. SA wurde lange geduldet und in den Wald gelassen, bevor man sie zusammenrief und benutzte, bevor man sie nicht mehr wandern, sondern marschieren ließ. Es ist der Wandervogel nicht nur eine deutsche, sondern vor allem eine kleinbürgerliche Erscheinung, von daher das klassenmäßig wie inhaltlich Verwehte seines Traums. Diese Art Unschärfe ist anders /(685) als das jugendliche Ichweißnichtwie, sie hängt auch mit erstrebter Offenheit, mit Burschentum, Haß gegen Alltag, Sehnsucht nach urtümlichem, ungebrochenem Leben nur ungefähr zusammen. Ein besonderer Anlaß zu ihr lag vor allem darin, daß Jugend nicht bloß als Zustand gefühlt wurde, sondern fälschlich als eigene Klasse. Oder auch: es wurde ein rein organischer Längsschnitt durch alle Klassen geführt: was auf die Jugendseite fiel, schien dadurch bereits eigene Inhalte zu haben, nicht nur eigenes Tempo. Schultz-Hencke, einer der damaligen Führer, sprach so von einer »Überwindung der Parteien durch
die Jugend«.Kleinbürgerlicher Sinn für Eintracht, kleinbürgerliche Abstumpfung gab sich derart als jungdeutsch, als freideutsch, als «Vortrupp«, gar als «Quickborn« oder was sonst. Daher konnte die Jugendbewegung so leicht eingefangen werden, es gab konfessionelle Bünde, wieder im Einklang mit der Familie, besonders wo die Mutter selber Ohrenschnecken trug, der Vater selber Laute zupfte. Die Sehnsucht nach einer Gemeinschaft, wie sie unter Erwachsenen nicht vorhanden, hörte schließlich auf Hitler; denn gab es gegen die Alten keine neuen Inhalte, so gab es doch neue brennend-blasend-verblasene Worte, und es gab gegen die Alten, die noch nicht von Blutdurst glühten, Macht. Statt der Spannung Vater - Sohn und dem Aufbegehren des Sohnes gegen den drückenden Vater kam die Angst der Eltern vor dem Hitlerjungen. Mit ihm tritt die scheinbar sich ändernde Gesellschaft ins Haus; Verhältnisse, die durch die bürgerliche Unsicherheit schon lange schwankten, wurden nun gänzlich und höchst bedrohlich umgekehrt. Daß das Vater-Ich, wogegen der Jugendtraum anging, nur durch das viel härtere eines Todesstaats ersetzt worden war, kam nicht zu Bewußtsein. Der junge Kleinbürger wurde offensichtlich durch seine Jugend allein, durch die Lebensreform, die mit Grünlicht durch alle Klassen ziehen sollte, nicht selber auf den Weg gebracht, der ihm hilft. Schlick, Schlamm, Muff, Betrieb wurden durch Abkochen im Wald und das Freiland, das dahinter schien, wenig berührt; der Traumtopf wurde mit noch mehr Schlamm, zuletzt mit dem eigenen Blut gefüllt. Obwohl das Freiland gewiß ursprünglich liberal gemeint war, mit nicht alltäglichen Menschen als Führern zu ihm und keinem Alltag in ihm. Der Wandervogel hatte überdies ein gewisses Nest /(686) in neuen Schulen gefunden, ebenfalls längs durch die Klassen, für Töchter und Söhne liberaler Familien gegründet. Es waren Waldschulen, Wynekens freie Schulgemeinde, auch ein Bund entschiedener Schulreformer gehörte hierher, vertreten durch Danziger und Kawerau. Das Erzieherische kam nicht mehr von oben herab, Pflege des individuellen Lebens, Gemeinschaftsgeist wurden in diesen betonten Jugendschulen versucht. Edle allgemeine Ziele umschwebten das Picknick wie die abendlich versammelnde Lampe, Kameradschaft, selbst Mut wurden gepflegt. Auch Liebe zum Vers; nur das Leben selber, das hernach bevorstand, blieb ungereimt. Es lag hinter einem Schimmer, der nicht länger anhielt als die Jugend, die ihn schuf. Was nicht hinderte, daß diese Jugend sich sehr aufsässig fühlte. Zumal, vom Lagerfeuer her gesehen, die Stadt besonders verderbt und verkümmert wirkte. Das Wort Bürger erhielt in der Jugendbewegung einen eigenen Klang, Blüher sprach von den Untaten des bürgerlichen Typus. Er galt primär als der ältliche und vergreiste, nur von hierher wurde sein Sparsames, Wirtschaftliches, Rechenhaftes, Schwungloses abgeleitet und ebenso die Spießerherde: bürgerliche Gesellschaft. Von Ausbeutung war weit weniger die Rede, ja, die andere Seite des Bourgeois, die auch von Sombart so liebevoll herausgearbeitete: die des Unternehmers, Riskierers, Eroberers - fand Verständnis. Die Feindschaft zum Bürger war also durchaus keine proletarische oder proletarisch angenäherte; der Bürger galt vielmehr als Gegenstück zur eigenen Boheme, zu der aus Rittern. Die von dieser Art Jugend erträumte Gesellschaft sollte letzthin innig und streng, anarchistisch und ständisch zugleich sein. Trotzdem gab und gibt es auch proletarische Jugendbewegung, nur nicht als selbständige, mit eigenem Kinderland. Der junge Arbeiter fühlt sich sowenig von Erwachsenen als solchen benachteiligt wie die Arbeiterin von Männern als solchen. Beider Feind ist der Arbeitgeber, ihre Vorstellung vom Bürger betrifft primär den Kapitalisten, nicht den bösartigen Spießer. Auch fehlt in der Arbeiterfamilie die Spannung zwischen Vater und Sohn oder ist stark verringert; denn während der Bürger in seinem Sohn nur den Erben sieht, erzieht der klassenbewußte Prolet den
seinen zum Genossen. Die bürgerliche Jugend glaubte unbürgerlich zu sein, indem sie nach /(687) dem Jahrgang tranchierte, indem sie sich als Wangenrot gegen erwachsene Blässe absetzte; wonach wenig mehr Gemeinsames herauskam als frische Haut und allgemein Märzhaftes. Die proletarische Jugend dagegen schafft keinen fiktiven Gegensatz zu ihrer Klasse, sondern identifiziert sich mit ihr. Sie sieht diese genauso jung und zukunfthaft wie sich selbst, und genauso mit Morgen des Lebens, mit dem Leben von morgen beschäftigt. Was sie ihr hinzubringt, ist folglich kein eigenes Ziel, sondern ungebrochene Stoßkraft zum proletarisch gemeinsamen. Trauer dagegen, Größe, Edelmut, alles naiv und hochgewölbt, machen allein keine Zukunft. Um seine Jugend nicht betrogen sein, dies Gute gelingt erst, wenn nirgends mehr betrogen und entrechtet werden kann. Kampf ums neue Weib, Programm der Frauenbewegung Das Weib liegt unten, es wird seit langem dazu abgerichtet. Ist immer greifbar, immer gebrauchsfähig, ist die Schwächere und ans Haus gefesselt. Dienen und der Zwang zu gefallen sind im weiblichen Leben verwandt, denn das Gefallen macht gleichfalls dienstbar. Das Mädchen mußte durch Ehe versorgt werden, so saß es auf der Stange, hatte auf den Mann zu warten. Oder fing mit List und sich selber als Köder Männer ein, blieb auch dann unmündig, ohne Jagdschein. Gelang der Fang nicht, oder war die Jungfrau zu wählerisch, dann kam zum Schaden ein dürrer Spott: das Weib rangierte als alte Jungfer. Sexuelles Leben, wenn vorhanden, wie meist, durfte nicht gezeigt werden. Beruf galt bis in untere kleinbürgerliche Schichten hinab als anstößig. Aber beherzte Mädchen und Frauen zogen einen anderen Schluß, Träume begannen vom neuen Weib. Um 1900, ein wenig vorher und nachher, flackerte hier ein Licht auf, das seinen Reiz behält. Das freie Mädchen meldete sich an, ebenso aber auch die Männliche, beide nicht mehr geneigt, unterdrückt oder auch unverstanden zu sein. Der beginnende Zerfall des bürgerlichen Hauses, der wachsende Bedarf an Angestellten erleichterten oder begründeten diesen Weg ins Freie. Neue Liebe, neues Leben wurden verlangt, die Liebe durchaus als selbstgewählte, auch unabgestempelte. Aber wichtiger, sicher stärker bestätigend schien der /(688) Zugang zum öffentlichen Leben, zum Beruf. Die Sehnsucht war, sich auszuleben, glückliche Vergluckung war nicht mehr das Ziel. Dieses lag vielmehr außerhalb der familiären Grenze, außerhalb jeder, die das Weib bisher bestimmt hatte, indem sie es eingeengt hatte. Das bürgerliche Mädchen, das seinen Unterhalt noch nicht zu verdienen brauchte, war hierbei von den ärmeren wie den kühneren Weibern verschieden. Letztere hatten mit der Familie meist gänzlich gebrochen und trugen die Folge; sie bezogen die männliche Linie, die des Berufsmenschen, ganz. Die höheren Töchter, die es nicht mehr sein wollten, überspannten sich nur, doch anders ging die Männliche vor, die Führende von damals, die beginnende Stimmrechtlerin. Absicht dieser Protestlerin war unbewußt und sehr oft bewußt: aus der Art zu schlagen, männliche Überlegenheit zu erlangen. Ein unleugbarer Männerhaß setzte sich hier sonderbar zusammen: aus Haß der Unterdrückten und widerwilliger Anerkennung zugleich; von daher der Neid, die Nacheiferung, ja der groteske Wille, zu überbieten. Leiden am eigenen Geschlecht machte dafür anfällig, und das eigene Geschlecht wiederum sollte zum Sieg geführt werden, gegen sich selbst. Dieser gebrochene Wunsch hinderte nicht, daß die Protestlerin von damals dem Ruf nach dem neuen Weib die Kühnheit gab und erhielt. Auch das freie Mädchen loderte nun, wie sonst nur Jünglinge, und die Männliche schärfte, in ihrem neuen Schnitt, durchaus den Traum, auf andere Art
Weib zu sein. Es zeigte sich aber, das aufsässige Leben blieb nicht lange frisch. Je mehr Arbeitskräfte gebraucht wurden, desto weniger hatte das sogenannte freie Mädchen Platz, desto weniger hatte die Protestlerin Anlaß, es zu sein. Die bürgerliche Jungfrau kam als erwerbstätige auf die eigenen Füße, doch sie wurde dadurch nur scheinbar unabhängiger. Statt Recht auf selbstgewählte Liebe, freies Leben kam die Öde des Büros, meist mit untergeordneter Stellung dazu. Kaum war das Stimmrecht errungen, so hatte das Parlament weniger zu sagen als je zuvor; kaum gingen den Frauen die Hörsäle auf, so begann die Krise der bürgerlichen Wissenschaft. Zugleich war das Kapital, wenn es den Frauen »Berufe erschloß«, daran interessiert, alles Freiheitslustige zu beseitigen, gar alle Nachbarschaft zur gründlichen Emanzipation, zur sozialistischen. Da standen nun die zahmeren Führerinnen /(689) auf: Helene Lange, Marie Stritt, zuletzt Gertrud Bäumer, alle für Bewegung ohne »Auswüchse«. Die Auswüchse waren um 1900 die sezessionistischen gewesen, der Haß gegen juste milieu. Das neue Weib hatte damals seine Wasserrosen- und Sonnenblumen-Utopie zusammen mit dem Jugendstil-Mann; es war eine bohémehaft-literarische, doch eben deshalb keine zahme. Der Hintergrund erträumter Frauenzukunft war mit festlich dionysischen Revolutionsbildern erfüllt, von denen ein Menschenalter später wenig mehr als die Befreiung vom Korsett und das Recht zu rauchen, zu wählen und zu studieren übrigblieb. Als Bebel 1899 »Die Frau und der Sozialismus« schrieb, erkannte er das Weib als die erste Unterdrückte, früher unterdrückt als der männliche Sklave, und die Frauenfrage war noch aufrührerisch und epatant. Doch bald danach, als die Löffel erobert waren, fehlte der Hirsebrei; und die bürgerliche Frauenbewegung vertrat nun das Recht, sich vom Sozialismus rein zu halten. Helene Lange kämpfte für das Ziel, daß die Leitung der höheren Mädchenschule einer Frau übergeben werden sollte. Marie Stritt war zufrieden mit »Frauenbildung« - Frauenstudium überhaupt, Gertrud Bäumer sah die Erfüllung des neuen Weibs im Staatsbürgertum der Weimarer Republik. All das war der Bewegung nicht an der Wiege gesungen worden, weder von den Suffragetten noch auch von den frühesten Champions des zweiten Geschlechts. Ist doch die Bewegung, welche die organischen wie politischen Grenzen des Weibs utopisch vorrücken will, wirklich so alt wie der Freiheitskampf selbst. Statt auf den Jugendstil beschränkt zu sein, reicht diese Bewegung von den athenischen Ekklesiazusen, die Aristophanes verspottet hat, in die ottonische Zeit, in die Renaissance und ihre virago, in die Programme des Sturm und Drang, ins Junge Deutschland des Vormärz. Die leidenschaftliche Mary Wollstonecraft hatte 1792 ein Grundbuch über Frauenrechte veröffentlicht, das die Menschenrechte von damals radikal aufs Weib anwandte. George Sand hatte die Juli-Revolution von 1830 mit der Frau in Verbindung gesetzt, ja ein Satz aus ihrem Roman »Le meunier d'Angibault» setzt, anders als die »Töchter der amerikanischen Revolution« (die zur reaktionärsten Gruppe Amerikas gehören und nicht auf Amerika beschränkt sind), auch der Frauenbewegung Umsturz an den Hori- /(690) zont: »Die gewaltige, furchtbare Erschütterung aller egoistischen Interessen muß die Notwendigkeit einer allgemeinen Veränderung gebären.« Ganz erstaunlich ist eine deutsche Pionierin aus dem Vormärz: Luise Otto, eine rote Demokratin. Sie war es, die 1848, als die Revolutionskämpfe ausbrachen, die erste deutsche Frauenzeitschrift gegründet hat, mit dem Motto: »Dem Reich der Freiheit werb ich Bürgerinnen.« Die erste Nummer erklärt diesen Bürgerinnen: »Wenn die Zeiten gewaltsam laut werden, so kann es nicht fehlen, daß auch die Frauen ihre Stimme vernehmen und ihr gehorchen.» 1865 rief Luise Otto die erste Frauenkonferenz nach Leipzig, gründete den Allgemeinen
Deutschen Frauenverein und setzte durch, daß auch die Vertretung der Arbeiterinnen und ihrer Rechte zum Programmpunkt wurde. Aber der bürgerliche Freisinn, vor 1871 noch so hitzig, wurde im Kaiserreich sehr bald staatserhaltend; ein Verein der Frauen, die wußten, was sich ziemt, ermäßigte sich besonders. Das Reich der Freiheit fand als politisches unter den Bürgerinnen wenig Bürgerinnen, die Freiheit zerbrach ihnen nicht an der Geschlechts-, sondern an der Klassenschranke. Die Klassenschranke zeigte sich deutlich 1896, mithin im Frühlicht des neuen Weibs und seines Freiheitskampfs, sie zeigte sich beim Streik der Berliner Konfektionsarbeiterinnen. Der Frau war die Beteiligung an politischen Verbänden gesetzlich verboten; eine Entrechtung, gegen die die radikalen bürgerlichen Frauen an erster Stelle vorgingen. Aber die gleichen bürgerlichen Frauen nahmen damals dieses Gesetz als Handhabe, um die streikenden Arbeiterinnen im Stich zu lassen; die Klassenschranke durchschnitt die Ansprüche des Herzens oder der scheinbar allgemein-weiblichen Solidarität. Also ist die Frauenfrage eine Funktion der sozialen Frage; wie dies bereits der George Sand im Sinn lag. So auch fast allen früheren Utopisten: Thomas Morus verlangte völlige Gleichstellung, Fourier lehrte, der Grad der weiblichen Emanzipation sei das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation in einer Gesellschaft. Ein Staat, der nach unten als Papua auftritt, wird auch die Weiber von der Unmündigkeit nicht ausnehmen können, nicht einmal von der vergoldeten in der herrschenden Schicht. Zu fragen bleibt bei alledem, was sich in dem weiblichen Auf- /(691) bruch bewegt. Eben das Geschlecht bewegt sich darin, jedoch als eines, das sozial vortritt und bestimmt sein will. Falsch ist selbstverständlich, daß nur die alte Jungfer oder auch die Männliche aufbegehrt hätten. Es war überwiegend weibliche Jugend, die in den neunziger Jahren von der merkwürdigen Bewegung ergriffen worden ist. Alte Jungfern und Männliche hat es jederzeit gegeben, aber viele Jahrhunderte lang schwieg das Weib in der Gemeinde. Und die Frauenrevolte; obwohl sie dazwischen immer wieder vorfiel, hatte bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts keine Breite. Sie gewann erst Anhang, auch durchaus soziale Utopie, als eben der kapitalistische Bedarf an Produktionskräften ihr Freipaß gab; als das Interesse an Freizügigkeit auch diese Art Leibeigene löste. Nach dem, was sich im weiblichen Aufbruch bewegt, nach den verschütteten oder fern-möglichen Inhalten des Geschlechts, wurde hierbei allerdings sowenig gefragt, wie das Kapital insgesamt nach den unverwertbaren Qualitäten seiner Angestellten fragt. Gemessen wurde nach Leistungen, vom Weib kam schließlich nur noch die Schmiegsamkeit in Betracht, die schon vor dieser sogenannten Emanzipation im Männerrecht vorhanden und geschätzt war. Sie taugte zu schlecht bezahlten Posten, zu freiwilliger Subalternität; die Frauenbewegung wurde auch von daher platt. Ja, eine unleugbare Nüchternheit des Weibs, die der Marienkult so gewaltig nicht wahrhaben wollte und die auch utopisch nicht vorbestimmt ist, wurde durch die kapitalistische Versachlichung prämiiert. Und politisch hat sich durchs Frauenstimmrecht in der Tat nichts geändert, als daß die Stimmen aller bisherigen Parteien sich verdoppelt haben. Die Reaktion erhielt sogar etwas mehr als Verdoppelung; von explosiven oder auch nur sonderlich humanen Impulsen durchs politische Weib ist bürgerlich nichts verspürbar. Die Bürovorsteherin hat so besiegt, was der Liebhaber nicht ohne Grund an den ersten gedichteten, variierten Frauenbildern der Emanzipation sah, an Ibsens Nora, Hauptmanns Anna Mahr (»Einsame Menschen«), Wedekinds Franziska. Also wurden in der bürgerlichen Frauenbewegung allerdings nicht die Inhalte des Geschlechts manifest: und doch waren sie von Anfang an gemeint wie vorher nie, und doch wurden sie von den Gegnern der Emanzipation abgelehnt, als ginge die
Bewegung nicht auf die Bürostunde, worin sie /(692) umkam, sondern als wäre sie eine Erinnerung an Carmen hier, an Antigone dort, ja eine utopische Beschwörung der Hetärenzeit hier, des Matriarchats dort; und vor allem als wäre die Frauenbewegung diejenige einer spezifischen menschlichen Ganzheit und Fülle, welche sich doch ebendeshalb, in ihren fern-möglichen Inhalten, mit dem seelenlosen kapitalistischen Betrieb, als dem Todfeind von Kunst wie Frau, nicht verträgt. Der bürgerlich-männliche Haß gegen die Frauenbewegung zeigt all diese Motive immer wieder e contrario, entwertend, an; und sowohl am billigsten als auch am ambivalentesten wirkte hierbei die Entwertung der Frau zur Hetäre, mit gleichzeitiger Reduzierung darauf, Stabilisierung darin. Völlig besessen ging in dieser Richtung Weininger vor (Geschlecht und Charakter, 1903): W, das Weibliche, ist danach die ichlose, gedächtnislose, treulose Geilheit schlechthin, die völlige Gegenrasse zu Jesus im Menschen oder der Reinheit. Carmen erscheint so als ein echtes Weibwesen, das in Kultur nicht laut geworden und in gekommener Sitte nicht zu Hause ist: »Das Bedürfnis, selbst koitiert zu werden, ist das heftigste Bedürfnis der Frau, aber es ist nur ein Spezialfall ihres tiefsten, ihres einzig vitalen Interesses, das nach dem Koitus überhaupt geht: des Wunsches, daß möglichst viel, von wem immer, wo immer, wann immer koitiert werde ... Und diese Eigenschaft des Weibs, Gesandte, Mandatarin des Koitusgedankens zu sein, ist auch die einzige, welche in allen Lebensaltern da ist und selbst das Klimaktenum überdauert: das alte Weib verkuppelt weiter, nicht mehr sich, sondern die anderen« (1. c., S.351ff.). Und noch wilder: »Die Erziehung des Weibs muß dem Weibe, die Erziehung der ganzen Menschheit der Mutter entzogenwerden« (1. c., S.471); denn nur die Frau als Hetäre ist die Wahrheit, die Frau als Madonna ist eine Schöpfung des Manns, nichts entspricht ihr in der Wirklichkeit. Soweit der vehementeste Frauenhaß, den die Geschichte kennt, eine einzige Anti-Utopie des Weibs, mitten in der Sezessionszeit, auchwährend der beginnenden Verharmlosung zur grauen Reformschwester. Eben an diesem Abgrund der Verneinung erhellt aber zugleich, was in der Frauenbewegung an Unbekanntem, Unversachlichtem sich bewegt. War sie doch selber als Emanzipation der Menschheit vom Weib gedacht, das ist: vom bisher lautgewordenen Weib. /(693) Ihre Grundfrage war allemal die nach den Grenzen des Geschlechts, und ob es überhaupt diese Grenzen gebe; ob das Weib die Geschlechtsschranke, wenn nicht übersprungen, so zur Staffel machen könne, die zu versteckt-unbetretenen Inhalten der Menschheit selber führt. Überspannte Träume zweifellos, auf ein Erwachen der halben Erde abgezielt, doch mit historisch sozialem Tiefgang, mit eben jenem, den Weiningers Hetärenhaß wider Willen gewittert hat. Grundsätzlich, ihrer erweisbaren Utopie nach hielt die Frauenbewegung in der Tat Carmen, also erinnertes Hetärentum in Gang, jedoch dazu eben das Wesen Antigone, die zweite Primitive vor der Männerzeit: erinnertes Matriarchat. Beide Lebensformen liefen ja der patriarchalischen voraus: die regellose Vermischung der Geschlechter, welche der Sammler- und Jägerstufe entsprach, das Mutterrecht mit dem Prinzipat der Frau und Erde, welches der Ackerbaustufe entsprach. Beide Erinnerungen lebten in der Frauenbewegung, ausgesprochen wie unausgesprochen,wiederauf,besetzten archaisch utopisch unausgefüllte Phantasie. Die hetärische Zeit wurde von Bachofen aus mythisch-ornamentalen Sumpfsymbolen (Schilfrohr, Dschungel) gedeutet, die matriarchalische aus Nacht- und Erdsymbolen (Mond, Höhle, Ähre). Die hetärische Zeit, mit austauschbarer Weiber- und Männergemeinschaft, lag vor der Ehe, die matriarchalische setzte Ehe mit der Zuordnung der Familie, ja der gesamten Gemeinschaft zur Mutter. Indem Bachofen diese Verhältnisse entdeckte und sie,
über das historisch Erweisliche hinaus, zweifellos verklärte, sprach er nur aus, was der darauffolgenden Frauenbewegung als archaische Utopie vordämmerte: dionysisches Leben hier, Wiedergewinnung der Demeter-Nacht dort. Beide Lebensformen sind einer »Sprache des Schoßes «zugeordnet, welche in derWelt des Männerrechts später nicht mehr laut wurde, es sei denn in mänadenhaften Durchbrüchen oder in Tributen des strengen Herrenrechts ans ebenso ältere wie mildere der Bona Dea. Mythos der Liebhaberin klingt daher hei Bachofen so: »Ihr ist Helena, die nicht darum so reich ausgestattet, daß sie, nur Einem zu ausschließlichem Besitz dahingegeben, verwelke, das große Vorbild jedes sterblichen Weibs, das Sinnbild jeder dionysischen Frau.« Und Mythos, besser: archaische Utopie der Frau als Walterin meldet sich bei Bachofen /(694) so: »Dasjenige Verhältnis, an welchem die Menschheit zuerst zur Gesittung emporwächst, das der Entwicklung jeder Tugend, der Ausbildung jeder edleren Seite des Daseins zum Ausgang dient, ist der Zauber des Muttertums, der inmitten eines gewalterfüllten Lebens als das göttliche Prinzip der Liebe, der Einigung, des Friedens wirksam wird« (Vorrede zum Mutterrecht). Geschlecht ganz unbeendeter Art, eines, das nicht-kapitalistisch erinnert und sozialutopisch weiter bestimmt sein wollte, bewegte sich also in der Frauenbewegung durchaus, sie war nicht auf alte Jungfern und Männliche beschränkt. Sie war voll unversachlichter, in den bisherigen Sachlichkeiten nicht mehr und noch nicht lautgewordener Erwartung. Die Frau hatte, nach so langer Unmündigkeit, die feine Anmaßung, eine vergangene wie nie gewordene Insel der großen Mutter ins Patriarchat einsetzen zu wollen. Die Bewegung ist zugleich veraltet, ersetzt und vertagt, alles mit Grund. Sie ist veraltet, weil sie bürgerlich offene Türen aufgestoßen hat, hinter denen dann doch nichts war. Die geschlechtslose Arbeitsbiene ist nicht das Ziel, zu dem man angelaufen ist, bürgerlich geht nun nichts mehr weiter. Es ist belanglos, ob das Weib dem Mann gleichwertig ist, wenn beide Angestellte eines Betriebes sind, der sie überhaupt nicht wertet, sondern auspreßt. Die Bewegung ist ersetzt, weil ein Kampf gegen die Geschlechtsschranke armselig wird ohne Kampf gegen die Klassenschranke. Die Arbeiterin fühlt sich nicht von den Männern ihrer Schicht benachteiligt, sowenig wie der jugendliche Arbeiter von Erwachsenen als solchen; in der proletarischen Frauenbewegung wiederholt sich so ein wichtiges Moment der proletarischen Jugendbewegung. Der halbkoloniale Status des Weibs im allgemeinen kann von denen nicht eigens beweint werden, die, wie der Arbeitermann, selber, wenn nicht noch mehr, als Kulis gehalten werden. Die Arbeiterin mißt sich mit den armen Arbeitern vereinigt an den reichen Frauen und Männern, und die alte Sozialdemokratie vertrat bereits den Programmsatz: »Die Frauenfrage fällt zusammen mit der Arbeiterfrage.« Die Sowjetunion kennt keine Frauenfrage mehr, weil sie die Arbeiterfrage gelöst hat; wo Herr und Knecht aufhören, verschwindet auch die Unterschicht: Weib. Zum dritten freilich besteht, als eigenes Inhalts- /(695) problem, das Geschlecht fort, das die Frau weitläufiger, aber auch unentschiedener bestimmt als den Mann (Gottfried Keller sprach von der »unergründlichen Halbheit des Weibes«). Dies macht, daß die Frauenbewegung, auch wo sie durch die proletarische ersetzt ist, doch nur vertagt ist. Soll heißen: das in den bisherigen Männergesellschaften so wenig geklärte, sowenig über die bloße Familie hinaus bestimmte Geschlechtswesen Weib tritt als Problem auch hinter der ökonomisch-sozialen Befreiung wieder hervor. Gerade der Untergang der weiblichen Unterdrückung schafft, per se ipsum, nicht den Untergang des weiblichen Inhalts. Liebhaberin, Mutter, gar versachlichtes Arbeitswesen haben diesen Inhalt noch nirgends ausgeformt oder gar in seinen utopischen Möglichkeiten erschöpft. Er ist
auch in den noch so poetisch verdichtetsten Kategorien Liebhaberin und Mutter nicht ausgeformt; um von neuen, bisher unbekannten und doch möglichen Kategorien zu schweigen. Die Nivellierung der Geschlechtsunterschiede, die in der Sowjetunion während des ersten dringend-allgemeinen Aufbaus erschien, ging nicht sehr tief. Gerade wo es auf weniger reglementierten Einsatz ankam, haben sich dort spezifisch weibliche Haltungen und Energien gezeigt und bewähren sich immer wieder. Die Mutter, wie sie Gorki in seinem realistischen Roman vorführt, hat ihre revolutionäre Arbeit anders zu tun verstanden als die männlichen Genossen; die Art ihrer Güte, ihres Hasses wie ihres Verstands war durch einen Mann unersetzbar. Insgesamt liegt der Unterschied der Geschlechter auf einem anderen Feld als die künstlichen Unterschiede, welche die Klassengesellschaft produziert hat; so verschwindet er mit dieser nicht. Der Geschlechtsunterschied verschwindet so wenig, daß das Weibhafte erst im Sozialismus offenbar werden kann. Genug davon bleibt auf jeden Fall übrig, um es in seinem Inhalt aufzuarbeiten, um es als Eva zu haben, die ihre Form sucht. Das weithin Vieldeutige bleibt übrig, das gärend hallt -entschiedene, falsch-entschiedene, unentschiedene Durcheinander und Ineinander am Weib, wie es die bisherige Gesellschaft in eine kommende einliefert. Es ist Sanftes und Wildes, Zerstörendes und Erbarmendes, ist die Blume, die Hexe, die hochmütige Bronze und die tüchtige Seele des Geschäfts. Ist die Mänade und die waltende Demeter, ist die reife /(696) Juno, die kühle Artemis und die musische Minerva und was noch alles. Ist das musikalische Capriccioso (Violinsolo in Straußens »Heldenleben«) und das Urbild des Lento, der Ruhe. Ist schließlich, mit einem Bogen, den kein Mann kennt, die Spannung Venus und Maria. Das alles ist unvereinbar, aber es läßt sich mit einem Federstrich durchs Inhaltproblem Weib nicht berichtigen, gar abschaffen. Wie wenig erst das am Weib bisher noch nicht Lautgewordene, jenes Utopisch-Unbestimmte, das überhaupt erst die große Verschiedenheit der bisherigen Bestimmungen bewirkt hat. Als wären sie bloße Versuche und Namens-Experimente, in denen die Hauptsache noch keineswegs genannt und herausgebracht ist. Lange nicht so herausgebracht ist wie beim Mann und seinen Prädikaten; obwohl dieser doch ebenfalls, mit geschichtlichen Leittypen wie Krieger, Mönch, Citoyen und so fort, recht Differenzierendes, recht Unabgeschlossenes hinter sich hat. Die Frauenbewegung reicht also immer noch dazu aus, eine partiale Utopie zu bilden, so wie sie in den bisherigen Gesamtutopien eine gebildet hat. Dies spezifisch Angemeldete und Erhoffte wird auch in der klassenlosen Gesellschaft noch zu raten und zu taten aufgeben, als eigenes Problem-Erbe aus Geschichte und Vorzeit. Man beachte die hetärischen Züge in der kynischen, streckenweise auch in der libertinistisch-anarchistischen Utopie; sie sind nicht erledigt. Man beachte die matriarchalischen Züge in der stoischen Sozialutopie und ihren Nachwirkungen, bis zum Naturrecht und der gütigen Natur Rousseaus; sie sind nicht zum Ende gebracht. So haben Elemente aus der weiblichen Partialutopie bisherigen Gesamtutopien durchaus schon einen Beitrag gegeben, einen der Unruhe wie der Sammlung, auch des fernhinziehenden Ideals (für Goethe, nach seinem Wort, »immer in weiblicher Form konzipiert«). Und Duft, Fülle, Melodie dieser Gattung wirken, mutatis mutandis, in der Utopie, die zur Wissenschaft fortgeschritten ist, weiter; so bleibt ein eigener Zuschuß des weiblich-utopischen Inhalts zum Reich der Freiheit. Die Lust, sich aus der Enge zu befreien, ist bürgerlich beendet, kommt nur klassenlos wieder. Erst hier gibt es auch für eine Frauenbewegung neue Flut, offene Fahrt, richtig gestellte Order. Welche utopischen Kräfte und Werte damit beginnen, /(697) das kann, wie der klassenlose Mensch insgesamt, nur der Richtung, nicht
dem unausgeschöpften Inhalt nach angesagt werden. Es ist eine Richtung, welche aus der bisherigen schlechtenBreite, aus dem unvereinbaren Durcheinander der weiblichen Typen herausführt. Auf eine Existenz hinausführt, wo die unergründliche Halbheit, auch unvisierte Experimentierkunst verschwindet, die den falschen Reichtum an weiblichen Prädikaten und Typen eben erst ermöglicht hat. Einen Reichtum, dessen Falschheit und Unbestimmtheit schon an dem raschen Übergang der einen Type und ihrer Haltung in eine andere, ganz unvereinbare, erkennbar ist. Indem am vorhandenen Weib das Blumenhafte zum «Zünd an, zünd an!« der Hexe werden kann, indem die tüchtige Seele des Geschäfts fast mühelos zur Mänade, ja selbst Venus zu Maria übergeht, zeigen sich diese einzelnen Bestimmtheiten oft so vorläufig, als wären sie nicht einmal ungeregelte Experimente des weiblichen Seins, sondern bloße Masken. »Die keusche Luna launet grillenhaft«, dieser Satz, von Mephisto eingeblasen, zeigt, was es mit hysterischem Reichtum, falscher Variationsbreite auf sich hat. Weibliche Emanzipation konkreter Art visiert statt dessen echte Proben aufs utopischwesenhafte Exempel; sie arbeitet aus dem Durcheinander der Typen den wirklichen Reichtum der weiblichen Natur innerhalb der menschlichen heraus. Desto sicherer, als die mannigfachen und entfremdenden Warenkategorien, Herrschaftskategorien, welche die bisher erschienenen Frauentypen, vorab im Kapitalismus, mitmodelliert haben, in einer klassenlos werdenden Gesellschaft wegfallen. Dann geht ein reelles Erbe an den bisherigen, so vielfach verstellten und abgelenkten Prädikaten der Weiblichkeit auf, kann daraus aufgehen. Das real Mögliche ist am Weib ungestalteter als am Mann, doch auch seit alters, in allen Traumbildern weiblicher Vollendung, als verheißungsvoller intendiert; es greift stärker in fundierte Phantasie. So wie das Musikalische verheißungsvoller ist als das Poetische, das durch seine präzise Aussage bereits gemünzt ist. Und wie Musikalisches, wo es bereits gestaltet ist, tiefer gehen kann als selbst viel Poetisches der Worte, so bedeutet Utopisches am Weib, wo es wertvoll vorerscheint, ein Gesicht zentraler menschlicher Tiefe und einer trostreichen. Das Sanfte wie das Erbarmende /(698) wirken in der weiblichen Ausgabe des Menschen intensiver; das unter Artemis einmal Gedachte hat an reiner Kühle unter Jünglingsgestalten nicht seinesgleichen; die Heilige zeigt einen christlichen Zustand in vollem Karat. Von solchen Möglichkeiten oder dem, was ihnen unter neuen Zeichen entsprechen mag, machte die bürgerliche Frauenbewegung, als bürgerliche, allerdings wenig oder nichts kenntlich; sie kam über entgegengesetzte Trivialitäten wie freie Liebe und Suffragette kaum hinaus. Beginnt mit der klassenlosen Gesellschaft menschlicher Frühling, so auch Aussicht für die Überschreitung einer nicht ausgemachten Geschlechtsschranke, für die Aufhebung gefrorener Undeutlichkeit. Eine Gesellschaft ohne zuweisbare Schattenseite des Lebens gibt der Weiblichkeit zweifellos erst Bewährung wie Freibrief. Und die Frau als Genossin wird derjenige Teil der Gesellschaft sein, der sie in jedem Bezug subjektvoll und unversachlicht erhält. Altneuland, Programm des Zionismus Es gibt kein Leid, das dem jüdischen zu vergleichen wäre. Auch andere kleine Völker wurden zerstreut, von ihrem Boden weggeführt, doch dann gingen sie rasch unter. Die anderen Stämme, welche an den Nil zur Arbeit verschleppt worden waren, sind nicht einmal dem Namen nach überliefert. Die Juden haben sich nicht fressen lassen, wie bekannt, obwohl sie ständig zwischen den Zähnen ihrer Wirtsvölker waren. Dem Handel und der Schrift ergeben, retteten sie ihr angstvolles Dasein
durch Totschlag ohne Zahl hindurch, bis nach langen Jahrhunderten die Luft außerhalb des Ghettos ein wenig ungefährlicher schien. Der Jude ward nur mehr geschlagen, verachtet, nicht mehr verbrannt. Das Gönnerische stieg weiter an, im Lauf der bürgerlichen Befreiung, der gelbe Fleck wurde vom Kaftan abgetrennt, auch dieser verschwand, um 1800 entstand im Westen der jüdische Mitbürger. Er trat sein neues Amt vertrauensvoll an, und da draußen ohnehin Handel und Wandel herrschten, auch die mehr ritterlichen der staatsmäßigen Berufe weiter verschlossen blieben;-war der Start in der Mehrzahl kaufmännisch. Man trat in die vorhandene kapitalistische Gesellschaft ein, nicht mehr, wie /(699) zur spanischen Blütezeit, in eine feudale und kirchlich gelehrte. Das macht Unterschiede, sie fallen nicht nur jenen Juden zur Last, die so smart ins allgemeine Geschäftsleben einstiegen, auch die Station ist wichtig, an der der lange Leidensweg endlich hält. Diese Station war aus dem gleichen Grund, aus dem sie die vorläufig befreiende war, die kapitalistische: freier Wettbewerb verlangt rechtliche Gleichheit seiner Partner. Unter diesen Partnern kam nicht immer das beste Jüdische zum Vorschein, sowenig wie das beste Deutsche oder Französische. Die Börse wirkt von allen Seiten nicht schön, und es waren die Spalten der liberalen Presse, aus denen der Atem der Zeit am heißesten entgegenschlug. Jüdischer Geist kam in einen hinein, der alles zerschwätzte, der nur noch für den Markt erzeugte, und tat sich darin hervor. Nur wurde dergleichen am Anfang, als die Befreiung kam, noch nicht sichtbar. Der Fall der Mauern, die so viel Bedrückung und freilich auch so viel Ernst und fromme Strenge umgeben hatten, wirkte selber biblisch. Es war ein erstes Morgenrot, das der Anpassung; dahinter wurde lauter demokratisches Glück vermutet, neues Leben nach langer Lähmung. Aber nicht nur die Juden, sondern auch die Nichtjuden haben bekanntlich nicht ganz erfüllt, was in der Befreiung erhofft war. Gleichheit der Juden mit anderen, wenn sie je vorlag, war eine vorübergehende Ausnahme, sie wurde keine Regel. Zuletzt kam wieder, verstärkt wieder, was nur den Narren eines leer rollenden Fortschritts undenkbar schien: Ausrottung. Der liberale Bürger stand daneben, Gewehr bei Fuß, soweit er es nicht selber auf Juden im Anschlag hatte. Nichts anderes schien oder scheint noch übrig, als sich von lebensgefährlichen Mitbürgern endgültig zu trennen, Heimstätte leuchtet auf. Diese war schon lange ersehnt, selbst als die Anpassung blühte. Viele hätten es sich zwar nicht ausgesucht, Jude zu sein, aber nun, wo nichts mehr zu ändern, gaben sie vor, stolz darauf zu sein. Es war dies ein unechter Stolz, und das Gelobte Land wurde nur mit den Lippen berufen. So wie viele Juden jetzt ausgesprochenermaßen zionistisch geworden sind, die aus dem Land, wo es ihnen erträglich geht, gar nicht auswandern wollen. Sie sind zionistisch teils aus Mitgefühl für vertriebene Rassegenossen, teils aus der Leidenschaft, womit man sonst eine /(700) Unfallversicherung eingeht. Und die orthodoxen Juden sprechen seit zweitausend Jahren den Gebetswunsch: das nächste Jahr in Jerusalem; obwohl gerade aus diesen Kreisen starke Abneigung gegen wirkliche Rückkehr kam. Der Traum vom erneuerten Davidreich war trotzdem politisch nie ganz erloschen; es gab militärische Abenteurer wie David Reübeni (um 1530), der das von Waffen so lange entwöhnte Volk zu einer Art jüdischem Kreuzzug gegen die Türken aufrief. Es gab den falschen Messias Sabbatai Zewi (um 1640), der im Zug der Erlösung Israel zuerst nach Jerusalem heimrufen wollte. Vorausgesetzt, daß ein Volk sich noch als ein solches fühlt und im Zusammenhang steht, so schien es schwer, ihm die Erinnerung an den Boden zu nehmen, wo es wurzelte und, in vielfach täuschender Erinnerung, glücklich war. Selbst die vertriebenen spanischen Juden verzehrten sich in Sehnsucht, wenn auch nicht nach Palästina, so nach Spanien, und haben die
Namen längst verschwundener Straßen, längst eingefallener Häuser, in denen ihre Vorfahren als Senores gewohnt hatten, oft bis heute behalten. Also verhinderte auch wirkliche Einbürgerung, als der bürgerliche Himmel noch freundlich dreinsah, nicht bei allen Rückkehrwünsche, dieses Falls ohne Lippendienst, sogar leidenschaftlich echte. Erstaunlicherweise verhinderte das nicht einmal eine vielfältige, führende, lehrende Verbindung mit der internationalen Arbeiterbewegung. Im Gegenteil: der Sozialist Moses Heß, der ehemalige Freund und Vorgänger von Marx und Engels, der spätere Freund Lassalles, ein freilich daaurnd idealistischer Dialektiker, schrieb in »Rom und Jerusalem«, 1862, das ergreifendste zionistische Traumbuch. Dazu verhalf ihm die gleichzeitig warme und vernebelte Art, womit er an beseelende Rasse glaubte. Heß war ein aufrechter Revolutionär bis zuletzt, gehörte trotzdem zur «Hirnweberei« der linken Hegelschule. Er gehörte zum »wahren Sozialismus«, dessen ökonomische Unwissenheit, spekulatives Spinnweb, praktische Naivität das »Kommunistische Manifest« hernach so scharf kritisiert hat. Heß blieb in der idealistischen Dialektik, obwohl, ja weil er Hegels Selbstbewegung der Vernunft mit der »der Kraft und des Willens« durchsetzen wollte. Er ging mit dieser »Philosophie der Tat« viel mehr auf Fichtes Tathandlung zurück als /(701) zur Erfassung der ökonomisch-materiellen Faktoren der Geschichte voran. Er nahm die ökonomischmaterialistische Geschichtsauffassung Marxens an, warf aber fast gleichzeitig Marx und Engels vor, sie hätten »den nebelhaften Standpunkt der deutschen Philosophie mit dem engen und kleinlichen Standpunkt der englischen Ökonomie vertauscht«. Ökonomie wurde von Heß also selber im engen Sinn definiert, nicht in dem gesellschaftlich totalen Marxens; sie galt ihm als die typische Klassenwissenschaft des Bürgertums. Folglich wurden auch »Kraft und Wille«, die von Heß aktivistisch eingesetzten Motore der Dialektik, nicht primär ökonomisch umwälzend gefaßt, sondern ethisch, in Annäherung an Fichtes Tathandlung, und zuletzt eben rassentheoretisch. Neben dem Proletariat, das nach wie vor als reales Subjekt der umwälzenden Praxis gefeiert ist, stand für den späteren Moses Heß die Rasse als geschichtsbildende Kraft. Gewiß, auch Marx und Engels sprachen von Rasse, als einer Art innerer Naturseite, das mag erinnert werden. Engels gab in einem Brief von 1894 die Rasse »als ökonomischen Faktor« zu, Marx erklärte ökonomische Entwicklung auch »als abhängig von der Gunst der Umstände, dem Rassencharakter«. Es gebe Völker mit mehr oder weniger »Temperament und Dispositionen zur kapitalistischen Produktion«, Marx nennt unter den weniger disponierten die Türken. Aber Marx und Engels haben Rasse weder zu einem wesenhaft bestimmenden Faktor gemacht noch zu einem konstanten innerhalb der Geschichte; rassenfetischistische Vorstellung wird völlig zerschlagen. Auch die Disposition Rasse wird bei Marx durch die Arbeitstätigkeit des Menschen geschichtlich immer wieder umdisponiert: »Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur.« Anders eben bei Moses Heß, deshalb anders, weil Rasse bei ihm außer als ökonomischer Faktor auch als selbständig ideologiebildender erscheint, selbst bei gleichem ökonomischem Unterbau: und die stärkste geistige Rasse ist und bleibt ihm jüdisch. Kleine vorderasiatische Völker mit ziemlich gleichartiger Agrarwirtschaft und politischer Verfassung hat es mehrere gegeben, aber, fügt Moses Heß hinzu, »nur die Juden haben das Banner getragen, dem heute die Völker nachziehen«. /(703) Es ist das sittlich-prophetische Banner, und nur ihm zuliebe, der Aufschrift: Zion zuliebe, sollen Juden wieder in den alten Boden eingepflanzt werden. Das also wollte Zionismus von Zion her sein und nicht von einem zufälligen Aufenthalt her, den die Juden vor zweitausend Jahren in Palästina gehabt haben: »Trage dein
Banner hoch, mein Volk«, fordert Heß in »Rom und Jerusalem« - »In dir ist das lebendige Korn aufbewahrt, welches, wie die Saatkörner in den ägyptischen Mumien, Jahrtausende geschlummert, aber seine Keimkraft nicht verloren hat... Nur aus der nationalen Wiedergeburt wird das religiöse Genie derJuden, gleich dem Riesen, der die Muttererde berührt, neue Kräfte ziehen und vom heiligen Geiste der Propheten wieder beseelt werden.« Inhalt dieser pathetischen Wendungen oder Sendungen aber, dieser etwas weitläufigen Erbaulichkeit, bleibt dem Revolutionär Heß einzig der Sozialismus: als einer der ersten hat er das Judentum, wie er es aus den Propheten las, auf die Sache des revolutionären Proletariats bezogen. Sozialismus wird für Heß »Sieg der jüdischen Mission im Geist der Propheten«; nur zu diesem Ende plante dieser internationale Sozialist »ein Aktionszentrum in Palästina, worin der Geist der jüdischen Rasse wieder auferstehen kann«. Allerdings mit Hilfe Frankreichs, doch nicht des imperialistischen, sondern des Frankreich der großen Revolution, die ließ in ihm fortwirkend dachte. »Einmal wieder auf eigenem Boden, einmal wieder ins Geleis der Weltgeschichte gehoben«, sollte das jüdische Volk das Haus Rothschild in Erstaunen versetzen: »Das soziale Tierreich, welches von der gegenseitigen Ausbeutung der Menschen lebt, geht zu Ende.« Soweit die zionistische Utopie des Moses Heß, geträumt und entworfen als eine ab ovo, von den Propheten her, sozialistische. Doch die westlichen Juden waren meist bürgerlich, es gab nicht viele Arbeiter unter ihnen. Einfluß auf diesen Mittelstand gewannen die zionistischen Träume darum erst als nicht mehr sozialistisch klingende, als gemäßigt-freisinnige. Lange nach Heß, ein Menschenalter später, trat Theodor Herzl auf, der Urheber des einzig wirksam gewordenen zionistischen Programms, vielleicht mit Jeremia, aber ohne Jesajas. Das aus zwei Gründen, einem politischen und einem ideologischen, beide der /(704) Situation eines jüdischen Bürgertums entsprechend, auf das der Zionismus, sehr ohne Sozialismus, überging. Politisch war, im Gefolge der Mittelstandskrisen, die dünne liberale Judenliebe der Umwelt rasch wieder durchlöchert worden. Ideologisch wollte das liberale Judentum selber recht wenig von der parteilichen Liebe hören, von der revolutionären, die seine Propheten gepredigt hatten und die mehr Geld gekostet hätte, als der bloßen Wohltätigkeit recht war. Politisch beförderte es Herzls Erfolg, daß eine sogenannte Antisemitenliga entstanden war, Ritualmordprozesse drangen aus Rußland und Rumänien nach Ungarn und Deutschland vor. Herzl sah im Dreyfusprozeß, daß selbst das klassische Bürgerland der Menschenrechte nicht mehr das alte geblieben war, und er zog daraus keine Schlüsse auf die Bürger selber, denen er verschworen blieb, sondern auf sie als Nichtjuden. Ideologisch entscheidend für Herzls Einfluß auf jüdische Bourgeoisie war eben die bourgeoise Entspannung, war das liberale Aufklärungsniveau, das hier dem Zionstraum gegeben wurde. Vor allem entfernte Herzl jede Verbindung mit dem sozialen Radikalismus der Propheten, mit sozialistischer Mission und anderen sogenannten Verstiegenheiten des Moses Heß; Zionismus wurde so eingängig für liberale jüdische Bourgeoisie. Das Modell nun zum eigenen Judenstaat fand Herzl in der mannigfachen Irredenta, als die sich die österreichisch-ungarische Monarchie darstellte; gleich Tschechen, Polen, Ruthenen, Rumänen, Serben, Italienern sollten auch die Juden in den eigenen Nationalstaat heimgelangen. Nicht einmal der uralte Goldklang Jerusalem kam ursprünglich vor; Herzls Utopie schwankte anfangs, in der Suche nach dem Zukunftsland, zwischen Argentinien und Palästina. Und die Wege nach Kanaan waren realpolitisch-diplomatisch, unter kluger Berücksichtigung vorhandener Schiebungen und imperialistischer Interessen einiger Großmächte: »Die Judenfrage ist eine
nationale Frage; um sie zu lösen, müssen wir sie vor allem zu einer Weltfrage machen, die im Rate der Kulturvölker zu lösen sein wird.« Auch Moses Heß hatte, wie gesehen, an weltpolitische Hilfe gedacht, an die Frankreichs; aber was bei Heß Naivität oder eine Art Romantik war, von 1789 her, wurde bei Herzl zu kapitalistischem Einverständnis. Einzige Alternative fürs Judentum schien Aussterben /(704) durch Mischheirat oder nationale Wiedergeburt: Herzl predigte letztere, doch in Gestalt eines kapitalistisch-demokratischen Duodezstaats von Englands oder auch Deutschlands Gnaden; unter Souveränität des Sultans. So erschien »Der Judenstaat«, 1896, in ziemlichem Detail als Schema ausgearbeitet, kooperativer Privatkapitalismus mit Bodenreform, das Land ist öffentliches Eigentum, wird nur auf fünfzig Jahre jeweils verpachtet. Die gesamte Zivilisation der Jahrhundertwende ist transferiert: »Wenn wir wieder aus Ägypten ziehen, werden wir die Fleischtöpfe nicht vergessen.« Dermaßen wird, wenn die Juden wollen, »das Märchen wahr«, ein utopischer Roman »Altneuland«, 1900, malte das bürgerliche Fortschrittsland weiter aus, das Sitzen im eigenen Zelt, unter eigenem Weinstock, wie zuvor zu Hause, sozusagen, in Europa, aber nun unter sich. Der geringen ökonomischen Veränderung im jüdischen Musterstaat entsprechend, wird diese Utopie nicht weit in die Zukunft verlegt: sie gibt sich als Bericht aus dem Jahr 1920. Schon im »Judenstaat« hatten Kritiker wie Achad Haam wenig Jüdisches gefunden, fast keines, das sich vom westlichen Zivilisationsbetrieb anders unterschieden hätte als durch die freilich unschätzbare Sekurität, womit dieser Betrieb nun auf eigenem Boden, in eigenen Großstädten fortgesetzt werden sollte. In neuhebräischer Sprache, gewiß auch mit erhoffter »Entkomplizierung « durch Ackerbau, Molkereigenossenschaft und andere Rückkehr zum Land, wie jeder Bankdirektor sie seriös findet. Herzls Zion war so eine Utopie des unmittelbar Erreichbaren, mit kapitalistisch-demokratischem Hintergrund; festgewurzelt auf dem Boden, dem einzigen, was sie noch nicht hatte, jagte sie keinen Phantomen nach. Empfahl sie sich so dem spezifischen Idealismus des jüdischen Geschäftsmanns, auch Rechtsanwalts, so machte sie doch, was das Nationale angeht, einen sehr harten Schnitt durch die Assimilation, einen weit härteren als Moses Heß; Stolz, nicht Sendung substanzuerte nach Herzl jüdisches Nationalbewußtsein. Die Diaspora mit ihren tausend Verkrümmungen und Paria-Formen sollte rückgängig gemacht werden, aber auch Moses Mendelssohn oder die Assimilation, als ein falsches Morgenrot, in dem die Diaspora nicht gelichtet, sondern bejaht worden war. Statt dessen schien mit Zionismus oder /(705) Anti-Mendelssohn nun das zweite und wahre Morgenrot anzugehen: »öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte des jüdischen Volkes in Palästina«. Ungeachtet dessen, daß mindestens die investierungsfrohen Einwanderer und ganz sicher die Fleischtöpfe Ägyptens eine starke Assimilation voraussetzen und benutzen. Die Chassidim hätten kein Tel Aviv gegründet, das Talmudstudium hätte kein Einstein-Manuskript in der UniversitätJerusalem deponiert, und es gäbe dort keine Professoren der Kabbala, sondern Kabbalisten. Gar jüdischer Faschismus, als eine Konsequenz des übernommenen kapitalistisch-demokra tischen Gegenwartsstaats, wäre ohne solche Übernahme völlig unbekannt. Herzls Utopie ist in nuce selber mehr Assimilation als die scheinbar viel assimiliertere des romantischen Zionisten Moses Heß. Dieser war viel näher mit dem alten Messianismus verbunden, ein Gläubiger ans soziale Zion, der in der Arbeiterbewegung bis zu seinem Tod kämpfte, der gerade in seiner Verbindung mit der internationalen Arbeiterbewegung den Geist der Propheten zu aktivieren glaubte. Wie Heß im Unterschied von Herzl zu zeigen versuchte, gibt es offenbar einen Zionismus, dem das Erbbegräbnis weniger wichtig ist als die
Auferstehung. Wenn nicht die des jüdischen Nationalbewußtseins der Bourgeoisie, so die eines sehr alten, vielfach verschütteten Glaubens. Suchte dieser Glaube, weil er immer noch Utopie ist, auch ein »Aktionszentrum in Palästina«, so war dies Zentrum offenbar als ausstrahlend gedacht, als Ruf in die Welt und nicht als Duodezstaat. Was an sozialer Sendung und prophetischem Erbe im Judentum fortwirkt und es einzig wichtig macht, hat Moses Heß fern von Palästina verkündet, Marx gar in völliger Entfremdung von Palästina gegenwärtig gemacht. Zion war ihnen überall dort, wo das »soziale Tierreich« zerbricht und die Diaspora aufhört: die aller Ausgebeuteten. Als der Traum durch Herzl verbürgerlicht war, fing er sogleich zu arbeiten an. Er wurde zweifellos geschickt aufgezogen, von 1897 an fanden in Basel regelmäßig Zionistenkongresse statt. Die Bewegung wuchs, eine freiwillige Verpfianzung von Minderheiten, wie sie bisher noch nicht vorgekommen war. Auch gab es immer wieder Annäherung an Erfolg, und das auf Grund einer völlig unsentimentalen Strömung, die auch unter /(706) Nichtjuden dem entgegenkam. Hatte es unter Nichtjuden doch sogar sentimentale Strömungen zum Zionismus hin gegeben, so bei den Millenariern in der englischen Revolution und bei anderen adventistischen Sekten, immer wieder. Doch dergleichen war machtlos, vorübergehend und mystisch, die herrschende Klasse erwartet nicht Elias. Dagegen war die englische schon lange an der Sicherung des Überlandwegs nach Indien interessiert, und Palästina lag richtig. Hollingworth, ein politischer Schriftsteller, schlug noch früher als Heß, gar Herzl an dieser Stelle einen Judenstaat vor (Jews in Palestine, 1852). Die Lords Palmerston, Beaconsfield (dieser freilich mit hocherlauchtem israelitischem Stammesgefühl kokettierend), Salisbury verhandelten bereits mit der Pforte wegen der Konzession. Es ist wahr, England hatte nicht nur am Überlandweg Interesse, es offerierte Herzl 1903 auch Land in Ostafrika, zu dem ihm die Kolonisten fehlten und das man nicht mit Sträflingen besetzen wollte wie einst Australien. Ferner war nicht allein England an Palästina interessiert, auch Wilhelm II. und der deutsche Imperialismus fühlten zionistisch; der Kaiser diskutierte mit Herzl 1898 ein jüdisches Palästina unter deutschem Schutz und türkischer Oberhoheit. Anlaß dazu war das sprichwörtlich gewordene Interesse der Deutschen Bank an der Bagdadbahn und was damit zusammenhing, war die gesamte deutsche Erbschleicherei um den kranken Mann Türkei. So wurde der Zionismus allerdings nach mehreren Seiten »dem Rat der Kulturvölker« anheimgegeben, wie Herzl gesagt hatte, ein Stein auf dem Spielbrett imperialistischer Politik. Als aber der deutsche Imperialismus das Spiel verlor und die Türkei ohne diesen »Schirmherrn des Islam« dastand, wurde 1917 proklamiert, was schon so lange in den Akten des Foreign Office auf seinen Tag gewartet hatte: die Balfour-Declaration. Ein britisches Mandat Palästina wurde deklariert als öffentlich-rechtliche Heimstätte für das jüdische Volk. Teile von Herzls Programm kamen dadurch dem imperialistischen England, hochherzig wie stets, zupaß, und die Verwirklichung, wenn sich so sagen läßt, des zionistischen Traums kam noch rechtzeitig, um späteren Opfern des Faschismus ein Asyl einzurichten. Vielmehr: sie wäre rechtzeitig gekommen, wer in das England, das die Heimstätte öffnete, sie nicht im /(707) Augenblick, da man ihrer am dringendsten bedurfte, geschlossen hätte. So aber erschien 1939, dem richtigen Jahr, ein White Paper des Inhalts: Die nächsten fünf Jahre werden maximal 75000 Juden zugelassen, später keine mehr ohne arabische Zustimmung, also wirklich keine mehr. Ruhige Geschäftslage im arabischen Ägypten, mohammedanischen Indien lag den englischen Menschenfreunden ohne weiteres näher am Herzen als die Lebensrettung der europäischen Juden; - »and«, sagte Churchill, »the logic in doing
so is simple«. Sie hat nur mehrere Millionen Juden den Nazis zur Abschlachtung überlassen, ja, durch verhinderte Landung in Palästina, erneut zugetrieben; England leistete Beihilfe zu dem Mord, den es, moralisch wie stets, so warm verurteilte. Die Heimstätte aus der Zeit der Balfour-Declaration wurde stracks als »arabischer Staat« interpretiert, seine jüdische Bevölkerung durfte nicht mehr betragen als ein Drittel der arabischen. Herzls Judenstaat hatte es derart zu einem numerus clausus des jüdischen Wohnrechts gebracht, wie er vor dem Judenstaat in keinem Land, außer dem zaristischen Rußland, bekannt war. Herzls Mitteln der Verwirklichung entspricht demnach die gekommene Wirklichkeit: das Judenland wurde eines, aus dem politisch unbequeme Juden sogar als lästige Ausländer deportiert werden können. Gewiß, Mittel ruinieren nicht immer den Zweck, hier gilt nicht das Verhältnis Ursache -Wirkung, wo causa aequat effectum, sondern auch andersartige Mittel können gegebenenfalls zu einem guten Zweck führen; doch dann muß der Zweck selber ein mächtiger sein und kein bettelnder. Ist er nicht mächtig, dann gebraucht nicht er das Mittel, sondern das Mittel gebraucht ihn, und ist er genau so kapitalistisch-demokratisch gebaut wie das England, dessen Imperialismus er als Mittel benutzt, dann muß das Interesse des stärkeren Kapitals über die Programme des schwächeren siegen. So wurde denn Zion ein Bruchteil der im englischen Empire zu besorgenden Geschäfte, ja die jüdische Sezession wurde, indem sie als Invasion geschah, zu einem Haßobjekt der arabisch-nationalrevolutionären Bewegung, die ihrerseits wiederum eine Karte im Spiel des britischen Imperialismus darstellt. Nun haben die Juden, die dem Faschismus oder auch nur der gesellschaftlichen Zurücksetzung entronnen sind, mit den Arabern den /(708) neuen Konflikt, und der geplante Judenstaat ist prekärer daran als, bis zu Hitler, je eine Assimilation. Die Schwierigkeiten erscheinen hierbei keineswegs als vorübergehende, es sei denn, der geographische Zionismus wird selber wieder zum bloßen Programm, das heißt, nach Ende des Hitlerfaschismus verlangt wieder nur eine Handvoll Juden aus kapitalistischen Ländern Zulassung nach Palästina. Oder weit gründlicher: die Schwierigkeiten lassen nach, weil eine allgemeine soziale Umwälzung auch diese bluttriefenden Duodezfragen löst. Und die Umwälzung kommt dann nicht aufs Konto des Juden Herzl von der Neuen Freien Presse, sondern des Juden Marx, der nicht bloß kein Zionist war, sondern nur wurde, was er ist, und tun konnte, was er tat, weil er keiner war. Gerade der ursprünglich bessere, der subjektiv reine, wenn auch falsche Wille im Anfang der zionistischen Begeisterung: der eines wirklichen Neubeginns in Palästina, mit ganz anderem nervus rerum wie bisher, kommt nicht mit, erst recht nicht aus Herzls Segen. Ungeheurer Enthusiasmus strömte mit jüdischer Jugend in die Bebauung der alten Erde, agrarische Kommunen haben sich gebildet, der Intention nach mit denen Owens oder Cabets in Nordamerika verwandt, ja streckenweise versuchte Kolchosen; sehr fern jedenfalls von Tel Aviv, dem zeitgenössischen Realausdruck der Bourgeoisie und Spekulation. Doch all das hat nur befördert, daß der Staat Israel, durch die Flucht vor dem Faschismus bevölkert, selber ein faschistischer geworden ist. Und an diesem bitteren Ende, dem auch bei Herzl noch nicht an der Wiege gesungenen, wurde Israel sogar der - nicht einmal gut gehaltene - Köter des amerikanischen Imperialismus in Vorderasien. Der Archetyp: Moses, der andere: Ägypten - Küste - Kanaan, beide haben in Revolutionen eine andere Gewalt und Hoffnung entfaltet. Aber der Judenstaat sieht aus, als wären dem Judentum selber diese seine Archetypen fremd geworden; was doch, wie das Beispiel Marx lehrt, nicht immer der Fall. Das Fazit bleibt auch hier: es gibt keine isolierte Lösung irgendeines Minoritäten-oder Nationalitätenproblems ansich. Das bedeutet: es gibt
keine Lösung der sogenannten Judenfrage, soweit sie besteht, ohne Gesamtlösung der ökonomisch-sozialen. Nicht einmal in Palästina ist Zionismus ohne solche Bereinigung möglich; es gibt keine pax Britan- /(709) nica mehr, erst recht keine pax Americana. Und der Antisemitismus, ein hartnäckiges und auffälliges Phänomen, mag noch so viele psychologische, anthropologische oder auch mythologische Nebenursachen haben, seine Basis ist die prekäre Wirtschaft. Fühlte doch gerade ein russischer Zionist zur Zeit Lenins sich zur Beobachtung veranlaßt, der Bolschewismus beginne zu realisieren, was die alten Propheten gepredigt hätten; das sowjetische Ziel sei biblisch, ob man es wisse oder nicht. Ist dem so, dann ist das Judentum im Sinn von Moses Heß erhalten und hat Neues zu tun, auch ohne eigenen Duodezstaat. Die zionistische Utopie pflegte ja nicht nur das Besondere, verklärte Vergangenheit und erhoffte Zukunft zugleich zu sein; das pflegen andere National- und Minoritätsutopien auch. So die Wenden in Preußen, die Tschechen, die Polen vor 1918, sie hatten alle einen traditionell-utopischen Traum von Auferstehung; auch die Deutschen hatten ihn, im Kaisertraum zwischen 1806 und 1871, in dessen mannigfachen patriotischen Phantasien. Bloße Irredenta also unterscheidet die zionistische Gruppenutopie nicht von anderen oder zeichnet sie aus; wenn auch die Juden dort nur als Ahasvers betrachtet wurden, wo die Polen unter drei Kaiserreiche aufgeteilt, immerhin zu Hause waren. Dagegen ist das Einzigartige der jüdischen Utopie die mit ihr gesetzte, von Moses Heß nicht zum erstenmal betonte Verpflichtung, gemäß der Intention der Propheten zu handeln; und diese Verpflichtung braucht infolge der revolutionären Situation, die seit den Tagen von Moses Heß in Europa herangereift ist, gewiß kein »Aktionszentrum in Palästina« mehr. Sie braucht keinen geographischen Zionismus;in einer umfassenden Freiheitsbewegung haben die Juden jederzeit Platz, das letzte Ghetto überflüssig zu machen. In Reih und Glied mit der Bewegung zum Licht zu stehen, in jedem Land, zu dem man gehört, das scheint echtjüdische Heimat. Sofern Judentum nicht nur eine mehr oder minder anthropologische Eigenschaft darstellt, sondern einen gewissen messianischen Affekt, einen für das echte Kanaan, der nicht mehr national beschränkt ist; Thomas Münzer, »mit dem Schwert Gideonis«, zeigte ihn, das Haus Rothschild zeigte ihn nicht. Es trifft meist das Rechte, Haß von vornherein wirtschaftlich zu erklären. Das gerade Greifbare, öfter das Fremde, noch besser /(710) das Schwache gibt nur die Anlässe, ihn abzuführen. Am bequemsten war es seit alters, Haß und Wut an Juden auszulassen, an armen so gut und noch besser als an reichen; am einfachsten bleibt es, Unheil auf sie abzuschieben. Sie sind nicht so auffällig wie die Zigeuner, gar Neger, aber sie sind, gerade wegen ihrer gleichsam vertrauten Fremdheit, als Sündenbock beliebter. Bis die Nazis kamen, wurde ihnen nicht so Ungeheuerliches zur Last gelegt wie einst den Hexen, doch dafür sind sie als Schadenstifter einem gleichsam aufgeklärten Pöbel glaubhafter. Es gibt Wünsche und Unwünsche, Bilder, auf die das Gewünschte, Bilder, auf die das Ungewünschte entäußert wurde, und die Juden haben, wie Musil einmal trefflich sagt, das Unwunschbild gestellt, das früher der Fetisch war, den der Zauberer dem Kranken aus dem Hals zog. Die menschliche Lust am Prügelknaben kam also zur wirtschaftlichen Not zweifellos hinzu, eine sehr alte und hartnäckige Lust. Das alles ist wahr, und trotzdem hätte es ohne Hungersnot, ohne feine Herren und Ablenker nicht diese Sündenbockmast gegeben. Die Motivierung des Judenhasses hat im Lauf der Zeit dreimal gewechselt, auch seine Stärke war jeweils verschieden, sein Grundzug bleibt bei alledem erkennbar. In der Antike galt der angebliche Hochmut als provozierend, womit die Juden sich von den Heiden absonderten, eigene Speisegesetze, eigene Festtage hielten und
anderes mehr. Der Jude Philo behauptete sogar, daß Platon sein Bestes dem Moses verdanke, was zweifellos zu weit ging, und besonders in einem Rom, das sich noch wenig orientalisiert hatte. Im Mittelalter gab Judas dem Judenhaß das Motiv ab, ungeachtet dessen, daß auch alle anderen Jünger Juden waren, gleich Jesus selbst. Im Zeitalter des Faschismus wiederum machen Rassentheorie und die Weisen von Zion das antisemitische Geschäft; denn die Kreuzigung des Juden Jesus wirkt auf Faschisten gar nicht mehr erbitternd, sie wirkt eher sympathisch, ja, mit seinem Blut soll das Blut der ganzen Judenschaft auslaufen, damit der Arier endlich erlöst sei. Unvereinbare Motive ersichtlich und trotzdem, wie die Antisemiten sagen, im Instinkt gegen den Juden verbunden. So daß der Jude dem falschen Bewußtsein und der Ideologie um wirtschaftliche Pogromgründe herum immerhin einen einzigartigen Ansatz bot. Als läge wirklich in /(711) dieser Menschengruppe etwas, das sie seit zweitausend Jahren dazu verdammt, sich bei jeder Schwierigkeit als schuldige Ursache behandeln zu lassen. Diese breite Verwendbarkeit der Juden zum Zweck des Popanz stellt fast ein Gegenstück dar zur breiten Verwendbarkeit, welche in der ganzen weißen Rasse die Bibel gefunden hat zum Zweck der Erbauung. Und es ist ohne Beispiel, daß man die Autorschaft der gleichen Bibel den Juden zwar zubilligt, sie jedoch um die Ehre daraus betrügt. Man kann dies auch poetisch ausdrücken, wie Beer-Hofmann in »Jaakobs Traum« getan hat, wo der Teufel prophezeit: »Wohl neigt man deinem Wort sich / Doch blutig schlägt den Mund man, der es sprach: / Volk wirst du, draus sich alle Beute holen.« Dieser doppelte Blick aufs Judentum, diese beispiellose Bewußtseinsspaltung in der Apperzeption des Judentums zeigt zweifellos einen unheimlichen, fast autark gewordenen Objekthaß an, innerhalb dessen die wirtschaftlichen Ablenkungsmanöver erst gelingen konnten. Auch das nun ist alles wahr, genauso wahr wie die Lust am Prügelknaben, und doch hätte selbst der wenig rationale Stein des Anstoßes, den das jüdische Objekt darstellen mag, ohne Profitwirtschaft nie gewirkt. Es bleibt dabei: die ökonomisch-soziale Revolution wischt die Judenfrage mit einem Nu unter den Tisch. Antisemitismus ist keine ewige Einrichtung, wie die Zionisten glauben machen wollen, und wäre er eine, so würde er nicht durch die Invasion eines arabischen Landes gemildert, mit neuen Friktionen, neuem Schutzjudentum, sondern einzig durch Selbstverbannung der Juden auf eine wüste Insel, ohne Fenster und Türen. Was weder kapitalistisch-demokratisch wäre, im Sinn Theodor Herzls, noch gar sozialistisch, im großen Sinn des Moses Heß; dieser würde sein gemeintes Jerusalem, im Zeitalter der Sowjetunion und der Bewegung zu Sowjetunionen, jetzt nicht mehr nach Jerusalem verlegen. Ein Ende des Tunnels ist in Sicht, gewiß nicht von Palästina her, aber von Moskau; - ubi Lenin, ibi Jerusalem. Es steht nicht zur Frage, ob die Juden noch eine Nation sind oder nicht; hätten sie aufgehört, eine Nation zu sein, wie das in Westeuropa völlig der Fall, dann ließe sich das verlorene allerdings durch erneute Aussonderung wiederbringen, und in Palästina ist Derartiges bei der dort geborenen hebräisch sprechenden Generation offenbar gelungen. /(712) Das mag vom national-jüdischen Standpunkt her erfreulich, ja notwendig sein, ist aber nicht ergreifender als die Erhaltung anderer Kleinvölker auch. Das Judentum prätendiert in seiner Bibel jedenfalls noch ein bestimmteres Pathos seines Daseins; ohne welches Pathos sein Dasein gleichgültig würde. Zur Frage steht also einzig dieses: haben die Juden, ob Nation oder nicht, noch als solche ein Bewußtsein von dem, was der Exodusgott zu seinem Knecht Israel sagte, nicht als Versprechen, sondern als Aufgabe: »Ich habe ihm meinen Geist gegeben, er wird das Recht unter die Heiden bringen« (Jes. 42, 1). Mit der Apostrophe an das Volk, dem selber Elend vorhergesagt ist und das besser als
irgendeines erfahren hat, was es damit auf sich hat: »Du sollst die Augen der Blinden öffnen und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und die sitzen in der Finsternis aus dem Kerker« (Jes. 42, 7). Auch die Juden haben derart Mission getrieben, wenn auch nicht annähernd im christlichen oder mohammedanischen Ausmaß. Nubische Stämme nahmen das Gesetz an, im zweiten nachchristlichen Jahrhundert ist jüdische Religion nach China gedrungen, im achten Jahrhundert trat das Chazarenreich, mit der Hauptstadt Astrachan, zum Judentum über. Das alles geschah allerdings spät und wahrscheinlich nicht auf Grund einer eigentlichen Agitation; auch wurde die Diasporat immer weniger einladend. Und fast sämtliche Schrifttexte gehen an Mission nur heran als an jene messianische Tendenz und die Zukunft ihrer Ausbreitung, die durch Juden offengehalten werden soll: »Man wird nirgends verletzen noch verderben auf meinem heiligen Berg; denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn wie mit Wasser des Meers bedeckt« (Jes. 11, 9). Die Erinnerung an solche Tendenzen kann bei Juden, die nicht im mindesten zionistisches Nationalbewußtsein haben, so brennend sein wie bei Joachim di Fiore. Sie kann umgekehrt bei Juden völlig fehlen, die lediglich das Zeitalter eines höchst-gesteigerten Nationalismus auf sich anwenden und jede zukünftige Internationale mit dem Kosmopolitismus der Geschäftsreisenden verwechseln. Oder mit der Meinung, die Internationale werde nichts sein als sämtliche Nationalflaggen zusammengenäht; da wäre es denn freilich wichtig, auch eine blau-weiß-zionistische im Konzern zu haben. Ist aber das Judentum eine prophetische /(713) Bewegung, das ist, eine Bewegung zu dem seit dreitausend Jahren unter Zion Gedachten, so gehört sie durchaus unter die Völker und nicht in ein englisches Protektorat am Ostwinkel des Mittelmeers. Worin zwar nicht die Füchse und Wölfe einander gute Nacht sagen, aber Suezkanal und Mossulöl, arabische Spannung und britisches Kraftfeld, sinkendes Empire und amerikanisches Monster einander guten Tag. Dergleichen ist etwas zu wenig für die Idee des Moses Heß, oder zu viel. Ist noch eine jüdische Nation vorhanden, so fällt ihre Befreiung mit der sozialen zusammen, oder ihr Staat ist eine Erfindung, an der sich der britische Aufkäufer nicht mehr so interessiert gezeigt hat wie 1917, wie in der solventen Zeit des Empire, und die jetzt Amerika zum Atomkrieg überführt. Ist eine jüdische Nation nicht mehr vorhanden, so hält sich bei den besten Juden, erfahrungsgemäß, eine alte Verwandtschaft mit allem, was Untergang der großen Babel meint und New World. Dieser Traum hat sein Aktionszentrum dort, wo das Vaterland der Geburt und Erziehung ist, wo er an dessen Sprache, Geschichte, Kultur mitbaut, wo er am Kampf um eine neue Erde so patriotisch wie sachkundig teilnimmt. Hic Rhodus, hic salta, überall ist Zion nach der Intention der Propheten, und der Lokalberg in Palästina ist längst ein Symbol geworden. Nazideutschland war sein stärkster Gegenschlag, die Sowjetunion hat den Gegenschlag besiegt, für alle Unterdrückten der Welt, einschließlich der Juden, im Einklang mit der universalistischen Hoffnung der Propheten. In Summa, diese partiale Bewegung könnte aufhören, ohne daß eine jüdische Komponente selber aufhörte, sei es als Volk, sei es - in bedeutend wahrerer Weise - als Zeuge und Zeugnis messianischer Gesinnung; Zionismus mündet im Sozialismus, oder er mündet überhaupt nicht. /(714)
Zukunftsromane und Gesamtutopien nach Marx: Bellany, William Morris, Carlyle,Henry George
Es war einige Wochen später, Mitte November, und Mr. Britling saß
in seinen dicken Schlafrock und sein dickes Pyjama gehüllt die Nacht am Schreibtisch und arbeitete wieder an einem Aufsatz, einem Aufsatz, der lächerlichen Ehrgeiz verriet; denn sein Titel war: »Die bessere Regierung der Welt». H.G. Wells, Mr. Britlings Weg zur Erkenntnis Da bürgerlich alles schlechter wird, hört auch hier der Traum nicht auf. Aber halbwegs frisch ist er eben nur dann, wenn er sich in einer Gruppe und für sie nachträglich anmeldet. Wird ein Morgen dagegen im Ganzen ausgemalt, so wird das spätbürgerlich meist Betrug, bestenfalls wird es Spiel oder romantisch. Über diese beiden letzten Arten ist allenfalls noch zu sprechen, sie haben utopische Neigung wenigstens flott gehalten. Prophezeiender Unterhaltungsroman besorgte dergleichen unter nichtproletarischen Schichten, in neugierigem Kleinbürgertum. Hierher gehören Hertzkas »Eine Reise nach Freiland«, 1889, mit einem freiländischen Mädchen darin, mild bodenreformend. Sogar ein privatkapitalistisches Staatsmärchen wagte sich vor, schon in alten Zeiten selten, heute sozusagen kühn: Thirions »Neustrias«, 1901, einer neuen Gironde gewidmet. Besser wurde die kapitalistische Zukunft gesehen in Tardes «Underground Man«, 1905: an der Vergangenheit gehen Bilder der versuchten Wiederherstellung auf, an der Zukunft einzig solche der unterirdischen Flucht. Luft, Licht und Sonne dagegen sollen zu Hause die Schäden heilen in Ebenezer Howards «Tomorrow«, 1898, auch in seinen «Garden Cities of Tomorrow«, 1902. Die erste Gartenstadt ist darin ausgemalt, eingeteilt nach lauter «social functions wovon der Schornstein raucht, wird weniger klar. Schwach an Einsicht, reich an Einfällen, solch ein Verein soll gestiftet werden und reüssieren. Und wie üblich wird überhaupt nicht klar, durch welche Mittel sich das Leben zu schönerem umwälzt. Am sympathischsten erscheint hier noch der Amerikaner Bellamy mit seinem berühmt gewesenen Buch »Looking Backward«, 1888, deutsch bei Dietz /(715) erschienen als »Ein Rückblick aus dem Jahr 2000«. Die Einkleidung ist bewährte Kolportage: Ein reicher Bostoner, Mr. Julius West, wird kurz vor seiner Hochzeit verschüttet, nachdem er in magnetischen Schlaf gesunken war, wird im Jahre 2000 ausgegraben, der magnetische Schlaf hat seinen Körper konserviert, Mr. West wird Citizen des unterdes entstandenen amerikanischen Idealstaats. Der Leser kann nun dies Zukunftsgebilde wie durch ein Opernglas betrachten; mehr als in irgendeiner Utopie bisher erscheint das Geträumte als fabulöse Gegenwart. So befriedigt Bellamy die von Marxisten abgelehnte Forderung, eine Malerei der Zukunftsgesellschaft zu geben; sein Sensationsroman ist, bei aller Seichtheit und zivilisatorischen Äußerlichkeit, nicht ohne bewegliche sozialistische Phantasie. Er halluziniert, Marx höchstens vom Hörensagen kennend, eine gleichheitliche Organisation des Wirtschaftslebens, ohne Slums, Banken, Börsen, Gerichte; Amerika (!) gilt hierbei als »Pionier der allgemeinen Umwälzung«. Es gibt kein Geld mehr, nur noch Waren und Kreditscheine für die geleistete Arbeit. Nicht höherer Lohn, sondern sozialer Wetteifer im Dienst der Nation und Grade der Auszeichnung geben den Antrieb im allgemeinen Arbeitsheer ab. Wie die Arbeitszeit ist die Beamtenschar erstaunlich reduziert, überall herrscht vereinfachte, übersichtliche, großzügige Verwaltung, eine Art Kartothek der Güterverteilung ist angelegt, eine Statistik des Bedarfs. Bereits am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, erzählt Bellamy, war das Kapital aus den Händen weniger, worin es zusammengeballt war, auf den Staat übergegangen, und zwar »ohne alle Gewalttätigkeit«. Entstanden ist
seitdem Staatssozialismus, das heißt, der Staat hat sich zu einem großen Geschäftsverband verwandelt, dessen Gewinn und Ersparnis allen Bürgern gleichmäßig zukommt. So propagiert Bellamy eine Art zentralistischen Sozialismus, wenn auch ziemlich im Rahmen der Babbit-Wünsche. Bellamys Utopie liegt sprunglos in der Verlängerungslinie der heutigen Welt, sie ist au fond mit dem Habitus der kapitalistischen Zivilisation zufrieden. Die Vergesellschaftung des Privateigentums nimmt aus dem jetzigen Zustand nur die sozialen Schäden und Hemmungen heraus, aber sie verändert nicht den allgemeinen Zuschnitt. Die Erde wird ein gigantisches Boston oder noch eher Chicago /(716) mit etwas Landwirtschaft dazwischen; das Gebiet der letzteren nannte man früher Natur. So technisiert, doch im üblen Sinn, sahen übrigens viele »gute Europäer« Amerika ohnehin, und zwar bereits das vorhandene; so daß Bellamys Utopie eine Flut anderer, entgegengesetzter hervorrief und gegen den Geschäftsverbandssozialismus des Amerikaners sozusagen das alte Europa aufstand, mit romantischem Gegenzug. Nicht nur die Börse soll dann verschwinden, sondern Stahl und Eisen selber, mit denen sie handelt. Die bedeutendste Gegenschrift zu Bellamys Dampf-Verband hieß »News from Nowhere«, 1891, und war verfaßt von William Morris, dem großen Erneuerer des englischen Kunsthandwerks, dem Freund Ruskins und romantischen Antikapitalisten. Morris, Architekt und Zeichner, Glasmacher und Keramiker, Erzeuger von Möbeln, Stoffen, Teppichen, Tapeten, war mit Ruskin darin einig: nur Handarbeit mache gut, Maschine sei die Hölle. Hier treibt also nicht Mitleid mit den Armen, Erbitterung gegen die Reichen, sondern ein bisher unbekannter Ton klingt sozial-utopisch an: Morris ist ein kunstgewerblicher, ein Homespun-Sozialist. »News from Nowhere« sind also nicht bloß eine Kontrastutopie zu Bellamy, sie sind ein Feldzug gegen die gesamte Mechanisierung des Daseins. Die Profitwelt läßt nicht nur moralisch, sie läßt auch ästhetisch viel zu wünschen übrig, und das war es, was hier gegen das Kapital aufbrachte. Oder wie der Architekt van der Velde in seinem Ruskin-Essav sich ausdrückt: »Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts lag es so, daß wir unter der Last der Häßlichkeit der Dinge erstickten. Niemals, in keinem Augenblick der Weltgeschichte, war der Verfall des Geschmacks, die Schwächlichkeit der Einfälle und die Gleichgültigkeit gegenüber Arbeit und Material auf einem so niederen Niveau angelangt.« Also wird von Morris der Kapitalismus nicht so sehr wegen seiner Unmenschlichkeit als wegen seiner Häßlichkeit bekämpft, und diese wird am alten Handwerk gemessen. So kommt es, daß »News from Nowhere« zwar keine Profitmacherei mehr kennen, keine unwürdige und unbeseelte Arbeit, ja kein Geld und keinen Lohn; doch ebenso wichtig ist hier, daß unter keinem Hausziegel ein Figurenfries aus Terrakotta fehlen darf. Morris prophezeit die Revolution als Frucht und Selbstzerstörung des /(717) »unnatürlichen« Industrialismus, und er bejaht die Revolution, er bejaht sie freilich nur als Akt der Vernichtung. Denn hat sie ausgetobt, so sind nicht nur die Kapitalisten, auch die Fabriken sind zerstört, ja die gesamte Zivilisationspest der Neuzeit hat sich weggehoben. Revolution also erscheint diesem Maschinenstürmer als pure Rückdrehung der Geschichte oder als Abtragung; hat sie ihr Werk getan, so kommt die Welt des Handwerks wieder, so stehen die Menschen - nach verschwundenes Neuzeit - auf dem bunten Grund der heimischen, in der englischen Renaissance nur verkleideten Gotik. Soll heißen der sozialistisch angeblickten Fachwerkhäuser, der alten Marktplätze und Gasthöfe, mit mächtigen Kaminen und ihrem Rauchfang, der Landschlösser und Oxford-Kollegien. Auf verwandtem Grund nun erträumt Morris' Utopie im einundzwanzigsten Jahrhundert einen neuen Aufbau,
er erfolgt in der Richtung mittelalterlicher Tendenzen, doch entfeudalisiert und entkirchlicht. Die Städte zerstreuen sich in deutlicher Reagrierung, ein ländliches Leben inmitten der Natur verzichtet auf die lärmenden und unnatürlichen, die wahrhaft diabolischen Maschinen, die das Glück der Menschen ersticken und die Schönheit töten. Die Neuzeit war die Zeit der verkleinerten Menschen, der regulierten und in Mietskasernen wie in Ameisenhaufen eingeschachtelten: diese Insektenzeit ging im einundzwanzigsten Jahrhundert vorüber, als wäre sie nie gewesen. Also ist die Erde von Fabriken und Stadtungeheuern befreit, Kapitalismus und Industrialismus sind abgeschafft, ganze Menschen, altes Handwerk blühen statt der Maschinengreuel wieder auf. Es erinnert diese rückwärts gewandte Utopie an die Sehnsüchte zur Zeit der Restauration, an die romantische Vergaffung ins Mittelalter und den Wunsch, es aus der Zukunft wieder auf sich zukommen zu sehen. Aber der konservative politische Auftrag, den die Romantiker vor über hundert Jahren hatten, fehlt; Ruskins, Morris' Utopie nach rückwärts war nicht politisch-reaktionär gemeint. Sie wollte Fortschritt von einem verlassenen Standort her, agrarisch-handwerkliche Reaktion um eines umstürzenden Neubeginns willen. Der alten Romantik hatte noch die agrarisch-handwerkliche Sehnsucht gefehlt; dazu war unter der Fülle wohlerhaltener Landstädte, ruhiger Lebensschönheit noch kein Anlaß. Selten ist /(718) eine utopische Homespun-City geschmackvoller erschienen als bei William Morris, selten aber auch hat sie sich, mit der gleichzeitig naiven und sentimentalischen Intellektuellen-Mischung von Neugotik und Revolution, an einen so kleinen Kreis gewandt. Der Kreis hat sich allerdings gemehrt, seit die Neugotik gestrichen wurde und der Überdruß an der Hast, Entnervung und Künstlichkeit des Maschinenlebens mit diesem gewachsen ist. Seit gar die verlorenen Güter einer ruhigeren Vorzeit von allerhand gesprenkelter Reaktion in redressiertem Kapitalismus gesucht worden sind, statt in überstandenem, zum Umschlag getriebenem. Die bürgerlichen Utopien enden nun, Morris gab mit seinem neugotischen Arkadien das letzte originale, obzwar gegenstandslose Motiv. Es sei denn, man beachte noch Carlyle und die Sucht nach Helden, die er beschwor. Das ebenfalls gegen die industrielle Welt, doch nur scheinbar, indem dieser Aufrufer weniger von rückwärts, als von oben herab ins graue Elend sah. Seine puritanische Predigt des Arbeitens und Nichtverzweifelns verband sich genau mit der imperialistischen, welche keinesfalls die Fabriken, aber den Klassenkampf stillegen will. Auch dieser Plan gehört noch hierher; hat Carlyle, in Verbindung mit Nietzsche, doch gerade nach Marx viel zu einem utopischen, dann entsetzlichen Führerkult beigetragen. Gewiß, Carlyle ist noch rein, ist sehr eine sittliche Person, wie man das nennt, ein Individualist und später durchaus ein Patriarchalist. Er suchte »das Glück, dem alles Leben entströmt«, durchaus nur in Einzelnen, aber in schön zusammenwirkenden. Er litt wie Ruskin an der neuen Fabrikzivilisation, er prägte das zweifellos antikapitalistische Wort, die Barzahlung sei das einzige Bindeglied der modernen Gesellschaft. Er haßte den manchesterlichen Liberalismus, schilderte das englische Arbeiterelend und nicht nur die Häßlichkeit der Fabrikgebäude, utopisierte eine Welt, die »nicht mehr von dem kalten allgemeinen Laissez faire umschlossen ist«. Er verstand die Französische Revolution als Durchbruch des Industriezeitalters und seiner Anarchie, aber er wertete sie zum Unterschied von Ruskin und Morris nicht nur negativ, auch positiv, ohne Sehnsucht nach abgestandenem Mittelalter: »Die Französische Revolution ist die offene, gewaltsame Empörung, der Sieg der Anarchie über /(719) die verdorbene, abgelebte Feudalwelt.« Vor allem kann die Macht der Industrie durch nichts mehr beseitigt werden; Carlyle, in seinem puritanischen Arbeitsethos, spart
nicht mit Verachtung für »die faule und Phantomaristokratie seit Ende des Mittelalters«. Trotzdem hat derselbe Freund der Industrieopfer, derselbe Feind von Liberalismus und Feudalismus zugleich, aus flammender Unwissenheit eine der reaktionärsten Spätutopien zustande gebracht; sofern dergleichen noch Utopie, gar »Eutopie«, Glücksland, heißen kann. Carlyle setzte als erster das Führer-Gefolgschafts-Verhältnis, also den industriellen Neufeudalismus, der bereits vor dem Faschismus schlau grassiert hat und in ihm so systematisch wie gewalttätig aufgegangen ist. Er setzte den »Captain of Industry« als erster; trotz Saint-Simon, der das Proletariat unterschätzt und ebenfalls dafür gehalten hatte, die großen Arbeitgeber sollten die Führer des Volks werden. Aber zur Zeit Saint-Simons konnte noch an die Schwäche der Arbeiterklasse geglaubt werden, während Carlyle mitten in der Zeit sozialer Kämpfe lebte und geschärften proletarischen Klassenbewußtseins. Sodann hielt Saint-Simon die Ausbeutung durch Arbeitgeber für einen Rest aus der eigentlichen und einzigen, aus der feudalen Unterdrückungszeit, der mit fortschreitender politischer Befreiung aus der Industrie verschwindet, während Carlyle gerade den Liberalismus als Wurzel alles Übels zu erkennen glaubte und deshalb - Feudalismus auf ihn anwandte. Faschistische Elitetheorie (der gut verdienende Halbgott) wurde so vorbereitet: Carlyle faßt sein Führertum wie sein proletarisches Vasallentum durchaus individuell; so entstand das Paradox eines individualistischen Neufeudalismus. Besonders seine späteren Schriften (»Past and Present«, 1843, »The History of Friedrich II. of Prussia«, 1858) geben aufgeklärtem Industriedespotismus utopischen Raum. In »Past and Present« wird der edle Arbeitgeber an die Wand gemalt, wird vom »eselohrigen Mammonismus weg zum Vorbild und Heldensinn gerufen, der sich an Propheten, Dichtern, Staatsmännern entflammt«. Wohlfahrtseinrichtungen sind prophezeit, vergnügt-gemeinsame Abende des Unternehmer-Patriarchen mit seinen Arbeiter-Kindern; das Ende ist bekannt. Schon Carlyle selber hegte hinsichtlich solch ethisierenden Arbeitsverhältnisses keine zu große Er- /(720) wartung; er schreibt in seiner »French Revolution«, und er schreibt das nicht nur als Puritaner: »An ein Schlaraffenland der Glückseligkeit, des Wohlwollens, des von jeder Häßlichkeit geheilten Lasters glaubt um Gottes willen nicht, meine Freunde.« Wintersanfang fällt so in die bürgerliche Utopie, zum erstenmal, seit es eine gab, und ein Schlaraffenland ist in der Tat mit ihr nicht gekommen. Der Appell an die Philanthropie der Ausbeuter, dieser allen vormarxistischen Weltverbesserungsplänen gemeinsame, hat auch die Weltverbesserung ruiniert; aus Schlaraffenland wurde nicht nur keines, sondern Hölle. Soviel über Carlyle, als eine Seitenutopie zu Ruskins Neugotik und zu den Altneubildungen von Morris. Alle anderen Nachzügler, nach Morris, gehen in Utopien bekannte Wege, ausgetretene, sind - soweit sie immerhin noch Liberalismus bleiben - verdünnte Modernisierung von Thomas Morus. In der Fabrikation dieser Guckkastenbilder in bessere Zukunft steht im zwanzigsten Jahrhundert H. G. Wells an der Spitze. Ein halbes Dutzend Traumzüge, Zeitmaschinen, Mr. Britlings, die bis zum Morgengrauen schreiben, wurden von Wells in die Zukunft abgeschickt und haben Aufnahmen zurückgebracht. Wobei charakteristisch ist, daß kaum eine dieser Aufnahmen verwandte Landschaften zeigt, außer dem liberalen Lila; und selbst das ist in der technisch-utopisch interessanten »Time Engine« sarkastisch durchbrochen. Unter anderem schrieb Wells das griechisch ausgeschmückte Zukunftsidyll »Men like Gods«, 1923, ein Leben und Treiben wie von nackten Klavierlehrern in Arkadien. Bürgerliche Utopien gehen so in Allotria aus, auch die Phantasie ist verschwunden, sogenannte Edelzukunft, die auf Grund ihrer Verschwommenheit wie erst recht ihrer
bürgerlichen Ersatz-Sozialismen dem Marxismus ausweicht, wird kurios oder epigonal. Am Ende blieben so Dilettiererei und Spreu; das Korn der Sozialutopien ist aus ihnen mit dem Marxismus heraus. Selbst Sozialismus wird dann, wie Engels spottet, nichts anderes »als die bestehende Gesellschaftsordnung ohne ihre Mißstände«; dergestalt freilich macht bürgerlich-liberales Utopisieren immer noch Schule. Anders wäre es ja überhaupt nicht denkbar, die Wirtschaft besonders läppisch, also üblichweise verbessern zu wollen. Wobei sich all dergleichen, auch wenn es sich besonders englisch-ameri- /(721) kanisch-naiv macht, an einen der bedenklichsten Utopisten anschließt, an Proudhon. Zum Vorschein kamen auf diese Weise zwerghaft-komische Gebilde wie die Freigeld- und Schwundgeld-Utopie, auf bloße Zahlungsmittel Sozialismus bauend. Das Kapital wird in Silvio Gesells Freigold-Traum durch eine Art gesetzmäßige Inflation »abgeschafft«; so heckt es keinen Zins mehr. Ähnlich wird gegen die Grundrente vorgegangen, Beziehungen von »Freigeld-Freiland« zur älteren Bodenreform-Utopie gehen auf. Henry George war dazu der Rufer, er lehrte in seinem einflußreichen Buch »Progress and Poverty«, 1879, die Zunahme der Massenarmut wie die industriellen Krisen seien primär einzig durch den Privatbesitz an Grund und Boden bedingt. Den Grundbesitzern gebe die Bodenrente die Macht, das Leben ins Unerträgliche zu verteuern; George fordert, um das Paradies der Armen herzustellen, Einziehung dieser Rente, ja »Nationalisierung« des Bodens, bei unangefochtenem Gewinn aus Industrie- und Kaufmanuskapital. Indem so nur das Bodenkapital bekämpft wurde, nicht das Produktivkapital, konnten sich besonders in England Fabrikanten mit der Arbeiterklasse auf der Basis Henry Georges verbinden. Das englische Proletariat, das ohnehin in seiner Mehrheit so wenig klassenbewußte und marxistisch ungeschulte, wurde derart von seinen direkten Ausbeutern weiter abgelenkt. 1887 nahm der Kongreß der englischen Gewerkvereine eine Resolution an, die sich für die Nationalisierung des Bodens erklärte; als Effekt kam nicht mehr als eine stärkere Besteuerung der Grundrente zustande. Folgender lehrreiche Satz John Stuart Mills steht einem Kapitel des Georgeschen Buchs voran (spottet seiner selbst und weiß nicht wie): »Wenn es sich darum handelt, den Zustand eines Volks dauernd zu heben, so bringen kleine Ursachen nicht nur kleine Wirkungen hervor, sie haben überhaupt keine Wirkung.« Es ist das in der Tat ein Motto gegen den gesamten Reformismus und seine Utopie. Der angelsächsische Sozialismus im Ganzen kam aber überhaupt nur sehr teilweise dazu, in der englischen, gar amerikanischen Ökonomie, der so lange fortgeschrittensten, die Konsequenzen auch nur zu verstehen, geschweige zu praktizieren, die Marx aus eben dieser Ökonomie gezogen hat. Der Sinn für delay, compromise, appeasement im englischen Geschäftsleben /(722) und seiner Politik, der gerissene Evolutionismus, mit dem die herrschende Klasse jedem revolutionären Willen, sofern er überhaupt vorhanden war, zuvorkam und ihn entspannte, dies Zaudern und Fabiertum, mitsamt der bisherigen Labour Party, vor allem aber das täuschende Dasein einer Arbeiteraristokratie, auf Grund der kolonialen Ausbeutung: all das konservierte, im gleichen Akt, Kapitalismus und ein vormarxistisches Utopisieren, als ob wissenschaftlicher Sozialismus gar nicht vorhanden wäre. Das sind die Folgen, wenn Sozialutopie hinter Marx zurückbleibt, sie bleibt dann sogar noch hinter Owen zurück, ja hinter Thomas Morus, sie fällt völlig außerhalb der angestammten sozialistischen Reihe. Wie gar erst, wenn die ewig Schwankenden, als Privatiers, oder wenn künstlich Gestrige, als Renegaten, wenn diese unglücklichen oder ausgehaltenen Liebhaber. einer sogenannten »third force«, »gegen Faschismus wie
Bolschewismus«, »gegen jede Diktatur, komme sie von recht oder links«, sich eine nachgeholte Lincoln-Utopie vormachen oder sich erbärmlich lange Zeit atlantisch vormachen ließen, um dadurch den mörderischen Sowjethaß auch noch mit «Freiheit« anzuheizen, um jedenfalls der Betäubung ihres Gewissens und einem »Herzenssozialismus« (über den selbst Bellamy schon verächtlich spottete) zugleich zu frönen. Der Reformismus vom Typ Henry George ist, gegen all das gehalten, noch völlig unschuldig, es sei denn, das kleinbürgerliche Flickwerk insgesamt enthält die Betrugselemente, die nicht nur den antisowjetischen Philister oder Snob-Renegaten aufbauen, sondern die bis zum SA-Faschismus führten, der unter dem Namen Sozialismus, bis zum USA-Faschismus, der unter dem Namen Freiheit ausgemalt wie eingeführt wurde und wird. Reformismus im engeren bleibt aber allemal die Kunst, Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Exportzwang und Frieden nicht wahrhaben zu wollen, und sein Verführungsort ist eben die Mittelschicht, in der sich immer noch, nach Marx, die Widersprüche und die Interessen zweier Klassen zugleich abstumpfen. So geht utopische »Synthese« auf zwischen dem Zeitalter des kleinen Manns und der großen Profite, zwischen Überproduktion und garantierter Beschäftigung, zwischen Atombombe und geeinter Welt. Der archimedische Punkt, von dem her Furcht und Mangel, Tyrannei und /(723) das Katakombenleben der Wahrheit zu beheben wären, ist mittlerweile längst entdeckt, es bedürfte gar keiner Extravaganzen. Aber wurde die Position dieses Punktes von den Spielerei-Utopisten nach Marx umgangen, als ob sie sie nicht sähen, so wird sie von den Ersatz-Utopisten umgangen, weil sie sie sehen. Mit der hier gleichfalls schon eingetretenen Gefahr, daß das Hoffnungsgebäude, bewohnt von Gedanken an Besserwerden, völlig zusammenbricht. Als Rest bleibt dann der Nihilismus, damit er den Verirrten und Betrogenen auch noch die Rettung verschlingen soll. Sozialutopie ohne Spielerei und Abweg arbeitet nur noch als konkrete, als der Fortschritt von ihr zur Wissenschaft, mit dem unbetrügbaren Auftrag des revolutionären Proletariats hinter ihr. Das ist das Resultat aus der Geschichte der Utopien vor Marx, gar aus ihrer Zerfalls-, schließlich Opiumgeschichte nach ihm. Progreß geht erst dann gegen Poverty, wenn nicht mehr reformierender Progreß die Poverty erzeugt, sondern aktive Poverty den Progreß. Marxismus und konkrete Antizipation Sich ins Rechte denken, dieser Wille hat mehr als je zu bleiben. Da er so stark in den früheren, den wirklich blühenden Träumen nach vorwärts lebendig war, verdienen diese, mit Bedeutung erinnert zu sein. Desto freundlicher erinnert, als der Fortschritt des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft ja längst ein entschiedener ist. Die sentimentale wie die abstrakte Weltverbesserung hat ausgespielt, an ihre Stelle ist geschulte Arbeit in und mit wirklichen Tendenzen getreten. Das vorhandene Elend wird nicht bejammert und dabei belassen, sondern es erscheint, wenn es sich seiner und seiner Ursachen bewußt wird, als revolutionäre Macht, sich ursächlich aufzuheben. Ebenso hat Marx seiner subjektiven Empörung nie gestattet, daß sie sich als objektiven Faktor ausgebe und so sich über die wirklich vorhandenen revolutionären Faktoren täusche. Er hat nie, wie Owen und Proudhon, auch wie Rodbertus und gar Lassalle, gelehrt: weil die Arbeiter in der kapitalistischen Gesellschaft einen ungerechten Lohn erhalten, deshalb müsse eine neue Gesellschaft geschaffen werden, etwa mit gerechtem Lohn. Sondern das von Marx /(724) entdeckte Muß ist von dem der herangebrachten moralischen Forderung ganz verschieden. Es steckt in den ökonomisch-immanenten
Erscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft selbst und läßt diese nur immanent-dialektisch zusammenbrechen. Der subjektive Faktor ihres Untergangs steckt im Proletariat, das von der kapitalistischen Gesellschaft als ihr Widerspruch mitproduziert ist und sich als Widerspruch bewußt wird. Der objektive Faktor ihres Untergangs steckt in der Akkumulation und Konzentration des Kapitals, in der Monopolisierung, in der Überflußkrise, die dem Widerspruch zwischen erlangter kollektiver Herstellungsweise und beibehaltener privater Aneignungsform entstammt. Solches sind die neuen Grundzüge einer immanenten Wirtschaftskritik; sie fehlen der älteren Utopie fast ganz, sie sind bezeichnend für Marx. Die Marxsche Kritik zeigt keine Falten des Herzens, wie Hegel sagen würde, sie zeigt desto schärfer die aufgenommenen Falten, Risse, Sprünge, Gegensätze in der objektiv vorhandenen Ökonomie. Ebendeshalb findet sich auch, was den sogenannten Zunftsstaat angeht, keine privat, von außen, ante rem, herangebrachte Detaillierung abstrakt-antizipierender Art, wie in den alten Utopien. Die abstrakten Utopien hatten neun Zehntel ihres Raums dem Gemälde des Zukunftsstaatsgewidmet und nur ein Zehntel der kritischen, der oft nur negativen Beachtung des Jetzt. Dadurch wurde zwar das Ziel bunt und lebhaft gehalten, doch der Weg zu ihm, soweit er in den gegebenen Verhältnissen liegen konnte, blieb versteckt. Marx setzte mehr als neun Zehntel seines Schrifttums an die kritische Analyse des Jetzt, und einen verhältnismäßig geringen Platz räumte er Bezeichnungen der Zukunft ein. Daher nannte Marx, wie mit Recht bemerkt worden ist, sein Werk »Das Kapital« und nicht etwa »Aufruf zum Sozialismus«. Es enthält Gesamtanschauung des ökonomischen Lebens, zum erstenmal wieder seit Quesnays »Tableau économique«, und auf wieviel höherer Stufe. Es malt kein Paradies auf Erden aus, es enthüllt das Geheimnis der Profitmacherei und das fast kompliziertere der Profitverteilung. Marx wendet Ricardos Wertgesetz auf die Ware Arbeitskraft an, er entdeckt die Dialektik der Ware auf dem Weg des Tauschwerts und in ihm, er entdeckt den Profit als ausgepreßten Mehrwert und die merkwürdige Durchschnittsprofitrate als Basis für /(725) die Klassensolidarität der Kapitalisten. Er fundiert auf diese Weise die Dialektik der Geschichte, die zu Spannungen, Utopien, Revolutionen führt, erst als materielle. Er begründet und berichtigt die Antizipationen der Utopie durch Ökonomie, durch die immanenten Umwälzungen der Produktions- und Austauschweise, er hebt dadurch den verdinglichten Dualismus zwischen Sein und Sollen, zwischen Empirie und Utopie auf. Er kämpft dergestalt ebenso gegen klebenden Empirismus wie gegenüberfliegenden Utopismus. Was statt dessen gilt, ist aktiv-bewußte Teilnahme am historisch-immanenten Prozeß revolutionärer Umbildung der Gesellschaft. All das als Realismus voll Zukunft, in den einläßlichsten Untersuchungen, mit hinreißender Schärfe und Breite, zum Zweck der wirklichen Revolution, als ihr Generalstabswerk und Arsenal zugleich. Und wie vom erlangten Realismus her kein Recht mehr zu den romanhaften Zielbildern der alten Utopien bestand, so bestand damals noch kein Anlaß, den sozialistischen Aufbau bereits konkret-prozeßhaft zu detaillieren. Die humanen Verhältnisse hinter der Vergesellschaftung der Produktionsmittel werden, bei aller Totalität der Untersuchungsweise, noch kaum erst angedeutet. Engels spricht allgemein vom Reich der Freiheit, Marx setzt wenig mehr als den kargen, wenn auch gewaltig vom Bisherigen abgrenzenden Begriff klassenlose Gesellschaft. Eigentliche Bezeichnungen der Zukunft fehlen überlegt, wie bemerkt, und gerade deshalb fehlen sie überlegt, weil Marxens ganzes Werk der Zukunft dient, ja überhaupt nur im Horizont der Zukunft begriffen und getan werden kann, jedoch als einer nicht utopisch-abstrakt ausgemalten. Sondern als einer, die in und aus der Vergangenheit
wie Gegenwart, aus den wirkenden, weiterwirkenden Tendenzen also, historisch-materialistisch erleuchtet wird, um so erst eine wissend-gestaltbare zu sein. Nichts war notwendiger als dieser unterstrichene Unterschied zu den ausgedachten Phalansteres oder New Harmonies; als die Absage gegen alle Phantastiken des sogenannten Zukunftsstaats; als die Aussparung des künftigen Felds, mitsamt dem verhaltenen Stil, der ihr entspricht. Aber: diese Aussparung geschah eben einzig um der Zukunft willen, als einer begriffenen, in die endlich mit Landkarte und Kompaß zu fahren war; die Aussparung geschah gewiß nicht um der Revi- /(726) sionisten willen, die Konkretheit mit Empirismus verwechselten, weil sie überhaupt nicht fahren wollten. Bei ihnen freilich wurde das Piano der Ziel-Bezeichnungen zu einem des Ziels selber gemacht, und die erwünschte Aussparung - bei Marx wesenhaft Offenhaltung-verlor in einer Zeit, die ohnehin nicht von Traum bedroht war, sondern einem platten Empirismus sich hingab, auch noch ihre kritischen Valeurs. Die Bewegung wurde den Reformisten, wie bemerkt, alles, das Ziel nichts; und der Weg selber hörte dadurch auf. Ja, die Berührung der Extreme brachte es sogar mit sich, daß scheinradikales Sektierertum ebenfalls in Empirismus verfällt, also dem Marxismus gerade den Reichtum und das Leben der Tiefe entzieht, die es nicht versteht. Aber Marx hatte, als er die Dialektik auf die Füße stellte und die Wolkenbildungen am Himmel seiner noch durch und durch idealistischen Zeit bekämpfte, zuverlässig nicht Empirismus und die ihm analoge Mechanistik (halbierte Welt) verkündet. Zuweilen trat so eine Unterernährung der revolutionären Phantasie ein und eine bequeme, nämlich schematisch-praktizistische Verringerung der Totalität; trotz des Rufs Lenins, diese Totalität sowohl im subjektiven wie im objektiven Faktor sich gegenwärtig zu halten. So erschien zuweilen ein allzu großer Fortschritt des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, dergestalt, daß mit der Wolke auch die Feuersäule der Utopie liquidiert werden konnte, das Mächtig-Vorherziehende. Stattdessen muß wiederholt werden: Marxismus ist nicht keine Antizipation (utopische Funktion), sondern das Novum einer prozeßhaft- konkreten. Item, zum Marxismus gehört es gerade von daher, daß Begeisterung und Nüchternheit, Bewußtsein des Ziels und Analyse der Gegebenheiten Hand in Hand gehen. Wenn der junge Marx dazu aufrief, endlich zu denken, zu handeln »wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch«, so nicht, um die Begeisterung des Ziels zu dämpfen, sondern um sie zu schärfen. Mit all dem wurde und wird erst dasjenige vollziehbar, was Marx als »kategorischen Imperativ« statuiert hatte: nämlich »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein Verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«; das Beste der Utopie erhält Boden, Hand und Fuß. Von Marx ab erläutert sich so die Einreihung des kühnsten Intendierens in die /(727) geschehende Welt, die Einheit von Hoffnung und Prozeßkenntnis, kurz, der Realismus. Alles Erhitzte im Traum nach vorwärts ist dadurch ebenso ausgeschieden wie alles Stockfleckige in der Nüchternheit. Desto unverwechselbarer macht sich der konkrete Traum solid und geltend, desto schlagkräftiger geriet sein getaner, arbeitet sein ungetaner Inhalt in der Wirklichkeit. Sich ins Rechte denken, dieser Wille hat mehr als je zu wirken. Der solide Traum schließt sich tätig an das an, was geschichtlich fällig und in mehr oder minder verhindertem Gang ist. Konkreter Utopie kommt es also darauf an, den Traum von ihrer Sache, der in der geschichtlichen Bewegung selbst steckt, genau zu verstehen. Es kommt ihr, als einer mit dem Prozeß vermittelten, darauf an, die Formen und Inhalte zu entbinden, die sich im Schoß der gegenwärtigen Gesellschaft bereits entwickelt haben. Utopie in diesem nicht mehr abstrakten Sinn ist derart das gleiche
wie realistische Antizipation des Guten; was klar geworden sein dürfte. Prozeßhaft-konkrete Utopie ist in den beiden Grundelementen der marxistisch erkannten Wirklichkeit: in ihrer Tendenz, als der Spannung des verhindert Fälligen, in ihrer Latenz, als dem Korrelat der noch nicht verwirklichten objektiv-realen Möglichkeiten in der Welt. Überall, wo dermaßen ins Vermittelt-Blaue gebaut wird, ist utopischer Grund vorausgesetzt; wäre er nicht vorhanden, so könnte nichts von Wert geschaffen werden. Jeder Traum vom besseren, vom höheren, vom erfüllten Leben wäre auf eine eigene, innere, schmale, ja ganz rätselhaft vereinsamte Enklave beschränkt. Aber es geht ein großes Meinen und ein Intendieren auf das noch Ungekommene durch die ganze Welt: konkrete Utopie ist die wichtigste Theorie-Praxis dieser Tendenz. Sinngemäß ist utopische Intention weder auf die bloße innere Traum-Enklave noch aber auch auf die Probleme der besten Gesellschaftsverfassung beschränkt. Ihr Feld ist vielmehr gesellschaftlich breit, hat sämtliche Gegenstandswelten der menschlichen Arbeit für sich, es dehnt sich - wie in Erinnerung zu bringen ist und der Fortgang zu zeigen hat - nicht minder in Technik und Architektur, in Malerei, Dichtung und Musik, in Moral wie Religion. Es gibt technische Wunschbilder so gut wie soziale, sie stehen an Kühnheit hinter diesen nicht zurück, waren, als Zurückdrängung der Naturschranke, ja /(728) als Bildung einer Welt für uns, stets mit ihnen verschlungen. Und jedes Kunstwerk, jede zentrale Philosophie hatte und hat ein utopisches Fenster, worin eine Landschaft liegt, die sich erst bildet. Selbst Naturgestalten stellen außer dem, was sie als gewordene sind, eine Chiffer dar, worin ein Noch-Nicht-Gewordenes, ein objekthaft Utopisches umgeht, das nur erst als Latenz-Gestalt präsent ist; Naturschönheit, auch Naturmythologie gaben und geben zu diesen real-utopischen Chiffern einen Zugang. Wie in der menschlichen Seele Noch-Nicht-Bewußtes dämmert, das noch nie bewußt war, so in der Welt Noch-Nicht-Gewordenes: an der Spitze des Weltprozesses und Weltganzen ist diese Front und die ungeheure, noch so wenig begriffene Kategorie Novum. Deren Inhalte sind nicht bloß die unerschienenen, sondern die unentschiedenen, sie dämmern in bloßer realer Möglichkeit, haben die Gefahr des möglichen Unheils in sich, aber auch die Hoffnung des möglichen, noch immer nicht vereitelten, durch Menschen entscheidbaren Glücks. So weit reicht Utopie, so kräftig teilt sich dieser Grundstoff allen menschlichen Tätigkeiten mit, so wesenhaft muß ihn jede Menschen- und Weltkunde enthalten. Es gibt keinen Realismus, der einer wäre, wenn er von diesem stärksten Element in der Wirklichkeit, als einer unfertigen, abstrahiert. Wobei gewiß erst die gesellschaftlich gelingende Utopie, im Bund mit der technisch gelingenden, jenen Vor-Schein in der Kunst, gar Religion präzisieren läßt, der nicht Illusion, gar Aberglaube ist. Marxismus aber ist die erste Tür zu dem Zustand, der Ausbeutung und Abhängigkeit ursächlich ausscheidet, folglich zu einem beginnenden Sein wie Utopie. Er setzt Befreiung vom blinden Schicksal, von der undurchschauten Notwendigkeit, im Bund mit der konkreten Zurückdrängung der Naturschranke. Indem Menschen hier zum erstenmal bewußt Geschichte machen, verschwindet der Schein jenes Schicksals, das von Menschen, in der Klassengesellschaft, selbst produziert und unwissend fetischisiert worden ist. Schicksal ist undurchschaute, unbeherrschte Notwendigkeit, Freiheit ist beherrschte, aus der die Entfremdung verschwunden ist und wirkliche Ordnung aufgeht, eben als das Reich der Freiheit. Konkret gewordene Utopie gibt den Schlüssel dazu, zur unentfremdeten Ordnung in der besten aller möglichen Gesellschaften. Homo homini homo: das /(729) also meinen die Grundrisse einer besseren Welt, was die Gesellschaft angeht. Und nur, wenn das zwischenmenschliche Verhältnis geziemend in Ordnung gekommen ist, das
Verhältnis zum Menschen, dem Gewaltigsten, was lebt, kann auch eine wirklich konkrete Vermittlung beginnen mit dem Gewaltigsten, was nicht lebt: mit den Kräften der anorganischen Natur.
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WILLE UND NATUR, DIE TECHNISCHEN UTOPIEN
Wohltätig ist des Feuers Macht, Wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht. Schiller Besser jedoch so: Erhabener Geist, du gabst mir, gabst mir alles, Worum ich bat. Du hast mir nicht umsonst Dein Angesicht im Feuer zugewendet. Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich, Kraft, Sie zu fühlen, zu genießen. Nicht Kalt sttaunenden Besuch erlaubst du nur, Vergönnest mir in ihre tiefe Brust Wie in den Busen eines Freunds zu schauen. Goethe In der Sprache der alten Sagen bestand die Aufgabe des Menschen an der Natur in nichts Geringerem als in der Fortpflanzung und Ausbreitung eines Paradieses über seine Erde; mit anderen Worten, des Menschen als eines himmlischen Gestirn der Erde Beruf war kein geringerer, als dieser Erde himmlische Früchte und Gestalten hervorbringen zu helfen und somit ihr einen ähnlichen Dienst, nur in einem höheren Sinn, zu leisten, wie ihn das äußere Gestirn, die Sonne, ihr leistet: welche gleichfalls die verschlossenen Erdkräfte nicht nur von ihren Banden - gleich den verschwundenen und gefesselten Geistern der Fabel - lösend befreit, sondern ihnen auch die zum Wachstum, zur Blüte und Fruchtbringung nötige Ergänzung gibt. Wie im Aufgang des äußeren Sonnenbild der ganze äußere Organismus sich entfaltet, so sollte im Aufgang des Gottesbilds im Menschen diese äußere Natur zur Entfaltung und Auswirkung eines inneren, höheren Organismus befähigt und bekräftigt werden. Franz von Baader, Über die Begründung der Ethik durch die Physik /(730) Es ist charakteristisch für die Ideologie einer verfaulenden Klasse, daß sie nicht imstande ist, sich die Harmonie zwischen den Menschen und dem Weltall vorzustellen. Die Widersprüche des Systems widersetzen sich der bewußten Meisterung der Kräfte der Natur. Die Welt scheint einer Gesellschaft, die durch innere Unordnung gelähmt ist, feindlich gesinnt zu sein. Roger Garaudy Das menschliche Wesen der Natur ist erst da für den gesellschaftlichen Menschen;
denn erst hier ist sie für ihn da als Band mit dem Menschen, als Dasein für die Anderen und der Anderen für ihn; erst hier ist sie da als die Grundlage eines menschlichen Daseins. Erst hier ist ihm sein natürliches Dasein, sein menschliches Dasein und die Natur für ihn zum Menschen geworden. Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit der Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte
I MAGISCHE VERGANGENHEIT Ins Elend gestürzt Die nackte Haut zwingt uns durchaus, zu erfinden. Der Mensch an sich ist wunderlich hilflos, bereits gegen Wetter. Er kommt nur in gleichmäßig warmen Gegenden fort, könnte nicht einen einzigen Winter überstehen. Erlaubt der Süden zwar, nackt zu gehen, so doch nicht, unbewaffnet zu gehen. Das Gebiß der Affen trat beim Urmenschen zurück, noch die männlichste Faust taugt kaum gegen einen einzigen Wolf. Zum Schutz und Angriff muß sie weiterwachsen, zu etwas, das nicht an ihr wuchs, zur Keule, zum Steinmesser. Wunderlich, solange diese noch nicht erfunden waren, daß überhaupt Menschen am Leben geblieben sind. Seitdem jedenfalls erhalten sie sich nur, indem ein Ding bearbeitet, ein besseres geplant wird. /(731)
Feuer und neue Rüstung
Die Blöße ist nun gedeckt, nicht aus eigenem, nur von außen her. Das fremde Fell ist umgelegt, statt der Höhle, woraus mitunter Bär und Löwe erst vertrieben werden mußten, kam das Haus, aus Holz oder Feldsteinen. Auch die Vögel bauen ein Nest, doch es dient nur zur Aufzucht der Brut, nicht zur erweiternden Befestigung des Leibs wie die menschlichen Werkzeuge und Häuser. Die Ameise, die Biene, der Dachs, gar der Biber, sie alle fertigen Bauten und zum Teil bereits wirklich wie ihr erweiterter Leib, wie eine künstliche Muschel als Festung, doch es fehlt alles, was erst technisches Erfinden macht: Werkzeuge und ihr bewußter Gebrauch. Erst der Mensch ist das werkzeugmachende Tier, hat den Nagel zur Feile, die Faust zum Hammer, die Zähne zum Messer gesteigert. Erst Selfmademan machte sich das Feuer dienstbar, das den Fraß kocht, das Erz ausschmilzt und jedes Raubtier abschreckt. Und noch schneller als die erbeuteten Rohstoffe mehrte sich die Kunst, etwas, das nie vorhanden war, aus ihnen zu machen. Erfinden bedeutet seitdem, sich aus organischen oder toten Beständen außerhalb des Leibs durch Verarbeitung zusätzliche Kraft oder Bequemlichkeit zu schaffen. Wobei, nachdem das Heer der Gebrauchsgüter entstanden ist, der Erfindung wesentlich wird, daß sie auch diesen ein Neues hinzubringt, das unter ihnen bisher nicht vorkam. Das deutsche Patentblatt von 1880 definiert dieses Sinns hinreichend zusätzlich: »Erfindung ist Herstellung einer neuen Art oder eine neue Art der Herstellung von Gebrauchsgegenständen.« Das erste kann etwa der Reißverschluß sein, das zweite ein vom bisherigen verschiedenes Verfahren der Befestigung des Absatzes an der
Sohle. Das ganze Leben ist derart von einem Gürtel künstlicher, vorher nicht dagewesener Geschöpfe umgeben. Mit ihnen wird das menschliche Haus ungeheuer erweitert, es wird immer bequemer und abenteuerlicher. Irrsinn und Aladins Märchen Geträumt war auf diesem Feld fast alles, was seitdem vorhanden ist. Und mehr dazu, schon deshalb, weil die feurige Eule des /(732) Wahns besonders erfinderisch ist. Einem der Irren flüsterte sie zu, ein Bett zu erfinden, das zugleich eine Küche und ein See zum Baden ist. Ein schizophrener Schneider verwahrte in einem Fingerhut »mit Kindlichkeit durchsetztes Wasser«, das im Nu die Teller spülte, die Anzüge reinigte. Fleckwasser ist beliebt, das über das Reinigen hinaus Baumwolle in Seide verwandelt. Ein Jäger, der an Paranoia litt, erfand sogar eine Lampe, mittels derer er Adler aus Hühnereiern ausbrütete. Doch alle diese Narrenstreiche werden von einer Gegend her geführt, die, wie bei ärztlichen und staatlichen Wunschträumen gesehen war, vom Märchen lange besetzt ist, und zwar im Technischen besonders ausführlich besetzt. Märchenerfindung ohnegleichen ist die Nadel, die von selber näht, ist der Topf, der von allein das Essen aufsetzt und kocht. Ist die Mühle, die aus dem Korn sogar selber wächst, es drischt und mahlt, ist das Hutzelbrot, das immer nachwächst, sofern nur ein kleiner Ranft von ihm übriggelassen, und das alle anderen Speisen ersetzt. Daher erläutert Grimm das Märchen vom Schlaraffenland in seinem Sozialen auch technisch: »Die menschliche Einbildungskraft befriedigt hier das Verlangen, das große, alle Schranken zerschneidende Messer einmal mit voller Freiheit zu handhaben.« Aus der Familie des Schlaraffenmessers stammen das Wunschhütlein, die Tarnkappe und so viel anderes aus dem Hexenschatz, stammen das Tischleindeckdich, die Siebenmeilenstiefel, der Knüppelausdemsack und der alehymische Esel Bricklebrit, der guten Endes Gold von sich gibt. Said in Hauffs Märchen bläst das silberne Pfeifchen, das ihm die Fee als Angebinde gab, und die Wellen glätten sich augenblicklich; das Holz, woran sich der Schiffbrüchige festhält, wird zum Delphin, der ans Land trägt. Auch das Tischleindeckdich taucht erneut hier auf, diesmal aus den Wogen, doch so trocken, als hätte es achtTage in der Sonne gestanden, und bestellt mit den köstlichsten Speisen. Saids Pfeifchen hat vornehme Verwandte, sie sind alle nicht nur musikalisch begabt, sondern magisch-technisch: Rolands Horn im Tal von Ronceval gehört bereits halb dazu, vor allem die Zauberflöte und Oberons Horn. Der volle Glanz technischer Wunschbilder bricht, dem luxuriöseren Bedürfnis entsprechend, im orientalischen Märchen aus. Dort sind die Zauberdinge sogar verhältnismäßig rationalisiert und zu einer /(733) technischen Schatzkammer gesammelt. Das Märchen vom Prinzen Ahmad und der Fee Peri-Banu enthält ein elfenbeinernes Rohr, durch das sichtbar wird, was immer man zu sehen wünscht, und sei das Gewünschte Hunderte von Meilen entfernt. Das Märchen enthält den fliegendenTeppich, der seinen Besitzer, wenn er auch nur in Gedanken seinen Wunsch ausspricht, im Augenblick zum Ziel trägt, das das elfenbeinerne Rohr vor Augen stellt. Das Märchen enthält Flügelriesen, die nicht bloß im Blitz über unermeßliche Fernen tragen, sondern auch Schätze, so reich, daß kaum ein Wunsch sich an sie wagte, aus dem Unterirdischen heraufschaffen, ja, wie bei Aladin und der Wunderlampe, aus dem Nichts. Unmöglich Erscheinendes, fast absichtlich als unmöglich Ausgemachtes wird derart spielend geschafft, vor allem auch durch erträumte Instrumente. Schwierigkeiten fallen nach allen Seiten, nichts hört sich in solchen Märchen phantastisch, alles plausibel an. Riesenkräfte der
Natur, als Geister ausgemalt,.stehen Aladin, dem Herrn des Rings und der Lampe, augenblicklich und willenlos zu Diensten. Oder Hassan dem Basoriten, dem Herrn der magischen Rute, er schlägt mit ihr den Boden: »Da klaffte die Erde auseinander, und heraus kamen zehn Ifriden, deren Beine noch in den Eingeweiden der Erde staken, während ihre Köpfe schon weit über den Wolken ragten« (Tausendundeine Nacht, Insel, X, S.65). Das Märchen vom Ebenholzpferd halluziniert technische Wunschbilder sogar nüchtern sozusagen, bis ins Detail: das Zauberpferd hat einen Aufstiegs- und Abstiegswirbel, es ist lenkbar, je nach der Wendung, die man dem Kopfe gibt, und zu jedem Gebrauch so wohl staffiert, daß der Reiter die Königstochter aus dem unzugänglichen Schloß entführt oder daß er aus den Reihen seiner Feinde aufsteigt und entflieht. Ein chinesisches Märchen wiederum, genannt «Das Blätterkleids, berückt mit der Magie eines beliebig verwandelten Rohstoffes, fast so unendlich verwertbar wie das oben erwähnte Gesamtkunstbett des Irren. Die Fee schneidert hier ihrem menschlichen Liebhaber aus Bananenblättern ein Kleid von grüner Seide, aus dem gleichen Laub werden Kuchen gebacken, ein Huhn, ein Fisch geschnitten und gekocht, zuletzt Reitesel geschnitzt, auf denen der Liebhaber mit den unterdes entstandenen Kindern in die Heimat zieht. Es ist wiederum eine Fee (der /(734) Wunsch nach übermenschlichen, noch übermenschlichen Kräften), welche in einem Märchen der Lagerlöf mit Neuschöpfung begabt. So daß ein Schmied mit Erfolg darangeht, eine andere Sonne, mitten im nordischen Winter, herzustellen; eine, welche die Menschen nicht wie die himmlische ein halbes Jahr verläßt. Tischleindeckdich, Aladins Lampe, Wünschelrute überall, dazu in den Sagen Medeenkessel, Fortunatshütchen, Oberonshörner und so viel mehr; aus dem Lauf der Dinge wird wünschend-magisch das Hindernis herausgenommen. Die schleppende Zeit wird überholt, der schwere Stoff soll sich leicht und durchsichtig um alle Wünsche legen. Der populärste, zugleich nicht mehr märchenhaft-unwahrscheinliche Ausdruck dessen war in Jules Vernes Romanen, zum Teil in denen von Kurt Laßwitz. Die »Reise um die Welt in achtzigTagen« ist bereits weit überholt, die in das Innere der Erde und nach dem Mond steht noch aus. Aber all dergleichen, sei es tolles Gezeug, sei es ein noch tollerer Erfolg damit, ist, wie es auf barocken Titelblättern hieß, nicht nur angenehm, sondern nützlich zu lesen. Ist bisweilen Zukunft des menschlichen Könnens, vorgegeben und dargestellt, als wäre sie schon jetzt. »Professor Mystos« und die Erfindung Hinzu kommen nun jene Vögel im Kopf, welche andere, auch sich selbst verführten. Oft betrügerisch, zuweilen besessen und dann nicht ganz fähig, ihren verdächtigen Handel zu erkennen. Gauner und Träumer sind darunter, Prahler insgesamt, mit vollen Händen ungelegte Eier spendend. An der Spitze standen hier früher die Goldmacher, im großen ganzen bessere Menschen als die Quacksalber von heutzutage. Denn ringsum glaubten auch gelehrte Männer an Geister, an rufbares Etwas, was oben hin flattert, unten hin gräbt, und vor allem an den Stein der Weisen. Wurde hierbei ganz zufällig das Porzellan erfunden, auch das Rubinglas, so waren die Finder, die Hofadepten Böttger und Kunckel, den Stein der Weisen im Sinne, sozusagen ehrlich enttäuscht. Der Alchymist Brand stellte 1674 aus Menschenhaar zuerst den Phosphor dar, statt des Steins der Weisen; Brand aber war es, als hätte er eine Eselin gefunden statt des geglaubten /(735) Königreichs. Selbst der Schwindler Cagliostro hat in seinem, ja keineswegs wissenschaftlichen, Bewußtsein einige der Goldmacher- und Geisterseher-Mären geglaubt, die ihm ein gieriger,
korrupter, gelangweilter Adel so gerne abnahm. Auch die gleichzeitigen gleichsam liberal okkulten Freimaurer trieben so viel grillenhaftes Wesen, mit Särgen, Lichtern, hermetischen Künsten, daß Cagliostro, ihr angeblicher »Großkophta«, geradezu wie ein Ernstfall unter bloßen Dekorateuren auftreten konnte. Seltsam ist es überhaupt, wie damals im mannigfach erfinderischen Magiertum zwei, ja drei Linien nebeneinander und auch ineinander gehen konnten: Einmal die aufsteigende bürgerliche Tendenz auf Beförderung der technischen Produktivkräfte, dann aber die obskurantische Wundersucht der untergehenden Feudalklasse, wie sie - an den Rasputin des Zarenhofs erinnernd eben Cagliostros Auftritt hervorgebracht hat. Dazu tritt aber als dritte Komponente die gerade wieder von der Renaissance, von ihren Hexenküchen und Beschwörungen noch nachwirkende Kabbalisterei. Waren auch die Hexenbrände selber seit kurzem seltener geworden, so nicht der Glaube an dienstbare Geister; ein Anti-Spukbuch wie Balthasar Beckers »Verzauberte Welt«, das den Teufelspakt leugnete, wirkte noch um 1690 und nachher, außerhalb der höchsten gelehrten Welt, als kühn, fast als paradox. Die magische Renaissance und das theosophische siebzehnte Jahrhundert lebten so lange nach; zwischen Freimaurerei und Rosenkreuzern war die Grenze noch oft verwischt. Swedenborg, tief in der Aufklärungszeit, zeigt am besten, welch wunderlicher, zu Wundereien offener Hintergrund der Ratio noch geblieben war. Ja, die Mechanik selber hatte damals zuweilen noch einen eigenen Spuk, einen nicht einmal so weit hergeholten. Er schloß sich an den alten um die Uhr an, um dies merkwürdige, Leben vortäuschende Wesen, um die Turmuhr vor allem und ihre einsam finstere Beschäftigung. Um das Knacken und Rücken der Räder droben im Gehäuse, um das ganze mechanische Todesleben und seine Aura. So blicken uns Zahnräder, Übersetzungen, Flaschenzüge aus Holzschnitten dieser Zeit entgegen, alles natürlich, alles wie aus der Glockenstube, alles nicht geheuer. Sogar L'Homme machine, das materialistische Stichwort La Mettries, das um 1750 so gründlich zu entzaubern schien, zeitigte für die /(736) mannigfach ungleichzeitige Bizarrerie, die sich auch während der bürgerlichen Aufklärung erhielt, neuen Schauder, einen bis dahin sogar ungekannten. In ihm mischte sich ein Stück Golemsage mit dem Uhrengleichnis, von dem das Barock voll ist, besonders in seinen Dramen: Hallmanns »Marianne» spricht vom Leib als »gangbar Uhrwerk«, Lohenstein liest die Räder zusammen von seiner gestürzten »Agrippina«, der Tyrannin, »die in Gedanken stand, ihr Uhrwerk des Gehirnes / Sei mächtig umzudrehen den Umkreis des Gestirnes«.Doch eben das Neue kam hinzu als der Schauer der Entblößung, gerade in Mechanik: daß der lebende Mensch ein Uhrwerk sei, das sich selber aufzieht. Dergleichen schien sichtbar zu werden in den damals entstehenden Automaten: in der singenden Nachtigall, dem mechanischen Violinspieler, dem Rechenkünstler, alles aus Wachs und innen nur Uhrwerk, aber alles gleichsam lebend. Charakteristisch war, daß das Uhrwerk nicht verhüllt wurde, es war mit Rokokokleidern oder reicher türkischer Tracht bloß drapiert und so doppelt sichtbar. Geradezu kokett trat bei allen Figuren das Räderwerk vor, der von den Rädern zurückgezogene Rock oder Vorhang zeigte die Mechanik gerade als neuen magischen Abgrund. Ein Nachklang davon ist in dem Taburettkrämer aus »Hoffmanns Erzählungen«: mit Barometer, Hygrometer, Brillen, wer durch sie blickt, sieht alles Tote als lebendig; erst recht im Doktor Spallanzani, dem Physiker, der Automaten heckt. Ein Nachklang ist noch in der Reklame-Darstellung modern chemischer Laboratorien: gerade das blitzende Glas, das helle mechanistische Licht greift in alte, merkwürdig vermehrte Phantasie. Auf jeden Fall: auch die Mechanik schien Geheimes zu zeigen, ein Abenteuer- und Hybrisland über den Grenzen,
mitten in Nüchternheit. Auch dort lag der Golem, nicht nur in der vormechanischen Gegend, in der der Rabbi Löb als Kabbalist Schöpfung machen wollte, mit Lehmkloß und magischem Zettel. Also waren die mannigfaltigen Cagliostros sogar durch Aufklärung nicht ganz unmöglich gemacht, besonders wenn sie sich außer der magischen mechanisch-technischer Sprache bedienten. Weiter wird ja auch heute noch gesagt, daß ein Lügner etwas »erfinde«. Der merkwürdige, schlechte wie gute Doppelsinn dieses Worts machte damals, unter bankrotten wie gelangweilten /(737) Fürsten, besonders Schule. Und es war die Zeit des aufsteigenden Bürgertums, des an gewinnbringenden Erfindungen wohlinteressierten. Aber Erfinden war noch bizarr, also lief es im Bewußtsein als eines à la Münchhausen und als technisches zum Teil unkritisch ineinander. Folgerichtig zogen auch Abenteurer von der Art, die man im Barock »Projektanten» nannte, in die Technik ein; mit soviel Wunsch- wie Schwindel- und Schauergrund. Diese Projektemacher oder » donneurs d'avis « wechselten damals von dem Gebiet der Staatsfinanzen, wo sie um keine »Erfindung» verlegen waren, mühelos auf das Gebiet der Technik herüber, wieder mit einer oft schwierigen Mischung aus Gimpelfang und überzeugtem Enthusiasmus. Derselbe Typ, der ökonomische Patentlösungen ausbrütete, oft mit großem Gewinn (für sich selbst) verkaufte, hatte auch technische Arkana feil. Einer dieser Projektemacher, er hieß Beßler, nannte sich später, wohl mit Kreuzung aus Orpheus und Zephyr, Orphyréi, auch Dr. Orfyreus, brachte sich erst als Drechsler, Uhrmacher, Schleifer fort, wechselte über zum Quacksalber, Sterndeuter, Goldmacher, verband dann diese Vielseitigkeit im Geschäft des Ingenieur-Charlatans. Als solcher kreierte er die »kuriose und wohlbestellte Lauff-Perle, genannt Orfyrei Perpetuum mobile«. Darum herum schrieb er 1720 eine technische Kolportage, mit dem Jahrmarktstitel: »Die acht verborgenen Kammern des Naturgebäudes«. Das war nun wie eines jener Märchenschlösser dargestellt, worin eine Kammer, mit sonderlicher Kostbarkeit, nicht betreten werden durfte. Das Naturgebäude des Dr. Orfyreus hatte gleich acht solcher Kammern, sie enthielten Kuriosa und utopische Vorrichtungen, in der einen Kammer befand sich die Quadratur des Kreises, in der anderen der hyperbolische Spiegel, in der dritten die Lösung der Aufgabe, aus einem Teich einen Wasserstrahl ohne Röhren emporsteigen zu lassen. In der vierten war das unverlöschliche Feuer, und so hindurch bis zur letzten, wo das Modell des besagten Perpetuum mobile stand. Eben dieses will Orfyreus seiner Naturkammer entwendet haben, er stellte es, »nach eingehender Prüfung des Werks«, erst in Gera, dann in einem Lustschloß des Landgrafen von Hessen-Kassel auf. Dort soll die Maschine längere Zeit »in perfektem Lauf« zu sehen gewesen sein und sogar »Arbeit verrichtet haben«. Ein /(738) unbekannter Trick half der Illusion nach, und die Illusion drückte dem Publikum die Augen zu. Vielleicht steckte in dem unmöglichen Gegenstand ein buckliger, also besonders leicht verpackbarer Zwerg wie in einem gleichzeitigen berühmten Automaten, dem unüberwindlichen Schachspieler. Interessant war jedes Perpetuum mobile ohnehin; denn es erfüllte am radikalsten den Auftrag des begonnenen Kapitalismus: verbilligte Produktion. Derselbe Orfyreus, er wurde auch Professor Mystos genannt, plante, Orchestrions mit Windmühlenflügeln auf hohe Türme zu stellen, und bei Sturm brauste ein Orgelkonzert in fortissimo über die Stadt. Ein Plan, der zeigt, daß die feurige Eule, wenn sie sich Windmühlenflügel beilegt, ganz großartig, fast amerikanisch wirkt. Wurden gar Siebenmeilenstiefel zum Erfolg technisch versprochen und ausgestellt, dann kam stets Orfyreus-Stil, mit und ohne Doktortitel. Unsterblich blieben besonders die immer wieder entdeckten, wenngleich stets verschieden benannten »Kosmischen Universalkräfte«. Das
»Fluidum« des alten Mesmer wurde ohnehin neu belebt, als es sich die naturwissenschaftliche Sprache, die Elektrizität des neunzehnten Jahrhunderts beilegen konnte. Und den Übergang zum heutigen, erst recht belebten »Strahlungs-Magnetismus« stellte ein sonst recht tüchtiger Naturforscher mit ebenso tüchtigem Spleen dar, der Chemiker Reichenbach, der Entdecker des Paraffins und Kreosots; er gab den Übergang durch die gleichfalls von ihm getätigte »Entdeckung« des «Welt-Od». Das war nun die gesuchte, bald auch spiritistisch verwertbare Urstrahlkraft (»Physikalisch-physiologische Untersuchungen über die Dynamide des Magnetismus, der Elektrizität, des Lichts usw. in ihren Beziehungen zur Lebenskraft«, 1845); sie reicht vom Protoplasma und dem Betriebsstoff golemartig beseelter, nachtwandlerisch funktionierender Maschinen bis zur »Ursache« des Heiligenscheins. Und zum neuesten Bombast des «Fluidums«, zu einem, der nun sogar auf psychoanalytischem Umweg sein Perpetuum mobile wieder macht, gehört eines W. Reich sogenanntes «Orgon«. Das ist: ein saftiges «Welt-Od», aus der Brautnacht des Seins, oder die biologisch-kosmische Potenzund Orgasmuskraft par excellence. Diese Orgasmuskraft ist zudem sichtbar, sie erscheint so gut in der «blauen Färbung der Frösche während des Coitus» wie im /(739) St.-Elms-Feuer auf Schiffsrahen, wie im ebenfalls bläulichen Funkeln der Sterne. «Orgon« und noch mehrererlei desgleichen (lauter kosmische Über-Vitamine für jene Art Hoffnung, die nicht alle wird) hat Amerika auch in «Akkumulatoren« gesammelt, die den unschätzbaren, doch verkäuflichen Stoff aus der Luft ziehen, wonach er jede Art von Entkräftung abstellt, sexuelle, seelische, soziale, kosmische zugleich. All das ist Cagliostro- und Orfyre aus-Stil, hineingestellt ins Epigonenlicht des blauen Weltdunstes. Trotzdem gehört das Cagliostrische auch noch in der kleinbürgerlichen Humbuggestalt von heutzutage zu der technischen Traumgegend; es macht ihre alten Zauberreste aus, wenn auch ihre grotesk-verkommenen. Aber wie gotische Kapitäle oft kleine Groteskfiguren zeigen, mit dem Kopf zwischen den gespreizten Beinen durchblickend oder in anderer Grimasse, so haben auch die immer wiederkehrenden Professores Mystos genau diesen angestammten Platz im technisch-utopischen Bau. Und zum bleibenden Attribut dieser Art Erfinder gehört außer dem erwähnten »Weltfluidum« nicht zuletzt die alte Goldmacherei, in des Worts eingängigster Bedeutung. Um mit zuviel Dreifüßen im modernisierten Trödelladen nicht zu ermüden, sei nur noch ein neues Motiv der uralten Alchymie kenntlich gemacht. Typisch für den weiteerwirkenden Reiz billiger Hexenküche war die Betätigung des Goldmachers Franz Tausend, eines der letzten aus der Zucht. Mit einer Unzahl Menschen hinter sich, bis in die »höchsten Kreise«, bis in den deutschen Generalstab, die in das Geschäft Kapital investierten, damit es, wenn auch kein Ende, doch wieder einmal seinen Anfang nahm. Tausend brachte allerdings eine besonders akustische Lockung in den alten Zauber, nämlich eine Art musikalische Reform. Die Goldkocherei wurde nämlich aus ihrem angestammten Ofen zu den Stimmgabeln gebracht, ja durch bloßen Wechsel der Tonarten zustande gebracht. Denn nach Tausend ist jedes Element durch eine ihm eigentümliche Schwingungszahl gebildet; daher kann es mittels chemischmusikalischer Modulation von seiner ursprünglichen ElementTonart ohne weiteres in eine andere verwandelt werden. Corriger la fortune: das eint die Falschspieler mit den alten gravitätischen Hofadepten und ihren kitsch-pythagoreischen Nachfahren bis zuletzt. Das Korrigieren wäre schon gut, wenn auch nur die /(740) Mittel so gut wären, die untauglichen Mittel zum Erfinden von so nicht möglichen Dingen. Andreäs »Chymische Hochzeit Christiani Rosenkreutz anno 1459«
Am einladendsten blieb es, Geld aus dem Dreck zu backen, der herumliegt. Ist jeder seines Glückes Schmied, dann wird es am besten an seinem metallenen Ursprung geschmiedet. Tausende und aber Tausende haben vor dem Ofen gearbeitet, mit abstrusen Mitteln zu einem sehr gemeinverständlichen Zweck. Und weiter, das Seltenere, Interessantere, heute meist Übersehene: wollten die meisten Schwarzkünstler nur Gold, so wollten mehrere andere außer diesem noch mehr: Weltverwandlung. 1616 erschien die «Chymische Hochzeit Christiani Rosenkreutz anno 1459«, sie geht auf breitere »Reinigung« als die des schlechten Metalls zu Gold. Verfasser der anonym erschienenen Schrift ist so gut wie sicher Johann Valentin Andreä, schwäbischer Dichter, Kirchenmann, Theosoph, Utopist. Die Schrift wendet sich scharf gegen die schlechten Goldkocher, sie kann stellenweise sogar als Verspottung des gesamten hermetischen Gewerbes aufgefaßt werden. Wesentlicher als eine unleugbar vorhandene Satire wirkt die feierliche Bedeutung, welche die »Chymische Hochzeit« dem Goldweg gibt und dem allegorischen Ritter, der ihn geht. In zwei früheren Schriften, der «Fama Fraternitatis« und der «Confessio Fraternitatis«, hatte Andreä bereits einen Ordensgründer Rosenkreutz erfunden und eingeführt. 1388 geboren, zieht dieser als Jüngling ins Morgenland, wird dort in die geheimen Wissenschaften eingeweiht und in eine «Reformation«, von der die Verwandlung der Metalle nur der Anfang ist. Die »Chymische Hochzeit« zeigt den gleichen Rosenkreutz als alten Mann, auf neuer Reise begriffen, am Vorabend des Ostertags, hin zur Königsburg, wo ein Hochzeitsfest gefeiert werden soll. Er wird in das geheimnisvolle Schloß eingelassen, besteht eine Art Wasser - und Feuerprobe, nimmt danach, mit dem Goldenen Vlies geschmückt, als erster unter den Gästen am siebentägigen Hochzeitsfest teil, erblickt den Tod und danach die Auferstehung des königlichen Paars. Die Gäste werden zu Rittern des goldenen Steins /(741) geschlagen, Christian Rosenkreutz aber, als er in eine Kammer eingedrungen war, wo er Frau Venus schlafend fand, wird, als das Hochzeitsfest in vollem Gang ist, dazu bestimmt, als Türhüter oder als Petrus im Schloß zu bleiben. Die »Alchymia« ist auf der Hochzeit Brautführerin oder das »Parergon beim Ergon der sieben Tage«. Insgesamt ist der alchymistische Sinn in Andreäs Allegorie offenbar, doch eben nicht als einer, der sich in Metallurgie erschöpft. Wird er darauf beschränkt, dann zeigt die »Chymische Hochzeit« keine oder nur sehr wenig Beziehung zur Goldkocherei. Wird dagegen Alchymie als Brautführerin einer Weltverwandlung oder »Generalreformation « gefaßt, dann ist es verständlich, daß gläubige Zeitgenossen in dem Roman, auch wenn er bezeichnenderweise ein Fragment ist, die erhabenste Allegorie fürs »Werk der Perfektion« erblickt haben, für die Gewinnung des philosophischen Golds. Ein Rosenkreuzer namens Brotoffer gab 1617 eine Auslegung heraus: »Elucidarius major oder Synopsis der chymischen Hochzeit F. R. C., darin praeparatio lapidis aurei sehr artlich beschrieben wird.« Diese Auslegung erklärt die sieben Tage der Hochzeit unverhohlen als die sieben Stationen des alchymistischen Werks, an den geistigen Tag gebracht: als destillatio, solutio, purefactio, nigredo, .albedo, fermentatio und projectio medicinae (Goldtinktur). Richtig ist sogar, daß die »Chymische Hochzeit« nicht nur als Allegorie, sondern als Symbolik in umfassend-letzten Sinn intendiert war, das ist: als Bildbezug auf letzthinnige Unitas, auf das gärende goldene Pan. Das also sollte im Alchymischen dieser Art die oben angesagte feierliche Bedeutung sein: die eines phantastisch zu schaffenden Ostertags contra Eis und Banden. Der bürgerliche Antrieb zur nicht gekommenen »Freiheit des Christenmenschen nahm nun in den sogenannten hermetischen Gesellschaften des deutschen Barock und ihrer
angegebenen Symbolik solche seltsamen Wege und naturgeschmückten Verkleidungen. Gemeint war ein Weckruf, der durch die ganze irdene Schicht schallen sollte, ein »Wach auf, gefrorener Christ«, durch Blei, Kreatur, Gesellschaft und die übrige Alteritas hindurch. Goldbereitung und Beförderung der Humanität gehen im Rosenkreuzertum von da an durcheinander, machen das Eigentümliche seiner Mischphantastik aus. 1622 wurde im Haag die seitdem bekannte /(742) Rosenkreuzergesellschaft gegründet, der Ordensname selbst ist allerdings älter als die Fama und Confessio, die Andreä von ihm geliefert hat. Paracelsus gibt eine Rosenkreuzerloge 1530 in Basel an, nicht ganz zweifelsfreie Manuskripte berichten aus dem Anfang des zwölften Jahrhunderts von Logen dieses Namens in Deutschland. Nicht zufrieden damit, behaupteten Rosenkreuzer aus Andreäs und noch aus der Zauberflöte-Zeit, jene «veram sapientiam« seit Jahrtausenden zu bewahren, «quae olim ab Aegyptiis et Persus magia, hodie vero a venerabili fraternitate Roseae Crucis Pansophia recte vocatur«. Wie alt aber auch der Rosenkreuzername sei und wie weit das Emblem in utopisierende oder utopisierte Mythen zurückgehen mag: erst Andreä hat ihm mit der «Chymischen Hochzeit« den als aufsteigend oder human behaupteten Sinn der »höheren Alchymie« gegeben. Man muß sogar noch weitergehen, in den eigentümlichen Zusammenhang, der durch Andreäs Bindeglied: »Generalreformation« zwischen etwas so Abergläubischem besteht wie der AIchymie und etwas so Sonnenhaftem, Sonnenklarem wie der Aufklärung, diesem Lichtkampf gegen Aberglauben. Denn das Lichtpathos selber, als die »Geburt«, als der fortschreitende »Prozeß« des Lichts (Golds), kommt aus der Alchymie her: »Aufklärung« selbst ist ursprünglich ein alchymischer Begriff, genauso wie »Prozeß« und sein »Resultat«. Umgekehrt freilich entsteht von hier aus die merkwürdige Verbindung von Freimaurertum, ja Aufklärung mit Okkultismus; Andreä bereits hat seine Brüderlichkeiten mit Magie-Riten gemischt. Der Goldtraum einer Societas humana fand so in Deutschland, doch auch in dem merkwürdig theosophischen England durchs ganze siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert seine alchymistisch-philanthropischen Konventikel. Es gab eine geheime Gesellschaft Antilia, eine andere Makaria, eine »Bruderschaft des himmlischen Rades zur Wiederherstellung der hermetischen Medizin und Philosophie«. Es gab, mit sozial-kosmologischem Mischtraum, das Collegium lucis, das kein Geringerer als der Andreä-Jünger Comenius gegründet hat; und alle diese Sektionen pflanzten das Rosenkreuz auf oder die »höhere Alchymies«. Alle wollten den Lauf der Gesellschaft wie der Natur nach dem paradiesischen Urstand hinkehren, wo soziale Gleichheit und ungefallene oder /(743) Goldnatur in Einem waren. Der Traum dieser Sekten-Alchymie blieb so überall Generalreformation im Sinn der Wiederherstellung des paradiesischen Urstands, vor allem der Überführung der gefallenen Welt zu Christus; weshalb die Rosenkreuzer von ihren damaligen Feinden auch stets mit den Wiedertäufern verglichen wurden. Das Goldkochen wurde chiliastisch oder, wie eine damalige Gegenschrift es denunzierte: »Umkehrung der ganzen Welt vor dem Jüngsten Tag zu einem irdischen Paradies, wie es Adam vor dem Fall innegehabt und Restitution aller Künste und Weisheit, als Adam, nach dem Fall, Enoch, Salomon gehabt haben.« Alchymie und Chiliasmus zusammen liefen so in die hermetischen Sekten ein, mit Metallverwandlung als Vorspiel zum »wahren« Homunculus oder zur Geburt des neuen Menschen. Ein spätes Nachbild davon findet sich noch in Goethes Fragment »Die Geheimnisse«, chemischen Reichstraum betreffend. Der »Wanderer, ermüdet von des Tages langer Reise, / Die auf erhabnen Antrieb er getan«, sieht hier auf der Klosterpforte ein geheimnisvolles Bild, sieht das Kreuz mit Rosen umschlungen, »und leichte Silber-
Himmelswolken schweben, / Mit Kreuz und Rosen sich emporzuschwingen«. Dreizehn Stühle stehen im Klostersaal, ihnen zu Häupten hängen dreizehn Schilde, mit unverkennbar alchymistischen Allegorien: »Hier sieht er einen feuerfarbnen Drachen, / Der seinen Durst in wilden Flammen stillt; / Hier einen Arm in eines Bären Rachen, / Von dem das Blut in heißen Strömen quillt.« Die Schildbilder bedeuten in dieser Ordnung dreizehn Stationen der Goldwerdung, so sind sie der Ahnensaal, von dem der Klostergreis zu dem Wanderer spricht. Aber der Weise nun, der so vielfältige Ahnen hinter sich hat, heißt in dem seltsamen Goethe-Gedicht Humanus; dies eben ist auch im Rosenkreuzertum des Andreä als der letzte Name und Inhalt behauptet worden, der aus den Metall- und Weltverwandlungen aufgeht. Kreuz und Rose, das erste das Zeichen des Schmerzes und der Auflösung, das zweite das Zeichen der Liebe und des Lebens, gingen im »Werk der Perfektion« derart allegorisch zusammen. »Und ein französischer Philosoph«, berichtet Gottfried Arnolds Ketzerhistorie von 1741, im Kapitel von den Rosenkreuzern, »hat das Geheimnis des Goldmachens in dem Namen selbst gesucht und gemeint, Rosen käme von ros /(744) oder Tau, und crux hieße bei ihnen lux, welcher Dinge sich die Alchymisten am meisten bedienten.« Immer wieder lief so die Rosenkreuzerei auf eine Art zweites Stockwerk der Alchymie heraus; der Stein der Weisen in der Chymischen Hochzeit war zugleich der Eckstein Christus. Für Blei wie Mensch wie für die ganze Welt: »Vita Christi, mors Adami, Mors Christi, vita Adami«, lautete die Grabschrift des Rosenkreuzers und Jakob Böhme Freunds Abraham von Franckenberg. Oder wie der gleiche Franckenberg, im Anschluß an die Chymische Hochzeit, gelehrt hatte: Alchymie sei »Erneuerung der himmlischen Lichter, Zeiten, Menschen, Tiere, Bäume, Kräuter, Metalle und aller Dinge der Welt«. Überdies richtete sich dergleichen gegen jeden Zwang oder Bann durch die vorhandenen himmlischen Lichter, folglich trotz einiger Verschränkung gegen die Schicksalsmythologie von damals: die Astrologie. Einige Verschränkung bestand zwar, alle Metalle trugen Planetenzeichen und umgekehrt, der Planetenstand wurde bei der Goldkocherei stets berücksichtigt. Dennoch hat sich der Aberglauben der Alchymie gegen den der Astrologie stets ein Apartes, ja Konträres vorbehalten, eben den Eingriff, die Mischung, den verändernden Prozeß; all das sollte sich eben gegen den »gefrorenen Himmel« richten. Gegen das Horoskop des Anfangs, das sich ebenso zugleich als Grabschrift schon am Anfang gibt, als unveränderbare, unentrinnbare. Gerade die Planetenzeichen, in Metallen wie am Himmel, sollten »chemische Überwindung« finden, nämlich zur Sonne oder dem Gold. Daher denn Franckenbergs » Oculus sidenus« von 1643 auf dieses hinausläuft: »Angesehen man lange genug in dem umzirkelten Käfig oder übertünchten Imaginationsgewölbe des gefrorenen Himmels gesteckt und einander mit allerhand phantasierlichen Traum- und Sternbildern geäfft, daß nunmehr not, den siebenzeitigen Schlaf auf einmal aus den Augen zu reiben. « Es wurde bereits bei Thomas Morus und seiner liberalen Utopie auf die darin versteckt wirkende Alchymie hingewiesen, als auf die »Mythologie der Befreiung« (vgl. Seite 613). Das zum Unterschied von der Astrologie, dem charakteristischen Leitwesen in Campanellas autoritärer Utopie; Astrologie ist einzig Magie von oben herunter, nicht, wie Alchymie, von unten ins Bessere hinauf. Goldwerdung insgesamt war und blieb für Andreä und /(745) seine NachfolgerWeltverwandlung und die Metallurgie ein bloßer stellvertretender Versuch dieser »Technik«. Am Ende sollte die Welt, aus dem wirklich geahnten Pan, nochmals gebaut werden, durch »Pansophie« und Humanität. Die Wege dazu waren ersichtlich verworren, und in bekannterer Gegend
wurden sie auffallend kurz. 1619, drei Jahre nach der anonymen «Chymischen Hochzeit«, hat Andreä auch eine Sozialutopie herausgegeben: «Rei publicae Christianopolis descriptio«. Sie ist außerhalb des eben gesehenen Hintergrunds nicht sonderlich wichtig und jedenfalls unselbständig; deshalb wird sie auch jetzt erst, im Zusammenhang mit den Rosenkreuzern, spruchreif. Der Goldorden ist hier eine Art durchchristete Handwerker- und Schulstadt geworden, eine Insel-City mit Kreistempel in der Mitte, mit einer Markt-, Gymnastik- und Vergnügungszone darum herum, mit Äckern und Werkstätten am Stadtrand. Von Alchymie ist zwar nicht einmal im Lehrplan der utopischen Schule die Rede, selbst die unzweifelhafte Auflockerung der Stadt ist von einer Art planetarischer Kreisform umgeben, fast nach Art der etwas späteren «Civitas solis« Campanellas. Dennoch arbeitet an dieser Sozialutopie, wie schon bei der des Morus, ein alchymistisches Bewußtsein, konträr zum astrologischen; denn Christianopolis hebt sich betont antithetisch, wie herausprozessiert, aus »den Schlacken der verkehrten, grundverderbten Welt«. Und die Wissenschaft ihrer Weisen, in drei Stufen geteilt, ist nicht statisch und abgeschlossen, wie bei Campanella, sondern das letzte Lehrstück in der Oberklasse heißt: »Weissagung des letzten Status«, »prophetische Theologie«. Mit diesem ist der Bogen zur »Generalreformation« wieder geschlagen, zum Rosenkreuzertum, das auf so seltsame Weise Aberglauben mit Licht, »Pansophie« mit Jüngstem Tag verband. Und am Ende hat noch der bedeutendste JüngerAndreäs: Comenius, der Begründer des Anschauungsunterrichts, aber auch einer »Ecclesiaphiladelphica«,das Vorhaben der Rosenkreuzer-Alchymie zusammengefaßt. Ganz wie Andreä spricht Comenius auch ironisch, nicht nur begeistert über sie, aber noch die Ironie teilt den Aberglauben-Glauben, den sie verspottet. Im »Labyrinth der Welt und Paradies des Herzens«, 1631, wird »unter Trompetenschall« über die Rosenkreuzer berichtet: »Das Goldmachen /(746) sei unter hundert anderen Dingen das Geringste, was sie leisten könnten; denn da die ganze Natur vor ihren Augen liege, so seien sie imstande, einem jeden Dinge nach Belieben eine bestimmte Form zu geben und alles zu wissen, was in dem ganzen Umkreise der alten Welt und in der neuen Welt geschehe, zumal sie miteinander selbst auf eine Entfernung von tausend Meilen sprechen könnten. Sodann besitzen sie den Stein der Weisen, mit dessen Hilfe sie alle Krankheiten heilten und Langlebigkeit verliehen ... und nachdem sie sich so viele Jahrhunderte verborgen gehalten und in aller Stille an der Vervollkommnung der Philosophie gearbeitet hätten, so seien sie gewillt, zumal nunmehr alles in Ordnung sei und ihrer Meinung nach der Welt eine gewaltige Umwälzung bevorstehe, jetzt nicht mehr im Verborgenen zu bleiben, sondern offen hervorzutreten, bereit, einem jeden, der ihrer würdig sei, ihre kostbarsten Geheimnisse mitzuteilen« (»Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens«, deutsch 1908, S. 115). Die »kostbaren Geheimnisse« sind hier allemal dieselben wie die Geheimwege, um die verkehrte Welt umzukehren, damit das Gold aus ihr hervorkommt. Eben das Gold, das außer dem, was es ist, den sehr symbolischen ökonomisch-technischen Schwärmern von damals auch das Sonnenzeichen fürs Aufgeblühte, Abgerundete, Lichthafte war. Nochmals Alchymie: mutatio specierum (Umwandlung der anorganischen Arten) und ihr Brutofen Der Schüler mußte sich selbst erst läutern, bevor er draußen dergleichen anfing. Auch wo der Antrieb, Gold zu machen, noch so nüchtern und geschäftlich war, sollte der Goldacker andächtig bearbeitet werden. Sonst, wurde gesagt (und hierin sind
sich alle noch so verworrenen Schriften einig), darf kein Adept angenommen, noch weniger darf ihm ein Stück aus der Kunst »verraten« werden. Oft wurden Fasten, sexuelle Enthaltsamkeit und andere feierliche Überweisungen verlangt; dadurch kam der Schüler jedenfalls in einen nicht alltäglichen, in einen gläubig-geduldigen Zustand. Und es blieb, bei einem Geschäft, das ohnehin kein Ende nehmen konnte, allemal die Möglichkeit, den Mißerfolg auf die eigene Unreinheit, auf die mangelhafte innere Bereitung /(747) zurückzuführen. Zudem spielte die Furcht vor bösen Geistern mit, in einer Zeit, wo drei Schritte vom Talglicht und Herdfeuer schon die undurchdringliche, die dämonisch bewohnte Nacht anfing; wo ein höllisches Etwas in allen dunklen Ecken quakte, stöhnte, drohte, schwebte oder tappte. So schien es ratsam, daß der beginnende Adept selber sauber, sozusagen unangreifbar dastand; das fromme Herz galt als Amulett. Aber so abergläubisch das alles war. einige dieser innerlichen Ratschläge muten bei alldem merkwürdig naturnahe, gleichsam unterirdisch-naturnahe an. Der Alchymist veränderte die Bewußtseinslage des Schülers auch dahin, daß er eine unbewußte Verbindung mit den Werkstoffen erlangen sollte. Der beginnende Adept hatte also nicht nur gerecht und rein von Begierden, er hatte auch materialgerecht zu werden, mit Feuer, Blei, Antimon, Dehnbarkeit, Glanz so verbunden, als wären sie »im Grund« ein Stück von ihm. Sodann war »Imagination« des Golds vorausgesetzt, faktisch wohl meist eine sehr eindeutig gewesene, eine des sehr eingängigen Tauschwerts, doch der idealischen Vorschrift nach eine, die auf Gold, Weihrauch und Myrrhen, also fast auf die Geburt des Herrn bezogen war. Dergleichen ist weniger blasphemisch oder auch nur ideologisch, als es angesichts der üblichen Gold-, also Geldmacherei klingt; denn es gehörte, nach dem Glauben der Kunst, zum technischen Verfahren selbst. Um von tieferen Anspielungen und Absichten, wie sie bei den Rosenkreuzern sichtbar geworden, hier vorerst ganz abzusehen. Das Gold sollte jedenfalls mit dem Willensbild seiner selbst erregt und gerufen werden, mit der Bereitung eines inneren Steins der Weisen, bevor der »große Metallklang« hervorgerufen werden konnte. Einige Vorschriften, diese »Imagination« betreffend, wirken, als ob gerade das ganze leidenschaftliche Willenssubjekt in die Natur einzusteigen habe, mit deren eigenem Innern oder Quellpunkt, wie durch einen unterirdischen Gang, »sympathetisch« verbunden. Psychische, religiöse und Natur-Kategorien haben sich in der Alchymie häufig genauso verschlungen wie in den gleichzeitigen Kosmologien des Paracelsus und Böhmes. Dieser Zustand ist naturwissenschaftlich kaum mehr nacherfahrbar, wo gerade die Unabhängigkeit vom erlebenden und auffassenden Subjekt als Kriterium der Erkenntnis gilt. Vor allem überliefern auch die /(748) erhaltenen Lebensbilder von Alchymisten zwar ein zähes und zielstrebiges Wesen, aber seltener eines, das soeben das Abendmahl genommen zu haben scheint oder auch soeben aus der Höhle des Erdgeistes gekommen ist. Männer wie Raimundus Lullus, auch mehrere der späteren Rosenkreuzer, machen freilich eine deutliche Ausnahme, und diese zählt. Mitten in dem Wust seiner Küche, seiner uferlosen Rezepte und unendlichen Irrwege wurde vom beginnenden Adepten »Henosis« verlangt, nach dem neuplatonischen Ausdruck, das ist Vereinfachung seiner selbst, Konzentration auf Wirkungskraft und Samen. Auffallenderweise waren sogar die hauptsächlichen Dinge, die der Schüler wissen mußte, nicht allzu verwickelt. Das, obwohl die vielen Betrüger das Geschäft absichtlich verdunkelten, um nicht sagen zu müssen, was sie nicht wußten. Und obwohl auch in den subjektiv-ehrlichen Büchern die Rezepte und die Bilder oft unvereinbar hintereinanderstehen, dazu in ganz fremdartig gewordener Sprache. Trotzdem bewegen sich in dem Faltenwurf gewisse einheitliche, fast wohlgeformte
Grundbegriffe, sie sind überdies nicht zahlreich. Das Ganze ist ein pures Suchen, Probieren, auch ungewisses Nachprobieren fremder Versuche, mit ungeheurer Betriebsamkeit zehn und mehr Jahrhunderte hindurch. Vielleicht reicht der alchymistische Traum bis in die Bronzezeit zurück, wo die erste Legierung zu einem goldglänzenden Metall gelungen ist, und zuverlässig war er, seit etwa 700 n.Chr., in allen Kulturen verbreitet. Es gibt nicht nur arabische und europäische Alchymie, sondern ebenso indische, chinesische, siamesische; und auch hier sind die Grundzüge nicht einmal so sehr verschieden. Allemal geht diese Kunst damit um, ein Gewordenes in den Dingen wieder zu lösen, ein in ihnen Gemischtes zu verschieben. Gesucht in ihnen, vor allem in den selber schon »elementar« zerfallenen, war zunächst ein noch völlig eigenschaftsloser Stoff an sich, der jungfräuliche Anfang. Alles Vorhandene wurde daraufhin durchprobiert, je matter oder auch je abgebauter, ausgelaugter es erschien, desto besser: Regenwasser, Harn, Kot waren vielversprechend, um die »materia prima «,das »Ferment« in ihnen zu finden. Die Metalle selber sollten außer diesem passiven Urstoff aus drei Grundbestandteilen, in wechselndem Verhältnis, gemischt sein: aus Merkur (Quecksilber), /(749) Sulphur (Schwefel), Sal (Salz). Die drei fallen nicht mit dem vorkommenden Quecksilber, Schwefel, Salz zusammen, sie verhalten sich zu ihnen ungefähr so, wie sich Kohlenstoff zur Kohle verhält, oder besser: sie sind, in einem magisiert scholastischen Sinn, deren »Essenz«. Als wesentlichster Metallbestand galt Merkur, die Quecksilberessenz; sie besteht aus Wasser und Erde, ermöglicht die Dehnbarkeit und Schmelzbarkeit. Wegen dieser passiven Eigenschaften galt Merkur als weibliche Potenz, so steht diese der »materia prima« am nächsten. Sulphur oder Schwefelessenz besteht aus Luft und Feuer, ein männlich-aktives Wesen, es gibt den Metallen die Färbung, vor allem die Brennbarkeit und Verwandelbarkeit. Sal schließlich, die Salzessenz, bewirkt die Einäscherbarkeit, auch die Härte und Sprödigkeit der Metalle; sehr alte, auch im Neuen Testament gestreifte magische Hochwertungen (»Salz der Erde«) rückten »Sal philosophicum« zuweilen schon in die Nähe des Steins der Weisen (vgl. das heilsame Pulver »mit entschieden alkalischem Geschmack« in Goethes »Dichtung und Wahrheit«, achtes Buch). Entscheidender aber als all dieses war der Glaube, daß mit der »materia prima« und mit dem Gemisch der drei übrigen Grundbestandteile die Metalle noch nicht erschöpft seien, noch nicht am Ende ihres Seins. Die Chemie selber hat bis gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts an die drei angegebenen Grundbestandteile der Metalle geglaubt (auch das »Phlogiston« oder der »Wärmestoff«, den erst Lavoisier beseitigte, hat Sulphur noch als einen seiner Ahnen); nur: es fiel in sie nicht der Blitz oder das Irrlicht des Golds. So fügte die Alchymie zu den drei Grundbestandteilen noch die höchste »Essenz« oder den Goldkeim hinzu, der in allen gewöhnlichen Metallen drängt, am Wachstum verhindert, eine »Entelechie«,die noch nicht aktualisiert ist. Wie die eigenschaftslose »materia prima« griff auch der Gedanke von der »Entelechie des Golds« auf Aristoteles zurück, in freilich ungeheuerlicher Überrennung aller anderen naturhaften Art- und Gattungs-Entelechien. Aristoteles hatte einzig die Bewegung eine »unvollendete Entelechie« genannt, doch steckte bei ihm gerade in der Materie die Möglichkeit zu jeder jeweils nächsthöheren Form; nun aber ist »jede Materie in potentia Gold, wie das Ei ein unausgebrüteter Vogel«. Befördert und befreit werden sollte diese /(750) Gold-Entelechie durch den »roten Leu«, die »rote Tinktur«, das »große Elixier«, das »Magisterium magnum«, welche allesamt dasselbe bedeuten wie der Stein der Weisen. Wellings »Opus mago-cabalisticum« von 1735 (das gleiche, das der jungeGoethe mit Fräulein von Klettenberg, der »schönen Seele
«,gelesen hat) sagt hierzu folgendes: »Der Stein der Weisen ist ein Körper, welcher durch Kunst aus einem höchst gereinigten animierten Mercurio und seinem lebendigen Gold zusammengesetzt und durch ein langwieriges Feuer also zusammen verbunden, daß er nimmermehr wieder zu trennen ist, in welcher Gestalt er die übrigen Metalle augenblicklich also zeitigen, reinigen und tingieren kann, daß sie in die Natur des reinsten Goldes erhöht werden.« Vorhanden sind wenigstens Beschreibungen dieses fabulösen Steins, und zwar von sehr berühmten Männern; die Beschreibungen stimmen einigermaßen überein, gleich als ob jede spätere auf den Schultern der früheren stünde. Raimundus Lullus vergleicht den Stein mit einem Karfunkel; Paracelsus, in der »Signatura rerum naturalium«, gibt an, der Stein sei schwer, in Masse lebhaft rot wie ein Rubin, durchsichtig wie ein Kristall, aber auch biegsam wie Harz und doch zerbrechlich wie Glas; Helmont, Chemiker und Paracelsianer, erzählt, der Stein, wie er ihn in Händen gehabt habe, sei ein schweres safranfarbiges Pulver gewesen, schimmernd wie nicht ganz fein zerstoßenes Glas (vgl. Kopp, Die Alchymie, 1886, I, S. 82). Sowohl Silber wie Quecksilber als auch die »unreifen « Metalle, namentlich Blei, Zinn, Kupfer und Eisen, als auch spröde wie Antimon, Wismut, Zink und so fort sollen, von der Tinktur, dem Stein durchdrungen, zu Gold werden. Diese Veredlung wird bewirkt durch »Projektion«,das heißt durch Aufwerfen der Tinktur auf das im Fluß stehende Metall, dergestalt, daß die Tinktur, je nach erlangter Reinheit, unedles Metall bis zu dreißigtausendfachem Gewicht ihrer selbst verwandeln kann (vgl. Schmiedes, Geschichte der Alchymie, 1832, S.2). Jederzeit aber wird von den Alchymisten über dieses utopische, allzu utopische Kleinod mit einer Ehrfurcht gesprochen, die weit über solch lukrative Metallwunder hinausgeht und auch des Näheren Frohbotschafts-Anspielungen auf einen anderen Eckstein und Heiland nicht unterläßt. Wie die »materia prima«, näher Mercurius der Jungfrau Maria ver- /(751) glichen werden, so der Stein dem Sohn. Da gibt es einen »Empfang des gebenedeiten Steins«, da nennt ihn Robert Fludd »den Grundstein des inneren Tempels, damit das ganze Werk der Sonne getan werde«. Da preist ihn Jakob Böhme als die »Wurzel eines Reichs, worin kein anderes Element mehr ist als der Menschensohn«. Wie denn Böhme insgesamt die Grundlinien seiner Theosophie und Theogonie in Übereinstimmung mit den alchymistischen Operationen ausgearbeitet hat; als tue der Mensch im alchymistischen Prozeß nur, was Gott in ähnlicher oder gleicher Weise im Kreaturleben der anorganischen Natur tut (vgl. Harleß, Jakob Böhme und die Alchymisten, 1870, S. 46ff.). Angelus Silesius, in der Fülle seiner Allegorien, verschmäht die alchymisch-messianischen am wenigsten: »Ich selbst bin das Metall, der Geist ist Feuer und Herd, / Messias die Tinktur, die Leib und Seel verklärt« (Cherubinischer Wandersmann I., Sinnreim 103). Das Stichwort zu all dieser Vergötterung des Steins und dessen, was er bringt, hat aber Marsilio Ficino gegeben, der Neuplatoniker der Renaissance; bei ihm finden sich alle die späteren Allusionen und Transparenzen zuerst. So noch zögernd verhüllt in einer halb gnostischen »Theologia Platonica «,so offen im Traktat »De arte chimica«, wie folgt: »Die Jungfrau ist Mercurius, von hier wird uns der Sohn geboren, das ist der Stein, durch dessen Blut die berührten unteren Körper in den goldenen Himmel unversehrt zurückgeführt werden. « Zugleich werden durch diesen Text, wie er wörtlich oder barock ausgeschmückt in zahlreichen alchymistischen Rosenkreuzerschriften wiederkehrt, der Stein, das philosophische Gold, der goldene Himmel in Eines gesetzt. Sagt also Andreä: »Die rote Tinktur ist der purpurne Mantel um den erscheinenden König«, so ist der König sowohl der Stein wie das himmlisch-irdische Gold selber, das er aus der Welt herausführt. Chemischer
Chiliasmus ist durchaus ein solcher geworden, worin Scheidekunst, rote Tinktur, Gold, Paradies am Ende der Tage zusammenzufallen scheinen, ja das Werk der Transmutation gilt, in vollerHybris, als »laboratorium Dei«. Es ist nicht erstaunlich, daß nun auch alle anderen Mythen, sooft nur Metamorphose in ihnen vorkam, auf Alchymie deutbar schienen. Kirke wie der Argonautenzug, der Zug durchs Rote Meer wie die Taten des Herkules, König Midas wie der Garten /(752) der Hesperiden, der Mosesstab, bitteres Wasser in süßes verwandelnd, wie die Hochzeit zu Kana: das alles und noch viel mehr mußte der Stein-Anbetung zum Besten dienen. Mythische Wandlungs-Archetypen haben in der üppigen Allegorik der Alchymie sich am stärksten erhalten, und wenn die olympischen Götter in der Tat erst im achtzehnten Jahrhundert als Metallzeichen, Metallseelen ihr Leben ausgehaucht haben, so lebte der persisch-jüdische Messiasglaube in solch sonderbarer Metallurgie nicht nur säkularisiert fort. Auch nicht nur allegorisch, sondern symbolisch; denn es fehlt der Verwandlung zur Essenz die von einer Alteritas zur anderen schickende Mehrdeutigkeit, es eignen ihr in ihrem Zielpunkt Eindeutigkeit und unleugbarer Fanatismus des Überhaupt. Das Gold, das Glück, das ewige Leben befinden sich im Bleigefängnis; der gefangengehaltene Christus, die Gold-Entelechie aller Dinge und Wesen, muß durch die Generalreformation, deren die Alchymie ein Gleichnis ist, aus dem Kerker des Status herausgeführt werden. Geschichtsverbesserung und Weltverklärung verschränkten sich dadurch ebenso, wie sie ein organisch- anorganisches Heilandsmotiv in sich einbrachten. Nicht grundlos machte sich derart Andreä einen Leitspruch zu eigen, der wahrscheinlich schon dem Renaissance-Phantasten der Alchymie, dem Neuplatoniker Ficino, lehrreich war; einen alten Leitspruch aus den messianischen «Oden Salomonis «,von Philon herrührend oder von seiner Schule. Er lautet: »Nur der Reine, verwandelt durch eigene Umkehr, besitzt die totenerweckende Kraft, die gleich Blei in das Chaos gesunkenen Stoffe aufzulösen, zu erneuern und zu wecken. Durch das heilige Wasser, den Logos spermatikos, gibt er sie dem Dasein zurück und führt sie geläutert empor, bis alles Untere in die Höhe verwandelt ist.« Durch diesen Satz wird alchymistische Utopie-die kühnste und mythologischste, die in der Technik überhaupt möglich war wirklich in toto bezeichnet; noch über den »Christus der unreifen Metalle« hinaus. Bezeichnend ist schließlich, daß der Reine oder Katharer, der in den «Oden Salomonis« vorkam und der der arabischen wie christlichen Alchymie des Mittelalters fehlt, in der Reformationszeit ebenso wieder vortritt wie das «Reichshafte« innerhalb der Essenz. Der Reine wird bei Paracelsus zu einem chemischen Elias, zu »Elias Artista«, das Werk der Alchy- /(753) mie insgesamt wird zu dem des »großen Mai« oder eben des »Reichs«. Daher denn Paracelsus (Buch Paragranum, Kap. 3) von der Natur so messianisch wie chemisch-chiliastisch sagt: »Sie gibt nichts an den Tag, das auf seiner Stätte vollendet sei, sondern der Mensch muß es vollenden, diese Vollendung heißt Alchymia«; - das ist dies septimus oder Sonntag der Welt, vom Menschen geschaffen. Nicht zuletzt ist der Einfluß Joachims von Fiore und seines »Dritten Reichs« bei jeder Steinmystik während der Reformation und des Barock sichtbar; er und Ficino zusammen ergeben erst dies vielverschlungene alchymistische Rosenkreuzertum. Die Nebel wie die Weiterungen um die übliche Goldgier könnten so kaum bunter und vertrackter sein. Damit aber auch an diesem Ende das letzthin Unverwickelte, letzthin Eindeutige des alchymistischen Wunschtraums hervortrete, sei noch auf zwei deutlich joachitische Mutationsbücher aus dem Barock ( der Blütezeit der Alchymie) verwiesen; auf Sperbers »Traktat von den drei seculis«,
1660 publiziert, und auf die Schrift des Nolhus »Theoria philosophiae hermeticae«, 1617. Sperber, einer der echtesten Chiliasten, will nicht nur dartun, »daß noch eine güldene als die dritte und letzte Zeit hinterstellig ist, und was derselben Zustand sein wird«, er verheißt auch: »Das dritte Evangelium und die Kunst Alchymia werden zusammen hervorkommen.« Nolhus, ein systematischer Jünger des Paracelsus und verfolgter Rosenkreuzer, gab dem »Werk der Perfektion« eine völlige Klimax, auf die Generalreformation bezogen; der Stein der Weisen wird hier selber stufenhaft, wie seine Herstellung, er wird zur Himmelstreppe der Natur. Die chemische Klimax zum Endreich lautet: »Verus Hermes, Portae hermeticae sapientiae, Silentium hermeticum, Axiomata hermetica, De generatione verum naturalium« und zuletzt: «De renovatione«. Item, der Goldtraum war außer der Metallurgie, in die er technisch versenkt war, überall wirklich eine Art Befreiungsmythologie zugleich. Er war nie mehr als, bestenfalls, eine Mythologie, aber auch selten weniger als eine der Befreiung. So etwas wie Katharsis der Gegenstände, zugleich mit der der Seelen, hat seinen alchymistischen Hauptsinn vom späten Mittelalter bis in die Gleichnisse der Klassik, gar Romantik nicht verloren. Auch Goethe, in der /(754) Geschichte der Farbenlehre, bei Gelegenheit der Alchymisten, spielt noch auf diese Zusammenhänge an; er interpretiert sie sogar durch eine Art Kantianismus: »Hat man jene drei erhabenen, untereinander im innigsten Bezug stehenden Ideen, Gott, Tugend und Unsterblichkeit, die höchsten Forderungen der Vernunft genannt, so gibt es offenbar drei ihnen entsprechende Forderungen der höheren Sinnlichkeit: Gold, Gesundheit und langes Leben.« Die Alchymie hat gewiß kein Gold gefunden, hat dieses Ziel bei den phantastischen Prozeßmitteln auch nicht finden können. Trotzdem ist sie nicht nur als Vorläuferin der modernen Chemie zu entschuldigen, und auch ihr näherer Plan: die Umwandlung der Metalle (Elemente) als Plan selber, klingt in der Zeit der Atomzertrümmerung, der Elektronverlagerung der Elemente keineswegs mehr grotesk. Grotesk war vielmehr, daß man im vorigen Jahrhundert, im Darwin-Jahrhundert der »Umwandlung der Arten«, die anorganischen Elemente selber als unverrückbar ansah und den ganz identischen Ausdruck: »mutatio specierum« (er kommt zum erstenmal in der Alchymie vor) überhaupt nicht verstand. Vor allem aber ist, wie ersichtlich geworden, das Vorhaben der Alchymie mit partialen Umwandlungen überhaupt nicht erschöpft, wenigstens nicht im Jahrhundert kurz vor der Aufklärung. Die Inschrift auf dem Tor dieses verrufenen technischen Wunschtraums lautete vielmehr recht total: Jehi Or, Es werde Licht; - das also lag im Horizont der phantastischen Mutationen. Der überwiegende Teil der Goldkocher suchte zweifellos nichts anderes als einen immer gefüllten Beutel, machte hierbei weder sich noch anderen viel Höheres vor. Die Schwärmer dieser Gegend jedoch, vor dem gleichen Ofen sitzend, auch der Aussicht auf beliebig viel Dukaten durchweg zugeneigt, hatten außerdem noch eine Verklärung der Natur als Metamorphosen-Ziel im Sinn. Ungeregelte Erfindungen und »Propositiones« im Barock Ins bloß Blaue hinein ließ sich jederzeit beliebig, auch windig planen. Aber solidere technische Träume und auf Erweiterung der Werkzeuge gerichtete treten vor 1506 nur spärlich auf. So bemerkenswert auch römische Wasserleitungen sind, chinesi/(755) sches Papier und Pulver (nur für Feuerwerk verwendet), ägyptische Krane: erst kapitalistisch kamen mit dem Auftrag auch größere technische Entwürfe in Gang. Zwar finden sich um 550 in Byzanz bereits Pläne eines Schiffs mit Schaufelrädern, die durch Ochsen am Göpel bewegt werden; doch es blieb bei dem
Plan. Miniaturen zur mittelalterlichen Alexandersage zeigen bereits eine Art Unterseeboot, worin Alexander in die Tiefe sinkt und ihre Ungeheuer betrachtet; doch nur diese Seetiefe interessierte die Zeit, nicht das gläserne Unterseeboot. Eine vereinsamte Ausnahme stellt im dreizehnten Jahrhundert Roger Baco dar, der empirische und naturwissenschaftliche Franziskaner. Er hat in seiner »Epistola de secretis operibus artis« Wagen prophezeit, die ohne Hilfe von Tieren bewegt werden, »mit unglaublicher Geschwindigkeit«, auch Flugmaschinen, »in denen ein Mann, der bequem sitzt und über alles nachdenkt, die Luft nach Weise der Vögel schlägt«. Doch fand Roger Baco mit diesen Erfindungsträumen in einer Gesellschaft kein Interesse, die ebenso ständisch-statisch wie voll Mißtrauen gegen die Natur war. Erst in der Renaissance also, erst mit dem Geschäftsinteresse und Gewinnstreben des damals beginnenden Kapitalismus wurde die technische Phantasie öffentlich anerkannt und befördert. Renaissance und Barock sind sowohl das Zeitalter der technischen Windmacher à la Dr. Orfyréus, denen wir oben begegnet sind, wie vor allem der praktisch-tüchtigen Entwerfer. Es waren vielseitig herumbastelnde, allseitig herumprobierende Dilettanten, ohne zureichend mechanische Kenntnisse, doch überfließend von patentfähigen Einfällen. An der Spitze stand Joachim Becher (1635-1682), eine Prachtgestalt, die Sombart wieder kenntlich gemacht hat (vgl. »Die Technik im Zeitalter des Frühkapitalismus«, Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 34, Seite 721 ff.), ein Sonntagskind der Erfinderei: Becher hat dutzendweise Vorlagen in die Welt gesetzt, neue Webstühle, Wasserräder, Uhrwerke, ein Thermoskop, ein Verfahren, aus Steinkohle Teer zu gewinnen, und so fort. Sein Buch »Närrische Weisheit und weise Narrheit oder ein Hundert so Politische als physikalische / mechanische und merkantilische Concepta und Propositiones«, 1686, rast geradezu im Reich der unbegrenzten, der durchmathematisch-mechanische Sachkenntnis nicht erschwerten /(756) Möglichkeiten. Diese seltsame Beziehung zwischen Dilettantismus und Technik hat übrigens von der Renaissance noch bis weit ins achtzehnte Jahrhundert angehalten. Ein Arzt, ein Student der Theologie, ein Ägyptologe, ein Arbeiterjunge haben damals den Asphalt, die Strickmaschine, die Laterna magica, die Steuerung der Dampfmaschine erfunden, während die großen Naturforscher, wie Kepler, Newton, selbst Galilei, an Technik mehr nebenher interessiert waren und nur zwei Forscher: Guericke, als Erfinder der Luftpumpe, Huygens, als Erfinder der Pendeluhr, in der Geschichte der Physik und Technik gleich stark vorkommen. Der kapitalistische Auftrag war für Technik und Wissenschaft der gleiche, aber lange hing die Technik noch mit dem Handwerk zusammen, und fast nur bei Agricola( De remetallica, 1530) galt die praktische Beschäftigung der theoretischen im Rang gleich. Ein anderes kommt hinzu, das die Mehrzahl der damaligen Erfinder von mathematisch-mechanischen Kenntnissen ihrerseits fernhielt. Denn der magische Naturhintergrund war ihnen noch keineswegs eingestürzt; die Welt des Paracelsus hat sich gerade in den technologischen Büchern festgesetzt und lange erhalten. Vor allem in den mit Bergwerk beschäftigten; der Erdgeist oder ein Spukleben in der Tiefe hat damals so naiv auf die Technologen eingewirkt, wie es so viel später, in der Romantik, die Dichter und Naturphilosophen sentimentalisch wieder ergriff. Die Wetter waren Dämonen, die dem Bergmann nach dem Leben trachten, die steigenden Wasser der Tiefe hatten einen lebendigen Quell-Geist in sich, während die fallenden, die gehoben werden müssen, deshalb als tote Wasser galten, kurz, auch nach dieser Seite hin lebte die Technologie, nicht nur die Alchymie, in einer qualitativ-magischen, nicht in einer quantitativ-mechanischen Welt. Fast einzig in Italien, als dem damals kapitalistisch fortgeschrittensten Land, war Erfindung mit
frühem Kalkül verbunden. Um 1470 zeichnete der Ingenieur Valturio ein Auto, »Sturmwagen« genannt, mit Windmühlenflügeln an der Seite, der Antrieb wurde durch Zahnräder auf die Wagenräder übertragen, die Skizze war mathematisch durchgearbeitet. Und als Brunelleschi die Maschinen zum Bau seiner Florentiner Domkuppel selber zusammenstellte, waren es kombinierte Hebel und schiefe Ebenen in mathematisch überlegter Konstruktion. /(757) Was gar den kühnen Techniker Leonardo da Vinci angeht, so ist er der erste rein immanente, auf Kausalität (»Notwendigkeit«) basierende Erfinder und Forscher überhaupt. Scharfe Beobachtung, sorgfältige Berechnung standen seinen vielseitigen Plänen zur Seite; zuweilen mit den Fehlern des Pioniers, doch ohne allen Dilettantismus. So entwarf er den ersten Fallschirm, die erste Turbine (als Skizze erhalten: »Schraubenrad in einem Wasserkanal«), die erste Überführungsanlage (gleichfalls als Skizze erhalten: »Entwurf zu Straßenzügen, die übereinander liegen«). Er studierte den Vogelflug, um den menschlichen Flugtraum zu erfüllen, das älteste unter den technischen Wunschbildern überhaupt: »Ich beabsichtige, den großen künstlichen Vogel den ersten Flug nehmen zu lassen; er soll das Universum mit Verblüffung, alle Schriften mit seinem Ruhm erfüllen; ewige Glorie wird dem Nest werden, wo er geboren ist.« Der Vogel sollte sich in Florenz erheben, doch blieb es bei dem Plan, Ikarus stürzte nicht einmal, so wenig erhob er sich vom Boden. Und allerdings wurde die mathematische Mechanik, die Leonardo seinen Erfindungen zugrunde legen wollte, erst nach seinem Tod ausgebildet. Und weiter trat selbst Leonardo, trotz des mathematisch-konstruktiven Sinns, der ihn so charakteristisch auszeichnet, aus dem organischen Naturbild der Renaissance nicht ganz heraus. Im Gegenteil: «Die See des Bluts, so um das Herz herumliegt, ist das ozeanische Meer, ihr Atem und das Wachsen und Abnehmen des Bluts durch die Pulse ist bei der Erde die Ebbe und Flut des Meers, und die Wärme der Seele der Welt ist das Feuer, so der Erde innewohnt, und der Aufenthalt der vegetativen Seele sind die Feuer, die aus verschiedenen Orten der Erde in Bäder hauchen« (Richter, Literary works of Lionardo da Vinci, 1883, S.1000). Selbst noch Leonardo hat sich derart mehr «sympathetisch« als quantitativ zur Natur verhalten, obwohl, ja weil er sie bereits in Zahlen geschrieben glaubte. Der Erfinderwille in Renaissance und Barock insgesamt bleibt doch wesentlich im Impromptu, mit dem Glauben, daß Erfinden ein geheimnisvoller Vorgang sei, so wie letzthin die Natur, in die es sich begibt. Joachim Becher, der seiner Zeit als das größte Erfindergenie galt, spricht selber ergriffen von der ihm zuteil gewordenen, unerwerbbaren Gabe, dem »Donum inventionis«. Es ist für Becher /(758) nicht an professionelle Kenntnis gebunden: »Hier ist kein Ansehen der Person noch Profession; Könige und Bauern, Gelehrte und Ungelehrte, Heiden und Christen, Fromme und Böse sind damit begabt worden. » Die Erfinderei baute lange noch ins Unbekannte und machte es dadurch erst bekannt, sie erzeugte die nie dagewesene, zusätzliche Arbeitskraft der Maschine, oft aber ohne mehr Anschluß ans Vorhandene haben zu wollen als den der Gabe, der glücklichen Hand und des Zufalls, der für die Gabe zum Glück wird. Bacons Ars invenicndi; Fortleben der Lullischen Kunst Bewußt erfinden, auch das trat zuerst nur als Traum und Planen auf. So bei Francis Bacon, in seinem »Novum Organon scientiarum», 1620, und den dort noch recht allgemein erteilten induktiven Angaben. Gefordert werden Experimente, operatives Wissen um Naturgesetze, Abkehr vom Mythos, Vorsicht gegenüber teleologischen Erklärungen. Handwerk-Tricks fallen weg, auch Handwerk-Geheimnisse, auf bloß
manueller Geschicklichkeit oder Zufallsrezepten beruhend, erst recht magisch-theosophische Hintergründe. Bacon spricht zwar in seiner postumen Schrift »Sylva sylvarum or a Natural Historv» nicht unfreundlich von Alchymie, er hält Goldmachen für möglich, als Reifung der »leichteren Metalle«, doch er verspottet die angewandten Methoden, besonders die erstrebte »Projektion« mit dem Stein der Weisen, diesen »paar Tropfen Elixier«. Er verspottet das wie alles Jähe und Wunderbare; deshalb sind auch die oft behaupteten Beziehungen Bacons zu den Rosenkreuzern fragwürdig. Einzig Bacons Abzielung auf ein »regnum hominis« berührt sich mit der »höheren Alchymie«, doch das regnum war als Naturbeherrschung gedacht, nicht als Naturverklärung oder als Joachims »Drittes Reich«. Gar die »Ars inveniendi« im »Novum Organon scientiarum« will das theoretische Finden wie das praktische Erfinden gänzlich auf Erfahrung gründen (statt auf Hintersinnliches) und auf geregelte Induktion (statt auf wortgläubige Deduktionen). Nur durch Beobachtung und Zerlegung seien die »beständigen Eigenschaften», die »primitiven Formen« aller Dinge erkennbar; nur so gelinge das Ziel des Wissens: /(759) »Hervorbringung von Artefakten«. Auch Kenntnis der früheren Erfindungsträume soll hierzu nützlich sein, doch wesentlich so, daß an ihnen hervorgehoben wird, was den Menschen als vermessen oder als unmöglich schien und was ihnen trotzdem im technischen Traum lag. Das Register der verwirklichten, besonders der unverwirklichten Pläne gebe auch nützliche Winke zu Erfindungsideen, die bisher »jenseits der Säulen des Herkules« lagen: doch nur das Schiff wirklicher Experimentierkunst werde die goldenen Gärten der Hesperiden erreichen. Nur auf diese Art werden nach Bacon die alten Märchen wahr, sie verwirklichen sich nicht, indem sie immer geschwätziger, immer epigonaler auf der alten Stelle tretend forterzählt werden. Und genauso wie das ungeregelte Antizipieren mache der zänkische Wort- und Deduzierungskram unfruchtbar: »Die bisherigen Wissenschaften haben eine wahrhaft sprechende Ähnlichkeit mit jener fabelhaften Scylla, die von Gesicht eine Jungfrau war, am Leib aber in bellende Untiere überging. Oben nämlich im Gesichte, das ist: in ihren allgemeinen Sätzen betrachtet, haben sie wohl ein schönes und verführerisches Aussehen, aber wie man auf die besonderen Sätze kommt, die gewissermaßen die Zeugungsorgane der Wissenschaft bilden, so findet man, daß sie zuletzt in bloße Wortstreitigkeiten enden, wie der Leib der Scylla in bellenden Hunden« (Novum Organon, Vorrede). Wissen ist Macht, auch als Macht, die alten Erfinderträume, ja die der Magie zu erfüllen, wo nicht in Kühnheit zu überbieten: »Wenn sich die Magie mit der Wissenschaft vereinigt, wird diese natürliche Magie Taten vollbringen, die sich zu den früheren abergläubischen Experimenten verhalten wie die wirklichen Taten Cäsars zu den eingebildeten Arturs von der Tafelrunde, das heißt, wie Taten zu Märchen, die dazu noch Geringeres träumen, als jene ausführen.« Der Ausdruck »Magia naturalis« stammt von einer Schrift des Neuaristotelikers della Porta aus der Renaissance und war bei diesem bereits gegen die damaligen Kabbalisten und Zaubergläubigen gerichtet. Im Einzelnen freilich zeigt Bacon mehr die Lücken des bisherigen Wissens, als daß er sie füllt, gibt er selber mehr Desiderate, als daß er die »natürliche Magie« aufbaut. Auch ist seine Induktionstechnik, auf die Auffindung der »primitiven Formen« gerichtet, noch selber weit mehr schola- /(760) stisch als naturwissenschaftlich. Auch hat er, was den Zeitgenossen geradezu als rückständig an diesem »Novum Organon«, dieser »Nova instauratio scientiarum« erschien, die Mathematik als bloßen Anhang zur Physik und keineswegs als deren methodische Grundlage betrachtet. Das freilich mit der noch ganz organisch-naturphilosophischen Begründung, daß »die Mathematiker die Physik verderben«, weil diese es mit dem
»Qualitativen zu tun habe» (zum Beispiel mit der »Form der Wärme«). Doch hat Bacon in riesiger Voraussicht, wenn nicht die Wege, so die verschiedenen, damals noch ganz unbetretenen Kader und Räume gezeigt, worin sich gerade die moderne Naturwissenschaft, mit rein kausal-mechanischer Technik, entwickeln sollte. Geregelt erfinden, das setzt hier also den Gang vom Einzelnen zum Allgemeinen voraus. Aber so sehr der induktive Schluß solide ist, so wenig will und kann er doch über einen mehr oder minder hohen Grad von Wahrscheinlichkeit hinaus. Er ist im strengen Sinn gültig nur für die Summe der beobachteten Einzelfälle, doch nicht für alle die anderen, unbeobachteten, auf die das gewonnene allgemeine Gesetz nun ausgedehnt wird. Wogegen gerade die von Bacon abgelehnte Deduktion Notwendigkeit mit sich führt, wenigstens formallogisch: wenn alle Menschen laut Obersatz sterblich sind, so muß Cajus als Mensch nicht nur wahrscheinlich, sondern notwendig sterben. Und was diese Art der Wissenschaftsvermehrung angeht, so hat es, wie von Bacon selbst erinnert, bereits im Mittelalter, also in ziemlicher Nähe zu Arturs Tafelrunde, eine Ars inveniendi gegeben, die sogar als Maschine auftrat. Es war die sogenannte Lullische Kunst oder der technisch hergestellte Siebenmeilenstiefel des deduktiven Begriffs, des Syllogismus. An solchen Werkzeugen: als denen der Erkenntnis, nicht der Veränderung, hatte auch das technisch so wenig lebhafte Mittelalter Interesse. Der seltsam rationalistische Scholastiker Raimundus Lullus hatte um 1300 einen Apparat hergestellt, mittels dessen jede Art von deduktiver Ableitung entdeckt und nachgeprüft werden sollte. Der Apparat (»Instrumentum ad omnis scibilis demonstrationem«) bestand aus einem System konzentrischer Kreise, auf deren jedem eine Begriffsgruppe fächerartig aufgetragen war. Durch Verschiebung dieser Kreise sollten alle überhaupt nur möglichen Kombinationen /(761) zwischen Subjekt und Prädikat zustande gebracht werden; wobei die Zahl der möglichen Subjekte wie die der möglichen Grundprädikate (Prädikabilien), folglich die Anzahl der Scheiben feststand. Es gab derart eine Figura Dei, welche die ganzeTheologie, eine Figura animae, welche die ganze Psychologie »enthielt«, eine Figura virtutum mit den sieben Tugenden und Todsünden in abwechselnd blauen und roten Kammern (s. die Einzelheiten bei J. E. Erdmann, Grundriß der Geschichte der Philosophie 1, § 206, 4-12; Tafel bei Stöckl, Geschichte der Philosophie des Mittelalters II, 1865,S.936). Die Lullische Kunst wollte so eine Anleitung geben zur Auffindung des an jedem Gegenstand kategorial Bestimmbaren, wissenschaftlich Unterscheidbaren, Verbindbaren, Beweisbaren. Und die Hoffnung des Lullus eben war: die Kombinationsmaschine des Wissens umzirkelt und erschöpft jede überhaupt nur sinnvoll mögliche Abwandlung der Erkenntnis. Sie demonstriert buchstäblich ad oculos, dergestalt, daß der Wißbegierige die erzrationalistische Ableitung der Einzelbestimmungen aus Ideen auch sehen, nicht nur einsehen kann. Dies alles in abgekürztester Deduktionsweise, gegründet auf die Aristotelische Topik, freilich auch nicht ohne Zusammenhang mit der Plotinischen, ja kabbalistischen Emanationslehre der Welt aus Ideen. In facto jedenfalls kam die erstaunlichste Maschine zustande, die einer »Ars magna« als Ars inveniendi und Ars demonstrandi zugleich, dargestellt in Zeichen, Kreisen, Tafeln, in den Reduktionen einer Art logischer Logarithmenuhr. Giordano Bruno suchte die Lullische Kunst durch Verringerung der Kreise zu verbessern, Pico della Mirandola setzte sie zum erstenmal mit der pythagoreischen Zahlenlehre in Verbindung. Dem Bedürfnis des bürgerlichen Kalküls nach einer rechnerischen Universalableitung alles Gegebenen aus wenigen logischen Elementen oder Prinzipien (»ersten Wahrheiten«) mußte die Lullische Kunst ohnehin unvergeßlich bleiben, mindestens ihrer Intention nach.
Leibniz begann seine Laufbahn mit der Schrift »De arte combinatoria«, 1666, worin er im Anschluß an Lullus und Bruno die Verbindungsweisen der Begriffe als berechenbare behandelte; so daß man einen Denkfehler mit derselben Klarheit und Zweifellosigkeit wie einen Rechenfehler werde aufzeigen können. Sein Leben lang forschte Leibniz der gültigen Kombinatorik aus /(762) einem »Alphabet der Gedanken« nach, wonach sich neue Wahrheiten gleichsam mechanisch finden lassen. Äußerst elementarisiert lebt diese «Ars combinatoria« sogar in den mannigfachen Rechenmaschinen fort; allerdings nicht, um neue Wahrheiten zu finden, sondern um, wie im sogenannten Maniac (Mechanical and Numerical Integrator and Calculator) gelungen, zwei zehnstellige Zahlen in weniger als einer tausendstel Sekunde zu multiplizieren. Pascal hatte den ersten mechanischen Kalkulator konstruiert, mit rotierenden Rädern, heute ist aus dem arithmetisierten Lullus-Traum eine ganze Denkindustrie geworden, mit Geschwindigkeit als Hexerei. Auch das neueste amerikanische Maschinenwesen, das in Norbert Wieners «Kybernetik« vorerst kulminiert, führt noch ein Stück vom mechanischen Einfall des Lullus mit sich. Auf solche Automatismen ging dessen Plan allerdings nirgends, selbst ein mathematisches «Alphabet der Gedanken« lag der Lullischen Kunst, dem Zeitpunkt ihrer Entstehung nach, noch hinter dem Horizont. Lullus hatte mit seiner Maschine, von Haus aus, vielmehr eine - missionierende Absicht; die Erfindung war geplant als eine Art deduktiver Glaubensapostel. Dergestalt hatte Lullus beabsichtigt, durch die unwiderlegbaren, von jedem Denkfehler freien Demonstrationen seiner Maschine alle Ungläubigen von der Wahrheit der christlichen Religion zu überzeugen. Dieser Zweck ist freilich auch von Francis Bacon und seiner »natürlichen Magie« so fern wie möglich, noch ferner als von Leibniz. Bacon spricht daher fast verächtlich von Lullus, und das nicht nur wegen der scholastischen Mythologie selber, sondern auch wegen der abenteuerlichen Deduktion und Subsumtion, in denen ihr Räderwerk sich bewegt. Trotzdem hätte wegen der Technizität die Lullische Erfindung auch in Bacons «Ars inveniendi« ganz gute Figur gemacht, wie sehr erst in seinem utopischen Instrumentensaal (Theatrum mechanicum). Nicht einmal der leidenschaftliche Preis der Induktion steht dem im Wege; denn auch Bacons Induktion will ja noch »die Grundform der Sachen« erforschen und läßt am Ende, obwohl das Wort Deduktion geflissentlich fehlt, »Herabsteigen« zu, nämlich vom Gesetz der Formen zum Experiment ihrer erscheinenden Selbstanwendung. Darin erst vollendet sich, zum Unterschied von rein empirisch-planem Fortgang, für Bacon /(763) geregelte Erfinderkunst: »Unser Verfahren ist daher nicht dieses, daß aus Experimenten die Ursachen und Gesetze (causae etaxiomata) und aus Ursachen und Gesetzen wieder neue Experimente gezogen werden. Diese Methode liegt nicht in einerEbene (neque in plano via sita est), sondern im Aufsteigen und Herabsteigen, im Aufsteigen erst zu Gesetzen, dann im Herabsteigen zu den Experimenten« (Novum Organon I,Aph. 103). In diesem adescendendo ad operas war für Bacon die «Ars inveniendis ebenfalls ein Stück Lullische «Ars magna«; gerichtet gegen das Probier-, Fehlschlags-, erneute Probier-Verfahren (trying and error method) der Banausen, - nicht bloß der abergläubischen. Das Wissensziel aber war für den englischen Projektanten nicht Wissen um seiner selbst willen, sondern - ganz in der Art des Marloweschen Faust Macht durch Wissen, ein neues Atlantis, wo alles dem Menschen dient, zum Besten dient. Nova Atlantis, das utopische Laboratorium
Und wenn vielleicht in hundert Jahren Ein Luftschiff hoch mit Griechenwein Durchs Morgenrot käm' hergefahren Wer möchte da nicht Fährmann sein? Gottfried Keller Doch der Herd liegt noch weit weg, auf dem die neuen nützlichen Dinge geraten. Schiffbrüchige erreichen in Bacons Ferntraum eine Insel in der Südsee, werden dort mit Erfinden, wie es sein soll, bekannt gemacht. Was anderswo zögernd und regellos begonnen, wird auf der »klugen Insel« beendet; ein eigener naturforschender Stand schafft dort Unerhörtes. Bacons »Nova Atlantis «, 1623, erschienen gleichzeitig mit Campanellas »Civitas solis«, sollte nach dem Plan des Urhebers zwei Fragen beantworten: die nach dem besten Forschungsinstitut, die nach dem besten Staat. Die unvollendete Schrift beantwortet nur die erste Frage, sie stellt ein «Haus Salomonis« dar, weit, hell und breit. Was der weise König magisich wußte und konnte, der Sage nach, wird hier wirklich ausgeführt, soweit es in menschlichem Vermögen und Nutzen liegt. Die Stimme der Vögel wird nicht verstanden, Geister werden keine zitiert, desto besser wird der Ysop gekannt, /(764) der auf der Mauer wächst. Auch die sagenhaften Kenntnisse der Atlantier sind erinnert, die Platon im Kritias berichtet, mit ihren Kanal- und Bronzekünsten. Aber bei Bacon geht es nicht um verschollene, sondern um utopische Pracht, nicht um vormykenische, sondern um nachgotische Zeit. In seiner neuen Atlantis läßt Bacon Erfindungen gelungen sein, die zum Teil immer noch bevorstehen, er deutet sie in verblüffender Antizipation an. Wenn auch in bloßer des Resultats, nicht etwa der Wege zu ihm hin, wie sie der Autor eines »Novum Organon« intendiert hat. Mißachtung der Mathematik verhinderte Bacon an der Vision der Erzeugung, die Vision der Früchte ist desto reicher. Die technische Prophetie Bacons ist einzigartig; sein «Desiderienbuch« enthält so ziemlich die moderne Technik in Wunschandeutung und geht darüber hinaus. »Wir haben Mittel«, erklärt der Chef des Salomonischen Hauses, »um künstlichen Regen oder auch Schnee herzustellen und künstliche Höhenluft. Wir züchten in Treibhäusern neue Pflanzen- und Obstarten, wir verkürzen den Reifevorgang, mischen die Tierarten nach unserem Bedarf, mineralisieren unsere Bäder, erzeugen künstliche Mineralien und Baustoffe.« Vivisektion fehlt nicht: »Wir versuchen alle Gifte und Heilmittel erst an Tieren, sowohl pharmazeutisch wie chirurgisch.« Die Atlantier kennen das Telefon und nicht minder das Unterseeboot: «Wir haben Mittel, um den Schall durch Rohre und pfeifen auf weite Entfernung und in gewundenen (dirigierten?) Richtungen zu übertragen (to convey sounds in trunks and pipes, ad magnam distantiam et in lineis tortuosis).Wir haben Schiffe und Boote, die unter Wasser tauchen und so die gröbste See aushalten.« Auch das Mikrophon fehlt nicht: «Wir verwandeln leise Töne in laute, ebenso laute in abgeschwächte und schmale«; Atlantis kennt sogar, incredibile dictu, die modernste Vierteltontechnik: «Wir haben Harmonien aus Vierteltönen (quarter-sounds, quadrantes sonorum) und noch geringeren Gleittönen. « Es gibt Fernrohr und Mikroskop: «Wir haben Gläser und Vorrichtungen, um kleine und winzige Körper vollkommen und deutlich zu sehen, so die Formen und Farben kleiner Fliegen und Würmer, Körnchen und Risse in Edelsteinen; auch Betrachtungen im Urin und Blut finden dadurch statt, die auf normale Weise nicht möglich sind.« Das Haus Salomonis /(765) birgt weiter Flugzeuge, Dampfmaschinen, Wasserturbinen und noch andere »Magnalia naturae«,
»Großtaten der Natur«, mit ihr und über sie hinaus. So ist »Nova Atlantis« nicht bloß die erste technisch-reflektierte Utopie, ja, d'Alembert nannte diese Schrift (so die Wunschmodelle der Märchen selber überbietend) «un catalogue immense de ce qui reste à découvrir«. Bacons Schrift ist auch in der Folge die einzige Utopie klassischen Rangs, welche den technischen Produktivkräften des besseren Lebens entscheidenden Rang gibt. Anders jedenfalls als im wirklichen Lebenwaren in Utopien die Maschinenwelt und die ökonomischsoziale nicht immer verbunden. Hier hätte Bacons »NovaAtlantis« Nachfolge verdient, eine der technischen Entwicklung und ihren immanenten Möglichkeiten ernsthaft entsprechende. Außer daß die technische Komponente in keinem Staatsroman anders denn als Zierwerk auftrat, standen Sozialutopien, wie bei Owen ersichtlich, oft sogar hinter dem erreichten technischen Stand ihrer Zeit zurück. Neben Bacon macht hier höchstens Campanella eine Ausnahme, sofern auch er, wenngleich ohne Bacons mächtigen Witz, von ungeborener Technik träumt, ja von ungeborener Architektur. Fast so erfindungsfreudig wie Bacon verheißt er in der «Civitas solis«, daß »die Entwicklung der Druckpresse und des Magnetismus die kommenden Jahrhunderte mit mehr Geschichte füllen wird, als die Welt in viertausend Jahren vorhersah«. Aber Campanellas Utopie könnte auch ohne diese Durchbrüche durch die vorhandene Natur bestehen, sie widerspricht ihnen sogar in ihrer astrologisch-statischen Gestalt. Wogegen »Nova Atlantis« in jedem Betracht hinter den Säulen des Herkules liegen will, das ist: über die Einbindung durch gegebene Natur hinaus. Bacons Fragment, in seinem technischen Optimismus, kennt nicht einmal mehr Katastrophen, es gibt in dem beherrschten Erdreich kein schlagendes Wetter mehr. Von den schlagenden Wettern, die nicht die Natur, sondern die unbeherrschte menschliche Geschichte erfüllen, von den verschiedenen brennendenTrojas ist freilich nicht die Rede. Das Schicksal erscheint rein technisch so zurückgedrängt, daß das Haus Salomonis mit ihm bereits fertig zu sein scheint, bevor der Staat Salomonis sich auch nur entwickelt. Die Frage, was die Menschen mit ihrer knowledge and power anfangen, innerhalb der sozia- /(766) len Natur, die Bacon, der gestürzte Staatskanzler, doch nicht ganz ohne Katastrophen gefunden hatte, stellt Bacon, der Philosoph, in diesem seinem Fragment noch nicht; kurz vor der Frage nach dem besten Staat bricht ja »Nova Atlantis« ab. Doch lassen sich die Linien der ungeschriebenen Fortsetzung, Salomonis Reich betreffend, aus den übrigen Schriften des Philosophen durchaus erraten. Im Gegensatz zu einem verabsolutierten Technizismus erraten; denn Bacon ist, entgegen der landläufigen Meinung, weder ein purer Utilitarier noch ein purer Empirist. So sehr er auch das tätig erfindende Leben preist, so setzt er doch das denkende vorher: »Das Lichtbringende geht dem Fruchtbringenden vorauf und ist deshalb wertvoller.« Richtig und heilsam erscheint dem Träumer der »Nova Atlantis« nur ein Gleichgewicht des kontemplativen und des tätigen Lebens: »Am besten ist eine Verbindung, die der Konjunktion der beiden höchsten Planeten gleicht, des Saturn als Fürsten der ruhigen Beschauung, des Jupiter als Fürsten des tätigen Lebens.« Das Haus Salomonis aber ist eingebaut in ein schließlich ruhiges Reich: Die Naturbeherrschung (in der der Mangel und die Katastrophen aufhören) dient bei Bacon der Aufrichtung eines »regnum hominis«. Dieses Reich und Wissensziel ist bei Bacon mit den Hoffnungen erfüllt, die der frühe Kapitalismus durch die Entfesselung der Produktivkräfte noch für die Menschheit hegen konnte: »Zweck der Wissenschaft ist daher nicht Befriedigung der Neugierde oder auch die Fertigkeit, Geld und Brot zu verschaffen. Die Wissenschaft soll nicht ein Ruhebett sein für den von Neugier gequälten Geist oder ein Spaziergang zum Vergnügen oder ein hoher Turm, von dem man verächtlich herabblickt, oder eine Burg und Schanze für Streit
und Hader oder eine Werkstatt für die Gewinnsucht und den Wucher, sondern ein reicher Warenbehälter, eine Schatzkammer zur Ehre des Werkmeisters aller Dinge und zum Heil der Menschheit« (Novum Organon I, Aph. 81). Aus einerWelt voll Seuchen, Mangelkrise, Unterproduktion, aus einer Welt, der Bacons bewunderter Montaigne zugerufen hatte: Grace à l'homme, sollte zu dem Überfluß herausgetreten werden, der früheren Utopien einzig durch ihre Verlegung in eine »paradiesische Natur« erreichbar schien, zu dem Überfluß, der dem regnum hominis vorhergeht wie das Essen dem Tanz. Der Plan des /(767) »Hauses Salomonis« ist durch Technische Hochschulen und Laboratorien unterdessen erfüllt worden, über Bacons Träume hinaus; mit dem regnum hominis hat es noch gute Wege. Und auch die »Hervorbringung von Artefakten« in Bacons Sinn, die nicht nur prometheische, sondern auch künstliche Hervorbringung hat in der Folge die Katastrophen in der Technik nicht abgeschafft. In der gekommenen bürgerlichen Ökonomie und Gesellschaft blieb zwar der Kontakt mit der Natur, doch er blieb abstrakt und unvermittelt genug. Bacons großer Grundsatz: »Natura parendo vincitur«, Natur wird durch Gehorchen besiegt, blieb lebendig, doch er wurde durch das Interesse einer »Ausbeutung« der Natur durchkreuzt, durch ein Interesse also, das mit der natura naturans, die Bacon noch kennt und als »causacausarum» auszeichnet, nichts mehr zu tun hat, geschweige daß es mit ihr verbündet wäre. Auf diese Art entstand, neben allen Segnungen, ein so eigentümlich artifiziell-abstraktes Wesen an der bürgerlichen Technik, daß sie wohl auch, in manchen ihrer listigen Erfindungen, als noch »unnatürlich» fundiert wirken kann und nicht nur als noch unmenschlich verwaltet. Das »Haus Salomonis«, so scheint es, kommt doch nicht ohne Salomo aus, das ist ohne Naturweisheit. Sie enthält, wie jede Weisheit, Bezug zu ihrem Gegenüber, der Natur; das doch auch in ihr, nicht bloß über ihr erreichte regnum hominis hätte es dann leichter. II NICHT-EUKLIDISCHE GEGENWART UND ZUKUNFT, TECHNISCHES ANSCHLUSSPROBLEM Auch Pläne müssen angetrieben werden Es gibt keinen inwendigen Drang an sich, etwas zu erfinden. Immer ist ein Auftrag dazu nötig, der Wasser auf die geplanten Räder gießt. Jedes Werkzeug setzt genaue Bedürfnisse voraus und hat den präzisen Zweck, sie zu befriedigen; sonst wäre es nicht da. Der Hunger hat gerade hier alles begonnen, die frühesten Werkzeuge sind die zur Jagd und zum Fischfang, erstere dienten zugleich als Waffen. Der Pflug, die Erfindung des Spinnens und Webens, die Töpferei: auch wenn einiges davon mit /(768) Schmuck bedeckt worden ist, so war dieser doch nirgends primär, oder er diente, als geglaubtes magisches Zeichen, selber einem nützlichen Zweck. Und bis heute ist der Erfinder, auch als Träumer, ein praktischer Mann. Zugleich ist er mehr als jeder andere geistige Hersteller sich dessen bewußt, kein aus sich rollendes Rad zu sein. Wären die englischen Bergwerke nicht in Gefahr gewesen zu ersaufen, so hätte Watt vergebens, wie so viele andere vorher, den zischenden Teekessel, den ohnehin sagenhaften, beobachtet. Und ohne gesellschaftlichen Auftrag wäre im Geist keines Erfinders, etwa aus innerer Berufung, das Bild der Strickmaschine oder der Kettenschiffahrt aufgeblitzt. Sowenig wäre es ohne Auftrag aufgeblitzt wie heute das Erfinden von künstlichen Rohstoffen oder gar von Atombomben. Verkannte Erfinder sind daher, in besonders klarer
Weise, solche, welche zu früh kommen oder auch, wie heute im stockenden Westgeschäft, zu spät. Hier gibt es nur zwei Arten von Einfällen, solche, welche abgenommen, und solche, welche nicht abgenommen werden können; letztere sind auch als Entwürfe nicht recht da. Ein Erfinder kann nichts Überflüssiges tun, noch hat einer je im Sinn gehabt, es zu planen. Spätbürgerliche Drosselung der Technik, abgesehen von der militärischen Der bürgerliche Auftrag, zu erfinden, läßt seit längerem bezeichnend nach. Vor der letzten Krise wurde zuviel produziert, als daß das Kapital es bewältigen konnte. Hungersnot begann, keine wegen Mißernte wie in früheren Zeiten, sondern weil die Speicher zu voll waren. Wie augenscheinlich und bekannt, ist die privatkapitalistische Wirtschaft der Produktion, die sie einst entfesselt hat, selber zur Fessel geworden. Nur noch neue Todesmittel sind interessant, kurz vor und während des Krieges, die Kriegstechnik blüht, die friedliche hängt ihr an. Und auch ein zweites Motiv kommt zu dieser Drosselung hinzu, eines aus ganz entgegengesetzter, nämlich sozialistischer Gegend. Der Sozialismus ist in gegenwärtiger Zeit dringender an der Veränderung der zurückgebliebenen Gesellschaft interessiert als an der einer ohnehin fortgeschrittenen, ohne weiteres übernehmbaren Technik. /(769) Die Technik ist bereits kollektiv: aus der individuellen Werkstatt, worin der Meister mit seinen paar Gesellen noch mitarbeitet, ist längst die Fabrik der Hunderte und Tausende geworden. Aber der Privatbesitzer der Fabrik, der an der Produktion nicht mitarbeitet, ist noch individuell durchaus aus gesellschaftlichen, nicht aus technischen Gründen. Es ist ja gerade der Widerspruch zwischen der Reife, auch der längst kollektiven Form der Produktion und der veralteten privatkapitalistischen Aneignungsform, welcher den Nonsens der kapitalistischen Wirtschaft besonders kenntlich macht. Die Technik ist, sofern sie Lebensmittel-, nichtTodesmittel-Technik darstellt, cum grano salis selber schon sozialistisch; sie braucht mithin weniger Zukunftspläne als die Gesellschaft. All das kommt zusammen, um technische Utopien lange nicht so aufregend zu machen wie noch zur Zeit Jules Vernes. Nicht bloß weil der Himmel von falschen Vögeln wimmelt, mittels derer die Erde bedeutend kürzer als in achtzig Tagen umreist werden kann, sondern vor allem eben, weil auch utopisch ein zeitweiliges Moratorium der Technik gekommen ist. Der Ausdruck Moratorium der Technik stammt aus der langen Krisenzeit vor dem zweiten Weltkrieg und ist insofern weit sachlicher als der Produktionsjubel, den ein sogenanntes Wirtschaftswunder infolge des zweiten Weltkriegs, das danach ist, flüchtig angeregt hat. Surpluskrise, das mehr als zyklische Schicksal des Monopolkapitalismus, steht dem Grünlicht immer wieder entgegen, dem Auftrag, den das Kapital, in seiner progressiven Zeit, technischem Wagemut gegeben hatte. Der Unterschied zum Erfindungstempo von 1750 bis 1914 ist und bleibt schneidend; keine Investierung von heute fühlt auch nur annähernd sich so noch elektrisiert. Ganz wider eiligen Anschein und Propaganda geht das gerühmte technische Tempo, Veränderungen des Zivillebens betreffend, eher wie das einer Postkutsche voran, verglichen mit dem der industriellen Revolution und dem neunzehnten Jahrhundert. Was war einmal aus dem alten Papinschen Topf geworden, als das Kapital daran interessiert war, den Dampf Arbeit leisten zu lassen. Und welcher Weg in kurzer Zeit von der Newcombschen Dampfmaschine, die kaum dazu ausreichte, ein Bergwerk zu entwässern, zur Dampfmaschine Watts, mit Schieber, Exzenter, Schwungrad und den industriellen Folgen. /(770) Was war einmal aus dem geriebenen Bernstein von einst geworden
und aus dem Magneten, als das Interesse an elektrischer Arbeitskraft dem am Dampf zur Seite trat. Welch mächtiger Korpus wurde der Magnet in der Dynamomaschine, welche Veränderungen hat dieses induktionselektrische Wesen reißend in die Welt gebracht, in eine, die die Produktivkräfte noch entfesseln wollte. Dreißig Jahre nach Eröffnung der ersten Eisenbahnstrecke war Europa kreuz und quer mit Schienen belegt, und nicht einmal so viel Zeit verstrich nach der Erfindung der ersten induktionselektrischen Apparate, bis kaum ein Dorf ohne Telefon war und keine Stadt ohne Elektrizitätswerk. Dagegen die neue, die riesige Entdeckung unserer Zeit: die Atomenergie, sicher umwälzender als Dampfkraft und Elektrizität zusammen, wurde außerhalb der Atombombe von amerikanischen technischen Zeitschriften lediglich als »the next century's power« bezeichnet. Da zur Zeit dieser Prophezeiung das jetzige Jahrhundert nicht zur Hälfte abgelaufen war, wird die Revolution durch die neue Produktivkraft nicht einmal auf die Kinder, sondern auf die Urenkel abgeschoben: die Sowjetunion hat dagegen das erste Atomkraftwerk errichtet. An Amerikas Zaudern ist keineswegs sachliche Schwierigkeit beteiligt, denn die Atombombe, diese hat es ja, kraft des imperialistischen Auftrags, am frühsten hergestellt. Beteiligt bleibt vielmehr ein Gesellschaftszustand, der die Ruhmesblätter der Technik, wie man im neunzehnten Jahrhundert sagte, nicht mehr leicht erträgt. Trotz der Ablenkung, die der technische Fortschritt oder besser: die Anpreisung des technischen Fortschritts ideologisch leistet. Trotz der Möglichkeit, daß auch das Öl- und Kohlenkapital sich Atomenergie beibiegt, damit sie kapitalistisch schlecht und recht kanalisiert werden kann, solange es nur geht. Durch Furcht vor weiterer Überproduktion wird selbst der Fortgang längst eingeleiteter Erfindungen erstaunlich verlangsamt, wenn er auch nicht verhindert werden kann. Die Chemie setzt zwar die Erfindung von Ersatz fort, wie das neunzehnte Jahrhundert ihn mit künstlichem Indigo begonnen hatte. Sie bringt Gummi, Öl, Textilien synthetisch zustande, sie bricht sogar in Stahl und Zement ein, aus dem neuen Material »Plastic« lassen sich vermutlich ganze Autos pressen, Hebekrane, Eisenbahnen, Mietskasernen, Wolkenkratzer backen. /(771) Hinter dem Flugzeug droht oder fasziniert der abenteuerliche Raketenantrieb, mit »Versorgungsraketen«, »Mehrstufenraketen«, »Außenstation« (künstlichem Erdmond); das desto unaufhaltsamer, als gerade dergleichen imperialistische Kriegsinteressen einladet. Aber trotzdem fehlt das Installations- und Industrialisierungstempo des vorigen Jahrhunderts; der Sprung von der Postkutsche zur Eisenbahn war in der Veränderung der Lebensverhältnisse unvergleichlich größer als der von der Eisenbahn zum Flugzeug. Wobei nicht einmal an den Bombenhagel gedacht zu werden braucht, unter dem das Flugzeug den meisten begegnet ist, sie wohl auch befördert hat, ins Jenseits. Der latente Maschinensturm des Spätkapitals wirkt der Fortbewegung des Edisonhaften überall entgegen, obwohl es, einmal in Gang gekommen, nicht so leicht zu stoppen ist. Insgesamt aber: Erfindung hat erst dann wieder wirkliche Utopie im Leibe, wenn Bedarfswirtschaft statt Profitwirtschaft betrieben wird. Wenn endlich das Gesetz des Sozialismus: maximale Bedarfsdeckung auf dem Stand der höchsten Technik, das Gesetz des Kapitalismus: maximalen Profit, abgelöst hat. Wenn der Konsum imstande ist, alle Produkte aufzunehmen, und die Technik, ohne Rücksicht auf Risiko und private Rentabilität, wieder zur Kühnheit, ohne alle imperialistisch beförderte Dämonie, beauftragt wird. Entorganisierung der Maschine Atomenergie, nicht-euklidische Technik
Das liegt desto näher, als unter der jetzigen Kruste sich ein anderer Zug regt. Weit über Ersatzstoffe hinaus, so sehr es auch in deren Gebiet liegen mag, nämlich im nicht mehr gewachsenen, künstlichen oder allzu künstlichen. Das Ungewachsene fing bereits an, als die Menschen das Rad erfanden, das an ihrem Leib ja nicht vorkommt. Sonst waren, wie bekannt, Werkzeuge und Maschinen durch Nachahmung von Leibgliedern entstanden, der Hammer ist die Faust, der Meißel der Nagel, die Säge die Zahnreihe und so fort. Aber großer Fortschritt geschah erst, als dergleichen aufgegeben wurde, als die Maschine ihre Aufgabe mit eigenen Mitteln löste. Die Nähmaschine arbeitet nicht wie Handnaht, die Setzmaschine nicht wie Handsatz; das Flugzeug /(772) ist kein nachgeahmter Vogel, seine Tragfläche steht im Gegenteil unbeweglich, und sein Propeller ist kein Flügel. Nur in der Dampfmaschine und Lokomotive wirkt noch ein Anschein aus der alten organischen Reihe weiter. Zischend, kochend, atmend, mit Pleuelstangen wie Armen an der Seite; spielende Kinder sind so noch veranlaßt, Lokomotiven nachzuahmen. Und wie organisch-vertraut kann noch die Beschreibung sein, die Josef Conrad im »Taifun« dem Schiffsmaschinenraum angedeihen läßt, den blassen, länglichen Flammen auf dem hellpolierten Metall, den ungeheuren Kurbeln, aus dem Boden auftauchend, wieder nach unten sinkend, den stark gelenkigen Kurbelstangen, an die Glieder eines Skeletts erinnernd, die die Kurbeln hinunterstürzen lassen, wieder emporziehen: »Und tiefer im Halbdunkel glitten andere Stangen bedächtig hin und her, Kreuzköpfe nickten, Metallscheiben neben die glatten Flächen aneinander, langsam und sanft, in einem wunderbaren Gemisch von Licht und Schatten.« Dergleichen sieht in seinen ausdrucksvollen und unfehlbaren Bewegungen noch wie künstlicher Organismus oder auch wie gewachsener Mechanismus aus. Aber die Technik, die im jetzigen Jahrhundert sich entwickelt hat, weist immer geringere Ähnlichkeit mit menschlichen Gliedern und Maßen auf, und die Dampfmaschine gibt nur einen letzten Gruß, selber nur den Anschein eines Grußes an die alte organoide Reihe. Die Retorte ist kein Mischkrug mehr oder Backtrog, worin vorhanden gegebene Stoffe zu wenig davon entfernten Gebilden kombiniert und umgebildet werden; und die Großmaschine stößt die letzte Organähnlichkeit ab. Waren doch bereits Stange, Welle, Lager, Kugellager, Rad, Zahnrad, Transmission und alle anderen Maschinenelemente das Entorganisierte im Beginn, erst recht ist es deren Kombination, der Arbeitstransformator Maschine. Ja nicht bloß die organische Leitlinie ist in ihr umgebrochen, auch noch ein anderer Bruch oder Zwang stellt hier um, einer in der physikalischen Leitlinie selber. Maschine insgesamt, so definierte Reuleaux, »ist eineVerbindung von widerstandsfähigen Körpern, welche so eingerichtet sind, daß mittels ihrer mechanische Kräfte genötigt werden, unter bestimmten Voraussetzungen zu wirken«. Obwohl diese Definition, der Denkweise des neunzehnten Jahrhunderts gemäß, jede menschliche Finalbezeichnung aus/(773) läßt, also den gesellschaftlichen, unnaturhaften Zweck, zu dessen Bewirkung mechanische Kräfte genötigt werden, so erhellt doch: Maschinerie selber ist bereits ein unnaturhaftes Vorkommnis, eine Art unnatürliche Physik. Und innerhalb ihrer wächst die Abstoßung vom gegeben Naturhaften immer noch weiter; Organprojektion wird wachsend verlassen oder transzendiert. Die elektrische Lokomotive ist ein Koloß aus Niemandsland, und das Raketenflugzeug, das durch die Stratosphäre schießt, verhält sich zum Vogel nicht einmal so wie der Propeller mit Tragfläche, sondern wie ein Meteor. Wie nun gar erst die mögliche Technik aus den bisher entferntesten Kraftantrieben: den subatomaren, und aus den Transformatoren, in welche diese geleitet werden. Mit ihr wird nicht bloß die Organprojektion verlassen, sondern zum Teil das Reich der immerhin
dreidimensional-mechanischen Welt, worin elektrische Lokomotive, Dieselmotor, Raketenflugzeug sich noch befinden. Die anschaulich-klassische Mechanik selber wird damit verlassen: im Elektron »sieht es überhaupt nicht mehr aus«, Elektronen und Protonen sind nicht mehr der Stoff der alten physischen Welt. Auch wenn sie keineswegs, wie ihre idealistischen Interpreten sagen, »mathematisch-logische Strukturen« sind, so ist doch der ehemalige Äther, der so lange Gasvorstellungen mit sich führte, ein Synonym von n-dimensionalem Feld geworden, von elektromagnetischem Strukturfeld. Sollte eine wirkliche Strahlungsindustrie entstehen, noch innerhalb des Kapitalismus, oder, wie sich jetzt schon zu friedlichen Zwecken abzeichnet, in der Sowjetunion, dann eben kommt zur aufgegebenen Organprojektion noch ein großes Stück Abschied von der klassischen Mechanik und ihrer Projektion hinzu. Die klassische Mechanik war und ist die unseres mesokosmischen Anschauungsraums, zwischen dem unmenschlichen »vierdimensionalen Weltkontinuum« und dem unmenschlich verwirklichten Abgrund des »Atomraums«. Indem aber die künftige Technik sich wesentlich aus subatomaren Impulsen, folglich aus eben diesem grotesk dimensionierten Atominneren speisen dürfte, verhält sie sich zur bisherigen als eine, die eine ganz andere Welt gebraucht, in sie übersetzt und versetzt ist. Die erwartbareTechnik verhält sich nicht nur wie die drahtlose Telegraphie zur akustischen Tischglocke, sondern es können durch Zerstrahlung beliebige Teile /(774) der irdischen Materie in den Zustand der Fixsternmaterie verwandelt werden: es ist, als ob Fabriken unmittelbar über den Energieorgien der Sonne oder des Sirius stünden. Der synthetischen Chemie, welche Rohstoffe herstellt, wie die Erde sie nicht trägt, billigere und zuweilen bessere, tritt in der Atomphysik eine Art analytischer Gewinn von Energie zur Seite, wie sie überhaupt nicht von dieser Erde ist, als der bisher vertrauten. Eine Gesellschaft freilich ist vorausgesetzt, welche diese Umwälzung der Produktivkräfte ertragen kann, und diejenige Art Natur gehört dazu, welche noch die alte Gesellschaft aus dem Boden der Natur heraufgerufen hat. Der noch nicht geheure Weg begann, als es gelungen war, Stoffe zu zerstrahlen. Schon lange war vermutet, daß der gasförmige Zustand eines Körpers nicht sein letzter sei. Faraday gab diesem von ihm geahnten, jedoch experimentell nicht bewiesenen Zustand den Namen »strahlende Materie«. Die Reihe erstaunlicher Entdeckungen ist bekannt, die von den Kathodenstrahlen zu den X-Strahlen, zu den Becquerelstrahlen führte und von da zu den sogenannten radioaktiven Strahlen, ausgesandt durch den Selbstzerfall eines sehr schweren Elements, des Urans. 1919 gelang Rutherford die erste Atomzertrümmerung, so wurde Zerstrahlungsenergie auf künstlichem Weg frei gemacht, wenn auch noch in verschwindend geringer Menge. Rutherford glaubte noch nicht, daß aus dem Atomzerfall eine praktische Energiequelle zu gewinnen sei, doch war die gewinnbare Energie theoretisch bereits bekannt: ein Gramm Radium-Emanation enthält 160 Millionen PS Arbeitsfähigkeit, mithin eine Kraft, die ausreicht, ein Schiff mit tausend Tonnen Ladung sechshundert Seemeilen weit zu treiben. Nach der Relativitätstheorie ist die Energie eines ruhenden Körpers von der Masse m Gramm: E = m mal c hoch zwei, wobei c die Lichtgeschwindigkeit bedeutet, in Kilometerstunden ausgedrückt: es ist also c eine ungeheuer große Zahl, und ihre Multiplikation bereits mit der kleinstenGramm-Masse enthüllt gebundene Energiemengen kosmischen Ausmaßes in jedem Feldstein. So zeigte die gelungene Praxis der Atombombe, des so schändlich pervertierten Vorläufers subatomarer Produktivkräfte, die gleiche Grundenergie, die das Weltall baut, in Gang erhält und zerstören kann. Die Neutrons in der explodierenden /(775) Uranbombe hatten die
Sekundengeschwindigkeit von 6210 englischen Meilen; ein vollkommen unirdischer Hurrikan an der Grundbasis der Welt, und ein von Menschen abgelassener. Für die Elemente 95 und 96, die vorläufig der Fabrikation der Atombombe dienen, wurden die Namen »Pandämonium» und »Delirium» vorgeschlagen, als welche unterdessen durch die Namen »Americium» und »Curium» ersetzt sind; das Delirium in der Kettenreaktion ist ja einzig ein imperialistisches. Wie die Kettenreaktionen auf der Sonne uns Wärme, Licht und Leben bringen, so schafft die Atomenergie, in anderer Maschinerie als der der Bombe, in der blauen Atmosphäre des Friedens, aus Wüste Fruchtland, aus Eis Frühling. Einige hundert Pfund Uranium und Thorium würden ausreichen, die Sahara und die Wüste Gobi verschwinden zu lassen, Sibirien und Nordkanada, Grönland und die Antarktis zur Riviera zu verwandeln. Sie würden ausreichen, um der Menschheit die Energie, die sonst in Millionen von Arbeitsstunden gewonnen werden mußte, in schmalen Büchsen, höchstkonzentriert, zum Gebrauch fertig darzubieten. Mit alldem wäre zugleich die Entorganisierung der Technik, der nicht mehr euklidischen, bis ins Entlegenste vollkommen; sie hinge aus unserer mesokosmischen Welt in eine unermeßlich andere über, nicht nur in eine subatomare, sondern auch in eine makrokosmische. Eine nahe Zukunft, die sich die Quantentheorie und das Haltbare an der Relativitätstheorie, neuen Gravitationstheorie aufs beste, nämlich durch die Praxis, auch anschaulich machen kann, hebt die Möglichkeiten einer nicht-euklidischen Technik, wie sie in der Strahlungsindustrie beschritten wird, aus der Phantasterei in fast solide, fast schon abzeichenbare Aussichten. Wäre es gar denkbar, die Raum-Zeit-Verhältnisse der Einstein-Welt auf unsere zu übertragen, dann kämen Paradoxien zum Vorschein, die nicht nur jede technische Romanvision überbieten, sondern fast die Modellbücher alter Magie. Außerhalb unserer dreidimensionalen Welt, allgemeiner: in allen Räumen mit gerader Dimensionszahl würden Räume hell bleiben, auch wenn die Lichtquelle verschwunden ist; was aus der Wellengleichung des Lichts erschließbar sein soll, sobald sie auf n-dimensionalen Raum übertragen wird (vgl. Herm.Weyl, Philos. der Mathematik und Naturwissenschaft, 1927,S.99). Die Gleich- /(776) gültigkeit mathematisch-physikalischer Gesetze gegen die Dimensionszahl hört in einer tieferen Schicht auf; ein in der dreidimensional-klassischen Mechanik Unmögliches kann derart gültig sein, technisch möglich werden. Letzteres auf eine wenigstens nicht mehr absolut ausgeschlossene Weise; die begonnene Utopie einer nicht-euklidischen Technik hat bereits außerordentlich weit vorgeschobene Grenzen. Dafür allerdings auch die angegebene Gefahr immer größerer Künstlichkeit, immer weiteren Überhangs in vermathematisiertes Niemandsland. Und diese Künstlichkeit eben ist zugleich das am Ende immer deutlicher hervortretende Negativum im Bruch der anschaulich-physikalischen Leitlinie selber. Als ein Negativum, das an diesem Ende ebenso einen künftigen Umschlag in der an sich so hochwichtigen, so hochprogressiven Erweiterung des technischen Raums anzeigt. Nur wird dieser Umschlag nicht mehr auf dem Boden der bürgerlichen Beziehung zu Menschen und zur Natur geschehen können, das heißt innerhalb jener Komponente der Naturbeziehung, die zur bürgerlichen Ideologie gehört und so die übrige Abstraktheit (Fremdheit) der bürgerlichen Materialbeziehung teilt. Sondern eine nicht mehr imperialistische Gesellschaft wird, wie sie die Atomenergien human verwaltet, so sich dieses, wie immer auch nicht-euklidische, Material als eines ohne letzthinnige Fremdheit vermitteln. Mit der Abstraktheit hängt auch das eigentümliche Pathos der Unanschaulichkeit zusammen, das alle nicht-euklidische Physik bis jetzt erfüllt. Gemeint ist damit nicht die Unanschaulichkeit im schlichten Sinn, nämlich die selbstverständliche, die allen Vorkommnissen außerhalb des dreidimensionalen
Anschauungsraumes eignet. Sondern jene andere Unanschaulichkeit ist gemeint, die das gleiche ist wie Unvermitteltheit des unabhängigen Objekts mit dem denkenden Subjekt, des denkenden Subjekts mit dem unabhängigen Objekt. Soweit noch eine nicht-euklidische Physik, trotz beständigen Rekurses auf Beobachtung, ihre Welt als bloße Verdinglichung mathematischer Symbole aufbaut, ist die Abstraktheit so groß geworden, daß Subjekt und Objekt überhaupt nicht mehr zusammenkommen, ja daß das nicht-euklidische Objekt gerade als reale Bewegungsmaterie völlig. ausfällt. Derart erscheint hier vollends Unvermitteltheit mit dem Inhalt - ein ideologisches Analogon zum /(777) völlig entfremdeten, entwirklichten Funktionsbetrieb der spätkapitalistischen Gesellschaft, projiziert in die Natur. Ein methodischer Idealismus vermehrt so noch dasjenige, wodurch eben auch eine nicht-euklidische Technik noch so eigentümlich ins Unvermittelte, zur konkreten Vermittlung schlechthin Disparate hineinragt. Sicher ist die ideologische Komponente nur die eine an der entmenschlichten Physik, und die andere, durch Ideologie-Analyse unangreifbare, ist das Diktat beobachteter Natur, ihr theoretisch gerecht zu werden. Doch weder sind beide Komponenten bereits scharf trennbar noch ist in dem gesamten pointierten Abstraktwesen eine auch real drohende Vermittlungslosigkeit übersehbar. Indes ruft nun gerade der Triumph der nicht-euklidischen Praxis, den die Zerstrahlungstechnik darstellt, heilsame Antizipationen aus dem Bild einer nicht mehr verapparatlichten Gesellschaft auf den Plan. Diese konkret-utopischen Linien entspringen in der Technik besonders deutlich aus der Aufgabe einer konkreten Subjekt-Objekt-Beziehung. Dergestalt, daß das Subjekt mit dem Naturobjekt, das Naturobjekt mit dem Subjekt vermittelt werden und beide sich nicht mehr zueinander verhalten als zu einem Fremden. Entorganisierung, die das Organische und schließlich das Mesokosmische gänzlich verläßt, darf nicht den Zusammenhang mit dem menschlichen Subjekt verlieren, das gerade in der Technik, nach dem schönen Wort von Engels, die Dinge an sich in Dinge für uns verwandeln will. Und Entorganisierung muß aus dem gleichen Grund den Abbild-Kontakt mit dem Objekt bewähren, mit seiner realen dialektischen Gesetzmäßigkeit, wie sie Natur und Geschichte im gleichen Zusammenhang verbindet, aber auch - wovon sogleich - mit jener Kern- und Agens-Immanenz des eigentlich naturhaften Objektzusammenhangs, die halb-mythisch einmal als »natura naturans» oder auch hypothetisch als »Subjekt der Natur» bezeichnet wurde und die mit dem Fragwürdigen (doch auch der Frage Würdigen) dieser Bezeichnungen gewiß noch nicht erledigt ist. Es ergab sich jedenfalls, bei aller Progressivität, wieviel Abstraktheit noch in der Entorganisierung steckt und welcher Abgrund an unbeherrschter Disparatheit. Entorganisierung wird erst Segen, wenn sie außer sozialer Ordnung auch die letzte Antizipation »natürlicher Magie», nach Bacons Ausdruck, für sich /(778) hat: Vermittlung der Natur mit dem menschlichen Willen regnum hominis in und mit der Natur. Subjekt, Rohstoffe, Gesetze und Anschluß in der Entorganisierung Das bürgerliche Denken insgesamt hat sich von den Stoffen, von denen es handelt, entfernt. Ihm liegt eine Wirtschaft zugrunde, die sich, wie Brecht sagt, nirgends für Reis interessiert, sondern nur für seinen Preis. Der Übergang von Gebrauch in Tausch ist alt, aber erst kapitalistisch kam die Verwandlung aller Tauschgüter in abstrakte Waren und der Ware in Kapital. Dem entspricht ein nicht nur von den Menschen, sondern auch von den Dingen entfremdeter Kalkül, ein zu ihrem Inhalt gleichgültiger. So breitet sich ein nicht-organischer, ein entqualifizierender Sinn
schon seit dem Ende der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals, also seit konzentrierter Warenerzeugung und entsprechendem Ware-Denken. Vom siebzehnten Jahrhundert an verschwinden die qualitativen Naturbegriffe, wie sie Giordano Bruno, stellenweise selbst Bacon noch gepflegt hatten. Galilei, Descartes, Kant sind in dem Gedanken vereint: Nur was mathematisch erzeugt ist, ist erkennbar, nur was mechanisch begriffen ist, ist wissenschaftlich verstanden. Aber die abstrakte Ware Zucker ist ein anderes als die Sache Zucker, und die abstrakten Gesetze der mechanistischen Naturwissenschaft sind ein anderes als das inhaltliche Substrat, zu dem diese Gesetze keinen Bezug unterhalten. Was für die Theorie gilt, gilt erst recht für die technische Praxis, sie begnügt sich mit Gesetzen über lauter Zufall. Poincaré, der überhaupt nur noch an Konventionen, nicht an materielle Gesetze glaubte, bemerkte einmal, man könne sich der Überraschung nicht erwehren, zu sehen, wie wenig ein Mensch von der Natur zu wissen brauche, damit er sie bändige und seinem Willen dienstbar mache. Dampf, Elektrizität erscheinen einzig als Quantitäten von Arbeitskraft, die nach physikalisch-technischen Maßeinheiten und nach Herstellungskosten bestimmt werden. So steht gerade die bürgerliche Technik in einem reinen Waren-Bezug, einem von Haus entfremdeten, zu den Naturkräften, mit denen sie von außen operiert. Und eben der inhalt- /(779) liche Bezug wird desto geringer, je weiter die Technik von der Anschirrung des organischen Pferds zum Explosionsmotor hinausgeschritten ist oder am ultraviolettenVulkan der Atomenergie Fuß faßt. Ohnehin schon verhält sich die bürgerliche Gesellschaft zum Substrat der Dinge, die ihr Denken und Handeln betreffen, abstrakt. Also bleibt auch ein arbeitendes Substrat der Natur, das an ihr, was sonst Wirkungskraft und Samen genannt worden ist, außer Bezug. Es ist aber dieses Bezugsproblem für jede konkret werdende Technik das dringendste; denn es ist das der technischen Hoffnung selber. Wobei lehrreich bleibt und immer lehrreicher werden wird, daß auch das noch so abstrakte technische Erzeugungswesen die völlige Anschlußlosigkeit Münchhausens nicht erreicht oder erreichen will, der sich an seinem eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht. Sondern auch die vollendete Künstlichkeit verwendet, trotz alles technischen Nihilismus, durchaus noch Natur, kommt um diesen Anhalt von draußen nicht herum. Nehme man erstens die Rohstoffe, so kann selbst die größte List des Ersatzes nicht im luftleeren Raum gelingen. Stellt die synthetische Chemie andere Rohstoffe oder vorhandene anders her, so macht sie zwar von dem natürlichen Vorkommen oder Wachstum dieser Stoffe unabhängig, doch nicht von natürlichen Bezugselementen überhaupt. Sie gewinnt Farben aus Teer, Benzin aus Kohle, Düngemittel aus Thomasschlacke, Gummi aus Getreide, Kartoffeln oder anderen kohlehydratreichen Grundstoffen; sie erzeugt Textilien aus Milch, warum nicht Butter aus dem Stickstoff in der Luft. Doch nur die Grund- oder Ausgangsstoffe haben sich dadurch verändert, und nur das Verfahren ist ein anderes als das langsam bildende der Natur. Nur der Ausgangsort ist zurückverschoben, nur immer weniger »Fertigfabrikate« der Natur werden als Rohstoffe verwendet. Doch selbst bei noch so kühner Neubildung bleiben mindestens Wasser, Luft und Erde unumgänglich. Auch einer noch so synthetischen Chemie wächst kein Kornfeld auf der flachen Hand, soll heißen: Verbindung mit Vorgewaltetem, das nur mit ihm selbst im Bunde besser verwaltet werden kann, hört hier trotzdem nicht auf. Erst recht gilt das für den Versuch, der noch weit prekärer als synthetische Chemie vorstößt: für die mögliche Strahlungstechnik; für das Problem, wie die klassische /(780) Mechanik auch technisch zu verlassen sei, wie Maschinen am nicht-euklidischen Rand anzusiedeln seien. Auch dann noch bleiben die verwendeten Kräfte aus Natur hergeleitet, obzwar aus einem besonders
unheimlichen Fonds: und das Verfahren, wonach neue Arbeitstransformatoren zu bisher ungeahnten Nutzeffekten und Wunderwerken gebaut werden, kann zu der Impulsmaterie im nicht-euklidischen Natursegment keinesfalls disparat bleiben. Zweitens gar: noch falscher als eine abstrakte Auslassung der Rohstoffe ist eine des anders Vorgewalteten: der natürlichen Gesetze. Rein subjektivistisch geht es zu, wenn die Gesetze bloß als » Gedankendinge « betrachtet werden, gar als fiktive »Modelle«, nach denen eine Abfolge oder ein Zugleich von Wahrnehmungen «denkökonomisch« zurechtgelegt wird. Dieser Fideismus eröffnet dann freilich, in allen seinen Abarten, eine besonders großmäulige und scheinbare Freiheit im wegidealisierten Objektraum. Eine Freiheit à la Simmel gegenüber der Geschichte, indem «ihr der Geist selbst ihre Ufer und ihren Wellenrhythmus vorzeichnet«. Dann aber auch eine Freiheit à la Bertrand Russel gegenüber der Natur und ihren Gesetzen, als angeblich «rein logischen Strukturen, die aus Ereignissen, das heißt Wahrnehmungen bestehen«; wonach diese Gesetze erst recht nichts Reales widerspiegelten, das unabhängig vom methodischen Bewußtsein besteht. Die Folge für die Technik wäre danach, daß die Entorganisierung, die ohnehin noch gefährlichunanschaulich überhängende, nun völlig ins Niemandsland geriete. Wahr dagegen ist: Alle erkannten Gesetze spiegeln objektiv-reale Bedingungszusammenhänge zwischen Prozessen wider, und die Menschen sind in dieses von ihrem Bewußtsein und Willen Unabhängige, doch mit ihrem Bewußtsein und Willen Vermittelbare durchaus eingebettet. Alle Theoretiker haben auf diesen so ununterschlagbaren wie hilfreichen Objektivcharakter der Gesetze hingewiesen: der ökonomischen des konkreten Aufbaus, aber auch der naturhaften der ihm dienenden Technik. Das nicht, damit die Menschen zu Sklaven dieser Gesetze werden und sie fetischisieren, wohl aber, damit auch marxistisch, gerade marxistisch, kein Leichtnehmen, Äußerlichnehmen dieser Notwendigkeiten Platz greife. Daher wurde zu diesem Punkt nicht mit Unrecht gesagt, wenn auch zu einseitig fast alles auf die /(781) Objektseite werfend: «Der Marxismus faßt die Gesetze der Wissenschaft - ganz gleich, ob es sich um Gesetze der Naturwissenschaft oder der politischen Ökonomie handelt - als solche objektiver, unabhängig vom Willen der Menschen vor sich gehender Prozesse auf. Die Menschen können diese Gesetze entdecken, sie erkennen, sie erforschen, sie in ihrem Handeln berücksichtigen, sie im Interesse der Gesellschaft ausnutzen..., den zerstörenden Wirkungen mancher Gesetze eine andere Richtung geben, ihren Wirkungsbereich einschränken, anderen Gesetzen, die zum Durchbruch drängen, freie Bahn schaffen, aber sie können diese Gesetze nicht umstoßen« (Stalin, Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, Dietz, 1952, S.4 f.). Sonst entstehenPutschismus oder Abenteurertum, als jene Übertreibungen des subjektiven Faktors, die die Veränderung der Verhältnisse mit der Überspringung des Gesetzesrahmens verwechseln, innerhalb dessen diese Veränderungen einzig konkret-segensreiche, konkret-reale sein können. Es entsteht vor allem auch, indem die Notwendigkeit einzig als äußere, mit dem subjektiven Faktor unvermittelte, ja ihm entgegengeltende aufgefaßt wird, eine mögliche Feindschaft gegen die Notwendigkeit, also gegen den objektiv-realen Gesetzesfahrplan überhaupt. Und damit erscheint diese Notwendigkeit dem Bewußtsein, so weit es sonst auch vom bürgerlich-abstrakten entfernt sein mag, nicht als eine wesenhaft zu erkennende und so zu beherrschende, sondern wegen der Fremdheit - einzig als eine zu sprengende. Das trotz der Engelsschen Weisung: «Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze und in der damit gegebenen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen« (Anti-Dühring, Dietz,
1948,S. 138). In diese Richtung wies bereits die Einsicht Hegels, freilich so, daß dessen unleugbare Naturfeindschaft, das heißt seine relative Ablehnung einer auch inneren Notwendigkeit in den Naturbewegungen, nun gerade wieder die Beherrschung der Naturgesetze ebenso und mehr im Sinn der List als in dem des konkreten Eingedrungenseins in den Stoff verstand. Wonach ein früher Hegelsatz der technischen Notwendigkeit zwar entlangläuft, ihr aber doch buchstäblich nur entlangläuft, also wieder nicht Kontakt mit ihrem inhalt- /(782) lichen Substrat sucht. Derart vereint die Hegelstelle das Richtige, das die Natur zum Mitarbeiter macht, und das Falsche, das mit der Natur nur durch die Abstraktion der Fremdheit, gleichsam der kolonialen List, technisch verkehrt; sie vereint das folgendermaßen: »Die Passivität« (des Menschen, der die Natur für sich arbeiten läßt) »verwandelt sich in Tätigkeit, ... daß die eigene Tätigkeit der Natur, Elastizität der Uhrfeder, Wasser, Wind angewendet wird, um in ihrem sinnlichen Dasein etwas ganz anderes zu tun, als sie tun wollten, daß ihr blindes Tun zu einem zweckmäßigen gemacht wird, zum Gegenteil ihrer selbst... Der Natur selbst geschieht nichts, einzelne Zwecke des natürlichen Seins werden zu einem Allgemeinen. Hier tritt der Trieb ganz aus der Arbeit zurück, er läßt die Natur sich abreiben, sieht ruhig zu und regiert nur mit leichter Mühe das Ganze: List. Die breite Seite der Gewalt wird von der Spitze der List angegriffen. Es ist die Ehre der List gegen die Macht, die blinde Macht an einer Seite anzufassen, daß sie sich gegen sich selbst richtet, sie anzugreifen, sie als Bestimmtheit zu fassen, gegen diese tätig zu sein oder sie als Bewegung eben in sich selbst zurückgehen zu machen, sich aufzuheben« (Hegel, Jenenser Realphilosophie, Meiner, II, S.198 f.). Und dasselbe noch mehr im Stil einer Fallgrube, die der Natur gelegt wird, einer Tretmühle, in die die übertölpelte gebracht wird: »Die List besteht überhaupt in der vermittelnden Tätigkeit, welche, indem sie die Objekte ihrer eigenen Natur gemäß aufeinander einwirken und sich aneinander abarbeiten läßt, ohne sich unmittelbar in diesen Prozeß einzumischen, gleichwohl nur ihren Zweck zur Ausführung bringt» (Hegel, Werke Vl, S.382). Spitze der List also ist hier der ebenso scharfsinnige wie abstrakt-unvollständige Terminus für die technische Beziehung zur Natur, zu dieser Grundlage der menschlichen Tätigkeit. Die List verhält sich zur Natur in dieser Hegelstelle wie Schillers Mensch zum Feuer: »Wohltätig ist des Feuers Macht, wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht.« Die Hegelstelle verhält sich nicht wie Faust zum Feuer: »Erhabener Geist, du gabst mir, gabst mir alles, worum ich bat. Du hast mir nicht umsonst dein Angesicht im Feuer zugewendet.« Die Goethische Wendung ist die eines aufschlagenden Naturvertrauens, am Ende den Busen eines Freunds erwartend; die Schillersche Wendung ist nicht ohne jene /(783) Gewaltsamkeit, welche aus der Natur, gleich einer gezähmten, bewachten Kolonie, nur unter der Bedingung der Herrschaft Wohltat zieht. Der kapitalistische Begriff der Technik insgesamt (und Schiller wie Hegel reagieren in diesem Punkt kapitalistischer als Goethe mit der älteren, der Renaissancelinie Fausts) zeigt dergestalt mehr von Domination als von Befreundung, mehr von Sklavenaufseher und Ostindischer Kompanie als vom Busen eines Freunds. Drittens und letzthin also könnte erst die volle Eindringung in die wesenhafte Notwendigkeit der Prozesse auch die Entorganisierung vor dem Nicht-Bezug zum »Feuer« des Natur-Agens bewahren. Des Sinns, daß immer mehr an Stelle der bloß äußeren Notwendigkeit, gar des agnostischen Modells extra rem, das Herstellende auch in der Natur verspürt, aufgespürt, begriffen wird. Mit der Renaissance-Dimension, wie sie Leonardo nicht nur malerisch überliefert: »Die Gesetze der Natur zwingen den Maler, sich in den Geist der Natur zu verwandeln und sich zum Vermittler zwischen Natur und Kunst zu machen.« Mit der
Renaissance-Dimension, an die gerade Marx, wie selber immer wieder erinnert werden mag, in der »Heiligen Familie» erinnert: »Unter den der Materie eingeborenen Eigenschaften ist die Bewegung die erste und vorzüglichste, nicht nur als mechanische und mathematische Bewegung, sondern mehr noch als Trieb, Lebensgeist, Spannkraft, als Qual - um den Ausdruck Jakob Böhmes zu gebrauchen - der Materie.« Das bei aller Vorsicht gegen die zahlreichen mythischen Reste im Begriff eines quellenden Substrats, ja gegen einen pantheistischen Vitzliputzli, wie er wohl ebenfalls im Begriff einer natura naturans noch spuken konnte. Sei es in dessen schlecht gereinigten Zugängen und Vorhöfen, sei es auf Grund der »theologischen Inkonsequenzen«, von denen Marx an der angegebenen Stelle, sogar Bacon betreffend, gleichfalls spricht. Trotzdem ist der Unterschied zwischen bürgerlich-technischer Naturfremdheit, gar Weltlosigkeit und wahlverwandter Natureinwohnung sonnenklar: Natura naturans läßt sich auf die Füße stellen, der physikalische Nihilismus durchaus nicht. So wird das Problem eines zentralvermittelten Bezugs zur Natur das dringendste; die Tage des bloßen Ausbeuters, des Überlisters, des bloßen Wahrnehmers von Chancen sind auch technisch gezählt. Die bürgerliche Technik war insge- /(784) samt ein Überlister-Typ, und die sogenannte Ausbeutung der Naturkräfte war genausowenig wie die der Menschen primär aufs konkrete Material des Ausgebeuteten bezogen oder daran interessiert, in ihm einheimisch zu sein. Gerade Aktivität übers Gewordene hinaus, dieser in der Technik so wunderbar starke Impuls, braucht aber Anschluß an die objektiv-konkreten Kräfte und Tendenzen; es ist die technisch intendierte «Übernaturierung« der Natur selber, weiche Einwohnerschaft in der Natur verlangt. Prometheus, als er das Feuer vom Himmel holte, um seine Menschen damit zu beleben, hat - nach einer aufs Ganze gehenden Wendung Platons im »Protagoras« - nicht nur das Feuer entwendet, sondern »die kunstreiche Weisheit des Hephästos und der Athene«, um sie mit dem Feuer gemeinsam den Menschen zu schenken. Und je mehr Technik die letzten Reste ihrer alten Bodenständigkeit verliert, vielmehr, je mehr sie überall, wo sie nur will, neue Bodenständigkeit gewinnt, in synthetischer Rohstofferzeugung, in Strahlungsindustrie und was noch sonst in herrlicher Hybris: desto intimer wie zentraler muß die Vermittlung mit dem eingeschalteten Naturwesen geraten. Dann erst können die Dinge auch tief ursächlich verändert werden, statt nur von außen verschoben. Jeder technische Eingriff enthält Wille zum Verändern, ohne daß jedoch dem bloßen Überlister das X des zu Verändernden bekannt, ja auch nur vorhanden sein müßte. Ein Agens der Erscheinungen wird zwar zugegeben, doch nur als ein schlechthin uns unverwandtes, entfremdetes, und als eines ohne Subjekt. Kinder und Primitive fügen noch ein Subjekt, ihrem eigenen Ich entsprechend, ohne weiteres in physische Vorgänge ein. Und weniger naiv, weniger unmittelbar dem eigenen Ich analog findet sich ein Subjekt auch in späteren nicht-animistischen Naturauffassungen, sofern sie nur keine quantitativen sind. So bereits bei Thales, wenn er dem Magneten eine Seele zuschreibt, so großen Stils in allen panvitalen Naturbildern, bei Leonardo, Bruno, beim frühen Schelling. Doch Subjekt, im empirisch-organischen Sinn, fehlt - und das war gegenüber jedem Animismus zunächst ein großer Fortschritt grundsätzlich im quantitativen Weltbild, also auch in der klassischen Mechanik. Es fehlt dort vollends, wo das quantitative Denken völlig in beziehungstheoretisches, funktionstheoretisches /(785) übergeht: in der nicht-euklidischen Mechanik wird Natur ein schlechthin freischwebender Zusammenhang von (relativierten) Gesetzen. Kant legte dem physischen Gesetzeszusammenhang zwar ein »transzendentales« Subjekt zugrunde, wie jeder
Verknüpfung (»Das Ich denke muß alle meine Vorstellungen begleiten können«); und damit wäre zwar nicht in die Mechanik der Natur ein Subjekt eingebracht, wohl aber ein heilloses in die mechanischen Begriffe von der Natur. Indes letzteres Subjekt ist als sogenannt transzendentales am wenigsten ein empirischorganisches; Natur ist hier vielmehr etwas, wozu ein empirischorganisches Subjekt nur hinzu gedacht werden kann, allerdings hinzu gedacht werden kann; das heißt: die äußerste »Objektivität«, zu der es die Newtonsche Naturwissenschaft gebracht hat, erschöpft bei Kant Natur nicht so, daß nicht auch Grundbegriffe weniger entfremdeter Art im Naturbild Platz hätten, wenngleich nur einen denkbaren Platz, einen regulativen, keinen wissenschaftlich-konstitutiven. Diese Grundbegriffe sind vor allem «die eines inneren Naturzwecks, mit dem Endzweck eines Reichs vernünftiger Wesen«; das aber führt, mit zweifellos noch trüber Teleologie, ein denkbares Natursubjekt ein. Die Kausalerklärung soll so supplementiert werden durch die unvermeidliche, obzwar nur regulative Bestimmung nach einem der Natur immanenten Vermögen, das seine Ursachen als Zweckursachen verfolgen könnte. Was in Analogie zur menschlichen Willensart ergibt, daß wir »die Natur als durch eigenes Vermögen technisch denken; wogegen, wenn wir ihr nicht eine solche Wirkungsart beilegen, ihre Kausalität als blinder Mechanismus vorgestellt werden müßte« (Kritik der Urteilskraft, Werke, Hartenstein, V., Seite 372). Kant hatte noch keine oder sehr geringe technische Gesichtspunkte, deshalb gingen die angeführten Als-Ob-Bestimmungen auch weit mehr auf die organische als auf die anorganische Natur. Aber sobald das Problem auftaucht, ob die eminenten Zweckhaftigkeiten der menschlichen Technik einen Anschluß an die Produktion der physischen Vorgänge haben können oder nicht: in diesem Augenblick tritt das Problem eines mit uns vermittelbaren Natursubjekts aus der bloßen regulativen Hinzufügung zur Mechanik heraus. Die Bestimmung wird zwar auch dann nicht so streng wie die Mechanik, aber ernster als diese: /(786) denn das Problem einer konkreten Technik besteht ja gerade darin, die Entorganisierung und ihre Folgen nicht auf ein Nichts sich beziehen zu lassen. So fragwürdig es bleibt, ob ein Subjekt der Natur bereits als verwirklicht vorhanden ist, so sicher muß dieses als treibende Anlage offengehalten werden, und zwar als eine, die durchaus in alle ihre Verwirklichungen hineinwirkt. An dieser Stelle aber taucht nun - ohne alles Kantisch-Regulative, wo nicht theologisierende »Hinzudenken« - das Leibnizsche Energie-Problem auf: die von ihm sogenannte »inquiétude poussante «.Leibniz setzt sie als Kern-Intensität aller Monaden und zugleich als Explizierungstendenz dieses ihres Kerns selbst. Damit vereint sich die Schärfe der Leibnizschen Gleichung von Energie und jener »Inwendigkeit« der Monaden, die Subjektheit im objektiven Sinn als dynamische Naturbestimmtheit bedeutet. Das Subjektproblem der Natur ist bei Leibniz zwar in eine Unzahl von Individualmonaden pluralisiert, aber in dieser Unzahl ist die Urform von alldem: die alte natura naturans., noch deutlich erkennbar. Animismus bleibe hierbei gänzlich fern und nicht minder auch das »Psychische« in den Leibnizschen Individualpunkten des Subjektproblems. Daß aber die Leibnizsche Gleichung Energie - Subjektheit ihren relativen Sinn behält, auch wenn die grundfalsche Verbindung von Energie und Psychischem wegfällt, das zeigt gerade Lenin in einer außergewöhnlich tiefdringenden Bemerkung an: »Im Begriff Energie steckt in der Tat ein subjektives Moment, das zum Beispiel im Begriff Bewegung nicht vorhanden ist« (Aus dem philosophischen Nachlaß, Dietz, 1949, Seite 308). Bereits als verwirklicht vorhanden ist freilich nicht einmal das so unzweifelhafte Subjekt der menschlichen Geschichte, obwohl es als der arbeitende Mensch empirisch-organisch, vor allem empirisch-sozial sich wachsend manifestiert. Wieviel mehr also mag das als
Natur- Subjekt hypothetisch Bezeichnete noch Anlage und Latenz sein müssen; denn der Begriff eines dynamischen Subjekts in der Natur ist in letzter Instanz ein Synonym für den noch nicht manifestierten Daß-Antrieb (das immanenteste materielle Agens) im Realen überhaupt (vgl. Seite 358). In dieser Schicht also, in der materiell immanentesten, die es überhaupt gibt, liegt die Wahrheit des als Subjekt der Natur /(787) Bezeichneten. Wie denn der alte Begriff natura naturans, der zuallererst ein Subjekt der Natur bedeutet hat, zwar wie bemerkt, noch halbmythisch ist, aber in nichts (auf idealistische Weise) ein Psychisches als Prius vor natura naturata setzt. Konträr, der Begriff natura naturans war von Anfang an, von seinem Urheber, dem »Naturalisten« Averroes an, auf schöpferische Materie bezogen. Wenn auch die angegebenen Restbestände der Mythologie nicht fehlen, die als pantheistischer Vitzliputzli wiederkehren mochten, die das Subjektproblem Natur mindestens als säkularisierte Isis lange begleitet haben. Dennoch nur begleitet, nicht erschöpft und ausgemacht haben; wogegen ein bloßes Ansich der Natur, an dem weder Subjekt noch auch Objekt statthaben, eher zu Sartre führt, das ist: der Welt als disparater Steinwand um die Menschen, als zum Marxismus. Item: An Stelle des Technikers als bloßen Überlisters oder Ausbeuters steht konkret das gesellschaftlich mit sich selbst vermittelte Subjekt, das sich mit dem Problem des Natursubjekts wachsend vermittelt. Wie der Marxismus im arbeitenden Menschen das sich real erzeugende Subjekt der Geschichte entdeckt hat, wie er es sozialistisch erst vollends entdecken, sich verwirklichen läßt, so ist es wahrscheinlich, daß Marxismus in der Technik auch zum unbekannten, in sich selbst noch nicht manifestierten Subjekt der Naturvorgänge vordringt: die Menschen mit ihm, es mit den Menschen, sich mit sich vermittelnd. Der Wille, der in allen technisch-physischenGebilden haust und sie gebaut hat, muß gleichzeitig sowohl ein gesellschaftlich erfaßtes Subjekt hinter sich haben: zum konstituierenden Eingriff, jenseits des bloß abstrakt-äußerlichen, wie ein damit vermitteltes Subjekt vor sich: zur Mitwirkung, zum konstitutiven Anschluß an den Eingriff. Und schließlich: vom ersten Subjekt, als dem der menschlichen Macht, kann nicht einflußreich genug gedacht werden; vom zweiten Subjekt, als der Wurzel natura naturans, ja supernaturans, nicht tief und vermittelt genug. Willenstechnik und konkrete Allianz mit dem Herd der Naturerscheinungen und ihrer Gesetze, das Elektron des menschlichen Subjekts und die vermittelte Mitproduktivität eines möglichen Natursubjekts: beide zusammen verhindern, daß in der Entorganisierung bürgerliche Verdinglichung fortgesetzt wird. Beide zusammen legen die konkrete Utopie der Technik nahe, wie sie /(788) der konkreten Utopie der Gesellschaft sich anschließt und mit ihr verbunden ist. Elektron des menschlichen Subjekts, der Willenstechnik Es gibt eine innere Kraft, die bisher nicht rein angesetzt worden ist. Sie macht die sogenannte Stärke im Menschen aus, fällt mit seinem bekannten Willen nicht ganz zusammen. Sie wirkt als Macht, die den Körper über die Ermüdung hinausreißt, ihn als Werkzeug scharf macht und erstaunlich befähigt. Sie wirkt ebenso als Macht nach außen, als Einfluß oder Gewicht der Person, oder wie dies eigentümlich harte Wesen sonst bezeichnet worden ist. Seine üblichste Zucht ist militärisch, spartanisch, als ein freiwilliger, äußerst männlicher Triebverzicht, der im Gehorchen den Beginn zum Befehlen übt. Jedes Kriegsvolk trägt spartanische Züge, sie sind unverwechselbar, wo immer sie erscheinen; knappe Kraft, Befehlsgewalt prägen sie aus. Doch diese Schärfung des energischen Vermögens auf eine Art Lanzenhaltung
und Lanzenspitze seiner selbst ist erst ein Anfang dessen, was Subjektkraft sich zugetraut hat. In der spartanisch-militärischen Haltung bleibt der Wille gleichsam nur abstrakt geschliffen, er ist zwar auch hier mit geglaubten Bildern und Vorstellungen verbündet, doch meist auf äußerliche, mindestens nicht auf notwendige Weise. Daher konnte der abstrakt-spartanisch gebildete Wille oft für Beliebiges kämpfen oder sich exekutiv einsetzen: Offiziere, im Barock auch Beamte, dienten im fremden Dienst, ein Freund-Feind-Verhältnis besteht zwar, aber seine Inhalte sind hier noch auswechselbar. Selbst die Lehnstreue des Ritters war formal, sie riß geschieden bleibende Willensrichtungen (ma coeur à dame, au Dieu mon ame, ma vie au roi, l'honneur pour moi) noch nicht zu einer unwiderstehlichen Einheit zusammen. Dieses vermochte erst der Glaubenskrieg, also der Eintritt eines inhaltlichen, objekthaften, ja objekthaft fordernden Ziels in den militärisch geschärften Willen. Der Wille mit geglaubten Vorstellungen wird nun zu keinem fremden, das heißt ihm inhaltlich gleichgültigen Dienst mehr transportierbar. Er wird vielmehr streng fixiert, was bedeutet, er wird fanatisch; und es ist dieser Fanatismus, der nun erst, wo er eintritt, die ungeheuerlichste /(789) Kraftvermehrung oder Kraftanfachung im Menschen hervorbringt. Zur puren Befehlskraft tritt jetzt die vorstellungsmäßig fixierende Stärke einer idée-force; sie erst überwindet vor dem Unübersteigbares. Die eindrucksvollste Prägung von idée-force gab Loyola, überdies im gebliebenen Zusammenhang mit militärischer Zucht. Die »Exercitia spiritualia« des ehemaligen Offiziers, visionär fanatischen Ordensgründers sind Willenstechnik im bisher höchsten europäisch erreichten Grad; Pünktlichkeit, Gehorsam, Befehlsgewalt, grausame Gewalt des Glaubens werden darin eines. Kommandierte Einbildungskraft tritt hinzu, vom Dienst Christi erhitzt, vom Höllen- und Himmelsbild, geöffnet und abstellbar auf die Minute. Was die Ketzersekten an Mut und Besessenheit ins Feld getragen hatten, das wurde nun aufgeholt gegen die Ketzer selber. Vor allem fehlten auf dem spanischen Boden mohammedanische Einflüsse nicht: der Fanatismus, der einmal die Halluzinations- und Mördersekte der Assasinen hervorgebracht hatte, der wurde eingesetzt gegen die anders Ungläubigen, gegen die Giaurs des Protestantismus. Erreicht wurde durch solche Schulung, durch eine oft fast mechanisch rationalisierte, daß Menschen als Willensmaschinen auftraten, für sich selber willenlos, doch geladen mit der Energie eines Auftrags und geglaubten Ziels. Das Freund-Feind-Verhältnis wurde völlig inhaltlich, als Verhältnis zum Reich Christi hier, zum Reich des Teufels dort, und die Entscheidung wurde fanatisch durch beides. Doch ist das alles freilich noch Europa, also - gemessen an der weit älteren, weit radikaleren Willenstechnik Asiens - fast noch Dilettantismus. Wenigstens dann, wenn die innere Kraft, die von den dortigen Trainern geübt wird, mit dem europäischen Willen verglichen werden kann, und vor allem dann, wenn auch nur zwei Worte in den Berichten wahr sind, die über unfaßliche innere Kraftsteigerung in dem so wenig energischen Indien seit alters umlaufen. Auch kommen in Indien nur die früheren Yogis in Betracht, nicht die Gaukler und Fakire von heutzutage, als welche teils rohe Epigonen, teils Fremdenindustrie sind; freilich gibt es für vergangene Effekte keine Nachprüfung. Die rein ideologische Rolle des Yogi ist klar: er hatte Ruhe als erste Pflicht vorzuleben; er hatte »höhere Erkenntnisse« als ebenso unkontrollierbar vornehm zu machen. Davon abgesehen liegt aber subjektiv echte /(790) Trance geschultester Art vor, in einer Gestalt, wie sie trotz der jesuitischen Exerzitien Europäern noch unzugänglich ist (vgl. Ruben, Geschichte der indischen Philosophie, 1954, S.210). Zuverlässig wahr sind die Intention und der methodische Ernst der früheren Yogis, so unprüfbar, ja für den aufgeklärten Europäer undiskutierbar auch die überlieferten haarsträubenden Effekte sind. Formt
doch die Yogatechnik einen Willensglauben, der nun wirkliche Berge zu versetzen meint, nicht nur Berge von Schwierigkeiten; so bildet sie seit alters je das Zentrum utopischer idée-force. Und die Intention wird hier völlig monomanisch, sie ist besessen von der extremsten Willensutopie: der des materiellen Eingriffs durch puren Entschluß. Beherrschung des Atems wurde der Hauptweg dieser Exerzitien: denn im Menschen wie in der Natur gilt prana, der Atem, als der Allesbeweger oder göttliche Lebenswind. Beherrschung des Atems im Leib soll nun den äußeren Zeitrhythmus, die Abhängigkeit vom Gang der Gestirne aufheben; der Yogi fühlt sich in der kleinen Welt seines Leibs zum Weltatem selbst geworden. Der Abstraktion vom Leib dienen die geschulten Muskelkontraktionen, die »Prägungen« oder Figuren der Haltung; deren gibt es zehn. Die »Leuchte des Hatha Yoga« lehrt, daß sie wachsend Alter und Tod vernichten, in dem doppelten Sinn, daß sie vollkommene Gesundheit verleihen, daß sie vor allem aber die Adepten ins »Besitztum des Todlosen« setzen, das in ihnen selbst verborgen ist (vgl. auch Zimmer, Indische Sphären, 1932,S.111). Dauernd merkwürdig bleibt hierbei die äußere Technizität, das ist die Wendung von der Selbstkontrolle zur Dingkontrolle, womit solch konzentrierter Wille dem Anspruch nach auftritt. Ihm scheint jede physisch gesetzte und geordnete Schranke, ja jede Naturmacht zu einem Ohnmächtigen, Unselbständigen und Verschwindenden herabgesetzt. Allerdings mittels einer mythischen Zauber-Allianz, welche zum Willen, in seiner übermenschlichen Steigerung, hinzukommt: der Yogi erlangt überschwengliche Macht von der Art, wie Krischna in der Bhagavad-Gita sie sich selbst zuschreibt: als Vibhuti oderAttribut der Gottwerdung. Der Adept geheimerWeltkräfte ist so nicht bloß schauend, mit »Sinnesorganen der Seele« oder »Lotosblumen«, die den Verkehr mit einer »Geisterwelt« vermitteln, wie das eine indisierende Theosophie für Europa /(791) zurechtklischiert hat. Sondern über der sogenannten Hellseherei sollte eben die alte magische Technik lebendig gehalten sein, mit Konzentration, die den Weltkräften gebietet und ihre Ordnung begreift, dadurch durchbricht. Der Yogi ist nun nicht mehr ihr Untertan, Konzentration des beherrschten Atems, hinein ins Zentrum des Weltatems, sollte den Punkt markieren, von dem her die Welt regiert, also mitregiert und umgelenkt werden kann. Das ist indische Technik in Brahma; die Ananke oder Naturgesetzlichkeit schien dem indischen Bewußtsein, dem jede Bestimmtheit und jeder Gesetzbegriff fremd sind, ohnehin nicht lückenlos, am wenigsten dem zusammenhängenden Willen überlegen. Viel Haarsträubendes wurde berichtet über die Effekte dieser von Yogis erlangbaren Macht: über Fernsehen, Fernwirken und sogar Levitation. ÜberVersetzung des Körpers an einen beliebig fernen Ort, außerhalb des Zeitmaßes, also in einem Augenblick; über Frühlingsluft um die Yogis des Himalaja, mitten in der Schneeregion; über die nachwirkende Kraft von Fluch und Segen. Was hierbei exotisches Ammenmärchen, was täuschend entwickelte Kraft, zu der europäische Meditation nie gelangt ist oder gelangen wollte: dies zu entscheiden, dazu reichen weder die sonst so bewährten Instanzen der europäischen Erfahrung aus (gar wenn sie sich zu negativem Dogmatismus a priori verdichten) noch eben das vorhandene Material. Auch unsere Kenntnis von den wirklichen Weiterungen geschulter Willenskraft reicht dazu nicht aus; möglicherweise steht sie noch auf der elektrotechnischen Stufe der Griechen, die von der gesamten Elektrizität nur den geriebenen Bernstein kannten und keine Dynamomaschine. Ja, was Elektron, der Bernstein, in der Vorgeschichte der Elektrizität bedeutet, ein dem Verwandtes könnte - in utopischer Verlängerungslinie ein indisch aufgefundenes Elektron des Willenssubjekts in der vor uns stehenden Geschichte der Willenstechnik bedeuten. Es ist zwar wahr, keine Macht des
indischen Gemüts ist bisher der Kugel eines einzigen englischen Infanteriegewehrs Meister geworden; die indische Magie wirkt nur als Privat- oder Friedensware. Trotzdem könnte gerade dieses in ihrem Wesen liegen, auch setzt jede Magie die alte Umwelt voraus, in der und für die sie ausgebildet worden ist, in der sie Kraft hat. So ungeheuerlich auch die Zumutungen sind, die indi- /(792) sche Überlieferung an den Verstand stellt, und so viel Gebrauch bloße Phantasterei von der Maya- oder Illusionswelt machen mag, zu der die meiste indische Philosophie alles empirisch, gar mechanisch Gegebene verflüchtigt hat. Doch kann das wie eine Hilfskonstruktion wirken, um der psychischen Energie überhaupt nur Raum zu verschaffen, den Mut eines Wirkungsraums; und die ausgeführte Yoga-Lehre, vor allem die des Patanjali, will paradoxerweise aus ihrer Verachtung der Materie selber eine materielle Kraft ziehen. Wogegen das gleiche Subjektwesen, dem diese Kraft zugeschrieben wird, doch gerade im mechanisch-materialistischen Europa nur als spirituelles gilt und so untechnisiert bleibt. Kurzum, das Ziel im »Tempel des Erwachens« mag das abenteuerlichste sein, aber es ist ein Abenteuerliches technischer Macht, nicht spiritueller Selbstpflege, wie im sonst so materiell-aktiven Europa. Es ist das Ziel von Allmacht in dem phantastischen Sinn, daß jedes gewünscht-vorgestellte Ereignis kraft der Fernwirkung des geschulten Willens sich verwirklichen lasse und kraft der Einbildung, die den Schleier der Maya wegzuwehen oder verschieben zu können glaubt, wann immer sie will. Selbst Buddha, dem ein ganz anderes »Erblühen der Lotosblume« am Herzen liegt, spricht vom magischen Wunsch als einem erlaubten und von der Technik seiner Erfüllung: »Wünscht sich, ihr Mönche, ein Mönch: >Gelänge es mir doch, auf mannigfaltige Weise Machtentfaltung zu erfahren: als nur einer etwa vielfach zu werden und vielfach geworden wieder einer zu sein oder sichtbar und unsichtbar zu werden; auch durch Mauern, Wälle, Felsen hindurch zu schweben wie durch die Luft; oder auf der Erde auf- und unterzutauchen wie im Wasser; auch auf dem Wasser zu wandeln ohne unterzusinken wie auf der Erde; oder auch durch die Luft sitzend dahinzufahren wie der Vogel mit seinen Fittichen; auch etwa diesen Mond und diese Sonne, die so mächtigen, so gewaltigen, mit der Hand zu befühlen und zu berühren, etwa gar bis zu den Brahmawelten den Körper in meiner Gewalt zu haben<: wünscht er sich das, ihr Mönche, dann soll er nur vollkommene Tugend üben, innige Geistesruhe erkämpfen, der Schauung nicht widerstreben, ein Freund leerer Klausen sein» (Neumann, Die Reden Gotamo Buddhos I, S.71 f.). So weit reicht also grotesk-magische Wunsch-, Willens-Technik, wenn /(793) auch nur als eine von Buddha aufgezählte, in eine Lehre hinein, deren einziger Wunsch doch ist, alle Wünsche zu vergessen. Selten aber kam solcher Willensglaube selbst in selbsthypnotischen, subjektmagischen Westregionen vor, und dann immer nur sporadisch, so bei einzelnen Wundermännern von der Art des Apollonios von Tyana, nie als religiöses System. Judentum, Christentum, Islam sind, wenigstens in ihrer Orthodoxie, magiefeindlich, dulden keine Schamanen, nicht einmal Yogis; so wurde auch magische Willenstechnik oder Subjekttechnik unterbunden. Versenkung intendierte nur Himmelszwang, keinen Stoffzwang, auch kam europäische Subjektivität nur während seltener und disintegrierter Zustände in die Anfänge der Bewußtseinslage, welche dem Yogi Normalzustand ist. Also bezog sich die einzige Subjekttechnik, die dem Rang nach der indischen sich vergleichen könnte, in westlichen Regionen auf die Herstellung kurzer Ekstase. Und während der Ekstase bezog sie sich auf intendiertes Überfliegen, nicht auf intendierte Überwältigung der Welt. Hierher gehören allerdings noch zwei merkwürdige Schulungen, eine jüdisch, eine christlich ausgebildete Selbsthypnose, beide in Mißachtung der orthodoxen
Anti-Magie. Aus dem Jerusalem des ersten nachchristlichen Jahrhunderts wird eine Kunst berichtet, »ins Paradies zu gehen«, sie wurde im Anschluß an die berühmte Vision des Ezechiel (Ez. I, 15-21) »Maase Markaba«, »Werk des Wägens« genannt. Dies war die Geheimlehre von der Wohnung Gottes und die Technik, durch geschulte Bewußtseinsveränderung die Zugänge zu ihr zu finden, ja zu bilden. Jochanaan ben Sakkai, das Haupt der Pharisäer, soll sich mit so einem »Werk des Wagens» abgegeben haben, im zweiten Jahrhundert galt diese sogenannte Kunst als so gefährlich, daß sie nur widerwillig erwähnt wurde, später war sie völlig verrufen. Eine christliche Entsprechung dazu findet sich in der byzantinischen Mystik des vierzehnten Jahrhunderts, in der bewußten Erleuchtungstechnik der Hesychasten auf dem Berg Athos. Gesucht war bei ihnen eine Art religiöser Liebeszauber, ein »Philtron«, das im Menschen künstlich Lichtekstase hervorruft und Jesus darin erscheinen läßt. So wie er den Jüngern auf dem Berg Tabor erschienen ist, als von Licht umleuchtet, als verklärt. Mit der Yogatechnik berührte sich die hesychastische durch die Methode der Nabel- /(794) beschauung, also der völligen Selbstkonzentration, aber die Kraft, die dadurch exaltiert werden sollte, war eben nicht die irgendeiner Weltveränderung, sondern ausschließlich die eines intensivierten Himmelszwangs. Die Hesychasten waren die sonderbarsten aller sonderbaren Heiligen, nämlich selbstsynthetisch hergestellte; immerhin nannte der byzantinische Mystiker Kabasilas, wie an Prometheus erinnert, die vom Philtron Ergriffenen »Räuber des Himmelreichs«. Zoe und Phos, Leben und Licht sind die Grundcharaktere Christi; da es ohne Erscheinung beider im Menschen kein himmlisches Leben gibt, jeder Christ aber eines solchen teilhaftig werden soll, so führte lehrbare Verschärfung der Sehnsuchtsenergien zur künstlichen Herstellung der Vision. Hier also brach Subjekttechnik in die geglaubte Überwelt ein, erzwang das Unerzwingbare schlechthin: Gnade; sie öffnete aber auch auf seltsam technisierte Weise eine sonderbare, noch über und über mythisierte Schleuse im Menschen. Hinter ihr ist in manchen der angegebenen Fälle latente physische Energie gestaut. Sie verändert beim Durchbruch die gewußte Bewußtseinslage und die darauf aufgebaute bisherige Bewußtseinswelt, wo sie nicht - was die Yogapraxis intendiert - Teile der äußeren Welt selbst verändern will. Vermöge einer Energieart, die durch einen Sprung von allen anderen verschieden ist, also weder qualitativ meßbar noch in andere verwandelbar ist, dafür aber phantasiert, sich sogar auf Fernwirkung zu verstehen. Etwas in dieser behaupteten Kraft ist zugleich verkommen und immer neu, sie kommt so nicht auf. Trübes Geschwätz ist zahllos um sie her, aber andererseits scheint es, als sei ein Gärendes hier gleichsam überaltert. Es wäre an der Zeit, in diesem gleichzeitig abergläubischen und utopisch sonderbaren Feld nach dem Rechten zu sehen, nach einem verzerrten Ernst in der Sache. Seit mindestens hundert Jahren grassiert die Erwartung, daß man an der Schwelle großer psychodynamischer Entdeckungen stehe. Wonach nur noch wenig Anstrengung dazu gehöre, auch in Europa hoch geladenen Willen zu erzielen, dasjenige, was die Umgangssprache gerade an Personen dieser Art anfeuernd, gar elektrisierend nennt. Wie dergleichen in Amerika seit den Pioniertagen ohnehin der Wunsch und eben der Wille ist, in tausend Aufmunterungen oder dilettantischen Andeutungen sich äußernd. /(795) In Amerika legte das Pioniertum solches nahe, dann die ehemalige freie Bahn der Tüchtigen, dazu ein Kurs ohne historische Hemmungen und Bindungen. Erfolg wie Mißerfolg schienen so - in einer gleichsam gesunden Superstition - der Selbstüberredung anheimgegeben, folglich der erlangbaren Kraft zur Überredung anderer, ja des Weltlaufs - »there are no limitations in what you can
do; think you can«. Die bei den Wunschbildern im Spiegel bereits erwähnten amerikanischen Erfolgsbücher (vgl. Seite 406 f.) sind voll von dergleichen - ein billiges Yogatum gegen Mutlosigkeit und Zweifel, doch immerhin, wie nun erst hervortritt, eine Beleihung von sehr alter, nie recht formulierter Hoffnung. »Once you learn a few simple secrets, you will be amazed to find how ideas begin fairly pouring into your brain«: ganz Amerika glaubt oder glaubte an einen psychischen Magneten und an die Kunst, ihn zu laden. Hierunter fallen Sätze wie diese (sie verlieren in der Übersetzung das »hidden storehouse of energy« nicht): »Ein Wunsch, gedacht und geäußert, bringt das Gewünschte näher, und zwar im Verhältnis zur Stärke des Wunschs und der wachsenden Zahl der Wünschenden.« Oder: »Jede Imagination ist eine unsichtbare Wirklichkeit, und je länger, je intensiver sie festgehalten wird, desto mehr wird sie sich in jene Form umsetzen, die man mit den äußeren Sinnen wahrnehmen kann. Nach der Beschaffenheit unserer Tagträume häufen wir Gold oder Explosivstoffe in unserem Schicksal auf.« Oder: »Man muß sich an den Gedanken des Glücks wie der Gesundheit hängen mit allen Fasern des Seins, Woche um Woche, Monat um Monat, Jahr um Jahr dem eigenen Bild, frei von jedem Übel, entgegenträumen, bis dieser Traum zur fixen Idee, zur zweiten Natur geworden ist und ins Schicksal eingreift: - aus Luftschlössern entstehen die Paläste dieser Erde.« Prentice Mulford, ein kalifornischer Journalist der Konzentration, schrieb diese Sätze, sozusagen als wohlerworbene Rechte, ja als eingeborene Ideen des Amerikanismus. Sie sind seiner Schrift entnommen: »Your forces and how to use them», 1887, einem veritablen Investment von Willen in die Dinge, von Dingen in den Willen. Eine technische Hochschule der Willenskraft wird verlangt, ein theologisches Laboratorium dazu, mit Abteilungen wie folgt: »The slavery of fear; The Religion of dress; Positive and negative /(796) thought; Immortality in the flesh; The doctor within; The church of silent demand«. Es ist ein einziges kapitalistisches Vaterunser und ein ingenieur-pantheistisches dazu: der Mensch, wenn seine Maschine langsamer geht, wirft den Willen seines Gebets wie einen Transmissionsriemen ums Urdynamo Gott. Oder wie das doch nur in amerikanischem Griechisch sich ausdrücken läßt: »The man feels synchronized with the rhythm of Life.« Dieser Art taucht in Amerika die Utopie einer Psychodynamik auf, immer wieder mit der Hoffnung, sich eines täglich erfahrenen Kraftfaktors praktisch zu versichern. Schließlich fehlte so eine bestimmte, nämlich ganz wildwachsende Art Willensmagie auch im neueren Westen nicht, freilich ohne Technik und System. Sie fehlte wie in Amerika auch in Europa nicht, obzwar mit weniger Geschäftssinn und mehr lnteresse an einem sozusagen neuerlösten Geist; es ist trotzdem eine verwandte Intention. Und hier hat sie Berührungen mit dem Ende des Naturalismus, mit einem bald gebrauchten oder mißbrauchten, doch noch nicht irrational-reaktionären Rekurs auf die Seele. Der Neuromantiker Maeterlinck schrieb derart, in der Jahrhundertwende, als der Mechanismus abklang, von »einem ungeheuren Kraftbehälter, der auf den Gipfeln unseres Bewußtseins liegt«, von »psychischer Energie als unerwarteter, als Zentraleigenschaft der Materie auf ihrer höchsten Stufe«. Und der Poet, wenn er diese Kraft »die Wende der Welt zu den Bewegungen des Glücks« nannte, in einem Essay mit dem bezeichnenden Titel »Der Ölzweig«, - der Poet befand sich mit diesem seinem sezessionistischen Optimismus, was Umkreisungen der Willenskraft angeht, damals in weitreichender philosophischer Gesellschaft, in so verschiedener und doch so spontaneitätsfreundlicher wie der von James und Bergson zugleich. James kam, auf Grund der Yogapraxis bei Naturvölkern, zur Behauptung, der Wille, als konzentrierter, habe keine Grenzen. Bergson proklamierte psychische Energie als
die aufwindende Gegenkraft gegen mechanischen Abstieg und Schlaf; sie garantierte, auf der menschlichen Spitze, den Kampf gegen die ertötende Gewohnheit, als die ständig drohende Absinkung des Lebens, und sie bediente sich des Gehirns, ja sämtlicher physischen Determinismen nicht anders souverän, wie ein Virtuose sich seines Instruments bedient. Zuletzt, was den oft verspürten /(797) »Vitaldruck« einer Person angeht, als eine Rohkraft gleichsam, die überall verspürt und nirgends erforscht ist, sei eine der wenigen Bestandsaufnahmen dieses Phänomens selber erinnert. Sie stammt von Simmel, einem Impressionisten der Philosophie, bei dem zwar die »Lebensfülle« formal blieb, der sich aber Eindrücken aus der genannten Gegend durchaus notierend zuwandte. Simmels impressionistische Bestandsaufnahme, Vitaldruck als Subjektenergie betreffend, lautet: »Ich bin - natürlich ohne die Möglichkeit eines Beweises - überzeugt, daß das menschliche Individuum da sozusagen noch nicht zu Ende ist, wo unser Gesicht und Getast seine Grenze zeigen; daß vielmehr darüber hinaus noch jene Sphäre liegt, mag man sie sich substantiell oder als eine Art von Strahlung denken, deren Erstreckung sich jeder Hypothese entzieht und die genauso zu seiner Person gehört wie das Sichtbare und Tastbare des Leibes. Zu diesen verhält sie sich wie zu den Farben des Spektrums die ultraroten und die ultravioletten Strahlen, die wir nicht sehen, ohne daß darum ihre Wirksamkeit zu bestreiten wäre... Als so außerordentlich wichtig für alles reale Gemeinschaftsleben mir dieser Bestandteil der individuellen Existenz erscheint - die rätselhafte Erscheinung des Prestige, die gar nicht zu rationalisierenden Antipathien und Sympathien zwischen Menschen, das häufige Gefühl, von dem bloßen Dasein eines Menschen gewissermaßen eingefangen zu sein, und viel anderes, auch in den historisch gewordenen Vorgängen oft Entscheidendes mag auf ihn zurückgehen -, so entzieht sie sich ersichtlich der Überlieferung und Rekonstruktion mehr als die den fünf Sinnen zugängigen und deshalb einen Sprachbegriff besitzenden Beschaffenheiten der Person. Immerhin ist sie wahrscheinlich mit diesen letzteren, mit denen zusammen sie ja die Ganzheit des Menschen bildet, in irgendeiner, jeder Vermutung freilich sich jetzt noch entziehenden Art verbunden, so daß uns manchmal aus dem, was von einem Menschen überlebt, seiner Rede, seinen Taten, der Schilderung seiner Erscheinung, ein Schimmer dieses erweiterten Seinsbezirks berührt« (Fragmente und Aufsätze, 1923,S. ,74 f.). Simmel sieht die Verbindung dieser Atmosphäre mit der sichtbaren Person vor allem im bedeutenden Porträt; doch eben der weniger kontemplierende Hinweis auf ein Kraftfeld fehlt nicht, auf das /(798) von James und Bergson spontaneitäts-technisch Gemeinte. Und schließlich hat, in einer freilich völlig abstrakten, wild indeterministischen, aus lauter Subjektpathos objektlos gewordenen Weise, ein Anarcho-Syndikalist wie Sorel, in Nachfolge Bergsons, den Willen gänzlich übersteigert. Er erscheint als Riesenmuskel geformter Gewalt: »force individualiste dans les masses soulevées« kehrt den an sich selber stets absinkenden Geschichtslauf um; » accumulation d'exploits heroiques« durchschlägt jederzeit das Determinierte; Generalstreik ist die Elektrotechnik dieser Spontaneität der Wille hat keine Grenzen. Das ist, in dieser abstrakt reinen Übersteigerung, putschistisch, ja konnte, als sich wirklich gegen den Geschichtslauf stemmend, faschistisch werden. Aber dies Element Wirkliches ist doch darin, daß der Subjektfaktor, freilich nur im Bund mit der objektiven Tendenz, die Kraft zum Gegenzug gegen das Schicksal hat und zur Beschleunigung des zögernden Möglichen guter Art. So schwelt zweifellos auch in unserer westlichen Welt ein Stück Yogawillen, sozusagen; es erscheint in den abenteuerlichen Weiterungen des ehemaligen Pionierwillens in Amerika, es erscheint europäisch in den mehr oder
minder vagen Willensnotierungen, gar so bald faschistisch verwilderten » Dezisionismen «Eine der Yogatechnik vergleichbare ist allerdings nirgends ausgebildet, trotz der »Exercitia spiritual'ia« Loyolas, und auch diese haben kein Augenmerk auf den Quell ihrer Wirkungen. Dafür zeigen die halbwegs reflektierten Spontaneitätsweisen Europas mit den indischen eine Ähnlichkeit im bedenklichsten Punkt: sie bewegen sich alle in einem objekthaft unbestimmten Feld oder glauben, darin sich bewegen zu können. Ihr angeblicher Indeterminismus ist dem indischen Akosmismus verwandt, mindestens dem Aberglauben, daß die Außenwelt, substanzlos und verwehbar wie der Schleier der Maja, einer energischen Imagination nicht unüberwindlich sei. Das ist der Preis, mit dem bisher jede Annäherung an das »hidden storehouse of energy« bezahlt werden mußte; und es gibt davon letzthin nur eine einzige Ausnahme. Sie liegt bezeichnenderweise im Frühling der Renaissance, der ebenso tollkühnen wie natursuchenden, und die Ausnahme heißt Paracelsus. Ohnehin wirken alle die angegebenen modernen Willensutopien wie Abschwächungen der, wie immer vergessenen, Intentionen /(799) des Paracelsus, als des Strategen der Konzentration im Mikrokosmos Mensch. Und bei ihm als Einzigem ist auch der Anschluß an ein vorausgesetztes Natursubjekt nicht unentwickelt; der Anschluß, welcher in der Yogapraxis höchstens mythologisch vorkommt, als transzendente Krischna-Werdung, als Erlangung der göttlichen Vibhuti, während der an ein welthaftes Natursubjekt fehlt. Auch bei Paracelsus freilich ist zunächst das Pathos der Velleität im Menschen selber wichtig und der Imagination, die sie aus sich heraussetzt. In den Büchern Paramirum, Paragranum beschwört er die Beschwörung folgendermaßen: »Ihr sollt wissen, daß die Wirkung des Willens ein großer Punkt ist in der Arznei. Daraus denn folgt, daß ein Bild dem anderen zaubert, nicht aus Kraft der Charaktere oder dergleichen, durch Jungfrauenwachs, sondern die Imagination überwindet seine (des Bildes) eigene Konstellation, daß sie ein Mittel wird zu vollenden seines Himmels, das ist, seines Menschen Willen. So wie ein Bildschnitzer ein Holz nimmt und schnitzt daraus, was er in Gedanken hat, ebenso schafft die Imagination mit der Astralmaterie. Alles Imaginieren des Menschen kommt daher aus dem Herzen: das Herz ist die Sonne im Mikrokosmos. Und aus der kleinen Sonne Mikrokosmi geht Imaginieren in die Sonne der großen Welt, in das Herz Makrokosmi; so ist imaginatio microcosmi ein Samen, welcher materialisch wird. Erkennten wir Menschen ihr Gemüt recht, so wäre uns nichts unmöglich auf Erden, die Zeremonien, Zirkelmachen, Rauchwerk, Sigilla und so weiter sind lauter Affenspiel dagegen und Verführung. Imaginatio wird konfirmiert und vollendet durch den Glauben, daß es wahrhaft geschehe, denn jeder Zweifel bricht das Werk; Glaube soll die Imagination bestätigen, denn Glaube beschleußt den Willen« (Werke, Huser, I S..S. 334; 375, II S. S. 307,513). Solcher Glaube ist aber bereits im Subjekt nicht so anschlußlos wie in isolierten Willenstechniken und ihrem nur mit sich selbst bewaffneten Willen. Vielmehr heißt der Anschlußgrund des Inneren, worin der Wille steht, bei Paracelsus der »Archeus«, das ist: gleichsam Subjekt der Natur im Menschen. Archeus ist das wirkende Bild, nach dem der organische Stoff bei der Zeugung sich zusammenschließt, er wohnt im Samen, durchdringt, belebt und erhält nachher den Körper; jeder Wille und jede Imagina- /(800) tion aber steht im »Archeus«, hat nur im Einklang mit ihm ihre Macht und des weiteren nur im Einklang mit der allgemeinen kosmischen Naturkraft, die Paracelsus »Vulcanus« nennt. In diesem doppelten Anschluß begrenzt und fundiert, der Absicht nach, Paracelsus die Imagination, nimmt ihr dadurch das spätere abstrakte Amokwesen, auch die einsame Don Quichotterie. Ohne daß er jedoch - und dies ist entscheidend für die Gewalt, womit
das Subjekt der »natürlichen Magie« hier geschärft und festgehalten wird -, ohne daß jedoch Paracelsus irgendein technisches Werk, sei es medizinisch oder chemisch, ohne Teilnahme des »Hebels zum Archeus-Vulcanus« gelingen ließ. Oben wurde angedeutet, daß die europäische Ablehnung der Yoga-Energie methodisch dasselbe ist, wie wenn die Griechen, von ihrer Kenntnis der elektrischen Eigenschaften des Bernsteins her, die Möglichkeit einer Dynamomaschine abgelehnt hätten. Dieses Gleichnis hat eben, mit Paracelsus erläutert, noch einen anderen, einen ganz buchstäblichen Sinn: es gibt in der Tat eine Analogie der unentwickelten Subjektenergie zum bloßen griechischen Elektron, der künftig entwickelten zum Dynamo. Die Yogatechnik scheint immerhin bereits zu kennen, was man, höchst vergleichsweise, die Leydener Flasche oder die Elektrisiermaschine dieser Schicht nennen kann (wenn auch noch lange keine Induktoren oder Kathoden); Europa aber hat sich durch den ausschließlichen Blick auf die nur äußeren Naturfaktoren von einer soliden und nachhaltigen Verfolgung der Paracelsischen Intentionen selber abgeriegelt. Das mit Vitaldruck, mit Willensenergie Bezeichnete hat sich freilich erst mit dem organisch-psychischen Zustand der Materie entwickelt, kann daher gar nicht auf der Ebene der mechanischen Energien gemessen und behandelt werden, außer in untergeordnetem Analogiegeschwätz; es gibt kein Äquivalent der Wärme für die Willenskraft. Auch vermag psychische Energie höchstens bildlich, und auch hier nur mit übertriebenster Metapher, Berge zu versetzen: ein Magnetstrom vermag die Polarisationsebene des Lichts zu drehen, konzentriertester Wille vermag aber nicht einen Bleistift vom Boden aufzuheben. Und gerade Physik der scheinbaren Fernwirkung, der Induktionselektrizität, ließ durch Faraday, ihren Entdecker, das Lehrwort ausgeben: »Es gibt keine Kraftwirkung in die Ferne ohne Ver- /(801) mittlung des Zwischenstoffs«, und noch einschlägiger: »Wenn es gelänge, mit der Kraft des Willens auch nur einen Strohhalm zu bewegen, müßte unsere Auffassung des Weltalls geändert werden.« Eingriff des Willens in die Welt ohne äußere Maschinerie, wie die Yogapraxis sie auszuüben vorgibt und Paracelsus sie intendiert, setzt allerdings keinen Zwischenstoff voraus, erst recht ist all dergleichen mit der Welt des Mechanismus oder mit der rein mechanisch aufgefaßten Welt unverträglich. Trotzdem ist hier technisch-utopische Problemstellung legitimer Art, eine, die sich, innerhalb einer nicht mehr mechanistisch kupierten Materie, nicht davor hütet, Wille und Imagination als Naturfaktoren sui generis anzumelden. Das belebte stets die Hoffnung, daß im Menschen der Hebel sei, von dem die Welt aus technisch in ihre Angel zu heben ist. Daß in der menschlichen Materie eine schlafende Potenz sei, die ihre Kräfte selber nicht kennt, die zwar in tausendfachen ungeregelten Erfahrungen, aber in keiner einzigen angemessenen Theorie vorkommt. Hier steckt Zukunft, ein legitimes Problem der Zukunft, es gibt in der Tat einen ungeheuren Kraftbehälter, der auf dem Gipfel unseres Bewußtseins liegt; durch ihn fahren Menschen auf eigene Rechnung, auf andere als die des Gewordenen. Mit dem objektiven Sinn, den eben Paracelsus gegen Übertreibungen lehrt, als magischer Realist, doch eben als Realist: die Spontaneität reicht genau so weit, wie das Wirkliche ihr erlaubt, aus dessen Kräften sie herstammt, auf dessen Prozeß sie sich korrelativ richtet. Wobei dieses Wirkliche freilich eben weiter beschaffen ist als das der Mechanik, die nur dessen vom Menschen abgekehrten Teil darstellt, ja einen in dieser Äußerlichkeit oft noch künstlich isolierten und verdinglichten. Das mögliche Aktionsfeld des Menschen in der Natur ist zuverlässig umfangreicher, unabgeschlossener; und es kann das sein - womit das Hauptthema zurückkehrt - auf Grund jenes möglichen Subjekts der Natur, das nicht bloß
subjektiv, auch objektiv sich ausgebärt und utopisch dynamisiert. /(802)Mitproduktivität eines möglichen Natursubjekts oder konkrete Allianztechnik Auch die äußeren Kräfte sind nicht immer so zweifelsfrei vorhandene, wie es scheint. Oft waren sie ein bloßer Name für das, was man nicht erklären kann, ein großspuriger dazu, der das Unwissen verdeckte. Opium etwa schläfert ein, weil in ihm eine »vis dormitiva» enthalten; so gehört auch die Lebenskraft in diese Reihe. Das zu Erklärende wird derart zum Erklärenden selber gemacht, analytische Arbeit stoppt bei einem rasch gefundenen, zum »Vermögen« gemachten bloßen Wort. Und dahinter ist noch ein anderes, ein in der Sprachform Erhaltenes: der Geisterglaube. Je spezieller eine Kraft erscheint (wie eben die »einschläfernde Kraft« des Opiums oder, nach einem Scherz Mörikes, die des Scharlachfiebers, die böse »Fee Briscarlatina»), desto näher ist sie animistischen Vorstellungen. Deshalb suchte die Physik immer mehr die einzeln bezeichneten Kräfte allgemein mechanisch, in der Linie von Druck und Stoß, einzuebnen. Chemische Verwandtschaft ist die wirkliche Kraft, womit die Atome im Molekül zusammenhalten, Kohäsion die Kraft, womit die Moleküle zusammenhalten, und ihr Gegenteil, bei Gasen, heißt dann Expansionskraft. Doch haben schon vor hundert Jahren Davy und Berzelius die chemische Verwandtschaft weiterhin durch elektrische Anziehung oder Abstoßung zu erklären versucht, eine Erklärung, die nur an der chemischen Bindung gleichartiger Atome, nämlich der Kohlenstoffatome (zu Ketten und Ringen) scheiterte; die quantentheoretisch arbeitende Elektronenforschung ist im Begriff, die sogenannte Kraft der chemischen Verwandtschaft lückenlos auf subatomare Vorgänge zurückzuführen. Die allgemeine Relativitätstheorie sucht zuletzt noch die sogenannte Schwerkraft als eigene Energieform, ja als Energie selber aufzuheben, erklärt sie aus der mathematischen Struktur eines vierdimensionalen Kontinuums. Ein Körper wird angezogen, das bedeutet danach lediglich, er beschreibt im gekrümmten Raum eine kürzeste, eine geodätische Linie. Der Raum ist in der Nähe großer Massen besonders gekrümmt, also täuscht ein Körper in diesem Raum Parabeln oder Ellipsen vor. Sie erscheinen aber nur der euklidischen Anschauung als solche, machen /(803) nur im ebenen Raum die Annahme einer Schwerkraft nötig. Die physikalische Tendenz geht dahin, alle Krafterscheinungen als lokale Unregelmäßigkeiten in einem metrischen, nichteuklidischen, gekrümmten Kontinuum zu definieren. Ersichtlich verschwindet damit mindestens die spezifische Vielheit der Kräfte, wie seit langem ihre Über- und Unterordnung verschwunden ist. So erfüllt sich, was gerade Newton in seiner »Optik« prophezeit hat: »Sagt man, jede Spezies der Dinge sei mit einer spezifischen verborgenen Eigenschaft begabt, durch welche sie wirkt und sichtbare Effekte hervorbringt, so ist damit gar nichts gesagt. Leitet man aber aus den Erscheinungen zwei oder drei allgemeine Prinzipien der Bewegung her und gibt an, wie aus diesen klaren Prinzipien die Eigenschaften und Wirkungen aller körperlichen Dinge folgen, so wäre dies ein großer Fortschritt In der Naturforschung, auch wenn die Ursachen dieser Prinzipien noch nicht entdeckt sein würden.« Und doch: die spezifischen Kräfte, sofern sie der unvertauschbaren Wirkungsform einer Erscheinungsgruppe eignen, sind durch diese generalisierende Quantifizierung noch nicht ausgekauft; nicht einmal die berüchtigte »vis dormitiva« des Opiums ist dadurch ausgekauft. Denn die Quantifizierung macht alle Katzen grau, sie ignoriert die verschiedenen Modi, in denen generelle Naturkraft doch erscheint und sich auswirkt. Sie läßt ein mechanisches Einerlei über die allemal qualitativen Stufen der Entwicklung siegen, einen Satz der Identität (nicht nur der
Erhaltung) der Energie über deren allemal noch gärenden Kern (inquiétude poussante, nach Leibniz) und deren immer höher qualifizierten Objektivationen (Entelechien, nach Aristoteles). Gerade die Reduktion der verschiedenen Kraftdominanten auf eine einzige Grundkraft der Natur kann nicht nur eine sein, die alles mechanistisch zugrunde analysiert. Auch nicht nur eine sein im Sinn der elektromagnetischen Lichttheorie, nicht nur eine im Sinn der Zurückführung aller Erscheinungen auf ein einfaches universelles Feldgesetz. Sondern »Ladung«, »Energieknoten«, »Feld«, selbst die eigentümliche Konzeption »Energiestufen« (im Atombau, durch ganze Quantenzahlen ausgedrückt), alle diese neuen Termini von Wirkungskraft und Samen sind über die Hälfte Abstrakta statt Vermittlungen. Sind trotz ihrer nicht bloß quantitativen, sondern /(804) höhermathematischen Abstraktion isoliert gehaltene Quantifizierungen einer natura naturata, nicht Eindringungen ins Produzierende einer natura naturans, wenigstens als Agens gefaßt. Die Physik bleibt aber gerade als dialektische auf einen Kraftkern wie natura naturans bezogen, ja auf einen in sich selbst wie in seinen Produkten qualitativen. Bereits was im Atom vor sich geht, dieser seltsame Ursprung, dunkel wie jeder isoliert gehaltene Anfang, wird ohne versuchten Blick auf qualitative Züge der so einsetzenden Naturkraft nicht konkret gedacht werden können. Erst recht ist ein so objektiv Qualitatives wie Sturm, gar Gewitter und so fort eine durch ultraviolette Strahlung oder lonisierung der höheren Luftschichten nicht eben erschöpfend umfaßte und erläuterte Begebenheit. Sie in ihrer erfaßten Gesamterscheinung zu verstehen, dergleichen eben war, der Intention nach, im Paracelsischen gesucht, so wenig dieses auch aus dem Mythischen noch herauskam: im spezifizierten »Energieknoten« des »Archeus« war das menschliche Kraftwesen gesucht, im generellen des »Vulcanus« das kosmische. Sollte Archeus die individualisierte Naturkraft sein, so Vulcanus die »virtus der Elemente«, als welche im Kosmos kreist, brennt, regnet, blitzt, auch das eine millionenköpfige Naturwesen bezeichnen, wodurch der Zusammenhang des Ganzen begründet ist. Das sind gewiß ebenfalls bloße Worte und Namen, mythologische dazu, doch sie verdecken kein Unwissen, sondern umkreisen die Gegend des objektiv möglichen Anschlusses oder Weltbegriffs für den subjektiven Energiefaktor der Imagination. Archeus und Vulcanus oder was seitdem in einer dynamisch-qualitativen Naturphilosophie als die »Produktivität« der Natur mit Namen bezeichnet worden ist: alle diese wie immer noch mythischen Isis- oder Pan-Derivate stehen in dem, was sie nicht-mythisch bezeichnen, dem Konkretum Naturerfahrung und der Zuordnung zu ihrem Produktivfaktor näher als die Abstraktoder Partialwahrheiten des Mechanismus. Das Paracelsische steht für diese andere Naturseite nur als Zeichen, doch als mahnendes und mechanistisch unverdrängbares. Die dynamisch-qualitative Naturphilosophie Schellings, auch Hegels befindet sich als eine auf physische Produktivität bezogene durchaus im Paracelsischen und ist selber nur ein Zeichen, doch eines für vermittelte /(805) Natur, außerhalb des mechanistischen Sektors. Ohne solche Vermittlung ist das Physische in der Tat nur der Leichnam des abstrakten Verstands, mit ihr erschließt sich erst, in wirklichem Realismus, das dialektische Spannungswesen auch hier, ohne alles Grau unter der bunten, mechanistisch desavouierten Oberfläche, ohne lauter caput mortuum gleich an der ersten Basis des Seins. Gibt es einen Herd des Produzierens in der Natur, so ist die Struktur dieses Ursprungs mit subatomaren Modellen oder auch mit einem universellen Feldgesetz nicht erschöpfbar. Besonders nicht die eines Ursprungs, der, statt auf Anfänge beschränkt zu sein, sich doch in immer neuem Einsatz durch Weltprozeß und Weltzusammenhang hindurchbewegt, in der Tendenz, sich zu manifestieren. All das ist dem Mechanismus verschlossen;
das wirkliche Problem des Agens, das den Umsatz wie dialektischen Umschlag der Naturerscheinungen betreibt, ist eine auch quantitativ vorhandene, aber quantitativ nicht verfolgbare Implikation. Es gehört zur Mechanistik, sich auf isoliert gehaltene Anfänge zu beschränken, und es gehört erst recht zu ihr, daß sie über dem Produkt und seinen Relationen die Urrelation des Produzierens selber vergißt. Das der technischen Weltveränderung objektiv Entsprechende muß aber für konkrete Technik so in einer objektiven Produktionstendenz der Welt gegründet sein, wie es, mutatis mutandis, für konkrete Revolution in der objektiven Produktionstendenz der menschlichen Geschichte gegründet ist. Mitproduktivität der Natur ist vorausgesetzt, jene, die eben Paracelsus im Sinn hatte, wenn ihm seine Natur bereits wie eine befreundete oder utopisch befreundbare erschien, »inwendig voll Heilmittel, voller Rezepte und eine einzige Apotheke«, ein Kosmos, in dem sich der Mensch aufschließt, so wie der Mikrokosmos Mensch die Welt zu sich kommen läßt. Dadurch, daß die Wurzel der Dinge mitwirkend verwendet wurde, schien sie greifbar. Der Versuch ist Mittler zwischen Mensch und Nichtmensch, und er mochte möglicherweise so tief gehen, daß er den Strom im Nichtmenschlichen selber versucht. Ja daß er den Zugang zu dem Herd versucht, auf dem die äußeren Dinge gekocht worden sind und auf dem sie, im Bündnis mit Natursubjekt, Naturtendenz, weitergekocht werden sollten. »Alles Korn«, sagte Meister Eckart (Predigt 29), »alles Korn meint /(806) Weizen, alles Metall meint Gold, alle Geburt meint Menschen«; gerade die Entwicklungsgeschichte, von Aristoteles bis Hegel, hat zum Unterschied von der statischen Mechanik die Objektivität dieses Meinens in sich. Und die Tätigkeit seiner am Herd, das naturhafte Gestalten und Ausgestalten, wurde nicht grundlos in dem Augenblick durchgedacht, wo der methodische Begriff des Erzeugens von Fichte in den universalen einer «Tathandlung« (mit Priorität des Tuns vor dem Sein) verwandelt wurde, von Schelling gar in den einer - selber noch gestaltlosen - «Urproduktivität« (mit Renaissance der natura naturans). Nur unbeteiligte Teilansicht nehme daher Natur als Produkt, die spekulative Physik erkenne sie als Produzierendes und als Tendenz. Dazu gibt Schelling folgenden von der Mechanik, ja bereits von der kontemplierenden Wissenschaft her völlig unverständlichen - Beitrag: «Wir kennen die Natur nur als tätig, denn philosophieren läßt sich über keinen Gegenstand, der nicht in Tätigkeit zu versetzen ist. Philosophieren über die Natur heißt, sie aus dem toten Mechanismus, worin sie befangen scheint, herauszuheben, sie mit Freiheit gleichsam beleben und in eigene freie Entwicklung versetzen - heißt, mit anderen Worten, sich selbst von der gemeinen Ansicht losreißen, welche in der Natur nur, was geschieht, - höchstens das Handeln als Faktum, nicht das Handeln selbst im Handeln - erblickt« (Werke I, 3, S. 13). Während also in der gewöhnlichen Ansicht die ursprüngliche Produktivität der Natur über dem Produkt verschwindet, müsse in der philosophisch-konkreten das Produkt über der Produktivität verschwinden. Schelling wie Hegel freilich lassen die Manifestationsgeschichte der Natur im vorhandenen Menschen, ja an der Umsatzstelle des geschichtlichen Anfangs landen, und Hegel noch mehr als Schelling, der in den «vielfältigen und verschlungenen Monogrammen der Objekte« immerhin noch eine unentzifferte Bedeutung sieht, eine im menschlichen Geist noch nicht recht hellgewordene. Bei Hegel wird die Natur, «ein bacchantischer Gott, der sich selbst nicht zügelt und faßt«,durchaus bereits in der vorhandenen Geschichte gezügelt, gefaßt und aufgehoben, dergestalt, daß in ihr keinerlei substantieller Rest bleibt. Diese völlig antiquarische Vergangenheits- und Gewordenheitserklärung der Natur-Produktivität und ihrer Produkte /(807) ist ersichtlich verschieden von der sonst bei Schelling und Hegel doch intendierten Annäherung an die Naturwurzel; an
welche sich anzunähern selber keinen produktiven Sinn hat, wenn sie ausgeblüht hat. In Wirklichkeit aber hat sie weder ausgeblüht, noch ist die menschliche Geschichte, in ihrer Leiblichkeit, Umgebung und vor allem in ihrer Technik, der Natur nur als einer vergangenen verbunden. Konträr: Die endgültig manifestierte Natur liegt nicht anders wie die endgültig manifestierte Geschichte im Horizont der Zukunft, und nur auf diesen Horizont laufen auch die künftig wohlerwartbaren Vermittlungskategorien konkreter Technik zu. Je mehr gerade statt der äußerlichen eine Allianztechnik möglich werden sollte, eine mit der Mitproduktivität der Natur vermittelte, desto sicherer werden die Bildekräfte einer gefrorenen Natur erneut freigesetzt. Natur ist kein Vorbei, sondern der noch gar nicht geräumte Bauplatz, das noch gar nicht adäquat vorhandene Bauzeug für das noch gar nicht adäquat vorhandene menschliche Haus. Die Fähigkeit des problemhaften Natursubjekts, dieses Haus mitzubilden, ist eben das objektiv-utopische Korrelat der human-utopischen Phantasie, als einer konkreten. Darum ist es sicher, daß das menschliche Haus nicht nur in der Geschichte steht und auf dem Grund der menschlichen Tätigkeit, es steht vor allem auch auf dem Grund eines vermittelten Natursubjekts und auf dem Bauplatz der Natur. Grenzbegriff für diese ist nicht der Anfang der menschlichen Geschichte, wo Natur (die während der Geschichte beständig anwesende und sie umgebende) zum Platz des regnum hominis umschlägt, aber zum rechten, und sie unentfremdet aufgeht, als vermitteltes Gut. Technik ohne Vergewaltigung; ökonomische Krise und technischer Unfall Das Privateigentum entfremdet nicht nur die Individualität der Menschen, sondern auch die der Dinge. Marx, Heilige Familie Daß die Kraft des Feuers nicht bewacht werden muß, ist noch nirgends möglich. Dampf, entzündetes Gas, Strom, sie arbeiten /(808) überlistet, gefesselt, gesichert, große Schlauheit ist eingebaut. Anschluß an den Kern der wirkenden Kräfte, wie im Paracelsischen versucht, erscheint vom jetzigen Techniker her völlig verstiegen. Doch ebenso leicht ist vom jetzigen Stand der Technik her sichtbar, daß ihr genau dies Verstiegene fehlt, um wenigerkünstlich zu sein. Dies Künstliche ist mehr und ein anderes als der menschliche Nestbau, der Haus heißt, oder selbst als die Fortbewegung durch Räder, obwohl auch diese bei keinem lebenden Wesen vorkommt. Alles dergleichen hat noch einen Halt, so wie die Hände einen Halt haben, wenn sie Klavier spielen, statt Nahrung aufzusammeln oder Feinde zu erwürgen. Selbst das entorganisierte technische Dasein braucht noch nicht das künstliche zu sein, nämlich dann nicht, wenn es, was über alles entscheidet, in einer sozial vermittelten, in einer nicht unmenschlichen Gesellschaft geschieht und an dieser Vermittlung teilnimmt. Das hier gemeint Künstliche beruht vielmehr auf der überwiegenden Abstraktheit des bürgerlichen, vor allem spätbürgerlichen Daseins, einer Abstraktheit (Unvermitteltheit mit den Menschen und der Natur), der auch die List-Technik zugehört, neben so progressiver Entfesselung der Produktivkräfte, die durch sie kam. Und so erscheint bürgerliche Technik, bei allen Triumphen, als zugleich schlecht verwaltete und schlecht bezogene; die »industrielle Revolution« ist weder aufs menschliche noch aufs Naturmaterial konkret bezogen. Zu ihr gehört das Elend, das sie über die Menschen gebracht hat, ganz am Anfang und stets erneut. Das gemächliche Handwerk wurde brotlos, das Leben in den englischen Fabriken
war höllenhaft, die Arbeit am laufenden Band ist sauberer geworden, doch nicht vergnügter. Von daher, vom abstrakten Profittrieb her, die Verhäßlichung, welche Maschine und Maschinenarbeit über die Welt gebracht haben. Kapitalismus plus Maschinenware brachte die Zerstörung der alten Städte, der gewachsen-schönen Häuser und ihrer Möbel, der phantasievollen Silhouette alles organisch Gebauten. An seine Stelle trat um die Mitte des letzten Jahrhunderts eine Vorarchitektur der Hölle, der Lage der arbeitenden Klasse, aber auch dem Arbeitsplatz entsprechend, an dem und als der die siegende Maschine zuerst auftrat. Dickens hat im »Raritätenladen« diese erste Industrielandschaft so unvergeßlich beschrieben, daß kein noch so sau- /(809) beres Elektrizitätswerk von heute gegen diesen seinen Bodensatz aufkommt, gegen »das verwüstete, verödete Land ringsum«, gegen »die endlose Wiederholung der gleichen langweiligen häßlichen Formen, die der Schrecken schwerer Träume sind«, gegen »die kreischenden Maschinen und den giftigen Rauch, der das Licht verdunkelte und die trübe Luft verpestete«. Dergleichen ist seitdem gewiß reiner und geordneter geworden, der ästhetische Maschinensturm hat noch viel mehr als der moralische seine Zeitgemäßheit verloren, die Dickenssche Maschinenlandschaft kommt nur noch in verlassenen Abfallzonen des neunzehnten Jahrhunderts vor und wird sogar, in ihrer dämonisch-grotesken Häßlichkeit, ein neuer ästhetischer Gegenstand, ein surrealistischer: doch der Surrealismus rechtfertigt nicht seinen Gegenstand, sondern verhört ihn, und auch die sauberst gewordene Zweckform oder sogenannte Ingenieurkunst von heutzutage kann die Öde darunter, die Entfremdetheit nicht zudecken. Ist sie doch im gleichen Maß vorgeschritten, wie die Maschinen raffiniert und entorganisiert worden sind. Der Technik fehlt, auf ihrem immer weiter vorgeschobenen, aber auch immer einsameren Posten, der Anschluß an die alte gewachsene Welt, von der sich der Kapitalismus abgestoßen hat, und ebenso der Anschluß an ein der Technik selber Günstiges in der Natur, zu dem der abstrakte Kapitalismus nie den möglichen Zugang finden kann. Die bürgerliche Maschinenwelt steht in der Mitte zwischen dem Verlorenen und dem noch nicht Gewonnenen; sie wird zwar in Hinsicht ihres progressiven Charakters, ihrer bisher weitestgehenden Entfesselung der Produktivkräfte, in einer nicht mehr kapitalistischen Gesellschaft noch lange am Werk zu bleiben haben, doch sie bleibt bei alldem mit der eigentümlichen Bleichheit und Sekretionslosigkeit gezeichnet, worin die ganze kapitalistische Welt liegt. Diese Leichenhaftigkeit teilt sich nicht zuletzt auch der bisherigen Maschinerzware mit, zum sichtbarsten Unterschied von den alten Handwerksprodukten; und sie wird durch die Ingenieurkunst, die von den Fabrikanlagen auf die Produkte sich erstreckt, durch all diese Zweckform und durch die darauf stolze Phantasielosigkeit nicht verdeckt. Kant hatte den künstlerischen Genius als dasjenige Vermögen bezeichnet, welches schaffe wie die Natur. Und zwar nicht nur derart, daß es das Seine unwill- /(810) kürlich und notwendig hervorbringe wie diese, sondern daß auch seine Produkte, wie immer sie die Natur übertreffen und zu übertreffen haben, »wirken wie Natur und als Natur angesehen werden können«. Die technische Intelligenz ist zwar nicht die künstlerische, sie geht auf zusätzliche Kraft, nicht auf zusätzliche Schönheit, dennoch ist sie gleichfalls eine des Bildens, als des zusätzlichen Entbindens und Neubildens im Material. So gilt Kants ästhetisches Kriterium, mutatis mutandis, nicht uneben auch für den technischen Genius, wo immer er über die bloße List-Technik vorzudringen bemüht ist, als ein künftig-konkreter. Dem steht nicht entgegen, daß Kant ein Subjekt in der Natur (natura naturans) als etwas ansieht, was zur Natur nur hinzugedacht werden kann, gleich einer, wie Kant sagt, immanenten »Technik der Natur« selber. Selbst
das Übergewicht, welches der bloße Newtonsche Naturmechanismus bei Kant besitzt, kann in der Kritik der Urteilskraft die - wie immer noch reflexive oder hypothetische - Auffassungsweise nicht verhindern, welche auf eine natura naturans, ja natura supernaturans sich zu beziehen vermag. Gewiß, ein Subjekt der Natur (die nicht nur säkularisierte alte Isis) bleibt so lange problemhaft, als keine konkrete Vermittlung durch den Menschen, als den jüngsten Sohn der Natur, damit gelungen ist. Doch die Möglichkeit dazu bleibt offen und ist im Gegenstand vorgezeichnet, nicht bloß in unserer Auffaßbarkeit seiner, in einer Auffaßbarkeit, die ohne hereinwirkendes Naturmaterial nicht einmal als problemhafte möglich wäre. Ohne alles Spekulative also zusammenfassend: Es gibt die Anlage, die reale Möglichkeit zu einem Subjekt der Natur, durch Ergreifung wird sie in Fausts Feuer-Beziehung gebracht, die die Natur nur überwindet, um sie mit dem latent Besten in ihr zu unserem Besten zu vermitteln. Wird das Feuer nur bezähmt, bewacht, so bleibt es fremd. Die eigene Spur, auf der es einhertritt, ist dann eine schlechthin gefährliche, auch dann, wenn seine zusätzliche Kraft sozial besser als jetzt verwaltet sein sollte. In der gegenwärtig noch währenden Gesellschaft ist zuverlässig nichts von dem verwandten Geist zu erkennen, der gerade im Feuer sein Angesicht uns zugewendet. Es gibt eine spezifische Angst des Ingenieurs, zu weit, zu ungesichert vorgedrungen zu sein, er weiß nicht, mit welchen Kräften /(811) er es zu tun hat. Und aus solcher Nicht-Vermittlung stammt nicht zuletzt der sinnfälligste Effekt des ausgelassenen Inhalts: der technische Unfall. Dieser vor allem zeigt an, wie der Inhalt der Naturkräfte, der mit uns noch so wenig vermittelte, nicht ohne großen Schaden sich wegabstrahieren läßt. Ja, dabei ergibt sich zugleich an allen Unfällen, die den Menschen begegnen, untereinander wie im Verhältnis zur Natur, ein merkwürdig, ein lehrreichst Gemeinsames: Der technische Unfall ist der wirtschaftlichen Krise, die wirtschaftliche Krise ist dem technischen Unfall nicht ganz unverwandt. Gewiß, die Unterschiede zwischen beiden sind sichtbarer, stellenweise auch größer als die Verwandtschaft, und der Vergleich klingt deshalb paradox. Der technische Unfall erscheint als zufällige Kreuzung gesetzmäßiger Bewegungen, als deren äußerlicher, unvorhergesehener Schnittpunkt; die ökonomische Krise dagegen entwickelt sich völlig unzufällig innerhalb der Produktions- und Austauschweise der kapitalistischen Wirtschaft selber, als einer ihrer stetig härter werdenden Widersprüche. Und trotzdem entsprechen sich beide Katastrophen tiefliegend, denn beide stammen letzthin aus einem schlecht vermittelten, abstrakten Verhältnis der Menschen zum materiellen Substrat ihres Handelns. Gegen den technischen Unfall gibt es einige Sicherungen, sie sind überlegter, auch etwas kenntnisreicher als die Hilflosigkeit, womit die Bourgeoisie den Wirtschaftskrisen gegenübersteht, auch wachsen die technischen Sicherungen in etwas mit verbesserter Materialprüfung, Peilung, Meteorologie; aber gut Freund ist deshalb die Natur ihrem Prügelmeister nicht geworden, verringertes Risiko bringt das bürgerlich-technische Naturverhältnis nicht aus der Abstraktheit. Selbst die Kriegstechnik, obwohl sie geradezu den Unfall (der anderen) rationalisiert, als höchst bewußte Katastrophentechnik zuungunsten des Feinds, ist abstrakt, nur kanalisierend. Die Atombombe ist zwar die unverwesliche Glorie der amerikanischen Christenheit, man hat den Glanz ihrer Explosion mit dem Licht um Grünewalds Christus auf dem Isenheimer Altar verglichen, aber die Angst des Ingenieurs, außer der politischen, bleibt hier erst recht. Auch die synthetisch hergestellte Katastrophe kommt der Natur nicht näher, der sie ihre stellaren Hochöfen, mit äußerster List, nachmacht. So hat die bürgerliche Technik überall Zu/(812) fallsbildung in ihrem Horizont, Zufallsbildung aus der blinden, unbeherrschten,
unvermittelten Begegnung zweier lediglich äußerer Notwendigkeiten. Und dieser Zufall ist nicht nur die Kehrseite äußerer Notwendigkeit, er zeigt in dieser zugleich, daß der Mensch nicht nur mit den Naturkräften zentral wenig vermittelt ist, sondern daß die Naturursache selber mit sich selber noch unvermittelt ist. Daher impliziert technische Katastrophe jedesmal auch das drohende Nichts, als definitive Unvermitteltheit; in allen Untergängen gibt dies Chaos eine seiner Proben. Das erhellte bereits oben, in der »Grundlegung« (vgl. Seite 361): »Die dialektische Gebrauchbarkeit des Nichts verdeckt auch nicht die gänzlich antihistorische Vor-Erscheinung, welche das Nichts als schlechthinnige Zerstörung hat, als eine in der Geschichte immer wieder aufgehende Mördergrube.« Die au fond bestehende technische Unvermitteltheit wird auch durch den - wie immer erstaunlichen - Fall einer äußerlichen Kongruenz nicht verringert. Wonach dem bürgerlich-abstrakten Kalkül, der als mathematisch-physikalischer so machtvoll ausgebildet worden ist, in der Natur selber eine Strecke entspricht, nämlich die mechanische. Wie die Theorie-Praxis der neueren Industrie beweist, gibt es ein Stück gleichsam konkreter Abstraktheit in der physischen Natur; auch deshalb wird das Kalkül-Denken technologisch noch lange nach dem Untergang seiner bürgerlichen Grundlage in Geltung bleiben. Aber das rein Mechanische hat sein Gesetz selber nur als eines über lauter Zufälligkeiten, es ist geschichtslos, stereotyp und ohne Inhalt wie das Chaos selber, dessen gewordene Verdinglichung oder Kruste es durch Mechanistik ganz deutlich bezeichnet. So hilft auch diese streckenweise Kongruenz mit einer nicht freigesetzten Natur, mit einer Natur ohne Gegenzug gegen das Nichts, der abstrakten Technik nicht aus ihrer Abstraktheit heraus. Die Unvermitteltheit mit ihrem Material bleibt der bürgerlichen Ökonomie und der bürgerlichen Technik weitgehend gemeinsam; nachbürgerlich werden sich also in der Technik dieses Sinns Veränderungen zeigen. Gewiß ist die bürgerliche Technik kraft ihrer Wahlverwandtschaft mit natürlichen Mechanismen bedeutend solider als die kapitalistisch-abstrakte Wirtschaft, auch nicht-euklidische Kühnheiten sind ihr nicht versagt, sie zeichnen sich, wie zu sehen war, bemerkenswert ab. Jedoch /(813) Krise wie Unfall sind beiden Abstraktheiten eine unüberwindliche Schranke; denn beide sind kontemplativ, beide sind idealistisch, beiden eignet die echt idealistische Gleichgültigkeit der Form gegen den Inhalt. Eben nicht nur in Krisen, auch in der technischen Katastrophe; hier überall quittiert sich die Vermittlungslosigkeit des bürgerlichen homo faber mit dem Stoff seiner Werke, erst recht mit der unangetroffenen Produktivität, mit der Tendenz und Latenz in der Naturmaterie selbst. Und erst wenn das Subjekt der Geschichte: der arbeitende Mensch, sich als Hersteller der Geschichte erfaßt, folglich das Schicksal in der Geschichte aufgehoben hat, könnte er auch dem Produktionsherd in der Naturwelt nähertreten. Marx bestimmte die geschichtliche Materie als Beziehung der Menschen zu Menschen und zur Natur; wo diese Beziehung, wie in der bürgerlichen Gesellschaft, durchgehends und per definitionem calculi abstrakt ist, kann auch die Naturmaterie, welche in dieser Beziehung mitwirkt, noch keine des konkreten Segens sein. Marxismus der Technik, wenn er einmal durchdacht sein wird, ist keine Philanthropie für mißhandelte Metalle, wohl aber das Ende der naiven Übertragung des Ausbeuter- und Tierbändigerstandpunktes auf die Natur. Der trotz aller Unterschiede durchschaute Zusammenhang des bürgerlichen Verhaltens von Menschen zu Menschen mit dem zur Natur hebt noch nicht die technische Naturentfremdung auf, wohl aber ihr gutes Gewissen. Nicht grundlos hat Nordamerika, das rein aus dem Kapitalismus geboren ist und nichts anderes als ihn je erfahren hat, überhaupt kein Verhältnis zur Natur, auch kein ästhetisch vermitteltes. Naturströmung als Freund,
Technik als Entbindung und Vermittlung der im Schoß der Natur schlummernden Schöpfungen, das gehört zum Konkretesten an konkreter Utopie. Doch auch nur der Anfang zu dieser Konkretion setzt zwischenmenschliches Konkretwerden, das ist, soziale Revolution voraus; eher gibt es nicht einmal eine Treppe, geschweige eine Tür zur möglichen Naturallianz. Gefesselter Riese, verschleierte Sphinx, technische Freiheit Sinnlos daher, von Erfinden, das für sich allein steht, ein sicher Gutes zu erwarten. Es ist nicht immer besser als die Gesellschaft, /(814) die es setzt und gebraucht, wenn es auch viel mehr Übernehmbares als diese enthält. Jubel über große technische Fortschritte ist allemal nichtig, wenn die Klasse und der Zustand der Klasse nicht mitgedacht werden, für die die Wunder geschehen. Zuletzt gab es riesige Kriegstechnik, sie war gerade dann, wenn sie kapitalistisch ohne Unfall funktionierte, ein einziger ungeheurer Unfall. Statt des einen brennenden Troja gab es tausende: die soziale Krise des Kapitals ging von selber in den größten aller Unfälle über, in den sozialen des Kriegs. Also können Fortschritten der »Naturbeherrschung« sehr große Rückschritte der Gesellschaft entsprechen, auch die »Naturbeherrschung« sieht dann danach aus. Ohnehin ist sie als solche eine Erscheinung der Gewaltgesellschaft; das Bild: eiserner Sklave ist von den fleischernen genommen. Und das technische Verhältnis zur Natur wiederholt in anderer Weise das bürgerlich-soziale zu den unverstandenen Tendenzen und Inhalten im eigenen Betrieb: hier wie dort kommt die Tätigkeit über bloße Ausnutzung von Chancen nicht hinaus; hier wie dort wird mit der Materie des Geschehens nicht kommuniziert. Wobei Geschichte und Gesellschaft immerhin noch das von Menschen Gemachte darstellen, Natur aber überdies noch das vom Menschen Ungemachte, das vom Stoffwechsel mit ihm weithin Unbetroffene. Desto größer ist der Riß, desto weniger ist eine bloß abstrakte Beziehung fähig, ihn zu überbrücken. Vergewaltigung und Unvermitteltheit bleiben daher in der bürgerlichen Gesellschaft technisch verschwägert; jede Erfindung ist dadurch bestimmt und begrenzt. So erhellt immer wieder: Unsere bisherige Technik steht in der Natur wie eine Besatzungsarmee in Feindesland, und vom Landesinnern weiß sie nichts, die Materie der Sache ist ihr transzendent. Einen treffenden Doppelaspekt hierfür geben zwei Figuren an einem grundehrlichen Denkmal, an dem des Chemikers Bunsen in Heidelberg: ein gefesselter Riese zur Linken, die überwältigte Naturkraft; ein verhülltes Weib zurRechten, die Sphinx-Natur. Wäre aber die Natur nicht verhüllt, so wäre der Riese nicht gefesselt; Fessel und Schleier also sind hier Allegorien des gleichen Sachverhalts, und sie sind nirgends sicherer einander korrelativ als in der Gesellschaft durchgehender Abstraktheit. Was letztere in Ansehung des Naturwesens angeht, so ist sie bekanntlich seit Bunsen, Helmholtz, Einstein, Heisen- /(815) berg noch unvergleichlich größer geworden; es ist das die Kehrseite der sonst so blühenden und kühnen neuen Physik. Die Relativierung der gesellschaftlichen Zusammenhänge und des bisherigen Betriebskalküls reflektiert sich im Zerfall aller und jeder konkreten Naturbeziehung überhaupt. Auf der einen Seite dringt so subjektiver Idealismus vor, Berkeley in der Physik, vor allem in England, wo er nie ausgestorben ist. Auf der anderen, der Naturseite, erlischt angeblich auch die begreifbare Wirklichkeit, nicht bloß die anschauliche; die Unvermitteltheit mit natura naturans macht sich zur methodischen Ehrensache und jedenfalls absolut. Das sind die Reflexe einer sich auflösenden Gesellschaft, ihrer Krise und ihrer eigenen Chaotik; sie erscheinen in der Art, wie sie ihre Physik
halbiert. Wie sie sie fern von jedem Mikrokosmos-Makrokosmos-Verhältnis isoliert und erst recht fern von der Naturdialektik, vom physischen SubjektObjekt-Verhältnis. Neu-Berkeley aber ist zu Wirkungskraft und Samen das Allerfernste geworden, mit Interpretationen, die überhaupt keine naturphilosophische Aussage enthalten, sondern lediglich eine soziologische, dergestalt, daß der Agnostizismus, auch die Chaoswelt der Jeans und Eddington, der Mach und Russel in die spätkapitalistische Ideologie gehören, nicht in die Naturphilosophie. So macht totale Entfremdung vom Naturinhalt die Technik doppelt zu einem Kunststück, pointiert doppelt die Relation zwischen ewig verhüllter Natur, ewig gefesseltem Riesen. Die Entorganisierung, als Übergang der Technik in immer menschenfernere Naturgebiete, hat die Abstraktheit der Technik dazu noch verstärkt. Mit ihr, auf immer prekärere Weise, ihre Heimatlosigkeit; außer dem sozialen fehlt bei Strahlungsmaschinen nun auch der physisch vertraute Grund. Soll also gerade Entorganisierung die gewünschten Zusatzkräfte konkret aus der Welt herausschlagen, dann muß dieser Überhang nicht nur ins Anschauliche, sondern ins Nicht- Äußerliche reichen, folglich immer wieder: in Vermittlung mit einer nichtmehrmythischen natura naturans. Die sozialpolitische Freiheit, welche die gesellschaftlichen Ursachen in die Hand nimmt, setzt sich so naturpolitisch fort. Ist doch diese Vermittlung das technisch-naturphilosophische Gegenbild dessen, was Engels in der Beziehung von Menschen zu Menschen den Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit /(816) nennt. Engels betont die Parallele zwischen bloß äußerer sozialer und physischer Notwendigkeit durchaus: »Die gesellschaftlich wirksamen Kräfte wirken ganz wie die Naturkräfte: blindlings, gewaltsam, zerstörend, solange wir sie nicht erkennen und nicht mit ihnen rechnen. Haben wir sie aber einmal erkannt, ihre Tätigkeit, ihre Richtungen, ihre Wirkungen begriffen, so hängt es nur von uns ab, sie mehr und mehr unserm Willen zu unterwerfen und vermittelst ihrer unsre Zwecke zu erreichen« (Anti-Dühring, Dietz, 1948,S.346). Ebenso wird die blinde, katastrophenhaltige Notwendigkeit im sozialen wie physischen Gebiet durch Vermittlung mit den Produktivkräften hier wie dort gebrochen. Hier, indem die Menschen Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung werden, das heißt mit sich vermittelt als erzeugendem Subjekt der Geschichte; dort, indem wachsendeVermittlung mit dem bisher dunklen Erzeugungs- und Bedingungsgrund der Naturgesetze geschieht. Und Engels betont mit Nachdruck, daß beide Gebiete, also auch beide Akte der Vermittlung mit ihnen und in ihnen, höchstens in der Vorstellung, nicht aber in der Wirklichkeit voneinander getrennt werden können: Existenz in sozialer Freiheit und in Harmonie mit den erkannten Naturgesetzen sind zusammengehörig. Putschistisch, das heißt abstrakt zu umgehen ist hier wie dort nichts; auch im heftigsten Gegenzug, Überholungszug übers Gewordene hinaus lebt die Veränderung der Welt von objekthafter Tendenz. Auch die noch so synthetische Chemie oder noch so kühn erweiterte Strahlungstechnik ist als konkrete mit einem Synthetisch-Erweiternden a posteriori in der Welt verbündet, muß und wird es sein. Das Synthetisch-Erweiternde a posteriori ist in der dialektischen Gesetzlichkeit der Natur selber, über ihr Gewordenes hinaus. Mit der bloß äußerlich-gesetzlichen Erfassung, wie die bürgerliche Naturwissenschaft und ihre Technik sie ausgebildethaben, ist die Naturnotwendigkeit freilich noch nicht zentral erfaßt und vermittelt; was zu beweisen war. Diese selber äußere Notwendigkeit ist immer noch eine blinde und insofern noch immer mehr dem Fatumsbegriff der Primitiven und des Mythos zugeordnet, nämlich der Schicksals-Moira, als jener wahrhaft erkannten und so zur Freiheit gebrachten Notwendigkeit, woran konkrete Technik ihren Begriff und ihr
Weiterschaffen in der Natur haben kann. /(817) Erst dann, wenn Tyche und Moira, Zufall und Schicksal nicht mehr die unüberwundenen Momente einer bloß äußeren Naturnotwendigkeit bilden, erst in dieser genauen Anwesenheit bei der Naturkraft hätte die Technik ihre Katastrophenseite wie ihre Abstraktheit überwunden. Eine Verhakung ohnegleichen ist damit intendiert, ein wirklicher Einbau der Menschen (sobald sie mit sich sozial vermittelt worden sind) in die Natur (sobald die Technik mit der Natur vermittelt worden ist).Verwandlung und Selbstverwandlung der Dinge zu Gütern, natura naturans und supernaturans statt natura dominata: Das also meinen die Grundrisse einer besseren Welt, was konkrete Technik angeht. Gesetzt den Fall, das Herz der Erde wäre von Gold, so wurde dieses Herz noch keinesfalls als solches gefunden und hat auch nur dann seine Güte, wenn es in den Werken der Technik endlich mitschlägt.
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BAUTEN, DIE EINE BESSERE WELT ABBILDEN, ARCHITEKTONISCHE UTOPIEN
Ein Bau muß Nutzen, Dauer und Schönheit zugleich enthalten. Vitruv Mit dem Durchgang durch die Peterskirche fing der Ritter den schönen Lauf durch die Unsterblichkeit an. Er trat in die Zauberkirche, mit dem Bewußtsein, daß sie wie das Weltgebäude sich immer mehr erweitert und entferne, je länger man in ihr ist. Endlich standen sie am Hauptaltar und dessen hundert Lampen - welch eine Stille! Über sich das Himmelsgewölbe der Kuppel, auf vier inneren Türmen ruhend, um sich eine überwölbte Stadt, worin Kirchen standen. Sie traten ins Pantheon; da wölbte sich ein heiliges, einfaches, freies Weltgebäude mit seinen hinaufstrebenden Himmelsbögen um sie, ein Odeum der Sphärentöne, eine Welt in der Welt. Jean Paul, Titan Da die Architektur nichts anderes ist als ein Zurückgehen der Plastik zum Anorganischen, so muß auch in ihr die geometrische Regelmäßigkeit noch ihr Recht behaupten, die erst auf den höheren Stufen abgeworfen wird. Schelling, Philosophie der Kunst Urbs Jerusalem beata / Dicta pacis visio / Quae construitur in coelis / vivis ex lapidibus. Frühmittelalterlicher Hymnus I FIGUREN DER ALTEN BAUKUNST Blick durchs Fenster Nicht überall muß gleich der Fuß hingesetzt werden. Wie schön sieht eine
entworfene Treppe aus, klein eingezeichnet. Immer schon wurde ein eigener Reiz der Pläne und Aufrisse bemerkt. Das meiste davon geht ins fertige Haus ein, und doch war das Geschöpf auf dem Papier, das zart ausgezogene, ein anderes. Ähnlich frisch, zuweilen auch trügend wirken gezeichnete Innenräume, selbst wirkliche Zimmer, sofern sie durch Schaufenster gesehen werden oder durch eine Schranke abgetrennt sind. Wer wollte nicht in diesen edel schwellenden Sesseln ruhen, unter der freundlich gestellten Lampe, im abendlichen Zimmer. Möchte /(820) uns sein Friede eigen sein, der ganze Raum erzählt von Glück. Aber das Glück liegt im bloßen Blick von außen, Bewohner könnten es nur stören. Auch hier also lebt der reizvolle Plan fort, wenngleich als körperlich gewordener; eine täuschende Frische des Entwurfs lebt im unbetretenen Raum noch fort. Die Frische wird völlig lockend im Traumhaus des jungen Paars, das es, versunken in mögliches Glück, auf der Zeichnung genießt. Ein Ähnliches gibt das Modell, der im verkleinerten Maßstab nun völlig versinnlichte Entwurf. Denn auch das Modell, das Haus als Kind, verspricht eine Schönheit, die nachher, im wirklichen Bau, nicht immer so vorkommt. Hier ist überall ein Vonvornherein, schöner scheinend als manches nachher Erwachsene und sein Zweck. Der Entwurf behält den Traum vom Haus; Blick durchs Fenster rahmt ihn, auch das Modell steht wie im Fernbild da. Eine Schutzschicht wirkt, die zwar durchsichtig ist, doch noch nicht zugreifen oder eintreten läßt. Darum sieht alles hinter Glas so viel besser aus, leichter beieinander wohnend. Träume an der pompejanischen Wand Auch mit Stift und Farbe ließ sich jederzeit prickelnd bauen. Gemaltes stürzt nicht ein, kein Haus an der Wand kommt zu teuer oder ist zu kühn. Am bekanntesten ist dieser Art die pompejanische Malerei, sie ist lauter Reisestadt zu Hause. Perspektivischer Blick, Veduten toben sich aus, zerbrechlich schöne, unmögliche Baugebilde werden an die Wand gezaubert. Solche, wie die Erde sie nicht trägt, wie sie selber nicht stehen könnten; das besonders auf Wanddekorationen des zweiten, dann wieder des vierten pompejanischen Stils. Eine Villa in Boscoreale zeigt nebeneinander Ausblick auf gemalte Gärten, wunderlich verkürzte Säulenhallen, verwinkelte Hausgruppen im Hintergrund. Frech und verzaubert überschneiden sich Perspektiven, was an Bauteilen vorn liegt, kommt nach hinten und umgekehrt, reizende Balustraden, einsam erhöhte Rundtempelchen spotten der statischen Regel. Trotz der ordinären Farben ist das Wandwesen höchst graziös, durch diese Häuser könnte nur geschwebt werden. Man hat die pompejanische Spielerei noch nie in ihrem utopischen Zug beachtet, obwohl er sogar in Einzelheiten, ganz greifbar, auf- /(821) taucht: nämlich in der Vorwegnahme späterer Stile. Nur das »Unausführbare« wurde bemerkt, Vitruv machte es bereits dieser gemalten Baukunst zum Vorwurf. Doch gerade die unsolide Nichtigkeit erlaubte dem Maler, Effekte hervorzurufen, die auf solide Weise noch gar nicht fällig waren. So zeigt die winklig aufgetürmte Häuserfülle in der Dekoration von Boscoreale einen gotischen Zug. Noch unzweifelhafter tauchen barocke Motive auf: hier in einer geschwungenen Säulenreihe, dort in gebrochenen oder sich bäumenden Giebeln, dort wieder in Bosketten und dergleichen, die das Rokoko nachher kopieren konnte, ohne deshalb aus seinem Stil zu fallen. Die antike Baukunst kannte dies bizarre Wesen gar nicht, oder sie berührte es nur sehr spät, an den syrischen Grenzen des Reichs, in Baalbek oder Petra. Der Rundtempel in Baalbek zeigt das ausgeschweifte Gebälk pompejanischer Zeichnung, die Felsfassade von Petra die abgeschnittenen Giebelecken, mit einem turbanartigen Rundbau dazwischen. Doch dergleichen kam
nur vereinzelt nach Rom und eben lange nach Pompejis Untergang, in Hadrianischen Bauten. Ja auch in diesen klang nur gelegentlich an, was die mittlere Landstadt auf der Wand so blühend ausgeführt hatte. Erst das späte italienische, deutsche Barock bringt die halbierten Giebel, geschweiften Portale, welche pompeianische Tünchmeister mühelos hingesetzt haben. Sehr oft haben diese Meister Schablonen aus der damaligen Theatermalerei benutzt, die Herkunft aus ihr erklärt sowohl das Windige wie das Kühne. Zarte Hallen kommen wie aus farbiger Luft geflogen, so führen sie Traumspiel mit sich. Festschmuck und barocke Bühnenbauten Mit Stift und Farbe wurde nachher noch viel ausgelassener gebaut. Dort nämlich, wo es galt, große Maske, offenen Schein zu bilden. Das ist der Fall beim Fest, sodann auf der Bühne; beide brauchen pompejanische Spiele. Um beim Fest zu beginnen und bei der Art, es zu feiern, so will diese Art ihrer Absicht nach ohnehin jeden Alltag vergessen, kann nie gelungen genug sein. Ungenügsam ist das Festliche im weiten, im spielhaften oder rauschenden Reich seiner Freude angesiedelt. Die Orgie unterscheidet den Menschen vom Tier, deutlicher als der Verstand; /(822) der Mensch hört nicht auf, wenn er genug hat. Die glänzendste Zeit fürs Festefeiern war am Ausgang des Mittelalters und im Barock; damals verstand sich die herrschende Klasse auf Gepränge wie nie zuvor. Riesiger Reichtum, Kaufmanns- und Fürstenkapital, strömte an wenigen Punkten zusammen; oft abgeschmackte, aber nie ermüdete Genuß- und Prunkkraft war imstande, sich im Überschwang anzulegen. Der Architekt verband sich mit dem Maitre de plaisir; Stift und Farbe, Regie und Allegorie lieferten dem Fest jeden aufbaubaren Traumzauber, den es brauchte. Was in Pompeji an die Wand gemalt, an Bauten, auch mythischen Szenen, stand hier auf dem Tisch oder exaltierte den Festsaal und die Gäste, die Versatzstücke des Dekors geworden waren, in ihm. Auf einem Ball des Bischofs von Sens um 1400 gab es Wein aus Glas, Frauen als ihre eigenen Nebenbuhlerinnen verkleidet und als Aktbilder zuletzt, die man klarer Abend nannte. Von einem Gelage, das der Herzog von Lilie 1454 gab und das einen Kreuzzug gegen die Türken zur Wiedereroberung Konstantinopels ankündigen sollte, wird folgende Tischdekoration überliefert: ein bemanntes und aufgetakeltes Handelsschiff, eine Wiese mit Bäumen, Felsen, Quelle und dem Bild des heiligen Andreas, das Schloß Lusignan mit der Fee Melusine, eine Windmühle mit einem Vogelschießen, ein Wald mit beweglichen wilden Tieren, eine Kirche mit Orgel und Sängern, welche, mit Musikanten abwechselnd, die in einer Pastete saßen, fromme Musik zum besten gaben. Nicht genug mit dieser Fernwelt, vereint auf dem Tisch, erschienen rings um den Tafelaufsatz bewegliche Bilder und Bildsäulen, kriegerische Wunschsituationen staffierend und solche des Siegs. Auf dem Höhepunkt des Festmahls ritt Sainte-Eglise selber ein, in einem Turm sitzend, auf dem Rücken eines Elefanten, den ein türkischer Riese führte. Das ist Gargantua-Welt des Festes, auch eine Fülle barbarischer Sehnsucht nach Wunderlich-Wunderbarem, nach Castel Merveil, aus späten Ritterromanen gezogen und zur Schau verwandt, verwandelt. Darum mußte sich der Intendant solch fürstlicher Lustbarkeiten noch auf mehr als auf Phäakenland verstehen, er warf den Raum samt den Gästen ins Überirdisch-Monströse. Casanova berichtet noch aus dem Rokoko, einer Welt, die sich sonst nicht mehr auf Fortissimo verstand, gigantische Verzauberungen aus /(823) Spätmittelalter und Barock. Er berichtet sie von den Feerien Karl Eugens von Württemberg, eines Despoten, der noch besser als die meisten anderen Duodezfürsten Deutschlands
die Alchymie beherrschte, aus dem Schweiß seiner Untertanen Gold zu machen, eines Phantasten, der es verstand, seinen Hof, trotz Versailles, zum glänzendsten Europas zu machen. Diese Feste dauerten vierzehn Tage ununterbrochen, Genußfähigkeit einer starken Bauernhochzeit verband sich mit den Gaben und Kunstwerken der Courtoisie. Der Herzog führte seine Gäste durch ein tausend Fuß langes, strahlend erleuchtetes Treibhaus, er führte sie durch Orangen- und Zitronenhaine, an dreißig Seen und Wasserspielen vorüber. Im Schloßhof stand die Tafel, Wolken senkten sich nieder, Wolken teilten sich, der Gipfel des Olymp wurde sichtbar, mit seinen Göttern, von goldenen Säulen eingefaßt, zur Seite die Sitze der vier Jahreszeiten und der vier Elemente, aus dem Olymp klangen italienische Arien, Sirenenmusik ohne Gefahr. Eine verdeckte Maschine setzte Venus mit sechzehn Liebesgöttern auf den geschmückten Tisch; die Dame gewährte, die Kavaliere lächelten, und am Ende des Festes war das gesamte genießbareWeltall auf der Haut des Weibes, auf dem Pläsier des Mannes aufgetragen. Nie wurden glänzendere Feste gefeiert als im Barock, dieser theatralischen Zeit, und seinem Nachklang im Rokoko; nie waren sie - bei abziehender, doch desto dekorativerer Feudalmacht - mit solch raffiniertem Aufwand versinnbildlicht. Das französische zweite Kaiserreich bezog von dorther seine bereits verrotteten Glanzlichter, ja heute noch lombardiert jeder Prunk - von New Yorker Eisrevuen im Madison Square bis zur Londoner Königskrönung - auf erquälte Weise Feerien des Barock. Aber das Nicht-Erquälte fehlt, und gar nichts mit dem echten Überschwang hatte die, wie immer auch eigentümliche, Dekorationslust der Makartzeit gemeinsam. Deren Festschmaus hat alten Glanz nur wiedergekäut und schwindelhaft kopiert, während das Fest des Barock mit der üppigen Bildkraft der eigenen Zeit Altes wie Eigenes mit nochmals überhöhter Spiegelung repräsentiert hatte. Redouten und Schlittenfeste, Lustjagden und Reiterspiele lebten gleichmäßig jenen Barockstil, der in der Architektur Wunder sucht, in der Dekoration nie dagewesene Verblüffung. Der letzte Festtraum der Barockgesell- /(824) schaft aber war: nach Indien vertragen zu werden, an den Hof des Großmoguls. Selbst die griechische Mythologie, der man sich zur Verkleidung oder Anspielung bediente, lag unter dem Himmelsstrich Delhi. Überall setzte die Festarchitektur tropische Farben und Umrisse, um darin ad libitum zu Hause zu sein. Von dieser Ferne ist nur ein Schritt zur damals bunten Bühne selbst. Zur Welt auf den Brettern, die einer üppigen Handlung gemäß ist. Zum gestellten Schauplatz also, worauf die dargestellte Festlichkeit eingerahmt, dadurch noch eins so reich gedeihen sollte. Die barocken Bühnenbauten haben an Ausschweifung übers Gewohnte und sein Sehfeld die Zurüstungen zum Fest noch weit überboten. Giuseppe Galli-Bibiena (1696 bis 1757) war das Genie des opernhaften Schauplatzes, des durch optische Künste erst recht verzauberten. Von hier der Einfall, statt der einfachen Perspektive des Beschauers die Perspektive der Bühnenperson oder eine imaginäre einzuführen, eine aus großer seitlicher Ferne. Galli-Bibiena hob den in der Achse des Theaters liegenden Augenpunkt auf, drehte die Kulisse, die bisher im rechten Winkel zum Beschauer gestanden hatte, stellte sie quer, mit dem Wunscheffekt, daß die Perspektive, zum Unterschied von der Renaissancebühne, ganz und gar ins Schräge, Verstellte, Ahnungsreiche wies. Das wurde der Rahmen der Haupt- und Staatsaktionen, vor allem der Jesuitenoper, der hochphantastischen. Eine Welt unterm Zauberstab ging im Bühnenraum auf: Engel und Dämonen spannten den Flügel, Magier bewirkten Flammenmeere und Überschwemmungen, durch welche die Unschuld desto rührender oder desto siegreicher schritt, Elias fuhr auf feurigem Wagen gen Himmel, am Ende wurden
Höllenpraxis und Himmelsglanz so täuschend aufgebaut, als ginge es wirklich an einen anderen Ort. Der Architekt aber hatte den Raum zu gestalten, worin das Unglaubwürdige glaubwürdig erschien und die Ferne als erreichbarer Zustand. Die erhaltenen Prospekte (vgl. Josef Gregors Mappenwerk «Denkmäler des Theaters«) zeigen Treppenhäuser, Festsäle, unterirdische Gewölbe, Pompkirchen in fast unerforschlicher Fülle der Zeichnung, Überschneidung und der Hintergründe. Antike oder orientalische Bauten, wie sie der gleichzeitige Barockroman liebte, wurden sinnfällig hingestellt, in ihrem Fabelprunk nochmals /(825) potenziert: Neros goldenes Haus, der Palast des Großmoguls, «zuckersüße Lust« voll «bepurpurten Himmels« auf Erden, und er spiegelte sich »in Krystallinen-Fluth«. Das war, am locus minoris resistentiae: Theater, die Macht dieses vornehmen, um nicht zu sagen: dieses ätherischen Bombastes. In seiner Scheinarchitektur diente der Schein wiederum nicht dazu, historische Stile zu kopieren, wie im Kulissentum des neunzehnten Jahrhunderts, sondern der eigene Stil, das Barock, hat sich darin utopisch fortexperimentiert. Ja das Barock, wie vorher schon der Manierismus, suchte selber so eifrig sein Spiegelbild, daß die wirkliche Architektur bei der theatralischen in die Schule gehen konnte und die Zauberei erlernte, sich noch gewagter zu vermehren. Von daher auch die letzte Steigerung der Theaterarchitektur: die wirkliche, die in gemalte, die gemalte, die in wirkliche übergeht. So bei Tiepolo, wenn er den Festsaal des Palazzo Labia in Venedig malerisch gleichsam verdoppelt: mit vorgetäuschten Fenstern und Arkaden, mit einer Scheingesellschaft an der Tafel, mit dem Gastmahl der Kleopatra in der weitgeöffneten Wand. Ganz voll arbeitete diese Illusion in der Höhe, in den Deckenbildern des Barock, verbunden mit Kuppel und Laterne. Wand und Decke sollen hier als eines erscheinen, die wirklichen Pilaster setzen sich als gemalte fort, ins Unendliche ragen gemalte Bauten, von unten gesehen, mit krassester Verkürzung, empor. Alle Mittel optischer Täuschung, verdoppelter und verdreifachter Perspektive werden aufgeboten, um den Raum zu steigern, die Decke vom Abschluß zu befreien; die Kuppel, ehemals so leidenschaftslos auf ihrem Steinring schwebend, wird zum saugenden Trichter. Verschiedene Wirklichkeitsgrade erscheinen im Übergang vom architektonischen zum gemalten Bau und noch im gemalten selbst. Die konträren Aufgaben der Deckenfüllung und Deckenöffnung kreuzen sich, das wirkliche Licht, das durch die Fenster der Laterne hereinfällt, wird zum Clou des gemalten. Der erste dieser Lustblicke nach oben gelang schon Mantegna inderBrautkammer des Kastells von Mantua, die letzten und merkwürdigsten finden sich in bayrisch-österreichischenRokokokirchen, auch Schlössern, so im Weltenburger Deckengemälde des Cosmas Damian Asam. Dergleichen verkörpert, auf meisterhaft-unsolide Weise, wieder nichts Geringeres als das Wunschbild, in einem /(826) anderen als dem vorhandenen, ja in einem gewollt unmöglichen Raum zu leben. Es ist ein waghalsiger Architekturzirkus aus Perspektive, es ist gleichzeitig ein Kunstwerk aus hinübertreibender Illusion, aus Baufahrt. Vollziehbar war das alles in einer Architektur, die ohnehin die reißerisch-mitreißendste war, eine der eingebauten Perspektive. War doch das Barock von Geburt an auf nichts als auf Veduta bezogen, auf Standpunkte, von denen das Ensemble sich zur Bühne zusammenschloß, zum Theaterprospekt auf der Straße. Die gesamte Gestaltung war agitatorisch, war Propaganda für Fürstenmacht und Katholizismus; Mittel dieser Gestaltung aber war, auch außerhalb der Bühne, ein Theater der Berauschung, das die Willkür wie das Wunder in die Kunst einrücken sollte. Es gibt nichts Gewohntes und Festes, das dieser Stil trotz strenger Symmetrie nicht umginge, das er nicht mit gebauschter Linie, eingebauter
Veduta unterbräche; das Rokoko bringt dem nur die Steigerung. Also steht auch die Barockarchitektur auf dem barocken Theater, versteckt gerade ihre klaren konstruktiven Tragpunkte, stellt ihre Massen in die Luft, wie auf Himmelfahrt begriffen. Dem widersprechen die vorgetäuschten Stützschwierigkeiten nicht, die ungeheuren Sockel, die doppelten, dreifachen, weit vorgeschobenen Säulen und Pilaster. Sie tragen das Wunder gar nicht, sie meinen und unterstreichen nur, so viel Masse wäre nötig zum Tragen, wenn es in dieser Baukunst mit rechten Dingen zuginge, statt in gloria et jubilo. Noch der Barockbalkon fährt, wie Burckhardt sagt, mit Pauken und Trompeten aus der Wand hervor. Aus diesem Grund geriet damals auch der Übergang von der Kunst des Bühnenbaus zum wirklichen so leicht: der gleiche Giuseppe Galli-Bibiena, der seine phantastische Bühne ausmalte, baute die Oper in Bayreuth, als das schönste italienische Theater der Welt. Er baute die Oper in Dresden und verband sie mit dem Zwinger, ein anderer Galli Bibiena baute die Jesuitenkirche in Mannheim, lauter Festvorstellungen aus Stein. Die Bauten stehen sinnlich-übersinnlich da, wobei das Schöne, das mit dem Heiligen hier Beilager feiert, selber nicht ruht, sondern schwingt und schwebt. /(827)
Wunscharchitektur im Märchen
Stets aber gelang es, Häuser fast noch bunter zu schildern als zu stellen. Dann erscheint erdichteter Bau, und zwar von der Art, wie das Märchen ihn hinzaubert. Auch mit Worten gibt es derart pompejanische Spiele, sie gehen dann ganz ins Blaue oder auch Türkisgrüne. Das deutsche Märchen, das so vieles blicken läßt, was das Herz begehrt, hat vom Traumhaus immerhin das verbotene Zimmer und malt es sich namenlos aus. Volle Traumschlösser aber, auch Traumstädte stehen in Tausendundeiner Nacht, wo die architektonischen Vorlagen zum Traum, der sie fortsetzt, ohnehin reicher waren als im damaligen Norden. Und im Traum ist besser, die Häuser werden so mit einer Schönheit ausgestattet, die sonst unauffindbar ist: »Tage und Nächte sind darin, als wären sie nicht unter dieses Leben zu rechnen.« Das Märchen: »Die Geschichte Dschanschahs« (Tausendundeine Nacht, Insel VI, S.409ff.), woraus dieser Satz stammt, beschreibt das Juwelenschloß Takni, weit, weit in der verborgenen Welt:»Als Dschanschah erwachte, sah er in der Ferne etwas glitzern, als wäre es ein Blitz, und es füllte das Firmament mit seinem Zucken. Er aber staunte, was dieser Schein bedeuten mochte, ohne zu ahnen, daß es das Schloß war, nach dem er suchte. Er stieg also von dem Berg herab und ging auf das Licht zu, das da ausstrahlte von Takni, dem Schloß der Juwelen. Nun war es noch um eine Reise von zwei Monaten entfernt von Karmus, dem Hügel, darauf er gelandet war, und die Fundamente des Schlosses Takni waren erbaut aus roten Rubinen und seine Mauern aus gelbem Gold. Und ferner hatte es tausend Türme, die waren erbaut aus edlen Metallen und besetzt und überstreut mit kostbaren Steinen aus dem Meer der Finsternis, und deshalb hieß es das Schloß der Juwelen, Takni.« Hinzu treten unbelebte, doch völlig erhaltene Standbilder, so im Märchen von der merkwürdigen Messingstadt (Insel, VII, S. 206 ff.), zwischen Ägypten und Marokko in der Wüste gelegen, von Toten und Schätzen erfüllt: »Als der Emir Musa das sah, stand er still und verherrlichte Allah, den Höchsten, heiligte ihn und betrachtete die Schönheit des Palastes, die Wucht seines Baus und die herrliche Vollkommenheit seiner Verteilung.« Alles so Befundene oder Verkündete oder /(828) auch Bramarbasierte liegt in der Wunschlinie, die zuletzt zu dem Palast Aladins führt, zu der Überzeugung der Beschauer, daß die ganze Welt nichts bauen könne, was ihm gliche. Und so sehr halberhaltene Griechen- und Römerstädte in der
Wüste, die sich um sie her gebildet hatte, zu dem orientalischen Schloß- und Stadtmärchen beigetragen haben, so sichtbar ist es doch allemal die Architektur ihrer eigenen Epoche, welche von dieser Art literarischer Fata Morgana vollendet wird. Lehrreich ist hierbei, daß die gedichteten Bauwerke aller Zeiten einen wesentlichen Teil ihres Glanzes der Miniatur oder Schmuckwelt der vorhandenen Architektur entnehmen; denn diese kleinen Formen gaben an sich schon dem Kunstwollen ihres Stils konzentrierteren Ausdruck. Eine persische Ziselierung überbietet ornamental das Tor einer Moschee, eine Monstranz, ein Sakramentshäuschen, ein Baldachin über der Säulenfigur sind noch gotischer als ein Dom. Also gab die Miniatur, die gleichsam die am Horizont fern, klein und scharf erblickte Moschee oder Kathedrale enthielt, besonderes Material gerade zur literarischen Essenzbildung. Der Einfluß der Schmuckwelt ist in Tausendundeiner Nacht erkennbar an der ungehemmten Verwendung von Gold und Edelsteinen, von Elfenbeingittern und bunten Glasfenstern. Dergleichen wird noch deutlicher in den Traumbauten der mittelalterlichen Epik, in den profanen wie erst recht in den heiliggesprochenen. Wann immer nämlich Märchenbilder von legendärer Art in diese Epik eingesprengt sind. Der Gralstempel in Wolframs »Titurel« erscheint als einziger Reliquienschrein, ziseliert wie dieser und doch riesig wie ein Dom, kostbar, ja esoterisch auch im Material. Gold und Email sind seine Wände und Dächer, Kristall und Beryll die Fenster, blauer Glasfluß ist in die goldenen Dachplatteneingegossen, Smaragde bilden die Schlußsteine, und der Knauf des Turms ist ein Karfunkel, der die nächtlichen Waldwege erleuchtet und die Verirrten leitet. Die ganze Beschreibung ist hyperbolisch, und trotzdem zeigt sie richtige Architektur: die des gotisch beschaffenen, gotisch zu Ende getriebenen Luftschlosses. Wobei wieder freilich ein historischer Anschluß nicht fehlt, wie bei den Juwelenschlössern und Messingstädten des orientalischen Märchens, ein Anschluß, der den Zeitstil seinerseits magisiert. Wirkten in den arabischen Traumbauten die antiken Ruinen nach, vielleicht /(829) auch die verfallenen Schlösser aus der früharabischen Ritterzeit vor Mohammed, so übernahmen alle Palast-Utopien des Mittelalters das Kaiserschloß in Byzanz. Dessen Pracht wurde Legende, schoß bei den fränkischen Völkern, seit Karl dem Großen, ins Wunder. Doch selbst mit Byzanz wurde die erdichtete Architektur, seit den Kreuzzügen, von der Orient-Romantik regiert. Und das schließlich mit bedeutendem Grund, mit dem gleichen, der die phantasievollsten Bühnenbauten mit einem Hauch Bagdad blühen ließ. Denn Byzanz griff dem Baumärchen nur deshalb so stark in die Phantasie, weil es in seiner Macht und Würde doch der Tausendundeine-Nacht-Schönheit des gebauten Orients so nahestand. Und auch für heutige Augen scheint nichts so unmittelbar aus dem orientalischen Märchen, ja noch aus dem deutschen, gestiegen zu sein wie die maurische Architektur. Nannte man die Architektur insgesamt gefrorene Musik, dann unterbricht die maurische dieses Bild: sie wirkt viel mehr wie verkörpertes Märchen; weshalb ja diese ganze Welt, bis zum Schlagwort herab, den Europäern herab als magisch erscheint. So erhellt: fast immer wieder geht die Baukunst im Märchen zu jenem Märchen in der Baukunst über, als das die maurische wirkt und dasteht. Das vor allem im europäischen Blick darauf, in jenem Sesam-tu-dich-auf-Wunsch, der von der Gralsburg bis zu Armidas Zaubergarten sich alles phantastisch Schöne orienthaft verzaubert dachte. Dergleichen reicht, mit einem Fortissimo freilich, das dem Märchen wie der Alhambra nicht recht ansteht, bis zu den Schlössern des exotischen Barockromans, weit hinten bei Ibrahim Bassa, beim Großmogul. Dann wieder, so viel später, gibt sich die Kronenburg in Arnims hochromantischem Roman »Die Kronenwächter« auf europäischem Boden als maurisierendes Glasgebilde. Der
erdichtete Bau bleibt dabei in der Linie des jeweils vorhandenen Baustils, setzt diese aber utopisch fort, öfter mit Aufnahme legendärer Baubilder, fast stets mit Richtung auf die Welt der Kuppeln, des Säulenhofs, der blaugoldnen Ornamente. Daher geht auch in Hoffmanns Märchen »Der goldene Topf« das azurblaue Zimmer Lindhorsts, mit den goldenen Palmbäumen, aus dem Empire ins Morgenländische bruchlos über. Ein Weg, der dem Baumärchen besonders im nordischen Nebel der nächste ist. Fast alle Bauten jedenfalls sind im Märchen magisch überfärbt, /(830) wonach. sie denn dreinsehen wie die Fata Morgana dort, wo sie zu Hause ist. Wunscharchitektur in der Malerei Soviel über gedichtete Häuser, aber gemalte kommen nun als wichtig neue hinzu. Sie dienten nicht nur zur Füllung des Hintergrunds, häufiger und eigentlicher wollten sie auch ihrerseits Wunschbau sein. Es gibt eine deutliche Reihe, worin das Architekturbild ein immerhin merkwürdiges Selbstleben, mit eigenem konzentriertem Ausdruck, gewinnt. Das geht weit zurück, viel weiter als die Landschaftsmalerei; die pompejanischen Wandbilder gehören erneut hierher, und gemalte Stadtbilder kommen bereits spätgotisch vor. Danach beginnen die architektonischen Fernblicke im Vorbarock des fünfzehnten Jahrhunderts, es öffnen sich die Hallen und Straßen in Raffaels »Schule von Athen«, Dürer und Altdorfer geben den Ton zu abgebildeter Architektur um ihrer selbst willen. Altdorfers freistehende Renaissancevilla im »Bad der Susannas« blickt als eigenes Sujet, mit hoch übertriebenen Loggien, ins Land. Die Architekturbilder wurden seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts im Norden besonders zahlreich; sie enthalten alle, von Memling an, prophetische Vorwegnahmen des kommenden Baustils. Altdorfer, schon in der durchgebrochenen Renaissance lebend, Maler und Baumeister dazu, gibt auf seinen Bildern, den gekommenen Baustil übersteigernd, eine dauernd merkwürdige Darstellung italienisch-deutscher Renaissance, wie sie so übersüdlich nie gebaut wurde. Danach folgt das halb naturalistische, halb phantastische Bauwerk-Gemälde im holländischen Manierismus des siebzehnten Jahrhunderts, mit Vredeman de Vries und anderen. Deren Darstellungen, nun schlechthin »Architekturbild» genannt, mit dem Bau als einzigem Sujet und Personen höchstens als Staffage, führen Altdorfers Renaissancevilla fast in Guckkastenveduta, aber auch in besonders geschlossene barocke Gloria hinein; es ist, als gäbe es nichts auf der Welt als diesen gemalten Palasthof, diesen Schloßplatz, diese spätgotische Phantasiekirche (vgl. Jantzen, Das niederländischeArchitekturbild, 1910) Besonders interessant, wegen seiner raumschlagenden Art auch einem philosophischen Arbeitszim- /(831) mer wohlangemessen, ist hier ein Architekturbild des Hendrik Arts gelungen, von Peter Neefs und dann öfter wiederholt. Diese Hallenkirche, mit dreifacher Perspektive und demgemäß koordiniertem Raumstil gemalt, greift freilich keiner künftigen Architektur vor, sondern verhält sich, mitten im siebzehnten Jahrhundert, romantisch zur Spätgotik, so jedoch, daß der Raum noch mehr als damals ins Winklige und Tiefe zu verlaufen scheint. Man wird bei solchen Kirchenstücken an Hegels post festum Beschreibung und doch Fest-Beschreibung des Kölner Doms erinnert: »Das Majestätische und Zierliche desselben - die schlanken Verhältnisse, das Gestreckte in ihnen, daß es nicht sowohl ein Emporsteigen als Hinauffliegen ist... Es ist da nicht eine Brauchbarkeit, ein Genuß und Vergnügen, ein befriedigtes Bedürfnis, sondern ein weitmantliges Herumwandeln in Hallen, denen es gleichsam gleichgültig ist, ob Menschen sich ihrer, zu welchem Zweck es sei, bedienen; - hier ist ein Hochwald, und zwar ein geistiger, kunstreicher« (Werke XVII, S.553 f.). Die gemalte Architektur
an sich ist selbstverständlich nur ein farbiger Schatten, den die wirkliche wirft, doch sie kann ebenso, im angegebenen Sinn, Variationen eines Themas bewirken, die dieses in leicht beieinander wohnenden Formen weiterspinnen. Als so leicht bei emander wohnend mag die gemalte Baukunst in mehreren Fällen reichlich unsolid erscheinen, als statisch undurchformt und unhaltbar; doch das statisch Bewohnbare ist ja nicht der Zweck dieser durchaus eigenen Gebilde. Weiter kann auch rein malerisch gesehen ein Sujet, das selber bereits Kunst ist, nicht zu solch wesentlich vermehrenden Erschließungen führen wie die Sujets: Akt, Porträt, historische Szene oder Landschaft; doch dafür liefert das Architekturbild in seinen bedeutenden Exemplaren gerade Verdeutlichungen, wo nicht Fortarbeitungen sui generis in anderem Material, in der Maltechnik, die ja besonders verwandt gerade die Morgenreize der Bauskizze fortführen kann. Hierbei kann das Architekturbild auch mit der illusionistisch gemeinten Wandmalerei, wie der Tiepolos, nicht verwechselt werden; der Zweck ist ja nicht die barocke und spätbarocke Mischung von gemalter und wirklicher Architektur. Der Zweck ist vielmehr die Vorstellung einer idealen Architektur, wie erst recht die Erde sie noch nicht trägt oder nicht so herausgetrieben trägt. /(832) Jakob Burckhardt hat zuerst auf den Wert aufmerksam gemacht, den die Architekturbilder für die Erkenntnis der architektonischen Wunschphantasie einer Zeit besitzen. ltem: je deutlicher sich die Bauweise einer Zeit wendet, desto stärker gärt es utopisch in ihren gemalten Architekturen. Und ebenso: je reifer eine Bauweise bereits entwickelt ist, desto glänzender kann dieses Wesen im Architekturbild, als gäbe es eine gemalte Entelechie des Stils, verdoppelt werden. Als Zeugnis dieses letzteren Vorgangs sind Paolo Veroneses biblische Bankettbilder unübertreffbar, so das bekannteste: »Gastmahl im Hause des Levi«. Die gemalte Säulenhalle samt dem Stadtbild dahinter hat hier allen Glanz der Renaissance-Gesellschaft in sich umgesetzt; aus Feuer und Harmonie der Farbe ist ein Venedig aus Paolos Zeit nochmals verdoppelt erbaut. Und was die Wunschlinie bei den Architekturbildern insgesamt angeht, so schließt sie sich an die der Architektur im Märchen zwar an, nämlich in Hinsicht des Feenhaften und sogar der eigentümlichen Exotik, die das Architekturbild auch noch den Bauten der eigenen Zeit, des eigenen Landes verleiht. Doch weit schärfer als der Wunschbau des Märchens ist der des Architekturbilds - eben als geformtes Kunstwerk sui generis auf optisch durchwandelbare Baukunst bezogen, sie konkret betreffend, ja an die Wand malend. An die Wand malen, das heißt zuletzt, bauliche Formen verdichten. Und zwar als Bautypen, wie sie quer durch alle Stile gehen; so etwa das Haus, das Lustschloß, der hohe Turm, der Tempel. Zwei dieser allemal auch archetypischen Bauformen seien hier im Architekturbild ausgewählt: Turm und Tempel. Desto eindringlicher sind die gemalten Bilder dieser beiden, als sie zugleich sehr alte, legendäre Vor-Bilder der Baukunst berühren. Die zwei Beispiele hierfür sind Breughels Archetyp: Babylonischer Turm, sodann, in ganz anderer Zeit, unter ganz anderem Himmel, die Assisi-Fresken aus Giottos Schule, welche umgekehrt eine Art civitas Dei mit dem Archetyp: Salomonischer Tempel ausmalen. Breughel versinnlichte die älteste, herbste aller Bauphantasien im »Babylonischen Turm«. Er hat dies prometheische Gebilde in zwei Fassungen gemalt, beide Male, dem Barock entsprechend, mit fühlbarem Anklang an einen Bühnenaspekt. Das Rotterdamer Bild läßt eine Art Kolosseum in fünf- /(833) zehn Stockwerken unvollendet emporsteigen, zwischen Hügelstadt und Meer; die Höhen des Baus sind von Wolken umgeben. Das Wiener Bild, die Rundung eines Amphitheaters beibehaltend, mit Bogen, Fenstern, Toren und Balkonen auf der beleuchteten linken, fast schon
ausgestalteten Seite, nimmt gewaltige Felsenlandschaft als Baugrund hinzu, stellt die Hybris auch sonst mit größerer Härte dar: - eine feste Burg ist unser Luzifer. Das rebellische Bauwerk selbst (a. Mos. II; 1-9) kam bekanntlich nur als Fragment in Erscheinung, als Fragment freilich, das in der Bibel das Werk von Prometheus und ikaros vertritt. Die Erzählung, welche jahwistisch ist, hat denselben Autor wie die Paradiesgeschichte; sie war wohl auch ursprünglich mit der Geschichte vom verlorenen Paradies verbunden. Jetzt aber traten die Unternehmer-Ideologie des Frühkapitalismus, die mannigfache Ideologie der Manufakturperiode hinzu: der Bau, der bis zum Himmel reicht, lag der Zeit Fausts, mit abziehendem Sündengefühl, durchaus nahe. Im Anschluß an Paracelsus stellte auch die Barock-Theosophie den Zusammenhang des Turmbaumotivs mit dem des Sündenfalls wieder her, und zwar, was für den Wunschbau wichtig ist, mit keinesfalls eindeutiger Verwerfung. So daß sich, wie in Breughels Bild, Gelegenheit gab, die feste Burg des Luzifer nicht nur als Fragment, sondern als leider durchkreuztes Denkmal eines Schaffenwollens wie Gott darzustellen. Eines Schaffenwollens, das, wie Jakob Böhme zur gleichen Zeit lehrt, zwar einen »hoffärtigen Ausgang« hat, aber ein großes Ziel und eines, das nicht einmal Fragment zu bleiben braucht. Die Hoff art selbst wird von Böhme verworfen, nicht aber so der Licht- und Höhentrieb in ihr: »Als sie« (die luziferischen Geister) »sich erhoben in scharfer Anzündung, so taten sie wider Naturrecht als Gott ihr Vater tat, und das war ein Quell wider die ganze Gottheit. Denn sie zündeten den Körper an und gebaren einen hochtriumphierenden Sohn, hart, rauh, finster und kalt, brennend bitter und feurig... Da stand nun die angezündete Braut wie eine stolze Bestie und meinte nun, sie wäre über Gott, es wäre ihr nichts gleich... Sie« (die luziferischen Geister) »wollten nicht mehr das Alte, sondern sie wollten höher sein als die ganze Gottheit und meinten, sie wollten ihr Revier über die ganze Gottheit, über alle Königreiche haben« (Morgenröte: Vom /(834) Anfang der Sünde). Aber im Feuer ist das Licht oder: der wiedergeborene Mensch wird der Erbe Luzifers, indem er »des Zorns Gottes Herr wird und ein Wunderbau des freien Willens aus ihm hervorgeht, der statt des verstoßenen Luzifer die Welt beherrscht.« Auch der Turmbau wird so entsühnt, ja er wird durch den Seelengeist Christus an Stelle Luzifers zum Welthaus mit dem Himmel als erreichtem Eigentum: »Der ganze Stoff sollte ein Lusthaus der geistigen Körper sein, und alles sollte nach ihres Geistes Lust aufgehen und sich bilden, damit sie nie und nimmer eine Unlust an irgendeiner Figur hätten, sondern ihr Seelengeist sollte mitten in aller Bildung sein» (Morgenröte: Vom Seelengeiste). So griff hier Subjekt-Mystik das alte Empörer-Motiv, Himmelsblau-Motiv an und auf, in fürstlichem Absolutismus des Christenmenschen selber, in dialektischer Ambivalenz zwischen Luzifer und Christus, zwischen dem Haus, das zum Himmel reicht, und der Himmelfahrt. Und der Turmbau versinnlichte halb den Höllenrichter nach oben, halb eine Himmelsleiter des Trotzes; das gerade in Breughels Bild, mit dem Architekten als Rivalen Gottes, und unverkennbarem Wunschbau. Die Zelte Jakobs allerdings stehen nicht auf dieser Seite, und der Sprung nun: von Breughels Trotzturm zu dem anderen angegebenen Bau-Archetyp: dem Salomonischen Tempel, wirksam in den frommen Assisi-Fresken, scheint groß. Trotzdem eint beides ein geistliches Wunsch-Übermaß oder die Baukunst der schwarzen Magie hier, der weißen dort. Die Assisi-Fresken aus Giottos Schule sind gleichfalls exzessiv, voll paradoxerArchitektur, sie malen civitas Dei in schwerem oder gleißendem statu nascendi. Das eine Bild: »Jesu Rückkehr zu seinen Eltern« (in der Unterkirche) zeigt Bauten, worin der Trieb nach oben sich voll Mauer lädt. Hinter langgestreckten Figuren erhebt sich die Turin Burgen, Kapellengotik eines seltsamen Jerusalem, eines aus Druck und Jenseits zugleich. Besonders
lastend-erhaben ist eine Art Baptistenum gebildet, in gleicher Höhe wie die ungeheuren Stadttürme, es ragt zwischen ihnen, gewaltig, am Himmel. Das andere Bild: »Traum vom Palast» (in der Oberkirche), ist bereits durch sein Sujet auf eine Vision gewiesen, die nicht von den architektonischen Gewohnheiten dieser Welt sein wollte. Der Herr zeigt dem heiligen Franz das Schatzhaus der Glaubensstreiter, es ist /(835) gefüllt mit Waffen und Schilden, beleuchtet von einem Licht, worin der Bau nicht bloß liegt, sondern das, als Gewitterlicht des Jüngsten Tags, ihm innewohnt, von ihm ausgeht. Drohend dunkel die Mauer, nur in ihr glänzen Säulen und Fenster, aus unirdischem Weiß; eben der Archetyp: Salomonischer Tempel drängt hervor. Der christlichen Welt galt er als der kanonische Archetyp überhaupt, als das schlechthinnige Gegenstück zum Babylonischen Turm. Und da seine in der Bibel angegebenen Maße auch der Phantasie einen Fingerzeig zu geben schienen, so wurde der Tempel romanisch wie gotisch, ja sogar noch klassizistisch immer wieder ausfiguriert - ein Bau-Urbild aus Jerusalem und von ganz besonderem Saft. Sein neuer Ort, besser: seine höchste Entsprechung wäre freilich erst in einem Himmlischen Jerusalem. Diese »urbs vivis ex lapidibus«, wie ein frühmittelalterlicher Hymnus es nennt, wurde selber allerdings nie, als vor Augen stehend, gemalt. Diese fernsten Zinnen erscheinen fast nur auf Glasfenstern, so in dem späten von St. Martin in Troyes, eine mittelalterliche Stadt, ins magische Quadrat und Jenseits eingebracht, mit dem Licht des Lamms in der Höhe. Große Bilder versagten sich die Darstellung dieses obersten christlichen Bau-Archetyps; auch die auf dem Genter Altar van Eycks zeigt ein Himmlisches Jerusalem nur am Horizont. Die Phantasie der Architekturmalerei warf hier vorher Anker, sie überließ es dem Bausymbol, das ist, wie nun zu zeigen sein wird, den Utopieformen innerhalb der Architektur selber, dieses falls der gotischen, eine »urbs vivis ex lapidibus« wenigstens zu bedeuten. Die Bauhütten oder architektonische Utopie bei der Ausführung Malen und Dichten können das Hausvorbereiten, auch überspielen. Auf haltbare Weise macht erst die Mühe des Baus erfindungsreich, die ausführende. Ce qu'il n'est pas formé n'existe pas, und nicht nur das Sein, auch der utopische Gehalt wächst mit der Formung, wenn sie eine gestaltende ist. Das nun desto unbeschwerter, als bei großer Ausführung der Traum, statt vor der Technik zu verschwinden, sie zu seinem Aufstieg verwendet. Wichtig wird hierfür auch die Absicht der alten Bauhütten, das heißt wiederum: das Bild des Baus, das sie in der Arbeit selber als vollkommenes /(836) leitete. Die gotischen Bauhütten arbeiteten, wie lange vorher die ägyptischen, nach Maßgabe gewisser geheimgehaltener »Regeln«. Gewiß, es muß, was das kanonische Wesen in der Bauhütten angeht, zwischen deren Geheimnistuerei und deren wirklich geglaubten Geheimnissen unterschieden werden. Zweifellos wurde auch eine Menge von bloßen Kunstgriffen, ja Tricks verhüllt gehalten; so sahen sie seltsam aus, ohne es zu sein. Ebenso findet sich manches von solcher Art Code, ja von bloßer Schutzmarke in den professionellen Steinmetzzeichen, auch in der sogenannten Grundfigur, welche die Bauhütten gebraucht haben. Die Steinmetzzeichen wurden einzelnen Gesellen verliehen und dienten dazu, neben dem, was sie sonst besagen mochten, eine Arbeit zu signieren. Die Grundfigur andererseits, auch »gerechter Steinmetzgrund « genannt, diente unter anderem als Vorlage, um auftretende, damals inkommensurable Proportionen, etwa solche, die auf die Irrationalzahlen Wurzel aus 2 oder Wurzel aus 3 führten, praktisch einigermaßen zu lösen. Diese Verhältnisse kamen bereits zum Vorschein bei der diagonalen Zerschneidung eines
regelmäßigen Dreiecks oder bei der schrägen Durchbohrung eines Würfels längs seiner Körperdiagonale ( Kante und Körperdiagonale eines Würfels verhalten sich wie 1: Wurzel aus 3 ) ; solche Irrationalitäten aber waren auch der theoretischen Mathematik des Mittelalters, der ohnehin stagnierenden, verschlossen. Also kam dem der »gerechte Steinmetzgrund«, neben anderem, was er außerdem bedeutete, durch einen gewissen professionellen Praktizismus bei. Der folglich, in verklausulierter Darstellung, Fabrikgeheimnis bleiben sollte und in diesem Betracht keinesfalls »Regeln« einer kanonischen Bauvollkommenheit enthielt. Manche praktische Maurermathematik hat das späte Mittelalter sogar im Buchdruck mitgeteilt; so in dem »Büchlein von der Fialen Gerechtigkeit«, einer Sammlung mechanischer Formeln. Aber freilich: außer diesem bewahrten oder verratenen Fabrikgeheimnis pflanzten die gotischen Baugilden unzweideutig noch andere Überlieferungen fort, solche durchaus nichtmechanischer Art. An solchen Bauten stimmt die Lehre Sempers nicht, die zu ihrer Zeit recht heilsam gewesene, daß Rohstoff, Technik, Zweck die einzigen Bestimmungsgründe der Ausführung seien. DieseBeschränkung hatte ein Recht gegen die sinnlos aufgeklebten Verzierungen des viktorianischen und /(837) anderen Kitschs, doch sie wird selber sinnlos, sobald sie sich in Bausch und Bogen auf die alte Architektur bezieht. Damals war ein anderes Kunstwollen am Werk als das der sogenannten Zweckkunst, und weil es ein Kunst-Wollen war, zeigte es außer Rohstoff, Technik, Zweck die wichtigste Bestimmung: die der Phantasie. Es war hier diejenige der kanonischen Bauvollkommenheit, im Hinblick auf ein geglaubtes symbolisches Vorbild. Dieses Vorbild leitete gerade die Ausführung des Werks, nicht nur, wie der Archetyp, seinen Traum und Plan ante rem, es gab den Meisterregeln selber die Regel. Daher war das jeweilige große architektonische Kunstwollen das gleiche wie die jeweilige Symbolintention, die in der Ideologie des alten Bauhandwerks traditionell wirksam war. Diese Intention aber suchte mit Dreieck und Zirkel den Maßen eines als vorbildlich imaginierten Daseins-Baus überhaupt ab bildlich näherzukommen. Leider reicht das bis jetzt bekannt gewordene Material noch nicht aus, um die Zielbilder der Bauhütten, außer dem Umriß, auch im Einzelnen zu kennen. Ohnehin wurde das Thema seit dem Einbruch des Positivismus in die Kunstgeschichte ignoriert, während andererseits Kunsthistoriker aus der Romantikzeit, wie Stieglitz und vor allem Schnaase, die noch einen Kontakt zu dem Thema hatten, über die Statuierung und Rahmengebung des Themas nicht viel hinauskamen. Auch legte die Romantik, wie gar erst das mystifizierende Freimaurertum vorher, den echten Symbolintentionen der alten Architektur falsche unter, aus dem Geist der eigenen Zeit und ihrer Ideologie; so die »gen Himmel deutenden« gotischen Türme, als welche in Wahrheit, an Ort und Stelle, mehr Zeichen des Bürgerstolzes, der »Hoffart« waren als der Himmelssehnsucht. Trotzdem wird die vorhandene echte Symbolintention in den Bauhütten weder durch die Untertreibung des Positivismus noch durch sentimentalische Hinzufügungen aus der Romantik erledigt; dazu ist das echte Bausymbol zu unverkennbar in den Ausführungen seiner jeweiligen Kunstform selber manifestiert. Es besteht ebenso eine nie ganz abgerissene Erinnerung der Bauhütten an jene sakrale Überlieferung, worin nicht einmal ein Weg, geschweige ein Tempel ohne mythische Riten und ebensolche Richtmaße angelegt worden war. Die druidischen Steinsäulen wie der babylonische Stufenturm, die ägyptische Pyramide wie /(338) der menschlich ausgewogene griechische Tempel, die Roma quadrata wie selbst der slawische Ringmarkt gehorchten allemal, von ihren jeweiligen Symbolen im Überbau her, noch anderen Zuordnungen als denen des Rohstoffs, der Technik, des unmittelbaren Zwecks; und der gotische Dom machte
von diesen Zuordnungen keine Ausnahme. Noch unverkennbarer ist in der gotischen Bauhütten-Symbolik die Nachwirkung dualistisch-gnostischer Zahlen- und Figurenmythologie, als welche sich in den Mittelmeerländern, besonders in der Provence, lebendig erhalten hatte und von dorther nach Norden ausbreitete. Hierbei unterscheidet sich die christförmige Baukunst von der heidnisch-astralen nur durch den völlig verschiedenen Inhalt der mythischen Zuordnung, nicht durch die Zuordnung selbst. Ein Sonderbild von Zuordnung steht freilich in der griechischen Baukunst da, nämlich ein rein humanes, eines aus leibhaft-menschlichen Proportionen, nicht aus astralen oder christlich-jenseitigen. Solche Art Zuordnung kam aus einerGesellschaft ohne Priestertum und macht die griechische Baukunst zu jenem urbanen Menschenstil unter den Architekturen, der dann - aus verwandten Ablösungen oder Überwindungen des Mythos - in der Neuzeit weithin eine human gehaltene Maßwelt geworden ist. Doch rund ums griechisch gebaute Urbanum lautet die geglaubte Formel aller Bauhütten und ihrer Bau-Utopie: versuchte Imitatio eines kosmischen oder aber christförmigen Baus, als des vollkommenst gedachten, zum Zweck eines Rapports. Die Imitatio ging dem ersehnten Rapport notwendig vorauf, so schuf sie in ihren radikalsten Ausprägungen das kristallene Ebenmaß der ägyptischen Pyramide oder aber die hieratisch geordnete Lebens fülle des gotischen Doms. Schönes Bauen hatte derart auch noch mehr im Sinn als dies, daß es äußerlich wohlgefällig wirke. Leider, so wurde oben betont, ist im Einzelnen noch nichts Genügendes über die zweifelsfrei vorhandenen »Regeln« von ehemals klar. Und leider wiederum haben nur die Freimaurer auf dieses Mehr einen unablässigen Hinweis gegeben, einen bedenklichen und weithin gefälschten. Trotzdem muß deren gesittet-wahnhafte Mummerei hier beachtet werden, denn es dürfte durchaus ein Abgelegtes aus den Bauhütten darin sein. Wie bekannt, gebraucht die Maurerei sowohl die Abzeichen des Baugewerks wie vor allem: sie phanta- /(839) siert ihre Geschichte durch die gesamte Baugeschichte hindurch. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß diese bürgerlich-edelmännische Verbrüderung selber, gar mit ihrem Hokospokus, aus der Werkmaurerei hervorgegangen ist. Aber es ist noch unwahrscheinlicher, daß sie die grundlegende architektonische Gleichnis-Spielerei, die sie gebraucht, rein aus sich heraus erfunden hat. Auch die Heilsarmee ist nicht aus dem Militär hervorgegangen, dennoch gäbe es ohne Militär ihre Leutnants und Majore nicht; auch das Hallelujamädchen setzt als Sergeant diesen an anderer Stelle voraus. Und es ist mit Grund annehmbar, daß die deistischenToleranzbrüder einige ihrer plaguerten Baugleichnisse von den Bauhütten bezogen haben; wodurch sich immerhin ein getrübter Zugang, nicht bloß faute de mieux, zu diesen eröffnen mag. Die Rückverbindung zu den Bauhütten gab vielleicht das Rosenkreuzertum, das ja bis ins späte Mittelalter zurückreichen dürfte und aus dem die Freimaurer Anfang des achtzehnten Jahrhunderts abgezweigt sind. Bei dem Rosenkreuzer Comenius findet sich zuerst wieder eine Erinnerung an die »Behauung des Steins nach gerechten Maßen«. Dann werden bei den Freimaurern, mitten unter aller sonstigen Mystagogie, sogenannte Ahnherren der Maurerei aufgeführt; das gleichfalls mit auffälligem Bezug auf die im achtzehnten Jahrhundert längst schon verschollenen Bauhütten. Solche Ahnherren sollten sein: Moses und die ägyptischen Priesterarchitekten; die Chaldäer und Magier am Euphrat und Tigris; Hiram, der Erbauer des Salomonischen Tempels; der römische Priesterkönig Nurna Pompilius, erster Pontifex, und seine collegia fabrorum. Hinzu trat Erwin von Steinbach, der Erbauer des Straßburger Münsters, um ihn her die gesamte «Salomonische« Tradition des mittelalterlichen «Steinmetzgrunds«. Eingefügt wurden ferner fromme
Legenden, wie die byzantinische, daß der Grundriß der Hagia Sophia ihrem Erbauer vom Erzengel Rasiel im Traum sei übermittelt worden. Wonach sich also, auf Grund des Einklangs dieser Kirche mit dem göttlichen Grundriß Himmels und der Erden, die magische Bedeutung ihrer Säulenstellungen und Proportionen herschreibe und im Einzelnen ergebe. Weiter fehlen bei der Freimaurerei auch Bezüge auf den Templerorden nicht und auf seine mit unzweifelhaft gnostisch-kabbalistischen Emblemen geschmückt /(840) gewesenen Kirchen. An der Spitze der Vollendung aber stand den Freimaurern eben der erwähnte Salomonische Tempel: - dies Bauhütten-Symbol zuhöchst. Das Konstitutionenbuch der ersten Freimaurer nennt den Tempel »das schönste Werk der Maurerei auf Erden, von Anfang bis heute«, aus dem Grund, weil Hirams, des Erbauers, Architektur »unter der besonderen Obhut und Leitung des Himmels stand und die Edlen und Weisen es sich zur Ehre rechneten, die Gehilfen der scharfsinnigen Meister und Werkleute zu sein«. In der Tat ist auch die Hyperbel «vom schönsten Werk auf Erden« nicht auf dem Boden der Freimaurerei gewachsen, sondern in ihr nur dekorativ verwendet; sie wirkte real durch die gesamte christliche Baugeschichte. Der Grundplan des Salomonischen Tempels hat fast ein Jahrtausend nach seiner Zerstörung die ersten christlichen Basiliken beeinflußt, und die mittelalterlichen Bauhütten sahen in ihm das heilige Vorbild. Die Freimaurerei versäumte nicht, wenigstens auf ein ausgewiesenes Zeugnis dieser Nachfolge hinzudeuten, auf eines, das in der Kunstgeschichte lediglich als factum brutum erwähnt wird. An einer Spitzbogentür des Würzburger Doms finden sich nämlich zwei mit seltsamen Binden und Knäufen geschmückte Säulen, auf ihrer Deckplatte trägt die eine die Inschrift «Jachin« (das ist: »Er wird aufrichten«), die andere «Boaz« (das ist: «In ihm ist Stärke«), und so hießen die beiden Säulen vor dem Eingang des Salomonischen Tempels, vielleicht schon einem frühen Höhen-, also Sonnenkult entstammend (2. Chron. 14, 2). Die Würzburger Binden und Knäufe entsprechen den Ketten und Granatäpfeln des Originals, auch der biblischen Angabe: «Und es stand also oben auf den Säulen wie Rosen, also ward vollendet das Werk der Säulen« (I. Kön. 7, 22). Die magische Tradition dieses Werks ist so alt, daß bereits Josephus (Antiqu. Jud. I, 2) die Säulen von Henoch «gegründet« sein ließ; die Bauhütte des Würzburger Doms hat die symbolischen Träger aus solch kabbalistischem Altertum durchaus auf den eigenen Bau übertragen und so eben die gesamte Kirche als Salomonischen Tempel in Christo bedeutet. Das Pathos, womit die Freimaurerei das Salomonische Bauwerk auszeichnet, weist jedenfalls genau auf das hermetische Pathos der christlichen Bauhütten, übrigens auch der islamischen Imitatio hin. In seiner utopischen Ergänzung galt der Tempel ja /(841) allen Bauweisen, deren Religion oder religiöser Scharfsinn auf der Bibel gründete, als das verehrte Plan-Vollkommenheitsbild der eigenen Architektur. Ja, eine selber fast vollkommene Sammlung feierlicher Architekturträume würde die der Rekonstruktionen sein, welche man dem Salomonischen Tempel bis ins neunzehnte Jahrhundert angedeihen ließ; wie denn auch die geglaubte Imitatio des Tempels von der Omarmoschee bis zum - Escorial sich ausdehnt (der auf dem Rost des heiligen Laurentius als Grundriß, aber gemäß der Tempel- »Rekonstruktion« durch zwei spanische Jesuiten als Bauwerk sich erhebt). Gewiß haben die Freimaurer bei alldem, im Kitsch ihrer Konsonanz- oder Konkordanzlehre jeder Architektur »von Adams Zeiten an«, über die gesamte Baugeschichte eine ganz unsinnige Gleichheit ausgegossen. Die gotischen Bauhütten fühlten sich gerade nicht im Sinn der »ägyptischen Priesterarchitekten« oder der »Chaldäer am Euphrat und Tigris« inspiriert; sie waren gnostisch-christlich dualistisch, nicht kosmisch-pansophisch wie das Rosenkreuzertum seit der
Renaissance. »Paue, paue, halte an, halte an den Mißklang des Kosmos«, dieser Gebetsspruch aus der dualistischen Gnosis bezeichnet gerade die Exodus-Ideologie, in der die christliche Architektur, zuhöchst in der Gotik, entstanden ist. Doch eben: wenn hier dennoch die Freimaurerei erwähnt wird, so geschieht das trotz deren okkult-läppischer Geschichtsklitterung um ihrer streckenweise nicht unwahrscheinlichen Erinnerung an alte Baugleichnisse willen. Auf die Erschließung der wirklichen Bausymbole an Ort und Stelle kommt es an, auf das Verständnis alter Baukunst von zweifellos wirksam gewesenen Zielbildern ihrer Ausführung her. Und so gleichgültig die Stammbaum-Erfindung der Freimaurer als solche ist, so ,wichtig bleibt es doch, daß auch sie nicht hätte geschehen können, wenn die Überlieferung den Kontakt der Bauhütten mit einer gewissen Raummythologie, aber auch Raumutopie nicht ebenso hartnäckig wie bedeutsam fortbehauptet hätte. Es gibt eine alte Weihe des Hauses, und zwar eine objektiv gemeinte, eine, der man die überlieferte Genauigkeit, ja Pedanterie bei Anlegung einer magischen Kontaktstelle nicht absprechen darf. Die billig gewordene Allegorik der Freimaurerei und die Art, wie sie möglich war, haben wahrscheinlich nur isoliert, was in der sakralen Baukunst /(842) zu allen Zeiten mitgeformt und überformt hat: Mathesis eines magischen Raums, »Vorbild der Wohnung« (2. Mos. 25, 9). Als sehr alter, sich sehr langsam umwälzender, verschiedene Basen normhaft beschickender Überbau, freilich mit wechselnden Zielbeziehungen der Norm. Gebilde wie das Pantheon, die babylonische Stufenpyramide, die Hagia Sophia, die Cheops-Pyramide, das Straßburger Münster sind keinesfalls außerhalb der Ideologie einer strengen Glaubens- und Hoffnungswelt entstanden, einer das Werk selber nachbildlich determinierenden. Bei der babylonischen Stufenpyramide ist der astralmythische Charakter längst festgestellt, bei der gotischen Kathedrale muß erst aus dem logosmythischen Charakter ihre Bau-Utopie abgelesen werden. Doch überall, in der gesamten sakralen Bauhütte, ist das Kunstwollen ein Entsprechenwollen, eine ausgeführte Kongruenz mit dem jeweils als vollkommenst imaginierten, utopisierten Raum. Und es läßt sich sagen: als steinerne Tanzbewegung nach Maßen dieses Raums, oder als lauter gebaute Tanzmaske dieser Art wurde die sakrale Architektur letzthin geboren. Ja, noch das griechische Bauwerk wurde letzthin als solche Imitatio geboren, trotz seines nirgends transzendent-sakralen Charakters. Also trotz seiner in allen Tempel-Verhältnissen durchgehaltenen Leib-Plastik, deren divina proportio, wie nachher die Renaissance sagte, sich so edellebendig vom ägyptischen Kristall, so still-harmonisch von der gotischen Lebensfülle abhebt. Auch noch in dieser wohl ausgewogenen Besonnenheit, dieser maßvollen, nicht zu Ende exaggenerenden Küstenschiffahrt ums Leiblich-Natürliche ist Imitatio, jene spezifische eben, die sich statt des Kristalls der Pyramide, statt der späteren Waldfülle der Kathedrale zur vollkommenen Leibfigur als ihrem Bausymbol begibt. Wie zu einem, in dessen jünglingshaftem, auch abstraktem Humanum die ägyptische End-Klarheit wie die gotische End-Fülle noch oder schon in einem gewissen Korrektiv vereinigt sind. Aber architektonische Vollendungs-Utopie hat hier nicht minder mitgebaut, so sehr sie auch gedämpfter erscheinen mag als die des ägyptischen und danach des gotischen Bausymbols. Und obzwar, wie zu zeigen sein wird, erst Ägypten die Möglichkeit der totalen Geometrisierung, die Gotik erst die Möglichkeit der totalen Vitalisierung als architektonischen Versuch realisiert hat. Wonach dann die meisten /(843) anderen Architekturen der Welt das Ägyptisch-Geometrische, das Gotisch-Vitalistische ständig wieder als Wunsch-Alternativen, als Leitbilder des letzten Bau-Ausdrucks in sich enthalten; mit verschiedenem Prozentgehalt, auch mit dauerndem Kampf, mit
einem eben nur in Griechenland, dann vielleicht noch in der Frührenaissance abstrakt geschlichteten. Das ist der Sinn, weshalb bereits in der Steinzeitkunst von geometrischer oder aber vitalistischer Ornamentik gesprochen werden kann, also, mit wuchtigem Anachronismus, von dem, was später ägyptisch oder aber gotisch auskomponiert worden ist. Und weshalb die romanische Baukunst, über spätrömische Vermittlung, ebenso noch ägyptisieren, soll heißen: geometrisieren kann, wie das Barock umfunktionierte Gotik mit sich führt. Item, Ägypten und die Gotik bleiben die einzig radikalen Bausymbole, zugleich solche der radikalen Verschiedenheit im Inhalt der intendierten Bau-Vollkommenheit. Zuverlässig enthalten darum die »Regeln« der gotischen und lange vorher der ägyptischen Steinmetzgilden an Ort und Stelle bereits ein Stück jener Vollendungs-Utopie, die die beiderseitigen Symbolintentionen prospektiv erfüllt. Ebenso aber sind beide Symbole keineswegs freischwebend oder objektlos, sondern sie bezeichnen, wie alle echten, reale Möglichkeiten in der Welt, antwortende Gegenbilder aus deren ästhetischer Latenz. Das ägyptische Bausymbol ist, wie nun näher zu ersehen sein wird, das des Todeskristalls, das gotische das des Lebensbaums oder, im Sinn der mittelalterlichen Ideologie ausgedrückt: des Corpus Christi. Das ist die Variationsbreite plastisch-architektonischer Utopien, vorzüglich solcher, deren besonderer Saft ebenso in den religiösen Überbauten ihrer Gesellschaft auf- und niedersteigt. Im Bauwillen von Memphis stand an Ort und Stelle die Utopie eines Werdenwollens und Seins wie Stein, einer Wandlung in Kristall. Im Bauwillen von Amiens und Reims, von Straßburg, Köln und Regensburg trieb an Ort und Stelle die Utopie eines Werdenwollens und Seins wie Auferstehung, einer Wandlung in den Baum des höheren Lebens. Die griechische Antike ist der schöne allgemein-menschliche Glücksfall und das Glück einer nirgends überdimensionierten Ausgewogenheit zwischen besonnenem Leben und besonnener Geometrie. So ist sie als einzige human bezogen, wenn auch abstrakt human, und wie schöne, /(844) nicht eben brausende Jugendlichkeit ein Maß ante rem. Aber konsequent durchkomponiert sind einzig Ägypten und Gotik, die Überstarre hier, die Überfülle dort. Darin also gipfelt und alterniert, was extreme Baukunst angeht, die angegebene Imitatio eines kosmischen oder aber christförmigen Raumes, als des jeweils vollkommenst gedachten, zum Zweck eines architektonischen Rapports. Ägypten oder die Utopie Todeskristall, Gotik oder die Utopie Lebensbaum Es ist unmöglich, mit lebendigem Stoff auf Dauer zu bauen. Die Wand aus Laub, das Dach aus blühenden Zweigen, wie bald sind sie gelb, der Winter hebt sie auf. Leben ist zu hinfällig für den Bau: dagegen Totes lebt hier, indem es dauert. Die Mauer, obzwar sie selber berstet, soll wenigstens die kurze menschliche Lebensspanne überbieten. Der Zwang, zu totem oder totgewordenem Stoff zu greifen, gilt für jeden Bau, auch für den hölzernen, auch für den, trotz des verwendeten Steins, noch so organisch-blühenden. Aber ein anderes ist es, zu nicht lebendigem Stoff greifen zu müssen, und ein anderes, überdies noch jeden Anschein von Leben im Werk selbst zu vermeiden. Das geschah extremerweise ägyptisch, in diesem großen Stil der Starre. Soweit organische Motive dennoch vorkommen, wie Lotos und Papyros im Kapitäl, Schlange im Sonnenzeichen, werden sie auf strengsten Umriß gebracht, unblühend, wie gepreßt. Die Strenge entspricht der schlechthin despotischen Gesellschaftsform, mit Würde und Zeremoniell durch und durch; weshalb denn in der ägyptischen Kunst fast nur dargestellte Volksszenen »lebendig« bleiben. Aber tunlichst situationslos, tunlichst stereometrisch wurde die Ruhestellung in der hohen
Plastik durchgesetzt. Die Statuen der Könige und Vornehmen streben, trotz aller Ähnlichkeit, die aus magischen Gründen, zum Zweck der persönlichen Fortdauer des Dargestellten, auf die Gesichtszüge verwandt wurde, zur Blockeinheit hin, sind eins mit dem Stein. Sind in regelmäßige Körper eingezeichnet, jede Bewegung wird auf Halt, auf Haltung gebracht, oft sogar in einen hockenden Würfel gebannt; die Unbewegtheit ist ihre Ehre. Die griechische Statue erinnert und /(845) bedeutet einen lebenden Körper, die ägyptische repräsentiert einen toten, der darauf wartet, durch magische Kraft in seinen Tod hinein, zum lebenden Tod begeistet zu werden. Die Vollendung solcher Plastik muß dort liegen, wo überhaupt kein organischer Körper mehr stört, sondern wo er gänzlich versteckt ist, das ist, wie Hegel sagt, im Kristall, worin ein Toter haust: also in der Pyramide. In ihr, die ein Ausdruck der Reichseinigung, des zentralen Königkults war, kulminiert aber die ägyptische Kunst nicht nur als Zeremonial-, sondern - dem verwandt - als Starr- und Todeskunst schlechthin. Keine irgend nur mögliche Erinnerung und Nachbildung organischer Motive hält sich an ihren glattgefugten, leeren Wänden, an ihrer Kristallform. Zugleich aber kommt mit dieser Form ein Neues hinzu, das den bloßen Willen zur Starre und Strenge weit überbietet. Die Pyramiden, dem Beschauer überall ihr Dreieck entgegenhaltend, sind fast aufdringlich signifikante Gebilde. Ihr unmittelbarer praktischer Zweck: die Grabkammer mit unansehnlichen Zugängen, hätte auch, etwa den steinzeitlichen Hünengräbern entsprechend, in der Form geböschter Erdhügel oder auch kubisch erfüllt werden können. Statt dessen kam das auffällige, in solcher Reinheit nur hier vorhandene Dreieck, und da es, im mittleren Reich, in der Größe bis zu Zwergpyramiden heruntergeht, kann es schwerlich gewählt worden sein, um dem toten Pharao ein besonderes hohes Dach aufzusetzen. Neben Winkelmaß, kleiner Treppe, dreieckiger Setzwaage wurden im neuen Reich kleine steinerne Pyramiden dem Toten ins Grab gegeben, und sie sollen, wie ein Pyramidentext sagt, dem Toten verhelfen, die Sonne zu schauen, wenn sie aufgeht und wenn sie untergeht. Grundsätzlich steht fest, daß die Pyramiden auch als Bauwerke kosmisch abbildlich sein sollten, nicht anders wie die Sakralbauten aller Astralreligionen, von den keltischen Steinsäulen im Kreis, den Kromlechs, bis zu den babylonischen Stufentürmen. Auch der babylonische Stufenturm wollte ein Abbild des Himmels sein, des Himmelsbergs, wie er in seinen sieben Planetenstufen emporsteigt. Solche Stufenpyramiden gab es in Ägypten gleichfalls, ja mit der sechsfach getürmten von Sakkara hat der Pyramidenbau überhaupt erst begonnen. Aber von der vierten Dynastie an siegt das Dreieck, in der Cheopspyramide fast die Höhe des Straßburger Münsters /(846) erreichend, das vierfache Profildreieck über dem Quadrat, der Himmelsberg in regelmäßig gewordener Gestalt. Ein so immer noch nicht erloschenes, wenn auch immer noch nicht geklärtes Licht ging mit den Messungen auf, die der englische Astronom Piazzi Smyth an der Cheopspyramide vorgenommen hat. Danach war es allerdings »the purpose of the Great Pyramid«, in ihren Proportionen die des damals bekannten Weltalls zu verraten und ihnen konform zu sein. Türwinkel, Achsenrichtung, Vertikale schienen durchgängig nach Sternpositionen ausgerichtet, die Höhe der Pyramide steht in harmonischem Verhältnis zum angenommenen Umfang der Erde, die Neigung der Wände entspricht dem Winkel von Alpha Draconis, dem damaligen Polarstern, und so fort (vgl. Smyth, On the Reputed Metrological System of the Great Pyramid, 1864, und Our Inheritance in the Great Pyramid, 188o, p. 380 squ.). Mancherlei wurde an den von Smyth angestellten Messungen seitdem berichtigt, seine astronomischen Beziehungen wurden von Ägyptologen wie Ludwig Borchardt, von Historikern wie Eduard Meyer völlig abgelehnt, von Dilettanten infolgedessen
riesig aufgebauscht (vgl. Nötling, Die kosmischen Zahlen der Cheopspyramide, 1921, und - mit anthroposophischem Gesichtspunkt - Bindel, Die ägyptischen Pyramiden, 1932). Aber trotz des vorläufigen offiziellen Verdikts, trotz des dilettantisch-okkulten Ersatzes hält die Pyramide ihre kosmomorphe Richtung und Abbildlichkeit, sie steht verschwiegen und als lebensferner Kristall im Astralmythos, der - wenn auch mit noch so verschiedenen Ausformungen - die Hierarchien des ganzen alten Orients regiert hat. Plutarch schöpfte bei all seiner hellenistisch üblichen Ägypten-Romantik doch noch aus vorhandenen und verstandenen Überlieferungen, wenn er sagt (De Isi et Osin, cap. 56): »Es haben also die Ägypter die Natur des Weltalls unter dem Bild des schönsten Dreiecks sich gedacht.« Die Pyramide hat den Himmel auf einen Zentralpunkt, eine Spitze zusammengezogen, von der anorganische Ruhe gleichseitig auf den Boden niederstrahlt; der Tempel von Karnak zeigt die gleiche Ruheordnung an der Sternendecke, den niederleitenden Wänden und Säulen, dem Boden, dessen Pflanzendekoration das überschwemmte Nilland darstellt. Die Säulen, deren Maßen und Mengen nicht nur technische Konstruktion, sondern geglaubte /(847) symbolische Bedeutung zukommt, die Tempelwände, deren Bemalung und Reliefs die Einprägungen des Himmels auf die Erde darstellen, sind die gleichsam exoterischen, empirisch ausgeführten Seiten der Pyramide geworden; wonach auch die Außenseite der Mauern schräg geneigt steht. Letzteres also nicht nur, weil die Dämme am Nil das Muster zu der Abschrägung geliefert haben (es gibt viel schräge Dämme und Böschungen auf der Erde, aber nur wenige Pyramiden), sondern weil hier, wie am Euphrat, die Mauer den Pyramidenwinkel einhielt. In der fanatischen Geometrisierung der gesamten agyptischen Kunst spricht sich ihre Bau-Utopie aus: Todeskristall als geahnte Vollkommenheit, kosmomorph nachgebildet. Ganz anders, wo der Stein verneint, die harte Kante gebrochen wird. Das Leben, das sich christlich aufnimmt und wendet, will keine Starre. Sondern umgekehrt, es will ein ewiges werden; so ist der gotische Zierat gerade der erregteste und üppigste geworden, an ihm hält sich weder eine gerade noch eine runde Linie. Im dreizehnten Jahrhundert blühend, mit großem Reichtum der Einzelheiten, wie er aus der beginnenden Befreiung von der feudalen Ordnung stammt, mit unmittelbarem Empordrang aller Bauglieder zur Höhe, wie er aus der Befreiung der reichenStädte von der klerikalen Ordnung stammt, ist die Gotik ein urbanmystisches Gebilde und so von der Romanik, dieser durchaus feudalen Gottes-Burg, höchst gleißend, höchst dynamisch verschieden. Indem die organische Bewegung sich transzendierend fortsetzt, schäumt und siegt sie desto mehr, mit christförmiger Unruhe. Pflanzen, Tierleiber, auch monströse, gehen mühelos in den gotischen Zierat ein, nicht gepreßt, nicht reliefhaft stilisiert. Das Äußere wie Innere des gotischen Doms konnte deshalb bis zum Überdruß einem Wald verglichen werden. Astwerk findet sich in der Tat ganz wahlverwandt ins Steinorganische aufgenommen, und der Bau endet an der Spitze mit einer Kreuzesblume. Die Pfeiler jagen nach oben, ihre Kapitäle sind lediglich Knotenbildungen in dieser Bewegung, die Decke ist ein einziger Zusammenprall dieser unbeendeten Vertikalismen, die Mauer ist mit den riesighohen, Legenden erzählenden Blutgold-Fenstern durchschlagen; fromm-orgiastisches Licht scheint aus einem anderen Tag als dem der Natur herein. Sehnsucht nach innen und nach /(848) dem Oben, das wie das Innen ist, wird das Maß aller Baudinge. Diese gotische Hochtendenz organisiert alle Baumaße: »Nun haben die süchtigen Bildtafeln in ihr Raum, Netz- und Schlingwerk unerhörter Steinmetzkunst wuchert in Krabben und Kapitälen, durchsetzt mit Maßwerk und Rose die glühenden Fenster; Wölbung entsteht, nicht Gewölbe, und
ungeheures dynamisches Pathos, in allen Teilen nach oben drängend, im Hauptschiff, dazu noch in die Tiefe des Chors; Sünde und Buße, gleißende Teufelsschönheit und Reich der linden, der gebogenen, der gelassenen Seele begegnen sich in diesen ungeheuren Figurendomen zu allernächst, machen sie zum versteinerten Zug des vollkommenen, des bestandenen christlichen Abenteuers.« (Geist der Utopie, 1923, S.33 f.). Es ist ein Ineinander von Erregung, wie keine bisherige Kunst sie erfahren hat, und einem exzessiven Ornament, das die Erregung nicht stillt, sondern ihr gerecht wird. Das also ist der Gegensatz zur sanft-organischen Regelmäßigkeit der Griechen, zum bemessenen Wuchs der jonischen Säule und dem Einklang zwischen ihr und der Last des Architravs, es ist vor allem aber der entscheidende Gegensatz zur strikt anorganischen Kristallutopie Ägyptens. In Ägypten ist das Ornament, gar das blühende, organische, eine Anomalie, in der Gotik ist es die gebaute Auftriebs- und Jubelsymbolik selber. Gegen diese organisch-transzendierende Fülle kommen die wenigen anorganischen Symmetrien der Gotik nicht auf: die verkleinerten Unterabteilungen der gleichen Spitzbögen und Fialen, das vielfach Dividierte, Subsumierte, auch Geometrisierte, das sich äußerlich findet. Wenn der Turmhelm des Straßburger Münsters ein Dreieck bildet, ein spitzwinkliges, so bildet er es keinesfalls geometrisch rein, sondern ausgeschnitzt, durchbrochen, mit Spiralen an den Seiten, und oben steht die Kreuzesblume; das Dreieck ist folglich, als solch blühendes, im Krieg mit der Pyramide und noch als Dreieck ein Anti-Kristall. So zeigt die Gotik eine ganz andere Imitatio als die kosmomorphe, letzthin allemal astralmythische; sie zeigt mit einer Dynamik, die unter anderen Zeichen, mit Berauschungs-Auftrag, nur das Barock wieder erreicht hat, den äußersten Gegenpol zur ägyptischen Granitruhe, sie zeigt radikal-organische Ordnung. Und diese wiederum bestimmte fast alle Einzelheiten des Kirchengebäudes symbolisch in Richtung /(849) der Auferstehung und des Lebens, dergestalt, daß gerade die Pflanzenornamente mystisch bezogen sind, auf einen Wundergarten der Gottesmutter, im Sinn der transzendierenden Botanik, die im Spätmittelalter sich ausgebildet hatte. Gewiß, wie der Bau geometrische Regelmäßigkeiten anorganischer Art enthält, Dreiecke, Kreise, so zeigt er auch einige kosmologische Bezüge: das Radfenster entsprach dem Tierkreis, in anderen Darstellungen dem astrologischen Rad der Fortuna, der Kronleuchter den übereinander gelagerten Planetensphären. Aber der Kronleuchter entsprach mit seinen ringförmig übereinander gelagerten Lichtern viel genuiner einer Imitatio der Himmelsrose, und in der Anordnung der Pfeiler, Fenster, des gesamten in Bewegung gesetzten Raums hörte jede Nachbildung von Weltstatik auf. Überall siegen am Ende Proportionen und Gestaltungen, die zu denen der Welt paradox sind: Der Grundriß entspricht dem am Kreuz ausgestreckten Leib Christi, mit dem Altar als Haupt; die Kreuzesblume symbolisiert den mystischen Kehlkopf, der den Sohn als Wort gebiert, indem er ihn ausspricht; die Glasfenster entsprechen den Edelsteinen in den Mauern des himmlischen Jerusalem (vgl. Josef Sauer, Symbolik des Kirchengebäudes, 1924). So groß auch bei der langen Zeitdauer der Ausführung und dem häufigen Wechsel des Plans die Menge der symbolisch unbezogenen oder symbolisch ausgewechselten Bauteile geworden sein mag: oberster Kanon blieb eine magische Christförmigkeit, »in typo et in figura ecclesiae et corporis Domini«, nach Augustins gotisch erfüllter Forderung. Die Proportionen des gotischen Doms sind die Unproportionen der christologischen Ordnung zur kosmischen; das ist die Wahrheit an Ort und Stelle im gerechten Steinmetzgrund. Hier ist wirklich Auszug aus Ägypten in der Architektur intendiert, Nachfolge der Auferstehung aus dem Grab, mit weggewälztem Stein (Mark. 16, 4). War also
Ägypten der Todeskristall als geahnte Vollkommenheit, so ist die Gotik mit ebensolcher Entschiedenheit der Auferstehung und dem Leben utopisch zugeordnet. Ihr Bausymbol ist derart notwendig Todaustreiben, Anti-Tod, ist Baum des Lebens als geahnte Vollkommenheit, christförmig nachgebildet. Hat die ägyptische Kunst das Werdenwollen wie Stein in sich, so die gotische eben das Werdenwollen wie der Baum des Lebens, wie der Weinstock /(850) Christi; und beide Bauweisen sind als einzige in dieser ihrer Imitatio radikal zu Ende gegangen. Geschichtlich wandeln sämtliche außerdem entwickelten Stile diese beiden Ordnungen: die der Strenge und die der Fülle, in sich ab, doch radikal herausprozessiert und so gewaltig wie divergent auf ihren religiösen Steinmetzgrund bezogen wurden sie nur in Ägypten und der Gotik. Das sind die Entschiedenheiten der Bauformen Pyramide-Kathedrale selber; sie bleiben beide als versuchte Konstruktion der Abbildlichkeit eines vollkommenen Raums: hier des stillenTodes mit Kristall, dort des organischen Excelsior mit Lebensbaum und Gemeinde. Weitere und einzelne Exempel von Leitraum in der alten Baukunst Dermaßen alt ist die Sorge, woran das Bauen sich letzthin halten soll. Das Bauen befriedigt ja nicht nur das Bedürfnis des Wohnens und so fort, es will auch sonst durchaus nicht nur gefällig sein. Weder im dienstfertigen noch im kunstgewerblichen Sinn dieses Worts, im allzu schlemmerhaften. Wie eng ist die Baukunst mit den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen, der zu zeigenden Macht, der Beeinflussung verbunden. Und wie immanent ist das Bauen als solches nicht nur eine besonders überbauhafte, sondern eine bildende, also objektive Kunst. Als solche aber hält es sich, wie alle bildende Kunst, an die sichtbare Welt, nimmt sie auf, formt sie versucht-wesenhaft um. Wo sind aber nun die sichtbaren, das heißt naturhaften Formen, die ein Baumeister so als Modell vorfände wie ein Maler oder Bildhauer? Daran allerdings ist gar manches lückenhaft, der Architekt findet als Modell nur Einzelheiten vor, wenig jedoch das eigentümliche Ganze, worin sie verwendet sind: das Haus. Gewiß, schon für die Anlage mag sich Baukunst von einem Ei, einerWabe, einem Nest etwas sagen lassen. Fürs Ornament wurden seit alters organische Vorbilder benutzt, Akanthus, Lotos, Muschel, die Säule ist ein Stamm, die Kuppel mag der Höhle nachgebildet sein, das Dominnere dem Wald. Der Architrav ruht auf als Felsplatte (das Löwentor in Mykene zeigt noch diesen Ursprung), überhaupt ist die Verteilung von Kraft und Last, das Grundgeschäft der Statik, /(851) selbstverständlich naturhaften Gesetzen unterworfen. Der Baumeister war von je zur Hälfte Techniker, ja in keine Kunst, außer in die Musik, reichen von außen her, sogar in ihre Grundlagen, nicht nur in ihre Einzelheiten, so viel mathematische und physikalische Verhältnisse, in keiner wurden sie, um der Statik wie um der Harmonie willen, so sehr geachtet. Gewiß also, das alles ist wahr: und trotzdem mußte vom Architekten das Haus selbst, dies Ganze und Einheitliche seines Werks, nach Leitbildern erfunden oder entdeckt werden, die nicht im unmittelbar Gegebenen der Außenwelt liegen, mindestens nicht in seiner fixen Unmittelbarkeit. Die Musik, die zwar gleichfalls sehr ausgeprägte mathematisch-physikalische Grundlagen besitzt, aber noch weit weniger unmittelbare Weltmodelle als die Architektur, imaginierte in dieser Lage einst eine Harmonie der Sphären. Und dieses lehrreicherweise nicht ohne altorientalischen Einfluß, das heißt, unter dem gleichen kosmischen Gesichtspunkt, der, wie zu sehen war, auch die babylonische und ägyptische Baukunst von einem kosmischen Maß her geordnet hat. Die astronomische Harmonielehre hat allerdings die Entwicklung
der Musik mehr verhindert als befördert, zum Unterschied vom kosmischen Maßglauben in der Architektur. Der Maßglaube brachte dieser Kunst, als einer von vornherein objektiven, die ganze heidnische Hälfte ihres Reichs. Er gab ihr, der objektiven, aber in der unmittelbar gegebenen Außenwelt nicht vorfindbaren, ja gerade die Unbehaustheit des Menschen aufhebenden, ein kosmisches Haus, einen Halt und ein spezifisches Vollkommenheitsbild. Und ist Ägypten die radikalste Annäherung daran, so wirkt Astralisch-Geometrisches, Anorganisch-Kristallisches lange darüber hinaus auf die Baukunst durchaus. Es wirkt hier im Kleinen wie im Großen, in der edlen Lust und Suche nach reinen Formen wie in der geklärten Ordnung, die man nur teilweise bezeichnet, wenn man sie klassizistisch nennt. Was die schönsten einzelnen Formen angeht, so werden sie freilich allemal aus dem Leben, woraus sie genommen sein mögen, eingebracht, jedoch auch dann mit Vorliebe geometrisiert. So gibt gerade das Ei, obwohl es durchaus eine Einzelheit ist, ein statisches Muster ab, bis in die moderne Stromlinie verfolgbar. So wurde in klassizistischen Zeiten die Wellen- und sogar Schlangenlinie als die vollkommenst schöne geometri- /(852) siert, als »Durchdringung und Wechselwirkung des Einen und Mannigfaltigen«, wie der Maler-Ästhetiker Hogarth in seiner berühmten «Analysis of beauty«, 1753, dekretiert hatte und worin ihm Lessings Kunsttheorie nachfolgte. So wurde im epigonalen Klassizismus des neunzehnten Jahrhunderts mit besonders deutlicher Geometrisierung der Goldene Schnitt ausgezeichnet, wonach auch in der gebauten Schönheit, damit sie eine sei, ein Ganzes zu seinem größeren Teil sich zu verhalten hat wie dieser zum kleineren. Indem die Schule des Formal-Ästhetikers Herbart dieses Verhältnis durch den Bau der Pflanzen, Tiere, Kristalle und des Planetensystems, durch die chemische Mischung der Stoffe und die Gestaltung der Erdoberfläche hindurch verfolgte (Zeising, Ästhetische Forschungen, Das Normalverhältnis der chemischen und morphologischen Proportionen, 1856), wurde vollends eine neue, wenn auch formalistisch entleerte Harmonie der Sphären auf die bildende Kunst angewandt, um deren Schönheit ebenso zu reglementieren wie zu erklären. In die gleiche, nur sehr viel vornehmere Reihe gehören schließlich doch auch, unter diesem Gesichtspunkt, die »divinae proportiones«, denen die Vitruv- und Geometrie-Renaissance des sechzehnten Jahrhunderts nachfolgen wollte, bei Vasan, Pacioli und Vignola; eine Kristall-Spekulation, die ihre Grundzüge mit großer Folgerichtigkeit aus dem »Timäus« nahm, als aus Platons »ägyptischster« Schrift. Nicht nur findet sich darin der Weltbaumeister oder Demiurg, sondern seine Frucht ist vollkommen geometrisch gereift, vom Dreieck der Grundteile angefangen bis zu den mannigfachen Polyedern, in denen das Weltall steckt. Das Modell in allen geometrisierten Formen ist schließlich statt der Einzelheiten ein durch den Kosmos hindurchgehendes, hindurchgehend geglaubtes, eben eine Art kanonischer Weltbau. Seine geometrische Facon soll nun der schlechthin ordnende Halt sein für die divinae proportiones in der Architektur selber, als einer sichtbarklar, euklidisch-ruhig gefügten. Und es erhellt weiter: nicht nur die Klarheit, sondern mehr noch der latente Astralmythos in jedem kristallinischen Halt, Haus, Kanon kann, ja muß zur Utopie Ägypten hinführen, oft auf dem Weg des Klassimsmus. Ledoux, der größte klassizistische Architekt, baute nicht grundlos, nicht hintergrundlos in lauter Würfeln, Kugeln, Pyramiden, Ellipsen. /(853) Die römische Baukunst, als das kräftigste Muster der kräftigklassizistischen, hatte selber, von Etrurien und der Roma quadrata her, diesen geomantisch-geometrischen, kosmometrischen Anschluß in sich. Er war in Ägypten, dann Babylon am entschiedensten durchgeführt, aber er formte unterhalb dieser Gipfel fort, die »imitatio mundi« wurde, wie immer
säkularisiert, auch ein römisch bildender, bindender Glaubensartikel Selbst Vitruv, der der Roma quadrata der Urzeit so fern steht, fundiert noch die drei Forderungen, die er an einen vollkommenen Bau stellte, die firmitas, utilitas, venustas, letzthin astronomisch, das ist, kosmomorph. Das ganze neunte Buch seiner Schrift de architectura, dieser in der Renaissance so weithin rezipierten, handelt bei aller Nüchternheit mit Bedeutung von Astronomie und Astrologie, von den Mondphasen, von dem Tierkreis und den sieben Planeten, vom Einfluß der Gestirnkonstellation auf die Erde. Und hundert Jahre nach Vitruv geschah in der römischen Baukunst ebenso eine Wiederberührung mit dem kosmometrischen Erbe Etrurien wie ein fälliger Import von Heliosmythos, als ein Baumeister aus Damaskus in Rom das Pantheon errichtete, diese Kuppelhöhle und Himmelskuppel zugleich. Wie nirgends ,an einem klassischen Bauwerk ist darum an diesem späten das heidnisch geglaubte, sichtbar- kanonische Welthaus erkennbar. Denn gerade die im Pantheon erschienene Rundung ist nicht die bequeme oder übersichtliche, welche den griechischen Schatzhäusern, den römischen Vorratskammern, selbst den Zisternenund Brunnenfassungen bereits ihre Form gegeben hatte; sie ist vielmehr magisch angelegt und hat darin besondere Antiquität. So erschien der Sphairos Pantheon lang zuvor in den uralten Penatentempeln, im Kreisaltar, in der Rundform und selbst im Kuppeldach des Vestatempels. Ebenso waren die Eiform des römischen Zirkus, sogar die Rundung des Kolosseums nicht ohne naturmythische Beziehungen; hielt doch römische Großarchitektur insgesamt, weit mehr als die griechische, Kontakt mit uralten Leitgestalten chthonisch-uranischer Art, kurz mit kanonischem Erd- und Kosmosbau. Ohne diese Beachtung der gesellschaftlichenVermittlungen, hier also der jeweiligen religiösen Ideologie, besonders Utopie, können die architektonischen Grundstile sowenig verstanden werden wie ohne gründliche Kenntnis ihrer gesellschaft- /(854) lichen Grundlagen. Selbst das goldene Haus Neros, dies Modell so vieler späterer Wunderschlösser, hatte nach der Beschreibung Suetons eine sternartig durchbrochene Decke und in ihrer Mitte einen Ebenholzkreis, »der beständig rotierte, Tag und Nacht, wie das Universum«. Vom Kolosseum laufen auch Zusammenhänge zum schweren Zylinder der Engelsburg, unter Hadrian erst wieder begriffene und gewollte Zusammenhänge. Erst recht also mußte das Pantheon Weltall spiegeln, mit Kuppel und Sternrosetten, mit sieben Planetennischen und dem von oben hereinblickenden Sonnenauge; Dio Cassius nannte den Bau unverhohlen »ein Gleichnis des Himmels«. Der stoisch-astrologische Kosmos, wenn auch nicht mehr der hoch stereometrische der ägyptischen Pyramiden und Tempel, ist sein architektonischer Gegenstand. Er ist noch voll ungestörten, heidnisch perfekten Himmels, also ohne den bald nachher geschehenden Einspruch des Logosmythos gegen den Astralmythos, des Christus gegen die Kosmokratoren (Eph. 6, 12). Und nur scheinbar wiederholt sich die Weltkuppel des Pantheon in der der Moschee; denn gleich dem gekommenen Christentum glaubte auch der Islam, der auf der Bibel fußt, daß das Wesen dieser Welt vergeht, er hat gleichfalls einen Jüngsten Tag, eine andere Ordnung im Grund. Das Pantheon ist daher nicht, nach Spenglers Deutung, die erste Moschee auf europäischem Boden, sondern der letzte reine Astralbau. Die Omarmoschee in Jerusalem, die Hagia Sophia, die Aachener Palastkapelle Karls des Großen geben dem Zentralbau und der Kuppel einen ganz anderen Sinn: sie folgen keinem Weltrund nach, sondern einer Bergung im inwendig-überweltlichen Gott. Der gleichen Bergung, die nachher auch, als die Kuppel christlich verschwand, die beständige Rundform der Apsis beibehalten hat, als einer, die mit Christus gegen die Welt umschließt. Weltvollkommenheit dagegen war das Bau-Korrelat, an dem
astralmythische Architektur ihr Muster nahm, ihr in allen so gewaltig variierten Gestalten verwandtes. Als nicht mehr so weltförmig, als intendiert christförmig trennt sich erst die Strenge Byzanz’ letzthin von der Strenge Ägyptens ab. Denn von nun an wird ein Haus der anderen Seite gemeint, ihm folgt der Bau nach. Er ist nicht mehr heidnisch, er hat sich am Ausweg aus dieser vorhandenen Welt angesiedelt. Und nur /(855) scheinbar stand diesem betonten Haus des Ausgangs der sehr bejubelte Eingang in die gleiche Welt entgegen, mit dem die Bibel beginnt. Sie preist ihren Gott gerade als Weltmacher und vor allem als einen mit seinem Werk, wie es ist, sehr zufriedenen. Dieses Bild des Welterbauers jedoch ist nicht ursprünglich biblisch, ist noch selber heidnisch, soll heißen, es ist auf anderem Boden erwachsen als dem jüdisch-christlichen. Es kommt sogar in den heidnischen Schöpfungssagen nicht überall vor; weder die griechische noch die nordische noch die babylonische Göttersage zeigt den höchsten Herrn als Weltbildner. Dieser nämlich ist hauptsächlich ägyptisch und stammt aus Memphis, aus dem Kunstzentrum der ägyptischen Religion. Dort waren die heilig gehaltenen Bildhauerwerkstätten, dort stand ihnen als Schutzgott der höchste Gott Ägyptens vor: Ptah, dort herrschte seine Priesterschaft als die mächtigste im alten Reich; das Urbild des Weltschöpfers, des vom Exodusgott Jahwe sehr verschiedenen, ist eben der Bildhauergott von Memphis: Ptah. Solch ein Künstlergott als Weltbildner findet sich nur in Ägypten (vgl. zu Ptah als Demiurg: Breasted, Geschichte Ägyptens, 1936,S.214), und nur vom Ptah-Begriff in Jahwe her entstand Nachfolge des Weltbaumeisters, scheinbare Nachfolge seines Kosmoswerks auch in biblisch-christlicher Intention. Der Priesterkodex des fünften Jahrhunderts, der das erste Kapitel der biblischen Genesis ausmacht, hat in diesem Punkt die Schöpfungsgeschichte der Jahwisten aus dem achten Jahrhundert beibehalten, so wie diese die Kosmogonie aus Memphis. Babylon, das sonst so viel Einfluß auf den biblischen Mythos ausübte, hat durchaus nur den Gott als Ordner in die Bibel hineingetragen, diesen allerdings als einen, der den Schöpfer Ptah in Jahwe nun erst recht verstärkte. Der babylonische Reichsgott Marduk kam als Ordnungsgründer zu dem Weltgründer Ptah hinzu, der vortreffliche Kosmosregent zu dem vortrefflichen Kosmosstifter, alles vom Eingang und Anfang der Welt an schon fehlerfrei vollendend, mit Scheidung der Wasser des Himmels und der Erde, mit Ausgestaltung der Erde. Nun erst war der Eingang der Welt, eben ihre angebliche Vollkommenheit, wie sie keines Hauses auf der anderen Seite, keines Exodus aus dem Vorhandenen zu bedürfen schien, auch in der Bibel gesetzt. Nun erst wurden in der biblischen Schöpfungsgeschichte /(856) aus dem Nilschlamm, den Ptah modellierte, die Wasser der Tiefe, Gestirne wurden gesetzt, die die Zeiten regeln, Trennungs- und Ordnungsbestimmungen regierend-regionaler Art traten ins Ptah-Werk ein, die Reihenfolge der Schöpfungstage. Kurz, das bekannte biblische Schöpfungswerk entstand, mit dem Weltbaumeister aus Ägypten, dem Ordner aus Babylon, ein Werk, dessen legendäre Vortrefflichkeit allerdings einen Anschein von Kosmomorphie auch in die nichtheidnische Architektur gebracht hat. Die Vortrefflichkeit wird aber in der Bibel nur ein einziges Mal erwähnt (I. Mos. 1,31), und das Weltkunstwerk selber, das durch den höchsten Gott vollendete, stammt eben aus dem Gegenland der Bibel: aus Ägypten-Babylon. Denn: bereits Jahwe als Gott des Exodus aus Ägypten steht zur vorhandenen Welt als Maß fremd, sein Kanaan ist nicht der Kosmos. Erst recht unfreundlich, um nicht zu sagen rebellisch zum fertigen Kosmos, vor allem zu dem den Juden auf Erden gewordenen, verhält sich der Jesajasgott, der einen neuen Himmel und eine neue Erde verheißt, daß man der vorigen, also der der Genesis, nicht mehr gedenke (Jes. 65, 17). Und nur diesem
Haus der anderen Seite, dem Kanaan, das der Exodus vor sich haben sollte, war die nichtheidnische Baukunst, als Anti- Ägypten katexochen, zugeordnet. Auch die altertümlichen, also kosmotheologischen Baubilder bei Amos, im Buch Hiob, in einigen Psalmen richten gegen diese Exodus-Konzeption nichts aus, sie werden an Ort und Stelle bereits von einer anderen Hoffnung, einem anderen Grundriß überboten. »Er ist's«, sagt zwar Amos 9, 6, »der seinen Saal in den Himmel baut und seine Hütte auf der Erde gründet«; der 104. Psalm preist den Himmel als einen Teppich, die Erde als ausgetäfelten Boden, Hiob 38, 4-6 läßt Jahwe für die Gründung der Erde eine Richtschnur ziehen, senkt die Füße der Erde in ein Fundament, legt ihr einen Eckstein. Ebenso wird die Anlage der Stiftshütte in gewisser Analogie zur Weltvollkommenheit überliefert: das Allerheiligste entsprach dem Himmel, das äußere Heiligtum der Erde, der Hof dem Meer, der siebenarmige Leuchter den sieben Himmelslichtern. Sogar der Salomonische Tempel erinnert in der unablässigen Zahlangabe seiner Verhältnisse und Teile an heilige Geometrie, wie sie von Stufentempel und Pyramide her bekannt ist und wie sie noch in den astral-mythischen /(857) Sternresten des himmlischen Jerusalem wiederkehrt. Aber das alles besagt so wenig wie der Tierkreis im gotischen Radfenster der die scheinbare Ähnlichkeit der byzantinischen Kuppel mit der des Himmels; der Fremdkörper ist trotzdem unterworfen, der Ptah-Palast ist zur Exodus-Kirche umgebaut. Noch die gnostische Licht-Emanation, die ins spätere, ins gotische Bausymbol einströmt, ist vom Reflex des Weltalls, also vom Pantheon jeglicher Gestalt, entscheidend verschieden; denn sie kommt in der christlichen Gnosis aus dem »zweiten Äon«, aus dem Äon einer künftigen Welt. Insgesamt steht daher fest: Der Architekturtraum einer besseren Welt hat religionsgeschichtlich als Flußbett und Mündung ägyptisch die Sonnenanbetung, biblisch-prophetisch den Exodus - eben heraus aus dem Ägypten der bisherigen Welt. Deutlicher kann innerhalb dieser Ideologie das nicht ausgedrückt werden, als es bei Maimonides geschah, in einer Architekturstelle voll historisch-immanenter, also zuständiger Ideologie der Sache. Maimonides kommentiert die Legende, daß Abraham für sein Heiligtum auf dem Berg Moria die Westseite gewählt habe, und er entscheidet folgendermaßen: »Das hat seinen Grund darin, daß der damals in der Welt vorherrschende Glaube die Sonnenanbetung war, daß man die Sonne als Gott verehrte und sich somit alle Menschen unzweifelhaft nach Osten wandten. Deshalb wandte sich Abraham auf dem Berg Moria, nämlich an der Stelle des Heiligtums, nach Westen, so daß er der Sonne den Rücken kehrte« (Führer der Unschlüssigen III, Meiner, 1924,S. 275). Das ist eine durch Anti-Ägypten, Anti-Babylon bewirkte Korrektur des Ostpunkts, in dem doch, noch für Kolumbus, die Welt erschaffen wurde und das irdische Paradies liegen sollte. In dem vor allem aber der Astralmythos gründete, derjenige also, der den Leitraum der Baukunst letzthin als kosmisch-geometrisch hielt. Wogegen innerhalb der biblisch-christlichen Bau-Ideologie, vorab in ihrer Bausymbolik, diejenige Richtung der Welt verworfen werden mußte, wo die äußere Sonne aufgeht, diejenige Richtung aber wachsend erwählt, wo sie samt der vorhandenen Weltordnung aus- und untergeht. Von Augustin durchs Mittelalter hindurch und vor allem in der Gotik wird der Kirchenbau darum als Abbild jenes anderen Baus gefeiert, der nicht zentrierte Ordnung, sondern föderative Freiheit, hier /(858) als »Freiheit der Kinder Gottes« gedacht, zur Aufschrift haben wollte. Dort lag radikal die Gotik, dieser Versuch eines neuen, aus dem Fels und Stein herausgehauenen Weltbaus wie Menschen gemeinde. Ihr architektonisches Hoffnungsbild war das «lebendige Wasser«, das »Holz des Lebens«, von denen das Endkapitel der Apokalypse zu den mittelalterlichen Menschen sprach. Das sollte dann der «neue
Himmel«, aber auch die »neue Erde« sein, im vorwegnehmenden Vor-Raum, als der der Dom gedacht war. Mit riesiger Bewegungs-Vertikale des Turms und der Pfeiler, mit gemaltem Fensterscheiben-Licht im Innern, durch das den mittelalterlich Gläubigen eine ganz andere, eine Christwelt hereinfallen sollte. Soviel zuletzt über Werdenwollen wie Stein oder aber wie Lebensbaum im Radikal-Durchkomponierten der alten Baukunst. Das Problem ist nur, wie die Leiträume Kristall oder Baum nach Abzug ihrer religiösen Ideologie, dazu nach einer vom Spätkapitalismus völlig nihilisierten Architektur noch fungieren können, zu fungieren haben. Sie stellen allemal Alternativen dar, Alternativen, die - nun fast ohne religiöse Ideologie - in der griechischen Klassik abstrakt beschwichtigtworden sind. Doch es kommt darauf an, sie in konkreter Einheit zu überwinden; in einer Klarheit, die die Fülle nicht tötet, in einer Kristall-Ordnung, die die Freiheit des lebendigen Ornaments nicht ausschließt, sondern zum Inhalt hat. II DIE BEBAUUNG DES HOHLRAUMS Neue Häuser und wirkliche Klarheit Eine Geburtszange muß glatt ein, eine Zuckerzange mitnichten. Ernst Bloch, Geist der Utopie, 1918 Heute sehen die Häuser vielerorts wie reisefertig drein. Obwohl sie schmucklos sind oder eben deshalb, drückt sich in ihnen Abschied aus. Im Innern sind sie hell und kahl wie Krankenzimmer, im Äußeren wirken sie wie Schachteln auf bewegbaren Stangen, aber auch wie Schiffe. Haben flaches Deck, Bullaugen, Fallreep, Reling, leuchten weiß und südlich, haben als Schiffe Lust, zu /(859) verschwinden. Ja, die Feinfühligkeit der westlichen Architektur geht soweit, daß sie ziemlich lange schon, auf Umwegen, den Krieg witterte, der das Hitlerische ist, und sich auf ihn bereitete. Da erscheint selbst die Schiffsform, die rein dekorative, dem Fluchtmotiv der meisten heutigen Menschen in der kapitalistischen Kriegswelt nicht real genug. In ihr werden seit geraumer Zeit Häuser ohne Fenster projektiert, künstlich beleuchtete und entlüftete, stählern durch und durch, das Ganze ist ein Panzerhaus. Überhaupt mehrt sich, während die moderne Architektur bei ihrem Entstehen grundsätzlich auf das Draußen orientiert war, auf Sonne und Öffentlichkeit, - es mehrt sich das Bedürfnis nach verschlossener Lebenssicherheit, wenigstens im Wohnraum. Der begonnene Grundzug der neuen Baukunst war Offenheit: sie brach die dunklen Steinhöhlen, sie öffnete Blickfelder durch leichte Glaswände, doch dieser Ausgleichswille mit der äußeren Welt war zweifelsohne verfrüht. Die Entinnerlichung wurde Hohlheit, die südliche Lust zur Außenwelt wurde, beim gegenwärtigen Anblick der kapitalistischen Außenwelt, kein Glück. Denn nichts Gutes geschieht hier auf der Straße, an der Sonne; die offene Tür, die riesig geöffneten Fenster sind im Zeitalter der Faschisierung bedrohlich, das Haus mag wieder zur Festung werden, wo nicht zur Katakombe. Das breite Fenster voll lauter Außenwelt braucht ein Draußen voll anziehender Fremdlinge, nicht voll Nazis; die Glastüre bis zum Boden setzt wirklich Sonnenschein voraus, der hereinblickt und eindringt, keine Gestapo. Auch kaum ohne Zusammenhang mit den Schützengräben des ersten Weltkriegs, vor allem aber mit den freilich vergeblichen Maginotlinien des zweiten entwickelte sich der Plan einer unterirdischen Stadt - als der der Sicherheit. Statt des Wolkenkratzers laden so projektierte »Earthscraper« ein, glänzende Dachslöcher, rettende
Kellerstadt. Droben am Licht wiederum erschien der weniger reale, doch dekorative Fluchtplan einer fliegenden Stadt, in Stuttgart, auch in Paris utopisiert: die Häuser erheben sich in Kugelgestalt auf einem Mast, oder sie hängen als veritable Ballons an Drahtseilen; im letzteren Fall wirken die Schwebebauten besonders abgetrennt und abfahrtwillig. Aber auch diese Spielformen zeigen nur, daß Häuser hier als Höhlen, dort auf Pfählen wieder geträumt werden müssen. /(860) Wie nun, wenn auf solchem Boden trotzdem ein Sprung ins Helle vorgemacht werden soll? Was bautechnisch in der Tat versucht wurde, doch jetzt mit der bejaht ungemütlichen Lust auf lauter Fenster und ebenso kahlklare Häuser und Geräte. Gewiß, dergleichen gab sich als Reinigung vom Muff des vorigen Jahrhunderts und seinem unsäglichen Zierat. Doch je länger, je mehr wurde deutlich, daß es bei dieser bloßen Weglassung auch geblieben ist und - innerhalb der spätbürgerlichen Leere bleiben mußte. Je länger, je deutlicher tritt als Inschrift über dem Bauhaus und dem, was damit zusammenhängt, die Devise hervor: Hurra, es fällt uns nicht mehr ein. Wo ein Lebenszuschnitt so verworfen ist wie der spätbürgerliche, kann eine bloße Baureform nur erreichen, nicht mehr verhüllt-, sondern dezidiert seelenlos zu sein. Das ist der Effekt, sobald zwischen Plüsch und Stahlsessel, zwischen Postämtern in Renaissance und Eierkisten kein Drittes mehr in die Phantasie greift. Der Effekt ist desto erkältender, als er nichts Schlupfwinkliges, sondern nur Lichtkitsch an sich hat; mag auch, wie unbestreitbar, sein Anfang noch so sauber, nämlich staubsaugerisch gemeint gewesen sein. Adolf Loos zog in Europa, Frank Lloyd Wright in Amerika gegen das epigonale Geschwulst die ersten Negationslinien. Wright allerdings auch mit Stadthaß, mit teils anarchistelndem, teils gesundem, mit Aufteilung der mörderischen Überstädte zu »home towns«, zu einer »Broadacre City« und zehnmal soviel Raum für jeden, als er zu haben gewohnt ist. Corbusier wiederum pries umgekehrt eine hochstädtische »Wohnmaschine«, er bezeichnet zusammen mit Gropius und gar geringeren Bildnern neuer Sachlichkeit jenes Stück Ingenieurkunst, das sich so progressiv gibt und das so rasch stagniert, so rasch zum alten Eisen wird. Seit über einer Generation steht darum dieses Stahlmöbel-, Betonkuben-, Flachdach-Wesen geschichtslos da, hochmodern und langweilig, scheinbar kühn und echt trivial, voll Haß gegen die Floskel angeblich jedes Ornaments und doch mehr im Schema festgerannt als je eine Stilkopie im schlimmen neunzehnten Jahrhundert. Bis es dann auch in Frankreich zu dem Satz eines so bedeutenden Betonarchitekten wie Perret langte: »Das Ornament verdeckt immer einen Konstruktionsfehler.« Wobei ein klassizistisches Möchte-gern, fast romantisch, nicht fehlt, teils wegen der geo- /(861) metrischen Formen, teils wegen der Ruhe als erster Bürgerpflicht, teils wegen abstrakter Menschlichkeit. Corbusiers Programm »La ville radieuse« sucht überall eine Art griechisches Paris (»Leseléments urbanistiques constitutifs de la ville«), er illustriert an der Akropolis eine Art allgemeinmenschlichen Geist (»le marbre des temples porte la voix humaine«). Aber Griechenland ist hier eine Abstraktion geworden wie nirgends zuvor, ebenso das weiter nicht differenzierte »Etre humain», auf das sich die Bauelemente rein funktionell beziehen sollen. Auch die Stadtplanung dieser unentwegten Funktionalisten ist privat, abstrakt; vor lauter »Etre humain« werden die wirklichen Menschen in diesen Häusern und Städten zu genormten Termiten oder, innerhalb einer »Wohnmaschine«, zu Fremdkörpern, noch allzu organischen; so abgehoben ist das alles von wirklichen Menschen, von Heim, Behagen, Heimat. Das ist das Ergebnis, muß es sein, solange eine Baukunst um den Boden, der nicht stimmt, sich nicht bekümmert. Solange die »Reinheit« aus Weglassungen und Einfallslosigkeit besteht, die Heiterkeit aus Vogel-Strauß-Politik, wo nicht aus Irreführung, und die
silberne Sonne, die hier überall blitzen will, eine verchromte Misere ist. Hier überall ist Architektur als Oberfläche, als ewig funktionelle; wonach sie auch in größter Durchsichtigkeit keinen Inhalt zeigt, kein Ausschlagen und keine ornamentbildende Blüte eines Inhalts. DieseAbstraktheit allerdings verbindet sich ausgezeichnet mit Glas, konnte darin seltsam gebildet werden, geschliffene Leere in Luft und Licht, neukosmisch aus Nichts. Bruno Taut, ein Jünger Scheerbarts, hat so ein »Haus des Himmels« skizziert (vgl. »Die Stadtkrone», 1919), der Grundriß besteht aus sieben Dreiecken, die Wände, die Decke, der Boden sind aus Glas, die Beleuchtung macht das Haus zum farbigen Stern. Eben in Nachfolge des »Pankosmikers« Paul Scheerbart, der zuerst Glasarchitektur universalisiert hatte, sollte letzthin die ganze Erde zum Kristall umgebaut werden. Und als Exempel der neuen Durchsichtigkeit zitierte Taut aus Claudels »Verkündigung« die Verse: »In die Wellen des göttlichen Lichtes stellt der Baumeister planmäßig weise / das Steingerüst hin wie ein Filter / Und gibt dem ganzen Bauwerk das Wasser einer Perle.« Auch hatte in Tauts Programmen Zahlenmystik neben modernstem Material Platz, mit Astralischem /(862) letzthin über Farbigkeit; so ging hier das Abenteuer eines Ägyptens aus Nichts auf, ging vergebens auf. Daneben wieder grassierte eine Gotik aus Nichts, mit Strahlen und Strahlenbüscheln ohne Inhalt emporschießend wie haltlose Raketen. Pure Zweckform und anschlußloser Überschwang verhalten sich so dualistisch, aber auch ergänzend, dergestalt, daß der Maschinenstil kältet und entlastet, die Phantasie aber desto heimatloser wird und erst recht verkommt. Während doch in der alten Baukunst gerade die drei von Vitruv angegebenen Prinzipien: die utilitas und die firmitas, die nirgends fehlten, mit der venustas oder Phantasie sich durchdrungen und so im Einzelnen wie Ganzen das Gebilde durchornamentiert haben. Doch im Zerfall kommen auch Zweckform und Phantasie nicht mehr zusammen, selbst dann nicht, wenn letztere, wie bei manchen expressionistischen Malern - als Malern, nicht Architekten -, eine ungeheuerliche, oft bedeutsame war. Anschluß an mehr als das umgebende bürgerliche Nichts oder Halb-Nichts war zwar durchaus gesucht, er wurde meistens halb ingenieurtechnisch, halb ohne rechten Sinn und Verstand einer an die »Gesetze des Weltalls« genannt: doch so interessant die Ausbeute in der Malerei, auch Plastik sein mochte, so fruchtlos blieb ein Taut- und Scheerbart-Wesen in der Baukunst. Eben weil diese weit mehr als die anderen bildenden Künste eine soziale Schöpfung ist und bleibt, kann- sie im spätkapitalistischen Hohlraum überhaupt nicht blühen. Erst die Anfänge einer anderen Gesellschaft ermöglichen wieder echte Architektur, eine aus eigenem Kunstwollen konstruktiv und ornamental zugleich durchdrungene. Der abstrakte Ingenieurstil wird auf keinen Fall qualitativ, trotz der Phrasen, die seine Literaten ihm anhängen, trotz der Schwindelfrische von »Modernität.«, womit polierter Tod wie Morgenglanz verabreicht wird. Die Technik von heute, die selber noch so sehr abstrakte, führt auch als ästhetisch aufgezogene, als künstlerischer Ersatz aus dem Hohlraum nicht heraus; dieser durchdringt vielmehr die sogenannte Ingenieurkunst, so wie diese ihn durch eigene Leere notwendig vermehrt. Das einzig Bedeutsame daran ist die Abfahrtsrichtung dieser Zeiterscheinungen aus sich selbst, eben das Haus als Schiff. Gewiß, weitere Umschlagsmomente bereiten sich auch hier, im selben Maß, wie die blühenden neuen Mensch- und /(863) Naturbeziehungen einer neuen Gesellschaft dazu reif und deutlich sind, sich auch in architektonischen Grundrissen und Ornamenten niederzuschlagen. Voll Erbe, ohne Historismus, erst recht - wie sich jetzt von selbst versteht - ohne die infamen Stilkopien, die knotige Romantik der Gründerzeit. Gegen die Extreme Kiste und Kitsch gilt so schlechthin: Reinigung aller noch erhaltenen, Pflege und Flußbett-Bereitung aller entspringenden
Quellen zum bildnerischen Überfluß. Dem geht die radikale Unterscheidung der Baukunst von der Maschine voran. Und auch das relativ Interessanteste von heute oder gestern: die Glasbau-Utopie braucht Gestalten, die die Durchsichtigkeit verdienen. Braucht Gestaltungen, die den Menschen als Frage behalten und den Kristall als eine erst noch zu vermittelnde, erst noch aufzuschlagende Antwort. Der Baumeister gibt dann seinem Werk vielleicht »das Wasser einer Perle«, doch endlich auch eine verlorene, weniger durchsichtige Chiffer: den bildnerischen Überfluß in nuce - das Ornament. Stadtpläne, Idealstädte und nochmals wirkliche Klarheit: Durchdringung des Kristalls mit Fülle Mit anderen verbunden sehen Häuser nicht mehr reisefertig drein. Der gute Baumeister braucht Gruppen, Plätze, eine Stadt, sie soll das Verschwinden nicht mehr nötig haben, sie soll langfristig geplant sein. Es ist das eine Hoffnung von morgen, und wo der Morgen schon tagt, von heute, doch sie ist so alt wie Baukunst selber, bleibt ihr eingeschrieben und selbstverständlich. Stadtplanung ist daher keineswegs auf neuere Zeit beschränkt, ja obwohl sie in dieser, schon vor dem vorigen Jahrhundert häufig vorkommt, so ist sie darin ebenso eigentümlich durchkreuzt. Denn die bürgerliche Gesellschaft ist zwar um des Profits willen eine kalkulierende, doch wegen der anarchischen Wirtschaft ebenso eine ungeordnete, eine des wirtschaftlichen Zufalls. Daher sind gerade die Industriestädte und die Wohnviertel des vorigen Jahrhunderts, die man der Großmut der Bauspekulation verdankt, Unüberlegtheit und Planlosigkeit schlechthin. Einheitlich ist nur ihre Öde, die Steinschlucht, die trostlose Straßenlinie ins Nichts, der Kitsch ihres eigenenjammer- oder gestohlenen Prot- /(864) zenstils; die übrige Anlage jedoch ist anarchisch wie die Profitmacherei, die zugrunde liegt. Wogegen nun gerade die sogenannten gewachsenen Städte der vorkapitalistischen Zeit auf Grund der noch geregelteren Produktionsweise keineswegs aufs Geratewohl entstanden sind. Deutliche Stadtpläne hat die Antike überliefert, auch aus der Zeit vor Alexander, dem raschen Städtegründer vom Nil bis zum Himalaja. Überlegte Vorsorge zeichnete hier von Anfang an Architekten aus, sogar in verblüffender Nähe zum sozial Konstruktiven. Aristoteles erwähnt so einen Architekten Hippodamos, und zwar in denkwürdiger Duplizität architektonischer und politischer Planung: «Hippodamos, der Sohn des Euryphon, aus Milet, der die Abteilung (diairesis) der Städte erfand und den Piräus durchschnitt, ... war der erste zugleich, der, ohne praktischer Staatsmann zu sein, es unternahm, etwas über die beste Staatsverfassung zu sagen« (Politik II, cap. 8). So alt mithin ist Kontakt von architektonischer mit politischer Planung überhaupt: besagter Hippodamos hatte am Staatsboden ebenfalls eine Diairesis in Zwecke des Kultus, des öffentlichen Nutzens, des Privateigentums geplant und seinen Bebauungsplan fast gesellschaftlich untermauert. Überdies hat die Ausschweifung des Planens nicht gefehlt, die seit je ein Teil des Cäsarenwahnsinns war und die mit dessen Bauwut rechnete, doch eben, es war ein Wahnsinn mit Plan und Methode. Alexander und sein Baumeister Dinokrates träumten davon, das ganze Vorgebirge Athos zu einem besiedelbaren Koloß auszuhauen; in der linken Hand sollte die Bergstatue eine Stadt tragen, in der rechten eine Schale, welche alle Flüsse des Gebirges sammelt und als antiken Niagara ins Meer ergießt. Das ist eine Stadtphantasie, der auch an Überlegtheit, nicht nur an Extravaganz keine konstruktiv-barocke neufeudaler Art an die Seite gestellt werden kann. Stadtpläne, obgleich halb geomantischer, dann astrologischer
Ordnung, lagen vor, als Augustus Rom aus einem ziegelsteinernen in ein marmornes verwandeln ließ, dann, als Konstantin Byzanz zur Residenz umbildete. Und nicht zuletzt ist das Mittelalter, das von der Romantik und ihrer Aufwärmung als so besonders »instinktiv« ausgegebene, an Stadtplanung sui generis reich. Mit genauem Vorbedacht wurde die frühmittelalterliche Siedlung um die Burg zentriert; Kolonialstädte in Südfrank- /(865) reich, Ostdeutschland zeigen sogar eine regelmäßig wiederholte Planung. Es bleibt freilich wahr, bei aller individualistischenZufälligkeit, wie sie dann in der Bau-Anarchie des neunzehnten Jahrhunderts explodierte: erst der kapitalistische Kalkül, diese andere Seite der Warengesellschaft, hat rationelle Stadtutopien besonders zahlreich entstehen lassen. Das in pathetisch-konstruktivem Kontrast zur gleichen Wirtschaftsanarchie, der der Kalkül, als abstraktes Gesetz über Zufällen, selber zugehört. Vor allem vor der Französischen Revolution, als die Masse der kleinen und mittleren Individualwirtschafter noch nicht emanzipiert war, als die Manufakturperiode eine generelle und alles reglementierende Bürokratie setzte, reüssierte die vorweggenommene Anlage, das Schachbrett, der Ring, kurz eine förmliche Stadtmathematik der Planung und Neugründung. So wild sich auch die Kartusche am einzelnen Bauwerk bauschen mochte, so kühn selbst noch die Baugruppe auf kurvenreiche Veduta orientiert war: wie der Grundriß der einzelnen Barockbauten war auch ihre geplante Gruppen-Anlage streng symmetrisch. Hier regierten Versailles-Garten und Descartes, nicht Galli-Bibiena; erst das Rokoko hat diese Symmetrie aufgehoben. Die Schachbrettanlage einer barocken Neugründung wie Mannheim, von dem Goethe, der sonstige Verächter des Barock, in »Hermann und Dorothea« sagen konnte, daß es heiter und freundlich gebaut sei, steht zu dem organisch-exzessiven Stil der Barock-Architektur in einem fast ungleichzeitigen, fast klassizistischen Gegensatz. Es ist dieses die gleiche Spannung wie in den kultivierten Gesprächen der Barockgesellschaft selbst: am interessantesten waren ihr die menschlichen Leidenschaften, und nur eines konnte damit konkurrieren: das Interesse an Mathematik. So gingen auch Festungsingenieure und Schloß- und Kirchen-Baumeister zusammen: viele der bedeutendsten Barock-Architekten, Hildebrandt, Balthasar Neumann, Welsch, Eosander, kamen aus dem militärischen Zweckbau und haben dieses Gebiet, neben ihrer Bauphantasie, weiter verwaltet. Das Barock ertrug auf erstaunliche Weise dies Nebeneinander von Berauschung und bürgerlichem Kalkül, von Gegenreformation und Militärgeometrie; letztere siegte, unter Rückgriff auf Renaissancemuster, vor allem eben in der Stadtplanung. Hier überall findet sich der gleiche Gegensatz, worin auch die im sieb- /(866) zehnten Jahrhundert kulminierende Mechanisierung des Weltbilds zum exzessiv-organischen Barockornament steht. Gewiß, auch die Mathematik dieser Zeit ist eine der Bewegung, der Funktionsbegriff dringt durch, die Fluxions- und Differentialrechnung, die Veduta eines Unendlichen. Aber das Weltbild selbst ist bei Descartes, wie gar bei Spinoza, ein anorganisches, ein grundsätzlich mechanisches; so regiert auch im Bauplan: Barockphilosophie tunlichst kristallene Klarheit, more geometrico. Neben der organischen Überladenheit in Plastik, Architektur, auch Dichtung erhob sich derart die mathematische Fassade: Klarheit, Kristall; ja es läßt sich sagen, neben der »Gotik« des Baubarock stand das »Ägypten« des Denkbarock (am eklatantesten im Spinozismus ) Dieses Kristallwesen verband sich überdies sehr leicht mit allen Ordnungstendenzen, Hispanisierungen im neufeudalen Barock. Das zeigt sich sogar im Unterschied der utopischen Architekturbilder, wie sie in den Staatsromanen der Renaissance und dann des Barock hervortraten. Während die liberale Sozialutopie des Thomas Morus ihren besten Staat mit
Einzelhäusern, Flachbauten, aufgelockerten Gartenstädten ausschmückt, zeigt hundertJahre später Campanellas autoritäre Utopie Wohnblöcke, Hochbauten, ein völlig zentralisiertes Stadtbild. Hier herrscht mit konzentrischen Mauern, kosmischen Mauerfresken, Kreisanlage insgesamt - die mathematische Abzirklung schlechthin, in Konsequenz der sonstigen, sogar astrologisch determinierten Ordnungsutopie. Darüber hinaus aber ist generell Geometrisches seit den Stadtplanungen des Barock das Losungswort jeder bürgerlichen Idealstadt, Kalkülstadt geblieben. Mit Ausnahme eben derjenigen Zeiten, die überhaupt keine Stadtplanung mehr kannten, also der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, wo Stadtplanung durch die individuelle Profitwirtschaft nicht nur durchkreuzt, sondern völlig aufgehoben war. Jedoch bis dahin und dann wieder in der monopolkapitalistischen Periode, bei einer sozusagen dirigierten, einer imperialisierten Wirtschaft, herrscht immer wieder ein an Ägyptisches angrenzender Kult regelmäßiger Anlagen, Baukörper, Stadtbilder. Das schloß zugleich, von einigem gebogenen Straßenluxus in Villenvierteln abgesehen, jede Berührung mit dem gotischen Stadtbild aus, mit der Winkligkeit, tief-behaglichen Fülle der alten deutschen Städte. /(867) Die Gebundenheit, die die kapitalistische Gesellschaft nicht mehr gab, sollte durch Stadtgeometrie ersetzt oder auch neu vorgebildet werden. Diese letztere wurde nun die Utopie der gesamten neueren bürgerlichen Stadtkonstruktion; wie sogleich an einigen ihrer signifikantesten Beispiele auch einzeln ersichtlich werden mag. Sie enthalten insgesamt den Kontrast zur Wirtschaft des Zufalls, und zwar in einer mit deren Anarchie steigenden Weise, aber sie enthalten ebenso steigend die apologetische Zustimmung zu deren Entfremdung und Seelenlosigkeit. Sie enthalten glücklichstenfalls, also im bloßen Programm außerhalb der decouvrierenden Verwirklichung, das Problem eines Stadtkristalls, hinter dem die konkrete Ordnung (die Ordnung wozu) freilich verdrängt oder immer noch versteckt ist. Gesucht also wurde durchaus, dem unordentlichen Leben den Rahmen eines klareren zu setzen. Der früheste Entwurf dieser Art entstand 1505, er stammt von Fra Giocondo: die Traumstadt ist rund, in der Mitte liegt ein Kreisplatz mit Kuppelbauten, von diesem laufen die Straßen strahlig aus. 1593 projektierte Scamozzi, der Erbauer der Prokurazien auf dem Markusplatz, ein regelmäßiges Stadtpolygon mit korrespondierenden Toren, gleichen Hälften und Vierteln (Palma nuova bei Udine wurde hernach so angelegt). Bei Vasari il Giovane, 1598, wird die Città ideale eine Verbindung von Rechteck- und Radialanlage: der Hauptplatz mit Richtungsbau liegt in der Mitte, acht Strahlstraßen laufen von ihm aus, mit Toranlagen als Zielpunkten, weitere Straßen sind im Rechtecknetz geordnet. Piranesi (1720-1778), den man allzu lange nur als Radierer römischer Ruinen geschätzt hat, verwandte den Frühklassizismus, um eine Idealstadt nicht bloß in der Anlage, sondern auch in den Häuserzügen und Schmuckgestalten mit jener Symmetrie zu versehen, die der bürgerlichen Gesellschaft wachsend fehlte. Die sowjetrussische Architektur nahm sogar gewisse Elemente und Stadtbau-Utopien des Piranesi auf ( »penseur dans le domaine de l'architecture nannte ihn der SowjetArchitekt Sidorow), besonders Bogenhallen und Platzanlagen, Turmgliederungen und Höhenproportionen. Der wohl eigentümlichste Entwerfer künftiger Siedlungen, der überhaupt in der Geschichte der utopischen Architektur vorkommt, ist der französische Revolutionsbaumeister Ledoux, /(868) ein erst heute ganz gewürdigter Mann (vgl. Kauffrnann, Von Ledoux bis Corbusier, 1933); er macht den Klassizismus nicht so repräsentativ, wie das Empire es tat, er macht ihn desto vielfältiger. Ledoux (1736-1806) entwarf die Idealstadt Chaux, und zwar vornweg mit Rücksicht auf eine nach Berufen gegliederte Kommune. So wird der Bauverband in kleinere Gruppen
aufgelockert und zugleich zusammengefaßt; es erscheint das moderne Pavillonsystem. Statt Citybildung und endloser Peripherie plant Ledoux überall Grünflächen mit Arbeitszentren und in ihnen eine den Gebrauch ausdrückende, eine «sprechende Architektur«. Die Idealstadt enthält verschiedene, dem Beruf des Bewohners entsprechende Bautypen (Haus des Holzfällers, des Flurwächters, des Kaufmanns und so fort); sie enthält sogar ein »Haus der Leidenschaften «(eine Art Tempel der sexuellen Emanzipation), ein »Haus zum Ruhm der Frauen«, ein »Haus der Eintracht«. Aber mit der Geometrie, Stereometrie dieser Häuser ist der relativen Auflockerung eben wieder die Grenze gesetzt; über der Auflockerung steht die charakteristische Ordnungs-Utopie aller neuzeitlichen Stadtpläne. Die geometrische Allegorik, die Ledoux seinen Bauten angedeihen läßt, weist auf diese Art Ordnungs-Utopie hin, als auf eine geometrisch-führende, ägyptisch-verführende. So herrscht trotz Pavillonsystem eine an Campanellas Stadt gemahnende Militärgeometrie, wobei selbst astrologische Anspielungen nicht fehlen. Der Holzfäller haust unter einem pyramidalen Dach, der Flurwächter in einem die Erde abbildenden Kugelhaus, die «ville naissante« insgesamt ist von einer den Planetenbahnen entsprechenden Ellipse umgeben. Damit taucht auch in der Idealstadt Ledouux' letzthin das Pathos der Gebundenheit auf; und überraschenderweise, vorweggreifenderweise mitten in der Französischen Revolution. Ledoux nannte den Baumeister den »Rivalen Gottes«; das ist ein großartiges Selbstbewußtsein der menschlichen Schöpfung; die Welt aber, die er so prometheisch bilden will, schmiegt sich den Ordnungen eines Kosmos ein, der als fertig, und zwar als geometrisch fertig gesehen wird. Wie Piranesi klassizistische Motive mit der idealen Stadtgeometrie verbunden hat, so Ledoux freimaurerischägyptisierende: ihr Inhalt ist zwar utopischer Kollektivismus, aber er steckt selbst hier im Leib einer kristallinischen, allzu kri- /(869) stallinischen Stadtutopie. Die »Einschwingung in den Kosmos«, die noch bei Taut, ja bei Corbusier den humanen Architekturzweck und seine Ausprägung überwölbte, - dieser säkularisierte Astralmythos, wie er nicht nur in Phrasen, auch in der Idolatrie eines äußerlichen Rahmens gestreift wurde, zeigt demgemäß in den Stadtutopien der gesamten Neuzeit seine Wirksamkeit. Seine im kapitalistischen Kalkül mathematisch, im Kontrastgefühl zur wachsenden Wirtschafts- und Kulturanarchie sentimentalisch begründete Wirksamkeit. Von daher die Lockung zum Kristall als der nächstliegendkontrastierenden Strenge, von daher, neben Kalkulation und Kalkül, die Macht der Geometrie, die wenigstens vom grassierenden menschlichen Durcheinander entblößt zu sein scheint. Hinzu kommt allerdings neuesterdings noch ein besonders verfremdetes Motiv, an sich das einzig originale, auch utopisch bedeutsam wirkende der Ingenieurkunst als Architektur. Vielmehr der Ingenieurkunst, an der die Architektur als wirkliche Kunst eingegangen ist und aus der sie sich an der Schwelle einer konkreteren Gesellschaft wieder erheben muß. Gemeint ist der neue Zusammenhang der alten Kristallisierungs-Utopie mit der Lust zu entorganisieren. Dergleichen hängt genau mit der abstrakten Technik selber zusammen, mit der die neue Architektur so eng verbunden ist, und gibt auch der kristallinischen Stadtutopie Entorganisierung sui generis, eine aus technischen Grenzfeldern wohlbekannte. Der nicht mehr menschenähnlichen Maschine entsprechen so das Haus ohne Aura, das Stadtbild aus bejahter Leblosigkeit und Menschenferne, aus Strahlenbüscheln an sich oder anderen Imitationen projektiver Geometrie. Die funktionalistische Architektur reflektiert und verdoppelt ja ohnehin die eiskalte Automatenwelt der Warengesellschaft, ihrer Entfremdung, ihrer arbeitsgeteilten Menschen, ihrer abstrakten Technik. Ja, wie Technik möglicherweise in Nicht-Euklidisches vordringen
mag, so zeigt Architekturraum, soweit er, besonders eben in Glasgebilden, abstrakte »Kompositionen« weitertreibt, den unverkennbaren Ehrgeiz, einen imaginären Raum im empirischen darzustellen. Der Expressionismus experimentierte damit, durch rotierende oder schwingende Körper Raumfiguren zu erzeugen, die immerhin mit dem perspektivischen Sehraum nichts mehr gemein haben; eine gleichsam /(870) überkubisch seinwollende Abstrakt-Architektur sucht zuweilen ähnlich entlegene, nicht mehr organisch, sogar nicht mehr mesokosmisch erscheinende Ordnungen. Freilich bleibt der Raum dieser Rotationskörper ebenso euklidisch wie jeder andere, und mit der sogenannten aneuklidischen Pangeometrie (vgl. Panofsky, Vorträge der Bibliothek Warburg, 1927, S.330) hat es in der Architektur, auch der symbolischen Andeutung nach, gute Wege. Wichtig bleibt nur: Kristallinisches herrscht in allen Stadtplänen seit der Renaissance vor, einschließlich derer des sonst so organisch-rauschenden Barock, sucht kosmische Anschlüsse, sucht aber auch einige Kühnheiten außerorganischer Entlegenheit, obzwar, wie in der Technik, noch ohne jeden materialen Kontakt, trotz aller »Einschwingung in den Kosmos«. An jenen Stellen freilich, wo der Expressionismus nicht nur, wie so oft, Exzesse purer Subjektivität ins Leere warf, experimentierte er auch mit dem Problem eines objekthaften, dabei dem menschlichen Subjekt tief gemäßen Ausdrucks in hochabstrahierten Werkformen, in einem «Ichkristallwald«. Ausgemachter und legitimer, das heißt mit einer noch aufsteigenden bürgerlichen Gesellschaft verbunden, hat der Manierismus im Barock und gegen es (Correggio, Tintoretto, Greco, aber auch bereits Michelangelo) höchste Subjekthaftigkeit der »Stimmung« und des Ausdruckswerts nicht nur neben härteste Kühnheit statuarischer Modellierung gestellt, sondern sie in diese hineingetrieben. Und heute ergibt sich, wie längst spruchreif, das ungeheure Bauproblem einer »Gotik« im Kristall, dergestalt, als wäre das gesamte Kristallwesen in der Raumkunst, statt letzthin nur in ägyptische Todesklarheit zu führen, malgré lui ein besonders scharf anschießendes Humanum. Als Fazit, besser: als Problem des Fazit bleibt mithin dieses: wie kann menschliche Fülle in Klarheit wieder gebaut werden? Wie läßt sich die Ordnung eines architektonischen Kristalls mit wahrem Baum des Lebens, mit humanem Ornament durchdringen? Synthese zwischen den Bauutopien Ägypten hier, Gotik dort ist unmöglich, sie wäre eine läppisch-epigonale Phantasterei, doch es gibt ein noch nirgends erschienenes originales Drittes über Starre und Überschwang, wie im Sozialbau, so in der Architektur. Macht es doch gerade die Kraft des Marxismus aus, daß er Ordnung zu dem Ende setzt, damit menschliche Fülle Platz /(871) erlange; die in allen früheren abstrakten Sozialutopien alternativisch auftretenden Inhalte: subjekthafte Freiheit (Morus) oder gebaute Ordnung (Campanella) sind im Marxismus - nicht synthetisiert, wohl aber produktiv vermittelt und so zu einem Dritten: dem gebauten Reich der Freiheit selber aufgehoben. Auch den Ordnungen der Natur gegenüber ist Marxismus weit entfernt von subjektlos-undialektischer Abbildlichkeit, also von jeder »Einschwingung in den Kosmos«; die konkrete Tendenz ist vielmehr Humanisierung der Natur. So wird die Raumkunst einer klassenlosen Gesellschaft schwerlich abstrakt-kristallinisch bleiben, aus Kontrast zur Wirtschafts-Anarchie (als welche doch verschwunden ist). Bereits in den alten Stadtplänen, bei Piranesi, bei Ledoux, erscheint zuweilen eine Raumahnung, eine völlig neue, wenngleich klassizistisch verkapselte, die die abstrakte oder menschenleere Kristallform weit hinter sich läßt. Nicht-formalistische Glasplastik und Glasarchitektur reicht ebenfalls zuweilen, wie bemerkt, in unbekannte Bauform, Raumform; diese drängt darin an, seltsame Kurven und Stereometrien drängen darin an, in scheinbar kosmischer, aber der Wahrheit nach
menschlicher Expression. Hier beginnt menschliche Antizipations-Gestalt mitten Im Kristall, vielleicht mittels seiner, doch durch ihn hindurch; sie beginnt mit Extravertiertheit zum Kosmos, doch in Zurückbiegung seiner zum Lineament einer Heimat. Architektur insgesamt ist und bleibt ein Produktionsversuch menschlicher Heimat, - vom gesetzten Wohnzweck bis zur Erscheinung einer schöneren Welt in Proportion und Ornament. Architektur sieht nach Hegels wahrer, nicht bloß. idealistischer Bestimmung ihre Aufgabe darin, die anorganische Natur so zurechtzuarbeiten, daß sie als kunstgemäße Außenwelt dem Geist verwandt wird. Der Geist, soll heißen: das menschliche Subjekt, das selber noch auf der Suche nach dem ist, was ihm verwandt genannt werden kann, dies Wesen baut in verschiedenen Gesellschaften immer andere Winkel, Bögen, Kuppeln, Türme einer zum Menschen hin konzentrierten Erde aus. Die architektonische Utopie ist so der Anfang wie das Ende einer - geographischen Utopie selbst, all dieser Edelsteinsuche auf der Druse Erde, der Träume von einem irdischen Paradies. Die große Architektur wollte insgesamt dastehen wie ein gebautes Arkadien und mehr; und wenn /(872) sie Beweinenswertes, tragische Mysterien mit sich führte, wie in der Gotik, so nur, um es zu dem schwierigen Wohlklang mitzubringen. Riesig der Reichtum, aus wenigen Grundelementen gezogen, riesig die Alternative zwischen einer Säulenhalle in Karnak und Ste. Chapelle in Paris, zwischen unserem Heimatsbild aus Stein hier, aus Sprengwerk und Lichtzufluß dort. Aber Schutzkreis, vorausgebaute Heimat: Das meinen die Grundrisse einer besseren Welt, was ihre Ausführung in Architektur angeht. Hier emergiert die ästhetische Gestalt, als eine umschließende, dergestalt, daß alle anderen bildenden Gestalten in ihr Platz und Einordnung haben: die Malereien an der Wand, die Plastik in der Nische. Das Umschließende gibt Heimat oder berührt sie: sämtliche großen Bauwerke waren sui generis in die Utopie, die Antizipation eines menschadäquaten Raums hineingebaut. Und das so aufgerichtete, zu streng-bedeutender Raumform transponierte Humanum ist als Aufgabe ebenso Hineinwandern von Organischem, Humanem in den Kristall, wie vor allem Durchdrungensein von Kristallhaftem mit darin ausgebautem Auftrieb, Humanum und Fülle. Wenn die Bedingungen zur Ordnung der Freiheit nicht mehr partial sind, wird der Weg endlich wieder offen zur Einheit von physischer Konstruktion und organischem Ornament, zum Geschenk des Ornaments. Er wird zum erstenmal realiter offen, ohne daß Ägypten hier, Gotik dort, das heißt, das damit als Kristall oder Lebensbaum Bezeichnete, immer wieder zu alternieren, zu mischen oder isoliert zu beneiden wäre. Der Kristall ist der Rahmen, ja der Horizont der Ruhe, aber das Ornament des menschlichen Lebensbaums ist der einzig wirkliche Inhalt dieser umschließenden Ruhe und Klarheit. Die bessere Welt, welche der große Baustil ausprägt und antizipierend abbildet, besteht so ganz unmythisch, als reale Aufgabe vivis ex lapidibus, aus den Steinen des Lebens.
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ELDORADO UND EDEN, DIE GEOGRAPHISCHEN UTOPIEN
So wie die Erde ist Muß die Erde nicht bleiben. Sie anzutreiben Forscht, bis ihr wißt. Brecht
Es erscheint dem Menschen so natürlich, mit der Einbildungskraft die Schranken des Raumes zu überschreiten, ein Etwas jenseits des Gesichtskreises zu ahnen, welcher den Meeresspiegel abgrenzt, daß man selbst in jenem Zeitalter, wo die Erde noch als eine ebene oder nur unbedeutend an ihrer Oberfläche konkave Scheibe betrachtet wurde, zu dem Glauben geführt werden konnte, es gebe jenseits des Gürtels, welchen der homerische Ozean bildete, noch eine andere Wohnung für die Menschen, eine andere Ökumene, gleich wie die Lokaloka der indischen Mythen ein Gebirgsring, der jenseits des siebenten Meers liegen soll. A. v. Humboldt Denn der Herr, dein Gott, führt dich in ein gut Land, ein Land, da Bäche und Brunnen und Seen innen sind, die an den Bergen und in den Auen fließen; ein Land, da Weizen, Gerste, Weinstöcke, Feigenbäume und Granatäpfel innen sind; ein Land, da Ölbäume und Honig innen wächst. 5. Mos. 8,7 f. Die ersten Lichter Leicht, sich von einem schlechten Ort weit weg zu wünschen. Aber die Straße aus ihm hinaus ist weniger selbstverständlich, sie muß erst gelegt werden. Das ebene Feld, das nach allen Seiten geht, ist für den rechten Weg ebenso schwierig wie das gebirgige, äußerlich sperrende. Daher das Verirren, einer der bittersten Zustände und ein sonderbarer dazu. Er liegt in der Verlängerung des Wollens, dem das Können fehlt oder noch fehlt, des Keims, der sich nie richtig in die Blume wirft. Der Verirrte steht zwischen dem bleibenden Wunsch und dem nicht bleibenden oder sich nicht zeigenden Weg. Aber die Gefahr, in die das Verirren den Wanderer setzt, die Gefahr des Umkommens, ist auch der Zoll fürs Neue. Er wird überall bezahlt, wo Neues aus dem Dunkel herausgeschlagen wird, der Marsch dahin ist entschiedenes /(874) Nicht-Bett. Die Sicherung wird desto geringer, je mehr die vertraute Merkwelt nachläßt. Aber wie bedeutend dann das erste Licht, wie über jedes bisherige Maß hinaus beruhigend. Die Öde hat nicht verschlungen; vorher nie Gesehenes, das auf dem falschen Weg erschreckt hatte, wird auf dem richtigen, richtig gemachten schlechthin erfreulich. Die Triebe nach Beute und nach Wundern gingen hierbei erstaunlich oft ineinander oder miteinander. Die Erde in der Ferne wird indisch, hinter dem Gewohnten geht sie phantastisch auf. Das Segel befreit vom Festland, die Hochsee wird dadurch befahrbar. Nicht nur erfunden soll werden, auch entdeckt, ein äußerst stoffhaltiger Traum schickt nun dazu aus. Erfinden und Entdecken; Eigenart der geographischen Hoffnung Soll nicht nur erfunden werden, auch entdeckt, welcher Sprung ist dazwischen? Der, daß das eine die Dinge verändert und in sie eingreift, das andere dagegen sie lediglich zu finden und zu zeigen scheint. Das Schiff, das am völlig fremden Strand ankommt, hat diesen durchaus nicht gebildet. Es ist folglich, als wäre die Reihe der eigentlichen Aufbaupläne, der ärztlichen, sozialen, technischen, hier unterbrochen. Der Erfinder kommt geographisch nur als Lügner vor, äußerstenfalls in der liebenswürdigen Gestalt Münchhausens, doch nicht als Macher eines vorher nie Gewesenen. Die Länder, die Münchhausen betritt, hat er auf die Dauer, durch immer
wiederholte Erzählung, vielleicht zu sehen geglaubt; sie selbst haben ihn nicht gesehen. Sie werden nicht besser durch die an sie gesetzten Träume, es ist in ihnen nicht das so Bedenkliche wie Bedenkbare des abstrakten Staatsmärchens. Das Entdecken dagegen scheint überhaupt keinen Traum mehr zu enthalten, es sei denn einen sogleich durch die sogenannten Tatsachen korrigierten; der Entdecker verhält sich aber rein betrachtend. Erfindung ist der Akt, wodurch etwas Neues gemacht wird (Glas, Porzellan, Schießpulver); Entdeckung ist der Akt, wodurch ein Neues aufgefunden wird (Amerika, der Uranus), das nur für das dazukommende Subjekt neu ist. Der Erfinder setzt zwar meist den Entdecker voraus, aber er bleibt nicht wie /(875) dieser, den man auch Forscher nennt, kontemplativ. Daher denn auch das Wort Forscher ebenso auf Afrikadurchquerer oder Nordpolfahrer angewandt worden ist wie auf Theoretiker (Naturforscher, selbst Goetheforscher), denen es obliegt oder obzuliegen scheint, die Dinge zu nehmen, wie sie sind. Das Entdecken scheint also auch methodisch synonym zu sein mit Aufdecken, mit Entfernen der Decke, und unter dieser Decke liegt dann der Befund für die Kartenaufnahme eines angeblich fix Seienden. Ein bemühendes Gegenbeispiel zu dem Erfinder oder homo faber hat zuletzt noch die Phänomenologie à la Scheler geliefert und eben - wegen des rein Hinnehmenden in dieser Phänomenologie - zugunsten des Forschers oder Entdeckers, als des homo contemplativus schlechthin. Hier wird der Unterschied zwischen Erfinder und Entdecker geradezu als einer zwischen modernem und mittelalterlichem »Habitus« angegeben, mehr noch: er wird zu erläutern versucht an einem dem Erfinden oder Entdecken so fernen Vorgang wie dem der Wahl. Wählt der neuzeitliche homo faber einen Abgeordneten oder Präsidenten, so wird er mit den Stimmen der Mehrheit erst dazu gemacht; er wird kreiert, Wählen ist hier Erzeugen. Wurde dagegen der deutsche König von einer Mehrheit der Freien, dann der Kurfürsten gewählt, so wurde er - wenigstens der Fiktion, auch der Ideologie nach nicht kreiert, sondern er wird nur, als ohnehin vorhandener, als »heimlicher König« ,herausgefunden, offenbar gemacht; Wählen ist hier Entdecken. Und so will es auch, mutatis mutandis, der Phänomenologe als Entdecker halten: die wesenhaften Gegenstände werden einzig erschaut und so dem Geist zur Präsenz gebracht; aktiv ist hier lediglich die »Auswahl«,welche Teile, Seiten, Momente der Gesamtgegenständlichkeit jeweils zur Kenntnisnahme pointiert oder nicht. Das ist eine sonderbare, eine ganz und gar reaktionäre, gegen die Veränderung der Welt gerichtete Erkenntnistheorie, aber eine, die den Unterschied zwischen Erfindung und Entdeckung, Auffindung durch ihren Haß gegen alle eingreifenden, neubildenden Akte unterstreicht. Der Entdecker erscheint mithin auf der ganzen Linie inaktiv, er wirkt so kontemplativ wie konservierend, im Gegensatz zum Erfinder. Und eine Härte des Gegensatzes ist zweifellos auch im durchschnittlichen bürgerlichen Bewußtsein vorhanden, sobald es, sage /(876) man, über den Habitus Edison oder aber über den Habitus Nordpolfahrer nachdenkt. Ungeachtet dessen, daß, wie gesagt, der Erfinder meist den Entdecker voraussetzt, ja daß ein Erfinden, das nicht vorhandene Verhältnisse und Gesetze kennt, bevor es sie umlenkt, resultatlos bleibt oder bestenfalls nur durch Zufall zu einem Ziel kommt und dann nicht zum vorgehabten. Ungeachtet der lehrreichen Ambivalenz, die bereits im Sprachgebrauch vorliegt, wenn er nicht bloß einen geographischen Entdecker kennt, also einen von längst Vorhandenem, sondern auch einen des künstlichen Indigo oder des Salvarsan. Ungeachtet auch des Vorhandenen, das als eines der veränderungsfähigen, keinesfalls statischen Welt seinen Entdecker sehr oft daran hindert, ein passives »Weltauge« zu bleiben. Trotzdem wurde ein Unterschied zwischen Erfindung und Entdeckung, ja zwischen dem homo faber als letzthinnigem ,»Weltvernichter« und
dem homo contemplativus als letzthinnigem »Welterschließer« bis zum Riß verabsolutiert. Derart wirkt - um zur typischsten Erscheinung des Entdeckers zurückzukehren - geographische Utopie allerdings auf den ersten Blick, als wäre sie den ärztlichen, sozialen, technischen Utopien nicht homogen. Aber das ist Schein, denn Entdecken will und kann durchaus verändern. Schon die Sucht nach Gewinn, die Neugier nach unbekannter Ferne treiben ins Ungewohnte fort. Es kommt, auch bei gelinder Fahrt, ein Glanz auf und lockt weiter, der keineswegs auf der gewohnten Straße lag oder nur zu besichtigen ist. Alle Valeurs des bisherigen Lebens werden durch Entdeckung mindestens für den Fahrer, sodann für die Gruppe oder das Land, das ihn ausschickt, verändert. Die frühesten Veränderungen zu einem besseren Leben geschahen auch für die Konsumenten nicht bloß durch die Erfindungen zu Hause, sondern durch ihren Austausch auf unglaublich weite Entfernungen, mithin durch entdeckte Straßen zum Weltverkehr. Gehäuse einer Schneckenart, die nur am Mittelmeer vorkommt, finden sich in Höhlengräbern um 8ooo v.Chr. bei Nördlingen; Kaurimuscheln vom Indischen Ozean in Gräbern um 1000 v.Chr. an der deutschen Ostseeküste. Die Hallstatt-Kultur, die im Salzkammergut zwischen 1500 und 500 v. Chr. blühte, hat sich gegen Salz sowohl nordischen Bernstein wie afrikanisches Elfenbein verschafft und beide auf Schmuck- /(877) stücken vereinigt. Der früheste Entdecker war wohl der Händler, mithin kein kontemplativer Typ; phönizische Kaufleute haben sich am weitesten hinausgewagt. Alle Entdeckung enthält als ersten, wenn auch nicht einzigen Antrieb Ausschaltung des verteuernden Zwischenhandels, mithin eigene Auffindung eines direkten Wegs; hinzu kommt Auffindung völlig neuer Ware. Als Kolumbus nach Indien ausfuhr, hatte er sogar ein wirkliches Eden im Sinn. Es überrascht nicht, von hier aus, daß Entdeckungen ebenso kräftig Träume wie Veränderungen mit sich führten. Das Ziel allerdings erscheint als ein an sich bereits Vorhandenes, sein Inhalt: Gold, Silber, Zinn, Bernstein, Elfenbein und so fort, auch sein fabulös Erwartetes, das alles überbietendeWunder der Ferne, muß nur herbeigeholt werden. Aber wirkt nicht auch Gesundheit, der medizinische Zielinhalt, als verschüttet vorhandenes und lediglich wiederherzustellendes Gut? Steht selbst in sozialen Utopien die glückliche Insel nicht fix am Horizont, keineswegs nur als fingiert, sondern (wenigstens in älteren Utopien) als entlegen vorhandenes Glücksland, das jeden Augenblick auch zu Hause entdeckbar ist, sobald nur die Hindernisse weggeräumt sind? Hatten nicht selbst technische Träume ihre als vorhanden geglaubten Kammern des Naturgebäudes, die nur betreten zu werden brauchten? Hatte nicht ein so heftiges Probierwesen wie die Alchymie eine vorhandene, nur versteckte Goldessenz im Sinn, welche aus dem Bleigefängnis nur herausgeführt werden sollte? Hier ist überall eine Art wartende Vorhandenheit intendiert, und sie bestimmt, wie bemerkt, den Typus der älteren Utopie, ohne daß diese dadurch aufhörte, eine zu sein. Auch neuere Utopie arbeitet ja, bei aller Ablehnung eines für sich bereits Realen und so Vorgeordneten, nicht im leeren Raum, sondern durchaus in einem von real Möglichem erfüllten. Gerade konkrete technische Utopie ist, wie bemerkt wurde, nicht parthenogenetisch, sondern will die Natur von Schöpfungen entbinden, die als mögliche in ihrem Schoß stecken. Also steht Entdeckung, auch als geographische, der Erfindung nirgends konträr gegenüber, vertraute utopische Struktur zieht durch beide hindurch. Ja, so wenig sich auch eine bereits fixe und ontologische Setzung von Vollkommenem mit utopischem Bewußtsein verträgt (solche Setzung ist mythologisch, nicht utopisch), so sicher /(878) muß doch in jeder Utopie, wenn sie nicht auf andere, auf abstrakte Weise Schimäre sein will, ein Moment des Entdeckens wirken, eins, das mit objektiv
Entdeckbarem, nicht nur Erzeugbarem vermittelt ist. Das so Entdeckbare ist, in konkreter Utopie, zwar nicht ein verschüttet Vorhandenes oder entlegen Vorhandenes, in dem Sinn, daß es gänzlich an und für sich noch ohne den Menschen, der hinzutritt, bereits Realität und mit sich fertig wäre. Wohl aber betrifft das Entdeckbare in jeder konkreten Utopie ein künftig Vorhandenes: eines der gesetzmäßigen Tendenz, eines des latenten Zielinhalts in objektiv-realer Möglichkeit. Wobei die geographischen Utopien eminent solche der neuen Straße, der neuen Waren und Güter waren, gar eines so extremen Trauminhalts wie der Auffindung-Aufschließung eines Eden. In dieser Beziehung ist sogar jede andere utopische Intention der der geographischen Entdeckungen verpflichtet; denn jede hat im positiv erhofften Zentrum den Topos: Goldland, Glücksland. Jede erlaubt es, eine Einschiffung nach Cythera, eine Expedition nach Eutopia, ein Experiment der neuen Welt genannt zu werden; ganz geographisch, ganz mit dem Willen des Kolumbus-Schiffs. Auch wenn das Entdecken in den geographischen Utopien das Erfinden und Herausbilden überwiegt, jedenfalls weit mehr überwiegt als in den sozialen und technischen, auch architektonischen, als in jenen »Entdeckungsreisen« mithin, wo der Mensch ein Land überhaupt erst aus dem real-möglichen Zustand in den wirklichen führt. Aber nun: wenn die geographischen Utopien einen bescheideneren Anschein, den des Entdeckens von bereits Vorhandenem haben, so hat gerade dies, statt bescheiden zu sein, einen ganz besonders tollkühnen Grund. Er ist der gleiche, der medizinische Utopien, in diesem Punkt, mit geographischen verbindet, das heißt, die Gesundheit als bloß verschüttetes Gut hier mit Eldorado- Eden als bloß versteckt-entlegenem dort. Es ergibt sich zu guter Letzt, daß die angebliche Vorhandenheit dieser beiden Zielinhalte sogar ganz extrem- utopische Intentionen in beiden Gebieten kenntlich macht. Lediglich verlorene Gesundheit finden zu wollen, lediglich versteckte Länder erreichen zu wollen, das sieht nur scheinbar utopisch bescheiden aus. Denn genau hinter dieser Bescheidenheit, hinter der der bloßen weggeräumten Hindernisse oder Entfernungen, arbeitet eine Grund- /(879) utopie, die viel zu phantastisch ist, um sich so offen zu bekunden wie die sozialen oder technischen Utopien. Nämlich! Der Grund des ärztlichen Wunschtraums enthält die Abschaffung des Tods, der Grund des geographischen enthält nichts Geringeres, nämlich die Auffindung magischer Zentralgüter wie des Goldenen Vlieses, ja die Auffindung des irdischen Paradieses. Es sollte noch irgendwo vorhanden sein, Gold und Segen gingen von ihm auf die umgebenden Länder, so wurde die materielle Grundabsicht der Entdeckungsreise sehr oft, sogleich und ganz erstaunlich in größte Höhe gerissen. Auch Unterbau und Überbau sind hier so ununterscheidbar verschränkt, daß man nicht weiß, wo Eldorado aufhört und Eden anfängt oder umgekehrt. Kolumbus jedenfalls glaubte fest, die von ihm entdeckten Inseln seien die der Hesperiden und hinter dem Land an der Orinokomündung sei Eden versteckt. Und dies überbietende Grundziel gab, wenn man es erreicht glaubte, der Welt so völlig andere Valeurs, daß sie aus ihrem alten Status fundamental herausgerissen wurde. Kolumbus spricht sogar vom Neuen Himmel und der Neuen Erde, die durch ihn erreicht seien; Expedition war Sezession, Auszug aus dem Alten ins Neue, nicht nur Erweiterung des Mutterlandes oder stationärer Zuschlag eines Unbekannten zum Bekannten. Außer den ökonomischen Beweggründen und in ihnen, wovon nachher, stand hier ein phantastischer Überbau vom Paradies auf Erden, der seinerseits aktivierte und alles andere als kontemplativ war. Sonst wäre es unmöglich gewesen, daß der Entdecker, besonders Kolumbus, geradezu als Zeuge und Emblem für ars inveniendi eingesetzt werden konnte. Kolumbus ist in alchymistischen Schriften des siebzehnten
Jahrhunderts der Meister, der über die Säulen des Herkules hinausfuhr, zu den goldenen Gärten der Hespenden. Er steht für alchymistische Fahrt, für den Magus, der das Paradies im Fluch der Erden sucht. Noch im achtzehnten Jahrhundert erscheint, mit diesem Aspekt, »das güldene America« auf alchymistischen Titeln, so erfunden wie entdeckt. Und auch ganz außerhalb dieser Phantastereien oder Phantasien gaben die Säulen des Herkules, mit dem Plus ultra, Bacons Gleichnis ab, sie bildeten gerade für sein Buch »Novum Organon« als die, über welche hinausgefahren wurde, das Frontispiz. Item, Entdecken ist selber aktiv-utopisch, es hebt sein Objekt nicht nur /(880) aus unserer Unwissenheit heraus, sondern gegebenenfalls auch aus dem Dämmer seiner eigenen Unvermitteltheit und Unbelichtetheit. Kontemplativ ist der spezifisch geographische Entdecker nur insofern, als er am Endzustand, sobald er ihn gefunden zu haben glaubt, die Aktion aufgibt. An ihre Stelle tritt im Vollzug geographischer Utopien ein Phänomen, das in allen anderen bisher fehlt, nämlich - Ankunft. Als Kolumbus Indien betreten zu haben glaubte und eben auf der Seite, wo es ihm dem irdischen Paradies am nächsten zu liegen schien, schlug die utopisch-aktive Intention sinngemäß um, sie schien am Beginn ihrer Erfüllung. Das hindert nicht, daß bei Antritt der Fahrt und ebenso während ihrer das gewaltigste Fernbild vorschwebte, eines, das so kräftig wie kein anderes in die Aktivität griff. Überall wo Fahrt nach dem irdischen Paradies die erwartungsvollst antreibende Illusion wie Idee abgab, bei Marco Polo wie gar bei Kolumbus: überall dort ist Entdeckung ein zentral utopisch geführtes Unternehmen. Daher auch gaben die Zeitalter der Entdeckung, von Alexander bis Kolumbus, den sozialen Utopien einen solch homogenen Zuschuß; er geht weit über die Fabel der Einkleidung hinaus. Insgesamt also: das Geschäft der menschlichen Hoffnungen besitzt im Horizont der großen Entdeckungsfahrten seinen eigenen; die Erde ist zwar ziemlich bekannt geworden, aber das Eldorado, das Jason wie Kolumbus im Sinn hatten, ist noch nicht gefunden. Wiederum Märchen, Goldenes Vlies und Gral Nicht überraschend, daß auch hier die feurige Eule beträchtlich fliegt. Irre erzählen vom Land, wo der Pfeffer wächst, und wünschen sich fabelhaft hinein. Oft gehen sehr alte Bilder im so beschaffenen Wahn um, sie wirken dann allemal wie aus einer Fremde. Die Umgebung des Irren wird dann nicht nur abergläubisch bewegt, sondern weithin vertragen. Fließendes Wasser wird tollerweise von einer Hand bewegt, die hier nicht wuchs, es gibt da den nordischen Sturmhüpfer, den Hund des Mittags mit unbewegtem Kopf. Aber ein ganz gesunder altbayrischer Volksaberglaube macht selbst das Echo verfremdet und magisch: es galt als eine eigene, sozusagen besonders schlaue Gesteinsart, /(881) die den Schall auffängt und nachahmt. Sie und Verwandtes wirken nun weitab in den Schluchten, täuschend an die Wunder der alten Schiffermärchen erinnernd. Auch diese zeigen Grauen und Lockung zusammen, sie zeigen vor allem Kunde von Schätzen, die nur in der Ferne zu finden sind. Es gibt in diesen Märchen den Vogel Rok, Polypheme und drachengleiche Schlangen, Kraken so groß wie eine Insel, Land- und Meerwunder ohne Zahl. Es gibt aber auch das Tal mit Diamanten, die Sindbad der Seefahrer aufliest, es gibt auf Wak-Wak, der östlichsten Zauberinsel, einen wunderbaren Wald, wo aus großen Blumen übernatürliche Mädchen, mit allen Reizen geschmückt, hervorwachsen. Die Erde hat hier allemal erst in der Ferne ihren Sommer, dort werden die besten Früchte ausgekocht. Das Seemärchen legt den phantastischen Weg zu ihnen und ist selber von allen Märchen das phantastischste; eine ungeheure
Jahrmarktsbude, mit lauter Südsee inwendig. Nirgends hat sich zugleich das Märchen mit geglaubten Berichten so leicht vermischt wie in Fern- und Reisebildern; Geographie ist das Gebiet, wo schlechthin alles für möglich gehalten wurde. Nicht bloß zwischen Sindbad, Odysseus und dem angeblichen Asienfahrer Herzog Ernst besteht darum ein Zusammenhang über Zeit und Raum. Er besteht auch zwischen Odysseus und den Weltmärchen bei großen Geographen wie Plinius und Pomponius Mela, bei Enzyklopädisten wie Isidor von Sevilla oder Beauvais. Eine Fälschung wie Sir John Mandevilles erdichtete Weltreise, um 1355, empfahl ihre Glaubwürdigkeit nicht zuletzt durch eine Anzahl bewährter Fabelgeschichten (besonders über Indien und China), die der Ritter als selbst gesehen und erlebt aufführt. Seit die Welt wenige weiße Flecke mehr zeigt, bleibt dem geographischen Märchen das Unterirdische: die Schatzhöhle, oder das gänzlich Oberirdische: der Weltraum. Das Bekannte bewegt sich dahin: so hat der Knabe Jules Verne geträumt, daß die Insel Teydeau bei Nantes, auf der sein elterliches Haus stand, von den Wogen weggespült worden sei und daß er auf ihr, mit Segeln zwischen den Bäumen, weit weg über alle Ozeane der Welt fahren könne. In den Kolportagen von Kurd Laßwitz, die denen Jules Vernes nachfolgten, kommt die vermißte Fremde sogar interplanetarisch angeschwommen. So in der Kolumbusgeschichte von der anderen Seite: »Auf zwei Planeten« (Marsbewohner landen am Nordpol, heben die Gravitation nach Belieben auf); so in der astrophysischen Mitteilung: «Sternentau. Die Pflanze vom Neptunsmond «. Die Entdeckung der hinterindischen Gewürzinseln hatte auch einmal, obzwar bedeutend gewinnbringender, eine Pflanze im Sinn, die im eigenen Land nicht wuchs, ja alle geographischen Fernträume spielten eben um den Schatz, der im Bekannten fehlt. Wie bemerkt, glaubte man, auch zu Hause sonderbare, hilfreiche Dinge zu finden. Aber nur, weil das eigene Land selber noch nicht geheuer war, es hatte eine Menge weißer Flecke. Dort, in Schluchten oder Bergen, in öden Häusern, gingen nicht nur Tote und anderer Besuch von drüben um, es lagen dort auch die Wunschsäckel und Wunschwürfel, die Brutpfennige und Hecktaler. Eines der liebenswürdigsten Märchen des Musäus (Der Schatzgräber) ist der Springwurzel gewidmet, die alle Schlösser öffnen soll; sie wächst an den unzugänglichsten Stellen im Waldgrund. Aber Wunschsäckel, Springwurzeln in litteris waren die Zauberbücher, auch sie irgendwo versteckt in verschollenen Grüften oder, was hier das gleiche ist, herübergebracht aus orientalischen Klöstern, aus weiter Ferne. Die Vorrede eines der berühmtesten dieser Bücher, des »Liber secretus«, aus dem dreizehnten Jahrhundert, lautet, als habe man mit ihm ein Stück Orient-Faust im eigenen Haus: »Dies ist das Buch, durch das man Gott bei Lebzeiten sehen kann, sowie Hölle und Fegefeuer, ohne eigenen Tod. Dies ist das Buch, durch welches jede Kreatur unterworfen wird, mit Ausnahme der neun Ordnungen der Engel; durch welches alle Weisheit gelehrt wird «(vgl. Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, 1928,II,S.285). In verwandte Reihe gehören die sogenannten Himmelsbriefe, als eine Fiktion, die Tausende von Suchern in Bewegung gesetzt und einige halluzinierende Zufallsfinder vor ihren Gläubigen legitimiert hat. So zuletzt den Stifter der Mormonensekte, den «Entdecker« hermetisch beschriebener Goldplatten aus Kanaan in einem Hügel bei New York. Bereits die Spätantike gab die Zeichen für erprobt wahnhafte Kolonialware: ein Schriftstück fällt vorn Himmel oder kommt als Strandgut an die Küste oder wird in einem vornehmen Sarg gefunden, etwa dem der Kleopatra oder des Cyrus. Typisch ist in solchen Schriftstücken die Warnung, sie Unkundi- /(883) gen und Uneingeweihten in die Hand zu geben, typisch aber auch der Glaube, daß die himmlischen Kräfte, die das
Buch aus phantastischer Ferne gesandt haben, den Würdigsten zu seiner Auffindung leiten. Und das Versteck zu Hause wird so, in seiner chthonisch-unterirdischen Form, das gleiche, was die exotische Entlegenheit und Ferne in uranischer Form sind. Doch freilich, trotz Wunschsäckel und herabfallender oder eingemauerter Himmelsbriefe: die zwei glanzvollsten Wunschgüter, die nun erscheinen: Goldenes Vlies und Gral, wurden einzig in der Exotik gedacht. Sie kommen einzig als diese Fernschätze in Märchen und Sage vor, als die berühmtesten von allen, und ein Teil ihres Ruhms ist eben die schwierig-weite Ausfahrt zu ihnen hin, die Hinberufung zu diesem Ausbund aller dinghaften Wunder. Ja seit dem Argonautenzug, einer Fabel von hohem Alter, wird der Glaube typisch, daß das Beste dieser Art nicht bloß in großer Ferne sei, sondern sein exotischer Wunschtraum-Schatz selber auf weither angezogene Entdecker warte. Das Goldene Vlies hängt in Kolchis, einem entlegenen Ort der griechischen Erde, der christliche Gral verbirgt sich sogar in so enthobenem Irgendwo, daß nur der es findet, den der Gral zu sich führt. Vlies und Gral sind dementsprechend hohe Sonnenzeichen, nicht mehr chthonisch-unterirdische. Das Vlies ist zwar von einem Unterweltswesen, dem Drachen, bewacht, doch es hängt sichtbar unter dem Himmel, an einer Eiche. Der Gral ist zwar stets verhüllt und von dichtestem Tabu umgeben, doch er selber schwebt gleich den Gestirnen frei in der Luft, ein Eldorado als Kelch und darin schäumend, ein Lichtstück katexochen. Auf dies Uranisch-Weite weist auch, zum Unterschied von Wunschsäckel und Springwurzel, von unterirdischer Schatzgräberei und eingemauerten Wundern, die rein astralische Herkunft des Vlies- und des Gralsmythos hin. War doch das Vlies von Haus aus der glänzende Schein, der den Helden umgibt und der ihm Sieg verleiht. Gar der Gral ist im astralmythischen Ursprung, lange vor seiner christlichen Deutung, der Quell und Zauberkessel des Tagscheins selber, also die Sonne. Sie aber muß aus den Wolken geschält und gewonnen werden: Indra im indischen Mythos, Thor im germanischen waren die Helden, die mit der Gewitterlanze den Sonnenkessel eroberten. Danach erst wurde er christlich zur Schale, worin Josef von An- /(884) mathia das Blut des Heilands aufgefangen, diesen anders heißen Trank aus der anderen Sonne; und nicht mehr erobernde Götter, auch nicht, wie beim Vlies, der kriegerische Jason, sondern das stille Sonntagskind Parsifal ist nach der Utopie des Gralskelches unterwegs. Nach der gleichen übrigens, die noch in Hoffmanns Märchen vom goldenen Topf erscheint; und auch dort liegt das Reich, dem der Zauberkessel zugehört und das er ausgießt, weit weg - in Atlantis. So sind schließlich alle Schätze, die auf Reise senden, horizontal in der Ferne, nicht unter den Füßen vertikal im Boden zu Hause. Sie galten zwar als vorhanden, doch zugleich als so entlegen, daß ihnen ebenso die Jungfräulichkeit eines noch nicht Ergriffenen, also eines in ganzer Fülle noch nicht Vorhandenen mythologisch zukam. Das sowohl in Märchen und Sage wie in der Intention der scheinbar so sehr davon verschiedenen Entdeckungsreisen. Auch diese sind Schatzgräberei, wie bekannt, doch von der Eigenart einer horizontalen Schatzgräberei, und von der Eigenart, die schon die ihnen vorherlaufenden Mythen zeigen: eben ein außerordentliches Ineinander von Eldorado und Eden zu sein, gleichsam von Unterbau im Überbau, von Überbau im Unterbau. Nach dem Schatz selber wurde bald in westlicher, bald in östlicher Richtung gegraben, bis die entdeckte Kugelform der Erde es gleichgültig machte, wohin man steuerte, aber: ob die goldenen Äpfel der westlichen Hesperiden oder, wie meist, die Wunder des östlichen Indien lockten, wirksam blieb stets die merkwürdige Einheit von Gold und Vlies, Gold und Gral, Gold und Paradies. Danach steuerten die sagenhaften wie die wirklich ausgeführten Fahrtträume, in der Hoffnung auf Beute und Wunder
zusammen. Phäakeninsel, der schlimme Atlantik, Lage des irdischen Paradieses Wobei auffällt, daß die Angst dem Glück hier besonders benachbart ist. Die Griechen legten ihre ausgefabelt sorglosen Orte fast alle neben ebenso schreckliche. Vor duftenden Hainen lauern Ungeheuer, um die phäakische Insel und die der Seligen ist gefährliches Wasser. Besonders um letztere: Jenseits der Säulen des Herakles liegt das berüchtigte »mare coagulatum«, das geron- /(885) nene Meer. Kräftig haben die schlauen Phönizier den Atlantikschreck benutzt, damit fremde Kaufleute von der Fahrt nach den englischen Zinninseln abgehalten würden. Sie selber haben sich ans geronnene Meer, auch an eine behauptete ewige Windstille bekanntlich nicht gekehrt, doch wirkte die Sage vom unbefahrbaren westlichen Ozean jahrhunderte-, ja jahrtausendelang weiter. Sie trat zu den anderen ungewöhnlich finsteren Meersagen Griechenlands, zu den Sirenen, der schlingenden Echidna, der heulenden Skylla, und übertraf diese immerhin lokalisierten Seeungeheuer durch Unbestimmtheit und Unsichtbarkeit. Die schlauen Phönizier haben das Westgrauen überdies nur ausgenutzt, nicht neu erfunden; bloße Geschäftslügen aus Tyrus wären nicht so lange glaubhaft geblieben. Vielmehr griff die punische List auf einen sehr alten astralischen Archetyp zurück und trug sich darauf auf: Im Westen, wo die Sonne untergeht, wohnt der Tod. Dort ist die Unterwelt, ist das heidnische Golgatha, endet der Sonnengott; der babylonische Mythos spricht vom Westen als vom »Nachtmeergefängnis der Sonne«. Noch nach einer syrischen Version der Heraklessage starb Herakles an eben der Stelle, wo er seine zwei Säulen errichtet hatte. Dergleichen eben lebte auch bei erloschenen Mythen weiter, verkleidete sich gegebenenfalls naturwissenschaftlich, stärkte sich mit wirklichen Beobachtungen, mit weit übertriebenen. Tatsächlich lagen westlich der Azoren Tangwiesen, Kolumbus hat sie bemerkt, für Platon, Aristoteles und Theophrast aber wurde der ganze Atlantik ein Schlamm-Meer, darüber liegt ewige Nacht. Furcht vor einem Riesenstrudel kam hinzu, der draußen irgendwo im Ozean seinen Schlund haben sollte und der die den Griechen und Römern unheimliche Ebbe und Flut hervorzurufen schien. So zäh war die Legende des Schlamm- und Dunkelmeers, daß sie noch die Araber und ihr Handelskapital, auf fast unbegreifliche Weise, von der Beschiffung des Atlantik abgehalten hat. Griechen und Römer waren keine großen Seefahrer, wohl aber die Araber; Meeresschrecken hielten sie sonst nicht ab, dienten vielmehr, wie das Sindbadmärchen zeigt, als Würze des Muts, des Erfolgs, der Erinnerung. Die gleichen Araber jedoch, die den Indischen Ozean, die pazifischen Randmeere weit über Küstenfahrten hinaus kennenlernen, ja bis zu den Philippinen vordrangen, haben sich /(886) nicht einmal bis zu den Azoren, Madeira, den Kanarischen Inseln (die alle erst von den Portugiesen entdeckt oder wiederentdeckt wurden) auf den Atlantischen Ozean hinausgewagt; trotz des Besitzes seiner spanischen und marokkanischen Küste. Der große arabische Geograph Edrisi zeichnete um 1 150 auf Silber eine Weltkarte; der Niger ist ihm bekannt und die Insel Borneo, doch an der westafrikanischen Küste geht seine Kenntnis aus angegebenen Gründen nicht über Südmarokko hinaus. Und Edrisi zerstreut nicht etwa die griechischen Fabeln, sondern fügt ihnen neue hinzu: das Wasser des Atlantik atme verpestenden Gestank, es gebe dort eine Unmenge unsichtbarer Riffe, auch dämonischer Inseln. Einer davon, mit Namen Satanaxoi, wurde nachgesagt, hier greife täglich eine Riesenfaust aus der Tiefe des Ozeans und reiße die Schiffe hinab; das gehört für Edrisi zur Geographie der Hölle, dicht
neben den Inseln der Seligen, die doch ebenfalls im Westmeer liegen sollten, und trotz ihrer. Nicht zuletzt haben die Araber durch eine eigene, sehr eigentümliche Fabel vor dem Plus ultra im Westen gewarnt: durch die alte Fabel der Bildsäule. Eine geheimnisvolle Statue stehe auf einer Insel des Atlantik, halte den rechten Arm warnend erhoben, am Sockel stehe geschrieben: »Hinter mir gibt es keine Länder mehr, in die man eindringen kann.« Ibn Khordadbeh, Geograph und Generalpostmeister des Kalifenreichs in Bagdad, berichtet zuerst von dieser Inschrift, im neunten Jahrhundert; Edrisi kanonisierte die Fabel, nach ihm gibt es sogar sechs solcher Bildsäulen, und alle zeigen warnend auf den öden Raum jenseits ihrer. Die Fabel selbst mag von den ausgeschmückten, dieses Falls ausgemeißelten Säulen des Herakles herstammen, die Pindar erwähnt, in der dritten nemeischen Ode, ja dort bereits mit der Inschrift: Non plus ultra. Auch ist die merkwürdige Grenzskulptur, ganz wider den Brauch, sogar in den Indischen Ozean übertragen worden (vgl. den Bronzereiter in dem Tausendundeine-Nacht-Märchen vom Magnetberg),bezeichnet dort freilich nur die geographische Ostgrenze der Welt, ohne Tabu dahinter. So ist und bleibt der hauptsächliche Stand des Bronzereiters im Atlantik, nur dort wurde der ausgestreckte Arm als Warnung gedeutet, nicht etwa als Aufforderung oder Wegweiser. Ja obwohl auch nach Edrisi die Gärten der Hesperiden im gleichen Dunkelmeer liegen, machte /(887) das die Finsternis nicht interessanter oder dialektisch. Und die Fabel vom atlantischen Gefahrmeer hat sich bis Kolumbus gehalten, sie war einer der stärksten Einwände gegen den westlichen Seeweg ins Wunderland Indien; denn es schien undenkbar, daß vor die Wunder solche Ungnade gelegt sei. EineVerbindung zwischen dem Tabu der Abschreckung und den Inseln der Seligen fehlt auch bei den Griechen, so sehr sie dialektisch elementar ist, und so häufig - um nicht zu sagen: so wesentlich - sie gerade bei paradiesischen Gegenständen hergestellt wurde. Unberührt ruht Scheria, Homers Phäakeninsel, im selben Meer, wo die Skylla heult; unreflektiert blieb, daß die gleichen Säulen des Herkules, auf denen das Non plus ultra steht, in den ältesten griechischen Zeiten Säulen des Saturn hießen, also nach dem Gott des Goldenen Zeitalters benannt waren. So wurde das Westgrauen durch die irdischen Paradiese innerhalb seiner nicht erleuchtet, und das Tabu der Bildsäule reizte keinen Araber, es zu brechen. Vergebens lagen das schwarzeTotenschiff der Phäaken und der Glanz Scherias ineinander: »Wahrlich ein Licht ging aus, wie Sonnen- oder wie Mondschein / Durch des erhabenen Herrn, Alkinoos, hohe Behausung« (Od.VII, 84 f.) Vergebens enthielt sogar der Astralmythos der sterbenden Sonne, von dem das Westgrauen letzthin herkam, außer der Finsternis sein eigenes Hesperidenlicht: Gilgamesch, Herakles eilen mit der Sonne jenseits ihres Untergangs, um sich dort, wo die Sonne neu aufersteht, Unsterblichkeit zu holen. Aber solcher Zusammenhang zwischen Schlamm-Meer und Hesperideninsel wurde erst in der christlichen Welt fruchtbar. Denn: nur die christlich-geographische Legende und Utopie glaubte vom irdischen Paradies zu wissen, warum es als unbetretbar gehalten ist, und die Unbetretbarkeit wurde geographisch betont. Eine Funktion erscheint nun: Eden liegt hinter einem Gürtel von Schreck, der Gürtel voll Schreck liegt um Eden. Anders folglich als bei Arabern wurde so von christlichen Kirchenvätern das Atlantikgrauen gedeutet: es hing mit dem Schwert des Cherubs zusammen. Und dieser verhinderte zwar das Betreten Edens, doch nicht die Annäherung daran. Klemens von Alexandria (StromataV) verband als erster Tangmassen und Finsternis mit der verbotenen Einfahrt ins irdische Paradies (auf der südlichen Erdseite gedacht). Die meisten anderen Kirchenväter /(888) nahmen das auf; so erst kam ins Dunkelmeer dialektische Beziehung, es kam vor allem ein
Reiz, der Sperre und Bildsäule brach. Vieles andere vereinte sich dazu, daß der Traum des reichen verlorenen Lands zustande kam. Des Lands unter glücklicher Breite, auf das Sage und Hoffnung gemeinsam hinweisen. Von ihm wird nicht bloß ein Goldenes Vlies geholt und der Rest bleibt als gleichgültig, als barbarischer Strand zurück. Eine ganze glückliche Insel oder ein Glücksland in absoluto ist vielmehr das Ziel, ohne ungewollten Rest. In einem dieser utopischen Berichte hat sich das sonst so ferne Weinland oder Milch- und Honigland sogar erstaunlich nahe niedergeschlagen: im Bericht Kanaan. Das Gelobte Land steht hier da als geographisch durchaus bestimmt und präsent, es wartet hinter der Wüste in zugesicherter, wenn auch unerforschter Pracht. Und es wirkt, nachdem die Kundschafter die Traube überbracht hatten, wie ein zweites irdisches Paradies nach dem verlorenen ersten. Ja für die damaligen Kinder Israel als das erste selbst: denn der ausgeführte Mythos vom Garten Eden, am Anfang der Geschichte, kam zu ihnen überhaupt erst in Kanaan selbst, aus babylonischer Quelle. So erscheint Kanaan greifbar auf der Erde, nicht oder noch nicht als der Garten Eden, doch als die Stelle, wo man dem Himmel näher ist als sonst. Und dort hat sich auch eine Beziehung ausgebildet, die zum Glücksreich hinzukam: die Beziehung von Eden, dem geographischen Wunschtraum des Glücks, zu einer Wunschzeit, in der es erreicht wird. Das war die messianische Beziehung: erst am Ende der Geschichte erscheint Kanaan ganz, mit dem Berg Zion in der Mitte; die Zeit selbst ist das mögliche Schiff zum wiedergewonnenen Paradies. Gewiß, am Anfang war bereits Glück, bei den Griechen als Goldenes Zeitalter, in der Bibel als sündloser Urstand in Eden. Aber beide sind verloren, kommen also einzig aus der Zukunft wieder entgegen, vor allem eben im Geist des Messianismus, welcher bei den Griechen fehlt, bei den Römern nur eine Episode ist (so in der Weissagung des göttlichen Kinds bei Vergil), in der Bibel jedoch volle Gewalt über die Zeit erhält. Und diese biblische Wunschzeit mündet in den Wunschtraum absoluter Art: am Ende der Tage ist das irdische Paradies wieder offen. Es erscheint wieder und wird betretbar, indem das himmlische Jerusalem auf die Erde fährt (0ff. Joh. 21, 2), /(889) doch aber erst am Ende der Zeiten. Unterdessen ist freilich das erste Paradies, der eigentliche Garten Eden, völlig auf Erden erhalten geblieben, und ist der Eintritt verboten, so sind die Suche nach seiner Lage, der Aufenthalt in seiner äußeren Umgebung erlaubt und christlich. Dieser Glaube: daß das irdische Paradies noch irgendwo existiere, daß seine Umgegend und Nachbarschaft ohne Verletzung des göttlichen Gebots betretbar seien, war den mittelalterlichen Expeditionen stets gegenwärtig. Und als Leitfaden galt die Genesis selbst, indem sie Flüsse nennt, die nicht etwa im Paradies kreisen, sondern aus ihm in benannte Teile der übrigen Erde austreten. Es sind der Pison, der Gihon, der um Äthiopien fließt, der Hidekel, der fließt vor Assyrien, dann der Euphrat (I. Mos. 2, 11-14) alle dieseWasser mußten für die legendär-utopische Geographie des Mittelalters noch irgendwo Paradiesessegen mit sich führen und ihn über die gefallene Schöpfung verbreiten. Auch sonst wurde Eden im Archetyp eines Zaubergartens gesehen, der über seine Grenzen unstörbar hinüberduftet und leuchtet. Der Alexander des französischen und deutschen Alexanderromans stand in Indien vor der Mauer dieses Gartens, verspürte seine Wohlgerüche, gewahrte durch flüchtige Öffnungen seinen Glanz, strebte vergebens, Eden zu erobern. Die Wirkung dieser Romane (ausgehend von der imaginären Alexanderbiographie des Pseudo-Kallisthenes um 200 n.Chr.) kann nicht groß genug gedacht werden; Alexander, Indien, Paradies, diese drei Riesenbegriffe stützten einander fest. Auch die mittelalterlichen Enzyklopädien: das »Speculum naturale, doctrinale, historiale«
des Vincent de Beauvais, die »Imago mundi « des Pierre d'Ailly, die Kolumbus entscheidend beeinflußt haben, all diese Bücher hielten die Überzeugung wach, auf der Erde sei noch eine Enklave ungefallener Natur. Die Kirche hatte die Lagebestimmung dieser Enklave freigestellt, ebenso die Träumereien oder Spekulationen über ihren Inhalt. Durchgehends galt nur als ausgemacht, das irdische Paradies liege im Osten, gemäß 1. Mos. 2, 8: »Und Gott pflanzte einen Garten in Eden gegen Morgen.« Sogar der erste Satz der Bibel: »Im Anfang (bereschith) schuf Gott Himmel und Erde«, wurde als Zeugnis der paradiesischen Ostlage verwandt; denn das Wort »bereschith sollte nicht bloß »im Anfang«, sondern auch »im Aufgang« /(890) bedeuten können. Ob dieser Osten auf dem nördlichen oder südlichen Erdkreis zu suchen sei, darüber ging die Spekulation auseinander; fest stand in beiden Fällen nur ein Bezug zu Kanaan, zu dem Fixierungspunkt Jerusalem. Und dieser biblisch gegebene Beziehungspunkt verrückte sogar die antike Tradition, der ihre Inseln der Seligen doch im Atlantik lagen; vielmehr: die Westtradition, samt dem dialektischen Atlantikschreck, wurde mit einem Ost-Jerusalem vermischt, besonders nach Entdeckung der Kugelgestalt der Erde, und so unter die Ost-Utopie gebeugt. Die berühmte mappa mundi in der Kathedrale von Herford, Ende des dreizehnten Jahrhunderts gemalt, zeigt das irdische Paradies auf dem Meridian von Jerusalem; Dante, der eine Kugelgestalt der Erde annahm, verlegte es gar zu den Antipoden von Jerusalem, in die Südsee. Antike Spekulationen über eine große Gegenerde im Süden kamen dem entgegen; Aristoteles hatte sie gelehrt (Metereolog. II, 5), der römische Geograph Pomponius Mela sprach von einem alter orbis hinter dem Ozean, der Norden und Süden trennt, Cicero (Somnium Scipionis,cap. 6) zählt ebenfalls zwei bewohnbare Erdgürtel (cinguli ),von denen der noch unbekannte südliche Wunder ohne Zahl bergen mochte. Für Aristoteles (wie auch für Edrisi) war der Südteil der Erde, obwohl er aus Festland bestand, allerdings unbewohnt, während Albertus Magnus, genau wie Cicero, einen durchaus bevölkerten großen Südkontinent setzt. Dante selber jedoch, der in der »Divina Commedia« mit der hinreißend arkadischen Beschreibung des irdischen Paradieses die Sehnsucht danach wie kein anderer Dichter wachgehalten hatte, über jeden Alexanderroman hinaus, Dante nahm, trotz der Antipoden von Jerusalem, unter dem Äquator eine »terra inhabitabilis« an, den »mondo senza gente». Und indem er das irdische Paradies auf die Spitze des Monte Purgatorio verlegte, war die genaue Ortsbestimmung (bei den Antipoden Jerusalems) auch für jene Expeditionen wertlos geworden, die nur die Umländer des » nobilissimi loci totius terrae « zu erreichen trachteten. Denn auf der Südhemisphäre ist bei Dante außer dem Fegefeuerberg kein Land, nur Wasser; das Land hat sich aus Furcht vor Luzifer, der hier vom Himmel fiel, im Meeresgrund versteckt (Inf. 34, v. i 22f.). Sodann lehrt die »Divina Commedia» (deren Angaben nach der Intention des Dichters ebenso Wahr- /(891) heit wie Schönheit sein wollten), daß auch die Umgebung des irdischen Pardieses tabu geworden ist. Sie ist nur für Tote erreichbar, nicht für Lebende, ja, wie die einzigartige Odysseus Episode zeigt (Inf. 26, v. 136ff.), nur für solche, die nicht zur Hölle, auch nicht zum Himmel bestimmt sind, sondern genau zum Fegefeuer; anderen Toten ist der Berg unbetretbar. Und das irdische Paradies selber (Purg. 28 ),auf der Spitze des Fegefeuerbergs, ist für Dante, der fast überall Thomas folgt, auch für die Seelen Abgeschiedener kein Wohnort; es ist lediglich ein Durchgang. Das irdische Paradies gehört bei Thomas von Aquin zum »status viatoris«, nicht zum »status recipientis pro meritis«, ist also kein Aufenthaltsort, zählt nicht zu den »receptacula salutis«. Demungeachtet jedoch ist es bei Dante nach Analogie der Insel der Seligen beschrieben, ein ewiger Morgen
im Südwald, und auf der Erde gelegen, als das Subtropicum irdischer Glückseligkeit. So geschah es, daß die Gewalt der Dichtung die »terra inhabitabilis« ihrer Theorie doch aufs humanste bevölkerte: Wie oft mochte Kolumbus, bevor er sich auf die Fahrt nach dem Eldorado-Eden machte, die Danteverse dieses Morgenglanzes mit seiner imago mundi verbunden haben. Und Dantes theoretische Restriktion des irdischen Paradieses auf die Spitze eines allen Lebenden unzugänglichen Bergs hob den allgemeinen Glauben an eine Kontinentlage des irdischen Paradieses nicht auf, auch nicht die Hoffnung, daß Lebende seine Umgebung erreichen können. Die Alexandersage wirkte in diesem Punkt dennoch stärker, und sie wies nicht auf eine postmortale Insel, sondern auf einen belebten Kontinent im Südmeer. Sie wies nach Indien, sie wies auf den Landweg, später auf den Seeweg zum irdischen Paradies in Asien. Daher gab es keinen Hauptfluß Asiens, der nicht mit einem der biblischen Paradiesströme zusammengebracht worden wäre; so der Ganges, so, bei Marco Polo, der Oxus. Der Landweg wie der Seeweg ins irdische Paradies waren derart hauptsächlich nach Indien orientiert, ins tropisch-geheimnisvolle Land, voller Wunder des Andersseins im Vergleich mit der europäisch-vorderasiatischen Welt. Die Antike und noch die Kirchenväter hatten ihre glückseligen Inseln wesentlich im Atlantik, das Mittelalter schlug auch sie wesentlich Indien zu oder ließ Indien, den geographischen Utopieraum par excellence, sich /(892) ausdehnen bis zu ihnen hin. Wobei zuletzt die Westfahrt selber, auf Grund der Kugelgestalt der Erde, der Südostlage nicht widersprach: ex oriente lux, das irdische Paradies wurde im christlichen Mittelalter, durch alle Tangmeere hindurch, mittels Indiens erläutert. Meerfahrt St. Brendans, Reich des Priesterkönigs Johannes; amerikanisches, asiatisches Paradies Es blieb auch dann dort, wenn das Schiff westwärts hielt. Wie das bei irischen und normannischen Seefahrern naheliegend war; kein Ostmeer lag ihnen vor der Tür. Überdies wirkte die Insel der Seligen nach, die schlechthin atlantische, noch nicht indische. Dennoch liegt sie für die mittelalterliche Sage unter indischem Licht, das griechische allein war nicht geheimnisvoll genug. Der Widerspruch zwischen der griechischen Überlieferung, die das selige Land westlich legte, und der biblischen, die es östlich suchte, brach zwar, bei allen Schwankungen, in dieser Frühzeit noch nicht aus, aber die noch so atlantische Insel der Seligen sah hier bereits ebenso morgenländisch drein. Eine der lebhaftesten mittelalterlichen Seesagen steuert ausschließlich auf diese Insel hin: die Meerfahrt St. Brendans. Der Fahrer selbst, St. Brendan, ist geschichtlich belegt, war Abt eines irischen Klosters, lebte im sechsten Jahrhundert. Es war das die Zeit der See-Eremiten, das ist: der Mönche, die auf einsame Inseln flohen (wie die ägyptischen Mönche in die Wüste),um dort der Beschauung zu leben. Die Färöer und Shetlandinseln wurden so entdeckt, auch Brendans legendärer Seefahrt mögen einige wirkliche Erfahrungen zugrunde liegen. Doch weit üppiger spielt in ihr und ihrer Legende utopische Sehnsucht nach dem goldenen Irgendwo einer nicht in den Sündenfall hineingerissenen Enklave Glück. Die Legende von der Navigatio St. Brendani stammt in der vorliegenden Fassung aus dem elften Jahrhundert, ist aber viel älter, wurde damals aus einem Sermon des neunten Jahrhunderts überarbeitet, fand auch weiterhin viele Versionen, wurde fast in alle europäischen Sprachen übersetzt, hielt das Bewußtsein einer paradiesischen Insel jahrhundertelang wach (vgl. Babcock, Legendary Islands of the Atlantic, 1922, p. 34ff.). Der Inhalt ist reli- /(893) giös-aventiurenhaft; Brendan hört in der Nacht die Stimme eines Engels: Gott hat dir gegeben, was du suchst, sogar das Land der
Verheißung. Er bemannt ein Boot, segelt fünfzehn Tage westwärts von Irland, findet einen Palast mit reicher Speise und unsichtbarer Bewirtung, segelt sieben Monate weiter in nicht angegebener Richtung, findet eine Insel mit zahllosen Schafherden. Als die Mannschaft ein Schaf ans Feuer setzen will, versinkt die Insel; sie war der Rücken eines ungeheuren Wals, das Feuer hatte dessen Ruhezeit unterbrochen. Nach einer Fülle neuer Abenteuer, reich an giftigen Fischen und feuerspeiendenSeeschlangen, an teuflischen Vögeln und selbst an Eingängen zur Hölle, gelangt Brendan weit draußen im Atlantik zu einem alten Insel-Eremiten, der den Weg zum Eiland der Verheißung weiß. Hier taucht auch ein Vorgänger Brendans auf, Meruoc, der die Fahrt der Verheißung schon früher unternommen hatte; er versteckte sich so tief, daß er »in der ersten Heimat Adams und Evas« leben kann, also trotz Fluch im irdischen Paradies. Ein weiteres Zeichen des sich annähernden Paradieses ist die Insula uvarum, die Wein- und Bacchus-Insel, auf der die Seefahrer vierzig Tage zubringen, um zuletzt noch ihr Schiff mit Trauben zu befrachten. Brendan erreicht die ihm verheißene Insel, Heilige leben dort, die ihn erwarten, einen geheimnisvollen Riesen erweckt er in der Höhle vom Schlaf: Das irdische Paradies, hinter dem Dunkelmeer des Atlantik, ist eröffnet. Nach sieben Jahren kehren Brendan und seine Mannschaft von Mönchen über die Orkaden zurück, bringen den Bericht über das »Gelobte Land der Heiligen», dieses Weinstock-Indien im Westen oder durch den Westen hindurch. Soweit das berühmteste Seemärchen des christlichen Mittelalters und eines, das in seinem Resultat durchaus jahrhundertelang geglaubt wurde. Die meisten Hansastädte pflegten St. Brendans Verehrung, von 1476 bis 1523 wurde die Legende der fortunatae insulae Brantani und ihrer Auffindung dreizehnmal in Deutschland gedruckt, ein amerikanischer Forscher, C. Selmer, hat sogar den Namen Brandenburg mit St. Brendans-Kulten in Verbindung gesetzt. Das utopische Eiland ist auf den meisten mittelalterlichen Karten verzeichnet, es erscheint noch 1569 auf der Mercator-Karte, ja die Insel wurde im sechzehnten Jahrhundert von der portugiesischen Regierung ganz ernsthaft an Luis /(894) Perdigon, einen Abenteurer, abgetreten, der sich ebenso ernsthaft zu ihrer Eroberung anschickte. Und noch 1721 ging eine Expedition vom spanischen Santa Cruz in Teneriffa ab, die Ila de San Borondon zu finden. Eigentümlich ist und bleibt die Verflechtung dieser Sage mit Überlieferungen aus einem nichtchristlichen Utopie-Kreis, weit außerhalb der Insel der Seligen. Daß sich Entlehnungen aus der gleichzeitigen arabischenVolksliteratur finden, überrascht zwar nicht; der Wal, der untertaucht, als auf seinem Rücken Feuer entzündet wird, kommt im Sindbad-Märchen als Krake vor. Wohl aber gehörte die ganze klassische Gelehrsamkeit irischer Klöster dazu, antike Meersagen zu rezipieren, wie sie einzig bei Plutarch gesammelt sind. Es sind die Sagen über die Insel der Seligen als der Saturn-Insel (Kronos-Insel) im »Kronischen Meer« um Britannien; diese Sagen hat Plutarch sowohl in seiner Abhandlung »Über das Gesicht im Mond« wie in seinem Gespräch »Über den Niedergang der Orakel« erinnert. Bereits wurde erwähnt, daß die Säulen des Herakles ehemals Säulen des Saturn, also Kronos, genannt waren; Plutarch beschreibt nun, im Zusammenhang mit Saturn und seinem Goldenen Zeitalter, heilige Inseln in der Nähe Britanniens, auf denen die Seelen der Helden wohnen, und vorzüglich eine, »wo milde Luft herrscht und Kronos-Saturn, eingeschlossen in einer tiefen Höhle, unter der Obhut des Briareos schlummert» (Briareos, ein mächtiger hunderthändiger Meergott, war gleich Kronos ein Sohn des Uranos). Der schlafende Saturn nun erscheint in der Meerfahrt St. Brendans als erwähnter Riese wieder, den der Heilige in der Höhle aufweckt, und die »Wunder des Kronischen
Meers» reflektierten sich ohnehin in der Goldenen-ZeitalterInsel. Freilich war das Britannische Meer als Lage der Paradiesinsel auf die Dauer nicht zu halten, wärmere Himmelsrichtungen, leichter befahrbare, trugen den Sieg davon. So rückte St. Brendans Eiland seit dem vierzehnten Jahrhundert immer weiter nach Süden, den Kanarischen Inseln zu. Martin Behaim verlegt auf seiner berühmten, 1492 gezeichneten Erdkugel die Insel dermaßen nach Südwest, daß sie fast auf der Breite des Kap Verde zu liegen kommt: »Dies ist die Insel», sagt er, »an der der heilige Brendan im Jahre 565 gelandet ist, und die er voll wunderbarer Dinge gefunden.« Alexander vom Humboldt bemerkt hierzu /(895) mit kühler Genauigkeit (Kritische Untersuchungen, 1852, I, S. 410), daß diese dauernde Auswechslung der Lage einer solch unauffindlichen Insel mit den Fortschritten in der Schiffahrtskunde zusammenhing, welche der Handel des Mittelmeers machte. Zugleich allerdings trat das Tabu hinzu, das dem verlorenen Paradies eignet und das seine Betretbarkeit in St. Brendans Legende selber nur dem Heiligen möglich macht: St. Brendans Eiland wurde so nicht bloß eine kartographisch wandernde, sondern eine an sich selbst unbestimmbare Insel, als welche jedesmal nur in der Ferne erblickt wird. Zum Teil wurde dieser Glaube durch eine Beobachtung auf den Kanarischen Inseln unterstützt: man bildete sich dort ein, von Zeit zu Zeit gegen Südwesten am Meerhorizont ein bergiges Land zu sehen - ohne daß es je erreicht worden wäre. Wie Humboldt angibt, hat Viera, der Geschichtsschreiber der Kanarischen Inseln, weitläufige Einzelheiten über sämtliche Versuche mitgeteilt, die von 1487 bis 1759 angestellt worden sind, um an der eingebildeten Insel zu landen. Auch weiter im Norden, an verschiedenen Stellen, auch auf den Azoren wurde das Trugbild erblickt; Kolumbus kannte die Berichte darüber, fast vierzig Jahre vor seiner Reise, wie er in seinem Tagebuch 1492 angibt. Vom Augenblick der ersten Beobachtung an wurde die Erscheinung auf St. Brendans Eiland gedeutet; die Unerreichbarkeit vernichtete den Glauben nicht, sondern schien ihn eben zu bestätigen. Wobei hierzu, in ausgeführterer Weise, ein Gegenstück in China vorliegt; zum Beweis, daß die verschwindende Insel der Seligen, dies nur dem Würdigen vorbehaltene Glücksland oder Gralsland, wenn keine Wanderfabel, so einen über Zeit und Raum verbreiteten Archetypus darstellt. Die chinesische Geographie moralisée kennt glückselige Inseln im Golf Pe-chi-li: sieht man sie von fern, so gleichen sie Wolken; kommt man ihnen nahe, so wird das Schiff vom Winde weggetrieben; erreicht man sie dennoch, so versinken sie im Meer; die Schiffer aber, nicht zur Landung berufen, kehren siech zurück. So tiefsinnig wurde die vermeintliche St. Brendaninsel im fünfzehnten Jahrhundert nicht mehr angesehen, doch das Fernbild blieb ihr eigen, auch das Märchen von einem Immer wieder über den Horizont tretenden Zauberland. Das Märchen hielt sich, während lange schon die Blicke nach Osten schweiften, dem /(896) dezidiert biblischen Ort des irdischen Paradieses. Nach Osten auch der Richtung, nicht bloß - wie bei St. Brendan - dem morgenländischen Ton und magischen Inhalt nach, nach Asien, aus dem die Heiligen Drei Könige kamen. Und wo das unter St. Brendans Insel Gedachte kein einsames Eiland sein sollte, sondern - der ebenso hartnäckigen Sage gemäß - ein ganzer Weltstaat voll Heil. St. Brendans Verheißung sah ihren Glanz derart auf den asiatischen Kontinent übertragen, auf das sogleich zu betrachtende, ganz anders unerreichbare Riesenreich, das Saturn- und Christusreich des sogenannten Priesterkönigs Johannes. Ohnehin war es weder Kaufleuten noch Rittern wichtig, sich auf eine einsame Insel zurückzuziehen. Sie suchten Schätze und breites zinsendes Land, beides lag nicht in Niflheim, sondern auf dem Weg zum Heiligen Grab und weiter. Aber die
fränkische Macht war dort wenige Jahrzehnte nach der Einnahme Jerusalems gefährlich bedroht, ein zweiter Kreuzzug war gescheitert, ein dritter wurde unruhig und ungewiß vorbereitet. In diese Stimmung fielen um 1165 drei geheimnisvolle Briefe, sie kamen angeblich aus Asien, von einem mächtigen christlichen Herrscher. Er nannte sich bescheiden Presbyter Johannes, rühmte aber in hochfahrendem und prahlerischem Ton Macht und Wunder seines Staats, des größten der Erde. Sein Reich streckte sich, nach den Briefen, ostwärts »bis zum Aufgang der Sonne«, westwärts »bis zum Turm von Babel«. Ein ungeheurer Bundesgenosse schien so gegen die Sarazenen zu erstehen, das Himmelsgeschenk einer zweiten Front im Osten. Adressiert waren die Briefe an den Papst Alexander III., an Kaiser Friedrich Barbarossa, an den byzantinischen Kaiser Manuel; die beiden Kaiser scheinen der Botschaft mißtraut zu haben, der Papst etwas weniger, denn er hat sie, wenn auch spät, beantwortet. Seinen Leibarzt Philippus, einen guten Orientkenner, schickte er als Sondergesandten an den Priesterkönig Johannes, den Herrn Indiens, den Herrn eines Reichs, das, wie die Botschaft sagte, das irdische Paradies umschloß; eine Gesandtschaft ging ab an ein Phantom. Der Text der päpstlichen Antwort ist erhalten, datiert Venedig, 27. September 1177, zwölf Jahre nach Empfang der indischen Botschaft; aus welcher Verzögerung sich ergibt, daß des Papstes anfänglich geringerer Glaube an den Priesterkönig mit der sarazenischen /(897) Gefahr selber gewachsen war. Dem Volk war der Priesterkönig Johannes schon lange vorher eine Gewißheit; sein Brief war weit verbreitet in Abschriften, er wurde ins Französische, Deutsche, auch Hebräische übersetzt, Europa beugte sich vor der neuen Hoffnung Asien. Die päpstliche Antwort war adressiert: »Carissimo in Christo filio illustri et magnifico Indorum regi, sacerdotum sanctissimo«; Philippus freilich, der Überbringer, konnte nicht einmal mitteilen, daß das Wunderreich unauffindbar sei, denn er kehrte nicht mehr nach Rom zurück, die Expedition ist spurlos verschollen. Hierbei war der Brief des angeblichen Priesterkönigs, was seinen Inhalt angeht, durchaus aktuell gehalten; er spekulierte nicht nur mit dem militärischen Interesse eines dritten Kreuzzuges, wie bemerkt, sondern auch mit den umgehenden Fabeln und Wunschbildern des Ostens, also mit der eigentlichen geographischen Utopie des Mittelalters. Hatte die St. Brendan-Sage sich an die Insel der Seligen gehalten, mit Westrichtung, so hielt sich die neue Botschaft an die Alexanderlegende und an die orthodoxe Ostorientierung des irdischen Paradieses, wie sie im Hochmittelalter durchgedrungen war. Der gefälschte Brief enthielt nichts, was aus antiken, orientalischen, mittelalterlichen Indienbildern nicht schon bekannt war, aber er faßte sie vollkommen und verführerisch zusammen. Indien: das war dem Mittelalter ein sehr weiter Begriff, er reichte (wie schon bei Plinius) bis zum Golf von Tonking, umfaßte zeitweilig selbst Ostafrika mit Abessinien, Marco Polo nennt auch einen Perserfürsten König von Indien. Aber Indien bewahrte sich erst recht auch als ein geheimnisvollster Begriff, als Heimat unsäglicher geographischer Wunder; aus der Natur selber schien dort das Banale, aus der Uhr der Natur jedes Hemmrad genommen. Unmögliches, grotesker wie utopischer Art, schien dort das Wirkliche zu sein, wie in den mittelalterlichen Gobelins, wenn sie Zauberwälder mit dem Einhorn darstellen. Hinter dem Indus wurden Berge geglaubt und dorthin verlegt, deren Steine Smaragde waren, und ihr Staub war Moschus; Bäume trugen grüne Vögel als Frucht, an anderen wieder wuchsen Menschenköpfe, welche weinten und lachten. Im zwölften Jahrhundert lief ein Manuskript um, dem heiligen Hieronymus zugeschrieben, über kostbare Steine, ihre Heil- und anderen Wundereigenschaften, /(898) und dieses Buch beginnt bezeichnenderweise mit der Beschreibung einer Indienfahrt, durchs Rote Meer hindurch (dessen Gefährlichkeit hier die Schrecken
des Atlantik vertritt), bis in das eine ganze Jahresreise entfernte Phantastikum. Bis in die Heimat des Karfunkels, der Goldberge, von Greifen bewacht, der großen menschenfressenden Ameise, welche nachts Gold gräbt, der Bäume, die im Meer wachsen, des kupfernen Regens (vgl. Thorndike, A History of Magic and Experimental Science II, I929, S.238 ff.). Hauptquell der Indienfabel war immer wieder, wie erwähnt, die Übersetzung und Bearbeitung, welche der antike Alexanderroman des Pseudo-Kallisthenes im Mittelalter gefunden hat; und seine Angaben bezogen sich durchaus nicht, wie in der Indien-Renaissance des neunzehnten Jahrhunderts, auf Buddha und die Askese, sondern konträr auf die Ungeheuerlichkeiten und Ekstasen des Welt- wie Götter-Quantums, an denen die Hindu-Legende so reich ist. Das alles hatte sich an die Alexandersage angeschlossen, ein damals Exorbitantes schlechthin, außerhalb der gewohnten Weltspur. Der Brief des Priesterkönigs selber hatte seinen geglaubten Rückhalt in der »Nativitas et victoria Alexandri Magni« des Presbyters Leo, um 950, vor allem in einem angeblichen Brief Alexanders an Aristoteles (vgl. Kleine Texte zum Alexanderroman, herausgegeben von Pfister, 1910, S. 21 ff.), wo überall der Wunderwandel Ramas zum Alltag des Mazedoniers wird. Es gab bei Leo die Luftfahrt Alexanders, seine Fahrt in die Meerestiefe, überliefert wurden die weissagenden Bäume Indiens, ein Baum des Monds mit griechischer Sprache, ein anderer der Sonne mit indischer; - solche Phantasien wurden um den Orientzug des Königs gruppiert. Vieles davon klingt auch im Brief des Priesterkönigs an, kehrt wieder, ein ganzes Traumarsenal geographischen Märchens und Nicht-Alltags. Menschen werden darin genannt, welche Luftdrachen beschwören, satteln, aufzäumen, auf ihnen in die Weite reiten; Wundersteine werden gerühmt, die heizen oder kühlen, je nach Bedürfnis, und auf fünf Meilen in der Runde nachts sämtliche Gegenstände beleuchten, Steine, die ungeweihtes Wasser in Milch oder Wein verwandeln, Steine, die Fische ansammeln, wilde Tiere zähmen, riesige Brände entfachen, riesige Brände löschen. Der Brief des Priesters Johannes aber (erhalten ist der /(899) Text des an Kaiser Manuel gerichteten Exemplars) fügt noch völlig unverständliche Wunderwesen hinzu, Unsinn wie Lockung steigernd: »Ich, der Presbyter Johannes, der Herr der Herren, übertreffe alle unter dem Himmel Wandelnden an Tugend, Reichtum und Macht. Zweiundsiebzig Könige zahlen Uns Tribut... in den drei Indien herrscht Unsere Magnifizenz, und Unsere Lande erstrecken sich bis zum jenseitigen Indien, wo der Leib des heiligen Apostels Thomas ruht... Unser Land ist die Heimat und Wohnstätte der Elefanten, Dromedare, Kamele, des Meta collinarum (!), Cametemnus (!), Tinserete (!), der Panther, Waldesel, weißen und roten Löwen, der weißen Bären, weißen Merulen, Zikaden, stummen Greifen, der Tiger, Lamien, Hyänen, wilden Pferde, wilden Esel, wilden Ochsen und wilden Menschen, der gehörnten Menschen und der einäugigen, der Menschen mit Augen vorn und hinten, der Kentauren, Faune, Satyrn, Pygmäen, dazu der vierzig Ellen hohen Giganten, Kyklopen und ebenso gearteten Weiber, des Vogels, der Phönix heißt« (Oppert, Der Priesterkönig Johannes in Geschichte und Sage, 1864, S.36 ff.). So ist der gesamte Wunderbestand mittelalterlicher Tier- und Steinbücher nach Indien ins Johannesreich lokalisiert, selbst die weißen Bären des hohen Nordens, von denen man in Europa erst im elften Jahrhundert erfahren hatte; der weiße Elefant dagegen, der in Indien wirklich vorkommt, fehlt. Gleich ruhmredig und irreal ist die Beschreibung des kaiserlichen Palasts: »Seine Grundlage und Mauern bilden Edelsteine, das beste, reinste Gold dient als Zement. Sein Himmel oder Dach besteht aus den klarsten Saphiren, hie und da untermischt mit glänzenden Topasen... Am kaiserlichen Tisch speisen täglich dreißigtausend
Menschen, der Tisch ist von Smaragd, vier Amethystensäulen stützen ihn... Am Palast ist eine mit Gold umwundene Tür aus Kristall, diese Pforte liegt nach Osten, ist hundertdreißig Ellen hoch und öffnet und schließt sich von selber, wenn Unsere Vorzüglichkeit sich nach dem Palast begibt.« In der Fülle dieser unaufhörlichen Superlative und Kuriositäten gibt es weiterhin Seen aus Sand, darin die erstaunlichsten Fische leben, Flüsse aus Edelsteinen, Kleider aus Salamanderhäuten, die mit Feuer gereinigt werden, das Kraut Apsidios, das unreine Geister vertreibt, so daß nicht ein einziger Besessener im Land /(900) vorhanden ist. Vor allem aber auch - ein ernster Lichtblick in all dem plumpen Fabelglanz - gibt es im Reich keine Armut und kein Verbrechen. Zwar hängt in der Nähe des Schloßplatzes ein Zauberspiegel, der alle Komplotte in den Provinzen und angrenzenden Ländern enthüllt. Zwar wird eine Art Armenpalast erwähnt, vom Vater des Johannes erbaut, wo jeder Hungrige, der ihn betritt, sich augenblicklich gesättigt fühlt, als hätte er das üppigste Mahl hinter sich. Doch hört das Priesterreich im Osten durch diese Eingeständnisse und Palliative nicht auf, ein Fokus fast sämtlicher medizinischer, sozialer und technischer Utopien des Mittelalters zu sein. Und es ist diese Einheit, weil eben in ihm das geographische Wunschbild aller Wunschbilder auf die mittelalterlichen Menschen spekulierte und ihnen durch alle Groteske abergläubisch-bewegend, hoffnungs-überhoffnungsvoll vorleuchtete: das irdische Paradies. Ein Quell entspringt am höchsten Berg des Johannesreichs, der Jugend schenkt für dreihundert Jahre; der Paradiesfluß Pison aber, den die Genesis nennt, fließt mit Gold und Onyx breit durch die Hauptstadt hindurch. Ja, er ist ein solch sichtbares Stück ungefallener und heilig gebliebener Natur, daß er am Sabbat seinen Lauf unterbricht und ruht. Mit solchen Mitteilungen drangen also durch den Brief fast himmlische Fernwunder in das bedrängte Europa der Unruhe und sozialen Verschlechterung. Ins Land der Kreuzzugskatastrophen, der Bußpredigt Bernhards von Clairvaux, der chiliastischen Ketzerpredigt Joachims von Fiore, des beginnenden Albigenserkrieges. So groß freilich die Zauberwirkung dieser Geographie utopisée war, so einfach und trocken ist der Fakt, worauf sie sich bezieht. Es gab in der Tat einen christlichen Fürsten in Asien, nicht mit goldenem Palast, doch mit tüchtigem Kriegsvolk und kurz dauernder Macht. Yeliutaschi, nestorianischer Christ, Häuptling des türkischen Stamms der Kerait, der sich bereits Westturkistan unterworfen hatte, schlug 1141 bei Samarkand den mohammedanischen Persersultan Sandschar vernichtend aufs Haupt. Zwei Jahre später starb bereits der Sieger, sein Reich zerfiel, wurde von den Mongolen, die ihm vorher tributpflichtig gewesen waren, überrannt; es war eines der vorübergehenden kriegerisch-feudalen Großgebilde, von denen das mittelasiatische Steppengebiet im Mittelalter so viele hinterein- /(901) ander beherbergte. Diese kurze Episode aber gab das Urbild für die Sage vom Priesterkönig Johannes, und zwar für eine, die, wie hier bemerkenswert, schon vor den drei Briefen sich in Umrissen gebildet hatte. Die Kunde von der mohammedanischen Niederlage drang nach Westen, der Geschichtsschreiber Otto von Freising erfuhr sie 1145 von einem syrischen Bischof, und bereits in dieser ersten Wiedergabe wurde der nestorianische Türkenfürst zu einem Nachkommen der Heiligen Drei Könige, zum St. Georg, der den Islam schlug. Unklare Vorstellungen über mongolische Theokratie traten hinzu, durch reisende Kaufleute vermittelt; so bildete sich zuletzt die militärisch-geographische Utopie vom Priesterkönig Johannes aus, zur gleichen Zeit, wo ihr Urbild, der Strahlend-Erwartete, schon tot war. Das ist der durchschaubar gewordene äußere Anlaß zu dieser Sage selber; - bedeutend dunkler erscheint freilich der zweckhaft- sachliche Anlaß, der die auffällige Mystifikation der Briefe hervorrief. Ihr
Autor ist völlig unbekannt, der soziale Auftrag hinter der Fälschung, sofern überhaupt einer vorlag, kaum mit Gründen vermutbar. Ein französischer Historiker, de la Ronciére (La découverte de l'Afrique au moyen age, 1929), erklärt zwar, der Brief sei »eine durch den Bischof Christian von Mainz zwischen 1165 und 1177 begangene Fälschung, worin die Legende von Alexander dem Großen benutzt wurde« doch alles Material für diese Hypothese fehlt. Fast ebensowenig ist der Zweck der Mystifikation bekannt, trotz einer sehr interessanten Deutung Olschkis auf politische Utopie hin (Der Brief des Presbyters Johannes, Hist. Zeitschrift, Bd. 144 [1931], S 1). Danach war die geographisch-fabulöse Einkleidung nur Beiwerk, spannendes und eingängliches, war nur Reiz und Empfehlung. Dahinter steckte politische Absicht: dem gequälten Europa Friedrich Barbarossas sollte ein Idealgemälde entgegengesetzter Art gezeigt werden, ein Bild des sicheren und friedvollen Lebens zahlreicher Völker unter einer theokratischen Regierung, die ihnen so materielles wie moralisches Wohlergehen verschafft und erhält. Daher die Fülle humaner Züge neben den bramarbasierenden: die Abschaffung des Privateigentums, das Reich ohne Zwietracht und Krieg, die Toleranz gegen die zahlreichen Nichtchristen innerhalb des Reichs unter einem christlichen Priester (mit be- /(902) zeichnender Auslassung der Mohammedaner) Daher die schlichte Bezeichnung Presbyter für das Haupt eines so ungeheuren Staats (im Zusammenhang mit Ausfällen gegen die Vergöttlichung der byzantinischen Kaiserwürde). Der Brief des Johannes wäre demnach seinem exotischen Kolorit nach eine gleiche Finte wie etwa die »Lettres persanes« Montesquieus (die freilich von fingierten Persern aus dem Abendland nach dem Morgenland gerichtet waren); sein Ideengehalt aber käme möglicherweise aus der Gegend Bernhards von Clairvaux und des Reformordens seiner Zisterzienser. Manches spricht für diese Deutung, sie gäbe einem sonst unverständlichen Aplomb Zweck und Relief; nicht klar ist freilich, was Toleranz unter den puritanischen Zisterziensern für einen utopischen Wert hätte abgeben können. Im Testament Bernhards von Clairvaux, der Schrift »Über die Betrachtung«, findet sich zwar manche Forderung von PriesterSchlichtheit, doch desto ferner lag dem Glaubenseiferer und Ketzerrichter, dem Feind des Dialektikers Abälard (er hat diesen gerade wegen seiner untersuchenden Gegenüberstellungen von Lehrmeinungen und Autoritäten zu Fall gebracht), jede Art Toleranz. Eher findet sich dergleichen im Lager südfranzösischer Ketzer, unter den Katharern, vielleicht auch unter Templern, mithin unter arabisch beeinflußten Christen oder Halbchristen. Dorthin drang allerdings etwas von jener zweifelnd-duldsamen Auffassung, wie sie bei den gleichzeitigen arabischen Philosophen (Ibn Tofail, Averroes) üblich war und wie sie aus der orientalischen Parabel von den drei Ringen entgegenblickt, die damals im Abendland ihre erste Runde machte. Und nur das christliche Ketzertum konnte solch früheste Keime religiöser Toleranz enthalten, der gleichen, von der der Brief in der Tat, auffallend genug, erfüllt ist So mögen hinter dem fingierten Priesterkönig eher die Gegner Bernhards und des Papismus verborgen sein, etwa Arnold von Brescia oder, da er zehn Jahre vor Erscheinen der Briefe gehängt wurde, die ihn überlebenden Jünger seiner Ketzerpredigt und Prophetie. Immerhin ging von dem Brief kein bekannt gewordener politischer Einfluß aus, sondern lediglich ein geographisch-utopischer. Das soziale Priesterreich wird in keiner späteren politischen Utopie erinnert, wohl aber wirkte gerade das sogenannte exotische Beiwerk: die Botschaft /(903) griff einzig, aber mächtig in die Eldorado-Eden-Phantasie. Kaufleute, Abenteurer, Missionare gingen von nun an jahrhundertelang auf die Suche nach dem Reich, kein Geringerer als Marco Polo machte das behauptete Ostwunder zu einem der Ziele
seiner Fahrt, er nahm so fast auf seine Weise die Gesandtschaft des Philippus auf. Als der vermeintliche Priesterkönig längst nicht mehr am Leben sein konnte, es sei denn vermittels des ewigen Jugendquells in seinem Reich, wurde über seine Nachkommen fabuliert, so um 1221 über einen Priesterkönig David, den Enkel des Johannes. Erst im vierzehnten Jahrhundert haben die Geographen das Wunderreich von Asien nach Abessinien verlegt, aber der Glaube blieb frisch und war es noch, als 1485 der Kongo entdeckt worden war; denn nun wurde das Land mit dem Paradiesfluß Pison dort vermutet. Die ungeheure Ausdehnbarkeit des Begriffs Indien auf alles mögliche Wunderland in der mittelalterlichen Geographie hat dem Johannesreich auch die Verlegung an den Kongo ermöglicht. Die Portugiesen suchten dieses Reich sogar an der Westküste Afrikas, selbst Vasco da Gama setzte seine Segel dahin, umschiffte das Kap der Guten Hoffnung, entdeckte zur See zwar nicht den Presbyter, aber das wirkliche Ostindien. Zugleich freilich verblich die Johanneslegende, es waren zu viele Fehlschläge erfolgt, vor allem wurde dem beginnenden Bürgertum die feudal-theologische Aufmachung der Sache fremd. Spott und Unglaube mehrten sich, so im »Don Quichotte«, wo das Land des Priesters Johannes, »das weder Ptolemäus beschrieben noch Marco Polo gesehen hat«, dem Unsinn in den Rittergeschichten angereiht und gleichgesetzt wird. Auch griff die Westrichtung, die seit St. Brendan ohnehin nie ganz vergessene, seit der Verlegung des Ostwegs durch die Türken immer mehr in den Verstand, nicht nur in die Phantasie. Eine Synthese empfahl sich, eben durch die Kugelgestalt der Erde erleichtert, zwischen hesperidischer Richtung und östlichem Paradies. Kolumbus vereinte so den antik überlieferten Westtraum mit dem Osttraum aus der Kreuzzugszeit. Nun führt einzig wieder der Atlantik zum »Aufgang der Sonne«, dorthin, wo wirklich Indien beginnen soll, das im Glauben des Kolumbus durchaus noch gebliebene Stück Paradies auf Erden. /(904)
Kolumbus am Orinoko-Delta; Kuppel der Erde
Auch zufällig ist manche Küste entdeckt worden, oft folgenlos. Mannschaft, die vom Kurs abgetrieben landete, mehr strandete, fand selten den Weg zurück. Auch als der Grönländer Ericson um 1000 die amerikanische Küste, ohne Absicht, erreichte, blieb das episodisch. Elfmal ist diese Küste vor Kolumbus entdeckt worden, einmal auch von Ostasien her, doch weil all das Zufall war, hielt sich davon nichts. Es mußte ein Auftrag und Plan hinter der Ausfahrt sein, das neue Land mußte ein Ziel sein. Gewiß, das Ziel war nicht immer so weit oder auch überspannt wie das des Kolumbus, des kühnsten Fahrers und Träumers in einem. Die Phönizier suchten ausschließlich Märkte, nicht Wunder, Pytheas umfuhr Britannien als Forscher, nicht als Märchenheld. Der Karthager Hanno, der um 525 V. Chr. um die Westküste Afrikas bis zum Senegal vordrang, ja bis in den Golf von Guinea zum sogenannten Götterberg im heutigen Kamerun, hat seinen erhaltenen Bericht als Militär abgefaßt, nicht als Mystiker. Magellan hatte nur »ei passo« im Sinn, die Durchfahrt durch Amerika ins Pazifische Meer, der ganze Kontinent, von Norden bis Süden, wurde damals abgetastet, sie zu finden. Und trotz seiner wilden Zähigkeit, trotz des Wagnisses der ersten Weltumseglung, die er vollführt hat, war auch Magellan mehr ein Abenteurer als ein Träumer; er brauchte nicht über sein Ziel hinauszuschießen, um es zu treffen. Und überhaupt: Hätten die Türken nicht die Landwege nach Indien erschwert, hätte die spanische Feudal- und Luxuswirtschaft nicht Gold gebraucht, um ihre ständig passive Handelsbilanz, vor allem mit dem Orient, zu bessern, hätten die verarmten Hidalgos, aus denen später so rasch die weißen Mordgötter wurden,
nicht in Eden primär das Eldorado zu sehen verlangt, das über Nacht reich macht, dann hätte die gesamte Paradiessuche kein einziges Schiff zur Verfügung gehabt, und Kolumbus wäre nicht nur von seinen Widersachern als Jean de la lune angesehen worden, sondern er wäre es historisch geblieben. Das alles ist wahr, und dennoch hob es selbst bei Magellan eine Besessenheit nicht auf, die noch stärker aus dem Ritterroman als aus der viel späteren, erst holländisch-englisch entwickelten Unternehmerinitiative herkommt. /(905) Diese Besessenheit machte das Handeln gegen Kleingläubigkeit erst fanatisch, gegen die Reeder zunächst, dann - auch bei Magellan nicht nur bei Kolumbus - gegen die Kommandanten der Begleitschiffe und die eigene Mannschaft. So gewiß ohne ökonomischen Auftrag dahinter auch ein homo religiosus wie Kolumbus nie ein Schiff nach seinem Eden hätte finden können, so gewiß wäre dieser Auftrag ohne die mystische Zielbesessenheit des Fahrers nicht erfüllbar gewesen. Beides eben: Eldorado in Eden, Eden in Eldorado, traf hier einzigartig zusammen, wie weder vorher noch nachher; und Kolumbus als der utopischreligiöse Träumer, der er war, gab den Mut her für Kolumbus als Admiral. Der Wind, der seine Karavellen durch den Atlantikschreck ins geglaubte Eden trieb, blies nicht nur nach Utopien hinüber, er wurde von dorther angesaugt. Die Ahnungen aus dem Altertum von einem anderen Kontinent wären ohne neues ökonomisches Motiv, aber auch ohne Eden als Antrieb Literatur geblieben wie so lange vorher. Kolumbus pries die Anspielung Senecas, daß einst der Gürtel des Ozeans zerreißen und Thule nicht mehr der äußerste Erdteil sein werde, die Andeutung Plutarchs, daß der Mond, falls er ein Spiegel der Erde sei, in seinen dunklen Stellen noch einen unentdeckten Kontinent anzeige; aber auch diese Berichte, durch die Renaissance in ihrer Autorität verstärkt, hätten das Atlantikgrauen nicht überwinden lassen, die Fahrt ins gefürchtete Nichts nicht ermutigt. Der Glaube ans irdische Paradies, dieser allein, hat endlich den Täter befeuert, die Westfahrt mit Bewußtsein und Plan zu wagen, hat die Prophezeiung des Seneca endlich erfüllt. Und das Interesse, das der feudalen Kolonisation, stieß mit der Idee hier nicht zusammen; letztere, von Seneca bis Dante reichend, stellte dem Interesse vielmehr die Tapferkeit der Phantasie bei. Wobei hinzugehalten werden muß, daß die Renaissance, in der Kolumbus lebte, nicht nur die Zeit der rezipierten Antike war, sondern auch, wie jede Wende der Gesellschaft, eine neue Kulmination des Chiliasmus. Dieser hat sie sogar weit echter erfüllt als die antike Wiedergeburt; Advent ist das politisch-religiöse Licht um die so mannigfache Erregung von Rienzo bis Petrarca, von Münzer bis Grünewald, selbst Dürer, und ist das Maritime um Kolumbus. Der Erdhorizont wurde mit den Entdeckungsfahrten ungemessen /(906) erweitert, aber er sollte auch, mit der Annäherung an den Ostoder Sonnenpunkt der Schöpfung, näher zum Himmel erhoben werden, sich näher daran entdecken lassen. Der Admiral zeigte so, wie ersichtlich, ganz übermäßig dasjenige, was der Positivist Mach nachher, Post festum, »Wucherung des Vorstellungslebens« genannt hat; nur hat er es weit damit gebracht. Kolumbus glaubte fester als je ein Mensch ans irdische Paradies, auf der physisch und metaphysisch höchsten Stelle der Erde; sein Atlantik hatte diese Küste. Nur das gab Kraft, den Bann des verrufenen westlichen Meers zu brechen. Kolumbus fand Tangmassen, aber nicht die Dunkelheit, auch hat keine Bildsäule gewarnt. Dagegen spielten Vögel eine merkwürdige Rolle: Der Admiral fiel von seinem anfänglichen Westkurs nach Südwest ab, weil eine Schar Papageien dorthin flog, um, wie er vermuten konnte, in einem Gebüsch auf nahem Land zu schlafen. Nie, sagte Humboldt, hat ein Vogelflug gewichtigere Folgen gehabt; denn auf dem früheren Kurs, dem Breitengrad der Kanarischen Inseln, wäre der Admiral nach
Florida gelangt. Er hätte statt des verwirrenden Inselwesens sogleich die breite Brust des Erdteils berührt, und der Norden wäre spanisch besiedelt worden. Wie bekannt, glaubte Kolumbus bis zu seinem Tod, Indien erreicht zu haben, mit den Eingeborenen versuchte er sich ganz orienthaft durch einen mitgenommenen arabischen Dolmetscher zu verständigen, und noch drei Jahre vor seinem Tod schrieb er: Von Kuba, als einem Festland am Anfang Indiens, könne man nach Spanien gelangen, ohne Meere zu berühren. Und doch hat der Mann mit diesem seinem Irrtum die Werke der Schöpfung verdoppelt, mit einem Irrtum, der genau mit dem Glauben ans irdische Paradies zusammenhängt. Die neue Welt war für Kolumbus die älteste. diese lag wohlerhalten im inneren Ostasien, und mit der Annäherung an sie mußte der Frühling der ersten Schöpfung wieder aufgehen, ohne all das Arge, worin die übrige Welt seit dem Sündenfall liegt. Keiner war darum erwartungsvoller als Kolumbus, Zeichen und Wunder zu treffen, er halluzinierte Nachtigallenschlag in die Wälder Haitis, so verklärt, »wie ihn die Ureltern gehört haben mußten und wie er erst für die Seligen wiederkommt«, er spürte Paradiesluft in der Nähe der Orinoko- /(907) mündung, und hinter dem Orinoko-Delta das Paradies selber. Das alles mitten in exaktester Beobachtung, mit meisterlicher Ortsangabe mittels des Astrolabiums, mit Feststellung einer äquatorialen Strömung, auch merkwürdiger Beziehungen zwischen Längengrad und Klima. Der berühmte Brief aus Haiti, vom Oktober 1498, an die spanischen Monarchen enthält aber über den Orinoko folgende Stelle (vgl. C. Jane, Selected Documents, Illustrating the Four Voyages of Columbus, II, 1933, p. 7 f.): »Ich sage, daß dieser Fluß, wenn er nicht vom Paradies kommt, so von einem weiten, bisher unbekannten Land im Süden. Doch ich bin viel mehr überzeugt, daß dort das irdische Paradies liegt, und ich berufe mich auf die Beweise und Autoritäten, die ich oben angegeben.« Die Beweise bezogen sich darauf, daß Kolumbus den originalen Ostpunkt erreicht zu haben glaubte, wo nach der Schöpfung der erste Sonnenaufgang geschah. Dieser Punkt bezeichnete aber zugleich die Spitze der Erde, den »apex terrae «, einem mystischen Begriff, dem » apex mentis « verwandt, worin, nach Meinung der Scholastiker, der ungefallene Teil der menschlichen Seele sich mit Gott in der Höhe berührt. Kolumbus schrieb in der Tat an die spanischen Monarchen von einer Aufgipfelung der Erdkugel am erreichten Ostpunkt, sie sei infolgedessen dem Himmel näher, »denn diese Erhöhung besteht nur in jenem vorzüglichsten Teil der Erde, von welchem im Augenblick der Schöpfung der erste Lichtstrahl ausging, vom ersten Punkt nämlich im Osten. Dort liegt das irdische Paradies, von dem die großen Ströme herabfließen, kein Gebirge mit jähen und schroffen Abhängen, sondern eine Erhöhung auf der Erdkugel (el colmo o pezon de la pera), zu der sich schon in weiter Ferne die Oberfläche der Meere allmählich erhebt«. Humboldt bemerkt dazu (Kritische Untersuchungen II, 1852, S.44, Anm.): »Es ist möglich, daß Kolumbus auf eine systematische Idee der arabischen Geographen hat anspielen wollen, auf eine Stelle des Abulfeda, wo dieser sagt, daß das Land Lanka (Ceylon), wo sich die Kuppel der Erde oder Aryn befindet, unter dem Äquator in der Mitte zwischen der westlichen und östlichen Grenze der Erde gelegen sei.« Aber nicht nur die Analogie der mystischen Erdhöhe mit dem mystischen apex mentis, auch das eigentliche Olymposbild des Paradieses ist weit älter, hat seinen, /(908) für Kolumbus legitimen, Ursprung in der Bibel selbst. Der Garten Eden war vom Jahwisten im Obenauf der beiden Ströme Euphrat und Hidekel (Tigris) gesucht worden, das ist, auf den Berghöhen, die Mesopotamien nördlich begrenzen (vgl. Gunkel, Schöpfung und Chaos, 1895, S. 112). Daß dieses Gebirge fürs höchste der Welt gehalten wurde, ist aus der Sintflutsage und ihrem Ararat bekannt; Erinnerungen daran erscheinen bei
Jesaja 14, 14, bei Ezechiel 28, 13 ff.: der »Lustgarten Gottes« ist eins mit dem »Berg der Stiftung«, mit dem »heiligen Berg Gottes«. Auch bei Dante erscheint ja das Paradies als Gottesberg hoch über dem Irdischen, und nicht nur die Bibel gibt dafür ein Zeugnis, sondern der Höhenkult in allen uranischen Religionen der Erde, vor allem und selber zuhöchst in Babylon, mit dem uralten Bild des Himmelsbergs. Die arabische Geographie hat das Bild Himmelsberg, dies heilig-phantasmagorisch sich Türmende, nach Art einer Götteralpe, wieder auf die Erde zurückgebracht, auf eine »Kuppel der Erde«, ganz im Stil der maurischen Architektur, Kolumbus aber gab ihm den Bibelglanz wieder, die Pracht Edens. So wurde diese Kuppel der Erde für Kolumbus zum »indicio del parayso terrenal«, so verlegte er sie vom Ceylon der arabischen Geographie in das - Ceylon vermeintlich benachbarte - Orinoko-Delta, vielmehr hinter dieses, ins erreicht Unbetretbare, wo die Erde als Eden in die Wölbung Azur übergeht. Der Brief des Admirals an Ferdinand und Isabella schließt daher ganz unverhohlen mit theologischem Hinweis auf »die Länder, die ich neulich entdeckt habe und von denen ich in meinem Herzen überzeugt bin, daß sie das irdische Paradies sind (en que tengo assentado en el ánima que allé es el parayso terrenal) «. Ja, der Admiral geht noch erstaunlich weiter, so in einem Schreiben an die Dona Juana de la Torre, gleichfalls von der dritten Reise; die Übersteigerung dieses Briefs wird apokalyptisch. Der Brief kommt aus einem Moment, worin Niedergeschlagenheit und Exaltierung seltsam gemischt sind: »Ich habe mit einem Dienst gedient, wie er nie gehört oder gesehen worden. Vom Neuen Himmel und der Neuen Erde, die unser Herr gebildet, wie Johannes schreibt in der Apokalypse, nachdem Er davon gesprochen durch den Mund des Jesaja, davon machte Er mich zum Boten und zeigte mir, wie zu gehen.« Überdies hat Kolumbus /(909) mit diesem ungeheuerlichen Trumpf oder Triumph die Anfeindung überkompensiert, die ihm aus dem Hofkreis wachsend, auch immer gefährlicher, entgegengebracht wurde. Denn der ursprüngliche Skeptizismus der Kolumbusgegner fühlte sich bestätigt, als aus der großen Indien- und Chinafahrt nichts herauskam als die Entdeckung einiger Inseln und einer unbekannten Rasse Wilder; dergleichen deckte die Kosten der Reise nicht. Noch von daher also, vermutlich, die riesige Exaggeration des Neuen Himmels und der Neuen Erde, eine auch theologisch unhaltbare; denn dieseWunder erscheinen, gerade nach der Johannes- Apokalypse, nicht auf der Spitze einer Entdeckung, sondern über dem Abgrund eines Weltuntergangs. Primär jedoch und dauernd begleitend ist in Kolumbus der Glaube ans auffindbare, schließlich aufgefundene Eden; es lag nun in einem christlichen Reich. Und aus den Schätzen, die es in Zukunftbringen mußte, von dem goldführenden Strom Pison her, der in den Umkreis des Paradieses austritt, sollte nach dem Willen des Admirals ein letzter Kreuzzug ausgerüstet, das irdische Jerusalem erobert werden. Wonach Eden und Kanaan, der Baum des Lebens und der Berg Zion gemeinsam auf der Höhe der Christenheit gelegen hätten. Daß Eden dann nachher nur die Antillen waren, daß in den Kontinent dahinter dann keine weißen Götter, sondern Verbrecher wie Cortez und Pizarro eindrangen, daß das irdische Paradies insgesamt nicht Fakt, sondern Hoffnungsproblem und Latenz ist: dies nimmt der von Kolumbus verfolgten Intention nicht ihre Kraft und Würde. Südland und die Utopie Thule Mehr leibhaft tritt ein einfacherer Traum des Fahrens auf, der südliche. Er ist zugvogelhaft, von den kälteren Ländern her, nach der Sonne gerichtet. Auch der Osten wurde stets zugleich unter der günstigsten Breite gedacht, als viel Mittag, viel
Sommer. Und je weiter nach Süden, desto ungeahnter schien italienischer, arabischer Glanz zu steigen. Die klimatische Qual der Tropen war zwar bekannt, doch sie wirkte nicht abschreckend; denn Ferne oder kurz staunender Besuch milderten sie. Unbekannt dagegen war, daß auch auf der südlichen Halbkugel die /(910) Kälte wieder zunimmt. Das blieb aber solange wenigstens verborgen, bis Magellan in die Nähe des stürmisch-eisigen Kap Horn nach Süden vorgedrungen war. Dennoch hielt sich der der menschlichen Natur so tief eingeschriebene Zug nach wachsender Wärme und Licht, dieser Zug nach einem gleichsam profanen, keines Glaubens bedürftigen Eden. Wobei nicht einmal der treibend-magische Zusatz gänzlich fehlte: im Süden, der den Frühling früher kennt und aus dem der Sommer herzieht, wurde der Sitz der Lebensquelle überhaupt vermutet. Lehrreich ist hierfür die Richtung, in der gerade ein Offizier des Kolumbus, Ponce de León, diese mythische Lebensquelle gesucht hat. Nämlich nicht im Ostpunkt eines irdischen Paradieses, sondern in den Tropen schlechthin, wo er sich befand; und eine indianische Sage genügte ihm, um das Jugendwasser in Florida zu erwarten. So eng auch dieser Quell in den Überlieferungen mit der Nähe Edens verknüpft ist, also, seit der Alexandersage, mit Indien, so sehr ist es doch das Tropische, nicht das Geweihte dieses Indiens, das gerade das Lebenswasser dort erhoffen ließ. Leibhaft-profan, der Südsehnsucht gemäß, war deshalb auch das Ansehen, das dieses Wasser genoß, das vom Weihwasser so sehr verschiedene. Es floß durch die galanten Vorstellungen des Mittelalters und der Renaissance, ganz im halkyonischen Sinn der Südhoffnung. Es lief durch die »jardins de plaisance« der mittelalterlichen Graphik und Dichtung, es verrät sich noch in der verwandten Allegorie Tizians, sehr mit Unrecht »Himmlische und irdische Liebe« genannt, wo kein Engel, sondern Cupido in dem tropischen Wasser rührt, »egrediens de loco voluptatis«, wie die Kirche zu dieser vitalen, nicht christlichen Taufe sagte. Auch dies Mythische also strömte in die Terra australis ein, fern unter dem Äquator, bei den Antipoden zur Kälte. Der Terra australis selber stand zwar die halboffizielle mittelalterliche Lehre von der terra inhabitabilis, südlich des Äquators, im Wege. Aber indem bereits Albertus Magnus in diesem Punkt so kräftig gegen die Autorität des Aristoteles und des Edrisi angegangen war, indem er verneinte, daß die südliche Erdhälfte gänzlich mit Wasser bedeckt sei, schlug er zugleich der Phantasie des Südkontinents theoretisch Raum. Und praktisch ging schließlich Marco Polo mit ihr, als er glaubte, die Terra australis lokalisieren zu können. /(911) Java, Sumatra, die üppigen Sunda-Inseln, wurden dem Kontinent als vorgelagert vermutet, der Indische Ozean erschien als ein Binnenmeer, mit der reichsten Küste im Süden. Vielleicht haben zu dieser Lokalisierung auch malaiisch-chinesische Sagen beigetragen, Erinnerungen an das vorgeschichtliche Gondwanaland, das - ein Sodom und Gomorrha der Tropen - durch Feuer zerstört worden, im Gebiet des Indischen Ozeans versunken ist. Jedenfalls bekam der alte Archetyp durch die Lokalisierung hinter die reichsten Inseln der Welt nun Figur; - man sah die Füße des Giganten und ahnte das übrige. Die Enttäuschung allerdings, lange nach Marco Polo, war groß, doch war auch der Traum Terra australis unterdessen stark ausgeblichen. Australien, 1606 durch Holländer zuerst betreten, 1770 durch Cook in seinem Umfang einigermaßen festgestellt, entpuppte sich als der bescheidenste Erdteil, als ein Wüstenkomplex. Lebenswasser, die Klimax eines Sonnenreichs von der anderen Seite verschwanden, das Gondwanaland ging nochmals unter. Dennoch stand in diesem Südbild einmal eine eigene geographische Utopie, eine gleichsam mit radikalem Kimbern- und Teutonenzug. Und letzthin ist Südland das heiße Tertiär, vom Zugvogel, ja Saurier im Menschen gegen das Winterland
utopisch erinnert. Die Südrichtung, und was in ihrer Verfolgung erwartet wurde, ist so mit einer Lebensfülle geladen, die sich nicht davor scheute, monströs zu werden. Utopische Phantasiereisen ins Südland haben daher auch niemals den hier eingeboren orgiastischen Zug verloren: Foignys »La terre australe connue«, von 1676, schildert die Bewohner des Südkontinents als Hermaphroditen; Rétifs de la Bretonne »La découverte australe par un homme volant« intendiert, ein orgiastisches Rokoko auf ein tropisches Sodom aufzutragen, mit ungekannten Sünden im Unbekannten gelegen. Die Utopie Südkontinent selber, als solch üppige, ist empirisch die am meisten gegenstandslose, doch sie bewahrte den Archetyp: animalisches Paradies. Leibhaft fast unverständlich wirkt dagegen der umgekehrte Zug, der nach Norden hin. Während der Südwind lockt und verspricht, sind Kälte und Dunkel drohend, sie rufen zunächst Flucht hervor. Der Weg nach Norden wirkt daher fast paradox, es gibt auf ihm keinen Kimbern- und Teutonenzug. Aus dem glei- /(912) chen Grund, aus dem das Eisgebirge der Alpen, dies Stück Grönland zwischen Donau und Po, am spätesten aufgesucht, gar geliebt worden ist. Und doch wanderte die menschliche Gesittung immer mehr vom Süden nach Norden herauf. Ihr Lauf geht vom Nil, Euphrat nach Athen und Rom, nach Frankreich, Deutschland, England, Rußland. Die Gesittung zieht nicht nur von Ost nach West, sondern weit regelmäßiger von Süd nach Nord, und der Kampf mit dem harten Klima stählte wie in Urtagen der mit der Eiszeit. Hierhin lockt zwar kein Einbruch wie im Kimbern- und Teutonenzug, aber es geschieht, eine schöpferische Ausbreitung, eine immer noch nicht beendete; ihr nächster Akt dürfte der Aufstieg Sibiriens sein. Und vor allem: es fehlt trotz Dunkel und Kälte eine eigentümliche Anziehung des Nordens nicht; ökonomisch lag ihr das Rohstoff-Interesse (Zinn, Pelze, Bernstein und mehr) zugrunde, doch sie hat sich auch aus Gründen mancher Kontrast-Ideologie außerhalb des Geschäfts bewährt. Davon zeigen sich bereits bei Tacitus deutliche Merkmale, er gibt das erste sentimentalische Nordbild. Denn seine »Germania« idealisiert nicht bloß ein Naturvolk, sie zeigt außerdem ein kleines Gegenstück zum Frieren nach der Sonne, sie zeigt Betroffenheit vor den kühlen und riesigen Wäldern, vor dem »harten Himmel«. Aber ein förmliches Thule wird viel später in der deutschen Dichtung aufgerufen, in der Sturm-und-Drang-Revolte gegen die »Unnatur« eines neufeudal-romanisierenden Regelwesens. Der »wilde Apoll« suchte statt der Plastik des Mittags Sturmgewölk, fliegendes Mondlicht, ahnend verhangene Weite. Das erfüllte die Begeisterung für den Nordkreis, die durch Ossian ausgelöst wurde, und es ist bezeichnend, daß eine selber sentimentalische Fälschung sie hervorrufen konnte. Nicht der Dichter Macpherson, sondern die Maske des alten Skalden Ossian, gleichsam eines anderen Priesterkönigs Johannes, hat auf das nördliche Europa damals gewirkt, wie eine Botschaft gewirkt. Und eben nicht bloß wie eine aus der nördlichen Dichtung, sondern wie eine aus der Welt der Fingalshöhle und der Hebriden selber, in die der fingierte Dichter führte. Es war eine Welt aus weichen und zugleich ungeheuren Heldengestalten, eine nur aus Rohr, Felsen, Mooren, Seen und Winden bestehendeNatur, eine elegisch erinnerte und sinkende, aber von jenem Abendrot umgeben, /(913) jenem Sturm und Wolkenzug, der sich nur auf der nördlichen Heide, nahe am Meer, anlassen kann, mit der Mitteilung: Thule. Herder hat die Ossian-Utopie auf eine für seine Zeit kanonische Weise erfahren, nämlich vom Schiff her und mit Meerblick, Küstenblick: »Zwischen Abgrund und Himmel schwebend, täglich mit denselben endlosen Elementen umgeben und dann und wann nur auf eine neue ferne Küste, auf eine neue Wolke, auf eine ideale Weltgegend merkend - nun die Lieder und Taten der
alten Skalden in der Hand, ganz die Seele damit erfüllt, an den Orten, da sie geschahen..., jetzt von fern die Küsten vorbei, da Fingals Taten geschahen und Ossians Lieder Wehmut sangen, unter eben dem Weben der Luft, in der Welt der Stille« (Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian, 1773). Das so gesuchte Wesen reicht hinunter bis in den Schauerroman, wo es sich am populärsten erhalten hat; es reicht hinauf (wie Spengler in seinem wahrsten Satz entdeckt hat) bis in die tiefen Mitternächte, die Faust an seinem Pult heranwacht, in die sich Rembrandts Farben, Beethovens ,Töne verlieren. Aber das Wesen selber reicht über diese kulturellen Bezirke noch durchaus objekthaft hinaus, eben in die Wolkenwelt des Nordens, von deren Licht es beschienen ist, ins Utopische dieser Welt als eines Paradieses ohne Zephyr. So war und ist auch hier wirkliche geographische Utopie; sie wohnt nicht nur au einem globus intellectualis, sie hält sich an wirkliche Festpunkte des Nordmeers, an die Fingalshöhle, die Hebriden, Island, und baut von hier Niflheim. »Zu wandern über die Heide, umsaust vom Sturmwinde, der in dampfenden Nebeln die Geister der Väter im dämmernden Lichte des Mondes hinführt« - diese Affinität aus Werthers Leiden, die Anziehung des Nordens tritt so der des Südens ebenbürtig zur Seite, ja sie übertrifft sie durchs Verhangene. Um so mehr, als eben diesem Verhangenen oder Nordzauber ein merkwürdiger Zuschuß niemaIs fehlte, einer aus ganz anderer Himmelsrichtung, nämlich nochmals aus der des Ostens, aus der Utopie:-Indien und Orient. Es ist gewiß nicht die Üppigkeit, aber der große Märchenton, das der reinen Süd-Utopie fehlende Geheimnis, was Orient und Ossianland utopisch sich berühren läßt. Die realen Verbindungen: alter Handelsverkehr, orientalische und nordische Ornamentik, Christentum in der Edda, sie sind im vorliegenden Bezug nicht /(914) so wichtig, obwohl sie selbstverständlich auch in die eigentliche Thule-Utopie hineinwirken. Wichtiger ist, daß die objektiven Stimmungselemente, aus denen jeder Tagtraum sich ausbildet, aus der orientalischen Lokalität so wahlverwandt in die nordische einwandern konnten. So gibt es die unverkennbare Korrespondenz zwischen der Schleier- und der Nebelwelt, zwischen der biblischen und der hochwinterlichen Weihnachtslandschaft, zwischen der Apokalypse und dem Grenzhaft-Hintergründigen, womit die Edda ihre Götterdämmerung vorträgt. Der Olymp kann jenseits der Mittelmeerwelt gar nicht vorgestellt werden, aber der rauchende Sinai stimmt gut zum Norden, ebenso wie die Wolke und die Feuersäule. Woher denn auch Macpherson seine Sprache zu gleichem Teil den Psalmen, dem Bibelton Miltons und den erhaltenen gälischen Liedern entnimmt. Und so kommt von der Grenzsituation, die Geheimnis heißt, dieser Zuschuß des Verhüllten im Orient zur Verhangenheit im Norden: ultima Thule stimmt auf ganz besondere Weise zur letzten Grenze, zum Ende der Welt. Damit erschließt sich die Verhangenheit Thules zugleich in ihrem Grenzsinn selbst: sie ist, wie Herder sagt, »ein Ausgang der Welt in Erhabenheit«. Der leibhaft so unverständliche Zug nach Norden wird dadurch klar: die Anziehungen des Südens und des Nordens treffen auf verschiedene Seiten der menschlichen Natur, auf ihren Johannistag hier, ihre Weihnachten dort. Südwärts utopisiert sich eine Lebensfülle geographisch, die den Tod zwar kennt, aber weder ihn noch den Gegenzug gegen ihn pointiert; nordwärts utopisiert sich ein Todeszauber geographisch, der eine ganze Weltvernichtung in sich einschließt, aber auch überwinden will, mit paradoxer Heimat. Thule ist die geographisch-dialektische Utopie einer Welt, die ausgeht und untergeht, doch mit dem dauernd ineinander verschränkten Kontrastbild von Sturmnacht und Burg. Thule im Nordmeer ist die Mystik des schlechten Wetters, mit dem Kaminfeuer mitten darin. Bei Herder-Ossian rührte sich »die Harfe, die düstre, / Gehüllt in Morgengrau, / Wo aufsteigt tönend die Sonne, / Von Wellen die Häupter
blau«. So ist diese Art geographische Utopie auch im hohen Norden geblieben, wurde am Entdeckt-Vorhandenen nicht gegenstandslos. /(915)
Bessere Wohnstätten auf anderen Sternen; hic Rhodus
Noch eine andere als die waagrechte See lockt, nämlich die senkrechte über uns. Der Luftraum war zwar lange genug unzugänglich, doch dafür ist er durchsichtig, er versteckt sein Dahinter nicht. Er versteckt es gerade in der Nacht nicht, unzählige winzige blitzende Küsten gehen dann auf. Und ein uralter Wunsch zielt dahin, diese Küsten zu befahren, an ihnen zu landen. Dieser Wunsch ist bis jetzt zweifellos noch ausschweifender, als es der des Kolumbus war, obwohl er weniger mythisch ist. Immerhin streift er den alten Archetyp, wonach die Sterne der Sitz besserer Gestalten sind. Was zu diesem Oben hinaufzieht, setzt in der säkularisierten Form, zu der es geworden ist, freilich nicht einmal unbedingt Bewohner voraus. Der Lockung in den Weltraum genügt es zum einen Teil, daß der Mensch sich selbst als Besucher auf diese fernen Körper denken kann und daß er, wenn nicht Vollkommeneres, so doch höchst Absonderliches dort vorfinden wird. Der imaginäre Fahrer braucht dazu nicht einmal in Schwärmerei zu geraten, außer der, daß er seinen Körper und seine Sinnesorgane intakt in solch völlig veränderte Verhältnisse mit hinauf nehme. Alles andere, soweit es sich nicht auf Bewohner oder gar auf deren Vollkommenheit bezieht, sondern eben auf höchste Absonderlichkeit, ist nicht einmal hypothetisch, sondern es stimmt, hier beginnt wirklich äußerste Fremde. Der Himmel auf dem Mond wird schwarz, die Sterne scheinen grell am Tag, die Sonne gleißt und bombardiert, durch keinen Luftschleier gemildert. Unvermittelt neben Licht steht dort eine Wand aus schwärzestem Schatten, alles in lautloser Einöde; über Ringkratern geht die ungeheure Erdkugel auf, mit den Großstädten als Lichtpunkten. Der Leib hätte auf den kleineren Planetoiden fast überhaupt kein Gewicht mehr, und ein Sprung müßte bereits in den Weltraum führen; auf großen dichten Himmelskörpern dagegen läge der Leib vor Schwere angekettet, er wäre wie Granit. Dann der Tag auf dem bleichen Saturn, mit den unzähligen Körpern des Rings über sich, dann der Blick von einem Jupitermond auf den Planeten, der den halben oder ganzen Himmel füllt. Das alles gibt es und noch unvorstellbar viel /(916) anderes, jungfräuliches Land in unzugänglich-imaginärer Ferne. Und das völligst Ungeheuerliche geschieht auf den Myriaden Fixsternen selber, auf diesen explosiven Blüten und Lichtern der kosmischen Entwicklung. Das Absonderliche ist so der eine Teil der astronomischen Lockung, er setzt die Sucht nach dem » Curiösen« fort, die das Barock fremden Zonen entgegenbrachte. Der Himmel ist darin lauter physisches Wunderland oder terra secreta außerhalb der Erde ,gerade als terra inhabitabilis. Aber der andere Teil der Lockung freilich, der Teil, worin der Himmel noch als Sitz verklärter Gestalten nachwirkt, setzt statt bloßer Absonderlichkeit Bewohnbarkeit, und zwar plus der Bedeutung: Mars, du hast es besser. Dies Bewohnte, auch Bessere wurde zunächst, so von Kepler, auf dem Mond gesucht. Kepler hielt die durchs eben erfundene Fernrohr gesehenen Krater für riesige Städte mit kreisförmigen Wällen. Dann, als der luft- und wasserlose Trabant mindestens keine der Lebensformen zuließ, wurde bekanntlich der Mars erwählt, und seine Kanäle überboten die Stadtwälle, auch an angenommener technischer Vollkommenheit. Die so rasch populär gewordene und in der Tat relative Ähnlichkeit der Lebensbedingungen auf dem Mars mit den irdischen ließ den Planeten durchaus als terra habitabilis vermuten. Hinzu kommt die, im Vergleich zur Erde, ältere Verfestigung der Marsoberfläche, dem geringeren Umfang des Planeten
entsprechend. Demnach könnte dessen mögliche Zivilisation sehr wohl einen »Vorsprung« von einigen Millionen Jahren vor der Erde haben, vorausgesetzt, daß Zeitlänge auch nur im großen ganzen gleich Entwicklungslänge ist. Die Marsphantasien sind dementsprechend in der Hauptzahl mehr zivilisatorische als kulturelle, gar messianische; so haben sie am Planetenhimmel nicht sowohl die Stelle »Indiens« wie die »Amerikas« eingenommen. Die Nachbarerde Mars reflektiert in den Bildern der analogischen Einbildungskraft, welche sich auf sie richtet, geradezu den Stand, auch Rang der jeweils auf der Erde herrschenden »Amerika«-Utopien. Daher führen die zahlreichen legendären Mars-Geographien auch viel leichter ein Triviales mit sich als die älteren über die Himmelserden. Und unter diesen älteren tritt nach Keplers Phantasie-, Utopie-Auswanderung besonders diejenige Kants hervor; aus seiner vorkritischen Periode, wie sich /(917) von selbst versteht. Kant, im spekulativen Anhang zu seiner »Naturgeschichte und Theorie des Himmels«, wollte außerdem weit entlegenere Planeten für eine vorgeschrittene Welt erschließen. Nach ihm befinden sich die wirklich »glückseligen Gegenden« nicht, wie Mars und Erde, in mittlerer Entfernung von der Sonne, sondern erst im weiten Abstand der äußeren Planeten. Jupiter und Saturn werden derart ausgezeichnet: die abnehmende Dichtigkeit der Materie in beiden, die fernstehende Sonne schienen dem Philosophen sozusagen reinere Welt zu begründen. Eine Idolatrie des Nordens ist darin unverkennbar, gleichsam mit Jupiter und Saturn an Stelle der Taciteischen »Germania«. Sogar eine Abart von Utopie Thule ist gewissermaßen erkennbar: nicht nach Seite Ossians, durchaus nicht, aber nach Seite einer arktisch, überarktisch verlegten Stoa. Echt Kantische Abneigung gegen Weichheit und Zephyr, gegen Sinnenschmelz, Subtropisches, Pflichtloses wandert so in ihr planetarisches ÜberKönigsberg aus. Und Kant wagt die Analogie: »daß die Vollkommenheit der Geisterwelt sowohl, als der materialischen in den Planeten, von dem Merkur an bis zum Saturn oder vielleicht noch über ihn hinaus (wofern noch andere Planeten sind) in einer richtigen Gradfolge, nach der Proportion ihrer Entfernungen von der Sonne, wachse und fortschreite« (Werke, Hartenstein, I, S.338). Der vorkritische Kant imaginierte damit ein ganz ausschweifendes Gegenstück zur Newtonschen Formel von der Abnahme der Schwere im Quadrat der Entfernung; das heißt, mit der Abnahme der Gravitationsanziehung soll die Anziehung der Reinigkeit wachsen, dem erträumten Gegensatz von Schwere und geistigem Licht gemäß. Das also sind einige der Weisen, in denen ein orbis habitabilis den Zauber des Sternenhimmels technisch oder auch wunsch-moralisch bevölkern ließ. Die Himmelstiefe wurde dadurch veranlaßt, ein Element irdisches Paradies abzuwandeln, freilich als eines, das doch immer wieder eine erhellte Erde war, eine gleichsam in ihren Meistergrad erhobene. Kant hat diesen Rückbezug auf Mensch und Erde später, in den »Träumen eines Geistersehers«, selber sehr überzeugend und doch ohne Verlust der echten Höhe ausgedrückt: »Wenn man von dem Himmel als dem Sitze der Seligen redet, so setzt die gemeine Vorstellung ihn gern über sich, hoch in dem unermeß- /(918) lichen Weltraume. Man bedenkt aber nicht, daß unsere Erde, aus diesen Gegenden angesehen, auch als einer von den Sternen des Himmels erscheine, und daß die Bewohner anderer Welten mit ebenso gutem Grunde nach uns hinzeigen könnten und sagen: Sehet da den Wohnplatz ewiger Freuden und einen himmlischen Aufenthalt, welcher zubereitet ist, uns dereinst zu empfangen. Ein wunderlicher Wahn nämlich macht, daß der hohe Flug, den die Hoffnung nimmt, immer mit dem Begriffe des Steigens verbunden ist, ohne zu bedenken, daß, so hoch man auch gestiegen ist, man doch wieder sinken müsse, um ebenfalls in einer anderen Welt festen Fuß zu fassen« (Werke, Hartenstein, II, S.340). In alldem steckt
der Glaube, der keineswegs selber sinkende, daß die Erde selber das Bessere auf anderen Sternen, falls eines ist oder wird, in sich halten könne. So daß das Siderische, utopischen Sinns, droben zwar seine Lockng oder ein Sinnbild hat, jedoch hier unten, unter Menschen, gesucht werden muß, betrieben werden kann. In der »Heimlichkeit des Firmaments der Erde«, wie Paracelsus mit paradoxer Mischung oder Herübermischung von Firmament in Erdboden sagt. Gibt es Bewohner auf anderen Sternen, so besitzen sie mindestens technisch keine bedeutend größere Vollkommenheit; denn noch kein sogenannter Marsriese ist auf der Erde gelandet. Die Welt, die die Erde durch Kontakt mit hypothetisch bewohnten anderen Planeten hinzubekommen könnte, ist rein den Menschen und ihren Raketenantrieben überlassen geblieben. Die fernen blitzenden Lichtpunkte ließen zwar die Menschen zuerst aufblicken, der bestirnte Himmel gibt das Urbild von Friede, Erhabenheit, Heiterkeit, jedoch auf der Erde ist dieses Bild auch eine Aufgabe und ein Ziel - hic Rhodus, hic salta, hier ist die Kuppel, hier steige. Die Kopernikanische Beziehung, Baaders »Zentralerde« Wie aber, wenn die Kuppel nur ganz abseitig dastehen sollte? Wenn sie so sehr in einem Winkel versteckt ist, daß sie sich vergebens wichtig macht? Kolumbus hielt die Erde noch für die Mitte der Welt, ein Menschenalter später wurde sie daraus bei Kopernikus entthront. Damit rückte auch der Mensch, nicht bloß /(919) sein Schauplatz, aus der Weltmitte heraus. Es wird gleichgültig, fast lächerlich vor kosmischen Maßen, wieweit sich das Sandkorn sublimiert und erhöht. Die Kuppel wächst auf einem astronomisch durch nichts »ausgezeichneten« Planeten, und dieser dreht sich um einen Fixstern knapp mittlerer Größe. Doch hatte diese Herabsetzung anfangs noch nicht das Totale, das sie nachher gewann und das sie neuerdings wiederum nicht behalten hat. Die Vorrede zum Werk des Kopernikus, die freilich nicht von ihm selbst verfaßte, hatte das heliozentrische System nur zum Zweck eines besseren Vollzugs der astronomischen Rechnungen empfohlen. Den vorgeschlagenen Hypothesen genügte es, »si calculum observationibus congruentem exhibeant«. Diese Einschränkung geschah damals, um die Kollision mit der Bibel abzuschwächen, sie wird heute mißdeutet, aber als physikalisch gewissenhafte Feststellung bleibt sie lange vor Einstein, gar Mach höchst bemerkenswert. Denn was die heliozentrische Theorie vor der geozentrischen astronomisch voraus hat, ist in der Tat ihre rechnerische Einfachheit. Nicht weniger als elf Bewegungen des Ptolemäischen Systems wurden dadurch überflüssig, Kepler gab die hinreißend klaren Umlaufsgesetze, Newton begründete das Ganze durch die Gravitationsformel. Das System setzte lediglich einen ruhenden Raum voraus, in dem absolute Bewegung, absolute Translationsgeschwindigkeit wirklich vorkommen, eindeutig bestimmbar und meßbar sind. Aber es ist nun allerdings gerade diese Voraussetzung, die gefallen ist: denn auf keine Weise ist die Bewegung eines Körpers gegen einen leeren ruhenden Raum oder auch gegen einen den Raum erfüllenden ruhenden Äther nachweisbar. Mit anderen Worten, dem elementaren Relativitätsprinzip entsprechend: wenn zwei Beobachter sich mit gleichförmigen, aber verschiedenen Geschwindigkeiten bewegen, so kann jeder der beiden mit genau dem nämlichen Recht behaupten, daß er relativ zum leeren Raum ruhe, und es gibt keine physikalische Messungsmethode, um zugunsten des einen oder des anderen zu entscheiden. Aufs Sonnensystem angewandt, ist die Wahl des als ruhend, des als bewegt gedachten Körpers gleichfalls der kinetischen Relation nach offen; hier ändert sich erst etwas bei der jeweiligen, speziellen Kausal-Relation.
Diese rein physikalische Erkenntnis darf also keinesfalls mit grundfal- /(920) schen erkenntnistheoretischen Folgerungen aus ganz anderer Herkunft vermengt werden, nämlich mit physikalischem Idealismus, Fiktionalismus, aber sie kann ebendeshalb auch nicht in ihrer rein physikalischen Feststellung als fiktionalistisch abgelehnt werden. Indem folglich mit dem Wegfall eines leeren ruhenden Raums keine Bewegung gegen ihn vorkommt, sondern lediglich eine relative Bewegung von Körpern gegeneinander, und deren Feststellung von der Wahl des als ruhend angenommenen Körpers abhängt: so könnte, falls die Kompliziertheit der dabei auftretenden Rechnungen dies eben nicht als untunlich erscheinen ließe, nach wie vor die Erde als feststehend, die Sonne als bewegt angenommen werden. Dazu besteht freilich um so weniger Anlaß, als gerade die Kausalerklärung aus der Masse Sonne die Gravitionsbewegung erklären läßt, mithin die Sonne als physikalischen Mittelpunkt zeigt; so steht sie doch auch methodisch am rechten physischen Fleck. Die Lehre des Kopernikus bleibt auch dann noch best-abbildlich gültig, wenn die Relativität der Bewegung überhaupt keine absolute Feststellung von Bewegung und Ruhe zuläßt. Aber nun ein anderes, ganz und gar nicht Physikalisches, was nämlich das Lageproblem der Erde als Schauplatz der menschlichen Geschichte angeht: Ist die Astronomie bereits das Ganze und die totale Sache selbst? Gibt es, nachdem die Erde als Trabant, die Sonne als ruhender Bezugspunkt immerhin relativ zueinander stehende Bestimmungen sind, keinen anderen, nach wie vor absoluten »Bezugspunkt«? Dergestalt, daß die Erde des Menschen dennoch in der »Mitte« oder zentral bliebe, von anderen als astronomischen Zusammenhängen her und mit Hinblick auf die Rolle, die die Erde ja nicht nur in der Himmelsmechanik spielt. In der Tat ist es wichtig, daß solch ein anderer »Bezugspunkt« nie zu existieren aufgehört hat, trotz des durch Kopernikus uminterpretierten Uhrwerks. Er liegt auch keineswegs außerhalb der Wissenschaft, er liegt nur außerhalb der total gemachten, als diese Totalität ohnehin unhaltbaren alten Mechanik. Mithin: ein anderes als das mechanisch-totale Bezugssystem, eines der menschlichen Wichtigkeit, hat unseren Planeten, in dieser Relation, durchaus nicht aus der »Mitte« gelöst. Mit anderen Worten: Nachdem die Relativität der Bewegung außer Zweifel steht, hat ein humanes und ein /(921) älteres christliches Bezugssystem zwar nicht das Recht, sich in die astronomischen Rechnungen und ihre heliozentrische Vereinfachung einzumischen, wohl aber hat es das eigene methodische Recht, für die Zusammenhänge der humanen Wichtigkeit diese Erde festzuhalten und die Welt um das auf der Erde Geschehende und Geschehenkönnende herumzuordnen. Das und nichts anderes bleibt in diesem Punkt als Humanes aus dem »Ptolemäischen« der Bibel und auch Augustins: mit der civitas Dei, die sich auf der Erde, nicht auf der Sonne, utopisch durchkämpft, herauskämpft. Die biblische Ordnung gibt sich als relativitätsfrei, denn sie ist nicht mit mechanischen Bewegungsproblemen befaßt, sondern mit Rangproblemen. Und sie braucht zu deren Bestimmung keinen leeren ruhenden Raum oder ruhenden Äther, sondern allein die Invariante eines utopischen Humanum. Die Erde ist hier also Zentrum im Sinn der »zentralen Bedeutung«, um die sich die Welt dreht. Dann gilt die Erde weit überwiegend nicht als Provinz; konträr, sie wird den Patrioten der humanen Kultur zugleich die Hauptstadt des Alls. Sie wird ihnen freilich diese Hauptstadt erst, sie reift erst dazu. Keiner hat in neuerer Zeit dieser Art Zentralerde einen so pfäffisch gehaltenen, aber darauf, wie man sehen wird, nicht nur beschränkten Ausdruck gegeben wie Franz Baader. Die geozentrische Hoffnung Baaders meint die mit Christus tingierte Erde, eine Tingierung, die im Menschen beginnt und von hier zu seinem Schauplatz und der anderen Natur fortschreitet. Die Welt ist danach keine pantheistische Statue Gottes,
gar das Unding einer unendlichen Statue, wohl aber ist die Erde eine bescheidene Höhle, in der der Gott geboren wurde. Die Schrift »Begründung der Ethik durch die Physik«, 1813, - nämlich durch eine verwandelte Physik - formuliert das folgendermaßen: »Denn wirklich sollte der Mensch der offene Punkt in der Schöpfung in einem noch höheren Sinne sein, als dieses die Sonne ist, und wenn er folglich wieder ein solcher wird, wenn das höhere Leben frei und ungehemmt wieder in ihm aufgeht, so ist wohl begreiflich, wie jede niedrigere Natur, die in Beleuchtungs- und Wirkungssphäre dieses wieder geöffneten Sonnewesens tritt, sofort auch ihr eigenes, bis dahin verschlossenes Leben aufschließen wird, und wie also der Mensch, jenem Orpheus in der Fabel gleich, /(922) Harmonie und Segen auch in der niedrigeren Natur um sich verbreiten und wenigstens in seiner Einzelsphäre jenen Naturzustand (als Naturverwandlung) gleichsam antizipieren wird, dessen allgemeine Herstellung die Ethik in der Idee des höchsten Gutes apodiktisch fordert« (Werke V,S. 32 f.). Das ist der Grundton; das Problem eines humanisierten Naturbezugs ist, wenn auch mystizistisch verzerrt, unverkennbar. Und von hier aus scheint die Herabsetzung der Erde nur dann als richtig, wenn nach Zahl und Maß, keineswegs aber, wenn nach Gewicht (im Sinn der humanen Wichtigkeit) gemessen wird. Daher: »Die Erde steht einen Grad äußerlicher oder tiefer als das übrige Himmelsgestirn, somit unter diesem... Und doch hält diese Erde das Köstlichste der Schöpfung in sich verborgen und begraben, weswegen man sie treffend mit dem Senfkorn im Evangelium vergleicht, welches, obwohl das kleinste unter den Samenkörnern, mit seinem Gewächs doch über den ganzen Himmel sich verbreiten wird ... Die Erde ist in der materiellen Ordnung das, was der Mensch in der höheren, und wie es nur einen Menschen im Weltall gibt, so auch nur eine Erde. Beide, der Mensch und die Erde, sind die geheime Werk-, Bildungs- und Umbildungsstätte der Zentralwesen und ihrer Fühlbarkeit... Die Einzigkeit der Erde und ihrer Bestimmung im Weltsystem steht mit der Einzigkeit des Menschen und seiner Bestimmung im engsten, und zwar nicht bloß zeitlichen Verband. Damit fällt auch die moderne begrifflose Vorstellung des Himmels als einer zahllosen, einförmigen, also überflüssigen Wiederholung derselben Sonnensysteme und so weiter in ihr Nichts zurück« (Werke IX, S.282, XIV, S.44, III, S.317). Die Stoiker hatten einmal ihre Dreiteilung der philosophischen Wissenschaften so erklärt: die Logik sei der Zaun, die Physik der Garten, die Ethik die Frucht. Bei dem christlichen Baader ist diese Frucht apokalyptisch und so der Garten nicht Physik schlechthin, sondern die Erde, worauf sich schon einmal, als Zeichen dessen, was sie sein kann, das Paradies befand. Daher: »Wenn schon diese Zeit nur der Winter der Ewigkeit ist, so vermag doch der Mensch, gleich einem verständigen Gärtner, auch mitten in diesem eisigen Winter wenigstens einzelne, wenn auch nur flüchtige und schnell sich wieder schließende Blüten der Ewigkeit hervorzurufen: jenen Paradieseszu/(923) stand der Natur hiermit außer sich vorbildend, wofern er ihn bereits in sich bleibender vorbildete« (Werke II, S.121). Das Eiland St. Brendans, das Kolumbus-Paradies lagen ganz oder über die Hälfte in einem Jenseits des bekannten Raums, nicht auch in einem Jenseits der bisher entwickelten Zeit: Baader fügte den alten Träumen den wahrhaft biblischen eines Plus ultra der Zeit hinzu. Baader war zwar selber durchaus mythologisch gebunden, ja überfüllt, seine Lichterde in der Mitte ist ihm immer auch eine wiederhergestellte, eine früher gut gewesene; doch bei dem erwartungsvollen Geosophen fehlt das Novum Eden, infolge eines Prozesses, nicht. Seine Erd-Alchymie verstand sich, außer auf Rekurs zum Urstand, auf »Gärung«, auf »Silberblicke« eines kunftigen Metalls, auch auf ein »energisches Gefühl der Freiheit«, wie es gerade dieses im mythischen Paradies
bekanntlich nicht gab. Dem entspricht folgende Bekundung: »Es ist ein Grundvorurteil der Menschen, zu glauben, daß das, was sie eine künftige Welt nennen, ein für den Menschen geschaffenes und vollendetes Ding sei, das ohne ihn besteht wie ein gebautes Haus, in welches der Mensch nur einzugehen braucht, während doch jene Welt ein Gebäude ist, dessen Erbauer er selbst ist, und welches nur mit ihm erwächst« (Werke VII, S. 18). Die Erde der Mitte befindet sich also nicht nur dort, wo Athen, Jerusalem, der Berg Zion lokalisiert sind. Die Mitte steht vielmehr in einer überhaupt erst werdenden Welt, obzwar in einer auf der Erde angelegten und gewinnbaren. Zum Bezugspunkt der Wichtigkeit, dem durchaus nicht-astronomischen, kommt so der allerheftigstutopische hinzu: der einer beheimateten Seligkeit. Säkularisiert heißt er Himmel auf Erden, apokalyptisch hieß er Erde (mit nichts als Jerusalem) im Himmel. In beiden Hoffnungen dreht sich die Welt wirklich um die Erde, wenn auch um sie als eine noch werdende, um eine Schwangerschafts- und Geburtsstätte von mehr und anderem Licht. Item: nach Zahl und Maß ist dieses Bethlehem eine der geringsten unter den Städten Judäas, nach Wertgewicht übertrifft es das Weltall. Alle Millionen Lichtjahre sind kürzer als Goethes Leben, und der Raum, den sie durchmessen, ist leer, aber die Erde ist die utopische Essenz des Weltalls. Die menschliche Geschichtszeit auf ihr ist ebenso die gefüllte Goldzeit, wie der irdisch gestaltete Raum der Goldraum /(924) des Universums, das heißt, der auf seine Substanz zusammengelegte. Hic Rhodus, hic salta, hier ist die Kuppel, hier steige: - das stellt an diesem Ende also nicht nur Liebe und Verpflichtung zum Utopikum eines irdischen Paradieses dar, sondern ein Substanzbewußtsein des irdischen Schauplatzes, das sich von der astronomischen, lediglich astronomischen Unendlichkeit rundherum keinesfalls entwertet sieht. Das Universum ist außer seiner Größe zuverlässig voller Bedeutungen und Chiffern, voll weit haltbarerer, als es etwa die Figuren des Tierkreises waren, die die alte Astronomie imaginiert hat. Aber wenn diese Chiffern: die der anorganischen Natur insgesamt, einen Sinn haben, so bezieht er sich, als Sinn, ebenso zuverlässig auf die Angelegenheiten und Bedeutungsinhalte der bewohnten Erde. In der stummen Verschlossenheit der Welt extra terram ist dieser Sinn überhaupt nicht ausdrückbar, er bleibt darin gefrorene Entäußerung. Eine utopische Zentralerde dagegen mag ihn enthalten und konzentrieren - mit einem Markusplatz, der jetzt schon essentieller dreinsieht als die gesamte Inflation bloß astronomischer Unendlichkeit; mit einer Akropolis, der ihr durchaus umbauter Raum genügt, um einen Vor-Schein des humansten darin zu bilden. Geographische Verlängerungslinie in Nüchternheit; der Fundus der Erde, mit Arbeit vermittelt Es sieht aus, als wären fast alle fernen Küsten entdeckt. Wenige bewohnbare Länder sind noch unbetreten, und die blaue Blume fehlt. So blieb nichts, fast nichts von dem geographischen Traum in seiner alten Gestalt erhalten. Trotzdem ist die Erde nicht zu Ende gelernt noch, im zeiträumlichen Sinn, zu Ende erfahren. Sie ist es nur in ihrer gegebenen Breite, nicht in ihrer aufgegebenen Tiefenrichtung, entdeckbaren Verlängerungslinie. Diese Linie läuft in der Vermittlung, in der Wechselwirkung zwischen Menschen und Erde, in diesem schlechthin noch unabgeschlossenen Verkehr. Sie läuft in der Wirtschaftsgeographie, in der politischen, technischen, kulturellen, jedoch eben im Erdraum und Erdgegenstand selbst, sie läuft in Wirtschaft, Politik, Technik nicht nur als lauter gesellschaftlichen Vorgängen. Sondern die Erde selber spielt im Stoffwechsel zwischen Mensch und
Natur /(925) mit, in einer Wechselwirkung mit ebenso mächtigem wie veränderungsfähigem Naturanteil. Klima, vorhandene Rohstoffe bestimmten die jeweils entstehende Menschenwelt objekthaft; und die Menschenwelt lag niemals auf dem Mond, niemals im reinen Geist. Sie lag auf der Erde, die der menschlichen Arbeit die physischen Möglichkeiten gab und die ebendeshalb selber durch diese Arbeit verändert worden ist, zur Agrar-, zuletzt zur Stadt- und Industrielandschaft. Einige riesige Wüsten, Hochgebirge, Urwälder, vorläufig noch die Antarktis abgerechnet, kamen so fast alle Gebiete der Erdoberfläche in menschlichen Aktionsradius, wurden durch den Gesellschaftszustand und je nach dem Gesellschaftszustand verändert, sprechen neu in ihm mit, kurz, sind Erde in ebenso variierter wie unabgeschlossener Verlängerungslinie geworden. Am großartigsten gab die Sowjetgesellschaft ihrer Naturwissenschaft und Technik den Auftrag zum Umbau der Natur. Hier kulminiert das mit den ersten Ackerbauern begonnene Geschäft der Rodung ins bisher Unvorstellbare; Pflanzen, Ströme, Klima sehen sich verändert, noch die Tundra wird zu Getreideland umgeschaffen. Die Sowjetunion befördert damit in riesigem Maß die Gesichtsbildung der Kulturlandschaft, zu der die Erde fähig ist und in der sie seit ihrer ersten Bebauung sich ausbreitet. Geographie ohne und vor dem Menschen gibt es in bewohnten Gebieten nicht mehr, doch gerade deshalb hört sie selber nicht auf, um für die Geschichte umfassend zu sein als Schauplatz wie Rahmen. Wie die Maschinenwelt (die Welt der Arbeitstransformatoren zum Zweck menschlichen Nutzens) eine Art unnatürlicher Physik darstellt: fast ebenso schafft der Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde eine Art supernaturierter Geographie. Mit dem Unterschied, daß die Technik viel leichter ins Listige und Überwältigende geht, viel anschlußloser und abstrakter auskalkuliert sein kann als das eigentliche Landschaftsprodukt menschlicher Arbeit. Dieses kann zwar ebenfalls, im Zusammenhang mit der Technik, künstlich genug dreinsehen, doch arbeitet die Erdnatur sogar in der Industrielandschaft noch sichtbarer, gegebenenfalls hemmender mit als elektrische Natur in der Dynamomaschine. Die Erde bleibt auch für einen noch so weitgehenden Umbau der Schauplatz und Rahmen, ein mächtiges und sichtbares Stück des Materialinhalts dazu. /(926) Genau deshalb also gibt es in jeder Geographie der Verbesserung eine konkrete Utopie künftiger Erdbeschaffenheit (gemessen an alter Geographie), die an den Träumen vom irdischen Paradies ihr - durch Phantastik und Mythologie nicht entwertetes - Grenzideal hat. Dieser utopische Fundus lebt ohne mythische Hülle im Totum (dem selber allemal nur erst latenten) der politisch-kulturellen Geographie, nach Durchmessung und hinlänglicher Bekanntheit der physischen. Es gibt in der Gäa noch viele Kinder, und sie verändert sich mit ihnen; ebenso ist die Sprache der geographischen Natur noch keine ausgestorbene, das Gesicht der Erde noch kein hippokratisches und nur als Vergangenheit aufnehmbares. Mit und durch die Veränderungen der Menschen kann es vielmehr nach Diluvium und Alluvium, nach der Quartärperiode unseres Sterns noch die Quintärperiode geben, mit besser erreichtem Fundus dessen, was in der Erde, als keinem geologischen Antiquanum, potentialiter noch steckt. Die Erde insgesamt, in ihrer Latenz, ist der unfertige Raum einer Szene, deren Stück in unserer bisherigen Geschichte noch keineswegs geschrieben worden ist. Wird freilich schlecht verändert, so sieht der davon betroffene Boden nur geschändet drein. Das ist besonders sichtbar in den entsetzlichen Straßen und Vororten, die das neunzehnte Jahrhundert hinterlassen hat. Als Grind und Geschwür sitzen sie der Landschaft auf, vielmehr: diese ist völlig zerstört. Mit ihr Gesundheit, reine Luft, das Licht, das ungezwungene Baumgrün; fast merkwürdig, all das im
freien Land noch vorzufinden. Das kapitalistische Zeitalter hat die endlosen Straßen gesetzt, die Profithäuser, den ganzen so flüchtig hingemachten Spuk, daß es verwundern läßt, ihn am Morgen noch anzutreffen. Es sei denn als Passade der Hölle, ausbleichend, ausdörrend, nicht auf guter Erde gebaut und zu ihr gehörend. Wird selbst Erde einbezogen, als sogenannter Grüngürtel oder in den Auflockerungen der Gartenstadt, dann sieht dies Pastorale drein, als seien noch die Bäume gefälscht. Die künstliche Wüste, die als Stadtform des neunzehntenJahrhunderts die Landschaft unterbricht, ist stärker als die kalkuliert beigebogene Natur, die hier nur als Ausgleich dient; die Leere und Verdinglichung, die Abstraktheit und Leichenhaftigkeit sind stärker. Aber nicht, als hätte nun das Gegen- /(927) teil: die gute, die nicht-abstrakte Veränderung, ihre Ehre darin, so zu scheinen, als wäre sie in die vorhandene Natur lediglich eingebettet; als wäre sie bodenständig, im so bald provinziellen, so leicht reaktionären Sinn des Worts. Als bliebe nicht Umbau des Sterns Erde die utopische Parole, statt solch stockender Bodenständigkeit. Von ihr muß vielmehr abgestoßen werden, es muß durchaus auf die Schiffe gegangen werden, nicht bloß mit der altertümlichen Energie der Entdeckungsfahrten, auch mit der Intention auf geographische Verlängerungslinie, aufs Ultraviolett im Spektrum. Die geographische Verlängerungslinie geht wie aus Künstlichkeit so auch aus Bodenständigkeit durchaus heraus; denn ihr Ziel bleibt die mit dem Menschen vermittelte, die zu seinen Zielen geneigte Welt. Ein aus den heidnischen, dann christlichen Vorstellungen vom irdischen Paradies jeweils säkularisiertes Bild ist die Ideallandschaft; diese aber erschien allemal als ebenso verändert-berichtigte wie zu einer eigenen Freundlichkeit entbundene Natur. So ragte sie seit je in die sozialen, technischen wie architektonischen Utopien herein, auch dann noch, als die Produktivkräfte genügend entwickelt waren, um keine Traumfelder mit tausendfältiger Frucht zu brauchen. So hat Ideallandschaft, nicht als Feld, aber als Erdgarten, die mannigfachen Freuden und Träume eines Lebens jenseits der Arbeit umgeben, vom Arkadien der Antike bis zum sanften oder erlauchten Pastorale des Barock. Und obwohl sich vielerorts nur subjektive Phantasterei in diese Art Übererde eingezeichnet haben mag, bleibt es doch unübersehbar, daß gerade der genaueste Wirklichkeitssinn, derjenige Homers, das leuchtendste Modell einer Ideallandschaft geliefert hat und liefern konnte: in der Beschreibung der Insel der Kalypso. Woraus sich auch dieserseits ergibt, gegen Abstraktheit außerhalb der Natur wie gegen falsche Bodenständigkeit: an allen Verbesserungen konkret möglicher Art ist ein Realismus sui generis am Werk, und dieser hat seine Quelle in eben keinem anderen als in geographisch objektivem Material, als einem objektiv- utopischen, objektiv-latenten. Der Fundus objekthafter Möglichkeit, der hier Erde heißt, sichert der geographischen Verlängerungslinie, daß sie Fahrstraße zu ganz neuem, obzwar in der Welt angelegtem Land sein kann. Die Intention auf solche Ideallandschaft, also die gründliche geographische Utopie, ist zwar /(928) eine höchst extreme, wie bemerkt, jedoch die Konsequenz einer Nicht-Utopie in diesem Gebiet wirkt nicht weniger extrem und entsetzlich dazu. Denn nimmt man die Verlängerungslinie zu der humanisierbaren Erde gänzlich weg, dann bleibt jeder menschliche Einbau in die Welt letzthin nichtig. Abstrakt-idealistische Einsamkeit des menschlichen Werks auf und an der Erde, nihillstische Anschlußlosigkeit folgen dann unausweichlich aus dem Ausfall der geographischobjektiven Verlängerungslinie. So hoch diese Linie letzthin in Grenzideale, wie das irdische Paradies des Kolumbus, sich versteigt, so schrecklich führt ihre Verneinung in totale Einsamkeit der menschlichen Ziele auf der Erde, in der Welt, und dahinter führt sie ins Nichts. Vor allem in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts
hat ein unendliches zentrifugales Allgefühl, ohne die Gewichtigkeit Erde darin, überwiegend Verlorenheit erzeugt. Die menschliche Entwertung, die Kapitalismus heißt, wurde derart durch die quantitative Entwertung des menschlichen Schauplatzes überhaupt, die nur noch Weltozean heißt, ideologisch verstärkt. So am deutlichsten bei Schopenhauer, die angebliche Kümmerlichkeit der kleinen Erde betreffend: »Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede von welchen etwa ein Dutzend kleinerer, beleuchteter sich wälzt, die, inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat: - dies ist die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt« (Werke, Grisebach, II, S.9). Der Optimismus der kopernikanischen Unendlichkeit bei Giordano Bruno, bei Spinoza nahm den Menschen noch auf, gerade in seinem » eroico furore« hier, in seinem » amor dei (sive naturae) intellectualis« dort; der Nihilismus des absinkenden Bürgertums läßt dagegen, indem er das Erdleben zur Sackgasse macht, das Human-Geographische gänzlich im Astronomischen entwertet sein, ohne jeden eigenen Bezugspunkt darin. Und dies also bleibt beim Unvertrauen auf das Humanum in der Welt die extreme Konsequenz der erwählten geographischen Sackgasse. Zum Unterschied von der Konsequenz der erwählten Verlängerungslinie, die, wenn sie in irdische Fernen blicken läßt, dort Empfang und Heimat intendiert. Daß so auf dieser Erde zugleich der Raum für eine neue ist und daß nicht nur die Zeit, auch der Raum seine Utopie in /(929) sich hat: Das meinen die Grundrisse einer besseren Welt, was geographisches Eldorado-Eden angeht. Die Leiber und Häuser, Elektrizitätswerke und Markuskirchen gehören schließlichgleichfalls zur Erdmaterie und ihrer Organisation; sie werden vom Erdganzen umfaßt und dringen mit ihrer eigenen Utopie in die geographische ein. Vor allem die architektonische Raumutopie ist als solche auch eine der Erde; und nicht minder sind die Wunschlandschaften, welche die Kunst, wenn nicht durchs Bauwerk, so durch die Fenster der Malerei oder Dichtung zeigt, als Wunschlandschaften eben noch - Landschaften. Eldorado- Eden verhält sich deshalb zu den übrigen Grundriß-Utopien um fassend; selbst das weit Transzendierende, das »Haus der anderen Seite«, hatte im Horizont der Erde noch einen Ort. Ja sogar wo der Glaube galt, daß die Erde, im Verein mit der übrigen anorganischen Natur, einen Platz besetzt hält, auf den sie nicht hingehört, so bleibt doch dieser Platz selber, auch nach Verneinung und Wegnahme seiner falschen Ausfüllungen: als die Raummöglichkeit von neuem Himmel und neuer Erde. Die Intention aufs irdische Paradies richtete sich derart auf einen in der mündenden Welt, am Delta der Welt, noch erwartbaren Goldraum.
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DARGESTELLTE WUNSCHLANDSCHAFT IN MALEREI, OPER, DICHTUNG
Malen ist Auftauchen in einem anderen Ort. FranzMarc Die Schriftsteller, die wir ewig oder schlechthin gut nennen und die uns begeistern, besitzen ein gemeinsames und höchst bedeutsames Kennzeichen: sie gehen einen bestimmten Weg und rufen auch auf, ihnen zu folgen, und ihr fühlt, nicht mit dem Verstand, sondern mit euern ganzen Wesen, daß sie ein Ziel haben ... Die Besten unter ihnen sind realistisch und zeigen das Lehen, wie es ist, aber da jede Zeile, wie von Saft, vom Bewußtsein des Ziels durchdrungen ist, spürt ihr außer dem Leben, wie es ist, auch das Leben, wie es sein muß, und dies nimmt
euch gefangen.
Anton Tschechow
Schönheit ist das Leben, wie es in ganzer Wirklichkeit sein soll, bis es sein muß. Tschernyschewskij /(930) Videtur poeta sane res ipeas nun ut alise artes, quasi histrio, narrare, sed velut alter deus condere Julius Caesar Scaliger Die bewegte Hand Es führt zu gar nichts, nur auf schöne Art zu fühlen. Das bleibt innen, hat keinen Weg aus sich heraus, wird nicht mitgeteilt. Aber ebenso ist das Innere vorausgesetzt, wo immer künstlerisch gestaltet wird. Ein Ich muß hinter der aufgetragenen Farbe sein, eine Hand, die aufträgt. Ein Gefühl geht durch die bewegte Hand hindurch, fügt sich in das Gemalte ein. So wie andererseits bildende Begabung nur dadurch sich als solche ausweist, daß sie von vornherein auf Gestalten hingeordnet ist, ja überhaupt nichts in sich findet, was nicht auf seinen ausgeformten Platz drängt. Das Handwerk kommt derart nicht zu dem bildend Inneren als anderes, gar Fremdes hinzu, sondern ist das Innere, das sich gürtet und fertigmacht. Wenn auf dem Weg zwischen dem Ich, das etwas kann, und dem Handwerk, das gekonnt wird, etwas verlorengeht, so war es nicht viel wert. Inneres spricht, sobald es etwas zu sagen hat, immer Äußerung; nun sprechen sie beide voneinander. Ein Bild wird darum auch gehört, nicht bloß gesehen, es erzählt das, was man darauf sieht. Und zwar zunächst auf freundliche Weise, Buntes an sich wirkt heiter. Blume und Teppich Zart und reinlich setzt hier die Hand dazu an, zieht aus. Was der Stift zeichnet, soll klar sein, was der Pinsel ausfüllt, bunt. Licht muß durchscheinen können, das Feine lehrt und verrät besonders das Können. An Blume und Glas wird deshalb aufs beste malen gelernt, jedes gute Bild hat einen Schimmer von Blumenstück in sich. Und es hat, dem verwandt, einen Teppich in sich, dies Beet voll ausgeglichener Farben. Erst hinter der reinen, bewältigten Feinheit und durch sie hindurch gehen die Dinge als gemalte auf. Sie werden nun aus Farbe wiedergeboren und geformt, Blume und Teppich gehen dinglich auf, zunächst als Stilleben. Auf diesem wird das Tischtuch durchsichtig auf sich selber, so auch der Teller, das Obst, das Fleisch. Dergleichen kann sich, aus der fort- /(931) bildenden, einschwingenden Farbe, gar nicht genug daran tun, leinenhaft, porzellanen, saftig zu sein. Keine berührte Seide ist so weich und glänzend wie eine tüchtig gemalte, kein Stahl männlicher, blitzender als der durch Blau gegangene. Ebenso ist ein sonst oft Zerstreutes, wie im Teppich, durch einen durchgehenden farbigen Einklang nahe zusammengehalten. Nichts stört und wird gestört, alles handelt an Ort und Stelle, ist sich verwandt und zugehörig, weil insgesamt von Farbe geboren. Sie ist hier der Urteig, und sie bringt das von ihr jeweils Gebildete, ganz gleich, wie verschieden es im Leben ist, auf farbigenNenner. Aus zugrunde liegendem Weiß werden Schürzen wie Tassen nuanciert, aus Rot der Hummer wie die Rose. Das Stilleben wird durch die Blume erzogen, wird ein Strauß, der sich selbst überreicht. Überflüssig zu sagen, daß er selber, wie alles darin, von
geringer Größe ist. Stilleben aus Menschen Zur Nähe überhaupt mag es gehören, daß sie eng ist und so wirkt. Kleine Fläche zieht zusammen, macht einen freundlich faßlichen Kreis. Sie malt ein Dasein, das im Leben leicht stockig werden kann, als vorgemaltes aber merkwürdig warm ist. Zahmes Behagen hat darin Platz, das sich brauchbar bescheidet, aber auch Lust am sicheren Kreis und in ihm. Das vor allem dort, wo der Kreis aus eigener Kraft gewonnen und das Leben darin nicht verhockt, sondern gesichert und umgrenzt ist, also derart friedliche Wärme vorzeigt. So im holländischen Innenbild, alles wird hier Stube, auch die Straße, überall brennt ein Ofen, auch draußen im Frühling. Vermeer, Metsu, Pieter de Hooch haben solch behagliches Wohnen dargestellt, ein home sweet home noch ohne Muff. Die Frau liest einen Brief oder bespricht sich mit der Köchin, die Mutter schält Äpfel oder überwacht ihr Kind in einem Hofraum. Die alte Dame spaziert auf der Straße einer hohen Mauer entlang, jenseits dieser blicken Dachgiebel herein, sonst geschieht nichts, Sonnenstrahlen laufen durch die kleine stille Szene. Und im eigentlichen Inteneur wird die Stille ganz zu dem, als was ruckende Tauben auf einem alten umschlossenen Hof sie aussprechen; durch verschieden einfallendes Licht ist sie gegliedert. /(932) »Ein Becher Bier« (Amsterdam) zeigt die schräg erhellte Kammer, worin eine Frau, unendlich ruhigen Gemütes, ihr Bier einschenkt; nach rechts geht der Blick durch die offene Tür ins hell überströmte Wohnzimmer und durch dessen Fensterrahmen hinaus ins Freie. Das dreifach einfallende Licht schlägt das Enge und Heimliche auf, ohne es groß werden zu lassen; der Raum ist in allen Bildern gegen die Gestalten primär, aber er umschließt sie, ist nur für die Nähe da. Ruhig offenbaren sich die Gegenstände des bürgerlichen Behagens, der Messingblaker an der Wand, die rote Fliese, der braune Lehnstuhl. Überall ist ordentlicher Wandel schlechthin, Aufgeräumtheit des Hauses wie des Gemüts. Selbst die Fluchtlinien grenzen ein, auch der Durchblick geht bei Hooch nicht über hundert oder zweihundert Meter hinaus. Ein Kramladen des Glücks erscheint, und er wirkt hier wie eine Schatzkammer. Lauter heimischer Alltag ist im holländischen Sittenbild gemalt, doch bei aller Nähe ist er auch so vorgemalt, wie ihn ein Schiffer aus der Ferne sehen mag, wenn er nach Hause denkt: als das kleine, scharfe Gemälde, das das Heimweh in sich trägt. Dem entspricht andererseits, daß auf diesen Bildern sehr oft Weltkarten an der Wand hängen, mit Meer, das hereinsieht, das das ganze häusliche Behagen kraft des holländischen Welthandels freilich erst spendet. Pieter de Hooch hat auch vornehme Räume gemalt, worin Damen mit Kavalieren tanzen, speisen, musizieren. Die Farbe auf den Bogen und Säulenkaminen wird darin weniger gemütvoll, sie ist bläulich und grau, das Rot der Kostüme hart. Doch selbst auf den Hofbildern ist noch Liliput, Elfenweise, die hütet und selber behütet ist. Krankes, Wildes, Lautes, Störendes kann in dem lieblichen Format weder gesehen werden, noch scheint es, als könnte Sorge selber dahin hineinsehen. Zimmer und Fenster auf die Straße sind gemalt, als gäbe es keine Störung in der Welt. Die Standuhr schlägt lauter Abendstunde, nichts wächst dem Menschen über den Kopf, nichts eilt. Einschiffung nach Cythera So sanft ist diese Nähe, aber zur Ferne gehört, daß sie unruhig verhüllt ist. Daß sie den suchenden Blick an sich bindet, daß sie gerade als verschleierte die Menschen
lockt. Das Gefühl ist dann /(933) erotische Sehnsucht, als gemalte ist sie Abreise, Liebesreise; so drückt jede Darstellung erotischer Ferne bereits Verführung aus. Ein Grundbild dieser Art ist Watteaus »Embarquement pour Cythere«; sein Titel bereits ist deutlich utopisch. Junge Herren und Damen warten auf die Barke, die sie zur Liebesinsel bringen will. Der damalige Zeitvertreib machte, daß Watteaus Bild, das eines vortrefflichen, doch nicht eben großrangigen Malers, von Wunschlandschaft eine so sinnlich-sinnfällige Schilderei geben kann. Auch durch preziös-erotische Verkleinerung wirkt das Rokoko hierfür konzentrierend, mindestens isolierend. Dreimal hat Watteau sein Bild gemalt; der ersten Fassung liegt ein bloßer Bühneneindruck zugrunde, das Schäferspiel »Trois Cousines« (das bis in Offenbachs »La Périchole« hinein erinnert blieb).Die Anordnung der Figuren ist in der ersten Fassung noch hölzern, das Gefühl noch konventionell, die Tageszeit noch unbestimmt, die Luft noch nicht mit Erwartung geladen. Äußerlich gesehen, wirkt auch der Vorwurf der zweiten und dritten Fassung konventionell, soll heißen, er entstammt der Ära der Hirschgarten und Boudoirgeheimnisse, einer tausendfach behandelten und ausgemünzten. Er hat insofern nur die Geilheit des damaligen Hoflebens zur Basis und eine austauschbare Kurzweil, die oft mehr erotisierte Langeweile war. Aber wie außerordentlich hat das Bild unterdessen nach dem Rechten gesehen, wie deutlich erscheint in dem modischen Sujet ein Archetyp der Liebesfahrt. Besonders in der zweiten (Pariser) Fassung ist Traum und Gruppenbildung in spe: eine verzaubernde Landschaft umgibt die Paare, schon verschwimmen die Konturen des Parks, die Liebesbarke wartet auf dem silbernen Wasser, ein fernes Gebirge steht in der Dämmerung, unsichtbar, aber gegenwärtig wirkt die Nacht der Insel in die Bewegung und Vor-Lust des Bilds herein. Die dritte (Berliner) Fassung ist weniger vollkommen, denn das Bijou darin ist zu verabredet und bekannt. Sie hat nicht nur den Vordergrund reicher ausgestaltet, sondern vor allem das Liebesschiff, mit dem Motiv der Putten, die das Segel umschweben. Die Barke steht sichtbarer bereit, der Schiffsmast mit dem Amorettensegel bringt eine deutlichere Linie in den verschwimmenden Hintergrund. Das unmittelbare Nebeneinander von Rosenrot und Himmelblau um das Segel ist betonte Süßigkeit, wirkt als eine Flagge des /(934) Versprechens, das die Liebesinsel herüberschickt. Doch auch hier ist die Einschiffung nach Cythera nur andeutend oder nicht mehr als die Einschiffung selbst, mit nur antizipiertem Glück. Das unterscheidet Watteaus Bild von allen anderen Darstellungen der Wollust, vorzüglich von solchen, wo Cythera schon als erreicht scheint. Ein großes Bild dieser Art hat Watteau in Form und Farbe weitgehend beeinflußt: der »Liebesgarten« des Rubens (in Madrid). Doch eben das Bild des so viel mächtigeren Malers gibt Ruhe, fast Gewohnheit des Glücks; Cythera dagegen war nie oder ist dahin. Üppige Frauen gruppieren sich bei Rubens in Goldbraun vor massiger Grottenarchitektur, flankiert vom Rot und Schwarz zweier stehender Paare; darüber in Abständen Putten, sie füllen die Bildfläche stark. Wie die schwüle Luft sich ladet und Puttenfleisch bildet, wie selbst der Stein des Portals sich erotisiert, gleich der Brunnenfigur, die Wasser aus den Brüsten spritzt: so ist hier Genuß als Emblem, Koitus als zeitlose Meisterschaft. Der ganze Garten ist in ihn verwandelt, auf schlechthin seiende, also monumentale Weise; Säulen am Portal sind Weiberschenkel, Amor erntet. Einschiffung nach Cythera klingt aber nur dort an, wo Vor-Lust dargestellt ist, mit ganz anderen Gärten als denen des fest vorhandenen Lands. Und eben deshalb bedürfen solche Bilder eines Schwebezustands, eines Segels, eines Wolkenzustands, einer verhüllten Erwartung und ihres Lichts. Teilt sich der Vorhang, so ist dahinter nicht so sehr der Liebesgarten, mit präsenten Farben, majestätischem Ja, als die Wunschlandschaft
ante rem, das Weib als erwartende Landschaft selber. Die »Schlafende Venus« Giorgiones, die »Nackte Maja« Goyas bewahren das Licht um Cythera. Bei Goya geht es unvermindert von den weißen Kissen aus, dem wollüstig-kühlen Fleischton, den Liebeslinien: auch dieser Akt liegt auf einer Insel. Gerade die sogenannten unreinen Gedanken sind rein diejenigen dieser Bilder selbst, sind der lustutopische Grund, wohin ihre Gestalten führen, worin sie liegen. Cythera aber ist, als wäre nichts in der Welt außer dem Scheinen und dem Umriß des Weibs. /(935) Perspektive und großer Horizont bei van Eyck, Leonardo, Rembrandt Nicht bergend, gegenständlich reicher ist jene Ferne, die den Blick offen läßt. Auch wo die gemalte Aussicht dunstig ist, wird hier nicht eingegrenzt, sondern ein Maß gerade für die Weite gegeben. Sobald das Diesseits statt des Drüben unendlich zu werden begann, erschien die Wunschlandschaft offener Ferne im Bild. Blaugrün blickt sie durch Fenster und Bogen, durch geöffnete Grotten; die Weitsicht vom Berg her geht an. Was bisher nur dem Dom zukam: Tiefe der dritten Dimension zu sein, das wird nun Bildraum: die Welt als Langschiff. Tiefe kann nun auch in die Bildebene gebracht werden, indem diese als Schnitt durch den Sehkegel erscheint; so blickt der Beschauer wie durch ein Fenster, die Bildebene selber ist wie ein offenes Fenster. Der Punkt, wo die perspektivischen Linien zusammentreffen, liegt in der Unendlichkeit; noch über den Horizont hinweggehen die im Mittelstück laufenden Linien fort, die Figuren umschließt ein Neues: ein Zentrifugalraum. Bereits am Ausgang des Mittelalters wird so die Weite, Wunschweite deutlich: in der Pariser Madonna des Jan van Eyck. Die Perspektive dient einer ersten, durch Architektur gerahmten Veduta: eben die Landschaft erscheint als ein Fensterraum des Hauses. Und zum erstenmal wird auf van Eycks Bild das Gesetz des Fluchtpunkts bewußt beachtet, die Übersetzung vertieft gesehener Gegenstände auf die Fläche beginnt. Zwischen der Madonna und der Figur ihres Stifters geht der Ausblick durch drei Bogen einer Prunkhalle hindurch, so eröffnet sich, durch Säulen unterbrochen und eingefaßt, ein mit Schätzen überfülltes Fernland. Meisterlich detailliert, mit allen raum-utopischen Emotionen besetzt, deren die Lockerung eines gleichsam horizontalen Abgrunds fähig ist. Eine Stadt wird sichtbar, Giebel und Türme, eine Kathedrale, ein weiter Platz mit Treppe, eine belebte Brücke, ein von winzigen Barken durchfurchter Fluß, in dessen Mitte, auf einer Insel, die kleiner ist als der Fingernagel eines Kinds, sich ein von Bäumen umgebenes Schloß mit zahlreichen Glockentürmchen erhebt. Hinter alldem läuft eine Welt grüner Hügel dem Horizont zu, an ihm verdämmern Schneeberge, und ganz zuletzt liegt die Ungrenze eines sich wolkig /(936) verlierenden Himmels. Es ist ein vollkommenes Traumland, obzwar in der Verlängerungslinie hintereinandergelegter Realität. Das ist nicht Brügge noch Maastricht nochLyon, oder auf welches der damaligen Stadtbilder man sonst geraten hat; die Perspektive zeigt vielmehr gotische Idealstadt ohne Mauern, in der Apsis von Unendlichkeit. Bald fand auch die Veduta der Natur Platz, bei Piero della Francesca, mit dem neuen Wert des Horizonts in der Renaissance; Leonardo da Vinci aber gab für den Traumwert Perspektive das volle, offene Original. Ferne mit Geheimnisfarbe schafft bei Leonardo einen Raum, worin Plastik aufhört, nur noch Licht sich gliedert, zu fast unbekannten Gegenständen. Die »Madonna in der Felsgrotte» zeigt Höhlendunkel, gotisch verzackte Kanten und Grate, aber die Grotte zerbricht, und der Blick schweift ohne Übergang in ein entrücktes Flußtal. Die Figuren auf der »Hl. Anna selbdritt« sind streng in eine Pyramide eingeschrieben, doch die Landschaft hinter ihnen geht über zu wild zerrissenem Bergmassiv, es ist
halb Dunst, halb Körper, ein unbestimmbares Jenseits der übersichtlichen Gegenstände. Gänzlich dringt dies Fernwesen ins Porträt der Mona Lisa selber ein; durch den Traum des Hintergrunds wird zwar Körperhaftigkeit für die vordere Figur gewonnen, doch gleichzeitig auch wieder verloren. Denn Mona Lisa selber wiederholt die Form der Landschaft im Rieseln des Gewands, die Traumschwere des Hintergrunds in den Augenlidern, den geronnenen, unheimlichen, paradox undurchsichtigen Äther im Lächeln. Die Landschaft ist hier so wichtig wie die Figur, ist verwandte, wo nicht gleiche Hieroglyphe. Im Sinn von Leonardos philosophisch ausgedrücktem Weltbild: »Jeder Teil hat Neigung, sich mit seinem Ganzen wieder zu vereinigen, um der Unvollkommenheit zu entfliehen. Und es ist notwendig, zu wissen, dieser selbe Wunsch ist eben die Quintessenz, Begleiterin der Natur, und der Mensch ist das Modell der ganzen Welt.« Die ferne Landschaft heißt ebenfalls Mona Lisa und ist sie - ein phantastisch-zackiges Berglabyrinth im weichsten Licht, dazwischen Seen, bleiches Feld, Ströme. Mona Lisa blickt von dort her, und ebenso blickt sie auf diese Ferne hin, auf ihr ausgebreitetes oder ganzes Rätsel, in grünblauem, rauchigem Licht. Wo aber alles von vornherein rauchig ist, wie läßt sich da in die Weite sehen? Es geschieht, indem der dunkle Grund, aus /(937) dem heraus gemalt wird, die Dinge selber verfremdet. Und indem das Licht, worin sie stehen, selber wie aus lauter Hintergrund kommt, sich reflektiert. Rembrandt also, der stärkste Maler von Fernschein, der sich in der Nähe spiegelt, läßt sogar Saskia halb im Dunkel, und der Mann mit dem Goldhelm trägt sein Metall als Licht erst sammelnd, ja ins Finstere herableitend. Die Glanzstellen sind bei Rembrandt rein maltetechnisch niemals blank und gleichsam flach aufgesetzt, sie sind ein Relief, an dessen körnigen Erhöhungen erst die helle Farbe haftet, während die Vertiefungen, gleichsam der gegebene Nahstoff, mit dem Dunkel der Untermalung oder mit brauner Lasur gefüllt bleiben. Aus dem Gegebenen der Nacht einerseits, aus dem bloß Reflektierenden des Lichts andererseits stammt die wahre Seltenheit und Kostbarkeit dieses Lichts, sein berückender Glanzschein auf Nacht. Dem entsprach die komplizierte Technik der Dunkelgrundierung und des Übermalens, die Rembrandt durch sein ganzes Werk befolgt hat; ihr erster, schon alles enthaltender Sieg ist bezeichnenderweise in einem Passionsbild, in der Münchner Grablegung Christi. Menschen, selbst Dinge stehen einsam in der Weite des Dunkelraums, die Farben kommen einzig aus einem Rätselreflex von innerem Licht in der Welt und hinter der Welt, aus einem Paradox von Endlicht. So stammt es weder von der Sonne noch aus einer künstlichen Lichtquelle, auch ist die vorhandene Welt, samt irgendeiner als vorhanden geglaubten Überwelt, gar nicht imstande, dieses nicht irdische, nicht überirdische Licht zu spenden. Die bisherige Ferne, die kosmisch offene Perspektive wird vom Dunkelraum ausgelöscht, er schafft einen ringförmigen Zusammenbau der Figuren, selber fast ungegliedert. Nur in weltlichen Gruppen- und Landschaftsbildern, wie der Nachtwache, der Kasseler Ruinenlandschaft, ist der Grund mit Lanzen, Burg, Wolken durchschnitten, und ein Gerüst mit Geraden streckt sich in der Nachtwache hinein. Die Porträts dagegen und die Bilder mit christlichem Sujet zeigen wesentlich die ungegliederte Finsternis draußen, die akosmische Einsamkeit innen, ja der späte Rembrandt, der keine Landschaften mehr malte, rahmt gänzlich mit dem mächtig verbergenden, finster geborgenen Dunkelton, der hier Universum und Unendlichkeit heißt. Dennoch ist auch das Dunkel dieses Hintergrunds goldbraundurchzogen, dieFigu- /(938) rengruppe steht in einer Sfumato-Perspektive von Schwarz und Gold zugleich, das Licht wirkt in die Finsternis, chromatisiert auch hier, dringt durch aus einem seltsam vorhandenen Nirgendwo. Rembrandts Paradoxlicht kommt so in der
ganzen Welt nicht vor, ist aber auch nicht, trotz seines durchgehenden Reflektierens, aus irgendeiner alten Metaphysik von Himmelslicht emaniert: es ist Perspektivenlicht der Hoffnung, tief in Nähe und Verlassenheit herabgeleitet, beantwortet. Die offene kosmische Perspektive ist vom Dunkelraum ausgelöscht, doch das Licht, das sich ebenso gegen ihn abhebt wie aus Einsamkeit und Schwärze rätselhaft hervorbricht, malt die Wahrheit der Hoffnung oder des Glanzes, der gar nicht da ist, in den Dunkelgrundierungen der vorhandenen Welt. Dieses sprunghafte, nur durch Reflexe vermittelte Einscheinen macht das Exotische der Rembrandtschen Beleuchtung, das Echo einer märchenhaften Ferne, in der die für sie empfänglichen oder ihr zugehörenden Gegenstände ganz nahe ausgemalt sind. Nur von daher das Glimmernde, aber auch die Liebe zu dem in Seide, Perlen, Juwelen, Goldhelm Aufschimmernden. Nur von daher die notwendige Arabisierung in den Saskia- und Judenbildern: die Ferne Licht spricht am vernehmlichsten durchs Märchenland Orient; ein transzendentes Bagdad glüht in der Nacht. Und nur von daher schließlich, in der Tiefe, das Licht nicht als Welt-, auch nicht als Überwelt-Element, sondern als mystischer Seinsausdruck der ihm zugehörigen Figuren. So am stillsten in dem Münchner Auferstehungsbild, mit dem Christus ganz unten am Rand, bleich leuchtend, auch noch dem mythologischen Himmelslicht entronnen und überlegen, das hinter dem niederfahrenden Engel herunterbricht: ein Ex oriente lux, das selber erst im Aufgang steht und von dieser Leiche in höchster Entlegenheit widerstrahlt. Alle Bilder Rembrandts, auch die profanen, sind vom Hintergrund her komponiert, und seine Farben - aus Nacht, Weihrauch, Myrrhen, Gold - malen die Perspektive: Hohlraum mit Funken. /(939)
Stilleben, Cytbera und weite Perspektive in der Dichtung: Heinse, Roman der Rose, Jean Paul
Ein Bild erzählt von dem, was man als Zugleich darauf sieht.Und ein Gedicht erblickt und kann uns sehen lassen, was es in seinem Nacheinander erzählt. Vor allem, wenn es von einer erwünschten Bildart sich leiten läßt, vom Stilleben, dann aber von der Ausfahrt, von der großen Weite. Die dichterische Art des Stillebens, die freilich nun gänzlich heimwehhaft gesehene, ist die Idylle. Noch das Winzigste wird darin geehrt und gut, denn wo kein Überfluß, müssen alle Dinge zum Besten dienen. So bei Andersen: Zange, Kessel, Kerze leben, die Stube selber ist ein kleines Märchen, alle Geräte wohnen in ihm. Die Idylle führt bescheidene Küche, pflegt sorglose Gespräche, enthält durchgehends freundliches Geschicke. Freilich kann sie, gleich dem gemalten Stilleben aus Menschen, auch jenes zahme Behagen mit sich führen, das sich, für die Herren höchst brauchbar, nach der Decke streckt. Auch kommt das Idyllische nicht grundlos aus dem alten Hirten- und Schäfergedicht, worin eine übersättigte Schicht das eingeschränkte Leben schönfärbte, das diejenigen führten, die es sich nicht ausgesucht hatten. Und das sie selbst bei der gepriesenen Dickmilch mit Brot keineswegs so satt, so schmuck und bebändert führten. Und doch gab die spätere, die bürgerliche Idylle auch Platz für durchaus Gutes, das nur in diesem biedermeierlichen Kreis sich so wünschbar fand. Eben ein Heimisches, als wäre man von weither dahin zurückgekehrt, ein häuslicher Frieden, ein ländlicher Garten, »mit sanft anatmender Kühlung«. Summen der Bienen umgibt das eingezogene Leben bei Tag, Summen des Teekessels bei Nacht; das bei Voß in der »Luise«, das mit Maßen, trotz des hier einschlägigen Pechs, bei Goldsmith im »Landprediger von Wakefield«. Die Ferne kommt hier nur als Tee vor, die äußeren Stürme orgeln im Rauchfang und tragen eigens zum Zuhause bei, die Bösen sind zu
Käuzen vermindert und geben so das Salz des Behagens. Aber reißend, hinwegreißend erscheint gegen die Idylle im Raum jenseits ihrer Beschränkung die dichterische Art von erotischem Exodus, von Cytbera. Der Süden bot sich ihm vor allem an, Lautenklang, Wein, Freunde und ihr Mädchen, Purpurnacht, im Fackellicht beschienen Säulen. /(940) Nicht bei Winckelmann und den Seinen, wohl aber bei Wieland und den Folgenden wurde im achtzehnten Jahrhundert der Süden unter diesen Zeichen erblickt; auch die Romantik, bei E.Th. A Hoffmann, hat daran nicht viel geändert. Italien ist hier vor allem das klangvolle und erotische, das Sehnsuchtsland der freien und befreiten Liebe, nicht des apollinischen Marmors. So in einem Dokument des späten Sturm und Drang, das doch ganz seltsam dem Rokoko verpflichtet ist, in Heinses »Ardinghello und die glückseligen Inseln«, 1787, einem archäologisch gebildeten und ebenso halb pornographisch-utopischen Gebilde. Versucht oder erhitzt wird darin ein Wunschtraum des Ver sacrum, wie folgt: »Es ging immer tiefer ins Leben, und das Fest wurde heiliger, die Augen glänzten vor Freudentränen... Der höchste bacchantische Sturm rauschte durch den Saal, wie donnerbrausende Katarakte vom Senegal und Rhein, wo man von sich selbst nichts mehr weiß und groß und allmächtig in die ewige Herrlichkeit zurückkehrt... Immerwährender Frühling, Schönheit und Fruchtbarkeit von Meer und Land und Gesundheit von Wasser und Luft.« Nicht die erste laszive, aber wohl die erste dionysische Antike wird in diesem Cythera- Roman bezeichnet; wonach gerade Wieland, bei dem die Grazien nie ohne Satyr, aber auch dieser nie ohne die Grazien war, Heinses Roman als Seelenpriapismus ablehnte. Zuletzt gründet Ardinghello auf den Inseln Paros und Naxos einen Idealstaat der Wollust, worin nichts als diese bleibt, nichts als diese Göttin in die mannigfachen Grotten und Tempel eindringt. Arkadien, seit Theokrit das alte bukolisch ersehnte Fluchtwesen, wird derart ganz ohne Glück in der Beschränkung zu den erotischen Zauber-Inseln geschlagen, auf denen die heißen Nächte lauter Bukolisches umgaben. Darum konnte auch Heinses Cythera von so viel früheren Schäfergedichten leben, den ohnehin in Italien, in der Renaissance wieder aufgeblühten, von Tassos »Aminta« vor allem, dem ersten und zugleich vollkommensten Exempel, mit Faunen, Nymphen und Satyrn, mit verzaubertem Hain und dem Pfeilschuß Cupidos, mit kühlem Dianatempel und dem Chorgesang der Hirten vom Goldenen Zeitalter, als dem der freien Liebe. Das war auch in der noch so sentimentalischen alten Hirten- und Schäferpoesie, wenigstens in der der Renaissance, das haltbare, das sich weiterhaltende /(941) Wunschwesen: Goldenes Zeitalter mit antiken Zügen, die ebenso morgenländische enthalten. In solcher Renaissance befindet sich das Original des gedichteten Cythera, so wie die Renaissance wiederum ihre Zaubergärten aus sarazenischen, aus sarazenischgotischen Erinnerungen zog, als denen, worin das Bukolische seinerseits ans Tropische angrenzt, an die ungemäßigte Zone. Die unverhüllte Ferne Cytheras enthält solch ungemäßigte Natur in vertrautester Gestalt: als Liebe, und erst im Liebesgarten blüht das auf, in dieser Wunschlandschaft Orient, wohin seit den Kreuzzügen fast jedes Bukolikon tendiert und von woher es geschmückt zurückkommt. Nicht grundlos ist daher auch jenes Grundbuch Cytheras, zu dessen Raum auch noch das Ardinghellohafte gehören mag, in den Zusammenhängen sarazenischer Liebeskultur erwachsen und ihrer ritterlichen Erbschaft: nämlich der gotische Roman de la Rose. Denn dies Grundbuch, preziöser als alles Rokoko und voll paradox-scholastischem Naturalismus, gibt sich erst gänzlich als Erscheinungsgeschichte des Liebeslands. Überdies kam die Allegorik hinzu, in ihrer mittelalterlichen Anschaulichkeit: Begriffe werden zu Personen, folglich in ihrer Verbindung zu einem Schauspiel; was heute frostig erscheint, war damals voll
resonantem Querbezug durch die sinnliche Vielheits-Welt, voll Leben. Auch verlängerte sich nun die Einschiffung nach Cythera, hatte ihre Gefahren und Probleme, wurde so zur ars armandi, mit Quodlibets aus sämtlichen damals vorhandenen Wissenschaften. Der Roman de la Rose, begonnen von Guillaume de Lorris, beendet von Jean de Meung, aus dem späten dreizehnten Jahrhundert, besingt in über zwanzigtausend Versen diesen Weg zur Lustnatur. Der Dichter selbst kommt an den Garten der Liebe, Dame Müßiggang öffnet ihm das Tor, sein Herz wird von Amor verwundet, Bel-Accueil lädt ihn zu den Rosen ein. Aber nun entspinnt sich Intrige, um die Rosen wird eine Mauer errichtet, Danger und seine Gesellen bewachen die Tore, mit einer Klage des Liebhabers schließt Guillaume de Lorris sein sehnsüchtiges Buch. Nun aber rät, in der Fortsetzung, Genius, der »Kaplan der Natur«, mit einer ganzen Armee der Liebe vorzudringen; in diesem seinem Aufruf mischen sich Jupiter und Gottvater, Venus und die heilige Jungfrau, Jesusmystik und heiterster pornographischer Materialismus. Natur schreibt /(942) die Gesetze menschlichen Handelns vor, damit aber etwas, das nicht außerhalb unseres Selbst im Jenseitigen und in Kirchennormen, sondern im Menschen und seinem Diesseits begründet liegt. Der Genius predigt gegen die Jungfräulichkeit und die Sodomie, droht die Hölle all denen an, die die Gebote der Natur und der Liebe nicht beachten, verspricht den Treuen Leben ohne Ende in einem mohammedanisch tüchtigen Zion, bestrahlt von Jesus und den schönsten Frauen. Ermutigt durch die Worte des Genius und beschützt von Venus, bricht der Liebeszug in den Garten ein, der verborgenen Jungfrau entgegen, die »vollkommener ist als die Statue des Pygmalion«; Eifersucht, Scham, Furcht und andere Affekt-Allegorien legen Hindernisse ohne Zahl entgegen, aber Höflichkeit, Freimut, Güte, vor allem wieder Bel-Accueil (der Sohn der Courtoisie) befreien die Liebesrose aus ihrer Festung, legen sie dem Liebhaber ans Herz. »Ci est le roman de la Rose / ou l’art d'amors est tote enclose«; die vaginale Allegorie der Rose bildet den lustutopischen Grund im gotischen Cythera. Exkurse über die Pflicht des Menschen zur Vermehrung seiner selbst sind eingesprengt, dazu reiche Satire, dazu Astronomie, nominalistische Naturphilosophie, geographische Märchen, Lehren über Geld und Geldumlauf, über klassische Heroen, über den Ursprung der Untertänigkeit, über kommunistische Utopien. »Chascune por chascun commune / Et chascun commun por chascune«: die sozialen Unruhen des vierzehnten Jahrhunderts werfen ihr Licht voraus. Vorzüglich in jenem Teil des Gedichts, den Jean de Meung bereits fürs aufsteigende Bürgertum geschrieben hat, mit rücksichtsloser Fragestellung, Hinwendung zur Natur. Ein Rousseau des Mittelalters spricht mitten in die feudale ars amandi hinein, spricht Urstand durch die Metaphern der freien Liebe. So weit breitete sich Cythera in einer Dichtung aus, so frivol und subversiv, so gelehrt und hintergründig elegant Cupido am Ende der Welt. Hier überall ist Ferne, aber eine für uns noch zärtlich verhüllte. Erscheint sie für sich, dann wird sie sehr große und nun in sich selber dämmernde Fremde. Ihre Form ist dann gedichtete Perspektive, im Süden, erst recht im Norden. Das ozeanische Gefühl gehört zu ihr, als eines grenzenloser Weite und als alles durchströmendes Ja in ihr. Fallen Nebel ein, so erscheint die /(943) Weite als ossianische Landschaft, als dieses, was in seiner Steigerung die Utopie Thule genannt worden ist. Und doch wieder ganz und gar nicht nur Norden ist, wie gemerkt, sondern starkduftend, voll Schleier, halboffener Türen, Orientrauch. Jean Paul nun, außerhalb seines Eidyllions von dauernden, bald unterirdischen, bald weit sich dehnenden Wunschperspektiven, Wandelpanoramen, wobei er aber selbst Italien, selbst den Azur, wie sehr erst die Kuriosa, Verfremdungen, Erhabenheiten
der Welt, die von ihm riesig allegorisierten, rauchig sieht, zeigt in fast all seinen Landschaften den Doppelschein aus Nacht und Osten (hier wieder vermittelt durch die Bibel). Seine Ferne ist die uneingeschränkteste aller bekannten, so auch, wenn sie in den Abgrund geht, darin fortraunt, in endlosen Anfängen: »Ein Turm voll blinderTore und blinder Fenster stand in der Mitte, und die einsame Uhr darin sprach mit sich selber und wollte mit der hin und her geführten eisernen Rute die immer wieder zusammenrinnende Welle der Zeit auseinanderteilen-sie schlug drei Viertel auf zwölf Uhr, und tief im Walde murmelte Widerhall wie im Schlafe...« Dann die Beschreibung eines Objekts, das den Hades nicht murmelt, sondern realiter ausbrüllt, der Landschaft Vesuv: »Der Morgen ging auf, und mitten in seinem dunklen Winter traten wir die Reise nach der Feuerschlucht und Rauchpforte an. Wie in einer abgebrannten, dampfenden Stadt ging ich neben Höhlen um Höhlen, neben Bergen um Berge vorbei und auf dem zitternden Boden einer ewig arbeitenden Pulvermühle mit dem Pulverturm zu. Endlich fand ich den Schlund dieses Feuerlandes, ein großes, glühendes Dampftal wieder mit einem Berg - eine Landschaft von Kratern, eine Werkstätte des Jüngsten Tags - voll zerbrochener Welt-Stücke, gefrorener, geborstener Höllenflüsse ein ungeheurer Scherbenberg der Zeit - aber unerschöpflich, unsterblich wie ein böser Geist, und unter dem kalten reinen Himmel sich selber zwölf Donnermonate gebärend. Dunkelröter steigt auf einmal der breite Dampf, wilder gehen die Donner ineinander, heißer raucht die schwere Höllenwolke - plötzlich fährt Morgenluft herein und schleppt den flammenden Vorhang den Berg hinab.« Nachtgrauen, Ruine, Tartarus sind die Wunschländer der negativen Unendlichkeit, als Lethe der Verfremdung; doch je tiefer Pluto, desto höher auch Phöbus Apollo, die Sonne /(944) der unendlichen Fingalshöhle Welt. In Jean Pauls »Titan« hat der Held solche Fernsicht in Apollos Tag: »Die Alpen standen wie verbrüderte Riesen der Vorwelt fern in der Vergangenheit verbunden beisammen und hielten hoch der Sonne die glänzenden Schilde der Eisberge entgegen - die Riesen trugen blaue Gürtel aus den Wäldern und zu ihren Füßen lagen Hügel und Weinberge - und zwischen den Gewölben aus Reben spielten die Morgenwinde mit Kaskaden wie mit wassertaftnen Bändern und an den Bändern hing der überfüllte Wasserspiegel des Sees von den Bergen nieder, und ein Laubwerk aus Kastanienwäldern faßte ihn ein... Albano drehte sich langsam im Kreise um und blickte in die Höhe, in die Tiefe, in die Sonne, in die Blüten; und auf allen Höhen brannten Lärmfeuer der gewaltigen Natur und in allen Tiefen ihr Widerschein - ein schöpferisches Erdbeben schlug wie ein Herz unter der Erde und trieb Gebirge und Meere hervor« (Titan, 1.Zykel). Das Italien des »Titan« war für Jean Paul nicht Anschauung oder gar bestätigte Gegenwart wie für Goethe, selbst für Heinse; es blieb im Fernzauber, dahinter lag fortbedeutende Gelungenheit - das Unvergängliche ist nur ein Gleichnis. Und in Deutschland geben Liebe, Mond, Frühling dem Helden des «Titan« einen jederzeit übertriebenen, das ist in Ahnung und Hoffnung getriebenen Blick, so wenn die Gärten eines Fürsten zu einer Terra australis exaltieren: »Aber schaue hinunter, feuriger Mensch, mit deinem frischen Herzen voll Jugend, auf das herrliche, unermeßliche Zauber-Lilar! Eine dämmernde zweite Welt, wie leise Töne sie uns malen, ein offner Morgentraum dehnt sich vor dir mit hohen Triumphtoren, mit lispelnden Irrgärten, mit glückseligen Inseln aus - der helle Schnee des gesunkenen Mondes liegt nur noch auf den Hainen und Triumphbogen und auf dem Silberstaube der Springwasser, und die aus allen Wassern und Tälern quellende Nacht schwimmt über die elysischen Felder des himmlischen Schattenreichs, in welchem dem irdischen Gedächtnis die unbekannten Gestalten wie hiesige Otaheiti-Ufer, Hirtenländer, daphnische Haine und
Pappelinseln erscheinen« (Titan, 23. Zykel). Diese Form der Fernlandschaft gehorcht den Menschen und spiegelt sie in einem Enthusiasmus des seltsamsten alles Außersichseins, nämlich eines aus Identität, wider; es geschieht utopischer Empfang, durch die /(945) Chiffern großer Natur. Die Sphinx der Fremdheit lichtet sich, wird ertragbar und erhaben, in mythischen, doch menschenähnlichen Bildern. Morgen- wie Abendrot werden zur Farbe einer Perspektive, die weit über die Kreislinie des Horizonts reichen will: »Das ungeheure Welträtsel versprechen Nachtstimmen zu erraten, und in tiefer Ferne werden von vorüberfliegenden Nebeln Bergspitzen aufgedeckt, auf welchen der Mensch in die ersehnte andere Welt weit hineinschauen kann.« Das ist randloser Kosmos, so ist er ebenso dem Chaos wie einer immer wieder gefüllten, gerade aus Fülle unaufhörlichen Unendlichkeit zugeordnet. Die Wunschlandschaft Perspektive in der Ästhetik; Rang der Kunststoffe nach Maßgabe ihrer Tiefen- und Hoffnungsdimension Das Wort legt von vornherein anders an, wenn es sehr weit zielt. Es ist gespannt, hat eine Ahnung, die noch nirgends fest und betretbar geworden. Dichterischer Ausdruck läuft seit vierhundert Jahren perspektivisch, und es ist falsch, dies sich schwer begrenzende Wesen nur als romantisch zu verstehen. Noch falscher ist es, die Wunschbewegung und jene, welche tendenziös ist und bleibt, aus Kunst auszuschalten zu wollen. Auf klassizistische und später ganz epigonale Art; dergestalt, daß der Wille in der Kunst schlafen geht und diese »überall am Ziel ist« .Wonach Kunst also keine eigentlichen Wunschlandschaften enthielte und auch nicht nach diesen, als ihren heftigsten Gegenständen, jeweils zu gliedern sei. Der Grundzug der so entstandenen, der bürgerlich-klassizistischen Ästhetik ist nicht Hoffnung (und durch sie erregter Wille), sondern Betrachtung (und durch sie stillender Genuß). Das Schöne vertilgt hier den Stoff illusionär durch die Form, und zwar durch die zu dem Stoff, gar zu einer Tendenz des Stoffs gleichgültige. Reine Betrachtungs-Ästhetik beginnt bei Kant im Begriff des »interesselosen Wohlgefallens am bloßen Vorstellungsbild des Gegenstands« (gleichviel, ob dieser materiell vorhanden ist oder nicht). Sie metaphysiziert sich bei Schopenhauer, wenn interesseloses Wohlgefallen als beginnende Entlassung des Menschen aus dem Willen zum Leben gedeiht. Das Sein bleibt dann zwar schrecklich, aber das Sehen ist selig, /(946) vorzüglich im »reinen Weltauge der Kunst«. Diese erschließt bei Schopenhauer sogleich Seligkeit in der Erscheinung, daher eben ist hier »Kunst überall am Ziel«. So beschränkt klassizistische Ästhetik (und Schopenhauers »reines Weltauge« gehört durchaus zu ihr, auch noch in der - selber gestillten Rezeption von Musik) das Verhältnis zum Schönen auf pure Betrachtung und das Schöne selber auf deren geläuterte Formen. Sie beschränkt den Gegenstand des Schönen auf ein Gebiet, das von den Interessen des vorhandenen wie des zukünftigen Daseins gänzlich gereinigt ist. Hier überall ist Kunst ein Quietiv, kein Aufruf, nicht einmal ein Trostgesang; denn auch dieser setzt die Unruhe des Willens voraus. Hier überall ist die Welt als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt, und zwar gleichmäßig, auf der Ebene der idealistischen und darum so schön gerundeten Formvollendung. Der Schaden bloßer Betrachtungslust geht so weit, daß selbst der »Kranz des Schönen« in Hegels Ästhetik, so sehr er entgegen dem Formalismus ein inhaltsreicher, historisch geknüpfter und variierter ist, im Äther der kontemplativen Beschwichtigung hängt. Ja, eine bestimmte Art Formalismus, folglich Abstrakt-Schein (mit unterbrechungsloser, daher vorzugsweise antiquarischer
Denkgeschlossenheit) ist überall dort eine Gefahr, wo auch die ästhetisch erfaßte Wirklichkeit, samt ihrem Reichtum, mit einigen wenigen, fast immer gleichbleibenden Kategorien zu Ende interpretiert, in ein entspanntes Schema reduziert wird. Solch eine Begriffstapete bloßer, auf alles angewandter und gleichförmiger Betrachtung ist selbst für manche marxistisch versuchte Ästhetiken eine Gefahr, auch dort, wo diese sich, auf Grund eines je und je abgeschlossenen Halbbegriffs von Wirklichkeit, noch so realistisch vorkommen. Auch bei Lukács wirkt zuweilen noch ein Abstrakt-Schein idealistischer Rundung, eine Auskonstruiertheit, die gerade doch dem dialektischen Materialismus fremd ist. Als der Lehre von einer unfertigen Welt und dem wirklichen, nämlich prozeßhaft offenen Reichtum der Wirklichkeit gerade in Ansehung ihrer Totalität. Weshalb also inhaltlich-materielle Kunst samt ihrer Theorie gar nicht umhin kann, eine nicht-eingepackte, eine perspektivenhafte, eine des wirklichen, statt des bloß behaupteten Prozesses zu sein. Folglich inhaltlich-materielle Kunst samt ihrer Theorie /(947) gar nicht umhin kann, eine ungeschlossene zu sein, sondern eine in der Weise des zu Ende getriebenen Vor- Scheins geschehende Darstellung der Tendenz und Latenz ihrer Gegenstände (vgl. Seite 242ff.). Wegen dieses Vor-Scheins ist auch die Kunst durchaus nicht ein Ganzes, sondern überall nur Perspektive darauf, eine in den dargestellten Gegenständen selber herausgearbeitete Perspektive auf die immanente Vollendung dieser Gegenstände. Daher Lessings Satz des Malers in »Emilia Galottis, ein utopisch-entelechetischer Satz: »Die Kunst muß malen, wie sich die plastische Natur - wenn es eine gibt - das Bild dachte: ohne den Abfall, welchen der widerstrebende Stoff unvermeidlich macht, ohne das Verderb, mit welchem die Zeit dagegen ankämpft.« Kunst ist grundlegend als reeller Vor-Schein bestimmt, als ein - zum Unterschied vom Religiösen immanent-vollendeter. Eben dadurch wird dieser Vor-Schein erlangbar, daß Kunst ihre Stoffe, in Handlungen, Situationen wie Gestalten, zu Ende treibt, in Leid, Glück wie Bedeutung zum ausgesagten Austrag bringt. Die so erlangte Aussage ist zwar in einem Punkt sozusagen weniger als das Sujet, nämlich nach Seite seiner unmittelbaren Greifbarkeit, aber sie ist zugleich allemal mehr als dieses, nämlich nach Seite seiner immanenten Herausführbarkeit, seiner konzentriert-wesenhaften Ausführung. Dergleichen ist gerade das Gegenteil eines idealistischen Korrigierens, freilich auch das Gegenteil eines bloßen Reproduzierens, eines schlecht und recht an die sogenannte Perfektheits-Fülle des Wirklichen sich annähernden; gleich als wäre die Welt, die es doch in allen anderen Kulturfunktionen zu verändern gilt, nur für die Kunst ein unerreichliches Meisterwerk. Sie ist statt dessen erst die Anlage, die objektiv-reale Möglichkeit dazu, dergestalt, daß ein treffend gemalter Wald, eine treffend dramatisierte Geschichtsaktion ihr Sujet allerdings an Wesentlichkeit übertreffen, ja als Kunstwerk nur treffend sind, indem sie das Sujet in erlangbarem Vor-Schein übertreffen können und müssen. Vor-Schein selber ist dies Erlangbare dadurch, daß das Metier des Ans-Ende-Treibens in dem dialektisch so verzweigten wie offenen Raum geschieht, worin jeder Gegenstand ästhetisch dargestellt werden kann. Ästhetisch, das ist: immanent gelungener, materialechter, wesenhafter als im unmittelbar-natürlichen oder auch unmittelbar- /(948) historischen Vorkommen dieses Gegenstandes. Dergestalt lautet die Losung des ästhetisch versuchten Vor-Scheins: Wie könnte die Welt vollendet werden, ohne daß diese Welt, wie im christlich-religiösen Vor-Schein, gesprengt wird und apokalyptisch verschwindet. Also treibt Kunst Weltgestalten, Weltlandschaften, ohne daß sie untergehen, an ihre entelechetische Grenze: nur die ästhetische Illusion löst sich vom Leben los, der ästhetische Vor-Schein dagegen ist gerade einer, weil er im Horizont des Wirklichen selber steht. Das aber meint Inhalte, utopischreal gemeinte, keine eines
illusionistischen Abstrakt-Scheins, in dem vollendete Spielerei konsumiert wird. Das gliedert, wie sich von selbst versteht, den Vor-Schein nach Maßgabe und Rang seiner utopisch bedeutenden Sujets, das schafft nicht zuletzt statt des nichts durchbohrenden Kunstgenusses eine Beziehung zur Erkenntnis, zuhöchst zur Materie begriffener Hoffnung. Ja, diese Beziehung ist derart unübersehbar und unvermeidlich, daß ihr am Ende selbst die klassizistische Ästhetik nicht ausweichen konnte und sie immerhin objektiv-idealistisch auszudrücken begann. So wenn Schiller, in den Kalliasbriefen, »Schönheit als Freiheit in der Erscheinung« definiert. Solches bringt in den Abstrakt-Schein einen gegenständlichen Sinn, auch wenn Freiheit darin nur dasselbe sein konnte wie das zum Spiel Entronnene. Und bei Kant geht, wo nicht das Schöne, so durchaus das Erhabene über den Formalismus hinaus, worin Ästhetisches, als bloßes Als Ob der Betrachtung, sonst gehalten wird. Auch das Erhabene bleibt zwar dieses Als Ob, ohne daß angeblich ein Begehren nach seiner Existenz entsteht, ohne daß Ästhetisches überhaupt als mögliche Seinsbestimmtheit gedacht wird. Trotzdem sagt die Kritik der Urteilskraft nicht so ganz ohne Begehren und Interesse: »Erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüts beweist, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft«, und, das Objekt betreffend: »Erhaben ist also die Natur in derjenigen ihrer Erscheinungen, deren Anschauung die Idee ihrer Unendlichkeit bei sich führt« (Werke, Hartenstein,V, S.S. 258, 262). Und Unendlichkeit ist hier keine andere als die, welche die Ahnung unserer künftigen Freiheit mit sich führt; wonach eben die Erhabenheiten doch dem Begehrungsvermögen wieder zugeordnet werden, also den Formalismus des puren /(949) Abstrakt-Scheins durchschlagen. Was die alte Ästhetik Erhabenheit nannte, ist in der Tat besonders zur Durchbrechung des interesselosen Wohlgefallens geeignet. Wenn etwas imstande war, den klassizistisch-harmonisierenden Schönheitsbegriff über sich selbst bange und nachdenklich zu machen, so war es die Kategorie Erhabenheit, an welche das Schöne auch bei den Griechen, wie erst in der großen religiös bestimmten Kunst, unmittelbar angrenzt. Denn ein unleugbares Element des Erhabenen ist der Schrecken, der dialektisch in Erhebung umschlagende; und dieser hat auf der Subjektseite ebenso sachlich den Willen sich zugeordnet wie auf der Objektseite die materielle Tiefe. Daher kann Goethe sagen, das Schaudern sei der Menschheit bestes Teil; daher ist in der Erhabenheit sowohl eine Objektivität, die dieses Schauspiel einflößt, wie eben dieselbe Objektivität, die das höchste Vertrauen einflößt, nämlich die Ahnung unserer künftigen, unserer zu keinen Kleinigkeiten bestimmten oder mit ihnen beinhalteten Freiheit. All dieses mithin durchbricht bereits in der klassizistischen Ästhetik, sobald sie die Kategorie Erhabenheit berührt oder, wider die Abrede, von ihr angerührt wird, das Interesselose wie die Oberfläche des Wohlgefallens. Ja auch in der Schicht einer viel urbaneren Betroffenheit als der, worin das Schaudern der Menschheit bestes Teil ist, wurde der Abstrakt-Schein unhaltbar; es zeigte sich allemal eine Dreinrede des Sujets. Derart zeichnete gerade Goethe unter den Gegenständen, die einen poetischen Effekt hervorbringen, betont keine des geschlossenen Abstrakt-Scheins aus, sondern solche, die stellvertretend oder symbolisch sind, sofern sie auf eine ihnen gemeinsame materiale Tiefe konvergieren, so wie diese, mit ihrer Einheit und Allheit, in den poetischen Gegenständen selber sich bedeutet, Anspruch auf sich macht. Damit wird ersichtlich das dem interessefreien Harmonismus Fremdeste postuliert: die gegenständliche Perspektive in der Bedeutungsrichtung des Objekts selbst. Sie wird auch dort gefordert, wo nicht erst Erhabenheit die Formaltapete des interesselos hergestellten Wohlgefallens unterbricht, wo nicht erst Ergriffenheit in die Tiefe gelangt, das
Ungeheure zu fühlen. Wo die näheren Tendenz-Verflechtungen, Latenz-Gehalte einer Zeit an und in ihren Menschen, Situationen, Themen perspektivischentelechetisch dargestellt werden. Gerade weil Goethe völlig /(950) objektiv verlangt: »In Kunst und Wissenschaft sowie im Tun und Handeln kommt alles darauf an, daß die Objekte rein aufgefaßt und ihrer Natur gemäß behandelt werden«, gerade wegen dieses echten Drängens auf Realität, nämlich auf entelechetisch volle, findet sich beim Dichter des Faust folgende weitere Hinweisung, mehr als die schon manifeste Fülle des Wirklichen betreffend: »Wahrscheinlichkeit ist die Bedingung der Kunst, aber innerhalb des Reiches der Wahrscheinlichkeit muß das Höchste geliefert werden, was sonst nicht zur Erscheinung kommt« (Aufsatz zum Relief von Phigalia). Und der Hintergrund der Perspektive, der Goldgrund der Kunst ist und bleibt - der Kategorie Vor-Schein gemäß - eine realmögliche Wunschlandschaft; diese liegt, wenn auch mit noch so verschiedenen Qualitäten und Hierarchien, in den Fenstern der Kunst. Sie reicht bis zu jener immer noch immanenten Kunst, die von einer Welt beschienen ist, die noch nicht da ist und als Faust-Himmel, das ist, als erlangte Identität des Gegenstands mit dem Inhalt des menschlichen Auftriebs, im Vor-Schein steht. Aber auch innerhalb dieser weitgespannten Reihe ist Realismus in der Kunst keine beschreibende oder erklärende Bestandsaufnahme, sondern erhält, auf aktivierende Weise, einen Spiegel immanenter Antizipation vor, er ist tendenzhaft-utopischer Realismus. All das verhindert, daß Schönes gleichmütig empfangen und genossen wird. Wollen ist bereits beim Empfangen vorausgesetzt, damit dieses ein den Menschen betreffendes sein kann. Menschen unterhalten und ein Feuer unterhalten, beides kann und soll verwandt sein. Der bewegte Wille war gar aus dem Bilden selber am wenigsten entfernbar, aus der Herstellung des Schönen. Auch vom Pathos des Erzeugens her, von diesem der bürgerlichen Welt von Anfang an eingeschriebenen, wurde also die anders bürgerliche: die formale Betrachtungslust durchkreuzt. Kunst erschien von hier aus besonders als tätige Umarbeitung, als eine die Welt durchaus erweiternde und wesenhaft vermehrende. Der französische Revolutionsarchitekt Ledoux nannte derart, wie gesehen, sogar den Baumeister einen Rivalen Gottes. Und lange vorher nahm der Humanist Scaliger das Wort Poesie im so buchstäblichen wie prometheischen Sinn des: der Poet ist »factor«, ja »alter deus«. Wonach eben Scaliger den /(951) Poeten als einen definierte, der nicht Vorhandenes wie ein Schauspieler nacherzählt, sondern als ein anderer Gott schafft und gründet: »Videtur poeta sane res ipsas non ut aliae artes, quasi histrio, narrare, sed velut alter deus condere.« Dieses Prometheusgleichnis des Künstlers lief von 1561 an, der Faust-Zeit, worin Scaligers Poetik erschien, über Bacon zu Shaftesbury, zu Klopstock, zum Sturm und Drang, zu Herder und dem jungen Goethe: eine Willensbestimmung durchaus; eine Geniebestimmung, an der der Mut zum creator spiritus erscheint, doch kein Quietiv eines reinen, eines empfangend kontemplativen Weltauges, wie in der nachherigen klassizistischen Definition. »Freiheit in der Erscheinung« wird so auch von der Produktionsseite her nicht Illusion, sondern objekthafte Verwesentlichung des Dargestellten im Sinn der tiefen Menschennähe, wohin die Kunst auf ihre Weise die Welt führt und bringt. Auf ihre Weise: als auf die angegebene Weise des ästhetischen Vor-Scheins, womit Wesentliches, das noch nicht hervorgetreten ist, doch, indem es ohne alle Illusion als hervorgetreten und seiend behandelt wird, seinem Geborenwerden und Sein um einen so wichtigen Schritt entgegengebracht wird. Auch von hier aus besteht also kein Formalismus, dem seine autarke Formvollendung die einzige Vollendung ist. Hoffnungslandschaft, auch im Schreckbild, ist vielmehr das ästhetische Omega:
Hegel nannte das, objektiv-idealistische, die Unendlichkeit im Endlichen, hier heißt es, utopisch-realistisch, die menschliche Identität im anderen, in der treibenden alteritas. Das ist das gleiche wie die Zielbestimmung kraft des Symbols, zum Unterschied von der Allegorie, die als Identitätsbezug im anderen, ausgedrückt durch anderes, eine Wegbestimmung ist. Die Kunst in ihrem Weg ist derart ebenso durchgehends allegorisch, wie sie dem den Weg regierenden Ziel nach (der Einheit und Allheit nach, die letzthin nur als humane eine ist) dem Symbolischen verpflichtet bleibt. Wobei sie als Kunst gegebenenfalls ebenso den Abstand vom Rechten immanent wiedergibt, wie sie an anderen immanent zu Ende getriebenen Gegenständen, in positiv möglich gewordenem Vor-Schein, ein Paradiso - wagt. Erst seit Marx ist das, zu erreichbarem Teil, kein Wagnis mehr, das schlechthin im Vor-Schein bleiben muß. Zu erreichbarem Teil, das heißt, mit dem Bauplatz /(952) zusammen, dessen Tätigsein zum nicht bloß betrachtet Schönen gehört. Maler des gebliebenen Sonntags, bei Seurat, Cézanne, Gauguin; Giottos Legendenland Wieder nun zu Bildern zurück, zu solchen zunächst, die schlicht ins Bessere fahren. Nämlich in ein Draußen als Heraussein aus der täglichen Mühe, in sonntäglicher Lust. Teniers setzte so seine armen Würfler und Kartenspieler unter die Linde, breitmäulig, mit dem Glück im Bierkrug. Pieter Breughel malte sein Schlaraffenland, genau wie das arme Volk es allemal geträumt hat. Als ewigen Sonntag, der einer ist, weil jedes Tretrad fehlt und nichts mehr als Trinkbares, Gesottenes, Gebratenes vorkommt. Ein Bauer, ein Ritter, ein Scholar im Vordergrund, die ersten satt und schlafend, der Scholar noch mit offenem Maul und Augen, eine gebratene Taube erwartend oder das Ferkel, das rückwärts steht und bereits das Tranchiermesser bei sich trägt. Welcher Weg von hier, welcher Sprung in Sitte, Haltung, Geist von den Rüpelbildern zu einer anderen Wunschszene epikureischen Glücks: zu Manets »Frühstück im Freien«. Und doch ist das als Genußtag, Schönlust-Tag Gemalte und Lösende in der verschiedensten Tonart verwandt, auch in der bürgerlichen, auch in der vornehmen. Manets Wunschszene hatte ihr Vorbild bereits in Giorgiones »Konzert im Freien«, als einem Pastorale nackter Frauen, musikgenießender Männer, verschwiegener Natur. Manet wiederholt die Szene, wenn auch ohne Musik, erst recht ohne venezianischen Goldton; dennoch sammelt und versammelt auch hier der Garten Epikurs. Weiches Licht, wie nur der Impressionismus es traf, fließt durch die Bäume, umgibt die beiden Paare, die nackte Frau und die sich zum Bad entkleidende, die dunklen Männerfiguren. Dargestellt ist eine außerordentlich französische, außerordentlich verweilende Situation, voll Unschuld, Souveränität, unaufdringlichem Lebensgenuß, kummerlosem Ernst. Im ganzen läuft von den Kirmesszenen bis zu den bürgerlichen Gelassenheiten - im Gehölz, auf der Promenade oder auch in einem imaginierten Tempe-Tal - jene Kategorie hindurch, die man als die der Sonntagsbilder bezeichnen kann; ihr Sujet ist: unmittel- /(953) bares Jenseits der Beschwerde. Freilich ist dies Sujet im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr leicht malbar; Manets »Frühstück im Freien« bildet gerade hinsichtlich seiner Naivität und Gegenwärtigkeit eine Ausnahme. Sein unschaler Sonntag wäre mit Kleinbürgern schon fast nicht mehr möglich, er kommt bezeichnenderweise nicht ohne Künstler und ihre Modelle aus. Der wirkliche bürgerliche Sonntag sieht daher auch als gemalter weniger wünschbar oder auch weniger reichhaltig drein. Die negative Folie zu Manets »Frühstück im Freien«, anders gesagt: das ohnmächtig gewordene Lustigsein ist
gegeben in Seurats Promenadestück: »Un dimanche à la Grande-Jatte«. Dies Bild ist einziges Mosaik von Langeweile, ein Meisterstück des SehnsüchtigUngelungenen und Abstandhaften im dolce far niente. Das Bild schildert bürgerlichen Sonntagmorgen auf einer Seine-Insel in der Nähe von Paris, und eben: es schildert nur noch auf höhnische Weise. Leeren Gesichts ruhen Figuren im Vordergrund, die Gruppe der übrigen bildet in der Hauptzahl hölzerne Vertikalen, gleich Puppen aus der Spielzeugschachtel, intensiv mit starrem Lustwandel beschäftigt. Dazu der bleiche Fluß, mit Segelbooten, Ruderregatta, Vergnügungsdampfern, ein Hintergrund, der trotz seines Vergnügens eher dem Hades als der Sonne anzugehören scheint. Lauter glückloses Nichtstun ist in dem Bild, in seinem hellmatt-wäßrigen Raum, in dem ausdruckslosenWasser der Sonntags-Seine, als dem Gegenstand eines ebenso ausdruckslosen Sinnens. Schlaraffenland auch hier, doch so, daß mit der Arbeitswelt jede Welt, ja jedes Objekt ins Wäßrig-Laue zu schwinden scheint. Die Folge ist bodenlose Langeweile, kleinbürgerlich-höllische Abstands-Utopie vom Sabbat im Sabbat selbst; der Sonntag gerät nur noch als gequälte Forderung, nicht mehr als kurzes Geschenk aus Gelobtem Land. Solch bürgerlicher Sonntagnachmittag ist die Landschaft des gemalten Selbstmords, der nur deshalb keiner wird, weil ihm auch noch die Entschiedenheit zu sich selber fehlt. Kurz, diese Art dolce far niente ist, soweit es überhaupt noch Bewußtsein hat, das Bewußtsein völligen Nichtsonntags in der gebliebenen Utopie des Sonntags. Von dieser so dargestellten negativen Folie konnte sich das bürgerliche Sonntagsbild des neunzehnten Jahrhunderts nirgends erholen, Manets »Frühstück im Freien«, diesen als vornehme /(954) Boheme erhaltenen Renaissance-Nachklang, fast einzig ausgenommen. Ist doch die negative Folie in der Gesellschaft und in ihren Dopo-Iavoro-Gegenständen längst vorhanden gewesen, bevor sie spät und deshalb so radikal-bezeichnend gemalt wurde. Die Historienbilder vergangener Fülle und Festlichkeit, diese auf die Leinwand gebrachte Sonntagabend Opern, bestätigen dadruch, daß sie malerisch so wertlos und verlogen waren, nur den sehnsüchtigen Hades des gekommenen Feiertags. Und auf der anderen Seite wurde er bestätigt durch die gnadenlose Kunst, womit eine karge, strenge Malerei von der Art Marées das Jenseits der Beschwerde vorzustellen, besser: zu beschwören suchte. In Griechenbildern voll edler Gebärde, einsamer Grazie, mit gestellten Orangenhainen, mit statuarisch gemeinten Gestalten, die die goldenen Früchte pflücken und darreichen, mit preziösem Ruhebau und doch, wie ersichtlich, mit Theater auch hier. Dieses verschwand einzig, wenn wirklich genuine Malerei sich nicht bloß, auf naive Weise, größter handwerklicher Strenge befleißigte, sondern vor alle,: wenn sie ihre Gegenstände vereinfachte, das heißt, auf solche einschränkte, an denen auch in der bürgerlichen Welt ein positives Bildnis von Sonntäglichkeit noch möglich war. Das geschieht vor allem bei Cézanne, mit Resignation wie Restriktion auf eine rustikale Kleinwelt und auf eine ebenso einfach-monumental gesehene Größe der Natur. So erst wurde eine höchst lakonisch sich haltende Gelassenheit von Sonntag ebenso dinghaft konkret wie monumental. Das bereits, wo nicht überwiegend, in der Darstellung gepflückter Früchte, weiter in den ausgesparten Landschaftsbildern und ihrem dorisch gehaltenen Elysium. Der Epikur eines »Frühstücks im Freien« ist zu Ende, die akademisch gewordenen Gärten der Hesperiden werden nicht angeblickt: statt dessen erscheint im Bild das tüchtigste Korpus Ruhe, das im neunzehnten, erst recht im zwanzigsten Jahrhundert bekannt ist. Cézanne verwandelt noch seine Stilleben in Orte, worin es streng und seßhaft hergeht, worin sich glückhaft Reifes gesetzt hat. Das Gepflückte auf diesen Bildern, die Äpfel, Zitronen, Orangen sind
keine Früchte mehr, obwohl sie mit höchster Vorsicht und Genauigkeit als diese gemalt sind, es sind Zeugen eines schweren Behagens, von hesperischen Landschaften auf die Tischdecke des Feiertags gebracht. Hier ist alles /(955) Stilleben und nichts, denn Cézanne schlug ganze Ruhe-Welten in diese kleinen Gebilde nieder, statuarische, worin geerntet worden ist, worin eine elysische Ceres die Hände in den Schoß legt. So beruhigt, so in der Beschränkung auf bloßen Ausschnitt zur Ordnung gebracht, sind auch Cézannes heroische Figuren und Landschaften beschaffen, durchaus architektonisch. Akte lagern gemauert oder steigen gleich Pfeilern in die Höhe, stehen zwischen den Bäumen, byzantinisch gereiht, oder eingebaut in Laubhintergrund (»Les Ondines«) als in eine Nische. Das Meisterwerk »Grandes Baigneuses« biegt die Stämme, die das Bild rahmen, rechts und links zu gotischen Bogen, an sie gelehnt steigen stehende Akte mit empor, sie gehen gegen die Mitte und den Boden zu in ruhende über, den Bogen selbst füllt ein Sonntagsraum par excellence: Strand, Wiese, Wasser, dörfliche Landschaft, hohe Wolke. Dinge und Menschen werden so Bausteine von verschiedener Form und verschiedenem Gewicht, bestimmt, Bildbau herzustellen und zu tragen. Jedes Ding gerät an seinen Platz, wird mit festen Schriftzügen, mit denen seiner Gestalt, in ihn eingeschrieben. Auch reine Landschaftsbilder wie » L'Estaque« bauen das Ihre in einem Gleichgewicht auf, wie es seit Giotto nicht mehr gelungen war. Braunrote Ziegeldächer, grüne Baumkronen, karmoisinblauer Golf, gelbviolette Hügel, türkisblauer Himmel geben zusammen mehr als Einheit der Oberfläche, die Farben modellieren auch noch die geologische Struktur unter dem Fleisch heraus, als sichere Ataraxie der Landschaft. Es erscheint die Ruhe einer beschlossenen Natur, doch freilich eben mit eingeschränkten oder scharf herausgeschnittenen Gegenständen und im ganzen durchwegs fern von den Konflikten der Großstadt. Eine zum entwickelten Kapitalismus und seinen Gegenständen ungleichzeitige Agrarwelt geht auf, eine Provinzlandschaft mit tief gesehenen Erstreckungen in Aufgeräumtheit und Ordnung. So ist allerdings auch Cézannes Equilibrium, seine an Giotto gemahnende Ruhe, ja gerade sie, ein ausgesparter Sonntag der Welt, eine nur in Buchten und kargster Formstrenge noch ausprägbare Utopie. Wird daher Sonntag in Breite und gleichsam für alle Tage gemeint, mit einer Darstellung, die ihre Objekte nicht herausmodelliert, als ob sie Schätze grübe, dann mußte das gegebene Europa verlassen werden. Dann bot sich nur noch jene /(956) Welt, die ein so sehr viel geringerer und affektuöserer Maler wie Gauguin gesucht und gleichsam gefunden hat, fern von Europa, auf der Flucht davor, in einem weit entlegenen und primitiven Jenseits der Beschwerde. Glück und Farbe auf Tahiti: dergleichen gelangt nun ins späte Sonntagsbild, ein lang verschollenes Stück aus Südland. Dieser Traum war zuerst erschienen, als Tahiti mit seiner paradiesisch wirkenden Unschuld 1606 entdeckt worden war, er hatte im Rousseau-Europa durch Cook und die feinen, sprachgewaltigen Berichte Georg Forsters neue Nahrung gefunden. Das Sonntagsgefühl suchte damals schon tropische Staffage und genau diese: »Durch Forsters anmutige Schilderung von Otaheiti«, sagt Alexander von Humboldt in den »Ansichten der Natur «, Gauguin vorauserblickend, »war besonders im nördlichen Europa für die Inseln des Stillen Meeres ein allgemeines, ich könnte sagen sehnsuchtsvolles Interesse erwacht.« Auch die anders lokalisierten oder Romangefühle, die seit Rousseau hier umlaufen: Saint-Pierres »Paul und Virginie«, der Palmen- und Unschuldsroman, oder die »Chaumiere indienne», auch diese Art Robinsonade (ohne Rückkehr) wird von Gauguin in später Anschauung ausgezahlt. Als solche wird nun das zum Kapitalismus noch besonders ungleichzeitige Tahiti gemalt, und die Sujets scheinen gleichsam wahllos
paradiesisch: ein Kinderpaar unter Blumen, ein junger Reiter und Mädchen, die ihn erwarten, ein Maori-Haus zwischen Palmen, Fruchternte ohne Mühe. Alles liegt in braunfeuriger Ruhe, ein Süden, zwar noch gesehen in Pariser Brünetten, doch sie haben die heimische Eva ausgezogen, Melancholie löst sich oder verwandelt sich in Schweigen und ferne Vakanz. »Natur für uns«, dieser gründlichste Hintergrund des Schlaraffenlands, wird durch einen paradiesischen Himmelsstrich angezeigt und so weniger gründlich ins Bild gebracht. Erkauft ist der Sonntag auf Tahiti durch Primitivität, belohnt wird die Primitivität durch Sorglosigkeit - wenigstens auf Gauguins Bildern. Aber: Terra australis in Europa und ohne Primitive, dieser Werktag als Sonntag wurde noch nirgends gemalt; denn er wäre die klassenlose Gesellschaft. Dostojewskijs Verzweiflung ließ verschiedene Male in seinen Romanen eine Erinnerung an Claude Lorrains Bild »Acis und Galatea« auftauchen, das überall von seinen Helden als »Goldenes Zeitalter« bezeichnet wird /(957) (vgl. Lukács, Der russische Realismus in der Weltliteratur, 1952, Seite 147) Viel mehr als solche arkadisch-mythischen Sonntage konnte die Malerei der bürgerlichen Neuzeit, voll sentimentalischen Abstands, in einem erreichten Cytbera selber nicht hergeben. Gemaltes Eden in der Neuzeit muß sich stets mit der sentimentalischen Resignation eines bloßen Arkadien versehen, das ist, mit einem Flucht-Sonntag, der sich ebendeshalb auch nur dualistisch, nicht aufnehmend und lösend zum Werktag verhält. Auch das Mittelalter, selbst in seiner glücklichsten und relativ ausgeglichensten Zeit, verlegte den Frieden des Gutgewordenseins bekanntlich über jede Welt hinaus; dort erst wuchsen das Ölblatt und der Sabbatfriede. So auch im Bild, wenn es dieses Jenseits auf ein anschaubares Hier projiziert: das Glück des Nunc stans blieb - so wenig es fürs mittelalterliche Bewußtsein auf Beschränkung, gar auf künstliche Primitive angewiesen war im Legendenland. Desto sicherer war damals freilich noch das Gefühl, dort treuen Halt zu haben. Das fromme Bild glaubt an seinen Wunschort in vorhandenen heiligenVorgängen, nur der irrende Mensch schließt sich davon aus. Das Bild wird eine Mahnung zur Ordnung, zur selben, welche der abgebildete heilige Stoff dem schwankenden Leben vormalt. Die Welt der Perspektive ist dem letzthin fremd, nicht bloß aus technischen Gründen. Sowenig wie die kanonische mittelalterliche Malerei ein Espressivo kennt, sowenig kennt ihr überwiegender Flächenstil Perspektiven; und beides aus verwandten Gründen. Denn beides ist Sache des Subjekts und seines Abstands, nicht des gläubig besessenen Gegenstands und seines schlechthinnigen Da. Abstand wie Projektion sind bloße Spannungen im längst Entschiedenen, durch die christliche Erfüllung Gutgewordenen. Keine äußere Natur bietet sich freilich dazu an, wohl aber die durch Legende (heilige Geschichte) gewirkte; am vollkommensten bei Giotto. Das nicht zuletzt deshalb, weil Giotto, am Ausgang des Mittelalters stehend, dieses ebendeshalb, in seiner Hierarchie und seinem Legendenbezug, mit gemaltem Finale zusammenfaßt. Erst recht also gerät hier alles an seinen geglaubten Halt und Ort, jede Bewegung ist ihm zugeteilt und eingebaut. Auch Engel im Flug, gerade diese haften und ruhen, kein Gedränge und Zufall sind mehr im Bild, seine Gegenstände /(958) haben Platz genommen. Naturhaftes erscheint nur am Rand dieser Ordnung; im Gegensatz etwa zur Naturmystik der anderen, der Tao-Ordnung, in chinesischer Landschaftsmalerei. Naturhaftes ist Gerät oder, als Berglinie, Ornament, das zur Umrahmung der Figuren dient (Paduaner Fresken «Joachims Traum«, «Flucht nach Ägypten«). Noch die äußere Architektur ist der inneren des Bildbaus lediglich Koordinatensystem: die Loggien und Terrassen, die Throne und Hallen sind geistlich gesetzte Wirkungssphäre (Florentiner Fresken »Zacharias im Tempel«, «Himmelfahrt
Johannis«). Derart erscheint im Idealraum Giottos nicht bloß äußerste Ruhe, sondern ein gemaltes Dasein schlechthin bestimmter Art: mystische Schwere. Vorab das reifste Werk Giottos, die »Erscheinung des hl. Franz in Arles« (Florenz, S. Croce), gibt solche Ruhe: mit durchlaufender Horizontale, abteilender Vertikale, gibt solche Schwere: mit dem Gewicht des Insichseins der sitzenden Mönche, mit dem nie verrückbaren Stand des Heiligen in der Mitte. Nach Thomas von Aquin sind Engel nicht im Raum enthalten wie ein Körper, sondern sie selber enthalten ihren Raum, und sie umschließen ihn, statt von ihm umschlossen zu werden; dem vergleichbar setzt bei Giotto jeder heilige Vorgang selber den Ort, wo er sich befindet, und die Aufteilung der Bildfläche orientiert sich streng nach der Gewichtigkeit des in ihr geschehenden Vorgangs. Daraus folgt also ein drittes nach Ruhe und Schwere: Der Bildaufbau geschieht nach den Gesichtspunkten der dargestellten werthaften Hierarchie. Die Figuren sind im Raum unter genauer Abwägung ihrer Gewichtigkeit verteilt; dem entspricht, daß sogar ihr Realitätsgrad je nach dem geistlichen Wert sich abstuft. Soll heißen: je höher ein Vorgang in der spiritualen Hierarchie, als desto »realer«, das ist hier: begriffsrealer, wird er gemalt. Dies, obwohl die Zeit Giottos ihn bekanntlich auch naturalistisch empfand; Ghiberti rühmte von ihm, daß er die Manier der Griechen verlassen, daß er Natürlichkeit und Anmut eingeführt habe. Ein Beginn von bürgerlicher Emanzipation wurde so an Giotto empfunden, mit ihr malerisches Detail, deutlich schildernde Erzählung, individuelle Charakteristik; derart meinte selbst Boccaccios Dekamerone, die Natur bringe nichts hervor, was Giotto nicht nachzubilden verstehe. Doch eben, diese Naturalismen sind nur solche /(959) an den Byzantinern und noch an Cimabue gemessen; sie sind keine innerhalb der gotischen Seinsmannigfaltigkeit und der Seinshierarchie, worunter das Mannigfaltige, indem es eingebaut wird, desto triumphierender gebeugt wird. Giotto ist hierin dem Thomistischen Weltbild völlig konform, der Gleichsetzung von Wertbestimmungen mit Seinsstufen, des Realitätsgrads mit dem hierarchischen Rang. Diese merkwürdig optimistische Lehre erfüllt den gesamten Begriffs-»Realisrnus« des Hochmittelalters, sie ist auch die einzige Voraussetzung des ontologischen Gottesbeweises (Gott ist deshalb das allerrealste Wesen, weil er das allgemeinste und vollkommenste ist). Also unterliegt auch Giottos Kunst der ontologisch-hierarchischen Überzeugung: er malt Gewänder, Felsen und dergleichen flach, fast zweidimensional, die Realität aber wächst nach dem Zentrum der Komposition zu (welches Zentrum nicht unbedingt mit der Bildmitte zusammenfällt) .Giotto ergänzt derart die Raum-Hierarchie seiner Objekte aufs eindringlichste durch Seins-Hierarchie: diese erst schafft zur Ruhe und Schwere jene besondere Gravität des Werts, welche aus geglaubtem Mehr-Sein stammt. Sogar die Äußerlichkeit, wozu sonst bei Giotto Naturhaftes, auch Architektur untergeordnet ist, im Hinblick auf das Unum necessarium: Legendenland, kann auf diese Weise, durch Unterstreichung eines Wertvorgangs, letzthin zentral werden. Die Berglinie, welche auf der »Flucht nach Ägypten« dienendes Ornament bildet, wiederholt ebenso als Hintergrund der wandernden Figuren deren Umrisse und zeichnet sich wie sie in die Ewigkeit ein. All das aber geschieht einzig im Legendenland, wozu die heilige Geschichte gelungen ist, hat statt Perspektive im Renaissance-Sinn ausschließlich Hierarchie des Gelungenseins und darauf hinlenkende Komposition. So wird in dieser Malerei eine Utopie des Christentums als seiend, ja eben bereits als allerrealst gestaltet; entsprechend dem ungeheuren Optimismus der Sein-Wert-Proportionalität. Dieser Optimismus ist zersprungen, die spezifische Utopie der Giotto-Welt ist durchaus zu einer bloßen Mythologie utopischer Art geworden. Auch ihre Gebautheit zersprang mit dem Ende der
mittelalterlichen Feudal-Theokratie sogleich, sie sprang sogar innerreligiös. Die Grünewaldsche Christuswelt, die täuferische, nicht kathedralische, hat die Bibel-Legende ,einzig als explosive und /(960) das Zentrum (Auferstehung im Isenheimer Altar) einzig als das des grellsten Paradoxes. Doch auch zu seiner Zeit lag Giottos Legendenland auf jenem schmalen Grat von Equilibrium, der mehr im Himmel als auf Erden ausgespannt war und den die Neuzeit so verlor wie aufgab. Die Perspektive der bloßen Ahnung, einer präzisen, aber dämmernden, wie sie im Hintergrund der Mona Lisa, selbst in dem saugenden Fernzentrum des Barock erscheint, drückt den vorhandenen Wunschzustand, auch die währende Heillosigkeit angemessener aus. Freilich nicht den regierenden Wunsch-Inhalt, als welcher keiner des Abstands, wichtigster Weise, auch keiner der endlos bewegten Bewegung ist, sondern einer der Ruhe. Deshalb erscheint auch in dieser wahrhaft monumental gewordenen Wunschlandschaft, End-Landschaft trotz ihres übersprungenen Abstands, ihrer mythologischen Hypostase ein Maß all dessen, was recht gemalt werden kann; es erscheint der ausgemalte Goldgrund jeder Bewegung: Friede. Selbst die »Flucht nach Ägypten« zeigt ihn, erst recht die »Erscheinung des hl. Franz in Arles «,mit der Homogeneität eines Gelungenseins, die auch das Heterogene auskomponiert hat. Diese Art Gegenwärtigkeit, diese Ruhe- und Raumhaftigkeit, diese Schwere und Monumentalität, mit jedem Gegenstand an seinem Wert-Ort, bleibt ein ehernes Korrektiv zu jeder späteren Ordnung. Die so gemalte Ruhe ist gewiß nur ein Korrektiv, sie ist keine konkrete Angelangtheit, gar Seinsgarantie ihres Inhalts. Im Korrektiv ist auch keineswegs fixe Ontologie enthalten wie bei Thomas und so vielen Philosophen der Geschlossenheit und Abgeschlossenheit. Bezeugt ist bei Giotto also einzig der letzthinnige Primat der Ruhe über die Bewegung, des Raums über die Zeit, der Raumutopie über endlose Zeitutopie, der Ankunfts-Gestalt über die Perspektive. Legende und ihr Land will hier die Situation zur Situationslosigkeit machen und komponiert jedes ihrer Geschehnisse, mit strengster Abstufung, in eine Hierarchie des Zuletzt ein, worin sich alles Dargestellte in so verheißenen wie längst geschehenen Entsprechungen zu ordnen scheint. /(961)Legendenland in der Dichtung: als himmlische Rose in Dantes Paradiso, als transzendentes Hochgebirge im Faust-Himmel Die Züge des Zuletzt wurden streng gemalt, aber nur zögernd ausgesprochen. Ihre Sprache stockte unter lauter Psalmen und Lobgesang oder wagte sich nicht in den ungeheuren Sonntag. Keine Bestimmung aus der objektiv-realen Welt konnte auf die absolute ohne Vorsicht und bloßes Bedeuten übertragen werden. Nur wo höchste Visionskraft zum Invisiblen vorlag, mochte ein himmlisches Legendenland auch mit Worten versehen werden, aber mit angenäherten. Dante wie Goethe haben so ihr Werk einzig mit indirekten Himmelsbildern beschlossen, der eine in der Anschauung eines gegebenen Glaubens, der andere im Glauben einer transparenten Anschauung. Indes selbst der mittelalterlich geborgene Dante meidet die Direktheit, welche gleichzeitige große Malerei dem Himmel entgegenbrachte. Giottos sichtbare Ordnung sichtbarer Gegenstände wird in den letzten Gesängen der Göttlichen Komödie zu einem höchst symbolischen Aufriß unnennbarer Inhalte. Das Paradies der Heiligen in Giottos »Jüngstem Gericht» ist festlich-klar, streng stehen die Throne der Patriarchen, geschlossen steigt eine Arena aus Engelsköpfen und Goldglanz hinter den Thronen empor. Wogegen Dantes Geographie Gestalten und Geschlossenheiten aus der objektiv-realen Welt nur mit Gleichnisrede, zuletzt
Symbolen aus sehr ferner Utopie des Raums ins Paradiso eingehen läßt. Folglich verwandelt die Göttliche Komödie auch noch ihre Architektur der sieben Himmel von der Fixsternsphäre ab in die Wunschgeheimnisse eines Raums von ebenso inwendiger wie überweltlicher Tiefe. Auch die äußere Lichtgestalt entspricht ihm nicht, wenigstens nicht die in Sonne und im bloßen Sternfeuer des Fixsternhimmels erscheinende, zum Empyreum erst aufstrebende. Denn die Sonne (bei Dante mit der Kardinaltugend der Weisheit gleichgesetzt) ist zwar der Wohnort der Theologen, die sich in das unendliche Licht Gottes versenkt haben; dennoch ist der Sonnenkreis mitnichten Empyreum, ja es sind ihm (eine besondere Schwierigkeit für die Interpretation von Dantes Himmelshierarchie) die Mars-, Jupiter- und Saturnkreise als Kreise der Tapferkeit, Gerechtigkeit und Mäßigung übergeordnet. Das /(962) macht: in Dantes Raum ist eine Utopie, welche in ihrer höchsten Erscheinung der Sonnensphäre korrespondieren mag, aber statt dieser in einer eigenen, gar nicht mehr astronomischen Symbolgestalt sich ausprägt. Als solche erscheint im Empyreum, über dem «letzten Trieb des Weltenrings zum reinen Licht«, die Himmelsrose: Ein licht ist in den oberen revieren Das unser schöpfer denen all bereitet Die ganz in seinem anschaun sich verlieren: Das in gestalt des kreises sich verbreitet Und schlüsse sich sein außenring zusammen Es wär als sonnengürtel zu geweitet. Es ist geschaffen nur aus lautren flammen Und trifft der ersten sphäre höchste ränder Wo sein und wirken ihm allein entstammen. Wie sich ein felsen an dem seegeländer Bespiegelt gleichsam sich im schmucke sehend Des saftigen grüns und blumiger gewänder: So sah ich ringsum überm lichte drehend All die sich spiegeln in viel tausend sitzen Die heimgekehrt sind dieser weit entgehend In einer lichten rose form erschaute Ich also die geweihten himmelsheere Mit seinem blut des heilands angetraute. (Par., übersetzt von Stefan George, 30., 31. Gesang) Die Seelen der Kreuzfahrer bilden ein Kruzifix, die Engel die große Lichtblume; es ist alles Gestalt und doch alles Symbol eines Venerabile, das Rose ist und wieder nicht ist. Die Utopie des Raums ist im Empyreum Raumlosigkeit geworden: Nähe und Ferne können hier weder mehr geben noch nehmen /(963) (»Presso e lontano Ii ne pon ne leva«, Par. 3o, V.. 121); also bleibt auch an der Rose nur die vollkommene Zirkelgestalt der Erfüllung. Das ist in nichts mehr die Liebesrose einer weltlichen Dichtung, auch nicht die Rose Maria, obwohl Dante, auf der Stufe des Fixsternhimmels, die Gottempfangende so nennt (Par. 23, V. 73f.): die
vollkommenste Gestalt bleibt außerhalb des Raums. Kurz vor Dante hatte Pietro da Mora, Kardinal von Capua, einen Traktat de rosa veröffentlicht; darin figurierte die seit alters vollkommenste Blume dreifach: für den chorus martyrum, für die virgo virginum, für den mediator Dei et hominum. Stimmt Dantes Rosensymbolik auch genau mit dieser Dreiheit überein (vgl. Olschki, Sacra doctrina e Theologia mystica, 1934, p. 20 squ.), so doch nicht hinsichtlich der Wunschlandschaft: Raumfigur Rose selbst; diese steht im Überraum des Empyreum einzig für den Zirkel Überall. Und in ihm, als dem nun nicht mehr trennenden, sondern einzig verbindenden Wunschtraum, ist die Paradiesblume mit einem einzigen Blick erfaßbar (Par. 30, v. 118), ja die Anschaulichkeit selbst; im höchsten Teil des Paradieses wird Erkenntnis notwendig von Vision abgelöst. Der Mut zum Unbeschreiblichen, das nicht einmal unbeschreiblich ist, drang deshalb sogar zum Bild eines Bienenschwarms vor, als der die Engel sich darstellen, als der sie im Kelch der Himmelsrose sich niederlassen und zu Gott aufwärts fliegen (Par. 31, V. 7ff.). Dann wieder werden antike Architekturbilder gewählt: die Blätter der Rose erscheinen als Reihen (di banco in banco) eines ungeheuren Amphitheaters. Sie kann das alles sein, denn sie ist als Raumsymbol einer Vollendung gewählt, die sich überhaupt mit keinem Raum mehr vergleichen läßt als mit dem, den das Kreisen ums Zentrale beschreibt, und die daher an allem rein sich formenden Rund ihr Gleichnis hat. Sonst drang hier von hiesigen Dingen nur beiläufig ein Zug hinüber, ein anmutiger. Sie selber sind wesentlich verlassen, lächerlich klein liegt für Dantes Blick die Erde unten (Par. 22, V. 152), nur noch ihre Taten reichen herauf. Das ändert sich bei Goethe, wo der Riß zwischen Hier und Drüben auch fürs Legendenland aufhört, kraft weltlich gewordener Betrachtung. Faust geht ins Unendliche, indem er nach allen Seiten ins Endliche schreitet, jedoch wiederum auf bergsteigerische Weise. Der Him- /(964) mel in Goethes Faust bleibt völlig irdischer Anschauung entnommen und hält sie fest, jedoch wiederum stets symbolisch, ja (»Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis«) mit besonders betonter, fast mehr als bei Dante reflektierter Symbolik. Nur: der Schauplatz des Faust-Himmels, der so übertragene, ist und bleibt von dieser Welt, ist der des hohen Bergs, des schluchtenreichen Alpenstocks im Blau. Auch Dante hatte zwar, auf der Spitze des Läuterungsbergs, eine irdische Landschaft als fast himmlische. Dort oben lag das irdische Paradies, und es war Frühlingswind, Vogelsang, im Laub verborgen, ambrosischer Wald, mit Lethe und Eunoe als Segensflüssen (Purg. 28, V. Iff.). Dem todbringenden Wald der Sünde im Anfang der Hölle (Inf. V. 1, 2ff.) ist hier ein Gotteswald entgegengesetzt, am Morgen; der Pinienhain bei Ravenna diente, in Dantes Erinnerung, als Modell. Jedoch das so belebte und illustrierte irdische Paradies ist bei Dante gänzlich verschieden vom himmlischen, es ist ein bloßer Ort des Durchgangs, für Seelen, welche zur Aufnahme ins himmlische Paradies bereit sind. Eden ist nur insoweit zum Himmel gehörig, als es der tiefstgelegene Raum ist, wohin Beatrice verschleiert noch herabsteigen kann, um Dante zu empfangen. Mithin bedeutet die Verwendung von Naturbildern hier keineswegs das gleiche wie bei Goethe; sie schmücken und bezeichnen bei Dante nur einen Naturort, wenn auch einen verklärten, sie werden nicht ohne Riß transparent für den Ort der Glorie. Deren Region war bei Dante Rose ohne trennenden Raum, bei Goethe jedoch ist und bleibt auch die höchste Region weitersteigernder Raum, ist transzendierend-transzendentes Hochgebirge, und zwar das zu Goethes Zeit erst eroberte, fast offenbarte. Alpine Natur umgibt die seligen Knaben, die gleich Morgenwölkchen durch die Tannen schweben, empfängt die Engel »nebelnd um Felsenhöh «, enthält den reinen Glanz über den Gipfeln. Eine Bergkathedrale, aus
ekstatischen Abgründen in den Äther steigend, das ist Goethes Himmelsvision, und eben als fort und fort sich erstreckendes Hochgebirge, mit immer neuen Sphären in der Höhe. Auch dieses aktiv-unendliche Wesen, dies ebenso protestantisch strebende wie in immer neue Ahnungen gespannte, hält so, zum Unterschied von Dante, den Erdzusammenhang aufrecht, die Geographie des Emporstrebens und der immer neuen Gipfel. /(965) Der Rahmen bleibt der des Hochgebirgs, nicht des Kreises; die letzte Faust-Landschaft bleibt transzendierend, nicht transzendent; sowohl im dauernden Werdenkönnen ihrer Gestalten wie im ständig fortdeutenden Empor. Hier scheiden sich die Zeiten und Gesellschaften, die feudale bei Dante, die kapitalistisch-protestantische bei Goethe: Dante vollzog eine wohlgeleitete ankommende Reise, Goethes Faust tastet selbst im Himmel noch weiter nach dem Ziel. Bei Dante sind die Gestalten beendet, an Stelle des status viae ist der status termini getreten, ein definitiver Zustand, außer im Purgatorio, und auch dieses hat sein genaues Maß. Dantes Figuren sind durchaus Vergangenheit in der Form der Ewigkeit, und so ist die Landschaft dieser Unsterblichkeit beschaffen; Fausts Unsterbliches dagegen wird empfangen im Puppenstand, das ist: lauter Zukunft in der Form der Ewigkeit erwartend. Statt geistigem Überraum, mit jeder Seele am Ort ihrer enthüllt-beendeten Qualität, öffnet sich neuer Wirkungsraum, statt vollendeter Utopie des Raums die in ihm noch währende Utopie der Zeit dazu. Und der Zeit-Utopie des FaustHimmels entspricht eben die Unendlichkeit des strebenden Bemühens, mit unsterblicher Ahnung im Kern; an der höchsten Stelle des Danteschen Paradiso dagegen, am Ziel, wohin sich alle Wünsche wenden, endet die Sehnsucht (»L'ardor del desiderio in me finii), Par. 33, V. 48).Visio beatifica Dei, Primat der vita contemplativa über die vita activa nehmen den Willen in sich auf; ja die Sehnsucht der Dante-Subjekte wird nicht nur durch die göttliche Anschauung und an der Himmelsrose vernichtet, die Sehnsucht endet sogar, als gleichfalls ewig gewordene, zukunftslose und ans Ende gelangte, in der - Hölle. Auch die schlimmste Situation wird durch ihre Ewigkeit situationslos, wie das Dasein der Götter, folglich im formalen Sinn selig. Von daher Hegels sehr kühne, aber für Dante gültige Formulierung: »Selbst seine Verdammten in der Hölle haben noch die Seligkeit der Ewigkeit - io eterno duro steht über den Pforten der Hölle -, sie sind, was sie sind, ohne Reue und Verlangen, sprechen nicht von ihren Qualen - diese gehen uns und sie gleichsam nichts an, denn sie dauern ewig -, sondern sie sind nur ihrer Gesinnung und Taten eingedenk, fest sich selber gleich in denselben Interessen, ohne Jammer und Sehnsucht« (Hegel, Werke X, S.107). Die Ruhe /(966) aber, die bei Dante selbst noch für die Hölle gilt, gilt in Goethes Faust nicht einmal für den Himmel, geschweige für den Puppenstand; sogar die Ewigkeit des Glücks ist hier keine der Ruhe. Sogar die Ankunft bleibt hier noch Prozeß, mit steigendem Vollgewinn, sogar die Seligkeit hört hier nicht auf, einen Tantalus sui generis, eine Art Glücks-Tantalus in sich zu halten. Sogar der Himmel gibt keinen präsenten Zielinhalt, es bleibt vielmehr davon ein unendlich strebender Abstand, es bleibt allerdings auch jene nicht skrupelhafte, sondern reiche Ahnung, die immer wieder zu unerprobten Horizonten übergeht. Der skrupelhafte Abstand ist protestantisch, wie bemerkt, in derselben Entschiedenheit, wie der Glaube an Anlangbarkeit und betrachtbare Zielgestalt erzkatholisch geblieben ist. Der protestantische Faust-Himmel entspricht trotz seiner katholischen Einkleidung dem Satz Lessings, die Wahrheit sei nur für Gott allein, für den Menschen sei das Streben nach Wahrheit; und verwandt ist dem die Lehre Kants von der ewig nur approximativen Bewegung zum Ideal. Dantes Himmel hingegen, diese völlige Auseinanderlegung von Ankunft, entspricht in ebenso großer Treue dem
letzthinnigen Sabbat- und Ruheglauben der klassischen mittelalterlichen Philosophie, vertreten vor allem durch Dantes LehrmeisterThomas von Aquin. Bei Thomas gibt es keinerlei endlose Annäherung ans Ideal, sondern die Kreaturen sind mittels der Gnade durchaus imstande, zu jener divinae bonitatis similitudo zu gelangen, zu der sie bestimmt sind. Während also im protestantischen Faust-Himmel das Ziel sich dermaßen dauernd bewegt, mithin entfernt, daß es fast aufhört, eines zu sein, steht es in Dantes katholischem Himmel dermaßen fest und ewig in zentraler Ruhe, als wäre es in seinem eigenen Wesen überhaupt kein Ziel, das heißt, in Korrelation zu einem Weg, sondern eine absolute Selbstgelassenheit, Seinsvollendetheit an und für sich. Obwohl aber bei Dante-Thomas so die Ruhe verdinglicht und ontologisch hypostasiert ist, wie bei Faust-Lessing-Kant der unendlich strebende Abstand von ihr, zeigt sich doch zum einen, was das unendliche Streben angeht, ein Primat des Dante-Paradiso über den Faust-Himmel. Es ist der utopische Primat der Ruhe, als des Schemas der Erfülltheit, über die Bewegung, als das Schema des unerfüllten Strebens nach etwas hin; wonach /(967) Dantes Legendenland, gleich dem Giottos, als Korrektiv für jede Intentions-Perspektive dasteht, die sich nicht in schlechter Unendlichkeit der Annäherung und ebensowenig in unendlicher Variabilität selber vernichtet. Die als Skrupulosität, wo nicht als letzthinniges Nichtwollen der Ankunft und Gelungenheit erscheinende Unendlichkeit ist eine Karikatur des historisch-utopischen Gewissens und keinesfalls dieses selbst. Darum eben hat Dantes Ruhesymbol der Rose gerade einen utopischen Primat vor den unendlich weiterdeutenden Erhebungssymbolen des Faustischen Hochgebirgs; denn Utopie ist sinngemäß keine ihrer selbst, sondern eine ihres - als eines erreichten - nicht mehr utopischen Inhalts. Zum anderen allerdings ändert sich der Primat der Kreisruhe über die Faust-Bewegung, sobald nicht auf die skrupulöse Unendlichkeit des Erhebens zu immer höheren Sphären geachtet wird, sondern eben auf das Moment der Ahnung darin, das ist, der utopischen Gewißheit, daß kein bisher supponiertes oder gar hypostasiertes Endsymbol die Trauer auskauft, die Hoffnung erfüllt, das Subjekt mit der Substanz adäquiert. Die so erhaltene Bewegung ist dann keine verdinglichte, keine eines verabsolutierten Amoklaufs in ewigem Abstand, sondern sie bewährt bei allem Glauben ans endlich erreichbare Ziel, ja gerade wegen dieses Glaubens, das Bewußtsein von der noch währenden Ungelungenheit des Ziels und seiner Substanz. Insofern also enthält das Faustische Hochgebirge, mit immer höheren, gleichsam eigentlicheren Gipfeln, ein dunkleres Blau des utopischen Gewissens. Der Faust-Himmel enthält von hier aus das Gewissen eines Ankunfts-Inhalts, dessenTag noch nicht gekommen ist, dessen mittelalterlicher bloßer Legendentag samt transzendentem Empyreum verschwunden sind. Und deshalb eben leuchtet, am transzendenzlosenTranszendieren der Ahnung, auch das Dante-Reich der Ruhe nur als Korrektiv eines Vollendetseins, doch an keiner Stelle des ästhetisch gebliebenen Inhalts als die ehemalige Bild-Erfüllung des mit der Himmelskategorie Bedeutbaren. Dergestalt bekräftigt sich das auch an Dichtung nicht Gleichgültige, nicht in Kunstgenuß Abschiebbare: Selbst eine so hohe Wunschlandschaft des Alles wie Dantes Himmelsrose, selbst dieses Offenbarmachen eines Alles ist seinem Überhaupt oder Endwesen nach längst insuffizient geworden. Jegliches Offen/(968) barmachen großer religiöser Kunst hatte seine Wahrheit, sofern und sobald es sie besaß, einzig als Stellvertretung für den noch ausstehenden, noch durchwegs utopischen Realinhalt des überhaupt Gemeinten und kann einzig so weiterwirken. Denn der Ernst des Atheismus, vor dem sich keinerlei jenseits- und Gottesrealität mehr hält, außer als flach gewordene Hypostase oder gar nur als historisierendes
Kunstgewerbe, Kunstreligionsgewerbe, dieser Ernst ist die Grundbedingung jeder zentral begriffenen Utopie. Er ist auch die Grundbedingung des möglichen Erbes an den weiter betreffenden, utopisch (nicht mythisch-ontologisch) noch weiter gültigen Inhalten der gewesenen religiösen Kunst und der Religion selbst. Denn es ist einzig die versuchende Utopiegestalt, nirgends noch die behauptete Realgestalt des Überbaupt, wodurch Himmelsrosen, deskribierte Götter, Empyreum und andere als vollendet hingestellte Intentionsinhalte in der Erinnerung der Hoffnung bleiben. Atheismus insgesamt hat die Intentionsinhalte der letzten Utopie ebenso aus der bereits vorhandenen Wirklichkeit geschafft, wie die Intention auf diese Inhalte, ohne Mythologie und Abschlagszahlung, geschärft. Aber himmlische Ruhe allerdings, gefaßt als Korrektiv, macht der Bewegungs-Utopie, und eben der gewissenhaften, kenntlich, was sie als gründlichste Intention selber in sich hat: Ende der Intention, Unendlichkeit des Inhalts, nicht des Wegs. Der Wille der Utopie ist nur dann auf dem rechten Weg, wenn er durch Vorläufigkeiten der Erfüllung sich die Erhebung in höhere Sphären nicht verlegen läßt, jedoch genauso streng an Ende, Zeitvorbei, Ankunft glaubt. Wenn er an nichts mehr als an die objektiv fundierte Möglichkeit dieser Ankunft glaubt, folglich aber auch an die Kraft, sie zu betreiben und ihr nicht um des Wegs willen zu entsagen. Gerade die Endgestalt des höchsten Augenblicks, wie Faust ihn wachsend suchte und freilich im Himmel weiter, als immer noch Unzulängliches, in Ereignis setzt: gerade diese Endgestalt hat keine höhere Sphäre mehr über sich, ja überhaupt keine Sphäre mehr neben anderen. Das Legendenland Dantes gibt die dicht gelungene Rose, das Land Fausts gibt Berge über Berge im ausgespannten Blau - hier ist das Geheimnis die vorhandene Lösung, dort die Lösung das noch bleibende Geheimnis. /(969)
Prunk, Elysium in Oper und Oratorium
Der Klang schwebt, es ist nicht klar, wo er sich befindet. Ebenso ist nicht ganz deutlich, was er ausdrückt, mit der gleichen Weise wurden schon gänzlich verschiedene Texte vertont. Doch kann ein Klang besser als jede Farbe oder Worte auch jenen Übergang ausdrücken, an dem man nicht mehr weiß: ist hier Klage oder Trost. Musik bleibt insgesamt nicht bei der Stange, gewiß nicht im Dur, aber auch nicht im Moll. Sie hat ein völlig einsames, aber lang hinziehendes, unerlöschendes Licht im ausgesagten Schmerz, und für den Ernst hat sie einen Gesang, der noch den schwersten Schritt des Grave als einen zur Hoffnung zurücklegt. Daß es überhaupt Musik gibt, als nirgends sonst vorgebildeten Weg oder Ausweg, dieses durchscheint, überholt bereits die Stoffe, denen sie sich zuwendet. Freilich suchend schwebender Weise zuwendet, so daß die Lösung noch nicht verpflichtend ist; wenige große musikalische Aussagen ausgenommen. Der Weg der Musik ist länger als der malerische, selbst poetische; so ist sie noch lange nicht so gegenständlich wie andere Künste, obzwar weit intensiver auf Gegenstände bezogen, die nicht im Horizont der Empfindung und des Gedankens, sondern des Affekts liegen. Das bedeutet aber zugleich, da alle Affekte auf Lösung drängen: Musik ist unter allen Künsten am meisten darauf ausgerichtet und, kraft des Trostcharakters ihrer Überschwebung, am stärksten dazu imstande, einen Vor-Schein von Mündung zu geben. Freilich auch am unbeschwertesten, mindestens in der nicht so strengen Form der Musik, das heißt dort, wo Kadenz und Finale ohnehin zum Glanz, zur Schaubarkeit des Glanzes hindrängen: in der Oper. An sich, gleich dem Oratorium, ist die Oper nur eine Form, worin das Instrument der menschlichen Stimme mitspielen kann und, ohne Verkehrshindernis zu erregen, zur Geltung kommt. Aber
darüber hinaus setzt die Oper sichtbare Handlung; ihre singenden Instrumente sind übers Orchester gerückt, sind Menschen auf einem Schauplatz. Und dazu noch dient die Oper seit dem Barock, worin sie erst breit aufblühte, dem Fest, der Repräsentation, dem gehobenen Dasein. Sie geht, noch weit entschiedener als ein symphonisches Finale, auf Glück aus, /(970) auf Triumph, wenn auch gegebenenfalls auf einen stillen, ausatmenden. Bereits die kühlen, antikischen Versuche, mit denen die Oper in Florenz begann, ja mittels derer sie erfunden wurde, zeigten eine überraschende Lust zum hellen Ausgang und seinem Land, trotz des elegischen Stoffes, den sie wählten. Die »Eurydice« Peris, 1600, endete freundlich, der wenig spätere »Orfeo« Monteverdis stellt zwar die traurige Rückkehr Eurydikes in die Unterwelt wieder her, aber Apollo versetzt das Paar unter die Sterne. Erst recht braucht die prunkvolle Barock-Oper das per aspera ad astra in ihrer Musik: nichts füllte die Festdekoration besser, nichts erlaubte üppigere Zeremonien, nichts evidenteren Prunk des happy-end. Das Orchester besaß noch kein Crescendo, doch gerade der ruckweise Wechsel der Tonstärke erlaubte Terrassenbildung des Klangs, vor allem jähen Kontrast. Zusammen mit dem Individuum stiegen nun der dramatische Sologesang auf und die Vertikale des Akkords, mit der dadurch erst möglichen Kadenzwirkung des Siegs; die Dominantund Tonikawirkung wurde unterstützt durch harmonische Neuerungen wie der neapolitanischen Sext, einem der stärksten Ausdrucksmittel der Barockoper, eben im Hinblick auf erscheinenden Triumph. Der Renaissanceoper bei ihrem Beginn in Florenz lag zweifellos noch Still-Arkadisches näher, und sie hat sich mindestens so an Schäferspiele angeschlossen wie an Antike; die Barockoper aber machte daraus Apotheose. Die Barockopern selber sind verschollen, haben, gleich dem Roman, dem Trauerspiel, sogar der Lyrik dieser Zeit, die neuere Schätzung, welche für Barockbauten, auch Barockplastik kam, noch nicht erlangt. Diese verschiedene Wertauslese zwischen den einzelnen Kunstarten der gleichen Zeit ist seltsam und ohne Beispiel; doch hat beständiges Espressivo, beständiges Maestoso in der Nachreife offenbar Grenzen, es erzwingt Fraktionen und Rationen, wonach es aufgenommen werden kann. Auch Meisterwerke wie Scarlattis »Theodora«, wie Purcells »Dido und Aeneas«, selbst Händels »Julius Caesar« sind als Gesamtgebilde, in ihrem großen Ton und Hintergrund, noch nicht recht reproduzierbar geworden. Josef Fux, der Autor des berühmten »Gradus ad Parnassum«, hatte 1723 zur Königskrönung in Prag eine Festoper komponiert, die von hundert Sängern und einem /(971) zweihundert Mann starken Orchester aufgeführt wurde: kein Laut von solchen Kolossen, auch solch fleißiger Üppigkeit dringt mehr herüber. Aber die Aufbautechnik der Opernform selber hat den Barockglanz im Schlechten wie Guten fast nie vergessen; war doch die Oper von der Wiege an bereits auf Elysisches, dann auf Prunkvolles gerichtet. Der großartige Stil der Scarlatti-Arie: langgezogene Anfangstöne mit großen Intervallen, denen bewegter Satz folgt, - dieser Stil wurde zwar in Mozarts » Cosi fan tutte « (Arie Fiordiligis) verspottet, doch er wirkt bis Weber und darüber hinaus. Nicht in der opera buffa, wohl aber in der opera seria hält selbst Mozart die große Szene vom Barock her, die theatralische über jedem Alltag, mit Glanz des Schrecks und der Apotheose: so den Seesturm im »Idomeneo«, den Brand des Kapitols im »Titus«. Beide sind zwar keine adäquaten Mozartopern, und das Elysium dieses Genius liegt statt in Apotheosen in der Gartenmusik des »Figaro«, aber auch die »Zauberflöte« (mit der Regie-Anweisung zuletzt: »Das ganze Theater verwandelt sich in eine Sonne«) endet in dem Triumphton, Triumphland, dem die Barockoper verschworen war. Der Apollo Monteverdis versetzt nach allen Dunkelheiten des Opernschicksals
das Paar immer wieder unter die Sterne: die Oper ist optimistisch, und die bedeutenden Ausnahmen davon sind keine oder bestätigen nur die Regel. Wie sehr erst im neunzehnten Jahrhundert (als die Bourgeoisie sich um Repräsentationsglanz bemühte und dazu das Opern-Instrument übernahm) haben Spontini und Meyerbeer, gar Wagner Barockfeste angestellt, Haupt- und Staatsaktionen mit beliehener oder eigener Aurora. Hier drängte sich zugleich die Banalität der großen Szene vor, sofern in ihr zu verabredet Victoria geblasen wird, und die gefährliche Mischung zwischen Wagnis und Konvention im siegreichen Opernfinale; eine Gefahr, die übrigens auch in so viel höherem Stil: eben im symphonischen Finale auftreten kann. Nichts ist dringender in der Opernkomposition, als vor dramatischen Höhepunkten, Tiefepunkten. mit einem Einfall zur Stelle zu sein, der des großen, gar des seligen Augenblicks würdig ist, aber nichts war im neunzehnten Jahrhundert auch mehr von der Routine des Effekts bedroht. Effekt, sagte Wagner, der Meister vom tönenden Schweigen, aber wie sehr erst des Kolosses, ist Wirkung /(972) ohne Ursache; dies Wesen oder Nichtwesen also zog vor allem in die großen Ausbrüche, großen Aktschlüsse und Schlußveduten der Oper. Als richtigsten war Effekt noch dort, wo ohnehin Musik der linken Hand, Musik als Schaubegleitung zulässig war: im Ballett, vor allem im Außersichsein des (mit dem Ballett verbindbaren) Bacchanale. Der hier musizierte Liebesgarten enthielt noch ein Erbe an Festlichkeit, worin die Dekoration ein großer Teil der anziehenden und geilen Sache selber ist. Die Einschiffung nach Cythera, die feine, zögernde, ist fern, es sei denn, sie klinge, rückwärts wie vorwärts vereinsamt, in Offenbachs Einleitungsmusik zur Barcarole, in seinen kostbaren Evoes und in seines Orpheus »neuestem Konzert«, aber die Liebesgärten und Zauberinseln des Barock erscheinen allerdings, so vergröbert wie magisiert, in den großen Bacchanale durchaus, vorzüglich in dem des Pariser »Tannhäuser «. Hier ist ein Meisterstück von Lust und von sonst nichts mehr in der Welt, ein Abgrund der Satyriasis, aus Tristanklängen herunterdämonisiert, und fern im Abgrund, von dem Ufer, das er nicht hat, tönt der Gesang der Nymphen herüber, der Bordellglanz höherer Ordnung, mit Höllenrose. Doch fragwürdiger eben als im Bacchanale konnten Strand- und Glanz-Salut dort zur Stelle sein, wo Höhepunkte der Opernhandlung, wo vor allem auch Aktschlüsse und die Landschaft des Finale präsent zu machen sind. Ein Klischee wurden hier die diversen Schwerterweihen, Prière-Szenen und Trumpf-Schlüsse bei Meyerbeer und folglich auch bei Wagner. Ein Klischee in statu nascendi wurden Siegmunds Liebesleid und Siegfrieds Schwertgesang, der Einzug der Götter in Walhall und all die anderen transportablen Fortissimi eines angeblich Rechten oder Wunderlandhaften, das nun durchzubrechen scheint und doch nur Rhetorik bleibt, Wirkung ohne Ursache, großmäuliger Ton. Verdi, obzwar gleichfalls der Meyerbeerzeit zugehörend, hat sich vom Klischee solcher Höhepunkte gerade dadurch freier gehalten, daß er es in den geringeren Partien ausgab und sozusagen darauf beschränkte. Dergestalt strahlt, um ein einziges Beispiel zu geben, der Triumphmarsch in Aida, als so äußerlich gehalten, wie es sich gehört, aber der Augenblick nachher, wo Amneris den Sieger bekränzt, strahlt musikalisch nicht, und die Liebesszene zwischen Othello und Desde- /(973) mona, wenn die Plejaden das Meer berühren, wenn der Raum klein wird und die Welt tief, unterscheidet sich in diesem ihrem eigenen Tiefepunkt charakteristisch vom verabredeten Höhepunkt eines anderen Aktschlusses, zwischen Siegmund und Sieglinde, wenn hochaufglüht Wilsungenblut. Der Wagner des »Tristan« braucht gewiß nicht ins Piano und gänzlich Ungemeine gewiesen zu werden, er ist ein Lehrer des Piano und der Aurora zur Nacht ohnegleichen, aber die Konvention des Höhepunkts ist vom »Rienzi» bis zum »Ring des Nibelungen« und
darüber hinaus der Satansengel, der diesen schlimmgroßen Genius mit Fäusten schlägt. Der Satansengel ist der Repräsentationsglanz des Barock mitten in der Bourgeoisie, in ihrem deutschen Bündnis mit dem abgestandenen, aufgefrischten, romantisierten Feudalismus; so wurde die angegebene Gefahr des falschen VorScheins von Glanzmündung, Mündungsglanz bei Wagner ebenso deutlich, wie gewiß auch der echte Vor-Schein in der Opern Wunschlandschaft, kraft Musik und kraft eines Geniewerks in Musik, immer wieder vortritt. Und nicht etwa, als wäre das Spektakulum an sich, mit Fortissimo, das vom Barock her so gewaltig bekannte, am Höhepunkt, gegebenenfalls selbst am Tiefepunkt von vornherein unzuständig; das Unzuständige daran bleibt wesentlich nur das Klischee, das beim PompösWunderbaren immer so leicht mit Leere verbundene. Daß auch das PompösWunderbare, sogar das besonders aufgegipfelte, Wirkung mit Ursache sein kann, gewaltig erfüllte Tonika auch in der Oper, sobald nur der verabredete Schwung fehlt: das zeigt im letzten Akt der »Meistersinger» der Chor des »Wachet auf«, diese unerwartet mächtige Morgenröte, nachdem doch jede Steigerung des Tags schon gekommen zu sein schien. Und auch die feine, die geheimnisvollere Morgenröte wird frei, wo immer ein Höhepunkt, ein Ruhepunkt ohne das Klischee, sich als Höhepunkt zu geben, seine Landschaft zeigt: so bereits im Paukenklang um die erste Begegnung Sentas und des Holländers; so im Quintett der »Meistersinger«; so selbst im Violinklang der Karfreitagswiese. Das ist das Legitime an bedeutender Oper überhaupt: daß sie aus dem ihr eingeborenen Tonika-Glanz auch aus Trauerspiel, wie erst aus Glück, in der Handlung eine Lösung aufgehen lassen kann, die dem gesprochenen Wort /(974) in diesem Weithinaus-Ozeanischen fehlt. Mit welch großbogigem Jubel endet und endet auch nicht die seligmachende Melodie in den letzten Takten der »Götterdämmerung«, das Gegenland zum bombastischen Einzug in Walhall, der hier auch musikhaft entsühnt wird. Es gibt hohe Zeit in der Oper, tönend dargestelltes Wunschland, dem es wohlansteht, wenn es kraft des noch schwebenden Klangs, wie in der gewaltigsten aller Opern: in »Fidelio«, über einem namenlosen Meer mit namenloser Freude aufgeht. All das setzt freilich einen gespannten Klang voraus, der sich überraschend löst. Das Toben legt sich dann so, daß es im eintretenden Gesang der Ruhe mündet. Aber dieses Münden ist noch selber von der vorhergehenden Unruhe erfüllt, daher ist der Gesang, der es wiedergibt, bezeichnenderweise heiß. Und die Gefahr bleibt hier stets ein reißerischer Eintritt der Tonika (im weiteren als dem grundlegenden harmonischen Sinn). Nun aber gibt es noch eine oft kleinere, immer kühle melodische Gegend, wo eine Art silbern Gelöstes selber in der Oper aus der Handlung hervortritt. Als arkadische Melodie, ohne vorherige Überhitzung, als Vorraum zu der Wunschlandschaft, wo man das gehabte Wünschen vergißt. Ein scheinbar bescheidenes und sicher sinnfälliges Beispiel hierfür geben die Reigenklänge in Glucks »Orpheus«, vor allem die Elysiumsszene: »Welch reiner Himmel deckt diesen Ort.« Gluck gab hier mehr als die klangvolle Sinnlichkeit der neapolitanischen Schule und auch mehr als den dramatischen Gegensatz zu den Erregungen und Unseligkeiten seines Höllenchors, vielmehr: hier ist überdramatisches Lento, zugleich durchsichtig einfach. Elysium tritt hervor, hinter dem besiegten Tod, im Blick des Orpheus auf den reinen Himmel und sein sanfteres Licht, im verklärten Dur des Reigens, dann Chors, zu dessen Klängen Orpheus Eurydike empfängt. Das ist das Modell seraphischer Ruhe in der Oper, vorzüglich aber im Oratorium (zu dem Glucks » Orpheus « halb gehört); es ist nichts Majestätisches daran, nur Friede, Friede, wie der Koran sagt. Die klassische Erscheinung dessen, was man Ankunfts-Stil in der Musik nennen kann, mag
allerdings überhaupt nicht in theatralischen, also Handlungsformen gedeihen, sofern sie auch noch ins Oratorium reichen. Es ist vielmehr gänzlich auf /(975) tranquillitas animi aufgetragen, und sein Musiker: Palestrina ist der Meister solcher Verklärung. Ihr reiner Regenbogenklang lebt schon in den weltlichen Madrigalen aus Palestrinas Jugend, sie triumphiert in der plötzlichen Einfachheit seiner Messen, sobald das dogmatische Kernwort klingt. Der Rhythmus wird auf ein Mindestmaß der Bewegung zurückgebracht, Chromatik ist vermieden, als Ausdruck individuell gebrochener und Abstandsgefühle. Melodie und Polyphonie werden völlig aufgehellt, vierstimmiger Satz wirkt hier schlechthin behauptend, zeigt herrschende Schlichtheit; Homophonie (oft in reinen Dreiklängen schweigend) unterbricht nicht, sondern krönt einen meisterlichen, von den Niederländern her erhaltenen Kontrapunkt. Palestrina sucht einen Nachhall dessen, was die heilige Cäcilie hört, von der die Legende sagt, daß sie bereits auf der Erde die Engelchöre vernommen hätte. Solche auditio beatifica entspricht dem Thomas- und Dante-Ideal einer visio beatifica Dei; sie entspricht noch genauer dem Augustin-Ideal der Musik als eines praeludium vitae aeternae. Der Palestrina-Stil machte so als einziger praktisch kenntlich, was im Musikideal des ganzen Mittelalters Theorie geblieben war, gelehrte, wenn auch fromme Theorie des Paradieses. Palestrinas Kunst ist wirklich aufgetragen aufs Wunschbild Engelgesang, seine Musik wurde faktisch gehört als Echo himmlischer Klänge. Seit Augustin war die Musik als dieses Echo theoretisch gefeiert worden, er selber hatte dem Hymnengesang der Kirche Anteil an seiner eigenen Bekehrung zugeschrieben, er selber hatte die alte Sphärenharmonie, diesen astral-mythischen Psalter, zuerst zum Engelgesang umgedeutet, zu einem Paradiesklang in nicht mehr planetarischer, sondern menschenähnlicher Gestalt. Dieser Engelsgesang wird die Erlösten des Herrn aufnehmen und umgeben, also ist jede irdische Musik, die ihre Inspiration aus diesem Oben nimmt, für Augustin eine offene Himmelstür, eben ein » praeludium vitae aeternae, ut a corporeis ad incorporea transeamus« (de musica VI, 2). Augustin war so die eine Quelle des Elysium-Traums in mittelalterlicher Musikanschauung; die andere aber war Dionysios Areopagita, er machte Musik gänzlich bereits zur Engelsprache selber, das ist hier: zu hierarchisch gestufter Botschaft. Musik sollte nun erst völlig von den Zusammenhängen der himmlischen und /(976) menschlichen Harmonie handeln; vom Paradies herab senkt sie sich zur musica mundana, der kosmischen Harmonie, dann zur musica humana, der Harmonie von Leib und Seele, und kehrt zum Paradies zurück. Astralmythisch war das alles freilich noch durchaus, eine astronomische Musiktheorie, christlich Umgetauft, und ihre Einwirkung auf wirkliche Musik war das ganze Mittelalter hindurch gering. Nun, bei Palestrina drang Intention auf eine musica coelestis in Praxis durch, dergestalt, daß Pius IV. hier einen Superlativ wagte, der, ganz im Geist Augustins, nur an einem Musiker, nicht in Malerei oder Dichtung, das praeludium vitae aeternae finden wollte und konnte: »Hier gibt ein Johannes in dem irdischen Jerusalem uns eine Empfindung jenes Gesangs, den der Apostel Johannes im himmlischen Jerusalem, prophetisch entzückt, vernahm.« Die Engelchöre allerdings, sie sind eine hypostasierte Mythologie, gleich der Himmelsrose, und musica coelestis, sie gehört einzig in die große menschliche Hoffnungsgeschichte und ihre postulierten Räume, nicht in den so sehr als taub erfundenen vorhandenen Himmel. Keine Musik seit Palestrina hat daher diese musica coelestis als Besitz wiederzugeben gewagt; gerade als Musik waren alle Sanctus und Gloria dazu gehalten, Berufungen oder Beschwörungen zu sein und keine prätendierten Spiegelungen, auch nicht im scheuesten Pianissimo. Beethoven hat Seraphisches gewiß als letztes Wort, aber stets als unbegreifliche Entronnenheit oder als
Verheißung des Benedictus, der zu der Hoffnung gekommen ist. Es gibt zwar Ankunftsmusik bei Beethoven durchaus: die signifikantest-erfüllte klingt dort, wo Leonore Florestan die Ketten abnimmt, im Vorgefühl des höchsten Augenblicks; aber die Ankunft und ihr Land breiten sich nirgends zu englischen Sphären aus. «Über Sternen muß er wohnen«: Das Misterioso dieses Chors der neunten Symphonie ist von dem empirischen Zweifel eines bloßen Kantischen Gottespostulats bewegt und umgeben, es landet nicht in transzendenter, in ausgesungener und aussingbarer Vollendetheit. Musik teilt darum in besonders starkem Maß den Untergang der himmlischen Seinsgewißheit, jedoch so, daß sie, durch Nicht-Entsagen wie durch die angegebene vieldeutige, jedoch mit Wunschaffekt, Wunschlösung zielende Überschwebung zugleich, durch ihren Tendenz-Gegen- /(977) stand also, den stärksten Vor-Schein eines Gutgewordenen geben konnte. Eines menschenmöglichen Elysium, für das noch keine Konkretion, aber an dem auch keine Mythologie ist. Die utopische Ferne schlägt sich in die Unmittelbarkeit musikhafter Selbst-Berührung ein, die Nähe dieser Musiklandschaft ist wiederum geladen mit Bedeutungen einer extrem humanisierten Fernwelt. Musik hat derart jene paradoxe Perspektive, daß ihre Gegenstände immer größer, folglich näher erscheinen, je mehr sie dem Horizont zurücken, auf dem die Musik liegt und Hoffnung bildet. Auch die durch Palestrina angezeigte Ruhe ist vor dem viel weiterziehenden Wunsch- und Willenswesen Beethoven insuffizient geworden. Sie bleibt aber ihrerseits wiederum ein Korrektiv für ein noch so selten mögliches Andante-Finale, dessen Ankunft die Musik zugleich still und groß klingen läßt. Berührung des Interieurs und des Unbegrenzten im Geist der Musik: Kleists Ideallandschaft; Sixtinische Madonna Auch dem dargestellten Glück widerstrebt es, vorher bekannt und vereinbart zu sein. Es weist daher in ungewohnte Richtung, nicht nur in die Enge, die man kennt, oder in die Weite, die zur Größe gehört. Aber in beiden geht noch eine dritte Bestimmung auf, eine nicht zuletzt musikalisch gewiesene: das Abgründige. Diese Kategorie vereint Höhle und Weite, Inteneur und Perspektive, beide enthaltend und überbietend. Das Inteneur hat ein Paradox, es zieht zwar verführend zusammen ins Enge, Nahe, Heimliche, es enthält aber zugleich bedeutenden Horizont in dieser Enge. Bilder der räumlichen Kontraktion, der Hausbildung, Innenraum-Bildung insgesamt nehmen letzthin an einem Intensiven teil, das die Weite, wenn es zu ihr hinzukommt, erst sich unverlierend, substanziell macht. So bleibt kein Inteneur schlechthin dieses, und kein bedeutendes Idyll resigniert als Glück in der Beschränkung; in beidem ist auch das Entgegengesetzte oder der Umschlag zum All. Soll heißen, zu einem zusammengelegten All, mit Goldraum und Goldzeit, zur kleinen Unendlichkeit. Und das große Weitenbild andererseits: die Perspektive von Unendlichkeit, sie geht umgekehrt nicht bloß zur Weite fort. Der Sehnsuchtsinhalt der Ferne, das Ozeanische /(978) der Perspektive bleiben nicht einfach kosmisch, auch die Höhe Paradiso ist nicht überkosmisch. Vielmehr biegt sich hier, im extensiv Erhabenen, sogar in seinem Menschenleeren, ein geheimer Weg zum Brunnen der intensivsten Nähe zurück. Unbegrenztes und tiefste Nähe sind sich wechselseitig verschworen, Abgründiges einsamer Ferne lehrt wieder Höhle und diese wieder eine Weite wie um die Burg des Königs von Thule. Solche Belehrung machte, auf angemessenste Weise, auf unheimlich-heimliche, Heinrich Kleist gerade an einem extensiven Bild kenntlich; er nennt sie »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft«. Kleist beschreibt ein Seestück des romantischen Malers, eines
jenseits des terminus humanitatis, aber raunendes Ineinander hebt an: »Herrlich ist es, in einer unendlichen Einsamkeit am Meeresufer unter trübem Himmel auf eine unbegrenzte Wasserwüste hinauszuschauen. Dazu gehört gleichwohl, daß man dahin gegangen sei, daß man zurück muß, daß man hinüber möchte, daß man es nicht kann, daß man alles zum Leben vermißt und die Stimme des Lebens dennoch im Rauschen der Flut, im Wehen der Luft, im Ziehen der Wolken, dem einsamen Geschrei der Vögel vernimmt. Dazu gehört ein Anspruch, den das Herz macht, und ein Abbruch, um mich so auszudrücken, den einem die Natur tut. Dies aber ist vor dem Bilde unmöglich, und das, was ich in dem Bilde selbst finden sollte, fand ich erst zwischen mir und dem Bilde, nämlich einen Anspruch, den mein Herz an das Bild machte, und einen Abbruch, den mir das Bild tat; und so ward ich selbst der Kapuziner, das Bild ward die Düne; das aber, wohinaus ich mit Sehnsucht blicken sollte, die See, fehlte ganz. Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im weiten Reich des Todes, der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis. Das Bild liegt mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen wie die Apokalypse da, als ob es Youngs Nachtgedanken hätte; und da es in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit nichts als den Rahmen zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären. Gleichwohl hat der Maler zweifelsohne eine ganz neue Bahn im Felde seiner Kunst gebrochen; und ich bin überzeugt, daß sich mit seinem Geiste eine /(979) Quadratmeile märkischen Sandes darstellen ließe, mit einem Berberitzenstrauch, worauf sich eine Krähe einsam plustert, und daß dies Bild eine wahrhaft ossianische Wirkung tun müßte. Ja, wenn man diese Landschaft mit ihrer eigenen Kreide und mit ihrem eigenen Wasser malte, so glaube ich: man könnte die Füchse und Wölfe damit zum Heulen bringen: das Stärkste, was man ohne allen Zweifel zum Lobe für diese Art Landschaftsmalerei beibringen kann.« Das Unendliche, worin die Welt ausgegangen ist, und der einsam-dunkle Mensch, worin vor Nähe jeder Blick untergegangen ist, tauschen so ihre Gesichter. An sich ist die Malweise Caspar David Friedrichs nicht so beschaffen, im Gegenteil: ihre dauernde Sehnsucht nach Weite reißt Nähe und Ferne schroff auseinander, ohne gemalte Zwischenwelt zwischen beiden. Aber gerade dadurch kann Kleists schöpferische Betroffenheit vor dem Bild einen solch ungemeinen Bogen zwischen Nähe und Ferne, Mittelpunkt und Kreis schlagen. Kleists lautlose Apokalypse enthält den Lebensfunken neu, in einem Abgrund, worin Mensch und Natur beide sind, beide nicht mehr sind. Das Auge verschwindet, indem es das Bild sieht, der Beschauer mitsamt seinem Abstand verschwindet, das Bild tut dem draußenstehenden Menschen Abbruch, »als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären«, aber auch dem Meer tut es Abbruch, denn »das, wohinaus ich mit Sehnsucht blicken sollte, die See, fehlte ganz«. Ein schwer Nennbares erscheint, hinausgehend vom Beschauer zum Kapuziner, zurückgehend vom Meer auf die Düne; beide, Kapuziner und Düne, werden eins, der »einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis«, der Abgrund des Unscheinbaren mit »wahrhaft ossianischer Wirkung«. Glück ist darin, dasjenige von Thule, aber doch wieder keinerlei vereinbartes, verabredetes, mit katalogisierbarer Lokalität, eben dieses nicht. Desto eigentümlicher geht, unter dem Heulen der Füchse und Wölfe, am Rand einer ausgehenden Welt, in diesem Lakonismus, eine zentrale Wunschlandschaft auf: Subjekt-Haus, »mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen«. Als die einzigen, die in dem einsamen Kreis mit dem einsamen Mittelpunkt übrigbleiben, und zwar durchaus als Gegenstände, doch als solche, an denen nichts Fremdes mehr ist. So daß genauso, ja besser von einem Objekt-Haus gesprochen /(980)
werden kann: und erst recht, wegen der Tiefendehnung seiner Naturgegenstände, als von einem Subjekt wie Objekt konzentrierenden Haus. Unter allen Bildbeschreibungen ist diese am meisten in den gemalten Hiatus zwischen Subjekt und Objekt eingedrungen, hat ihn mit Untergang gefüllt und mit einem ungewöhnlichen Nacht- oder Nebelstück von Jerusalem. Nur läßt sich hier, in der so allernächst entlegenen Gegend, nicht sehen und atmen. Kleists Beschreibung ist eine der tiefsten, doch die vertraute Sonne geht nicht mehr auf, eine andere wird noch nicht sichtbar. Und Friedrichs Seelandschaft kann nur in solch zentralen Empfindungen, solch mächtig durcherfahrender Beschreibung geben, was große Malerei in ihrem eigenen Horizont mitteilt: die Einheit von Mensch und Ferne, die Rückkehr von Perspektive in die mannigfache Mona Lisa und dieser in die Perspektive der mannigfachen Weltränder. Dennoch werden alle human-transzendenten Malräume vor dem von Kleist bezeichneten fast konventionell, einen einzigen ausgenommen, den - Raum der Sixtinischen Madonna. Der ist ein anderer als der sonst gemalte, so ist die Sixtinische Madonna das kühnste Bild und die Landschaft in ihr die geheimnisvollste. Hier ist nicht der sogenannte südliche Raum, die festgezimmerte Bühne, und nicht der sogenannte nordische Raum, mit der variierenden, von den Vorgängen in ihm bestimmten Struktur. Geometrisch übersichtliche Einheit, im Sinn des südlichen Raums, ist in Raffaels Bild, doch sie bestimmt der Figur darin überhaupt keinen Ort, weder in Nähe noch Ferne, weder in Diesseits noch Jenseits. Die Madonna schwebt ebenso vor wie zwischen wie hinter dem eigentümlichen Vorhang, der ihre Aura im Bild einfaßt. Sie steigt auf, indem sie herabkommt, und kommt herab, indem sie auffährt, ihr Raum ist der der Entführung wie der Heimkehr. Das Verwandte der Madonna gloriosa im Faust mit dieser schwebenden ist offenbar: in der Sanftheit eines ausgespannten Mysteriums, in der aufnehmenden Innenwelt von Unermeßlichkeit. Hat Franz Marc gesagt, Bilder seien unser eigenes Auftauchen an einem anderen Ort, so taucht hier, in der Ortslosigkeit, worin Inteneur und Perspektive wechselseitig ineinander übergehen und sich mit aufgelöstem Jenseits durchdringen, ein ganzes Dasein am anderen Ort auf; es gibt hier nichts mehr als /(981) die Wunschlandschaft dieses Überall, dieser Durchdrungenheit von Heimat. Damit ist freilich auch eine Grenze der Kunst erreicht, wo nicht überschritten; denn religiöse Kunst ist insofern keine, als sie stets im Begriff steht, die sinnlich vorhandene Erscheinung aufzuheben, ohne welche ästhetisch nichts darstellbar ist. Wunschlandschaft der Schönheit, der Erhabenheit insgesamt bleibt im ästhetischen Vor-Schein und als dieser der Versuch, Welt zu vollenden, ohne daß sie untergeht. Solch virtuelle Vollkommenheit, das Objekt jedes Bildersturms und freilich selber durchbrochen in der religiösen Kunst: das geht, suo genere geographisch, in den weit vorgelegten Wunschlandschaften aus Malerei, Oper, Dichtung auf. Sie sind oft mythologisch gekleidet, verkleidet, bleiben aber nie darin beschlossen, verschlossen; denn sie meinen menschliches Glück, ein Gutgestelltsein, Gutgeratensein seines Raums, vom idyllischen bis zu dem noch mystischen. Der Vor-Schein gibt diese ästhetische Bedeutung von Glück im Abstand, konzentriert in einen Rahmen. Für das bei Kleist imaginierte Glück, mächtig genug, um Füchse und Wölfe zum Heulen zu bringen, tief genug, um dem Anspruch, den das Herz macht, zu genügen und den Abbruch, den einem die Natur macht, in einer unentfremdeten Welt aufzuheben: - für diese Utopie im Utopischen selber ist die situationslose Landschaft allerdings eines der exaktesten Raumzeichen, im Vor-Schein des Bilds. Aber überall ist die Wunschlandschaft so beschaffen, daß alles, was das Glück braucht, vorhanden ist; nicht weniger und ebenso nicht mehr. Der sozialistischen Kunst wird es obliegen,
daß stets auch dieser aurorische Zug im Bild des Wirklichen mitgeteilt wird. Berichtigt und richtig gelegt, nächtlicher Tag, wie gerade die heiteren Griechen die Morgenröte nannten. Die Wunschlandschaft in der Kunst führt diesen farbigen Vorglanz im Schilde, ja hat ihn als Gegenstand, nachdem er in der Welt angelegt ist und wachsen mag, doch noch nicht gereift ist.
/(982) 41 WUNSCHLANDSCHAFT UND WEISHEIT SUB SPECIE AETERNITATIS UND DES PROZESSES Was hab ich, Wenn ich nicht alles habe, sprach der Jüngling, Gibt's etwa hier ein Weniger und Mehr? Ist deine Wahrheit wie der Sinne Glück Nur eine Summe, die man größer, kleiner Besitzen kann und immer doch besitzt? Ist sie nicht eine einz'ge, ungeteilte? Schiller, Das verschleierte Bild zu Sais Wenn eine einzige Wahrheit gleich der Sonne herrscht, das ist Tag. Hamann, Aesthetica in nuce Der Begriff ist der Zaun, die Physik der Garten, die Ethik die Frucht. Der Stoiker Ghrysipp Die Suche nach dem Maß Es gibt kein Denken um seinetwillen und hat es nie gegeben. Das Denken begann damit, eine Lage erkennen zu wollen, um sich in ihr auszukennen. Hinter ihm standen Ängste und vor allem wünschende Bedürfnisse, die befriedigt werden sollen, und zwar abkürzend, überlegt. Es gibt hier keinen Weg, der nicht dazu gemacht worden wäre, damit Menschen auf ihm gehen und dort ankommen, wohin sie interessegemäß zu gehen wünschen. Wozu sie sich mit Licht über der Arbeit in einer mit ihnen halbwegs vermittelten Welt aufgemacht haben. Das ergibt Wunschländer auch im Erkennen, vor allem dort, wo das Leben im Ganzen, also philosophisch, überblickt wird und auf das zu Fliehende, das zu Suchende gebracht werden soll. Denn gerade mit dem zu Fliehenden, dem zu Suchenden insgesamt ist das erste wirklich freie Denken, das griechische, angetreten. Hat seine Welt nach Maßen dieses rechten Wunschs, des Wunschs nach dem Rechten übersichtlich zu zeichnen versucht. Nehme man derart die sogenannten sieben Weisen, sie alle bereits zeichneten in ihren Regeln und Hauptsachen dasjenige Denken aus, woran sie sich halten konnten. Es war das Mittlere im Leben und in den Umständen der Dinge, es war noch nicht das «Eigentliche« überhaupt; doch genau dies Mittlere war nun durchschlagend und betonte das- /(983) jenige, worin die Dinge nach dem bon sens wirklich laufen. Sofern es, nach Meinung dieser Weisen, in dem Ausschnitt, den ihnen die Welt bot, wunschgemäß mit rechten Dingen hergeht. So haben Bias, Solon und andere Männer der Sinnsprüche vor allem Zufriedenheit und keine Reue
gepriesen, ein »Nichts zuviel«, welches die griechische Weise des Tao darstellen mag, des Lebenstakts. Das freilich auf der Ebene des Alltags und in eingezogener Weise: der Sinn dieser Sinnsprüche stellt gleichsam ein Stilleben in Form des Gedankens dar und der Gelassenheit als Schutzbaus. Wobei der Angstgrund, auf den und gegen den auch in der Folge all das gezogen wurde, die Vergänglichkeit und Hinfälligkeit des Lebens ist, die Unsicherheit aller seiner Verhältnisse. Durch das ganze frühgriechische Denken zieht die Klage des Simonides, daß die Menschen hinsinken wie das Laub im Wald; ebenso aber zieht die Annahme hindurch, daß sich in der Mitte alles am ruhigsten und längsten erhält. Also wurden die sieben Weisen deshalb solche genannt, weil ihr Denken in dem unordentlichen Leben Maß und Einklang suchte, woran Segen war. Ja mit neuer Fähigkeit den Schlüssel für ein Dauerhaftes abgab, für den vermutlich ältesten Sinn dessen, was man nannte: nichtalternd zu sein, zusammenzuhalten. Die Toren machen sich um das aus dem Maß Gerückte, woran kein Segen ist, viel vergebliche Unruhe, die besagten Weisen setzten, in allem sonst skeptisch, auf das Ausgewogene. Es sollte eben der menschliche und dingliche bon sens zugleich sein, in wünschbarster Weise. Es sollte der Einstand des Zeigers in der Waage der Umstände sein, der ordentliche Wandel, wo sich gut sein läßt. Durch diese Welt geht, was immer wieder, von der Stoa bis Goethe, als »Gesunden« schlechthin und sein Halt bezeichnet worden ist. Es fällt da anziehenderweise mit dem wahren Sein selber zusammen, als dem Land des Einfachen, das immer zwischen Extremen sich faßt. Wonach das Wahre sich auf das beschränkt, was sich dauernd ins Rechte denkt und es als gute Welt ist. Wenn auch diese nicht so ruhig daliegt, wie Haus, Hof, Garten es sehen lassen. /(984)
Das »Eigentliche« in Urstoff und Gesetz
Das große Denken ging sogleich, als es eintrat, zu den Dingen schärfer hinaus. Aufklärend, gegen veralteten Brauch, jenseitigen Nebel, aber auch gegen bloßen sinnlichen Schein. Und es wurde darauf vertraut, daß das Wesen zu finden sei und daß es, auch als Wasser, Balken habe. Das heißt, etwas sei, mit dem der Mensch, als einem freundlichen Stoff, als tragender Physis, im »Eigentlichen« verwandt sei. Der Gegensatz: Gleiches könne nur von Gleichem wahrgenommen, gar erkannt werden, geht schon rein erkenntnistheoretisch vertrauensvoll durch das sogenannte vorsokratische Denken. Er liegt bei Thales stillschweigend zugrunde und deutlich bei Heraklit, wenn er auch erst bei Empedokles bewußt geworden ist. Dergestalt, daß wir nur durch das Kalte das Kalte, durch das Warme das Warme erfassen können, nur durch Haß den Haß, durch Liebe die Liebe und so fort im Entsprechenden von Mensch und Welt. Was dann bei Plotin und bei Goethe zu der großen Ausweitung ins beiderseitig Vollkommene führte: «Wär' nicht das Auge sonnenhaft, nie könnt' die Sonne es erblicken.« Die Auskünfte über dies Wahlverwandte können so verschieden sein wie das ruhelose Lebensfeuer Heraklits und die unbewegte Seinskugel der Eleaten; gemeinsam ist dennoch die Gleichsetzung dieses «Eigentlichen« oder Ursprungstoffs mit dem, woran ein «Eigentliches« im Menschen seine Bewegung, sein wahres Wesen hat. Daher sagt Heraklit, die Seele, je trockner und feuriger sie sei, desto besser nehme sie an dem vernünftigen Urfeuer teil (fr., Diels, 118). Daher sagt Parmenides, Themis und Dike, also die Göttinnen des unwankenden Rechts, höben den Schleier dort, wo das unveränderliche Hen kai Pan thront, «der wohlgerundeten Wahrheit unerschütterliches Herz «(fr.1). Diesen wertgetönten Zeichnungen des Wesentlichen widerspricht der verblüffend
ökonomische Reflex bei Heraklit am wenigsten: «Alle Dinge sind Austausch für Feuer und Feuer für alle Dinge, so wie Waren für Gold und Gold für Waren« (fr. 90). Denn in diesem Satz gibt sich ein frühes Warendenken in den jonischen Handelsstädten gerade dadurch, daß es sich kosmisch macht, zugleich mit Gold als allegorischem Dauerwert ein Stelldichein. Wie es selber, so strahlt nun das allemal kostbare Feuer, /(985) «von keinem Gott und keinem Menschen gemacht, nach Maßen immer wieder erlöschend, sich immer wieder entzündend« (fr. 30); so ist aber auch umgekehrt das statische Hen kai Pan jedem Wechsel entrückt. Bewußt freilich hat erst Empedokles den Erwählungssatz formuliert, daß nur Gleiches Gleiches wahrnehmen, erkennen könne. Und er ist auch hier keineswegs auf Warmes oder Kaltes beschränkt, sondern gibt sich als Schlüssel für nichts Geringeres als für ein Willenshaftes im Umsatz der Dinge selbst. Dergestalt geht Empedokles nicht nur sympathetisch zu den Elementen, sondern auch zu einer Art Wertleben zwischen ihnen: «Mit unserem Erdstoff erblicken wir die Erde, mit unserem Wasser das Wasser, mit unserer Luft die göttliche Luft, mit unserem Feuer das vernichtende Feuer, mit unserer Liebe endlich die Liebe (der Welt) und ihren Haß mit unserem traurigen Haß« (fr. 109). So werden hier zum erstenmal Grundaffekte wie Liebe und Haß in den Bewegungen, Trennungen, Verbindungen von vier Elementen getroffen. Nichts Geringeres eben als das Willenshaft-Intensive, das «Interesse« selber war damit zum erstenmal als objektiv bewegender Faktor in der Welt bezeichnet - eine gärende Landschaft voll Zerstörung, aber voll Aufbau zuletzt. Denn so sehr der Haß das All stört, zerstört, das schön sich Rundende immer wieder sondert, so ist im Empedokleischen Affektstoff doch ebenso die Unruhe der stärkste Sucher der Ruhe. Zuletzt führt die Liebe, die Elemente wieder zu einem wahren Wunschland zusammen, bis sie alle in vollständiger Harmonie vereinigt sind. Diese Harmonie bildet in ihrer vollkommensten Form den Sphairos, als letztes, siegreiches Gegenbild des Haßstrudels. Mit alldem nähert sich Empedokles dem Heraklitischen Grundgedanken vom Streit als Vater aller Dinge. Und er entspannt diesen Gedanken freilich wieder, indem ihm der Streit nicht nur kein Vater, sondern mehr ein Moloch ist, so daß gerade die produktive Dialektik Heraklits verlorengeht. Aber sie geht eben in dem verfrühten Vorgriff auf völlige Harmonie verloren - mit der ganz und gar wunschbildhaft prophezeiten Windstille im wiederhergestellten, nur noch von Liebe bewegten Wesen. «0 Iris Bogen! über stürzenden! Gewässern, wenn die Wog in Silberwolken / Auffliegt, wie du bist, so ist meine Freude« - was Hölderlin derart seinem Empe- /(986) dokles nachdichtet, erneuert in der Tat das Regenbogenlicht in dieser hocherhobenen Landschaft. Gleiches wird durch Gleiches erkannt, also nicht nur die Erde durch Erdiges, auch der Äther durch das höchste Element: durch den Luftstoff Seele. Das ist starker Wunsch, samt dem Draußen, das ihm entsprechen soll. Auf solidem, bewußt materialistischem Boden steht dagegen der nüchtemste und wichtigste sogenannte Vorsokratiker: Demokrit. Die Physis ist von allen mythischen Zügen entzaubert, aber dadurch ist sie ebenso im wertmäßigen Sinn erhellt, nämlich ganz einheitlich freundlich. Von Dämonischem ist absichtlich das Finsterste: die Moira, die alte Schicksalsgöttin erinnert, doch siegreich erinnert. Das Schicksal wird zur völlig verstehbaren kausalen Notwendigkeit. Diese gibt den einzigen Erklärungsgrund für alles Geschehen in der Welt, und die Ananke, die als so erhellte Notwendigkeit, ist nun ohne Spuk und Wolken, ein neuer, gänzlich gekühlter Äther gleichsam und einer in sämtlichen Bewegungen, Erscheinungen des Stoffs, schon jetzt. Diese Erkenntnis bewirkt nach Demokrit das Erstrebenswerteste, Glücklichste im Menschen, die Meeresstille (Diog. IX), doch ebenso ist das Wunschbild Stille das
der gesetzmäßig durchwalteten Landschaft selbst. Die feine und sanfte Bewegung der »Feueratome«, die die menschliche Seele bilden, gibt ja nicht nur ruhiges Glück, sondern erschließt auch -wieder mit Gleichem Gleiches erkennend - die Welt; so ist diese Welt selber eine des ebenmäßigen Gangs, des unausweichlichen, doch durchschaubaren Zwangs der Ursachen. Epikur und Lukrez haben nachher das Furchtfreie in dieser Landschaft betont, die Stoa - mit noch stärkerem Preis der Notwendigkeit - das Weltvertrauen. Das ewige Wesen bei Demokrit ist die Gesamtheit der durch ihre Schwere sich bewegenden und die Welt bildenden Atome. Kein Zweifel aber: in dieser Naturnotwendigkeit steckt zugleich eine den Glückswunsch befriedigende Deutung ihrer; sie steckt in der Aussicht: heiteres Fatum. /(987)
Kant und intelligibles Reich; Platon, Eros und die Wertpyramide
Erst ziemlich spät hat das Denken sich auf den Menschen gerichtet, ja mit ihm angesetzt. Die Sophisten brachten diesen sozusagen inneren Blick, freilich als einen von Haus aus gar nicht inwendigen im späteren, vor allem deutschen Sinn, sondern als einen skeptischen. Er gehört zur athenischen Aufklärung, die von der vorhergehenden in den Kolonien ja dadurch verschieden ist, daß sie das gesuchte »Eigentliche« in den subjektiven Faktor bringt. Und es darin entweder mehr oder minder individualistisch zerreibt, wie bei den Sophisten, oder aber es darin neu durch philosophisches Handwerk (der Weise, heißt ursprünglich Handwerker) zu eruieren sucht, wie bei Sokrates. Auch er aber bleibt subjektiv oder anthropologisch: »Von den Bäumen kann ich nichts lernen, wohl aber von den Menschen in der Stadt.« Die Physis hört also auf, das erste zu sein, an ihrer Stelle sollen nun die Seele, die Gesinnung, der Geist primär sein. Das idealistische Bewußtsein beginnt und überzieht nun - in wieviel Formen, auf mehr oder minder reaktionäre Weise auch das mythische Bewußtsein wieder einlassend - die Welt. Freilich ist der so freigelegte Idealismus, trotz seiner heillosen Einseitigkeiten und Übertreibungen im Geist, eines der wichtigsten antithetischen Fermente der philosophischen Entwicklung geworden, gerade für den Materialismus selber. Er wurde wichtig sowohl wegen des subjektiven Ansatzes, also des erkenntnistheoretischen Stachels, der seit der sophistischen Skepsis nicht mehr außer Betrieb zu setzen ist, wie wegen des Reichtums an Bestimmungen, den die dauernde Beachtung gerade des Logischen in der Welt erschließen konnte. So sehr auch dieses Logische auf den Kopf gestellt war, das heißt, aus einem materiellen Prädikat zum alles tragenden Subjekt gemacht wurde. Und es ergibt sich von selbst, daß zu dem eigentlich experimentierenden Reichtum der Idealismen auch eine neue Perspektive von Wunschinhalten, das heißt hier: von idealen gehört - aus dem Subjekt, doch gegebenenfalls auch aus den Tendenzen des Objekts quillend. Wobei weiterhin festgehalten werden muß: der Kampf zwischen Materialismus und Idealismus ist in der Geschichte der Philo- /(988) sophie nicht nur so aufteilbar wie ein Kampf zwischen zwei Sportgruppen. Hier Dessau gegen Schwerin, hier Dynamo gegen Turbine, hier Materialisten gegen Idealisten, diese ein großes I, die anderen ein großes M auf dem Sweater. Sondern der Kampf findet häufig in bedeutenden Philosophien selber statt: nicht bei Sokrates, nicht bei dem so scharf prononcierten Groß-Idealisten Platon (der bezeichnenderweise Demokrit nicht einmal erwähnt), wohl aber in der Stoa, bei Aristoteles, Leibniz, Hegel. So auch bei dem Größten in der von Sokrates herlaufenden Reihe des subjektiven Faktors, bei Kant. Denn seine «Theorie des Himmels« von 1755 war fast rein mechanisch-materialistisch, seine
»Kritik der reinen Vernunft« ist im Ansatz, dem transzendentalen, völlig idealistisch, jedoch ihr Gegenstand ist ausschließlich die Newtonsche Mechanik, und die idealistischen Ideen: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit werden aus der Wissenschaft verwiesen. Dafür sollen sie, als «Ideen des Unbedingten«, die in der vorhandenen Welt lückenloser Bedingungszusammenhänge schlechthin nicht vorkommen, einen irrealen Platz im Glauben erhalten, samt allen - noch irrealen Vollkommenheitsbildern des Ideals (zuletzt des höchsten Guts). Kant also will zwar »das Wissen aufheben, um dem Glauben Platz zu machen«, doch das Aufzuhebende ist keineswegs alles Wissen, am wenigsten das hochanerkannte der Mechanik, sondern vor allem doch das falsche, dogmatische, das über die »Ideen des Unbedingten« handelt, als wären sie mehr als bloßer «transzendentaler Schein«, als wären sie vorhandene, empirische Realität. Und durch diese Reduktion des «Eigentlichen« auf ein letzthin nur erstrebbares »Überhaupt« in der Welt tauchte eben eine besonders akzentuierte Wunschlandschaft, das heißt hier: Vollkommenheitslandschaft in der Philosophie auf - mit beibehaltenem Materialismus im Sein, abstrakt-postulativem Idealismus im Sollen. So entsteht allerdings - mitten in der materialistisch-idealistischen Koalition - ein neues Zweiweltenreich, ein allzu mechanistisches und ein erst recht allzu losgelöstes, intelligibles. Bedeutsam jedoch wird gerade vom vorkritischen, also noch nicht so dualistischen Kant der Tenor seines »Glaubens« als ein keineswegs bloß weltloser angegeben. «Ich finde nicht, daß irgendeine Anhänglichkeit oder sonst eine vor der Prüfung eingeschlichene Neigung mei- /(989) nem Gemüte die Lenksamkeit nach allerlei Gründen für oder dawider benehme, eine einzige ausgenommen. Die Verstandeswaage ist doch nicht ganz unparteiisch, und ein Arm derselben, der die Aufschrift führt: Hoffnung der Zukunft, hat einen mechanischen Vorteil, welcher macht, daß auch leichte Gründe, welche in die ihm angehörige Schale fallen, die Spekulationen von an sich größerem Gewichte auf der anderen Seite in die Höhe ziehen. Dieses ist die einzige Unrichtigkeit, die ich nicht wohl heben kann und die ich in der Tat auch niemals heben will« (Träume eines Geistersehers, Werke, Hartenstein, II, S.357). Dergleichen bezieht sich an Ort und Stelle zwar scheinbar nur auf - abgeschiedene Seelen und die künftige Welt dieser Art, jedoch ist in Wahrheit ein intelligibles Reich in dem bedeutenden Satz impliziert, zu dem der Zugang nicht der Tod ist, sondern die Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Wie denn gerade der späte Kant die «Hoffnung der Zukunft« dahin aussprach, daß «das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei und so fernerhin fortschreiten werde « (Streit der Fakultäten, Werke VII, S. 402). Im Sinn des schönen Ideals einer Verwirklichung des Sittengesetzes, »die wir nicht als empirische Vollendung absehen, sondern auf die wir nur im kontinuierlichen Fortschreiten und Annäherung zum höchsten auf Erden möglichen Guten hinaussehen, das ist, dazu Anstalt machen können« (Religion innerhalb der Grenzen, Werke VI, 5. 234f.). Letzthin geht diese Hoffnungsperspektive bei Kant auf ein moralisches Reich Gottes auf Erden, erläutert durch den Citoyen. Die deutsche Misere riß zwar dieses Wunschbild immer wieder von der sich historisch bewegenden Wirklichkeit ab, und so blieb es bei Kant besonders stark in Inwendigkeit und ewig ferner Abstraktheit. Indes, diese Abstraktheit und Ferne umriß eben bei Kant kein Jenseits, sondern ausschließlich einen Himmel in der sich hocharbeitenden, zu befördernden Humanität. Ihr dienen die Postulate, welche die Ideen des Unbedingten (Gott, Freiheit, Unsterblichkeit) rein auf die Moralität beziehen. Ihr dienen die Ideale als die »regulativen Begriffe des im Feld der menschlichen Vernunft ganz Vollständigen und Vollkommenen«. Postulate, Ideen
des Unbedingten und Ideale stellen so eine ganz einzigartige Sternlandschaft dar, einen bestirnten Himmel reiner /(990) praktischer Vernunft. Wobei die Entsprechung des Bilds so weit geht, daß alle diese gestrengen' Lichter, gleich den Sternen, ihre Erhabenheit nur rein normativ ausstrahlen, ohne die Zwischenräume am Nachthimmel empirisch zu erhellen. »So ist es mit dem Ideale der Vernunft bewandt, welches jederzeit auf bestimmten Begriffen beruhen und zur Regel und zum Urbilde, es sei der Befolgung oder Beurteilung, dienen muß« (Werke III, S.392). Kant verwahrt sich durchaus dagegen, zu denen zu gehören, die ihr Licht beim Platon angezündet haben, doch sein eigener Idealismus macht freilich, daß er Platonische Urbilder oder Ideen zum Teil aus dem metaphysischen Sein in moralisches Sollen gebracht hat. Darin strahlen sie nun in reiner, allzu reiner Zukunft vor, am unvermittelten Himmel guten Willens und moralischen Endzwecks. Das Reine, das sich hier nicht findet, wurde vorwärts, wurde aber erst aufwärts gesucht. Letzteres ist die mythische Weise, sie war in den jonischen und sizilischen Handelsstädten verlassen worden. Gar die athenische Aufklärung hatte, wenn sie bei den Sophisten schon die irdische Obrigkeit als fingiert erklärte, erst recht verkünden lassen, es gäbe kein himmlisches Oben, keine Götter. Platon nun ist demgegenüber der aristokratische und mythische Rückschlag, doch, wie sich gerade an der Höhe, ja besonderen Lichthaftigkeit des gefährlichsten und größten Idealisten von selbst versteht, nicht nur dieses. Platon fiel es als einem Wunschdenker, wie bisher keiner war, leichter, ans Unsichtbare als ans Sichtbare zu glauben, und das Aufwärts wurde bei ihm eine Sehnsucht, ein Eros, ein Wettstreben, zuletzt freilich eine sogenannte Schau des Unsichtbaren. Als läge die Welt im Dämmer und nur die begrifflichen Urbilder in ihr seien das Wahre, einzig Wirkliche, in unsinnlicher Reinheit Erfüllende. Ein Wunschland durchaus, mit viel reaktionärer Beziehung zur spartanischen Ordnung, viel sentimentalischer zu ägyptischer Ruhe, und eines, das als das Reich der Figuren und Gattungen die Welt überzog, begriffshaft verdoppelte, hierarchisch gliederte, idealistisch verdeckte. Hierbei jedoch wirkt eben wegen des starken Wunschwesens sehr viel ganz Emotionales mit, bis es zu der scheinbar so rein geistigen Schau kommt. So die Sehnsucht, die das Gleiche, das sie fassen will, überhaupt nicht in einem sinnlich Vorhan- /(991) denen zu treffen meint. So der Eros, der überhaupt nicht nur aus Gleichem, sondern ebenso aus dem Stachel des Ungleichen, des vorhandenen Mangels, bestehen soll und derart, immer wieder dialektisch getrieben, den Schatz des Rechten weder hat noch nicht hat, sondern sucht. So emotional beschaffen ist nicht zuletzt auch das Bild des Agon, des Wettkampfs, worin der immerhin noch liebenswürdige, ja spielerische Eros, wie Platon ihn im »Symposion« darstellt, im «Phaidros« zum Allesbeginner, Allesbildner wird. Steht der Eros des »Symposion« (203 C-E) in dem Übergang vom Nicht-Haben zum Haben und umgekehrt, als »der Sohn des Reichtums und der Armut, mit den Eigenschaften beider«, so ist er im »Phaidros« (247 B, C) ein Flügel und ein Gespann, als antreibendes Agens zum Vollkommenen, »den Weg ganz steil hinauf bis zu den Gewölben des Himmels, und mit den Göttern selber kreisen jetzt die Gewölbe selber um das große Sein, farblos und ohne Gestalt und ungreifbar«. Dorthin blickt die Liebe zur Weisheit, eine dialektische Schau, sofern sie, vor allem im »Parmenides«, bestimmte Gegensätze wie das Viele und das Eine, das Ungleiche und das Gleiche umfaßt und nicht auch, wie bei Heraklit, eine objektive Dialektik durch die Gesamtheit der Welt- ist. Statt dessen beharrt die ganze Welt in einem Dualismus zweier Sphären, von denen die obere in den finsteren Raum der unteren nur hineinscheint. Allerdings auch mit ihren sämtlichen geometrischen Figuren und quantitativ-qualitativen Gattungen darin
verkehrt, jene Schönheit bietend, die noch in den Neuplatonismus des Faustmonologs geht: »Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen / Und sich die goldnen Eimer reichen. / Mit segenduftenden Schwingen / Vom Himmel durch die Erde dringen, / Harmonisch all' das All durchklingen.« Dergleichen bleibt bei Goethe trotz aller Transparenz monistisch, mit einer Umfassung, besser Besiegung jedes Anklangs von Zweiweltenbild durch Spinozas geräumige natura sive deus. Bei Platon aber ist die Himmelsleiter-, spätere Kirchenfenster-Landschaft Welt deutlich eine vom Licht zur Nacht, von Nacht zum Licht. Die Welt ist aus sich bei Platon völlig unerklärbar, ja an sich selbst, als leerer Raum, gar nicht vorhanden: einzig annehmende Teilnahme an den Ideen, sich mitteilende Gegenwärtigkeit der Ideen, geben den Dingen ihre Eigenschaf- /(992) ten, ihre Gattungen, ihr Palmenhaftes, Löwenhaftes, Schönes, Gutes hoch hinauf. Und das getrübt, in bloßer Nachahmung, verglichen mit der reinen Himmelsleiter, der mit immer wahrerem Sein zu immer höherer Vollkommenheit aufsteigenden Ideenpyramide. Soll doch deren Spitze die Idee des Guten sein, als einzige und letzte Bestimmung in das mystisch Unbestimmte des höchsten Seins hineinragend. Diese Idee soll zugleich die Zweckursache der ganzen methexis und parusia sein, hiermit auf das starke Wunschwesen zurückkommend, das, wie gesehen, von Anfang an, mit Sehnsucht, Eros, Agon, Platons scheinbar so kontemplative Schau begleitet hat. Von daher, von der obersten Idee des Guten her, will sich sowohl Platons reformatorische Tätigkeit begründen, samt der hierarchischen Utopie, wie seine folgenreiche Gleichsetzung von immer höherer Vollkommenheit mit immer seienderem Sein und umgekehrt. Letztere Gleichsetzung soll die Wunschlandschaft Platonismus sogar zu einer immer - realeren machen, je höher sie in den Äther der Ideen steigt; eine idealistische Hypostase (je vollkommener, desto realer), die schließlich bis in den Anselmschen Gottesbeweis (ens perfectissimum - ens realissimum), ja bis in das immer realitätsdichtere Fürsichsein des »absoluten Geistes« bei Hegel nachwirkt. Womit zugleich die entschiedenste Folie (e contrario) zu der Ideal-, aber nicht Realbestimmung des Kantischen »moralischen Endzwecks« gegeben ist; als welcher zwar, gleich allen »normativen Urbildern« Kants, den Platonismus voraussetzt, samt seiner Zweiweltentheorie, jedoch gerade das Realsein, gar das mit den Idealen aufsteigende, ausläßt. Das Idealland ist in Ansehung der letzten Idee, der des Guten, das gleiche, so aber, daß es bei Kant in der Hoffnung steht und in leider nur unendlicher Annäherung an seine Realisierung, bei Platon dagegen in stärkster, jedem Werden entrückter Realität. Vor allem in seinem Alterswerk, dem »Philebos», hat Platon die Idee des Guten als solch teleologisch-reale Zentralsonne entwickelt, mit den doppelten Zugängen: Lust und Einsicht zugleich, eben als das »allen Wünschenswerte und (real) Vollkommene schlechthin« (61 A). Und der Zentripetalzug dahin gab schließlich für den fortwirkenden Eros-, /(993) Agon- Platonismus in sonst so wenig dualistischen, doch real-teleologischen Philosophien wie denen des Aristoteles, Leibnitz’, Hegels selber das Heliotrope ab. Der Eros ist bei Aristoteles der Drang des Stoffs nach der Form, zuhöchst der reinen == Gott; so strahlt hier die Welt als sich verkörpernde Form. Der Eros ist bei Leibniz die inquiétude poussante oder Tendenz der Monaden zu immer wacherer, reicherer Widerspiegelung (repraesentatio) des Universums; so strahlt hier die Welt als sich aufklärendes Lichtwesen. Der Eros ist bei Hegel die Durchschlagskraft der dialektischen Gestaltung, Umgestaltung, heraus aus dem Hades des abstrakten Ansich durch den Dschungel des physischen Außersich zum Fürsichsein Kultur; so strahlt hier die Welt als Prozeß ihres sich ausschüttenden, sich mit sich zusammenschließenden Geistgehalts. Das sind alles Idealismen in der
Äther-Richtung ihres Wunschs und ihrer Abzielung, jedoch Idealismen, die nicht nur ohne das hierarchische Platonreich keine objektiven geworden wären, sondern die die Erkenntnis gerade der Welt aus sich selbst weit über Demokrit und Demokritismus hinaus bereichert haben. Nämlich durch verwandelnde Einbeziehung der ursprünglich so statischen Ideenpyramide in ein hervortretendes Nacheinander; wodurch eben eine neue, noch lange nicht erschöpfte Perspektive erschien: die der immanenten Teleologie. Bruno und das unendliche Kunstwerk; Spinoza und die Welt als Kristall Und nun wendet sich das Denken wieder nach außen, damit es erneut auf Stoff blicke. Das geschah in den neueren, bürgerlichen Haltungen, soweit sie dem Diesseits und sonst nichts mehr verschworen waren. Sofern sie in den Garten des Diesseits gehen und nicht nur darin arbeiten wollten, sondern auch an ihm sich erfreuen. So hatte Thales das befruchtende Wasser, Anaximenes die belebende Luft alles umfließen lassen, und beide machten das bereits weltfromm. Der Stoff wurde erhöht und beseelt, auch das Ätherische und gerade dieses fand Platz in ihm. Nie geschah das aber schöner, vor allem weiter als in der Sicht Giordano Brunos, die endlich wieder eine stofflich-imanente sein will wie /(994) die der ersten jonischen Denker (Bruno rühmt sie bewußt), aber hierbei eine Fernsicht ist. Der Augenschein des Gewohnten wird im Zeitalter der Entdeckungen und der kopernikanischen Umwälzung zu schmal: »Offenbar töricht ist es doch«, sagt Bruno, »es gäbe keine anderen Geschöpfe, keine anderen Sinne und anderen Verstand als die uns bekannten.« Ein selber ungeheurer Wunsch ins Unbegrenzte geht nun an, il eroico furore, ein ozeanisches Gefühl, ein kosmisches Bewußtsein, wie auf großer Berghöhe mit den Wolken unter sich und nur noch der Sonne, den Sternen über sich, um sich. So tritt Bruno vor, ein philosophischer Minnesänger der Unendlichkeit, im Geist des Kopernikus, aber weit über ihn hinaus, denn auch noch die Himmelsdecke springt, an der dieser die Fixsterne belassen hatte. Die Perspektive ins diesseitig Unendliche, sie hat in Bildern, im großen Horizont bei Jan van Eyck früher begonnen als im Gedanken; trotz großer Vorbereitungen bei Alain de Lille, besonders bei Nikolaus von Cusa. Nun wird dieser neue Raum, ein Zentrifugalraum, gänzlich rundherum um die Erde gerissen, nicht nur an den Horizont, auch in den Zenith: damit verschwindet die Erde, jedoch ebenso die Sonne als Mittelpunkt, und es bleibt nur die unendliche Sphäre, deren Mittelpunkt überall ist. Weiter sollen »Minimum« und «Maximum« im übergreifend Unendlichen nun zusammenklingen: das Minimum als Punkt, Atom, Monade, das Maximum als das Universum, worin diese individuelle Fülle befaßt ist. Nicht numerisch befaßt wie in einem toten Raum, sondern so, daß die unerschöpfbare Tätigkeit des der Welt innewohnenden Prinzips eine ebenso reiche und unterschiedene Fülle der Gestaltungen setzt. Zugleich aber wird das Ganze des Universums wieder als Ausgleich all dieser Unterschiede gefeiert, dergestalt, daß die Welttrunkenheit, so hoch gestiegen, wirklich alle Wolken des Daseins unter sich sieht, sehen möchte. Also auch die Unterschiede zwischen Schatten und Licht und vor allem die Schatten selbst; das soll sich nun genauso in Harmonie ausgleichen, sub specie toti, wie Gleich und Ungleich, Bewegung und Ruhe, schließlich Möglichkeit und Wirklichkeit. Letzteres vor allem: die Leugnung einer eigenen, noch bestehenden Möglichkeit im Ganzen der Welt, gleichsam die fertige Ausgeschüttetheit des Universums als eines abgeschlossenen behauptend, bezeichnet /(995) eine merkwürdige Unterbrechung in der Unendlichkeits-Perspektive Brunos selbst; und das eben gemäß dem Wunschbild
einer kosmisch vorhandenen Vollkommenheit. Denn nur die endlichen Dinge sind, nach Bruno, nicht alles, was sie sein können, ja die den Dingen innewohnende Bildkraft wird ihm nie müde, neue Formen zu schaffen, doch im Ganzen des Universums sollen Mögliches und Wirkliches vollkommen zusammenfallen, weil es selber das Vollkommene ist. Denn hätte es noch eine unverwirklichte Möglichkeit in sich, wären nicht alle Möglichkeiten in ihm verwirklicht, dann - so argumentiert Bruno - ermangelte es etwas, wäre also nicht vollkommen. Damit hat aber Bruno nicht nur den klassischen Harmoniebegriff und den der Renaissance auf das Universum übertragen, mit der Kunst, die angeblich überall am Ziel ist, sondern auch das Ens perfectissimum der scholastischen Theologie. Und dazu noch, gegen alle Aussicht in offene Unverwirklichtheiten der Welt, das göttliche »Possest«, »Könnensein« des Gottes bei Nicolaus Cusanus, als der absoluten Wirklichkeit, in der eo ipso alle Möglichkeiten realisiert sind. So hat Bruno in seine Unendlichkeit gerade wieder eine Endlichkeit hineingebracht, nämlich die des statischen Abgeschlossenseins im Großen, Ganzen des Universums selbst; an dieser Stelle also, gegen die Zukunft hin, ist die Himmelsdecke noch nicht gesprengt. Die Verführung dazu ist freilich - wie bei dem großen Antitheisten selbstverständlich - nicht die Theologie, sondern letzthin die große Wunschlandschaft der Welt als vollendeten Kunstwerks. Und das Kunstwerk weist auf den Künstler, auf ein Göttliches als Künstler - weltimmanent und werkmeisterlich gerade im Inneren der Natur selber. Damit aber hat Bruno die Möglichkeit, wenn nicht im Totum der Welt, so doch für alles einzeln Gestaltende innerhalb dieses Totum wieder eingesetzt und vor allem für das Werkmeisterliche darin: die »natura naturans«. Diese ist das Lebensfeuer, das bildend durch die Dinge läuft, des Heraklits, aber untrennbar mit der Materie verbunden. Die Materie ist der gebärende Schoß, sie enthält alle ihre Formen und Formgestalten potentiell, führt sie zugleich mit eigener Potenz ans Licht: »So gelangen wir zu einer würdigeren Anschauung der Gottheit und dieser Mutter Natur, die uns in ihrem Schoße hervorbringt, erhält und wieder /(996) aufnimmt, werden fernerhin nicht mehr glauben, daß irgendein Körper ohne Seele sei, oder gar, wie manche lügen, daß die Materie nichts anderes sei als eine Jauchegrube chemischer Stoffe« (Werke, 1909, VI, S. 120f.). Andere »Dimensionen« hat die Materie unter der Form des Menschen, andere unter der des Pferdes, andere unter der Form der Myrte, andere unter der des Auges: doch gleichmäßig hat sie das Potentielle zu alldem und zugleich die Potenz, es auszugestalten, auszuprägen. Es ist dasselbe materielle Prinzip, das in den Metallen, Pflanzen, Tieren bildet, das in den Menschen denkt und organisiert, nur daß es sich auf unendlich verschiedene Weise äußert. Folgerichtig nennt Bruno die Trennung: formlose Materie, immaterielle Form eine pure Abstraktion und schafft sie ab. Er feiert statt dessen die Materie selber als »dator formarum«, als Mutter-Natur (natura naturans) und Gestalten-Natur (natura naturata) in Einem; er vollendet so die »Naturalisierung« des Aristoteles, wie sie von seinem Nachfolger Straton, von seinem Kommentator Alexander von Aphrodisias, von Avicenna und Averroes, von Avicebron und den Amalrikanern zu immer entschiedenerem Materialismus hingetrieben hatte. Zu einem qualitativen freilich, einem, worin die Materie weithin nach des Menschen Bilde auftrat, nach dem Lebens- und Schöpferbild des Renaissancemenschen, mit Renaissance-Dimension. So voll schmiedendem »Vulcanus« war auch der Weltstoff bei Paracelsus, so voller »Quellgeister« bei Jakob Böhme. »Unter den der Materie eingeborenen Eigenschaften ist die Bewegung die erste und vorzüglichste, nicht nur als mechanische und mathematische Bewegung, sondern mehr noch als Trieb, Lebensgeist, Spannkraft, als Qual - um den Ausdruck Jakob Böhmes zu gebrauchen
- der Materie«: dieser Marxsatz aus der »Heiligen Familie« gilt gleichermaßen für Bruno, samt der Bekundung: »Die Materie lacht in poetisch-sinnlichem Glanz den ganzen Menschen an.« Ja diese Bekundung gilt besonders für Bruno, für die Welt als Kunstwerk. Für das Wunschbild: Mensch als Kind in Mutter-Natur, für den Enthusiasmus, der sich eins wissen will mit dem Diesseits von Unendlichkeit. Wo das All für das Alles steht und die Natur schon vollkommen auf den Platz zu gehören scheint, den sie einnimmt. Auch das Denken, das sich nicht davor hütet, erbaulich zu sein, /(997) läutert sich als helles zuvor. Der Spiegel des Erkennens wird auf Flecke oder unebene Stellen geprüft, bevor mit ihm gearbeitet wird. Zuerst kam die Prüfung auf Sinnestrug, später und wichtiger erfolgte die auf unreine logische Bestandteile, dazu auf solche emotionaler Art. Bruno glaubte keinen Anlaß zu sehen, das Denken anders zu klären als durch Fensterschlagen, Erweitern nach allen Seiten. Spinoza aber, als er gleichfalls den geheimnisvollen Weg nach außen nahm, schrieb seinen moralischen Versuch »Über die Verbesserung des Verstands«. Dieser Versuch ist moralisch und nicht nur - wie bei dem zweifelsfreiesten aller Rationalisten selbstverständlich - erkenntnistheoretisch; doch desto eifernder will er gerade den Verstand vom Getöse der ihn trübenden und schwächenden Affekte reinigen. Und zu ihnen gehört alles, was auf vergängliche Güter hinlockt (Sinneslust, Reichtum, äußere Ehre), zum Unterschied vom dauernden Gut und Gegenstand eines wahrhaften Lebens. Zu ihnen gehört alles, was nur als solche Lockung einleuchtet, zum Unterschied von dem echt Einleuchtenden, das durch unbestechlichen Verstand in Gewißheit gewonnen wird und das einzig und allein stetige Freude verschafft. Also scheinen auch keinerlei Wünsche darin Platz zu haben, indem das Wünschen, vor allem als Hoffen, jenes Ungewisse mit sich führt, das der Freude wie dem Stolz des Erkennens abträglich ist. Noch deutlicher hat Spinoza in seiner »Ethik« alle solche »inadäquaten Affekte» als Träger »inadäquater Ideen« auszuscheiden versucht; mithin nicht nur die Reue und dergleichen, als Niederdrückendes, sondern ebenso die Hoffnung und dergleichen, als Ungewisses (Eth. III, Tafel der Affekte 12«. Ja, inadäquate Ideen ohne allen realen Bezug sollen auch in allen qualitativen und Werturteilen stecken, wie: »gut, böse, Ordnung, Verwirrung, warm, kalt, Schönheit und Häßlichkeit« (Eth. 1, Anhang). Und doch hat der gleiche Philosoph in seinem System eine der heitersten Ordnungslandschaften der Welt entworfen - eben auf Grund dessen, was er rationale Einleuchtung nennt. Nicht ohne Inkonsequenz (sie ist bei Spinoza häufig besonders bemerkbar, indem er verschiedene Gedankenreihen so konsequent entwickelt, daß sie sich nicht mehr harmonisieren lassen) gibt es vom Guten und Schlechten nun doch eine Erkenntnis, ja eine mit Affekten verbundene: »Die Erkenntnis des /(998) Guten und Schlechten ist nichts anderes als der Affekt der Freude oder Trauer, sofern wir uns seiner bewußt sind« (Eth. IV, Lehrs. 8). Und noch mehr: die Urteile über Vollkommenheit, Unvollkommenheit sollen zwar rein subjektive sein, »Modi des Denkens« mit falscher, rein anthropomorpher Messung (Eth. IV, Einl.), aber die Vollkommenheit selber wird als dermaßen objektiv ausgezeichnet, daß Spinoza sagen kann: »Unter Realität und Vollkommenheit verstehe ich dasselbe« (Eth. II, Def. 6). Das heißt, es soll deshalb keine Werturteile über Vollkommenheit geben, weil es überhaupt kein meßbares Mehr oder Minder von Vollkommenheit im Sinn von Meinungen, sondern nur ein Mehr oder Minder im Sinn von Realität gibt (Eth. V, Lehrs. 40) und gar keine objektiv-reale Unvollkommenheit. Man blickt hier also, wider die Abrede, in das vollkommenste Desiderat a non desiderando, in eine so perfekte Wunschlandschaft Philosophie, daß in ihr nichts mehr zu wünschen übrigbleibt. Das alles ergibt sich für
Spinoza aus der einzigen Erkenntnisart, die er zuläßt: aus derjenigen sub specie aeternitatis und ihrer Perspektive. Als einer schlechthinnigen Großheit der Betrachtung, nichts verwünschend, nichts verlachend, sondern alles unter der Form der Ewigkeit erkennend, die ebenso die Form der begriffenen Notwendigkeit von allem ist: »Die Dinge konnten auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung von Gott hervorgebracht werden, als sie hervorgebracht worden sind« (Eth. 1, Lehrs. 33). Es gehört also nicht, wie bei Bruno, zur unendlichen Schöpferkraft der natura naturans, gerade auch das Unvollkommene neben dem Vollkommenen zu bilden, sondern: »Aus dem Vorangegangenen folgt klar, daß die Dinge in höchster Vollkommenheit von Gott hervorgebracht sind; sind sie doch aus der gegebenen vollkommensten Natur notwendig gefolgt« (Eth. 1, Lehrs. 33, Anm.). Notwendig gefolgt, das heißt hier: wie die Mathematik als vorbildliche Erkenntnisart der Notwendigkeit gilt, so sind die Dinge more geometrico, mit gleicher apodiktischer Konsequenz, aus der Gottnatur gefolgt. Wonach auch noch die menschlichen Handlungen und Triebe (so sehr sie großenteils als «inadäquate Affekte« oder neustoisch als «perturbationes animae« denunziert werden mögen) ebenso betrachtet werden, «als wenn die Untersuchung es mit Linien, Flächen und /(999) Körpern zu tun hätte« (Eth. III, Einl.). Spinozismus ist von hier in der Tat das Novum: mathematischer Pantheismus; was ihn von dem enthusiastischen Brunos besonders deutlich unterscheidet. Nicht aber unterscheidet es ihn von der gewaltigen Immanenz Brunos (mit Avicenna, Averroes hinter sich), als welche bei Spinoza vielmehr erst Weltfigur wird, ebenfalls natura naturans, natura naturata betreffend und enthaltend: «Nämlich daß wir unter natura naturans das zu verstehen haben, was in sich ist und durch sich begriffen wird, oder solche Attribute der Substanz, die ewige und unendliche Wesenheit ausdrücken. Unter natura naturata aber verstehe ich alles, was aus der Notwendigkeit der Natur Gottes oder eines jeden von Gottes Attributen folgt, das heißt die gesamten Modi der Attribute Gottes, sofern sie als Dinge betrachtet werden« (Eth.I,Lehrs. 29, Anm.). Deus sive natura ist als naturierend mithin genauso der Grund oder die impliziert vollkommene Welt, wie er als genaturiert die inhaltlich gleiche Folge oder die expliziert vollkommene Welt ist. »So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit / Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid«: diese Bekundung des Goetheschen Erdgeists trennt zwar sein terrestrisch Wesen von der universalen Gottheit, doch enthält im Ganzen durchaus die jubelnde Identität natura naturans - natura naturata. Und in den Tiefen der Spinoza Welt, der die Einheit von amor fati, amor dei intellectualis sich zuwendet, herrscht jene Stille, worin Lebensflut wie Tatensturm ausklingen, einklingen. Herrscht die ungeheure Wunscherfüllung:»Über allen Gipfeln ist Ruh«, empfängt sich die andere Seraphik Goethes: «Denn alles Drängen,. alles Ringen ist ew'ge Ruh in Gott dem Herrn.« Der Denker also, der den Verstand völlig von allem läutern wollte, was nicht des Verstandes ist, hat am Ende die feierlichst schöne Wunschgemüt-Landschaft in seinem All notiert. Die Welt steht hier da als Kristall, mit der Sonne im Zenith, so daß kein Ding einen Schatten wirft. Kein Gott stößt hierbei von außen, Spinoza verwahrt sich im »Theologisch-politischen Traktat« glänzend dagegen, daß aus Religion Wissen zu erfahren sei, daß deus sive natura mit dem Götterbild irgendeiner Religion verwechselt werde: so ist er nicht nur mathematischer Pantheist, sondern pantheistischer Materialist. Mit lauter «Welt, die sich selbst gemacht hat« (Eth. 1, Anhang), mit Welt- /(1000) lichkeit des höchsten Bewußtseins, Bewußtsein der höchsten Weltlichkeit. Zeit fehlt, Geschichte fehlt, Entwicklung fehlt und vollends jede konkrete Vielheit in dem einen Ozean der Susbstanz. Aber der Spinozismus schenkt - und das macht seine einzigartige Höhenlage aus - ein Weltbild, das keine
Subjektivität zu haben scheint, weil sie ganz von vollkommener Objekt-Substanz erfüllt ist, und keinen Zweck, weil das Vollkommene keinen braucht. Spinozismus steht da, als wäre ewiger Mittag in der Notwendigkeit der Welt, im Determinismus ihrer Geometrie und ihres so sorglosen wie situationslosen Kristalls - sub specie aeternitatis. Augustin und Zielgeschichte; Leibniz und die Welt als Erhellungsprozeß Das Denken, das nach außen blickt, geht an den Dingen entlang. Ist diese Bewegung wesentlich eine zeithafte, nach vorwärts gehende, so vertraut sie sich einem Fluß an, nicht der Ruhe. Auf Fortgang wird dann hinausgesehen, und die Ruhe selber ist nicht im Ganzen, Runden, sondern nur in einem Mündenden, spät, wohl gar zuletzt. Es ist bezeichnend, daß der Flußdenker Heraklit die Zeit den »ersten Körper« genannt hat, ja noch früher ist ihm in dieser Linie sogar das orphisch-mythische Denken vorangegangen. Pherekydes, ein solcher Orphiker, hatte den Chronos derart an den Anfang gestellt und aus ihm das Feuer, den Lufthauch und das Wasser entspringen lassen, also lauter Bewegtheiten; Zeus, der Himmel, und Chthonia, die Erdtiefe, stehen hier erst in der zweiten Reihe. Dem folgte Heraklit mit seinem so seltsamen wie richtunggebenden Satz nach; die Götter verschwanden, der in jedem Sinn urtümliche Kronos-Chronos blieb. Damit aber war zugleich ein zweiter Zug der mit der Zeit anhebenden, in ihr laufenden Perspektive angelegt: nämlich die Sicht des Werdens als eines wertbetonten Hellwerdens. Empedokles hatte, wie gesehen, ohnehin so durchaus Interessehaftes, also Wertbetontes wie «Haß und Liebe« zum Agens der Bewegung erklärt, des Trennens und Verbindens der Stoffe. Und von hier aus war nun ein Blick möglich, der wirkliche Geschichtszeit in der Welt pointierte, mit Ruhe nur im Anfangs- und End- /(1001) zustand der Welt. Dazwischen liegt das Eingreifen des trennenden Hasses, und zwar in drei Perioden: der der aufkommenden Trennung der Stoffe, der ihrer völligen Sonderung durch vollständiges Übergewicht der Liebe; wonach der Strudel des Prozesses, von Haß wie Liebe, von Bewegung des Trennens wie Verbindens gleichmäßig befreit, wieder in den » Sphairos der Harmonie« einmündet. Doch wieder in ihn als einen zeitlichen; denn auch der Sphairos ist vergänglich, indem immer wieder der sondernde Haß in ihn einbricht und das Naturleben, samt der wieder verbindenden Liebe, in Gang setzt. Das Eigentümliche des Empedokles ist also, daß er nicht nur Wertbegriffe in die Naturbetrachtung eingeführt hat, sondern daß er vor allem die Naturbewegung durch die wechselnden Verhältnisteile von Haß und Liebe zu periodisieren versuchte - mit schließlichem Erlöschen beider in einer Art von Weltlosigkeit überhaupt. Zweifellos lagen auch hier mythische Bestimmungen noch zugrunde, wie bei Heraklits Lehre von der Zeit als »erstem Körper« und gar bei dem Chronos, der alles begonnen, bei Pherekydes. Ja, die mythischen Bestimmungen des Heraklitischen Zeitkörpers haben sogar die gleiche mythische Herkunft wie die Haß-Liebespotenzen bei Empedokles, nämlich persische. Die »grenzenlose Zeit« steht auch im Zendavesta an der Spitze der Weltentstehung; und erst recht agieren im persischen Mythos die Gegenbewegungen Haß-Liebe als die des zerstörenden Ahriman, des lichten Ormuzd. Und dieser persische Dualismus, viele Jahrhunderte später durch Mani und seine Sekte erneuert, ergriff wiederum so viele Jahrhunderte nach Empedokles einen spätantiken Denker, der ein - Manichäer war, bevor er ein Kirchenvater wurde: Augustin. Es ist also keinerlei Sprung über historische Abgründe, wenn nun an dieser Stelle, fast über alle dazwischenliegenden griechischen Philosophen hinweg,
Empedokles und Augustin zusammenrücken - als persisch-mythisch verbunden, als Denker eines Prozeßkampfs, einer Perspektive des Liebessiegs, Lichtsiegs. Wobei der klare Auftrag Augustins: dem Christus gegen Caesar gesellschaftlich Platz zu schaffen, die Zweiheit von Haß und Liebe, Dunkel und Licht selbstverständlich besonders schärfte. Wobei weiterhin die volle Einsetzung Ahrimans oder des Teuflischen in den Haßpol, Ormuzds oder des Göttlichen in den /(1002) Liebespol den Weltprozeß ungeheuer dramatisierte; aus einem wechselnden Prozeßverhältnis von Haß und Liebe wird er zu einem Schlachtfeld zwischen Satan und Christus. Diese neue Perspektive erscheint, als welthistorisch eingespannt zwischen dem Sündenfall und dem Jüngsten Gericht, in Augustins 22 Büchern »De civitate Dei«, einer einzigen vorbereitenden Aktivierung der feudal-klerikalen Gesellschaft und viel mehr zugleich. Wonach also dieses Buch noch einen anderen Zusammenhang und Inhalt zeigt als den behandelten der Sozialutopie, einen Inhalt, der die gesamte Geschichte befeuert, spannt und abzielt. Dahin ist nun die als gegeben gesetzte Ruhe eines Hen kai Pan, als einer Kugel oder später als einer mathematischen Kristallnatur. Dahin ist aber auch die ewige Wiederkehr eines Kreislaufs, mit gar keinem anderen Resultat in seiner Dynamik als einem Sphairos, der immer wieder durch die Haßpotenz zerspringt. Konträr: Die Weltgeschichte ist einmalig, samt ihrem Höhepunkt Christus; sie wird der Sphairos (hier die »Sabbatruhe der Welt«), ist als nicht mehr störbarer Triumph der lux aeterna dargestellt. Zu diesem Ende soll nun, nach Augustin, der Weg der Geschichte gehen, in sechs Epochen (articuli temporis) durch Nacht zum Licht, durch Kriegs- und Pilgerfahrt der Erwählten und ihres Gottesreichs quer durch die civitas terrena der sündigen Kreatur (und gefallenen Natur). Das Ziel selbst freilich ist hier fertig gegeben, hoch droben bereits existent, ja für einen allwissenden Gott ist umgekehrt die Geschichte als Prozeß nicht existierend: »Alle Geschehnisse sind in praedestinatione Dei schon geschehen... ideo nihil recens sub sole« (De civ. Dei XII, 14). Und mit einer weiteren, rein räumlichen Tingierung, wo nicht Eliminierung der Zeitkategorie: »Die civitas Dei ist so weit von der civitas terrena entfernt wie der Himmel von der Erde« (l.c.,V, 17). So daß also der Geschichtsprozeß des Lichts am Ende als bloß pädagogischer dastehen mag, als einer der bloßen fortschreitenden Licht- Findung statt der fortschreitenden, in der Sache geschehenden Licht-Entzündung selbst. Doch ist gerade diese, bei aller Ablehnung menschlicher Hybris, in Augustins Perspektive intendiert und hat zwar nicht in die Kirchengeschichte, gewiß nicht, wohl aber in die Ketzergeschichte hineingewirkt. Am allermeisten mit der /(1003) Gerichtetheit der Zeit, als einer heilsgeschichtlich nicht umkehrbaren, aber auch in keinem bisherigen civitas-Dei-Modus anhaltbaren. Wonach denn diese Gerichtetheit gerade bei dem größten Ernstnehmer des Augustinischen Gottesreichs wieder lebendig geworden ist, bei Joachim di Fiore, dem Jesajas des dreizehnten Jahrhunderts. Bei dem der Lichtstatus auch seiner Existenz nach ein erst heraufkommender ist, so daß er nun mittels der historischen Stadienbildung nicht gefunden wird, sondern selber in Geburt steht. Und es wirkt in dieser Gerichtetheit der Augustinische Satz von der Wiederherstellung des menschlichen Ebenbilds am Ende der Geschichte, welcher die Ketzergeschichte entscheidend befeuert hat. Und zwar wegen des scharf eschatologischen Akzents, der ihm trotz der »Wiederherstellung« (der bloßen restitutio in integrum) und trotz der angegebenen Ablehnung jeder Geschichtsproduktion (in Ansehung des Gottesreichs) eignet. Wirksam war vor allem dieser ungeheure und ersichtlich Neues enthaltende Wunschland-Satz: »Der siebente Tag werden wir Menschen selber sein«, »Dies septimus etiam nos ipsi erimus, quando eius fuerimus benedictione et sanctiflcatione pleni... « (1. c., XXII,
30). Auf dem Weg dahin bleibt aber Augustin der bis zu Leibniz größte Entdecker der objektiven Zeitfunktion: und zwar als einer der Welt selber, trotz der mythologisch-starren Beziehungen. Denn Augustin pointierte schließlich, in immer wieder unausweichlicher Fernsicht des Prozesses, nichts Geringeres als die ihn ermöglichende Mutabilität der Welt. Und das im buchstäblichen, sowohl negativen wie schließlich vertrackt positiven Sinn des Begriffs Veränderlichkeit - als Fall ins Vergängliche (corruptio, defectus), aber vor allem auch als Fortgang (augmentatio, profectus) des Rettenden. Hierbei ist allerdings der Zeitbegriff Augustins (und dieser erste Geschichtsphilosoph war sinngemäß auch der erste, der über die Zeit tief nachgedacht hat) seltsam sowohl an die bloße Erlebniswirklichkeit wie ans Bild der lediglich herabrieselnden Sanduhr gefesselt. Die Zeit rieselt gleichsam aus dem Kolben der Zukunft durch den schmalen Spalt der Gegenwart unaufhörlich, unaufhaltsam in den Kolben der Vergangenheit; womit zugleich ein Schwerkraft-Bild, ein Antiflug-Bild in Gang kommt. Insofern überwiegt nun auch, /(1004) von hier gesehen, das Depravierende, ja der Sterbecharakter im Zeitablauf, der Transport aus vager Zukunft durch die so schmale Aktualität des Moments hinab in ein immer mehr sich anhäufendes Nichtmehrsein Vergangenheit. Die Veränderlichkeit, solcherart überwiegend als corruptio und defectus gefaßt, bedeutet also in ihrer Zeit lediglich eine Unvollkommenheit im Sein, einen Mangel, ja ein schlechthinniges Übel; Augustin glaubt diese Art Veränderlichkeit verschlingen zu können mit dem Nichts, aus dem die Welt geschaffen, in das »alle Dinge auch vergehen können, quae ex nihilo facta sunt» (1. c., XII, 8). Doch dringt Augustin aus dem Fallen dieser Sanduhr-Zeit dialektisch durchaus zur Zeit als Pilgerfahrt vor, zur Bewegung aus dem defectus ins Nichts zum profectus in die erwartende Fülle. Versinkt das Zeitsein der Geschöpfe und der Welt wegen ihres Nichts-Anteils immer wieder in Vergangenheit, so begibt sich das Zeitsein als Entfaltung immer wieder in die Zukunft hinein, von der her ihm Existenz und schließlich immer wahrere zuwächst. Haltend über dem Abgrund und schließlich rettend vor dem Abgrund ist nach Augustins Mythologie freilich nur der ereator mundi selber, also Gott; es gäbe sonst keinen Prozeß nach oben. Auch so aber rückt das Geschehen, statt nur ins spezifische Nichts der Vergangenheit abzufließen, in die Entfaltung der Zukunft, in die Realisierung ihrer Möglichkeiten, vorzüglich der ihr vorgeordneten Heilsmöglichkeiten. Deren Inhalt liegt allerdings bei Augustin wieder gänzlich außerhalb der Zeitlichkeit, er ist Sein ohne alle Zeit: »Beachte die Änderungen der Dinge, so findest du Erit et Fuit; denke Gott, so findest du Est, worin Fuit et Erit nicht sein kann» (In Joh. ev. tractatus 38, 10) Damit erhebt sich sogar aus allen Dissonanzen der Zeit der Ruhekristall, aber als einer des Endes der Geschichte. So ist er der dem Pantheismus fremdeste, ist keiner einer kosmischen Rundung, sondern der durchaus transzendenten Tiefe, keiner des Raums, sondern der Ewigkeit. »Nunc stans aeternitas«: das ist bei Augustin das Urlicht, das erst nach völlig beendeter geschichtlich-kosmischer Erhellung durchbricht. Ein Denken, das mit Zeit geladen ist, zeigt sich meist auch menschlich geladen. Denn Vergehen und Entstehen werden nicht nur angeblickt, sondern zunächst besonders nahe und /(1005) beteiligt am eigenen Leib und Sein erfahren. Auch wenn die Zeit keineswegs die Form des inneren Sinns ist, sondern eine materielle Daseinsweise durch und durch, so schließt ihr Beußtsein doch mehr als das des Raums ein Streben und Wohin im Sein auf. Man findet deshalb bei allen Denkern, die nach außen blicken und trotzdem subjekthafter Regung voll sind, die Bewegung der Dinge als ebenso erregte. Eine Verschlingung von emotionalen und Weltvorgängen findet statt, wie sie zuerst mit »Haß und Liebe« bei Empedokles
bedeutet worden war. Wie sie aber auch bei dem großen progressiven Entwicklungsdenker Aristoteles als der angegebene »Drang des Stoffs nach der Form«, dann als »Selbstverwirklichung der Form im Stoff« aufging. Wie sie zuletzt in der Antike, mit Abschied an die alte, mit Signalbildung für die neue Gesellschaft, Augustins Weltperspektive einer kämpfenden Pilgerfahrt erfüllte. All das nun verstärkt sich mit dem beginnenden bürgerlich-selbstbewußten und so subjektreichen, schließlich dynamischen Bewußtsein der Neuzeit. Sofern es eben als Tendenz zum Licht, als Licht in Tendenz auftritt und nicht bereits als Raumvollendung des Lichts. Ein Grundzug von Eckart bis Hegel ist in dieser überwiegenden Zeitlandschaft von Philosophie (also dem Nicht- oder Noch-Nicht-Spinozismus) das Miteinander von Selbsterhellung und Welterhellung, derart, daß das Fiat lux in beiden sich beisteht und forterschallt. Da ist Eckart: der Grund von allem, was ist, spricht sich aus, der Mensch ist sein höchstes Wort, und in ihm kehrt er als erkannter wieder in sich zurück. Sind die nicht-denkenden Geschöpfe die Fußstapfen des Grunds, der sich herausgemacht hat, so ist die denkende Seele sein Ebenbild, sein von allem unoffenbaren Dunkel gelöstes. Es folgt Paracelsus oder die Lehre vom Grund als der schaffenden Naturgewalt selber, drinnen wie draußen, im Fieber wie im Sturm, im Menschen wie in der Welt. Aber der Mensch ist das höchste Fürnehmen dieser natura naturans, und ihm kommt es zu, das Werden der Dinge immer weiter zu bestärken und zu läutern. Gott will, daß alles, was er angelegt und unvollkommen gelassen hat, zur Vollendung gebracht werde: der Arzt als Philosoph, der Philosoph als Arzt steht so ganz in diesem Prozeß der Läuterung. Die Läuterung geschieht in einem /(1006) sehr breiten Sinn alchymisch: sowohl als Ausscheidung der unlauteren Bestandteile wie als Steigerung der virtus, Tüchtigkeit, Lebensfülle. All das soll geschehen durch Naturtreue, das heißt, der natura naturans treue »Imagination«, wie sie sich auf »Quintessenz« versteht. Das heißt wiederum: auf den Auszug der wesentlichen Essenz aus allem, auf Fortführung des »Mais der großen Welt«; noch das Jüngste Gericht wird derart moralisch-chemisch, chemisch-moralisch verstanden. Es folgt gerade in solcher Herausprozessierung verwandt - Jakob Böhme oder die Lehre vom Offenbarwerden des dunklen Urgrunds durch Qual, Quallen, Qualität hin zum Lichtreich. »So man will von Gott reden, was Gott sei, so muß man fleißig erwägen die Kräfte in der Natur.« Diese aber (und dergleichen ward seit Heraklit nicht mehr gehört) sind selber Kampf zwischen Gegensätzen. So zunächst: »Die Natur hat zwei Qualitäten in sich, eine liebliche, himmlische und heilige, und eine grimmige, höllische und durstige« (Aurora, Vorrede 9); das erinnert noch an die alte manichäische Zweiheit. Doch nun kommt der Fortgang: »Alle Kreaturen sind aus diesen zwei Quellen gemacht, und alles, was aus der Erde wächst, das lebt und quillt aus der Kraft dieser Qualitäten... Denn durch seinen zweifachen Quell hat alles seine große Beweglichkeit, Laufen, Rennen, Quellen, Treiben und Wachsen« (1. c., Kap. 2, 1); das folglich geht von dem Manichäischen zu objektiver Dialektik. Mit sieben »Quellgeistern« oder »Naturgestalten«, vom Herben, Bitteren übers Blitzfeuer zum warmen Licht, zum Freudenschall bis zum gesamten Corpus naturae und zum Christus im Menschen, »tausendmal größer als der Vater«, das ist, als der unentwickelte Anfang oder Urgrund. So ist hier das Sich-Explizieren des Grunds nicht nur dessen Selbsterkenntnis, wie bei Eckart, sondern außer dieser dessen Selbstberichtigung. Als ein Thema, das minus der chemischen Nächte und Tage, mit denen es bei Paracelsus und Böhme tingiert war, von hier an in der Prozeßphilosophie unverlierbar wurde. Doch nun freilich, das alles war, obwohl es durchaus Denken der
Lichtwerdung meinte, aus deren Gären nicht heraus. Sein gewaltiges inneres und äußeres Wetter bildete deshalb gegen den Spinozismus des Kristalls noch kein eigen-strenges Pendant. /(1007) Dieses ist erst in jener so kräftig wie umfassend sich erhellenden Landschaft gegeben, welche durch Leibniz bezeichnet ist. Mithin durch den Denker der genetischen Aufklärung, durch die in immer klarerer, immer deutlicherer Spiegelung sich entwickelnde Perzeption und Explikation des Weltinhalts. Demungeachtet steht jedoch Leibniz durchaus in der durch Paracelsus und Böhme betretenen Prozeßlandschaft; er hat unter soviel Reichtum sogar wesentlich diese spezifisch deutsche Renaissance-Dimension. Die Leibnizsche Aufklärung hat, ihrem rationalistischen Genius entsprechend, das gärende Retortenwesen verlassen, an Stelle einer schäumenden Goldküche tritt eine kontinuierliche Intensitätsfolge der Lichtvermehrung, doch eben: diese Lichtvermehrung bildet gerade bei Leibniz die Welt als Erhellungsprozeß, die Landschaft ihrer perfectibilité. Fünf Hauptpunkte springen im vorliegenden Zusammenhang hieran besonders hervor, sie alle zeigen Mensch, Zeit, Welt wiederum als verschlungen und aufs Hellwerden bezogen. Erstens soll hier alles Sein aus psychischen Kraftpunkten bestehen, jeder von ihnen ein völlig inneres Leben, das keine Fenster hat, doch alles Außen in sich findend, nämlich spiegelnd. Zweitens eignet diesen Monaden im Spiegeln ein appetitus, eine Tendenz, denn sie sind gefaßt als Weltbürger der Aufklärung, sie sind allesamt aus dem Geschlecht, das aus dem Dunklen ins Helle strebt, und es gibt für Leibniz nichts anderes als diesen appetitus des Lichts. Drittens läuft die Tendenz, als »inquietude poussante«, sprengend, besonders bei Einengung, und Leibniz gebraucht hier die erzprozeßhafte, auf lange unerhörte Gleichung von offenem Raum und - Zukunft: »Wie in dem elastischen Körper, welcher eingeengt, seine größere Dimension als Streben liegt, so in der Monade ihr künftiger Zustand«, und weiter, in einer Erwiderung auf Bayle, 1702: »Man kann sagen, daß in der Seele, wie überall sonst, die Gegenwart mit der Zukunft schwanger geht.« In solchen Bestimmungen hat vor allem die objektive Dialektik deutlicher als je bisher die engste Verbindung mit dem Prozeß erreicht, und zwar als einem wesentlich mit der Zukunft, nicht nur mit der Vergangenheit vermittelten (vgl. Ernst Bloch, Subjekt-Objekt, 1951 S. 123 f.); das trotz der Sperre vor der echten Zukunft realiter Neuen, die auch Leibniz zeigt. Viertens besitzt die /(1008) Tendenz gerade als immanente, den Monaden selber eigene, ihr Wohin als Wozu; sie kann ohne solche Zweckbeziehung nicht einmal gedacht werden. Leibniz unterscheidet sich vor allem auch in diesem Punkt von Spinoza und nicht minder von Bacon, Hobbes, als welche alle die Zweckkategorie verworfen haben; Spinoza nannte sie das Asyl der Unwissenheit. Indes, diese Verwerfung richtete sich hauptsächlich gegen die Gleichung Teleologie-Theologie, also gegen die transzendente Zwecksetzung durch einen göttlichen Willen, durch göttliche Vorsehung und dergleichen. Spinoza selber vermied aber die Zweckkategorie durchaus nicht, wenn er sie naturalistisch, das heißt, im Menschenwerk, nicht in einem sogenannten Gotteswerk am Werk sah: so etwa in der Definition des Staats als einer von den Menschen zum Zweck ihres Wohlergehens gebauten Maschine. Und so sehr Leibniz seinen Zweckbegriff letzthin, das heißt mit einem metaphysischen Grenzbegriff, in einer göttlichen Zwecksetzung des möglichst Besten fundieren will, so wenig hebt er bei ihm doch den ausnahmslosen kausalen Determinismus auf; dieser herrscht vielmehr, um, wie bei einer Maschine, den Zweck zu erfüllen. Und der Zweckbegriff ist eben auf immanente Tendenz bezogen, als Wohin-Verbindung zwischen der natürlichen und der moralischen Welt. Er garantiert die perfectibilité der Welt, folglich nicht nur die
Harmonie aller Monadentätigkeiten, sondern die immer hellere Repräsentation des Universums in den Monaden, bis hin zur Verwandlung der Welt zur höchsten Helligkeit ihres Inhalts. Fünftens eröffnete Leibniz mit echten Prozeßgedanken zum erstenmal seit Aristoteles wieder den Begriff der Möglichkeit, diese sowohl als »Anlage«, »Dispositio« zur Entfaltung in jeder Monade gefaßt, wie als »Reich unendlicher Möglichkeiten«, von denen die vorliegende Welt eine teilweise Realisierung ist. Die »Anlage« ist das virtuelle Enthaltensein der Prädikate im Subjekt, wieder mit scharfer Beziehung auf die Tendenz: »Omne possibile exigit existere.« Das »Reich unendlicher Möglichkeiten« andererseits, aus denen die vorhandene Welt eine teilweise Realisierung darstellt, bedeutet trotz der rein theologischen Lokalisierung, die Leibniz diesem Reich gibt, einen riesigen Möglichkeitshorizont, der eben auch in die vorliegende Welt selber (kraft der »Anlagen« in ihr) /(1009) sich erstreckt. Soviel in diesem Zusammenhang, als dem der Prozeßlandschaft, über die fünf Hauptpunkte einer Weltentwicklungslehre sub specie perfectionis statt einer Weltvollkommenheitslehre sub specie aeternitatis. Indem Leibniz einen anorganisch-organisch-humanen Stufenbau des Universums als Klimax der Erhellung darstellt, setzt er ebenso den Prozeß dieser Klimax, den pluralistisch-dynamischen, als ebensoviel Terrassenbildung zur Vollkommenheit. »Jede Substanz ist wie eine Welt für sich und wie ein Spiegel Gottes oder vielmehr des ganzen Universums, das sie, jede auf ihre Weise, ausdrückt« (Philos. Schriften, Gerhardt, IV, S.434), - nämlich auf immer klarere und deutlichere Weise. Durchgehends steigen und steigern sich so die Selbsttätigkeit der Kräfte und die Selbstentwicklung der Dinge, mit dein Endzweck einer Deutlichkeit, die sowohl die »Maschine Gottes« wie den «Staat Gottes« repräsentiert, das heißt, der höchsten Vollkommenheit. »Kraft dieser Harmonie führen die Wege der Natur von selbst zur Gnade« (Monadologie, § 88): Das ist die Leibnizsche Weltprozeß-Utopie anstelle von Spinozas Einheit von Natur und Gnade wie gegen Augustins transzendente Einwirkung von Gnade. Der »dunkle Grund« freilich, der »finstere Ungrund« Jakob Böhmes ist in diesem Rationalismus, als einem ab ovo usque finem, ebenfalls ausgefallen. Auf ihn hat erst der spätere Schelling wieder hingewiesen, nicht ohne einen ganz anders obskuren, nämlich reaktionären Auftrag, doch außer diesem nicht ohne die Kraft der Erinnerung, daß gerade im Strebenden, Willenshaften, Dynamischen der Leibnizschen Tendenz noch ein anderes steckt als bloßer Logos der Ratio. Daher die Schellingsche Unterscheidung zwischen dem setzenden, willenshaften Daß-Element und dem rationalen Was-Element im Prozeß (scholastisch ausgedrückt als Unterschied zwischen der quodditas und der quidditas). «Das erste Seiende, dieses primum existens, ist also zugleich das erste Zufällige (Urzufall). Diese ganze Konstruktion fängt also mit der Entstehung des ersten Zufälligen - sich selbst Ungleichen -, sie fängt mit einer Dissonanz an und muß wohl so anfangen« (Schelling, Werke X, S. 101). Läßt man die von Schelling dem hinzugefügte »Abfalls«-Mythologie dieses ersten /(1010) Seins beiseite, so ist mit dem unter Böhmes »Ungrund« gedachten Intensitätsfaktor des Prozesses allerdings ein unübersehbares Prozeßelement bedacht. Denn hätte das Wachstum der kosmischen Helligkeit schlechthin nur rationale Elemente, so gäbe es ja gar nichts, was das Wachstum mit intensivem Agens betriebe. Es gäbe weiterhin, wenn der Prozeß nicht etwas herauszubringen, zu manifestieren hätte, was keineswegs schon ab ovo quidditas ist, auch gar keinen Prozeß, ja es gäbe in ihm nicht einmal die Leibnizsche Kategorie Relation. Es gäbe statt dieser, gar statt der Helligkeits-Unterschiede innerhalb einer rein logischen quidditas überhaupt keine Unterschiede und Verbindungen, sondern Zusammenfall aller Relationen zu
prozeßloser Identität. Wie das in Spinozas totalem Rationalismus gemäß dessen radikaler Ausschaltung des Prozesses auch ganz konsequent der Fall ist. Aber wie bedeutsam stammt schließlich auch der Begriff des Prozesses bei Böhme von dunkel-intensivem Emporringen und seiner Aurora her; wie unübersehbar sind sowohl ein Heilungsprozeß wie ein Gerichtsprozeß unter die gesamte Prozeßkategorie befaßt, wie sind beide auf ein Negatives bezogen, das mittels des Prozesses zu heilen und zu berichtigen ist. Und der Prozeß in jeder dieser Gestalten muß gewonnen werden; denn er weist auf ein Unerledigtes, Nicht-Seinsollendes zurück, das ihm zugrunde liegt, ohne daß er darin gründet. Weshalb gerade Hegel so fern er der Schellingschen Irratio stand, ja so sehr diese gerade ihn kritisierte die alte Böhmesche »Widerständigkeit« von einem Ungrund her durchaus aufnahm und erkannte. Weshalb weiterhin die Leibnizschen Intentionen auf Dialektik durch Hegel so dynamisch geschärft wurden, nämlich durch Verlegung des prozeßtreibenden Agens in die Negation. Indem diese als »Nacht- und Wendepunkt der Existenz« zugleich jeweils spannt und umbricht, ist ein Moment vom Ungrund ständig ins Leibnizsche Kontinuum geschickt, freilich dadurch auch wieder logisiert. Aber ein Sauerteig, ein Element von Schwärze kommt dadurch in den Leibnizschen Perfektionismus, ja in die Idee des Prozesses als einer sich einfach auslegenden Selbstliebe, Selbsterkenntnis Gottes aus der Vollkommenheit: «Diese Idee sinkt zur Erbaulichkeit und selbst zur Fadheit herab, wenn der Ernst, der Schmerz, die Geduld /(1011) und Arbeit des Negativen darin fehlt« (Hegel, Werke II, S 15). Das Negative, diese riesige Treibmacht, ist in Hegels Prozeßperspektive eben deshalb die «Ungleichheit der Substanz zu sich selbst«, weil das Positive erst das durch seine Entwicklung sich vollendende »Wesen« ist. Das Wesen als das in Wahrheit Seiende, dieses Eigentliche oder in Hegelscher Sprache: Absolute rückt also gänzlich an die Spitze der genetischen Welterhaltung, das ist, an ihr Ende. Die Zeitlichkeit triumphiert so als wahre Produktionsstätte, wenigstens in der Welt des historischen Fürsichwerdens; so lebt das Wesen in seinem Fürsichsein nur als Ziel. Die Prozeßwelt als Dominante zu dieser Tonika wird nun ein völliger Blüte- Frucht-Archetyp zum Unterschied von dem des Kristalls: »Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist« (I. c., S. 16). Freilich bewirkt hierbei die erneute eminente Logisierung, daß Hegels Prozeßphilosophie ihre Welt rein auf den Gedanken stellt, so sehr, daß auch noch jedes Intensiv-Materielle samt Differenz und Negation aus Geist und nichts als Geist bestehen soll. Ebenso sind wie bei Leibniz, ja mehr als bei diesem, alle Prädikate des «Resultats« weit davon entfernt, wirklich entspringende Nova zu sein, vielmehr sind sie in jeder Stufe bereits fix enthalten und nur noch nicht klar und deutlich. Das ist die alte Kontemplations- und Anamnesis-Schranke sogar in Prozeßphilosophien, die bis vors Tor des Marxismus erhalten gebliebene. Anamnesis bleibt allemal konservativ und verhindert so die wirkliche Abbildung wirklicher, das heißt ins Neue wirkender Prozesse. Trotzdem eröffnet die Linie von Eckart bis Hegel, auch die vorher so transzendent eingespannte Geschichtsphilosophie Augustins, eine einzige Auflösung von Nebeneinander, selbst Übereinander zu Nacheinander, von Raum zu Zeit und wieder gefaßt zu Endgestalt als Resultat; - es ist die Linie Gotik statt Ägypten in der Philosophie. Der wachthabende Begriff oder das »Eigentliche« als Aufgabe Gibt es kein Denken um seinetwillen, so muß es gerade deshalb reinlich sein. Eben indem es ein Bedürfen und Wollen hinter sich hat, kommt dieses Wollen und sein
Gedachtwerden nur als jeweils /(1012) fortschrittliches, nicht als trübes in Frage. Die oben angegebenen Denker standen derart auf der Höhe ihrer Zeit, wenn auch mit verschiedenem Rang ihrer selbst und ihrer Zeit und vor allem mit verschieden treffsicherem Blick in des scheinbaren Weltgeistes Kern. Doch alle suchten, idealistisch und wie sehr erst materialistisch, in konkreter Abzielung, das wirklich Seiende, an das der Mensch sich halten kann. So daß sein Gang nicht fünf Schritte vom Haus in Dunkel und Dickicht strauchelte, sondern Wege geschlagen wurden, der Weg als reale Beziehung erkannt wurde, das gesuchte Wesen als ergreifbar in den Begriff kam. Hierbei zeichnet es den großen Zug im Philosophieren aus, daß das Wesen, das derart als An-Wesen, nämlich als Haus, Halt gezeigt wurde, ein Alles sein sollte, in dem das jeweilige menschliche Anliegen wie sämtliche äußeren Erscheinungen befaßt sind. Die Auskünfte über dieses Totum (man denke nur an Heraklits Feuer, dann an die starre Seinskugel der Eleaten) sind so verschieden, daß törichte Verwechsler von reicher Forschung mit abgedorrtem Katechismus die Geschichte der Philosophie die stärkste Widerlegung der Philosophie glaubten nennen zu können. In Wahrheit deprimieren die verschiedenen großen Begriffe, als solche, die nicht vergängliche Ideologie vergänglicher Verhältnisse oder gar Klopffechtereien des gesellschaftlichen Rückschritts und Niedergangs darstellen, keinesfalls zum Relativismus. Vielmehr repräsentieren diese großen Weltbegriffe, oft in vergänglicher Hülle, mit so viel idealistischen, aber auch mit mechanistischen Eierschalen, nacheinander oder nebeneinander Sektoren und, weniger statisch gesprochen, jeweilige Frontgebiete der Wirklichkeit, in sich ergänzender Weise. Dergestalt sagt der umfassende Leibniz, er habe nirgendwo einen völlig falschen Gedanken gefunden, und ist dergleichen auch allzu umfassend, so ist doch Hegel von solch objektivistischem Nebenton des Universalen frei, wenn er erstens nur bedeutende stufenbildende Gedanken als solche zuläßt und zweitens diese als fortschreitende Erschließungen des Weltinhalts behandelt. Sein Fehler ist, daß er diese Erschließungen als konkrete Reproduktionen seiner abstrakt-logischen Kategorien darstellt, sein Verdienst ist, daß er endlich die Geschichte der Philosophie von einer Art geistiger Anekdotensammlung befreit hat, worauf /(1013) fortschreitende Entfaltung des wissenschaftlichen Weltbewußtseins erkennbar wird. Dazu kommt eine weitere, bisher kaum genügend beachtete Eigentümlichkeit großer Philosophien: das Zu-Ende-Treiben ihrer Grundgedanken, mit dem willenshaften, gesellschaftlich-parteilichen Grundantrieb darin und dahinter. Das Zu-Ende-Treiben eben macht die spezifische Wunschlandschaft in den Philosophien aus, das heißt, die Vollkommenheit, wozu ein versprechendes Motiv der Erkenntnis, eine andeutende Seite der ihr zugewandten Welt hochgetrieben worden ist. Das wurde in seinem utopischen Charakter durch das formale Zuende-Treiben der logischen Konsequenz und das architektonisch-totale des Systems teils erleichtert, teils verdeckt. Erleichtert, weil die logische Konsequenz die willenshaft-emotionale aufnimmt, gleich dem Dampf der Lokomotive, der die Heizgase mit sich reißt und so den Zug im Feuerkessel befördert. Verdeckt wird die Perspektive utopischvollendetes Art durch die - fast nur bei Kant unterbrochene - Rundung eines geschlossenen Systems in den vormarxistisch aufgeführten Lehrgebäuden der Philosophie; weshalb das als das »Eigentliche« Ausgezeichnete ebenso als fertig vorhanden, als auch sachlich geschlossen, mithin ohne Front und Novum auftrat. Wieder wirkt hier überall der alte Bann der Platonischen Anamnesis, die Lehre, alles Lernen sei nur Wiedererinnerung an längst Geschautes, zeitlos Seiendes; dieser antiquarische Bann verdeckt auch in Form des geschlossenen Systems das keineswegs Antiquarische in der jeweiligen Perspektive aufs »Eigentliche« oder
Wesen. Dennoch ist diese Perspektive als solche überall vorhanden, und eben: sie ist, sub specie toto, sub specie aeternitatis, eine, worin einer der großen Archetypen der Welt insgesamt (Bewegung, Ruhe, Stoffmeer, Licht, Kristall) zum Ende-Bild, Vollkommenheitsbild hochgetrieben ist. Derart traten Heraklit, Parmenides, Demokrit, traten Bruno und Spinoza, trat anders Leibniz nahe - lauter Proben der Welt, in verschiedenen Sektoren oder auch Fronten, auf das Exempel des Wesens. Und es erhebt sich vor allem an dem schon überall leidlosen, taghellen Materialismus, an dem Weltbaum Brunos, an dem Mittags-Kristall Spinozas das selber perfektionierende Bewußtsein, erhebt sich der kritische Optativ: Wenn es doch so wäre! Wenn doch die Welt so enthusiasmierend wäre, /(1014) wie bei Bruno, so voll schattenloser Kristallbildung wie bei Spinoza! Wenn diese Steigerung, ja Übersteigerung eines nur erst fragmentarisch Vorhandenen doch eine Lösung des Weltgeheimnisses bedeutete! Solcher Optativ gilt trotz des völligen Fehlens von Geschichte bei Spinoza, die doch allein das fragmentarische Fast-Nicht am projizierten Mittags-Kristall in einem Noch-Nicht begreifen und betreiben ließe. Der Optativ gilt trotz des rationalistischen Dogmatismus des Systems, trotz des Pantheismus, der den verneinten Gott des Himmels als den bejahten der Natur setzt und der, wie Feuerbach mit Recht sagt, die Negation der Theologie auf dem Standpunkt der Theologie darstellt. Doch wird Spinozas Substanz in ihrer strahlenden Ruhe - cum grano salis ähnlich der Giotto-, Dante-Ruhe in der Kunst - als Korrektiv des Leibnizschen Unruhe- und Prozeßziels erscheinen. Wie weit also ist die so gefaßte Notierung und Auszeichnung philosophischer Vollkommenheitsbilder von Relativismus entfernt und gar von den subjektivistischen Abschwörungen der Wahrheit, die Pragmatismus oder Fiktionalismus heißen. Aber wie weit auch ist die angegebene Notierung von der Undialektik entfernt, die das »Eigentliche« und Wesen der Dinge oder auch nur das Totum bereits als statisches Fertigsein ansieht - mit der Perspektive nur als intendierendem Blick darauf oder dahin und nicht auch als Objekttendenz selber. Die Entscheidung hier lautet: Der Optativ, der je nach den philosophischen Annäherungen an dies Wesenhafte mehr oder minder betroffen einschlägt, hat zur Aufgabe zu werden, um das »Eigentliche« im gleichen Zug wachsend zu erkennen und wachsend zu manifestieren. Anders gesagt: Das Wesenhafte braucht Menschen zu seiner immer identischeren Heraufführung; und diese gründlichste Theorie-Praxis ist die Moral der berichtigten Wunschlandschaft in der Philosophie. Nichts ist von hier aus falscher als der unbesehene Satz, etwas sei zu schön, um wahr zu sein. Er muß besehen werden, wie das Pflicht ist und ohne das an diesem Schönen gewiß nichts von vornherein bejaht, aber auch so nicht verneint werden kann. Was bedeutet: mehr als irgendwo gehört bei einem Wertgehalt, gar dem höchsten, mit dem das wahrhaft Seiende versehen worden ist, der wachthabende Begriff hierher. Er ist keinesfalls der wert- /(1015) haft zerstörende, nach Weise eines miserablen, letzthin erst recht objektivistischen Positivismus, doch er ist so scharf wie nirgends (denn corruptio optimi pessima) der berichtigende. Deshalb hat Aristoteles die wissenschaftliche Aussage als Satz bezeichnet, der eben im Gegensatz zum Wunschsatz als wahr oder falsch auftritt. Was freilich einzig bedeutet, daß Wunschsätze negativer oder positiver Art, auch wenn sie sich auf objektiv Mögliches beziehen, sich auf etwas nicht oder nicht völlig Eingetretenes und Vorhandenes beziehen, so daß sie daran nicht oder nicht voll bejahbar oder verneinbar sind. Wohl aber bewegen sich alle Wunschsätze als wissenschaftlich behandelbare in der Sphäre mehr oder minder großer Wahrscheinlichkeit zum Falschen oder Wahren hin; und zwar bestimmt sich diese Wahrscheinlichkeit je
nach dem Grad der mehr oder minder großen objektiven Möglichkeit des Wunschsatz-Inhalts. Möglichkeit also, das ist partielles, doch keinesfalls zur Verwirklichung schon ausreichendes Vorhandensein von Bedingungen, das macht die Sphäre aus, worin gar nichts zu schön sein kann, um nicht, nach Maßgabe der Bedingungen, immerhin künftig wahr zu sein. Ja worin die Wahrheit, gerade als eine des Wesens, mit dem vollen, sehr alten Goldklang des In-Wahrheit-Seins, sich allenfalls nicht einmal davor hüten muß, erbaulich zu sein. Allenfalls freilich, und das bedeutet eben: nach Berichtigung durch eingehende Kenntnis des real vorsichgehenden Prozesses, der objektiv-realen Möglichkeit, worin die gesamte Prozeß-Wirklichkeit als eine der Prozeßfähigkeit selber substanziiert ist. Diese Berichtigung ist durch Marx gekommen, und sie hat hier am wenigsten die Aufgabe ausgelöscht, daß die Welt bis zur erwünscht-humanen Kenntlichkeit verändert und das Wesen dasjenige eines umfassenden Zuhause werde. Ohne Übereilung, nicht Seiten überschlagend, um rascher ans Ende zu gelangen; ohne Aufblähung einzelner Faktoren, auch Sektoren, um die Welt idealistisch, aber auch vulgär-materialistisch zu verarmen. Ohne idealistische Verdinglichung von Abstraktionen insgesamt, wie sie die Welt auf den Kopf stellen, das Prädikat zum Subjekt machen und das Prius im Geist suchen statt in den Interessen und materiellen Verhältnissen. Zuletzt aber auch ohne jede angegebene Nachwirkung der Anamnesis kosmischen Stils, gleich als ob das »Eigentliche« /(1016) schon herausgebracht wäre und nicht nur als ens perfectissimum, sondern bereits als ens realissimum stationiere. Eben weil dem nicht so ist, aus dem Fundament noch nicht so ist, arbeitet der wachthabende Begriff und seine Praxis während der Berichtigung und nach ihr ebenso unermüdlich als Eingedenken des Verum Bonum, die wahrhaft höchstorganisierte Materie im Blick. So steht dann die Welt allerdings mit einem Kristall-Licht von Spinozismus im philosophischen Vor-Schein, wie er die Welt ohne Unwesentliches, mehr: ohne wahrhaft wirkliches Unwesen sieht. Im Horizont der Aufgabe, welche aus dem amor fati zur Beherrschung des begriffenen Schicksals fortgeht und aus dem amor dei intellectualis zur Weltfrömmigkeit, aber zur rechten und zu der einer rechten Welt. Zwei Wunschsätze: Die lehrbare Tugend, der kategorische Imperativ Nüchternes Denken ist besonders trefflich, wenn es nicht auch schmal ist. Kühnes Denken ist besonders kostbar, wenn es auch die Grenzen kennt, die es erweitert. Und doch gibt es Fälle, wo nicht nur über die Schranken, sondern sogar übers Ziel hinausgeschossen werden muß, um es zu treffen. Wie es umgekehrt eine Formel aller Gemeinheit sein kann, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, im Sinn, sie dabei zu belassen. Es gibt darum nicht nur große Weltbilder, sondern auch einzelne philosophische Sätze, die rein tatsachengemäß falsch sind und die doch, indem noch mehr an ihnen zu wünschen übrigbleibt, nicht wahrheitsgemäß völlig erledigt sind. Sei es, daß auch an ihnen, in ihnen der Wunsch aufgeht: wenn es doch so wäre! Sei es gar, daß diese Sätze, mindestens teilweise, deshalb tatsachengemäß falsch sind, weil sie ein noch nicht Fälliges behauptet haben, auf übereilte Weise, weil sie zu früh kamen. Auch hier ist dann der Wunsch der Vater des Gedankens, doch nicht, wie so oft sonst, eines närrischen, verstiegenen, wohl gar lügnerischen, sondern eines, wenn auch auf übertriebene Weise, vorauseilenden. Solch ein Gedanke kann später auch viel nüchterner wirken als viele Abklatsche und Ratschläge aus dem gerade Vorhandenen, die sich zu ihrer Zeit wunder wie faktisch vorkamen. Gewiß, die trockene Feststel- /(1017) lung, wie die Dinge sind und zur
Zeit liegen, ist unerläßlich und kann nicht trocken genug sein. Aber ein anderes ist es, diesen Stand bei schlechten Dingen zu notieren, ein anderes, ihn zu bejahen oder auch nur für unabstellbar zu halten. So sagt einer der sieben Weisen schon: »Die meisten sind die Schlechten«, was nicht weit von dem bis vor kurzem fast überwiegend richtigen Befund des Hobbes ist, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf. Doch es kommt darauf an, solchen Befunden nicht zuzustimmen; die Ursachen zu kennen, aus denen sie nicht für immer erwachsen, zu erwachsen brauchen; wissend, wie schlecht noch so viele Dinge sind, tiefer wissend, wie gut sie sein könnten. Letzteres eben steckt, auf übereilende Weise, auch oft mit abstraktem Bausch und Bogen, in einigen sonst gar nicht recht verständlichen philosophischen Sätzen; so etwa in dem des Sokrates, niemand tue freiwillig Unrecht. Solche Sätze teilen ihre, sage man: heitere Übereilung mit manchen Wunschsätzen viel geringerer Art; wobei ihnen noch fehlt, daß sie sich ihres Wunschs gar nicht bewußt zu sein scheinen. Doch sind diese Sätze so angelegt, daß sie den Wunsch nur ironisch verschweigen, mitsamt dem wohlbekannten Abstand zu der Behauptung und dem Land, worin sie einheimisch sind. Das macht ihren Ernst dem so besonders unsichtbaren und unaufdringlichen des Humors verwandt, der wiederum gar nicht übereilt, wohl aber fünf gerade sein läßt, weil er das Unglück noch weniger, viel weniger wichtig nimmt als sich selbst. Dabei haben die Sätze der gemeinten, angegebenen Art mit dem Humor keineswegs sein Lächeln gemein, wohl aber sein empirisch oft so unbegreifliches, jedoch nirgends fluchtartiges, durchaus wohlbehaustes Entronnensein. So daß in ihnen nicht nur die Gedanken, auch die Sachen leicht beieinander wohnen, in wohl herausgehobenem Vor-Schein. Als welcher deshalb doch nicht in der Luft schwebt oder schweben müßte, wenn es schon überall mit rechten Dingen zuginge. Man nehme eben den Satz, daß kein Mensch freiwillig Unrecht tue. Indem Sokrates das sagt, behauptet er viel mehr als nur das, die Tugend sei lehrbar und erlernbar. Er behauptet auch mehr als die Einerleiheit von Tugend und Einsicht, des Sinns, daß die wahre Tugend in Wissen bestehe oder, etwas einschränkend, daß letzthin alle Tugenden nur eine seien: Wissen. Wobei /(1018) dieses Wissen bei Sokrates ohnehin nur als eines ums Gute zugelassen wird, indem von den Bäumen nichts zu lernen sei, wohl aber von den Menschen in der Stadt, und ein Wissen um Bäume und noch Entfernteres der rechten Lebensführung, auf die es allein ankommt, zu gar nichts nütze sei. Das bringt, bei aller Enge, den Sokrates in seiner Verteidigungsrede sogar zu dem erhabenen Ausspruch, ob der Tod ein Übel sei, wisse er nicht, aber daß Unrechttun eines sei, das wisse er. Und indem dieses völlig wißbar, lehrbar, erlernbar ist, geht Sokrates nun zu der sehr viel weiteren, an Ort und Stelle fast unsinnig klingenden Behauptung über, ein Mensch sei überhaupt nicht imstande, wenn er das Rechte weiß, das Falsche zu tun. Das Wissen des Guten als solches sei stets das Stärkere, könne von keiner Begierde mehr überwältigt werden; es sei also, um sittliche Tüchtigkeit und glücklich allgemeine Nützlichkeit des Handelns, zu erwecken, nicht der Wille, sondern einzig die Einsicht zu verbessern. Gewiß, Sokrates hat damit, als echter Aufklärer, den Menschen vom bloßen dumpfen, oft rohen Herkommen losgesprochen. Der Kantische Ruf ist der seine: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.« Aber wie die Begierde, so wird auch der Trotz nicht gesehen und wahrgehabt, justament das Gute nicht zu wollen, nicht zu tun. »Ich bin gewillt, ein Bösewicht zu sein«, sagt Richard III., er hat also, ganz gegen die hohe Lehrmeinung des Sokrates, durchaus noch die psychische Wahlfreiheit, das Böse zu tun, obwohl er es (und das Böse ist ja nur ein Wechselbegriff des Guten) erkannt hat. Gar die
Verhältnisse fallen gänzlich weg, in denen die Menschen leben und von denen ihr Wille weit dringender determiniert wird als vom noch so einleuchtenden Einmaleins sittlicher Erkenntnis. Mehr braucht hier über das unsinnig Klingende, ja selber Unsinnige des Sokratischen Tugend-Wissen-Satzes nicht gesagt zu werden, und es wurde auch nur gesagt, um eine Folie für seinen hier einschlägigen Sinn zu haben, trotz allem. Zweifellos ist in diesem Satz der Wunsch der Vater des Gedankens, jedoch eben ein nicht selber unsinniger Wunsch, ein nicht immerdar abwegiger, sondern nur ein zu früh ergangener. Werden die Verhältnisse geordnet, die die Menschen vom Tun des Guten, ja von der ungefälschten, ideologiefreien Einsicht /(1019) seiner weghalten, dann ist der bestimmende Einfluß der Einsicht auf die Handlung allerdings nicht mehr schwer. Es braucht nicht einmal so lange gewartet zu werden, bis die Verhältnisse (es sind grundlegend die des Eigentums) sich alle verändert haben, denn ihr Verändern selbst wird, wenn es konkret ist, dominierend durch die Einsicht des Rechten bestimmt. Bloßes Elend wird erst eine revolutionäre Kraft durch den Begriff, den es von seiner Lage und der wahren Eupraxie gewinnt, und die sittliche Pflicht, hier zu wenden, entspringt allerdings unweigerlich einem Wissen, das gerade in diesem entscheidenden Fall nicht zuletzt ein Wissen um die »Tugend« ist. Also ist der angegebene Sokratessatz zwar an Ort und Stelle noch nicht wahr, hat aber gleichsam den Vorzug, immer wahrer zu werden, werden zu können. Sokrates sagte nicht ohne weiteres, der Mensch sei gut, sondern er sagte, die Tugend sei das einzig ,wahre menschliche Sein. Und um dieses Wahre freiwillig zu tun, dazu darf erstens keiner mehr dazu gezwungen sein, unfreiwillig, nämlich bei Strafe des Untergangs, Schlechtes zu leiden oder auszuführen, und zweitens muß das Gute allerdings so erkannt wie bekannt geworden sein. In einer endlich freundlichen, als freundlich möglichen Beziehung von Menschen zu Menschen, in dieser von Sokrates so verfrüht angenommenen «Eupraxie« kann sich das gewußt Gute allererst unvermeidlich machen. So tut in der Tat kein Mensch freiwillig Unrecht, wenn dem Wunschbild dieses Satzes gemäß die Verhältnisse geändert werden, die ihn unsinnig machten, weil sie ihn verhinderten. Nun nehme man den noch viel wünschbareren Satz, daß der Mensch niemals bloß ein Mittel, sondern ein Zweck sei. Das lehrt Kant, und daß damit vorerst nur ein Fordern ausgesagt ist, liegt leider auf der Hand. Individuell gewendet lautet dies Sollsein: »Der Mensch ist unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein.« Sozial ausgebreitet lautet dies Sollsein: »Handle so, daß die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann, das heißt, daß beim Versuch, die Maxime dieses Handelns als allgemein befolgtes Gesetz zu denken, kein Widerspruch herauskommt.« Dergleichen gebietet dann schlechthin, als kategorischer Imperativ, wie bekannt, als angeblich innewohnend-autonomes Gesetz /(1020) der reinen praktischen Vernunft a priori. Und wieder erheben sich - mutatis mutandis wie beim Sokratischen Tugend-WissenSatz - Betretenheit, ja Ablehnung und Betroffenheit ineinander. Je nachdem, ob die Landschaft dieses Moralsatzes unmittelbar, an Ort und Stelle oder utopisch, in ihrem intendierten und legitim intendierbaren Zukunftsgehalt bedacht wird. Als so sonderbar wie unhaltbar springen am Kantischen Moralsatz zunächst sein allzu Innerliches, sein kalt Formales, sein preußisch-citoyenhaftes Amalgam ins Auge. Das aber mit soviel Ferne vom alten Adam und Erdenrest, daß Jean Paul, gerade im Hinblick auf diesen Moralsatz, sagen konnte, Kant sei ein ganzes strahlendes Fixsternsystem auf einmal. Zweifellos ist der kategorische Imperativ stark inwendig, die Gesinnung ist ihm entscheidend, mit der gehandelt wird, als guter Wille an sich. Dazu wird diese Gesinnung recht preußisch als eine solche dargestellt, in der nicht
einmal irgendeine Wärme, irgendeine Neigung zum Rechttun vorkommen darf, bei Strafe, nicht rein zu sein. Das einzige Gefühl, das ihr gestattet wird, ist das sehr herbe, welches Achtung heißt, vor dem sittlichen Gesetz, das schlechthin gebietet. Gleich unfreundlich, ja sauertöpfisch ist wohl selten ein Reines aus lauter Reinheit geradezu maskiert worden, eine so böse Miene zu einem so guten Spiel. Zweifellos auch ist der kategorische Imperativ stark formal, das heißt: seine pflichtgemäße Gesinnung soll sich in der Form, nicht im Inhalt des Wollens erweisen. Sowenig wie ihr Antrieb, ihr Motiv soll auch ihr Kriterium ein einschmeichelndes sein, eines, das das moralische Gebot nicht um seiner selbst willen auszeichnet und es so von allen bloßen »Ratschlägen der Klugheit«, allem Schielen auf Nebenzwecke und auch Folgen unterscheidet. Letztere gaben nur unreine, je nach der Lage sich ändernde, also hypothetische Imperative, während das wahre Sittengebot, als bedingungslos gebietendes, eben ein kategorisches ist und sein muß. Und ebendeshalb muß nach Kant ein Kriterium ein rein formales sein, das ist, ein von situationshaften Schwankungen wie historischen Veränderungen seines empirischen Inhalts schlechthin freies, ja ein so sehr formales an Ort und Stelle, daß Kant überhaupt kein ethisches Kriterium mehr zu benennen weiß, sondern nur noch eines aus der formalen Logik. Es ist eben das der Widerspruchslosigkeit; wonach also /(1021) die Fähigkeit einer Maxime, als allgemein befolgtes Gesetz gedacht zu werden, ihre Sittlichkeit einzig an der bleibenden Einheit dieses so Gedachten messen und entscheiden läßt. Danach kann der Mensch nur deshalb nicht wollen, daß allgemein gelogen werde, weil es dem Begriff der Aussage widerspreche, gelogen zu sein. Oder der Mensch kann nur deshalb nicht wollen, daß ein Depositum unterschlagen werde, weil es dem Begriff des Depositums, als einer zum Wiedergeben bestimmten Summe, widerspreche, unterschlagen zu werden. Formaler hat sich in der Tat kaum je eine Moral angelassen, auch nicht die mühseligste Reflexionsmoral; wieder vor lauter Reinheit bedarf die Tugend der reinen Gesinnung allemal eines Collegium logicum, als der Prüfungsanstalt ihres Metalls. Zweifellos auch, zum letzten, ist der kategorische Imperativ stark ideologisch, nämlich preußischer Krückstock plus idealisiertes Reich der Bourgeoisie. Der preußische Krückstock, in die eigene Gesinnung aufgenommen, wurde sogar oft als das Mächtigere in Kants Moralsatz empfunden und so entweder verworfen, von den Opfern der verdammten Pflicht und Schuldigkeit, oder gepriesen, von den Profosen, ja Schlachtbanktreibern. Als sähe in der Tat das absolute Sittengesetz, schlechthin gebietend gegen die natürlichen Antriebe der Kreatur, dem Willen des absoluten Monarchen, schlechthin gebietend gegen den Untertan Kreatur, nicht ganz unähnlich. Wie dem immer sei, weit deutlicher jedenfalls als der Krückstock findet sich in Kants Moralsatz, ideologisch gefaßt, das idealisierte Reich der sich aus dem Mittelbürger entwickelnden Bourgeoisie. Darin findet sich kein Monarch, sondern die formale Gleichheit aller vor dem Gesetz, gegen die ständischen Privilegien, erst recht gegen privilegierte Herrenmoral; all das reflektiert mit deutscher, nichts umstürzender Abstraktion. Der Citoyen, der sich selbst in der französischen Revolutionsideologie unvermittelt-ideal über dem realen Geschäftsmenschen der Bürgerklasse erhoben hatte, wurde nun erst recht zu einer Menschheit im erhaben Allgemeinen spiritualisiert oder vergeistigt. Wobei dann wieder verblüffend kurze Querverbindungen aus so großer normativer Höhe zu eben dem realen Geschäftsmenschen bestehen; so in dem angegebenen Kriterien-Beispiel für allgemeine Denkbarkeit einer Maxime, im Beispiel des Depositums. Insofern freilich ist /(1022) dann der Kantische Moralsatz auch gar nicht nur formal, auch gar nicht nur reine praktische Vernunft ohne alle Rücksicht auf empirische Beweggründe, auf heteronome, das heißt, außerhalb ihrer
Selbstgesetzgebung liegende Sanktion. Sie entscheidet vielmehr die Frage: was für Maximen sich zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung eignen, letzthin durchaus nicht empirielos und auch nicht bedingungslos-autonom. Nämlich sie entscheidet nach den Folgen, die sich aus der allgemeinen Geltung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ergeben würden. Diese ist dann so sehr die bürgerliche Dimension der Kantischen Moralkriterien, daß gerade, was das Depositum und seinen Widerspruch zum Unterschlagenwerden angeht, Kant gar nicht auf die Frage kommt, die Hegel, der gewiß nicht unbürgerliche, sehr früh radikal-inhaltlich gesehen hat: «Daß es aber gar kein Depositum gäbe, welcher Widerspruch läge darin?« (Werke 1, S.352). Soviel also über eine Vergänglichkeit an einem so tief betreffenden Moralsatz, an einem, der zwar den Charakter zeigt, gleich einem neuen Glockenklang über alles Ephemere hinweg, lakonisch wie Glocken und dabei ohne alles gestaltlose Sausen, zur Sammlung zu rufen, zur inwendig-allgemeinen, formal-konformen Sammlung, doch eine Pflicht feiert, die über die Hälfte mehr Königsberg in Preußen als Marseillaise zu tätigen scheint oder an Ort und Stelle enthält. Aber wie, wenn auch Kants so starr scheinender Satz seiner Zeit gerade vorauseilte? Wenn er in seiner Richtung eine Kühnheit und ein Glück enthielte, die nur darauf warten, endlich erscheinen zu können? Wenn sein Bedenkliches wieder zugleich eine Folie wäre, von der sich ein höchst Bedenkenswertes und mehr als das mit naher Zukunft abhöben? Ist doch Kants erwähnte und allem anderen zugrunde liegende Forderung, den Menschen niemals bloß als Mittel, stets zugleich als Zweck anzusehen, nicht eben bürgerlich; sie ist überhaupt in keiner Klassengesellschaft vollziehbar. Denn jede dieser Gesellschaften beruhte, wenn auch in verschiedener Verkehrsform, auf dem Verhältnis Herr-Knecht, auf der Verwendung von Menschen und ihrer Arbeit zu Zwecken, die durchaus nicht ihre sind. Der Mensch als einziger Zweck: so allgemein auch dies Humane und - gar das Abstraktum »Menschheit im Menschen« -bei Kant noch /(1023) vorliegen mögen, übrigens bis Feuerbach einschließlich vorgelegen haben, es ist damit die Ausbeutung schlechthin verneint. Nur moralisch verneint, gewiß, Kants praktischer Vernunft fehlt wegen der deutschen Misere jede wirkliche Praxis, doch sie läutet vom Prinzip her der Ausbeutung ihr Gericht. Und wie dem Raubbau am Menschen, so dem Raubkrieg, der untrennbar damit zusammenhängt: all das mit Projektion vom moralischen Prinzip, aber auch von einer sich ihm annähernden Zukunft her. Da bleibt auch der kategorische Imperativ nicht starr, sowenig wie er auf das idealistische Reich der Bourgeoisie beschränkt bleibt oder letzthin bleiben mag. Erleuchtend dafür ist ein wahrhafter Blitz- und Donnersatz aus dem «Streit der Fakultäten», 1798, also einer sehr späten Schrift, ohne Pardon für Bourgeoisie und Feudalismus zusammen: »Denn für die Allgewalt der Natur oder vielmehr ihrer uns unerreichbaren obersten Ursache ist der Mensch nur eine Kleinigkeit. Daß ihn aber auch die Herrscher von seiner eigenen Gattung dafür nehmen und als eine solche behandeln, indem sie ihn teils tierisch, als bloßes Werkzeug ihrer Absichten, belasten, teils in ihren Streitigkeiten gegeneinander aufstellen, um sie schlachten zu lassen - das ist keine Kleinigkeit, sondern Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung selbst« (Werke, Hartenstein, VII, 5. 402 f.).Des Endzwecks der Schöpfung: mit diesem Begriff meint Kant keine empirische Realität, aber auch keine theologische Scheinrealität; er meint das Sollsein des Sittengesetzes und seine Verwirklichung durch die geschichtliche, vor allem zukünftige Entwicklung des Menschengeschlechts. Damit aber - und das fundiert gerade die donnernde Ethik des angegebenen Satzes -, damit aber ist eine Schicht berührt, die ganz besonders
mit utopischem Pathos bei Kant geladen ist. Wonach die bloße Idealisierung ideologischer Art (als die des Reichs der Bourgeoisie), so sicher sie an Ort und Stelle besteht, mit einer ganz anderen Signatur durchsetzt wird. Es ist, logisch gesprochen, die Signatur der Wertbegriffe, diesesfalls eines Sollseins, das vor einem nur einmal Gegebenen keineswegs bedingungslos kapituliert. Und zwar deshalb nicht, weil die in Rede stehenden Wertbegriffe (und nur die eines wirklichenWerts, also progressiv-humane, kommen hier in Betracht) die Wunsch-, Willens- und Tendenzinhalte einer aufsteigenden, noch nicht zur /(1024) vollen Macht gekommenen Klasse tragen und darin zugleich, bei genügender Gründlichkeit, den radikalen Inhalt des gesamten menschlichen Befreiungskampfs implizieren. Ein solcher Wertbegriff ist dann nicht bloß von fertigen Tatsachen abstrahiert, sondern von Tendenzen; infolgedessen kann er auch nicht ohne weiteres von einer vorhandenen Breite der Erfahrung berichtigt, widerlegt oder bestätigt werden, sondern sozusagen nur von ihrer tendenzhaften Längserstreckung, das heißt, von der im Geschehen befindlichen Wirklichkeit des Heraufkommenden, zum Sieg Fähigen. Zu dieser Art gehören aber nicht nur, in eminenter Weise, die bereits sozialistisch reifenWertbegriffe, sondern gehörten, mit selbstverständlichem Abstand, auch die radikal bürgerlich-revolutionären, außerhalb ihrer Beimengung ideologisch vergänglicher oder auch bloß illusionärer Bestandteile. So wurden etwa die Inhalte des bürgerlich-revolutionären Naturrechts, soweit sie sich auf die unabdingbare menschliche Würde beziehen, durch keine damalige Gegebenheit von Recht und Staat widerlegt; konträr, Rousseau widerlegte jene. Daß etwas um so schlimmer für die Tatsachen sein kann, wenn eine Theorie mit ihnen nicht übereinstimmt: dieser bei allen nichtnormativenBegriffen so unhaltbare Satz ist im Gebiet eines progressiv-konkreten Sollseins durchaus haltbar und nicht einmal grotesk. Ja, es hat die Ehre des Rousseauschen Naturrechts ausgemacht, zum Unterschied von dem nur so drapierten eines Christian Wolff oder selbst eines Pufendorf, daß es in der vorhandenen «Empirie«, als einer des Feudalismus, keineswegs einen Probierstein seines Rechten suchte; er wäre für den bürgerlichen Revolutionär eher eine Beglaubigung seines Irrtums, ja Verrats gewesen. Und nun betrachte man den Satz des kategorischen Imperativs, indem er ja durchaus zu denen des Sollseins gehört, des humanen »Endzwecks der Schöpfung», auf entsprechend-rechte Art subspecie aeternitatis vel substantiae humanae, in Kants eigenem approximativem Sinn. Dann ergibt sich gerade für den Kantischen Moralsatz: er entwirft ein Sollsein, das, wider die Abrede an Ort und Stelle, in keiner Klassengesellschaft auch nur annäherbar ist. Kant gab das Widerspruchsfreie als Kriterium an, um eine Maxime des Handelns als allgemein gefolgtes Gesetz denken zu können; gewiß, das ist heillos formal. Doch wenn der Wider- /(1025) spruch nicht im Begriff gedeckt wird und gar in Begriffen bloßer Geschäftsmoral (wie im Beispiel des ununterschlagbaren Depositums), wenn er statt dessen in der Willensmaxime selber auftritt, dann wird er in der Tat ein Kriterium, das die moralische Vollziehbarkeit oder Nichtvollziehbarkeit einer Handlung als allgemeingültiger entscheiden kann. Und die Entscheidung macht dann die Befolgbarkeit des kategorischen Imperativs insgesamt, also nicht nur seiner einzelnen Probleme aufs Exempel, in der Klassengesellschaft unmöglich. Denn kein Proletarier kann wollen, daß die Maxime seines Handelns als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gedacht werden könne, die auch die Kapitalisten einschließt; das wäre nicht Moralität, sondern Verrat seiner Brüder. Der tollste Widerspruch in der moralischen Gesinnung würde gerade dadurch hervorgerufen, ja die radikale Verhinderung des kategorischen Imperativs durch ihn selber. Er
verhindert sich aber nach Kants so unzweideutig richtender Bekundung einzig in einer Gesellschaft, deren Herrscher die Menschen »teils tierisch, als bloßes Werkzeug ihrer Absichten, belasten, teils in ihren Streitigkeiten gegeneinander aufstellen, um sie schlachten zu lassen«. Er verhindert sich nicht weniger in der nach Kant gekommenen rein kapitalistischen Welt, in der Betrugswelt, die Hegel das »geistige Tierreich« nannte. So enthält der kategorische Imperativ ein Humanum in sich, das so wenig nur abstrakt-allgemein und so deutlich auch antizipierendallgemein ist, daß es mit seiner Menschenlandschaft in keiner Klassengesellschaft unterkommt. Vielmehr wirkt dieser Grundsatz, mit dem unüberhörbaren Optativ hinter sich, fast wie eine Antizipationsformel hin zu einer nicht-antagonistischen Gesellschaft, das ist zu einer klassenlosen, in der überhaupt erst wirkliche Allgemeinheit moralischer Gesetzgebung möglich ist. Erst hier gibt es, mit individueller Maxime als ebenso allgemeinem Prinzip, jene Verwandlung der »forces propres in gesellschaftliche«, wie Marx prophezeit; gemäß einer total möglich gewordenen Solidarität. Der kategorische Imperativ wird derart unter Sternen, die er sozusagen berechnete, aber noch nicht sehen konnte, zum Stück einer Formel für klassenlose Solidarität; sein scheinbar graues Feld ist in Wahrheit voll fernem Enthusiasmus.
/(1026)
Der Satz des Anaximander oder Welt, die sich ins Gleiche stellt
Kein Denken ohne Not, aber das dauernde Stutzen über etwas führt es weiter. Das Stutzen und Erstaunen nicht nur über besonders jäh auftretende, sondern auch über gewohnte Dinge. Es kann derart außer dem Wie eines Seins gerade auffällig werden, daß überhaupt etwas ist. Also tritt die Welt als fremd entgegen, und dies Fremde eben gibt den Anstoß, weiter und weiter darüber nachzudenken. Deshalb ist die oben angegebene Behauptung des Empedokles, die so reich variierbare: daß nur Gleiches Gleiches auffassen könne, nicht unwidersprochen geblieben. Mindestens nicht für das Denken der Frage, der Verwandlung des Gewohnten in ein Auffälliges, keineswegs Selbstverständliches; ja dergleichen soll dann bereits bei dem Erfassen als Wahrnehmen beginnen. Darum behauptete Anaxagoras umgekehrt wie Empedokles: die Eigenschaften der Objekte seien nur mittels des Gegenteiligen in uns erfaßbar; Gleiches könne also nur durch Ungleiches empfunden, begriffen werden. Dem schließt sich noch die ungemein feine, der Störung kundige Bemerkung an: wegen des Gegenteiligen darin gehe jede Wahrnehmung vor sich, also »mit Unlust« verbunden; freilich auch erschließe (aus demselben Gegensatz) erst das Sichtbare das Unsichtbare (fr., Diels, 26a). Sicher nehme nur das Kalte das Warme, das Bittere das Süße wahr und umgekehrt, so wie nur der Kranke merkt, e contrailo, was die dem Gesunden unmerkbare Gesundheit ist. Ja eben das Erstaunen selber setzt ein unstimmiges, wenn auch nicht unstimmig bleiben müssendes und wollendes, Verhältnis zur Welt voraus. Zur Welt, in der das Unzuhause, das Unheimliche zwar nicht mehr, wie in der Primitive, überwiegt, aber als Stachel zur Frage geblieben ist, als Merkbarkeit eines nicht ganz Evidenten, nicht ganz Kristallhaften in der jetzt oder bis jetzt vorhandenen Welt. Also hat Anaxagoras mit dem Diktum relativer Ungleichheit zwischen erkennendem Subjekt und Objekt das Empedokleische Gleichheits-Diktum bedeutsam ergänzt. Und zwar mit folgenreichem Hinblick auf das, was die Welt an logischer, aber auch metaphysischer Evidenz sozusagen zu wünschen übrigläßt. Ist doch die logische
Crux allemal das Einzelne und Besondere im Verhältnis zum /(1027) Allgemeinen, das Viele im Verhältnis zum umfassend Einen gewesen. Eben das Einzelne und Besondere, das tatsachenhaft Viele der Erscheinungen ist für die erkenntnistheoretische Gleichung Denken-Sein ja immer ein Stein des Anstoßes gewesen und, wie hinzuzufügen ist, auf eine den Idealismus fruchtbar beunruhigende Weise. Diese Beunruhigung wurde völlig sichtbar im spätmittelalterlichen Nominalismus, als das tatsachenhaft Einzelne und Viele die »Universalien«, also die dem logischen Denken so homogen vorkommenden Gattungsbegriffe, sprengte. Der dem Idealismus ganz unaufhebbare Riß zwischen logisch allgemeiner Evidenz und faktenhafter Einzelgegebenheit wurde dann präzisiert in der Leibnizschen Unterscheidung der » vérités eternelles« mathematisch-moralisch-metaphysischer Art und den daraus unableitbaren »vérités de fait«, also den nicht logisch einleuchtenden, sondern sich empirisch aufdringenden Wahrheiten der Erfahrung. Erst Hegel hat an den abstrakt gewordenen Gegensätzen des Einzelnen und Allgemeinen die dialektische Einheit notiert, und Marx hat sie materiell erfaßt; wonach nun alles wirksam Besondere dasjenige eines Allgemeinen und alles konkret Allgemeine dasjenige eines Besonderen ist. Aber der andere Stachel der Ungleichheits-Frage, der der Nichtevidenz des vielen Einzelnen, vor allem auch der des Weltseins selber als eines keineswegs panlogischen, keineswegs kristallhaft-vollendeten, dieser Stachel ist auch materialistisch nicht verschwunden und revolutionär-materialistisch am wenigsten. Gibt es doch, wie zu sehen war, gerade in revolutionären Idealen ein Sollsein mit Evidenz (und keineswegs nur einer logischen, sondern so vermittelt wie inhaltlich humanen), das vor dem bloßen Faktum, wenn es dem Ideal inadäquat ist, die Fahne nicht herunterholt, den Degen nicht übergibt. Vielmehr ist die revolutionäre Vernunft zwar eine durch Schaden berichtigte, doch nie durch ihn vernichtete oder auch nur au fond widerlegte Antizipation. Die wirkliche Einheit von Denken (diesesfalls von revolutionärtotalem) und Weltsein muß vielmehr erst noch gefunden werden; sie ist am wenigsten dialektisch schon eine Gegebenheit, sondern im eminentesten Sinn eine dialektische Aufgabe. Bis zur Grenzlandschaft ihrer Erfüllung gilt der historische Prozeß, dessen Fortlauf ja nicht wäre, wenn nicht etwas wäre, das nicht sein /(1028) sollte. Der wahre Gedanke, der ebendeshalb noch unvollendete, ist die Kunst des rechten Wegs nach Hause in diesem Unterwegs. Aber das Erstaunen bleibt wirksam, mischt sich auf so lange in den Zug ein. Verkauft sich nur teuer, nämlich um den Preis eines verfrüht als »eigentlich« ausgegebenen Seins. Das nun desto kostbarer zu scheinen hat, obwohl es doch, angesichts des Argen, worin so viele Welt noch liegt, nur tief versuchender Vor-Schein sein kann. Ungleiches-Gleiches. Gleiches-Gleiches - bedeutsam trifft es sich nun, daß genau der erste erhaltene Satz eines der frühesten europäischen Denker schmerzliches Erstaunen des Ungleichen und danach Einklang enthält. Gemeint ist der Satz des Anaximander, er ist der Deutung auf sein Dunkel und sein gesuchtes Zuhause so fähig und bedürftig wie nicht viele spätere. Der Satz ist bei all dem Dunklen in ihm der eines Materialisten, der die Welt aus sich selber erklären wollte, eines urwüchsigen, doch keineswegs einfachen. Seine These lautet in der Übersetzung, die Diels gegeben hat (Die Fragmente der Vorsokratiker, 1912, S.15), folgendermaßen (fr. 9): «Anfang der Dinge ist das Unendliche (der ungestalte, unerschöpfliche Urstoff). Woraus aber ihnen die Geburt ist, dahin geht auch ihr Sterben nach der Notwendigkeit. Denn sie zahlen einander Strafe und Buße für ihre Ruchlosigkeit nach der Zeit Ordnung.« Das Problem dieses Satzes ist offenbar einmal die Vielheit der einzelnen Dinge (des Seienden im Plural), sodann, nach der
Notwendigkeit (vielleicht auch: Brauch), ihr Vergehen, also das sehr Un-Einleuchtende der Vergänglichkeit, besonders einschließlich des Menschen. Die «Lösung« des Problems ist zunächst bezeichnet durch Strafe und Buße, also durch eine Art Wiedergutmachung des Entstehens der Dinge in ihrer Vielheit; sodann ist in dem Vergehen der Dinge wohl auch ihre Rückkehr ins Apeiron impliziert. Wenn auch das wichtige Wort heißt, «gegenseitig einander« und nicht dem Apeiron selber Strafe und Buße zahlend) sicher nicht interpoliert ist, obwohl es bei dem Doxographen Simplikios fehlt, ist das Apeiron als letzter Rückkehr-Ort (wie später Heraklits wieder«ungeteilt«werdendes Urfeuer) trotzdem der Hintergrund dieses Zugrundegehens, zu Grunde-Gehens. Die aus ihrem Maß heraustretenden, /(1029) aber auch aus dem Apeiron herausgetretenen Sonderdinge müssen deshalb Buße, (wohl allgemeiner: Gerechtigkeit) zahlen für ihre Ruchlosigkeit, (wortgetreuer und allgemeiner: Ungerechtigkeit) nach der Ordnung, (wohl besser: jeweilige Strafnorm) der Zeit (vgl. im verblüffend verwandt erscheinenden Sinn: »Die Weltgeschichte ist das Weltgericht«). Die Dike selber, die solchergestalt nach der Ordnung der Zeit waltet, galt im Mythos, nach dem Vorgang Herodots, als eine der drei Horen, zusammen mit Eunomia, der Wohlgeordnetheit, Eirene, dem Frieden; lehrreicher aber ist: die Horen, unter denen Dike eine wurde, waren ursprünglich Luft- und Windgöttinnen, verwandelten sich dann in die der Jahreszeiten, wonach dann Dike, die auch namentlich als Tochter des Chronos, nicht mehr des Zeus aufgeführt wurde, die Gerechtigkeit der Zeitfolge, das Weltgericht als Weltgeschichte auch allegorisch leicht übernehmen konnte. Ganz eng ist gar das Gegenbild zu Dike, die von ihr verfolgte Adikia, mit Anaximanders Ungleichheits-Welt, sich erst herstellender Evidenz-Welt verbunden. Adikia, Ungerechtigkeit, ist, wie angegeben, erstens die Vielheit der einzelnen Dinge und zweitens, mit dieser Sonderung und ihrer daraus folgenden Aufblähung genau zusammenhängend, ihre Vergänglichkeit. Das führt also bei Anaximander zu dem Verblüffenden einer ganz frühen objektiven Dialektik, aber bevor darauf eingegangen wird, ist eine Versicherung am Platz, die Perspektiven-Landschaft betreffend. Nichts darf aus einem Philosophen, gar aus einem frühen, herausgehört werden, was in ihm selber nicht angelegt ist, auf belegbare Weise; es gibt keine Hermeneutik, außer einer frechen und dekadenten, also außer ihrem Gegenteil, ohne die solide Lesekunst, die im engeren Philologie heißt. Es gibt aber in einem Philosophen, sofern er bedeutend, das heißt des Kulturerbes fähig ist, dieses gerade in ihm selber Angelegte: nicht nur an Ort und Stelle gedacht zu haben, also nicht nur seine Zeit, sondern auch bleibendes Zeitanliegen in Philosophie gefaßt zu haben, in philosophische Perspektive. Andererseits würden große Denker, ja alles Große, was gebildet wurde, nur Schlaf der Vergangenheit sein, ganz überflüssig aufgeweckter oder besser: von selber Schlafenden zur Vermehrung ihrer einzigen Trunkenheit, der defaitistischen Schlaftrunken- /(1030) heit, aufgesuchter; statt daß die vergangenen Philosophen als unvergangene zitiert werden, nämlich nach ihrem Unabgegoltenen, wie es in den Zukunftsraum solch fortarbeitender Gedanken hineinwirkt. So verhält es sich also auch mit der frühen, bereits namhaft gemachten Dialektik des Lichtzeugen Anaximander, als einer durchaus belegbaren und gerade im Erstaunen über die Adikia versammelten. Entscheidend ist hierfür seine Lehre, wie die verschiedenen Dinge denn nun so vergänglich zustande kamen. Wie Warm und Kalt, Dichte und Dünne aus dem selber eigenschaftslosen Apeiron hervortraten, aber diese Gegensätze sich weiter zu den Elementen verbinden, zu Wasser, Erde, Luft, Feuer. Doch entsteht dadurch auch der Zustand einer dauernden Unausgeglichenheit dieser Elemente
untereinander, eben ein Übergriff, ein Übergewicht des einen über das andere, dergestalt, daß das Warme das Kalte verdrängen will und umgekehrt, daß das Wasser oder die Erde die Luft oder das Feuer alles andere zu unterdrücken, ihm den Platz zu benehmen droht. Oder, wie die Physik des Aristoteles ganz im Sinn Anaximanders gegen die Verbindung von Luft und Unendlichkeit bei Anaximenes sagt: »Wenn ein einziges Element unendlich wäre, würden die anderen aufgehört haben zu sein.« Nun besteht aber die Welt aus lauter wechselndem Übergewicht der Elemente und auch der aus ihnen gebildeten Sonderdinge: so daß sie in lauter dermaßen gesteigerten Unterschieden, immer neu aufgegipfelten Gegensätzen arbeitet. Hier also zeigt sich eine objektive Dialektik ganz unübersehbar, offenbar auch eine, die aus dem immer wechselnden Übergewicht von Demos und Stadtadel in den jonischen Handelsstädten das Verhältnis der kosmischen Elemente auffaßte. Das Dialektische erschien so als eine in der Zerstörbarkeit der Sonderdinge, in der Hinfälligkeit der Lebewesen, im Kreislauf des Stoffs immer wieder berichtigte, gerichtete Adikia; es zeigt sich aber ebenso in der Löschung der Adikia, nämlich im schließlichen Verhältnis der Sonderdinge zum Apeiron. Diese vergehen gerechterweise aneinander, indem der übersteigerte Unterschied ihres Sonderseins sich bis zur Vernichtung seiner selbst abreibt; die Dinge vergehen aber auch, indem ihr Sondersein insgesamt sich an einem Ende der Welt ins Gleiche stellt, in der Gegensatz- /(1031) losigkeit des Apeiron sich aufhebt. Dort ist dann der Einklang, durch die Dike erreicht, die mit der Zeit alles an den Tag bringt und eben mehr als: die es in den Tag bringt, in die Harmonie des Unendlichen. Damit klingt zugleich ein ganz ungewöhnlicher orientalischer Ton an; ungewöhnlich deshalb, weil den Griechen das Unendliche (als Ungestaltes, Unplastisches) sonst überall ein Minus war. Erst im späten Hellenismus, also eben bei ungehemmtem Einbruch des Orients, kam die Umwertung des Unendlichen gerade zur allerhöchsten, mindestens allerhöchst theologischen Kategorie. Nur bedurfte eben Anaximanders Perspektive in ein Apeiron nicht erst der falschen, späthellenistischen Patriarchenluft; der Charakter des Göttlichen, den er gerade seinem Urstoff als dem Un-endlichen gab, ruhte noch ganz unmittelbar auf der Mystik des Orients. Wobei aber bei Anaximander, als dem Materialisten, das Unendliche nirgends das Unendliche eines Gottes oder auch eines Nirwana ist, sondern allemal das eines Urstoffs, eines unbestimmten. Und darum ist hier die Feststellung des Aristoteles über dies Apeiron so sachkundig wie besonders wichtig: im unbestimmten Urstoff des Anaximander bestehe - wie in der Aristotelischen Materie-Bestimmung - alles »aus potentiell Seiendem, aktuell aber nicht Seiendem« (Metaph. XII, 2). Darüber hinaus aber gibt das früheste erhaltene Diktum der europäischen Philosophie sehr mannigfach spätere, ja letzte Perspektiven - und das, in ungeheurer Weise verfrüht, hin zu Einbringung und Frieden. Das Diktum ist mit Einsamkeit und weittragenden Gedanken geladen, es zeigt in einem ersten Begriff von Materie als Potenzialität zugleich das erste philosophische Wunsch- und Intentionsbild von Identität - gegen die Andersheit der Menschen zur Welt und der Welt zu sich selbst. Leichtheit in der Tiefe, Freudigkeit des Lichtwesens Kein Denken ohne Not, doch zuweilen wird es darum her mit einem Schlag heiter. Dies tritt bereits ein, sobald Menschen imstande sind, auch eine ungelegene Sache leicht zu nehmen. Und das Leichtnehmen weist gegebenenfalls auf ein keineswegs selbstverständliches Leichtseinkönnen in den Sachen selbst. Sein Ort /(1032) ist nicht der oft nur subjektive Witz, die nicht erwartete blitzschnelle Vergleichung von
unvereinbar scheinenden Sachverhalten, Gegenständen. Sein Ort ist vielmehr der Humor, die Bereitschaft von Sachverhalten, Gegenständen selber, in Menschen, die dazu selber bereit und vor allem fähig sind, ihre Schwere nicht mehr als so wichtig, mindestens nicht als so ausschließlich und endgültig zu haben. Beide allerdings, Witz und Humor, haben dasjenige gemeinsam, daß sie gerade in billiger und billigster Ausgabe weitverbreitet blühen. Besser: grassieren und grimassieren, gemäß dem Lachvorrat, der in der Albernheit des Subjekts zweifellos größer ist als in der objektiven Welt. Berlioz stellte sogar fest, nirgends werde so viel gelacht wie im Irrenhaus; er hätte die Juchzer und Salven dionysischer Spießerinnen und Spießer hinzufügen können. Nicht nur der tierische Ernst hat den ganzen Viehstand auf seiner Seite, auch der kleinbürgerliche Amüsierdrang und was ihm genügt. W. Benjamin bemerkte zu dem merkwürdigen Fall treffend und entscheidend, der Humor sei eine Pflanze, die sich in den Niederungen sehr zahlreich und sehr wertlos finde, die aber desto seltener und vor allem desto kostbarer werde, je höher die Lage sei, in der sie vorkommt. Der Humor, in solch edler wie in weniger edler Gestalt, wird wiederum, neben seiner höheren oder niederen Lage, in mehreren Gebieten notiert, doch neben denen der Haltungsattitüde üblicherweise nur oder fast nur in Werken der Kunst, nicht der Philosophie. Das ist desto auffallender, als die Erscheinung des Weisen, aber auch die Weisheit als solche eine Umbetonung, und gerade eine lächelnde, des Wichtigen enthalten, die seit alters wie die Wunschlandschaft eines tiefen Leichtnehmens erscheint, also dem Humor, und zwar einem besonders kostbaren, verbunden ist. Laotse der Weise warnt zwar unter bestimmten Umständen vor dem Leichtnehmen: »Das Gewichtige ist des Leichten Wurzel / Durch Leichtnehmen verliert man die Wurzel« (Taoteking, Spruch 26), aber er warnt nur vor Leichtigkeit im Sinn des Leichtsinns, ja der windigen Frivolität, die einen Herrscher »den Erdkreis leicht nehmen« läßt. Dagegen leuchtet gerade im Taoteking der Rat des Zarten, Mühelosen, Unaufdringlichen, was alles das Element des wahren Leichtseins im Gang der Dinge, in der wahren, spielenden Drehung um die wahre Mitte bedeutet. /(1033) Und der Rat leuchtet voll Unaufdringlichkeit gegen alles Aufgedonnerte, gegen den schwergewappneten und so nicht nur tierischen Ernst. Item, auch diesseits von Laotses stillstem Tao: »Daß er möglich ist, der Humor, bedeutet nicht, unter Tränen zu lächeln, in dem Sinn, daß man jederzeit aufs neue in Träumen eingesperrt, sein Leben glücklich und vornehm führen könne, indes der Grund der Welt unverändert, real traurig sei. Sondern sein Leichtmachen, Herausheben bedeutet gerade - und hier blitzt ein feiner, rätselhafter Lichtstrahl, ein nur von innen genährtes, unerklärliches, in nichts gestütztes, mystisches Wissen ins Leben herein -, daß darin etwas nicht stimmt, daß die Tränen nicht ganz ernst zu nehmen sind gegen unsere unsterbliche Seele, so entsetzlich real sie auch mitsamt dem Weltgrund erscheinen mögen, dem sie entstammen; daß der Goethische Satz: Gut Gedicht wie Regenbogen ist auf dunklen Grund gezogen, wohl für die tiefen, aber nicht für die wesenhaftesten Äußerungen gilt; daß mithin das Träumen, das scheinbar so völlig illusionshafte Hoffenkönnen, das bedeutsame, zwar beantwortete, aber in nichts garantierte Leichtsein, das unbegreiflich sich Freuen an sich, - der Wahrheit und Realität, die ja nicht der Weltgrund zu sein braucht, näher steht als all das Drückende, Belegbare, Unzweifelhafte der faktischen Umstände mit ihrer gesamten sinnlich realsten Brutalität« (Ernst Bloch, Geist der Utopie, 1918, Seite 75 f.) Die wichtige Beziehung des Humors zu freudigen, ja freudigsten Inhalten, die nur so nicht sind, als ob sie noch nicht sind, steht jedenfalls außer Zweifel, auch wenn diese Inhalte so fern sind, daß sie fast nur wider die Hoffnung selber erhofft werden können. Durchdringender Humor verhält sich sogar, als wären
die Inhalte seiner seltsam-bedeutenden Freudigkeit heimlich und noch nicht da, sondern wie ein Durchklang von Endzustand. Das auch dann, wenn die Tochter aus Elysium sehr lange nicht die Treppen heraufgeschritten kam, erst recht dann, wenn der Humor gar keine Botschaft aus Elysium zu sich braucht. Denn vor allem eben liegt dem Humor (einer seiner skurrilsten und nachdenklichsten Grenzfälle ist nicht umsonst der sogenannte Galgenhumor) keinerlei garantiertes Zuversichts-Sein oder gar ein fixes Jenseits-Sein im Raum seines Justament. Das totale Justament geht freilich nicht so weit, daß es etwa sagen /(1034) könnte: Ich wüßte nicht, daß es die vorhandene Welt gäbe, wenn es sie nicht gäbe, das heißt, wenn sie sich mir nicht empirisch aufdrängte. Aber ich weiß, daß es das ehedem unter Göttlichem Gemeinte und Bezeichnete gibt, obwohl es faktisch nichts dergleichen gibt, ja weil es faktisch nichts dergleichen gibt. Denn eine solche Bekundung wäre nicht nur reiner Idealismus, sondern ein verdinglichter, permanent gehaltener Utopismus dazu, mit Fremdheit nicht nur gegen eine inadäquat vorhandene Welt, sondern gegen jede Verwirklichung und ihre Wirklichkeit überhaupt. Gleich wie wenn das Justament sozusagen grundsätzlich, bei seiner Ehre, ein König Johann ohne Land zu bleiben hätte. Oder wie wenn jede Verwirklichung der vollkommenen Evidenz, der Evidenz des Vollkommenen einen Makel zufügte; noch weit über die bekannte Melancholie der Erfüllung, sogar über die romantische Traumverdinglichung hinaus. Aber Humor, der ja die unaufdringlichste aller Utopien ist, sie mindestens in sich hat, verdinglicht sich nicht, und sein heiteres Justament zielt nicht auf etwas außerhalb der Wirklichkeit, sondern pointiert eben in dieser einen Durchklang ihres möglichen Endzustands - voller Leichtigkeit, voller Liquor des Anderssein-Könnens, Andersseins in der Essenz, ohne Verfestigung, ohne Flucht, auch ohne alle Überweit eines lärmenden oder feierlichen Jubels. Mit einem Wort: Dem Humor eignet ausschließlich Transparenz auf jene Leichtigkeit und Friedlichkeit des Seins, die die Schwere Lügen straft. Und dieses, ohne daß die Leichtheit empirische Bestätigung in ausreichendem Umfang schon hat noch gar eine überempirische Garantiertheit (Gottvertrauen) braucht. Alles Aufheitern folgt aus dem Licht, aber geht ihm zugleich voran. Es begleitet den Aufgang sogar auf doppelte Art, einmal als besonders unbeschwertes Auflösen des Veralteten, dann als Gruß des Heraufkommenden. Das Auflösende beschäftigt sich im Alten und mit ihm nur noch fröhlich, als mit einem Land, das sich zuweilen selber dazu anläßt, unschwer, ja komisch zu verschwinden. »Damit die Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheide«, sagt hierzu Marx; dies gilt, indem selbst die blutigen Despoten, an denen eine niedergehende Gesellschaft reich ist, einen komischen Schatten werfen. Wie sehr erst gilt der heitere Abschied dort, wo wirklich großer Stoff des Vergangenen, /(1035) Veralteten sich vor dem Neuen unfeierlich, als Stoff zum Lachen, auflöst. »Die Geschichte ist gründlich und macht viele Phasen durch, wenn sie eine alte Gestalt zu Grabe trägt. Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie. Die Götter Griechenlands, die schon einmal tragisch zu Tode verwundet waren im gefesselten Prometheus des Äschylus, mußten noch einmal komisch sterben in den Gesprächen Lucians «(Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, Einleitung). Wonach also die Heiterkeit des Abschieds zuweilen einiger Nachhilfe bedarf, und diese heißt dann Satire. Hegel selber hatte, in idealistischer Dialektik, das Stichwort zum Verschwinden der jeweils abgelebten, zum Auftauchen der jeweils neuen ästhetischen Vor-Schein-Landschaft angegeben, und zwar dreifach: als Auflösung der »symbolischen Kunst« im Epigramm, der »klassischen Kunst« in der Satire, der »romantischen Kunst« in völlig ausgebrochenem Abschied durch Humor. »Der Geist
arbeitet sich nur solange in den Gegenständen herum, solange noch ein Geheimes, Nichtoffenbares darin ist... Hat nun aber die Kunst die wesentlichen Weltanschauungen, die in ihrem Begriffe liegen, sowie den Kreis des Inhalts, welcher diesen Weltanschauungen angehört, nach allen Seiten hin offenbar gemacht, so ist sie diesen jedesmal für ein besonderes Volk, eine besondere Zeit bestimmten Gehalt losgeworden, und das wahrhafte Bedürfnis, ihn wieder aufzunehmen, erwacht nur mit dem Bedürfnis, sich gegen den bisher allein gültigen Gehalt zu kehren; wie in Griechenland Aristophanes zum Beispiel sich gegen seine Gegenwart und Lukian sich gegen die gesamte griechische Vergangenheit erhob und in Italien und Spanien, beim scheidenden Mittelalter, Ariosto und Cervantes sich gegen das Rittertum zu wenden anfingen« (Werke X, S. 231 f.). Dergleichen also bezeichnet den Humor der ersten, kritischen Art (und Epigramm wie Satire sind dann nur seine spitzen oder scharf gerippten Erscheinungen); er schafft in der Tat Abschiedsraum, er setzt auch die Lächerlichkeit, die unangestrengt erledigt, tötet. Noch viel wichtiger aber, nämlich in der zweiten, positiven Art, zum Aufgang des Lichts gehörend, bleibt und wird der Humor als Land im Heraufkommenden, darin noch Geheimen, Nichtoffenbaren selbst. Hier ist es das durchaus Überraschende, daß gerade /(1036) Hegel, der doch ein gänzlich geschlossenes System aufstellte und darin gar nichts noch Geheimes, Nichtoffenbares offen ließ, dennoch dem Humor außer dem kritischen einen geradezu über alles hinausweisenden Charakter zuerkennt. Wenigstens in der Kunst und über sie hinaus, scheinbar hinaus und hinüber zur Religion, näher: zum Zurückgehen des Menschen in sich selbst; doch ist ihm der Humor als Humanismus uneingestanden ein Unabgeschlossenes überall. Er ist die Auflösung ausgesungener Verhältnisse gerade als das selber nicht Ausgesungene, als der Umgang einer schlechthin künftigen Leichtheit in der Anstrengung und Schwere des Prozesses. Das, obwohl der Erinnerungs- und Kreis-in-Kreisen-Denker Künftiges schlechthin begriffslos, lichtlos halten will: »Die Vergangenheit ist die Aufbewahrung der Gegenwart, als Wirklichkeit, aber die Zukunft ist der Gegensatz hiervon, vielmehr das Gestaltlose... es kann also überhaupt in der Zukunft keine Gestalt angeschaut werden« (Werke XIV, S.105); doch der Humor zeigt in seiner Flüssigkeit auch bei Hegel Transparenz von nicht manifest gewordener Gestalt. Von daher gerade Hegels Abneigung gegen bloß beliebigen Humor, gegen die »kecke und glänzende Schiefheit, die kometarische Welt aus Duft und Klang, ohne Kern, das Spiel in wirklichkeitslosen Tönen des hohlen Geistes«; von daher die Zuordnung des wahren Humors zu einer ganz weit hinaus liegenden Tiefe. Hegel notiert diesen Zug zu ihr, den durch keinen vorhandenen Weg bereits ganz gewiesenen, durch keinen vorhandenen bedeutenden Gegenstand bereits ganz ausgewiesenen, als »ein unbefangenes, leichtes, unscheinbares Fortschlendern, das in seiner Unbedeutendheit gerade (!) den höchsten Begriff von Tiefe gibt, und da es eben Einzelheiten sind, die ordnungslos emporsprudeln, muß der innere Zusammenhang um so tiefer liegen und in dem Vereinzelten als solchem den Lichtpunkt des Geistes hervortreiben« (Werke X, S. 228). Hegel setzt hier, mit der Funktion des Fortschlenderns, nur eine bestimmte und nicht die höchste humoristische Literatur für das utopische Leichtheitswesen Humor schlechthin, doch nicht nur die Zuordnung zu einem höchsten Begriff von Tiefe ist bezeichnet, sondern auch - was die bloße Ästhetik des Humors sprengt - zu Lichtpunkten überall. In der Tat ist es die Freudigkeit des /(1037) Lichts, die auch hier überall gegen die Schwere gestellt wird und die in diesem ganzen so zukunftsfremden System, malgré lui, immer wieder mit weiter deutender, weiter bedeutender Transparenz Bildungen der Leichtigkeit blicken läßt,
weit außerhalb der Ästhetik. Das Helle bricht überall vor, wo »der in sich gehende Nachtpunkt der negativen Einheit« positiv umschlägt. So in der Naturphilosophie: wenn das Licht als erstes »die Schwere des Außersichseins erheitert« und Bewußtsein schließlich die Rinde sprengt. So in der Geschichtsphilosophie, wenn nach der wilden Pracht des orientalischen Lichtaufgangs Griechenland »in seiner schöneren Natürlichkeit, Freiheit, Tiefe und Heiterkeit, wie die Braut aus der Kammer, hervortritt«. So in der Religionsphilosophie, wo Hegel das Lichtwesen scheinbar entronnen kulminieren lassen will: »Aller Kummer, alle Sorge, diese Sandbank der Zeitlichkeit, verschwebt in diesem Äther, es sei im gegenwärtigen Gefühl der Andacht oder der Hoffnung. In dieser Region des Geistes strömen die Lethefluten, aus denen Psyche trinkt, worin sie allen Schmerz versenkt, alle Härten, Dunkelheiten der Zeit zu einem Traumbild gestaltet und zum Lichtglanz des Ewigen verklärt« (Werke XI, S.4). Der engere Bezug zum Geist des Humors, nämlich zu einer unaufdringlichen Heiterkeit, ist hier freilich verlassen; auch kommt das feine Blitzen und Leuchten des Humors, obwohl es durchaus nicht weltzerbrechend sein kann, aus einem ganz anderen Frieden als dem, den Hegels Philosophie mit einer unvollkommenen Welt gemacht hat. Doch es wirkt eben das selber nicht Ausgesungene, also noch objektiv Utopische um all diese aufeinanderfolgenden »Lichtpunkte« (contra Schwere), zusammen mit einem positiven Element des Endzustands, ohne dessen Mißbrauch Hegels Philosophie nicht so schlecht apologetisch, ohne dessen Gebrauch sie nicht so gut optimistisch hätte sein können. Soviel hier über die zweite, positive Art der philosophisch leuchtenden Transparenz, durchaus zum Gruß eines Heraufkommenden gehörig, obwohl der Vergangenheitsdenker es in einem abgeschlossenen System begrub. Auch im Lichtpunkt Optimismus aber wird erst seit Marx die Vergangenheit nicht nur in die Gegenwart und diese wieder in die kontemplierte Vergangenheit, sondern beide sind auf den Horizont der /(1038) Zukunft gebracht. Und das beim Optativ: LeichtheitHeiterkeit-Friedlichkeit Gedachte wird durch den Marxismus nicht nur auf die Füße gestellt, sondern auf die Hände verwiesen. Denn mehr als ein Versprechen, daß all das behauptet Lichtvolle so sein könne, findet sich neben dem Wunsch, daß es so sein möge, auch von der Heiterkeit aus gesehen an den abgeschlossenen Lichtsystemen nicht. Hier darf nochmals an den Spinozismus erinnert werden, an die Welt als behaupteten Kristall, und die ungeheure philosophische Utopie muß überdacht werden, die sich als solcher Weisheit letzten Schluß so formen möchte wie formt: »Es gibt nichts in der Natur, was der intellektuellen Liebe entgegen ist oder sie aufheben kann« (Eth. V, Lehrs. 37). Solch ein Lichtsatz ist gerade in seiner Extremheit ohne empirischen Sinn, doch eben ein Versprechen ist darin impliziert, mit ihm die nicht mehr sinnfremde, wenn auch ungeheuer bleibende Extremheit der Aufgabe, das so implizierte Versprechen approximativ zu halten. Dergestalt, daß das Zuhause im Diesseits, das Diesseits jedes Zuhause, wie es im Utopischen solcher Sätze beschienen ist, durch Veränderung der Geschichts- und Weltnatur auch empirisch nicht unbewährt bleibt. An in sich gehenden oder auch weniger in sich gehenden Nachtpunkten der negativen Einheit fehlt es im empirischen Prozeß gewiß nicht, doch noch weniger an Lichtpunkten, trotz wie mittels dieser Negativa, und an Licht in Latenz. Die Landschaft des wahrhaft Wesentlichen, mit positiver Entschiedenheit seines Inhalts, ist ein gänzlich dämmernder Grenzinhalt; dieser aber steckt im materiellen Prozeß, und der Prozeß geht mit Aufheiterung seines Inhalts. Wobei die philosophischen Gesamtblicke im Wunsch nach durchdringendem Wissen ebendeshalb auch den Willen zum wahrhaft Wesentlichen mit sich führen; es ist nicht aller dieser Tage Abend, nicht aller dieser Morgen Tag. Die Philosophien
sind ihre Zeit, in Gedanken ausgedrückt, doch ihre großen Themen liegen deshalb, weil sie in einer einzigen Epoche nie erschöpfbar, nicht einmal ganz formulierbar sind, weit über die jeweilige Zeit, auch Gesellschaft hinaus. Sie liegen im Zeitanliegen, Prozeßanliegen überhaupt - und das zentralste dieser Prozeßthemen heißt: Verum Bonum. Der Mensch als Frage danach, eine Welt als Antwort darauf: Das ist, wiederum suo genere geographisch, /(1039) die Wunschlandschaft in Philosophien. Einzig die Wahrheit des Wesens im Durchbruch ist ihr Weg und Ziel, als die ohne Illusion erfreuliche.
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ACHTSTUNDENTAG, WELT IM FRIEDEN, FREIZEIT UND MUSSE
Blicket hinan: der Schornstein raucht. Brecht Ich habe mich durch Erfahrung von der Wahrheit des Spruches in der Bibel überzeugt und ihn zu meinem Leitstern gemacht: Trachtet am ersten nach Nahrung und Kleidung, so wird euch das Reich Gottes von selbst zufallen. Hegel, Brief an Major Knebel, 30. August 1807 Selbst in nördlichen Gegenden, wenn wir wenigstens auf das Beispiel der ältesten und meisten Völker sehen, scheint es, der Mensch soll sich durch die Not nicht zum Lasttier herabwürdigen lassen, sondern mit dem wenigen, das die Natur ihm dort geben kann, zufrieden sein oder auswandern; und wenn irgendwo Arbeit von einer Betglocke bis zur anderen, falls man leben will, Bedingung ist, so sind daran nur fehlerhafte Staatsverfassungen und Staatsverwaltungen, eine daher rührende verhältnislose Verteilung dessen, was die Natur hinreichend für alle gab, und erkünstelte Bedürfnisse schuld, die die Natur zu befriedigen nicht schuldig ist; und die wunderliche Grille kann nur in den Predigten und Katechismen des kostbaren christlichen Nordens einfließen, daß auch noch in dem ewigen Leben keine Ruhe sei, vielmehr die Kräfte an höheren Gegenständen in weiteren Wirkungskreisen fortgeübt werden sollen. Die Paradiese der Morgenländer haben nichts davon, und einer, der besser als wir wissen muß, wie es dort aussieht, setzt die Seligen nicht abermal zum Beispiel an einen Webstuhl, sondern mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tische. Johann Peter Hebel, Die Juden Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Marx, Das Kapital, III /(1040)
Die Peitsche des Hungers
Kehre man wieder auf einen schlichteren Fleck zurück. Auf den Boden zu unseren Füßen, der meist ein harter ist. Im bisherigen gesellschaftlichen Leben lebt das Leid, das am stärksten nach Abhilfe verlangt und sie am genauesten träumt. Hunger zwingt zur Arbeit, aber diese Arbeit zehrt auf ihre Weise genau wie der Hunger. Der
Unternehmer, der für seinen Profit emsig ist, weiß nicht, was diese Sorte Arbeit ist, als die des Knechts; die Künstler und Forscher wissen, obzwar aus anderen Gründen, es ebensowenig. Denn sie ist Fron, aufgezwungene, für fremde Zwecke aufgezwungene; diese Fron kennen im ganzen öden Umfang nur der Prolet und der Angestellte. Die Arbeit ist zudem eintöniger geworden als früher, wo immerhin noch ein ganzes Stück mit Liebe zu machen war. Ein Stück, das dem Handwerker das Vergnügen gab, geschafft und kunstgerecht vollendet zu werden. Der Arbeiter dagegen, der durch die Teilung der Arbeit das ganze Stück immer mehr aus den Augen verlor, macht nur einen Teil, tagaus, tagein denselben Teil derselben Schraube, ohne Liebe, mit Haß, gemildert nur durch Verödung, und mit demselben Handgriff. Erwünscht war es von je, aufgezwungene Arbeit abzuschütteln, mindestens die Zeit, die dafür verwendet wird, zu verringern. Doch dergleichen gelingt abhängigen Leuten nie oder nicht lange. Aus den Kasematten der Bourgeoisie Mußte der Arme doch jeden Bissen allemal erst sauer verdienen. Der Herr ist dadurch einer, daß er den Knecht auspreßt, von seiner Arbeit lebt. Mit den Gütern, die der Arbeiter über seinen eigenen (höchst gering gehaltenen) Bedarf hervorbringt, bestreitet der Herr seine Muße; Diese Ausbeutung teilte seit Beginn des Eigentums an einem Pflug, einem Acker die Menschen in zwei Arten, zwei Klassen, und sie ist breiter, strenger geworden als je. Wenn der Fortschritt im Guten und Glücklichen geschichtlich oft fragwürdig ist, so nicht der der Auspressung; sie geschah im großen ganzen immer dürrer und unverschämter. Der griechische Sklave wurde besser gehalten als der Leibeigene /(1041) und dieser besser als der moderne Lohnarbeiter. Denn der Sklave war wenigstens das Vieh seines Herrn, so wurde er gefüttert und hatte seinen Stall. Der Leibeigene dagegen hatte für sich selbst zu sorgen, sofern ihm dafür Zeit blieb und der Dorfbesitzer eine Schüssel übrigließ. 1525 hing der deutsche Leibeigene, der sich die Freiheit eines Christenmenschen genommen hatte, am Strick. Oder er stolperte mit ausgestochenen Augen, ausgerissener Zunge so lange durchs Heilige Römische Reich, bis er in einem Straßengraben verreckte. Selbst die Lage der Handwerksgesellen näherte sich im ausgehenden Mittelalter der der Bauern, und zwar im gleichen Maß, wie der Meister aus einem patriarchalischen Vorarbeiter zum frühkapitalistischen Ausbeuter wurde. In Danzig wurden gegen 1500 streikenden Gesellen die Ohren abgeschnitten, in Florenz wurden sie vom Henker gebrandmarkt und aus der Stadt gestäupt. Individualität bahnte sich nur in den höheren Schichten an, ausgehend vom Kaufmanns- und Fürstenkapital, doch unten herrschte die heilsame Bindung. Der Überwinder gestand durchaus nicht allen Erdenkindern, daß höchstes Glück die Persönlichkeit sei; auf den Traum von ihr standen Folter und Tod. Bis nun gar die Freizügigkeit begann, der Mensch als freier Besitzer seiner Arbeitskraft. Als gleichberechtigter Partner des Arbeitsvertrags, den er mit dem Kapitalisten schließt; Auge in Auge, Zahn um Zahn. Es kamen die von Engels beschriebenen Segnungen des ersten Industrie-Zeitalters; nach Sklave, Leibeigenem, mählich verschlucktem Handwerksgesellen erschien der Proletarier. War die Lage der arbeitenden Klasse bis dahin elend, so wurde sie nun höllenhaft; das Proletariat um 1800 begann auf der Stufe des Galeerensträflings. Oft wurden schon vierjährige Kinder zur Arbeit gezwungen, in dunklen Bergwerksstollen oder in den feuchtheißen, stinkenden Baumwollfabriken, das gewöhnliche Alter zum Arbeitsanfang war das achte bis neunte Lebensjahr. Die Arbeitszeit für Kinder dauerte sechs bis zehn Stunden, vom
dreizehnten bis zum achtzehnten Lebensjahr steigerte sie sich auf zwölf Stunden, Frauen und Männer über achtzehn Jahre standen für ihre Profitmacher von fünf Uhr morgens bis acht Uhr abends, oft länger, an der Maschine. Die Frauen stillten ihre Kinder, während sie die Maschine bedienten, es gab keine /(1042) Pausen für Nahrungsaufnahme, der armselige Lohn ging ohnehin großenteils für Miete drauf. Gegen jede Änderung der Hölle stemmte sich das Kapital, konservativer als je ein Feudalherr; Profit bleibt unerbittlich. Als man Kinder unter neun Jahren aus Baumwollspinnereien herausnehmen wollte, weil die Eisengießereien, die keine Kinder verwenden konnten, philanthropisch wurden, bewiesen die frommen englischen Textilfabrikanten, die Spinnerei müsse zugrunde gehen, wenn sie nicht der kleinen Arbeitskräfte sich bedienen könne, »die mit Leichtigkeit unter den Maschinen herumkriechen und hier die Reinigung vornehmen, dort die Fäden anknüpfen können«. Unwichtig für Kirchgänger, daß viele der kleinen Arbeitskräfte durch Unfall umkamen; uninteressant fürs klassische Land der Demokratie, daß aus der schwindsüchtigen oder skorbutmäuligen Belegschaft nur ein Bruchteil ,das vierzigste und keiner das fünfzigste Lebensjahr erreichte. Jonathan Swift, der sein England kannte, machte bereits hundert Jahre vorher, als noch keine Industrie um sich fraß, den anders beißenden Vorschlag, man möge, um dem Kinderelend zu steuern, die Leibesfrucht der Armut für den Tisch der Reichen mästen. »Die Eltern sind danach für ihre Mühe belohnt, die lieben Kleinen versorgt, und überdies wird einhellig versichert, es gebe für eine wohlhabende christliche Tafel nichts Besseres als ein gut genährtes fettes sechsjähriges Kind.« Dieser Vorschlag, als Eingabe ans Parlament stilisiert und mit vielen Bibelzitaten geschmückt, war prophetisch; die Industrie fraß sogar Kinder unter sechs Jahren auf, und durchaus nicht wohlgenährte. Die Eltern der Kleinen allerdings, sie waren trotzdem nicht versorgt. Obwohl sie, was Swift nicht vorhersehen konnte, auch noch der Segnungen des britischen Handels teilhaftig wurden. Der Arbeiter mußte nämlich seine sechs Stunden Freizeit dazu verwenden, daß er den ihm ausgezahlten Lohn nochmals verdienen mußte, soll heißen: er erhielt, in den Anfängen dieses Kapitalismus, seinen Lohn sehr oft nicht in bar, sondern in Sachgütern, in Erzeugnissen der eigenen Fabrik, in Regenschirmen und dergleichen, die er erst mühsam auf dem Markt zu Geld machen mußte. Welch sublime Form, aus dem Lohnsklaven noch eine unbezahlte Verkaufskraft herauszuschlagen; selbst der /(1043) Lohn diente im sogenannten Trucksystem noch dem Profit. Einziges Mittel, das beispiellose Elend zu vergessen, war der Schnaps; zuweilen brach wilde Verzweiflung aus, Maschinen wurden zertrümmert, Fabrikanlagen in Brand gesteckt, - mit wenig anderem Effekt als der Todesstrafe, die seit 1811 auf solchen Konvulsionen stand. Engels hat in seiner Schrift: «Die Lage der arbeitenden Klasse in England« diese Lage selber sprechen lassen, mit dem Ergebnis: »Dem aufsteigenden Kapitalismus ist zwar nicht, wie er versprochen hat, das größtmögliche Glück, aber das größtmögliche Elend der größtmöglichen Anzahl gelungen.« Eine dämonische Welt ging auf, jenes bis ins Letzte genaue Anti-Schlaraffenland, das die Kapitalisten brauchen, um sich ihre eigene relative Schlaraffia zu bereiten. Oder wie das Marx zusammenfaßt: «Es wird in der kapitalistischen Gesellschaft freie Zeit für eine Klasse produziert durch Verwandlung aller Lebenszeit der Masse in Arbeitszeit.« Unlösbar sind Elend und großes Geschäft verbunden, Slum und Hunger mit der kapitalistischen Entfeßlung der Produktivkräfte. Der Profittrieb hat sich in der kapitalistischen Gesellschaft verabsolutiert; früher eine Geißel, wurde er nun zum Menschenfresser, früher ein Mittel im Dienst feudaler Konsumbedürfnisse, wurde er nun ein schlechthin
unbegrenzter Selbstzweck. Und hat sich das größtmögliche Elend der größtmöglichen Anzahl in der Epoche des Hochkapitalismus, dann Imperialismus streckenweise geändert, dann nur während jeweiliger Konjunktur. Die immer tiefer gehenden Krisen, gar der steigende Massenmord im Geschäft der Kriege zeigten, daß das kalte Herz der kapitalistischen Wirtschaft seine Temperatur nicht verändert hat, noch objektiv verändern kann. So wird durch den Krieg alles wieder aufgeholt, was an Elend vorher etwa versäumt war, und mehr dazu - nach dem Gesetz des Maximalprofits. Noch um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, also kurz vor der industriellen Revolution, galt in England der Zehnstunden-Arbeitstag als normal. Dagegen bedurfte es, nach dem Sieg der Bourgeoisie, riesiger Kämpfe, bis endlich 1847, hundert Jahre später, auch nur dieses ältere Maß wiederkam, Stufe für Stufe erkämpft. Und die Zehnstundenbill von 1847 (bei bedeutend intensiver gewordenem Arbeitstag) wurde gewiß nicht aus Humanität akzeptiert. /(1044) Sondern selbst wo diese sich zeigte, im sentimentalen Schimmer, wie er reichem Bibelvolk so wohl ansteht, war sie größtenteils nur das kluge Produkt eines besonderen Interesses und einer Beobachtung, die sich gerade der Fabrikantenklasse aufdrängte. Es ergab sich nämlich, daß die Qualität der Arbeitsprodukte infolge der Degeneration der Fabrikbevölkerung stetig sank, folglich konkurrenzunfähig wurde im Vergleich mit Ländern, die erst kürzlich den Raubbau begonnen hatten. Die Verschlechterung des Matrosenmaterials für Handels- und Kriegsmarine kam hinzu; auch die Peitsche, die auf englischen Schiffen so lange regierte, konnte Schwindsucht und Skorbut nicht heilen. Der englische Familienblattroman hatte die Slums errötend »die Wohnungen des Lasters und der Armut« genannt; nun aber waren sie auch Gefahren des Profits geworden. So wurde Philanthropie fast unvermeidlich, nach all ihrer christlich-industriellen Vergessenheit, das Interesse machte Philanthropie unvermeidlich. Der Zehnstundentag wurde wieder normal, er bildete freilich auch die Grenze des Entgegenkommens, die immer wieder anfällige, nur widerwillig anerkannte. Gar ein Subversives wie der Achtstundentag stand außerhalb der menschlichen Gesittung; er entfloß der Faulheit und Geilheit, er bekundete nur »the awful growth of selfishness among the mass of the people«. Noch 1887, zum Schluß des sogenannten Haymarket-Aufruhrs in Chikago, wurden vier Arbeiter gehenkt, deren Schuld gewesen war, den Achtstundentag zu proklamieren. Das amerikanische Durchschnittspublikum hielt sie für gemeine Verbrecher. Bis endlich die erstarkende Arbeiterbewegung der Menschenliebe einen neuen Impuls gab, einen noch unangenehmeren als sinkende Konkurrenzfähigkeit und verschlechtertes Soldatenmaterial. Als Zentrum der Arbeiterbewegung galt damals Deutschland, seine Sozialdemokratie erweckte wenigstens mit Erfolg diesen Eindruck, das Sozialistengesetz hatte nichts geholfen, statt dessen empfahl sich nun der Oberschicht, nach altrömischem Rezept panem et circenses der Plebs hinzuwerfen, dergestalt, daß man revolutionäre Akte durch Abschlagszahlungen zu verhindern hoffte. So entstand die ausgebreitete Sozialgesetzgebung unter Wilhelm II. (England, von seiner Labour Party unerschreckt, gar Amerika folgten sehr langsam nach), /(1045) und zuletzt sollte 1918 eingewickelt werden, bevor man es erstickte. Achtstundentag war die Minimalforderung des klassenbewußten Proletariats; es blieb nichts mehr übrig, als ihr zwinkernd nahezutreten. Da kam aber die Krise und brachte noch viel mehr kapitalistische Freizeit, nämlich die Erwerbslosigkeit. Da kam zuletzt die Erbschaft aus Krise und keiner Revolution: der Faschismus, und er brachte wieder den Zwölfstundentag ans Licht. So ist der Zirkel, so mußte er schließlich geraten: Antreiberei zur Kriegsproduktion, mit Massengrab als Erholung; Erwerbslosigkeit im Frieden, mit Hungersnot als Lohn.
Allerhand Milderung durch Wohltat Wenigstens hat der Arme den Vorteil, schmutzig auszusehen. Er bietet keinen schönen Anblick, er wirkt vorwurfsvoll, auch wenn er schweigt. Der Arme darf ans Herz, doch freilich nicht an den Beutel greifen; letzteres tut der Herr, um das Elend, von dem er lebt, zu mildern. Vorzüglich dann, wie bemerkt, wenn das sentimentale Gefühl wirtschaftliche Interessen begleitet und verschönt. Auch beschreibt die herrschende Klasse, mit diesem Gefühl, das häßliche Dasein der Armut oft recht genau, sie prangert, von Zeit zu Zeit, die Roheit der eigenen Vertreter an, nämlich als eine dumme. Der Kluge gibt milde Gabe, sicher milde Gesinnung, die über Acht-, ja Zweistundentag mit sich reden läßt, und über Glück für alle, als schönen Traum. Liberale Bourgeoisie nimmt Bedürftigkeit bewegt zur Kenntnis, teils um des Unterhaltungsstoffs willen, teils um sie zu reformieren. Letzteres mit Hausmitteln, die den Fonds keinesfalls unterwühlen, den Fonds des Reichtums, aus dem doch die wohltätige Gabe kommt. Schriftsteller des guten Herzens und mit einem ästhetisch beunruhigten Blick aufs Elend fehlten dem großen Geschäft nie, am wenigsten in England. Galsworthy, selber eine kapitalistische Fregatte, beschreibt derart in einem Roman, der als lucus a non lucendo »Jenseits« heißt, ein Stück gegenwärtiges London fast so, wie es Engels beschrieben hatte, mindestens ein London, das geblieben ist wie zu Engels' Zeit: »Der Weg zur Burgstraße führte durch enge Nebengassen, wo das Elend der Welt zur Schau stand, wo krank aussehende Männer, zerlumpte, /(1046) erschöpfte Frauen, gespenstische kleine Kinder im Rinnstein und auf Hausschwellen durch jeden Zug ihrer kalkweißen Gesichter, jede Bewegung ihrer unterernährten Körper verkündeten, wie fern das Tausendjährige Reich noch sei; wo die ärmlichen, schmutzigen Häuser in einem Zustand dauernden Verfalls waren, wo ebensowenig Schönheit vorkam wie in einem Kanal.« Diese Vermissung der Schönheit bewirkt aber nichts anderes, als daß die Heldin des Romans, die ergriffene Heldin, übrigens auch Parforcereiterin und Freundin Polyhymnias, einen - Kindergarten gründet. Das eben ist Reformismus oder Befreiung des Proletariats durch die Reiter, die auf ihm sitzen. Genug davon, genug über eine Philanthropie, welche jammert, ja anklagt und gleichzeitig den Stoff der Anklage herstellt. Wie beweglich, mit wieviel rhetorischem Cant, äußert sich der patriotische englische Historiker Macaulay über die Greuel der Ostindischen Kompagnie, über Ausbeutungsbestien wie Warren Hastings und Nachfolger, über den Jammer der indischen Masse: »Sie waren gewohnt, unter Tyrannen zu leben, doch nicht unter solchen. Sie entdeckten, daß der kleine Finger der Ostindischen Kompagnie mehr Druck ausübte als die ganze Faust des Großmoguls. Die englische Regierung glich eher einer aus bösen Geistern als aus menschlichen Tyrannen. Die Sänfte eines englischen Reisenden wurde oft durch verlassene Dörfer und Städte getragen, welche die Kunde von seinem Nahen verödet hatte.« Der Verstand aber, der solche wahrheitsgemäßen Schilderungen hervortreibt, ist allemal so scharf wie ein Meißel aus Seife, und er geht so unbeirrbar auf den Grund der Sache wie die Patronesse einer Wohltätigkeitssoiree; doch er entwickelte jene ehrfurchtgebietende Gerissenheit, welche die Verbrechen an Kolonialsklaven durch Schnapsexport zu lindern gedenkt, und am heimischen Proletariat durch Chloroform. Das ist jene besonnene Technik des Tausendjährigen Reichs, welche eine ergriffene Bourgeoisie der Sozialdemokratie aller Länder vermacht hat. Ohne daß das Millennium merklich näher gekommen wäre, das Galsworthy mit Recht in den Londoner Slums vermißt. Der Wolf nimmt die Stimme der Großmutter an, das
Krokodil weint Tränen, die Gestapo übt Winterhilfe, die Wallstreet kämpft für die freien Völker. Und eine unsägliche Menge von Kleinbürgern, durch /(1047) keine Erfahrung klüger geworden, auch geistig von der Hand in den Mund lebend, glaubt immer noch, ja fast mehr als je, an die Lügen, Phrasen und Entstellungen, die nicht nur der alte Faschismus erfunden hat, sondern die ein neuer Faschismus, zum gleichen Ziel, um seine sogenannte atlantische Freiheit vermehrt. Wobei liberal Abgestandenes nun völlig pervertiert und Gift geworden ist, derart, daß hier der Unterschied zwischen West und Ost aus dem zwischen Kapital und Arbeit zu einem zwischen angeblicher Freiheit und angeblichem Zwang umgefälscht wird. Unterstützt sieht sich dergleichen von einer Sozialdemokratie der sanften Heinriche, die so sanft gar nicht sind, wenn es gegen diejenigen zu schießen gilt, denen die Freiheit keine Phrase und die Revolution keine Schnecke ist. Alle diese Milderungen des Elends ersticken das Bewußtsein des Elends und dessen, was es wendet, erst recht in seinem Sumpf. Ein bewährter Zuschuß hierzu ist auch noch das Innenleben, das gänzlich unpolitische, wie es die Söhne und Töchter gebildeter Stände, vor allem in Deutschland, so lange gepflegt und so jäh gebüßt haben. Aus der Muße, die man einigermaßen vor den Arbeitern voraus hatte, und aus dem bißchen Licht, das die Gewohnheit der Bildung hätte verleihen können, wurde so selber ein Fonds, um die eigene Ahnungslosigkeit zu vermehren und die allgemeine zu unterstützen. Einen Galsworthy oder seine übrigen europäischen Anverwandten kannten diese mittleren Gebildeten recht oft und recht gern, aber von einem Engels hatten sie kaum den Namen gehört, und bei der Gelegenheit Marx fiel ihnen nur der Vers ein, politisch Lied sei ein garstig Lied, oder der Satz, die Menschen seien keine Engel. Dergleichen gehörte nicht einmal zu den Sternschnuppen, geschweige zu den Sternstunden der Menschheit, an denen die Gebildeten, die nicht alle werden, sich ergötzten. So hatten alle die social workers und anderen Vereine gegen Haus- und Straßenbettel ein gutes Gewissen, sie machten es sich und ließen es sich machen. Bis die größte Milderung des Elends Hitler hieß und erst recht von spirituellen Werten sprach. Es zeigt sich, eine Räuberhöhle kann nicht reformiert, sie kann nur ausgehoben und ursächlich vernichtet werden. Mitsamt dem billigen Mitleid und der Philanthropie über christlichem Raubmord. Erst die Aktion macht wahr, was in den sentimentalen /(1048) Büchern vorgeheuchelt wird, erst die revolutionäre Gewalt macht Platz für gebildete, ausgebildete Freundlichkeit. Bürgerlicher Pazifismus und Friede Das Halbe rächt sich sogar am edelsten Traum, den der Bürger pflegte. Es ist der alte vom ewigen Frieden, einem echten mütterlichen utopischen Ziel. Aber die Mittel zu ihm waren seit je die untauglichsten, und der Boden, worauf die Sache gedeihen sollte, war ein unveränderter Blutacker. Eine in sich selbst auf Kampf gestellte, wesenhaft antagonistische Gesellschaft kann keinen ewigen Frieden gründen. Trotz aller Neigungen dazu im Volk und zuweilen sogar oben, so lange wenigstens, als der Bourgeois reibungslos verdient. Wunsch nach Frieden aber, als unbedingter, ist nur dem Bauern, Arbeiter, Kleinbürger natürlich, als der geborenen und nicht unabkömmlichen Anwärtern aufs Grab des unbekannten Soldaten. Der Wunsch wird desto natürlicher, je genauer er sich mit der Einsicht verbindet, für fremde Interessen sterben zu sollen. Die sich nur notdürftig mit der Sache des Vaterlands maskieren, das war hier: mit imperialistischen Zwecken einer Minderheit. Der Kampf um Freizeit verbindet sich dann ohne weiteres mit dem Kampf gegen die gefährlichste und unmenschlichste Antreiberei, gegen die des organisierten Mords. Die regierende
Bourgeoisie jedoch hatte nur auf irreguläre Weise Epochen, wo sie sich dem Krieg zu entfremden schien. Besser gesagt, wo sie ihn lediglich auf Kolonialboden anwandte, gegen Philippinos, indische Bergstämme, Kongoneger und dergleichen. Mit Großmächten dagegen suchten vor allem die angelsächsischen Kapitalländer, als die eingefahrensten, an die Technik des zähen Verhandlungsbetrugs oder Vertragsinstruments gewohnten Kapitalismen, lange Zeit Ausgleich, Politik der offenen Tür. Nicht ohne Grund hatte so England, die Heimat des Kompromisses, das feudale Waffenpathos durch Zivilgeist scheinbar besiegt oder aus der Verfassung ausgeschaltet. So entstand jene trügerische und vorübergehende Spielart, die man Börsenpazifismus nennen kann: Krieg in oder mit Europa erschien zu riskant und selbst im Fall eines Siegs geschäftlich zu verlustreich, um ernsthaft gewagt werden zu können. /(1049) Bezeichnenderweise hat derart die angelsächsische Soziologie, weit über die Viktorianische Epoche hinaus, Krieg und Feudalität, Krieg und Junker, Krieg und Samurai fast gleichgesetzt. Spencers Soziologie bemüht das volle Rüstzeug ihrer sogenannten Entwicklungslehre, um zu beweisen, daß der Krieg lediglich zum primitiven und feudalen Zustand der Gesellschaft gehöre, zu Zwang, Bevormundung, merkwürdigerweise auch zu der sonst wenig feudalen Zentralisation. Der industriellen Periode dagegen entspreche es aus eigenstem Interesse, den überalterten Militarismus wie einen Fremdkörper auszuscheiden - Krieg sei ultima ratio der Könige, nicht der Bürger. Aus Soll und Haben somit, mindestens aus Haben ließ die Anstandslehre der Spencerschen Soziologie die weiße Taube fliegen; friedlicher Wettbewerb, wie man zu sagen pflegte, verbindet die Kontore. Auf solcher Grundlage also breitete sich, unter Führung Englands und eines früheren Nordamerika, bürgerlicher Pazifismus aus. Wohlmeinend und ungenau, kurzatmig und aus Mißverständnissen seiner selbst zusammengesetzt, auch noch als quasi-peace in our time brauchbar gewesen, zwecks Duldung, ja Beförderung Hitlers. Denn der Kapitalismus ist gewiß nicht das so beschaffene Lamm, als das die Spencer-Soziologen ihn hinstellten, und Risiko schreckt den Unternehmer nicht, wenn vernichtete Konkurrenz das Ziel ist. Selbst der angebliche Militarismus an sich, wie er aus vorkapitalistisch-feudaler Vergangenheit sich in Deutschland und Japan erhalten hatte, wäre längst zu einem Paradestück zurückgegangen, hätte er nicht gerade in diesen beiden Ländern den frischsten imperialistischen Auftrag hinter sich gehabt. Krieg und Frieden also sind im monopolkapitalistischen Zeitalter keine Gegensätze mehr; sie stammen beide aus dem gleichen Geschäft, gerade aus diesem, der moderne Krieg selber kommt aus dem kapitalistischen Frieden und trägt dessen schreckliche Züge. Kampf um Absatzmärkte, Konkurrenzkampf mit allen Mitteln sind dem Kapital eingeschrieben, so kann es keinen ewigen Frieden halten, so bilden die Imperialismen notwendig die Explosionsatmosphäre eines dauernden Vorkriegs, und die Kriegserklärung selber (sie kann neuerdings auch fehlen) wird bloße Auslösung. Erst ein sentimentaler, dann ein liederlicher, dann ein spitzbubischer Idealismus kann also auf bürger/(1050) licher Herrenhöhe die Friedenspflanze begießen; sie verdeckt hier nur die Vorbereitungen zum Überfall, si vis bellum, para pacem, if you want fascism, speak about freedom. Ja gerade der Zivilgeist ist im Spätkapitalismus so identisch mit Großbombern geworden, daß erst der Imperialismus, als letzte kapitalistische Phase, den Krieg auf die Vollendung gebracht hat, die man total nennt. Die diversen Wallstreet-Kriege sind total nicht bloß, weil sie keineswegs mehr nur zwischen Heeren geschehen, sondern weil sie sich das Wehrlose besonders heroisch zum Opfer aussuchen. Die gefüllten Kirchen, die Frauen und Kinder hatten vor den Ritterheeren nicht gezittert, aber vor dem Furor der imperialistischen Bougeoisie,
gerade vor dieser, finden sie keine Gnade. Item, es ist nicht nur spitzbübischer Idealismus, es ist pure Gaunerei geworden, was im Schoß der Großbourgeoisie an Pazifismus übrigbleibt und die Aggression verdammt, die im Weißen Haus, im Vatikan, von lauter Börsengängern, Tartuffes, Francopfaffen selber fabrizierte. So gedeiht der Friede auf kapitalistischem Boden wie ein Lamm im Schlachthaus; der Friedenstraum ist kapitalistisch so wenig erfüllbar wie der von Menschenliebe überhaupt. Gewiß, Kriege sind nicht unvermeidlich, wenn eine einheitliche, hinreichend starke Aktion ihrer prospektive Opfer eingreift, aber sie bleiben auch dann als ständige Drohung, ein bloßer Nicht-Krieg bestenfalls, unter Hängen und Würgen, dessen Erhaltung ständige Wachsamkeit erfordert. Ursächlich entfernt erst der Sozialismus den Krieg und den Keim, den jeder kapitalistische Friedensschluß zu neuen Kriegen trägt. Der Friede ist keine Parteisache, er ist im Zeitalter seiner ständigen Bedrohung eine Menschheitssache par excellence, doch einer Menschheit ohne Nimrods. Der Wille zur Freizeit vom Krieg, also zur pazifistischen Muße, kommt erst ganz zum Zug zusammen mit jener Bändigung des imperialistischen Maximalprofits, die schließlich seine Abschaffung heißt. Sonst wird die Abwesenheit, gar Unmöglichkeit von Angriffskriegen aus einem höchsterwünschten Zustand nie ein normaler. Das kommt also auch hier heraus, sobald man den Bock zum Gärtner macht. Dabei mußten die Böcke selber gestehen, daß der Friede ein alter Traum sei, wenn auch für sie kein schöner. Der Ruf der Berta von Suttner: «Die Waffen nieder« bewegte /(1051) sich in einer so alten, vor allem oft gemalten Sehnsucht, daß der Pazifismus fast die Überlieferung einer eigenen Utopie besitzt. Einer Utopie, die, wenn sie auch zuweilen in den sozialen mit enthalten ist, doch keineswegs mit ihnen zusammenfällt. Denn der Friedenstraum findet sich gerade bei Schriftstellern besonders ausgeführt, die gar keine ausgeführten Entwürfe zum besten Staat hinterlassen haben; so bei den altisraelitischen Propheten, so bei Kant. Ebenso gehört er zum revolutionären Naturrecht: Grotius, als Begründer des Völkerrechts, malt den Frieden eben als normalen Zustand. Und der Friedenstraum war, bevor er auf den Börsenpazifismus kam und seinen Schein, der jungen bürgerlichen Aufklärung nahe und ihrer Verbrüderung gegen Fürsten, gegen Herren- und Religionskriege. Die gesamte Ironie des kapitalistischen Schicksals gehörte dazu, um gerade die Französische Revolution, mit dem Volksheer, das sie zu ihrer Verteidigung bilden mußte, zum Ursprung der allgemeinen Wehrpflicht zu machen. Am eindringlichsten erschien pazifistische Utopie bei Kant und eben nicht in sozialutopischem Zusammenhang, sondern ihr Licht wurde an der Moralität angezündet. Der Entwurf »Zum ewigen Frieden«, 1795, billigt der Politik keinen Schritt zu, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben, als der unbedingt gebietenden. »Die Politik sagt: Seid klug wie die Schlangen; die Moral setzt (als einschränkende Bedingung) hinzu: und ohne Falsch wie die Tauben« (Werke, Hartenstein, VI, S.437); die Vereinigung beider sei schwierig, aber eine Forderung, über die, nach Kant, kein Streit möglich ist. Moralische Politik, politische Moral gewönnen dann den ewigen Frieden, sobald der Staat bei allen großen Völkern gestaltet ist, als wäre er durch einen freiwilligen Vertrag seiner Subjekte zustande gekommen. Die so entstehende Verfassung ist die republikanische, sie allein hat »außer der Lauterkeit des Ursprungs, aus dem reinen Quell des Rechtsbegriffs entsprungen zu sein, noch die Aussicht in die gewünschte Folge, nämlich den ewigen Frieden« (1. c., S.417). Doch hat Kant, wenn er nun gar auf eine einzige Weltrepublik hinausgeht, trotz alles Rigorismus der Moralität gebrannten bon sens genug, um sich unter den bestehenden Raubstaaten mit einem Ersatz zu begnügen:
dem Völkerbund. »Für Staaten, im Verhältnis untereinander, kann es /(1052) nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustand, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie, ebenso wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen (freilich immer wachsenden) Völkerstaat, der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden. Da sie dieses aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen,... so kann an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs« (1. c., S.423 f.). Dieser Pessimismus unterscheidet sich immerhin von der Vertrauensseligkeit jener Pazifisten, die in einer amerikanischen »Weltrepublik« den Frieden gefördert sahen und nicht die Rüstungsindustrie. Der Pessimismus Kants, in Ansehung seines Friedenstraums, stammt freilich nicht nur aus der wahren Einschätzung der rechtscheuenden Staaten, sondern ebensosehr aus dem Dekalog und den Propheten. Beide richteten sich ohne Illusion an den Menschen, der dem Menschen ein Wolf geworden ist; der Dekalog mit dem scharfen Gebot: »Du sollst nicht töten«, der Prophet Jesajas mit der äußerst fernen Verheißung: »Ihre Schwerter werden sie schmelzen zu Sicheln und ihre Lanzen zu Pflugscharen.« Das ist messianisch, und es hat nicht den Assyrerkönig und gewiß auch nicht die heutigen Baalspfaffen mit dem Friedensreich betraut oder damit vermengt. Dergleichen eben kann nur der »Verteidigungsgemeinschaft» der Wölfe zustoßen, dem Pazifismus des Betrugs, des gleichen, der den Angegriffenen zum Angreifer umlügt und die Atombomben zur Rettung der Zivilisation fabriziert. In Summa: Der alte Friedenstraum setzt fast noch zwingender als jedes andere Element der Sozialutopie klare Träger und Berichtigung voraus. Bereits im ersten Weltkrieg, als man nur erst auf die preußischen Junker blickte, wurde es einleuchtend: Pazifismus besteht nicht darin, bestehende Kriege um jeden Preis zu beenden, sondern künftige ursächlich zu verhindern. Im zweiten Weltkrieg, der nicht abgeschlossen ist und den Aggressor nur von Berlin nach Washington verlegt hat, wird es offenbar: Der /(1053) Militarismus, so sehr er sich, wie in Preußen oder Japan, auf brutal erhaltene Junker stützen konnte, kommt nicht aus feudaler Barbarei, sondern aus den modernsten Eigentumsverhältnissen, und die ursächliche Verhinderung künftiger Kriege gelingt auf die Dauer nicht ohne dauerhafte Behebung der monopolistischen Interessen. Die Lanzen werden erst sicher zu Pflugscharen, sobald der Boden, worüber der Pflug geht, allen gehört; keine Stunde früher, keine später. Kapitalistischer Friede ist ein Paradox, das mehr als je Furcht verbreitet und das den Völkern auferlegt, die Sache des Friedens aufs äußerste, aufs angestrengteste zu verteidigen; sozialistischer Friede dagegen ist eine Tautologie. Technische Reife, Staatskapitalismus und Staatssozialismus; Oktoberrevolution Daß besser gewirtschaftet werden könnte, wie zögernd spricht sich das in der Mitte herum. Ist doch der kleine Händler, unter dem Schein, ein selbständiger zu sein, noch weithin mit diesem Schein vorhanden. Und hat doch das Glück des freien Wettbewerbs, obwohl es weder das erstere noch den letzteren mehr gibt, noch lange nicht aufgehört, hier etwas zu bedeuten. Der Mann mit dem eigenen Geschäftchen, die Unsumme sinnloser Zwischenhändler, der Angestellte, der nicht umhin kann,
strebsam zu sein, obwohl er es zu nichts mehr damit bringt, sie alle glauben noch an die teils wäßrig, teils blutig gewordene Sache: private Wirtschaft. Sie glauben in ihrer prekären Lage zwar mehr steif als fest daran, immerhin sind sie inwendig noch privat, schleppen diesen Rest mit sich herum. Sind also sich selber ebenso ein Hemmschuh wie dem Bewußtsein der überfällig anderen, nicht mehr privaten Produktions- und Austauschweise. Nun jedoch wird es selbst dem Babbit etwas neuartig zumute, sobald er statt des wirtschaftlichen Getriebes, das er nicht durchschauen kann, den taghell wirkenden technischen Betrieb bewundert. Er sieht die kollektiv, nämlich von Arbeitermassen in Gang gehaltenen Fabriken, an denen gar nichts privat ist außer der Firma. Er sieht die mühelos arbeitenden Maschinen, Güter über Güter ausspeiend, und das dafür desto mühevollere, /(1054) oft stockende Verkaufsleben, sobald das Gut Ware wird. Er sieht, wie die Maschine menschliche Arbeit erspart oder ersparen könnte, wenn es nur in der Profitwirtschaft selber nicht so wüst herginge. Er sieht, wie es jetzt schon Fabriken gibt, besonders chemische und solche der Nahrungsmittelindustrie, die verlassen aussehen wie am Sonntag, weil Maschinen mit besonders hoher Kapazität dort die Arbeit verrichten. Das ist die eigentümliche Propaganda, die die Technik auch innerhalb einer so begriffsstutzigen Schicht wie dem üblichen Kleinbürgertum machen könnte, auch zuweilen fremdartig vollzieht. Die Maschinerie steht, bei all ihrer Künstlichkeit, bereits als das Stück einer anderen Gesellschaft in dieser, als eines, dessen Produktionskapazität in der privatwirtschaftlichen Aneignungsform nicht mehr unterkommt, ja entstellt wird. Nicht zuletzt Technikern selber wurde und wird diese besondere Rolle bewußt, wie unbeholfen auch immer. Bezeichnend hierfür war darum der Auftritt der sogenannten Technokraten, ein kurzlebiger, doch verblüffender, entstanden im Land der Überproduktion. Der amerikanische Ingenieur Howard Scott entwickelte eines der weitgehendsten Freizeit-Programme aus technischem Berufsinteresse, soll heißen, aus einseitiger Einsicht in die vorhandene Produktionskapazität. Nach Scott ist der Arbeitseffekt der Maschinen sogar bereits groß genug, um einen Zweistundentag zu ermöglichen, einen der Maschine, nicht dem Proletariat abgehörten (dessen Forderungen selten so weit gingen). Die »Technokratie« ist zwar überall dort, wo sie über solche Feststellungen hinausgeht, sozialdilettantisches Geschwätz, aber diese von allem Marxismus unberührten Utopisten haben doch ausgesprochen, was jedem Praktiker täglich begegnet. Was dem Erfinder, dem Hygieniker, nicht zuletzt dem modernen Architekten begegnet, wenn er in Durchbrüchen und Kollektivsiedlungen denkt: Die technischen Möglichkeiten, ja Wirklichkeiten von heute werden mittels einer überalterten Wirtschaftsform künstlich gedrosselt. Das gesellschaftliche Machtverhältnis läßt die Technik nur zu Kriegszwecken frei, zur Produktion von Todesmitteln; die Gewalt dieser Produktion zeigt aber allein schon an, wie üppig die Herstellung von Lebensmitteln gedeihen könnte. Bisher Unerhörtes wäre dazu bereit, vor allem in organischer Chemie, in einer /(1055) Technik, die nicht mehr nur auf Verarbeitung von Rohstoffen geht, sondern auf synthetische Bildung dieser Rohstoffe selber. Mit Anilin- statt Pflanzenfarben fing das im Großen an; künstlicher Salpeter, künstliches Öl, künstlicher Gummi folgten nach; Plastic mag nicht umhin können, Stahl an Autos, Eisenbahnwagen, vielleicht an Maschinen selber zu ersetzen. Künstliche Düngemittel, künstliche Bestrahlung sind unterwegs oder könnten es sein, die den Boden zu tausendfältiger Frucht ermuntern, in einer Hybris und »Anti-Demeterbewegung« ohnegleichen, mit dem synthetischen Grenzbegriff eines Kornfelds, wachsend auf der flachen Hand. Kurzum, Technik an sich wäre dazu bereit, fast schon fähig, von der langsamen und regional begrenzten Arbeit der Natur
an Rohstoffen unabhängig zu machen, unabhängig sogar von dem weiten Transport (vgl. A. Lowe, The Trend in World Economics, The American Journal of Economies and Sociology, 1944). Eine neue Übernaturierung gegebener Natur wäre fällig, wenn auch mit den bekannten Gefahren bürgerlich überkommener, abstrakt gesteigerter technischer Künstlichkeit. Aber - und dies bleibt für alle Morgenröten synthetischer Chemie soziologisch entscheidend - die solchergestalt erleichterte Allmacht der Produktion ist im kapitalistischen Aneignungs- und Verteilungssystem die unmöglichste. Sie brächte die ohnehin vorhandene Überproduktion auf ein Maß, dem weder der vorhandene Monopolkapitalismus noch seine in ihm latente staatskapitalistische Form, mit lauter Robotern unter zentralisierter Ausbeutung, gewachsen wäre. Dergleichen ist zugleich ein letztes Zeichen dafür, daß technische Reife für sich allein noch gar nichts sozialistisch bedeutet. So sehr sie ihre Mutter, die privatkapitalistische Gesellschaft, überholt hat, und so sichtbar die private Ausbeutungsform gegenüber den längst kollektivierten Produktionskräften sich auch rein technisch, an den Produktionsmitteln, als überaltert zeigt. Aber die Produktionsmittel allein machen nicht glücklich, sondern das Proletariat muß sie erst haben, muß von ihnen Besitz ergriffen haben. Ohne diese Vergesellschaftung bringen gerade die höchstentwickelten Produktionsmittel Krise über Krise, oder sie armieren den imperialistischen Krieg, oder sie befördern die totale, die staatskapitalistische Versklavung. Der Fortschritt - eine Kategorie, /(1056) die sich in der bestehenden Gesellschaft ausschließlich auf die Technik reduziert hat - ist als einheitlich, also wirklich geschehender niemals geradlinig; er verläuft vielmehr in einem Sprung, der Richtungsänderung setzt. Dieser Sprung wird von dem immer höher entwickelten Produktionsmittel Maschine nur nahegelegt. Die kollektivistische Konsequenz zieht das Proletariat, und dawider pflegt die Bourgeoisie außer Terror und Krieg noch latentere Pläne: monopolistischen Staatskapitalismus. Es wäre nicht das erstemal, daß der fälschende Feind sich an dem heilen will, was gegen ihn wächst. Es ist aber bereits »rein menschlich« um mancherlei verschieden, ob ein Bergwerk von unten her oder von oben herab sozusagen verstaatlicht wird. Überall wird »dirigierte Wirtschaft« unvermeidlich, aber der Unterschied ist gerade darin der enormste: ob Monopolkapitalisten oder Produzenten das Subjekt der Organisierung sein werden. Im ersten Fall entsteht Staatskapitalismus oder bloße Funktionsänderung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, im zweiten Fall kommt Sozialismus oder Überführung dieses Privateigentums ins wirkliche, nämlich produzierende Kollektiv. Beide Gebilde haben das sozusagen Gemeinsame, daß sie sich auf den Trümmern der freien Konkurrenz, des liberalen Marktmechanismus erheben. Beide Gebilde aber zeigen jenseits dieser allzu formellen Ähnlichkeit die ungeheure, die sozialdemokratisch totgeschwiegene Differenz: daß der Sozialismus jene Revolution voraussetzt, deren Ausbleiben den Staatskapitalismus gerade erst ermöglicht. Dieser erhielt seine Form durch die beiden Weltkriege, worin die Fabrikation zum erstenmal seit der Manufakturperiode von oben herab reglementiert worden ist. Seinen Inhalt erhält er durch die wachsende Staatswerdung des Monopolkapitals, durch den Übergang der bisher subjektiven Firma in den Staat als den nun ganz offiziell und total geschäftsführenden Ausschuß der herrschenden Klasse. Hierbei verbindet der Staatskapitalismus volle, ja geschärfte Ausbeutung mit den einschneidendsten Veränderungen an der bisherigen Privatwirtschaft; all das mit kollektivistischem Schein. Dieser Schein kann sogar bewirken, daß die von oben her dirigierte kapitalistische Wirtschaft sich als sozialistisch ausgibt; sie tat das in den mannigfachen faschistischen Staatsstreichen, /(1057) sie tut es aber auch, oft
wohlmeinend, stets irrend, reformistisch. So im alten kurzsichtigen Trugbild vom »friedlichen Hineinwachsen des Kapitalismus in den Sozialismus«, diesem schon zweimal, 1914 und 1933, schrecklich widerlegten Bernsteinismus. Zur Zeit einer prosperity und eines mühsam erhaltenen Friedens mag der Kapitalismus (der von prosperity wie Frieden dauernd das Gegenteil in sich hat) sich wieder als liberal geben, nachdem er doch die faschistische Fratze gezeigt hat; doch allemal ist Verschärfung des Staats in der dingierten Profitwirtschaft des Monopolismus immanent. Und in der sozialistischen Wirtschaft tritt diese Verschärfung, wider alle landläufige Meinung, nicht auf, indem diese Wirtschaft sozialistisch dirigiert ist, sondern indem sie Staatskapitalismus streift oder - zum Zweck einer vermeintlichen Abkürzung des Wegs - ihn instrumentell benutzt und einbaut. Es ist von detektivisch-utopischer Wichtigkeit, die Veränderungen, zu denen der Staatskapitalismus fähig sein dürfte, falls ihm Zeit und Raum gelassen werden, am Horizont abzuzeichnen. Wobei eben alles in der Hauptsache, in der Ausbeutung, beim alten bleibt und die dem Kapitalismus immanenten Krisen lediglich in Schießbaumwolle eingewickelt werden. Die erste Veränderung beträfe den Markt, der aufhörte, ein freier, offener zu sein. Die Menschen stehen sich nicht mehr als Agenten des Tauschverkehrs gegenüber, sondern der totale Staat enthält ausschließlich Befehlende und Beherrschte. Auf ihn geht die Kontrolle über Preisbildung, Warenqualität über, welche bis dahin der freie Markt einigermaßen ausgeübt hatte. Die zweite Veränderung beträfe die Produktion selbst, nach beendeter Marktfreiheit und ihrer Konkurrenz. Volle Beschäftigung wird in Aussicht gestellt, jedoch mit notwendig gesenktem Lebensstandard der Massen. Relative ökonomische Sicherheit wird in Aussicht gestellt, infolge der Anpassung der Produktion an den Verbrauch, infolge regulierter Profitwirtschaft; jedoch die Sicherheit wird erkauft, indem das Arbeiter- und Angestelltenheer völlig zu Sklaven verwandelt wird, statt zu mitbesitzenden Genossen. Auch die gebliebenen Kapitalisten werden in ihrer Freiheit beschränkt, »Gemeinnutz geht vor Eigennutz«, was aber einzig bedeutet: die Monopolisten schränken den manchesterlichen Eigennutz ein, damit ihr eigener /(1058) Gemeinnutz selber desto formidabler erhalten bleibe. Ein Kapitalisten-Kollektiv entsteht, zusammengesetzt aus den größten Räubern in Industrie und Verteilung, aus der hohen Zivil- und vor allem Militärbürokratie; alle anderen Menschen, auf der ganzen Erde, in dem riesigen Staatskapitalismus-Komplex, dessen Zentrum Amerika sein möchte, würden Objekte einer Beherrschung, wie die Welt in gleich großem Umfang und gleich durchrationalisierter Strategie noch keine gesehen hat. Das totale Zuchthaus, mit schlecht ernährten und lebenslänglich versicherten Robotern, die Perspektive also, die das Manchesterkapital stets als die im Sozialismus drohende vorlog, ist genau seine eigene. Wobei noch die Pikanterie hinzukommt, daß die Wirtschaftsform, der der Faschismus entspricht, und der Faschismus, der dieser Wirtschaftsform entspricht, von Amerika her, wo ja auch das Wort Kapitalismus noch ein Ehrentitel ist, und der Staat keiner, unter der Marke - Freiheit einzuführen versucht werden. Das also sind unter anderem die Horizonte des Staatskapitalismus, des gleichen schließlich, der den Sozialismus, weil er vor den imperialistischen Mordabsichten auf der Hut ist, »roten Faschismus« zu nennen pflegt. Wonach also die Liberalen der abgelaufenen Epoche der freien Konkurrenz einen »dritten Weg« ausromantisieren, der sie von der launisch-ungeliebten faschistischen und der echtgehaßten sozialistischen Alternative befreite. Sie erscheint ihnen gleichmäßig als eine zwischen »totalitären Regimes«; was in Anschauung der Diktatur des Proletariats nicht einmal formal stimmt, geschweige in Ansehung des Freiheitsziels dieser
Diktatur, des einzig und wirklich totalen. Der Unterschied der beiden »dirigierten Wirtschaften« liegt also trotz der Niedertracht oder ebenso großen Torheit, die ihn vermischen, auf der Hand; er bezeichnet den äußersten Gegensatz des sozialen Inhalts: der abgeschafften Ausbeutung hier, der völlig eingerammten dort. Und der Staatskapitalismus droht als Möglichkeit, ja als schon begonnene Wirklichkeit nur so lange, wie die Menschen ihn sich gefallen und bieten lassen. Das tief gesunkene Lohnniveau, das vom Staatskapitalismus untrennbar scheint, die dauernde Entmündigung würden auf die Dauer untragbar sein, - selbst wenn der Faschismus in einem letzten Weltkrieg, wie er ihn provoziert, und nach dem Gesetz, mit dem er /(1059) angetreten, weiter provozieren muß, nicht in das Land geht, aus dem es keine Wiederkehr gibt. Bei allem aber ergibt sich aus der üblen Latenz Staatskapitalismus etwas, das dem Faschismus hilft und ihn fast konkret macht, die Tendenz zum Kapitalisten-Kollektiv im Vakuum der verschwundenen freien Konkurrenz: Staatskapitalismus also ist das lange gesuchte Element Wirklichkeit im sonst so wesenlosen Faschismus. Dieser benutzt Ungleichzeitigkeit und die dumpfe Wut ihres Protests in den verführten Massen, doch er ist eminent up to date in seinem Führertum. Er ist hier nicht nur Spuk, er ist auch der reale Affe einer realen Tendenz, der auf Vergesellschaftung der Produktivkräfte; Faschismus machte Staatskapitalismus als reale Alternative formidabel. Und als zentralste Gefahr kommt eben das Blendwerk Ordnung, ja Sozialismus hinzu, womit sich das Kapitalisten-Kollektiv drapiert hat und wieder drapieren mag - Staatskapitalismus unter der Maske von Staatssozialismus. Von daher vor allem das Falsifikat der Sicherheit, ja der Befreiung vom entsetzlich gewordenen Lebenskampf; was an Freizeit und Freiheit verlorengeht, scheint durch Garantie wieder hereinzukommen, durch garantierte Beschäftigung, durch subsidierte Muße. Wenn es etwas gibt, an dem gerade der amerikanische Durchschnittsbürger, der frühere Risikonehmer par excellence, noch mehr interessiert ist als am Profitmachen, so ist es die Lebensversicherung; Sekurität tauscht auch der ehemalige kapitalistische Pionier unbedenklich gegen den verschwundenen Aufstieg ein, und der Faschismus schien und scheint diese wenigstens den Babbits aller Zonen so zu garantieren, als wäre er - Zukunftsstaat. Es war ein schwerer Fehler, daß gerade in der sozialistischen Literatur die vorhandenen Möglichkeiten zum Staatskapitalismus so wenig herausgearbeitet worden sind; ein noch schwererer, daß die berghohen Gegensätze zum Sozialismus keine zureichende Analyse gefunden haben. Durch den ersten Fehler kam der Faschismus als völlige Überraschung, durch den zweiten wurde die Sozialdemokratie über ihr Nichtstun und über den angeblich dialektischen Optimismus beruhigt, den sie den großen Konzernen entgegenbrachte. Kapitalismus schien bekanntlich von selber sozialistisch umzuschlagen, sobald er nur weiter synthetisiert wird; ja bereits die preußischen Militarisierungen des Wirtschaftslebens, wie sie /(1060) 1914 begannen, die sogenannten Ideen von 1914, erschienen hier als Sozialismus. Durch den zweiten Fehler: die ungenügende Unterscheidung zwischen Staatskapitalismus und - vorläufigem - Staatssozialismus, wurde der Sozialdemokratie wie der übrigen Bourgeoisie überdies das Wegblicken vom eigenen Staatskapitalismus besonders erleichtert, indem man ihn eben, qua »dirigierter Wirtschaft« so oder so, der - Sowjetunion zuschob. Ist das bösartiger Betrug, so hätte er doch allerdings nicht einmal einen Scheingrund zu seinen formalistischen Entstellungen gefunden, wenn der Unterschied zwischen Staatskapitalismus und dem Zwischenstadium: Staatssozialismus nicht in absichtlicher, aber auch in unabsichtlicher Unklarheit belassen worden wäre. Ja, die Nicht-Unterscheidung ist so alt, daß sie sich sogar auf das einseitige
Ordnungspathos der zentralistischen Sozialutopisten berufen könnte und, bei Anarchisten, auch tatsächlich darauf berufen hat. Wie erinnerlich, lief bereits bei Saint-Simon eine staatskapitalistische mit der sozialistischen Linie parallel; die »capacité administrative«, ausgeübt von der Industrie, erschien hier als Keim des sozialistischen Zukunftsstaats. Beim Saint-Simonisten Louis Blanc fielen Staatsmonopol und gouvernementaler Sozialismus sogar gänzlich in eins; Blanc plante Nationalwerkstätten mit Staatskredit, damit jeder nach seinen Fähigkeiten produzieren, nach seinen Bedürfnissen konsumieren könne. Die älteren Utopisten hatten, wenn sie Staatskapitalismus und Sozialismus noch nicht wie Zuchthaus und Revolution unterschieden, allerdings die Entschuldigung einer noch nicht übersehbaren kapitalistischen Entwicklung; und noch spätere utopische Romanschriftsteller, wie Bellamy, wenn sie ihren organisierten Bürgerstaat sozialistisch fanden, hatten die Freiheit des Dilettantismus. Aber noch 1939 finden sich in Amerika, bei H. D. Dickinson und anderen, angebliche »Economics of Socialism«; darin werden durchaus die Möglichkeiten und Formen des Staatskapitalismus durchdacht, nicht als abstrakte Utopie, sondern ziemlich nahe an der monopolistischen Tendenz: und die Untersuchung läuft demungeachtet als eine über - Sozialismus. Es ist, als ob der Sozialismus den Fratzen entspräche, die die Anarchisten ihm aufmalen; als wäre er grundsätzliche Zentralisierung und sonst nichts; als wäre er Staat schlechthin und nicht Sowjet. /(1061) Dabei braucht nicht wiederholt zu werden: Der Sozialismus in seiner wissenschaftlichen Gestalt trägt die eindeutigen Unterscheidungsmerkmale an der Stirn: er ist als Akt Revolution des Proletariats, mithin Vernichtung der Kapitalistenklasse schlechthin; er ist als Ziel klassenlose Gesellschaft, mithin organisierte Freiheit. Die Sowjetunion ist noch im Akt des Aufbaus begriffen, folglich noch ein Staat, sogar ein harter, doch eben einer ohne Kapitalwirtschaft. So kann dort, zwecks Abschaffung alles Privateigentums an Produktionsmitteln, schlimmstenfalls, sozusagen, Staatssozialismus sein, nirgends auf die Dauer echter, regulärer Staatskapitalismus. Und auch der Staatssozialismus, sofern er erscheint, ist im Akt begriffen, folglich temporär und auf Abbruch; denn das im Akt arbeitende Ziel ist Absterben des Staats. Die Oktoberrevolution von 1917 setzte zu diesem Ziel die proletarische Diktatur, die Epoche nach Lenins Tod hat als Sicherung die kräftigste Staats- und Militärmacht errichtet: trotzdem ist Ende der Gewalt in dieser Art Gewalt unausweichbar immanent. Wogegen im bürgerlichen Liberalismus, der sich einst so hoch verschwor und so tief sich enthüllt hat, stets nur der kapitalistische Gewaltapparat versteckt und präsent war. Der Arbeiter hatte im kapitalistischen Klassenstaat seit je nur die Freiheit zu verhungern, wenn er sich nicht der Diktatur des Profits fügte, und er hätte weder Streikrecht noch gar Achtstundentag errungen, die gleichen Rechte, die ihm der Staatskapitalismus wieder nehmen wird, wenn er sie der sogenannten Liberty-Statue durch Organisation nicht blutig abgekämpft hätte. Dagegen das Land des sozialistischen Aufbaus hat alle ungeheure Macht dafür eingesetzt und muß sie unfälschbar dazu verwenden, damit die Macht über Menschen ein Ende nehme. Damit statt der Gewerbefreiheit, mit der der Liberalismus gelockt und betrogen hat, Freiheit vom Erwerb entstehe. Damit statt des sogenannten Rechtsstaats, der wegen seines verrotteten Klasseninhalts gänzlich zum Unrechtsstaat geworden ist, überhaupt kein Staat mehr nötig sei. Die Ordnung, die im Spätkapitalismus noch möglich ist, die des Staatskapitalismus oder Faschismus, besteht einzig aus Ordnungsgreueln, und die Freiheit, bei total gewordener Selbstentfremdung, besteht nur noch als unterdrückte, wo nicht verschollene. Wieder zeigt sich, schärfer als bei Wohltätig- (1062) keit und Pazifismus, schrecklicher pervertiert: Friede wird in der Spätbourgeoisie Krieg,
Ordnung Barbarei, Muße Entmannung und Verödung. Die Haupt- und Staatsaktion Faschismus zeigt sich so in ihren staatskapitalistischen Möglichkeiten noch kaum als erschöpft, obzwar als begrenzt. Die Sowjetunion war dem Faschismus bei Stalingrad sein sehr störender Zeitgenosse; eine Sowjetunion in einladender Reife wird diesem Staatskapitalismus überall ein Ende. Täuschungen der Freizeit: Ertüchtigung zum Betrieb Abends spannt der gedrückte Mensch endlich aus, wird gleichsam frei. Er darf sich erholen, und er darf es deshalb, weil auch ein Arbeiter ermüdet. Er bekommt Freizeit nach des Tages Last und Müh, um sich als Maschine zu speisen und zu ölen. Feierabend, Sonntag heißen: Erholung der Arbeitskraft; der Mensch ist in der Erwerbsgesellschaft nie ein Zweck, stets ein Mittel. Was immer mit dem Feierabend angefangen wird, privat oder älterem Herkommen gemäß, verziert nur den bürgerlichen Zweck: Reproduktion der Arbeitskraft. Desto verschiedener sind freilich die Träume, die nun am Feierabend des gedrückten Menschen sich niederlassen. Sie möchten sich dort erfüllen, als an einem Ort, wo wenigstens ein Hohlraum entsteht. Frische Luft wird geschöpft, Alkohol spült den Staub hinunter, Kartenspiel schlägt die Zeit tot, ist zudem die Lust, dem Zufall nicht nur zu unterliegen, sondern mit ihm spielen zu können und noch dem anderen etwas abzugewinnen. Hierbei geschieht das Doppelte, daß der Arbeitstag, der Geschäftstag verlassen wird und zugleich seine Formen sich »erleichtert« fortsetzen. Geselligkeit insgesamt wiederholt weithin die Beziehungen zwischen Menschen und Dingen, die in der Gesellschaft vorherrschen und sie jeweils ausmachen. Diese Beziehungen setzen sich auch in der unterdrückten, der schlecht weggekommenen Klasse durch, obwohl sie besonderes Interesse daran hat oder haben könnte, den Feierabend vom Arbeitstag formell, gar inhaltlich zu unterscheiden. Aber dergleichen ist nicht einfach, selbst nicht bei vorhandenem Kontrastwillen; Geselligkeit als Spielform einer Gesellschaft bestätigt diese noch in der Flucht. Und die Geselligkeit hält desto /(1063) mehr bei der Stange, je weniger die Schlechtweggekommenen die vorhandenen sozialen Verhältnisse selbst beweinen, sondern nur die sonderbare Stelle, die sie in ihnen einnehmen. Ja wie gesehen ward: Das Pläsier dient dann als Ersatz für das im kapitalistischen Lebenskampf und seinen bejahten Formen nicht Erreichte. Was beim Kartenspiel und der zu ihm unerläßlichen Pokermiene der Gewinntrieb, samt seinen geraden und krummen Wegen, das ist beim Sport die dorthin versetzte Strebsamkeit der frei erschienenen Konkurrenz. Im gleichen Maß, wie diese wirtschaftlich verunmöglicht wird, lockt der Wettstreit im Sport. Er lockt nicht nur seine ausübenden Liebhaber, sondern viel mehr, mittels Einfühlung in die Parteien, die Tausende und aber Tausende sonntäglicher Zuschauer beim professionellen Match. Es ist wahr, auch die griechischen Ringkämpfe, die mittelalterlichen Turniere hatten »Konkurrenz« gezeigt: doch sie war noch keine betriebsame. Dieser Wettstreit spiegelte, in der damaligen Oberschicht, keinen Wirtschaftskampf, seine Teilnehmer glichen eher jenem »Hochsinnigen«, von dem Aristoteles rühmt, daß er »zögernd und tatenlos durchs Leben geht, außer wo eine Ehre oder ein Werk nach ihm verlangen«. Der Affekt war Lust der Auszeichnung, nicht der Reibung, war Eros nach dem Ziel, mit dem Unterlegenen als »zweitem Sieger«, nicht als Nebenbuhler, der bankrott von der Börse geht. Mutatis mutandis ist diese Art Wettstreit auch in einer nachkapitalistischen Gesellschaft möglich; die Sowjetunion verwendet ihn schon heute. Dagegen zeigt das Sportvergnügen der kapitalistischen Angestellten notwendig alle Züge des Wettbewerbs in seinem
Wettstreit, soll heißen: des Spielform-Ersatzes für die gesellschaftlich verschwundene freie Konkurrenz. Es wird vom Kapital nicht zugegeben, daß diese Konkurrenz (freie Bahn dem Tüchtigen, Marschallstab in jedem Tornister) ökonomisch überholt ist; war sie doch, vor allem im »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«, die stärkste Verführung am Kapitalismus. Also befördert das Kapital, sofern es noch mit dem Schein der freien Konkurrenz arbeitet, den Sport, der diesen Schein in der Freizeit mobil macht. Als würde so wenigstens der Körper in seine Rechte eingesetzt, als wäre so wenigstens auf diesem Feld noch der Mann etwas wert, als tauchte gar ein Stück Griechenland auf, /(1064) genannt Olympische Spiele, ein Fest der Freien, nicht der Sklaven. Und die beförderte Sport-Geselligkeit Dopo lavoro bleibt nicht auf gefälschte Freiheit beschränkt; sie hat kapitalistisch noch andere Meriten. Auch dort, wo das Kapital nicht mehr imstande ist, seinen Angestellten die freie Konkurrenz vorzutäuschen, selbst im eingestandenen Zustand neuer Leibeigenschaft wird der Sport zur Täuschung nützlich gemacht. Diesesfalls nicht zur individualistischen, sondern zur kollektiven, jedoch wohlverstanden: zur kollektiven im Dienst der Firma, zuletzt des Monopol-, des Staatskapitalismus. Das ist der Sinn der vorfaschistischen und faschistischen »Freizeitgestaltung«, Gymnastik betreffend. Große Betriebe haben die Sportfreude ihrer Angestellten längst dazu verwendet, sich eine besonders treue »Gefolgschaft« zu bilden. Diese kehrt in der Freizeit nun nicht mehr zum individuellen Konkurrenzschein zurück, sondern konträr: Die Gefolgschaft hat die Fahne ihres kapitalistischen Betriebs selber zum Sieg zu führen; so verwandeln sich Sportler zu »IndustriestaffeIn«. Auch hier haben erst die Sowjetunion und die Volksdemokratien den echten Sinn eines kollektiven Wettstreits hergestellt: nämlich indem die Betriebe selber kollektives Eigentum geworden sind. Der faschistische Staat hat zuletzt sogar die Rückkehr zur Natur sich zugeschlagen; sie heißt nun Wehrsport. Das wurde das Ende des abendlichen Spazierganges der Sehnsucht nach frischer Luft, der Kunst, die gelähmten Glieder zu regen. Aber die Anfangsgründe zu diesem Ende liegen bereits darin, daß Freizeit von der Bourgeoisie immer nur als versteckter Dienst betrachtet und so zugelassen worden ist. Kraft durch Freude, das bedeutet nur in beendeter Konsequenz: Reparatur der abgenutzten Ware Arbeitskraft durch abgefeimtes Dopo lavoro. Wobei alles geschieht, damit die Ware in der freudig ausgefüllten Freizeit auf keinen schädlichen Gedanken komme. Damit das wehmütige Erwägen von Möglichkeiten kanalisiert werde und so subaltern bleibe wie das Pöstchen des Erwägenden selbst. Freizeit dient hier also letzthin der Verdummung, ob mit scheinbarem Laissez faire, laissez aller (am kapitalistischen Faden) oder mit Formen, wie sie der Faschismus auferlegt, mit Kränzen für Schlachtochsen. Wohlverstanden: nicht das ist beklagens- oder hassenswert, daß auch der Freizeit eine Form gesucht wird, son- /(1065) dern daß sie, mit solchem Inhalt, von den Feinden des Volks ausgeht. Der Sonntag, sogar die Berührung mit der Natur bleiben dadurch innerhalb des kapitalistischen Werktags und seiner Interessenten so eng wie nie zuvor. Wonach die Ware Arbeitskraft ihren Warencharakter auch während der Erholung nicht los wird; der lange Arm des Kapitals umfaßt den Mann an der Maschine wie am Abendtisch, im Sportpalast wie im Ferien-Hospital Natur. Trotzdem bleibt das Aufbegehrende, anderes Begehrende auf die Dauer nicht aus, auch nicht am Feierabend; denn die Menschen sind keine Ware. Auch ihre Faulheit nicht, dies einzig gebliebene Fragment aus dem Paradies, wie Schlegel sagte, hierin wirklich ein rückwärts gewandter Prophet. Doch ihr Elan vor allem, nicht nur ihre Faulheit, sucht ausnahmslos einen Zustand, wo selbst die Uhr, als Pflichtenweiser, in den Tag hinein lebt.
Gebliebene ältere Formen der Freizeit, verdorben, doch nicht hoffnungslos: Steckenpferd, Volksfest, Amphitheater Es gibt noch ein menschliches Teil, das nicht oder nicht ganz verkauft ist. I enjoy myself, schön wird im Englischen das Nichtstun wenigstens in Worte gesetzt. Dolce far niente, ein Sein, nicht nur ein Wort, gibt dem Leben ohne Arbeit an sich schon inneren Reiz. Vorausgesetzt, daß man auch die äußeren Mittel dazu hat oder sich auch ohne sie möglichst viel Feiertag zu machen versteht. Vorausgesetzt weiter, daß man nichts leichter ertragen kann als eine Reihe von schönen Tagen, folglich zur Freude nicht verdorben ist. Weil einen die Arbeit ausgebrannt hat und man weder für die Anmut noch den Frieden des Glücks Zeit und Beispiel hat. Du bist wie eine Blume, das ist in einer Gesellschaft freilich schwer, die noch in ihrer Leisure-class, gerade in ihr, wenig Blumen vor Augen stellt, es sei denn fleischfressende. Doch es zeigt sich: auch im kapitalistisch ruinierten Feiertag gibt es noch halb geschützte Stellen. Lebt noch ein nicht ganz verkaufbares, nicht ganz zum Reproduktionsgeschäft taugliches Stück oder Stückwerk Mensch. Und an ihm haben sich aus älteren Zeiten, aus vorkapitalistischen, gewisse Reste erfüllterer Muße erhalten, wert, beachtet, ja gegebenenfalls unter veränderten Verhältnissen umfunktioniert zu werden. Wegen seiner vor- /(1066) kapitalistischen Züge ist dergleichen auch weit weniger kapitalistisch eingemeindet, obwohl selbstverständlich brauchbar und verfälschbar. Gemeint sind solch verschiedenartige Belustigungen nach der Arbeit wie das private Steckenpferd, das publike Volksfest (meist um ehemalige Kirchenfeste gruppiert), sodann der gesamte Komplex gemeinsam werdender Kultur: das Amphitheater für alle. Überall also ist der Mensch nicht ganz verraten, wo noch ein Teil von ihm nicht ganz verkauft ist und sich seiner freut. Die stillste dieser müßigen Freuden bringt das Steckenpferd, auf ihm ist ein etwas einsamer, doch allemal leichter Ritt. Bastler, Kleingärtner und wie viele andere Spielarten lassen sich von ihrer Liebhaberei den Beruf vorspiegeln, den sie versäumt haben oder den es im Ernst des Lebens gar nicht gibt. Dergleichen gerät oft nur verkümmert, doch von ferne geht Arbeit ohne Zwang daran auf, ein Privatschein dessen, was Tun mit Lust und Liebe bedeuten könnte. Dort, wo der fast zufällige Beruf, der Job, die wenigsten Menschen ausfüllt, wie in Amerika, gibt es deshalb die meisten Steckenpferde, hobbies. Und die Liebhaberei wird erst dann verschwinden, wenn sie einmal den richtigen Beruf selber ausmachen wird. Bis dahin ist vom Steckenpferd zu erlernen, wie erfüllte Muße privat geträumt wird, als Arbeit, die wie Muße erscheint. Geht aber die privateste der müßigen Freuden zur öffentlichsten über und wirft die gesamte Tätigkeit weg, die nicht zum Steckenpferd gehört, so erscheint aus alten Zeiten die müheloseste Liebhaberei: das Volksfest in ausgelassener Folklore. Es blüht noch mehr oder minder in bäurischen Gegenden, auch in Städten, wo sich, eingekapselt oder eingewandert, überlieferte Bräuche forterhalten haben. Umzug, Karneval, Kirchenfeste füllen dann keinen leeren Raum von Sonn- und Feiertagen aus, sondern machen diese wirklich zu solchen. Länder mit römisch-heidnischem Boden sind an solchen Festen reicher als nördliche, und katholische sind für sie begabter als die protestantischen des Arbeitsethos. Amerika, mit drei Millionen Italienern in New York, zeigt an diesen den Unterschied zwischen lebender und toter Freude sogar an Ort und Stelle. Die lebende Freude ist diejenige, die bei Gelegenheit der zahlreichen Kirchenfeste aus Palermo oder Rom, aus Rom oder Neapel mit herübergewandert ist; die tote ist der Fun der Yankeewelt, von /(1067) der Juke-box bis zur Cocktail-Party. Italien, Frankreich, Österreich, Bayern,
Rheinland haben kraft des antiken Untergrunds und der katholischen Tradition immerhin Enklaven in der allgemeinen kapitalistischen Mechanei erhalten, das ist: Zwischenräume eines Lebensgefühls, dem die Zeit noch nicht Geld ist und die Fidelitas noch kein übertünchtes Grab. Ganz haben sich die Volksfeste wohl nur in Rußland erhalten, so daß die Sowjetunion sie nicht nur übernehmen konnte, sondern das Volksleben, die Volksfreude darin in der neuen Gesellschaft erst ankommen, heimkehren ließ. Jedoch selbst in Frankreich hat die bürgerliche Mechanik deformiert, sie hat einen harten Unterschied zwischen der konventionellen und der naiven Gaieté parisienne zustande gebracht. Der häusliche Sonntag des Kleinbürgers ist fast nirgendwo mehr als möblierte Verzweiflung; und der öffentlich gezeigte, selbst im Land des gläubigen Epikur? »Man braucht nur«, schreibt Jean-Richard Bloch über eine Art der Zivilisation, die selbst Paris beleckt hat, »man braucht nur an Feiertagen durch unsere Parks und Gärten, über die Boulevards unserer Städte zu spazieren, um in Tausenden von Exemplaren diesen jämmerlichen Bourgeoisfamilien zu begegnen, die verstaubt und gelangweilt ein paar müßige, griesgrämige, heuchlerische Kinder vor sich her treiben.« Hierher gehört auch die Erinnerung an das Sonntagselend, wie es Seurat in dem Promenadenstück »La Grande Jatte« gemalt hat (vgl. Seite 953),und der Vergleich dieser heillosen Spaziergängergruppen, ja des gesamten wäßrig-verzweifelten Lustwandels mit Gott in Frankreich. Wie saftig tauchen bei diesem Kontrast auch die alten Kirmesbilder der Holländer auf, alle die an Kirchenfeste und Karnevale angeschlossenen Wunschträume dazu, worin der Sonntag-Nachmittag, statt die beste Zeit für Selbstmord zu sein, kollektivem Lebensgenuß, nach all dem Werktagselend, Platz geben konnte. Der Werktag war noch mühsamer als heute, doch eine ununterdrückte Fähigkeit zur Freude gewann an Festtagen Form, jene, welche nur gemeinsam bestanden und gefüllt werden kann. Man lese die Beschreibung vom Sankt-Rochus-Fest zu Bingen, in Goethes Reise »Am Rhein, Main und Neckar 1814 und 1 815«, diese großartige Gesundheit und Behaglichkeit, um gekonnte Freude im treuesten Spiegel zu sehen. Das Volksfest gab hierbei Wunsch- /(1068) träume der Festivität durchaus frei, doch es fehlte ihnen das Geschauspielerte, auch Melancholisch-Sentimentale, das die Festutopien der Leisure-class, trotz größten Glanzes und Vor-Scheins, charakterisierte. Das macht: Die Volksfeste stehen im Kontrast zur Not, die Herrenfeste aber zur Langeweile. Und dieser kann nicht mit Entspannung, sondern wieder nur mit Anstrengung begegnet werden; daher Heines Paradox vom »tapferen Waffenbruder eines dolce far niente«. Umgekehrt zeigen die Volksfeste keine Künstlichkeit, auch dann nicht, wenn sie, wie oft und besonders in Italien, die Formen des regierenden Barock abgewandelt haben. Wobei hier die Schäferei, das gestellt Arkadische einleuchtend fehlt, dafür Naives, Antikes, ein Stück letzter Umgang des Dionysos hinzukommt. Dionysos ist ein lösender Gott, so hat sich sein Volksfest zu einer Umfunktionierung, zu einer keineswegs mehr klerikalen, jetzt schon tauglich gezeigt. Diese Feiertagswelt feiert Freuden, zu denen tatsächlich erst später richtiger Anlaß wird, das ist: Volksbefreiung wird antizipiert. Von daher der leichte Übergang vom Tanz um die Linde zu dem um den Freiheitsbaum der Französischen Revolution, von daher das immer Latente aus dem Ende des »Fidelio«: Heil sei dem Tag, heil sei der Stunde. Nicht ohne Folgen haben die Saturnalien aller Völker die Erinnerung an ein Goldenes Zeitalter, also an die Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit der urkommunistischen Gentes zum Grund. Die Umfunktionierung des Volksfestes zum wirklichen Dopo lavoro erneuert darum in ihrer programmatischen Neuheit sehr alte Tendenzen; auf dem Boden des Karnevals, des St. Rochus-, des Johannistags, im
Vergegenwärtigen eines durchaus transparenten Anlasses, eines Beschwerdelosen geeint. Ist nicht das Fest der Erstürmung der Bastille auf dem alten Boden zu Hause? Und so das Fest der Oktoberrevolution und das politische Frühlingsfest des ersten Mai? Der Feiertag hat sich hier an Relikten des Umzugs, der Prozession, ja umfunktionierter Kirchenfahnen durchaus erfrischt. So bleibt am Volksfest fürs gründlich gewordene, immer gründlicher werdende Dopo lavoro eine gewisse Hoffnung. Desto mehr, als ja der Grund, auf den die Festivität aufgetragen war und ist, neben dem überliefert-heiteren Inhalt, zu dessen Erinnerung das Fest »begangen« wird, immer noch unbegangene Hoffnung war und ist. /(1069) Nicht ganz so einladend wirkt, was sich zur gebildeteren Freude drängt. Und dort gespeist oder abgespeist wird, mit kultureller Darbietung für jedermann. Mit dem sogenannten Kulturgenuß, den die bürgerliche Welt sonn- und feiertags liefert. Der Genuß will jenseits der Sportkämpfe und des Kinos stattfinden; so reicht er von Konzerten, in denen es helles Bier gibt, bis zu SchauspieIen und Büchern, aus denen jeder Alkohol heraus ist. Bedürfnis, Leben und Form aus älterer Zeit sind auch im kulturellen Sonntag vorhanden, gewiß. Doch unvergleichlich mehr als beim erhaltenen Volksfest sind sie durch Aufträge von oben, durch interessierte Ablenkung durchkreuzt. Täuscht der Sportbetrieb noch nicht Konkurrenz vor und ist die gesamte kapitalistisch regIementierte Freizeit so ausgerichtet, daß die Ware Arbeitskraft auch während ihrer Erholung nicht zum Bewußtsein ihrer selbst kommt, so setzt sich dieses Bestreben bei bürgerlicher Darbietung, aber auch bei einer immer noch in bürgerlicher, gar klein-bürgerlicherWeise geschehenden Verabreichung der Kulturgüter selbstverständlich fort. Hierbei besteht allerdings an einem fortwirkenden vorkapitalistischen Dasein auch dieser Freizeit-Füllugen kein Zweifel. Dieses Überlieferte ist weit solider als beim Sport, wo das griechisch-demokratische Vergnügen zu ganz anderer Ertüchtigung, schließlich zur Verdummung umdirigiert werden kann. Beethoven, auch wenn er zum sogenannten Kulturgenuß, mit herabgesetztem Preis und Inhalt, präpariert wird, ist seiner doch nicht spotten. Das Feuer des Prometheus, die Milch der bürgerlich-frommen Denkungsart, sie bleiben, auch wenn in sozialdemokratischer Volksbildung verabreicht, miteinander unvereinbar. Die alten Orte, wo das Volk keinen Kulturgenuß hatte, aber beim Werk dabei war, von der Sache selbst ergriffen, ja umgewälzt und ganz in sie hineinversetzt, hießen antik Amphitheater, mittelalterlich Mysterienbühne. Doch verleugnet eben die Form der heutigen höheren Feiertäglichkeit den Charakter, besser: den Nicht-Charakter nicht, der allein schon in dem Wort Volksbildungsabend steckt. Hier ist Ausverkauf, ist Abhub und Stapelware, hier ist ein Bemühen, Mozart zur Zuckerstange, Goethe zum Philister, die neunte Symphonie zu einer freireligiösen Sonntagspredigt zu verwandeln. Wissenswertes wurde und wird einer sogenannten Allgemeinheit serviert /(1070) aus allen Gebieten, ohne Probleme, ohne Zentren, bestenfalls mit dem Effekt gesinnungstüchtiger Langeweile. Solche Kulturübertragung sieht aus wie ein Promenadenkonzert in kleinen Kurorten, wie die Sonntagsbeilage in der großen Spießerpresse. Der Initiator in dieses Bildungsphilisterium war seinerzeit David Friedrich Strauß, und tausend noch Wohlgemutere seinesgleichen waren seitdem in der Sonntagskultur am Werk. Die wilde wie die erhabene Sonne der Originale ist auch in jenen Darbietungen untergegangen, mindestens verhüllt, die das Populäre auf das billig Absetzbare beziehen, statt auf Volkskraft und alte anzurufende, wie lange in Tanz, Märchen, Grübelsinn lebendige Volksphantasie. Die immer noch aktuelle Gefahr des bürgerlich-sozialdemokratischen Kulturparks ist bezeichnet, wenn sein David Friedrich Strauß gleich einem Chor von hunderttausend
Oberlehrern spricht: »Neben unserem Berufe suchen wir uns den Sinn möglichst offen zu erhalten für alle höheren Interessen der Menschheit... Dem Verständnis dieser Dinge helfen wir durch geschichtliche Studien nach, die jetzt mittels einer Reihe anziehend und volkstümlich geschriebener Geschichtswerke auch dem Nichtgelehrten leicht gemacht sind; dazu suchen wir unsere Naturkenntnisse zu erweitern, wozu es an gemeinverständlichen Hilfsmitteln gleichfalls nicht fehlt; endlich finden wir in den Schriften unserer großen Dichter, bei den Aufführungen der Werke unserer großen Musiker eine Anregung für Geist und Gemüt, für Phantasie und Humor, die nichts zu wünschen übrigläßt.« Die Plüschzeit des neunzehnten Jahrhunderts, die sich für eine Purpurzeit hielt, ist vorüber, doch - mit unleugbaren Ausläufern bis in die contradictio in adjecto eines kleinbürgerlichen Kommunismus das Bildungsphilisterium ist nicht außer Kurs. Der Hintergrund bleibt die Musealwelt des vorigen Jahrhunderts, mit Kunst als Illusion, Illusion als Ideal. Und es ist der gleiche Hintergrund letzthin, der in seiner vollen Durchgebildetheit, als rein epigonaler, rein kontemplativer Bewußtseinsraum, immer noch Historismus heißt. Genau dieser ist das Prinzip des parasitären Kulturgenusses oder der Servierbarkeit toter Bildung; mit Geschichte als immer wieder betrachteter Vergangenheit, mit Kultur als Abendfüllung. Der Historismus liefert vornehm, was das Kapital interessiert verlangt und »kulturpäd- /(1070) agogisch» verbreitet: er liefert den kleinbürgerlichen Massen in ihre gebildete Mußezeit die gelähmte Muse, den nicht mehr fernhintreffenden Apollo. Der Historismus glaubte einen Hegel als Vorläufer zu haben, doch gerade Hegel wandte sich a limine gegen dieses Museum der Entfremdung, mit selber Entfremdeten als Fremdenführern: »Der lebendige Geist... verlangt, um sich zu enthüllen, durch einen verwandten Geist geboren zu werden. Er streift vor dem geschichtlichen Benehmen, das aus irgendeinem Interesse auf Kenntnisse von Meinungen auszieht, als ein fremdes Phänomen vorüber und offenbart sein Inneres nicht. Es kann ihm gleichgültig sein, daß er dazu dienen muß, die übrige Kollektion von Mumien und den allgemeinen Haufen der Zufälligkeiten zu vergrößern« (Werke I, S. 168). Also machte erst das Epigonentum des neunzehnten Jahrhunderts aus der Geschichte ein Lagerhaus und ein Museum, eine Allschmeckerei oder, nicht viel besser, einen Kanon, um zu erdrücken. Der subjektlose Fleiß dieser Zeit erzeugte außer scheußlichen Kopien gewiß auch Monumentalwerke historischer Gelehrsamkeit, dergestalt, daß kaum mehr eine Stoffsammlung von der Treue im Kleinen, Bedenklichkeit im Großen zustande kommen dürfte, wie der Historismus des neunzehnten Jahrhunderts sie aufgebaut hat. Doch statt des lebendigen Erbes entstand eine Windstille des Wissens und der Kontemplation, die selbst vorhandene Produktivität lähmte oder gefährlich ablenkte Historismus ist auf allen Gebieten die Weisheit der Unfruchtbaren. Wirklich, nämlich selber geschichtsbildend erfahrene Geschichte liefert kein Erbe zum Erbbegräbnis ihrer selbst oder zum kontemplativen Sonntagsraum. Sie ist vielmehr, nach Ludwig Börnes vortrefflichem Gleichnis, ein Haus, das mehr Treppen als Zimmer hat, sie gleicht eher einer unfertigen Vorstadt als einem numerierten Ruinenfeld, sie kommt überhaupt erst aus gemeinsamer Zukunft entgegen, nicht aus der zu einem Grab gemachten, nämlich abgeschlossenen Vergangenheit. Daher eben ist das Exempel der Zukunft in der Vergangenheit das einzige, das erfreut, begeistert und lehrt. So allerdings und nur so, so aber unbedingt kann und muß, jenseits der Korruption, an das abendliche Kulturbewußtsein angeschlossen werden, ohne Lüge, ohne Illusion, unter anderen Sternen. Eine Gesellschaft, die als solche selber jenseits der /(1072) Arbeit stehen wird, wird zwar ebendeshalb keine abgetrennten Sonn- und Feiertage mehr haben, aber wie sie das Steckenpferd als Beruf, das Volksfest als schönste
Erscheinung ihrer Gemeinsamkeit haben wird, so wird sie auch, in einer glücklichen Ehe mit dem Geist, mit ihm ihren festlichen Alltag erfahren können. Damit kein klassenloser Bildungsphilister entsteht; damit gerade die Bildung an der Front bleibt, statt im Epigonentum. Sorge des Daseins bleibt genug, auch wenn die schäbigste, die des Erwerbs, abgeschafft ist; Bedürftigkeit bleibt genug, die zu Informationen drängt, und zu den fünftausend Jahren Kulturgeschichte, als einem einzigen, unbeendeten, fortlaufenden Tag. Je mehr aber die Gesellschaft ökonomisch stimmt, je geringer ihre von daher stammenden Antagonismen sind, desto genauer treten dann die echten Unstimmigkeiten der Existenz hervor, die menschenwürdigen, zu deren Erhellung eben die Kultur ihren Feldzugsplan hat, erst recht haben wird. Sie war oft gerundet, aber nie geschlossen, nie eine Summe von Fertigprodukten; gerade die großen Bildungswerke bewähren ihren fortwirkenden Überschuß über die versunkene Ideologie, innerhalb derer sie entstanden sind. Die Kunst, Gesang in den Lüften zu hören, erscheint dann nicht mehr als eine Flucht oder gar als interessierte Verhimmelung eines schlecht Vorhandenen; sie erscheint nicht mehr als voreilige Lösung gesellschaftlicher Widersprüche in leuchtendem Spiel, sondern der Vor-Schein des Rechten tritt weiterwirkend, als allein weiterwirkend hervor. Das ist die Nachreife jedes großen Werks, nachdem es vom Baum seiner Zeit abgepflückt und dieser Baum selber längst verschwunden ist; Reiche vergehen, ein guter Vers bleibt und sagt, was - bevorsteht. Dieser zur Stapelware so wenig geeignete Vor-Schein wird also erst recht wirken, wenn der uneigentliche andere Reflex, der der bloßen Klassenideologie, von ihm genommen ist. Was gerade diesen Vor-Schein, als Freude und Lehre eines wahren Dopo lavoro, angeht, so wurde oben, beim Problem der Begegnung der utopischen Funktion mit der Ideologie, mit selber vor scheinender Bedeutung gesagt: » Kulturschöpferisch ist so allemal nur die gestaltende Traumkraft zu einer besseren Welt oder die utopische Funktion, als überschreitende. Diese Funktion setzt in der Ideologie erst das, was ohne Phrase und Heuchelei, auch ohne Eigen- /(1073) tum, Illusion und Aberglaube genannt werden kann, und sie bildet als einzige das Substrat zum Kulturerbe. « Und: »Derparasitäre Kulturgenuß erlangt durch die Einsicht in die immer adäquatere Richtung zu unserem Identischwerden und durch die Verpflichtung hierzu ein Ende; Kulturwerke gehen strategisch auf... Sie sind nun, vom philosophischen Utopiebegriff her, kein Ideologiespaß höherer Art, sondern versuchter Weg und Inhalt gewußter Hoffnung» (Seite 179 f.). Und gibt es immer noch ein menschliches Teil, das nicht oder nicht ganz verkauft ist, so ist dieses ebenso das gleiche, das noch nicht zu sich frei geworden ist. Darum sucht es nicht zum wenigsten in der Muße seine Lossprechung; Kultur bildet so, in der Muße, die ihre Arbeit ist, statt der Illusionen des Feierabends Substanzen der wirklichen Freiheit. Denn nichts ist bedrohter und hoffnungsvoller als diese, nichts braucht mehr Bebauung als dieses menschliche, noch allzu wenig menschliche Feld. Die Umgebung der Freizeit: Utopisches Buen Retiro und Pastorale Heinrich:
Man vergißt.
Paul:
Aber etwa« fehlt.
Jacob, Heinrich, Joe:
Wunderbar ist das Heraufkommen des Abends Und schön sind die Gespräche der Männer
unter sich. Paul:
Aber etwa« fehlt.
Jacob, Heinrch Joe:
Schön ist die Ruhe und der Frieden. Und beglückend ist die Eintracht
Paul:
Aber etwas fehlt.
Jacob, Heinrich, Joe:
Herrlich ist das ohnegleichen ist die Größe der Natur.
Paul:
Aber etwa« fehlt.
einfache
Leben
Und
Brecht, Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny Man ahnt noch oder wieder, wie man sein freies Leben zu verbringen wünscht. Aber außer dem Wie der Freizeit kommt es auf ihr Wo an, auf den schöneren Freiraum. Auch beim Fest, beim gebildeten Abend wird die gewohnte Umgebung verändert und geschmückt. Gar eine längere Zeit der Muße verlangt ent- /(1074) schiedenen Raumwechsel, den sogenannten Abbruch der Zelte. Die Ferne von Geschäften, welche Ferien heißt, muß buchstäblich eine sein, eine Umstellung der Luft, der Wege, Dinge selber. Und der Raum um diese Freizeit, ohne Betrieb, wird ersehnt und angesehen als der Schutzraum des einfach-ungebundenen Lebens: Freizeit-Raum ist dann die menschenleere, doch nicht menschenfeindliche, kurz die zur Idylle utopisierte Natur. Besonders gilt das für jenen Feierabend, der Lebensabend heißt, also für Dopo lavoro als vollendete Ferien, fürs Buen Retiro. Und die sozusagen selber zufriedene Natur darum herum erscheint als der arkadische Inhalt, der gleichsam automatisch die Abwesenheit von Geschäften, vielleicht sogar von Vergnügen positiv ausfüllt. Es braucht nicht betont zu werden, daß Natur in diesem Einfachheits- und zugleich Erfüllungssinn eine sozialutopische Kategorie ist; daß sie gerade deshalb zu der Gesellschaft gehört, weil sie dieser und ihrer Künstlichkeit, auch Leere, kontrastiert. Als diese Kategorie war sie wechselnd in den älteren Freiraum-Wünschen - von Diogenes gegen die Polis ausgespielt worden, von Rousseau gegen die Feste des Feudalismus, von Ruskin gegen den Maschinenkapitalismus. Mit immer wechselndem Inhalt, eben je nach der Beschaffenheit der jeweiligen Gesellschaft und ihrer Zivilisation, von der die Robinsonade abstieß. Und doch muß festgehalten werden, allein schon, um die eigentümliche Fraglosigkeit aller Freiraum-Träume zu verstehen, im Unterschied von den so oft verlegenen Ausführungen der Freizeit-Träume: Es gibt ein Gemeinsam-Sachliches in den arkadischen Kontrastwünschen, das fast einen ebenso langen Atem hat wie die von ihnen gesuchte Natur. Und trotz des ungeheuren Übergewichts bloß Sozialutopischen, der sozialen Versicherungen und des Kontrastes im Pastorale-Bild: die Landschaft vor den Toren, dieser objektive Faktor, bot sich zu solchem Bild immerhin dauernd an. Arkadien wurde seit je unter Bäume, an Quellen und andere Paradieselemente gelegt, nicht in die noch so schimmernde Stadt. Ein Rest dieser sehr alten Freiraum-Utopie leuchtet noch in jedem Zusammenklang mit der Natur und dem, was der Städter davon erwartet, empfängt. Wie das Volksfest in den romanischen und slawischen Ländern, so dürfte
die Naturfreude in Deutschland am lebhaftesten entwickelt und erhalten /(1075) geblieben sein. Doch Dopo lavoro verlangt überall, in seinen Raumträumen, ein Stück vom großen Pan; und er gibt der Muße durchaus einen Saal her. Lebe im Verborgenen, dieser Ratschlag ist ebenso bedenklich vereinzelnd wie unbedenklich still. Er bezieht sich zunächst aufs Siedlertum, zu dem das einsame Land Platz gibt, dann aber auch auf die ländliche Ruhe. Zum besonderen Dopo lavoro dieser Stille, als der des Lands, gibt die Schlaflehre Freuds einen gewissen Beitrag. Denn nach ihr geht der Schlafwunsch auf Abwendung von der Außenwelt, die Libidobesetzung der Objekte, die Objektbesetzung der Libido läßt nach, Libido und Ichinteresse sind wieder, in vollem Narzißmus, vereint. Das erzeugt die stärkstmögliche Erholung, nämlich die der psychischen Rückkehr in den Mutterleib, in die objektlose Isolierung. Und in der Tat fällt von hier aus auf die eigentümliche Geborgenheit ein Licht, welche der der Stadt Entronnene in der Natur finden mag. Die vorhandenen Objekte spürt er als keine störenden; so entsteht in der dadurch fundierten Stille ein besonderer Schutzraum, eben ein Mutterraum der Muße. Auch Schreiben in der Nacht, Schreiben auf dem Land haben gleicher Art diese Zurückgezogenheit für sich: Stille und Dunkelheit, die zwei ernsten Schwestern, oder aber: der Narzißmus überzieht sogar die Naturobjekte selbst, so daß sie nicht nur nicht stören, sondern wie ein Teil des Ichs erscheinen; dann fallen, im Schein völliger Verschmelzung, die Spannungen zwischen Ich und Nicht-Ich vollkommen weg. Dann hört das Objekt auf, ein durch Arbeit zu überwindendes zu sein, wie das besonders im kapitalistischen Betrieb der Fall ist und in seinem Verhältnis zum Material. Dann klingt sogar, angesichts der Natur, jener prälogisch-glückliche Animismus an, den Byron so ausdrückt: »I live not in myself, but I become / Portion of that around me; and to me / High mountains are a feeling.«. Das Feiertagsgefühl in der Natur ist derart nicht notwendig die einsame Seele und ihre Mutter, trotz des Narzißmus, gegebenenfalls Solipsismus in seiner Grundlage. Das Mit-sich-selbst-Alleinsein, ja, Ohne-sich-Alleinsein in der Natur kann vielmehr völlige Objektbesetzung haben, nur eben keine dem Selbst so sehr entfremdete. Der Freiraum jenseits der Arbeit wird dann selber einer jenseits der Beschwerde; er gibt in seiner Ruhe, /(1076) vor allem der anorganischen, und der Bläue darüber Material dazu. Und genau dieses Gefühl der Nichtentfremdung in der Stille, in der Landschaft, die aufnimmt, hat auch der Natur jedesmal den ganz besonderen Zufluchtscharakter, den Friedenscharakter verliehen. Er kommt - wiederum zunächst nur als soziale Kategorie - zu dem Protest gegen die Künstlichkeit hinzu, die der Naturfreund hinter sich zu lassen glaubt. Oft mit Selbstbetrug, so dann, wenn die herrschende Klasse Naturgenuß ganz als Schlaf verabreicht. Oft mit Defätismus, so dann, wenn das Treiben auf der Menschenebene als unheilbar öde angegeben wird und der große Pan die sozialen Widersprüche auflösen soll. Oft aber auch tritt die Ruhe der Natur als wirklicher Aufruf zum Rechten auf den Plan, als Korrektiv gegen alles Erquälte, woran keine Gesundheit, gegen alles Künstliche, woran kein Segen ist. So herausgehoben wie dieses stille Walten, so ohne alle Kleinigkeiten möchte die Muße, auf ihrer Höhe, dreinsehen. Mitsamt den Musen, die sie gegebenenfalls bewohnen: das Murmeln der Bergquelle auf dem Parnaß und Helikon ist in der griechischen Mythologie, mit mehr als mythologischer Bedeutung, die Naturgrundlage der Musen. Und als eine Grundlage des Ungemeinen, Erhobenen, Erhabenen selber wurde auch dann, als keinerlei Animismus sich mehr gehalten hatte, doch die Naturstille pointiert, jene, die zum Olymp gehört. Der Neuplatoniker Jamblichos bemerkt, die Götter erkenne man am Schweigen, die Menschen am Reden, und so wachse der Lärm (die vergebliche Unruhe) immer lauter, je weiter
man sich vom Licht des Himmels entferne. Es ist das ein Naturerlebnis, das auch jenseits der Mythologie gleichsam naiv lebendig geblieben ist: eben der Höhe gegenüber, der Abgeschiedenheit der Höhe. Dort halten seit der ästhetischen Entdeckung der Alpen die großen Berge ihre Entronnenheit aufrecht, umgeben von Sonne und Schweigen. Dort stehen vor allem die hochblickenden Sterne, über einer unsichtbar gewordenen, ja zu einem einzigen Flachland herabgesetzten Erde; Erhabenheit und Schweigen schlechthin verbinden sich an ihnen mit dem Friedenscharakter einer so gekrönten Natur. Omnia sub luna caduca: das bedeutet in diesem Zusammenhang, trotz eines kaum mehr nacherfahrbaren Gestirndienstes, daß die ungeheure Tiefe über dem Mond als völlige Situationslosigkeit /(1077) berührt, als völliges Jenseits der Beschwerde. »Der weite Himmel, der sich über der schmählichen Gemeinheit der Erde breitet«: was so Tolstois schwerverwundeter Andrej Bolkonskij auf dem Schlachtfeld von Austerlitz sieht und erfährt, das konzentriert eine Symbolerfahrung von Millionen - im Feierabend, der ihnen zur Feiernacht geworden ist. Auch wenn später, mit den Augen der Stadt, nur noch jenes Firmament übrigbleibt, das ein Nichts verdeckt. Der bestirnte Himmel gibt letzthin die männliche. Komponente zum Muttergefühl in der Natur, er gibt die Komponente der Erhabenheit zu jenem Friedenscharakter, mit dem gerade die Naturbetroffenheit großen Stils kommuniziert. Und die Erfahrung des bestirnten Himmels gibt dem Pastorale noch mehr: sie zeigt an, daß das Dämonische in der Natur, dieses dem Pastorale nur scheinbar oder nur in seinen idyllisch ausgesuchten Erscheinungen fremde (gerade Beethovens Pastoralsymphonie enthält den Gewittersturm), - daß dieses große Menetekel gegen Enge und Abstraktheit der Zivilisation auch einem Abgrund der Höhe, nicht nur der Finsternis in der Natur zugehören vermag. Das gefühlt Natur-Erhabene insgesamt gibt zu solch noch Verschlossenem oder Uneingemeindetem einen bedeutenden Kontakt und keinen, der nur im Gemüt des Menschen bestünde, statt auch im Gebirgs-, Meer- oder Himmels-Objekt dieser spezifischen Betroffenheit. Das Pastorale unterhält insgesamt über seinem Flucht-Individualismus, seiner Kontrast-Ideologie, seiner Sehnsuchts-Utopie diesen Kontakt mit objektivem Material, mit jenem, das eben nur in der Landnatur sich anbietet, nie in der Stadt. Dergleichen Kontakt ist gewiß noch nicht dasselbe wie eine, sei es auch nur im farbigen Abglanz gültige Abbildung, doch gehen in ihm, auch wo er noch dicht mit Mythologie versehen ist, Elemente eines objektiv-latenten Freiraums um, ja eines solchen in der - Natur selber. Gerade auch die jüdisch-christliche Hoffnung, dieser Tod des großen Pan, hat dem Pastorale nicht ganz absagen können, auch nicht wollen. Das Osterfest steht ganz im Frühling, das Weihnachtsfest nimmt die aufsteigende Sonne, wenn nicht mehr als seinen Inhalt, so doch als seine Begleitung. Dem steht der vom Deutero-Jesajas an wachsende Welthaß der Bibel nicht entgegen, ein Welthaß, der sich vom Willen der politischen Umwälzung auf den zur radikalen /(1078) Naturumwälzung ausgedehnt hat. Denn obwohl natura naturata hier nur noch eine sperrende Kruste ist, obwohl Erde und Himmel hier einen Platz einnehmen, der nicht ihnen, sondern erst dem neuen Himmel, der neuen Erde zukommt, obwohl in dem neuen Himmel kein Mond und keine Sonne mehr scheinen und das Himmlische Jerusalem kein Arkadien oder selbst Elysium mehr ist, sondern eine ewige Stadt: so bleibt doch die Natur auch in diesem ebenso unheidnischen wie ausgewählten Pastorale, in dem des christlichen Mythos, voller Bedeutungen, voller Chiffern, die - als hoher Berg, als lebendiges Wasser, als Holz des Lebens, als Edelsteine - eben in die apokalyptische Stadt eingeliefert werden. Eine andere Welt steht nun auf dem Platz, den die vorhandene besetzt hat und zu deren neuen Räumlichkeiten reines Wasser, hoher Berg,
Kristallicht transparent sind. Das Barock besang ständig dieses ganz unheidnische Pastorale im vorhandenen der Naturlust; so bei Angelus Silesius: »Blüh auf, gefrorner Christ, der Mai ist vor der Thür, / Du bleibest ewig tot, blühst du nicht jetzt und hier« (Cherubinischer Wandersmann III, Sinnreim 90); so bei Jakob Böhme: »Der Himmel Kräfte arbeiten stets in Bildnissen, Gewächsen, Farben, zu offenbaren den heiligen Gott, auf daß er erkannt werde in allen Dingen« (Theosophische Sendbriefe 1, § 5). Also auch die christlich intendierte Sprengung der Natur kann nicht umhin, Kategorien wie Mai, Bildnisse, Gewächse, Farben in ihren Sabbat zu transponieren, damit er nicht nur eine Auswendigkeit wie lauter Inwendigkeit, sondern ebenso eine Inwendigkeit wie lauter Auswendigkeit sei. Wie sehr mag erst eine weniger oder anders transparent gewordene Beziehung zur Natur die Muße an dem unauslöschbaren Pastorale bewähren. Ja diese Bewährung hat schließlich, wenn sie gar in der Abbildlichkeit, nicht nur im farbigen Abglanz, ihrem Pastorale begegnen will, noch eine besondere Schwierigkeit auf dem Weg. Nämlich die des doppelten Bewußtseins unserer Zeit hinsichtlich der Natur: des mechanischen hier, des qualitativ-ästhetischen dort. Es ist die Schwierigkeit des Dualismus, der sich zwischen dem neueren, rein kalkulatorischen, also völlig qualitätsfreien Inhalt der Physik einerseits und der Natur der Landschaftserfahrung, als einer völlig qualitativen, aufgetan hat. Bildnisse, Gewächse, Farben, gar Schönheit, /(1079) Erhabenheit, Ruhe, Frieden sind in dem Mechanischen, das sozusagen als die Stadt-Physik auftritt, ebenso irreal, wie sie in der Landschaftsmalerei, auch älteren qualitativen Naturphilosophie, einen Inhalt des Naturbezugs der Muße bezeichnen. Nur einmal in der Geschichte des reflektierten Arkadien hat sich eine Brücke zwischen den beiden Standorten gezeigt: man kann sagen: zwischen dem mechanischen Gesichtspunkt und dem qualitativen Aussichtspunkt. Das geschah in Schillers Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung, wo Natur im Sinne Galileis, aber auch im Sinne Shaftesburys gefeiert werden kann als »das ruhige Wirken aus sich selbst, das Dasein nach eigenen Gesetzen, die innere Notwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst«. Das Wunder zieht auf, daß hieran selbst Gegensätze wie die zwischen Newtons und Goethes Natur versöhnt erscheinen, doch freilich: die Gleichung verbindet nicht den mechanischen Kalkül und den qualitativen Natursinn, sondern sie geschieht auf Grund einer »Gesetzmäßigkeit« hier wie dort. Diese Gesetzmäßigkeit überbrückt aber nur scheinbar, sachlich hat sie selber einen doppelten, untereinander entzweiten Sinn. Im Kalkül ist sie die der bloß äußeren Notwendigkeit, die an der Kette der Kausalität verläuft. Im Schillerbild Natur ist sie die der bildend-inneren Notwendigkeit, die im Organismus der Naivität, in den Qualifikationen der Substanzialität verläuft. So gibt es allerdings zwischen mechanischer und Landschaftsnatur keine Synthese; eine Natur ohne Qualitäten ist der der Wälder, Berge, Lichtsterne weit fremder, als es die christlich verneinte war. Und gerade Schillers Nicht-Synthese zwischen dem Mechanischen und dem Qualitativen macht die Schwierigkeit, die gleichsam unaufgearbeitete Wahrheit des Pastorale-Blicks auf bürgerlichem Boden besonders kenntlich. Sie betrifft einen anderen Sektor Natur als den der mathematischen Naturwissenschaft zuständigen, aber sie bezieht sich auf ihn in vorkapitalistischer, in noch nicht nachkapitalistischer Weise. Der Pastorale-Blick, der Blick in Wald, Gebirge, Meer, hat - gleich den Volksfesten - ein großes, wunderbares Element. Nicht-Mechanei lebendig erhalten, das in die konkrete Muße einmal eingehen kann und wird; jedoch der Zugang dazu ist, als vorkapitalistischer in kapitalistischer Zeit, noch weithin archaisch-romantisch. Es ist darin ebensoviel Beschwö-/(1080) rung einer versunkenen Objektivität wie Betroffenheit und Antreffung einer unabgegolten
heraufkommenden, das heißt, einer Wahrheit des Pastorale, an der sich eben die Muße zu bewähren hat und bewähren kann. Aber nur eine nicht mehr abstrakte Wirtschaftsweise wird auch in Sachen der Naturerfahrung jene Aufhebung der Unterschiede von Stadt und Land bringen, die unter ihren anderen Folgen auch die Aufhebung des Dualismus zwischen Stadt- und Landschafts-Physik enthält. Das Pastorale selber, mit dem ganzen Erbe einer nicht ausgebeuteten, sondern geliebten Natur, hält hierbei, in seiner archaisch-romantischen Hülle, eine utopische Art Ruheland im Blick - ohne Schlachtfeld von Austerlitz. Ein Ruheland, dem freilich etwas fehlt, indem der Mensch darin noch nicht selber ruhig ist und die Humanisierung der Natur eben noch großenteils im bloßen - Pastorale liegt. Erst tätige Muße auf allen Gebieten bringt einer aufgeschlossenen, einer nicht nur sub specie des Betriebs abgebildeten Natur näher; menschliche Freiheit und Natur als ihre konkrete Umgebung (Heimat) bedingen sich wechselseitig. Muße als unerläßliches, erst halb erforschtes Ziel Der Weg dahin ist ein wirtschaftlicher, Herren wie Knechte müssen weg. Die soziale Ordnung hebt beide auf, im gleichen Vollzug, und viel mehr dazu. Bisherige wirtschaftliche Widersprüche verschwinden, Unstimmiges, das bleibt, erzeugt kein äußeres und schmutziges Elend mehr. Die Unterschiede zwischen Hand- und Kopfarbeit, zwischen Land und Stadt verschwinden, vor allem aber, soweit möglich, die zwischen Arbeit und Muße. Sie sind ohnehin erst durch den Kapitalismus zu dieser Härte gelangt; vorkapitalistische Produktion kannte Arbeit mit mehr Anteil am Werk der Hände und Freude mit weniger Öde. Der Sozialismus hat, indem er von der Arbeit die Fron für andere entfernte, bereits weitgehend die Entfremdung von ihr genommen. Aber erst eine klassenlose Gesellschaft enthält den Boden, um die Arbeit, die zum Minimum herabgesetzte, vom Fluch der Entfremdung ganz zu befreien und die Muße vom Teufelssegen der »Grande Jatte«. Sie hebt die Entäußerung der Arbeit vom Menschen auf, jene, worin sich der Arbeiter selbst als entäußer- /(1081) ter, entfremdeter, als verdinglichte Ware fühlt und deshalb in seiner Arbeit unglücklich ist. Die klassenlose Gesellschaft entfernt mittels der gleichen Rück-Entäußerung aus der Muße die ungelebte Leere, den der Öde der Arbeit durchaus korrespondierenden (und nicht kontrastierenden) Sonntag. Sie entfernt aus der Muße vor allem die falsche, genährt von jener Art Ideologie, welche zum Schein gehört, folglich in Phrase und vollem Schwindel endet. Diese Ideologie begann erst mit der Erscheinung von Herr und Knecht, ist einzig mit der arbeitsteiligen Klassengesellschaft gesetzt und verschwindet mit ihr, als Trennung von sozialem Sein und Bewußtsein. Der Ursprung dieser Ideologie, wie Marx ihn aufzeigt, erläutert gerade ihr Ende ohne Auferstehung: »Die Teilung der Arbeit wird erst wirklich Teilung von dem Augenblick an, wo eine Teilung der materiellen und geistigen Arbeit eintritt. Von diesem Augenblick an kann sich das Bewußtsein wirklich einbilden, etwas anderes als das Bewußtsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen - von diesem Augenblick an ist das Bewußtsein imstande, sich von der Welt zu emanzipieren und zur Bildung der >reinen Theorie<, Theologie, Philosophie, Moral überzugehen. Aber selbst wenn diese Theorie, Theologie, Philosophie, Moral etc. in Widerspruch mit den bestehenden Verhältnissen treten, so kann dies nur dadurch geschehen, daß die bestehenden gesellschaftlichenVerhältnisse mit der bestehenden Produktionskraft in Widerspruch getreten sind« (Deutsche Ideologie, Dietz, 1953, S. 28). Marx gibt mit diesen Sätzen unzweideutig die Klassenscheidung als Ursprung,
die Klassengesellschaft als Halt der Ideologie an, freilich, - und dies Motiv wird nun entscheidend wichtig: »Theologie, Philosophie, Moral et cetera«, also Ideologie, konnte auch »in Widerspruch mit den bestehenden Verhältnissen treten«; Ideologie bleibt also übrig, die nicht bloßer Schein, bloße Lüge ist. Sie ist letzteres als falsches, besonders als ausgenutzt falsches Bewußtsein der bestehenden Praxis, doch nicht als der von Marx zuletzt angegebene Widerspruch der Theorie mit den bestehenden Verhältnissen. Das heißt als Ausdruck eines Widerspruchs, in den die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse mit der bestehenden Produktivkraft getreten sind, und vor allem umgekehrt. Gegebenenfalls /(1082) also ist hier der Ort für jene Ideologie ganz anderen Sinns: für keine vernebelnd-rechtfertigende, sondern für eine revolutionär-kontrastierende. Sie taucht gerade in der Wende zwischen Klassengesellschaften auf und wie sehr erst in der Aufhebung von Klassengesellschaft insgesamt. Diese Art Ideologie ist ihrer kämpferischen Absicht und zu großem Teil ihren Inhalten nach lediglich als kontrastierende auf die gesellschaftliche Basis bezogen, auf der, das heißt: gegen die sie entstanden ist. Sie spiegelt und rechtfertigt diese Basis nicht, sie bringt umgekehrt die noch nicht voll entwickelten, noch nicht zum politischen Durchbruch gekommenen Elemente der neuen Gesellschaft zu Bewußtsein, die im Schoß der alten herangereift sind. Das vollzog sie in der Vergangenheit, wegen der damals noch unerkannten Triebkräfte der Geschichte, mit mancherlei Illusionen, doch niemals mit irgendeiner Zweckabsicht von Vernebelung. Konträr, diese Art Ideologie wurde auf Grund eines grundehrlichen; revolutionärprogressiven Auftrags erzeugt, und noch ihre Illusion trägt heroisch-utopische Züge. Wobei ihr produktives Amt ist, die noch gar nicht recht vorhandene Basis der neuen, vom Eis befreiten Gesellschaft mit der Gewalt der Theorie zu aktivieren; sonst käme es viel schwerer, viel unaufgeräumter zur Erscheinung dieser Basis. Und darum: diese Art Ideologie, die des ehedem revolutionären »Widerspruchs mit den bestehenden Verhältnissen«, bleibt mit dem Feuer und den Zielbildern ihres Widerspruchs weiter lebendig, nämlich als eines antizipierend humanen. So arbeitet die französische Revolutionsideologie, minus Illusionen, minus des in ihnen idealisierten Reichs der Bourgeoisie, im Raum des progressiven Bewußtseins fort; so hat erst recht die Ideologie des deutschen Bauernkriegs, minus ihrer mythologischen Bestandteile, ein Zielfeuer in sich, das unveraltet ins revolutionäre Gewissen schlägt, vorzüglich auch in die Phantasie dieses Gewissens. Und hin zur Muße, so ist die so bezeichnete, die schwer befriedigte Ideologie nicht nur der aufscheuchende Hecht in einem möglichen Karpfenteich der Muße, sondern sie verhindert, daß diese überhaupt ein Karpfenteich sein kann, soll heißen: ein Glück als Faulbett statt als Expedition und Lebensfülle. Die Widersprüche in der sozialistischen Gesellschaft, wie gar in der künftigen klassenlosen, sind keine ant- /(1083) agonistischen mehr, aber wie sie als nichtantagonistische nicht aufhören, so auch nicht das Amt der Ideologie, innerhalb der allgemein ermöglichten Muße für Unstimmigkeiten Sorge zu tragen und über ihre Lösung antizipierende Verfügungen zu treffen. Auch wenn diese Unstimmigkeiten endlich rein menschliche, menschenwürdige geworden sind, also die einzig wahren Existenzsorgen betreffen. Keine Aktivierung einer neuen Basis ist dann mehr nötig, diese Aufgabe wurde durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel gelöst, wohl aber hat die kommunistisch gewordene Ideologie das Amt, die immer reichere und tiefere Gestaltung der menschlichen Beziehungen zu aktivieren. Denn es gibt gerade in der Muße noch eine mächtige Karriere der Solidarität, ja sie fängt erst an zu beginnen. So fährt also die Ideologie des Scheins gänzlich dahin, hingegen nicht, in keiner Weise, die der sozialmoralischen Bewußtseinsbildung. Diese Art Ideologie
wird in allen ihren Hauptzügen, auch in den nicht überwiegend auf Natur bezogenen Gebieten der Kunst und des ferneren Überbaus, eine Ethik sein. Die neue Bedürftigkeit der Muße selber produziert derart einen neuen Überbau über einer neuen Plan-Nichtwirtschaft. Sie produziert eine immer wesenhaftere Ideologie der zwischenmenschlichen Beleuchtung - und das eben im rein gewordenen Dienst der Muße, zur Beförderung ihrer humanen Inhalte. Was alles nicht stimmt und zu beraten ist, das geht aber über die gesellschaftliche Reihe weit hinaus. Und zwar schon dort, wo der Bezug auf den wirtschaftlichen Unterbau und seine Umwälzungen entweder kein unmittelbarer ist, oder wo überhaupt kein Überbau vorliegt. So in der Sprache, in der Logik, der allgemeinen Dialektik, sowie - wegen der hier von den Menschen sichtbar unabhängigen Außenwelt - in der Naturwissenschaft (minus ihrer philosophischen Theorien). Nun gibt es allerdings gerade in der physisch-organischen Beschaffenheit der Menschen äußerst starke Elemente, kraft derer zwar die Natur vom Menschen, aber nicht der Mensch von der Natur unabhängig ist. Das stärkste dieser Elemente findet sich im Tod, und ebenso bildet er das deutliche Feld eines Widerspruchs, sogar eines besonders harten, der keinesfalls nur ein gesellschaftlicher ist. Ja der Tod illustriert geradezu einen doppelten Widerspruch, wie er mit solcher Inten/(1084) sität und Qualität in gesellschaftlichem Druck und der Reaktion darauf zwar angedeutet ist, doch dermaßen ausgeprägt überhaupt nicht vorkommt. Gemeint ist jener Widerspruch, worin die Negation sowohl als protestierende im Subjekt steckt, das das ihm Entgegenstehende verneint, wie in der entgegenstehenden Objektivität, als einer hemmenden, gar vernichtenden. Und beides eben wirkt am härtesten im Tod als dem Naturphänomen der Unstimmigkeit schlechthin (in Ansehung des normalen Lebens-, Arbeits-, Lichtwillens); und der Doppelwiderspruch wirkt, wenn auch weniger schneidend, nicht im Tod allein. Denn gesellschaftlich nicht erschöpfbare Konflikte sind auch um die Stellung des Menschen im Universum insgesamt versammelt. Das heißt, um die währende Disparatheit des Universums (seiner Größe im Raum, seines Entstehens und Vergehens in der Zeit) zu so vielen menschlichen Zweckreihen, besonders zu den auf dieser Erde radikal, total (regnum hominis) abgezielten. Zuverlässig aber gehören auch die so bezeichneten Diskrepanzen, indem sie keine gesellschaftlich erzeugten sind, nicht zu irgendeinem Überbau; - gehört aber ihr Bewußtsein deshalb auch nicht in eine Ideologie? Zweifellos gehören diese Diskrepanzen nicht in eine des üblichen Sinns, gehören nicht dahin nach ihrem objektiven Naturbestandteil. Dagegen hat diese Art von Diskrepanzen im Bewußtsein, das dadurch aufgescheucht wird, gerade eine ganz besondere Struktur von Ideologiebildung erzeugt. Eine, die nicht auf gesellschaftliche Widersprüche reagiert, auch nicht auf die gleichsam eingemeindete und domestizierte Beziehung der Menschen zur Natur, sondern genau auf die Natur nach der Seite ihrer Negation oder selbst Disparatheit zu den Menschen, zu ihren kreatürlichen wie kulturell ausgebildeten, ja kulturell besonders geschärften Zweckangelegenheiten. Ohnehin gehören die philosophischen Auskünfte, welche über die Stellung des Menschen im Kosmos ergangen sind, zur Ideologie (entsprechend den philosophischen Theorien innerhalb der Naturwissenschaft). Darüber hinaus aber bilden die Notierungen von Widersprüchen mit keinesfalls zwischenmenschlichen Verhältnissen und die mannigfachen Denk- oder Wunschgedanken-Bildungen zu ihrer Auflösung wiederum eine Ideologie eigener Art, eine gesellschaftlich nur zum Teil (wie in der Mythologie) mit- /(1085) bestimmte. Diese Andersartigkeit gilt trotz der selbstverständlichen Verschlingung, die im Verhältnis der Menschen zu Menschen und zur Natur ja keinerlei Isolierung der
Naturbeziehung zuläßt. Trotzdem wirkt eine vom Menschen nicht nur unabhängige, sondern auch mit den Menschen weit weniger als im gesellschaftlichen Stoffwechsel vermittelte Natur notwendig auf die angegebene Unterscheidung hin. Eine bedeutende Einheit mit der gesellschaftlichen Erhellungs-Ideologie allerdings besteht: nämlich die Antizipation. Dergestalt, daß beide Arten Ideologie über die Hälfte Utopie mitenthalten, sowohl als antizipierende Formulierung einer neuen, mit den Produktionskräften übereinstimmenden Gesellschaft wie vor allem auch als Bedenkung der radikal-totalen menschlichen Zweckreihen und ihrer Stellung in einem vermittelten Universum. »Nur derart ist das an sich Nutzlose, Anarchische und allzu Literaturhafte der geistigen Gebilde überhaupt in den Rahmen, ins Relief zu bringen, vermittelst eines geschichtlich-teleologischen Hintergrunds, der allem, was die Menschen über sich an Werken erschaffen, Fluß, Strom, Richtung, Heilswert und metaphysischen Ort zuweisen läßt, den Ort der echten sozialistischen Ideologie, den Ort des großen Feldzugplans der Zivilisation und Kultur« (Geist der Utopie, 1918, S. 433). Das hier Gemeinte, das man also die Ideologie des Überhaupt nennen könnte, führt nun allsogleich wieder zur Muße hin, gemäß ihren letzten, doch unablässig in ihr verteilten Inhalten. Der Stachel des übermächtigen und wohl gar schmerzhaften Erstaunens über eine Welt, die so viel Tod und so ungeheure Disparatheit enthält, der Motor der kenntnisreichenHoffnung auf den im Prozeß befindlichen Charakter der gleichen Welt, als einer der heliotropen Materie, die die Menschen sind und von der sie umgeben sind: beides, Erstaunen wie Hoffnung, beschäftigt und substanziiert die Muße desto reiner und genauer, je freier vom Erwerb und schließlich von Arbeit sie in der Ordnung eine solche geworden ist. Die kulturelle Produktion verhielt sich bisher, trotz aller ihrer Bedeutungsländer, nur sporadisch zum Grundrißproblem einer besseren Welt. Dies Problem und sein Inhalt wird aber sogleich systematisch werden, sobald das schöne und große Werk nicht nur wieder sozialen Lebensgrund findet, sondern sobald, in einem sozial endlich ungeteilten /(1086) Lebensgrund, der Anteil der Betrugs- und Ablenkungs-Ideologie, samt dem ihr entsprechenden Flachgenuß der Freizeit, ja der Kultur als bloßer Schönillusion, erledigt ist. Sind der Staat und jede Regierung über Menschen verschwunden, dann werden die Regierung und Leitung durch Lehrer auch genug Freiheit und Muße antreffen, um nach den totalen Inhalten der Freiheit begierig zu machen. Um menschliche Antwort an die äußerst nackte Frage der Muße zu setzen, an das so endlich klar erscheinende Problem wie Wesen ihrer immer konkreteren Inhalte. Das Einschlagen der rechten Richtung führt in die Terra incognita Muße als in eine Terra utopica. Es wird dieses Einschlagen aber dasselbe wie ein Einschlag, nämlich in das ausstehende Bedenken dessen, was die Menschen überhaupt wollen und wie die Welt als Antwort sich dazu verhält. Dahin läuft, nach dem Ablauf ihrer bisherigen Vorgeschichte, das Interesse der tätigen Muße und ihrer beginnenden Hauptgeschichte, als der vermenschlichten Geschichte selbst. Wirkliche Muße lebt einzig vom jederzeit gewärtigten, zu guter Zeit vergegenwärtigten Selberseins- oder Freiheits-Inhalt in einer gleichfalls unentfremdeten Welt; erst darin kommt Land.
Ernst Bloch Das Prinzip Hoffnung Dritter Band [Klappentext] Ernst Bloch wurde am 8. Juli 1885 in Ludwigshafen geboren, studierte Philosophie und Physik und lebte zunächst als freier Schriftsteller in München, Bern und Berlin. 1933 emigrierte er in die Tschechoslowakei und 1938 in die USA. Von 1949 bis 1957 war er Ordinarius für Philosophie an der Universität Leipzig und seit 1961 an der Universität Tübingen. 1967 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Werke: Geist der Utopie, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, Spuren, Erbschaft dieser Zeit, Subjekt-Objekt, Das Prinzip Hoffnung, Naturrecht und menschliche Würde, Verfremdungen, Tübinger Einleitung in die Philosophie. Als Ernst Blochs «Prinzip Hoffnung« 1959 im Suhrkamp Verlag erschien, war es schon, obwohl bis dahin noch nicht vollständig publitiert, ein berühmtes Werk. Heute ist die Wirkung vielleicht nicht mehr die eines Lauffeuers, aber sie reicht tiefer: Das Antizipieren der Zukunft, das <>Träumen nach vorwärts«, das in diesem Werk philosophisch demonstriert wird, hat nicht nur das wissenschaftliche Denken ungemein angeregt, sondern ist tief in das Lebensgefühl der heutigen Generation eingedrungen. Geschrieben 1935-1947 in den USA durchgesehen 1953 und 1959 suhrkamp taschenbuch wissensschaft 3 Dritte Auflage, 26.-35. Tausend 1976 © Suhrkarnp Verlag Frankfurt am Main 1959 Suhrkamp Taschenbuch Verlag
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FÜNFTER TEIL (Identität) WUNSCHBILDER DES ERFÜLLTEN AUGENBLICKS (MORAL, MUSIK, TODESBILDER, RELIGION, MORGENLAND NATUR, HÖCHSTES GUT)
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Das Alles im identifizierenden Sinne ist das Überhaupt dessen, was die Menschen im Grunde wollen. So liegt diese Identität allen Wachträumen, Hoffnungen, Utopien selber im dunklen Grund und ist ebenso der Goldgrund, auf den die konkreten Utopien aufgetragen sind. Jeder solide Tagtraum meint diesen Doppelgrund als Heimat; er ist die noch ungefundene, die erfahrene Noch-NichtErfahrung in jeder bisher gewordenen Erfahrung. Das Prinzip Hoffnung, Seite 368
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NICHT IM REINEN MIT SICH Fahr, wohin du willst
Spruch
Von früh auf will man zu sich. Aber wir wissen nicht, wer wir sind. Nur daß keiner ist, was er sein möchte oder könnte, scheint klar. Von daher der gemeine Neid, nämlich auf diejenigen, die zu haben, ja zu sein scheinen, was einem zukommt. Von daher aber auch die Lust, Neues zu beginnen, das mit uns selbst anfängt. Stets wurde versucht, uns gemäß zu leben. Das steckt in uns, was man werden könnte. Meldet sich als die Unruhe, nicht hinreichend bestimmt zu sein. Jugend ist diesem Gefühl nur seine sichtbarste, nicht seine einzige Erscheinung. Das Mädchen ist darin, das sich für den Besten schmückt, den es nicht kennt. Der Jüngling ist darin, der sich dazu gehalten fühlt, dieser Beste zu sein, Großes zu vollbringen; er weiß nur noch nicht, auf welchem Gebiet. Der Mensch liegt sich in diesem Zustand auf der Zunge, er weiß nur noch nicht, wie er schmeckt. Alles bisher Gewordene wirkt als Hemmung, bestenfalls als vorläufige Hülle, so fällt sie ab. Das Innen sucht in Gang zu kommen, sucht die Handlung, die es echt und auswendig gestaltet. Jugend aber plaudert nur aus, was überall gilt, wo ein Mensch noch nicht erledigt ist. Auch der gewachsene Mann, wenn anders er nicht dürftig oder ungeschlacht ist, wird sein Leben oft runden, nie schließen; er will das weder, noch ist er dazu imstande. Gewünscht wird, das Unsere, das man dunkel ist und meint, auch herauszubringen und zu haben. Dies Geschäft wird einsam versucht oder zu Zweit oder in der Gruppe, gewollt ist jederzeit ein Leben, das von unseren Neigungen und Kräften nicht abgetrieben ist. Dergleichen ist vag, weil den meisten nicht einmal ihre Neigungen vertraut sind, und dann vor allem, weil keiner mit sich ins reine kommen kann, wenn alle Verhältnisse unter Menschen unreinlich sind. Aber was zu suchen, was zu fliehen ist, wird hier /(1090) dennoch gefragt, im Kreis der eigenen Haltung. Der Mensch tritt hervor, wie er sich wirksam möchte, und daß er sich meist erst so möchte, ermöglicht zugleich, daß ihm andere einreden können, wie er sich möchte. Er ist überall weit davon entfernt, in Form zu sein. Aus seiner Haut aber kann jeder heraus, denn keiner trägt sie bereits.
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HAUS UND SCHULE LEITEN AN Vor jedem steht ein Bild des, was er werden soll.
Rückert
Es soll etwas aus dem Jungen werden, gemacht werden. Die Jugend wird erzogen, rohes Fleisch ist nicht genießbar. Wird darum gehackt oder gekocht, zu den Namen verwandelt, die dann auf der Eßkarte stehen. Ein braver Mann, ein ordentlicher Mensch, schon gut, dagegen ist nichts, dafür ist viel zu sagen. Kein gemeines Wesen könnte sonst bestehen, zuverlässiger Fleiß muß sein. Aber der bürgerlich Nutzbare wird als klein gewollt, als besonders verkleinert, als künstlich gesichtslos, mit lauter weggelassener Farbe. Raucht nicht, trinkt nicht, spielt keine Karten, sieht keine Mädchen an, soll sich züchten und gezüchtet werden als sittlicher Kitsch. Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt, kleiner Mann, was nun, ist daher die Regel. Auch wenn seine Stunde schon dreizehn geschlagen hat, soll er noch besonnen sein. Geboren ist keiner dazu, alles wird erst in Ställen dazu gemacht. An sich gibt es viele kühne Vorgänge im jungen Menschen, noch undeutlich gerichtete. Sie werden aber in Haus und Schule genormt; kein Mensch krümmt sich beizeiten, da keiner ein Häkchen werden will. Doch Abrichtern in Haus und Schule handelt es sich darum, ein Unwahrscheinliches wirklich zu erzielen: daß sich Menschen gefallen lassen, was man nachher mit ihnen anstellt. Der Wille wird freundlich abgelenkt oder streng gebrochen, bis er zu Lächeln und Nicken übergeht. Der Verstand wird dazu geübt, daß er aus dem verabredeten Fragen und Antworten des Lebens, das den Angestellten erwartet, nirgends mehr ausbricht. Meist nur Diener sind bürgerlich beabsichtigt /(1091) und selbstverständlich nicht das, was dem Unterdrückten so nahe läge: Rächer. Im allgemeinen soll der Schüler auf den Nenner der Zeit gebracht werden, in die er geboren ist. Im besonderen auf den Nenner des Stands, dem er durch seine Eltern angehört; als Stand, dem Lesen und Schreiben anschlagen, galt lange freilich kaum der dritte, geschweige der vierte. Und hat die bürgerliche Gesellschaft, die sehr viel mehr geschulte Arbeitskräfte braucht als die feudale, im Lesen, Schreiben, Rechnen einen gemeinsameren Grund gelegt, so einen, auf dem der Arbeiter sitzen bleiben soll, während der bessere Herr zu Sprachen und mehr vordringt. Alles aber geht schließlich zusammen im Leitbild
Angestellter, dem verwaschensten, das es gibt. Jede Erziehung freilich ist auf ein Leitbild gerichtet, nur von ihm her kommt die Art der Zucht, nur zu ihm hin geht die Art des bildenden Wegs. Die Zucht kommt als laxere vom zerfallenden, unsicher gewordenen bürgerlichen Typ, als strenge vom älteren, der noch eine Noblesse nachahmte oder nachfälschte, die verpflichtet. Die laxe Zucht heißt neuerdings auch die progressive, als eine, die keinen beißt, aber auch in nichts hineinbeißt. Sie macht oberflächlich und unter dem Schein eines Wissens unwissend; aus dieser Art Schule kommt der playboy. Dagegen aus der altmodisch strengen Schule, der des Geschirrs, kommt immerhin der geprüfte Mann. Der Bildungsweg in beiden entspricht als Realschule dem unmittelbaren kapitalistischen Leben, als sogenannt humanistische fast meist den entwichenen, gipsenen Musen, die um dieses Leben herum hergestellt oder überliefert werden müssen, damit es nicht ganz so unschön und seelenlos dreinblickt. Das Ziel der Vorbereitung, ob sie mehr durch Nützlichkeiten oder mehr durch griechische Verse geht, bleibt aber allemal das botmäßige Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft. Eines, das nie bereut, was es gelernt hat, aber auch nie Gebrauch davon macht, um zu erfahren und zu erlernen, was den oberen Aufsichtführenden unbequem sein könnte. Diese Schule setzt auch bei Erwachsenen nicht aus, der Mensch, sagt ein römisches Sprichwort, das es wissen muß, ist immer Rekrut. Über allem lockt der gut verdienende Gentleman, er allein ist der substantial citizen geworden. Die Deutschen blickten überdies noch auf den Korpsstudenten, auf den Offizier, ersehnten für ihre Söhne diese vorleuchtende Pracht. Klirrend zogen die /(1992) letzten Ritter durch Träume, die den letzten Schliff geben, durch Nacheiferung, die nie erreicht. Der durchschnittliche Kleinbürger ist vor solchen Bildern überall fromm, er blickt aufwärts zum höheren, entschiedeneren Leben. An solchem Blick selber ist nicht einmal ein Verächtliches, der Lehrer an der Mittelschule hat ohnehin nicht zum Vorbild gereicht, und im späteren Erwerbsleben herrscht nicht eben das Lamm. Indes, es käme auf die Art des entschiedeneren Lebens an, auf sein wirkliches Höhersein als alles Bisherige. So aber bleibt Erziehung bis ans Ende das konformste aller Geschäfte, noch ist kein einziges ihrer Leitbilder eines von morgen. Zuletzt meldete sich sogenannte sozial erzieherische Arbeit, Bildung zum Staatsvolk und dergleichen. Nützliche Mitgliedschaft wird hier erst recht abgezielt, doch am wenigsten nützliche für die unterdrückte Schicht, für ihren eigenen verstandenen Willen. Sondern dieser soll als klassenbewußter verhindert werden, und so wird in der bürgerlichen Erwachsenenbildung nicht nur abgestumpftes Wissen, sondern immer mehr geschärfte Lüge verabreicht. Wahrheitsgemäß kann aber nur zum Leitbild Genosse erzogen werden, wie das in einem großen Land bereits der Fall. Das ist zugleich die einzige Art Erziehung, die utopisch im guten Sinn ist, soll heißen, die das Alte vom Neuen her begreift und erlernt, nicht umgekehrt, und die die kanonische Art des Wollens und Wissens nicht ins Abgelebte oder bewußt Gehemmte zurückbringt. Aufrechter Gang kommt hier auf, Selbersein im Gemeinsamsein, Schüler wie Lehrer leben vorn, an ständig vorrückender Grenze. Sie leben dort, wo das Ziel selber jung ist, zu dem hin der Lernende hell wird und in Form kommt.
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LEITBILDER SELBER UM MENSCHENÄHNLICH ZU WERDEN Ein Mann, der nicht eine Art Traumbild seiner Vollendung in sich trägt, ist genauso monströs wie einer ohne Nase. Chesterton
Keiner von uns allen könnte nicht auch ein anderer sein. Ein Strauch tut sich vorerst genug damit, einer zu sein. Doch aus einem Menschen kann sozusagen alles werden, unfertig wie er ist. Dunkel und unbestimmt, wie er an sich selber, in seinen Falten ist. Eine Frau, der es schlecht geht, wird, allein gelassen, gleichsam zu allem fähig. Ein Mann, in prekäre Lage gebracht oder aus seiner bisherigen Lage jäh entfernt, ist immerhin imstande, stehenden Fußes unter die Drachen zu gehen. Beispiele davon sind so zahlreich wie der Sand, auf den sie gebaut sind. Sie fallen sowohl auf die düstere Seite des Trau-schau-wem wie auf eine tüchtig verblüffende. Freilich ist hierbei einiges vorgearbeitet, kein Mensch ist nur Wachs, und keiner ist auch ein frei aus sich rollendes Rad. Statt des Wachses gibt es mitgebrachte Anlagen, wenn auch mehr der Begabung als des Charakters. Statt des frei aus sich rollenden Rads gibt es die Klasse, gibt es die jeweils so oder so beschaffene Gesellschaft und Zeit, in die die Menschen mit ihren Anlagen hineingeboren werden. Es gibt darin überlieferte Leitbilder des Soseins, geschichtlich geformte, die den Traum von der eigenen Rolle erst faßbar machen. Vor allem die gute und nicht verführte Jugend wünscht, standhaften und kraftvollen Menschen ähnlich zu werden. Gerade nämlich, weil Menschen an sich noch unbestimmt sind, brauchen sie
ein Zwischending von Spiegel und aufgemaltem Bild, wenn sie hineinsehen. Dann blickt ihnen verstärkt, als edler Rat oder gar als Verpflichtung, das Bild dessen entgegen, was sie, nach Maßgabe ihrer Anlage und ihrer Zeit, werden sollen, um eines nicht nur inneren Friedens voll zu sein. Nur dadurch aber ist diese Lenkung möglich, daß noch keiner sich ähnlich ist. Dunkel und unbestimmt bleibt unser Kern, weiß nicht, wie er heißt. Ebenso aber ist er bestimmbar; was haltungsgemäß, innerhalb des geordnet auftretenden Willens bedeutet: /(1094) sittlich bestimmbar. Nur wegen des zugrunde liegenden Wachses ist so viel Pressung in der Erziehung möglich, so viel Zwangsform auch nachher. Aber auch nur wegen der unabgeschlossenen Bestimmbarkeit der Menschen konnten so viele ihrer möglichen Gesichter geschichtlich-sozial bereits erscheinen und sind soviele neue Bestimmungen noch in Zukunft. Bestimmungen im doppelten Sinn: als definitio und als destinatio des menschlichen X gedacht; Menschen sind zu ihrem wahren Gesicht immer noch experimentierbar. Mitsamt dem Ziel, wozu die Haltung und die ihr entsprechende konsequente Handlung geschieht, kurz, der nach dem Leitbild entstandene Charakter tätig ist. Das Ziel ist heute sichtbar geworden als die sozialistische Befreiung; und was diese Freiheit, als eine nicht bloße: wovon, sondern vor allem als eine: wozu, enthält, dies steht gleichfalls der bestimmenden sittlichen Arbeit noch glückhaft offen. In den amerikanisierten Ländern freilich ist das den meisten Menschen vorgesetzte Leitbild eben das schlechteste und verwaschenste: der Angestellte. Jedoch es gab bürgerlich edlere Typen und wünschbar angemessenere, so im Handwerk, im Vorbild des tüchtigen Meisters. Es gab schönere Typen, ja solche, die wirkliche destinatio erstrebten, wenn auch mit dem ständigen Minus des ernährenden Knechts unter sich. Die bisherige Geschichte hat so den Bann, aber auch den Reichtum jener jeweils kanonischen Typen erzeugt, die als jeweils voranziehende Leitbilder ausgezeichnet werden können. Solche Gestalten sind etwa der Krieger, der Weise, der Gentleman und gar der Citoyen. Alle diese Leitbilder führten eine Art Spruchbänder, lockend-gebietende Devisen; ihnen gemäß mochte oder sollte ein vollkommener Mensch jeweilst beschaffen sein. In den Leitbildern verdichtet sich dasjenige in menschlich sichtbarer, ausbildender Gestaltung, was jeweils Tugend genannt worden ist, als das der Kreatur nicht gegebene, sondern ihr aufgegebene Verhalten. Leitbilder als Haltungsbilder stehen also nicht im bloß inwendigen Raum einer formal-guten Gesinnung. Sie stehen aber auch nicht im ebenso geschichtslosen Raum einer personlosenTugenden-Sammlung oder moralischen Güterlehre an sich. Die einzelnen Leitbilder zeigen Tugenden in gesellschaftlich ausgeformter, zugleich aber in fortverpflichtender, utopischer Weise lebendig. Und vor allem haben dadurch Leitbilder trotz ihrer /(1095) Klassengrundlage, ihrer gegebenenfalls längst vergangenen, zum Teil noch eine Anziehung bewahrt, gleich als wäre die in ihnen erwünschte Tugend noch nicht ganz getan oder vertan. Dieser nicht an ihre Zeit geheftete, also umfunktionierbare und zu Neuem tüchtige Gehalt bewirkt, daß es auch an Haltungen und ihrer Tugend ein mögliches Erbe gibt, nicht nur an kulturellen Werken. Er bewirkt, daß ein Ritter- oder ein Mönchsbild noch eine Art Verlust, eine Art Wiederfinden, eine Art Sehnsucht erweckende Verpflichtung wachrufen kann; so der Bamberger Reiter, so Dürers Hieronymus im Gehäus. Derart heben sich Wunschporträts des richtigen Menschseins über ihren sozialen Ort, in experimentierender Verschiedenheit, in nicht überall abgegoltener Vorbildlichkeit. Sie heben sich bis zum Citoyen, als einem gleich dem »Christenmenschen« der Bauernkriege - besonders utopischen Selbstbild. Der Citoyen ist das am meisten allgemein oder fleischlos gebliebene Wesen, aber auch das von Klassengesellschaft am wenigsten bewohnte und benutzte. Er hob sich als eine Art ferner Genosse vom damaligen ökonomisch-sozialen Boden ab, ist deshalb also weit verhimmelter als selbst der Mönch, aber auch weit utopischer. Er hob sich ab vom egoistisch-individuellen Menschen der bürgerlichen Gesellschaft, damals L'homme schlechthin genannt, einem Leitbild, das dann als Bourgeois sich enthüllte, doch immerhin in seinem Anfang Subjekt der bürgerlich-revolutionären Menschenrechte war. Der Citoyen dagegen, wie Marx ihn zuerst von L'homme unterschieden hat, war gedacht als Mitglied einer nicht-egoistischen und so noch imaginären Polis. Er wurde idealisiert als die andere Seite des Bürgers und so, in seiner nicht-egoistischen, auch nicht-arbeitsteiligen, nicht verdinglichten Traumschöne, besonders gewaltsam idealisiert. Die Möglichkeit dieses Leitbilds, dieses nicht nur ständelosen, sondern verfrüht klassenlosen, konnte daher nur in Verkleidungswünschen oder in notwendig pathetischer, ja rhetorischer Dichtung gesucht werden. Das Pathos der Citoyenseite reicht dichterisch von Addison und Alfien bis Schiller, wo es kulminiert; es senkt sich nicht, aber wird nach eingetretenem Sieg des Bourgeois - pessimistisch bei Hölderlin und zuletzt bei Shelley. Dagegen das Wunschkostüm des Citoyen zeigt sich mitten im Vollzug der Französischen Revolution selbst, eben als Utopie des /(1096) Polismenschen, des politisch abgehobenen Menschen, und sinngemäß nach antikisch romantisiertem Muster. Madame Roland weinte, weil sie nicht als Spartanerin geboren war; Brissot hielt sich für den französischen Cicero, Robespierre identifizierte sich mit Aristides, auch mit Cato, Desmoulins mit Brutus. Auch Lessings Emilia und Odoardo, Schillers Verrina sind deutlich an antike Muster angelehnt; doch eben das wahre Muster war abstrakt-utopisch. Der Citoyen als
Leitbild kam als einziges nicht von der Verlängerungslinie vorhandener Menscharten, vorhandener gesellschaftlicher Wertpersonen her, sondern fast gänzlich aus einer intelligiblen Gesellschaft. Aus einer, die auf währendem Klassenboden als notwendig abstrakt erscheinen muß und eben rhetorisch oder kostümhaft, aber auch einen Morgenschein voraufschickt - »in edler, stolzer Männlichkeit«. Der Citoyen ist die vorletzte geschichtlich erschienene Wertperson, er geht derart, in wie immer verblasen-allgemeiner Art, dem Leitbild Genosse vorher. Soviel hier über Leitbilder überhaupt, um menschenähnlich zu werden; sie entspringen und folgen sich nacheinander ökonomisch-sozial, sie sind aber ebenso utopisch-ideal ausgemalt und in mindestens einem ihrer Züge noch fortverpflichtend, unabgegolten. Wird freilich das noch Schwebende unserer richtigen destinatio auf ein Feld gezeichnet, so entstehen statt mannigfacher Wertpersonen und gewissermaßen über ihnen ganze Leittafeln, nicht nacheinander, sondern nebeneinander. Sie zeigen deshalb in der Lebensform, die als wünschenswerte lockt und vorschwebt, häufige Ambivalenz. Quid quaerendum, quid fugendum, in dieser schönen, ciceronischen, gesprächig-sittlichen Wunschfrage stehen Leittafeln, zum Unterschied von Leitbildern, oft an einem Scheideweg. So zwischen tätigem oder betrachtendem Leben, Sinnenglück oder Seelenfrieden und anderen Prospekten mehr; wie leicht ist dergleichen mit brennender Sorge erfüllt. Aus dem Nacheinander der Leitbilder wird also nicht bloß ein Nebeneinander, sondern eben eine Ambivalenz in dem Nebeneinander, wo die Leittafeln stehen. Gewiß, es wäre heillos idealistisch, Widersprüche oder auch Doppelsinnigkeiten begrifflich auflösen zu wollen, die klassengesellschaftlichen Ursprung haben, folglich erst mit der Klassengesellschaft enden. Aber sowenig alle Leitbilder der Klassengesellschaft mit ihr vergehen, sowenig /(1097) auch alle Doppelverführungen in ihren Leittafeln. Leitbilder, gar Leitfiguren mit Leittafeln zusammen enthalten erst die Wunschfragen des besseren Soseins haltungshaft-moralisch; sie enthalten die gegenseitige Berichtigung dieser Fragen. Sie säumen und gliedern die Linie der alten Flieh- und Suchefragen nach der rechten Art, menschenähnlich zu werden, so, daß die Linie stimmt.
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LEITTAFELN DES GEFÄHRLICHEN UND DES GLÜCKLICHEN LEBENS Auf dem Sattel die Braut vor dir.
Carmen zu José
Wüßte er nur, wie, so sollten alle seine Segel zu einer Fahrt nach der spanischen See des Lebens gesetzt sein. Jacobsen, Niels Lyhne
So manches offen Der Weg zu uns ist daher nirgends schmal. Auch die noch so enge bürgerliche Art muß darauf schillern. Sie wiegt den Kopf, sie sieht im Kleinen wenigstens eine Wahl. Ist es wünschbar, einzuwurzeln oder aber seinen Ort zu wechseln, seine Stellung? Der Wechsel hält jünger, aber der Seßhafte bringt es leichter auf hohes Alter. Ist es besser, sein Kind im Zorn oder kalten Muts zu schlagen? Ist es für die Nerven ratsamer, immer das Schlimme oder immer das Gute zu erwarten? So ist selbst das Schlichte, wenn man es tut, nicht einfach, jeder Schritt gibt noch zu raten auf. Zu warm gekleidet Und weiter vor allem, soll das Fell uns bequem sein? Wie man sich bettet, so liegt man, doch will man überhaupt liegen und wenn, auf welche Weise? Wer früh aufsteht, bringt früh viel hinter sich und hat bald den Genuß getaner Arbeit. Doch kann auch zu eilig begonnen werden, am Abend des Tags, gar des Lebens kommt dann die Reue, sich unreif ausgegeben, festgelegt zu haben. Wird umgekehrt erst am Abend des Tags, gar des /(1098) Lebens begonnen, dann ist zwar zur Reue über übereilt oder unreif Getanes weniger Anlaß, doch dafür fehlt die schöne lange Zeit, und der Torschluß kann, bei so viel Unfertigem, quälen. Hinzu kommt freilich, daß nach getaner Arbeit gut zu ruhen ist, aber geht sie selber denn auf ein Ruhen aus? Und entnervt das ruhige Leben nicht, ist ihm ein erregtes, umrührendes, wohl gar gefährliches nicht wünschbarer? An sich scheint das weiche Bett das beste, aber auch der weiche Leib, Muskel, Mensch? Gewiß nicht, zu viel Butter, zu viel Wolle sind von Übel, der nicht Geschlagene wird nicht erzogen. Und doch können das Häusliche wie das Härtende, Harte, auch Ausfahrende gleich anziehen und unseren Ort versprechen;
zuverlässig ist in der Daune wie im Stahl eine Lockung. Es sind hier zwei Wege; wonach, auf selber so prekäre Weise, sogar gesagt worden ist: der Bequeme trachtet nach weichem Glück, der Tapfere nach gefährlichem Leben. Aber macht dies letztere nicht ebenfalls die Seinen glücklich, oder wo steht geschrieben, daß nur weiches Glück eines sei? Das ist eine Frage, die schon den Schüler angeht, wenn er in Zucht genommen wird, wenn er eine harte Luft schließlich - genießt. Und ist die Gefahr nicht dasjenige, was gerade der Tapfere nicht anschlägt, ja was gerade von ihm überwunden werden soll? Nichts süßer wieder, als sich danach aufs Fell zu strecken, zur Seite des wärmenden Ofens. Wilde, verwegene Jagd Dennoch reizt jede Lage, wo es scharf hergeht. Von neuem läuft der Ruf nach gefährlichem Leben, der Nazi hat ihn aufgefrischt. Zwar ist das Leben für die Opfer des Faschismus unvergleichlich viel gefährlicher als für den Mörder selbst. Aber da der Faschist seinen Helfern und kleinbürgerlichen Mitläufern am wenigsten Glück bieten kann, kraft der von ihm beschützten Ausbeutung, war er verpflichtet, es zu verleumden. Nur erfand und bildete der Nazi auch hier nichts, er fälschte ältere Tugenden oder lieh auf Tugenden, denen der Spießer als Held, der Schlächter der Wehrlosen, nicht an der Wiege gesungen war. Jenseits der Mörder wirkt ein echtes Wunschbild des gefährlichen Lebens: das soldatische. Es steht genau gegen den weichen. nachgiebigen Men- /(1099) schen, gegen den Feigling, der nichts auf Biegen und Brechen kommen läßt. Verwegenes steht gegen das überall Versicherte, gegen den Tropf, der am liebsten noch sein Nachtgeschirr garantiert angewärmt wissen will. Der Babbit geht keine anderen als ausgetretene Wege, und wenn eine Welt sich ändert, denkt er an seine Sonntagshosen. Keiner freilich hat, in der beginnend imperialistischen Zeit und sie dekadent-barbarisch vorher trommelnd, bedenklicher zum soldatischen Lebenswillen gerufen als Nietzsche, keiner zum anderen wieder gegen das «verkleinernde Glück« bedenklicher gemacht. Dergleichen wird hier schlechtweg verachtet, sowohl als »erbärmliches Behagen zu zweien« wie als »Glück der größtmöglichen Anzahl«. Gut erriet Nietzsche »all ihr Fliegenglück und ihr Summen um besonnte Fensterscheiben«. Dem Philister wird es zugeschrieben, mit Ekel: «Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht, aber man ehrt die Gesundheit.« Glück sei Weibsart, Knechtsart, PöbelMischmasch, ja Glück und Furcht seien, als Affekte der Schwäche, einander verwandt. Sie gehören zum Schakal: «Mut aber und Abenteuer und Lust am Ungewissen, am Ungewagten - Mut dünkt mich des Menschen ganze Vorgeschichte. Den wildesten, mutigsten Tieren hat er alle ihre Tugenden abgeneidet und abgeraubt: so wurde er erst - zum Menschen.« Zarathustra rief so in die Anstandsstunden, in die Zeit des züchtig verlogenen Familienglücks. Er rief Jugendstil - bis die buntleeren Kraftphrasen rechtzeitig zum faschistischen Pfiff tauglich wurden und das »Vornehme« statt des Guten folgerichtig dastand als Kapitalistenpöbel mit Mord. Doch was außer diesem gewordenen Nietzsche den Anti-Spießer selber angeht, so steht das zuverlässig an einem anderen Platz. War doch die echte, aufrechte soldatische Haltung der revolutionären nie ganz unverwandt. Auch diese ist dem «Tick-Tack des kleinen Glücks« und dem Genügen daran fremd; allerdings nur deshalb und zu dem Ende, daß das große gesucht wird. Der Reiz des gefährlichen Lebens ist revolutionär kein Selbstzweck, noch weniger die abstrakte Lust am Ungewissen an sich. Immerhin gehört auch revolutionäre Haltung über die Hälfte mehr zu Mut und Abenteuer als zur Sorge um Fettlebe mit Vertiko für alle. Die Kanapee-Ecke mit langsam gerauchter Zigarre mag ein Versteck sein, sie ist kein wachsamer /(1100) Posten. Daß das Abenteuer solid sein muß, um revolutionär zu sein statt putschhaft, verändert den gefährlichen Willen in ihm nicht. Französisches Glück und Freude Aber, wurde gefragt, ist ausgemacht, daß nur weiches Glück eines sei? Es darauf zu beschränken, wäre dasselbe, wie wenn gefährliches Leben völlig auf Roheit zurückgebracht würde. So wenig das angeht, noch weniger sind Glück, auch Behagen bescheiden oder notwendig Mitte. Der grazienlose Babbit hat alles ruiniert, der Mut des Kampfs wie die Fröhlichkeit. Aber es gibt Formen, die nicht klein geworden sind, wenn sie sich auf Maß, Haus, vor allem aufs Freundliche verstehen, und die, zum Unterschied vom gefährlichen Leben, sicher nicht bluttriefen können. Es sind die Formen des französischen Glücks, Zug um Zug, ländlich-alt und voll epikurischer Aufmerksamkeit, heiteren Sinns und Eingeweides. Der Wein hat hier erzogen, der griechisch-römische Wein; von daher der Geschmack für Feinheiten überall, in der Flasche, vor der Schüssel, am Weib, im Gespräch. Selbst die Spuren eines verjährten Dienstes unter Amors Fahne schrecken nicht, und noch der Abschied von ihr ist heiter wie von einem Gastmahl. Am schönsten erscheint der französische Schutzraum bei - Horaz; und wirkt der Raum verkleinernd, so nicht im mindesten
kümmerlich, ganz konträr, Horaz schildert seinLeben auf der entronnenen Sabiner Farm, er schildert es, indem er zu diesem Leben einlädt; indem er den Freund an der Tür empfängt; indem er die ländliche Schüssel preist und den kühlen Falerner und »sorglose Gespräche, hingedehnt durch die Nacht«.Das Bild dieses intensiven Behagens kann symptomatischer sein für einen Menschen, der zu sein versucht, als das Kriegslied, das lediglich außer sich bringt. Hat doch das Glück zum Unterschied vom gefährlichen Leben sein Zeichen darin, daß es ein einziges Ja zum Menschen und seiner Sammlung ist. Es enthält, sobald es ohne Fettbauch geht, jenes Gutgeratensein oder Gutverhalten von Innen und Außen zueinander, dessen glorioser Ausdruck Freude heißt. Die Freude ist der Adel des Glücks, an ihr kann nichts mehr den Rang des glücklichen Lebens streitig machen. Sie steht /(1101) über dem ewigen Einsatz an sich, über dem keineswegs gloriosen Bewährungsernst, den ein Mann aufwendet, der sich in endloser Gefahr immer wieder - beweist. Deshalb sieht man zuletzt, ohne Erstaunen, daß selbst ein Nietzsche im gefährlichen Leben nicht endet. Der Hasser des weichen Glücks ist im weiteren Zug der Mahner, der freilich immer noch hektische, guter Dinge zu sein. Er preist den Tanz und die Bereitschaft zu ihm, er nennt Übermensch jenen, »den sein Glück drehend macht« .Wird das Trachten nach Werk gegen das Trachten nach Glück ausgespielt, so ist das Werk selber Predigt gegen Trübsal und Regenwolke geworden; »wo das Werk ist, da sind glückselige Inseln«. Macht Genuß gemein, gefährliches Leben um seiner selbst willen gehetzt und leer, so wird in der Freude die Tiefe entdeckt und nur in ihr: »Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit.« Das ist, bei Dionysos, kein Lüstchen mehr, kein Tick-Tack, kein erbärmliches Behagen. Kein Babbitgefühl des schlechten Soldaten, der den Erfolg einer Schlacht nach seinen Wunden mißt. Nennt man die große Lust nicht sogar selig? - allerdings, und so kommt sie seit alters den Weisen und noch Besseren zu, lächelnd, nicht Händel suchend. Kein Zufall, daß dies Lächeln französisch wirkt, der Krampf ist aus ihm verschwunden, genaue Heiterkeit scheint durch. Aber auch geringe Freude hat mit seliger jenen utopischen Glanz gemeinsam, der noch so bunt-gefleckten Raubtieren fehlt. Der Roheit steht das französische Glück entgegen, doch dem französischen Glück steht keine Freude entgegen; diese nimmt vielmehr den Burgunder auf. Hätten alle Menschen ihr Huhn im Topf und wüßten sie es zu genießen, dann käme keine Verkleinerung, sondern Appetit auf mehr. Der Rat, Glück zu verachten, kommt nicht vom Heldentum, sondern vom Ausbeuter. Gefahr hört schwer auf, aber sie sollte es, Freude hört leicht auf, aber sie sollte das nicht. Abenteuer des Glücks Wie bekannt, mögen gute Tage in anderer Art gefährlich sein. Sie gelten als schwer ertragbar, der Whisky ist zu billig, zu viel Ruhe ist da, zu viel Eintracht. Die Wahrscheinlichkeit dieses Zustandes ist freilich gering, die Sorge um ihn ist verfrüht, die /(1102) Predigt gegen ihn reaktionär. Doch wenigstens sporadisch kommt eine Reihe guter Tage als leichthin langweilige, also Glück gefährdende bereits vor, und ebenso steht fest: allzuviel lustige Dinge werden zuletzt traurig angesehen. Aber die Gründe liegen nicht im Glück, sondern im Menschen, der es empfängt. Im Arbeitstier, das nicht mehr imstande ist, Nichtstun zu genießen, im bürgerlichen Nichtstun selber, das so genau dem bürgerlichen Mittagsgefühl entspricht wie eine Zahnlücke der Form des gewesenen Zahns. In den niederen Fällen fühlt sich der Arbeitsmensch zum Glück nicht aufgeräumt, in den besseren dazu nicht fertig. Daher fällt gerade vom Willen zum Glück aufs soldatische Wesen ein neuer, neu einbeziehender Blick. Er ehrt das gefährliche Leben durchaus und nie um seiner selbst willen, sondern zu dem Zweck, daß es sich aufs Glück anwendet. Daß es dessen Oberflächen besteht und jeden Schlamm davon abwendet, daß es dessen Tiefen erobert, als welche dem bloß passiven, bloß entspannten Genießen ja ohnehin nicht zugänglich sind. Gefährliches Leben hat zwar, als unser Außersichsein, nie das letzte Wort, doch es kann im Glück selber und zu ihm hin das vorletzte haben. In der Mündung des Glücks gibt es Abenteuer und Karrieren, von denen der seßhafte Tag oder der schal entspannte Abend nichts merkt. Daher verhält sich das gefährliche Leben, richtig gesetzt, zum glücklichen wie Feuer zum Licht; gerade das Glück zeigt Mündungsfeuer. Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch, aber indem das Rettende Glück heißt, wächst dieses hinter der Gefahr besser. Nur darf nie vergessen werden: Glück ist zum Unterschied vom Rausch das Zeichen, daß ein Mensch nicht außer sich ist, sondern zu sich und zu dem Seinen kommt, zu unserem Jetzt und Tag. (1103) 47 LEITTAFELN DER WILLENSTEMPI UND DER BETRACHTUNG, DER EINSAMKEIT UND DER FREUNDSCHAFT, DES INDIVIDUUMS UND DER GEMEINSCHAFT
Unter unseren gewöhnlichen Handlungen ist nicht eine unter tausend, die uns selbst angeht. Jener, dort, der außer sich vor Wut die durchlöcherte Mauer hinanklimmt und so vielen Feuerschlünden bloßgestellt steht. er wäre da für sein eigenes Interesse? Dieser hier, der nach Mitternacht aus seiner Bücherkammer hervorkommt, von dem denkt ihr, er forsche in den Büchern, wie er selber immer mehr ein rechtschaffener Mann, zufriedener und weiser werden könne? Nein, er will die Nachwelt das Silbenmaß des plautinischen Verses lehren. Montaigne, Essays
Ein anständiger Mensch Auf dem Weg zu uns selber geht es auch vieldeutig her. Frei sein, so heißt es, das ist, zwischen zwei oder mehreren Dingen wählen zu können. Aber dieser sogenannte Freie hat die Dinge selber, zwischen denen es zu wählen gibt, sich sehr selten ausgesucht. Und dann, wie soll sich der Wählende weiter verhalten, nachdem er sich entschieden hat? Es käme nun darauf an, zu dem gewillt zu bleiben, was nach Herzenslust bejaht worden ist. Wobei zwar, was gut sein mag, die Suppe nicht so heiß gegessen wird, wie sie angerichtet wurde, aber auch, was weniger gut sein kann, viel Wasser in den Wein geschüttet wird. Der Klügere gibt nach, das ist hier der eine Rat; er spitzt sich auch gegebenenfalls zu dem ganz bedenklichen Satz zu, daß eine Sache mehr anerkannt sein kann, wenn sie bekämpft als wenn sie mitgemacht wird. Was aber sehr rasch dazu führen mag, mit den Wölfen zu heulen, ja ein Verräter zu werden. Der andere, edlere Rat, geht dahin, bei der Stange zu bleiben, durch dick und dünn. Er spricht so nicht den Klügeren an, sondern den schlechthin Treuen, den Menschen ohne alles Falsch, freilich auch in der Weise, daß er nichts Falsches außer ihm sieht. Also kann diese Treue wiederum abstrakt sein, sie kann sich mit Sturem verbinden und sogar, der Sache selber viel weniger treu, als es den Anschein hat, mit einem /(1104) Narren auf eigene Faust. So zeigt sich hier bereits, daß keine dieser Haltungen verfestigt werden kann. Nicht einmal die Treue, solange sie von denen als die rechte und inhaltliche geliefert wird, die kein Recht auf Treue haben. Und dort gerade, wo die Sache die richtige ist, kann das Ab- und Zugeben ein Mittel dazu sein, sie durchzufechten. Der dazu Entschlossene gibt im Kleinen gegebenenfalls nach, um im Großen durchzudringen. Wobei all dies freilich aufs Kleine beschränkt bleiben muß und auch in dieser Beschränkung immer nur um des Großen, Ernsten willen geschieht. Denn es gibt Preise, die man nicht zahlt, auch taktisch nicht. Ein solcher Preis ist einleuchtenderweise alles, was mit der Sache selber zusammenhängt, um derentwillen allein doch taktisch gegebenenfalls und vorübergehend nachgegeben werden mag. Der Grat ist hier schmal, und der Anstand begeht den Grat, wenn er nicht vermeidbar ist, ebenso klug wie nie schwankend. Der Kluge wäre sonst, wie sich leicht zeigt, nicht auch der Beste, der zuletzt lacht. Fabius oder der zaudernde Täter Der zu rasch entschlossene Mann wünscht oft, so nicht gewesen zu sein. Aber auch der bedenkliche, hinauszögernde, zu lang überlegende gibt nicht immer einen tüchtigen Anblick. Auf seiner Tafel steht Eile mit Weile, um sie herum ist die versäumte Gelegenheit. Fabius ist der erste, der als Zauderer berühmt, sogleich auch berüchtigt wurde; Rom kam durch ihn nahe an den Untergang. Dieser Konsul bedachte zu lang, versäumte, doch Hannibal wurde dadurch nicht mürbe. Seitdem sind viele Fabier erschienen, sehr selten haben sie etwas erreicht. Im zu viel erwogenen, zu viel betrachteten Willen geht zuletzt der Wille selber aus, er verringert sich wie betrachteter Zorn. So auch in der revolutionären Tat und ihrem Zorn, er wird zum Abwarten und den Lauen genehm. Herankommt die krauchende revolutionäre Bewegung oder der Umsturz, der alles beim alten läßt. Der rechte Name dafür ist der des englischen Fabiervereins oder der Labour Party, die voll seiner süßen Limonade ist. Der Fabierverein, begründet von Sidney Webbs 1884, brauchte damals wenigstens nicht zu bremsen, sondern sprach nur die englische lange Weile /(1105) aus; aber die deutsche Sozialdemokratie seit 1918 wählte Fabius klar als Verhinderer. Umsturz geschieht dann sachte und heißt nur Fortgang, privates Eigentum wird abgeschafft, wenn die Zeit dafür so sicher ist wie ein Mann mit einem Bankkonto. Auf diese Art wird die Tat immer wieder auf Kinder und Kindeskinder verschoben, es gehört zu dieser Art Aufschub, daß der Weg alles, das Ziel nichts wird. »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten«, sagte Fontanes Kommerzienrat Treibel, »das ist eine jeder Zeit wohl aufzuwerfende Frage, besonders auf Landpartien. « Sozialismus ist oder war den Weinpredigern und Wassertrinkern immer nur Zukunft, immer nur Kinderland, und der Weg selber kennt keine Entscheidung, sondern nur tausend
Kautelen. Bis zu dem Ende, daß dem ewig Diskutierenden vor dem Ziel, wenn es gegenwärtig wird, graut. Dies Grauen wird freilich nicht nur dem Leitbild Verzögerung verdankt, sondern der bürgerlichen Ansteckung: Reformisten scheuen dann Revolution nicht bloß dem Akt, auch dem Inhalt nach wie die Sünde. Also wird Fabius jederzeit höchst unangenehm überrascht, wenn ein rasch entschlossener Käufer trotzdem das Geschäft macht. Der Zauderer behütet sich vor vielen Dummheiten bis auf die größte: zu spät zu kommen. Das wäre kein sachliches Unglück, wenn die Fabier bloß abseits stünden, ganz dahinten im langsamen Krähwinkel. Aber die Fabier haben unter anderem auch den sogenannten besonnenen Teil der Arbeiterschaft erzeugt und stehen ihm vor. Sie dienten dadurch jenen schneidigen Akteuren, die eben die Gewalt waren, von denen die Zauderer gesagt hatten, daß sie ihr und nur ihr allein weichen würden. Es war keine rote Gewalt, wie bekannt, es war eine des raschen Putsches, des bedenkenlosen Totschlags, der reaktionären Entscheidung. So halfen die Zauderer des Guten gerade den Putschisten des Bösen in den Sattel; ein geschichtliches Beispiel, das für viele steht. Die Langsamen waren den Raschen der anderen Seite fast immer verschworen, wider Willen, ja zuweilen, in den Falten des Herzens, auch mit ihnen. Das Leisetreten ist genauso abstrakt wie das Türeinschlagen, wovon sogleich, und entspricht ihm, wobei gewiß hinzuzufügen ist, daß auch das Türeinschlagen, als faschistisches, nur an den Hütten eines war, bei den Palästen dagegen sich völlig aufs Zögern verstand. Das nimmt dieser raschen Heldentat reichlich wieder /(1106) Abstraktes weg; noch mehr als den gerissen langsamen Fabiern. Indem diese duldeten, statt zu handeln, mußten alle von ihnen Geführten nun wirklich Dulder werden und nichts als das. Sorel, Machiavelli oder Türkraft und Glücksrad Ganz anders wirkt der starke Mann, er schlägt mit der Kraft an sich. Schleicht nicht als Katze um den heißen Brei, handelt vielmehr jäh, bricht vor als Wolf in der Nacht. Handelt auch unter widrigen Umständen und gegen sie; »Umstände« sind ihm nur die Dinge, die um die Sache herumstehen. Es erscheint so die rasche Heldentat rein und die faschistische Haltung, doch nicht nur diese. Die Tafel mit dem Spruch: »Dem Mutigen gehört die Welt« oder mit dem Bild der Gelegenheit, die an der Stirnlocke ergriffen wird, weil sie am Hinterkopf kahl ist, diese Tafel ist gut verbreitet. Sie wird auch anarchistisch getragen, syndikalistisch, von jeder Bewegung, die Gewalt als schöpferische utopisiert. Dem reinen Aktivisten wie dem unreinlichen Faschisten schwebt wenigstens dies Eine als Meinung vor: daß überrumpelt werden muß. Solcher Aktion an sich scheinen die meisten, wo nicht alle Dinge jederzeit möglich. Gegebenenfalls muß gewartet werden, bis der Feind auf dem richtigen Punkt steht, aber dann erfolgt der Angriff, erfolgt eher zu früh als zu spät. Er erfolgt mit der Blendung des Schreckens, die wehrlos macht, mit der Plötzlichkeit, die mindestens am Anfang, woran hier alles gelegen, die Hindernisse vereinfacht. Grundsätzlich wird die Welt als Zufallsspiel gewertet, in das, wenn die Trumpfkarte nicht darin steckt, sie jederzeit hineingezaubert werden kann. Der Faschist nimmt Chancen wahr, äußerliche wie jeder kapitalistische Täter, ist er doch selber ein Meister in der kapitalistischen Wirklichkeit, doch wo die Chancen schwach sind und das Ziel lockt, wird fleißig-fauler Zauber am wenigsten verschmäht. Der Haudegen, das alte Husarenstück sehen sich bei alledem eingearbeitet in den Desperado und in sein Corriger la fortune: »Hier liegen die Würfel des ungeheuren Spiels«, rief Spengler aus, »wer wagt, sie zu werfen?« Ein Spieler also durch und durch wird aufgerufen, ein Habitué' der schiebenden fortune, der durch die Macht seines Entschlusses und seiner falschen Würfel den Glückszufall, /(1107) als der hier alles erscheint, zu bannen hofft. Bismarck, Kanzler von Eisen und Fälscher der Emser Depesche, hat zwar gesagt, daß Früchte nicht schneller reifen, wenn man die Petroleumlampe darunterstellt. Doch das Zeitalter, worin rasche Heldentat so einzigartig mit dem Tempo bürgerlicher Aufweichung zusammenfällt und die Aufweichung auch das Werdegesetz zu lockern scheint, dieses Zeitalter ermutigt die herrschende Klasse zu jeder Art Relativismus, also auch zum ungehemmten Verbrechen. Gentile, italienischer Quasi-Theoretiker des Faschismus, setzte folgerichtig statt geschichtlicher Zusammenhänge eine »Einheit des reinen Geistes«, als aktiv stiftende öder gründende. Ihre Zeichen sollen sein Geistesgegenwart und Technik der Massenbeherrschung; die Einheit dieses sogenannten Geistes lebt im grande animatore, als dem Führer. Geistesgegenwart kann dann sogleich eine ungünstige Wendung ins Günstige verwandeln, Massenbeherrschung macht den Pöbel mit einem einzigen Schlag, sei er brachial oder magnetisch, im Willen uniform. Gegenwart ist auch objektiv alles, Vergangenheit und Zukunft, Hemmungen wie Tendenzen gelten in dieser undeterminierten, brechbaren Zufallswelt offiziell als nichts, Politik ist »Schöpfung aus ungeformtem Urstoff«. Nach der deutschen Wendung ist die Welt nur insofern nicht ganz ungeformt, als ihre bereitliegende Zeit immer eine Wolfszeit ist und ihr bereitliegender Raum sogenannte geopolitische Strukturen zeigt, mit denen Kalkulation, als eine der Weltbeherrschung, trotz alles »Irrationalen», durchaus zu rechnen hat. Die Massenbewegung ist zwar auch hier von Zufall durchzogen,
doch mittels der Rassentheorie wurde dieser Zufall zugleich im Sinn eines heroisch-banalisierten Darwinismus interpretiert. So kamen in den angeblich amorphen Weltstoff allerdings einige schwindelhaft-gesetzliche Linien hinein, von den wirklich verfolgten, den ganz unphantastisch-kapitalistischen zu schweigen. Dennoch blieb der Glaube an eine allgemein uferlose Willensmacht und ihre Wunderei; er trat nicht zuletzt am Ende der Nazizeit wieder hervor, gerade am Rande des Grabs. Endlos tobt der Kampf ums Dasein, ohne juristische und sonstige Zwirnsfäden, mit dem »ewigen Naturrecht des Stärkeren« als Sinn und Inhalt. Der so beschaffene Aktivismus, Schandaktivismus freilich, hat aber seine Lehre vom allmächtigen »atto puro» ersichtlich /(1108) nicht nur bei Gentile: er hat sie bei Sorel, auch Nietzsche, obzwar streckenweise zu anderem Text. Vor allem findet sich, durch lange Popularisierung vermittelt, eine Berührung mit dem Hauptlehrer der Machttechnik: mit Machiavelli. Allerdings haben Sorel wie Nietzsche nicht bewußt für faschistischen Gebrauch gearbeitet; insofern sind ihre Macht-Wunschbilder noch ante rem. Sorels Aktionslehre war sogar revolutionär-syndikalistisch gemeint, und er begrüßte 1919, in der letzten Auflage der »Reflexions sur la violence«,Lenin als Vollzieher; Nietzsches Wille zur Macht hatte sich bereits vom Bismarck-Reich abgewendet, und der Faschismus wäre ihm vielleicht Gelächter gewesen und schmerzliche Scham. Trotzdem waren beider Lehren faschistisch brauchbar; Sorel besonders, mit seinem politischen Elan vital ins Leere, Unvorgeordnete, beeinflußte den Faschismus. Diese Art Willensglaube, also psycho-technisch, wurde bereits innerhalb der technischen Utopien angemerkt (vgl. Seite 798); als Glaube, der Wille habe keine Grenzen. Das zahlt sich nun erst recht als eine Hoffnung aus, durch politische Entscheidung die Berge zu versetzen. »Force individualiste dans les masses soulevées«, »accumulation d'exploits héroiques« sollen, in noch proletarischer Aktivitätstheorie, Generalstreik machen, jederzeit, sofort, überall. Proletarische »violence créatrice« soll mit Intuition dem Kapitalismus in die Krone fahren; der Erfolg hängt einzig ab vom »etat de guerre auquel les hommes acceptent de participer et qui se traduit en mythes preeis« (Reflexions sur la violence, 1919, p. 319). Das Proletarische jedoch liegt ersichtlich nur im Impuls, nicht in einem deutlichen klassenmäßigen Inhalt und in den ökonomisch-historischen Vermittlungen seines Wegs. Konträr: Sorel, hierin ganz Spontaneität, will überall Gewitter, nirgends Elektrizitätswerk, gelegte Drähte. Der Elan political und seinWunschwille sind darum so breit oder auch leer in ihrem Enthusiasmus, daß Sorel als seine Muster ganz verschiedenartigen sozialen Auftrag zusammenfaßt. So preist er in einem den kriegerischen Ruhmwillen der Spartaner und Römer, die Revolutionskriege von 1792, die; deutschen Freiheitskriege von 1813; heroischerSturm scheint sich hier fast selbst genug. Dazu kommen die »mythes preeis«. wohl auch Archetypen, in denen Immer-Wieder scheint, Geschichte versinkt. Ein mythisches Bild von Freiheit tritt an ihre /(1109) Stelle, ist das, was begeistert und die begeisterte Masse vorwärtstreibt. Ist das, was sowohl die Kraft zum Martyrium wie den Mut zur vertu gibt, zur schrankenlosen Gewaltanwendung, zum unvermeidlichen Triumph. Nur durch diesen Impuls an sich wird nach Sorel eine Klasse zum geschichtlichen Motor; sie wird es auf keinen Fall durch Büros und Programme. Sorel geht mit Stoßhoffnung ersichtlich nicht bloß gegen die Sozialdemokratie, gegen die Bürokratisierung einer vorgegebenen Revolution. Auch nicht bloß gegen den Einbau der Revolution in das liberale Fabiertum, in endloses Geschwätz, in unendlich vertagende Diskussion, in Parlamentarismus (mit der »Wahrheit in der Mitte«). Er wendet sich vielmehr gegen alle sogenannten Schemen, die das Leben von außen meistern und rationalisieren, ja Sorel kehrt den Traum vom actus purus sogar gegen - Utopie. Auch diese wird als Produkt räsonierender Festlegung abgelehnt, als Erfindung von Intellektuellen und Literaten; nicht aber, weil sie zuwenig, sondern weil sie zuviel Wissenschaft enthält. Gerade Engels, mit seinem Fortschritt von der Utopie zur Wissenschaft, wird ein typischer Rationalist genannt; dem ungeachtet, daß Sorel sich selber zum Marxismus zu rechnen glaubte. Freilich eben zu einem, an dem nichts mehr übriggeblieben ist als der subjektive Willensfaktor, völlig verabsolutiert. So blickt schließlich nur noch Bakunin aus dieser isolierten Putschtheorie hervor, ein in den Willen gesetzter Bergson dazu: als der rhelisch gemachte Elan vital. Die rasche Heldentat teilt mit dem Elan vital die rationale Unbestimmbarkeit und Inhaltslosigkeit; daher konnte denn der Mythos vom Generalstreik so leicht reaktionär ausgewechselt werden. Daher konnte ein purer Willensglaube, als Einsatz an sich, Lenin zustimmen und Mussolini vorbereiten. Wie ja auch Bergsons leerer Elan vital verschieden verwendbar war, gleichzeitig für eine Rückkehr zur katholischen Kirche und für einen atheistischen Anarchismus. So gering ist in Sorels Gewaltruf irgendein Vertrauen auf Mitwirkendes in der Geschichte, daß diese nicht einmal als amorph erscheint, wie nachher bei Gentile. Sie ist vielmehr bei Sorel dasselbe, was bei Bergson die Materie: nämlich absinkendes, schließlich zum caput mortuum erstarrendes Leben. Die sich selbst überlassene Geschichte ist einzig Zerfall und Niedergang; folglich kommt auch von hier /(1110) aus dem Machtwillen nichts entgegen, als was ihn aufruft: der Feind. »La détérioration, c'est le seul mouvement dans le monde«; hier ist der äußerste Gegensatz zum Fabiertum, das mit verschränkten Händen einem billigen, ja kostenlosen
Sonnenaufgang entgegensah. Hier ist aber zugleich der haltloseste Gegensatz zum geschichtlich-dialektischen Faktor, mit dem die Marxisten im Bund stehen. Die anarcho-syndikalistischeTatkraft wird so notwendig Krampf und Minorität; denn äußerer Absinkungstendenz gegenüber wären die Bewegungen zur Größe stets erzwungen, und nur die Bewegungen dem Zufall zu wären dann natürlich. Der Tag der radikalen Verneinung, der souveränen Behauptung brauchte so keine Reifung, etwa der Produktivkräfte; er käme immer zurecht, um mit Gewalt anzubrechen, einzubrechen. Und Stoß gegen den Strom wäre angeblich immer nötig; also erscheint hier der Proletarier dem Schicksal des Sinkens gegenüber selber als Schicksal, als der Notwende blinderGaul. Der westliche Bourgeois hatte, was pure Gewalt angeht; leider nur viel mehr davon im Besitz als das Proletariat; so wurde actus purus nicht Generalstreik, sondern Staatsstreich. Und ständig muß der starke Mann darauf bedacht sein, seine Macht zu halten. Alle Mittel sind ihm dazu recht, gesucht wird nur ihre beste Wahl und Anwendung. Hauptlehrer dieses kalten, nicht, wie bei Sorel, aufbrausenden Gewalttraums ist und bleibt Machiavelli. Auch tat sich jede faschistische Schiebung auf ihn etwas zugute, diesesfalls ohne »proletarisch«-demagogische Umwege. Schäbige Gaunerei freilich liegt Machiavellis großem Stil völlig fern, und das Skrupellose könnte auch anderswo studiert werden, etwa beiden Jesuiten. Zudem heuchelt Machiavelli nicht, er berief weder eine alte noch eine neue Moral, er ließ in der Gewaltwelt, von der er handelte, das Moralische weg. Es hatte ihr von je gefehlt, nun fällt auch die Maske; gelehrt wird Technik des reinen unwiderstehlichen Erfolgs. Machiavellis Buch handelt vom Fürsten, nicht vom Menschen, und es ist eine pure Kunstlehre der Eroberung und Beherrschung. Moral fällt hierbei aus als nicht zweckdienlich; sie fällt nicht anders aus wie Zerstreutheit bei der Fechtkunst oder die Säulenordnung beim Festungsbau. Nichtbeschäftigten ist der Zutritt zum Bauplatz verboten: und das Moralische ist für Machiavelli in der Machtsphäre, wo- /(1111) von sein »Principe« handelt, allemal unbeschäftigt gewesen. Rationalisierte Technik des politischen Siegs, darum geht dies weniger zynische als künstlich isolierte Methodenbuch. Soll der Sieg, wie in diesem besonderen Fall, der eines italienischen Nationalstaats sein, dann gibt Machiavelli auch diejenige Tugend auf, die ihm an sich, außerhalb des Zwecks, selber am wertvollsten ist: die republikanische. In den »Discorsi» über Livius ist er fanatischer Republikaner, im »Principe« setzt er fürstlichen Absolutismus. Denn dieser erscheint ihm als die beste Gewaltmaschine im nationalen Interessenkampf (vor allem gegen die Kirche). Die Fechtkunst des Willens hat aber auch hier eine scheinbar gesetzlose Welt vor sich, eine, der sich gerade deshalb der besser geführte Wille aufzwingen läßt. In zweifacher Weise, je nach dem menschlich sichtbaren oder aber anonymen Habitus des Gegenüber: entweder durch Intrige oder durch eiserne Männlichkeit, durch Virtu. Alle diese Leittafeln setzen zwar selber eine Welt als Willensstoff voraus, jedoch nicht aus diszipliniertem, sondern aus triebhaftem und so beherrschbarem. Die Intrige, welche es mit menschlich sichtbarem Gegenüber zu tun hat, kann die Affekte, die sie gegeneinander ausspielt, wenigstens noch übersehen; ja, das Wesen des Intriganten ist ganz die Berechnung. Jedoch das weitere Person- und Geschichtsgetriebe, die anonyme Welt, ist so gründlich affekthaft, daß sie nicht einmal einTriebwerk aus Affekten darstellt, ein immerhin berechenbares, obgleich nicht begreifbares, sondern lediglich ein Glücksrad. Der Gegenbegriff zur Virtu ist Fortuna; ihr gegenüber gibt es nur den Rat zur bedenkenlos schlagenden Energie. Von daher die Verachtung Machiavellis gegen den Dilettanten, »der seine Sache halb macht, mit halben Grausamkeiten, halben Tugenden«; von daher das Entweder - Oder: Virtu ordinata oder aufsichtslose Welt des Zufalls. Die Welt wird ein Schlachtfeld zwischen Virtus-Ingenium und Fortuna: »Das Schicksal ist mächtig, wo keine Kraft zum Widerstand bereitgestellt ist, und es wälzt sich dahin, wo keine Deiche und Dämme da sind, es aufzuhalten» (11 Principe, 1532,cap. 25). So erscheint bei Machiavelli zwar kraftvollst der neue bürgerliche Täter, aber mehr noch die reine Machthoffnung auf dem chaotischen Hintergrund, den sie voraussetzt. Das Mißtrauen gegen objektive Tendenzen verbindet Machiavelli und /(1112) Faschismus, so wie es Anfang und Ende des bürgerlichen Zeitalters abstrakt verbindet. Die Welt erscheint als ein Haufe von Leidenschaften und Zufällen hier wie dort; mit dem Unterschied, daß ihr Gesetzbegriff in der Renaissance noch vor der Tür stand, während er im Faschismus zur Tür hinausgeworfen wird. Weiter: Machiavelli will in seiner Virtus römisch sein, wie Cato, Sulla, Cäsar; in seiner Fortuna dagegen, als einer typisch gesetzlosen, zum Menschen fremden, ist er durchaus nicht römisch, vielmehr mittelalterlich. Gerade Sulla fühlte und nannte sich Sulla Felix kraft seiner geglaubten Verbindung mit Fortuna-Tyche: diese war Römern und Stoikern noch dasselbe wie Vorsehung, ja Gnade. Das Moment des Zufalls war gerade in der Blütezeit Roms immer mehr von Fortuna weggedacht, wegempfunden worden; auch das wetterwendische Kriegsglück, wo das Schicksal der Reiche von einem besetzten oder unbesetzten Hügel abhängen kann, schien in der Pax Romana als der Notwendigkeit eliminiert. Erst Spätrom hat, aus einleuchtenden politisch-sozialen Gründen, Tyche, besonders Ananke, die vordem so hoch gewertete Notwendigkeit, dämonisiert. Und erst das Mittelalter setzte
Fortuna gänzlich zum Glücksrad herab, zum launenhaften Auf und Ab der Welt; so auch Machiavelli. Übrig bleiben einzig Laune und Ungefähr, bleibt ein Weltweib, das die Peitsche braucht, ein Glücksrad, dem Tatkraft in die Speichen fährt. Die rasche Heldentat setzt überall diese Fortuna voraus, genau wie Fabius oder der zaudernde Täter umgekehrt Gottes Mühlen voraussetzt, verweltlicht zu einem von selber mahlenden Fortschrittsgeist. Mit letzterem allerdings ist es schlimm bestellt, wie bekannt: ja, der Fabier hat durch seinen Mangel an subjektivem Faktor den Gewalttechniker erst eingeladen. Jenen, der nun nicht mehr als Principe, sondern als Gangster ins Glücksrad greift. Und die Antwort auf die Doppelfrage des besten politischen Handelns lautet: weder gewaltloses Zaudern noch aber auch gerissene Abstraktheit der Gewalt. Sondern Gewalt als konkret vermittelte, als »Geburtshelferin der neuen Gesellschaft, mit der die alte schwanger geht«. Dieser Marxsche Entscheid beruhigt; auch verlangt er von der Geschichte weder jungfräuliche Geburt, wie die impotenten Zauderer und Fabier, noch sieht er sie als unfruchtbare Hure an, wie die Gewaltzwinger. Es gibt einen großen Moment und /(1113) ein kleines Geschlecht, das ihn nicht zu nutzen versteht; es gibt vielleicht auch das Umgekehrte. Aber nur, wenn Kraft und reife Gelegenheit zusammengehen, ein doppelter Glücksfall, mit paratem Täter und erfüllter Zeit zugleich, hat die Sache historischen Segen, also notwendigen Sieg. Das ist dann kein Sieg des Dompteurs oder auch des faulen Glaubens an einen Fortgang an sich, der von selber die Tränen trockne, sondern hier ist zugleich befolgte wie beherrschte Notwendigkeit. Bruchproblem, Herkules am Scheideweg, Dionysos - Apollo So dunkel und unbestimmt Menschen sind, so sehr sind sie entzweit. Der Wille ist selber in ihnen gespalten, bald sozusagen nach unten, bald sozusagen nach oben gerichtet. Es ist ein altes, nicht erst christlich begonnenes Hin und Her zwischen Fleisch und Seele und eine alte Unruhe, was von beiden der bessere Teil. Das Fleisch gilt nicht nur als anfällig, auch als anfallend und so egoistisch. Die Seele wird häufig als edel und kostbar ausgemalt, altruistische Wünsche bezüglich des eigenen und besonders des fremden Verhaltens hallen darin wider. Selbstsucht und Wohlwollen, diese streitenden Antriebe wurden seit Adam Smith und schon früher öfter zu verbinden gesucht, indem fremder Nutzen, gerade beim Handel und Wandel, auch dem eigenen anzuschlagen schien und umgekehrt. Aber unvermittelt stehen sich auch in der bürgerlichen Gesellschaft, nicht nur in der mittelalterlichen, sogenanntes Sinnenglück und sogenannter Seelenfrieden gegenüber. Und den Menschen bleibt zwischen beiden, nach Schiller, nur die bange Wahl. Es ist das ein vielfach variiertes Lied, eines des Willens am Scheideweg auf der Suche nach dem rentabelsten, aber auch dem befriedetsten Sosein. Die alte Fabel von Herkules am Scheideweg verdankt diesem Zwiespalt ihre Verbreitung und Beliebtheit, eine deutlich schon vorchristliche. Wollust und Tugend winken hier aus der Zukunft, beide auf einem Bein stehend, beide mit einem Wert und einer Hoffnung, die hier der einen, dort der anderen Figur fehlen. Die Wahlfabel reicht von Prodikos, dem Sophisten, der sie zuerst erzählte, über Xenophon zu Christoph Wieland (dem man die angepriesene /(1114) Wahl der rauhen Tugend freilich nicht ganz glaubt). Der entzweite Herkules ist auch im Puppenspiel vom Doktor Faust; links unter dem Doktor ruft die irdische Lust, rechts über ihm die himmlische, links flammt und saust das Böse, rechts glänzt und stillt das Gute. Es sind die zwei Seelen in Fausts Brust, die irdische und die himmlische, die Seele des Leibs und die der hohen Ahnen, des Über-Ichs, das geistig hereinspricht. Das ist erotisch, in so und so vielen interessanten oder banalen Varianten, die Wunschspannung zwischen Carmen und Elisabeth. Wobei der Scheideweg sich auch darin als solcher bewährt, daß nicht bloß die irdische Lust zu locken versteht, sondern auch die Aufschrift, welche Ruhe verspricht, Geistesfreuden, Frieden. Es gibt vor allem im Norden, in der Welt des schlechten Wetters und der kälteren Triebe, mindestens des kargeren Frühlings, eine umgekehrte Lockung: in die Zelle, wo die Lampe wieder freundlich brennt. Kloster ist hier weniger Askese als im Süden, dagegen die unbeschwerte Sinnenlust kann dem Nordtyp so schwer fallen wie Askese, vor allem nachdem ihn Kapitalismus und Protestantismus um alle Naivität und Feiertagspotenz gebracht haben. Weshalb hier der Ratschlag zum Lustweg genauso eine Entsagung enthalten kann wie im Süden der Ratschlag zum Kloster und genauso eine Propaganda. Nietzsche beispielsweise, wenn er Profitzeloten, aber auch die Grübelfauste dazu antreibt, »lachende Löwen« zu werden, hatte gewiß das beginnende imperialistische Zeitalter für sich, mit dem Auftrag und Übergang zum Irrationalen, doch seine Antithese Dionysos-Apollo stellt, indem sie im Norden geschieht, das Dionysische ebenso als ungegeben dahin und feierte es als fernes, gar tropisches Wunschwesen. Das machte weiterhin: auch die volle Kreatur, als die das Dionysische gedacht ist, wirkt hier nicht selbstverständlich, so daß die Menschen sich von ihr, als einer gegebenen, nur zum Seelenfrieden zu erheben hätten, sondern auch das Dionysische ist utopisch. Eben Nietzsche hat mit der Antithese Dionysos-Apollo der philiströs und gewohnt gewordenen Spannung Sinnenglück - Seelenfrieden neues utopisches Leben gegeben. Und er gab es nicht dem Rausch, als einer glühenden Gärung, sondern wider
Willen ebenso dem apollinischen Licht, indem dieses den überwältigten Dionysos in sich hat; beide sind zu betreiben, beide /(1115) sind unfertig. Der unfertige Dionysos ist bei Nietzsche, was gegenVerkleinerung, Domestizierung, Unterschlagung der wilden Triebe aufbegehrt. Er ist das angeblich Urtümliche aus Blut, Nacht, Rausch, Zymbel, Beckenschlag, aber dieser prälogische Gott ist ebenso der werdend-ungewordene. Als dieser soll er nun erst Frühling setzen: »Wer über alte Ursprünge weise geworden, siehe, der wird zuletzt nach Quellen der Zukunft suchen und nach neuen Ursprüngen« (Zarathustra, Von alten und neuen Tafeln, 25). So ist das dionysische Wunschbild mit Raubtier und buntgefleckter Regressio nicht beschlossen, es kennt Wollust des Zukünftigen, steht bei einem Rätselgott des Werdens. Es hat unfertige Verschlossenheit in sich, freilich keine, die sich nun in Nietzsches Apollobild löst, da dieses wider die Abrede und den geschichtlichen Augenschein gänzlich außer dem Werden gelassen wird. Apollo ist für den Zarathustra-Antichrist lediglich Schutzherr der Zähmung und Verkleinerung, alle Instinktverdreher und Lebensverleumder stehen in seiner Nähe. Sokrates wie Jesus werden mit diesem Apollo selber verleumdet und verkleinert, und Apollo wird bleicher Intellekt, domestizierendes Maß: all das ist angeblich nur Niedergang des Lebens und des noch ungelebten Goldklangs in der Kreatur selber. Damit entfernt Nietzsche das apollinische Wunschbild wie seinen Gott von der Sonne, der im Zarathustra dauernd so hoch gepriesenen: «Als ich den Übermenschen geschaffen, ordnete ich um ihn die großen Schleier des Werdens und ließ die Sonne über ihm stehen im Mittag.« Der Sonnengott Apollo wird bei Nietzsche also nicht zum Ausdruck des Lichts verwendet, das in der Höhe und über dem Rauschmeer steht, als Sprachgott des Werdens - »der Sonne gleich, die das Meer noch zu ihrer Höhe überredet«. Aber indem Nietzsche das Leitbild Höhe-Sonne-Mittag über dem Meer einführt, hat er Apollo doch eben zum Sprecher des Dionysos machen müssen und ihn selber dem bloß flachen Intellekt entgegengesetzt. Apollo ist der «Abgrund in der Höhe «,als einer, der den der Tiefe enthält und mit ihm unfertig ist. Die Griechen hatten für das Apollobild ein genauso unausgeschöpftes Gefühl wie für das dionysische, sie erteilten ihm Nietzsches Schleier des Werdens als dialektische Zweideutigkeit. Nicht ohne Bosheit gegen den ausgelernten Maß-Philisterberichtet die griechische Sage, /(1116) bei der Geburt Apollos habe ein Orakel der Mutter geweissagt, ihr Sohn werde einst noch viele Namen erhalten; der Fernhintreffende, dieser keinesfalls entspannende oder entspannte Name war bereits sein erster. In der Tat ist bis heute die Namensgebung, Kategorialgeschichte Apollos unbeendet, ja es ist die dionysische oder Willensgärung selber, die sich in der Klärung fortsetzt, in der allemal transfiniten Bestimmung. Gerade der Exzeß rauschhafter Möglichkeit und Unbestimmtheit, als welcher mit der Bezeichnung Dionysos gemeint ist, zeigt an, wieviel Subjekt-Belichtung, wieviel - Apollo gerade noch im Menschen zu tun ist. Das dionysische Feuer und sein Wunschbild ist wie die Flamme ebenso stillstehend wie bewegt, aber das apollinische Licht hat Karrieren, weit über die Stillstände der Verkleinerung oder der historischen Festlegung hinaus. So hart die Spannung zwischen Fleisch und Geist, so ist sie als nur solche langweilig geworden. Das macht das Ausgemachte an jedem von beiden, nur die Wahl ist nicht ausgemacht, aber sie scheint immer eine zwischen den gleichen zwei Wegen. Dies eben wirkt philiströs, wie ein Wechsel, der nur zwischen Bekanntem abwechselt und zusieht, ob die Münze auf Kopf oder auf Wappen fällt. Nietzsche wurde oben genannt, weil er statt Sinnenglück-Seelenfrieden utopischer: Dionysos-Apollo gesetzt hat, doch die starre Wahl blieb. Immer wieder wurde die eine Leittafel gegen die andere ausgespielt, immer wieder die Kreaturtafel von der moralischen zerbrochen oder aber, in vermeintlichem Heidentum, eine sogenannte Befreiung des Fleischs vom Geist hergeholt, literarisiert. Immer wieder wurden auch Synthesen versucht, dergestalt, daß Sittlichkeit nicht als Bruch, sondern als Blüte der Kreatur angehe und entwickelbar sei; so im Gegensatz zum puritanischen und Kantischen Dualismus bei Shaftesbury, Rousseau, Schiller. Indes auch die Blütelehre zeigt ihre Enge und Statik in der Beschränkung der Kreatur auf bloßen sogenannten Egoismus und der Moralität auf bloßen sogenannten Altruismus; danach lassen sich dann, in angeblicher Harmonie der Interessen, zwei verwischte Leittafeln leicht aufs gleiche bringen. Der Dualismus andererseits hält zwar die Schärfe eines Scheidewegs, macht daraus keine Kombination, aber er bezahlt die Fassung des kreatürlichen oder des intelligiblen Men- /(1117) schen mit desto größerer Statik beider und mit völlig undialektischgehaltenem Gegensatz. Dadurch reiben sich die beiden Faustseelen nur eng und falsch selbstgerecht aneinander; daher ist Kants Dualismus sauer, Nietzsches Dualismus wild. Daher gibt ein isoliert-antithetischer Dionysos wenig mehr als gärendes Willensmaterial, wenn auch mit der Mahnung des Feuers. Daher wirkt ein isoliert-antithetischer Apollo zuletzt inhaltlos, und seine Reinheit, von allem Abgrund abstrahiert, lebt nur noch in blassen Himmeln. Es erhellt insgesamt: Dionysos wie Apollo sind lange nicht prozeßhaft, prozeßhaft-utopisch genug erfaßt, sie sind - wie alle die früheren, ihnen entsprechenden Gegensätze - verdinglicht. Sie sind immer noch nicht in dem utopischen Fluß, zu dem die Menschen in Fleisch wie Geist berufen sind, heraus aus dem bloßen Vorhof, worin beide sich aufhalten.
Eben im Vorhof zu dem noch unbekannten Selbersein, Mitsichidentischsein, woran keine Entzweiung mehr wäre. Gerade daß zwischen diesen Leittafeln eine Wahl ist und keine getroffene befriedigt, weist auf das währende X hin, woran beide laborieren: auf das Unfertige und Inkognito des menschlichen Wesens. Nur als selber unfertig also, nicht als fixe, gegeneinander ausspielbare Antwort sind auch die Wechselbegriffe Fleisch-Geist, DionysosApollo sinnvoll. Sie bilden keinen Scheideweg, sondern einen ineinander verschlungenen Versuchsweg, wobei das gesucht erwünschte Ziel mit keiner der Alternativen zusammenfällt. Es sei denn in der dialektischen Aufhebung beider, im Dionysischen, das apollinisch bestimmt ist, im Apollinischen, das den ganzen dionysischen Inhalt hat. Dergleichen kann selbst seinen Anfängen nach nur dort geschehen, wo eine Gesellschaft auch zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden sich nicht mehr konkurrierend verhält. Wo Ganzheit erscheint, die die verdinglichten Partikularitäten einschmilzt, und wo Teilmomente einer bewegten Ganzheit sich nicht mehr als Fetische abheben und miteinander kämpfen. Letzthin ist die gesamte Verhältnisfrage des natürlichen und des moralischen Menschen klassengeschichtlicher Schein, als solcher durchschaubar und folglich bereits veraltet. Weder ist der vordomestizierte Typ des Menschen so schön fertig, daß er nur ausgepackt und entfesselt zu werden braucht, noch hat die Domestizierung in der geschichtlichen Klassengesellschaft, trotz /(1118) der mannigfachen Namen Apollos, zu denen sie vorgeschritten ist, eine inhaltlich perfekte Moralität gesetzt, die die Unterdrückung alles ihr in der Kreatur nicht Entsprechenden rechtfertigte. Auch das neue Reich, das die Predigt Jesu gegen den alten Adam und über ihm aufgeschlossen hat, erschließt noch nicht das menschliche Inkognito so, daß kein Zweifel über unser letztes und Grundgesicht bliebe. Es erscheint nach wie vor in einem dunklen Spiegel, und Paulus schärft seinen Christen ein, daß auch sie zum » aufgedeckten Angesicht« erst noch verwandelt werden. Der Mensch ist mitnichten, wie der Katechismus hoffte, ein auf einer gezähmten Bestie reitender Engel; denn weder ist ausgemacht, daß das menschliche X der Bestimmbarkeit eine Bestie, noch daß das jeweils vorliegende Reiter-Normbild ein Engel sei. Derart intendiert gerade die am Unaufgeschlossenen, an Dionysos selber genährte Utopie Apollos auf das Dritte über dem öden Paar Sinnlichkeit-Sittlichkeit und der bangen Wahl, welche der Dualismus zwischen beiden ließ. Dionysos gilt auf dem Weg zu diesem sich erst annähernden Dritten, nämlich des unverzerrten Beiunsseins, nicht anders denn als Statthalter des im Menschen Brennenden und Ungelösten; er bleibt das dunkle Feuer im Abgrund. Apollo gilt nicht anders denn als fortschreitende Bestimmung des dionysisch bezeichneten Gärungsmaterials; er bleibt der Abgrund in der Höhe, der in die Höhe geschaffte. Beide sind unerledigt wie der menschliche Inhalt, den sie meinen und zu dem sie - hier im Willen und Fleisch, dort im Geist - unterwegs sind. Der Mensch ist noch nicht gefunden, weder als dionysisch noch als apollinisch, ja sein Inkognito ist noch so groß, daß das dionysische wie das apollinische Lied und Wunschbild vor ihm so recht wie unrecht haben. Triebwille und Geist oszillieren, und was sie wechselseitig bilden, in dialektischer Ganzheit, wird selber nur einen einzigen Namen haben. Es ist der letzte Apollos, aber auch der erste des Dionysos; wonach beide Alternativen verschwinden. /(1119)
Vita activa, Vita contemplativa oder die Welt des erwählten guten Teils
Der Streit zwischen dem glühenden und hellen Lied setzt sich höchst auswendig fort. In zwei wünschbaren Arten des richtigen Lebens: der des Tuns, der der betrachtenden Stille. Beide Formen können miteinander unvermittelt abwechseln (so in der Reihe Werktag-Sonntag) oder sich durchdringen (wie das erst nach Abschaffung der Zwangsarbeit möglich). Aber die Frage bleibt: welches Wunschbild hält auch in möglicher Durchdringung das Übergewicht, welches enthält einleuchtender, was des Menschen ist? Ein arabisches Sprichwort sagt: Schöne Frauen sind eine Woche lang gut, gute Frauen sind ein Leben lang schön. Die gute Frau mag die tätige sein, im Sinn des Waltens, die schöne die der Beschauung werte und wohl auch selbst ihrer Beschauung gewidmete. Wie aber, wenn Tätigkeit oder Beschauung gleichzeitig, nebeneinander, alternativisch erwägbar sind? Mit dieser Suchfrage unseres besseren Teils beschäftigt sich ein vielfach ausgelegter Bescheid während des Wandels Jesu mit seinen Jüngern: »Es begab sich, da sie wandelten, ging Jesus in einen Markt. Da war ein Weib, mit Namen Martha, die nahm ihn auf in ihr Haus. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria, die setzte sich zu Jesu Füßen und hörte seiner Rede zu. Martha aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen, und trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, daß mich meine Schwester läßt allein dienen? Sage ihr doch, daß sie es auch angreife. Jesus aber antwortete und sprach zu ihr: Martha, Martha, du hast viel Sorge und Mühe, Eines aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt, das soll ihr nicht genommen werden« (Luk. 10, 38-42). Ohne weiteres scheint mit diesem Bescheid ein Vorrang des kontemplativen Menschen über den aktiven gesetzt. Erst recht war die Beschauung überall dort über die Mühe gesetzt, wo die Sklaverei die herrschende Form der Produktion war, also die Arbeit, diese
überwiegend sklavische Tätigkeit, für den Freien entehrend war. Doch auch das vornehme Tatleben, mit dem Übergewicht des Willens und der Emotionen, galt nie unangefochten. Formuliert entbrannte darüber der Streit im Hoch- und Spätmittelalter: zwischen dem »theoretischen« Christentum der Dominikaner /(1120) und dem «praktischen« der Franziskaner. Und das Martha-Maria Problem erschien als so gewaltig, daß es den damaligen Himmel selbst berührte. Die Frage: Tun oder Betrachtung, Primat des Willens oder des Intellekts hat sich zuletzt bis in den scholastischen Gott erstreckt. Duns Scotus, der doctor subtilis der Franziskaner, lehrte den durchgehenden Primat der Willenstätigkeit über den Geist, Thomas von Aquin, der doctor angelicus der Dominikaner, den ebenso durchgehenden Primat des Geistes über den Willen. Gott wird daher, wie Jesus in der Stube der Martha, dort am ersten und höchsten durch Liebe, hier durch schauende Erkenntnis erfaßt. Demgemäß stellte Thomas auch im Menschen den Verstand über die Willenskraft, als deren Leitung, ja ideellinhaltliche Bestimmung, und die theoretischen Tugenden - nicht zuletzt auch im Anschluß an Aristoteles - über die praktischen. Martha hält sich im Vorhof des vollkommenen Lebens auf, Maria aber, sagt Thomas, genießt bereits das «Engelsbrot der Kontemplation « - pars mentis aeterna est intellectus, und seine Frucht ist der Friede (Quaest. 79). Damit erscheint bei Thomas die gleiche Rangordnung, welche Dante zwischen einem Schwesternpaar des Alten Testaments herstellt: der Lea als dem oprare, der Rahel als dem vedere (Purg. XXVII, v. 108). Nicht ganz so freilich wie Thomas hat der Mystiker der Dominikaner, Eckart, das kontemplative Leben ausgezeichnet. Eckart hat über die Lukasstelle einen Sermon geschrieben, rühmt Marthas »wohlgefestigte Tüchtigkeit«, wogegen er Marias «Ledigsein der Werke« nur achtet. So deutet Eckart den Bescheid Jesu, mittels mannigfacher Ergänzungen, um: »Martha befürchtete, daß ihre Schwester stecken bliebe in Verzückung und schönen Gefühlen und wünschte, daß sie würde wie sie. Da antwortet Christus in dem Sinne: Gib dich zufrieden, Martha, auch sie hat das beste Teil erwählt, das ihr nimmer mag genommen werden. Dieser Überschwang« (gemeint ist der Überschwang der Kontemplation) «wird vorübergehen; das Höchste, was einer Kreatur beschieden, soll ihr zuteil werden, sie soll heilig werden wie du.« Der Dominikaner Eckart fällt mit dieser Deutung, Umdeutung aus dem Intellektualismus seines Ordens heraus, jedoch nicht auf Dauer. Denn im Ganzen seiner Lehre siegte durchaus der Lesemeister über den Lebemeister: die ausfahrende und die heimkehrende Seele, der Hervor/(1121) gang der Welt aus Gott und ihre Rückkehr in ihn, alle diese Tätigkeiten und Hoffnungen bestehen aus verschiedenen Stufen eines Erkenntnisvorgangs, also doch kraft eines letzthinnigen Primats der theoretischen Tugenden. Grundsätzlich haben so nur die Franziskaner vita activa über vita contemplativa gestellt, eine Vita activa, die Liebe und Caritas sein wollte, noch nichts anderes. Orcagna hat auf der Predelltafel seines Altarbilds in S. Maria Novella die vita activa in Gestalt des - Meßopfers dargestellt. Wobei allerdings die Liebe, welche nimmer aufhört, gegen Ende des Mittelalters der bürgerlichen Tüchtigkeit immer näher kam. in raffinierten Übergängen zum homo oeconomicus, zum homo faber bis zur kapitalistischen Betriebsamkeit, worin freilich die Liebe sehr gut aufhörte. Trotzdem verschwand die alte Alternative in den neuen Verhältnissen am wenigsten, stets fand sie weit konkretere Abwandlungen als die inwendig-statische zwischen Fleisch und Geist, Weltlichkeit und Geistlichkeit. Sie zieht sich nun als doppelte Stimme durch den Tag des bürgerlichen Menschen, um so mehr, als die jetzt herrschende Klasse den Satz abschaffte, daß Arbeit schändet. Da ist die protestantische oder Werktagslinie des immer strebenden Bemühens; steht sie der kapitalistischen Tüchtigkeit nicht fern, so kommt sie doch aus deren noch besseren Zeiten. Bezeichnend ist Lessings Wort über die Wahrheit selbst, die nur Gottes ist, und das Streben nach Wahrheit, das allein dem Menschen zukommt und wünschenswert bleibt. Daneben oder darüber aber läuft die Sonntagslinie, eine katholische, auch wo keine Katholiken sie verfolgt haben; auf ihr gilt der alte Primat der Beschauung und Vision, der fruitio veritatis als des höchsten Guts. Dies durchaus theoretische Bewußtsein, und zwar als eines mit ebenso theoretischem Inhalt, kulminiert darum bei Spinoza, erst recht letzthin bei Hegel; selbst amor Dei ist hier Einsicht, und der Weisheit letzter Schluß ist wieder nur der sich als Geist wissende Geist. Und doch gehen auch bei diesen wesentlich kontemplativen Denkern, als bürgerlichen, die aktive «fortitudo«, der «praktische Geist« dicht bis an die Äthersphäre der betrachtenden Geistigkeit, sie erst gewinnend. Denn die bürgerliche Produktion und Arbeitswelt erlaubt Maria oder der Kontemplation keinen fraglosen Primat mehr über Martha oder das in Tätigkeit sich vollbringende Leben. Ins- /(1122) gesamt kann die Werktags- mit der Sonntagslinie klassengesellschaftlich überhaupt nicht vermittelt werden, desto weniger, als aus dem Werktag wachsend das Interesse an der Arbeit, aus dem Sonntag wachsend die Kunst der Ruhe und erfüllendenBeschaulichkeit ausgefallen sind. Revolutionäre Bewegungen gestatten erst recht nicht, sich beruhigt auf ein Faulbett zu legen, so sehr wiederum nichts als Leben jenseits der Arbeit ihr Ziel ist. So zeigt auch die Ambivalenz zwischen praktischer und theoretischer Tugend, wieviel experimentierend Unausgemachtes in beiden noch steckt. Wie wenig die eine wie die andere bereits einen schieren, zur Antwort tauglichen Menscheninhalt enthält. Wie heftig der dunkle Spiegel,
worin das menschliche Inkognito sich ansieht, Martha und Maria immer wieder hintereinander stellt, hintereinander im bloßen Vordergrund. Damit hängt sogar die vielfach niedere Art zusammen, als die dies doppelte. Leben auftreten kann. Sie wäre nicht möglich, wenn Tätigkeit oder Beschauung bereits eindeutig enthielten, was des Menschen ist. Martha wie Maria erscheinen im kapitalistischen Dasein entstellt, sie sind aber auch dieser Entstellung noch fähig. Das tätige Leben ist Fron der Ausgebeuteten geworden und unaufhörlicher Umtrieb, den die Profitmacher sich selber machen. Wobei es sogar Selbsttäuschung ist, daß der Kapitalist in seinem Betrieb wirklich handelt und entscheidet. Er ist an undurchschaute und unbeherrschte Warenbewegungen angeschlossen, die ihm gegenüberstehen und lediglich Ausnutzung von Chancen freilassen. Das kontemplative Leben andererseits ist überwiegend auf Pfründnertum oder, ebenso bedenklich, auf Almosen gegründet und putzt so, sich als freischwebende Intelligenz vorkommend, die angebliche Interessenfreiheit reiner Theorie. Diese ist aber in Wirklichkeit höchst interessiert, nämlich an der Rechtfertigung bestehender Zustände oder an der Ausweichung ins antiquarische Museum. Infolgedessen läuft der Unterschied auf beiden Leittafeln leer, und beide weisen kapitalistisch in ein leeres, immer leereres Land. Infolgedessen sind Marxisten, als Liebhaber humaner Inhalte und ihrer Beförderung, besonders gegen vita contemplativa empfindlich geworden. Ihnen wurde allzu lange die Welt nur verschieden interpretiert; das Amt des Wissens als Gewissen dagegen ist, sie von Grund auf zu verändern, /(1123) das ist aus dem endlich bewegten Grund her. Zugleich aber enthält diese marxistische Entscheidung einen Ausweg aus dem undialektischen Dualismus, der auch die Leittafeln vita activa - vita contemplativa bisher gebannt hat. Eine neue Ebene wird marxistisch endlich betreten, die der revolutionären Praxis; sie bereitet bereits die Aufhebung des Werktags-, Sonntags-Wesens vor. Und sie wäre keine revolutionäre Praxis, wenn sie nicht ebensowohl Betrachtung wie Aktion als Momente hätte, geeint und aufgehoben in der Oszillierung von Theorie-Praxis. Nirgends gibt es echtere theoretische Objektivität, größeres Gewicht der intellektuellen Tugend als im Marxismus, nirgends wird die Entscheidung, auf Grund der Erkenntnis und ihres langen Atems, tätiger eingesetzt. Es verschwinden die niederen Typen, gar die Karikaturen. welche sowohl die Martha wie die Maria gleichmäßig banalisiert und erniedrigt haben, vorzüglich eben im kapitalistischen Raum. Wie viele Zappler stehen oder standen unter der bloß aktiven Leittafel, wie viele Rohe und geistig Leere: Typen, die keiner Minute Sammlung fähig sind, Täter der Froschperspektive und nur ihretwegen Täter seiend. Als gäbe es keine andere Einsicht als die zu einem raschen Umsatz führt, oder als wäre die Milchstraße dazu da, in Butter verwandelt zu werden. Wie viele Triebschwache stehen oder standen andererseits unter der bloß kontemplativen Leittafel, wie viele geistig Inzesthafte, studierte Nullitäten: Typen, die keiner Entscheidung fähig sind, Sammler eines unaufgeräumten, stromlosen, ziellosen Wissens. Selbst Aufgeräumtheit dieser Art Betrachtung schafft, wenn sie in ihrer Abgetrenntheit bleibt, das Ihre in die Gleichgültigkeit des Museums; es enthält noch Schau, doch auf lauter gewordene Leichen. Der Georgianer Bertram fragt gegen die billig Aktiven, den Geschäftigkeitspöbel: »Wer schuf die adlig langsam hohe Schau / Zum raschen Retterblick? ist das schon Tod?« - gewiß nicht, doch der Tod steht der verkommenen Schau noch näher als der verkommenen Aktivität. Dagegen fehlte - was dem Marxismus im Problem des Kulturerbes am wenigsten entgeht -, dagegen fehlte älteren Zeiten die einzig erhabene Art der Beschaulichkeit nicht. Den Ausdruck der Konzentration, die so nahe zur vita contemplativa gehört oder gehörte, gibt Holbeins Erasmusbild, den Ausdruck der arbeitenden Entronnenheit immer wieder /(1114) Dürers »Hieronymus im Gehäus«. Ein Stück aus dem thomistischen Intellekt-Primat erscheint, gerade in der Theorie-Praxis unabgegolten, und ein Ausdruck Weisheit, genau in der ruhigen, der Ruhe verschworenen Weise, wie sie Dehio an Dürers so hochgesammelter, der »Melancholia« selber entronnener Darstellung beschreibt: »Er (Hieronymus) sitzt klein im Hintergrund; würden nicht alle perspektivischen Linien auf ihn hinführen, man könnte ihn übersehen; aber sein Geist teilt sich dem ganzen Raum mit und taucht jedes Ding in ihm in Behagen und in jeden: man meint in dieser heiligen Stille nichts zu hören als das Knistern der über das Pergament fahrenden Feder, die Tiere schlafen, der Totenkopf, fast freundlich dreinblickend, spricht von einer tieferen, endgültigen Ruhe.« Die Sprache des Klosterhofs ist in Dürers Blatt, die Sprache des gelehrten Kreuzgangs, die Sprache der Humaniora und ihrer Universität, wie sie dem Marxismus, gerade aus Aktivität, näher stehen als alle Schandpragmatismen des Profits. Und seine Praxis selber hat Leben jenseits der Arbeit in ihrem Grund, folglich einen Tiefgang und eine Ruhe, welche von der des Hieronymus nicht erbleicht. Das gesamte Verhältnis wirkt allerdings nur deshalb so kompliziert, auch in der Theorie-Praxis und gerade in ihr, weil es rebus sic stantibus immer noch auf den alten Dualismus praktischer und theoretischer Tugenden abgezogen ist. Eben dieser Dualismus ist letzthin gegenstandslos oder verdinglichte Entzweiung bloßer Momente; im Dasein ohne Zwangsarbeit und bloßer Exemtion von der Zwangsarbeit fällt das gesamte Vorzugsproblem aus. Wie ein klassenloser Zustand den Gegensatz Kreatur-Zucht, Dionysos-Apollo in vorschreitender
Selbstbewegung, Selbstidentifizierung hinter sich läßt, so auch die Spannung der theoretischen und praktischen Tugenden. Der gute Teil ist letzthin weder von Martha noch von Maria erwählt, sondern ist jenes Echte, das der Aktivität ihr Ruhezentrum aufweist, von dem her und zu dem hin sie geschieht. So wurden in der griechischen Sage die Täter Achilles, Äskulap, Herakles, Jason wenigstens dem Kentauren Chiron zur Erziehung gegeben, als der Allegorie von Weisheit und Aktion in einem. /(1125)
Doppellicht Einsamkeit und Freundschaft
Die Menschen werden seit je allein geboren und sterben allein. Sie bleiben auch danach, im Leib und Ich, sich selber ganz unmittelbar der Nächste. Leicht wird dergleichen vom Wind äußerer fremder, gar feindlicher Reize wieder in sich zurückgeweht. Und eine am meisten in sich zurückgetriebene Erscheinung des Willens zum Ich hat von hier ihren narzißtischen Ursprung: das Wunschbild Einsamkeit. Soll heißen, mit Einschränkung: Einsamkeit ist nicht in allen Lagen ein Wunschbild, konträr, sie kann gefürchtet, ja ein Elend sein. Das hängt jeweils vom Alter eines Menschen, von der Gesellschaft und Zeitepoche ab, aus der ein Ich zurückgezogen wird. Das Ich ist zwar älter als die individualistische Wirtschaft, wie bemerkt, aber seine Einsamkeit ist nicht älter als die Gesellschaft selbst und nicht wirklich außer ihr. Einsamkeit in Jugend oder fern von Madrid ist genauso ein sozialer Zustand wie Geselligkeit oder Freundschaft, wenn auch in Form des Ausfalls oder Gegensatzes. Meiden, Isolieren, Lösen sind ebenso soziale Akte wie Binden und Vereinigen; Einsamkeit ist in der Tat nur als Fernbild der Gesellschaft da, sei es in erzwungener Abwendung, mit Sehnsucht oder Bitterkeit, sei es in gewollter, mit Haß oder entlastetem Glück. Der Bezug aufs Ego ist allemal durch den Bezug auf die Gesellschaft bestimmt; ohne diese gäbe es kein Alleinsein, am wenigsten den Affekt des Alleinseins als Schmerz. Für die Jugend, der eine Stunde solange dauert wie dem Alter zwölf, ist Einsamkeit schlechthin quälend und nur nach großer Enttäuschung flüchtig gewählt. Nicht anders qualvoll sind die düsteren Abende vereinsamter Frauen, der öde Sonntag, ein unscheinbares, doch in seiner Länge besonders verwüstendes Leid. Sexuelle Unruhe vermehrt die Beklommenheit, das eintönige Dasein in vier Wänden, das einer noch vorhandenen Jugend zu früh geworden ist oder das Torschlußpanik besonders fühlbar macht. Noch weit düsterer gerät Einsamkeit dem Menschen, der gewaltsam seine frühere gewohnte oder angemessene Umwelt entbehren muß. Einzelhaft wird den meisten Gefangenen Verzweiflung, noch mehr als der Freiheitsentzug schafft der languor der Einsamkeit Haftpsychose. Doch auch Glashäuslerei in sehr fremdem Land, erzeugt von Naturen, die sich /(1126) selbst gute Gesellschaft genug sein könnten, jedoch eine Vermehrung ihrer selbst in den gesellschaftlichen Pfeilerspiegeln brauchen: auch diese Einsamkeit schafft ihren Naturen nur Heimweh. Kommt noch Verbannung hinzu, so entsteht ein Mönch in der Hölle: Ovid in seinem Verbannungsort Tomi schrieb wesentlich nur die »Tristia«, und der Frühling am Schwarzen Meer entzückte ihn nur zu einem Bettelgedicht an Augustus. Es ist der bejahte Glanz einer Zeitepoche und Gesellschaft, der Einsamkeit hier insgesamt schwarz macht, der ihr narzißtisches Glück aufhebt, mindestens suspendiert. Alle diese Zustände sind, um sich dem Teufel zu ergeben, und so freilich extrem unerwünscht; sie sollten Verlassenheit, nicht Einsamkeit heißen. Anders jedoch, entscheidend anders, wo die Einsamkeit als freiwillige, als eigentliches Wunschbild, nämlich der Störungslosigkeit, introvertierten Grund findet. Dann gerade meldet sich in ihr der Narzißmus, von dem Freud das Leib-Ich primär erfüllt sein läßt: eine gesprenkelte Einkehr zieht sich von den Objekten aufs Ich zurück. Subjektiv desto dringender, objektiv desto wertvoller scheinend kann der Wunsch nach gedämpfter Außenwelt werden, je mehr die Konzentration eine Lampe schützt, die doch nicht bloß inneres Licht brennt. Solitudo musis amica, meint ein klassischer Spruch; in seiner Einleuchtung ist zugleich ein Archetyp wirksam, der des Nests, der Inkubation, der gerettet reifenden Ausfaltung. Ländliche Abgeschiedenheit, Winter, der sie verstärkt, Ruhe des Hauses und der Nacht geben dazu einen starken Wunschtraum; der Lampenschein steht darin als förmliche Aura um das Manuskript. Schreiben auf dem Land, Schreiben in der Nacht vereinen südliche wie nordische Landschaft mit der gleichen freundlichen Chthonik der Hervorbringung: das Tibur des Horaz, das Tusculum Ciceros, selbst das Sils Maria Nietzsches sind ihr über Welten hinweg Allegorien geworden. Nicht ganz hierher gehören eigentliche Versbildungen der Einsamkeit, wie bei George, wo der Angabe nach die Höhe, wie bei Rilke, wo der Mitteilung nach die Tiefe einsam ist. Doch mindestens von dem epikurischen oder stoischen Zurückgezogensein, dem mehreren Studio darumher, ging das Lob der Einsamkeit auch in bescheideneren Fällen an, verbunden mit Sammlung und wieder mit Sehnsucht nach vita contemplativa. Allerdings hängt auch das Lob der Einsa- /(1127) keit nicht nur vom Habitus des Menschen ab, der etwas mit ihr anzufangen weiß, sondern ebenso wieder vom Zustand der Sozialwelt, innerhalb dessen der Einsame gedeiht. Fühlt ein Subjekt sich von den Tendenzen dieses Zustands angezogen und aufgerufen oder wird der Zustand gar als solcher bejaht, dann ist die Einsamkeit der Zeit so verbunden wie ein Atelier der Stadt Paris.
Wird dagegen eine Zeit als schlechthin feindlich empfunden und scheint dem Menschen, der sich als höher vorkommt, kein Platz in ihr zu sein, dann entsteht Einsamkeit als Glück der Flucht, als Asyl. Zum Teil hatten selbst Tibur, Tusculum, Sils Maria diesen Charakter; er wurde abstrakt-ausschließlich in den Robinsonaden des achtzehnten Jahrhunderts. Umgang mit Pflanzen, Tieren, Natur, Büchern ließ die Menschen, das ist: die vorhandene Gesellschaft, vergessen; kein Ball der Residenz kam dagegen auf. Selbst die Täter und Großbesitzer des verrotteten Gellschaftlichen Seins flüchteten damals in kokette Solitüden »der Eremitagen; wie erst die Nicht-Täter. Dies Zeitalter blühte in mehr oder minder gerechtfertigtem, mehr oder minder selbstgerechtem Narzißmus. 1755 erschien Johann Zimmermanns berühmte Schrift «Über die Einsamkeit«, sie wurde in fast ebenso viele europäische Sprachen übersetzt wie nachher der Werther. Und sie predigt Zurückgezogenheit demokratisch, als Tusculum auch ohne Cicero darin. Das gleichzeitig langatmige und aufgeregte Buch ist in seinem zehnten Kapitel den besonders glühenden Jünglingen gewidmet, ihrem Ekel gegen langweiligen Umgang, dem Geschmack und der Neigung zum würdigen Abseits, der »Flucht ohne Eile im Genuß der menschenleeren Natur, wo die Seele endlos tönt«. Solch gefühlvoller Solipsismus, aus Untätigkeit und Enthusiasmus seltsam gemischt, verband sich mit dem Individualismus der durchbrechenden bürgerlichen Gesellschaft, mit dem Freiheitsdrang der kapitalistischen Wirtschaftsperson. Bene qui latuit bene vixit - diese spätrömische Weisheit gegleitet alle niedergehenden Gesellschaften, doch im achtzehnten Jahrhundert kam zur Isoliertheit eben auch das wirtschaftliche Atom-Pathos hinzu, das Person-Pathos, das ein altes Kollektiv so floh wie aufhob. Älter, stärker freilich war immer der Rückzug, war hier die christlich überkommene Innerlichkeit, dies nicht so sehr die Außenwelt als sich selbst durchbohrende /(1128) Gefühl. Vor wie nach der Rebellion des achtzehnten Jahrhunderts hatte vorzüglich der Lutherische Christ darin seine Wohnung. Die einsame Seele und ihr Gott bildet in der gesamten, nun spezifisch nordischen und Winter-Einsamkeit den wesentlichen Schauplatz christlicher Abenteuer und Rettung. Demgemäß ist gerade der Wille des letzten wirklichen protestantischen Christen, der Existenz-Rekurs Kierkegaards, subjektiv wie gegenständlich einer der Einsamkeit, ja ist deren christliche Erschöpfung. Nie wurde ihre Enge verzweifelter ersehnt, nie mit solch demütiger Eitelkeit genossen, nie mit solch weitem Bogen zum Dasein des Menschlichen zu versehen gesucht. Von der Einsamkeit her sind Kierkegaards Moralfragen alle monologisch; als unreflektierte Grundlage haben sie die Privatheit des Kleinrentners, doch als Gegenstand den ungeheuren: als Einzelner, in notwendiger Einsamkeit, mit dem Absoluten zugleich zu sein. Sich selbst in Existenz verstehen, dieses zum Subjektiven rufende Losungswort wäre ohne protestantische Einsamkeit nicht entstanden; bei Kierkegaard aber wird es zur Sprache einer völlig paradoxen Objektflucht: hinein ins innerste Bergwerk des fernsten Himmels. Dergleichen wurde Glück im Kummer, möblierte die Höhle eben zum Inteneur, setzte sie hoch hinauf: »Mein Kummer ist meine Ritterburg; sie liegt wie ein Adlerhorst auf der Spitze eines Berges und ragt hoch in die Wolken... Von diesem Wohnsitz fliege ich hinunter in die Wirklichkeit und ergreife meine Beute. Aber ich halte mich unten nicht auf; ich trage sie heim auf mein Schloß. Was ich erbeute, sind Bilder; die wirke ich in eine Tapete und bekleide damit die Wände meiner Zimmer. So lebe ich wie ein Abgeschiedener, an jedem Erlebnis vollziehe ich die Taufe der Vergessenheit und weihe es der Ewigkeit der Erinnerung« (Entweder/Oder 1, Werke, Diederichs, 1, S.38). Kein Kommunizieren ist auf diesem Boden möglich, es sei denn unter lauter Einsamen von Burg zu Burg ihrer bleibenden Einsamkeit; so splittert hier das christlich-narzißtische Wunschbild auf. Und wird so doch zum Egoismus, wenn auch im sublimen Sinn, die einsame Seele und ihr Gott lebt nicht ganz ungestraft in der kapitalistischen Anarchie. Erlangt nicht ganz schuldlos von hierher einen Teil ihrer Verzweiflung und Verführung, ihres Kummerglücks und ihrer Einleuchtung. Privatwirtschaft beförderte von Anfang /(1129) an die äußerste Zuspitzung des Egoismus; dieser war die Geschäftsseele, er schrieb noch den dezidiertesten Nicht-Geschäftsseelen die Fluchtbahn vor - in besonders extreme oder besonders vertiefte Vereinzelung. Einsamkeit hat auch den in der Welt tätigen Unternehmer so überwältigt, daß er ein Eremit seines Interesses geworden ist. Der Kapitalismus der freien Konkurrenz setzte eine Fülle negativer Säulenheiliger, er setzte wahre Säulendämonen ihres Betriebs. Doch eben: sosehr die Privatwirtschaft das Private im ganzen Umfang zu prämieren verstand, sie hat die Einsamkeit nicht erfunden, geschweige die Flucht in sie, als in eine Sammlung oder in ein Asyl, geschweige das sehr alte Wunschbild des leibhaftigen Verdichtetseins, ungestörten Beisichseins. Es ist übertrieben worden wie das Individuum selbst, aber es ist nicht nur künstlich oder verdinglicht, nicht nur geronnene Abstraktion. Anders als Sinnenglück und Seelenfrieden hält sich Einsamkeit mit ihrer Alternative zur Geselligkeit auch noch in geordneter Gesellschaft, bis auf weiteres. Mit freilich veränderter Funktion und mit einem Wunschbild, das keines mehr der Flucht zu sein braucht. Wohl aber eines jenes Zellenraums, ohne den auch der glücklichst vergesellschaftete Mensch nicht zu sich kommt. Blieben Ressourcen und Rekurse dieser Art unbewohnt, dann würde Gemeinschaft fast ebenso leer, wie Einsamkeit ohne Gemeinschaft blind wird. Das wahre, das nicht ältliche und auch nicht elfenbeinerne,
sondern kräftig erfrischend Pausen bildendeTraumbild Einsamkeit hat, als freiwillig und nicht menschenfeindlich, noch viel Arbeit vor sich. Alle Kinder werden allein geboren, aber stets miteinander groß. Gerade die frühesten Menschen lebten gesellig, machten eine Gruppe aus. Der Einzelne war hier der Ausgestoßene, das bedeutete in den Zeiten vollkommener Wildnis: der Untergehende. Der Stamm war der Halt des Leibs, der Inhalt des schwach entwickelten Ichs. Folglich steht zwar am organischen Anfang ein auf sich bezogenes Leib-Ich, aber am geschichtlichen Anfang steht die Gemeinschaft. Und zu ihr gehen in Zeiten, wo sie bedroht ist, ebenso heiße Wünsche wie zur Einsamkeit. Wünsche der Geborgenheit, die dann nicht einmal im Widerspruch zur Einsamkeit zu stehen brauchen, sondern sie einbeziehen, mindestens in den kleinen warmen Kreis von Freundschaft. Diese /(1130) ist zugleich das wichtigste Stück einer auf Dauer und Gewohnheit angelegten Liebe; so gehen die meisten Ehen nicht aus mangelnder Liebe, sondern aus mangelnder Freundschaft zugrunde. Sie bildet sich später aus, aber sie ist hier das, wie gerade Werther sagt, »welches Früchte statt welkem Laub vorbringt«. Auch das Individuum, das sich gegen die großen sozialen Körper gewehrt hat, feierte und vergoldete ein Kollektives im näheren Kreis. Wo die Gesellschaft zweifelhaft geworden, tauchte gleichzeitig mit dem Wunschbild Einsamkeit das der Freundschaft auf: nicht als Flucht, sondern als Ersatz der Gesellschaft, als ihre bessere Gartenform. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts schrieb der feinsinnige Christian Garve seine Doppel- oder Wechselbetrachtung »Über Geselligkeit und Einsamkeit», und Freundschaft siegte gegen Abschließung: »Die nicht veränderte Luft wird immer mephitisch; die nicht durch äußere Sensationen, worunter die, welche von Menschen herkommen, immer nur die stärksten und lebhaftesten sind, veränderte Gemütsdisposition wird immer etwas traurig.« Und sosehr Freundschaft das Kollektive vorerst ersetzen wollte, so deutlich wurde sie, zum Unterschied von Einsamkeit, gerade in Zeiten ungebrochener Polis-Gesinnung dieser verbunden. Stammt doch die ausgeführteste Freundesfeier von Aristoteles, als einem Denker, der den Menschen als Zoon politikon bestimmte, ja die Freundschaftsethik durchaus in die des Staats einmünden ließ. Zwar dem Staat gab er keine Utopie, wohl aber der Freundschaft, mit einem Schönheitsbild, das die vorhandene herausarbeitet. Das achte und neunte Buch der Nikomachischen Ethik ist dieser konkreten Idealisierung gewidmet, so nämlich, daß das Zoon politikon vor allem doch und primär in der Freundschaft ein menschliches ist. Dieser als dem Archiv und Ruhekissen des Mit-Uns ist es wesentlich, »daß man sich gegenseitig wohlwolle und Gutes wünsche, ohne daß einem diese gegenseitige Gesinnung verborgen bleibe«.Letzteres bedeutet, daß Freundschaft dort beginnt, wo sie sich bewährt, das heißt in den meisten Fällen, wo sie sich etwas kosten läßt; weshalb Aristoteles sowohl in der Nikomachischen Ethik wie selbst in seiner Politik (II, 5) das Sprichwort anführt, das für Klosterkommunismus nachher oft verwendete: »Freunden ist alles gemeinsam« oder «Freundesgut, gemeinsam Gut«. Aller- /(1131) dings springt diese Gleichheit, als Element der Freundschaft, über den kleinen Kreis nicht hinaus; Aristoteles empfiehlt das Privateigentum schon deshalb, weil sonst die Tugend der - Freigebigkeit wegfalle. Der Freundeskreis selber ist wegen seiner Vollendung ohnehin kleiner als die geringste Polis: »Freundschaft im vollkommenen Sinn kann nicht mit vielen sein, sowenig man gleichzeitig in viele verliebt sein kann.« Und Freundschaft, als soziale Vollendung, steht über Liebe: »Denn es gibt auch Liebe zum Unbeseelten, zum Wein, zum Gold; Freundschaft dagegen lebt nur zwischen Menschen, setzt die Erwiderung voraus.« Zuletzt wird aus dem Ideal des kleinen Kollektivs sogar der Kitt des großen gezogen, auf verblüffende Art: »Freundschaft ist es auch, die die Staaten erhält und dem Gesetzgeber mehr am Herzen liegt als die -Gerechtigkeit. Denn die Eintracht ist offenbar mit ihr verwandt, und auf diese ist das hauptsächliche Augenmerk der Staatslenker gerichtet, während sie die Zwietracht als eine Feindschaft am meisten zu verbannen bemüht sind« (Nik. Eth. VIII, I ).Was die Gerechtigkeit nur fordert, das leistet ohne Zwang die Freundschaft; sie bewirkt jene Eintracht, worin eine Verletzung der gegenseitigen Rechte nicht mehr vorkommt, also selbst zum Gedanken an Gerechtigkeit kein Anlaß mehr ist. Wieder, wie beim Grundsatz des inter amico somnia communia, lauft also Aristotelische Utopie in den Freundschaftszirkel vor dem Staat; die politische Übereinstimmung, ein streitloses Gut, welches bereits die Sklavenhaltergesellschaft nicht zeigen konnte, fand in der Freundschaft sein Schutzhaus. Bald auch seinen Deklamationsort; so in Ciceros »Laelius de amicitia« oder Castor und Pollux als einem jederzeit betreibbaren Goldenen Zeitalter zu zweit. Die drei Betätigungen, die Aristoteles der Freundschaft zuschrieb: Wohlwollen, Eintracht, Wohltun, machten sie besonders deutlich utopisch; demgemäß hielt sich auch Freundschaft über die Zweizahl hinaus meist nur in Gruppen selber utopischen Charakters oder utopischer Abzielung. Sie lebte in Bünden, Sekten, Konventikeln, wie sie ein Kollektiv nicht bloß ersetzen, sondern in verkleinerter Form vorbilden oder in regionaler Form erleichtern wollten. Von daher der Freundschaftstraum in allen anarchischen und in föderativen Utopien, in der Auflösung des Sozialbaus zu Akten gegenseitiger Hilfe. Zu kleinen, sich selbst /(1132) verwaltenden Gemeinden, wo jedes Glied sich kennt und der feine Liquorgeschmack alter
Freundschaft gewaltlos hindurchzieht. Mit herabgesetzem Preis erscheint dies ersehnte Brudergefühl in Philadelphien aus lauter Kleinsiedlungen noch in der Nachbarschaftsethik des frühen Amerika: die Feudalwelt war verlassen, der Kampf ums Dasein noch mehr einer mit der Wildnis als mit Menschen. Das Kollektiv erschien fast noch greifbar aus dem Stoff, den die Bibel, auf nicht ganz unverwandter, bäurisch-demokratischer Grundlage, den Nächsten genannt hatte. Daß freilich all das vor dem nackten Zahlungszwang nicht bestehen konnte, ergab sich, trotz gebliebener community-Geste, in Amerika bald; in Europa zeigte sich das bloße Traumbild von Freundschaft zum Teil als die Bitterkeit, mit der ihr wirkliches Dasein gemessen wurde. Das bekannte Gespräch über den Abwesenden, auch wenn er zum Freundeskreis gehört, zeigte die Spannung zum Ideal, eine weit größere als bei der sauberen Einsamkeit; auch La Rochefoucaulds eiskalte Beobachtung gehört hierher: »Dans l'adversité de nos meilleurs amis nons trouvons toujours quelque chose qui ne nous deplait pas.« Und Schopenhauer übertreibt seinen Pessimismus bei dieser Gelegenheit nicht ganz, wenn er zum Seelenbund anmerkt: »Dem steht der Egoismus der menschlichen Natur so sehr entgegen, daß wahre Freundschaft zu den Dingen gehört, von denen man, wie von den kolossalen Seeschlangen, nicht weiß, ob sie fabelhaft sind oder irgendwo existieren.« Vorzüglich im Kapitalismus wurde empirische Freundschaft rar, denn wo die Menschen meist nur durch Kauf und Verkauf in Beziehung treten und die Ausnutzung das herrschende Bewußtsein füllt, in dieser Gesellschaft der Konkurrenten wird selbst die Freundschaft des kleinen Kreises eine Anomalie. Daran änderten auch die Sympathiegefühle und Harmonie-Hoffnungen nichts, mit denen die Privatwirtschaft sich anfangs verbündet glaubte: so in ihrem ideologischen Frühgottesdienst bei Adam Smith. Nicht nur Interesse, auch Sympathie galt hier als die Triebfeder des menschlichen Handelns; und wie der Marktverkehr der Interessen in gemeinsamen Wohlstand zu münden schien, so sollte der Austausch der Sympathien den gesellschaftlichen Ausgleich aller anderen individuellen Verschiedenheiten herstellen. Aber obwohl das selfish system sich wie die /(1133) Erde um sich selber drehte, so drehte es sich doch nicht zugleich um die soziale Sonne; - das gesellschaftlich ausgeweitete Traumbild Freundschaft blieb im kapitalistischen System zwar von ferne leuchtend, doch weniger als irgendwo wirksam. Konnte Aristoteles noch die Gruppe der Slavenhalter, welche die antike Polis ausmachten, in Freundschaft sich versammeln lassen, mit gegenseitigem Wohlwollen zwischen sich als hohem, doch keineswegs durchkreuztem oder seltenem Ideal, so ist das kapitalistische Kollektiv, wenn es sich so nennen läßt, nur noch homo homini lupus, Kampf der Monopole zuletzt. Das wurde dermaßen Betrieb und Mechanei dazu, daß die Freundschaft nicht einmal mehr einen Ersatz darstellt, sondern fast wie die Einsamkeit eine Flucht. Die bündisch-föderativen Utopien suchen die Geburt des neuen Kollektivs aus der Freundesgruppe, wie bemerkt; es ist das der stark ersatzhafte Teil in dieser Art Sozialutopien. Der Marxismus, so radikal er auch dem Wolfsstaat entgegengesetzt ist, hat keinen Anlaß dazu, von Freundschaft, Siedlung und dem darauf redressierten Kleinbetrieb ein Heil oder gar einen Umsturz zu erwarten. Er denkt in höchst entwickelten, dem Kapitalismus dialektisch entspringenden Produktionskategorien, ja selbst der Machtstaat muß, bevor er abstirbt, erobert, muß gegen die Feinde der Revolution angewandt werden. Und trotzdem lebt die alte Hoffnung: Freundschaft, gerade im Bild einer klassenlosen Gesellschaft breitet sie sich mit neuen Wunsch- und Lebensdimensionen aus. Ist sie auch wesensmäßig auf Gruppen beschränkt und auf ein breites, nationales, gar internationales Kollektiv, als das von Unbekannten, nur sehr übertragen anwendbar, so besitzt sie doch in diesem ihre potentiell vorhandenen Gruppen und Zirkel, kurz die Sowjets der überall sonst so vag und vergebens gefeierten Brüderlichkeit. Wie Einsamkeit ist auch Freundschaft in Gruppen keineswegs nur verdinglicht oder diesesfalls als ein Ersatz verabsolutiert, der mit dem wirklichen Kollektiv verschwindet. Und wie Einsamkeit aus der Gemeinschaft nicht ausfällt, bei Strafe der sozialen Leere, so gibt Freundschaft letzthin ein Pendant und keine abstrakte Alternative zur Einsamkeit - dem Kollektiv seine Wärme, ja seine jeweils verdichtete und greifbare Konkretion. Sie bleibt auch in der klassenlosen Gesellschaft als Wunsch- und Lebensstand des Mit-Uns der /(1134) Nähe, sie füllt die weiten, nicht mehr entäußerten intersubjektiven Beziehungen mit konkretem Wir und Gemeinsamsein. Der sozialistisch akzeptierte Dreiklang: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit hat diese Brüderlichkeit als unzweifelhaften, obzwar bisher besonders matten und undurchgehaltenen Grundton. Was immer an einem Bruderbund der Menschheit, an diesem alten, im Ausdruck altmodisch gewordenen Sozialbild frisch und unsentimental geblieben ist, stammt aus der Leittafel Freundschaft; auch an ihr aber steht das angezeigte Wegziel oder Wesen noch bevor. Doppellicht Individuum und Kollektiv Es ist nicht zu erwarten, daß Menschen jemals arm an Ich auftreten. Keiner hört auf, ein Einzelner in diesem seinem Rahmen zu sein, sei das auch noch so schwach oder nebenbei. Der Wunsch, auf eigenen Füßen zu
stehen, ist mit dem nach aufrechtem Gang nahe verwandt. Es gibt in jedem Menschen einen wie immer durchkreuzten Willen, der unabhängig zu sein wünscht und nicht untertan. Dieser Wille lebt in einem eigenen Zimmer oder sehnt sich nach ihm, desto mehr, je weniger es da ist. Die private Wirtschaft, mit dem sogenannten freien Wettbewerb, geht gewiß zu Ende, gerade innerkapitalistisch zu Ende. Aber desto heftiger werden selbst hier, im Sport, im Krieg, die wenigen Felder gesucht, wo der einzelne Mann etwas wert ist, wo er sich auszeichnet. Und wie ein Ich enthaltendes, erhaltendes Wesen schon vor der individualistischen Wirtschaft war, so wird es, wenn auch völlig wieder verändert, noch nach ihr sein. Es bleibt sogar unwahrscheinlich, daß die besondere Schärfung, welche die übertrieben individualistische Zeit nun einmal hervorgerufen hat, spurlos verschwindet. Auch wenn das laissez faire, laissez aller bis auf die Erinnerung verlernt ist, werden ein tüchtiger Junge, ein gewachsenes Subjekt gegen Bevormundung unwillig sein. Auch wenn Persönlichkeit kein höchstes Glück mehr darstellt, so wird sie sich doch nicht als Unglück vorkommen oder - eine lebende Farbe im sozialen Raum - so empfunden werden. Wobei keineswegs Größe nötig ist, damit sich ein gewordenes Individuum als unverwechselbar, als unauflösbar ansieht. Um jeden Einzelmenschen ist eine bunte Wolke von Gefühlen, Hoffnungen, /(1135) die er an sich selber und nur selten an anderen fühlt, obwohl diese ebenfalls davon eingeschlossen sind; und um jeden Einzelmenschen ist ein Quale, das als summiertes, in der Gruppe, nicht erhalten bleibt. Daß es in den Gruppen des bloßen kapitalistischen Zweckverbandes nicht erhalten bleibt, ist ohne weiteres selbstverständlich. Aber kein Zweifel: ein Stück von dem sehr menschlichen Lebenslicht ums Individuum geht erst recht dort verloren, wo auch ein sozusagen organisch Kollektives einzig mit Herdencharakter auftritt. Wie der Faschismus gezeigt hat, ist es nicht immer erhaben, wenn die Menge rast; es kommt auch hier darauf an, aus welchen Menschen sie besteht und wieviel diese, aus eigenem erarbeitetem Urteil, wissen. In corpore kam hier, aus den grundsätzlich ausgelöschten, verantwortungslos gehaltenen Individuen, nicht nur ein Dummkopf, sondern eine Bestie heraus, eine in jedem Sinn namenlose, eine namenlos entsetzliche. Und zu einem Teil der Besinnung gehört es, daß genau dem Einzelnen ein Spiegel vorgehalten wird, damit er selber sieht, wie er damals aussah. Damit er aus eigenen Kräften begreift, wie sein menschliches Gesicht damals vernichtet worden ist und wie es neugeboren werden kann. In ganz anderer Gruppe, in einer, die gerade nicht aus Nullen und der Panik von Unmenschen besteht. So bedenklich Ich und wieder nur Ich ist, so armselig oder so entsetzlich kann auch ein bloß Allgemeines sein. Das heute noch überwiegend gängige Ichsein stammt vom Unternehmer her, aber das bloße leere Un-Ich gleichfalls, und es ist, wie die Nacht der langen Messer gezeigt hat, auch als rasendes dem Unternehmer brauchbar. Also kann das Kollektiv als solches, unabhängig von den Einzelnen, über die, ja gegen die es sich erhebt, nicht gegen Individuen schlechthin ausgespielt werden. Zunächst entspricht dem zur Privatwirtschaft verkümmerten Ich durchaus die dürrste Art des Allgemeinen, die des entseelten Betriebs. Ist das kapitalistische Ich nicht schön, so noch weniger das kapitalistisch gleichfalls vorhandene Kollektiv; es ist sinnlos, diesem Wort einen Goldklang zu geben, weil es in einem numerischen und so oft scheinhaften Gegensatz zur privatkapitalistischen Wirtschaft steht. Es steht in einem Gegensatz zu ihr, sofern die Fabrikarbeit kollektiv ist, zum Unterschied von der privaten Aneignungsform ihrer Mehrwerte, aber das erschöpft die sozusagen üherindivi- /(1136) duellen Einheiten im Kapitalismus nicht. Es erschöpft jene Kollektivismen im Spätkapital nicht, die an sich durchaus nicht schon progressiv sind. Ohnehin hat die wachsende Unsicherheit, die die kapitalistische Krise gebracht hat, Herdenwünsche verstärkt. Ohnehin hat die Trustbildung den früheren Mittelstand wachsend zu einer Angestelltenschar gemacht, verwaschen gleich, ängstlich bemüht, verantwortungslos zu sein. Wie der Herdentrieb in Gefahrzeiten die Menschen zwar auf einen Haufen treibt, aber in Panik, nicht in revolutionärem Mut, so stellt die Tendenz zum Angestellten ein Kollektiv aus lauter Rädchen her, ein viel zäheres, als je das sozialistische sein wird. Und weiter vor allem, was eben die Nacht der langen Messer angeht: war der Wunsch, kein Ich zu sein, sondern Kollektiv als solches zu sein, nicht gerade als stärkstes Hilfsmittel zur Aufrechterhaltung des Kapitalismus brauchbar, nämlich im totalen Staat? Seit es die faschistische »Volksgemeinschaft« gab, braucht sich die Individualität nicht mehr ihre rein privatkapitalistische Zugeordnetheit vorwerfen zu lassen: Kollektivisches an sich verträgt sich mit Geschäft so gut wie sie. Ist so gut wie Individuelles im Kapitalismus brauchbar, auch in der Krise, auch in den Lebensängsten kapitalistischer Spätzeit, gerade in ihr. Bemerkenswerterweise zeigen selbst Länder ohne Staatsvergötzung, also rein kapitalistisch-demokratische, seit alters ein spezifisches Kollektiv, das dem Individualismus, ohne Schaden fürs Geschäft, die Waage hält. Tocqueville, selber ein großer Demokrat, Außenminister der französischen Republik von 1849, hat dies bürgerliche Kollektiv zuerst in seiner despotischsten Gestalt verspürt und denunziert, nämlich in Amerika (»De la démocratie en Amérique«, (1835 - 1840). Tocqueville kam gerade im Land der ungehemmtesten Privatwirtschaft zu dem Schluß: »Die Abwesenheit eines einzelnen Despoten in demokratischer Tyrannei kompensiert den
kollektiven und anonymen Despotismus nicht, der desto mehr unterdrückt und verdummt, als er in jede Zelle des sozialen Organismus unbemerkt einzudringen vermag.» Die »Garantien persönlicher Freiheit«, die der liberale Demokrat in die Egalität einzubauen vorschlug, sind nicht so interessant, doch auch sie zeigen: mitten in der freiesten Konkurrenz gab es Kollektiv und gewiß kein sozialistisch anmutendes. Sozialistisch wird es vielmehr erst als proletarisch /(1137) klassenbewußtes und zuhöchst als klassenloses, wobei das Individuum aber so wenig verschwindet, daß es als human werden könnendes selber erst frei wird. Das Kollektiv des kämpfenden Proletariats ist Protest gegen die privatkapitalistische Aneignung seiner Produktion. Eben dieser Protest kommt aber, als subjektiver Widerspruch, ohne die allemal individuellen Daseins- und Wirkungsformen der Subjektivität nicht aus. Individuum und Kollektiv, beide umfunktioniert, sind mithin im revolutionären Klassenbewußtsein einzigartig verschlungen; wieder nicht als Alternativen, wie der Vulgärmarxismus es sich dachte, sondern als wechselwirkende Momente. Das Außersichsein der Individuen in einem enthusiastisch verschmelzenden Kollektiv war auch in Revolutionen auf sehr kurze Zeit beschränkt; es war viel häufiger in einer Schwindelrevolution wie der faschistischen oder in Derwischbewegungen reaktionärer Art. Die Prosa der sozialen Revolution zeigt und verlangt individuellen Mut, sichtbare Führer bis in die kleinste Gruppe, persönliche Mannhaftigkeit in der Solidarität. Mannhaftigkeit, die in der Sowjetunion beispielsweise so sehr pointiert ist, daß nicht nur Recht, sondern Pflicht zur Kritik besteht und daß diese Pflicht - mit einer dem Westen kaum noch verständlich gewordenen Dialektik - genau ein Moment der Disziplin ist, eine Funktion überzeugter, richtiger, unbeirrbarer Solidarität. Individuum ist hier nicht Spaltpilz oder auch nur schwätzende Flause, Kollektiv ist nicht Bequemlichkeit, Stagnation, Konformismus und Sittenpolizei; vielmehr: klassenbewußtes, gar klassenlos gewordenes Kollektiv stellt aufs neue ein Drittes dar, ein Drittes zwischen, besser über bisherigen Individuen samt bisherigem Kollektiv. Wie es noch keine rechten Individuen gab, so noch kein rechtes Kollektiv; das rechte aber liegt auf der betretenen Bahn einer personreichen, höchst vielstimmigen Solidarität. Die Inschrift über dem konkret-utopischen Kollektiv lautet, wie bekannt und ausgemacht: Jeder produzierend nach seinen Fähigkeiten, konsumierend nach seinen Bedürfnissen. Nichts anderes ist Kommunismus, sein Kollektiv ist Freiheit im Rahmen finaler Ordnung, er ist nicht Termitenbau, nicht Genormtheit einer Majorität des Gestern. Bei Gelegenheit der Sozialutopien wurde oben bestimmt: »Eben der Bezug konkreter Ordnung auf den Willensinhalt konkreter Frei- /(1138) heit hält das Erbe Naturrecht gegen jedes nur abstrakt und isoliert gefaßte Kollektiv, gegen ein Kollektiv, das den Individuen entgegengesetzt wird, statt daß es aus ihnen, als klassenlosen, entspringt« (Seite 637). Dieses Erbe ist in der so individuellen wie kollektiven Solidarität angetreten, in der durch Finalbewußtsein (Herstellung der klassenlosen Gesellschaft und ihrer Weiterungen) orientierten Solidarität. Auch die Gleichheit, der wichtige Schlachtruf der Demokratie, seit 1789 zwischen Freiheit und Brüderlichkeit gesetzt, auch dieses Wesen ist marxistisch nicht in der Lage, mit Gleichmacherei (wie sie Tocqueville empörte) verwechselt zu werden. Engels bestimmt hierzu richtunggebend: »Die Gleichheitsforderung im Mund des Proletariats hat... eine doppelte Bedeutung. Entweder ist sie - und dies ist, namentlich in den ersten Anfängen, zum Beispiel im Bauernkrieg, der Fall - die naturwüchsige Reaktion gegen die schreienden sozialen Ungleichheiten, gegen den Kontrast von Reichen und Armen, von Herren und Knechten, von Prassern und Verhungernden; als solche ist sie einfach Ausdruck des revolutionären Instinkts und findet darin, und auch nur darin, ihre-Rechtfertigung. Oder aber sie ist entstanden aus der Reaktion gegen die bürgerliche Gleichheitsforderung, zieht mehr oder weniger richtige, weitergehende Forderungen aus dieser, dient als Agitationsmittel, um die Arbeiter mit den eigenen Behauptungen der Kapitalisten gegen diese aufzuregen, und in diesem Fall steht und fällt sie mit der bürgerlichen Gleichheit selbst. In beiden Fällen ist der wirkliche Inhalt der proletarischen Gleichheitsforderung die Forderung der Abschaffung der Klassen. Jede Gleichheitsforderung, die darüber hinausgeht, verläuft notwendig ins Absurde« (Anti-Dühring, Dietz. 5. 129). Und noch schärfer, einer kommenden Freiheitsordnung zugewandt, als einer positiv differenzierten: »Der Satz der Gleichheit ist... der, daß keine Vorrechte bestehen sollen, ist also wesentlich negativ, erklärt die ganze bisherige Geschichte für schlecht. Wegen seines Mangels an positivem Inhalt und wegen seiner kurzhändigen Verwerfung alles Früheren eignet er sich ebensosehr für Aufstellung durch eine große Revolution, 1789-1796, wie für spätere systemfabrizierende Flachköpfe. Aber Gleichheit -- Gerechtigkeit als höchstes Prinzip und letzte Wahrheit hinstellen zu /(1139) wollen, ist absurd. Gleichheit besteht bloß im Gegensatz zu Ungleichheit, Gerechtigkeit zu Unrecht, sind also noch mit dem Gegensatz zur alten bisherigen Geschichte behaftet, also mit der alten Gesellschaft selbst« (1. c. S.427). Mit dieser Feststellung ist aus dem klassenlosen Kollektiv jedes Mißverständnis des Nivellements entfernt; als welches in Wirklichkeit Diktatur der Mittelmäßigkeit wäre. Und ebenso ist Einebnung auf eine vorhandene Proletariatswelt entfernt: »Wenn das Proletariat siegt«, lehrt Marx gegen solche Statik, «so ist es damit keineswegs zur absoluten Seite der Gesellschaft geworden, denn es siegt nur, indem es sich selbst und sein
Gegenteil aufhebt.« Das klassenlose Kollektiv hat zwar berechtigtes Übergewicht über seine Individuen, weil es deren Gesichter nach einer gemeinsamen Richtung wendet und es die Marschordnung nach dieser Richtung ist. Aber Individuen geben ihm erst Gewicht zu diesem Übergewicht; so ist das Ideal-Kollektiv nie mehr eines der Herde, auch nicht der Masse, erst recht nicht des Betriebs, sondern eben, es geht als intersubjektive Solidarität an, als vielstimmige Richtungseinheit der Willen, die von gleichem human-konkretem Zielinhalt erfüllt sind. Rettung des Individuums durch Gemeinsamkeit Item: bisher sind weder echte Iche noch ein echtes Wir ins Leben getreten. Für beide kam noch keine blühende Zeit, und kommt sie, dann werden mit dem neuen Inhalt auch die bisherigen Formen verändert sein. Das Ich ist zwar zu halten, aber nicht die sogenannte Einheit der Person, worauf das bürgerliche Individuum so stolz war. Statt ihrer zeigt sich, daß gerade Person offen ist, so wie ein guter Gärtner, eben weil er gut ist, nicht immer denselben Strauß bindet. Kein Ich ist in dem, was es ist und kann, schon so fest ausgemacht, daß es sich nicht im Kern erneuert, an den Rändern von sich überrascht sein kann; oder es wird seine eigene Grabschrift. Ebenso hat das Kollektiv, nach erlangtem sozialistischem Inhalt, eine von Grund auf veränderte Form. Daß es mit den Zweckverbänden, gar mit dem Staat der bürgerlichen Gesellschaft nichts gemein hat, braucht nicht weiter versichert zu werden; denn in diesen war überhaupt Allgemein/(1140) heit nur als abstrakte und der Phrase nach. Der bürgerliche Staat, angeblich über den Parteien stehend, ist in Wirklichkeit Unterdrückungsapparat der herrschenden Klasse; wie bekannt geworden. Und weil der Unterdrückungsapparat nie fehlte, der Arbeitsteilung und Klassenbildung entsprechend, geben auch die größeren Allgemeinheiten, wie die gebundene Wirtschaft der vorkapitalistischen Zeit sie ermöglicht hat, dem Kollektiv kein Modell. Es war seit Novalis und, fundierter, seit Saint-Simon üblich geworden, mit Sehnsucht aufs Gesamtleben des Mittelalters zu blicken. Ja es wurde davon geträumt, gerade via Sozialismus einem neuen Mittelalter entgegenzugehen: ein sinnloser Traum, und wo er nicht sinnlos war, traf er klerikofaschistisch nur als Versuch zum Ständestaat ein, nicht eben als Kollektivierung. Im klassenlosen Kollektiv hat aber die Unterdrückung, wie sie jeder klassenmäßigen, also scheinbaren Allgemeinheit wesentlich, keinen Anlaß mehr und keinen Gegenstand. Demgemäß schließt auch von hier aus eine neue soziale Allgemeinheit die neuen Individuen nicht aus; konträr, nachdem die Klassen verschwunden sind, finden Individuen auf ihrem Weg in einer menschenfreundlichen Gemeinschaft zum erstenmal Raum - es sind viele Wohnungen in diesem Hause. Der Bogen zwischen Ich und Wir wird geschlagen, wird dann geschlagen, wenn die kollektive Produktionsweise endgültig gegen die private Aneignungs- und Austauschweise rebelliert hat; wenn Individuum nicht mehr Einzelkapitalist oder auch querstehende Flause ist. Wenn das Kollektiv, statt dessen, wirklich total geworden ist, also neue Individuen in einer noch nie vorhanden gewesenen Art Gemeinsamkeit umgreift. Nirgends wurde individuelle Rettung intensiver betrieben als bei Marx im »Kapital«, und zwar vom Totum her, wie es auch für den einzelnen Menschen gilt. Nur von daher geht der Kampf gegen Arbeitsteilung und gegen die menschliche Verkümmerung in ihrem Gefolge: »Die besonderen Teilarbeiten werden nicht nur unter verschiedene Individuen verteilt, sondern das Individuum selbst wird geteilt, in das automatische Triebwerk einer Teilarbeit verwandelt... Aus der lebenslangen Spezialität, ein Teilwerkzeug zu führen, wird die lebenslange Spezialität, einer Teilmaschine zu dienen. Die Maschinerie wird mißbraucht, um den Arbeiter selbst von Kindesbeinen /(1141) in den Teil einer Teilmaschine zu verwandeln« (Das Kapital 1, Dietz, S.378, S.443). Und nach geschehener Analyse des kapitalistischen Fabrikkollektivs wird es für Marx zu einer Frage von Leben und Tod, »das Teilindividuum, den bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion, durch das total entwickelte Individuum zu ersetzen, für welches verschiedene gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Betätigungsweisen sind« (1. c. S.513). Und immer wieder verlangt dies total zu entwickelnde Individuum eben das Totum einer Gesellschaft, worin das individuelle Interesse vom Gesamtinteresse nicht nur gegönnt wird, sondern mit ihm in den substantiellen Zielen zusammenfällt. Erst dann werden auch die großen Worte sinnvoll, welche die Klassengesellschaft bald über die Würde des Individuums, bald über die Generalität der wahren Moral ausgegeben hat. Da ist die Sehnsucht des unabhängigen Beisichseins, welche der Kyniker durch Bedürfnislosigkeit erfüllen wollte; sie wird kein Faß mehr nötig haben. Da ist die Geburt der humanen, der kulturgesättigten Individualität, sie geschah im Kreis des jüngeren Scipio (das Wort humanitas stammt von dorther), sie wiederholte sich, mutatis mutandis, im Personideal der Renaissance, des englischen und deutschen Klassizismus; dieser nur individuell vorhandene Selbstwert (persona proprie singulis tributa, sagt Cicero) wird keine Aristokratie mehr nötig haben. Da ist, nach Seite der Allgemeinheit, die Generalität in den Geboten der stoischen, der christlichen, der Kantischen Moral; generell sowohl darin, daß sie alle
gleichmäßig verpflichtet, wie generell in ihrem klassenhumanen Ziel. Kant gab die formalste, aber auch die radikalste Leittafel des moralischen Kollektivs im kategorischen Imperativ, im Sittengesetz, das ausnahmslos gebietet. Die Generalität des juristischen Gesetzes, die die bürgerliche Gesellschaft gegen die buntscheckigen Standes- und Lokalrechte aus der Feudalzeit gesetzt hatte, bürokratisch gesetzt hatte, war hier moralisch überhöht. Dazu trat vor allem das Leitbild Citoyen, als Ehrung der allgemeinen Menschheit in jeder Person, als Kollektivgebot der guten oder Citoyenwelt in der empirischen. Selten hat Generalität erhabener gesprochen, selten wurde das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung in der Maxime jedes Willens rigoroser antizipiert. Aber nirgends wird zugleich klarer, daß in facto /(1142) damit nur eine vorübergehende Ideologie der französischen Bourgeoisgesellschaft verabsolutiert worden ist und daß es erst recht in facto - überhaupt kein Prinzip konkret-allgemeiner moralischer Gesetzgebung bei währender Klassengesellschaft, bei wesenhaft un-allgemeiner, antithetischer, geben kann. Weshalb das moralische Kollektiv erst in einem klassenlosen sinnvoll wird; und der sittliche Willensakt wird dann auch keine Kasuistik seiner allgemeingültigen Beurteilung mehr nötig haben. Wenn ein Mensch, nach Kants Forderung, die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit zum Zweck seiner Handlungen machen soll, so rebus sic stantibus nicht die Glückseligkeit des Ausbeuters, zu der er ohnehin als Mittel verwendet wird. Gerade die moralische Wirksamkeit des kategorischen Imperativs setzt eine Gesellschaft voraus, die nicht mehr in Klassen aufgespalten ist. Oder mit den wenig mystischen Worten des Mystikers Sebastian Franck: »Wenn der Eigennutz nicht wäre, wäre das Evangelium nicht schwer«; es gibt keine Ethik außer einer ohne Eigentum. So garantiert erst das neue oder wirkliche Kollektiv die Würde jeder Person, und im gleichen Akt garantiert die neue wirkliche Person Kollektiv ohne Unterdrückung, auch ohne leere, also leicht mißbrauchbare Allgemeinheit. Es ist das utopisch inhaltliche Ziel, das solcherart belebt; und dieses Ziel, im Beisichsein wie im Gemeinsamsein, heißt Lichtung des menschlichen Inkognito, Identifizierung unseres Selbst und Wir. Solidarität ist nur dazu unterwegs, und nur wegen einer Probe auf dieses Exempel kann die Solidarität nicht vielstimmig genug sein, das Kollektiv nicht reich genug. Wieder, wie bei Einsamkeit und Freundschaft, besteht zwischen Individuum und Kollektiv keine Alternative; diese ist, als Schein, auf die abstrakt-verdinglichte Gegensätze Sinnenglück - Seelenfrieden, auch vita activa - vita contemplativa beschränkt. Und klassenlose Gesellschaft läßt diese verdinglichten Momente in vorschreitender Selbstbegegnung hinter sich, schmilzt sie ein. Aber wie Einsamkeit und Freundschaft, so bleiben auch Individuum wie Kollektiv im klassenlosenZustand erhalten, als Pendant erhalten, nicht als Scheideweg. Das Dritte, das in ihnen so dialektisch umgeht wie sie beide erhält und überhöht, diese lebendige Synthese ist selber nichts anderes als das klassenlose Kollektiv, wie bemerkt. Doch eben /(1143) als das neue, klassenlose, offen-utopische, so daß nicht mehr partiale Individuen, partiales Kollektiv dualistisch verdinglicht auftreten können, als starre Gegenwerte. Diese Synthese zwischen Individuen und Kollektiv, die Aufhebung dieser falsch verdinglichten und dualistisch gemachten Sozialmomente, kann dann allerdings selbst wieder Kollektiv heißen, nämlich klassenloses, weil sie den Triumph der Gemeinsamkeit, also die absolute Seite der Gesellschaft darstellt; aber dieser Triumph ist ebenso die Rettung des Individuums. In der klassenlosen Synthese wirkt das gesuchte Totum, dieses, was nach Marx ebenso das total entwickelte Individuum freisetzt wie wirkliche Allgemeinheit. Und letzthin ist das ein Totum, weil es ein Totum des Zielinhalts ist, das des noch unausgemacht umgehenden Menscheninhalts. Darin tönt oder tagt das Allgemeine, das jeden Menschen angeht und die Hoffnung des Endinhalts ausmacht: Identität des Wir mit sich und mit seiner Welt, statt der Entfremdung.
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DER JUNGE GOETHE, NICHT-ENTSAGUNG, ARIEL
Fühl es vor! Du wirst gesunden; Traue neuem Tagesblick. Goethe, Faust II, I, Chor
Der Wunsch zu zerschlagen Schon das Kind hat sich als artig gemachtes kaum gut gefühlt. Ein Trieb zum Vernichten steht fest, der kleine Goethe hat ihn betätigt. Er bewog den Knaben an einem schönen Nachmittag, da das Haus ruhig lag, immer neues Geschirr auf die Straße zu werfen, weil es «so lustig zerbrach«. Zu dieser Lust kam ein weniger
bestimmtes Drängen nach etwas, es erwachte recht angemessen in einem abgelegenen Zimmer. »Dort war, wie ich heranwuchs, mein liebster, zwar nicht trauriger, aber doch sehnsüchtiger Aufenthalt.« Großes aber trug sich hinter den Fenstern zu, die Ebene, die Gewitter, die untergehende Sonne, zu gleicher Zeit eine freundliche und nahe Fremde. Das Kind sah /(1144) die Kinder spielen, die Nachbarn in ihren Gärten wandeln und ihre Blumen besorgen, die Gesellschaften sich ergötzen. Goethe fährt fort und faßt die Wirkung zusammen: »... So erregte dies frühzeitig in mir ein Gefühl der Einsamkeit und einer daraus entspringenden Sehnsucht, das ... seinen Einfluß gar bald und in der Folge noch deutlicher zeigte.« Der Halbwüchsige strich mit verdächtigen Freunden umher, fand einen versteckten Ein- und Ausgang aus dem Haus, lernte zu lügen. Die leichte, fröhliche, junge, warme Mutter zwang gewiß nicht dazu, aber ein Vater, der zu genau war, und ein eng abgezirkelt Leben luden dazu ein, nicht alles zu genau zu nehmen. Auch das Wohlerzogene hielt nicht vor, je weniger, je näher die ersehnte Zeit des Studenten kam. Goethe verließ das Vaterhaus mit folgendem Gefühl: »Die heimliche Freude eines Gefangenen, wenn er seine Ketten abgelöst und die Kerkergitter bald durchgefeilt hat, kann nicht größer sein, als die meine war, indem ich die Tage schwinden und den Oktober herannahen sah.« Weidlich unzufrieden also suchte der abreisende Sohn ein Leben, das ihm verwandter, das ihm gleich war. Glück und Leid des Wertherschen Das gefährlich Suchende ging nun in der Fremde, gegen sie, an. Das Ich-weiß-nicht-was der Kindheit bekleidet und enthüllt sich zugleich: es ist in allem das schöne Mädchen. Dies erschien fast unverstanden in der Kinderliebe zu Gretchen, nun zieht das beunruhigende Glück in heiß gewordenen Gestalten übers Land. «Wie im Morgenglanze / Du rings mich anglühst, / Frühling, Geliebter!« - das ist reinste Eröffnung der Jugend: »Ruft drein die Nachtigall / Liebend nach mir aus dem Nebeltal. / Ich komm, ich komme! / Wohin? Ach, wohin?«-das ist lauter zehrende Unsichtigkeit im Urnebel Jugend. An Friederike schreibt der sich selber noch untreue, in jeder Ruhe unruhende Liebhaber: «Ich bin nicht vergnügt, ich bin glücklich! Das fühle ich, und doch ist der ganze Inhalt meiner Freude ein wallendes Sehnen nach etwas, das ich nicht habe, nach etwas, das ich nicht kenne.« Das Gefühl dieser Jahre bleibt unermessen, ja trotz seiner Gegenstände fast gegenstandslos. Sein Aufenthalt ist zwischen /(1145) Extremen, es schwärmt bis an die äußersten Grenzen des Leids - wie des Jubels. Das reale Mädchen wird leicht vermischt und überleuchtet vom Mädchen, das man sich denkt: der junge Schiller hat derart Melancholien an Minna, Phantasien an Laura gedichtet, denen in der Wirklichkeit wenig mehr als eine Andeutung entsprach. Dieser utopischie Gefühlszustand (enthaltend: »Bruder Tod und Schwester Lüsternheit«) ist dem soviel konkreteren jungen Goethe nirgends fremd; Überschuß erotischer Phantasie hat sein genaustes und bitterstes Dokument im «Werther« gefunden. Die Stromschnelle dieses Liebesgefühls fließt in utopischen Gegenden; sie hat im bloßen Tränenrinnsal der Empfindsamkeit keinen Platz. «Ich habe kein Gebet mehr als an sie; meiner Einbildungskraft erscheint keine andere Gestalt als die ihrige, und alles in der Welt um mich her sehe ich nur im Verhältnis mit ihr.« Und die grenzenlose Liebe zu diesem Mädchen erscheint selber als das Grenzenlose in Lotte, im Glück, »mit ihr nach ferneren, verhüllteren Seligkeiten der Welt zu ahnden«. Äußerste Stärke einer überholenden, utopisch vollendeten, freilich auch idolhaften Liebe verzehrt sich einsam am Gegensatz zur Wirklichkeit, wird schwach zu ihr und geht daran unter. Der Selbstmord Werthers ist aber nur die eine Seite, die gleichsam passive Art, womit jugendliche Traumfülle bezahlt wird. In der erotischen Poesie war auch soziale Prosa, wenigstens als Umfassung: als Weltekel an einer sehr bestimmten, durch Spießbürger und frivol-unverschämten Adel vertretenen Welt. Dieser politisch gezielte Ekel, nicht nur die Selbstvernichtung aus utopischer Liebe ist Jugend in Werther; so mischt sich die ungeheure Bitternis, als um 1770 geschehend, mit sozial aggressivem Sturm und Drang. Also mit Aggression gegen eine feindliche Gesellschaft, in der Liebe, Person, Kraft, Echtheit, Freiheit, Schönheit, Ahnung zugleich blockiert und vereitelt waren. Goethe, dem das erotische Werthererlebnis zur Zeit der Abfassung von «Dichtung und Wahrheit« kaum mehr gegenwärtig war (erst die Erfahrung «Marienbader Elegie« berief wieder den »vielbeweinten Schatten«), noch der Hofmann Goethe erinnert sich im dreizehnten Buch von «Dichtung und Wahrheit« an die Wertherzeit auch politisch. Er spricht von dem Ekel, den alles gleichmäßig, zwanghaft Wiederkehrende auslösen könne, und resü- /(1146) miert: »In einem solchen Element, bei solcher Umgebung..., von unbefriedigten Leidenschaften gepeinigt, von außen zu bedeutenden Handlungen keineswegs angeregt, in der einzigen Aussicht, uns in einem schleppenden, geistlosen, bürgerlichen Leben hinhalten zu müssen, befreundete man sich in unmutigem Übermut mit dem Gedanken, das Leben, wenn es einem nicht mehr anstehe, nach eigenem Belieben allenfalls verlassen zu können, und half sich damit über die Unbilden und Langeweile der Tage notdürftig genug hin. Diese Gesinnung war so allgemein, daß eben >Werther<
deswegen die große Wirkung tat, weil er überall anschlug und das Innere eines kranken jugendlichen Wahns öffentlich und faßlich darstellte.« Der Zusammenstoß des utopischen Gefühls war also nicht nur einer innerhalb der Liebeswelt, und das Gefühl selber war nicht nur erotisch. Die Tränen, die die Jugend über Werther weinte, kamen aus überall gepreßtem Herzen. Sie waren unbefriedigte Wünsche, gehemmte Tätigkeit, gehindertes Glück, erbittertes Leid. Leid am eigenen Ungenügen vorm eigenen Wachtraum und am Ungenügen der Welt, Leid »am Schicksal, dem alten stummen Fels«, wie es Werther selber nennt. Die Forderung, Prometheus, Ur- Tasso Schärfere Triebe brachen so vor, und sie entsagten dem Leben nicht. Auch die deutsche Jugend um 1770 war nicht gewillt, sich weiter ins Gegegebene zu schicken, Gewalt zu ertragen. Bald luden sich die Affekte völlig aus, sie verließen die Bangigkeit, die Überladenheit bloß leidender, also passiver Art. Sie entluden sich im fordernden Wirrwarr des Sturm und Drang, im Protest. So kam der Glut einer Jugend eben die neue und besondere einer Zeitwende hinzu, die bürgerlich-revolutionäre Unruhe, wie sie gegen Leibeigenschaft, Regelzwang, Despotie und »Unnatur« sich empörte. Die Stürmer und Dränger insgesamt hatten das Glück, nicht nur subjektiv, auch objektiv so alt zu sein wie ihr Zeitalter und mit den Tendenzen des endlich erwachenden deutschen Bürgertums sich im Einklang zu fühlen. Wenn physiologische Jugend nach dem Wort Lessings Trunkenheit ohne Wein sein mag, so war sie um 1770 mehr als das: näm- /(1147) lich die äußere Situation lieferte ihr auch einen eigenen eiligen Grund zur Trunkenheit, ja fast etwas zuviel Grund, nämlich Trunkenheit oft noch ohne Begriff. Bürgerliche Revolution schien sich in Deutschland vorzubereiten, die dann doch nicht kam; und sie verwandte, bei der geringen kapitalistischen Entwicklung des Landes, nicht den kalkulierenden, regulierenden Verstand. Sie sprach wild-vages Freiheits- und Vaterlandsgefühl an, irrationale Schwärmerei, wie sie einem noch halbbarocken, nämlich pietistischen Kleinbürgertum, aber auch der Jugend lag. Fehlten die starken Gefühlsakzente doch auch dem dritten Stand Frankreichs nicht, dem politisch klaren, längst ratiopalen; Rousseau brachte sie gerade mit entscheidendem Impetus in die Massen, und sie trieben besonders packend zur Revolution. Jedoch im wirtschaftlich zurückgebliebenen, politisch ungeschulten Deutschland verbanden sich die Gefühle nicht ohne weiteres mit der bürgerlich-offiziellen, der gleich nach Thomasius oft hausväterlich gewordenen Aufklärung, sondern kehrten sich dem Ausdruck nach gegen sie. Gegen die Dürre der Alten, der Gottsched-Zeit, vor allem auch der scheinbar gleichen Perücke, ja des scheinbar gleichen Reglements, das man im despotischen Polizeistaat erblickte. Es war freilich nur das Amalgam von reglementiertem Spießertum und reglementierendem Duodez-Despotismus, gegen das der Sturm und Drang sich wandte. In Wahrheit gehört der Sturm und Drang, seinem ganzen Inhalt nach, völlig zur Aufklärung, obwohl er aus angegebenen Gründen den Begriff davon verneinte. Er ist deren aktivster Teil und ist ihr mit allen seinen Themen: Jugenderziehung, Freiheit, Humanisierung der Rechtspflege, Naturrecht und so fort, völlig verbunden. Die Wendung gegen den Verstand übersah zwar die damals progressive Rolle der Bürokratie, des generellen Gesetzes überhaupt; doch eben: ein wilder Apollo und die Befreiung des Bürgertums flossen dem damaligen jungen Deutschland in einer einzigen Unmittelbarkeit ineinander. Von daher auch das reich gemischte, doch einheitlich, nämlich als «Natur«, mit diesem Kampfakzent empfundene Ensemble: das Empfindsame und das Altdeutsche; der Protest gegen den Zopf und der Archaismus; die Demokratie des Volkslieds und Hamanns einsames Gewitterchristentum, mit Entzweiung, Gewölk, /(1148) Blitzen ums Morgenrot. Selten erschien so viel »Herr, schaffe mir Raum in der engen Brust«, so viel an den Stäben Rütteln des im Menschen, so viel Jugend als gemeinter Löwengott, so viel Anti-Philistertum schlechthin, ungewiß, ob in Wildnis oder in die helle Sonne ausbrechend, beides lag im Sturm und Drang. Das war die deutsche, höchst deutsche Zeitwende, Mischwende, die Goethes Jugend umgab - eine bürgerliche Revolution trotz fehlendem Bürgertum dahinter, trotz der glühenden Unklarheit. Aus dem schmalen, auf Avantgarde und Jugend beschränkten Wesen kam diese übersteigerte, aber auch faßliche Kategorie: Sturm und Drang, als die von Jugend, utopischer Überfülltheit zusammen. Drum lebte hier der unternehmende Mann, bevor er in sehr anderen Geschäften unterwegs war. Das Kerlhafte, wie man es nannte, heißt an Lenz, ganz zu sich verloren: »So lebte er dahin«, heißt beim jungen Goethe, ganz und voll gesund zur Schrift treibend: »Sprang aus dem Bette wie ein Toller, / Nie war mein Busen seelenvoller.« Mächtig Überspanntes, anderen Raum suchend, rast und klagt bei Klinger: »Ich will mich über eine Trommel spannen lassen, um eine neue Ausdehnung zu kriegen... 0 könnt ich in dem Raum dieser Pistole existieren, bis mich eine Hand in die Luft knallte. 0 Unbestimmtheit! wie weit, wie schief führst du den Menschen« (Sturm und Drang, I, 1). Utopisches, weit menschlicher wund und ungestüm, gärt ergreifend echt beim Maler Müller, dem Reiter aus Kurpfalz: »Mit wie vielen Neigungen wir in die Welt
treten! Und die meisten, zu was Ende? Sie liegen, von ferne erblickt, wie die Kinder der Hoffnung, kaum ins Leben gerückt; sind verklungene Instrumente, die weder begriffen, noch gebraucht werden; Schwerter, die in ihrer Scheide verrosten. Warum so grenzenlos an Gefühl dies fünfsinnige Wesen und so eingeengt die Kraft des Vollbringens? Trägt oft der Abend auf goldenen Wolken meine Phantasie empor, was kann, vermag ich nicht da! Wie bin ich der Meister von allen Künsten, wie spanne, fühle ich mich hoch droben, fühle in meinem Busen alle aufwachen die Götter, die diese Welt in ruhmvollem Lose wie Beute unter sich verteilen. Der Maler, Dichter, Musiker, Denker, alles, was Hyperions Strahlen lebendiger küssen und was Prometheus' Fackel sich Wärme /(1149) stiehlt, möcht's auch sein und darf nicht; übermann' es ganz unter mich in der Seele, und ich bin doch nur Kind, wenn ich körperliche Ausführung beginne, fühle den Gott in meinen Adern flammen, der unter des Menschen Muskeln zagt. Für was den Reiz ohne Stillung? 0, sie müssen noch alle hervor, all die Götter, die in mir verstummen, hervorgehen hundertzüngig, ihr Dasein in die Welt zu verkündigen! Ausblühen will ich voll in allen Ranken und Knospen, so voll, so voll! Es regt sich wie Meeressturm über meine Seele, verschlingt mich noch ganz und gar. Wie dann? Soll ich's wagen, danach zu tasten? Ich muß, muß hinan! Du Abgott, in dem sich mein Inneres spiegelt! Wer ruft's! Geschicklichkeit, Geisteskraft, Ehre, Ruhm, Wissen, Vollbringen, Gewalt, Reichtum, Alles, den Gott dieser Welt zu spielen den Gott!» (Fausts Leben, Monolog). Utopisches, die »neue Ausdehnung» wild-vage, doch als Republik ohne Memmen beschwörend, exklamiert sich in Schillers Räubern, sucht Partisanen zur Rache, zur Freiheit, zur Natur: »Nein! ich mag nicht daran denken! - Ich soll meinen Leib pressen in eine Schnürbrust, und meinen Willen schnüren in Gesetze. Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre. Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus .. . Stelle mich vor ein Heer Kerls wie ich, und aus Deutschland soll eine Republik werden, gegen die Rom und Sparta Nonnenklöster sein sollen.« Gewiß ist das nicht GoethesTeil, und noch gewisser erschien auch in den »Räubern» die Revolution nur als eine Art poetischer Mordbrennerei mit schlechtem Gewissen. Anarchische Irratio zeigte auch im späten Sturm und Drang die Zurückgebliebenheit, ja Durchkreuztheit des revolutionären Bewußtseins im damaligen Deutschland. Aber der revolutionär-utopische Affekt als solcher ist unverkennbar, seine Stärke arbeitet sich durch das Bramarbasieren hindurch, seine subjektive Unbedingtheit ist eindeutig neben der undeutlichen Zielgebung. Goethes »Titanismus« hatte in »Götz« und »Egmont« von vornherein seinen überblickbaren Stoff, einen liberal gemachten hier, einen nationalrevolutionären dort. Dazu kam symbolhaltiges Verständnis für die Mythologie der Empörung, für die duldenden, doch nicht widerlegten Feinde des Zeus. So wurde Prometheus, an /(1150) sich schon der Götz von Berlichingen unter den Göttern, Goethes Gott, der wahre Demiurg des Menschen, der Alleswoller, Allesträumer, der Lichtrebell, der den Menschen das Feuer gebracht hat, ja der das Feuer selber ist. Prometheus ist das Auflodernde, das die Zukunft Vorbedenkende, die wütende Resignation am Felsen und jene unsterbliche Hoffnung, der ein Herkules kommt. Er ist das Opfer, dem der Geier oder Adler des Zeus, dieses uralte Wappenemblem der Unterdrückung, die Leber zernagt, als das Organ der Weissagung. Er vor allem ist der eingesperrte Gott im Menschen; als solcher machte er die Mythologie des Sturm und Drang, erfüllte er dessen liebsten Sohn: den Doktor Faust. Goethe betont im fünfzehnten Buch von »Dichtung und Wahrheit» sogar noch sehr späte, sehr überraschende Nachwirkungen des Prometheuswesens - bis herein in »Tasso«, ja in die Welt der »Iphigenie«. Der selbst zum Olympier Gewordene schreibt, nachdem er das »friedliche, plastische, allenfalls duldende Widerstreben» und nur noch dieses seiner jetzigen Sympathie versichert: »Doch auch die Kühneren jenes Geschlechts, Tantalus, Ixion, Sisyphus, waren meine Heiligen... Ich bemitleidete sie, ihr Zustand war von den Alten schon als wahrhaft tragisch anerkannt, und wenn ich sie als Glieder einer ungeheuren Opposition im Hintergrunde meiner >Iphigenie< zeigte, so bin ich ihnen wohl einen Teil der Wirkung schuldig, welche dieses Stück hervorzubringen das Glück hatte.» Opposition gegen die Obergewalt, das kann auch lediglich Palastrevolution sein und der spätere Goethe hat sich auf den Begriff der Palastrevolution beschränkt-, doch um 1770, in der aufsteigenden Epoche des Bürgertums, enthielt die Opposition ein Leben, das sich in bloßem Austausch der Fassaden nicht erschöpfen wollte. Ein Leben, das wenigstens im Punkt des Anti-Philistertums noch weit in Goethes spätere Zeit des Maßes hineinwirkte, des keinesfalls, trotz Konservatismus, ausgelebten, des sich, erklärterweise, jederzeit ins Rechte denkenden. Der »Tasso» zeigt noch die Bruchstellen, welche von seiner ersten, in Italien umgearbeiteten Fassung herrühren; der »Ur-Tasso» von 1779 bejahte ganz das Recht und die Überlegenheit seines traumerfüllten, wenn auch libertinitischen Helden. Und Antonio, der Gegenspieler, /(1151) trug in der ersten Fassung alle Züge seiner verhaßten Herkunft aus der Gegenwelt des Sturm und Drang, aus dem Philister auch in der Höhe und aus der absolutistischen Staatsräson; wonach er selbst in dem umgearbeiteten Drama zu Anfang schroff, hämisch, hochmütig und neidisch auftritt. Erst im dritten Akt wirkt er sympathieerregend und positiv, ein ruhig
besonnener Weltverstand, während an der gleichen Bruchstelle Tasso erst hier den eitlen Phantasten abgibt, haltlos und mit sich selbst zerfallen. Und nicht unvenvandt wirkt der »Ur-Meister», mit der theatralischen Sendung des Helden, in die »Lehrjahre» nach, in die Heilung von der Sendung, in den realistischen Erziehungsroman. .Auch hier zeigt noch das erste Buch, voller Überschwenglichkeit, die selbstgeschaffene Welt Meisters, idealisch überfüllt, voll Poesie und Schauspiel. Auch hier bringt erst der Fortgang die Berichtigung und Sophrosyne; was der Wahnsinn Tassos, ist in sehr viel niedereren Gestalten das Elend des Vagantenlebens, die Hohlheit des ästhetischen Scheins. Tritt aber auch der belehrte Held ins tätig-wirkliche Leben zurück, als in ein wahrhaft preisbares und so gepriesenes, dann - mit deutlichem Abscheu - nicht in ein Philisterdasein von der Art Werners. Von der Art jenes Praktikers und Erfahrungsmanns, der das Element Überschwang nie erfahren hat, dessen Praktik also geistlos und dessen Realismus selber der lückenhafteste ist. Gewiß, im »Meister» zeigt nur noch die »theatralische Sendung« einen Nachhauch von Sturm und Drang, aber er ist es, der den - wie immer durchschnittlichen - Helden lebendig erhält und der das Philistertum, das im gleichen Zug unfreie und amusische, von Wilhelm fernhält. So lebte der wilde Apollo lange nach, selbst dann noch als der Gott während Goethes mittlerer Zeit zum Teil (doch nicht so während Goethes symbolischem Greisenalter) in klassischen Marmor gegangen war. Die vieltönige Kategorie Freiheit war es, die den Überschwang wachhielt, die ihn zu »Götz», zu »Egmont«, zu »Faust« bestimmte. In dem langen Polarwinter, als den die Aufklärung wie der Sturm und Drang alle Feudalgeschichte ansahen, wirkte der wilde Apollo, wie die Sonne unter dem Horizont sich endlich zu heben beginnt. »Himmlische Luft Freiheit! Freiheit!« sind die letzten Worte des sterbenden Götz; und Egmont, der nationalrevolu- /(1152) tionäre Held, stirbt mit einer Vision, die den ganzen Ozean in tyrannos wälzt: »Braves Volk! die Siegesgöttin führt dich an! Und wie das Meer durch eure Dämme bricht, so brecht, so reißt den Wall der Tyrannei zusammen und schwemmt ersäufend sie von ihrem Grunde, den sie sich anmaßt, hinweg.« Erbitterung und Hoffnung, das also waren und sind hier die zwei utopischen Affekte schärferer Art, und sie regieren alle übrigen in dem Bewußtsein, das sich voll einer neuen Figur fühlt. Intention der Erhabenheit, Faust-Gotik und Metamorphose Aber der ganze Mensch muß klingen, und er war damals nur ganz, wo er dichtete. Gärendes blickte im jungen Goethe auf Gärung hinaus, suchte sich daran auf verwandte Art schöpferisch zu vergewissern. Hier besonders war ein hochgradig dämmerndes Voransein und Rufen hinüber, aus dem Hinüber selber her: Ein unbegreiflich holdes Sehnen Trieb mich, durch Wald und Wiesen hinzugehn, Und unter tausend heißen Tränen Fühlt ich mir eine Welt entstehn. Es ist das nicht nur Gärung der Jugend und Zeitwende, sondern eben wieder die neue der Produktion; kaum wurde diese Art Dämmerung nach vorwärts erfahrener ausgedrückt. Mit all dem schweren Morgenrot, das zutage kommen will, gleichzeitig zögernd und überschwenglich. Das Zögernde fällt nicht mit der Unreife des Sturm und Drang zusammen, noch das Überschwengliche mit dessen Schwungsucht; denn beide -wie schon im Monolog des Maler Müller hörbar war, des kaum gewordenen Dichters, des ante rem der Größe -, beide gehören zur produktiven Inkubation. Daher die Qual, ja das Schuldgefühl aus noch wortloserÜberfülle im »Werther«: »Warum so grenzenlos an Gefühl und warum so eingeengt in der Kraft des Vollbringens? Warum diese süße Belebung meiner aufkeimenden Ideen und deren dumpfes Dahinsterben unter der Ohnmacht der Menschen? Daß ich mich so hoch droben fühle und doch nicht sagen kann, du /(1153) bist alles, was du sein kannst, hier, hier steckt meine Qual.« Und die gleiche Schwüle des Neuen, unmittelbar am Ausdruckswillen selbst bevor Werther-Goethe seine spätere Landschaft schon gründen kann, gegründet hat: »... mein Freund wenns dann um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn wie die Gestalt einer Geliebten dann sehne ich mich oft und denke: ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest dem Papiere das einhauchen, was so voll so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes!« Das Desiderium ist das gewisseste Sein und die einzige ehrliche Eigenschaft aller Menschen; das Desiderium nach Gestaltung dessen, was so deutlich vordämmert, was in den Objekten selber fragt und seinen Dichter sucht, mit gleichsam forderndem Anblick ist das Haben und Nichthaben selber. Werthers Nichthaben im Haben macht daher in anderer, nun so unermeßlich viel breiterer tieferer Sphäre: im Faust, die gesamte Unruhe aus, am
Pult um Mitternacht beginnend, gerade noch hinter einer bereits zusammengebrochenen früheren Welt der Aussage, die weder der inneren noch äußeren Natur, in Wirkungskraft und Samen, eine Aussage geworden war. Aber der Zögerung, ja Katastrophe entspricht in der Produktion auch deren umgekehrtes Moment: das Haben im Nichthaben oder die unbetrügliche Kraft des Überschwangs. Die Kraft führt uns ins Novum zum Bau daher das Weimarer Bekenntnis an Lavater: «Diese Begierde, die Pyramide meines Daseins, deren Basis mir angegeben und gegründet ist, so hoch als möglich in die Luft zu spitzen, überwiegt alles andre und läßt kaum augenblickliches Vergessen zu. Ich darf mich nicht säumen, ich bin schon weit in Jahren vor, und vielleicht bricht mich das Schicksal in der Mitte, und der Babylonische Turm bleibt stumpf unvollendet. Wenigstens soll man sagen, es war kühn entworfen, und wenn ich lebe, sollen, will's Gott, die Kräfte bis hinauf reichen.« Produktion in dieser Kraft zum Ungewordenen sieht schon das Ende, das artikuliert und heimbringt; das Morgenrot, das soviel neue Welt sich entgleiten, sich entstehen sah, enthält schon das Erbaut-Gerettete und Lynkeus, der es am Ende von Goethes Leben ansagt: /(1154) Die Sonne sinkt, die letzten Schiffe, Sie ziehen munter hafenein. Ein großer Kahn ist im Begriffe, Auf dem Kanale hier zu sein. Die bunten Wimpel wehen fröhlich, Die starren Masten stehn bereit; In dir preist sich der Bootsmann selig, Dich grüßt das Glück zur höchsten Zeit. Die höchste Zeit ist die des erfüllten Augenblicks, und um diesen, um die Aufschlagung seines Zeichens, Ausladung seines Inhalts, waren alle diese Schöpfungsgesichte bewegt oder gelagert, um die Utopie des voll ausgesagten Jetzt und Hier. Jede Produktion meint ein Stück siebenten Schöpfungstag, als Aussage eines vorher Ungesagten, menschliche Erhörung eines vorher Unerhörten. Und »Wanderers Sturmlied«, ganz dicht am Ursprung der Goetheschen Produktion, erregt Betroffenheit, sowohl, indem der Sturm entführt, wie dadurch, daß er sich legt, um einen fortschaffenden Mittelpunkt legt, um »helleuchtend umwärmend Feuer« des Hauses, um »innere Wärme, Seelenwärme, Mittelpunkt, ...Herz der Wasser, Mark der Erde«, in Menschen und Natur. Den inneren Bildern mußten äußere antworten, sonst kamen weder die einen noch die anderen hervor. Eine »lichte und magere Umgebung« war dem jungen Goethe zu diesem wechselseitigen Echo nicht geeignet. Der ältere erinnert sich daran im sechsten Buch von »Dichtung und Wahrheit« bedeutsam: »So viel ist aber gewiß, daß die unbestimmten, sich weit ausdehnenden Gefühle der Jugend und ungebildeter Völker allein zum Erhabenen geeignet sind, das, wenn es durch äußere Dinge in uns erregt werden soll, formlos, oder zu unfaßlichen Formen gebildet, uns mit einer Größe umgeben muß, der wir nicht gewachsen sind.« Und mit verwandter Ausbiegung im achten Buch des »Meister«: »Die Neigung der Jugend zum Geheimnis, zu Zeremonien und großen Worten ist außerordentlich und oft ein Zeichen einer gewissen Tiefe des Charakters. Man will in diesen Jahren sein ganzes Wesen, wenn auch nur dunkel und unbestimmt, ergriffen und berührt fühlen. Der Jüngling, der /(1155) vieles ahnet, glaubt in einem Geheimnisse viel zu finden, in ein Geheimnis viel zu legen und durch dasselbe wirken zu müssen.« Bezieht sich das auf die sogenannten hermetischen Gesellschaften auf Rosenkreuzertum, mit dem der Student ja in Berührung kam auf das Sal philosophicum und die Welt des Fräuleins von Klettenberg, so doch nicht weniger auf den Schuß Unübersichtlichkeit, ohne den die junge Produktivität überhaupt keine Form fände. Es sei denn die glatte der damaligen galanten Zeit oder die epigonal-geschliffene der klassizistischen oder auch die falsch, nämlich banal naturalistische, die allesamt nur Klischees, keine Formen der Wirklichkeit sind, der vielverschlungenen, ränderreichen. Erhabenheit und legitimes Geheimnis, als antwortendes Gegenbild des eigenen «Wolkenzugs und weitstrahlsinnigen Zuviel«, entdeckte der junge Goethe einzig in Werken, die die Wolken, Wälder, Verdichtungen, fruchtbaren Finsternisse aufnehmen: lyrisch in Pindar, dramatisch in Shakespeare. Daher sogar der Satz Goethes, in seinen Anmerkungen zu Diderots »Rameau«, noch weit anderes als Shakespeare und Calderon betreffend, unüberhörbar auf das notwendige Barbarisieren im Faust bezüglich, der tief humane, ganz und gar nicht klassizistisch-imperialistisch klingende Satz: «Uns auf der Höhe dieser barbarischen Avantagen, da wir die antiken Vorteile wohl niemals erreichen werden, mit Mut zu erhalten, ist unsere Pflicht.« Und architektonisch war Goethes Einklang mit einem Gotischen, das ja damals erst recht als Barbarisches galt, längst ja im Anblick des Straßburger Münsters, seiner Waldwelt, seines Ungeheuren als Humanum, aufgewacht: «Wenigen ward es gegeben, Babelgedanken in der Seele zu zeugen,
ganz, groß und bis in den kleinsten Teil notwendig schön, wie Bäume Gottes; wenigstens auf tausend bietende Hände zu treffen, Felsenrund zu graben, steile Höhen drauf zu zaubern, und dann sterbend ihren Söhnen zu sagen: Ich bleibe bei euch, in den Werken meines Geistes; vollendet das Begonnene in die Wolken!« (Von deutscher Baukunst, 1773). Subjekt-Objekt-Immanenz bei alledem, soweit es hinausgeht, auch in jenen wahrhaft protoplastischen Wahlverwandtschaften, wo Produktion und Erdgeist sich ineinander helfen, ja vertauschen: /(1156) Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt, Die Riesenfichte, stürzend, Nachbaräste Und Nachbarstämme quetschend niederstreift, Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert, Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust Geheime tiefe Wunder öffnen sich. Hier zieht die Erhabenheit vertraut gewordener Gestaltungs-Umgestaltung fernhin, ins unerschöpfte Maß und Übermaß des Genies oder der Natur, hier gleichviel. Diese Umgestaltung läßt auch im kühleren Übergang vom protoplastischen zum plastischen Einblick nicht nach und ist, als Metamorphose, der mit Produktion identische Bildungstrieb zur Vollkommenheit der Art. »Geprägte Form, die lebend sich entwickelt«, gewiß, darin steckt ein Vorgeordnetes, eine dem Novum abwinkende Statik: Doch im Innern befindet die Kraft der edlem Geschöpfe Sich im heiligen Kreise lebendiger Bildung beschlossen. Diese Grenzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie: Denn nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich. So sagt das Lehrgedicht «Metamorphose der Tiere« und setzt Grenzen, eine Art Aristotelische Entelechie konservativer Art. Aber geprägte Form ist auch beim späten Goethe nur als eine sich entwickelnde da, nicht als manifest gegebene; sie ist dem Gestalten-Umgestalten kein fertiger Rahmen, sondern ein latentes, aus latenter Gestaltidee herwirkendes Ziel. Sosehr der Konservatismus des späten Goethe jede gewaltsame Produktion fürchtete, dergestalt, daß er Kleist und Beethoven nicht verstand, ja auch in der Natur den Vulkanismus nicht glauben wollte, trotz der Vulkane, sowenig war doch das Urphänomen in jeder Entelechie je ohne Gestalten-Umgestalten; geprägte Form ist keine Mumie. Goethes Metamorphosenlehre gibt stets den Naturspiegel seiner eigenen, seiner lebenslang währenden, ja selbst noch gegen den Tod ungläubigen Herausproduzierung, als einer oft gerundeten, doch nie geschlossenen. Das Dasein ist hier zwar in Kreisen gezogen, es gibt ein Gesetz, nach dem jedes lebendige /(1157) Wesen angetreten, aber die Goethe-Kreise pressen die Erscheinungen nicht, und der eigentlich entelechetische Umriß ist als nicht nur bewahrender, sondern als sich entwickelnder stets in utopischen Punktlinien gezogen. Noch ganz zuletzt, in den »Heften zur Morphologie«, hat Goethe der Statik, die sich so leicht mit dem Wort Gestalt verbindet, folgende dialektisch-offenen Sätze entgegengesetzt: »Der Deutsche hat für den Komplex des Daseins eines wirklichen Wesens das Wort Gestalt. Er abstrahiert bei diesem Ausdrucke von dem Beweglichen, er nimmt an, daß ein Zusammengehöriges festgestellt, abgeschlossen und ... fixiert sei. Betrachten wir aber alle Gestalten..., so finden wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke. Daher unsere Sprache das Wort Bildung sowohl von dem Hervorgebrachten als von dem Hervorgebrachtwerdenden gehörig genug zu brauchen pflegt. Wollen wir also eine Morphologie einleiten, so dürfen wir nicht von Gestalt sprechen; sondern wenn wir das Wort brauchen, uns allenfalls dabei nur die Idee, den Begriff oder ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes denken. Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschaun der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele, mit dem sie uns vorgeht.« Demgemäß gibt zuletzt noch Faust im gestalteten Himmel keine Ruhe; ja es ist des Hinanziehens, das selbst im Paradies noch ein ewiges Utopien hat, hier eher zuviel als zuwenig getan. Dem jungen Goethe war die Produktion wahlverwandt mit jeder Bildung voller Saft, dem älteren war sie Statthalterschaft der objektiven Phantasie und ihrer bedeutenden, das ist: Entelechie enthaltenden Gegenstände. Und das Theorem des Aristoteles, daß die Bewegung »unvollendete Entelechie« sei, wäre Goethe höchst genehm gewesen. Daß eine Schöpfung voller Saft aus seinen Fingern quölle, das war die Sehnsucht des Jünglings. Daß dieses Quellen, wie es Natur ist, so auch ein Bilden wie
Natur sei, mit der inneren Notwendigkeit der Naturgestaltung und ihrer Produkte (ein Antikensaal, geheimnisvoll am lichten Tag), das war das Anliegen des Mannes. Die Welt selber ist hier Produktivität zu ihrem vollen Inhalt /(1158) hin oder ein materieller Faust, der in allen Metamorphosen sich verwandelt, weil ihm die ferne Identität, nicht nur Gretchen genannt, vorzieht. Ariel und die dichterische Phantasie Die alten Maler haben bieder gelebt und handwerklich gearbeitet. Die Dichter dagegen waren nie in einer Zunft, auch dort nicht, wo sie nicht so frei waren, wie der Vogel singt. Teils waren sie preisgegeben und Kostgänger bei den Mächtigen, teils galt Dichtung, zum Unterschied vom Handwerk der Malerei, als ritterliche Kunst. Aber das eigentümlich freischwebende (oder sich so erscheinende) Dichterwesen war in der Tat auch sachlich weniger an handwerklichen Brauch gebunden. Die poetische Herstellung verlangt kein Farbenreiben und keine mehrköpfige Arbeit in der Werkstatt mit Meister und Gesellen. Sosehr Dichtung an jedem Punkt Handwerk im Sinn technischer Übung und Kenntnis einschließt, überliefertes, vom Meister selber fortgebildetes: die Phantasie ist hier eine weit ausfallendere, eine ausfahrende. Denn zum Unterschied von den bildenden Künsten hat sie den weiten Weg der Zeit für sich und auf ihm die Aventiure, auch im vermittelten Sinn, die sich fortbewegende Handlungsfülle. Diese ist es, welche vom dichterischen Vermögen selber betrieben wird und ihm so eingeschrieben wie vorgeordnet ist. Die Dichtungsregeln des siebzehnten und achtzehntenJahrhunderts, gewiß, sie engten die dichterische Phantasie ein, aber sie haben selber einen ganz anderen Ursprung als die alten Handwerksregeln. Und es war Shakespeare, der Stern der höchsten Höhe selber, der dem dichterischen Vermögen ein recht beschwingtes Sinnbild gab; es heißt Ariel. Prospero im «Sturm« hat seinen Zauberstab, aber der beste Helfer ist Ariel, der den Meister liebt: Heil, großer Meister! Heil dir, weiser Herr! Ich komme, deinen Winken zu begegnen. Sei's Fliegen, Schwimmen, in das Feuer tauchen, Auf krausen Wolken fahren: schalte nur Durch dein gewaltig Wort mit Ariel Und allen seinen Kräften. /(1159) Ariel ist das Pneuma und die Metamorphose, die die Welt sogar über ihre jeweiligen Entelechien hinaus ausschlagen läßt, mit durchaus leckeren Verzückungen. Ariel, der anmutigste aller Freiheitsgeister, spielt auf der Märchenebene Shakespeares, so phantasmagoriert und hilft er - zu einem heiteren Ende - fast schrankenlos. Er macht auf Prosperos Wunsch den fiktiven Schiffbruch, er verwandelt sich in Sturm und Feuer, gehört zu den Schmetterlingen und Schwalben, verwandelt sich in eine Wassernymphe. Er erregt die Musik, die Fernando hört, mit all der ungewissen Topik, die der reinsten Zeitkunst eignet: «Wo ist wohl die Musik?« fragt Fernando ratlos. »In der Luft? Auf Erden?« Es ist diese Freiheit Ariels, wodurch große Entführer der Poesie die Zeit- und Ortsverhältnisse verletzt haben um reicherer oder konzentrierterer Begegnungen willen. So daß Shakespeare seinen Hektor von Aristoteles sprechen läßt und Theseus mit Oberon und Titania zusammenhängen kann. So daß Goethes Faust und Helena in einem gotischen Sparta vermählt erscheinen, nachdem Faust, als normannischer Herzog, die eben aus Troja Zurückgekehrte vor einem Angriff Menelaos beschützt hat. So werden hier Zeiten und Räume verspellt - ein stärkstes Ineinander dichterischer Phantasie und ihrer, bei aller Geprägtheit, sich durchdringenden Bedeutungsgestalten. Noch hat wohl niemand unternommen, einen Grundriß all dieser Traumwelten der dichterischen Phantasie zu entwerfen; er dürfte, in den ständig fließenden Beziehungen all seiner Archetypen und Entelechien, der komplizierteste sein und überhaupt mehr einem Kaleidoskop als einem Grundriß gleichen. Nicht grundlos hat Goethe Ariel angerufen, als er von der typischen Darstellung in die allegorisch-symbolische überging: Ariel steht auch am Tor zum zweiten Teil des »Faust«. Und ebenso wirkt er in Goethes «Pandora«, ungenannt, doch als Phantasie, als dieser besondere Eros, nicht alles beginnend, aber in schöneren Bildern vollendend. Ariel, aus Luft zur bunten Wolke werdend, belebt die Gaben Pandoras, den Gehalt ihres Gefäßes, den schlechthin schönen Zauber: Und fröhlich fuhr ein Sternblitz aus dem Dampf heraus, Sogleich ein andrer; andre folgten heftig nach. Da blickt' ich auf, und auf der Wolke schwebten schon /(1160) Im Gaukeln lieblich Götterbilder, buntgedrängt.
Pandora zeigt' und nannte mir die Schwebenden: Dort siehst du, sprach sie, glänzet Liebesglück empor! ----Daneben zieht, so sprach sie fort, Schmucklustiges Des Vollgewandes wellenhafte Schleppe nach. Doch höher steigt, bedächtig ernsten Herrscherblicks, Ein immer vorwärts dringendes Gewaltgebild. ----Noch andre schmelzen kreisend ineinander hin, Dem Rauch gehorchend, wie er hin und wider wogt, Doch alle pflichtig, deiner Tage Lust zu sein. Und dieser Ariel erscheint nicht nur als »rauchgebildet wünschenswerter Trug«, mithin als Luftgeist der Illusion, sondern dahinter steht und neigt sich die Schönheit selber: Pandora, die von Göttern gebildete und gesandte Phantasiegestalt. Die Welt in sich ist bei Goethe ein All-Leben, dem die Schönheit innewohnt, dem das Anschauungsglück der Kunst am nächsten zugeordnet wird. Von dieser Anschauung her und durchaus in ihr baut Goethes Phantasie ihre zweite Welt auf: keine hintergründige, die die Phänomene verläßt, doch eine durchscheinende, die die Phänomene in ihr Bedeutendes bringt, ja rettet. Wobei ein Überschuß über das bereits Ausgeprägte unvermeidlich ist, sowohl im Subjekt und in den Unruhegestalten (Tasso, Faust, selbst Wilhelm Meister) wie besonders in der kunstgemäß ausgestalteten Objektivität selber. Die Romantiker hatten nicht ganz unrecht, wenn sie, wie den jungen Goethe des Volkslieds, so den späten der Symbolik oder der »den Dingen angeborenen Unendlichkeit« sich nahe fühlten; Goethe sagte in diesem einen Wesen, was sie nicht aus sich herausbrachten, er realisierte, wo sie großenteils umspielten oder gar nur deklamierten. Und die Phantasie selber, die des Volkslieds wie der reichen Symbolik, behält mit Ariel die Naivität, ohne die überhaupt keine Schöpfung zustande kommt, sondern nur Krampf und Zerflatterung. Ariel gleicht in diesem Punkt durchaus dem göttlichen Kind /(1161) Krischna in der indischen Sage, dem die Mutter von ungefähr den Mund öffnet, und inwendig in seinem Leib erblickt sie den unermeßlichen Glanz des Himmels samt der ganzen Welt; das Kind aber spielt ruhig fort und scheint nichts davon zu wissen. So ist die Naivität beschaffen, mit der Goethe auch noch die in Schillers Sinn sentimentalischsten Gestalten: Mignon, Tasso, selbst Faust, herausgestellt hat. Der große Dichter hat nicht die Alternative, Natur zu sein oder aber keine zu sein und sie zu suchen; nach der Antithese, wonach Schiller hier den naiven, dort den sentimentalischen Dichter beschrieben hat. Sondern als großer Dichter ist er Natur und wird zugleich sie suchen, nämlich die poetisch erblickte, die in Handlungen wie Gestalten über das Beiläufige, Stockende, Unentschiedene immanent hinausgetriebene. Dadurch kommt nicht etwa Skurriles zustande wie bei Dichtern, die nur den halben Ariel und sicher nur die halbe Minerva an sich gebracht haben, wie die Alten sagten, das ist: ein Skurriles, das den Gang der Dinge nicht etwa überholt, sondern das ihm lediglich subjektiv-beliebig entläuft. Doch die exakte Phantasie, von der Art, wie sie Shakespeare und Goethe erfüllte, ist eben niemals auf ein beliebig Mögliches schlechthin, sondern aufs objektiv-möglich Mögliche gerichtet; dergestalt, daß ihr Theaterlicht die Charaktere, Leidenschaften, Situationen nicht willkürlicher, sondern folgerichtiger macht und daß der Zaubermantel Fausts in Aventiuren trägt, welche die Welt mit ihrer Tendenz vermittelt, im künstlerischen Vor-Schein mehren, nicht aber aus ihr herausfallen. Die dichterische Phantasie, nichts halb gestaltend, gibt so jedem ihrer Gegenstände das Vermögen, sein Metier ganz zu treiben, seine Liebe, seinen Mut, sein Leid, sein Glück, seinen Sieg, gegebenenfalls auch seine Schwäche und Lächerlichkeit, und ist eben deshalb immanent-konkret. Ja selbst das Wunderbare Ariels in poetischer Gestalt bleibt zusammen mit dem Schiffbruch, Sturm, Feuer, Liebesglück dieser Welt und vollendet sie ohne deren Bruch. Diese Welttreue bei allem Überschuß, dieser Überschuß gehalten in Welttreue sind das ästhetische Maß schlechthin; wird es nicht eingehalten, so fällt die Phantasie entweder, wie angegeben, als bloß dem Wirklichen subjektiv-beliebig entlaufend, ins Skurrile, oder aber - mit freilich völlig verschiedener Art des Entlaufens, mit einem Sprung /(1162) aus der gesamten ästhetisch-entelechisierten Welt - die Phantasie transzendiert in Religion. In die Nicht-mehr-Kreatur des Durchbruchs, in die Nicht-mehr-Welt des transzendent Wunderbaren. Dichterische Phantasie selber ist und bleibt jedoch Ariel verschworen, als dem Luftgeist, der im leicht verschiebbaren Element über der Erde sich bewegt, sie aber nie verläßt und selbst in seinem Feuer nicht sprengt. Am farbigen Abglanz hat diese Phantasie das Leben, das zu seinem immanent-vollendeten Ende getrieben ist. So ist die freischwebende, doch welttreue Utopie eigener Art beschaffen, aus deren Verwandlungstraum die dichterische Produktion kommt, zu deren Welt ohne Enttäuschung sie geht.
Das Dämonische und die sich sagende allegorisch-symbolische Verschlossenheit Bei alledem bleibt keine zeugende Kraft sich und anderen recht geheuer. Goethe ließ sie an einem Ort entspringen, wo nicht oder nicht schon ohne weiteres Licht brennt, und er nannte sie dämonisch. Das Dämonische ist ihm nicht etwa das Dunkle schlechthin, sondern das Dunkle, das Macht ausübt. Verführende oder beherrschende Macht und eine des Banns, der Schreck und Lust ineinander, der Anziehung durch Schreck hervorruft. Für diese Seite des Dämonischen war allemal die Schlange bezeichnend, aber auch das Feuer. Wichtig am Dunklen, das Macht ausübt, ist weiterhin, daß es in Verschlossenheit steht, also bei allem so unleugbaren, oft heftigen Einfluß auf andere nicht aus sich herausgeht, ja sich in schlechtem Vorkommen bis zum finsteren Kitsch zurückhält. Wegen dieser Verschlossenheit zeigt selbst die Vitalität, die mit dem Dämonischen oft verbunden ist, bei allem Glanz einen nächtigen Hof um sich. Bezeichnend für diesen schwarzen Glanz wirkt die Figur Don Juans, als erzdämonisch; ein Manisches, gerade stärkstens nach außen wirkend, ist hier in sich selbst gefangen; so entsteht bei aller Ausströmung des Dämonischen zugleich Einkerkerung seiner in unsägliche Innerlichkeit. Wie Kierkegaard, der es wissen mußte, hierzu eng, nämlich seelsorgerlich, doch betreffend sagt: »Darin liegt das Tiefsinnige im Dasein, daß die Unfreiheit eben sich selbst zum Gefangenen macht. Die Freiheit ist beständig kommunizierend ... die Unfreiheit /(1163) wird mehr und mehr verschlossen und will die Kommunikation nicht« (Werke, Diederichs, Bd. V, S. 123). Der Gegensatz zum Verschlossenen ist das Offenbarwerden, aber allermeistens sagt sich das Dämonische nicht, sondern bricht nur atavistisch aus. Und nicht in Worte; seine leichteste und häufigste, Monstrositäten zeugende Äußerung ist nicht einmal, wie man wegen der Innerlichkeit erwarten müßte, individuell, nur in und um solch eigentümliche Personen geschehend, sondern ist der, obzwar meist von solchen Personen bewirkte, Massenrausch. Der zieht von den Besessenheiten der Mänaden, der Berserker bis zu den Kreuzzugspogromen und bis zur invertierten Aggression der Flagellanten, vom Schlachtrausch bis zum weißen Terror. Bei alle dem kommuniziert das Dämonische nicht, auch wenn es in die Masse geht, sogar kollektiv wird. Vielmehr ist die alte Verschlossenheit auch in ihrem kollektiven Ausbruch erhalten; was als Kommunikation erscheint, ist nur Ansteckung, und zugrunde liegt die gleiche Einsamkeit als Masse. Dem Nicht-Offenbarwerden des Verschlossenen entspricht im dämonischen Massenrausch die grundsätzliche Abwesenheit von Verstand, Kritik, Selbstkontrolle, Urteil; es ist deshalb auch die hohe Zeit für die der Kommunikation wie dem Hellwerden unzugänglichste Eigenschaft für die Dummheit. Aber nun lebt freilich auch - und das ist für das von Goethe betonte Phänomen entscheidend - eine Art günstige Dämonie, das ist eine, die sich, ohne Verlust des Abgrundigen und Starken, auf Offenbarwerden versteht. Ihre Orte sind die befreiende Revolution und, was Goethe schon seit »Wanderers Sturmlied« feiert, der produktive, Neues heraufgestaltende Genius; ihre Erscheinung ist nicht Rausch, sondern Enthusiasmus. Der Rausch zeigt nur Opferdrang, der Enthusiasmus aber besitzt Opfermut, der Rausch verliert alle Sache und Wirklichkeit, der Enthusiasmus aber besitzt Bewußtsein, Wissen um den Sachgehalt, kommunizierende Treue zum Ziel. Der ungünstigen, finster bleibenden Dämonie begegnet auch in der Kunst kein Blick, den sie selber wirft, sondern nur ein atavistisch Numinoses gleich ihr selbst, ein Ungeheuer, kein Ungeheures, ein Objekt der Furcht, nicht der Ehrfurcht. Dagegen erscheint überall dort günstige Dämonie, Dämonie des Lichts, wo der Schrecken des Schönen Anfang, statt sein Ende ist; wo das /(1164) Numinose dem Goethewort, gleich einem Trost an der Grenze, nicht unangemessen ist: »Und fern und schwer hängt eine Hülle von Ehrfurcht.« Es ist also diese günstige Dämonie, welche die mannigfachen Bekundungen dämonischer Menschen- und Produktionserfahrung bei Goethe selber letzthin regiert. Das ist lehrreich, weil dadurch noch ein anderer Ton zu dem der Harfe hinzukommt. Ariel, das leichte, goldene, wehende Spiel, das freilich selber nicht ganz geheure, wird um eine Sphinx vermehrt, die freilich selber nicht so bleibt. Das Element dessen erscheint, was nicht nur der Sturm und Drang Kraft nannte; ein Hufschlag des Flügelpferds und dann erst der Quell. Goethe allerdings faßt das dunkle und günstige Dämonische zuweilen auch noch wertfrei zusammen: als dämonisch gilt ihm alles, was mit der Macht unmittelbarer Natur hervortritt, sei es ein furchtbar Ungeheuerliches, sei es ein seherisch Göttliches. Er lehnt es sogar von sich selber zunächst ab: »In meiner Natur liegt es nicht, aber ich bin ihm unterworfen.» Er bezieht es sogar nicht wesenhaft aufs Vorzügliche oder produktiv Bedeutende, die Worte klingen dann entsetzlich prophetisch: »Am furchtbarsten aber erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgendeinem Menschen überwiegend hervortritt... Es sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder im Geist noch an Talenten, selten durch Herzensgüte sich empfehlend; aber eine ungeheuere Kraft geht von ihnen aus, und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe, ja sogar über die Elemente, und wer kann sagen, wie weit sich eine solche Wirkung erstrecken wird? Alle vereinten sittlichen Kräfte vermögen nichts gegen sie;
vergebens, daß der hellere Teil des Menschen sie als Betrogene oder als Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen angezogen.» Aber will Goethe derart das Dämonische von sich fernhalten und vom Vorzüglichen überhaupt in eine gewisse vorsichtige Entfernung bringen, so hat er beide Einschränkungen in der Folge wieder aufgehoben; denn er hat sowohl bedeutende Naturen wie vor allem höchste Produktivität, also seine eigene, dem Dämonischen zugeordnet. Friedrich II., Peter den Großen, Napoleon, Byron, Mirabeau hat Goethe dämonisch genannt, alle nicht nur in ihrer Leidenschaft und Energie, sondern auch in ihrer unübertrefflichen Sicherheit. Vollkommen aber wird die Verbindung des /(1165) Dämonischen - und zwar nach Seite der hellen Besessenheit - mit der dichterischen Produktion: »In der Poesie ist durchaus etwas Dämonisches, und zwar vorzüglich in der unbewußten, bei der aller Verstand und alle Vernunft zu kurz kommt, und die daher auch so über alle Begriffe wirkt.« Und völlig entschieden zu Eckermann, März 1828, im Zusammenhang mit wiederholter Pubertät: »Jede Produktivität höchster Art, jedes bedeutende Apercu, jede Erfindung, jeder große Gedanke, der Früchte bringt und Folge hat, steht in niemandes Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben... Es ist dem Dämonischen verwandt, das übermächtig mit ihm tut, wie es beliebt, und dem er sich bewußtlos hingibt, während er glaubt, er handle aus eigenem Antriebe.« Goethe erinnert hierbei, im Zusammenhang mit der blitzartigen, das Bewußtsein überwältigenden Inspiration, an den Mythos der »unverhofften Geschenke von oben«; er nennt demgemäß das Produktive »ein würdig befundenes Gefäß zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses«. Solche Deutungen sind von Goethe mit mehr konventionshafter Erläuterung angefügt, doch ebenso wollen sie gerade die günstige, die sich kommunizierend-offenbarende Verschlossenheit auszeichnen, die Kategorie der produktiven Tiefe nach oben und unten zugleich, zum Unterschied von der finster nur unten bleibenden Dämonie. Wichtig ist die Auszeichnung der wahllosen, werkgewissen, fruchtführenden Sicherheit, wie sie mit der günstigen Dämonie verbunden ist und Richtung gibt. Richtung aus dem Drang, dem Sendungsgefühl einer unausweichlich produktiven Natur und Richtung von dem Stern her, den das Chaos gebären will, auf den alle Dominanten der Ausbildung, das ganze Leben hindurch, visiert sind. Wobei die Werke selber, die dermaßen notwendig produziert werden, dem Stern so zugeordnet sind, wie sie ihn als Stella nova vor allem anderen pointieren und erblicken. Der Dämon Goethes findet und formiert seinen Grundstoff im »Faust«, der Beethovens in der »Eroica« und im »Fidelio«, der Dantes in der »Divina Commedia«; ja es gehört sogar, wie Goethe in den »Urworten Orphisch« sehen will, zu dem Gesetz, wonach solche Naturen angetreten, daß sie sich unausweichlich treu sein mußten, also auch ihrer Zeit. Als derjenigen nämlich, worin ihr eigener Grundstoff ideologisch vorhanden und zugleich, in seinen /(1166) goethischen, beethovenschen, danteschen Weiterungen, utopisch latent war. So bestimmt hier das günstige Dämonische die Unverfehlbarkeit des produktiven Ziels und Prinzips, des neu gesetzten, erstmals artikulierten. Das sich offenbarend Verschlossene oder verschlossen sich Offenbarende macht aber schließlich solche Werke notwendig allegorisch-symbolisch, in allen ihren zentralen Partien. Das ist: es macht sie bedeutend im Sinn von Bedeutungen, die in der Welt ihrer Gegenstände selber fundiert sind und dem Verschlossen-Hellen der dämonischen Produktion deshalb auch objektiv entsprechen. Dadurch wird eine Subjekt-Objekt-Beziehung fundiert, die sich nicht nur auf die gesellschaftlich aufsteigenden Inhalte der Zeit erstreckt, sondern auf die anrückenden, durchklingenden Kundgaben in der Objektswelt insgesamt. Auf dasjenige in ihr, was Goethe mit so nur aufgehendem Sinn, Natursinn - »geheimnisvoll am lichten Tag«, gar »heilig öffentlich Geheimnis« genannt hat. Drinnen wie draußen, drinnen als Offenbarwerden von Rang, das Verschlossenheit voraussetzt, draußen, in den auszusagenden Gegenständen, als Verschlossenheit, in der Offenbarwerden sie noch ausdrückt. Beide: Sprache wie Sachgehalt solcher Produktion, enthalten den beständigen Wechselverkehr zwischen Verschlossenheit und Aurora im Aufgang: »Gedichte sind gemalte Fensterscheiben« - so stehen sie wie ihre Gegenstände, wie die Farben der Goetheschen Welt- und Farbenlehre insgesamt, zwischen Dunkel und Licht. Folglich kann die Darstellungs- wie Objektivitätsform dieses öffentlichen Geheimnisses, dieser hellen Dämonie keine andere als die allegorisch-symbolische sein; in den frühen Dichtungen Goethes auf direkte Gleichnis-Weise, in den späten auf oft umfigurierte, ja paradoxe. Also sind dergleichen Bedeutungsinhalte nicht etwa ausgeschrieben, und ein Deuter hält die Blätter lediglich ans Licht, wonach die fertige Schrift hervortritt -, sondern von der Welt ist ihr Bedeutungsinhalt eben selber noch nicht fertig hervorgebracht, herausgebracht; darum steht die Welt selber in diesem gärenden Prozeß gestalthafter Ausprägung, darum steht die geniale Produktion selber am vorgeschobensten Posten der Gestaltenentwicklung. Geniale Produktion ist für Goethe Dämonisches mit Aufheiterung, ist Urbanisierung des Dämonischen, und das gleiche ist ihm die Produktivität Welt, mit ihren /(1167) sich lebend entwickelnden Entelechien; denn sie sind allesamt ebenso viele lebende, objektbaft vorhandene Allegorien und Symbole. Das und nichts anderes ist Goethes Realismus, überall »bedeutende Gegenstände« suchend, findend, pointierend; er ist keiner der abgezeichneten Oberfläche, sondern des
Wirklichen, das in jeder seiner Gestalten das Gleichnis eines sich steigernden Seins darstellt. Dessen Vollkommenheit selber, gewiß, es gibt sie bei Goethe auch schon darin, »sich in Natur, Natur in sich zu hegen«. Hierin, im pantheistisch Ganzen, ist ihm das Buch der Natur durchaus vollgeschrieben, wie bei Giordano Bruno, gar wie bei Spinoza. Doch im Unterwegs der Gestalten, der eigentlichen Goethewelt, zeigt sich dauernd verwandelnde, wechselnd bezogene und so allegorische Figurenbildung, mit einem symbolischen Dauerstern darin, der aber, Ewig-Weibliches genannt, selber nicht fixiert ist, sondern schwebt, noch schwebt. Nur wer die Sehnsucht kennt: Mignon Es gib keine gefühlte Fremde an sich, jede ist nur fern von etwas. Das Sehnen danach hin mißt sich nach der Ferne und Schöne dieses Etwas, mehrt sich mit ihnen. Aber auch ein scheues, ganz rätselhaft verschlagenes Suchen bat darin Leben; sein Wohin muß dann selber wie stellvertretend für etwas sein. Goethe hat diese Art in der entlegensten, heimatlosesten seiner Gestalten dargestellt, in Mignon. Als Kind durch eine Gesellschaft Seiltänzer entführt, von Wilhelm Meister dem Prinzipal dieser Bande, der sie grausam mißhandelt, entrissen, ist sie auch nach dieser Rettung pures Subjekt einsamer, unerfüllter Sehnsucht. Diese Sehnsucht steht mit keinem Fuß auf dem Boden, also ist sie auch keine weiblich-sexuelle, trotz des Anscheins von Pubertät und ihrer Verwirrungen. Nirgends und nie ist das ätherisch-rätselhafte Geschöpf Weib; es könnte sonst nicht so beziehungslos sein. Auch zu Wilhelm ist Mignon nur fragwürdig bezogen: er ist nicht ihr Geliebter, trotz der Anrede des Gedichts, auch nicht Beschützer und Vater, er ist der Mensch als Heimat, in dem sie zum erstenmal Wärme erfahren hat, und er wird nicht einmal als Mensch geliebt, sondern durch ihn shimmert und wirkt das als Italien, das nicht einmal als Italien, sondern als das »feste /(1168) Haus« Ersehnte, das drüben ist. Ihre einzigen Bindungen, außer der uneigentlichen an Wilhelm, die an Felix und den Harfner, sind die einer streckenweise verwandten Lage, nichts weiter. Das einsame Kind unter Erwachsenen fühlt sich zu Felix, dem andern Kind, gezogen, das naive Wesen zum naiven. Das vereinsamte Geschöpf, schmerzgezeichnet, fühlt sich zu dem vereinsamten, schicksalgezeichneten Alten gezogen, das musikalische Wesen zum Musikanten. Nichts ist in diesen Beziehungen von Mütterlichkeit, nichts von Fraulichkeit; Mignon bleibt geschlechtslos, völlig freischwebendes Subjekt der Sehnsucht, sogar bis in den äußerlichen Kampf gegen die Geschlechtsbestimmtheit, um die Knabenkleidung. Daß darin nichts Zwitterhaftes, Doppelgeschlechtliches gemeint ist, sondern das Zeichen eines Auszugs aus jeder Geschlechtsfarbe der Sehnsucht, zeigt Mignons letzter Gesang: »Und jene himmlischen Gestalten, / Sie fragen nicht nach Mann und Weib.« Mignons Sehnsucht ist auch nicht eine passive, im Gegensatz zu der ausfahrend-handelnden eines Tasso, Faust, selbst Wilhelm Meister; als diese passive könnte sie noch mit der weiblichen gut zusammen bestehen. Sondern sie ist eine auch in der Liebesschicht gleichsam namenlose Sehnsucht und darum eine zum Weib-Mann-Verhältnis überhaupt disparate. Eine disparate, also nicht etwa asketische; weshalb Mignon allerdings am Mißlingen einer erotischen Beziehung zu Wilhelm zugrunde gehen kann. Aber sie gebt nicht an und aus Erotik zugrunde, sondern eben wieder einzig am völligen Freischweben ihrer Sehnsucht, an der Transparenz ihrer Erotik, an der beständigen Unendlichkeit ihres Nichthabens und Habens zugleich. Dieser Zustand gelangt nie aus der Distanz heraus, sein Affekt kann auf der Erde nie landen, bleibt unwirklich und immer nur ein Scheinen, nicht ein Werden zum Sein. Derart sagt auch der Arzt zu Wilhelm, kurz vor Mignons Tod, diagnostizierend: »Die sonderbare Natur des guten Kindes ... besteht beinah nur aus einer tiefen Sehnsucht; das Verlangen, ihr Vaterland wieder zu sehen, und das Verlangen nach Ihnen, mein Freund, ist, möchte ich fast sagen, das einzige Irdische an ihr; beides greift nur in eine unendliche Ferne, beide Gegenstände liegen unerreichbar vor diesem einzigen Gemüt.« Wegen ihres Schweigens und ihres bannenden Gebanntseins ist diese Sehnsucht wie Mignons ganze /(1169) Gestalt, so wenig sie naturhaft ist, doch zweifellos dämonisch. Natalie hat die Besessenheit in dem kaum entwickelten Ich Mignons wohl erkannt und für Wilhelm erinnert: »Sie erzählte ihm von Mignons Krankheit im allgemeinen, daß das Kind von wenigen tiefen Empfindungen nach und nach aufgezehrt werde, daß es bei seiner großen Reizbarkeit, die es verberge, von einem Krampf an seinem armen Herzen oft und gefährlich leide... Sei dieser ängstliche Krampf vorbei, so äußere sich die Kraft der Natur wieder in gewaltsamen Pulsen und ängstige das Kind nunmehr durch Übermaß, wie es vorher durch Mangel gelitten habe.« Aber wieder wäre nichts falscher, als diese Art Dämonie auf Kind-Weiber und anderes Zwischenwesen zu verengen, auf Klingsors Blumenmädchen oder auf seelenlos Undinenhaftes, das Seele erst sucht; konträr: Mignon ist ja nichts als Seele, und sie schweift fernhin, weit über den Mann hinweg. Stets geht diese Sehnsucht ins Unbedingte; so wird das Subjekt der Sehnsucht an sich, als der namenlosen, in dem zarten Bild Mignon ein freisteigendes Sinnbild, ein aus sich selber rollendes archetypisches Symbol. Die späte Erklärung von Mignons Herkunft,
bei ihren Exequien, durch den Onkel ex machina, ist keine, sondern ein Bruch in der Konzeption dieser Figur, ein Übergang in ein anderes Genus; das gebt Mignon ohnehin nichts mehr an, sie ist tot. Lebendig aber ist der Archetyp Mignon, der zartest-utopische, der je aus der Jugend aufgestanden ist. Und er umzieht, überschießt alle die scheinbar festen Personen, Entelechien der Goetheschen Welt. Er steht im »Meister« außerhalb der Boheme, außerhalb der Society, ist sozial nicht unterbringbar, im Gewordenen insgesamt nicht übersehbar. Er steht unbekannt da in der radikalen Sehnsuchts-Erfahrung fast jedes Menschen, vorab in seiner Jugend, und steht ebendort disparat zu allem bereits gestaltet Bekannten, Bekanntgewordenen. Mignons Archetyp ist also ein genau erfahrener und eruierter, folglich gar nicht romantisch verstiegener oder gar eine, wie die Unerfahrenheit sagt, sogenannte Ironie über die Romantik. (Was sind dann die Mignonlieder, die zu den echtesten, schönsten Goethes gehören?) Die Suche Mignon hat keine Lehrjahre oder noch keine, doch das spricht nicht gegen dieses sehr vorhandene, sehr zarte Menetekel, das in Goethes Werk, gerade in diesem, ebenfalls Platz /(1170) gefunden hat - ein noch Ungewordenes, Unbekanntes wirklich durch die Blume sprechend. »Der echte Schüler«,so schließt Wilhelm Meisters Lehrbrief, der seine Lehrjahre abschließt, »lernt aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln«: gewiß, das ist goethisch, aber das Sehnsuchtssymbol Mignon und sein Inhalt zeigen, wie ein Rest umgeht, der mindestens nicht aus dem bereits Bekanntgewordenen entwickelbar ist und darin unterkommt. Das ist gleichfalls goethisch, es gäbe sonst außer Mignon auch den so unvergleichlich bestimmteren Tasso nicht, ja nicht einmal das Unzuhause Fausts. Heißt der gemeinte Rest, »unbefriedigt jeden Augenblick«, an solch anderen Stellen, voll Ausbruch und Gestaltung: Tasso, gar Faust, so heißt er als stiller, an sich gehaltener nicht unberechtigt: Mignon oder die hier sowenig excellierende Sehnsucht par excellence. Bezeichnend, daß alles an ihr tönt, also nur in dieser Form nicht verschlossen ist. Ihre Lieder singt sie, sie spricht sie selten und dann nur »mit großem Ausdruck», der eben darin alles zurückhält: »Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen.« Der unbedingten Sehnsucht ist, wie die Liebe, so die Freundschaft versagt, die Wechselrede in ihr: »Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu, / Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen.« In drei Liedern singt Mignon den Eros aus, der alles begonnen, in dem sie endet. »Nur wer die Sehnsucht kennt, / Weiß, was ich leide» - ein Brennen und ein Zug, der dem Geliebten nachzieht in die Weite, der noch viel weiter zieht und doch machtlos ins Hier gebannt ist. Dann das Italienlied, zwar hinreißend konkret in der beginnenden Strophe, Beschreibung, die lauter Poesie, Phänomen, das selber die Lehre ist: »Im dunklen Laub die GoldOrangen glühn, / Ein sanfter Wind vom blauen Himmel webt, / Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht / ... Dahin! dahin / Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.« Aber es ist ebenso ein nicht vorhandenes Italien, das so im Gemüte steht, es ist état d’ame, die Landschaft dieser Sehnsucht selbst, ihr Orplid. Darum wird nicht nur Italien als diese Landschaft von Mignon wiedererkannt, sondern Italien selber, das Objekt als Subjekt, sieht und erkennt die kommende Mignon wieder: »Und Marmorbilder stehn und sehn mich an: / Was hat man dir, du armes Kind, getan?« Es sind mitleidige Marmorbilder, selber wie Beschützer /(1171) und Vater beschaffen, und in ihnen ist die Sehnsucht sich selber ein Halt. Nicht der letzte, denn im Mignon-Raum Italien steht ein anderer: der »Saal der Vergangenheit«, in dem sie beigesetzt wird in dem »Leben und Ewigkeit« eingeschlagen sein sollen. Diesem anderen Raum gilt Mignons letztes Lied: »So laßt mich scheinen, bis ich werde, / Zieht mir das weiße Kleid nicht aus«; das weiße Kleid ist dem »ätherischen Gewande« Fausts, in seiner letzten Wunschlandschaft, nicht unverwandt. Mignons drei Lieder singen derart drei Steigerungen der Sehnsucht aus und dreifach gesteigerten Empfang durch deren eigenen, immer unabgelenkteren Inhalt. Der Inhalt bleibt ferne Heimat, darauf geht in Mignon, als dem feinsten, reinsten, stillsten Subjekt der goethischen Sehnsucht, aller Wunsch; ohne die Umwege und Weltwege der großen Goetheschen Sehnsuchtsfiguren, der titanischen. Und es zeigt sich daran: Goethe hat nicht nur, wie er sagte, das Ideelle allemal in weiblicher Form konzipiert, er sah, da die unbedingte Sehnsucht Mignon immerhin primär ein Mädchen ist, auch das Streben nach dem Ideellen in solcher Form. Wobei ihm das Ideelle selber in seiner Anziehung, allerdings niemals als solch unsexueIle Leidenschaft erscheint, wie ihm Mignons Eros erschienen ist und wie es für Mignon erscheint. Am Ende fragen Goethes himmlische Gestalten durchaus nach Mann und Weib, das heißt, sie fragen vielleicht nicht nach dem Mann, aber sie antworten ihm als geahntes Gretchen, als Helena, als Pandora - in Gestalt des Leibs. Mignon, das pure Subjekt der Sehnsucht, kann dem Dichter nicht ein Objekt der Sehnsucht werden, doch das Marianische in ihr tritt durchaus auch im »Meister« mit jener Grazie heraus, die von Gnaden kommt. Also zweifellos nicht als Mignon, doch nun gerade wieder stellvertretend für das in ihr Bedeutete, an einer sie Verstehenden, nämlich an der schönen Reiterin, die Wilhelm zu Hilfe kommt, als er, von Räubern verwundet, am Boden liegt. »In diesem Augenblick ... wirkte der lebhafte Eindruck ihrer Gegenwart so sonderbar auf seine schon angegriffenen Sinne, daß es ihm auf einmal vorkam, als sei ihr Haupt von Strahlen umgeben, und über ihr ganzes Bild verbreite sich nach und nach ein glänzendes Licht ... Er sah noch den
Rock von ihren Schultern fallen, die edelste Gestalt, von Strahlen umgeben, vor sich stehen, und seine Seele eilte der Verschwundenen /(1172) durch Felsen und Wälder auf dem Fuße nach.« Die Schöne wird später als Natalie angetroffen und enthüllt, als die gleiche, welche die übermächtige Besessenheit in Mignon zuerst erkannte und beschrieb, so wie die Ruhe die Unruhe erkennt und umschreibt. An der Vision der Strahlen erblickt man bereits das fromme, süddeutsche Bildwerk, also das Katholizierende, das dem Dichter des Faust-Himmels so einfältig verdacht worden ist. Man hätte es bereits an dem langen, leichten, weißen, geflügelten Engelsgewand wahrnehmen können, in das sich Mignon vor ihrem Tode kleiden mag und muß. Die Sehnsucht hat als Goethes Mignon ihren langen Blick, ihre Figur erlangt, - in Mignon, der Nonne im Trappistenkloster der Liebe. Wünsche als Vorgefühle unserer Fähigkeiten Der lebende Morgen aber ist nicht nur sehnend, sondern tätig dämmernd. Für ihn gilt ein Werden im Scheinen selbst, derart, daß wirkliche »Kräfte sich erheitern«. Goethe setzt dieses sogar als männlich unterscheidend: »Man liebt an dem Mädchen, was es ist, und an dem Jüngling, was er ankündigt.« Goethes Sprichwort: was man in der Jugend sich wünsche, habe man im Alter die Fülle, erläutert das neunte Buch von »Dichtung und Wahrheit« dankbar und hoffnungsvoll so: »Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden. Was wir können und möchten, stellt sich unserer Einbildungskraft außer uns und in der Zukunft dar; wir fühlen eine Sehnsucht nach dem, was wir schon im stillen besitzen. So verwandelt ein leidenschaftliches Vorausergreifen das wahrhaft Mögliche in ein erträumtes Wirkliche. Liegt nun eine solche Richtung entschieden in unserer Natur, so wird mit jedem Schritt unserer Entwicklung ein Teil des ersten Wunsches erfüllt, bei günstigen Umständen auf dem geraden Wege, bei ungünstigen auf einem Umwege, von dem wir immer wieder nach jenem einlenken.« Dieses Goethegefühl sieht darüber hinweg, daß nicht alle Blütenträume reifen, will sich von der Schuld des Unterlassens befreien, indem es an ihr leidet und sie erkennt, will die Umwege des Plan Gebliebenen, nicht Ausgeführten durch wohlgeordnete Mannigfaltigkeit des zur Scheune /(1173) Eingebrachten aufwiegen. Desto genugtuender aufwiegen, als das Goethesche Alter, durch wiederholte Pubertäten ausgezeichnet, wenigstens von der eigenen Jugend sich nie abgekehrt hat, trotz Entsagung. Der junge Goethe schrieb 1771 an Salzmann: »Mein Nisus vorwärts ist so stark, daß ich selten mich zwingen kann, Atem zu holen und rückwärts zu sehen.« Und 1823 sagt der Alte zum Kanzler von Müller: «Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet, und die echte Sehnsucht muß stets produktiv sein, ein neues Besseres erschaffen.« Das ist das gleiche wie jene Gesinnung und Anwesenheit der Produktivität, die im Alter keiner genialen Begabung nachgelassen hat. Die Ausnahmen (etwa Klopstock, Schopenhauer) sind gering, die Regel (mit solch erstaunlichen Übersteigerungen wie Verdi) zeigt meisterliche Jugendkraft. Bedeutende Begabung trägt in ihrem Herbst Blüten und Früchte zugleich; auch die Pläne und Entwürfe aus seiner Jugend, die Goethe stärker, mit mehr Unterbrechungen als ein anderer, seinen späteren Jahren überlassen hat, wurden nicht nur aufgearbeitet, nicht nur mit der Weltbreite der mittleren, mit der Tiefe der Altersjahre vermittelt, sondern sie wurden verwandelt, schließlich durch Quellen, die in der Jugend erst raunten, zu einer Allegorik-Symbolik befruchtet, an der nur besonders klassische Literaturprofessoren die sinnliche Frische vermißten. Kein Gedicht aus Goethes Frühzeit wiegt die «Selige Sehnsucht«, die «Marienbader Elegie«, «Pandora«, die Helena- und Himmelsszenen des »Faust« auf. Hier überall wirkt der junge Goethe im alten, weit lebendiger, als er im mittleren gewirkt hat; zum sehenden Dichter ist der visionäre gekommen, zur Frische des emotionalen Ausdrucks die Transparenz des wissenden. Gretchen ist nicht unwesentlicher, aber gewiß auch nicht wesentlicher als Helena; die Löwenwirtin in »Hermann und Dorothea«, die demeterhafte Frau, ist - sofern man sich nicht einzig aufs Homerische in großer Dichtung versteht - nicht gestalthafter als selbst Makane in den «Wanderjahren«, die uranische Frau. Der Altersstil ist selber ein Novum, wie bei Rembrandt, Beethoven, Platon, so bei Goethe. Er bezeichnet ein nun ganz unerwartet Überschreitendes, ein dem Alter ganz paradox Utopisches, das eben- /(1174) deshalb in sonderlich entlegenen, seltsamen, durchaus nicht arrondierten Figuren umgeht. Im »Werther« galt als Gesinnung wie Trotz der Produktivität: »Warum der Strom des Genies so selten ausbricht, so selten in hohen Fluten hereinbraust und eure staunende Seele erschüttert? Lieben Freunde, da wohnen die gelassenen Herren auf beiden Seiten des Ufers, denen ihre Gartenhäuschen, Tulpenbeete und Krautfelder zugrunde gehen würden, die daher in Zeiten mit Dämmen und Ableiten der drohenden Gefahr abzuwehren wissen.« Der reife Goethe hörte und fruktifizierte diesen Strom durchaus nicht nur an seiner Mündung; trotz eigenen Gartenhäuschens, trotz der Angst vor der Julirevolution und der Abneigung gegen den Vulkanismus (minus
eigener Natur, Napoleon und Byron). Gerade Goethes Alterswerke haben das ganze vorige Jahrhundert und lange darüber hinaus die Uferbewohner gestört, die sich aus Goethe ein vornehmes Bürgeridyll herauslesen wollen oder auch eine Art animalisch-kosmische, tunlichst geistlose Klassik, eine sogenannte Kräfte-Kugel. Nicht nur der so beschaffene Georgische, auch der völlig kleinbürgerlich gewordene Klassizismus des vorigen, noch nicht ganz ausgestorbenen Jahrhunderts geht am wirklichen, nämlich tiefen Goethe zuschanden. Vorzüglich auch der alte Goethe, in mächtiger Allegorik-Symbolik, hat mit dieser Art großer Einfalt, stiller Kleinheit, pensionierter Schönheit nichts gemein, und ewige Ruh ist ihm nur in Gott dem Herrn. Vom Abend des Lebenstags aber sagt Goethe: »Es gehen dem gefaßten Geist Gedanken auf, bisher undenkbare; sie sind wie selige Dämonen, die sich auf den Gipfel der Vergangenheit glänzend niederlassen.« Nicht nur in der Vergangenheit niederlassen; denn indem jede groß gewesene Vergangenheit Gipfel hat, steht auch sie mit diesen, wie alles sich Erhebende, Berghafte, in der Zukunft, und alle Berge verstehen sich beständig gut mit Frühlicht, neuem Tag. Nicht anders wie der Weg abwärts und der aufwärts, wenn es ums Hellwerden geht, um sein wirkliches Carpe diem, eins und dasselbe sind. Und nirgends wurde das Gegenwärtige, gerade dieses wieder, betroffener erfahren als bei Goethe. Denn er entwertete es nicht um einer sich davon entfernenden Zukunft willen, sondern schon im »Werthers« war ihm das »große dämmernde Ganze« ein Weg zu jedem Gebild der Nähe und ihr eingeschrieben.
/(1175) 49
LEITFIGUREN DER GRENZÜBERSCHREITUNG; FAUST UND DIE WETTE UM DEN ERFÜLLTEN AUGENBLICK Wenn ihm Karl tragische Gewitterwolken aus Shakespeare, Goethe, Klinger, Schiller vorführte und sich das Leben kolossalisch im dichterisehen Vergrößerungsspiegel beschaute, so standen alle schlafenden Riesen seines Inneren auf, sein Vater kam und seine Zukunft, selber sein Freund stand neu wie aus jener glänzenden phantastischen Kinderzeit herausgehoben da, wo er sich ihn in diesen Rollen vorgeträumt, und in den inneren Heldenzug wurde sogar die Wolke, die durch den Himmel schwamm, and die über den Markt weg marschierende Wach-Truppe eingeschichtet. Jean Paul, Titan, 54.Zykel
Solche Naturen können als geistige Flügelmänner angesehen werden, die uns mit heftigen Äußerungen dasjenige andeuten, was durchaus, obgleich oft nur mit schwachen, unkenntlichen Zügen, in jeden menschlichen Busen eingeschrieben ist. Goethe, Anhang zu Benvenito Cellini
Kein nasses Stroh Es gibt aber die Angst, nicht da zu sein. In ihr das bohrende Gefühl, daß auch das, was mit einem geschehen, nicht stimmt. Das kann sich streberhaft äußern. doch auch als Kraft, die sich Platz schlägt. Mit einem Sprung hebt sich das aus dem Einerlei heraus, das nicht einmal gut zu behalten ist. Ganz andere Farbe beginnt, unzerstreute, mit dem eigenen Wunsch gefärbte, schlägt aus. Dergleichen ist bereits von dem Bäumlein gemeint, das andere Blätter hat gewollt. Es schlug ihm nicht gut an, das Laub war immer noch nicht das rechte. Auf das richtige Grünen käme es an, jetzt endlich. Dazu gehört die Kraft, sich ins Freie zu bringen. Das ist im Leben nicht so einfach, aber auf dem geduldigen Papier sind Menschen, als erzählte, leichter ungeduldig. Andersen stellt im Märchen vom Feuerzeug einen Soldaten vor, eins, zwei, eins, zwei, kommt er die Landstraße dahermarschiert. Wird durch eine Hexe reich, nimmt das seltene Feuerzeug, das er für sie /(1176) geholt hat, selber an sich. Das er nur anzuschlagen braucht, um durch drei riesige Hunde alles Gewünschte zu erhalten. Die Leute auf dem Marsch, von denen jetzt zu sprechen sein wird, handeln alle so, als ob sie das Feuerzeug hätten, ja wären. Es sind arme Schlucker und große Herren darunter, doch alle überschreiten, was ihnen zugemessen, schlagen wie Feuer hoch hinaus. Sie betreiben, auf närrische oder aber auf uns alle betreffende Art, das Vorhaben, das sie sind und das sie sich zugleich gesetzt haben. Das Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt, ist unter
Menschen zahlreich, aber nur wenige halten im Leben so ungenügsam durch. Dergleichen erscheint allermeist mehr als gedichtet, in einem bunten Licht sich an die Wand hinmalend. So jedoch, daß es, in kühner Weise überschreitend, aus dem Buch sehr leicht zum Leser heraustritt, auch allemal ohne zahmen Schluß. Versucher des Sich-Auslebens, des Zu-Ende-Lebens haben hier Platz, versuchend im Sinn des bloßen Verführens, aber vor allem doch des Auszugs, des Trotzdem gegen das Weil des Gewohnten und bloß als gewohnt Bedingenden. Gestalten dieser Art fahren, bleiben der Unruhe treu, solange nicht gefunden ist, was sie stillen könnte. Und weil genau dieses nicht da ist, kehren solch unbändige Menschen nicht um. Die Laute schlagen und die Gläser leeren Zunächst wird hier vorgeführt, schlechthin auf dem Sprung zu sein. Mit einer malerischen Abkehr vom Spießer, die von der bloß zigeunerischen immerhin bis zu der mit eigenem, auch allzu eigenem Gesicht reicht. Bereits das vage Wort Leben konnte dazu das Schlagwort stellen, hat es um die Jahrhundertwende getan. Ein innerbürgerlicher Riß entstand zwischen dem Elternhaus und den interessanten Söhnen oder Töchtern. Der Jugendstil bezeichnet die Blütezeit dieser menschlichen Kunstbilder, sezessionistisch schreitend oder ausgestreckt bald zwischen billigen Anemonen, bald zwischen teuren Orchideen. Aber die Forderung des eigenen Gesichts und des ihm angemessenen Lebens konnte auch sehr wenig kunstgewerblich beschaffen sein. So der Blick und negierende Rückblick, den Pontoppidan in »Hans im Glück« seinen fugenreichen, alles verlierenden, seltsam gewinnenden /(1777) Helden nehmen läßt. Der in den Muff Verschlagene holt als Jüngling freidenkerisch auf: »Und wirklich hatte er noch niemals so deutlich wie in diesem Augenblick gefühlt, daß er nicht beheimatet war dort unten in der halbdunklen, beklommenen Stube, wo sein Vater und die Geschwister jetzt saßen und geistliche Lieder sangen und bange Gebete sprachen inmitten der Märchenpracht des Winters - eine Art von Unterirdischen, blind für den Glanz des Lichts, voller Graun vor dem Leben und seiner Herrlichkeit. So fühlte er sich Tausende Meilen entfernt von ihnen, in einem ganz anderen Himmelsstrich, im Bund mit der Sonne und den Sternen und den segelnden Wolken.« Hier also spricht ein Typ woran das persönliche, allzu persönliche Herauswollen eines von Kraft, Höhe, großem Zustand, auch Sinnlichkeit und Geld sein will, und das immerhin echt, nicht dekorativ. »Hans im Gluck« ist ein sehr aufrechtes Stück Dasein gegen die Molche, und eines dazu, das, wie sich in seiner Folge zeigt, wiederum zu gut und zu tief ist, um der kapitalistischen Welt, leider jeder Welt nicht abhanden zu kommen. Anders steht das bei den polierten Gestalten des damaligen Auslebens, vor allem dort, wo ein keinesfalls noch frisches Überschreiten, sondern das beginnend imperialistische im persönlichen sich widerspiegelte. So schon in mehreren wild gerechten oder drapierten Künstlerbildern um die Jahrhundertwende: große Schauspielerin, großer Dichter, und darunter gilt nichts. D'Annunzios Roman »Il Fuoco» malt derart den Jugendstilhelden ganz übersteigert, in opalener, doch geschwollener Woge. »Ach, alles, was zittert, weint, hofft, sehnsüchtig strebt«, sagt hier der Dichter Stelio zur Schauspielerin Foscarina, »rast in der Unermeßlichkeit des Lebens.« Noch in der vagen Phrase, bei der das Wort: kosmisch das Wort: modern erweitert, arbeitet der eigentümliche, der leer überfüllte Gongklang der Sezession. Alles gewillt, nervös zu sein, eine Geste des Auslebens um jeden Preis, als wäre es so zu kaufen. Was der späte Bürger noch einmal suchte, war beim frühen wirklich frisch. Sein eignes Leben zu führen, auf unbeschränkt neue Art, das war damals fast durchaus fortschrittlich. Der Unternehmer, der individuell wirtschaftende, meldete sich darin an, bisher Vorhandenes wurde zur Last. Subjekt, das sich durchaus nicht die Hörner ablaufen will, erschien als wechselnd gepriesenes /(1179) im Sturm und Drang, dann in der Zeit des sogenannten titanischen Weltschmerzes. In tyrannos, gewiß, doch darin war ebenso, mit gleichzeitiger, oft gefährlich unklarer Auswechslung, der Ruf: gegen die Philister. So hin bis zu frühen anarchistischen Übermenschen, aber auch bis zu neuem revolutionärem Abscheu vor dem bourgeoisen Juste Milieu, vor allem, wenn es sich als sozusagen normal-menschlich ausgab. Der Schweizer Psychiater Bleuler definierte den musterhaften Philister, wie bekannt, so: »Wenn wir Adam hätten schaffen müssen, wir hätten ihn synton geformt, mit einer ganz leichten manischen Verstimmung, die ihn zur sonnigen Natur gestempelt hätte.« Wie weit sind die aufgedonnerten, gar die echten Grenzgestalten des noch revolutionären, selbst romantischen Bürgertums davon entfernt, wie viel menschenähnlicher wirkt selbst ihre Ausschweifung. Unbändige Verlanger und bittere Originale fanden an der Grenze Platz und erst recht auch keinen Platz: Hoffmanns Kapellmeister Kreisler, Jean Pauls Schoppe und Vult gehören hierher. Grabbes Dramen versammeln ausnahmslos Artisten der Übertreibung und bezeichnenderweise solche, denen jede Schuld fehlt: es sind immer nur äußere Ursachen, stumpfer Widerstand der Weit, wodurch sie gestürzt werden. Diese Gothland, Sulla, Hannibal, auch Don Juan und Faust sollen bei Grabbe exzentrisch sein, gerade weil sie so völlig um sich selber rotieren. In dieser Zeit entsteht das Lebensbild der Interessantheit, die gemäßigte
Zone überschreitend; je einsamer, desto dekorativer, je tropischer, desto mehr als Subjekt wirkend. Aber wirklicher Ausbruch ist dort, wo sein Dichter selber wie gedichtet auftritt, wo er nicht bloß hintenherum, mit einer Laterne, ins Stück kommt, wie Grabbe in «Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung«. Wo auch fern vom gespiegelten Literaten - das Subjekt keinen komischen Schatten werfen kann, vielmehr stark ergreift und alles Seßhafte bereuen läßt. Der wahre Subjekt-Genius dieser Zeit, Byron, wirft seine ungehemmten Gestalten nicht nur in Literatur, er ist sie so in Person, daß fast nur der Vers Childe Harold, selbst Manfred von ihrem erstaunlichen Lord unterscheidet. Dieselbe Schwermut, dieselbe reiche Verzweiflung, dieselbe einsame Langeweile zieht gestaltlos unter diesen Gestalten; und das gleiche Genie der Begeisterung wird dem Nebel entgegengeworfen. Ein Mann, /(1179) gebildet aus Verachtung, Genuß und Ferntrieb, kommt sich aus seinen Figuren im Spiegel entgegen, in einer völlig pöbelfrei gewordenen Welt. Byrons venezianischer Harem, wie sehr erst sein Tod in Missolunghi könnten gesungen sein. Fast jede Gestalt ist wiederholt, und doch ist keine typisch, alle haben die drangvolle Individualität, die sich bis zuletzt erträgt. «Eternal spirit of the chainless mind!« ruft seine Hymne auf die Freiheit; freilich: der ungebundene Geist ist überall der Einsamkeit verschworen, wie sein Manfred dem Hochgebirge. Individuelle Lebensfülle dieser Art macht notwendig zum Fremdling: «From my youth upwards«, bekennt Manfred, My spirit walked not with the souls of men, Nor look'd upon the earth with human eyes; The thirst of their ambition was not mine, The aim of their existence was not mine; My joys, my griefs, my passions and my powers Made me a stranger und nur ein gewitterschwüler Himmel nimmt solche Verzweiflung auf. Freilich gerieten auch die trotzig Einsamen, je weiter sie sich vom deutlichen sozialen Gegner entfernten, notwendig mehrdeutig. Sie wurden zwar noch nicht die barbarisch-eleganten Auslebegestalten vom Fin de siecle, einen lustfeinen Fascio vorbereitend. Wohl aber konnte diese bleibend individuelle Art von Überschreiten asozial schlechthin werden; bis hin zum Verbrecher, der die Stirn und den Stirner und den Nietzsche hat, sich als Zerbrecher zu gerieren. Unübertrefflich bezeichneten vorher bereits Lermontows Petschorin, dann Dostojewskijs Raskolnikow, Dolgorukij solche Naturen, und auch sie kommen von einem Nachbild des Byronischen her, verbunden mit Napoleonkult. Doch die Verführung durch das mit Byron Bedeutete hörte dadurch nicht auf, sowenig wie der Glanz eines radikalen persönlichen Soseins. Die bürgerliche Gesellschaft hat mit der individuellen Wirtschaftsweise den Sinn für abenteuerliche und gigantische Subjektreize erst erzeugt; gleichzeitig erschienen ihr diese, gemessen am wirklichen Bürger, dem Bourgeois, als «unbürgerlich« Und ein Ton Manfred, gIoomy und splendid in einem, teilte /(1180) sich selbst noch der letzten Figur dieser Art mit: Thomas Manns Musiker Adrian Leverkülin. Es ist an der Zeit, sich den Originalen des Überschreitens zuzuwenden: Don Giovanni und vor allem Faust. Don Giovanni, alle Frauen und die Hochzeit Die Angst, nicht da zu sein, bleibt keineswegs in sich. Denn wer tritt hier als Klang auf, jagt und glänzt? Ein Mann, rasch, treulos, schlägt eine Klinge wie keiner, genießt. Um den Genuß gleich wieder zu verlassen, denn am nächsten Mädchen lockt ein unerprobter. Don Giovanni wird dazu von einem Wunsch und Trieb gejagt, der ganz als sein eigener wirkt. Er ist ganz in ihm auf die Spitze gelangt und durchbohrt, was in den Weg kommt. Jedes hübsche Weib ist recht, weil noch keines die Rechte ist, zu jeder wirft der Verführer die Angel aus, in jeder wird sie nach dem Fisch ausgeworfen, der nicht entflieht, aber auch nicht sättigt. Doch haben alle Mädchen und Frauen besonders wesentliches Vergnügen in diesem Umgang genossen. Das Geschlecht zeigt mit der höchsten erreichbaren Bildung, auf allen Umwegen, was es kann; nichts mehr besteht neben ihm. Auch die noch so seelenvollen Blicke gehören seiner Lust, müssen ihr, als einer durchaus wechselseitigen, zum Besten dienen. Immer wieder geht der Ritter eine andere an, verletzt, erheitert, vergißt. Der Hörer wird selber jäh in das Spiel gerissen, mitten hinein. Da bereitet kein Held langsam Taten vor, verstrickt sich darin nur mehr und mehr. Sondern Mozart beginnt in der Blüte Don Giovannis, in der Blüte seiner Sünden. So der erste Auftritt: Hin und Her Leporellos, trübe Nacht, Lärm im Haus, Don Giovanni stürmt die Treppe herab, wird festgehalten, schlendert das Weib von sich, im schiefgegangenen Abenteuer. Donna Anna unterlag ihm nicht oder noch nicht, die Entführung mißglückt, der Komtur wirft sich dazwischen, der graue Alte, noch verwegen. Schreie, Zweikampf, Mord, Flucht, Klage um den Vater,
mit Tönen, fast aus Irrsinn geholt, Racheschwur - welch ein Atem. Wie eine Blutwelle geht die Musik hoch, Schändung, Tod, Schuld bleiben am Weg. Und sogleich mit dem Vorstoß des Ritters hebt auch die rückläufige Bewegung an, eine, die sich nicht /(1181) mehr divertiert und der, auf dem Friedhof, im höchst gestörten Gastmahl, keine Schildwache gewachsen ist. Gegen die Suche und den Genuß des Jetzt sammelt sich die Vergangenheit, gegen den Degen hebt sich der Stein, durchaus gegensätzlich. Ihre Tongestalten waren bereits in der Ouvertüre: ihre ersten Töne sind Vergangenheit oder der steinerne Gast als die tiefe majestätische Stimme, die am Anfang ertönt; es folgt, so leicht und leichtfertig wie möglich entgegengesetzt, glänzend rascher Genuß als der blitzende Violinlauf, der sich hier vom Stein fortbewegt. Auch sonst sind die Tongestalten Don Giovannis und die der anderen Seite rhythmisch-melodisch scharf geschieden; sie verhalten sich insgesamt wie Bewegung und Erinnerung, wie Eingriff und Gewordenheit. Das zum Stein Gehörige ist Musik der Treue, als einer Vergangenheit, die Don Giovanni nie betritt, die so von außen auf ihn zukommt und ihn begräbt. Aber der Ritter ist nach der ersten Flucht wieder frisch, noch für vieles. Lockt Zerline, mit dem süßesten Gesang, der je ein Mädchen verlockt hat. >Ah, lasciate mi andar via«, bittet das Mädchen, »No, no resta, gioja mia«, singt der Verführer oder die unbedingte Ausschweifung. Das Leben selber drängt an Zerline an, und sein Schloß ist nicht weit von hier, es ist Cythera. Ein Lustdämon glänzt in der Champagnerane, im einsamen Presto, das ihm genau gemäß ist. Bis zur Gemeinheit wird der Ritter gedächtnislos in der Verkleidungsszene mit Elvira, bis zur Erhabenheit reulos, sachlich, Zeche zahlend vor der Statue des Komturs. Aber all dies Carpe diem geschieht in keinem freien Raum mehr, der Weg Don Giovannis verfinstert sich in fremdem Leid, das nun nicht mehr hinter ihm zurückbleibt. Spannung zwischen Degen (Penis) und Stein wird immer sichtbarer die Grundstruktur, so schichtet sie sich auf. Die Linie dieses Gegensatzes geht nun durch all die mannigfachen Verwirrungen, Zwischenspiele und Prügelszenen, Buffonerien und Serenaden; ja sie ordnet das schwierige Ineinander von Buffo-Oper und tragischer, das Mozarts Werk, dieses Sinns, zu einem Shakespeareschen in Musik macht. Zu Ende des ersten Akts ist der Gegenschlag da: die Bankettszene stellt ihn dem Hörer dar, mit einem unvergleichlichen Kontrapunkt aus Lebensfreude und Blutrache. Die Musik läuft in C-Dur, aber nicht alle Rhythmen und Akkorde /(1182) stimmen zu ihr, nicht das starre Trio der Verschworenen, nicht ihre felsenhafte Homophonie. Betroffen wird Don Giovanni selber erst durch den Choral, der im Kirchhof von der Statue des Komturs herübertönt; und in der Begegnung beim Erscheinen des steinernen Gasts ist der Zusammenstoß der beiden Tongestalten erreicht. Die Ordnung der Ouvertüre zeigt sich so in der Handlung der Oper umgedreht: das majestätische Andante des ersten Themas steht nun am Ende, kommt vom Ende her auf den Ritter zu. »Don Giovanni, al cena teco m'invitasti e son venuto«, ruft der steinerne Gast und trifft einen Unerschrockenen. Es gibt keine dramatischer gelungene Musik als diese, keine mit solch genauen Antiphonen. Man sah es: die Champagnerarie, ihr gleichsam raumloses Presto purer Intensität, ist die gemäßeste Figur Don Giovannis. Aber nun ragt der Sternenraum des Komturgesangs, in Mozarts weiten Intervallen, mit einem mitgegebenen Weltgesetz, das das Individuum erdrückt. Gegen die dämonische Naturkraft, hier in einem Individuum hervorbrechend, als schrankenloser Hetärismus, erhebt sich eine andere, spätere Dämonie: die des Rechts, mit Schuld und Sühne. Indem die Naturkraft nicht mehr namenlos, sondern in einem Individuum erscheint und das Recht sie mit den Maßen der gewordenen Ordnung, nicht etwa der Stärke oder auch Schönheit, mißt, erscheint die sexuelle Naturkraft selber als Hybris, freilich im präzisesten Sinn als dionysische. Don Juan wird zum glänzendsten Wunschbild, dem Leitbild der Verführung, zur unzweifelhaftesten erotischen Machtperson. Als diese gehört er, obgleich ein Mann in Potenz und eben wegen dieser, zum Frauengott Dionysos und zu dem gegen Ehe wie Ordnung rebellisch gewordenen. Degen und Stein haben sich im Nein!, im Ja! der letzten Szene ebenbürtig getroffen, und das Nein zur begrenzenden Sitte kapituliert nicht. Seine Unbedingtheit bereut nicht, kehrt nicht um, wählt eher Untergang als dieses, nicht mehr Don Giovanni zu sein. Das ungebrochene Geschlechtswesen, mit dem Absolutum seines Liebestriebs, hat keinen Aschermittwoch, erkauft ihn nicht, sucht den höchsten Augenblick keineswegs im Himmel. Don Giovanni gibt sich jederzeit als des Augenblicks, das heißt als jenes Augenblicks mächtig, in dem der Mann ist, in dem er als Mann ist. Gerade im Untergang wird Don Giovannis Presto völlig metallisch, /(1183) folglich ebenso unvernichtbar, ebenso ewig wie der Stein des Komtur. Es ist diese Art Dynamik, welche an einem Punkt, in einer Person sogar die Gegenseite verwirrt und, bei Donna Anna, die Musik der Pietät (zu Vater und Bräutigam) verwirrt. Donna Anna, die einzige Don Giovanni Ebenbürtige, verführt durch den Ritter sich selbst, sie liebt ihn und steht im Konflikt. Dergleichen ist nicht nur die posthume Deutung E.Th.A. Hoffmanns, in seiner berühmten Novelle; hundert Jahre vorher schon hatte Goldoni, in seinem Drama »Don Giovanni«, die Wahrheit getroffen: Donna Anna ist dem Ottavio ohne sonderliche Neigung verlobt und dem großen Liebhaber verfallen. Ganz eindeutig erscheint auch in Mozarts Musik Ottavio nicht als zureichendes
Objekt für die Liebe in Donna Annas Gesang, für die konflikthaltige Gewalt ihres Übermaßes. Auch die Trauer um den Vater verbirgt das Unglück einer anderen Zugehörigkeit nicht; diese Trauer ist desto verräterischer, als gerade ihre Musik mehr aus dem heißen Material der Don Giovanni-Welt als aus der Pietät-Welt gebildet ist. In Donna Annas letzter großer Arie: »Io crudele? 0 no, mio caro« geht Trauer um den Vater völlig deutlich in Schmerz der Sehnsucht über, in ein Flammen der Koloratur, das von Ottavio überhaupt nichts mehr übrigläßt, hinter dem riesenhaft Don Giovanni erscheint. Dieser enthält in seinem jähen Aufblitz ein Element Tiefe, das Donna Anna wohl verstanden hat, das selbst vom Maestoso des Komturs, als einem der Gewordenheit und ihres Gesetzes, letzthin nicht ganz verworfen werden konnte. Aufruhr aus einer noch unbelichteten Naturkraft geht hier gegen mäßig erhellte Geschichte an; die Sitte hat den Eros ausgekreist, bestenfalls halbiert, aber nicht einbezogen oder aufgesprengt. So meldet er sich subversiv; Don Giovanni selbst, nicht nur der Komtur, gibt derart ein - Menetekel. Der Komtur gibt die Warnung aus dem Himmel des vorhandenen Sittengesetzes und vollzieht sie. Aber Don Giovanni gibt die Warnung aus einem Abgrund, über den er nicht nur hinjagt, sondern den er durch einen dämonischen Ausbruch in Erscheinung bringt: es ist der Abgrund des antiken Dionysos. Können aber für diese Art Unruhe eindeutig wertende Worte gebraucht werden, alle bewegend? Das ist die Frage, besonders wenn die Zeit beachtet wird, worin der Ritter als das Leben selbst /(1184) erschienen ist. Don Giovanni, vielmehr: der Blick auf ihn, hat manche Wandlung erfahren, ähnlich wie bei Faust, wenn auch keine so grundsätzliche. Die Don Juan-Sage geht ins vierzehnte Jahrhundert zurück, bildete sich, wahrscheinlich in Sevilla, um die geschichtlich belegte Person eines wilden Kavaliers und Verführers. Das Motiv des steinernen Gasts ist älter, es stammt möglicherweise aus der Angst vor den von Zeit zu Zeit ausgegrabenen Heidengöttern, die für nur scheintot oder scheinmarmorn gehalten wurden. Doch wurde der steinerne Gast, zur Statue eines Guten verwandelt, von Anfang in die Handlung einbezogen; der Wüstling zeigte daran seinen frechen Mut. Die erste dramatische Darstellung: Molinas »El Burlador de Sevilla« (Der Spötter von Sevilla), 1630, steigert den mittelalterlichen Gegensatz von Fleisch und Geist zu echten Barock-Kontrasten: hier üppigster Lebensgenuß, dort Strafgericht, Verdammnis, Schlund der Hölle. Don Juan erscheint zwar, außer seiner Sinnlichkeit, als Spötter, doch am Ende bittet er, in vergeblicher Reue, um einen Beichtvater. Immerhin ist er noch ein gewaltiges Stück Natur; die Spottlust stammt selber aus Kraft, nicht aus Verstand, und hält die andere Welt, an der sie sich mißt, selbstverständlich für wirklich. Anders aber wirkt der Ritter in der wenig späteren Bearbeitung Molieres: »Don Juan ou le Festin de Pierre«, 1645; der Held ist nur noch unsympathisch; das Stück gibt eine bitterbürgerliche Satire und keine auf Fleischeslust im allgemeinen, sondern auf die französische Hofgesellschaft. Der Verführer wird bei Moliere zum Typ des damaligen Kavaliers: furchtlos, aber ein kalter Rationalist, an dem nur Egoismus, aber keine Leidenschaft ist. Er siegt zwar auch durch den außergewöhnlichen Liebesdegen, durch herrischen oder geistreichen Charme, doch mehr durch die gesellschaftliche Macht, die er einsetzen und ausspielen kann, sowie, bei Damen von Stand, durch sein Treue- und Eheversprechen. Überdies ist Don Juan diesesfalls in Übereinstimmung mit der beginnerden bürgerlichen Aufklärung ein Gottesleugner, nicht mehr ein Gotteslästerer; so verliert seine letzte Herausforderung den Hintergrund, und sein Mut, gegen überirdische Mächte, an die er nicht glaubt, wird mehr Herausforderung der Frommen als Starkgeisterei. Molieres Stück hat neben seinen großen nicht viel Wirkung ge- /(1185) macht; näher also hat sich der antithetische Stoff das achtzehnte hundert hindurch in Puppenspielen und Volksstücken erhalten; »mit Kaspars Lustbarkeit», die den Leporello ersetzt, dem Verführer, der mit Recht, aber auch aufrecht in Hölle die fährt. Und Da Ponte, der Librettist Mozarts, hat der mehrdeutigen Glanzgestalt alle die Ausmaße zurückgewonnen, Mozarts Musik gebraucht hat, um das Verruchte wie das utopisch Bewegende darzustellen. Das Verruchte also wie das utopisch Bewegende, sagten wir, ein Gegensatz mithin, und eben geht das keineswegs Eindeutige an dieser Art Überschreiten und Unruhe, geht Mozarts Don Giovanni-Problem als das eines merkwürdig gesprenkelten Titanismus. Ist Don Giovanni, wie ihn Mozart verdeutlicht, ein Wolf oder ein menschliches Gesicht unter lauter Larven? Gehört er gänzlich der Gesellschaft des Ancien régime, als ihr sittenlosester Vertreter, oder klingt in ihm, im erotisch sprengenden Aufruhr, ein Stück Rückkehr zur Natur an? Bezeichnet Don Giovanni, wenn er als explosive Erscheinung anerkannt wird, bloße verwahrloste Natur, die aus dem zusammenstürzenden Feudalismus selber korrupt hervorbricht, oder gibt er unverfälschte, von sich her schon musikhafte Natur für Mozartsche Musik, also keineswegs korrupte? Ist mithin der Don Giovanni Mozarts lediglich Ancien régime und Rokoko, oder kehrt sich dieses gegen sich selber, nicht nur im Untergang, im letzten Akt und in den Drohungen, die ihn vorbereiten, sondern in einer Prä-Byron-Art des Helden, der seinen Willen nicht schnüren kann in verkleinernde Gesetze? Dem widerspricht aber wieder Don Giovannis Frivolität, erst recht die Ausnutzung feudaler Monopole fürs Liebesregister. Die nicht mit Priapus und Sturm und Drang zusammenhängen, sondern mit Samt, Seide, Schloß, Kavalier; so Zerlinen gegenüber, wenn der
gnädige Herr sie dem Bauern Masetto wegnimmt. Zweifel genug für eine einzige Gestalt und an ihr, besonders auch für das glänzendste Leitbild orgiastischer und so dionysischer Grenzüberschreitung. Ist doch der Genuß seit alters nur für den Herrn da, den nicht arbeitenden. Den Reichen führt ein Abenteuer in die Bar, den Armen bringt es ins Gefängnis. Und vor 1789 waren zwar stets Carmens möglich, als Mädchen aus dem Volk, auch einige Aben- /(1186) teurer, aber Don Juan, an dem alles glänzt, mußte ebendeshalb hoffähig sein. Und diese eine Seite des Verführers, die des adligen Wüstlings, tritt unstreitig auch bei Mozart auf, obwohl sie sehr wieder durchkreuzt ist. Die verlassene Elvira spricht für alle Geschändeten und Betrogenen, wenn sie Rachegötter beschwört und den zündenden Blitzstrahl, obzwar doch Don Giovanni selber, ohne Rache, innerhalb der Lust, aufs stärkste gewittert. Zunächst also stehen Text und Musik bei Mozart gegen den Verführer, zeigen noch vieles von Molieres Auffassung, die Don Juan nur als Roué sah. Folgerichtig finden sich die vertraut revolutionären Akzente nur bei dem Bauern Masetto, als einem Gegenspieler, und vielleicht im verdrossenen Räsonieren Leporellos; wonach freilich seinem Herrn die Guillotine sicher wäre. Bei diesem Lüstling von Revolte zu sprechen, gegen das Herkommen, das Muckertum, fürs Naturrecht der Leidenschaft, das scheint sonach heillos und ohne Sinn. Die Französische Revolution, die bürgerlich-moralische, war selbstverständlich für Masetto bestimmt, nicht für ein Privileg oder auch Naturrecht primae noctis. Der Kavalier ist nicht der Unterdrückte, er hat nur seine gänzlich ununterdrückte Geilheit hinter sich und das Volk nur insofern, als er dessen Töchter mißbraucht. Das also ist der eine Aspekt Don Giovannis, von Moliere herstammend und in Mozarts Werk teilweise erhalten. Doch dem gegenüber steht nun der andere Don Giovanni, die Kraftnatur, ganz nach dem Herzen der bürgerlichen Stürmer und Dränger. Mozart feiert ihn durchaus, in der Champagnerarie und vor allem in der Schlußszene, und verstand sich die Französische Revolution, außer vielfach ressentimenthafter Bürgersitte, nicht auch auf Burgunder und auf freie Liebe? Besaß sie neben Robespierre nicht auch Danton, einen wirklichen Löwen des Genusses und einen höchst populären dazu? Ist dem Materialismus selber nicht seit Epikur und Lukrez die diesseitige Lust angestammt, die in Frankreich ohnehin so volkshaft heimische? In der Tat veränderte sich Don Juans Bild gerade durch die Französische Revolution; der adlige Wüstling kam gänzlich in die Reihe der Freien oder des Ver sacrum contra Pfaffen. Dies durch einen Demokraten wie Lenau, durch einen anarchistischen Rebellen wie Grabbe, durch den wahlverwandten Genius Byrons. Statt des kalten /(1187) Egoisten erscheint jetzt der Glückbringer oder der Unbedingte eines einzigen und schrankenlosen Gefühls; Byrons »Don Juan», durchaus als Satire gegen Cant, Reaktion, Bigotterie angelegt, macht doch eben deshalb (»to sail in the wind's eye») den Freude Titan kenntlich: - »There's not a meteor in the polar sky / Of such transcendent and more fleeting flight.« Mit der romantischen Veränderung trat nun auch die Verwandtschaft mit allen anderen Typen des Trotzes hervor, das ist: nicht bloß des Verharrens auf seinem individuellen Sosein, sondern auf einem unbedingten und ins Unbedingte zielenden Trieb. Die Verwandtschaft Don Juans mit Faust trat hervor, des radikalen Liebestriebs hier, des radikalen Erkenntnis- und Erfahrungstriebs dort. Ja beide Leidenschaften blieben nicht einmal voneinander abgetrennt und so auf ihre Typen verteilt: Faust wird völlig organisch mit dem Gretchenstoff verbunden, und Don Juan zeigt mindestens in seiner Lenauschen Fassung, als einer tiefen, Erkenntnistrieb. Er sucht hier lediglich die Eine, die Idee des Weibs, und seine empirische Untreue ist höchste Liebestreue, nämlich gegen das Wesen, an dem er bleiben könnte. Lenau stellt Don Juan so universalisch in seiner Art und so landungsbedürftig dar wie Faust: »Es fühlt der Geist, der alles will umfassen, / Im Einzelnen sich verkerkert und verlassen; - / Er ist es, der mich ewig dürsten heißt / Und mich von Weib zu Weib verderblich reißt.« Darum rast dieser andere Don Juan durch »den Zauberkreis, den unermeßlich weiten, / Von vielfach reizend schönen Weiblichkeiten«, wie Faust durch seine Weltkreise fährt: beide auf der Jagd nach dem Augenblick, der nicht Ekel oder Langeweile wird, wenn er betreten worden ist. Wobei freilich Don Juans Stationen auf dieser Suche sowohl zahlreicher wie eben unabgeschlossener, ja unabschließbarer sind. Allein in Spanien hat er dieser Stationen tausendunddrei (Kierkegaard macht sehr fein darauf aufmerksam, daß das eine ungerade Zahl ist), und was den Abschluß angeht, so geschieht er durch Don Juans Tod allein, nicht durchs Vorgefühl von einem höchsten Glück, wie bekannt. Trotzdem gibt Lenaus Don Juan, in seinem Zauberkreis von Weiblichkeiten, auf diesem wie immer auch engeren Feld das unübersehbare, seitdem deutlich herausgearbeitete Pendant zum Erfüllungstrieb Fausts. Hat der exzentrische Grabbe doch Don Juan /(1188) und Faust sogar in ein einziges Drama verkuppelt, die zwei Seelen in Fausts Brust auf zwei Unbedingte verteilt. Grabbes Don Juan ist Faust in der Region »des Lebenssüdens« geworden, Grabbes Faust ist Don Juan »in der kalten Zone«. Die Erinnerung an Molieres Hofschurken ist so völlig verschwunden: »0 Tropenland der heißen Liebeskraft! / 0 Zauberwildnis tiefer Leidenschaft!« - das ist nicht Hof des Ancien régime oder Lasterglück, mit den Augen bürgerlicher Sitte gesehen. Eine merkwürdige Verschiebung, in der Tat, eine Verschiebung des Kavaliers zu einem titanischen Bohemien, der gekommenen Verkleinerung zweideutig entgegentitanisierend, die Bourgeois
heißt. Und eben gegen letzteren erhob sich das neue Don Juan-Bild, vorab E. Th. A. Hoffmanns: als Ja zur Freude, als Nein zum Philistertum, auch zu allen Statuen einer erloschenen Vergangenheit. Das ist das profilierteste Motiv an dieser Gestalt, und eines, das das Carpe diem sogar verbindet mit Impietas gegen den Toten (Vater, Ahnen). Ausleben des Jetzt, der stehende Strom des Glücks werden gesucht, nicht Abdankung des naturhaftesten aller Übermaße vor Herkommen, Gewohnheit, Gewordenheit und Entfremdung. Don Juan wie Faust suchen statt dessen, in maßloser Ausfahrt, den Augenblick, wo endlich Hochzeit sein könnte, endlich hohe Zeit. Der Blitz des Don Giovanni, in dem er erscheint und bleibt, ist dem Ungemäßen im Menschen gewiß nicht das hellste, aber das grellste Licht. Faust, Makrokosmos, Verweile doch, du bist so schön Der Drang zum Jetzt und Da ist nie auf den eigenen, inneren Ort beschränkt. Er wird nur dort zuerst empfunden, auch gelöst, aber so, daß erst recht alles Draußen in dieser Nähe gesammelt und angerichtet werden soll. Dies eint die Figuren der Unruhe, sobald sie nur Raum um sich schlagen und haben. Sie sind auf dem Zug ins Volle ebenso welterfahrend, wühlen die Frauen und alle Dinge nach dem auf, was ihre Sehnsucht stillt. Am sichtbarsten die Meistergestalt der Unruhe, die nun auf der Höhe und in der Mitte aller anderen erscheint: Doktor Faust oder die intensiv-extensive Unbedingtheit zugleich. Er ist der Grenzüberschreiter schlechthin, doch allwegs um das Erfahrene /(1189) bereichert, wenn er es überschritten hat, und zuletzt in seinem gerettet. So stellt er das höchste Exempel des utopischen Menschen dar, sein Name bleibt der beste, lehrreichste. Das war Helden keineswegs an der Wiege gesungen worden, konträr, das erste Faustbuch verurteilte »den Erzzauberer, der Adlersflügel nehmen wollte, zu erforschen Geheimnisse des Himmels und der Erden». Auch die späteren Puppenspiele machten keine Ausnahme, sie führten den Vollzug der Höllen-Sentenz zwar erschütternd, doch abschreckend aus. Auch war der Urfaust von 1587 nicht etwa der spätere protestantische Stürmer Dränger, der Freie, Suchende, Unbedingte, er war karikiert als katholischer Scholastiker. Die Darstellung, aber nicht der Held des ersten Faustbuchs war protestantisch, und zwar im finsteren Sinn des Luthertums. Luther hatte völlige Unfreiheit des Willens gelehrt, und er haßte »die Närrin Vernunft»: beide sollten in dem Zauberer Faust so abschreckend wie möglich erscheinen. Faust, mit seiner Hoffart und dem scholastischen Teufelswissen, sollte sogar die genaue schwarze Folie bilden zu dem schlicht-gläubigen Gottesmann Luther; und das in der gleichen Stadt, Wittenberg. Ersichtlich ist von da ein weiter Weg zum Faustbild des späteren Protestantismus, zum bejahten Exzeß des Willens- und Wissensdursts. Eine ideologische Ortsänderung ging vor, die der heraufkommenden individualistischen Wirtschaftsweise mit deutscher Verzögerung entsprach. In England, wo die unternehmerische Aktivität keine feudale Schranke mehr fand, war die Umdeutung des Zauberers leichter. Bereits Marlowes Faust von 1604, obwohl der Höllenschlund ihn ebenfalls erwartet, erscheint nicht als Sünder, sondern als eine Art von vertracktem Märtyrer. Als Märtyrer seiner geistigen Unmäßigkeit, seiner Verleugnung Gottes, seines Willens zum Unerreichbaren; kurz, der Conquistadore in Faust fand Verständnis. Aber erst Lessing entwirft den Plan, das »In aeternum damnatus» zu einer Rettung umzuwandeln, ja zu einem Triumph; auch das Motiv der Wette, wodurch das Teufelsbündnis sozusagen in der Schwebe gehalten wird, dies folgenreiche Motiv findet sich erst hier. Lessings Faustfragment eröffnet den neuen Standpunkt, einen dem individualistischen Vervollkommnungstrieb des achtzehnten Jahrhunderts gemäßen. Fausts Seele /(1190) wird zwar noch der Hölle überliefert, doch nur im Traumgesicht, eine Stimme aus der Höhe ruft den betrogenen Teufeln zu: »Ihr sollt nicht siegen, die Gottheit hat dem Menschen nicht den edelsten der Triebe gegeben, um ihn ewig unglücklich zu machen.« Damit war der Weg zur Rettung der Faustseele frei, wie im Himmel so auf Erden, wenigstens in der Literatur; der weitbeschreite Zauberer wird kanonisch. Sein Spezialfall wird goethisch universell, ein Repräsentant jener Subjektivität, welche trotz ihrer Endlichkeit Unendliches umfassen will. In Erscheinung und Noch-Nicht-Erscheinung, vor sich den Tag, hinter sich die Nacht, unter sich die Wellen Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen, Der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen, Mit Stürmen mich herumzuschlagen Und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen ein Repräsentant des Exodus zu mächtigem Überraschen. Herrlich wie am ersten Tag bleibt der Wille einer auf seine bürgerliche Gestalt nicht beschränkbaren Intention: Subjekt-Vermittlung in der Welt und durch sie hindurch zu erfahren - mit dem Problem des erfüllten Augenblicks im Grund. Dieser Augenblick - als der des vollen Da-Seins und seines Intentions-Überhaupt - wird durch die gesamte Dichtung experimentiert von Auerbachs Keller bis zum freien Volk auf freiem Grund und weiter; er arbeitet ebenso in der faustischen Frage wie in den jeweils antwortenden, jeweils wieder transzendierten Gegenbildern der Welt. Das Thema
des Jetzt und Da oder des sich stellenden Augenblicks war schon im «Werther« gegeben: »Kannst du sagen: Das ist! da alles vorübergeht? da alles mit der Wetterschnelle vorüberrollt, so selten die ganze Kraft seines Daseins ausdauert, ach! in den Strom fortgerissen, untergetaucht und am Felsen zerschmettert wird?» Das Thema des erfüllten, also zum Verweilen gebrachten, also ausgeschüttet erlangten Augenblicks macht die Faustwette aus. Gewiß nicht im Sinn einer abstrakten Idee und ihrer mageren Schnur, worüber Goethe kunstfremde Schematiker und Intellektualisten vorhersehend - gespottet hat. Das Lebensgedicht Faust bewegt sich vielmehr hin zu einer sehr /(1191) konkreten Idee, zu einer so konkreten, daß überhaupt keine Idee mehr vorliegt, sondern ein Experiment, freilich ein gezieltes, eines auf das Erfüllende. Dieses wird von einem Menschen unter Menschen gesucht, eben mit Auerbachs Keller beginnend bis zum freien Volk auf freiem Grund und weiter, doch - damit an seinem ebenso völligen Außenweltcharakter ebenso kein Zweifel sei - ist das Streben wie Beschließen zum höchsten Dasein gleichsinnig gehalten mit dem der Natur. Mit ihrem Morgen vor allem, ihrem vielsagenden Morgen: Du, Erde, warst auch diese Nacht beständig Und atmest neu erquickt zu meinen Füßen, Beginnest schon mit Lust mich zu umgeben, Du regst und rührst ein kräftiges Beschließen, Zum höchsten Dasein immerfort zu streben. So ist an der Selbsterfüllung für Faust kein Subjektivismus mehr, sondern ein Augenaufschlag der durcherfahrenen Welt; von daher der vollkommene Außenblick im Innenblick, selbst Innesein des Faust-Subjekts. Das Inkognito des treibenden Inhalts in der Wandelgalerie der Zustände und versuchten Endzustände, die Faust ebenso durchschreitet, wie sie sich durch ihn selber hindurchbewegt: dies existierende Inkognito wird hier aus der Person auf Welt ausgebreitet und mit Weltfiguren zugleich umschrieben. Faust im Zaubermantel, der durch die Lüfte trägt, lebt und überschreitet alles ihm Gewordene aus dem dichtesten wie weitesten Augenblickswillen heraus, aus dem gleichen, der die Wette bestimmt. Das faustische Zentrum geht durch Welt wie Himmel, beide wirken in fortschreitender Vermittlung als Symbole darum her, aber freilich zu guter Letzt: auch die Welt wie ihr Himmel fassen dieses exzentrische Zentrum noch nicht ein. Also ist dieses Ich überall auf Fahrt, legt bis zuletzt den Mantel nicht ab. Faust erprobt sich, lernt auf der Strecke, und zwar auf einer dauernd gegenständlich belebten. Er erweitert sein Selbst sowohl zum Dasein, das allen Menschen zuerteilt ist, zuerteilt sein könnte, wie zur Genossenschaft mit Wald, Wiese, Sturm, Feuer, Stern. Das Unendliche erlangt, wer im Endlichen nach allen Seiten schreitet; daher tritt das Subjekt in immer neue /(1192) Weltkreise ein und verläßt sie, so bereichert wie - ungestillt. Die Faust-Handlung ist die einer dialektischen Reise, wobei jeder erreichte Genuß durch eine eigene, darin erwachende neue Begierde ausgestrichen wird. Und jede erreichte Ankunft durch eine neue, ihr widersprechende Bewegung widerlegt; denn: Etwas fehlt, der schöne Augenblick steht aus. Von Auerbachs Keller her merkt Faust, der Genuß macht gemein, in der Gretchentragödie entsteht aus der Liebe die Schuld, in die Helena-Antike dringt Krieg: nichts Unbedingtes ist am Ziel. Vorblickend kapitalistisch ist die letzte irdische Szene, die der Landgründung, mit Raub und Mord vermengt - »mein Hochbesitz, er ist nicht rein«. Die dialektische Weltfahrt Fausts hat in diesen ihren fortdauernden Berichtigungen nur eine einzige Parallele: Hegels Phänomenologie des Geistes. Faust ändert sich mit seiner Welt, die Welt ändert sich mit ihrem Faust, eine Probe und eine Verwesentlichung in immer neuen Schichten, bis Ich und Anderes rein zusammenklingen könnten. Bei Hegel heißt das: aufsteigende Wechselbestimmung vom Subjekt am Objekt, vom Objekt am Subjekt, bis das Subjekt mit dem Objekt nicht mehr behaftet ist als mit einem Fremden. Aus diesem Willen zum erfüllten Jetzt und Fürsichsein stammt eben das Agens der Wette, wie sie Selbst- und Weltbewegung des Gedichts usque ad finem betreibt. Goethe gab der Wette eine genaue juristische und die tiefste utopische Formulierung: Das «Verweile doch, du bist so schön«, zum Augenblick gesagt, bezeichnet die Da-Seins-Utopie katexochen. Überall fehlt noch der Ruhe gebende Augenblick, das sich selbst verweilend objektivierende Da-Sein: in der Bildung eines paradiesischen Lands erscheint das Verweile-doch selber als Land. In seinem Vorgefühl wird das wirkliche, der Sehnsucht kongruente Ithaka, die Deckung des Antriebs der menschlichen Intention mit ihrem Inhalt berührt. Solche Gegenwart hat mit der Flüchtigkeit, die in den Tag oder auch in den Augenblick hinein lebt, nicht einmal an den Rändern etwas gemein. Selbstergreifung, Seinsmächtigkeit ist nicht Carpe diem; sonst wäre Faust schon in Auerbachs Keller zu Ende. Und es ist weiter klar geworden: auch die gründliche und durchdringende Lust, die Wollust, in der Don Giovanni gezeigt wird, eine dem Faust so nahe verwandte Figur: audi la nuit et le moment blei- /(1193) ben noch im Vorhof des wirklichen Augenblicks. Faust wenigstens hat in den Armen Gretchens, selbst Helenas, selbst also in der antik gegenwärtigen Schönheit das Vorgefühl nicht - ausgesprochen, das ihn die
Wette verlieren, die Seligkeit gewinnen läßt. Das Motiv zum Genuß des höchsten Augenblicks ist am Ende erst, wenngleich lediglich stellvertretend, als landgewinnende Tat angesetzt, doch eben: paradiesisch Land, seine Gründung aus dem Sumpf heraus, ist damit verschlungen. Ein Schiff wird signalisiert, das endlich im Begriffe ist, hier zu sein, »des Menschengeistes Meisterstück« soll bedeutet werden, ein Stück siebenter Schöpfungstag. Wenn Don Juan Dionysisches umgehen läßt, so ist in Faust Prometheus lebendig: nichtbloß der titanische, sondern der menschlich zugewendete. Fausts letzte Handlung geschieht ganz in dieser Zuwendung, das heißt menschlichen Nähe, ja ist diese; aus dem Makrokosmos wird freies Volk auf freiem Grund, ein pures Menschenstück. In ihm macht der Makrokosmos oder die kosmologische Erweiterung Fausts ihren Bogen zum Einen hin, das not tut: zur Moral. Alles wirklich Unbedingte landet in der Moralität und hat in ihr seine faßbare, ja die ganze Welt zu einem Schlußpunkt sammelnde Praxis. Das Unbedingte des Erstrebens ist nicht das Unendliche, weder das schlecht Unendliche als ewiges leeres, formelles Fortgehen, als Flucht übers Beschränkte, die, wie Hegel sagt, »sich nicht in sich sammelt und das Negative nicht zum Positiven zurückzubringen weiß«, noch ist das Unbedingte des Erstrebens ein inhaltlich Unendliches, das, wenn es Gott genannt wird, sich irgendwo in fremder Transzendenz befinden soll. Das pure Menschenstück, das Faust zuletzt aufführt und in dem er das Vorgefühl des höchsten Augenblicks erfährt, ist vielmehr Moralität des Endes; denn eben alles Ende, wenn es substantiell in ihm hergeht, ist Moralität. Das unter Gott oder höchstem Gut Gedachte neigt sich auch für Faust, wie in jeder echten Intention des Unbedingten, zum regnum hominis. Es ist dieses Unbedingte und seine Rückverbindung zur menschlichen Nähe, das am Faust-Ende sich sichtbar macht und das Kant zwar noch sagen läßt: »Gott und die andere Welt sind das einzige Ziel aller philosophischen Untersuchungen«, aber ihn schließen läßt: »Und wenn Gott und die andere Welt nicht mit der Moralität zusammenhingen, /(1194) so wären sie zu nichts nütze.« Indem dem Faust-Augenblick der überweltliche Hintergrund fehlt, tritt der utopisch-humane Nähecharakter besonders unverwechselbar hervor. Unbeschadet des himmlischen Fortspiels oder der höheren Sphären oder der höheren Unruhe: denn auch im transzendenten Hochgebirge des Faust-Himmels trägt Gretchen mit sich den Augenblick. Goethe bezeichnet im Ewig-Weiblichen ebenso den Eros, der alles begonnen, wie das schönste Humanum, worin das Unruhe-Moment des alles Beginnenden eine Landung symbolisiert. Goethe hat also mit dem Zielinhalt der Faustwette das menschlich-weltliche Schlußproblem überhaupt kenntlich gemacht; die Adäquation des zutiefst Intendierenden, Intensivierenden, Realisierenden in das Jetzt und Da (den erfüllten Augenblick) seines Inhalts. Der Augenblick ist das Daß-Rätsel des Seins, das in jedem Moment, als dieser Moment, selber steckt und das sich zu seiner Was- oder Inhaltslösung endlich anhalten möchte. »Verweile doch, du bist so schön«, zum Augenblick gesagt: hier ist die metaphysische Leittafel für volle Existenz und ohne Hinterwelt. Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil; dann nämlich, wenn die Figuren der Unruhe mit dem Cantus firmus des Hic et nunc in der Welt, in diesem intendierten - Nunc stans zusammenklingen. Faust, Hegels Phänomenologie und das Ereignis Der Hunger nach erfülltem Leben wartete nicht erst darauf, beschrieben zu sein. Aber die aufsteigende bürgerliche Bewegung machte ihn besonders reichhaltig, in breiter Jugend wiedertönend. Es ist nicht zufällig, daß der Faust von Marlowe bis Lenau selber ruhelos in Angriff genommen worden ist. Nicht zufällig, daß er, als das Sturm-und-Drang-Ich sich die Hörner abzulaufen begann, mit dem beginnenden ErziehungsromanVerbindung aufnahm. Goethes Gedicht lebt aus beidem, aus Sturm gegen die Welt und aus restaurierender Erziehung durch die Welt; es ist während seiner Entstehung aus dem einen ins andere selber hineingewachsen. Außer dem Stoff hat es wenig Zusammenhänge mit Marlowes machtgierigem Faust, und nur der Schlußton berührt sich mit Calderons Gnadendrama, das das strebende Bemühen krönt. Dagegen wurde der Goethesche Faust aus /(1195) dem Guten, aus dem Besten erhellt, das zeitlich wie sachlich ihm so nahe lag, ganz gleich, ob Goethe es gekannt hat: aus dem Begriff, den der Weg von Sturm und Drang zum Erziehungsroman erlangt hat. Wie im vorigen Abschnitt betont wurde, ist die Dynamik Fausts jener in Hegels Phänomenologie des Geistes am nächsten. Die Bewegung des unruhigen Bewußtseins durch eine Wandelgalerie Welt, das Unzulängliche als Werden zum Ereignis: diese stürmische Arbeits- und Bildungsgeschichte zwischen Subjekt und Objekt verbindet Faust und die Phänomenologie. Am sichtbarsten im Duktus der immanenten Vermittlung, wie sie auf immer höheren Stufen zwischen Mensch- und Weltgang geschieht. Zugrunde liegt die Ausreise oder der Aufbruch des bürgerlichen Subjekts aus den ihm gewordenen engen Zuständen ins Weite. Mindestens der Sturm und Drang opponiert in Deutschland, so kommen Götz, Karl Moor, die Lust des Ausrasens, das unendliche Recht des Herzens, der eigene Einsatz. Aber ein Gegenwurf wird die erstarkende Erwachsenheit in der bürgerlichen Welt, zusammen mit deren
Wachstum selbst: Weltlauf wirkt dem unmittelbaren, ungezogenen Wesen entgegen. Ausgedrückt ist diese Reaktion eben im Erziehungsroman, mit dem Subjekt als Aufnahmefähigkeit und dem Gang durch Lehrjahre. »Wilhelm Meister« wurde so streckenweise Anti-Werther und Anti-Götz, im selben Maß wie sich die vorhandene Gesellschaft ein gutes, ja gebietendes Gewissen machte, gar wie Feudales gegen Jakobinisches sich wieder erholte. Das geschichtlich-soziale Objekt erholte sich gegen das Subjekt, freilich so, daß das Subjekt in ihm anwesend blieb. Mit dem Ausgang von sich her, den es erworben hatte, mit dem Index der Ausreise und Durcherfahrung, den es eingesetzt hatte, mit der »konkret» werdenden Ratio, vor der das Geworden-Welthafte sich auszuweisen hatte. Die Struktur von Faust und der Phänomenologie ist nun aus Ausreise und Weltlauf unaufhörlich zusammengebildet. Faust »schreitet in dem engen Bretterhaus den ganzen Kreis der Schöpfung aus«; Hegels Geist macht sich aller Weltgestalten in Er-Innerung teilhaftig. Er bildet dem Weltgeist das Abenteuer der Notwendigkeit oder die Geduld nach, alle «diese Formen in der langen Ausdehnung der Zeit zu durchgehen und die ungeheure Arbeit der Weltgeschichte, in welcher er den /(1196) ganzen Gehalt seiner herausgestaltete, zu übernehmen« (Werke 1832, II, S.24). Hegel macht in der Phänomenologie die große philosophische Kavaliertour an die Höfe der Welt, und fehlt ihm Fausts Zaubermantel, so besitzt er die «Siebenmeilenstiefel des Begriffs«. Im Faust wie im Phänomenologiegeist ist immer neu die Lust entzündet, sich als Frage, die Welt als Antwort, aber auch die Welt als Frage und sich als Antwort zu vernehmen. Immer wieder fährt das Subjekt durchs Objekt als einem antwortenden Gegenstand zur jeweiligen Subjektart hindurch, immer wieder wird mittels des Objekts selber, in seiner Durcherfahrung, eine neue Subjektstufe betreten. Es ist nicht derselbe Faust, der in Auerbachs Keller, der im Kaiserpalast anfängt. «Wenn also dieser Geist«, so endet Hegels Phänomenologie, »seine Bildung, von sich nur auszugehen scheinend, wieder von vorn anfängt, so ist es zugleich auf einer höheren Stufe, daß er anfängt. Das Geisterreich, das auf diese Weise in dem Dasein sich gebildet, macht eine Auseinanderfolge aus, worin einer den anderen ablöste und jeder das Reich der Welt von dem vorhergehenden übernahm. Ihr Ziel ist die Offenbarung der Tiefe, und diese ist der absolute Begriff; diese Offenbarung ist hiermit das Aufheben seiner Tiefe oder seine Ausdehnung, die Negativität dieses insichseienden Ich, welche seine Entäußerung oder Substanz ist, - und seine Zeit, daß diese Entäußerung sich an ihr selbst entäußert und so in ihrer Ausdehnung ebenso in ihrer Tiefe, dem Selbst ist« (1. c., S.611). Es ist eine dem höchst verwandte Intention, welche die Faust-Handlung durchzieht, das eigene Selbst zu dem der Menschheit erweitert. Und dieses Subjekt will mit jeder Fahrtkraft in den Dingen, will noch mit dem Erdgeist verwandt sein: das Agens der ganzen Welt ist Faust, und Faust entwickelt sich in allen Gestalten dieses Weltagens. Die Reise geht aus dem Unzulänglichen, das ewig im Durst liegt, zum Ereignis, das die Entäußerung endet. So frisch wie angemessen setzt hier das Ich immer neu an, sein Auge wechselt. Der Mensch steht als ein anderer vor dem Krug, aus dem er trinkt, und als ein anderer wieder vor dem Weib, dem Amt und so allem, das ihn sättigen soll. Dies Angepaßte, ob Faust nun Auerbachs Keller oder die weiteren Plätze betritt, hat seine Vorgeschichte; es ist die des gestuft auffassenden Subjekts. /(1197) Staffelung des Ich im Verhältnis zum jeweiligen, mit ihm sich vermittelnden Nicht-Ich ist reflektiertes Weltverhalten. Goethes Gedicht hat diese Staffelung implizit, die Phänomenologie hat sie explizit, im geordneten Aufbau. Und die Vorgeschichte dazu beginnt deutlich in der mittelalterlichen Mystik, in ihren Reisebüchern (Itinerarien) zu Gott. Der Reisende selbst ändert darin seine Zurüstung und Ausrüstung, je nach dem Gelände und Objekt, das er zu bestehen hat. Die erste deutlich erschienene Faust- und Wissensseele war Augustin, und der Augustiner Hugo von St. Victor hat als erster die Stufenfolge der Zustände fixiert, durch welche ein frommer Faustus seinem frommen Eritis sicut deus sich nähert. Es sind cogitatio, meditatio, contemplatio, als die drei Augen, durch die erkannt wird; ihnen entsprechen als Objekte: Stoff, Seele, Gott. Nikolaus von Cusa, auf gleicher Fahrt, gab vier Stationen des Erkenntnis-Subjekts: sensus, ratio, intellectus, visio; ihnen entsprechen: die Einzeldinge, die unterschiedenen Gattungen, die dialektische Zahlenwelt und die mystische Union aller Gegensätze, auch derjenigen zwischen Subjekt und Objekt. Und nun, es ist wieder ein Itineranum, eines ohne Theologie, das auch der Faustdichtung ihre Startpunkte jeweils gestaffelt hat. Als Verjüngung, als immer wieder pointierte Erneuerung: auf der Blumenwiese nach Gretchen, auf dem Hochgebirge nach Helena, als Erblindung vor der tätigen Vision, als himmlischer Puppenstand. Und es ist das Itineranum des Begriffs, das in der Phänomenologie Startpunkte wissenschaftlicher Gestalt einander angeschlossen hat, zusammen mit lauter Welt-Terrassen: Sinnliche Gewißheit oder das Dieses - Wahrnehmung oder das Ding - Selbstbewußtsein, Vernunft, Geist, absolutes Wissen. Ja es ist lehrreich, daß das angegebene stufenhafte Itinerariom, wie es Faust und die Phänomenologie methodisch verwandt macht, zur gleichen Zeit zwei kleinere Parallelen oder auch Pendants aufweist. Hier in einem Gedicht Schillers, am Fortgang des Wanderers aufgereiht, dort in einer Abhandlung Schellings, am Leitfaden des Studierens entwickelt. Fausts Zaubermantel erscheint gemildert in Schillers
«Spaziergang«, von 1795, Hegels Siebenmeilenstiefel des Begriffs, quer durchs Wissensland, erscheinen verkleinert in Schellings »Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums«, von /(1198) 1803. Schillers Gedicht läßt den Wanderer in scheinbar zufälliger Reihe Orte betreten, die auch geschichtlich aufeinanderfolgen. Das Subjekt wird gleichsam austapeziert mit den Elementen der Wiese, des Walds, des blauen Gebirges, der Äcker und Dörfer, der gewerbereichen Stadt, des Stroms und der fernen Schätze, die er herträgt; das Gemach des Weisen wird erblickt und wieder, hoch droben, der reine Altar der Natur. All das ist mit reichen Assoziationen verknüpft, vom Wanderer ausgehend und wieder zu ihm zurückkehrend, ein Lehrgedicht erscheinender Geschichte, in der Reihe der Blickpunkte. Schellings Vademecum dagegen bewegt sich gänzlich in der Stadt selbst, ja in den Schatten des Hörsaals. Doch so, daß er den Schatten Blut zu trinken gibt, und nun berichten sie, als wären sie Abgeschiedene, auf abgekürzte Art von der erinnerten Welt. Ort ist einzig die Universitas litterarum, Leitfaden der Turnus der Vorlesungen, welcher ebenso in den Prozeß der Welt hineinfährt wie die Universitas ins All. Aus dem Selbsterkennen soll das Urwissen vom Universum entwickelt werden, die Welt der Zahlen geht an, die ideenvollere des philosophischen Begriffs, die besonderen Wissenschaften erscheinen mit ihrer Welt, die theologische, juristische, physikalische, medizinische und zuletzt die Wissenschaft der Kunst. Der gesamte Fortgang geschieht im Rahmen des Studiums, genauer von der Konstruktion eines Urwissens her, das im Weg durch die Fakultäten sich ebenso erinnern wie auseinanderlegen soll. Der Zug der Fakultäten wird veranlagt, als rekapituliere er einen Ideenzug der Welt; die Fächer der Gelehrsamkeit werden dasselbe wie geöffnete Schriften, ja Berge, in denen das Wesen funkelt. Aber zurück zu Faust, so ist dessen Linie freilich nicht nur die der abgeschrittenen Welt, sondern der Wette, die in den Augenblick schlägt. Der vollkommene Augenblick bleibt das Grundproblem des Faust-Subjekts, der mächtige Augenblick, der nicht mehr in Entäußerung reißt. Hier zeigt sich aber auch die Neuheit der Goethe-Wendung, sie zeigt sich gerade am Gemeinsamen, das die Faust-Form mit der Phänomenologie so vielfach aufweist. Auch mit Schillers Wandergedicht und Schellings transparenter Pädagogik aufweist und bei allem mit dem Ineinander oder Nacheinander von Sturm und Drang und Erziehungsroman. Das Verweile-doch, zum Augenblick gesagt, /(1199) ist originär wie Ursprung und sein Ende selbst, es bleibt die einzigartige, so lange ungefaßte Metaphysik in der Faustdichtung. Dergestalt, daß vom Inhalt der Wette einzig Licht auf die bisherige Philosophie fällt, nicht mehr umgekehrt. Selbst noch so stark ins Existere einschlagende Bedeutungen werden eher durch Faust erhellt als Faust durch sie; hier hat die Wette ein Monopol. Die Sphärenfahrt selber, die des sich darin verwandelnden, darin identifizierenden Faust, ist eine mit der Phänomenologie verwandte, und das Faustgedicht hat darin allerdings eine Philosophie seiner Handlung, aber in der Philosophie seines Kerns dreht sich das Verhältnis um: Hegels Fürsichsein wird einzig von den Hintergründen der Wette her beleuchtet und wichtig gemacht. Die Handlungsform im Faust legitimiert sich hegelianisch, das ist durch die dauernde dialektische Beziehung des Bewußtseins auf seinen Gegenstand, wodurch diese beiden sich fortwährend genauer bestimmen, bis eine Identität von Subjekt und Objekt entwickelt ist. Aber die Kerndialektik der Phänomenologie legitimiert sich erst durch Fausts sich erfüllende Intensität und Moralität des intendierten Augenblicks; hieran erst erweist sich, einschlagend, was Hegel als besseres Wissen des Fürsichseins setzt. Die Werte macht das Fürsichsein erst zur aufgehobenen Reflexion oder zur involvierten Wirklichkeit; durch den Weg zum Augenblick wird Phänomenologie wirklich erst das, als was Hegel sie feiert: »Der Fortgang zu diesem Ziele ist daher unaufhaltsam, und auf keiner früheren Stufe ist Befriedigung zu finden.« Phänomenologie wird außerhalb des bloßen Spiegelbewußtseins ein Erscheinen, nämlich des Überhaupt in Selbst und Welt, sie wird wirklich »der Weg der Seele, welche die Reihe ihrer Gestaltungen, als durch ihre Natur ihr vorgesteckter Stationen, durchwandert, daß sie sich zum Geiste läutere, indem sie durch die vollständige Erfahrung ihrer selbst zur Kenntnis desjenigen gelange, was sie an sich selbst ist« (1. c., S.63). Nicht nur am Anfang, auch am Ende ist für Faust die Tat, am stärksten die Tat betriebener Identität. Kierkegaard, vorher Schelling haben Hegel das nur begriffliche Sich-Herausprozessieren aus der Unmittelbarkeit zum Vorwurf gemacht; auf übertriebene Weise, denn im Kader des Begriffs ist bei Hegel ja von nichts anderem die Rede, als daß der Geist für /(1200) sich werde, zu sich komme, sich mit ihm selbst zusammenschließe. Aber nicht Kierkegaard, sondern das zentrale Stichwort «Verweile doch, du bist so schön« hebt den ewig abstandhaften Bewußtseinsgedanken auf. Es interpretiert nicht nur, sondern zündet an, was die Phänomenologie vom Gang des Bewußtseins schließlich will: «Indem es zu seiner wahren Existenz sich forttreibt, wird es einen Punkt erreichen, auf welchem es seinen Schein ablegt, mit Fremdartigem, das nur für es und als ein Anderes ist, behaftet zu sein, oder wo die Erscheinung dem Wesen gleich wird« (1. c., S.72). Der Faust-Plan, in der immer wieder einsetzenden Folge: aktuelles Jetzt - historisch verzweigte Gestaltensphäre - informierte und doch ungesättigte Existenz, dieser Subjekt-Objekt-Subjektplan ist das Grundmodell des dialektisch-utopischen Systems materieller Wahrheit. Und das Ereignis des Augenblicks, des alles
treibenden, alles enthaltenden, bleibt das Gewissen dieses Plans; als Erreichnis des Daß oder Erstrebnisses selbst. Das Goethegedicht hat den Inhalt mit der damaligen Spekulation zusammen und über ihr bezeichnet; es bezeichnet die Stationen der Weltreise nach dem erfüllten Augenblick, das heißt nach einer Welt wie Fürsichsein. Ebenso ist im Inhalt der Faustwette und nur in ihr die genau einschlagende Metaphysik der Nähe bezeichnet, auf die gerade Grenzüberschreitungen gehen. Eine Metaphysik, welche nicht mehr von lauter entfernten Hinterwelten oder Überwelten genarrt wird; je ferner, so scheinbar desto besser, je höher, so scheinbar desto erhabener. Echt utopische Metaphysik ist gerade in Fausts immanentem Stichwort latent, als eine, welche sich auf des Pudels, aber auch auf des Himmels Kern versteht. Sie führt sowohl vom Jenseits ins tiefste, nämlich diesseitigste Diesseits, als sie auch den ganzen langen Tubus der Unruhe, der Weltweite und Weltutopie verwendet, um das wirklich Nächste - den Augenblick zu erblicken. Um am Augenblick sich des wirklichen Weltknotens zu vergewissern, also auch der großen Freude, die dessen Auflösung möglicherweise besiegelt. Und noch etwas, fast das Wichtigste: Goethes Faust ahnt und berührt das Fürsichsein des erfüllten Augenblicks keineswegs, wie Hegels Phänomenologie zuletzt, als Verlust der Gegenständlichkeit selber, als Aufhebung jeder Objektivhaftigkeit, also nicht nur der ent- /(1201) fremdeten, ins Subjekt, in ein schließlich weltlos gewordenes. Konträr, gerade Fausts Berührung des erfüllten Augenblicks ist eine solche, weil sie zugleich die diesem Augenblick nicht mehr entfremdete Sphäre einer endlich adäquat berührten Objekthaftigkeit (Landgewinn, ewige Reiche) um sich hat. Der Augenblick dieses Fürsichseins ist also gewiß keine Zurückgezogenheit, freilich siedelt er im Grenzzustand und Grenzideal einer Lebens- und Weltsituation, die keine Situation mehr hat. Faust als eine der äußersten Leitfiguren der Grenzüberschreitung intendiert rein im menschlichen Augenblick und seiner Welt gegen den Status bloßer Situationshaftigkeiten hin zum Ruf: Land. Verweile doch, zum Augenblick gesagt, wird derart Sinnbild der richtigen, ganz immanenten Heimkehr, des wirklichen Ithaka. Nur ein Sinnbild; denn es gelingt der Dichtung und Philosophie nur, die Intention auf Utopisches, nicht aber den Inhalt des Utopischen als seiend zu gestalten. «Jauchzet auf! es ist gelungen« oder »Wissenschaft stellt sich als einen in sich geschlungenen Kreis dar«: dies ist nicht der Höhepunkt Fausts oder der Phänomenologie. Der Höhepunkt Fausts ist das unbetrügliche Vorgefühl des höchsten Augenblicks, am rechten Ort, mit Carpe diem nostrum in mundo nostro darin. Daß dies strebende Bemühen noch in keiner Figur der Überschreitung enden konnte, macht es groß. Es hat sich nicht nur nicht auf kein Faulbett gelegt, sondern selbst der Faust-Himmel kennt ja nur Bewegung und noch kein finites Ruhesymbol von Landung. Odysseus starb nicht in Ithaka, er fuhr zur unbewohnten Welt O greife weiter, weiter, Sturm, Und nimm auf deine starken Schwingen Den höchsten Stern, den tiefsten Wurm, Uns endlich alle heimzubringen! Lenau, Faust
Es ist dem Hungernden mehr als richtig, sich nach der Speise zu sehnen. Der Frierende will an den Ofen, der Verirrte in sein Haus, der Reisende freut sich auf Weib und Kind. Aber wenn ein umhergetriebener Hausvater Odysseus heißt oder ähnlich, wird die Rückkehr nicht so klar, oder daß mit dem eigenen Bett alles fertig sei. Der Verirrte war ja nicht nur der Dulder, er war /(1202) auch der Fahrende, der vieler Menschen Städte und Länder gesehen, Kalypso und Nausikaa dazu. Läppische Auslegungen haben zwar die Moral dieser Geschichte darin erblickt, daß ein redlicher Hausvater durch alle Gefahren hindurch immer wieder danach strebe, zu den Seinen zurückzukehren. Aber Daumier hat diesen Odysseus mit der Schlafhaube gezeichnet, neben der spitznasigen Gattin, Helm und Schwert wie Wandschmuck aufgehängt et habet bonam pacem, qui sedet post fornacem. Die Heimkehr, gewiß, sie ist eine bedeutende Kategorie; desto größer jedoch sind ihre Gefahren und Verderbungen, gleich denen der Ruhe. Wäre Ithaka kein Symbol, so wäre es ein Problem, und Homer läßt vor ihm, nach geschehenem Hausrecht, den Vorhang fallen. Aber die Sage schwieg nicht, sie arbeitete in einer Art von Fliegendem-Holländer-Motiv über Odysseus weiter, über einem späten, wilden, unbekannten. Danach kehrt Odysseus nicht einmal sicher nach Ithaka zurück, er fährt weiter aus, ins Unermessene, er macht aus seinem bisherigen Schicksal das Metier seines Charakters. Diese erstaunliche Wendung erscheint in der Göttlichen Komödie (Inf. XXVI, v. 79-142); der unwillige Dulder gelangt dadurch in eine ganz und gar nicht unwillige Verwegenheit, ja er wird zu einem Meer-Faust. Vergil fragt den in Flammen Gehüllten nach dem Ende seines irdischen Lebens, Odysseus antwortet, er habe, als er von Kirke schied, keine Ruhe gefunden, weder die Zärtlichkeit für den Sohn noch die Pietät zum alten Vater,
noch die Liebe zu Penelope hätten ihn bezwungen: Nicht tilgten sie in mir die Ungeduld, Die Welt zu sehn und alles zu erkunden, Was drin der Mensch besitzt an Wert und Schuld. So warf sich Odvsseus mit einer Schar Matrosen erneut aufs Schiff; die Segel vierkant gebraßt, fuhren sie vor dem Wind mit einer herrlichen Brise in die offene See, an die afrikanische Küste, nach Spanien, an die Säulen des Herkules, die alte Grenze der alten Welt. Dort aber, obgleich alt und schwer geworden, rief er die Matrosen zur allerkühnsten Fahrt - in ein Ithaka der Bewährung und Fülle: /(1203) O Brüder, die durch tausende Gefahren Ihr hier im Westen kühn euch eingestellt, Bewegt euch jetzt, um Neues zu erfahren, Solange noch der Leib zusammenhält, Im kurzen Rest von eurem Erdenleben Der Sonne nach zur unbewohnten Welt (Diretro al Sol, del mondo senza gente). Bedenkt, wozu das Dasein euch gegeben: Nicht um dem Viehe gleich zu brüten, nein, Um Wissenschaft und Tugend zu erstreben (Considerate la vostra semenza: Fatti non foste a viver come bruti Ma per seguir virtute e conoscenza). Die Fahrt ging voran in den Atlantik, scharf westwärts, dann südlich, und nach fünf Monaten sah Odysseus Land, einen hohen Berg in der Ferne, in der mondo senza gente, auf der anderen Seite der Welt. Aber ein Wirbelsturm erhebt sich von dem Berg; denn er ist der Monte Purgatorio, den kein Lebender betritt und der Heide Odysseus auch also Toter nicht. Die menschliche Grenzüberschreitung geht zu Ende, das Fegefeuerland der anderen Welt, mit dem irdischen Paradies auf der Spitze, bleibt erblickt und unbetreten. Soweit die erstaunliche Version, von der Aventiure her erscheint ein ganz anderer, ein gotischer Odysseus. Ein Sindbad, dem Wassergefahr und Wunder zum Lebenselement geworden, war auch in dem antiken Dulder angelegt, doch er wurde nicht wahrgehabt. Und gegen Poseidon, der sich gegen ihn verschworen, fehlte der Trotz zusammen mit dem riesigen, der Antike fremden Fernkreis. Der Fliegende Holländer aus der Barocksage wollte das Kap Horn umfahren, trotz himmlischer Gegenwinde; so wurde er verdammt, bis zum Ende der Tage auf dem Meer zu kreuzen. Odysseus, als Kapitän der Hybris, stirbt, aber er ist bei Dante der erste titanische Mensch, vom Ritter, nicht vom Dulder hergekommen. Er ist der erste aus dem monomanischen Wesen, vor allem aus der Unbedingtheit, die hernach in Don Juan und Faust erscheint, die in Don Quichotte ihren komischen Schatten wirft. Dieser Fahrer ist sonderbar, ja er hat nicht nur seinen eigenen /(1204) Knorren in sich. Denn zusammen mit Faust wird auch ein wirklicher Mensch hier vorausgesehen: Kolumbus. Zu beiden gab weder der homerische Odysseus noch auch seine spätere hellenistische und römische Auffassung Anlaß. Der homerische Fahrer wurde zwar erweitert, M.Terentius Varro schrieb einen »Anderthalb Odysseus», der sich noch fünf Jahre länger in Irrfahrten herumtrieb. Lukian hat seine Reisesatire, die Vera historia, fabelhafte Westländer betreffend, auf den Phantasten Odysseus vereidigt. Aber das war alles Satire, keine Bewunderung, die literarische Nachreife des Dulders war die eines Münchhausen, nicht eines Über-Muts. Odysseus ist zwar auch bei Homer erneut auf Fahrt gegangen, doch keinesfalls auf eine freiwillige, den Auftrag zu erfüllen, den ihm der Seher Teiresias im Hades gegeben hatte (Od. XI, 119ff.): sich noch einmal aufzumachen und mit einem Ruder auf der Schulter so lange zu wandern, bis ihn einer frage, was er für eine seltsame Getreideschaufel trage, und dann ein Poseidon-Opfer zu bringen. Aber was er so der Penelope erinnernd erzählt und als nochmalige Trennung ankündigt (Od. XXIII, 267 ff.), bezieht sich, wenn es auch gleichfalls eine Wanderschaft ins sehr Ferne, Unbekannte bedeutet, in nichts auf Schiffahrt, gar auf den Willen, der Sonne nachzufahren, wie bei Dante. Vielmehr geht die Reise in ein der Schiffahrt so fremdes Land, daß man dort ein Ruder für eine Wurfschaufel hält, und vor allem: es ist keinerlei Hybris am Werk. Konträr, ein mächtiger Gott soll versöhnt, vielleicht sogar sein Kult verbreitet werden; das ist das Hauptmotiv dieser konformistischen Ausfahrt (vgl. Dornseiff, Odysseus' letzte Fahrt, Hermes 1937, Seite 351ff.). Zwischen der ländlichen Homerstelle und der rein maritimen, höchst verwogenen Dantes besteht darum überhaupt kein Zusammenhang, es sei denn der formale, wie Philalethes vermutet (Göttliche Komödie, deutsch, 1868, Seite 199, Anm. 22), daß Dante die Höllenfahrt des Odysseus mit der ihm von Teiresias prophezeiten späteren Reise dunkel vermischt habe. Diese sogenannte Vermischung brachte jedoch
das angegebene Novum eines Meer-Faust, die Welt zu sehen und alles zu erkunden, bis zu dem Berg hin, den kein Lebender betreten darf. Dagegen kehrt Homers Odysseus von seiner bloßen Poseidon-Wanderung wieder ins alte Ithaka zurück, und der Tod trifft ihn, nach /(1205) der Weissagung des Teiresias, als wohlhabenden Herrscher und Familienvater inmitten seines Volks (Od. XXIII, 281ff.). Die Odyssee selber war zu Dantes Zeit im einzelnen fast unbekannt; nun sprang bei Dante in das allgemeine Bild dieses Seefahrers das neue eines Atlantikversuchers. Non plus ultra stand auf den Säulen des Herkules, so überfährt sie Dantes Odysseus, so stellt er eben, in höchst erstaunlicher Weise, eine Vorwegnahme der Kolumbusfahrt dar. Daß dieser Odysseus - Amerika entdeckt hat, sozusagen, geht aus der Fahrtrichtung hervor, wenn auch noch nicht aus der Bestimmung mondo senza gente, welche sich in der mittelalterlichen Geographie auf die ganze unbewohnt gedachte Erde südlich des Äquators bezog. So freilich auch aufs tiefere Afrika: 1291 war eine Expedition unter Vivaldi von Genua über Ceuta hinausgesegelt, um Afrika zu umschiffen, und umgekommen; dies zeitgenössische Heroentum könnte Dante seinem Odysseus beigelegt haben. Aber der Deutung auf Afrika widerspricht außer der Westrichtung, diretro al Sol, die betonte Kühnheit der Traumfahrt, die fünfmonatige Einsamkeit, die Abwesenheit jedes Küstenblicks. Es ,widerspricht zuletzt, daß Dante den Fegefeuerberg auf einer Insel lokalisiert; der riesige Kontinent Afrika, auch in seinem Südteil als zusammenhängend gedacht, konnte keinesfalls als Berg im Meer auftauchen. Das Fegefeuerland liegt auf der anderen Erdhälfte, nur diese Ferne ist der Kühnheit und Grenzüberschreitung angemessen, womit Dante den späten Odysseus ausgestattet hat. Keine Nachricht von der Entdeckung Amerikas durch den Grönländer Leif Erikson, dreihundert Jahre vorher, konnte nach Florenz gedrungen sein; sie war selbst in Grönland bald vergessen. Wohl aber kommt aus der römischen Antike ein auffallenderGriff über den bekannten Erdteil hinaus, enthalten in einer Stelle Senecas, auf die sich Kolumbus oft berufen hat (vgl. Seite 905). Sie war nachweisbar auch zu Dantes Zeit bekannt, die Chorstelle aus Senecas Medea: »Venient annis saecula seris / Quibus oceanus vincula rerum / Laxet et ingens pateat tellus / Thetisque novos detegat orbes / Nec sit terris ultima Thule.« Dantes Odysseus wurden also die künftigen Jahrhunderte zugeordnet, die Seneca angibt: »worin der Ozean die Bande zerreißt und der Erdkreis offen steht, worin die Meergöttin Thetis neue Länder enthüllt und Thule nicht /(1206) mehr das Äußerste auf der Erde sein wird«. Odysseus hat selber die Bande zerrissen, die ihn zum König im Winkel gemacht hätten, gleichsam zum pensionierten Kapitän. Er besitzt nicht nur die Ungeduld, die Welt zu sehen, sondern er ist diese Ungeduld, sie enthält ihm sein eigenes entschiedenes Da-Sein. Leben wird auch hier dasselbe wie durchgehaltene Grenzüberschreitung, per seguir virtute e conoscenza; Dante gibt so mitten in der mittelalterlichen Welt das frühbürgerliche Stichwort: trepassar del segno. Odysseus wurde überdies verständlich als eine Art Ritter aus unbekanntem Artuskreis oder vielmehr: mit diesem Kreis auf seinem Schiff. Er zieht nicht christlich aus, doch desto ungedeckter in eine Wunderfahrt über die bekannte Welt hinaus; sein Mut ist noch größer als der Gawans oder Rolands. Und er wirft keinen komischen Schatten wie manche der starr-erhabenen Artushelden schon an Ort und Stelle, gar wie der letzte große Träumer der Ritterfahrt: Don Quichotte. Denn das Ziel des Danteschen Odysseus: sich in Aktion zu wissen, hin zur unbekannten Erde, kann nicht, wie ein Ritterideal, veralten. In mondo senza gente, in einer Welt, die noch nicht des Menschen ist, unter Menschen, die noch nicht ihre adäquate Welt haben, steht das Ziel bevor; trotz wie wegen des schwierigen Fahrwassers. Hamlet, verschlossener Wille; Prospero, grundlose Freude So aber lebt die Angst immer neu, überhaupt nicht da sein zu können. Die äußere Not reicht dafür mehr als aus, feinere Sorgen des Bestehens wirken auf sie als Hohn. Nicht aber gründlichere, diese bleiben im schattenhaften Leben selber und auf lange begründet. Menschen dieser Art kommen, obwohl durchdringend eigen und eigentümlich, aus dem Schatten des Nicht-Da gar nicht heraus. Ihre Unruhe ist keine ausfahrende, sondern eine zerstreute, handlungslose. Hamlet gibt dafür das gedichtete Beispiel, er ist, obwohl durchaus Wille, allen Ausfahrenden die innerliche Gegenerscheinung. Der Wille, seinen Mann und sein Jetzt zu stellen, bleibt hier verschlossen, das Gewissen treibt ihn zur Handlung, das einsame Grübeln verhindert sie. Er ist so sehr sein eigener Gefangener, daß auch der Auftrag der Rache, sofern /(1207) er mit einer Tat verknüpft ist, die Abstands-Existenz nicht durchbricht. Hamlet ist überfüllt mit Bewußtsein im Sinn eines Abstands, eines Mediums, das weder zu sich noch zu den Dingen kommen läßt. Er ist ein konkaver, zerstreuender Charakter, zum Unterschied von allen anderen Shakespeares, die gesammelte sind. Seine Ferne vom Da-Sein macht ihn zum Freund der Schauspieler, und er selber ist imstande, Wahnsinn zu schauspielern. Seine Welt bleibt hierbei Trübe, Schwermut, saturnisches Insichgesperrtsein, sie ist diese Art Abriegelung in Potenz, nämlich der Kirchhof; nur dort wird Hamlet, der überall Verlangsamte, lebhaft, heiter und klar. Auch er ist im ganzen ein Träumer großer utopisierender Art, aber das Subjekt dieses Traums wird
durch Vorwegnahme des Ziels nicht befeuert, ja es wird nicht einmal durch zuviel Vorwegnahme (Tat-Ersatz) des Ziels gelähmt. Seine Unentschiedenheit stammt vielmehr aus einer besonderen Übertreibung des Bewußtseins-Abstands, aus jener, die hier Blässe des Gedankens heißt. Freilich muß bei dieser so berühmten wie allgemeinen Diagnose gefragt werden: wie ist der Gedanke denn spezifisch beschaffen, der hier bleicht, und vor allem: in welcher Zeit taucht sein Lähmendes auf? Es ist die Zeit, die »aus den Fugen ist«, das heißt die nicht einfache des damaligen Übergangs, die bürgerlich-neufeudal gemischte und gespannte. Der Mensch begann dem Menschen mehr als je ein Wolf zu sein, und der Scharfblick lehrte, auch dem höfischen Parkett zutrauen, wie man Nattern traut. Die angegebene Blässe des Gedankens ist gewiß nicht die der frischen bürgerlichen Ratio zur gleichen Zeit, nicht die der Renaissancegedanken von der Art eines Bruno oder des höchst ungelähmten Bacon. Wohl aber entspricht die Philosophie Hamlets weitgehend den Stimmungen der Nacht, ja des Nichts, die den Manierismus erfüllten, als den zerrissenen Lebens- und Kunststil nach der Renaissance, mitten im Barock. Zum Manierismus gehörte das Todeserlebnis dicht neben dem Leben; diese von dieses Gedankens Blässe beschienenen Allegorien des Memento mon gehören hierher. Eine ihrer, ein geteilt dargestellter Kopf, die linke Hälfte lebendiges Gesicht, die rechte Hälfte ein Totenschädel, gibt durchaus auch Hamlets Weltbild wieder, das gleiche, das das Insichgesperrtsein des Melancholikers nochmals, philosophisch, begründet. Denn vor dem Todes- /(1208) hintergrund des Lebens gibt es keine sinnvoll bleibende Ausfahrt und keine Aktion; der Erfüllungsort, der zugleich alles entwertet, ist eben dann kein anderer als der Kirchhof. Hier zeigt sich zugleich in Hamlets Haltung das Neumittelalterliche des Manierismus, nämlich keine Befreiung durch den in der bürgerlichen Ratio keimenden Materialismus, sondern umgekehrt ein religiöses Entsetzen vor der eigenen Irreligion. Soll heißen: das ausgelöschte Jenseits schickt dem schlecht Entzauberten einzig Kälte herüber; es verstärkt seinen Abstand vom Realen, sinnvoll zu Realisierenden auch noch kosmisch. So ist die Reaktion auf das Unpfäffische, das Shakespeares Prinz auf den hohen Schulen erfahren hat, einzig ein doppeltes Memento mon, das Leben, das Handeln total entwertend. Von daher als einzige letzte Aussicht diese, »wie ein König seinen Weg durch die Gedärme eines Bettlers nehmen kann«, oder auch: »Der große Cäsar, tot und Lehm geworden, / verstopft ein Loch wohl vor dem rauhen Norden.« Die Weltmaterie lacht hier in der Tat nicht mit sinnlicher Frische den Menschen an, wie bei Bacon, gar wie bei Bruno; sie ist vielmehr das, was Bruno erbittert abgewiesen hatte, «eine Jauchegrube chemischer Stoffe«. So lähmt dieser Glaube, als einzig negativ gewordener, vollends das Auftauchen zum Da-Sein: «Fluch und Gram, / daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam!« Und nicht nur die Privatrache für den Vater, auch die vorhandenen Pläne zur Weltverbesserung bleiben stecken; Weltekel hindert auch noch jede mögliche Annäherung ans bestandene Jetzt und Da, an die Anwesenheit beim Da-Sein. Das macht Hamlets betrachtendes Wesen aus, zugleich alle Züge einer, wie man manieristisch sagte, weinenden Betrachtung zeigend. Das bewirkt, mit dem nihilistischen Inhalt, daß Hamlet Dolche redet und sie nicht zieht, ein verhinderter Orest, ja verhinderter Reformator. Hamlet steigert mittels der weinenden Betrachtung zuletzt sogar seinen eigenen Bewußtseins-Abstand zum Abstand der Idee von der Welt, zu einem hoffnungslosen. So wird der Wille doppelt gelähmt und verschlossen, sein Unbedingtes, im allgemeinen Schein, doppelt melancholisch. Was ist noch «der geflickte Lumpenkönig, der Beutelschneider an Gewalt und Reich«, was bedeutet noch die Privatrache, zu der der Geist den Auftrag gab, gegen die Rache und Berichtigung an der ganzen Welt? An /(1209) einer Welt aber, wo alle Männer Schufte, alle Frauen Dirnen sind, wo die Erscheinung Lüge ist und der Rest Schweigen. Hamlet wird so das Paradox eines großen Träumers, der an seine Hoffnungen und Ziele nicht glaubt; eines Grenzüberschreiters, der jenseits der gewordenen Grenzen das Nichts glaubt, das schließlich zu allen Plänen wie Aktionen disparate. Das mit ganzem Einsatz betriebene Ziel ist, als selber nie aus dem Schatten tretend, zugleich das mit ganzem Einsatz vermiedene. So kommt die rettende Tat, wenn sie trotz allem geschieht, wie nebenbei und zufällig; sie geschieht als unmutiger Degenstoß in der Agonie. Der Sterbende ersticht, als er nichts mehr, nicht einmal seine Melancholie zu verlieren hat, den schuldigen König. Hamlets verschlossen-gesteigerter Abstand ist derart das Gegenspiel zum Faust-Zug, hin zum gestellten, aus der Unentschiedenheit herausgerissenen Augenblick. Der Prinz hätte sich unfehlbar höchst königlich bewährt, versichert Fortinbras und läßt die Truppen feuern. Die Bewährung stand, wie nirgends klarer, noch vor dem Da-Sein, und nirgends wird negativ deutlicher, was dergleichen gestautes Ausfahren sei und auf sich habe. Neben der Angst, nicht da zu sein, gibt es die Form, sie nicht zu bejahen. Dies geschieht im Traum, der sich mit sich selber bewegt, in entsagend schönen, grundlos feurigen Farben. Hamlet wich dem Jetzt und Da aus, aber der Prospero des «Sturm« will, daß es eben im Traum, als einem dichterischen, sich umblühe. Die eigentlich ausbrechenden Figuren der Unruhe liegen dazwischen, schmal, scharf, unbedingt, utopisch. Shakespeares Zeit kannte sie durchaus, sowohl als Abenteurer wie als Unmäßige, Phantastische, Besessene. Tirso de Molina behandelte den Don Juan, Marlowe den Faust, Cervantes schuf den Don Quichotte, aber
keinerlei Figuren aus diesem Geschlecht treten bei Shakespeare vor. Diese Figuren wären im Raum des großen Pan-Gestalters zu abstrakt, aber auch zu spitz, zu zerreißend. Sie haben nichts, wenn sie nicht alles haben, und dieses ist ein anderes als das All, ja nicht einmal notwendig in ihm enthalten; Reichtum ist nicht Unbedingtheit. Das Alles, wozu die Grenzüberschreiter drängen, ist nicht das All des Pan, dem Shakespeares Fülle gehört, mit Sättigung überall. So weithin also auch Schlegels Satz gelten mag, daß man aus Shakespeares Werken die /(1210) verlorene Erde wiederherstellen könne: die Abenteurer des Unbedingten sind gerade wegen dieser Panhaftigkeit nicht im riesig belebten Raum. Desto intensiver aber sind die Randgestalten des Unbedingten bezeichnet: Hamlet und Prospero, der verschlossene Wille hier, die grundlos funkelnde Schönheitsfreude dort, und beide vor der Nacht. Das heißt vor dem Schweigen, das Shakespeare für Hamlet wie Prospero ums Welttheater sah; hier die Grenzüberschreitung verdüsternd, dort sie gerade mit den allerbuntesten Träumen, ja Heiterkeiten umgebend. Nur: das Unersättliche fehlt, Prospero heißt auf deutsch der Begünstigte, der Gedeihliche, er ist nicht der Ringende. Zwar wurde besonders Prospero mit Faust verglichen; Zauberstab, Weisheit, gegründete Gemeinschaft aus Glück und Wert boten sich diesem Vergleich an. Aber das Faustland Prosperos erscheint ganz ohne Versuchungen und Fragen, kein Teufel streckt seinen Kopf in Faustens Einsamkeit, keine Seligkeit wird verwettet ums Liebchen Veritas, die Existenz kommt als Geschenk nach einer Flucht und bleibt im Märchenland, ohne aus ihm herauszutreten. Hier ist auch kein Richmond nötig, um Untaten gutzumachen, kein Fortinbras, um Realität zu setzen; Shakespeare übergibt ihnen dieses Amt nicht mehr. Seine drei letzten Dramen wenden sich zur »Romanze«,das ist zur märchenhaftenLösung, als wäre alles gut, zur ästhetischen Gnade: «Cymbeline«, «Wintermärchen«, »Sturm« stellen - in beständigem Traumschein - Zaubermittel zu Gebot, Unmögliches möglich zu machen. Dies Magische ist im «Sturm« eben das gedichtete Da-Sein, der Da-Schein gleichsam als fleckenlos geworden, leicht beieinander wohnend. Prospero und seine Tochter Miranda fliehen die Heimat, wo die Schlechten die Macht an sich reißen, sie flüchten in die Einsamkeit, wo die Tugend sich seiend bewahren, auch bewähren kann. Gewählt wird eine ferne Insel, im Einklang mit der alten utopischen Überlieferung, freilich nicht, um ursprüngliche Güte ihrer Bewohner zu preisen und nachzuahmen. Dazu hatte Shakespeare sich noch in «Cymbcline« verstanden, ja dort war das Drama insgesamt auf den Gegensatz einer verderbten Zivilisation zur unbefleckten Natur aufgebaut. Aber nicht einmal dort, geschweige im »Sturm« wird die unberührte Natur mit dem niederen Volk gleichgesetzt. Caliban, der Wilde, ist zugleich Ingredienz des /(1211) Pöbels, vom Tier nur durch seine Bosheit verschieden. Gerade das Schönheitsland, in seiner pointierten Leichtigkeit, kennt das niedere Volk nur als häßlich, so wie es auch im «Sommernachtstraum«, bei ähnlicher Spuk- und Geisterweise, zu Rüpelszenen dient und die Handwerker nicht einmal in der Johannisnacht verzaubert werden. Zwar preist Prosperos alter Minister einen Naturstaat, frei von Eigentum, Zivilisation und Gelehrsamkeit (Sturm, II, 1), doch Prosperos Bruder und freilich auch Räuber seines Throns bemerkt hierzu, daß mit diesem Staat nur müßiger Pöbel, Huren und Lumpen an den Tag träten. Prospero selber sieht die Calibane zur Fron geboren, nur auf voller Ungleichheit erhebt sich ihm der Idealstaat, worin die Blüten der Kultur erhalten, ihre Gebrechen ausgestoßen werden. Aber selbst diese reaktionäre, kaum erträgliche, aus Shakespeares Höfischkeit stammende Attitüde erhält sich letzthin aus ästhetischem Traumschein, aus dem Flora-Reich, das im «Sturm« wirkliches Jetzt und Da so verdeckt wie umblüht; Goethe setzte in den Helena-Szenen, gegen den Chor, mit ähnlicher ästhetischer Autarkie ganz ähnliche Ungerechtigkeit. Prospero hat seine Bücher mit sich, die besten Erzeugnisse vornehmen Geistes, und nur Wesen dieses Geistes sind zur Teilnahme an dem neuen Bund geladen. Menschen, die selber wie Kunstwerke sind, bilden ihren Exodus zu einem anderen Auszug, zum Extrakt: Kunst am Ziel. Dies edle Wasen umfaßt die Niederen nur dann, wenn sie das Sittengesetz anerkennen, das freundlich bindende; gehört doch auch das Gute zum Schönen, zur Kalokagathie im Romanzenland. Die Vermählung Mirandas und Fernandos gibt diesem Ausblick das Hohe Paar hinzu, es vermählen sich Kunst und moralische Kraft. Und Prosperos Kunst steht allemal als solche zuletzt, eine Bühne aus glühendem Da-Schein, in einer tönenden Welt. So wirken in dieser intendierten Umblühung hoher und höchster Augenblicke immer wieder Spiel und Klang. Es emergiert Traumschein schwebend, und in ihm, ohne leibhaftig betretbar zu sein, ein Schönheitsland der entronnenen Leichtigkeit, vom Luftgeist Ariel bedient. Es wirkt Kunst am Ziel und nicht als erscheinender Vor-Schein; denn wie im Hamlet ist alle Erscheinung Lüge und der Rest Schweigen, auch hier. Aber die Erscheinung gibt eben in ihrer ästhetischen Vollendung diese grundlos funkelnde Schön/(1212) heitsfreude, eine hier desto seltenere und kostbarere, als sie vor dem Hintergrund von lauter Schweigen, Schlaf, Nacht geschieht. Künstlerische Fülle ist dabei lauter Trumpf gegen den Nihilismus; dessen Schweigen ist hier freilich in nichts entwertend, ja auch nicht mehr Nihilismus, sondern Inkognito. Doch noch ein solches, daß jeder Schritt aus der Unbedingtheit der künstlerischen Fülle vom Flora-Reich ihres Jetzt und Da in ein unvermittelt Nicht-Menschliches führt. So hat hier Grenzüberschreitung ein Ende,
das Unbedingte, wie es Menschen erreichbar, geht auf als ästhetische Zauberinsel im Ozean Inkognito. Von daher Prosperos Schlußweisheit: Wie des Scheingebildes luftger Bau, So werden die gewölkumwogten Türme, Die Prachtpaläste, die erhabnen Tempel, Der große Erdball selbst und die darauf sind, Alle dereinst vergehen - hinschwinden wie Dies leere Schaugepränge, nicht ein Dunst Wird bleiben. Wir sind von solchem Stoff, aus dem Die Träume werden; unser kleines Leben Umfaßt ein Schlaf. Traum überall, lauter Gefoppte, wie selbst Falstaff sagt, und auch der edle Kreis, gerade dieser, ist umfaßt von einem Schlaf. Ist also dies gewaltige, gleißend-finstere Weltbild ein Vermächtnis aus Hamlets hoffnungslos-totalem Traum, aus seiner hoffnungslosen Hoffnung, in sich schwebenden Utopie? Ja und nein; ja, weil kein Durchbruch geschieht; nein, weil der angegebene Mangel an Sinn den magisch leichten Ziel-Schein dennoch nicht, entwertet. Hamlets Kirchhof-Melancholie kommt den raschen, blitzenden Vergänglichkeiten auf der Zauberinsel nicht nach und nahe; Prospero ist so wenig schwerblütig, daß, noch seine Entsagung moussiert. Spirits führen dies Theater auf, the baseless fabric of this vision, und lösen sich hernach wieder in Luft, gar das Paradies, das sie scheinen lassen, hat kein Fundament und keine Dauer: trotzdem kann die Ariel-Welt, worin sich Prospero und die Seinen befinden, ein Verweile-doch genannt werden, ein Verweilen im flüchtigen, doch in seiner Schönheit ruhenden /(1213) Schein-Land. Das ist kein siegreicher Halt, wie Faust ihn gesucht hat, weit über den verwandten Flur- und Geisterwesen der Helena-Szenen; die Nike Existenz hat auf Prosperos Insel keinen absoluten Fußpunkt. Dennoch wäre selbst die Entsagung Prosperos nicht so gleichgültig gegen das Flüchtige, und seine Weisheit wäre nicht so trostreich gegen das Trostlose, wenn der Traumschein, wie er hier emergiert, nicht ebenfalls seine Mächtigkeit hätte. Ja es erhellt zuletzt: die rätselhafte Leichtigkeit, noch in Prosperos Entsagung, wird keineswegs nur von Luftgeistern und Theaterlerchen bedient, sie ist am Ende durchaus nicht nur Traum- und Zaubersphäre. Selbst die Melancholie des Abschieds, wenn Prospero den Zauberstab niederlegt, geht nicht in den Schlaf, von dem er das kleine Leben wie die große Kunst umringt sein läßt; es bleibt vielmehr in dem entsagenden Ernst auch der Ernst der Heiterkeit. Dieser wird genau bezeichnet durch jene Landung, die keinen Grund hat; er wird bezeichnet durch die grundlose Freude Humor. Mit ihm bleibt Prospero letzthin doch nicht in der ästhetischen Autarkie, im Feuerspiel vor einem Nachthimmel; - Humor bleibt nicht in der Kunst, gar Illusion als Ziel. Humor ist ein anderes als ästhetische Gnade, und nimmt sein Ernst selbst das Nichts nicht ernst, so ist doch zuletzt ein Vor-Schein gerade hier: keiner der Kunst, aber des Lächelns. Dieser begleitet rätselhaft entlegene, nirgends garantierte Landung; mit der gänzlich unbesessenen im Besitz kann der Zauberstab weggelegt, der Luftgeist Ariel entlassen werden. Es bleibt trotzdem keine Verzweiflung, es kommt Leichtigkeit, geschieht Verweilen - nicht bloß in einem Schönsein, das vom Nichts nicht widerlegt wird, auch in einem Glauben, vor dessen Skepsis selbst das Nichts nicht stimmt. Am Eingang oder Ausgang Prosperos steht so grundlose, ungarantierte Freude; nur Mozart hätte die Musik zu ihr schreiben können. Ein Eingang ist in diesem Ausgang, wobei keine Erscheinungen mehr laufen und das Nicht-Erscheinende, vor großer Feinheit, auf Blitz und Donner der Erfüllung verzichtet. Aber alle Figuren der Grenzüberschreitung: Jugendfeuer, Odysseus, Faust und auch der tief zielende Humor Prosperos wollen aus dem Jenseits des Wunschs in sein Diesseits. Ins Augenblickmächtige, wo mehr als der gerade gegebene Tag gepflückt wird, in die Mächtigkeit eines /(1214) eroberten Da-Seins. Eines stufenweisen Heraustretens aus der Erscheinung, wie gerade der alte Goethe sagt, nämlich hinein in die rechte, seiende, mächtig-leicht gewordene. Wobei die feinen, tiefen Berührungen, die genau der Humor mit dieser Mächtigkeit unterhält, gar nicht mehr erobernd wirken oder auch nur laut. Im Gegenteil, sie wirken flüchtig-fein, wie Ariel in der dicken Welt selber, sie wirken mit unpathetischer Anmut.
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LEITTAFELN ABSTRAKTER UND VERMITTELTER GRENZÜBERSCHREITUNG, ANGEZEIGT AN DON QUICHOTTE UND FAUST Was gibt ein Schiff, das zwischen Himmel und Erde schwebt, nicht für weite Sphäre zu denken. Das flatternde Segel, das immer wankende Schiff, der rauschende Wellenstrom,
die fliegende Wolke, der weite, unendliche Luftkreis! Auf der Erde ist man an einen toten Punkt angeheftet und in den engen Kreis einer Situation ein geschlossen. Herder, Reisejournal 1769 Nun kommt es aber in der Praxis des Lebens weit mehr darauf an, daß das Ganze gleichförmig gut, als daß das Einzelne zufällig göttlich sei - und wenn also der Idealist ein geschickteres Subjekt ist, um von dem, was der Menschheit möglich ist, einen großen Begriff zu erwecken und Achtung für ihre Bestimmung einzuflößen, so kann nur der Realist sie mit Stetigkeit in der Erfahrung ausführen. Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung Der spanische Humanismus begnügt sich nicht mit dem Wahlspruch: Nihil humani mihi alienum. Von der Forderung, daß nichts Menschliches fremd bleiben soll, schreitet er weiter zu der Einsicht, daß alles Fremdartige, Sonderliche und Wunderbare uns menschlich berührt. Voßler, Einführung in die spanische Dichtung
Der gärende Wille Die schwache Art träumt nur, bleibt in sich. Die mutige handelt, ihre Kraft geht nach außen. Aber wenn der Mutige nicht bloß /(1215) um sich schlägt, hat auch er seinen Traum. Er setzt Wünsche und Ziele, die vorerst nur in seinem Kopf sind, nach außen um. Das aber wirkt oft ins Leere, weil keiner allein ist, weil das Leben lange vor ihm schon angefangen hat. Weil Jugend nicht das Alter besitzt, also weder erfahren hat, was ist, noch auch, was außerhalb ihrer werden will und kann. So wird die Tat dort am einsamsten, wo sie am allgemeinsten sein möchte. Ein Saft, der gärt, kann nicht sogleich klar sein. Und auch ein mit dem Draußen noch unvermittelter Wille, ein mit sich gärender, bleibt trüb. Je unbedingter er derart ist, desto mehr steckt er anfangs im Spleen. Eben dort, wo unvermittelt angefangen wird, besonders im kurzschlußartigen, gar quichottehaften Ausbruch späterer Jahre. Wo ein Mann aufholen will, was er versäumt hat, wo ein ganzes Leben, ein bisher laues, ausgewechselt werden soll. Wo eine Liebe erscheint, die alles wieder neu macht, aber auch ein Ziel, auf das nicht nur unvermittelt, sondern auch unabgelenkt zugegangen werden mag. Und es erhellt hier schon: indem solch Unvermitteltes zugleich, wenigstens streckenweise, sich auch als Unabgelenktes geben kann, ist die Sache nicht einfach, sie ist mit dem Spleen nicht erschöpft. Zwar ein nur unvermitteltes Handeln ist nichts als abstrakt, und seine Niederlage wirkt meist lächerlich. Aber hat es teil an unabgelenktem Handeln dazu, so gibt es sich als abstrakt-moralisch, und seine Niederlage wirkt meist ergreifend. Doch freilich: vermitteltausgeglichenes Handeln ist dafür imstande, auch objektiv-moralisch zu sein und erst recht grenzüberschreitend, nämlich nicht ins Leere oder Abgelaufene. Es ist weniger heldisch in der Auslage, doch männlicher im Hieb; es hat weniger Blüte, aber mehr Frucht. Trotzdem ziehen die unvermittelten Träume, eben soweit sie unabgelenkte sind, beständig an. Denn sie wirken nicht nur als Warnung, auch als Mahnung: die Dinge nie zu nehmen, wie sie sind. Obwohl sie, bei Strafe des Untergangs, und zwar eines vermeidbaren, also lächerlichen, durchaus genommen werden müssen, wie sie sind, nämlich erfahren, weltklug handelnd, konkret. Das Unvermittelte, mit dem Kopf durch die Wand, hat seinen Nachteil, seine Ehre und seine Jugend, das Vermittelte, mit Umblick und beherrschter Erfahrung, hat seinen Vorteil, seine Würde und Reife. Gibt das letztere Führung, so das erste /(1216) Verführung, aber auch unenttäuschten Mut und feuriges Gewissen. Darum mag hier ein sehr eindringlicher Blick auf Don Quichotte geworfen werden. Er war unter den unbedingten Träumern der unbiegsamste, also handelt er so verlacht wie groß, ist eine Warnung und eine Ermahnung zugleich. Weltfremd, alt und utopisch zieht er einem Bild nach, das teils vergangen, teils nie gewesen ist. Don Quichottes traurige Gestalt und goldene Illusion Der Mann hat es gut gemeint und ließ darin nicht nach. Wo immer aber er helfende Hand anlegt, wirft er etwas um. Sieht auch für sich höchst beschädigt drein, bietet Jungfrauen seinen mitleidreichen Schutz an, er, Don Quichotte, der selber am meisten Mitleid erregt, ein einsamer Narr. Lang, dürr, gelb, mit Backen, »die sich inwendig zu berühren scheinen«, ausgemergelt von Wahn. So hat er Haus und Hof verlassen, die dumme Nichte, das eingeschränkte Leben, um zu sein, was er geträumt, zu tun, was er gelesen hat. Im Alter, wo anderen das Fäßchen trübe läuft, wird er neu, ein fahrender Ritter, wie er im Buche steht. So wahnhaft
diese Träume sind, er führt sie aus, an Leib und Seele ein unbedingter Täter. Hat aber sich selber nur Prügel zugezogen, wie bekannt; der Mann, der keinen Spaß verstand, wurde überall zum Spaß der anderen. Der edle Traum saß ihm schlecht am Leibe, und die Welt, die wenig schöne, legte ihn gar nicht erst an. Alles an dem närrischen Helden ist halb, darin freilich entschieden. Da er sich mehr erscheint, als er ist und kann, übertreibt er sich gar ruhelos, streckt seine Länge noch über die körperliche. Gibt sich gleich drei Grafen übereinander, wobei Don Quichotte nicht der geringste Zweifel an seiner Berufung plagt. Diese Berufung aber war lauter Büchern entnommen, sie haben ihm sein unaussprechliches Verlangen und dessen Gegensatz zur ausgesprochenen Banalität ringsum erst ausgesagt. Als der närrische Punkt in Don Quichottes Gehirn zu glühen anfing, geschah es an einer Selbstentzündung von angehäuftem Lesestoff. Das bewirkte, daß auch nach dem phantastischen Austritt die Affekte literarische wurden, ja zuweilen aus lauter spitzfindiger /(1218) Nachfolge gelesener Vorfälle bestehen. So überlegte sich Don Quichotte, als ihm in einer Tatenpause die gute Gelegenheit einfällt, sich für seine Geliebte zu kasteien, ob es besser sei, Amadis in seiner Schwermut oder Roland in seiner Raserei zum Vorbild zu nehmen, und beschließt zuletzt, doch Amadis und seine elegische Einsamkeit zu wählen. Derart wurde der Junker auch weiterhin in die Vergangenheit gebracht, zum Glauben, ritterliche Haltungen, Kampfbilder, Liebesbilder, Treuebilder, Gesellschaftsformen seien auch in seiner eigenen, recht veränderten Zeit noch gültig. Der Caballero fährt grundsätzlich ohne Geld aus, nicht bloß weil er keines hatte, sondern, wie er zu Sancho sagt, weil in keiner Geschichte zu lesen steht, daß ein fahrender Ritter je gezahlt hätte. Dem Prinzip der Barzahlung stellt sich so überall ein großes Herz entgegen, von vorgestern und aus der Anatomie der Ritterbücher. Zu seinem Unglück hält er die fahrende Ritterschaft und ihr Ideal mit jeder ökonomischen Form der Gesellschaft für verträglich. Der alte Speer im häuslichen Schirmständer oder auch Lanzengestell konnte aber selbst bei größter Tatkraft nicht mehr zum Besten dienen; was im dreizehnten Jahrhundert Geist der Zeit war, wurde im sechzehnten Gespenst, zu einer ungefährlichen, auf Spielform beschränkten Gestalt. Wäre Don Quichotte nur die Tatkraft und nicht auch der Spuk der alten Zeit, dann hätte Jensen recht, wenn er, in seinem Roman »Das Rad«, den Hidalgo gerade umgekehrt, nämlich als einen in Europa zurückgebliebenen - Amerikaner deutet. So sei er fehl am Platz, nicht weil er Rüstung trägt, sondern weil die alte Welt mit Energie und Aventiure nichts mehr anzufangen weiß: »Die Goten sind weitergezogen, roden in Connecticut und Rhode Island Wälder aus, nur Don Quichotte, ihr Bruder, lebt noch in Europa, wird daher wunderlich.« Aber die sogenannten Goten in Connecticut wurden Kapitalisten, wogegen Don Quichotte selbst im wenig kapitalistischen Spanien als Revenant auffiel, als Ritterspuk im Alltag. Mit dem Revenant verbindet sich zugleich sein ungebrochener Glaube an Zauberer und Feen, ein Glaube, den die Zeit zwar weithin teilte, aber den sie auf Hexenprozesse anwandte, nicht auf Handel und Wandel am hellen Tag. Indem Don Quichotte seiner antiquarischen Lektüre ein Jenseits auch im Alltag entnahm, ging er dop- /(1218) pelt als Gespenst um, und ein Gespenst in Fleisch und Blut wirkt irrsinnig. Der Ritter selber ist irrsinnig im Vergleich zu seiner Zeit, irrsinnig geworden an der unbegriffenen Ideologie-Veränderung, unbegriffenen Gottleere; was den Legendenrittern zu glücken schien, glückte Don Quichotte nicht mehr. Es fehlt seiner Legende das helfende Wunder, es fehlen die magischen Steine aus der Artuswelt, die zum Abschluß des schadhaften Bogens halluzinierter Vollkommenheit gedient hätten. Auch der Glaube an diesen höchsten Überbau des Mittelalters gehört bei Don Quichotte zur Romantik, und zwar zu einer desto vollkommeneren, als der Ritter das verdunkelte Jenseits noch weniger begriff als den verschwundenen Feudalismus. Der abgelegene Wohnort des Ritters tat das Übrige, die öde Hochebene von La Mancha, der »trockenen Erde« (manxa), wie die Araber diese Wüste Südkastiliens nannten. Darauf gedieh diese Weltfremde und Phantasie, gedieh Don Quichottes tropisch-utopische Ritterblume. Lebhafter war keinem Gotiker, vor allem, wenn er handelte, die Welt durchgeistert. Dickes Pandämonium rundum, und der Stern der fahrenden Ritterschaft leuchtet scheinbar vom unbewegten alten Himmel. Aber es ist weiter wahr, der Wahn lebte nicht von Lesen und Büchern allein. Er traf auf Hoffnung ohnegleichen; diese half, das kahle Feld der Zeit mit schäumenden Bildern zu bevölkern. Glaube des Unbedingten macht aus der abgestandensten Lektüre, die ihn nährt, wieder einen Glauben, nämlich einen antiquarisch-utopischen. Solch aktive Hoffnung bewirkte, daß Don Quichotte, der Leser von tausend Ritterromanen, nun selber der ehrlichste ihrer Helden wurde. Aus dem Leser des Amadis wurde er der Held eines neuen, allereigentümlichsten Ritterromans und eines solchen, vor dessen Fülle der Amadis zurücksteht. So daß Don Quichotte, indem er der Täter des von ihm Gelesenen, der Glaubensheld seiner Lektüre wurde, nun wirklich, wie Cervantes sagt, »die Hände bis an die Ellbogen in Abenteuer taucht«, in ein Buch der Abenteuer, worin nicht weniger als sechshundert Personen auftreten und leitende Figur, in dem streng handlungsmäßigen Wesen, allemal die Utopie ist, equestrische Utopie. Vor ihrem Einsatz konnte Wirkliches, sofern es ein übliches, gar ein banales war, nicht bestehen, nicht einmal wahrgenommen /(1219) werden:
Hämmel werden zu Soldaten, Wolken zu Burgen, Windmühlenflügel zu Riesen, ein halbes Barbierbecken, das in der Sonne glänzt, zum Helm des Mambrin. Der ritterliche Wunschtraum ist überfüllt von Flügelrossen und Flügellöwen, von brennenden Seen, schwimmenden Inseln und Palästen aus Kristall. Das überschreitet den bloßen sozialen Anachronismus, er ist auch archaisch-utopischer, dauernd mit dem einerkünftigen Welt verbunden, einer so edleren wie bunteren. Die vorhandenen Tatsachen, selbst wo sie von dem Phantasten nicht gänzlich umgebaut sind, wiegen dann eben nichts im Vergleich mit dem magisch-utopischen Wesen, das hier ausschließlich Wahrheit ist. Daher bleibt Don Quichotte auch durch Erfahrung unheilbar, um so mehr, als sie ihm selber oft übertrieben-, auch abgestimmt-negativ in den endlosen Prügeln, Einseifungen, Prellereien, Enttäuschungen entgegentritt. Dies Erbärmliche kommt gegen die Traumschicht, die allein einleuchtende und verschüttet-wartende, gar nicht auf: »Denn wisse, Freund Sancho, daß der Himmel mich geboren werden ließ, in unserer eisernen Zeit das Goldene Zeitalter wieder zu erwecken« (1, Kap. 20) Einmal wurde der Ritter von der Erfahrung dermaßen übel zugerichtet, daß er am ganzen Leib mit Pflastern bedeckt werden mußte und sich vor Lendenweh kaum rühren konnte. Nun aber erschien in der Dachkammer der armseligen Schenke, wohin er sich geschleppt hatte, eine Viehmagd, die zu einem Eseltreiber schlich, um sich mit ihm der gewohnten nächtlichen Kurzweil zu ergeben, und Don Quichotte streckte die Arme aus, seine trostreiche Jungfrau zu empfangen: »Er bekam sogleich ihr Hemd in die Hand, das ihm, obgleich es von Packleinen war, doch als der feinste und weichste Batist erschien. Die Glaskorallen, die sie um den Arm hatte, strahlten für ihn im Glanz der schönsten orientalischen Perlen. Ihre Haare, die Pferdemähnen nur wenig nachgaben, waren ihm Fäden des feinsten arabischen Goldes, deren Glanz die Sonne verdunkelte, und ihr Atem, der nach altem übernächtigem Salat roch, brachte ihm Gewürzduft und Wohlgerüche in die Nase. Kurz, seine Phantasie malte sie ihm gerade so wie jene Prinzessin in seinen Büchern, die, von Liebe überwältigt, in eben diesem Schmuck und Aufzug ihren wunden Ritter zu besuchen kam« (1, Kap. 16).Da Don Quichotte dort am scharfsinnigsten wird, /(1220) wo er am irrealsten ist, so geht seine Einbildungskraft auch nachher, als eine erneuerte, furchtbare und unendliche Prügelei die Verwechslung offensichtlich macht, von dem halluzinierten Goldbild nicht ab. Sondern er erfindet, statt den Eseltreiber zu erkennen, der hereingetreten war und einen so harten Faustschlag auf die Kinnbacken des verliebten Ritters niederfahren ließ, daß der Mund ganz im Blut schwamm, - er erfindet die Gestalt eines verzauberten Mohren, in dessen Hut die Viehmagd-Prinzessin stand; auch die Schenke selbst, die er schon tags zuvor als ein Schloß angesehen hatte, »mit vierTürmen und silberstrahlenden Zinnen, dem auch die Zugbrücke und die tiefen Gräben und all der Zubehör nicht fehlten, womit man dergleichen Burgen immer darstellt«, - wird zum verzauberten Kastell. Solche Umwandlungen der Wirklichkeit sind für Don Quichotte täglich Brot, ja wacht der Ritter einmal auf, befällt ihn Skepsis, was vorkommt, so tritt an die Stelle des schadhaftgewordenen Wahns nicht etwa Erfahrungswirklichkeit, sondern umgekehrt: es repariert ihn ein neuer, weit größerer Wahn. Einmal wäre der Ritter fast ertrunken, als er auf einem verzauberten Kahn eine Mühle stürmen wollte und zwischen die Räder geriet. Aber das Bad machte ihn nicht nüchtern, sondern zu dem Geist, der den verzauberten Kahn bereitgestellt hat, wird ein zweiter Geist hinzuerfunden, der den Kahn zerschellt und die Heldentat verhindert. Ein anderer skeptischer Zustand brach durch, als der Ritter zwischen zweiTaten, auf heißer Landstraße, den Wunderbericht überdachte, daß Amadis in einer einzigen Stunde zehntausend Feinde erlegt hätte. Der Ritter hält sein Roß an, Sancho Pansa hinter ihm seinen Esel, kritisches Erwachen in empirischen Maßen beginnt mit der Überlegung, daß Amadis selbst bei stärkster Schlagkraft statt der einen Stunde doch eine Woche dazu gebraucht hätte, um zehntausend Feinde mit Schwerthieben zu töten. Also setzt am Heiligtum der Gläubigkeit, an Don Quichottes Ritterbüchern selber Zweifel ein, und der Junker scheint auf dem Weg, wieder zu Verstand zu kommen, zum Verstand der Empirie. Doch im gleichen Augenblick, wo dieses droht, entdeckt Don Quichotte für sein Problem folgende Lösung: Die zehntausend Feinde des Amadis waren nicht aus Fleisch und Blut, sondern Geister, Zaubergeister, folglich von gallertartiger Be- /(1221) schaffenheit; ebendeshalb konnten die Schwerthiebe des Amadis mehrere Leiber, viele Leiber mit einemmal durchdringen, und das unerhörte Heldenstück gelang. So verstrickt die Idolatrie, gerade wenn Verstand in sie einspricht, Don Quichotte in noch viel größeren Wahn. Physis der Geister, Geisterstatistik kommen dem Heldenglauben zu Hilfe, und die Empirie hat, wie im Prügelfall, so auch in gekommener Desillusion keine Wahrheit. Noch merkwürdiger zeigt sich das gleiche in einer anderen Desillusion, indem sie keine wird; denn gibt es für abstrakte Utopie, für weltfremde Hoffnung keine Grenze, so gibt es in ihr auch keine Korrektur ihrer Phantasterei. Eben als Don Quichotte Hämmel für Soldaten ansieht, eine Schöpsenherde für fremdländisches Kriegsheer, ja bereits Wappen und Farben wahrnimmt, Kriegsmusik und Wahlsprüche an der Spitze, eben dort fehlen Hypothesen am wenigsten, um eine langweilige Welt zu verzaubern, ja eine bereits entzauberte selber wieder als Trug, sogar als besonders leicht durchschaubaren, hinzustellen. Denn als Sancho statt der Kriegsmusik nur Blöken von Schafen und
Hämmeln hört, erklärt das sein Herr als eine Täuschung der Furcht; diese sei eine Droge, die die Sinne betäubt und die Dinge nie so erscheinen lasse, wie sie wirklich sind. Und als der Ritter kurz danach, von Hirtenschleudern getroffen, im ärgsten Zustand auf dem Boden liegt, mithin von der Wirklichkeit der Hämmel und Hirten, die Sancho sah, überzeugt sein könnte, ist er keineswegs überzeugt. Konträr, er setzt immer wieder einen Zauberer als neue Droge ein: der Zauberer ist neidisch, hat die vorigen Geschwader in Schafherden verwandelt, kann aber keinesfalls verhindern, daß sie unfern von hier ihre vorige Gestalt wieder annehmen. Ihre wahre, wirkliche Menschengestalt, ein Kriegsheer, wie es einzig wert ist, der Ritter-Utopie zu begegnen. Überhaupt hat die Hoffnung, worin Don Quichotte fährt, keine kleinen Gegenstände; sie nimmt sie nicht wahr, oder sie überströmt sie mit riesig verwandelnder Halluzination. Mittelalterliches Legendenland überall, ein Fixum traditioneller, ja starrer Art, und utopischer Geist, der trotzdem darin jagt. Der Junker wird gänzlich überschwenglich im Weib, das er sich denkt. Auch dies ist zum Teil gelesen, angelesen, aber doch nur im allgemeinen Umriß und in der Rolle, die die Geliebte für /(1222) ihn spielt. Dulcineas Rolle ist, das vollkommene Mädchen zu sein, zugleich Beschützerin, zugleich Voyeuse, durch die der Ritter auf seine Taten sieht. Zum alles beherrschenden Traum, freilich auch zur Furcht des Erwachens gehört, daß Don Quichotte Dulcinea nie ganz ernsthaft zu sehen wünscht. Im ritterlichen Minnedienst ließ insgesamt die sexuelle Tatkraft nach, so auch beim Epigonen. Keine Frau galt in der ritterlichen Minne als vollkommen außer der, die man nie besessen hat; dieses Hoffen vor dem Tor, Genießen ohne Empirie wird bei Don Quichotte ungeheuerlich; denn er verkehrt lediglich mit dem Bild Dulcinea. Er rühmt an den fahrenden Rittern gerade die Idolatrie der Liebe, in der die Schöne unerreichlich steht: »Die Liebe ist ihnen so wesentlich angeboren und eigen wie dem Himmel seine Sterne« (1, Kap. ,3). Mit Sternen gibt es kein eiliges Rencontre; was bedeutet: überall sonst fühlt sich Don Quichotte dicht an der Tatwirklichkeit, wenn auch an einer seiner eigenen Vorstellung, nur im Fall Dulcinea erscheint eine überwiegend kontemplative Ausnahme. Er weicht sogar der vermeintlich nahen Dame aus, unter dem Vorwand, von ihr verbannt und ihrer Schönheit noch nicht würdig zu sein. Er ist hier so wenig aufs Da-Sein seines Traums versessen, daß er den greulichen Anblick der wirklichen Dulcinea in Toboso völlig außer acht lassen kann. Er bleibt sogar merkwürdig gelassen, als ihm eine angebliche Dulcinea, unter Schleiern und im Fackellicht, beim Herzog mit allem Glanz vorgespielt wird. Die Traumgeliebte ist so schön, daß auch die Züge einer Theaterprinzessin nicht entfernt genügen, keine Perlenaugen reichen aus, nur noch die einer Götzin: »Dulcineas Augen müssen grünen Smaragden gleich sein, schön geschlitzt, mit zwei Regenbogen statt der Brauen« (II, Kap. 11). Hier wohnt alles im Innern reflexiver, wenn auch übermächtiger Utopie, ein Phantasieren, das den Tatendrang stachelt und hinreißt, aufzehrt und ersetzt, und hört man, wie Tieck den Troubadour Jeoffroy sprechen läßt, dann vernimmt man Don Quichottes Bekenntnis: daß er seine Geliebte nie gesehen hat, aber wenn er sie sehen wird, dann muß die Wirklichkeit seine Ahnung noch übertreffen, wie es mit aller Schönheit sein wird, wenn sie sich einst schleierlos unserem entkörperten Auge zeigt. Nur daß eben bei Don Quichotte die Ahnung selber bereits ein entkör- /(1223) pertes Auge gebraucht und so für die Wirklichkeit, Dulcinea betreffend, gar kein Organ mehr bleibt, erst recht keine irgendwo nur wirkliche Frau dem Traumstern Dulcinea zugehört. Ja letzthin zeigt sich: Don Quichotte hat insgesamt seine ExistenzBewährung im Wachtraum, auch seine Tatkraft geschieht nur in ihm, auch das energische Präsent-Seinwollen im bedeutenden Augenblick geschieht ausschließlich in Idealischem als seiend. Die Hoffnungswelt Don Quichottes ist ihm bereits die wirkliche sozusagen, nämlich die der Ritterlegende und ihrer Damen; nur in und an ihr besteht Don Quichotte seine Anwesenheit, seine mit dieser Einschränkung allerdings ungemeine. Also stellt in Wahrheit auch Dulcinea, la femme introuvable, doch nicht ganz die kontemplative Ausnahme dar, als die sie erscheint; Dulcinea ist vielmehr ebenfalls Präsenz im Traum, wenn auch in dem unberührbaren des Sterns. Nur daß die Furcht vor dem Erwachen an diesem Punkt, als dem der phantasierten höchsten Vollendung, auch die wirksamste ist; wonach eben böse Zauberer am selben Punkt als Erklärungsmittel und als Funktion dienen müssen, um das Legendenland intakt zu erhalten. Als Legendenland, das der fahrende Ritter nie verläßt und das ihm als natürlicher, bereits natürlicher Zustand der Dinge erscheint. Der Augenblick im Sinn Fausts, als Landung eines Unbedingten und seiner Intention im präsent Unbedingten, ist so für Don Quichotte, während seiner Utopiezeit, überhaupt nicht als Intentionsgegenstand vorhanden, sondern stets als vermeintlich wirklicher, im Paradies der Schwärmerei, die das Intendierte selber als Erfüllung halluziniert. Er wird, mit freilich höchst ergreifendem Ton, nur einmal berührt: genau am Ende der Traumfahrt, paradoxerweise genau in der Katastrophe des Erwachens und auf dem Sterbebett. Dann also, wenn endlich eine empirische Selbstidentifizierung durchbricht, statt der dauernd antiquarisch-utopisch überströmten, sagt der sterbende Ritter: »Ich bin ein Narr gewesen, aber jetzt bin ich bei Verstande; ich war Don Quichotte de la Mancha, aber jetzt bin ich Alonzo Quixano der Gute.« Alonzo el Bueno: es ist die stillste, erschütterndste Bezeichnung; nicht nur ein Wahn, auch ein Inkognito in ihm werden
mit der Sterbeszene gelichtet. Bis dahin war überall Präsens und nirgends, soll heißen, das Schein-Präsens eines verschüttet-vorhandenen, trans- /(1224) zendent-vorhandenen Himmels im Traum. Dessen Wirklichkeit: Legenden-Utopie als Sein und Sein bereits wie Legenden-Utopie, war für den Junker, wie bemerkt, lediglich durch anormale Feindes- und Dämoneneinbrüche vorübergehend außer Erscheinung gesetzt. Selbst Dulcinea, la femme introuvable, muß nicht gesucht, gar beschworen, sie muß nicht einmal entdeckt werden; nur das Hindernis gehört aus dem Weg geräumt, das sich zwischen das schönste Jetzt und Da und seinen Ritter geschoben hat. Das völlig Gelungene ist vorhanden, im Wachtraum und der ihm überkommenen, von ihm überströmten antiquarisch-utopischen Welt. So hat Don Quichotte die unhaltbarst gewordene Beziehung für sich wieder hergestellt, die Beziehung zwischen Antizipation und Vergangenheit, zwischen Hoffnungskraft ohnegleichen und dem taub gewordenen Himmel einer tot gewordenen Ständewelt. Das Heldenstück von Güte, der Riesentraum einer künftigen Welt wurde in den Überbau des Mittelalters eingeschichtet, ins fixe, lediglich verhinderte Jenseits. Daraus entstand Karikatur von Utopie - sich selbst ein Pathos, anderen eine Komik, praktisch eine Prügelgeschichte des abstrakt Unbedingten. Don Quichottetum ist ein Bezug, der nichts lernt und nichts Verändertes anerkennt, der nirgends vermittelt ist, der übersieht, daß sich die mittelalterlichen Zeiten verschoben haben, selbst in Spanien und gerade in dessen gesundem, lachlustigem, ironiekundigem Volk, und der deshalb, wegen seines abstrakten Idealismus, die Karikatur eines phantasma bene fundatum und seines konstitutiven Inhalts darstellt. Der Inhalt ist Güte, ja Goldenes Zeitalter, wie Don Quichotte selber sagt, aber der Weg dazu hin geschieht hier mittels der tollsten und geprügeltsten Abstraktionen, die die Welt kennt. Darin, in diesem Zusammenstoß besteht Don Quichottes Irrsinn, daraus stammt sein traurig-komisches Schicksal. Er ist der größte gedichtete Utopist, aber zugleich sein Zerrbild; und Cervantes hat ihm in erster, vorderer, vordergründiger Reihe lauter Spott mitgegeben. Dieser enthält gewiß nicht das letzte Wort, dafür bleibt Don Quichotte ein zu ergreifendes Beispiel utopisch-tätigen Gewissens, ja einer der Initiatoren in Utopie, mit riesigen Wolkenburgen über der Ebene, doch der Spott macht kenntlich, was ein lediglich abstrakter Traum an- und ausrichtet. Selbstübertreibung, /(1225) antiquarische Lektüre und ihre Nachfolge, Hoffnung mit dem Kopf in Legende, Tatkraft in dauernden Abstraktionen: das alles vereint sich zunächst zur Warnung vor dem Löwenritter aus Utopie. Zu ihm also gehört jeder Traum, der überschlägt und sich ungenau hält. Jeder Wille nach einem überschreitenden Leben und ganzen Dasein sieht derart an Don Quichotte seine Gefahrzone und die Seite eines verrückten Absturzes. Nicht das Überholen macht den Wahn, wohl aber dieses, daß das Überholen ins leer Übertriebene geht und ohne Achtung auf die Hemmungen, ohne Bündnis mit den Triebkräften der Zeit vor sich. Denkmäler Don Quichottes könnten in sämtlichen Boheme-Vierteln stehen, er ist der unzulänglichen, der sich täuschenden Größe ihr Patron. Dieser Don Quichotte, aus dem Harmlosen ins Reaktionäre, dann reaktionär Furchtbare gebracht, lebt aber auch in den politischen Schwindel- und Maskenbällen der neueren Zeit, in politischer Romantik insgesamt. Mit historischem Kostüm und jener Ritterrüstung, die nicht mehr nur den Bedrängten beisteht, im Gegenteil. Da vertragen sich die Feudalzauber: Treue, Ehre, Führer, Gefolgschaft - zwar nicht mit der ökonomisch-sozialen Tendenz, wohl aber mit Rauschgold und Betrug. Auch Sancho Pansa, wenigstens der so leicht verführbare, wenn auch nicht der spätere Statthalter mit so viel gesundem Menschenverstand, auch Sancho Pansa als Glaubender wie als Objekt des Betrugs hat dann seinen Platz, seinen zeitgemäß umgeformten. Nicht grundlos wurde der hausbacken-pfiffige Kleinbürger zum Knappen des wahnsinnigsten Menschen; gerade seine Utopie (ihm schwebt stets ein Beutel voll Dublonen vor Augen, und er möchte ihn auf schnellste, auf kürzeste Art erlangen) macht ihn zum Gefolgsmann der Trugromantik. Die Hausbackenheit allein schützt vor Torheit nicht, ja sie fällt, wegen ihrer Kurzsichtigkeit und wegen der Leichtgläubigkeit, die teils aus Unbildung, teils aus ungeregelten Vermissungen stammt, besonders leicht falschen Propheten zu. Im Original, bei Cervantes, fällt Sancho Pansa einem falschen Propheten zu, der selber ohne Falsch ist, einem Verführer mit reiner Seele; in der Wirklichkeit wurden gar viele sympathische Biedermänner zur Beute von Betrügern und politischer Mystifikation. »Don Quichottes Wiederkehr« /(1226) lautet in diesem Betracht ein bemerkenswerter Maskenball- und Waissagungs-Roman Chestertons: die Wiederkehr wurde zum Helfer des Faschismus, politische Romantik wurde drapierte Ausbeutung, ja Chloroform. Aber nun, von ganz anderer Seite her, von der Seite abstrakter Reinheit, ist Don Quichotte sinn gemäß wieder der Schutzpatron ehrlich-abstrakter Sozialidealisten. Sofern diese Hohes, meist allzu Hohes ins Niedere zerren um moralisch zu heilen, gar umzustürzen, was nur wirtschaftlich, im homogenen Schmutz der Sache anzupacken ist. Der siebenarmige Leuchter ist nicht dazu dienlich, auf die Abtritte der Welt mitgenommen zu werden; id est: Sozialideale können nicht unter Profitmachern gepredigt werden. Muß auch die revolutionäre Arbeit das Ganze und Höchste ihres Ziels jederzeit gegenwärtig haben, um mehr als Reform zu sein, so entsteht doch die bessere Gesellschaft nicht aus Schwärmerei oder aus Ideal-Propaganda von oben herab. Nicht aus einer
reinen Seele ohne Einwohnerschaft in den Bewegungen der Welt und ohne Kenntnis der weniger reinen Interessen, die die Welt bewegen. Derart waren und sind auch fast alle idealistischen Sozialutopisten aus Don Quichottes Geschlecht, vorzüglich solche, die den Machthabern verschollene Ideale ins Gewissen riefen. In der Dichtung gehört Marquis Posa hierher, vollkommen auch Gregers Werle aus Ibsens »Wildente«: eine Don Quichotte-Gestalt unter anderen Sternen, ideale Forderungen einkassierend ohne Blick für die insolventen, ja verschwundenen Schuldner. In der Geschichte rücken selbst so große Utopisten wie Fourier und Owen dem Don Quichotte-Wesen, im Punkt der Abstraktheit, nahe. Als Organisatoren einer besseren, wenn auch nicht antiquarisch besseren Welt, die unvermittelt, mit abstraktem Bauplan, in der alten eingesetzt werden soll. Marx war gerade wegen dieser Art Utopie gegen Don Quichotte empfindlich geworden; der Caballero wurde bei Marx als ganze Weltanschauung und als ihr Schicksal erfaßt. Eben in dem Sinn, wie Marx sagt, daß bereits Don Quichotte den Irrtum gebüßt habe, die fahrende Ritterschaft mit allen ökonomischen Formen der Gesellschaft für gleich verträglich gehalten zu haben. Wozu noch Marx Don Quichotte als eine Inkarnation des falschen Bewußtseins darstellt, der Weltinterpretation durch abstrakte Prinzipien. Und es ist Abstraktheit, /(1227) welche den sinnreichen Junker letzthin sogar als poetische Unbedingtheit einzigartig macht - in lehrreichem Gegensatz zur anderen Traumgestalt der Ausfahrt, zu Faust. Auch Faust war ruhelos, überdrüssig und voll unsicherer Ahnung, aber er sucht sich mit den Gegenden auszugleichen, durch die er fährt, er kräftigt und belehrt sein Subjekt an ihnen. Seine Zaubermantelfahrt durch die Welt stellt sich als fortschreitende Konkretion dar, der Zaubermantel wird zum Vehikel des Findens und Lassens, der gegenständlichen Durcherfahrung. Trotzdem gibt Fausts Wille zur vollen Existenz davor nicht nach, er kapituliert nicht, der große Augenblick wird niemals mit seinen Fußspuren im Schmutz, nicht einmal mit seiner Legende oder seiner Kathedrale verwechselt. Don Quichottismus dagegen bleibt fast überall in der Vor-Welt, sei es der Boheme, sei es der politischen Romantik, sei es der idealistischen Utopie; der Traum landet hier nicht oder nur kurze Zeit, als mißbraucht oder legendär. Im Traum des Unbedingten lebt zwar, besonders bei Don Quichotte, das vollkommen religiöse Gewissen, daß das Gegebene nicht das einleuchtend Wahre sein kann, daß über der vorliegenden Tatsachenlogik noch eine verschollene und verschüttete Evidenz gilt, in der erst die Hoffnungs-Wahrheit, als Welt für uns, wohnt. Doch im Don Quichottismus als Methode sinkt auch die Leidenschaft der Reinheit, welche eine ihr angemessene Welt herausführen will, ins Harmlose oder Aufgespreizte, ins Unwesentliche und Extravagante zurück. An den lustigen Streichen des sinnreichen Junkers soll damit keine Pedanterie verübt werden, es sei denn die, welche Cervantes in so zahlreichen humoristischen Exegesen selber begeht. Überall ist es der Dunst eines unzuständigen Trauminhalts, wodurch ein herrlicher Mensch und eine goldene Intention sich in Komik verlieren. In Komik an Ort und Stelle, in politische Romantik nachher, wenn das Monopolkapital Rüstung anzieht und Industrieritter sich als Himmelsritter geben. Vieles an dem Junker sieht wehmütig her, und doch läßt sich darüber lachen. Desto sicherer, je größer er das Seine meint und je dicker er es treibt, im ganzen Gehaben und Vorhaben. Der großartige Auftritt, ja der bedeutende Hintergrund sind bei jedem komischen Eindruck wichtig; ohne bedeutendes Ziel und entsprechend klägliches Zurückbleiben gäbe es keine komische /(1228) Wirkung. Daher sind Äpfel, indem sie sind, was sie sind, nicht komisch karikierbar, wohl schon Tiere, indem sie in der Linie zum Menschen liegen oder wenigstens so betrachtet werden können, erst recht aber halb heroische Menschen, Ritter von der traurigen Gestalt. Darüber lacht nicht bloß der Spießbürger, mit der Hämischkeit und Schadenfreude, die beim Unglück und Untergang eines problematisch bedeutsamen Typus auf ihre Kosten kommt. Es lacht auch ein sich anders sicher fühlender, ja frommer Zug im Menschen, einer, der das Ziel zu ernst nimmt, um Don Quichottes als seine Kämpfer ernst zu nehmen, kurzum, der auch die ehrlichen Spiegelfechter nicht erträgt und ertragen darf. Was Don Quichotte selber meinte, haben die echten Ritter schon besser gemacht, also ist es überflüssig. Was Don Quichotte mit dem Hintergrund seiner Träume meinte: das Reich der Gerechtigkeit, wurde durch abstraktes Herzklopfen für das Wohl der Menschheit nie befördert, oft diskreditiert; denn unwissender Edelmut ist diesem Reich kein Kämpe. So läßt auch Don Quichottes ergreifender Tod die Komödie nicht vergessen, die er aufgeführt hat. Er weiß sogar nun selber, daß er ein komischer Held war, hört dadurch freilich auf, einer zu sein; denn nur der tragische Held weiß und erträgt es zu wissen, daß er tragisch ist, der komische Held weiß es nie, oder kommt es ihm zum Bewußtsein, so hört auch für den Zuschauer die Komödie auf. Doch eben die gesamte Komik seiner vorhergehenden Aufführungen bleibt; durch den Abfall der Narrheit vom sterbenden Don Quichotte, wie Cervantes es darstellt, mit einem Ernst, der Tränen schafft, rückt Don Quichotte nicht von selbst ins Tragische. Dafür freilich ins Trauerspiel: Mitgefühl, weinende Betrachtung, schmerzliche Sympathie werden an diesem Ende für ihn frei. Für Alonzo Quixano den Guten, wie der Sterbende sich nun nennt, für das edel schutzlose Opfer so unendlicher Quälereien, Gemeinheiten, Enttäuschungen in dieser Welt. Don Quichotte läßt sich trotzdem
als partikulär-komisch fassen im vollen lieblosen Messungsvergnügen zwischen Wollen und Können, Richtung und Ziel. Dem Ganzen nach geht ein sich herrlich, heroisch gebärdender Mensch im Ulk seiner Übertreibungen und Narrheiten unter, ein Täter ohne Taten, ein Versucher ohne Antwort. Indem es der hilfreiche Junker also treibt, indem Don Qui- /(1229) chotte nichts beherrscht, von den kleinsten Bagatellen zermahlen wird und trotzdem zuletzt nichts anderes erfährt, als daß sein übertriebenes Ich in der bloßen Wahrheit seiner Leere, sein Messiastraum in historischer Gespensterbeschwörung untergeht, vermag dieser zurückbleibende, von der Erde wie dem Himmel zurückgestoßene Charakter nichts als ein ungefährliches, niemanden vertretendes, komisches und darin beschämend geschontes Agieren vor dem unbewegten Nichts, vor dem nicht einmal blinzelnden Löwen des Schicksals vorzuführen. Fast alles Erhabene geriet hier zur Narretei und zur Chimäre, wenn auch zur Narretei eines vollen Daseins und zur Chimäre eines messianischen Ideals. Und doch ist über den verwickelten Mann noch nicht das letzte, treffendste Wort gesprochen. Keine Gestalt scheint so sehr aus einem Stück, aber keine wird doppelsinniger, wenn sie lange beschaut wird. Zum Gelächter tritt der Glanz, der von Don Quichotte ausgeht, und er wird vom Gelächter, ja von der Warnung nicht nur widerlegt. Der Junker ist ein halbgescheiter Narr, ein sehr durchbrochener, mit lichten Zwischenräumen im Kopf. Er handelt innerhalb seines Wahns überlegt, ja er verblüfft zuweilen durch nüchternes Urteil, fast als wäre der Wahn nur vorgetäuscht. Don Quichotte sagt auf dem Sterbebett, als er von Sancho zu weiterem ritterlichem Unsinn erinnert wird und die Umgebung das schonend mitmacht: »Sachte, ihr Herren, in den Nestern vom vorigen Jahr muß man heuer keine Vögel suchen« (II, Kap. 74).Er nahm mit diesem Satz die ganze spätere ökonomisch-soziale Widerlegung seines Rittertums vorweg. Er sprach den Satz zwar erst, als er zu Verstand gekommen war, aber hat Don Quichotte nicht auch vorher von mehreren seiner Paradiesvögel gewußt, daß sie durchaus nicht im Neste sind? Er holte sie aus der Vergangenheit, aber aus ihr doch nur deshalb, weil diese ihm menschlicher und menschenwürdiger erschien als die von Ritterlichkeit entblößte Gegenwart. Don Quichotte zieht aus der Feudalzeit ja nicht den geheiligten Zehnten hervor und seine Ideologie, wie die politische Romantik, er sah in der fahrenden Ritterschaft von einst ein immerhin edleres Leitbild als im /(1230) keimenden Bourgeois. Die spätere Bourgeoisie hat in ihrer noch revolutionären Kampfstellung gegen das »finstere Mittelalter« Cervantes durchaus zum Liberalen verwandelt, und sein ironischvordergründiges Vorhaben: »die fabelhaften und sinnlosen Geschichten in den Ritterbüchern allerWelt zum Greuel zumachen« - wurde verabsolutiert. Ein anderes ist es gewiß, wie auch Marx das nahelegt, vom Gewissen konkreter Utopie selber gegen Don Quichotte zu sprechen, sowohl gegen sein Antiquarium wie vor allem gegen sein abstraktes Apriori. Aber dann doch nicht deshalb, weil der fahrende Ritter kein Hegelianer war, oder in der Art, daß der utopische Raum selber verlassen wird. Konträr, die humoristische Kritik geschieht wie endet allemal, wenn sie etwas taugt, am utopischen Willens- und Unbedingtheitswesen; so auch, doppelbodig oder hintergründig, beim großen Traumdichter Cervantes selbst. Dies Ineinander von großer Belustigung und großer Wehmut, ja von Warnung und Verpflichtung zugleich hat sich auch an den Don Quichotte-Betroffenheiten der Folgezeit immer wieder geltend gemacht. Als ein spanischer König vom Fenster seines Schlosses einen Mann sah, der sich beim Lesen vor Lachen bog, sagte er: der Mann ist entweder verrückt, oder er liest den Don Quichotte. Aber Dostojewskij bemerkt, von einem anderen Fenster und einer anderen Aussicht her, den Don Quichotte betreffend: »Wenn es zum letzten Gericht geht, wird der Mensch nicht vergessen, dies traurigste aller Bücher mit sich zu nehmen.« Beide Reaktionen sind richtig, und als letzte oder vorletzte kommt noch die melancholischfrenetische hinzu, wie sie André Suarez ausgedrückt hat: »König der Edlen, Herr der Betrübten, gekrönt mit dem Goldhelm der Illusion, noch keiner vermochte dich zu besiegen, denn dein Schild am Arm ist ganz Phantasie und ganz Edelmut die gefällte Lanze.« Und ein Kant, dem schwerlich irgendwelche Neigung zur Ritterromantik zur Last gelegt werden kann, spürte sich durchaus vom Unbedingten in Don Quichotte betroffen, so sehr, daß er, als freilich nicht vollkommener Leser, dem Dichter sein Humoristikum sogar zum Vorwurf machte. So in diesem merkwürdigen Satz aus Kants Nachlaß: »Cervantes hätte besser getan, wenn er, anstatt die phantastische und romantische Leidenschaft lächerlich zu machen, sie besser dirigiert hätte« (Werke, /(1231) Hartenstein, VIII, S.612). Sichtbar komisch wirken auf alle unbefangenen Leser die unendlichen Prügel, welche der Junker im ganzen ersten Teil seines Romans erhält, gleich dem dummen August im Zirkus. Aber im zweiten Teil, wo die Prügelszenen charakteristisch verschwinden, dreht sich auch im Leser die Heiterkeit um, welche sie einesteils mit Recht erregten. Denn die Prügel werden nun, mit stark entlarvendem Umschlag der Quantität zur Qualität (II, Kap. 68), durch eine Schweineherde ersetzt, die über Don Quichotte hinwegtrampelt. Das geschieht nach der Lossagung vom
Rittertum, kurz vor seinem Tod, wo die abziehende Narrheit schon keine Schutzschicht mehr bildete. Ist dies borstige Abenteuer, wie Cervantes es nennt, nun auch noch eine belustigt akzeptierbare Reaktion der Welt, gar des Welt-Hintergrunds gegen den unzulänglichen Verbesserer? Oder ist die trampelnde Schweineherde, umgekehrt, ein Synonym für den üblichen Weltlauf und für die Preisgegebenheit Alonzo Quixanos des Guten in jeder Region? Ja eine unheimliche Verwandtschaft droht erinnert zu werden, eine, die während des ganzen Berichts latent war und nun erscheint: eine Verwandtschaft dieses anderen Don Quichotte mit Jesus; sowohl was die Verspottung angeht wie das jäh eingesetzte Ideal. Don Quichotte erfährt davon eine gefahrlose und verzerrte Miniatur, trotzdem: die Fratzen um den letzten Gang Christi und die Schweineherde, Pilatus mit der belustigten Frage: «Bist du der König der Juden?« und der Herzog, der Don Quichotte als Hofnarren benutzt - sie tragen nicht durchaus verschiedene Gesichter. Ein Ecce homo ist in der verlachten Reinheit des Ritters, eine Art Reflex Christi noch in der unterwertigen Karikatur. Dostojewskij hat ohne Zweifel den Don Quichotte so verstanden, und Turgenjew, im düsteren Essay über Hamlet und Don Quichotte, deutet das borstige Abenteuer unverhohlen als »letzten Tribut, den alle Don Quichottes der gleichgültigen und frechen Verkennung zahlen müssen«. So mannigfach kann Don Quichottismus aus der Komik herausgehen, als wäre sie sowenig sein wesentlicher Teil wie die Alfanzerei der Verzauberungen und Geister. Der halbgescheite Narr, der Träumer, auf dem die Schweine trampeln, die unheimliche Erinnerung an Jesus, die Aura des Edelmuts und der Phantasie um den Ritter von der traurigen Gestalt und seine /(1232) goldene Illusion: es sind lauter Changierungen dieses komischen Helden, die aus der Warnung die Ermahnung, das nicht zu Vergessende hervortreten lassen. Die Komik bleibt, auch die in ihr implizierte Verwerfung, doch an ihrem Ende kommt ein Abendrot, das Don Quichotte sehr ernst beleuchtet. Ja ein Morgenrot, wider alle antiquarische Abrede; und in ihm steht utopische Grundgestalt katexochen, mit allen Gefahren, allen Vermächtnissen der Überholung und Unbedingtheit. Grenzt doch die konkrete Utopie sich ebenso scharf gegen die abstrakte ab, wie sie deren Grenzleben und Wachtraumkraft ehrt. Also kommt es nicht nur darauf an, für wie verrückt man den Junker hält. Sondern für wie korrekt man die Tatsachen hält, in die und gegen die er reitet. Er kämpft auf verlorenem Posten, gewiß, aber ist das Gelächter, das ihn umgibt, wirklich ein Triumphgeschrei des Lebens? Die beginnende Bürgerwelt, gegen die Don Quichotte mit eingelegter Lanze anrannte, ist nicht so herrlich, daß auch ein sinnloser Kampf unverständlich wäre. Die Ritterzeit war etwas edler, weniger entfremdet, mehr noch: Don Quichotte erscheint im zweiten Teil des Romans, am Herzoghof, nicht einmal ganz als Revenant aus dieser Zeit oder aus der Romantik über diese Zeit. Denn ist er am Herzoghof und in Spanien selber noch dicht beim nicht abgelaufenen, beim konservierten Feudalismus, bei einem korrupten Feudalismus, so leuchtet der Ritter hier fast noch fremdartiger als unter Gastwirten und Polizisten. Don Quichotte wirkt auch vor den Höflingen, vor der gemeinen Frivolität des Herzogpaars nicht nur als Narr, Hofnarr, Hof-Ulk; ja eben, sein Traum endet gar nicht feudal-romantisch. Die Blume und der Inbegriff aller fahrenden Ritterschaft, wie der Herzog Don Quichotte grinsend tituliert, hat noch einen ganz anderen Inbegriff, auch an sich selbst. Will doch dieser Phantast im letzten Grund gar nicht nur das echte alte Rittertum herstellen (obwohl das gegen seine korrupten Reste selber eine Kritik wäre). Lebt doch in seinem Rittertraum immer wieder der eines Goldenen Zeitalters: »So viel Ungebühr harrte seiner, die er abzustellen, so manches Unrecht, das er gut zu machen, Mißbräuche, denen er zu steuern, Frevel, die er zu rächen, Pflichten, denen er zu genügen hatte« (1, Kap. 2). Wie schief und untauglich auch dieser Traum lanciert war, wie leicht /(1233) er von der Welt an allen seinen abstrakt-romantischen Stellungen geschlagen werden konnte: Märtyrer einer solchen Sache sind nie ganz widerlegt. Auch bloßes utopisches Legendenland, auch die Karikatur eines phantasma bene fundatum braucht sich vor der Gemeinheit nicht zu genieren, die nun gerade das Feudalvergnügen ausmachte. Wie nichtig ist selbst die Illusion oder Kunst, womit gelangweilte Hohlheit sich ausfüllt, samt den Spuren eines verjährten Diensts unter Amors Fahne, gegen die Illusion, womit Don Quichotte sich und die Welt überzieht. Schelling sagt einmal, in seiner »Philosophie der Kunst«, die Herzogin habe, die Schönheit ausgenommen, mit der Kirke alles gemein; in der Tat ist hier alles eine Welt der Maskerade, und nur Don Quichotte wird kein Schwein. In der Tat ist das Theaterspiel am Hof völlig zynisch, ein Baden in Schaum und Schwindel; Don Quichotte dagegen, der diese Art Theater gar nicht braucht, sieht auch noch darin lauter Versinnlichung geglaubter Wunschträume. Hier ist und bleibt ihm das Wunderbare die Wirklichkeit; Schleier wie Diamantfeuer weisen in dem ihm vom Herzog vorgemachten Erfüllungstheater darauf hin, und das Traumbild überbietet beide. In ihm wohnt Dulcinea, Don Quichotte umgibt diese Imago mit einer Verehrung, die kein wirkliches Mädchen echter erfahren hat. Es ist wahr, hier ist halluzinatorisches Meinen von schauerlicher Irrealität, doch ebenso von allertreuester Idealität. Dulcinea ist unvergleichlich schöner als die schönsten Frauen, die im Leben, selbst in der Dichtung je erschienen sind. Cervantes macht also mit dieser Phantasieliebe, lauter ens perfectissimum statuierend, daß selbst noch das Ideal in eine gleichsam
empirische und in eine utopische Schicht zerfällt: und Dulcinea wohnt völlig auf der utopischüberutopischen Seite. Nur ihre Gestaltlosigkeit verhindert, daß vor Dulcinea selbst noch die trojanische Helena zum Alltag der ägyptischen herabgesetzt werde. So ist Dulcinea auch in der vorhandenen Wunschund Phantasieschicht, nicht nur in der vorhandenen Wirklichkeit la femme introuvable. Aber freilich schlägt sich Don Quichotte selber zwischen der vorhandenen Wirklichkeit und der Erfüllung einen Bogen: eben den mythischen des Legenden-Bezugs. Die Welt ist schwarz-magisch verzaubert, gerade an ihren härtesten Stellen ist sie in einen Bann /(1234) geschlagen; und keinen Augenblick zweifelt der rasende Optimist, daß der große Augenblick kommen kann und die Rinde springt. Dergleichen suchte er auf seinem phantastischen Ausritt und noch in seiner traurigen Heimkehr; Erfüllung soll sein. Der große Augenblick war auf dem Sterbebett die Moralität, während des Traumes schwebte er als Lichtung der Welt vor: »Hinter jeder Wegbiegung kann das Wunderbare hervortreten wie eine silberglänzende Nymphe.« Don Quichotte sieht zwar, in der transportablen Traumklause, worin er sich befindet, keine richtig vorhandene Welt, ist aber dafür vom Schicksalsglauben fern, vom Glauben an einen naturgegebenen oder gottverhängten Zwang. Der Quichottismus, wenn er mit Weltklugheit verbunden ist, kann derart den Löwen des Schicksals sehr erheblich blinzeln lassen; so sicher dieser Löwe vom Wahn-Elan eines bloß weltfremden Don Quichotte ungerührt bleibt. Realpolitik mit einem Schuß des auch anders verstandenen Quichottismus: dieser enthusiastische Schuß von Unbedingheit in der Klugheit des Bedingten macht nicht das Unmögliche möglich, doch er erlahmt auch nicht vor dem schwer zu Vermögenden, vor der objektiven Möglichkeit. Ja solange die Geschichtswelt aus der objektiven Möglichkeit und aus dem subjektiven Faktor besteht, wird der subjektive Faktor, um kein defaitistischer zu sein, allemal ein Element des recht verstandenen Quichottismus besitzen. Mit jener Zeit- und Weltkenntnis, die dem Narren Don Quichotte so gänzlich fehlt, mit jenem Glauben an verhinderte Herrlichkeit, von dem der Träumer Don Quichotte zu viel besitzt. Der Ausritt auf dem Klepper, mit unzulänglicher Person, grotesken Wahnbildern, vergangener Ideologie, ist und bleibt komisch. Aber der Wille, womit dies Subjekt aufbricht: «durch seinen Arm die ganze Welt vom Unrecht zu befreien«, ist ebenso groß wie die Reaktion der Welt roh und niederträchtig; und das Ziel: eine Ordnung ohne Galeerensklaven und Plattheit, ist ernst. Alle Leitfiguren der Unruhe haben einen Weg mit sich, der im Lauf der Zeit doch nicht nur schief bleibt, und das Überschreiten der gemäßigten Zone überschreitet antiquarische Ideale dazu, diesesfalls auch das Ritterideal. Selbst die sehnsuchtsvolle Hungerleiderei nach dem Unerreichlichen hat Musik des absoluten Augenblicks in sich: das Unerreichliche wird hierin durchaus als Ereignis, im präsente- /(1235) sten Sinn, intendiert. Figuren des Unbedingten setzen ihr Plus ultra daran, sie treiben als lebende Utopier ihren Traum vom vollkommenen Leben. Vermittelte Überschreitung nach Weise Fausts oder der geschehenden Erfahrung, dieser Realismus ist das Rechte; aber der andere Don Quichotte, der auch positiv gefaßte, mahnt, nachdem Faust in der Welt klüger als die Klügsten geworden war, dann auch gegen diese Klugheit zu handeln, nämlich ohne Frieden mit der bloß vorhandenen, als fertig paradierenden Welt. Verwandtes: Unrecht und Recht Tassos gegen Antonio All das fügt sich in den alten Kampf zwischen Schwärmen und Reifen ein. Herabgesetzt kann das eine den inwendig wehenden Narren, das andere den ausgeblühten, irdenen Spießer bezeichnen. Wobei sich Schwärmerei und Reife dieser Art berühren, indem sie ihr Falsches nur umgekehrt vollführen. Der Schwärmer bezieht selbst die Hunde aufs Unendliche, der Spießer bringt selbst das Unendliche auf den Hund. Der tibertreibende Schwärmer, der untertreibende Banause, beide aber sind nur Karikaturen eines ernsten Zustands, eines alternierenden Wesens. Der eine Zustand spiegelt leicht beieinander wohnende Wünsche, gegebenenfalls auch Gedanken, der andere einengende, gegebenenfalls fertig erscheinende Sachen, vollendete Tatsachen, die sich hart im Raume stoßen. Schiller pointierte das so bezeichnete Alternieren des subjektiven oder aber objektiven Faktors im bürgerlichen Menschen poetisch, am Unterschied der sentimentalischen und naiven Dichtung. Hier sind nun wieder zwei veritable Sehfelder im Wettkampf, die des idealisch überströmenden oder aber des reell erfahrenen Wesens. »Man gelangt«, sagt Schiller, »am besten zu dem wahren Begriff dieses Gegensatzes, wenn man... sowohl von dem naiven als von dem sentimentalischen Charakter absondert, was beide Poetisches haben. Es bleibt alsdann von dem ersteren nichts übrig als, in Rücksicht auf das Theoretische, ein nüchterner Beobachtungsgeist und eine feste Anhänglichkeit an das gleichförmige Zeugnis der Sinne; in Rücksicht auf das Praktische eine resignierte Unterwerfung unter die Notwendigkeit (nicht aber unter die blinde Nötigung) der /(1236) Natur: eine Ergebung also in das, was ist und sein muß. Es bleibt von dem sentimentalischen Charakter nichts übrig als (im Theoretischen) ein unruhiger Spekulationsgeist, der auf das Unbedingte in allen Erkenntnissen dringt, im
Praktischen ein moralischer Rigorismus, der auf dem Unbedingten in Willenshandlungen besteht.« So grenzen sich hier Idealist und Realist voneinander ab oder, um im Rahmen zu bleiben, ein großes Stück Don Quichotte (Unbedingtheit des Gefühls, Marquis Posa) und ein ebenso großes Stück Ausgleich mit der Welt (Erziehungsroman, ständige Abkühlung Fausts durch Mephisto, Erfahrungswesen im Faust). Das Gegenspiel zwischen Idealist und Realist, beide im moralischen Sinn, erscheint fast schillerisch in Goethes »Tasso«, hier unter dem Gleichnis von Welle und Fels. Tasso ist ganz ungebärdig, vom Drang des Innern überfüllt, blind überströmend, er nennt sich selbst Welle, aber Antonio, den Weltmann, nennt er zuletzt den festen, stillen Fels. Er rast ausschließlich seine eigenen Innenbilder aus, seine leidenschaftlichen und hochgemuten: »Beschränkt der Rand des Bechers einen Wein, / Der schäumend wallt und brausend überschwillt?« (V,4) -Tasso bleibt der Unvermittelte. Er wandelt in seinem eigenen Zauberkreise, und was vom Wirklichen in ihn hereinreicht, wird nicht als Lehre, sondern nur als Verfolgung, Verschwörung verstanden, mißverstanden. Daneben steht nun, auf festem Fuß, Antonio, neben dem absoluten Dichter tüchtig-rationierend der Staatssekretär, erfahren, zögernd, kühl, nicht ohne Hämischkeit, weltkundig. Und Tasso, im Fallissement seines Traumbilds, kapituliert vor dem Feind, der zuletzt keiner ist, findet Vermittlung an Antonio: »So klammert sich der Schiffer endlich noch / Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte« (V, 5). Hier ist der Übergang von der Hitze zur Einsicht, von der Unvermitteltheit zur Vermittlung, von der Spontaneität zur Aktion in und mit der Welt. Doch wieder unter der Gefahr eines Kompromisses: und so geht die Ambivalenz erneut an, die Alternative zwischen zwei Leittafeln; diesesfalls zwischen dem Radikalismus des Unbedingten und der Gewöhnlichkeit, aber auch der Lehre, der männlichen Prosa, der Objektivität des Weltlaufs. Schiller freilich hatte, zum Unterschied von Sinnenglück und Seelenfrieden, zwischen seinem moralisch-poetischen Idealisten und Realisten keine Alter- /(1237) native gesetzt, keine normative Begünstigung des einen mit Ausschließung des anderen. Eine Anmerkung gegen Ende der »Naiven und sentimentalischen Dichtung« bestimmt: »Gerade diese Ausschließung, welche sich in der Erfahrung findet, bekämpfe ich; und das Resultat der gegenwärtigen Betrachtungen wird der Beweis sein, daß nur durch die vollkommen gleiche Einschließung beider dem Vernunftsbegriffe der Menschheit kann Genüge geleistet werden.« Und in der Tat ist die dialektische Ganzheit, welche das Tasso-Antonio-Problem aufnimmt, vielmehr eine der Durchdringung, eine des Prophetentums plus Prozeßrealismus, wie sich in der Folge ergibt. Wobei das Unbedingte den Primat behält, sofern es nur in Prozeßvermittlung, in konkrete Belehrung und Bewaffnung eingegangen ist. Dieser Primat des Unbedingten verhindert an der Vermittlung gerade den Kompromiß, ja macht selbst temporären Kompromiß zur Weg- und Siegmethode des Rechten. Durchdringende Vermittlung ist für solch letzthin unabgelenktes Wesen allerdings unumgänglich; ihre politische Form gegen jede Art von Putschismus wie von abstrakter Monomanie ist marxistisch. Die Schwärmer jedoch mit dem isoliert-unendlichen Tasso, dem erlaubt ist, was gefällt, sind in ihrer bloßen abstrakten Unmittelbarkeit geduldlos, und die leere Freiheit ohne tektonische Tugend zerfällt anarchistisch zur Zerstörung als einer erstarrten Lust. Unmittelbarkeit, die die Gesellschaft, die die Geschichts- und Weltseiten überschlägt, um rascher zum Ende zu gelangen, wird so abstrakte Utopie in der höchsten Abstraktion. Sie ist die Eiligkeit und Weglassung, die ebendeshalb wieder in die bloße Leere der Unmittelbarkeit zurückkehren muß; im Gegensatz zur konkreten Utopie, zu Weg, Kompaß, Ordnung. Deshalb geht Faust, in diesem Betracht, auch so hoch über Don Quichotte auf, ein Subjekt der Vermittlung und ihrer Phänomenologie, ohne abstrakte Phantasterei. Deshalb steht Vermittlung, mit Situationsanalyse und dauernder Zeit-Dialektik, dauernder Subjekt-Objekt-Dialektik, so fraglos über purer Spontaneität. Die Leittafel der Vermitteltheit ist höher als die der Unmittelbarkeit, doch ist sie allerdings nur höher, sofern sie das radikale Gewissen der Unmittelbarkeit, als Eingedenken in jeder Vermittlung, sich aufgesetzt hat. Unter dieser Bedingung, in solcher Durchdringung eben und freilich /(1238) nur in ihr behält also Tasso mit Don Quichotte gegen Antonio doch das letzte Wort und wird wahr. Cervantes gab seinem Helden diese Grabschrift: »Einst zog als Popanz er ins Feld / Durch seinen Arm die ganze Welt / Vom Unrecht zu befreien«: am Popanz ist kein Zweifel, doch noch weniger ist einer, jenseits der lachhaften Mittel, am erhabenen Ziel dieser Mittel. An der Größe der Intention, an der heilsmäßigen Melodie, die hier unbeirrbar durch Spott und nicht immer diskreditierende Niederlagen zieht. Noch weniger ist ein Zweifel am Bestimmungsziel selber, am Diktat: die Welt vom Unrecht zu befreien, von ihrer Entfremdung, von der erstickenden Trivialität. Diese Art Unbedingtheit ist nicht wahr als Tun mit dem Kopf durch die Wand, wohl aber als energischste Nichtanerkennung, daß eine Wand zu sein habe. Das Luziferisch-Prometheische und die Klangschicht Der Weg ins Bessere ist vorab ein menschlicher, und das heißt hier ein kühner. Er führt aus den angeborenen Umständen heraus wie aus jenen, die um das Leben herumstehen. Mögen sie zu diesem Leben sogar passen,
sie stimmen nicht dauernd oder nur dann, wenn der Kopf nicht mehr hoch steht, sondern bei jedem Schritt nickt wie der eines Pferdes. Die Tiere sind mit sämtlichen Handlungen und Empfindungen in ihr fixes Gattungswesen und dessen Umwelt eingebaut: der Mensch kann sich darüber hinausheben. Eben die Tiere sind mit ihrer Organisation in sehr frühen Jahren fertig, und fast so fertig ist ihr ihnen zugeordneter Schauplatz, ja das ihnen zugeordnete Schicksal, in dessen gruppenhaftem Rahmen sie sich, bei aller Beweglichkeit, wie gebannt verhalten. Der Mensch dagegen ist, vom Tier aus gesehen, eine hilflose Frühgeburt, mit lange währender Bildsamkeit, lange verhinderter Ausreifung und Erstarrung, und ebenso offen wie seine Organisation bleibt seine Umwelt, bleiben die Grenzen der Menschheit. Das Tier ist fertig, wenn es die Art erhalten kann, beim Menschen fängt mit der Pubertät erst die entscheidende Entfaltung an. Das Tier ist in seine Umgebung tatsächlich wie hineingepreßt, und diese ist wieder, mit einer Entsprechung bis zur Mimikry, auf seinen eigenen Bauplan eingetragen; der /(1239) Mensch verändert seine Umwelt durch Arbeit, er selber wird erst durch diese Mensch, nämlich Subjekt der Weltveränderung. Er kann dadurch an Zusammenhang mit dem urtümlichen Menschsubjekt verlieren und noch mehr mit dem urtümlichen Naturschauplatz, in den die Tiere, jedes nach seiner Art, auf eine so verblüffende und vielfach beschützte Weise eingestimmt sind; dagegen die menschliche Geschichtschrift ist so alt und stark, daß das urtümliche Menschsubjekt und die urtümliche Umwelt, von der der homo sapiens gestartet hat und abgetrieben ist, kaum mehr bekannt sind. Die Metamorphose des Menschen, durch ökonomisch-soziale Ursachen, ist dasselbe wie die wirkliche, unumkehrbare Menschengeschichte selbst. Und die »Höchstgezüchteten« oder Fronttypen sind nicht die dekadentesten wie im Tierreich, sondern diejenigen mit der gesündesten Werdekraft: der menschlichen, als einer ins Novum hinein. Es sind die Grenzüberschreiter oder Pioniere, oft mit dem Besten, was die Menschen jeweils, gar überhaupt wollen, alliiert und seine Beauftragte. Es sind deshalb utopische Typen; und in diesem Wesen sind sie auch als gedichtete, als idealisch hingestellte geeint. Don Quichottisches wie Faustisches ist in einervorgezeichneten Feuerlinie geeint; trotz der - wie an einem Lehrstück klaren - Unterschiede zwischen Abstraktheit hier, Weltgang dort. Nur der Mensch hat die Freiheit dieses Übergangs, als eines in den siebenten Tag, wo sonst alles, außer ihm, ruht; daher können Tiere zwar dämonisch sein oder »Grenzüberschreiter« nach Art der Saurier der Jurazeit, Grenzüberschreiter ins Monströs-Tropische, aber sie können nicht - luziferisch sein, das ist Bewußtseinsmacher, Lichtschlager, Weltveränderer. Dazu gehört Aufenthalt am Übergang, an der Brücke des Übergangs und der menschlichen Aurora: zu neuen Ufern lockt dieser neue Tag, mithin ein anderer als der bisher erschienene und die Welt bescheinende. Der Mensch und seine Gesellschaft formt derart eine andere Umwelt um sich als die ihm biologisch zugeordnete; er bringt mit seiner Arbeit einen Zuschuß und Umbau ins Vorhandene oder zu ihm hinzu. Aber: immer wird bei diesem Zuschuß, soll er nicht subjekt-abstrakt bleiben, also gerade kein Zuschuß sein, ein Anschluß an Welt stattfinden. Nicht an die Welt der Gewordenheit, die wie ein Ring umgibt und beim /(1240) Tier, auch beim subjektarmen Menschen, starr ist wie die Physiognomie seines Leibs. Wohl aber findet ein Anschluß an die Welt als Weitgang und an ihre tendenzerfüllte Physiognomie statt; das wirklich Lichtbringende bleibt nie an sich oder allein. In der Charakteristik Winckelmanns spricht Goethe von antiken Menschen, und als ihr Wesen bezeichnet er »eine ungestückelte Natur, die als Ganzes wirkt, sich eins weiß mit der Welt und deshalb die objektive Außenwelt nicht als etwas Fremdartiges empfindet, das zu der inneren Welt des Menschen hinzutritt, sondern in ihr die antwortenden Gegenbilder zu den eigenen Empfindungen erkennt«. So vor allem auch in den Tendenzgestalten der Geschichte, in der Prozeßvermittlung, die dem Willen der inneren Freiheit Nahrung und dem Willen des Unbedingten Stärke gegen die Abstraktion gibt. Das Lichtbringende, Luziferische ist griechisch das Prometheische, und es formt auch das fernste regnum humanum allemal aus dem Ton dieser Welt. Wie allerdings, wenn eine noch unsichtbare Art Stoff leichter als viel sichtbarerer zu wollen und zu glauben ist? Wenn der Wille dazu, nach der Art Fausts, zwar im Weltgang sich informiert, doch ebenso, als Wille zum absoluten Augenblick, über die erreichte Sichtbarkeit hinausliegt? Bekundungen dieser Art, Bekundungen eines Quichottismus höchster Ordnung (mit Dulcinea als Erkennungszeichen) fehlen gerade im Faust nicht; er wäre sonst nicht der alles wieder Verlassende, der Drang aus utopischer Treue. Daher die Verse des Anfangs: Wer lehret mich? was soll ich meiden? Soll ich gehorchen jenem Drang? Ach! unsre Taten selbst, so gut als unsre Leiden, Sie hemmen unsres Lebens Gang. Und gleich danach die Abkehr von Stockendem in der Dingwelt: Dem Herrlichsten, was auch der Geist empfangen, Drängt immer fremd und fremder Stoff sich an;
Die uns das Leben gaben, herrliche Gefühle, Erstarren in dem irdischen Gewühle. /(1241) Sodann bei der Beschwörung der Mütter, der Gestaltung, Umgestaltung im Grenzenlosen: Doch im Erstarren such' ich nicht mein Heil, Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil; Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure, Ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure. Ergriffenheit und Grenzenloses sind sich in solch verborgener Weltüberholung Korrespondenzen; ja nur in dem, was ein Mephisto empirisch Nichts nennt, worin aber Faust sein All zu finden hofft, ist diesem unverteuerten Gefühl das antwortende Gegenbild. So steht vor der einbrechend-überholenden Intention dieser Art nicht mehr sichtbare Welt, erst recht nicht die schöne, freundliche Gewohnheit des Daseins und Wirkens in ihr: der Realist wird vielmehr zum Forttreiber höchster Ordnung. Das muß zugestanden werden, selbst Mephisto spricht, in Ansehung der hier antwortenden Gegenbilder, von Ode und Einsamkeit, von Unbetretenem, Unerbetenem, von Flucht aus dem Entstandenen, von losgebundenen Räumen, aber freilich genauso von Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewiger Unterhaltung; also bleibt auch in dieser höchstgreifenden Durchbruchsintention das Prometheische nicht an sich oder allein. Sondern sein noch Unsichtbares erscheint wieder in einem Stoff und seiner noch ganz eigenen Erscheinung. Und nicht zu übersehen, geschweige zu überhören ist: dieser Stoff des Prometheischen, all das unter Überschreitendem, Don Giovanni, Don Quichotte, Faust Bezeichnete tritt in seiner weiteren Gestalt, wenn auch durchaus noch innerhalb der Kunstwelt, nun in Musiklicht nahe. So findet sich die nächste Formation der der Vorhandenheit widersprechenden poetischen Grenzüberschreitung in der Klangschicht und ihrer Gestaltung, Umgestaltung, in den Tonfiguren, die sie einer noch so fernen Weltfigur dennoch vorauswirft. Daher das noch unbestimmte der Klangschicht, daher aber auch das merkwürdig Nahe und Festliche, wenn Faust von seinem Wunderwürdigen ein Gefaßtes zurückbringt: /(1242) Aus luftigen Tönen quillt ein Weißnichtwie, Indem sie ziehn, wird alles Melodie. Der Säulenschaft, auch die Triglyphe klingt, Ich glaube gar, der ganze Tempel singt. Er singt als unbändiger Exodus wie als Extrakt, Musik ist die utopisch überschreitende Kunst schlechthin, ob sie nun zieht oder baut. Die Klangschicht ist gewiß nicht immer unbändig, sonst könnten keine Triglyphen klingen, aber wie nirgends sonst kommen alle Figuren der Grenzüberschreitung in ihr unter, wo nicht an. Die Klangwelt ist auch im Unbändigen gewiß nicht dämonisch oder nur mit Ausnahmen (wie sie bei Berlioz, Wagner zu finden sind), sie ist kein Saurier-Exzeß im Feld der Künste, aber das Luziferische, das Prometheische nimmt sie wie keine andere Kunst auf; alle Grenzüberschreiter zum absoluten Augenblick sind ebenso Tongestalten. Die Schrift der luzifenschen Leittafel besteht aus Beethoven, die Grenzüberschreiter gehören alle zu Beethovens Reich, in Beethoven wird alle Musik zur Prometheus-Ouvertüre, weit über die frühe, anfangende hinaus, die so heißt. Dahin gehen die Grenzüberschreiter aus ihrem Moralischen über; solange die Tonschicht nicht ein Sprach- und Abbildraum sui generis geworden ist, ja ein Stück anderer Umweltbildung. Das dann erst recht mit Annäherung zum erfüllten Augenblick in sich, mit einem Haupt, das die entstandene Welt überwächst, mit der Identität des Wir und seiner Welt, worauf die Don Quichotte- wie Faust-Sehnsucht letzthin intendiert, statt der Entfremdung. /(1243) 51
BERSCHREITUNG UND INTENSITÄTSREICHSTE MENSCHWELT IN DER MUSIK Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, so wünschte ich mir weder Reichtum noch Macht, sondern die Leidenschaft der Möglichkeit; ich wünschte nur ein Auge, das, ewig jung, ewig von dem Verlangen brennt, die Möglichkeit zu sehen. Kierkegaard, Der Augen blick Der Ton geht mit uns und ist Wir, nicht nur wie die bildenden Künste bloß bis zum Grabe mitgeben, die doch vorher so hoch über uns hinaus ins Strenge, Objektive, Kosmische zu weisen schienen, sondern wie die guten Werke auch noch übers Grab
hinaus mitgehen; und zwar gerade deshalb, weil das neue, nicht mehr pädagogische, sondern reale Symbol in der Musik so sehr niedrig, so sehr nur bloßer feuriger Ausbruch in unserer Atmosphäre scheint, obwohl es doch ein Licht am fernsten, allerdings innersten Fixsternbimmel ist. Ernst Bloch, Geist der Utopie Es ist ein Überholend-Unabgeschlossenes in der Musik, dem noch keine Poesie genug tut, es sei denn diejenige, welche die Musik, möglicherweise, aus sich entwickelt. Die Offenheit dieser Kunst zeigt zugleich, auf besonders eindringliche Art, daß auch für die Inhaltsbeziehung der anderen Künste noch nicht aller Tage Abend gekommen ist. Ernst Bloch, Subjekt-Objekt, Erleuterungen zu Hegel
Glück der Blinden Sich zu kennen, dazu muß das bloße Ich zu anderen gehen. In ihm selber steht es in sich versunken, dem Innen fehlt das Gegenüber. Doch an dem anderen, woran ein sonst unsichtiges Inneres sich faßt, geht es leicht wieder in Fremdes von sich weg. Einzig das Tönen, dies, was in Tönen sich ausspricht, ist ohnehin auch auf ein Ich oder Wir zurückbezogen. Die Augen gehen darin über, und es dunkelt bedeutend, so daß Äußeres zunächst versinkt und nur ein Brunnen zu reden scheint. Er ist sehr oft der, welcher im versuchten Selbersein quillt und schäumt, dies Unruhige hört sich nun an. Als ein gestaltetes Sehnen und Treiben /(1244) an sich, als ein Lied, das einsam hinzieht oder sich mit andereo verschlingt und immer unsichtbare menschliche Züge darstellt. Glück der Blinden geht damit an, unter wie über den Dingen, die vorhanden sind. Der Ton spricht zugleich aus, was im Menschen selber noch stumm ist. Die Nymphe Syrinx Es ist dabei nicht vermeidbar, im Singen einen Ruf zu hören. Er begann als Schrei, dieser äußert einen Trieb und besänftigt ihn zugleich. Der menschliche Schrei wurde ursprünglich nur von Geräusch begleitet, von Schwirren, Trommeln, Rasseln. Dergleichen betäubt und bleibt dumpf, ein Gegenüber von Hoch und Tief entsteht, aber nirgends ein Ansatz zu fester Tonhöhe, gar Stufenbildung. Diese, also Musik, kam bescheiden, sie gelang erst durch die Erfindung der Hirten- oder Panflöte. Das handliche und überall mitnehmbare Gerät stammt aus einer anderen sozialen Schicht als die geräuscherzeugenden, schreckhaft kultischen Tongeräte. Von Hirten vorzugsweise gebraucht, diente die Panflöte näheren, menschlicheren Gefühlen und ihrem Ausdruck. Sie hat nicht Betäubung hervorzurufen oder Zauber zu wirken wie Schwirrholz, Becken oder die magisch bemalte, an sich selber magisch verehrte Trommel. Sie hält sich vielmehr, neben der einfachen Unterhaltung, auf den Stufen der Liebessehnsucht und, was gebliebene Magie angeht, des Liebeszaubers. Der Klang der Hirtenflöte, der Panflöte, der Syrinx bei den Griechen (was überall dasselbe bedeutet), soll die ferne Geliebte erreichen. So beginnt Musik sehnsüchtig und bereits durchaus als Ruf ins Entbehrte. Unter den Indianern des Felsgebirges ist noch heute dieser Glaube verbreitet: Der junge Indianer geht hinaus in die Ebene und klagt auf der Panflöte seine Liebe; das Mädchen soll dann weinen; wie weit sie auch entfernt sei. Die Panflöte hat es am Ende weit gebracht, sie ist der Urvorfahr der Orgel, doch weit mehr: sie ist die Geburtsstätte der Musik als eines menschlichen Ausdrucks, tönenden Wunschtraums. Hierüber gibt nicht nur ein Indianerglaube Zeugnis, sondern - genau an seiner statt - eines der schönsten Märchen der Antike. Ursprung und Gehalt der Musik werden in diesem Märchen lieb- /(1245) lich-allegorisch bedeutet. Ovid hat es dargestellt; danach hat sich mit der arkadischen Flöte und ihrem Inhalt Folgendes zugetragen (Metam. 1, 689-712): Pan jagte sich mit Nymphen, stellt einer dieser, der Baumnymphe Syrinx, nach. Sie flieht vor ihm, sieht sich durch einen Fluß gehemmt, fleht die Wellen an, ihre »liquidas sorores«, sie zu verwandeln, Pan greift nach ihr, da hält er nur Schilfrohr in Händen. Während seiner Klagen um die verlorene Geliebte erzeugt der Windhauch im Röhricht Töne, deren Wohlklang den Gott ergreift. Pan bricht das Schilf, hier längere, dort kürzere Rohre, verbindet die wohlabgestuften mit Wachs und spielt die ersten Töne, gleich dem Windhauch, doch mit lebendigem Atem und als Klage. Die Panflöte ist so entstanden, das Spiel schafft Pan den Trost einer Vereinigung mit der Nymphe (»hoc mihi conloquium tecum manebit«), die verschwunden und doch auch nicht verschwunden, die als Flötenklang in seinen Händen blieb. Soweit Ovid; Erinnerung an Urzeit, an Urgeschichte der Musik, als eines Pathos der Vermissung, ist in seinem Märchen gedacht, macht es unsentimental und, mit echten Allegorien, sachlich. Von Pan zu schweigen, so ist freilich auch
geographisch die Panflöte nicht in Griechenland, sondern ums dritte Jahrtausend in Ostasien entstanden, hat sich rasch über die ganze Erde verbreitet, besonders eben unter Hirtenvölkern. Aber so anmutig-tief das Bedürfnis nach Musik in dem Märchen bedeutet ist, so wahr bezeichnet es auch die kleine, folgenreiche Erfindung der menschlichen Expression Musik. Eben im Kontrast der Syrinx zu den Kultinstrumenten und Schallgeräten, zu den Geräuschen dumpfer, brüllender, heulender, rasselnder Art. In diese kultische Schallwelt dringt nun das Instrument, das eine wohlgeordnete Tonreihe hören läßt; und Ovid hat, mit der Einheit von Syrinx und Nymphe, das Ziel bezeichnet, auf das die Tonreihe, seit je ein Linienziehen im Unsichtbaren, sich zubewegt. Es ist ein widerspruchsvoll-utopisches: dies Flötenspiel ist das Vorhandensein eines Verschwundenen; was über die Grenze hinaus ist, wird von dieser Klage eingeholt, in diesem Trost gefaßt. Als Klang ist die verschwundene Nymphe geblieben, schmückt und bereitet sich darin, tönt der Bedürftigkeit vor. Der Klang kommt aus einem Hohlraum, wird vom befruchtenden Lufthauch erzeugt und bleibt noch im /(1246) Hohlraum, den er klingen läßt. Die Nymphe wurde das Schilfrohr, das Instrument heißt gleich ihr Syrinx; bis heute nur ist noch nicht recht bekannt, wie die Musik selber heißt und wer sie sei. Bizarrer Held und Nymphe: Symphonie fantastique Etwas fehlt, dies Fehlen mindestens sagt der Klang deutlich aus. Er hat selber Dunkles und Durstiges an sich, er weht, sitzt nicht wie die Farbe an einem Platz. Das Wehen und Gleiten kann auch von Übel sein, so daß Sehnsucht, als tönende, verschwimmt, marklos wird. Doch sitzt der Ton nicht räumlich genau, so läßt er sich desto schärfer in der Zeit setzen, im Takt, im gezielten Gesang. Unverwechselbar sind gerade die scharfen Gestalten der Unruhe musikhaft gestimmt, die wohlbekannten, grenzüberschreitenden. Hoffmanns Kapellmeister Kreisler musiziert dasjenige, was in allen Bäumen die goldenen Blätter hat gewollt, was in allen Hungerleidern des Unbedingten umgeht. Am erkennbarsten, nämlich erotisch, kehrt dies unbändige Verlangen bei Berlioz wieder, in dessen jugendlicher Symphonie fantastique. Sie mag darum am Eingang stehen, mit ihrer eigenen Nymphe, ihrer bizarren. Die Figuren der Überschreitung haben alle einen besonders starken utopischen Gärungsstoff, er ist bei Berlioz musikalisch-erotisch isoliert. Wieder also erscheint die Nymphe Syrinx, sie geht als Mädchen-Thema durch die fünf Sätze der Symphonie fantastique. Das Jugendwerk als ganzes ist mitnichten beste Musik, wohl aber eine im Sehnsuchtspunkt sehr signifikante, eine, die auf sensationelle Weise utopische idee fixe im Kopf hat und sie in einem bizarren Helden, an einer seltsamen Helena ausführt. Das Programm gibt die Absicht des Musikers und die äußersten, sozusagen noch außermusikalischen Türen des Werks: Ein junger Künstler erblickt das Mädchen, das alle seine Träume in sich versinnlicht. Das geliebte Bild erscheint ihm nie anders als in Begleitung eines musikalischen Gedankens, eines Themas von leidenschaftlichem, doch vornehmem und schüchternem Charakter; diese Melodie bildet eben die idee fixe, als eine so verfolgende wie verfolgte. Der Gegensatz zum Hauptthema steht im Mittelsatz, dies zweite Thema erscheint nicht, /(1247) wie üblich, in Weichheit, sondern als Verwischtheit, Schlaf, Stillstand. Aus den grellen, oft sprunghaften Durchführungen kehrt der Gedanke des ersten Themas wieder, zuerst verdunkelt, in immer tiefere Lagen absinkend, dann mit großer Pracht, aber stets mit der eines bloßen Sehnsuchtsbilds, scharf und bedeutend geworden, verschwindend. Die Wiederkehr des Themas in C-Dur am Ende des ersten Satzes ist das Glück, doch als unerreichtes, ist der Stern, doch wie dieser in der Ferne. Und Stella verläßt den ersten Satz, »Träume, Leiden« überschrieben, geht durch das Scherzo. »Ein Ball«, durch ein gewiß einzigartiges Adagio: «Szene auf den Feldern«, durch das Marsch-Finale: »Gang zum Richtplatz«, durch das Fugen-Finale: »Traum in einer Sabbatnacht«. Das Scherzo bringt das Thema in Tanzrhythmen, das Adagio verwandelt es in einsame Rezitative, in Wechselgespräch auf hörbaren Feldern - eine Stimme allein, und die andere antwortet nicht mehr, gänzliche Stille - ferner Donner unter dem Horizont. Es ist eine ungeheure Ebene zwischen dem Melos des Themas und dem weiten, verschlossenen, disparaten Donner; Berlioz hat in diesem Adagio ein Pastorale gegeben, das nur noch in der Mystik chinesischer Landschaftsbilder seinesgleichen findet. Der Marsch des vierten, das Bacchanale des fünften Satzes, mit einer Doppelfuge aus Dies irae und Hexensabbat, üben an dem Thema Beilhieb und Schindluder; zuletzt erscheint die geliebte Melodie noch einmal, auf der Klarinette heruntergeleiert, welk, schmutzig und gemein. Immer aber, auch im letzten Satz, bleibt Stella so vermißt wie musikhaft gegenwärtig. Sie tönt auch unter den Fratzen, den bacchanalischen Totenglocken, dem parodierten Dies irae, womit die Symphonie fantastique schließt. Es ist das Ungenossene, das diese große Kolportage von Musik füllt; das Noch-Nicht, ja selbst das Niemals hat ebenso sein eigentümlichstes Dasein aus den Luftwurzeln des Klangs. Dessen pneumatisches Geflecht bildet den Ort der idee fixe oder den Dschungel, durch den die Jagd zu ihr hin geht. Stimmen, die den andern schweigen, hört Merlin vorübergleiten; Berlioz, unter Musikern ebenfalls einer der Zauberer, macht sie laut. Das erwähnte Linienziehen im Unsichtbaren
wird bei Berlioz grell und die Klage um Syrinx dämonisch. Hier wohnt das Vermißte, gar Unbedingte nicht im Finale, dem ohnehin fragwürdigsten Teil /(1248) jeder Symphonie. Es ist im leisen Donner der Szene auf den Feldern, in der Antwort, die keine ist, die aber die ungefundene im Zusammenhang enthält, den die bedeutende Pause vor dem Donner in dieser Coda herstellt. Und das mit feinem Adagio und seiner abendlichen, lang gezogenen, weit verfremdeten Klang-Heide, mit einem Rest nicht als Schweigen. Menschlicher Ausdruck als unabtrennbar von Musik Der Ton ist weder dazu da, gefühlig noch bloß gefiedelt zu sein. Mit dem einen hat er die Hörer nicht unter Wasser zu setzen, schmelzend, weibisch. Wenn eine Geige schluchzt wie eine menschliche Brust, so ist das nicht nur ein schlechtes Bild, sondern die Geige spielt schlecht oder Schlechtes. Eine Tonfolge, deren Ausdruck bei klar-sachlicher Ausführung vergeht, hat nie einen gehabt, außer als schwindelhaften. Zum bloß Gefiedelten aber: es darf der Widerwille gegen Schwüles, gegen gefühlvollen Klangsumpf die psychisch geladene Beschaffenheit des gesamten Tongetriebes nicht verleugnen. Seelisches ist als Willenshaftes so sehr mit Tonfolge gesetzt, daß diese schon in ihren Urformen ein Streben oder einen Zug angibt. Es gibt einen deutlichen Fall vom Grundton nach der Quinte, die Septime will abwärts, die Terz aufwärts geführt werden, es gibt eine Neigung der Akkorde, sich mit anderen zu verbinden. Unsere Einfühlung macht hier nicht alles, sondern bereits im Tonverhältnis ist auch ein objektiver Faktor, der die Einfühlung unweigerlich so oder so bestimmt. Bereits das Verhältnis der schwingenden Saiten wird emotional gehört, es selber bestimmt die erste Anziehung, auch die erste freundschaftliche Konsonanz der Töne. Was so physikalisch begonnen, führt die selbständige Handhabung und noch selbständigere gesellschaftliche Kunst weiter, das Tonleben käme sonst nicht über den Quintfall hinaus. Die Klangspannung wird aus einer physikalischen eine psychische, und das Eigentümlichste der Melodie: daß in jedem ihrer Töne der nächstfolgende latent hörbar ist, liegt im antizipierenden Menschen, folglich eben im Ausdruck, der hier vor allem ein humanisierter ist. Es gäbe vielleicht Musik, auch wenn es keine Ohren gäbe, aber es gäbe zuverlässig keine. wenn es keine Musi- /(1249) ker gäbe, die die Klangbewegung und ihre psychische Energie, Faust-Energie erst gesetzt haben. Sie machen Musik außer zu ihrem eigenen Ausdruck zu dem der Zeit und Gesellschaft, worin sie entsteht, und so freilich zu einem nicht nur romantischen oder gar scheinbeliebig subjektiven. Unzählige menschliche Spannungen kommen zu der Quintspannung hinzu, machen nun erschwerte Kadenz, also Geschichte der Musik. Die gesellschaftlichen Tendenzen selber haben sich im Klangmaterial reflektiert und ausgesagt, weit über die gleichbleibenden Naturtatsachen, auch weit über das bloß romantische Expressivo hinaus. Keine Kunst ist so sehr sozial bedingt wie die angeblich selbsttätige, gar mechanisch selbstgerechte Musik; es wimmelt in ihr von historischem Materialismus und eben von historischem. Dem beginnenden Unternehmertum entsprechen die Herrschaft der melodieführenden Oberstimme und die Beweglichkeit der übrigen ebenso, wie der cantus firmus in der Mitte und die gestufte Vielstimmigkeit der ständischen Gesellschaft entsprochen haben. Kein Haydn und Mozart, kein Händel und Bach, kein Beethoven und Brahms ohne ihren jeweils genau variierten gesellschaftlichen Auftrag; er reicht von der Form der Aufführung bis in den Duktus des tonalen Materials und seine Komposition, bis in den Ausdruck, die Aussage des Inhalts. Händels Oratorien spiegeln in ihrem festlichen Stolz das aufsteigende imperialistische England, die Adaption, das auserwählte Volk zu sein. Kein Brahms ohne die bürgerliche Konzertgesellschaft und selbst keine Musik »neuer Sachlichkeit«, angeblicher Ausdruckslosigkeit ohne den riesigen Anstieg der Entfremdung, Versachlichung, Verdinglichung im späten Kapitalismus. Es ist die Konsumentenschicht und ihr Auftrag, es ist die Gefühls- und Zielwelt der jeweils herrschenden Klasse, die in Musik sich jeweils expressiv macht. Wobei die Musik kraft ihrer so unmittelbar menschlichen Ausdrucksfähigkeit zugleich mehr als andere Künste die Eigenschaft hat, das zahlreiche Leid, die Wünsche und Lichtpunkte der unterdrückten Klasse aufzunehmen. Und keine Kunst hat wieder so viel Überschuß über die jeweilige Zeit und Ideologie, worin sie steht, einen Überschuß freilich, der erst recht die menschliche Schicht nicht verläßt. Es ist der des Hoffnungsmaterials, auch noch im tönenden Leid an Zeit, Gesellschaft, Welt, auch /(1250) noch im Tod; das »Schlage doch, gewünschte Stunde, gewünschte Stunde, schlage doch« der Bachschen Kantate geht durch die Finsternis und gibt als Klang, dadurch daß er da sein kann, einen unbegreiflichen Trost. Ausdruck eines menschlichen Inhalts ist also ersichtlich nicht auf romanitischen beschränkt, als wäre dieser alles und ohne ihn nur Tonmaschine. Als hätte erst Beethoven, in einigen seiner langsamen Sätze, dann am exorbitantesten Wagner dies Element der Musik zugesetzt; so daß Ausdruck bei Wagner streckenweise zum wahren Seelenverkauf, Seelenausverkauf übergeht. Es ergibt sich statt dessen, und es gilt jetzt zu zeigen: die vorromantische Musik intendierte sogar, im Anschluß an die gesellschaftlichen Inhalte, einen Ausdruck, der sich viel naiver zugibt als der moderne. Denn den Griechen galt selbst die Flöte als
aufregend, die Lyra als idyllisch, die dorische Tonart galt als kraftvolle und gutgesinnte, die lydische als weibliche, als die der passiven Gefühle. Dann die Vokalisen und Jubilationen der mittelalterlichen Musik, sie waren nicht nur Verzierungen und melismatische Schweifungen, sie überholten gerade das Wort um eines ganz exaltierten Ausdrucks willen. Daher sagt Augustin, über den Jubilus des Halleluja: »Wenn der Mensch im Jubel von Freude bewegt ist, so bricht er nach einigen Lauten, die nicht der Sprache angehören und keinen eigentlichen Sinn haben, in ein Jauchzen ohne Worte aus, so daß es scheint, er sei in solchem Gesang von Freude bewegt, könne aber, was ihn bewegt, in Worte nicht fassen.« Noch die Rezitative Peris und Monteverdis, in den ersten Opern um 1600, nahmen mittelalterliche Vokalisen und Tropen auf, gerade als expressive. Und keinesfalls stand die frühere, so viel umständlichere Kunst: das kontrapunktische Bewegungsgeflecht der Niederländer, einem Ausdruck sui generis entgegen, nämlich dem spätgotischchristlichen. Was an den niederländischen Kontrapunktikern als «Künstelei« oder gar als «Schaupartitur« verrufen ist, was daran Formalismus der dekadenten Spätgotik genannt worden ist, mag es zum Teil nur deshalb sein, weil ihre Wiederbelebung rein technisch noch nicht gelungen ist. Josquin hat eine 24stimmige Motette geschrieben, die in jeder der vier Stimmen einen sechsfachen strengen Kanon enthält, und trotzdem sagt sein Zeitgenosse Luther, sonst ein Feind der Scholastik: /(1251) «Josquin ist der Noten Meister, die habens müssen machen, wie er wollte; die anderen Sangesmeister müssens machen, wie es die Noten wollen haben.« Dieser Satz kann sich nur auf das Willens- und Ausdrucksgebot beziehen, das Josquins Riesenfiligran, auch vielstufigen Riesenfiligran durchdrang. Bei Palestrina und Orlando di Lasso, mit beginnendem harmonischem Stil, ist die Einheit von anima christiana und ihrem Tongefüge, hier raffaelischem, dort beginnend barockem, ganz offenbar. Gar Bach, die gelehrteste und zugleich am tiefsten durchseelte Musik, macht die Antithese Ausdruck - Kanon sinnlos. So grundfalsch das Romantisieren ist, wie es durch Mendelssohn in Bachs Wiedergabe kam, so wenig ist Bachs Verständnis mit bloßem totem Abtun der Romantik erlangt; als bliebe danach nichts übrig als verdinglichte Form. Bach läßt sich von interessierten Feinden jeder Aussage keinesfalls als Bandgeflecht an sich, gar als Vorbild jener Verapparatlichung gebrauchen, zu der es allerdings der Spätkapitalismus gebracht hat. Womit diese «neue Sachlichkeit« an Bach mit vermeintlich positivem Vorzeichen die Einschätzung reproduziert, die ein halbes Jahrhundert nach Bachs Tod üblich war und die den größten Musiker gerade verschüttet hat. Die Einschätzung nämlich, Bach sei bloße Verstandesmusik und Unnatur, sei «Küstermusik ohne Seelenton« und bloßes verzopftes Rechenexempel; eine Einschätzung übrigens, die mit der noch fortbestehenden der großen niederländischen Kontrapunktiker manche Ähnlichkeit hat. Vermeintlich positiv wird das jetzt an Bach als »absolute Musik« gefeiert und stets eben mit jenem polemischen Gegensatz zum bloß romantischen Espressivo, der fürs Bachwesen und sein spezifisches Espressivo ganz gleichgültig ist. Derselbe Gegensatz hatte bereits Spittas Bachmonographie in den siebziger Jahren erfüllt und irregeleitet, die gleiche unfruchtbare Wegleugnung aller affektvollen Linien, Ausdruckslinien, obwohl aus ihnen fast die gesamte Bachsche Musik besteht. Die schlecht überwundene Romantik rächte sich, indem sie trotzdem wieder Ausdrucksdeutung hereinbrachte, doch nun nicht einmal im Mendelssohn-Stil, sondern in dem der Gartenlaube, der angeblichen reinen Form mit Gartenlaube. So angesichts der Sinfonia am Anfang des zweiten Teils des Weihnachts-Oratoriums: nach dem sonst so absolut-musikalischen Spitta bilden /(1252) »die Lieblichkeit der orientalischen Idylle und der Ernst der sternklaren nordischen Winternacht den Stimmungshintergrund dieser Sinfonia«, was infolge des unsanften Flöten- und Geigenlebens in diesem Stück sogar assoziativ, nicht nur technisch unhaltbar ist. Und es ist lehrreich, daß Albert Schweitzers spätere Bachanalyse, völlig aus der Praxis des Bachspiels heraus, das spezifische Espressivo dieser Musik ins einzelnste belegte. Schweitzer erweist bis ins graphische Notenbild, bis in den abgehörten Gestus der Handlung und des Affektes, was es mit Bachs Espressivo auf sich hat: in Kantaten, in Chorälen, in der Instrumentalmusik. Es erscheint ein Inventar dokumentierten Ausdrucks, darin gerade erwachsen und bilden sich nun die melodisch-rhythmischen Figuren, als solche aus Affekt und auch aus seiner äußeren Bewegung. So die Figuren der Mattigkeit, des Schmerzes, des qualvollen wie stolzen, der Freude, der lebhaften wie verklärten, des Schrecks, des Jubels. Eine Ausdrucks-Skala ohnegleichen reicht bei Bach von Todesangst, Todessehnsucht zu Trost, Zuversicht, Friede, Sieg. Keine noch so geschlossene Form hält sie auf, kein Continuo verhindert hierbei den Sprung zwischen Extremen, wie sie außer in der Liebe nur im religiösen Affektreich vorkommen und kontrastieren. Es ist der Kontrast: »O Golgatha, unsel'ges Golgatha« - »Der Held aus Juda siegt mit Macht«, worin sich dieses Expressivbarock bewegt, barock in der jähen Peripetie, barock vor allem im aufgewühlten christlichen Gefühlsinhalt. Nicht zuletzt gehören hierher die Dialog-Kantaten zwischen Jesus und der Seele oder die zwischen Trost und Verzweiflung, in tönender Allegorie. Ja so mächtig ist die Prävalenz des Bachschen Ausdrucks, daß über die Choralsätze in Bachs Kantaten und Passionen folgender Befund Schweitzers nicht einmal extravagant erscheinen mag: »Vom
Standpunkt der reinen Musik aus sind Bachs Harmonisierungen vollständig rätselhaft, weil er nicht auf eine Tonfolge, die in sich ein ästhetisches Ganzes bildet, ausgeht, sondern sich von der Poesie und dem Wortausdruck leiten läßt. Wie weit er sich bei diesem Bestreben von den natürlichen Prinzipien des reinen Satzes zu entfernen wagt, ersieht man aus der Harmonisierung von >Solls je so sein, daß Straf und Pein< in der Kantate >Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen< (Nr. 48),die als reine Musik geradezu unerträglich /(1253) wirkt, weil Bach den ganzen wilden Sündenschmerz der Worte zum Ausdruck bringen will... Ehe er sich bescheidet, einfach eine schöne Musik zu einem Text zu schreiben, versucht er das Mögliche und Unmögliche, um in den Worten ein Gefühl zu entdecken, das, mit einem gewissen steigernden Affekt multipliziert, musikalisch darstellbar wird « (Schweitzer, J. S. Bach, 1951, S.403, S. 408). Ist dergleichen auch noch etwas zu stark unter dem Bann des neuromantischen Ausdrucks gesagt, so hat Schweitzer doch im Zentrum, in dem des regierenden musikalischen Sprachgebots, völlig recht. Ja, zu der Ausdruckskraft der einzelnen Ton-Zeichnungen, die Schweitzer besonders zahlreich anführt, kommt nicht zuletzt noch diejenige veritabler Ton-Gemälde, gerade auch was legendäre Ausbreitungen des Affekts angeht. Modulationen der Tonart erfolgen häufig rein um der Abspiegelung mythischer Jubelvorgänge willen, am deutlichsten beim Thema Auferstehung. So in der Musik zum »Et exspecto resurrectionem mortuorum« der h-Moll-Messe, das Exspecto erscheint zögernd, zweifelnd, der Baß singt stufenweise sechs Töne herunter, es kommt ein Halt, und nun erfolgt die Verwandlung, die die Erwartung bestätigt: die Tonarten durchlaufen ihre Modulation über g-Moll zu A-Dur zu d-Moll zum D-Dur eines Vivace allegro, bei dem die Trompeten einsetzen, Bachs durchgängige Klangfarbe des Siegs. Und nur verdeckter wirkt der Vorrang des Ausdrucks in der durch keine Textwelt affektionierten reinen Instrumentalmusik Bachs. Gewiß, die Fuge enthält keine lyrisch-emotionale, wohl aber dynamische Ausdrucksspannung, sie ist im Thema komprimiert, die Durchführung schlägt das Thema kontrapunktisch bis zu acht Stimmen auf und löst es siegreich. Auch hier ist also keineswegs ein Gesetzleben um seiner selbst willen da oder gar eine formalistische Abriegelung von dem damals Schweres tragenden, doch desto heißer in die Höhe protestierenden Humanum. So expressiv, wenngleich in ihrem letzten Ausdruck noch unerobert, ist auch die Kristallmusik in den Orgelfugen beschaffen, mit all ihrem Kristall; es ist hier am wenigsten autark. Und die mehr weltfreudigen Werke aus Bachs Köthener Zeit, die Brandenburgischen Konzerte vor allem, ihr großartiger und eleganter Bau, ihr Variieren und ihre thematische Füllesteigerung zeigen einen /(1254) höchst gesellig-dynamischen Ausdruck; er blüht nicht aus Rechenexempeln. So gehört Ausdruck auch zur vorromantischen Musik, ist der guten musikalischen Form immanent und nur der schlechten angehängt. Er ist der guten nicht durch gefühlvollen Vortrag eingeblasen, sondern die Wiedergabe, sosehr sie den Geist der Linien und Formen tönen lassen muß, findet ihn in den Linien und Formen selber, freilich nur in diesen. In den Formen nicht als Verdinglichungen und Selbstzweck, sondern als Mitteln zur wortüberbietenden oder wortlosen Aussage, letzthin allemal zur Ausprägung eines - Rufs. Geht es in biedermeierliche Auen, dann schiebt sich freilich oft die gefühlige Stimme ein. Diese outriert oder überhitzt sehr, gibt kostenlos Seele ab, ist Wirkung ohne Ursache. Sie findet sich in romantischer Musik, nur in ihr, doch bezeichnenderweise nie an ihren gut gearbeiteten Stellen. Und nicht Verlangen nach Ausdruckslosigkeit, sondern nach echtem musikhaft fundiertem Ausdruck wendet sich gegen einen Zusatz, der die Nymphe Syrinx schmierig macht und das angestammte Desiderium la Musik billig. Dabei fehlt es gewiß nicht an besseren Ursprüngen des falschen Gefühls, sie hängen wahrscheinlich mit warmem Volkston bei beginnendem Verlust des Volkslieds zusammen. Ein Schaden beginnt bereits mit dem Tonfall des Grafen im letzten Akt von Figaros Hochzeit: »0 Engel, verzeih mir«; er setzt sich fort mit Florestans: «In des Lebens Frühlingstagen«. Er kulminiert, unter anderem, im Preislied der sonst so kernhaft-gewaltigen Meistersinger, er macht sich innig im »Recordare Jesu pie« des sonst so grundechten Verdischen Requiems; er stellt sich schließlich ganz celloheiß, wo nicht zynisch vor im Herzenston des Färbers: »Mir anvertraut, daß ich dich hege«, aus Straußens «Frau ohne Schatten«. All das sind bloße Seitenbeispiele, doch vorromantisch hätte ihr Pastoso gar keinen Platz, und romantisch ist es eine Gefahr. Das bei Wagner auf vielen Strecken, besonders im «Ring«, schrill oder mit Wotan-Schmelz, bei allem Genie. Der einzigartige expressive Vorstoß, das Schlafmotiv, Erdamotiv im «Ring«, Wahn- und Johannistagmotiv in den «Meistersingern« und so viele Kostbarkeiten, Tiefblicke, die Unrast-Heimweh-Macht dieser Musik und ihrer Artikulierungen wurden nicht selten durch langes Hineinknien in autarke /(1255) Singe-Rhetorik bezahlt. Unter großen Dichtern war nur Schiller vom Bann eines schief expressiven Unwesens verfolgt, von einem, das mit Pathos, nicht einmal mit falschem, keineswegs zusammenfällt. Der Fremdkörper ist mannigfach, er steckt in der sinnlosen Schwüle des romantischen Violintons, im geschwollenen Drohgesang der Wagner-Heroinen, er ist überall Effekt aus Affekten oder Affekt aus Effekten. Zweifellos also war die hochromantische Musik davon sonderlich bedroht, und zweifellos gab es Ursachen dazu, die in
fortgeschritteneren Gegenden wenigstens durchschaut und nicht mehr bejaht sind. Soziale Ursache war die breite großstädtische Bourgeoisie mit ihrem Bedürfnis nach amorpher Nervenreizung, dazu vor allem das Kleinbürgertum mit seinem Gefühlsverschleiß zu herabgesetztem Preis. Technisch wurde der psychische, allzu psychische Fremdkörper befördert durch malerisch, nicht plastisch eingesetzte Mittelstimmen, dicke Instrumentierung, grundsätzlich schwülen oder überhitzten Rhythmus; ein ganzes Denkmal dieser Art Espressivo ist häufig Tschaikowskij (der erste Akt Walküre nicht zu vergessen). Aber selbstverständlich ist so Outriertes weder der wirkliche Ausdruck romantischer Musik, noch ist auch in dieser ihr wirklicher Ausdruck von der großen technischen Faktur getrennt oder ihr angehängt. Ausdruck ist und bleibt so sehr terminus a quo und terminus ad quem der Musik, daß gute Musik ihn so notwendig gestaltet, wie schlechte ihn herbeischwindelt und eben aus Espressivo das Gegenteil macht: Bedeutungslosigkeit. Aller ungeformte, illegale Ausdruck aus der Romantik, die ihn diskreditiert hat, steht daher nicht zur Diskussion, die bloße Eigenwärme, Stallwärme, Kuhwärme der Musik, wie Thomas Mann sagt, die der strengen Regulierung und Gesetzesfreude ermangelt. Das ist Abfall der Romantik, nicht ihre Klassik, die sie gerade in der Musik darstellt. Kanonisch-romantische Ausdrucksmusik geben das Quartett im »Fidelios«, das Quintett in den «Meistersingern«; beide sind ebendeshalb auch die bestgebauten. Es ist ebenso unmöglich, über ihrer Verinnerlichung die Stimmführung zu überhören, wie es umgekehrt unmöglich ist, über einem ganz großen kontrapunktischen Wunderbau, etwa dem Crucifixus der h-Moll-Messe Bachs, das Pathos zu überhören, das ihm immanent ist. Es ist wahr, die romantische Musik /(1256) hat ihrem Ausdruck zuweilen auch literarische Wegweiser gegeben, die überflüssig sind (Beethovens Pastorale-Titel) oder in der Tat nicht zum Besten führen (ausgeführte Programmsymphonie von Berlioz bis Strauß). Doch auch durch dieses wurde noch ein innermusikalisches Geschäft betrieben: Musik soll an der mitgegebenen Vorstellungsreihe zu immer stärkerer expressiver Bestimmtheit erzogen werden. Eine Gefahr war zwar wieder, daß die Musik, entgegen ihrer latenten Ausdruckskraft weit über alle bekannten Worte hinaus, als bloße Illustrierung literarischer Phantasie-Beihilfen aufgefaßt wurde. Indes auch noch hier wie erst recht in allen höheren Textführungen dient der textliche Ausdrucksreiz einzig dem eigensten Anliegen der Musik: Sprache sui generis zu sein, zu finden, zu werden. Ja indem deren Ausdruckskraft über alle bekannten Namen hinausliegt, steht am Ende überhaupt nicht mehr der Ausdruck in der Musik, sondern die Musik selber als Ausdruck zur Diskussion. Das heißt die Gesamtheit ihres Meinens, Bedeutens, Abbildens und dessen, was sie auf so unsichtige, doch im doppelten Wortsinn ergreifende Weise ab bildet. Und nur dazu hin geht die Musik - als mehrstimmige eine so junge Kunst - der Stunde ihrer eigenen Sprache entgegen, ihrer in mächtigem Ausdruck vorgebildeten und trotzdem noch unbekannten Poesis a se. Diese Sprache kommt freilich einzig aus absoluter Musik, nicht aus irgendeinem ihr überlegten und ausgemachten Text. Um gerade einen Vergleich Wagners zu gebrauchen, so verhält sich jede zu großer Musik gesetzte Literatur zu der namenlosen Ausdruckskraft Musik wie ein Kommentar des Gervinus zu einem Drama Shakespeares. Musikalischer Ausdruck insgesamt ist so letzthin ein Statthalter für viel weitergehende Artikulierung, als sie bisher gekannt ist. Sie geschah bereits, mit verschiedenem Bezug, in jeder großen Musik, ist aber auch in dieser erst ganz vernehmbar, wenn die Stunde der Sprache in einer dazu durchbrechenden Musik gekommen ist. Brangäne hört noch als Hörnerschall, was Isolde im Schweigen der Nacht als Quell hört; soll heißen: auch jede bisherige Musik wird, wenn kraft gelingender musikalischer Poesis a se solche Hellhörigkeit gelingen sollte, später noch andere als ihre bisherigen Ausdrucksgehalte vernehmen lassen und herausgeben. Demgegenüber könnte der bisher vernom- /(1257) mene Ausdruck der Musik wie das Lallen eines Kindes erscheinen, wie eine sich bildenwollende, nur an einigen höchsten Orten sich nähernd schon gebildet habende Sprache letzter Art; sie kann noch niemand verstehen, obwohl es vorkommt, zu ahnen, was sie bedeutet. Keiner aber hat Mozart, Beethoven, Bach so, wie sie wirklich rufen, nennen, lehren, schon gehört; das wird erst viel später eintreten, in der vollsten Nachreife dieser und aller großen Werke. Also ohne den Schleier vor den Ohren und weithin in der Musik an Ort und Stelle, der von daher kommt, daß der Ton noch nicht das volle sprechende Licht seines Verstands hat oder hören läßt. Unter den Künsten führt Musik einen ganz besonderen Saft, tauglich zur Zitierung jenes noch Wortlosen, das instrumental zum Gesang kommt und im gesungenen Wort zu dessen Unterton und Überschuß zugleich hinzudringen vermag. Die utopische Kunst Musik, diese als mehrstimmige so junge Kunst, geht derart selber noch einer eigenen utopischen Laufbahn entgegen, der durchgeformten Exprimatio (in dem und statt des gefühligen oder auch beschreibenden Espressivo). Das Utopikum dieses Ausdrucks ist die Stunde der Sprache in der Musik, hellhörend verstanden; ist eine Poesis a se mit Stichworten zum Eintritt in die materielle Tonbeschaffenheit jedes Quellenden, bevor es, während es, ja nachdem es mehr oder minder adäquat Erscheinung geworden ist. Dies unserem und allem Kern Adäquate ist noch nicht heraus; sein affekthaft und doch nicht nur affekthaft schlagendes Gewissen, sein in großen Meistern geschehendes, rhythmisch-melodisches Berufen: das heißt an
diesem Ende Musik. »Wenn wir uns nennen könnten, käme unser Haupt, und die Musik ist eine einzige subjektive Theurgie« (Ernst Bloch, Geist der Utopie, 1918, S. 234), soll heißen: eine, die das menschenähnlichst Wesenhafte zu singen, zu beschwören vorhat. Subjektiv ist dieser Gesang und seinAusdruck, er ist es weit mehr als in anderen Künsten, außer der Lyrik; insofern gibt die Musikerfahrenheit den besten Zugang zur Hermeneutik der Affekte, vorzüglich der Erwartungsaffekte. Aber subjektiv in einem bedeutsam anderen Sinn ist die Musik auch dadurch, daß ihr Ausdruck nicht nur den affekthaften Spiegel spiegelt, der in bezogenen Affekten jeweilige Gesellschaft und geschehende Welt spiegelt, sondern daß sie dem subjekt- /(1258) haften Herd und Agens des Geschehenden nahetritt, als einem subjekthaften Draußen. Dieses Agens ist noch gärend unter allem bereits Bestimmten und selber noch nicht ausgesagt-objektiv herausgekommen; also ist auch der Ausdruck der Musik noch gärend, noch nicht fertig-definierbar herausgekommen. Dieses Objektiv-Unbestimmte im ausgedrückten, abgebildeten Inhalt der Musik ist der (vorläufige) Schatten ihrer Tugend. Wonach sie jene Kunst des Vor-Scheins ist, die sich am intensivsten auf den quellenden Existenzkern (Augenblick)des Seienden bezieht und am expansivsten auf dessen Horizont; - cantus essentiam fontis vocat. Musik als Kanon und Gesetzwelt; Sphärenharmonie, humanere Leitsterne Desto nötiger war es, mit dem Wehenden des Tons recht nüchtern und trocken zu arbeiten. Das Handwerk blieb hier hoch in Ehren, auch als es unter Malern verfiel oder ganz vergessen war. Bereits das Spiel auf der Blockflöte will gelernt sein, der Walzer, der Jazz haben Regeln, die gekannt sein müssen, jeder Fehler ist hörbar. Trotzdem bestand das musikalische Handwerk, das vom gefühligen Spuk so weit entfernte, nie selbständig oder abstrakt. Es hat, schon von der Syrinx her, menschliche Bedürfnisse, gesellschaftlich sich wandelnde Aufträge hinter sich. Klar ist, wie sehr gerade die Mittel und Techniken einer so geselligen Kunst von den jeweiligen sozialen Verhältnissen bedingt sind; wie tief Gesellschaft schon ins Klangmaterial hineinreicht, ins keineswegs selbsttätige oder naturgegebene. Die gleichschwebende, in Oktaven eingeengte Temperatur ist so sehr geschichtlich erzeugt, daß sie erst einige Jahrhunderte alt ist. Die Sonatenform mit dem Konflikt zweier Themen, mit Grundton, Durchführung, Reprise setzt kapitalistische Dynamik voraus, die geschichtete, gänzlich undramatische Fuge ständisch-statische Gesellschaft. Die sogenannte atonale Musik wäre in keinen anderen Zeitläuften möglich als in denen des spätbürgerlichenVerfalls, sie antwortete ihm als kühne Ratlosigkeit. Die Zwölftontechnik, welche das dynamische Verhältnis zwischen Dissonanz und Konsonanz, Modulation und Kadenz hinter sich läßt, um still-strenge Reihen zu /(1259) bilden, wäre im Zeitalter der freien Konkurrenz undenkbar gewesen. Ja, erst die Geschichte der Musik von 1600 ab; sogar erst von 1750 bis 1900 war eine Geschichte von Dissonanz und Kadenz. Auch die musikalischen Formen, nicht nur ihr Ausdruck, sind derart vorn jeweiligen Verhältnis von Menschen zu Menschen abhängig und sein Reflex. Freilich oft ein verdinglichter, ein vom gehörten Ausdruck, selbst Humanum der Musik merkwürdig abgehobener. Ebendeshalb konnte der Schein entstehen, als ob es zwei Weisen Musik gäbe: die des ausgesungenen Seelengefühls und die der reinen, fast mechanisch autarken Form. So erscheint die Kontroverse zwischen beiden nicht nur am musikalischen Werk, sondern auch im verschiedenen, wohl gar unverträglich auftretenden Bedeutungssinn des Worts Musik. Einmal hat es das gänzlich Ungestalte, die bloße Stimmung zu bezeichnen, und das Spukhafte des Tons ist dem angemessen; ein andermal bezeichnet es umgekehrt kombinatorisch-gelehrte Meisterschaft, in Stimm-, nicht Stimmungsführung. Einmal gilt Musikhaftes als diffuse Vagheit, etwa im Sinn der Schillerschen Selbstbeobachtung: »Eine gewisse musikalische Gemütsstimmung geht vorher, und auf die folgt bei mir erst die poetische Idee.« Der Hegelianer Christian Weiße hat dem in seiner Ästhetik dadurch Ausdruck gegeben, daß er Musik in die unterste Reihe der Künste placiert hat; dergestalt, daß der Geist des Ideals in der Tonwelt noch als gestaltloser in sich selbst webe, daß er erst in der bildenden Kunst sich ausbreite, erst in der Poesie sich konzentriert ausspreche (vgl. Lotze, Geschichte der Ästhetik, 1868,S.455f.). Ein andermal dagegen gilt Musikhaftes als höchste Gebautheit, ja als ein Stück mathematischer Ratio, das fast durch eine Art Mißverständnis in das unsolide Getriebe der Kunst geraten ist, so wie Saul unter die Propheten. Der Lehrrang der Musik im Quadrivium des mittelalterlichen Studiengangs wirkt hier nach: sie bildete zusammen mit Arithmetik, Geometrie, Astronomie eine Wissenschaft. Es war die pythagoreische, die mathematisch-astronomische Musiktheorie, die dieser Kunst den Platz im Quadrivium gab, ja sie zu einer sehr oberen, kosmisch geregelten Wissenschaft erhöhte. Danach galt Musik am wenigsten als gestaltloses Sausen oder als warme Nebelerfüllung; Kepler band sie vielmehr ans Gestirn, ans Reich der reinsten Umläufe, auch ob- /(1260) jektivste von der Welt. Sie wallt hier nicht aus dem Gemüt, sondern gießt sich aus den Planeten herab, und zwar primär auf die Erde, dann erst auf die Menschen: »Das Werk und die
Bestimmung der Erdseele ist, den Schweiß der Erde anzuregen, damit Regen entstehe und die Erde zu unserem Nutzen befeuchtet werde. Zu diesem Werk wird sie getrieben durch den Anreiz der Aspekte, gewissermaßen als einer himmlischen Musik; sie tut keinen Zug, der Himmel pfeift ihr denn dazu... Der Grund aber des Vergleichs der astronomischen Aspekte mit der Musik besteht hierin, daß der Kreis eingeteilt nach den Aspekten und das Monochord eingeteilt nach den Harmonien einerlei Divisiones hat« (Johannes Kepler in seinen Briefen, 1930,I, Seite 289 f.). Während also Musik in der Bedeutung Stimmung gänzlich in Vagheit logiert wird, wird Musik in der Bedeutung Proportion, auch Satzkunst, seit alters mathematisiert. Während Musik als Stimmung aufhören soll, Musik zu bleiben, sobald sie sich faßlich ausgestaltet, mithin zu bildender Kunst, zu Poesie übergeht, soll Musik als Form, als Proportion desto mehr sie selber werden, je gesetzhafter sie sich äußert und kosmographisch ist. Während Musik als Stimmung im Schacht der Seele bleibt, ja die chthonischste aller Künste scheint, wird die sogenannte Musica mathematica völlig uranisch, landet im Himmel. Dies also sind noch ganz andere Kontroversen als zwischen Ausdruck und Form, obzwar ihnen, auf hoher theoretischer Ebene, verwandt. Und der Effekt eben ist, daß die große Durchgebildetheit des musikalischen Handwerks in Zeiten, wo Ausdrucksinhalte rar sind, sich besonders leicht verdinglicht. Man hat gesagt, der Musiker verbinde in sich einen Schamanen mit einem Ingenieur; der Ingenieur allein wirkt jedenfalls, nachdem der romantische Überschwang diskreditiert ist, moderner. So wird gerade dem Handwerk sein Ausdrucks-Auftrag abgesprochen, es wird völlig mit Tonphysik, wenn auch mit einer höchst ausgebauten, verbündet. Nicht nur Melos ohne Ausdruck geht hier als Problem auf, sondern - vom Ideal und Vollkommenheitsbild des autarken Kanon her - Melos ohne Ich schlechthin, Gesetzesmusik. Dunkel meldet sich immer wieder der pythagoreische, der Keplersche Hintergrund an: Musik erscheint als Gefüge von Stimmen, die in außermenschlicher Ordnung folgen oder kreisen. Diese Ord- /(1261) nung kann selber die nüchternste, ja Gesetz über bloßen Zufall sein; als solche wird dann vorzugsweise Scarlattis Katzenfuge angeführt, sofern sie ihr Thema von den Tasten erhielt, die eine Katze beim Lauf übers Klavier niedergedrückt hat. Die Ordnung kann erst recht auf erhabenere Weise außermenschlich sein; dann wird von der Gesetzesfreude sogar ihre Erscheinung in Ausdrucksmusik nicht verschmäht, wie etwa im Adagio der sechsten Brucknerschen Symphonie, wo eine Tonleiter durch drei Oktaven langsam sich die goldenen Eimer reicht - ein beliebtes Exempel von Musik-Dasein (selbst Beethoven hat im Finale der Pastorale ein ähnliches) aus wohltemperierter Tonphysik und scheinbar sonst nichts. Überhaupt wird durch eine angeblich außermenschliche Ordnung Musik als Ausdruck weniger abgelehnt als überboten, mindestens ersetzt. Statt des psychischen Ausdrucks erscheint sie nun als kosmischer Abdruck, als Abbild kosmischer Verhältnisse; ungefähr wie die Architektur zur groß-vollkommensten zu werden glaubte, wenn sie Weltbau nachahmte. Fehlt formalistischer Musik auch der Weltbau als Modell, so doch nicht der Glaube an subjektlose Ordnung, eben an Musik als Gesetz statt an Musik als Existenz. Harmonielehre und Kontrapunkt scheinen von hier aus so autark wie transparent zu sein, und immer transparent auf Mathematisch-Physisches. Nachdem zwar nicht Zahlen und Formeln gehört werden, sollen in der Musik mindestens Kräfte wahrgenommen werden, die in mechanischen Vorgängen, in Dynamik und Statik, wiederzufinden sind; so Gefälle, Entladung, Gleichgewicht und dergleichen. Nur von Naturdialektik ist hierbei weniger die Rede, trotz der Entzweiung in Thematik und Bauplan der Sonate. Auch Natur als menschliche Chiffer, gehört durch Musik, bleibt für eine nun einseitig gewordene Außenreihe außer Betracht; denn in solch bloß verdinglichter Gesetzlehre erscheint dann lediglich noch Mechanik am Horizont, ein bloßer Reflex der Verapparatlichung in einer säkularisierten ehemaligen Kepler-Natur. So wird, mit deutlichem Basisbezug, das Außermenschliche in der spätbürgerlichen Anti-Ausdrucks-Theorie der Musik und ihrer Formverdinglichung sehr leicht zum Gegenmenschlichen; die Sachlichkeit interpretiert sich ausschließlich als Fremdgesetzlichkeit. »Musik, schwermüt'ge Nahrung verliebter Seelen«, sagt Shakespeare; /(1262) doch von der hypostasierten Katzenfuge ist kein Weg zur Nymphe Syrinx und keiner zur Selbstüberschreitung, zum utopischen Quellund Existenzklang. Dennoch ist auch diese Trennung künstlich, genauso künstlich und abstrakt wie die zwischen Ausdruck und guter Form, als welche in Wahrheit beide eines sind und gern sich beistehen. Gleicherweise steht auch Musik als harmonisch-kontrapunktische Gesetzwelt mit Musik als utopischem Existenzklang nur dann im Gegensatz, wenn die Gesetzwelt, das heißt die spezifische Vollkommenheit ihrer Mittel, verdinglicht und verabsolutiert worden ist; wenn das Zielbild: beste Musik sich in eine ohne Beinamen verliert, in die bloße Selbstgarantie melodisch-kontrapunktischer Konsequenz; wenn der Kontrapunkt eine gehörte Art Formfetisch geworden ist. Sobald diese Verabsolutierung jedoch vermieden und weder Musik eintritt, bei der sich nichts Ausdrückendes fühlen läßt, noch die ihr entsprechende Wissenschaft grassiert, bei der sich nichts Aufschließendes denken läßt, macht sich die so tief und weit zielende Intention der Musik gerade in ihrer Formenlehre heraus und auf den Weg. Das Handwerk vermittelt dann gegen das bloß Wehende, auch unlokalisiert Wärme des Tons durchaus eine Gesetzwelt, aber keine
automatische, sondern die der Mozartschen, Bachschen; Beethovenschen Humanitäten, als welche nun nicht Kanon, wohl aber kanonisch geworden sind. Wobei selbst die letzte Transparenz eines verabsolutierten Handwerks: der Kosmosbezug Musik, das ist die immer wieder säkularisierte Sphärenharmonie, letzthin keinen Schaden mehr anrichtet, ja zum Besten dienen muß. Zum Besten und Vor-Abbildlichen, das gerade auch Natur als - Pastorale, nämlich human-bedeutend klingen läßt. Derart geht der Ton nun weit hinaus, und er hat sich für die Fahrt gerüstet. Der geformte besitzt, worum ihn Maler seit je beneideten, genaue Regel und festen Verstand. Das musikalische Handwerk war unter allen Zunftgewerben das frühest rationalisierte, es bestand nicht nur aus empirisch erprobten Handgriffen und aus Berufsgeheimnissen der Meister. Die Meßkunst und Regel der rechten Verhältnisse, die Leonardo und Dürer experimentierten, steckte schon lange, mutatis mutandis, im musikalischen Kanon. Einen Hauptgrund zu dieser heilsamen Rationalisierung /(1263) gab die antike Überlieferung, welche Musik als Wissenschaft einbrachte. So wurde Musik eine der sieben artes liberales der mittelalterlichen Universität, und sie kam eben ins Quadrivium. Gewiß war diese Überlieferung teuer durch die Übertreibung der Zahlenverhältnisse erkauft, war fast ohne Zusammenhang mit der musikalischen Praxis, ja die pythagoreischen Spekulationen waren ihr hinderlich. Trotzdem war die angestammte Rationalisierung ein Glück für die im elften Jahrhundert beginnende Mehrstimmigkeit; nicht Pythagoras, wohl aber die Nähe zur scholastischen Lehr- und Denkweise ermöglichte die Wunderwerke an Scharfsinn, wie die burgundisch-flämischen Kontrapunktiker sie erbauten. Die Maler machten ihren empirischen Weg durch die Werkstätten, die Steinmetzen hatten ihre Loge, mit oft geheimnisvollem Ineinander von Meßkunst und mündlich überlieferter Gnosis, aber gleichzeitig mit der reicheren Mehrstimmigkeit finden sich bereits ihre rationalen Theoriebücher, ein »Speculum musicae« von Jean de Muris, von Jakob von Lüttich, 1330, sowie eine »Ars nova« und »Ars contrapuncti« von Philipp von Vitry. Und ein Zusammenhang trat auf, der bisher überhaupt nicht verfolgt worden ist und doch dem Kontrapunkt seine stolze Rationalität bis heute erhält: der Zusammenhang mit scholastischer Logik, genauer mit ihren Kombinationsformen. Es ist bezeichnend, daß der gleiche Schriftsteller, Boethius, der in seiner »Ars musica« die griechische Musikwissenschaft überliefert hat, der gleichen Welt und vielfach den gleichen Menschen Aristotelische Logik übersetzt und kommentiert hat. Abälard rühmte Boethius als Repräsentanten aller Einsicht in Sachen der Musik; hat sich dies Urteil in den kontrapunktischen Jahrhunderten nach Abälard auch geändert, so trat dafür die Autorität der mannigfachen conversiones und contrapositiones eines Urteilssatzes ein, die Boethius gleichfalls als erster vermittelt hatte. Der Unterschied von Kunstregeln im Kontrapunkt, von Wahrheitsregeln in der Logik stand dieser Querverbindung nicht im Wege. Denn abgesehen vom Rang der Musik im Quadrivium, als einer der sieben artes liberales, war scholastische Logik längst nicht mehr erkenntnistheoretisch gezielt, wie die Aristotelische. Sie hatte sich vielmehr weithin zu einer formellen Konsequenzlehre ausgebildet, besonders in den /(1263) Urteilsverwandlungen, so in den Lehrbüchern seit Petrus Hispanus. Kontrapunkt ist Abwandlung des Themas in mehreren Stimmen, ex una voce plures faciens; durch Umkehrung, Imitation, Krebs und so fort. Die scholastische Logik lehrte Variationen und Kombinationen von formellen Urteilselementen, ex uno judicio plures faciens; durch Konversion, Kontraposition, Subalternation, modale Konsequenz und so fort. Zu diesen Folgerungen treten die Schlußweisen oder jene Modi der Schlußfiguren, als welche auf den verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten der Prämissen beruhen; die Kombinatorik selbst wurde bereits in Alexandria der Mathematik entlehnt. Es ist gewiß nicht möglich, die »Rechenexempel« der Fuge (sie hieß während des vierzehnten Jahrhunderts in Italien auch Conseguenza) und das »Mosaikspiel« der scholastischen Logik näher zu vergleichen; dafür ist das Material zu verschieden. Aber der Geist, welcher auch in der Logik seit Petrus Hispanus wesentlich einer der formalrichtigen Entfaltung war, ist in beiden Gebieten auffallend verwandt. Er ist Rationalismus der Auswicklung und Subsumtion, zum Unterschied vom neueren Rationalismus der Entwicklung und Erzeugung. Dieses Erbe eben gibt der musikalischen Form außer der erwähnten Gefahr eine bedeutsame Würde, besonders wenn diese dem artikulierten Ausdruckswesen verbunden ist, zu dessen Verkörperung sie einzig dient. Und nun wieder zum berühmtesten Halt der gesamten musikalischen Gesetzesfreude: zur Sphärenharmonie und ihre Töchter, der kosmischen Musiktheorie. Es gibt nämlich in ihrem mythisch-utopischen Archetyp noch ein anderes Wesen als dasjenige, zu dem der halbe Pythagoras, nämlich das scheinbare Korrelat bloßer Tongesetze an sich, geworden ist. Dieses andere Wesen gilt es human aufzubrechen, in selber gebrochenem Zusammenhang mit der kosmischen Musiktheorie. Sie hat durch allzu lange Zeit geherrscht, aber sie lehrte das Tonwerk sehr groß von sich denken. Sie hat mit dem pythagoreischen Verbot von Terz und Sext die Entwicklung der Musik gehemmt, aber sie hat der trotzdem entstandenen den Ehrgeiz zu einem ungeheuren Korrelat gegeben. Sie ist heilloser Astralmvthos, aber sie hat dem Traum musikalischer Vollkommenheit ein Seitenstück zu dem gegeben, was der Architektur so lange der vermeintliche Kanon des Weltbaus war (vgl. Seite 835ff.). /(1265)
Ja während dieser Kanon (hinauf bis zum Salomonischen Tempel) oft nur poetisch oder in Geheimschulen wirkte, wurde eben in der scholastischen Ratio selber, von Anfang an bis weit über sie hinaus, Himmelsmusik der irdisch-gelehrten zugeordnet, als ideales Vorbild: »Die frühmittelalterliche Musiktheorie war eine so treue Anhängerin der Sphärenmusik wie die pythagoreische Schule selbst... So fand der von den Kirchenvätern aufgestellte Satz, daß die kirchliche Musik von Gott komme und im Gesange der himmlischen Heerscharen ihr Vorbild habe, gewissermaßen eine philosophische Stütze« (Abert, Die Musikanschauung des Mittelalters, 1905,S.154). Der Salomonische Tempel der Musik hieß Planeten-, seit Augustin Engelgesang; die Intervalle, bei den Pythagoreern den Planetenabständen gleichgesetzt, entsprachen nun den ordines angelorum. Wobei die Verbindung mit den Planeten auch christlich niemals riß: Ambrosius, der den christlichen Kirchengesang begründete, lehrte gerade die geheimnisvolle Weltmusik als Ur- und Vorbild der irdischen; in Nachahmung des Planetengesangs (die Himmel rühmen des Ewigen Ehre) habe König David die Kunst der Psalmodie eingeführt. Der karolingische Musikgelehrte Aurelian von Réomé, einer der einflußreichsten Erneuerer der griechischen Tonarten, brachte die acht Tonarten durchaus mit den himmlischen Bewegungen in Verbindung; zugleich aber lehrte seine Musikdisziplin: »In hoc (sc. cantandi officio) angelorum choros imitamus.« So wurde das Gerüst der Musik ein ebenso kosmisches wie heiliges, mit Stufungen, worin Ptolemäus und die mystische Emanation sich begegneten. Bereits Boethius hatte folgende Ordnung von oben nach unten gelehrt: musica mundana, die nach Maß und Zahl gestimmte Bewegung des Weltalls; musica humana, das Zusammenspiel von Leib und Seele; musica instrumentalis als unterste, hörbare Emanation. Der himmlische Heptachord wurde den Intervallen und Tonarten, der Engelchor wurde dem altchristlichen Antiphonal- und Responsoriaigesang zugeordnet, aber selbst das Novum: der mehrstimmige Kanon, wuchs nicht ohne Leitbild Sphärenklang auf. Aus der arabischen Musiktheorie (Alfarabi) war das Gleichnis des blühenden Baums gekommen, dessen Äste vermöge der Zahlen in einem schönen Verhältnis stehen, dessen Blüten die verschiede- /(1266) nen Arten von Konsonanzen, dessen Früchte die süßen Harmonien sind (vgl. Abert, I. c., S. 175). Das Gleichnis vom Weltbaum ist ein uralt orientalisches, wahrscheinlich weit älter als das der Planetensphären, aber es konnte sich dem nun beginnenden gotischen Flechtgefüge der Musik verbinden. Wenn gerade der Mensuralist Marchettus von Padua es gebraucht, um 1300, so nicht ohne Zusammenhang mit der Kunst, mehrere verschieden mensurierte Töne im Discantus gegen einen zu singen, also des beginnenden Kontrapunkts. Wird derart Musik selber zu einem reich unterteilten Gebilde und einem vielästigen Baum, so verläßt diese Mehrstimmigkeit und ihre Verschlingung doch nicht die astrale Ordnung: Engelchöre sind auch im polyrhythmischen, polyphonen Continuo. Das trotz der völlig neuen Musikform, auch trotz der Skepsis, welche im ausgehenden Mittelalter gegen die Sphärenharmonie anhebt. Eine beabsichtigte Nachahmung musicae mundanae, als der besten, findet sich in den Motetten Philipps von Vitry, des erwähnten Kontrapunktikers. Obwohl als Ars nova erschienen, das ist als bürgerlich freie Phantasiekunst, verlaufen die Melodien in strenger Einförmigkeit und periodisch, ohne Wechsel des Rhythmus, eine bewußte »Imitation» des Umschwungs der Gestirne. Theoretisch wurde dergleichen begründet im erwähnten gleichzeitigen »Speculum musicae» des Jakob von Lüttich, einem ganzen Auszug des gestuften Weltbilds in Tönen. Universalität der Musik wird verteidigt und scholastisch geordnet; sie reicht nun von den »res transcendentales et divinae» über Sterne, Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine die ganze Weltkathedrale herab. Und als das ständische Weltbild zerbrochen war, das am Himmel reflektierte, hörten die Sphärenharmonien in der Kunst nicht zu klingen auf. Nicht die »Tasten süßer Harmonie«, als di Lorenzo der Tochter Shylocks die Sterne erklärt und zeigt; nicht diese erhabenen Klangfiguren der Erinnerung: »Die Sonne tönt nach alter Weise / In Brudersphären Wettgesang.« Und die Naturwissenschaft, die die Welt davon entgöttert hat, war in ihren Anfängen noch selber tief in Pythagoreismus eingebettet. Eben Kepler, einer der Zerbrecher des alten Weltbilds, hielt an der Sphärenmusik fest, beschrieb sie sogar nach dem Kontrapunkt seiner Zeit. Die »Lyra Apollinis vel Solis« ist bei Kepler Barockorchester geworden, in /(1267) voller Mehrstimmigkeit: »Nichts anderes sind also die Himmelsbewegungen als ein fortwährendes Zusammenklingen,... alles in einem gleichsam sechsstimmigen Satz« (mit den sechs Planeten als Einzelstimmen) »und mit diesen Noten die Unendlichkeit der Zeit gliedernd und unterbrechend. Und so ist es weiterhin nicht merkwürdig, daß der Mensch, der Nachahmer seines Schöpfers, die Einsicht in den mehrstimmigen Gesang gefunden hat, die den Alten verschlossen war, so daß er den stetigen Fluß der Weltgeschichte im kurzenBruchteil einer Stunde abbildet mit einem kunstreichen mehrstimmigen Tongefüge und so die Schöpferfreude Gottes über sein Werk in dem süßesten Wonnegefühl nachkostet, wie es ihm die Gott nachahmende Musik vermittelt« (Harmoniees mund IV, 7. Kap.). Am Ende gab, wie erwartbar, noch die romantische Naturphilosophie dem alten Himmelszauber Zuschuß, am hörbarsten bei Schelling. Seine »Philosophie der Kunst« will nochmals auf astronomische Art »die höchste Bedeutung von Rhythmus, Harmonie und Melodie festsetzen«. Wobei
Rhythmus und einstimmige Melodie, wie die Antike sie besaß, der Planetenwelt, Harmonie und Kontrapunkt dagegen, als angeblich verworrene Bewegung, den - Kometen zugeordnet werden. Aber sonst ist die gesamte astronomische Musiktheorie hier nochmals erneuert, freilich bereits so fremd der zeitgenössischen Musik wie kosmisch konstruiert: »Auf den Flügeln der Harmonie und des Rhythmus schweben die Weltkörper; was man Zentripetal- und Zentrifugalkraft genannt hat, ist nichts anderes als - dieses Rhythmus, jenes Harmonie. Von denselben Flügeln erhoben schwebt die Musik im Raum, um aus dem durchsichtigen Leib des Lauts und Tons ein hörbares Universum zu weben« (Werke V, S. 503). Item, die Geschichte der Sphärenharmonie bleibt die Geschichte des kanonischen Weltbaus in der Musik, sodann des Salomonischen Tempels in der Musik, also der höchstgemeinten Form-Utopie. Freilich ist diese Form-Utopie utopisch nur als räumlich entfernte, ihr Wunschtraum gilt an anderem Ort als bereits vorhanden. Wunschzeit, folglich wirkliche Utopie, dringt nur insofern in diese Abwandlungen von Sphärenharmonie, in die angebliche harmonische Vollständigkeit der Schöpfung, als deren Wunschraum nicht mit Engelmusik schlechthin, sondern mit der eines /(1268) künftigen Jerusalem erfüllt zu sein gedacht ist. Das kommt in den älteren Berichten eines seligen Endes vor, wo es dem Abscheidenden, gut Dahinfahrenden zu gelingen scheint, kommende Freude vom Drüben her singen zu hören. Das lebt weiterhin in den mannigfachen Anführungen von Musikwundern bis tief ins Barock, so, als eines für viele, in dem Buch »Von den drei Seculis«, 1660, des Joachiten und Rosenkreuzers Sperber: »Als man 1596 in Jerusalem unversehens eine Kapelle ohne Tür gefunden, ist innen eine liebliche Harmonie gehört worden, gleich einer englischen oder himmlischen musica. So war kein Zweifel, es werde das neue Saeculum und die freudenreiche Zeit nunmehr in wenig Jahren angehen, allda man die ganze himmlische musicam mit immerwährender Herzensfreude hören wird, von der die irdische nur der Anfang ist.« Man erinnert sich hierzu, In ganz und gar nicht ketzerischer Gegend, auch des erwähnten Ausrufs Pius IV. vor der Marcellus-Messe Palestrinas: »Hier gibt ein Johannes in dem irdischen Jerusalem uns eine Empfindung jenes Gesangs, den der heilige Apostel Johannes im himmlischen Jerusalem einst in prophetischer Entrückung vernahm« (vgl. Seite 975f.). Ein epigonaler Nachhall dieser Art ist noch in Pfitzners »Palestrinas«, Ende des ersten Akts, wenn die Schöpfung der Marcellus-Messe dargestellt wird: eine Engelsstimme, dann mehrere, dann schwindelnde Tiefen von Engelchören singen den Satz dem »Inspirierten« vor. Wirklich noch geglaubter Hintergrund himmlischen Thronens ist in Bruckners majestätischen Dreiklängen intendiert, ein Hall von Cherubstimmen scheint in dem quintgeteilten Oktavsprung reflektiert, der sein Te Deum durchzieht. Und nun: Das hypostasiert Mythische an der astralischen wie christ-astralischen Wunschorientierung ist jenseits aller Diskussion klar, obwohl sie auch theoretisch bis heute nicht ausgestorben ist. Das Positive soll trotzdem nicht verkannt werden, an diesem heillosen Astralmythos von Musik, das Positive eben, das seine Zerbrechung, human-utopische Aufbrechung bezeichnet und nur sie. Das Positive eines ganz groß gedachten Form-Korrelats wahrer Musik soll richtig eingeschätzt werden, aber mit konkret-utopischer Umfunktionierung auf Makanthropos. Es gibt gewiß Sterne im Klang, aber sie sind solche, die sich als menschliche Namen erst gebildet haben. Es gibt gewiß /(1269) erhabene Ordnungen in Harmonielehre und Kontrapunkt, aber sie heißen Mozart oder Bach oder Beethoven, und ihr Gehalt ist das durch diese Kategorien geäußerte Existere, im nahen Medium des Klangs. Es gibt gewiß eine transparente Beziehung, wenn nicht der Harmonik, so des Rhythmus und des Kontrapunkts, aber sie wirkt nicht aus irgendeiner abgehobenen Struktur dieser Formen selbst, gar aus der so lang geglaubten Musik des Weltalls, sondern aus den großen Musikern und ihrem Alles, das in diesen Formen sich objektiviert hat. Nachdem solche Objektivierung geschehen ist, kann ein Kontrapunkt allerdings bezogen werden, nicht auf ein Reich von höheren Gesetzen, aber auf den tönend-utopischen Subjekt-Objekt-Inhalt, wie er bei Mozart oder Bach oder Beethoven artikuliert ist; - kraft dieses Inneren klingt ein Universum auch. Und der vermeintliche Welttempel, der als Musik widerklingt? Er war hilfreich, indem er diese so sehr subjektgebunden scheinende Kunst daran gehindert hat, tönende Privatheit zu sein. Das eben ist das Beste, wozu die Sphärenharmonie gedient hat und dienen konnte: sie riß Musik aus dem bloßen inneren Licht, gar aus bloßer Psychologie. Aber wenn selbst die Architektur nach »kosmischen Maßen« nie vergessen ließ, eine primär wie letztlich nach gesellschaftlichen Bedürfnissen und humanen Maßen ausgerichtete zu sein, dann erst recht die Musik, die, wie keine andere Kunst, auf das latente Subjekt und das ihm ganz entsprechende Objekt bezogene. Die in der Musik gesuchte und gemeinte Sprache liegt darum über die vorhandenen Bezeichnungen, auch über die darin bezeichneten Gewordenheiten viel weiter als jede andere Kunst hinaus. Sie überholt die ausgemachten Bekanntheiten der Gefühlsinhalte und jede bereits eindeutig-feste Gewordenheit der Szenerie; das auch dort, wo Musik in Lied, Oratorium, Oper einen Text nur begleitend auszutönen scheint. Musik spiegelt die Wirklichkeit in ihren malerisch, oft aber auch poetisch noch nicht gezügelten oder gefaßten Aura-Erscheinungen ihres »Naturierens« Was der bewanderte Klang derart wiedergibt, in so affekthafter wie
illuminierender Aussage, ist intensive Wurzel, signalisierte gesellschaftliche Tendenz oder-im mannigfachen Pastorale - eine als Klangfigur abgehörte, neu entdinglichte Naturwelt. So führt Musik, auch als Gesetzesfreude der Satzkunst und gerade /(1270) als diese, die ahnungsvolle Sprache dessen was den menschlichen und menschverwandten Busen des ganzen Daseins füllt, mithin weithin zur stoßenden Unruhe und dämmernden Möglichkeit in realitate gehört. Hierbei ist die Musik zweifellos von bloßer animalischer Blutwärme hinsichtlich ihres Intensiven ebenso bedroht wie von allzu Offenem, noch allgemein Undeutlichem hinsichtlich ihrer riesigen Horizonte, doch beides eben ist die (vorläufige) Schattenseite ihrer so tief und so weit sich vorwagenden Ausdruckstugend. Und vor allem: seit dem Gregorianischen Choral ist die Musik aufgetragen auf die Tendenz zu moralischer Ordnung und zu einer - auch ohne Sphärenmythos und Gestirn - einklingenden Harmonie. Die Musik zeigt sich also historisch wie gegenständlich wesentlich als christliche Kunst, ihre Sphärenharmonie zerbricht und schließt sich zugleich auf: zum Quellklang noch ungelungener Selbst gestalten in der Welt. Tonmalerei, nochmals Naturwerk, die Intensität und Moralität Musik Es kommt nicht von selber, daß der Ton überhaupt Äußeres angeben und darauf bezogen werden kann. Wohnt er doch eben dort, wo die Augen nichts mehr zu melden haben, wo ein anderer Reigen beginnt. Trotzdem bleibt der Klang nicht nur innen, vielmehr, sein Inneres hat einen unterirdischen Bezug zu jenem Auswendigen, das nicht nur ein solches ist. Das gilt für alle Tonmalerei, sofern sie sich nicht auf bloße läppische Kopie der paar vorhandenen Geräusche oder Stimmen beschränkt, als da sind Rieseln, Donner, Nachtigall. Immer gibt gute Musik mit Tonmalerei ein anderes als Oberfläche wieder, sie holt vielmehr ein Klingen und Zeigen heraus, das neben dem Ding, das geworden ist, noch übrigbleibt. Und diese Art Tonmalerei ist so alt wie gute Musik, auch ist sie in dieser keinerlei Verlegenheit. Die Tonmalerei hat auch die niedersten Formen, gewiß, und je dünner das Instrument, je nichtiger die Musik, je vulgärer der Zuhörer, desto sicherer war sie beliebt. Schon von dem griechischen Kitharavirtuosen Timotheus wird berichtet, daß er Schlachten wiedergab; weshalb er sogar aus Sparta mit Recht ausgewiesen wurde. Englische Spinettvirtuosen des sechzehnten Jahrhunderts kopier- /(1271) ten bereits Vogelstimmen, Blitz und Donner, freilich auch heiteres Wetter, wozu immer mehr gehörte als Abklatsch. Aber sehr früh ging noch andere als Virtuosenmusik in die Tonseite der Außenwelt, mit anderem Wunsch als dem zu Witzchen, Effekten, Wachsfigur. Jannequin, Schüler Josquins, machte Tonmalerei (selbst der gewaltige Josquin hatte sie nicht verschmäht) sogar zu einem eigenen Genre: er schrieb Jagd-, Vogel-, Schlachtstücke mit Kopie und Kontrapunkt. Er schrieb 1529 die berühmt gewesenen»Cris de Paris«, worin der Straßenlärm und die Rufe der Verkäufer in Musik auftauchen; Eric Satie schrieb 1910 ein ebenso legitimes Stück »Man speist auf der Terrasse des Kursaals«,Honegger nahm im »Pacific 231« eine Lokomotive als musicae personam. Und haftet solchen Gebilden noch Ausnahme an, auch bloße Erfrischung der Musik durch Geräusche statt durch neue Töne, so wird die Ausnahme sogleich zur Regel, wenn sie beim größten Musiker durchgehends erscheint. Bach übt nun nicht bloß Tonmalerei, er gibt buchstäblich Tongraphik, soll heißen, er setzt die Klangfigur zu der textlich beschriebenen, in der sichtbaren Welt gewordenen, er bringt dies Gewordene dadurch wieder zum tönenden Sprechen, in den ungeronnenen Sprachfluß seines Inhalts. Von daher die Musikbilder des Schreitens, Zusammenbrechens, Niedersteigens, Auffahrens und so fort in den Kantaten und Passionen, ein ständiges Vor-Ohren-Führen der Szene, in fluxu nascendi, wohlgemerkt. Als Beispiel für Hunderte sei die 39. Kantate genommen, mit der Vertonung des Textes: »Das Unglück schlägt auf allen Seiten um mich ein zentnerschweres Band«; eine helfende Hand, das Licht des Trostes kommen aus der Nähe, aus der Ferne herzu. Bachs Musik verwendet nun drei deskriptive Figuren: so gibt es nicht nur die aufstrebende der rettenden, emporhelfenden Hand, nicht nur die bei ihm typische Flackerfigur eines Lichts, auch das Umschlagensein mit schwerem Band wird durch eine charakteristische Bewegungsfigur des Umwickelns versinnbildlicht. Solche Tongraphik könnte in kleinerer Musik leicht skurril wirken, bei Bach gehört sie zur entdinglichenden Tonbewegung. Derart wurde das Klangbild hörbar gemacht, das dem sichtbaren oder geronnenen als noch fließendes, sich erst bildendes entspricht. Das riß in der neuen, noch beweglicheren Form nicht ab, ob- /(1272) wohl sie sich vom Beschreiben etwas zurückzuziehen schien. Nur wie ein Spiel nach dem Bachschen Ernst setzte sich Tonmalerei, geradezu unaufhörlich, in Haydns »Schöpfung« fort. Und nun folgt aus der »Stimmung« her der neue musikalische Naturstil, vom eigenen Genrebild bis zum eigenen Fresko. Dieser läßt jetzt ganze zusammenhängende Emotionsvorgänge auf seine Anlässe, folglich doch auch auf seine Gegenstände musikalisch beziehen. Dahin gehört die Nadelarie im »Figaro«, gehört hoch verursacht Beethovens Burleske: »Die Wut um den verlorenen Groschen« und noch Roccos Arie im «Fidelios, bei der Gold auch ohne Worte im Orchester
klingelt und den Menschen umtreibt. Dahin gehört vor allem, mit ganz männlichem Stil, das »Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande«, als dieses Ferienland selber; es gehört seine »Szene am Bach« hierher und nun gar die Gewitterdarstellung der gleichen Pastoralsymphonie, vernommen durch die Wahlverwandtschaft der eigenen Natur. Der schwefelgelbe Signalton in der Schwüle, der den Tanz der Landleute warnt und unterbricht, das Doppelschmettern des Blitzes (nicht des Donners), sie sind Elektrizität, wie nur die Musik sie unterhalb der Erscheinung aushorchen, künstlerisch antreffen kann, die selber agenshafte Kunst. Eine so erweckte Klangwelt ist seitdem unerreicht; neben unwichtigem Detail und statt seiner wird in ihr liebliche wie gewalttätige Natur aus der Flüssigkeit ihres Klangs reproduziert. Dadurch war aber zugleich, mehrere Stufen tiefer (auch im chthonischen Sinn verstanden), das Stichwort gegeben, für die nun einsetzende romantische Tonmalerei. Für die teils bedenkliche, teils mächtig hereinnebelnde, heraufdämmernde Beschwörung durch dunkle Tonlagen, durch Nachtseiten der Natur. Wonach über die Wolfsschluchtmusik das Spuk- wie Zauberwesen in Wagner kulminierte, kaum mehr in Bewegungskurven, sondern in Gärung, Donner, Phosphor, Glut und Drang. Von daher die nicht mehr graphische, sondern ausgebärende oder mitschwimmende Nebel- und Lenzmusik, das schwer arbeitende Unwetter im Beginn der »Walküre«, der roh-dekorative Walkürenritt, der Feuerzauber. Von daher aber auch Uranfang wie der Es-Dur-Dreiklang der strömenden Rheintiefe, aus dem sich die Nibelungenmusik hebt, oder die glitzernd-raunende, verworren-zak- /(1273) kige Musik der Erda-Szene, die zu den stärksten Hörbarkeiten des Unterirdischen zählt. Es sind das lauter undeutlich beleuchtete Orte, Naturnachahmungen aus dem Wallenden her und zu einem Erträumt-Mythischen hin: trotz des »Naturalismus«, mit dem Hans Sachs auf Beckmessers Schuhe und Alberichs Zwerge auf ihre Ambosse klopfen. Bei Wagner bleibt die Tonmalerei wesentlich chthonisch, das Licht, worin sie geschieht, ist Feuerschein aus der Tiefe, und dieser bleibt der stärkere, auch wo er in den beliebten Lenzjubel oder ins Wiesenfrühlingslicht überläuft. Zum Unterschied wiederum von spätromantischen Naturtönen oder Tonnaturen, den viel mehr an Oberfläche oder im Licht befindlichen. So bei Strauß, dem Meister der Oberfläche, etwa in den sonderbaren Klängen seines «Don Quixote«, welche die blökende Hammelherde wiedergeben. So bei Mahler, dem Meister von Allweihnacht, auch im Frühling, wen er Naturstimmen eindringen läßt, immer mit Licht- oder Retterblick. Einzigartig Nicht-Wagner, bei aller romantischen Verwandtschaft, ist hier die Hochalpe im ersten Satz der sechsten Symphonie Mahlers, der sonst so hochtragischen: über einem liegenden Baß tonartlose Akkorde, Sekundakkorde, die mit Dreiklängen wechseln, von Herdenglocken, Flöten, Pauken durchsetzt; ein Tonbild von Natureinsamkeit hoch droben. Wagners Naturbezug ist nirgends auf diese Äolsharfen gestimmt, aber auch nicht auf ein Befreiungssignal, das den Naturbann durchbricht. Gehören doch auch fast alle Menschen Wagners in die vulkanische Triebwelt, in den Schopenhauerschen Willen, handeln und reden aus diesem Naturtraum. Nicht nur die magnetische Senta und Elsa, auch die Brunstlyrik der meisten Ringfiguren, sogar Eva und Walter gehören zum Glühwurm, der sein Weibchen findet oder nicht findet (nach eigenen Worten von Sachs); um diesen Preis gelang hier - umgekehrte Sphärenmusik, nämlich aus dem Bauch der Natur. Die Menschen sind hier gleichen Stamms wie die unerhellte Natur, die durch sie handelt und tönt, In nie gehörter Wogung oder Waberlohe tönt. So werden im Einklang mit der Elementen-Malerei aus Musik allzu oft Wagners Musikpersonen »tanzende Schiffe, die widerstandslos das Leid, den Kampf, die Liebe, die Erlösungssehnsucht ihres untermenschlichen Meeres mitmachen und über die in jedem ent- /(1274) scheidenden Augenblick, statt der Begegnung aneinander und der eigenen Schicksalstiefe, nur die Weltwoge des Schopenhauerschen Willens hinweggeht« (Geist der Utopie, 1923, S.110). Um diesen Preis also geschah in der romantischen Musik das dauernd merkwürdige Phänomen einer Naturnachahmung als Naturausgrabung, nämlich als Tonmalerei ihrer bloßen Nachtseite. Bach hatte die Klangfigur der sichtbaren oder geronnenen hörbar gemacht, in fluxu nascendi, wie bemerkt; die Romantik malte natura naturans nicht als Diagramm, sondern als Phosphor. Immerhin war das Unterdingliche als Vordingliches auch bei Bach; es wird in Goethes berühmtem Satz über Bach getroffen: »Ich sprach mir's aus, als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sich's etwa in Gottes Busen kurz vor der Weltschöpfung möchte zugetragen haben. So bewegte sich's auch in meinem Inneren, und es war mir, als wenn ich weder Ohren, am wenigsten Augen und weiter keine übrigen Sinne besäße noch brauchte.« Doch ist eben letztere Regressio oder Ausgrabung weit davon entfernt, eine chthonische zu sein; ihr Ohr ist nicht Schopenhauer (bei dem bezeichnenderweise Bach überhaupt nicht erwähnt wird), sondern eher Hegel (der bezeichnenderweise an Bach gerade dessen »kernige Genialität« rühmt). Ganz anders eben wirkt die Naturausgrabung der romantischen Musik, die bei Wagner ja auch theoretisch an Schopenhauer und seinem Willensgrund orientierte. Gemalt und reproduziert wird hier ein schlechthin wildes Mark der Dinge; was aus ihm emportreibt, ist dann allerdings wieder nur die inhumane Welt, die Nornenwelt, Schicksalswelt, aus der diese Musik keinen Ausweg kennt. Bricht Siegfried, selber ein Naturbursche, den Bann, so vollzieht er auch damit
nur ein vorbestimmtes Schicksal. Hebt sich Parsifal heraus, dann ist es immer wieder der allgemeine Weltwille, der sich wendet; mit jenem wollüstigen Harfen- und Glockenklang, mit dem süßen Seligkeitstheater, das, auch jenseits des Kitschs, noch ganz zur Welt-Libido gehört. Natura naturans in der romantischen Musik wird so natura naturata noch einmal, versehen mit dem besseren Glanz, den die Gehörtheit gibt, mit der archaisierenden Utopie, die der Regressin in erträumten Mythos eigen ist. Auch diese Wiedergeburt vorhandener Welt geschah in Übereinstimmung mit Schopen- /(1275) hauers Musikphilosophie, genauer mit dem Weltkorrelat, das er der Musik gab. Musik erfaßt hier zwar die in dunkler Verschwiegenheit treibende Wurzel, aber sie endet in der Darstellung des unerhellten Weltbaums, sie wird schließlich auf die bloßen »Objektivationen des Willens« orientiert. Sogar das Orchester wird hierbei, auffallend kosmomorph, auf Naturreiche bezogen, mit steinernem Grundbaß unten, Harmoniestimmen in der organischen Mitte, der melodischen Oberstimme darüber. Wenn sich Schopenhauers Analogie auch wesentlich nur auf den Opernstil im italienischen Geschmack gründet, so lehrt sie doch darüber hinaus: gerade die allzu nächtige Willenswurzelung der Musik, wie sie Schopenhauer gab, blieb in natura naturata. Es ist immer nur die vorhandene Welt des Willens, die hier erscheint, keine Neugeburt, außer durch die Immaterialität des Tönens. Nicht einmal die Beethovensche Symphonie kommt für Schopenhauer aus dem alten Willen und der gekannten Küstenschiffahrt heraus, trotz aller Entzweiung: »Es ist rerum concordia diseors, ein treues und vollkommenes Abbild der Welt, welche dahin rollt, im unübersehbaren Gewirre zahlloser Gestalten und durch stete Zerstörung sich selbst erhält« (Werke II, Seite 528). Allerdings war nicht zu verhindern: die Brunnenlust oder pointierte Gärung der romantischen Musik, obwohl sie den Naturmythos oder die Mythosnatur selten verließ, kam doch an eine anders sprudelnde Welt mitten im tönenden Archaismus ihrer Natur. Natura naturans oder Subjekt der Natur, wenn es musikhaft intendiert wird, macht die aus ihm bestrittene Tonmalerei allemal transparent. Nicht im Sinn des Auswegs oder der Freiheit, diese gibt es bei Wagner nirgends, auch nicht in seinen christlich-theatralischen Partien, dort vielleicht am wenigsten, wohl aber im Sinn eines dauernden Überkochens ins Archaisch-Utopische, in ungewordene Bedeutungen mythisch-verkapselter Natur. Der eigentliche, nämlich menschliche Wille fehlt in diesem Naturwerk allerdings völlig, Sachs und den rebellisch sterbenden Siegmund abgerechnet. »Ertrinken, versinken unbewußt, höchste Lust«, dieser Unterwelt-Bezug ist, bei aller in ihm verkapselten Utopie, das Gegenspiel zu Beethoven oder zur männlichen Willenswelt. Wo Musik dagegen auf den Menschen bezogen wird, als Kern der Natur, wird sie unweigerlich auch Bezug auf eine /(1276) gesprungene, aufgesprungene Natur, auf eine zum regnum hominis erhellbare. Wobei es sich freilich fügt, daß Wagner, eben wegen seiner Quellklang-Nähe, diese nicht nur als ertrinkende hat, sondern an wichtigen Stellen auch als eine Art supernaturierende mitten in der Natur selbst. Das ist, als Transparenz eines eigentümlichen, nur hier vorfindbaren Hallens, weit in den Horizont geworfen und hinter ihn, eines hallenden Pastorale mit weniger Schopenhauer-Willen darin als zu einer Heimat Kreisendem. So in Brünhildes Schlußgesang, mit dem Weit-hinaus seiner riesig kehrenden, rückkehr enden Bögen am Ende. Doch bleibt auch diese Natur bei Wagner noch unbestimmt entführend, wenn man in ihrem Hallen nicht ebenso Widerhallen, nicht Beethovensches, Menschgetreues hört, wozu ein tönender Quellraum, in riesigem Format, aufspringt. Statt der betäubenden erscheint so ethische Wirkung und Abbildung durch Musik, statt der mächtigen Tonmalerei eines urnächtig-großen Naturtraums erscheint Moralität der Musik. Auch der Mensch unter Menschen wollte ja gemalt werden, und wie näher, besser, gebesserter als tönend? Damit kehrt der Klang von seinen Ausfahrten wieder zurück, kehrt vor der eigenen Tür und wärmt im Haus. Die Tonmalerei und was tiefer mit ihr zusammenhängt hat ihr Gegenstück im Selbstporträt durch Töne, in einem vorbildlichen Miteinander. Solch sittliche Wirkung der Musik war seit je erhofft, gleich als wären wilde Tiere auch im Menschen zu bändigen oder Mattes zu beleben. Solche Hoffnung reicht von Orpheus bis zur Zauberflöte; die Damen der Königin der Nacht singen von ihr: »Hiermit kannst du allmächtig handeln, der Menschen Leidenschaften wandeln.» Diese Hoffnung reicht weniger magisch von Platon durchs ganze Mittelalter hindurch und hat die alte strittige Zuordnung des Schönen zum Guten mit bedeutend größerem Stil gehalten, als dies in der Dichtung möglich war, gar im Muffgebilde moralisierender Dichtung. An sich sah die Kunst einer Zeit immer besser drein als die bloße Moralpredigt, und gab sie sich zu dieser her, so kam Gottsched heraus oder der gußeiserne Besen. Aber die Kunst sah nicht besser drein als die jeweilige unphiliströse Energie der Humanität, und gab sie sich zu dieser her, so traten Schiller hervor und Beethoven, diese Moral der Musik schlecht- /(1277) hin. Ja selbst die bloße Moralpredigt wurde durch die Fähigkeit der Musik, Moralität zu sein, auf ein höheres Niveau gezwungen. Es ist ein Unterschied zwischen dem philisterhaften Verlangen nach Feigenblättern und dem platonischen Kampf der Kirchenväter gegen schwüle Musik, dem Kampf des Papsts Marcellus gegen überornamentierte. Platon also begann damit ernsthaft, die Musik ernst zu nehmen, gemäß seiner so wenig liberalen Staatsutopie; erschlaffende
Klangwirkung wird ihm ein Ärgernis, nicht eine Torheit (3. Buch der »Politeia« ) . Ausgeschieden werden die klagenden und weichen Tonarten, ausgezeichnet »die Tonarten der Kraftvollen und Gutgesinnten, die die Stimmen der Unglücklichen und Glücklichen, der Besonnenen und Tapferen aufs beste nachahmen können«. All das aus einer Achtung, die dem Gegenstand der Musik immerhin näher entspricht als die Sphärenharmonie; oder vielmehr, die deren menschlichen Teil, die Harmonie zwischen Leib und Seele, richtig macht. Aus diesem Wunschbild wird für Platon »die musikalische Erziehung von höchster Bedeutung, weil Rhythmus und Harmonie ganz in die Tiefen der Seele sich senken, mit aller Kraft sie erfassen die schöne Form schon mit sich bringen und der Seele die Schönheit mitteilen, wenn sie der richtigen Erziehung teilhaftig geworden ist«.Die Kirchenväter haben dies scharfe Ethos Musik übernommen, umorientiert von dem Zielbild einer disziplinierten Polis zu dem einer heilsgemäßen civitas Dei. Als gefährlich und daher der Aufsicht bedürftig galt Musik hier immer; es gibt »Gesänge des Teufels« (sie werden beschrieben, als klänge ein Tannhäuser-Bacchanale), es gibt »wahre Musik«, nämlich heilende, reinigende, praeludium vitae aeternae, wie Augustin rühmt. Das Bild Davids, der Saul durch Saitenspiel vom Wahnsinn geheilt hat, geht durch die ganze patristische und mittelalterliche Musikethik; »wahre Musik« soll den Rapport mit dem Heil der Welt in christförmiger Nachbildung, Nachfolge organisieren. Pseudo-Justinus gibt der moralischen, der psalmodierenden Musik folgende Richtlinien: »Der Gesang erweckt brennende Sehnsucht, verbunden mit angenehmen Empfindungen, besänftigt die durch das Fleisch erregten bösen Affekte, verbannt die von unsichtbaren Feinden eingegebenen schlechten Gedanken, bewässert die Seele, daß die göttlichen Güter reiche Früchte tra- /(1278) gen, macht die Vorkämpfer der Frömmigkeit tüchtig zum Ausharren in Gefahren, wird für die Frommen zum Heilmittel in der Drangsal des irdischen Lebens.« Oberster Zweck des Psalmengesangs wurde die compunctio cordis, die reuige Zerknirschung des Sünders, aber auch Konformität mit der Engelmusik; so schien »wahre Musik« Hochersehntes in Aufgewühltes einzupflanzen. Item, der Tonbezug lenkt mit der sittlichen Wendung und Wirkung ganz auf menschliche Gründe, das Selbstporträt wird als ein ins Wesenreich emporreißendes vorgesetzt, als ein unsere Essenz ziehendes. Und kein großer Musiker hat sich dem näher erwiesen als Beethoven, seine Musik ist durchdrungen von moralischer Leidenschaft, also von jenem Willen, der einer zum Hellwerden, nicht zum kopflosen Leben ist. Von daher Beethovens Bekenntnisse: »Wenige verstehen, welch ein Thron der Leidenschaft jeder einzelne Musiksatz ist, und wenige wissen, daß die Leidenschaft selbst der Thron der Musik ist«; oder: «Wenige gelangen dazu, denn so wie Tausende sich um der Liebe willen vermählen und die Liebe in diesen Tausenden sich nicht einmal offenbart, so treiben Tausende einen Verkehr mit der Musik und haben doch ihre Offenbarung nicht; auch ihr liegen die hohen Zeichen des Moralismus zugrunde wie jeder Kunst, alle echte Erfindung ist ein moralischer Fortschritt.« Und so zeigt diese dem Menschen nächste Kunst neben dem Chaotischen, dem finster Wühlenden, das ihrer Art Inwendigkeit gewiß nicht fehlt und das in Mythosnatur sich einhaust, durchaus das Menschengesicht, das über dem Bann aufgeht; Musik zeigt es eben auch in den großen Momenten des romantisch-gebannten Naturbezugs, trotz seiner. Die Weltwurzel, die in Musik weitertreibt, ist letzthin doch die Menschwurzel eines ihr adäquaten Weltseins, die durchaus utopisch-tendierende, nicht archaisch-fixierte. Und das schaffende Dunkel, worin sie noch steht, ist nicht die Finsternis des Schopenhauerschen Willens, sondern das durch alles hindurchtreibende, in der Welt selber verborgene Inkognito des Jetzt. Musik in ihrer unübertrefflichen Existenznähe ist das am nächsten verwandte und das öffentlichste Organ dieses Inkognito, als des quellenden Existere, das in konzentrischen Praeludien sich hier zu lichten sucht. Und die Welt oder Auswendigkeit, zu der moralitas musicae ihren unterirdischen Bezug hat, /(1279) den Bezug des dauernden Unterstroms oder des Tonflusses ante rem: diese Welt ist nicht die bereits gewordene, sondern die, welche darin umgeht, welche als regnum hominis nur erst in Zukunft, Angst, Hoffnung bevorsteht. Die Beziehung zu dieser Welt macht Musik gerade gesellschaftlich seismographisch, sie reflektiert Brüche unter der sozialen Oberfläche, drückt Wünsche nach Veränderung aus, heißt hoffen. Engelmusik geht hierbei gewiß nicht auf, nicht einmal compunctio cordis, wie die Kirchenväter in ihrer großen Zeitwende gehofft hatten, aber allemal eine Selbstbegegnung mit Unordnung unter der Oberfläche oder mit Diagrammen einer anderen Ordnung, worin das Bewußtsein mit keinem Objekt mehr behaftet ist als mit einem fremden. Das ist die Stellung der Musik in der Welt und die Stellung der Welt in der Musik, auch während des musikalischen Naturbezugs. Es gibt keine Wasser- und Feuermusik, keine der romantischen Wildnis, die darin nicht zwangsläufig, durchs Tonmaterial selbst das fünfte Element enthielte: den Menschen. Musik setzt Natur mit der flüchtigen, gesuchten, heimatlichen Syrinx in ihr, mit der Lampe Heros über den Wassern des Hellespont; ja selbst die hellste Musik des Vormittags setzt ihre Natur gegen Abend, wo die Welt ausgeht und sie selber wie zum Vor-Schein ihrer künftigen Heimlichkeit übergeht. Wo das Brunnenwesen des Subjektgrunds und des suchenden Weltgrunds zusammenarbeiten, in einem Vor-Schein, der anders als in dem der übrigen Künste dauernd apokalyptisches
Momentum in sich hat. Malerei, sogar Dichtung, mit ihrer bereits oder noch weithin lokalisierten erscheinungsgesättigten Sprache können dies Momentum umgehen; Musik, mit ihrem offenen Fluß, voll Anfänge eines noch Unbezeichenbaren, setzt notwendig Exterritoriales zugleich. Kein Naturbezug kommt dagegen auf, es sei denn einer mit dem Realismus der humanen Chiffern und Realsymbole in der Natur; an den Grenzen sichtbarer Bekanntheit. Nur zu diesen also geht der nach Mozart, Bach, Beethoven benannte, sie enthaltende Kontrapunkt hin. Und nur in einer Schicht, wo sonst nirgends vorhandenes, ganz sicher nirgends sonst ausgeformtes Material zu einem anderen Kosmos übergeht, sind die Kategorien Mozart, Bach, Beethoven zu Hause. Das sind die Figuren der Grenzüberschreitung in Tonsphären; es sind Artikulierungen /(1280) menschlichen Existierens in einer sich bildenden Sprache der Intensität, die ihre ganze Essenz in der zu sich gekommenen Welt gewinnen will, indem sie sich hellhört und expandiert. So mithin enthält Musik die Moralität und die Universalität eines Mittelpunkts, als des durchdringend und durchdrungen intensiven. Melodie wirkt ihn lyrisch aus, Fuge episch, Sonate dialektisch-dramatisch, aber das Experiment des In-Existenz-Vernehmens seiner selbst und der Welt bleibt allen Formen der Musik, besonders den strengen, gemeinsam. Ein noch gärend-utopisches Ausfigurieren in fonte hominum et rerum wird abgebildet, in einem nur der Musik so offenen Intensitätsraum. Der Hohlraum; Subjekt der Sonate und Fuge Der Ton begann als ziehender und spannender, will er das aber auf die Dauer bleiben? Sicher will und wird er das, nur ist die Frage, ob auf dem alten, zugleich bequem und unbequem gewordenen Weg. Will nämlich die akkordische Spannung und Lösung bleiben, die dem Ton so lange eingeschrieben scheint? In vertrauter Weise, dissonant-konsonant, aus der Dominante über die Unterdominante zurück zur Tonika. Eben diese Weise ist aber abgelaufen, wie bekannt, es ging ihr der gesellschaftliche, folglich technische Atem aus. Die konkurrierend-konfliktreiche Gesellschaft ist abgelaufen, die in der klassisch-romantischen Tonalität sich ausgedrückt hat. Statt ihrer kam, vorn an der Front, zuerst die sogenannte atonale Musik mit aufgehobenem Grundton. Sodann erschien mit neu durchgeformtem Klangmaterial die nicht mehr kadenzierende Musik als Schönbergs Zwölftontechnik. Auch die Zwölftontechnik kennt den Bezug zum Grundton nicht mehr, folglich auch nicht die daraus entspringende harmonische Spannungs-Lösung, die der Sonate wesentlich war. Dissonanz und Konsonanz sind sinnlos geworden, das dynamische Verhältnis zwischen Modulation und Kadenz ist einem eher gleitenden, still-strengen Reihenzusammenhang gewichen. Die temperierte Tonleiter bleibt erhalten, grundsätzlich werden alle zwölf Töne im überlieferten Oktavenraum herangezogen (also keine Viertel- oder Achteltöne), doch eben mit eliminiertem Tonartbewußtsein. Derart entsteht eine begrenzte, wohlgeord- /(1281) nete Mannigfaltigkeit von Grundreihen; jeweils eine dieser trägt den musikalischen Vorrang, mit fortgesetztem, lückenlosem, stets wiederholtem Ablauf. Eintönigkeit infolge dieser Wiederholung ist schon deshalb nicht letzthin vordringlich, weil alle zwölf Töne der Skala zur Transponierung verfügbar sind. Es ist auch gar nicht nur die Eintönigkeit, über die der unvorbereitete Zuhörer sich beklagt, konträr: er reagiert mit einem Schock. Eintönigkeit möchte mehr Schlaf hervorrufen, und auch die berühmte Ausdruckslosigkeit, die neuer Musik von der erwähnten neuen Sachlichkeit eingeredet worden ist, brächte keinen Schock hervor. Dieser antwortet vielmehr dem schlechthin Preisgegebenen, als das eine unverstandene, durch keine Gewohnheit abtastbare Zukunft ihnen entgegentritt. Schönbergs »Harmonielehre« aus der Zeit vor der Zwölftontechnik reflektierte das bereits so: »Die Melodie schließt mit Neu, Unendlich oder Unerfüllt«, die Harmonie hört auf, Ausgangsland, aber auch Reiseziel mitzuteilen. Auch die erlangte Zwölftontechnik, indem sie allen Tönen gleiche Berechtigung zuerkennt und jeden Akkord möglich macht, kennt keinen tonalen Beziehungspunkt mehr, folglich keine tonartliche Heimat, worin, wie in der Sonate, Kadenz und Thema sich bereits befunden haben. Kein Thema kann, als Fond einer Wiedererkennbarkeit, an den Anfang gesetzt werden, wie in der Sonate, gar Fuge: Musik wird eine Existenzart, die sich als geschehend erst bildet: »Von daher«, bemerkt Krenek mit Recht (Über neue Musik, 1937, S. 89), »von daher hat die Formgebung der neuen Musik etwas Fragmentarisches, mit allen Konsequenzen der Trauer und Unbefriedigtheit des Eindrucks, den das Fragmentarische hinterläßt.« Von daher aber auch das harte Dasein eines Unendlichen in diesem Unerfüllten; Zwölftonmusik stellt beides dar, in ihrer eigentlichsten technischen Beschaffenheit. Schönbergs Musik bleibt derart Ausdruck durchaus, im besonderen bleibt sie Ausdruck des Subjektstands dieser übergehenden Zeit, als eines undeutlichen, nicht aber geleugneten oder unterschlagenen. Hat die atonale Epoche dies Espressivo nicht aufgehoben (Beispiel dafür ist Schönbergs Monodram »Erwartung«), dann auch die Zwölftontechnik nicht, mit ihren noch so rationalen Konstruktionsprinzipien. Auch sie ist »Rettermusik«, nicht »Maschinen- /(1282) musik«, wie die von Strawinsky neben starrem Neuklassizismus intendierte. Schönbergs Kunst ist entschieden nicht das
bekannte Maschinenwesen dieser Zeit, mit ebenso bekanntem Neuklassizismus verkleidet; sie reflektiert vielmehr den Hohlraum dieser Zeit und in ihm brauende Atmosphäre, geräuschloses Dynamit, lange Vorwegnahmen, suspendierte Ankunft. Schönbergs Musik ist derart keinesfalls erhebend, ja es wurde in ihr die Fähigkeit vermißt, Erhabenes auszudrücken neben der offensichtlichen Unfähigkeit, den abgestempelten Schlendrian des Kunstgenusses auszudrücken. Es wurde gar gesagt, der in dieser Musik einzig gebliebene Grundton sei der der Verzweiflung, ja jener lediglich temporären und ephemeren Verzweiflung, die die Aussichtslosigkeit der Bourgeoisie reflektiert und zuletzt ihr Interesse, jeden Veränderungswillen ihrer Opfer zu entnerven. Aber all dergleichen ist eine selber heillose Übertriebenheit; wahr daran ist nur so viel, daß diese Musik, eine allein schon durch ihre Kühnheit und Ratio vom totalen Nihilismus unterschiedene, voller Wundmale einer harten, durchaus nicht paradiesischen Übergangszeit ist, jedoch ebenso voll unbestimmter oder noch unbestimmter Funkenfigur ihres Gesichts. Wäre dieses Gesicht sozial herausgekommen, dann wäre auch Schönbergs Kunst sogleich schönheitstrunkener und einfacher; indes dazu bedarf die Musik eines Bunds mit ganz anders muskulösen Moralitäten. Rebus sic fluentibus ist in diesem Werk ein völlig ehrliches und zeugungskräftiges, ein zeitlegitimes Licht und das einzige, wodurch das keimend Substantielle neuer Musik überhaupt gedeihen kann; im Hohlraum mit Funken. Die neue Musik zeigt bereits, bevor sie sich ihrer bewußt war, eine Meisterschaft in der Weite motivischer Beziehungen, in der unbehausten Gewalt vagierender Akkorde; ihr Ausdruckscharakter war einer der völligen Offenheit. Bereits in Schönbergs erstem Streichquartett und in der ersten Kammersymphonie entwickelt sich Musik so, daß sie sich von ihrem Ausgang ablöst. Motivische Beziehungen werden Träger des Zusammenhangs, das Themenmaterial entspringt frei aus der Keimzelle eines einzigen Gedankens. In den drei Klavierstücken, besonders im dritten, hört auch die motivische Verbindung auf, kein Thema wird wiederholt, beständig neue treten ein. Im Monodram /(1283) »Erwartung« ist Thematik überhaupt aufgegeben, hier beginnt der grundsätzlich athematische Stil, den Alois Haba und seine Schule dann auf Grund beibehaltener Atonalität weiterentwickelt haben. Aber die Zwölftontechnik, auch mit reihentechnischen Gebilden wie in der zweiten Kammersymphonie und ihrer glücklosen Mystik, verliert nicht völlige Offenheit nach vorn; die Rückläufigkeit der Reihen ist weit entfernt von thematischer Reprise. Sonatenform mit dieser Reprise ist der Zwölftontechnik verschlossen, und der Versuch vom Bläserquintett an (das auch als veritable Sonate für Violine und Klavier erschienen ist), die Sonatenform zu erneuern, bleibt äußerlich, verglichen mit den Orchestervariationen Schönbergs. Von den alten Formen entsprechen nur Variation und Suite der geraden Linie, ohne Kreis, hin zu Neu, Unendlich, Unerfüllt. Und nur von hierher, aus dem FragmentarischUnendlichen geschieht nun auch das Gegenstück des Schocks: nämlich das Wiedersehen mit neugeboren Altem, neu gehörtem und ins Offene verwendetem. Hier findet sich nicht Variationstechnik und nicht nur die gewollte radikale Freisetzung einer rein kontrapunktischen Polyphonie, sondern die Musik, die sich erst bildet, hat von ihrem Ausdrucksinhalt her sogar eine Formbeziehung zu dem letzten klassisch-romantischen Kunstwollen und dem Gesetz, wonach es nicht angetreten, aber endet. Sofern dies Kunstwollen, das der Sonate, zwar als eines der gesetzten thematischen Exposition und ihrer bekräftigenden Reprise das der Reihenform fremdeste ist, aber als finales ebenso wachsend in Offenheit mündet. Das Beethovensche Thema, zum Unterschied von dem Mozarts, gar dem Fugenthema, ist von der Eroica ab selber kein entwickeltes; es erfährt sich vielmehr erst in der Durchführung und dialektisiert sich erst darin aus. Mahler, als letzter, oft schon transparenter Musiker der alten Tonalität, gab vollends keine Themenentwicklung von gesetztem Anfang her. Ebendeshalb ist auch sein Espressivo keines von etwas her, sondern zu etwas hin, die Bekanntheit des Spannungs- und Gefühlsausdrucks verschwindet, Reprise und die meist sehr breite Coda (siebente Symphonie) leben auf neuem Feld, auf entrückten Feldern. Andeutend lange Einleitungssätze gehen der Themengruppe oft vorher, »aus luftigen Tönen quillt ein Weißnichtwie «, der Durch- /(1284) führungsteil ist reich an Ausweichungen, motivischen Neubildungen (erster Satz der dritten, letzter der siebenten Symphonie), die Coda ist zwar Weihnacht, doch ebenso Advent. Ein Sich-Annähern ist so da, ist Mahlers Musik selber, gemengt mit Wachtrufen, Appellen, Kondukten, Signalen, mit einer Art von melismatischen Depeschen aus fernem Hauptquartier. Sein letztes Wort geht, als «Lied von der Erde«, mit unaufgelöstem vorhalt in ein unermessenes Ewig, ewig; trotz des beibehaltenen, zuletzt ausgelassenen Grundtons. Die neue Musik enthält nicht mehr die Dynamik der romantischen, sie erscheint sozusagen als das Paradox eines höchst extravertierten Adagio, doch sie intendiert ebensoviel Unerlangtes wie die dynamische, wo nicht mehr. Und nun also klingt auch dasjenige, was als der alte Ton geschichtlich überliefert ist, neu auf. Gerade weil in ihm nicht gearbeitet werden kann, es sei denn von gleichgültigen Nachahmern, wird er mit jedem Tag schöner. Hier ist ein ungeheures Erbe und eines, das, indem es Nachreife erlangt, nicht feiert und abstumpft. Das Wandernde und das Wetterhafte gehen nicht aus, Kampf und Unstimmigkeit gehen erst recht
nicht aus, auch wenn sie nicht mehr unternehmerisch betrieben werden. Wenn sie nicht mehr freier Wettbewerb heißen, sondern im Gegenteil revolutionäre Arbeit, die gegen das Unstimmige angeht. So wird auch die Tonform konfliktreichen Wesens, die Sonate neu gehört: nicht genießerisch erhitzt, sondernd sprengend. Entscheidenderart wurde ihr Stil, dieser bürgerlich-revolutionäre, bereits angezeigt, auch eröffnet durch eine schlechthin veränderte Art des Vortrags, des Orchesterstils. Als Stamitz, gegen 1750, sein Mannheimer Orchester zum Vortrag des Erhellens, Verschiebens, Verdunkelns, zur Kunst des Diminuendo und Crescendo erzog, wurde der Weg zum Sonatenstil frei. Statt der Terrassendynamik, die auf der Folge eines kontrastierenden, doch in sich unbeweglichen Forte, Piano beruhte, kam die Kurvendynamik, mit ihr eben das atmosphärische Wesen. Dann aber, sehr viel später, bei Beethoven, wurde das sachliche Konstruktionsprinzip der Sonate: die Doppelthematik und ihr Konflikt zur Reife, man kann auch sagen, zum Bewußtsein gebracht. So hat sich die Sonate ab ovo bereits von ihren Vorfahren, der Orchestersuite, dem Bachschen Konzert, gar von ihrem Gegensatz: der Fuge, /(1285) durch ihre Art Wetterwesen, durch den Vortrag in dynamischen Kurven abgelöst. Das Wetterlicht für sich allein wäre freilich chaotisch oder, da die Sprache des Sturm und Drang in der ihm gleichzeitigen Musik fehlt, einen erstaunlich frühen Vorklang bei Stamitz ausgenommen, lediglich das Medium komponierter Hysterie geworden. Dagegen sublimierte sich der beginnende gesellschaftliche Antagonismus zudem mit Musik durchaus gleichzeitigen Konflikt der zwei Seelen in einer Brust, und: er wurde in der Sonate dialektisch. Wie bekannt, folgt in ihr dem Hauptthema in der Grundtonart ein weicheres, gesangvolles, kontrastierendes Seitenthema (bei matten Symphonikern wie Schumann oft nur eine Art Ölfleck). Die Durchführung ist die Ausgeburt der thematischen Entzweiung, der Abirrungen, der hochgeladenen Ausschweifungen; die Reprise führt, mit wiederhergestellter Haupttonart, zum ersten Thema zurück, als zu seinem Sieg. In der Eroica sind »die zwei Prinzipien« der Thematik völlig zur Arbeit angestellt, der gesellschaftlich gelieferte Antagonismus ist hier zugleich einer der Schrankensprengung selbst, die erst zu ihm geführt hat, oder der Französischen Revolution. Die Eroica ist so aus dem gleichen Grund die erste bewußte und die vollkommenste Sonate-Symphonie geworden. Ihr erster Satz vor allem ist die Luziferwelt der Beethovenschen Sonate, also nicht der Unternehmerwille, der ihr mit anderen entzweites Subjekt freimacht, sondern der höchste Überschuß darüber und aus viel älterer Schicht: der Prometheus-Wille. Die Nachreife Beethovens, welche mehr als bei irgendeinem Musiker Sprengung, Musik der Revolution apperzipieren läßt, hat in diesem legitimen Titanentum ihren Grund. Erst später konnte das Subjekt der Sonate zu einem patent-zweideutig gewordenen Elan, von der Art Siegfrieds im Nibelungenring, übergehen; bis der Unternehmerschwung im Straußschen »Don Juan«, gar «Heldenleben« allein zum Vorschein kam und jeden prometheischen Überschuß veräußerte. Echtes Subjekt der Sonate aber: das bedeutet musikhaft-technisch den Kraftfaktor, alle in ihm thematisch implizierten Möglichkeiten zu entwickeln und zu gestalten. Subjekt der Sonate: das bedeutet musikhaft-inhaltlich eben die Kategorie Beethoven als die sich in diesem Kraftfaktor besonders präzis und kanonisch äußernde Überschreitung. /(1286) Sie ist im Medium des Klangs aus Fausts Geschlechts, ein riesig geladenes, riesig nach vorwärts drängendes Wesen und gleichsam nicht in Zivil wie Faust, sondern vollkommen durchrhythmisiert und strategisch. Das gibt der Sonatenform auch das Vorwärtsdrängende, womit sie nicht nur, wie selbstverständlich, die nachromantische Musik überbietet, diese unpolare Reihenbildung und Parallelverschiebung, sondern auch das Großwerk einthematischen Stils, die Fuge. War doch die Sonate außer dem mancherlei konkurrierend erhitzten Elan in ihr voll von revolutionärer Spannung, gesetzt durch die kontrastierende Zweithematik und den Gegensatz ihrer harmonischen Zonen; diese Art Spannung freilich ist in der neuen Musik, wie gemerkt, nicht mehr. Eine neue Art zu gewinnen, ist darum für Musik dieser Kampfzeit gebieterisch notwendig, und da es mit äußerlicher Aufnahme der Sonatenform nicht getan ist, müssen andere Mittel herbei. Eben um vor dem revolutionären Elan der echten Sonate zu bestehen, wenn auch auf Kosten solch vornehmer Werte wie Eleganz oder sprunglose Dichte. Die atonale Musik suchte die Spannung in Form von lauter Katastrophen zu bewahren; legitimer bietet sich die nötige Tendenzkraft durch ein Element an, das mit dem Untergang der alten Tonalität ja am wenigsten verschwand: durch den Rhythmus. Er wird nicht gestört, wenn ametrisch komponiert wird (mit fortgefallenem Taktstrich), er arbeitet in der Polyrhythmik, wie sie von der primitiven Musik her aufgenommen worden ist, unabhängig von der verlassenen harmonischen und außerhalb ihrer. Es gibt sogar eine eigene, sehr tiefliegende, noch kaum entdeckte rhythmische Tonikabeziehung; wäre sie gefunden, so wäre nicht nur das riesig gespannte Expeditionswesen der Sonate wieder erreicht, sondern auch ihr anderes, entschieden nichtfragmentarisches: das mit dem Sieg des Themas bezeichnete. Die neue Musik hat keine Reprise mehr, mit wiederhergestellter Haupttonart, an der sich der Sieg erkennen läßt, es ist ja ihre Größe und Zukunft, daß sie kein an den Anfang gesetztes, gleichsam entschiedenes Thema mehr hat, sondern Musik ist, die sich erst bildet, die mit dem Neu, Unendlich des Endes Ernst macht. Aber die Reprise in der Sonate hatte nicht nur Rückkehr, sondern Ankunft
bedeutet, genau dies Element also, ohne das die /(1287) revolutionäre Spannung sinnlos bliebe. In der Reprise war die hohe Zeit der Sonate: sie ohne das Erinnerungsmittel der Reprise zu gewinnen, dazu kann erst recht einzig rhythmische Tonikabeziehung verhelfen. Aber die Sonate bleibt für Spannung ,wie Lösung auf neuer Stufe - das Vorbild; so geht sie nicht bloß in Nachreife des Hörens, sondern auch in der fortgehenden Produktion als lebendes Erbe um. Und das andere Vorbild, nun aber im Hinblick auf Da-Sein, auf Gewährung von Musik, ist und bleibt die lineare Polyphonie des alten Kontrapunkts vor dem Sonatenstil, vor allem mithin die Fuge. Sie ist monodisch, wie bekannt, ein einziges Thema, Dux mit Comes, ein Wandern des einen Themas durch die Stimmen, in denen es sich unentzweit, ohne Kampf aufschließt. Auch Doppel- und Tripelfugen, mit zwei und drei Themen, setzen diese nirgends als gegensätzliche, und die dynamische Durchführung bleibt sprunglos, ohne Ungeduld. Gewiß, die geringere Spannung wie die dichtere Gelassenheit reflektieren eine ständische Ordnung, die als solche vergangen und am wenigsten kanonisch ist. Gewiß also steht die Fugenform, indem sie Dynamik überwindet, ohne sie gekannt zu haben, als Wirklichkeit hinter der Sonate; und diese, mit ausgebrochener Dialektik, überbietet sie, wie bemerkt. Aber es fällt ebenso auf, daß die Fuge sich gerade nun innerhalb der Sonatenform von ihrem alten Boden loslösen konnte und dann keinerlei befriedetes Continuo enthält. Das Fugato, das sich der Fugenform nur annähert, gibt ein unruhig Starrendes oder kann es geben, so am unheimlichsten im fugierten Choral der geharnischten Männer in der Zauberflöte. Ein neuer Ausdruck ist hier gebildet, er setzt sich fort im Fugato des Trauermarschs in der Eroica, das ohne Mozarts Vorgang kaum entstanden wäre und, nun durchaus dynamischer Kondukt, nicht quietas in fuga ist. Noch merkwürdiger ist, daß auch die eigentliche Fugenform, wenn sie innerhalb eines symphonischen Zusammenhangs verwendet ist, ein starkes Stück Ungeduld, nämlich Fehde ausgestaltet, so die Prügelfuge in den »Meistersingern«, die veritable Keiffuge in Straußens «Sinfonia domestica«; beide Fugen sind überdies sonderlich gelehrt und kompliziert. Oder innerhalb neuer Musik selber: Bergs »Wozzeck«, dies höchst atmosphärisch-dramatische Werk, hat Inventionen /(1288) und Passacaglien in sich eingebaut, und gerade die zu höchstem dramatischem Ausdruck gesteigerte Singstimme ist an der Durchführung einer Doppelfuge ohne allen Stilbruch dynamisch beteiligt. Daß dies möglich ist, zeigt an, wie sehr die Nachreife der Fugenform ein Element aus dieser heraussetzt, das sich auf gelassen aufgeschlossenen Gliedbau, mit Dux und lauter Comes in den Stimmen, nicht beschränkt. Und die alte Fuge selber, die Kunst der Fugenmeister, nicht der Fugenschulmeister, die vom Sursum corda erfüllte Orgelfuge Bachs? Ihr letzter Ausdruck, wurde oben gesagt (vgl. S.1256), ist noch unerobert, und enthält er Gelassenheit, so das Paradox einer himmelstürmenden, einer ohne Dramatik, aber mitTurmbau. Hat die Fuge also auch keine Ungeduld, in ihrem monodisch gefügten Continuo, so hat sie doch ein Ziel, ja sie ist ein Ziel, genauer, sie ist sein Korrektiv ante rem. Das Erbe des Sonatenstils wird nicht mehr verschwinden, wird in neuer Form angetreten werden, ohne alle romantischen Schulden in diesem Erbe, aber die Gewährung oder das Da-Sein von Musik, wie der architektonische Kontrapunkt es darstellt, bleibt ein Primat. Bleibt ein Korrektiv-Primat des Raums über die Zeit, des Reichshaften über das Situationshafte, auch hier. Bleibt ein Primat jenes fernen Zugleich-Seins, das innerhalb der Musik und noch harmonisch-linear mit Palestrina bezeichnet ist, als einem Korrektiv seraphischen Gleichgewichts. Denn auch in der Kunst rangiert die Ordnung der Freiheit höher als die Freiheit, die sich diesen Raum für sich, hinter dem Wechsel, noch nicht geschlagen hat. Wechsel, Atmosphärisches insgesamt gehören zur Zeit, nicht zum Gelungensein: nur Entzweiung ist in der Zeit wirklich, in der Musikzeit wie in der historischen, aber nur das Reichshafte der aufgeschlossenen Monodie ist als Resultat wirklich. Alles kommt in der künftigen Musik darauf an, das Thema dieser Monodie in Umkreisungen sich bilden zu lassen. Es ist aber, in immer neuen Experimenten und Fragmenten, das endlich sprechende Grundthema: Kern der menschlichen Intensität. Ist das situationslos werdenwollende Subjekt der Fuge, bezeichnet durch die Kategorie Bach und ihre Nachreife, als eine Turmbildung hinein in die Ordnung Reich. Auf Kampf gegen das Schicksal also und auf letzthinnig intendierte Situationslosigkeit, auf Schicksalslosigkeit also weisen die /(1289) beiden überlieferten Musikformen der Sonate und der Fuge. Ja, selbst im Kampf der Sonate ruht wenigstens der stille Satz, ruhen Andante und Adagio vom Konflikt. Sie bereits zeigen den langsam fliegenden Pfeil der Schönheit und, wie bei Schubert, musikalische Substanz, die gar nicht aufhören kann, zu bleiben und zu schenken. Sie enthalten gar, in ihren stärksten Erscheinungen, was dem Hauptsatz der Sonate und was auch der Fuge noch verschlossen ist: Aufenthalt im Unerhörten. Das Adagio der Hammerklaviersonate, das der Genesung im a-Moll-Quartett, das Adagio mit Variationen in der neunten Symphonie: es ist ein Aufhorchen des Subjekts an einem Ort, den weder die Triumph-Reprise des Themas noch gar irgendein bis jetzt gelingendes Finale erreichen. Großes Adagio ist so das wahre Finale der Symphonie, ist ein Kehraus, der zur Musik hinführt, nicht von ihr ab führt. Das Adagio dröhnt keinem verabredeten Schlußpunkt entgegen, vielmehr: es zieht die Flugperspektive des Finales, noch bevor sie kam, zum Besten zusammen, zu einer Art höchstes Gut in der
Musik. Es ist legitim, wenn große Adagiosätze die Gegend eines figurierten Chorals kreuzen oder hinter ihren geringen, gewaltlosen Zäsuren ihn in sich halten; dem Geist nach ist das Adagio in der Symphonie der Choral ihrer Intensität. Die langsamen Wunder der Musik sind hinsichtlich ihres Gegenstands auch die tiefsten; sie ziehen und zielen über die Zeit, folglich auch übers Vergehen hinaus. Und es erhellt, am wahren Finale, aufs neue: Musik gräbt auf jenem Goldgrund eines fernst-unmittelbaren, ins Nächst-Intensive einschlagenden Eingedenkens, worauf Malerei und Dichtung erst aufgetragen sind, ihren Schatz: die intensive Essenz. Trauermarsch, Requiem, Kondukt hinter den Tod Der Ton zündet hierbei das Licht, das er braucht, selber an. Er braucht kein äußeres, er erträgt das Dunkel, ja er sucht sein Schweigen. Schweigend, in der Nacht, werden Schätze gehoben, Musik stört dies Schweigen nicht, sie versteht sich auf die Gruft, als Licht in der Gruft. Von daher ihre Nähe nicht nur zum Glück der Blinden, sondern zum Tod, vielmehr: zur Tiefe der Wünsche, die diesen zu erhellen versuchen. Ist der Tod, als Beil des Nichts /(1290) gedacht, die härteste Nicht-Utopie, so mißt sich an ihr die Musik als die utopischste aller Künste. Sie mißt sich daran desto betroffener, als eben das Unland des Todes von der Nacht erfüllt ist, die als gebärende der Musik innerhalb dieser Welt so tief vertraut scheint. So entscheidend die Todesnacht von jeder anderen verschieden sein mag, so fühlt sich die Musik, mit Recht oder Unrecht, doch als Griechisches Feuer, das auch im Styx noch brennt. Und wenn Orpheus gegen den Tod die Harfe schlägt, und das siegreich, so schlägt er sie doch erst im Tod so siegreich nämlich im Hades. Es mag eine Legende sein, daß Sterbende, in ihrem zurücksinkenden Zustand, Musik vernehmen. Oder vielmehr ein bildlicher Ausdruck, so wie der umgekehrte, bedeutend nüchternere, wo nach der Mensch in schmerzlichen Zuständen die Engel im Himmel pfeifen hört. Ein Ausdruck, der, wie vieles in der Welt, der Sphärenharmonie so direkt ins Gesicht schlägt, wie umgekehrt die legendäre Äolsharfe im Sterben diesen alten Mythos oft wieder zu konventionell nimmt. Aber wenn es noch dahingestellt sein mag, ob Sterbende Musik hören, so hören doch Lebende in der Musik höchst wahlverwandt ein Sterben; Todesraum grenzt vermittelt an Musik. Er grenzt an ihre häufige Introvertiertheit, er grenzt vor allem an ihr unsichtiges Material, an ihre beständige Tendenz, im Unsichtbaren, worin sie beginnt, wohin sie weiterzielt, ein Universum ohne Äußerlichkeit zu bezeichnen. Dergleichen kann bloß gefühlig sein und ist dann an sich allein noch wenig mehr als Negation oder allgemeines Hinaus oder Empor, das ungesteuert, wo nicht selber todverfallen wallt. Aber ungefühlig, mit Position, geht Musik wirklich dem Tod entgegen, intendiert - dem Inhalt eines Bibelworts gemäß-, ihn in Sieg verschlungen zu haben. Das Liebeslied, das zuerst Sehnsucht nach Vereinigung über Hindernisse ausdrückte oder Trost in Hoffnung, Hoffnung im Trost gab, geht als produktive Todesmusik in die künftige Nacht, zündet die Lampen eines trotzdem nicht Verhinderten an. Regen, Sturm, Wolken, Blitz, selbst Zusammenbruch werden dieser Heimat ein rätselhafter Weg oder eine rätselhafte konkordante Umgebung; wieviel tiefe Musik hat ihr Dunkel, ja ihr Licht von diesem IngredienzTodesnacht und brennt aus ihrem Schwarz gerade eine andere als die sonst schon vorhandene Helle. Was sich fast jeder ausmalenden /(1291) Vorstellung verweigert, verweigert sich der Musik so wenig, daß selbst dem Sostenuto assai ihres höchsten Glücks ein verschwiegener Kondukt vorgelagert ist - die ernsteste Weise des langsamen Tempo. Und nun die vielen unverschwiegenen Weisen der Klage, der Todessucht mit der Todesüberwindung in ihr, des Trauermarschs, des wendenden Furchtzaubers, der umschlagenden Entsetzens-Dialektik im Requiem. »Schlage doch, gewünschte Stunde, gewünschte Stunde, schlage doch«: in dieser Bach-Kantate geht der Mensch mit Heimweh durch die letzte Angst. Beethovens Trauermarsch aus der Eroica wagt ein Überholendes schlechthin, und es kehrt im Trauermarsch der Götterdämmerung in etwas wieder; Beethoven wagt Heraklits Wunschtraum Paradox, daß der Weg abwärts und der Weg aufwärts derselbe seien. Das dumpf geschlossene c-Moll des Anfangs, das C-Dur des Mittelsatzes, mit seinem hellen Oboenthema, dem Tanz der Triolen, dem Entschluß zum Trauerthema zurück, dem scheuen, pendelnden, unwiederholten Glücks-Melisma der Violine kurz vor Ende: diese Preisgegebenheit und dieser Azur verhalten sich als zwei Erscheinungen des gleichen Inhalts. Und nicht etwa so, als wäre die dunkle Erscheinung durch die helle aufgehoben, das ist: durch eine jenseitige Verklärung billig apotheosiert. Denn die helle Erscheinung zieht sich nach dem großen Forte auf eine einzige, im Pianissimo tönende Geigenstimme wieder zurück, ins Dunkel des Trauermarschs zurück, als eines zusammenbrechenden. Das Nacheinander ist so in Wahrheit mäandrisch oder ein Weitergang des Gleichen im Tod als Grauen und als Freund. Die Barockfolge: Lamento e trionfo ist im Trauermarsch, den die Eroica als ihr Adagio setzt, aufgehoben. Beide sind vorhanden, beide, das Übliche des Lamento und das erst recht Äußerliche eines Trionfo, hart gegenseitig voneinander
abgehalten, sind im Todeslicht und dem unverabredet Entlegenen, das es bescheint (Allegretto der siebenten Symphonie), ungültig geworden. Es zeigt sich das Ineinander des Begriffs Tiefe auch im Grave der Musik, gerade in ihr wirksam: als Dc profundis und als jene Tiefe, unter der Äther gedacht worden ist, als Tiefe der Höhe. Das Sterben hat selber dunkelhelle Bilder entwickelt, die dem Ton zu raten aufgeben. Sie sind nicht in sich verschlossen und /(1292) diesseitig wie der Tod eines Helden und der Trauermarsch oder auch die Nänie, die ihn begleitet. Sondern die Kirche gab ausgeführte Todesbilder, an ihnen, als hintergründig, apokalyptisch gewordenen, mißt sich das Requiem. Der Kirchentext gibt Kontraste, vor denen das Mäandrische eines Tod-Feind-,Tod-Freund-Verhältnisses sich auflöst. Wodurch die Musik des Requiems allerdings eine fromme Überzeugung zu bewahren scheint, die es so nicht mehr gibt und die ohnehin mit dem ratlosen Tiefsinn des erwähnten Mäanders nichts gemein hat. In der Tat: der Kirchentext von Tod und Verdammnis wird seit hundert, fast zweihundert Jahren von den meisten Menschen nicht mehr geglaubt; trotzdem lebt er in der Musik. Trotzdem schrieben Mozart, Cherubini, Berlioz, Verdi ihre Totenmessen großen Stils - und durchdringend echte. Von dekorativem Schein ist in diesen Großwerken keine Spur, auch nicht bei Verdi, wo am ersten Theatersinn in Ordnung wäre. Das allerdings ist ein Problem, und es wird auch dadurch nicht gelöst, daß man das sogenannte Illusionswesen der Kunst heranzieht, das zu herabgesetztem Preis genießen läßt, was zu vollem Preis, mit Furcht und Zittern, früher geglaubt worden ist. So daß also das Merkwürdige zu geschehen scheint, daß das gleiche Quinquilieren, das früher den Kirchentext überwucherte und deshalb, als Ablenkung, von der Kirche verboten wurde, nun den Kirchentext rettet und eben genießbar macht. Aber in Wahrheit ist das nicht der Grund für die Spätblüte des Requiems; denn Cherubini, der strenge, Berlioz, der kühne und ausdrücklich-genaue, gaben keine Illusion. Die Musik der großen Requiems verschafft keinen Kunstgenuß, sondern Betroffenheit und Erschütterung; und der Kirchentext, der aus den Frühzeiten chiliastischer Angst und Sehnsucht entsprungene, gibt der Musik seine großen Archetypen heraus, unabhängig von den vergänglichen patristischen Formen. Also bringt die Musik selber die im Requiem wirkenden Symbole der Erwartung wieder hervor; sie sind ihr eingeschrieben. Und der Grund dafür, daß ein Jüngstes Gericht der Musik kein bloß mythologisches Sujet ist oder kein bloßes Bewegungsmotiv nach aufwärts wie bei Rubens, der Grund für diese Moralität liegt in dem der Musik dauernd präsenten Tod-, Contratod-Utopie-Problem. Folglich geht Apokalyptik auch dort auf, gerade dort, wo /(1293) alles andere als Kirchentext vorliegt; Beethoven gab dazu das Beispiel und den Beweis. Beethoven, der kein Requiem geschrieben, hat im Fidelio eines geschrieben, ein völlig unzweideutiges, mit Dies irae für Pizarro, mit Tuha mirum spargens sonum für Florestan. Diese Geisterwelt ist der Musik nicht verschlossen, als die Geisterwelt in der Revolution; der Archetyp Apokalypse ist der Musik nicht verschlossen. Selbst der Donnerschlag in Cherubinis Requiem, der das Zerbersten des Weltalls angibt, ist der Musik keine Äußerlichkeit; sie versteht sich aufs Ende. Mystische Brutalität fehlt weder bei Berlioz noch Verdi: bei Berlioz geht sie auf in den Posaunen der apokalyptischen Reiter, die von allen vier Himmelsrichtungen auf die Hörerschaft niederschmettern; bei Verdi in den Sprengschlägen, den bodenlos stürzenden Schreien des Dies irae. Doch nun das kontrastierende Sed bei Verdi, im Offertorium seines Requiems, das Sed vor Signifer sanctus Michael, durch sieben Takte ausgehalten, und dazu die es umspielende Himmelsmelodie ohne Triumph, mit aufschwebender Hoffnung. So arbeitet Musik mit einem letzten Barock Verzweiflungen und Rettungen aus; sie sind nicht ans Barock und auch nicht an die Richter-Theologie des Kirchentextes gebunden. Wohl aber an ein Todesbewußtsein und Wunschbewußtsein vom Gegentod, das sich genuiner als irgendwo in Musik erstreckt. Als solches erschien es, frei vom überlieferten Kirchentext, zuletzt noch bei Brahms, im Deutschen Requiem. Sucht man musikalische Einweihungen in die Wahrheit der Utopie, so ist das erste, alles enthaltende Licht Fidelio, das zweite - mit verhängtem Schein, in gemäßem Abstand - das Deutsche Requiem, das singt «Denn wir haben hier keine bleibende Statt, aber die zukünftige suchen wir« - und unter dem Chor ein Tappen von suchenden Schritten, eine Weglinie ins Ungekannte, ins Erwachen. «Siehe, ich sage euch ein Geheimnis, wir werden nicht alle entschlafen, aber wir werden alle verwandelt werden und dasselbige plötzlich in einem Augenblick, zu der Zeit der letzten Posaune« - der geheimnisvolle Gesang dieses Paulasworts im Brahmsschen Requiem bringt aus sich selber den Schall der letzten Posaune in ein Hellhören herein, in einen metaphysischen Kontrapunkt von Hölle und Sieg, von Hölle verschlungen in den Sieg. Nicht ohne die Verhaltenheit und, was bei Brahms das /(1294) gleiche ist, nicht ohne die kostbare Tiefe, die als solche Apotheosen ausweicht. Die selbst Jubals Harfe und Mirjams Ton und Klang nicht gestattet, sich das Licht leicht zu machen oder auch nur als konsonant zu präsentieren. Der zweite Satz des Deutschen Requiems nimmt als Text: «Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und gen Zion; Freude, Freude, Freude, ewige Freude wird über ihrem Haupte sein«: aber die Musik zur ewigen Freude geht im Fortissimo hin zu g-Moll, mithin keinesfalls zu
schier-strahlender Konsonanz. Das deshalb, weil Brahms noch erschwerender mit der Freude umgeht als Kant mit dem Pathos (und aus gleichen unkatholischen Gründen), weil der Himmel hier das Salz in sich hat, das ihn nicht konventionell und dumm macht. Da sind keineswegs blasse Freuden, als die Nietzsche Brahms mißverstand, auch nicht «Oktoberlicht über allen Freuden«, sie sind für dieses, mitten im zweifelhaften Dunkel, viel zu glühend. Das Glück, das zum Mysterium wird, erscheint freilich dissonant eingehüllt, ja in sich selber mag Dissonanz sein stärkerer Ausdruck sein als ein Dreiklang aus der bekannten Welt. Musik zeigt hier an: es gibt ein Reis, nicht mehr, aber auch nicht weniger, das zu der ewigen Freude blühen könnte und das in der Finsternis fortbesteht, gar sie in sich bindet. Das bedeutet der härtesten Nicht-Utopie gegenüber keinerlei Gewisses, doch ein Vermögen, sie auf ihrem eigenen Boden zu verneinen. Mit nichts ohne Zweifel als mit noch verwehenden Klangbildungen, aber diese enthalten Lebendigkeiten einesEndes, die nicht möglich wären, wenn am Ende nichts anderes möglich wäre als Vergehen und Tod. Eine Freiheit von Druck, Tod und Schicksal äußert sich im Noch-nirgendwo-Medium des Tons, die sich in bestimmter Sichtbarkeit nicht geäußert hat und noch nicht äußern kann. Ebendeshalb weist alle Musik der Vernichtung auf ein Kernhaftes, das, weil es noch nicht geblüht hat, auch nicht vergehen mag; sie weist auf ein Non omnis confundar. Im Dunkel dieser Musik glimmen die Schätze, die von Rost und Motten nicht gefressen werden, also die dauernden, worin Wille und Ziel, Hoffnung und ihr Inhalt, Tugend und Glück vereinigt sein könnten wie in einer Welt ohne Vereitlung, wie im höchsten Gut: - das Requiem umkreist die Geheimlandschaft des höchsten Guts. /(1295)
Marseillaise und Augenblick in Fidelio
Es gibt ein Stück, worin der Ton ganz sonderlich gleichzeitig ladet und zielt. Es ist der «Fidelio«, einen Ruf gilt es darin hörbar zu machen, auf ihn hin spannt jeder Takt. Schon im leichten äußeren Vorspiel zwischen Marzelline und Jaquino ist Unruhe, ein Klopfen nicht nur von außen. Alles ist auf Zukunft gestellt, «dann ruhn wir von Beschwerden«, jeder Ton ist stellvertretend. «Meinst du, ich könne dir nicht ins Herz sehen?« fragt Rocco Leonore; und nun zieht sich die Szene zusammen, vier Stimmen bauen pures Innen auf. «Mir ist so wunderbar, es engt das Herz mir ein«, das Quartett beginnt, Andante sostenuto eines Gesangs, der überhaupt nichts als sein Wunderbar aussingt, auf lauter Dunkelheit aufgetragen. Marzelline singt es für Leonore, die Hoffnung erhellt das Ziel, in großer Gefahr. »Da leuchtet mir einen Farbenbogen, der hell auf dunklen Wolken ruht«, in diesem Licht spricht Leonore selber, in der wahrsten Arie der Hoffnung, über finsteren Klangbewegungen hinauf, hinab, dem Stern der Müden zugewendet. Der Stern wirkte schon in dem scheuen Wunderbar, worin das Quartett begann, er wirkt in der Arie Leonores, im Gefangenenchor, wenn nicht nur Leonore und Florestan, wenn alle Verdammte dieser Erde zum Licht von morgen emporsehen. Der Stern aber steht grell und hoch in der Fieberekstase Florestans, als Leonore selber; ihm gehört der Visionsschrei «zur Freiheit, zur Freiheit ins himmlische Reich«, mit übermenschlichen Kadenzen aufsteigend, in Ohnmacht zerbrechend, verlöschend. Bis dann das unterirdische Monodram beginnt, die wildeste Spannungsszene überhaupt, Pizarro vor Florestan, »ein Mörder, ein Mörder steht vor mir«, Leonore deckt Florestan mit ihrem Leib, so gibt sie sich zu erkennen, erneuerter Ansturm des Mords, die auf Pizarro gehaltene Pistole, »noch einen Schritt und du bist tot«. Geschähe sonst nichts, aus dem Geist und Handlungsraum dieser Musik, dann wäre der Schuß das Symbol wie der Akt der Rettung, seine Tonika wäre die Antwort auf das Gerufene und den Ruf von Anfang an. Aber diese Tonika findet, auf Grund des notwendig apokalyptischen Geists und Handlungsraums dieser Musik, ein Symbol aus dem Requiem, mehr: aus dem geheimen Ostern im Dies irae; es ist /(1296) das Trompetensignal. Dieses Signal, wenn man es äußerlich faßt, von der früheren Weisung des Pizarro her, es zu seiner Warnung von der Zinne her zu blasen, kündet buchstäblich nur die Ankunft des Ministers an, auf der Straße von Sevilla her, doch als tuba mirum spargens sonum kündet es bei Beethoven eine Ankunft des Messias an. So tönt es in den Kerker herunter, in die Fackeln und Lichter, die den Herrn Gouverneur hinaufbegleiten. In die namen-, namenlose Freude, worin Beethovens Musik keinen Vorhalt mehr setzt, in das »Heil sei dem Tag, heil sei der Stunde«, auf dem verwandelten Hof der Festung. Es war eine große Eingebung Mahlers, die dritte Leonorenouvertüre zwischen Kerker und dem Schlußakt der Freiheit spielen zu lassen, die Ouvertüre, die in Wirklichkeit eine utopische Erinnerung ist, eine Legende der erfüllten Hoffnung, konzentrisch um das Trompetensignal. Das Signal klingt nun, ohne Szene, nach ihr, die Musik antwortet mit einer Ruhe-Melodie, die nicht langsam genug gespielt werden sollte, das Signal tönt zum zweitenmal, und die gleiche Melodie antwortet, geheimnisvoll moduliert, in einer entfernten Tonart aus einer bereits veränderten Welt. Und nun zurück in den Freiheitsakt, in die Marseillaise über der gefallenen Bastille. Der große Augenblick ist da, der Stern der erfüllten Hoffnung im Jetzt und Hier. Leonore nimmt Florestan die Ketten ab: »0 Gott, welch ein
Augenblick« - genau auf diese, durch Beethoven in Metaphysik gehobenen Worte entsteht ein Gesang, der, ohnehin das Verweilen selbst, würdig wäre, niemals ein Ende seiner Ankunft zu nehmen. Sprunghaft entrückender Tonartwechsel zu Beginn; eine Oboemelodie, die Erfüllung ausdrückt; das Sostenuto assai stillstehender, zum Augenblick aufgegangener Zeit. Jeder künftige Bastillensturm ist in Fidelio intendiert, eine beginnende Materie der menschlichen Identität erfüllt im Sostenuto assai den Raum, das Presto des Schlußchors gibt nur den Reflex hinzu, den Jubel um Leonore-Maria militans. Beethovens Musik ist chiliastisch, und die damals nicht seltene Form einer Rettungsoper brachte der Moralität dieser Musik nur den äußeren Stoff. Trägt die Musikgestalt Pizarro nicht alle Züge des Pharao, Herodes, Geßler, des Winterdämons, ja des gnostischen Satans selber, der den Menschen in den Weltkerker brachte und darin festhält? Wie nirgends /(1297) sonst wird aber Musik hier Morgenrot, kriegerisch-religiöses, dessen Tag so hörbar wird, als wäre er schon mehr als bloße Hoffnung. Sie leuchtet als reines Menschenwerk, als eines, das in der ganzen von Menschen unabhängigen Umwelt Beethovens noch nicht vorkam. So steht Musik insgesamt an den Grenzen der Menschheit, aber an jenen, wo die Menschheit, mit neuer Sprache und der Ruf-Aura um getroffene Intensität, erlangte Wir-Welt, sich erst bildet. Und gerade die Ordnung im musikalischen Ausdruck meint ein Haus, ja einen Kristall, aber aus künftiger Freiheit, einen Stern, aber als neue Erde.
52
SELBST UND GRABLAMPE ODER HOFFNUNGSBILDER GEGEN DIE MACHT DER STÄRKSTEN NICHT-UTOPIE: DEN TOD Der letzte Rock hat keine Taschen
Sprichwort
Jeder Mensch, vor dem die Möglichkeit eines Unglücks auftaucht, besinnt sich sofort auf den eisernen Bestand, den er bei sich trägt. Dieser eiserne Bestand kann für den einen seine Idee sein, für den anderen sein Glaube, ein dritter gedenkt allein seiner Familie. Anna Seghers Das siebte Kreuz Mir ist wie einem, der nach getanem Tagewerk sich eine Weile zurückzieht, Meiner vielen Wandlungen eine steht mir bevor, ich steige empor aus meiner Menschwerdung, wieder neuen Formen zu. Eine unbekannte Sphäre, wirklicher als ich träumte, unmittelbarer, wirft erweckende Strahlen um mich - Leb wohl! Walt Whitman, Grashalme Derenige müßte gleichsam die Menschheit ausgezogen haben, der bei den Fragen gleichgültig bleiben könnte: wohin zielt die ganze Geschichte, welcher endliche letzte Zustand ist dem ganzen Geschlecht bestimmt, oder ist auch hier nur der traurige, immer wieder kehrende Zirkel von Erscheinungen? Man hat daher gewiß die Ansicht der Mysterien sich sehr beschränkt, indem man gar nicht auf diesen Gedanken fiel, daß sie auch über die Zukunft /(1299) des menschlichen Geschlechts gleichsam eine Offenbarung enthielten ... Dionysos in seiner höchsten Potenz war das Ziel, der letzte Sinn der ganzen Mysterienlehre. Schelling, Philosophie der Offenbarung Und dann bringt der Geist die Hoffnung, die Hoffnung im strengsten christlichen Sinn, die Hoffnung, die wider Hoffen ist. Denn eine unmittelbare Hoffnung ist in jedem Menschen; sie kann in dem einen lebenskräftiger sein als im anderen; im Tod aber erstirbt jede derartige Hoffnung und verkehrt sich in Hoffnungslosigkeit. In dieser Nacht der Hoffnungslosigkeit (es ist ja der Tod, den wir beschreiben) kommt dann der lebendigmachende Geist und bringt die Hoffnung, die Hoffnung der Ewigkeit. Sie ist wider Hoffen, denn für jenes bloß natürliche Hoffen gab es keine Hoffnung mehr; diese Hoffnung ist also eine hoffnungswidrige Hoffnung. Kierkegaard, Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen
I EINFÜHRUNG Vom Sterben nicht reden
Wie drängt man die letzte Angst von sich ab? Heute fällt das vielen nicht mehr so schwer wie in unaufgeklärten Tagen. Die Uhr schlägt, wieder ist es eine Stunde näher zum Grab. Doch der Blick auf dieses ist zerstreut, oder er wird künstlich kurzsichtig gemacht. Wie es vorläufig steht, ist die Furcht vorm Alter quälender geworden als das Denken an den Tod. Er soll nicht erinnert werden, billige Bilder verdrängen ihn. Eines von ihnen meint, der Mensch gehe aus wie eine Kerze. Das kann zwar der Fall sein, aber nicht deshalb, weil der Mensch einer Kerze ähnlich ist. Er ist ihr vor dem Erlöschen nicht ähnlich, ist zum Beispiel nicht kopflos, also wirkt der Vergleich auch nachher nicht zwingend. Die Menschen waren niemals neugierig, ihre immer weniger werdenden Jahre zu zählen, doch was bürgerlich nur in den Tag hinein lebt, wird unter anderem dazu ermuntert, über- /(1299) haupt nicht ans Ende zu sehen. So staut sich alles auf einen rotbäckigen Anfang zurück, und ist er nicht mehr da, so wird falsche Jugend angeschminkt. Das Sterben wird weggeschoben, nicht als ob man so gern lebte, aber auch nicht, als ob man irgendwo gern in ein Kommendes sähe oder sehen ließe, auch nicht an diesem persönlichen Punkt. Man lebt derart in den Tag wie in die Nacht hinein, des dicken Endes soll nirgends gedacht werden. Gewünscht wird hier lediglich, nichts davon zu hören und zu sehen, selbst wenn das Ende da ist. Wodurch die Furcht wenigstens schrumpft, flach wird, wie so vieles Übrige auch. Utopien der Nacht, die auf dieser Welt keinen Morgen mehr hat Aber nichts ist so fremd und finster wie der Hieb, der jeden fällt. Auch das Leben stimmt nicht, immerhin ist man darin zu Hause und anwesend, es kann verbessert werden. Doch hinter dem Sterben wurde noch keiner als anwesend gesehen, es sei denn als Leiche. Grauen vor ihr ist aber nicht das einzige Gefühl, das sie erweckt und das diesem seltsamen Abgang unserer selbst gemäß ist. Sondern sogar Grinsen mengt sich ein, gleich dem des Totenkopfs selbst; denn daß der lange planende Mensch abfährt wie Vieh, ist auch gleichsam witzig. Und erst recht hatte jener allerhöchste Ernst Platz, der verzweifeln läßt und der der Jugend, weil sie finaler ist, vor dem Tod noch näher liegt als dem Alter. Das macht: nicht nur die Leiche ist bleich, auch unser Streben sieht sich durch dieses sein Ende zu schlechter Letzt ausgeblutet und entwertet. Grab, Dunkel, Fäulnis, Würmer hatten und haben, wann immer sie nicht verdrängt werden, eine Art rückwirkend entwertende Kraft. Auch der Geschäftsmann, der vom Begräbnis eines Freundes kommt, setzt sich mit etwas vermindertem Elan an seine Korrespondenz und denkt nicht nur an die Versicherung für Frau und Kind. Dazu kommt das steigende Mißverhältnis, in das die Bewegung und Länge unserer Zweckreihen zu der gleichbleibenden Kürze des Lebens geraten sind. Dies Mißverhältnis war nicht immer so groß, die lange vorkapitalistische Zeit kannte es nicht oder nur ungefähr, ihr schien Geschichte statischer, zyklischer, sozusagen jahreszeitenhafter als heute. Marc Aurel bemerkt noch, in seinen /(1300) Selbstbetrachtungen, ein vierzigjähriger Mann, mit offenen Sinnen und in genügend hoher Stellung, habe alles gesehen, was vor seinen Zeiten geschehen ist und nachher geschehen wird, weil es einerlei sei mit dem, was er selbst erlebt. Heute ist der Zug der Ereignisse so sehr viel länger als unser Leben, der Geschichtsgang ins Neue geometrisch wie dynamisch so verschieden von unserem sich naturhaft senkenden Lebensbogen, daß kein wackerer Mensch noch lebenssatt, im historischen Sinn, sterben kann. Das Grab vernichtet den neugieriger gewordenen Zeugen, und er hat in seinem kurzen Leben vom Ausgang, gar Sieg der im Schwang befindlichen Ereignisse zu wenig perzipiert. Wie der Knabe in Wedekinds »Frühlings Erwachen«, der aus dem Leben geht, ohne die Freuden der Liebe kennengelernt zu haben, und der so höhnisch-bedeutend ausruft: «In Ägypten gewesen und die Pyramiden nicht gesehen«,so konnte es mutatis mutandis und wenigstens partial manchem in spannungsreichen Zeiten Abscheidenden erscheinen, als habe er nichts erblickt und erreicht als historisches Stückwerk. Völlig überwunden scheint dergleichen nur dort, wo durch Hingabe des eigenen Lebens für die künftige Sache deren subjekthafte Erfahrung von vornherein, gewollt und bewußt, eliminiert wird, also in erster Linie beim Märtyrer. Doch selbst was diese allermoralischste Person für sich selber verneint, nimmt anderen nicht das Recht zur Klage, sich beim Sieg nicht anwesend zu wissen, sich nicht als unabgebrochenes Subjekt des Siegs zu wissen. Daß der Name des Märtyrers im Herzen der Arbeiterklasse eingeschreint ist, gibt diesem Namen keine Augen, kein leibhaftig anwesendes Dasein zurück, auch er liegt als Leiche weitab vom intendierten Ziel. Wie weit auch ist das erlittene Märtyrertum außerhalb der späteren Gerechtigkeit, die - falls sie eintritt - von durchaus anderen erfahren wird. Die Welt ist voll geschlachteter Güte und voll reüssierender Verbrecher, mit langem, friedlichem Lebensabend; die Märtyrer erleben ihre Auferstehung nicht, die Verbrecher des weißen Terrors sooft ihr Gericht nicht, der Tod macht in beiden Fällen alles irreparabel. Und noch dort eben, wo etwas in Ordnung geraten ist, fällt das letzte Beil ins Glück, als in ein allemal temporäres. Selbst das utopisch gespiegelte Glück der Märchen-Menschen gilt nur so lange, bis »zu /(1301) ihnen kam der Vernichter aller Wonnen und der Trenner aller
Gemeinschaft«, wie in Tausendundeiner Nacht der Tod heißt und heißen muß, trotz Islam und Ergebung. Das letzte Fiasko bleibt kein Rahmen oder dunkler Grund, von dem der kurze Sonnentag sich desto bewußter abhebt; Memento mon ist im Bewußtsein selber der Bankrott. Auch eine hektische Lebensfreude wie in Pestzeiten ist umgeschlagene Verzweiflung oder Galgenhumor, woran keine Antwort aufs Nichts und keine Überwindung ist; - Lust will vielmehr Ewigkeit. Was bedeutet selbst der höchste Augenblick, das in der zentralsten Utopie intendierte «Verweile doch, du bist so schön«, wenn der Tod, ohne selber getroffen zu sein, der existenzmächtigsten Erfahrbarkeit die - Existenz streicht? Kein Feind erschien darum zentraler, keiner war so unausweichlich postiert, keine Gewißheit in dem durchaus ungewissen Leben und seinen Zweckbildungen ist mit der des Todes auch nur vergleichbar. Nichts steht so finalistisch wie er am Ende, und nichts zerschmettert zugleich den Subjekten der historischen Zwecksetzung ihre Arbeit so antifinalistisch zum Fragment. Die Kiefer des Todes zermalmen alles, und der Schlund der Verwesung frißt jede Teleologie, der Tod ist der große Spediteur der organischen Welt, aber zu ihrer Katastrophe. Keine Enttäuschung also mißt sich mit seinem negativen Ausblick, kein Verrat kurz vor Ziel scheint dem des Exitus letalis gleichzukommen. Desto heftiger aber auch die Notwendigkeit, Wunsch-Evidenzen gegen diese so wenig einleuchtende Gewißheit zu setzen, als gegen eine bloße TatsachenWahrheit in der mit dem Menschen unvermittelten Welt. Den Leitbildern des Lebens entsprechen derart Leitbilder des Fortlebens, den Leitfiguren der Unruhe Figurenbildungen gegen den Kirchhoffrieden, dem tiefen Todeszauber der Musik ein älterer religiöser. Es handelt sich in Folgendem um die wechselnden Todesutopien in großen Weltreligionen; ihnen nachfolgend ist das nicht mehr so religiöse Todesbild. Nämlich das aus dem ehemaligen mannigfachen Glauben im achtzehnten und neunzehntenjahrhundert säkularisierte, auch rational abgewandelte. In den mannigfachen Bildern des Fortlebens hat die Menschheit nicht nur ihren Egoismus und ihre Unwissenheit, sondern auch die unleugbare Würde an den Tag, in die Nacht /(1302) gelegt, sich mit dem Kadaver nicht zufriedenzugeben. Das Inventar der menschlichen Wunschträume enthält so im Todeskapitel auch gewisse malerische, poetische, musikhafte Wunschlandschaften des Paradiesischen wieder, doch unter anderem Aspekt, aufs tobe or not tobe bezogen, als utopischen Anti-Tod. Hier fand und findet sich, um nur vom Wunsch zu sprechen, gewiß auch viel klebrig-schäbiges Haftenwollen am kleinen Ich; Shaw hat das mit Recht dem Geiz verglichen. Hier wirkte und wirkt erst recht das obskurante Interesse der herrschendenKlassen und ihres Pfaffentums an transzendentem Betrug; durch jenseitige Schreckensbilder das Volk einschüchternd, durch jenseitige Himmelsbilder vertröstend. Ohnehin ist das Schattenreich, wie Kant sagt, das Paradies der Phantasten; und nicht nur das heilige Rom hat darin einträgliche Provinzen. Jedoch neben diesem, worin gerade die ärgste Schwärmerei transzendenter Ausmalungen sich als hocherfahren und weltklug erwies, ist gleichfalls nicht übersehbar: es gab, um wieder nur vom bloßen Wunsch zu sprechen, darunter auch noch andere ,gerade aufbegehrend andere Motive, so nicht zuletzt religiös ein Stolz-. Verwandlungs-, Ausbruchs-Motiv, bei Paulus rüttelnd an den Stäben dieses Todes. Ob solche Überstreckung wohlverstanden: auch der Geringsten, nicht nur der Herren - ins Postmortale und gar zur Kenntlichkeit Verändernde Opium fürs Volk war oder aber Stärkung des Gefühls vom unendlichen Wert der eigenen Seele und folglich Stärkung des Willens, sich jetzt schon nicht als Vieh traktieren zu lassen: das hängt von den Männern und Verhältnissen ab, unter denen vom Himmel gepredigt wurde; Thomas Münzers Predigt etwa, obwohl mehrfach aufs »himmlische Ingesinde« bezogen, war kein Opium fürs Volk. Ob jedes Hineinleuchten der Traumlaterne ins Schattenreich Phantasterei ist und als solche unterschiedslos erscheint, das wiederum hängt von der erlangten Begriffs- und Grenzbestimmung des wirklichen ab. Auch eine Bestimmung, die mit der sogenannten Faktizität nicht aufhört, die statt dessen unverdinglichte Prozesse und offene Räume anerkennt, wird diese Räume nicht mit mehr oder minder abgeschmackten Erbaulichkeiten besetzen lassen. Immerhin wird eine solche Bestimmung Inhalte. über die man nichts weiß, nicht schon deshalb als gänzlich irreal /(1303) oder als realitätsunfähig ablehnen, weil außer dem Wunder die Unsterblichkeit des Glaubens liebstes Kind ist und weil statt dessen die menschliche Metamorphose ins Nichts nicht nur bei Existentialisten als ausgemacht vorkommt. Deshalb allein sind aber die humaneren Wunschbilder des »Non omnis confundar« noch nicht in ihrem zugrunde liegenden Würdeproblem abgeschafft, das heißt: sie sind dieses Problems und seiner Welt in jeder - auch nicht notwendig phantastischen - Gestalt nicht verlustig geworden. Für Kant fiel das Wirkliche mit dem Gegenstand der Newtonschen Naturwissenschaft zusammen; was darüber war, war entweder von Übel oder ein bloßes reflexives Postulat. Der dialektisch-materialistischen Erkenntnis, die solchen Dualismus nicht anerkennt, die im Wirklichen selber ein Postulieren (eine unabgeschlossene Tendenz) und im Postuheren eine mögliche Wirklichkeit begreift, ist die Welt mit Newtons Mechanik nicht zu Ende. Die Welt hat kein Jenseits (Materialismus ist und bleibt Begreifen der Welt aus sich selbst), doch sie hat auch keine Schranke im Diesseits, vielmehr keine andere als die in der dialektischen Prozeßrichtung gesetzte. Der dialektische
Materialismus kennt daher sowenig eine naturgewollte Ordnung und Abgeschlossenheit, wie der mechanische eine gottgewollte gekannt und anerkannt hat. Alles Einzelne, Fixe unter den todüberwindenden Wünschen und Prozeduren, den griechischen, den ägyptischen, den christlichen Todeshoffnungen ist Phantasterei, aber die Sphäre dieser spezifischen und im Nachfolgenden zur Erinnerung gebrachten Hoffnung selber ist mehr als erlaubt: denn kein Mensch weiß noch, ob der Lebensprozeß keine, wie immer unsichtige, Verwandlung enthält und duldet. Das kahle, wenn auch bisher noch so empirische Nein bringt keine Entscheidung; es ist das Nein einer bloß blinden Notwendigkeit, keiner durchschauten, also beherrschten, also mit dem menschlichen Zweckreich vermittelten. Auch wirkt dieses Nein nur deshalb auf den Zweckwillen nicht völlig lähmend, weil dieser, wie schließlich zu zeigen sein wird, immer noch Postmortale Sinnbilder lombardiert, auch dann eben, wenn diese nicht mehr geglaubt sind und ihre Substanz verschwunden ist. Der Tod kann heutzutage (unbekannt, wie lange noch) hinter dem Leben versteckt werden, weil hinter dem Tod einmal neues /(1304) Leben versteckt worden, das heißt hineingeträumt worden war. Auch diese Träume gehören zur Utopie, wenngleich zu einer überwiegend mythologisch gebundenen, und sie punktieren abgebrochene Zweckreihen weiter, als wären das Grab und das anorganische Weltall, zu dem auch die Leiche gehört, human erhellbar. Diese Erhellungsträume haben sich mit einem Schicksal, in seiner finstersten Gestalt, nicht abgefunden; das macht ihre Ehre aus, das fundiert diese Ehre. Und sie haben, mit überwältigender Paradoxie des Nicht-Entsagens, gerade an die äußerste Vernichtung, neben schrecklichem Fortleben, das Glücksbild eines Erwachens, einer himmlischen Identität angeschlossen; so im Islam, so im Christentum. Wo diese Steigerung gefehlt hat, fuhr ein als unverweslich Postuliertes zwar ins Schattenreich, doch nie mit dem Leib zusammen in die Grube. Die Unsterblichkeitswünsche wollten dem Selbst eben die Grablampe mitgeben, die sepsisfreie, noch die fremdeste Nacht bescheinende; sie haben den Tod mehrenteils überlogen, sie haben ihn aber auch überleuchtet. II RELIGIÖSE KONTRAPUNKTE AUS TOD UND SIEG Vom Toten nur Gutes Die Angst zu sterben drückte früh nieder und bleibt also ursprünglich. Die Leiche zeigt dem Fühlen wie Denken, was jeden erwartet, das Grauen vor ihr ist das älteste. Doch wurde nicht erst gewünscht, fortzuleben, außerhalb der Leiche fortzuleben, das war zu selbstverständlich. Tod galt ohnehin nur als Abreise, bei allen primitiven Völkern und jetzt noch bei Kindern. Gewünscht wurde hier lediglich Schutz vor den Toten, indem man sie sicher oder behaglich drüben unterkommen ließ. Das freilich kam jedem zugute, indem jeder zuletzt zu den Leichen versammelt wurde. Dienst an der Leiche, Verschönung ihrer Nacht war eine Einladung an alle, sich gegen eigene Bedrohung zu schützen. Der Tote an sich war in das geisterhafte Dunkel gerückt, aus dem alles Böse und wenig Gutes kam. Er war in der Nacht, im Land ohne Feuer und Licht, außerhalb der runden /(1305) Hütten und zurückverlangend. Ihm aber die Rückkehr zu verriegeln, dazu dienten alle Totenbräuche, mitsamt dem Ahnendienst. Die Leiche wird mit den Füßen voran aus dem Dorf getragen, damit sie den Rückweg nicht findet, oder es werden ihr, bei den Buschmännern, die Nägel abgeschnitten, Hände und Füße gebunden, ja die Augen ausgestochen. Zuweilen wird auch die Hütte des Toten niedergebrannt; der Ort, der ihn bindet und worin es ihm sozusagen wohlergeht, soll das Grab sein. Landstreicher wurden auch in deutschen Gegenden lange gebunden beerdigt, damit sie nicht wiederkommen. Sind aus der älteren Steinzeit Gräber bis jetzt nicht nachweisbar, so desto zahlreichere, unter wie über dem Boden, aus der jüngeren. Ebenso weit reicht auch die Sitte zurück, der Leiche Speise und Trank ins Grab mitzugeben; wonach statt des rückverlangenden, gar blutsaugenden der begütigte, ja wie aus manchen Märchen noch erkennbar, der dankbare Tote entstehen soll. Freilich waren Speise und Trank nicht fürs Grab gedacht, sowenig wie die Weiber und Sklaven, die den Vornehmen mitgegeben, das heißt an ihrem Grab geschlachtet wurden. Sondern all diese Mitgaben waren für einen Verzehr und Gebrauch an einem anderen Ort gedacht, damit die Seele des Toten nicht ungeehrt ums Grab, ums Dorf schweife und damit das Grab die Leiche wirklich bindet. Ihre Seele, das ist hier der letzte Atemzug, lebte, sobald dem Leib die Ehre des Begräbnisses oder der Verbrennung erwiesen war, nun ruhig am anderen Ort. Nicht mehr als Spuk, sondern als Schatten, und zwar als solcher, der das von dem Körper gewohnte Leben selbständig fortsetzte. Unter Jägervölkern ist auch das Drüben noch für alle gleich, unter Ackerbauern und Viehzüchtern macht nicht einmal der Tod alle gleich. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich setzen sich fort, ausgeglichen wird nicht im mindesten. Die besseren Plätze werden auch im Jenseits für die Vornehmen freigehalten, ebenso die schlechten und schlechtesten fürs gemeine Volk. Auf Tonga kommt nur der Häuptling ins selige Land
Bolotu, die Niederen stehen im Dunkel, wie hier. Ähnlich wird auf Hawaii zwischen einem Himmel für Fürsten und Vornehme, einer Unterwelt für die niedere Schicht unterschieden. So entspricht seliges und höllenhaftes Gefild auch drüben der Klassenteilung, ist zuverlässig erst mit /(1306) ihr entstanden. Strafe für hochgestellte Übeltäter, Belohnung für Arme, für solche freilich, die im herrschenden Sinn zugleich brav waren, dieser gewünschte Ausgleich wird erst später sozusagen durchgesetzt. Er findet sich erst in widerspruchsvoller gegliederter Sippe, wenn der Häuptling nicht mehr als fragloser Leitaffe angesehen wird, der auch im Jenseits, ganz gleich, ob er gut oder böse war, einer bleibt. Jeder Tote, sobald er beigesetzt ist, wurde von den Seinen ohnehin als Ahne geachtet. Schatten und griechische Dämmerung Auch dort lebte der Mensch fort, wo sein Drüben ganz blaß schien. Die Griechen ließen am meisten von allen Völkern die Leiche altern, zum Schatten übergehen. Aber der Schatten selber hält sich, auch die Aufklärung lehrt hier selten Vernichtung oder nur in dem Sinn, daß das gewohnte Ich aufhört. So freilich erscheint hinter dem Tod ein halbes Nichts, nämlich das Gegenteil von dem, was dem Menschen unter der Sonne blüht. Eine Grabinschrift in Pompeji sagt: »Nach dem Tod gibt es nichts mehr, nur was du siehst, ist der Mensch.« Eine andere lautet: «Freund, der du dieses liest, lebe ein gutes Leben, denn nach dem Tod gibt es weder Lachen noch Scherz noch Freude.« Soweit die etwas platte Schwermut dieser Sprüche, eine, die wahrscheinlich nicht einmal auf die Spätzeit und die Landstädte beschränkt war. Doch war der Mensch bei alledem keineswegs ausgelöscht oder in einen unvorstellbaren Zustand von ganzem Nichts geraten. Er behielt das merkwürdige, das immerhin von Leid, Umtrieben, Hinfälligkeit befreite Sein seines Schattens, er kam in eine milchige Nacht, am Rand des Lebens, doch nicht in eine schlechthin todeshafte. Die Nacht kommt auch im Leben vor, im nachlassenden Leben; gehemmte oder gebannte Menschen haben sie, die sich ohnehin im Hades ihrer selbst aufhalten. Völlige Verlorenheit und Zwecklosigkeit erfüllt sie, so mächtig und zugleich hohl, daß der Hades der Griechen, obwohl er an diesen Zustand zuweilen angrenzt, unzweideutig mild erscheint, sozusagen gesund. Der Tod ist bei Homer immerhin der Bruder, sogar der Zwillingsbruder des Schlafs; bei Hesiod bewohnen beide gemeinsam einen Palast am Eingang der Unter- /(1307) welt. Unten erwartet Lethe (wer Vergessenheit trinken wollte, hatte schon getrunken und brauchte Lethe nicht mehr), der Styx trennt endgültig, Charon, mit grauen Haaren, schmutzigem Mantel, aber feurigen Augen, bringt hinüber. Und nicht, als schlösse das Hadesgrau Unterschiede und Unterscheidungen zwischen seinen Bewohnern aus; als gäbe es in ihm keine Art Hölle, keine Gefilde der Seligen. Das griechische Jenseits hat ein Totengericht am Eingang, wie das ägyptische und nachher das christliche; Wunschbilder der Vergeltung und des Ausgleichs wirken so durchaus. Ebenso wirken sie aus dem Hades, aus seiner reich gegliederten Dämmerung, ins Leben auf der Erde herein; von daher die auch bei Griechen bemerkbare sittliche Nachdenklichkeit der letzten Stunde. Als Perikles starb, versammelte er seine Freunde, bat jeden um Verzeihung für das Unrecht, das er ihnen angetan haben sollte, wollte von seinen Taten nichts anderes hören, als daß er nie einen Bürger in Trauer versetzt hätte. Die griechische Hölle aber verfinstert das Schattenreich höchst merkwürdig nach unten, nämlich überwiegend zu fruchtlosem Einerlei, zur Qual fruchtloser Wiederholung des Gleichen; so für Sisyphos, Tantalos, die Danaiden. Die Gefilde der Seligen verbessern das Hadesgrau still nach oben, in die freundliche Eigenschaft angenehmer Dämmerung, der Dämmerung eines ewigen Frühlingsabends. Es geht so gewiß auch in diesem Elysium nicht volltönend her, nicht golden wie auf Lebensfesten, aber silbern, nämlich ohne Leidenschaften und Langeweile. Ursprünglich war der griechische Himmel nur für Lieblinge der Götter bestimmt, nicht für gute Menschen schlechthin. Erst als Elysium in der nachfeudalen, nachhomerischen Zeit aus dem westlichen Ozean in die Unterwelt verlegt worden war, schien es auch für gute Menschen geeignet, wie der Tartaros nebenan für die bösen. So wirkt das noch so blasse Leben dieses Jenseits doch recht wunschhaft: die Toten werden in einer Traumwelt voll Schattenrisse gedacht, die Bösen darin in der unveränderten, ausweglosen des Angsttraums, die Guten in der kraftlosen, aber auch mühelosen Süßigkeit eines Bilderlebens. Und noch etwas, das Wichtigste, macht das griechische Jenseits, in anderer Schicht, sinnvoll. Denn neben dem populären Hadesbild hielt sich aus der pelasgisch-orphischen Zeit ein anderes, /(1308) das der Mysterien. Ihr Bild ist das Rad: der Mensch steigt mit den ansteigenden Speichen zum Leben auf, mit den absteigenden sinkt er zum Tod; vor allem aber: es ist nicht nur dasselbe Rad, es ist auch derselbe Mensch, der aufsteigt, absteigt und gemäß dem Rad wieder aufsteigt, Seelenwanderung wird gelehrt. Und Reinigung wird gelehrt, die aus dem kreisenden Tod das Beste zieht, dergestalt, daß der Mensch mit bewahrter Substanz den Tod besteht und auf höherer Stufe wiederkehrt. So in den eleusinischen Mysterien, so, mit dionysischem Akzent, in den orphischen; beide wollten ausschließlich in den Tod weihen, nicht für sein Nichts, sondern für dessen Überwindung.
Bejahung der Wiederkehr; orphisches Rad Das Grab sollte nun mit sich sprechen lassen, ja selber bewegt werden. Es galt als Saat unter dem Boden, die Frucht kommt also nach oben zurück. Ziel war, aus dem Hades wieder ins Lehen zu treten, und zwar als derselbe, wenn auch sich höher Bewußte, der man gewesen war. Der Erinnerung dieses Bewußtseins und dieser Gewißheit dienten die eleusinischen Weihen, die Mysterien der Persephone. Die Sage, die ihnen zugrunde liegt, enthielt wohl von vornherein ebensoviel Wachstums- wie Todeszauber. Entsprechend der Einheit, wonach mutterrechtliche Zeiten die Erde gleichmäßig als Acker fürs Korn wie für die Toten verehrt hatten; und Eleusis diente der Demeter, der Mutterrechts-Göttin. Kreist ihre Tochter Persephone zwischen Totenreich und Oberwelt, im Winter drunten, im Sommer droben, so galt das nicht nur als Sinnbild des Pflanzenwuchses. Es galt sehr früh als Wunschbild der Auferstehung: das Korn Persephone war zugleich die vom Hades geraubte menschliche Seele. Uralt sind diese - in den eleusinischen Mysterien bewahrten Zusammenhänge, auch hatte Demeter einst selber das Amt des Pluton, sie bewohnte nicht, wie in der späteren griechischen Zeit, den Olymp. Sie war die Göttin des Mutterrechts, und das Grab, das alle Geburten frißt, gehörte ebenso zum Schoß und seiner Welt wie die Geburt. Die Erdmutter war als Herrin der Toten eine furchtbare und zornige Macht, doch ebenso war diese Grabesgöttin die Göttin der Lebens-Wiege, eine gütige, Frucht /(1309) spendende Mutter. Derart waren die Funktionen von Geburt und Tod im vorhomerischen, im pelasgischen Mythos noch eng verbunden, Gäa-Demeter beherrschte den Glauben, erst die Götter Homers, die neuen Götter, gehören der Vaterrechts-Zeit an, so präsidieren sie weder der Geburt noch dem Tod, und sie selber sind dem Tod fern. Doch eben in den eleusinischen Mysterien wurde Demeter in ihrer alten Doppelfunktion angerufen, und ihre Tochter Persephone war der sterbende Mensch, der in den chthonischen Kreislauf gebundene. Und daraus galt es nun das Beste zu ziehen: Kunst des Todgebrauchs, Kunst glücklicher Wiedergeburt als die Moral aus Persephone. So wurden die Mysten, am Gleichnis des Saatkorns, mit dem Tod versöhnt: der Untergang trägt tausendfältige Frucht, er ist notwendig zur reicheren Wiederkehr. Trostreiche Alternierung von Tod und Leben geht an: Persephone entrinnt dem Hades immer wieder, obgleich sie immer wieder zu ihm zurückkehrt; Eleusis lehrte Seelenwanderung, und zwar als lebensbejahende. Als eine, die nach aufwärts fährt, aus immer neuen Eintauchungen in den Hades, und die nicht bloß Schoß und Grab, sondern auch Grab und Geburt mit sich bringt. Nach dem Glauben der Mysten ist leibliche Wohlfahrt der Gewinn, den die Mysterien für die Dauer des Lebens verleihen, den höheren Gewinn geben sie aber als Hoffnung einer schöneren Wiedergeburt in der Zeit nach dem Tod. Statt aus Lethe wird aus dem Quell der Erinnerung früherer Geburten getrunken, das soll den Weg in neue, verbesserte Geburt bahnen. Die Seelenwanderung wird derart höchst optimistisch gefaßt, als Medium zum Aufstieg; das Rad der Wiederkehr ist bejaht. Und der Tote schien gerade, indem er begraben wurde, gut verpuppt zu sein. Das Grab behält nicht, es reift, der Schatten in der Höhle soll aus ihr wiedergeboren werden. In der eleusinischen Formel, als der uralt-mutterrechtlichen, hat sich das Hockergrab aus der Steinzeit erhalten, worin die Leiche, zum Embryo gekrümmt, ihre neue Geburt erwartet. Weiter aber schließt die eleusinische Hoffnung den Menschen auch in das Frühlingsbild ein, worin die Erde selber aus der Leichengestalt wieder hervorgeht. Zu Demeter-Gäa tritt so Dionysos, mit dem dialektischen Namen nächtlicher Tag, Licht in /(1310) der Erde und aus ihr. Selbst im extrem vaterrechtlichen Rom hat sich, von den Etruskern her, dieses so gänzlich erdfromme Trost- und Doppelwesen erhalten. Die römischen Florealien waren zugleich ein Toten- und ein Frühlingsfest, Bacchus ist der Herr der Totenseelen, deren Schwärme mit Beginn des Frühlings der Erde entsteigen, im gleichen Zug bringt er das Blühen der Erde. Darum sind die Wände der etruskischen Grabkammern voll obszöner Szenen, der Totendämon etruskischer Leichenspiele tritt als Satyr auf, ebenso erhalten sich auf römischen Sarkophagen die bacchantischen Szenen, mit dem Phallos als Grabornament. Statt zu verblassen, wurde auch im apollinischen Griechenland die dialektische Erinnerung an Demeter-Dionysos, ja Pluton-Dionysos immer stärker; die eleusinischen Mysterien selber verbanden sich vom neunten, entschieden vom sechsten Jahrhundert ab mit Dionysos und seinem wiedergebärenden, orphisch läuternden Feuer. Die Statue des Dioniysos wurde von Athen nach Eleusis in den Tempel der Demeter getragen, er galt als ihr Sohn, er überstrahlte ihre Tochter Persephone, er galt im betonten Sinn als »der Mutter Sohn«, als Herr des feuchten und befruchtenden Naturlebens. So erschien er den Mänaden, als Stiergott erschien er den Liebesfleischerinnen und wurde sterbend-auferstehend zerrissen, er war ihnen, die dem Tod und der Vergänglichkeitsklage ebenso vertraut waren wie dem Orgasmus und der Lust, die Einheit von Tod und Leben. Dionysos ist der Weg von Demeter zum männlichen Naturleben, von der weiblichen Höhle zum Phallos; an ihm, nicht nur an der Einheit Grab-Wiege, sucht nun die Hoffnung auf Unsterblichkeit und
Wiedergeburt ihr Emblem. Bachofen hat diese Zusammenhänge zuerst wiedererinnert: »Der Mensch ist in der unbeweinten niederen Schöpfung, aber der phallischen Naturmacht und ihrem enthüllten Sinnbild bleibt der endliche Sieg. In dem Zauber üppiger Paradieseslust befriedigt sich jeder Anspruch an das Leben und jede Hoffnung des Jenseits« - die Naturklage der alten Welt verstummt. Dionysos wird statt des finsteren Pluton ein gleichsam solarer: »Er ist, wie ihn Makrob bezeichnet, die Sonne der unteren Erdhälfte (sol in inferno hemisphaerio), das heißt das solare Prinzip der finsteren Erde, das, der fernen Heimat entrückt, die verschlossenen Tiefen der Materie erleuchtet« /(1311) (Bachofen, Die Unsterblichkeitslehre der orphischen Theologie, 1867, S.26). Als dieser chthonische Helios holt nun Dionysos die Seelen aus dem Hades hervor, ohne Zwang zur Rückkehr, aber - und das ist gegen Demeter-Persephone das zweite Novum -, aber auch ohne Notwendigkeit, wieder geboren zu werden. Das zwingende Rad der Wiederkehr war in Eleusis vor oder außerhalb der orphischen Reformation bejaht; innerhalb der Orphik wird es verneint. Ein erweitertes Wunschbild geht damit an, ein nicht nur gegen Hades, sondern ein gegen Hades und ebenso gegen die Geburt gerichtetes. Ein asketisches Wunschbild mithin, wie es allerdings auch mit dem Frühlingsgott, dem ursprünglichen Fruchtbarkeitsgott Dionysos nicht mehr zusammengeht. Sondern die Orphik, wo sie einbrach, schloß sich hier an die Überlieferung eines zweiten Dionysos an, an einen selber wiedergeborenen. Es ist Dionysos-Zagreus, der von Titanen zerrissen wurde und der, nachdem Zeus sein unversehrt gebliebenes Herz verschluckt hat, in dem zweiten Dionysos wieder auflebt. Der Wiedererstandene hat die Glut und Freude, die er ist und zu der er führt, nicht eingebüßt; als Dionysos-Jakchos, das ist: der Jauchzende, wurde er in den Mysterien ausgerufen. Aber er lebt nicht mehr in seinem alten Körper, ja überhaupt nicht mehr im Leib des Todes und der mit ihm alternierenden Geburt; der Kreislauf der Geburt, wie die Orphik mit einem wahrhaft indischen Ausdruck sagt, ist mit dem Tod zusammen gesprengt. Der zweite Dionysos wird dadurch keineswegs transzendent oder auch nur olympisch, er bleibt höchste Lebensfülle, doch eben eine der zweiten, der vom Kreislauf freien Natur. Und ihm folgten zuletzt die orphischen Mysten nach, Wunsch wird Auszug aus dem Körper-Grab insgesamt, um weder Tod noch Wiedergeburt in der Körperlichkeit zu erfahren; freilich geht der Auszug keineswegs ins Lebensfeindliche, in Geist. So sichtbar hier Askese vorlag, im Zusammenhang mit dem Niedergang der griechischen Wirtschaft und Polis, so ist sie doch nur insofern eine lebensfeindliche, als sie die Wonnen des Leibs diesem anfällig-unsteten Wesen abnimmt und der Seele zufügt. Es ist falsch, in der orphischen Leibfeindschaft Entsagung zu sehen; wie wäre sonst Dionysos ihr Gott? Der Leib als Kerker der Seele, das bedeutet hier, daß /(1312) er den Schmetterling Psyche hindert, dieses Brausen empor. Nicht Übung bürgerlicher Tugenden, nicht Zucht, nicht sittliche Umbildung des Charakters wurden in der Orphik verlangt, sondern einzig Hinwendung zum orgiastischen Gott. Erst recht enthielt die orphische Askese keine Leibpeinigung, konträr, sie rettete gleichsam die Leibesfreude aus dem vergänglich-kreisenden Schauplatz. Sind also im Haß gegen das Geburtsrad indische Anklänge unverkennbar, so bleibt doch auch der zweite Dionysos von dieser Welt. Wein und Liebe verschaffen den Rausch, der aus dem Leib selber seine Essenz herauszieht und aus ihr sich begeistert. Eleusinisch erschien der als beständig angenommene Wechsel von Geburt und Tod erträglich, der mögliche Übergang vom Tod in bessere Geburt trostreich. Orphisch wird ein ganzes endgültiges Heil und sein Heiles in die Seele zu ziehen versucht, die aus jeder Wanderung heraus ist, sowohl aus der zum Tod wie der zur Geburt, und die das, was der Hadesvorstellung bloßer Schatten war, auf der Erde schon mit Blut füllen will. Elixiere der Seele und gnostische Himmelsreise Vom Leib dieses Tods befreit zu sein, das wurde immer wilder und fremdartiger ersehnt. Die sich auflösende spätantike Gesellschaft förderte in allen ihren Kreisen eine Angst, wie sie gleich stark bisher kaum gefühlt worden war. Sie bezog sich am heftigsten, fast zusammengedrängt, auf den Tod, obwohl dieser dem traurigen Leben doch ein Ende zu setzen schien. Doch er wurde keineswegs als Ende empfunden und am wenigsten als Ausweg; er wirkte eher als dauerndes Schlachthaus. Die Zeit des stoischen, gelassenen Selbstmords und seines - selber so düsteren - Trosts war vorüber; der Tod erschien von allem Hinfälligen als der unheimlichste Teil. Alles in allem war Eleusis noch ein Fest gewesen, und die meisten hatten dort mehr irdischen Segen als jenseitigen erfleht. In der Spätantike aber wurde dieses Fest zum Hilfeschrei; Lebensangst und Todesfurcht zusammen kamen damals in die Welt, Rettung aus beiden wurde gesucht. Nun erst bildeten die griechischen Mysterien, vermehrt durch eine fast vollzählige Einfuhr orientalischer, eine riesige Flucht-, Ausfluchtstraße. Niemals wurde gleich verzweifelt und so merk- /(1313) würdig durch alle Klassen hindurch nach dem Kraut verlangt, das gegen den Tod gewachsen war, niemals heftiger nach Unsterblichkeit, als Paß aus dem Schlachthaus. Seit Hadrian verband sich das Wunschbild der Mysterien
(Gewißheit der Auferstehung) mit jedem Aberglauben; Amulette, Geistersiegel, sämtliche Fischhaken der Beschwörung wurden ausgeprobt, um Unsterblichkeit zu fassen. An den Göttern schien nicht dieses groß oder der Nachfolge wert, daß sie mächtig sind oder weise oder selbst glücklich; sondern daß sie unsterblich sind, das war ihr begehrtes ambrosisches Teil. Dieses also zu erwerben, dazu dienten ganz überwiegend die Weihen, Riten, Liturgien, Prozeduren der spätantiken Mysterienreligion. Sittliche Reinigung wurde hierbei gewiß erstrebt, als Stärke, Verschwiegenheit, brüderliche Liebe, doch galt dergleichen nicht für entscheidend. Wichtiger als die Wegwaschung von Sünden war die Tingierung mit jenem magischen Stoff, durch den der Einzuweihende getauft und vom Todesleib befreit werden konnte. Galt doch bereits in den orphischen Mysterien der von den Mänaden zerrissene und verschlungene Opferstier, der den Dionysos darstellt, als der sterbende Jahrgott, der zu neuem Leben erwachen wird; Dionysos nimmt die von seinem Blut Trunkenen mit in die Unsterblichkeit. In offenbarem Zusammenhang damit arbeiteten die späteren »Taurobolien«: der Myste stand in einer Grube, über der ein Stier geschlachtet wurde, ließ sich von dem niederstürzenden Blut überströmen, erlangte dadurch die Taufe, ja eine Art heidnisches Abendmahl erhoffter Unsterblichkeit. Die Überströmten trugen auch danach auf der Straße, in Geschäften, ihre blutstarrenden Kleider, teils ein Gegenstand des Spotts, teils der Verehrung. Paulus (1. Kor. 10, 18 ff.) hat nicht grundlos auf eine Analogie des heidnischen Opfermahls mit dem Abendmahl hingewiesen; nennt er das heidnische Opfer (zu dem auch die Taurobolien gehörten) »den Tisch, den Kelch, die Gemeinschaft der Teufel«, so bestätigt diese Antithese gerade die religionsgeschichtliche Entsprechung und Verwandtschaft. Selbst Jesus siegte im Wettkampf mit den Mysterien nicht als Messias der Mühseligen und Beladenen, sondern als der »Erstling von den Toten«, und sein Charakter war »die Auferstehung und das Leben«. Die Taufe war damals insgesamt ein magisches /(1314) Sakrament, ihr Wasser galt als Lebenswasser, Christus hat vom Tod losgekauft. Vor allem der Christus in gnostischer Auffassung war ganz primär Antidoton gegen den Tod; auch galten hier keineswegs alle seine Gläubigen losgekauft, es sei denn nach erfolgter Totentaufe. Es gab eine gnostische Totentaufe als Hauptsakrament, das Haupt des Toten wurde in den Markus-Kulten mit Wasser und Öl gesalbt, er sollte dadurch, wie Irenaeus berichtet, »für die Archonten und Mächte unsichtbar werden«. Und dergleichen Tarnkappe vor dem Bösen nach dem Tod war von Jesus nicht weniger ersehnt; auch unter den Christen Korinths war zur Zeit Pauli noch eine Totentaufe üblich (1. Kor. 15, 29), die zeigte, wofür man den Lebensgott gekommen hielt. Gnostisch wurden die Tauf-Elixiere ergänzt durch Elixiere des Wissens, nicht jedem zugänglich und desto heißer im künftigen Äon gesucht; der gnostische Christus war ein gelehrter Erlöser. Er beseitigte die Unwissenheit, er offenbarte sich ganz erst den »Pneumatikern«, also den Geistesaristokraten, oder, wie sich sagen läßt: nur Doktoren der Himmelfahrt hat er den Tod abgeschafft. Freilich war das gnostische, selbst das philosophische Wissen dieser Zeit keineswegs von Wille, Gemüt und auch der damaligen aufgeregt-trüben Folklore abgetrennt. Proklos, einer der scharfsinnigsten Denker dieser Zeit, sammelte Volksmärchen, wo er sie fand, ließ sich, als ob das mit den Märchen zusammen ginge, in sämtliche Mysterien einweihen und verband so - auf keinesfalls geistesaristokratische Weise - das Populäre und das Hermetische, beides wahllos einladend, mit der Distinktion des Begriffs. Erst recht war die Gnosis, als heidnische wie christliche, keine Religion des dürr gewordenen antiken Kopfs, konträr: sie war der erste und letzte große Einbruch von Wunsch-Mythologie in den Kopf. Das erweist sich vor allem an einer ihrer seltsamsten, immerhin großartigsten Phantasmagorien: an der Lehre von der Himmelsreise der Seele. Sie schloß sich an die Taufe durch Blut an, um sich gegen das Sterben unsichtbar zu machen. Aber sie gab deutlich den Paß hinzu, der eine völlig ausgemalte, im Bösen wie Guten ausgemalte Reise hinter den Tod glücklich bestehen ließ. Näher hat es mit dieser Auffahrt oder Himmelsreise und mit der Notwendigkeit, für sie vorbereitet zu werden, folgende Bewandtnis: /(1315) Zwischen Himmel und Erde liegen die sieben Planetenkreise, beherrscht von bösen Geistern, von den Herren dieser Welt. Sie sind die Archonten oder Schicksalsdämonen, und als Dämonen mit Tiergesichtern, als Löwe, Stier, Drache, Adler, Bär, Hund und Esel wurden sie gnostisch dargestellt; sie knechten den Menschen und legen eine Blockade zwischen ihn und den Himmel. Darum werden die Archonten in dieser negativ gewerteten Astrologie als Zöllner bezeichnet, als »Vögte der leidvollen Straße«; der Planetenkreis selber erscheint als »Zaun der Bosheit«. Dergestalt wurde das antike Weltvertrauen, das noch bis weit in die mittlere Stoa hinein so mächtig und optimistisch gewesen war, verteufelt. Nero und Caracalla erschienen ideologisch in Sterndämonen verankert, die eigene Preisgegebenheit, die verschlingenden Wirbel des untergehenden Spätrom wurden ins Weltall projiziert. Doch nicht nur das Leben selbst, mehr noch seine Präexistenz und Postexistenz, der Zustand der Seele vor der Geburt und nach dem Tod gerieten in die gewaltigdüstere Lokalität des Archonten-Systems. Denn indem die Seele vom Himmel auf die Erde niederfuhr (der Mond galt als Tor für den Abstieg), passierte sie die sieben Sphären, und jede gab ihr ein Stück Bann mit, für ihr irdisches Schicksal. Nach dem Tod nun muß die Seele, bei der Auffahrt zum Himmel, an den gleichen Archonten wieder vorüber (die Sonne galt als Tor für
den Aufstieg), und an jeder Station tritt ihr, den Weg sperrend, der alte Archont entgegen, als »Gott des Verderbens und des zweiten Tods«. Ja nicht nur die Planeten, auch die zwölf Tierkreise der Fixsternsphäre und die zwölf Sternbilder des Tierkreises haben zu den Dämonen des Untergangs gezählt; der ganze Sternhimmel war ein Teufelsgebiß, das ganze Weltall eine Tyrannei. Sonne, Mond und Sterne sind insgesamt die fatale, die Schicksalssphäre, die Sphäre der Heimarmene; Weltregent ist der Teufel. Hier war nun die Stelle, wo die Gnosis ihren Mythos von der Himmelsreise einsetzte, im sozusagen technischen Sinn, als Brechung der astralen Blockade. Der Myste wurde in der Kenntnis des Paßworts unterrichtet, das an den sieben Archonten vorbeipassieren läßt und dem »Zaun der Bosheit« die Macht nimmt. Einige Paßworte bildeten mit höchst unbegreiflichen Heullauten die Namen der jeweiligen Archonten nach; die Kennt/(1306) nis des Namens ist, nach uraltem Glauben, identisch mit der Macht über den Benannten. Auch die besondere Lehre vom Paßwort geht weit zurück: im 125. Kapitel des ägyptischen Totenbuchs verlangt an jeder Pforte des Hades der sie bewachende Gott von den Toten, daß sie seinen Namen wissen, ehe er ihnen den Weg freigibt. Vielleicht ist noch diese ägyptische Überlieferung wirksam, wenn gerade im koptischen Schrifttum der Gnosis die Losungen besonders klassifiziert werden: in erster Reihe feierliche Mitteilung der Dämonennamen, dann der Symbole und Zeichen, die man vorweisen müsse, dann der Formeln und Zauberworte, die man zur Abwehr zu sprechen habe. Und als Erfolg wurde fürs Ende ausfabuliert: die Seele legt die häßlichen Hüllen und Befleckungen ab, die sie bei der Durchfahrt durch die Planetenkreise einst mitbekommen hatte. Im späteren persisch-gnostischen System Manis legt die Seele sogar sämtliche Bestimmtheiten der unteren Welt ab, also nicht nur ausgemachte Laster: dem Mond gibt sie die Lebens- und Ernährungskraft zurück, dem Merkur die Habsucht, der Venus die Wollust, der Sonne den Intellekt, dem Mars den Kriegsmut, dem Jupiter den Ehrgeiz, dem Saturn die Trägheit. Auch ist hier jeder Archont von einem Engel des persischen Lichtgotts Ormuzd bewacht, er tut das übrige, daß die Seele ohne Ballast zum Urlicht heimfindet. Und an dessen Eingang tritt sich die Seele des Gerechten selber »in Gestalt einer Jungfrau« entgegen, die ihn empfängt und in den obersten Himmel führt; bei Mani springt so hinter dem letzten Planeten keiner mehr hervor, sondern eben (in Dantes Beatrice später erinnert) die »Gestalt einer Jungfrau«, nämlich als reine Menschengestalt und Himmelsführerin. Wahrscheinlich dienten bereits die persisch-römischen Mithras-Mysterien nicht nur dem Kult des Sol invictus, sondern der Hilfe, die er den Toten gibt. Die siebenstufige Treppe, die in der Höhle dieser Mysterien, ganz im Einklang mit der Himmelsreise, aus sieben Metallen als den Planetenzeichen aufgebaut war, versinnlichte außer dem All eben die Paßwort-Durchfahrt durch die sieben Planetenkreise hindurch, zum Beleber Mithras hinauf. Am bewegtesten bleibt aber allemal die Perspektive in der jüdisch-christlichen Gnosis, gemäß ihrer völligen Verschlingung von Wunschmythos gegen den Tod mit Welt und dem Menschen- /(1317) sohn, der besser als die Welt ist. Mit Bildern des Alten Testaments wird so der Übergang ausgedrückt bei den Peraten; die von Hyppolitos überlieferte Stelle lautet: «Der Tod erfaßt die Ägypter im Roten Meer samt ihren Streitwagen; alle Menschen ohne die Gnosis sind Ägypter. Und das ist die Bedeutung des Auszugs aus Ägypten, nämlich des Auszugs aus dem Körper, der ein kleines Ägypten ist. Das Überschreiten des Roten Meeres aber bedeutet das Überschreiten des Wassers der Vergänglichkeit, welches der Saturn ist; und das Jenseits des Roten Meers ist die Wüste, wo zugleich alle Götter des Verderbens und der Gott der Erlösung sind. Die Götter des Verderbens aber sind die Sterne, die den Geschöpfen die Notwendigkeit sich wandelnder Geburt auferlegen« (Hyppolitos, Elenchos V, 16).In «Pistis Sophia«, dem bis vor kurzem einzigen erhaltenen gnostischen Buch, einer Art pneumatischem Roman, nimmt Jesus selber den Archonten »ein Drittel ihrer Kraft«, wendet ihnen »ihre Häupter und ihre Bahn auf die Hälfte des Jahrs, so daß sie nicht nach den Menschen blicken können« und Gott allein Schicksal wie Aufstieg bestimmt. «Wahrlich«, spricht hier Jesus, «wenn ich nicht ihre Bahn gewendet hätte, so würden eine Menge Seelen vernichtet worden sein, und sie würden lange Zeit zugebracht haben, wenn nicht die Arcbonten der Äonen und die Archonten der Heimarmene und der Sphaira und alle ihre Örter und alle ihre Himmel und alle ihre Äonen vernichtet wären, und es würden die Seelen lange Zeit außerhalb hier zugebracht haben, und die Vollendung der Zahl der vollkommenen Seelen würde sich verzögert haben, welche zum Erbe der Höhe durch die Mysterien gerechnet und im Lichtschatz sein werden« (Pistis Sophia, cap. 23). Hier also tritt zum Paßwort der gnostische Heiland selber hinzu, und er macht es überflüssig, nicht als Lehrer, sondern bereits als Pantokrator, als Herr gegen die Archonten. Gegen die gleichen Archonten, die selbst im Neuen Testament als «Kosmokratoren« geglaubt werden, wenigstens im Epheserbrief, wenn er auch nicht ausgemacht von Paulus herrührt: «Zieht an den Harnisch Gottes, daß ihr bestehen könnt gegen die listigen Anläufe des Teufels. Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und Gewaltigen, nämlich mit den Kosmokratoren, die in der Finsternis dieser Welt herrschen, /(1318) mit den bösen Geistern unter dem Himmel« (Eph. 6, 11 f.). Jesus kauft also nicht nur von der Sünde frei, sondern auch vom
astralisch verhängten Schicksal (wie es im Saturn als der bösen Fee im Märchen, als der bösen Sieben in der Astrologie hernach übriggeblieben ist), er nimmt das Regiment der Sterne, oder wie noch Augustin, recht im Sinn der Himmelsreise, pointiert: »Das Christentum ist deshalb der heidnischen Philosophie überlegen, weil es die bösen Geister unter dem Himmel bannt und die Seele von ihnen befreit« (vgl. De civ. Dei, X). So hoch-hindurch wirkte dieses utopisch-pedantische Reisebild ein, das erste, das nicht abwärts in den Hades fuhr, sondern aufwärts ins Licht. Das erste, das den Tod nicht als Versinken, sondern als Flug ausphantasierte, geschirmt und versiegelt dazu, mit Fahrplan und höchst plastischer Ausschweifung. Eine Erinnerung an die gnostische Himmelfahrt scheint noch bis in Dantes Läuterungsberg hereinzureichen - ohne Dämonen, wie sich versteht, doch mit graduiertem Aufstieg durch sieben Pforten. Sie öffnen sich in der Gnosis aufs Urlicht, bei Dante immerhin auf den Garten Eden und den Wunderbaum. In der Gnosis sind es die bösen Planetensphären, bei Dante sind diese freilich längst entsühnt und eingemeindet, machen die leitende Topologie selbst. Aber die siebenstufige Fegefeuerwanderung der Seele ist durchaus erhalten, am nächsten zur Fassung Manis, auch wenn die Planetensphären in Dantes Paradiso nicht die der gnostischen Himmelsreise geblieben sind. Und wie bei Mani tritt eben eine schöne Jungfrau am Ende der Fegefeuerfahrt entgegen, das zum Himmel leitendeWeib; Beatrice bei Dante, Gretchen im Faust. Hätte die Spätantike einen großen Dichter hervorgebracht, so wäre der Stoff der Himmelsreise glänzender sichtbar, als dies die Berichte seiner Widersacher oder auch die verworrene «Pistis Sophia« vermitteln. Oder auch wie er in einigen, zum Teil noch erhaltenen Hymnen- und Liturgiedichtungen vorkommt, die in dem Hymnenbuch der manichäischen Kirche gesammelt wurden. Auch so aber enthält dieser Fahrtmythos eines der weitesten, obzwar tollsten Abenteuerbilder gegen den Tod und eine der seltsamsten Befreiungsmythen gegen das - in Sternkaiser projizierte Schicksal. /(1319)
Der ägyptische Himmel im Grab
Einmal konnte die letzte Angst, auch stiller, ja vertrauter ausgeredet werden. Dort nämlich, wo sich bereits das ganze Leben in einen Vortod verwandelt. So hielten es die Stämme, die seit den ältesten Zeiten den unteren Nil bewohnten, sie haben als erste das ruhende Grab beneidet. Sie hatten schon vor dem alten Reich seltsam fahle, makabre Zeichen und Götzen. So wurde im Delta ein entblätterter Baum verehrt, auch die abgestreifte Haut einer Schlange. Kein anderes Volk hat sich nachdem so unablässig mit dem Tod beschäftigt wie die Ägypter, war so absurd-wunschvoll mit ihm als wahrem Leben einverstanden. Keines hat soviel Vorbereitung auf die Kunst des Sterbens verwandt, keines der Versorgung der Toten im Jenseits eine so große Aufmerksamkeit gewidmet. Keines so viel Aufwand und Zeit für den Gräberbau übrig gehabt und sich das Drüben mit gleich sorgfältiger Liebe ausgemalt. Auch haben die Ägypter als erste moralische Vorstellungen mit denen eines guten Tods in Verbindung gesetzt. Bereits in der fünften Dynastie betont ein Vornehmer auf seiner Grabstätte: »Ich habe dieses Grab gebaut als gerechtes Eigentum, nie habe ich etwas genommen, was einem anderen gehörte, nie habe ich jemandem Gewalt angetan.« Es gab zwar Ablässe, von der Priesterschaft zu erwerben, Zauberformeln im Innern des Sargs oder auf dem heiligen Skarabäus, den man, in Stein geschnitten, den Mumien unter die Brustbinde legte. Doch selbst die Zauberformeln begannen noch mit dem bedeutsamen Satz: »Mein Herz, stehe nicht auf gegen mich als Zeuge.« Zum erstenmal in der Geschichte, tausend Jahre vor den Griechen und ausführlicher als in Israel, tritt der Wunschgedanke auf, daß das Geschick der Toten nicht bloß Fortsetzung ihres irdischen Wohlergehens sei, sondern vom sittlichen Wandel abhänge. Totenrichter entscheiden über guten oder schlechten Aufenthalt, der göttliche Schreiber Thot zeichnet das Urteil auf, nachdem das Herz des Toten gewogen worden ist, Osiris selbst führt den Vorsitz. Das Bleibende am Menschen aber war nicht nur seine Seele, dies unstete und gleichsam noch unreife Wesen. Man dachte es sich als einen Vogel mit Menschenkopf, der nächtlich umherflattert, also sehr entfernt von /(1320) seliger Ruhe. Das Bleibende ist das Urbild der Körperperson selbst, das Ka; diese harte Entelechie ging mit dem Menschen durchs Leben, betrat, nach dem Tod, die andere Welt. Nur zur Vermittlung mit dem Ka wurden die Leichen mumifiziert, und in höherer Mumifizierung wurden sie plastisch verewigt: Bildhauerkunst galt den Reichen und Mächtigen als ein Hilfsmittel auf dem Weg ihrer jenseitigen Verewigung. Das plastische Porträt enthielt das Ka und wurde in der Totenkammer aufgestellt: «Größere Sorgfalt«, sagt daher Diodorus, »wird auf die Wohnung der Toten als der Lebendigen verwandt; die Gräber allein betrachten die Ägypter als die wahren und dauernden Wohnsitze für alle Zeiten.« Das Streben ist so nicht nur, das irdische Dasein in Ewigkeit zu verlängern, sondern das ewige Dasein selber erscheint als Leben im Tod, und zwar gründlich. Dazu schien der Lebenslauf, ohne Decrescendo, selber zu reifen, vielmehr schwer zu werden, Würde zu werden; denn das Kind stirbt flach und taucht wenig ein, der Alte aber sinkt tief, findet Todesleben, durch das Alter selber eingeschult zum Bewußtsein des Tods. Völlig
war derart in Ägypten eine Kultur des Tods ausgelotet, durch tiefes Eintauchen in ihn, weit unter die oberflächliche Lebens- und Sonnenlinie, hinunter zur Vollendung dessen, was der Mensch hier erst unvollkommen ist, hinunter zum lebenden Leichnam und zur Tiefe des Alters, als der des Totenreichs. Mit dem Ka erstreckt sich eine utopisierte Starre ebenso ins Leben, wie sich das Leben in eine situationslose Form erstrecken soll. Das Ka, das zu Osiris versammelt wird, war bereits auf Erden der gemeißelte Mensch, der Mensch der Ruhe, Gravität, Geschlossenheit, wie er der gesamten hieratischen Plastik Ägyptens zugrunde liegt. Als trockene Mumie, für die Ewigkeit eingenäht, erreicht der Mensch seine erste äußere Form, als geometrische Starre im Stein seine wahre. Das Werdenwollen wie Stein ist, wie zu sehen war, die Wunschlandschaft der ägyptischen Kunst überhaupt und eben dieser »Todeskristall geahnter Vollkommenheit« (vgl. Seite 847) ist geleitet vom Werdenwollen wie der Tote selbst, hat eine anorganische Zielform. Nicht nur die eigentlichen Grabbauten, die Pyramiden und Mastabas, sind, nach Hegels Wort, ein Kristall, worin ein Toter haust, auch die hieratische Plastik denkt den Ka als kristallen, /(1321) in bewegungsfremder Blockeinheit, schlechthin konkordant mit dem Stein. Sehr gut fügt sich dem der historische Sinn ein, das Gedächtnis, die Tradition, die beispiellose Treue zur Gewohnheit: Ägypten insgesamt ist das Wunschland eines Raums ohne Zeit, einer heiligen Geometrie. Wohin der Tote nun fährt, dieses Land war freundlich, doch gleichsam nur starrend belebt. Hierbei schien es keinesfalls lichtlos oder, als abgeschieden und bloße Unterwelt, der Sonne selber abgekehrt. Das widerspräche sowohl der bleibend sichtbaren Ruhe wie der Verehrung, die der Sonne erwiesen wurde, der untergehenden, nicht verschwindenden. Das Totenreich säumte so die unterirdische Wasserstraße, auf der die Sonnenbarke, wenn sie ins Meer eintauchte, von Westen nach Osten unter der Erdscheibe lief. Wurde doch auch der Himmel über der Erdscheibe als Land mit Wasser vorgestellt, mit Inseln, Kanälen und einem Meer, auf dem Sonne, Mond und Sterne in Barken fuhren. Diesem Ägypten des Taghimmels entsprach das Ägypten des Nachtscheins der Sonne - freilich aber entsprach es mit Gravität, mit Grave. Die fortgesetzten, fröhlich dargestellten Arbeiten, in denen sich niederes Volk im Jenseits weiterbewegt, dürfen über die lebenden Leichname nicht wegtäuschen. Auch die bunten Szenen im Innern feudaler Sargwände, die Angaben des ägyptischen Totenbuchs über Pflügen, Ernten, Segeln und andere Tätigkeiten einer nicht mehr misera, doch contribuens Jenseits-Plebs verdecken nicht die Unsterblichkeit im unbewegten Alterstil des Tods, die statuarisch gewollten Menschen höher zukam. Gewiß, der König empfängt von seinem göttlichen Vater das Zeichen des «Lebens«, die Formel «mit Leben beschenkt« gehört seit den ältesten Zeiten zur Titulatur der Pharaonen. »Die Hieroglyphe des Lebens - nicht des gewöhnlichen irdischen, sondern des erhöhten göttlichen - ist das Henkelkreuz, das auf überaus zahlreichen Darstellungen der Gott dem König überreicht, oft in der Weise, daß er es dem Gesicht des Königs nähert, damit dieser das Fluidum, das von dem Symbol ausgeht, durch die Nase einatme. Hierdurch übertragen die Götter das ihnen eigene Pneuma, das ist den göttlichen Lebensodem, auf die Könige als ihre geliebten Söhne« (vgl. Norden, Die Geburt des Kindes, 1924, S.119). Aber das dergestalt betonte «Leben« /(1322) ist keineswegs eben das irdisch vergleichbare, das bewegte, in Bewegung sich äußernde, so wenig wie es dem Pharao als solchem zukommt, dem gleichsam schon vor dem Tod erstorbenen, das heißt statuarisch zu Raum statt Zeit gewordenen. Daher wird neben die »Lebens«-Hieroglyphe, die der Gott dem Pharao überreicht, allemal jene andere gestellt, die den Begriff »Dauer« bezeichnet, Dauer in dem Sinn, wie sie Osiris, der selber tote Gott, auf der Stele in Abydos für Sesostris III. bereithält oder wie Ptah, Mumien- und Bildhauergott zugleich, sie Ramses II. zuspricht. Und was dem Pharao allerhöchst eigen, ist jedem Ägypter, der auf Gravität und ihr Grave zu sehen vermag, als Amt eigen und Ziel, als Todesamt und würdiger Amts-Tod. Damit sein »Leben« nicht in einem Sterben mündet, das noch zum Wechsel gehört, sondern in heiliger Starre, am Nil der Verewigung. Osiris selber ist unbewegt, er war von Isis lediglich zum Todesbewußtsein erweckt worden, gerade als vollkommenste Leiche wurde er neben der Sonne angebetet. Dieser Unterweltkönig war wahrscheinlich schon in seiner ältesten Verehrung ein Grabgott, dazu dann wurde er später auf den unterirdischen Lauf der Sonne bezogen, als regierende Statue in deren Grab- und Westreich selber. Die Bilder des Osiris bleiben derart seit alters makaber; eben der erwähnte vorgeschichtliche Fetisch des entblätterten Baums wurde auf Osiris als seine Hieroglyphe übertragen. Die offizielle Kunst des alten Reichs stellt den Gott stets als Leiche dar, in Mumienbinden gehüllt, ja das mittlere Reich, vollends die Spätzeit hat dann sogar noch Ptah, den höchsten Gott, eingeschreint. Auch er wurde zuletzt als Grabgestalt abgebildet, als Mumie eines kahlen Priesters; so wurde Ptah, der Weltschöpfer, zum Schutzgott der Königsgräber, verschmolz schließlich mit Osiris. Dieser selbst war und blieb »der Erste derer, die im Westen sind«, er war durch die mächtigen Zaubersprüche der Isis, seiner Gemahlin, von der Lähmung des physischen Tods befreit, doch eben nur so, daß er den lebendigen Tod darstellte, die Auferstehung in glücklichen Tod. Der Verstorbene wird seit dem mittleren Reich geradezu Osiris N. N. genannt, gleich als wäre er der Gott selbst (vgl. Erman, Ägypten und
ägyptisches Leben im Altertum, 1923, S. 347); so fraglos lag das Wunschbild der Vollendung den /(1323) Ägyptern im Wunschland eines göttlichen Leichen-Seins. Nicht Rede, nicht Gesang reichten noch dahin, Osiris war der schweigende Gott katexochen, in seinem Tempel zu Abydos war es untersagt, Musik zu machen. Das Bild vom Frieden des Tods kam durch Ägypten in die Welt, wobei entscheidenderweise dieser Friede weder in Auslöschung noch umgekehrt in einer Art von höherem, also gesteigertem Leben bestand. Der Friede des Osiris war vielmehr der eines wechsellosen Dauerzustands, eines Tods ohne Lähmung, doch auch ohne Dramatik von Hölle und Himmel. Kurz, der ägyptische Wunschtod war Erstarrung im ungestörten Tun und Sein, dazu leuchteten der tote Osiris und die Sonne der Unterwelt. Die Wiederholungsmythen, welche den Griechen die Verdammnis bezeichneten, mit dem Zusatz der Vergeblichkeit (Tantalos, Sisyphos, Danaiden), bezeichnen hier Seligkeit. Das Definite und darin ewig Gleiche ist im ägyptischen Todeswunsch das gleiche wie Aktionen des Ka, wie Freuden der endlich gelungenen Statue. Biblische Auferstehung und Apokalypse Es überrascht, daß die letzte Angst jüdisch sehr lange nicht bedacht und überträumt worden ist. Dies Volk war so diesseitig wie die Griechen, aber es lebte doch unvergleichlich viel stärker auf Künftiges und Ziele hin. Dennoch traten Wunsch und Bilder des Fortlebens nur langsam vor, obzwar dann darüber fröhlich, darüber rächend gewordene. Bis dahin schoben langes Leben, Wohlergehen auf Erden das Ende hinaus und hinab, in Scheol, die ferne Unterwelt, hinab. Es gab im alten Israel Ahnen- und Totenkult, das setzt Glauben an ein Fortleben voraus, aber das gehörte noch zum kanaanitisch übernommenen Zauber, nicht zum frommen Glauben. Wenn Saul durch die Hexe von Endor den Totengeist Samuels beschwört, so begeht er gerade eine Sünde; überdies wird der aufsteigende Geist nicht als Mensch, sondern als »Elohim» bezeichnet (1. Sam. 28, 13), folglich als übermenschliches Wesen, nicht als Seele. Dasselbe gilt für die merkwürdige und als sehr früh belegte Stelle über Henoch: »Und weil er ein göttliches Leben führte, nahm ihn Gott hinweg und ward nicht mehr gesehen« ( I. Mos. 5, 24). Es sind das, /(1324) gleich der Entrückung Eliae, selber große Ausnahmen, und als solche werden sie ausgezeichnet: vor allem aber: Elohim, nicht Menschen stecken hinter diesen unsterblichen Namen. Ist es doch möglich, daß Henoch, mit seinen 365 Lebensjahren, einen früheren Sonnengott bezeichnet; auch Elias fuhr ja auf einem »feurigen Wagen«. Scheol, Unterwelt des Grabs, blieb statt dessen lange des Menschen Teil, so noch im Buch Hiob (um 400 v.Chr.), wenn auch mit prometheischer Aufbäumung dagegen: »Ob ich gleich lange harre, so ist doch die Unterwelt mein Haus, und in Finsternis ist mein Bett gemacht. Die Verwesung heiße ich meinen Vater und die Würmer meine Mutter und Schwester« (Hiob 17, 13 f.). Durchbruch der Unsterblichkeit geschah im Judentum erst durch den Propheten Daniel (um 160 v. Chr.), und der Antrieb dahinter kam nicht aus dem alten Wunsch nach langem Leben, nach Wohlergehen auf Erden, nun transzendent verlängert. Er kam vielmehr aus Hiob und den Propheten, aus dem Durst nach Gerechtigkeit; so wurde der Wunsch Postulat, die postmortale Szene durchaus Tribunal. Glaube ans Fortleben wurde hier eines der Mittel, um den Zweifel über Gottes Gerechtigkeit auf Erden zu beschwichtigen; vor allem wurde die Auferstehungshoffnung selber eine juristisch-moralische. Ein Totengericht kam, wie gesehen, viel ausgeführter schon in Ägypten vor, aber ein wesentlich Neues, das gerade den Reichen und Herren in der Gemütsruhe nicht gut tun sollte, kam im späten Israel hinzu. Denn das Grundmotiv zur verlangten Auferstehung wird jetzt drohend, es heißt Nachholung des fehlenden irdischen Gerichts: »Und viele, so unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, einige zum ewigen Leben, andere zur ewigen Schmach und Schande. Die Lehrer aber werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die, so viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewig« (Dan. 12, 2 f.). Das ist der moralische Einmarsch der Auferstehungshoffnung in den frommen Glauben, unabhängig von Totenkult, Zauberriten, Gottmenschen; und es ist der erste Einmarsch. Die scheinbar frühere Verkündung in einigen Psalmen - vor allem in Psalm 49, 16: «Gott wird meine Seele erlösen aus der Gewalt des Scheol, denn er hat mich angenommen«, auch der Vers in Jes. 26, 19: «Aber deine Toten werden leben, meine Leichname werden /(1325) auferstehen« - stammt in Wahrheit aus einer ebenso späten Zeit wie Daniel, ist interpoliert gleich dem Komplex der Jesajaskapitel 24-27. Allerdings werden auch nach Daniel nicht alle, nur viele erwachen, nämlich nur die frommen jüdischen Märtyrer und von den Ungerechten nur die schlimmsten Bluthunde. Auch diese noch nicht zu einer Hölle, sondern zu ihrer Schmach und Schande und damit sie den Triumph der Gerechten sehen. Allgemeine Auferstehung selber, die aller Menschen, wird erst in den Bilderreden des äthiopischen Henochbuchs ausgesprochen, gegen Ende des ersten vorchristlichen Jahrhunderts; das ägyptische Totengericht, die persische Weltbrandlehre gaben ihre Farbe ab. Das Henochbuch machte Daniels Verheißung nicht nur generell, es führte in sie auch die verschwenderisch ausgemalte Szene von Hölle, Himmel, Jüngstem Gericht ein, zum erstenmal. Und die Esra-Apokalypse des
ersten nachchristlichen Jahrhunderts macht das Gericht zur letzten Enthüllung: »Es gibt ein Gericht nach dem Tod: da wird der Name der Gerechten kund, die Taten der Frevler werden offenbar «(4. Esra 14, 35). Die uralte ägyptische Idee vom Buch des Lebens wirkte ein, in welches das Gewicht der menschlichen Taten eingeschrieben wird. Der Schreibergott Thot, der dies Amt beim ägyptischen Totengericht besorgte, kehrt als Engel Jahwes wieder, ja als dieser selbst. Und die Eintragung wird jährlich jeweils am jüdischen Neujahrstag eingeleitet, am Versöhnungstag beendet, als dem höchsten und ernstesten jüdischen Feiertag. Als einem postmortal gezielten Bußtag, der freilich, bezeichnenderweise, im vorexilischen Judentum noch völlig unbezeugt ist, im sogenannten Bundesbuch, bei der Anordnung der Feste (2. Mos. 23), nicht erwähnt wird. Der Gerichtsbuch-Mythos selber wurde immerhin in einen alten Text interpoliert, so in 2. Mos. 32, 32 f, auch der erste Jesajas nennt ihn: «Und wer da wird übrig sein zu Zion und überbleiben zu Jerusalem, der wird heilig heißen; ein jeder, der geschrieben ist unter die Lebendigen zu Jerusalem« (Jes. 4, 3). Das hat sich erhalten bei Lukas 10, 20: «Freut euch, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind«, es tönt fort im kirchlichen Requiem: «Liber scriptus proferetur in quo totum continetur.« Mit dem erstarkten Wunsch- und Traumblick in die Gerechtigkeit eines wenigstens Jüngsten oder /(1326) letzten Gerichts und seines Dahinter kam nun freilich auch die Zeit für eine Umdeutung vermeintlich früherer Zeugnisse. Besonders eben bewegte jetzt der Genesis-Bericht über den vorsintflutlichen Patriarchen Henoch und seine Entrückung; er galt der spätjüdischen Literatur als der erste derer, die dem Scheol, ja dem Tod entronnen sind. Ein »Buch vom Henoch«, ein »Buch der Geheimnisse Henochs« entstand, worin die Mysterien der anderen Welt ausphantasiert wurden, welche der Patriarch zu sehen bekommen hatte; die neutestamentliche Epistel St. Judä feiert Henoch, »den siebenten von Adam«, als Weissager des letzten Gerichts (Ep. Jud. 14f.). Auferstehungsutopie wurde so schließlich orthodox, trotz offenbar vorhandener Widerstände, wahrscheinlich aus den Kreisen der »epikurischen« Sadduzäer (»welche da halten, es sei keine Auferstehung«, Luk. 20, 27). Um die Zeit Christi kam ein Sanhedrin-Beschluß heraus: »Keinen Anteil an der zukünftigen Welt hat, wer sagt, daß die Wiederbelebung der Toten sich nicht aus der Thora beweisen lasse.« Mithin aus den fünf Büchern Mosis, wo doch zuverlässig noch kein solcher Glaubensartikel vorliegt: es sei denn in dem erwähnten Ahnenkult, der, jenseits der Zauberbräuche, über einen lokalisierten Gräberkult wenig hinauskam. Bald machten sich auch sehr läppische Endbilder groß, drangen selbst in den Talmud, etwa ein künftiger Leviathan: »Dies ist das Fischungeheuer, von dessen Fleisch nach der Weltdämmerung die Auserwählten genießen und aus dessen Haut ein Zelt bereitet wird, worunter die Gerechten aller Völker in Glückseligkeit wohnen«; das Meertier wurde so eine Art jenseitiges Manna. Und eines, das beim Genuß nicht abnimmt, auch zeigt, daß selbst Leviathan, die Schreckgröße (Hiob 41, 2-26), dem Seligen einmal zum Besten dienen wird. Mit erneuter Lehrgewalt hat dann Maimonides, in den dreizehn Artikeln eines Credo, Unsterblichkeit der Seele, Auferstehung des Leibs vorgeordnet. Salomon Reinach bemerkt hierzu in seinem »Orpheus« nicht ganz mit Recht: diese Artikel seien vom biblischen Judentum so fern wie der Katholizismus des Trientiner Konzils von den Evangelien. Denn was bei Maimonides die Auferstehung angeht, so hat das im nachexilischen Judentum emotionale Vorbereitung und seit Daniel juristisch-moralische. Über der Angst des physischen /(1327) Tods tauchte das Entsetzen des zweiten Tods auf, die Verdammnis, die den Ungerechten erwartete. Jesus gar lebte in diesem Glauben, der tief in den Volksschichten zu Hause geworden war, und sprach aus ihm, als Droher so gut wie als Erretter. Er berief die Auferstehung als einen selbstverständlichen, als einen für die meisten gefährlichen Akt (Matth. II, 24, Luk. 10, ,2); Glaube an Auferstehung und Gericht zählte in der Jesus-Sekte zur Lehre vom Anfang christlichen Lebens überhaupt (Hebr. 6, 1 f.). Desto strahlender hatte der Himmel zu leuchten, desto heftiger wirkte, über der politischen Verheißung des Gesalbten, die Verheißung ewigen Lebens. Als Besiegung des zweiten Tods, hinter dem ersten, hinter der bloß physischen Vernichtung, die die Seele zu Hölle oder Himmel übrigläßt. So wurde seit Daniel, zuletzt auch unter iranischen Einflüssen, die Unsterblichkeit in ein nicht nur individuell-künftiges, sondern kosmisch-künftiges Drama ungeheuerster Gewalt hereingestellt; in Weltbrand und lauter Nacht, lauter Licht dahinter. Alle Menschen sind dabei anwesend, das wird der Sinn des Jüngsten Tags, er spielt sich nicht vor einem zufällig letzten Geschlecht und vor der menschenleeren Natur ab. Ja die Welt der Apokalypse, worin das späte Judentum ankommt, hätte auf ihre Gläubigen als nichtig und subjektlos gewirkt, wenn sie nicht eine auferstandene Versammlung aller Menschen seit Adam betroffen und beschert hätte. Desto brennender der Wille, sich auf die rechte, auf die siegreiche Seite zu schlagen. Jesus trat zuerst als heilend auf, so und noch nicht politisch oder gar von Sünden befreiend hat er geworben. Er tritt gegen den ersten Tod auf und gegen die Krankheit zu ihm hin, er heilt zunächst Lahme, Blinde, Blutende, er erweckt eine Leiche. Davon sind die frühen, gänzlich zaubermännischen Wunderberichte erfüllt; noch nicht von Buße. Diese trat als Predigt und als Erbe Johannis des Täufers erst später hinzu und dann wieder in erweckender Verbindung, in der mit dem zweiten Tod. So fällt das ganz und gar nicht innerliche, das
magisch-materielle Wort: »Was ist leichter zu sagen: dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: stehe auf und wandle« (Luk. 5, 23). Um wissen zu lassen, daß der Menschensohn Macht hat, die Sünden zu vergeben, dazu hat der Jesus dieser Stelle, nach der bereits pneumatischen Deutung Lukae, geheilt, /(1328) aber gewirkt hat er als Brot des Lebens, nicht nur als Sündenvergeber. Und gesiegt hat er, nach der Taufe in seinen Tod, durchaus als die Auferstehung und das Leben. Als der geglaubte Erstling derer, die da auferstanden sein sollen, als Bringer des zweiten oder Himmellebens gegen den zweiten Tod oder die Hölle. Erlösung von der todbringenden Sünde war die Wurzel oder der Stamm, aber Erlösung vom Tod war die begehrte Frucht des damaligen Juden-, erst recht Heidenchristentums. So das Wort eines gleichsam heiligen Tauroboliums: »Wer mein Fleisch ißt und trinkt mein Blut, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tag auferwecken« (Joh. 6, 54). So erst recht die Definition, die in dem am wenigsten faktischen, am meisten pneumatischen Evangelium aller Zeichen und Wunder zusammengefaßt: »Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe« (Joh. 11, 25). Welch ein Unterschied also zu den Göttern der Antike, die dem Tod, aber auch der Belebung fremd sind. Es kommt zwar vor, daß sie bei der letzten Stunde erscheinen, so tritt bei Euripides die Artemis ans Sterbelager des Hyppolitos, aber sie verheißt ihm keineswegs Unsterblichkeit, sondern einen Tempel und Nachruhm, und sie, die selber nie den Tod schmeckte, verläßt ihn im Sterben. »In deine Hände befehle ich meinen Geist«: kein Grieche konnte das zu einem seiner Götter sagen. Auch Jahwe freilich war mit Unsterblichkeit bisher wenig bemengt; so fehlt auch folgende Überbietung bei Jesus nicht: »Eure Väter haben Manna gegessen in der Wüste und sind gestorben. Ich bin das lebendige Brot, vom Himmel gekommen, wer von diesem Brot ißt, wird leben in Ewigkeit» (Joh. 6,49 und 51). Trotzdem wird die Substanz des ewigen Lebens selbst, die bisher als unbekannt gesetzte Substanz, auch im Vater nun behauptet und gesetzt, als durch Jesus bekannt gemacht: »Jetzt aber geoffenbart durch die Erscheinung unseres Heilands, der dem Tode die Macht hat genommen und das Leben und ein unvergänglich Wesen an das Licht gebracht« (2.Tim. 1, 10). Jesus führt in einem zweiten Auszug aus Ägypten weg, vom Osiriswesen weg: »Gott aber ist nicht der Toten, sondern der Lebendigen Gott; denn sie leben in ihm alle« (Luk. 20,38). Und das Osterwunder, auch ohne den paulinischen Opfertod, wird in der begonnenen /(1329) Teilhabe an dieser Substanz geglaubt: »Denn wie der Vater das Leben hat an ihm selbst, so hat er dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in ihm selbst» (Joh. 5, 26). Genau die in Christi Tod Getauften sollen also auch in seine Auferstehung getauft sein, in den wirklichen Henoch oder wirklichen »Erstling derer, die vom Tode auferstanden sind«.Und von hier teilt sich der Impuls oder die Oster-Utopie der christlichen Kunst mit, vor allem, wie zu sehen war, der organischen, metaorganischen, gotischen. Sie ist nicht Werdenwollen wie Stein, sondern konträr: »Lebensbaum als geahnte Vollkommenheit, christförmig nachgebildet» (vgl. Seite 849); das wird die letzte Wunschlandschaft der Gotik. Das Leben soll dem Tod entronnen sein, obzwar immer nur für die durch Christus Gerechtfertigten, nirgends im zweiten Tod für die Verdammten, nirgends in der Hölle. Diese eben wurde genauso unvermeidlich gemacht wie der Himmel; Hölle und Himmel zusammen machen das Lokal des Exitus aus, das nun gänzlich generalisierte. Nichts bleibt übrig, von der ganzen Schöpfung, als die Zweiheit von Strafe und Lohn, von Gezeter und Gesängen, von Hölle und Himmel. Über den Termin des Eintritts ins eine oder andere stehen freilich zwei Vorstellungen nebeneinander, obwohl sie sich ausschließen, ungeduldige und geduldige. Sobald nämlich die Todessekunde mit dem Ende der Welt konkurrierte, konnten dem Menschen Hölle wie Himmel auch sogleich beschieden werden, nicht erst am Jüngsten Tag. Vor allem die Hölle wurde als nahe Zukunft gedacht, sie stand bereits hinter dem Sterbebett des Sünders, mit offenen Tatzen, hungrigen Augen, dem ganzen Schlund. Überdies nahmen in späterer christlicher Zeit die grausamen Gerichtsverfahren lauter Hölle auf und vorweg; Rädern, Pfählen, Vierteilen, Hexenbrand warteten nicht erst den Teufel ab. Auch sonst ragte christliches Jenseits als Verdammnis allenthalben ins Leben herein, die Dachböden und Kreuzwege, die Schluchten und meist noch ungelichteten Wälder waren gefüllt von Seelenspuk, der keine Ruhe fand, von einer schon unmittelbaren postmortalen Schrecklichkeit. Das Fegefeuer wird vom Dogma sogleich hinters Lebensende gesetzt, aber bei Dante sind auch Hölle und Himmel bereits eingetretene Entscheidungen, ein Jüngstes Gericht kann diese ehernen Zustände nicht mehr alterieren. Die Inferno-Grüfte /(1330) sind nur noch nicht zugedeckt, die viereckigen Sarkophage in jener stillen, düster-brennenden Halle, gefüllt mit Menschen und Qualen, warten nur noch darauf, am Gerichtstag für die Ewigkeit geschlossen zu werden. Sonst fügt das Weltende zu Dantes Schwefelhöhlen oder Lichtkreisen schwerlich etwas hinzu, das Buch des Lebens wirkt bereits als geöffnet. Jesus selbst häuft zwar alles Entsetzen, alle Rettung wesentlich auf einen erst künftigen Tag, wenn auch auf einen nahe bevorstehenden; immerhin, fürs Paradies gibt es Vorwegnahmen. So für den gläubigen Schächer, so für Lazarus, der von den Engeln, ohne Grab und Auferstehung, sogleich in Abrahams Schoß getragen wird (Luk. 16, 22) Einhellig bleibt bei alldem nur, daß der Zustand in der künftigen Welt vom Verhalten und der
Durchchristung in dieser Welt abhängt; nach dem Tod ist die Saat beendet, es folgt nur noch die Ernte. Und eben eine schlechthin dualistische: unausdenkliche Pein, unausdenkliche Freude krönen das kurze Leben mit einem Kontrast, den keine Jenseits-Erwartung, auch die Ägyptens nicht, bisher gekannt hatte. Es ist der manichäische Gegensatz von Nacht und Licht, der, als einer zwischen zwei unabhängigen Großmächten, von der Kirche sonst überall zurückgewiesen wurde, aber in ihrem Jenseits sich verabsolutiert. Der Gegensatz war nicht von Anfang an so dauerhaft, Paulus hat in I. Kor. ,5, 21-29 die Ewigkeit der Hölle verneint, in Römer 6, 23 bejaht; Origenes, der Begründer der Fegefeuerlehre, ließ alle Geister, selbst die Dämonen, dereinst geläutert zu Gott zurückkehren. Aber die Kirche setzte, in einem ihrer härtesten Dogmen, Ewigkeit der Höllenstrafe; gerade der neue Gott der Liebe barg an diesem Ort einen weit tieferen Pfuhl der Grausamkeit als selbst Ahriman. Hierbei freilich wurde der Strafzustand der Sünde, der aversio a Deo, vom Dogma allemal nur als ein umgekehrtes Bild der Verklärung betrachtet. Ist der Himmel Verwandlung der Natur ins Licht, so die Hölle Verwandlung ins Weltbrandfeuer, so daß die negativ verklärte Natur sich ständig am Rand der Vernichtung fühlt. Ja die Hölle wird in der katholischen Rache-Utopie auf den anderen Anblick des gleichen Gotts zurückgeführt: der Verdammte apperzipiert gleichfalls die göttliche Liebe, aber, indem er sie zurückgestoßen hat, nur noch als Verlust und Zorn (vgl. Scheeben, Die Myste- /(1331) rien des Christentums, 1912, S.587). Desto erhobener erscheint das Paradies, als vita aeterna über den Kontrast-Verliesen der mors aeterna: »Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört und in keines Menschen Herz gekommen ist, das hat Gott denen bereitet, die ihn lieben« ( I. Kor. 2,9). Förmliche Gottwerdung wird dem allerhöchsten Wunschbild gegen den Tod eingezeichnet, und das nicht nur in häretischer Mystik, sondern an der sozusagen korrektesten Stelle, im Catechismus Romanus (1, cap. 13, qu. 6): »Die Gott genießen, ziehen, obgleich sie ihre eigene Substanz behalten, doch eine und fast göttliche Gestalt an, so daß sie eher Götter als Menschen zu sein scheinen (tamen quandam et prope divinam formam induunt, ut dii potius quam homines videantur).« An so großen Hoffnungsbildern siegte nun doch die zukünftige Apokalypse über jene erste individuell postmortale, welche heute noch, also ohne Weltende, im Paradiese sein ließ. Auch die Toten sind nun, vom Fegefeuer abgesehen, den Mysterien der transponierten, mythologisierten Rache- wie Triumph-Utopie nicht näher als die Lebenden; ihr Leib schläft ihnen vielmehr entgegen. Erst die Wiederkehr Christi endet die Adventszeit, für Lebende wie Tote, wenn auch die Toten ihr Protokoll dahin haben und das aufgeschlagene Buch am Ende der Tage es nur offenbar macht. Der Zweifel an der göttlichen Gerechtigkeit, der so viele Beschwichtigungen gefunden hatte, fand nun die letzte und wenigstens nicht mehr empirisch widerlegbare: die Heimzahlung am Jüngsten Tag. Die Kirche freilich hat die Apokalypse lediglich als Instrument ihrer Herrschaft gebraucht (nämlich als Zukunftsbild der ecclesia triumphans), nicht als Sieg der Erwürgten über die große Babel, die sie doch selber geworden ist. Trotzdem behielt die Heimzahlung aller Lebenden nach dem Tod, aller Toten nach dem großen Appell einen revolutionären Wunschsinn für die Mühseligen und Beladenen, die sich realiter nicht zu helfen wußten oder im Kampf unterlagen. Verschoben ad calendas apocalypticas, war doch der Gerichtstag jede Stunde erwartbar, und am nächsten wurde er nachdem in revolutionären Zeiten erwartet, während der Albigenserkriege, während des deutschen Bauernkriegs. Hier klang die Danielische Predigt Christi anders als in den Kirchen, und anders klang das »Dies irae, dies illa, solvet /(1332) saeclum in favilla«, das «Iudex ergo cum sedebit, quidquid latet, apparebit, nil inultum remanebit«. Nichts wird ungerächt zurückbleiben: darin wirkt Daniels Postulat der Unsterblichkeit, als juristisch-moralisches, nicht als behaglich-perseverierendes, und ist groß geworden. Der gehängte Jesus selber, außer daß er auferstanden ist, kommt am Ende der Tage als Richter zurück; in dem gleichen Archetyp, der so manche geschlagenen Revolutionen begleitet hat. Mit dem Ruf: Wir kommen wieder, mit der Bedeutung: als Rächer und vollkommener Sieg kommt das ehemalige Martyrium wieder. Es ist das ein erzutopischer Archetyp, auch wenn die Apokalypse, die ihn enthält, mit der fixen Zweiheit von Hölle und Himmel die Zweiheit der alten Klassengesellschaft ebenfalls mitreproduziert und verewigt hat. Der wiederkehrende Jesus wird in ihr durchaus nicht mehr als sanfter Dulder gemalt, sowenig wie die Seinen: »Und ich sah den Himmel aufgetan und sah ein weißes Pferd, und der darauf saß, hieß Treu und Wahrhaftig und richtet und streitet mit Gerechtigkeit. Und seine Augen sind wie eine Feuerflamme und auf seinem Haupt viel Kronen und hatte einen Namen geschrieben, den niemand wußte als er selbst« (0ff. Joh. 19, 11 f.). Den Tod, den alten Feind, enthält das neue Jerusalem nicht einmal als Erinnerung: »Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerzen, denn das Erste ist vergangen «(0ff. Joh. 21, 4). In Ägypten fiel die Abwesenheit von Leid und Tränen gerade mit dem Tod zusammen, als dem Stein-Glück des Osiris; im Christentum wird nicht den Toten, sondern den Lebenden das Reich gepredigt, und selbst aus Steinen könnten Kinder erweckt werden (Matth. 3, 9). Statt Styx, Hades, Osiris zeigt der Engel der Apokalypse lauter Organik: »Und er zeigte mir einen lauteren Strom des Lebenswassers, klar wie ein Kristall; der ging
von dem Thron Gottes und des Lamms. Mitten auf ihrer Straße und auf beiden Seiten stand der Baum, trug zwölferlei Früchte und brachte sie alle Monate« (0ff. Joh. 22, 1f.). So babylonisch-astralmythisch, also voll anorganischer Bilder auch gerade die Apokalypse durchsetzt ist, sie enthält doch die entschiedenste Gleichsetzung der neutestamentlichen Grundkategorien: Phos - Zoe, Licht - Leben. Neben dem gräßlichen und nachher der /(1333) Kirche so dienlichen Pfuhl der Hölle stand so das höchste aller Luftschlösser, das pure Lichtschloß Paradies. Die Himmelfahrt Christi galt als Heerweg dahin; dieser Ostermythos wurde im Christentum absolut und der des Endes. Mohammedanischer Himmel, Stärke des Fleischs, Zauber garten Als edles Sterben galt langhin, vorm Feind zu fallen. Das wirkt scheinbar unbeschwerter als der sogenannte Strohtod im Bett. Mancher Angriffstrieb, den der Kampf befreit, richtet sich nicht nur auf den Gegner, er reißt auch den eigenen Leib in sich. Es entsteht so eine oft ununterscheidbare Mischung, ein Rasen im allgemeinen, gleichsam gesichtslos werdenden Tod. Das ist der Kampfrausch; sobald er ausgebrochen ist, wird ihm Angstschweiß von allen Dingen das fremdeste. Der Tapfere, der vorm Feind gefallen, kommt bei allen Kriegsvölkern auch sogleich in ein glückliches Jenseits, in ein weiter orgiastisch bemaltes. Worin Waffengebrauch sich als Spiel fortsetzt und die übrigen Freuden, wie Schmaus, Beute, Weib, die Erholung des Kriegers füllen. Der Islam nun hat seit der Zeit, da Mohammed das Schwert gegen Mekka zog, mindestens die Glut des Kriegs in den Frieden hereingebracht, in die Erholung des Kriegers und den Genuß des Friedens, den dieses Jenseits darstellt. Seinen Truppen sagte Mohammed vor der Schlacht bei Bedr, keiner werde umkommen, ohne nicht sogleich ins Paradies einzugehen: »Zwischen uns und dem Himmel ist nichts als der Feind.« Und der Himmel selber: es fehlen ihm zwar alle Kriegsformen, alle ewigen Jagdgründe und alle Kämpfe WalhalIs, doch bleibt ein Himmel der gewonnenen Schlacht, und er glänzt fanatisch. Gerade sein Genuß, seine vielberufene Sinnlichkeit sind unersättlich wie Kriegsrausch, und seine Ruhe ist die nach einem heißen Tag. Sieben Höllen tun sich den Verrätern und Ungerechten auf, sieben Himmel den Bewährten und Gläubigen; die Wunschbeschaffenheit dieser Himmel ist im Koran erst angedeutet, doch Legende und Kommentatoren haben sie, zum Teil im Einklang mit Talmudsagen, nachher desto reicher ausgeführt. Hierbei ließ allerdings, bei nachlassenden Missionskriegen und wachsendem Genuß des arabischen Kaufmanns- und Fürstenkapitals, das Paradies der /(1334) grünen Fahnen nach; es verwandelte sich mehr und mehr in einen Frieden, der keinen Sieg mehr braucht, und in ein Serail. Doch bleiben ebendeshalb die Wonne und das Brennen, als Affekte, die vom Kampf noch deutlich herkommen; sie lassen mit Fanatismus, nicht mit Schwachheit ins Weib und in den Frieden reiten. Himmelsmädchen nehmen auf, die nie ermüden, von süßen Winden werden sie wie Gedanken hergetragen, und sie erscheinen ein sublimes Motiv - in Gestalt jener Favoritinnen, die im Leben am meisten geliebt worden sind. Hinter den sieben Planeten liegen die Pforten der sieben Paradiese, öffnen sie sich, so ist der höchste Wunschtraum also ein Harem. Doch nun einer aus bleibender Jungfräulichkeit, aus einer Ekstase mit Abendkühle und Reinheit: »Auf gestickten Polstern ruhen die Seligen, umkreist von Jünglingen mit Bechern, Näpfen, Schalen des Klarflüssigen, das nicht berauscht und nicht verdüstert, mit Früchten, wonach sie gelüsten, und Fleisch von Vögeln, das sie wünschen. Umkreist von Huris mit großen Augen, gleich Perlen in der Muschel, als Belohnung fürs getane Gute. Die Seligen hören dort kein töricht Wort noch Sünde, nur Friede, Friede, Friede« (56. Koran-Sure). Die religiöse Folklore des Islam war unermüdlich, noch besondere Wunschbilder aus denen des Korans hervorgehen zu lassen. Der Augenblick der Lust ist zu tausend Jahren verlängert, das Paradies liegt im Schoß der Schönen, in einer Umarmung, die die irdische Liebe genau in die himmlische übergehen läßt. Noch der Schlaf wird von Engelsgesang erquickt und von den Harmonien der Bäume, an denen Glocken hängen, welche ein vom Thron Allahs gesandter Wind bewegt. Hier ist die Sphärenmusik erkennbar und der Weltbaum des altorientalischen Mythos, woran die Sterne als Früchte oder Glocken hängen. Unter allen Bäumen aber ragt der Baum des Glücks hervor, dessen Stamm im Palast des Propheten steht, dessen Äste in die Wohnungen der Seligen reichen; jedes Wunschgut wächst auf seinen Zweigen. Das ist der Garten Allahs: ersichtlich steht er den Vorstellungen, welche das ganze Mittelalter hindurch vom irdischen Paradies entworfen worden sind, am nächsten. Das arabische Paradies wurde auch das Vorbild jedes Cythera, und es ist Armidas Zaubergarten bei Tasso. Ist die Insel der Venus, auf der die tapferen Portugiesen in den »Lusiaden« des Camoes /(1335) landen, ein griechisch verkleidetes, doch durchaus morgenländisches Elysium. Wie fern ist dieses dem kühlen Satz Christi über die Seligen: «In der Auferstehung werden sie weder freien noch sich freien lassen, sondern sie sind wie die Engel Gottes im Himmel« (Matth. 22, 30). Folgerichtig klingt das arabische Paradies als Gegenbild zu einer Gralsburg noch in Klingsors Zaubergarten nach: die Blumenmädchen des «Parsifal« sind die Huris, bevor das Kreuz sie
verdorrt. Ja selbst wirkliche Mystik hat sich nie von solch sogenannt roh-sinnlichen Ausmalungen des Jenseits abgestoßen gefühlt, auch nicht vom Paradies im Schoß einer Huri. Denn fast mehr noch als die mohammedanische hat jüdische und christliche Gottesliebe Wollustbilder in sich eingemengt, ohne Wunschmädchen, doch mit dem Allah selbst. Die Kabbala hat die Mystik des Hohen Lieds bis zur frommen Blasphemie eines göttlichen Harems gesteigert: »Im geheimnisvollsten und erhabensten Raum des Himmels ragt ein Schloß der Liebe; dort geschehen tiefe Wunder; dort sind die geliebtesten Seelen des himmlischen Königs versammelt; dort wohnt der himmlische König und vereint sich mit den heiligen Seelen in den Küssen der Liebe.« So sagt das Buch Sohar der Kabbala und überbietet doch das sogenannte grobmaterielle Glück des mohammedanischen Paradieses erheblich. Die Materie ist nach arabischer Anschauung unerschaffen, also unvergänglich, Allah ist unerschaffen, also unvergänglich; beide füllen derart das Paradies. Daneben standen allerdings reine Seelenlehren, Unsterblichkeiten ohne Auferstehung des Fleischs, so bei Avicenna; Averroes lehnte überdies die Fortdauer der individuellen Seele ab, ließ nur den allgemeinen, allen Menschen gemeinsamen Intellekt unsterblich sein. Aber diese Lehren, halb Materialismen, halb Vergeistigungen, drangen weder in die mohammedanische Kirche noch gar in den Volksglauben ein; gerade auch wegen ihrer Ablehnung des leibhaftigen Paradieses konnte diese Aufklärung angeschwärzt werden. Ihre Schriften wurden vernichtet, ihre Lehren galten als Ausflüsse des Scheitan, das ist des Vernichters und Todbringers selbst. Allah ist der, der niemals schläft, so genießen auch die Seinen, die er zum Bewußtsein von lauter barem und präsentem Glück ausgewählt hat. Diese Glücksbilder vom Jenseits behalten ihren besonderen sinnlich-übersinnlichen Klang, sie /(1336) entsprachen der kräftigen Natur ihres Stifters, ja hatten bei aller Transzendenz noch Wasser des Lebens übergenug, in jenem Wunschbild aus Liebeserweckung, ewigem Liebesfrühling, das im »West-östlichen Divan« widerklingt. »Der hernieder sendete vom Himmel Wasser nach dem Maß, mit dem wir das Gefild erweckten, das tote, desgleichen werdet ihr aus den Gräbern hervorgehen« (43. Koran-Sure): Alles wird Oase, samt den Knochen des Leibes, und die trockene, heiße Wüste, gleichfalls unausdenklich gesteigert, kommt in die Hölle. Irdisches und geistliches Paradies fallen in dieser Art Jenseits zusammen, aus den Tapferen und Gerechten ist nach dem Tod die Schwäche des Fleischs entfernt, die Stärke des Geistes in einen Sabbat aus lauter Garten und Weib eingeträumt, hineingeführt. Lauter Ruhe sucht auch noch Befreiung vom Himmel, Wunschbild Nirwana Wie aber, wenn das Leben mehr als das Sterben gefürchtet wird? Wenn der Tod selber nur als ein Teil des unruhigen und ungeliebten Lebens erscheint? Dann wird es selbstverständlich, daß hinter dem Tod das unruhige Dasein gleich weitergeht, als Wiedergeborenwerden oder auch als Auferstehen. Aber diese Fortdauer wirkt nicht als Trost, denn gerade das wechselvolle Dasein wird gefürchtet, und das Sterben gehört am meisten zu ihm. Geburt und Tod, Tod und Geburt oder auch Auferstehung erscheinen dann als Wechselformen im gleichen Sein. An Stelle der Todesangst tritt dann die Lebensangst oder genauer: die Angst vor dem Sein, von dem Leben und Tod nur Teile sind. Dieser Mensch wünscht den Tod nur weg, weil er die hinter ihm gefürchtete Wiedergeburt wegwünscht; dergleichen erschien bereits als der orphische Haß gegen den Kreislauf der Geburten. Dort allerdings mit dem Willen, die Bewußtlosigkeit, die Seinslosigkeit trunken, enthusiastisch zu gewinnen. Ganz anders läuft der einheitliche Lebens-Tod-Haß, wo der »Durst« des Seins überhaupt überwunden werden soll; wo ein Heraus schlechthin erwünscht ist. Dem dient, trotz großer Unterschiede im einzelnen, die gesamte religiöse Unterweisung Indiens, von den Veden bis Buddha. Auch Tugenden werden hierzu als Mittel einbezogen, doch kei- /(1337) eswegs grundsätzlich und endgültig. Denn auch das tugendhafte Begehren bindet noch ans Leben, auch die Leidenschaft des Guten gehört über die Hälfte zur Welt des »Haftens«, des Willens. Es wäre zuviel behauptet, daß in Indien keine private Sittlichkeit gelehrt worden wäre, es gibt dort gewiß fromme, auch heilig gesprochene Tugenden. Sie sind um Milde, Geduld, Mitleid gruppiert, ja die Bhagavad-Gita enthält lange vor Buddha das erschütterndste Leitbild der Milde. Krischna spricht: »Furchtlosigkeit und Reinheit, Wille zur Freiheit, Liebesfülle für alles, was lebt, Ausdauer, Opfermut, Zurückgezogenheit und Selbstbeherrschung, Entsagung, Unschuld, Wahrheitsliebe, Güte, Freigebigkeit, Barmherzigkeit, Geduld, Bescheidenheit und Gleichmut, innere Ruhe, Beständigkeit, ein freudiges Gemüt, Zornlosigkeit, Keuschheit und Stärke, Verstandesklarheit und ein ruhig Herz: das sind die Eigenschaften aller Wesen, die himmlischer Geburt entgegengehen.« Trotzdem ist nicht die Sünde die letzthin erlösungsfeindliche Macht, und die Tugend allein erlöst nicht; entscheidend hierfür sind vielmehr Askese und untätige Betrachtung. Diese weltflüchtige und so freilich durchaus spirituelle Unterweisung wurde auch durch die vorhandenen irreligiösen, materialistischen Denker Indiens nur wenig auf die Dauer gestört. Denn sie erhielt das Volk, zum Nutzen einer sehr langdauernden despotischen
Sklavenhaltergesellschaft, wie nichts anderes beim Dulden, und ebenso lenkte der Quietismus (in den schließlich sogar die fabelhafte Willenstechnik des Yoga mündete) die Intelligenz von allem sozialen Verändernwollen ab. Das bereits in den Upanishaden, wie sehr erst in der Anweisung Buddhas, der jeder Tat und weltlichen Bindung fremden. Sittlichkeit verbessert hier zwar das Karma, also die Vergeltungs- und Belohnungskausalität, welche zwischen den Taten einer früheren und dem Zustand, auch Rang einer späteren Verkörperung besteht; Sittlichkeit aber endet noch nicht den Kreislauf der Wiedergeburten selbst. Erst Erleuchtung soll ihn enden, dergestalt, daß mit dem Willen überhaupt auch der böse Wille aufhört, ja gleichgültig wird, daß mit der gesamten Weltindifferenz auch die moralische entsteht: der Heilige darf Unrecht tun, denn er kann gar nicht Unrecht tun. Er ist der ethischen Vergeltungsmechanik des Karma, folglich der ethischen Forderung entronnen, /(1338) »am Heiligen haftet keine Tat«. Dem vereint sich freilich im Buddhismus, wenn auch nicht in der Hindu-Lehre, eine noch weit erhabenere Indifferenz: die Gleichgültigkeit gegen Götter. Auch die Götter läßt der Heilige hinter sich, auch der Himmelswelt gegenüber bezeugt sich noch radikaler-Akosmismus. Denn sie ist immerhin noch Welt, so wird das gegen Tod wie Leben errichtete Wunschbild Nirwana auf seine Art atheistisch. Und es wird atheistisch, weil es akosmisch ist, weil vor dem Heiligen Welt wie Überwelt beide Illusionen sind. Als Buddha von dem Baum aufstand, unter dem er ein Erleuchteter geworden war, verneigten sich die Götter vor ihm, ja ein Schüler des Erhabenen belehrte hernach den Götterkönig über die Gesetze der Vergänglichkeit, denen auch die Himmlischen unterworfen sind. Der indische Heilige erlangte seinen Stand keineswegs durch Gnade und steht nicht nur, wie der christliche, über Engeln; er ist vielmehr der «Tathagata«, das ist der sich selbst Erlösende, während noch der Himmelskönig, bis herab zum Gewimmel der Lokal- und Funktions-Gottheiten, zu Samsara gehört, der Scheinwelt, die dem Heiligen zu Füßen liegt, ja für ihn bereits vergangen ist. Auch das Paradies, das nach der Hindu-Lehre die Fast-Vollkommenen aufnimmt, ist ein endliches, mitsamt der «fünfhundertstimmigen Himmelsmusik«, und es vergeht zusammen mit der Unwissenheit, der Samsara sein Dasein verdankt. Die Hölle aber ist - Samsara selbst, das wechselvolle Dasein, das endlose Reich der Wiedergeburten, dessen Darstellung im indischen Kunstwerk durchaus das Inferno vertritt. Schiva, der Dämon in der hinduistischen Dreieinigkeit, trägt zugleich mit dem Halsband von Totenköpfen den Lingam als Symbol der Zeugung, und Krischna, im elften Gesang der Bhagavad-Gita, zeigt dem Ardjuna den Lebensstrom als ein grauenvolles Ineinander von Schlachthaus und Gebärhaus, als Höllenschlund, der seine Geburten frißt, seinen Fraß gebärt. Und aus diesem Pessimismus, dem nun mehr antikosmischen als akosmischen, ergibt sich auch der Unterschied der indischen Seelenwanderungslehre von ihren europäischen Reprisen, besonders in der Kabbala, und ihrer Bejahung der Wiederkehr. Was indisch als Hölle erscheint, «die mehrmalige Versetzung der Seelen«, nennt die Kabbala umgekehrt eine «Barmherzigkeit Gottes über /(1339) Israel«. Eine Barmherzigkeit, sofern dem Menschen, durch die Seelenwanderung, mehr als nur ein einziges Leben zur tätigen Vollendung seiner Anlagen gegeben wird. Dem Buddhismus jedoch liegt diese moralisch-instrumentelleWertung des Geburtenrads völlig fern, er erkennt freilich auch keinen Gott an, der imstande wäre, über einen auf dem Pfad der Vollendung Wandelnden Barmherzigkeit zu üben. Nirwana endet ein für allemal Leben und Tod, Geschichte und Wiedergeburt, irdische Moral und himmlische Belohnung zugleich; die wahre Unsterblichkeit ist Auslöschung von Sterblichkeit und Unsterblichkeit an der beiden als identisch angegeben Wurzel: dem »Durst«, dem »Drang«. Nur der Hinduismus kennt noch mehrere Wunschziele außerhalb Nirwanas, innerhalb von Welt und Überwelt. So freilich, daß auch hier die Wünsche letzthin auf Ruhe gehen, ja die Belohnungen für die Frommen nach dem Maß der Ruhe graduiert sind. Die Hindu-Lehre verheißt unten Wiedergeburt in glücklicherer Lage, als es die jetzige ist; höher Wiedergeburt in einem Schöpferparadies, doch auf begrenzte Zeit und so, daß nachher wieder eine Geburt auf der Erde erfolgt; noch höher zeitlich unbegrenzte Aufnahme in die selige Gegenwart eines überirdischen Gottes (Vischnu), also Unsterblichkeit der individuellen Existenz im Alleinen oder im Nirwana (wobei zwar dieses letzte Wunschziel innerhalb des Hinduismus nicht ganz orthodox ist). Der Buddhismus dagegen beschränkt die innerweltlichen wie außerweltlichen Götter auf die frommen Laien; das Ziel selber ist ihm schlechtweg davon abgehoben. Eben als jene radikale Abstraktion, die das Seiende wie die theistische Illusion - als wäre beides das gleiche - zum Schein eines Lärms einebnet und nur die Weglassung selber als Wahrheit läßt. Nirwana bleibt einzig Daseinsvernichtung in beiderlei Gestalt: Auslöschung von Erde wie Himmel. Wie unterscheidet sich dieser Zustand, sofern er schon vor dem Tod erreicht wird, vom bloßen Tiefschlaf? Die indische Beherrschung, auch Abstellung des Willens hat mancherlei Stufen, nur die letzte führt aus dem «Durst« heraus. Die Yogis üben erstaunliche Macht über Atem und Blutkreislauf, sie kennen äußere Erstarrung und »innere Körperstille«. Das alles aber wird nur angestrebt, um dem Yogi außergewöhnliche Macht zu /(1340) verleihen, besonders eine der Fernwirkung, wirklicher oder
vorgespiegelter, hier gleichviel. Das ganze bleibt in der Willenswelt, und zwar in einer besonders gesteigerten, es bleibt überdies im Zusammenhang des Ich, freilich nicht im europäischen Sinn des Worts. Eigentliche Meditation, wie vom Buddhismus gelehrt, meint ein ganz anderes: Entleerung des Bewußtseins, um Raum für das «Atma« zu schaffen, das ist für das der individuellen Seele überlegene, überall wesensidentische und alleine Selbst. Der Buddhismus kennt kein Ich im europäisch festen Sinn, auch das Wesen, das in neuen Geburten sich verkörpert, ist nicht die vorige menschliche Person. Sie kann es schon deshalb nicht sein, weil die buddhistische Seelenwanderungslehre bei großen Sündern auch einen Fall ins Tierreich vorsieht, bis herab zur niedersten Verkörperung: dem Wurm im After eines Hundes; wo so heftig zu changieren ist, kann das menschliche Ich kein Träger sein oder bleiben. Tragend und zugrunde liegend ist lediglich der «Durst« nach Dasein, nur er läßt, sobald ein Individuum im Tod zerfällt, ein neues zusammenschießen, belastet mit dem Karma des früheren. Auch das Ich selbst ist eine Halluzination, genauso wie die Erlebnisse des angeblichen Ich nach dem Tod als Halluzinationen bezeichnet werden, ungeachtet dessen, daß es durchaus zum Priestergeschäft gehört, diese aufzuzeichnen. Gerade die ausgemalte Halluzination wird im Buddhismus verwendet, um ein Wegweiser durch sie zu sein. Es gibt dieser Art die Übung des Kundalinu-Yoga, als Einschulung in die Vorgänge des Sterbens, damit sich der Letale rasch über seine Täuschebilder erhebe. Besonders lehrreich ist hierzu das vor kurzem edierte Tibetanische Totenbuch, eine zwar späte und nicht eben vom Geist des Erleuchteten erfüllte Anweisung oder Mitteilung, doch ein erstaunliches Dokument indischen Seelsorge-Glaubens über den Tod hinaus, auf Grund der Halluzinationslehre. Das Totenbuch (Bardo Thödol) stammt aus dem achtenJahrhundert unserer Zeitrechnung, wurde niedergeschrieben vom Gründer des Lamaismus, dem Buddhapriester Padma Sambhava, und intendiert nichts Geringeres als eine Führung des Leichen-Ich durch «die neunundvierzig Tage zwischen Tod und Wiedergeburt«. Die Führung geschieht, indem der Priester dem Toten fortlaufend eine Art von Reise-Belehrung über die täglich neu /(1341) auftauchenden Schreck- und Lockungserlebnisse in seinem Zwischenzustand zuflüstert; indem er ihm diese Erlebnisse eben als reine Halluzinationen deutet. Dadurch wird der Tote von seinen postmortalen Angstträumen befreit, dadurch soll er vor allem von den Lockungen einer schlechten Wiedergeburt behütet werden, die sich in versucherische Erscheinungen kleidet, in desto falschere, üppigere und gefährlichere, je mehr sich die Seele, im Bogen der Reinkarnation, wieder dem irdischen Samsara nähert. Der klassische Buddhismus kannte die Praktiken eines solchen Totenbuchs nicht, doch die Halluzinationslehre des Ich und des Samsara, das dem Ich auch im Tod noch Trugbilder malt, hat trotzdem klassischen Ursprung. Und die Halluzination der Persönlichkeit zerfällt bei Buddha nicht mit dem Tod, sondern mit dem Ende des Wollens: »Eben dieses Durstes vollkommen restlose Auflösung, Abstoßung, Austreibung, Aufhebung, Vertilgung, Bruder Visakho, das ist Auflösung der Persönlichkeit, hat der Erhabene gesagt« (Die Reden Gotamo Buddhos, übersetzt von Neumann, I, S.692). Und was nach dieser Auflösung folgt, das Nirwana, kann erst recht nicht mit Zuständen aus dem Leibdasein, also aus dem Individuationskomplex gleichgesetzt oder auch nur gedeutet werden. Nirwana ist nicht Tiefschlaf, am wenigsten Tod; denn dieser blüht dem Menschen ohnehin und ausschließlich aus dem Lebenswillen. Buddha heißt nicht der Entschlafene, sondern «der vollkommen Erwachte«, und Nirwana verspricht dem Menschen auch kein Jenseits, keinen Götterhimmel, hat mit dem irdischen Aspekt auf Tod und Nach-Tod nichts mehr gemein. Es ist das Wunschbild der vergessenen, der in der Wurzel eliminierten Wünsche, es ist der Preis des Abgewendeten, »der ohne Selbstqual, ohne Nächstenqual schon bei Lebzeiten ausgeglüht, erloschen, kühl geworden ist, sich wohlfühlt, heilig geworden im Herzen« (Reden II, 160). Tiefschlaf können die Hindugötter haben, die zur Welt gehören, und wo er hier erscheint, wirkt er primitiv und komisch, nicht entronnen. Welch ein Wertkontrast zwischen dem weltlos versunkenen Buddha und jenem Hindugott, der seit Äonen gleichfalls im Schlummer liegt, aber in einem weltlicher Faulheit: das Haupt, der Leib, die Füße ruhen auf dem Schoß seiner Weiber, unaufhörlich fließt ein Zucker- und Milchsee in den Gott; - Tiefschlaf /(1342) in dieser Götter-Groteske ist wie hingestellt zum Kontrast gegen das zu nichts und in nichts sich erholende Nirwana. Eben wegen seines Akosmismus und wegen der Unvergleichbarkeit, die darin gegründet ist, wird Nirwana auch so völlig unbestimmt gelassen. In stets wiederholten Negationen, die selber sich wieder durchstreichen, heißt es nur «Verwehen« oder «Auslöschen« oder «Wahnauflösung« oder «Durstversiegung «. Äußerstenfalls läßt Buddha einen Reflex aus leerem Wasserspiegel oder Äther in diese Ruhe fallen; so wird Nirwana auch «innere Meeresstille« genannt oder «selige Heiterkeit in der Einheit des Gemüts«. Doch ist diese letzte Bestimmung lediglich auf den Weg zu Nirwana beschränkt; sie gilt deshalb für die sich überall verwandte mystische Psychologie überhaupt und mag insofern als «Einheit des Gemüts« an Eckarts »Funken« oder »Burg im Abgrund der Seele« erinnern, sie gilt keinesfalls für Buddhas mystischen Inhalt. Buddha, trotz seiner Lehre, daß «Nichtwissenswahn« der schlimmste sei, hat in der mystischen Sphäre alle Nachdenklichkeit als heilsschädlich abgetan; vorzüglich das Forschen über Nirwana
galt dem korrekten Buddhismus fast als Ketzerei. Sogar mit Mystik kann es schließlich nicht mehr zusammengedacht werden, jenseits der bloßen mystischen Psychologie. Es wird zwar mit Bezeichnungen, die man von der Mystik aller Zonen kennt und die in Europa vor allem von Plotin formuliert worden sind, das Einfache genannt, das Unzusammengesetzte, vor allem das Unaussprechliche. Doch vom Unaussprechlichen der Mystik ist Nirwana schon deshalb verschieden, weil Verzückung vor dem «lauteren Nichts« bei Plotin, den Sufis, Meister Eckart ekstatisch ist und Nirwana dagegen die Kühle selbst. So als Anti-Wunschbild soll hier das entlegenste Wunschbild trösten, das die Menschen gegen den Tod, vielmehr gegen jenes wechselvolle Dasein aufgerichtet haben, das als seine Kehrseite den Tod einschließt. Nicht anders auch ist der scheinbare Bezug zu bloßer Todüberwindung gemeint, wenn Buddha, die Kühle pädagogisch enthüllend, also ohne Kühle, den Mönchen, denen er zuerst seine Lehre bringt, zuruft: «Leiht Gehör, ihr Mönche, die Unsterblichkeit ist gefunden«; oder wenn unverkennbarer Jubel die Losung ausgibt: «Erdröhnen soll in finstrer Welt die Trommel /(1343) der Unsterblichkeit« (Reden II, S. 581ff.). Diese Art Erwachen hat aber mit Todüberwindung und Unsterblichkeit als einem Auferstehen, gar Leben gar nichts gemein. Hier ist vielmehr jene Unsterblichkeit ohne Sterblichkeit und Unsterblichkeit, welche Buddha ja erst gefunden haben will, als Ruhe-Novum über Tod wie Leben wie Himmel. »Versiegt ist die Geburt, vollendet das Asketentum, gewirkt das Werk, nicht mehr ist diese Welt«: das ist, als Unsterblichkeit im absoluten Nichts, Wunschüberwindung des wertlosen Nichts, das das Leben für Buddha ist, und des betrügerischen Nichts, das der Tod für Buddha darstellt. III AUFGEKLÄRTE UND ROMANTISCHE EUTHANASIEN Der Freigeist als Starkgeist Oft schon stand jeder vom Tisch auf und ruhte. Dem aufgeklärten Kopf schien es klug, sich mit diesem Fall auch sterbend zu befreunden. Das schien nicht nur klug, sondern angenehm; denn löscht das Leben wie die Kerze im Saal aus und wird man der Schlafende, über den niemand Gewalt hat, so fällt auch die Unruhe vor dem weg, was kommen mag. So sanft-untief ist die Linderung, die der aufgeklärte Kopf zu fühlen begann und die ihm das Ende seiner selbst versüßte. Es schien ihm als sinnlos zu glauben, daß ein Mensch, der erst vor kurzem aus dem Nichts geworden, unsterblich sein solle. Es schien ihm als besonders unerträglich zu glauben, daß endliche Taten mit unendlichen Strafen oder auch Belohnungen heimgezahlt werden. Fiel die Aussicht fort, für sein gutes Verhalten nach dem Tod entschädigt zu werden, so auch die viel größere und häufigere Furcht vor dem Sündenlohn. Die Freigeister wurden so von einer Angst befreit, die in die gewöhnliche Todesangst noch überdies eingeschlagen war und sie weit überboten hatte. Sie hielten es für gar keinen so üblen Tausch, für den kurzen Schock des Sterbens unermeßlich langes Ausstrecken zu erwerben. Wie groß die Linderung war, ist heute, wo der höllische Pfuhl nicht mehr vor den Augen, vor den brechenden Augen dampft, kaum mehr genü- /(1344) gend vorstellbar. Der zweite oder höllische Tod verging, nur mehr der erste, natürliche blieb, und daß nichts anderes mehr blieb, daß alles Nachher Spuk und Fabel war, hatte der Freigeist in seiner letzten Stunde zu bewähren. Deshalb hieß er auch Starkgeist, er erprobte sich, wenn er selbst im Sterben nicht zu Kreuze kroch. Zwar blieb es bitter, nichts mehr als Verweser seiner selbst zu werden, doch der Nachmensch fühlte sich dadurch sicher, nicht durch Flammen gefegt oder gar dauernd in jenseitigem Schwefel gekocht zu werden. Das Nichts, das als bevorstehend geglaubt, ja eben erhofft wurde, war derart nicht bloß das Nichts, worin das Leben ausgeht. Die Furcht verschwand, im Grab und nach ihm noch mehr gestört zu werden als vorher. Jüngling mit der umgekehrten Fackel und mit der neu entzündeten Der weitere Trieb ging dahin, das Sterben auch schön zu machen. Am besten gelang das, indem der Tod geradezu als Bruder des Schlafs angerufen wurde. Hat der letzte Rock keine Taschen, so wurden sie ihm nun angenäht und bunter Mohn hineingetan. Bürgerlich-rechtschaffene Tröster nahmen vom Handwerk das Wort Feierabend und hüllten denTod darin ein. Wie ein Mensch, meinte Hippel, abends seine Kleider hinlegt, genauso ordentlich oder unordentlich wird er sterben. Oder: wie ein gut vollbrachtes Tagwerk frohen Schlaf gibt, so ein wohlverwendetes Leben heiteren Tod. Er sollte vor allem nicht aus der Art schlagen, gleichsam nicht so weit vom Stamm fallen; auch der Tod blieb im weltlichen Zusammenhang. Aus der Welt des Lichts, wenn auch des kleinsten, sollte dann selbst der Tod nicht herausfallen; er wird sprunglos homogenisiert. So
hatte gerade Leibniz die Abneigung der Aufklärung gegen einen Sprung für sich (in dem man ein Moment von Jenseits witterte), als er in sein Gesetz der lückenlosen Kontinuität auch den Tod einbezog. Dies Gesetz milderte auch den abruptesten Hammerschlag: Sterben wurde nun zum bloßen Übergang von klarenVorstellungen zu diffusen, von der »Entfaltung« zur »Einfaltung«. Leibniz ließ der Person zwar noch Erinnerung und Selbstbewußtsein in der Einfaltung /(1345) (involutio) übrig, doch gewirkt hat sein Todesbild vor allem als bloße Modifikation des Vorstellungslebens; befanden sich doch auch alle Monaden der sogenannten toten Dinge im Zustand eines psychischen Schlafs. Der ewige Friede brauchte nun auf kein Gericht im Jenseits zu warten, er war auf seine Art bereits in der Leiche selbst. Die Schlaf- und Auslöschungs-Analogie schaffte auch das gräßliche Gerippe aus den Augen, den alles entwertenden Anführer mittelalterlicher Totentänze. Am einflußreichsten wirkte hier Lessings Untersuchung von 1769: »Wie die Alten den Tod gebildet«; man kann sie zugleich eine der wärmsten antikischen Kampfschriften gegen das Mittelalter nennen. Sie vollzieht den Trost mit einem hintergründigen Austausch von Enblemen, mit der Verabschiedung von Stundenglas und Hippe zugunsten eines schönen Freundesbilds: des Genius mit gesenkter Fackel. Lessing erneuert damit also nicht nur die Gleichung Tod-Schlaf, die poetisch bis auf Homer zurückgeht und die philosophisch in der Leibnizschen »Einfaltung« ihm vorlag, er trieb eben die letzten Reflexe der Gotik aus dem Todesbild aus. Er setzte ein verständig-schönes, ein klassizistisches an seine Stelle, ein eminent-ästhetisches, worin die gelöschte Fackel so immanent wirkt wie das Fallen des Vorhangs nach beendetem Schauspiel. Wenn auch Elegie nicht fehlt, ja nicht einmal Widerspruch zur »richtig verstandenen« christlichen Religion von Lessing gewollt ist: »Die Schrift redet selbst von einem Engel des Todes; und welcher Künstler sollte nicht lieber einen Engel als ein Gerippe bilden wollen? Nur die mißverstandene Religion kann uns von dem Schönen entfernen, und es ist ein Beweis für die wahre, für die richtig verstandene Religion, wenn sie uns überall auf das Schöne zurückbringt.« Auf diese Art machte sich das Todesbild schlecht und recht zu einem ästhetischen Wunschbild, zu einem mit ästhetischer Lasur. Die schreckliche Masse selber blieb, aber sie wurde verdeckt; so gab sie kein Grauen in der Erscheinung ab und schien hinter der Erscheinung so gut wie nicht mehr vorhanden zu sein. Der Lebensgenius, den die von Lessing her angezogenen und ausgedeuteten antiken Denkmäler zeigen, endet das Feuer seiner Fackel von selbst, als wäre es verklingende Musik oder ein in Schweigen übergehendes Gedicht. Goethe hat an Lessings Abhandlung vorzüglich das /(1346) gepriesen, daß sie die Gleichung mit dem Schlaf genau nach der ästhetisch beruhigenden, ja entzückenden Seite durchgeführt und das Gerippe verbannt habe. Der Genius mit der umgekehrten Fackel wirkt hierbei, mit der nicht ganz so schönen, mit der verwesenden Leiche verglichen, sichtbar utopisch. Der Tod wird geschönt zur mildesten Form des Lebens - ein ungestörter, nicht griechischer, aber gräzisierender, von keinen Grab-, gar Höhenschwaden heimgesuchter Wunsch. Und es blieb nicht einmal bei ihm, die Fackel sollte wieder angezündet werden. Wenn auch durchaus dazu, um in einem Diesseits wieder zu scheinen, das vom Toten nicht verlassen wird. Die freigeistige Befreiung vom Jenseits hatte bei Lessing wie erst recht bei Goethe ihr Werk bereits getan. Es handelte sich nun nicht mehr darum, zu wiederholen, daß es keine Seele gebe oder daß keine Seele nach dem Tod bleibe; dieses Glaubensbekenntnis erschien einer fort und fort sich regenwollenden Lebensfülle nicht nur etwas dürftig, nachdem man die Befreiung vom Jenseits gewonnen hatte, es erschien auch bereits oder wieder schreckend. Es war schließlich das Gerippe von neuem, wenn auch ohne Hölle; die Löschung des ewigen Feuers war mit der Staubwerdung erkauft, von der ja die Bibel, in ihren älteren Teilen, ebenfalls schon gesprochen hatte. Vor die Schrecken der Verwesung und die gänzliche Entwertung, die das Gerippe als Rest oder als des Menschen Kern darstellte, hatte sich eben der Genius mit der umgekehrten Fackel gestellt. Dieser war teils pia fraus, von frischer, von ästhetisch-antikisierender Art, teils aber auch Selbstgefühl, aktives Selbstwertgefühl, das vor dem Nichts nicht kapitulieren wollte. Und es wurde eine Konsequenz dieses aktiven Gefühls, wenn Lessing wie Goethe sich trotz allem wieder auf ein Aufwachen verstanden: nicht so sehr als das eines puren Fortlebens, sondern vor allem als das eines Fortwirkens. Eines immanenten Fortwirkens, versteht sich, der Diesseitscharakter bleibt, Hölle wie Himmel haben keinen Platz. Aber gerade der Diesseitswunsch, als ein aktiv-unersättlicher, trieb Lessing zu sehr viel weitergehender Hoffnung als der der schön erlöschenden Fackel. Er trieb eben zur Wunschhypothese ihrer erneuten, ihrer immer wieder erneuten Anzündung, kurz zur Reprise eines Glaubens, dem man in der Auf- /(1347) klärung am wenigsten zu begegnen erwartete. Es war der an Seelenwanderung: »Ist diese Hypothese«, fragt Lessing, »darum so lächerlich, weil sie die älteste ist? weil der menschliche Verstand, ehe ihn die Sophisterei der Schule zerstreut und geschwächt hatte, sogleich darauf verfiel?« Die weiteren Paragraphen der »Erziehung des Menschengeschlechts« verbinden dem langsamen Gang der Geschichte eine ebenso lange dauernde, immer wieder auftauchende Seele: »Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf einmal so viel weg, daß es der Mühe wieder zu
kommen etwa nicht lohnet?« Das war rein um des Fortwirkens, um der Vervollkommnung willen gesagt, aber freilich kam Lessing auch theoretisch manches aus der Zeit entgegen, das die älteste Hypothese erfrischte. Die Seelenwanderungslehre empfahl sich einem ebenso individualistischen wie fortschrittsfreudigen Zeitalter, indem sie beide Züge durch die ganze Geschichte hin verband. Selbst Hume, so viel skeptischer als Lessing, bemerkte in seinem »Versuch über Selbstmord und Unsterblichkeit«, die Seelenwanderungslehre sei das einzige System dieser Art, auf das die Philosophie hören könne. Lessing wurde überdies von der unerwartetsten Seite in seiner Schwärmerei bekräftigt, nämlich von der sensualistischen Aufklärung her, in ihrer physiologisch-psychologischen Gestalt. Bonnets »Palingénésies philosophiques «,1769, die Lessing kannte, hatten gerade deshalb, weil die Seele ans Gehirn gebunden ist und nur materiell vorkommt, ihr die Tendenz zugeschrieben, nach dem Tod des alten Leibs in einen neuen einzugehen. Diese physiologische Phantasie nun hatte Lessing genau um seine geschichtliche, seine tätig-postulative Phantasie vermehrt. Das Geburtenrad erscheint nicht mehr als eines der Verstrickung, wie bei den Orphikern und erst recht in Indien, es wird vielmehr produktiv bejaht. Die Seelenwanderung wird so gewertet, wie das, in Jahrhunderten näher zu Lessing, bei Rosenkreuzern, Kabbalisten geschah: als Instrument des Bessermachenkönnens in mehr als einem Leben. Das ist das Aktive in Lessings Wunschbild, ist der Hoffnungswille, am menschlichen Geschehen von Anfang bis Ende beteiligt zu sein. Man hat hier an der wieder angezündeten Fackel das Seltsame einer auf den Menschen /(1348) unersättlich angewendeten Entwicklung. Vor allem aber gewährte die Seelenwanderungslehre Individuen von dem Aktivitäts- und Zukunftsverlangen Lessings allemal die Glanzsicht auf ein wirkliches Dabeisein bei den Epochen der Geschichte insgesamt. Wonach dann selbst die längste, die fernste Geschichte aktiv erlebbar die von wiederkehrenden Menschen wäre und nicht nur die einer bloßen abstrakten Menschheit: »Was habe ich denn zu versäumen?« schließt derart Lessing, »ist nicht die ganze Ewigkeit mein?« Die Seele fährt nun nicht bloß passiv durch Leiber, wie ein flach geworfener Stein mehrmals durchs Wasser schlägt, sie fährt aktiv-ergreifend, selber die Kelche hebend, durch die Fernen des Geschehens, damit die ganze Ewigkeit dem Menschen gehöre. Und was hier, bei Lessing, die Geschichte, wurde für Goethes so nahe verwandten Wirkungswillen der Kosmos, als postmortale Werkstatt. »Des Todes rührendes Bild «, sagt der Pfarrer in »Hermann und Dorothea«, und er sagt es lächelnd, »steht nicht als Schrecken dem Weisen und nicht als Ende dem Frommen«: auch dem Weisen aber stand es, in der Goethewelt, nicht als Ende. Auch hier sollte die Lebensfackel, mindestens für ausgezeichnete Geister, an anderen Orten des Kosmos fortbrennen, mit Seelenversetzung im Raum. Derart sprach der fündundsiebzigjährige Goethe zu Eckermann von seiner festen Überzeugung, »daß unser Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur, es ist ein fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit, es ist der Sonne ähnlich, die bloß unseren irdischen Augen unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet«. So hielt Goethe die Natur dazu verpflichtet, ihm eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige seinen Geist nicht mehr auszuhalten vermag. Es wirkt hier, neben dem Unbehagen am Torso, ein Kerngefühl aus Kraft, das sich auch dem Tod gegenüber nur auf Metamorphose einlassen will, auf geprägte Wesensform, unsinkbarer Art, die lebend sich entwickelt. Die Immanenz bleibt bei alldem erhalten, auch bei der Traumwanderung auf Sterne; ja selbst ein Himmel, in dem die Geschäfte des Geistes weitergingen und für den die Sonne ein Gleichnis wäre, fiele bei Goethes nun raumhaft gedachter Seelenwanderung aus dem Kosmos nicht heraus. Das bloß Postulative ist allerdings bei Goethe /(1349) genauso wie bei Lessing beibehalten: es gibt über den berechtigten Anspruch des sittlich-aktiven Subjekts, äußerstenfalls über die Verpflichtung der Natur hinaus, diesen Anspruch zu erfüllen, keine Gewißheit eines Fortwirkens. Lessing wie Goethe finden sich derart schließlich im Raum, den Kant, auch in Ansehung der Unsterblichkeit, vom vorhandenen Seinsraum abgetrennt hat, den er zum Postulatsraum geschlagen hat. Denn Kant, der mythologischen Seelenwanderung fern, aber der wieder angezündeten Fackel moralisch besonders nahe, läßt überhaupt nur noch einen moralischen Beweis für individuelle Fortdauer zu: die muß sein, damit Tugend die Glückseligkeit erlange, deren sie würdig ist und deren sie irdisch so selten teilhaft wird. Das klingt wie eine Erneuerung der moralischen Unsterblichkeitslehre des Propheten Daniel, hebt aber zum Unterschied von dieser jede ontische Ausgemachtheit auf. Und auch die Kantische Fassung der Fortwirkung ist eine immanente: sie ist lediglich der Ausdruck dafür, daß ein endliches Wesen im Sittengesetz eine unendliche Forderung an sich stellt, zu deren Erfüllung es einen unendlichen Weg braucht. Diese Immanenz liegt zwar nicht, wie Lessings zeithafte Seelenwanderung, in der Geschichte, und noch weniger liegt sie, wie Goethes raumhafte Seelenwanderung, Seelenversetzung, im Kosmos; wohl aber liegt sie im Phänomen der Sittlichkeit selber, im gänzlich unanschaulich gewordenen Fortgang sittlicher Vollendung. Diese Vollendung war auch der Lessingschen und Goetheschen Utopie vorgeordnet; bei Kant ist sie das ein und alles, wonach der Lebensgenius gerade als der der Sittlichkeit seine Fackel nicht ausgehen läßt. Die Immanenz, ohne Hölle und Himmel, »ohne
Träumerei jenseitiger Ungeheuer, negativer oder positiver«, ist aber so dicht, daß Kant in der postulierten Fortdauer überhaupt nichts sieht als die in der Zeitform ausgedehnte moralische Zuordnung unseres Daseins. Die Fortdauer selber ist in Wahrheit eins mit der sittlichen Zuordnung, der für menschlichen Verstand zeithaft ausgedehnten, für einen unendlichen Verstand dagegen in sich konzentrierten. Daher die letzthinnige Überschlagung jedes Aufstieg-Panoramas bei allem Progreß: »Einem vernünftigen, aber endlichen Wesen ist nur der Progressus ins Unendliche, von niederen zu den höheren Stufen der moralischen Vollkom- /(1350) menheit möglich. Der Unendliche, dem die Zeitbedingung nichts ist, sieht in dieser für uns endlosen Reihe das Ganze der Angemessenheit mit dem moralischen Gesetze «(Kritik der praktischen Vernunft, Werke, Hartenstein, V, S. 129). Für Seelenwanderung, Seelenversetzung und Ähnliches, was Kant theosophische Schwärmereien nennt, ist hierbei allerdings kein Raum. Dergleichen zählt bei Kant zu den schlechthin unzulässigen Überschreitungen mechanischer Erfahrung, als der wissenschaftlich allein vorhandenen. Desto lebhafter war Kant mit Lessing und Goethe in der hier wie dort zugrunde liegenden Willens-Idee des Fortwirkens geeint, als praktischem Postulat. Wobei das Schweigen hinter der gelöschten Fackel sich tüchtig genug mit Hoffnung füllte, wieder oder immer noch füllte. Mit der Hoffnung auf einen ungarantierten, doch möglichen Zustand, worin der Tod nicht das letzte Wort ist und die sittlich-vernünftige Anlage ihren Sinn behält. Auflösung ins All, letale Rückkehr zur Natur So wurde der Trieb, das Sterben schön zu machen, weit überholt. Aber der Tod als Schlaf blieb freilich trotzdem, gerade in der empfindsamen Zeit. Erlebte diese doch den Friedhof als solchen wie wenig andere und suchte ihn auf. Was im Leben nicht gemeistert wurde, schien am stillen Grab, wie es so sanft ruht, immerhin vergessen zu sein. Verwandte Wunschbilder traten hinzu, die aus dem im achtzehnten Jahrhundert beginnenden Landschaftserlebnis einer menschenfernen Art genommen wurden, einer einsam erhabenen. In diese also soll der Sterbende auswandern und kommt gerade an, indem er zu Asche zerstäubt. So hat damals Young die Nacht besungen und die Hügel, «unter denen das Geschwätz verstummt ist«. So hat Klinger, obwohl voll Leben wie wenige, ein Bestes in der bleichen Leiche vermutet, «im Silber und Mond, von dem sie beschienen ist, und macht sich keine vergebliche Unruh«. Über das Nichts nach dem Tod, wie es die Materialisten lehrten, wurde sogar von Männern, denen jede Schwärmerei fern lag, ein naturhaftes Alles gelegt und mit dem Nichts verbunden. So in folgender Auslassung Lichtenbergs (sie nimmt Auflösungswünsche des neunzehnten Jahrhunderts vorweg): «Mein Gott, /(1351) wie verlangt mich nach dem Augenblick, wo die Zeit für mich aufhören wird, Zeit zu sein. Wo mich der Schoß des mütterlichen Alles und Nichts wieder aufnehmen wird, in dem ich damals schlief, als der Heimberg (nahe bei Göttingen) angespült wurde, als Epikur, Cäsar, Lukrez lebten und schrieben, als Spinoza den größten Gedanken dachte, der noch in eines Menschen Kopf gekommen ist.« Lethe mündet in den Styx, und Styx ist der Weltstrom selber, das Nichts und Alles, aus dem jedes Leben, durch die Wiedergutmachung des Tods, getilgt ist. Bei alldem wirkt der Hintergrund des Alls, der bleibt und das Nichts doch so füllt, daß sich ihn gefaßt, ja mit einer Art gefaßtem Jubel entgegensehen läßt. Weltfrommheit will dem Tod so den Stachel nehmen: und das würdigste Verhalten dieser Art erschien im neunzehnten Jahrhundert bei Gottfried Keller und seinen Gestalten; desto mehr, als die anorganische Sehnsucht die Elegie, mit der sie in der Empfindsamkeit angetreten, zwar noch weit männlicher als bei Lichtenberg abtat, nicht aber die Resignation, die anzeigt, wieviel der Anschluß des Grabs an eine ganz anders tote Natur gekostet hat. Die Rückkehr zur Natur, in der letalen Ausgabe dieser Rückkehr, wird bejaht, wie sie Lichtenberg bejaht hatte, doch mit versuchtem amor fati dazu. Gewärtig der Dinge, die kommen oder nicht kommen werden, lebte bei Keller die Bereitschaft zu einer freundlich weiten Leere des Nichts wie zur kosmisch bevölkerten Unendlichkeit. Neu wird das Bild der Reise, beim Blick auf die Toten selbst, in einer Leichenhalle, »wo sie von allen Ständen und Lebensaltern ausgestreckt lagen, wie Marktleute, die den Morgen erwarten, oder Auswanderer, die am Hafenplatz auf ihren Siebensachen schlafen«. Die Bereitschaft zum Nichts in dem kommenden Morgen ist bei alldem nur die zu einem individuellen Nichts, bei währendem, ja desto bestätigter und gründlicher umfassendem Universum. Am ergreifendsten wirkt diese Unverliebtheit ins kurzdauernde Bewußtsein, diese Geneigtheit zum Totenreich rund ums Leben bei der Grafentochter aus dem »Grünen Heinrich« (IV, Kap. 11), die ohnehin ein Findling ist: »Das ganze vorübergehende Dasein unserer Persönlichkeit und ihr Begegnen mit den anderen vergänglichen, belebten und unbelebten Dingen, unser aufblitzendes und verschwindendes Tanzen im Welt- /(1352) lichte hat für sie einen zarten leichten Anhauch bald von milder Trauer, bald von zierlicher Fröhlichkeit, welche den Druck der schwerfälligen Ansprüche des Einzelnen nicht aufkommen läßt, während das Gesamtwesen doch besteht.« Eben das bleibt der Hintergrund, daß das Gesamtwesen
besteht; eine kosmische Regel, woran sich die individuellen Abweichungen, durch den Tod, korrigieren. Es sei denn, das Individuum wird vom All mitgenommen in eine gemeinsame Unendlichkeit, in eine Reise durch das Sternenheer, ja des Sternsystems selbst. Freilich wird hier - eine Ausdehnung der gnostisch-Danteschen Himmelsreise auf die Welt selber - das Sternenheer gleichfalls als riesiger Zug gedacht, als Exzeß der Tiefendimension, die fürs Individuum, auf der Erde, so beschränkt war. Die Bereitschaft zu dieser Fahrt erscheint am erhabensten in einem Gebet, von Gottfried Keller kurz vor seinem Tod niedergeschrieben; moralisches Gesetz und bestirnter Himmel werden darin eins. Hier ist Abschied als Einreise in die Welt, mit der Welt, ins Fern-All schlechthin: »Heerwagen, mächtig Sternbild der Germanen, das du fährst mit stetig stillem Zuge über den Himmel vor meinen Augen deine herrliche Bahn, von Osten aufgestiegen alle Nacht. O fahre hin und kehre täglich wieder! Sieh meinen Gleichmut und mein treues Auge, das dir folgt so lange Jahre. Und bin ich müde, so nimm die Seele, die so leicht an Wert, doch auch an üblem Willen, nimm sie auf und laß sie mit dir reisen, schuldlos wie ein Kind, das deine Strahlendeichsel nicht beschwert - hinüber! - Ich spähe weit, wohin wir fahren.« Dies wunderbare Gebet hat das Eigene, daß es intendierte Auflösung ins unendliche All mit einer Art unendlicher Intention des Wohin verbindet - aber eines kosmischen, kosmomorphen Wohin. Welch ein Unterschied der Kellerschen, wenn auch noch so romantischen, Weltreise zum alten kirchlichen Hintergrund des Sterbebetts, »wo man«, wie Jean Paul ihn noch beschreibt, »hinter dem langen schwarzen Vorhang der Geisterwelt geschäftige Gestalten mit Lichtern laufen sah; wo man für den Sünder offene Tatzen und heißhungrige Geisteraugen und das unruhige Umhergehen erblickte, für den Frommen aber blumige Zeichen, eine Lilie oder Rose in seinem Kirchenstand, eine fremde Musik oder seine doppelte Gestalt«. Nicht die Person wirkt bei Keller fort im /(1353) All, sondern das All wirkt fort in der Person, in einer, die gänzlich polarisiert ist und nicht einmal mit ihrem Wert die Strahlendeichsel beschwert. Die Fahrtutopie wird so erst recht Auflösung ins Unendliche, in ein mit Leben nicht mehr bemengtes: der Heerwagen ist Universum ohne Bewußtsein und ohne Leiter. Das ist eine Verführung, die nicht einmal nur wie eine beschworene Gegenutopie gegen den Tod auftritt, sondern ihn als Austrittsstelle zum immer wieder lockenden Gestirndienst nimmt. Zu einer Teilnahme an diesem Flimmern, die das Christentum nicht vernichtet hat, ja die mitten in der Bibel als Verführung sich meldet. Hiob rechnete es sich zum Ruhm an, daß er die Himmelskörper nicht verehrte; so sehr waren sie verlockend, mehr als der Geistige, Unsichtbare. »Wenn ich das Licht strahlen sah, den Mond voll dahinziehen, ließ sich mein Herz nicht heimlich bereden, und ich warf ihnen keine Kußhand zu« (Hiob 31, 26 f.); aber die Immanenz warf sie ihnen zu, und der Tod schien die Hingabe zu besiegeln. Landschaft nimm mich auf, das wird hier zum Losungswort, weit über das Schlaf-Gleichnis, die Schlaf-Gleichung hinaus, weit in Erstarrt-Großes hinein. Die Äquivokation im Begriff des Toten, das ebenso die Leiche wie die anorganische Natur bezeichnet, tat das übrige, um Tod mit dem panischen Gefühl zu verbinden. Um ihn eben mit Versuchung, nicht nur mit Tröstung im unbelebten Kosmos anzusiedeln, als Vermählung mit ihm. Hier also zieht das, wo der Mensch nicht ist, ganz seltsam in sich herein. Zwei Zeugnisse machen zuletzt noch deutlich, was es mit der Gleichung Tod und Pan auf sich hat. Das eine Zeugnis steckt im »Erlkönig«, da in diesem nicht nur Grauen ist und vergeblicher Ritt ums Leben. Auch nicht nur die dämonische Lockung, die durchs Grauen flüstert und verspricht: bunte Blumen, gülden Gewand, Tanz der Elfen. Sondern außer diesem, was der Erlkönig zu geben hat, ist der - Nebelstreif, ist der düstere Ort, und sein Weben lockt viel tiefer als der Erlkönig. Daß nur in dürren Blättern der Wind säusle, daß nur die alten Weiden so grau scheinen, dieser Hinweis auf Wind und Weiden, wie er den Spuk scheinbar auflöst und die Spukbilder der Lockung scheinbar vertreibt, vermehrt, ja fundiert statt dessen Spuk wie Lockung. Denn Wind, Weiden, Nacht vertreiben dem Kind des /(1354) Todes nur das geringe Leben, das der Erlkönig anbietet, und sein selber schon bleiches Gold; ganz andere Lust steht aus der Szenerie selber auf, der wirklich toten. Das Träumen vom Nebelstreif geht auf die Sehnsucht, er zu werden, ist die unbegreiflich heimliche Todeslandschaft selber, die in Goethes Gedicht in sich zwingt. Hinter der Gewalt des Erlkönigs ist die der Elemente, ist der Styx, an dem die alten Weiden stehen, ist das Schweigen der Steine, das von solcher Art Todesutopie durcherfahren wird. Das andere Zeugnis dieses Schweigens nun gibt Hölderlins »Tod des Empedokles«, nämlich in den Flammen des Ätna. Und die tote, die angebliche Unterwelt erscheint dieser Art Sehnsucht völlig als die ganze, ja als die im Licht. Der Abschied vom Menschsein wird darum einer aus Kleinheit, die mit dem Leben zusammenhängt: »Daß heilig, wenn es geschehen muß, / Das Gefürchtete, daß es herrlich geschieht.« Der Held nimmt bereits, bevor es zum Tod geht, das Gleichnis für sein bestes Dasein aus der außermenschlichen Welt, aus der rein geformten, prismatischen: »0 Iris Bogen! Über stürzenden / Gewässern, wenn die Wog' in Silberwolken / Auffliegt, wie du bist, so ist meine Freude!« Der Tod im Ätna zelebriert völlig die Vermählung mit der Natur und sühnt das Übermenschentum, das aus ihr herausgetreten ist und sie überwachsen wollte. Die alte Einigkeit zwischen Mensch und Erde, ja zwischen Erde und Himmel
brennt im Tod, als dieser nicht gesenkten Fackel: »Wenn jetzt, zu einsam sich, / Das Herz der Erde klagt und, eingedenk / Der alten Einigkeit, die dunkle Mutter / Zum Äther aus die Feuerarme breitet, / Und jetzt der Herrscher kömmt in seinem Strahl: / Dann folgen wir, zum Zeichen, daß wir ihm / Verwandte sind, hinab in heil'ge Flammen.« Das glühend All-Eine, das dem Empedokles aufgehen sollte, gewiß, es war als das Ewig-Lebende gefühlt und gedacht, nicht als die riesige Mumie oder Mechanik. Doch es hat sein Leben ganz ohne organische Gleichnisse oder als ebensoviel Kristall: der Äther öffnet sich menschenleer. Das sind die Sehnsuchtsbilder, die durch den Tod in die verlorene Natur gehen wollen, in »das ernste Saitenspiel Uraniens«, wie Empedokles hofft, oder genauer in das Schweigen, mit dem die unvollendete Tragödie bei Hölderlin schließt. Alle diese Bilder, so verschiedenen Rangs, haben ihre Todes- /(1355) utopie in der Einheit des Unbewußten, das die Natur, vorzüglich in anorganischer Naturschönheit, zu versprechen scheint. Gesucht ist Unentzweiung durch Bewußtsein, Unentzweiung durch Subjekt und Objekt: dem scheint die anorganische Welt, indem sie sich von vornherein aus dem Leben herausgehalten hat, nahezustehen. Der Tod gilt dann nicht als Bruder des Schlafs, sondern viel eher als der des Granits, mit Nacht oder Azur über sich, gleichviel. Das Nein zum individuell-lebendigen Menschsein erscheint so, in all diesem merkwürdig neuägyptischen und doch ebenso wieder ganz unstatuarischen Werdenwollen wie Totes, als Bejahung der Menschenleere an sich. Der Tod, ein Stück Natur und doch ein höchst Unnatürliches, das der Luft, dem Licht, der Sonne widerstreitet, soll in diesen kosmomorphen Toderweiterungen - sie gehen philosophisch bis auf Anaximenes zurück und seine Einheitslehre von Seele und Äther - zu Luft, Licht, Sonne selber machen, auch ohne Auge dafür, ja gerade deshalb. Gletscher, Erdmutter und Weltgeist So schien nicht alles verloren, als das Leben drüben auslöschte. Im neunzehnten Jahrhundert wurde man des Wachseins insgesamt so leicht müde, wozu es endlos fortsetzen? Geschäftlicher Aufschwung auf der einen Seite, Schwermut, die sich nichts vormacht, auf der anderen gingen im gehetzten wie zerrissenen bürgerlichen Bewußtsein verwandt zusammen. »Das Leben ist der schwüle Tag, der Tod ist die kühle Nacht«, singt Heine, die Nachtigall singt darin, ein noch organisches Glück, doch die Kühle als eigentlicher Trost kommt von unbelebter Höhle, von Stille her. Organische Natur reichte für diese gründliche Flucht überhaupt nicht mehr aus, mindestens nicht die freundlich-arkadische, die dem Landschafts- und Friedensgefühl des achtzehnten Jahrhunderts noch fast alle und jede war. Landschaftsfriede ruhiger Art wurde ganz zum anorganischen, und eben: anorganische Landschaft wurde zum scheinbaren Eingangstor in utopisierten Tod, in die »Erhabenheit« des Tods. Er grenzt an den Gletscher an und an das fabelhafte Todesgebirge hoch am Himmel; dahin dringt jeder große Austritt aus dem /(1356) kleinen Leben. Dahin drang Byrons Manfred, in eine Landschaft ohne Menschen und Christentum, in eine vermeinte Einheit, »wo die Seele nach dem Tod verlangt / Und nicht zurück wie vor dem Winterstrome schreckt«. Das neunzehnte Jahrhundert ging aber nicht nur poetisch, es ging auch mythengeschichtlich an die letale Rückkehr zur Natur heran, und zwar in doppelter Gestalt: chthonisch wie uranisch. Bachofen hat beide pointiert, wenn auch am stärksten die chthonische Form: Sterben als Heimkehren zur Erde. Die Höhle nimmt wieder auf, aus der der Mensch kam, die Erdwiege und das Grab. Der Grabkult der mutterrechtlichen Ordnung, der so von Bachofen wieder durchgefühlt wird, bewegt sich in diesem Kreislauf: »Dasselbe Entstehen aus dem Mutterschoß des Stoffs, dasselbe Zurückkehren in sein Dunkel.« Oder aber Sterben wird in der vaterrechtlichen Ordnung Auffahrt zu den Sternen, in die apollinische, obzwar gleichfalls völlig immanente Welt. An Stelle der Höhle und Erde tritt nun die uranische Höhe, wohin Herakles als erster nach dem Tod, durch den Tod eingetreten ist. Sterben wird so Übergang »zu dem harmonischen Gesetz der uranischen Welt und dem himmlischen Licht, der Flamme ohne Brand«. So geht es hier vom Christentum zu archaischen Gefühlen, zuletzt gar bis in eine Art weiblichen Kampfrausch des Sterbens, mit geglaubtem Geborgensein unten oder Gerettetsein oben dahinter. Ein seltsames Verständnis ging damit in die alten Erd- und Sonnenbilder ein, so als hätte es gar kein christliches Jenseits der Welt gegeben, und es versöhnte den Tod mit ihnen. Aber das Verständnis kam nicht zuletzt von der Analogie: Tod - anorganisch Unbewußtes her, die seit Lichtenberg umging und in der Romantik (zu der Bachofen gehört) kulminierte. Wobei das sogenannte All-Leben, womit Pan ausgestattet wurde, nach wie vor nur den Mechanismus ausscheiden sollte, aber nicht die riesenhafte Umfassung einer Urvergangenheit, einer prävitalen wie postmortalen, worin kein individuelles Leben Platz hat. Es überrascht nicht, daß selbst entzaubertes Denken das Tote noch färbte. Als nichts außer Kraft und Stoff übrigzubleiben schien, wurde die große Leiche immerhin als naturschön hingestellt. Wie der Kleinbürger begann, sich an den Alpen zu erbauen, von Bergriesen schwärmte und von Gebirgsmajestäten, so /(1357) wurde auch seine mechanistische Weltanschauung poetisiert. Sie hatte zwar nichts als Atome
zurückbehalten, lichtlose, klanglose, und Tod war Auflösung in diese, aber populäre materialistische Schriftsteller wie Boelsche, sogar Haeckel putzten des Pudels Kern wieder allbaft, fast pantheistisch auf. Und das immer wieder nachwirkende, darin bürgerlich unvergessene Vorbild gab Feuerbach, in noch legitimer Weise; kam er doch von der Alleinheitslehre her, und seine Entzauberungen nahmen von hier aus ihren weltfrommen Glanz. Das individuelle Leben, wenn es ins Allgemeine verschießt, hat eben dies Allgemeine gewonnen; geklärte, ja verklärte Mechanik nimmt das Leben auf. So in Feuerbachs merkwürdigen »Reimversen auf den Tod«; der Materialist bekundet darin, er sehe »in jeder klaren Quelle die Todesnacht in milder Helle«, er sehe »in jedem Stern und Stein gestellt aus seinen Totenschein«. Das sei denn das letzte Wort der Unsterblichkeit und des Wunschs nach ihr, nämlich ein Wort, das sie aufhebt und zugleich ihren Wunsch erfüllt. Konkret erfüllt, indem Naturalismus bis ans Ende »das hinterlistige Dunkel des Jenseits in das hellste Licht des Diesseits setzt«. Im Sterben streift der Mensch ohnehin seine Beschränktheit ab: »Wer einmal«, meint Feuerbach in den »Gedanken über Tod und Unsterblichkeit«, und er meint das nicht nur ironisch, »wer einmal durch den Tod zum Magister der destruktiven und subversiven Philosophie promoviert worden ist, der hat alle Lust verloren, das Abc eines neuen Lebenslaufs wieder einzustudieren« (Werke III, 1847, S. 325). Statt dessen geht eine übergegenwärtige Welt auf, an der das Individuum wenigstens in Gedanken teilnimmt: »So übersieht der törichte Geist über dem Himmel im Jenseits den Himmel auf Erden, den Himmel der geschichtlichen Zukunft, in der alle Zweifel, Dunkelheiten und Schwierigkeiten, die die kurzsichtige Gegenwart und Vergangenheit quälten, sich in Licht auflösten« (I. c., S.346). Und sowenig Feuerbach, trotz seiner sonstigen Abneigung gegen bloßes Gedankenwesen, es für notwendig findet, daß der Mensch selber leibhaftig an dieser Nachwelt teilnehme, damit er an ihr wirklich und nicht nur in Gedanken teilnimmt: sowenig und noch weniger scheint hier der Eingang ins völlige individuelle Nichts ein Abbruch; denn eben es ist ein Eingang in die Allnatur. Der /(1358) Todesgedanke, ohne Maskerade oder neue Poststationen dahinter, wird für Feuerbach eine Erziehung zur Selbstaufgabe, ja zur Selbstaufopferung während des Lebens selber; und am Ende ist es nichts Geringeres als das Universum, das ewig besteht. Wenn das Individuum alles zu sein glaubt, sagt Feuerbach, dann bleibt nach seinem Tod freilich Nichts, doch da das Individuum durchaus nicht alles ist, so bleibt das unendliche Wesen (Naturwesen) unendlich und ewig: »Die Zeit ist eine Tochter der Wahrheit, es vergeht nur in der Zeit, was im Wesen vergänglich ist, sie lüftet nur den Schleier im Tempel der Isis« (I. c., S.82). Das alles waren Poetisierungen des mechanischen Materialismus, es waren vor allem Versuche, aus der individuellen Vernichtung durch den Tod eine generelle Erhebung zu machen. Eben auf der Basis des Unendlichen, auch Unbewußten, das das endliche Bewußtsein umschließt: gerade die Anthropologie, sosehr sie Feuerbach zum Zentrum macht, hat um dieses Zentrum den Ozean allgemeiner, ewiger, im Tod triumphierender Stoffbewegung. Ja, wie kosmisch und kosmomorph das neunzehnte Jahrhundert den Tod einfaßte, einfassen wollte, das zeigte sich sogar an den wenigen Stellen, wo Unsterblichkeit nicht nur als eine bewußtlose dem All übergeben wurde. Eigentümlich trat derart noch Fechner hervor, kein Materialist, aber ein durchgehender Parallelist in bezug auf Leibe und Seele. Bei Feuerbach ist der Mensch, was er ißt, doch zum Schluß ißt ihn das Universum; bei Fechner wird er gleichfalls von diesem verzehrt, doch ebenso behalten und erinnert. Aus dem individuellen Leib wird er in den Erdleib aufgenommen, aus dem individuellen Bewußtsein in ein förmliches Erd-, ja Mechanik-Bewußtsein versetzt. Diesem Gedanken ist Fechners »Büchlein vom Leben nach dem Tode« gewidmet, eines der eigentümlichsten Wunschbüchlein innerhalb naturalistischer Immanenz. Denn die Grundthese Fechners: psychophysischer Parallelismus, hört sich zwar an wie eine vorsichtig mechanistische, doch will sie das Weltall, wohin der Tote zurücktritt, klangvoller machen als Sphärenharmonie. Denn, sagt Fechner mit nicht eben zwingender Konsequenz: wie es keinen Geist ohne physische Natur geben kann, so auch keine Natur ohne Geist. Ja, je gewaltiger sich das stoffliche Korpus, als Erde, Sonne, All, ausdehnt, desto umfangreicher und höher /(1359) auch sein Bewußtsein. Es war das ein purer Analogieschluß, vom menschlichen Gehirn-Seele-Verhältnis her, aber durch ihn wurde die Erde nun »nicht bloß ein Ball aus trockenem Erdreich, Wasser, Luft; sie ist ein größeres und höheres einheitliches Geschöpf«. Die gesamte Menschheit ist ihr Gehirn, die gesamte Menschengeschichte das Erdgedächtnis, worin der Einzelne nach seinem Tod forterinnert bleibt und sich mit allen übrigen Erinnerungen verbindet. Sind aber auch die individuellen Seelen und Dauerbedürfnisse in solcher Kreuzung aus Gemütlichkeit, Psychophysik und Philosophie-Kolportage erhalten, so siegt doch wieder das sozusagen Kosmische, worin es so auslöschend wie einsammelnd hergeht. Die Rinnsale wurden zusammengefaßt in Fechners Spätschrift: »Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht«, 1879: »Dieselbe Erde, die uns und alle ihre Geschöpfe durch dieselbe Kraft an sich gefesselt hält, hat auch alle aus sich geboren, nimmt alle wieder in sich zurück, nährt und kleidet alle, vermittelt den Verkehr zwischen allen und behält bei allem diesem Wechsel einen durch den Wechsel selbst sich forterhaltenden und fortentwickelnden Bestand ... Auf
Grund des Vorigen haben wir die Erde als ein uns zugleich nach materieller und geistiger Seite übergeordnetes, in höherem Sinne als wir selbst einheitlich gebundenes Wesen, hiermit als einen Knoten zu fassen, der uns selbst mit unserenNachbargeschöpfen gemeinsam in das göttliche Band einknüpft.« Im Leben wie erst recht nach dem Tode einknüpft, wenn dieser selbst, »die große Stufenkrankheit«, überstanden ist und höhere Stufen: Erdbewußtsein, Allseele, betreten werden. So weit ging Fechner, und der Abstand vom psychophysischen Archiv und Ruhekissen zu Lessings, Goethes Emigrationen, zu Kellers HeerwagenGebet ist groß, aber die Linie einer kosmischen Euthanasie bleibt noch bis zuletzt. Ein Verschießen ins All wurde damit, vom Tod als Bruder des Schlafs angefangen, ums Leben gelegt. Dieses kosmische Gefühl hätte insgesamt, selbst mechanistisch, auf ägyptischen Kristallsinn hinführen können, wenn der anorganische oder kosmische Todes-Sinn des neunzehnten Jahrhunderts noch ausreichende Tiefe besessen hätte. Solch ein Sinn, wenn auch nur als Kontrastideologie zur kapitalistischen Unruhe, lag immerhin vor, und er steht, durch die anorganische Endbewegung /(1360) des Tods dirigiert, in auffallendem Gegensatz zur Entwicklungslehre der gleichen Zeit, die Erde, Stern, Kosmos nur als Basis darstellt, von der Leben und menschliche Geschichte sich erheben. Die Tod-Pan-Utopie brachte statt dessen das Naturgebäude ans Ende des Wegs, gleich wie wenn wieder Naturgötter wären. Es gab selbst für Bachofen nichts dergleichen, und der Kosmos als Tempel der Leiche blieb nur einer der Ideale mit denen sich der durchgängige Mechanismus für Gemütsbedürfnisse schmückte, hier an der kahlsten und kältesten Stelle. Zwischen der Leiche und dem durchsichtigen Bauwerk des Kristalls ist immerhin der Unterschied der Verwesung, und die Verwesung ist eine vertrackte Rückkehr zur Natur. Trotzdem gab der Tod als schließliche Kalzinierung und sonst nichts einem Zeitalter, das stolz darauf war, auch den Organismus rein anorganisch erklärt zu haben, einen gewissen homogenen Trost. IV WEITERE SÄKULARISIERTE GEGENZÜGE, NIHILISMUS, HAUS DER MENSCHHEIT Immer noch Färben des Nichts Wie drängt man die Angst zu sterben heute von sich ab? Daß das anscheinend gelingt, scheinbar gelingt, mit oberflächlichen Mitteln, wurde eingangs (vgl. S.1298) klar. Vor allem die amerikanische Gesellschaft muß sich den Tod auf dieselbe Weise verdrängen, womit sie sich jede Sicht ins Bevorstehende verdrängt. Das Bevorstehende ist ihr Tod als Klasse; ihn nicht wahrhaben wollen, trotz aller Zeichen, das macht auch für den Wegblick vom leiblich-letalen Abgang geschickt. Wir sagten aber auch, daß der Tod (unbekannt, wie lange noch) nur deshalb so gut verdrängt werden kann, weil hinter ihm einmal neues Leben versteckt worden, das heißt ausgeträumt und hineingeglaubt worden war. So wird es unwahrscheinlich, daß die kreatürliche Todesangst spätbürgerlich bloß durch Wegblicken beseitigt worden ist. Oberflächlichkeit allein ist keine Befreiung, und Verdrängung allein gibt nicht das Gefühl eines Siegs. Es wird wahrscheinlich, daß das heutige Geschlecht, indem es ohne Todesfurcht /(1361) lebt, vergangenen Glauben beleiht, auch von völlig ungedeckten Schecks lebt. Der fragwürdige Lombard, der gerade unter den Freigeistern von heute, den noch so verschieden schattierten, gar keine Starkgeister mehr nötig macht, wie im achtzehnten Jahrhundert, wird jetzt allgemein üblich. Das dürftige Bekenntnis zum Nichts würde schwerlich ausreichen, um den Kopf oben zu behalten und zu wirken, als gäbe es kein Ende. Deutliche Zeichen weisen vielmehr darauf hin, daß im Unterbewußtsein noch frühere, sattere Wunschbilder fortdauern und stützen. Durch den Rest, der von ihnen blieb, fühlt der sogenannte moderne Mensch den Schlund nicht, der unaufhörlich um ihn ist und der ihn zuletzt so sicher verschlingt. Durch sie rettet er ganz unversehens sein Ichgefühl, durch sie entsteht der Eindruck, als ginge nicht der Mensch unter, sondern als habe nur die Welt eines Tages die Laune, ihm nicht mehr zu erscheinen. Wahrscheinlich also zecht dieser ganze flache Mut, wie er imstande ist, die Angst aller früheren Zeiten zu verdrängen, auf fremde Kreide. Er lebt von früheren Hoffnungen und dem Halt, den sie einmal verliehen hatten. Und zwar lebt er, was hier entscheidend wichtig ist, sehr oft von einem abgelaufenen Glauben, der, wenn er einmal gänzlich verdampft wäre, desto hilfloseres Grauen freiließe. Nur so schief und halb überfühlt der in den Tag hinein Lebende seine letzte Stunde, arbeitet, ohne zu verzweifeln. Vier Zeichen eines beliehenen Glaubens Das wird weiter sogar eine Flucht nach vorn, die als Mut erscheint. Jugend hat ihn, wenn sie aus schalem Leben in den Krieg will, wenn das Sterben ein wilder Schluß wird. Besonders in Ländern, wo die herrschende Klasse keine andere Aussicht als die des Schlachtentods bieten kann. »Morgen geht es
todeswärts«, lautete derart ein Lied der Nazis; Soldaten sangen es, die nicht nur siegen, auch sterben wollten. Todestrieb ist gewiß in diesen Gefühlen, Trieb zum Angriff, auf die anderen und auf sich, fast gleichviel. Doch es lockt hier auch Preisgabe eines Daseins, das man nicht meistert, und besonders ging Rausch an als der eines Ineinander von Schlacht und Leben. Ein einziges entzündetes Rasen vereint beide, so daß im Sterben das Blut /(1362) weiterzukochen scheint, ja besonders hoch aufkocht. Es gibt die alten Götzen nicht mehr, die den Berserker begeistet haben, doch sie hatten und haben noch Jünger. Das ist das erste Zeichen dafür, wie in vergangenem Licht gestorben werden kann. Wie aber nun, wenn ein Leben noch in Ordnung scheint, wenn business as usual sich vorerst noch rentiert? Dann lockt nicht Schlacht, sondern bürgerliches Fortkommen, mit Einkünften ohne Ende und ohne Krise, es lockt die Übertreibung, die auf dem vorhandenen Bodenganz ungeheuerliche, alles Sterben sei nur Schein, und sie erscheint ihren Gläubigen nicht als Wahnsinn. Krankheit, Erfolglosigkeit, Schicksalsschläge, aber auch die letzte Erfolglosigkeit: der Tod, beruhen hiernach einzig auf kraftlosen Gedanken; der Fehlschlag Sterben ist der mentalen Schwäche nur die Quittung. Das ist der Todesaspekt Coue's, besonders aber der Christian Science, als der genuinsten Religion Nordamerikas. Sie will das Leck verstopfen, das das menschliche Schiff so früh zum Sinken bringt; dieses Leck aber gilt nicht als eines im Stoff, gilt primär als eines im smarten Willen. Durch mangelnden Glauben an den Ellbogen, an den Jesus des so gesunden wie geschäftstüchtigen Lebens dringt Böses in den Menschen ein, das gar nicht seiend ist, das aber das Seiende zersetzt. Fließen jedoch diese zersetzenden Abszesse aus, dann soll auch die Krankheit verschwinden, auf der ganzen Linie, und letzthin die zum Tode: es winkt, wenn noch nicht Unsterblichkeit im Fleisch, so doch langlebige Kraft und geistige Existenz gegen den Tod. Dergleichen war, wie erinnerlich, bereits als medizinisches Wunschbild erschienen, nur kehrt es ganz massiv wieder, als Glaube an den Glauben, und doch eben nicht mehr massiv, sondern schließlich als faschistische Blasphemie. Die Todverdrängung, Todverheilung durch solchen Arzt-Jesus ist das zweite Zeichen lombardierter Gewißheiten aus ganz anderer Zeit. Der Gott der Gesundbeterei und der mannigfachen Spiritualisten von heutzutage, die vornehmer damit zusammenhängen, ist der zum Geschäft, zur geglaubten Ewigkeit des Geschäfts verkommene Gott der Spätantike: als solche Auferstehung und als solches Leben. Statt des vitalen Stierbluts, von dem die Mysten übergossen wurden, statt des magischen Abendmahls erscheint freilich nur Erfolgsglaube. Echter Unternehmerschwung hat für /(1363) Krankheit und Tod keine Zeit, sein Jesus duldet nirgends Bankrott. Weshalb Amerika neuheidnisch genug ist, um das Lamm, mit seiner notorisch geringen prosperity, durch den vitalen Stier, den Erfolgsbullen zu ersetzen. Das alles sind spätantike Reste oder Beleihungen eines Äskulap-Jesus; doch nun weiter im Text, in einem halbwegs edler werdenden, gibt es zum dritten noch Reste aus der letalen Allsympathie, die das vorige Jahrhundert bereits säkularisiert hat, mithin astralmythische. Panisches Naturgefühl, mit dem Anorganischen vor allem in sich, als weltweite Landschaft des Tods, ist so das dritte spätbürgerliche Zeichen des Lombards. Tod wird interpretiert nicht als Exitus, sondern umgekehrt als Introitus der anderen, sternklaren Seite: in den nicht mehr kuhwarmen, unappetitlichen, winzigen Menschen. Das in der Art etwa wie Alfred Brust, in seinem hierfür bezeichnenden Roman »Die verlorene Erde«, einen alten Mann den Freunden sein Ende anzeigen läßt: »Des Herbstes Heiterkeit ist über meine Stunden ausgebreitet. Kürzer wird der Sonnenkreis, und die behutsamen Nächte nehmen an Umfang zu. Das sich nähernde Sternenmeer hat meine Grenzen überschritten und ist heute früh ganz in mich hineingetreten.« Hier scheidet nicht das Individuum ab, und es begibt sich auf keine Reise, sondern konträr: die seltsamste Gegenbewegung wird zu erfahren geglaubt: es ist der Herbst, der gegen das Individuum vorrückt; es ist das sich nähernde Sternenmeer (des Winterhimmels), das die Grenzen der Person überschreitet und sie überflutet. Pan selber verringert so das Leben wie der Herbst die Sonnentage, und der Tod strahlt über den Rest herein wie die Nachtkristalle des Winterhimmels, ja eben als diese selbst. Christlicher tingiert erscheint letaler Astralmythos selbst amerikanisch, bei Emerson, sogar bei William James, obzwar als all-seelisch, pan-psychisch gesetzt. So setzt James, in seinen «Vorlesungen über Unsterblichkeit«, kosmisches Bewußtsein als primär, folglich als das Meer, das im Tod die kleine Sonderung individuelles Bewußtsein wieder überströmt: »Allbewußtsein ist das Erste, Ewige, unser Gehirn aber gleichsam nur eine farbige Linse in der Mauer der Natur, die Licht aus einer transzendenten Quelle durchläßt, es zugleich färbt und dämpft« Beleihung ist mithin auch hier sichtbar, denn es gäbe keine Einrückung des sterbenden Individuums /(1364) ins All, des unsterblichen Alls ins Individuum, wäre hinter dieser Empfindung nicht einmal Astralmythos gewesen. Samt seiner typischen Mystik: der des Geborgenwerdens in und durch die alte Physis. Die das Schimmlige, das Leben heißt, das Unrecht, das Individuum heißt, in sich wieder zurücknimmt. Gäa hier, Uranus dort, an beide wird nicht mehr, als an Götter, geglaubt, doch der Tod hüllt sich noch in deren verjährte Gewänder. Allerdings bleibt, letzthin, noch eine frisch erscheinende Art Euthanasie, sie kann ruhmredige Verzweiflung genannt werden, und deren viertes Zeichen wirkt nicht von vornherein als überkommenes. Der
Mensch läuft hier dem Tod voraus, gibt an, von sich selbst her zum Nichts entschlossen zu sein. Heutzutage kam für viele die Zeit des verhinderten oder latenten Selbstmords, eben die bürgerliche Klasse sieht ihr Scheitern vor sich, hoffnungslos. Nun findet sich hier scheinbar, statt des Ausweichens, zuletzt sogar ein Hineinknien ins Sterben, geradezu, in imperialistischem Auftrag, mit einem Willen zum Nichts, das heißt zu dem in ihm versteckten Hunger- und Schlachtentod. Er ist das einzige, was die faschistische Gesellschaft dem Volk bieten kann; so haben Bürger-Philosophen von heutzutage mit dem Nihil auf eine scheinbar originale Weise vertraut gemacht. Es sind Untergangs-Philosophen, sie verbanden das Problem des individuellen Tods mit dem ihrer Gesellschaft, machten das bloße Nichts der kapitalistischen Zukunft zu einem unausweichlich-absoluten, damit der Blick auf eine veränderbare Welt, auf die sozialistische Zukunft gänzlich blockiert werde. Sie predigten eine Todverfallenheit, die derart noch weit über die organischnatürliche hinausgehen soll, nämlich durch synthetisch erzeugte Lethargie und zuletzt durch Krieg. Sie fälschten ihrem Nichts zugleich finster-erbauliche Wunschbilder hinzu, defätistische zunächst, mephistophelische am Ende. Spengler sprach von der Müdigkeit, »die der allzu wache Mensch in allen Knochen spürt«, und lobte sie gußeisern, weil nichts anderes mehr bevorstehen soll. Jaspers gab, mit nicht geschichtlichem, sondern sogenannt existentiell-ewigem Ansatz, diesen Trost: »Es ist nicht nur der Weltlauf in der Zeit, daß nichts bestehen kann, sondern es ist wie ein Wille (!), daß nichts Eigentliches als Bestand überdauern soll. Scheitern heißt die nicht zu antizipierende vollzugs- /(1365) notwendige Erfahrung, daß das Vollendete auch das Verschwindende ist. Wirklich werden, um echt zu scheitern, ist dem Zeitdasein die letzte Möglichkeit (!): es taucht in die Nacht, die es begründete. Ist der Tag selbstgenügsam, so wird das Nichtscheitern zur wachsenden Gehaltlosigkeit, bis ihm am Ende das Scheitern von außen als ein fremdes kommt« (Philosophie, 1932, III, S. 110). Hier also blickt das Nichts, dem die Krankheit, die Zeit-Krankheit zum Tode sich anvertraut, fast doppelt intrikat drein: es wird aus dem Status zum ewigen Akt verwandelt, nämlich zu dem des Scheiterns, und es soll sogar ein Garant des besten Etwas sein, nämlich des Gehalts. Das andere Nichts-Wunschbild hat Heidegger formuliert, ein viel ahnungsvollerer Engel, bereits kein Tröster, sondern ein Versöhner und Propagandist der spätkapitalistisch-faschistischen Welt, Todes-Welt. Die Angst ist Todesangst, und sie geschieht nicht in einzelnen Augenblicken oder gar erst im letzten Augenblick, sondern sie ist »die Grundverfassung des menschlichen Daseins«, »das einzig Seiende in der existentialen Analytik des Daseins« (Sein und Zeit, 1927, S.13). Die Angst und das pure Nichts, in das sie überhängt, geben dem Leben zwar nicht seinen Gehalt, doch seine Fragwürdigkeit und ihre Tiefe: »Einzig weil das Nichts im Grunde des Daseins offenbar ist, kann die volle Befremdlichkeit des Seienden über uns kommen«; Gegenstand der Wissenschaft ist das Seiende, der Philosophie das Nichts. »Aber das Dasein muß im weltentwerfenden Überstieg des Seienden sich selbst übersteigen, um sich aus dieser Erhöhung allererst als Abgrund verstehen zu können« (Vom Wesen des Grundes, 1929, S.110); das Nichts zeigt derart, für ein pures Nichts, ein recht kompliziertes Gesicht. Doch auch dieses komplizierte ist unoriginal und lombardiert, von Jaspers' »begriffenem Scheitern« bis zu Heideggers »ungedecktem Standhalten«; und nur der besonders interessierte imperialistische Auftrag zu dieser Art Abgrundbejahung oder »Todvertiefung» wirkt frisch. Sonst ist auch das Jaspers-, das Heidegger-Nichts gefärbt, mit fremden Federn geschmückt, gerade in Ansehung seines Todeszaubers. Und zwar erscheint in diesem, nochmals pervertiert, viel LutherischChristliches: das Scheitern entspricht der Ablehnung der Werkgerechtigkeit, die Angst entspricht dem alten Sündendruck, die /(1366) vorlaufende Entschlossenheit der Ergebung in Gottes Willen. Und mit dem kopierten Luther mischt sich ein Gegenspiel: die kopierte Romantik, ihr Wunschbegriff der Nacht. Als einer freilich nicht mehr mit Liebestod, «versinkend, ertrinkend, unbewußt, höchste Lust«, sondern mit Mord tingierten. Das ist das Epigonentum des profaschistischen Nihilismus, seiner ruhmredigen Verzweiflung, seines Quietismus für die Gefolgschaft, seines apres nous le déluge für die Führer. Die metaphorische Unsterblichkeit: im Werk Die Geschichte der Stadt Rom steht in meinen Nächten über mir wie ein fernes Gestirn. Sollte mir das Schicksal doch verstatten, sie zu vollenden, so würde kein Leid in der Welt groß genug sein, das ich nicht standhaft ertrüge. Gregorovius
Es ist an der Zeit, wieder an reinere Luft zu gelangen. Darin ist schließlich noch das Gefühl, zweifellos auch das frische, nicht nur alte, in seinen Kindern fortzuleben. Kein Mann, so lautet ein bäurischer Spruch, sollte aus dem Leben gehen, ohne einen Baum gepflanzt, einen Sohn hinterlassen zu haben. Die Kinder tragen den Namen des Vaters, er wünscht sich, daß sie auch weiterhin sein Werk sind. Kinder aber werden auch die
geistigen Werke genannt, die gemalten, musizierten, gedichteten, gebauten, gedachten. Sowohl wegen des Rauschs ihrer Empfängnis wie wegen der Schmerzen ihrer Geburt, wie eben wegen ihrer überlebenden Dauer. Bezeichnenderweise wurde noch nie ein geglücktes Geschäft, eine gewonnene Schlacht oder eine tüchtige politische Leistung das Kind ihres Urhebers genannt. Das macht: die Wirkung solcher Taten verläuft und verflechtet sich schließlich, sie haben keine gerahmte Gestalt, die sich charakteristisch erhält. Der Name ihres Urhebers kann noch so dauernd erinnert werden, er ist mit keinem immer wieder aufführbaren, sich immer wieder erneuernden Werk verbunden. Vita brevis, ars longa, Reiche vergehen, ein guter Vers bleibt ewig: in diesen musischen Überzeugungen hat nur das geformte Werk Platz. Nur es erlebt, gleich leiblichen Nachkommen, eine Nachwelt und überwindet die Todesanzeige, wenigstens für ihre Leser. /(1367) Freilich ist das ein Trost, der leider nicht von sogenannten Dutzendmenschen gehegt werden kann, es sei denn auf komische, also nicht eben trostreiche Weise. Derart, daß auch ein geglücktes Geschäft, indem es nämlich eine Firma wurde, zum Ewigkeitswert gefirmt und fixiert wird; wie häufig in Reklame. Aber gerade deren abenteuerliche Form zeigt an, daß geistiger Werkcharakter kopiert werden muß, so in folgenden lächerlich-lehrreichen Beispielen: »Das Andenken des Toten wird in den Annalen der Schmirgelfabrik Naxos unvergänglich fortleben.« Oder, nach einem anderen Original: »Wir kannten den Traum des Verblichenen, in der Tschechoslowakei eine neue Industrie von Kleinmetallwaren zu gründen, sie führend zu gestalten und in der ganzen Welt bekannt zu machen. Mit übermenschlichem Bemühen wuchs er über sich hinaus, und wenn ein Ziel erreicht war, hatte er sich bereits ein höheres gesetzt. Dieser Grundsatz wird richtungweisend sein für unsere weitere Arbeit, damit wir Hynek Puc's erhabene Gedanken der Erfüllung und Unvergänglichkeit zuführen.« Wird in dergleichen auch Fortdauer im Werk nur behauptet, um Schmirgel- oder Kleinmetallwaren-Fabriken zu empfehlen, so wäre auch das nicht möglich, wenn diese nicht mit der Sonne Homers versehen worden wären. Nur Brüder in Apoll setzen aber einen geisthaft unsterblichen Deszendentenflor in die Welt, gegebenenfalls. Nur für sie kann das Grab noch die Kanzel werden, von der ihre Stimme vernehmbar bleibt, ja eindringlicher meist als zu Lebzeiten. Nur für sie gilt die Metapher oder Hyperbel, es finde gleichsam eine Seelenwanderung Beethovens oder Shakespeares statt, wenn ihre Töne und Verse noch Jahrhunderte nach ihrem Tod in Millionen widerklingen. Oder wie auch an weniger großem Gedrucktem es sich wirklich bewährt, daß die Schrift ein Schiff ist, welches über den Ozean der Zeit hinsegelt und die entferntesten Jahrhunderte miteinander verbindet. Nur hier hört die Komik jener Art Fortlebens auf, mit der die Annalen der verschiedenen Schmirgelfabriken gleichzeitig empfehlen und trösten. Veritable Dauer in einem Werk und ein legitimierterTraum davon greifen Platz, wenn auch eben nur für relativ wenige Subjekte und auch für diese unleidlich wenigen nur so, daß sie ihr zum Werk gekeltertes Leben ja keinesfalls selber führen können /(1368) und vor sich sehen. Wonach zwar ein halbes oder ganzes Dutzend Bände in Regalen objektive Unsterblichkeit darstellen mag, doch sich zur persönlichen Unsterblichkeit des alten Glaubens selber nur metaphorisch verhält. Immerhin entsteht für die so Begünstigten eine ars longa, die mit dem Namen ihrer vita brevis geschmückt ist; das sogar vor dem Abscheiden. So sprach Heinrich Mann von den Ehren, die ein solches Alter höchst schmeichelhafter Weise von der Jugend entfernen, wodurch es bestiegen werde wie ein Thron. Ähnlich erblickte Gottfried Keller bereits einen siebzigjährigen F. Th. Vischer, wie gar erst Höhere, und schrieb von ihnen, sie stünden im Abendsonnenschein des Lebens unter dem Gebälk ihrer Werke, mit unzweifelhaft geborgenem Gefühl. Schiller hatte dies rettende Gefühl gerade bei beginnender Krankheit: »Eine große und allgemeine Geistesrevolution werde ich schwerlich Zeit haben in mir zu vollenden, aber ich werde tun, was ich kann, und wenn endlich das Gebäude zusammenfällt, so habe ich doch vielleicht das Erhaltungswerte aus dem Brand geflüchtet« (An Goethe, 31. August 1794). Goethe, indem sich ihm sein ganzes Leben allmählich in eine Art überpersönliches Staatswesen verwandelt hatte, imaginierte nicht nur kosmische Fortdauer seines Wesens, sondern genau auch Unsterblichkeit im geschichtlich gewordenen, geschichtlich überbleibenden Werk. Das nicht ganz vier Monate vor seinem Tod in einem Brief an Wilhelm von Humboldt, mit sich selbst als historisch erfahrener und gereihter Kategorie: »Darf ich mich in altem Zutrauen ausdrücken, so gestehe ich gern, daß in meinen hohen Jahren mir alles mehr und mehr historisch wird; ob etwas in der vergangenen Zeit, in fernen Reichen oder mir ganz nah räumlich im Augenblick vorgeht, ist ganz eins, ja ich erscheine mir selbst immer mehr und mehr geschichtlich; und da mir meine gute Tochter abends den Plutarch vorliest, so komme ich mir oft lächerlich vor, wenn ich meine Biographie in dieser Art und Sinn erzählen sollte.« Solche Objektivierung hat die eigene Existenz in der Tat aus der Vergänglichkeit entfernt; noch das Leben erscheint dann als Werk, und das Werk erscheint als Entronnenheit, ja als gedruckte Situationslosigkeit eines wesenhaft gewordenen Lebens. Und das alles wird mit voller Legendenbildung des persönlich Objektivierten, zugleich historisch Unsinkbaren in dem bekannten /(1369) Faustsatz kondensiert, es könne die Spur von seinen Erdentagen nicht in Äonen untergehen. Sehr sehnsuchtsvoll hat Unsterblichkeit im Werk
Nietzsche ausgedrückt, sehnsuchtsvoll deshalb, weil eine so unkanonische Natur die Kategorie Werk nie traf. »Menschliches, Allzumenschliches« sagt aber im Aphorismus 208: »Das glücklichste Los hat der Autor gezogen, welcher, als alter Mann, sagen kann, daß alles, was von lebenzeugenden, kräftigenden, erhebenden, aufklärenden Gedanken und Gefühlen in ihm war, in seinen Schriften noch fortlebe, und daß er selber nur noch die graue Asche bedeute, während das Feuer überallhin gerettet und weiter getragen sei.« Das gleiche im sehr anschaulichenBild des Aphorismus 209: »Der Denker und ebenso der Künstler, welcher sein besseres Selbst in Werke geflüchtet hat, empfindet eine fast boshafte Freude, wenn er sieht, wie sein Leib und Geist langsam von der Zeit angebrochen und zerstört werden, als ob er aus einem Winkel einen Dieb an seinem Geldschrank arbeiten sähe, während er weiß, daß dieser leer ist und alle Schätze gerettet sind.« Der Lorbeerkranz wird hier als Tarnkappe verwendet, das Selbst im Aggregatzustand des Werks scheint mehr Selbst als je zu sein und doch oder ebendeshalb, wegen Abtun der Fleischlichkeit, der Zerstörung so unsichtbar wie unerreichbar. Die Vollender werden angegeben, als stiegen sie mit Ironie in ihr Grab, und der Sarkophag sei wirklich nur ein Fleischfresser, weniger: ein Ende von Schlacke, Unrat, Eitelkeit, Tierheit, wie sie schon vorher den Werkmachern zu tragen peinlich waren und nun gänzlich der Vergessenheit anheimfallen. So lautet dieser utopische Trost, ein freilich geistesaristokratisch eng reservierter, doch eben auch einer, der das Beste an der lebenden Person: ihr Schaffenkönnen, in die Mauer aus ewigen Buchstaben doch nicht mitnimmt. Immerhin erfrischt dieser Trost stark und gibt den Mönchen in Apoll oder in Minerva neben der Sorge, seiner nicht würdig zu sein, eine andere Aufforderung zu -Ägyptischem, auch ohne geometrische Steine. Die Angst, nicht fertig zu werden, ist beim Künstler die stärkste. Der Tod vernichtet ihn nicht nur allgemein, sondern auch besonders und wie gezielt, indem er den Griffel aus der Hand nimmt. Darum ist hier ein besonders brennender Wunsch, sein Tagwerk so weit gefördert zu haben, daß die Todesnacht /(1370) dafür wenigstens keine Vernichtung mehr abgibt. Ist Genie Fleiß, so ist es Fleiß auch darin, daß es die Garben, wie bei drohendem Gewitter, mit vollen Schaufeln in die Scheune bringt. Oder daß es mit dem heraufziehenden, dem unvermeidlichen Unwetter ein Wettrennen aufnimmt, um noch vor dem Blitzschlag die vorgenommene Strecke zu durchqueren und das anvertraute Gut an sicheren Ort zu bringen. Als Hölderlin, müde und krank, am »Empedokles« arbeitete (der dann Fragment blieb), sprach er seine Hoffnung gegen den Tod in diesen übergebliebenen, diesen bitter-unsterblichen Versen aus: Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen! Nur einen Herbst zu reifem Gesange mir, Daß williger mein Herz, vom süßen Spiele gesättigt, dann mir sterbe! Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht; Doch ist mir einst das Heil'ge, das am Herzen mir liegt, das Gedicht gelungen: Willkommen dann, 0 Stille der Schattenwelt! Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel Mich nicht hinabbegleitet; einmal Lebt' ich, wie Götter, und mehr bedarf's nicht. Unvergleichlich dringt der Wille in diesem Gedicht eher in die Unsterblichkeit des Schaffens ein, eines noch vergönnten, ersehnt vergönnten, als in die Unsterblichkeit des Werks. Oder vielmehr: es begründet die Unsterblichkeit im Werk (hier gänzlich unabhängig von Ruhm, gar von der Geltung durch Nachwelt) mit Schaffenkönnen und Gelingen. Dies Schaffenkönnen ist zwar, in Resignation, auf ein Einmaliges, also Vergehendes, begrenzt, auf den einen Sommer und einen Herbst. Doch diese Einmaligkeit ist keine, denn in ihr glänzt eine antike, richtiger: eine antikisierend-christliche Teilnahme am Leben der Götter, als der Unsterblichen schlechthin. Was christliche Teilnahme an Auferstehung und Leben war, durch Taufe in den Tod Christi, /(1371) das ist hier Teilnahme am Leben eines schaffenden Gotts (wie er der Antike allerdings fremd war). Der Rausch der Schöpfung macht bei Hölderlin die imitatio deorum, folglich die ekstatische Reigengenossenschaft mit diesen Unsterblichen, folglich die Unsterblichkeit im Werk, während es geschieht. Dann jedoch kommt die Schattenwelt, auch hier: denn das Subjekt spürt ja die Unsterblichkeit nicht mehr, es setzt sich an der Unsterblichkeit des Werks keinen personhaften, keinen anwesenden Anteil. Immerhin wird
hier, anders als bei' den Auflösungen ins All, ein edler Teil der eigenen Geisteswelt als gerettet erhofft vor dem allgemeinen Wegfall. Dazu eben auf original scheinende Weise: aus dem neuen, erst kulturgeschichtlich auftretenden Äon des Werks. Trotzdem, es findet sogar hier eine Art Beleihung statt, von eigentümlich rezenten Tiefen des Kulturbewußtseins her. Da ist der übernommene römische Ruhm, der sich höchst vaterrechtlich an die Sterne versetzt. Da ist eben ein Ägyptisches im Dauerglauben, Werkglauben selber am Werk, dem Fortleben der persönlichen Essenz (des Ka) in der Statue vergleichbar. Und als eine Beleihung, die nur hier vorkommt: im Pathos der Werkdauer, ihrer Höhe und Essenz selber, wirkt unzweifelhaft der Begriff der heiligen Bücher nach, den die orientalisierende Spätantike nach Europa gebracht oder für Europa ausgebildet hat. Koran und Bibel galten damals oder von da an nicht bloß als richtunggebende, sondern als zeitentronnene, außer der Vergänglichkeit stehende, in Ewigkeit stehende Schriften. An diesem Muster oder Kanon hat sich erst der neuere Begriff der Klassik säkularisiert ausgebildet, mithin der unbewegte Regenbogen Vollkommenheit über dem Wasserfall Geschichte. Ohne dieses Klassikgefühl oder Klassikbestrebnis hätte der Genius gar keinen Raum gehabt innerhalb der geminderten oder verschwundenen Hoffnung auf Fortdauer, um Unsterblichkeit im Werk zu erwarten und zugebilligt zu erhalten. Eine säkularisierte Nachwirkung kommt hinzu, den Dauerstern der Bücher betreffend und das menschliche Leben, das sich an ihn heften will. Die Dauer scheint zu entstehen, indem Geschehnisse im Buch, wie man zu sagen pflegt, verewigt werden, aber auch indem das Buch aus ihnen einen Auszug macht, einen Exodus als Extrakt. Menschen sterben, Städte versinken, Reiche zerbrechen, doch die Bibliothek hat /(1372) alle Bedeutungen aus der Vergänglichkeit eingesammelt, folglich - fürs literarische Bewußtsein - aufgehoben. Besonders das Barock pflegte diese Idolatrie des Buchs, als sei es ein neuer, todentronnener Schauplatz (vgl. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, 1928, S.83); am Ende der Dinge bleibt so außer der Bibel ein Orbis scriptus übrig. All das wirkt in dem Unsterblichkeitsbild des Werks nach, Bibel wie verdinglichte Bibliothek wirken in der Unsterblichkeit durchs Werk nach. Völlig anders freilich als in Bibel und Koran gehen die Hügel, worin die defuncti, die nicht mehr Funktionierenden, liegen und ihren riesigen Urlaub haben, nicht mehr auf. Buchstäblich und nicht in Buchstaben geglaubte Fortdauer sah anders drein, gab dem Sterbenden ein anderes Fixativ seiner Seele als die metaphorische, die so wenigen zugängliche der Werk-Überdauer. Doch ist dieses sehr relative, sehr metaphorische Kraut gegen den Tod durch Wegfall der alten Unsterblichkeits-Landschaft nicht vernichtbar. Unsterblichkeits-Utopie erzeugt sich im Akt und Fortbestand geistiger Produktion neu, sie kommt hierin auch - um den Preis nicht persönlicher Fortdauer - ohne unsichtbare Räume aus. Der Tod als Meißel in der Tragödie Auch wurden Dichter nicht müde, schönes Sterben so vorzuführen. Wenn nicht an sich, so an geschriebenen Menschen, an Helden ihrer Stücke. Überall mag der Tod, mit nichts mehr darin oder dahinter, bedrücken, aber im Abstand der Bühne erhebt er. Wobei nicht einmal notwendig Abstand bleibt: gedichtete Menschen erscheinen ohnehin, wenn sie kräftig erfaßt und durchgeführt sind, als merkwürdig wirklich. Sie sind das in der Schicht des künstlerischen Vor-Scheins, aber mit einem zu Ende getriebenen, also verstärkt wirkenden Sein in diesem Vor-Schein. Gewiß, die Soldaten auf einem Gemälde sind nicht zugleich Täter des von ihnen dargestellten Vorgangs, und ebensowenig sind es die Schauspieler. All das hat sein Leben nur im Zuschauer, doch die Gestalten selber, welche die Schauspieler verkörpern, fallen sinngemäß weder mit den Schauspielern noch gar mit den Zuschauern zusammen. Sie sind vielmehr der geschichtliche Antonius, Cäsar, Wallenstein noch einmal, in gesammelter Gestalt. /(1373) Oder ist die Gestalt gänzlich erfunden, ein König Lear, so steht ihr Leben und Sterben doch als eines da, das hätte sein können und das nun genauso zu Ende getrieben wird und in seiner Art wirklich dastehen mag wie der gedichtete Cäsar. Wäre hier bloß Illusion, so wäre es nicht möglich, daß gerade tragische Gestalten auch ungedichtet in der Geschichte vorkommen und daß sie, als gedichtete wie fortgetriebene, wesentlich gemachte Geschichte erscheinen. Napoleon wirkt als tragischer Held, auch ohne daß eine angemessene Tragödie seiner geschrieben worden ist, und wäre er in Shakespeareschem Format dargestellt, so wäre hier kein Riß zwischen Wirklichkeit und Illusion, sondern St. Helena nur mit mehr Vollendung ein letzter Akt. Ebenso hält sich in gut gedichteten Gestalten das wichtigste Kennzeichen menschlichen Seins, nämlich Moralisches. Nicht ihr Zuschauer und nicht ihr Dichter, sondern sie selber tragen Schuld und Sühne und das Wichtigere: Befreiung von beidem. Soviel zunächst über ein Leben, einen Tod, welche gerade tragische Figuren vorführen können, ohne Illusion. Diese Feststellung ist wichtig, um nun eine der zuchtvollsten Annäherungen des ungläubig gewordenen Bewußtseins an den Tod zu verstehen. Denn die tragische Unsterblichkeit im Werk ist zwar als utopischer Trost ebenfalls nur wenigen gegeben, aber vom tragischen Tod ging erreichbare Haltung aus. Es
schien und scheint, als ein stolzer, das Leben nicht zu vernichten, sondern genau zu bestätigen. Dann zu bestätigen, wenn das Aufrecht-Wesentliche eines Menschen dem Tod ebenbürtig gegenübersteht, ja ihn zwingt, gerade dies Aufrecht Wesentliche zu besiegeln. Insofern hat das tragische Todesbild, wie es immanent entwickelt worden ist, zwar immer noch eine auserlesene Bedeutung, aber da es nicht, wie die Unsterblichkeit im Werk, Begabung voraussetzt, sondern erreichbaren Willen und Haltung, keine geistesaristokratische. Und auch keine bloß werkhaft-metaphorische, sondern - obwohl sie in einem gedichteten Werk selber vorgeführt wird - eine personhaft wirkende. Bis zu dem Punkt hin, daß der Tod für die tragische Person und ihre Sache geradezu positiv-paradox gebraucht wird. Danach zeigt der Held, wie das Sterben in ihn einbezogen werden kann. Er wird im Tod nicht aufgehoben, obwohl nicht nur sein Leben, sondern auch sein Streben zertreten wurde. Er /(1374) kommt menschlich durch dies Ende in Form, der tragische Tod arbeitet als Meißel. Ja bereits das Trauerspiel, in dem doch keine scharfen Charaktere untergehen, wirkt als Vorgang, der nicht nur Unglück in sich hat, verschönt durch Rührung. Sondern die Rührung hebt die ausgetretene Blume oder das Grab des Edlen, ehemals Großen in ein Klagelied; es umhüllt die Leiche, macht das Leichenhafte gut. Nur das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab, während auch das kleinste Fünkchen Licht in der Träne der Rührung farbig-groß erscheint. Gar jene Art Trauerspiel, die das Barock ausgebildet hat, in deutlichem Unterschied zu der strengen Tragödie, macht aus der Vergänglichkeit Gerettetes, ja die Bedingung, unter der überhaupt gerettet, nämlich zum Sinnbild «eingeerntet« werden kann. Die sterbende Person wird hier nicht statuarisch, aber allegorisch, nach Benjamins Einsicht: »Und die Personen des Trauerspiels sterben, weil sie nur so, als Leichen, in die allegorische Heimat eingehen« (Ursprung des deutschen Trauerspiels, 1928, Seite 217). Die Leiche wird Emblem, ja die gesamte Geschichte wird als Trümmerfeld und nur als solches im Barock Emblem: «Abgestorbenheit der Gestalten und Abgezogenheit der Begriffe sind also für die allegorische Verwandlung des Pantheons in eine Welt magischer Begriffskreaturen die Voraussetzung« (1. c., Seite 225). Das barocke Trauerspiel begrüßt so den Tod, als «bedeutende Aufteilung eines Lebendigen in die disjecta membra der Allegorie«. Statue aber und nicht Ruine, einzige Statue unter Ruinen wird der Held, nach der sozusagen plastischen Auffassung, in der Tragödie. Das läßt sich auch so ausdrücken: Die Klage gegen den Tod wird im Trauerspiel zwar erhoben, aber ad acta gelegt; nur in der Tragödie wird der Prozeß durchgeführt, ist zwar für das Leben des Helden verloren, doch für seinen Charakter gewonnen. Danach darf also in der Tragödie niemand fallen als durch sich selbst; wo das anders geschieht wie etwa bei Max und Thekla, den Menschenopfern für Wallenstein, entsteht sogleich ein bloßes Trauerspiel mitten in der Tragödie. Nur in der Tragödie also und in der Haltung, die ihr entspricht, in dieser aber unausweichlich, soll der Tod, der dann keinesfalls beklagenswerte, ein wertgeladenes Definitivum sein können und vor allem: sein müssen. Ein Definitivum nicht des Endes, sondern der Beendigung, als das eines, /(1375) im tragischen Tod, statuarisch werdenden Charakters. Lukács hatte, von einem noch neuklassischen Standort her, also noch ohne Bezug auf die eigentliche, gesellschaftliche Sache, die der Held in seinem Charakter jeweils vertritt, diesen glänzend-harten Trost am konsequentesten durchgeführt. Ohne die älteren Bilder von Schuld und Sühne, ohne einen Ursprung der tragischen Dichtung aus der Opferidee als der Hingabe für eine Schuld, freilich auch ohne das Pathos des tragischen Helden als eines Kämpfers gegen das Schicksal, das menschenfeindliche, prometheusfeindliche. Vielmehr: »Das Wesen dieser großen Augenblicke des Lebens ist das reine Erlebnis der Selbstheit« (Die Seele und die Formen, 1921, S.336). Und der Tod fällt davon ab, wie der Meißel von der fertigen Statue, ja er soll hier schon vorher, wenn er sich mit Blut, Gefahr, Mord wichtig macht, als solcher gleichgültig sein. Das echte Drama nimmt als Form selber seinen Gestalten das Leben, das ist: das unentschiedene, das atmosphärische der bloßen Erlebniswirklichkeit, »die Anarchie des Helldunkels«, worin nie etwas zum Äußersten schwingt. Tragödie hat keine Biologie und keine Psychologie: »Auch ist die Todesentschlossenheit der tragischen Menschen, ihre heitere Ruhe angesichts des Todes oder ihre lodernde Todesentzückung nur scheinbar heroisch, nur die menschlich-psychologische Betrachtung; die sterbenden Helden der Tragödie... sind lange schon tot, ehe sie sterben« (l.c.,S. 342).Der Tod ist danach lediglich Sichtbarmachung einer ohnehin, dem Wesen nach, vorhandenen Gestalt; etwa so, wie Michelangelo im Block die Statue sah und sein Meißel nur das Überflüssige um sie her zu entfernen hatte. Oder auch, wie der späte Schelling die Meißelung, freilich nicht mehr als tragische, doch zur Selbstheit hin, metaphysiziert hatte: «Die gewöhnliche Vorstellung, welche den Tod als eine Scheidung von Seele und Leib ansieht, betrachtet den Körper wie eine Erzstufe, in der die Seele als ein edles Metall eingeschlossen ist; der Tod ist der Scheidungsprozeß, der die Seele von dieser sie einschließenden und umgebenden Materie befreit und sie rein und in ihrer Lauterkeit darstellt. Die andere Vorstellung würde eher geneigt sein, die Wirkung des Todes mit jenem Prozeß zu vergleichen, in welchem der Geist oder die Essenz einer Pflanze ausgezogen wird... Der Tod des Menschen möchte also nicht sowohl /(1376) eine Scheidung als eine Essentifikation sein, worin nur
Zufälliges untergeht, aber das Wesen, das, was eigentlich der Mensch ist, bewahrt wird« (Werke IV, S 206f.). Fast im gleichen Sinn hatte ein Kirchenvater, Gregor von Nyssa, den Tod und vorher schon die Mortifikation der Askese als »letztes Heilmittel für den Leib« gefeiert, dergestalt, daß der von Sünden entstellte Leib zu »seiner Verklärung umgeschmolzen wird«. Und Platon, der Idee rein dargestellter Gattung so sehr geneigt, bemerkt im »Kratylos«, es sei weise von Pluto, daß er mit den Menschen erst nach ihrem Tod verkehren wolle, nachdem die Seele von jedem Üblen und Verderblichen des Körpers gereinigt ist. All das berührt sich, säkularisiert, mit dem tragischen Hervorgang der Selbstheit, mit dem Tod als Formung und, im Grunde, Formerscheinung eines Wesentlichseins. Allerdings wurde in Lukács' noch neuklassischer Tragödientheorie das Sterben, ja Untergehen selber ausgelassen. Beide sind danach das gleiche atmosphärische Helldunkel wie das Leben der Erlebniswirklichkeit, sind Zeitworte und keine Wesentlichkeiten. Der bloße Vorgang des Untergangs wird aus den tragischen Entscheidungen und Entschiedenheiten entfernt, ebenso, aus lauter statuarischer Immanenz, die Prometheus-Spannung des Helden gegen das Schicksal. Das Statuarische läßt so schließlich, mit der Atmosphäre, auch die Aura des tragischen Tods weg und seinen möglichen Hintergrund. Es überschlägt nicht nur Blut, Morde, tragische Finsternis, es läßt auch, in der »reinen Selbstheit», kein Relief mehr als den hinteren Konfliktsgrund, den Inhalt der vertretenen Sache, für die der tragische Held in den Tod geht, mit naiver oder überlegter Konsequenz. Diese Sache kann zwar die »reine Selbstheit» sein, erscheinend in der formalen Konsequenz eines unbiegsamen Charakters; insofern, unter Absehung der Inhalte dieses Charakters, wäre selbst Richard III. eine tragische Figur. Aber entscheidender ist doch der positiv-allgemeine, der menschlich-stellvertretende Zielinhalt des unbeugsamen Willens, der die Flagge an den Mast des wie immer auch untergehenden Schiffes nagelt. Auch ist das Emblem auf dieser Flagge niemals das einer bloßen Person allein und ihrer - sei sie noch so wesenhaft - erscheinenden »reinen Selbstheit«; so hat hernach gerade der Marxist Lukács, in Verfolgung der Marx-Engelsschen Sickingendebatte mit Lassalle, das objektivere Relief des Tragi- /(1377) schen, mit anderem Meißel, herauszuarbeiten gesucht. Eben die gesellschaftliche Sache, wie sie der Held in seinem jeweiligen Charakter vertritt und seinen notwendigen Handlungen durchsteht. So daß von deren Konflikten und Inhalten auch die noch so »reine Selbstheit« doch letzthin nur der Träger ist: gewiß nicht als bloße zweibeinige Idee, aber doch so, daß das tragische Individuum als Charakter am Ende nur einer ist, weil er außer der tödlich klaren Prägung für diese gesellschaftlichen Mächte austragend charakteristisch ist. Soll heißen, für die aufeinanderstoßenden Rechts- und Moralordnungen; diese allein substantiierenden tragischen Konflikt. Und zwar entweder bei Helden, die ein Dasein, eine Rechtsordnung von nicht moralisch erledigter, nicht klanglos in den Orkus hinabgegangener Art vertraten (Mutterrecht in der Sophokleischen »Antigone«). Oder aber bei Helden der zu früh gekommenen Revolte, der in ihren Bedingungen objektiv noch nicht reifen Rechts- und Moralordnung (also Spartacus, Münzer und - um in der Literatur des Tragischen zu bleiben - mit Maßen auch Egmont). Diese Rebellen vor allem sind die menschlichen Brüder des Prometheus, des Urbilds vom tragischen Helden als einem kanonischen. Und von ihnen her fällt auch auf all die gesellschaftlich eingeengtere Trotzsubstanz der tragischen Helden das letzte Licht. Das Licht des unwiderlegten, durch den Tod gerade besiegelten Quos ego, des Helden also, der nicht mächtiger, doch besser ist als das Schicksal mit seinen Göttern und der so, nur so, eine wahre »reine Selbstheit«, als dauerhaft, für die Seinen anmeldet. Seit Anfang bewegt sich in der Tragödie diese Rebellion, sogar erstaunlich lange vor jeder wirklichen; sie stellt sich fest in der Größe des Dulders, sie formt das erste Reservat des Menschen gegen Götter und Schicksal. Und insofern also konnte auch der tragische Tod, der den Helden und seine Sache so behaltbar und bedenkbar macht, als Refugium vor der Vergänglichkeit des Menschen erscheinen, wenigstens des heroischen Menschen. Und vor allem, gleich der Unsterblichkeit im Werk, gestalthaft sichtbarer als diese, setzt sich dieses Refugium gänzlich immanent, ohne alle Transzendenz. Die antike Tragödie kommt selbstverständlich ohne Hades aus, und auch die Asphodeloswiese der Seligen wäre hier fehl am Ort; die moderne Tragödie impliziert nicht des mindesten einen Himmel. /(1378) Deshalb konnte auch die Art des tragisch-utopischen Todestrostes bleiben, nachdem die Glaubensvorstellungen abgezogen sind, von deren »Non omnis confundar« die Empfänglichkeit für Untod im Tod auch hier freilich, unzweifelhaft, noch erfüllt ist. Immerhin also hat der tragische Untergang, vielmehr die Lebensfülle, worin er bestanden wird, dem Tod in wenig transzendenten Zeiten ein Stück Gold an die schwarze Fahne gegeben. Diese werden zwar meist nur auf der Bühne, in den Dichtungen perzipiert, doch weit weniger mit Illusion, weit deutlicher in Vor-Schein, als die bürgerliche, so lange üblich gewesene oder gebliebene Kunst-Kontemplation sonst aufbringt. Dafür ward die Betroffenheit zu stark und das, was sie zu vermitteln, sogar zu erschließen imstande ist, trotz des schönen Sterbens. Die Tragödie hat einen Subjektraum, prometheischen Wesensraum kenntlich erhalten, in der die vorgeführte Vernichtung keinen Zutritt besitzt, wiewohl sie zur spezifischen Erscheinung dieses Raums erst verholfen hat.
Verschwinden des letalen Nichts im sozialistischen Bewußtsein Alle nehmen frühere Blumen ins Grab, darunter vertrocknete oder unkenntlich gewordene. Nur eine Art Menschen kommt auf dem Weg zum Tod fast ohne überkommenen Trost aus: der rote Held. Indem er bis zu seiner Ermordung die Sache bekennt, für die er gelebt hat, geht er klar, kalt, bewußt in das Nichts, an das er als Freigeist zu glauben gelehrt worden ist. Sein Opfertod ist deshalb auch von dem der früheren Blutzeugen verschieden; denn diese starben, fast ausnahmslos, mit einem Gebet auf den Lippen und glaubten sich den Himmel erworben zu haben. Der geistliche Rausch ließ nicht nur die Todesangst weit hinter sich, er verlieh sogar in mehreren Fällen (Gesang der Täufer auf dem Scheiterhaufen) Unempfindlichkeit gegen den Schmerz. Der kommunistische Held dagegen, unter dem Zaren, unter Hitler und noch darüber hinaus, opfert sich ohne Hoffnung auf Auferstehung. Sein Karfreitag ist durch keinen Ostersonntag gemildert, gar aufgehoben, an dem er persönlich wieder zum Leben erweckt wird. Der Himmel, dem die Märtyrer, in Flamme und Rauch, ihre Arme entgegenstreckten, ist keinem roten Materia- /(1379) listen da; dennoch stirbt dieser, als Bekenner, überlegen wie nur je ein Urchrist oder Täufer. Auf diesen Helden trifft Büchners völlig diesseitiges Wort vom Menschen zu: »Wir sind wie die Herbstzeitlose, welche erst nach dem Winter Samen trägt.« Das ist so paradox wie groß, und wie sehr es beides ist, zeigen die Anfechtungen, die hier als die natürlichsten wirken und dennoch nicht häufig sind oder gar erst unter Abtrünnigen auftreten. So läßt Artzibaschews »Ssanin«, ein Defätismusroman nach der verunglückten russischen Revolution von 1905, seinen Titelhelden sagen: er verschmähe es, sich aufhängen zu lassen, damit die Arbeiter des zweiunddreißigsten Jahrhunderts keinen Mangel an Nahrung und Geschlechtsgenüssen leiden. Dergleichen erscheint zwar dem ersten schlechten Blick für einen Materialisten konsequent, der auch als Revolutionär dem materialistisch angestammten Lustprinzip huldigt (und was ist Lust, wenn sie nicht auch die eigene ist?). Dennoch ist Ssanin eine Ausnahme, sogar eine verächtliche; die revolutionären Materialisten hielten sich vor dem Galgen des Klassenfeinds aufrecht, als stärkste Idealisten sozusagen, obwohl ihnen persönlich nichts anderes blieb als das Grab, als die Idee, als die Gewißheit, bei der Verwirklichung dieser Idee nicht anwesend zu sein. Sie hätten als aufgeklärte Seefahrer scheinbar alle Ursache, die verhängnisvolle Küste zu meiden, worin Mann wie Maus zerschellt und kein Unterschied zwischen beiden gemacht wird. Diese Standhaften fühlten sich nicht aufgerufen, um empfangen zu werden mit hochheiligem Gruß, sie glaubten höchstens in der Erinnerung der Mit- und Nachwelt eine Berge zu finden, eingeschreint im Herzen der Arbeiterklasse, doch scharf entgegen aller Hoffnung einer himmlischen Metaphysik und eines Jüngsten Gerichts, worin die Gerechten den Lohn empfangen, der ihnen auf der Erde verweigert wurde. Kurz, geglaubte Mechanik im Universum ließ den roten Helden, wenn er als Leiche gänzlich zur toten Mechanik überging, ohne Spaß, auch ohne Pantheismus in Staub vergehen; - dennoch aber stirbt dieser Materialist, als wäre die ganze Ewigkeit sein. Das macht: er hatte vorher schon aufgehört, sein Ich so wichtig zu nehmen, er hatte Klassenbewußtsein. So sehr ist das Personenbewußtsein in Klassenbewußtsein aufgenommen, daß es der Person nicht einmal ent- /(1380) scheidend bleibt, ob sie auf dem Weg zum Sieg, am Tag des Siegs erinnert ist oder nicht. Keine Idee im Sinn abstrakten Glaubens, sondern konkrete Gemeinsamkeit des Klassenbewußtseins, die kommunistische Sache selber hält hier also aufrecht, ohne Delirium, aber mit Stärke. Und diese Gewißheit des Klassenbewußtseins, individuelle Fortdauer in sich aufhebend, ist in der Tat ein Novum gegen den Tod. Gar keine Reste säkularisierter Art ersetzen bei Fucik, Fiete Schulz und so vielen anderen den eigens entspringenden Mut oder bessern ihn, fremd hergeholt, auf. Der kommunistische Held, seine »Technik«, Verhöre zu bestehen, die Zähne im höllischen Schmerz zusammenzubeißen, in den Tod zu gehen, ohne die Sache oder auch nur den Namen eines Genossen verraten zu haben, - diese außerordentliche Kraft erscheint völlig ohne Anleihe. Sie benutzt keine früheren Todesbilder, sie stärkt sich weder durch Auflösung im All noch durch Unsterblichkeit im gerahmten Werk, noch selbst auf nennenswerte Weise durch tragische Größe, wenigstens was deren Bildungselement, gar, was deren Statue angeht. Der rot-atheistische Todesmut ist so in der Tat original, mit den romantischen Süchten des bürgerlichen Individualgefühls verglichen. Doch freilich wieder bedeutet das Originale nicht, daß es, wenn es keine Anleihen braucht, nicht auch ein Erbe antreten könnte und antritt. Eines mit der Kraft, älteren Wunschbildern mythologisch projizierter Art einen Teil unmythologischen, diesseitigen Sinns abzugewinnen. Das Feuerbachsche Umfunktionieren (nicht Retten) mythologisch gegebener Wunschvorstellungen hat gerade an dem, was man nach seiner ruhigsten Erscheinung das Sacco- und-Vanzetti-Phänomen nennen kann, ein theoretisch noch lange nicht adäquat verstandenes - Praktikum. Verschwinden des Nichts im sozialistischen Bewußtsein ist Füllung dieses Nichts mit neuen humanen Inhalten. Indem diese aber die lebensleere, menschleere Mechanik des Hintergrunds vertreiben, mindestens verdecken, stehen sie nicht ohne
Zusammenhang mit älteren human-teleologischen Reihen. Wenn auch auf frischste Weise; dergestalt, daß die Assoziation, die Menschliches über den Tod hinaus erhaltend aufnimmt, hier gänzlich produziert und nirgends mythologisch gegeben ist. Sie ist statt dessen objektiv-utopisch gegeben, nämlich im Kampf gegen die Bestie der Unter- /(1381) drückung, im Dienst der unnachlaßlichen Freiheitstendenz, die ihre Kämpfer allemal über sich hebt, in ihr und aller Unterdrückten Bestes hebt. Hierhin fühlt sich der rote Märtyrer aufgenommen, gerade weil er gar kein Märtyrer sein will, wohl aber ein standhafter Kämpfer auch für sich, für sein bewährtes, überzeugendes, fruchtbringendes Wesen. Für ein Wesen freilich, das nun weder individualistisch noch aber auch kollektiv-allgemein sich darstellt, sondern auch hier die individuell-kollektive Einheit: Solidarität in sich hat. Und nicht nur als die des räumlichen Mit- und Nebeneinanders, sondern ganz besonders die zeithafte Solidarität dazu, die sich zu den Opfern der Vergangenheit, zu den Siegern der Zukunft gegenwärtigst erstreckende. So empfängt und hält das Untötbare des revolutionär-solidarischen Bewußtseins, einer Geborgenheit ohne alle Mythologie, mit aller Einsicht und Tendenz. Dieses Bewußtsein bedeutet auf seinen Träger bezogen - das Unsterbliche in der Person als das Unsterbliche ihrer besten Intentionen und Inhalte: wonach sich dieses Beste durch die faschistische Exekution sowenig vernichtet fühlt wie vorher durch das faschistische Blutgericht widerlegt. Hier wird das revolutionäre Befreiungswerk seinen Standhaften der selber standhafte, dauernde Bestand der Seele. Er ist ihnen die Seele der vorauf erscheinenden künftigen Menschheit, zu der sie mit Treue in den Tod bereits geworden sind. Wobei die künftigen Menschen, denen der Held sich dergestalt opfert, wieder viel einfacher zu sterben haben. Ihr Leben ist nicht mehr gewalttätig abgekürzt, die Lebensangst selber, soweit die herrschende Klasse sie bereitete, nicht zuletzt und ganz umfassend durch Krieg, ist dahin. Jedoch wie immer auch hinausgeschoben, es bleibt der naturhafte Tod, als der durch keine gesellschaftliche Befreiung berührbare. Die Vermittlung mit dem Naturhaften daran ist nun gerade für die befreite, solidarisch gewordene Menschheit ein spezifisch welthaftes, weltanschauliches Problem. Desto mehr, als nach abgeschaffter Armut und Lebenssorge sich die Todessorge besonders hart erhebt, gleichsam ohne das Unterholz übriger, banaler Depressionen. Die Vermittlung mit dem Subjekt der Gesellschaft ist in der klassenlosen gelungen, jedoch das hypothetische Subjekt der Natur, woraus der Tod kommt, liegt auf einem anderen Feld, auf einem /(1382) weiteren als dem des geglückten sozialen Einklangs. Et in Arcadia ego, lautet eine alte allegorische Inschrift, unter den Idyllen des Theokrit: aber ihr Ego ist nicht schon, wie Schiller den Text verstanden hat, das Jubel-Ich, das ebenfalls in Arkadien geboren ist oder geboren sein wird und derart tanzt. Vielmehr bedeutet das Ego der prophetischen Inschrift Mors, selbst in Arkadien also ist der Tod sichtbar eingeschrieben. Totentanz ist noch am schönsten irdischen Ort. Desto sichtbarer eben, als eine neue Erde im sozialen Anfang betreten sein möchte, als - nicht zuletzt - die Todesverachtung aus der Zeit der heroischen Revolution abgeschlossen ist. Das überletale Feuer der sozialen Revolution hat in ihrem Produkt, der klassenlosen Gesellschaft, keine Nahrung mehr, sicher nicht mehr die gleiche. Sie zu eruieren, dazu müssen erst die finalen Horizontprobleme unseres Daseins deutlicher werden, vielmehr deutlicher gerichtet, gestellt und beeinflußt werden, als dies innerhalb eines mechanistisch bleibenden Naturbegriffs möglich ist. Säkularisierte Velleitäten aus abgelaufener Ideologie und Theologie bedeuten in einer klassenlosen, auf Wirklichkeit bezogenen Existenz gar nichts mehr. Aber gewiß ist es überall die Kraft des Kommunismus, in der Kritik des Scheins Glauben ohne Lüge freizumachen. Also auch dem Nihilismus zu begegnen, worin das Bürgertum, dem Tod gegenüber, nicht einmal eigene Wunschbilder mehr hervorbringt, geschweige denn eine mögliche Wahrheit in diesen Wunschbildern. Der dialektische Materialismus dagegen kennt, zum Unterschied vom mechanischen, keine Schranke in seinem Diesseits; er kennt folglich auch kein von vornherein ausgemachtes Nichts einer sogenannten naturgewollten Ordnung. Als einer Ordnung, die von der früheren gottgewollten den Begriff des Schicksals, des unbeherrschbaren, übernommen und auf eine Sphäre tiefer übertragen hat, auf die einer abgeschlossenen naturhaften Notwendigkeit. Der dialektische Materialismus pointiert statt dessen beherrschte, ja in dieser Beherrschung letzthin gesprengte äußere Notwendigkeit; Humanisierung der Natur ist ein utopisches Endziel seiner Praxis. Und realisierte Wunschbilder des Todesinhalts gehören in Zukunft zentral zu ihr, Wunschbilder, versteht sich, die in dem Sinn konstitutive sind, daß sie mit der Tendenz und Latenz des wirklichen Prozesses /(1383) verrmittelbare sind. Folglich sind auch hier abschließende Negationen, innerhalb des Sozialismus, ebenso schädlich wie ihr Gegenspiel: die dogmatisch-fixe Phantasterei. Das Eingeschreintsein im Herzen der Arbeiterklasse ist Gedächtnis, aber das historische Gedächtnis muß selber noch eingeschreint werden, um nicht einen schließlich doch triumphierenden Nihilismus, nämlich aus totaler Mechanistik, am Ende zu haben. Mit anderen Worten: »Geschichte« muß in der Physik eines noch offenen Totum aufs neue fundiert werden, und diese uns nicht mehr disparate Kosmologie liegt allen kommunistischen Problemen in der
VerIängerungslinie - existentiell erkennbar am Tod. Kommunistische Kosmologie ist hier wie überall das Problemgebiet einer dialektischen Vermittlung des Menschen und seiner Arbeit mit dem möglichen Subjekt der Natur. Dergleichen ist nicht mehr als ein Problem und, in Ansehung der praktischen Vernunft, ein Postulat, doch als so beschaffen ist die Ausdehnung des Reichs der Freiheit auf das Todesschicksal legitim. Gerade weil für dieses ganze Problem, ja bereits für seine nur halbwegs sinnvolle Formulierung ein Non liquet des Materials noch vorliegt, ist auch kein Nein a limine aussagbar; gibt es für unser Schicksal in der Natur noch keine positive, so auch keine abschließend negative Lösung. Sozialismus denkt und handelt nicht mit theologisch überkommenen Lückenbüßern des bürgerlich-mechanistischen Weltbilds, doch ebensowenig denkt und handelt er mit Mechanismus selbst und in sein fixes Nichts hinein. Niemand weiß, was in der Welt außerhalb des menschlichen Arbeitsradius, also im noch unvermittelten Natursein, steckt; welches Subjekt hier den Umsatz lenkt, ob es überhaupt ein solches Subjekt ausgemacht gibt oder bereits so gibt; ob es als angetroffenes, ausgemachtes, herausgeschafftes in Vermittlung mit dem Menschen als Subjekt der Geschichte gebracht werden kann. Das alles hängt von der Entwicklung und den Aussichten der menschlichen Machtergreifung ab, das heißt aufs genaueste: von der Entwicklung und den erscheinenden Horizonten des Kommunismus. Theorie-Praxis, wenn sie die soziale Utopie berichtigt und auf die Füße gestellt hat, hat eines ihrer letzten Probleme im Kraut gegen den Tod. So daß auch an der Intention der Todes- und Final-Utopie der möglich reale Sinn untersucht und, sollte er bestehen, mit dem /(1384) realen Korrelat in der Welt vermittelt wird, das diese Intention nicht ganz heimatlos macht. Ihr gilt der Satz: Non omnis confundar / Nicht ganz werde ich in Unordnung geraten, nämlich in dem, was der Menschen bester Teil ist. Und des Menschen bester Teil, dieses sein gefundenes Wesen, ist zugleich die letzte und beste geschichtliche Frucht. Eine Natur, die nicht nur mit der Erde als totem Mond am Ende oder auch in stereotypen Sternvernichtungen, Sternentstehungen abläuft und so, bei allem mechanistischem Wechsel, auf der Stelle tritt, kann diese Frucht - nach keineswegs erledigter Hoffnung - in sich einschreinen, ja sie kann diese Frucht selber werden und muß sie nicht vernichten. V LEBENSLUST UND FRAGMENT IN ALLEN DINGEN Forschende Reise in den Tod Kommt man um die letzte Angst herum, indem sie überhaupt keine ist? In der Tat lebt zuweilen, wenn ein gesunder Mensch ans Ende sieht, noch ein ganz anderes Gefühl auf. Die Angst wird durch ein seltsames Gefühl der Neugier verändert, durch die Lust zu wissen, was es mit dem Sterben auf sich habe. Dieser Affekt wird gereizt durch die große Veränderung, welche der Tod auf alle Fälle mit sich bringt. Die Neugier verwandelt den fallenden Vorhang in einen ebenso entzweireißenden; das Ende des Lebens ist ihr zugleich der Anfang eines völlig Unerhörten, sei es auch des Nichts. Die Neugier kann sich bis zu einer Art Forschungs- und Erkenntniswunsch verbessern, sie ist auf den Akt des Sterbens wie auf den einer Enthüllung gespannt. Dieser Forschungstrieb setzt freilich ein Ich voraus, das während des Sterbens, ja nach ihm erhalten bleibt, um den Tod beobachten zu können. Schopenhauer spottet sehr bemerkenswert hierüber, er vergleicht den Menschen, der im Tod besondere Aufschlüsse erwartet, einem Gelehrten, der einer wichtigen Entdeckung auf der Spur ist, doch im gleichen Augenblick, wo er die Lösung zu sehen meint, wird ihm das Licht ausgeblasen. Trotzdem kreist das Subjekt, bevor ihm das Licht ausgeblasen wird, mit unleugbarer Erwartung um die Geheimnisse der Bahre; diese Erwartung /(1385) besteht noch neben der Todesangst (solange sie keine akute ist) und setzt Wißbegier für Angst. Grübelnde Pubertät, philosophisches Naturell, das sich erhalten hat, hegen so vor allem den Wunsch, sich nach Torschluß durch Erkenntnis überraschen zu lassen. Wobei nicht zu vergessen ist, daß sich genau an dieser Stelle auch die billigste metaphysische Art angesiedelt hat. Geisterseherei im Stil Cagliostros, Spiritismus leben von der Neugier, vorher einen Zustand zu wissen, den jeder ohnehin früher oder später erfahren wird. Immerhin ist die Erwartung, die an so finsterem Ort auftritt, allemal eine auffallende Gabe, besonders wenn sie, wie hier zumeist, sich unter dem Ende ein Unerhörtes vorstellt. Sich gar einen Schlüssel zu ihm hinzudenkt, der innere Türen aufschließt und Türen zu dem gleichen leichten, leuchtendem Zustand, worin geliebte Tote erinnert werden und worin eine Rückkehr zu ihnen möglich ist. Die Erwartung intendiert dann den Tod als eine Art Reise, sowohl in das eigene Subjekt wie in das übermächtige Daseinsgeheimnis. Vom Subjekt scheint ihr im Augenblick des >Abscheidens« die Hülle des Inkognito zu fallen, vom Daseinsgeheimnis die sogenannte äußere Schale. Jede Reise kann von hier aus ein Stück der letzten vorwegnehmen, ein Stück der nördlichen, doch bunten Sterbenacht, als der äußersten Exotik. Sicherer als die Liebesnacht nach Seite des Versinkens mit dem Tod
umschlungen ist, ist die Liebesreise nach Seite des Sezessionierens mit ihm verschlungen, nach Seite der großen Expedition. Das ist ein Trieb, welcher die letzte Angst recht wunschhaft durchdringt und ihr, als ausfahrender, gerade eines ihrer wesentlichen Merkmale nimmt: angustia, die Enge. Der Augenblick als Nicht-Da-Sein; Exterritorialität zum Tod Ein zweiter fahrender Trieb sucht weit tiefer, geht daher noch schwerer zugrunde. Er befindet sich, wie nicht anders erwartbar, mitten im Augenblick, an dem Punkt, wo ein Mensch an seinen Kern herantreten mag. Dies uns Nächste unseres Seins ist zugleich der setzende Grund, das nackte Daß unseres Seins. Wegen seiner unüberbietbaren, völlig unmittelbaren Nähe ist der gerade gelebte Augenblick oder das Jetzt, das dieses Daß ist, /(1386) ebenso noch völlig unsichtig, dunkel, nirgends gestellt und objektiviert (vgl. S. 334f., S.343ff.). Die Zukunft, nicht die Vergangenheit, ist seine Ausweitung; daher ist auch das Zukünftige so unsichtig und unobjektiviert wie der gerade gelebte Augenblick, obgleich nicht im gleichen Grad. Denn das unmittelbare Daß kann im Handeln für die Zukunft, in der Entscheidung sich aktiv ergreifen. Das unmittelbare Daß hat sich andererseits auf eine vor uns ziehende Strecke begeben, wo es als nicht nur setzend, sondern als treibend erscheint, als Tendenz, und überdies mit dem Vergangenen vermittelt ist. Indem aber das Zukünftige unser sich ausgebärender Kern ist, unterliegt es an sich selber, von vornherein, keinen Erinnerungskategorien wie das Gewordene, die Vergangenheit; es kann nur getan und utopisch geahnt werden. Gewußt kann Zukünftiges nur insofern werden (in wissenschaftlich gewordener Ahnung), als es in seinen Vermittlungen mit weiterlaufenden Tendenzen der Vergangenheit steht, also den unabgeschlossenen, offenen Kategorien wissenschaftlich-konkreter Utopie in vermitteltem Novum zugänglich ist und sie darstellt. Hat nun derTod, dieses ebenso bevorstehende wie in extreme Vergangenheit reißende und darin ausgemachte, wie in völlig unerfahrene Andersheit bringende und darin immerhin unausgemachte Ereignis, zum Dunkel des gelebten Augenblicks einen Bezug? Er ist nach seiner einen, ausgemachten Seite Verwandlung in extreme Vergangenheit, aber er unterliegt keinen Erinnerungskategorien, auch dann keinen, wenn er mit dem Zustand vor der Geburt als identisch erklärt wird. Der Tod nach seiner anderen, durchaus problemreich bleibenden Seite (als Definitivum in einer Welt, worin es mehr Fragmente als Definitiva gibt) sträubte sich jedoch nie, trotz wie wegen der härtesten Gegen-Utopie, die er in realitate darstellt, einer Menge Schwärmereien und Ahnungen Platz zu geben. Er sträubt sich, wegen der fehlenden Kontinuität mit dem bisherigen Leben, den Kategorien wissenschaftlich-konkreter Utopie Platz zu geben; doch eben Zukunftsraum, Ausgebärungsraum unseres Kerns hat er hypothetisch die Fülle. In diesem ganzen Gebiet sind vorerst nur Fragestellungen möglich, äußerstenfalls ist eine Vermutung möglich, daß der Tod im Dunkel des gelebten Augenblicks eine philosophischeWurzel hat, ja daß beide die gleiche /(1387) Wurzel haben. Das unobjektivierte Daß, das Daß-Sein, aber noch nicht Da-Sein des Existenzgrunds ist zweifellos in der Zukunftsreihe der Treiber des Werdens, also der versuchten Herausobjektivierung des Daß-Seins zum vermittelten Da-Sein; insofern aber ist der in den Prozeß eingehende Existenzgrund als Werdegrund auch der Grund der Vergänglichkeit. Und zwar so lange und so weit, als der Augenblick sich nicht haltbar objektiviert, als sich das Daß des Existierens nicht selbst realisiert hat. Weil aber der zentrale Augenblick unseres Existierens sich überhaupt noch nicht in den Prozeß seiner Objektivierung und, schließlich, Realisierung begeben hat, deshalb kann er selber freilich nicht der Vergänglichkeit unterliegen. Ganz unabhängig von der weitergehenden, vorerst unentscheidbaren Frage, ob Dunkel des gelebten Augenblicks und Tod die gleiche Wurzel haben, nämlich noch involviertes Daß-Sein ohne Da-Sein; unabhängig davon hat zweifellos die prozessuale Ausbreitung dieses Dunkels als Vergänglichkeit denselben Inhalt. Kronos verschlingt seine Geburten, denn die echte ist noch nicht heraus, das »Verweile doch, du bist so schön« noch nicht erschienen. Doch eben auch: der nicht in den Prozeß getretene Kern unserer Existenz trifft den Prozeß mit seinen Vergänglichkeiten nicht an, wird folglich auch von ihnen selber nicht angetroffen. Ein in sich unmittelbar Verschlossenes, ein Sein, das nicht im Da-Sein steht, kann den Tod als andere Art dieser Involutio zum Nachbar haben, aber den Tod als Vernichtung eines Da-Seins nicht zum Schicksal. Und würde sich der noch verschlossene Kern unserer Existenz aus seiner Unmittelbarkeit öffnen, würde er gleichfalls in den Prozeß oder die Evolutio eintreten, so würde er eben in keinen Prozeß mehr eintreten, einzutreten haben. Denn die Sache selbst wäre dann heraus, die tiefste noch nicht bewußte, noch nicht gelungene Sache; so gäbe es keinen Anlaß zum Prozeß mehr, mithin auch keine mit dem bloßen Werden stets verflochtene - Vergänglichkeit. Damit vereint sich ein anderes Licht, das unscheinbarste und stärkste aller bekannten. Es beleuchtet zwar das Dunkel des gelebten Augenblicks nicht, doch es bezieht sich darauf hinreichend genau. Erlebnisse (noch nicht mehr als diese) finden sich vor, worin ein in allen öffentlichen Zusammenhängen fast Nebensächliches plötzlich beeindruckt, als wäre darin ein erster Blick /(1388) des Daß. Oben in der
»Grundlegung« (Seite 350 ff.) wurde dieser Punkt bezeichnet, als der des Staunens schlechthin. Dergleichen kann bereits die Art sein, wie ein Blatt im Wind sich bewegt, das so Gemeinte kann sich aber auch mit bekannteren, höheren Inhalten füllen. Mit dem Lächeln eines Kinds, dem Blick eines Mädchens, der Schönheit einer aus dem Nichts aufsteigenden Melodie, dem schnöden Blitz eines seltsamen, nirgends recht zugehörigen Worts. Doch ist dies Höhere nicht notwendig, um die so erscheinende Symbolintention des Tua res agitur zu erregen und zu erfüllen. Sie ist das tiefste Staunen, ohne alle Ablenkung, oder das Element eines Eigentlichen in Gestalt seiner in sich selbst widerhallenden Frage. Das hier Gemeinte und Einschlagende ist bei der Durchforschung des antizipierenden Bewußtseins als Gestalt der absoluten Frage erschienen; sie bezeichnet die letzte aller Betroffenheiten und ihrer künftigen Archetypen. Diese letzte Betroffenheit ist schwebend, doch hat sie unzweifelhafte, obgleich noch äußerst schmale Korrelate der Landung für sich. Es zeigt sich ein Ort des in sich selbst einschlagenden Existierens, ein Ort der nüchternen, gleichsam alltäglichen Mystik, das heißt jener, die kein «höchstes Objekt« braucht, um ins Ende zu sehen, sondern im Gegenteil ein nächstes, ein besonders nahes. Das Nächste eben ist sich der Kern des Existierens selbst, als Keim des Noch-Nicht-Gelungenen; dieser füllt den menschlichen Augenblick, den unbekannten, sich zuweilen nur annähernden Augenblick des Menschen. Das «Verweile doch, du bist so schön« zeigt unter den mancherlei so leisen wie gewichtigen Leuchtzeichen, worunter es siegen könnte, nun auch sein ernstestes: Index des Non omnis confundar zu sein. Gerade auf Grund der Fähigkeit zum positiven Staunen und dessen, was es in der objektiven Tiefe, im schmalst-zentralen Latenzlicht ihrer wiedergibt, lebt in jeder Phänomenologie des Non omnis confundar eine rätselhafte, aktuell oft gar nicht gedeckte Freude; sie entspringt großer Gesundheit, von unten an bis oben hinauf, und gibt dem Bewußtsein einer utopischen Glorie im Menschen Raum. Und die positive Gestalt der absoluten Frage ist dergleichen allemal eine Glücksgestalt, keine brausende, durchaus nicht, sondern eben eine unscheinbare, flüchtige, noch unbenennbare; sie schließt sich trotzdem an diese /(1389) Glorie an, als Schlichtheit ihrer Tiefe. Genau nun diese Freude und diese Staunensgestalt wollen dem Tod mit sonderbarer Gewißheit entgegensehen: nicht nur als einer Reise äußerster Ordnung, sondern als einer Befreiung gerade des - Lebensüberschwangs. Pathos des in der absoluten Frage angenäherten Augenblicks spürt in dessen Dunkel bereits einen neuen Tag und ein neues Ufer, zu dem er lockt: kein transzendentes Ufer, sondern das immanenteste selbst. Der Tod, welcher als individueller wie als ferne Möglichkeit kosmischer Entropie dem zukunftsgerichteten Denken als absolute Zwecknegation begegnet, der gleiche Tod geht nun, mit seinem möglichen Zukunftsinhalt, in die Endzuständlichkeit, Kernzuständlichkeit ein, welche von noch ungedeckter Freude und den Latenzlichtern des Eigentlichen beleuchtet wird. Der Tod wird daran nicht mehr Verneinung der Utopie und ihrer Zweckreihen, sondern umgekehrt Verneinung dessen, was in der Welt nicht zur Utopie gehört; er schlägt es weg, so wie er sich selber vor dem Non omnis confundar der Hauptsache wegschlägt: im Todesinhalt selber ist dann kein Tod mehr, sondern Freilegung von gewonnenem Lebensinhalt, Kern-Inhalt. Das ist eine erstaunliche Wendung, eine, welche der Zukunft gerade ihre finsterste Position phänomenologisch umgeht, obzwar - wie überflüssig zu betonen - noch keineswegs real besetzt. Aber nicht nur ein Vorgefühl unserer Fähigkeiten, sondern der fundierte Schein einer Erfüllung hat hier Platz. Der Platz ist bezeichnet durch das schlechthin paradoxe Dur im Trauermarsch, und sein Licht ist das Lux luceat eis, als Wunschkonjunktiv einer Gewißheit mitten im Requiem. Gerade deshalb aber, gerade wegen dieses existentiellen oder Musikkorrelats ist der Schein hier mehr als Vor-Schein, blüht er nicht am Horizont, sondern in einer wie immer noch unvermittelten Unmittelbarkeit zentraler Art. Deshalb schlagen auch, in so zahllosen Berichten, Bewußtsein des Vortods (gewiß nie des unberichtbaren Todesaugenblicks selbst) und Bewußtsein einer Verwesentlichung zusammen. Bei Tolstoi sind es fast ausschließlich die großen Augenblicke des phänomenologisch erscheinenden Sinns und des Alles, des Alles wird gut, das er zu enthalten angibt. Hierher gehört immer wieder das Erlebnis des schwerverwundeten Andrej Bolkonskij auf /(1390) dem Schlachtfeld von Austerlitz; sogar das Einheitserlebnis von Karenin und Wronskij am Sterbebett Annas gehört hierher, obwohl es eines von außen ist, ein bloßer Wunsch, so sterben zu können. Oben, bei der Beziehung des Tods zum Dunkel des gelebten Augenblicks, war gesagt worden, daß das Dunkel und sein Kern den Tod (als Involutio) wohl zum Nachbar haben können, aber den Tod (als Vergänglichkeit) nicht zum Schicksal. Eben also der Kern des Existierens hat sich noch nicht in den Prozeß begeben, wird infolgedessen auch von den Vergänglichkeiten des Prozesses nicht betroffen; er hat dem Tod gegenüber den Schutzkreis des Noch-Nicht-Lebendigen um sich. Wäre der Kern selber aber in den Prozeß eingetreten, wäre diese seine Selbst-Objektivierung, schließlich Selbst-Intensivierung und folglich Selbst-Realisierung keine des Prozesses mehr: mit diesem herausgestellten Augenblick wäre das Reich des fressenden Kronos völlig zu Ende. Nirgends ist das Wunschwesen zum Eigentlichen, das nicht Rost und Motten fressen, leidenschaftlicher erschienen als an seinem empirisch härtesten Gegenschlag dem Tod, und nirgends freilich hat es zugleich so
transzendente Gegenbewegungen hervorgerufen, Verschlingungen der Utopie mit Religion. Konnte Utopie in Religion landen, erschien das mit Gott Bezeichnete als höchstes Leben, als Objekt des höchsten Wunschs? Zweifellos, soweit abstrakte, gar mythische Utopie trieb und getrieben worden ist; sie lebt vom Himmel. Die großen Menschheits-Religionen waren dem Willen zur besseren Welt oft seine mißbrauchende Vertröstung, lange aber auch sein geschmücktester Raum, ja sein ganzes Gebäude. In der nicht mehr abstrakten, in der konkret-vermittelten Utopie hat sich jedoch, wie am Todesbild zuletzt sichtbar, die Transzendenz behoben: eine Andacht zur Menschenbefreiung und der ihres neuen Daseinsraums ist da; außer diesem ist keine da. Statt des Blicks nach oben entspringt einer hinein in den Ursprung, vorwärts in den Prozeß und in die Identifizierung der Menschen als Ursprung zum guten Ende. Der Tod gehört dann zu diesem Prozeß, aber nicht zu den Subjekten, aus denen der Prozeß erst kommt und auf deren Identifizierung er gerichtet ist. Item erstens: Der Kern des Existierens ist, als noch ungeworden, allemal exterritorial zum Werden und Vergehen, von /(1391) welch beiden unser Kern eben noch gar nicht erfaßt ist. Item zweitens: Der Kern des Existierens, wäre er geworden und darin zugleich, als herausgebracht, gutgeworden, so wäre er in dieser Gelungenheit erst recht Exterritorialität zum Tod; denn dieser selbst wäre mit der prozeßhaften Unzulänglichkeit, wozu er gehört, abseitig und abgestorben. Die Utopie des Non omnis confundar liefert und gibt der Negation Tod jede Schale zum Knacken, aber sie gibt ihm nur die Macht, die Schalen um den Subjekt-Inhalt aufzuknacken, der, wenn er nennenswert heraus, gar wenn er gelöst und bestimmt wäre, keine Erscheinungs-Schale mehr wäre. Wo immer Existieren seinem Kern nahekommt, beginnt Dauer, keine erstarrte, sondern eine, die Novum ohne Vergänglichkeit, ohne Korrumpierbarkeit enthält. Erst wenn der Prozeß des sich herausobjektivierten, zu seinem Eigentlichen sich materiell entwickelnden Agens zu einem absoluten Umsonst gekommen wäre, würde der Tod den Kern der Natur treffen, der Menschen im Herzen ist. Er hätte dann erst die Macht darüber, die er über den Lebensüberschwang im Menschen, als das noch Ungetane, nicht hat. Derart erfüllt sich Epikurs altes Wort, daß, wo der Mensch ist, der Tod nicht ist, und wo der Tod ist, der Mensch nicht ist. Ja der Satz von der währenden Nichtbegegnung beider erfüllt sich in einem viel tieferen Sinn, eben in Ansehung des noch ungeborenen, also auch der Gruft unzulänglichen Grundimpetus, der in den Menschen, wenn auch verschieden stark, konzentriert ist. Kindheit und Zukunft werden in ihm nicht weniger, noch jenes überzählige und ungemessene Dasein, das sein Resultat nicht dahin hat. Non omnis confundar, noch unsichtbar, betrifft in diesem glühend-dunklen Kern letzthin aber vor allem das potentiell Adlerhafte der menschlichen Materie; diesem Empor zum Alles ist noch am wenigsten, solange die Welt geht, das Nichts gekommen. Ist nicht die ganze Ewigkeit mein? fragte Lessing; mindestens gilt dieser seelenwanderische Anspruch für das intensive Mein des Menschen in der Welt, das noch nicht sichtbar geworden ist. /(1392) 53
WACHSENDER MENSCHEINSATZ INS RELIGIÖSE GEHEIMNIS, IN ASTRALMYTHOS, EXODUS, REICH; ATHEISMUS UND DIE UTOPIE DES REICHS Sieht man lange ins Dunkel, so ist immer etwas darin. Yeats Ei ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht dessen, das man hofft, und nicht zweifelt an dem, das man nicht sieht. Hebraerbrief 11, 1 Was der Mensch selbst nicht ist, aber zu sein wünscht, das stellt er sich in seinen Göttern seiend vor, ein Gott ist der in der Phantasie befriedigte Glückseligkeitstrieb des Menschen. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion Der Glaube an das Jenseits ist der Glaube an die Freiheit der Subjektivität von den Schranken der Natur - folglich der Glaubt des Menschen an sich selbst. Feuerbach, Das Wesen der Religion Jene, welche die Christen beschuldigten, Rom mit Feuerbränden in Trümmer gelegt zu haben, waren Verleumder, aber sie erfaßten die Natur des Christentum weit richtiger als jene unter den Modernen, die uns erzählen, die Christen wären eine ethische Gemeinschaft gewesen und langsam zu Tode gemartert worden, weil sie den Menschen erklärten, sie hätten eine Pflicht ihren
Nächsten gegenüber zu erfüllen, oder weil ihre Milde sie leicht verächtlich gemacht hätte. Chesterton, Der unsterbliche Mensch Die Kritik (der Religion) hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. Marx, Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie
I EINFÜHRUNG In guter Hand Die Angst vor nichts und wieder nichts ist blind. Sie sieht überhaupt nicht, von wo der Schlag, wenn er kommt, herkommt. So /(1393) fühlt sich der Mensch, der Spuk fürchtet, von allen Seiten, von vorn, hinten, rechts, links, oben, unten zugleich preisgegeben. Und was noch so harmlos scheint, aus diesem kann plötzlich Schreck vortreten, unmenschlicher. Aber ebenso gruftnahe, ebenso nicht geheuer bleibt der Spuk, wenn er als freundlicher zu erscheinen scheint. Auch der Mensch, der sich in guter Hand fühlt und ihr die seine reicht, kann schaudern, wenn das, wozu diese Hand gehört, etwa gestorben sein sollte. Er spürt schwere Luft, und noch so freundliches Licht um ihn, vor ihm, über ihm bleibt gespenstisch. Es wölkt und raucht, der Blick darauf ist sowenig durchsichtig wie das Andersartige, das er zu erblicken meint und nicht erblickt. Daher verschwindet auch das Grauen, das den Verspukten füllt, im Frommen nie ganz, es wird Scheu. Und diese hält sich selbst dort, wo sich der Fromme nicht als hilflos oder schlechthin abhängig zeigt. Sondern wo er sich in den seltsamen Strom hineinwagt, ja wo er sich, durch zauberische Künste oder als Auserwählter, selber wichtig macht. Der Fromme steht dann gleichsam gerüstet da, er ist kein überfahrener Wurm mehr, er ist mindestens ein Knecht seines daherfahrenden Götzen geworden. Doch auch dann, auch in diesem Gemisch von Auf-der-Hut-sein und Hüter, gibt es noch Stürmen und Strahlen. Der Gläubige kann verständig sein, ja, in seinen niederen Ausgaben, das Seine lächerlich-banal darstellen und so auch darüber sprechen. Aber es gehört zu diesem mit Scheu erfüllten Strom, daß er, bis auf weiteres, nie ganz übersichtlich wird. Wiederum Irre, okkulter Pfad Es überrascht nicht, auch hier besonderen Träumern zu begegnen. Sie sind durchlöchert genug, um ungenormte Zustände in sich eintreten zu lassen. Das Verrückte hat gerade die Grenzen des üblichen Alltags so verrückt, daß es das Ungewöhnliche leicht mit Alltag überzieht, und umgekehrt. In das so zerspaltene Ich geht nicht nur Sündengefühl von ganz verschollener Stärke ein. Hier setzt sich, als einverleibtes Über-Ich, auch ein Stolz, eine Sicherheit von kopiertem Heiland fest, wie sie Gesunden, selbst bei höchstem Übermut, nie gelingt. Kein falscher Demetrius hält lange durch, aber ein falscher Jesus unter Irren durchaus. Und /(1394) wenn sie Frauen sind, mindestens so, daß sie als seine Maria umhergehen. So gab es Gottesgebärerinnen im Mittelalter, so gab sich noch in unserer Zeit Johanna Southcott, eine englischeBäuerin, als die in 0ff. Joh. 12 verheißene Schwangere aus. Die Gläubigen stifteten ein goldenes Bett, auch Wiege, Linnen, Badeschüssel, und all das war besser als im Stall von ehemals. Aber die Heilandsmutter starb in dem Goldbett, bevor es ein Wochenbett geworden war, und als der Leib seziert wurde, um die kostbare Frucht zu retten, war er leer. Dafür freilich fehlte anderswo solch Unerwartetes wie ein weiblicher Jesus nicht, in geglücktem Wunschtraum, der das Teuerste für nichts kauft. Denn die englische Büglerin Anna Lee brachte sich selbst als Christus zur Welt, als dessen weibliche Wiederverkörperung, und wurde geglaubt. Um 1760 zog die Heilandin in die englischen Kolonien am oberen Hudson, es entstand jedoch um sie, ihrem früheren Beruf gemäß, nicht mehr als eine heilige Bügelei und ein Jerusalem der blitzblanken Küche. Statt der viel zahlreicheren und gewiß auch ergreifenderen männlichen Kopisten Christi - einer ihrer letzten war der italienische Kutscher David Lazaretti, dem das sabinische Landvolk eine eigene Kirche gebaut hat -, statt dieser mannigfachen Renaissancen einer bereits geborenen, erscheine hier das relativ originale Bild zweier Heilsbringer besonderer Art, von deren Abnormität her fast sogar eine neue Religion unternommen wurde. Der eine war allerdings kein einwandfrei Besessener, sondern, wenigstens an seinem Anfang und Ende, ein halber Betrüger: Sabbatai Zewi. Gab sich 1648, dann im vermeintlichen Weltuntergangsjahr 1666 als der Messias aus (vgl. Seite 382), ja unterschrieb
seine Erlasse in größtem blasphemischem Stil: «Ich der Herr, euer Gott Sabbatai Zewi, der euch herausgeführt hat aus Ägypten.« Die Juden des Barock, die an ihn glaubten, waren in fieberndem Aufbruch, aber der Gott der letzten Tage trat, als ihm Gefahr drohte; zum Islam über und starb als Türhüter in einem Serail. Viel weniger als Messias und ohne Fallissement, immerhin als «Heiliger der letzten Tage« trat dann im vorigen Jahrhundert ein wirklicher Besessener auf, innerhalb des Christentums stehend und doch darüber hinweg tendierend: Josef Smith, Stifter der Mormonen. Die Legende berichtet über den Start folgendes: Josef Smith /(1395) fand in einem Hügel um New York eine uralte Truhe, sie enthielt Goldplatten, die Platten waren mit geheimnisvollen Zeichen beschrieben, Smith entzifferte sie mit Gottes Beistand, und zum Vorschein kam die einzig echte, die erzamerikanische Bibel, das «Buch Mormon«. In dem Buch war geschrieben, daß das jüdische Levitentum schon zur Zeit des Turmbaus ausgewandert war, Jesus aber hat bei den amerikanischen Leviten geweilt, genau zwischen Grablegung und Himmelfahrt, also lange vor Kolumbus, und ihnen die wahre Offenbarung gegeben. Der jüdische Patriarch Mormon hat diese Offenbarung damals in ägyptischer Sprache (Smith nennt sie «reformed Egyptian«) eingemeißelt und jenem Hügel im Staat New York anvertraut, als einer Art von geistlichem Klondyke. Der Inhalt des Schatzes - ein geographisch-utopisches Motiv kehrt mit ihm wieder (vgl. Seite 882), das Motiv des vergrabenen Himmelsbriefs oder Mysterienbuchs, auf seinen ihm vorbestimmten Entdecker wartend -, der Inhalt des Schatzes also ist selbst wieder eine Verheißung: die des «Go West young man« auf chiliastisch. Das Kanaan, wie es Christus gemeint, lag danach im wilden Westen; der Mormonenzug, eine der größten Wanderbewegungen der Neuzeit, hat derart um den großen Salzsee sein neues Zion errichtet. Das heißt, ein mohammedanisch-puritanisches Misch- und Geschäftsgebilde entstand, gewürzt durch Vielweiberei, geheiligt durch Goldplatten. Der Basis gemäß sah Neu-Zion bald auch nicht himmlischer drein als Chicago, die Heiligkeit der letzten Tage deckte sich mit dem, was man im Geschäftsleben ein glattes Ultimo nennt. Salt Lake City mit Tabernakel und heiligem Safe, worin die Goldplatten ruhen, wurde derart Geschäft wie gewöhnlich, und riesiger Narrenglaube wurde nur der Umweg dazu. Diese Art Umweg war aber nötiger als früher, um versiegelte Himmelsbriefe wieder aufzufinden und Zehntausenden glaubhaft zu machen. Eduard Meyer, in seinem Mormonenbuch, hat Josef Smith mit Mohammed verglichen: daran ist etwas Wahres, doch eben nur insofern, als ein Stück Irrsinn heute den Fingerzeig für die geglaubte Stärke früherer religiöser Wunschbilder gibt, die selber, an Ort und Stelle, den Wahn mehr nur im Gefolge hatten. Anders zugleich als ärztlich, sozial, technisch, doch unsäglich weltverbesserisch auch hier mengt sich Wahn /(1396) zuletzt in religiöse Wunschträume ein. Hielt zudem in platten Zeiten oder Ländern, wie im neunzehnten Jahrhundert und in Amerika, spezifische Klüfte im Wunschtraum offen und das Siebenschläfermärchen, das in diesen Klüften auf seinen Tag wartet. Nicht zu vergessen, was die schlechte Seherei hierin leistet. Auch sie will mit wirren Mitteln sich in Geheimnisse drängen und tut es. Zu herabgesetztem Preis werden diese erworben und sehen danach aus, Semmelköpfen angepaßt und doch zuweilen noch verschollen wunderlich. Okkulte Schmöker aus dem vorigen Jahrhundert gehören hierher, wie Bulwers «Zanoni«. Dann, auf Swedenborgisch, Du Prel, mit einer »Magie als experimenteller Naturwissenschaft«, auch Franz Hartmann, kleinbürgerlich-paracelsisch. Dann völlig verwildert, aber atavistisch-interessant, die Blavatzky, mit ihrer »Entschleierten Isis«. An der Spitze der »Erkenntnis höherer Welten« etablierte sich der okkulte Journalist Rudolf Steiner, eine Merkwürdigkeit für sich. Eine mediokre, ja unerträgliche Merkwürdigkeit und doch wirksam, als würde hier noch die Mistel gebrochen, als gärte, wässerte, raunte, schwätzte eine Art verlottert Druidisches auf Zeitungspapier. Ob das Geschwätz und das tiefe Niveau für diese Art »Einweihung« oder okkulte Belebung notwendig sind, steht dahin. Es gibt einige, obzwar sehr wenige Schriften aus dem Steiner-Kreis, etwa Poppelbaums biosophische Studie »Mensch und Tier«, auch etliche chemisch-astrologische Gewagtheiten mit nachgemachter Alchymie; überall sonst aber überwiegt der bloße Chor aus hunderttausend Narren. Trotzdem erscheint zuweilen auch ein Schuß medialer Anlage, eine atavistische Fähigkeit zu parapsychischen Erscheinungen, vor allem zu atavistischem Hellsehen. Daß es dergleichen Erscheinungen und Anlagen noch gibt, kann nicht bezweifelt werden, desgleichen nicht, daß sie in Typen wie der Blavatzky und dem lunatischen Steiner recht hoch gestiegen sind. Das atavistische Hellsehen verband sich, gleichsam unterirdisch, mit mythischen Bräuchen und Kulten, mit Weltbildern, die auf einer anderen Bewußtseinslage als der heutigen errichtet worden waren. So konnten durch Steiner allerdings Elemente und Geheimlehren hie und da berührt werden, die von außen her, aus dem Bewußtsein von heute her fast verschlossen sind; auch bei noch so philosophischer Einfühlung. /(1397) Zuweilen besaßen Typen dieser Art, solch schale Meermädchen oder Minotauren aus Dreifuß und Journalistik zugleich wie die Blavatzky oder wie Steiner, in ihrem Bewußtsein ein Steigrohr aus dem Unbewußten, aus Längstvergangen-Nichtvergangenem. Oder wie Tiefseefische, verzerrt und abgeplattet, doch immer noch in einer Zwielichtform, wie sie der Mythenforschung schwer zugänglich, so kamen alte
Unter-, Zwischen-, Hinterwelten verrottet hoch. Vermischt mit absonderlichen Korrespondenzen quer durch die Welt; unter Aufhebung der üblichen Verbindungslinien, mit sozusagen verrückten Grenzsteinen. Ein Beispiel hierfür ist etwa Steiners Verfolgung des «Sphinxhaften, das immer noch unangenehm fragend ansieht«, durch allerhand Volkssagen und »Naturerscheinungen« hindurch, bis zu der des »panischen Schrecks«. Oder gar eine atavistisch-sympathetische Analogie zwischen Uterus, Gehirn und Himmelsgewölbe. Dergleichen (zuletzt noch Paracelsische) Witterungen für vermeinte »Entsprechungen« kommen heute nur noch in solch theosophischen Schmökern vor, in der Gnosis für Mittelstand mit einem Stich. Weniger sympathetisch, mehr zusammengelesen im literarischen Sinn sieht freilich der Unsinn über Weltentwicklung aus und übers Geschäft der Götter in ihr. Da gibt es nicht bloß religiöse Wesenheiten überall, so daß einem die Haut schaudert, wenn man eine Blume blühen sieht oder gar ein Gewitter losgeht; so voll ist alles von Elementargeistern. Vor allem ist das ganze Planetarium zu einer religiösen Anstalt verwandelt, zu einer Lehranstalt, worin Götter bilden und erziehen, den jeweiligen Zeiten vorsitzen und den Himmelskörpern, wie einst im astrologischen Nonsens. Dann aber wieder, um die Planetenleitung durch modernere Erziehung zu ergänzen, fehlen im Unsinnsbau solcher nicht atavistischen, sondern zusammengelesenen Mythos-Kosmologie - Haeckel und die Entwicklungsgeschichte gleichfalls nicht, ja: Entwicklungsgeschichte plus Götter (auf dem Katheder der einzelnen Stadien) machen erst Steiners Weltgymnasium komplett. Halte man sich statt dessen aber an das atavistische Heilsehen solcher Typen und an die kuriose Erfrischung, die es faul gewordenem, doch nicht von Anfang an faul gewesenem Zauber verleihen mag. Halte man sich nicht zuletzt an das Unleugbare, daß solches Zeug streckenweise eine Parallele /(1398) zu dem bildet, was in der Literatur Kolportage ist. Wie diese Bedeutungen lebendig erhalten hat, wo nicht vorbereitet, welche in der guten Literatur kaum vorkommen, so gibt die theosophische Kolportage Spannungen, Zwischenwelten, selbst Archetypen übersehener Art; sie kann zumindesten dergleichen geben, bei vorsichtigem und sozusagen surrealistischem Gebrauch. Und das gerade deshalb, weil und sofern die theosophischen Atavismen solche sind, weil sie sich nicht so vornehm geben wie die in vielem Betracht kaum weniger hanebüchene - katholische Jenseits-Mythologie. Dagegen taugt ein Atavistisches wie ein Kolportagehaftes an mancher Theosophie gerade wegen ihrer Minderwertigkeit, gerade weil sie als Kolportage sich nicht geniert, zu mittelbarem Gebrauch, Einsicht in mythische Archetypen, wild-mysteriöse Buntheit betreffend. Der Wundermann gehört zu Religion, und wer ihn ausläßt, wird nichts endgültig Zureichendes über sie erfahren. Er hat im Wunsch- und Traumraum des Unbedingten, All-Überbietenden, der auch nach Abzug der Religionen übrigbleibt, keinen Platz mehr, doch noch an dem Rand dieses Raums ist alles andere zuständiger als zivilisierte Gefühle, staunensfrei sterilisierte Definationen. Selbst ein so fragwürdiger Wundermann wie Appolonios von Tyana ist der religiösen Sphäre näher als Melanchthon, erst recht ist ihr ein Jakob Böhme unsäglich näher als Schleiermacher. Die theosophische Kolportage hat mit den Mysteriösen, gar mit den christlichen Mystikern alter Zeit nicht einen einzigen Punkt ernstlich gemein. Dennoch kann sie zeigen, wo Barthel einmal den Most geholt hat und wo so manche Hybris ins nicht für sie Gebaute einbrach. Wo sich Rabbi Löw mit dem Archetyp Astarte herumschlug und wo die Hüter der Schwelle gefürchtet wurden, kurz, wo das Subjekt gerüstet war, wenn es hinter den Vorhang in geglaubte Überwelten eintrat. Mit »Cbristusimpuls« hat das nichts gemein, wohl aber mit den Atavismen und Gärbildern, den Zwischenreichen und Götzenbildern, die ihm vorhergeben. Auch hat der junge Goethe den Faustzauber durch die Rosenkreuzerei sich näher verstehen gelernt als etwa durch Nicolai. /(1399)
Häuptling und Zauberer; jede Religion hat Stifter
Nicht das einzelne Kind malt, sondern eine allgemein kindliche Weise in ihm. Und nicht der Mann aus dem Volk singt, sondern gemeinsame Not oder gemeinsamer Frühling singen aus ihm. Es ist die Gruppe eines Kindlichen oder eines Volkshaften, welche hier in Einzelnen lebt und durch sie hindurch sich äußert. Ein sozusagen begabtes Ich ist für die Erzeugung von Kinderbildern, für die Bildung von Volksliedern nicht notwendig. Ja diese ausdrucksvollen Gebilde verschwinden oder lassen nach, wenn, durch Geschlechtsreife hier, durch individuelle Wirtschaftsweise dort, das Gruppenlicht nicht mehr so allgemein-wirksam um den Kopf brennt. Die Entstehung eines Ich durch Geschlechtsreife hier, durch individuelle Wirtschaftsweise dort ist gewiß eine sehr verschiedene. Immerhin hebt sich im physiologischen wie im ökonomischen Fall ein in sich Abgesondertes, Eigenwilliges von bisheriger Gruppenseele ab. Diese Gruppenseele ist zweifellos auch in religiösen Bewegungen, Bildungen wirksam: doch in ihnen nun tritt schon lange vor der sogenannten fortgeschrittenen sozialen Differenzierung eine Art Persönlichkeit sui generis hervor. Glaubensbewegungen sind oft, ja in der Regel mit Antrieben unter oder außer dem Ich verbunden gewesen, mit Krampf, mit Panik,
mit Besessenheit: trotzdem setzt die Gruppe hier einen Abgesonderten, einen Führer heraus. Primitive, die noch kaum Arbeitsteilung und keinesfalls Adel entwickelt haben, bei denen der Häuptling nicht hoch über den Stamm ragt, verehren doch den Medizinmann. Unter den urtümlichen Gentes besitzt der Häuptling zwar Autorität, doch keinen Nimbus, er ist primus inter pares, während der Zauberer auch in einer noch völlig genossenschaftlichen Gemeinschaft als von anderer Art gilt. Die geheimnisvollen Kräfte, die ihm zugeschrieben werden, die abseitige und oft sehr mühevolle Ausbildung, die er als Jünger der Geisterwelt erfahren hat, lassen ihn als Einzelnen und als Einsamkeit erscheinen, bereits vor jeder sozialen Abstufung. Die Sonderstellung des Zauberers, dann des magischen Lehrers ist folglich von der übrigen sozialen Differenzierung unabhängig; von daher das sehr früh auftretende magische Individuum. Als welches eben, kraft seines anerkannten /(1400) eigenen »Charisma«, nicht auf den Platz warten mußte, den sonst, in anderen Betätigungen, erst die ausgebildete Klassengesellschaft, vorzüglich die beginnend und noch aufsteigend kapitalistische, dem Personhaften öffnet. Und daraus ergibt sich als weitere wichtige Eigentümlichkeit: Keine Religion hat ganz namenlos, das ist ohne einen-schwächer oder stärker-betonten Urheber begonnen. Volkslieder, selbst Heldengesänge können auch ohne die Übertreibungen, welche dem die Romantik gab, anonym entstehen, Religionen dagegen werden von einem Benannten mindestens geordnet und, wenn sie neu entspringen, gestiftet. Heilige Männer werden an den Anfang des Glaubens gesetzt, ja sie haben nun nicht nur Charisma wie primitive Zauberer oder auch spätere Wundermänner, sondern Produktivität. Darin stehen auch die älteren Typen, als die überwiegend Ordnenden, sind Stifter, in schwächerem Grad, auch ohne neuen Gott. Ein solch eindringlicher Kenner wie Frazer findet keine Ausnahme von dem Grundsatz, daß alle großen Religionen von eindrucksvollen Männern gestiftet worden sind (vgl. The Golden Bough, 1935, IV 2, p. 159 seq.).Nun zeigen sich freilich bemerkenswerte Staffelungen dieses Eindrucksvollen, solche der geringeren oder größeren, der verwischteren oder profilierteren Dichte, womit Legende einen genius religiosus überliefert hat. So etwa wirkt Kadmos matt, Orpheus neblig, Numa Pompilius allzu weiblich, es tritt wenig Gestalt mit ihnen vor. Sie bezeichnen einen Anfang, und er wird an sie geheftet, aber sie stehen neben ihren Gesichten, ihren selber nicht recht menschlichen. Und die mythischen Urheber der ägyptischen, der babylonischen Religion sind unvergleichbar viel unangreifbarer als Moses oder Jesus. Sie kommen fast ohne geschichtlichen Kern aus, sind bloße Zeichen eines religiösen Anfangs, Moses oder Jesus dagegen tragen ein Gesicht und überliefern, durch alle Legende hindurch, eine unerfindbare, reelle Haltung. Selbst sind sie in den Glauben eingetreten, der ihren Namen trägt, als geschichtliche Personen haben sie einen bisherigen Glaubensinhalt mit ihrem Auftritt verändert. Daß allerdings die mehr ordnenden Urheber der ägyptischen und babylonischen Religion, auch der altchinesischen, altindischen, nicht entfernt so stark hervortreten wie Laotse oder Buddha, gar wie Moses und Jesus: dies widerlegt /(1401) die Regel nicht, daß Religion, zum Unterschied von Volksgesängen und Ur-Epen, Stifter hat. Aus drei Gründen nun sind einige Stifter undeutlicher und auch als selber weniger deutliche überliefert. Und dieselben Gründe geben zugleich an, weshalb das Stiftertum erst mit Moses und Jesus so ganz befreit wird. Erstens liegen die undeutlichen Stifter meist weit in der Zeit zurück, Sage nennt sie, aber umhüllt sie zugleich. Es gibt keine schriftliche Aufzeichnung, die auf Kadmos, Orpheus oder Numa Pompilius zurückginge oder auch nur einwandfrei aus ihren Tagen stammte. Und ohne eine solche werden Urlehrer leicht zu Personen einer Wanderfabel, die von Ort zu Ort läuft und selbst ein ursprünglich ausgeprägtes lokales Gesicht verwischt. Zweitens bleiben Stifter wenig profiliert, wenn sie sich, als überwiegende Ordner und Formulierer, wesentlich innerhalb des Brauchs gehalten haben. Wenn sie keinen Punkt bezeichnen, wo die bisher laufende Welle sich bricht, wo Entgegensetzung zum bisherigen Kult geschieht, kurz, wo ein neuer Gott gelehrt wird. Dafür ein Beispiel: die Ägypter zeichneten zwei sehr feierliche Stifter ihres Glaubens aus, Imhotep, einen Totenpriester zu Beginn der dritten Dynastie, und vor allem den göttlichen Schreiber Thot. Beide bleiben Legende, Thot ist sogar fast vollkommen mythisch; beide ragen nicht um Haupteslänge aus der religiösen Tradition, die sie bezeichnen. Hätte jedoch ein anderer ägyptischer Verkünder: der Pharao Amenophis IV., Prophet eines einen und einzigen Gotts, des Sonnengotts, mit seinem solaren Monotheismus reüssiert, dann wäre die Umbruchstelle vorhanden und Ägypten besäße einen profilierten Religions-Urheber, nicht nur einen abgeschwächten oder mythischen. Drittens freilich hätte auch Amenophis IV., der Ketzer, schwerlich die Profiliertheit von Moses und Jesus erlangt; und zwar aus diesem letzten Grund, weil Naturreligion, wie in Ägypten, Babylon und noch in den Veden vorhanden, die Stifterfigur eo ipso weniger manifest macht. Denn wo die Götter als Naturwesen erscheinen, wo sich im Himmel Menschliches nicht bedeutend eingetragen hat, kann auch ein Mensch als Heilslehrer den Himmel nicht deutlich betreten. Er verschwindet hinter natur-mythischen Bestimmungen oder wird gar durch sie ersetzt: der babylonische Götterkünder Oannes /(1402) tritt so nur als Fischmensch aus dem Meer; Thot, der
sagenhafte ägyptische Urlehrer, fällt zusammen mit Thot, dem Mondgott. Ja es ist der nicht ganz durchbrochene Hintergrund Naturreligion oder, bei Buddha, der große -Akosmismus, als an gleicher Stelle wie der Kosmos, wodurch Laotse und selbst noch Buddha, so profiliert er ist und so mächtig er in seiner Frohbotschaft auftritt, um etwas mythischer scheinen oder wieder mythisches werden als Moses und Jesus. Ein Stifter freilich ist überall, nur wird er dort erst ganz scharf manifest, wo er gegen überliefertes Brauchtum, gegen menschenleere Naturreligion seinen neuen Gott setzt; vor allem wo er sich mit seinen Gläubigen eifernd an ihn heftet. Dieses Sinns treten erst Moses und Jesus hervor, gemeinte Retter selber, nicht nur mythische Lehrer, nicht nur Fingerzeige der Rettung. Zwar wird der Name des Orpheus, auch der Name der naturmythischen Ordner-Stifter, noch bis herauf zum kosmomorphen Konfuzius, gar bis Zoroaster, dem Messias des Astrallichts, mit den Göttern zusammen genannt, doch er bleibt vor ihnen zurück, verhält sich äußerlich zu ihnen. Der dionysische Stifter verschäumt vor seinem Naturgott, der astralmythische verschießt vor ihm, und selbst Buddha, die große Selbsterlösung, versinkt am Ende im Akosmos Nirwana. Moses dagegen zwingt den Gott, mit ihm zu gehen, macht ihn zum Exoduslicht eines Volks; Jesus durchdringt das Transzendente als menschlicher Tribun, utopisiert es zum Reich. Aber ob profiliert oder nicht, ob Natur und Transzendenz durchdringend oder nicht: Heilsworte werden allemal von Menschen gesprochen. Und Menschen sprachen in den Götter-Hypostasen allemal nichts anderes als ersehnte Zukunft, eine in diesen illusionären Hypostasen selbstverständlich nur selber illusionär erfaßbare. Wobei diese Illusion in einigen Beschwörungen an die Götter, gar an das Gottesreich, endlich zu kommen, eine solche sein konnte, welche gerade die Gegebenheit und ihre Ideologie, statt mit ihr zu versöhnen, als Blendwerk ansah und mit ihr keinen Frieden schließen ließ. Doch zu dieser Protestation, als zu einer rufenden, utopischradikalen und humanen, gehören Propheten, nicht Formulatoren eines Brauchs, auch wenn die Propheten wieder nur eine neue Art Gottillusion an Stelle der alten gesetzt haben. Bei Moses und bei Jesus enthielt diese neue Illusion zwar /(1403) ebenfalls Unwirklichkeit, aber außer der schlechthin mythischen zuweilen auch eine ganz andere Art Unwirklichkeit, die eine des Seinkönnens, mindestens Seinsollens darstellen mag und so als Anweisung auf utopische Realität verstanden werden konnte. Es besteht also ein Funktionszusammenhang zwischen wachsendem Selbsteinsatz der Stifter ins religiöse Geheimnis einerseits und der eigentlichen Verkündigung, dem menschlich gewordenen Wunderabgrund auf der anderen Seite, auf der der Frohbotschaft. Und der wachsende Selbsteinsatz gründet sich schließlich in jenem spezifischen Überschreiten, womit jeder religiöse Akt beginnt und worin der produktive alle anderen Ausfahrten oder Vor-Scheine hinter sich läßt. Dies spezifische Überschreiten erweist sich, je reifer Religionen auftreten, als das einer nun allerstärksten Hoffnung, und zwar des Totum einer Hoffnung, das die ganze Welt mit einer ganzen Vollkommenheit in Rapport setzt. Ist die Weise dieser Vollkommenheit, bei wenig hervortretendem oder kosmisch verschwindendem Stifter, eine auswendig und wesentlich astralmythisch gebaute, dann mag sie sich allerdings, so wie sie aus despotischem Auftrag als Herrschafts-Ideologie, ja Herrschafts-Weihung entstanden ist, auch in ihrer Bauart besonders leicht mit sozialer Despotie, auch mit Patriarchalismus verbinden, das ist mit durchgehenden Dependenzen von außen her, von oben herab. Es ist dann nicht erst kirchlicher Kompromiß erforderlich; vielmehr führt die genuine Glaubensstiftung selber, wie in Ägypten und Babylon, auf Herrschafts-Ideologie zurück und hinaus. Die Utopie der Vollkommenheit, so radikal und total sie als religiöse ist, wird hier durch ihren Inhalt zur bloßen höchsten Ideologie. Wo dagegen die Überschreitung, kraft plebejischer Bewegungen, Protestationen, Hoffnungen, kraft prophetischer, durchaus nicht konformer, sondern kontrastierender Stifter, entschieden in Zukunft und ins Totum einer Gemeinde vordrang, konnte die so entstehende Religion nur durch nachfolgende Kirchenkompromisse (oder Schlauheiten der Auslegung) konforme Ideologie werden. Die Predigt Jesu, als eine eschatologische, machte mit dem »vorhandenen Äon« am wenigsten Frieden; ebendeshalb machte sie auch gegen bloßen Lippendienst und Kirchenkompromisse am meisten empfindlich. Es war ihr bedeutend wesentlicher als anderen /(1404) Religionen, Kontrast zu sein, indem sie durchaus als soziale Bewegung unter Mühseligen und Beladenen begann; sie hat diesen Mühseligen und Beladenen zugleich einen Impuls, ein Wertgefühl und eine Hoffnung gebracht, die die bloße Unterdrücktheit nie hätte finden können, mindestens viertausend Jahre hindurch so nicht gefunden hat. Dieser Impuls aber stammt aus stärkster secessio plebis in montem sacrum, hier wurde das Überschreiten in toto endlich - rechtgläubig. Und wenn der Satz gilt: wo Hoffnung ist, ist Religion, dann wirkt das Christentum, mit seinem kräftigen Startpunkt und seiner reichen Ketzergeschichte, als wäre hier ein Wesen der Religion endlich hervorgekommen. Nämlich nicht statischer, darin apologetischer Mythos, sondern human- eschatologischer, darin sprengend gesetzter Messianismus. Erst darin lebt - von Illusion, Gotthypostase, gar Herrentabu abgelöst - das in Religion einzig bedeutbare Erbsubstrat: Hoffnung in Totalität zu sein, und zwar sprengende. Aut Caesar aut Christus: ein anderes Reich geht mit diesem Kriegsruf auf als das der Herrschaft, auch als das des drückend Ungeheuren, in das die
Religion als Mythos, vorzüglich als Astralmythos, ihre apologetischen Beschwichtigungen, ihre noch nicht sprengenden Hoffnungen setzte. Die Stärke gerade einer sprengenden Vollkommenheit ist wachsend und reich gewesen, so auch unleugbar die Tiefe der projizierten Wunsch-Götterbildung, die der Intensität des menschlichen Einsatzes entspricht. Jede Religion hat Stifter, das bedeutet also zugleich: Religion war in ihren Beschwörungen, selbst zuweilen noch unter der Decke und den überwiegenden Ideologien des Herrenund Stern-Mythos, eine allerernsteste Versuchung des Namens umfassender Vollkommenheit. Eine Versuchung aus Elementen des Rauschs oder der Besonnenheit, des Anthropomorphen oder des Kosmos, der prometheischen Empörung oder des hypostasierten Friedens; wobei die Religionen der Protestation mindestens die menschlichsten Projektionen und Hypostasen ins Ungeheure darstellen. /(1405)
Ein Numinoses, auch im religiösen Humanum
Es gibt ein frommes Gefühl, wonach mehreres nicht geheuer ist. Das kann blind machen, aber es kann auch um die Ecke sehen lassen, wo anderes, ungewohntes Leben umgehen mag. Auch der Nicht-Fromme setzt, wenn er kein Plattkopf ist, nicht sein gewohntes Sein und Sehen als Maß der Dinge, die sind und nicht sind. Gar religiöses Gefühl steht schlechthin gegen das freche, selbst gegen jenes gemütlich-liberale, das sich an sich selbst erbaut und noch sein Jenseits als recht verständig und umgänglich denkt. »Ach, wie so gar nichts sind die Menschen«, meint dagegen die Bibel und ist durchaus nicht menschenfeindlich. »Meine Wege sind nicht eure Wege, meine Gedanken sind nicht eure Gedanken«, sagt der Bibelgott und ist hierbei durchaus nicht als Dämon dargestellt. Dieses Entlegene, ja eben dieses Grauen der Schwelle gehört zu jeder religiösen Beziehung, oder sie ist keine. Rudolf Otto hat von hier aus und, wohlverstanden, nur in diesem einen Bezug recht, wenn er das «Ganz Andere« als Zeichen des religiösen Gegenstands angibt und das «Schauernd-Numinose« als Aura des Heiligen. Der frühere Karl Barth hat von hier aus und, wieder wohlverstanden, nur als dieses Antidoton recht, wenn er den hanebüchen illiberalen Satz verficht: «Göttliches spricht ein beständiges Nein in die Welt.« Wenn er lehrt: «Die Wirklichkeit der Religion ist das Entsetzen des Menschen vor sich selbst«, und: «Unendlichkeit, die wir Menschen uns allenfalls zu erdenken vermögen, ist gemessen an unserer Endlichkeit und also selbst nur unendliche - Endlichkeit« (Der Römerbrief, 1940, S.252, S.286). Das als Gott Geglaubte wird hier zwar als völlig unvermittelbarer Despotismus von menschlicher Teilnehmung («Föderaltheologie«) ferngehalten, aber um diesen grotesken Preis wird auch das - Humanum, das Cur Deus homo, vor der Trivialität geschützt, in das es ein allzu umgänglicher Liberalismus gebracht hat. Die Kirche, sagt Barth, hat Gott fort und fort an den Menschen verraten, das ist an die Anschläge und Denkbewegungen undurchbrochener, unüberstiegener Kreatur; so ruft Barth Deus absconditus dagegen auf, als welcher mit dem Gott-Despoten nun doch nicht zusammenfällt. Religion, zuhöchst als christliche, gibt vielmehr aufgewühlte /(1406) Subjektivität und ihren Anteil am Kultobjekt; Barths extremheteronomes Credo freilich sieht aus, als wolle er den Menschensohn als Mittler, also das Christentum selber aus dem Christentum entfernen. Aber trotz dieser ahumanen Groteske, einer, die schließlich auch einen Molochpriester nicht verhindert, ja darin bestätigt hätte, einer zu sein, trotz dieses Mißbrauchs des Tertullianischen und ursprünglich gar nicht dunkelmännischen oder durchaus irrationalistischen Credo quia absurdum enthält Barths Theologie eine bedeutende Mahnung. Denn sie verteidigt fanatisch ein Ehrfürchtiges und eine Sphäre, die gerade im Subjektbezug der Religion so leicht verlorengehen, bis zum faden Psychologismus oder zum Moralin-Ersatz des Bildungsphilisters hinab. Das illiberale Element der Tabu-Theologie kann und muß - nach mächtiger, ihres Humanum mächtiger Entgiftung - zum religiösen oder meta-religiösen Humanismus herübergezogen werden: nicht damit dieser irrational, sondern gerade umgekehrt, damit er nicht dumm werde. Nur am Deus absconditus ist das Problem gehalten, was es mit dem legitimen Mysterium Homo absconditus auf sich habe. Was die Gemeinde in ihrer letzthin angemessenen Sphäre, in einer nicht-psychologisierten, nicht säkularisierten, an Reich enthalte. So wahr es ist, daß das sogenannte Mysterium tremendum zur Ideologie autoritärer Reaktion tauglich sein kann und zu ihrer niederträchtigen Irratio, so sicher bildet die Unübertragbarkeit immanent-gewohnter Kategorien ein erstes Kriterium der religiösen Schicht. Wie wenig reaktionäre Irratio mit diesem Kriterium verbunden zu sein braucht, geht allein schon daraus hervor, daß es auf Dunkelmännerei und auch auf despotischen Theismus keineswegs begrenzt ist, im Gegenteil. Daher sagt der zuverlässig rationale Pantheist Spinoza: »Ferner, um auch von Verstand und Willen, welche man Gott gewöhnlich zuschreibt, hier etwas zu sagen, so muß, wenn Verstand und Wille zu Gottes ewigem Wesen gehören, unter beiden Eigenschaften gewiß etwas ganz anderes verstanden werden, als was man gewöhnlich darunter versteht; denn Verstand und Wille, welche das Wesen Gottes ausmachten, müßten von unserem Verstand und Willen völlig verschieden sein (a nostro intellectu et voluntate toto coe!o differre deberent) und könnten nur im Namen sich gleich sein,
/(1407) nicht anders nämlich, als der Hund, das himmlische Sternbild, und der Hund, das bellende Tier, sich gleich sind« (Eth. 1, Lehrsatz ,7, Anm.). Und entscheidend bleibt: das Ganz Andere gilt auch für die schließlichen Human-Projektionen aus Religion. Das Ganz Andere gibt auch allem, was unter Vergottung des Menschen ersehnt worden ist, erst die angemessene Abmessung der Tiefe. Das Ganz Andere gibt der Hybris des Prometheus jenen wirklichen Himmelssturm, welcher das Prometheische von der Flachheit bloßer Individualität unterscheidet und von der dürftigen Vermenschlichung des Tabu. Das Ganz Andere dringt mit seinem Abgrund in die Hybris Thomas Münzers und macht sie zur Mystik, zur aufbegehrenden, Reich erbenden: »Wie uns denn allen in der Ankunft des Glaubens muß widerfahren, daß wir fleischlichen Menschen sollen Götter werden, durch die Menschwerdung Christi, und also mit ihm Gottes Schüler sein, von ihm gelehrt und vergottet sein.» So enthält dies Numinose im regnum humanum selber statt der entmannenden Kapitulation vor einer schlechthin heteronomen Erhabenheit und ihrem Oben, das als eines gilt, weil der Mensch nicht darin vorkommt, umgekehrt jenes selber ganz andere Ganz Andere, das nicht groß, nicht überwältigend genug von dem, was des Menschen ist, denken kann. Wonach solch mächtiges Überraschen, wenn es in die religiös bezeichneten Inhalte, die es freihalten, eindringt, diese nicht als das Erdrückende, sondern konträr als das - Wunderbare herankommen läßt. Unübertragbarkeit immanent-gewohnter Kategorien auf die religiöse Sphäre, gerade dieser Sprung macht sich als höchste Menschen-Utopie kenntlich, wenn Paulus sagt: »Das kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, das hat Gott denen bereitet, die ihn lieben« (I. Kor. 2, 9). Das Wunderbare als das Ganz Andere in Ansehung der religiösen Objektwelt ist hier deutlich das eigenste Freuden-Mysterium, triumphierend im religiösen, das ist sich noch selber zum Ganz Anderen sprengenden Hoffnungsinhalt des Menschen. Und das Christentum hat zwischen der religiösen Subjektwelt und dem Tabu der bisherigen religiösen Objektseite die Vermittlung pointiert, welche hier Reich genannt wird, das Reich Gottes. Aber damit geht der Subjektseite erst recht /(1408) ein Ganz Anderes in ihrem Objekt auf, nämlich das Geheimnis der Raumhaftigkeit ums höchste Objekt: die religiöse Subjektseite wird nun auch noch mit diesem versehen, als mit dem Mysterium des Reichs. Gott wird zum Reich Gottes, und das Reich Gottes enthält keinen Gott mehr, das ist: diese religiöse Heteronomie und ihre verdinglichte Hypostase lösen sich völlig in der Theologie der Gemeinde auf, aber als einer, die selbst über die Schwelle der bisherigen Kreatur, ihrer Anthropologie und Soziologie getreten ist. Deshalb hat gerade die Religion, die das Reich Gottes mitten unter den Menschen proklamierte (vgl. Luk. 17, 21), das Ganz Andere am entscheidendsten gegen den alten Adam und die alte Gewordenheit gehalten: hier als Wiedergeburt, dort als neuen Himmel und neue Erde, als Verklärung der Natur. Es ist dieser Grenzinhalt des Wunderbaren, also total Gelösten, welcher noch die beste menschliche Gesellschaft zum Mittel eines Endzwecks macht, zum Endzweck des total Gelösten, das religiös im Reich gedacht worden ist. Und dessen Unerreichtbeit sich auch in der besten Gesellschaft kenntlich macht: als unaufgehobene Hinfälligkeit der Kreatur, unaufgehobene Unvermitteltheit der umgebenden Natur; - infolgedessen auch gegen allen partialen Optimismus mehrerer, aus dem Totum der Utopie herausgefallener Sozialutopien steht. Gewiß, das Wunschbild in sämtlichen Religionen, und wie stark erst in denen der messianischen Heraufbringung von Heimat, ist Wohnlichkeit im Dasein, aber eine solche, die das Dasein nicht in seinen bereits übersichtlichen und gleichsam lokalpatriotischen Zweckreihen begrenzt sein läßt. So daß sich Religion, im ständigen Finalbezug zum letzten Sprung und utopischen Totum mit allen ihren Ethisierungen und glatteren Rationalisierungen nicht erschöpft, sich selbst bei ihrem stärksten Ethisierer, bei Konfuzios, mit Moralität und Übersichtlichkeit nicht erschöpft. Wunschinhalt der Religion bleibt Wohnlichkeit im Geheimnis des Daseins, als einem mit dem Menschen vermittelten und seinem tiefsten Wunsch, bis zur Wunsch-Ruhe, zugeneigten. Und je weiter gerade das Subjekt mit seinen Religions-Stiftern ins Objekt-Mysterium eines als höchstes Außen oder höchstes Oben gedachten Gottes eindringt und es überwältigt, desto mächtiger wird Mensch in Erdhimmel oder Himmelserde mit /(1409) Ehrfurcht der Tiefe und Unendlichkeit geladen. Der wachsenden Humanisierung der Religion entspricht so keinerlei Entspannung ihrer Schauer, sondern konträr: das Humanum gewinnt nun das Mysterium eines Göttlichen, eines Vergottbaren hinzu und gewinnt es als Zukunftsbildung des Reichs, aber als des rechten. Ja diese Projektion gebrauchte und gebraucht sogar das Erhabene eines Außen und Oben, wie es vor allem in Ägypten und Babylon bezeichnet worden war, trotz der buchstäblich heillosen Herren-Ideologie astralmythischer Überwölbung und Statik als Erziehung zum menschhaltigen Universum und seiner Tiefe. Mehr: die das Humanum einbeziehende und mit ihm kulminierende Ehrfurcht braucht noch das im Sterndienst einmal besonders hoch erfahrene, an der Größe der Natur erfahrene Numinosum als Korrektiv, um die religiöse Gegenständlichkeit seiner selbst zu bewahren, das ist eben, um vom Menschen nicht groß und nicht geheimnisvoll genug zu denken. So gehört überall diese Verfremdung zur Religion, auch als einer utopisch gesehenen, als einer ganz ohne Obskurantismus gesehenen. Ihr Obskurum - »Der Herr hat geredet,
er wolle im Dunkel wohnen« (I. Kön. 8, 12) - ist nicht eines des Aberglaubens, der zu wenig Wissen ans Schicksal gesetzt hat, sondern eines des Wissen-Gewissens, das sich von Nicht-Geheurem in der Tiefe dauernd umgeben sieht und es nicht anders aufgelöst, nicht anders vermittelt hofft als zum - Wunderbaren. Der Phöbus Post nubila, in dem vor allem der messianische Glaube sein kämpfendes Licht und sein wahrhaft rotbrünstiges hatte, ist keinerlei bereits vorhandene Konsonanz und überhaupt keine, die schlechterdings die Wolken vernichtet hätte; sie hat ihnen nur das Heimatlose genommen. Solches Wissen-Gewissen als das angegebene Erbsubstrat der Religion, das ist als das Eingedenken dessen, Hoffnung in Totalität zu sein, erfaßt zugleich das Wesen der Welt in ungeheurer Schwebe, zu einem Ungeheuerlichen hin, von dem die Hoffnung glaubt, die aktive Hoffnung betreibt, daß es ein gutes sei. Des Sinns, daß Religion die Sphäre bezeichnet, wo die Furcht des Menschen vor dem Nicht-Geheuren in ihm selbst und im Weltwesen - aus tiefer Nähe, tiefer Ferne zurückhallen kann als Ehrfurcht. Dies vorausgesetzt, drang frommes Gefühl stets in sein Oben /(1410) ein. Der Mensch will bei den Mächten dabei sein, an die er glaubt, und wenn er sich ihnen noch so unterworfen fühlt. Wie erst dann, wenn er sich ihnen, als aus verwandtem Stoff, vermittelt fühlt, griechisch, sodann vor allem, im geheimeren Ebenbild, jüdisch-christlich. Die Glaubensstifter setzen sich selber wachsend in ihr Ganz Anderes ein, schlagen es wachsend zum Geheimnis eines menschlichen oder mit Menschen vermittelten Inhalts. Dazu wirkt die Kraft dieser freien, der Ruf dieser andächtigen Eindringung, das: »Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn« (I. Mos. 32, 27). Wie oft hat in dieser Eindringung der Mensch erkannt, daß er besser ist als seine Götter; wie mächtig sprang daraus - nicht selbstgefällige Hausbackenheit, der emanzipierte Philister statt Prometheus, sondern gerade das Stiftertum eines neuen Mysteriums. Und das Entscheidende: auch in den weitesten astralmythischen Gesichten, in Verfremdungen, die fast völlig zu apologetischen Entfremdungen geworden waren und zu Ideologien eines despotisch-statischen Oben, hat doch am utopischen Ende, und so herauspointierbar, auch noch ein unbekannt Menschliches gesprochen, vorgesprochen, es selber und das Unbekannte in und vor ihm. Numen, Numinosum, Mysterium, gar Nein zur vorhandenen Welt sind nie ein anderes als das geheime Humanum selber. Wohlverstanden: das geheime, das sich noch verborgene, das durch den Sprung des Ganz Anderen vom bekannten und seiner immanent-gewohnten Umwelt verschiedene. Die nie erschienenen Inhalte im Abgrund des Existierens erhalten im religiösen Ineffabile das Zeichen, daß sie nicht vergessen und nicht zugeschüttet werden. Sie erhalten, dezidiert in der Bibel, die allemal offen gehaltene Hoffnung, daß ihnen eine Zeit wie ein Raum der Adäquatheit utopisch zugeordnet ist, gedacht als Reich. Und sowenig wie das religiöse Selbst sich mit dem kreatürlich vorhandenen Menschen deckt und sowenig wie religiöse Geborgenheit mit dem selbstgefälligen Einspinnen des Positivismus in den empirischen Lebensinhalt zusammenfällt: sowenig fällt der religiöse Reichsgedanke, seinem intendierten Umfang und Inhalt nach, selbst mit irgendeinem der Sozialutopie ganz zusammen. Der Reichsgedanke hat deren Wege als Vorbereitung des letzten Sprungs bei den Chiliasten gesetzt, anerkannt und /(1411) gefordert, er tritt in den Evangelien nicht als himmlisches Jenseits, sondern als neuer Himmel und neue Erde auf, aber er enthält, in seinen Antizipationen, ein Absolutum, worin noch andere Widersprüche als die sozialen aufhören sollen, worin auch der Verstand aller bisherigen Zusammenhänge sich ändert. Gewiß bleibt wahr, was Engels, in einer frühen Carlyle-Kritik, über das Reich als Inwendigkeits- und Pfaffen-Konstruktion sagt: »Es sind wiederum die Christen, die durch die Aufstellung einer aparten >Geschichte des Reiches Gottes< der wirklichen Geschichte alle innere Wesenhaftigkeit absprechen und diese Wesenhaftigkeit allein für ihre jenseitige, abstrakte und noch dazu erdichtete Geschichte in Anspruch nehmen, die durch die Vollendung der menschlichen Gattung in ihrem Christus die Geschichte ein imaginäres Ziel erreichen lassen, sie mitten in ihrem Lauf unterbrechen« (MEGA I 2, 1930,S.427). Es ist aber diese Ablehnung auch religiös so wahr, daß nicht zuletzt ein Joachim di Fiore ihr zugestimmt hätte, ja am leidenschaftlichsten; jedoch deshalb, gerade deshalb sind Sozialgeschichte und Sozialutopie, ist selbst eine erlangte klassenlose Gesellschaft vom Summum bonum des religiös-utopischen Reichs durch jenen Sprung geschieden, den die Sprengintention von Wiedergeburt und Verklärung selber setzt. Das Reich bleibt der religiöse Kernbegriff, in den Astralreligionen als Kristall, in der Bibel - mit totalem Intentions-Ausbruch - als Herrlichkeit. In allen diesen Unbedingtheiten ist eine Schrankenlosigkeit des Verlangens, deren Hybris noch die des Prometheus erweitert und deren «Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn« in der Demut des Gnadenbegriffs nicht untergeht. Denn selbst die Gnade, wenn sie auch fern zur Kraft des Menschenwillens und nicht aus dem Verdienst der Werke sein soll, so ist ihr Begriff doch aus der Hoffnung auf Sprung und auf die Würdigung, sich zum Vollkommensten bereithalten zu können. Von daher eben jene unüberhörbare Nicht-Passivität auch noch in den dicksten Gottformen der Religion, von daher das Superadditum ungeheuerster Ungenügsamkeit in jedem frommen Schauder, auch wenn er herabzuwehen scheint von oben. Von daher die schließliche Verwandlung, Aufbrechbarkeit des astralmythischen
Fremdmysteriums zum Mysterium eines Citoyen des Reichs und seines Paradox-Verhält- /(1412) nisses zur Gewordenheit. Von daher endlich vor allem das stärkste Paradox in der an Paradoxen so reichen religiösen Sphäre: die Eliminierung des Gottes selber, damit gerade das religiöse Eingedenken, mit Hoffnung in Totalität, offenen Raum vor sich habe und keinen Spukthron aus Hypostase. Was nicht weniger bedeutet als eben das Paradox: Die religiöse Reichsintention als solche involviert Atheismus, endlich begriffenen. Sofern dieser ja nicht nur den Aberglauben vertreibt, um an dessen Stelle ein ebenso dürftiges Negativum zu setzen, wie der Aberglaube ein windiges Positivum war. Sondern sofern Atheismus das unter Gott, das heißt unter einem Ens perfectissimum Gedachte aus dem Anfang und aus dem Prozeß der Welt entfernt und es statt eines Faktums zu dem bestimmt, was es einzig sein kann: zum höchsten utopischen Problem, zu dem des Endes. Die Stelle, die in den einzelnen Religionen durch das unter Gott Gedachte besetzt, durch das zu Gott Hypostasierte scheinreal ausgefüllt worden ist, ist nach Wegfall ihrer scheinrealen Ausfüllung nicht selber weggefallen. Denn sie erhält sich allemal als Projektionsort an der Spitze utopisch-radikaler Intention; und das metaphysische Korrelat zu dieser Projektion bleibt das Verborgene, das noch Undefiniert-Undefinitive, das real Mögliche im Geheimnis-Sinn. Die durch den ehemaligen Gott bezeichnete Stelle ist so nicht selber ein Nichts; das wäre sie erst, wenn Atheismus Nihilismus wäre, und zwar nicht bloß einer der theoretischen Hoffnungslosigkeit, sondern der universal-materiellen Vernichtung jedes möglichen Ziel- und Vollkommenheitsinhalts. Der Materialismus, als Erklärung der Welt aus sich selbst, hat nur als mechanischer auch noch die Stelle der früheren Gott-Hypostase am Rand ausgelassen; aber er hat auch Leben, Bewußtsein, Prozeß, Umschlag von Quantität in Qualität, Novum, Dialektik insgesamt ausgelassen. Und selbst der mechanische Materialismus, wenigstens in der Form Feuerbachs, muß einen eigenen Raum in der Anthropologie übriglassen, um die religiösen Projektionen dort, als in ihrem »Ursprung und Gegenstand«, unterzubringen. Es war, wie zu zeigen sein wird, bei Feuerbach eine platte, eine fixe Anthropologie, eine nicht allein geschichts- und gesellschaftslose, abstrakte und generelle, sondern dazu eine aus kaum erweitertem Mensch-Vorhandensein; doch immerhin /(1413) betraf Feuerbachs anthropologische Kritik der Religion religiöse Inhalte so, als wären sie keineswegs nur Nichts, wie im Nihilismus. Und der echte Materialismus, der dialektische, hebt eben die Transzendenz und Realität jeder Gott-Hypostase auf, ohne aber das mit einem Ens perfectissimum Intendierte aus den letzten Qualitätsinhalten des Prozesses, aus der Realutopie eines Reichs der Freiheit zu entfernen. Ein Vollziehbares, kraft des Prozesses Erwartbares ist im dialektischen Materialismus durchaus nicht verneint: vielmehr ist seine Stelle gehalten und offengehalten wie nirgends. Das macht: das Reich, selbst in säkularisierter Form, wie erst in utopisch-totaler, bleibt als messianischer Front-Raum auch ohne allen Theismus, ja es bleibt, wie von Prometheus bis zum Messiasglauben jede «Anthropologisierung des Himmels« wachsend gezeigt hat, überhaupt nur ohne Theismus. Wo der große Weltherr, hat die Freiheit keinen Raum, auch nicht die Freiheit - der Kinder Gottes und nicht die Reichsfigur, die als mystisch-demokratische in der chiliastischen Hoffnung stand. Utopie des Reichs vernichtet die Fiktion eines Schöpfergotts und die Hypostase eines Himmelsgotts, doch eben nicht den End-Raum, worin Ens perfectissimum den Abgrund seiner noch unvereitelten Latenz hat. Dasein Gottes, ja Gott überhaupt als eigene Wesenheit ist Aberglaube; Glaube ist einzig der an ein messianisches Reich Gottes - ohne Gott. Atheismus ist folglich so wenig der Feind religiöser Utopie, daß er deren Voraussetzung bildet: ohne Atheismus hat Messianismus keinen Platz. Religion ist Aberglaube, wo sie nicht das ist, was sie ihrem gültigen Intentionsinhalt nach in ihren historischen Erscheinungen wachsend bedeuten konnte: unbedingteste Utopie, Utopie des Unbedingten. Nicht-Vorhandenheit, Nicht-Gewordenheit ist die reelle Grundbestimmung des Ens perfectissimum, und wäre es geworden, so wäre es kein von seinem Reich verschiedenes, als Gott hypostasiertes. Die Hypostase Gott in den Religionen, die sie setzen (der Taoismus, gar Buddhismus setzen sie nicht), ist im Sinn eines Weltschöpfers oder auch Weltregierers einzig Unwissenschaft, ja Anti-Wissenschaft, und sie ist für einen Glaubenssinn, der sich für zu gut oder auch zu tief hält, um zurückgebliebenes wissenschaftliches Bewußtsein, gar Vitzliputzli-Nonsens darzubieten, allerhöchstens die mythologisierte Statt- /(1414) halterschaft einer Hoffnung wie Allerheiligen aller - ohne Herrn. Die Geschichte des Bewußtseins der Menschen von Gott ist so keineswegs die Geschichte des Bewußtseins Gottes von sich selbst, wohl aber des jeweils höchst-möglichen Front-Inhalts der in ihrem Vorwärts, ihrem Oben, ihrer Tiefe offenen Existenz. Alle höheren Religionen sind so selber gespeist von der Front-Intensität radikaler Sehnsucht und den gesuchten Antizipierungen eines Ens perfectissimum, das den Zielinhalt dieser Sehnsucht ausmacht. Das Antizipierende setzt in der Kunst einzig Vor-Schein, doch in der Religion, wo Unbeteiligt-Genießendes gänzlich fehlt, letzthin Vor-Existenz unserer selbst in totaler Betroffenheit. Und das Existieren wird darin, dem Ernst des Transcendere gemäß, ein verwandeltes, eben eines der versuchten Wiedergeburt zum neuen Menschen, durch den Stifter und seinen Gott hindurch. Die Natur selber wird in der christlichen Apokalypse verwandelt, sie geht, zum Unterschied von aller
Ideallandschaft des ästhetischen Vor-Scheins, eben erst durch Untergang hindurch zu ihrer Verklärung. Verwandlung also macht im Atheismus der Religion, über ihr, das letzte Kriterium ihrer Sphäre aus, ein Kriterium, das ebenfalls aus dem frommen Eindringen ins Oben, ins Werdenwollen wie das unter Gott Intendierte erfließt. Judentum, Christentum, als die höchsten Religionen, zeigen den ganzen intendierten Ernst dieser Verwandlung; gerecht werden kann ihm freilich einzig ein Wissensbegriff, der sich selbst um das religiöse Gewissen bereichert hat. Und das Ende der Religion ist so, in diesem Wissen, als begriffener Hoffnung in Totalität, nicht einfach keine Religion, sondern - in den Weiterungen des Marxismus - Erbe an ihr, meta-religiöses Wissens-Gewissen des letzten Wohin-, Wozu-Problems: Ens perfectissimum. Lebt doch der darauf gerichtete Wille des Aufwärts gerade in dem des Vorwärts fort. Wenn das Volk einem Stifter nachlief, so lief es letzthin einem Seinwollen wie im Himmel nach. Dieses Sursum corda gilt erst recht dann, wenn der Himmel keineswegs ein vorhandenes Ganz Anderes ist, sondern als neuer Himmel. neue Erde, ein utopisch aufgegebenes; das Sursum corda trägt so gerade das religiöse, nämlich messianische Erbsubstrat. Religionsstifter trieben es schon lange messianisch, bevor die Juden /(1415) das Messianische beim Wort genommen, zur Grundreduktion des Religiösen, zur Reichsbildung schlechthin gemacht haben. Der Messianismus ist das Salz der Erde - und des Himmels dazu; damit nicht nur die Erde, sondern auch der intendierte Himmel nicht dumm werde. Was das Numinose versprach, das will das Messianische halten: sein Humanum und die ihm adäquate Welt sind nicht nur das Ungewohnte, gar Unbanale durchaus, sondern die ferne Küste im Frühlicht. Und es war ein langer Weg, bis die Stifter sich selbst, mit der menschlichen Latenz, in den Namen ihres Gottes begeben haben. Bis die Geschichte der Gottesvorstellungen vom Fetisch zum Stern, zum Exoduslicht, zum Reichsgeist durchlaufen worden ist und abgelaufen ist. Bis der Glaube von den Projizierungen eines göttlichen Dunkels und himmlischen Throns zum Inkognito und zum Verweile-doch in die Nähe gekommen ist oder kommen wird. Alle Religion war Wunschwesen, mehr bemengt als irgendwo mit Aberglaube und Illusionen, aber sie war kein zersplittertes oder begrenztes Wunschwesen, sondern totales, und keine völlig nichtige Illusion, sondern versucherische, mit einer Vollendung im Sinn, die nicht ist. Jeder Religion, selbst der astralmythischen, fiel es leichter, ans Unsichtbare als ans Sichtbare zu glauben, und ihr Gottesinhalt fiel sowenig mit der handlichen Art Wirklichkeit zusammen wie der religiöse Durchbruch mit dem bisherigen Menschen und seiner - wie sonderlich die Propheten klagten - im argen liegenden Welt. Der unter Gott gedachte und ersehnte Inhalt ist der vorhandenen Wirklichkeit so überlegen, daß er, trotz aller Realitäts-Hypostasen, wachsend ein utopisches Ideal darstellt, das von seinem Nicht-Sein nicht widerlegt wird. Ein Noch-Nicht-Sein, wie es die Realitätsart konkreter Ideale bezeichnet, ist zwar nie und nimmer ein Noch-Nicht-Sein Gottes; die Welt ist keine Maschine zur Erzeugung solch oberster Person, als eines gasförmigen Wirbeltiers, wie Häckel sie mit Recht bezeichnet hat. Rilke, Bergson, selbst der frühe Gorki haben sich, auf verschiedene Art, in solcher Gottmacherei vergebens ausgezeichnet, und Lenin nannte dergleichen Bemühungen mit Recht Nekrophilie. Atheismus, der weiß, was das heißt, geht nicht, in kärglicher Imitation der Stifter, zur Gottmacherei zurück, wohl aber geht er, mit ein für allemal weggefallener Gott-Hypostase, zu dem /(1416) unbedingten und totalen Hoffnungsinhalt, der unter dem Namen Gottes so wechselnd experimentiert worden ist. Experimentiert mit einer Unmenge von Aberglaube, Illusion, Unwissenheit, wie allbekannt, mit einer Hypostase der undurchschauten Gesellschafts- und Naturmächte zu jenseitigem Schicksal. Aber es waren doch ebenso hochbedürftige Menschen, die in Protestation gegen dies Schicksal es magisch-mythisch wenden oder zum Guten beschwören wollten; - so ist die religiöse Phantasie keinesfalls in toto durch die erlangte Entzauberung des Weltbilds zu erledigen, sondern einzig durch einen spezifischen philosophischen Begriff, der dem letzthinnigen Intentionsinhalt dieser Phantasie gerecht wird. Denn mitten in allem lebte und erhebt sich dies Seufzen, Beschwören, Predigen ins Morgenrot; und noch mitten in dem - sehr leicht notierbaren - Unsinn an Mythischem lebte und erhebt sich die unabgegoltene, nur in Religionen glühend gewesene Sinnfrage nach dem unausgemachten - Sinn des Lebens. Erhebt und exzitiert gerade den echten Realismus, als eine Frage, die so wenig mit dem Unsinn um Mythisches zusammenfällt, daß noch jeder Sinn durch sie seinen Ernst erhält. Notwendig ist dergestalt - kraft des besonders totalen Wunschzugs von dieser Sphäre her - eine neue Anthropologie der Religion. Und fällig ist - kraft des besonders total intendierten Vollkommenheitswesens in dieser Sphäre - eine neue Eschatologie der Religion. Beides ohne Religion, doch beides mit dem berichtigten, dem unabgegoltenen Problem solch ungeheurer Flügelbildungen der Menschheit. Wechselnder Flügelbildungen, auch einander unverträglicher, auch solcher mit ganz offenbaren Narrenparadiesen in der Gegend, doch eben mit lauter Versuchungen des ungemeinen Sinns - nach Maßgabe des menschlich-gesellschaftlichen Horizonts. Kadmos, Orpheus, und die olympischen Götter Homers, die Totensonne Ägyptens und der Astralmythos Babylons, das chinesische Tao, Moses oder der Exodus, die pointierten Gottmenschen Zoroaster, Buddha und Jesus bezeichnen darum eben den wachsenden Einsatz des
Stifters in die experimentelle Frohbotschaft eines Ens perfectissimum; wobei der soziale Auftrag zu dieser Eindringung und der Menschgehalt ihres Perfectum sich stets entsprechen. Im Astralmythos verschwindet der Stifter, sein Gott ist völlige Auswendigkeit aus Sternlicht; im /(1417) Christentum wird der Stifter die Frohbotschaft selber, und sein Gott verschwindet schließlich in einem einzigen humanen Allerheiligen. Wo Hoffnung ist, ist so in der Tat Religion, aber da der absolute Inhalt der Hoffnung selbst in der Intention noch so ungefunden ist, gibt es auch einen dermaßen variierenden Phantasie-Fundus der Religionen als der Versuchungen des utopischen Totum. Indes alle eben sind letzthin diesem Totum zugeordnet, und zwar, da sie Religionen sind, dem Totum als jenem Ganz Anderen, das ebenso, in Ansehung der menschförmigen Verwandlung (Reichsbildung), das gar nicht mehr Andere, sondern das ersehnt Eigentliche bedeutet. II STIFTER, FROHBOTSCHAFTEN UND CUR DEUS HOMO Der fremde Lehrer: Kadmos Wann einst der erste Herd gebrannt hat, steht dahin. Aber stets wird berichtet, einer habe zuerst die Menschen vom rohen Fraß, in jedem Sinn, weggebracht. Alle primitiven Völker erzählen von einem solchen Mann aus der Fremde, er bringt fromme Sitte und mehr. Er lehrt Lose werfen, Runen schnitzen, Schrift knüpfen, oft als wundertätiger Jüngling, öfter als Greis. Sogar als Zwerg kann der Lehrer auftreten, so wurde er nach der etruskischen Sage aus dem Feld ausgepflügt, verriet die Zeichendeutung und ist sogleich danach gestorben. Doch zumeist wird ein hoher Hergereister berichtet, der an göttlichen Tischen gesessen hat. Bei den Kelten hieß er Ram, bereitete aus der Mistel einen Trank gegen die Pest, unterwies in der Sudkunst und in der günstigen Stunde. Bei den Griechen erhellte sich die Gestalt zu Kadmos; die Fremde, woher er kam, war in diesem, nur in diesem Fall die phönikische. Kadmos galt den Griechen als der, welcher Ackerbau und Schrift gelehrt hat und die Götter ehren ließ. Aber weiter wird er nicht erinnert, die Namen solcher Heilsbringer stehen nur da, als hätten sie den Ruck vom Tier zum Menschen beendet. Die Kunde von Heupflanzen und Heilswegen ließ die Ram oder Kadmos, die sie brachten, hinter sich. Die Kraft der Mistel ist hier wichtiger als der Mann, der auf sie hinweist. /(1418)
Sänger des rauschhaften Heils: Orpheus
Die noch undeutlichen Lehrer bleiben so allemal hinter dem Ihren zurück. Auch Orpheus, ein frommer Dunst in menschlicher Gestalt, obwohl er vielleicht gelebt hat. Er gilt als tönender Heilbringer, die Griechen haben noch mehrere solche: Linos, Musains, Enmolpos, Amphion, sämtlich Zauberer durch Gesang, Zither, Leier. Aber Orpheus faßt sie zusammen, und zwar sowohl als besänftigender wie zuletzt als rauschhafter Retter. Nach der einen Seite tritt er kühlend, nicht dionysisch auf, mit ruhigem, wenn auch schmelzendem Wohlklang. So zwingt er nicht nur Bäume und Flüsse, sondern gerade die wilden Tiere, ihm zuzuhören. Die Sirenen überbot er, ihrem todbringenden Gesang setzte er den eigenen rettenden entgegen. Besonders überwältigte er damit die Furien der Unterwelt, Orpheus wurde als der einzige Mensch verehrt, der aus dem Totenland wieder zurückkam. Seine Schuld war, daß er sich nach Eurydike umsah, und zwar mit einem Motiv, das ebenfalls seiner nicht-dionysischen Seite zugehört, aus monogamer Liebe. So hat Orpheus nachher um Eurydike als um die Einzige geklagt; so haben ihn die Mänaden, gerade als dionysische, ehefeindliche, zerrissen. Vor allem diese Klage des Orpheus um Eurydike stimmt nicht zum hetärischen Untergrund des dionysischen Glaubens; das Besänftigte, Deutlich-Treue ist an diesem Punkt stärker als der alles mischende, gestaltenlösende Rausch. Ebenso wirkt in der Sittenlehre der späteren Orphiker die verlangte Zucht, ja Entsagung, wenn man von dem Inhalt absieht, fast apollinisch. Und doch ist die andere Seite, die glühende des Lebensgotts, am Ende stärker. Der schmelzende Wohlklang der Töne, der die Sirenen nicht bloß zum Schweigen, sondern zum Zuhören zwingt, ist nicht grundlos dem auflösenden Rausch verwandt: die Sirenen verstehen Orpheus, und er selber verstand es immerhin, sie gerade auch als die betörenden, von Sinnen bringenden zu überbieten. Unter seinem Namen erwuchs zwar ein griechischer Glaube, also einer mit apollinischen Zügen, aber er erwuchs auf dem Boden des nicht-griechischen, thrakischen Dionysosdienstes. Wie Pausanias von den orphischen Kultorten berichtet (die erst im siebenten und sechsten Jahrhundert sich ausbreiteten), war neben der Bild- /(1419) säule des Orpheus stets die des Dionysos aufgestellt. Wurde der Sänger wegen seiner Klage um Eurydike von den Mänaden zerrissen, so galt er ebendeshalb auch als Verkörperung des Dionysos, des gleichfalls zerrissenen. Durch Titanen wurde er zerrissen, aber sein Herz wurde durch Athene gerettet, und aus ihm entspringt nun der neue Dionysos, der
eine, der aus den zerstückten Gliedern, aus der Vielfalt des wechselvollen Daseins wiederhergestellte. Orpheus aber stieß den Gläubigen das Tor zu diesem Gott auf, als einem, der immerhin im Naturleben steht, als sein üppiger phallischer Herr. Was für die orphischen Weihen den Tod betreffend gilt, gilt für das hier gemeinte Heil insgesamt: es fällt nicht außerhalb der sinnlichen Leidenschaft, sondern ganz in sie, als eine übersinnlich gewordene, hinein. Deutliche Askese ist der Weg, jedoch das Ziel und der Inhalt sind enthusiastische Fülle; die orphisch verheißene Eudämonie ist Brunst nach oben. Der Mensch soll sich von dem bösen titanischen Erbe befreien und rein zu dem Dionysos zurückkehren, von dem das Herz in ihm lebendig geblieben ist; doch gerade das andere Erbe, das des dionysischen Rauschs, blieb so, in diesem aus der Zerreißung geretteten Herz- und nicht Licht- oder Verstandswesen, lebendig. Damit stimmt überein, daß die orphische Geheimlehre bei den Lokrern und auf der Insel Lesbos zu ganz hetärischen Lebensformen wieder zurückgeführt hat. Auch der Künder des derart lösenden, das ist auflösenden Dionysos brauchte so nicht selber ein deutliches Gesicht, ja durfte es nicht haben. Er ging ganz in dem losgebundenen Leben auf, das als einziges überbleiben sollte, wenn Hades und apollinischer Tag zugleich überwunden sind. Der sagenhafte Orpheus ward darin sowenig mehr gesehen wie sein Gott; im Rausch, unter Zymbel- und Beckenklang, gehen die Augen über. Der dionysische Retter verschwindet, sobald er gerettet hat; solch Verschäumen gehört zum schäumenden Heil. Dichter apollinischer Götter und ihres Beistands: Homer und Hesiod; römische Staatsgötter Es glückte aber, die allzu wilde Leier gefaßter zu machen. Zwei halbwegs sichtbare griechische Dichter haben sogar seltsam all- /(1420) tägliche Götter erzählt. Dazu freilich menschenähnliche, bis zur Bildsäule ausgestaltete, keine des Rauschs. Homer und Hesiod, sagt Herodot, haben den Griechen ihre Götter genannt, soll heißen: die unpriesterlichen, die ritterlichen, dann urbanen. Sie haben ihnen keineswegs die alten Volksgötter genannt, gar gemacht, von denen Herodot kaum noch etwas zu wissen scheint. Nicht die chthonischen und orphischen, erst recht nicht die Tiergötter, welche nachdem zum Adler des Zeus oder zum kuhäugigen Blick der Hera zusammengeschrumpft sind. Inder Tat, welch ein Weg, welch ein Vergessen und Aufhellen von dem unheimlichen eulenartigen Wesen, das ums Erechtheion geistert, bis zur Pallas Athene Homers. Und der Weg wird durch den Untergang des pelasgischen Priester- und Magierstands bezeichnet, durch den Auftritt ungeweihter ritterlicher Standespoesie, die sich bei Homer der Götter bemächtigt hat. Bei Hesiod geschah das auf nicht ritterliche, doch gleichfalls ungelehrte Weise: der Hirt von Askra fabuliert und grübelt aus seinem Volksglauben, nicht aus Zauberkreisen. Nur noch undeutlich ragen pelasgisch-magische Gestalten wie Kaichas, Teiresias in die Ritterwelt herein, Kalchas, der den Opfertod Iphigeniens angeordnet hat, Teiresias, der Weib gewesene Seher, der mit Blut umzugehen weiß und dem Odysseus Schatten aus der Unterwelt zitiert. Ritterliche Standespoesie hat sich über all das gelegt, die Welt des Vaterrechts hat sich über die chthonische gelegt, mit dem Effekt also, das Tabu zu einem apollinischen zu machen. Es wurde eines der vornehm-frommen Oberfläche, die nichts zu tief wissen will; selbst Poseidon, mit der Wut und dem Abgrund des Ozeans in sich, gehört nun zum ambrosischen Mittag. Ja bezeichnenderweise bleibt Dionysos bei Homer unbeachtet, auch Demeter, die dunkle Erdgöttin; denn es sind Priestergötter, und vor allem solche der Tiefe. »Als die goldene Eos nunmehr des umnachtenden Poles /östliches Tor aufschloß und in Dämmerung graute der Himmel«:so machte dieser Tag allen unübersichtlichen Wesen ein apollinisches Ende; sie tragen nun die Maske der Schönheit, mindestens der Urbanität. Kalchas, Teiresias, Orpheus wurden zugedeckt; auch noch die orphische Renaissance des siebenten und sechsten Jahrhunderts, sosehr sie sich an gebliebenen Bauern- und Volksglauben anschloß, hob die Stadtgötter nicht auf. /(1421) Es waren wirkliche Stadtgötter, so in Athen zu Hause wie die chthonischen Numina vorher in einer Höhle, Quelle oder einem Berg; die ganze Unterwelt wurde eingemeindet oder vom Dreifuß Apollos besiegt. Die Akropolis, von Pallas Athene beherrscht, der von keinem Weib geborenen, steht da als ein durch und durch uranisch gewordener Bergtempel für Polisgötter: Zeus, Apollo und Artemis hatten ihren Altar, Hephästos besaß sein Burg- und Bürgerrecht, Äskulap wohnte in einem Gelaß des Felsens, selbst Pan in einer seiner Grotten, der durchwegs mit stadtfähigen Halbgöttern und Heroen besetzten. Und was Athen auf seiner Burg unter sich versammelte, das gleiche apollinische Homer- und Götterwesen wiederholte sich auf Akrokorinth, im Fest-Tal von Olympia, selbst im dämonischen Delphi; Gäa und Saturn waren dahin, Zeus herrschte. Homer und Hesiod haben also in der Tat, cum grano salis, den Griechen ihre Götter gemacht, nämlich als leuchtend vermenschlichte, in urbanem Licht wandelnde. Zugleich freilich wieder: auch diese Künder, gerade diese, stehen noch so außerhalb ihrer Kunde, wie sie als Epiker außerhalb ihres Gedichts stehen und sich nicht dahin eindrängen. Hesiod erscheint als Mahner, doch nie mit dem Anspruch, ein gesandtes, gar ein erobertes Stück der höheren Welt zu sein. Homer steht seinen Taggöttern und ihrer franken Heiterkeit gänzlich als
Epiker gegenüber, nicht als Tafelgenosse der Olympischen selbst. Sind diese ein Spiegelbild mykenischer Hofhaltung geworden, ein Spiegelbild, das durch keine Priesterkaste hindurchging, so berichtet doch ihr Formulierer von ihnen nicht mit größerer personhafter Teilnehmung, als er von Achilles, Agamemnon, Odysseus berichtet. In der Tat also ist Herodots Behauptung (II, 53), daß Homer und Hesiod den Göttern ihre Namen gaben, Ämter und Künste unter sie verteilten, auch den Griechen ihre Theogonie schufen, nur insofern richtig, daß durch diese Dichter das olympische Pantheon nun ausgesprochen an die Stelle der dunklen oder zwielichtigen Lokalgötter trat. Dennoch ist Homer ein Stifter, eben einer der Aufhellung; was auch immer die Orphiker Xenophanes und Platon gegen Homers sogenannte Frivolität einzuwenden hatten. Zu seinem Himmel gibt es nicht nur einen standesgemäßen Zugang, sondern es zeigt sich das Novum, das keineswegs geheimnislose, eines vertraut- /(1422) vertrauenden Humors. Das Furchtbare hinter der Maske des Schönen ist geblieben, hier hat Nietzsche teilweise richtig gesehen und die Tiefe in dieser Oberflächlichkeit, das bewußt Überdeckte in dieser lokal-humanen Schönheit entdeckt; hinter den Göttern ist die Moira, in ihnen steht das Numinose. Aber es ist kraft menschenähnlicher Schönheitsmaske und mykenischer Kultur mit dieser, wie durch ein Mysterium der Äußerlichkeit, vermittelt worden. Der barbarische Magier hatte sich zum Löwengesicht oder zu sonstigen Naturdämonen verwandelt, um Göttliches an seinem Leib gegenwärtig zu zeigen; der griechische Götterbildner will das Umgekehrte: er verwandelt seine Götter in apollinische Menschengestalt. Wobei freilich eben der Rand der Maske stets bleibt, über den ein keineswegs kunstreligiöser Grund überquillt, blutig überquillt. So im Opferdienst, der der griechischen Religion so eigen war wie nur irgendeiner barbarischen: die Tempel waren erfüllt von heiliger Schlächterei. Der Priester umgoß den herrlichen Marmoraltar mit Blut, und die edle Einfalt, stille Größe der Götterbilder war umwallt vom Qualm verbrannter Opfertiere - ein Schlachthaus für den Olymp, der nicht nur Nektar und Ambrosia genoß. Ein Ungeheuerliches, mindestens in den Maßen Unmenschliches zeigt sich selbst zuweilen bei Homer; so der «im Fall sieben Hufen Lands bedeckende« Ares (Ilias XXI, 407). Bleibt weiterhin die Moira, das Geschick über Menschen und Göttern, es stimmt überhaupt nicht mit dem apollinischen Tag zusammen. Das Todesgeschick bezeichnet den Ort, wo die apollinischen Götter vom Menschen verschwinden; Athene sagt selber, auch die Gottheit könne dem Mann, den sie liebt, nicht helfen, »wenn die Moira des Tods ihn zum traurigen Opfer erkoren« (Od. III,238). Die Götter treten ab, wo die Moira beginnt; im Augenblick, wo es dem Hektor bestimmt ist, zu sterben, verschwindet Apollon von der Seite Hektors, um der Moira Platz zu machen, die er als Gott weiß, aber von seinem Schützling nicht abwenden kann. Hier ist die Grenze der apollinischen Götter, sie gehören zum Leben, zur Schönheit, zum Tag, und wo er endet, endet auch die olympische Hilfe, ja Existenz (vgl. W. Otto, Die Götter Griechenlands, 1929, Seite 339f.) Die Moira ist diejenige Macht aus dem vorhomerischen Nacht- und Erdkult, die durch die ritterlichen und Schönheits- /(1423) götter nicht niedergekämpft werden konnte; so thront sie hinter den Siegern, die nur bei Tag welche sind. Ja der gesamte Olymp, obwohl er selber keinen Tod kennt, liegt nur wie ein schmales Schönheitsreich vor dem Abgrund; mit dem Segen, die Aussicht auf die Moira während des kurzen Lebens und Wohlgeratenseins zuzudecken. Desto heller aber leuchtet um diesen Preis nun die Kunstreligion des Vordergrunds auf, mit Göttern als höchstgesteigerten Rittern und Licht der Äußerlichkeit. Die Moira, welche nicht die Äußerlichkeit ist, ist ebendeshalb kein anderer, den Göttern etwa feindlicher Gott, sondern lediglich die Macht des Bodenlosen, des unerbittlich vorbestimmten Abgrunds für jede Gestalt und ihren Lauf. Die Moira mythisiert auch nicht etwa die undurchschauten, unbeherrschten Naturmächte schlechthin, sondern - in Beziehung auf Menschen - primär die Naturmacht des Tods und so erst eines vereitelnd-blinden Geschicks überhaupt. Mit der Moira hat so die homerische Religion gar keine Vermittlung, auch nicht die rätselvoll-oberflächliche, welche am Numinosen der Taggötter mittels der Schönheitsmaske gelang. Deshalb also zuletzt war das Stiftende Homers eine Aufhellung in Kunst, konnte, ja mußte es sein, eine der epischen Formung, mit genau der Eindringung, aber auch genau der Distanz, die der Epik zukommt. Diesem Einzigartigen einer Stifter-Attitüde entspricht daher am Ende eine Religion aus lauter Tagplastik, kurzer Menschentag-Plastik; wobei alles Ungeformte, hier Unformbare, verschwiegen oder der Moira zugewiesen wird. Die Kraft dieser Frohbotschaft, der bis hierher und nicht weiter eindringenden, ist die der vergöttlichten Lebensschönheit und der an den Rand gedrängten, noch am Rand verhüllten Tiefe. Viel ist vom Leid, von Dionysos, gar von Gethsemane her gegen diese auslassungsreiche Kunstreligion erinnerbar, doch ein erstes Humanum ging darin auf. Es entlief den Tiergöttern, den ägyptischen Stein-, den babylonischen Sterngöttern, nachdem es deren Druck selbst innermythisch noch nicht durch ein Subjekt überwinden konnte. Denn das mögliche Subjekt, das unter Prometheus bedeutet war, hatte im Zeus noch Despotie über sich, so wie Zeus wieder der blinden Moira unterworfen war. Aber die unleugbare Aufhellung Homers machte die Götter Griechenlands zur Freude geneigt, das Tabu wurde anthropomorph. /(1424) Ein eigener, dauernd merkwürdiger Zustrom kam römisch hinzu. Das Heilige wurde hier unmittelbar
mit den verständigsten Handlungen und Tugenden verbunden, es wohnte darin. Rom zeigt so statt Kunst das Novum vergöttlichter Begriffe, nicht in der Weise eines heiteren Glanzes wie bei den Griechen, sondern trocken-ernsthaft und geglaubt. Auch die Griechen vergöttlichten Abstraktes, die Nike, Dike, Eirene, Hygieia, bei Hesiod gibt es eine Göttin Eris, sogar eine doppelte, die schädliche des Streits, die gute des Wettbewerbs. Aber dergleichen blieb in der griechischen Kunstreligion untergeordnet, erlangte vor allem nicht den praktischen Ernst wie in der Bauern-, späteren Staatsreligion der Römer. Der sagenhafte Stifter der römischen Religion, Numa Pompilius, wurde vor allem als der erinnert, welcher die Waldgötter Picus und Faunus gleichsam gerodet und das Menschenopfer abgeschafft hat; wie Romulus die urbs, so hat Numa das auf sie, nur auf sie bezogene Gesetz begründet. Und die Götter dieses Zwecks zehrten in der Folge ebenso die ursprünglichen Quell-, Baum- und Tierkulte auf, wie sie die großen Naturgewalten denen der urbs zuschlugen, die aus der Ackerstadt dann das Imperium wurde. Eines der ursprünglichsten römischen Numina ist der Genius, das heißt der Samen, dem der Mensch sein Dasein verdankt und der vom Sohn weiterzeugend das Geschlecht fortpflanzt. Aber dieser Gott bereits ist, anders als bei Phalloskulten, einer der nützlichen Erzeugung und ihres Begriffs; er ist der Geburtstagsgott jedes römischen Bürgers, als eines solchen. Zu den ältesten römischen Gottheiten gehören ebenso Verrichtungs- und Nutzbegriffe wie Saturnus (Saat), Ops (Feldarbeit), Terminus (Grenzstein). All das sind Götter des bäuerlichen Rom und bedeuten unmittelbar Nützliches allgemein. Es sind bäurische Tätigkeiten, in einem Begriffswort zusammengefaßt (wie Consus, der Erntegott, von condere, dem Bergen der Ernte); es sind Funktionsgötter. Vermitteltere Abstrakta treten in der ritterlichen Oberschicht auf, die bereits seit dem sechsten Jahrhundert über dem ländlichen und städtischen Gemeinfreien steht, im Patriziat; die eigentliche Staatsreligion wurde von ihm aus geprägt. Was in der homerischen Religion die Schicht der Gaufürsten und Burgritter, denen die Götter als Phäaken höchster Ordnung vermittelt wurden, das waren in /(1425) Rom die Patrizier, die städtisch eingemeindeten Ritter und scharfen Träger der Staatsfunktion; für Phäaken- und Schönheitsgötter blieb so freilich kein Raum. Sondern erst recht Zweckgötter zweigten nun von Numas Stiftung ab, darunter solche von ganz erstaunlicher Nutz-Abstraktion. Quietudo, die Ruhe, hatte einen Altar, ebenso Occasio, die Göttin Gelegenheit, mit Stirnlocke dargestellt und kahl geschorenem Hinterhaupt. Der Concordia wurde bereits 367, nach Abschluß der Ständekämpfe, ein Tempel geweiht, Spes bekam ihn nach dem Ersten Punischen Krieg, Honos nach der Einnahme von Syrakus. Mens Bona erhielt ihren Tempel nach der Niederlage am Trasimenischen See; sie besonders ist ein Numen, das bei den Griechen gar nicht vorkommt, auch mit dem Begriff Sophrosyne sich nicht deckt. Ein Kultreich theologisierter Abstrakta geht damit auf, voll heiligtrockener Erhobenheit, ohne Vergleich in anderen Religionen. Es ist sehr untertrieben, mit Mommsen diese Glaubensbilder auf einer unglaublich niedrigen Stufe des Anschauens und Begreifens zu sehen. Hier liegt vielmehr ein Mysterium der Äußerlichkeit vor, das, der griechischen Schönheitsmaske verwandt, doch viel merkwürdiger als diese den Abgrund einhüllte, ihn mit der äußersten Verständigkeit umgab. Völlig angemessen hat daher Usener in den »Götternamen« die religiöse Kraft und das Problem an solchen scheinbaren Platitüden erkannt; indem »die erregbare religiöse Empfindung des Altertums auch abstrakte Begriffe ohne weiteres zu göttlichem Rang erheben konnte«. So vor allem eben bei römischen Göttern, bei dem eigentümlichsten unter allen: dem doppelköpfigen Janus. Er ist der Funktionsbegriff der Türe, die nach zwei Seiten hin sich öffnet; er ist der Anfang, der Morgen und der Monat Januar, kurz, er ist die göttliche Abstraktheit: Eröffnung schlechthin. Auch die drei kapitolinischen Götter, die mit den griechischen Hauptgöttern übereinzustimmen scheinen: Jupiter, Juno, Minerva, sind am wenigsten die schönen Götterwesen der griechischen Polis, mit leichtem Streit und ewiger Heiterkeit, mit Nektar, Ambrosia und seliger Privatheit. Sie sind, wie Mommsen hier vortrefflich sagt, erst recht Abstraktionen, mächtige, mächtig waltende: Abstraktionen der Herrschaft, der Sittenzucht, des Verstands. Jupiter ist zwar auch, mit einer Naturbestimmung, das sichtbare Firmament (sub /(1426) Iove frigido ist der poetische Ausdruck für kaltes Wetter) ,aber er ist wesentlich nur Firmament, weil sich dieses, wie die Herrschaft Roms, über alle Länder spannt. Gewiß, auch andere Großherrn des Himmels waren zugleich politische Götter; am eindrucksvollsten der babylonische Marduk. Auch dieser war Reichsgott, nicht bloß astralischer Weltherr, und er führte, ein anderer Jupiter, den Titel Bel matati, Herr der Länder. Aber Marduk war doch in den so besonders hoch hinauf gelegten mythologischen Reflexen Babylons primär astralischer Weltherr und dadurch erst Reichsgott, während der römische Jupiter von vornherein mit dem Imperium als solchem zusammenfiel. Urbi et orbi stand er vor, Rom und dem Erdkreis, doch primär eben Rom, mit dessen Potentia er identisch war, und dadurch erst dem Erdkreis. Jupiter ist so der Inbegriff: Herrschaft wie Juno der Inbegriff: Sittenzucht und wie - Occasio der Inbegriff: günstige Gelegenheit. Auch das ist apollinische Religion, nicht im Sinn der Muse und ihrer Himmel, durchaus nicht, wohl aber im Sinn der Staatsräson; Rom gab das Novum einer Prosa in der Religion, ja der Prosa als Religion. Wo bei gerade das Numinose in dieser
Begrifflichkeit so stark bleibt, daß hier sogar einer der erfahrensten Ursprünge der - christlichen Allegorie vorliegt. Das ist: der religiösen Transparenz, um nicht zu sagen: neuer Anschaulichkeit abstrakter Kategorien; Glaube, Liebe, Hoffnung stellten sich durchs ganze Mittelalter hindurch als solche Allegorien dar und durchaus nicht als frostige. Sie hatten noch den Atem der Spes und Concordia, der Fama und Fides, der Mens Bona und auch der Bona Valetudo aus ihren römischen Tempeln. Zuletzt wurde, auf freilich stoischem Umweg, sogar das unbiegsamste Wesen des griechischen Mythos: die Moira, mit römischen Zwecken versehen, als wäre es dadurch vermittelt. Rom selber wird das Schicksal, und zwar, für sich selbst, ein gutes; was bei den Griechen hoch über den Göttern schwebt, wird hier zum Staatsglück niedergeschlagen. Wenigstens in der Blütezeit Roms; in seinen späteren Jahrhunderten blickt das Fatum durchaus wieder als Verhängnis drein, ja, als deklarierter Feind. Aber es ist bezeichnend, daß die Stoa, nachdem sie die philosophische Schwester der römischen Religion geworden war, ihren Zeus, ihre »gute Notwendigkeit« wesentlich als die Notwendigkeit Roms interpretieren konnte. Es entsprach das einem politischen Gottvertrauen, wie es kein Imperium im Überbau bisher besessen hatte, nicht einmal (mit überdies ganz anderer religiöser Einrichtung) das englische des siebzehnten Jahrhunderts. Charakteristisch für diese Art Schicksalsglauben ist Sullas Frömmigkeit, charakteristisch deshalb, weil in der höchst individuellen Beziehung dieses Feldherrn zur Fortuna sich die des gesamten römischen Patriotismus gesteigert ausdrückt. Sulla fühlte sich als Liebling der Götter, vor allem der Aphrodite, mit der er geheime Zwiesprache zu pflegen behauptete, er fühlte sich fast als Teil der Fortuna und nahm den Beinamen Felix als förmlichen mystischen Titel an. Moira, römischer Glücksstern, Notwendigkeit Roms wurden eins; diese Gottheit Fatum besaß nun in Rom die meisten Tempel, ja im Grund alle Tempel. Und religio selbst wird das römische Wort für Rück-Bindung ans Fatum als das von den Göttern Gesagte, Verordnete; eine Bindung, die mit dem, was des Cäsars ist, zusammenfiel. Jeder offizielle antike Glaube ist Wohlgefühl der Herrenschicht, ist Glaube ihrer Gutgeratenheit in einem Götter mit Menschen verbindenden Schönheitsverkehr bei den Griechen, Staatsverkehr bei den Römern. Die Formulierer dieses Glaubens stehen soviel in ihm und vor allem soviel außer ihm, wie es Epiker tun und, bei den Römern, von Numa Pompilius her, Organisatoren. Daher geschieht hier Vermenschlichung der Götter als Vergöttlichung der menschlichen Kreatur: ihrer Schönheit bei den Griechen, ihres Zweckverstands und Machtwertes in Rom. Tempel der Schönheit entstehen und ein Pantheon des glückhaft vollendetsten Kreatur-Reichs: das sind die Zeichen des klassischen Heils. Der unaufgeblühte Glaube an Prometheus und die tragische Liturgie: Äschylos Einen Einzigen haben die Griechen gesetzt, der nach oben einbricht. Die Wünsche dazu fehlten bei ihnen nicht, Ikaros ist dafür ein Beispiel. Auch Bellerophon, der mit dem Pegasus zum Himmel empordringen wollte. Doch nur Prometheus scheiterte nicht vor dem Ziel, kein Glaubensstifter freilich, sondern ein ursprünglich chthonischer Sagenheld, um den aber nachher eine /(1428) eigene Verehrung kreiste. Der Feuerbringer faßt in sich die mythischen Urlehrer aller Völker zusammen, auf rebellische Art. Der Name Prometheus selber mag mit Entzündendem, Flammendem zusammenhängen: pramantha heißt im Sanskrit Feuerquirl. Prometheus wäre dann von Haus aus dieser selbst und sein Gott, also nicht, nach einem viel später eintretenden Moment seiner Sage, Prometheus, der Vorbedenkende, also nicht der bloße besonnene Gegensatz zu seinem Bruder Epimetheus, dem Nachbedenkenden. Äschylos hat das Feuermotiv breit gefaßt: sein Prometheus will alle den Göttern vorbehaltenen Güter den Menschen mitteilen. Da diese Gestalt als griechischer Luzifer wirkt, als Lichtbringer, ganz hell, ohne Schwefel: so drang Prometheusglaube an ganz anderem Ort vor als an dem, wo sonst Götter oder auch Gegengötter stehen. Er wurde deshalb als Glaube bisher übersehen, ist auch in der Tat, ohne Tempel und sinngemäß ohne Priester, als solcher unentwickelt geblieben. Doch unter anderem Namen ist er desto bekannter: Prometheusglaube ist die Religion der griechischen Tragödie. Hier ist sein Tempel und seine Liturgie, hier hat der Titan, der von Zeus an den Kaukasus angeschmiedete, seinen wenig theistischen Kult. Der gefesselte Prometheus des Äschylos ist deshalb die griechische Zentraltragödie; alle anderen wandeln den Titanen ab. Stolz berichtet er den Okeaniden, wie er in die Welt eingegriffen habe: »Die Menschen sahen, aber sie sahen umsonst, sie hörten, doch vernahmen nichts« (v. 439 f.); als Über-Kadmos hat er Licht gebracht: »Alle Künste kommen den Sterblichen von Prometheus« (v. 490): Sein Wille ist für Zeus unüberwindlich, trotz des Kreuzes am Kaukasus, er verwirft jeden Gedanken einer Umkehr und erwartet einzig das Ende des gegenwärtigen Zeitalters, der Herrschaft des Zeus. Schon jetzt hat ihm Zeus nichts entgegenzusetzen als die Gesellen Kratos und Bia, Stärke und Gewalttat, dazu den Adler, das alte Emblem der Herrschaft und der Zerfleischung, der ihm jeden dritten Tag die Leber abweidet; Zeus wirkt hier durchaus nicht mehr urban, er ist rachsüchtiger
Despot. So hat der Äschyleische Prometheus mit dem Goethischen mindestens eines gemein: abgründigen Haß, ja Verachtung gegen den Herrn der Welt. Das alles aber in religiöser Sphäre; soll heißen, die Rebellion hat hier ebensoviel, ja mehr Hintergründigkeit, /(1429) als Zeus für seine Tyrannei in Anspruch nimmt. Darum blieb auch die griechische Tragödie ein Kult: und ihre sämtlichen Helden sind, nachdem sie Masken des zerrissenen Dionysos waren, zu Masken des Prometheus geworden. Selbst Ödipus bei Sophokles, der passiv Leidende, steht gegen sein Schicksal überlegen da, und die heitere Heiligkeit um den Greis auf Kolonos ist fast wie von jenem Nicht-Mehr-Zeus, jener grace à l'homme beschienen, die der menschenbildende, welterwärmende Wille des Prometheus im Sinn tragen mochte. Und es ist nicht nur Dionysos als Zerrissener, sondern auch als in sich gärender, noch nicht lautgewordener, der in den tragischen Masken des Prometheus aufbegehrt: ein kollisionsvolles Pathos insgesamt gegen den bisher gewordenen Himmel. Dazu bestimmt, als Teil des öffentlichen Gottesdiensts im Heiligtum des Dionysos aufgeführt zu werden, wird so die attische Tragödie, am sichersten bei Äschylos, zur widerolympischen Prophetie. Nietzsche, in der «Geburt der Tragödie«, preist »die erstaunliche Kühnheit, mit der Äschylos die olympische Welt auf seineGerechtigkeitswaagschale stellte«, und sie senkt sich zugunsten des Prometheus, der «Glorie der Aktivität«. Das ist die Wahrheit dieses Stoffs und der Grund, wodurch Prometheus, durch seinen Dichter Äschylos hindurch, gleichsam zum Stifter seines eigenen Glaubens wurde, seines freilich unaufgeblühten. Er mußte im Geist seiner Rebellion unaufgeblüht bleiben, erstens, weil ein sozialer Auftrag fehlte, wie ihn Moses gegen Pharao, Jesus gegen den Cäsar hatte. Und zweitens, weil die Stiftung dieses Glaubens völlig verschoben ist, das heißt nur betrachtendes Schauspiel eines rebellischen Mythos wurde. Für den größten Einbruch ins Jenseits, der bis Jesus geschah, hatten die Griechen nur die verteilten Rollen eines Dichters, der kein Prophet, und eines Halbgotts, der kein Mensch war. So blieb einzig die Tragödie dem Prometheus als sein religiöser Ort, obzwar angeschlossen an den Kult des Dionysos. Spannung zu Zeus, das aber ist die Metaphysik der Tragödie, eine kriegerische, die noch im Untergang des Helden ihr Nein zur alten Ordnung an den Mast nagelt und ihr tieferes Ja zu einem anderen Zeitalter, einem neuen Himmel. Es ist eine prachtvolle Hybris und mehr als das: eine durch Leid gereinigte, durch Genius vertiefte, die die alten Zusammenhänge aus Schuld und /(1430) Schicksal vernichtet. Auch wenn Prometheus dadurch selber untergeht: er vertritt etwas, das besser ist als die griechischen Götter. Unter den Olympiern galt bedeutsamerweise nur Pallas Athene, die Göttin Vernunft, als Freundin des Prometheus; und sie ist die einzige Potenz, die hier mit ihm zusammenpaßt. Trotzdem ist es überraschend, daß die Griechen diesen Nothelfer nicht höher geehrt haben. Es wurden ihm auch dichterisch keineswegs soviel Weihen gegeben, wie sein Rang erwarten ließ. Äschylos zelebrierte den tragischen Kult des Prometheus, aber für Hesiod wie Pindar, auch für Vergil und Horaz ist er ein ränkevoller Empörer und die Entziehung des Feuers durch Zeus eine Maßregel vorschauender Weisheit. Selbst die Kyniker, sonst keine Freunde des olympischen Wesens, gingen gegen Prometheus an; freilich als gegen den Kulturbringer. Sie deuteten, wie Dio überliefert, die Strafe des Prometheus als einen gerechten Hinweis auf die menschliche Selbstvernichtung infolge ihrer Begierde nach äußeren Gütern und Genüssen. Platon aber erzählt im «Protagoras«, daß Prometheus den Menschen keineswegs alle Künste vom Himmel gebracht hätte, sicher nicht die zur Gesittung wichtigste unter ihnen: die Staatskunst. Prometheus, der den ganzen Himmel auf die Erde legen wollte, konnte nicht einmal den halben bringen: «So erhielt zwar der Mensch das Wissen, das zum täglichen Leben erforderlich ist, des staatlichen aber wurde er nicht teilhaftig; denn das war bei Zeus, und Prometheus war es nicht gestattet, des Zeus Behausung zu betreten, auch waren dort ja seine furchtbaren Wachen« (Protagoras, 321 D). Recht und Sitte, lehrt Platon, als der Utopist regimentshafter, ja uranischer Ordnung, sind bei Zeus, und erst Hermes, der Bote, nicht Prometheus, der Rebell, hat sie an alle gebracht. Und als Urbild der Tragödie wurde in der Sklavenhaltergesellschaft nur der leidende Dionysos empfunden, nicht - wie doch rechtens - der rebellische Prometheus. Beim Ausgang der Antike wurde der Rebell sogar völlig vergessen, er verschwand vor den weit mehr gesuchten Heil- oder Asklepiosgestalten; Prometheus ist nur noch Lehmbildner, nicht mehr Lichtbringer. Ja er wird bei Plotin zu einer Art von niederer Weltseele insgesamt, dergestalt, daß er auch Pandora mitgebildet und sie dem Epimetheus geschickt hat. Plotin kehrt die Rolle von Zeus und Prometheus /(1431) sogar um; wenigstens im Fall Pandoras, die, wie Plotin behauptet, ebenfalls von Prometheus gemacht worden war: »Wenn es heißt, Epimetheus habe das Geschenk des Prometheus verworfen, bedeutet das nicht, die Wahl eines Lebens in der geistigen Welt sei besser? Der Schöpfer der Pandora wird gefesselt, weil er gewissermaßen durch sein Werk (die irdische Weltbildung) an dasselbe gebunden ist; aber dieses Band ist äußerlich, er wird durch den Herakles befreit, und das bedeutet, daß er trotz seiner Fesseln noch die Macht hat, sich zu befreien« (Enneaden IV, 3,14). Der ursprüngliche Kämpfer gegen den Weltherrn wird so schließlich, in tollem Umschlag, zum Weltschöpfer insgesamt und zum Weltherrn selber; was bald danach, in gnostischer
Wendung, dasselbe bedeutet wie der - Teufel. Nur die Kirchenväter haben, von der Verneinung des Zeus, vom neuen Weltalter her, den Lichtbringer dadurch geehrt, auch abgesetzt, daß sie ihn vor dem neuen Herrn überflüssig werden ließen: «Der wahre Prometheus«, sagen Lactantius wie Tertullian, «ist Gott.« Also ist wenigstens bei den Christen Prometheus - ein ganzer Gott geworden, statt des Halbgotts der Tragödie und ihres Kults; er hatte ja zuerst geheißen, die falschen Götzen zu verbrennen. Indem Prometheus gegen den obersten Heidengott opponierte, schien er das nur gegen diesen Götzen zu tun, nicht gegen Jahwe: der Menschengott Prometheus stand den Kirchenvätern für gut gegen Zeus. Bis er allerdings seine Künste auch gegen den neuen Herrn weitertrieb, auch gegen den Kirchen-Jahwe, nicht nur gegen den Zeus. Das aber geschah, nachdem endlich ein sozialer Auftrag gegen die Obrigkeit begann, auch gegen ihr Maximum im Jenseits. Prometheus, der der Antike ein Halbgott geblieben war, wurde der Neuzeit ein desto volleres religiös-atheistisches Symbol. So daß am Ende der gesamten bisherigen Religionsgeschichte der Satz von Marx entstehen konnte und stehen bleibt: »Prometheus ist der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophischen Kalender.« Die Neuwertung begann mit Boccaccio, dem entstehenden bürgerlich-individuellen Bewußtsein entsprechend; Scaliger, später Shaftesbury übernahmen den Titanen als «alter deus«, wenigstens angewandt auf den Dichter, dergleich falls übers Gegebene hinaus schaffen soll (vgl. Seite 950 f.). Vor allem aber Bacon hatte, wenn auch überwiegend von seinen /(1432) technisch-utopischen Träumen her, Prometheus wieder scharf erinnert: «Prometheus«, sagt Bacon mit einem bisher nicht gehörten Ton, »ist der erfinderische Menschengeist, der die menschliche Herrschaft begründet, die menschliche Kraft ins Grenzenlose steigert und gegen die Götter aufrichtet« (De sapientia veterum XXVI). Die völlig revolutionäre Wendung, mit der Sturm-und-Drang-Revolte entfesselt, geschah dann in Goethes Prometheus-Fragment, mit einer thematischen Nachreife zugleich, wie sie kein Gott je gefunden hat. Mit der Mischung von Sturm und Drang, Anklagen Hiobs und der tragischen Kenntnis, daß die Menschen besser seien als ihr Gott. Shelleys «Prometheus unbound« hörte dann vollends auf dies Fragment, und der Titan wird zur Französischen Revolution, Zeus aber erhält vollends die Züge eines manichäischen Satans. Selbst der späte, reaktionäre Schelling holte hier, auf tiefsinnige Weise, Unterdrücktes hervor, ohne das es »nichts Ewiges im Menschen geben würde«. Der Unterdrückte ist das erzeugende und seine Entfremdungen durchschauende Subjekt: «Prometheus ist der Gedanke, in dem das Menschengeschlecht, nachdem es die ganze Götterwelt aus seinem Inneren hervorgebracht, auf sich selbst zurückkehrend, seiner selbst und des eigenen Schicksals bewußt wurde, das Unselige des Götterglaubens gefühlt hat« (Werke I, Seite 482). Prometheus ist so der Gott, der den Unglauben an Gott bezeichnet, oder die Hybris, die hier so wenig eine irreligiöse ist, daß sie aus dem Religionssubjekt selbst entspringt. Von den griechischen Götterbildern: mit der Schönheit, die an ungeahnten Festen teilnimmt, mit dem Abgrund, vor den die anthropomorphe, nicht anthropozentrische Schönheit gelegt ist, ist derart Prometheus höchst dringlich verschieden. Als Titanisches, aber als eines für Menschen und durch sie hindurch, in einer unaufgeblühten Religion Griechenlands: in der des rebelIisch-humanen Heils. Fischmensch und Mondschreiber des Astralmythos: Oannes, Hermes Trismegistos-Thot Die bis hierher gesehenen Künder waren undeutlich oder standen beiseite. Denn der zuletzt genannte Held war ja kein Stifter, /(1433) sondern nur der Traum von ihm. Doch wenn auch die halbwegs wirklich erschienenen bisher undeutlich waren oder beiseite standen, so gaben sie sich doch menschlich, auch noch im Rausch, der dionysisch machte. Was jetzt dagegen auftritt, rund um die Griechen und lange vor ihnen, die babylonischen, die ägyptischen Stifter, besser: Ordner stehen nicht nur ganz im Brauch, sie stehen auch in einem, der extrem von unserem Fleisch und Blut absieht. Der babylonische wie ägyptische Gott gilt gerade als übermenschlich, indem er unmenschlich ist, tierköpfig oder sternhaft. Jede altorientalische Form wird von außen her geprägt, jeder Inhalt von oben her eingeflößt, so erst recht der heilige, der astral-mythische. Seine Künder zeigen demgemäß ihr eigenes, menschliches Gesicht nur, indem es verfremdet ist; ihre Gestalt ist überkleidet. Ägypten kennt als einen seiner Urlehrer zwar die historische Person des Imhotep, der als Baumeister und Totenpriester des Pharao Zoser um 2900 erweislich gelebt hat. Aber Imhotep, ein Mann mit vorhandenem Gesicht, wurde, als Wundertäter und Autor magischer Bücher, doch erst spät dem ägyptischen Glauben zugrunde gelegt. Neben ihm, durchaus über ihm überlieferte die ägyptische alte Sage als Glaubensstifter den Thot, keinen Menschen, sondern einen Gott und von vornherein mit einem Ibiskopf. Das blieb so, indem später ein wirklicher Prophet, Amenophis IV., mit seiner neuen, monotheistischenSonnenreligion ja nicht gesiegt hat. Erst in der alexandrinischen Zeit trat Thot, der mit dem griechischen Hermes gleichgesetzt wurde, zurück, vielmehr mit einem neuen Namen als Hermes
Trismegistos vor. Dieser wurde nun als der wirkliche Stifter der ägyptischen Theosophie ausgegeben, doch vergebens, es ist der alte Mondgott Thot, nur personifiziert. Thot aber, der Schreiber der Götter, galt als der Gott der Zahlen, der Messung, der Geometrie und der Hieroglyphen. Hermes-Thot also, dieses bloße - Stifter genannte - Gedächtnis, das an der Wiederkehr und der Gewordenheit haftet, lehrte dementsprechend die gesammeltste Religion außermenschlicher Ruhe. Was am ägyptischenTodesbild, was an seinem Bausymbol Immer wieder erschienen, das hat nun an Osiris, dem urprünglichen Erdgott, und Re, dem Sonnengott, seinen letzten Halt: und dieser Halt ist in der Zeit die Wiederholung, im Raum eben /(1434) die erhabene Starre (vgl. Seite 844 f.). Wie die Sonne täglich als die gleiche neu geboren wird, so wird das kurze und wechselreiche menschliche Leben durch Osiris in Ewigkeit und Wandellosigkeit verlängert: Ägyptens Naturgötter beglücken als die der Einerleiheit. Was die Blockeinheit der hieratischen Statuen versprach, das war in den Starr-Göttern Osiris-Re, zuletzt Ptah verbürgt: Über allen lebenden Wandel herrschte heilend geordneter Tod, Wunsch-Geometrie der Gewordenheit. Letztere ist die eigentliche ägyptische Frohbotschaft, die einer Zukunft, welche alle Ruhe der Vergangenheit für sich hat, die eines Himmels, welcher das ungetrübte Urbild der so sehr getrübten, so sehr wechselvollen irdischen Ordnung darstellen sollte. Die ägyptische Pyramide, sagt Hegel, ist ein Kristall, worin ein Toter haust; die ägyptische Religion in sich selber ist zwar durchaus kein Kristall, sie setzt sich vielmehr, in einer viertausendjährigen Schichtbildung, aus sehr verschieden strukturierten Göttern zusammen, mit den verschiedenartigsten, oft beim gleichen Gott wechselnden Funktionen; es gibt im Volksglauben auch Blumengötter und den Groteskgott Bes, es gibt die stets bewahrte Fetischstufe der Tiergötter: doch das ist Außenwerk, und desto unverkennbarer nimmt der Grundinhalt dieser Religion das Kristallwesen ihrer Architektur auf, in Gestalt jenes Unbewegten und Definitiven, dessen regulär angeschossene Ordnung durch den Totengott Osiris dominiert wird. Osiris ist gewiß in der älteren und Volksvorstellung ebenso der Vegetationsgott, der in der Erde haust und von seinem Grab her gerade Fruchtbarkeit spendet, ja zu neuer Zeugungskraft aufersteht, kreislaufhaft zwischen Leben und Tod: doch wesentlich ist ihm, wie auch dem Weltherrn Ptah, der in Mumiengestalt dargestellt wurde und mit dem er verschmolz, das Leben im Tod; so ist er der Eintrittsgott zu einem stehenden Kreislauf entronnener, statuarischer Abgeschlossenheit. Ägypten ist nicht die Religion des Rätsels, wie Hegel sie vom griechischen Sphinxmythos her bestimmte, wohl aber die Religion der äußersten Verfremdung, des Schweigens und seines Kristalls. Das Heilige wohnt als durchgeformte Schwere im Granit-, Porphyrgehäuse; Ägypten wird so ein Exzeß geometrischer Blockeinheit auch in der Religion. Nie wurde Definitives als Zustand gleich hoch verehrt, das /(1435) Beschlossene, Geschlossene, wie es in der Erscheinung als Tod entgegentritt. Der einzige griechische Gott, den die Ptolemäer in Ägypten heimisch machen konnten, war Pluto; Alexanders Gleichung Zeus-Ammon drang nicht durch. Aber Pluto konnte noch im späten, überall sonst disorientierten Ägypten unter dem Namen Serapis als Todesgott Weltgott werden, und der Osiriskult wurde auf ihn übertragen. Die Majestät des Todes ist allemal die ägyptische, und die höchste Ordnung der Gewordenheit ist und bleibt der Kristall; ägyptische Religion ist zutiefst seine Anbetung. Einzig die babylonische Religion, dem Schweigen Ägyptens so weit unterlegen, grenzte in ihrem spezifischen Astralkult an dies Geometrische noch an. So wie der Stern an den Kristall grenzt und der Kreislauf des Umschwungs an die Stereotypie unbewegter Wiederholung. Wenn also am Nil die Pyramide stand, mit einer Leiche im Kern, erhob sich am Euphrat der Stufenturm, den sieben Planeten geweiht und den Häusern, durch die sich die Sonne bewegt. Demgemäß sehen die Lehrer solch ferner Kreise gleichfalls seltsam drein. Auch sie gelten als unvordenklich alt, tragen ungewöhnliche Leiber, sind ganz von fremdartigem Nichtmensch umwittert. Der Sternglaube Babylons zeigt sogar besonders ungeheuerliche Stifter, unvertraut zusammengesetzte. So den Fischmenschen Oannes, von dem der Belpriester Berossos erzählt, sehr spät, um 280 v.Chr., aber auf Grund erhaltener Sagen. Oannes, in den der Stifter sich verkleidet, war ursprünglich ein Gott der Erdtiefe; so taucht er aus dem Meer auf, so belehrt er über die Entstehung der jetzigen Welt, über den Kampf mit dem Drachen des Abgrunds. Andere Fischmenschen und Mischwesen fehlen in der Legende der ersten babylonischen Könige nicht, die Berossos übermittelt hat, sie erweitern die Kunde des Oannes. Groteske Stifter gewiß, doch trotz ihrer chthonischen Abkunft sofort kosmisch-astralisch eingeordnet: Oannes gehört dem Tierkreiszeichen der Fische zu, von diesem Meer kommt er nun eigentlich her. Und die Frohbotschaft bezieht sich letzthin auf den Gott des Glücks- und Siegesplaneten Jupiter, der früh mit dem Drachentöter Marduk zusammenfiel. Nur eine einzige etwas anthropoide Gestalt, der Sonnenriese und Heros Gilgamesch, erscheint als nicht ganz astralischer Heilsbringer, hat /(1436) gerade den Himmelsstier niedergerungen, das Wasser des Lebens und die Pflanze Unsterblichkeit erlangt, doch sie freilich auf der Heimkehr zur Erde verloren und so selber den Tod erlitten, trotz aller Taten, ohne himmlische Auferstehung. Makellos legt sich darum nur ein Sterngott an den Himmel, einzig Marduk, im Planerjupiter herabscheinend, ist der Erlöser.
Und nach dem Sieg über den Abgrundsdrachen erlangt Marduk die Herrschaft der neuen Zeit und Welt: am Neujahrstag, der sein Fest katexochen ist, erhält er die Leitung der Geschicke, die Schicksalstafeln, das Buch mit sieben Siegeln; aus seiner Kultstätte erwächst die Stadt Babel = Bab-il, Himmelspforte, und er wird unter Hammurabi zum Reichsgott. Als Reichsgott hat Marduk in der Zeit nach Hammurabi die ganze alte sumerische Götterdreiheit in sich aufgenommen: Ea, den Gott der Meere und der verborgenen Weisheit, aus der Oannes gekündet hatte, Anu, den Gott des Himmels, Enlil, den Gott der Welt. Als Neujahrsgott ist Marduk zugleich der des Frühlings oder der Erlösung der Menschheit von Krankheit und Elend. Viel Heilandstum, viel Frohbotschaft des Siegs auf einmal, doch eben eine solche, die sich hoch über den Menschen und außerhalb ihrer zuträgt, nicht bloß am Himmel, sondern dazu in einer Urvergangenheit am Himmel; der Neujahrstag ist davon stets nur die Erinnerung, die abgeschlossen gesetzte, bestenfalls die Wiederholung. Anders Hoffendes ist zwar unleugbar in Babylon, auch in Ägypten, qua Frohbotschaft; Segens-Prophetie nach großer Katastrophe geht wie ein Humanum in die Zukunft hinein. Doch wegen der völligen Außermenschlichkeit und Unzeitlichkeit der babylonischen Religionsstiftung, wegen der völligen Identität des Wiederholungsgotts mit dem Heiland bewegt sich das Hoffende einzig im Kreislauf der Gewordenheit, ja in fixierter Himmelsuhr. Marduk-Jupiter ist zugleich identisch mit dem Tierkreisbild des Stiers, worin seit der Gründung Babylons, um 2800, die Sonne stand: so wird er, im Kalendersystem des Stierzeitalters, zum Beherrscher des Morgen- und Frühlingspunkts der Sonnenbahn; so wird er der längst vorhandene, im Brauch wie Astralmythos fixierte Frühlingspunkt, von dem ab das Gestirn sich immer wieder erhebt. An jedem Neujahrstag, beim Regierungsantritt jedes Königs erscheint der Erlösergott als die gleiche Wesenheit /(1437) und nur in verschiedenen astrologischen Konstellationen. Die Frohbotschaft Babylons geht allemal zurück auf den Sieg des Sterngotts Marduk über den Abgrundsdrachen Mummu Tiamat; so ist und bleibt sie Vertrauen aufs Gesetz von oben nach unten, aufs Stern-Gesetz. Bereits das früheste Keilschriftzeichen für Gott stellt bezeichnenderweise einen Stern dar, desgleichen finden sich bereits im alten Babylon die Anfänge der religiösen Astrologie, die nachdem die Chaldäer ausgebildet haben. Am Himmel herrscht das Urbild der Ordnung, Marduk, die Sterngötter weidend, hält sie als gute aufrecht; Glück, Segen, Heil auf Erden sind lediglich ihr kosmomorphes Abbild. Dieser vollendete Astralmythos enthält so auch als Lehre nichts Menschliches, sein Evangelium landet in Gestirngöttern, in Übereinstimmung mit ihrem guten Kreislauf, in Vorsicht vor ihrem schädlichen. Er ist, wie sich von selbst versteht, zwar genauso Stiftung und Menschenprojektion in die Welt wie alle Religionen, aber sein Willensund Selbsteinsatz enthält ein Subjekt, das gänzlich nur als Objekt dasein will. Nach außen, in Stein und Kosmos, geht hier der geheimnisvolle Weg und hat weder in Babylon noch in Ägypten die Tendenz, sich aufs Subjekt zurückzuwenden. Grundlehre des Astralmythos ist: wie die Welt oben, so ist sie unten; also stellt auch der Mensch nur das Abbild, ja nur den Abdruck der oberen und so äußeren Welt dar. So ließ dies astralische Oben der religiösen Subjektivität überhaupt keine Substanz, es ließ ihr nicht einmal so viel, um an den Kaukasus genagelt zu werden. Ja überall, wo das bestimmende Wesen auf pure Objektseite gebracht worden ist, überall dort wirkt als religiöser Archetyp Ägypten und Babylon nach. So nicht nur in der Astrologie, wie sie auf babylonischem Boden, in Kontakt mit der alten Sterrnreligion, von den Chaldäern ausgebildet worden ist, ein System unvermeidlicher Abhängigkeit von außen und oben. Als solches mythologisierte die Astrologie Ordnung versus Freiheit, immer mit strengem Licht im Grund, wie noch sozialutopisch erkennbar bei Campanella. Sondern auch wo von Schicksalssternen gar keine Rede ist, bleibt Babylon, bleibt eine Art Rotiertrommel menschenleerer, geschichtsfremder Wiederholung, besonders in überwiegend heteronomen Weltanschauungen, determinierend von oben, selbst von nur außen her. Das /(1438) Astralmythische steckt so in jeder Art von Fatalismus, auch im christianisierten, ja selbst noch in einem mechanistischen. Dafür aber setzten auf der anderen Seite Babylon und Ägypten, indem sie nicht nur die unverbrüchlichsten Despotie-, sondern ebenso die merkwürdigsten Verfremdungs-Religionen waren, erstmalig Erhabenheit in ihre religiöse Sphäre - und zwar gerade durch die extrem raumhafte Gegenstellung des Astralmythischen zur allzu subjekthaften Anthropomorphisierung. Es steckt in ihrer Menschenlosigkeit das Pathos extremer Auswendigkeit, aber weiterhin auch das noch mythische Korrektiv einer Ordnung, ohne welche Subjekt und Zeit sich nur in sich selbst herumwerfen und verzehren. Kristall und Sterne waren durchaus einmal eine Frohbotschaft, wenn auch die Stifter vor diesem puren Astralgesicht ihrer selbst notwendig skurril wurden oder verdämmerten. Der Astralmythos bedingt Hierophanten, er erlaubt keine Verkünder, die dem Sonnengott den Kopf umdrehen, auf den Menschen zudrehen; wie denn ja auch die hieratischen Bauwerke Ägyptens und ganz eindeutig Babylons ihre Vollkommenheit rein als Nachbildung einer kosmischen Stereoskopie erreichen wollten. Sogar die Labyrinthe Ägyptens, von denen Herodot berichtet, wollten weit über stilisierte Eingeweide oder Gehirnwindungen hinaus in ihren Gängen den Lauf der Himmelskörper nachahmen, also kosmomorph sein; wie sehr erst der ägyptische Tempelweg, der
babylonische Planetenturm. Verkünder und Gemeinde verschwinden in Gebilden und Lehren, die das Göttliche so kolossal wie geometrisch aufgehäuft haben; das ist das Zeichen des strengen Astralmythos und seines lange geglaubten Heils. Frohbotschaft des irdisch-himmlischen Gleichgewichts und des unscheinbaren Welttakts (Tao): Konfuzins, Laotse Auch der maßvolle Mensch hält sich zurück, drängt sich nicht vor noch auf. Vom holden Bescheiden bis zur Gabe, ausgeglichen im Mittleren zu sein, zieht sich eine verwandte Art. Sie ist bürgerlich in einem älteren Sinn, in einem, der noch keinerlei ungemessenen Profittrieb hat. So wurde auch die mittlere Haltung, die dem Abenteuer fremde, besonders in Völkern ohne kriege- /(1439) rische Oberschicht gepriesen. Ohnehin empfiehlt sich gepredigter Anstand, neben grauenhaften Leibesstrafen und vorbeugender als diese, um die Massen in Ruhe zu halten. Man liebt das Erprobte, das Ausgewogene, das Lot in den Dingen, man ist andächtig zum Maß. Am bewußtesten erschien dergleichen in China, am Ende seiner Feudalzeit versteht sich, um 700 v.Chr., unter anarchischen Wirren, die sich noch bis um 220v. Chr. hinzogen. Damals wurde China erst zivil, eine neue Herrenschicht entstand, das ist eine neue Form der Grundrente. Die patriarchalisch aufgebaute Familie blieb zwar, doch die adligen Geburtsrechte fielen, außer dem Kaiser gibt es keinen Geburtsadel. Auch der Kaiser und seine Mandarine (ein neuer Bildungsadel) gaben sich nicht mehr als die «Herren« der ritterlich-feudalen Zeit, sondern als die despotischen «Eltern« eines formal befreiten Volks. Aus der Hofhaltung wird Maßhaltung, sozusagen; die Lebensform wird durchgehends patriarchalisch gezähmt. Religiös formuliert wurde diese erstrebte Mitte durch Konfuzins, einen selber zurückhaltenden, nirgends eifernden Mann. Er wirkt als Sittenlehrer unkriegerisch wie keiner: »Besser ein Hund und friedvoll als ein Mensch und im Streit leben.« Das Li (Anstandsregel) wird zur Andacht, das Jen (Menschlichkeit) bedeutet hier Brauch oder Überlieferung. Um Wildes oder Dunkles kümmert sich ein Kluger nicht: «Worüber der Meister nicht sprach, waren unnatürliche Erscheinungen, Taten der Gewalt, Unruhen und Geister« (Lun-yü VII, 20). Ebenso: «Den Geistern mit Ehrfurcht begegnen, aber Abstand von ihnen halten, das mag man Weisheit nennen« (Lun-yü VI, 20). Dafür rückt der Kaiser in die fromme Mitte, der Kaiser des nachfeudalen, patriarchalisch-zentralisierten «Rechtsstaats « und seine Besonnenheit. Sie zu formulieren, mehr noch: zu weihen, dazu griff Konfuzius persönlich auf die Vergangenheit zurück, als wäre die Theologie des neuen, des patriarchalisch-absoluten Staats bloße «Reform«. Konfuzius verkleidet das Seine als Kodex des feudalen Gentleman, er hält sich sentimentalisch an den überlieferten Brauch, nichts soll wiederhergestellt werden als der «Weg der alten Könige«, nichts soll regelgebend sein als die alten Urkunden des Schu-king und Schi- king. In Wahrheit aber wurde Konfuzius der Weisheitslehrer der neuen Patrimonial- /(1440) bürokratie; er nimmt ihre nicht mehr geburtsständische, sondern akademische Gliederung voraus, ihren Pazifismus und Rationalismus. Mit der nachfeudalen Gesellschaft erscheint eine nachfeudale Götterwelt, und sie allerdings hat, bei aller gebliebenen Naturreligion, ein so eminent Menschliches in der Mitte wie die Sittlichkeit des Kaisers und seine maßhaltende Besonnenheit. Das ist in dieser Form ein Neues, besonders im Gebiet der Naturreligionen, zu denen die chinesische noch zählt; und Konfuzius, der Stifter selbst, tritt trotz aller maßvollen Zurückhaltung immerhin laut und deutlich mit seinem Namen auf: als Lehrer des Kaisers und seines Reichs der Mitte. Gewiß, auch andere Naturreligionen machten das Oberhaupt magisch: im alten Irland wurde geglaubt, ein starker König bringe Natursegen; im alten Mexiko mußte der Herrscher bei Thronbesteigung sogar den Schwur leisten, daß er die Sonne scheinen, die Wolken regnen, die Flüsse fließen lassen wolle und die Erde zu großer Fruchtbarkeit bringe. Im alten Indien war dieser Naturrapport sogar mit Moral versehen: »Wo die Könige sündlos handeln«, sagt das Rechtsbuch des Manu, »dort werden die Menschen schmerzlos geboren und leben lange, das Getreide schießt auf, sobald es gesät, Kinder sterben nicht, alle Nachkommen sind gut geraten.« Und in Babylon, in Ägypten hatte zwar kein Stifter, wohl aber der Herrscher als solcher göttliche Würde, durch ihn hindurch segnete Marduk, segneten Horus, Osiris, Re das Land. Aber ob Irland oder Mexiko, ob Altindien oder gar Ägypten-Babylon mit seinen riesig tabuierten Monarchien: das Oberhaupt des Volkes steht unterhalb der jeweiligen Naturgötter, verfügt ihnen gegenüber nur über eine besondere Gebetskraft, oder aber Marduk, Re verkörpern sich selber in der Königswürde, bei sonst fast menschfreiem Astralmythos. Anders eben im Konfuzius-Glauben: der Kaiser steht über den irdischen Naturgöttern, zwischen Erde und Himmel hält nur er das Gleichgewicht. Die Berg- und Fluß-, die Stadt- und Provinzgötter des Reichs gelten als kaiserliche Beamte, sie sind absetzbar wie Mandarine. Der Kaiser des Konfuzius ist dasselbe wie die Mitte des Staats und Mitte des Kosmos: Mißernte, Überschwemmung, Erdrutsch, selbst böse Stern-Konstellationen folgen so
genau aus ungeordneter Regierung wie guter Naturgang aus geordneter. Und an /(1441) diesem Punkt der Lehre wird sichtbar, daß die Benanntheit und Betontheit eines Stifters auch eine Naturreligion entscheidend verändert (über die bloße ideologische Glorifizierung des Herrschertums hinaus). Wonach ein Stifter sogar vor beibehaltenen Gewalten des Astralmythos nicht verschießt, wenn dieser Mythos sich nicht mehr hoch über dem Menschenreich erhebt, sondern dieses nun in die zentrale Mitte von Erde und Himmel einrückt. Die altchinesische Religion hielt sich noch gänzlich naturmythisch, sie war dämonisch-orgiastisch in ihren Fruchtbarkeits- und Acker-Riten (das chinesische Theater bewahrt davon noch Züge), sie war astralisch in ihren Riten und Gesetzen, in ihren Messungen und ihrer Musik (der Urkaiser und Urliturg, der legendäre Huang Ti, ist nichts anderes als der Jahres- und Kalendergott).Aber durch Konfuzius verschwindet das Orgiastische völlig, und das Astralmythische wird uminterpretiert, wird durch den Maßgeber des Einklangs zwischen Kaiser und Natur auf die Macht menschlicher Harmonie projiziert. Daher die Grundlehren: »Der Himmel spricht nicht, er läßt durch einen Menschen seine Gedanken verkünden«, und:»Für das Reich der Mitte gibt es nicht nur auf der Erde, auch im Himmel kein Ausland.« Eine der erstaunlichsten Pazifizierungen fand an den Gegensätzen statt, zwischen denen einst der Kampf der weiblich-chthonischen und der männlich-uranischen Naturdämonen gerast haben mochte. Y-King, das alte «Buch der Wandlungen«, nennt diese Gegensätze Yin und Yang; sie bedeuten Tal und Berg oder auch Flußufer, deren eines im Schatten, deren anderes an der Sonne liegt, in der Zeit der Ming-Dynastie, ja schon in sehr frühen Schamanenschriften, wurden sie auf Weib und Mann bezogen. Aber der Kampf zwischen Yin und Yang, Nacht und Tag, Erde und Himmel findet, völlig urwüchsig-dialektisch, die Einheit der Gegensätze überall, wenn auch eine beendete; Yin und Yang werden im Ganzen zu Erd- und Himmelsschalen des großen Gleichgewichts, der ersehnt-universalen Harmonie. Und bei alldem eben ist die Menschenwelt, mit dem Kaiser an ihrer Spitze, nirgend mehr Naturgöttern unterworfen, sondern einzig dem Gedanken des Himmels, - und dieser ist, ein letztes Spezifikum Ostasiens, kein Gott. In allen westlichen Religionen lief von den niederen Göttern zum höchsten eine ein- /(1442) zige superiore, eine gleichsam immer theistischer werdende Linie, in China dagegen sind Götter nur in der Natur, und die sie überwölbende, ihr superiore Welt ist nicht-theistisch. Bereits Schuking, das alte »Buch der Urkunden«, lange vor Konfuzius, nannte die himmlische Ordnung T'ien-tao, das Auf-dem-rechten-Weg-Sein des Himmels; bei Konfuzius wurde daraus die Fürsorge einer ebenso nicht-theistischen, die Welt durchwaltenden Norm. Sie wurde der letzte Halt der Mitte, sie verhindert, durch den Kaiser hindurch, daß Reich und Reichs-Natur aus ihren Grenzen schweifen; Anschluß an T'ien-fao ist Vermittlung mit der Ur-Balance aller Dinge, also mit dem Segen. An dieser Stelle tritt allerdings der Stifter doch wieder zurück, obzwar aus ganz anderen Gründen wie beim Astralmythos: Person wäre hier Störung. Die Welt läuft, bei ordentlichem Menschenwandel, wohltätig im Kreis; wie der Familienstaat, wie der Einklang der Natur, so duldet T'ien-tao zwar einen Lehrer, aber es braucht keinen Tribun, und der Mensch selber braucht im T'ien-tao keinen. Das ist eine Beschaffenheit oder eine Grenze, die der Religion Chinas blieb, solange sie überhaupt vorhanden war. Während die vorderasiatische, die iranische, die indische Kultur in der Folge machtvollste Prophetie hervorgebracht hat, weiß China nichts davon, und kein Stifter hob ein Haupt über die heilige Gesundheit des human-kosmomorphen Maßes. Wurde Konfuzius einige Jahrhunderte nach seinem Tod zum Gott erklärt, so bedeutet das keine Eindringung in den Himmel, sondern eine bloße Konzession an den polytheistischen Volksglauben; diese Art Gottmensch ist bei der großen und untergeordneten Menge chinesischer Götter wesenlos. T'ien, der Himmel selbst, hat auch hier keinen Raum für einen Gott, T'ien bleibt personlos-geschlossener Inbegriff moralisch-physischen Zusammenhangs. T'ien-tao behält so den ruhigen Atem des statischen Familienstaats, in vollkommener Ideologie und der Vollkommenheit eines religiösen Ideals zugleich: Menschlichkeit ist Innehaltung dieses Himmelswegs. Astralmythos ist nicht verschwunden, aber völlig zu einem Kosmomorphen zurückgegangen, das sowohl das Familien- und Beamten-China reflektiert wie, in einem rationalistischen Maß-Mythos, normiert. Und bezeichnenderweise hat diese religiöse Haltung überall, auch außerhalb /(1443) Chinas, angezogen, wo heilsame Mitte gesucht worden ist, regelndes Maß einer befriedeten Natur. Bewußt geschah das während des achtzehnten Jahrhunderts, im Kampf des Bürgertums gegen neufeudale Ausschweifung, Mittelosigkeit, «Unnatur«. Damals trat nicht grundlos das China des Konfuzius neben das Griechenland der sieben Weisen, traten der Glaube des Maßes neben Sophrosyne, der Weltgang-Optimismus neben Idylle und Arkadien. Auf Grund eines antifeudalen Bon-sens-Gefühls wurde damals fast Genuines im China des Konfuzius und seiner mittleren Weltkindschaft wiedergefühlt und rezipiert, dauernd bedenkenswert, dauernd ein Stück Korrektiv im überbrausenden Wunschbild des Rechten. Es gibt ein eigentümliches, von allem Juste Milieu abhebbares Nachbild des Konfuzianismus sogar in der Revolution, nicht bloß in der Französischen; so scheint dies Nachbild noch in Brechts Satz «Der Kommunismus ist nicht radikal, der Kapitalismus ist radikal; der Kommunismus ist das Mittlere.« Bon sens, Maßglaube, Vertrauen auf die Fahrstraße, die genau
zwischen Skylla und Charybdis hindurch führt, enthalten immer noch ein Element jener wenig lärmenden Frohbotschaft, die sich von Konfuzius herschreibt. Sie ist dem kritischen Vergleichen nahe verwandt, also kann sie revolutionär sein, sie ist dem Ausgleich nahe verwandt, dem kontinuierlich Geratenden, also kann die Botschaft freilich auch ordnungsfromm sein und konservativ. Von hier auch das Konfuzianische in Goethes Weltmaß-Glauben, im Glauben an ein Naturwesen, das regelnd überall die rechten Gewichte einhängt. Von hier das »Leben nach der Vernunft«, das Hegel an China anzog und das ihn dieses Land so viel genauer behandeln, so viel näher verstehen ließ als das exorbitante Indien der Veden, als das aus jedem Weltmaß entfernte Buddhas. Noch in der Nachreife wirkte hier ersichtlich keine Chinoiserie, sondern eine als ordentlich, fast bereits als wirklich empfundene Frohbotschaft: die Welt, wenn der Mensch sich auf sie versteht, ist wohlbestellt. Ausfiel allerdings die Andacht zum Einklang, als die nicht so übersichtliche, welche den Konfuzianismus zur Religion machte und nicht nur zu einem kosmischen Moralkodex; ausfiel das so feine wie unübersetzbare Mysterium im T'ien-tao. Wird das Leben der Menschen kano- /(1444) nisch, wenn es den Himmelsweg zu seinem Kanon macht, so ist dieser Himmelsweg auch bei Konfuzius paradox; schon deshalb, weil er an sich selbst einsam und schweigsam ist. Der maßvolle Lehrer wurde sichtbar als einer, der zurücktrat. Aber der eigentliche, der mystische Lehrer des Tao erschien dadurch, daß er verschwand. Laotse ging nach Westen, über den Bergpaß, ward nicht mehr gesehen, ließ nur sein Buch zurück. Seine Person lebt nicht weiter, es sei denn als die entstellteste; er ist im Gedächtnis der sogenannten Taoisten (einer Gruppe chinesischer Wundermänner niederer Art und ihrer Gläubigen) zum Zauberer geworden. Aus dem Taoteking, dem «Buch vom Tao und Leben«, lernen nun Goldmacher und Geisterbanner ihre Sprüche. Selbst wo Laotse als der Edle und Weise erinnert ist, zerfließt er zu einer kosmischen Gestalt, ist dann zu den verschiedensten Zeiten auf der Erde erschienen; Nachfolge wird auch dieserart nicht möglich. Bei alldem hat Laotse zweifelsohne gelebt, ein älterer Zeitgenosse des Konfuzius, im sechsten Jahrhundert v. Chr., ein einsamer Mann. Sein Buch enthält scharf persönliche Bekenntnisse: «Ich allein bin wie trübe, umhergetrieben als einer, der nirgends weilt« (Kap. 20). Aber trotz dieser seiner Wirklichkeit liegt über Laotse als Stifter der helle Nebel, der diesem Mann so gemäß ist, der sein Tun verringert, bis es anlangt beim Nicht-Tun, und der seine Spur verwischt. Laotse ist im chinesischen Familienstaat der Wander-Eremit, sittefeindlich, kulturfeindlich, nur im Unfaßbaren geborgen. Laotse entschwindet nicht nur nach Westen, über den Bergpaß, sondern wird ständig unsichtbar auf dem Weg des Tao. Also tritt zwar Laotse so deutlich wie Konfuzius mit seinem Namen auf, als Lehrer des stillen Wegs, doch noch deutlicher gibt er sich als verschwindend. Dieser Stifter ist derart durchaus profiliert, doch sein Profil ist so beschaffen wie das, worauf es blickt: es ist selber das mächtig Unscheinbare. Tao gibt Halt und leitet, doch auf seinem Weg steht keine sichtbare Mittlerperson, keine Sprachstatue; ist es doch das nicht Nennenswerte, das einzig der Nennung Würdige, und Laotse weiß seinen Namen nicht. Es ist unscheinbar und wie nichts: »Also auch der Berufene, er wirkt und behält nicht, ist das Werk vollbracht, so beharrt er nicht dabei. Er wünscht nicht, seine Bedeutung vor anderen zu zeigen« /(1445) (Kap. 77). Mitte und Maß gelten auch hier, wie bei Konfuzius, doch wie wenig ist das Maß zu Sitte und herrschender Regierung geeignet. «Verfahren des Tao ist es, die Fülle zu verringern, den Mangel zu ergänzen« (Kap. 77): dies Equilibrium zeigt andere Schalen und Gewichte, einen anderen Einstand des Zeigers als die Konfuzianische Gerechtigkeit. Schwerer als irgendeine religiöse Grundkategorie Ostasiens ist Laotses Tao in europäischen Begriffen angebbar; trotzdem ist es, ungesprochen, am leichtesten verständlich. Als Religionskategorie der Weisheit, als Einklang mit der tiefen Ruhe, die die Wünsche erfüllt, indem sie sie vergißt. Als Einschwingung in den großen Pan, der alles Irdische klein macht und doch selber wieder lauter Kleinheit und Feinheit, lauter Absichtslosigkeit und Stille ist. Indem Störung durch Person völlig wegfällt, dringt Astralmythos sogar umfänglicher vor als bei Konfuzius, doch der Astralmythos der Laotse-Welt ist der sonderbarste: er enthält nichts als den leichten Atem eines Alls überall; sein Universum ist unausgedehnt unendlich, feierlich gering. Kosmos gibt sich als Zugeneigtheit in unermeßlicher Scheu, als der Paradoxtraum, human zu sein, ohne viel eigen Menschliches in sich aufzuweisen. Einen gewissen unabgelenkten Zugang zum Traumgrund dieser Absichtslosigkeit gibt jene chinesische Landschaftsmalerei, die sich zwar großenteils unter viel späteren, nämlich buddhistischen Zeichen entwickelt hat, die aber trotzdem die wache, helle Stille des Tao, nicht den Tiefschlaf Nirwana, den überhaupt nicht malbaren, zeigt. Sinnbilder eines seienden, nicht etwa eines gegenstandslosen, welterloschenen Schweigens gehen hier auf, tief in Tao-Kultur, die sich gehalten hat, bei Liang Kai, bei Ma Yüan, bei Hsia Kuei, alle um 1200 n. Chr., so lange nach Laotse, und alles spricht Weltsymbole der Gestilltheit. Hier erscheint diese als kahler, abgestorbener Zweig, dort als Kahn, von Schilf umgeben, bei steigendem Mond, dort als Hausdach unter einem Baum oder als Wasserfall oder als Felsversammlung, mit einem Menschen am Rande, selber als einsam-mitversammelte, eingesammelte, in Betrachtung versunkene Figur. Das ist Atem des Tao in seinem
unendlich-endlichen Zuhause, ausgedrückt durchs Landschaftsbild; und Laotse hat genau diese Ruhe, diese ungewichtige Gewichtigkeit gepredigt. Im Unscheinbaren gepredigt, /(1446) das das All in Gang hält, das es in Ruhe hält. Die Unterschiede von Konfuzius sind also erheblich; sie sind die Unterschiede des reinsten Mystikers unter den Stiftern von dem frömmsten Rationalisten unter ihnen. Konfuzius gibt das Maß, das leicht zu halten ist, Laotse das Einfache, das am schwersten getan wird. Konfuzius ist geschichtlich, liebt Berufung auf die Alten, Laotse ist geschichtsmüde, gibt kein einziges historisches Beispiel, und die Alten sind ihm nur vortrefflich wegen der Würze ihres Tao. Diese aber ist in jeder Zeit, nämlich in keiner, es ist der Uranfang im Altertum wie in der Gegenwart, das Unablässige als ,das Unaufhörliche. Und wie Geschichte, so ist auch überlieferte Moral, die bei Konfuzius kanonisch, für Laotse wertlos, gar Entartung: »Das Tao ward verlassen, so gab es Sittlichkeit und Pflicht, die Staaten kamen in Verwirrung und Unordnung, so gab es treue Diener« (Kap. 18). Ebenso: »Moral ist Dürftigkeit von Treu und Glauben und der Verwirrung Beginn, Vorbedacht ist Schein des Tao und der Verwirrung Anfang« (Kap. 38). Herrschaft, Vorbild, Kodex insgesamt, bei Konfuzius so hoch gestellt, daß Staatslehre und Metaphysik zusammenfielen, sind in Laotses Tao überflüssig, ja schädlich. Es lebt im Instinkt des Rechten, dem einzigen, der Menschen geblieben ist und der durch die Gesundheit der ganzen Welt geht; es lebt näher im Instinkt, wenn sich so sagen läßt, einer mystischen Demokratie: »Wären die Fürsten und Könige imstande, seine Hüter zu sein, so stellten sich alle Geschöpfe als Hüter zur Seite. Himmel und Erde vereinigten sich, süßen Tau fallen zu lassen, das Volk würde, ohne daß ihm jemand befiehlt, ganz von selber recht« (Kap. 32). Solche Frohbotschaft, eine der alles lösenden Anmut, liegt der Ideologie des Familienstaats, als eines autoritären, fern; trotz der Übergänge, die in manchen Ratschlägen des Konfuzius vorliegen, trotz der Superiorität, die dieser selber der Anmut über die Würde zugesteht. Bei Laotse ist alles Üppige, Großartige verlassen, die verführend milde Kunst der Weisheit erscheint. das Tao - längst nicht nur im Himmel, längst in der Nähe - ist ihr stiller Gott ,gerade er voll Kontrastideologie gegen Anarchie und «Rechtsstaat« zugleich. Das zeigt sich am deutlichsten zuletzt in den Zentralgedanken Laotses (nur verbal hat er sie mit Konfuzius gemeinsam): im Grundsatz Nicht-Begehren, Nicht- /(1447) Machen (wu yu, wu wei), in diesem Ruhezentrum des Tao selbst. Das Nicht-Machen wird von Fall zu Fall auch bei Konfuzius gepriesen, als abwartende Regierungsmaxime, bei Laotse wird es grundsätzlich. Im Reich des Tao wird nichts gemacht, der Putsch des Eingriffs stört sein Walten, nimmt seinen Genesungskräften (einem Gesunden an sich, als Akt selber, der nicht einmal immer Krankheit voraussetzt) die empfangende Stille, worin sie sich auswirken. Desgleichen ist nicht Quietismus im europäischen Sinn oder auch nur im Sinn des Kirchenlieds: «Herr, heb du den Wagen selb«; Ruhe des Tao ist ebenso naiver wie radikaler. Naiver, weil ein Stück unpfäffischer Gesundheit darinsteckt, ein Vertrauen auf Restitution des Gutgebauten aus sich selbst; radikaler, weil dieses Vertrauen sich auf durchgehenden Welttakt bezieht, nicht auf Gottes Schickung und ihre Hinnahme. Trotz aller eigenen Quietismen, die gerade in der Gelassenheitsform orientalischer Weisheit stecken, wäre es also falsch, Nicht-Machen, in der Fassung Laotses, mit Nicht-Wirken gleichzusetzen; konträr, gerade Nicht-Machen und nur dieses gilt hier als Wirkung verursachend. Machen steht hier im Gegensatz zur Lebendigkeit, Reifung, Gedeihung, als welche organische Spontaneität und so allein Gelingen ist: «Das hohe Leben ist ohne Handeln und ohne Absicht, das niedere Lehen handelt und hat Absichten« (Kap. 38); «Das Reich erlangen kann man nur, wenn man frei bleibt von Geschäftigkeit. Die Vielbeschäftigten sind nicht geschickt, das Reich zu erlangen« (Kap. 48). Unüberhörbar spricht aus dieser Abneigung gegen mechanisch-abstraktes Machen chthonische Erinnerung, Glaube an die Erdmutter, die spendend-hütende; längst verschollenes Mutterrecht wirkt in der Maxime des Nicht-Machens nach als Spontaneität in Ruhe. Und nicht grundlos reproduziert, sublimiert gerade Laotses Lebens-Tao damit Bilder aus der frühen Mutterrechtszeit Chinas: ist doch Tao der uralte Name für eine tiergestaltige Weltgebärerin. So erlangt das Nicht-Machen seinen Anschluß an Demeter im Tao: «Der Geist der Tiefe stirbt nicht, das ist das Ewig-Weibliche. Endlos drängt sich's und ist doch wie beharrend, in seinem Wirken bleibt es mühelos« (Kap. 6); «Es wandelt im Kreise und kennt keine Unsicherheit, man kann es fassen als die Mutter der Welt« (Kap. 25); »Ein /(1448) großes Reich muß sich unten halten, so wird es der Vereinigungspunkt der Welt. Es ist das Weibliche der Welt, das Weibliche siegt durch seine Stille über das Männliche« (Kap. 61). Also ist Laotses Nicht-Machen durchaus mit einer Art mitwaltender Wirksamkeit verbunden: kraft seiner Allianz mit dem Puls der Welt, kraft seiner Abneigung gegen abstrakte Technik, die ohne Kontakt mit einer Natur als Mutter wirkt. Also enthält aber auch die verstandene Lehre des Nicht-Machens eine Maxime, die am Ende so fern von Quietismus sein kann, daß sie konkreter Handlung am wenigsten fremd bleibt, ja Revolution als Durchbruch ins Fällig-Rechte heiligt. Es ist die Maxime: Begonnen ist der Weg, vollende die Reise; dieses Sinns erklärt Laotse das Nicht-Machen als Einschwingung in die konkrete Wirkungskraft der Welt: »Wird Tao geehrt und das Leben gewertet, so bedarf es keiner Gebote, und die Welt geht von selber recht« (Kap. 51). Er spricht sogar einmal vom Machen des Nicht-
Machens (wei wu wei), womit genau Herstellung der Konformität mit dem Welttakt gemeint ist, mit seinem mächtig-stillen Schlag. Teeduft zieht durch dieses Religions-AII, so fern von Gewalttat, Roheit und Lärm; Anti-Barbarus ist hier am weltfrömmsten zu Glaube geworden, zur Mutterlandschaft des Waltens und Heilens. Ja der Friede, in dem Machen des Nicht-Machens sich bewegt, läßt Laotses Tao, ohne daß es irgendwo aus der Welt geriete, sogar als jene gänzliche Fülle von Unscheinbarkeit erscheinen, die das Stärkste im Schwächsten, das Wichtigste im Geringsten, fast Abwesenden sehen lassen mag. Daher hat Laotse dem Tao unter seinen vielen Gleichnissen noch dieses gegeben: «Dreißig Radspeichen treffen sich in einer Nabe; auf ihrem Nichts beruht des Wagens Brauchbarkeit. Man bildet Ton und macht daraus ,Gefäße; auf ihrem Nichts beruht der Gefäße Brauchbarkeit. Man durchbricht die Wand mit Türen und Fenstern, damit ein Haus entstehe; auf ihrem Nichts beruht des Hauses Brauchbarkeit. Darum: das Sein gibt Besitz, das Nichtsein Brauchbarkeit« (Kap. 11). Auch dieses Nichtsein freilich ist nicht akosmisch, es ist sowenig Nirwana, wie die weltabgeschiedene Versunkenheit in Absichtslosigkeit es war; auch Tao als Leere lebt, wie das Gleichnis der Radnabe besagt, in der Mitte der Welt. Und sein Nichtsein steht nicht kontra- /(1449) diktorisch, nicht einmal disparat zum Sein, es bezeichnet vielmehr immer wieder das Unscheinbare des wahren Seins, mild und ohne Geschmack. Die Tao-Leere ist die des Nicht-Sonderlichen, aber auch immer wieder die des Ungesonderten und aus der Sonderung Rückkehrenden: »Große Fülle muß wie leer erscheinen, so wird sie unerschöpflich in ihrer Wirkung... Reinheit und Stille sind der Welt Richtmaß« (Kap. 45). Als solche Fülle und Stille waltet Tao-Leere durch die Welt; von Welt entleert und doch eben von nichts als Welt erfüllt. Die Frohbotschaft bleibt kosmomorph: »Der Mensch hat die Erde zum Vorbild, die Erde hat den Himmel zum Vorbild, der Himmel hat das Tao zum Vorbild, und das Tao hat sich selber zum Vorbild « (Kap. 25); - so gibt kosmischer Einklang Halt. Steht auch das Tao über dem Himmel, so ist es doch nichts Transzendentes, es schwingt vielmehr durch alle Nachbilder seines Vorbilds, in unablässiger Verteiltheit, in einem Takt, der bei Laotse ebensowohl der Ursprung wie die Norm des Rechten ist. Als solches Welt- und Nähewesen ist das Tao gerade auch politisch-theologisch ein Gott, so ohne alle Großartigkeit, daß es überhaupt keiner mehr im üblichen Herren-Sinn ist: «Es kleidet und nährt alle Geschöpfe, und es spielt nicht den Herrn« (Kap. 34). Nur eine einzige, überdies verdorbene Stelle im Taoteking (Kap. 4) spricht von einem höchsten Herrscher (Di), sei er als Himmelsgott oder auch nur als Gottkaiser des höchsten Altertums zu verstehen; doch ebendort wird der Höchste als bedingt durch das Tao dargestellt und dieses als das Frühere. Ein unpathetischer Welttakt verlangt keinen Herrn, und die Natur selber ist bei Laotse eine so alte Kultur, daß sie nicht den Herrn zu spielen braucht. Dieses Tao, wenn es so wäre, ließe in der Tat keinen Menschen zuschanden werden; es wäre die Welt ohne jede Irre darin. Richard Wilhelm, der dem chinesischen Religionstext am nächsten gekommen sein dürfte, will Tao mit «Für-sich-sein« wiedergeben (Tao te King, 1915, S. XX), mit einem Hegelschen Ausdruck folglich, der hier aber nicht einen Prozeß voraussetzen darf, wie Gesunden eine Krankheit. Trotzdem enthält das Tao Dialektik, nicht bloß als die der ständigen Selbstaufhebung seiner erlangten Bestimmung, sondern eben als Dialektik des Wandelns im Kreise, des Flusses im Fürsichsein: «Immer im Flusse, das ist: in /(1450) allen Fernen; in allen Fernen, das ist: in sich zurückkehrend« (Kap. 25). Vor allem aber bleibt Tao lautere Spontaneität in lauterer Ruhe, im Muttergrund des Waltens, woran das Menschwesen sich identifizierend hält. Indem dies Menschenwesen mit dem Weltgrund allerdings so identisch wird, daß sein Leben, wenn auf rechter Bahn befindlich, durchaus vom Weltgrund gelebt, ja gleichsam gegangen wird, hört das Menschenwesen als fortbildendes, supernaturierendes auf. Immer wieder schlägt so das Paradox eines Panhumanen ohne Menschen durch; Menschen verschwinden darin wie alle Dinge, ja wie zuhöchst das Tao selbst. Geheimes Wirken ewig waltender Natur, in diesem Göttlichen ohne Gott soll alles Menschliche ohne Mensch, alle Hoffnung ohne ein zu hoffen Nötiges, alles Seiende ohne Sein eingebettet sein. »Das höchste Leben erscheint als Leere, der große Ton hat unhörbaren Laut« (Kap. 41): die Subjekte verlieren sich im Tao wie Töne in einer so großen Harmonie, daß sie gleich der Gesundheit unfühlbar, gleich der Unablässigkeit unhörbar wird. Stifter, der zur Frohbotschaft bereits selber gehört: Moses, sein Gott des Exodus Der besonders heftige, eifernde Sprecher kann nicht sagenhaft verdeckt werden. Er steht leibhaftig in seinem überlieferten Bild, wirkliche Stimme schlägt durch Fabeln. So bei Moses, dem frühesten Führer eines Volks aus der Knechtschaft. Moses ist zeitlich der erste profilierte Stifter, und er ist der menschlich sichtbarste geblieben, ein Mann. Ihn zur Sage zu machen, wie Abraham, Isaak, Jakob, die in der Tat bloße israelitische Stammesnamen darstellen, vielleicht sogar kanaanitische Götter, zurückdatierte, das wurde vergeblich versucht. Hat sich doch selbst an der Josefsgeschichte, der Vorgeschichte des Moseswerks, Auflösung zur Sage nie ganz bewährt. Josef sollte einer Wanderfabel zugehören, derjenigen vom jüngsten Bruder, den seine
älteren Brüder beneiden. Josef sollte sogar die Variante eines babylonischen Lichtgotts, des Tammuz, sein, der im Westland untergeht. Aber nun stellt sich heraus, daß selbst die Josefsgeschichte und die Person dieses Reichskanzlers viel geschicht- /(1451) liche Wahrscheinlichkeit für sich hat. Denn Josef weiß etwas von Ägypten, was keine erfundene oder bloß auf Westland aufgelegte Sagenfigur wissen kann. Seine dem Exodus Jahrhunderte vorhergehende Geschichte zeigt auffallend stark ägyptische Lokalfarbe: die Riten der Belehnung (I. Mos. 41, 42) sind ebenso genau wie richtig angegeben, ebenso richtig sind die Angaben über die tote Hand der ägyptischen Kirche (I. Mos. 47, 22 und 26). Also liegt nicht einmal in der so weit zurückliegenden Josefsgeschichte ein Präzedenzfall vor, um Moses und den Exodus in Fabel aufzulösen; auch wenn der bis jetzt bekannte ägyptische Gegenbericht zu diesen Ereignissen lückenhaft und fragwürdig ist. Es gab ägyptische Reichskanzler aus semitischem Stamm, und die erst 1887 aufgefundenen Tontafeln von Tell eI Amarna bezeugen, daß kanaanitische Könige den Pharao um Hilfe gegen eindringende «Ibri« gebeten haben. Noch freigebiger allerdings als Josef wurde Moses von jenem Sagenkranz umgeben, den die Mythenforschung, besonders die babylonische, selber erst geflochten hat. Dabei hat noch kein Volk ohne geschichtlich-realen Grund, sozusagen freiwillig, von Tagen seiner Knechtschaft und Entwürdigung erzählt. Dabei hat noch kein Volk Einzelheiten seiner Befreiung und Führung aus dieser Knechtschaft gänzlich aus dem Nichts heraus fabuliert oder den Kampf zwischen Frühlingssonne und Winter mit seinem eigenen verwechselt. Jedoch Mythenforscher, besonders panbabylonischer Art, muteten das der altisraelitischen Geschichte zu, so wie sie es, mit noch größerer Phantasterei, der Jesusgeschichte zugemutet haben. Moses war ihnen wegen des Schilfkastens, worin er vor der Wut des Westland-Pharao gerettet wurde, dazu prädisponiert, einer ganzen Mythengruppe junger Sonnen- oder Frühlingsgötter analog zu scheinen. Gleich ihm wurde das Adonis-, Horus-, Jesus-Kind vom Winterriesen verfolgt, gleich ihm wurden ja die verschiedenen jungen Sonnengötter in einem engen Versteck verborgen, einer Kiste oder Höhle. Auch das Moseswerk selbst, der Exodus, wurde so zur Sonnensage verblasen, babylonischer Herkunft: »Die Befreiung aus Ägypten ist im Sinne des Weltjahrmythos Befreiung vom Winterdrachen « (Jeremias, Babylonisches im Neuen Testament, 1905, S.120). Noch der Untergang der Ägypter im Roten Meer /(1452) ließ deshalb für die Ohren Panbabylons Motive des Drachenkampfs anklingen, den Marduk gegen den Unterweltdämon Tiamat geführt hat. Anders schließlich als dieses Panbabylon, unvergleichlich ernsthafter, ja mit Großtaten der Philologie versuchte eine radikale Bibelkritik, Moses aus der Geschichte zu streichen. Hier nicht immer als lebendige Person, wohl aber als eine, die einen neuen Gott verkündet, die originär Glauben gestiftet hat. Nach einer sogenannten kenitischen Hypothese (vgl. Budde, Die Religion des Volkes Israel bis zur Verbannung, 1900) hat Moses Jahwe vom Stamm der Keniter entlehnt, in den er nach seiner Flucht hineingeheiratet hat. Die Keniter hatten am Sinai (vielleicht dem jetzt erloschenen Vulkan) ihre Weideplätze, und Jahwe (wahrscheinlich: der Wehende oder Blasende) war von ihnen seit Urzeiten als Vulkangott verehrt. Ist Jahwe selber derart ein Plagiat, so überrascht nicht, daß auch die zehn Gebote dem Moses und den Kindern Israel nicht eigen sein sollen. Nach Wellhausen, dem radikalen Zuspitzer und antisemitischen Epigonen der Bibelkritik, stammt der Dekalog von den Kanaanitern. Die jüdischen Priester hätten ihn, zusammen mit den Ritualgeboten, in Kanaan übernommen; sehr spät, erst nach Cyrus, wären die zehn Gebote dem Moses zugeschrieben worden, ihr gesamter Inhalt, nicht bloß ihre Formulierung, sei interpoliert (vgl. Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, 1901). Und am Ende bleibt so, in allzu radikal auflösender Bibelkritik, von Moses und dem alten Israel nichts mehr übrig als ein wildes Bündel von Religionen, ganz ohne Zentrum, von heiligen Steinen und Bäumen, von ganz verschiedenartigen Ortsgöttern, von Ahnenkult, Menschenopfern, kanaanitischen Bräuchen und spätbabylonischen Sagen. Stifter der jüdischen Religionen seien so erst die Propheten und Moses, Jahwe, Exodus, Dekalog an Ort und Stelle nicht historischer als Abel und Kam. Aber nun geschieht das Merkwürdige: gerade dort, wo die Bibelkritik die späten Angleichungen und Rückdatierungen des Priesterkodex aufhebt, wo sie selbst wirklich fremde Elemente im Mosaismus aufgedeckt hat, gerade dort wird die Originalität des Moses noch deutlicher, als sie es vor den Triumphen, auch Extravaganzen der Bibelkritik gewesen war. Wie die Deszendenztheorie den Unterschied des Menschen /(1453) vom Tier nicht verwischt, sondern ihn, konträr, weit kenntlicher macht als vorher, so erscheint die Bibel noch originaler und einzigartiger, seit ihre außerbiblischen Quellen und Elemente einigermaßen bekanntgeworden sind. Vielleicht, wahrscheinlich hat Moses den Sinaigott von den Kenitern übernommen, doch dieser blieb nicht, was er gewesen. Ganz zweifellos enthält der Dekalog, von dem Ritualkodex zu schweigen, späte Einfügungen aus Kanaan, doch der konzise Grundstock hat in Kanaan, hat auf der ganzen Welt nicht seinesgleichen. Mit Moses geschah ein Sprung im religiösen Bewußtsein, und er ward durch ein Ereignis vorbereitet, das den bisherigen Religionen, den Religionen der Weltfrömmigkeit oder des astralmythischen Schicksals, das entgegengesetzteste ist: durch Rebellion, durch den Auszug aus Ägypten. So und nicht etwa als Nimrod oder als riesig sich hervorhebender Medizinmann wurde Moses der
erste Heros eponymos, der erste namen gebende Urheber einer Religion, als sich entgegensetzender. Andere spätere Religionen des Gegensatzes, wie die kriegerische Zoroasters, die akosmische Buddhas, sind für Europäer überhaupt nur vom Exodus-Archetyp her verständlich. Ebenso wie die Stifterfigur Moses den Prototyp für alle abgibt, die nicht am Rand ihrer Lehre, sondern innerhalb dieser selber stehen, als messianisch. Ein versklavtes Volk, das ist hier die Not, die beten lehrt. Und ein Stifter eben erscheint, der damit beginnt, daß er einen Fronvogt erschlägt. So stehen hier Leid und Empörung am Anfang, sie machen von vornherein den Glauben zu einem Weg ins Freie. Der Sinaigott, von den Kenitern übernommen, blieb durch Moses nicht der Lokalgott eines Vulkans, er wurde zum Geist des Exodos. Der Vulkangott wird in Bewegung versetzt und sein Charakter, mit Ausnahme gewisser cholerisch-eruptiver Züge, verkündet. Der Lokalgott wird von seinem Boden abgehoben, er wird durch seinen Theurgen Moses zur Wolke und Feuersäule, die sich mit einem ihm ursprünglich fremden Volk vom Sinai ins Unbetretene fortbewegt, in die Pracht eines Unbetretenen. Und ebenso wie der Exodusgott mosaisch ist, nicht kenitisch, ebenso ist im Grundstock des Dekalog eine Schöpfung Mosis erhalten, nicht ein Sittenkodex der Kanaaniter oder auch, noch weiter hergeholt, des altbabylonischen Großherrn Ham- /(1454) murabi, dessen Gesetzbuch, um 2100, ungefähr soviel mit dem Dekalog gemein hat wie das Corpus juris mit der Kantischen Moral. Der Dekalog enthält Einfügungen, ohne Zweifel; das Gebot, seines Nächsten Haus nicht zu begehren, ist unter Beduinen sinnlos, desgleichen das Gebot der Sabbatruhe. Beides setzt bereits Seßhaftigkeit und den geordneten Werktag des kanaanitischen Ackerbauern voraus, ja die Heiligung des siebenten Tags geschah besonders spät, erst während des babylonischen Exils, hat chaldäischen Ursprung. Jedoch nicht in Kanaan vorhanden war die ungebrochene Gemeinschaftsethik, die Moses formuliert. Denn sie rührt aus urkommunistischen Verhältnissen her, die unter Nomaden noch nicht ganz ausgetilgt waren, wohl aber in der längst zur Klassenbildung gelangten Ackerbaukultur der Kanaaniter. Ein Satz wie dieser: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst «(3. Mos. 19, 18), eine solche Verdichtung der zehn Gebote in eines hat aber auch in der Urkommune nur erst ihren noch bewußtlosen Anfang; die Bewußtmachung und fast grelle Statuierung ist Mosis Werk. Als dieses wurde es auch von Israel im Gedächtnis behalten, nicht bloß mitten in Kanaan, sondern gegen die Kanaan-Ökonomie selber, die von den israelitischen Eroberern nun übernommen wurde. In die vorgefundene Kulakenmoral und Baalsreligion Kanaans drang ein anderes Wesen und hat, trotz aller Rezeptionen, nie völlig kapituliert (vgl. Seite 577f.). Die Nasiräer von Samuel bis Johannes dem Täufer, im härenen Nomadenhabit, die mit ihnen eng verbundenen Propheten, mit dem Blick auf die Wüstenzeit als die »Brautzeit Israels«, als die Zeit, »da Israel jung war« (Hosea II, 1), haben ihre Erinnerungen wie ihre Kraft von der Moses-Stiftung her, von Dekalog und Exodus-Gott. Ohne Moses wären die Propheten ohne Boden, auch die noch so erhabene und universalistisch werdende Prophetenmoral zeigt den fortwirkenden Impuls des Exodus-Führers und seiner Idee des heiligen Volks. Durch den Einsatz Mosis hat sich der Heilsinhalt geändert, der den heidnischen Religionen, besonders den astralmythischen, ihr völlig fertig-äußeres Ziel ausgemacht hatte. Statt des fertigen Ziels erscheint nun ein verheißenes, das erst erworben werden muß; statt des sichtbaren Naturgotts erscheint ein unsichtbarer der Gerechtigkeit und des Reichs der /(1455) Gerechtigkeit. Freilich hat nicht, wenn nicht die Prophetie, so doch das Buch Hiob (nach so wenig Gutem in Kanaan, nach so wenig erfüllter Verheißung) dem Mosesglauben ein völlig anderes zugefügt, nämlich die Verneinung seiner? Als Absage an seine Frohbotschaft, als Empörung - und jetzt nicht nur gegen Pharao oder Baal und Belial, sondern gegen den Jahwe der scheinbaren Gerechtigkeit selber? Gewiß ist das der Inhalt der Hiob-Revolte; weder die lahmen Korrektheiten und traditionellen Harmonien seiner Freunde noch auch der Gewittersturm, worin Jahwe seine disparate Erhabenheit kundgibt, retten den Glauben an die Gerechtigkeit des ehemals so großartig verkündet-verkündenden Gottes. Vor einem nicht mehr beschränkt sein wollenden Untertanenverstand schlägt die gewordene inhumane Theokratie nicht mehr durch. Und doch bleibt selbst das Buch Hiob, das so spät und auch geographisch am Rande Judäas entstandene, echtes Altes Testament oder Moses im Contra-Moses. Nicht einmal die Priesterredaktion des Bibeltextes konnte schon lange vor Hiob die subversiven Züge in diesem Text unterschlagen oder vergessen lassen, so allein schon das Murren der Kinder Israel, das Messen der Taten Jahwes an seiner Verheißung, an jener höchsten Bestimmung, die ihm Jesajas zuletzt gegeben hat: er sei der Heilige in Israel. Das Murren aber war die Messung Gottes an seinem Ideal: all das findet sich angelegt in Moses selbst, im Mann des Haderwassers (4. Mos. 20,13), des Zweifels an Jahwe, daß er sein Volk errette (2. Mos. 5,23), der Beschwörung Jahwes, damit er selber, nicht bloß ein unvollkommener Engel ins Gelobte Land führe (2. Mos. 33,15). Moses besteht statt des Engels auf Jahwe, und zwar mit Kiddusch haschem, mit Heiligung des Namens, auf dem, der Angesicht geworden ist: »Wo nicht dein Angesicht geht, führe uns nicht hinauf.« Das Angesicht ist aber noch weit über der Gerechtigkeit, die Hiob an Jahwe so verneint, daß von diesem fast nichts mehr als der alte Sinai-Dämon
übrigbleibt: »Fürst des Angesichts« ist mit Bedeutung ein späterer Titel des Messias, also des intendierten Führers zum letzten Jahwe oder zum Endgültigen, das unter Jahwe geglaubt war. Keine Religion hat so viele Schichten der Sublimierung, ja der Utopisierung ihres Gottes durchschritten wie die des Moses /(1456) aber alle sind im Begriff seines Exodusgotts selber angelegt. Der Gott Mosis ist die Verheißung Kanaans, oder er ist nicht Gott. Noch die Rebellion Hiobs, des hebräischen Prometheus, stammt von daher und hat ebendeshalb eine ganz andere Schärfe, eine ganz andere Substantiiertheit als der Gotteshader in irgendeiner anderen Religion. Der Exodus wird bei Hiob radikal: nicht bloß als Messung Jahwes am Ideal seiner Gerechtigkeit und des Reichs der Gerechtigkeit, sondern als Exodus aus Jahwe selbst in das unbekannte Kanaan, zu dem er das nicht gehaltene Versprechen war. «Ich weiß, mein Bluträcher ist am Leben und wird zuletzt über meinem Staub sich erheben. Der Zeuge meiner Unschuld wird bei mir sein, und meinen Schuldbefreier werde ich für mich sehen, mit eigenen Augen sehe ich's und kein anderer« (Hiob 19, 25-27, nach der Übersetzung Bertholets, unter Benutzung der Konjekturen): der Messiasglaube dieses wohl nicht ohne Grund verderbt überlieferten Texts verläßt also auch Jahwe - um seiner Utopie willen. Hätte aber Moses nicht Gott in Kanaan, Kanaan in Gott verkündet, so besäße Hiob weder für seine Anklage Sprache noch für seine rebellische Hoffnung Licht. Der Impuls Moses hält das gesamte Alte Testament zusammen, einschließlich des spät auftretenden, vielmehr: spät ausgesprochenen Messianismus. Auch dieser, gerade dieser ist in einer Frohbotschaft latent, deren Verkünder sich selber und sein Volk in sie einbringt, mit Exodus und Verheißung des Lands, Land der Verheißung. Moses oder das Bewußtsein der Utopie in der Religion, der Religion in der Utopie Viel hat sich in der Schrift angehäuft, das preßt und sich ducken läßt. Aber genau das ist das Hinzugefügte, das einem unzufriedenen, dauernd schöpferischen Glauben Aufgelegte. Die Kinder Israel selber warfen ein Joch ab, und sie folgten dem nach, der zum Pharao sagte: »Laß mein Volk ziehen.« Das Gesetz womit die ersten Rabbiner um 450 V. Chr., nach der Rückkehr aus dem persischen Exil, ein Volk absonderten und zusammenhielten, gehört nicht zum Mosesimpuls. Noch weniger gehört der hoch thronende Herrengott dazu, dessen Kult die Israeliten in Kanaan /(1457) übernommen hatten und der Baal ist. Es ist der gleiche Baal, dessen Religion, nach dem Rezept jeder Herrenklasse, dem Volk erhalten bleiben muß. Samt der Trivialität und phrasenhaften Herkömmlichkeit, womit die Freunde Hiobs, diese Urbilder aller Opiumpfaffen, ihre Art Gottvertrauen spenden. Der Exodusgott ist anders beschaffen, hat bei den Propheten seine Herren- und Opiumfeindschaft bewährt. Er ist vor allem aber nicht statisch beschaffen, wie alle heidnischen Götter bisher. Denn der Jahwe Mosis gibt von sich, gleich am Anfang, eine Definition, eine immer wieder atemraubende, die jede Statik sinnlos macht: «Gott sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde« (2.Mos. 3,14). Zum Unterschied von den Gesetzes- und den Baal-Interpolationen ist es hier gleichgültig, wie spät eine solche hochmessianische Definition in den ursprünglichen Text eingesetzt worden ist. Denn so kompliziert sie sprachlich wie gedanklich dreinsieht, sie entspringt ihrem Sinn nach keinem Priesterkodex, sondern dem ursprünglichen Exodusgeist selbst. Eh'je ascher eh'je, Ich werde sein, der ich sein werde, ist ein Name, der trotz seiner Mehrdeutigkeit und Interpoliertheit die Intention Mosis verrät, nicht überdeckt. Mehrdeutig ist die Selbstbezeichnung Jahwes, weil das dem eh'je zugrunde liegende Verb haja sowohl Sein wie Werden bedeuten kann, interpoliert ist sie, weil erst späte Theologie ein solches Rätselwort an Stelle des Wortes Jahwe setzen konnte, das auszusprechen verboten worden war. Trotzdem ist die Zufügung hier autochthon, nämlich Auslegung einer realen Intention, der gleichen, die den Lokalgott des Sinai ins Futurum Kanaan, als in seine ferne Heimat, sich bewegen ließ. Um die Einzigartigkeit dieser Stelle zu ermessen, vergleiche man eine andere Interpretation, vielmehr den späten Kommentar zu einem anderen Gottesnamen, dem Apollos. Plutarch überliefert (De EI apud Delphos, Moralia III), daß über dem Tor des delphischen Apollotempels das Zeichen EI eingemeißelt war; er versucht an den zwei Buchstaben zahlenmystische Deutung, kommt aber zuletzt zu dem Ergebnis, das EI bedeute grammatisch und metaphysisch das gleiche, nämlich: Du bist, im Sinne zeitlos unveränderlicher Gottexistenz. Eh'je ascher eh'je dagegen stellt bereits an die Schwelle der Jahwe-Erscheinung einen Gott vom Ende der /(1458) Tage, mit Futurum als Seinsbeschaffenheit. Dieser End- und Omega-Gott wäre in Delphi eine Torheit gewesen, wie in jeder Religion, wo der Gott keiner des Exodus ist. Gott als Zeit steht allerdings in Spannung mit dem Gott als Anfang oder Ursprung, womit die ägyptisch-babylonisch beeinflußte Schöpfungslehre der Bibel beginnt. Der Deus Creator einer als sehr gut und als fertig dargestellten Welt und der Deus Spes, den Moses seinem Volk verkündet, sind erst der rabbinischen Theologie (und später dem Credo der christlichen Kirche) völlig identisch. Die Propheten dagegen - was so wichtig ist und so wesentlich der Konzeption des Exodusgotts treu bleibt - erwähnen den Schöpfungsgott selten und dann fast nur als beabsichtigenden
Schauplatz-Bereiter für den Menschen: »Denn so spricht der Herr, der den Himmel geschaffen hat, der Gott, der die Erde zubereitet hat und sie nicht gemacht hat, daß sie leer soll sein, sondern sie zubereitet hat, daß man darauf wohnen soll« (Jes. 45, 18). Ist diese Zielbezeichnung, als eine des Gottesreichs unter Menschen, bereits in der Mosaischen Schöpfungsgeschichte, so wird sie von den Propheten einzigartig verstärkt, und Erinnerung wird nun völlig Vorwegnahme: «Denkt an Vergangenes in der Vorzeit, denn ich bin Gott und keiner sonst, der von Anfang das Ende verkündet und in der Urzeit, was noch nicht geschehen« (Jes. 46, 9f.). Selbst in der späteren ausgedehnten Schöpfungsmystik, wie sie dann in der Kabbala zu einer gnostischen Emanationsmystik wurde, verlor der Exodus- und Verheißungsgott niemals die Finalmacht. Sie durchdrang die gnostische Mystik des Weltanfangs und des göttlichen Thronwagens (Merkaba), richtete beide aufs messianische Omega aus. Gott hat nach der Kabbala sogar mehrere Welten geschaffen, aber sie wieder zerschlagen, weil der Mensch in ihnen nicht vorkam; nur zu ihm hin also ist der Schöpfer tätig. Ja die Bindung an den Menschen als Zweckinhalt der Schöpfung wird gerade hier so unvermeidlich, daß der Herr des Himmels und der Erden, wie er unter seinem Volk wohnen will (2. Mos. 25, 8), mit seinem Volk, als Eh'je ascher eh'je, sämtliche Schicksale mitmacht, bis zum Ende und gerade bis zum Ende. Das Exil gab dem Deus Spes den schmerzlichsten Glanz, indem Jahwe selber, zusammen mit seinem Volk, ins Exil geraten zu /(1459) sein schien. Gott als »Schechina«, das heißt als Beiwohnung seines Lichts, ist nun, für die Kabbala, selber heimatlos in einer Schöpfung, worin der Mensch zwar vorkommt, aber gefangen ist: die Schechina leuchtet nicht vom Weltanfang her, sondern als messianisches Trost- und Hoffnungslicht. Einer der größten Kabbalisten, Isaak Lurja (1534-1572), führte den Exilgedanken sogar in die Schöpfungslehre selber ein und verändert sie dadurch völlig; Bereschith, der Anfang, mit welchem Wort die Bibel beginnt, wurde so nicht der Anfang einer Schöpfung, sondern einer Gefangennehmung. Die Welt ist als Kontraktion (tsimtsum) Gottes entstanden, folglich ein Gefängnis vom Ursprung an, ist die Gefangenschaft so Israels wie der Seelenfunken aller wie Jahwes zuletzt. Statt der Herrlichkeit des Alpha oder Schöpfungsmorgens dringt derart also Wunschraum des Endes oder Befreiungstags vor; er verband sich mit dem Anfang nur als mit einem Ur-Ägypten, das aufzuheben ist. So wenig solche Weiterungen des Mosaismus mit dem feierlichen Hymnus der Genesis übereinstimmen, so genau entsprechen sie dem originären Exodusgott und dem Eh'je ascher eh'je, dem Gott des Ziels. Bei Moses bereits bleibt also Deus Spes angelegt, auch wenn das Bild eines letzten Führers aus Ägypten, also des Messias, erst tausend Jahre später auftritt; der Messianismus ist älter als dieser Messiasglaube. Denn ein neuer Retter erschien nicht nötig, solange es dem Volk ertragbar ging. Oder solange es glaubte, daß nur seine Sünden gekommenes Unglück bewirkt hätten. Aber trotz des gottgefälligen Wandels, der im jüdischen Kirchenstaat, seit 450 v.Chr., Platz gegriffen hatte, wurde die Lage immer höllischer. Das Bild eines letzten Führers tritt so vor wird scharf seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert, seit der Bedrückung durch Antiochus und dem Makkabäerkrieg. Der Traum kulminiert in der Römerzeit: Messias ist der heimliche König, der Gesalbte des Herrn, der Wiederhersteller des Davidreichs. Als solcher ist er ein nationalrevolutionärer Führer, mit romantischem Glanz, aber zugleich, im Sinn des universellen Zions der Propheten, Herrscher in einem neuen Zeitraum insgesamt, in einem Gottesreich. So steht im Messiasglauben außer dem erhofften König aus Davids Geschlecht ein erhoffter höherer Moses auf. Die /(1460) zehn Plagen, der Untergang der Ägypter im Roten Meer werden apokalyptisch: Vorbedingung für die Ankunft der Gottesherrschaft ist die Vernichtung der derzeit auf Erden schaltenden Macht. Und die Nationalrevolution selber verschlingt sich, bei all ihrer Kleinheit, mit der Weltwende, mit dem neuen Himmel, der neuen Erde. Noch gewaltiger, weit über einen dergestalt kosmischen Moses hinaus, wurde das Messiasbild durch das des himmlischen Urmenschen vermehrt, gemäß einer Vorstellung, die Persern und Juden um diese Zeit gemeinsam war. Bei Ezechiel, einem Zeitgenossen Zoroasters (um 600 v. Chr.), taucht zuerst die himmlische Menschengestalt auf, voll Weisheit, im Lustgarten Gottes, gewaltig wie ein Cherub (Ez. 28, 12ff.). In der berühmten Vision Daniels (um 160 v. Chr.) gewinnt der angestammte Messianismus gar solch ein Fleisch: »Es kam einer in des Himmels Wolken, wie eines Menschen Sohn, bis zu dem Alten und wurde vor ihn gebracht. Der gab ihm Gewalt, Ehre und Reich, daß ihm alle Völker, Leute und Zungen dienen sollten« (Dan. 7, 13 f.). Und die gelehrte Formulierung in Gott fand der Messiasgedanke bei Philo, dem alexandrinischen Zeitgenossen Jesu: Der himmlische Urmensch - der erstgeschaffene Adam, der nach Gottes Ebenbild (1. Mos. 1, 27), nicht aus dem Staub (1. Mos. 2, 7) gebildet - ist der Logos, der erstgeborene Sohn Gottes, ja der «zweite Gott«. Das ist nun nicht mehr nur der Gesalbte des Herrn, sondern er ist ein innerweltlicher oder Menschengott. Ja der andere Gott, der unerkennbare des Himmels, gibt die Wolken- und Feuersäule, die Exodus- und Heilandsgewalt immer mehr an die Messiasgestalt ab; der Messias wird trotz der Unterordnung unter Jahwe diesem fast gleichgesetzt, aber als der gute Gott, als der Helfer und das Gute an Gott. Das ist eine theologische Veränderung, die weit über die bis dahin geschehene Sublimierung Jahwes
hinausgeht; denn sie richtet sich, in Gestalt des Menschensohns als eines zweiten Gotts, gegen das alleinige Vertrauen auf Jahwe selbst. Auch wenn dieser durch Unerkennbarkeit und absolut werdende Transzendenz immer höher rückt: gerade die Disparatheit solcher Ferne nimmt der Not das Wesen, zu dem sie beten könnte. Allzu große Erhabenheit schlägt qualitativ um: sie bedingt bei den Gläubigen Abwendung, indem überhaupt kein Bezug zu /(1461) dieser Transzendenz mehr möglich ist, und beim geglaubten Gott wird die absolute Transzendenz dasselbe wie Abdankung. Ja die Erhabenheit wird schließlich nur ein anderer Ausdruck dafür, daß Gott sein Volk verlassen habe (der Himmel ist hoch, und der Zar ist weit, lautete ein russisches Sprichwort, in Entsprechung zu jener Erhabenheit, vor der der Mensch zu klein ist, als daß sie seiner gedenke). Wie gesehen, brach im Spätjudentum, bei Hiob (um 300 v. Chr.), auch beim Prediger Salomo (um 200 v. Chr.), sogar das vollendet antijahwistische Gefühl durch, daß die Weltregierung böse sei; und Transzendenz, die Gott völlig von der Welt abtrennt, sollte sich dann bestenfalls als Schutzmittel gegen dies Gefühl gebrauchen lassen. Freilich wurde sie nur ein negatives Schutzmittel, keines, das verhindert hätte, daß die früher gelobte Retterfunktion Jahwes immer leidenschaftlicher vom himmlischen Urmenschen erwartet wurde. So tritt der Messiasgedanke schließlich als kaum verhüllbares Mißtrauensvotum, ja als Abfall von Jahwe auf; trotz wie wegen der Erhabenheit, der gerade in den späten Psalmen verkündeten. Aber entscheidend bei alledem wird auch hier: die Moses-Stiftung selber ist auch bei diesem stärksten Sprung nicht zerbrochen. Der Messianismus wird durch den Messias nicht zerbrochen, auch wenn dieser antithetisch zu Jahwe steht; denn er steht nicht antithetisch zu dem alten Exodus-Jahwe, der verkündet hatte, er werde Israels Arzt sein. Gehörte auch die ganze Verzweiflung Judäas hinzu, um Messias zu Jahwe zu setzen, gar gegen ihn, und ist auch die Messiasidee nicht nur auf jüdischem Boden entstanden, sondern gleichzeitig, mit mannigfachem Austausch, im Persien Zoroasters, so war doch bereits der Exodus-Gott so beschaffen, daß er kein Gott bleiben konnte, wenn er, statt Pharao und sein Druck-Imperium zu vernichten, selber als - Pharao erschien. Es ist ganz gleich, wie weit hier fremde Einflüsse mitgewirkt haben, es ist erst recht gleichgültig, wie weit philologischer Antisemitismus außer dem Dekalog auch noch den Messiasgedanken von den Juden wegnehmen will. Gar keine Analogien zu diesem nun ausgebrochenen Exodusgedanken finden sich im Panegyrikus des ägyptisch-babylonischen Hofstils, der jeden gerade regierenden Herrn als Retterkönig preist. Unbezweifelbare Analogien /(1462) finden sich zwar, wie noch genauer zu sehen sein wird, in der Religion Zoroasters; auch sie kennt einen himmlischen Urmenschen, Gayomard genannt, und die letzte Erscheinung Zoroasters, der Saoshyant, der das Weltende bringt, entspricht dem jüdischen Messias (wie auch dem Parakleten des Johannesevangeliums). Aber mögen auch die Juden während des babyIonischen Exils, von 586 bis 538 v. Chr., von diesen persischen Parallelideen beeinflußt worden sein und sie, nach der Rückkehr, bewahrt haben, so ist zum ersten keineswegs ausgemacht, ob diese Ideen nicht vorher schon aus Palästina nach dem Iran ausgestrahlt hatten. Die altpersische Religion, eine Naturreligion, die mit der altindischen weitgehend zusammenfällt, schließt Messianismus, diesen eminent historischen Glauben, ebenso aus, wie er bei Moses intendiert ist und beim ersten Jesajas, über hundert Jahre vor Zoroaster, bereits leibhaftig hervortritt: »Und es wird ein Reis aufgehen aus dem Stamm Isai, und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen« (Jes. 11,1): diese nicht interpolierte Stelle und die ihr folgenden Verse sind Messiasgedanke durchaus, auch wenn nicht, noch nicht auf einen himmlischen Urmenschen rekurriert wird und auf seine Wiederkehr. Sodann aber wirken die eigentlich apokalyptischen Ausbildungen des Messiasglaubens, wie sie unter Persern, Juden, nicht zuletzt unter Chaldäern gleichzeitig beginnen, als ein Werk, in dem, wenn es gemeinsam ist, doch allein die Juden alle Kraft des Leidens und deshalb allen Ernst der Hoffnung für sich hatten. Denn die Perser unter Cyrus, die Chaldäer unter Nebukadnezar beherrschten eine Welt, und ihr Gott brauchte gar nicht erst Zukunft, um siegreich zu sein; so zeigt ein bezeichnendes Dokument, die prunkvoll-dankbare Behistun-Hymne des Darius, wie man auch ohne Saoshyant zurechtkam. Judäa statt dessen lag auch nach der Rückkehr der Juden dermaßen im argen, daß hier erst der Messiasglaube ganz und gar einer der Sprengung wurde und nicht nur einer der krönenden Apotheose. Derart geht philologischer Antisemitismus hier fast noch mehr zuschanden als am Keniter-Jahwe und am Dekalog. Reitzenstein bemerkt aus seiner Kenntnis der iranischen Mythologie immerhin neutral: »Es kann sich nicht um eine Entlehnung der jüdischen Messias-vorstellungen schlechthin handeln; Hoffnungen /(1463) auf einen rettenden König und eine glückselige Zeit, deren Dauer man nicht begrenzen will, bilden sich unabhängig voneinander in den verschiedensten Völkern und beeinflussen sich im literarischen Verkehr in einzelnen Zügen« (Das iranische Erlösungsmysterium, 1921, S.116 f.). Und Max Weber gibt ein Fazit, das aus der Neutralität sogar heraustritt und den Messianismus in Moses und den Propheten selber angelegt sieht, wie rechtens: »Das der israelitischen Erwartung Eigentümliche ist die steigende Intensität, mit welcher, sei es das Paradies, sei es der Heilskönig, das erste aus der Vergangenheit, das zweite aus der Gegenwart, in die Zukunft projiziert worden ist. Das geschah nicht nur in Israel; aber mit derartiger, und zwar offenbar stetig
zunehmender Wucht ist diese Erwartung nirgends in den Mittelpunkt der Religiosität getreten. Die alte Berith (Bund) Jahwes mit Israel, seine Verheißung in Verbindung mit der Kritik der elenden Gegenwart ermöglichte das; aber nur die Wucht der Prophetie machte Israel in diesem einzigartigen Maße zu einem Volk der Erwartung und des Harrens« (Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie III, 1923, S. 249). Folgerichtig hat sich die Messiasidee auch nur in ihrer biblischen Gestalt erhalten; nur in dieser Gestalt wurde sie von Völkern mit Leid und Sendungsgefühl erfahren. Und indem sie aussprach, was die Essenz der religiösen Sehnsucht ausmacht, mit aufgehobener astralmythischer Statik, mit aller Nachreife des Exodusgotts, ist sie allerdings ein Plagiat, aber nicht nur an Persien, sondern an der zentralen Utopie der Religionen selbst. Jeder Religionsstifter trat in einer Aura auf, die dem Messias zugehört, und jede Religionsstiftung besitzt, als Frohbotschaft, den neuen Himmel, die neue Erde am Horizont, auch dann noch, wenn beide Vollendetheiten von den Herrenkirchen zur Idealisierung, also Apologetik bestehender Ordnungsverhältnisse mißbraucht worden sind. Welch letzteres dem Astralmythos der Vollendung (mit dezidiert altem Himmel, alter Erde) freilich immer noch leichter fiel als den Religionen mit vortretendem Stifter, Pathos des Neuen, Menschlichem in der Mitte. Aber sobald überhaupt ein Stifter auftritt, ist ein Element des Messias gesetzt, und mit jeder Frohbotschaft ist ein Experiment Kanaans involviert. Das Judentum hat Messias und Kanaan besonders /(1464) verdeutlicht, jedoch sämtliche Religionen enthalten mehr oder minder abgebrochen oder eingedenkend diese Bestimmungen, sind um sie gruppiert, sind Kreuzungen aus vergänglicher Mythologie und invariant intendiertem Messianismus. Der Messianismus ist in der Religion die Utopie, die das Ganz Andere des Religionsinhalts in jener Form sich vermitteln läßt, worin es keine Gefahr von Herrensalbung und Theokratie enthält: als Kanaan in unerforschter Pracht, als das Wunderbare. Judentum erstarrte im Panzer des Kultusgesetzes, doch der Messiasglaube hielt sich durch alles kodifizierte Epigonentum hindurch lebendig: es war das Elend, es war vor allem die Verheißung in Moses und den Propheten, die mit keiner Empirie widerlegbare, die ihn lebendig erhielt. »Wer den Messianismus leugnet, leugnet die ganze Thora«, sagt Maimonides; und es ist der größte jüdische Gesetzeslehrer, der dieses sagt, ein Rationalist und kein Mystiker. Die Frohbotschaft des Alten Testaments läuft gegen Pharao und schärft an diesem Gegensatz ihre beständige Utopie der Befreiung. Das mit Pharao, Ägypten, Reich Edom Gemeinte ist der Frohbotschaft Mosis ebenso ihr negativer Pol wie Kanaan ihr positiver. Ohne Ägypten gäbe es weder Exodus noch solche Evidenz des Messianismus; bricht aber Ägypten im Meer ein, dann wird der Weg zur heiligen Wohnung frei - auch die Apokalypse ist folglich bei Moses latent. Kriegerischer Selbsteinsatz, gemengt mit Astrallicht: Zoroaster, Mani Der sichtbare Lehrer wird deutlich einer, der heimbringen will. Dazu setzt er sein Leben in den Weg, ins Ziel selber ein, um die Seinen zu retten. Auch Zoroaster handelte so, auf dem Weg zu einer helleren Sonne als der, die bereits brennt. Dieser durchaus menschenhafte Stifter macht trotzdem nun wieder naturmythische Bewegungen mit, kommt aus den altpersischen zum Teil noch her, jedoch drückt in ihnen sein ganz anders Rettendes aus. Zoroaster, um 600 v. Chr., hat zuverlässig gelebt, die sehr wilde und dichte Sage um ihn hat sich erst achthundert Jahre nachher, im jüngeren Avesta, angesetzt. Die Gathas, die Sammlung der Aussprüche Zoroasters, zeigen noch einen scharf /(1465) anschaulichen Mann, von Zweiflern umgeben, ihnen überlegt antwortend. Und auch die beginnende Legende wird durch den fühlbar kräftigen Eindruck einer historischen Person erregt; Zoroaster reizte zum Fabulieren. Er hat selbst in der abenteuerlichsten Sage menschliche Geschicke, nicht die eines Fischmenschen oder Mondschreibers. Als verkörperte Kraft und Heiterkeit, »dem Licht verbündet«, dringt dieser Stifter durch die Fabeln des Zendavesta wie nicht zuletzt durch dessen priesterliches, oft ödes Formelwerk. Die Legende lautet: Als Zoroaster geboren ward, erhob er sogleich sein frohes Lachen, die Welt des guten Gotts jauchzte mit ihm auf, die bösen Geister flohen. Den Jüngling führt ein Erzengel in den Glanz des Lichtgotts, dort empfängt er die wahre Lehre, und die Geheimnisse des großen Zwiespalts gehen auf. »Eine Schöpfung der Anmut«, sagt ihm Ahuramazda-Ormuzd, der Lichtgott, «habe ich geschaffen, eine zweite, menschenverderbende, hat Ahriman geschaffen, den Tod, den Winter, Trägheit, woraus Armut folgt, unsühnbare Handlung.« Es ist immer wieder der Gegensatz zwischen dem Winterriesen und dem Frühlingsgott (bei den Germanen Thor, der mit dem Hammer das Eis sprengt). Dieser Gegensatz ist der naturmythische schlechthin, er war der babyIonische, im Kampf zwischen dem Abgrunddrachen und dem Jupiter Marduk, er war der altiranische, wie er der altindische war; der indische Sonnengott Mitra ist ohnehin mit dem iranischen Mithras identisch und der Lichtgott Varuna mit Ahuramazda. Aber während in Babylon der Abgrunddrache sogleich am Anfang der Welt von Marduk besiegt wird, geschieht das bei Zoroaster, dem aufrufenden, nach vorwärts bezogenen Stifter, erst am Ende der Weltzeit. Geschichte tritt derart in die astralmythische Statik ein, die ganze Welt
wird Geschichte, nämlich ein Handgemenge, worin Ormuzd und Ahriman verschlungen sind. Nach glorreichem Leben fällt der Zoroaster der Legende im Kampf gegen Ahriman. Doch am Ende jedes der drei Jahrtausende, die die Welt nach Zoroasters Tod noch zu überstehen hat, wächst aus seinem von Geistern behüteten Samen ein neuer Prophet. Das letzte Jahrtausend bringt das Ende der Dinge, damit freilich auch, als Moment der letzten Spannung, die drohende Übermacht Ahrimans. Aber im selben Maß wächst, nach /(1466) der höchst ritterlichen Legende, das Zarathustra-Lachen, mit dem schon der erste Zoroaster in die Welt getreten war. Der Name des endgültigen Propheten, aus dem Samen Zoroasters, der Name dieses letzten Zoroaster ist Saoshyant, das bedeutet: kommender Helfer. Mit ihm vereinigt ist Vohu mano, das bedeutet: Geist der Wahrheit, einer der Genien des Ormuzd, und so wird in Reinigung der Menschen wie der Welt Ahriman von Ormuzd niedergeworfen, die riesige Umklammerung zweier fast ebenbürtiger Mächte löst sich, die Mischwelt, Schattenwelt aus Tag und Nacht hört auf. Eine neue beginnt, »frei von Alter und Tod, Verwesung und Fäulnis, voll ewigen Lebens und Wachstums«. Zoroaster siegt so als der »mit Ormuzd Verbündete«, er ist der erste wie letzte, der mit allen dem Licht Zugehörenden zu diesem zurückkehren kann. Derart weist er die analogen Züge mit dem jüdischen Messias auf, nicht mit dem leidenden, der in der jüdischen Legende als Sohn Josefs bezeichnet wird, wohl aber mit dem siegreichen, dem Sohn Davids. Auch Zoroaster führt den aus der Bibel bekannten Namen »der Menschengestaltige« (Dan. 7, 13); er ist Gayomard, das bedeutet: der lichte Urmensch, wie er von Anfang an bei Ormuzd war. Und der letzte Zoroaster, der Saoshyant, steht gleich dem Messias am Ende der Tage, der Herr der Scheidung von Gut und Böse, des Weltgerichts. Selbst die christliche Idee des Parakleten (Beistand, Tröster) hat im Saoshyant einen ihrer Ursprünge: der »Geist der Wahrheit«, als der der Paraklet von Jesus prophezeit wird (Job. 16, 13), ist Vohu mano, der Geist des letzten Zoroaster. Bei alldem freilich bleibt die naturmythische Verflechtung erhalten, auch bei so starkem, sichtbarstem Auftritt der Stifterperson. Zoroaster hat zwar den altiranisch-vedischen Naturglauben verworfen, viele der alten Götter in die Hölle geschickt, die Unholde wie die Genien ins unselbständige Gefolge des Ahriman oder Ormuzd verwiesen. Dennoch ist die astralmythische Statik dadurch, daß so viel Person, so viel Weltgeschichte als Weltgericht in sie hineingetrieben, in der Zoroaster-Lehre nicht völlig abgeschafft. Daher der fest bestimmte, nach dreitausend Jahren fällige Zeitpunkt des Ormuzd-Siegs. Und wie die Zukunft hier keine offene, wahrhaft neue ist, sondern unter einem geschlossenen Termin /(1467) liegt, so wirkt das in ihr am Ende Erscheinende nicht als Novum, sondern als das gefüllte Quantum des ohnehin vorhandenen, nur durch Ahriman verhinderten und beschränkten Lichts. So ist der riesige Person-Einsatz des Stifters, der durch die Welt als dreifacher Blitz schlagende, ebenso riesig und endgültig mit dem äußeren Himmel verschlungen. Auch die jüdische, erst recht die christliche Apokalypse zieht den Kosmos in sich ein, aber als eineneinstürzenden, hinter dem das Reich ist. Die persische Frohbotschaft enthält diesen Bruch der Natur nicht, sie bleibt bei allem Exodus im alten Raum; folgerichtig ist ihr das Licht nicht so sehr ein Symbol des Guten, als das Gute ein Symbol des Lichts. Aber der Astralmythos ist dadurch freilich nicht der gleiche geblieben wie in Altbabylon oder auch bei den Chaldäern, deren Sterndienst so weit in den Zendavesta hereinreicht. Wenn die sieben Hauptlichter des Himmels verehrt werden, so werden sie als Verbündete im Kampf verehrt, nicht nur als Schicksalslenker. Und wird die Geschichte bei Zoroaster wieder in der Natur verschlungen, so doch auch die Natur in den Heilsweg einer eminent moralisierten Geschichte. Gerade im Dualismus Nacht-Licht hat Zoroaster die Natur als Ort zweier Heermächte erblickt, wie einen menschlichen Kampfplatz. Der Gläubige, statt wie im Astralkult tief unten, ja draußen zu stehen, zieht nun die Rüstung des Lichtgotts an, so wie der Lichtgott wiederum Gläubige braucht. Und es überrascht nicht, daß die Lehre Zoroasters, kraft ihres Dualismus, besonders gut Unduldsamkeit ausbilden konnte. Als die Sassaniden-Dynastie, seit 224 n. Chr., Persien national und militärisch regenerierte, war die mazdaische Kirche, die aus den Resten der ZoroasterÜberlieferung damals entstand, so straff, ja noch straffer organisiert als der Staat. Sie bildete strenge Hierarchie aus, ein peinliches Ritual und vor allem einen Lehrbegriff, der bis in Einzelheiten zwischen Rechtgläubigkeit und Ketzerei unterscheiden ließ. Diese Kirche verleugnete so völlig, wie jede, das utopische Wesen, also die messianische Gesinnung ihres Zoroaster. Sie hob das kosmisch-utopische Handgemenge auf und bestimmte derart schon vor Erscheinen des letzten Zarathustra, daß und wie sich das Licht (die mazdaische Kirche) und die Finsternis geschieden haben. Bis mitten in dieser Starre ein neuer Lehrer kam, gerade aus /(1468) alter Art heraus. Er hieß Mani, 215 n. Chr. geboren, wurde 273 von mazdaischen Priestern ans Kreuz geschlagen. Trat 242, im Krönungsjahr Schapurs, des zweiten Sassaniden, zum erstenmal öffentlich auf, übergab dem Schah eine Schrift zur Reform des mazdaischen Glaubens. Dazu war es freilich zu spät, infolge der festungsähnlichen Ausbildung der Staatskirche, doch bezeichnend ist, daß Mani, mit dieser ersten Schrift, durchaus auf dem Boden Persiens, als Erneuerer Zoroasters, zu wirken begann. Nicht etwa als Chaldäer oder als Jünger des
christlichen Ketzers Marcion oder gar, wie gleichfalls behauptet wurde, als Schüler der Griechen, der seinen Platon kannte und dessen Lehre von der bösen Weltseele. Eher mag Mani noch mit der merkwürdigen mesopotamischen Sekte der Mandäer verbunden gewesen ,sein, zu denen sein Vater gezogen war, unter denen er aufgewachsen. Die Mandäer waren fanatische Gläubige des Menschensohns, des Heilands der letzten Tage und des Weltbrands; in allen ihren Schriften ist der vom Lichtvater in die Tiefen gesandte Sohn das Ziel der Erwartung. Und nicht, als hätten die Mandäer Jesus als diesenSohn anerkannt, er galt ihnen vielmehr, obwohl Johannes der Täufer wahrscheinlich selber einem mandäischen Orden angehörte, als falscher Messias. In einer mandäischen Apokalypse, die mit den ältesten Evangelien gleichzeitig ist (vgl. Reitzenstein, Das mandäische Buch des Herrn der Größe, 1919), wird der himmlische Gesandte immer noch erwartet; Mani sah also zweihundert Jahre nach Jesus in der Sekte, der sein Vater angehörte, die Verheißung Johannis noch unerfüllt. Aber nun waren die Mandäer am wenigsten eine Chaldäersekte, sondern sie selber hielten, mit vielen Querverbindungen zur damaligen judäischen Volksreligion, das Erbe Zoroasters fest. Sie unterstützen am wenigsten die moderne Losreißung Manis vom Persertum oder Harnacks These, die Lehre Manis stehe »auf dem Boden des Chaldäismus, versetzt mit christlichen, parsistischen und vielleicht buddhistischen Gedanken«. Er sei gar die »den nationalen Schranken entnommene, durch christliche und persische Elemente modifizierte, zur Gnosis erhobene semitische Naturreligion« (Harnack, Dogmengeschichte II, S. 522). Diese Transferierung Manis korrigiert zwar etwas die Meinung, als ob Mani nur ein Epigone des Parsismus sei, doch um den Preis, daß /(1469) sie einen spätbabylonischen Epigonen aus ihm macht; beides ist falsch. Zeigt Mani auch unleugbare Einflüsse chaldäischer Art, so ist das Chaldäische zu seiner Zeit doch selber von oben bis unten iranisiert. Und erscheint auch der Anteil des Astralmythos bei ihm noch weit größer als bei Zoroaster, so bleibt doch der Dualismus regierend, die so wenig kosmomorphe Entzweiung .zwischen Nacht und Licht, und diese ist persisch. Gar die Moralisierung der Weltgeschichte kommt in semitischer Naturreligion sowenig vor wie Geschichte selber und der Menschensohn, der sie moralisiert. Item, die ältere Auffassung, daß Mani zu Zoroaster gehört, besteht nach einigen Korrekturen und Ergänzungen, vor allem die Mandäer betreffend, zu Recht. Das wird klar genug, wendet man sich nun von den Auffassungen Manis dem Kern seiner Lehre selbst zu. Dieser Kern ist dramatisch, auf Grund der durchgehenden Entzweiung, worin der Mensch steht, und als Drama läuft der Weltprozeß selber ab. Vier Akte, lehrt Mani, machen dieses Drama aus, den vier Perioden entsprechend, die Zoroaster für den Kampf zwischen Ormuzd und Ahriman angesetzt hatte. Und viermal greift der Menschensohn ein, in verschiedener Gestalt und Ritterschaft, um die Hoffnung nicht zuschanden werden zu lassen, um das geraubte Goldlicht aus dem Weltgefängnis zu erlösen. Das Drama wird so ein Kampfund Gnadenstück ohnegleichen, ein alchymistisch illustrierter Exodus, und das in folgenden Stadien: Das Böse brach in die Höhe ein, das Licht schickte ihm seinen ersten Gesandten, den Urmenschen, entgegen. Der bot gegen die Gehilfen der Nacht seine eigenen auf, gegen Rauch, Brand, Dunkel, Glühwind, Gift warf er Äther, Feuer, Licht, reinen Wind, Wasser. Aber die schwarzen Kräfte verschlangen die hellen, so geriet der Urmensch selber in Gefangenschaft, wurde betäubt, vergaß seine Herkunft. Ihn zu befreien, schickte das Urlicht, recht mandäisch auch Vater der Größe bei Mani genannt, einen zweiten Gesandten, den »Lebensgeist«. Ihm gelingt es, den Unmenschen aus der Betäubung zu wecken und sein geistiges Wesen in die Lichtwelt zurückzuführen, nicht aber seine Gehilfen. Sie zu befreien, vollzieht der Lichtgeist nun den zweiten Rettungsakt: er erschlägt die Gehilfen der Finsternis, aus ihren Leichen werden Himmel und Erde gebildet. Der Lichtgeist wirkt mithin als der Demiurg, /(1470) doch so, daß Himmel und Erde zwar ihrer Form nach von ihm geschaffen sind, nicht aber ihrem Stoff nach, der aus Rauch, Brand, Dunkel, Glühwind, Gift gebildet ist. Mit dem Unterschied von Sonne, Mond und Sternen: diese bestehen bereits aus Teilen des von der Finsternis verschlungenen Lichts. Doch um die Befreiung der übrigen, immer noch gefangenen Lichtelemente zu beginnen, sendet das Urlicht seinen dritten Gesandten, den »Geist des leitenden Weisen«, ihm zur Seite die »Lichtjungfrau«. Der dritte Schöpfungsakt beginnt, als der der Bewegung: nur die Sterne bleiben am Firmament und an seine Drehung gefesselt, Sonne und Mond jedoch werden zu Körpern, die zwischen Erde und Himmel kreisen. Der Geist des leitenden Weisen nimmt seinen Wohnsitz in der Sonne, die Lichtjungfrau (Helena, Sophia) den ihren im Mond; von dort halten sie das Werk der Lichtbefreiung in Gang. Dergestalt geschieht nun eine der schönsten Wunschdeutungen von Mond und Sonne, die der Mythos kennt, eine vor Mani schwerlich aufgetretene. Sonne und Mond werden in Manis soteriologisch gewordenem Astralmythos zu zwei Himmelsschiffen, die sich mit getanen guten Werken, mit abscheidenden Seelen guter Menschen laden und das so aus der Welt gezogene Licht dem Urmenschen- und Ormuzdreich wieder hinzubringen. Der Mond, in seinen Phasen, wird als Barke gedeutet, die sich mit Licht füllt (eine nach tiefem Süden weisende Anschauung, denn nur in Ländern nahe dem Äquator erscheint der Neumond waagerecht, ein in der Luft schwimmender Kahn); die Sonne aber gibt das vom Mond herausgeschaffte Licht in der
»Säule der Lobpreisung« nach obenhin ab. Die zwölf Tierkreiszeichen, durch welche die Sonne läuft und denen sie ihre Glanzflut darbietet, werden hierbei als Speichen eines riesigen Schöpfrads oder als die Eimer eines Hebewerks vorgestellt. Ist der Mikrokosmos aber ein Lichtgefängnis, so ist der Makrokosmos eine einzige Mechanik zur Lichtbefreiung; der Mythos von der Himmelsreise der Seele (vgl. Seite 1314 ff.) wird dadurch entdämonisiert. Ebenso aber wird den Gestirnen ihre unbeschäftigte Kreisbewegung genommen, diese Sphärenharmonie des bloßen Umschwungs. Mani preist diese Musik vielmehr als himmlisch-aufsteigende, Tod überwindende Macht, darum als eine, die nur mit dem Sonnenschiff in Kontakt steht und mit der /(1471) Lichtbefreiung durch den ganzen Kosmos. Mond und Sonne, lehrt Mani, im Gegensatz zu Babylon und Chaldäa, sind keine Götter, sondern Wege, zu Gott zu gelangen: der Astralmythos kommt derart in Bewegung gegen sich ,selbst, Astrologie wird kosmische Alchymie. Als solche steht Manis ganzes Universum da, soweit es bewegt ist, soweit es das Goldlicht herausführt; Manichäismus blieb der Alchymie ihr religiöser Hintergrund. Doch noch ist es notwendig, einen vierten Gesandten zu schicken, denn auch die Nacht hat jetzt zu einem Schlag ausgeholt. Eine ihrer Kräfte hat auf der Erde aus dem zurückgebliebenen Licht die ersten Menschen gebildet, und zwar nach dem Vorbild des Urmenschen, des Lebensgeists, des leitenden Weisen. In Adam und Eva ist nun der Hauptteil des zurückgebliebenen Lichts gefangen, ihr Leib ist ein Werk der Finsternis, doch ihre Gestalt und ihre Seele sind dem Licht nachgebildet und nachziehend. Um dies letzte Lichtgefängnis zu brechen, tritt eben der vierte und letzte Gesandte auf, zugleich eine endgültige Inkarnation des himmlischen Urmenschen. Er erschien, wie Mani mit großartigem Gestaltwandel ausführte, auf Manis eigener Ahnentafel, er erschien den Persern als Zoroaster, den Indern als Buddha, den Westländern als Jesus (unterschieden vom historischen Jesus, dem Jesus Petri statt Pauli). Er erscheint zuletzt in Mani und als dieser, der der Paraklet ist, der Vohu mano Zoroasters, der Geist der Wahrheit. Ein Gnostiker wird hier zum ersten und letzten Male in der Geschichte ein Prophet, mehr als das: ein Kronprinz Gottes; seine Berufung ist: erlösendes Wissen. So gerät nun das Werk der Adam-Befreiung, Kosmogonie gebt über in Heilsethik, in eine Askese und einen Fleischhaß, der sich nun freilich von Zarathustras weltkräftiger Lehre zuletzt unterscheidet und buddhistische Züge trägt. Denn das Zendavesta hatte gelehrt, daß der Ormuzd sowohl Leib wie Seele geschaffen habe; Mani dagegen sieht im Leib lediglich Teufelswerk, das abzutun ist. Aber auch zu Buddha besteht der Unterschied, daß Manis Askese nicht bloß eine individuelle ist, sondern zugleich eine kosmische; sie ist ein Teilvorgang des kosmischen Endvorgangs. Folgerichtig entsprechen den vier angegebenen kosmogonischen Akten ebenso viele Einweihungsakte, auch wenn der Manichäismus, soweit bekannt, keinen ausge- /(1472) führten, sinnlich-symbolischen Mysterienkult enthielt. Die Verbindung der höheren Grade des manichäischen Ordens, der Electi, mit dem allgemeinen, gleichsam selber asketischen Naturprozeß kann trotzdem nicht eng genug gedacht werden. Die Electi Manis sind wirklich wie Retorten in die Welt gestellt, um den geraubten Lichtstoff aus ihr herauszudestillieren; sie sind lebendige Scheidekunst, mit kosmischem Ziel. Das Ziel ist der letzte Anti-Ahriman-Akt, die Schleifung der Weltveste; auch Sonne und Mond stellen dann ihr Baggerwerk ein. Wenn der letzte Gottesbote »sein Bild sichtbar macht«, stürzt der finstere Stoff zusammen, die Welt verbrennt, der unvermischte Urzustand von Nacht unten, aber Licht in der Höhe füllt das All. Todesstarre unten, im gesprengten Gefängnis, Glanz und Freiheit oben: das macht den Triumph des göttlichen Plans aus, gegen den »König der Finsternis«.Damit endet die Frohbotschaft eines der umfänglichsten Religionssysteme, in all seinen Fabeln eifernd nach dem Wohnsitz des Lichts. Als eines Naturlichts, das trotzdem durch Geschichte hindurch visiert wird und erst am Ende der Zeiten vollzählig strahlt. Die Nachwirkung dieser mächtigen Heliotropie war groß, obwohl oder weil sie es zu keiner dauernden Kirche gebracht hat, und ist nicht erloschen. Mani wurde der Meister Augustins bis gegen dessen dreißigstes Jahr; die Einwirkung der Lichtkriegslehre hat Augustin auch als Christ nicht überwunden. Teufel und Gott kämpfen bei ihm in der Geschichte aus, was bei Mani auf dem Schauplatz der Natur geschieht. Wobei Augustin die Trennung zwischen Nacht und Licht, zwischen civitas terrena und civitas Dei im Laufe der Geschichte sogar verschärft; wie bei Mani endet der Prozeß undialektisch, als starre Separation von Hölle und Himmel. Die ebenso sanftere wie restlose Lösung des Origenes, als Apokatastasis oder Einbringung aller Dinge, also auch der Hölle, zum Paradies, wird von Augustin, unter zweifellosem Einfluß des persischen Dualismus, abgelehnt. Der Teufelsglaube nahm erst von Persien her den ganzen Untergrund der Welt ein, mit all der reaktionären Ideologie, zu der er tauglich war; aber auch die Lichtmystik drang von daher an, militant bis zu den Katharern, symbolisch bis zum Heiligenschein, ja bis zur Farbenhierarchie der Kirchenfenster. Ormuzd ist der Gott, mit dem die Sonne kommt, der die /(1473) Welt weit macht zum Licht, der den Goldglanz aus der Kruste schlagen läßt: so eben hat Mani selber den Wunschtraum Alchymie mythologisch fundiert. Gute Menschen werfen auch noch auf Miniaturen des islamisch gewordenen Persien keinen Schatten, denn er ist Ahriman; Heilige aber stehen ohnehin notwendig in Feuer und Glanz. So wird
Licht in Christentum wie Islam, in den Nachwirkungen Manis durch beide hindurch, zum Material des Göttlichen an und für sich. Licht wird das Tor wie der Inhalt der Reinheit, ein Inhalt, der sich dauernd durch den Gegensatz zu Fleisch, Besitzgier, Weltbindung, Macht, Äußerlichkeit ausdrückt. Von hier die Fortwirkung Manis, das ist: seiner schroff antithetischen Parole, bis in die große Ketzerbewegung der Albigenser; sie wurden nicht grundlos Neu-Manichäer genannt. Sei es, daß manichäische Kreise seit dem Ausgang der Antike vor allem in der Provence weiterbestanden haben; sei es, daß der Orienthandel, mit Beginn des elften Jahrhunderts, manichäisch-christliche Mischlehren, wie die der armenischen Paulicianer oder der bulgarischen Bogumilen, aus dem Osten herübergebracht bat. Jedenfalls gab der scharfe Dualismus zwischen Welt und Licht, Macht und Geist dem Albigensertum eine revolutionäre Ideologie, die zu der christlich-spirituellen noch hinzutrat. Das Angebot aller Reiche, der Erde und die Ablehnung dieser Versuchung durch Jesus (Luk. 4, 5-8): diese echt mandäische Legende wurde durch die Neu-Manichäer wieder eigens geschärft: der Papst war der Satan, die Macht insgesamt war Ahriman, der Christ entzog sich ihrem Dienst. Lux pura hieß das Zeichen auf der neumanichäischen und eben bereits auf Manis Fahne; so sollte sie auf den Trümmern der zerstörten Weltburg aufgezogen werden. Es war bei Mani freilich ein vorhandenes Licht, eines, das nur nicht komplett ist, es war kein in sich selber heraufkommendes wie bei Moses, dann bei Jesus. Und das Zoroaster-Mani-Reich ist nicht aus dem Material des Menschensohns, sondern zuletzt aus dem des Naturlichts, als einer Äußerlichkeit, wenn auch einer radikal guten. Bis ans Ende also ist der Selbsteinsatz Zoroasters, Manis, der höchst energische und substanzvolle, mit Natur gemengt, ja landet in ihr. Solch kosmische Landung am Ende hat das Negative, das Selbst des religiösen Einsatzes doch nicht zu Ende sprechen zu lassen; die Landung /(1474) hat freilich auch den Wert, daß sie aus einem bloßen raumlosen Innensein herausführt. Das Korrektiv, das der objektive Astralmythos insgesamt, in Ägypten und Babylon, gegen pure Innerlichkeit bildet, liegt bei Mani auf neuer Stufe vor. Und liegt desto lehrreicher vor, als das Subjekt hier ja nicht fehlt, in der mächtigen Verschlingung ethisch-religiöser Kategorien mit naturhaften. Lux pura im Sinn der Manichäer ist kein Puritanismus, wohnhaft im inneren Licht und sonst nirgends. Nur bleibt die Natur, wie sie rechtens über der Geschichte steht, hier die statische, die in ihren äußeren Wertelementen Nacht-Licht bereits fixierte; auf dem Platz, den sie einnimmt, ist kein menschliches, inhaltlich ungewordenes Reich intendiert. Licht wird als physisch vorhandenes aus dem Mischprodukt Welt herausgesprengt und den Schatzkammern Ormuzds wieder zugefügt. Das ist die Heilslehre des Dualismus er holt den Geist aus der Nacht, als wäre er unter ihr nur verdeckt und vergraben. Erlösender Selbsteinsatz, begrenzt auf Akosmos, bezogen auf Nirwana: Buddha Der sichtbare Stifter will zuletzt der Gang selber sein, den er lehrt. Kein Blick wird mehr nach oben gelenkt, Bekenntnis wird Nachfolge eines voran Schreitenden. Buddha wollte nichts anderes sein als dieser Wandel und sein Weg, ein leidbefreiter, weltloser, in einem Menschen für alle vorgezeichnet. Bei keinem der bisher erschienenen Stifter sieht man die Lehre so genau zum Wandel geworden, zu einem Wandel, der freilich geradlinig ins Nirwana führt. Buddha trat am Ende des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts hervor, in einer Zeit, wo die altindische Religion der Veden in Formeln erstickt, zu Ritual veräußerlicht war. Der indische Glaube selber war von Haus aus nicht darauf gerichtet, der Welt abhanden zu kommen, gar noch den Göttern dazu. Die Sammlung der Veden, die noch in die vorarische Zeit zurückreichen, ist großenteils naturmythisch, entbehrt nicht der saftigen Wünsche eines Bauern- und Kriegervolkes. Opfer, Kulte, Zauberriten, selbst Gelübde und Kasteiungen bezweckten ein nahrhaftes Diesseits, Rinder und Rosse, langes Leben und Rache an den Feinden. Der Welt entrückt ist erst der Tote, doch auch /(1475) dieser nur derart, daß er, mit den Vätern vereint, Yama sieht, den Totenkönig, mit Lohn der guten Werke im Himmel. Der feierlichste Teil der Veden, die Sammlung der Hymnen, ist noch großenteils Naturgöttern zugetan, Sturm- und Wolkengöttern, dem Feuergott Agni, dem Gewitter- und Himmelsgott Indra, dem Rauschgott des Opfertranks Soma. Jene Puranas, welche sich selber als Teil der Veden geben und die eigentlichen Legenden der indischen Mythologie enthalten, sind uferlos polytheistisch; die Taten der Götter sind noch uferloser ins Monströse, ins unentwirrbar Gigantische verschlungen. Dergleichen bildet eine erstaunliche Folie zu Büßung, Kühle, Rückgang in sich selbst, Durchblicken der Ruhe, die nun freilich bereits im ältesten Teil der Veden, im Rigveda, die Götterwildnis durchbrechen. Und gar die Upanischaden, um 800 v. Chr., die den letzten Teil der Veden bilden, enthalten entferntes Licht, Himalaya-Licht, dessen Art Nirwana keinen Bauern- und Kriegsmythos zuläßt, erst recht keinen Ansatz zu dem Götter-Dschungel. Die Unruhe hat sich nun selber zum stärksten Sucher der Ruhe gemacht, Buddhas «Pfad der Erlösung« hat hier seinen ersten Ansatz. In den Upanischaden werden einem Lehrling die Weltgestalten vorgeführt, damit er sie, in ihrem Schrecken wie in ihrer Verführung, als Schein erkenne, und bei jeder Gestalt, ob Tiger, Wolke, König oder Nachtmahr, ertönt
die Entzauberungsformel: Tat tvam asi, Das bist du. Die Upanischaden sind nichtmehr polytheistisch, sondern pantheistisch: das Selbst (Atman) ist nicht nur eins mit allen Wesen, sondern auch eins mit Brahma, als der Weltseele. Brahma sieht, hört, weiß in jeder individuellen Seele, ist das Allsehende, Allhörende, Allverstehende durch alle Wesen hindurch; er ist das Alleine, worin alles Streben erlischt und der Schleier der Maya, das ist die Vielheit der Täuschungswelt, zerreißt. Buddhas «Pfad der Erlösung« hat aber seinen zweiten Ansatz in der rationalistisch-atheistischen Samkhya-Philosophie, um 600 v. Chr. beginnend, nicht im Himalaya, sondern in den Städten des unteren Ganges, östlich vom alten Brahmanenland. Das individuelle Selbst fiel hier völlig, es wurde zu einem vergänglichen Aggregat, einem Skandha oder Haufen, nicht anders wie die äußeren Dinge. Vor allem aber fiel in der Sankhya- Philosophie Brahma, die göttliche Substanz: er /(1476) gehört gleichfalls zu Samsara, zum Schein der festen Gestaltwelt. Sankhya und das Erbe der Upanischaden, vor allem in der mystischen Vedanta-Philosophie enthalten (Vedanta = Ende, Ziel, eigentliche Absicht der Veden), bildeten derart die Vorbedingungen für die Entscheidung Buddhas: als Selbst ohne Ichheit und völlig ohne Brahma die Stifterfigur zu sein, deren Weg aus dem Leid der Welt, als dem heillosen Illusionsantrieb zu ihr, herausführt. Ohnegleichen ist diese schmale Zielweisung in seiner Lehre, die Ausscheidung nicht nur des brahmanischen Rituals und des Götter-Dschungels, sondern alles Wissens, das sich nicht als erlösendes ausweist. Es war eine Konzisheit, die sich in der Ausbreitung einer solch esoterisch entrückten Botschaft freilich nicht erhalten hat und nicht erhalten konnte; einzig die Hindeutung ist im Symbol der Buddhafigur sichtbar, im überwältigenden Geheimnis ihres Gewinns und ihrer Versunkenheit. Die Buddha-Lehre selber mischte sich gleichfalls mit den naturmythischen Vorstellungen, die ungestört über ihr fortbestanden; eine wachsende Fülle brahmanischer Gottheiten drang wieder ein. Vierhundert Jahre nach Buddha wurde von Nagarjuna diejenige Form Buddhismus ausgebildet, die sich in Tibet erhalten hat und von da, mit weiteren Zutaten, nach Japan und China gewandert ist. Sie heißt Mahayana, das ist: Großes Fahrzeug, zur breiten Rettung aus dem Ozean Samsara; die ältere, strengere Lehre, die nun Hinayana, das ist: Kleines Fahrzeug, genannt wird, hat sich Tibet zum Teil in Ceylon erhalten. Während im Volk die Buddhafiguren zu Fetischen geworden sind, die heiligen Schriften zu Zaubermitteln, Nirwana wieder zur Üppigkeit des alten Götterhimmels geworden ist, vermehrt sogar um eine Hölle, hat die Form des Mahayana zwar Buddhas Atheismus einigermaßen beibehalten, dafür aber den Gott Buddha fast polytheistisch durch Zeiten und Räume ausgebreitet. Ein vielschichtiges Universum erscheint, statt der ursprünglichen Uninteressiertheit an Welt, Zeit, Raum, ein Universum, das mit werdenden Buddhas (Boddhisatas) und mit ganzen Systemen von Buddhawelten gefüllt ist. Ob aber das Mahayana der Menge, mit einer oft wildstarren Mythologie, oder das Hinayana der Gelehrten: die Buddha-Lehre wurde gerade in ihrem Hauptstück verlassen: im Akosmismus. Zwischen 1200 und 1400 n.Chr. verschwindet der /(1477) Buddhismus im eigentlichen Indien, vielleicht auf Grund seines Gegensatzes zur Kastenordnung, die sich in nachbuddhistischer Zeit ausgebildet hat, obwohl Verfolgung nur in einem Fall berichtet ist; der Hinduismus, als ausgebildete brahmanische Religionsform, trat an seinen Platz. Mit Yogis im Gefolge, deren Versenkung nicht so sehr Nirwana als magische Macht in der Welt zum Ziel hat. Mit der Dreieinigkeit BrahmaVischnu-Schiva über all den vielverschlungenen Göttern und Götterkönigen, über den Genien, Elefanten und Dämonen der altindischen Legende; die furchtbare Kali nicht zu vergessen, als Gattin Schivas, die Menschenopfer fordert. Geblieben ist neben der Hindukirche nur die wenig originale Sekte des Jainismus, gestiftet von Mahavira, einem Zeitgenossen Buddhas, eine Sekte, welche ursprünglich gleichfalls Götter, Mythos und Kultus verwarf, dann aber mit den Brahmanen im Bau barbarischer und noch ausgedehnterer Tempel wetteiferte. Buddha bleibt demgegenüber das Freigewordene, der Glaube ohne Gott und Götter, mit dem Mythos unter und hinter sich. Der Stifter zieht seinen Gläubigen vorher als Tathagata, das ist: der sich selbst Erlösende; als solcher ist er freilich auch der zuletzt wieder Verwehende. Der eigentümliche Atheismus hat diese Art Subjekthaftigkeit-eine ganze Kontraktion des Glaubens zum verdämmernden Buddha-Weg - am wenigsten verhindert. Atheismus wurde hier Religion, indem ein Mensch mit einem von Welt wie Göttern abstrahierten Inhalt in die neue Schicht zog, worin die Götter nicht mehr vorkamen, auch nicht als Illusionen. Außerhalb dieser Schicht sind sie bei Buddha nicht völlig vereint, denn sonst könnten sie nicht überholt werden, sie besitzen vielmehr die Wirklichkeit des Scheins, zu dem sie gehören wie alle Nebelrealitäten dieser Welt. Atheismus wird so ein Teil des riesigen Akosmismus, der die Konsequenz dieser durchgehenden Illusionslehre ausmacht, in Welt wie Überwelt. Freilich: nur um Akosmismus, um diesen rasenden Preis, wurde hier der Atheismus erkauft, und so wurde er selber ein transzendent-religiöser. Wobei dann gerade die Stifter-Person, die durchaus menschenhafte Hoffnungsweg-Person Buddha, die von der Welt zuletzt, zuhöchst sichtbar bleibt, als erste sich im Nirwana auflöst. An Stelle der Versenkung in Brahma als das göttliche Nirwana, wie die Upanischaden es /(1478) lehren, tritt Versenkung in ein völlig gestaltenloses Nirwana. In ein Ruhezentrum, wo statt des Exodus und als dieser schlechthin Exitus in sich
eingeht. »Wie der große Ozean«, erklärte Buddha in seinen Ordensregeln, »nur einen einzigen Geschmack hat, den des Salzes, so haben meine Lehren und Regeln nur eine einzige Eigentümlichkeit: Erlösung«; doch als eine eben von Welt wie Gott. Sie siegt als totale Abstraktion, ihr Ort ist der völlig weggenommene Kosmos, ist der Akosmos und Atheos Nirwana. Ein Mensch lebte das vor, der das Leiden an sich versiegen lassen wollte. Nicht ein bestimmtes, an dem und jenem, sondern das eines erbärmlichen Daseins insgesamt und vor allem, sozusagen gründlich, seines Anlasses. Dieser Anlaß soll nun aber wieder kein bestimmter sein und am wenigsten ein gesellschaftlicher, aus Herr und Knecht. Sondern er soll ganz allgemein sein, heißt Tanha, Begehren, Durst, und ist so überall derselbe; einzelnes krasses Elend öffnet für den ganzen heillosen Zustand nur das Auge. Der Junker Buddha wurde derart hellsichtig am Anblick eines Bettlers, er erfuhr das Tat tvam asi als Mitgefühl. Die Predigt von Benares über die vier heiligen Wahrheiten vom Leiden, durch welche Buddha seine ersten Jünger gewann, fügt dem Mitleid die Einsicht hinzu, die aus der Welt herausbringen wollte. Der Herr des Erbarmens verkündet die Lehre von der Leidensentstehung, von der Leidensvernichtung, von dem zur Leidensvernichtung führenden Pfad. Der Buddhismus kennt weder Wünsche noch Wunschgebete, doch das einzige Gebet, das er trotzdem enthält, lautet: »Mögen alle Wesen heute glücklich sein« es findet sich schon am Ende altindischer Schauspiele, Buddha machte es zentral. Ist der Anlaß des Daseins als Leiden Durst, so ist der Anlaß des Daseins als Illusion Unwissenheit: »Das Nichtwissen (um die Leidensquelle) ist der einzige Grund für die Erscheinung der Welt.« Der Durst quält ebenso endlos wie die Illusion, die ihn von einem Schattenbild zum andern treibt, ewig ungesättigt läßt: Tanha, das Begehren, Samsara, die Scheinwelt. müssen also im gleichen Reduktionsakt verschwinden. Oder wie die Dhammapada-Strophe sagt, bezogen auf die Chimäre als Monstrum, welche Chimären als Illusionen setzt: »Ist der Haus-Erbauer gesehen, so kann er fortan das Haus nicht mehr bauen.« Das Abgeklärte, Trieberstorbene, die Wahnversiegung kommen /(1479) als Wahrheit über die Welt, ein einziges Zur-Ruhe-Kommen, Zum-Ende-Kommen. Der erbarmungslose Treiber verschwindet, das Rad der Wiedergeburten steht still, die Kette des Karma reißt, das ist: der Daseinseffekt von Schuld und Sühne, mit Verdienst und seinem Lohn in jedem neuen Leben, insgesamt vergeht, im Kern wie in der Erscheinung. Wie bemerkt, hier wird ausschließlich von einem Leid an sich gehandelt, von einem so allgemeinen, zugleich so tiefliegenden Kern seiner Verursachung, daß gesellschaftliche Gründe oder auch nur Verstärkungen dieses Leids überhaupt nicht im Blick liegen. Dadurch wurde jede sozial unternommene Umwälzung bagatellisiert; Bettler wie König, Hungersnot wie die kotzende Wunscherfüllung des Überflusses kommen im ungegliederten Weltekel zusammen und ebenso im letzten, im Ausweg-Wunsch totaler Wunscherlöschung. So kam Ablenkung durch scheinbare Zentrierung, und all das im vertrackten Zusammenhang von entnervendem Akosmismus mit kühnem Atheismus - als wäre beider Nein dasselbe. Von dieser seiner Seite her, von der Gleichmacherei aller Veränderung mit Vergeblichkeit, aller Glücksbeförderung mit lllusion hat ein Neubuddhismus, durch Schopenhauer, auch nach Europa gewirkt. Als man nämlich die Trostlosigkeit des kapitalistischen Daseins zum Weltzustand überhaupt machen wollte, folglich zu einem weltlich unaufhebbaren. Und noch jeder derart interessierte Pessimismus, jeder Nihilismus lebt von solcher Entspannung, auch dann, wenn diese Entspannung im Original, bei Buddha selber ja nirgends als feige Müdigkeit, überall als Frucht äußerster Konzentration gemeint und gelehrt war. Nicht dagegen wurde die andere Seite an Buddhas Heilslehre bedacht, die Seite, auf der keine Bagatellisierung durch scheinbare Radikalisierung, keine Weltduldung durch allabstrahierende Weltverneinung geschieht. Denn sagt Buddha, das Nichtwissen sei der einzige Grund für den Fortbestand der Erscheinungen dieser Welt, so steckt in diesem Satz eine Umwertung der Wissensfunktion, die sich - in Konsequenz - von jeder bloßen apologetischen Weltbestätigung nun wirklich radikal unterscheidet. Da wird nicht nur eine Spannung Erscheinung - Wesen strapaziert, wonach es, wenn das Wesen einer Erscheinung erkannt worden ist, mehr oder minder hegelianisch zu einer Versöhnung mit der /(1480) Erscheinung kommt. Sondern noch das Wesen, ja gerade dieses, gilt bei Buddha nicht als dasjenige, was durch Wissen zu bestätigen ist, sondern als dasjenige, was durch Wissen zu wenden ist. Auch hierbei wird zweifellos das schlechte Erscheinende aufs Erscheinende überhaupt übertragen und eine inadäquate Welt aufs Weltsein überhaupt und ein nur in Misere sich sättigendes, mit allem Bisherigen nicht zu sättigendes Durst-Wesen auf das Intentions-Wesen, Tendenz-Wesen überhaupt. Und Erkenntnis wird das gleiche wie Praxis der Weltvernichtung schlechthin, als wäre die Wahrheit der Welt ihr Untergang, eben durchs Wissen um ihr Wesen selber, an dem nach Buddha am wenigsten Heil ist. Doch ebenso zweifellos ist ein Weltwendendes und zwar zum erstenmal in den Religionen - bei Buddha gesetzt, in den Menschen selber als Tathagata, das heißt als Zentralpunkt einer Umkehr gesetzt. Und das, kraft des Atheismus, nicht durch Gebet, sondern durch den wissend gewordenen Willen - wenn auch gewiß nur, zum Unglück dieser Art Heil, durch den akosmischen, überbordenden, allausreißenden Willen zum Nichtwillen. Und am wenigsten hat im
Zurückschleudern des Schlechten ins Nichts eine Abrechnung Platz; diese Totalverachtung soll auch in ihrem Effekt ein Geschehen sein, als ob nichts geschähe. Der Eingang zu Nirwana muß demgemäß selber der friedlichste sein - wieder aber als ungeheure Steigerung, Übersteigerung jenes Wissensglaubens, der die Welt rein aus sich zur Nichtwelt zu wenden glaubt und, wenn er keine Götter verehrt, so auch keine Widersacher zu fürchten, zu bekämpfen nötig zu haben meint. Weshalb eben der Weltuntergang in und durch die Erleuchtung ganz lautlos vor sich geht, ohne kosmische Katastrophe: Illusionen haben keine Apokalypse. Auch diese, mit ihrer hohen Temperatur und krachenden Entsetzlichkeit, würde dem Buddha-Gedanken nach zu Illusionen gehören, als dem Fiebertraum des Daseins; am Eingang Nirwanas agieren keine Brandmomente, weil ebensowenig mehr Götter empfangen. Hierüber, über das Verwehen Nirwana, belehrt freilich auch Buddhas Wissenspraxis nicht, keine Antwort ist auf diese Frage, die Frage selber wurde von Buddha fast als Ketzerei behandelt. Nur soviel erhellt negativ in diesem Verwehen, daß es doch auch noch in all seiner kategorielosen Nicht-Fülle durch das bestimmt sein muß, /(1481) was in ihm - als Akosmos, Atheos - auslöscht und verweht. Wonach sich also ein spezifischer Kosmos indischer Art doch auch, wider die Intention, mit negativem Abdruck, dem Nirwana mitteilt, nämlich als ein abstrakt verlassener, als die Leere oder abstrakte Negation des vorher vom Kosmos Gefüllten. Der Kosmos, von dem hier abstrahiert wird, ist gewiß nicht der eines Astralmythos, wie in Ägypten, Babylon, vielmehr: Buddhas verlassener Kosmos kann kein anderer sein als der wild-gigantische der indischen Mythologie. Aber sowohl durch Kontrast zu dieser Welt wie durch die Hohlraum-Geometrie des geleerten Kosmos ist nun trotzdem wieder ein seltsam Anorganisches in Nirwana vorhanden, eine Schwere in all seiner unendlichen Leichtigkeit, ein vom Schlaf Versiegeltes bei aller Landung jenseits von Schlaf und Wachen. Mit aus diesem Anorganischen kommt sogar noch ein Element jenes großartig Geschlossenen, das die Statue des Gotts Buddha in solchem Kontrast zu der wilden Götterplastik der hinduistischen Tempel aufweist; eine Geschlossenheit nicht nur aus Konzentration, sondern aus Geometrie, aus einem Lächeln im Schlafkristall. Besonders die Buddha-Figuren aus der klassischen, der Gupta-Epoche zeigen ganz mathematisch klaren Aufbau aus Dreieck und Kreis: als Reflex des unreflektierbaren, doch symmetrisch bezeichneten Nirwana. Das ist Ruhe nicht von dieser Welt und doch eine Ruhe, die sich mit dem ägyptischen Werdenwollen wie Stein höchst paradox berührt. Denn die abstrakte Andacht zum Nirwana enthält nicht jenes pointiert Neue zum Kosmos, wie es die christliche Reichs-Utopie aufweist, den weltüberwindenden, nicht weltabstrahierenden Sprungkraft Apokalypse und himmlischen Jerusalems. Wie allerdings das Lächeln im Schlafkristall? - die Seligkeit Nirwanas, die doch zuletzt ein ganz anderes ist als Hohlraum-Geometrie des Akosmos? - die Symbolik der Buddha-Statue, die Einweihungslinien in ihr, die noch eine ganz andere Chiffer mitzuteilen scheinen als das negative Pendant zur Außen-Geometrie? Dergleichen bezeugt immer wieder, daß hier ein besonderer Selbsteinsatz, sich auslöschend, in das erhoffte Heil eingetreten ist; daß er aber auch genau in der Auslöschung, als diese, anwesend ist. Diese Anwesenheit, letzthin also bezeichnet durch das Lächeln Buddhas ist im Astralmythos /(1482) a limine undenkbar, sie ist selbst im chinesischen Tao schwach, betrachtend, an den Rand der Landschaft gewiesen. Bei alldem bleibt die Seligkeit Nirwanas eine in sich freischwebende, eine zu sich selbst hypostasierte, ohne Träger noch Getragenes. Der Rest ist Schweigen oder Schlafkristall aus Nichts von allem, aus dem Alles wie Nichts, aus dem Nichts wie Alles. Bewußtlos-objektlose Verloschenheit, die von Bewußtsein und Objekt nur noch das Lächeln der Seligkeit übrigläßt, worin beide verschwunden sind, dies ist die Frohbotschaft des akosmischen Heils - als wäre schon Nichtwelt wie Himmel. Stifter aus dem Geist Mosis und des Exodus, völlig zusammen fallend mit seiner Frohbotschaft: Jesus, Apokalypse, Reich Ja es dünkt unzählige Leut, eine mächtige große Schwärmerei zu sein. Sie können nicht anders urteilen, denn daß es unmöglich sei, daß ein solches Spiel könnte angerichtet und vollführt werden, die Gottlosen vom Stuhl des Urteils zu stoßen und die niedrigen Groben zu erheben... Wie es uns denn allen bei der Ankunft des Glaubens muß widerfahren und gehalten werden, daß wir fleischlichen irdischen Menschen sollen Götter werden durch die Menschwerdung Christi und also mit ihm Gottes Schüler sind, von ihm selber gelehrt werden und vergottet sind, jawohl, viel mehr, in ihn ganz und gar verwandelt, auf daß sich das irdische Leben schwenke in den Himmel, Philipp. 3. Thomas Münzer, Ausgedrückte Entblößung
Zu einem Kind, das im Stalle geboren, wird gebetet. Näher, niedriger, heimlicher kann kein Blick in die
Höhe umgebrochen werden. Zugleich ist der Stall wahr, eine so geringe Herkunft des Stifters wird nicht erfunden. Sage macht keine Elendsmalerei und sicher keine, die sich durch ein ganzes Leben fortsetzt. Der Stall, der Zimmermannssohn, der Schwärmer unter kleinen Leuten, der Galgen am Ende, das ist aus geschichtlichem Stoff, nicht aus dem goldenen, den die Sage liebt. Trotzdem hat man versucht, wie Moses, so Jesus in lauter Legende aufzulösen, mit niemandem dahinter. Danach hat Jesus sowenig gelebt wie Wilhelm Tell, und Herodes hätte sich nicht um Kindermord zu /(1483) bemühen brauchen, und Pilatus wäscht seine Hände nicht in Unschuld, sondern in Luft. Unzweifelhaft ist Jesus von Mythe umgeben, doch sie ist nur der Rahmen, in den ein Mann eintrat und der von einem Mann gefüllt wurde. Der Rahmen war einer der Erwartungen; als solcher gerade ist er auch für die Existenz Christi wichtig, für dessen Auftritt hinein in Unruhe, Weissagung, Jahrgott-Mythos. Die Unruhe war die politische im jüdischen Land, die einen Führer ersehnte. Einen starken König aus Davids Geschlecht, fähig, die römische Besatzung hinauszujagen, hinauszubannen. Von hier die erste Gefolgschaft Jesu, sein Einritt in Jerusalem und die Bereitschaft, das Hosianna anzustimmen, das der Zuruf an die altisraelitischen Könige war. Die Weissagung gibt das zweite, sehr viel breitere Erwartungsmotiv, ein übers ganze römische Imperium verbreitetes. Schon lange hatten hellenistische Könige den Titel Soter (Heiland) auf sich geleitet, er kam vom altorientalischen Hofzeremoniell her. Genau um Christi Geburt senkte sich der Titel auf Augustus, den erhofften Friedenskaiser; zugleich strömte der ägyptische Horus-Mythos vom göttlichen Kind mit dem Retterbild zusammen. Genuin römisch, jedoch bereits mit messianischen Einschüssen aus der römischen, vielleicht bis zu Horaz reichenden Judengemeinde durchzogen, war die weitere Verbindung des Imperators mit Erinnerungen des Goldenen Zeitalters, mit dem Zeitalter des Saturn. Auf Augustus bezieht sich derart die berühmte Weissagung in Vergils vierter Ekloge: »Nun kommt die Jungfrau wieder, mit ihr die Herrschaft Saturns, nun steigt ein neues Geschlecht vom hohen Himmel herab. Das Kind, dessen Herrschaft das Eiserne Zeitalter enden wird und das Goldene der Welt wiederbringt, keusche Lucina, beschütze es, schon herrscht dein Apollo... Siehe, wie die Welt auf ihrer erschütterten Achse schwankt, wie die Erde, die Meere in ihrer unendlichen Weite, der Himmel und sein tiefes Gewölbe, wie die ganze Natur erzittert vor der Hoffnung der kommenden Zeiten (Aspice venturo laetantur ut omnia saecula).« Sogar das Wort Evangelium, im neuen Sinn einer alles wendenden Frohbotschaft, lebt auch außerhalb Judäas, auf den Kaiser, nicht auf den König der Juden bezogen. So in einer Altarinschrift aus dem kleinasiatischen Priene, aber den Geburtstag des Augustus, nicht /(1484) des Christus Jesus feiernd: »Dieser Tag hat der Welt einen anderen Anblick gegeben, sie wäre dem Untergang verfallen, hätte nicht in dem nun Geborenen für alle Menschen ein gemeinsames Glück sich gezeigt. Richtig urteilt, wer in diesem Geburtsfest den Anfang des Lebens und aller Lebenskräfte für sich erkennt; endlich ist die Zeit vorüber, da man es bereuen mußte, geboren zu sein. Die Vorsehung hat diesen Mann mit solchen Gaben erfüllt, daß sie ihn uns und den kommenden Geschlechtern als Soter gesandt hat; Fehde wird er beenden, alles herrlich ausgestalten. Der Geburtstag des Gotts hat für die Welt die mit ihm verbundenen Evangelia heraufgeführt, von seiner Geburt beginnt eine neue Zeitrechnung.« Die fremdartige Ekstase solcher Kaisergeburtstagsfeiern zeigt an, welcher Wunder- und Erlösungsglaube, welches Bedürfnis nach ihm schon zur Zeit Christi im Römischen Reich umlief. Die Ruhe und Rechtssicherheit, welche der Cäsarismus, aus Anarchie geboren, gebracht hatte, reichen für die überschwenglichen Huldigungen nicht aus, desto weniger, als sie sich keineswegs mit dem späteren Kaiserkult decken. Vielmehr ging damals ein seltsames Gefühl von Zeitwende, als bevorstehender, vom Ende des Eisernen Zeitalters durchs Römische Reich. Auch von hier aus und nicht nur aus der mandäischen Prophetie (Johannes der Täufer) klingt die liturgische Form in Lukas 2, 14: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.« Und drittens nun der Jahrgott-Mythos, als freilich astralmythisch tingiertes Erwartungsmotiv, er beendet diesen noch äußeren, bloß generellen Rahmen um Jesus. Keineswegs das Leben, aber das Sterben Christi tritt in den Rahmen des nun untergehenden und wieder auferstehenden Jahres- oder Vegetationsgotts. Dessen Kult war zur Zeit Christi in Kleinasien verbreitet, stark mit orphisch-dionysischen Bildern des Stirb und Werde vermischt. Es gab Wehklage und Jubel um den phrygischen Attis, um den babylonisch-phönikischen Tammuz (den gleichen, der schon dazu dienen sollte, den Josef in der Grube gänzlich zur Mythe zu machen); beide sind Naturgötter, die blühen und verschwinden. Dem Attis wurde bei Frühlingsanfang eine umgehauene Fichte errichtet, bekränzt mit Veilchen, behängt mit dem Bild des Gottes und umwickelt mit Binden /(1485) wie eine Leiche; die Fichte wurde im römischen Attiskult einer Prozession, am 22. März, vorhergetragen (vgl. Ed. Meyer, Geschichte des Altertums I, 1913, S. 724f.). Frühlingsanfang und Sommersonnenwende wurden hierbei, im Attiskult wie in dem des Tammuz (hellenisiert Adonis), zusammengelegt oder ineinander verschoben; die Todesfeier fiel auf den ersten Frühlingstag, zwei Tage später wurde das Auferstehungsfest begangen. Ja, der ins Elend geratene Gott wurde nicht nur beklagt, sondern auch verspottet: wenigstens vom persischen Sakäenfest, das
mit dem kleinasiatischen Kalenderkult zusammenhängt, ist bezeugt, daß der sterbende Jahrgott durch einen Sklaven im königlichen Gewand unter dem Titel Zoganes dargestellt wurde oder durch einen zum Tod verurteilten Verbrecher, dem man zum Hohn als König huldigte. Von hier aus etwa die Verspottung Christi durch die römischen Soldaten (Matth. 27, 28 f.): er wird als Narrenkönig gegrüßt, mit Purpurmantel, Rohrstock, Dornenkrone. So kam vom Jahrgott-Mysterium ein mythisches Schema, in das das Sterben Christi, sein Karfreitag, zu großem Teil eintrat. Diesesfalls in Formen, worin selbst der Tod am Kreuzgalgen, ein wirkliches Geschehnis, noch unimposanter als die Geburt im Stall, sich mit den Zeremonien eines Kalendergotts umhüllte oder verband. Indes, wie bemerkt, es gelingt trotzdem nicht, mit all diesen Erwartungsbildern, mit jüdischer Unruhe, römischer Weissagung, vorderasiatischem Jahrgott-Mythos, den geschichtlichen Jesus selber in Legende aufzulösen. Konträr: das Leben und das Evangelium Christi heben sich gerade in der Allgemeinheit des Erwartungsrahmens, ja selbst noch vom späteren Kultbild-Evangelium über Christus als besonders sinnfällig und konkret ab. Das Christentum wurde dadurch verhindert, so eine Pneumatiker- und Theosophen-Religion zu sein, wie der Neu-Doketismus der sogenannten Christusmythe es zu einer Mythologen-Religion macht. Und schließlich noch mehr als Stallgeburt und Tod am Galgen weist die Personwirkung Christi auf seine Jünger Wirklichkeit aus. Wäre Jesus erdichtet, wäre seine Person erst nachträglich in den Mythos interpoliert worden, so wären die früheren Evangelien phantasievoll-spekulativ und erst die späteren historisierend; gerade das Gegenteil ist aber der Fall. Jesus trat zweifellos innerhalb eines ganzen /(1486) Gewitterlichts von Mythos auf, und es war in ihm selber, wobei sogar die mandäische Apokalyptik, von der keine Christusmythe spricht, stärker war als die drei aufgezählten Erwartungen zusammen. Aber der Religionsstifter, der belebt und erfüllt, was ringsum aus Mythen eschatologisch zusammenschoß, auf die »Fülle der Zeiten« hin, ist nicht selber mit Naturgöttern verwechselbar. Dann am wenigsten, wenn sein Evangelium so fremd wie Moses zum Naturmythos steht. Sei es, daß aus der Vegetation nur Gleichnisse kommen für ein ganz anderes Samenkorn, sei es, daß das Himmelsgewölbe nur noch Raum behält für die Wolken, auf denen der Menschensohn wiederkehrt. Vor allem aber die Lebensdarstellung des Stifters, aus der Erinnerung so vieler Zeugen gewonnen, findet in keinen Legenden und heiligen Abenteuern von Attis, Mithras, gar Osiris ihresgleichen. Die Realgestalt Jesus zeigt einen Zug, der am wenigsten erfindbar, weil am wenigsten erwartbar: Schüchternheit. Sie ist in seiner frühen Meinung, nur ein Prediger zu sein (Marc. 1, 38), indem abgewehrten, zur Diskretion anbefohlenen Ereignis von Cäsarea Philippi (Marc. 8, 27ff.), das aus dem Prediger den Messias macht. Stall am Anfang, Galgen am Ende paßten nur schlecht ins legendäre Retterbild, aber die Schüchternheit ist ihm völlig fremd. Ebenso sind die Anfechtungen und Verzagtheiten Christi unkonstruierbar, sie sagen Ecce homo, nicht Attis-Adonis. Das letzte bange Abendmahl, die Verzweiflung in Gethsemane, die Verlassenheit am Kreuz und ihr Ausruf: sie stimmen mit keiner Legende des Messiaskönigs zusammen, auch nicht mit der des leidenden Messias. Dieser hätte nicht die Agonie des Zweifels durchlebt, er hätte, wie so viele spätere Märtyrer, ein Erfüllungsgefühl aus dem Leiden geschöpft. Auch gerade die gnostisch-doketische Auflösung Christi in puren Logos, Licht, Leben und andere Hypostase, die im Johannesevangelium nur beginnen möchte, wäre zweifellos voll gelungen ohne den geschichtlich-realen Widerstand, den die Person Christi zeigt; ein Vegetationsgott hätte diesen Widerstand nicht geleistet. So lebt christlicher Glaube wie keiner von der geschichtlichen Realität seines Stifters, er ist wesentlich Nachfolge eines Wandels, nicht eines Kultbilds und seiner Gnosis. Diese reale Erinnerung wirkte über die Jahrhunderte hinweg: Nachfolge Christi war auch bei noch so /(1487) großer Verinnerlichung und Spiritualisierung primär eine historische und daran erst eine metaphysische Erfahrung. Dies konkrete Wesen Christi war seinen Gläubigen wichtig, es gab ihnen, in betäubender Schlichtheit, was kein Kultbild oder Himmelsbild hätte geben können. Es machte noch den Himmel, im Sinn eines bloßen getauften Astralmythos, leer und schal. Kein Attis-Myste, und hätte er noch so viele Übungen in der Vergegenwärtigung seines Gottes zustande gebracht, hätte sprechen können wie ein Thomas a Kempis: »Ich will lieber mit dir auf der Erde als Bettler pilgern als ohne dich den Himmel besitzen. Wo du bist, ist der Himmel, und wo du nicht bist, ist Hölle und Tod« (Von der Nachfolge Christi, III). Und letzthin, was nun ganz entscheidend ist, gänzlich aus generell-mythischem Rahmen ins religionsphilosophische Novum führt: ist Christentum kein getaufter Natur- oder Astralhimmel, so ist es ebensowenig Himmel als Thronsaal Jahwes. Jesus setzte sich als Menschensohn in dieses Oben ein, ist genauer in dieser Übermenschlichung seines Gottes anwesend als Zoroaster oder Buddha. Nicht den vorhandenen Menschen setzte er ein, sondern die Utopie eines Menschenmöglichen, dessen Kern und eschatologische Brüderlichkeit er vorgelebt hat. Gott, der eine mythische Peripherie war, ist zum menschgemäßen, menschidealen Mittelpunkt geworden, zum Mittelpunkt an jedem Ort der Gemeinde, die in seinem Namen sich versammelt. Dazu gehörte und überzeugte ein Stifter, in dem das Wort zu Fleisch geworden, zu greifbarem, crucifixus sub Pontio Pilato. Dazu gehörte die unfingierbare Zartheit einer Hybris, die so ruhig behauptend sich
darstellt, daß sie nicht einmal als solche empfunden worden ist und wird. Ein Mensch wirkte hier als schlechthin gut, das kam noch nicht vor. Mit einem eigenen Zug nach unten, zu den Armen und Verachteten, dabei keineswegs gönnerisch. Mit Aufruhr nach oben, unüberhörbar sind die Peitschenhiebe gegen die Wechsler und alle, »welche die Meinen betrüben«. Es dauert nicht mehr lange, bis die Tafel verkehrt wird und die Letzten die Ersten werden. Armut steht dem Heil am nächsten, Reichtum hindert es, inwendig und auswendig. Aber Armut ist bei Jesus mitnichten bereits ein Stück des Heils, dergestalt, daß sie nicht vernichtet werden müsse. Nirgends wird Armut, als übliche, erzwungene, /(1488) erbärmliche, verteidigt, geraten wird nur freiwillige Armut, und der Rat zu ihr ergeht nur an die Üppigen, an den reichen Jüngling (Matth. 29, 21). Der Menschensohn hat für sich doch den Zustand durchaus nicht gepriesen, daß er nichts hatte, wohin er sein Haupt legen konnte. Und auch die freiwillige Armut gilt nicht als Selbstzweck, wenigstens soweit der Rat zu ihr ergeht und nicht die Liebe die Armen erwählt; wovon später. Sich arm halten, das gilt als Mittel zur Verhinderung des steinernen Herzens, zur Beförderung der Brüdergemeinde. Diese Gemeinde, liebeskommunistisch aufgebaut, will keine Reichen, doch auch keine Armen im erzwungen-entbehrenden Sinn. »Keiner sagte von seinen Gütern, daß sie seine wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam« (Apostelgesch. 4, 32), und die Güter sind aus Spenden gesammelt, ausreichend für die kurze Frist, die Jesus der alten Erde noch übrigließ. Der Satz von den Lilien auf dem Felde, den Vögeln unter den Himmeln ist keineswegs wirtschaftlich naiv, er ist vielmehr schwärmerisch überlegt. Denn wenn die Füße derer, die die Welt und ihre Sorge begraben, vor der Tür stehen, wird wirtschaftliche Vorsorge für übermorgen dumm. Ebenso lehrt der Rat, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist (Marc. 12, 17), nicht Schickung in die Welt, wie nachher bei Paulus, sondern Verachtung; in Kürze wird des Kaisers gar nichts mehr sein. Das Pfund, mit dem gewuchert werden soll, ist einzig Güte oder der innere Schatz. Ihn hebt die Nachfolge einer Liebe, die nichts mehr für sich gewollt hat, die das Leben für die Brüder zu geben bereit ist. Die antike Liebe war Eros zu dem Schönen, Glänzenden, die christliche wendet sich statt dessen nicht bloß dem Gedrückten und Verlorenen, sondern darin dem Unscheinbaren zu. Nur diese Bewegungsumkehr der antiken Liebe gibt der Parteiischkeit für die Armen nun doch einen Selbstzweck, eben den aus ihrer Erwählung folgenden, aus dem Aufenthalt im Kleinen. Jesus ist selber bei den Hilflosen anwesend, als Element dieser Niedrigkeit, im Dunkel stehend, nicht im Glanz: »Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan« (Matth. 25, 40). Die christliche Liebe enthält diese Hinneigung zu dem vor der Welt Unscheinbaren als Begegnung mit ihm, als Betroffenheit dieser Begegnung, sie enthält das Pathos und das Geheimnis der Klein- /(1489) heit. Daher wird das Kind in der Krippe so wichtig, zusammen mit der Niedrigkeit aller Umstände im abseitig-engen Stall. Das Unerwartete, den Erlöser als hilfloses Kind zu finden, teilte sich der christlichen Liebe dauernd mit, am sichersten franziskanisch; sie sieht das Hilflose als bedeutend, das von der Welt Weggeworfene als berufen. Dem steht allemal die Anbetung des Kindes im Gemüt und die Suche nach dem Eckstein, den die Bauleute verworfen haben; Andacht zum Unscheinbaren leitet letzthin die Bewegungsumkehr dieser Liebe und ihres Aufmerkens, Einschlagens, Umschlag-Erwartens in den Nebenpunkten, Stillepunkten, Anti-Größen der Welt. Daher hat sie in keinem bisherigen moralischen Glauben ihresgleichen, auch nicht im jüdischen, trotz des »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« (3. Mos. 19, 18) und der Rezeption Matth. 22, 39. Auch die Liebe Buddhas, der als Hase ins Feuer springt, um einem Bettler ein Mahl zu bereiten, führt nicht auf den Bettler, sucht nicht im Ohnmächtigen Göttliches. Wären statt der Heiligen Drei Könige Konfuzius, Laotse, Buddha aus dem Morgenland zur Krippe gezogen, so hätte nur einer, Laotse, diese Unscheinbarkeit des Allergrößten wahrgenommen, obzwar nicht angebetet. Selbst er aber hätte den Stein des Anstoßes nicht wahrgenommen, den die christliche Liebe in der Welt darstellt, in ihren alten Zusammenhängen und ihren nach Herrenmacht gestaffelten Hierarchien. Jesus ist genau gegen die Herrenmacht das Zeichen, das widerspricht, und genau diesem Zeichen wurde von der Welt mit dem Galgen widersprochen: das Kreuz ist die Antwort der Welt auf die christliche Liebe. Auf die Liebe zu den Letzten, die die Ersten sein werden, zu dem Verworfenen, worin sich das wirkliche Licht ansammelt, zu der Freude, die nach Chestertons scharfem Wort die große Publizität weniger Heiden war und das kleine Geheimnis aller Christen wurde oder sein wird. Um sich zu rechtfertigen, hat die gleiche Welt, unter Benutzung ihrer heidnischen Mythen, den Tod am Kreuz hernach zu einem freiwilligen Opfertod gemacht, als wäre er nicht in ihrem, sondern in Christi Sinn gelegen. Als wäre er selber aus der Liebe entsprungen und, wie Paulus formulierte, der Preis, den Jesus Gott gezahlt hat, um die Menschen von der Sünde loszukaufen. Nicht obwohl Jesus am Kreuz starb, ist er der Messias, sondern weil er am Kreuz starb: so dia- /(1490) lektisierte nun Paulus, der Jesus nicht gekannt hatte, den weißen Terror. Auch Jahwe hat demnach Golgatha gewollt, er ist nicht gleich Satan, sondern gleich einem Gläubiger, nur so entsetzlich liebreich, wie es noch keinen gab: seinen eigenen Sohn gibt er dahin, eine Schuld zu begleichen, die ihm - bei dem Obligationenrecht des
Himmels - sonst nicht nachlaßbar war. Aber der wirkliche Jesus starb als Rebell und Märtyrer, nicht als Zahlmeister; die Treue für die Seinen bis in den Tod war niemals der Wille zu diesem Tod. Er hoffte, daß der Kelch an ihm vorübergehe, und vor der entsetzten Vortod-Nacht in Gethsemane deuten von seinen Reden nur interpolierte auf Kreuz und Tod, gar auf die Taufe in den Tod Christi. Er prophezeite den Jüngern: »Es stehen etliche hier, die den Tod nicht schmecken werden, bis sie des Menschen Sohn kommen sehen in seinem Reich« (Matth. 26, 28); wieviel sicherer fährt der Menschensohn lebend auf, gleich Henoch und Elias. Subjektiv wie objektiv kam der Kreuzestod von außen, nicht von innen, aus der christlichen Liebe; er ist der Lohn für den Rebell der Liebe und dessen Katastrophe. Er ist die Katastrophe für den Jesus, der kein Jenseits für die Toten, sondern einen neuen Himmel, eine neue Erde für die Lebendigen gepredigt hat. Ein Rebell gegen Gewohnheit und Herrenmacht ist am Kreuz gestorben, ein Unruhestifter und Löser aller Familienbande (Matth. 20, 34-37; 22, 48), ein Tribun des letzten, apokalyptisch geschützten Auszugs aus Ägypten. Das ist christliche Liebe, eine fast mikrologische, eine, welche die Ihren in ihrem Abseitigen, in ihrem Inkognito vor der Welt, in ihrem zur Welt Unstimmigen sammelt: zum Reich, wo sie stimmen. Die Partikel und Samen des neuen Äon widersprechen dem alten des Herodes und Roms, der Macht der ganzen vorhandenen Schöpfung. Also war schließlich die Rebellion noch ungeheuerlicher, als der Tag gedacht hatte, der jüdische wie der römische. Keine Wiederherstellung der Davidsherrlichkeit lag letzterdings im Sinn Jesu, selbst keine Nationalrevolution auf dem engen gegebenen Schauplatz. Zusammenbruch der Welt insgesamt stand bevor, laut der mandäischen Predigt Johannes des Täufers (Matth. 3, 2-12), der Jesus berufen hatte. Er nahm den Ruf auf, die bestbezeugten Worte Jesu sind eschatologisch, wie in Markus 23 hat er wirklich gesprochen, über den Unter- /(1491) gang Jerusalems, des Tempels, der Welt des alten Äon. Hätte Jesus sich nur als Messias oder Gottessohn im überlieferten, nämlich restaurierenden Sinn erklärt, er wäre von der Priesterkaste soweit geschützt worden, daß er den Römern nicht denunziert worden wäre; am wenigsten hätte der Hohepriester Kaiphas, gegen den Willen des Prokurators, auf seinem Tod bestanden. Denn der Anspruch auf Messiaswürde galt weder vor noch nach Jesus als todeswürdiges Verbrechen; nur in seinem Fall wurde die Stelle 3. Mos. 24, 16 dahin ausgelegt, daß Gottes Sohn Gottes Lästerer sei und so sterben müsse (Joh. 29, 7). Vorher wurde selbst Cyrus als Messiaskönig gepriesen, sodann Serubabel, ein Mann an der Spitze der aus Persien heimkehrenden Juden (Haggai 2, 5ff.); die messianische Anmaßung als solche war also nicht unerhört. Nach Jesus wurde - in freilich völlig verzweifelter Zeit - der große Nationalheld Bar Kochba von Rabbi Akiba, der höchsten priesterlichen Autorität, als Messias ausgerufen; der messianische Titel an sich war also nicht immer Gotteslästerung. Nur wenn der Messias nicht ganz der nationale blieb oder als universaler nicht in Übereinstimmung mit der Gesetzeskirche stand, wurde er den Römern überliefert. Nur wenn der Messias als Menschensohn auftrat, im ebenso präkosmischen wie apokalyptischen Sinn dieses Titels, wenn eine Naturkatastrophe, die auch noch Jerusalem und den Tempel vernichtet, als Instrument und Zeugnis seines Triumphes verkündet wurde, galt er als Gotteslästerer und todeswürdig. In der Tat hat Kaiphas Jesus richtig verstanden, als er ihn eschatologisch verstand, richtiger als der unbewanderte Pilatus und richtiger als alle Sanftlebenden nachher, die in der Liebe Christi nur den Frieden sahen, nicht das Schwert. Jesus ist in der Tat Eschatologie von Grund auf: und wie seine Liebe kann auch seine Moral nur in bezug aufs Reich erfaßt werden. Eben sein Rat, nicht für den nächsten Tag zu sorgen, dem Cäsar zu geben, was des Cäsars ist, beginnt nur, was in Christi Moralgeboten ganz positiv hervortritt: Abbruch, Herauslösung, Sittlichkeit einer Adventswelt. Es ist Sittlichkeit als reichshaft vorbereitende, als Funktion der Bereitung aufs nahe bevorstehende Reich, mit der Ethik Christi, im strengen Sinn der Bergpredigt, gibt es keine Einrichtung in der Zeit, in der weiterlaufenden Geschichte, in der säkularen Gesellschaft. /(1492) Die Bergpredigt ist selber eine der rein adventistisch gewordenen Zeit, und nur auf der erreicht geglaubten Morgenschwelle eines nahe Herbeigekommenen haben alle diese scheinbaren Quietismen ihren Sinn. Eben darum steht hier jedesmal am Ende all der gewaltlos-gewaltigen Seligpreisungen, in unmittelbarer Begründung ihrer, das aufgehende Himmelreich (Matth. 5, 3 bis 12). Es ist indes nicht so, wie extremdualistisches Luthertum statuiert hat, als wäre die Moralität Christi überhaupt nicht in der Zeit, also auch nicht eine des Advents, sondern gänzlich außerhalb der Geschichte. Als wäre, mit absolutem Sprung, das Reich Christi nirgends in die Zeit geboren, sondern geschehe abrupt, ohne jeden Zusammenhang mit Geschichte, nach Ablauf der Zeit, nach Ablauf des ganzen Ozeans Wirklichkeit. Jesus predigte vielmehr vom Kairos, als der Zeit, die erfüllt ist, folglich von und durch Geschichte vermittelt ist; es hätte sonst überhaupt eine noch irdisch zusammenhängende Moral keinen Platz, auch keine Moral der unmittelbaren Eschatologie. Aber allerdings steht die Moral der Bergpredigt, in ihrer völligen Paradoxie, in keinem Verhältnis zu irgendeiner anderen, wenn auch noch so stark in Religiosität versenkten; denn sie ist Moral des Weltuntergangs. Als diese Adventsmoral ist sie nicht nur in den Kompromiß-Moralen der auf Dauer eingerichteten Kirchen verschwunden, sondern selbst in den Soziallehren des Ketzer- und
Sektenchristentums geschwächt; es sei denn, dieses hat sich noch als ermattetes im Harren bewegt, oder aber: es hat erneut an unmittelbar bevorstehende Apokalypse geglaubt. Für alle andere Nachfolge Christi, auf Zeit, wurde die Adventsmoral, als eine der Weltgrenze, selber zum Grenzideal; das sogar bei Paulus: »Und die dieser Welt brauchen, daß sie derselben nicht mißbrauchen; denn das Wesen dieser Welt vergeht« (2. Kor. 7, 32). Jesus jedoch, die absolute Herauslösung, lehrt Moral ausschließlich als die des letzten Wachseins: »So wacht nun, denn ihr wißt nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob er kommt am Abend oder zu Mitternacht oder um den Hahnenschrei oder des Morgens« (Mark. 13, 35). Jede Saat hat hier Bezug zu dem furchtbaren Erntefest der Apokalypse; dazu wird das Korn der Gesinnung, die Frucht der Werke eingebracht. Zug nach unten, Nachfolge einer Liebe, die zentral den Mühseligen und Beladenen, /(1493) dem Unterschlagenen insgesamt zugeordnet ist: alle Lehren und Gleichnisse Jesu dienen so der Gemeindebildung kurz vor diesem Tag. Und genau das der Welt Unscheinbare kommt hier nach Hause: »Das Himmelreich ist gleich einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und säte es auf seinen Acker. Welches das kleinste ist unter allem Samen; wenn es aber erwächst, so ist es das größte und wird ein Baum, daß die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen unter seinen Zweigen« (Matth. 23, 32 f.). Jesus mit seiner Menschheit tritt allein als alles, was gerettet übrigbleibt, ins Reich ein, sonst niemand und nichts: einzig dieser Weinstock und diese Reben bilden also, in totaler Gleichsetzung der Stiftung mit dem Stiftungsinhalt, das Gottesreich. Der Kosmos wird nicht als verehrter und nicht als negativ-ausgelassener, sondern als zusammenbrechender das Instrument, ja der Schauplatz des Reichs; nur als Raum des Ingesindes ist Natur noch vorhanden. Oder wie der Apokalyptiker nicht fern von Jesu Sinn sagt: »Und die Stadt bedarf keiner Sonne noch des Monds, daß sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm« (0ff. Joh. 22, 23). Die Frohbotschaft Christi wirkte derart sozial als Arche Noah, soteriologisch als Ankunft des Menschensohns, der vor der Schöpfung bei Gott war und endlich eine neue Schöpfung anrichtet. Die Frohbotschaft wirkte theologisch als Aufhebung der absoluten Gott-Transzendenz durch die Homousie, die Gottgleichheit Christi. Sie wirkte demokratisch-mystisch als Vollendung des Exodusgotts zu dem des Reichs, zur Auflösung Jahwes in diese Herrlichkeit. Schöpfer, gar Pharao in Jahwe fallen völlig dahin; er bleibt einzig als Ziel, und der letzte Christus rief einzig die Gemeinde als dessen Bauzeug und Stadt. Jesus und der Vater; Paradiesschlange als Heiland; die drei Wunsch-Mysterien: Auferstehung, Himmelfahrt, Wiederkehr Wo ein Kind so überholt, hat es der Vater schwer, neben ihm zu bestehen. Der leibliche wird als nebensächlich behandelt, bald wurde Josef geleugnet, Licht befruchtet von oben. Aber auch der himmlische Vater erscheint neben diesem Sohn seltsam, er /(1494) steht nicht mehr als das einsame Thronende. Indem Jesus als Jahwes Mittler geglaubt wird, wird er näher als dieser, ja drängt ihn ab. Der göttliche Gesandte wird der Sender selbst: »Ich und der Vater sind eines«; »Wer mich sieht, sieht den Vater«; »Es ist mir alles übergeben von meinem Vater« (Luk. 20, 22). Die Abtrennungen von der Art: »Was nennt ihr mich gut«, »Niemand ist gut denn der einige Gott«, sind selten, erst bei Todesnähe, im Garten Gethsemane, am Kreuz tritt der Vater wieder als der andere hervor; Ergebung und Verlassenheit setzen wieder Zweiheit. Aber noch der Tod am Kreuz hat, gerade als so bitter gestorbener, Jesus etwas hinzugegeben, das Jahwe, den einzig guten, unzuständig macht. Im Bewußtsein der Jünger unzuständig, nicht kraft der Opfertodlehre, aber kraft der erwiesenen Treue und Hingabe bis zum Tod. Denn der Jahwe Mosis und der Propheten konnte nie den Tod erleiden; unter den unendlichen Eigenschaften seiner unendlichen Güte war trotzdem die eine nicht: Hingabe bis zum letzten. Diese konnte sinngemäß nur ein sterblicher Mensch besitzen und bewähren, kein der Todesangst und der Marter unangreifbarer, unermeßlich entrückter Gott. Die Opfertodlehre selber schlug an dieser Stelle gegen Jahwe um, ganz gegen die Intention in ihr, das Kreuz als Katastrophe wegzuerklären. Als Katastrophe nicht nur Christi, sondern des Vaters selbst, der sich als Herr der Welt, die diesen Tod brachte, wenig vom Satan unterscheiden mochte. An sich gehört die Opfertodlehre zur Theodizee, nicht zum Christentum, ja indem sie, wie bemerkt, den Tod Christi als dingliche Leistung konstruiert, im Sinn des römischen Obligationenrechts, gehört sie zu einer dämonischen Jurisprudenz, nicht zurReligion. Aber wenn Gottvater seinen Sohn hingab und durch ihn die Schuld bezahlt machte, so war es doch der Sohn allein, der sich darbrachte, als Hohepriester und Schlachttier zugleich. Er hat getan, mit äußerstem Liebeswert, wozu Jahwe, auch bei aller Allmacht, nicht nur bei aller Güte, nicht fähig ist; bei voller Dreieinigkeit, gemäß der späteren Lehre, hat sich einzig die zweite Person der Gottheit am Kreuz dargebracht. Ein neuer Gott entsteht, ein bisher unerhörter, der das Blut für seine Kinder gibt, der als Wort, das zu Fleisch geworden, des Todesschicksals ganz irdisch, nicht bloß im Zeremoniell der Attis-Legende, fähig ist. /(1495) Also hat hier
ein Mensch, durch die Hybris völliger Hingebung, jede bisherige Gottidee überholt; Jesus wird eine Liebe Gottes, wie sie noch in keinem Gott gedacht war. Von hier in der »Matthäuspassion» der wunderbare Choral: »Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir, / Wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür.« Von hier eines der schönsten Paulusworte, ein Übergang mit fliegenden Fahnen: «Ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo ist, unserm Herrn« (Röm. 8, 38 f.). Der gerade kein Herr ist wie Gott: »Daher mußte er in allen Dingen seinen Brüdern gleich werden, damit erbarmherzig wurde« (Hebr. 2, 17), und mehr Menschensohn als je einer vor Gott: »Denn wir haben nicht einen Hohepriester, der nicht könnte Mitleiden haben mit unseren Schwachheiten, sondern der versucht ist allenthalben gleichwie wir, doch ohne Sünde« (Hebr. 5, 25). An der Anklage, daß Jesus ein Gotteslästerer sei, war also vom Standort des Hohepriesters her doch ein Richtiges; und nicht nur, weil Jesus den Untergang des ganzen alten Welt-Äon voraussagte, mit Einverständnis voraussagte. Dies Einverständnis und die Aufwieglung dahinter haben zwar zu seiner Verurteilung genügt, aber als letzthin Verruchtes kam der Selbsteinsatz Christi in Jahwe hinzu. Die Kirche hat Jesus nur in bezug auf das Gesetz in Gegensatz zum Alten Testament gestellt, dem Satz gemäß: »Des Menschen Sohn ist ein Herr auch über den Sabbat« (Matth. 22, 8). Danach stehen die Christusgläubigen nicht mehr unter dem harten Mosesgesetz, der Gott der Rache gilt nicht mehr, der Vorhang zu diesem Tempel riß mitten entzwei, jedoch: der Gegensatz ist weit tiefer, und er ist nur dadurch gemildert, daß er gar kein Gegensatz zum Alten Testament schlechthin ist, vielmehr sich an der entscheidendsten Stelle zu ihm zurückwendet. Sich allerdings zu einer Szene zurückwendet, die im Alten Testament selber voll Bedeutungen und Konkordanzen gegen Jahwe ist. Soll immer heißen: gegen Jahwe als Optimus Maximus, wie andere Jupiter auch, nicht gegen Jahwe als Exodusgott, als Eh'je ascher eh'je. Die entscheidende Rebellionsstelle findet sich zwar im Johannesevan- /(1496) gelium, also einem fast durchgehend unhistorischen, doch das dort angegebene Wort Jesu, zu Nikodemus gesprochen, steht in einer uralt-jüdischen Tradition, die nicht erst nachträglich an Jesus herangebracht worden ist. Das konkordanzenreiche Wort lautet: »Und wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöht hat, also muß des Menschen Sohn erhöht werden, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben« (Joh. 3, 14f.). Moses aber hatte gegen die feurigen Schlangen in der Wüste, die das Volk töteten, eine eherne Schlange gemacht, »und richtete sie auf zum Zeichen, und wenn einen eine Schlange biß, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben« (4. Mos. 22,9). Könnte diese Stelle auch nach der Regel einer mythischen Homöopathie gedeutet werden, so ist ihr Gegensatz zu jener Verdammnis doch unübersehbar, die der Schöpfer Jahwe der Genesis über die Schlange, und was sie bedeuten mag, ausgesprochen hat. Item: Jesus nimmt Bezug zur Schlange, zu diesem unterirdisch-subversiven-heilenden Wesen. Zum dialektischen Tier der Erdtiefe, aus der gleichzeitig die zerstörenden Gase und die heilenden Quellen aufsteigen, die Vulkane und die Schätze. Jesus und eine fast apokryphe Mosesstelle nehmen Bezug zu dem Schlangenkult aller Völker, mit dem Doppelsinn, der ihm innewohnt: sowohl ist die Schlange kriechend auf dem Boden, monströs verwüstend, Hydra, Python, Typhon, der babylonische Drache des Abgrunds, wie sie ist die Blitzesschlange, das hohe Feuer am Himmel. Sowohl ist die Schlange der Erzfeind, von Apollo, Siegfried, Michael bekriegt und überwunden, wie sie ist die Heilandsschlange um den Äskulapstab, die ägyptische Uräusschlange an Diademen und der Sonne, als ein Zauberzeichen, um feindliche Mächte abzuwehren. Vor allem hat sich der Schlangenkult in Israel lange erhalten, wie aus seiner Abschaffung durch Hiskias ersichtlich: «Er zerstieß die eherne Schlange, die Moses gemacht hatte, denn bis zu der Zeit hatten ihr die Kinder Israel geräuchert« (2. Kön. 18, 4). Nur auf die Heilandsschlange in der Wüste bezog sich das erstaunliche Gleichnis Christi, das eine Gleichung ist; jedoch es berührte zugleich und des weiteren, jenseits der bloß naturmythischen Bestimmungen des heidnischen Schlangenkults, ein wohlverstandenes, noch ganz anderes, bald völlig umgewertetes Wesen contra /(1497) Schöpfungs-Jahwe, die Paradiesschlange selber. Es waren die Naassener oder Ophiten (naas, ophis = Schlange), eine zweifellos bereits jüdische Ketzersekte, lange bevor sie als christlich-gnostische, um 100 n.Chr., auftrat, welche die Umwertung der Paradiesschlange in bezug auf Jesus, als Usurpator Jahwes, endgültig vollzogen. Sie deuteten die Schlange der Genesis als das lebenerzeugende Prinzip in der unteren Welt, aber nicht nur im welterhaltenden, also bösen Sinn. Sondern die Paradiesschlange ist zugleich das Symbol der weltsprengenden Vernunft; denn sie lehrt, vom Baum der Erkenntnis zu essen, sie verkündet den ersten Menschen ein Reich, das höher ist als das ihres Schöpfers und Weltschöpfers. Sie lehrt sie, das Gesetz des Demiurgen zu übertreten, um durch das Wissen des Heils jenem höchsten Gott gleich zu werden, der nicht Jahwe ist und den erst Jesus wieder verkündet hat - Eritis sicut Deus, scientes honum et malum. Für dieses Wissen sei über die Menschen der Zorn des Demiurgen gekommen, doch die Ophiten und ihnen verwandte
Sekten wie die Kainiten legten quer durch die Bibel eine ganze Feuerkette aus dem Geschlecht der verleumdeten Paradiesschlange, der gegen Jahwe rebellischen. Sie sei in Kain, dessen Opfer der Demiurg nicht annahm, doch das blutige Opfer Abels nahm er an, denn am Blut freut sich der Herr dieser Welt. Sie sei in Esau, der die blinde Segnung des blinden Isaak nicht empfing, als aber Jakob Esau wiedersah, war ihm, »als sähe ein Mensch Gottes Angesicht« (2. Mos. 33, 10), das Angesicht des wahren Gottes. Die Schlange sei in Moses, als Kraft im Stab, der das Wasser aus dem Fels schlug, ganz im Einklang mit dem Murren (der Kinder Israel, und war der Stab, der sich in eine Schlange verwandelte und die feindlichen Schlangen der Magier vernichtete, das ist der Götter des Verderbens. Der gleichen, die nachher in der Wüste die Kinder Israel vernichteten und gegen die Moses die sodann weiße Schlange errichtete, auf den Rat des wahren Gottes. Die Paradiesschlange sei vor allem in Jesus, ja er ist deren letzte, höchste Reinkarnation; und wieder wird ihr von Jahwe der Kopf zertreten. Der Bischof Hippolytos berichtet über dieses Lehrstück der Ophiten ganz Unzweideutiges: »Niemand kann nun gerettet werden und wieder aufsteigen ohne den Sohn, welcher ist die Schlange. Denn wie er von oben herab- /(1498) brachte die väterlichen Urbilder, so trägt er auch von hier wiederum hinauf die aus dem Schlaf Erweckten und die, die wieder den Charakter des Vaters (des wahren Gotts) angenommen haben ... Wie der Magnet das Eisen anzieht, aber sonst nichts, so wird von der Schlange aus dem Kosmos das zum Ebenbild gewordene vollkommene Geschlecht von gleicher Wesensart, aber sonst nichts, wieder zurückgeführt« (vgl. Leisegang, Die Gnosis, 1924, S 146). Was vom Baum der Erkenntnis zu essen lehrte, bleibt demgemäß die erste Erscheinung des erlösenden Wissens, das aus dem Garten der Tiere, ja aus dem entsetzlichen Vaterhaus dieser Welt herausführt: die Paradiesschlange ist die Raupe der Göttin Vernunft. Jesus also macht die Menschen von der Herrschaft des Demiurgen frei, des gleichen, von dem er sagt: «Euer Vater ist ein Mörder von Anfang an« (Job. 8,44), und bringt die Offenbarung des wahren Gottes, von dem er sagt: «Euer Vater in den Himmeln« (Matth. 7, 11). Ein Titanismus, eine Prometheus-Rebellion ist damit in der Bibel wieder pointiert worden, gerade aber auch im Alten Testament selber, von dem die Priesterredaktion nur noch Spuren aufweist. Dennoch sind diese Spuren vorhanden, sie müssen zur Zeit Jesu in der jüdischen Folklore noch unvergessen vorhanden gewesen sein, und sie wurden als Wegzeichen zu dem ohnehin aus Jahwe ausziehenden Messianismus gedeutet. Solche Titanismen hat auch die Priesterredaktion der Bibel erhalten, außer der Paradiesschlange gehört der Kampf Jakobs mit dem Flußgott hierher, der von Jakob überwunden wird (1. Mos. 32, 24f.). Deutlich erscheinen Nephilim (Giganten) vor der Sintflut (1. Mos. 6, 4); rebellisch gegen Jahwe ist das Turmbau-Motiv, nicht zuletzt sind es auch Meer-Motive (vgl. Gunkel, Schöpfung und Chaos, 1895, S.91 ff.), die Legenden vom rebellischen Ozean (Psalm 33, 7; 65, 7f.; 104, 5-9; Hiob 38, 8- 11; Prov. 8, 22-31; Jer. 5, 22; 31, 35; Jes. Sirach 43, 23). Und die spätere jüdische Geheimlehre, aus der Gnosis, aber auch aus unerloschener Folklore gespeist, hat den seltsamen Bezug zwischen Schlange und Messias durchaus nicht vergessen, sosehr auch die Rebellion gegen den Demiurgen zu einer gegen den üblichen Satan abgeschwächt ist. Nathan von Gaza, der Schüler des falschen Messias Sabbatai Zewi, um 1650, gab eine Schrift heraus: Derusch- /(1499) hatamimim, Abhandlung über die Drachen (vgl. Scholem, The Major Trends in Jewish Mysticism, 1942, p. 292); sie gibt sich als Kommentar zu einer Sohar-Stelle über die Geheimnisse des »Großen Drachens, der inmitten der Flüsse Ägyptens liegt« (Ez. 29,3). Nahasch, das hebräische Wort für Schlange, hat den gleichen Buchstaben-Zahlwert wie Maschiach, Messias; das erläutert die Abhandlung derart: Die Seele des Messias schien in den Abgrund, wo die dämonischen Mächte hausen, sie ist seit Beginn der Schöpfung als «heilige Schlange« unter den Schlangen. In diesem Gefängnis ist die Messias-Seele gebunden, mithin in Ägypten, das als das Weltgefängnis schlechthin gilt, mit Pharao-Satan an der Spitze; erst mit Anbruch des Reichs der Gerechtigkeit wird die »heilige Schlange« befreit und in oberirdischerGestalt erscheinen. So weit also reicht eine Tradition, welche den Messias mit der Heilandsschlange in der Wüste, bei den Ophiten mit dem Baum der Erkenntnis selber verband. Und die Antithese Christus-Jahwe hatte bei den Ophiten nicht einmal ihre größte Schärfe erreicht; denn der wahre Gott kam bei ihnen ja auch im Alten Testament vor. Ophis-Jesus vom Alten Testament loszureißen hat nur der Gnostiker Marcion versucht, um 150 n. Chr., auf radikal-antithetische Weise. Jesu Wort: «Siehe, ich mache alles neu« wurde nun gegen Jahwe in jederlei Gestalt, auch in der des Exodus, interpretiert; er wurde Zoroasters Ahriman. Das Neue aber war der neue Gott, der schlechthin fremde, von dem bis zu Christus niemals eine Kunde zu den Menschen kam; so wurde das große Logion, als Regierungserlaß Christi, interpretiert: «Niemand kennt den Sohn als nur der Vater, und niemand kennt den Vater als nur der Sohn, und wem der Sohn es offenbaren will« (Matth. II, 27). Marcion, der sich als Vollender des antithetischen Paulus fühlte, verband diesen Satz Christi aufs engste mit der Pauluspredigt in Athen über den Theos Agnostos, den unbekannten Gott; so jedoch, daß der Gesandte dieses Gotts von nichts anderem als eben dem Weltschöpfer losriß, den Paulus und erst recht die spätere Kirche mit Christi Vater identifiziert hatten. Marcion stellt so den stärksten Begriff Anti-Jahwe dar, zugunsten Christi
als des totalen Novum oder Paradoxes in Jahwes Welt. Indem Marcion freilich die Brücke zum Alten Testament abbricht, steht er selbst auf dieser Brücke, /(1500) zusammen mit den Ophiten. Anders gesagt: Marcion kommt nicht nur von Paulus, er kommt ebenso von Moses her, der wahre oder fremde Gott dämmert im Exodusgott, zwischen Ägypten und Kanaan. Allerdings dämmert er mitnichten im Weltschöpfer, in dieser opulenten Vergangenheits-Mythologie. Sie hatte vom Ptah Ägyptens, vom Marduk Babylons her den Eh'je ascher eh'je zum Anfang gemacht, gar noch zum hochzufriedenen; dazu steht nicht nur Jesus, sondern die Utopie Messianismus insgesamt in Opposition. Wie erinnerlich, hatten schon die Propheten Jahwe als Weltschöpfer selten erwähnt, desto entschiedener beriefen sie sich auf einen neuen Himmel, eine neue Erde. Gänzlich gegen Jahwe, als Weltregierer, waren die Anklagen Hiobs gerichtet, zugleich mit der Hoffnung, daß ein »Bluträcher« lebe, ein Exodus sei. Der Apokalyptiker Jesus nun steht von oben bis unten in dieser Exodus-Idee; so wurde er mit der Paradiesschlange zusammengesehen, nicht mit dem Gott derer, die in der Welt alles gut fanden, gleich ihrem Gott selbst. Der Auftritt des Stifters wirkte also mitnichten so demütig, wie er nachdem hingestellt wurde. Das Niedrige sollte erhöht, das Kreuz sollte zerschlagen und nicht getragen, gar zur Sache selber werden. Die Schüchternheit Jesu, die unbestreitbare und sich sperrende, verschwand nach dem Erlebnis der Verklärung, das auch von seinen Jüngern halluziniert wurde, und nur ihnen mit Schrecken (Matth. 17, 2-6).Von hier ab galt die äußere Verborgenheit nicht mehr, die er in Cäsarea Philippi den Jüngern befohlen hatte, daß sie niemand sagen sollten, er sei der Christus (Matth. 16, 20). Tiefster Humanum-Einsatz in den Himmel wurde proklamiert, der subjektive Faktor der Christförmigkeit erbte den transzendenten, Gottes Herrlichkeit wurde die apokalyptische Christi und seiner Gemeinde. Und so wurde völlig neuer Glaubensstoff geschaffen - nicht für den Opfertod, der eine Theodizee des Weltschöpfers, Weltregierers ist und bleibt, aber für das triumphierende Tribunbild hinter dem Tod am Kreuz. »Bleibe bei uns, denn es will Abend werden« (Luk. 24, 29): also war die Gegenwart Christi den Jüngern auch auf dem Weg nach Emmaus nicht beendet, es entstanden so die Wunschmysterien Auferstehung, Himmelfahrt, Wiederkehr. Erst vom leeren Grab her ist folgerichtig diese zweite Eschatologie das /(1501) Christentum dieses Nach- als Vor-Glanzes ausgegangen, erst mit der Himmelfahrt erfüllte der Menschensohn die Ewigkeit, erst mit der Wiederkehr wurde das Adventsbewußtsein der ersten Gemeinde zu dem aller folgenden gespannt. Die Realerinnerung Jesus setzte nach seinem Tod mit Notwendigkeit Hoffnungs-Dimensionen, wie bei keinem Stifter vorher. Wenn einer, mußte dieser seinen Gläubigen der Erstling derer sein, die da schlafen und erweckt worden sind. Wenn einer, mußte dieser gen Himmel fahren, nicht nobilitiert wie Herakles, wie Elias, die entfernt und entrückt sind, sondern als Anker der Hoffnung, die mitnimmt. Wenn einer, mußte Jesus zurückkehren, damit er das Menschenreich vollendet: »Und laßt uns halten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken, denn er ist treu, der sie verheißen hat« (Hebr. 10, 23). Bis zur Wiederkehr selber hat der Evangelist freilich noch einen anderen Träger eingesetzt: den rätselhaften Parakleten. Er ist das einzige Zeichen dessen, daß Jesus den Jüngern zwar die Wiederkehr deckte, das Jüngste Gericht, das Reich, aber nicht die ganze Zukunft bis zur Wiederkehr. Das allerdings ist eine Fortwirkung Christi, die sich von ihm abhebt, doch so, daß auch dazu der Jesusglaube die Farbe und Richtung gab. Paraklet bedeutet, wie schon bei Zoroaster gesehen ward, bei dem parallelen Wesen Saoshyant, der Helfer, Tröster, Beistand; als solcher kommt er zwar nur in dem soweithin interpolierenden Johannesevangelium vor, hier aber als Verheißung Christi selbst: »Ich will den Vater bitten, er soll euch einen andern Tröster geben, daß er bei euch bleibe ewig« (Job. 14, 16). Jesus setzt sich also mit diesem erstaunlichen Wort nur als ersten Tröster und nicht als ewig; der Evangelist hat die Kreuzkatastrophe ins Wissen Jesu zurückdatiert. Und eine andere als die Opfertod-Deutung kommt auf, eine, die gleichsam den Messianismus über den sterbenden Messias erhebt und ihn neu, für die Adventszeit, verkörpern läßt: »Aber ich sage euch die Wahrheit, es ist gut, daß. ich hingehe. Denn so ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch; so ich aber hingehe, will ich ihn zu euch senden... Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten. Denn der Paraklet wird nicht von sich selbst reden, sondern was er hören wird, das wird er reden, und das Zukünftige wird er /(1502) euch verkünden« (Joh. 16, 7 und 13). Die dunkelknappen Andeutungen des Evangelisten bezeichnen als Novum des Parakleten hauptsächlich dieses, daß er nicht von sich selber rede, mithin nur ein Verkünder dessen sei, was er hören wird. Solche Passivität könnte auf einen Engel hindeuten, sofern die Engel der christlichen Glaubenszeit ja ausschließlich Boten sind, ohne eigenen Willen und Inhalt; nun aber wird der Paraklet auch »Geist der Wahrheit« genannt, der in alle Wahrheit leitet. Und »Geist der Wahrheit« ist nicht die Kategorie eines Engels, sondern eben die Kategorie und Übersetzung des persischen Vohu mano, der mit dem letzten Zoroaster, mit dem Saoshyant des Weltendes erscheint. Also enthält die Idee Paraklet doch noch ein anderes als die bloße Anwesenheit eines Trösters bis zur Wiederkehr Christi; die Wiederkehr selber ist mit dem »Geist der Wahrheit« bezeichnet. Ja noch wirksamer als die persischen Messianismen sind im Parakleten die
weiterlebend jüdischen: der Glaube an den erschienenen Messias enthielt wiederum den Glauben an den noch nicht erschienenen in sich. Stets jedoch bestimmt und eingekleidet durch die Erscheinung Jesu und die regierende Kategorie seiner Wiederkehr: der »Geist der Wahrheit« wurde so der Heilige Geist, zusammen mit dem Sohn. Also wird diese Ankunft des Heiligen Geistes nun erst die wahre des Sohns; die Wesenheit Christi erschien folglich von hier ab den Paraklet-Gläubigen noch in anderer, endgültiger Gestalt, und diese erst, nicht der Jesus im Neuen Testament, spricht das wirkliche Losewort, mit ihm die unwiderstehliche Weltwende zum Reich. Oder in der Sprache der Ophiten: die Paradiesschlange offenbart ihre Sophia zum drittenmal im Parakleten, und ihm wird nicht mehr der Kopf zertreten. So hat selbst der Kirchenvater Tertullian Jesus und das Neue Testament genauso als Vorstufe und perfektibel erachtet, wie das Alte Testament perfektibel war. Der Vollender ist bei Tertullian der Paraklet, zu ihm hin sind Adam, Moses und Jesus bezogen, in ihm erst geschieht die «ultima legislatio« als eine in «libertatem perfectam«. Es ist unschwer, von diesem Parakletbegriff die Verbindung zu mittelalterlichen Chiliasmen zu finden, vor allem zu Joachim di Fiore und seiner Lehre vom Dritten Reich (vgl. Seite 590 ff.). Auch hier ist die Wiederkehr Christi nicht Wiederkehr des gleichen, /(1503) des im Neuen Testament erscheinenden Christus; denn das Zeitalter des Heiligen Geistes ist nicht mehr das der Gesinnung und Verheißung. Der Paraklet spricht nicht mehr von sich selbst, er setzt die Wirklichkeit, worin die Inwendigkeit geistige Auswendigkeit geworden ist. Der Paraklet wird derart die Utopie des Menschensohns, der keine Utopie mehr ist, sondern das Reich ist präsent. Indes tritt all das aus dem Heimweh nach Jesus nicht heraus, vielmehr: gerade die Wesenheit Christi wird im Tröster, der zum Heiligen Geist geworden ist, gesteigert wiederholt. Das Pneuma, das am Pfingsttag über die Jünger kam, wurde nach dem Glauben der Jünger von Christus ausgegossen, vom Christus der Himmelfahrt: »Nun er durch die Rechte Gottes erhöht ist und empfangen hat die Verheißung des Heiligen Geistes vom Vater, hat er ausgegossen dies, das ihr seht und hört« (Apostelgesch. 2, 33). Der aufgefahrene Christus hat zwar selbst hier, für diese Ekstase-Deutung, nicht den Heiligen Geist selbst empfangen, sondern nur seine Verheißung; so wie das Zungenreden der pneumatischen Jünger nur wie eine halbausgeschriebene Hieroglyphe in die Wahrheit des Reichs hineinragt. Doch diese Verheißung des Geistes ist dem oberen Christus durchaus geworden, wonach dem Christentum auch die Erfüllung oder Parusia des Geistes, so sprengend sie gedacht sein mochte, doch stets nach den Maßen Christi erschien (Eph. 4, 13). Auch bei den Chiliasten hielt sich das Wunschmysterium der Wiederkehr allemal an die Figur, die ihnen gen Himmel gefahren ist. Christus, der Stifter, wurde so auch in Ansehung des Parakleten der triumphierende Rettungsinhalt; als dieser nahm er also den Parakleten der Zukunft in sich auf, wie er den Gott der Vergangenheit in sich aufgenommen hat. Und da nicht nur in den Lehren des historischen Jesus, sondern erst recht in den drei Wunschmysterien des geglaubten Christus das Eschaton des Reichs die Zieleinheit bildet, so wurde in bezug darauf Jesus seinen Gläubigen selber dies Künftige, gleich allem, das vom Reich berührt wird. Jesus als Wiederkehr, nach den Bildern der Daniel-Apokalypse (Dan. 7, 13 f.) von ihm selbst dargestellt, der Menschensohn einherfahrend auf den Wolken des Himmels, nimmt sinngemäß am Sprung ins Novum teil. Die Kraft- und Vergrößerungsfunktion des Heimwehs machte sich mit dem Sprung des Novum /(1504) total ins Ganz Andere: der Christus der Wunschmysterien lebt derart völlig hinter einer Sprengung, auf eschatologischem Plan. Und das Reich, finis ad quem omnia, läßt ebendeshalb vom Alten keinen Stein auf dem andern, nicht vom Tempel, aber auch nicht von Zion. Daher überall die Veränderung des Namens (der im Orient das Wesen bedeutet): »Der Herr wird seine Knechte mit einem anderen Namen nennen« (Jes. 65, 15); »Wer überwindet, dem will ich zu essen geben von dem verborgenen Manna und will ihm geben ein gutes Zeugnis und mit dem Zeugnis einen neuen Namen geschrieben, welchen niemand kennt« (0ff. Joh. 2, 17). So wie das wiederum im Alten Testament, als dem des Exodus- und nicht des Schöpfer-Jahwe, sogar über Zion hieß: »Und du sollst mit einem neuen Namen genannt werden, welchen des Herrn Mund nennen wird« (Jes. 62, 2). Die Auferstehung Christi von den Toten ist in der Religionsgeschichte analogielos, aber die apokalyptische Weltverwandlung zu einem noch völligUnvorhandenen findet außerhalb der Bibel nicht einmal eine Andeutung. Und kraft des ausschließlichen Bezugs dieses schlechthinnigen Novum oder Omega zum Menschen-Inhalt wird der Mystizismus des Himmels zur Mystik des Sohns, die Herrlichkeit Gottes zu der der erlösten Gemeinde und ihrer Statt. Gerade diese wurde deshalb in der christlichen Mystik, vorzüglich bei Eckart, als nichts anderes gedacht denn als unser aller erfüllter Augenblick, als sein - Nunc stans zum Reich. Das ist religiöse Protestation, sich zum Selbst nicht mehr als zu einem Unaufgedeckten verhaltend und zum Sursum corda nicht mehr als zu einem hypostasiert Oberen, worin der Mensch nicht vorkommt: Eritis sicut Deus ist die Frohbotschaft des christlichen Heils. Fanatismus und Ergebung in Allahs Willen: Mohammed
Wo nur eine einzige Fahne die rechte ist, hört das Wählen auf. Der eifernde Stifter setzt das Seine hart, ohne Schwanken, kann nicht anders. Kennt nur Bekenner und Ungläubige, Laues wird ausgespien aus seinem Mund. Ausschließendes, Unduldsames im besten Sinn: es kommt alles von Moses her, es gibt nur El, das Ziel. Die anderen Götter sind Nichtse, der Kraft und dem Wer /(1505) nach, auch wenn noch nicht geleugnet wird, daß sie sind. Sie sollen aber nicht sein und sicher nicht neben dem Gott, der aus Ägypten führt, geehrt werden. Sie sind Goldene Kälber oder Teufel, mit ihnen gibt es keinen Frieden. Die Möglichkeit bestand noch nicht, daß ein Gläubiger, wenn er von seinen Abgöttern ließ, nun ganz und gar ein Ungläubiger wurde. Wie das bei der heutigen Mission geschehen mag, wenn mit dem alten Götterglauben jeder zerstört wird. Sondern der Zauber des henotheistischen Gottes, des einzigen, der Gott ist, wurde durch die Entzauberung der Abgötter schlechthin verstärkt. So hielt es Moses, als er die ägyptischen Magier überbot, so Elias, so Bonifatius, als er die Irminsäule umschlug, ohne daß 0din zu einem Blitz Kraft hatte. Elias spricht vom Baal fast wie ein Aufklärer, er verspottet die Baalpriester fast wie ein Voltaire einen Kirchenpfaffen: »Ruft lauter, denn er ist ein Gott, er dichtet oder hat zu schaffen, oder er ist über Feld oder schläft vielleicht; daß er aufwache« (1. Kön. 18, 27). Aber der Spott über Baal ist das Bekenntnis zu Jahwe, der Haß gegen die Naturgötter ist das Bekenntnis zu einem Gott, der sie als Dämonen widerlegt oder - auf späterer Stufe - als verworrene Ahnungen in sich begreift. Toleranz im Stil des achtzehnten Jahrhunderts entstand erst aus religiöser Gleichgültigkeit insgesamt; lebendiger Glaube kennt Anfechtungen, Verführungen, selbst Erbschaften, aber keine Wahl. »Die ihr des Weltalls unermeßlichen Schöpfer ehrt, Jehova nennt ihn oder Gott, nennt Fu ihn oder Brahma«; so liberal beginnt Mozarts erhaben-milde Kantate vom unermeßlichen Schöpfer des Weltalls. Aber das Kyrie der h-Moll-Messe bezieht die ganze Welt in den Ruf nach dem Erlöser ein, nach dem Christus ohne auswechselbaren Namen: Glaubensernst ist Orthodoxie. Ist gesunde Monomanie, auch wenn die Daseinsform des Einen, woran geglaubt wird, aus einem unhaltbaren Besitz zu einer unnachläßlichen Richtung übergegangen ist. Seit Moses nun zum Einen das Zeichen gegeben, wird verständlich, weshalb henotheistische, dann monotheistische Religionen die missionierenden schlechthin geworden sind. Sie haben sich mit der Ideologie von Marktgewinnung und Eroberung wie keine verbunden, sie haben aber auch den Fanatismus in die Welt gebracht, für seinen Glauben als Soldat oder als Märtyrer zu sterben. Fanatismus als /(1506) religiöses Element findet sich nur in den beiden Religionen, die von Moses ausgingen, im Christentum und Islam. Die kriegerische Intoleranz (von Jesus mitnichten verneint, der gekommen war, ein Feuer in der Welt anzuzünden, und wollte, es brennte schon) hat am Moses, der das Goldene Kalb zerschlägt, ihr Vorbild. Das Subjekt überholt hier seinen Gott noch nicht, aber es fühlt sich so als seinen Streiter, daß ihm die Wut Gottes aus den Augen blickt; Moses handelte am Goldenen Kalb mohammedanisch. Das Subjekt vollzieht hier seines Gottes Willen dergestalt, daß zwar in Aktionslosigkeit, in passiven Zeiten, unter Schicksalsschlägen Ergebung in Gottes Willen übrigbleibt, aber selbst noch diese besondere, leidenschaftliche, eben nun islamische Ergebung setzte primär Einheit des Gotteswillens mit der Monomanie des Gottesstreiters voraus. Islam, Ergebung wurde die Religion Mohammeds genannt, jedoch das Bekenntnis dieser Ergebung war hier wie nirgends scharfer Dschihad, heiliger Krieg. So fängt Fanatismus mit Moses an, er blüht in der Eroberung Kanaans, er wird mitsamt seiner Art Ergebung das ein und alles des frühen Islam. Der Glaubenskrieg kam durch den Islam völlig in die Welt; Adonai echod, Allah il Allah, Gott ist einzig, mit diesem Ruf erlangt das Subjekt die höchste Einseitigkeit, die schärfste zum vorgehabten Zweck. Die mohammedanische Frohbotschaft selber ist keine originäre, sie tritt hinter den gewaltigen Himmelssturm Christi wieder weit zurück, aber sie hat die Passion aus der Bibel herausgesetzt, und zwar ganz im Sinn von Leidenschaft, nicht von Leiden. Der Weg nach aufwärts ist hier rauh, nur der Mann kann ihn bestehen. Mohammed begann als Warner vor dem kommenden Gericht, trat keineswegs sogleich als Retter auf. Den Kraftvollen, zugleich Epileptischen überfielen Gesichte und Stimmen, die Träume aus der Nacht verwandelten sich in leibhaftige Erscheinungen bei Tag. Der altarabische Glaube war einer an Steinfetische gewesen, an Sandsturmgeister und Regengötter aus der Wüste und Wüstenzeit. Für die Handelsstädte, in denen Mohammed auftrat, lag diese Zeit weit zurück, dagegen war jüdischer Einfluß stark. Und Mohammeds erstes Anliegen war, wie er sagte, den reinen Glauben Abrahams wiederherzustellen. Das aber in einem Arabien genießender Kaufleute und sich ausdeh- /(1507) nender Grundbesitzer, nicht unter Wüstenstämmen hat der Siegprophet gepredigt. Ein Stifter von fast ungebrochener Kreatur: »0 propheta«, rief vor der Leiche Mohammeds sein Jünger Ali, nach einer von Gibbon überlieferten Legende, die nirgends als im Islam möglich ist, »0 propheta, et in morte penis tuus coelum versus erectus est.« Und es bestätigt die Männlichkeit dieses Stifters, daß seine wichtigste Reliquie die Waffe ist, sein Degen, al Fehar, der Blitzende genannt, der heute noch aufbewahrt ist. Allah aber ist der Kriegsgott Zebaoth, er holt seine Tempelritter zu dem baldigen Weltgericht hervor, Religion ist
Ergebung in Allahs Willen, doch eben als kriegerischer Fanatismus der Ergebung. Und wie gerufen diente diese drohende Frohbotschaft einem Rittertum, das aufsteigendem Handelskapital die Expansionswege zu schaffen hatte. Die grüne Fahne wehte bald über einem Handels-, Kriegs- und Glaubenssturm ganz homogen, Islam beherrschte das Handels-Empire, das zwischen dem Untergang Westroms und dem Aufstieg Venedigs, fast Englands liegt, er wurde sogar das Original für alles expansive »Gott will es«, von den Kreuzzügen bis Cromwell. Seine Kreaturnähe machte den Islam vorzüglich zu dieser Einheit von Expansion und Mission tauglich; er bedurfte keiner kirchlichen Sophistik wie das Christentum, um Gott und dem Mammon zugleich dienen zu können. Aber vor allem doch auch Gott und seinem Kriegsdienst zugleich: »Das Mönchtum des Islam ist der Religionskrieg«, dekretiert ein Erlaß des Propheten. Noch die Abschiedsrede Mohammeds gab den Befehl zu einem Kreuzzug gegen die Byzantiner, und der Kalif Ali ließ, während des Nachfolgestreits, den Koran an seine Lanzen binden. Den gleichen Koran, das ist: Lesung, den Mohammed aus dem im Himmel verwahrten entziffert haben wollte (96. Sure): die Lesung wurde an den Lanzen alles andere als Kontemplation. Der Islam definierte seine Glanzzeit als »Halt am Steigbügel des Propheten«, also erst in der Verfallszeit wurde diese Art Ergebung in Allahs Willen weich und Geschehenlassen. Und die Bekehrung der Ungläubigen mit Feuer und Schwert verband sich, gegebenenfalls aus politischen Gründen, mit der Toleranz, die nicht an der Wiege gesungen worden war: Bezahlung der Abgaben machte die Bekehrung der Unterworfenen überflüssig. Und die Intoleranz reagierte in dem zur /(1508) Kirche stabilisierten und dann versteinerten Islam nur noch dogmatisch, also selber stabilisierend, nämlich gegen Neuerer und Philosophen. Die Lehre hat allerdings diesseits wie jenseits der Kirche, das heißt in den rebellischen Sektenbewegungen wie in der eschatologischen Mystik des Islam, nie die »Erneuerung«, »Herausrettung» (fukan) gemäß den frühesten mekkanischen Suren vergessen lassen. Der Prophet wurde so nochmals und verstärkt-bis zum letzten »Rechtgeleiteten» (mahdi) verstärkt - messianisch, so lebt sein erster Auftritt fort: als Warner, als Gesandter des Gerichts. Vor allem wirkte auch die religiöse Landschaft ein, in die der Islam eingebrochen ist, nur wenige Jahrhunderte nach Mani: diejenige Zoroasters, der Mandäer, der johanneitischen Südkirche. Diese Landschaft zeigte der islamitischen Mission einen Gesandten, der nicht nur gegen Ungläubige auf der Erde, sondern gegen Ahriman in der ganzenWelt kämpfte, und als Potenz des Lichts, nicht nur als Prophet. Mohammed rückte mit ihm dem ersten Adam, dem Menschensohn nahe, dessen Präexistenz vor der Welt, Offenbarwerdung nach der Welt von Persern, Mandäern, Juden, Christen geglaubt wurde. Der Koran hatte die Engel vor dem ersten oder himmlischen Adam niederfallen lassen (2. Sure, 28 und 32), Mohammed verschmolz mit ihm. Er erscheint nun den Mystikern als »das erste himmlische Licht, aus weißer Perle erschaffen, von Schleiern umwallt«. Und wie der Mahdi, neben oder in ihm, so lebt der Paraklet im Islam, bald als frommer Wanderer, bald als Geheimnis eines Umgangs, von dem Mohammed noch nicht das Ende ist. Der andere neben Mohammed, besser: sein Eigentliches erscheint nun in der arabischen Legendenfigur des Chidr oder al Chadir: er gilt dem späteren Islam als der geheimnisvollste Heilige. Er bereitet die Menschen unerkannt, doch unaufhörlich auf den Jüngsten Tag vor, ist der Hüter des chiliastischen Impulses, »Chidr, der ewig Grünende, der nie ermüdende Wanderer, der durch Jahrhunderte und Jahrtausende über die Länder und Meere schweift, der Belehrer und Berater frommer Menschen, der Weise in göttlichen Dingen, der Unsterbliche« (Hymne der Treuen Brüder von Basra). Die Legende Chidr's ist erst vom neunten Jahrhundert an nachweisbar, in Kommentaren zur 18. Sure, die von der Höhle der Siebenschläfer handelt, doch ihr Ursprung /(1509) ist weit älter, ihr Inhalt weit schlafloser. Chidr ist der eschatologische Geist, der nach dem verschwundenen Mohammed ebenso bleibt wie kommt. Er wurde im Abendland zu Ahasver verfälscht, also zu einem bloßen Strafwunder, doch sein Platz in der Bibel ist nicht bei dem Jerusalemer Schuster (mit dem er allerdings die Unscheinbarkeit teilt), sondern durchaus beim Parakleten. Auch liegt ein Schein des Johannes über der tiefsten Gestalt der mohammedanischen Mystik, ein Schein des Jüngers, von dem Jesus will, daß er bleibe, bis er kommt (Joh. 21, 23). Wie aber zuletzt, bei so viel Kriegsreligion dies messianische Ende? - müßte es nicht, statt Sabbat, ewiges Walhalla sein? Genau wegen des Unterschieds des Fanatismus vom Berserkertum ist das aber, was im Islam dem Reich entsprechen mag, schlechthin Freude, Friede, Ruhe. So allerdings, daß die Leidenschaft nicht aufgehoben wird, sondern sich vollendet; als das Grün der Lebenspflanze im Garten Allahs nach dem Weltuntergang. Zu diesem Jüngsten Tag, daß er den Gerechten ein Tag werde, dazu soll der Koran, der nächtlich empfangen wurde, die Frohbotschaft sein, die militärisch-moralische: »Wir sandten ihn hernieder in der Nacht der Macht. Weißt du, was ist die Nacht der Macht? Die Nacht der Macht ist mehr, als was in tausend Monden wird vollbracht. Die Engel steigen nieder und der Geist in ihr, auf ihres Herrn Geheiß, daß alles sei bedacht. Heil ist sie ganz und Friede, bis der Tag erwacht« (97. Sure). Allah ist das Losungswort dieses Siegs; die Mystik der Sufis hat Allah sogar mit »der Liebesfreude nach gewonnener Schlacht» verglichen (Tholuck, Suufismus, 1821, S.304). Sieg macht an diesem Ende auch die ganze Kreatur und
Natur verklärt; Einigung aller Guten mit Allah besiegelt dessen Einheit. III DER KERN DER ERDE ALS WIRKLICHE EXTERRITORIALITÄT Die Straße des unvorhandenen Wozu Der Trieb nach oben wird zuletzt einer nach vorwärts. Bei der Lage der meisten Leute könnte es ausreichen, das leicht und /(1510) selbstverständlich zu machen. Aber weniger leicht fällt es den meisten selbst noch heute, zu wissen, was und wo das Helle ist. Am schwierigsten scheint es, wirklich ins Rechte zu gehen, auf der echten Straße. Und selbst diese Straße führt ab, wenn in ihrem Wohin nicht unaufhörlich das Wozu mitbedacht ist, das gute Ganze. Dieses Ganze ist in den Menschen, die den Weg gehen, und im Weglauf selber. Es ist aber nicht als erschienen-erreicht vorhanden, sondern nur als menschlich gewollt und geschichtlich angelegt; aufs gute Ganze muß daher, fundierterweise, auch vertraut werden. An dieses Unerschienene leichter zu glauben als ans Sichtbare, dazu gehört geschulte Hoffnung, das ist Vertrauen auf den Tag in der Nacht. Diese Haltung wird durch Rückschläge (sie sind tausendfach zahlreicher als die Siege) nicht widerlegt, nur berichtigt. Der Wille dieser Haltung ist ebenso theoretisch aufs Ganze gerichtet, das in allen Teilbewegungen umgeht, wie er praktisch aufs Ganze gerichtet ist; in dieser seiner Endgültigkeit ist er notwendig unbescheiden. Sobald ein Mensch, wenn er um höheren Lohn kämpft, nicht auch im Willen hat, daß die Gesellschaft verschwindet, die ihn dazu zwingt, überhaupt nur um Lohn kämpfen zu müssen, wird er auch im Lohnkampf nichts Gründliches erreichen. Und sobald ein Mensch sich bereits dafür hält, einer zu sein, unentfremdet die Krone seiner Schöpfung zu sein, sobald nur die miserable Gesellschaft endlich verändert ist, nimmt er das ihm noch Ungewordene selber nicht gründlich genug. Vor allem, da der Babbit, den die kapitalistische Gesellschaft in so großer Breite produziert hat, durch elektrische Eisschränke für alle noch nicht überwunden wird; denn es gibt auch kommunistische Spießbürger. Die Menschen können Brüder sein wollen, auch ohne an den Vater zu glauben, aber sie können nicht Brüder werden, ohne an die gänzlich unbanalen Inhalte und Umfänge zu glauben, die religiös durch das Reich gedacht waren. Mit einem Glauben, der in seinem Wissen, als dieses Wissen, nun gerade sämtliche Illusionen des mythischen Glaubens vernichtet hat. Selbst das übersichtlichste Ziel im unruhenden, sich fortbewegenden Zusammenhang klassenlos beginnender Gesellschaft kann aber nicht getroffen werden, wenn das Subjekt nicht übers Ziel hinausschießt. Die großen religiösen Lehrer haben in diesem ihrem - /(1511) durch all sein Illusionäres nicht erschöpften - Intentionsgrund den Menschen zu ganz Unerhörtem berufen gefühlt, alles war darauf bezogen. Nur die Pfaffen haben aus diesem Zuviel des Unvorhandenen das Zuwenig des Vorhandenen verteidigt, aber es sind Pfaffen gewesen, nicht Steine des Anstoßes, Schlafmacher, nicht Wachende. Sie machten erst den christlichen Glauben zum Opium fürs Volk, sie warfen erst den unendlichen Wert des Menschen, den die Bibel gelehrt hat, ins Jenseits, völlig ins Jenseits, wo er nicht mehr beißt und den irdischen Unwert nicht beschädigt. Sie gaben die gerechte Verteilung der überirdischen Güter als Zuwaage zur ungerechten Verteilung der irdischen Güter; wonach das geschorene Schäflein getröstet war. Sie hielten den riesig verkündeten Anspruch des uns Angemessenen in einem Jenseits fest, zum Zweck, ihn vom Diesseits fernzuhalten. Sie machten fixe Jenseitsbilder aus dem Glauben, statt gärend diesseitiger, die zum vollen Dasein aufreizen und den Willen danach wachhalten. Der Weg geht über die Pfaffen hinweg, doch nicht über den Glauben, wodurch geglaubt wird, denn er gehört zum Weg, als Mut und äußerste Wachheit. Er ist die Haltung, mit der Wissen um Künftiges nicht nur erfaßt, sondern auch gewollt und gegen kleinmütiges oder kurzsichtiges Zweifeln durchgeführt wird. Und auch der Glaube, als welcher selber nun geglaubt wird, der inhaltliche also, gilt hier in höchst berichtigter Weise, nämlich als einer des Wissens um das Keimende, immer noch Unfertige in der Welt. Dieser letztere Glaube steht in keinem überhaupt nur denkbaren Gegensatz zum Wissen, ist aber auch nicht überflüssig neben ihm, sondern drückt inhaltsgemäß aus, daß das Wesentliche selber noch keineswegs ausgeschüttet vor Augen liegt. Da das Beste noch im Schwange ist, muß ihm also auch vertraut werden, damit es gelingt. Unabwendbares und wendbares Schicksal oder Kassandra und Jesajas Es ist gewiß unmöglich, zu handeln, wenn das Draußen nach jeder Seite offensteht. Denn dann ist ebenso alles möglich, was dasselbe ist wie: alles Leben wird unvorhersehbar, also unheim- /(1512) lich wie Spuk. Immerhin könnte unter diesen Umständen noch etwas gewagt werden; das hat der Ritter getan, wenn ihn Abenteuer gerade dort anzogen, wo es nicht mit rechten Dingen zuzugehen schien. Jedoch selbst das Wagnis, gerade dieses, wird unmöglich, wo gar nichts anderes mehr möglich ist als das Unabwendbare, das
im eigentlichen Sinn des Wortes Schicksal heißt. Auch die in so vielem freimütigen und furchtlosen Griechen haben, wie hier erneut spruchreif wird, diesen Bann beglaubigt. Das Undurchschaute, Unbeherrschte der Natur-, dann Gesellschaftsmächte liegt dem Schicksalsgefühl ohnehin zuerst zugrunde. Der eigentliche Schicksalsglaube kann sich an unterirdische Gewalten hängen (Tyche, Parzen), er setzt aber als ausgebildeter vor allem Astralmythos voraus und so, daß der Mensch in ihm nicht vorkommt. Wonach der Mensch auch keine eigene Bewegung gegen die der Gestirne und gegen ihren Bann aufbringt. Das Schicksal ist im alten Orient nun ganz astralisch durch Planetenstand, Sonne, Tierkreis bestimmt; die chaldäische Astrologie hat nur ausgeführt, was von Babylon her dem ganzen damaligen Kulturkreis eigen war. Die unbeeinflußbaren Sterne zeigen nicht nur, sondern bilden und figurieren das unbeeinflußbare, das lediglich abzulesende oder deutbare Schicksal; Gott Enlil, der Verwalter der »Tafeln der Geschichte«, schreitet nördlich vom Himmelsäquator seine Bahn. Und die Griechen nun, deren Götter doch Menschenund nicht Sterngestalt trugen, sie eben ließen dafür das Schicksal, die Moira, auch noch über die Götter herrschen. Es gibt zwar die Homerstelle, worin Zeus sich vor den Klagen der Menschen rechtfertigt und erklärt: »Nur von uns, wie sie schrein, kommt alles Übel, und dennoch / Schaffen die Toren sich selbst, dem Schicksal entgegen, ihr Elend« (Od. 1, 33 f.), aber das Verhängnis rollt, wie die Odipussage zeigt, auch ohne Schuld, es rollt mechanisch, lediglich wie ausgelöst und so unerbittlich. Und die Götter selber haben dem Schicksal gegenüber nur dieses vor den Menschen voraus, daß sie es wissen; sie haben ein Vorherwissen des durch die Moira Verhängten, doch eben ein kraftloses. Hermes kann aus diesem Wissen den Ägysthos warnen und ihm sein Ende vorhersagen, nicht mehr; Zeus selber wird machtloser Zuschauer, wenn Sarpedon, sein eigener Sohn, nach dem Beschluß des Schicksals von /(1513) Patroklos durchbohrt wird. Der Untergang Trojas war der Kassandra, die mit den Göttern die Gabe des Schicksalswissens teilte, als vollendete Tatsache bekannt. Er war bereits ausgemacht, bevor Paris geboren war, bevor Helena von ihm geraubt war, bevor der Krieg nur begonnen hatte; keine Buße der Trojaner, der ohnehin völlig Schuldlosen, konnte den Untergang abwenden. Das ist Moira, ein Wesen, das jeder Handlung blind und so dicht und riesenschwer aufsitzt, daß sie zerbricht. Es stammte für die Griechen aus einer anderen Ordnung als der ihrer Götter; selbst mit der älteren, der mutterrechtlichen Ordnung der Erd- und Nachtgötter war das Fatum doch nur lose als Kind der Nacht verbunden. Zu dieser Verbindung fehlten ihm wieder alle Güte und alles Erbarmen, es fehlte ihm der Schoß im Grab, die Heimkehrerin Vorgeordneten. Moira ist das schlechthin Unabwendbare in Disparatheit; so daß vor ihm nicht nur der Verstand stillsteht, sondern das Blut erstarrt. Es ist sinnlos, unter solchen Umständen zu handeln, selbst wenn der erste Schritt freisteht. Nur die Griechen hielten diese ,ihre Moira aus, denn nur sie besaßen Kraft der Oberfläche genug, um sich den Abgrund zu verdrängen. Die Menschen davor sind nicht Werkzeuge eines göttlichen Willens, weder Ödipus noch Kassandra können etwas tun, gar wenden. Das Schicksal selber ist kein Wille, nicht einmal so weit ist es vermittelt, und um sich durchzusetzen oder auch nur in Erscheinung zu bringen, braucht Moira keine Werkzeuge. Mindestens keine, die irgend etwas selbsttätig oder auch nur beauftragt auszuführen hätten: gerade die Ironie des griechischen Schicksals zeigt, wie wenig es hier auf die Art oder Richtung des menschlichen Handelns ankommt. Dies gänzlich Dämonische, ja nicht einmal Dämonische, sondern selbst dafür noch zu Uninteressiert-Mechanische unterscheidet auch die Moira von scheinbar Verwandtem, das sich auf biblischem Boden oder in seiner Nähe findet: von Mohammeds Kismet, von Calvins Prädestination. Beide haben einen Gott zum Subjekt, der als gut bestimmt wird, und beide lassen den Bann zu einem letzthin guten, völlig fraglos guten Zweck geschehen. Er ist ein Ratschluß, wenn auch ein unerforschlicher, und eine Leitung, wenn auch eine höchstüberlegene. Wobei freilich der ganze Gegensatz zum außerbiblischen /(1514) Schicksalsglauben und dem Quietismus, der letzthin dadurch besiegelt wird, nicht bei Lehren der Ohnmacht zu finden ist. Endgültig tritt er erst in der Bibel selber hervor, und zwar im Verhältnis, worin die israelitischen Propheten zu Kassandra stehen und zu dem, was damit zusammenhängt. Der Gegensatz zeigt zugleich, wie sehr der offene Raum, den der Messianismus darstellt, den geglaubten Gott auch in Ansehung des von ihm Verhängten ändert. Denn nun ist das Verhängte oder Schicksal in nichts mehr tyrannisch zum Menschen, wie bei der Moira und auch beim Astralmythos. Sondern das Schicksal kann durchaus gewendet werden: vor allem Jesajas lehrt es als von der menschlichen Moral und ihrem Entschluß abhängig. Das ist der aktive Gegensatz zum griechischen Seher, zu der lediglich passiv-verzweifelten Vision Kassandras vor allem: Schicksal in der Bibel steht auf der Waage, und das endgültig entscheidende Gewicht ist der Mensch selbst. Gewiß, nicht bei allen Propheten und auch bei Jesajas nicht überall gilt das Schicksal als moralisch wendbar. Zuweilen gilt auch hier das kommende Unheil als Definitives, das mit eisernen Ketten bereits vom Himmel herunterhängt; Buße bedeutet dann zerknirschte Bereitschaft zur Annahme der Strafe. Aber das unerbittliche Schicksal, das bei den Griechen Regel war, ist in der Bibel Ausnahme; gerade der erste Schritt, nämlich der zur moralischen Umkehr, dreht das Verhängnis um. So nun erblicke man eine der lehrreichsten
Bibelstellen in diesem Betracht: nämlich das Erstaunen des Propheten Jona, weil er seinen Unterschied zu Kassandra nicht begriffen hat. Denn Jona war zwar gesandt, Ninive den Untergang nach vierzig Tagen anzukündigen, als die Stadt aber Buße tat und deshalb das Unheil nicht eintrat, verdroß ihn das fälschlich sehr (Jona 4, 1), als hätte er den Leuten von Ninive Unwahres gesagt, während doch der Umkehr des Volkes sogleich die Umkehr Jahwes sich anschließt (Jer. 18, 7f.; 26, 3 u.19):das Schicksal selber schwankt hier noch. Es ist dergestalt kein kategorisches, sondern ein durchgehend hypothetisches, und die Bedingung, von der es abhängt, ist doppelt gesetzt. Einmal in der menschlichen Freiheit, deren Kraft in der Jona-Stelle deutlich als Gegensatz zum Schicksal auftritt. Sodann aber wirft sich diese Freiheit in den offenen Raum, der dem Glauben an einen Zeitgott entspricht, an einen /(1515) Gott mit der Richtung: »Ich werde sein, der ich sein werde.« Da sieht auch das Schicksal nicht entfernt so statisch drein wie die Moira; das Neue ist dem Unabänderlichen ein schlechter Wohnort. Zwar wurde bei den Propheten ihr Jahwe, als aktiv geglaubtes Wesen, das Kriege entfesselt, Reiche stürzt, Plagen schickt, Plagen wegnimmt, selber oft wie ein Stück Schicksal. Keine Religion, auch mit noch soviel Selbsteinsatz ins bisherige Jenseits, konnte an die Schwelle führen, wo Schicksal als ein von Menschen sich selbst Zugezogenes durchschaut werden kann. Auch sind die rein moralischen Ursachen, von denen die Propheten es dirigiert zeigen, einleuchtenderweise selber mythisch. Auch hielten sie als Kausalität des Schicksals nur mühselig vor; im Buch Hiob ist diese Art Erklärung völlig zersprungen. Und trotzdem wurde mit dieser moralischen Einschaltung in die Schicksalsweise ein Gegenzug der Freiheit eröffnet, der sich höchst merklich von Kassandra, von dem bloßen kraftlosen Vorherwissen, der außerbiblischen sogenannten Prophetie, unterscheidet. Über bloßem prévoir wird bei Jona, bewußt bei Jesajas ein Prävenire gespielt, mit Umkehr und nicht nur mit Klage, mit Wegwendung, nicht mit Schickung. Dergleichen ist ausgesprochen gegen das Fatum gerichtet, ja verhüllterweise gegen seinen Herrn, den immer mehr zur Gerechtigkeit gebrachten. Gott als utopisch hypostasiertes Ideal des unbekannten Menschen; Feuerbach, Cur Deus homo nochmals Geschehene Dinge werden in der Ferne kleiner, erhoffte werden größer. Sie nähren sich vom Bedürfnis nach ihnen, und sie wachsen dadurch, daß sie an einem Ende stehen. Es ist nicht ihr vorhandenes Sein, das dadurch wächst, denn dieses ist, wenn es als räumlich entfernt gedacht wird, unsichtbar, wenn als zeitlich entfernt gedacht, überhaupt noch nicht vorhanden. Vergrößert durch Endbetonung, durch Endstelle überhaupt ist einzig das, was noch nie und nirgends sich begeben hat, kurz, eine Vollkommenheit, die dem Bedürfnis der Hoffnung utopisch entspräche. An der Spitze des Idealischen stand seit alters das Göttliche, entweder weil die Götter dürfen und können, was der Mensch nicht darf und kann, oder weil sie die Situationslosen, die /(1516) selig Wandelnden an sich sind. Es macht allerdings einen entscheidenden Unterschied, die Seinsart des Ideals betreffend, ob eine Religion seine Ferne wesentlich als eine räumliche oder aber wesentlich als eine zeitliche bestimmt. Ist die Ferne wesentlich eine räumliche, so überwiegt die Annahme eines vorhandenen Seins Gottes dessen bloß idealisches Sein gewaltig; obwohl letzteres niemals ganz fehlt. Ist aber die Ferne des Göttlichen wesentlich eine zeitliche, im Sinn eines erst am Ende der Tage geschehenden Durchbruchs, so überwiegt das idealische Sein, als das nicht offenbar gewordene, das als vorhanden angenommene entscheidend; obwohl letzteres wiederum in keiner Religion, auch bei noch so starkem »Ich werde sein, der ich sein werde«, fehlt. Während der Gott im Raum, im Hoch-Raum, seine Vollkommenheit wesentlich als höchstes Sein hat, gleichsam über dem Dach alles Welt-Seins, zeigt der Gott, der die Endzeit für sich hat, sein Sein wesentlich als höchste Vollkommenheit, und es ist von jeder Art vorhandenem Welt-Sein durchaus apokalyptisch verschieden. Vom Raum-Gott des Astralmythos geht deshalb ein Weg zum Pantheismus, sofern dieser Verehrung des Totum der Vorhandenheit ist; vom Exodusgott dagegen geht das Totum gerade aus dem vorhandenen Welt-Sein hinaus, mit Chiliasmus. Auch wo das Sein Gottes so sehr pointiert wird, daß »Beweise« dafür aufgestellt wurden (der Astralmythos hatte sie gar nicht für nötig halten können); auch in der christlichen Scholastik ist das Ens realissimum ihres Gottes immerhin eine Eigenschaft des Ens perfectissimum und nicht umgekehrt. Gott ist ihr primär das höchste Ziel, daraus erst folgt - infolge einer freilich von Platon, nicht von Christus übernommenen Gleichung zwischen Sein und Vollendung - das Göttliche als Superlativ des Seins, nicht nur des Werts. Aber der Exodusgott war seinem Wesen nach so wenig als res finita gedacht wie der Exodus selbst; also war er zwar der Inbegriff der höchsten Vollkommenheit, aber nicht der höchsten Seins-Vorhandenheit. Und nun: jede Mythologie eines Seins in Ansehung eines Göttlichen, jede Theologie als Realwissenschaft ist dahin. Nicht dahin aber ist das unter dem Göttlichen Gedachte nach Seite seiner Hoffnung und eines nicht-entfremdeten, nicht dem Himmel abgetretenen Hoffnungsinhalts. Die tiefe Bedürftigkeit ist /(1517)
geblieben, die diese Hoffnung selbst hervortrieb, auch wenn die Hoffnung keinesfalls mehr in einem Pater noster, qui es in coelis, ihr Realobjekt hat, ihr nur raumhaft getrenntes Objekt in angeblich vorhandenem Über-Raum. Und lange bevor Gott als vorhandenes Seinsobjekt von der Aufklärung gestürzt worden ist, hat das Christentum den Menschen und seinen Anspruch, näher: den Menschensohn und sein stellvertretendes Geheimnis in den Himmelsherrn von vordem eingesetzt. Feuerbach und in manchem vor ihm Hegel haben hier nur zu Ende geführt, was in der Frage: Cur Deus homo? angeschlagen ist. Feuerbach führte die Religionsinhalte vom Himmel auf den Menschen zurück, dergestalt, daß der Mensch nicht im Ebenbild Gottes geschaffen ist, sondern Gott im Ebenbild des Menschen, genauer: des jeweiligen idealen Leitbilds vom Menschen. Dadurch verschwindet zwar gänzlich Gott als Schöpfer der Welt, aber eine riesige Schöpfungsregion im Menschen wird gewonnen, worin - mit phantastischer Illusion, phantastischem Reichtum zugleich - Göttliches als hypostasiertes menschliches Wunschbild höchster Ordnung aufgeht. Diese »Wunschtheorie der Religion« wird bei Feuerbach dasselbe wie die »Anthropologisierung der Religion« oder die Aufhebung der »himmlischen Verdopplung des Menschen«. Feuerbach kennt allerdings auch den Menschen, das in der Religion verdoppelte Subjekt, nur in seiner bisher erschienenen Vorhandenheit und diese nur als eine abstrakt-stabile, als die des sogenannten Gattungswesens Mensch. Es fehlt das geschichtlich-soziale Ensemble des jeweiligen «Typus« Mensch, es fehlt vor allem seine Unabgeschlossenheit. In der Flachheit des Bourgeois-Menschen, die Feuerbach verabsolutiert hat, kommen die religiösen Inhalte entschieden nicht unter, sowenig wie der Bourgeois je das Subjekt war, das den Reichtum der Götterbilder aus sich herausgesetzt hat. Am wenigsten kommen in Feuerbachs statisch-vorhandenem Subjekt die den Status sprengenden Religionsbilder unter, die chiliastischen des »Siehe, ich mache alles neu« und des Reichs. Ersichtlich also wird nur Offenheit des Subjekts und seiner Welt imstande, die Antizipationen schlechthinniger Vollkommenheit so wieder in sich aufzunehmen, wie sie sie aus sich herausgesetzt hat. Feuerbachs Anthropologisierung der Religion setzt darum, wenn /(1518) Religion anthropologisiert werden soll, einen utopischen Begriff vom Menschen voraus, keinen statisch ausgemachten. Sie setzt ebenso einen homo absconditus voraus, gleich wie der Himmelsglaube allemal einen Deus absconditus in sich trug, einen versteckten, einen latenten Gott. Auf die res finita Bourgeois, wie bei Feuerbach, läßt sich darum die res infinita des religiösen Ideal-Inhalts am wenigsten abziehen; denn mag Religion sich auch mit Unwissenheit, ja mit Dummheit vortrefflich vertragen haben, so eben nie mit Trivialität: Mysterien sind das Anti-Triviale schlechthin. Und nicht nur das Subjekt, als Zurückforderung aller den Göttern übergebenen Fülle, muß als utopisch begriffen werden, auch die es umgebende Natur; sie darf keinesfalls wie die mechanisch-materialistische Feuerbachs als beendet erscheinen. Ihr Bedeutungsgehalt ist genau in der Zeit noch nicht erschienen, er steht gleich dem der Menschen noch in utopischer Latenz. Das Reich ist Auswendigkeit, nicht nur Inwendigkeit, ist Ordnung, nicht nur Freiheit, ist wesentlich Ordnung jener Subjektivität, die mit Objektivität nicht mehr behaftet ist als mit einem Fremden: so muß die Objektivität, die jetzt noch als Natur um die Menschen ist, selber in ihrem Unerschienenen begriffen und geehrt werden. Die Hoffnung, die in der Religion gearbeitet hat und nun illusionslos, hypostasenlos, unmythologisch geworden ist, intendiert mithin, durch den Reichsgedanken, daß, wie in der subjekthaften, so auch am Rand der objekthaften Möglichkeit utopisches Licht brennt. Das Licht im Stall von Bethlehem und das Licht des Sterns, der darüber stillstand, sind hierbei einer religiösen Intention, der das, was drinnen keimt, auch draußen umgeht, eines und dasselbe. Kleine Wünsche lassen sich vergessen, auch werden sie auf die Dauer langweilig. Nicht so die großen, etwa das Bild einer Geliebten, die nicht kam oder die verschwand, es wird von dem, der es hat, noch ins Grab mitgenommen. Wenige haben, wie gesehen, das religiös Unabgegoltene während des neunzehnten Jahrhunderts stärker gefühlt und näher plaziert als Feuerbach, der so sehr bedeutende Atheist. Trotz der Enge, Starre und Abstraktheit, in der er seinen Begriff vom Menschen hält, ist Feuerbach eine religionsphilosophische Wende; von ihm ab beginnt die letzte Geschichte des Christentums. Denn er wollte /(1519) nicht nur ein Totengräber der überlieferten Religion sein - ein leichtes Amt hundert Jahre nach Voltaire und Diderot -, er war vielmehr gepackt vom Problem des religiösen Erbes. Er war auch nicht der schlecht Entzauberte oder der Inkonsequente, der es im Denken nicht soweit gebracht hätte wie die damaligen L. Büchner oder Moleschott. Er wußte vielmehr, daß ein Rest in den noch so entzauberten Affinitäten bleibt, die die Weihnacht, das Straßburger Münster, die Matthäuspassion wesentlich erbaut haben. Und diesen Rest wollte er - wie immer auch unzulänglich im Agens und in den Horizonten - durch Aufklärung selber der jenseitigen Pfäfferei wegnehmen. Darum bemerkt Feuerbach, daß er nur »verneine, um zu setzen«, und weiter, daß er »den Himmel entzaubere, um den Menschen wichtig zu machen«. Als Aufgabe wird angegeben, in dieser Enteignung des Jenseits »endlich dem Menschen zu geben, was des Menschen ist«. Also erklärt Feuerbach mit einer heute besonders lehrreichen Entschiedenheit: «Wer von mir
nichts weiter sagt und weiß, als ich bin Atheist, der sagt und weiß soviel von mir wie nichts. Die Frage, ob ein Gott ist oder nicht ist, gehört dem achtzehnten und siebzehnten Jahrhundert an. Ich negiere Gott, das heißt bei mir: ich negiere die Negation des Menschen, ich setze an die Stelle der illusorischen, phantastischen, himmlischen Position des Menschen, welche im wirklichen Leben notwendig zur Negation des Menschen wird, die sinnliche, wirkliche, folglich notwendig auch politische und soziale Position des Menschen. Die Frage nach dem Sein oder Nichtsein Gottes ist eben bei mir die Frage nach dem Sein oder Nichtsein des Menschen« (Werke, 1846-1866, 1, S. XIV). Definierter lautet das so: »Der Mensch denkt und glaubt nur einen Gott, weil er selbst Gott sein will, aber wider Willen es nicht ist« (Werke X, S. 290); »Gott ist der Erfüller, das ist, die Wirklichkeit, das Erfülltsein meiner Wünsche«; »Gott ist nichts als die ewige, ununterbrochene Freude als Wesen« (Werke VII, S. 240, 5. 251). Feuerbach arbeitet so zunächst die beiden entgegengesetzten und doch miteinander verbundenen Grundmotive zur gewesenen Altarbildung heraus: den Wunsch nach unserem Wesen und gleichzeitig die phantastische Entäußerung unseres Wesens, durch eine Leibgabe an den Himmel. Aber dauernder als diese /(1520) beiden Analysen bleibt eben ihre Probe aufs Exempel, die Ausschüttung des Jenseits auf Mensch und Erde, wovon es herkam. Der religionsbildende Seufzer der bedrängten, nach Freude begehrenden Kreatur, der religionsgefüllte Zwiespalt des Menschen zwischen seiner vorhandenen Erscheinung und seinem unvorhandenen Wesen: alle diese psychogenen Erklärungen und Auflösungen einer transzendenten Illusion lösen hierbei den Ursprung nicht völlig auf, woraus die Verhimmelung entstanden ist. Ein Verwandtes gilt sogar für die so sehr konkretete Ursprungsforschung, welche die Verhimmelungen als Reflexe gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse begreift und prekärer Naturbeziehungen dazu. Denn in diesem Reflex und darin, daß er überhaupt möglich ist, steckt noch etwas, das ihn gerade inhaltlich über den bloßen repetierenden Dunstschein am Himmel so bunt erweitert hat. Und selbst wenn es gelingen wird, das menschliche Elend aufzuheben, dessen Ausdruck die Religion ebensosehr war, wie sie der Protest dagegen war, selbst wenn dieser ihr erster Quell, nächster Wunschmotivquell eliminiert sein sollte: selbst dann bleibt noch der eigenständige Fundes des menschlichen Inhalts, der an die Himmels-Hypostase imaginierend, aber auch antizipierend hingegeben worden ist. Diesem Fundus gegenüber besteht Feuerbach keineswegs aus Negation: »Die Religion ist das erste, und zwar indirekte Selbstbewußtsein des Menschen« (Werke VII, S.39), mehr noch: »Das Bewußtsein des unendlichen Wesens ist nichts anderes als das Bewußtsein des Menschen von der Unendlichkeit seines eigenen Wesens, oder: in dem unendlichen Wesen, dem Gegenstand der Religion, ist dem Menschen nur sein eigenes unendliches Wesen Gegenstand« (Werke VII, Seite 372). Deutlicher Bezug zur Fleischwerdung Christi fehlt nicht: »Der Mensch ist der Gott des Christentums, die Anthropologie ist das Geheimnis der christlichen Theologie« (Werke VII, S.434); Cur Deus homo, diese einzig im Christentum vorhandene Frage und Möglichkeit, bleibt also auch für Feuerbach Religionsproblem, Religionsschlüssel zugleich. Der Selbsteinsatz ins Transzendente wird entdinglicht rückwärts gelesen: als Zurücknahme des Transzendenten ins Selbst, nach der Weise, wie Hegel bereits in seiner Religionsphilosophie bestimmt hatte: »In dieser gan/(1521) zen Geschichte ist dem Menschen zum Bewußtsein gekommen, daß der Mensch unmittelbarer, präsenter Gott ist, und zwar so, daß in dieser Geschichte, wie sie der Geist auffaßt, selbst die Darstellung des Prozesses ist dessen, was der Mensch, der Geist ist« (Hegel, Werke, 1832, XII, S. 253). Es war nur noch die Elimination des Geistes, also die radikale Anthropologisierung notwendig, um den Himmel an die Front der menschlichen Existenz selber zu bringen und ihn von deren Geheimnissen umfassen zu lassen. Dergestalt eben, daß die religiösen Inhalte für den anthropologischen Atheismus nicht total Chimäre sind, sondern »daß sie nicht das sind, was sie in der Illusion der Theologie sind - nicht ausländische, sondern einheimische Mysterien, die Mysterien der menschlichen Natur« (Werke VII, S. 15). Dieser Satz bezeichnet die Wahrheit an Feuerbach, eine Wahrheit, die er, als Sohn einer platten Zeit, vergebens mit Bornements wie diesen zu verstellen sucht: »Im Gebiete der Natur gibt es noch genug Unbegreiflichkeiten, aber die Geheimnisse der Religion, die aus dem Menschen entspringen, kann er bis auf den letzten Grund erkennen.« Solche Bornements, aus dem Bourgeois-Subjekt der Feuerbachschen Anthropologie, müssen zur Kenntnis genommen werden, vor allem auch als Warnungen vor jeder platten Säkularisierung der Religion, doch sie vergehen vor der immanenten Christlichkeit, vor dem Homo homini Deus im Atheismus, wie ihn Feuerbach faßt. So wird die Trivialität des Aufklärichts immer durchbrochen, kraft des Menschlichen, das nicht schwächer oder geheimnisloser ist als die Natur. Wonach bei Feuerbach trotz allem dieser wirkliche. Eroberersatz im Feld der Religion erscheinen kann: »Der Glaube an das Jenseits ist der Glaube an die Freiheit der Subjektivität von den Schranken der Natur - folglich der Glaube des Menschen an sich selbst« (Werke VII, S. 252 f.). Es ist dies der nicht zu vergessende Hintergrund humanistischer Immanenz im gründlich vorschreitenden, gründlich erbenden Sinn. Denn dieser Sinn ist kein abgeschlossener, konträr, er ist nach dem Marxwort »die Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte, also die Entwicklung des
Reichtums der menschlichen Natur als Selbstzweck«. Religion im Erbe (Meta-Religion) aber wird Gewissen der letzten utopischen Funktion in toto: diese ist das menschliche /(1522) Sichselbstüberschreiten, ist das Transzendieren im Bund mit der dialektisch transzendierenden Tendenz der von Menschen gemachten Geschichte, ist das Transzendieren ohne alle himmlische Transzendenz, doch mit Verständnis ihrer: als einer hypostasierten Vorwegnahme des Fürsichseins. Es ist dieses noch unbekannte Zukünftige in den Menschen, nicht das bereits Zuhandene, Vorhandene in ihnen, das durch die wechselnden Himmels-Hypostasen hindurch wesentlich gemeint war. So haben die Religionsstifter wachsend Humanum in Gott eingesetzt, das heißt hier, wachsend das menschliche Inkognito durch immer nähere Jenseitsgestalten umkreist. Derart sind alle Benennungen und Ernennungen Gottes riesige Figurierungen und Deutungsversuche des menschlichen Geheimnisses gewesen: durch religiöse Ideologien hindurch und trotz dieser Ideologien die verborgene Menschengestalt intendierend. Mit dem vorhandenen Menschenbild deckten sich die Wunsch-, gar die utopischen Gesichts-Hypostasen ersichtlich nicht: sie waren ebenso unheimlicher wie rätselhaft vertrauter als das jeweils vorhandene Menschenbild, jeweils regierende menschliche Leitbild. Das zugleich Vertraute wie Ganz Andere, als Zeichen der religiösen Schicht, von Tiergöttern bis zum Einen Machtgott, bis zum Heilandsgott, wird als solche Deutungs-Projektion des homo absconditus und seiner Welt erst verständlich. Der Tiergott mischte Wildes, Grauenhaftes, Dumpfes, wie kein Mensch es hat, ins Gesicht. Der Machtgott, mit dem charakteristischen Superlativ seines Wesens (nemo potest contra Deum nisi Deus ipse), trug die Unheimlichkeit der Unendlichkeit herbei, den Donnerhimmel ohne Grenzen, ein Tyrannisches, wie wiederum kein Mensch es hat und wie es doch zur vollendeten Übertriebenbeit der religiösen Projektion gehört, zu diesem Superlativ, diesem Überbietenden. Der Heilandsgott letzthin, in Gestalt des Sohns, ist lauter Heimlichkeit, doch so, daß sie erst recht das Überbietende mitführt, nämlich als Furcht-Vertreibung katexochen für alle Getauften, die die Projektion Christi ihrem alten Adam zugefügt haben. Das Überbietende in dieser letzten Gestalt gibt sich der Hoffnung unmittelbar als das Wunderbare, dergestalt, als schmeckte der wirkliche Kern des Inkognito süß. Daher: »Hoffnung läßt nicht zuschanden werden« (Röm. 5, 5); /(1523) gar: »Ich halte dafür, daß dieser Zeit Leiden der Herrlichkeit nicht wert sei, die an uns soll offenbart werden« (Röm. 8, 18); gar: »Das kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört und in keines Menschen Herz gekommen, das hat Gott bereitet denen, die ihn lieben« (1. Kor. 2, 9). All das sind Anthropologisierungen der Religion, die in wachsender Tiefe ebenso Religionen des unbekannten und aus der Unbekanntheit aufstehenden Anthropos sind: »Bis daß wir alle hinan kommen zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohns Gottes und ein vollkommener Mann werden, der sei in den Maßen des vollkommenen Alters Christi« (Eph. 4, 13). Item: die christliche Hoffnung war, daß alles erlöster Mensch sei, auch einschließlich der verklärten Natur; in der nicht Sonne noch Mond mehr scheint, sondern ihre Leuchte ist das Lamm. Und keine anthropologische Kritik der Religion raubt die Hoffnung, auf die das Christentum aufgetragen ist; sie entzieht dieser Hoffnung einzig das, was sie als Hoffnung aufhöbe und zur abergläubischen Zuversicht machte: die ausgemalte, ausgemachte, die unsinnig irreale, aber als real hypostasierte Mythologie ihrer Erfüllung. Die Kritik bringt die Religionsinhalte auf den menschlichen Wunsch zurück, allerdings auf den größten, gründlichsten, auf den, der auf die Dauer nie unwesentlich wird, indem er selber nichts anderes ist als die Intention auf das Wesen. Dies Wesen kann vereitelt werden, mythologisch ist diese Vereitlung unter der Hölle gedacht, aber seine Nichtvereitlung war mythologisch als Gottwerdung gedacht. Gott erscheint so als hypostasiertes ldeal des in seiner Wirklichkeit noch ungewordenen Menschenwesens; er erscheint als utopische Entelechie der Seele, so wie das Paradies als utopische Entelechie der Gotteswelt imaginiert war. Es ist eine wissenschaftliche Unreinlichkeit, diese Gottvorstellung als real zu setzen; es ist eine schlecht entzauberte Phantasterei, diese Gottmythologie, weil sie nicht real ist, nun etwa als Realprodukt an ein Ende der Tage zu setzen, mit der Ersatzreligion von Gottmacherei, im lyrischen Sinn des frühen Gorki, gar Rilkes oder auch im naturphilosophischen Sinn Bergsons: die Welt sei eine Maschine, um Götter zu erzeugen. Desgleichen bringt die Entzauberung kein Heil, die der Göttervorstellung nur die Realität wegnimmt, sie aber mit ihrer ganzen mythologischen Form bestehen läßt: als fixes Ideal, /(1524) gesetzt in ein Postulat. Es ist das Kants Lehre, sie enthält zwar stärkstes utopisches Gewissen, ausgesprochen in der moralischen Gestalt des Postulats, doch sie stört den Gott des Katechismus nicht, sie läßt ihn als »Einheit aller Wirklichkeit«, gesetzt als regulative Idee. Statt dessen hat Feuerbachs Anthropologie der Religion das Cur Deus homo nochmals auf die Füße gestellt - und das vom Himmel auf die Erde Bringbare macht tiefes Diesseits. Die Gottvorstellung, mit deren transzendenter Irrealität in Vergangenheit wie Zukunft Ernst gemacht wird, wird als Ideal lediglich durch seine anthropologische Auflösung erfüllt, allerdings durch eine andere, völlig andere Auflösung als in die bisher, während der menschlichen Vorgeschichte, herausgearbeitete menschliche Existenz. Barth oder die theistische Heteronomie nennt die großen religiösen Bekundungen »Einschlagstrichter«, welche zeigen, daß
eine Offenbarung stattgefunden bat. Feuerbach oder die atheistische Autonomie faßt diese Bekundungen, vorab die biblischen, umgekehrt und einzig richtig als Protuberanzen, welche zeigen, daß eine totale Wunschextension des Humanum stattgefunden hat und eine eben solche Sinnversuchung der Welt. Ja, statt der vielen einzelnen Hoffnungen wurde in den großen Religionen die Hoffnung selber versucht, welche die vielen einzelnen umfassen und zentrieren sollte. Ganz und gar aber nichts als Ens realissimum und das mit dem Untertanen-Reflex von Proskynesis und Thron. Die Wahrheit des Gottesideals ist einzig die Utopie des Reichs, zu dieser ist gerade Voraussetzung, daß kein Gott in der Höhe bleibt, indem ohnehin keiner dort ist oder jemals war. Rekurs auf Atheismus; Problem des Raums, in den der Gott hinein imaginiert und utopisiert wurde Aber wie stark waren die Kräfte, die ein Drüben gesetzt haben. Wie selbstverständlich erschien es so lange, lange Zeit, daß die Welt von drunten und droben her durchgeistert ist. Wie zähe hat sich für konservativ gezogene und so gebliebene Menschen ein Bild von jenseits Thronendem erhalten. Viel Gewohnheit und Unernst laufen da mit unter, aber gerade die Gewohnheit wattiert hier vage Gefühle, so daß sie dicker aussehen, als sie es /(1525) im Ernst sind. Zwar glaubt kein Mensch, auch der frömmste nicht, heute noch so an Gott, wie vor zweihundert Jahren selbst der Laueste, ja der Zweifler an ihn geglaubt hatte. Jedoch die starken Wunschkräfte oder Lösungswünsche, welche in Gewohnheit und in ihrem organisierten Herkommen, der Kirchenform, sich auch als hypostasierte erhalten haben, lassen immerhin noch lauen Theismus zu. Es wäre sonst - in der riesigen bürgerlichen Prosawelt selber - gar nicht möglich, daß die Kirche überhaupt noch vorkommt. Daß sie als Ausnahme in der atheistischen Regel vorkommt, freilich als Ausnahme, die sich mit dieser Regel sehr gut zu verstehen pflegt, wo immer es gilt, die bürgerliche Prosawelt in ihren kapitalistischen Grundlagen zu erhalten. Bis zum Sieg der bürgerlichen Aufklärung war Atheismus nicht die Regel, sondern eine verblüffend seltene Ausnahme. Eine so verklausulierte dazu, daß es fraglich ist, ob griechischer, römischer, indischer Atheismus überhaupt im heutigen Sinn dieses Begriffes genommen werden kann. Schon die verschiedenen Gestalten in der geleugneten Götterwelt machen den entstandenen Hohlraum verschieden: das Nein zu Jupiter sieht anders drein als das zu Brahma, gar als das zu Jahwe. Und was dies letztere Nein angeht, das dem heutigen immerhin noch verwandte, so kommt in der Bibel Atheismus als Gefahr immerhin nicht viel mehr als dreimal vor. Unzählig war die Gefahr des »Abfalls« zu anderen Göttern, Atheismus dagegen erscheint, wenn nicht spät, so doch schüchtern. Er wird auch nicht als Kampf denunziert, als Bekenntnis, als Befreiung, sondern mehr als eine Art von Vergeßlichkeit: »Sie haben den Herrn geleugnet und gesagt, es gibt ihn nicht» (Jer. 5, 12), oder als Weise des Stolzen, der nach niemand fragt (Psalm 10, 1), oder des Toren, der nicht klug genug zu dieser Frage ist (Psalm 14, 10 f.). Unterdessen sind aber die Fragen nach Gott klug genug geworden, um Atheismus gerade als einen Auftritt des durch den Gottesglauben Entwerteten oder Transferierten positiv zu machen. Und in diesem Positiven werden sogar alle Atheismen wieder einig, unabhängig von der Art des in ihnen hinweggehobenen Gotts: sie sind darin einig, daß mit der Verneinung des realen Gott-Thronens die menschliche Furcht davor und Nullität aufhört. Daß das Zeitalter der Despotie, also der heteronomen Furcht zu Ende sei, das eint dann so /(1526) abgrundtief verschiedene Atheismen wie den bei Lukrez, den in der Sankhya-Philosophie (auf der Buddha fußt), den in der Menschensohn-Mystik (soweit sie Jahwe zum Verschwinden brachte), den bei Feuerbach. Das Aufatmen des Lukrez kehrt als fast gleiches in der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts wieder, trotz der Gestaltsunterschiede des entthronten Großherrn; ja Epikur, der Materialist, wird für Lukrez in der Wissenschaft das gleiche, was Prometheus im Mythos war. Von daher das alle Atheismen erfüllende Positivum, wie Lukrez in seinem Lehrgedicht es ausdrückt: »Da auf Erden das menschliche Leben übel unterdrückt lag unter der Last der Religion, die ihr Haupt vom Himmel her zeigte und schauerlich anzusehen den Sterblichen drohte: da hat es zuerst ein griechischer Mann, ein Sterblicher, gewagt, entgegen die Augen zu richten und zuerst sich entgegenzustellen; er, den weder die Tempel der Götter noch Blitze, noch das Krachen des Himmels gebändigt haben; um so mehr nur erhebt er den kühnen Mut seines Geistes, daß er die festen Pforten der Natur zuerst aufzubrechen verlangte« (De rerum natura I, V. 62-71). Solche Befreiung von der Furcht scheint allerdings der ganz andersartigen Befreiung zu widersprechen, die gerade doch mit dem Wunschwesen der Religion selbst verbunden ist, mit der Hypostase der eigenen Wunschvollkommenheit zum Deus Optimus Maximus. Aber kein von Furcht befreiender Atheismus befreite ja von den Wunschinhalten und Hoffnungsschätzen der Religion, außer in seiner kärglichsten und total negativen Gestalt, im Vulgärmaterialismus des neunzehnten Jahrhunderts, der sich nur durch sein Bildungsphilistertum von dem vollkommenen Verlust dieser Hoffnungsinhalte, also vom Nihilismus abhielt. Atheismus brachte diese transzendenten Schätze vielmehr in die Immanenz; er brachte sie bei Feuerbach ganz reflektiert in den
Menschen. Was also bei diesem wichtigsten, in diesem Punkt wohl am wenigsten verstandenen Atheisten verschwand und wovon Befreiung geschah, das war immer wieder die Realitäts-Setzung des Perfectissimum, dergestalt, daß es als drückendes Thronen gegen den Menschen aufging, als jenes Obensein schlechthin, das dem Cäsarismus eignet, womit sich dann freilich auch eine rein ideologische, nur der Herrenkirche angehörende Summe von Nicht-Schätzen verbinden /(1527) konnte. Aber was Feuerbachs eigentliche Religions-Kritik angeht, so ist es ohnehin Jupiter Optimus Maxismus, den der Atheismus wesenhaft aufhob, es ist nicht der Wunschinhalt eines Optimum Maximum selber. Und es ist wesentlich die in ein Jenseits abergläubisch hinübergeschaffte Realsetzung von menschlichem Geheimnis und Perfectissimum, gegen die dann der Atheismus seine Immanenz ausspielt, gegen die er seinen offenen Raum setzt, zunächst als Leere. Aber seine Leere ist nicht in der Immanenz; konträr, diese gewann, indem die an den Himmel verschleuderten Schätze in sie zurückgeholt wurden, vermehrte Bedeutung: sie gewann das Ganz Andere der anthropologischen Tiefe. Die Bedeutung der Natur im Sinn des Lukrez hat sich nicht als endgültig gehalten, sowenig wie der Astralmythos, aus dem die Weltfrömmigkeit heruntergeholt worden ist, eine glaubenswerte Endgültigkeit war. Aber die Bedeutung des regnum humanum in der Natur ist endgültig eine, und daran hat der Atheismus nichts weniger geerbt als den gesamten Selbsteinsatz der Stifter ins religiöse Geheimnis, mithin das kräftigste religiöse Positivum. Oder, mit vollem Bewußtsein der Paradoxie, die hier die Sache selbst ausmacht: Jesus war, als er sich zum Mittlerzwischen sich und dem Vater erklärte, selber der Vater geworden, und als er sich zum Weinstock erklärte, mit der Gemeinde als Reben, sprach er im gottgeräumten Raum einer mystischen Anthropologie; die Menschensohn-Mystik ist ihm in diesem Einzug in Jahwe, mehr: in diesem Exodus aus dem Exodusgott stets nachgefolgt. Keine flache oder auch dämonische Hybris hat hier Platz, wo das Sursum corda selber sich gegen Hypostasen bewährt. Und eben wegen dieser Bewährung bleibt die Menschensohn-Mystik, bis in Feuerbachs Anthropologisierung hinein, auch wenn, gerade wenn Deus Optimus Maximus nicht über Sternen wohnt: der Atheist, der das unter Gott Gedachte als eine Anweisung zum unerschienenen Menscheninhalt begriffen hat, ist kein Antichrist. Auch der ist keiner, der den unerschienenen Menscheninhalt mit dem utopischen der Natur verbunden sieht, welche die Menschen mit der so viel breiteren gärenden Offenheit ihres Inkognito umgibt: »Ahnst du dein Geheimnis, Welt?« ist ein ebenso christlicher, nämlich apokalyptischer Ruf, wie der alte: »Ahndest du den Schöpfer, Welt?« ein mythischer ist, trotz des Lieds an die /(1528) Freude, worin er steht. Daher ist und bleibt solch utopisches Element irreligiös, indem es schlagend metareligiös ist, das heißt, es gehört gerade zu dem gekommenen und in seinen Tiefenabmessungen endlich begriffenen Atheismus; der Begriff des Atheismus aber, nach seinem letzten Positivum, ist das Reich der Freiheit. Dazu hält er die Welt nach vorn und vorwärts offen; dazu hat er den Jupiter und den Thron und das welterschaffende, weltumzirkelnde Gespenst eines vorhandenen Ens realissimum weggeräumt. Das ehedem mit Gott Bezeichnete bezeichnet keinerlei Faktum, durchaus keine thronende Vorhandenheit, sondern ein ganz anderes Problem, und die mögliche Lösung des Problems heißt nicht Gott, sondern Reich. Die Dinge hier unten haben sich also in der Länge als nicht so hinfällig gezeigt wie die oben. Der Mensch erbt die jenseitigen Schätze, soweit sie solche sind und nicht bloß Fratzen aus dem, was man nicht verstand. Denn gewiß wurde zusammen mit der Duckmäuserei und dem Betrug der Herren auch fromme Unwissenheit im Jenseits gespiegelt, nicht nur Geheimes, das eines ist und bleibt; das Unwissende mischte sich mit ihm. Über den betrügerischen Glauben und seine Entlarvung sagt Engels schlagend: »Damit die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse angetastet werden konnten, mußte ihnen der Heiligenschein abgestreift werden.« Über die fromme Unwissenheit, auch über das Mythologische im Glauben sagt Engels nicht ganz so erschöpfend: »In den Anfängen der Geschichte sind es zuerst die Mächte der Natur, die diese Rückspiegelung erfahren... Aber bald treten neben den Naturmächten auch gesellschaftliche in Wirksamkeit, Mächte, die den Menschen ebenso fremd und im Anfang ebenso unerklärlich gegenüberstehen, sie mit derselben scheinbaren Naturnotwendigkeit beherrschen wie die Naturmächte selbst. Die Phantasiegestalten, in denen sich anfangs nur die geheimnisvollen Kräfte der Natur widerspiegelten, erhalten damit gesellschaftliche Attribute, werden Repräsentanten geschichtlicher Mächte« (Anti-Dühring, Dietz, S.393 f.). Auf diese Weise tritt zu dem «Waldursprünglichen« der «höhere Blödsinn«, jedenfalls als ein sehr vorwissenschaftliches religiöses Bewußtsein. Das alles ist genetisch richtig und trifft doch, wie bemerkt, das Auftriebsmotiv nicht, das den keineswegs nur «höheren /(1529) Blödsinn« der höheren Religionen so schmerzreich, bildreich, hoffnungsreich erfüllt. Denn von den Riesenschatten der Unwissenheit sind die Dämmerungen der Wunschtiefen und deren Schätze sinngemäß verschieden, und wer die einen durchschaut, durchschaut noch nicht die anderen. Sie sind so verschieden, um ein Beispiel zu geben, wie der Mythos von Fluß- oder Stadtgöttern vom Tao Laotses oder wie die Erzählung von einem Gott, der Eva aus der Rippe Adams geschaffen hat, von der Prophezeiung des Jesajas über den künftigen Berg Zion. Rettbar, erbbar nach
reformatio in capite et membris ist also einzig der Wunschinhalt und die Hoffnungstiefe, die durch Unwissenheit oder bare Phantasterei hindurch in religiösen Bildern erschienen sind. Sie werden zum menschlichen Subjekt, zum möglichen Subjekt der Natur zurückgeholt, zur Dämmerung des Inkognito in beiden. Gerade am Atheismus bleibt so aber, nach dem über sein anthropologisch-utopisches Positivum kein Zweifel mehr sein sollte, diese letzte Frage: was ist mit dem Hohlraum, den die Erledigung der Gott-Hypostase hinterläßt oder auch nicht hinterläßt? Gehört er auch zur Unwissenheit, ist er nur Chimäre wie die Hypostase selbst, die sich als scheinreal in ihm angesiedelt hat? Muß der Mantel nach, wenn der Herzog fällt, ist das Problem des Orts, in das Götter hinein und hinüber imaginiert worden sind, ein Scheinproblem, das sich mit dem Ende des religiösen Scheins von selbst erledigt? Ist dieser Ort und Raum also bloß virtuell wie das reflektierte Bild in einem Planspiegel: die ganze Länge eines Saals liegt darin, die ganze Aussicht durch ein Fenster mit meilenweit entferntem Kirchturm, aber die Spiegelfläche selber ist flach, hinter ihr befindet sich von der ganzen Perspektive nichts. Oder aber: ist die Leere, in die die göttlichen Illusionen projiziert worden sind, nicht als diese wenigstens vorhanden? Ja verlangt nicht bereits bloße Spiegelung und Rückspiegelung, damit sie geschehen kann, etwas, das nicht selber Schein ist, wenn es zum Schein verdoppelt, nämlich einen Spiegel? Wiederholt sich so im Problem oder auch Scheinproblem des religiösen Orts nicht die gesamte Crux des einseitigen Sensualismus oder Ökonomismus auf anderer Ebene? Dergestalt, daß gerade für die Introjektionen oder Illusionen doch ein eigenes, wie immer zu bewertendes Feld mitgesetzt sein muß, gegen das Sensualismus oder Ökono- /(1530) mismus losziehen und das beide dann - ausräumen wollen. Die Crux wurde sichtbar, als Leibniz dem alten Satz, den Locke sensualistisch zitiert hatte: »Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu«, mit scharfsinnigster Bosheit hinzufügte: »excipe: nisi ipse intellectus (Nouveaux Essais II, § 2). Alles mithin mögen die Sinne dem Intellekt eingeliefert haben, und er mag ohne sie ein völlig leeres Blatt sein: aber ihn selbst haben die Sinne nicht eingeliefert; wozu sich sinngemäß hinzufügen läßt, was Ökonomismus angeht: nichts mag im Überbau sein, was nicht im wirtschaftlichen Unterbau war -mit Ausnahme des Überbaus selber. Und das gleiche eben gilt für den Überbau im Überbau, für die religiöse Verhimmelung der Wunschbilder, selbst der unklaren Naturund Geschichtsmächte: ein Feld, ein Hohlraum, ein spezifischer Topos muß methodisch vorausgesetzt und objektiv vorgeordnet sein, wenn anders die religiösen Wunsch-, selbst Unwissenheitsbilder und gar die Bilder einer echten Geheimnisrelation, ums Inkognito, dermaßen projizierbar sein sollen, wie sie in der Religionsgeschichte wirklich projiziert worden sind. Mit dieser Entsprechung zum Leibnizschen Nachsatz stellt sich also heraus: das Problem des religiösen Projektionsraums an und für sich selbst ist kein Scheinproblem, und dieser ist, obzwar durchaus keine Realität im Sinn faktischer Vorhandenheit, doch auch keine Chimäre. Er ist keine Realität oder gar höchste Realität, im Sinn der Platonischen Zweiweltentheorie, mit der Hinfälligkeit aller Erscheinungen und dem wahren Sein der ewigen Ideen, in einem ewigen uranischen Ort. Aber ein anderes als dieses ist - und zwar genau in der materiellen Einheit der Welt - ein offen Gehaltenes für künftig mögliche, für noch nicht entschiedene Realität in diesem Hohlraum; als solcher ist er folglich nur seiner ersten Bestimmung nach Leere und keinesfalls bereits dasselbe wie ausgemachtes Nichts. Auch wäre nichts falscher, sofern mit dem Atheismus objekthafter, nicht nur anthropologischer Ernst gemacht wird, auch wäre nichts falscher als die Konsequenzmacherei eines Hohlraumglaubens, in dem nun überhaupt keine Art von Sein anzutreffen ist, auch nicht das Korrelat von einem utopischen Sein statt dem des Gottes, von einem Noch-Nicht-Sein gleich dem - Reich. Purer Hohlraumglaube kann entweder nihilistisch verzweifeIn, oder er mag sich /(1531) hektisch freuen, weil ihm Sinn und Gott zugleich verschwunden sind; wonach dann freilich die Menschheit, von nihilistischer Nacht umgeben, bloß phosphoresziert, oder, von Luftleere umgeben, wie in einer Geißlerschen Röhre fluoresziert. Das aber ist nicht so, gerade der von Seinsgewißheit ausgeräumte Hohlraum hat die Leere, wie festzuhalten, nur als seine erste Bestimmung, er hat jedoch Gärung, offene Wirkungssphäre für das menschliche Subjekt - und auch für ein keineswegs erledigtes Subjekt der umgebenden Natur - sogleich als zweite Bestimmung. Derart mußte auch Feuerbach, in späteren Jahren, seine allzu pure Anthropologie, soll hier heißen: seinen subjektiven Idealismus, hinsichtlich der religiösen Wunschwelt bedeutsam unterbrechen. Er konnte nicht umhin, wenn nicht im ausgelöschten Jenseits, so doch in der gleichfalls entgötterten Natur etwas zu finden, immer noch zu finden, das die Projizierung nicht mehr so ganz freischwebend macht. Da es die Natur ist, welche ihm an der religiösen Projizierung mitbeteiligt ist, treten sogar Gegenstände, nämlich solche der äußeren Sinnlichkeit, zu den bloßen Wunschbildern hinzu. Derart sind für den späteren Feuerbach, in der »Theogonie«, die Götter nicht nur Wunschwesen, sondern zugleich auch Naturwesen: »Der Wunsch ist wohl der Ursprung der Religion, der Ursprung der Götter, und der Wunsch selber als solcher stammt aus dem Menschen; aber der Gegenstand des Wunsches stammt aus der äußeren Natur, stammt aus den Sinnen... Die Götter als solche sind keine vergötterten und personifizierten Naturkräfte oder Naturkörper; sie sind personifizierte,
verselbständigte, vergegenständlichte Gefühle, Empfindungen, Affekte, aber Affekte, die an die Naturkörper gebunden sind, durch sie erweckt oder bewirkt werden« (Werke IX, Seite 221, Seite 331). Soweit ein schließlich objekthafter Feuerbach, lehrreicherweise; der Objektsinn ist hier auf Naturreligion bezogen, folglich auf sinnliche Gegenstände in ihr, die geblieben sind, auch nach Abzug ihrer Vergöttlichung. Wird der Objektsinn dagegen auf humanistische Religionen bezogen, die ihren Gott im Jenseits der Natur verehrten, dann bleiben allerdings keinerlei eigene, das ist dem Jenseits angehörende Gegenstände, doch eben, es bleibt der offene Topos des Vor-uns, das Novum, in das die menschlichen Zweckreihen vermittelt weiterlaufen. In diesen /(1532) Topos sind Mythen der Vollendung hineinprojiziert worden, es können aber auch, solange er nicht versperrt ist, Realisierungen der Tendenzen zu ihm hin, wo nicht in ihm, geschehen. Versperrt wird der Topos erst, wenn wirklich das Nichts, im wahren Sinn dieses Begriffs, Anti-Begriffs, darin angebrochen wäre, das ist als Nichts der definitiven Lehre, ohne jede noch mögliche Gärung und Real-Utopie, ohne Hoffnungskorrelat in der Leere. Dieses echte Nichts und sein Umsonst ist zweifellos ebenso im Hohlraum des Atheismus latent wie das Alles oder die Erfüllung durchs regnum humanum oder Reich; nur: es ist noch genausowenig wie das Alles entschieden. Die Latenz des Nichts meldet sich in der Zeit, die die Menschen noch haben, als Vereitlung, Vernichtung an, als die Wirkungssphäre dessen, was man das Böse nennt. Im Raum, den die Menschen noch haben, meldet sich die gleiche Latenz des Nichts als Zerfall an, als regellose Vielheit, als drohendes Chaos. Aber ebenso meldet sich in der bemeldeten Offenheit der Welt die Latenz des Alles an, diesesfalls so, daß aus der Vernichtung auch immer noch eine des Unzulänglichen selber werden kann und aus der Vielheit immer noch eine der sich qualifizierenden und experimentierenden Fülle. Vor allem aber macht sich der ehemals von Göttern erfüllte Utopieraum im Topos der Ordnung kenntlich, positiv kenntlich, welche die anthropologisch gewordenen Hoffnungsinhalte und ihre Freiheit zusammenhält. Diese Ordnung ist, wie sich bereits bei den Sozialutopien ergab (vgl. Seite 620) und wie hier religionsphilosophisch klar wird, das eigentliche Reich im Reich der Freiheit: solch Reichshaftes wäre aber allerletzt nicht intentionierbar, wenn das Feld der religiösen Hypostasen nicht dauerhafter wäre als die religiösen Hypostasen in diesem Feld selbst. Nichts und Alles, Chaos und Reich liegen im ehemals religiösen Projizierungsgebiet auf der Waagschale; und es ist die menschliche Arbeit in der Geschichte, welche die Schale des Nichts oder aber des Alles gewichtig beeinflußt. Ja nicht nur die Ordnung, die der Reichshoffnung zukommt, auch das Chaos, das das drohende Nichts anzeigt, war im ehemals religiösen Raum antizipiert, ist im Projizierungs-, wo nicht Antizipierungs-Feld stehengeblieben. Indem der Hohlraum Nichts wie Alles enthalten kann, hieß er Hölle oder Himmel; und die Hölle wurde als Raum des end- /(1533) gültig Vernichtenden oder des Satans gedacht. Das Satanische ist der Schrecken, die gänzliche Nihilierung, die gänzliche Inhaltlosigkeit, die Verschlossenheit, die in die definitive Leere flieht, worin sie verschlossen ist. Die bisher arbeitende Realität enthält solch Vernichtendes, solche Ausbrüche von Urbösem genug, aber noch nicht als sein Sieg; wurde sein Sieg als definitiver dargestellt und hypostasiert, so füllte sich eben der religiöse Raum negativ so mit Höllenfürst und dämonischen Inhalten, wie er sich positiv mit Gott und angelischen Inhalten gefüllt hatte. Aber auch wenn die Mythologien Höllenfürst wie Himmelskönig gleichmäßig abgezogen sind, erhält sich wiederum der Topos, diesesfalls als der doppelte Projizierungs- und Antizipierungs-Raum, der die Aufschriften führt: Lasciate ogni speranza, oder aber: Gerettet ist das edle Glied der Geisterwelt vom Bösen. Das alles sind mithin utopische Raumprobleme aus der religiösen Erbschaft, sie gehören zu jener Weltstraße der Zukunft, die gerade in die gründlichste Immanenz, in die des anthropologischen Inkognito, gebrochen wird. Sie gehören zum Vor-uns, in dem der Kern der Menschen wie der Erde, in dem das anthropologische Subjekt wie das der Naturchiffer utopisch zu Ende blüht oder aber nicht zu Ende blüht. Gibt es ohne Atheismus keine Utopie des Reichs, so gibt es implicite auch keine ohne den utopisch-realen Hohlraum, den der Atheismus so übriggelassen wie eröffnet hat. Gerade die Exterritorialität des Inkognito setzt zur Lichtung des Inkognito immer wieder voraus, daß der Hohlraum selber, in dem die Gotthypostase eingestürzt ist, nicht gleichfalls eingestürzt ist; die Exterritorialität des Inkognito beruhte sonst weder auf dem neuen Himmel noch auf der neuen Erde, auf die sie hinweist. Das Reich des gelichteten Inkognito der Menschen- und Welttiefe: dahin und zu sonst nichts ist die gesamte Religionsgeschichte gewandert; das Reich aber braucht Platz. So großen, daß alle bisherigen Äußerungen und Extensionen dafür nicht ausreichen, so kleinen wiederum, so intensiv durchdrungenen, daß nur die Engführung der christlichen Mystik ihn andeutet. Das christliche Ideal wäre keines, wenn es nicht unmittelbar in diese Inkognito-Landschaft einschlüge, aber als in eine eingehüllte Landschaft. Dieses Ideal ist auch mit den drei Weisen des ganzen Morgenlands gewandert; /(1534) sie haben ihre eigenen Sterne vor dem über der Hütte vergessen, wohl aber haben sie aus allen früheren Religionen Geschenke gebracht, Weihrauch, Myrrhen und Gold, haben die Tradition übergeben samt dem Untergang der Entfremdungsmythen an der Geburtsstätte des sich endlich berührenden Augenblicks. Der Stern ist bis zur
Hütte gewandert, wo Gott aufhört - nicht im Nichts, sondern in dem von hier ab sich freilegenden Cur-Deushomo-Raum möglicher Identifizierung dessen, was in Mensch wie Welt überhaupt treibt und in Geburt steht. Dazu und zu diesem Ende ist und bleibt der religiöse Hohlraum nicht Chimäre, obwohl alle Götter darin es waren. Homo absconditus behält mithin eine vorgeordnet bleibende Sphäre, worin er, wenn er nicht untergeht, sein gründlichstes Erscheinen in seiner aufgeschlagenen Welt zu intendieren vermag. Verweile-doch in religiöser Schicht: Die Einheit des Nu in der Mystik Liegt doch gerade das Beste in der Nähe, wo man es nicht vermutet. Das Hier und Jetzt kehrt darum an dieser höchsten Stelle wieder, hat sein Fürsichsein zu sagen. Alle intensiv-utopischen Blicke, mit ihren moralischen, musikhaften, religiösen Leitlinien, führen zum Dunkel des gelebten Augenblicks zurück; denn dort treibt das gärende Alles, und dort ist es sich noch utopisch versteckt und ungeworden. Jede einzelne Engführung um den Hoffnungsinhalt eines Fürsichseins gebt an den Augenblick heran, mit immer intensiverem Versuch, dieses Grund-Intensive zu bestimmen. Der eindringlichste ist religiös, im Sinn der Selbsteinsetzung des Menschen ins Geheimnis: das letzte Jenseits ist unser nächstes Diesseits, unsere immanenteste Nähe. Diese aber ist nichts anderes als das im jeweils gelebten Augenblick Treibende und noch nicht zum Glück Angehaltene, noch nicht als Gold Ausgeförderte. «Verweile doch, du bist so schön«: die Erfüllung dieser Hoffnung also wird religiös letzthin das gleichewie Mystik, genauer: wie das Nu oder Nunc aeternum in der Mystik. Und zwar derjenigen, die sich auf dem subjektreich gewordenen, humanisierten Boden der Religion erhob: als derjenigen, die Versenkung kennt, nicht nur, ja überhaupt nicht mehr Orgias- /(1535) mus. Der religiöse Orgiasmus, gewiß, auch er drängte den von ihm Besessenen über seinen bisherigen Wuchs hinaus, gab ihm Kräfte und Fähigkeiten, die von einer dunklen Wurzel herzukommen schienen. Der Rausch machte seinen Rauschgöttern sogar so gleich, daß die Schamanen wie die dionysischen Mysten sich allesamt als «vergottet« fühlten. Aber die Selbsteinsetzung ist hier sich selber so äußerlich, wie es die Götter sind, in die sie sich einsetzt und eindrängt; es sind die noch mit keinem menschlichen Stoff versehenen Naturgötter. Daher blüht Orgiasmus vor allem in den primitiven und in den Astralreligionen, unter Schamanen und Baalpriestern, nicht aber in humanisierten Religionen oder nur an deren Rand. Die christliche Mystik vor allem ist Versenkung ohne alles schäumende Außersichsein, eben die Art von Versenkung, die dem tiefsten Nähe-Affekt in Gestalt einer Subjektausschüttung in Gott, einer Gottausschüttung ins Subjekt entsprechen sollte. Der Lärm des Außersichgeratens oder Außersichseins weicht damit der Stille eines Fürsichwerdens, die Wildnis weicht der »mächtigen Einwohnerschaft seines Selbst«, wie Daniel Czepko, ein böhmischer Mystiker, das ausgedrückt hatte. Das individuelle Ich, als bloßer Teil der Vergänglichkeit und der Vielheit, also des sich mitteilenden Nichts, versinkt hierbei; dies Versinken ist sowohl Bedingung wie immer wieder bezeugter Grundzug der mystischen Erfahrung. Ledigwerden von seinem individuellen Sosein wie von der Vielheit aller Dinge, dies Verlassen von allem gilt als der Hauptweg zum Finden von allem, das ist: zum Finden der Einheit des Wesens mit dem wahren Selbst. Mystische Versenkung ist derart Berührung mit der Gottheit (dem Wesen statt der Erscheinung) durch Abtun der Vielheit, also durch Vereinfachung; diese gewährt alles, als Einheit von allem. Das nicht mehr individuelle Selbst dieser Union wurde von den Neuplatonikern in einer eigenen, aktiv-konzentrierten Funktion des Bewußtseins auszuzeichnen versucht, so bei Plotin in höchster Einsicht zugleich höchste Einheit zugleich in höchster Einfachheit mündet. Und es ist dieser sich zusammenfassende Kraftgrund, Selbstgrund Identitätsgrund schlechthin, worin jede Versenkung seitdem ihr Gottwerden behauptet, in den drei Stufen Reinigung, Erleuchtung, Einigung. Hier ist /(1536) der Ort der in nichts mehr rauschhaften, der überbewußt erscheinenden Selbstvergottung, für den von den mittelalterlichen Mystikern nachher die eindringlichsten Bezeichnungen versucht worden sind. Es sind lauter Bezeichnungen eines berührten Fürsichseins: intimum, summum, apex mentis bei Richard von St. Viktor, Gemuet, Grund, Fünklein der Seele, Dolde der Istheit, Inburgheit bei Meister Eckart. »Wäre der ganze Mensch«, sagt Eckart, «wie das Fünklein, er wäre allzumal ungeschaffen und ungeschöpflich, über die Zeit erhaben in Ewigkeit.« Teresa de Jesus nennt das gleiche, worin ihr Vergottung zu geschehen schien, Seelenschloß und gibt die einzelnen Aufenthalte darin an; alle diese Ortsbezeichnungen sind untereinander verwandt. Und verwandt, nämlich ineinander übergehend werden auch die HaItungen oder Zugänge zu dieser Burg, heißen sie Glut oder Licht, Liebe oder Betrachtung, Aktivität oder Passivität: sie haben in der Unio mystica als Alternativen aufgehört. Die Frage nach dem Vorrang des Willens oder des Geistes, die die gesamte christliche Scholastik entzweite, wird den gleichen Scholastikern in der Mystik gegenstandslos: der Doctor ecstaticus Ruysbroek, der Doctor angelicus Thomas haben als Mystiker keinen Streit mehr; Liebe zum Höchsten, Anschauung des Höchsten werden im mystischen Maximum identisch. Desgleichen ist der Unterschied von Leiden und Tun, von Passivität und
Aktivität aufgehoben, sie tauschen im Summum mentis ihre Gesichter. Das NeueTestament enthält dies einig Doppelte von Zerreißen und Zerrissen werden durchaus, im Ineinander der Demut und einer Aggression wie dieser: »Von den Tagen Johannis des Täufers bis hierher leidet das Himmelreich Gewalt, und die Gewalt tun, die reißen es an sich« (Matth. 11,12). Die Mystik aber sieht Demut und Aktivität in Dialektik, sie läßt diese Haltungen, sobald sie höchste Stärke erlangt haben, ineinander umschlagen und übergehen. Christliche Mystik ist durchaus Hingebung an Gott, Gelöstsein in Gott, doch so, daß in dieser Passivität zugleich die Aggression eines ganz anderen Gelöstseins arbeitet: nämlich der Erlösung von Gott. Andererseits ist christliche Mvstik durchaus Einbruch in Gott, ja überwältigendes Bewußtsein eines apex mentis, einer Spitze des Geistes, die Gott durchbohrt. Doch biegt sich diese Aktivität im gleichen Augenblick wieder zur Hin/(1537) gebung um, dergestalt, daß der Gott seinen Meister zum dienenden Träger macht, ja zu einem, der selber durchaus von höheren Mächten getragen erscheint. Auf diese Art schmelzen in der mystischen Burg Dualismen zusammen, die in der üblichen Welt aus Ich und Nicht-Ich ihren Anhalt haben. Und eben dieser Anhalt verschwindet in der mystischen Union, weil sie den schärfsten Dualismus selbst verschwinden läßt: die Burg hat keine Scheidewand mehr zwischen Ich und Nicht-Ich, Subjekt und Objekt, Subjekt und Substanz; sie selber ist ohne Anderheit gebaut. Keine Anderheit mehr, das ist schließlich die riesig antizipierende Illusion aller Mystiker gewesen, jedoch ein phantasma utopicissime fundatum. Der Keil, der die Welt in Subjekt und Objekt spaltet, wird vom Mystiker psychisch herausgezogen; wonach denn das Abgehaltene jeder Art sich aufzuheben scheint. So geschieht Einkehr in die Unmittelbarkeit des Augenblicks, als eine ebenso ungeteilte wie vollkommen esoterische; es geschieht Einkehr in einen Augenblick, der sich für die mystische Erfahrung nicht mehr in der Zeit befindet. Zeit und Augenblick waren sich nie so nahe, gar so ineinander wie Ewigkeit und dieser Augenblick. Nunc stans oder Nunc aeternum wird also sein Name, ein Name, worin die scheinbar gespanntesten Gegensätze: Augenblick und Ewigkeit wiederum sich vertauschen, in vollkommener dialektischer Einheit. Der Gott der Mystik war der Gott dieses Nunc aeternum, folglich der höchste Augenblickgott; Jetzt ist darin Immer, Hier ist darin Überall. So, daß auch die Gegensätze Gott und Nicht-Gott sich aufheben; sie gehören gleichfalls zu den Objektivitäten außerhalb der Burg. Gott stirbt, indem er im Nunc aeternum geboren ist; für Eckart ist Gott daher das lautere Nichts, nämlich das prädikatlos gewordene Alles. Soviel Köpfe, soviel Sinne, das gilt weithin und zerteilt. Aber es zerteilt nicht mehr, wenn die Köpfe die Augen schließen, das ist, wenn gläubig verzückter Zustand eintritt. Schäumen und Versenken begegnen sich freilich nicht, außer am Rande, nur dort eben kann es orgiastisch andringen. Aber sonst schmolz der Versenkung alles Trennende, das die Kinder der üblichen Welt gezogen haben, in einen Bund. So verschwinden hier die Grenzen zwischen Völkern wie vor allem zwischen Glaubensformen durchaus. Daher konnte gerade der Revolutionär unter den /(1538) Mystikern, Thomas Münzer, aus der Einheit schriftloser Erleuchtung die Einheit einer Internationale quer durch alle Trennungen ablesen. Jüdisch, türkisch, papistisch, lutherisch, das alles gehört nach Münzer zum Buchstaben der Welt, nicht zur Ausgießung des Geistes: »Ich predige einen Christenglauben, der in allen Herzen der Auserwählten auf Erden gleichförmig ist. Wenn einer sein Leben lang die Biblien weder gehört noch gesehen hätte, könnte er wohl für sich durch die gerechte Lehre des Geistes einen unbetrüglichen Christenglauben haben, wie alle die gehabt, die ohne alle Bücher die heilige Schrift geschrieben haben. Sollten wir Christen nun zusammen einträchtig übereinstimmen, Psalm 72, mit allen Auserwählten unter allen Zertrennungen oder Geschlechtern allerlei Glaubens, so müssen wir wissen, wie einem zu Sinnen ist, der unter den Ungläubigen von Jugend auf erzogen ist, der das rechte Werk und die Lehre Gottes erfahren hat ohne alle Bücher.« Ebenso, was die Ernte in der Christenheit angeht, die Trennung des Weizens vom Unkraut: »Es findet der auserwählte Gottesfreund eine wundersam überschwengliche Freude, wenn sein Mitbruder auch also durch solche gleichförmige Ankunft zum Glauben kommen ist wie er. Die jetzige Kirche ist zumal eine alte Profeuse dagegen, die Zeit aber der Ernten ist allweg da« (Ausgedrückte Entblößung des falschen Glaubens, 1524). Das ist die Einheit, worin die Mystik alle ihre Kinder sah, eine Einheit, die die Religionen aufhob, indem sie den Schnitt zwischen Ungläubigen und Auserwählten quer durch die einzelnen Religionen vollzog. Dazu gehörte allerdings die große Volksbewegung, wie sie seit den Albigenserkriegen im zwölften Jahrhundert begonnen hatte und im deutschen Bauernkrieg kulminierte: die Fülle der Auserwählten ging, wie ehemals die Jüngergemeinde, als Einheit im Volk um, nicht unter Herrenpfaffen, gar Fürsten. Von dieser Einheit aus wurde auch die Einsamkeit aufgehoben, in der sich noch die Mystik Hugos und Richards von St. Viktor im zwölften Jahrhundert bewegt hatte, die Einsamkeit der Seele mit ihrem Gott («Soliloquium de arrha animae« hieß ein bezeichnendes Hauptwerk Hugos von St. Viktor). Die Stufen der Himmelsleiter traten aus der Psychologie heraus, das Reisebuch der Seele zu Gott wurde durch den ersten Propheten der gotischen Mystik, durch Joachim di Fiore, zu /(1539) einer Bewegung der Geschichte selbst verwandelt, zur Dynamik
des letzten Evangeliums. Die gesamte Menschheit vollzieht nun -den Reinen zum Heil, den Unreinen zum Untergang - die Bewegung in die mystische Christförmigkeit als ins Dritte Reich; sie übersteigt die Reiche des Gesetzes wie der Gnade, sie erlangt plenitudo intellectus (vgl. Seite 591 f.). Und der Stand dieser Geistesfülle entspricht genau der Vergottung, worin die christliche Mystik ihre Erleuchteten umgab; er entspricht also der Gemeinde eines universalen Pfingstfests. Oder wie die Brüder vom vollen Geiste, eine Mystikersekte um die Zeit Eckarts, diese künftige oder dritte Zeit beschrieben, ganz im Sinn Joachims, aber auch ganz im Sinn der vordem einsamen Entzückung: »In der dritten Zeit wird der Heilige Geist sich als eine Flamme beweisen, als ein Feuerofen der göttlichen Liebe, als ein Keller geistlicher Trunkenheit, als eine Apotheke göttlicher Gewürze, geistlicher Öle und Salben, als ein fortgesetztes Weissagen geistlicher Freuden, wodurch nicht nur in einfacher Erkenntnis, sondern in schmeckbarer und greifbarer Erfahrung die Wahrheit des fleischgewordenen Worts Gottes wird gesehen werden« (vgl. Hahn, Geschichte der Ketzer im Mittelalter, 1847, II, Seite 465). Ja, der menschheitlichen Union der «Erkenntnis« schließt sich eine gleichsam kosmische, eine kosmogonische bei Eckart an: die Bewegung der Mystik zu Gott ist nicht nur Selbstbewegung, Selbsterkenntnis, Selbstoffenbarung Gottes, wodurch er sich aus seiner »ungenaturten Natur« zur »genaturten Natur« entfaltet, sondern sie ist ebendeshalb auch dasselbe wie der Weltprozeß. Und wie die mystische Seele, die ihrer innersten Natur nach Gott ist, aus der Entäußerung der Welt zum Urgrund zurückkehrt, zum wiederzugewinnenden Gott, so kehrt kraft dieser «Entwerdung« der gesamte Weltprozeß wieder zum Urgrund zurück: ein Rücklauf des Seins durch Erkenntnis und Einkehr in seinen Grund. Die mystische Funktion wird hier Funktion der Weltwende selbst: scintilla, der mystische Funke, brennt, statt in bloßer Einsamkeit, auf der Scheidestätte von Anderheit und Identität. Das zuletzt sind sehr große Unionsweisen; sie stammen aber alle aus dem revolutionären Versammlungsgefühl, Einheitsgefühl der Auserwählten, womit die Versenkung sich im vollen Ketzerchristentum verbunden hat, mit dem Chiliasmus. /(1540) Zu ihm drang nun, in der sozial, auch kosmisch breiten Mystik, die Glorie vor, welche aus dem Menschen im Durchbruch zu Gott ohnehin wie aus einer Gefangenschaft hervorkam. Denn es war ja lauter verhinderte Glorie, die in der scintilla brennt und ausbricht, Freiheit der Kinder Gottes wie hinter dem Jüngsten Tag; diese Freiheit meint, sie sei schon heute, und fühlt sich in dieser Überholung selbst von Gott als einem Objekt frei. Die Glorie des Kerns in der Gefangenschaft seiner unangemessenen Welt fundiert so letzthin die mystische Einheit »unter allen Zertrennungen und Geschlechtern allerlei Glaubens«. Unzweifelhaft, die Unionen der Mystik werden in der alten Form nicht wiederkommen, und der Blitz, worin das Unbeschreibliche getan, wird keinen Himmel mehr öffnen, aus dem übertragene Glorien herabstürzen. Aber in der Tiefe dieses Enthusiasmus lag allemal intendierter Einbruch der Selbstberührung, Grundberührung in ein Reich, das keine anderen Geheimnisse enthalten sollte als menschliche und keine andere Ordnung als die eines Corpus Christi, mit Weinstock und Reben. Das Reich der christlichen Mystik war in den Maßen des Menschensohns gebaut mit dem plötzlich aufgeschlagenen Augenblick als seiner Krippe. Dieses Nunc stans ist, als auf dem Jetzt und Hier selber hervortretend, so wenig jenseits, daß es das allernächste Diesseits ist; so bedeutet das Nunc stans der Mystiker in wörtlichem wie in zentralem Sinn dasselbe wie das » Verweile doch, du bist so schön«; erst im Problem des Nunc stans hat dies Faust-Ziel Form und Inhalt der in ihm ausgesteckten Identität. Die vollkommene Utopie oder Utopie der Vollkommenheit, die die Religion in den Himmel gesetzt hat, schlägt hier in den Kern der Menschen wie ins Problem-Subjekt der Natur zurück. Nunc stans ist derart die Präzisionsformel für immanenteste Immanenz, das ist für die zeitlich so ferne und noch schlechthin unausgemachte Welt ohne jede mögliche Entfremdung. Wunder und Wunderbares; Augenblick als Fußpunkt der Nike Oft haben fromme Männer um sich eine eigene Scheu verbreitet. Sie schienen seltsame Kräfte zu besitzen, so wirkten sie aufs Volk. Diese Kräfte galten als zauberische, wundertätige, als solche /(1541) über dem menschlichen Maß. Zum Teil sollte das magische Kunststück diejenigen beeindrucken und gewinnen, die von einer Predigt nicht gewonnen werden konnten, indem sie sie gar nicht verstanden. Zum Teil aber, über dieser Schauwirkung, wirkte im Wundermachen ein Sprengwille. Er suchte nicht nur das subjektiv, sondern auch das objektiv Gewohnte, also den üblichen Zusammenhang der Dinge aus den Angeln zu heben. Beides, das propagandistisch wie das objekthaft magische Wesen, findet sich auch im Alten Testament. Das erste, wenn Aaron die ägyptischen Zauberer mit einem Stab überbietet, der ihre Stäbe schließlich verschlingt. Das zweite, wenn Elias, »mit dem Haupt zwischen seinen Knien«, ganz als afrikanischer Regenzauberer auftritt (1. Kön. 18,42 ff.). Freilich werden die Wunderberichte im Alten Testament mehr beiläufig erzählt, gleich als ob sie nicht eigentlich oder nur mittelbar zur Sache gehörten. Selbst so phantastische Moseslegenden wie die der zehn Plagen oder gar der Teilung des Roten Meers umrahmen nur die größere charismatische Tat: der
Führung aus Ägypten. Diese relative Unterordnung, auch das schließliche Zurücktreten der Wunder im Alten Testament beruht auf zwei - im Neuen Testament nicht mehr vorhandenen - Gründen. Einmal drängte die Priesterredaktion der Bibel unter Esra, bei Gründung des jüdischen Kirchenstaats, den alten wildwachsenden, gesetzesfremden magischen Volksglauben zurück und den Willen, sich in ihm zu bewegen. Viele Wunderberichte dürften damals verschwunden sein, vor allem, wenn Eingriffe mit ihnen verbunden waren, die subversiv, gar verbessernd gegen Jahwe wirkten. Sodann hat der Prophetentyp sich geändert; während Elias noch viel Wundermännisches zeigt, Orgiastisch-Magisches wie ein Schamane oder Baalpriester, beginnt bereits mit Amos, hundert Jahre später, die Form der rein visionär beauftragten, bald auch schriftstellernden Utopie. Donnersprache trat an Stelle der Wunderdinge, das Wunder selbst, das zur religiösen Propaganda unentbehrliche, reduzierte sich auf den visionären Kontakt; so besonders vornehm bei dem Priester und Schriftgelehrten Ezechiel. Bis allerdings des Glaubens liebstes Kind im Neuen Testament so wild wie naiv wieder andrang, sehr zum Leidwesen der liberalen Theologen von heutzutage. Jesus tritt durchaus magisch auf, er heilt Lahme, verwandelt /(1542) Wasser in Wein, speist mit fünf Broten und zwei Fischen fünftausend Mann, treibt Krankheitsteufel aus und erweckt Tote gleich Elias. Das macht: der Volksgrund trat wieder vor, mit ihm die Folklore des Wunders, ungestört von Sadduzäern und Pharisäern. Selbst Evangelisten wie der Arzt Lukas oder der hellenistisch gebildete Verfasser des Johannesevangeliums unterdrücken die Wunderberichte nicht, sie geben ihnen nur überdies einen spiritualistischen Sinn, mit Bezug auf noch höhere Wunder. Die Brotspeisung wird aufs Abendmahl bezogen (Joh. 6, 35), die Blindenheilung auf Christus als Licht der Welt (Joh. 9, 30); so fällt das Flüchtige und Singuläre dieser Wunder weg, sie sollen weit mehrerem als dem Zufall der fünftausend Mann von damals oder dem einzigen Blinden zugute kommen. Und aus dieser Umdeutbarkeit erhellt bereits: es war nicht nur primitive Zaubersphäre, die im Neuen Testament durch Bauern und Fischer sich wieder ausgebreitet hat. Sondern auch gänzlich neue Bestimmungen, diese vor allem, regten das Mirakelhafte auf: Jesus als Messias, Jesus und das nahe herbeigekommene Himmelreich. Beides sind die Grundwunder, welche die kleineren, die man von Jesus erwartete und die er selber als seine »Zeichen« empfand, erst fundierten. An Stelle des älteren, immer noch mit der Zauberei verbundenen Wundersinns trat hier also ein neuer, ein eschatologischer: - Wunder sind die Anzeichen des kommenden Endes. An sich allerdings, ohne diesen Hintergrund, stehen die gehäuften Wundererzählungen um Jesus auf keinem anderen Blatt als sämtliche andere in der Geschichte, sei es der Geschichte des Aberglaubens und seiner Massenpsychose (Hexenwahn) oder jener parapsychisch-paraphysischen Vorgänge, für die eine Erklärung und Einordnung etwa noch aussteht. Parapsychische Fähigkeiten wie Fernsehen, paraphysische wie Telekinese und dergleichen mehr werden, mit Recht oder Unrecht, auch außerhalb der Religionen berichtet, und innerhalb ihrer blühen viele Wundergeschichten des Neuen Testaments genausogut unter Fetischpriestern. Legenden wie die Verwandlung des Wassers in Wein könnten ebenso von der Zauberin Medea erzählt werden, wie sie von dem Lehrer des Vaterunser und der Bergpredigt überliefert sind; der Faust des Volksbuchs hat ja Wein selbst aus Holz springen lassen. Ein /(1543) jüdisches Spottbuch aus dem Mittelalter, über «Jesus den Gehenkten«, weiß darum - von diesen isolierten Wundern her nicht viel mehr zu berichten als: Jesus habe in Ägypten die Zauberei erlernt und Israel damit in die Irre geführt. Aber das Novum eben, mit den ganz anderen Valeurs, besteht aus dem Messiasanspruch und aus dem apokalyptischen Hintergrund: »Siehe, ich mache alles neu«; davon und nur davon leben nun Christi Wunder. Samt den noch so primitiven, denn auch diese gehörten zum Messias und zur Endzeit, als »Zeichen« eben, nicht nur als Wunder (Joh. 7, 31). Und vor allem, entscheidend: Auch die magischen Eingriffe, in dem allemal eschatologisch gezielten und umgebenen Neuen Testament, stehen an ihrem singulären Platz für eine weit größere Verwandlung gut, soll heißen, für die zum Wunderbaren: aus dem Wasser entsteht der Wein des Wunders. Als Kennzeichen des Messias und des nahenden Reichs hatte Jesus selber diese Ungeheuerlichkeiten erklärt; mit Bezug auf Elias als Christvorläufer, nicht als älteren Wundermann. Von daher die Antwort auf die Frage des Johannes, ob er sei, der da kommen soll, oder ob ein anderer zu erwarten sei: »Die Blinden sehen und die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein und die Tauben hören, die Toten stehen auf und den Armen wird das Evangelium gepredigt« (Matth. 11, 5). Von daher der Bescheid an die Pharisäer und Sadduzäer: »Des Abends sprecht ihr, es wird ein schöner Tag werden, denn der Himmel ist rot. Und des Morgens sprecht ihr, es wird heut Ungewitter sein, denn der Himmel ist rot und trübe. Ihr Heuchler, des Himmels Gestalt könnt ihr urteilen, könnt ihr denn nicht auch die Zeichen dieser Zeit urteilen?« (Matth. 16, 2 f.). Die Zeichen dieser Zeit vereinten so entfernt scheinende Vorgänge wie Lahmenheilung und Evangeliumpredigt an die Armen; letztere also war ebenfalls als real-verwandelnd gemeint, als Ende der Mühe und Beladenheit in einem neuen Äon. So entschieden rangiert Jesus die konkrete Verwandlung über die bloß innerliche und unsichtbare, daß folgende erstaunliche Frage bei ihm möglich wird: «Welches ist leichter, zu dem Gichtbrüchigen zu sagen:
dir sind deine Sünden vergeben, oder: stehe auf, nimm dein Bett und wandle?« (Marc. 2, 9). Die Frage enthält die Antwort, nämlich: «Auf daß ihr aber wißt, daß des /(1544) Menschen Sohn Macht habe, zu vergeben die Sünde auf Erden, sprach er zu dem Gichtbrüchigen: Ich sage dir, stehe auf, nimm dein Bett und gehe heim« (Marc. 2, 10f.). Indem der Gichtbrüchige danach aufstand, war für die Gläubigen eine Bewährung des Glaubens gegeben, die nach Christi eigener Abwägung noch über der Macht der Sündenvergebung stand. Eine einzige materielle und nicht inwendig bleibende Linie zieht sich von der Verpflichtung, den Gichtbrüchigen zu heilen, bis zu dem sprichwörtlich gewordenen Glauben, der Berge versetzt: Berge, nicht Psychologien. Das alles im Endzeichen des geglaubten und mit der Erscheinung des Messias phänomenologisch verbundenen Grundwunders: der Apokalypse. Wunder als Sprengung des gewohnten Status erlangt bei Jesus daher den radikalsten Ausdruck; denn es ist um das Novum selbst vermehrt, es will allemal schon neuer Himmel, neue Erde im Kleinen sein. Gewiß, der wahrgenommene Gewohnheitszusammenhang der Dinge zur Zeit und in der Umwelt Jesu ist mit dem gesetzmäßig-kausalen völlig unvergleichbar, zu dem seit dem sechzehnten Jahrhundert der Wunderbegriff kontrastiert. Das Zusammenhangswissen war auch schon ein anderes als im Christentum der Scholastik, sosehr dessen Welt von Dämonen noch durchwohnt, von Gott und seinen Engeln noch durchwaltet schien. Die Welt Jesu aber war die des mandäisch-persischen Dualismus, mit Satan als dem Herrn dieses Äon, mit dem Lichtreich als dem des unmittelbar bevorstehenden neuen Äon. Der Messias ist der Bringer des Weltbrands, sowie im Johannesbuch der Mandäer der Lichtgeist zu seinem eingeborenen Sohn spricht: »Sei mir ein Bote, gehe in die Welt der Finsternis, in der es keinen Lichtstrahl gibt«; - nur gegen diese Welt und ihre heillosen Zusammenhänge geschah die Unterbrechung des Wunders. Trotzdem geschah sie einheitlich als Unterbrechung, und zwar als sichtbare, sie geschah vor allem zugunsten der partikular-stellvertretenden Sichtbarkeit einer total veränderten Ordnung, eben der des Wunderbaren. Folglich ist das Wunderwesen Christi über sein temporäres Weltbild hinaus mit dem heute noch vorstellbaren in zwei Hauptpunkten geeint: im Formalen der Unterbrechung, im Materialen des schlechthin guten inhalts. Und wesentlich bleibt auch: Wunder galten nicht als innerlich, sie intendieren /(1545) greifbare Veränderung äußerer Art, das durch sie erscheinensollende Heil geschieht via Welt. Derart definiert Thomas gerade das christliche Wunder, zum Unterschied von bloßer christlicher Predigt und Sinnesänderung, folgendermaßen: »Miraculum est effectus sensibilis, qui divinitus fit praeter ordinem totius naturae« (3 Contra gentiles c. 101). Die Sündenvergebung, selbst die Transsubstantiation rechnete daher Thomas nicht zu den Wundern, denn sie sind keine sinnlich wahrnehmbaren Effekte. Und auch nachdem das Himmelreich keinesfalls mehr als bevorstehend geglaubt wurde, in der gesamten Scholastik also, wohnte das Wunder allemal an der Bruchstelle der natürlichen Welt, an der Stelle, wo ein sichtbares Stück der sichtbaren Welt sichtbar springt. Aus alldem erhellt zuletzt: sosehr das Wunderwesen unterdessen auf banalen Okkultismus heruntergekommen ist oder sich als solcher entschleiert hat, sosehr es offiziell nur noch im Propaganda- und Geschäftsbetrieb des Katholizismus weiterlebt, in hysterischen Jungfrauen und solch kümmerlichen Himmelspforten wie Lourdes, so bedeutsam enthält der Wunderbegriff doch außer seinem transzendenten Aberglauben den ganz und gar nicht abergläubischen, den vom Sprengglauben herstammenden Begriff des Sprungs. Genau der Begriff des Sprungs ist vom Wunder her gelernt worden; in einer rein mechanischen Kausalwelt, in einer dem Wunder in jeder Form kontrastierenden, hatte der Sprungbegriff daher keinen Platz, wohl aber in einer nicht mehr statisch, auch nicht mehr finit begriffenen. Hierbei freilich zeigt der Sprung, als streng dialektisch vermittelter Umschlag, selber eigene Gesetzlichkeit, ist also keineswegs, wenn er den rein mechanischen Fortgang des Gleichen unterbricht, in einer intermissio legis schlechthin angesiedelt, wie das scholastisch definierte, mythische Wunder. Und erst recht fehlt hier, infolge der selbstverständlichen Eliminierung aller transzendenten Faktoren, jeder »Ausnahmezustand«, in dessen gesetzleeren Raum ein transzendenter Wille irdisch Unmögliches setzen könnte. Trotzdem aber, wenn Hegel über den qualitativen Sprung und seine Vorboten schreibt, hier werde etwas »durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt« (Werke II, S 10), so ist die Erfassung dieses Blitzhaften, ob es /(1546) auch noch so gesetzmäßig sui generis vermittelt ist, doch zuverlässig ehemalig Wunderhaft-Plötzlichen, als einem Grundarchetyp der religiösen, vor allem christlich-adventshaften Phantasie. Natura facit saltus: das mindestens ist der Beitrag des alten Wunderglaubens zu einer nicht mehr magischen, erst recht nicht mehr transzendent überbauten Welt. Der Gedanke des Sprungs ist in der apokalyptischen Wunderlandschaft zuerst erwachsen, ja er besitzt diese immer noch - in übersehener, doch nicht abgegoltener Konsequenz - als Hintergrund. Und der Sprung ist nicht das einzige, was aus dem seltsamen Spuk übrigbleibt. Wird Wasser zu Wein, so unterbricht das nur dem, der daran glaubt. Aber weiter nun: in der Unterbrechung lebt noch ein anderes, und dieses kann alles Zaubers entraten. Es besteht besonders ohne allen faul gewordenen, aber mit
dem erhofften Inhalt des Wunders hängt es zusammen und eben, es heißt das Wunderbare. Dessen Name ist auch dem Aufgeklärten noch bekannt, und er nimmt es, zum Unterschied von den haarsträubenden Zaubereien, ernst. »Ich suche das Wunderbare«, sagt eine liberale Frau, ganz außerhalb aller theologischen Kreise, Ibsens Nora. Sie sagt es zwar nicht genauso, aber der gleiche Inhalt ist gemeint, der den radikalen Sprung bewohnt. Von daher noch Helmers Ausruf: »Das Wunderbarste -?«, womit, als mit einem Superlativ und Fragezeichen, das so wenig theologische Antifamilienstück schließt. Also behält das Wunderbare seinen Goldklang, auch wenn das Wunderhafte, dessen Unterbrechungsraum es füllte, völlig verblaßt ist. Zwar nicht jeder berichtete und ausphantasierte Wunderinhalt erschien als wunderbarer, nicht einmal immer als guter. Es gibt in der Legende auch Strafwunder, die ausführlichsten sind die zehn Plagen und der Untergang der Ägypter im Roten Meer, die vielseitigsten hat Ovid in seinen Metamorphosen dargestellt. Selbst die totale Sprengung des status quo ante, welche in der Apokalypse gedacht ist, zeigt im Inhalt ebensoviel Entsetzen (für die Feinde Christi) wie totale Freude. Dennoch gehört zum Wunderinhalt wesentlich Freude, dergestalt, daß noch der Untergang der Ägypter denen, die keine Ägypter sind, einen eigenen Beitrag zum Jubel gegeben hat, nämlich den Jubel der Rettung oder die /(1547) Kategorie des gerechten Siegs. Von hier aus ist kein Unterschied zwischen dem Gesang der Prophetin Mirjam, das Wunderbare der Errettung betreffend (2. Mos. 15, 21), und der sternhohen Verkündigung des Engels an die Hirten, wie sie auch dem Ungläubigen aus Bachs Weihnachtsoratorium noch nachtönt: »Fürchtet euch nicht; siehe, ich verkündige euch große Freude« (Luk. 2, 10). Das Wunderbare bleibt so schließlich der dominierende, ja der einzige Inhalt der im Wunder intendierten Unterbrechung. Er bleibt das so stark, daß selbst noch das Gute dieser Welt, nicht nur das Böse oder auch uns Unangemessene, im Wunder als unterbrochen gedacht wird, sofern dieses ein Extrem, also die eigentliche Natur des Wunderbaren enthält. Als solch höchste Unterbrechung galt die durch mystische Entzückung und durch das schlechthin Überbietende, das sie zu enthalten versprechen mag, mitten in ihrem Augenblick, wenn er sich zur Ewigkeit zu erweitern scheint. Das schlechthin Überbietende solcher Art, als derjenigen, welche dem Wunderbaren wesensgemäß zugehört, ist wieder am großartigsten in dem Paulussatz bedeutet: »Das kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, das hat Gott denen bereitet, die ihn lieben« (1. Kor. 2, 9). Und Paulus spricht hierbei von »unserer Herrlichkeit«, also genau von diesem, was den Inhalt des radikalsten Wunschtraums ausmacht, indem er ebenso der zentralste ist. Solche Extreme oder auch vollkommene Überstiegenheiten, wie sie in der Kategorie des Wunderbaren angelegt sind, wirken allerdings im Hinblick auf die vorliegende und bisher geschehene Welt fast genauso zauberhaft wie das Wundermachen selber. Bereits mit dem Wunderbaren in seiner schlichtesten Ausgabe ist es empirisch nicht wohl bestellt, und mit »unserer Herrlichkeit« als der Utopie, die alles Nichtige verflüchtigt, hat es noch gute Wege. Aber zum Unterschied vom Aberglauben des Wundermachens ist der Glaube ans Wunderbare von vornherein einer der Hoffnung, ja des Paradoxes, und keine objektiv-reale Feststellung. Vielmehr (um das Mißverständnis eines »ewigen Ideals« hier wie überall auszuschließen): er impliziert keine Feststellung, die sich auf anderes als auf Andeutungen, Vor-Scheine, Vor-Erfahrungen oder Chiffern in der bereits vorhandenen objektiv-realen Welt bezieht /(1548) und beziehen kann. Doch wenn sogar das Wunder eine relative, eine umgerechnete Wahrheit wenigstens darin hat, daß die Welt sich in Sprüngen bewegt (in geschichtlich vermittelten) und Durchbrüche möglich macht (ohne alle Bündnisse mit einer Transzendenz oder transzendete Eingriffe selber): so hat das Wunderbare in diesen Sprüngen und möglichen Durchbrüchen so lange eine partiale Vor-Erscheinung und mögliche ganze Real-Erscheinung seines Inhalts, als das Gegenteil des Wunderbaren, nämlich das Umsonst oder Nichts, noch nicht total und real eingetreten ist. Der Glaube der Hoffnung mit dem Wunderbaren als inhaltlich noch unbestimmtem, aber unverwechselbarem Inhalt ist daher nur in mechanischer Empirie oder, was hier aufs gleiche herauskommt, in abstrakter Utopie Aberglaube, keinesfalls aber in konkreter Utopie und in ihrer noch offenen, dialektisch-prozeßhaften Welt. Er ist konträr gerade das, was in den Religionen nicht Aberglaube ist; was zusammen mit dem Selbsteinsatz des Menschen in die Transzendenz, auf Grund dieses Selbsteinsatzes, dem Religiösen seine übrigbleibende, seine nicht nur der Furcht und Not und Unwissenheit, sondern dem Lichttrieb entstammende, entmythologisierte Wahrheit gibt. Diese Wahrheit lebt wesentlich im geschichtlich vermittelten Futurum und Novum; sie besteht nicht in der als real behaupteten Hypostase eines mythologischen Jenseits; sie besteht freilich auch nicht in dem sehr partialen Präteritum einer lediglich kausal-mechanisch interpretierten Gewordenheit. »Unsere Herrlichkeit«: ihr Wohnort ist und bleibt auch hierbei im Inkognito jedes gelebten Augenblicks. Das ist das Vermächtnis des radikalsten Wunschtraums, der als solcher eben der zentralste ist: der des intensiven Mittelpunkts von allem. Was in Leitbildern und Leittafeln, was im tiefen Inhalt der Faustwette, also des wirklichen Faustproblems, was in den ebenso direkten wie noch immer erst halbmanifesten Selbstinhalten der Musik zu bestimmen und zu identifizieren versucht worden ist: dieses vielstimmige Produktionswesen unserer selbst hat in der religiös gesuchten Unio,
als einer von Augenblick und Ewigkeit, sein letztes Zeugnis. Nicht die Zeit, aber der Augenblick als dasjenige in der Zeit, was nicht zu ihr gehört, kommuniziert mit der Ewigkeit, in der die vollkommene Freude einzig ihr Maß /(1549) hat. Die Kommunikation von Augenblick, Wunderbarem und Ewigkeit hat Paulus im Sinn, wenn er die ungeheure Verbindung schlägt: »Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden und dasselbe plötzlich, in einem Augenblick« (1.Kor. ,5,51 f.). Und der unmythologische, obzwar letzte Grenzsinn darin lautet: die Verwandlung ins Gegenteil des Entschlafens, als ins Gegenteil des Nichts, geschieht, wenn sie geschieht, in einem Augenblick als dieser Augenblick. Und ohne alles Beiwerk von Schwärmerei: Der gleiche Bewegungsmoment, der in und unterhalb von allem zieht, der das Nicht-Haben, der Trieb, der Wunsch, die Sehnsucht, die Frage im Sein ist und zugleich der noch ständig unerfüllte Anfang zu einem sich selber endlich adäquaten Da-Sein: dieser gleiche Bewegungsmoment enthält zugleich die völlige Ankunft in ihm selbst und nur in ihm selbst, sofern die Wahrheit in sein Nichtwissen oder Inkognito einschlägt. Sofern in der dunklen Daß-Wurzel der Welt das endlich gefundene und gelungene Was ihres Inhalts aufblüht, als das Eigentliche und Überhaupt - beantwortet, gefunden, realisiert. Das Hic et Nunc ist überall das Frage-Sein, das zu seiner Lösung die nicht oder halb-adäquaten Prozeßgestalten des Welt-Seins heraussetzt. Aber erst durch den Blitz seiner Identifizierung würde entstehen, was in der ganzen Welt nur erst anklingt und unweigerlich eben als - Wunderbares vorleuchtet: Figur der Identität. Es gibt ein tiefes Behagen am altvertrauten Ort; im Abglanz stellen Hieronymus im Gehäus, gar die Landschaft der Sixtinischen Madonna Heimat wie nach einer Wiedergeburt dar; aber ihr wirklicher Zustand, die Materie: Augenblick hat noch in keinem Ort, auch nicht im Auftauchen unserer selbst am Bildort, ein Präsens. Das Wunderbare ist das verweile-doch zentralster Art; nur darin hat es sein Lokalzeichen. Das Wunderbare ist der Lichtblitz des Subjekts als des Objekts, neben dem kein entfremdetes mehr existiert und worin Subjekt wie Objekt gleichzeitig aufgehört haben, getrennt zu sein. Das Subjekt hat mit seiner wahrsten Eigenschaft aufgehört: dem Desiderium; das Objekt hat mit seiner unwahrsten Eigenschaft aufgehört: der Entfremdung. Dieses Anlangen ist Sieg, und die Siegesgöttin steht, gleich der antiken Nike, auf einem Punkt: als /(1550) herausgeschaffte, im und zum Humanum versammelte Konzentration des Seins. Auf dieser Erdstelle von angelangtem Sein, von Welt wie Heimlichkeit, Heimlichkeit wie Welt läßt sie sich nieder, in ihm enden Flug wie Botschaft. Ja, selbst das Wunderbare hört im Wunderbaren auf: der Fußpunkt, worauf Nike steht, im Augenblick der Ankunft steht, ist - nach so viel Schein, Vor-Schein, selbst Pathos der Unbeschreiblichkeit selber unscheinbar. Draußen gibt es noch viele Fußspuren und Chiffern, sie sind aufs höchste wichtig, denn die Menschen sind mit ihrem Augenblick nicht allein, es gibt ihn auch in allen Prozessen und Gestalten der Natur, ja er kann nur in den Chiffern der Natur breit gelesen werden, nur mit deren Weite sich als Reich verstehen, statt als bloße Raumlosigkeit der Intensität. Aber der Reichs-Inhalt selber ist gerade klein, weil er so groß ist; er ist genauso konzentriert wie das, was in der Mystik der Moral als »das höchste Gut« bezeichnet wird. Naturchiffern und das höchste Gut sind die letzten Zeugnisse, in denen sich der Kern der Menschen als identisch mit dem Kern der Erde bekundet. Dieser identische Kern ist zugleich der unerschienene, es gibt über ihn so wenig Ausgemachtes und von ihm so wenig bestimmt Erschienenes, daß am wenigsten feststeht, ob er überhaupt vollendet manifestiert wird oder ob er verdorrt. Sein - von den Religionen bedeutetes - Wesen steht wegen dieser währenden Unerschienenheit auf der Waage des drohenden Nichts oder gelingenden Alles, des Umsonst oder des Wunderbaren. Die Herodes deuteten auf das Nichts, die Orpheus, Zoroaster, Buddha, Moses, Jesus deuteten auf das Wunderbare: es hängt von diesem Jahrhundert ab, ob wenigstens das gut Erreichbare wirklich wird. Ob das Reich der Freiheit in die Nähe treten kann, das einen Einzug statt eines Exodus erlaubt. Das Ziel aller höheren Religionen war ein Land, wo Milch und Honig so real wie symbolisch fließen; das Ziel des inhaltlichen Atheismus, der nach den Religionen übrigbleibt, ist genau das gleiche - ohne Gott, aber mit aufgedecktem Angesicht unseres Absconditum und der Heils-Latenz in der schwierigen Erde. /(1551) 54
DER LETZTE WUNSCHINHALT UND DAS HÖCHSTE GUT
Weisheit besteht nicht im Wissen vieler Dinge noch selber im gründlicheren, sondern in Wahl und Befolgung dessen, was aufs gewisseste zu unserem währenden Glücke und wahrer Glorie leitet Walter Savage Landor, Imaginäre Unterhaltungen
Geheimer Chiffern Sendung Beschäftige die Welt, Bis endlich jede Wendung Sich selbst ins Gleiche stellt. Goethe, West-östlicher Divan
Trieb und Speise Nichts ist an sich gut, wenn es nicht begehrt wird. Aber nichts wird begehrt, wenn es sich nicht selber als gut darstellt. Daß ein Trieb sich auf etwas richtet, das setzt den Trieb voraus, doch ebenso ein Fähiges in dem, worauf es sich richtet, ihn zu befriedigen. Beeren sind eßbar, Holz dagegen beim stärksten Hunger nicht. Und sei letzterer noch so sehr der beste Koch, er allein kann es nicht schaffen. Zwar ist er allemal vorausgesetzt, damit das Fähige, das ihn befriedigt, in der begehrten Sache wirksam wird. Doch die begehrte und als gut beurteilte Sache wird dann der Träger eines Guts. Mithin einer erfreulichen oder freundlich wirkenden, einer zum Verzehren und sonstigen Gebrauch tauglichen Eigenschaft. Als gut beurteilt wird das, was ein Bedürfnis befriedigt, folglich ein Lustgefühl hervorruft. Alles Gut ist rechtens Gebrauchswert, der genossen wird, und nicht Tauschwert oder Ware, woran verdient werden kann. Kein Gut aber ist dem Begehren bereits gut genug; weshalb gerade von hier, aus dieser Gegend der Satz stammt, das Bessere sei des Guten Feind. Selbst eine Speise, der die Sättigung doch sogleich nachfolgt, kann zwar ausreichend, das ist umfangreich und nahrhaft genug sein, aber sie kann schwerlich nicht noch vortrefflicher, mindestens raffinierter zubereitet werden. Ein Mensch kann immer noch tapferer, großzügiger, klüger sein, er kann höchstens nicht noch pünktlicher sein. Pünktlich- /(1552) keit, diese blasseste aller Tugenden, ist die einzige, welche vollkommen werden kann, sonst aber keine. Das Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt, hätte auch bei goldenen keinen Halt gemacht. Und doch war das Gefühl stets unabweisbar, daß Besseres sich nicht endlos überbieten kann. Einmal, irgendwo müßte ein »Bis hierher und nicht weiter« sein, kein entsagendes, wie gewöhnlich, sondern ein erfüllendes. Worin ein Hauptwert denkbar ist, der an und für sich weder nach unten noch nach oben schwankt und von dem her, ja zu dem hin die Güter meßbar sind. Dieses Beste war dann schließlich allein gewollt, meistens auf Abwegen, bisweilen ahnend. Drei Wünsche und der beste Was zu fliehen, was zu suchen sei, das muß allemal sehr wohl überschlafen werden. Es liegt nicht auf der Hand, weder im Einzelnen noch gar im Ganzen, das nachkommt. Der Mensch begehrt und wünscht sein Leben lang, doch soll er sagen, was er unbedingt, was er überhaupt will, so steht er als Laie da. Das meinen und lehren auch die Märchen, die mit dem best Wünschbaren sich beschäftigt haben. Hebel, im »Schatzkästlein«, erzählt, wie dem jungen Ehepaar drei Wünsche freigestellt werden, von der jungen Bergfee, und sie will sie erfüllen. Acht Tage haben Hans und Lise Zeit, sich recht genau zu bedenken, doch »des andern Abends, während die Kartoffeln zum Nachtessen in der Pfanne prasselten, standen beide, Mann und Frau, vergnügt an dem Feuer beisammen, sahen zu, wie die kleinen Feuerfünklein an der rußigen Pfanne hin und her züngelten, bald angingen, bald auslöschten, und waren, ohne ein Wort zu reden, vertieft in ihrem künftigen Glück. Als die Frau aber die gerösteten Kartoffeln aus der Pfanne auf das Plättlein anrichtete und ihr der Geruch lieblich in die Nase stieg: - >Wenn wir jetzt nur ein gebratenes Würstlein dazu hätten<, sagte sie in aller Unschuld und ohne an etwas anderes zu denken, und - 0 weh, da war der erste Wunsch getan. Schnell wie ein Blitz kommt und vergeht, kam es wieder wie Morgenrot und Rosenduft untereinander durch das Kamin herab, und auf den Kartoffeln lag die schönste Bratwurst.« Wie gewünscht, so geschehen, zum Ärger /(1553) des Manns: »Wenn dir doch nur die Wurst an der Nase angewachsen wäre«, sagte er, und das war der zweite falsche Wunsch, denn nun blieb nichts mehr übrig als der dritte: die Frau von der Wurst wieder befreit zu sehen. »Wie gebeten, so geschehen, und die armen Eheleute sahen einander an, waren der nämliche Hans und die nämliche Lise nachher wie vorher, und die schöne Bergfee kam niemals wieder.« Das also war eine ungründliche Wunschfolge, auch wenn sie nicht immer nur um die Wurst gegangen wäre. In Hauffs Märchen »Das kalte Herz« trifft der junge Kohlenbrenner Peter Munk es reicher, aber nicht besser. »Ein Köhler hat viel Zeit zum Nachdenken über sich und andere, und wenn Peter Munk an seinem Meiler saß, stimmten die dunklen Bäume umher und die tiefe Waldesstille sein Herz zu Tränen und unbewußter Sehnsucht.« Und Peter sagte dem freundlichen Waldgeist, dem Glasmännlein, nachher seine Wünsche, zwei sind frei, der dritte kann verweigert werden, wenn er töricht ist. Peter wünscht, daß er am besten von allen tanzen könne, mit immer soviel Geld in der Tasche wie der reiche Ezechiel, sodann, daß ihm die schönste
Glashütte im Schwarzwald gehöre, mit allem Zubehör und Geld, sie zu leiten. »Sonst nichts?« fragt der Waldgeist und antwortet, als Peter noch Pferd und Wagen für passend hält: »Verstand, gesunden Menschenverstand hättest du dir wünschen sollen, Wagen und Pferde wären dann von selbst gekommen.« Bei Hebel hatte die Moral ganz ähnlich gelautet, Verstand war als erster Wunsch angeraten, um zu wissen, was zweitens gewünscht werden soll, um glücklich zu sein. Und als dritten Wunsch riet Hebel, um jeden Stachel des Mehr oder Umtauschs auszutilgen, beständige Zufriedenheit und keine Reue. Solcher Rat der Zufriedenheit nun ist gewöhnlich ein Mittel, um die armen Leute, zu denen eine Bergfee oder ein Waldgeist nur selten kommen, mit ihrem Zustand zu versöhnen; es steckt aber auch eine formale Anweisung aufs Beste darin. Verstand, um den richtigen Wunsch zu finden, Zufriedenheit, um das Gewählte nicht zu bereuen: das sind dann allerdings Mittel, die zum Besten hinführen, Mittel, die von ihm ausgehen. So, daß das Beste, wenn es wirklich bekannt und gewährt wäre, die Zufriedenheit mit ihm in sich selbst enthielte. /(1554) Doch oft flimmert ein Bestes auch ganz entlegen hier auf. Dann zeigt sich außer den Schätzen, die der armeTeufel wünscht und erlangt, noch ein anderes, höchst heimliches happy-end. Märchenhelden stecken sich die Taschen mit Gold und Edelsteinen voll, die sie in dem magischen Garten oder in der Höhle vorfinden, doch unscheinbar steht das einzig Rechte daneben, ihnen unbekannt, daher ungesehen. Aladin begreift so nur durch Zufall die Lampe, denn die Juwelen waren einleuchtender, obwohl er auch diese erst für Glas hielt. Und die meisten Schatzsagen halten das Unscheinbare im Hintergrund, als das Nebenbei, zu dem erst kein Wunsch besteht; wird der Mensch informiert, so ist es zu spät, die Gelegenheit kommt nicht wieder. So in Grimms Sage «Das Fräulein vomWillberg« (Nr.315):der Berg springt auf, drinnen standen große, übermächtige Schätze, der Schäfer fing an, sich mit ihnen zu beladen. »Vergeßt das Beste nicht«, sagt das Bergfräulein zu ihm, aber der Mann glaubt, damit wäre ein großer Kronleuchter gemeint. »Vergeßt das Beste nicht«, sagt das Bergfräulein zum zweitenmal: er aber hatte nichts als die Schätze im Sinn, und an den Blumenbusch dachte er gar nicht. Als er seine Taschen gefüllt hatte, wollte er wieder fort, kaum aber war er zur Tür hinaus, so schlug sie mit entsetzlichem Krachen zu. Nun wollte er seine Schätze ausladen, aber er hatte nichts als Papier in der Tasche; da fiel ihm der Blumenbusch ein, und nun sah er, daß dieser das Beste gewesen, und ging traurig den Berg herunter nach Haus. Sehr selten gehen solche Geschichten vom Besten über das Andeutende hinaus, es sei denn, sie werden getauft fromm. Der Blumenbusch, dem zuliebe alles andere verschmäht wird, bekommt dann bekanntere Züge, obwohl gleichfalls unauffällige, sanfte. Das Märchenmotiv der Siebenschläfer weist dorthin; bei Grimm erscheint es in der Legende von den zwölf Aposteln. Die Jünglinge, die zum Lohn für ihre Sehnsucht nach dem Heiland die Jahrhunderte überschlafen durften, bis er erscheint, haben das ihnen Beste nicht vergessen. Es war ihnen aller Wünsche Erfüllung und ihr letzter Wunsch; freilich wieder sind der Heiland und die klare Sehnsucht nach ihm an das viel ältere Motiv des Zeit-Überschlafens nur angefügt. Die vielen anderen Siebenschläfermärchen, zum Beispiel die chinesischen, kennen /(1555) den Trumpf eines deutlichen Wunsches und darauf bezogenen Erwachens nicht. Also fällt es selber dem Märchenhaften nicht leicht, den Wunsch der Wünsche inhaltlich zusagen: Das höchste Gut ist wie ein Quell beständiger Zufriedenheit, doch wo der Quell entspringt, das ist in Unscheinbarem, allenfalls Stellvertretendem versteckt. Auch das Sonst so sinnfällige und unverhohlene Märchen hat das Beste immer nur formal ausgefabelt, ohne Festlegung. Selbst die blaue Blume, als die bei Novalis der höchste Wert umschrieben wird, blüht bei ihm in einer Art von morgenländischem Nebel. Sie ist das Gleichnis eines »überschwenglichen Genügens«, und ist sie gepflückt, so wird »das froheste Fest des Gemüts gefeiert«, doch außer diesem, daß sie zugleich ein Märchen ist, liegt sie selber noch im Blauen. Ausgemacht bleibt nur in allen Märchen, soweit sie das unbedingte Genug berühren: der Stoff zu ihm ist unscheinbar. Wertbilder als Abwandlungen des höchsten Guts; Cicero und die Philosophen Das zu Fliehende, zu Suchende tritt auch als gedachtes in verschiedenen Arten auf. Doch es schwankt dann nicht mehr wie beim Laien, wenn die Fee zu ihm kommt, sondern ist geordnet in Reih und Glied. Der Wünschende im Märchen zählt dasjenige unzusammenhängend und ungründlich auf, was im Kopf der Fee oder des Waldgeists aufeinander bezogen und zentriert ist. Fee, Waldgeist, auch Bergfräulein sprechen hierbei aus, was zur Zeit des jeweiligen Märchens die verständigen Leute über das reuelos Wünschbare gedacht haben. Denken solcher Art geschieht in mehr oder minder einsichtig gewordenen Akten werthafter Bejahung oder Verneinung. Diese Akte sind keine des individuellen Beliebens, sie geschehen auch nicht in einer selber idealischen Luft, sie sind vielmehr durch die jeweilige soziale Umwelt und die in ihr auftretenden Leitbilder bestimmt. Diese Leitbilder sind uns zum Beginn dieses Teils als die des Kriegers, Ritters, Mönchs, Citoyen und so fort begegnet, sie meißeln allemal eine Menschenart als die beste aus. Ihnen
schließen sich, wie erinnerlich, die Leittafeln an, mit den wechselnden, oft antithetischen Aufschriften des besten Verhaltens, des besten /(1556) Wegs zur menschlichen Vollkommenheit. Hier besteht ein Rang- und Wertstreit, es beginnen die Alternativen des glücklichen und des gefährlichen Lebens, der Einsamkeit und der Freundschaft, der abstrakten und der vermittelten Grenzüberschreitung (Don Quichotte, Faust). Aber es gäbe freilich weder Leitbilder noch Leittafeln, wenn ihnen nicht ein Grundakt vorherginge, getrieben vom Bedürfnis nach bestem Leben, gerichtet auf dessen vervollkommnetste Form. Erst dieser Grundakt führt überhaupt Leitbilder, Tugenden, Werte hervor; sosehr auch der Inhalt dieser Ideale jeweils ideologisch bestimmt, historisch ausgewechselt wird. Derart wurde das Idealische oben, im Teil der »Grundlegung«, auf die utopische Funktion bezogen, als auf die jeweils überholend zielhafte. Die utopische Funktion, in der Begehrungs-Vorstellung des Nicht-Zuhandenen, gar Unvorhandenen, gibt bereits allen Dingen, die sie ergreift, das Cachet des Wunschguts oder macht, wenn das dem Wunschgut Entsprechende im Ding objekthaft enthalten ist, dafür empfänglich. Das als vollendet gedachte Gut, das in seiner Art vollendete, erlangt aber pathetischen Rang: »Scheint das Ziel nicht nur Wünschens- oder Erstrebenswertes, sondern Vollkommenes schlechthin zu enthalten, so wird es Ideal genannt« (Seite 189f.). Doch wesentlich bleibt auch dem idealen Wertbild, daß es erstrebt, daß ihm nachgeeifert wird, daß es auch als Vollkommenheit und gerade als diese nicht bloß Gegenstand der Betrachtung bleibt. Die Sterne, die man nicht begehrt, deren Pracht man sich in purer Betrachtung erfreut, sind keine Ideale. Dagegen gelten moralische Wertbilder als idealisch und ästhetische insofern und Insoweit, als sie aus der sogenannten interesselosen Betrachtung herausgetreten sind. Sie werden erst Ideale im strengen Sinn, wenn sie, vorzüglich in der Erhabenheit, als Vor-Schein einer emporreißenden Beschaffenheit auftreten, einer in der vorhandenen Welt ästhetisch zu Ende getriebenen. Auch religiöse Wertbilder, wie Heiland, Frohbotschaft, Reich, sind nur dann Ideale, wenn Nachfolge mit ihnen verbunden wird, postuliertes Eritis sicut deus; als Unvergleichbarkeit im hohen Olymp ist Optimus Maximus gerade nicht der Optimus. Also gehört die postuliert-postulative Möglichkeit, dem Ideal vollkommen gleich zu werden, zur Gegenstandsbestimmtheit des Ideals. Eine Lei- /(1557) ter ist an ihm angestellt, mittels derer das Subjekt emporsteigen kann, und nun: da dem hoffenden Willen erst sein Ende genugtun kann, so setzt sich die von ihm angestellte Leiter in den Idealen gegenständlich fort. Sie selber sind in einer Klimax angeordnet, zu immer höher intendierenden Vollkommenheiten ansteigend. Die wachsenden Vollkommenheiten des Ideals sind, als auf den Willen bezogen, Zwecke, solche ausgesprochen erfüllender Art, und wie alle Zwecke sind sie in der Reihe einer ferneren oder näheren Beziehung zu einem zusammenfassenden Zweck geordnet, hier zum Endzweck einer total intendierten Genugtuung. Die Welt ist auch in ihren intendierten, in ihren der Front zugehörigen Idealgebilden nicht am Ziel: so hat jedes Ideal noch ein höheres über sich, eine Skala bis zum höchsten Gut. Nur der Zweckbezug macht diese aufzählbare Unter- und Überordnung der Ideale möglich: »Es gibt bis jetzt keine Bestimmung und Tafel der Archetypen, dagegen mehrere des Ideals; und sie reichen herunter bis zu Termini wie: ideale Hausfrau, idealer Bach-Bariton und dergleichen, sie reichen hinauf bis zum Ideal des höchsten Guts« (Seite 191). Sehr nieder gelegene Ideale, innerhalb eines sehr beschränkten, hoffnungslosen Kreises sind freilich keine, sondern heißen nur so, in banalem Sprachgebrauch. Doch alle wirklichen Leitbilder, Tugenden, ästhetischen, religiösen Hoffnungsinhalte zeigen sich aufs Letzte, und zwar Menschlich-Letzte bezogen: «Solche durch utopische Funktion berichtigte und ausgerichtete Ideale sind dann allesamt solche eines menschlich-adäquat entfalteten Selbst- und Weltinhalts; deshalb sind sie... sämtlich Abwandlungen des Grundinhalts: höchstes Gut« (Seite 198). Und genau soweit über die Richtung zum höchsten Gut (mehr ist von ihm noch nicht aussagbar und verfolgbar) Streit oder Einigkeit herrscht, soweit sind auch die menschlichen Leitbilder und die Ideale, die ihnen zugrunde liegen, ambivalent oder aber eindeutig. Jede Zeit hatte es nötig, Wünsche eines edleren Seins zu hegen und auszubilden. Aber zum ersten ist es lehrreich, daß ideale Gestalten nie heftiger und zum Leben gespannter dargestellt wurden als in der bürgerlichen Gesellschaft. Vor allem die pathetischen Dichter des achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jahrhunderts überbieten sich an aufrechten Vorbildern, /(1558) an solchen des Widerstands und Kampfs gegen Mattigkeit oder regierende Gemeinheit. Von Addison bis Alfieri, von Schiller bis Shelley zieht eine dramatische Dichtung, die sich nicht genug daran tun kann, neustoische Würde vorzuformen. Addison gab das Thema, indem er Cato als Helden wählte, den unbeugsamen, mit jeder Bürgertugend geschmückten Republikaner. Die Catos wurden erst puritanisch belebt, in ihrer Kampfstellung gegen feudale Verderbnis, dann aber zog der Citoyen in sie ein, am deutlichsten in den dramatischen Statuen Alfieris und ihrer Freiheitssprache. Überall erscheint hier ein hochgesteigertes ideales Leitbild bürgerlich-reiner Art; starrköpfige Tugend mit prometheischen Lichtfunken. Der Grund für diese Lust am positividealen Helden ist ein gesellschaftlich-realer: er ist Entzweiung mit der feudalen Gesellschaft, Entzweiung des Bürgers in der bürgerlichen Gesellschaft dazu. Bis um die Zeit der Französischen Revolution war das Ideal des Citoyen nur
gegen den Adel gewendet, aber implicite wirkte darin schon der später, der bei Schiller, gar Hölderlin und völlig bei Shelley ausgebrochene Gegensatz zwischen Citoyen und Bourgeois. Marx hat diesen Gegensatz und zugleich diese Einheit im revolutionär gewesenen Bürgertum zuerst hervorgehoben: der Bourgeois ist der wirkliche Privatmensch der freien Konkurrenz, der Citoyen der abstrakte unegoistische Gattungsmensch einer ebenso abstrakten Polis. Die widerspruchsvolle Einheit zwischen Citoyen und Bourgeois zerriß bei den großen idealistischen Dichtern dieser Zeit. Von daher also das so gesteigert dargestellte Idealbild; es ist die Citoyenseite des Bürgers oder das humanistische Leitbild der revolutionären Bourgeoisie, das sich im Widerspruch zur entstandenen bürgerlichen Gesellschaft erfaßt. Deshalb kann die idealistische Spannung des Ideals zur Gegebenheit und Gewordenheit nicht besser studiert werden als bei den pathetischen Dichtern dieser Zeit: immer wird Schiller fürs Ideale, in dieser feurig-abstrakten Gestalt, bezeichnend bleiben. Im Vergleich mit diesen Imagobildern sind alle früheren Dichter unbefangene Realisten, auch Dante ist dann einer. Denn es fehlt ihnen die Entzweiung zwischen Ideal und Leben, die erst die kapitalistische Arbeitsteilung und Verdinglichung gebracht hat; zur pathetischen wie zur revolutionär-idealistischen Schärfung fehlte /(1559) noch der Anlaß. Einzig die Ideologie der Ketzersekten, mit ihrem schlechthin kompromißlosen Jesusbild, könnte, aus ganz anderen Gegenden, zum Vergleich herangezogen werden. Nun aber ist es zum zweiten lehrreich, daß zwar nicht ideale Gestalten, wohl aber das Problem des Ideals umgekehrt gerade in der Antike und dem Mittelalter am intensivsten bedacht wurde, nicht oder nur bei Kant in der Neuzeit. Es gibt keinen antiken oder mittelalterlichen Schiller, der antithetische Menschenbilder aufgestellt hätte, wohl aber hat selbst Horaz die allgemeinere Frage nach dem höchsten Gut in seinem sonst so leichten Gesang. Wie stark erst beschäftigten sich die antiken und mittelalterlichen Denker mit diesem altmodischen Terminus; auch Kant lebt, wo er das höchste Gut behandelt, auf altem Boden. Auch dies vorbürgerliche Übergewicht der Summum-bonum-Frage hat einen gesellschaftlich-realen Ursprung, einen vom idealen Heldeninteresse freilich verschiedenen. Es ist gerade die noch relative Einheitlichkeit der vorkapitalistischen, besonders mittelalterlichen Gesellschaft, welche für eine zentrale Zielfrage und ihren Inhalt empfänglich macht. Vor allem, wenn eine Gesellschaft, wie die mittelalterliche, ohnehin in der finalen Zuordnung zum Heil lebt; mit der durchgängigen Ideologie irdisch-überirdischer Stufenbildungen. Dauer, Einheit, Endzweck: das sind die hier ausgearbeiteten Formalbestimmungen des höchsten Guts als höchsten Ideals; ebendeshalb lag dieses Problem einer relativ unentzweiten Gesellschaft näher als der bürgerlich zerrissenen. Darum also die Prävalenz des Einen, Notwendigen über die glänzend-partialen Idealbilder der neueren sentimentalischen Dichtung und ihres unmittelbaren revolutionären Interesses. So reicht die Fragestellung nach dem höchsten Gut von den sieben Weisen und ihrem ständigen Respice finem über Cicero und die römische Stoa zu Augustin und der Scholastik bis zu Kant, um hier fast zu erlöschen. Cicero, in »De finibus bonorum et malorum« (I, 42), gab dem Begriff des höchsten Guts, in popularisierter Stoa, die weltmännische Definition, die ihm seitdem trotz aller Theologie geblieben ist: »Extremum bonum, quod ipsum nullam ad aliam rem, ad id autem res referuntur omnes.« Und die Stoa bezog diese Definition wiederum aus Platon, aus jener Ratio des Eros nach oben, die zuerst /(1560) die Ideen werthaft gestaffelt hat, mit der Idee des Guten als höchster unter ihnen. »Ein Wesen«, sagt derart Platon im «Philebos« (und er schaltet damit ein für allemal die alienatio, die Entfremdung oder Anderheit vom höchsten Gut aus), »ein Wesen, dem das Gute immer bis ans Ende ganz und in jeder Beziehung innewohnt, bedarf keines anderen jemals weiter, sondern hat vollkommenes Genüge« (Phileb. 60 C). Vernunft und höchstes Gut sind hier noch schlechthin eines; die Idee des Guten macht in dergleichen Mitteilungen ihrer selbst alle Handlungen gut und Vorstellungen wahr, sofern sie an der Idee des Guten letzthin teilnehmen. Diese Einheit, als die des höchst Sittlichen und höchst Wahren ununterscheidbar zugleich, besteht auch noch bei Augustin, von Platons höchster Idee auf den christlichen Gott übertragen: Gott als höchstes Gut (eine Bestimmung, die nun durch Augustin sämtliche Ideale des Mittelalters regiert) ist im gleichen Wesen Unum, Verum, Bonum. Und auseinandergetreten ist die Identität von Bonum und Verum erst in der Scholastik; erst hier wurde es zum Problem, ob Wille oder Verstand, Güte oder Wahrheit den Primat in Gott besitzen, folglich die Urqualität des höchsten Guts ausmachen. Gott ist für Duns Scotus primär Wille des Guten, der frei verordnet, was das Gute sei; für Thomas ist Gott primär Verstand des Guten, an den Gottes Wille gebunden ist. Für die Ideale des Menschenlebens folgt dementsprechend aus Güte als höchstem Gut der franziskanische ordo amoris, aus Wahrheit als höchstem Gut der dominikanische ordo cognitionis. In beiden aber bleibt Gott das Ziel aller Wertziele, mit der mystischen Erweiterung oder Verengerung freilich, daß ebenso die Ähnlichwerdung mit ihm das höchste Gut sei. Jedes Streben nach Vollkommenheit involviert daher nach Thomas Gott: «Quod igitur est summum bonum, est maxime ommum finis... Ei igitur res omnes in Deum sicut in ultimum finem tendunt, ut ipsius bonitatem consequantur, sequitur, quod ultimus rerum finissit Deo assimilan« (Contra gentiles I,3, cap. 17,19). Diese Ähnlichwerdung mit Gott ist für Thomas wie für die Mystik das gleiche wie
höchste Glückseligkeit (also das Optimum dessen, was Platon »vollkommenes Genüge« genannt hatte). So vereinigt sich also mit der Bestimmung des höchsten Guts auch /(1561) die des mächtigsten Glücks; ja sie vereinigt sich mit ihm so dauerhaft, daß auch nach Abschwächung des realen Gottesglaubens die Glückseligkeit als Wesen des höchsten Guts übrigblieb. Das zuletzt bei Kant; er definiert das höchste Gut als Hoffnungsinhalt einer Welt, worin Tugend und Glückseligkeit vereinigt sind; in der vorhandenen Welt kann die Tugend zur Glückseligkeit nur würdig machen. Soweit das Ideal des höchsten Guts als Bestimmungsgrund des letzten Zwecks der reinen Vernunft dargestellt wird, kann es »durch die Vernunft nicht erkannt werden, wenn man bloß Natur zum Grund legt, sondern darf nur gehofft werden, wenn eine höchste Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet, zugleich als Ursache der Natur zum Grunde gelegt wird «(Werke Hartenstein III,S. 535). Dergleichen reicht zwar weit über die Grenzen der theoretischen Naturerfahrung hinaus, jedoch zugleich hat seine jenseitige Realität ausgespielt. Es wird genau Hoffnungsinhalt (summum bonum = suprema spes), und zwar diesseitiger, obzwar mit chiliastischem Glanz. Höchstes Gut, als Einheit von Tugend und Glück, von ethischem und neuem physischem Reich, wird die Chiffer fürs »Reich Gottes auf Erden«. Damit ist die äußerste Zuspitzung der Idee des vollendet Guten gelungen - freilich um den Preis ebenso äußerster Zerreißung zwischen Naturmechanik und Reich. Der absolute Zweck des höchsten Guts erscheint als einer, dem die Wirklichkeit als unüberwindliche Schranke gegenübersteht. Das höchste Gut ist bei Kant zugleich so losgerissen und entlegen wie die Idealmenschen (Marquis Posa), auch Idealbegriffe (Kohlhaas oder die Rechtsidee) bei den idealistischen Dichtern. Schroffer, undialektischer Dualismus trennte folglich auch am höchsten Gut die Citoyenseite des Bürgers (in höchster Gestalt: «Reich Gottes auf Erden«) von seiner wirklichen, empirischen Seite und ihrer «Natur«. Doch hat Kant zum letztenmal auf lange Zeit den ehrwürdigen Begriff des höchsten Guts vorgetragen und ihn an die Stelle gesetzt, wo dem Schiffer der Polarstern steht. Der Denker des Unbedingten konnte diese Stelle nicht übersehen, ebensowenig das Charakteristikum, das seit Platon dem Begriff des höchsten Guts eignet: situationsfrei zu sein, keine Alteritas an sich zu tragen. Fichte formulierte dieses Sinns die Kantische Aussicht nochmals: /(1562) Höchstes Gut ist »die vollkommene Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst und - damit er mit sich selbst übereinstimmen könne - die Übereinstimmung aller Dinge außer ihm mit seinen notwendigen praktischen Begriffen von ihnen« (Werke, Medicus I, S.227). An der Spitze der Ideale bleibt es das utopische Objekt, das gleichzeitig keines mehr ist, sondern mit dem Subjekt identisch ist. Indem das höchste Gut dem Gründlichsten im Willen, dem Überhaupt des menschlichen Intendierens zugeordnet ist, steht es selber als das »Wozu überhaupt« utopisch da. Oder, mit populärem Ausdruck, als der (noch nicht manifest gewordene) »Sinn des Lebens«; dieser müßte allerdings sowohl ein Unum wie ein Bonum wie vor allem ein Verum sein, um als Sinn zu bestehen. Verweile-doch und höchstes Gut, Problem eines Leitbilds im Weltprozeß Solange sind die Dinge noch bewegt, als ihr Kern nur ist und nicht da ist. Ist doch dieser Kern, als das Daß, von dem und zu dem hin alles geschieht, noch gärend und dunkel. Ist noch punktuell und unausgebreitet, nur verschlossen treibend und nicht geäußert, nirgends zur sicheren Erscheinung seines Wesens gediehen. Indem er das Jetzt und Hier ist, der ungestellte Augenblick, als der und in dem sich das Wesen aller Dinge befindet, ist er die noch nirgends aus sich herausgegangene existentielle Nähe. Herausgang heißt: das Daß als Wesen tritt in Geschichte ein, in seine sich dialektisch experimentierende Erscheinungsgeschichte. Da diese noch nirgends die gelungene, das heißt dem Wesen adäquate Erscheinung erreicht hat, so lebt in ihr die Unerfülltheit weiter. Das Daß hat seine Basis-Erscheinung im Hunger, im Bedürfnis, im durchgehend interessehaften Unterbau der Geschichte; es umwölkt und informiert sich im Überbau, sofern dieser hier einen des falschen Bewußtseins, dort einen des relativen~Hellwerdens und kulturellen Überschusses darstellt; es tritt in den zukunfthaften Idealbildungen (als der Utopie in der Ideologie) mehr oder minder unabgelenkt hervor. Idealist von hier aus unverwirklichtes, doch antizipiertes Daß-Wesen, diesesfalls: Menschen-Wesen in seinem erhofft positivsten Inhalt. Höchstes /(1563) Gut ist das mit diesem Inhalt unüberbietbar gesättigte; sein antizipierter Genuß ist antizipiertes Da-Sein (Erscheinung) dessen, was einzig letzthin zu erscheinen wert wäre, Ebendeshalb ist der Akt, der sich darauf richten kann, auch hier nicht Carpe diem, dieses nur scheinbare und oberflächliche Dabei-sein. Statt seiner steht in der Nähe des Gutgewordenen, gar des höchsten Guts eine ganz andere Treue des Gegenwärtigseins; ein Carpe aeternitatem in momento; erst das erträgt, ja verlangt auch Dauer. Carpe diem geht auf Flüchtiges, zum Unterschied von ganzem und ungeteiltem Dabeisein, von der wirklichen Wahrnehmung eines guten, eines bedeutenden Augenblicks; gerade in diesem ist nichts Flüchtiges, sondern umgekehrt: alles Eigentliche und so Dauerhafte ist in ihn eingemengt. Bloßes Carpe diem landet bestenfalls in einer Resignation, dergestalt,
daß zum Augenblick nicht gesagt werden kann: Verweile doch, sondern nur: Vergebe doch, du bist so schön; denn das Beste ist hier einzig Material für Erinnerung, nicht für Hoffnung und Ankunft. Das Verweile doch aber kommt als präsente Wahrheit, als Wahrheit eines Präsenten nicht anders als in der Nähe eines nicht mehr Vergehenden, also eines berührten Endzustands vor: nur als dieses Carpe aeternitatem in momento wird ein Rand des höchsten Guts ergriffen. Der erste Augenblick, wo Liebe entsteht, nimmt daran teil, die Erfahrung großer Landschaft kann es enthalten, mit lauter Sinnbildern darin, in denen große Augenblicke sich aufschlagen, wie sie poetisch vor allem Robert Browning notiert hat und gar religiös Augustin in dem berühmten Brief an Monica über den Sternhimmel. Die Nähe zum Tod, in ihrer schlechthin zusammenziehenden Kraft, kann das Carpe aeternitatem in momento enthalten, mit alles durchleuchtender Plötzlichkeit, wovon Tolstoi so Tiefes erneut dargestellt und berichtet hat. Eben das Einheitserlebnis von Karenin und Wronskij am Sterbebett Annas führte an diesen Herd, und noch zentraler die Ruhe-Erfahrung des tödlich verwundeten Fürsten Andrej: um sich die Stöhnenden und Verwundeten, über sich wieder den Sternhimmel, und nun geht, am Unversehbaren dort oben, der Sinn für eine Größe auf, die mit der angemaßten nichts gemein hat. Ebenso aber geht der Sinn für jene Größe auf, am Korrelat zu jenen Symbolintentionen also, die in der »Grundlegung« dieses Buchs als /(1564) solche der absoluten Frage und ihres Staunens bezeichnet worden sind. Als »Durchbruchserfahrungen am Unscheinbaren«, mit »wechselnden, fast für jeden Menschen verschiedenen Eindrücken, doch mit allemal gleicher Richtung und Bedeutung«. Als das letzthin, »was der Knabe im Märchen liegen ließ, als er aus dem Berg kam, >Vergiß das Beste nicht!< hatte der Alte gesagt«, aber dies Unscheinbare, tief Versteckte, Ungeheure ist nirgends entdeckt, nirgends gehoben, es kündigt sich eben nur in solchen Symbolintentionen an, »zwischen Subjekt und Objekt, beide in durchdringender Betroffenheit auf einen Augenblick identifizierend» (Seite 337 f.). Alles dergleichen lebt an religiöser Grenze, auch die Symbolintentionen des absoluten Staunens leben daran, trotz ihres Orts im Alltag; aber es überholt zugleich die prunkvollen Hypostasen, die Mächte, Herrlichkeiten, Throne, Glanzhimmel, mit denen die Religions-Mythologie das Beste oder Höchste ausstaffiert hat. Tendenz wie Latenz des Verweile doch, aufs höchste Gut bezogen, leben eben dadurch am Grenzbegriff des Unum, Verum, Bonum, das die Mystik so lange gehütet hat. Zusammen mit dem Bezug auf den Augenblick gehütet hat, wie gezeigt werden konnte: das Nune stans der Mystik ist Koexistenz, ja aufgeschlagene Identität aller Augenblickswelten in der Vergegenwärtigung des höchsten Guts. Und wie Nunc stans dem Zustand des Verweile-doch die radikalste Formel gab, so geben Dauer, Einheit, Endzweck dieser Formel genau noch die Grundbestimmungen des höchsten Guts hinzu. Wobei in der Einheit das Unum, im Endzweck das Verum als Bonum notwendig ist, sofern immer Wahrheit in Ansehung des Endzwecks mit einem Sinn des Endzwecks zusammenfällt. Dieser Sinn - ein in der Wahrheit und Wirklichkeit des bisher gewordenen zwar durchaus noch unvorhandener und ungarantierter, aber ebenso noch nicht vereitelter - ist einzig dadurch Sinn eines Endzwecks, daß das Was des Daß, der Inhalt des alles heraus prozessierenden dynamisch-materiellen Weltkerns einer des erfüllenden Alles und keiner des vereitelnden Nichts wird. Das erfüllende Alles aber ist als Adäquation, folglich Anlangung der Daß-Intention, der Grund-Tendenz an ihrem eigensten und eigentlichsten Inhalt genau im höchsten Gut gedacht, in diesem Polarstern jeder Utopie und erst recht der konkreten, der über die Welt und den /(1565) weltprozeß geschehenden. Derart ergibt sich das höchste Gut von dieser Stelle aus also nicht nur als Leitbild aller menschlichen Leitbilder, sondern zugleich als das Problem eines Leitbilds im Weltprozeß, eines noch auf Sinn hin betrieben-betreibbaren. Die Hypostasen der Religions-Mythologie haben diesen Welt-Endzweck als das gesehen, was er am wenigsten ist: als fertiges Da-Sein in einem als Ens realissimum gesetzten Himmel. Auch Tolstois Fürst Andrej blickt so in die Sterne: doch wenn er ins Leben wieder zurückkehrt, ins wenig veränderte, so zeigt sich das Ens perfectissimum der Größe dort oben zwar nicht als Illusion, aber als Antizipation; Ens perfectissimum bleibt Ahnung und Erlebnis, keine erreichte Wirklichkeit. Das unter dem höchsten Gut Gedachte bleibt nicht immer so Ahnung und Erlebnis, also auf Subjektivität beschränkt, doch es kommt gerade aus dieser nur heraus, indem seine Mystik als Geschehnis auf der Höhe des Weltprozesses begriffen wird und nicht als eines innerhalb eines Olymps, also einer fertigen Ewigkeit von Anfang an, ja ohne Anfang und Ende. Das höchste Gut, wie es unter Gott gedacht worden ist, steht auch für sich selbst im real Unentschiedenen oder an der Front. Es ist in seinem weder durch Dauer noch Einheit, noch Endzweck irgend bereits angebbaren Inhalt - selber ein Problem, als ein objektiv-reales, nicht nur für den unzulänglichen Menschengeist vorhandenes Realproblem. Als in sich selbst noch ungelöstes, als eine im Kern wie an der Front des Weltprozesses arbeitende Realgestalt der absoluten Frage. Die Grundbestimmungen Dauer, Einheit, Endzweck geben so dem prozessualen Leitbild nur seinen Gegensatz zum Flüchtigen, zur Vielheit des Chaos, zum Umsonst oder Nihilismus, aber sie geben noch keinerlei Entschiedenheit des positiven Inhalts. Dafür freilich geben sie unnachlaßliche Invarianz der Richtung auf einen Inhalt: auf den eines Da-Seins, das dem verschlossenen
Sein des Wesens bis zur Identität adäquat geworden, also ohne Anderheit und Entfremdung sein könnte. Das Realproblem dieses Da-Seins lebt aber nur innerhalb des Prozesses, der es betreibt, ja: es gäbe gar keinen Prozeß, ,wenn dieses sein Realproblem nicht wäre, und es gäbe nicht dieses Realproblem, wenn kein Prozeß wäre. Das Daß, das im Menschen, aber auch im problematischen Subjekt der Natur zur absoluten Bedarfsdeckung, also zum höchsten /(1566) Gut gelangen will, setzt kraft dieses objektiven Leit-Realproblems erst die Zukunft, in die die unerfüllte Augenblickswelt immer weiter treibt, mit intendiertem Endziel. Und es setzt ebenso erst die Vergangenheit, in die die Augenblickswelt immer wieder versinkt, weil noch nichts Erschienenes, zur Erscheinung Gelöstes dem intendierten Endziel oder höchsten Gut entspricht. Das höchste Gut ist selber dieses noch nicht gebildete, in der Tendenz des Prozesses letzthin bedeutete, in der Latenz des Prozesses letzthin realmögliche Ziel. So erscheint eine utopisch-kosmische Perspektive mitten in der subjektiv- und intensiv-existentiellen, wenn statuiert werden kann: Das unter dem höchsten Gut Gedachte, das früher Gott hieß, dann Reich Gottes, und schließlich das Reich der Freiheit ist, macht nicht nur das Zweckideal der menschlichen Geschichte aus, sondern auch das metaphysische Latenzproblem der Natur. Nochmals Trieb und Speise oder Subjektivität, Objektivität der Güter, der Werte und des höchsten Guts Aber wieweit ist das als gut Empfundene nur empfunden, wieweit ist es draußen? Naheliegt, zu meinen, daß es vor allem draußen liegt, unter den farbigen, angenehmen Dingen. Daß Wein genauso an sich selber wohlschmeckend sei, wie er an sich selber gelb oder flüssig ist. Aber während es lange dauerte, bis man die Farbe des Weins, die Wärme des Ofens und so fort als bloße Sinnesempfindung aus gab, wurde die dingliche Eigenschaft des Wohlschmeckenden oder Angenehmen früh bezweifelt. Es kommt dem naiven Bewußtsein hart an, daß Farbe, Wärme, Ton nur subjektiv vorhanden sein sollen. Aber weit leichter fällt ihm die Annahme, daß Gutes, Böses und seine verschiedenen Abwandlungen lediglich subjektiv, nicht objektiv vorkommen. Wonach also eine Sache nur deshalb gut genannt werden kann, weil sie begehrt, willenhaft bejaht wird und darum als Gut erscheint. Zu dieser subjektivistischen Ansicht hat zweifellos die Vielheit, mit ihr die Verschiedenheit der jeweiligen Bejahungen sehr beigetragen. Was dem einen seine Eule, ist dem anderen seine Nachtigall, oder wie ein anderes Sprichwort sagt, eines, das nicht erst auf Skeptiker zu warten hatte: über den Geschmack läßt sich /(1567) nicht streiten. So gilt jedes sogenannte Werturteil, mindestens was das Angenehme, Wohlgefällige und dieser Art Gute angeht, auch in der populären Ansicht seit langem als subjektiv. Was freilich nicht besagt, daß es lediglich als privat gilt, im völlig relativistischen Sinn des »De gustibus non est disputandum«. Kaum hatten die Sophisten den Menschen zum Maß aller Dinge gemacht, so setzte das Sokratische Problem des Allgemeingültigen ein. Nicht fürs Angenehme, Wohlgefällige und dergleichen, für jene noch wertfreien Bejahungen des Begehrens, über die nach wie vor sowenig ein verbindliches Urteil abgegeben werden kann wie über eine Lieblingsspeise. Wohl aber gibt es eine Rechtsfrage über das Rechte selber, über das sittlich Gute vor allem, eine Wertung des Wertens; nur daß auch diese, bei Sokrates wie bei Kant, den Wertmaßstab im Menschen sucht, in seinem Gewissen oder seiner allgemeinen Vernunft, nicht in objektiv wertvollen Gegenständen selbst. Das ist die eine Seite des Problems, die subjektive; mit ihr jedoch untrennbar, in Wechselwirkung verbunden ist die objektive Seite, die durch allen Willensprimat nicht ausschaltbare. Denn wird auch eine Sache nur deshalb gut genannt, weil sie begehrt wird, so wird sie eben nur begehrt, weil sie gegenständlich begebrenswert ist. Weil sie sich im Wein als wohlschmeckend darstellt, weil ein als gut Empfundenes genau in diesem Stoff oder in dieser Menschenart vorgefunden wird und in keiner anderen. Selbst der Geschmack, über den subjektiv nicht gestritten werden kann, wird einhellig, sobald ihm Steine statt Brot, Caccatum statt Pictum vorgeführt werden. Und was dem einen seine Eule, wird auch dem anderen nicht zur Nachtigall, wenn es sich um die Werthaltung gegenüber Pestbazillen handelt oder gegenüber dem einhelligen Nicht-Gut des Tods. Werturteile sittlicher Art waren zwar durch die verschiedenen Zeiten und Gesellschaften hindurch nie gleichartig, sie waren stets von der wechselnden gesellschaftlichen Basis abhängig, doch ebendeshalb wurden sie stets nach Maßgabe eines jeweils gemeinsamen Leitbilds gefällt, eines typischen, und darin, darüber hinaus, was die Hauptsache: eines gegenständlich-inhaltlichen. Der allgemeingültige Maßstab liegt hier also keineswegs nur im Gewissen oder in einer normgebenden Vernunft überhaupt, er liegt in der objektiven Sache selbst. /(1568) Er braucht deshalb keinen Sokrates oder Kant, um durch einen Kanon der Triebfedern gefunden zu werden. Wertung ist hier nicht nur auf ein wie immer geklärtes und normatives Bewußtsein ihrer selbst gerichtet, sondern gerade auf Gegenstände, die der Wertung materiellen Inhalt geben. So reicht also in das als gut Empfundene durchaus materieller Stoff herein, ja er differenziert erst die
Güter und Werte, so daß sie eine Rangstufung haben können. Gäbe es nicht die verschiedenen materiellen Gegenstände, die zur Bedarfsdeckung, Wertbildung tauglich mitwirken, so gäbe es nur einen einzigen, rein in der isolierten Subjektivität bleibenden Wert, und zwar notwendig inhaltloser, also formaler Art; Sokrates nennt ihn Tugend schlechthin, Kant guten Willen. Es gäbe wie folgerichtig bei Sokrates und Kant weder eine Mehrheit noch eine zweckinhaltliche Staffelung, es gäbe keine wirtschaftlich, erotisch, moralisch, ästhetisch, religiös spezifischen Werte, bis hin zum letzten, dem höchsten Gut. Erst Arbeit plus Rohstoff und Stoffgehalt erzeugt alle Werte; es gibt keine Werterzeugung, vor allem auch in höherer Klimax, durch isolierte Subjektseite ohne hereinwirkende Wertmaterien. Allerdings - und das gibt der objektiven Seite die Begrenzung-, allerdings enthält die Objektivität Werthaftes durchaus nicht als an und für sich vorhandene Eigenschaft, im naiv-realistischen Sinn. Dergestalt, daß, wie Scheler in seiner Wertwesenslehre behauptet hatte, etwa die Liebe, die unverengerte Sympathie nur dazu nötig seien, um die ontische Wertfülle der Welt an sich lediglich zu empfangen. Statt dieser objektivistischen Überspannung zeigt sich: die Sachwelt ist zwar durchaus imstande, Träger eines Guts, ja der einzige Praxis-Ort aller Güter und Werte zu sein, jedoch so, daß der größte Teil der Werte doch erst durch menschliche Arbeit am Rohstoff erzeugt und so in ihm erweckt wird; wonach die Sachwelt ihre mögliche Werteigenschaft einzig als eine des alliierten Potentials in Wertmaterie besitzt. Die Objektseite gibt das Material zum Wert, samt allen Differenzierungen, die das Material in die Wertwelt hereinschickt; sie enthält aber den Wert nicht bereits als irgendeine objekthaft fertige, in sich selber ruhende Ausgestaltung. Die Welt enthält vor allem in ihren nicht durch Arbeit erzeugten Werten: als Naturschönheit, auch als mythisch bezeichnete Naturtiefe, erfaßbare Wertqualitäten, /(1569) die keineswegs erst durchs Subjekt hineingelegt worden sind; aber diese Qualitäten - meist Wert-Bedeutungen - sind einzig Chiffern eines noch realutopischen Inhalts; sie sind keine ontisch vorgeordneten Realitäten, denen die Subjektivität lediglich als empfangende Teilnahme zugeordnet wäre, statt als gemeinsamer Weckruf. Denn die Welt ist auch in Ansehung ihres objektiven Wert-Materials kein Museum und noch keine Kathedrale; sie ist ein Prozeß. Gerade die vorhandene Wertstaffelung, bezogen auf den Zielwert des höchsten Guts, ist keine Klimax im Sinn einer letzthin Thomistischen Seinshierarchie, sondern einzig die einer zeithaft-prozessualen, einer Mensch und Prozeß sich erst wertgemäß entwickelnden Ziel perspektive. Soviel hier über die objektive Seite der Werterfahrung, sie ist so sicher vorhanden wie die subjektive, aber sie enthält ebenso nur die differenzierende Tauglichkeit und das fundierende Material zum Wert, wie die subjektive Seite den Begehrungs- und Arbeitsfaktor zur Entwicklung dieses Materials enthält. Lediglich in Wechselwirkung kommen beide Seiten vor, nicht in inhaltlicher Autarkie hier, in formalwillenshafter dort. Wobei in letzter Instanz freilich der Willens- oder Subjektivitäts-Primat selbst ihr objektiven Potential des Werts sehr lange bewahrt bleibt. Sämtliche Güter, bis hinauf zum höchsten Gut, wo Gut und allgemeinst gültiger Wert völlig zusammenfallen, sind auf den Willen bezogen, der sie will, zu dessen Leitung, letzthin Befriedigung (Glück) sie tauglich sind. Das Bedürfnis des Willens erweckt erst das Potential der außerhalb des Willens befindlichen Güter und Werte, so wie erst die auf die Bedürfnisbefriedigung gerichtete Arbeit den objektiven Materialwert der bearbeiteten Stoffe und Sujets herausschlägt. Am deutlichsten zeigt sich der Willensbezug in der Gebietskategorie, die den Begriff der Güter und Werte überhaupt umfaßt: im Zweck. Jeder Zweck setzt den Bezug auf eine bewußte, äußerstenfalls unbewußte Absicht voraus, und Zwecktätigkeit (zum Unterschied von der mechanischen) hat als Ursache (causa finalis) einzig diese Absicht. Die menschliche Geschichte ist gerade als Geschichte der Bedürfnisbefriedigung wesentlich von Zwecktätigkeiten durchzogen, dergestalt, daß nur die Kategorie des Zwecks auf den menschlichen Willen bewegend, gegebenenfalls (in Form des Ziels) leitend wirkt. Daher /(1570) mußte eben der mechanische Materialismus die menschliche Geschichte aus sich auslassen, während der historische Materialismus genau deshalb ein historischer sein kann, weil in ihm lauter »Interessen«, also lauter Willenszwecke Platz finden. So stark ist die Zweckkategorie subjekthaft bezogen, daß sie ja gerade dort ein Problem wurde, ja geleugnet worden ist, wo die historische Menschenwelt aufhört. So bereits in der Biologie, so - seit Galilei und Newton - in der Physik, so - bei Bacon wie Spinoza - in der Philosophie: Beurteilung der Dinge nach Werten, nach Teleologie insgesamt erscheint danach als pure Vermenschlichung (vgl. Spinozas Ethik I, Anhang). In der Tat setzt die »Anwendung« der Zweckkategorie auf die außermenschliche, gar anorganische Natur nicht nur eine tendierende Anlage, sondern eben wieder eine Art Subjektivität, obzwar als durchaus objekthafte Bestimmung, voraus. Wird dieser willenshafte Kern geleugnet, wie bei Spinoza, so gibt es folgerichtig keine objektive Zweckmäßigkeit; wird er aber der Natur supponiert, dann ist ihr Teleologie objektiv immanent. Ja selbst die täglich vor Augen liegende Tauglichkeit der meisten umgebenden Naturdinge, Träger für menschliche Güter, Werte, Zwecke zu sein: selbst diese Art Zweckdienlichkeit (unterschieden von objektiv-immanenter Zweckmäßigkeit) setzt, wenn kein Subjekt der Natur, so jene Art von Verwandtschaft in der riesigen Natur-Äußerlichkeit voraus, welche eine
ökonomisch-technisch-kulturelle Vermittlung mit der Subjektivität der menschlichen Bedürfnisse erlaubt. Dergestalt, daß der ausgesprochen subjekthaft-finale Teil der Natur, den man Menschenwelt nennt, mit dem subjekthaft-final unausgesprochenen Teil in ständigem praktischem Austausch steht und stehen kann. Bis zu der fundierten Hoffnung hin, daß auch die - gleich ihrem Subjekt - noch unausgesprochene Tendenz-Latenz der anorganischen Natur zu der der Menschenwelt so wenig disparat ist, daß sie mit ihr identisch werden kann. Überall geht so der Wert auf ein Begehren zurück, samt dessen subjektiv intendiertem, objektiv konkretisierbarem Wert-Zweck-Inhalt. Ist ein Ding gegeben, so ist es immer jemandem gegeben. Dieser jemand ist hierzu nötig, als einer, der nimmt und das Dargereichte, Vorliegende, vor ihm Liegende wahrnimmt. Wie /(1571) erst, wenn das Gegebene ein Gut ist, ein nahrhaftes, ein angenehmes, schließlich ein allgemein wertvolles. Und wie erst, wenn, wie in diesem Fall, das so Gegebene nicht nur genommen, sondern vorher erzeugt, mindestens herausgearbeitet werden muß. Dann gehen ihm sowohl menschliches Bedürfnis wie menschliche Arbeit unweigerlich voraus. Daß über den Geschmack nicht zu streiten sei, dieser Grundsatz hatte die Eigenschaft Gut auf rezeptive Weise subjektiviert. Aber mit dem Beginn der bürgerlichenNeuzeit trat nun auch die aktive Subjektivierung hinzu: durch den bürgerlichen Menschen als homo faber. Wert im allemal ursprünglichen Sinn ist das Maß, nach dem ein wirtschaftliches Gut zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse geeignet ist, beziehungsweise für geeignet gehalten wird. Aus diesem Gebrauchswert und nur aus diesem stammt sein gesellschaftlicher Tauschwert, sowohl im einfachen Tausch sein unmittelbarer, wie im Kauf und Verkauf sein vermittelter, der durchs abstrakte Geldmedium im Preis ausgedrückt wird. Nun aber verstärkte das Aufkommen der bürgerlichen Wirtschaft die ohnehin subjektiven Züge dieses ökonomischen Werts ganz entscheidend. Die Entobjektivierung der übrigen Werte folgte sinngemäß nach; sehr zum Unterschied von der Werttheorie der mittelalterlichen Gesellschaft. Das ging so weit, daß der Wert sogar völlig psychologisiert, folglich objektiv verabschiedet wurde. Dort nämlich, wo ausschließlich vom Konsumenten ausgegangen wird; hier werden der Gebrauchswert, erst recht der Tauschwert eines Guts lediglich von seiner Schätzung abgeleitet (am schärfsten in der Grenznutzentheorie). Wird freilich vom Produzenten ausgegangen, dann bleibt zwar der subjektive Ursprung des Wirtschaftswerts, aber mitnichten mehr als psychologistischer: Wert ist nicht Schätzung, sondern Arbeit. Man kann diese Definition eine objektiv-subjekthafte nennen, und sie hat zugleich einen Kampfakzent gegen die früher feudale, später bürgerliche Schicht der Drohnen. Adam Smith hatte grundlegend die in den Gütern enthaltene Arbeitsmenge als ihren «natürlichen« Wert bestimmt. Objektiv-subjekthaft ist dieser Art auch die Vollendung der Smithschen Arbeitswerttheorie durch Ricardo und vor allem, mit der entscheidenden Entdeckung des ausgepreßten Mehrwerts, durch Marx: Wert ist /(1572) »verdichtete Arbeit«, Maß des Werts ist die »gesellschaftlich (das heißt unter den gesellschaftlich-normalen Produktionsverhältnissen) notwendige Arbeitszeit«. Nur die »in den Waren vergegenständlichte menschliche Arbeit « ist bei Marx die Macht, welche »den vorgefundenen Naturprodukten einen Wert im ökonomischen Sinne gibt«. Sinngemäß freilich bezieht sich diese Definition nur auf den Warenwert, also ökonomischen Tauschwert, nicht auf den Gebrauchswert, und Marx hat sie vor allem auf die kapitalistische Wirtschaft bezogen (deren Reichtum aus Waren besteht). Die Werttheorie der mittelalterlichen Gesellschaft, als eine ohne homo faber und mit verhältnismäßig unentwickeltem Tauschverkehr, war daher bezeichnenderweise fast rein objektivistisch. Heute noch wird vom Heizwert der Kohle, vom Nährwert des Getreides gesprochen, doch nicht, als gehöre der Nährwert zur Botanik, der Heizwert (von der Verbrennungstemperatur verschieden) zur Mineralogie. Für Thomas dagegen ist diese »utilitas« wirklich eine objektive Eigenschaft: Gott hat sie in seiner Schöpfung den Dingen mitgeteilt, im Hinblick auf den Gebrauch durch Menschen. Ein Subjektives des Werts liegt hier einzig in der Preisbildung, und zwar ein Subjektives der bloßen Normung im Kauf und Verkauf. Und auch diese Norm war von Gott eingeschrieben, als »pretium justum«, mit einem Gesolltsein: der gerechte Preis ist so hoch wie die handwerkliche Arbeit und ihre Kosten, die für die Herstellung des Produkts aufgewandten. Aber der eigentliche Wert selbst, der Gebrauchswert, lag objektiv fundiert in den Früchten der Erde; auf der Subjektseite des Werts lag dann wenig mehr als seine Hinnahme, seine durch etwas handwerkliche Nachhilfe ermöglichte »fruitio». Und das alles in bruchloser Staffelung bis zur Teilhabe, zur nicht mehr ökonomischen Teilhabe an immer höheren Werten, hinauf bis zum göttlichen Urquell aller Werte, als dem höchsten Wert und Gut. Eine fast rein objektiveZweckwelt liegt hier also vor, zugleich eine, die als so objektiv-real ausgegeben und hypostasiert wird, daß die Menschen sie wesentlich nur zu empfangen, nicht erst zu erarbeiten oder auch nur herauszuarbeiten haben. Wie letzteres eben dem bürgerlichen Menschen der Neuzeit so selbstverständlich war, dem homo faber mit immer weiter entfesselten Produktivkräften. Ja, die /(1573) Reduktion auf das erzeugende Moment (in der Arbeit) verhalf und brachte dazu, noch mehr als den Tauschwert, nämlich alle Qualitäten, auf die subjektive Seite zu schlagen. Qualität insgesamt galt als
subjektiv, die vom Menschen unabhängige Außenwelt wurde wertfrei quantifiziert. In der Welt Galileis und Newtons, vor allem Keplers bleibt gewiß noch eine Art Wertglaube an objektive Schönheit und Harmonie, aber Finalität war nicht mehr in dieser Harmonie, folglich auch keine objektiven, auf einen Endzweck von Mensch und Welt hingeordneten Werte. Rebellionen gegen die totale Mechanik fehlten nicht, vor allem nicht in Deutschland, das ökonomisch-sozial wie ideologisch viel länger und tiefer als Italien, Frankreich, England dem Mittelalter verbunden blieb: Leibniz wie Hegel haben ihr Weltbild durchaus werthaft und objektivteleologisch aufgebaut. Aber beide Male, charakteristischerweise, nur noch als Arbeits-Weltprozeß, nicht mehr wie bei Thomas als eine gestaffelte Güter-Auslage oder Wert-Kathedrale, in die die Menschen gleich Teilnehmern und Beschenkten eintreten. Die Wendung zum homo faber zeigte allerdings in der Folge für ihn selber zweierlei Aspekte auf seine Stellung in der Welt: einen negativ-verarmenden, einen positiv-enthusiastischen. Und beides in Ansehung der bewußt gewordenen Arbeit und ihrer Werterzeugung, weit über den Begriff der bloßen Tauschwerte hinaus. Der negative Aspekt zeigt: es wird den Menschen nichts geschenkt, sie müssen sich alle Güter erst erarbeiten, es ist ihnen kein auch nur halbwegs fertiger Tisch gedeckt. Sie sind zwar in der Welt nicht allein, im Gegenteil, gerade die Erzeugung von wirtschaftlichen Gütern geschieht im notwendigen Stoffwechsel und Austausch mit der Natur, aber das Dasein der Rohstoffe und ihrer Tauglichkeit zur Verarbeitung wirkt nicht mehr vorgesehen, sondern mehr als glücklicher Zufall. Dies Einsamkeitsgefühl kann sich in den philosophischen Weiterungen einer subjektivistischen Wertlehre ganz gewaltig steigern, nämlich bis zum Riß zwischen menschlichen Zweckreihen und eben einer als völlig zweckfrei gedachten Natur. Die menschlichen Strebungen fallen dann außerhalb ihres eigenen kleinen Kreises ins Nichts; das wirkt, wie Voltaire einmal sagte, als würde einem Schwimmer im Ozean zugerufen, es gäbe kein Festland. Oder wie Nietzsche diese völlige Anschluß- /(1574) losigkeit der Wertwelt ausdrückte: »In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der >Weltgeschichte<: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gehirn, und die klugen Tiere mußten sterben« (Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, 1873). Die Werke und Werte des homo faber werden so letzthin ephemer, es rettet sie kein objekthaftes Gegenbild vor der Kürze und verschwindend kleinen Schmalheit des Menschentags. Ganz anders jedoch wirkt der positive Aspekt der aufs Subjekt bezogenen Werttheorie, der auf Produktion gestellten: nichts ist dann mehr fertig und in fixen Packungen vorgeordnet, der Mensch selber baut sich in eine unwirtliche Welt nach eigenen Maßen sein Haus. Prometheus erlangt Platz, besonders dann, wenn nach dem Verschwinden Gottes und seines objektiven Weltwertbaus nicht Mechanik die einzige Alternative bleibt. Sondern wenn Naturanschluß immerhin als glücklicher Zufall bleibt, wo nicht gar als Allianz menschlicher mit naturhafter Produktions- und Zielbewegung, geeint im gleichen dialektischen Materialismus. Der Objektivitätsverlust fertig vorgeordneter Werte wird dann mehr als wettgemacht durch das Ende der theologischen Hypostasen, die den ganzen offenen Produktions- und Projektionsraum vor uns verstopft und ausgestopft hatten. Wert-Atheismus wird so dasselbe wie Wert-Utopie, und zwar wie produktive, vor allem im Bund mit objektiven Gebrauchbarkeiten, Veränderungsmöglichkeiten zum Wert. Die Reaktionen auf den eingetretenen Nicht-Thomismus der Werte können daher, statt resigniert, befreit-befreiend sein, und sie waren beides. Nicht einmal Agnostizismus samt mythologischen Resten verhinderte den hier zuständigen Mut, wenn Glaube an Erzeugung herrschte. Wonach der homo faber Kant ihn folgendermaßen ausdrückt: »Da wir, mit aller Anstrengung der Vernunft, nur eine sehr dunkle und zweideutige Aussicht in die Zukunft haben, der Weltregierer und sein Dasein und seine Herrlichkeit sich nur mutmaßen, nicht erblicken oder klar beweisen läßt, dagegen das moralische Gesetz in uns, ohne uns etwas mit Sicherheit zu verheißen oder zu /(1575) drohen, von uns uneigennützige Achtung fordert, übrigens aber, wenn diese Achtung tätig und herrschend geworden, allererst alsdann und nur dadurch Aussichten ins Reich des Übersinnlichen, aber auch nur mit schwachen Blicken, erlaubt; so kann wahrhafte sittliche, dem Gesetz unmittelbar geweihte Gesinnung stattfinden, und das vernünftige Geschöpf des Anteils am höchsten Gute würdig werden, das dem moralischen Werte seiner Person und nicht bloß seiner Handlungen angemessen ist. Also möchte es auch hier wohl damit seine Richtigkeit haben, was uns das Studium der Natur und des Menschen sonst hinreichend lehrt, daß die unerforschliche Weisheit, durch die wir existieren, nicht minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zuteil werden ließ« (Kritik der praktischen Vernunft, Werke, Hartenstein, V, S. 153). Ja selbst bei einem so antijakobinischen Philosophen wie Franz von Baader findet sich folgende, mit Jenseiterei nur gemengte, nicht erschöpfte Konsequenz der Werterzeugung (contra fertig vorgeordnete Gelungenheit): »Es ist ein Grundvorurteil der Menschen, zu glauben, daß das, was sie eine künftige Welt nennen, ein für den Menschen erschaffenes und vollendetes Ding sei, das ohne ihn besteht wie ein gebautes Haus, in welches der Mensch nur einzugehen braucht,
während doch jene Welt ein Gebäude ist, dessen Erbauer er selber ist und welches nur mit ihm erwächst« (Werke, 1851-60, VII, S. 18). Das und mehr sind die möglichen Wahrheiten einer subjektiven (objektiv-subjektiven) Werttheorie und ihrer Weiterungen; der Gewinn ist größer als der Verlust, der mit dem Untergang der objektiv-realen Wertlehre erwächst, als einer bereits fertig vorgeordneten. Vor allem, da das Härteste dieses Verlustes: das anschlußlos Ephemere der menschlichen Wertreihen, nur dem mechanischen Materialismus angehört, nicht - bei allen Mächten der Tendenz und der Dialektik der Natur dem dialektischen. Ebenso ist mit der objektivistischen Wertlehre nichts verloren als die Falschheit ihrer objektiv-realen Wertsetzungen selbst; denn diese, bis hinauf zum angeblichen Ens realissimum des Ens perfectissimum, sind mythische Hypostasen, keine Realitäten. Die Welt der Objektivität, als die der gewohnten Objektiviertheit und Gewordenheit, enthält keine Engelschar ausgeformt-realer Werte, Thomas /(1576) selber muß in diesem Bezug zugeben: »Res nobiliores in mente quam in se ipsis.« Auch die Hierarchie der Werte, die kraft ihrer Bezogenheit aufs höchste Gut unzweifelhafte, fällt keineswegs mit dem fertigen Stufenbau zusammen, worin der Mensch, wenn er nur willig steigt, alle seine Ideale als Realitäten vorzufinden meinte. Das ist so unwiederbringlich dahin, wie es in der objektiven Wirklichkeit nie gewesen war: der Stufenbau liegt einzig in objektiver Utopie vor, in prozessualer Anlage. Was die Welt enthält, ist und bleibt bis auf weiteres alliiertes Potential in Wertmaterie, nicht mehr, freilich auch nicht weniger. Sie enthält das Material dazu, die Zeit und den Raum, dies Material zu bearbeiten, den Menschen an ihm zu äußern und zu naturalisieren, die Natur an ihn mit der menschlichen Geschichte zu vermitteln und zu humanisieren. Die Welt enthält so viel mehr als die abgeschlossen-reale Wert-Statik, wie sie die mittelalterliche Gesellschaft aus sich selbst in die Natur und eine mythologische Übernatur reflektiert hatte. Statt dieses Stillstands enthält gerade auch das Wertmaterial der Welt seine mit der menschlichen Arbeit alliierbare und noch nicht vereitelte Tendenz, sich auszuprägen, die Latenz seines Kern-Inhalts herauszugeben. Wie sich nach Marx nicht nur der Gedanke zur Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit zum Gedanken drängen muß, wenn ein Plan gelingen soll: ebenso ist jede Wertbildung auf die Tendenz-Latenz in ihrem Material angewiesen, und ebenso ist-statt toter Mechanik, aber auch statt hypostasierter Wertgötter diese Tendenz-Latenz im Weltmaterial vorhanden. Das Ende der Latenz im positivst-möglichen Sinn ist das höchste Gut, und es wäre eben keines, wenn es, in seiner höchsten Subjektivität, nicht auch höchste Objekthaftigkeit in spe hätte, sowohl als Reichshaftigkeit wie als vollkommene Materialität. Erst in dieser ist es konkret; erst in dieser kann das Desiderium das Überhaupt seines Intendierens finden und an ihm aufhören; erst in dieser gewinnt die Subjektivität, die allemal das unerfüllte Daß zum Grund und Inhalt hat, die Greifbarkeit dieses Inhalts. Zum höchsten Gut gehört so sehr wesentlich sein Da-Sein, daß es niemals in bloßer Innerlichkeit, stets auch in herausgestellter, objekthaft gelungener Äußerlichkeit eines sein kann. Um als diese freilich ebenso am befreiten Subjekt zu verschwinden, wie die Subjektivität am /(1577) unentfremdeten Objekt verschwindet: die subjektive wie die objektive Werttheorie hört, gleich dem gesamten voneinander noch abgehaltenen Subjekt-Objekt-Verhältnis, am höchsten Augenblick des höchsten Guts auf. Also in Konsequenz: Das Weltmaterial des Besten, dieses einzig Wahre an der objektiven Werttheorie, ist die utopisch-latente Materie des entdeckten Weltsubjekts. Der Ort des höchsten Guts selber bleibt jedoch auch während seiner Intention (wenn sie keine abgelenkte oder sich in lnadäquates vergaffende ist) stets in der Nähe: im Augenblick als dem Kern, worin Subjektivität und Objektivität in beiderseits verschlossener Durchdringung ebenso unentwickelt vereinigt sind, wie sie im real-möglichen höchsten Gut entwickelt aneinander das gleiche werden könnten. Item: alle Werte haben ihre Klimax bereits darin, daß in ihnen, je zentraler sie werden, der Abstand zwischen Subjektivität und Objektivität verschwindet. Die Hoffnung des obersten Werts oder höchsten Guts, dieses letzt denkbaren Grenzideals, enthält Selbst wie Welt, auf eine für alle anderen Güter utopisch richtunggehende Weise, aneinander erzogen und ausgeglichen. Der Tag des Nunc, die Präsenz des Präsens ist daher wesensmäßig ebenso die Welt als Frage und der (bevorstehende) Menschinhalt als Antwort wie der Mensch als Frage und der (bevorstehende) Weltinhalt als Antwort. Was alles das aufgedeckte Angesicht oder Humanum betrifft, ja dieses als das letzte Potential zum Wert unter allen äußeren Tauglichkeiten denkbar macht. Schwebung und Strenge im Bezug aufs höchste Gut (Abendwind, Buddha-Statue, Reichsfigur) Es gibt einen Zug nach innen, der sehr lange offen bleibt. Wird alles draußen schlecht, so hält sich der Mensch, der das wahrzunehmen glaubt, doch nicht für selber schlecht. Er wird sich im Gegenteil als der einzig Rechte vorkommen, vielleicht noch, wenn er nicht allzu selbstgerecht ist, mit einigen Freunden dazu. So scheint das Innere als ein Ort, worin werthaftes Dasein sich leichter oder länger erhält als im ebenso
spröden wie anfälligen Draußen. Stürmt es vor dem Fenster, buchstäblich oder übertragen, so ist nicht nur das Zimmer, auch das sogenannte Herz /(1578) ein guter Behälter für Wärme. Auch ist es besonders wahr, daß die schöne Seele nur in sich eine schöne ist, in dieser Selbstpflege glimmt und besteht ihr Schmuck. Aber sosehr sich auch das Herz und sonstige Gefühl zur Flucht und Zuflucht anbieten, sowenig kann und will gerade der Wert darin bleiben. Denn selbst wo sein bloßes, willenloses Gefühl nicht geneigt und fähig ist, die Dinge zu verändern, so meint es sie doch zu überholen, zu überleuchten, und dergleichen bleibt nicht innen. Sei eine Seele noch so sehr in sich selber verzweifelt oder hoffnungsvoll, sie findet sich sogar lyrisch nicht allein, findet sie doch draußen durchaus November oder März. Sie findet sich auch in härteren Formen ihres Traums nicht mit sich und ihresgleichen allein, es gibt außerhalb des Menschen neben dem atmosphärischen Schweben auch genug strengen Zug, ja Gestalt, die Werthaftes zu bedenken gibt. Und sogar im sogenannten Toten, also in dem Menschenfernen, oft noch mehr, nämlich erhabener als in lebendigen Formen. Nur deshalb, weil auch draußen ein werthaft Bedeutendes umgeht, ein dazu so Taugliches wie selbst Fähiges, konnte der wertsüchtige Mensch, statt nur in sich selber zu seufzen oder zu existieren, auch durch die Blume reden oder durch strenge Gesten kristallhafter Art. Er kann sich äußern, und das Letzte, worin er dieses tut, geschieht nicht bloß aus eigenem geformtem Stoff, sondern auch aus dem bereits Äußeren selber, das er ergreift, das ihn ergreift. Was wertvoll ist will verzehrt werden, und nur das Beste dämpft den Hunger gänzlich. Zu diesem Besten hilft und arbeitet aber das Draußen mit, gibt ihm das Bild, das fließende wie dingliche. Nun gibt sich gerade das letzthin gemeinte Ding zugleich als schwebend und als streng. Es kann und muß schweben, weil es noch nirgends anders als im Stoff der Frage vorhanden ist. Es kann und muß aber auch das Härteste sein, weil die Frage und ihre Ahnung unnachläßlich auf das Eine, was nottut, gerichtet ist. Wird das Schwebende vernachlässigt, so betrügt man die Härte; denn diese ist noch nicht entschieden, sie braucht noch die suchende, obzwar streng abzielende Frage. Wird aber das schlechthin Behauptete, ja Stahlharte im Ja des guten Wesens vernachlässigt, so betrügt man es erst recht: denn Dauer, Einheit, Endzweck sind nicht Wind, sondern Zahl, Maß, Gewicht. /(1579) Doch eben sind sie, rebus sie fluentibus, nur als unentschieden vorhanden oder im wehenden Zustand des Rätsels. Hier wohnt der Zustand der metaphysischen Schwebung; ihr liegt Schwärmen zugrunde, aber verantwortliches und so betroffen-betreffendes. Die Formen dieses Schwärmens sind lyrisch, nicht nur als ichbezogene Aussagen, mit gestaltetem Gefühl oder mit: »Gefühl ist alles«, sondern ebenso als objekthaft genau, mit genau angegebener Rätselrede tief im Objekt. Die Strecke zwischen Mensch und Welt, besonders Abendwelt, ist beiderseits, von Mensch und Welt, zueinander hin begangen, und es schauert auf ihr von entlegenem Flüstern. So am präzisesten bei Kierkegaard, dem Existenzdenker, der nicht nur am Menschen einer ist. Er gab der Schwebung eines Letzten im Drinnen wie Draußen folgendes unvergeßliche Beispiel: »Und der Abschied des Abends vom Tage und von dem, der den Tag erlebt hat, ist eine rätselhafte Rede, seine Erinnerung gleicht der Mahnung einer sorgsamen Mutter an ihr Kind, zu rechter Zeit nach Hause zu kommen, aber seine Einladung, selbst wenn der Abschied an solchem Mißverständnis keine Schuld trägt, ist ein unerklärlicher Wink, als sei die Ruhe nur zu finden, wenn man draußen in der nächtlichen Zusammenkunft, nicht mit einem Weibe, sondern weiblich mit dem Unendlichen bleibe, überredet vom Nachtwind, wenn er einförmig sich selbst wiederholt, wenn er Wald und Wiese durchsucht und seufzt, als suche er etwas, überredet vom fernen Widerklang der Stille in sich selbst, als ahne sie etwas, überredet von der erhabenen Ruhe des Himmels, als sei es gefunden, überredet von der hörbaren Lautlosigkeit des Taus, als sei dies die Erklärung und Erquickung des Unendlichen, die der Fruchtbarkeit einer stillenNacht gleicht und nur halb verstanden wird wie die halbe Durchsichtigkeit des Nachtnebels« (Werke, Diederichs, VI, S.307). Ein Feld letzter Grenze ist mit diesen seltsamen Worten betreten, präzisest dämmernd wie ihr Gegenstand. Die rätselhafte Rede des Abends ist die Rätselrede des Etwas, das der Wind sucht, das die Stille ahnt, das die erhabene Ruhe des Himmels erfüllt, als sei es gefunden. Es ist das Etwas des Unendlichen, das in diesem Etwas, als Ding an und für sich selbst, ebenso aufhört, Unendliches zu sein, nämlich Heimat wird. Daher die Erinnerung, die hier ein Eingedenken ist; daher /(1580) der Vergleich dieses Eingedenkens mit »der Mahnung einersorgsamen Mutter an ihr Kind, zu rechter Zeit nach Hause zu kommen «. In Kierkegaards Worten ist das volle Verständnis eines nur halb Verstandenen, so wie »die halbe Durchsichtigkeit des Nachtnebels«, in dem das Überflüssige ausgeht, ein Ding an und für sich raunt und raucht. So also ist die hier zuständige, dem höchsten Gut metaphysisch zugeordnete Schwebung beschaffen, bestens beschaffen, als gleichsam weibliche Zusammenkunft mit dem Unendlichen, nach Hause Kommenden. Und es erhellt an dem von Kierkegaard gewählten Beispiel selber: die so bezeichnete Rätsel rede geht gerade deshalb, weil sie so dicht im Existieren bleibt, aus der bloßen Inwendigkeit dieses Sich-Befindens heraus. Sie entdeckt auch das Objekthafte: Nachtwind, Nachtnebel, Ruhe des Himmels als existentiell und den Menschen nicht als
einsam in der wie immer un-menschlichen Umwelt. Wäre er mit seiner Angst, seiner Krankheit zum Tode, seinem Wert- und Heilsverlangen lediglich in ein dazu gänzlich disparates Universum hineingeraten, bestünde in diesem nicht die gleiche Wurzel des unmittelbaren Existierens, an der er selber hängt, die er selber ist: dann wäre das von Kierkegaard notierte, schlechthin stellvertretende Abend-Ereignis unmöglich, sowohl mit seiner sich außen begegnenden Schwebung wie mit dem Inhalt der Schwebung, der nicht Innerlichkeit bleibt. Anima mea, diese Geburt und Zuflucht des seiner bewußten Existierens, lebt auch am Herd des Objekts; auch dort ist ihr Unendliches mit dem Endlichen zusammen. Wo es auf eine solche Art von Selbstbegegnung zugeht, hört das Sich-selbst-in-Existenz-Verstehen auf, Innerlichkeit zu bleiben, und die Außenwelt hört auf, gegen unsere dämmernde Wertangelegenheit unfreundlich, unwirtlich, unvermittelbar zu erscheinen. Ist im Inneren ein Universum auch, gar das einzige, worin der Mensch zu Hause sein könnte, so ist im Universum auch ein Inneres, und diese Korrelationsbegriffe (Innen-Außen, Subjekt-Objekt) verlieren bereits in der erfaßten metaphysischen Schwebung, nicht erst in der mystischen Blitz-oderAugenblickserfahrung, ihren distanzierten Sinn. Die Sprache des Sich-selbstin-Existenz-Verstehens, im Hinblick auf den verlorenen oder eben neu geahnten Grundwert, ist in der moralischen wie ästhetischen, wie religiösen Selbstberührung, Selbsterforschung allei- /(1581) mal lyrisch: aber es ist Lyrik über die Ränder der Subjektivität hinaus, ist Existenzerhaltung, Existenzformung mit einer Landschaft. Es ist diese äußere Landschaft selber, in der das Existieren über sich Aussagen findet, in der es Tauglichkeit zu Chiffern des gesuchten letzten Sinns und Wert finden mag. Der Mensch ist nicht anders in die Welt gelangt als die Dinge um ihn herum, das gleiche dunkle Daß prozessiert hier wie dort. Daher wird die Schwebung zum Letzten draußen beantwortet, atmosphärisch, wie es hierzu gehört, aber mit der sorgsamen Mahnung, zur rechten Zeit nach Hause zu kommen. Es ist die gleiche Mahnung und aufs selbe bezogen, die statt schwebend streng auftritt. Vor ihr vergeht der Hauch, und die Schwebung, obwohl gewissenhaft wirksam, tritt hier zurück. Das macht: jene Sehnsucht tritt zurück, die dem: »Gefühl ist alles« und seinem Nachhauseweg noch eignet. Das Triebhafte, Wehende, auch Lebendige zieht ab, wie es aus einem künstlichharten Endbild bei Stefan George abgezogen ist: «Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme, / Der garten, den ich mir selber erbaut, / Und seiner vögel leblose schwärme / Haben noch nie einen frühling geschaut.« Die Sehnsucht und ihr Leben müssen hier zurücktreten, denn mit ihr zusammen kann der Begriff des höchsten Werts, also der totalen Erfüllung, nicht bestehen. Nur für die niederen und die mittleren Wertziele gilt, was Schopenhauer, als Metaphysiker der grundsätzlichen Enttäuschung, so grundfalsch vom Willen überhaupt, gar des Überhaupt aussagt: »Dasselbe zeigt sich auch in den menschlichen Bestrebungen und Wünschen, welche ihre Erfüllung immer als letztes Ziel des Wollens uns vorgaukeln; sobald sie aber erreicht sind, sich nicht mehr ähnlich sehen und daher bald vergessen, antiquiert und eigentlich immer, wenngleich nicht eingeständlich, als verschwundene Täuschungen beiseite gelegt werden; glücklich genug, wenn noch etwas zu wünschen und zu streben übrigbleibt, damit das Spiel des steten Übergangs vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch, dessen rascher Gang Glück, der langsame Leiden heißt, unterhalten werde und nicht in jenes Stocken gerate, das sich als furchtbare, lebenserstarrende Langeweile, mattes Sehnen ohne bestimmtes Objekt, ertötender languor zeigt« (Werke, Grisebach, I, S.229). Nichts kann aber der /(1582) strengen Zielbildung, ja bereits den genau auf sie bezogenen Mittelzwecken fremder sein als dieses Sehnen ohne Ende; es gibt in der Landschaft des höchsten Guts keine Enttäuschung durch Erreichung, es gibt hier kein Problem der ägyptischen Helena. Es ist gerade das Kriterium des höchsten Guts wie der Mittelzwecke auf seinem genauen Weg, daß der Zauber der trojanischen Helena und der auf sie gerichteten Utopie nur vernichtet wird, indem er bei Erreichung, ja Annäherung überboten wird. Wonach keine Atmosphäre mehr konkurriert, kein feuriger Luftstreif, kein Idol mit dem Spruchband: Im Traum war's besser. Wonach aber freilich - dem bloßen Vorgefühl des höchsten Augenblicks, ja dem Fragmentarischen sogar im »Chorus mysticus« entsprechend - auch hier noch die Schwebung nur zurücktritt, nicht etwa gänzlich verschwindet; denn Summum bonum ist auch in seiner strengsten Gestalt nur erst als Frage vorhanden, als Chiffer, die zu ihrer Lösung dämmert, nicht als diese Lösung selbst. Es gibt in Ansehung des Dings, über das kein anderes geht, außer der lyrischen Weise eine plastische, außer dem Zustand der metaphysischen Schwebung eine Figur der metaphysischen Härte: doch diese ist, als vom gleichen ungekommenen Inhalt, nicht weniger utopische, wenn auch geformte Verhülltheit. Wie die Mahnung, nach Hause zu kommen, bei Kierkegaard den festen Punkt im Wehenden bezeichnet und nicht verliert, so fehlt umgekehrt den wirklich versuchten Figuren der Vollendung nie die halbe Durchsichtigkeit des Nachtnebels, in der Kierkegaards Schluß-Gesicht sich so objektiv verschleiert. Der utopische Archetypus des positiv Endgültigen wirkt in allen seinen historisch erschienenen Gestalten als Geheimnis; die Schwebung wird darin zur offenbaren Verschlossenheit. Alle Zeichen dieser Art nehmen an Georges situationslosem Garten teil, erst recht -
weniger preziös und wahrer - an diesem Winterbild, wie es der späte Hölderlin ordnet: »Die Ströme sind wie Ebenen, die Gebilde / Sind auch zerstreut erscheinender, die Milde / Des Lebens dauert fort, der Städte Breite / Erscheint besonders gut auf ungemessener Weite.« Aber der Städte Tiefe erscheint besonders gut auf eng gemessener Unendlichkeit: aus Gründen nun, die mit der Kultur der Ruhe zusammenhängen, hat darum nicht Europa, sondern der Orient /(1583) die hier intendierten »Siegel« eines Optimum zuerst entwickelt; Europa, mit seiner mannigfachen »Kunst Signatum», gipfelnd in der versuchten Signatur der höchsten Qualität, folgte dem erst nach. Grundzeichen dieser Art finden sich in Babylon als Stern, in Ägypten als das Dreieck; aber die stärkste geometrische Menschenform dieses intendierten Optimum stellt, auf unmißverständliche Weise, die Buddha-Figur dar. Sie wird hier, wohlverstanden, selber als nur intendierend, als bloßer Versuch erwähnt, doch eben als besonders deutlicher. Denn am Beispiel dieser Figur ist exemplarisch lehrreich zu erfahren, wie gerade das Ruhebild eines Gutgewordenen sich als menschliches in einem Siegel geometrisieren wollte. Desto eindringlicher, als das Buddha-Bild, wie kein anderes, zugleich als dasjenige gedacht war, durch das der Mensch sich der indischen Angabe des höchsten Guts annähern und entgegenformieren sollte. Dieses höchste Gut ist hier zwar einzig Nirwana, also jene zu sich selbst hypostasierte Seligkeit, worin weder Subjekt noch Objekt, weder Träger noch Getragenes sind, doch trotz dieser Subjekt-Objektlosigkeit und wegen ihrer grenzt Nirwana an das Reich, wo Subjekt und Objekt nur aufgehoben sind, indem sie sich abstandslos durchdringen. Im Lächeln Buddhas ebenso wie in den Einweihungslinien seiner Statue ist also auch von dieser Seite noch durchaus anderes wie die Hohlraum-Geometrie eines weggenommenen Kosmos (vgl. Seite 1481): es ist der negative Ausdruck des höchst intendierten Positivum darin. Also tritt das Buddha-Symbol zwar selber negativ, doch darin behauptend und schlechthin trostreich auf, eine Figur des extremsten Ruhe-Eingangs zum höchsten Gut. Mit Yoga-Stellung als Modell: dem Yogi ist das Götterbild ein Instrument (yantra), durch welches Einheit zwischen Gott und Mensch hergestellt wird; so gibt es nicht nur menschenähnliche Yantras, sondern vor allem auch reich geometrische und lineare, in Gestalt von Diagrammen, welche die Verhältnisse im Himmel (devachan) versinnbildlichen sollen. Buddha war kein Yogi, hat die Yoga-Technik abgelehnt, die Hetäre kann seinen Weg so gut gehen wie der Büßer: aber die Buddha-Statue, deren früheste erst im ersten vorchristlichen Jahrhundert erschien, nahm die Yantra-Einigung auf. Von daher also die Strenge in höchster Milde, eine Strenge, /(1584) die sich so bedeutend von den gleichzeitig auftretenden Götterstatuen der brahmanischen Religion abhebt. Von den dreiköpfigen und vierarmigen Schivas, die im zweiten nachchristlichen Jahrhundert wieder vordrangen, gar von den überquellendorganischen Vischnu- und Schiva-Tempeln der indischen Spätzeit, als alle die vielverschlungenen Wirrsale der hinduistisch erneuerten Götterlegende auch plastisch wucherten (Tempel von Madura). Dagegen steht die Buddha-Statue als eine andere Welt, so durchdringend und so sehr Konzentration aufs Eine Notwendige, daß sich ihre Ruhe am Anfang auch noch der hinduistischen Kunst mitteilte (so ihrem größten Denkmal, dem dreiköpfigen Schiva im Felsentempel von Elephanta). Erst im zweiten nachchristlichen Jahrhundert (Buddha-Statue von Mathura) wurde das Ruhesymbol des Vollendeten in seiner klassischen Urform ausgeführt, erst in der Kunst des Gupta-Reichs, vom vierten bis sechsten nachchristlichen Jahrhundert, wurde die Urform gänzlich geschlossen in Dreieck und Kreis eingezeichnet. Und zwar tritt diese Figur eines indisch gefaßten Summum bonum in doppelter Gestalt auf, je nachdem, ob das indisch Vollendete noch den Menschen zugekehrt ist oder aber in sich selber wohnt. Den Menschen zugekehrt ist Buddha als Lehrer, stehend, in frontaler Haltung, die rechte Hand im »Siegel der Schutzgewährung« erhoben; diese Gebärde bedeutet: Seid ohne Furcht. In sich wohnend aber ist Buddha als Entrückter, in der Form der schwierigsten Ekstase, der apathischen: der Sitzende ist in ein Dreieck gefaßt, die Arme bilden um den Leib nochmals zwei Dreiecke, in der Höhe des Solarplexus ruhen beide Hände flach ineinandergelegt im »Siegel der Lehre«; diese Gebärde bedeutet, daß im Erleuchteten das Rad der Lehre sich um sich selber dreht. Das ist die Buddha-Figur oder das indische Erfüllungssiegel des letzten Wunschs: keinen Wunsch mehr zu haben. Es überrascht nicht, daß diese sinnfälligste Chiffer von Heil, wenn auch von noch abstraktem, sich an der dialektischen Bruchstelle von Auszug und Einzug, von Zerfall und Bedeutung befindet: die wahrhaft metaphysische Strenge kodifiziert Aufgang, nicht Gewordenheit. Daher enthält jede Chiffer das Ultimatum Dämmerung, nicht nur nach Seite des Heraufkommens, sondern auch nach Seite des Vergehens von Gewohnt-Fixiertem; /(1585) daher gilt, was bei Gelegenheit der Musik zu sagen war: »Das Requiem ist die Geheimnislandschaft des höchsten Guts«, gerade auch für den gewaltigen Willkomm und Abschied, als der die Buddha-Figur - wie jede versuchte Endfigur sich darstellt. Der Buddha hat aber trotz des subjektlos-objektlosen Nirwana den Vorzug vor den anderen versuchten Endfiguren, daß er - im Nichts seines Alles - kein Perfectissimum bereits als seiendes setzt, als im Wesen vorhandenes, wenn auch hinter der Erscheinung. Wie das Wesen im Stern Babylon, im Dreieck Ägyptens, aber zum Teil selbst in den Ornamenten wahrhaft letzter Bedeutung, die nun
die Religionen des Exodus und des Reichs (Judentum und Christentum) hypostasiert-real zu setzen unternommen haben. Das Hypostasiert-Reale war hier der Schaden, den die Hoffnung durch überweltlich fixierte Zuversicht erleidet; das dergestalt als metaphysisch Figurierte, das nun zuletzt erinnert sein mag, berührte jedoch in seinen Inhalten, als biblisch intendierten, höchste menschliche Lebensgestalt, in utopisierter Wohnung, nicht gestaltlose Seligkeit des Verwehens. Zwei dieser biblischen Endfiguren gaben dem höchsten Gut den gleichzeitig geheimnisvollsten Ausdruck: der göttliche Wagen (Merkaba) und das himmlische Jerusalem. Die Wagenvision erscheint bei Ezechiel, in einem archaischen Komposit von Tieren, Cherubim, Rädern und dem Menschensohn (Ez. 1, 5-28; 10, 9-22). Aber diese wilde Vision, an die Mischfiguren Babylons, auch an altindische Phantastik erinnernd, wurde die Grundlage des höchsten Figurzaubers, zu dem das Judentum sich entschlossen hat. Bezeichnete ihm doch die Merkaba nicht bloß den Wagen, durch den der Mensch zu den göttlichen Wohnungen aufsteigen kann, sondern auch die Symbolfigur dieser Wohnungen selbst. Eine kabbalistische Schriftengruppe (Hekaloth), in den ersten Jahrhunderten nach Christus verfaßt, handelt ausschließlich vom Wagen: er sollte die Gestalt des letzten, nur noch vom Wesen durchwohnten Raums darstellen. Die Merkaba-Mystik als die des Omega machte so der Bereschith- oder Anfangs-Mystik, als der des bloßen Alpha der Schöpfung, den Rang streitig. Merkaba freilich kam nicht über esoterische Zirkel hinaus, über abergläubische Sophistik und unzugängliche Betroffenheit zugleich; wohl aber kam die Figur: Himmlisches /(1586) Jerusalem darüber hinaus, diese symbolisierte für Millionen in der Tat heiligsten Raum. Sie gab, wie erinnerbar, zusammen mit dem Salomonischen Tempel, ein architektonisches Einweihungs-Modell, gleichsam ein Vorbild für christliche Yoga-Stellung der Steine. Die Quadrate dieser Figur wurden, in einer umgekehrten Quadratur des Zirkels, wieder in einen Kreis verwandelt; woher die Definition, die bis zu Eckart und Cusanus reicht: »Deus est sphaera intelligibilis, cuius centrum ubique, circumferentia nusquam.«. An der Figur: Himmlisches Jerusalem verringerte sich ebenfalls das Hypostasiert-Reale, noch mehr als am Wagen; der Seinsindex dieser Figur wurde wachsend utopisch. Und zugleich sollte ihre Bildung über den Zusammenbruch der vorhandenen Welt zum Anbruch einer neuen an ihrer Statt hinausgehen; mit getauften astralischen Resten um lauter Gemeinde. Ein Kristall aus Seele ist in dieser letzten Versuchs-Figur des höchsten Guts gedacht, aber so, daß anima mea ebenso völlig geäußert ist und mit dem Inhalt einer verklärten Natur zusammenfällt. Darin kulminiert die nichtatmosphärische Strenge, in Ansehung der höchsten Figur: und sie muß wesentlich Figur sein, nicht Atmosphäre; denn das positive Ultimum ist ohne Wetter und Wolken als Situationslosigkeit intendiert. Da es noch nicht da ist, rührt sich vieles ums letzthin gemeinte Ding herum. Nicht nur das Ende gärt oder leuchtet vor, auch unterwegs gehen Zeugen um. Gefühl wie Strenge nehmen eine Fülle von äußeren Zuständen und Formen wahr, die sind, indem sie bedeuten. Indem sie Werthaftes bedeuten oder mindestens mit dem, was in Menschen davon lebt, merkwürdig zusammenklingen. Gerade hier kann nicht alles auf Einfühlung oder Auslegung subjektiver, also beliebiger Art zurückgebracht werden. Sondern lyrische wie plastische Gebrauchswerte dieser Art zeigen sich jeweils und besonders unausweichlich material mitbestimmt. Noch nie hat ein Maimorgen, auch bei noch so düsterer Stimmung des Erlebenden, traurige Empfindungen hervorgerufen, er erscheint ganz sachlich als heiter. So daß also selbst bei zuchtlosester Einbildung die Lyrik des Nachtwinds nicht mit der des Morgenscheins vertauscht werden kann oder auch die Chiffer der Bergspitze nicht mit der des Moors. Je /(1587) unabweisbarer und gegenständlich unverwechselbarer solche Einfühlung und Auslegung, desto sicherer ist sie gegenständlich gegründet. Vergebens wurde so beschaffenes Naturgefühl gänzlich subjektiviert oder auch zur bloßen Schönheit entspannt, nämlich im Illusionssinn, den das vorige Jahrhundert diesem Begriff gab. Unabweislich ist die Frage: was ist in einem Herbstabend sachlich-qualitativ darin, was geht an Qualitäten in den Jahreszeiten vor sich, in ihren Landschaften, in »des Frühlings holdem, belebendem Blick»? Was teilt sich in der Aura mit, die die Heide, der Hochwald, das Hochgebirge, das Meer so unverkennbar wie materiell verschieden um sich tragen oder die bis ins einzelnste verschieden ein ödes Haus umgibt, die Regennacht im Industrieviertel, die Smaragde und Türkise einer südlichen Brandung, das Tropenlicht? Mechanische Naturlehre hat die Farben, wie erst die Aura, aus ihrer Welt herausgeworfen, aber sie bleiben in dem riesigen Sektor der Welt, der nicht nur aus quantitativen Beziehungen oder Anfängen besteht, erhalten. Auch im noch so mechanistischen Betrieb der Naturwissenschaften haben mindestens die Geographie, zum Teil auch die Geologie Farbe, Wärme, qualitative Naturgestalten erhalten; sinngemäß waren diese Wissenschaften daher der Landschaftsmalerei (wie am deutlichsten bei Alexander von Humboldt) verpflichtet. Und sinngemäß stieg die bewußt qualitativ-werthafte Naturphilosophie, von der Art Goethes, Schellings, Hegels, am nächsten durch Farben, Bergwerke, Kristallformen in ihre Natur ein. In eine Natur, über die teils objektive Melancholie gebreitet zu sein schien, wie von einem Unglück her, auf Grund dessen sie da sei; und objektive Erwartung schien teils über sie gebreitet, nach einer Lösung und Verklärung hin, so wie ihr im Berginnern
der Goldbaum wachsen und aus der Schwere das Licht aufgehen sollte. Es war diese romantische Wert-Natur, von der Schelling sagte, sie sei »das erste oder Alte Testament, da die Dinge noch außer dem Centro und daher unter dem Gesetze sind«, aber auch: sie sei eine ältere Offenbarung als jede geschriebene, und sie enthalte »Vorbilder, die noch kein Mensch gedeutet hat, während die der geschriebenen ihre Erfüllung und Auslegung längst erhalten haben« (Werke VII, S. 411, S. 415). Und erst diese verhüllte, reich aufs Letzte /(1588) bezogene Wertgalerie machte außer Naturschönheit auch das Erstaunliche der Naturmythologie möglich, vor der das religiöse Selbst so lange versunken stand. Gewiß, über und über war gerade religiöse Naturbeseelung von schieren Anthropomorphismen erfüllt, weit mehr als die Wahrnehmungen von Naturschönheit: aber sowenig Naturschönheit bloß Illusion ist, sowenig ist das durch Naturmythologie Bezeichnete überall nichts als Aberglaube, wenn Naturmythologie in Sturmnacht, Gewitter, Frühling, Sternbildern (von der Erde aus gesehen) Ausbrüche oder Ordnungen zu vernehmen glaubte, die unabweisbar außerhalb des mechanischen Sektors wirken sollten. Rein mythisch, allzu mythisch geriet, wie gesehen, gerade diese Verschlingung von naturhaften und qualitativ-werthaften Kategorien bei Mani, in der Naturmythologie aus Gut-Böse, Licht-Nacht; aber sogar das organische All bei Leonardo, das musikhafte bei Kepler, das lichttrunkene bei Goethe ist ohne ein Fortleben von Naturmythologie undenkbar. »Tönend wird für Geister-Ohren / Schon der neue Tag geboren. / Felsentore knarren rasselnd, / Phöbus Räder rollen prasselnd; / Welch Getöse bringt das Licht! / Unerhörtes hört sich nicht«: Aurora öffnet hier für Goethe das Tor des Ostens, ein Symbol der Lichtgeburt schlechthin und nicht nur Netzhautphänomen, daraus entstanden, daß die niedere Luftschicht nur die roten Strahlen durchläßt. Für die Goetheverse und den Blick in ihnen reicht das bloße subjektive Netzhautphänomen nicht aus, mit nichts als Quantum außerhalb seiner; und ebenso reicht es nicht für Shakespeares unausweichlich zwingenden Einklang zwischen Handlungen und Landschaften. Wie wäre sonst dies so auffällig stimmende Naturwesen um seine Gestalten möglich, die Sommernacht um Romeo, die Sturmheide um Lear, der Nordwind und Winter um Hamlet, all der atmosphärische Nimbus und die spezifische Lokalität, genau hier dem Menschen- und Handlungs-Quale entsprechend? Um jedes Mißverständnis auszuschließen: die quantitative Grundlage in physischen Vorgängen ist von alldem unberührt, aber sie macht selbstverständlich nicht das Ganze der Natur aus, als einer qualitativ erfahrenen, gerade auch ästhetisch-qualitativ erfaßbaren. Am wenigsten ist die materialistische Auffassung verlassen, wenn die mechanisch-quantitave in ihren /(1589) Schranken oder auch in ihrem nur partiellen Sektor erkannt worden ist; denn keiner dialektisch-materialistischen Abbildung ist der Umschlag zu Qualitäten fremd. Auch dann nicht, wenn diese Qualitäten physikalisch nicht abbrechen, sondern eben noch in der ästhetischen Widerspiegelung Rechenschaft verlangen - mit ihrem eigenen Potential zu Wertqualität auch hier. Daher denn gerade Goethe - im Zusammenhang der Natur wie stets und ohne allen Dualismus - folgende Verbindung schlägt und kenntlich macht: »Wenn ich auch gleich für meine Person an der Lehre des Lukrez mehr oder weniger hänge und alle meine Prätentionen in den Kreis des Lebens einschließe, so erfreut und erquickt es mich doch immer sehr, wenn ich sehe, daß die allmütterliche Natur für zärtliche Seelen auch zartere Laute und Anklänge in den Undulationen ihrer Harmonien leise tönen läßt und dem unendlichen Menschen auf so manche Weise ein Mitgefühl des Ewigen und Unendlichen gönnt« (Briefwechsel mit F.Stolberg, 2.Febr.1789). Woraus aufs unverfänglichste erhellt, daß diejenigen unter den Künstlern, die man Landschafts-Humanisten nennen kann, dadurch nicht etwa subjektiv-idealistisch oder unverbindlich anthropomorphisierend sein müssen, sondern objektiv-konkreter sein können und oft sind, als alles Nur-Quantum in Natursachen, mit pars pro toto. Die riesig siedende Weltretorte verlangt, auch an ihren Früchten erkannt zu werden; das Gewissen dazu hielt im quantitativen Zeitalter die Naturkunst. Und weiter eben: der nicht bloß zu entlarvende, sondern in Wichtigem zu entschleiernde und zu berichtigende Hintergrund bleibt das einmal in Naturmythologien so Überseelte, wie zugleich doch in Bedeutung Gehaltene. Es überrascht so nicht, daß noch das Christentum Bestimmungen der Naturmythologie übernommen, nämlich getauft, mindestens umgetauft hat; sie liegen allen seinen Festen zugrunde. Das trotz des christlichen Kriegs gegen Naturvergötterung: dieser Krieg, als einer gegen den alten Äon und für den neuen, sah in der Natur Tendenzen und Elemente einer verklärten, also eine Bundesgenossin. So lehrte Augustin geradezu eine geformte Ahnung des Heils in Naturgestalten, besonders in schönen: »ut, pro eo quod nosse non possunt, quasi innotescere velle videantur« (De civ. Dei XI, 27). Schopenhauer nahm diese Lehre in seine Philo- /(1590) sophie der Kunst auf, Wagners Karfreitags-Theaterzauberbasiert auf ihr, aber die Kirchenfeste insgesamt waren schon vor Augustin so gelegt und gehalten, als ob die Natur bewußtlos sie mitfeiere. So den Johannistag in der kürzesten Nacht, so das volle Paradox des Weihnachtsfests in der längsten: um deren Mitternacht entspringt ja die neue Sonne. Obwohl mit Christus doch ein unnaturhafter Lichtbeginn intendiert werden sollte, einer, der dem Lauf der Welt entgegensteht, einer, der nach Chestertons schönem Wort den plötzlich einsetzenden mitternächtlichen
Glocken einen Klang verleiht gleich dem Donner der großen Geschütze nach eben gewonnener Schlacht, so wurde dennoch Weihnacht allemal in Verbindung mit der äußeren Natur erfahren, mit ihrem Lichtfunken in der äußeren Finsternis, als Heimlichkeit in der Landschaft selber. Der Advent, der vorhergeht, wurde bis auf die Zeit, wo die großen Städte die Natur aus dem Gesichtskreis brachten, als einer des natürlichen Kreislaufs zugleich erfaßt, und die Höhle von Bethlehem lag ebenso unter der alten Erde, als ihr Sprengraum, wie sie in einer neuen Welt lag, als ihr Geburtsraum. Wozu der Stern gehört, der über dem Stall der Höhle stillstand, ja der die neue Sonne symbolisiert, in deren Zeichen der Osterchristus auffährt. Denn auch das Osterfest wurde mitten in der Natur zu einer anderen Natur hin gefeiert; so geriet es als merkwürdig doppeltes Frühlings fest, als transparentes, in dem eben immer wieder die Natur zur Transparenz tauglich schien. Das Wintergrab springt, und die verdorrte wie die vereiste Welt erfährt jene Auferstehung, der im heidnischen Mythos der Vegetationsgott, im christlichen der siegreiche Jesus voransteht - ganz in der Natur, doch ebenso nicht mehr im Kreislauf der alten Natur. Die alte Christenheit hat derart nicht nur den Ostersonntag gefeiert, sondern ebenso, in einer Advents-Vigilie eigener Art, die vorangehende Osternacht: die Ankunft Christi zum Gericht wurde in dieser Nacht erwartet. Also wurde im christlichen Ostern zwar eine andere Aurora begrüßt als die der Frühlingssonne, doch ebenso eine, die sich der äußeren Naturzeichen, als wären sie selber symbolisch, bedienen konnte. Das Christentum, mit dem Pathos und Ausweg: anima mea, blieb gegen allen Astralmythos, als gegen das eigentliche Heidentum, unerbittlich, und trotzdem nahm es /(1591) solche Konkordanzen auf. Keineswegs nur als Kompromiß (gerade das Weihnachtsfest entstand sehr spät, ohne Zusammenhang mit vorderasiatischen Sonnenkulten, wurde erst seit dem vierten Jahrhundert in Rom gefeiert), sondern es wollte hier eine Bewegung und eine Latenz in der Natur bedeutet werden, in die das christliche Kalenderwesen hineingeht, an die es sich, weit überbietend und eschatologisch, anschließt. All das ist aber einzig dadurch möglich, daß Sturm, Winternacht, Aurora, Tageszeiten, Jahreszeiten, Landschaftsgestalten real-utopische Chiffern vorlegen, wonach Naturmythologie samt Christentum sich gehalten sahen, hier mit dem Menschen als Einfühlung, doch auch mit dem Menschen als Schlüssel, Natur humanistisch zu dechiffneren. Auch diese Chiffern aber haben alle die eines Summum bonum an der Spitze; in der Naturschönheit ordnete es ihre jeweils höchsten Bilder, in der Naturmythologie wurde es letzthin mit der neuen, der Geheimnis-Sonne der Mysterien umschrieben, »um Mitternacht in ihrem hellsten Schein«. Hier ist das Amt einer neuen, einer materialen Zeichenlehre, den so vorliegenden Bedeutungen und Leseversuchen endlich kritisch-adäquat gerecht zu werden, und zwar im dialektisch-materiellen Prozeß, dessen Quellen gerade die Qualitäts-Chiffern des Quellenden selber heraussetzt. Wobei das darin gegebenenfalls zu Deutende sich selber so wenig enthüllt ist, daß seine Lösung, statt in einer Hinterwelt oder Überwelt fertig vorzuliegen, als seine Zeit nur die Zukunft, als seine Gestalt nur die Realchiffer, als seinen Realitätsgrad nur die Latenz für sich hat. Aber Fingerzeige sind in Naturschönheit, Naturerhabenheit, Naturmythologie, in der Landschaft der Feste: und alle diese Zeugen und Zeichen konvergieren ebenfalls in Richtung auf eine Endfigur. Das Suchen nach den Zeugen von unterwegs ist gleichfalls nicht nur auf bloß gefühlte Spur begrenzt. Nicht auf Schwebendes in der Landschaft, nicht auf den entsprechenden état d'ame des Festes und seiner naturhaften Zeit. Sondern auch hier wird Strenge draußen beantwortet, genauso, als wäre der Naturschauplatz selber mit geprägten Zeichen beschrieben. Von denen jedes nicht umhin kann, menschliche Züge und Gesichte auf dem Weltboden auszustellen und vorzubilden. Diese Zeichen treten /(1592) als besonders lakonische Bilder auf und so, daß jedes dieser Dingbilder sich selbst und noch etwas in seiner eigenen Verlängerungslinie bedeutet. Das in der Verlängerungslinie Bedeutete liegt gleichnishaft, allegorisch, zuhöchst symbolisch in der eigenen Verlängerungslinie des Menschen. Sein Platz ist an den dialektischen Zerfallsflächen der Dinge, dort also, wo sie gleichsam Auszugsgestalten ihrer selbst werden. An dieser Bruchstelle wohnt bereits das Gleichnis, vielmehr dasjenige, was auf so merkwürdige Art die Gleichung eines seelischen oder sozialen Sachverhalts mit einem dinghaften ermöglicht. Es wohnt hier ausdrücklich die Allegorie, sofern sie einem »Sinn«, vorzüglich einem verständlich ausgemachten und doch von Bedeutungsrändern umgebenen, ein »Sinnbild« gibt. Und auch die Symbolik, die zum Unterschied von der mehrdeutigen Allegorie völlig einsinnig eine Realverhülltheit des Gegenstands bezeichnet, ist eben in der dialektischen Offenheit der Dinge angesiedelt; denn an diesen Bedeutungsrändern lebt das Fundierende jeder Realsymbolik: die Latenz. Und die Einheit für Allegorien wie Symbole ist dieses, daß in ihnen objektiv-utopische Archetypen arbeiten, als die wahren Realchiffern in beiden. Wie das in der «Grundlegung« (vgl. Seite 188) formuliert worden ist: »Archetypen dieser Art sind überhaupt nicht bloß aus menschlichem Material gebildet, weder aus Archaik noch aus späterer Geschichte; sie zeigen vielmehr ein Stück Doppelschrift der Natur selbst, eine Art Realchiffer oder Realsymbol. Realsymbol ist eines, dessen Bedeutungsgegenstand sich selber, im realen Objekt, noch verhüllt ist und nicht etwa nur für die menschliche
Erfassung seiner. Es ist mithin ein Ausdruck für das im Objekt selber noch nicht manifest Gewordene, wohl aber im Objekt und durchs Objekt Bedeutete; das menschliche Symbolbild ist hierfür nur stellvertretend-abbildlich. Bewegungslinien (Feuer, Blitz, Klangfigur und so fort), Gestalten ausgezeichneter Objekte (Palmform, Katzenform, menschliches Gesicht, ägyptischer Kristallstil, gotischer Waldstil und so fort) machen diese Realchiffer kenntlich. Ein scharf geprägter Teil der Welt erscheint derart als Symbolgruppe objekthafter Art, deren Mathematik und Philosophie noch gleichmäßig ausstehen.« Eine Tafel der Realsymbole wäre mithin eine aus geprägter Strenge, aus lauter /(1593) Charakteren, soweit sie sich innerhalb des dialektischen Prozesses (Aussage-, Gestaltungs-, Experiments) gebildet haben. Sie sind deshalb nicht durch ein mechanisch-nivellierendes Weltbild erreichbar, sondern teilen ihr Material mit dem des betroffentreffenden Naturgefühls, überhaupt der qualitativ-werthaften Vermittlung mit der Natur. Die objektiven Kategorien oder Daseinsformen erscheinen in dieser Tafel wiederum als das, was man in dem noch nicht auf Quantitäten reduzierten und seine Qualitätsbestimmungen auslassenden - Pythagoreismus der Renaissance Signaturen genannt hat. In ihrer Vielheit sind sie bloße Zeugnis-Gestalten von unterwegs, und als solche sind sie gänzlich in den dialektischen Prozeß versenkt, dessen Sich-selbst-in-Existenz-Gewinnen sie jeweils figurieren. Aber indem diese Realsymbole weit verbindlicher, weit berichtigter als die Fingerzeige in Naturschönheit, Naturmythologie, christlicher Festnatur und solchen Einschwingungen mehr den jeweiligen Gewinn der Sache selbst bezeichnen, in Notierbarkeit bezeichnen, sind sie auch weit unnachlaßlicher aufs positive Ultimum und seine gärend-latente Gestalt bezogen. Am Ende solcher Signaturen steht daher wieder das durch höchste Realsymbole, wie Reichs-Figur, wahrhaft konzentriertst Bezeichnete. Aber auch die gesamte Welt- Vielheit der Realsymbole zeigt auf solches Ithaka; in ihm endet das Inkognito des Fahrers wie auch des Ziels. Zahl und Chiffer der Qualitäten; Natursinn des höchsten Guts Die Natur in ihren schönen Formen spricht figürlich zu uns, und die Auslegungsgabe ihrer Ziffernschrift ist uns im moralischen Gefühl verliehen. Kant
Was meßbar ist, hört dadurch nicht auf, voll Klang zu sein. Der bloße Umriß, gerade dieser, kann ihn haben, so der des weiblichen Körpers. Jede Landkarte, mit Fluß-, Berg-, besonders Küstenlinien, gibt ein eigenes Leben wieder, ein teppichhaftes, abstraktes, von oben gesehenes. Der Teppich selber spricht lauter glühende Abkürzungen aus, morgenländische Runen, zu denen seine Blumen, Tiere, Plätze, Wege sich umgeformt haben. Und zum erstenmal seit langem machte der expressionistische, der /(1594) kubistische, dann der surrealistische Malversuch verständlich, was es mit desillusionierten Umrissen auf sich hat. Was es bedeutet, die Welt als einen Rebus zu sehen und sie in dieser Gestalt, nicht naturalistisch, wiederzuerkennen. Ineinander und Strahlenbüschel, Kurven und gestufte Farbflächen entdeckten einen anderen, qualifizierteren Raum als den erlebniswirklichen. Stück für Stück wurde der Alltagszusammenhang aufgestört, wurde jedem Ding, mit seiner Mithilfe, ein bildlich oder physiognomisch verratendes Wort in den Umriß oder in den Mund gelegt. Das genau dort, wo die sogenannte abstrakte Malerei nicht zu einem schlechthin gegenstandslosen Formspiel verkam, sondern wo sie Dinge auf Grundlinien brachte oder abkürzte. Und nicht als wäre dieses figurale Wesen auf Picassos Expressionismus beschränkt oder auch auf den geometrischen Cézanne (mit dem gewissenhaften Maß und Gewicht), von dem es unmittelbar herkam. Sondern sein näherer Ort ist, wie rechtens, der neupythagoreische, neuplatonische Figurglaube der Renaissance; er war naiv bei Raffael, sentimentalisch bei Dürer. »Die Welt ist voll Figur«, wie Dürer sagt, das lautet theoretisch bei Vasari so: »Die Zeichnung schöpft aus vielen Dingen ein Allgemeinurteil (giudizio universale), gleich einer Form oder Idee aller Dinge der Natur, die in ihren Maßen überaus regelmäßig ist. Daher kommt es, daß die Zeichnung nicht nur in den menschlichen und tierischen Körpern, sondern auch in den Pflanzen, Gemälden und Bildwerken das Maßverhältnis des Ganzen in bezug auf seine Teile sowie das Maßverhältnis der Teile zueinander und zum Ganzen erkennt« (vgl. Panofsky, Idea, 1924,S. 33). Dieses Maßverhältnis galt aber nicht nur als formal im neueren, allzu oft rein formalistischen Sinn, sondern als formal im älteren, Aristotelisch-scholastischen; es galt mithin als inhaltlich-substantiell. Zugleich als werthaft schlechthin; die in sich ausgewogene und doch bedeutungsvoll-humane Figur, die concinnitas bei Alberti, die divina proportio bei Pacioli, galt als ethisches Vorbild in der gesamten Renaissance, als eines, das sich vom erneuerten Pythagoras ableitet. Überflüssig zu erwähnen, daß sich ohne das Kalkulationsinteresse des erwachenden Bürgertums auch Pythagoras nicht erneuert hätte, aber darüber hinaus wirkte doch der Glaube an eine Naturschrift, in Zahlen und /(1595) Figuren, verblüffend fort, lehrreich nach. Es ist der Glaube, der die gleiche mathematische Naturwissenschaft befreit, die ihn nachher, durch Ablehnung aller Qualitäten,
szientifisch getötet hat. Trotzdem meint man fast ein Stück Cézanne, auch in der Tiefe den späten pythagoreisierenden Platon zu hören, wenn Galilei das Feld seiner Untersuchungen so signiert: »Das wahre Buch der Philosophie ist das Buch der Natur, welches immer aufgeschlagen vor unseren Augen liegt. Es ist aber in anderen Lettern geschrieben als denen des Alphabets; die Lettern sind Dreiecke, Quadrate, Kreise, Kugeln, Kegel, Pyramiden und andere geometrische Figuren.« Auch haben diese Figuren bei Galilei einen qualitativen Charakter nicht ganz verloren, und völlig lebt er in jenen deutschen Denkern der Renaissance, die nicht dem Kalkül, sondern der naturhaften Physiognomik das Ihre geben wollten oder konnten. Paracelsus suchte gar lauter gestalt-analogische Chiffern in den Gewächsen und Metallen, vorzüglich in den heilsamen; im weiteren Umfang nannte er das »die Kunst Signata«. Das ist eben jene, welche den Dingen, vor allem den Specificis ihrer Gestalten nicht gleichgültige Namen beilegt, sondern solche, die ihre »Natur« ausdrückten, zugleich die korrespondierende (feindliche oder übereinstimmende) Beziehung dieser »Naturen« untereinander, vor allem zu der des Menschen und seiner Teile. Mit dem Gedanken der Entsprechung oder Konkordanz der Signaturen trat in diese Lehre zugleich ein anderes, sehr altes Motiv ein: das des sympathetischen Zusammenhangs der »Naturen«, vermittelt durch das letzte Kind der Astralmythen, die Astrologie. »Was in der Erde Eisen«, sagt Paracelsus im Buch Paramirum, »das ist im Menschen Galle, am Himmel Mars«: solch astrologische Entsprechung gab hier den Ding-Archetypen ihren Zusammenhang, von oben nach unten, von unten nach oben durch den Kosmos hindurch, vielmehr den Grund zu ihrer objekthaft angenommenen »Analogie«. Doch ebenso bleibt jeder »Natur« ihre Selbständigkeit, als die ihrer Signatur, bei Paracelsus das Morphologische bald der Gattung, bald des individuellen »Charakters« bezeichnend. Jakob Böhme, in vielem sein Schüler, schreibt im Buch »De signatura rerum« gerade über solch Ausgeprägtes dieses: »Und ist kein Ding in der Natur, das geschaffen ist, es offenbart seine innerliche Gestalt /(1596) auch äußerlich. Als wir solches an der Kraft und Gestaltnis dieser Welt erkennen, wie sich das Wesen mit der Ausgebärung in einem Gleichnis offenbart, als wir solches an Sternen und Elementen, sowohl an Kreaturen, auch Bäumen und Kräutern sehen und erkennen.« Diese objektiven Signaturen sollten in den hebräischen Schriftzeichen, als den ältesten, am nächsten abgedrückt sein, aber auch in den damals noch unentzifferten (oder gänzlich phantastisch ausgedeuteten) ägyptischen Hieroglyphen. Zuweilen auch bot sich die chinesische Schrift, durch die Jesuiten bekanntgemacht, zu solchen Vermutungen an, desto leichter, als sie an Ort und Stelle, von chinesischen Mystikern, selber als Wesenszeichen, nicht nur als Dingoder Dingkomplex-Zeichen gefeiert worden ist. Unmittelbar geschah von den chinesischen Schriftzeichen (deren Verständnis bezeichnenderweise keine Kenntnis der chinesischen Sprache voraussetzt) ein Übergang zur Tao-Malerei, so daß es dem Sinn der Signaturenlehre nicht ganz fern war, wenn diese Malerei von Dschang-dsü, dem Mystiker, gerühmt werden konnte als »das Blütenland der Charaktere, worin die Wesen ausgedrückt sind«. Bekannt ist, daß von hier aus selbst Leibniz, in Verfolgung seines Plans einer »Characteristica universalis«, die chinesische Schrift auf solche »Zeichen-Kunst« hin werten wollte. Zurück zu Paracelsus und Böhme, so steht um deren Signaturenlehre die künstlich-umfänglichste überhaupt, mit direkt-neupythagoreischer Überlieferung, im jüdischen Mittelalter ausgebildet, und kam durch Reuchlin in die Renaissance. Es ist die Signaturenlehre der Kabbala, ausgedrückt in hebräischen Buchstaben und den ihnen entsprechenden Zahlenwerten. Buchstaben und Naturgestalten (besonders die in der Bibel genannten) hängen hier in der Kreation miteinander zusammen: wie die Gestalten der Buchstaben die inneren Kräfte des denkenden Geistes bezeichnen, so sollen die Naturgestalten die verborgenen Kräfte des Schöpfers verkünden. Daher das kabbalistische Lehrwort: »Binah (der göttliche Verstand), in ihr sind eingegraben die Wege der Buchstaben, die Gestalt aller Einzelheiten und Gattungen, die Gestalt eines jeden Krautes und so auch des Minerals; und die Wege dieser Bilder sind in den drei Buchstaben des heiligen Namens enthalten« (vgl. Molitor, Philosophie der Geschichte oder über /(1597) Tradition, II, 1834, S.249.). Das ging freilich aus seinem neupythagoreischen Emanationswesen in ebenso wüste wie pedantische Zahlen- und Buchstabenmystik über, doch immer steht auch hier Pythagoras dahinter. Hat doch seine Schule zuerst die Zahlen sowohl numerisch-quantitativ, als Einheiten des Fortzählens, wie vor allem qualitativ-werthaft gefaßt. Auf der qualitativen Seite wurden die Zahlen, je nachdem, ob sie ungerade oder gerade sind, als Werte oder Unwerte angesprochen: den ungeraden entspricht das Begrenzte, das Eine, das Rechts, das Männliche, das Licht, das Gute, den geraden das Unbegrenzte, das Viele, das Links, das Weibliche, die Finsternis, das Böse. Und nun begann erst in der Neuzeit der Graben oder das Schisma, das spätestens seit Kepler zwischen den beiden Seiten des Pythagoreismus eingerissen ist. Zwischen der quantitativen Seite, auf der sich die eigentliche, die seitdem allein wissenschaftliche Mathematik entwickelt hat, und zwischen der figürlich-qualitativen, symbolischen Seite, auf der die sogenannte »heilige Mathemathik« beheimatet sein sollte. Letztere war auf einer anderen gesellschaftlichen Grundlage gewachsen als auf der, die schließlich allein noch am Kalkulationsverfahren und der ihm entsprechenden qualitätslosen Welt interessiert war. Und
die »heilige Mathematik» hatte sich schließlich, was ihr bei Pythagoras nicht an der Wiege gesungen worden war, an eine immer abergläubischere Geisterwelt zahlenmystisch attachiert, an Real-Hypostasen von Spuk und nicht nur, wie ehedem, von GestaltIdeen. Geschweige daß das Programm einer individuierten und qualitativen Figurenlehre, gar einer Morphologie geprägter Formen, die lebend sich entwickeln, in eigener Mathesis legal geworden wäre. Nur als Erinnerung oder als unbegriffenes Feld ist derart das Zahl- und Figuren-Quale, diese andere Seite des Pythagoreismus, übriggeblieben. Als Feld, auf dem poetisch, bestenfalls poetisch, die Gleichnisse, Allegorien und Symbole stehen, sowie die Embleme der Bedeutung, in deren Gebrauch das Barockdrama exzelliert hatte (vgl. W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, 1928, S.155 ff.). Tieck, in seinem Märchen »Der Runenberg», schildert noch eine Art Mathesis der raunenden anorganischen Natur, als Tafel, die er auf dem Berg erhält: »Die Tafel schien eine wunderliche, unverständliche /(1598) Figur mit ihren unterschiedlichen Farben und Linien zu bilden... Er faßte die Tafel und fühlte die Figur, die unsichtbar sogleich in sein Inneres überging.« Novalis war nahe daran, der Signaturenlehre, auch in unpoetischer Gestalt, wieder auf die Spur zu kommen; er hatte nicht umsonst den seltsamen, nur scheinbar antihumanen, nur scheinbar astralmythischen Satz geschrieben: »Die Steine und die Stoffe sind das Höchste, der Mensch ist das eigentliche Chaos.« Und dieses Chaos sah er in naturhaften Linien auf phantastische Art sogar die Wege der Menschen betreffend: »Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehen; Figuren, die zu jener großen Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Kristallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilstäben um den Magnet her und sonderbaren Konjunkturen des Zufalls erblickt« (Werke, Minor, IV, S.3). Das ist Analogiebildung und kaum noch mehr, wenn auch eine unter lauter objekthaften Allegorien; es ist, wie jede Analogie, Rest einer Entsprechung zwischen Dingformen, wobei jedoch der methodische Hintergrund dieses Konkordanz-Gedankens zusammengebrochen ist. Denn dieser Hintergrund war, wie bei Paracelsus erkennbar geworden, die Astrologie, ein sympathetischer Zusammenhang der Signaturen; das hat sich erledigt. Aber nicht erledigt letzthin ist die gewaltige Physiognomik selbst oder jene qualitative und WertBedeutung des Pythagoreismus, die in der Renaissance noch einmal so mächtig erinnert worden ist. Auch diese, gleichsam numismatische Wertreihe erhält ihre Ordnung, statt durch Astrologie, durch den Bezug aufs Gestaltproblem des höchsten Guts. Und sowenig wie das höchste Gut selbst sind die qualitativen Signaturen anders intentionierbar und methodisch faßbar als durch ein Denken des Prozesses; sie sind nicht statisch. Und damit wiederum am Ende kein Mißverständnis entstehe (etwa durch den reaktionären Gebrauch der »geprägten Form« hervorgerufen, an dem weder Goethe noch Aristoteles, noch selbst Paracelsus schuldig sind): alle diese Probleme samt dem einer qualitativen /(1599) Ausdruckslehre von Naturqualitäten und Naturgestalten stehen selbstverständlich nicht konträr zu dem analysierbaren, dem kausal-dialektischen Geschehen, sondern mitten in ihm, sind ausschließlich Spannungs-Gestalten, dialektisch-materielle Prozeß-Figuren und haben um sich, vor sich die Unabgeschlossenheit aus Latenz. Ebendeshalb verlangt die objekthafte Strenge oder Figuren-Strenge letzthin eine wahrhaft figurierende Mathematik, als Erbe der anderen Welt des Pythagoreismus. Sie verlangt statt der einzig ausgebildeten qualitätsfreien Mathematik eine der qualitativen Entspringungen und Gestaltungen, ja latenter Endgestaltungen; denn weder Dialektik noch Prozeßfigur bestehen ohne Quale, Neues und latentes Ultimum. Aber die seitdem wissenschaftlich gewordene Mathematik ist - als Systemgruppe geschlossener Deduktionen - nicht an den Problemen des Werdens interessiert, trotz einiger dialektischer Züge in der Differentialrechnung. Sie ist seit langem nicht am Quale interessiert und auch nicht an seinem Aufbau, gar an einem hierarchischen, trotz einiger neuerer Beziehungen dieser Art (Konstruktion des Farbenkontinuums durch projektive Geometrie, sogar Anwendung von Gruppentheorie, bei Speiser, aufs Ornament). Übergänge von der wissenschaftlich gewordenen Mathematik zum Problem des Werdens (ausgedrückt in einer Nicht-Gleichung), sogar zu einer Welthierarchie des Quale haben allerdings immer bestanden; eindrucksvollst eben in der riesigen Klangfigur-Welt Keplers. Ist doch die Einheit von Gestalt und Wertsinn, sogar Werthierarchie bei Pythagoras vorgegeben, jene Einheit, welche den Gedanken der allegorischen Embleme, ja der objektiven Realsymbole immer wieder mit einer Signaturenlehre verbindet. Sogar mit dem Problem einer Art nichteuklidischen Signaturenlehre, dergestalt freilich, daß der Anschauungsraum, mit seinen Qualitäten und Gestalten, nicht völlig verlassen wird, sondern im Hinblick auf die utopischen Bedeutungsränder um alle Signaturen transformiert wird. Mit Bezug also auf das Gestaltproblem der höchsten Signatur, das heißt derjenigen, die das intentionierte Ende aller Bedeutungen signiert; dieses letzte in sich selbst Einschlagende und so nichts mehr Bedeutende, Un-Bedeutende regiert auch die Signaturenlehre als höchstes Gut. Das ist Gestaltlehre zum /(1600) höchsten Gut hin, ausgedrückt in Linienbildungen dialektisch versuchender,
utopisch-moralisch einleuchtender Art. Diese Bildungen suchten allesamt aus einem verworrenen Raum herauszuführen. Etwas ordnet sich in Klarheit, oft in ganz einfacher wie der eines Bogens, eines Kreises, oft in einer, die wie Licht durch Laubhaftes durchscheint. Sogenannte abstrakte Malerei, wie bemerkt, hat für solche vorhandenen oder im Vorhandenen andrängenden Gestalten wieder empfindlich gemacht. So spielhaft und im schlechten Sinn abstrakt solche Versuche auch zuweilen dreinsehen, sie saugen an der Sphäre, die von lebenden oder real-möglichen Chiffern erfüllt ist. Als Formbildung hat erst recht jede gelungene Kunst, weit davon entfernt, nur Kunstgenuß zu bieten oder zu sein, zum Problem der Chiffer beigetragen. Organisch und merkwürdig nahe zur Erlebniswirklichkeit in der griechischen Kunst, kristallartig in der ägyptischen, mit einer Art metaorganischem, überkristallhaftem Bausymbol in der gotischen. Keine auch nur in der Umkreisung verpflichtende Aussage liegt freilich vor, die mögliche Endfigur betreffend. Sondern lezthin drückt jede solche absolut versuchte Signatur ihren Inhalt nur erst privat aus, nämlich in bezug zu dem Übel, von dem Figura perfectionis utopisch frei ist. Wie im Leben das höchste Gut nur erst als Anti-Druck, Anti-Schicksal, Anti-Tod bestimmt intendiert werden kann, so erscheint es im Problem seiner Signatur, völlig entsprechend, nur erst bestimmt als Anti-Labyrinth. Das und nur das ist das Erreichte, das Gelungene, das absolut Sichere in allen seinen Umkreisungen, heiße es etwa, was extremsten Ruheversuch angeht, Buddha-Figur oder, was höchstes Leben angeht, selbst Reichsfigur. Jede Umkreisung eines Gelungenen ist so beschaffen, daß ihr Bedeutungsinhalt, obwohl er endlich stillen mag, doch in sich selber noch weiterdeutet; wie das von der christlichen Mystik (Bachs Johannes-Passion-Arie: »Betrachte, meine Seel«) in Gestalt der Himmelsschlüsselblume gedacht worden ist. Es sind das alles Heimkehr- und Heimats-Chiffern, versuchte Signaturen der Grund- und Hauptsache. Und die Natur, die mit Krankheit, Unfreundlichkeit, auch Disparatheit zum Menschen so vieles durchkreuzt, die fürs Christentum genau an der Stelle steht und die Stelle versperrt, wo das Reich (neuer /(1601) Himmel und neue Erde) hingehört, die gleiche Natur verweigert sich als Schönheit und Symbolik nicht, den Heimkehr-Chiffern äußere Objekte zu stellen, an den Chiffern material beteiligt zu sein. Sie vermag das, weil sie selber im Prozeß, nicht nur in der Statik steht und weil das Subjekt des Naturprozesses, sofern es nicht ein hypothetisches ist, zur vermittelbaren Umgebung des menschlichen Subjekts gehört. Die Natur vermag es vor allem auch deshalb, nicht nur in disparatem Querstand zu den menschlichen Zweckreihen zu stehen, weil sie alles andere als ein Vorbei ist oder ein sogenanntes Residuum zu der Vorgeschichte des Menschen. Sie ist nicht nur der Boden des Menschen, sondern auch sein währender Umkreis; sie ist erst recht keine ausgekochte Ruine, sondern viel eher Architektur für ein Drama, das noch nicht gespielt worden ist. In der bisherigen menschlichen Geschichte ist das Drama, das die Natur gänzlich zum Vorbei machen könnte, mindestens noch nicht zu Ende gespielt worden; wurde die menschliche Geschichte noch nicht hell, so durch sie erst recht noch nicht die Natur. Daher bleibt die Natur, die unvergangene, uns rings umschließende und überwölbende, mit so viel Brüten, Unabgeschlossenheit, Bedeutung und Chiffer in sich, statt Vorbei vielmehr Morgenland. Wenn sie den richtigen Ort versperrt und besetzt hält, denjenigen, den die christliche Wunschhoffnung Reich nannte, dann bedeutet das zugleich, daß sie sich an diesem Topos des höchsten Augenblicks befindet. In jeder Schönheit, jeder Symbolchiffer ihres De nobis res agitur hebt sich die Natur sowohl von ihrem Platz weg, wie sie ihn mit Unscheinbarkeiten, Erhabenheiten des Eigentlichen, das an diesen Platz gehört, wieder einnimmt. Das Eigentliche ist das höchste Gut, es ist die qualifizierteste Daseinsform des der Möglichkeit nach Seienden, also unserer Materie. Das Eigentliche dämmert so im gesamten Potential der Materie - hin zu einer letzten, als der adäquat qualifizierten, figurierten. Diese ihre noch nicht seiende Reichsfigur regiert, durch die großen Gefahren, Hemmungen, Umkreisungen hindurch, alle anderen eines guten Wegs, und in ihr ist es, der Intention nach, gestaltet wie Freude. Das sind die Grenzbestimmungen der Intention aufs höchste Gut und die Grenzbegriffe jedes Gedankens, der aufs Überhaupt des menschlichen Wollens /(1602) geht. Es sind ihrem Wesen nach gründliche Entlegenheiten, »den Juden ein Ärgernis, den Heiden eine Torheit«, aber dem Optimum zugehörig seit dem ersten Feuer, das auf der Erde angelegt, und dem ersten Ziel, das auf ihr ausgesteckt worden ist. 55
KARL MARX UND DIE MENSCHLICHKEIT; STOFF DER HOFFNUNG Es ist nicht wahr, daß die kürzeste Linie immer die geradeste ist..........Lessing Es genügt nicht, das Bestehende darzustellen, notwendig ist es, an das Erwünschte und an das Mögliche zu denken. Gorki
Die große Wahrheit unseres Zeitalters (mit deren Erkenntnis noch nicht gedient ist, ohne deren Erkenntnis aber keine andere Wahrheit von Belang gefunden werden kann) ist es, daß unser Erdteil in Barbarei versinkt, weil die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln mit Gewalt festgehalten werden. Brecht
Der rechte Schmied Vom bloßen Wünschen ist noch keiner satt geworden. Es hilft nichts, ja schwächt, wenn kein scharfes Wollen hinzukommt. Und mit ihm ein scharfer, umsichtiger Blick, der dem Wollen zeigt, was getan werden kann. All das aber tritt nicht zuletzt dadurch ins Freie, daß der Einzelne, der bloß Jeweilige sein sogenannt Je-meiniges nicht so wichtig nimmt. Soll heißen: nicht kleinbürgerlich wichtig nimmt, weder weitersehend noch weitersehen wollend als bis zu seiner Nase. Der so bloß enge Mensch kann sich zwar an gemeinsamen Vorgängen beteiligt fühlen, solange und soweit sie ihn selber zeitweise angehen. Doch ist das erledigt, so zieht sich der allzu Private bis auf weiteres wieder in sein Befinden zurück. Er legt die Karten des gemeinen Wohls, als eines ihm bloß äußerlich erscheinenden, auf den Tisch und bietet Feierabend. Aber nun wäre wieder dieser Typ kaum so /(1603) ohne seinen entgegengesetzten Bruder: den völlig betriebshaften. Wie er sogar, wider die Sache, nicht nur als bürgerlicher, als so entseelter und verdinglichter, noch vorkommen mag. Sein Selbersein geht dann nicht so sehr in einen kleinen engen Wigwam spießig oder auch snobistisch hinein und privat unter, es löst sich vielmehr in lauter äußeren Beziehungen auf. So kommt hier nun bloßer betrieblicher Schnellauf, wenn auch gegebenenfalls in öffentlichem Nutzen. Und weil dahin wenig Eigenes, Menschliches, Ausdrückliches mehr eingeht, sondern mehr nur geborene oder gemachte Null, so entsteht oft auch wenig wirklicher Nutzen. Denn eine Gruppe ist meist nicht mehr wert als diejenigen, welche sie bilden, und Geschäftiges, worin sich niemand bewegt, wird schließlich nur Wiederholtes, folglich Stockung. Gemachte wie freiwillige Nullen addieren sich nicht, und getretener Quark wird breit, nicht stark. Am schlimmsten, wenn eine Gruppe zwar halb rot geworden, aber in der anderen Hälfte ebenso kleinbürgerlich und diese andere Hälfte all die edlen Eigenschaften des Spießers überliefert, anerzieht und fortentwickelt. Da ist nicht nur die Liebe zum äußeren Kitsch, sondern noch bedenklicher würde die Erzeugung von menschlichem Kitsch, ja von Entartung menschlicher Beziehungen sein, mitten im Aufstieg zu den freisten und kühnsten Zielen. Die Bahn wird dadurch nicht gesperrt, gewiß nicht, aber sie wird erschwert und ist künstlich daran verhindert, eine so frische zu bleiben, wie sie es ist, und eine weithin anziehende. Daher werden geschulte Menschen, die rechten Schmiede unseres Glücks, sich umtun müssen, ohne daß sie sich verlieren. Und ebenso wieder betreiben sie das Ihre mit so gemeinsamem Willen und Blick, daß daran nicht nur das Ihre als Einzelnes, allzu Privates bleibt. So überzeugend gehen dann Kampf wie Hilfe an, und es findet sich weder bloß enges Befinden noch bloß leer Abgerichtetes. Wobei es zur befreienden Hilfe gehört, daß sie auch zu lächeln vermag. /(1604)
»Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«
Was hat solche, die es sozusagen nicht nötig hatten, zur roten Fahne geführt? Vielleicht das Gemüt, das, indem es vorhanden ist, sich vor dem Elend so vieler zusammenkrampft. Vielleicht das Gewissen, das wegen dieses Elends in einigen stillen Angehörigen der herrschenden Klasse schlägt, während die tätigen Teilhaber des Geschäfts sich den Profit ganz ungestört schmecken lassen. Vielleicht hat auch die Wissensgier dazu verholfen, daß mit dem Messer der wissenschaftlichen Analyse der Ast abgeschnitten wird, auf dem ein Jüngling oder ein Mädchen auskömmlicher Herkunft und Zukunft bis dahin gesessen haben. Freilich gewinnt man solche Art von Erkenntnis schwerlich ohne ein vorheriges sittliches Interesse daran, sie zu gewinnen. Erst recht zieht man aus dem Erkannten, wenn es lediglich kontemplativ gewonnen ward und weiterbesteht, keine tätigen, revolutionären Schlüsse. Sombart beispielsweise sagte einmal, wenn man ihn frage, ob er Sozialist sei, so gerate er in große Verlegenheit. Denn die Frage sei ganz doppelsinnig, je nachdem, ob sie das subjektiv Wünschbare oder aber das objektiv Unvermeidbare des Sozialismus betreffe. Im zweiten Fall sei Sombart, auf Grund seiner wissenschaftlichen Einsicht, leider Sozialist, im ersten Fall dagegen, wenn man nach seiner Haltung frage, sei er aus Bürgerlichkeit anti-rot durchaus - quod erat demonstrandum und von Sombart sehr bewiesen. Andererseits reicht aber auch das oben erwähnte Gemüt, sogar samt Gewissen und Haltung, nicht in allen Fällen zum Klassenverrat an den Wohlgeborenen aus. Marx selber wandte sich ja
in einem Rundschreiben gegen einen gewissen Kriege, der vom bloßen Herzen her, also schließlich doch gleich einem Wohltäter von oben herab, dem Elend Kampf ansagte. Ebenso wandte er sich gegen Krieges Erreger in diesem Punkt, also gegen den »liebesschwülen Gemütstau«, den Marx nicht nur bei den »deutschen Sozialisten«, sondern auch in manchen human gemeinten Partien Ludwig Feuerbachs vorfand. Wie ja denn Feuerbach selber der sozialistischen Bewegung, sogar der Revolution von 1848 ferngestanden hat, wenn er sich auch im /(1605) Alter zur Arbeiterpartei bekannte. Es gehört also mindestens ein Zusammenwirken von Gemüt, Gewissen und vor allem Erkenntnis dazu, um sozialistisches Bewußtsein gegen das eigene bisherige gesellschaftliche Sein abzuheben. Mit dem bedeutenden und kontrastierenden Effekt, das Bewußtsein einem so lange eigenen gesellschaftlichen Sein nicht mehr entsprechen zu lassen, so daß dann streckenweise der Zustand eintritt, wie ihn das »Manifest der Kommunistischen Partei« beschreibt und nun objektiv, nicht nur psychologisch enthüllt: »In Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozeß innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen alten Gesellschaft, einen so heftigen, so grellen Charakter an, daß ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt, der Klasse, welche die Zukunft in ihren Händen trägt« (Manifest der Kommunistischen Partei, Dietz 1950. 19). Allerdings mehrt sich mit diesem drohenden Abfall der besten jungen Intelligenz von ihrer Klasse, mit dieser besonderen Wirkung aus Ruinenblick, Zukunftsblick und Menschlichkeit, auch die beauftragte Abwehrbewegung dagegen. Die stärkste war der Faschismus, doch auch feinere Verneblungen fanden sich lange vor ihm, dann rund um ihn herum und steigen wieder in seiner Nachblüte. Sie alle haben die Antriebe zum sozialistischen Bekenntnis reaktionär abzulenken, und ist Marx trotzdem nicht sekretierbar, so muß er sehr verkleinert, besonders auch, incredibile dictu, revolutionsfrei gemacht werden. Etwa als eine Art herabgekommener Verwandter von Kierkegaard oder auch von Pascal; er ist dann nicht eigentlich »Wirtschaftsrebell«, sondern mehr als Stiller im Lande sehenswert. Wonach denn, selber ganz konsequent in der Abschirmung der roten Fahne, ein Existentialist namens Knittermeyer zu bekunden hat, daß man Marx nicht »gerecht« werde, »wenn man seine Leistung einfach mit dem belastet, was sich heute als kommunistische Ideologie in Szene setzt«. Und Heidegger selber, im lucus a non lucendo, der »Brief über den Humanismus« heißt, konnte mindestens in der Entnazifizierungszeit einen entmannten oder enthaupteten, doch trotzdem oder deshalb desto beschaulicheren Marx geradezu gönnerisch streicheln. Auch daraus aber geht hervor, daß die Affinität aus Gemüt, /(1606) Gewissen und objektiver Einsicht zugleich, mittels derer die Intelligenz so oft links überholte, Marx unüberschlagbar macht. Indem nämlich der unverfälschte Marx ein allzu sicheres Vorbild des roten Intelligenzwegs darstellt: es ist die sich tätig begreifende Menschlichkeit. Sie tritt bei ihm als eigenes, nirgends weiches Bemühen früh und sichtbar vor. Sowohl weil dieser Erregte sich selber als Mensch fühlt, wie weil die anderen ebenfalls Menschen sind und doch überwiegend als Hunde behandelt werden. Die sie so traktieren, werden deshalb in kein Erbarmen einbezogen, im Gegenteil; sie zu dulden, das wäre gerade unmenschlich an den Erniedrigten und Beleidigten gehandelt. Die »gedichtete Güte«, wie Münzer das an Luther nannte, der so zärtlich für die Herren alle Gewalt verurteilte, wenn sie nicht von ihnen selber ausging, ist fern. Ebenso ist jene unechte Art Friedfertigkeit fern, wie sie nach Marx zur Gallerte eines wahllosen Pardon gehört hat und weiter gehört. Denn sie hat zum Zweck, daß keine Entscheidungen fallen, die einer 1918 und dann erst recht 1945 partial besiegten Herrenklasse vollends lästigwerden könnten. Marx pflegt statt dessen keine allgemeine und abstrakte, sondern eine adressierte Menschlichkeit, eine, die denen zugewandt ist, welche sie einzig brauchen. Und gemeinsam mit Münzer nahm Marx auch die Geißel auf, womit Jesus die Wechsler aus dem Tempel herausgepeitscht hatte. Also zeigt seine Menschlichkeit, genau als konkrete, einen durchaus auch erbitterten Zug, das heißt, sie enthält im gleichen Akt je nach der Seite, wohin sie sich kehrt, durchaus so Zorn, wie sie Aufruf enthält und objektiv Rettendes sucht, findet, mitteilt. Auch im Elend sieht Marx derart nicht nur das Elend, nach Weise aller abstrakten Erbarmer und noch der abstrakten Utopisten, sondern das Empörende im Elend wird nun wirklich eines, nämlich aktive Kraft der Empörung gegen das Verursachende. Also wird das Elend, sobald es sich über seine Ursachen klar ist, zum revolutionären Hebel selber. Und die Menschlichkeit von Marx, die den Geringsten von seinen Brüdern zugewandte, bewährt sich darin, eben die Geringheit, die entstandene Nullität der meisten seiner Brüder aus dem Fundament zu begreifen, um sie so aus dem Fundament zu beheben. Der Nullpunkt äußerster Entfremdung, wie das Proletariat ihn /(1607) darstellt, wird nun zur dialektischen Umschlagstelle letzthin; gerade im Nichts dieses Nullpunkts lehrt Marx unser All zu finden. Entfremdung also, Entmenschlichung, Verdinglichung, dies Zur-Ware-Werden aller Menschen und Dinge, wie es der Kapitalismus in steigendem Maß gebracht hat: das ist bei Marx der alte Feind, der im Kapitalismus, als Kapitalismus schließlich siegte wie nie zuvor. Eben die Menschlichkeit selber ist der Entmenschlichung ihr geborener Feind, ja indem Marxismus überhaupt nichts anderes ist als Kampf gegen die kapitalistisch
kulminierende Entmenschlichung bis zu ihrer völligen Aufhebung, ergibt sich auch e contrario, daß echter Marxismus seinem Antrieb wie Klassenkampf, wie Zielinhalt nach nichts anderes ist, sein kann, sein wird als Beförderung der Menschlichkeit. Vor allem können sämtliche Trübungen und Abweichungen von unterwegs nur noch innerhalb des Marxismus reell kritisiert, gar behoben werden; denn nur er ist noch der Erbe dessen, was im früheren, revolutionären Bürgertum an Humanem intendiert war. Und nur er ist mit der Erkenntnis, daß die Klassengesellschaft, zuhöchst die kapitalistische, jede Selbstentfremdung verursache, zu deren eliminierbarer Wurzel vorgedrungen. Dergestalt sogar, daß in dem Maße, wie die eliminierende Macht des Proletariats erstarkt, die marxistische Menschlichkeit immer weitere Kreise ziehen kann; durchaus über die radikal Ausgebeuteten hinaus, durchaus zu allen hin, die am Kapitalismus gemeinsam Not leiden. Das Erzhumanistische sozialer Revolution hebt die Decke der Selbstentfremdung von der gesamten Menschheit schließlich weg. Genau das aber nur mit: »Krieg den Palästen, Friede den Hütten«, wie es der große Demokrat Georg Büchner formulierte, und mit der scharfen Philanthropie dieses Marxsatzes: »Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist» (Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie). Und zuletzt steht fest: Keinesfalls ist dieser materiale »kategorische Imperativ«, wie Marx-Halbierer behaupten, auf die Schriften des jungen Marx beschränkt. Keinesfalls ist an diesem Imperativ etwas zurückgedrängt worden, wenn Marx das- /(1608) jenige, was er früher »realen Humanismus« nannte, in die materialistische Geschichtsauffassung überführt. Schon 1845, in den »Elf Thesen über Feuerbach«, stellt These 6 bekanntlich fest: «Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« Noch früher, 1844, wird in der Vorrede zur »Heiligen Familie« übers gleiche Humanum recht materialistisch versichert: »Der reale Humanismus hat in Deutschland keinen gefährlicheren Feind als den Spiritualismus oder den spekulativen Idealismus, der an die Stelle des wirklichen individuellen Menschen das >Selbstbewußtsein< oder den >Geist< setzt.« Zwar tritt in späteren Schriften von Marx der Terminus Entfremdung, also die negative Folie zum Humanum, etwas zurück, doch nur als Terminus tritt die Entfremdung zurück und nicht als die vom Humanum gerichtete Sache. Das Humanum bleibt gerade in den späteren Analysen des proletarischen Arbeitstags und all des übrigen «Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse «,wie sie dem Proletariat geworden sind, als Richtmaß, Gerichtsmaß. Statt der vielen vorhandenen Beispiele sei nur ein besonders spätes und ebenso besonders schlagendes kenntlich gemacht: »Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also in der Natur der Sache jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion« (Das Kapital III, Dietz, S. 873).Und die »Entfesselung des Reichtums der menschlichen Natur«, auf dem Boden der beherrschten Notwendigkeit aufblühend: damit ist zweifellos »realer Humanismus« nicht zurückgedrängt, sondern genau als realer und nicht formeller erst auf die Füße gestellt. Menschlichkeit erlangt Platz in wirklich ermöglichter Demokratie; so wie diese selber den ersten humanen Wohnort darstellt. Also ist das Humanum, gerade auch als Fernziel in der gesellschaftlichen Tendenz, hier schlechthin regierend. Marxismus, recht betrieben, vom bösen Nachbarn tunlichst sich befreiend und entlastend, ist seit Anfang humanity in action, Menschengesicht in Verwirklichung. Er sucht, schlägt und befolgt den einzigen objektiv echten Weg dazu; so ist nur seine Zukunft gleichzeitig unvermeidlich und heimatlich. /(1609)
Säkularisierung und die Kraft, auf die Füße zu stellen
Menschliches muß an frische und starke Luft gebracht werden. Damit es gehe und aus der bloß inneren, lang und vergebens genug gepredigten Weise endlich heraustrete. Aber nun wird zuweilen gemeint, obzwar an mehr als verdächtigen Orten, daß dergleichen nicht Heraustreten, sondern Herabsinken sei. Was auf die Füße gestellt wird, ist dann sozusagen nur vom Gaul auf den Esel, dann auf den plebejischen Fußgänger gekommen. Gar es wurde von einem geweihten Raum respektlos heruntergebracht und »verweltlicht«. Letzteres wird nach seinem geschichtlichen Vorkommen auch Säkularisieren genannt, wiewohl dann in weniger abwertendem Sinn. So hat der Staat geistliche Länder, Güter und Rechte zu weltlichen umgewandelt; in Deutschland 1648, vollständiger 1803, in Frankreich 1789 und zuletzt 1906. Doch das Säkularisieren ist abwertend durchaus geworden, wenn eine reaktionäre Mode es nun auf Marx bezieht, weil er mancherlei auf die Füße gestellt hat. Auch dergleichen soll trotz der gehenden Füße nichts als second hand sein, wie die Amerikaner sagen, die es ja wissen müssen. Der Mensch etwa oder gar sein seliges Leben: kam das nicht vor Marx schon bedeutend erhöhter, erhabener vor, und hat Marx das nicht entspannt? Wurde aus
dem seligen Leben nicht ein bloß glückliches und gar eines mit nur materiellen Gütern im Sinn? Verkauft also Marx, so fragen Bankangestellte der Idee, nicht ehemals hohe Werte zu sehr herabgesetztem, den Viel-zu-Vielen erschwinglichem Preis, und das Erlangte ist auch danach? Solch ein Verschleuderer, wenn er Ausverkauf hält, muß dann erleichternderweise vom Warenkenner, gleichsam Friedenswaren-Kenner gar nicht mehr eigens an Ort und Stelle beachtet werden. Sondern der wahre Liebhaber des Menschen und seines Heils geht zu den wirklichen Bezugsquellen zurück und findet sie dort, wo politisch Lied überhaupt noch nicht getönt, gar mißgetönt zu haben scheint. So schafft man sich Marx vornehm vom Hals und doch mit Sinn für Morgenrot, für Neubeginn. Nur hat dieses Morgenrot dann in tunlichst weit Vergangenem gebrannt, und der Neubeginn liegt hinter heiligem Rauch statt in der sogenannten unfruchtbaren Spätzeit von heute. Marx selber soll /(1610) dann geradezu dekadent aussehen, mindestens wird er zivilisatorisch im üblen Sinn. Wie einmal mit reaktionärer Absicht Dichter von Schriftstellern unterschieden wurden, indem letztere vergleichsweise trivial zu gelten hatten, so asphalthaft gilt dann auch der säkularisierende Marx. All das deshalb, weil der Mensch und mehrerlei groß Verwandtes hier auf die Füße gestellt worden sind. Dabei ist dies Herabsetzen der eigenen Zeit gewiß auch sonst bürgerlich weit verbreitet. Es ist insofern nicht nur auf Marx beschränkt, den freilich besonders gern verkleinerten Helden. Die Müdigkeit einer untergehenden Klasse traut sich auch selber wenig mehr zu; das allgemeinste Stichwort gab hierfür einmal Spengler. Nun ist jetzt »Spätzeit« und sonst nichts, sterile »Wachheit« statt der einst jung gewesenen »kulturträgerischen Seele«. Das geht bei Toynbee ähnlich in Bausch und Bogen weiter, die eigene »Demokratie und Wissenschaft« selber als säkularisierte darstellend. Wonach auch diese nur »eine fast bedeutungslose Repetition von Dingen ist, die die Griechen und Römer schon vor uns, und zwar außerordentlich gut, gemacht haben« (Civilization onTrial, 1948, S. 237).Jedoch alle Zurücknahme des eigenen, wenn auch historisch gewordenen bürgerlichen Werts käme ja ihrem gesellschaftlichen Auftrag nicht nach, wenn sie nicht sowohl die liberale Vergangenheit abbaute als vor allem den Beruf unserer Zeit zur Zukunft. Wie tröstlich, wenn auch der Marxismus, und gerade dieser, schon rein chronologisch, nach seinem Stellenwert im allgemeinen Herbst der Kultur, nichts Nennenswertes, ganz Zukunftshaltiges sein kann. Und wie entmutigend ist das gedacht für eine sozialistisch anfällige oder inklinierende Jugend. Da ist Marx nicht nur »tiefstes neunzehntes Jahrhundert«, wie die Nazis sagten, sondern auch wenn er das zwanzigste wäre und ausspräche, hätte er nur Vergangenheit in sich, keine Zukunft. Und eben, das Geschäft der antiquarischen Marxtöterei ist damit noch nicht erschöpft; denn die Herabsetzung der eigenen Zeit wäre ja nicht komplett ohne die Idolatrie der mondbeglänzten Zaubernächte von einst. Der »Aufstand der Massen«, die »Herrschaft der Minderwertigen«, der »Pöbellärm« am Ende aller Kulturkonzerte stünde nicht so armselig da, wenn nicht selbst seine Musik - in dem, worin sie /(1611) llingen mag - als bloßes Derivat besserer Zeiten auszugeben wäre, geistiger, idealistischer, spekulativer. Ohne solchen Vergangenheitston wäre die Redressierung nicht vollkommen, das totale Säkularisierungs-Geschäft nicht in dem vernichtend, worauf es doch kapitalistisch ankommt. Marx hatte im Nachwort zur zweiten Auflage des »Kapital« mit bekannten Sätzen das Auf-die-Füße-Stellen eines Vergangenen zuerst kenntlich gemacht, und zwar im Hinblick auf die Hegelsche Dialektik, die auf dem Kopf stehe: »Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.« Wurde das freilich, mitsamt der ebenfalls bekannten marxistischen Ahnentafel in der deutschen klassischen Philosophie, nicht als «Herüberretten«, sondern gleichsam als Zurückretten verstanden, nämlich in eine angeblich einzig klassische Herkunft, dann entstanden die ehemals üblichen «Verbesserungen« Marxens durch einen Marburger Kant oder auch (bedeutend schwächer) durch einen neuhegelianischen Hegel. Immerhin wurde hier noch nicht irrationalisiert, sondern eben idealisiert, das heißt, der Marxismus wurde - ohne Ansehung seiner eigensten, proletarischrevolutionären Quelle - auf wenigstens noch rationelle, obzwar entschieden nicht-materialistische Lehren zurückgeschraubt. Nun aber trat im Spätbürgertum, vor allem im deutschen, wachsend die Irrationalisierung vor; dadurch konnte nun die Verkleinerung Marxens durch die Ausspielung von geradezu mythischen Originalen gegen angebliche Nachäffung vor sich gehen. Infolgedessen schob sich an die Stelle der einstigen Kantianisierung oder auch Hegelianisierung Marxens ein radikaler Vernichtungsversuch durch eine Art Plagiatanzeige. So blüht hier denn eine ganz unsägliche Art von Quellenfetischismus zurück von Marx zu Joachim di Fiore oder Augustin oder schließlich zu den mythischen Heilserwartungen der Urzeit. Der große Ketzer und Zukunftsträumer Joachim di Fiore passiert zwar noch, obwohl er doch auch nur so eine Art Jesajas des dreizehnten Jahrhunderts war, aber Marx, weil er der Ernstfall ist, wird angehalten und als soi disant - Kirchenräuber entlarvt. All das erst recht im Decrescendo der Säkularisierung, dazu einer mit dem Ludergeruch der Revolution behafteten. Menschlichkeit ist danach nichts als trivialisierter Menschensohn, proletarische Solidarität /(1612) lediglich die Kitschausgabe des urchristlichen Liebeskommunismus, das Reich der Freiheit lediglich das Reich der Kinder Gottes - auf dem Niveau des
gottlosen Aufklärichts. Das sind so die «Adventures of Ideas«, nach Whiteheads bezeichnendem Ausdruck, wobei die Ideen keinen Schuß Pulver mehr taugen, ihn wohl aber verdienen sollen, wenn sie aufhören, spirituelle zu sein. Bezeichnend hierfür ist etwa Löwiths Sippenforschung nach der mythologischen Großmutter; dies mindestens mit dem Nebenzweck, den Enkel als einen darzustellen, der altes Tempelgut im doppelten Sinn des Worts verwirtschaftet. Da ist Ausbeutung »Vorgeschichte« oder, biblisch gesprochen, die «Erbsünde dieses Äon«. Da ist der historische Materialismus insgesamt »Heilsgeschichte in der Sprache der Nationalökonomie« und »der kommunistische Glaube eine Pseudomorphose des jüdisch-christlichen Messianismus« (Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 47ff.). Ja der Skandal überrascht nicht, bei einem dermaßen tief eingetauchten, restlos als Plagiat entlarvten, magisch aufgelösten Marxismus, daß gesagt werden kann: »Mit Marx verglichen ist Hegels Philosophie realistisch« (1. c., S.54). Solches also kommt heraus, wenn die Kraft, auf die Füße zu stellen, rationellen Kern zu retten, ausschließlich als Säkularisierung erscheint. Als eine, die die Anhänger und Nachweiser geistlicher Fürstentümer ohnehin nicht heiter stimmt. Gar nachdem sich herausstellen wird, daß eine Gesellschaft ohne Herr und Knecht dasjenige ist, was unter dem Namen Humanisierung so lange vergeblich gesucht worden ist. Und ebenso genau dasselbe, was so lange durch die Klassengesellschaft durchkreuzt oder verhindert war, samt dem Stoff der Hoffnung, der sich erst bildet. Ist doch gerade ein guter Gehalt nicht geschwächt, wenn er berichtigt worden ist. Während die wirklichen Nachkäuer allerdings nur matt und matter vor sich haben, was einmal bessere, mindestens neuere Speise war. Zu diesen Nachkäuern aber gehören gerade diejenigen Gestalten, die Riesen vorwerfen, daß sie ja auch schon Eltern von Wuchs gehabt haben müßten. Merkwürdig nur, daß sie nicht auch Piloten vorwerfen, epigonal zu sein, weil bereits Elias durch die Lüfte gefahren sei, sogar viel weiter. Dagegen sind die Säkularisierer selber in der Tat epigonal /(1613) und das sozusagen echt; denn sie schreiben sich alle von der halb oder ganz reaktionären Romantik her. Damals erschien Männern wie Greuzer, gar Welcker die Mythologie insgesamt als erster Ursprung aller Wissenschaft, gleichsam als Hellsehen vor dem bloßen Gehirntag. Ja sie sollte das unerreicht Ganze eines unvordenklichen Wissens gewesen sein, und alles Spätere, das etwas angibt (so etwa Platons Ideenlehre), sei von daher ein Abklang, also gleichfalls säkularisiert. Marx aber schrieb einmal an Ruge 1843: »Es wird sich. . . zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von dem sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich dann zeigen, daß es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit.« Nach Weise der Säkularisierer wäre dann solch ein Satz selber aus dem romantischen Original säkularisiert, wogegen er selbstverständlich ein Originales in Person darstellt. Nämlich einen völlig neuen Standort gerade im Blick auf die Vergangenheit, oder genauer, wie Marx sagt: mit »Analysierung des mythischen, sich selbst unklaren Bewußtseins« in ihr, und freilich nicht mit abstraktem Abbruch von ihr. Also ist ein guter Gehalt in der Tat nicht geschwächt, wenn er berichtigt wird, und noch selbstverständlicher ist er nicht säkularisiert, wenn er, als auf die Füße gestellt, verwirklicht wird. Es erübrigt sich hier, das vollkommen Neue zu betonen, das Marx - mit proletarisch-revolutionärem Auftrag hinter sich - finden mußte, um gute Gedanken der Vergangenheit überhaupt erst zu vollziehen. Das bahnbrechend Neue in der Erkenntnis des Mehrwerts, in der ökonomischdialektischen Geschichtsauffassung, in der Theorie-Praxis-Beziehung: - wenn die Säkularisierer das nicht verstehen, aus bourgeoisem Interesse nicht verstehen wollen, aus Unkenntnis nicht verstehen können, so sagt das bloß über ihre eigene restaurative Gesinnung etwas aus, gar nichts aber über den Marxismus. Und am wenigsten besagt diese Zurückgebliebenheit etwas über die neue Menschlichkeit, Aktivität, Weltveränderung, den berichtigten Traum nach vorwärts im allemal offenen Marxismus. Da ist keinerlei ci-devant-Mythos, der gesprungen und ausgekältet wäre, wohl aber teilt sich ein Flor, kommt stets gemeintes Licht. /(1614) Blicke man dazu, um sogar noch außerhalb des marxistischen Auf-die-Füße-Stellens zu bleiben, die Sittlichkeit an. Ist sie geringer geworden, wenn sie nicht mehr um einer jenseitigen Belohnung willen geschieht, oder wurde sie nicht umgekehrt reiner? Blicke man das Christentum selber an: Ist es von Thomas Münzer entspannt worden, wenn es nicht mehr quietistisch genommen wurde, auch nicht mehr im läßlich-jenseitigen Sinn des »Zechens auf Christi Kreide« ? Wurde es nicht umgekehrt gerade echter und eine wirkliche Ausschüttung seiner durch das Hereintreiben in Aktivität, in diesseitige Zeitgeschichte, Revolution und jene andere »Fleischwerdung Christi«, die den Täufern wie vorher den Hussiten als mystische Demokratie erschien? Blicke man die Geschichte der Wissenschaft an, die ohnehin bei den Griechen im Bruch mit dem Mythos entstandene, auch wenn dieser noch so oft, mit wechselndem Gewicht, in die Aufklärung des Begriffs eingehängt war. Sind Philosophie und Wissenschaft ärmer geworden oder nicht umgekehrt um Nie-Gesehenes, Nie-Bedachtes vermehrt, wenn sie Sokrates vom Himmel auf die Erde bringen wollte, wenn Demokrits »Ananke« die mythische »Moira» oder Schicksalsgöttin keineswegs
säkularisiert hat? Oder wenn Aristoteles in dem ontologischen Begriffspaar »Dynamis-Entelechie«, »Materie-Form« den mythischen Weib-Mann-Hypostasen, außer der entzaubernden Verwendung, ein durchaus Neues, Verantwortliches, »in Wahrheit« Vertretbares hinzubrachte? Gewiß gibt es ein wahres Intendieren in mythischer oder in mystischer Hülle, eines, das in Menschlichkeit, in Dialektik (die es bereits im chinesischen Mythos gibt) durchaus auf ein Lichtwesen in künftigem Aufgang gerichtet sein will; so vor allem in messianischen Durchbruchsblitzen des Mythos. Und gerade ein Freund echter Aufklärung wird solchen Ahnungen seine tiefe, auch dankbar lernende Betroffenheit schwerlich versagen. Aber ein Berichtigendes, Vermehrendes, die Welt aus ihr selber Erhellendes geht allemal erst auf dem wissenschaftlich errungenen Standort des Bewußtseins auf, freilich als einem noch bewohnten. In einer Gesellschaft kann es nicht mehr aufgehen und verstanden werden, worin, wie Eduard Spranger referierte. nur noch zwei Philosophien vorhanden sind: eine der Verzweiflung, die alles aufgibt, und eine des Spinnwebs, die aus längst /(1615) hinter uns liegenden, mittelalterlich-scholastischen Auskünften der Weisheit klerikalen Schluß machen will. Nur der schöpferische Marxismus ist unsere Zeit, in Gedanken gefaßt, als einer schaffenden, erbenden, verwirklichenden zugleich. Wo auch die Menschlichkeit nicht mehr im Herzen oder in idealen Ermunterungen bleibt (und kein Pfennig wurde dabei ausgegeben). Wo wirklich die Erde im Begriff sein kann, die Welt zu durchragen, ohne daß dergleichen ein mythisches Bild bleibt, woran die »gedichtete Güte« verbaler Mythos-Wiederkäuung von heutzutage sich anempfindet. Wie anders sieht die Verwirklichung des als recht Erkannten drein, seine Durchführung in marxistisch begriffener Tendenz, nach Maßgabe realer Möglichkeit und ihrer Perspektive. Diese Praxis ist am wenigsten Säkularisierung der Höhe, wenn sie alles Oben wegnimmt, in dem der Mensch nicht vorkommt. Es sei denn, man nehme Säkularisierung in einem selber neuen, erst marxistischen Sinn, wie er der Theorie-Praxis entspricht. Dann geschieht, in guter Ironie, sogar eine Rettung des so tückisch gemachten, abwertenden Worts, auf eine Art, woran die Halbwisser unter seinen Verächtern freilich am wenigsten gedacht haben. Nachdem sich nämlich alle großen Denker vor Marx wesentlich nur mit einem Philosophischwerden der Welt im Buch begnügt haben, beginnt im Horizont der marxistischen Menschlichkeit nun wirklich, suo modo, eine Verweltlichung der Philosophie. Dergestalt, daß sie eben ganz auf die Füße gestellt wird und sich so zum Umbau des Sterns Erde ebenso berufen wie geschickt zeigt. Das aber gerade ohne Abstrich an den wahrhaft großen Gedanken der Vergangenheit, vielmehr gedankenvoll und ebendeshalb nicht tatenarm. »Oder kommt, wie der Strahl aus dem Gewölke kommt, / Aus Gedanken die Tat? Leben die Bücher bald?« - so lautet die Marxsche Frage in Hölderlins Gedicht »An die Deutschen«. Was dermaßen rein und entschieden als Aufgabe hervortritt, läßt die begriffene Hoffnung am wenigsten zuschanden werden. /(1616)
Traum nach vorwärts, Nüchternheit, Enthusiasmus und ihre Einheit
Kein Träumen darf stehenbleiben, das tut nicht gut. Aber wird es eines nach vorwärts, dann sieht seine Sache ganz anders zehrend aus. Auch das Matte, Schwächende, das der bloßen Sehnsucht eignen kann, fällt dann weg; diese zeigt vielmehr, was sie wirklich kann. Seit je wird den Menschen zugemutet, sich nach der Decke zu strecken, sie lernten das, nur eben ihre Wünsche und Träume gehorchten nicht. Hierin sind so gut wie alle Menschen zukünftig, übersteigen das ihnen gewordene Leben. Sofern sie unzufrieden sind, halten sie sich eines besseren Lebens für wert, sei dieses selbst platt und selbstsüchtig ausgemalt, nehmen Unangemessenes als Schranke wahr und nicht nur als Gewohnheit. Insofern ist sogar das privateste und unwissendste wishful thinking dem bewußtlosen Gänsemarsch vorzuziehen; denn es kann informiert werden. Es ist des revolutionären Bewußtseins fähig, es kann in den Wagen der Geschichte einsteigen, ohne daß das Gute am Träumen dabei zurückgelassen werden muß. Ganz im Gegenteil, der Wagen ist nicht so eng wie dürre, dürftige oder unwissende Zeiten sich das vorstellen oder für sich passend finden. Der gesellschaftliche Fortschritt verlangt zwar durchaus, gegebenenfalls auf derbe Weise, daß Vorurteile, falsches Bewußtsein, Aberglaube hinausgeworfen werden und zurückbleiben, doch ebendeshalb verlangt er nie, daß Träume nach vorwärts zurückbleiben. Das objektiv Mögliche, an das der Traum sich halten muß, wenn er etwas taugen soll, hält in vorordnender Weise auch ihn. Der objektiv vermittelte und gerade deshalb nicht entsagende Wachtraum vom vollkommenen Leben überwindet so seine Anfälligkeit zum Betrogenwerden wie die Traumlosigkeit selber. Letztere, mit An-sich-Halten oder mit einem Realismus verbunden, der nur noch als resignierter einer zu sein scheint, ist ja gerade der überwiegende Zustand viel denkender, doch wenig erkennender Menschen in einer perspektivenlosen Gesellschaft (samt dem Reichtum aus Ungenauigkeit). Sie alle haben eine Unlust gegen vorwärts und den Durchblick nach vorwärts, wenn auch in verschiedenen Maßen und verschieden strömender Scheu. Halb griechische Demut, halb /(1617) positivistische Vorsicht werden strapaziert, um aus dem Fakt, daß man nicht um die Ecke sehen könne, ein sozusagen
antimarxistisches Gleichnis zu machen - alles, um bei der interessierten Traumlosigkeit zu bleiben. Wobei sogar die simple Wahrheit des Fakts, nicht um die Ecke sehen zu können, noch schal wird, sobald ein Spiegel verwendet wird, und vor allem: es läßt sich sehr wohl um die Ecke - hören, es läßt sich der Tendenz abhören, wohin sie sich wenden mag hinter der nächsten Wegbiegung, es läßt sich diese dialektische Wendung aktiv befördern, und gerade die Vernunft hat einen akustischen Bedeutungssinn, der macht, daß sie bereits im Wort vom Vernehmen herkommt. Aber die Traumlosigkeit als Schicksal hemmt noch weiter, indem die Ecke, vielmehr ihr unangenehm vorwirkendes unbürgerliches Dahinter, geradezu als eschatologisch vorkommt und sich demgemäß die griechische Demut gegen den christlichen Vorwitz zur Wehr setzt. Oder vielmehr nicht gegen diesen als die Stimme von Patmos, sondern nur gegen die Eschatologie, als welche hier wieder der - Marxismus ausgegeben ist. Gleich als wäre er eine Überwelt voll törichter Verzückung und nicht sehr eindringlich diese Welt selber, in bohrender Analyse ihrer Antriebe, in beherrschender Antizipation ihrer möglichen guten Früchte. Doch es ist gerade dieses Eindringliche, in Ansehung seiner störenden Diagnose und Vorhersage, welches nicht nur als durchdringend, sondern geradezu als penetrant erscheinen mag; dann eben, wenn Reichtum aus Ungenauigkeit und auch ein anderer aus offensichtlich makabrem Außenglanz die Leere des eigenen Abends, die - wie immer hart aufgehende Fülle des anderen Morgens verdeckt. Da ist denn die Traumlosigkeit nach vorwärts ein gleichsam philosophisch erscheinender und doch so wenig wahrhaft philosophischer Schutz; der Dinge nicht gewärtig, die da kommen sollen. So steht in dieser freiwillig-unfreiwilligen Skepsis statt Hoffnung Furcht, statt des Erfassens der Zukunft als der größeren Dimension der Gegenwart, wie Leibniz sagt, ein Anti-Finale; bis hin zum Scheiden, wo nicht Scheitern mit abgewendetem Blick. Besonders die Furcht, sagt Sartre, ist ein Zustand, der den Menschen aufhebt; sinngemäß gilt von der Hoffnung subjektiv wie erst recht objektiv das belebend Umgekehrte. Und wenn es auch beim Bau /(1618) bloßer Luftschlösser auf ein Mehr oder Weniger an Unkosten wenig ankommt, woraus dann eben die fehlgeleiteten, schließlich betrügerisch gebrauchten Wunschträume resultieren, so ist die Hoffnung mit Plan und mit Anschluß ans Fällig-Mögliche doch das Stärkste wie Beste, was es gibt. Und wenn auch Hoffnung den Horizont nur übersteigt, während erst Erkenntnis des Realen mittels der Praxis ihn auf solide Weise verschiebt, so ist es doch sie wieder allein, welche das anfeuernde und tröstende Weltverständnis, zu dem sie leitet, zugleich als das solideste und tendenzhaft-konkreteste gewinnen läßt. Zweifellos, der Trost dieses Weltverständnisses muß angestrengt mitgebildet werden. Noch leichter wäre Rom an einem Tag zu erbauen gewesen als Athen, und welch schwieriger, oft Schritt für Schritt verlangender Weg dehnt sich bis zum Richtfest des regnum humanum. »Der sozialistische Realismus muß aber eine Perspektive haben«, wie auch Lukács zur beförderten Wegtendenz sagt, »sonst kann er nicht sozialistisch sein.« Die Vernunft kann nicht blühen ohne Hoffnung, die Hoffnung nicht sprechen ohne Vernunft, beides in marxistischer Einheit - andere Wissenschaft hat keine Zukunft, andere Zukunft keine Wissenschaft. Aufrechter Gang, er zeichnet vor den Tieren aus, und man hat ihn noch nicht. Er selber ist nur erst als Wunsch da, als der, ohne Ausbeutung und Herrn zu leben. Hier vor allem schwebte, so dauernd wie notwendig, Tagtraum über der bisherigen Gewordenheit, der ungelungenen, zog ihr vor. Und jeweilige Sucher des aufrechten Gangs zogen ihr vor, des mahnenden Sinns, den Ludwig Börne, in »Fragmenten und Aphorismen«, mit Recht so ausdrückte: »Ehe eine Zeit aufbricht und weiterzieht, schickt sie immer fähige und vertraute Menschen voraus, ihr das neue Lager abzustecken. Ließe man diese Boten ihren Weg gehen, folgte man ihnen und beobachtete sie, erführe man bald, wo die Zeit hinauswill. Aber das tut man nicht, man nennt jene Vorläufer Unruhstifter, Verführer und Schwärmer und hält sie mit Gewalt zurück. Aber die Zeit rückt doch weiter mit ihrem ganzen Troß, und weil sie nichts bestellt und angeordnet findet, wohnt sie sich ein, wo es ihr beliebt, und nimmt und zerstört mehr, als sie gebraucht und verlangt.« Das ist seit Marx, vielmehr in denjenigen Ländern, wo der Marxismus /(1619) Macht wurde, gewiß anders geworden - der Zukunft wird hier Quartier gemacht. Und auch der Wachtraum vom regnum humanum steht hier nicht mehr in der Luft oder am Himmel oder bloß so in Kunstwerken, daß die Wege dahin nur als Fluchtwege genommen werden und jene Resignation auf ihnen geht, der das Schöne nur im Gesang blüht. An Stelle der Walpurgisnacht also, »wo man mit Erstaunen sieht, / Wie im Berg der Mammon glüht«, ist gewiß nun einem anderen Gold Gelegenheit gegeben, sich aus bisherigem Utopie-Ideologie-Gemenge niederzuschlagen. Doch das Antizipierende freilich hat zu blühen, hat weiter sein Amt, gerade auch wenn es in Nüchternheit geschieht statt in Schwärmerei und Wolken. Ebenso steht Enthusiasmus der Nüchternheit bei, damit sie nicht die Perspektive abstrakt-unmittelbar verkürze, statt sie auf dem Globus der konkreten Möglichkeit zu halten. Enthusiasmus ist Phantasie in Aktion, und die Säure Nüchternheit muß hier eher das kostbarste als das allgemein-billigste Ingrediens werden. Nichts ist der echten, eben marxistisch geübten Nüchternheit ferner als der common sense, als jenes gar nicht so Gesunde, gar nicht so Menschliche des sogenannten gesunden
Menschenverstands, welches vielmehr voll kleinbürgerlicher Vorurteile sein mag; aber nichts ist ihr wiederum näher als jener vom common sense so verschiedene bon sens, wie er sich genau auch im marxistisch geübten Enthusiasmus findet. Der common sense, der typisch undialektische, statuiert, daß die Menschen immer Menschen bleiben, er wird, wenn er in Zentralafrika sein Leben verbringt, es für absurd halten, daß Wasser auch fest vorkomme, er hat es für ausgeschlossen erklärt, daß China jemals Republik sein kann; der bon sens dagegen, dies Gütezeichen, Füllezeichen wirklich gesunder Nüchternheit, schließt keine Perspektive aus und ab, außer derjenigen, die zu Dingen führen könnte, an denen kein Segen ist. Und nun ist dieses gerade für den Marxismus, als den angegebenen Quartiermacher der Zukunft, bezeichnend: er behebt die festgefrorene Antithese: Nüchternheit-Enthusiasmus, indem er beide auf ein Neues bringt und beide darin miteinander arbeiten läßt - für exakte Antizipation, konkrete Utopie. Die Nüchternheit ist nicht dazu da, die Phantasie schlechterdings zu scheren, als fiele die Aufklärung mit Gottsched, gar mit /(1620) Nicolai zusammen, und der Enthusiasmus, gerade als Phantasie in Aktion, ist nicht dazu da, mit lauter Absolutem einzuheizen, als fiele die revolutionäre Romantik mit Quichottene zusammen. Item, um den Stundenzeiger zu stellen, muß man den Minutenzeiger drehen, und ebenso muß umgekehrt das Totum eines großen Schiffs auf weiter Fahrt in jeder revolutionären Kleinarbeit aufleuchtbar sein. Also ist es gleich unweise und dem Marxismus fremd, mit nichts als Nüchternheit unter die Wirklichkeit zu greifen, wie mit nichts als Enthusiasmus über sie; getroffen wird das Reale, gerade als das der Tendenz, nur durch die ständige Oszillation beider Aspekte, geeint in geschulter Perspektive. So schrieb Lenin zum vierten Jahrestag der Oktoberrevolution: »Nicht auf Grund des Enthusiasmus unmittelbar, sondern mit Unterstützung des aus der großen Revolution geborenen Enthusiasmus, auf Grund des persönlichen Interesses, der persönlichen Interessiertheit, des Rentabilitätsprinzips sollt ihr euch mühen, zuerst die festen Stege zu bauen, die in einem kleinbürgerlichen Lande über den Staatskapitalismus zum Sozialismus führen, anders werdet ihr nicht zum Kommunismus gelangen, anders werdet ihr die Dutzende und aber Dutzende von Menschen nicht zum Kommunismus führen« (Ausgewählte Werke II, S.890). Mit diesem kühlen Realismus aber eng verschränkt ist und bleibt der sachlich-hingerissene, den Lenin in der Schrift über den »Linken Radikalismus« kenntlich macht, als angemessen zum Elan (und nicht etwa zur Bremsung) im Wirklichen selber: »Die Geschichte im allgemeinen, die Geschichte der Revolutionen im besonderen ist stets inhaltsreicher, mannigfaltiger, vielseitiger, lebendiger, >schlauer<, als die besten Parteien, die klassenbewußtesten Avantgarden der fortgeschrittensten Klassen es sich vorstellen. Das ist auch verständlich, denn die besten Avantgarden bringen das Bewußtsein, den Willen, die Leidenschaft, die Phantasie von Zehntausenden zum Ausdruck, die Revolution aber wird, in Augenblicken des besonderen Aufschwungs und der besonderen Anspannung aller menschlichen Fähigkeiten, durch das Bewußtsein, den Willen, die Leidenschaft, die Phantasie von Dutzenden Millionen verwirklicht« (Ausgewählte Werke II, S.739). Und das Muster für den Kältestrom um dieses Wärmestroms willen, für den Wärmestrom, der den /(1621) Kältestrom der Analyse gerade zur Aufzeigung seiner abgeteilten Stadien braucht, findet sich sinngemäß bei Marx selber. So in dieser empirischen Prophetie (gleichsam Antonio plus Tasso, berichtigt in Einem): »Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft. In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz körperlicher und geistiger Arbeit verschwunden ist, nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch die Produktionskräfte gewachsen sind und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« (Kritik des Gothaer Programms, Berlin, 1946, S. 21). Erst mit solcher Analyse (gegebenenfalls sogar, dem schweren Fahrwasser entsprechend, einer ad pessimum), erst mit solcher Perspektive zusammen gibt es das tröstende Weltverständnis, das Marxismus heißt und das ebendeshalb kein kontemplatives, sondern eine Anweisung zum Handeln ist. Die Unangemessenheit der längst gesellschaftlich gewordenen Produktivkräfte zu ihrer privatkapitalistischen Aneignungsform: dieser Grundwiderspruch in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft kann durch hektische Konjunkturen zwischen den Krisen und durch Quacksalber-Theorien zwar ephemer verdeckt werden, aber er bleibt, und nur der Marxismus ist, wie der Detektiv, so der Befreier, wie die theoretische, so die praktische Lösung dieses überständigsten aller Widersprüche. Und nur Marxismus hat die Theorie-Praxis einerbesserenWelt veranlaßt, nicht um die vorhandene zu vergessen, wie das in den meisten abstrakten Sozialutopien üblich war, sondern um sie ökonomisch-dialektisch zu verändern. Nirgends ohne Erbe, am wenigsten ohne das der Ur-Intention: des Goldenen Zeitalters; der Marxismus, in allen seinen Analysen der kälteste Detektiv, nimmt aber das Märchen ernst, den Traum vom Goldenen Zeitalter praktisch; wirkliches Soll und Haben wirklicher Hoffnung /(1622)
geht an. Die Verhältnisse waren bisher nicht so, um in die vollkommenere Perspektive auch lebendig einzutreten, die Verhältnisse des Vollkommeneren selber sind nicht so, indem es nämlich noch nicht da ist, indem es in der bisherigen Entfremdung besonders ferngehalten wurde. Der Bezug der Bedürftigkeit zum Erwärmenden, selbst Enthusiastischen der meisten in der bisherigen Gewordenheit gestalteten Wunschbilder war daher, übers Kontemplative hinaus, Resignation oder, was dieses Orts auf Verwandtes herauskommt, Religion. Soll aber die wirkliche Essenz der Hoffnungsgehalte zureichend in Existenz einschlagen, Boden, Hand und Fuß gewinnend, dann heißt die Eintrittsstelle, mit Prosa und Symbolwert zugleich versehen, klassenlose Gesellschaft - usque ad finem. Gewißheit, unfertige Welt, Heimat Da erstand vor ihm ein Bild vom ganzen Leben des Menschen auf Erden und ihm schien das Menschenleben nichts zu sein, nur ein winziges Entbrennen, ein kurzes Aufflackern in grenzenlos-schreckensvoller Finsternis; und alle Größe, alle tragische Würde des Menschen und sein heldischer Ruhm rührten daher, daß dieses Aufflammen so kurz war. Er wußte: sein Leben war gering und würde wieder verlöschen, und übrigbleiben würde nur die unermeßliche, ewige Finsternis. Und er wußte: mit Hohn auf den Lippen würde er sterben, und mit dem letzten Schlag seines Herzens würde seine trotzige Absage hineintönen in die alles verschlingende Nacht. Thomas Wolfe, Es führt kein Weg zurück Besser so: Der Wunsch baut auf und schafft Wirkliches, wir allein sind die Gärtner des geheimnisvollsten Baums, der wachsen soll. Der Drang, sich gemäß zu werden, zieht Seele herein, er ist die Gedankenlösung für den völligen Kristall erneuter Wirklichkeit und umwollend wegdenkender, schöpferisch dazu denkender Geist, stark wie ein Magnet in unsere, in die Zukunft der Welt hinübergerichtet, wie sie beständig nach uns blickt und allein der schlaffen Wahl Böses wie Gutes gleich unentschieden vorbehält. Es geht um uns und weiß nicht, wohin es geht, nur wir selbst sind noch Hebel und Motor, es stockt das äußere und offenbarte Leben: aber der neue Gedanke bricht endlich hinaus, in die vollen Abenteuer, in die offene, unfertige, taumelndeWelt, um so, in dieser /(1623) seiner Stärke, mit unserem Leid gegürtet, mit unserer trotzigen Ahnung, mit der ungeheuren Gewalt unsrer Menschenstimme, Gott zu ernennen und nicht eher zu ruhen, als bis sich unsere innersten Schatten unterworfen haben und die Erfüllung jener hohlen, gärenden Nacht gelungen ist, um die herum noch alle Dinge, Menschen und Werke gebaut sind. Ernst Bloch, Geist der Utopie, 1918 Richtig so: Drei Kategorien des dialektischen Prozesses sind folglich zentral: Front, Novum, Materie; alle drei setzen die ehrlichste menschliche Eigenschaft zur Erfassung und Betätigung voraus: Hoffnung. Front, das ist der vorderste Abschnitt der Zeit, wo die nächste entschieden wird. Novum, das ist die reale Möglichkeit des Noch-Nicht-Bewußten, Noch-Nicht-Gewordenen, mit dem Akzent des guten Novum (des Reichs der Freiheit), wenn die Tendenz daraufhin aktiviert wird. Materie, das ist nicht der mechanische Klotz, sondern - gemäß dem implizierten Sinn der Aristotelischen MaterieDefinition - sowohl das Nach-Möglichkeit-Seiende, also das, was das jeweils historisch Erscheinenkönnende bedingungsmäßig bestimmt, wie das In-Möglichkeit-Seiende, also das reale Möglichkeitssubstrat des dialektischen Prozesses. Gerade als bewegtes Sein ist die Materie ein noch unausgetragenes Sein; sie ist der Boden und die Substanz, worin unsere Zukunft, als ihre ebenso eigene, ausgetragen wird. Probleme in Fülle liegen derart vor der gegenwärtigen Philosophie; dem jetzigen Westen sind sie, obwohl überfällig, noch nicht im »Überstieg« parat. Ex Oriente lux, dieses alte Wort aus Geographie und Christentum zugleich, bekommt bei solchem Anblick eine frische, umfunktionierte Wahrheit; aus dem Ostpunkt der gegenwärtigen Menschheit kommt das Licht. Die deutsche Philosophie, von Hegel zu Marx, artikulierte es zuerst, die deutsche Philosophie hat sich dieser Verpflichtung wert zu halten. Ernst Bloch, Über den gegenwärtige" Stand der Philosophie, 1950
Auch das vermittelte Wünschen gibt nicht nach, entsagt nicht. Es verliert sich nicht aus den Augen, wie auch immer es erschwert und verteuert wird. Es klebt am Gegebenen nicht fest, sondern findet es passend, indem es das vorhandene Sichtbare sieht, nicht ganz daran zu - glauben. Dagegen die subjektive Hoffnung, mit der
gehofft wird, ist ihrer sicher und gewiß, auch wenn das von ihr Bezeichnete, also die objektive Hoffnung, als welche inhalt /(1624) lich gehofft wird, bestenfalls nur wahrscheinlich sein kann. Die subjektive ist spes, qua speratur, die objektive ist spes, quae speratur; die erste, die hoffende Hoffnung; wird daher wirklich auch geglaubt und hat so suo modo Zuversicht, die zweite, die gehoffte Hoffnung, wäre dagegen, wenn sie bereits volle Zuversicht für sich hätte, gerade keine Hoffnung. Das heißt, die in der noch so unbeugsamen, auch aktiv bis zum letzten anfeuernden, hoffenden Hoffnung bezeichnete Sache, die objektive Hoffnungssache in der Welt selber, ist ihrer durchaus noch nicht garantiert sicher und gewiß; sonst wäre die Zuversicht der hoffenden Hoffnung, statt mutig und, wie so oft, aufrecht-paradox zu sein, lediglich trivial. Rechte Hoffnung steht als solche, nämlich als geschichtlich-tendenzhaft vermittelte, zwar am allerwenigsten im leeren Raum, aus dem ihr nichts entgegenkäme, in dem deshalb irgendwo geabenteuert werden könnte. Aber gerade weil rechte Hoffnung in der Welt, via Welt geht und mit deren objektivem Prozeß vermittelt arbeitet, steht sie mitsamt diesem Prozeß in einem Wagnis, als dem der Front. Und nur, wenn das gesetzmäßig erwartbare, erreichbare Ziel: die sozialistische Humanisierung, nicht durch Unzulängliches verdunkelt, durch Abwege bitter entfernt wird, können auch die objektiv geltenden Gesetze der dialektischen Entwicklung und ihrer ferneren Möglichkeit wirksam leiten, glücklich fruktifiziert werden. In sich selbst als hoffende Hoffnung durchaus entschieden, muß doch der Ausgang selber erst noch entschieden werden, in offener Geschichte, als dem Feld objektiv-realer Entscheidung. Das ist die Kategorie der Gefahr oder der objektiven Ungarantiertheit auch der vermittelten, der docta spes; es gibt noch keine unschwankende Situationslosigkeit eines fixen Resultats. Es gibt noch keine im finsteren Sinn, dergestalt, daß Entscheidbarkeit, Novum, objektive Möglichkeit erloschen wären und nicht jede verlorene Schlacht noch einmal besser ausgefochten werden könnte. Aber es gibt auch noch keine Situationslosigkeit in jenem hellen, ja allerhellsten Sinn, der Dasein ohne Entfremdung, eindeutig gereiften, naturalisierten Wert bezeichnet. Optimismus ist daher nur als militanter gerechtfertigt, niemals als ausgemachter; in letzterer Form wirkt er, dem Elend der Welt gegenüber, nicht bloß ruchlos, sondern schwachsinnig. Und ebenso- /(1625) wenig steht reale allerbeste Entschiedenheit irgendwie oder irgendwo in einem hypostasierten Jenseits; gar als wäre dessen Ens perfectissimum ein überseiend thronendes Ens realissimum. Solch vollendete »Tatsache« höherer Ordnung, wie nicht nur die theistischen Religionen, sondern auch metaphysische Idealismen sie ansetzen, stellt vielmehr pure Hypostase dar. Desto schlimmer, desto falscher, wenn alle bisherigen Philosophen, soweit sie solch ferne Himmelsgegenden bedacht haben, von ihrem Gott, ihrer Substanz, ihrem Absolutum gehandelt haben, als wäre hier ein Fixum, ein Definitum, gar ein Realissimum ohnegleichen und aller Prozeß lediglich Pädagogik zu solchem Fixum hin oder von ihm her. Zuverlässig ist zwar alles und vor allem das menschliche Leben eine Art Transcendere, eine Überschreitung des Gegebenen, aber dieses Transcendere involviert als konkret-utopisches ebenso zuverlässig keine Transzendenz. Diese selber wäre wieder eine fertige, eine Gespenst-Gegebenheit, und so sicher das Gewissen konkreter Utopie nicht positivistisch am Faktum unmittelbarer Sichtbarkeit klebt, noch sicherer verdampft es nicht an bloßen Faktum-Hypostasen rein mythologischer Unsichtbarkeit. Philosophie bewährt sich statt dessen als Expedition mit und in dem weitverzweigten, unabgeschlossenen Prozeß, als Mut zu jener Ungarantiertheit, die Hoffnung genau an die Front setzt. Nicht mit Unabgeschlossenheit als Schicksal, nicht mit bloßer unendlicher Annäherung ans Ziel, wie sinnlich bei Tantalus und moralisch bei Kant. Die unfertige Welt kann vielmehr zum Ende gebracht, der in ihr anhängige Prozeß kann zum Resultat gebracht, das Inkognito der in sich selber real-verhüllten Hauptsache kann gelichtet werden. Doch nicht eben durch voreilige Hypostasen und durch fixe Wesensbestimmungen, die den Weg blockieren. Das Eigentliche oder Wesen ist nichts fertigVorhandenes wie Wasser, wie Luft, wie Feuer, gar wie unsichtbare All-Idee, oder wie immer diese Real-Fixa verabsolutiert oder hypostasiert lauteten. Das Eigentliche oderWesen ist dasjenige, was noch nicht ist, was im Kern der Dinge nach sich selbst treibt, was in der Tendenz-Latenz des Prozesses seine Genesis erwartet; es ist selber erst fundierte, objektiv-reale Hoffnung. Und sein Name berührt sich letzthin mit dem »InMöglichkeit-Seienden« des Aristotelischen und weit über Aristo- /(1626) teles hinausgehenden Sinns, also mit dem scheinbar Ausgemachtesten, was es gibt: der Materie .Wäre doch gerade all ihr Tragen, Bedingen und Werden ein sinnleerer Begriff, wenn dasjenige, was herauskommen möchte und kann, bereits vorhanden wäre. Dies Noch-Nicht ist selbstverständlich nicht so, als wäre etwa im Atom oder an den subatomaren »Differentialien« der Materie alles, was später herauskommt oder noch herauskommen wird, bereits der »Anlage« nach verkleinert vorhanden, wie eingekapselt. Solch zurückgebliebene Auffassung des Noch-Nicht würde gerade den dialektischen Sprung ins Neue unterschlagen oder nichtverstehen. Ebenso selbstverständlich findet sich in der dialektischen, zum Novum offenen Tendenz-Latenz des materiellen Prozesses kein vorgeordneter, also gleichfalls fertig gesetzter Zweck nach der Art der alten Teleologie, gar einer von oben herab mythologisch geleiteten. Doch freilich ist mit dieser alten, auch an »Vorsehung«
erinnernden Teleologie nicht das echte Teleologieproblem selber diskreditiert, nicht die echte Kategorie des Ziels, dann Zwecks, dann Sinns weiterhin auskreisbar oder dogmatisch aus der Welt geschafft. Desto weniger, als gerade die Tendenz ständig Zielbezogenheit impliziert; als ein Fortschritt ohne solchen Zielbezug weder gemessen werden noch objektiv-real vorhanden sein könnte; als eine Welt ohne betreibbare Planung an und mit ihr, ohne betreibbare Ziele, Zwecke, Sinnhaftigkeiten in ihr keinesfalls eine marxistische wäre. Wobei die Wahrheit der Teleologie nirgends also aus fertig vorhandenen Zwecken besteht, vielmehr aus solchen, die sich im aktiven Prozeß erst bilden, immer neu darin entspringen und sich anreichern. Der Nerv des rechten historischen Begriffs ist und bleibt das Novum, des rechten philosophischen das bessere Novum. Und der utopische Tenor in so vielen, wenn nicht den meisten Wesenslehren ist eben nur deshalb verdeckt, weil die Zweck-Wahrheit aller Dinge als eine absolut schon seiende und so komplett aufgezeigte dargestellt wurde. Diese Wahrheit als Angemessenheit der Dinge an sich selbst, dieses ihr erschöpfendes Wesen, ihre Grund-Essenz gilt dann auch von hier aus als an und für sich fertig, klar, herausgebracht und nur für die schwache Fassungskraft der Menschen noch verhüllt. Aus den Proben aufs Exempel, die die einzelnen metaphysischen Wesensnamen /(1627) darstellen mögen, wird so das Exemplum selbst, aus den Experimenten ums Eigentliche wird schier fixe Ontologie, dazu noch eine höchst kontemplativer Art. Der Betrachtungscharakter der meisten vormarxistischen Philosophien konsumiert so eine höchste Vorhandenheit, obwohl sie doch, mit viel polyphonem Licht, einzig erst antizipierbar ist. Die Methode wird bei solch ontischer Hypostase zum bloßen konsumierenden Weg, das Resultat zum ohnehin kompletten Palast am Ende des Wegs, die Metaphysik des Hen kai Pan zur fertigen Palastaufschrift. Unbekannt ist dann nicht nur die Materie, sondern auch dort, wo diese bekannt ist, ihre wichtigste Wahrheit: Materie nach vorwärts zu sein. Aber nicht nur Kunst, sondern erst recht Philosophie hat jetzt bewußt das aktive Amt des Vor-Scheins und eben des Vor-Scheins eines objektiv-realen Vorscheins als der Prozeßwelt, realen Hoffnungswelt selber. Und sie bleibt einzig in der Materie fundiert, als einer gewiß vielförmig bewegten und nicht stereotypen; als dem ebenso gesetzhaft bedingenden Nach-Möglichkeit-Seienden wie dem substanzhaft eröffnenden In-Möglichkeit-Sein. Das Erblicken dieser Genesis ist das Organ der Philosophie; der dialektisch gezielte, systematisch offene Durchblick in die tendenzgestaltige Materie ist ihre neue Form. Das Morgen im Heute lebt, es wird immer nach ihm gefragt. Die Gesichter, die sich in die utopische Richtung wandten, waren zwar zu jeder Zeit verschieden, genauso wie das, was sie darin im Einzelnen, von Fall zu Fall, zu sehen meinten. Dagegen die Richtung ist hier überall verwandt, ja in ihrem noch verdeckten Ziel die gleiche; sie erscheint als das einzig Unveränderliche in der Geschichte. Glück, Freiheit, Nicht-Entfremdung, Goldenes Zeitalter, Land, wo Milch und Honig fließt, das Ewig-Weibliche, Trompetensignal im Fidelio und das Christförmige des Auferstehungstags danach: es sind so viele und verschiedenwertige Zeugen und Bilder, doch alle um das her aufgestellt, was für sich selber spricht, indem es noch schweigt. Die Richtung auf dies materiell und nicht nur logisch Einleuchtende muß invariant sein; das ist an jedem Ort erkennbar, wo Hoffnung ihr Überhaupt aufschlägt und darin zu lesen versucht. Kein Zweifel allemal, und es wurde auch keiner daran gelassen: eine unerhellte, ungelenkte Hoffnung führt leicht nur abseits, denn der wahre Hori- /(1628) zont reicht nicht über die Erkenntnis der Realitäten, aber gerade diese Erkenntnis, wenn anders sie marxistisch ist und nicht mechanistisch, zeigt die Realität selber als eine - des Horizonts und die informierte Hoffnung als eine dieser Realität gemäße. Das Ziel insgesamt ist und bleibt noch verdeckt, das Überhaupt des Willens und der Hoffnung noch ungefunden, im Agens des Existierens ist das Licht seiner Washeit, seines Wesens, seines intendierten Grundinhalts selber noch nicht aufgegangen, und doch steht das Nunc stans des treibenden Augenblicks, des mit seinem Inhalt erfüllten Strebens utopisch-deutlich voran. »Terminus«, sagt der unruhige Scholastiker Abälard, »est illa civitas, ubi non praevenit rem desiderium nec desiderio minus est praemium«, Ziel ist jene Gemeinschaft, wo die Sehnsucht der Sache nicht zuvorkommt, noch die Erfüllung geringer ist als die Sehnsucht. Das ist Sein wie Hoffnung, ist der schließlich manifestierte Was- und Wesens-Inhalt unseres strebenden Daß-Faktors, ein »Quid« pro »Quod«, das heißt ein solches Was und Wesen, daß die Intention darin aufgehoben werden mag. Gerade aber auch das menschliche Vermögen zu solch absolutem Zielbegriff ist das Ungeheure in einem Dasein, wo das Beste noch Stückwerk bleibt, wo jeder Zweck immer wieder Mittel wird, um dem noch gänzlich unsichtigen, ja an und für sich selbst noch unvorhandenen Grundziel, Endziel zu dienen. Marx bezeichnet als sein letztes Anliegen »die Entwicklung des Reichtums der menschlichen Natur«; dieser menschliche Reichtum wie der von Natur insgesamt liegt einzig in der Tendenz-Latenz, worin die Welt sich befindet - vis-à-vis de tout. Mit diesem Blick also gilt: Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und
überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.