TERI McLAREN
Das Lied der Zeit NEUNTER BAND
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/66...
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TERI McLAREN
Das Lied der Zeit NEUNTER BAND
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/6609 Titel der Originalausgabe
MAGIC THE GATHERING™ SONG OF TIME Übersetzung aus dem Amerikanischen von Birgit Oberg Das Umschlagbild malte Steve Crisp
Für Janna Silverstein, Kathy Ice und Dave Howell: viel Glück euch allen, meine Freunde.
Redaktion: Ragnar Thalov Copyright © 1996 by Wizards of the Coast, Inc. Erstausgabe bei HarperPaperbacks. A Division of HarperCollinsPublishers, New York Copyright © 1997 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1997 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-453-12682-3
DANKSAGUNG Jim DeLong und Terri Johns für ihre Unterstützung in Wort und Gebet, Mike Kimble, der seine Sinneseindrücke des Wüstenklimas mit mir teilte, Pete Venters, der mir bei der Geographie Dominias half, und Jana Wright für ihre aufopfernden linguistischen Nachforschungen. Vielen Dank auch an Amy Weber für ihre wunderschöne Zeichnung der Armageddon-Uhr, Mark Reynolds, weil er mir freundlicherweise eine Kopie der Landkarte zur Verfügung stellte. Randy Asplund-Faith opferte wertvolle Zeit, um mir die Einzelheiten seines Gemäldes der Elfenfestung zu erläutern; Bob Eggleton fertigte den schönen Buchumschlag an. David Kirchhoff sorgte für fachmännischen musikalischen Rat und half mit erwähnenswerten Vorschlägen aus. H. C. Patterson, ein Veteran der Salzwasserfischer, erzählte lange Geschichten über Zeiten und Gezeiten, und Carla Vaananen bot mir den hochwillkommenen Rat der ersten Leserin an. Herzlichen Dank an Nancy C. Hanger für ihre erstklassige Lektorarbeit an diesem Buch, an Marsha Waggoner für gründlichste Recherchen, an Michael Ryan, der das Buch in der Endphase bearbeitete, und an Gloria Beckner, die Expertin für Haustiere ist. Weiterhin möchte ich John Haie und Stephanie Maloney danken, die mir vor Jahren ermöglichten, als Künstlerin an den Ausgrabungen der Universität von Louisville in Torre de Palma, Portugal, teilzunehmen. Und noch etwas: Deuce Sapp - Doulos ist für dich, mein Freund. 4
ERSTER TEIL KAPITEL 1
IM ANTIKEN SUMIFA, 3000 BCE Das weiße, marmorne Gesicht von Sumifas monumentaler Sonnenuhr hellte sich langsam auf, als die rote Sonne über den Wanderdünen der fernen Hochwüste aufging. Ein hohes, schmales Basaltbildnis des Kopfes von Caelus Nin, des sumifanischen Gottes der Zeit und Patrons der Ahnen, bildete das zweigesichtige Zifferblatt der Sonnenuhr, der als schweigender Wächter am Haupttor der Stadt stand. Die wettergegerbte Ostseite blickte zornig in das grelle Licht, ein volles Stundenglas in den knochigen Händen haltend, während das ebenso unfreundliche westliche Gesicht von der kalten Dunkelheit verhüllt blieb. Samor der Sammler schritt lautlos zu seinem Arbeitszimmer, schloß die Tür auf und öffnete ein Exemplar des Heiligen Buches der Bekenner, das Mishra seit dem ersten Tag seiner Machtergreifung in Almaaz verboten hatte. Da es in einer für ihn nicht lesbaren Sprache geschrieben worden war, traute er weder dem Buch noch seinen Anhängern. Er fürchtete ihre Lehren fast so sehr wie den Gedanken, die Macht 5
an seinen Bruder Urza zu verlieren. Samor hob den Kopf, sang laut den Schwur des Zauberkreises und wartete, während rings umher im Land zahlreiche Magier, Mitglieder von Mishras Hofstaat und höchste Ratgeber des Landes, in ihrer Arbeit, beim Frühstück und in Gesprächen innehielten und sich an abgelegene Orte zurückzogen, um sich auf die Worte vorzubereiten, die niemand außer ihnen vernehmen konnte. Als er ihre Bereitschaft spürte, sang Samor die Botschaft des Buches für den bevorstehenden Tag. »Fürchte dich nicht«, hatte der Geist des Buches befohlen, dessen Stimme beharrlich in Samors Kopf widerhallte und sich bedeutend dringlicher als sonst anhörte. Verwirrt entließ Samor den Zauberkreis, schloß das Buch und zog sich in den Hof zurück, um über die Worte nachzudenken. Aber bevor er über die Botschaft nachdenken konnte, erhielt er einen seltsamen Befehl; eine Botschaft Mishras, die ihm von Porros, einem der jüngeren Magier, überbracht wurde, der auf einer Donnerwolke über den Morgenhimmel geritten kam. Porros landete im Innern des Hofes und übergab Samor eine Botschaft, die auf die abgerissene Ecke einer Feldzugkarte geschrieben worden war. Sie enthielt nur einige schwach lesbare Worte: »Ich stecke in Schwierigkeiten. Komm sofort.« Darunter haftete als Unterschrift Mishras königliches Siegel. Ein kleiner Kreis im Grenzgebiet zeigte den Platz an. »Wir fliegen zum Berg Sarrazan. Ich werde dich 6
führen«, rief Porros und klopfte sich den Sand aus den Gewändern. Samor schluckte etwas davon und wandte den Kopf ab, als Porros unbekümmert fortfuhr: »Rufe die anderen zusammen, damit sie uns helfen. Mishra bedarf unserer größten Kraft. Es handelt sich um einen Basilisken, Samor. Anscheinend hattest du recht; sie sind in der Tat echt.« »Mishra ist dort? Warum führt er seine Truppen wegen einer Ch'mina-Ernte in den Kampf? Lebt er noch? Man sagt, daß alle, die dem Blick eines solchen Monsters begegnen, sterben. Und wer hat dies Untier gerufen?« rief der Sammler besorgt. »Das war Urza. Sie soll eine Falle für seinenBruder sein. Urza muß einen Spion in unserer Mitte haben. Unser Herr Mishra wurde durch eine List dazu gebracht, die Truppen selbst zu führen«, antwortete Porros, dessen eigentümlicher Blick an den vielen Goldringen des Sammlers haftete. »Aber wir haben keine Zeit zu verlieren. Du bist der einzige, der das Lied kennt. Und der einzige, der alle Mitglieder des Zauberkreises kennt und uns versammeln kann.« Der unnatürliche Sturm tobte um sie herum, bog die Palmen in alle Richtungen und drohte, den sorgfältig gepflegten Garten zu verwüsten. Mit wehenden Gewändern starrte Samor den jungen Mann lange an, aber Porros weigerte sich, ihm in die Augen zu sehen. »Warte hier!« Der Sammler lief in sein Arbeitszimmer, um den Zauberkreis aufzurufen und vor dem Basilisken zu warnen. Aber er rief 7
nur eine Handvoll Magier zusammen; diejenigen, deren Stimmen sich zu dem alten Zauber vereinen konnten, den er eilig aus dem Bestiarium abschrieb. Dann gesellte er sich wieder zu Porros, die dunkle Magie der Donnerwolke hob sie empor, und sie flogen über die Wüste, auf den Berg Sarrazan zu. Als sie sich wieder der Erde näherten, flog das Monstrum auf die andere Seite des Berges. Nach und nach erschienen die Magier des Zauberkreises, von eigenen Winden herangetragen, und alle starrten mit ungläubigen Blicken auf den zwanzig Fuß tiefen Krater, in dessen Umkreis zerbrochene Felsen und Erdbrocken lagen. Schweigend nahm Samor die Ankunft aller, die er einberufen hatte, zur Kenntnis, während sie sich über das Schlachtfeld verteilten und die Verwundeten versorgten. Nachdem die Magier ihre Plätze eingenommen hatten, fügte Samor ihre Kraft der seinen hinzu; in jeder Sekunde, die verging, erwartete er die Wiederkehr des Monstrums. Er mußte nicht lange warten. Das Untier fuhr mit einem Schrei um die Bergspitze herum, der Samor Schauer über den Rücken jagte. Als er den Blick hob, um die Entfernung abzuschätzen und, wie er zugeben mußte, um einen Blick auf das Wesen zu werfen, das eine solche Vernichtung angerichtet hatte, erwartete er, ein riesiges Monstrum zu sehen, das wenigstens so groß wie Mishras Turm wäre. Aber der Basilisk, der mit unglaublicher Geschwindigkeit um die Spitze des Berges geflogen kam, war nur so groß wie ein schwe8
res Pferd. Beinahe vergaß Samor seine Vorsicht und sah weiter hin, denn seine Neugier ließ ihm keine Ruhe, wie das Untier mit den rot-grünen Schuppen den fruchtbaren Berghang in so kurzer Zeit derart verwüsten konnte. Aber dann wandte er die Augen ab, schaute wieder über das Schlachtfeld und war sicher, daß er nie zuvor solche Verwüstung geschaut hatte, nicht einmal damals, als die Brüder ganze almazaanische Wälder abgeholzt und dem Erdboden riesige Wunden zugefügt hatten. Der Basilisk hatte bereits ein ganzes Dorf und den Berghang zerstört; auch die wertvolle Ch'mina-Ernte, wegen der sich Mishra und Urza stritten, war völlig vernichtet. Sogar die Wasserquelle der Elfen, der Oberlauf des Sarrazan-Flusses, strömte schmutzig und faulig dahin. Als das Untier erneut über ihnen kreiste, hielt sich Samor die Augen zu. »Wie konnte es so einen Schaden anrichten, Porros?« rief er über den Lärm des Schlachtfeldes hinweg. »Es kam drei Stunden vor Sonnenaufgang«, erwiderte Porros, »und anfangs hielten wir es für eine von Urzas Maschinen. Zu Beginn jeder neuen Stunde änderte es seine Gestalt, seine Taktik und seine Richtung. Vor Tagesanbruch konnten wir nicht genau sehen, was uns bedrohte. Die meisten Leute, die durch seinen Blick starben, müssen es angestarrt haben, als es noch dunkel war. Offensichtlich verwandelte es die Säuren seines Atems und das Feuer seiner Augen, so daß es alle Sprüche der Jungmagier verschluckte. Bei 9
Tagesanbruch hatte sein Atem Hunderte vernichtet, und sein Blick ließ viele Hunderte zu Stein erstarren. Wie du siehst, starren sich die Brüder über die Körper der gefallenen Armeen und ihrer erfolglosen Magier hinweg noch immer wütend an. Sie sind ratlos. Wir mußten die Männer und Frauen, die gegen das Wesen kämpften, liegen lassen, ohne daß ihr Mut verzeichnet werden kann, denn die Schlacht tobte über ihren Leichen weiter!« rief Porros grimmig. »Schließlich schickte Mishra mich aus, um dich zu holen.« Samor wischte sich den Schweiß von der Stirn und fragte sich, ob das alte Lied, das er aus dem Bestiarium abgeschrieben hatte, wirklich helfen würde. Wieder blieb ihm wenig Zeit zum Nachdenken; hoch über ihren Köpfen umkreiste der Basilisk den Berg, flog immer schneller und vergrößerte seine Kreise wie der Zeiger einer Uhr. Wenn er nicht schnellstens handelte, würde ganz Almaaz bald aussehen wie der Berg Sarrazan. »Haltet euch die Augen zu!« erinnerte Samor die Magier, als sie das Kreischen des Monstrums vernahmen. »Seht es nicht an!« Porros gab die Worte weiter. Endlich entdeckte Samor Mishra und gesellte sich zu ihm. »Ich kenne bloß ein Lied gegen diese Art von Untier, aber das haben wir noch nie ausprobiert«, erklärte der Sammler dem König, während ein heißer Windstoß sie umfing. »Nun, dann benutze es oder du wirst mit uns allen 10
verloren sein!« brüllte Mishra unter dem Panzerhandschuh hervor, den bronzenen Armschutz fest gegen das Gesicht gedrückt. Genau in jenem Augenblick fegte der Basilisk in niedriger Höhe über sie hinweg, und sein Blick traf einen unvorbereiteten Krieger, dessen Rüstung plötzlich leer und angesengt zu einem Haufen geschmolzenen Metalls zu Boden fiel. Das Monstrum kreischte triumphierend, und sein heißer, stinkender Atem zerbarst mehrere riesige Felsbrokken, die im Wege lagen. Dann zog es weiterhin seine Kreise. Während Samor darauf wartete, daß der Basilisk wieder näher kam, verspürte er plötzlich das dringende Verlangen, das Monstrum einmal aus der Nähe zu betrachten, nur ein einziges Mal, um Wissenswertes zu erfahren, um in der Lage zu sein, die Zeichnung im Bestiarium zu berichtigen. Als Samor bewußt wurde, wie verrückt dieser Gedanke war, schüttelte er den Kopf und verjagte ihn. Bei der nächsten Runde, als sich die roten Augen des Wesens durch seinen Ärmel zu bohren schienen, ihn lockten und ihn die Worte des unvertrauten Spruchs vergessen lassen wollten, sang der Sammler zum ersten Mal den schwierigsten Schutzzauber, den er je gewirkt hatte. Das Herz schlug ihm schmerzlich und unregelmäßig in der Brust als das Lied durch die Luft hallte. Einzelne Mitglieder des Zauberkreises vereinten lautlos ihre Magie zum Schutz, während Samors älteste Freunde das Wagnis der Entdeckung eingingen und sich seinem Gesang anschlossen, bis 11
das Kreischen des Basilisken von der Musik übertönt wurde. Anfangs änderte sich kaum etwas: Das Wesen schwankte und wankte nur hin und her, richtete sich aber immer wieder auf und schlug wie wild mit dem Schnabel und den Klauen um sich. Dann jedoch klärte sich plötzlich der Himmel auf, und auch die Quelle der Elfen regte sich frisch und sprudelnd, während die hellen Klänge des Liedes über die Wellen tanzten und den Flug des Monstrums unterbrachen, dessen Flügel sich ineinander verfingen. Noch eine kurze Weile, dachte Samor, dann wird es tot am Boden liegen. Dann ertönte ein schrilles, widerwärtiges Geräusch und suchte das Lied zu ersticken. Überrascht brach Samor ab, als die Macht des Zaubers von einer dunklen, bösen Kraft durchdrungen und abgelenkt wurde. Von der Musik zu Fall gebracht, lag das Wesen strampelnd am Boden, war aber nur benommen und weit vom Tode entfernt. Ist das möglich? wunderte sich Samor. Irgend jemand hat falsch gesungen. Wir haben es nur zum Schlafen gebracht! Da seine Augen noch immer von seinem Ärmel bedeckt wurden, hörte Samor nur, wie sich der Basilisk immer wieder zu erheben versuchte, mit dem Schnabel klapperte und mit den Flügeln schlug. Noch schlimmer, Samor wußte, daß er zu nahe an dem Untier stand. Er fühlte den schlechten Atem, und eine neue Verlockung, das Untier anzusehen, drängte 12
sich in seine Gedanken. Die Gewißheit, einen Verräter im Zauberkreis zu haben, entsetzte ihn, und er hatte das Vertrauen in den einzigen Spruch, den er dem Basilisken entgegenstellen konnte, verloren. So beugte sich der Sammler dem unerträglichen Druck, riß die Arme vom Gesicht und wagte es, das Wesen anzusehen. Er hatte ein scheußliches, häßliches Monstrum erwartet. Er hatte damit gerechnet, es abstoßend zu finden. Statt dessen war Samor sofort fasziniert. Nie zuvor hatte er so schöne Farben gesehen; es war, als sei ein ganzer Regenbogen in den Schuppen und Federn des Schwanzes eingefangen. Als das Sonnenlicht auf den Basilisken fiel, wechselten die Flügel die Farbe, wetteiferten mit dem Glanz der Sonne, die durch die Wolkendecke brach und verblaßten, als Schatten über sie hinwegzogen. Das Untier wälzte sich hin und her, schrecklich und majestätisch im Kampf gegen den magischen Schlaf. Die gelben Krallen wühlten große Brocken der verwüsteten Erde auf, die mit Klauen versehenen Flügel kratzten über die zerbrochenen Felsen, auf denen es lag. Schnell fand Samor die Sprache wieder, konnte sich aber nicht abwenden, bevor das Wesen eines der grausigen roten Augen auf ihn richtete, seinen Blick gefangennahm und den Sammler durch die Macht der Angst festhielt. Samors Herz schlug wie wild. »Fürchte dich nicht«, hatte das Buch gesagt. Er kämpfte, um ihm zu gehorchen. Aber Porros war zu früh gekommen, Samor 13
hatte keine Zeit gehabt, sich die Worte zu eigen zu machen und in seinem Herzen zu versenken, wo sie ihm Schutz bieten würden. Samor war nur in der Lage, gebannt festzustellen, wieviel Klugheit und Schläue im rubinroten Auge des Untiers zu entdecken waren, wie der Basilisk ihn ergründet hatte, wie er das Lied gelernt hatte, und wie sehr er ihn und alle lebenden Wesen haßte, die wagten, ihn herauszufordern. Samors Beine gaben nach, und er fiel auf die Knie. Der Schnabel des Monstrums bohrte sich in den Boden, aber es war nicht in der Lage, den Kopf zu wenden, um den Sammler mit beiden Augen anzusehen und ihn dort, wo er kniete, zu Stein erstarren zu lassen. Zitternd, den Tod in jenem schlafverhangenen roten Auge sehend, wußte Samor plötzlich, daß der Zauber nie wieder wirken würde. In der seltsamen Stille hatten die übrigen Magier begonnen, sich zu regen. Der Samor am nächsten stehende Jungmagier kroch auf ihn zu, um nach dem reglosen Meister zu sehen. Samor spürte die Augen des Jungen auf sich ruhen, konnte aber nichts tun und den Blick nicht aus der tödlichen Umklammerung lösen. Der Jungmagier dachte kurz nach. So schnell und gewandt er vermochte, legte er den schweren Umhang ab, wirbelte ihn vor Samors Gesicht herum und brach so den Bannzauber des Ungeheuers. Der Basilisk zischte und stemmte sich mit den Flügeln hoch; die Krallen zerfetzten und zerrissen den Jungen, 14
als Samor hinten überfiel und gegen die lähmende Angst kämpfte, die durch die gellenden Schreie des Knaben verstärkt wurde. Fieberhaft dachte er über ein anderes Schutzlied nach. Aber es gab keines, kein einziges. Sekunden verrannen, und der Basilisk drehte sich im Kreis, langsam den Schlaf abschüttelnd. In seiner Panik fiel Samor nur eine einzige Melodie ein, die er vor kurzem benutzt hatte, um Lesta beim Umgraben ihres Gartens zu helfen. Der Zauber war weder tödlich noch heldenhaft und konnte mit Leichtigkeit versagen, eine Öffnung zu schaffen, die groß genug war, das Untier aufzunehmen. Damit wäre Samor am Ende gewesen, aber das war alles, was er noch hatte. Der Magier erhob sich, hielt sich mit äußerster Willenskraft die Hände vor die Augen und legte die ganze Kraft seines Herzens in das kleine Pflanzlied. In seiner Verzweiflung erreichte seine Stimme eine Kraft, die ihm fremd war. Die Steine eines seiner Ringe glühten mit der Kraft, die sie aus dem Land zogen, und ihre Facetten leuchteten so hell wie das Gefieder des Basilisken. Bevor er noch zu Ende gesungen hatte, barst die verwüstete Erde krachend auf und verschluckte das kreischende, flügelschlagende Ungeheuer. Die Magier des Zauberkreises stimmten in die letzten Töne des Liedes ein; ihr Kontrapunkt zog Kristalle aus dem verbrannten Boden und schichtete sie über dem Monstrum zu einer glänzenden Tür auf. Der ganze Berg erbebte und dröhnte, als der 15
Sammler die Schlußnote sang, und diesmal - endlich war nichts mehr von dem Basilisken zu hören. Ein oder zwei Sekunden lang herrschte völlige Stille. Samor schaute sich um: Die Kraftströme des letzten Liedes und das Zittern des Berges hallten ihm noch lange in den empfindlichen Ohren wider, erschütterten seine Knochen und drohten, ihn taub werden zu lassen. Aber schließlich gelangte er zu der Erkenntnis, daß Almaaz und Sumifa, das ganze Land und die Völker, in Sicherheit waren. Der kurze Kampf war sie teuer zu stehen gekommen. Zusammen mit elf Dorfbewohnern und einer gesamten Legion der besten Lanzer Urzas lagen auch vier der ältesten Mitglieder des Zauberkreises tot am Boden; einige von ihnen Hand in Hand, die Augen aufgerissen, die Körper zerfetzt oder zu Stein erstarrt. Ein paar Menschen fand man gar nicht mehr. Mit schmerzenden, dröhnenden Ohren und einem Herzen, das durch den schrecklichen Blick des Ungeheuers bang klopfte, kletterte der Sammler über rauchende, zerschmetterte Ahornbäume und schneeweiße Birkenstämme, über die verwüsteten Terrassen der Ch'mina-Ernte der Elfen, um seine letzten Pflichten zu erfüllen. Er fand und begrüßte Urzas obersten Magier und schritt dann zurück zu den übriggebliebenen Mitgliedern seines geliebten Zauberkreises. Nach dem letzten Lied hatten sie sich klugerweise wieder verstreut und waren zwischen den übrigen Magiern 16
inmitten der Verwundeten und Sterbenden damit beschäftigt, sich um die letzten oder zukünftigen Bedürfnisse der Menschen zu kümmern. »Samor...« Aswi der Absender ergriff ihn am Ärmel, als er vorüberging. »Es ist Praden... Ich glaube, er wurde von einer Kralle getroffen, als sich das Ungeheuer am Boden wand.« In der Mitte des größten Kraters lag Praden der Pflanzer, Samors bester Freund, und hielt einen großen, glatten, eiförmigen Stein umklammert. Er drückte den seltsam aussehenden Stein mit seinen Händen so fest, als wollte er ihn zerquetschen. Das ganze Blut war aus Pradens Körper gewichen. Am Hals klaffte eine handbreite, häßliche Wunde. Der Sammler weinte, als er den bleichen Leichnam aufhob und sanft zu den anderen Körpern legte. Weitere Tränen rannen, als Aswi die Leiche des Jungmagiers brachte. Samor konnte sich nicht an den Namen des Jungen erinnern. »Samor, der Kokonspruch ... du mußt uns leiten.« Aswi winkte ihm. ››Ich kann nicht...«, antwortete Samor. »Du mußt. Du bist unser Meister«, stellte Aswi ruhig fest. »Wir werden dir folgen. Mach nur den Anfang.« Dann stimmten alle ein; sämtliche Magier Mishras halfen, die Erde auszuhöhlen und die Körper sanft in die neu geschaffenen Grabkammern zu betten. Während jenes leisen Liedes war Samor nicht mehr in 17
der Lage, seine Gefühle zurückzuhalten - er, der nie zuvor Zögern oder Kompromisse gekannt hatte, zitterte heftig, als ihn die alles verschlingende Angst zu verzehren drohte. Während der Rituale sahen die inzwischen noch wütender und feindlicher gewordenen Brüder zu, da keiner von beiden den Sieg beanspruchen konnte weder Urza auf seinem entfernt liegenden Berggipfel, noch Mishra auf seinem Streitroß auf dem rauchenden Schlachtfeld. »Nun, ist es tot?« fragte Mishra und trieb sein schnaubendes Pferd zu Samor hinüber, der als letzter vor dem neuen Grab stand. »Nein. Diese ... diese hier sind tot.« Er wies mit der Hand auf den Erdhügel. »Das Monstrum schläft nur. Es wurde wie ein Samen in die Erde gepflanzt. Eingeschlossen. Würde die Mauer zerspringen, würde sich der Basilisk wieder erheben und losfliegen, wahrscheinlich zu seinem Nest. Seht Euch die Spuren seiner Zerstörung an.« Samor deutete auf die Kreise der Verwüstung, die in den Berghang gezogen worden waren, und ließ dann beschämt den Kopf hängen, da er nach Worten suchte, um Mishras Vergebung zu erlangen. Bevor er weiterreden konnte, brach Mishra in Gelächter aus und schlug ihm fest auf den Rücken. »Gut gemacht, Samor, sehr gut. Sehr schlau von dir, ein so seltenes und tödliches Untier nicht gleich umzubringen. Es ist eine brauchbare Reserve. Seitdem 18
du nicht mehr am Hof weilst, scheinen deine Kräfte zugenommen zu haben - als besäßest du die Kraft von hundert oder mehr Magiern. Ich frage mich, wieso? Insbesondere, weil ich doch alle Almazaan-Magie habe verbieten lassen. Du weißt nicht zufällig etwas darüber, oder?« Samor wich Mishras stechenden schwarzen Augen aus, da er sicher war, der Listige würde ihm jedes Mitglied des Zauberkreises von den Augen ablesen können. »Natürlich weißt du nichts davon«, fuhr Mishra fort. »Samor, mir fällt da etwas ein. Es wird einem Zauberer deiner Fähigkeiten keine Umstände bereiten. Erfinde mir einen Spruch, der das Untier befreien kann. Ein Ungeschehenmachen, wenn du so willst. Und füge noch ein Lied über meinen Triumph hinzu. Etwas Einfaches, Einprägsames, beinahe Schlichtes«, erklärte Mishra und lächelte böse. »Und ich will, daß mein Bruder davon erfährt - daß ich lernen werde, dem Ungeheuer zu befehlen, daß er nur rufen konnte. Samor, laß uns ein großes Bildnis - ich stelle mir beispielsweise eine Uhr vor - auf dem Berghang anbringen, als Erinnerung daran, daß das Monstrum der Stunden nur so lange schläft, wie ich es nicht erwecke.« Er bückte sich, hob eine Handvoll des geschwärzten Sandes auf und ließ ihn langsam durch die Finger rinnen. »Ich werde die Inkarnation Caelus Nins sein. Urzas Zeit liegt in meiner Hand.« Mishra lächelte. 19
Entsetzt, und mit dem Anblick des Ungeheuers im Kopf, dachte der Sammler augenblicklich an seine Tochter Claria, wie sie mit ihren Papageien spielte, an seine wunderbare, fröhliche Gemahlin, an die vertrauensseligen Nachbarn in Sumifa und die Gesichter und Stimmen, die ihm während seiner Reisen begegnet waren. Und was war mit seiner Sammlung, dem ganzen Wissen und der Kunst? Was war mit den gefallenen Männern und Frauen, denen er gerade das Lied des Schlafes der Verwandlung vorgesungen hatte? Was war mit Praden, der in den kurzen Augenblicken starb, als Samor mit dem tödlichen Blick des Basilisken gerungen hatte? Was mit dem namenlosen Jungmagier? Zu welcher grauenvollen Verwüstung würden sie auferstehen, wenn die Zeit der großen Erweckung gekommen war? Er konnte sie nicht länger beschützen. Ihn schauderte, als er in die grausamen grauen Augen des zu allem entschlossenen Königs blickte. Eines wußte Samor: Wenn er das Ungeheuer jetzt nicht hatte töten können, würde er es niemals besiegen. Würde es befreit, dann würde es ganz Almaaz mit völliger Vernichtung heimsuchen. Langsam schüttelte er seinen dunklen Kopf und verweigerte zum ersten Mal in den mehr als zwanzig Jahren, seitdem man ihn gekauft und an den Hof des Listigen gebracht hatte, einen Befehl des Königs. »König Mishra, ich bitte Euch, mir eher das Leben zu nehmen, als daß ich zustimmen könnte, die Welt wieder einer solchen Gefahr auszusetzen. Ich bitte 20
Euch untertänigst zu bedenken, daß dieses Grauen nicht nur Eure Feinde angreifen wird. Statt dessen flehe ich Euch an; Laßt mich meinen Fehler berichtigen und einen Weg finden, das Monstrum für immer einzusperren oder noch tiefer in der Erde zu versenken. Es zu behalten würde letztlich nur das Ende allen Lebens bedeuten. Denn wo es einen Weg zur Befreiung gibt, da folgt auch ein Wille. Bitte erlaßt es mir, den Weg zu bereiten.« »Folge meinem Befehl und meinem heiligen Zepter oder - bei den sechs Verwünschungen des Caelus Nin - ich werde dir deine kostbarsten Schätze für immer entreißen, Samor.« Samor brauchte keine weiteren Erklärungen, um zu wissen, daß der König von Claria und ihrer Mutter Lesta sprach. »Wie kannst du es wagen, dich so zu benehmen, als seiest du ein freier Mann? Ich kann jederzeit einen neuen Magier finden, während du meine Folterkammer zierst. Und wie viele andere würden dir dahin folgen, hm? Ich gewähre dir zwei Tage Zeit«, knurrte Mishra. Der Sammler verneigte sich, die Augen brannten von ungeweinten Tränen, und er nickte mit dem Kopf. Was bedeuteten schon zwanzig Jahre ehrenvoller Dienste, wenn man ihn nach Mishras Meinung so leicht ersetzen konnte? Der Große Listige würde seinen Willen bekommen, und irgendwann würde jemand entdecken, wie man das Ungeheuer wecken und befreien konnte.
21
Lange nachdem die Brüder und ihre Armeen den Berg hinabgewandert waren, verweilte Samor noch, tief in Gedanken versunken. Der Rauch der verbrannten Bäume drang ihm in die Nase, die traurigen Stimmen der entsetzten Elfen hallten die ganze Nacht in seinem Herzen wider. Es schien keine zufriedenstellende Antwort zu geben. Wenn er tat, was Mishra verlangte, würde die Welt mit Sicherheit erneut eine Verwüstung erfahren, wie sie nie zuvor gesehen ward. Wenn er sich weigerte, würde Mishra seine Familie und sein Leben zerstören, der Kreis würde entdeckt, das Buch verbrannt, der Zorn des Listigen über sie ausgeschüttet, und ganz Almaaz wäre seinen wahllosen Verrücktheiten schutzlos ausgeliefert. Derzeit waren die Angehörigen des Zauberkreises die einzigen, die das Land hüteten und heilten, nachdem Mishra und Urza darauf herumgetrampelt waren. Der einzige Weg, eine Kristallmauer zu öffnen, die der Zauberkreis geschlossen hatte, bestand darin, einen Laut zu erzeugen, der so gewaltig war, daß der Benutzer auf der Stelle taub wurde. Keine menschliche Stimme konnte solche Schwingungen hervorbringen. Das Sternbild der Drei Schwestern war nach Einbruch der Dämmerung aufgegangen, und noch immer kämpfte Samor mit seiner Angst, seinem Gewissen und seiner Vorstellungskraft. Um Mitternacht, als die Monde aufgingen, wanderte er blindlings den Berg hinab. 22
Bei Sonnenaufgang gelangte er in ein ihm unbekanntes Tal. Rings umher erhoben sich Türme aus glänzendem Ganzit, von denen einige mehrere hundert Fuß hoch in den Himmel aufragten, wie dünne Finger, die mit der Luft spielten und leise Seufzer und ein Wispern helltönender Musik ausströmten, als handele es sich um die Stimmen der Elfen selbst. Dann blickte der Sammler nach oben und sah, wie die Sonne auf die Kristallwand schien. Der grelle, blendende Schein schmerzte ihm in den geschwollenen Augen. Bisher war er einer Lösung nicht näher gekommen. Als sich die Sonne aber über den Ganzittürmen erhob, fegte der Wind hindurch, und der Sammler fand sich inmitten eines donnernden Chors berauschender Musik und Tausender bizarrer Spiegelbilder seiner selbst wieder. Trotz seiner Schwierigkeiten und seiner niederdrückenden Sorgen lachte Samor hysterisch und verursachte ein nie enden wollendes Echo. Jeder Widerhall verdoppelte die Lautstärke und Kraft des vorangegangenen Tons. Er versuchte, Teile altbekannter Melodien gegen die Kristalle zu klopfen - von den sanftesten Tönen bis hin zu den kraftvollsten Schlägen. Nach wenigen Augenblicken glaubte er, einen Weg gefunden zu haben, um Mishra das zu geben, wonach er verlangte. Er machte sich an die Arbeit, wanderte durch das seltsame Tal und untersuchte jeden Turm auf seine 23
Besonderheiten hinsichtlich der Klänge und Töne. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte er den richtigen Turm entdeckt. Es handelte sich um den größten im Tal, an dessen Fuß sich ein kleiner Schlitz in Samors Augenhöhe befand. Wenn man den Spalt verschlösse, würde der Wind den Klang des Turmes gegen die übrigen Ganzitriesen werfen, das Echo erklingen lassen, und die seltsame Musik würde zu solcher Lautstärke anschwellen, daß sie schließlich zerspringen mußten. Dem Sammler war bekannt, was diese gewaltigen Töne noch ausrichten konnten. Die Schwingungen würden einen großen Sturm hervorrufen, der durch das tiefe Tal fegen würde. Die ungezähmte Stimme des Sturmes würde immer kräftiger und stärker werden, wenn sie durch das öde, leere Tal brauste. Wenn sie den Berghang erreichte, mußte das ohrenbetäubende Geräusch den Laut erzeugen, der die Kristalltür aufbrechen konnte. Nach einer Weile fand Samor ein kleines Stück Ganzit, das wie ein Schlüssel in den Spalt des erwählten Turmes paßte. Er belegte es mit einem Zauber und paßte es der kleinen Öffnung genau an. Dann steckte er es in seinen Ärmel. Jetzt mußte er sich nur noch um Mishras Triumphlied kümmern. Wieder sah er zum Berg empor, auf die glänzende Kristallwand, die das Ungeheuer gefangen hielt. Regenbogen tanzten auf der Oberfläche und erinnerten ihn an die Schönheit des Gefieders. Sofort begann sein Herz wie wild zu klopfen, denn er dachte an den 24
Blick des Untiers, und er fühlte sich, als könne der Basilisk seine Gegenwart noch immer spüren. Samor atmete tief durch und sagte: »Beim Geist des heiligen Buches, du hast keine Macht über mich. Ich verfluche deine Bösartigkeit! Eines schwöre ich; Das Lied, das dich befreit, wird dich auch vernichten!« Zitternd stand Samor da, als seine Worte von plötzlicher Kraft durchdrungen wurden und ihn von der zermürbenden Angst befreiten. Er fühlte das Monstrum im Schlaf um sich schlagen, um ihn in die schrecklichen Erinnerungen zurückzutreiben, damit es wieder erwachen und wahrhaftig erscheinen konnte. »Nein«, sagte er nur, und das Bild in seinem Kopf erlosch, als habe es ihn nie geängstigt und seine Phantasie nie gefangengehalten. Über alle Maßen erleichtert und erschöpft vergaß Samor aber nicht, daß er noch Arbeit vor sich hatte. Gedankenverloren nestelte er an einem Anhänger herum, den er an einer Kette um den Hals trug. Er dachte an eine Melodie, die gleiche Melodie wie die von Clarias Namenslied jene einfache, vollkommene Tonfolge, die Ordnung in jedes Durcheinander brachte. Immer wieder schwirrte sie ihm im Kopf herum. Er überprüfte seine Berechnungen. Prüfte sie noch einmal. Dann lächelte er. Wenn Mishra den Ganzitschlüssel ins Schloß steckte und das Triumphlied sang, würde es sich um Clarias kleines Lied mit der harmonischen Melodie handeln, das die Kristallmauer einstürzen ließ und das Monstrum an seinen ange25
stammten Platz zurückschicken würde. Mishra sollte seine Uhr haben. Und Almaaz blieb noch Zeit. Mit leichteren Schritten wanderte Samor nun den Berg zum Schlachtfeld hinauf. Riesige Schmeißfliegen schwebten über den rauchenden Trümmern und Erdspalten - offene Wunden der Erde. Der Geruch des Todes drang Samor in die Nase. Morgen würden Mishras Steinmetze hier erscheinen, um das riesige Stundenglas zu bauen, das der Listige als rechtmäßiges Wahrzeichen für den Standort seiner neuesten Waffe bestimmt hatte. Es hätte ein Grabstein sein sollen, dachte Samor, für die Tausende, die in diesem widerwärtigen Kampf starben. Mit Hilfe der Elfen heilte sich der Wald selbst, was an dem zarten grünen Schimmer über dem aufgewühlten Erdboden und den winzigen Blättern an den Bäumen sichtbar wurde. Schon bald würden die ›Andenken‹ an den Tag des Ungeheuers von dem dichten Unterholz und Gestrüpp des Waldes von Sarrazan bedeckt sein. »Ja, das stimmt. Dafür werden wir sorgen«, sagte eine silbrige Stimme. Beunruhigt drehte sich Samor um und fand sich einem hochgewachsenen, blonden Elfen gegenüber, der nur wenige Fuß entfernt stand. »Du kannst meine Gedanken hören?« fragte Samor, dessen Neugier im gleichen Maße stieg, wie sich sein Arger verringerte. »Nicht ganz. Aber ich kann in deinem Herzen lesen, deine Augen beobachten und sehen, wohin sie 26
schweifen und was sie entdecken. Wir haben dich die ganze Nacht beobachtet. Wir fragten uns, ob wir es dir leicht machen und dir einen Pfeil durchs Herz jagen sollten. Aber dann würde der Tyrann einen anderen schicken, und jener könnte sich vielleicht weniger um das Leben sorgen, als du es tust. Daher beschlossen wir zu warten und wollten sehen, ob du deine Angst überwindest. Du hast dich tapfer gehalten.« Samor schüttelte den Kopf. »Nein, mein Freund. Ich bin nur ein Sklave und habe zwischen zwei Übeln gewählt. Ich entschied mich für das geringere und das aus Eigennutz. Ich bete darum, daß Mishra diesen Ort und das, was er verlangte, vergessen wird. Vielleicht wird einmal einer kommen, der das Untier für immer vernichten kann. Ich schaffe es nicht.« »Wie du meinst. Das Monstrum wird, wie alle Dinge, dereinst seinen Heimweg finden. Es ist noch Zeit«, antwortete der Elf. »Ja. Jetzt haben wir noch Zeit. Ich bete, daß sie ausreicht. Sage mir, mein Freund, wer bist du, und wie nennst du dieses Tal? Ich möchte den Namen in meine Bücher schreiben.« Der Elf dachte nach und stand lange Zeit schweigend da. Dann sagte er: »Ich werde Sh'Daran genannt. Dieses Tal nennen wir Das Glockenspiel. Auch wenn du den Namen kennst, so werden in Kürze nicht einmal die kämpfenden Brüder diesen Ort wiederfinden können. Unsere Welten scheinen sich voneinander zu trennen, wenngleich sie wahrscheinlich immer 27
irgendwie miteinander verbunden bleiben. Gehorche fürs erste dem ungerechten Tyrannen, denn das ist deine Pflicht und das verlangt deine Ehre, obwohl er selber ehrlos ist. Du wirst Hilfe bekommen. Aber paß gut auf dich auf. Ein anderer, der die Melodien verstimmt, ist dir ebenfalls Tag und Nacht gefolgt.« Der Elf verzog den Mund zu einem eigentümlichen, wissenden Lächeln. Bevor sich Samor nach dem Verräter erkundigen konnte, trat der Elf zurück und rief ein paar Worte in seiner eigenen Sprache. Ein Vorhang aus Licht erschien zwischen ihnen, und sofort wuchsen Ranken und Gräser zu ihren Füßen empor und verdeckten den Elfen. Ein Windstoß fuhr durch das Tal, trug den Befehl des Elfen davon und warf ihn als Echo gegen den Berghang. Der Sammler schaute staunend zu, als das Schlachtfeld vor seinen Augen ergrünte und Blumen auf dem Grabhügel, unter dem seine Freunde ruhten, sprossen. Ein dichter Wald ersetzte innerhalb von Sekunden die Schäden, die das Monstrum angerichtet hatte. Aber die Kristallwand blieb bestehen, wie eine helle Narbe auf dem Berg, die nicht einmal durch das frische Grün und den sanften Hauch des Windes geheilt wurde.
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KAPITEL 2 Ein Windstoß rüttelte an den Fensterläden, ließ aber sofort wieder nach. Innerhalb der Stadtmauern kühlte Samors großes Haus im langen Schatten des Palmenhains langsam ab. Die schlanken Schatten der Bäume wagten sich durch die hohen Fenster und über den blau gefliesten Boden. Samor wischte sich den Schweiß von der Stirn, während er gedankenverloren seine schreckliche Entscheidung überdachte. Als er von seinem unberührten Currygericht aufsah, bemerkte er, daß er allein am Tisch saß, und der geduldige Diener wartete darauf, abräumen zu können. Leicht verlegen schob Samor das erkaltete Essen beiseite und ging die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hinauf, sah aber noch einmal nach seiner kleinen Tochter, bevor er sich hinter der schweren Holztür aus Teak für die Nacht zurückzog. Das Kind lag schlafend im Bett, die erschöpfte Dienerin lag leise schnarchend auf der Schwelle, während eine schwarzgekleidete Jumawächterin, deren goldene Augen in der Dunkelheit leuchteten, aufrecht in der Ecke am Fenster saß. Samor summte das Namenslied der Kleinen, als er über das Kindermädchen stieg und das Netz über Clarias Bett zurechtzupfte. Die Wächterin rührte sich nicht, aber der Sammler sah, wie sie ihn anstarrte, die Hände im Dämmerlicht bewegte und die endlosen Bewegungen wiederholte, die ihre Gefährtinnen und sie immer 29
wieder übten. Die Juma konnten mit einem Fingerschnippen oder einem schnellen Stoß mit dem Ellbogen töten. Samor wünschte der Wächterin mit einer lautlosen Verbeugung eine gute Nacht und ließ seine Tochter schlafen. Kurz darauf ließ er in der Abgeschlossenheit seines unaufgeräumten Arbeitszimmers seinen schweren Körper in einen bequemen Stuhl mit roten Seidenkissen sinken, die kleine Melodie noch immer auf den Lippen. Samors einzige Frau, Lesta, hatte sich mit ihren Dienerinnen unten im Hof niedergelassen. Die hohen Stimmen wetteiferten mit dem Gekicher der juwelenäugigen Papageien und dem Plätschern der rosa und türkis gefliesten Springbrunnen. Der Gesang und die Geräusche schwollen angenehm an und ab. Aber bald, wie es nach einer Weile immer geschah, bemerkte Samor keinen Laut mehr außer dem Zeitmesser, dessen Messingpendel im Rhythmus wie ein Herzklopfen hin und her schwang. Der Zeitmesser - eine seltsame Kombination aus Uhr und Musikinstrument war das einzige Stück aus seiner Heimat und die einzige Erinnerung an seine Freiheit. Wenngleich der Sammler diese Tageszeit schon eine Zeitlang nicht mehr hatte genießen können, so war sie doch die schönste für ihn. Er liebte das wundervolle Haus, liebte dieses seltsame Land mit seinen kühlen, trockenen Abenden, dem würzigen Duft des in der Nacht blühenden Jasmins, der sich im 30
sanften Windhauch wiegte, und in der Ferne konnte er die Berge Halquinas, seiner Wüstenheimat, rot aufleuchten sehen. Keine Bewegung störte die Sandberge, kein Geräusch erklang außer dem fast unaufhörlichen Chor der hitzeliebenden Zikaden. Im Osten hatte die Dunkelheit den herrlichen Palast des Listigen bereits eingehüllt, dessen hohe weiße Türme von Tausenden brennender Fackeln konturiert wurden. Aber hier, in der befestigten Stadt Sumifa, in die Mishra seinen Historiker und zeitweiligen Botschafter in Almaaz, Samor, gebracht hatte, verblieb noch ein wenig Licht, obwohl das Stundenglas in den westlichen Händen des Zeitgottes leer war. Samor sah zu dem Zeitmesser hinüber, um die Uhrzeit festzustellen. Er durfte nicht länger warten. Sein Blick wanderte zum Fenster zurück, und er schaute noch einmal nach Westen, bevor die lange Nacht hereinbrach. Als er eine kleine Staubwolke bemerkte, die vom Sonnenuntergang eingerahmt wurde und sich am Fuße der roten Felsen bewegte, runzelte er die Stirn. Vielleicht ein Wagen oder eine jahreszeitlich bedingte Windbö, aber eigentlich war es dafür noch um vierzehn Tage zu früh. Er verjagte einen dunklen Gedanken aus seinem Kopf. Oftmals reisten die Mitglieder des Zauberkreises mit einem Wirbelwind, und einer von ihnen - der Verräter - wußte alles über Samors Ausführung von Mishras Befehl. Obwohl Samor weder Beweise noch Zeugen hatte, wußte er im Innersten seines Herzens: 31
Porros, sein Lieblingsschüler, der den Beinamen ›Der Raptor‹ trug, der Prinz und zukünftige König Sumifas, war zu ungeduldig und zu stolz, um zu warten, bis ihm Samor die Leitung der geheimen magischen Bruderschaft übertrug, und hatte sein Gelübde gebrochen. Die Staubwolke verschwand vom Horizont. Oh, nein. Samor rieb sich die Augen. Ich bin müde und bilde mir vielleicht grundlos etwas ein. Du kannst nicht mehr wissen, als du am Tage des Untiers gesehen hast. Ich bin sicher, daß du noch einmal versuchen wirst, mich zu überrumpeln, zu einem, günstigeren Zeitpunkt. Samor schlug ein Schutzzeichen und verbannte die finsteren Gedanken. Das beharrliche Ticken des Zeitmessers brachte ihn zu seinem unmittelbaren Vorhaben zurück. Er drehte das zierliche Gerät auf die Seite und steckte das Amulett, das er um den Hals trug, in das Schlüsselloch, drehte die Musikspule auf, wartete eine Weile und lauschte dann hingebungsvoll der fröhlichen Melodie. Er sang dazu und suchte nach Harmonien und Abweichungen, die zu seinem Zweck paßten, und seine Gedanken beruhigten sich, während die gleichmäßigen Bewegungen des Pendels die Zeit maßen. Die kleine Maschinerie des Zeitmessers vermittelte ihm immer das Gefühl von Beständigkeit, von Rechtschaffenheit. Er entspannte sich und begann zu glauben, daß er Mishras unmöglich gesetzte Frist erfüllen und in 32
wenigen Stunden dem Boten mit der Neuigkeit gegenübertreten konnte, er habe einen Weg gefunden, den Befehl des Listigen zu erfüllen. Dann konnte auch Samor so ruhig schlafen wie seine Tochter. Das Ticken des Zeitmessers erfüllte den plötzlich sehr stillen Raum. Der Magier schüttelte die Gedanken ab und klingelte nach dem Diener, der sofort erschien und ihm mit Hellsicht gemischten Tee einschenkte, bevor er lautlos wie ein Schatten wieder verschwand. Der Sammler zog den völlig klaren Stein, der die Länge eines Dolches hatte, unter dem Sockel des Zeitmessers hervor. Er hatte beschlossen, daß der glänzende Obelisk, der erste Schlüssel zu Mishras ›Uhr‹, Clarias Namenstotem sein sollte. Als Mishra sich vom Schlachtfeld entfernt hatte, hatte Samor um die Erlaubnis gebeten, die ihm der Listige auch erteilt hatte. Der König hatte nur gefragt, ob Claria alt genug sei, ein Totem zu haben und die Neun Schrecklichen Kinderkrankheiten überlebt hatte. Es war Mishra egal, wie oder wo Samor den Zauberspruch versteckt hielt, solange er ihn haben konnte. Der Stein bildete vom Fuß bis zur stumpfen Spitze ein makelloses Prisma. Die letzten Sonnenstrahlen verfingen sich in dem Kristallkern, und die Farben teilten sich, spiegelten sich in Samors Goldring, wurden unter der Kuppel des Zeitmessers vergrößert und verloren sich dann auf dem dicken Jerubiantep33
pich unter seinen Füßen. Wieder summte der Sammler die Melodie, wobei er die Magie seines Rings mit den vier Steinen hinzufügte. Die Juwelen leuchteten, der farbenprächtige Regenbogen teilte sich und stieg in die Luft empor; seine Ranken und Wellen woben sich durch die Melodie wie die Bänder, die sich Claria in das lange schwarze Haar flocht. Der Sammler sang aus vollem Hals und sang Clarias Namen in der Glyphensprache. Die Farben verflochten sich zu dem Abdruck einer zierlichen Frauenhand - der genaue Umriß der Hand seiner geliebten Lesta - mit langen, schönen Fingern, von denen der erste und der zweite über dem ersten Gelenk leicht gekrümmt waren. In Lestas Familie tauchte diese Eigenart in jeder Generation bei einer Frau auf - die Familie nannte sie die Hand des Bogenschützen, aber niemand wußte Genaueres darüber. Aus der Art, wie sich Clarias kleine Finger krümmten, konnte Samor ersehen, daß auch ihre Hand eines Tages in diesen Abdruck passen würde. Der Sammler beendete das Lied und lächelte, als sich der Regenbogen wieder vereinte und sich in dem Stein niederließ. Er polierte den glatten, kalten Stein mit einem weichen Tuch, um die eigenen Fingerabdrücke von der Oberfläche zu entfernen, vermied aber sorgfältig, den Daumenabdruck Clarias, den sie auf den Fuß des Stein gedrückt hatte, wegzuwischen. Dann klemmte er sich die Lupe der Juwelenhändler 34
ins Auge, zog noch einmal den Schlüssel des Zeitmessers hervor und verglich den eingravierten Abdruck mit dem frischen. Sie stimmten genau überein. Samor nahm eine Klammer, einen zierlichen Hammer und einen diamantenen Miniaturmeißel aus der obersten Schublade des Schreibtisches und legte sie auf den Tisch. Der Wind draußen war stärker geworden und sorgte für die plötzliche Kälte im Zimmer. Selbst die Abende der heißesten Tage konnten hier oben in Sumifa sehr kalt werden. Der Sammler nahm einen Schluck des heißen, duftenden Tees zu sich, um sich zu beruhigen und um sich zu konzentrieren. Er zog die weite violette Robe enger um den Körper und besann sich auf die Namen seiner Vorfahren, bevor er sie in das Totem eingravierte. Auch wenn keiner der Alten es begriff, vielleicht würde Claria oder eines ihrer Kinder verstehen, was er getan hatte. Unter Umständen wüßten sie bis dahin auch, wie man das Untier töten konnte, wenn er selbst es nicht herausfand. Der Sammler hatte einen Hoffnungsschimmer. Er setzte den Meißel an einer Seite des Prismas an und begann mit der Gravur, wodurch er den Regenbogen zum Tanzen brachte. Der Wind hatte inzwischen die weißen Leinenvorhänge am Fenster erfaßt und blies sie auf, während er gleichzeitig an den Fensterläden aus Zedernholz rüttelte. Die musikalische Uhr ließ erneut ihr Lied erklingen. Ein paar Minuten später bedeckten die sechs Zei35
chen die eine Seite des Totems und gaben die Geschichte von Samors Familie durch die bekannten Ahnen wieder, deren uralte Namenszeichen den Stamm mit den Zeichen für Sonnenschatten, Himmelsboot, Blitz, Schwertschneide, Fluß und dem von Samor gewählten Zeichen des Korbes verbanden, bis hin zu Clarias Fingerabdruck, dem Muster des letzten Zeichens. Innerhalb der kunstvoll verschlungenen Linien des Abdruckes des linken Ringfingers lagen die eigentlichen Buchstaben ihres Namens, die ihr nach der Geburt durch das Namenslied eingeprägt worden waren. Die Buchstaben waren winzig und trotz der dem Tee beigemischten Hellsicht schwer nachzuvollziehen. Der Sammler schob die Lupe beiseite, sah auf und blickte auf das Buch, das neben seiner Hand lag. Dann streckte er die Arme über den Kopf und erhob sich, um die Läden vor dem großen Fenster zu schließen. Der Wind war stärker geworden, und es schien, als stünde ein Sandsturm bevor. Wieder nagte der Gedanke an ihm, daß es zu früh für diese Unwetter war außerdem heulte der Wind seltsam hell und schrill. Der Sammler schloß die Läden und zündete eine Öllampe an. Er beschloß, eine Pause einzulegen, bevor er die letzte Gravur vornahm, ergriff den Federkiel und wandte sich den letzten beiden Seiten des Heiligen Buches zu. Hier würde er die einzige schriftliche Angabe über die Schlüssel und ihre wahre Bedeutung für den Zauberkreis niederschreiben. 36
Aber der Kiel fuhr über das Papier, ohne ein Zeichen zu hinterlassen. Noch einmal tauchte er die Feder in das Tintenfaß, aber diesmal holte er nur einen Klumpen heraus. Er hatte vergessen, das Tintenfaß nach dem letzten Gebrauch zu verschließen. Der Sammler seufzte matt und rieb sich den steifen Nacken. Sein Blick fiel auf den großen Korb, der neben dem Schreibtisch stand und alles enthielt, was er nicht jederzeit greifbar haben mußte. Er wühlte blindlings darin herum, bis er eine Flasche mit Tinte fand, und setzte sich wieder. Durch die Kälte wurden auch seine Knie steif. Nach kurzer Zeit hatte er die Geschichte zwischen die nicht lesbaren Zeilen des Buches geschrieben. Sein Tee war nun nicht mehr lauwarm, sondern kalt geworden. Der Diener lag inzwischen schon im Bett, sein Tagwerk begann lange vor Sonnenaufgang. Wegen so einer Kleinigkeit würde der Sammler ihn nicht wecken. Er hätte ein Feuer machen können, war jetzt aber fast fertig und benötigte seine ganze Kraft für die Gravur. Nur Clarias Name fehlte noch. Ihm fiel auf, wie einsam es hier oben war. Die Papageien schienen auch schon zu schlafen. Lesta hatte ebenfalls ihr Bett aufgesucht, denn sie wußte, daß sie ihn nicht bei der Arbeit stören durfte. Die Jumafrauen wachten vor ihrer Kammer und auf dem Dach. Sie waren die besten Wachen von Sumifa, gebildet, gesellig und bedeutend geschickter und tödlicher mit ihren Händen und den geborgten Silberkämmen als 37
Mishras Reiter mit ihren Schwertern. Der Sammler hatte Charga und ihre Gefährtinnen verwirrt und heimatlos auf den westlichen Dünen herumirren sehen, als er dort vor einigen Jahren Dinge für seine Sammlung suchte. Noch nie hatte er bereut, die drei Frauen aufgenommen zu haben - sie waren tapfere Kämpferinnen und treu ergeben, und Samor wußte, was es hieß, heimatlos zu sein. Vor langer Zeit hatte Mishra ihn aus seinem Heimatdorf entführt - eine Folge des Krieges. Zwei der Juma hielten Wache, während die dritte schlief. So hielten sie es seit ihrer Ankunft in Samors Haus. Nach Chargas Meinung blieb er dadurch zwar ungeschützt aber er fühlte sich hier, weit vom Hof und dem Arbeitskreis entfernt, in Sicherheit. Außerdem verfügte er über einen oder zwei eigene Fähigkeiten. Schließlich war er der beste Magier des Königreiches von Almaaz und fast so gut wie die feindlichen Brüder selbst. Aber da ist noch Porros, dachte er. Ich hätte es wissen müssen, hätte es ahnen sollen. Die blassen, wohlgeformten, edlen Gesichtszüge des jüngsten Mitglieds des Zauberkreises tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Porros war nicht nur begabt und frech, sondern auch von großer Machtgier besessen. Porros stammte aus dieser Stadt und war hier in den Zauberkreis aufgenommen worden. Er war ein außergewöhnlicher junger Mann - ein Prinz, dessen Magie Kerzen anzünden, Schafe am hellichten Tage 38
nach Hause treiben und eine Blume in der falschen Jahreszeit erblühen lassen konnte. Eines Tages hatte der Sammler, der gerade in Sumifa ansässig geworden war, den Jungen wie einen verletzten Windvogel in einer Baumkrone hängen sehen, wo er nach einem mißglückten Flugversuch gelandet war. Samor hatte ihn befreit und ein wenig grob zu Boden fallen lassen. Porros, äußerst beleidigt und wütend, wurde die magische Kraft seines Retters bewußt, und er folgte ihm bis nach Hause und bettelte darum, bei ihm lernen zu dürfen. Also hatte sich der Zauberkreis um ein weiteres Mitglied vergrößert, um den Raptor, wie der Sammler ihn vorgestellt hatte. Auch wenn Porros es nicht glauben würde, so hatte der Sammler den anderen nie erzählt, warum er dem Jungen diesen Namen gegeben hatte und zog es vor, den kleinen Scherz ihres ersten Treffens für sich zu behalten. In der Bruderschaft des Zauberkreises hatte Porros viel über Magie gelernt und zuerst seine eigenen Grenzen bekämpft, dann, später, die älteren Magier des Zauberkreises. Immer strotzte er vor Kraft, aber auch nach einem Zeitraum von 10 Jahren inmitten der besten Magier von Almaaz konnte Porros noch nicht allein fliegen. Ich hätte wissen sollen, daß er es noch nicht schafft, tadelte sich Samor. Aber egal, er mußte die Arbeit beenden. Samor ergriff den Diamantmeißel und war sicher, Clarias Totem vor dem nächsten Schlag des Zeitmessers 39
beendet zu haben. Aber ein neues Geräusch, das laute Klappern der Läden, ließ ihn um ein Haar den Schlag verfehlen. Der Sturm mußte schon über ihnen sein. Von der bislang stärksten Bö wurde das Fenster aufgerissen, und der blasse Sand der weit entfernt liegenden Gebiete Halquinas tanzte vom Wirbelwind getrieben über den Boden. Nein. Das ist kein natürlicher Sturm. Deshalb bist du so schnell hierher gekommen. Wer, frage ich mich, hat dir die neuen Zauber beigebracht? dachte der Sammler, der aber weder aufsah noch den Anschein der Beunruhigung ob des dramatischen Eindringens des vorwitzigen Prinzen erweckte. Der Sammler schüttelte nur den Kopf, pustete den Sand von der Oberfläche des Kristalls und fuhr mit der Gravur fort. »Warum begrüßt du deinen Gast nicht, Sammler?« Die Stimme schien geradewegs aus der Luft zu kommen. Dann trat Porros aus dem Wirbelwind heraus und schritt mit geschmeidigen, eleganten Bewegungen zum Schreibtisch hinüber. Die Ärmel wurden durch den letzten Windstoß aufgeblasen, die rote Kapuze verdeckte das Gesicht. »Warum klopft mein Gast nicht an der Tür und wartet, bis ich ihn einlasse? Wie der Freund und Bruder, der er zu sein vorgab...«, sagte der Sammler ruhig. Wenn ich ihn nicht erschrecke, kann ich den Kampf vielleicht lange genug hinauszögern, um die Arbeit zu beenden, dachte er und hielt die Stimme und den Gesichtsausdruck neutral. 40
»Ich möchte unter vier Augen mit dir reden. Daher wäre es mir lieber, dem Fehdehandschuh deiner Höflichkeit auszuweichen«, ertönte die leise, klangvolle Stimme unter der Kapuze. »Dem Fehdehandschuh meiner Wachen, meinst du. Sie können äußerst gastfreundlich sein, weißt du, wenn man in friedlicher Absicht kommt.« Der Sammler lachte leise und blickte den jungen Mann an; sein linkes Auge wurde durch die Lupe stark vergrößert. »Gib mir den Zauber für das Ungeheuer, Samor, dann lasse ich dich am Leben. Sieh das als Zeichen meiner Freundschaft an. Insbesondere, weil man mich erwählt und mir befohlen hat, dich zu toten.« »Aha, da sind wir schnell auf den Grund deines Besuches gekommen... Porros, ich würde alles darum geben, wenn du es nicht wärest«, erklärte der Sammler, und in seiner Stimme lag mehr als nur ein Hauch von Schmerz. Vorsichtig meißelte er die ersten beiden Buchstaben von Clarias Namen in das Totem. »Spar dir deine Gefühle für jemanden auf, der sich etwas daraus macht, Samor. Deine Familie schläft unter diesem Dach. Möchtest du sie Mishras neuer Waffe anbieten? Vielleicht sollte ich deine Tochter jetzt wecken.« »Du solltest es besser wissen, als so eine Frage zu stellen. Und du solltest Claria nicht erwähnen. Sie und, wie ich hinzufügen möchte, auch deine kleinen Prinzen sind der Grund, warum ich dir das Geheimnis von Mishras Uhr nie geben werde. Urza hätte den 41
Basilisken nie rufen dürfen. Vielleicht wissen sie dort, wo er herkommt, wie man ihn aufhalten oder bekämpfen kann. Aber nicht hier. Er ist ein Wesen aus einer anderen Welt.« Da er an seinen eigenen Kampf mit dem Ungeheuer dachte, fuhr Samor mit dem Gravieren fort, als hätte der Raptor nichts gesagt. »Du eigensinniger Narr! Weißt du nicht, daß ich dich noch in dieser Sekunde töten könnte?« Die Stimme des Raptors wurde zu einem schrillen Kreischen, dem Schrei seiner Namensvettern nicht unähnlich. »Bist du jetzt so stark?« fragte Samor, dessen Hände zitterten, als ihm allmählich die Wahrheit dämmerte. »Oh, so ist das also. Du hast das Monstrum gerufen. Du warst es. Also steckst du seit langem in Urzas Schlinge. Du bist also der Spion in unserer Mitte.« Der Sammler sah von seiner Arbeit auf, die buschigen Brauen hoben sich über den schwarzen Augen. Der Raptor knurrte böse und umklammerte das Handgelenk des Sammlers mit seinen kalten Fingern. Der Meißel fiel zu Boden und landete sanft auf dem weichen Teppich. Der Sammler blickte direkt in das Gesicht des Mannes, der zwölf Jahre lang neben ihm im Zauberkreis gearbeitet hatte. Die blaßgrauen Augen des Raptors, das seltsame Erbe der königlichen Familie Sumifas, leuchteten rot auf, als sich das Licht der Lampe in ihnen spiegelte. Samor zuckte zusammen, denn er erinnerte sich an den Blick des Ungeheuers. Porros, der sich seiner Kraft sicher war, ließ 42
die Hand des Sammlers los. »Ja. Ich rief den Basilisken. Ich fand den Spruch in einem deiner Bücher. Welche Rolle spielt es, mit wem ich mich für welchen Preis verbünde? Wie kannst du es wagen, mich derart zu beschuldigen! Außerdem kann ich jetzt auch fliegen, aber keineswegs dank deines Zauberkreises. Samor, seit Jahren habe ich beobachtet, wie du die Reichtümer meines Königreichs mit Mishras Segen gehortet hast. Der Sklave des Listigen lebt besser als die königliche Familie von Almaaz. Seitdem die Brüder gegeneinander kämpfen, leidet mein Königreich unter den Schlachten. Die Gewässer und Minen wurden ausgebeutet, und man holt meine Leute aus den Betten, um der nächsten Maschine entgegenzutreten und getötet zu werden. Ich bin der Prinz von Sumifa, der Hauptstadt von Almaaz. Höre gut zu, Samor - bevor ich gehe, nehme ich den Schlüssel zur Kristalltür mit, dann werde ich wieder reich sein. Sumifa wird in dem früheren Glanz erstrahlen, und ich werde zusehen, wie sich die Armeen Mishras und Urzas auf meiner Ebene bekämpfen - es wird sein wie die ›Schlacht am Ende aller Dinge‹. Wie nennt es dein Buch der Bekenner? Armageddon? Nun, Armageddon wird bald kommen, denn wenn ich den Basilisken in meiner Gewalt habe, kann ich in aller Ruhe zusehen, wie sich die Brüder aneinander aufreiben. Anschließend werde ich die Schätze ihrer Reiche einsammeln. Mit dem Basilisken in meiner Hand werden sie nicht wagen, mich zu bekämpfen. 43
Ich habe beobachtet, wie du diesen Zauber geschaffen hast, Samor. Ich sah dich mit dem Amulett, das du um den Hals trägst. Das ist es, nicht wahr? Wäre dein Freund, der Elf, nicht gewesen, hätte ich dich bereits im Tal der Türme ergriffen. Egal, auch jetzt werde ich den Schlüssel für Mishras Uhr erlangen.« Sanft zog er an der Kette, die um den Hals des Sammlers hing. Samor seufzte. »Es geht dir also um Reichtum? Nimm, was auch immer du siehst und geh in Frieden. Natürlich gehört es dir. Der Zauberkreis schützt es nur, bis der Krieg vorüber ist. Sicher ist dir bewußt, daß du, du allein, nicht in der Lage bist, die Brüder aus dem Land zu werfen. Vergib mir, mein junger Freund, aber der Gedanke ist lachhaft.« Und völlig verrückt, dachte Samor. »Wir können bestenfalls innerhalb des Zauberkreises gegen die Brüder arbeiten, sie ablenken, sie falsch beraten und versuchen, ihnen beizubringen, daß ein Krieg keine Gewinner hat, wenn sie ein Land derart verwüsten, daß niemand überleben kann. Sieh dich in meinem Haus um. Was gibt es hier? Nach Mishras Meinung nichts Wertvolles. Er sucht magische Waffen und mächtige Geräte. Was soll er mit Kunst? Was mit Schönheit? Für ihn bin ich nichts weiter als eine Marionette. Meine Würde und Freiheit liegen im Zauberkreis und in dem größten Reichtum, den ich besitze: Ich kann meine Familie und mein Land vor dem schlimmsten Zorn der Brüder schützen, Porros, du hättest mein Nachfolger werden sollen. Der 44
Zauberkreis hätte zweifelsohne hinter dir gestanden. Du bist der rechtmäßige König dieses Landes. Eine disziplinierte Armee von Kämpfern, Schülern und Magiern wäre deinen Befehlen gefolgt. Porros, eines Tages wird der Zauberkreis stark genug sein und über das Wissen und die richtigen Worte verfügen, diesen schrecklichen Krieg zu beenden. Warum wartest du nicht, bis wir es auf friedliche Art regeln können? Nur gemeinsam werden wir es schaffen.« Der Sammler schwieg einen Augenblick lang, dann setzte er mit sanfterer Stimme hinzu: »Porros, warum hast du dich dem Bösen verschrieben? Und warum hast du die falschen Töne gesungen, die mein Lied scheitern ließen?« Seine Augen wichen nicht von denen des Raptors. Er konzentrierte sich und summte Clarias Namenslied leise vor sich hin. Der Magier grub die folgenden beiden Buchstaben ihres Namens tief in den harten Kristall, und die Anstrengung kostete ihn alle Kraft. »Warum? Weil ich es so wollte. Weil ich nicht ertragen konnte, daß du ein solches Fabeltier zerstörst. Samor, ich trat dem Zauberkreis bei, um Magie zu lernen - nicht als Diener deines Idealismus. Deine stillen, friedlichen Wege werden den Listigen nie ändern. Die Mitglieder meiner Familie sind Krieger! Das einzige, was die Brüder je verstehen können, sind Macht und Kraft. Du vergeudest mein Talent. Und es gibt viele, Sammler, die genauso denken wie ich. Sie stehen hinter mir. Wir werden das Königreich Almaaz 45
durch Kampfkraft zurückgewinnen. Wie sonst soll sich der Adler ernähren?« Der Raptor sah sich im Zimmer um und nahm jedes Detail in sich auf. Auf dem obersten Bord eines schweren Mahagoniregals stand die einzige Abschrift des Buches von Khem, der größten bekannten Sammlung von Heilungen in Almaaz. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes stand eines der beiden ›Gesichter der Nacht‹ - der zweite Teil der Skulptur war nie gefunden worden -, dessen unheimlich wirkender, dunkler Stein das Licht zu verschlucken schien. Und überall, in jeder Nische und an jedem Platz des Arbeitszimmers verteilt befanden sich Spieluhren der besten und seltensten Macharten, aus den feinsten Materialien von den besten Handwerkern der Welt gefertigt. Der Raptor schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen. »Jetzt sehe ich, daß du mit mir spielst. Du hast mich erwartet. Wo hast du die wahren Schätze versteckt? Wo ist mein Gold? Oh, natürlich - unter dem Berg der Uhr!« Porros' Augen, in denen der Wahnsinn brannte, leuchteten wie die des Basilisken. Geschafft! Der Sammler atmete auf, als sein leises Lied den letzten Buchstaben des Namens in das Totem graviert hatte. Der Raptor, durch den Laut erschreckt, wirbelte herum und warf sich in unausgeglichener Ungeduld über den Tisch, auf den älteren Mann. Dem Sammler blieb keine Zeit sich vorzubereiten, keine Zeit, den Körper durch einen Zauber zu 46
schützen. Instinktiv begegnete er dem Angriff mit dem Gegenstand in seiner Hand und schlug mit dem schweren Totem nach Porros' Kopf. Der Raptor jedoch wich dem Hieb geschickt aus und legte die langen, schmalen Hände mit dem tödlichen Griff um den Hals des Sammlers. Vorsichtig ließ Samor das Totem fallen, und seine Gedanken flogen durch die Zeit, die ihm nicht mehr bleiben sollte, seine Tochter aufwachsen zu sehen und zu erfahren, was aus der Uhr wurde, deren Sicherheitsvorkehrungen nicht ganz vollendet worden waren. Der Raptor drückte dem älteren Mann unbarmherzig die Kehle zu, machte Jahren des Rachedurstes und der Eifersucht Luft. Mit einem verzweifelten Keuchen gelang es dem Sammler, eine Flamme zwischen ihnen entstehen zu lassen, die den jungen Mann veranlaßte, nach hinten zu springen, wo er in einen siebenhundert Jahre alten Spiegel fiel, den zierlichen Rahmen zerbrach und das Glas zerschlug. Drei Spieluhren fielen von dem Regal, und das Zimmer wurde von lauter Musik erfüllt. Der Sammler spürte, wie im Stockwerk unter ihm Unruhe ausbrach, obwohl er nichts hören konnte. Vielleicht die Juma... Charga... Aber dann fiel ihm ein, daß die Tür des Arbeitszimmers von innen verriegelt war. Er hörte Charga dagegen schlagen, das harte, dicke Holz attackieren. Aber sie würde zu lange brauchen. Samor wußte, daß er jetzt allein war. Der Raptor verschwendete keine Zeit damit, sich zu 47
erheben, schüttelte sich wütend die Splitter aus den Gewändern und nahm seinen Angriff wieder auf, diesmal mit einem Stück Spiegelglas bewaffnet. Er warf sich auf den keuchenden Magier und zog das scharfe Glas quer über dessen Kehle, so daß drei rote Blutströme zu fließen begannen. Triumphierend ergriff der Raptor die durchtrennte Kette mitsamt dem Amulett, während Samor eine Hand an seine Kehle hielt und mit der anderen nach dem Schreibtisch tastete. Mit seinen Fingerspitzen ertastete er das blutbefleckte Buch, und es gelang ihm, es in den Korb zu werfen. »Du irrst dich ... vielleicht erkennst du die Wahrheit, bevor du den Tod findest. Egal, wie lange das auch dauern mag«, flüsterte er mit sterbender Stimme. »Ich brauche deine Wahrheit nicht, Sammler. Du hast mir einen guten Namen gegeben, trotz deines kleinen Scherzes. Wie der Adler werde auch ich mit eigener Hand ergreifen, was ich haben will. Mein Schatten wird über alles fallen, was ich besitze und beherrsche. Keine Klinge, kein Gift, kein Wasser oder Feuer werden mir ein Leid zufügen! Kein Magier wird mich überwinden! Jetzt besitze ich die ganze Magie des Zauberkreises.« »Du hast den Zauberkreis verraten, und eines hast du nie begriffen, Porros. Er arbeitet am wirkungsvollsten, wenn viele Stimmen im Gleichklang ertönen. Du wirst nie bekommen, was du hättest haben können. Du hast dein Land verraten und auch deine Familie. 48
Denk an deine Söhne! Aber kein Mitglied des Zauberkreises wird dir folgen, Raptor. Das Gesicht, das du im Spiegel schaust, ist das Gesicht, das dich zerstört«, flüsterte der Sammler und beugte sich summend über seinen Vier-Steine-Ring. Die Melodie war ein Segen, die Worte ein Fluch. »Hast du mich nicht gehört, du alter Narr? Ich werde sie alle jagen, bis ans Ende aller Zeiten!« »Laß sie in Ruhe, Porros. Niemals würden sie die Hände gegen dich erheben. Aber wir dürfen dich nicht ungehindert gehen lassen. Du wirst im Halbdunkel zwischen Licht und Finsternis wandeln, zwischen Geist und Fleisch, zwischen Zeit und Ewigkeit.« Mit der Waffe in der Hand sprang der Raptor kreischend vor Wut und Empörung herum. Die Kapuze fiel nach hinten, und er sah sich in einer blutbefleckten Scherbe des Spiegels. Mit Entsetzen bemerkte er, wie sein helles Haar und das markante Kinn sich in Nichts auflösten. Nur die grauen Augen blieben erhalten. »Was hast du mir angetan?« Er warf das Glas fort und sprang im Raum umher, die Knochen in Flammen, die Gewänder bauschten sich auf. »Ich werde einen solchen Wind heraufbeschwören, wie du ihn nie gekannt hast, alter Mann, und ich werde dich vom Erdboden fegen! Deine Besitztümer werde ich verteilen und deinen Namen auslöschen!« schrie er, als er sich in die Lüfte erhob. Die Stimme ertönte aus dem Innern des Wirbelwindes, als er am nächtlichen 49
Himmel verschwand. Der Sammler lag über dem Schreibtisch, das Blut floß aus seinem Hals, die bleiche Hand griff nach dem Zeitmesser, der noch immer die genaue Stundenzahl anzeigte, trotz des Aufruhrs rings umher. Bei jedem Schlag der Uhr wiederholte sich ein Gedanke in seinem Kopf immer wieder: Niemand kennt das Lied! Mishra wird die Mauer geöffnet lassen, wenn er Clarias Namenslied nicht kennt! Es war keine Zeit mehr, keine Zeit. Die Welt vor seinen Augen verdunkelte sich. Vor der Tür des Arbeitszimmers holte Charga tief Luft, sammelte alle Kräfte und konzentrierte sich auf den Riegel, der sie von ihrem Herrn trennte. Endlich konnte sie ihn deutlich vor ihrem geistigen Auge sehen. Sie brachte ihre ganze Willenskraft auf, um das Holz zu zerschmettern und hieb so schnell sie konnte auf die einzelnen Fasern ein, die sich nach und nach lösten. Im Innern des Raumes kämpfte der Sammler um das Bewußtsein, während er noch einmal Clarias Namenslied sang, die Magie hineinlegte und einen einzelnen Buchstaben in Form eines winzigen Fingerabdrucks in den Bronzesockel des Zeitmessers kratzte. Er hoffte, es würde ausreichen. Samor glitt mit den Gedanken an seine Familie und das Heilige Buch in den Tod, und dachte daran, wie alles irgendwann heimwärts ginge, sogar das Ungeheuer, egal, wie lang die Reise auch sein mochte. Die Stimme des Elfen, 50
den er am Glockenspiel getroffen hatte, übertönte seinen letzten Atemzug und erinnerte ihn daran genau wie das Schwingen des Pendels -, daß noch genug Zeit bliebe. Als Charga erneut den Fuß gegen die Tür stemmte, brach sie leicht und mühelos zusammen, doch es war zu spät. Sie fand den lächelnden Sammler auf, wie er seinen kleinen musikalischen Zeitmesser immer noch umklammerte, dessen Pendel gelassen die Zeit anschlug, während die Fensterläden durch den heftigen Wind gegen die Wände geschlagen wurden. Im Westen, in weiter Ferne, erbebten die roten Felsen, zerbarsten und verwandelten sich zu Staub, als der Raptor wütend nach ihnen schlug. Schon jetzt war der Boden mit einem oder zwei Zoll des roten Staubes bedeckt, und man konnte das Muster des Teppichs nicht mehr erkennen. Charga berechnete die Windrichtung und -stärke und rief dem schläfrigen Diener Befehle zu, bevor sie die Alarmglocke läutete, damit sich ihre Gefährtinnen in dem geschützten Innenhof versammelten. Sie knallte die Tür hinter sich zu und lief zu ihnen. Ich werde dich holen kommen, mein Herr. Ich werde dich nicht in dieser Gruft lassen, die ungezeichnet und unbekannt ist. Ich habe alles gehört, was zwischen dir und diesem Verräter vorging. Er ist ein Dueco - ein zweifacher Teufel. Bitte vergib mir, daß ich dir nicht helfen konnte. Deine Lehren werde ich nie vergessen. Deine Tochter, deine Leute und ganz 51
besonders die Söhne des Raptoren werden nicht aufwachsen, ohne sie zu kennen. Sie sprang die letzten Stufen hinunter und landete sanft wie eine Katze im Innenhof. »Geht jetzt!« schrie sie über das Heulen des Windes und das verängstigte Krächzen der Papageien hinweg. Sofort drängten ihre Gefährtinnen Lesta und Claria, deren kleiner Mund angstvolle Schreie ausstieß, deren Wortlaut der Wind mit sich riß, in die Richtung, in die Charga wies - auf die Klippen von Neffian und die verborgenen Höhlen zu. Charga biß die Zähne zusammen, um dem Sturm und der tiefen Trauer zu trotzen, zog sich die Kapuze über das Gesicht und kämpfte sich die Treppe zum Arbeitszimmer empor. Der Sand lag bereits drei Zoll hoch. Der Leichnam des Sammlers war damit bedeckt, seine Schätze wurden vom Wind herumgewirbelt und bedeckten sie mit demselben Sand, der auch ihn begrub. Durch das Toben des Sturms vernahm Charga ein anderes Geräusch: Das unverwechselbare Splittern und Krachen von Holz und Gestein unter dem Gewicht tonnenschweren Wüstensandes. Es blieb keine Zeit. Sie stürmte durch den Sand und riß den geliebten Zeitmesser aus der starren Hand des Sammlers und den kostbaren magischen Ring von seinem Finger. Dann legte sie den Körper gerade hin und ordnete die violetten Roben. Mit einem großen Satz verschwand sie über die Treppe, als das Dach einstürzte und ein riesiges Stück Marmor einen Teil des 52
Arbeitszimmers mitsamt Samors Leiche unter sich begrub. Die Bewohner Sumifas machten Schutzzeichen, murmelten Gebete an Caelus Nin und die Sieben Messinggötter und flohen auf die Klippen zu. Ihre Hühner und Ziegen liefen gackernd und meckernd vor ihnen her. Porros' kleine Söhne klammerten sich an ihre Kinderfrau, und seine Frauen rannten wie verlorene Schafe inmitten der Stadtbewohner umher. Zum ersten Mal vermischte sich die königliche Familie Sumifas mit dem gewöhnlichen Volk. Charga konnte nicht viel sehen, nahm nur die bunten Papageien wahr, die wie Windvögel über ihnen flogen, während die Menschen durch die kalte, nächtliche Wüste hasteten, um in den Höhlen von Neffian Schutz zu suchen. Die Fensterläden zerbrachen, als der Wind das Haus mit voller Wucht traf. Es dauerte nur wenige Stunden, bis das ganze Arbeitszimmer mit Sand gefüllt war und nur einen Tag, bis das Gebäude vollständig begraben und alle Spuren der Stadt ausgelöscht waren. Der Raptor flog hoch über dem unnatürlichen Sturm, den er geschaffen hatte, stieg steil in die Höhe und ließ sich tief hinabfallen, bis er seine Wut ausgetobt hatte. Dann schleppte er sich über die Dünen und versuchte, Marksteine zu erkennen. Seine Gewänder flatterten in den Nachwehen des Sturmes, die Ewigkeit tat sich vor ihm auf, und der Zeitmesser des 53
Sammlers schlug eine gesichts-, namen- und hoffnungslose Zeit an. Es gab nichts zu sehen. Sumifa lag unter einer neuentstandenen Wüste begraben, die sich meilenweit in alle Richtungen erstreckte. Die Sonne stieg hell und strahlend über den weiten Sandflächen auf. Die rosigen Strahlenfinger drangen durch die schattenhafte, ausgestreckte Hand des Raptoren, als sei er gar nicht vorhanden. Die andere Hand wühlte im Sand herum, und die glänzenden Körnchen rieselten durch die dunklen, blutbefleckten Klauen.
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ZWEITER TEIL KAPITEL 1
IM HEUTIGEN SUMIFA »Der König ist tot, es lebe der König von Sumifa! Lang lebe der König!« Die Rufe von zehntausend Einwohnern der neuentstandenen Stadt schallten in der Hitze des Nachmittags und waren bis zu den Ruinen in den Dünen zu hören. Cheyne hörte mit dem Malen auf und hob den Kopf, um die Worte besser zu verstehen. Der alte Thedeso war also gestorben, und bald würde sein Sohn seinen Platz einnehmen. Cheyne lächelte unter der breiten Krempe des Hutes und setzte seine Arbeit fort. Er skizzierte die kantigen Ecken der zerfallenen Mauern mit dem Kohlestift; hin und wieder nahm er mit einem Stock Maß, um die Genauigkeit beizubehalten. Die meisten Leute glaubten, die Archäologen wären nichts als Schatzsucher. Meistens hatten sie recht. Aber genau wie sein Adoptivvater Javin, war auch Cheyne Archäologe. Er wollte mehr als Schätze, er wollte Antworten. Cheyne holte den Handspiegel hervor und hielt ihn an die Innenseite einer zerbrochenen Basaltwand, um 55
die Festigkeit des Steins zu prüfen und nach Skorpionen Ausschau zu halten, die gerne in diesen Mauerspalten nisteten und dann zu Dutzenden mit erhobenen Schwänzen herauseilten, wenn jemand versehentlich in das Nest trat. Ihr Stich war nicht tödlich, tat aber weh, und es waren viele Stürze mit Todesfolge durch den plötzlichen Schmerz vorgekommen. Befriedigt, daß keine Gefahr drohte, setzte Cheyne den Stiefel in den Spalt und kletterte auf die niedrige Mauer, um besser über die uralten Ruinen hinwegsehen zu können, die einst die Olivenpresse der alten Stadt beherbergt hatten. Die Seiten hatte er fertig, jetzt würde er die Ansicht von oben zeichnen. Die Menschenmenge in der neuen Stadt jubelte nicht mehr. Vom Dach der alten Olivenpresse aus konnte Cheyne die in der Sonne leuchtenden weißen Mauern der befestigten Stadt sehen. Morgen würde er dorthin zurückkehren, den großen Elfen antreffen und Antwort bekommen. Er hauchte den kleinen Spiegel an, um ihn zu säubern, wischte ihn dann mit dem Ärmel ab und hielt ihn zögernd hoch, um hineinzusehen. Es waren weder Flecken noch Streifen zu sehen, und, wie immer, auch kein Spiegelbild. Lange Zeit starrte Cheyne in den Spiegel, versuchte, sein Gesicht zu betrachten, versuchte, an dem verschwommenen Fleck vorbeizuschauen, den er immer sah, wenn er in einen Spiegel blickte - aber alles blieb, wie immer, undeutlich. Er steckte den fleckenfreien Handspiegel in seine Tasche zurück und 56
machte sich daran, die Mauer auszumessen. Dabei dachte er an den hochgewachsenen Elfen mit dem narbenbedeckten Gesicht, den er bei seinem letzten Aufenthalt in der Stadt getroffen hatte, als er zusammen mit Muni Vorräte besorgen wollte. Morgen werde ich ihn finden und er wird mir sagen, warum er durch meine Kindheitsträume geisterte ... und welcher Zauber mir mein eigenes Abbild vorenthält. Er muß wissen, wer ich in Wirklichkeit bin... »Höher! Höher! Nein, nein, nein. Vorwärts. Noch einmal. Noch einmal!« Die Rufe des Vorarbeiters hallten durch die ruhige Wüstenluft, als er die schwitzenden Männer antrieb, einen riesigen, umgestürzten Marmorblock zu bewegen. Unter dem Block befand sich ein Raum. Es war das erste Zimmer, dessen Wände höher als nur ein paar Fuß waren. Endlich gelang es ihnen, den schweren Stein wegzuschieben, aber plötzlich brachte etwas anderes die Arbeit zum Stillstand, nicht das Gewicht des Marmors. »Beim geborstenen Gesicht Caelus Nins!« fluchte Muni, der Vorarbeiter. »Aufhören und beiseite treten! Wir können nicht weitermachen.« Er scheuchte die Arbeiter zurück und starrte in die dunkle Kammer. Die Männer gehorchten; einer oder zwei von ihnen führten Schutzzeichen aus, als sie sich von der Öffnung entfernten. Muni warf ihnen böse Blicke zu, und sie hielten inne. 57
»Javin, würdest du bitte herkommen?« rief er und bemühte sich, daß seine Stimme nicht aufgeregt klang. Ein großer braunhaariger Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, der am anderen Ende des zwanzig Fuß langen Blocks gearbeitet hatte und in weiße Gewänder gehüllt war, drehte sich um, ging an dem Felsblock vorbei und näherte sich Muni, um zu sehen, was er wollte. »Sieh nur«, sagte Muni leise und verzog den breiten Mund vor Abscheu und Widerwillen. Javin spähte in die Öffnung und versuchte, die Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Ein Dutzend Fuß unterhalb der geborstenen Mauer lagen nicht die erwarteten Überreste des seit langer Zeit toten Mannes, sondern der zusammengesunkene Leichnam eines modern gekleideten Sumifaners, dessen schwarze Augen vor Furcht ob des letzten Anblicks erstarrt waren. Unter seinem Kopf auf der dünnen Sandschicht war eine Lache geronnenen Blutes. Javins graue Augen weiteten sich, und er runzelte die Stirn. »Bei den sieben Sternen! Hat bis heute niemand den Block verschoben?« Er sah den Vorarbeiter mit durchdringendem Blick an. »Ja, Javin. Du kannst Cheynes Zeichnung zu Hilfe nehmen. Er hat diesen Ort gestern am Spätnachmittag skizziert«, erwiderte Muni mit steinernem Gesicht. Javin schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig.« Javin vertraute Muni manchmal mehr als sich selbst. 58
Sie arbeiteten seit Jahren zusammen und zogen durch ganz Almaaz, um Javins brennenden Ehrgeiz zu befriedigen, den sagenhaften Sammler zu finden. Daheim in Argive war Javin überzeugt gewesen, daß der Mann, der einst der Oberste Magier des damaligen Königs Mishra des Listigen gewesen war, seine letzte Ruhestätte im alten Sumifa gefunden hatte. Das Klima hier war unerträglich heiß und die Politik hinterlistig. Die wahre Mission der Ausgrabungen war geheimgehalten worden. Javin hatte den Fascini, der königlichen Familie Sumifas, nur erzählt, daß er die Architektur des alten Sumifa studieren wolle, dieser uralten, vergrabenen Stadt, die durch ihren rätselhaften Untergang bekannt war und deshalb gemieden wurde. Den Fascini war das gleichgültig. Sie hatten nie geglaubt, daß es eine alte Stadt gab. Niemand hatte sie je gefunden. Und Archäologen waren bloß Ausgräber, und Ausgräber waren für sie nichts als Schatzsucher, aus welchen Gründen auch immer. Solange sie die Hälfte von dem, was sie entdeckten, an die Stadtkasse abgaben und die Bevölkerung nicht gegen die Fascini aufhetzten, stellte sich der Hof blind. Javin hatte nur seinen Adoptivsohn Cheyne mitgebracht, der ihn in den letzten zehn Jahren bei allen Ausgrabungen begleitet hatte, und Muni, der jede moderne Sprache von Almaaz beherrschte, sogar einige, die keine Worte benötigten, und er übersetzte sie wahrheitsgemäß. 59
Javin nickte, und Muni rief die Arbeiter herbei, um nach zwei Freiwilligen zu fragen, die den Leichnam heraufholten. Schließlich traten Rij und Hadi vor, die ihre langen, sichelförmigen Dolche ablegten. Sie brauchten keine Seile, sondern sprangen gleich in die Kammer hinab. »Zahle den Männern heute den doppelten Lohn aus. Und diesen beiden davon das Doppelte. Aber sorge dafür, daß sie den Mund halten. Alle anderen sollen Jenseits der Mauer bleiben. Alles soll seinen gewohnten Gang gehen. Und bitte Zu, er soll Cheyne aus dem östlichen Teil des Geländes holen. Ich befahl ihm, heute bis zum Öffnen des Raums die Mauern der Olivenpresse zu zeichnen«, murmelte Javin. Munis Arbeiter waren handverlesen worden und wurden an den empfindlichsten Plätzen dieser Stätte eingesetzt, aber Javin wußte, daß auch sie diese Entdeckung nur schwer verdauen konnten. Sumifaner waren ausgesprochen ›ahnenbewußt‹, und eine Leiche, besonders eine frische, würde die Beamten in große Aufregung stürzen. Sie würden rituelle Waschungen vornehmen, beten und neue Gesetze erlassen, die weitere Ausgrabungen untersagten. Wenn die Stadtväter erfuhren, daß man einen Körper gefunden hatte, würde sie nicht einmal der Duft seines Geldes davon abhalten, ihm Einhalt zu gebieten. Javin wußte, daß er kurz davor stand, das Grab des Sammlers zu finden. Und wenn er den Sammler entdeckt hatte, würde er auch das finden, wonach er seit langem 60
suchte. Jahrelang hatten Javins Kollegen, allesamt anerkannte Wissenschaftler, über seine Theorien, die das Grab des alten Magiers betrafen, gelacht. Die meisten Fachleute glaubten, daß die Geschichten der Geheimbünde, der Armageddon-Uhr und der unschätzbaren Reichtümer, die mit dem Sammler oder der Uhr begraben sein sollten, nichts als Märchen waren, die von den einfachen Sumifanern erzählt und ausgeschmückt wurden. Andere, die der Geschichte des Sammlers Glauben schenkten, nahmen an, das Grab müsse im Glockenspiel liegen, einem Ort, der in der Nähe der Grenze lag und vom restlichen Almaaz durch eine seltsame Lichtschranke mehr oder weniger getrennt wurde. Das Glockenspiel lag irgendwo hinter der Wüste und dem Königreich der Orks, in einem einsamen Gebirgstal. Aber der genaue Platz war weder in alten Aufzeichnungen noch Erzählungen festgehalten worden. Aber das spielte keine Rolle. Keiner der Männer, die eine ehrenwerte akademische Laufbahn hinter sich hatten, hielt die Geschichten für wichtig genug, um etwas zu unternehmen. Javin wußte es besser. Er war das letzte überlebende Mitglied des Zauberkreises. Vor kurzem hatte er in einer dunklen Ecke unter den alten Aufzeichnungen der ältesten Bibliothek von Argivia eine Entdeckung gemacht, die ihn, entgegen seiner eigenen Wünsche, nach Sumifa trieb. Als er gerade ein paar alte Tonscherben katalogisierte, war 61
er auf Schriftrollen gestoßen, die in einem Tonkrug steckten, der einst von sarrazanischen Elfen angefertigt worden war. In den Geschichten der Schriftrollen waren Einzelheiten des alten Sumifa und des Sammlers erwähnt, und die Zeilen bezogen sich auf den Ort, an dem Javin vor ein paar Wochen zu graben begonnen hatte. Konnte er das Grab des alten Magiers finden, dann konnten auch dessen Schriften, insbesondere das Heilige Buch der Bekenner, das als ursprüngliches Werk über den Zauberkreis galt, nicht weit entfernt sein. Es bestand die Möglichkeit, daß Javin in der Lage sein würde, seinen Traum wahr zu machen: Die Armageddon-Uhr zu finden und zu enträtseln. Das Geheimnis der Uhr war mit Samor gestorben, und in den vielen hundert Jahren, die seitdem vergangen waren, hatten die Mitglieder des Zauberkreises ihren Söhnen und Töchtern den Auftrag hinterlassen, die Uhr zu zerstören. Aber einer nach dem anderen war entweder umgebracht worden oder spurlos verschwunden. Obwohl die Todesarten der Magier des untergegangenen Zauberkreises genauso unterschiedlich waren wie ihre Persönlichkeiten, waren sie alle von denselben Mördern getötet worden. Sie waren Opfer der Ninniten geworden, die einst ihre Brüder und nun ihre eingeschworenen Feinde waren und sich in den Dienst eines mysteriösen dunklen Prinzen begeben hatten. Auch die Ninniten suchten nach dem Geheimnis der 62
rätselhaften Uhr, die sie für das Wahrzeichen unglaublicher Schätze und Macht hielten. Javin war sicher, daß die Zeit des Zauberkreises und von ganz Almaaz auslief. Wenn er nicht mehr lebte, gab es niemanden, der die Suche fortsetzen würde und niemanden, der daran glaubte, daß das Ungeheuer der Stunden - das angeblich ein schrecklicher, wütender Basilisk war, den nicht einmal der Sammler hatte bekämpfen können - denjenigen erwartete, der die Uhr fand und öffnete. Die Ninniten hatten die Ortsansässigen stark beeinflußt. Jeder Sumifaner würde den Gedanken zurückweisen, daß etwas anderes als die Schätze des berühmten Sammlers unter der Armageddon-Uhr versteckt lagen. Und dann war da noch Cheyne. Javin wußte, daß Cheyne so tot wie der Mann sein würde, den sie heute in den Ruinen entdeckt hatten, wenn ihn der dunkle Prinz, ›Der Raptor‹, wie ihn die Schriftrollen nannten, aufspürte. Er hockte sich hin, um den Leichnam, den Munis Leute nach oben geholt hatten, zu untersuchen. Der Mann war eindeutig ermordet worden. Keine saubere Arbeit: Die Kehle der Leiche war durchgeschnitten worden; drei waagerechte Schnitte hatten die Hauptschlagader durchtrennt; sie sahen wie Klauenmale aus und ähnelten der beliebtesten Tötungsmethode der Ninniten. Javin bückte sich tiefer, um den Hinterkopf des unglückseligen Mannes zu betrachten und schob eine 63
dunkle Locke hinter dem linken Ohr zurück. Kein Zeichen des doppelten Halbmondes. Der Mann war kein Mitglied der Ninniten gewesen, also handelte es sich nicht um ein Exempel der strengen Gesetze des Bundes. Aber weshalb sollte der zweitausend Jahre alte Bund einen einfachen Bürger des heutigen Sumifa ermorden? Wäre er ein gewöhnlicher Dieb gewesen, dachte Javin, so gab es in diesem Raum nichts, was sich zu stehlen lohnte. Außerdem sah der Tote nicht so aus, als hätte er Zeit gehabt sich umzusehen. In der starren Hand des Toten fand Javin nur ein uraltes sumifanisches Familientotem, ähnlich Hunderten, die sie bereits am Ausgrabungsort entdeckt hatten: Aus Ganzit, mit Symbolen einer alten almaazanischen Sprache beschriftet, die noch älter als die versunkene Stadt war. Kaum wert, dafür zu sterben. Oder zu töten, dachte Javin verwirrt und legte das Totem beiseite. Dann deckte er den Körper wieder zu, ohne schlauer zu sein als zuvor. Muni schüttelte den Kopf, da er Javins unausgesprochene Gedanken erriet. »Er kommt mir bekannt vor, aber ich kenne ihn nicht.« Auch die anderen Arbeiter gaben das zur Antwort, als Javin sie der Reihe nach befragte. Der unbekannte Mann trug dieselben Züge wie die meisten Sumifaner: Er hatte dunkles, lockiges Haar, dunkle Augen, eine olivfarbene Haut und ein energisches Kinn. Er wirkte wie sechzig, wenn er aber ein Hirte gewesen war und viel Zeit draußen verbracht 64
hatte, konnte er auch bedeutend jünger sein. Man nannte diese Gegend die Schmiede der Sonne und das aus gutem Grund. Ein Arbeiter vermutete, es könne sich um einen Angehörigen des nächstgelegenen Nomadenstammes handeln, aber Javin verwarf den Vorschlag sofort wieder. »Er muß aus der Stadt stammen. Seht euch die Kleidung an.« Er wies auf die leichten Schuhe und dünnen Gewänder. »Er war nicht darauf vorbereitet, hier draußen so seine Zeit zu verbringen.« Muni setzte sich nieder und faltete die Hände, so wie eine große Katze ihre Pfoten kreuzt. »Javin, dein Sohn naht.« Javin blickte auf und sah Cheyne, der mit beunruhigtem Gesichtsausdruck so schnell näher kam, wie es der tiefe Sand zuließ. »Soll ich ihn unten abfangen?« fragte Muni. »Nein. Laß ihn heraufkommen. Ich möchte, daß er den Raum hier unten sofort aufzeichnet, während wir beide dabei sind. Er ist jetzt schon über zwanzig und kann selbst auf sich aufpassen, aber...« »Aber du bist immer noch sein Vater«, warf Muni ein und lächelte beinahe. Seine dunklen Augen hielt er wegen des grellen Wüstenlichts halb geschlossen. Javin nickte ein wenig verwirrt. Muni gelang es immer wieder, jedwede Verstellung zu enttarnen. Cheyne ließ die letzte Stufe hinter sich und keuchte wegen der Anstrengung in der drückenden Mittagshitze. Dennoch war sein Gesicht trocken - Schweiß 65
verdampfte hier ebenso schnell, wie er sich bildete. Dankbar nahm er den Wasserkrug entgegen, hob ihn, gemäß der hiesigen Gebräuche, über die Schulter und nahm einen großen Schluck. »Zu sagte, du würdest mich hier schnell brauchen, Javin. Was ist geschehen? Hast du den Sammler gefunden?« keuchte Cheyne, bevor er noch richtig geschluckt hatte. Er lächelte fröhlich, als ihm das kühlende Wasser über den Nacken lief und sich flink einen Weg entlang des Lederbandes suchte, dass er um den Hals trug. Javin deutete auf den Toten. »Wohl kaum.« Cheyne runzelte die Stirn und war sich sofort der Schwierigkeiten bewußt. »Keiner der Arbeiter«, atmete er erleichtert auf. »Aber ... wer?« »Das wissen wir nicht. Muni fand ihn unter dem Marmorblock, der aussieht wie der Teil eines Hauses. Wie du siehst, hat man ihn ermordet. Wir haben keine Ahnung, wer oder warum man ihn umgebracht hat. Aber wir dürfen es nicht bekannt werden lassen, sonst haben wir schon beim Läuten der Nachmittagsglocken keine Arbeit mehr. Und paß auf dich auf. Er kann nicht länger als wenige Stunden tot sein. Wer auch immer es war, er ist ein gefährlicher Bursche, wenn man sich die Wunden ansieht. Er könnte noch in der Nähe sein«, sagte Javin. Cheyne lüftete den breitkrempigen Hut und fuhr mit seinen Fingern durch das dunkelblonde Haar, bevor er ihn wieder aufsetzte. Er bückte sich, um den 66
Marmor zu untersuchen, der als Grabplatte des Mannes gedient hatte. »Keine Kratzer oder Zeichen zu sehen...« »Das wissen wir«, unterbrach ihn Javin und warf einen warnenden Blick zu den Arbeitern hinüber. Cheyne nickte und zog seine Zeichentafel und den Kohlestift hervor. »Warst du schon unten?« fragte er Javin. »Nein, aber der Sammler ist nicht da.« Die Enttäuschung stand Javin deutlich im Gesicht geschrieben. »Ich möchte, daß du hinabsteigst und zeichnest, bevor irgend etwas durcheinander gebracht wird. Einer von uns muß hier oben bei den Seilen bleiben.« Er beschattete die Augen mit der Hand und beobachtete, wie die letzten Arbeiter das Gelände verließen. »Du weißt, was zu tun ist, ich bin hier oben. Muni wird dich begleiten und die Fackel halten. Sei vorsichtig! Die Leiche ist irgendwie da hineingekommen, und sicher nicht durch Zauberei.« Hoffe ich, setzte er in Gedanken hinzu. »Was ist mit dir, wenn du ganz allein hier oben wartest?« Cheyne blickte über das inzwischen völlig verlassene Ausgrabungsgelände. »Mir passiert schon nichts. Mach du nur deine Arbeit und komm schnell wieder herauf«, sagte Javin. Cheyne gab Javin ein Zeichen, ihn und Muni an den geflochtenen Faserstricken abzuseilen, die immer viel zu dünn aussahen, um überhaupt ein Gewicht auszuhalten, aber seit Jahrhunderten die gesamte 67
Bevölkerung Sumifas trugen. Im Innern des Raumes war es bedeutend kühler als oben auf dem Sand, aber die Luft war abgestanden und schal und roch nach Kalkstein. Eine feine Staubschicht lag über den Sandmengen auf dem Boden, außer an der Stelle, wo der große dunkle Fleck des frisch eingetrockneten Blutes stand. Cheyne untersuchte den Sand rings um das Blut herum mit äußerster Sorgfalt, fand aber keine Spuren, Muni stand immer noch genau an dem Fleck, auf dem er angekommen war und hielt die Laterne, während Cheyne im Raum umherging. Dem schwachen Licht der Laterne folgend, zeichnete Cheyne ein Fenster und eine breite Tür, die aber halb vom Sand verschüttet waren. Anscheinend war der ganze Raum einst mit Sand gefüllt gewesen, dachte Cheyne. In Kopfhöhe lief eine dunkle Linie an den Wänden entlang, wo einmal ein hölzernes Dach gewesen war. Dieser Aufbau war anscheinend in das darunterliegende Stockwerk gefallen, eine Möglichkeit, die erklären würde, woher die auf dem Boden verstreuten Dachziegel stammten. Als Muni die Laterne bewegte, tanzten Staubkörner in der Luft, die bei jeder Bewegung Cheynes aufgewirbelt wurden, aber ansonsten wirkte das Zimmer völlig unberührt. Muni deutete in eine Ecke des Raumes, wo ein drei Fuß breites Loch in die Mauer geschlagen worden war, wahrscheinlich bereits vor mehreren Jahrhunderten. Plünderer hatten offensichtlich das Zimmer lange 68
vor ihnen ausgegraben und alle Wertgegenstände mitgenommen, aber wenigstens hatten sie den größten Teil des Sandes entfernt. Nirgendwo waren Fußspuren zu entdecken. Cheyne widerstand dem ersten Verlangen, das Loch und seine Fortsetzung zu erforschen und stellte statt dessen seinen Meßstab an die Wand, um den Raum maßstabgetreu zeichnen zu können. Er berührte den Stein; die Kühle schmeichelte der sonnenverbrannten Hand. »Marmor«, murmelte er. »Immer elf Hagongrad kühler als die Raumtemperatur.« Die Wand war glatt und poliert und verriet kaum ihr hohes Alter. Ein großer Riß, genau über dem Loch, zog sich von der Decke bis zum Boden, aber die übrigen Blöcke standen aufrecht und unversehrt. »Beste Handwerksarbeit«, murmelte Cheyne leise. »Es muß schwierig gewesen sein, da hindurchzubrechen.« Da er nichts von unnötigem Gerede hielt nickte Muni nur. Er hielt die Laterne so, daß die zerstörte Mauer beleuchtet wurde, bis Cheyne das Muster und eine schnelle Skizze der verrutschten Marmorregale gezeichnet hatte. Nachdem Cheyne sich lange im Raum umgesehen hatte, entschied er, daß sie den Gang hinter dem Loch betreten konnten. Als Muni sich hinkniete, bemerkte Cheyne plötzlich ein helles Funkeln und erhob seine Hand. »Muni - sieh mal. Zerbrochenes Glas. Sieht aus, als 69
wäre es ein Spiegel gewesen.« Muni schwenkte die Laterne über die Splitter, und Cheyne legte seinen Stock beiseite. Dann hob er eines der größeren Stücke auf. Der Silberrahmen war vor langer Zeit schwarz angelaufen, aber die Vorderseite des Glases war überall gleich stark und wies kaum Kratzer auf. Eine sehr feine Arbeit. Cheyne wollte das Stück in seiner Tasche verstauen, als ihn Muni am Arm faßte. »Laß mich einen Blick auf die Kante werfen. Ich glaube, ich habe noch etwas gesehen.« Cheyne drehte die Scherbe um, und richtig, ein paar der haarfeinen Risse waren mit einer dunkelbraunen Substanz gefüllt. Als er sie vorsichtig berührte, fiel das staubige Zeug auf den Boden. »Noch mehr Blut?« erkundigte sich Muni. »Wenn es das ist, dann stammt es nicht von dem unglücklichen Kerl da oben. Sieh dir nur diesen Staub an. Die Körnchen sind viel zu fein, um bloß einen Tag alt zu sein«, antwortete Cheyne. Er wickelte die Scherbe in ein sauberes Tuch und packte sie ein. »Wollen wir doch mal sehen, wohin dieser Gang führt«, erklärte er und beugte sich zu dem dunklen Loch vor. »Dein Vater...«, begann Muni mit vorsichtiger Stimme. Seitdem Javin Cheyne vor mehr als zehn Jahren zu der ersten Ausgrabung mitgenommen hatte, hatte sich Muni um das stille, seltsame Kind gekümmert, das 70
schon damals ein begabter Künstler gewesen war, und nun zu einem der besten Archäologen, den er je gekannt hatte, herangewachsen war. Teils wegen der Art und Weise, wie Javin den Jungen gefunden hatte ein Thema, das er nie anschnitt - und teils wegen Reisen an oft wenig sichere Orte, hatte er darauf bestanden, daß der Junge die zehn argivanischen Handkampfarten lernte und mit der Klinge umgehen konnte. Javins Fürsorge hatte Cheyne zu einem erstklassigen Dolchkämpfer gemacht, der auch hervorragend mit einem Schwert kämpfen konnte. Aber dennoch neigte Muni dazu, in gefährlichen Situationen zu vergessen, daß Cheyne erwachsen war. Cheyne seufzte auf, erinnerte Muni daran und wirbelte mehrere Jahrhunderte Staub auf, was Muni zum Niesen veranlaßte, wodurch noch mehr Staub aufgewirbelt wurde, was weiteres Niesen zur Folge hatte. »Mein Vater ist da oben. Wir sind hier unten. Wir müssen etwas tun«, sagte Cheyne lachend. »Hast du Angst, Muni?« neckte er ihn. Muni senkte den Kopf und starrte den jungen Mann mit seinen wildkatzenartigen Augen an, während er unwillkürlich nach dem Dolch tastete, den er am Gürtel trug. »Wie du willst, Cheyne.« Wieder bückte sich Cheyne in die Öffnung hinab und ließ sich auf alle viere fallen. Muni reichte ihm die Laterne. Cheyne zuckte zusammen, als mehrere handgroße schwarze Skorpione mit erhobenen Zangen und Schwänzen anrückten. 71
»Ungeziefer.« Muni rümpfte angeekelt die Nase. »Gehst du da hinein?« Cheyne biß die Zähne zusammen, hielt die Laterne so weit er konnte nach vorne, und die Skorpione eilten schutzsuchend davon. Dann zog er den Arm zurück und winkte Muni. »Nein, ich gehe nicht hinein. Das ist nicht nötig. Sieh es dir an.« Muni zog eine Augenbraue hoch und sah ihn an, nahm die Laterne und schaute in das Loch. Fünf Fuß hinter der Mauer war der Gang durch Sand verschüttet. Riesige Spinnennetze, deren seidene Fäden völlig unberührt waren, zogen sich über die freie Fläche. Seit Jahrhunderten gehörte dieser Gang allein dem Ungeziefer. »Angebetete Schreefa, Juwel der Wüste, gleißendes Leuchtfeuer der Gnade, man hat Kalkuk den Ladenbesitzer gefunden ... oh, tot, mausetot lag er in einer versiegelten Gruft in der Ruine. Ich dachte, Ihr würdet es gern wissen.« Der schwarzgekleidete Meuchler verneigte sich tief vor seiner Arbeitgeberin. »Nun, das ist schade, zu schade.« Riolla Hifrata rollte die Worte im Mund herum, als schmeckten sie nach Gift. Verdammt sei dieses Juwel! dachte sie und rieb die schwarze Perle zwischen den Fingern. Warum kann ich nicht mehr damit umgehen? Nun, jedenfalls weiß ich jetzt, wohin man den alten Kerl geschickt hat. 72
Aber vielleicht hat ja alles seine Richtigkeit... Wenn diese Ausgräber für seinen Tod verantwortlich gemacht werden, werden die Fascini sie vielleicht fortschicken. Dann hat der Raptor bessere Laune und wird aufhören, mich so furchtbar zu quälen. Seitdem sie in den Ruinen wühlen, ist er zehnmal schrecklicher als sonst. Riolla seufzte und entließ den Meuchler, der sich dankbar erhob, denn das kunstvoll gewobene Muster des Teppichs hatte sich schmerzlich in sein Knie gebohrt. Während er rückwärts gehend den Raum verließ, erklomm sie die Stufen zum obersten Stockwerk des Geschäftes und dachte über ihren letzten Versuch nach, die Magie der Perle zu beherrschen. »Og, du alter Narr, wie hast du es nur gemacht? Wie konntest du nur die Steine dazu bringen, für dich zu singen?« murmelte sie, als sie den Flur erreichte. Sie betrat ihre Schlafkammer, zog die Blenden zum Schutz gegen die Morgensonne herab und legte sich auf die goldbestickte Bettdecke. In dem Moment, als sie am gestrigen Abend mit Hilfe der Perle den Körper des alten Kalkuk hatte bewegen wollen, hatte ihr Kopf zu schmerzen begonnen. Es war Jahre her, seitdem sie zuletzt gewagt hatte, den Stein zu ›bearbeiten‹, aber sie war allein und verzweifelt, und aufgrund der zunehmenden Zahlungsforderungen des Raptors bei ihr war sie gezwungen gewesen, den alten Kalkuk ›einzusammeln‹. Und Riolla wußte, daß der Raptor, obwohl sie die Mercanto Schreefa war, sie 73
ohne Umstände ›einsammeln‹ würde, wenn sie sich mit den Schutzzahlungen verspätete. Es war in der Tat eine Schande. Kalkuk war ihr bester Lieferant gewesen. Der Mann hatte Dinge angeschleppt, bei denen die anderen nicht mithalten konnten. Die Quelle seiner Funde hatte sie nie gekannt. Aber diesmal hatte der arme Kalkuk nicht wie versprochen geliefert - er hatte dauernd von einer antiken Spieluhr geschwafelt und erzählt, daß sie sich seit unzähligen Generationen im Besitz seiner Familie befand und so alt war, daß sie einst dem Sammler gehört haben mochte. Natürlich, natürlich, alle, die Schulden haben, besitzen solche Schätze. Riolla hatte ihn angegrinst, seinen Namen von der Liste der Schuldner gestrichen und sich wieder ihrer Arbeit zugewandt. Als der Befehl des Raptors, ihn innerhalb von drei Tagen mit der doppelten Zahlung aufzusuchen, sie erreichte, war sie persönlich zu Kalkuks Laden gegangen, hatte das Artefakt gefordert, und er hatte sie mit einem alten Totem bedroht, den er von einem Regal holte. Das hättest du nicht tun sollen, Kalkuk. Da mußte ich dich töten. Sie hob den Bimsstein auf und feilte an einem Riß in einem der langen, scharfen Fingernägel herum. Es spricht sich herum, wenn die Schreefa weich wird. Dann geht alles schief. Sie seufzte. Der Kopf wollte ihr vor finsteren Bildern gerade zerspringen, und der Geruch von totem Seetang drang ihr in die Nase. Sie hob eine Tasse Tee 74
an die Lippen und nahm einen winzigen Schluck des würzigen Gebräus zu sich. Es schmeckte nach Verwesung, genau wie das Frühstück und das gestrige Abendessen. Og hatte sie vor der Perle gewarnt. Von allen Steinen des Rings war sie derjenige, den man am einfachsten benutzen konnte, der aber am schwierigsten zu beherrschen war. Wenn sie das Wagnis früher eingegangen war, hatte sie sich nie so schlecht gefühlt. Warum hatte das Lied nicht gewirkt? Sie hatte es so gesungen, wie Og es sie gelehrt hatte. Sie hatte den Leichnam in der Mitte von Mercantos Sonnenuhr drapieren wollen, genau vor dem unfreundlichen Gesicht von Nin, wo er den anderen Händlern und Frauen, die Riolla Schutzgeld zahlten, als Warnung gedient hätte. Ganz besonders denen, die ein wenig zu spät zahlten. Wieso war der Körper in der Wüste gelandet? In einem alten Haus? Sie hatte nicht einmal gewußt, daß da draußen Häuser standen. Stell sich einer vor, die alte Stadt Sumifa war tatsächlich kein Märchen. Riolla hielt inne; die Perle in ihrer Hand fühlte sich seltsam warm an. Sie lächelte ein wenig. Dann etwas mehr. Denn wenn es die uralte Stadt wirklich gab, warum sollte es dann nicht auch die Uhr selbst geben? Vielleicht gab es den Schatz, nach dem die dummen Barcaner immer suchten, wirklich. Sie würde sich danach erkundigen, wenn sie wieder klar denken konnte. 75
So war das also mit Kalkuk, dachte sie und nippte erneut an dem Tee, ohne daß er besser schmeckte. Aber seine Bezahlung habe ich 'immer noch nicht. Und ihre eigene Zeit lief ausgesprochen schnell davon. Ein bescheidenes Klopfen an der Tür ließ Riolla den Kopf zu hastig hochreißen, und der Laut schien entsetzliche Ausmaße anzunehmen. »Ja! Ja! Aufhören. Was ist los?« fauchte sie, und die eigene Stimme schien ihr in den Ohren zu dröhnen. »Schreefa, Prinz Maceo schickt seine Grüße. Er läßt ausrichten, daß er deinen Vorschlag noch einmal erwogen hat.« »Und ich behaupte immer noch, Javin, daß kein Mensch diesen Marmorblock hätte bewegen können, und auf gar keinen Fall hätte jemand den Tunnel benutzen können«, wiederholte Cheyne und knallte den Wasserkrug auf den Tisch, auf dem seine Zeichnungen ausgebreitet lagen. Ein paar herausspritzende Tropfen verfärbten ein paar Sekunden lang das Batapapier, verblaßten und trockneten schnell. »Geh hinab und schau es dir selbst an, wenn du willst. Das ist bloß ein altes Loch der Plünderer, das vor langer Zeit von Sandstürmen zugeschüttet wurde.« Javin trommelte mit seinen Fingern auf den Tisch und schüttelte den Kopf. »Ich behaupte nicht, daß du unrecht hast. Doch gefällt mir die Alternative nicht. 76
Die Todesart sah zu vertraut aus. Außerdem solltest du immer in meiner Nähe bleiben, bis das hier vorbei ist. Sie könnten doch wissen, daß wir hier sind.« »Redest du von dem Verschwundenen Zauberkreis, den Ninniten?« »Sprich nicht so laut!« Javin runzelte die Stirn. »Javin, warum soll jedesmal, wenn wir auf etwas stoßen, das du dir nicht erklären kannst, es an einem alten Zwist zwischen einer Horde Zauberer liegen, die lange tot sind?« Cheyne sah Javin lange in die Augen. »Diesmal mochte ich alles erfahren.« »Es ist besser, wenn du es noch nicht weißt. Außerdem könnte ich dir gar nicht mehr erzählen, selbst wenn ich wollte. Es ist zu gefährlich.« »Javin«, seufzte Cheyne, »wenn ich immer noch zehn Jahre alt wäre, wäre das die richtige Antwort. Aber ich bin ein erwachsener Mann. Es wird Zeit, daß ich für mich selbst sorge. Ich will eine Frau und meine eigene Arbeit finden. Und meinen Namen. Ich habe schon immer gewußt, daß diese ganzen Erzählungen und diese Zaubereien, an die du fortwährend denkst, etwas mit mir zu tun haben. Wer bin ich? Was geschah während meiner ersten zehn Lebensjahre? Warum kann ich mich nicht in einem Spiegel sehen, wie alle anderen Menschen? Was auch immer du über diese Dinge weißt, Javin, das verdiene auch ich zu wissen. Schließlich sind wir in Sumifa - und diese Stadt hat etwas Vertrautes für mich, das mir sehr 77
bekannt vorkommt. Ich muß frei sein, um diesen Ort zu erkunden. Vielleicht werde ich hier jemanden finden, der weiß, was dies bedeutet...«, fügte er leise hinzu und zog ein Amulett unter dem Hemd hervor, das mit einem seltsamen Zeichen, das wie ein winziger Fingerabdruck aussah, der tief und makellos in das Ende des glatten, zylindrischen Steins gemeißelt worden war. Javin war zu keiner Antwort bereit und erhob sich, um zu gehen - seine Art, jedes Gespräch über Cheynes Vergangenheit zu beenden. Dann setzte er sich wieder auf den Bambusstuhl und starrte Cheyne lange Zeit an. »Wir haben schon unzählige Male darüber gesprochen. Es ist noch zu früh. Du mußt mir vertrauen. Eines Tages wird alles geklärt. Aber noch nicht jetzt. Wenn mein Verdacht über diesen Mord begründet ist, ist es besser, wenn du nichts weißt. Und, wie ich schon sagte, geh nicht in die Stadt. Unsere Beziehungen zu den Sumifanern werden leicht gespannt sein, bis der Mord aufgeklärt ist. Wir treffen uns am Haus. Wir werden das Zimmer freigraben. Ich weiß, daß der Sammler in der Nähe ist. Er muß es einfach sein.« Der Schmerz in Javins Stimme drang in Cheynes Herz wie ein Dolch. Javin sammelte die Zeichnungen ein, nahm den Wasserkrug an sich und schritt hinaus. Cheyne biß die Zähne zusammen und rieb in seiner Enttäuschung immer fester an dem Totem, das er in der Hand des Leichnams gefunden hatte, den die 78
Arbeiter in die Stadt getragen hatten. Gleich den übrigen Familientotems, die sie bisher entdeckt hatten, war auch dieser Stein mit Glyphen beschrieben. Als Cheyne fester rieb, wurden die Umrisse sichtbar und leserlich, falls man Althochsumifanisch lesen konnte. Er grub den Fingernagel in die Linien und säuberte sie vom tief eingefressenen Schmutz. Eigentlich waren die Glyphen Bilder, und Cheyne konnte eine gewellte Linie entdecken, von der Muni behauptete, sie bedeute Wasser, ein stilisierter Skorpion - wahrscheinlich ähnlich denen, die er im Gang gesehen hatte - und eine Art Korb. Zwei weitere waren so schwach, daß er sie nicht entziffern konnte. Er rieb den Ganzitstein so sauber, wie er nur konnte und beobachtete gebannt, wie farbiges Licht die Kanten umtanzte. Er legte einen Korb und ein Boot frei. Aber am unteren Teil befand sich immer noch ein hartnäkkiger Fleck. Wieder rieb er daran, benutzte auch ein wenig Speichel, und als der Fleck nicht verschwand, nahm er noch ein rauhes Tuch zu Hilfe. Der Fleck schien so haltbar wie die gemeißelten Glyphen zu sein. Voller Neugierde wühlte Cheyne in seiner Tasche nach dem Vergrößerungsglas, fand es und hielt es über das Totem. Er konnte kaum glauben, was er sah. Unter der zähen Schmutzschicht war ein winziger Fingerabdruck in den Ganzit eingraviert worden, dessen Linien klar und deutlich zu erkennen waren und haargenau 79
zu dem Abdruck seines eigenen, rätselhaften Amuletts paßten. »Cheyne, ich brauche dich. Du mußt mit dieser Mauer fertig werden. Wir haben noch eine Stunde, bis es zu heiß zum Arbeiten wird!« rief Javin von außerhalb des Zeltes. »Wir sollten so viel schaffen, wie wir nur können. Bis sich der Zwischenfall herumspricht, müssen wir unsere Zeit gut genutzt haben.« Cheyne spürte, daß sein Mund plötzlich sehr trokken war, und das hatte nichts mit der Wüstenhitze zu tun. »Ich komme, Javin!« war alles, was er herausbrachte. In seinem Kopf herrschte Verwirrung. Er stopfte das Totem in die Tasche, sammelte sein Werkzeug ein und nahm einen Wasserkrug mit. Er wusch sich das Gesicht in einem Becken nahe der Tür und vermied aus Gewohnheit, in den darüber hängenden Spiegel zu sehen. Als sich die Sonne dem höchsten Punkt im Zenit näherte, stapfte Cheyne zur nördlichen Mauer und fand glücklicherweise ein bißchen Schatten bei den größeren Steinen, in den er sich zum Zeichnen begab. Die Zeit verging, und er dachte kaum über die Steine nach, die er zu Papier brachte, denn das letzte Zeichen des Totems tanzte ihm immer noch vor den Augen herum. Beim letzten Strich der ockerfarbenen Kreide war der Schatten vollständig verschwunden. Cheyne packte seine Sachen zusammen und wanderte zu den 80
Zelten zurück, während er über sein weiteres Vorgehen nachgrübelte. Das Amulett um seinen Nacken erschien ihm schwerer als je zuvor, und bei jedem Schritt schlug es ihm gegen die Brust. Das Hauptzelt war leer, Javin war noch nicht zurückgekehrt. Aber es würde nicht mehr lange dauern nicht einmal Javin konnte bei dieser Hitze arbeiten. Er überlegte, ob er zum Schuppen gehen sollte, um Javins Pferd zu holen, aber dann fiel ihm ein, daß es gebraucht wurde, um die Leiche wegzubringen. Cheyne legte die Zeichnung ordentlich auf den Tisch, füllte den Wasserschlauch auf, zog sich saubere Gewänder an und vertauschte den Hut mit einer Kaffiyeh der Einheimischen. Dann folgte er der rauhen Straße nach Sumifa.
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KAPITEL 2 Die mehr als siebenhundert Jahre alte ›neue‹ Stadt Sumifa lag in einem breiten, flachen Tal zwischen der östlichen Wüste nahe Fallajian und dem westlichen Erg, das an das Buschland grenzte und zu dem Königreich der unberechenbaren Wyrvil Orks gehörte. Der Fluß Nantas, ein träge dahinfließender Streifen schlickbeladenen Wassers, verlieh dem Tal während der Wintermonate ein grünes Kleid, trocknete aber im Sommer ein. Da man sich im Monat Sul befand, floß der Nantas wieder, und Cheyne wählte einen Pfad am Fluß entlang, wo es wegen des leisen Windhauchs, der fortwährend vom Wasser herüberstrich, ein wenig kühler war. Am gegenüberliegenden Ufer lief eine Schafherde an ihm vorbei, die auf dem Weg zur Tränke war. Die Hirten in ihren leuchtend rotvioletten Roben winkten ihm nacheinander zu, während sie die durstigen Tiere zum Wasser trieben. Chamäleons, die ihre Farbe den blaugrauen Felsen angepaßt hatten, sonnten sich scharenweise, nickten mit den Köpfen und rannten sofort schutzsuchend davon, wenn Cheyne an ihnen vorüberschritt. Ein einsamer Einbaum trieb flußabwärts, von einem rothaarigen neffianischen Sklaven gerudert, während ein zweiter ein Netz voller Fische in das Boot zog. Die Zikaden sangen ihr Lied, dessen Melodie im Gleichklang mit den heißen Windströmen, die vom 82
Erg herüberwehten, auf- und abschwoll. Nach einer Stunde fand sich Cheyne, der sich durch die Hitze und das flache, eintönige Landschaftsbild wie hypnotisiert vorkam, an der majestätischen, goldenen Löwentorbrücke wieder, dem Haupttor von Sumifa, der Hauptstadt von Almaaz. Sie war die älteste Ansiedlung der westlichen Welt und der einzige Teil des Kontinents, der von der Überschwemmung verschont geblieben war, die dem großen Tauwetter folgte. Architektonisch hatte sich in den Jahren nicht viel verändert, seitdem Sumifas Einwohner aus den Basalt- und Kalksandsteinhäusern, die Cheyne und Javin gerade ausgruben, in diese riesige, befestigte Stadt zogen. Ähnlich den Ruinen war auch diese Stadt in unregelmäßigen, konzentrischen Kreisen erbaut worden, von denen ein jeder sein eigenes Tor hatte, um im Angriffsfall besser geschützt zu sein. Innerhalb der Stadt waren die Tore stufenförmig angeordnet, und keines ähnelte dem anderen, so daß ein Spaziergang durch die Stadt wie die Wanderung in einem hochgelegenen Labyrinth erschien. In den Aufzeichnungen über das Chaos, das den Kriegen des Listigen gefolgt war, erzählten die Schreiber, daß diese Mauern die Stadt vor der Belagerung durch Diebe und vor den heftigen Angriffen der kriegerischen Nomadenstämme bewahrt hatten, die auf der Suche nach ihren verschwundenen Anführern durch die Dünen streunten. Heute nutzte das fortschrittliche Sumifa die Mauern auf eine Weise, die man bei den alten Ruinen 83
nicht entdeckt hatte. Die zehn Fuß dicken und zwanzig Fuß hohen Basaltmauern trennten die Armen von den Händlern und die Händler von den reichen Fascini - jede Mauer bildete einen festen, grimmigen Wall, der an die unsichtbaren und unüberwindlichen Grenzen zwischen den verschiedenen Klassen dieser Stadt erinnerte. Der Duft von gebratenem Fleisch vermischte sich mit dem Geruch des Shirrirgewürzes, aber Cheyne beachtete sein plötzlich nagendes Hungergefühl nicht, überquerte den Nantas und eilte durch die Randbezirke der Stadt, das Totem fest in der Hand haltend, die er in seinem Gewand verbarg. Obwohl die Ausgrabungen bereits vor einem Monat begonnen hatten war dies Cheynes erster alleiniger Ausflug in die Stadt. Da sich Javin nicht von den Ruinen losreißen konnte, hatte Muni Cheyne immer begleitet und sie waren gekommen, um Vorräte oder Werkzeug zu kaufen, oder hatten kleine Funde gebracht, um die Fascini bei Laune zu halten. Innerhalb weniger Stunden hatten sie Sumifa wieder verlassen, um sich an die Arbeit zu machen. Aber heute nahm sich Cheyne Zeit. Alles sah irgendwie anders aus und viel interessanter. Er erinnerte sich daran, daß er sich in der Mitte der Straße halten sollte, um den Taschendieben und Schlaglöchern auszuweichen, hielt aber angestrengt Ausschau nach dem Elfen, den er suchte. Als er das nächste Tor erreichte und bereits eine 84
halbe Meile in die Stadt eingedrungen war, stieß er mit einer der königlichen Sänften der Fascini zusammen, die von neffianischen Sklaven, deren Körper ockerfarben bemalt waren, getragen wurde. Die Sänfte geriet ins Schwanken, und Cheyne wurde zur Seite geschleudert. »He!« rief er, als er unsanft gegen eine Mauer prallte und vergaß, daß er in Sumifa, wo die Menschen nach ihren Vorfahren beurteilt wurden, weder Rang noch Namen besaß. Er umklammerte das Totem, als ein scharfer Befehl aus dem Innern der Sänfte ertönte, die Sklaven auf der Stelle anhielten und ihn mit offenen Mündern unverhohlen anstarrten. Eine bleiche, juwelengeschmückte Hand zog die violetten, bestickten Vorhänge zur Seite - die, wie Cheyne bemerkte, ein wenig verschlissen waren. Da der Mann ganz auf einer Seite saß, nahm Cheyne an, daß sich insgesamt zwei Personen in der Sänfte befanden. »Du wagst es, die Straße zu benutzen, wenn ich von ihr Gebrauch mache? Doulos, frage diesen Sklaven, warum er frei herumläuft und wem er gehört. Verlange nach seinem Namen.« Trotz der sengenden Hitze klangen die Worte, als seien sie aus Eis. Cheyne verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Die Antwort auf jene Frage suchte er schon ein Leben lang, und sie war der Grund, weshalb er sich Javin widersetzte und in die Stadt gekommen war. 85
Noch immer konnte Cheyne nicht sehen, wer mit ihm sprach, daher hob er sein Bündel auf, klopfte sich die Hände ab und trat auf die Sänfte zu. Bevor der am nächsten stehende Sklave die Frage seines Herrn wiederholen oder den jungen Mann warnend ansehen konnte, hatte Cheyne den Vorhang ein Stück weiter geöffnet und erhielt augenblicklich einen festen Hieb mit der Reitgerte des Mannes. »Faß das nicht an, du aufsässiger Sklave! Ich habe dich etwas gefragt. Wer bist du und wie kannst du es wagen, dich mir in den Weg zu stellen oder deine Hand an meine Sänfte zu legen? Weißt du nicht, wer ich bin? Wiederhole meine Worte, Doulos«, befahl er dem Sklaven, der dem Befehl folgte und auch den hysterischen Unterton nicht vergaß. Cheyne wartete ab, lauschte geduldig und rieb sich die schmerzenden Finger, dachte aber nur an das, was er im Innern der Sänfte gesehen hatte. Die Frau war verschleiert, doch den Mann konnte man sehen. Er war hager und hatte schwarzes Haar, grüne Augen, eine fahle Hautfarbe und einen gezwirbelten Schnurrbart. Obwohl dies die erste Begegnung Cheynes mit den Fascini war, bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, alle Merkmale der faulenzenden, kränklichen Oberschicht Sumifas zu erkennen. Aber wer war die Frau? Sie trug weder Violett noch den Schleier der verheirateten Frauen. Er wußte, daß die Fascini hin und wieder Frauen aus den reichsten Mercantofamilien wählten oder aus den Adelshäusern 86
weit entlegener Städte, aber Javin hatte ihm erklärt, daß man nie richtig zu ihnen gehörte, wenn man nicht in diese Klasse hineingeboren wurde. So wollten es die Fascini. Je weniger Leute sie waren, desto reicher blieben sie. Insbesondere seit die Karawanen aus dem Westen nicht mehr hierher kamen. Handelsgüter waren viel teurer und schwerer zu bekommen. Aber auch das bedeutete Gewinne, zumindest für einige Leute. Der geduldige Sklave hatte zu Ende gesprochen und wartete auf Cheynes Antwort. »Ich bin kein Sklave. Ich ... ich komme aus dem Osten«, erwiderte Cheyne vorsichtig, da er an die Schwierigkeiten an der Ausgrabungsstätte dachte. »Ich habe deine Sänfte nicht rechtzeitig gesehen. Aber deine Sklaven haben mich beinahe umgerannt.« »Oh, um Nins willen, sprich zu dem Mann da rechts, du Narr. Du darfst mich niemals direkt ansprechen. Aus dem Osten, aus dem Osten. Wo es weder eine Kultur noch die Anerkennung alter, ehrenwerter Traditionen gibt. Wo sich Personen von Stand einfach mit gewöhnlichen Leuten vermischen; wo Sklaven, deren Vorfahren noch in Höhlen lebten, es wagen, Adlige anzusprechen. Also wirklich, man sollte es euch Ausländern nicht gestatten, euch innerhalb der Tore Sumifas zu bewegen, bis ihr wißt, wie man sich zu benehmen hat. Du hast mich beleidigt. Weißt du, daß ich dich für das, was du gerade getan hast, auf die vier schmerzhaftesten Arten auspeitschen lassen 87
könnte? Nun, da ich heute in viel besserer Laune bin als sonst, werde ich dich lebendig begraben lassen«, erklärte der Fascini ungeduldig. Der Sklave holte tief Luft und wiederholte die Worte seines Herrn. Cheyne schüttelte den Kopf und überlegte, welches die schlimmere Sünde sein mochte: im Wege zu stehen, während man überrannt wurde, oder den Fascini anzusprechen. Er entschied sich für letzteres, war sich aber nicht ganz sicher. Der Sklave zuckte die Achseln, und ein besorgter Ausdruck ersetzte seine besorgte Reglosigkeit. Da sagte sich Cheyne, daß der Fascini es ernst meinte, ihn lebendig begraben zu wollen. Gerade wollte er über das Geländer springen und davonlaufen, als er eine zweite Stimme vernahm. »Maceo, er kann doch nicht wissen, daß er mit dem Thronerben Sumifas redet. Erst heute nachmittag hat man dich zum König ausgerufen. Er hat nichts getan, um mit dem Tod bestraft zu werden.« Die sanfte Stimme klang verzweifelt und flehend. Maceo zog schnell den Vorhang zu, und Cheyne strengte sich an, dem Gespräch zu lauschen. Der neffianische Sklave starrte ausdruckslos vor sich hin, bis er gemeinsam mit den anderen Trägern die Sänfte aufhob, als hätten sie einen Befehl vernommen, den Cheyne nicht hören konnte. Aber Maceo hatte das letzte Wort. »Namenloser Idiot! Unbekannter Narr! Heute hat dir die Frau dein wertloses Leben gerettet. Wenn ich 88
als König eingesetzt bin und du es wagst, diese Straßen zu betreten, wirst du es büßen!« rief der Fascini, als die Sänfte davongetragen wurde, und ein rotes Band fiel auf die Straße. Das nächste Tor ragte vor ihm auf, und Cheyne ging langsam darauf zu. Schon bald hatte er die Sänfte aus den Augen verloren, die um eine Kurve bog. Er drehte sich auf dem Absatz um und machte sich auf den Weg in das übelste Viertel der Barca. Trotz der Menschenmenge, die sich versammelt hatte und seine Öffentliche Abfuhr miterlebte, konnte Cheyne nur an die weinende Frau denken. Er bückte sich und hob das rote Band auf, bevor ein Karren darüber hinwegfuhr. Es roch nach Myrrhe und Bergamotte - beide intensive, schwere Düfte. Er stopfte es in sein Bündel, ging durch das Tor und fragte sich, wie das Gesicht hinter dem Schleier aussehen mochte. »Ich habe dir doch gesagt, es könnte Ganzit aus Elclesia oder Trufi sein, oder sogar aus dem Glockenspiel, obwohl ich diese sagenhaften Steine noch nie gesehen habe.« Der Ladenbesitzer verdrehte die Augen, da er des Ratens müde war. »Sieht wie jedes alte Totem aus, bis auf das letzte Zeichen und die seltsame Form. Woher, sagtest du, hast du ihn?« Der Uhrmacher stellte das Totem auf den überfüllten Ladentisch und wartete auf Cheynes Antwort. 89
»Danke. Vielen Dank für deine Hilfe. Es war nur so eine Frage, denn ich weiß, daß du eigentlich nichts mit diesen Dingen zu tun hast.« Das stimmte. Cheyne hatte den Laden des Uhrmachers nur aufgesucht, weil er gerade in der Nähe war. Es war der letzte Ort, für den er Zeit gehabt hätte, und das Geschäft war wirklich entsetzlich heruntergekommen. Cheyne war drei Stunden lang im Händlerviertel herumgewandert, hatte jeden Antiquitätenstand und jeden Kunsthandel durchstöbert, und jedesmal fragende Blicke und Schulterzucken erhalten. Seine Fragen nach dem Elfen hatten nur Gelächter und die Antwort hervorgerufen, daß man in Sumifa seit der großen Wanderung keine Elfen mehr gesehen habe. Noch schlimmer war, daß niemand etwas mit der letzten Glyphe auf dem Totem anfangen konnte, geschweige denn, Interesse dafür zeigte. Aus diesem Grund war es auch seltsam, daß der unordentlich gekleidete Uhrmacher Cheyne die ganze Zeit anstarrte und ihm erwartungsvoll sein faltiges Gesicht zuwandte, während über seinem Kopf zwei Schmeißfliegen herumsurrten. Cheyne nickte zum Abschied, steckte das Totem in seine Tasche und ging zur Tür hinaus. Die Sonne war zum westlichen Teil der Mauer gewandert - es war Zeit für ihn zurückzukehren. Javin war bestimmt schon wütend genug. »Oh, vielleicht kenne ich jemanden, der dir mit deinem Problem helfen kann«, schmeichelte der 90
Uhrmacher. Cheyne blieb stehen und drehte sich um. »Ihr Name ist Riolla Hifrata. Sie ist eine ehrenwerte Frau, die sich gut mit Antiquitäten auskennt. Hier ist ihre Adresse.« Der Ladenbesitzer fummelte an dem Ärmel seines fleckigen Kaftans herum und zog ein kleines Stück beschmutzten Pergaments mit seiner noch schmutzigeren Hand heraus. Mit unbeweglicher Miene schob er es Cheyne zu. Eine der Uhren im Hinterzimmer begann zu knarren und zu rasseln, und alle anderen fielen ein. Cheyne dankte dem Mann, griff nach dem Pergament und verließ den Raum mit dröhnenden Ohren. Es schien, als hätten sich die Straßen ein wenig geleert, während er im Laden des Uhrmachers weilte. Nur ein in Lumpen gehüllter Vagabund hockte im Schatten eines Marktstandes, summte vor sich hin und hielt eine fast leere Flasche in der Hand. Der Mann war eigentlich völlig unscheinbar, wäre nicht die wahrhaft riesige Nase gewesen, die unter der Kapuze hervorschaute. Cheyne wunderte sich, verbarg sein Erstaunen aber hinter einem höflichen Lächeln, als er an dem Mann vorüberschritt. Während er auf das Tor des inneren Stadtrings zuschritt, fragte er sich, ob er wirklich Zeit für diesen Besuch hatte, entschied aber dann, daß, wenn Javin wirklich wütend war, die Aufregung sich wenigstens lohnen sollte. Außerdem war er nicht in Schwierigkeiten geraten, wenn man von dem Vorfall auf dem 91
Ausgrabungsgelände absah. Und niemand, außer Prinz Maceo, hatte ihn hier beachtet. Die Mauern im Westen warfen längere Schatten, als Cheyne lieb war, aber die Verlockung, die von der Karte ausging, war stärker. Da sich die Suche nach dem Elfen als vergeblich erwiesen hatte, konnte dies die einzige Möglichkeit bedeuten, die ihm noch blieb, um etwas über die Bedeutung der Glyphe herauszufinden. Vielleicht waren die Fascini schon dabei, die Ausgrabungen zu verbieten, und wenn sie fortgehen mußten - dessen war sich Cheyne sicher - würde er niemals mehr hierher zurückkehren. Er hastete durch die verlassenen Straßen und hatte die Adresse, die auf der Karte stand, schon bald erreicht. ›Das Arkanum‹, stand mit überaus kunstvollen, goldenen Buchstaben auf dem Schild geschrieben. Der kleine Laden lehnte sich gegen die Mauern der Zitadelle und lag direkt vor dem Tor des inneren Stadtrings. Cheyne zog am Glockenstrang und wartete minutenlang ungeduldig, bis ein Guckloch geöffnet wurde. Nach weiteren Minuten des Wartens wurde die Tür entriegelt, um ihn einzulassen. Anscheinend durften nur ganz besondere Kunden das Arkanum betreten. In der Eingangshalle überfiel ihn der durchdringende Geruch von Zimt, Gewürznelken und Shirrirrauch ein verbotenes Rauschmittel, das wahrscheinlich von einer der wenigen Karawanen, die noch nach Sumifa reisten, hierhergeschmuggelt worden war. Er wartete 92
einen Augenblick im Dämmerlicht, bis sich die Augen daran gewöhnt hatten und er die Frau erkennen konnte, die ihn hereingelassen hatte. »Hallo. Ich bin hergekommen, weil...«, begann er, aber die Frau hob ihre plumpe Hand mit spitzen Fingernägeln, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Ja, ich weiß, weshalb du gekommen bist. Sofort, nachdem du Vinzos Geschäft verließest, hat er mir einen Boten geschickt. Bitte folge mir in die Zählstube, dort herrscht besseres Licht«, erklärte die Frau, deren Worte zwar kultiviert, deren Stimme aber unangenehm rauh klang. Cheyne fühlte sich ausgesprochen unwohl, folgte ihr aber durch einen aus violetten Schnüren bestehenden Vorhang in einen hell erleuchteten Raum. Entlang der weißen Wände standen Regale, die mit Büchern und Schriftrollen vollgepackt waren. Auf allen verfügbaren ebenen Flächen standen Uhren und jegliche Art von Zeitmessern herum. Kein Wunder, daß der heruntergekommene Uhrmacher diese Frau kannte. Wahrscheinlich hatte er ihr die meisten Stücke verschafft. Ein Diener warf ein Tuch über den mit rotem Samt bezogenen Stuhl, der Cheyne angeboten wurde, während sich die Frau ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Glastisches, niederließ. Die frisch durchgeschnittene Hälfte einer Blutorange lag auf der Tischplatte, und ein kleiner, mit Rubinen verzierter Dolch, von dessen Klinge der dunkelrote Saft tropfte, lag 93
daneben. »Ich heiße Riolla Hifrata. Wie du siehst, interessiere ich mich für Antiquitäten. Vielleicht kann ich dir helfen. Dürfte ich das Totem einmal sehen?« Cheyne zögerte und starrte die Frau unhöflich an. Noch nie hatte er jemanden wie Riolla kennengelernt. Sie schien nicht viel älter zu sein als er selbst, aber das war schwer zu beurteilen - unter dem dick aufgetragenen, blassen Gesichtspuder konnte sich Jugend oder Alter verbergen. Die Augenbrauen zogen sich in dünnen, dunklen Linien empor, und das strahlende Lächeln schien die vollen Lippen nie zu verlassen. Die Augen leuchteten so blau wie das Wasser der Bergseen in Tarnrish, daheim in Argivia. Aber am meisten fesselte Cheyne Riollas Haarschopf. Helle messingfarbene Locken türmten sich zu einer unglaublichen Höhe auf, um dann am Rücken hinabzustürzen. Einzelne Locken schlängelten sich um den Nacken und rahmten die Halskette ein: Eine einzelne schwarze Perle hing daran. Noch nie hatte er so viele Haare gesehen. Und noch nie so eine Haarfarbe. Obwohl sie sich wie eine Fascini benahm, sah Riolla ebenso neffianisch aus wie die Sklaven, die Maceos Sänfte trugen. »Ich fragte, ob ich das Totem einmal sehen kann«, wiederholte sie, und ein seltsam dringlicher Unterton lag in ihrer Stimme. »Oh. Das Totem. Ja, nun, ich habe mich gefragt, ob du mir helfen kannst, die Glyphen zu entziffern. Ich 94
vermute, daß es sich um Althochsumifanisch handelt, und anscheinend gibt es niemanden mehr, der das noch lesen kann. Das ist auch schon alles, was ich wissen möchte.« Er wühlte in seinem Bündel herum und zog das Totem vorsichtig heraus. »Natürlich, Muje...« Sie lächelte noch immer, und in den Mundwinkeln bildeten sich Grübchen. »Cheyne heiße ich, einfach nur Cheyne«, erwiderte er. »Cheyne. Natürlich.« Sie zuckte zusammen und wandte die Augen angewidert ab. Er hatte keinen zweiten Namen - in Sumifa eine unverzeihliche Sünde. Und mit diesen blauen Augen und dem hellen Haar sah er wie ein Sklave aus. »Lege ihn dorthin.« Sie klopfte auf die Tischplatte. Cheyne war etwas überrascht und zögerte. Er fragte sich, weshalb Riolla das gleiche Benehmen wie Maceo an den Tag legte, obwohl sie ganz offensichtlich keine Fascini war, aber dann legte er das Totem auf den Tisch. Der Diener hob es auf, wischte es ab und reichte es seiner Herrin. Nachdem sie die Glyphen minutenlang studiert hatte, schrieb Riolla sechs der sieben Symbole und deren Bedeutung nieder. Eine Weile trommelte sie mit den Fingern auf die Tischplatte und konzentrierte sich völlig auf die letzte Glyphe. Die Uhren tickten und summten ihre Melodien. Riolla schwieg. Schließlich rutschte Cheyne unruhig auf dem zierlichen Stuhl herum, dessen zerbrechliche Lehne laut und vernehm95
lich knarrte. Riolla schaute auf und lächelte mechanisch, bevor sie antwortete. Cheyne spürte, daß sie log, noch ehe sie ein Wort gesagt hatte. »Das letzte Zeichen ist das des Strudelbeckens. Man sieht es nicht sehr oft. Als diese Inschrift eingraviert wurde, war die Familie von geringer Bedeutung. Das ist alles:« Ihr Lächeln verbreiterte sich, und sie wartete auf seine Zustimmung. Als er zur Seite blickte, wandte sie sich erneut dem Totem zu und gab vor, die Verzierungen und Gravierungen zu bewundern. »Und wo, wenn ich fragen darf, hast du dieses Stück gefunden?« erkundigte sie sich betont beiläufig, ohne daß es ihr gelang, ihr brennendes Interesse zu unterdrücken. »Ich habe es in den Dünen entdeckt«, sagte Cheyne und streckte die Hand nach dem Totem aus. Riolla tat, als sei sie noch immer in den Anblick vertieft und beachtete seine ausgestreckte Hand nicht. »Natürlich. Du gehörst zu den Ausgräbern, nicht wahr?« Als er zusammenzuckte, lächelte sie mitfühlend. »Cheyne, du gefällst mir. Es tut mir leid, dir nicht mitteilen zu können, ob du ein wertvolles oder wichtiges Stück gefunden hast. Ich weiß, wie hart ihr für das Wenige, das ihr findet, arbeitet. Aber ich werde dir dein Hierherkommen lohnen. Normalerweise tue ich das nicht, aber ich möchte dir behilflich sein. Ich werde dir das Totem abkaufen«, erklärte sie 96
großzügig. »Ich biete dir zwanzig Kohli, und du wirst nie wieder ein besseres Angebot bekommen. Ich verrate dir auch, weshalb: Dieses Stück ist nicht einmal zehn Kohli wert, aber es stammt aus der Zeit vor der großen Wanderung, und wie du siehst, sammle ich Dinge aus jener Epoche.« Sie deutete mit spitzen Fingern auf die Gegenstände im Raum. »Vielen Dank, Riolla, aber auch für mich ist es etwas Besonderes, obwohl es nicht von großem Wert ist.« Er nahm das Totem vom Tisch und stieß versehentlich mit der Hand an den zierlichen Dolch, der bis zur Kante des Tischchens glitt, sich dort drehte und, mit der Klinge auf Riolla weisend, liegenblieb. Sie folgte der Waffe mit ihren Augen und sah dann langsam zu Cheyne auf. Der junge Mann schwieg. Er stopfte den Ganzitstein in sein Bündel und wollte aufbrechen, Riollas falsches Lächeln fiel ein wenig in sich zusammen, und die Augen wurden zu funkelnden, harten Saphiren. »Natürlich. Das macht dann fünfzig Kohli für die Beratung. Und laß meine Karte hier«, sagte sie knapp. Nachdem er jeden Antiquitätenhändler des Mercantoviertels bezahlt hatte, besaß Cheyne nur noch zweiundfünfzig Kohli. Er griff in seine Tasche, reichte ihr das Geld und stellte mit Erstaunen fest, daß ihr Kastenbewußtsein sich anscheinend nicht auf Bezahlungen erstreckte. Dann nahm er das Papier, auf dem sie die Bedeutung der Glyphen notiert hatte und 97
verließ Riolla Hifrata, die, zu einer wütenden Statue erstarrt, an ihrem Tisch saß. Die Karte mit der Anschrift lag unter der klebrigen Klinge des mit Juwelen besetzten Dolches. Noch ehe Cheyne die Haustür erreicht hatte, riß der Diener das Tuch von dem Stuhl, faltete es ordentlich zusammen und legte es auf den Abfallhaufen hinter dem Laden. Gerade als die Tür des Arkanums hinter ihm zufiel, hörte er die letzten Glocken im Abstand weniger Minuten dreimal schlagen. Sie kündeten das Schließen der Tore an - zuerst das Tor der Zitadelle, dann das Tor des Händlerviertels und schließlich das äußere Tor der Barca. Dies bedeutete, daß er über zwei Mauern klettern mußte, wenn er sich nicht beeilte. Er hastete durch die engen, gewundenen Gassen und versuchte sich zu entsinnen, wie er vorhin zum Arkanum gekommen war. Die Schatten verwirrten ihn und ließen die Straßen anders aussehen. Bestimmte Läden tauchten an Stellen auf, wo er sie vorher nicht gesehen hatte, und andere Merkmale verloren sich im Gewirr der Gassen. Allmählich wurde er von Panik ergriffen. Er war ein Fremder ohne Namen und Bedeutung und inzwischen auch ohne Geld, gefangen in einer Stadt, in der man nur mit Hilfe dieser Dinge aus Schwierigkeiten herauskommen konnte. Und Schwierigkeiten, das hatte ihm Muni immer wieder erzählt, lauerten in der Dunkelheit Sumifas fortwährend. Gleichzeitig schossen ihm Gedanken an Javins 98
Sorge über seine Abwesenheit durch den Kopf - noch nie, seitdem ihn Javin mit zu Ausgrabungen genommen hatte, hatte Cheyne seine Warnungen derart unbeachtet gelassen. Der Ausflug war nicht einmal die Kosten von Madame Hifratas Dienst wert gewesen, geschweige denn den Verlust von Javins Vertrauen. Die furchtsamen Gedanken ergriffen so sehr Besitz von ihm, daß er den Bettler nicht bemerkte und unversehens über ihn stolperte. Doch erwies sich der Sturz als Glücksfall. Wäre Cheynes Kopf nicht nach unten geschnellt als er über den Mann fiel, hätte ihn die gut gezielte Wurfscheibe, die plötzlich über die beiden hinwegflog, vom Rumpf getrennt. Der Diskus prallte mit voller Wucht gegen eine Basarmauer, und die Messingscheibe klirrte sanft, als sie in den Sand fiel. »Bleib unten!« zischte der Bettler und lauschte angestrengt dem Klirren. »Und folge mir.« Er zog einen kurzen Dolch, kroch um die Ecke eines Hauses und zog Cheyne hinter sich her. Einen Augenblick lang drückten sie sich gegen die warmen Ziegelmauern, dann - als eilige Schritte verklangen winkte der Mann Cheyne, ihm eine Strickleiter hinauf zu folgen. Cheyne blieb keine Wahl. Schon vernahm er die leisen Schritte des unbekannten Angreifers, der zurückkehrte, da er ihre List durchschaut haben mußte. Cheyne kletterte auf das flache Dach des Gebäudes, dessen Oberfläche die Hitze des Wüstentages gespei99
chert hatte, die durch die Sohlen seiner Stiefel drang. Sicher würde der Angreifer nicht lange brauchen, bis er auch diesen Weg entdeckte. Gerade wollte Cheyne seine Zweifel äußern, als der Bettler ihm deutlich machte, daß er nicht die Absicht hatte, hier zu verweilen. Er zog den jungen Archäologen zum Rand des Daches, das über die Straße hinausragte, und als der Verfolger unten vorbeischlich, ließ er sich mit einem gellenden Kreischen auf ihn fallen. Bis Cheyne einen ungefährlicheren Weg entdeckt hatte, nach unten zu gelangen, waren der Bettler und der Fremde bereits in eine Messerstecherei verwickelt, die bedeutend ausgewogener ausgetragen wurde, als Cheyne für möglich gehalten hätte. Der Bettler verfügte über einige akrobatische Fähigkeiten und beschäftigte den Gegner aufs trefflichste. Bisher war noch kein Blut geflossen. Als er eine Möglichkeit sah, griff Cheyne ein und versetzte dem Fremden einen vernichtenden Schlag, der ihn wie einen Sack Salz zusammensinken ließ. Cheyne klopfte sich den Staub von den Kleidern und nahm dem Mann den gekrümmten, kostbar verzierten Dolch aus der Hand. Es handelte sich um den gleichen Dolch, den er auf Riollas Tisch gesehen hatte. Die Klinge war noch immer vom Saft der Orange verklebt. »Gut abgepaßt«, gratulierte ihm der Bettler. Cheyne wandte sich um, um seinen Retter anzusehen. Die Kapuze war während des Kampfes nach hinten 100
gerutscht, und nun wußte Cheyne, wieso ihm der Mann so bekannt vorkam. Die Nase des Bettlers war ein regelrechter Koloß und erinnerte ihn an den zwanzig Fuß hohen Kopf Nins, der vor der zerstörten Mauer an der Ausgrabungsstätte stand. Das östliche Gesicht und die riesigen Ohren waren schon vor langer Zeit verwittert oder abgebrochen und ließen das strenge, westliche Gesicht lächerlich wirken. Als habe er Cheynes Gedanken gelesen, zog sich der Bettler hastig wieder die Kapuze über den Kopf, aber die sonnenverbrannte Nase ragte noch immer darunter hervor. »Warte mal - du hast vor dem Laden des Uhrmachers gesessen...«, sagte Cheyne. »Ja. Und da werde ich auch wieder hingehen, wenn du mir keinen schöneren Platz vorschlagen kannst...« Der Bettler deutete auf das hin- und herschaukelnde Schild eines Raqaladens, der ein Stück die Straße hinauf lag. »Nichts entfacht einen kleinen Durst so gut wie ein netter Zwist. Würdest du mir einen ausgeben?« Er schwankte plötzlich, und Cheyne ergriff ihn am Arm. »He, ist alles in Ordnung? Laß mich dir helfen. Leider kann ich dir keinen ausgeben. Ich habe nur noch zwei Kohli«, entschuldigte er sich und suchte nach den Geldstücken. Natürlich fand er sie nicht. Der Bettler schüttelte den Kopf, und die Geste wurde durch die enorme Nase noch unterstrichen. »Nein, nein. Ist schon gut«, 101
keuchte er und blies Cheyne seinen Atem ins Gesicht. Beinahe hätte der Raqagestank das vollbracht, was der Meuchler nicht geschafft hatte. Cheyne wußte jetzt, warum der Bettler so außergewöhnlich mutig gewesen war. »Hier. Ich werde dich in den Schatten führen. Dann hole ich Wasser...«, sagte er zögernd. »Wasser? Nein, guter Mann, bitte nicht. Ich brauche jetzt einen gut abgelagerten Raqa - das süße, zerstampfte Herz des Wüstenkaktus, der mindestens eine Woche im eigenen Kummer schmorte - und einen festen Laib Bappir, der genauso alt ist«, widersprach der Bettler grinsend, dessen Ausdrucksfähigkeit, genau wie sein Mut, ungewöhnliche Ausmaße angenommen hatte. »Mir geht's gut, junger Herr. Ein paar Beulen werd ich haben, wenn ich wieder nüchtern bin. Aber die spüre ich jetzt nicht, oder? Und vielen Dank für die Münzen.« Cheyne steckte die Hand in die Tasche und runzelte die Stirn. »Nun ja, ein großzügiger Mann wird niemals hungern müssen. Du kannst auf der anderen Seite des Markstandes durchschlüpfen. Wir sollten uns besser aus dem Staub machen, ehe der Herr, der deinen Kopf wollte, aufwacht.« Cheyne wußte, daß der Bettler recht hatte, aber inzwischen war das Läuten der Glocken verstummt, und die äußeren Tore waren geschlossen. Er steckte für heute nacht fest, und sein einziger Freund in dieser Stadt schien dieser arme Teufel zu sein, auch wenn er 102
ihm seine zwei letzten Kohli gestohlen hatte. Er würde ihn nicht einfach verschwinden lassen. Aber als sich Cheyne zu der Stelle umdrehte, auf die der Bettler gezeigt hatte, verschwand der Mann im Schatten der Häuser. Da ihm nun nichts anderes übrig blieb, klopfte sich Cheyne den Staub vom Gewand und ging zu dem Currystand hinüber, der angeblich einen Ausweg bot und hoffte, es handele sich nicht um eine List. Der Besitzer des Standes hatte den Hinweis des Bettlers mit einer seltsamen Geste beantwortet. Als er das Zelt erreichte, betrachtete er sehnsüchtig die Waren. Anscheinend sah er so aus, aus würde er gleich vor Hunger umfallen, denn der Händler, der sein Kohlebecken säuberte, wies auf eine Lammkeule und nickte Cheyne aufmunternd zu, bevor er mit der Wand zu verschmelzen schien. Eifrig schnappte sich der junge Mann das Fleisch. Die zahlreichen Sandkörner, die daran klebten, waren ihm vollkommen gleichgültig. Das Lamm war zäh und trocken, sehnig und zerkocht, aber Cheyne verschlang es heißhungrig. Kurz darauf stand er vor dem Stand, leckte sich die Finger und fragte sich, wie er wohl aus diesem Viertel herauskommen würde. Dann durchschaute er, weshalb der Ladenbesitzer so schnell verschwunden war. Hinter dem schwankenden Zelt, im Schatten der Mauer beinahe unsichtbar, klaffte ein Spalt im Mauerwerk. Cheyne blickte sich um, und da ihn niemand zu beachten schien, holte er tief Luft, zwängte sich 103
durch die enge Öffnung, gelangte in ein finsteres Schlachthaus und stand in der Barca. Dem ausgetretenen Pfad und dem betäubenden Geruch nach altem Blut nach zu urteilen, bestanden sowohl das Schlachthaus wie auch der versteckte Durchgang seit ewigen Zeiten. Nach frischer Luft schnappend wanderte Cheyne durch die schäbigen Gassen, bis er an die Außenmauer gelangte, die er nach ähnlichen Öffnungen absuchte. Hinter den herunterhängenden Zeltbahnen und Hütten fand er Dutzende davon, die zumeist völlig natürlich wirkten und die alten Mauern seit Jahrhunderten durchzogen. Es sieht von außen so stabil aus, doch besteht sie nur aus unzähligen Kalkschichten. Wahrscheinlich lassen die Fascini nichts instandsetzen, was sie nicht ansehen müssen, dachte Cheyne. Kurz darauf befand er sich auf der flachen, staubigen Straße, die zur Ruinenstadt führte und dachte darüber nach, was er Javin erzählen würde.
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KAPITEL 3 »Verstehe ich dich richtig? Du hast kein Geld bekommen, weil ... du hattest dein Opfer vor dir und ließest es den Laden verlassen? Und dann ist er deinem Mann in den Straßen entkommen? Riolla, ich bin sehr enttäuscht von dir. Ich glaubte, ich hätte dir beigebracht, daß man nicht so unachtsam sein darf. Und nicht mit so einer phantasielosen Entschuldigung kommen sollte.« Der vermummte Mann sprach mit sanfter Stimme, aber die Worte bohrten sich durch Riollas Herz. »Und warum das alles? Wie viele andere hast du vielleicht schon entkommen lassen? Hat dieser junge Mann dich mit Blindheit geschlagen oder bist du wegen deiner neuen ›Liebe‹ so unfähig?« »Ich habe mein Bestes getan, Raptor«, entgegnete Riolla, deren Furcht die Worte unwahr klingen ließ. Sie beachtete die Bemerkung des Raptors ob ihres jüngsten Versuches, den Thron von Sumifa an sich zu reißen, nicht. »Aber Saelin, mein bester Meuchler, erklärte, er sei ratlos. Es ist, als fühle der Junge jede Gefahr. Saelin berichtete, daß er sich in der Sekunde, bevor ihn die lautlose Diskusscheibe treffen sollte, fallen ließ. Saelin der Metzger ist noch nie ohne den Kopf zurückgekommen, nach dem ich ihn geschickt habe. Vielleicht ist Magie im Spiel oder einfach bloß Pech. Ein paar Menschen werden vom Glück verfolgt, weißt du. Sie gehen völlig sorglos durchs Leben, verneigen sich niemals vor unserem verehrten Caelus 105
Nin, ehren die Ahnen nicht, aber trotzdem geschieht ihnen nie etwas Böses.« Riolla bemerkte, daß sie nervös vor sich hin schwatzte, und schwieg. Kein echter Fascini würde das tun! Der Raptor würde sie nicht mehr respektieren. Sie wandte sich einer anderen Taktik zu, von der sie wußte, daß der Raptor ihr nicht widerstehen konnte. »Vielleicht könnten wir unsere zukünftigen Pläne bezüglich dieses jungen Mannes besprechen, anstatt vergangene Fehler zu erwähnen. Ich denke, er konnte sich als wertvoll erweisen. Schließlich gehört er zu den Ausgräbern, und die sind immer hinter Schätzen her. Ich vermute, er hat etwas entdeckt. Er fragte mich wegen eines Totems, auf dem eine seltsame Glyphe eingraviert war, die noch in der alten Sprache verfaßt ist«, fuhr Riolla fort und steckte ihre Angst im Geiste in eine Tasche. In dem dunklen heißen Raum, der heute ganz besonders stickig zu sein schien, wartete sie darauf, daß der Raptor ihre verlockenden Worte überdachte. Wie sie sich nach einem offenen Fenster sehnte... Der Raptor bewohnte das oberste Stockwerk im höchsten Haus von Sumifa, genau in der Mitte der Zitadelle, dem Mittelpunkt Sumifas. Er verfügte über einen unglaublich schönen Ausblick. Aber in den vielen Jahren, in denen Riolla den Mann kennengelernt hatte und ihn für den Schutz bezahlte, den er ihren Geschäften - sowohl den ehrbaren als auch den 106
übrigen - zuteil werden ließ, hatte sie nie erlebt, daß er ein Fenster geöffnet, eine Lampe angezündet oder den stickigen Raum tagsüber verlassen hatte. Noch nie hatte sie sein Gesicht gesehen, und auch jetzt, als er unruhig im Zimmer auf und ab ging, konnte sie seinen Standort nur anhand des Rascheins seiner Gewänder und des Klackens seiner Absätze auf dem schwarzen Marmorboden ausmachen. Wie froh ich bin, wenn ich dich nicht mehr brauche, du hartherziger, ichbezogener, furchteinflößender Aasfresser. Wenn ich erst Prinz Maceo geheiratet habe, werde ich dich aus diesem dunklen Bau hinauswerfen und das Haus säubern lassen. Saelin macht keine Fehler. Wenn dieser junge Ausgräber meinem besten Meuchler entkommen konnte, mag er wohl über den Zauber verfügen, der mich zu der Uhr und dem Schatz führen wird, und dann wird das gesamte Mercantoviertel zu mir aufschauen, und ich werde bestimmen, wer wann belohnt wird. Noch in diesem Monat wird Maceo gekrönt, und an diesem Tag werde ich ihn heiraten. Die Fascini werden Feste abhalten, nur um sich zu streiten, mit wem von ihnen ich auf welche Art verwandt bin, denn dann bin ich die Königin von Sumifa. Natürlich wird Maceo einen tragischen und völlig unerwarteten, frühen Tod finden. Und wenn ich erst die Schätze der Uhr besitze, dann werde ich einen Weg finden, auch dich zu vernichten, Raptor. Nie wieder wirst du mich soweit bringen, daß ich mich unwichtig und klein fühle. 107
Riolla lächelte vor sich hin. Ihre rubinroten Lippen verzogen sich, ihre Augen starrten blicklos ins Leere. Schweiß sammelte sich in der Halsgrube. Wie immer hatte sie die schwarze Perle vor dem Gespräch mit dem Raptor abgelegt - sie war der einzige Gegenstand, den sie ihm niemals geben würde. Sie öffnete einen Fächer, der aus den weißen Federn einer ausgestorbenen Pfauenart gefertigt worden war und fächelte sich Luft zu, während der Raptor stehenblieb und endlich antwortete. Seine Stimme klang hart und scharf wie sumifanischer Stahl. »Riolla, wieviele Archäologen weilen deinen Spionen zufolge in den Ruinen?« »Drei, Raptor. Der Anführer, der Sprachenforscher und der junge Mann.« Die Frage verwirrte Riolla. »Und der junge Mann ... wie alt ist er?« »Nun, ich würde sagen, er steht wohl in seinem Namensjahr - wenn er einen Namen hat, den er annehmen kann.« Obwohl Riolla nicht erklären konnte, wieso, schienen die Dinge eine unangenehme Wendung zu nehmen. »Und Saelin behauptet, er könne zaubern? Zaubern? Dann muß er derjenige sein. Leider habe ich ihn nicht gesehen. Wie ausgesprochen klug von Javin ... aber er wird für diese Frechheit und Klugheit büßen. Seine Zeit, so denke ich, ist bald abgelaufen«, murmelte der Raptor vor sich hin. Obwohl Riolla nicht verstand, wovon er redete, lauschte sie angestrengt. Neuigkeiten waren nie zu verachten. 108
»Durch die Gnade Nins, Riolla, bist du dem Tod durch deinen eigenen Meuchler entkommen. Hatte Saelin den Kopf des Jungen genommen, hätte er mir deinen Kopf bringen müssen.« Erstaunt ließ Riolla den Fächer sinken und hörte zu, was jetzt kam. »Aber ... es könnte Schlimmeres geben, als daß dich dieser Ausgräber zu seinem Schatz führt, ihn ans Tageslicht holt und du ihn dann von meinen älteren Ansprüchen in Kenntnis setzen wirst.« Wieder ging der Raptor auf und ab. »Ja. Du wirst ihm folgen. Wahrscheinlich geht er nach Westen, durch die Wüste. Vielleicht tut dir eine lange Reise gut. In letzter Zeit bist du nicht viel herumgekommen.« Riolla wedelte wieder mit dem Fächer und wand sich in ihrer hellen und zarten Haut bei dem Gedanken an eine Reise durch die Wüste, das Schlafen auf dem Boden und die täglichen Gespräche mit gewöhnlichen Menschen. Der Raptor schwieg eine Weile. Riolla spürte, wie ihr der Schweiß den Rücken hinablief, aber der Fächer bewegte sich fortwährend und schien die Sekunden zu zählen. Schließlich antwortete sie: »Wie du wünschst.« Der Raptor stellte die nächste Frage. »Riolla, was weißt du über Kalkuk?« »Kalkuk?« Sie hustete, denn die Frage kam unerwartet. »Ich habe ihn seit einiger Zeit nicht mehr gesehen...« Wenn der Raptor wußte, daß sie den alten 109
Händler getötet hatte, würde er auch wissen wollen, warum sie ihn in der Ruine versteckt hatte. Die Perle... »Das ist komisch. Er wurde tot in den Ruinen gefunden. Soviel ich weiß, unter äußerst seltsamen Umständen. Ich frage mich...« Er hielt inne. Riolla bemühte sich, den Fächer ruhig zu halten und bewegte ihn mit gleichmäßigen, rhythmischen Handbewegungen, wie sie es auch vor dieser Frage getan hatte. Der Raptor schwieg. »Vielleicht haben ihn die Ausgräber selbst umgebracht« meinte sie. »Vielleicht ist er ihnen in die Quere gekommen oder hat versucht, etwas zu stehlen, was sie ausgegraben hatten. Das würde doch einen Sinn ergeben. Er lag mit den Zahlungen im Rückstand, was auch der Grund ist, weshalb ich mich verspätet habe«, log sie. Der Raptor lachte leise. »Vielleicht tust du auch nur so. Wenn du mich anlügst, Riolla...« »Raptor, beim zerstörten Angesicht von Caelus Nin und meiner hochverehrten Ahnen, ich wäre dumm, wenn ich dich anlügen würde. Ich versuche nur, eine mögliche Erklärung für den zu frühen Tod eines meiner besten Kunden zu finden. Ich werde ihn sehr vermissen.« »Du wirst seine Zahlungen sehr vermissen. Und deine hochverehrten Ahnen hast du gekauft. Aber du wirst weiterhin Kalkuks Anteil zahlen, Riolla. Sonst bin ich gezwungen, mich ein wenig um diesen, wie du 110
sagtest, zu frühen Tod zu kümmern.« Riolla wußte, wann sie schweigen mußte. Der Raptor ging immer noch unruhig hin und her. Nach einer Weile fuhr er fort: »Was diesen glücklichen jungen Mann angeht: Wenn er derjenige ist, für den ich ihn halte - oder es zumindest hoffe -, dann habe ich zehn Jahre auf ihn gewartet. Ich will ihn lebend und unversehrt. Folge ihm. Wie ich schon sagte: Er wird nach Westen gehen. Mach seinen Weg ausfindig, bevor er ihn einschlägt, damit du ihn nicht wieder verlierst. Ich möchte noch einmal betonen, daß du ihn nicht verletzen darfst, hast du verstanden? Dein Meuchler wurde von Drufalden ausgebildet. Er wird seinen Stolz rächen wollen. Du mußt Saelin davon abhalten. Ich glaube, du bist dazu in der Lage. Wenn er nicht am Leben bleibt, wie sollte er dann den Schatz für mich finden?« Da sie viel Erfahrung besaß, den Tonfall dieser Stimme zu deuten, fiel Riolla auf, daß der Raptor milder zu werden begann, und es schien, als sei er der Meinung, er habe ihr bereits zuviel erzählt. Sie fühlte sich ein wenig sicherer. Er war äußerst interessiert an dem Ausgräber und dessen Schatz. Dadurch stieg ihr Verlangen noch mehr. »Du hast schon früher mit den Leuten entlang der alten Handelswege gesprochen«, fuhr er fort. »Aber denke daran, daß du meine Gesandte bist, wenn du die Landesgrenzen überschreitest. Nimm das hier mit. Gib es Drufalden, damit dein Schutz gewährleistet ist. 111
Ich werde es mir später wiederholen.« Eine uralte Münze mit dem Bildnis Caelus Nins darauf - auf der einen Seite das östliche, auf der anderen das westliche Gesicht - klingelte wie ein Silberglöckchen auf den Steinen und fiel Riolla vor die Füße. »Ich erwarte, die Münze wiederzusehen. Ich werde dir jemanden schicken, der dich aufsucht, bevor du die Grenze überschreitest. Jetzt laß mich in Ruhe, und komm nicht eher wieder, bis du mir den Schatz und den seltsamen fremden jungen Ausgräber heil hierherbringst.« Riolla stand auf, um den stickigen Raum zu verlassen, da sie entlassen war. Trotzdem fühlte sie sich nicht besonders wohl. Kurz ehe sie über die Schwelle trat, sprach der Raptor noch einmal. »Riolla.« »Ja, Raptor?« »Bezahle dein Schutzgeld.« »Ja, ich bin wütend. Cheyne, es steht mehr auf dem Spiel, als du ahnst. Wenn du jünger wärest, würde ich dich heimschicken. Jetzt hör gut zu und handele wie ein erwachsener Mann. Erstens hast du hoffentlich niemandem erzählt, wo du heute hingegangen bist. Abgesehen von der Tatsache, daß wir hier zu wenig Leute haben, war ich schrecklich besorgt, bis du gesund zurückkehrtest. Wir haben eine Leiche gefunden! Und keiner weiß, was es damit auf sich hat, 112
außer, daß wir bestimmt in der Nähe des Sammlers sind. Du gehst fort und verschwindest - was soll ich davon halten? Abgesehen von deinem kleinen Ausflug herrscht auch noch Unruhe in den Reihen der Fascini. Der alte König hat uns wenigstens gewähren lassen. Solange wir ihn nicht störten, war ihm egal, was wir auf diesem götterverlassenen Sandhügel machten. Aber Maceo ist anders. Ich nehme an, daß König Thedeso noch nicht völlig kalt sein wird, bevor sich sein gräßlicher Sohn hierherbringen läßt, um unsere sofortige Entlassung zu verkünden.« Cheyne wollte einwerfen, daß er den Thronerben bereits kennengelernt hatte, aber er erhielt keine Möglichkeit dazu. Javin redete weiter - beinahe ohne Luft zu holen. »Es könnte Streit geben, aber ich werde mich weigern, fortzugehen. Es ist meine letzte Gelegenheit, den Sammler zu finden. Von nun an muß ich jederzeit wissen, wo du dich aufhältst.« Javin ließ den Kopf zwischen die Hände sinken, die Ellbogen hatte er auf den Knien aufgestützt. »Und ich muß die Fascini überzeugen, uns wenigstens noch etwas Zeit zu gewähren. Es wäre gut, wenn wir genügend Geld hätten, um Maceo zu bestechen. Aber bis wir den Schatz des Sammlers finden, kann ich ihm nur einen Anteil daran versprechen. Es wird alles von meiner Überzeugungskraft abhängen. Wenn ich sie danach beurteile, wie sie heute auf dich gewirkt hat, dann muß ich sagen, daß diese Ausgra113
bung am Ende ist«, fügte er trübsinnig hinzu. »Javin, ich mußte gehen. Eben weil ich ein erwachsener Mann bin«, begann Cheyne, der sicher war, daß Javin niemanden in die Stadt geschickt hatte, um nach ihm zu suchen. Wahrscheinlich hatte man ihn erst vermißt, als der Wächter gesehen hatte, wie er die Lampe in seinem Zelt anzündete. Javin hatte viel zu viel anderes im Kopf. »Du verstehst mich einfach nicht. Es geht mir nicht um den Schatz. Es geht um meine Herkunft. Du hast diese Frage nie stellen müssen. Du kanntest deine Eltern, dein Land und deine Arbeit. Ich weiß nicht einmal, wie mein Gesicht aussieht oder wie mein vollständiger Name lautet. Egal, wohin wir auch reisen, überall auf diesem Kontinent haben die Menschen einen Nachnamen. Sogar die Sumifaner, die in der Barca leben. Es gibt bei mir zu viele Rätsel. Ich werde nicht immer bei deinen Ausgrabungen mitarbeiten, Javin. Ich will mein eigenes Leben führen. Ich will meinen Namen kennen. Wie soll ich mir eine Zukunft aufbauen, wenn ich keine Vergangenheit habe? Ich muß wissen, wohin ich gehöre.« Gerade, als Cheyne das Amulett unter dem Hemd hervorziehen wollte, um Javin auf die Übereinstimmung mit der Glyphe des Totems hinzuweisen, schlug Javin wütend auf den Tisch, denn seine Geduld war durch die Hitze und die unangenehmen Ereignisse des Tages erschöpft. »Cheyne! Ich erteilte dir den Befehl die Ruinen 114
nicht zu verlassen. Du hast nicht gehorcht. Warum? Weil du nicht über deine eigenen Bedürfnisse hinausschauen kannst. Falls wir - sobald wir - den Sammler finden, bin ich ganz sicher, daß du die Antwort auf deine Fragen erhältst. Aber ich erwarte, daß du dich auch noch um etwas anderes als deine kleinlichen Sorgen kümmerst. Es geht hier um etwas bedeutend Größeres, als dein Verlangen nach einem Namen.« Bei Javins letzten Worten begann Cheynes Gesicht zu brennen, und er ließ das Amulett zurück unter das Hemd sinken. Ein schrecklicher Gedanke beschlich ihn. Machte das alles Javin etwas aus? Hatte es ihm jemals etwas ausgemacht? Als er Cheyne damals gefunden hatte, war Javin, wie immer, auf der Suche nach dem Sammler gewesen. Er hatte ihm nur erzählt, daß Cheyne der einzige Überlebende einer brutalen Attacke auf eine Handelskarawane gewesen war. Cheyne hatte sich die Geschichte immer wieder durch den Kopf gehen lassen, und alle Einzelheiten, die Javin zwecks zeitlicher Angaben und ähnlicher Dinge berichtet hatte, auf ihre Wahrscheinlichkeit überprüft. Es gab einiges, was nicht echt klang. Zum einen war es seltsam, daß die Ork-Banditen die Fuhrleute und die mit den Händlern reisenden Familien getötet hatten. Normalerweise nahmen die Orks, die für ihre Faulheit und Desorganisation bekannt waren, bei einem Blitzüberfall alles mit, was sie tragen konnten und ließen die Karawanen weiterziehen, denn sie 115
wußten, die Händler würden auf dem gleichen Pfad dem einzigen Pfad - mit noch mehr Gütern beladen zurückkehren. Die Orks hatten ein paar tausend Jahre gebraucht, um das Prinzip zu begreifen, und nun hielten sie sich getreulich daran. Also warum hätten sie dann ihre Einnahmequelle zerstören sollen, nur um eine Karawane auszuplündern? Das machte keinen Sinn und war ihm. schon immer klar. Abgesehen von seinem Vornamen konnte sich Cheyne an nichts mehr erinnern, was vor jenem Tag geschehen war. Die ganze Zeit über hatten einige Fragen wie Ratten an ihm genagt, wie etwa: Warum war er bei der Karawane? Wer war seine Familie? Diese Fragen waren mit dem Ende jeden Sommers, dem Zeitpunkt des Überfalls, quälender geworden. Nun war er einundzwanzig Jahre alt, lebte in Argive, beziehungsweise in Sumifa und hatte das Alter erreicht, in dem man einen Namen erhielt und das Haus des Vaters verließ. Aber er besaß nicht mehr als das Amulett und Javins unwahrscheinliche Geschichte als Erbe. Cheynes Leben hatte für ihn in dem Moment begonnen, als Javin ihn wachgerüttelt hatte, aus einem Zauberschlaf gerissen hatte, und nur das rätselhafte Amulett um seinen Hals galt als Beweis für die ersten zehn Lebensjahre. Monatelang hatte er nicht sprechen können. Damals war Muni gekommen. Muni war der beste Sprachforscher der Welt, und er hatte beinahe ein Jahr gebraucht um dem Jungen flüssiges Sprechen 116
beizubringen. Die ganze Zeit über war Cheyne nachts schweißgebadet aufgewacht, hatte gezittert und war durch unerklärliche, immer wiederkehrende Träume eigentümliche Gebilde aus Licht und Farben, in denen ein großer, narbengesichtiger Elf und ein gesichtsloser Mann vorkamen - in Angst und Schrecken versetzt worden. Aber nicht nur Cheynes Alpträume boten Grund zur Sorge. Bevor Javin wieder an seine Ausgrabungen zurückkehren konnte, hörten die Fascini von den unglücklichen Händlern und schlossen den Karawanenweg endgültig, worauf sich die Elfen in ihren Zauberwald zurückzogen und den Außenseitern keine Wege durch den Vorhang des Lichts überließen. Und als wäre das noch nicht genug gewesen, hatte Javin auch noch die Unterstützung der zukünftigen Helfer verloren, denn niemand wollte mehr Orte aufsuchen, an denen so grausame Orks lebten. Auf dem Rückweg war Javin ihnen dreimal knapp entkommen und wußte daher, daß er es allein niemals durch das feindliche Gebiet der Wyrvils schaffen konnte, selbst wenn er die Elfen überzeugen würde, ihn einzulassen. So hatte Javin die Möglichkeit, im Grenzgebiet zu arbeiten, für immer verloren, weil er sich um Cheyne gekümmert hatte. Also warum sollte sich Javin jemals über Cheynes verzweifeltes Verlangen, seine Herkunft festzustellen, den Kopf zerbrechen? Die Wahrheit traf ihn mit erdrückender Härte. Für Javin stand zuviel auf dem 117
Spiel, um sich durch irgend etwas ablenken zu lassen. Für einen Mann wie Javin, der - bevor er Cheyne fand - zwei Frauen durch Pestepidemien verloren hatte und seither weder Freundschaften noch Wurzeln entstehen ließ, ging seine Arbeit über alles. Javins Herz hing an diesem Ort. Weder die Fascini noch ein Wirbelsturm würden ihm diese letzte Möglichkeit rauben, das Grab des Sammlers zu finden. »Cheyne, mir reicht es. Ich gehe zu Bett. Muni hat einen Mann gefunden, der neben dem Raum Wache halten wird. Wir haben den Großteil des Sandes herausgeschaufelt nur in einer Ecke liegt noch etwas. Der Sammler ist nicht da unten, aber ich bin sicher, daß es sein Haus ist. Vielleicht liegt er im nächsten Stockwerk, aber zuerst müssen wir dieses leeren. Denkst du, daß du Muni heute nacht helfen kannst, wenn es etwas kühler geworden ist? Ich weiß nicht, wann die Fascini kommen. Wir müssen uns so sehr beeilen, wie wir nur können«, erklärte Javin, dessen Stimme völlig übermüdet klang. »Ja, Javin«, antwortete Cheyne matt. Als Cheyne durch die Dünen wanderte, erschienen, eine nach der anderen, die Drei Schwestern, die ersten Abendsterne, die hier am nächtlichen Himmel aufgingen. Obwohl die Sonne vor einer Stunde untergegangen war, flimmerte die Hitze über den westlichen Dünen, und die Wärme des Tages strich Cheyne über Hände und Gesicht. Schon bald würde sich die warme 118
Luft in einen kalten und ausdauernden Windhauch verwandeln, der die Ausgrabungsstätte bis zum Morgengrauen ruhelos überflog. Cheyne erklomm den höchsten Sandhügel, als sich gerade das blaue Dämmerlicht in völlige Finsternis verwandelte. Einen Augenblick lang blieb er stehen und sah auf den verblassenden Horizont, und der friedvolle Anblick linderte den Schmerz über Javins Gleichgültigkeit. Ein paar Säulen des alten Palastes, die noch vor wenigen Wochen unsichtbar gewesen waren, umringten die Stätte wie schweigsame Wächter. Die Basaltgesichter waren gesplissen, abgesplittert oder gar nicht mehr vorhanden. Aber dennoch fand Cheyne, daß sie königlich aussahen, als sich ihre dunklen Umrisse gegen den Himmel abzeichneten. Hinter ihm erhob sich in schlichter Eleganz die zerbrochene Außenmauer eines runden Wachturms, der den wahrscheinlich höchsten Teil der Gebäude darstellte. Er zog das Totem aus seiner Tunika, hielt es gen Himmel und beobachtete, wie die Farben in den Ecken im schwachen Licht aufleuchteten. Er dachte über die Glyphen nach und stellte sich vor, sie stellten seinen Namen dar, seinen wirklichen Namen, der dort eingraviert stand, der Name des geliebten Königs eines großen und mächtigen Volkes, der inmitten dieser Säulen Hof hielt, in deren Stein die Gesichter seiner Ahnen gemeißelt waren, die gnädig auf ihn herniederblickten. 119
Er mußte über seine Phantasien laut auflachen, denn, egal, wie seine Vergangenheit beschaffen sein mochte, so war sie gewiß nicht gewesen. Seine Stimme hallte seltsam innerhalb des Säulenrings wider, und genau in diesem Augenblick zuckte ein greller Blitz, ergriff die Farben des Totems und ließ sie gen Himmel sprühen. Die Strahlen zerflossen zu dem Bildnis einer Frauenhand, von der die beiden ersten Finger sich am ersten Gelenk eigentümlich krümmten. Das Bild verschwand, bevor Cheyne es eingehend betrachten konnte. Er drehte das Totem in alle Richtungen, um die Erscheinung noch einmal zu sehen, aber der Blitz entschwand, und der Himmel blieb völlig dunkel. Ungläubig schüttelte er den Kopf und dachte, die Wüste gaukele ihm Trugbilder vor und der Blitz habe ihn betrogen. Er steckte das Totem in seine Tasche zurück und ging zu dem ausgegrabenen Haus hinüber. Die Wüstenluft roch sauber und rein, die hellen weißleuchtenden Sterne stachen den großen Mond und seinen kleinen Gefährten beinahe aus. Cheyne hatte sich schon oft über den kleinen Mond gewundert - er war ein Teil jeder uralten Zivilisation gewesen, die er studiert hatte. In Argive lauteten allerdings sämtliche Berichte über das Auftauchen des Mondes gleich. In der einen Nacht hatte es ihn nicht gegeben in der folgenden erschien er und war seitdem nicht wieder verschwunden. Er tauchte einfach auf, und niemand wußte, warum. 120
Wie ich, dachte Cheyne, während er die Sandhügel überquerte, um zu dem Haus zu gelangen, wo Muni lässig an dem Marmorblock lehnte, den sie am Morgen weggeschoben hatten. Er lag noch an der gleichen Stelle, auch die geknüpften Seile hingen noch daran. »Ich bin froh, daß du heil von deinem Abenteuer zurückgekehrt bist. Übrigens tut es mir wegen des Meuchlers leid, aber du hast dich gut geschlagen. Ich hatte genug mit seinen drei Freunden zu tun.« »Du bist mir gefolgt?« Cheyne starrte ihn ungläubig an. Muni lächelte strahlend. Seine Zähne blitzen sogar in der Dunkelheit. »Nein. Ich brachte einen toten Mann heim. Auf dem Rückweg sah ich dich in Schwierigkeiten.« Muni hielt die Seile hoch und bot Cheyne eines davon an, während er sich das andere um die Hüften schlang. Cheyne rührte sich nicht. Muni seufzte. »Cheyne, du kannst kommen und gehen, wann du magst. Wenn sich unsere Pfade kreuzen, fühle ich mich verpflichtet, dir zu helfen. Ein schlichtes ›Danke‹ reicht, mein Freund.« Muni verneigte sich tief, wie es bei den Männern von Almaaza üblich war. Cheyne war froh, daß es dunkel war, denn so wurde seine Verlegenheit verdeckt. Zum ersten Mal hatte ihn Muni als Gleichgestellten anerkannt, und beinahe hatte er sich durch seinen Ärger zum Narren gemacht. Er erwiderte die Verneigung und nahm das Seil entgegen. »Steigst du nicht mit hinab?« 121
»Nein. Kifran und ich werden hier oben Wache stehen. Ich werde dir Eimer reichen und sie anschließend ausleeren. Da drinnen wirst du nur das lebende Ungeziefer stören.« Er lächelte. Kifran, ein hochgewachsener, bärtiger Sumifaner, salutierte vor Muni und nahm seinen Platz am Fuße der höchsten Säule ein. Er gehörte zu Munis Leuten und war einer der wenigen, die nicht an die alten Geschichten über einen bösen Dschinn glaubten, der tödliche Sandstürme geschaffen und den Ort unbewohnbar gemacht hatte, weshalb Sumifa an der jetzigen Stelle neu erbaut wurde, Muni hatte es Cheyne recht schlicht erklärt: Die Bevölkerung war so groß geworden, und der Fluß hatte seinen Lauf über die Jahre hinaus derartig geändert, daß man gezwungen war, weiter westlich, auf der anderen Seite des Nantas zu bauen, wo sich die Stadt nun ausbreitete und man immer wieder neue Mauern errichtete, je mehr Bürger dort lebten. Aber die meisten Einwohner Sumifas waren von den alten Legenden gefesselt man konnte jeden am Hofe der Fascini fragen, und die Antwort lautete immer gleich, Sumifa war neu erbaut worden, da eine böse Macht die noch immer über die Dünen strich, die alte Stadt vernichtet hatte. »Muni?« »Ja, mein Freund?« »Hast du in der Stadt zufällig einen Elfen gesehen?« »Nein, das habe ich nicht.« Muni lachte. »Aber 122
wenn ich einen gesehen hätte oder jemals einen sehe, bist du der erste, dem ich es erzähle.« Cheyne seufzte und ließ sich in die Tiefe fallen, wo die Fackel, die Muni vorher hinabgeworfen hatte, brennend auf dem frisch gefegten Marmorboden lag. Wie Muni vorhergesagt hatte, rannten ein paar Skorpione herum, die vor dem Feuer flohen. Zwei Fächerkragenechsen, die größten Feinde der Skorpione, setzten ihnen nach; ihre winzigen Krallen kratzten leise über den Fußboden. Die Natur hält alles im Gleichgewicht, dachte Cheyne, nahm einen Eimer entgegen, schaufelte Sand hinein und reichte ihn nach oben, um dann einen leeren in Empfang zu nehmen. Eine Stunde lang arbeiteten sie im gleichen Rhythmus und ohne Zwischenfälle, und Cheynes Gedanken schweiften zu dem Abenteuer des Nachmittags ab. Er wanderte noch einmal durch die Straßen Sumifas, sah Riolla, kämpfte mit dem Meuchler und traf den seltsamen Helfer, den er so bald schon wieder aus den Augen, verlor. Was hatte es mit dem Totem auf sich, daß Riolla, die Mercanto Schreefa, ihn so sehr begehrte, daß sie ihn deshalb sogar töten wollte? Sie hatte wegen der letzten Glyphe gelogen. Vielleicht wußte sie, was das Zeichen bedeutete. Cheyne dachte an den seltsamen kleinen Mann, der ihm geholfen hatte. Er wünschte, er hätte dem Bettler eine warme Mahlzeit oder ein Bett für die Nacht bezahlen können, auch wenn er mir die letzten beiden Kohli stahl, dachte Cheyne lächelnd. 123
Wenigstens ein Laib Bappir hätte es sein sollen, dieses fremdartige, süße Körnerbrot, das alle Sumifaner so liebten. Er gelobte sich, daß er sich bei dem Mann mit der großen Nase richtig bedanken würde, wenn er ihn jemals wiedersähe. »Cheyne?« rief Muni von oben. Der leere Eimer tanzte am Seil auf und ab. »Schon da, Muni. Habe geträumt. Tut mir leid.« In der Ecke lagen nur noch vier oder fünf Fuß Sand, die noch entfernt werden mußten. Danach konnte er schlafen. Mit einem kräftigen Zug an dem Eimer warf sich Cheyne mit frischer Kraft auf die Arbeit. Gerade da loderte die Fackel einen Augenblick lang hell auf und erleuchtete die dunkle Ecke, in der Cheyne stand. Er hielt in seiner Bewegung inne, da er etwas gesehen hatte. Cheyne trat zurück, griff nach der Fackel und hielt sie dicht über den feinen Sand. Dicht unter der Oberfläche glänzte der Rand eines Tonkrugs, der mit kunstvollen Goldverzierungen versehen war. Der sichelförmige Umriß war unverkennbar. Cheyne steckte die Fackel in den Sand, zog den Handfeger heraus und bürstete die dünne Sandschicht ab. Nach wenigen Minuten hatte er mehrere Scherben eines ziemlich großen Tonbehälters freigelegt. »Muni! Ich habe etwas entdeckt - außer Sand, meine ich«, rief Cheyne aufgeregt halblaut nach oben. 124
Aber sein alter Freund hatte sich einen Augenblick lang vom Eingang entfernt - Cheyne hörte ihn unwirsch mit Kifran reden, konnte die Worte aber nicht verstehen. Es war nicht Munis Art sich aufzuregen. Besorgt wandte sich Cheyne zu den Scherben des Tonkrugs um, ergriff die Fackel und leuchtete sie an, Sand, sehr viel Sand. Schnell zeichnete er den Fund auf und griff dann mit der Hand in den Sand, den er durch die Finger rieseln ließ. Die scharfkantigen Körnchen funkelten im sanften Fackellicht wie Goldstaub. Der Sand, der zwischen den Scherben lag, sah anders aus als jener, den er die ganze Zeit über weggeschaufelt hatte - rötlicher und körniger. Auch wirkte er völlig anders als jeglicher Sand in Almaaza, dessen Körnchen runder, stumpfer und glanzlos waren, nachdem sie jahrhundertelang von den starken, heulenden Stürmen des östlichen Erg herumgewirbelt worden waren und sich irgendwann zur Erde senkten. Man sagte, daß es an der Oberfläche des Erg Unmengen davon gab. In diesem Sand konnte man ertrinken, obwohl es meilenweit kein Wasser gab. Man versank in der glatten Sandfläche und sank tiefer und tiefer, bis man völlig zudeckt war. Es war, als ertränke man in Seide. Aber die Kristalle, die er in der Hand hielt, waren noch neu gewesen, als sie in den Krug geweht worden waren - als habe man sie gerade erschaffen. Die Kanten waren scharf und geschliffen wie winzige Spiegel, und sie fingen das Licht in glitzernden 125
Wellen ein. Er fuhr mit der Hand durch die angenehm rauhen Körnchen, veränderte das Lichtmuster, und winzige Regenbogen schimmerten sekundenlang durch den Raum, wann immer die Fackel ein wenig zitterte. Gebannt holte Cheyne immer mehr feinen Sand aus dem Krug. Als er mit der Hand an etwas Scharfes stieß, sprang er zurück, da er befürchtete, ein Skorpion habe ihn gestochen. Im Schein der Laterne bemerkte er jedoch, daß er einen Kratzer und keine Stichwunde hatte. Erleichtert setzte er die Suche fort und brachte ein kleines, in Bronze gebundenes Buch zum Vorschein. In diesem Augenblick sah er Munis Gesicht in der Einstiegsöffnung. »Tut mir leid, Cheyne, ich dachte, ich hätte etwas in den Dünen gesehen - Cheyne?« Muni spähte in den Raum hinab; ein Lächeln breitete sich auf dem wettergegerbten Gesicht aus. »Wie ich sehe, hast du also außer Ungeziefer noch etwas gefunden«, stellte er erfreut fest. »Was ist es denn?« »Was? Ach, du meinst die Scherben!« beeilte sich Cheyne zu sagen, und versteckte das kleine Buch in der Tasche des Gewandes. Er wollte es ungestört lesen, bevor er es weitergab. Wenn es um Geschriebenes ging, das ein Sprachforscher in die Finger bekam, konnte es Monate dauern, bis er es zurückerhielt. »Ja, ich sehe sie mir gerade an. Ich glaube nicht, daß es ein sumifanisches Stück ist. Der Entwurf und der Ton sind völlig anders, findest du nicht auch?« 126
»Hm. Wir müssen es bei Tageslicht sehen. Dein Vater wird sich freuen. Und das wäre derzeit nicht von Nachteil«, sagte Muni schlau. »Muni, ich höre für einen Moment auf und zeichne die Muster der Scherben ab.« »Gute Idee. Aber beeil dich - wir müssen den Raum noch leer bekommen. Hier oben stimmt etwas nicht. Ich glaube, eine Art Schatten auf das Lager zueilen gesehen. zu haben.« »Der ›böse Geist‹, über den die Männer dauernd reden? Nicht auch noch du, Muni!« Cheyne lachte, zog das Zeichenbrett hervor und brachte mit schnellen Strichen die seltsamen Formen zu Papier, die in den Krug geritzt worden waren. Lange bevor er Muni rief, um mit dem Sandschaufeln weiterzumachen, war er fertig - so blieb ihm Zeit genug, das kleine Buch zu untersuchen und festzustellen, daß es mit Sicherheit jenes war, nach dem Javin suchte. Jetzt wird er begreifen, warum ich meine Vergangenheit finden muß, dachte er sich. Er verstaute das Buch in seiner Tasche, da er es zuerst Javin zeigen wollte. Er wußte, Muni würde es verstehen. Eine Stunde später verließen sie Kifran, der allein wachen sollte. »Anscheinend habe ich mich wegen des Dschinns geirrt. Ich habe seit einer Weile nichts Ungewöhnliches gehört oder gesehen. Aber das komische Gefühl ist immer noch da. Also tu mir bitte den Gefallen und schlafe heute nacht im Gemeinschaftszelt. Ich werde 127
in deinem Zelt bleiben. Möge die Sonne dich gesund vorfinden; möge dein Schlaf frei von Alpträumen sein.« Muni verneigte sich, als er den Nachtgruß aussprach und ging leise zu dem Schutzdach der Arbeiter davon. Cheyne blieb vor dem dunklen Hauptzelt stehen und zuckte die Achseln. Er wußte, daß er die ganze Nacht warten mußte, wenn er Muni überreden wollte, seine Vorsichtsmaßnahmen fallen zu lassen. Javin schlief tief unter einem Insektennetz. Cheyne zündete eine kleine Öllampe an und zog das Buch aus der Tasche. »Wach auf, Javin.« Trotz seiner ungeheueren Aufregung versetzte er den Füßen seines Vaters nur einen sanften Stoß. »Sieh nur, was ich gefunden habe.« Cheyne hielt ihm zuerst die Zeichnungen hin, da er sich das Buch bis zum Schluß aufsparen wollte, aber Javin rührte sich nicht. »Javin...« Jetzt hielt er das kleine, in Bronze eingebundene Buch in die Höhe. Javin schnarchte laut, blies durch den Atem das Netz vor seinem Gesicht ein wenig auf und schlief weiter, von den dünnen Decken zugedeckt, die am Fußende fest eingeschlagen waren, um unwillkommene, nächtliche Besucher fernzuhalten. Enttäuscht legte Cheyne die Zeichnungen auf den Tisch, setzte sich auf die Bank und pustete die Lampe aus. In dem dunklen Zelt sitzend kämpfte er mit sich, ob er das kleine Buch liegenlassen sollte, damit Javin 128
es am Morgen entdeckte. Er wußte, woher der alte Tonkrug stammte. Die Gravur sah genau so aus wie die auf einigen Mehltöpfen, die nach Javins Aussage aus dem Sarrazanwald stammten. Er war mit diesen beiden, von Elfen gefertigten Töpfen aufgewachsen, da sie zu beiden Seiten von Javins großem Kamin standen. Und die gleiche Glyphe, die auf den Tongefäßen war, verzierte auch die Mantelspange des hochgewachsenen Elfen. Und, was noch wichtiger war; Sie gehörte zu den Wortsymbolen aus dem Althochsumifanischen. Da er den Elfen in Sumifa gesehen hatte, hegte Cheyne den Verdacht, daß nur noch die sarrazanischen Töpfer in der Lage waren, das unverständliche Amulett und die Gravur des Totem zu entziffern. Jetzt war er sich seiner Sache völlig sicher. Aber die Elfen lebten im Grenzgebiet ... hinter dem westlichen Erg, hinter den Wyrvilgebieten und dem Vorhang des Lichts, jenseits von Zeit und Erinnerung. Na gut, Javin, ich habe, es versucht. Ich versuchte es auch schon früher und nun noch einmal, um dir zu erzählen, was ich gefunden habe. Aber dich interessieren bloß deine eigenen kleinen Sorgen. Nun, mir soll es recht sein. Du hast deine Pflicht getan - hast mich aufgezogen und mir Schutz geboten. Warum sollte ich mehr als das erwarten? Du nahmst die Gelegenheit wahr, hierher zu kommen, um deinem Traum zu folgen. Jetzt werde auch ich das tun. Spar dir deine Kraft für den Sammler auf. Für mich wird es 129
Zeit, nach meiner Vergangenheit zu suchen. Cheynes Gesicht rötete sich vor Stolz und Entschlossenheit. Er hatte eine Entscheidung gefällt. Er würde die Ausgrabungen verlassen - Javin erledigte die wichtigen Arbeiten sowieso selbst - und zum Grenzgebiet ziehen, egal wie weit oder wie gefährlich die Reise sein mochte. Und ich werde, nicht zurücksehen, versprach er sich. Ich werde niemals zurücksehen. Leise nahm er die Schlüssel der Vorratshütte von dem Haken neben Javins Bett. Die Nacht würde kurz sein. Morgen, noch ehe die Drei Schwestern wieder erschienen und Muni aufstand, um Kifran abzulösen, noch ehe Javin das Licht spüren und den Kopf heben würde, war Cheyne wieder in Sumifa und würde sich einen Führer für seine Expedition suchen. Hinter den Dünen, in der neuen Stadt, riß ein Wirbelwind den Sand mit sich und ließ ihn über die Barca regnen, warf die Stände um, zerschmetterte Töpferware und blendete drei Männer und eine betrunkene Frau, die auf den Dächern schliefen. Als der Wind über dem Mercanto stand, blies er das Schild über Riollas Laden herab und fuhr dann mit frischer Kraft über die Zitadelle hin, wo er über dem hohen Finger hielt, der den Turm des Raptors darstellte. Sekunden später fiel rings um den Turm herum Sand zu Boden, der wie ein Wasserfall über die Balsaltmauern strömte.
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KAPITEL 4 Das alte Buch, das er in dem Krug entdeckt hatte, faszinierte ihn. Das Pergament befand sich in ausgezeichnetem Zustand, da der trockene Sand und die Luft in jenem Raum es aufs vorzüglichste erhalten hatten. Der Bronzeeinband war ein wenig angelaufen und wies noch immer die schwach sichtbaren, schwärzlichen Fingerabdrücke des Vorbesitzers auf, und die Blätter waren nur ein winziges Stück vom Buchrücken abgebogen. Obwohl das Buch einst sorgfältig behandelt worden zu sein schien, war seltsamerweise die letzte Seite zerrissen und hing nur noch locker am Rücken des Buches. Jene Seite war auch mit Flecken bedeckt, die wie Blut aussahen, als sei etwas Unerwartetes und Gewaltsames geschehen. Cheyne dachte an die Glasscherben, die Muni und er im gleichen Raum entdeckt hatten und fragte sich, ob es einen Zusammenhang gab. Er lehnte sich gegen die Tore des Händlerviertels, um im schwachen Dämmerlicht besser sehen zu können und holte das Vergrößerungsglas hervor, konnte aber noch immer nichts entziffern. Die letzten Seiten schienen mit ruhiger Hand geschrieben worden zu sein, in einem engen und gedrängt wirkenden Schriftgefüge. Die Zeilen in Althochsumifanisch waren sorgfältig zwischen die restlichen, unleserlichen Zeilen eingefügt worden. Nur die allerletzte Seite sah anders aus. Dort war die Schrift mit mehr 131
alten Glyphen überdeckt worden, und die neuen Worte verdeckten die ursprünglichen Zeilen teilweise. Die Blutflecken, darum handelte es sich mit Sicherheit, verwischten viele Zeichen. Ohne die Sprache zu kennen, war es unmöglich, dieses Durcheinander zu ordnen. Cheyne fragte sich, weshalb jemand die ersten Zeilen überschrieben hatte - je sorgfältiger er hinsah, desto deutlicher erkannte er, daß die Glyphen hier wie eingebrannt wirkten, und nicht wie mit Tinte geschrieben. Wenn ich doch nur Althochsumifanisch könnte! Wenn doch bloß irgendwer hier es könnte. Jemand, den ich auch wiederfinden könnte, dachte er, als ihm der verschwundene Elf einfiel. Die lange Reise nach Westen, die er sich vorgenommen hatte, erschien ihm länger, als er beim ersten Licht des Tages Und der aufsteigenden Wüstenhitze bewältigen konnte. Nachdem er aus dem Zelt heraus erneut in die Stadt geschlichen war - wie durch ein Wunder hatte er das gleiche Loch in der Außenmauer wiedergefunden, das er schon am Vortage benutzt hatte -, war ihm eingefallen, daß er irgendwie am westlichen Erg und anschließend an dem Gebiet der Wyrvilorks vorbei mußte. Sogar die flüchtige Erinnerung daran, über die Ebene und die Salzböden des Ödlands zu laufen, als Javin ihn gefunden hatte, reichte beinahe aus, um seine Zuversicht zu ersticken. Im Alter von zehn Jahren hatte Cheyne seinen ersten und einzigen Ork gesehen - einen Toten, aber der 132
Gedanke an die zwei Zoll langen Zähne, die buschigen Brauen und die grünliche Haut dieses Wesens ließen ihn schaudern. Sogar im Tode hatte es bestialisch und wild ausgesehen - mehr wie ein Monstrum als ein denkendes Wesen. Aber ich bin inzwischen erwachsen geworden, dachte Cheyne. Vielleicht ist meine Erinnerung grausiger als die Wirklichkeit. Behutsam schloß er das kleine Buch und verstaute es sorgfältig in seinem Bündel. Schon in aller Frühe war man in Sumifa geschäftig: Die Tore des Mercantoviertels öffneten sich genau in jenem Augenblick, als der Scharten des Gnoms das fünfte Zeichen der Sonnenuhr berührte. Cheyne schritt hindurch und begab sich zu dem Stand, den er am Vortag bemerkt hatte. Dort hatten sich bereits mehrere ehemalige Karawanenführer versammelt, die auf Arbeit warteten. Sie hatten ihre Kapuzen tief über die Augen und die sonnenverbrannten Gesichter gezogen, während sie einander Geschichten vergangener Abenteuer erzählten. Einer von ihnen schilderte mit lauter Stimme, wie ein hungriges Dromedar den Schuh seines letzten Kunden verschlang, und wie das Tier nach dieser gräßlichen Mahlzeit sofort verendete. Der Mann hatte den ganzen Heimweg humpelnd und auf den Arm des unglücklichen Führers gestützt zurücklegen müssen. Der Kunde eines anderen Führers hatte verlangt, auf die Jagd nach wilden Ziegen zu gehen, ein wenig 133
abseits der üblichen Pfade, und ihm waren bei dem Angriff der rasenden Ziegen die Füße vom Leib getrennt worden, worauf ihn der unglückliche Führer auf dem Rücken nach Hause tragen mußte. Der Auftraggeber des dritten Führers hatte befohlen, er möge ihn zur Jagd in den Korkwald geleiten, weit ab von den sicheren Wegen, und er war einem brünstigen Einhorn begegnet, das ihn mit dem Horn an einen Baum nagelte. Daraufhin wurde der Ärmste von der ganzen Herde verschlungen - vor den Augen des Führers und sechs namhaften Persönlichkeiten. Jener unglückliche Mensch war so vollständig zerrissen worden, daß der arme Führer nur noch den Geldbeutel fand, den er nach Hause trug. Inmitten des Gelächters, das die letzte Geschichte unter den Männern hervorrief, trat Cheyne in ihren Kreis, lächelte und trug sein Anliegen vor. »Guten Morgen, ihr Leute, einen schönen Tag. Mögen die Zwölf Segnungen euer Leben beglücken. Ist einer von euch bereit, mich über das westliche Erg ins Grenzgebiet zu bringen?« Augenblicklich schwiegen die Männer und entfernten sich. Der Mann, dessen Geschichte bejubelt worden war, warf Cheyne einen zornigen Blick zu. Cheyne zuckte die Achseln und ging weiter. Er folgte der gepflasterten Straße, die zum Zentrum des Viertels führte. Nach mehreren Stunden und ebenso vielen Begebenheiten, die der ersten sehr ähnelten, erreichte er einen kleinen Raqastand und ließ sich in dessen 134
Schatten nieder. Als die lächelnde Bedienerin mit einer kleinen Tasse und einer großen Flasche näherkam, winkte er abwehrend und nahm einen großen Schluck aus seinem Wasserschlauch. »Nein, nein, nein! Du kannst da nicht sitzen. Wenn du nichts kaufst, darfst du hier nicht sitzen bleiben. Nein. Verschwinde!« brüllte sie ihm ins Ohr, und ihre Freundlichkeit verwandelte sich plötzlich in ein zahnloses Fauchen. Cheyne wich der nicht gerade kleinen Keule aus, die sie plötzlich unter dem Ladentisch hervorzog, indem er sich an einigen Ständen vorbeischlängelte und immer weiterlief, bis er sich unversehens in der Barca wiederfand, leider noch immer ohne Führer. Er wanderte eine Weile durch die schmutzigen, engen Gassen des Südviertels, wo ihm die Kurtisanen mit ihren roten Lippen und ihren grünen Lidern, die von Shirrirwolken und Raqagerüchen umgeben waren, zuwinkten. Er lächelte sie an, aber sie erinnerten ihn an die glänzenden Echsen, die er auf den Steinen unten am Fluß gesehen hatte: hübsch, aber giftig. Er ging weiter, bis er seinen Wasserschlauch nachfüllen mußte, doch die einzigen Orte, wo man nicht bezahlen mußte, waren die öffentlichen Brunnen, die unter den Arbeitern im Lager für ihren unappetitlichen Inhalt bekannt waren. Als er einen Brunnen fand, steckte er den Kopf unter dessen Dach, das aus einer großen, flachen Steinplatte bestand, die von drei kleineren Steinen gestützt wurde; dieses 135
Dach sorgte für Schatten, und er warf einen Blick auf das, was im Brunnen herumtrieb. »Oh, hallo, du. So trifft man sich wieder«, ertönte eine Stimme. Diese Nase hatte Cheyne schon gesehen. »Du? Wie bist du...?« Cheyne deutete auf den Brunnen. »...in den Brunnen gekommen? Gefallen. Denke ich. Sag mal, könntest du den Eimer herablassen und mir raushelfen? Ich bin schon fast nüchtern und möchte in diesem Zustand nicht länger hier unten hängen«, erklärte der Vagabund, und der Anflug eines Lächelns stahl sich um seine Mundwinkel. »Natürlich. Warte einen Augenblick da unten.« Cheyne verschwand kurz außer Sichtweite, erschien aber gleich wieder über dem Brunnenrand. »Entschuldige. Wo solltest du auch schon hingehen können?« fügte er verlegen hinzu. Der Bettler grinste ihn verständnisvoll an. Wieder verschwand Cheyne, um gleich darauf mit einem Eimer und einem Seil aufzutauchen. Kurz darauf stand der Bettler tropfnaß auf der Straße, aber abgesehen von der Nässe fehlte ihm nichts. »Vielen Dank, werter Herr. Jetzt sind wir quitt, ein Leben für ein Leben. Wenngleich das deine, wie ich behaupten möchte, der Schreefa mehr wert ist als das meine«, sagte der Mann und wrang seine Gewänder aus. »Nun, es war mir ein Vergnügen«, antwortete Cheyne und dachte, er würde sich einen anderen 136
Brunnen suchen, um Wasser zu schöpfen. Nach einem Moment verlegenen Schweigens verbeugte sich der Bettler anmutig und tief und stellte sich vor. »Ich heiße Ogwater Rifkin.« »Cheyne.« Wieder verbeugte sich Ogwater und schien das Fehlen von Cheynes Nachnamen nicht zu beachten. »Ich freue mich. Ich würde mich noch mehr über den Preis einer Flasche Raqa freuen, Cheyne. Ertrinken ist harte Arbeit und macht durstig.« Cheyne lächelte hilflos. »Muje Rifkin...« »Og.« Der Bettler grinste stark und zeigte seine makellosen, strahlend weißen Zahne. Cheyne setzte noch einmal zum Sprechen an. »Og, das Geld, das ich besitze, brauche ich, um einen Führer zu bezahlen und Vorräte zu kaufen. Es tut mir leid.« Der Bettler zuckte mit den Schultern; sein Gesicht wurde etwas trübe. »Macht nichts. Einen Führer?« Cheyne nickte. Og grinste wieder. »Muni? Du mußt nach draußen kommen...« Muni erwachte mit fuchtelnden Händen, da der böse Dschinn wieder durch seine Träume gegeistert war. Die Stimme erschien ihm unbekannt. Er setzte sich in dem niedrigen Bett auf und suchte nach einer Lampe, bevor er die Füße auf den Boden stellte. Diese Vorsichtsmaßnahme war im Laufe der Jahre zur Gewohnheit geworden. Ehe er das Zunderkästchen 137
und die Lampe finden konnte, hob Kifran die Zeltplane an. Er hielt eine Fackel in der Hand. Muni war hellwach, als das Licht über sein Gesicht fiel und er das grimmige Gesicht des Wächters erblickte. »Heute morgen ist Muje Javin nicht erschienen. Bis Tagesanbruch habe ich auf ihn gewartet, dann suchte ich nach ihm. Er liegt krank im Bett und verlangt nach dir.« Kifran ließ die Plane sinken und wartete, bis Muni seine Gewänder und Stiefel angezogen hatte. Kurz darauf rannten die beiden auf Javins Zelt zu. Muni kam als erster an. »Mein alter Freund ... was ist geschehen?« keuchte Muni mit heiserer Stimme. Javin öffnete die grauen Augen und versuchte zu lächeln. Sein Gesicht brannte vor Fieber, die gerötete, sonnenverbrannte Haut spannte sich über den kantigen Zügen. »Wie bekämpft man Ungeziefer? ... Sie waren hier«, flüsterte er und hob mühevoll die Hand, um in eine Ecke des Zeltes zu deuten. Muni folgte der Geste mit seinem Blick und sah einen einzelnen toten Skorpion am Boden liegen. »Einen Skorpion? Wann, Javin? Wann hast du ihn gesehen?« Muni rüttelte den Freund wieder zu Bewußtsein. »Ich weiß nicht. Ich konnte mich die ganze Nacht lang nicht bewegen. Im Traum habe ich gegen sie gekämpft.« Er schauderte und schwieg vor Erschöpfung. 138
Muni ermahnte sich zur Ruhe und versuchte, nicht an die ungeduldigen Fascini, nicht an das Schließen der Ausgrabungsstätte vor Auffinden des Sammlers zu denken, nicht an Javins Tod und nicht an seine eigene Hilflosigkeit den alten Freund zu heilen. »Nein, nein, Javin, du wirst nicht sterben. Wir haben noch viel zu tun, und du schuldest mir noch ein Schachspiel«, scherzte er und lächelte dabei. Dann wandte er sich zu Kifran um, der am Eingang wartete, die Fackel in der Hand haltend. »Wo ist Cheyne? Such ihn und begleite ihn in die Stadt, um einen Heilkundigen zu holen.« Kifran verneigte sich, zündete eine Lampe für Muni an und verschwand. Das ist kein gewöhnliches Tier, dachte der Sprachgelehrte, der gezwungenermaßen zu einem Experten auf diesem Gebiet geworden war, als er sich bückte, um das Wesen zu untersuchen. Der tote Skorpion, der recht groß und braun war, lag zu einem Ring zusammengerollt, den giftigen Stachel am Schwanzende in den eigenen Kopf vergraben. Ah, die Ninniten. Sie haben ihn also wieder aufgespürt, dachte Muni wütend, der dieses Zeichen verstand. Der Skorpion war durch einen Zauber herbeigerufen worden, und es handelte sich um ein Wesen aus einer anderen Welt, nicht um das übliche Ungeziefer, das hier herumkroch oder sich in den dunklen Mauerspalten der Stadt verbarg. Ein Wesen aus einer fremden Welt. Die Ninniten waren Javin von 139
einem Ende von Almaaz zum anderen gefolgt sogar bis zu seinem Heim in Argive. Egal, wie oft er umzog, egal, wo er auch grub - sie fanden ihn immer wieder, aber bisher hatte er ihr Kommen immer gespürt. Javin war ein vorsichtiger Mensch, aber diese besondere Ausgrabung hatte ihn zu sehr abgelenkt. Muni ging wieder zum Bett des Freundes zurück, der im Schlaf murmelte. Er setzte dem fiebernden Mann eine Tontasse an den Mund und zwang das abgestandene Wasser über die geschwollenen Lippen. Javin hustete ein wenig und öffnete die Augen. »Ich danke dir. Möge dein Haus unter einer Flut von Segenswünschen davongespült werden.« Er grinste und hustete erneut. »Schweig still, mein Freund.« Muni goß ein wenig Wasser auf ein Tuch und tupfte Javin die glühende Stirn ab. »Bald wird Cheyne mit dem Heiler hier sein, und du wirst dich viel besser fühlen. Ja, du wirst es überleben.« Er tastete nach Javins rechter Hand und prüfte den Pulsschlag, der sich glücklicherweise stark anfühlte. Als er sich vorbeugte, um die Hand des Archäologen auf dessen Brust zu legen, entdeckte Muni den Einstich: Javins linke Hand lag seitlich neben ihm, die Finger waren auf die dreifache Größe angeschwollen, und um einen kleinen, dunklen Blutflecken am Ringfinger war ein winziger weißer Kreis gezeichnet. Die Wunde schien mehrere Stunden alt zu sein und sah schmerzhaft aus. Muni hatte schon früher solche 140
Fälle erlebt, als er bei den Fallaji-Magiern gelebt und gearbeitet hatte - das Gift kam und ging, die Wunde heilte und schloß sich, aber die Person wurde derartig geschwächt, bis schließlich die Kraft soweit verbraucht war, daß keine Heilung mehr möglich war. Kurz darauf setzte eine Blutvergiftung ein. »Du kannst gesund werden, mein Freund. Aber hör mir gut zu, Javin: Wir müssen den Finger entfernen, sonst wird sich das Gift ausbreiten. Ich werde dir jetzt frisches Wasser holen. Ruh dich aus«, flüsterte er. »Nein, Muni. Ich komme wieder auf die Beine. Es geht mir schon viel besser. Es ist gar nicht nötig, den Finger zu amputieren. Und ich muß dir erzählen ... was ich im Traum sah ... den Mann ohne Gesicht ... den Raptor. Ich konnte mich nicht bewegen, ich war machtlos. Diesmal wollte er mich töten. Ich bin der letzte, weißt du. Aber nun verstehe ich alles: Jemand hat ihm von Cheyne erzählt. Wo ist Cheyne?« Er setzte sich im Bett auf. »Spare deine Kräfte, Freund. Saelin heißt jener, der hinter deinem Sohn her ist. Er ist der bedeutendste Meuchler der Ninniten, aber er hat schon einmal versagt. Er ist nicht so gut, wie er glaubt«, erklärte Muni beruhigend. »Nein, du begreifst nicht...«, wehrte sich Javin. »Muni!« Kifran öffnete die Zeltplane und hielt die Hand hoch, in der er ein paar Seiten aus Cheynes Zeichenbuch hielt. »Javins Sohn ist verschwunden. Nur das hier habe ich gefunden.« 141
KAPITEL 5 »He, hallo Og - hast du schon wieder zur falschen Jahreszeit gebadet?« brüllte der dunkelhäutige Wirt, als Og und Cheyne das Raqahaus betraten, dessen grell bemalte Wände ein anatomisches Wunder waren und dessen mit Sägemehl bedeckter Boden gefährlich mit Muscheln und Fischgräten übersät war. Noch war es zu früh für die mittäglichen Gäste, nur ein einzelner Mann, der die Kapuze aufbehalten hatte und in der Ecke saß und eine uralte Pfeife rauchte, hob so langsam die Hand, wie der Rauch seiner Pfeife aufstieg, als ihm Og einen Gruß zunickte. Nahe der Tür setzten sie sich an einen Tisch. Cheyne pustete die Krümel von seiner Seite des verschlissenen Wachstuches, das nach der letzten Mahlzeit des gestrigen Abends nicht gesäubert worden war. Og fiel die Pfütze sauren Raqas gar nicht auf, durch die er seinen Ärmel zog, als er die Hand hob, um dem Wirt zu winken. »Beachte den Narren hinter der Theke nicht«, sagte er verärgert. Als sich der Wirt näherte, bestellte Og zwei Gläser und eine Flasche, aber Cheyne schüttelte den Kopf und änderte die Bestellung in Wasser und zwei Laibe Bappir um. Der Wirt grinste und verneigte sich, während er Og einen Klaps versetzte. Dann ging er, um der bedeutend einträglicheren Bestellung nachzukommen. 142
»Was hat er damit gemeint, als er fragte, ob du ›schon wieder zur falschen Jahreszeit‹ gebadet hast?« erkundigte sich Cheyne lächelnd. »Du hast nicht zufällig da unten im Brunnen auf mich gewartet, damit du doch noch zu deinem Raqa kommst?« Og schaute äußerst beleidigt drein. »Bei den Drei Schwestern und den Fünf Heiligsten Gelübden, natürlich nicht!« erklärte er und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich würde für niemanden ertrinken!« »Dann...« »Ich werde es dir erklären. Später«, sagte Og, als die Wasserkaraffe erschien. Anscheinend wurde sie nicht oft benutzt - sie schien der sauberste Gegenstand im ganzen Laden zu sein. Cheyne schenkte sich ein, Og jedoch lehnte mit gerunzelter Stirn ab. »Fasse das Zeug nicht an. Zu gefährlich«, erklärte er und wrang sein Gewand über dem Sägemehl aus. Da sich seine Kehle inzwischen wie ausgetrocknet anfühlte, beachtete Cheyne das Gerede nicht und trank, schenkte sich noch ein Glas ein und leerte es ebenfalls. Dann verstaute er einen der großen runden Brotlaibe in seinem Bündel und riß den anderen entzwei. Die Hälfte bot er Og an, der ihn gierig entgegennahm, aber nicht hineinbiß. Als sich Cheyne auf dem niedrigen geflochtenen Hocker vorbeugte, ging Og zum Angriff über. »Du scheinst ein Mann von Wohlstand und guter Herkunft zu sein. Warum willst du das westliche Erg überqueren?« fragte er. 143
»Du bist wirklich nüchtern. Woher weißt du, daß ich dorthin will?« fragte Cheyne überrascht. »Du bist schon den ganzen Morgen in der Stadt, bist wahrscheinlich vor Tagesanbruch angekommen. Alle Jagdführer ziehen vor der sechsten Glocke los, aber nun ist bereits die zehnte Glocke verklungen. Der einzige Grund, weshalb sie dich nicht fü hren wollten - für einen völlig überteuerten Preis, wie ich dir versichern möchte -, ist der, daß sie um keinen Preis dorthin gehen wollen, wohin du willst. Und wenn sie es nicht tun, muß es sehr gefährlich und weit entfernt sein. Und das ist das Gebiet des westlichen Ergs. Seit dem Massaker weigern sich alle Führer, die Wyrvilländereien zu betreten«, erläuterte Og, der sich wie einer der besten Lehrmeister Cheynes am Institut von Argivia anhörte. Der junge Mann lächelte, da er ahnte, wohin das Gespräch führen würde. »Und seit wann arbeitest du als Führer, Og?« »Das wäre eine neue Aufgabe für mich, aber ich glaube, ich würde sie bestens erfüllen.« Og lächelte zurück und schielte kurz an seiner Nase herunter. »Ich habe dich letzte Nacht gut nach Hause gebracht, nicht wahr?« Cheyne saß so dicht vor Og, daß dieser sein Gesicht nicht allzu gut beobachten konnte. Aber aus dem gutmütigen Grinsen und dem fest gewebten Stoff des Umhangs schloß er, daß der junge Mann wohl für ein neues Paar Stiefel und, wenn Og es geschickt anging, 144
auch für ein oder zwei Flaschen Raqa gut sein mochte. Obwohl er keineswegs plante, Sumifa zu verlassen, war der junge Mann die Zeit wert und hatte ihn mittlerweile schon besser unterhalten, als in den letzten Monaten geschehen war. Og spürte wegen seiner unehrlichen Absichten ein kleines bißchen Reue. Aber das reichte nicht aus, um sie fallenzulassen. »Und weshalb bist du dir deines Erfolges so sicher?« fragte Cheyne und stopfte sich den Rest des süßen Brotes in den Mund. »Weil ich gerade meine letzte Stelle verloren habe.« Og rollte die Augen und senkte dann den Blick auf die schmutzige Tischdecke. Cheyne lächelte, lachte aber nicht. Lange Zeit starrte er Og an. »Na gut, weil ich auch nichts zu verlieren habe«, murmelte Og fast unhörbar. So war das mit den bösen Absichten. Aber wer konnte auch in diese stechenden Augen sehen und lügen? Schweigend dachte Cheyne nach. Entweder war Og ein wirklich gerissener Betrüger, oder aber er sprach die Wahrheit. Er beschloß, es herauszufinden. »Und woher soll ich wissen, daß du auch kannst, was du behauptest? Du bist ein Bettler, und ich kenne dich kaum«, sagte Cheyne, als könne er sich einen Führer aussuchen. »Und du bist ein namenloser Fremder, der mir noch keine weitere Münze gezeigt oder einen richtigen 145
Trunk spendiert hat. Also, willst du gehen?« fragte Og, der genau wußte, daß er Cheynes einzige Hoffnung war. Während Cheyne noch darüber nachdachte, schenkte er sich ein Glas Wasser ein. Als Antwort zog er das Totem hervor. »Hast du so etwas schon einmal gesehen? Ich meine natürlich nicht den Ganzit, sondern die letzte Glyphe.« Og schüttelte den Kopf und betrachtete den Gegenstand, so gut er ihn in dem schummrigen Licht des heruntergekommenen Raqaladens sehen konnte. In diesem Augenblick bewegte sich der Wirt von der Türöffnung weg, ein heller Strahl der Morgensonne schien auf die Kante des Totems und schickte ein buntes Band aus vielen Farben über die geborstenen Wände des Raumes. Der Mann mit der Kapuze zuckte zusammen, als der Regenbogen über ihn hinwegglitt und tanzend in der Ecke des Ladens landete. Ogs Augen leuchteten auf. »Das ist das zweitschönste Ding, das ich je gesehen habe«, stöhnte er. Cheyne beugte sich ebenfalls begeistert vor, um den weiblichen Handabdruck zu sehen, den er in den Dünen entdeckt hatte, aber er war unauffindbar. »Ja. Er ist wunderschön. Was hältst du davon?« Cheyne fragte sich insgeheim, weshalb er einen Bettler mit sprachkundlichen Fragen bedrängte, aber Og schüttelte nur den Kopf, als sei er an solche Bitten gewöhnt. 146
»Ich glaube, die Symbole stammen aus der alten Sprache. Sie sind auf den meisten Totems. Aber dieses hat eine ungewöhnliche Form, und ich kann dir nicht erklären, was die letzte Glyphe bedeutet.« »Niemand kann das. Jedenfalls nicht hier. Deshalb muß ich zum Sarrazanwald gehen. Die Elfen dort benutzen diese Symbole, um ihre Tonarbeiten zu verzieren. Sie sind die einzige Hoffnung, die mir bleibt, dieses Totem zu entziffern«, sagte Cheyne mit leicht gesenkter Stimme. »Warum ist das so wichtig? Es ist bloß ein altes Totem. Außer daß die Form seltsam ist, gibt es davon Tausende, die ähnlich sind, die noch gefertigt oder gefälscht werden, wie ich hinzufügen möchte. Die Hälfte der Fascini kann die ihrigen nicht einmal lesen. Sie erfinden einfach etwas, erzählen es ihren ebenso unwissenden Freunden, und damit wird es für alle Zeit zur Wahrheit. Warum interessiert dich, was auf ihm steht? Es ist doch nicht dein Familientotem, oder?« fragte Og mit spöttischem Unterton. »Du planst doch nicht etwa diese Schinderei durch die Wüste, um deinen Namen oder so etwas in der Art zu finden, oder?« Cheyne sah ihn ruhig an. »Ich weiß nicht. Was wäre, wenn es so ist?« »Nun, dann brauche ich wohl eine Landkarte«, erwiderte Og trocken. Ich muß schwach werden, dachte er in Anlehnung an seinen Moralkodex. Ich kann ihn nicht bestehlen. Nun ja, so ist das. Das 147
Totem zeigte deutlich die Zeichen einer königlichen Familie - also konnte dieser Junge jemand von Bedeutung sein. Und er war ein ausgebildeter Ausgräber. Ein Gedanke bildete sich in Ogs nach Raqa dürstendem Hirn. Vielleicht war das die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte, seitdem ihm Riolla den Ring abgenommen und ihn allein und fast machtlos zurückgelassen hatte. Wenn der Junge zum Sarrazanwald gehen wollte, würde Og ihn irgendwie durch die Königreiche führen, wo eine Möglichkeit bestand, die magischen Juwelen des Rings erneut zu stehlen. Es konnte sehr gefährlich werden - Riolla hatte bereits ihren besten Meuchler ausgesandt, um den Jungen zu töten, und Saelin war von grausamer Schärfe, wenn er nicht befriedigt wurde. Wie mußte er sich jetzt fühlen, da ihm Cheyne entkommen war? Dieses Totem mußte der Schreefa viel bedeuten. Og grübelte eine Weile darüber nach. Der einzige Grund, der Riolla je zu solchen Taten getrieben hatte, war ihre Gier nach Reichtum. Und der einzige Schatz in der Nähe Sumifas hatte etwas mit den Fabeln der Armageddon-Uhr zu tun ... mit dem alten Sammler und seinem riesigen, verlorenen Schatz. Jetzt fiel Og wieder ein, wie die Balladen über das mythische Monstrum, die er am Königshof gesungen hatte, Riolla vor langer Zeit gefesselt hatten. Während die jungen Prinzen bei diesen Liedern eingeschlafen waren, hatte ihre Gefährtin Riolla 148
gebannt und mit staunenden Blicken gelauscht. Es schien alles zu passen. Nur die Möglichkeit, die Uhr zu finden, würde sie derartig antreiben. Normalerweise beschmutzte die derzeitige Schreefa des Mercantos weder ihre manikürten Hände noch ihren Ruf mit Morden innerhalb der Stadt. Herzensbrecherin war mehr ihr Stil. »Steck das Ding weg«, fauchte er, da er den Mann mit der Kapuze plötzlich als störend empfand. »Die Stadt hat tausend Augen, und die meisten davon werden von Riolla bezahlt. Oder von dem, für den sie arbeitet.« Cheyne wickelte das Totem wieder ein und legte es in sein Bündel zurück. »Woher kennst du Riolla Hifrata?« »Hör zu, wir gehen besser zum Kartenzeichner«, sagte Og und stand auf. Cheyne legte eine Münze auf den Tisch und füllte den Wasserschlauch mit den Resten aus der Karaffe. Og war schon ein ganzes Stück die Straße hinuntergegangen, als er ihn wieder einholte. »Og, woher kennst du Riolla?« fragte Cheyne erneut. »Jeder im Mercanto kennt Riolla, Junge. Ihr gehört der größte Teil des Viertels, und von dem Rest verlangt sie Schutzgeld«, erklärte Og, wich einem mit Wasserkrügen beladenen Esel aus und wand sich durch einen Strom von Hausfrauen, die zum Markt eilten. Cheyne hatte keine Ahnung, wohin sie gingen. 149
»Nur ein Stück weiter, ein paar Straßen entlang. Dort werden wir das finden, was du brauchst«, versicherte ihm der Bettler. »Warte, Og. Wir beide haben noch kein Abkommen getroffen. Ich weiß nicht, ob ich mir deine Dienste leisten kann«, sagte Cheyne und blieb mitten im Gewimmel der staubigen Straße stehen. Og ging noch zwanzig Meter weiter, ehe er sich umdrehte, sich einen Weg durch die Menge bahnte, Cheynes Hand ergriff, darauf schlug, sie schüttelte, sich dreimal verneigte und auf den Boden spuckte, wobei er nur knapp den riesigen, gut beschuhten Fuß eines vorübergehenden Schmiedes verfehlte. »Ich bitte untertänigst um Verzeihung.« Og lächelte den beleidigten Schmied zaghaft an und zerrte Cheyne am Ärmel durch die Menge, damit der Esel und die Marktfrauen zwischen ihm und dem Schmied waren. »Jetzt haben wir eine Abmachung«, verkündete er, hielt aber die Hand hinter dem Rücken verborgen, die das ›Solange es mir gefällt‹-Zeichen machte, das unter den Händlern der Barca üblich war. »Ich werde dich dorthin bringen, wo du hingehen willst. Du wirst mich mit der Hälfte des Schatzes bezahlen.« »Die Hälfte des Schatzes? Aber ich suche doch bloß nach der Übersetzung der Glyphe...« »Versuche nicht, einen Narren zum Narren zu halten. Du sollst wissen, daß ich informiert bin. Über den Schatz der Uhr. Und vorher eine Flasche Raqa. Und ein neues Paar Stiefel. Ich kann in diesen keine so 150
lange Reise machen.« Er deutete auf seine Sandalen, deren Riemen mit Abfallstücken verschiedenfarbiger Seile geflickt worden waren. »Nun...« »Abgemacht! Jetzt sollten wir keine Zeit mehr verschwenden«, betonte Og und sah mißtrauisch über die Schulter. Der wütende Schmied hatte sämtliche Hindernisse umgangen und steuerte auf sie zu, da er Ogs Beleidigung erwidern wollte. »Wir müssen heute abend zum Aufbruch bereit sein. Oder möchtest du, daß dich die Leute, die überall nach dir suchen, finden?« Cheyne konnte nicht antworten. Kurz bevor sie der Schmied mit drohenden Fäusten erreichte, bogen sie um eine Ecke, schlüpften durch eine Lücke in der Mauer des Mercantoviertels, die hinter einem Obstund Gemüsestand der Barca war, und befanden sich in einem Teil Sumifas, den Cheyne noch nie gesehen hatte. Eigentlich sah es so aus, als handele es sich um einen Teil Sumifas, den auch das Tageslicht noch nie erblickt hatte. In den Rinnsteinen wimmelte es von Tausenden von mageren gelben Ratten, die um den Abfall des Marktes kämpften, den Cheyne gerade durchquert hatte. Cheyne zuckte zusammen, da Og gar nicht sah, wohin er trat und den Nagern mit geübter Leichtigkeit auswich. Cheyne fiel auf, daß der Gestank entsetzlich gewesen wäre, wenn nicht eine blaue Shirrirwolke in der Luft gehangen hätte. Sie schritten eine Viertelmei151
le voran, und Cheyne suchte sich die Zwiebelschalen und Melonenrinden aus dem Haar, während sich Og durch ein Gewirr von uralten Abfallhaufen, Würfelspielen und Shirrirsalons schlängelte, um sie zu einem Geschäft zu bringen, das wie der übelste Laden auf der übelsten Straßenseite der übelsten Seitengasse der ganzen Stadt aussah. Grelle Farbe blätterte von den Mauern der Häuser, und die hohen, unregelmäßig großen Fenster hatten schon vor Jahrhunderten ihre Verglasung eingebüßt. Neben dem Torbogen türmten sich Holzkisten und Gerümpel, als habe die ganze Barca dort seit Monaten ihren Abfall abgeladen. Inmitten dieses Durcheinanders fiel Cheyne eine Fascinisänfte auf, deren violette Fransen wehten, als sich die neffianischen Sklaven in Gang setzten. Nachdem sie sich von dem Laden entfernt hatten, pochte Og in einer schwierigen Reihenfolge von Klopfzeichen gegen die schwere Holztür. Noch während er klopfte, wurde die Tür von einem Dienstmädchen geöffnet, deren kleines, verwundertes Gesicht Og erst erstaunt und dann bestürzt musterte. »Wo ist Kalkuk?« fragte Og. Die junge Frau an der Tür zuckte zusammen und winkte sie dann, eine Flasche Leinsamenöl in der Hand, herein. »Tot. Man hat ihn gerade begraben. Ihr werdet auch sterben, wenn sie euch hier findet.« »Was ist geschehen, Vashki? Wieso ist Kalkuk tot? Ich habe ihn gestern noch gesehen, und da war er völlig gesund und munter - möge er so wenig Zeit wie 152
möglich im Vierten Fegefeuer verbringen«, murmelte Og mit ebenso leiser Stimme wie das Mädchen. »Er wurde von den Arbeitern gefunden, die für den ausländischen Ausgräber im alten Sumifa arbeiten. Man versucht, es zu vertuschen, aber mein Mann arbeitet auch da draußen und sagte, daß sie gestern früher nach Hause geschickt wurden. Kirmah hat Kalkuk erkannt. Wir alle wußten, daß Kalkuk mit seinen Zahlungen an Riolla im Rückstand war, aber es handelte sich bloß um wenige Tage, und wir glaubten, ihm würde etwas einfallen. Sie brachten ihn hierher, und heute morgen hat ihn seine Verwandte beerdigen lassen. Hör zu, ich muß an die Arbeit, und ihr müßt verschwinden. Die Dame ist gerade zurückgekehrt, und sie ist nicht gut gelaunt. Sie ist Kalkuks Nichte; wir haben hin und wieder gemeinsam hier gearbeitet, aber nun ist sie die Herrin...« »Vashki? Mit wem redest du da?« Cheyne wandte sich dem Klang der Stimme zu. Sofort wurde der Raum von einem Duft erfüllt: Bergamotte und Myrrhe. Die Besitzerin des rotes Bandes, die Begleiterin des Prinzen. »Oh, äh«, stotterte Vashki und ging sofort wieder an die Arbeit. »Jetzt wird man euch auch hinauswerfen. Genau wie den noblen Freund der Fascini, der zuvor hier war. Der junge Prinz Maceo persönlich tat es!« Eine schlanke Frau betrat das Zimmer; das große 153
Bündel in ihren Armen verdeckte ihr Gesicht. Cheyne sah nur eine Unmenge schwarzer Locken, die mit roten Bändern und Kämmen auf dem Kopf aufgetürmt waren. Sie stellte die Last auf den Tisch. Cheyne sah jetzt mehr. Viel mehr. Da er an den Toten aus den Ruinen gedacht hatte, um den es sich bei Kalkuk handeln mußte, hatte Cheyne bisher geschwiegen. Nun räusperte er sich laut, um sich vorzustellen und ihr das Totem zu zeigen, in der Hoffnung, sie möge es erkennen und alle Rätsel auf einen Schlag lösen. Aber Og zupfte ihn fest an seinem Umhang, und der junge Mann schluckte die Worte hinunter. »Wir sind gekommen, da wir eine Karte suchen. Ich habe seit vielen Jahren geschäftlich mit deinem Onkel zu tun. Vashki erzählte, er sei gestorben. Ich hoffe, es hat sich nicht um eines der Fünf Tödlichen Fieber gehandelt.« Og verneigte sich tief, so daß seine Nase fast den frisch gekehrten Boden berührte. »Wer seid ihr? Ihr kommt mir beide bekannt vor«, sagte die Frau mit blitzenden Augen. »Mein Name ist Ogwater Rifkin, Führer von Beruf, und dies ist mein Freund, der einen Weg über das Erg sucht. Dein Onkel hat die besten Karten von ganz Sumifa verkauft.« »Du warst einer der Kunden meines Onkels?« »O ja, sehr oft sogar. Er und ich haben gute Geschäfte miteinander gemacht«, erklärte Og. Cheyne blickte ihn verwundert an und fragte sich plötzlich, ob 154
Og etwas mit dem Mord zu tun haben könnte. »Nun, jedenfalls haben wir miteinander verhandelt«, schränkte Og die Behauptung ein. Da keine anderen Kunden im Raum waren, starrte ihn die Frau einen Augenblick lang aus ihren roten, verschwollenen Augen an, seufzte tief und winkte sie dann zum Ladentisch hinüber. »Bitte faßt nichts an«, sagte sie mit müder und hochmütiger Stimme. »Natürlich nicht, natürlich nicht. Oh, du hast aber sauber aufgeräumt. Ich habe es hier noch nie so ... leer gesehen«, sagte Og und hielt Ausschau nach den Bronzeskulpturen, die mit gesetzwidrigem Shirrir aus Glavia gefüllt waren, nach den gestohlenen Gemälden, die darauf warteten, von einer mitternächtlichen Karawane abgeholt zu werden und den kleinen Stapeln Dattelsteinen, die einst überall in seinem Lieblingsladen des Schwarzmarktes herumgelegen hatten. Er war erstaunt, was an einem Tag alles geschehen konnte. Das Mädchen hatte schnell gearbeitet. »Der Laden, Muje Rifkin, ist nicht mehr das, was er einmal war. Ich bin die Kartographin, die die Karten gezeichnet hat - die echten - die mein Onkel verkaufte. Ich möchte dich bitten, nie wieder wegen der Geschäfte hierher zu kommen, die du zweifellos mit meinem Onkel getätigt hast. Aber heute werde ich dir eine echte Karte für den richtigen Preis in Kohli verkaufen.« Cheyne konnte sich nicht länger zurückhalten. 155
»Mujida, wir bedauern deinen Verlust und danken dir für die Unterstützung. Ich heiße Cheyne«, stellte er sich vor. »Darf ich um die Ehre bitten, deinen Namen zu erfahren?« Ogwater runzelte mißvergnügt die Stirn, da sie sich seiner Meinung nach viel zu lange aufhielten, und er hatte inzwischen die Grenzen der Nüchternheit erreicht. Die Hände zitterten ihm, und sein Mund fühlte sich trockener an als die Wüste. »Ich heiße Claria. Wohin wollt ihr reisen?« antwortete sie mit etwas sanfterer Stimme, und die Andeutung eines Lächelns umspielte ihre Mundwinkel. Cheyne spürte, wie seine Wangen sich bei dem musikalischen Klang von Clarias ungewöhnlichem, schönem Namen verfärbten. Beinahe hätte er vergessen, ihr zu antworten. »Äh ... zum Wald von Sarrazan, glaube ich«, stotterte er schließlich. »Zum Grenzgebiet?« fragte sie, und ein sonderbarer Ausdruck entstand in ihrem Gesicht. »Warte - jetzt erinnere ich mich an dich. Maceo hat dich gestern auf der Hauptstraße umgerannt. Du bist nicht von hier. Weißt du denn nicht...« »Er weiß, wohin er reisen will«, warf Og hastig ein. Claria hob die dunklen Brauen, sagte aber nichts. Es gab keinen Ausweg. Er würde sie fragen müssen, ob sie das Totem erkannte. Cheyne griff in sein Bündel und zog den Ganzit hervor. Claria nahm ihn ohne die erwartete Regung entgegen, schien aber von 156
den Gravuren fasziniert. »Wo...?« begann sie. »Bei den Ausgrabungen. In einer Art Krypta.« Er vermied, ihr mitzuteilen, daß er das Totem in der Hand ihres toten Onkels gefunden hatte. »Ich muß herausfinden, was die Glyphen sagen. Wenn du sie lesen kannst, müssen wir die Reise nicht unternehmen«, sagte Cheyne hoffnungsvoll. Og schlug sich entsetzt an die Stirn. Vashki kicherte im Hintergrund. »Bei der Ausgrabungsstätte? Du bist Ausgräber? Du mußt dabeigewesen sein, als man Kalkuk fand. Weißt du, was mit meinem Onkel geschah? Du mußt es mir sagen. Man hat mir nur mitgeteilt, daß er ermordet wurde, und daß Riolla es angeordnet hat.« Claria hatte erneut Tränen in den Augen, und Cheyne schüttelte nur den Kopf. »Es tut mir so leid. Ich weiß noch weniger als du. Bis jetzt wußten wir nicht einmal seinen Namen. Aber ich werde es meinem Vater sagen. Vielleicht möchte er mit dir reden«, bot er an. Claria nickte, hielt das Totem ins Licht und zwang sich, wieder an sein Anliegen zu denken. Cheyne fiel das bedeutend schwerer. Ihre Augen sahen so klar und so golden aus, während sie das Totem betrachtete. »Wieso kannst du die Sprache nicht lesen, wenn du doch ein Ausgräber bist? Ich dachte, das gehört zu den besonderen Fähigkeiten der Ausgräber«, sagte Claria nachdenklich und ergriff ein Vergrößerungsglas, um die Zeichen besser sehen zu können. 157
»Weil Archäologen nicht unbedingt Schriftgelehrte sein müssen. Und unser Fachmann, der der Beste seiner Zunft ist, kann diese Sprache auch nicht entziffern.« Claria blickte auf. »Ich auch nicht. Es tut mir leid. Diese Schrift kann ich nicht lesen. Sie ist zu alt. Aber die letzte Glyphe - die ist, äh, sehr seltsam, und mir ist, als habe ich sie schon einmal gesehen...« Claria tippte gedankenversunken auf den Kristall. Schließlich gab sie ihn Cheyne zurück. »Nein. Aber wenn du wirklich zum Grenzgebiet willst, dann habe ich etwas, was dir helfen wird«, erklärte sie und beachtete weder Og noch Vashki, die beide ausgesprochen belustigt dreinsahen. Sie spähte die Straße hinab, und zog, als sie niemanden erblickte, eine Pergamentrolle unter dem Ladentisch hervor und rollte sie auf der Oberfläche aus. Darauf war eine gute Zeichnung von Almaaz und den Gebieten westlich des Landes zu sehen, bis hin zum Wald von Sarrazan und noch ein Stück weiter. »Das ist meine beste Arbeit. Ich nahm die alten Karten aller Karawanenführer, die auf den Wüstenstraßen wanderten, bevor man sie schloß, und zeichnete diese Ansicht. Die Karte ist einzigartig. Sie ist mehrere Jahre alt, aber in Almaaz verändert sich nie sehr viel. Ich trenne mich ungern davon, aber mit dem Erlös kann ich die sechzehn Tage des Requiems für meinen Onkel bezahlen. Trauer ist teuer.« »Das muß Monate gedauert haben...«, sagte Cheyne 158
atemlos, als er mit dem Finger über die vergoldete Kompaßrose fuhr. Claria nickte lächelnd, legte Gewichte auf die Ecken der Karte und legte dann ein Stück violetten Faden auf die mögliche Wegstrecke, die über das westliche Erg führte; zuerst durch die grasbewachsene Ebene, dann über die Berge. »Eine lange und gefahrvolle Reise, Cheyne. Was du suchst, muß sehr wichtig sein.« »Gefährlicher, als du ahnst«, murmelte Og und suchte einen anderen Weg. »Wir müssen hier und auch dort durch.« Mit seinem schmutzigen Finger tippte er zuerst auf das Wyrvilgebiet, dann auf einen anderen Punkt, wo Claria den längeren, aber weitaus sichereren Weg gesucht hatte. »Wie könnt ihr durch Orkland reisen, Muje Rifkin? Du hast den alten Karawanenweg gewählt - es ist verboten, ihn zu benutzen. Ihr werdet nie zurückkehren«, mahnte sie besorgt und zuckte beim Anblick der Schmutzflecken zusammen, die er auf dem sauberen Pergament hinterlassen hatte. »Wir haben es eilig. Ich habe noch, alte Freunde, die an der Straße leben. Ich denke, daß wir die meiste Zeit ungehindert reisen können.« »Die meiste Zeit?« Cheyne wandte sich Og zu, der noch immer auf die Karte starrte. »Was soll das heißen?« »Keine Bange. Wir nehmen sie. Bitte bezahle sie. Wir müssen jetzt los«, drängte Og und versuchte sich daran zu erinnern, wo der nächstgelegene Raqaladen 159
war. Bestimmt in der Nähe der Gerberei. Beide Läden teilten sich für gewöhnlich gewisse Vorgänge des Trocknens. Cheyne starrte lange Zeit auf die Karte. Der Weg, den Og gewählt hatte, würde um ein paar Wochen, wenn nicht sogar Monate kürzer sein. Cheyne besaß nicht genug Geld für eine noch längere Reise. Und wenn sie die alte Karawanenstraße benutzten, konnte vielleicht etwas auftauchen, das ihm bekannt vorkam und seine Erinnerung auffrischte. »Die Strecke ist jetzt verboten, sagtest du?« Claria dachte eine Weile nach. »Sie wurde für Karawanen verboten. Jeder, der Güter transportieren will, muß die Schreefa um Erlaubnis bitten, da Gebühren an sie gezahlt werden. Nun, da die Straße unsicher ist, wollen die Leute nicht mehr bezahlen. Niemand möchte sich diesen Gefahren aussetzen. Die verlorengegangene Karawane war in der Tat etwas ganz Entsetzliches. Dreihundert Händler, von denen mindestens die Hälfte aus Sumifa stammte, verschwanden,« Sie grübelte vor sich hin. »Ich weiß aber nichts von einem Verbot für einzelne Bürger. Aber trotzdem würde ich die Schreefa nicht darauf aufmerksam machen.« Ein Ausdruck puren Hasses überflog Clarias Gesicht, aber sie riß sich zusammen und stellte ihnen eine Rechnung aus. Og trommelte in nervenzermürbendem Rhythmus mit den Fingern auf den hölzernen Ladentisch, während Cheyne vorgab, die Rechnung zu betrachten 160
und überlegte, was er Galantes und Schmeichelhaftes wegen des Bandes sagen konnte. Claria spielte abwesend mit der winziges Duftflasche, die sie um den Hals trug und dachte, sie hätte zuviel für die Karte verlangt; vielleicht würde Cheyne sie doch nicht kaufen. Schließlich nickte er und fischte in seinem Bündel nach den nötigen Münzen, die er ihr in die Hand zählte. Dann rollte er das Pergament zusammen. Der Handel war abgeschlossen. »Du hast dies hier fallen gelassen.« Er reichte ihr das rote Band. »Ich nehme an, du möchtest es wieder haben«, fügte er unbeholfen hinzu. »Und ich danke dir, daß du mir das Leben gerettet hast.« Claria lächelte, nahm das Band entgegen und knotete es um die Karte. »Gute Reise, Cheyne.« Cheynes Handfläche brannte da, wo sie ihn berührt hatte, und er spürte, daß seine Wangen glühten. Er drehte sich nach Og um, aber sein Führer war bereits durch die Ladentür verschwunden, und wieder einmal mußte er ihm nachlaufen. »Äh ... danke. Ich hoffe, wir werden uns bald wiedersehen. Vielleicht darf ich dich aufsuchen, wenn ich zurückkehre.« Cheyne verneigte sich eilig vor Claria, dann vor Vashki, verstaute die Karte sorgfältig in seinem Bündel und rannte hinter Og her. Claria sah ihm nach und fragte sich, ob sie ihn je wiedersehen würde. Sie zerrte an dem Ring an der linken Hand, aber er steckte fest. Sie mußte über diese 161
Ironie schmunzeln. Maceo hatte sich gerade für immer von ihr verabschiedet, aber sein Verlobungsring steckte fest. »Solches Benehmen gibt es im Mercantoviertel nicht. Und erst recht nicht in der Zitadelle«, neckte Vashki, als Claria eine Brechstange aufhob und versuchte, die Nägel an einer staubigen Kiste aufzubrechen. »Nein ... in der Zitadelle ganz sicher nicht. Aber laß uns die Luft nicht mit den Worten Prinz Maceos verunreinigen. Er soll seine geschäftstüchtige, rothaarige Buhle und ihr ganzes Geld haben. Jenes Geld, das sie den Armen dieser elenden Stadt aus der Tasche stiehlt, um sie vor dem geheimnisvollen Zauberkreis zu schützen. Wer hat denn jemals einen davon gesehen? Es sind ihre eigenen Halunken, vor denen Riolla uns schützt. Und Maceo ist ein rechter Narr, wenn er auch nur eine Minute lang glaubt, daß sie ihn liebt soll sie in ihren Freudentränen nur ertrinken! Sie will bloß ihr Vermögen vergrößern. Und er braucht ihren Reichtum, um seine Ärzte zu bezahlen, die ihn von seinen eingebildeten Krankheiten heilen sollen. Aber schon bald wird er keine Ärzte mehr brauchen - sie wird ihn umbringen, bevor noch zehn Tage vergangen sind, um Königin von Sumifa zu werden. Ein Blinder könnte sehen, worauf sie hinaus will. Aber was für eine Überraschung - beide bekommen, was sie verdienen! Ha, er ist mir sowieso egal!« wütete Claria, die mit Tränen in den Augen das Brecheisen 162
kraftvoll auf und ab drückte, um den Kistendeckel zu lockern. »Was glaubst du, was Onkel Kalkuk in dieser alten Kiste aufbewahrte?« knurrte sie. »Alles, was er besaß, hat er mindestens fünfmal verkauft.« Vashki zuckte mit den Schultern. Sie kannte Kalkuk, seitdem sie ein kleines Mädchen war, und die einzigen Wertsachen, die er je besessen hatte, hatten immer anderen Leuten gehört. Vielleicht handelte es sich um den Schatz der Uhr - obwohl ihn nie jemand ernst nahm, hatte Kalkuk immer behauptet, er gehöre rechtmäßig seiner Familie. Vashkis Herz klopfte schneller, als sich der Deckel endlich löste und an der Brechstange hängen blieb. Claria warf ihn beiseite und griff in die Kiste, aus der eine Staubwolke emporstieg. Vashki fächelte sie fort, während Claria ein fest in Ölhaut gewickeltes Bündel herausnahm und aufmachte. Als sie die letzte Hülle abnahm, lag eine kostbare kleine Uhr vor ihnen, deren Fuß aus einer geschnitzten Holzschachtel bestand, die mit goldenen Linien verziert war und ein kunstvolles Muster formten. Claria drehte sie vorsichtig in den Händen und fühlte die Glätte des uralten Holzes. »Was ist das?« fragte Vashki enttäuscht. »Ein Zeitmesser. Eine Musikuhr. Als ich noch ein Kind war, habe ich einmal eine gesehen. Sie werden nicht mehr angefertigt, da niemand mehr die Rädchen schnitzen kann«, erklärte Claria. Die Spieluhr klim163
perte und klingelte, als sie die Uhr auf den Kopf stellte, um nach dem Zeichen des Herstellers und dem Schlüssel zu suchen. Dort stand nichts außer einer alten sumifanischen Glyphe, die in das Holz geschnitzt, nein, gebrannt worden war. Sie sah wie ein kleiner Fingerabdruck aus, genau wie ... Clarias Gedanken eilten zu dem Totem zurück, das der gutaussehende junge Mann wieder mitgenommen hatte, der hübsche junge Mann, der zum Grenzgebiet reisen wollte und den sie wahrscheinlich nie wiedersehen würde. »Nun, das ist ja eine Überraschung«, unterbrach Vashki Clarias Träumereien. »Wer hätte gedacht, daß Kalkuk so etwas besitzt? Claria, das ist nicht der Schatz, aber du bist reich! Sieh nur, die Zeiger sind aus Gold! Die muß doch mindestens...« »Pst Vashki, da ist jemand an der Hintertür. Vielleicht sind sie zurückgekehrt«, sagte sie hoffnungsvoll. »Vielleicht haben sie etwas vergessen.« Sie wickelte die Uhr wieder ein und legte ein Blatt mit einer halbfertiges Zeichnung darüber. »Vielleicht«, meinte Vashki ungläubig. Schließlich hatte es Og zu einem Raqaladen gezogen. Außerdem war das Klopfzeichen falsch. Sie stellte die Flasche mit der Politur auf eine Bank, löste die Brechstange vom Kistendeckel und ging zögernd zur Tür. Fast hatte sie die Tür erreicht. Die alte Tür, die aus morschem, uralten Holz bestand, brach nach innen, als sei ein Sandsack mit Gewalt dagegen geworfen 164
worden und riß Vashki zu Boden, deren Arm wie ein trockener Zweig brach. Sie landete nur wenige Fuß vom Ausgang entfernt - fast in Sicherheit. Zwei in dunkle Gewänder gehüllte Männer, von denen einer eine qualmende Fackel trug, deren beißender Rauch durch den Raum drang, stürmten, bewaffnet mit Wurfscheiben und glänzenden Dolchen in den Gürteln, in den Laden. »Wo ist der fremde Mann? Wohin ist er gegangen?« brüllte der erste, der die Kaffiyeh über das Gesicht geworfen hatte, um nicht erkannt zu werden. Mit ihrem gesunden Arm schlug Vashki mit der Brechstange zu und traf den Fackelträger. Der hintere Teil des Ladens stand plötzlich in Flammen, als die Funken der zu Boden stürzenden Fackel auf die zerbrochene Politurflasche übergriffen. »Nach vorne! Schnell!« kreischte Vashki, die noch immer das Brecheisen hielt, als sich der zweite Mann über den Ladentisch schwang. Claria packte die Uhr und rannte durch den Vordereingang. Dichte schwarze Rauchwolken und mindestens ein Meuchler folgten ihr.
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KAPITEL 6 »Langsam, Og«, keuchte Cheyne und erwischte ihn an einem flatternden Ärmel. »Hier ist ein Schuhmacher.« »Zuerst muß ich etwas trinken.« »Aber wir stehen doch genau vor dem Schuhmacher. Laß uns reingehen.« Cheyne betrat den offenen Laden, dessen gutgegerbte Ware auf Pflöcken rings um den Besitzer herumstand, der gerade damit beschäftigt war, eine Sohle an den Schuh eines ungeduldigen Kunden zu nageln. Cheyne sah sich um, bis der Schuhmacher fertig war, die Bezahlung entgegengenommen hatte und herüberkam, um ihnen behilflich zu sein. Jeder Hammerschlag loste ein Dröhnen in Ogs Kopf aus, wie die Trommeln von Caelus Nin in der ersten Nacht von Thanatas. Als der Handwerker fertig war, konnte Og kaum noch erkennen, welche Stiefel ihm Cheyne reichte und hatte Schwierigkeiten, seine Füße zu finden. Er schüttelte den Kopf, als gefielen sie ihm nicht. Der Schuhmacher nickte, als Cheyne ein anderes Paar wählte, aber als die Stiefel neben Ogs Füßen standen, waren sie eindeutig viel zu klein. Mit breitem Grinsen fand der Schuhmacher ein Paar in der richtigen Größe, aber Cheyne zog eine Grimasse, als er sie hochhielt. Die Verzierungen, die auf dem kleinen Paar noch passend ausgesehen hatten, wirkten auf dem 166
größeren völlig unmöglich. »Ich verkaufe euch diese für zwölf Kohli. Sie wurden von einem Fascini bestellt, der mir nicht glauben wollte, daß das Muster bei dieser riesigen Große geschmacklos wirken würde. Seit zwei Jahren hängen sie nutzlos hier herum.« »Sehen nicht gut aus.« Og runzelte die Stirn, zog sie aber trotzdem an. »Sie passen natürlich.« Er verzog das Gesicht. »Zehn Kohli«, sagte Cheyne. »Abgemacht«, antwortete der Schuhmacher. »Er hätte sie dir auch für fünf verkauft«, höhnte Og. Cheyne reichte dem Handwerker das Geld, und sie machten sich auf die Suche nach einem Getränk für Og. Der schnelle Gang des Bettlers verlangsamte sich, da er an eine enge Fußbekleidung nicht gewöhnt war. Vier Straßen weiter, in Sichtweite des Raqaladens, segelte eine Wurfscheibe lautlos über Ogs Kopf hinweg und verfehlte ihn um gut zwei Fuß. »Riolla muß ganz schön wütend auf dich sein!« schrie Og und suchte hinter einem Marktstand Schutz, während die Menschenmenge fluchtartig die Straße räumte. »Das war aber nicht für mich bestimmt«, erwiderte Cheyne und rannte die leere Gasse entlang, in die Richtung, aus der die Scheibe gekommen war. »Komm schon, Og!« Og blickte traurig zu dem Raqaladen hinüber und 167
zwang seine gutbeschuhten Füße, die andere Richtung einzuschlagen. Als er Cheyne erreichte, war der junge Mann von drei dunkel gekleideten Männern umgeben, die ihn mit gezückten Dolchen langsam umkreisten. »Oh, nein...«, jammerte Og. »Das kann ja ewig dauern!« Er wurde von einer kräftigen Hand am Nacken gepackt. »Na dann los, helfen wir ihm!« keuchte Claria, deren Gesicht von der anstrengenden Flucht vor den Meuchlern gerötet war. »Er gehört mir. Die Schurken werden ihn nicht an meiner Stelle ermorden.« »Was?« fragte Og, um die Bekanntschaft mit den Dolchen ein wenig hinauszuzögern. »Mein Laden ist niedergebrannt, und mein Mädchen hat sich den Arm gebrochen.« Sie deutete auf Vashki, die hinter dem Zelt eines Andenkenhändlers hervorlugte. »Jetzt besitze ich nichts mehr außer diesem hier.« Sie zog die Musikuhr unter dem Gewand hervor. »Und das ist nur wegen euch, oder besser gesagt wegen ihm. Wegen ihm, mit seinem süßen Lächeln und den guten Manieren«, fauchte sie. »Jetzt tu was, damit sie ihn nicht umbringen. Das werde ich erledigen.« Og rang vor Verzweiflung die Hände und, wie er sich sicher war, vor den Folgen des Raqaentzugs. »Dann halte sie wenigstens fest!« schrie Claria und 168
gab ihm die Uhr. »Und wenn du versuchst, damit wegzulaufen, werde ich dich wie eine Schlange jagen. Ich greife ein.« Von ihrem Platz hinter dem violetten Zelt aus starrte Vashki Og fest an. Der nickte nur und stand wie angewachsen da. Claria hatte richtig geraten, als sie seine ersten Gedanken beim Anblick der Uhr aussprach, aber seine Füße waren mit zu vielen Blasen bedeckt, als daß er hätte davonlaufen können. Und er hatte schon früher versucht, Vashki zu entkommen. Ob der Arm gebrochen war oder nicht, sie war sehr schnell. Einen schrillen Kriegsschrei ausstoßend, schleuderte Claria den Umhang beiseite, zog die Bronzekämme aus dem Haar und warf sich in den Kampf. Sie erwischte einen der Meuchler mit den glänzenden Zähnen ihres Kamms direkt über seinem Auge, und er fiel zu Boden. Von ihrer Schnelligkeit und ihrem Mut überrascht, packte Cheyne die Gelegenheit beim Schöpf, wich zurück und stieß seinen Fuß auf die Nase eines Angreifers. Mit dem anderen Fuß schlug er dem Mann den gekrümmten Dolch aus der Hand. Auch der zweite Meuchler fiel hin und schrie vor Schmerz, als Cheyne ihn mit dem Ellbogen unterhalb der Rippen erwischte. Der erste Mann, dessen Nase zerquetscht und blutverschmiert war, sprang ihn von hinten an, um ihm das Messer über die entblößte Kehle zu ziehen. Der dritte Angreifer, dessen Gesicht völlig 169
verkratzt war, stand wieder auf, sprang Cheyne rechts an und verhinderte, daß sich der junge Mann hinfallen und abrollen lassen konnte, da er ihn am rechten Arm festhielt. Claria rang nach Atem und griff den Feind an, dessen Knochen sie bereits hatte brechen hören. Mit aller Kraft trat sie mit dem Stiefelabsatz gegen das Schienbein des Mannes, der sich daraufhin nicht länger damit abgab, Cheyne den Arm zu verdrehen. Schnell zog sie ihm den Kamm über das Ohr, und der Halunke stürzte, denn die Füße gaben unter ihm nach, und das Blut strömte ihm über die Augen. Cheyne riß sich los und schlug eine Rolle rückwärts, um sich dem Dolch zu entziehen, der auf seine Kehle zukam. Die Waffe glitt ab und traf den dritten Angreifer an der Brust. Claria wirbelte herum, um sich den restlichen Männern zuzuwenden, aber sie waren zurückgewichen und mit ihren Schatten verschmolzen, wobei nicht einmal ein Fußabdruck auf dem sandigen Pflaster zurückblieb. »Phantome?« fragte Claria, als sich Cheyne von der schmutzigen Straße erhob. »Nein«, antwortete Og. »Riollas Leute. Sie können sich so schnell wie der Wind bewegen. Aber sie sind aus Fleisch und Blut.« Unter Schmerzen humpelte er zu dem am Boden liegenden Mann und drehte ihn vorsichtig um. Er nahm der Leiche den juwelenbesetzten Dolch aus der Hand und schob die Kapuze mit der Spitze seines 170
neuen Stiefels zurück. Dann beugte er sich über ihn, betrachtete das Gesicht und die Tätowierung der zwei Halbmonde hinter dem verletzten Ohr, deren Spitzen sich einander zuneigten, aber nicht berührten. Vashki humpelte heran, wobei sie sich den Arm hielt, und stellte sich neben die anderen. »Es war der Uhrmacher«, sagte Cheyne. »Der, der mich zu Riolla geschickt hat.« Der Meuchler verbeugte sich tief, wobei der Schmerz für kurze Zeit unerträglich wurde, als das Blut durch die Schnittwunden in seinem Gesicht strömte. Er dachte sich zehn ganz besonders grausame Todesarten für den Ausgräber und das Mädchen aus, ehe er den Kopf wieder hob. »Ich danke dir, Saelin. Gut gemacht! Erwarte meine neuen Befehle im Vorzimmer. Bediene dich von dem Tablett.« Die Schnüre des Perlenvorhangs mit den rubinroten Glaskugeln schlugen gegeneinander, als Saelin hindurchging, noch ehe Riolla den Satz beendet hatte. »Saelin?« Riolla sah ihm nach und zuckte mit den Achseln. Dann löste sie den Knoten des roten Bandes, das die Landkarte zusammenhielt, und rollte sie vor ihnen aus. Die Karte war von ausgezeichneter Qualität und ohne Zweifel einen toten Meuchler wert. Der Weg, den Og gewählt hatte, war durch die schmutzigen Fingerabdrücke klar zu erkennen. Riolla schüttelte 171
verächtlich den Kopf. »Niemals wählt er den leichten Weg...«, murmelte sie. Dann hielt sie inne und starrte wieder auf die Karte, da ihr bestimmte Punkte plötzlich bekannt vorkamen. »Er will zu Rotapans Tempel? Zum Wald der Selkies? Sogar ins Grenzgebiet? Beim geborstenen Gesicht Nins - er nimmt nicht nur die Karawanenstraße, er ist auch hinter den Steinen des Rings her! Dieser verflixte Mistkerl! Wer hätte gedacht, daß noch Mut in ihm steckt, in diesem heruntergekommenen, raqadurstigen, grölenden, stinkenden, plattnasigen Ungeziefer?« rief sie aus und zerknüllte die Karte am Rand. »Saelin!« Der Meuchler hatte sich gerade einen Shirrirkuchen an die Lippen gesetzt. »Nimm den Unrat aus dem Mund und komm her! Wenn dies vorbei ist, kannst du das beenden, was du auf der Straße begonnen hast. Hol die Pferde. Nein, warte die Männer sollen meine Sänfte holen, es könnte eine lange Reise werden. Wir müssen früher aufbrechen, als ich dachte. Wahrscheinlich sind sie uns schon ein gutes Stück voraus«, ärgerte sich Riolla und steckte ihr rotes Haar hoch auf. »Wir gehen, sobald ich mit dem Prinzen gesprochen habe«, setzte sie hinzu und dachte bereits darüber nach, was sie Maceo sagen wollte. Saelin schob sich den ganzen Kuchen in den Mund, stopfte drei weitere tief in seine Taschen und dachte daran, wie sehr ihn die nächsten Morde erfreuen 172
würden. »Also gut, Cheyne, oder wer auch immer du sein magst, laß uns ein paar wichtige Worte darüber wechseln, was mit meinem Geschäft passiert ist«, sagte Claria, als sie Og das Bündel aus seinen zitternden Händen riß. Cheyne tupfte sich das Blut an der Lippe mit dem Ärmel seiner Tunika ab. »O nein.« Sie zog ein Tuch aus der Tasche und warf es ihm zu. Da es viel zu leicht war, flatterte es ihm vor die Füße. Sie sprach weiter, während er sich danach bückte. »Ich schaffe es, die ganze Schlamperei und den Dreck an einem Tag aufzuräumen, werfe Strauchdiebe und Landstreicher hinaus, die mit meinem Onkel Geschäfte machen, hoffe, neue Kunden zu finden...« »Wie den in der Sänfte, der floh, als wir den Laden betraten?« fiel ihr Cheyne ins Wort. »Wahrscheinlich erinnerst du dich daran, daß ich ihm auch schon begegnet bin. Diese unerfreulichen Leute sind überall anzutreffen!« »Laß den Prinzen aus dem Spiel! Er war nicht geschäftlich bei mir«, fauchte sie und errötete stärker als während des Kampfes. »Ach?« fragte Cheyne leise und grinste schief, da seine Lippe geschwollen war. »Du bist unmöglich!« knurrte Claria. Og räusperte sich. »Was ist denn geschehen, Cla173
ria? Warum wurdest du von Riollas Meuchlern gejagt?« Sie drehte sich zu ihm um und begann eine lange Tirade, wie sie in das Geschäft gestürmt waren, nachdem er und Cheyne sie verlassen hatten, und wissen wollten, wo sich die beiden befanden. Dann hatten sie den Laden in Brand gesteckt und sie bis auf die Straße verfolgt, auf der sie nun standen. Vashki war durch die Hintertür entkommen, als die Männer Claria nachsetzten. Es war ihr gelungen, die Uhr mitzunehmen, die anscheinend der kostbarste Besitz ihres Onkels gewesen war, doch der Rest des Hauses ging zur Zeit in Rauch auf und riß wahrscheinlich die ganze Straße mit sich - dort drüben konnte man das Feuer sehen. Als sie zu Ende gesprochen hatte, wies sie mit ihrem schlanken Finger auf die große schwarze Rauchwolke, die sich über der Barca bildete. »Ich dachte mir gleich, ich könne den Geruch eines brennenden Kartenladens riechen«, erklärte Og. Cheyne wunderte sich, daß der Bettler diesen Geruch von den anderen unterscheiden konnte, die fortwährend in der Barca herumschwirrten. Og hielt einfach die Nase in den Wind und schnüffelte, und Cheyne fiel erneut das hervorstehende Riechorgan auf, das für diese Zwecke sicherlich ausgezeichnet geeignet war. »Was soll ich dir darüber erzählen, Claria?« fragte Cheyne. »Ich weiß nicht, weshalb mich Riolla töten lassen will, außer, daß ich mich weigerte, ihr das Totem zu verkaufen, das ich bei den Ausgrabungen 174
fand. Aber ich brauche es selbst. Ich danke dir, daß du mir gegen die Meuchler geholfen hast, und es tut mir wirklich leid, was mit deinem Laden und deiner Gehilfin passiert ist. Ich hatte keine Ahnung, daß Riolla noch immer hinter mir her ist oder wußte, daß ich in der Stadt bin.« »Männer! Ihr glaubt wohl, ein kleines ›Es tut mir leid‹ biegt alles gerade, und ihr könnt stolz und vornehm davongehen, ohne die Greueltaten zu bereinigen, die wegen euch geschehen sind. Nun, das wird euch diesmal nicht gelingen. Ich habe euch geholfen - also könnt ihr mir helfen. Cheyne, du bist Ausgräber. Du willst ins Grenzgebiet reisen. Also wirst du mich mitnehmen, und wir werden den Gewinn deines Abenteuers aufteilen, um den Verlust meines Geschäftes damit abzugleichen. Wenn man bedenkt, wieviel Aufmerksamkeit dir Riolla schenkt, sollte man meinen, du hättest die Uhr gefunden.« Cheynes Augen weiteten sich vor Überraschung. »Was weißt du über die Uhr?« »Ich weiß, daß die Schreefa des Mercantos sich niemals so viel Mühe machen würde, dich zu fangen, wenn es nicht um Geld ginge. Da du ein Ausgräber bist, hast du wohl etwas Wertvolles gefunden, oder du weißt zumindest, wo es liegt. Und was gibt es hier schon Wertvolles außer der Uhr?« Sie fuchtelte mit der Hand herum und schloß bei der Geste den Schmutz der Barca mit ein. Dann kniff sie ihre goldfarbenen Augen zusammen und sah ihn an. 175
Cheyne schwieg, aber seine Züge hatten sich bei dem Gedanken verdüstert, in eine ausgewachsene Schatzsuche gedrängt zu werden. »Du hast sie gefunden, nicht wahr?« fragte sie leise, und der bissige Ton war aus ihrer Stimme verschwunden. »Nein. Und ich suche auch nicht danach«, antwortete Cheyne bestimmt. Sofort erhob Og protestierend die Hand. »Halt, halt, so' darfst du nicht sprechen. Wir wissen nicht einmal, ob du die Uhr nicht längst gefunden hast. Aber ich, Claria, habe bereits eine Vereinbarung mit Cheyne getroffen, daß mir die Hälfte des Gewinns gehört. Warum sollten wir den Schatz der Uhr anders aufteilen?« Claria sah ihn mit funkelnden Augen an und lächelte verschlagen. »Weil«, sie deutete auf Cheynes zerrissenes Bündel, aus dem die Karte fehlte, »du vielleicht ein Führer sein magst Muje Rifkin, aber ich bin die einzige, die weiß, wie man dorthin gelangt.«
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KAPITEL 7 In seiner gesunden Hand hielt Javin die Zeichnungen, denn die andere schmerzte und war dick eingebunden, und er stolperte durch die Dünen bis zu dem Ort, wo Cheyne und Muni am Vorabend gearbeitet hatten. Entgegen seiner Befürchtungen hoffte er, Cheyne bereits bei der Arbeit vorzufinden, weil der junge Mann hierher gegangen sein mochte, um allein zu sein, um seine Schwierigkeiten zu überdenken. Aber als Javin die letzte Düne erklommen hatte, war er immer noch allein. Er ließ sich auf einer Ecke des wettergegerbten Marmorblocks nieder, auf dessen blasser Oberfläche einer von Cheynes vertrauten, holzkohleverschmierten Handabdrücken war. Javin legte die eigene Hand darüber und fragte sich, wann die Zeit ihre Hände gleichgemacht hatte. Er saß still da und lauschte dem Seufzen des heißen Windes und dem Geläut der Schafsglocken, als die sumifanischen Hirten ihre Herden zum Grasen an die Ufer des Flusses trieben. Jede Glocke hatte einen anderen Klang; in der eigentümlichen Stille der Ruinen erkannte Javin innerhalb weniger Sekunden schon drei vertraute Töne. So muß es auch zu Lebzeiten des Sammlers gewesen sein. Als der Zauberkreis und Frieden das Land beherrschten. Als man den Krieg fast aufgehalten hätte, dachte er und blickte zur neuen Stadt hinüber. Die Straße am Fluß entlang war von dieser Höhe aus 177
gut zu überblicken. Sie war leer und verlassen. Um diese Zeit hätten Munis Arbeiter von der Stadt herüberkommen sollen. Also hatten sich die Fascini eingemischt. Javin schüttelte enttäuscht den Kopf. Wenn Cheyne wieder nach Sumifa gegangen war, mußte er einfach abwarten. Javin zog die Blätter mit den Zeichnungen hervor und betrachtete die Bilder zum fünften oder sechsten Mal, um Anzeichen zu finden, die auf den Sammler hinwiesen. Aber Cheyne hatte bei diesen schnell angefertigten Zeichnungen nicht viele Einzelheiten festgehalten. Nur der Grundriß und die Maße des Zimmers unterhalb der Marmorplatte waren angegeben. Aber da war noch ein Blatt mit flüchtig hingeworfenen Bildern von Tonscherben, das Javin vorher nicht bemerkt hatte. Wahrscheinlich eines, das er in der letzten Nacht gefunden hatte, dachte er und ließ den Blick erneut über die Dünen in Richtung Stadt schweifen - noch war kein Fascini zu sehen. Ich sollte besser nach unten klettern und sehen, was er entdeckt hat. Das wird meine letzte Gelegenheit sein. Er seufzte, befestigte die geflochtenen Stricke an einem großen Steinbrocken und ließ sich in den Raum hinunter. Kurz darauf befreite er sich von dem Gurt und beugte sich über die Tonscherben, die er mit den Zeichnungen verglich. Das ist Sarrazanarbeit - älter als alles, was ich 178
bisher gesehen habe, wenn ich vom Anblick des Tons ausgehe. Die körnige Oberfläche des Kruges und die seltsam gelbliche Färbung fielen ihm auf. Nach den einstigen Verheerungen im Wald war der Ton der Elfen nun dunkel, beinahe rot und bedeutend glatter. »Dieses Material stammt aus der Zeit vorher«, murmelte er. Die zerbrochenen Stücke wirkten allerdings recht vertraut. Er fuhr mit den Fingern darüber hinweg und folgte den geschwungenen Linien und verworrenen Kreisen. Solche Glyphen hatte er daheim auf seinen Krügen gesehen. Und auf dem Totem, das Cheyne poliert hatte. O nein, Cheyne! Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte es wissen müssen. Aber ich konnte dir nicht mehr sagen. Und nun bist du davongegangen, um den gefährlichsten Teil von Almaaz aufzusuchen, und der grausamste Meuchler Sumifas ist dir auf den Fersen, haderte er mit sich. Dann sammelte er die Scherben auf und steckte sie in seine Tasche. Seine Gedanken überschlugen sich. Javin legte sich die Gurte um. Er durfte keine Zeit verlieren. Als er sich am Seil emporzog, hielt er inne und legte eine Pause ein, um Kräfte zu sammeln - der Abstieg war für seinen Arm und seine schmerzende Hand bedeutend einfacher gewesen. Als er an dem Seil hing, schwang es langsam hin und her, und der neuen Blickwinkel des Raumes fesselte ihn. Von hier aus konnte er erkennen, daß aus einem kleinen Spalt auf halber Höhe der Wand Licht fiel. 179
Er schwang sich näher zu der Stelle und hielt sich mit der Hand an einem Riß im Mauerwerk fest, um sich Halt zu verschaffen. Mit der verletzten Hand zog er unter Schmerzen den kleinen Handfeger aus dem Gürtel und fegte Staub und Sand beiseite, die sich dort angesammelt hatten. Auf der anderen Seite des Steins schien irgend etwas zu liegen, das das Licht nicht durchließ. Etwas, das entfernt an den Umriß einer Menschenhand erinnerte, an deren Fingern goldene Ringe steckten. Aufgeregt und mit wild pochendem Herzen folgte Javin dem Lichtschein und entdeckte eine Art Stoff, dessen violette Farbe noch immer klar und deutlich zu erkennen war. In den Jumageschichten wurde behauptet, der Sammler wäre in seinen ›Roben in der königlich violetten Farbe‹ gestorben. Javin hing in den Gurten und starrte gebannt auf seine Entdeckung. Beim heiligen Eid des Zauberkreises! Er vergrößerte den Spalt so gut er konnte. Der Marmor brach in kleinen Stücken am ursprünglichen Riß entlang ab. Nach einer Weile hatte Javin eine Öffnung geschaffen, die an der breitesten Stelle drei Zoll maß. Jetzt konnte er den Körper deutlich erkennen. Ein einziger Sonnenstrahl schien auf die vertrocknete Mumie, beleuchtete das eingesunkene Gesicht und die zerbrechlich wirkende, dunkle Haut. Tausende von Jahren in der trockenen Wüstenhitze hatten den Leichnam so hervorragend erhalten, daß 180
Javin sogar den Gesichtsausdruck des Mannes erkennen konnte. Samor war lächelnd gestorben, mit gelassenen, zufriedenen Zügen, die auch nicht durch die offensichtlich übereilte Bestattung gestört worden waren. Javin sehnte sich danach, den Fund genauer zu untersuchen und die Geheimnisse hinter der Mauer zu erkunden. Ich habe dich gefunden, Samor, ich habe dich gefunden! Mit der gesunden Hand schlug er kräftig gegen die Wand; sein Herz wurde von Freude und Sehnsucht geradezu zerrissen. Lachend schwang Javin wie ein Pendel an den Seilen hin und her, Tränen strömten ihm über das Gesicht. Aber er durfte sich nichts vormachen. Selbst wenn das Heilige Buch der Bekenner auf der anderen Seite der Mauer liegen sollte, befand sich Cheyne in größter Gefahr. Javin wischte sich das Gesicht mit seinem Ärmel ab, zog sich nach oben aus dem Raum hinaus in das Licht und die Hitze des Tages. Ich komme zurück, Samor. Ich werde dich nicht da unten liegenlassen, vergessen und unbekannt. Mit einem Gruß und dem Segensgebet des Zauberkreises auf den Lippen wanderte Javin zum Gemeinschaftszelt zurück. Die Füße schmerzten ihn, und sein Herz fühlte sich an, als habe man es in zwei Teile zerrissen. Er stopfte so viel Nahrung, wie er finden konnte, in ein Bündel, nahm einen Wasserschlauch und wollte gerade das Zelt verlassen, als die erste Sänfte der 181
Fascini am Ausgrabungsort erschien. »Dein Pferd fehlt, und Kifran auch«, sagte Muni, der plötzlich vor ihm auftauchte. »Bei den Sieben, hast du mich erschreckt, Muni!« stieß Javin hervor. »Wo ist mein Pferd? Oh, ich weiß, was du meinst. Kifran, sagst du. Muni, den wirst du nie wiedersehen, aber versuche doch, mein Pferd zu finden. Es wird in Kürze sicher in irgendeinem Stall der Fascini stehen. Aber nun muß ich los, mit oder ohne Pferd. Ich ziehe ins Grenzgebiet.« »Wie kannst du nur denken, du würdest so eine Reise durchhalten, wo doch noch das Gift in deinem Körper wütet? Ich bitte dich, Javin, laß dir deinen Finger vom Heiler amputieren. Die Blutvergiftung ist noch lange nicht vorüber«, sagte Muni. »Es geht schon. Der Schmerz kommt und geht; ich kann mich gut bewegen. Der Arzt hat getan, was er konnte. Ich habe keine Zeit mich von einer Amputation zu erholen. Ich brauche die Hand. Ich muß Cheyne folgen.« »So hat er also eine bestimmte Richtung eingeschlagen. Das überrascht mich nicht.« Muni sah Javin lange Zeit an. »Also willst du ihnen die Ausgrabungsstätte überlassen?« Er wies auf die reich verzierten Sänften, die um die letzte Kurve vor dem zerborstenen Gesicht von Caelus Nin kamen. »Ich überlasse dir die Ausgrabungsstätte, mein Freund. Ich habe keine Wahl. Er ist mein Sohn.« Javin ließ den Kopf hängen, holte tief Luft und sah 182
dem alten Freund in. die Augen. »Muni, ich habe ihn gefunden. Ich habe den Sammler gefunden. Er liegt hinter der Mauer in dem Raum unter dem Marmorblock. Sie dürfen uns nicht verjagen.« Muni lächelte gelassen und hob die Hand zum Abschiedsgruß. »Wir werden hier sein, wenn ihr zwei zurückkehrt.« »Ich brauche ein Pferd. Ist der Heiler noch da?« fragte Javin. »Nein, aber du kannst ihn noch einholen«, antwortete Muni lächelnd. Javin schlüpfte durch den Hintereingang des Zeltes und lief zum Fluß, so daß die Ruinen zwischen ihm und den Sänften lagen, und hoffte, daß man ihn nicht gesehen hatte. »Ich hoffe, du stürzt nicht in dein Verderben, mein Freund«, sagte Muni zu sich selbst. Ein paar Minuten später, nach tausend an den verwunderten Heiler gerichteten Entschuldigungen, schwang sich Javin auf den Rücken des alten Pferdes und trabte in Richtung Sumifa. Nachdem er das Löwentor hinter sich gelassen hatte, gab er dem Pferd den Kopf frei. Er zog die Kaffiyeh enger um das Gesicht, versteckte die schmerzende Hand unter seinem Gewand und hoffte, der Heiler würde nicht in unmittelbarer Nähe der Zitadelle leben. Er hatte nichts zu befürchten. Das uralte Pferd hielt in einer Straße an, die zum übelsten Teil der Barca 183
gehören mußte und weigerte sich, auch nur einen einzigen Schritt weiterzugehen. Javin stieg ab und blickte in die Richtung der Läden und Häuser, um herauszufinden, wo sich das Haus des Heilers befand. Eigentlich hatte er gar keine Zeit dafür, aber er hatte dem Arzt versprochen, das Pferd nach Hause zu bringen und sich in Sumifa ein anderes Tier zu verschaffen. Im dritten Torbogen der Straße wartete eine junge Frau und hielt ihren Arm mit schmerzverzerrtem Gesicht fest. Javin zerrte das Pferd dorthin. Ein blauer Halbmond war mit groben Strichen auf die Tür gezeichnet. »Mujida, ich bringe das Pferd des Arztes zurück. Ist sonst niemand daheim?« »Er lebt allein. Ich warte auch auf ihn. Mein Arm ist gebrochen. Er hat ihn gestern abend geschient, aber er tut heute noch stärker weh. Ich brauche etwas gegen die Schmerzen. Man sagte mir, er sei zu den Ausgräbern geritten. Mehr weiß ich nicht«, erklärte sie mit schwacher Stimme. »Wie ist das geschehen, Mujida? Kann dir niemand sonst helfen?« fragte Javin und wunderte sich, warum sie nicht einfach etwas von dem schmerzlindernden Shirrir nahm, wie es alle anderen in der Barca taten. Das Mädchen lächelte verzerrt. »Wie kann ich jemanden um Linderung bitten, der für die Schreefa arbeitet, wenn der Arm doch von ihren Leuten gebrochen wurde? Der Heiler wird bald zurück sein. Er wird mir etwas geben, damit ich bald wieder arbeiten 184
kann.« Sie hörte sich ein wenig zuversichtlicher an, klang aber wütend. »Es ist nur die Schuld der Ausgräber, das kann ich dir verraten. Es ist ungewiß, ob mein Mann noch Arbeit bekommt, und auch meine Stellung ist nicht mehr vorhanden, weil der Laden niedergebrannt ist. Der junge, hellhaarige Ausgräber ist mit meiner Arbeitgeberin und einem Trunkenbold, der vorgibt, ein Führer zu sein, zum westlichen Erg auf Schatzsuche gegangen. Und mir bleibt nur das.« Sie hielt ihm ein kleines, in Bronze gebundenes Buch entgegen. Javin glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. »Mujida«, sagte er mit zitternder Stimme, »wo hast du dieses Buch gefunden?« »Bei einem Kampf fiel es aus dem Bündel des Ausgräbers. Sie waren fort, ehe ich es ihm zurückgeben konnte. Aber es ist wertlos - die Worte sind nicht zu entziffern. Der Heiler mag alte Dinge, und es ist ganz bestimmt sehr alt. Ich werde ihn damit bezahlen. Wenn er je zurückkehrt«, fügte sie mißmutig hinzu und starrte das alte Pferd an. »Bitte - ich möchte es dir abkaufen, und du kannst den Heiler für seine Mühe entlohnen. Du wirst genug übrig behalten, um dich durchzubringen, bis du Arbeit findest.« Kurz darauf befand sich das unbezahlbare Buch des Sammlers, das Heilige Buch der Bekenner, zum Preis von zweihundert Kohli in Javins Besitz. »Ich bitte dich noch um einen Gefallen, Mujida«, sagte er. 185
»Kannst du mir verraten, wie der Ausgräber und seine Begleiter reisen werden?« Vashki wies mit dem Kinn nach Westen. »Sie sind Narren. Sie nehmen die alte Karawanenstraße. Du wirst sie nie wiedersehen, und ich sie auch nicht. Aber ich segne dich tausendmal für deine Großzügigkeit, Muje.« »Es war mir ein Vergnügen, Mujida«, erwiderte Javin, verneigte sich und überließ ihr das Pferd. Sicher würde der Heiler bald auftauchen. Er bog um die Straßenecke, setzte sich und öffnete vorsichtig das Buch. Ein greller Sonnenstrahl fiel auf die Seiten und ließ die alten Worte vor seinen Augen aufleuchten. Die Buchstaben waren vom Alter verblaßt und rötlich gefärbt. Aber es war das Buch. Er schloß die Augen und begann das Gebet, das den Zauberkreis einst zusammengerufen hatte und es dem Sammler ermöglichte, die seltsamen Worte zu lesen. Aber nun gab es niemanden mehr, den er hätte rufen können, und keine Antwort durchdrang seine Gedanken, um auf den Geist des Buches zu warten. Er öffnete die Augen und las die ersten Worte. »Fürchte dich nicht.« Javin sog die Worte gierig auf, und sein Herz füllte sich vor Freude bis zum Überschäumen, wie er es zuvor nie erfahren hatte. Er versuchte weiterzulesen, aber die Schrift war wieder unlesbar geworden. Javin schloß das wertvolle Buch und verstaute es ehrfürchtig in seiner Tasche, deren Riemen er mit besonderer Sorgfalt verschnürte. Jetzt 186
mußte er ein Pferd finden. Ein Paar grauer Augen folgte ihm aus dem Schatten der dunklen Gasse durch einen Riß in der Mauer, als er zu einem Stall schritt. Der Duft des nachtblühenden Jasmins vermischte sich mit dem Rauch des Feuers und wurde dadurch zu einer Art Weihrauch, der von einem Windhauch über die Wüste getragen wurde. Die Drei Schwestern waren am blassen Morgenhimmel verblichen. Cheyne, der vom nächtlichen Marsch erschöpft war, stapfte schlurfend über eine hohe Düne und überschüttete Og, der seine neuen Stiefel ausgezogen hatte und mit den alten Riemensandalen ging, mit einem Sandregen. Wie durch ein Wunder war er nicht ohnmächtig geworden oder tot umgefallen, wie er pausenlos prophezeit hatte, seitdem die kleine Gruppe die Stadt und ihren reichhaltigen, unangetasteten Vorrat an Raqa vor vielen Stunden verlassen hatte. Aber trotz der Verbände, die Claria angelegt hatte, hinterließ er eine feine Blutspur in dem trockenen Sand. Cheyne verlagerte das Gewicht seines Bündels, das nun bedeutend schwerer wog, da sie vor dem Verlassen der Stadt vielerlei Vorräte mitgenommen hatten. Da nun drei Münder zu stopfen waren, war zu Cheynes größtem Mißfallen nicht genug Geld übriggeblieben, um auch nur das armseligste Dromedar zu erstehen. Sie mußten zu Fuß gehen. »Wie weit ist es noch bis zu der Oase, Og? Schon 187
bald ist es heller Tag. Wir brauchen Wasser«, sagte Cheyne. »Und einen Platz zum Ausruhen«, mischte sich Claria ein. »Wir dürfen uns nicht mitten in der Wüste von der Sonne ertappen lassen.« »Soweit ich mich erinnere, muß sie hinter jenen Felsen liegen«, erklärte Og. »Soweit du dich erinnerst...« Cheyne blieb kurz stehen und ließ den kleineren Mann aufholen. Er starrte zum Horizont. Es waren keine Felsen zu sehen. »Og, weißt du, wo sie sich befindet oder nicht?« »Natürlich weiß ich das. Geht weiter. Es wird heiß.« Gerade wollte Cheyne widersprechen, als Claria aufgeregt mit der Hand fuchtelte und nach links wies. »Da! Ich sehe die Felsen. Kommt schon.« Tatsächlich, eine niedrige Felsgruppe glänzte hell unter den ersten Strahlen der Morgensonne. Mit frischen Kräften liefen sie darauf zu, während Og langsam folgte, denn seine Füße bluteten von dem langen Marsch und den neuen Stiefeln sowie dem Mangel an Raqa, dessen war er sich sicher. Die Oase war erst vor kurzem aufgesucht worden, oder, besser gesagt, abgenutzt worden, dachte Cheyne. Zwar gab es reichlich frisches Wasser, aber die vorherigen Reisenden hatten überall auf dem grünen Grasteppich Abfälle hinterlassen, und die Überreste eines Lagerfeuers hatten den Mittelpunkt einer kleinen Lichtung verkohlt, die im Herzen eines 188
Dattelpalmenhains lag. Vorsichtig legte Claria ihr Bündel in den Eingang einer schmalen Höhle nahe der Quelle und zog ihre Stiefel aus. Dann steckte sie den langen Rock hoch und schritt in das kühle, klare Wasser. Sie versank in der wohltuenden Frische und spürte weiches Wassergras unter den müden, wunden Füßen. Ihre Haut sog die Feuchtigkeit auf, und der Staub und Schmutz der Wüste lösten sich. Cheyne hatte bereits einen Stiefel ausgezogen, als sich Og endlich zu ihnen gesellte. »Noch nicht. Warte, während ich hineingehe. Wenigstens einer von uns sollte Wache halten«, verkündete Og und steuerte auf die Quelle zu, wo Claria eine Stelle entdeckt hatte, die tief genug war, um ihre Schultern im Wasser verschwinden zu lassen. Sie lehnte sich zurück, und ihre langen Locken trieben auf dem Wasser. Bunte Papageien schnatterten in den Palmen über ihrem Kopf. »Warum?« fragte Cheyne verärgert. Niemand war zu sehen, nicht einmal irgendwelche Spuren; nur die Vögel zankten sich um die reichhaltig vorhandenen Früchte. Og deutete auf etwas, was halb vergraben im Sand nahe der Feuerstelle lag. Cheyne zog den Stiefel wieder an, ging hinüber und zog den kleinen Handfeger hervor, um den Sand zu entfernen. Noch bevor die Borsten den Gegenstand berührten, erstarrte er, und die Hand verweilte in dieser Bewegung über einem flachen gelben Schädel mit langen Zähnen und leeren 189
Augenhöhlen. »Orks«, erklärte Og. »Verfeindete Stämme, nehme ich an. Die Wyrvils fressen sie auf. Manchmal, wenn sie sie respektieren, wenn sie sie wirklich hassen oder wenn sie ihnen einen guten Kampf liefern, dann behalten sie ihre Köpfe. Sie bauen ihre Tempel aus Knochen. Dieser Bursche war entweder alt oder leicht zu töten. Der Schädel war zu weich, um beim Bau verwendet zu werden, also ließen sie ihn liegen. Siehst du den Bergrücken nördlich der Felsen? Dort verwandelt sich die Wüste in Geröll und Unterholz, und die Wolken, die vorn Meer landeinwärts ziehen, verlieren dort den letzten Regen. Dort beginnt das Gebiet der Wyrvils.« Langsam zog Cheyne die Hand zurück; eine Gänsehaut überfiel ihn. Er fand ein Stück Bambus und rollte den Schädel damit in die Büsche. Dann nahm er den kleinen Mann beim Ärmel und geleitete ihn zur Quelle. Claria aalte sich noch immer im Wasser, nun aber steckten ein paar bunte Papageienfedern in ihrem Haar. »Woher kennt ein raqaliebender Vagabund die Kriegsbräuche der Orks und weiß soviel über das Wetter, Ogwater?« fragte Cheyne. Og ließ sich auf dem Gras nieder und steckte die schmerzenden Füße mitsamt Sandalen in die Fluten. »Ahhh...« Er lehnte sich zurück und schloß genüßlich die Augen. »Og!« beharrte Cheyne. 190
»Schon gut«, antwortete der kleine Mann, dessen Nase wie ein Leuchtfeuer gen Himmel ragte. »Ich ... ich war einst ein Musikmagier. Vor langer Zeit. Vor vielen, vielen Jahren. Ich war der Beste. Ich arbeitete in der Zitadelle für die königliche Familie. Sie behandelten mich wie einen der ihren.« Er schöpfte eine Handvoll Wasser und ließ es auf den Boden tropfen. »Ich konnte es in der Wüste regnen lassen.« Er lachte leise mit einem Ton des Bedauerns. »Ich konnte es in der Wüste sogar schneien lassen. Dann verlor ich meinen Ring, wißt ihr. Die Steine des Rings halfen mir, die rechten Melodien und Klänge zu finden, damit der Zauber wirkte. Ohne ihn hatte der Fascinikönig keine Verwendung mehr für mich. Und er verbannte mich vom Hof, als sei ich ein Mitglied der Familie. So nahm ich jede Arbeit an, die ich bekommen konnte, und eines Tages ließ ich mich anwerben, um eine Karawane der Mercantos zu begleiten, ehe das Verbot, die Wüste zu durchqueren, in Kraft trat. Als wir aus den Bergen zurückkehrten, wurden wir von Wyrvils überfallen, und da ich nichts besaß, was sie mir hätten rauben können, nahmen sie mich gefangen. Was sollte ich tun, außer für sie zu singen oder zu sterben? Ich sang. Ich war sehr schlecht, aber einer von ihnen - Yob - war beeindruckt. Ich hatte zufällig sein Lieblingstrinklied gewählt, und er hielt das für ein Zeichen der Götter. Man ließ mich am Leben. Ich blieb fast ein ganzes 191
Jahr bei diesen Halunken. Als sie einmal diese Oase hier aufsuchten, versetzte ich sie in der Nacht für ein paar Tage in Schlaf und floh. Yob wachte auf und folgte mir, aber die Stadtwachen trieben ihn fort. Er zog sich ein Stück zurück, wartete eine Weile und entschied dann, daß ich es nicht wert war, noch weiterhin ernährt zu werden. Da er wußte, wo ich steckte, konnte er immer wieder dafür sorgen, daß ein paar seiner Leute nachts heimlich in die Stadt schlichen, mich suchten und hierher oder zu seiner Wohnstatt schleppten, damit ich für sie sang, wann immer er es wollte. Meistens bei Hochzeiten oder Begräbnissen; immer die gleichen Lieder.« Ogs Stimme versagte mit einem erstickten Schluchzer. Claria war zu ihnen herübergeglitten und lauschte gespannt. »Wie hast du deinen Ring verloren, Og?« fragte sie leise. Og setzte sich aufrecht hin und wischte sich die Tränen fort. »Ich gab ihn ab. An Riolla.« Prinz Maceo wäre beinahe erstickt, als er einen großen Schluck des fünften seiner zwölf regelmäßigen Heiltränke zu sich nahm. Seit jenem Ärger mit den Juma vor einigen Jahren ließ sein Augenlicht immer mehr nach. Aber er war sicher, daß es Heilung geben mußte. Und wenn er ausreichend Geld hinlegte, konnte er sie sich kaufen - dessen war sich Maceo sicher. 192
»Wann? Ich weiß nicht, wann. Ich habe dir doch gerade erst einen Antrag gemacht, Riolla. Reicht das nicht? Sind wir denn nicht verlobt? Ich weiß, daß du noch keinen Namensring hast, aber er wird gerade für dich angefertigt. Du weißt, daß wir die Wartezeit deiner Reinwaschung einhalten müssen. Obwohl ich kaum erwarten kann, dich zur Frau zu nehmen, mein Liebling, darf keine Händlerin in unseren Stand aufgenommen werden, ohne die Zeit des Fastens, die Zeit der Entsagung und die Zeit der Verwandlung auf sich genommen zu haben. Man könnte sie auch die Zeit der Erkenntnis nennen. Und ich möchte vorher gekrönt werden. Das Trauerjahr für meinen Vater hat gerade erst begonnen. Ich bin der König, ja, aber offiziell kann ich die Regierung nicht übernehmen, bis das Jahr vorüber ist. Es ist ein böser Anfang, wenn man den Thron besteige, ehe nicht der Vorgänger gebührend betrauert wurde.« »Ich habe keine Zeit zum Trauern, mein Lieber«, säuselte Riolla und zog sich den Schleier über das Gesicht. »Ernste Dinge liegen vor mir.« Maceo blickte von seinen Tränken auf, da ihn etwas in ihrer Stimme beunruhigte, Riolla lächelte und begegnete seinem Blick voller Unschuld. »Ich muß eine kleine Reise unternehmen, Maceo. Es ist etwas Geschäftliches. Wenn ich zurückkehre, möchte ich, daß wir sofort heiraten.« Maceo legte den Kopf in den Nacken und träufelte sich eine silbrige Flüssigkeit in beide Augen, um die 193
Schmerzen zu lindern. Seit Monaten hatte nichts mehr gewirkt. Er war beinahe ruiniert, da er so viele Heiler bezahlen mußte, und der Gedanke, daß jene glänzende schwarze Perle aus seiner Gegenwart verschwinden würde, war fast mehr, als er ertragen konnte. Egal, bald würde er König sein. Was das bedeutete? Sollte Riolla ihn wegen eines anderen verlassen, sah er sich verarmt und blind in der Barca und - was am schlimmsten war - verspottet und verlacht. Sie würden nach einem neuen König verlangen, der über die nötigen Geldmittel verfügte und in der Lage war, Korn zu kaufen. Die Fascini würden in ihren Sänften an ihm vorüberziehen, während er durch die Straßen taumelte. Sie würden über seine Kleider lachen und ihm Münzen zuwerfen. Sogar Claria würde ihn dann nicht mehr heiraten. Er wurde ein kleines bißchen traurig, wenn er an Claria dachte. Sie war so wundervoll gewesen, so ehrlich. Wie schade, daß sie nie die Möglichkeit haben würde, so weit aufzusteigen, daß er sie zur Frau nehmen konnte. Sie schien ihn wirklich zu lieben und war so verzweifelt gewesen, als er die Verbindung beendete. Hätte sie doch nur einen Namen! Sie verstand die Sache mit Riolla nicht und die, hm, Notwendigkeit, die richtige Ehe einzugehen, auch wenn es nicht die beste sein würde. Schade auch um den Ring. Er hätte ihn verlangen sollen, bevor er es ihr mitteilte, denn Clarias Finger schwollen immer an, wenn sie verstört war. Aber er würde ihn sich neh194
men, wenn er König war. Vielleicht konnte er auch Claria wiederbekommen. Der Gedanke heiterte Maceo auf, und er ließ noch ein wenig von der Flüssigkeit in seine Augen tropfen. Eines Tages würde er es ihr begreiflich machen ... es war entsetzlich gewesen, mit ihr darüber zu reden, und jetzt kam noch dieser Ärger hinzu. Er schniefte und zwang seine Gedanken zurück zu Riolla. »Nun ... ich denke, ich könnte einen Weg finden, die Trauer- und Wartezeit zu verkürzen, da ich ja nun König bin, meine Perle, und deine Reinheit hergestellt ist.« Er betupfte sich die Augen mit den Fingern und dachte nach. »Warum bleibe ich nicht einfach hier und bringe alles in Ordnung? ...und wenn du zurückkommst, heiraten wir.« »Was für eine vorzügliche Idee, mein Lieber. Ich kann es kaum erwarten. Du wirst mir treu bleiben, nicht wahr? Ich zähle die Stunden, die wir getrennt sein müssen.« Riolla ließ die Hand über die Schneide eines vergoldeten Dolches gleiten, einer von Zwölfen, die die Wände ihres Schlafzimmers schmückten und im gleichmäßigen Abstand kreisförmig um die beiden Gesichter von Nin aufgereiht waren, und ihre Spitzen bildeten Strahlen, wie die der Mittagssonne. Maceo nickte nachdrücklich, obwohl er immer noch nichts sehen konnte. «Du hast Riolla den magischen Ring gegeben dieser machthungrigen, hinterlistigen Dämonin? 195
Riolla, der Schreefa, die meinen Onkel tötete, weil er drei Tage mit dem Schutzgeld im Rückstand war?« Claria schlug mit ihrer Hand auf die Wasseroberfläche, worauf ein Sprühregen über Cheyne niederging und eine Woge in Ogs Schoß landete. »Möge Riollas Zukunft - die Meuchler in meinen Laden schickt, um ihn niederzubrennen - mit zu viel von allem gesegnet werden.« Cheyne lächelte niedergeschlagen, da er an seine Begegnungen mit der Schreefa und ihren Handlangem dachte. »Bist du völlig verrückt geworden?« Clarias goldene Augen funkelten unter den feuchten Lidern. Og stand auf und ließ einen ständig wachsenden Haufen Dattelkerne zurück. »Ja, das bin ich«, schnaubte er. »Das war ich immer schon, wenn es um Riolla ging.« Er fand eine Aloe, brach ein Blatt ab, rieb sich den Saft auf die Blasen und zog die Sandalen wieder an. Claria schoß aus dem Wasser, wrang sich die Rökke aus und schüttelte ihre dunkle Mähne. Auf halber Höhe den Hang hinauf fand sie einen sonnenbeschienenen Felsen und setzte sich hin, um sich duftendes Öl auf die Haut zu reiben, während ihre Kleider in der Sonne zu dampfen begannen. Cheyne beobachtete sie und bewunderte, wie sich das Licht auf ihrer Haut brach und wie die bunten Papageienfedern ihre Haarfarbe besser zur Geltung brachten. Wie sich die Luft mit dem wunderbaren Duft nach Bergamotte und Myrrhe füllte, und wie 196
Claria immer wieder die Augen abtupfte, wobei sie das Gesicht von ihnen abwandte. Dann schaute er Og verwundert an. »Ich glaube, du solltest es uns besser erklären, Og.« Og ruckte. »Einverstanden.« Claria drehte sich um, da sie seine Erklärung hören wollte, und war bereit, ihn wieder anzufauchen, wenn sie nicht einleuchtend genug klang. »Nun, ich habe euch gesagt, daß ich ein Musikmagier war. Nun, einst diente Riolla in der Zitadelle...« Er hielt inne, als er Claria nach Luft ringen hörte. »Ja, Riolla wurde als Sklavin geboren; sie war nicht immer die reichste Frau des Mercantos. Jedenfalls wuchs sie als Gefährtin eines Fascinikindes auf, einer Tochter des Königs, und dieses Kind liebte sie so sehr, daß es schmollte und die ganze Familie bedrängte, wenn Riolla irgend etwas nicht mitmachen durfte. Als man mich zum Lehrer der Prinzessin bestimmte, um sie in Musik und Tanz zu unterrichten, erlaubte man Riolla, dabei zu sein. Als der alte König merkte, daß Riolla in diesen Künsten die Überlegene war, ließ er den Unterricht beenden. Jahre vergingen. Eines Tages, als sie erwachsen war, geriet die Prinzessin in Wut, als sie bemerkte, daß ihr Riolla den Geliebten vor der Nase weggeschnappt hatte. Riolla lief fort und suchte mein Haus auf, lud sich ein und bat mich, ihr mehr Magie beizubringen. Ich gestehe, daß ich mich auf der Stelle in sie verliebte. Sie war jung und schön - diese 197
herrlichen roten Haare, diese blauen Augen. Und sie konnte singen. Sie schien sich sehr für Musik zu interessieren, für die Art und Weise, wie man die richtige Lautstärke fand und sie regulierte, wie man die leisen Stellen herausarbeitete. Ich lehrte sie alles, was ich wußte, und dann brachte ich mich dazu, noch mehr zu lernen, um sie weiterzubringen. Jeden Tag liebte ich sie mehr und setzte sogar mein Leben aufs Spiel, sollte der König herausfinden, wo sie steckte. Ich wollte sie heiraten und ihr meinen Namen geben. Er ist alt und angesehen, wißt ihr, auch wenn ich nicht danach aussehen mag. Eines Morgens, als ich glaubte, ich hätte die richtigen Worte gefunden, die Worte, von denen ich annahm, sie würden mir ihre Liebe versichern, gab ich ihr den Ring. Es ist Brauch, einen Ring zu verschenken, wenn man einen Namen teilen will«, erklärte er Cheyne, während Claria unbewußt an dem Ring herumfingerte, der ihren eigenen Finger zierte. »Es handelte sich um meinen kostbarsten Besitz, und ich wollte ihr klarmachen, daß mir ihre Liebe noch mehr wert war und ich alles mit ihr teilen würde. Sie nahm den Ring, gab vor, geehrt zu sein, stimmte meinem Heiratswunsch zu und beteuerte, daß wir gemeinsam für alle Zeiten Zauber wirken würden. Ich war der glücklichste Mann unter der Sonne. Ich ging, um Bandro zu holen, der zu jener Zeit der Mercanto Schreef war, damit er uns vermählte.« »Nun, was geschah?« fragte Claria mit gerunzelter 198
Stirn, die sich nicht von Ogs romantischer Geschichte beeinflussen lassen wollte. Og starrte sie an, sein Gesicht erschien blaß und leer hinter der geröteten Nase. »Als ich zurückkehrte, war sie verschwunden. Alles, was sie besaß - und das meiste von dem, was ich besaß -, hatte sie mitgenommen.« »So also ist aus Riolla die Schreefa geworden!« sagte Claria mit eisiger Stimme. »Ich wußte, daß sie irgend etwas mit Magie zu tun hat. Sonst hätte sich Maceo nicht in sie verliebt.« »Oh, Maceo, ja. Nun, anfangs benutzte sie Zauberkünste. Sie konnte mit dem Ring ein wenig zaubern, aber es gelang ihr nie, die Macht der vier Steine zu beherrschen. Einmal brannte sie ihr Haus nieder und verwandelte einen armen Diener in eine weiße Küchenschabe, weil er ihr das falsche Getränk brachte. Aber zum Schluß brach sie die Steine ab und verteilte sie. Ich hörte zum ersten Mal auf der Straße davon. Sie hatte mit dem ersten Stein ihre Freiheit erkauft, aber sie stahl ihn keine drei Stunden später zurück. Die übrigen Steine verteilte sie, um politische Gunst und Vorrechte zu genießen. Auch die Beherrscher dieser Karawanenstraße bezahlte sie damit.« Cheyne unterbrach ihn. »Die Beherrscher dieser Karawanenstraße? Warum sollte sie das tun?« »Ach, es geht darum, daß die Anführer gewisser Stämme in Almaaz nur Riollas Karawanen ungehindert passieren lassen, denn sonst plündern sie, und schon bald hätte Riolla nichts mehr - so wie die vielen 199
Menschen, die sie aus dem Geschäft vertrieben hat. Dies ist, nein, es war der kürzeste Weg, um Ch'mina nach Sumifa zu bringen. Es wächst hier nicht, nur an Berghängen, und ist der Hauptbestandteil von Bappir. Seitdem der Fluß jedes Jahr sechs Monate lang austrocknet, lebt Sumifa davon. Der lange Weg ist so zeitraubend, daß die Ware verdirbt, bevor sie die Stadt erreicht. Riolla hat sich auf dem Markt breit gemacht. Sie kaufte es tonnenweise auf, ließ es zu einem Mehl verarbeiten, das sich unendlich lange hält, und lagerte es in jenen großen runden Gebäuden, die zwischen dem Mercanto und der Zitadelle liegen. So gelangten nur noch ihre Karawanen hierher, und so, liebe Claria, wurde sie reich. Wie gesagt, sie beherrscht nicht alle vier Steine; das kann nur ich«, endete er und verlor sich in den Erinnerungen an eine bessere Zeit, Cheyne sah weg, und sogar Clarias Ärger über Og hatte nachgelassen. »Der Stein an ihrer Kette - ist er ein Teil des Rings?« fragte Cheyne. »Ja. Die schwarze Perle von Nadrum, mit der sie sich ihre Freiheit erkaufte. Ihre Magie ist leichter zu benutzen als die der anderen Steine, solange kein genauer Ton benötigt wird. Auf sich allein gestellt, kann die perle fast alles, vom Heilen bis zum Töten, aber das hängt von dem Benutzer ab. Sie ist sehr wechselhaft, die Perle. Wird sie aber zusammen mit den restlichen Steinen benutzt, sorgt sie für die Baßtöne und die Lautstärke und regelt die Macht, die 200
ich für meine Sprüche benötige. Selbst wenn alle Steine des Rings wieder vereint würden, könnte sie Riolla wegen der dunklen, verwirrenden Klänge der Perle nicht nutzen. Sie rauben viel Kraft. Noch tagelang, nachdem man sie allein angewandt hat, hat man böse Träume und Schmerzen. Träume von Sümpfen und schmutzigen, ekelhaften Orten. Sehr unangenehm«, sagte Og und rümpfte die Nase. Eine Weile dachte Cheyne über Ogs Geschichte nach. Eines wußte er: Riollas Karawanenstraße war seit vielen Jahren geschlossen. Egal, wieviel Ch'mina sie in die Stadt gebracht und dort gelagert hatte, langsam mußte sich der Vorrat dem Ende zuneigen. Gedankenverloren zog Cheyne Stiefel und Tunika aus und ließ sich in das kühle Wasser gleiten. Obwohl Claria es gar nicht wollte, konnte sie nicht umhin zu bemerken, wie das Wasser und das Sonnenlicht auf dem muskulösen Körper spielten. »Og?« fragte Cheyne mit träumerischem Blick. »Ja?« »Og, wer hat die Steine?« Lächelnd dachte der kleine Mann nach. »Soviel ich weiß...« Er grinste breit. »Was?« fragte Cheyne energisch, da er plötzlich einen Verdacht hegte, weshalb Og diese Strecke gewählt hatte. Er strich sich das nasse blonde Haar aus seiner Stirn und schlug nach einer beharrlichen Stechmücke. »Nun, einst besaßen die Selkies einen Stein, der 201
früher Drufalden gehörte, und die Elfen - ja, die Elfen - sie haben den Feuerbann, den sie aber durch einen der ihren erhielten, der sich als Verräter erwies. Riolla machte ein Geschäft wegen des Ch'mina mit ihm, und er benutzte den Stein, um die Ernte zu vernichten, die anderen Händlern versprochen war. Ich glaube, er hieß Shalikre, aber er ist jetzt tot, und die Elfen wenden den Feuerbann nur an, um zu heilen. Und der Wyrvilherrscher hat einen, den Ajada.« Og grinste verlegen. »Wir könnten dorthin gehen, dann könntet ihr ihn mit eigenen Augen sehen. Der Herrscher, dessen Name Rotapan ist - auf orkisch heißt das ›Ein-Lippe‹, aber das dürft ihr nie, nie sagen - ließ daraus einen Stab anfertigen. Niemals verläßt er seinen Tempel, der übrigens ein Ort ist, den man wirklich gesehen haben muß. Er kann ein oder zwei Dinge mit dem Ajada tun, aber nichts wirklich Wichtiges. Nichts, was uns schaden kann. Oh, und ich habe gehört, daß er ihn sogar vor Schlangengift schützt.« Claria durchkämmte ihr Haar mit ihren Fingern, das in der heißen Sonne schnell trocknete. »Würde sich das Gift auch auf einen Orkspeer legen lassen können?« fragte sie ausdruckslos und mit einem Gesicht, das vor Angst starr und weiß war. »Ich weiß nicht«, antwortete Og. »Warum fragst du, Claria?« mischte sich Cheyne ein, der dann wütend unter Wasser tauchte, um einem Insekt zu entgehen. 202
Die Antwort verfehlte seinen Kopf und bohrte sich in den Stamm einer Dattelpalme, die auf der anderen Seite der Quelle stand, jagte die Papageien in wilder Flucht davon und ließ einen Dattelregen auf Ogs ungeschützten Kopf niedergehen. »Oh. Warum hast du das nicht gleich gesagt«, prustete Cheyne, als er wieder auftauchte.
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KAPITEL 8 »Das gehörte aber nicht zu unserer Abmachung, Og. Du solltest mich in den Wald von Sarrazan bringen, aber nicht unter eine Gruppe kriegerischer Orks. Außerdem solltest du Wache stehen. Was ist passiert?« murmelte Cheyne leise, während er an den Stricken zerrte. »Ich war traurig. Das ganze Gerede über Riolla. Jedesmal, wenn ich an sie denke, scheint alles noch einmal zu geschehen. Außerdem sind wir noch nicht tot, und er fühlt sich wohl nicht bedroht genug, um es nachzuholen. Der Anführer ist Yob, ein Wyrvilhäuptling. Er lebt nicht weit von hier. Die beiden, an deren Gürteln die Köpfe hängen, gehören zu Rotapan. Siehst du die Kerben in ihren Ohren? In den Ohren der Orks, nicht der Menschen. Rotapan beißt sie ihnen hinein, wenn sie in seinen Dienst treten. Yob trägt die vollständige Kampfkleidung; er ist viel zu aufgetakelt für einen gewöhnlichen Jagdausflug. Wahrscheinlich gehen sie alle zum Tempel ... vierteljährliche Zahlungen oder so etwas. Das könnte sich gut für uns entwickeln, wenn ich mich an ein paar Lieder erinnere. Dann bringen sie uns genau dorthin, wo wir hin müssen.« »Du meinst wohl, wohin du willst«, knurrte Cheyne, dessen großer Finger schon zum vierten Mal mit demselben Knoten kämpften. Og drehte Cheyne, so gut es ging, das Gesicht zu. 204
»Sieh mal, mein Freund, es sieht folgendermaßen aus: Rotapan hat den Ajada. Ich muß die Steine zurückhaben, sonst kannst auch du nicht an den Ort, an den du möchtest. Und zurückgehen kannst du auch nicht, denn - falls du dich erinnerst - nach deinem Kopf wird gefahndet. Bleib ruhig. Spare deine Kraft auf. Das Fesseln ist bloß eine Äußerlichkeit für Yob. Es beeindruckt die anderen und gibt ihm Gelegenheit zum Nachdenken, obwohl das den ganzen Tag dauern kann. Aber du sollst wissen, daß es mir sehr leid tut. Daß ich euch hintergangen habe, meine ich.« Og schwieg, von der langen Rede erschöpft. Es war mehr, als Claria aushalten konnte. »Oh, schon wieder entschuldigt sich ein Mann und denkt, damit wäre alles in Ordnung«, fauchte sie ihn an. »›Es tut mir so leid, Claria, daß ich dich in Schwierigkeiten gebracht habe.‹ ›Es tut mir so leid, Claria, daß ich nicht besser gewacht habe und verlangte, daß wir den gefährlichsten Weg gehen sollten.‹ ›Es tut mir so leid, Claria, aber es kann nicht sein. In all den wichtigen Dingen liegen wir zu weit auseinander.‹ He! Das ist meine Hand, die du jetzt anfaßt.« »Tut mir leid, tut mir leid«, murmelte Cheyne. Dann setzte er sich aufrecht hin, holte tief Luft und erwischte den hartnäckigen Knoten. »Das ist das letzte Mal, daß ich mich fürs Entschuldigen entschuldige. Claria, ich versuche nur, uns zu befreien. Die Unannehmlichkeit, daß ich dich berühre oder du mich, besteht nur vorübergehend, das versichere ich dir. 205
Jetzt halte bitte dieses Ende - gut. Danke.« Cheyne löste den Knoten mit einem festen Zerren. »Bleib still sitzen.« »Wir sind frei, und du willst, daß wir hier sitzen bleiben?« murrte sie. »Bitte. Ich will nicht an deinen beachtlichen kämpferischen Fähigkeiten zweifeln, aber denke daran: Sie sind zwölf und wir nur drei, und einer von uns ist lahm. Sie haben Speere und jetzt auch noch unsere Dolche. Soll Og mit ihnen sprechen. Spiel einfach mit. Außerdem ist jeder von ihnen doppelt so groß wie du, Claria. Wahrscheinlich hast du die Köpfe nicht gesehen, die an ihren Gürteln baumeln. Da kommen sie. Og, du kennst sie, also rede mit ihnen. Und sieh zu, daß wir am Leben bleiben, klar?« »Natürlich«, sagte Og und übte sich in seinem freundlichsten Tonfall. »Nimm dein Stichwort auf, wenn ich es dir gebe; mach etwas Aufsehenerregendes, wenn möglich.« Der Ork, den Cheyne für den Anführer hielt, schlenderte auf sie zu, blieb stehen und schnüffelte. »Og. Du warst lange fort. Meine Tochter weint jede Nacht um dich. Du bist der einzige Mensch, den sie nicht vergißt. Du hast nicht einmal ›Auf Wiedersehen‹ gesagt. Vielleicht vermißt du sie auch? Bist du deshalb zurück in meine Wüste gekommen?« Die breiten Zähne des Orks schlugen aufeinander, während er sprach, und zwei oder drei Fliegen flogen ihm in den Mund, wo sie sich sehr heimisch zu fühlen 206
schienen. Cheyne hatte keine Ahnung, ob er lächelte oder nicht. Claria, für die die Anspannung zu groß wurde, brach bei der Erwähnung einer liebeskranken Tochter in nervöses Gekicher aus und wandte den Kopf, um es zu ersticken und um dem Geruch des Orks auszuweichen, der genauso stank wie das Schlachthaus der Barca an einem geschäftigen Tag. »Womba geht es hoffentlich gut.« Og lächelte gewinnend. »Ich habe oft an sie gedacht. Um bei der Wahrheit zu bleiben, Yob, wir sind nur auf der Durchreise und werden dir die Ehre erweisen, uns zum Grenzgebiet zu begleiten.« Cheyne mußte zugeben, daß in der Stimme des kleinen Mannes eine gewisse Macht lag. Der Ork zerquetschte ihnen auch nicht die Köpfe, wie man es angesichts einer solchen Forderung erwartet hatte. Trotzdem fragte er sich, ob es so eine gute Idee gewesen war, Og reden zu lassen. Yob kratzte sich am Kopf und versuchte, Ogs Antwort einzuordnen und herauszufinden, welcher Vorteil für ihn dabei heraussprang und wer hier eigentlich das Sagen hatte, »Du bringst meinen Kopf immer zum Schmerzen, Og. Das hatte ich schon ganz vergessen. Jetzt mußt du für uns singen.« Die anderen Orks hoben die Speere und jubelten laut. »Sieht so aus, als gefiele ihnen der Gedanke, Og«, neckte ihn Claria. »Alle Ideen gefallen ihnen. Deshalb ist Yob der 207
Anführer. Er hat Ideen«, erwiderte Og mißmutig. »Ich schlage dir einen Handel vor, Yob. Ein Lied auf unsere Freilassung und unser Wohlbefinden. Und vielleicht hast du eine Flasche...« »Og!« warnte ihn Cheyne. »Später vielleicht. Aber ich werde jetzt gleich ein bißchen für dich zaubern.« Og warf Cheyne einen abfälligen Blick zu und begann leise zu summen. Eine sanfte, beinahe klanglose Melodie, die Cheyne unter die Haut ging und ihn unruhig machte. Auch Claria rutschte hin und her. Dann sprang Og auf, hüpfte zweimal aus dem Stand in Luft, hielt die Hände hoch und grinste breit. Yob wich zurück, als habe man ihn gestochen; seine gelben Augen waren weit aufgerissen. Bevor jemand etwas tun konnte, brach er in dröhnendes Gelächter aus, und die Zahn- und Knochenketten, die über seiner Brust baumelten, schwangen hin und her und spielten ihre eigene, seltsame Musik. »Gut gemacht, Og. Finde ich sehr gut. Ha!« Er beruhigte sich wieder. »Mach noch was.« Og pfiff ein wenig vor sich hin, drehte sich und sprang in die Höhe; die geschundenen Füße schienen vollständig vergessen zu sein. Er schlug Saltos und Purzelbäume, gab vor, zu fallen und fing sich im letzten Augenblick wieder. Er fand den Schädel, den Cheyne beiseite gerollt hatte, und ein paar Schienbeine, mit denen er jonglierte. Die Orks sanken lachend zu Boden und legten ihre Speere nieder. 208
»Was macht er denn jetzt?« fragte Claria, deren Arme schmerzten, da sie sie krampfhaft auf dem Rücken hielt. »Ich weiß nicht so genau«, antwortete Cheyne, der ebenso herzhaft lachte wie die Orks. »Aber er hat sie verzaubert. Er ist dabei ebenso gut wie du es während des Kampfes in der Stadt warst. Ich wollte es dir schon früher sagen: Danke für deine Hilfe. Wo hast du die alten Juma-Bewegungen gelernt?« »Was weißt denn du über die Juma?« fragte ihn Claria. »Nur das, was ich an der Universität gelernt habe«, erklärte Cheyne und fragte sich, was er jetzt wieder falsch gemacht hatte. »Dann müßtest du wissen, daß es heute keine Juma mehr gibt«, erwiderte sie eisig. Nach langem Schweigen versuchte es Cheyne mit einem anderen Thema. »Erzähle mir von Maceo.« »Maceo! Warum willst du das wissen?« zischte Claria wütend. »Ist er dein Geliebter? Bitte prüfe deine Stricke«, sagte Cheyne und beugte sich über sie, um Og nicht aus den Augen zu verlieren. »Wenn du es unbedingt wissen willst: Er war mein Verlobter. Aber jetzt nicht mehr. Da er bald zum König gekrönt wird, hat er einen Heiratsantrag Riollas angenommen. Er hat es mir erzählt, kurz bevor ihr in den Laden gekommen seid. Möge ihre Haut leuchten ... wenn sie Gift schluckt. Außerdem ist es mir völlig 209
gleichgültig, vielen Dank,« Claria tastete nach den abgestreiften Fesseln. Als sie nichts finden konnte, drehte sie sich um und traf mit der Nase gegen Cheynes Wange. »Autsch. Glaubst du etwa, daß er wirklich zaubern kann? Wieso denkst du überhaupt an Maceo?« flüsterte sie, während ihr Gesicht eng an Cheynes stoppeliger Haut gedrückt war. Cheyne lächelte und genoß das würzige Parfüm und die weiche Haut. »Ich dachte an ihn, weil ich wissen möchte, wer meine Feinde und wer meine Freunde sind. Hör nur.« Als seine Zuschauer völlig gebannt waren, stimmte Og ein Lied an. Zumindest schien es einmal ein Lied gewesen zu sein, dachte Cheyne enttäuscht. Solange Og nicht versuchte, klangvoll zu singen, klappte es ganz gut, aber seine Stimme war - wie jedes Instrument, das der gnadenlosen Wüstenluft und dem Wetter überlassen wurde oder im Raqa versank abgenutzt und brüchig geworden. Mit jeder Strophe und das Lied hatte zweiundzwanzig - entfernte sich Og immer mehr von der Melodie. Zum Schluß herrschte wenig Unterschied zwischen seiner Stimme und dem Krächzen der Baumfrösche im Tümpel. Cheyne biß die Zähne zusammen, und Claria hatte den Kopf zwischen ihre Knie gesteckt, um ihre Ohren zu bedecken. Die Orks klatschten heftig Beifall; einige hatten Tränen in den Augen. 210
Og verneigte sich tief und berührte mit der Nase den Boden. »Jetzt das Finale!« Er warf Cheyne einen schnellen Blick zu, der daraufhin rückte. »Ich werde die Fesseln meiner Gefährten vor euren Augen lösen. Eine wahrhaft große Zaubertat, da ihr sie selbst gebunden habt und die Stärke der Fesseln kennt.« Og warf den Kopf zurück und stieß einen wilden Schrei aus, der langsam versiegte. Cheyne nahm die Gelegenheit wahr, packte Claria und stellte sie mit einer großartigen, weit ausholenden Geste auf ihre Beine. Er wirbelte sie an der Hand herum, so daß ihr Haar wie eine glänzende, dunkle Flut um sie beide herumflog; die bunten Bänder tanzten durch die Luft. Den Orks gefiel das. Sie grölten und schlugen auf den Boden, spuckten einander an und klatschten Beifall. Cheyne setzte Claria wieder ab und fand, die Zeit wäre günstig für eine Flucht. Aber Og hielt noch immer den Ton an. Er griff sich an die Kehle, um das unhörbare Lied zu beenden, und Yob warf ihm vor Begeisterung Pilze zu, die auf seinen Schultern sprossen, während zwei der Krieger schon blau im Gesicht wurden, da sie vor Lachen nicht mehr Luft holen konnten. Und Womba erschien. Die Krieger von Yobs wilder Truppe stießen bei ihrem unerwarteten Auftauchen einen gemeinsamen Seufzer des Entzückens aus, aber Cheyne fühlte großes Mitleid mit Og, obwohl er ihn noch vor kurzem verachtet hatte. 211
Verwirrt und verschlafen schüttelte sich Womba und traute ihren kleinen gelben Augen nicht. Das breite Gesicht war mit Lehmflecken bedeckt, das struppige schwarze Haar fiel in unregelmäßigen, abgehackten Strähnen über die Augenbrauen. Sie gähnte laut und entblößte ein vollständiges Gebiß rotfleckiger Zähne, wobei ihre Unterlippe sich unter einem Reißzahn verfing. Das Gesicht wurde von spitzen Ohren, die am Rand durchstochen waren und in denen Zähne und Knochenstücke hingen, eingerahmt. Sie trug eine Tunika aus heller Ghomahaut, deren lederne Schuppen im grellen Tageslicht violett und orangefarben glänzten. »Womba!« krächzte Og entsetzt, der jetzt endlich den Ton losgelassen hatte. Yobs Tochter spitzte die Ohren beim Klang ihres Namens und erwachte vollständig. Instinktiv versuchten Cheyne und Claria, Og unter einen Busch zu schieben, aber Womba hatte ihn bereits gesehen. Sie brüllte triumphierend, rannte auf ihn zu, hob ihn hoch und drückte ihn in einer tödlichen Umklammerung an ihre schuppige Brust. »Stell ihn wieder hin!« rief Claria. Womba blinzelte schwach, bis sie die Herkunft der Stimme entdeckte. Dann wandte sie sich um, den immer noch um sich schlagenden Og in den Armen, dessen Erstickung fortschritt, und stapfte zu Claria hinüber. »Er gehört mir. Du kriegst ihn nicht. Es ist meiner«, schnaubte sie und deutete mit einem ihrer schmutzi212
gen Fingernägel auf das Mädchen, während sie sich Og unter den Arm klemmte. »Setz ihn hin, mein Dickerchen«, knurrte Yob und pflückte sich die welken Pilze von den Armen, deren Wuchs ihn nicht zu beeindrucken schien. »Ich glaube, daß ich ihnen versprochen habe, sie über das Erg zu führen, damit ich das Lied meines besten Kampfes hören konnte. Beinahe hatte ich die Worte über meinen Mut vergessen. Niemand singt besser als Og. Außerdem bringst du ihn um. Ich sagte dir doch, du sollst vorsichtig sein, sie sterben so leicht.« Enttäuscht lockerte Womba ihren Griff, und Og fiel bewußtlos vor ihre schuppigen, warzenbedeckten Füße. Cheyne sprang vor und richtete den kleinen Mann auf, der allmählich wieder zu sich kam. »Was ist geschehen?« sagte Og heiser. »Oh, ich glaube, das wirst du bald merken. Geht es dir besser?« fragte Cheyne, zupfte Og die orangenen Schuppen aus den Haaren und beobachtete die ruhelosen Orks. Sie hatten erneut ihre Speere ergriffen. Die Möglichkeit zur Flucht bestand nicht mehr. »Ich denke, wir werden euch zu Rotapan bringen, Og. Er ist klug genug, um deine Worte zu enträtseln. Wir brechen jetzt auf«, verkündete Yob und legte die knorrige Hand über das Gesicht seiner Tochter. Anscheinend hatte sie seine mahnenden Worte bereits wieder vergessen. Durch die gespreizten Finger ihres Vaters starrte sie Og sehnsüchtig an und begann zu jammern. 213
Entmutigt wandte sich Cheyne an Og. »Sieht so aus, als bekommst du das, was du wolltest, Og.« Og zuckte mit den Schultern und hielt die knochigen Hände in gespielter Unschuld hoch, was ihm aber nicht überzeugend gelang. »Bloß ein kleiner Umweg deiner Reise. Sie können uns sicher über das Erg bringen. Wird auch nicht lange dauern und kann uns im Endeffekt sogar Zeit einsparen. Was hätten wir auch sonst für eine Wahl?« Javins Mund fühlte sich wie Watte an. In der Dunkelheit suchte er sich einen Weg über das Erg; die Drei Schwestern erleuchteten seinen Pfad und führten ihn nach Westen. In Sumifa hatte er weder ein Pferd noch ein Dromedar kaufen können. Jedenfalls wollte man ihm keines verkaufen. In jedem Stall erhielt er die gleiche Antwort: »Heute haben wir nichts dabei.« Dann herrschte Schweigen, und die Stallburschen schlugen die Augen nieder. Es schien, als hätte man ihn erwartet. Die Ninniten waren natürlich vor ihm dagewesen. Weit vor ihm schützte Riolla ihre Augen vor dem hellen Licht des nahenden Morgens. Jahre waren seit ihrer Kindheit, seitdem sie sich dem vollen Tageslicht ausgesetzt hatte, vergangen. Die Fascini gingen nicht vor dem Spätnachmittag aus und nur, wenn sie vollständig bedeckt waren. Sumifas Edelleute waren sehr blaß, und Riolla verzog das Gesicht, als sie spürte, wie die Sonne durch den dünnen Baldachin der Sänfte drang. 214
Sie entrollte die Karte, um nach Besonderheiten und nach der Richtung zu sehen, aber bis sie zur Oase kamen, mußte sie darauf hoffen, daß die Sklaven den Weg fanden. Riolla rümpfte die Nase und warf einen Blick auf Saelin, der auf der anderen Seite der Sänfte vor sich hin döste. Er schnarchte leise und hielt das lange, gebogene Messer in der einen und das Schwert in der anderen Hand. Sie hatte den Meuchler in die Sänfte lassen müssen, als offensichtlich wurde, daß er nicht mit den drahtigen Neffianern Schritt halten konnte. Sie suchte den Horizont ab, um nach Og und seinen Freunden Ausschau zu halten, dann spähte sie nach hinten, um unwillkommene Verfolger zu entdekken. Sie sah Javin nicht. Und Javin sah die Neffianerin nicht. »Javin hat die Ruine verlassen, wahrscheinlich, um seinen Sohn zu suchen. Er ist verwundet und wird nicht lange durchhalten. Caelus Nin selbst hat uns eine vollkommene Glückssträhne gesandt, Raptor. Der Junge ist seinem Vater entflohen und reist in der Gesellschaft zweier Schatzjäger zum Grenzgebiet. Er wird die Uhr finden und sich dir geradezu anbieten, da er ohne Javins Schutz dasteht.« Die aufgeregte Stimme verstummte. »Du berichtest mir, daß es dir nicht gelungen ist, den letzten Magier des Zauberkreises zu töten«, flüsterte der Raptor. »Das gefällt mir nicht, Kifran. 215
Für so eine Nachlässigkeit habe ich dich nicht bezahlt. Ich versetzte Javin in einen Traumzustand und rief den Skorpion. War es zuviel verlangt, daß du bei ihm bleibst, bis er tot ist? Jetzt weiß er zuviel.« »Raptor, der Wasserträger kam, um die Krüge füllen, ehe ich sichergehen konnte, daß es vorbei ist. Ich mußte dann nach Hilfe rufen, sonst hätten sie mich auf der Stelle getötet. Der große Vorarbeiter kann gut mit dem Messer umgehen.« Kifran suchte nach Worten, fand aber keine mehr. Der Raptor winkte dem großen, vermummten Wächter an der Tür. »Natürlich. Das kann er.« Kifran, der glaubte, entlassen zu sein, verneigte sich tief und war dankbar, mit dem Leben davonzukommen. »Aber das können andere auch...« Kifran spürte nicht einmal, wie der Dolch des Wächters in seine Kehle drang und die Zunge an den Gaumen nagelte. »Du weißt, was zu tun ist, Naruq. Ich halte Wache«, flüsterte der Raptor. Der Mann nickte, zog den Dolch aus der Wunde und wischte ihn am Umhang des Körpers ab, der auf den Boden sackte. Der Meuchler legte die Klinge wieder in die Falte seines Umhangs und ging hinaus. Die Sonne erschien über den Dünen hinter ihm, als Javin das letzte Wasser aus dem Schlauch zu sich nahm. Er sah zu den Drei Schwestern auf, die am Osthimmel schon fast verblaßt waren und hoffte, daß 216
ihn seine Erinnerungen an die Karawanenstraße nicht trogen. Es waren seitdem zehn Jahre vergangen, aber früher hatte er die Strecke gut gekannt. Seine Hand schmerzte, und das Feuer des Skorpionstichs fuhr den ganzen Arm hinauf; die Fingerknöchel waren bis zur Unbeweglichkeit angeschwollen. Die ganze Nacht hatte der Wind stark geweht, aber wenigstens jetzt hatte er ihn im Rücken. Bald würde die Sonne hoch am Himmel stehen; er mußte sich beeilen, die Höhlen zu finden. Noch ein oder zwei Meilen, und er konnte die frische Quelle und den Schatten der Dattelpalmen genießen, um vor der schlimmsten Tageshitze geschützt zu sein. Fünfzig Schritt vor der Oase brach er zusammen. Der Neffianer holte ihn innerhalb weniger Sekunden ein und warf ihn sich über die breiten Schultern. Mit geübten Schritten begab er sich in den Schatten der Palmen. »Setzt mich hier ab. Vorsichtig!« Riolla verzog unwillig die Lippen, als die Sklaven die Sänfte auf den dicken Moosteppich nahe der kleinen Quelle niederließen. Sie trat auf den grünen Untergrund und lächelte erfreut. »Saelin, wach auf! Wir sind da. Die Männer müssen ausruhen. Und ich bin von dieser Reise so erschöpft, daß ich einen kühlen dunklen Platz finden muß, wo ich mich für den Rest des Tages hinlegen kann.« 217
Sie schritt zur Quelle hinüber und wartete darauf, daß die Neffianer ein Tuch auf dem Boden ausbreiteten. Als sie ihre Waschungen beendet hatte, war Saelin aufgewacht und stand gähnend und sich reckend neben der Sänfte. »Wunderbarste aller Frauen, du hast uns ins Paradies geführt«, sagte er heiser und starrte auf ein Bündel Datteln, das hoch oben an einer Palme hing. »Klettere hinauf, Sklave, und hole mir die Datteln. Ich warte.« Er winkte einem der Neffianer. Dieser verneigte sich, gehorchte aber nicht. »Er geht nur dahin, wohin ich ihn schicke, Saelin. Genau wie du. Und ich hasse Datteln«, sagte Riolla. Die Sklaven verteilten Bappir, Käse, einen Weinschlauch und ein paar Orangen. Riolla lud Saelin nicht ein, ihr Gesellschaft zu leisten. »Du kannst bei dem Felsen Wache halten.« »Natürlich, Schreefa«, antwortete Saelin untertänig und mit breitem Lächeln, aber sein linkes Augenlid zuckte vor Wut, und sein Magen knurrte laut. Er setzte sich an den Rand der Oase, schaute nach Westen und versuchte, sich zu entspannen. Aber er war so hungrig, daß er nicht einschlafen konnte. Statt dessen ging er auf dem flachen Felsen über der Quelle hin und her und dachte daran, wie er den jungen Ausgräber aus dem Weg schaffen konnte, der ihm schon einmal entkommen war. Zwei rotschwänzige Papageien tummelten sich in der Palme, die Saelin vorhin auserkoren hatte. Eifrig 218
vertilgten sie jede einzelne Frucht, während Saelin sie neidisch beobachtete. Er warf einen Stein nach ihnen, aber sie ließen sich nicht ungestraft beleidigen, und das Weibchen flatterte mit wild schlagenden Flügeln und drohendem Kreischen um seinen Kopf herum, während ihr Gefährte ihn mit Kot beschmutzte. Er wich einer weiteren Ladung aus, fiel gegen die Felswand und tastete blindlings nach etwas, was er nach dem wütenden Vogel hätte werfen können. Vorsichtig suchte er in einer kleinen Felsspalte, fand aber nichts. Nichts - außer Clarias kleiner Uhr. Die Papageien und seinen Hunger vergessend, kauerte sich Saelin neben den Felsen und zog das kleine Bündel heraus. Er nahm den Dolch, zerschnitt die festgeschnürten Leinenhüllen und hatte schon bald die kleine Musikuhr vor den staunenden Augen, die in der Wüstensonne funkelte. Vorsichtig befühlte Saelin die feinen Goldarbeiten der winzigen Zeiger, wickelte dann den Zeitmesser wieder ein und stopfte ihn in eine der tiefen Taschen seines Gewandes. Riolla würde einen hohen Preis für dieses kleine Schmuckstück zahlen. Aber er mußte es ihr zum richtigen Zeitpunkt verkaufen... Saelin zählte bereits seine Kohli, als er im kühlen Schatten der Felsen endlich einschlief. Das Kreischen der Papageien folgte ihm in seine Träume. Befriedigt beendete Riolla ihre Mahlzeit, da die 219
Nachwirkungen der schwarzen Perle verschwunden waren und wanderte zu den Höhlen hinüber. Sie war schon einmal entlang dieser Straße gereist, vor vielen Jahren, mit einer Karawane, aber noch nie hatte sie sich die Zeit genommen, die schützenden Felsen der Oase zu erkunden. Nicht, daß sie an Erkundigungen Spaß gehabt hätte, aber heute suchte sie nach einem dunklen Ort, frei von Hitze und Sonne, und die Felsgruppe über der Quelle schien dafür am besten geeignet zu sein. »Du da.« Sie winkte einem Sklaven, der sich gerade zum ersten Mal seit Stunden hingesetzt hatte. »Geh dort hinauf und schau dich um. Sieh nach, ob es hier sicher ist.« Sie deutete auf die Höhlen. Der Sklave stand auf, ein wenig steifbeinig, und versteckte den Schmerz und die Müdigkeit hinter einer sorgsam ausdruckslosen Maske. Er kletterte die Felsen empor bis zur ersten Öffnung. Ungeduldig wartete Riolla, die weder das niedergetretene Gras noch den zerbrochenen gelben Orkschädel bemerkte, der nur wenige Zoll von ihren Füßen entfernt lag. Der Sklave zwängte sich durch die schmale Öffnung und verschwand. Er hatte erwartet, von völliger Dunkelheit verschluckt zu werden, fand sich aber statt dessen in einer hell erleuchteten Höhle wieder. Durch eine andere Öffnung, die weiter oben lag, drang ein Sonnenstrahl und erhellte den Weg. Und ein paar frische Fußspuren. 220
Gespannt wischte er die zerrissenen, staubigen Spinnweben fort und schlich leise den engen, ausgetretenen Pfad entlang. Der Weg führte um eine Kurve, er schlich leise nach rechts und wagte kaum zu atmen. Ein paar graue Augen und eine Machete erwarteten ihn. »Doulos!« rief der Sklave überrascht, senkte aber sofort die Stimme. »Hast du mich erschreckt! Was tust du hier? Hat dich dein Herr fortgejagt? Wirst du gesucht? Ist er hinter dir her?« Der Neffianer ließ sich gegen die kühlen Steine sinken. »Sei leise, Ghazi. Ja, ich bin wieder fortgelaufen. Der Herr weiß es nicht. Vielleicht weiß er es inzwischen. Einer weniger zu füttern, jetzt wo das Mehl alle ist. Dies ist das letzte Mal, Ghazi, er hat geschworen, mich zu töten, wenn ich noch einmal weglaufe.« Doulos legte das Messer beiseite. »Aber diesmal suche ich nicht bloß nach meinem Bruder Rafek, diesmal gibt es noch einen anderen Grund. Sieh nur, was ich gefunden habe.« Doulos wies auf eine Ecke, wo ein Mann am Boden lag. »Wer ist das?« fragte Ghazi mit zusammengekniffenen Augen. »Einer der Ausgräber. Er hat Fieber. Ich folgte ihm aus der Stadt und nahm sein Messer an mich. Ghazi, er gehört zum Zauberkreis. Er ist der, von dem die Jumageschichten berichten.« Ungläubig schüttelte Ghazi den Kopf, beugte sich dann aber vor, um hinter das Ohr des Mannes zu 221
schauen, wo der kleine blaue Kreis eintätowiert war. Lange Zeit verharrte Ghazi voller Staunen, dann sagte er mit mitleidiger Stimme: »Du bildest dir das ein, was wir alle uns so sehr wünschen, mein Freund. Die Juma gibt es nicht mehr, Doulos. Der Traum verschwand mit ihnen. Wie fühlst du dich eigentlich? Hast du noch immer diese fruchtbaren Kopfschmerzen? Hast du immer noch Visionen?« Doulos seufzte und hielt die Hände hoch. »Du siehst das Zeichen und glaubst es nicht? Ich weiß, was die anderen immer über mich geredet haben, Ghazi. Aber hier hast du es vor dir; es ist keine Vision.« Ghazi wollte antworten, hielt aber inne, als er Riolla draußen rufen hörte, die eine Antwort erwartete. »Sie ruft. Ich glaube, wir jagen jemanden, aber ich weiß nicht, wen. Ein schäbiger Meuchler reist mit uns, und wir sind vier Träger. Weißt du, daß dieser Platz jetzt den Orks gehört? Vor kurzem ist eine größere Gruppe hier gewesen, sei vorsichtig. Bleibe versteckt. Ich habe dich nie gesehen. Geh heim, Doulos. Überlaß diesen armen Mann seinem Schicksal. Vielleicht tötet Maceo dich nicht. Sicherlich weiß er von deinen Schwierigkeiten und Schmerzen.« Lächelnd schüttelte Doulos den Kopf und erhob die Hand zum Abschiedsgruß. »Was hat sich der Prinz je um die Schmerzen eines anderen gekümmert? Vor allen um die eines Sklaven. Schwöre mir, daß du uns nicht an die Schreefa verrätst.« Ghazi nickte und erwiderte den Gruß, dann kroch er 222
aus der Höhle. »Verehrte Schreefa, die Höhlen sind staubig und voller Ungeziefer«, verkündete er mit ausdrucksloser Stimme. Im Innern der Höhle lächelte Doulos und schwor, das Kompliment eines Tages zu erwidern. Riolla verzog angewidert das Gesicht und ging zur Sänfte zurück, um sich unter den Baldachin zu legen. Als die Nacht hereinbrach, weckten die Neffianer Saelin und nahmen ihre Tragestellungen ein. Dann zogen sie nach Westen, dem steifen Wind und den Dünen entgegen. Als er sicher war, daß sie verschwunden waren, ging Doulos zum Höhleneingang und sah in den friedlichen Abend hinaus. Die Drei Schwestern standen bereits hoch am Himmel. Es war an der Zeit zu gehen. Doulos schlich zu Javin hinüber. Jetzt schienen die Sterne durch den Felsspalt, die für beinahe ebenso viel Licht sorgten wie die Sonne. Neben Javins gesunder Hand glitzerte etwas. Neugierig griff Doulos danach und hielt ein altes Buch in Händen. Vorsichtig öffnete er es, um Javin nicht aufzuwecken. Die alten Seiten, die blaß im Sternenlicht leuchteten, standen steil in die Höhe und wiegten sich unter seinem Atem. Als er den Buchstaben folgte, knitterten sie unter dem Druck des Fingers ein wenig. Er seufzte enttäuscht; die Worte waren zu verschwommen, als daß er sie hätte lesen können. Die Sprache war ihm unbekannt. In diesem Augenblick 223
bewegte sich Javin im Schlaf. Schnell schloß Doulos das Buch und legte es zurück, ohne zu bemerken, daß sich die letzte Seite, die so hauchdünn wie Luft war, löste und in die Dunkelheit der Höhle schwebte, wo sie in einer staubigen Ecke zu Boden fiel. »Wach auf, Muje.« Sanft schüttelte Doulos Javin an der gesunden Schulter und wartete, bis er sich aufsetzte, um das Wasser zu trinken, das er ihm reichte. »Wer bist du? Wo sind wir?« fragte Javin mit heiserer Stimme. Die Hand fühlte sich kühler an, der Schmerz war beinahe verschwunden. Neben ihm lag der Beweis, daß jemand den Stich erneut behandelt hatte. Er lächelte dem Mann zu - nach den kurzgeschnittenen Haaren und der dunklen Haut zu urteilen handelte es sich anscheinend um einen Sklaven - und nahm noch einen großen Schluck. »Ich danke dir. Du hast mir das Leben gerettet. Wie heißt du?« Der Neffianer erwiderte das Lächeln. »Man nennt mich Doulos.« »Doulos, ich bin Javin. Mein zweiter Name ist Argivian«, fügte er hinzu. Er zögerte. »Bist du ein Sklave?« Aus Gewohnheit senkte Doulos die Augen. »Ja, Muje. Ich bin geflohen. Bitte schick mich nicht zurück. Wenn ich zurückkehre, wird mein Herr mich töten.« »Ich würde dich nicht zurückbringen, Doulos. Sage mir - bist du mir aus der Stadt gefolgt oder hast du 224
meine Spur schon vorher aufgenommen?« Javin lächelte. »Ich habe dich und die Frau am Haus des Heilers beobachtet. Ich folgte dir von dort aus«, gestand Doulos. »Warum?« fragte Javin. Doulos sah ihn an und lachte verblüfft. »Aber Muje - du bist der wahre König von Sumifa und von ganz Almaaz.«
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KAPITEL 9 Gemeinsam mit ihren seltsamen Begleitern marschierte die Orkgruppe in den nächsten vier Tagen langsam über das Erg. Yob und seine Männer schienen von der Hitze völlig unbeeinträchtigt zu bleiben. Als Cheyne verlangte, daß sie im Schatten eines riesigen Felsens, der - laut Yob - bearbeitet worden war und Rotapan darstellte, rasten sollten, murrten sie, bis Og wieder Yobs Lied anstimmte. Die Menschen schliefen und aßen. Später verlangte Yob das Lied noch einmal, und Og fügte sich widerwillig. Ein paar Sterne lösten sich aus Rotapans majestätischen Brauen und fielen dröhnend auf einen Ork. Darüber dichtete Og eine neue Strophe, und die anderen klatschten heftig Beifall. Als das Lied zu Ende war, hatten sie bereits vergessen, wer getötet worden war. Schon bald brachen sie auf. Trotz seiner Abneigung konnte Cheyne nicht umhin, den Anführer der Orks zu bewundern. Mehrmals ließ Yob die Gruppe anhalten, schnüffelte, wies auf einen Sandhügel und befahl ihnen, um ihn herum zu gehen. »Was macht er?« fragte Cheyne Og, nachdem sie zum zweiten Mal einen Umweg von zwei oder drei Meilen gehen mußten. »Sandschlick. Treibsand. Irgendwie spürt er das. Wahrscheinlich riecht er es. Aus irgendwelchen Gründen merken es die Neffianer auch«, antwortete Og. »Anfangs scheint der Sandschlick völlig harmlos 226
zu sein, da eine dünne Kruste normalen Sandes darüber liegt. Aber nur ein Schritt genügt und du bist verloren. Der Legende nach sind schon ganze Karawanen untergegangen und fallen noch immer in den Grund des Schlicks.« Cheyne nickte und erinnerte sich daran, was Javin über die Sandstürme gesagt hatte. Er versuchte, sich an den Ort zu erinnern, aber ohne jegliche Landschaftsmerkmale schaffte er es nicht. Der Nachmittag ging vorüber, genau wie die vorhergehenden, heiß und einschläfernd ereignislos, bis sich die Sonne senkte und Cheyne überrascht feststellte, daß das Erg sich in eine bewachsene Landschaft verwandelt hatte. Claria hatte es Serrano genannt. Ein paar niedrige Bäume mit grauen Blättern, deren Stämme verdreht und vom Wind gebeugt aussahen, rahmten lange Strecken von Sägegras und Disteln ein. Das Gras war immer gelb und raschelte, da es trocken war, als sie hindurchschritten, aber die Disteln blühten leuchtend, und Tausende stachliger violetter Köpfe reckten sich stolz und steif dem Wind entgegen. Die Landschaft wirkte auf Cheyne noch feindlicher als die Wüste, die auf dem Erg eine endlose, klare Strecke bildete; das Serrano war mit Sandsporen, Dornenbüschen und rasiermesserscharfen Kakteen bedeckt. Es roch nach Salbei, Wacholder und Kerzenstab - den seltsam beißend riechenden Riesenbäumen, die aussahen, als ständen sie auf dem Kopf. Ihre nackten Äste reckten sich wie lange, gerade Wurzeln 227
zum Himmel, und an jeder Astspitze sproß ein Bündel roter, glänzender Blätter. Die Bäume waren von innen hohl und wurden seit Jahrhunderten von Reisenden als Notunterkunft und Schutz aufgesucht. Man roch einen Kerzenstabwald, noch ehe man ihn sah - es roch nach brennendem Pech und wilden Rosen, deren Duft vom Wind herübergetragen wurde. Und tatsächlich, nach ungefähr einer Meile erhob sich ein ganzer Wald wie ein Haufen schwarzer Hände, die sich vom felsigen Boden gen Himmel reckten und deren Fingerspitzen in Flammen standen. Hoch über den stark riechenden Bäumen jagten mehrere Horden gehörnter Kanistas über die Klippen. Ihre Augen glühten auch am Tage rot, und das unheimliche, gelächterähnliche Heulen wurde vom Wind durch das Tal getragen. Zweimal stießen sie auf Jagdbeute der Kanistas - die Körper hätten von Löwen stammen können, aber das war schwer zu sagen, da nichts mehr übrig war außer Knochen und Fliegen. Yobs Stellvertreter hatte keine Zeit verschwendet die Trophäen einzusammeln. Die Hitze schien drückender geworden zu sein, aber vielleicht lag das daran, daß sie kaum gerastet hatten, dachte Cheyne. »Was glaubst du, wer das war?« flüsterte Claria, während sie inmitten der Orks marschierten. Og hatte sich ein wenig erholt, sowohl von den Blasen als auch von Wombas Umarmung, insbesondere, seitdem Yob ihr die Hände auf den Rücken gefesselt hatte. »Was? Wer?« fragte er zurück und dachte noch 228
immer an die Knochen. »Sie. Die Köpfe an seinem Gürtel. Wer war das?« Sie schauderte und wies auf den großen Ork, der vor Og einherging. »Erkennst du sie nicht?« fragte Cheyne. »Sollte ich?« »Es sind zwei der Phantome, gegen die wir auf der Straße gekämpft haben. Schau hinter ihre Ohren. Siehst du die Tätowierungen? Genau wie bei dem, der nicht entkommen ist« Claria spähte angestrengt nach vorn, um die beiden Halbmonde zu entdecken, die auch der dritte Meuchler gehabt hatte. Als der große Ork beim Durchqueren eines Grabens stolperte, hielt er an, um sich aufzurichten und sie konnte sie deutlich erkennen. »Oh. Glaubst du, daß sie uns gefolgt sind?« »Wahrscheinlich. Ich nehme an, daß Yob uns lange, bevor wir ihn bemerkten, gesehen hat. Wenn er unsere Köpfe gewollt hätte, hätte er sie auch genommen. Der Speer war bloß die Visitenkarte. Og ist zum Glück sein Liebling - jedenfalls bei diesem Stamm.« Claria ging schweigend weiter, die Kapuze gegen den starken Wind über die Ohren gezogen und dachte an die Uhr, die, eingewickelt in die Leinentücher, in dem kleinen Felsspalt in der Oase versteckt lag. Sie hatte sie ungern zurückgelassen, wollte sie aber nicht den groben Orkhänden ausliefern. In dem dunklen, trockenen Versteck würde die Uhr gut verwahrt sein, bis sie zurückkehrte, um sie zu 229
holen. Gesenkten Hauptes ging sie weiter, achtete darauf, wohin sie die Füße setzte und wich Disteln und Treibsandflächen aus. Nach ein paar Meilen roch Cheyne salzige Luft, und als er aufsah, segelte eine Möwe über ihren Köpfen. »Sieht so aus, als seien wir nicht mehr weit von der Südsee entfernt.« Claria schüttelte den Kopf. »Ich glaube kaum. Yob führt uns die ganze Zeit nach Westen. Vor ewiger Zeit war dieses Gebiet unter Wasser. Als das Land auftauchte, ließ die Flut am Rande des Wyrvilgebietes ein kleines Binnenmeer zurück. Man nennt es den Silbersee.« »Ich erinnere mich, schon hier gewesen zu sein. Es gab da eine lange Brücke.« »Du bist diesen Weg schon gegangen?« fragte Claria verblüfft. »Nicht wirklich, und es war vor langer Zeit. Wir kamen aus der anderen Richtung. Wir hatten es eilig, und es ist so lange her, daß es mir kaum bekannt vorkommt.« Er hielt inne und dachte nach. »Ich befand mich bei der verlorenen Karawane.« »Du? Ich dachte, niemand hätte überlebt. Die Fascini schlossen die Straße und erklärten, daß alle Reisenden getötet worden waren. Danach gab es in Sumifa unzählige, seltsame Gerüchte, gleich nach der Großen Säuberung.« »Große Säuberung?« »Es geschah, als der letzte Fascinikönig fand, die 230
Juma sei zu mächtig. Der alte König war Maceos Vater. Er ist tot, aber als er glaubte, die Juma wollten die Stadt beherrschen, ließ er alle ermorden. Denke dir, der alte Mann fürchtete sich vor einer Horde Frauen, die in den Höhlen über der Oase lebten.« »Ich dachte, die Juma wären ein Kriegerinnenorden. Vielleicht hatte er Grund, sie zu fürchten«, meinte Cheyne und erinnerte sich an ein paar Bewegungen Clarias, als sie in der Stadt gekämpft hatte. »Das waren sie - vor tausend Jahren. Und sie wären es immer noch. In der Beherrschung des Nahkampfes konnte es ihnen nie jemand gleichtun. Aber sie waren nie genug, um eine Rebellion anzuzetteln - sie dachten, ihr Hauptziel sei es, den Weg nur den wahren König Sumifas zu bereiten. Der alte König fürchtete sich davor. Sie zogen große Menschenmengen an und redeten mit ihnen über die alten Zeiten, als die Neffianer - die heurigen Sklaven - noch an der Macht waren. Sie redeten davon, wie es sein würde, wenn der eine aus einem fernem Land kommen würde, der ein besonderes Zeichen trüge, und der würde sie befreien und dem Land den ursprünglichen Wohlstand zurückbringen. Natürlich würden vorher schreckliche Dinge geschehen: Der Dschinn würde erwachen, Hungersnöte würden hereinbrechen und so weiter. Nun, in der Barca gab es schon immer hungernde Leute und genügend Sklaven, um den Fascini ernsthaften Ärger zu bereiten. Viele von ihnen glaubten, was die Juma erzählten: Daß es an der Zeit für einen 231
Wechsel war und der neue König auf dem Weg sei. Daher sandte der alte König bei einem Wutausbruch seine Schergen, Büttel und Meuchler, von denen Riolla einige stellte, aus und vernichtete die Juma. Er glaubte, die Gerüchte und Erzählungen würden dadurch versiegen.« Cheyne lachte. »Versiegten sie?« »Nein. Der Samen der Revolution war bereits gesät. Aber ohne die Juma gab es niemanden, der das Oberkommando hätte übernehmen können. Vielleicht ist dir die gespannte Stimmung zwischen den Fascini und der Barca aufgefallen.« Sie lachte und wechselte plötzlich das Thema. »Aber du hast vorhin die verlorene Karawane erwähnt...« »Nun, ich erinnere mich nicht sehr gut. Eigentlich erinnere ich mich an gar nichts, was vor dem Angriff war«, erklärte Cheyne traurig. »Solltest du dich denn erinnern?« »Natürlich. Wenn ich es nur könnte.« Schweigend ging er weiter, dann fuhr er fort. »Alle außer mir starben. Anscheinend nahmen die Orks die Leichen mit. Javin fand mich in einem Versteck und nahm mich mit. Das ist das erste, an das ich mich erinnere. Als sich die Fascini um ihre Waren sorgten, fanden sie nicht einmal mehr Knochen. Da wir gerade davon reden - sieh nach oben.« Er zupfte sie sanft am Umhang. Die Orks waren stehengeblieben, und Yob gab Anweisungen, daß zwei von ihnen die Späher in seinem Namen anrufen sollten. 232
Bei Cheynes Warnung warf Claria die Kapuze zurück und blieb stehen. Zwei oder drei Fuß vor ihnen fiel das flache Buschland, das sie bisher durchquert hatte, ganz plötzlich steil ab. Ein paar hundert Fuß in der Tiefe lag eine eigentümlich gebaute, befestigte Siedlung. Hinter dem Mittelpunkt dieser Festung, einem großen weißen Tempel, glitzerte ein langgestrecktes Gewässer: der Silbersee. Sogar aus dieser Entfernung und Höhe konnte Claria erkennen, woraus der Tempel bestand - aus Knochen. »Der Wyrviltempel. Mein Onkel hat mir davon erzählt. In seiner Jugend ist er viel gereist und hat nach Artefakten gesucht. Er kam einmal hierher und prahlte damit, daß er der einzige Mensch sei, der jemals den Tempel Rotapans erblickt hätte und es überlebte, um davon erzählen zu können.« »Dann wirst du seine Geschichte noch besser darstellen. Sieht so aus, als gingen wir hinein«, sagte Cheyne. Yob winkte den Wachen, die am Tempeltor standen, zu und gab Og ein Zeichen, die anderen den beinahe unsichtbaren steilen Pfad hinabzugeleiten, der in die Felsen gehauen war. Erstaunt legte Riolla ihr Fernglas beiseite. Unruhig trommelten die langen roten Fingernägel darauf herum, während sie Pläne schmiedete. Og hatte sehr viel Mut, das mußte sie zugeben. Entweder das, oder der Ork brachte sie als Geschenke mit, um Rotapans 233
Umbauarbeiten zu unterstützen. Sie hatte gehört, er habe mit dem fünfundzwanzigsten Stockwerk jenes schrecklichen, schwankenden Knochenhaufens begonnen. Wer hätte gedacht, daß es in Almaaz so viele Skelette gab? Außer vielleicht in den Schränken des Raptors, dachte sie beunruhigt. Javin starrte Doulos an, bis er blinzeln mußte. »Was sagtest du, mein Freund?« Er suchte in seinem Bündel nach einer Kerze und einem Feuerstein, hielt die Flamme an den Docht und sah das angemalte Gesicht des Neffianers zum ersten Mal. Doulos nickte nachdrücklich und bestätigte seine Worte. »Ich folgte dir, weil du der wahre König Sumifas bist. Ich weiß, daß du verkleidet reist, denn sonst würde man dich töten. Sieh dich um.« Er nahm die Kerze und hielt sie hoch, so daß Javin die Bilder sehen konnte, die in die Höhlenwände geritzt worden waren. Sie trugen alle Farben des Regenbogens und spannten sich von einer Wand zur anderen. Ein paar der Zeichen kannte Javin - er hatte sie auf den Jumaschriftrollen an der Universität gesehen. »Schau her, da stehen die Prophezeiungen der ersten Juma, die mit kostbaren Juwelen unterlegt wurden, damit wir sie nicht vergessen.« Doulos las die Glyphen, und seine Stimme schwoll bei der Bedeutsamkeit der Worte an. »Es wird aus weiter Ferne einer kommen, der zum Zauberkreis 234
gehört und das kostbare Buch mit sich bringt, und er wird der neue König Sumifas sein. Seine Augen werden wie der Morgenhimmel sein, und er trägt Feuer in seinen Händen. Er wird den Dschinn vernichten und Frieden nach Almaaz bringen...« Javin wartete, bis er zu Ende gesprochen hatte. »Du kannst lesen? Ist es den Neffianern nicht verboten, lesen zu können?« »Muje, wir alle können diese Sprache lesen. Es ist unsere eigene. Wir halfen, sie zu entwickeln, vor vielen hundert Jahren.« »Woher stammen deine Leute, Doulos? Warum seid ihr die Sklaven der Fascini?« erkundigte sich Javin. »Wir lebten immer schon hier, Muje. Wir sind die, deren Blut vermischt ist - zum Teil sind wir Fascini, zum Teil gewöhnliche Sumifaner. Ich werde dir die Geschichte erzählen. Vor langer Zeit, bevor die Wüste die alte Stadt verschluckte, gab es einen bösen Prinzen, der Caelus Nin verehrte. Er verwandelte sich in Wind und brachte Vernichtung. Er war ein Zauberer, und als er gegen einen anderen Zauberer, ein Mitglied des Zauberkreises, kämpfte, tötete er den Mann und brachte die Wüste dazu, sich über seiner eigenen Stadt auszubreiten. Man sagt, daß ihm niemand außer einem Mitglied seiner Familie etwas anhaben kann. Daher versuchte er, seine Sippe auszurotten, damit niemand in der Lage war, seine Macht zu brechen. Er tötete seinen 235
erstgeborenen Sohn, als dieser noch ein Kind war. Die Amme des Knaben fand ihn in der Wüste, und es sah aus, als wäre er ein Opfer des Durstes und der Geier geworden. Aber die alte Amme wußte, daß es der Zauberer gewesen war, denn sie hatte ihn einmal beobachtet, wie er sich an die Kinder mit seiner Habichtkralle heranschlich. Um das andere Kind zu retten, erzählte sie in der ganzen Stadt daß auch der jüngere Sohn getötet worden und in Treibsand gefallen war. Das war zur Zeit der Wanderung, ehe wir lernten, das Gesicht der Wüste zu lesen, und viele Dinge dieser Art geschahen. Aber sie versteckte den jüngeren Sohn in diesen Höhlen hier - man kannte sie damals unter dem Namen ›Die Höhlen von Neffia‹, nach der kleinen Quelle, die unter uns liegt. Als der Junge älter wurde, lehrten ihn die Juma viele Dinge; die magische Bewandtnis, die es mit dem Zauberkreis auf sich hatte, dessen Mitglieder teilweise noch am Leben waren, sie belehrten ihn über die alte Stadt und über seinen Vater. Danach glaubte er nicht länger an Caelus Nin und haßte den Gott seines bösen Vaters. Statt dessen schloß er sich dem Glauben der Juma an, die gemäß den Gesetzen des Zauberkreises lebten, da sie an den Frieden glaubten und versuchten, das Land vor dem Schaden zu schützen, den zwei sich bekämpfende Brüder anrichteten. Er war ein großer Kämpfer, aber er ging als einfacher Hirte getarnt von hier fort und heiratete eine sumifanische Sklavin. Seine Familie lebte in Frieden 236
und genoß jahrelang die Freiheit außerhalb der Stadtmauern. Sie hüteten Schafe und lebten in Zelten. Sie suchten die Überlebenden des Zauberkreises und schützten sie, so gut sie konnten, denn der Dschinn hatte geschworen, alle zu töten. Aus ihnen gingen die Neffianer hervor, ein großes, aber friedliches Volk. Es verging genügend Zeit, bis der böse Prinz, der seine menschliche Gestalt verloren hatte, sicher war, daß niemand aus seiner Familie überlebt hatte, um ihn zu stürzen. Ganz Sumifa glaubte es auch. Die Menschen hatten niemanden mehr, dem sie folgen und auf den sie hoffen konnten. Dann kam nach dem großen Krieg die Zeit der Ergräuber. Sumifa benötigte einen Herrscher und befestigte seine Mauern. Also setzte der böse Zauberer einen anderen an die Stelle seines Sohnes; einen, der seinen Befehlen gehorchte und erklärte, er sei König von Sumifa. Dieser Herrscher erbaute die großen Mauern und fürchtete sich, als die Hirten erklärten, sie würden keinen Tribut an Nin zahlen, denn der böse Prinz verlangte viele Kohli von dem neuen König, sonst würde er ihn töten und ersetzen. Also zog der neue König in die Wüste, nahm die Hirten nach schweren Kämpfen gefangen, raubte ihnen ihren Besitz und erklärte sie zu Sklaven. Er ließ uns die Steine hauen, die Straßen befestigen und die Mauern zu Ende bauen, die zu unserem Gefängnis wurden, erbaut mit unserem Geld, Schweiß und Blut. Jener König war der Vorfahr der heurigen Fascini. Ich 237
denke, daß wir Sklaven sind, weil wir damals den Kampf verloren. Mein Vater wurde als Sklave geboren wie sein Vater vor ihm und viele andere vor ihnen auch - es reicht tausend Jahre zurück. Manchmal waren unsere Herren gut zu uns, meistens aber nicht. Wenn wir fortliefen, benutzten wir diesen Ort als Versteck, und als die Juma noch lebten, halfen sie uns so gut sie konnten und versteckten uns für ein paar Nächte, bis eine Karawane eintraf, die die Flüchtlinge in die Berge brachte. Ich war schon einmal hier, als ich noch sehr jung war. Mein Bruder Rafek und ich waren fortgelaufen. Unser Herr war der alte König, und er schickte uns bewaffnete Wachen hinterher. Rafek war mit einer Karawane gereist, aber sie hatten keinen Platz mehr für mich. Ich ging zurück, um den Juma keinen Ärger zu bereiten. Sieh nur, hier ist mein kindlicher Handabdruck. Und der von Rafek.« Er wies auf zwei kleine Abdrücke am Boden. »Und dort stehen die Namen derer, die hierher kamen. Die Namen deines Volkes, Muje.« Er zeigte mit seiner Hand zur Decke. Javin erwartete, die Namen auf neffianisch zu lesen, aber er war kaum in der Lage, die seltsamen Zeichen zu erkennen. Als Doulos aber die Flamme hochhielt, sah er Hunderte und aberhunderte Handabdrücke, die mit rotem Ocker und Holzkohle umrahmt waren, als habe man die Handflächen hastig gegen 238
den Felsen gedrückt. Es war keine Zeit, den Namen zu schnitzen, und die farbige Erde darüber zu schütten, wodurch der Abdruck zurückblieb, wenn die Hand entfernt wurde. Wie eine wortlose Unterschrift. Die Abdrücke sahen wie die Flügel tausend fliehender Vögel aus, einer neben dem anderen. Sie zogen sich über die ganze Decke; lange, knorrige Finger alter Männer und Frauen neben den kleinen Abdrücken der Kinder und den verschlungenen Händen der Liebespaare. Javin hatte in den berühmtesten Ruinen der Welt gegraben, hatte mit eigenen Augen die unglaublichen Juwelenmosaike von Karjzia gesehen und die goldgerahmten, handgemalten Porträts in den Katakomben von Tralinga, und sie hatten ihn nicht sonderlich berührt. Aber hier in dieser dunklen Höhle, die nur von einer kleinen Kerze erleuchtet war, überwältigten ihn die hoffnungsvoll und hastig gemachten Handabdrücke der entlaufenen Sklaven. »Was ist mit ihnen geschehen, Doulos? Haben sie die Freiheit erlangt?« Doulos schüttelte den Kopf. »Einige, wie Rafek, reisten mit den Karawanen, wenn die Händler hierher kamen, um Wasser aufzufüllen. Wir hörten nie wieder von ihnen, wissen aber, daß sie leben. Das müssen sie einfach. Unser Volk - dein Volk, Muje - besteht aus starken Kriegern, die überleben können, wenn es nur eine Möglichkeit gibt. Vielleicht siedelten sie außerhalb von Almaaz. Wenn sie zahlreich sind und sehr mächtig, dann kommen sie uns zu Hilfe. 239
Aber die meisten, die entlaufen sind, wurden in die Stadt zurückgebracht. Ihre Gräber liegen in der Wüste, vor den Stadtmauern, ohne gekennzeichnet zu sein. Hier ist ihr Abdruck verblieben und sie werden uns immer unvergeßlich sein.« Doulos gab ihm die Kerze zurück. Javin schwieg eine Weile und bedachte die Frage, die sich ihm gestellt hatte. »Doulos, du hast den Dschinn erwähnt. Wirst du mir die Glyphe für das Wort zeigen?« Javin hatte mitangehört, wie Muni diesen Ausdruck gegenüber den Arbeitern gebraucht hatte. »Ja, der Dschinn - der böse Wind, weißt du.« Doulos deutete auf die Zeichnung zweier Kreise, von denen der eine gebrochen war. »Hier wird er ›Dueco‹ genannt, der doppelte Geist. Nicht nur das geteilte Ding, sondern etwas, das Teilungen bewirkt. Es ist ein altes Wort, ein gehaßtes Wort. In der Jumaschrift steht es immer für den bösen Prinzen.« Javin lauschte, als Doulos weiterlas, und als der Sklave zu Ende gesprochen hatte, sprach er mit sanfter und leiser Stimme: »Doulos, du bist mir wegen dieser Geschichten hierher gefolgt? Du hast dein Leben wegen dieser Zeichen an der Wand aufs Spiel gesetzt?« Doulos hob den Kopf und sah Javin in die Augen. »Ja, mein König. Und ich werde dich begleiten, wohin du auch gehst. Ich werde dein Beschützer und dein Diener sein. Seit meiner Kindheit habe ich geglaubt, daß ich dir eines Tages begegnen würde.« 240
»Doulos, bitte versteh mich ... ich kann nicht dieser König sein. Ich bin nur ein Ausgräber und suche meinen Sohn, der unser Lager verließ, um in das Grenzgebiet zu reisen. Er wird von jemandem verfolgt, der ihn töten will. Dahin geht meine Reise: in die Gefahr und die Ungewißheit. Fort von Sumifa, zum entferntesten Ende von Almaaz, nicht zum Thron der Zitadelle. Ich bin nur ein einzelner Mann. Ich kann niemanden von den Fascini befreien. Ich hoffe bloß, daß ich meinen Sohn finde, bevor er ermordet wird.« »Muje, ich habe gesprochen. Mein Wort gilt. Bei meinem Namen.« Doulos hielt seinen Mund, hielt die rechte Handfläche in das Kerzenlicht nahm ein wenig Ocker vom Boden der Höhle in die linke Hand und legte die rechte auf eine leere Stelle an der gegenüberliegenden Wand. Vorsichtig blies er auf das Puder und zog die Hand weg. Er hinterließ einen deutlichen Umriß auf der glatten Höhlenwand. Er winkte Javin zu. »Ich möchte dich bitten, Muje, dein Zeichen zu hinterlassen, damit es für Freiheit stehen möge, und als Zeugnis meines Eides.« Javin konnte dem Mann, der sein Leben gerettet hatte, diese Bitte nicht abschlagen. Er erhob sich und legte die gesunde Hand neben den Abdruck, den Doulos hinterlassen hatte und ließ den Neffianer gewähren. Dann trat er zurück und betrachtete seinen Abdruck. Javin lächelte. Der Umriß der Hand war das genaue Abbild von Cheynes Hand. 241
KAPITEL 10 Yob ließ die Gruppe vor den Toren des Knochentempels anhalten, grüßte Rotapans Wachen, richtete den Speer nach ihnen und erinnerte sie erneut an seinen Namen. Dann wartete er, bis sie die schweren Tore öffneten. Im Geiste zeichnete Cheyne das riesige Gebäude und dachte, daß er es eines Tages, wenn er überlebte, für Javin zeichnen würde. Sie betraten einen trockenen, staubigen Hof, wo ein paar Steinhütten wahllos errichtet worden waren, und etliche zerlumpte Schwadronen Orks mit Haken und Ketten übten. Ein oder zwei Körper lagen an der Seite; Verletzte der täglichen Übungen. Yob entließ seine Leute und ging zu Og, der sich in Wombas beeindruckendem Schatten versteckte. Cheyne und Claria hielten sich im Hintergrund, denn wann immer Claria näher kam, fletschte Womba ihre großen Zähne und brüllte vor Eifersucht. »Wir werden jetzt zu Rotapan gehen«, sagte Yob gähnend. »Womba, geh zum westlichen Späher und warte auf mich. Sage der Waffenmeisterin, daß ich sie aufsuche, sobald ich Meldung gemacht habe.« Yobs Tochter stöhnte und große Tränen bildeten sich in ihren Augenwinkeln. Yob sah sie drohend an, fuchtelte mit dem Speer, und sie ging schmollend davon, Claria böse anfauchend, bis sie hinter einer Ecke des Tempels verschwand. Erleichtert, weil seine Möchtegern-Geliebte ver242
schwunden war, gesellte sich Og zu Cheyne und Claria, als sie die sechzig marmornen Treppenstufen erklommen, die zum Haupteingang des Tempels führten. Seltsamerweise schienen die Stufen unter ihren Tritten zu erbeben, und ein herzzerreißendes Heulen ertönte tief unter dem Gebäude. Og legte eine Hand über das Herz, bis die Töne erstarben. Claria zitterte, konnte sich aber keinen Reim auf die Geräusche machen. Cheyne ergriff sie am Arm, und sie gingen weiter. »Das wird jetzt schwierig. Rotapan kann etwas, äh, kompliziert sein«, erklärte Og, »Auf den ersten Blick wirkt er nicht besonders eindrucksvoll, er ist aber ein todbringender Kämpfer und macht seine fehlende Größe durch Kampfkraft wett. Niemand kann ihn besiegen. Dadurch wurde er zum Obersten Herrscher. Aber geratet nicht in Furcht, wenn wir oben ankommen. Ich kümmere mich um alles. Und paßt auf, wohin ihr die Füße setzt«, ermahnte er sie. Cheyne nickte und bemerkte, daß der Tempel nicht das erste Bauwerk an dieser Stelle war, sondern auf Ruinen stand, die wahrscheinlich so alt waren wie jene des ersten Sumifa, die er verlassen hatte. Die Knochengerüste riesiger Seeungeheuer waren zwischen geborstene Wände und hohe Marmorsäulen gemauert worden und dienten dem Gebäude als Hauptstützen. Viele der Fenster wurden von langen Stoßzähnen eingerahmt. Die Zierstreifen und Bogengänge waren mit den Schädeln der verschiedensten 243
Wesen geschmückt, die Cheyne nur zum Teil erkannte, viele hatte er jedoch nie zuvor gesehen. Jeder lag in einer Nische aus langen Knochen. Trotz Ogs Warnung schrie Claria beim letzten Schritt auf und deutete auf etwas in dem dunklen Haupteingang. Yob drehte sich um und lachte unsicher. »Das ist Schwester Krota. Rotapan hält sie hier draußen, weil sie so böse ist. Rotapan sagt, daß sie nicht zuschlägt, wenn sie jemanden mag. Aber ich glaube nicht, daß sie überhaupt irgend jemanden mag. Jedesmal, wenn ich hierher komme, um Tribut zu zahlen, beißt sie mich. Es dauert Tage, bis ich mich davon erhole.« Yob seufzte und deutete auf die größte Klapperschlange, die Cheyne je gesehen hatte. Sie war einen Fuß breit und lag eng zusammengerollt auf einem jungen Baum, der in einem riesigen Tontopf war. Krotas Zunge schnellte vor, sie schüttelte drohend ihre Klappern und warf den Kopf zurück, um zuzubeißen. Yob bereitete sich darauf vor, schloß die gelben Augen und biß die Zähne zusammen. Aber Og stellte sich vor Claria und pfiff einen leisen Ton, den er allmählich steigerte, während Claria, Cheyne und Yob sich eng an die Wand drückten und sich vorsichtig um die Schlange herumschlichen. Og atmete auf und hüpfte auf die andere Seite der Tempeltür. Die Schlange streckte sich aus; ihre Fänge blieben entblößt und bißbereit; sie richtete ihr gelangweiltes Auge auf Og. 244
»So bleibt sie, bis ich sie wecke«, versicherte Og. »Glaube ich.« Claria, die ihre Beherrschung wiederfand, als sie eine Art Vorraum betraten, blickte über die Schulter zu der Schlange zurück und zupfte Og am Ärmel. »Warum nennt er sie ›Schwester‹?« Og lächelte. »Weil sie Rotapans Prophetin ist. Eines Tages gerieten sie in Streit, und aus Versehen, wie er behauptet, verzauberte er sie mit dem Ajada. Dann konnte er den Zauber nicht mehr lösen, aber ich vermute, er hat es auch nicht besonders oft versucht. Nun hält er sie da draußen, weil er sie nicht beherrschen kann wie die anderen. Sie versucht, alle umzubringen, die vorbeigehen. Kann man ihr nicht verdenken«, antwortete er. Yob blieb stehen und lachte verlegen. »Die anderen?« fragte Cheyne mit erhobenen Augenbrauen. Og zuckte mit den Schultern, als sich Yob einmischte. »Er ist da drüben. Ich gehe vor euch zu ihm und erstatte Meldung.« Cheyne wartete darauf, daß sich seine Augen an das Dämmerlicht im Tempel gewöhnten. Ringsumher hörte er leise Bewegungen. Als er klar sehen konnte, wäre er lieber blind gewesen. Aus jeder Ecke, jeder Nische und hinter jeder Statue kamen Schlangen aller Farben, Größen und Längen hervor, wanden und schlängelten sich, zischten und rollten sich zusammen, fielen zu Boden und glitten darüber. Und jede 245
war giftig. »Bei den sieben Sternen und den Drei Schwestern!« Claria führte sämtliche Schutzzeichen aus, die sie kannte. ››Ich habe genug. Kein Schatz ist so etwas wert. Ich gehe zurück, um meine Erbschaft anzutreten. Ich nehme die Verluste hin und möchte euch beide und eure Freunde hier nie wieder sehen«, murmelte sie. »Warum möchtest du gehen, bevor wir uns kennengelernt haben, Frau? Ich glaube, ich muß das persönlich nehmen. Deine Einstellung wird den Gott Chelydrus ärgern«, ertönte eine heisere Stimme inmitten der Schlangen. Die Wände des Tempels ließen den Klang widerhallen, und er breitete sich im ganzen runden Innenraum aus. Etwas in dieser Stimme verursachte Cheyne eine schlimmere Gänsehaut als die Schlangen. Yob knallte die Hacken zusammen und verneigte sich tief. »Yob meldet sich bei Rotapan mit dem vierteljährlichen Tribut!« rief er. ››Sechs Dutzend Krieger vom Stamme Gloms, abgeschlachtet, vierzehn von Puffer. Fünf Dromedare, achthundert Kohli und zwei Köpfe von Riollas Spionen, im Kampf getötet. Drei Verluste. Aber die Knochen haben wir«, fügte er nach einer Pause hinzu, nachdem er alles an seinen Fingern und Zehen abgezählt hatte. Man entgegnete ihm mit Schweigen. Cheyne verlagerte sein Gewicht auf den Fuß, auf dem Claria nicht stand. Sie schien völlig unfähig, sich zu bewegen, da 246
der einzige Ort, an den sich die Schlangen nicht wagten, wenige Zoll rings um Cheynes Füße waren. »Og, sagst du? Og ist wieder da? Natürlich ist er das, sonst würdest du wegen der Schmerzen von Krotas Begrüßung stöhnen. Bring ihn her. Schick die Köpfe den Steinmetzen. Sie sollen sie mit dem Gesicht nach Westen stellen, damit die anderen Spione Riollas sie sehen können. Das war gute Arbeit, Yob, wenngleich du etwas spät dran bist. Nach dem Festmahl und dem großen Opfer mußt du mir erzählen, wie du das geschafft hast. Die Schreefa glaubt, sie braucht Rotapan nicht mehr. Sie schickt Spione aus ihrer sicheren Stadt um mich zu töten. Sie ehrt meinen Gott Chelydrus nicht mehr. Wir werden sehen, ob sie es möglich macht, daß die Karawanenstraße wieder geöffnet wird. Wie ich diese Frau verachte. Und dann hast du noch etwas, wie ich sehe«, grinste er. Yob atmete auf, da seine Meldung anscheinend gut aufgenommen worden war. »Ja, Oberster Herrscher. Ich war verwirrt und wollte dir die Entscheidung überlassen, was mit diesen Menschen und Og geschehen soll.« Vorsichtig schob er ein paar zwanzig Fuß lange Garnschlangen aus dem Weg und geleitete die Menschen zum Thron, der besser sichtbar wurde, nachdem Yob ganze Hände voller junger Buschmeister entfernt hatte. Cheyne sah gespannt zu. Rotapans Thron mußte zu dem ersten Gebäude gehören, denn viele Seemotive waren hineingeschnitzt worden. Der rote Marmor 247
blitzte und glänzte. Auf dem kurzen Weg zum Thron verwandelte sich Clarias Furcht vor den tödlichen Reptilien in Neugier. Keine der Schlangen schien irgendwie gefährlich zu sein. Ihre Bewegungen wirkten gemessen und faul. Sie wußte, daß einige von ihnen natürliche Feinde waren - warum respektierten sie einander? Wie konnte Yob sie einfach anfassen? Gerade, als sie fragen wollte, erhob sich Rotapan und stand lächelnd vor ihnen. Obwohl sie eine gewisse Ähnlichkeit feststellen konnte, entschied Claria auf der Stelle, daß die Statue in der Wüste von einem Künstler geformt worden war, dessen Schmeichelei beinahe an Betrug grenzte. Aber nun wußte sie wenigstens, woher Rotapan den Namen hatte. Er war nur vier Fuß groß und sah älter aus als der Felsen, in dem er verewigt worden war. Blaue Augen, die viel zu eng beieinander standen, spähten unter buschigen Brauen hervor, und graue Haare bedeckten das Kinn. Statt der vollen Wellen, die der Wüstenbildhauer geformt hatte, bedeckten blasse Strähnen den Kopf. Die Oberlippe wurde völlig von einem riesigen, silbrigen Schnurrbart verdeckt, wogegen die Unterlippe weit über das fliehende Kinn herausragte. Seine Züge und die Stimme waren ausgesprochen menschlich, obwohl die Hautfarbe und die klauenartigen Hände und Füße seine Orkherkunft verrieten. Oho, ein Halbork, dachte Claria. Das bedeutet, daß 248
er bestimmt viel klüger und viel gefährlicher ist. Rotapan entließ Yob mit einem Wink seines Stabes und beobachtete, wie sich der Ork vorsichtig einen Weg zur Tür bahnte, während sich die Leiber der Schlangen hinter ihm zu einer glänzenden Flut vereinten. Dann richtete der Herrscher den kalten Blick auf Claria. »Ich bin Rotapan, der Herrscher der zehn Stämme. Du wirst mir antworten, Frau. Warum beleidigst du mich, indem du eine Audienz zurückweist? Du sollst mich mit ›Oberster Herrscher‹ ansprechen«, sagte er, während die rechte Hand fortwährend über den Stab glitt. Claria hatte seine erste Frage bereits vergessen. Wie angewurzelt stand sie vor dem glänzenden roten Stein des Zepters, der geschickt als drittes Auge in den goldenen Kopf einer Viper eingefügt worden war, die mit entblößten Fängen auf der Spitze des Stabes thronte. Cheyne versetzte ihr einen sanften Stoß, und Claria riß sich zusammen. »Ich wollte nicht respektlos sein, Oberster Herrscher. Schlangen beunruhigen mich zutiefst. Ich mag sie nicht«, antwortete sie zögernd. Rotapan grinste hinterhältig und zeigte dabei seine beiden winzigen scharfen Zähne, die ihm noch verblieben waren. »Ich auch nicht, Frau. Aber wie heißt du, und wer ist dein hochgewachsener Gefährte? Irgendwie riecht ihr vertraut, wie eine Ratte, die ich einmal um den Tempel schleichen sah. Da wir von 249
Ratten sprechen - was wißt ihr von dem hochverehrten Mann, der euch begleitet?« endete er voller Ironie und wies auf Og, der auffallend still geblieben war, seitdem sie den Innenraum des Tempels betreten hatten. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem roten Stein des Zepters. Als sein Name erwähnt wurde, verneigte er sich vor Rotapan. »Vergib der Frau, Oberster Herrscher. Sie hat keine Ahnung«, verkündete er und verlieh seiner Stimme einen warmen, angenehmen Klang. Claria warf ihm einen tödlichen Blick zu, ließ ihn aber weiterreden. »Sie heißt Claria, und ihr Gefährte ist Cheyne, ein Ausgräber.« Cheyne blickte ebenso unsicher drein wie Claria. »Archäologe«, warf er ein. Og sprach weiter. »Wir möchten nur bis zum Grenzgebiet reisen. Wir hoffen, mit einem Schatz zurückzukehren, mit dem wir euch gern für das sichere Geleit bezahlen möchten.« Bei dem Wort Schatz verzog Rotapan die Nase wie ein trockenes Blatt, und er lachte schallend auf. »Du kommst mit zwei stinkenden Menschen in meinen Tempel, die nicht einmal einen zweiten Namen haben und erwartest, daß ich dir glaube, ihr wäret einem Schatz auf der Spur? Das kann nicht dein Ernst sein.« Er hustete vor Lachen, bis er sich vornüber beugen mußte und fast den Stab fallen ließ. Eine der Puffottern, die neben Cheynes Knöchel 250
lag, sprang mit böse aufgerissenem Maul auf Claria zu. Eilig packte Rotapan den Stab fester und klopfte damit auf die Marmorsrufe. Die Otter fiel völlig friedlich zu Boden und Claria hatte die Zähne zusammengebissen, um nicht zu schreien. »Aber vielleicht glaubst du, es sei dein Ernst«, fuhr der Herrscher fort. »Hm ... du hast mir schon früher Lügen erzählt, Og. Dein Kopf ist mir schon lange versprochen. Soll ich deine Knochen jetzt einsammeln oder darauf warten, daß du meinen Reichtum vermehrst? Außerdem ist es Zeit für ein weiteres Opfer.« Mißtrauisch beäugte er Cheyne. »Du bist ein Ausgräber? Du suchst nach verlorenen Schätzen und Dingen, die von der Zeit vergraben wurden und aus den ruhmreichen alten Zeiten stammen?« Cheyne nickte. »Du riechst komisch, Ausgräber. Ich frage dich, ob man dich nicht hierher geschickt hat, um mein Königreich auszugraben. Vielleicht hat Riolla dich geschickt? Bleib, wo du bist. Ich muß mein Kabinett befragen.« Behutsam bahnte er sich einen Weg durch ein Knäuel Boras und Geistkobras, deren weiße Schuppen den Glanz des roten Steines widerspiegelten. Dann schlug er mit dem Stab gegen einen großen hölzernen Schrank. »Also gut, Og, warum redet er von einem Opfer, und wann wird er uns gehen lassen? Wir müssen von hier verschwinden«, flüsterte Cheyne und fingerte an 251
seinem Amulett herum. »Das ist dein Ajada, nicht wahr?« Og nickte. »Ja. Er kann nicht gut damit umgehen. Der Ajada läßt meine Musik die Wahrheit sagen. Er benutzt ihn, um jede Schlange von nah und fern hierher zu locken. Interessant. Und Chelydrus, der grauenhaften Wasserschlange, die, wie er behauptet, in einem großen Kessel lebt, bringt er von Zeit zu Zeit ein Opfer dar, wenn etwas nicht besonders gut läuft. So wie jetzt. Da die Karawanenstraße geschlossen wurde, bekommt er kaum etwas von den Dingen, die die nördlichen Stämme entlang der längeren Straße nach Fallaji bringen. Man sagt, daß auch einer der Unterhäuptlinge dort oben recht mächtig wird. Oh, keine Angst. Niemand hat Chelydrus je gesehen, er ist ein Bild aus Rotapans Einbildung.« »Wie tröstlich. Og, was opfert er denn eigentlich?« fragte Claria mit blassem Gesicht. »Äh, nun, ich denke, da wird sich schon etwas finden, ehe wir darüber sprechen müssen. Behalte mich im Auge. Wenn er aufdringlich wird, müssen wir fliehen«, erklärte Og und arbeitete im stillen an einem Plan, wie er an den Ajada gelangen könnte. »Ruhe!« brüllte Rotapan. Der Halbork zog aus den Falten seines Gewandes einen schlüsselförmigen Knochen und schloß die Schranktüren auf, die er weit aufriß. Diesmal konnte Claria nicht noch mehr erschrekken. Als die drei Regalreihen voller Schrumpfköpfe 252
zu gähnen begannen und mit den Augenlidern blinzelten, grub sie nur die Fingernägel tief in Cheynes Arm. Er fragte sich, ob ein Schlangenbiß schlimmer wäre. »Seine Feinde«, flüsterte Og. »Er benutzt meinen Stein, um sie zu beleben und um ihm die Zukunft vorherzusagen. Der Stein sorgt auch hier für Wahrheit, daher erzählen sie ihm keine Lügen. Aber sie hassen ihn trotzdem. Er kann aber nichts an ihren bösen Worten ändern.« »Was bedeuten die beiden leeren Plätze?« murmelte Cheyne. »Der eine ist für den Flußkönig Wiggulf. Hast du ihn nicht gehört, als wir hereinkamen? Er singt die ganze Zeit über in dem Wasserverließ unter dem Tempel. Rotapan hätte ihn schon längst getötet, aber es macht ihm Spaß, Wiggulf durch die Gefangenschaft zu quälen, und er hat nicht wenig Angst vor den Selkies, obwohl die Orks sie auch schon gefressen haben...« »Orks essen alles, sogar andere Orks. Warum hat Rotapan Angst?« fragte Claria. »Nun ... vor einiger Zeit war Drufalden...« »Drufalden? Die hast du schon einmal erwähnt«, mischte sich Cheyne ein. »Sie ist die Königin des alten Landes und hat eine Festung aus Eis auf dem höchsten Berg des Gebirges, nahe des Grenzgebietes«, antwortete Claria. »Man nennt sie die letzte der Drei Schwestern. Vor langer Zeit, als noch alles unter dem Eis begraben lag, 253
reichte das Gebiet ihrer Vorfahren über ganz Almaaz. Das Tauwetter haben sie nie verwunden.« »Wie ich bereits sagte: Drufalden besitzt einen weiteren meiner Steine. Die Karawanenstraße führt durch ihr Land, daher mußte Riolla sie auch bezahlen. Leider ging die Eiskönigin ein wenig sorglos mit dem Saphir um. Sie verlor ihn, als sie in dem Fluß badete, der in den Strom der Selkies mündet. Der Stein wurde flugs von einem Fisch verschluckt und lag nach zwei Tagen zum Mittagessen auf dem Tisch Wiggulfs. Natürlich wußte er, was es für ein Stein ist - jene Furie hat ihn jahrelang benutzt, um seine stromaufwärts gelegenen Gewässer zu vereisen. Stück für Stück drang sie in sein Reich vor, drängte seine Stämme zurück und hungerte sie aus, um die Herrschaft über die Wasserstraßen zu erlangen. Sie zwang seine Fischgründe immer weiter auf Rotapans Land und den Silbersee zu.« »Und sein Gift«, fügte Cheyne hinzu. »Ja. Gleichzeitig versuchte sie, den See auszutrocknen, um Rotapan zu ärgern. Seitdem befindet sich der Stein im Besitz Wiggulfs und seiner Familie sowohl als Gegenwert für sein Leben als auch als Drohung gegen Drufalden.« »Wie denn das, Og?« »Ich nehme an, daß der Wasserstein mit einem Klang arbeitet, der Flüssigkeiten verfestigt und Festes verflüssigt. Zweifellos brachte Riolla diesen Leuten nur so viel bei, daß sie durch die Steine gefährlicher 254
wurden, aber durch den Mangel an natürlicher Begabung wird alles nur noch unsicherer. Wenn aber Drufalden Wiggulf einfrieren kann, könnte er ihren Eisberg sicher zum Schmelzen bringen. Und Rotapan hat Angst, daß die Oberfläche des Silbersees durch das geschmolzene Eis ansteigt und sein Königreich verschluckt. Orks können nicht schwimmen, wißt ihr das? Wenn Rotapan das überleben würde und den Stein besäße, könnte er Drufalden schaden. Es ist alles recht schwierig. Ich weiß nicht, wie er es aushält, aber Wiggulf singt seit vielen Jahren ein Lied und wartet da unten im Kerker auf Hilfe.« Cheyne nickte, als er an das unheimliche Heulen dachte, das sie beim Erklimmen der Treppe gehört hatten. »Und der zweite freie Platz im Schrank?« »Der ist für mich bestimmt. Ich habe Spielschulden. Ich spielte um den Stab, setzte dabei alles und verlor. Natürlich war das Spiel gezinkt. Du darfst niemals einem Ork und schon gar nicht einem Halbork trauen«, schloß Og und lenkte die Aufmerksamkeit auf den Schrank, wo die Köpfe zu sprechen begannen. »Hallo! Na, es wird aber auch Zeit. Puffer, bist du noch da oben? Schüttle dir das Stroh aus den Ohren und wach auf«, sagte ein Kopf vom untersten Regal. »Natürlich ist er noch da oben. Wo sollte er sonst sein? Du sagst das jedesmal, wenn sich die Türen öffnen, Glom«, erwiderte ein anderer, dessen Augen mit langen schwarzen Stichen zugenäht waren. 255
»Du weißt, daß es zu den Regeln gehört, den Sprecher zu achten. Also hüte deine Zunge, Rasper«, gab der erste zurück, der sich Mühe gab, möglichst beleidigt zu klingen. »Ruhe! R-U-H-E!« brüllte der Kopf auf dem obersten Regal. »Die Sitzung des Kabinetts ist eröffnet.« Er rief die Namen auf, und nachdem alle Köpfe geantwortet hatte, verkündete er: »Wir sind alle anwesend und bereit, Oberster Herrscher. Wie können wir dir heute helfen?« »Ich muß wissen, ob diese Menschen geschickt wurden, um mich zu stürzen. Beratet euch und gebt eure Prophezeiung ab«, sagte Rotapan, das Gesicht dem Schrank zugewandt, schloß die Augen und klopfte dreimal mit dem Stab auf den Boden. Der rote Stein tauchte die Schrumpfköpfe in ein unheimliches Licht. Puffer öffnete seinen zugekniffenen Mund und begann mit triumphierender, sich überschlagender Stimme zu sprechen. »Seitdem du mich bei deinem schwersten Kampf besiegt hast, Oberster Herrscher, hat es mich nicht mehr so gefreut wie heute, dir mitzuteilen, daß diese Menschen, obwohl sie nicht von Riolla geschickt wurden, gekommen sind, um dir größten Schaden zuzufügen...« »Ich wollte ihm von dem großen Schaden berichten! Oberster Herrscher, bei meinem Eid, dich zu vernichten, sage ich dir, daß sie dein Königreich zerstören werden und nur noch weißer Staub übrig256
bleiben wird«, unterbrach Rasper. Die übrigen Köpfe jubelten laut. »Ruhe! R-U-H-E! Der ehrenwerte Rasper möge aufhören, mich zu unterbrechen. Der Sprecher erteilt Clutch das Wort«, brüllte Puffer. Clutch schnaubte und kicherte und genoß die Antwort. »Bei dem Speer, den du durch mein Auge gestoßen hast: Der Große ist die Nemesis von Chelydrus selbst, den du am meisten von allen fürchtest, und er wird dein Zepter zerbrechen und dem Kleinen deine Magie geben!« »Oh, oh! Ich will die Nächste sein, Puffer«, erklang eine schrille Frauenstimme von der linken Seite des Schrankes. »Fahre fort, Sawsa«, sagte Puffer. »Oh, oh, bei dem Fang der Otter, die du ausschicktest, mich zu töten: Das Mädchen wird dich auslachen.« »Warum sollte sie, du wimmernde Heulsuse?« schrie Rotapan den Kopf an und schüttelte den Stab vor ihrem zusammengeschrumpften Gesicht. »Weil sie alle entkommen sind!« kreischte Sawsa jubelnd, und die restlichen Köpfe grölten und brüllten triumphierend, während Puffer die ganze Zeit über um Ruhe bat und somit zum allgemeinen Lärm beitrug. Rotapan wirbelte herum, um Cheyne, Claria und Og anzusehen und riß die Augen auf. Gemäß der Prophezeiung waren sie spurlos verschwunden und schienen so schnell davongeschlüpft zu sein wie die 257
Schlangen, wenn sie in die Mauerspalten glitten. Er knallte die schweren Holztüren zu, um die Heiterkeit des Kabinetts zu beenden. Dabei klemmte er Gloms linkes Ohr ein. Ein gräßliches Jammergeschrei ertönte, und Rotapan klopfte mit dem Stab an die Tür, worauf Stille eintrat. Die Aufregung verursachte bei ihm einen seiner Hustenanfälle, und er mußte eine ganze Minute lang keuchen und ausspucken, bevor er seine Stimme wiederfand. »Yob!« brüllte er und ließ die Wut von den Wänden des runden Raumes bis zur Treppe widerhallen. Yob, ein Auge mißtrauisch auf Krota gerichtet, riß sich hoch und rannte in den Tempel zurück. »Ja, Oberster Herrscher?« fragte er vorsichtig. »Wo sind sie? Sie sind geflohen! Hast du schon wieder geschlafen? Sie müssen genau an dir vorbeigerannt sein. Ich wußte es - von Anfang an rochen sie nach Ärger! Ich werde sie fangen und diesen Schlangen zum Fraß vorwerfen, und ihr Blut wird ein treffliches Opfer für Gott Chelydrus sein. Du hast sie hergebracht - wenn du am Leben bleiben willst, dann bringst du sie zurück! Tot!« kreischte er und schlug mit dem Stab auf den Kopf einer unglücklichen Mamba. »Deine Tochter, die ich als Sicherheit für deinen Tribut festhielt, werde ich als Geisel behalten, bis du mit ihren Knochen zurückkehrst.« Yob schluckte und verbeugte sich; dann fuhr er die Krallen aus und sprang über ein Knäuel Vipern aus 258
dem Tempel hinaus hinter den Flüchtlingen her. Rotapan blieb ihm dicht auf den Fersen, fuchtelte mit dem Stab und redete von einer lachenden Frau. Am Treppenabsatz blieb Yob stehen, da ein seltsames Brüllen, das anscheinend unter ihm erscholl, das ganze Gebäude erbeben ließ. Yob schaute nach unten, vergaß das Geräusch aber auf der Stelle, als er in dem weichen Sand am Fuß der Treppe menschliche Abdrücke erblickte, die zum Binnenmeer führten dem einzigen Bereich des Tempels, der nicht von Mauer gesäumt war. Seit Generationen hatte der See samt seiner tobenden Wirbel, dem Kessel, die westliche Grenze von Rotapans Gebiet beschützt. Yob blickte zum Wasser hinüber und fühlte sich bei dem Gedanken an die Verfolgung äußerst bedrückt. Anscheinend war ihm eingefallen, daß Orks nicht schwimmen konnten. Kurz darauf fiel ihm Schwester Kreta ein. Sie war aus ihrer Benommenheit erwacht. Yob sah nur, wie sie leicht ihre Schwanzspitze bewegte, hörte nur den Hauch einer Warnung und dann ein seltsames Gebrüll aus dem Wassergefängnis, als Krota auch schon wie ein Speer auf ihn zuschoß. Er versuchte auszuweichen und fiel dabei gegen eine Säule, an der sich ein Elfenschädel aus seiner Nische löste. Rotapan, der dicht hinter ihm war, wurde von einem neuerlichen Hustenanfall ergriffen, der durch die Anstrengung des Laufens verursacht worden war, und der Griff löste sich von seinem Zepter, als er sich 259
keuchend vornüber beugte. Der Stab fiel auf die Marmorstufen, und Krota wich zurück. Yob riß Rotapan gerade noch rechtzeitig fort, als die Schlange mit der Gewalt eines Kriegshammers zum zweiten Angriff ansetzte und mit dem Kopf gegen eine Knochenmauer prallte. Danach blieb sie lange genug schlaff und benommen liegen, daß sich die beiden die restlichen Treppen hinabrollen konnten. »Du Narr mit dem Herzen eines Goblins!« brüllte Rotapan, dem gar nicht auffiel, daß Yob ihm das Leben gerettet hatte, »Wo ist mein Stab?« Yob schaute die Stufen hinauf, da er glaubte, ihn gesehen zu haben. Aber auf der Treppe war nichts. Ungefähr drei Sekunden lang. Ein leises Dröhnen ließ den Boden unter ihren Füßen erbeben. Dann fiel etwas von der obersten Treppenstufe. Es war der Elfenschädel. Er landete dicht bei Rotapans Füßen und sprang mehrere Fuß hoch in die Luft. Yob hob ihn auf und wischte den Staub aus den kleinen Augenhöhlen. »Verzeihung, Oberster Herrscher. Ich lege ihn zurück.« Er wollte die Stufen emporsteigen, als das Dröhnen immer lauter wurde, und eine fremdartige, hohl klingende Musik über sie hinwegschwebte, während die obersten sieben Stockwerke von Rotapans Tempel langsam zu Boden regneten, wo sie sich zu einem riesigen Haufen Knochen vereinten. Da sie den einstürzenden Tempel anstarrten, sahen sie nicht, wie Og die Hand unter Krotas Behälter 260
herausstreckte, das Zepter ergriff und sich dann in Sicherheit brachte, als Hunderte von Knochen mit einem zischenden, hohltönenden Geräusch zu Boden fielen. An ihrem Aussichtspunkt hoch über dem Tempel wischte sich Riolla die Stirn ab und zog die Kapuze zurecht. Hm... Sie haben den Tempel verlassen ... wie eigenartig. Das war eine kurze Audienz. Der alte Rotapan muß wütend sein; sie rennen sehr schnell. Steckt Maceos verstoßene Geliebte in Schwierigkeiten? Die Arme. Sie sollten hierher kommen, damit ich ein kleines Gespräch mit dem Ausgräber führen und anschließend Og zu Brei stampfen kann. Riolla wartete noch ein paar Sekunden und dachte an die Reichtümer, die ihr bald gehören würden. Es würde ein Kinderspiel sein, den jungen Ausgräber dahin zu bringen, sie zur Uhr zu führen, wenn Saelin das Mädchen in der Hand hielt. Aber da stimmte etwas nicht - Ogs Gruppe rannte zum Silbersee. Und er hatte den Stab! Dann stürzte der obere Teil des Tempels ein und Riolla begriff. Sie tupfte sich die Oberlippe ab und lachte schallend, als Rotapan sein Gewand zusammenraffte und hinter den Menschen herlief. »Oh, wie wundervoll! Es geht weiter. Ich wußte gar nicht daß diese Reise so lustig werden würde, Saelin.« Saelin schnaufte bloß. »Vielleicht, meine jubelnde 261
Kaiserin, besteht die berauschende Möglichkeit, daß sie von diesen Knochen aufgespießt werden oder ertrinken. Das würde ich aus beruflicher Hinsicht nicht ungern sehen, obwohl ich zugeben muß, daß es mich sehr enttäuschen würde, wenn ich nicht dazu käme, das Mädchen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, ehe ich mir den Kopf des Ausgräbers hole. « Riolla hörte auf zu lachen, als Saelins Worte ihr den Anblick Cheynes heraufbeschworen, wie er von einem Knochen getötet wurde, oder wie sie an die Möglichkeit dachte, die Uhr und den Schatz in jenem Strudel des Sees ertrinken zu sehen. »Vorwärts, und zwar schnell! Folgt dem kleinen Kerl mit dem Stab!« rief sie beunruhigt. Saelin blickte sie entsetzt an. »Ehrenwerte Schreefa, ich wollte damit sagen, daß ich es von hier oben sehen möchte!« Riolla winkte wütend ab und ließ sich auf den Sitz neben ihm fallen, während Ghazi und die übrigen erschöpften Träger den Abhang zur Küste hinabkletterten. Sekunden später schlichen Javin und Doulos über die Felsen, die Riolla gerade verlassen hatte.
262
KAPITEL 11 »Lauft zur See! Nicht hierher, sondern zur anderen Seite der alten Brücke, hört ihr? Wir müssen es weiter unten versuchen, wegen des Strudels!« keuchte Og. Cheyne griff nach hinten, packte Og am Umhang und nahm den kleinen Mann auf seine Schultern. »Og, sie sind dicht hinter uns. Besser ein unsicheres Schwimmen als einen sicheren Tod. Du kannst schwimmen, nicht wahr?« »Nein, überhaupt nicht. Das solltest du noch von dem Brunnen in Sumifa wissen.« »Ich glaube immer noch, daß du nur so getan hast, als seist du hineingefallen.« »Das ist nicht wahr«, sagte Og. »Yob wird uns nicht ins Wasser folgen. Er kann auch nicht schwimmen. Aber da ist der Strudel - und das Monster.« »Du sagtest, Chelydrus wäre nur eine Erfindung!« meinte Cheyne. »Ich sagte, niemand hätte ihn je gesehen!« verbesserte ihn Og. »Würdet ihr beide euch bitte Gedanken machen, wie wir Yobs Speere überleben?« rief Claria von vorn. Irgendwie war es ihr während der Flucht gelungen, die Stiefel auszuziehen, in ihr Bündel zu stopfen und die Röcke hochzustecken. »Was hast du in dem Brunnen gemacht, Og?« Zwei fast zielsichere Speere flogen zu beiden Seiten an Cheynes Kopf vorbei. 263
»Ich habe bloß geübt. Ich versuchte, meine Stimme zurückzuerlangen. An dem Tag, als wir uns trafen, hatte mich Riolla gesehen. Ich hoffte, nun ... ich fiel hinein und fand heraus, daß der Gesang über dem Wasser hilfreich auf die Magie wirkte. Schließlich trieb ich noch oben, als ich dich herbeizauberte, nicht wahr?« Er lachte. Drei weitere Lanzen tauchten auf; Cheyne sprang zur Seite und hätte Og beinahe fallen gelassen. »He, sei ein bißchen vorsichtiger, ja?« beschwerte sich der kleine Mann. Cheyne mußte trotz allem lächeln. Aber dann kam ihm ein Gedanke und keineswegs zu früh: Seine Stiefel berührten schon das Wasser, als ein Hagel von Speeren auf die Küste niederging. »Kannst du einen Zauber wirken, der uns alle auf dem Wasser treiben läßt?« fragte er, während er hinausschwamm, Og noch immer festhaltend. Claria lag weit vor ihnen und schwamm erstaunlich schnell. »Ich brauche mehr als diesen einen Stein, um uns alle über Wasser zu halten...« »Hier ist eine kleine Sandbank!« rief Claria, deren Mund gerade noch über dem Wasserspiegel lag. »Ich habe Boden unter den Füßen, aber die Flut steigt und hier ist die Strömung. Beeilung, Og. Es sieht so aus, als würde alles früher oder später von jenem Strudel hinuntergezogen.« Cheyne holte sie ein und ließ Og an einer flachen Stelle ab, wo ihm das Wasser bis zur Nase reichte und 264
zog seine Stiefel aus. »Og, kannst du denn mit dem, was du zur Verfügung hast, gar nichts anfangen? Aua!« Cheyne zuckte zusammen, als er auf etwas Hartes und Spitzes trat. Er bückte sich und brachte eine große, zerbrochene Muschel ans Tageslicht. Er goß den Sand und das Wasser aus und untersuchte den Fund; die Neugier verdrängte seine Verletzung. Claria tauchte unter, um ihr Lächeln nicht zu zeigen. Og schirmte die Augen mit der Hand ab, sprang auf und nieder und spähte rings umher. Auf allen Seiten hob und senkte sich das Wasser in stetigem Rhythmus; seine Farbe reichte von blassem Grün bis zu dunklem Blau. Der Sprühregen des Strudels erfüllte die Luft und bildete Regenbogen im Sonnenlicht. Og sah nichts außer einem Stück Treibgut, das ein Stück weiter links seltsam auf und nieder schwankte. Aber es schien sich aus eigener Kraft zu bewegen. Fröhlich klatschte er in die Hände. »Ja! Ich habe es«, blubberte er, da die Flut ein wenig höher stieg. »Aber das Ergebnis könnte sonderbar ausfallen...« Cheyne kam näher und hielt ihn über Wasser. »Gib mir die Muschel und halte mich so hoch du kannst«, keuchte Og. Cheyne setzte ihn sich auf die Schultern. »Beeile dich, Og. Die Flut steigt schnell, und die Orks an der Küste sehen nicht so aus, als wollten sie aufgeben. Wenn du mit deinem Zauber nichts ausrichten kannst, sind wir erledigt«, sagte Claria. Sie hielt 265
den hohen Wellen stand, hatte aber sichtlich wenig Spaß daran. Das Wasser sah klar aus, schmeckte aber faul und metallisch und roch nach Verwesung. Og wandte den Kopf und schlug sich aufs Ohr, bis Wasser hinausfloß. Die Muschel an den Lippen, den Stab in der Hand, summte er eine mittelhohe Note, die in etwa der Tonlage der Wellen entsprach, die gegen das Ufer schwappten. Hin und wieder unterbrach er das Summen durch ein gellendes Pfeifen. Ein rotes Licht erschien um seinen Kopf herum, dessen Leuchten die Musik fast sichtbar erscheinen ließ. Die ganze Zeremonie wurde von einem seltsamen, anziehenden Rhythmus begleitet, und Cheyne war froh, daß Og nicht zu singen begann. Die Töne klangen erstaunlich kraftvoll und laut. Og führte diese Geräusche ein paar Minuten lang aus und deutete dann über das Wasser. »Seht ihr? Da, da, und dort drüben. Sie kommen.« Cheyne blickte zum Ufer und glaubte, Og meine die Orks, die des Wartens müde geworden waren und auf Yobs scharfe Befehle hin vorsichtig und mit hocherhobenen Speeren ins Wasser wateten. Aber Claria rief ihm zu, auf den See zu schauen. »Schau mal! Was ist das?« wunderte sie sich, als eine lange Reihe aus Steinen sich näherte, die sich von einer Seite zur anderen erstreckte und die in etwa dieselbe Größe hatten und sich unnatürlich gerade aneinanderreihten, während das rote Licht darüber schwebte. 266
Og grinste und wedelte mit dem Stab. »Nach euch, werte Dame«, sagte er auffordernd. »Sie leben!« rief Cheyne verwundert aus, als eine Wasserschildkröte von der Größe einer Sänfte herbeischwamm und ihnen den grünlichen, algenbewachsenen Rücken zuwandte. Claria kletterte hinauf und bemühte sich, den scharfen Kanten der Korallen und Gänsekrebse ausweichen, die sich an den Rand des flachen Schildkrötenpanzers klammerten. Og folgte eilig, und die beiden zogen Cheyne hoch, gerade als ihm die erste Welle über den Kopf schwappte. Vorsichtig traten sie von einem Panzer zum nächsten, während die Schildkröten gemütlich Wasser traten und Nase an Schwanz verharrten. So kamen sie gut voran. Dann schaute Cheyne zurück. Ogs Zauber hatte genügend Schildkröten gerufen, um von einem Ufer zum anderen zu reichen, aber etwas stimmte nicht: Sie schwammen nicht weg, und auch die Orks konnten sie benutzen. In der Tat, das Ergebnis war sonderbar ausgefallen. Nicht nur Yob und seine Krieger setzten ihnen nach, nein, auch Rotapan selbst, völlig außer sich, rannte über die Panzer der schwimmenden Tiere und schubste Yobs Leute beiseite, in den nassen Tod. »Diesmal wirst du mir nicht entkommen, Ogwater! Deine Freunde werden das Mahl für meinen Gott sein, und du wirst endlich heim in mein Kabinett kommen, wo du hingehörst! Und gib mir meinen Stab zurück!« 267
keuchte er. Das dünne Haar klebte ihm am Schädel, und der prachtvolle Schnurrbart hing traurig nach unten. Als er an die Stelle der lebenden Brücke kam, die dem Strudel am nächsten lag, blieb er plötzlich stehen und verneigte sich tief, wobei die Hände mit weit ausholenden Gesten durch die Luft fuhren. Yobs Truppen lagen weit vor ihm, die Küste weit hinter ihm - Rotapan merkte plötzlich, wo er sich befand: Mitten auf dem See. Er erstarrte auf dem Panzer, auf dem er stand. Aber es gab noch einen weiteren Grund, um zu erschrecken. Hinter ihm kamen vier müde und ängstlich aussehende Neffianer, die eine Sänfte trugen, deren blasse Seidenstoffe im Wind flatterten. Rotapan verschwendete keine Zeit. »Großer Geist der mächtigen Gezeiten, Beherrscher des Wassers, Schlange des Silbersees, erhebe dich und rette deinen untertänigen Diener! Ich flehe dich an, nimm diese Bedrohung von deinem dich anbetenden Geschöpf!« Aber das einzige, was sich aus dem Strudel erhob, war ein Zischen und ein Wasserregen, der sich über Rotapan ergoß und ihn vom Rücken der Schildkröte in das wogende Wellental riß. Riolla zog die Vorhänge auf, während sich die Neffianer vorsichtig über die Schildkrötenpanzer tasteten, winkte Rotapan zu und lächelte gehässig, als der Halbork dagegen kämpfte unterzugehen. Auch Cheyne hatte nach hinten geblickt. »Og, Claria - beeilt euch. Wir kriegen Gesellschaft«, sagte er. 268
Er sah, wie Rotapan die Lippen bewegte und die geballten Fäuste nach Riolla und in ihre Richtung richtete. »Schneller, Og!« rief er. Sie rannten über die Panzer, bis sich das Wasser von Dunkelblau in Grün verwandelte und schließlich zu einem blassen Grünton wurde. Als Cheyne den Strand ganz deutlich sehen konnte, packte er Og an der Kapuze und sprang von dem letzten Panzer herunter; Claria schwamm bereits ein Stück vor ihnen her und wurde bisweilen von den hohen Wellen verdeckt. Rotapan war verschwunden. Riolla seufzte und warf eine Feder an die Stelle, an der sie ihn zuletzt gesehen hatte. Dann ließ sie sich weitertragen, ohne noch einen Gedanken an den Halbork zu verschwenden. Aber die Sänfte neigte sich gefährlich zu einer Seite; sie blickte hinaus und sah einen Sklaven, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, da das Gewicht der Sänfte für den erschöpften Mann zu schwer wurde. »Saelin - anscheinend ist die Sänfte zu schwer. Geh auf der anderen Seite hinaus«, sagte sie und stieß den Meuchler von seinem Platz in das dunkle Wasser. Dann rutschte sie in die Mitte der Sänfte, um das Gleichgewicht zu wahren. »Weiter.« Sie rümpfte die Nase wegen des schweren, penetranten Geruchs des Wassers. Saelin schnappte unter den schäumenden Wellen nach Luft; das Gewicht seiner schweren Gewänder 269
und der Waffen zog ihn sofort in die Tiefe. Verzweifelt krallte er sich in Ghazis Knöchel, woraufhin der schreiende Neffianer ebenfalls ins Wasser gerissen wurde. Während Ghazi versank wie eine Münze in einem Brunnen, kämpften die anderen Sklaven mit der Sänfte. Og saß noch immer auf Cheynes Schultern, Cheyne und Claria kämpften gegen eine starke Küstenströmung, und immer wieder versuchten sie, das Ufer zu erreichen. Yob und drei seiner Krieger waren ihnen dicht auf den Fersen. Aber bald stellte Cheyne fest, daß eine neue Schwierigkeit bevorstand, deren Bewältigung zu wünschen übrigließ. Mit jeder Welle des Silbersees wurden Vipern herangetragen, die Rotapan mit seinem Stab rief. Der Ajada hatte sie in die Fluten gelockt, wo einige auf der Stelle ertranken, aber die meisten schwammen recht behende, die Köpfe über die Wellen erhoben, und folgten dem Stab voller Inbrunst. Mehrere Vipern überholten Riollas Sänfte und eilten auf die Orks zu, da sie sich im Wasser bedeutend schneller als zu Land bewegten. Innerhalb von wenigen Sekunden würden sie da sein. »Og! Tu etwas!« rief Cheyne. Der Magier hob die Hände, um die Schildkröten von dem Zauber zu befreien, als er Rotapan erblickte, der aus dem Wasser auftauchte und auf die Panzer kletterte, die in der Nähe des Strudels trieben. Er 270
schimpfte und prustete, und die Wellen schlugen ihm über dem Kopf zusammen, während er sich mit den gebogenen Krallen an dem schlüpfrigen Rücken der Schildkröte klammerte. Riolla gähnte und runzelte die Stirn, als sie ihn bemerkte. Wie unangenehm, dachte sie. Og vergaß den Zauber und lachte beim Anblick des Orkfürsten schallend auf, dessen silberner Schnurrbart wie bei einem Walroß herabhing und dessen knochige, grüne Arme wild umherfuchtelten, als er noch einmal untertauchte und wieder hoch kam. »Og, mach schon!« rief Cheyne, der die Verzögerung keineswegs spaßig fand. Eine braune Viper kreuzte nur wenige Zentimeter von Clarias Fuß und versuchte, sich um den Knöchel des Mädchens zu wickeln. »Du alter Habicht! Wer wird jetzt wessen Kopf nehmen?« verspottete Og den ertrinkenden Herrscher. Um die Qual noch zu steigern, schüttelte Og bei jedem Auftauchen des Halborks den Stab. Die braune Viper stieß vor und wand den rauhen, gezahnten Körper einmal um Clarias Fuß, riß das Maul auf und stieß zu. Sie verfehlte ihr Opfer nur, weil Claria wie wild um sich trat. »Og!« Der kleine Mann erschrak bei dem Ton in Cheynes Stimme und lachte nicht mehr. Und er ließ den Stab fallen, da er Riolla bemerkt hatte. Cheyne hatte keine Zeit, sich weiter mit ihm zu 271
beschäftigen. Er tauchte nach der braunen Viper und packte den breiten, flachen Kopf, wandte ihn von Claria ab und drückte ihn ins Wasser. Er drückte mit aller Kraft zusammen. Die Schlange wand sich ihm um seinen Arm und Nacken; der Schmerz und die Angst zu ersticken, ließen Cheyne auftauchen. Og schaute verzweifelt zu, wie die Flut das Zepter schnell in die Richtung des Strudels strömen ließ. Die anderen Schlangen, die ihm noch immer folgten, wurden durch das brodelnde Wasser verwirrt und fingen an, sich gegenseitig zu beißen und auf Rotapan zuzuschwimmen, der noch immer an einer Schildkröte hing und sich mit aller Kraft an ihr festklammerte. Der Strudel spielte mit dem Stab; das rote Leuchten des Ajadas wurde von den Wellen nicht gedämpft. Fröhlich tanzte er auf den Wogen am Rande des Strudels und verschwand dann kurz im Wasser, um an derselben Stelle wieder aufzutauchen. Eifrig bemühte sich Rotapan, ihn zu erwischen. Enttäuscht erinnerte sich Og an sein Vorhaben und wartete, bis er sicher war, daß Riolla nicht ertrinken würde - hoffentlich ertrank Rotapan - und summte in die Muschel. Ohne Hilfe des Zepters... Aber das rote Licht erlosch, und die verblüfften Schildkröten lösten ihre Reihe auf und entfernten sich. Riolla bemerkte, daß die Sänfte langsam unterging, denn die Neffianer hatten unter dem Ansturm der wütenden Schlangen ihre Posten verlassen. Schließlich versank das Gefährt in den Wellen. Yob, der von 272
dieser Entwicklung völlig überrascht wurde, glitt auf dem Rücken einer Schildkröte davon, die solange unter Wasser blieb, bis er glaubte, es nicht länger auszuhalten, aber dann nahe des Ufers wieder auftauchte. Nie zuvor war er so glücklich gewesen, Land zu sehen und bahnte sich einen Weg durch die Wogen, verlor aber schnell das Bewußtsein. Winzige Wellen plätscherten gegen sein Kinn, als er an den Strand getrieben wurde. Weiter hinten schwamm Rotapan inmitten unzähliger Schlangen, die zum Teil ermüdet waren und sich um alles Feste wickelten, dessen sie habhaft werden konnten. Während er darum kämpfte, dem Strudel zu entkommen, riß sich Rotapan zwei Kraits und einen Kupferkopf von den Armen und brüllte vor Entsetzen. Sicher hätte ihn der Strudel verschluckt, wenn nicht Riolla vorbeigetrieben wäre, deren Sänfte mit zischenden Schlangen bedeckt war und von einer darunterschwimmenden Schildkröte getragen wurde. Er griff nach einem Halt, und sie schlug ihm mit dem Fächer auf die Finger, ein grausames Lächeln auf den Lippen. Og sah ihr begeistert zu, denn nun klopfte sein Herz nicht nur vom Laufen über die lebende Brücke. Als sie das Ufer erreichten - die braune Viper war endlich tot -, deutete Cheyne auf den Wald. »Og, komm schon!« rief er. »Claria sagt, wir hätten zwei Möglichkeiten: Entweder benutzen wir die alte Karawanenstraße, die auf Drufaldens Berge zuführt, 273
oder wir ziehen durch den dichten Wald.« Claria stand schweigend da und beobachtete, wie er vorsichtig seinen Nacken abtastete, während sie ihre Gewänder auswrang. Die tote Schlange lag ein Stück weiter weg, aber noch schmerzte ihr Knöchel und sie zitterte bei dem Gedanken an die Berührung. Bebend dachte Claria daran, daß sie dem Biß nur knapp entkommen war. »Laß mich das machen«, sagte sie und nahm seine Hand beiseite. Als Og den Strand entlanglief, säuberte Claria Cheynes Wunden. Er sah zu den hohen Fichten hinüber, die nur hundert Fuß westlich der Küste standen. Genügend Deckung, dachte er, wenn sie nur schnell genug verschwinden konnten. Er suchte nach seinen Stiefeln und dem Totem, der zwar salzverkrustet, aber unversehrt war. Nur das kleine Buch war verschwunden. Aber nun blieb keine Zeit mehr, um danach zu suchen. »Og!« schrie er ungeduldig. »Ich weiß. Ich komme. Ist sie nicht schön? Wie eine Königin.« Og seufzte. Bei dem Wort »Königin‹ warf ihm Claria einen tödlichen Blick zu, sagte aber nichts. »He, was ist das?« Cheyne deutete auf einen Gegenstand, der im flachen Wasser wie ein Stück Treibholz herumschwamm. »Da ist der Stab! Ich dachte, er sei für immer verlo274
ren!« rief Og, schleuderte die Stiefel weg und rannte ins Wasser, um den Ajada zu retten. »Nicht so hastig - er gehört mir!« rief eine Stimme aus den Wellen. Rotapan, der von einem Mantel aus Algen umgeben war und eine wasserscheue Korallenschlange wie eine Krone um den Kopf gewickelt trug, tauchte kurz aus dem Wasser auf, tauchte aber wieder unter. Als er noch einmal hoch kam, waren Og, Cheyne und Claria verschwunden. Nur die verlassenen Stiefel Ogs waren zurückgeblieben, und das Echo von Clarias Gelächter wurde vom Wind durch die hohen Fichten getragen. »Nun, du hast mit deinem Zauber gute Arbeit geleistet, Rotapan. Dieser Stein kann viel mehr als nur Schlangen anlocken.« Riolla atmete tief, als sie die schwankende Sänfte mit den tropfnassen Seidenkissen verließ und trockenen Boden betrat. Bevor das Wasser zu flach wurde, hatte der Instinkt die Schildkröte wieder in den See getrieben, aber Riollas Lammfellstiefel waren die ganze Zeit über nicht ein einziges Mal mit Wasser in Berührung gekommen. Ein oder zwei hartnäckige Nattern sprangen aus dem Wrack der Sänfte und bewegten sich auf den trockenen Sand zu, wo sie mit ihren gehörnten Köpfen nach wenigen Sekunden verschwanden. Rotapan beneidete sie um das Versteck. Er saß erschöpft und kraftlos in dem weißen Sand und war 275
nicht mehr in der Lage, Riollas Spott abzuwehren. Außerdem hatte er die Korallenschlange auf seinem Kopf vergessen, bis sie sich entspannte, entrollte und in weiten Ringen über seine schmalen Schultern fiel. Als ihm einfiel, daß er nun nichts mehr gegen Bisse tun konnte, saß Rotapan stocksteif da, verzog angewidert sein Gesicht und bemühte sich, nicht zu atmen, bis die Schlange endgültig verschwand. Er blickte unwillig nach oben, wo Riolla über ihm stand, sich in der drückenden Hitze Luft zufächelte und den Zikaden lauschte, die in den Bäumen zirpten. »Was willst du von mir?« Er seufzte und roch nach abgestorbenen Algen. Riolla atmete durch den Mund. »Oh, zuerst einmal denke ich, möchtest du mich für die Köpfe entschädigen, die deine Leute meinen Meuchlern abschlugen. Ich hätte sie noch gebrauchen können, weißt du? Sie sind ausgesprochen teuer. Drufalden fordert in letzter Zeit immer mehr Geld für weniger Leistung«, antwortete sie. »Wie denn? Der Stab und der Stein sind verschwunden - der Musikmagier hat sie. Was soll ich tun? Und Was ist mit dem Gott Chelydrus? Mit Hilfe des Ajada konnte ich mit ihm sprechen. Der Zauber ist verschwunden, daher kann mich mein Kabinett nicht beraten. Die Köpfe meiner Feinde nutzen nur noch zur Abschreckung. Und was das Gift betrifft ohne den Stab kann ich nicht mehr so einfach an Gift kommen... Wie soll ich jemals erkennen, wann Chelydrus ein Opfer verlangt?« stöhnte Rotapan. 276
»Ja. Ich weiß. Ich bin sicher, er wird sehr unzufrieden mit dir sein. Aber ich würde dir den roten Stein zurückgeben, wenn du mir bei einer bestimmten Sache behilflich wärst«, log sie. »Das schuldest du mir.« Rotapan richtete sich ein wenig auf. »Vielleicht kann ich dir wirklich helfen.« Er lächelte, und er blickte mit seinen blauen Augen eigentümlich abwesend drein. »Ich benötige eine kleine Gruppe Krieger, Rotapan. Schnelle Denker und Kämpfer, und zäh müssen sie sein. Keine Orks, klar? Ich brauche Krieger, auf die ich mich verlassen kann, die mir gehorchen. Wir werden den Pfad nehmen, der zu Drufaldens Berg führt. Sie wird uns treue Ninniten zur Verfügung stellen,« »Nun ja, davon hat sie wirklich genug. Aber was ist mit den Sklaven? Das ist etwas anderes. Was ist, wenn sie mich sehen?« »Es ist zehn Jahre her, aber du hast recht, wahrscheinlich erinnern sie sich an dich. Aber es sind Sklaven, du rückgratloses Ungeziefer! Du bist der Herrscher! Also denke daran: nur treue Ninniten. Meine besten Männer stammen aus Drufaldens Ausbildungslager, und die beiden letzten verbringen die Ewigkeit als Schreckensfiguren in deinem Tempel. Jedenfalls bis der obere Teil einstürzte. Da fällt mir ein - Saelin, wo steckst du?« rief sie laut. Sie schüttelte den Sand von der Spitze ihres zierli277
chen Stiefels, zupfte sich das Haar zurecht und suchte nach einem Gegenstand, um eine Locke, die sich gelöst hatte, festzustecken. Sie wählte Rotapans jetzt nutzlosen Knochenschlüssel, der tropfend am Gürtel der Tunika hing. Widerwillig gab er ihn ihr. »Ich werde es zum Heil des Gottes Chelydrus tun«, erklärte er und starrte auf die Ruine seines Tempels. Er war zwar nicht sicher, aber aus der Entfernung sah es so aus, als wäre der Einsturz nicht weiter fortgeschritten. Vielleicht standen die alten Teile noch - die Prophezeiung hatte sich nicht bewahrheitet. Er konnte ihn neu aufbauen... »Wo und wann brauchst du sie?« schnarrte er. »Sie sollen sich im Grenzgebiet versammeln. Sobald wie möglich. Du wirst ihnen befehlen, meine Anordnungen zu befolgen, sobald ich eintreffe.« »Im Grenzgebiet?« Rotapan zwirbelte ungläubig seinen Schnurrbart, »Du kannst von hier aus nicht dorthin gelangen. Die Elfen... Wie soll ich denn...« Er schwieg, als er ihre Miene sah. »Gut. Zum Grenzgebiet.« »Wir müssen uns beeilen. Wir nehmen die alte Karawanenstraße, um zu Drufalden zu gelangen. Ich denke, du kannst uns begleiten, bis wir zum Berg kommen. Diese Sache muß schnell zu einem Ende gebracht werden. Ich muß an einer Hochzeit teilnehmen. Wo ist Saelin?« murmelte sie.
278
KAPITEL 12 Ein ganzes Stück entfernt entlang des Strandes, nahe der Mündung eines kleinen Flusses, kam Yob wieder zu sich. Stechende Fliegen mit blauen Flügeln schwirrten um seine großen Ohren. Er hob seinen nassen Kopf hoch, atmete fest durch die Nase, daß der Rotz nach allen Seiten flog, und setzte sich auf. Er schaute zum See, da ihm einfiel, daß er mit einer Gruppe zusammen gewesen war, und er versuchte herauszufinden, ob seine Krieger sich auch zur Küste gerettet hatten. Aber sowohl Strand als auch See waren leer, bis auf Treibgut und angespülte Kleidungsstücke. Er war allein. Nun, nicht ganz. Als er sich in die andere Richtung wandte, sah er ein großes, pelziges Wesen im flachen Wasser stehen, wo der Fluß und die See sich vereinten. Das Sonnenlicht wurde von einem glänzenden Gegenstand im Ohr des Wesens reflektiert, das in der einen Hand eine Muschel und in der anderen einen Stein hielt. Yob stieß einen überraschten Schrei aus. Das Wesen rührte sich nicht. Nachdem es den Ork eine Weile betrachtet hatte, lehnte es sich zurück, schlug die Muschel gegen den Stein, und seltsamerweise fiel das Fleisch heraus, doch die Schale blieb heil. Plötzlich fiel Yob auf, wie furchtbar hungrig er war. Es war ein harter Tag gewesen. Sabbernd stürzte er sich in das brackige Wasser und 279
setzte dem Wesen nach. Der Otter schlüpfte ihm spielerisch durch die Klauen und schwamm zum Ufer. Yob sprang ihm nach, fand sich aber nur mit den Augen voller Sand und einem Arm voller steinharter Muskeln wieder. Die rasiermesserscharfe Kante der Muschel schnitt ihn an der Kehle. »Sei lieb.« Eine tiefe Frauenstimme flüsterte ihm ins Ohr. »Laß mich los, sonst werden sich die Haie zu einem frühen Mahl versammeln, wenn die Flut deinen Körper hinausträgt und du wirst deine Tochter nie wiedersehen.« Yob lockerte den Griff an ihrem Arm. Sie glitt hinter ihn. »Danke. Jetzt dreh dich nicht um, bis ich es dir sage.« Yob war nicht in der Lage, darüber zu streiten. Halb ertrunken und sehr einsam tat er, wie ihm befohlen wurde. Auch der Hunger war vergangen. Vorsichtig befühlte er den kleinen Schnitt am Hals. Kaum mehr als ein orkischer Liebesbiß, aber der Schmerz wurde allmählich unerträglich. Er fragte sich, ob die Muschel vergiftet war. Hinter seinem Rücken raschelte ein Stoff. Er drehte den Kopf, soweit er konnte, ohne noch mehr Schmerzen zu haben, konnte die Frau aber nicht sehen. »In Ordnung. Ich bin jetzt angezogen. Dreh dich langsam um. Was hast du zu erzählen?« forderte ihn die verführerische Stimme auf. Yob drehte sich im Sand um und sah sich einer kleinen Frau gegenüber, die in braune Ghomafelle gekleidet war und die scharfe Muschel noch immer in 280
der Hand hielt. Sie sah ihn mit ihren silberfarbenen, großen Augen lange an. Gesicht und Körper waren schwarz wie die Nacht. Das Haar lag in dichten Locken über dem Nacken und der breiten Stirn. Yob wußte zuerst nicht, was so seltsam aussah, aber dann fielen ihm ihre Ohren auf: Sie waren winzig, lagen flach am Kopf und waren spitz wie Mäuseohren. Oder wie die eines Otters. An ihrem linken Ohrläppchen hing an einem goldenen Ohrring ein Juwel in den Farben des frischen Wassers. »Ich bin Yob«, sagte er. »Ich habe vergessen, was es zu erzählen gibt. Wer bist du?« »Kannst du das nicht erraten? Ich dachte, ihr Grünhäute würdet gern spielen.« Sie lächelte, und das Juwel blitzte im Sonnenlicht. Yob schüttelte den Kopf, was ihn schwindlig werden ließ; er hatte den Tag über falsch geraten. Die Frau lachte und vollführte einen übertriebenen Hofknicks. »Ich bin Frijan, die Tochter des Wasserkönigs Wiggulf. Und du bist mein Gefangener, Ork. Steh auf und geh. Wir müssen einen weiten Weg laufen, da ich weiß, daß du nicht schwimmen kannst.« Yob erhob sich. Als er vor der Frau aufragte, fiel ihm ein, wie groß er war, und er lachte. »Dein Gefangener? Ich bin Yob! Ein Wyrvilhäuptling. Du bist eine kleine Selkie. Es ist lustig, was du da sagst.« »Der Schnitt an deinem Hals wird dich innerhalb von drei Tagen töten, wenn du nicht mitkommst. Mein Vater ist der einzige, der das Gift bändigen 281
kann. Ist das auch lustig, Ork?« Yob riß die gelben Augen weit auf und faßte an seinen Hals; der Schmerz verschlimmerte sich, während er darüber nachdachte. Nach einer Weile wies ihm Frijan den Weg, und sie gingen am Fluß entlang in den Fichtenwald. »Ich brauche frisches Wasser, um meine Kleidung auszuspülen und mir das Salz von der Haut zu waschen«, murmelte Claria, als sie Cheyne und Og tiefer in den Wald führte. »Es ist lange her, seitdem ich Verfolger hörte. Die alten Karten zeigen, daß ein Fluß durch diesen Wald fließt, und ich kann ihn sogar riechen. Können wir anhalten, um uns zu waschen?« »Noch nicht. Ich möchte noch ein paar Meilen zurücklegen, bevor wir rasten«, sagte Cheyne und sah über seine Schulter. Die Bäume wölbten sich über dem Weg, der Boden war trocken und mit vielen Schichten Fichtennadeln bedeckt. Es war schwierig, Spuren zu erkennen. Trotzdem spürte er die Gegenwart von Verfolgern. »Og, geh schneller. Hör auf, von Riolla zu träumen. Sie hätte dich vorhin ertränkt, ohne mit der Wimper zu zucken. Komm schon. Du solltest mein Führer sein, nicht umgekehrt.« »Ich weiß, ich weiß.« Der kleine Mann seufzte und hielt einen der häßlichen Stiefel in der Hand. Die nassen Sandalen quietschten ein wenig. »Ich wünschte, es wäre anders. Ich wünschte, sie würde mich so 282
lieben, wie ich sie liebe.« Sanft schob ihn Cheyne vor sich her und blieb dann stehen, um zu lauschen. Nicht weit entfernt, auf der rechten Seite, hatte er gehört, wie sich jemand zwischen den Bäumen bewegte - jemand, der sich auszukennen schien. Nach Clarias Schätzung lag dort der Fluß. Die Bäume schienen dort weniger dicht zu stehen und ermöglichten ihm, aus der Deckung heraus zu spähen. Er verweilte lautlos und lauschte dem Wispern des kühlen Windes in den duftenden Fichten. Dann sah er sie. Yob, mit hängenden Schultern und einer Hand am Hals, taumelte keine fünfzig Fuß entfernt vorüber. Hinter ihm schritt eine dunkelhäutige Frau, als gehöre ihr der Wald und alles, was dort lebte. Yob verursachte die Geräusche. Die Frau ging, als würden ihre Füße nie den Boden berühren, als schwebe sie durch die Luft. Sie gingen zielstrebig und forsch voran. Und Yob schien sehr unglücklich zu sein. Langsam ließ Cheyne den Ast sinken, den er sich vor sein Gesicht gehalten hatte. Nach wenigen Schritten hatte er Og und Claria eingeholt und gebot ihnen stehenzubleiben. »Ogwater, es ist dein alter Freund Yob. Er scheint verletzt zu sein, ist aber noch gut zu Fuß. Eine dunkelhäutige Frau geht hinter ihm her, und ich glaube, sie hat ein bestimmtes Ziel«, flüsterte er, als die drei unter den Bäumen dicht beisammensaßen. »Sie muß auch einen bestimmten Grund haben. Sie 283
wird eine Selkie sein«, erwiderte Og mit gerunzelter Stirn. »Eine Selkie?« fragte Claria. »Ja. Flußvolk, weißt du. Sie verwandeln sich von Menschen, besser gesagt: von menschenähnlichen Wesen in Ottern und so weiter; es hängt von ihrer Stammeszugehörigkeit ab. Sie leben weiter flußaufwärts im Wald, wissen aber alles, was im Wasser geschieht. Sie muß Yob am Delta entdeckt haben. Selkies lieben drei Dinge; Spiele, Flitterzeug und das Fischen. Ehe Rotapan den Silbersee vergiftete, waren sie oft dort anzutreffen.« Og lächelte. »Aber bisher bin ich noch nie so weit nach Westen gekommen. Daher rate ich nur und gehe nach dem, was die Orks und die alten Balladen erzählen.« Cheyne zog seinen Fuß über den weißen Sandboden. »Was würde sie mit einem Ork anfangen, Og?« »Oh, ich würde sagen, sie nimmt ihn mit nach Hause. Denkt daran, daß Rotapan ihren König seit Jahren im Wasserkerker gefangen hält. Wahrscheinlich plant sie einen Handel...« »Rotapan scheint mir jemand zu sein, der sich um niemanden außer sich selbst kümmert. Warum sollte er Yob auslösen?« fragte Cheyne. »Würde er auch nicht. Aber Yob würde Womba auslösen wollen«, erklärte Og. »Ich versteckte mich unter Krotas zerbrochenem Topf und hörte Rotapan sagen, daß er Womba gefangenhält, bis Yob uns alle zum Tempel zurückbringt. Eigentlich bloß unsere 284
Köpfe.« »Woher sollten die Selkies das wissen?« »Wenn sich Womba im Wasserverließ befindet, wissen sie es von Wiggulf. Er singt die ganze Zeit. Im Wasser geschieht nichts, was die Selkies nicht innerhalb einer Stunde erfahren.« »Wir sollten ihnen folgen. Wenn wir sonst nichts finden, gelangen wir wenigstens sicher durch den Wald«, meinte Cheyne und dachte an die Kanistas, die er gesehen hatte; eine müde Reisegruppe wäre das geeignete Opfer für diese Biester. Erschöpft führte er die anderen an. Claria ging in der Mitte und behielt Og im Auge, denn sie hatte gesehen, wie er nach Riolla lechzte. Der Musikmagier umklammerte das Zepter mit dem Schlangenkopf; der rote Ajada war mit einem Fetzen seines Hemdes verhüllt. Jedesmal, wenn Claria Cheyne einen Blick zuwarf, sah Og nach hinten und lauschte angestrengt auf Geräusche, die auf Verfolger schließen ließen. Insbesondere auf Riollas Stimme. Nach einer Stunde lichteten sich die Fichten ein wenig und kränkliche junge Bäumchen tauchten auf, die keine Deckung mehr boten. Cheyne ließ sie mehrere hundert Schritt zurückgehen, ohne daß sie die trockenen, raschelnden Blätter aufwühlten, die unter den Ahorn- und Hundeholzbäumen lagen. Claria bewegte sich geschickt, aber Ogwater hörte sich wie Yob an. Schließlich hielten sie am Flußufer in der Deckung einer umgestürzten Weide an. 285
»Sieht ganz so aus, als könnten wir uns jetzt waschen, Claria. Wir müssen Wasser mitnehmen, wenn wir ihnen noch weiter folgen wollen. Wie weit sind wir schon flußaufwärts gekommen?« Claria war bereits in das klare, kalte Wasser gewatet. Leichter Nebel hing über dem Fluß, und es sah aus, als hingen kleine Eiskristalle in der Luft. »Brrr! Das Wasser ist wie Eis! Um diese Zeit sollte es noch nicht so kalt sein. Die Blätter sind noch nicht einmal abgefallen«, beschwerte sie sich, planschte ein wenig herum und kam wieder heraus. »Ich kann mich erinnern, daß sich der Fluß irgendwo hier in der Nähe verbreitert. Ich habe die Stelle vier Meilen weiter eingezeichnet - eine Art Insel mitten im Fluß. Mehr zeigten die Karten der Händler nicht. Wir müßten ganz in der Nähe sein.« »Das muß der Felsen des Haupthauses sein. Wiggulfs Heim ist angeblich so groß wie ein Festsaal«, erklärte Og. »Ich kenne ein Lied...« Er begann zu summen, aber Cheyne brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. »Komm schon. Zurück in den Fluß.« »Ich nicht. Wir würden darin keine zehn Minuten aushalten«, sagte Claria fröstelnd. »Und wie sollen wir ihnen zum Haupthaus folgen? Es wird doch von Selkies bewacht, oder?« »Ich führe euch.« Alle drehten sich nach der tiefen Frauenstimme um. Vor ihnen stand lächelnd eine weibliche Selkie. 286
Neben ihr wartete Yob, der heftig zitterte und dessen Gesicht kreidebleich war. »Gehen wir. Diese Grünhaut geht sonst schnell ein. Er ist zu schwer zum Tragen, und sie treiben nicht auf dem Wasser, aber er muß noch eine Weile am Leben bleiben. Das würde ihm wohl auch gefallen. Ich mußte euch holen, weil ihr so langsam seid. Es dauert nicht mehr lange, dann fällt er um. Aber jetzt könnt ihr ihn tragen, wenn das geschieht.« Sie winkte hoheitsvoll zu Yob hinüber und deutete dann auf den beinahe unsichtbaren Pfad vor ihnen. Cheyne blickte vorsichtig über die Schulter, denn das Gefühl, verfolgt zu werden, kroch ihm den Rücken hinauf. Er erwartete, Riolla und Rotapan hinter sich zu sehen. Was er statt dessen sah, freute ihn auch nicht viel mehr. Zwei Dutzend kräftige, bärtige Männer, deren Haut die gleiche Farbe wie die der Frau hatte und die lange Korallenmesser in ihrer Hand trugen, tauchten auf und kreisten sie ein. In ihren lockigen dunklen Haaren und Bärten glänzten Wassertropfen. Muscheln und Skelette von Seepferdchen baumelten an den Ohrläppchen und um die Hälse, so wie von den Gürteln, mit denen die Gewänder aus Ghomahaut zusammengehalten wurden. »Ihr habt doch nicht etwa geglaubt, daß die Tochter des Flußkönigs allein reist, oder?« lachte Frijan. Da fiel Yob etwas ein, was ihn aus seiner Qual riß. »Tochter... Womba...«, rief er leise. »Der Tempel stürzte ein, und du bist noch dort, meine kleine 287
Blume.« Sie wünschte, er würde mit dem gräßlichen Gesang aufhören. Womba rüttelte an den Eisenstäben des Wasserkerkers und stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus, so daß der alte Selkie das traurige Lied unterbrach. »Oh, sehr gut. Noch ein wenig mehr, und wir sind draußen«, nickte er aufmunternd. »Bitte, Orkin, erzähle mir, weshalb du hier bist.« Womba hängte sich an das rostige Gitter; die Wellen schwappten ihr bis an den Hals, und sie kratzte unglücklich eine graue Alge ab, die sich an ihrem Kinn verfangen hatte. Das Salzwasser verdarb ihr Kleid, und wenn es noch höher stieg, würde sie ertrinken. Als sie nicht antwortete, wedelte der alte Selkie spielerisch mit dem Schwanz und sang weiter. Womba seufzte und überlegte, wie anstrengend es sein würde, den alten Pelzsack zu fangen und aufzufressen. Aber dann wäre sie allein hier unten, und trotz des schrecklichen Gesanges wäre das noch viel, viel schlimmer. Acht bewaffnete Orks waren nötig gewesen, um sie hierher zu schaffen. Sie mußte wirklich müde gewesen sein, sagte sie sich. So viel Schwäche war unentschuldbar. Og würde sich nach ihr sehnen... Eine große Träne bildete sich in ihrem rechten Auge und tropfte in das ansteigende Wasser. »Oh, mach es bitte nicht noch schlimmer. Das Wasser wird dich sowieso bald ertrinken lassen.« Der alte Selkie kicherte und schwamm zu ihr. Er ließ sich 288
auf dem Rücken treiben und sah sie an; Mitleid und Trauer standen in seinen großen braunen Augen. Das helle Sonnenlicht drang von außen durch die Gitterstäbe, fiel durch den Torbogen und landete an der Decke. Die Strahlen ließen seine grauen Barthaare glänzen. »Weswegen weinst du, Orkin?« quiekte er. Seine Stimme klang in Wombas Ohren schwach und eigenartig. »Was?« blubberte sie. »Ist es ein junger Krieger? Deine Mutter? Ein lange verlorener Freund?« Der alte Selkie paddelte langsam um sie herum und hielt sich gerade außer Reichweite. Die Worte hallten von den nassen, salzverkrusteten Wänden des Kerkers wider. »Ich habe ihn durch meine Schwäche beschämt; ich ließ mich gefangennehmen. Er sollte mein Gemahl werden, aber nun geht er mit ihr.« Sie brach in Tränen aus. »Wer? Wer?« »Der beste Liedermacher von ganz Almaaz: Ogwater Rifkin. Ach, meinst du die häßliche Frau? Ich weiß den Namen nicht. Es ist mir egal. Und sie stinkt.« Sie gurgelte, da sie wegen der steigenden Wellen nur stoßweise sprechen konnte. Wieder schrie sie verzweifelt auf. Ein Dröhnen über ihren Köpfen antwortete, und beide sahen gerade rechtzeitig hinauf, um zu sehen, wie sich ein großer Riß in der gewölbten Decke 289
bildete und sich vor ihren verblüfften Blicken erweiterte. Der alte Selkie klatschte begeistert in seine Pfoten, sprang vor Aufregung hin und her und tauchte unter. Als er wieder an die Oberfläche kam, hatte sich der Riß bis zum Tor ausgebreitet, und Womba hockte daneben, halb ertrunken. »Was geschieht? Der Tempel stürzt über mir zusammen! Mein Haar ... mein Hochzeitskleid! Das ist mein Hochzeitskleid!« weinte sie, heftig nach Luft ringend. »Nein, nein! Es wird alles gut. Es hat endlich geklappt! Mein Lied hat seit Jahren an den Fundamenten genagt und dein hübscher Schrei hat den Verfall ausgelöst. Siehst du, du bist gar nicht so schwach! Ha! Ich habe dein Gefängnis besiegt, Rotapan, alter Gauner! Und ich habe dich geschlagen!« brüllte er nach oben. Dann schwamm er zu Womba, die wie ein grüner Krebs am Gitter klebte. »Du mußt an den Eisenstangen rütteln. Du bist ein großes, starkes Mädchen, du kannst es schaffen. Denk an deinen Liebsten.« Durch ihre Panik war Womba bereit, Berge zu versetzen. Die kleinen gelben Augen verschwammen, und die Lippen verzogen sich zu einem Knurren, als sie ihre Schulter gegen das Gitter drückte. Sofort löste es sich aus der Verankerung. Und versank. »Nein, nein. Loslassen, Orkin! Laß das Tor los!« rief der Selkie und tauchte ihr nach. Aber Womba 290
hielt das Gitter mit tödlichem Griff gepackt. Ein Schrei kam aus ihren Lippen und erschien in großen Blasen. Der Selkie verdrehte seine Augen und versuchte, sie durch das Gewirr von Algen und Krebsen zu packen, die an dem Gitter klebten. In klarem Wasser wäre es schon schwierig gewesen, in dem schlammigen Gewühl erwies es sich jedoch als unmöglich. Wiggulf stieg auf, um nach Luft zu schnappen und fragte sich, weshalb er sich Sorgen um Womba machte. Schließlich hatten ihn ihre Leute jahrelang in diesem furchtbaren Kerker gefangengehalten. Er hatte von den Fischen, Mollusken und Krabben gelebt, die von der Flut hereingetragen wurden und die dunklen, sicheren Mauern des Verlieses schätzten. Er war trocken genug gewesen, um sich in einen Menschen zu verwandeln. Aber man hatte auch Womba eingesperrt. Das reichte eigentlich. Er tauchte noch einmal unter, fand Wombas riesige Pranke, deren Krallen noch immer an dem Gitter hingen und öffnete sein Maul, um zwei sehr scharfe Schneidezähne zu entblößen. Mit aller Kraft biß er auf die schuppigen Finger. Es half. Sie ließ die Stangen los und schlug nach ihm. Dann jagte sie ihn vom Meeresboden an die Oberfläche. Wut und Schmerz standen in ihren gelben Augen. Wiggulf entkam ihr nur mit Mühe. »Genug, Orkin! Laß das! Ich will dir nichts Böses. Du bist in Sicherheit, nicht wahr?« Er deutete auf die 291
offene See. »Wir müssen jetzt schwimmen, durch das Tor hinaus. Halte den Atem an.« Er keuchte, und Womba fletschte die Zähne und kämpfte darum, über Wasser zu bleiben. »Ich kann aber nicht schwimmen, du Ungeziefer!« heulte sie und spuckte ihn mit Wasser voll. Daran hatte Wiggulf nicht gedacht. Aber nun blieb keine Zeit mehr zum Grübeln. Der Tempel stürzte zusammen und hier und da fielen vereinzelte Knochen plätschernd ins Wasser, wie Tropfen zu Beginn eines schweren Wolkenbruchs. Er wußte, daß sie bald nicht mehr in der Lage sein würden, weit genug zu entfliehen, ehe das kopflastige Gebäude sich völlig auflöste und schwere Marmorblöcke, Monaurochenschädel und Walfischknochen auf sie fielen. Er schwamm an Womba vorbei und kniff sie; wütend folgte sie ihm und gelangte dadurch aus dem Kerker. Immer wieder umrundete er die Orkin, neckte und zwickte sie, bis sie nur noch ein paar Zoll vom Eingang entfernt war. Vor ihnen trieb etwas im Wasser: Einer von Rotapans Lieblingswasserspeiern, der aus einem Haufen großer runder Schädel gefertigt worden war, die wie Kokosnüsse auf den Wellen tanzten. Wiggulf tauchte auf und zog das floßähnliche Gebilde zu Womba herüber, die sich mit aller Kraft, die ihr noch blieb, daran festklammerte. Nachdem er sicher war, daß sie nicht untergehen würde, zog Wiggulf an den Verbindungen der Schädel und zerrte das seltsame Gefährt neben sich her. 292
Die Wellen schlugen hoch - die Flut wurde von dem Strudel beherrscht -, und er steuerte Womba weit nach rechts. In diesem Augenblick brach der obere Teil des Tempels zusammen und stürzte ins Wasser. Auf diesen Anblick hatte Wiggulf seit Jahren gewartet. Er drehte sich um, beobachtete das Schauspiel und grinste so breit, daß seine Schnurrhaare die Ohren berührten. »Ha! Du alter Giftmischer ... Erbauer von Knochenhäusern! Das ist deine eigene Schuld. Auf Wiedersehen, Rotapan!« Auch Womba blickte zurück. Hinter ihnen schlugen die Knochen auf dem Wasser auf. Die Überreste des Tempels verschwanden in einer weißen Staubwolke. Ein einzelner Stiefel, der ausgesprochen geschmacklos verziert war, trieb an Womba vorüber. »Og!« schrie sie, griff nach dem Stiefel und drückte ihn gegen die Brust. »Og ... oh, und Papa auch...«, stöhnte sie und hätte beinahe das Floß losgelassen. Wiggulf seufzte. Es war wirklich Schwerstarbeit, eine Feindin zu retten. »Halte dich fest, Orkin. Da drüben ist ein Teil der alten Brücke. Dort können wir ausruhen, bis die Flut zurückgeht. Ich werde zu meinen Leuten schwimmen und Hilfe holen. Dort wirst du in Sicherheit sein: Das Wasser klettert niemals über diese Steine, und die Säulen sind hohl - einst benutzten unsere Fischer sie als Schutz bei Stürmen.« Wiggulf zog sich auf ein paar mit Krebsen bedeck293
ten Steinen hinauf, die einmal zu den Rändern der zerstörten Brücke gehört hatten. Womba kletterte ihm nach, den Stiefel an sich gedrückt, und fiel erschöpft in einen tiefen Schlaf, sobald sie aus dem Wasser war. Die blauen Fiedler und die roten Krebse, deren Scheren beim Anblick des Fundes klapperten, schwärmten über Wombas Körper hinweg, aber Wiggulf scheuchte sie fort und probierte einen davon. Seit Jahren aß er Krebse. Und da die Krebse alles fraßen, was im See trieb, war viel Gift in ihrem Fleisch. Angeekelt spuckte Wiggulf das bittere Fleisch aus. Er mußte warten, bis er heimkehrte; es war nicht mehr weit bis zu einem ordentlichen Mahl. Er sprang ins Wasser, wusch sich den fauligen Geruch von den Pfoten und sprang wieder auf die Steine, um sich das Fell zu glätten und auf die Verwandlung zu warten. Es war Jahre her, seitdem er die Gestalt eines Menschen angenommen hatte. Er fragte sich, wie es sein würde, trocken zu sein. Sekunden später wußte er es.
294
KAPITEL 13 »Was hast du gesagt?« fauchte Frijan, »Über den Tempel?« »Er hat recht. Er stürzte ein, gerade als Og ging. Der größte Teil jedenfalls. Das letzte, was ich sah, waren sieben oder acht Stockwerke, die noch dastanden, wenngleich sie schwankten«, sagte Cheyne. »Denkst du an deinen Vater?« wandte er sich an die Selkie. »Ja. Hast du ihn gesehen?« fragte sie. »Nein. Aber wir hörten ihn, kurz bevor der Tempel einstürzte. Vielleicht konnte er entkommen.« »Vielleicht. Vielleicht steht er genau hinter euch«, ertönte eine Stimme hinter Cheyne. Frijan drehte sich mit ungläubigem Gesicht um. »Vater? Nein ... wie kann das sein? Mein Erzeuger ist kein gebückter alter Graubart.« »Und meine Tochter keine große, starke Frau. Du vergißt, Kind, wie lange ich gefangen war. Ich vergaß es auch. Es war für mich, gelinde gesprochen, ein Schreck, mich gebückt und krummbeinig zu finden. Das Gift hat mir sehr geschadet. Glücklicherweise bin ich auf die Deltawachen gestoßen, die mir diesen Fetzen liehen, um mich damit zu bedecken.« Er lehnte sich fest auf seinen frisch geschnittenen Wanderstock und deutete auf seine schlecht sitzende Tunika. Claria betrachtete sie eingehend und fand, das Muster sehe den Verzierungen sehr ähnlich, die auf 295
den Gewändern von Riollas Sklaven waren. Cheyne und Claria stellten sich vor, und als Og an der Reihe war, erschien ein seltsames Lächeln über Wiggulfs Lippen. Er hielt jedem seine kleine Hand mit den durch Schwimmhäute verbundenen Fingern entgegen. »Seid mir gegrüßt, und willkommen in meinem Königreich. Ich bin Wiggulf der Flußkönig, und ich möchte mich entschuldigen, daß ich euch nicht standesgemäßer empfangen kann. Ich bin gerade mit Hilfe einer Orkin - ausgerechnet - aus dem Wasserkerker der Wyrvils geflohen. Der Giftmischer ist tot!« Er lachte und verneigte sich mühevoll vor Cheyne, Claria und Og. Als niemand in sein Gelächter einstimmte, richtete er sich ruckartig wieder auf. »Nein, Flußkönig, das ist er nicht«, sagte Cheyne. »Was? Aber als wir flohen, sah ich den Knochentempel in den See stürzen. Rotapan verläßt ihn niemals, nur wenn er Gift in den Strudel schüttet. Aber du behauptest, er lebt?« Mit Hilfe seines Stocks kam Wiggulf näher. »Er und die sumifanische Schreefa folgen uns, Flußkönig«, erklärte Og. »Rotapan scheint zu glauben, daß ihm dieser, hm, Stein gehört.« Er hielt den Stab hoch, dessen Schlangenkopf noch immer mit dem Tuch verhüllt war. Aber das reichte schon, um Wiggulf zurückweichen zu lassen. »Woher hast du ihn?« fragte er barsch. »Wir fischten ihn aus dem Wasser, als wir vor Rotapan flohen«, antwortete Cheyne geschwind. »Der 296
Stein im Schlangenkopf gehört in Wirklichkeit Og und wurde ihm vor vielen Jahren gestohlen.« »Dann war auch unser Stein einmal deiner ... denn alle vier stammen aus der Hand eines einzigen Handwerkers und sind so geschliffen, daß sie zueinander passen. Genau wie in den alten Geschichten, die behaupten, daß unsere Welten einmal vereint waren.« Wiggulf dachte darüber nach, und ein Schatten überflog das runzlige Gesicht. »Wir müssen zum Haus eilen.« Die anderen wollten ihm folgen, aber Frijan zögerte aus Unsicherheit. Wiggulf hielt es nicht länger aus. »Bitte, komm zu mir, Frijan. Ich habe dich vermißt...«, sagte er leise und streckte seiner Tochter die dünnen Arme entgegen. Als Frijan ihren Vater umarmte, drehte sich Cheyne um und spähte in den Wald, da ihm seine letzten Worte an Javin einfielen und er von einer großen Traurigkeit erfaßt wurde. Ruckartig riß er den Kopf zur Seite. Nein, ich werde nicht zurücksehen, dachte er und biß die Zähne zusammen. Claria beobachtete ihn eingehend, sagte aber nichts. Og kam mit entsetztem Gesichtsausdruck näher und unterbrach ihren Gedankengang. »Hast du das gehört? Er sagt, Womba sei mit ihm geflohen. Das heißt, sie ist auf dem Weg hierher. Wir müssen verschwinden, so schnell wir können und in Richtung Berge eilen«, flüsterte er ihnen zu. »Warum? Die Feinde sind uns noch auf der Spur; 297
wir sind müde, hungrig und brauchen geeignete Kleidung. Ich muß in Ruhe nachdenken, und ehe wir zum Sarrazanwald gehen, brauchen wir neue Vorräte«, erklärte Cheyne. »Außer, du kannst alle diese Dinge aus der Luft herbeisingen, Og.« Er zwinkerte. »Aber vielleicht wäre das keine gute Idee. Dann würde Womba sicher noch schneller hier auftauchen...« Og gefiel Cheynes spaßige Bemerkung überhaupt nicht. Wiggulf und Frijan hörten Claria lachen und kamen näher. »Was ist mit dem da? Hat er dich angegriffen?« fragte Wiggulf und deutete auf Yob, der die ganze Zeit über halb versteckt auf dem Boden gelegen hatte. Sein Gesicht war kreidebleich, und er zitterte stark. »Nein, Vater. Ich fand ihn halb ertrunken am See. Er sollte mir als Geisel für deine Freilassung dienen. Ich habe ihn mit einer Rasiermuschel geschnitten, um ihn gefügig zu machen. Er wird bald sterben. Wir können ihn hier liegen lassen; es ist weit genug vom Haus entfernt. Die Corbies werden ihn in ein oder zwei Tagen verzehrt haben«, antwortete Frijan. Wiggulf blickte seine Tochter überrascht und enttäuscht an. »Mein Kind, die schreckliche Bürde meiner Abwesenheit hat dich verhärtet. Nein, Frijan, wir können ihn nicht sterben lassen. Das ist unnötig. Er verdient zu leben, genau wie wir.« Der alte Selkie beugte sich über den Ork und unter298
suchte den Schnitt. »Oh, es bleibt nicht mehr viel Zeit. Die Wunde eitert bereits. Einst war ein Schnitt der Rasiermuschel harmlos, aber nun, seitdem Rotapan Giftmischungen als Opfergaben für diesen nicht existierenden Wasserwurm in den See gießt, ist die kleinste Verletzung tödlich. Nun, fangen wir an. Gib mir den Stein, Mädchen.« Frijans silbrige Augen weiteten sich ungläubig. »Du willst den Stein an so einem Kerl anwenden? An einem der Feinde, die dich gefangenhielten? In deinen besten und stärksten Zeiten hat dich der Stein krank gemacht, wenn du ihn für das Lied des Lebens benutzt hast. Er wird dich in deinem Zustand umbringen.« »Also wolltest du Yob nie heilen? Du hast ihn nur benutzt, bis du bekommen würdest, was du wolltest?« fragte Og. »Du kennst diesen Ork?« fragte sie ungläubig. »Nun, er hat mir mehrere Gefallen erwiesen, könnte man sagen. Es ist eine etwas schwierige Beziehung«, erklärte Og. »Halte dich hier heraus, kleiner Mann. Für mich ist er nur ein Ork, also bin ich seine Feindin. Paß auf, daß ich nicht auch deine werde«, fauchte sie. Og hob seine Hände in die Höhe und versteckte sich hinter Cheyne. »Bitte, entweder hilft ihm jemand oder ihr tötet ihn«, mischte sich Claria ein. »Ich ertrage es nicht, ihn leiden zu sehen.« Wiggulf winkte seiner Tochter. »Ich sagte, du sollst 299
mir den Stein geben. Noch bin ich dein Vater und der König. Gehorche, Frijan.« Aus Gewohnheit fügte sich Frijan, riß den Wassersaphir aus ihrem Ohr und reichte ihn Wiggulf. »Ich kann das nicht mit ansehen! Nach all diesen Jahren, die ich so lange gehofft und gewartet habe, kommst du zurück, und nun willst du wieder gehen, diesmal für immer. Wegen einer dreckigen Grünhaut!« Sie lief in den Wald und ließ Wiggulf zurück, der den Stein gegen die Brust drückte und ihr traurig nachsah. »Ich liebe dich, Frijan«, flüsterte er, wußte aber, daß sie ihn nicht hörte. »Du hast mein Reich gut verwaltet. Aber ich bin der König, und dieses Wesen ist nicht aus freiem Willen hier. Sein Blut klebt an unseren Händen. Es ist wahr, daß sein Volk uns nicht helfen würde. Die letzten zehn Jahre verbrachte ich im Gefängnis des Feindes. Jetzt, da ich frei bin, möchte ich nicht so handeln wie er. Das Lied des Lebens muß gesungen werden.« Er schloß seine sanften Augen und begann zu summen. Der Wassersaphir glänzte und glitzerte; die Farben wandelten sich vom tiefsten Violett zu hellem Blau und umgekehrt. Wiggulfs Kraft schien sich entsprechend der Farben zu verhalten. »Können wir ihm nicht helfen?« sagte Claria leise. »Nicht daß ich wüßte. Die Steine gehören Og. Ich weiß nichts über ihre Kraft«, antwortete Cheyne hilflos. Hinter ihnen murrte Og und schritt auf und ab. 300
»So wird Wiggulf sterben. Zuviel wahllose Kraft. Sie wird sein Herz anhalten. Er kann den Ton nicht richtig hinkriegen und außerhalb seines Körpers lenken, ohne...« Og hielt inne, da er plötzlich bemerkte, daß Cheyne ihn anstarrte. »Ohne was, Og?« Og runzelte die Stirn und hielt den verhüllten Stab in die Höhe. »Ohne den Ajada. Aber ich habe das Lied des Lebens schon ewig nicht mehr gesungen. Wenn ich es versuche und beide Steine anwende und die Noten nicht treffe, würde ich sterben und Yob auch. Und Wiggulf kann beide Steine nicht schaffen. Das Lied ist sehr mächtig«, fügte er traurig hinzu. »Viel mächtiger als das, was ich in der Oase für Yob und seine Leute gesungen habe. Erinnert ihr euch daran, wie ich den Ton nicht mehr abbrechen konnte?« Cheyne nickte und drehte sich nach Wiggulf um, der heftig zitterte und nach Luft rang. Yob lag mit bleichem und schlaffem Gesicht ausgestreckt auf dem Waldboden. Wiggulf hob den silbrigen Kopf und verausgabte sich pausenlos. Aber auch ergebnislos. Og hielt es nicht länger aus. Er drängte sich zwischen Cheyne und Claria und legte dem alten Selkie die Hand auf den Kopf. Wiggulf öffnete die Augen und sah, daß es Yob nicht besser ging. »Laß mich einen Versuch wagen, Wiggulf. Ich habe den zweiten Stein. Vielleicht hilft das, vielleicht 301
auch nicht. Das Ergebnis kann ich natürlich nicht voraussagen.« Og lachte unsicher und enthüllte den Stab. Sofort glühte der Ajada rot auf. Wiggulf wich augenblicklich zurück. »Nein, das kann ich nicht. Er liegt in meiner Hand, und ich bin dafür verantwortlich. Und bitte steck den Stab des Giftmischers weg!« keuchte Wiggulf mit ebenso blassem Gesicht wie Yob. »Der Ajada ist genausowenig böse wie dein Stein, Wiggulf. Der Anwender weist der Magie den Weg«, erklärte Og. »Ich stehe dir zu Diensten, Wiggulf. Du bist der König. Bitte, wir haben wenig Zeit. Und deine Tochter könnte ihren Vater behalten. Ich möchte es versuchen, und ich glaube...« Er holte tief Luft und sah zu Cheyne hinüber, da er wußte, daß der Selkie noch nicht überzeugt war. Cheyne nickte sanft und ließ Og nicht aus den Augen. »...ich kann es schaffen«, endete er bestimmt. »Bitte, Vater. Laß ihn«, sagte eine leise Stimme. Frijan trat zwischen den Bäumen heraus und stellte sich neben ihn. »Yob atmet nicht mehr«, sagte Claria, die auf die Brust des Orks starrte. »Ich werde es dich unter einer Bedingung versuchen lassen«, keuchte Wiggulf. »Ich gelobte, daß der Stab des Giftmischers niemals in meinem Reich regieren darf. Zerbrich ihn, und nimm den Stein aus dem Kopf der Schlange. Dann magst du es versuchen.« 302
»Einverstanden«, sagte Og sofort. Cheyne schnappte sich den Stab und schlug so lange auf einen Stein, bis sich der rote Ajada löste, dann zertrat er den Stab schnell unter seinem Absatz. Claria nahm den Ajada, und Wiggulf legte Og die Hand auf den Kopf, sprach ein Wort, das niemand verstehen konnte und wechselte den Platz mit dem Musikmagier. Og lächelte schwach, nahm den Ajada entgegen, und während er in jeder Hand einen magischen Stein hielt, stimmte er das Lied an, das Wiggulf eben versucht hatte. Der Wassersaphir schien in Ogs Hand in Flammen aufzugehen; die dunkelblauen Tiefen nahmen mit jeder Note des Liedes an Lebendigkeit zu. Wieder erschien das eigentümliche Licht über Ogs Kopf, und der rote Glanz des Ajadas vermischte sich mit dem blauvioletten Leuchten des Wassersaphirs. Cheyne vermochte seinen Augen kaum zu trauen, noch weniger seinen Ohren. Ogs Stimme klang voll, wohltönend und klar. Claria standen Tränen in den Augen, die ihr wahllos über das Gesicht liefen. Frijan brach in glückliches Lachen aus, als Wiggulfs Beine und sein Rücken gerade wurden, und die tödliche Blässe wich aus Yobs Gesicht. Als Og fertig war, verlosch das Licht der Steine. Die Haut an Clarias Knöchel war wieder glatt, Cheynes Hals schmerzte nicht mehr, der Selkiekönig stand aus eigener Kraft auf und war begeistert, daß sein verknöcherter Körper wieder heil und kräftig war. 303
Und Yob erwachte. »Wo bin ich? Was ist das hier für ein Ort? Womba?« krächzte er heiser und stützte sich auf seine mit Schwielen vollen Ellbogen. »Du befindest dich im Land des Königs der Selkies, Wiggulf«, erklärte Cheyne. »Und Ogwater hat dich von deiner letzten Reise zurückgeholt, Yob.« »Auch deine Tochter ist in Sicherheit, Ork. Wir sind gemeinsam entkommen; sie riß das Kerkertor heraus. Wir sind in die Mitte des Sees geschwommen. Ich sagte ihr, sie solle im Schutz der alten Brücke warten, bis ich Hilfe holen würde. Es wird eine Weile dauern, bis meine Leute ein Floß für sie gezimmert haben, aber bald ist sie hier«, sagte Wiggulf. Yob grinste breit und stürzte sich auf den Magier, um ihn zu umarmen. Anscheinend war seine Kraft vollständig zurückgekehrt. »Das werde ich nie vergessen. Mein Haus wird mein Leben lang in deiner Schuld stehen, Og«, erklärte Yob. Dann blickte er verwirrt drein und bekam eine Gänsehaut. Er setzte Og ab. »Ich fror und war müde. Dann sah ich das Land hinter den Hügeln. Ich sah die Alten, die dort warteten. Ich sah eine große Stadt voller glänzender Dinge, seltsamer Maschinen und vielen Knochen. Wo war dieser Ort? Ich habe keinen von euch dort gesehen. Dann hörte ich ein schreckliches Geräusch, wie deinen Gesang, nur schlechter. Der Laut bohrte sich in meine Brust, schmerzte wie ein 304
Dolch und zog mich aus der Finsternis, und dann war ich hier.« Er sah sich erstaunt um. »Was machst du mit Rotapans Stab, Og?« »Äh, es wird gar nicht weh tun. Bleib einfach stehen, Yob«, sagte Og, hob den zerbrochenen Stab auf und schlug Yob mit dem Bronzeschmuck auf den Kopf. Der Hieb hätte einen Mann getötet, aber plötzlich klärte sich Yobs Blick und er grinste. »Fühlst du dich jetzt besser? Du hattest noch ein paar Todesträume in dir. Die wirst du aber schnell vergessen.« Og warf den Stab fort. »Was denn?« erkundigte sich Yob, »Ich habe Hunger. Laßt uns jagen gehen.« »Nein, nein, wir speisen in meinem Haus. Ihr werdet meine Heimkehr durch eure Gegenwart beehren.« Wiggulf lachte. »Frijan, laß uns unsere Gäste an einen reich gedeckten Tisch führen. Befiehl den Wachen, für ein Festmahl zu fischen. Heute abend wird es fröhlich zugehen.« »Aber Vater, wir haben so wenig. Wie...«, begann Frijan. »Der Tisch einer großzügigen Person wird niemals leer bleiben, Tochter. Wir haben reichlich«, beruhigte er sie. »Wenn es sonst nichts gibt, Krebse gibt es im Überfluß.« Saelin wachte auf und fand eine Fiedlerkrabbe auf 305
seinem Gesicht sitzend. Ein paar weitere Hundert krochen ihm über die Brust. Er lag ausgestreckt auf einem der Pfeiler der alten Brücke, nicht weit vom Ufer entfernt. Saelin setzte sich ruckartig auf, und als die Krabben davoneilten, versuchte die erste, sich in einem Nasenloch zu verkriechen. Saelin schlug fest nach ihr und zuckte vor Schmerz zusammen, weil er sein sonnenverbranntes Gesicht traf, das durch die Spuren von Clarias Kämmen noch sehr empfindlich war. Der Meuchler brüllte und atmete tief, bis die hilflose Krabbe fort war. Dann setzte er sich wieder hin, um sich vorzustellen, auf wieviel Arten er Riolla ungestraft töten konnte. Die Sonne sank, und die Wellen des Silbersees beruhigten sich zu sanften kleinen Wogen. »Bei Nins leerem Glas, ich muß den ganzen Tag hier gelegen haben«, murmelte Saelin und schlug erneut nach den neugierigen Krabben, die sich wieder aus der Deckung herausgewagt hatten. Sofort verschwanden sie wieder in den dunklen Tunneln und zuckten mit ihren blau-roten Klauen. Saelin sah ihre kleinen blauen Augen funkeln, die auf den Fühlern über dem Kopf thronten. »Bleibt da, sonst esse ich euch alle auf!« drohte er. Sofort erinnerte ihn sein Magen daran, daß er seit gestern nichts mehr gegessen hatte. Es war Zeit, zur Küste zu schwimmen, sonst würde er die ganze Nacht festsitzen, und im feuchten, kalten Nebel zittern. Seine Oberbekleidung war verschwunden und vom 306
Strudel aufgesogen worden. Wenn er hierblieb, würde er erfrieren. Er schaute auf den Strand und das Wasser hinaus. Er mußte es tun. Saelin zog die kurze Tunika aus, rollte sie fest zusammen und schlang sie um seine Schultern. Er hoffte, so den Sog des Wassers ein wenig abzuhalten, wenn er schwamm. Er biß die Zähne zusammen, glättete den schwarzen Schnurrbart und sprang in den kalten See. Dabei dachte er an die kleine Musikuhr, die er gefunden und in der Sänfte gelassen hatte und fragte sich, ob sie die Reise überstanden hatte. Ihm schossen Gedanken an die Kohli, die sie ihm einbringen würde, durch den Kopf: Er würde sie in Raqaläden ausgeben und vor den Mitgliedern der Gilden prahlen, daß er noch nie einen Kopf verfehlt habe, nach dem man ihn geschickt hatte. Die Erinnerung an Cheynes unglaubliche Flucht bei ihrem ersten Treffen brannte sich mit jedem Schwimmzug tiefer in sein Hirn. Und die Kämme dieser Frau! Die frischen Wunden brannten vom Salzwasser. In seinem hübschen Gesicht würden Narben bleiben! Die Kämme würde er als Trophäe zurückbringen - vielleicht würde er sogar den Ausgräber damit töten, wenn er mit dem Mädchen fertig war. Als er das Ufer erreichte, war er überzeugt, daß er die kleine Uhr finden würde und hatte seine Meinung über Riolla geändert. Aber nicht über Cheyne. Weit entfernt, den Strand entlang, zog sich Javin aus den Wellen. In seiner gesunden Hand hielt er ein 307
verpacktes Bündel, das mit einem roten Band verschnürt war. Er hatte es aus dem Wrack von Riollas Sänfte gefischt. »Was ist das, Muje?« fragte Doulos und warf Seewasser aus. »Es sieht aus wie eine kleine Uhr - ist sehr alt. Sie scheint trotz allem noch trocken zu sein. Fast wie wir. Danke, daß du mir im Wasser geholfen hast - ohne dich hätte ich es nie geschafft. Wo hast du so gut schwimmen gelernt, Doulos?« Javin setzte sich hin und schüttelte die Uhr ein wenig. Nachdem er zufrieden feststellte, daß sie wirklich wasserdicht war, machte er sich an die Arbeit. »Oh, man braucht einen Schlüssel«, sagte er, als er sie umdrehte. »Ich habe im sumifanischen Fluß schwimmen gelernt, Muje. Während der Regenzeit, wenn ich nicht als Träger des alten Königs arbeitete, war ich mit den Vögeln am Fluß. Wir waren noch Kinder, als mein Bruder Rafek wegging, und wir hatten zwölf Kormorane, die Fische für uns fingen. Der Prinz verkaufte die Fische für viele Kohli.« Doulos' Augen folgten dem Flug eines Wasservogels zum anderen Ende des Sees. »Ich vermisse meine Vögel, aber nun wird mein Freund für sie sorgen«, erzählte er und fischte den Speer eines ertrunkenen Orks aus dem Wasser, der wenige Fuß entfernt trieb. »Muje, verlorene Gegenstände finden immer den Weg zurück. Wenn es einen Schlüssel für deine Uhr gibt, 308
werden wir ihn finden.« Doulos lächelte. Javin lächelte zurück, um ihn in dem Glauben zu lassen. »Es ist ein seltenes Stück. Wahrscheinlich...« Javin versuchte, einen Fleck vom Boden der Uhr wegzuwischen. Es ging nicht. Geduldig wartete Doulos, bis er fertig würde. Der Fleck sah wie eine Glyphe aus. Tatsächlich schien es die gleiche zu sein, die auch Cheynes Amulett zierte. »Muje, sieh deine Hand an.« Doulos runzelte die Stirn. Javin setzte die Uhr ab. Der Skorpionstich war wieder angeschwollen, trotz des kalten Wassers und der Zugkraft des Salzes. Die Wunde verfärbte sich schwarz und mußte ausgeschnitten werden, ehe sie weitergehen konnten. Javin zog sein Messer hervor, stieß es ein paarmal fest in den Sand und schlug mit dem Feuerstein gegen einen Felsen. Er hielt das Messer über den Feuerstein und führte die glühende Spitze an die geschwollenen Wunde. Als Javin wieder zu sich kam, goß ihm Doulos aus einer Muschel Wasser über das Gesicht. »Keine Angst, Muje. Es war nicht lange. Aber der Meuchler ist keine fünfzig Fuß von uns entfernt vorbeigekommen. Er ging in Richtung Berge. Er wird versuchen, seine Leute einzuholen. Du solltest dich eine Weile ausruhen. Sie nehmen die einfache Straße. Die Schreefa geht jetzt zu Fuß.« Er lachte. »Ich glaube, sie nimmt die alte Karawanenstraße, also muß auch dein Sohn dort sein. Wahrscheinlich ist sie zugewachsen, 309
aber trotzdem besser begehbar als der Rest des Waldes.« »Ich kenne den Weg, Doulos. Los jetzt. Sonst wird es dunkel. Ich bin bereit. Wir müssen Cheyne finden.«
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KAPITEL 14 Als die sonderbare Gruppe flußaufwärts zum Haus des Flußkönigs wanderte, blieb Og ein Stück zurück und gesellte sich zu Wiggulf. »Äh, König, ich frage mich, ob du mir ein bißchen genauer sagen kannst, wann die, äh, Orkin die Brücke verließ und dein Heim erreichen wird, um ihren Vater zu treffen...«, flüsterte er beunruhigt, da er fürchtete, Yob könne ihn hören. Wiggulf wandte sich ihm zu und lächelte; seine weißen Vorderzähne leuchteten in der Dunkelheit strahlend weiß. »O ja, natürlich. Nun, ich denke, sie wird bald hier sein, wenn die Wachen nichts Ungewöhnliches bemerken. Ich nehme an, du erwiderst ihre Liebe nicht.« »Vor Jahren wurde ich einer anderen versprochen«, betonte Og geziert, als Yobs linkes Ohr in seine Richtung zuckte. »Dieses Versprechen könnte ich nie brechen.« »Ich verstehe«, nickte Wiggulf grinsend. »Bald, sagst du? Was heißt bald, König?« Og wartete auf genauere Angaben, aber der alte Selkie schwieg und lächelte eigentümlich. Der Magier gab auf und gesellte sich wieder zu Cheyne und Claria. »Sie kommt. Was sollen wir tun? Ihr wißt, wieviel Ärger Womba bereiten kann. Wenn sie mich sieht, wird sie mich nie wieder gehen lassen. Ihr müßt mich beschützen«, flehte er. Cheyne schüttelte den Kopf. 311
»Og, du hast uns gerade über das Wasser gesungen, Schlangen abgewehrt und Yob zum Leben erweckt. Was sollen wir tun, um dich zu schützen? Du hast doch die Hälfte deiner Steine wieder, falls es dir noch nicht aufgefallen ist.« Da erst fiel Og auf, daß Wiggulf nicht verlangt hatte, den Wassersaphir zurückzubekommen. Seltsamerweise hatte Og nicht vor, das Juwel zu stehlen. Er öffnete seine Hand und sah den Stein an. »O ja, so ist es«, sagte er leise. Die nächste Meile legten sie in kameradschaftlichem Schweigen zurück und beobachteten die Gegend nach unerwünschter Gesellschaft, obwohl Wiggulf mit Cheyne übereinstimmte, es sei unwahrscheinlich, daß Rotapan ihnen folgen würde, bevor er Verstärkung geholt hatte, jetzt, da Og den Stein besaß. Aber Riolla war alles zuzutrauen. Und schnell erinnerte sich Wiggulf daran, daß sie sich vor langer Zeit mit Drufalden, der Eiskönigin, und anderen Erzfeinden der Selkies verbündet hatte. Ungefähr eine Meile von dem Haus entfernt hielten sie auf einer Anhöhe an. Der Späher, ein Mann mit kupferfarbener Haut und kurzen, blonden Haaren grüßte Frijan, mußte aber erst erklärt bekommen, daß auch der König anwesend war. »Vergib mir, König, und sei herzlich willkommen!« Der junge Mann war durch Wiggulfs verändertes Aussehen so verstört, daß er nur noch das Korallenmesser in die Scheide steckte und sich tief verneig312
te. »Es ist viele Gezeiten her, daß du daheim warst. Hier gab es heute viel Unruhe. Wir sahen eine Gruppe von drei Leuten auf der alten Karawanenstraße gehen, hinter denen zwei andere Menschen herschlichen. Die erste Gruppe schien zum Berg der Königin zu wollen, die übrigen verfolgten sie. Alle trugen die Kapuzen tief über den Kopf gezogen und gingen zu Fuß. Wir kennen ihre Namen nicht, aber sonderbarerweise erinnerte uns einer von ihnen an den Wyrvilherrscher.« »Danke, Dunsan. Wir gehen zum Haus. Schicke Boten voraus«, sagte Wiggulf. »Halte gut Wache, mein Freund. Du bist das Ebenbild deines Vaters, weißt du.« »Gute Reise, König«, wünschte Dunsan herzlich, hatte die Augen aber schon wieder auf die Straße gerichtet. Wiggulf führte sie wortlos weiter; er dachte über das Gehörte nach. Je mehr sie sich dem Haus näherten, desto dichter schien der Wald zu werden. Leichter Nebel war zwischen den Bäumen. Die Nachtvögel flogen von Ast zu Ast und warteten auf kleine Beutetiere, die vor dem Rascheln der vielen müden und stolpernden Füße flohen. »Was glaubst du, plant Riolla?« flüsterte Claria Cheyne zu. »Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, daß ich keine Ahnung habe? Ich bin sicher, daß es mit dem Totem zusammenhängt, aber mehr weiß ich auch 313
nicht.« Claria zog sich die Kämme aus dem Haar und versuchte, es zu ordnen. »Was ist mit deiner Familie? Bist du allein?« fragte sie. »Was soll mit ihr sein? Ich habe bloß Javin. Er ist nur mein Pflegevater, nicht mein leiblicher. Und jetzt ist er gerade vollauf damit beschäftigt, sich Sorgen um mich zu machen und wird niemals herausfinden, wo ich stecke.« Erstaunt fragte Claria: »Du weißt nichts über deine Familie? Du hast keinen Namen? Aber du bist Ausländer - sicher hast du einen Namen aus deinem Heimatland.« »Habe ich dir vielleicht einen genannt? Nein, ich habe keinen Namen. Auch kein Heimatland. Deshalb reise ich zum Sarrazanwald. Die Elfen...« »Das ist also dein Endziel? Cheyne, es gibt keine Karten vom Grenzgebiet. Der Ort ist so seltsam, daß sich sogar die Zeit dort verändert. Die Elfen verlassen den Wald nur, um Waren zu verkaufen. Wieso denkst du, du kannst sie finden, wenn sie es nicht wünschen?« »Ich habe einen Elfen in Sumifa gesehen. Sie sind die einzigen Wesen, die etwas wissen könnten.« »Das ist absurd. In Sumifa gibt es keine Elfen mehr, seit...« »Ich weiß, seit der Wanderung.« Cheyne seufzte und rief sich ins Gedächtnis, daß er diese Antwort immer erhielt, als er den großen Elfen in der Stadt 314
suchte. »Aber ich habe einen gesehen, und wenn er nicht mehr in Sumifa ist, so weiß ich doch, daß er aus dem Sarrazanwald stammt. Wie ich bereits sagte: Die elfischen Töpfer werden es wissen.« »Was wissen?« »Es geht um die letzte Glyphe auf dem Totem, die ich bei der Ausgrabung fand. Sie kennen die Sprache. Sie verzieren ihre Gegenstände damit.« »Das Totem ... das ist dein Ziel, nicht wahr? Du glaubst, das Totem stamme von deiner wahren Familie.« Zum ersten Mal, seitdem sie Kalkuks Kiste geöffnet hatte, tauchte das Bild der Uhr mit der entsprechenden Glyphe vor ihr auf. »Was hat das mit der Armageddon-Uhr zu tun? Ich dachte, wir suchen danach.« »Bestimmt ist das Riollas Ziel. Und auch Ogs und anscheinend auch deines. Ich habe dir schon in Sumifa gesagt, daß ich kein Schatzsucher bin.« Claria zuckte zusammen. »Das hast du. Stimmt. Ich habe dir aber nicht geglaubt. Ich kannte noch keinen Mann, der ein Meer durchquert, mit Schlangen kämpft und durch Wüsten zieht, wenn es nicht um etwas Wertvolles geht. Du bist ein ungewöhnlicher Mann, Cheyne ... verzeih mir.« »Ist schon in Ordnung. Tut mir leid, daß du nicht das bekommst, was du dir gewünscht hast.« »Ich habe auch keinen Namen«, fuhr sie fort, seine letzte Bemerkung außer acht lassend. »Ich sollte einen bekommen - Maceo wollte mir seinen Namen geben. 315
Ich wäre Königin geworden. Die Leute hätten mich geachtet, mich zum Tee eingeladen und ihre Kinder nach mir benannt. Ich hätte nie mehr arbeiten müssen - Neffianer hätten es getan. Aber das ist nun vorbei.« »Wenn das die einzige Möglichkeit war, wäre ich an deiner Stelle nicht sehr traurig, daß es nicht geklappt hat.« »Woher willst du wissen, was es heißt, in Sumifa ohne Namen zu leben? Woher willst du wissen, wie das ist? Die Leute sehen dich nicht an, sehen dir nicht in die Augen. Sie reden über dich, als wärst du nicht im Raum, wenn sie dich überhaupt in den Raum lassen.« »Ich meinte bloß, daß du mir als jemand erscheinst, der mehr vom Leben erwartet, als bloß bedient zu werden.« »Ach, und was?« »Nun, eine Herausforderung zum Beispiel, die deine Fähigkeiten leuchten läßt und dich wach hält. Du gehst mit diesen Kämmen um wie die Meuchler mit den Klingen. Du weichst keinem Kampf aus - im Gegenteil, ich vermute, daß du ihn manchmal sogar suchst, stimmts? So eine Frau will doch nicht herumsitzen und sich bedienen lassen.« Claria wandte ihren Kopf ab und die Dunkelheit ließ nicht erkennen, wie geschmeichelt sie war. Etwas an diesem kühlen Ausländer verwirrte sie und führte dazu, sich selbst anders zu sehen, als sie es bisher getan hatte. Eigentlich gefiel ihr das recht gut. Zwar 316
war sie durch die Wüste gereist, von Feinden angegriffen geworden und gegen die Strömung und die Zeit geschwommen, um ihr Leben zu retten, aber nie hatte sie sich früher, in der Stadt, besser gefühlt als jetzt. Und Cheyne sah gar nicht übel aus. Und er hatte recht. Hier draußen war der Gedanke, Königin der Zitadelle zu sein, weniger anziehend. Sie wog alles, das sie bei Maceo gehabt hatte, gegen das auf, was sie nun hatte - das einzige, was ihr wirklich gehörte, war die Uhr. Jetzt erschien ihr das Leben ausgewogen. Sie rätselte herum, was die übereinstimmenden Glyphen wohl bedeuten mochten und war sich darüber im klaren, daß sie Cheyne davon erzählen mußte, auch wenn das bedeutete, daß sie ihr Erbe vielleicht nicht antreten konnte. »Ich muß dir etwas sagen...«, begann sie mit schwacher Stimme, aber er hörte nicht zu. »Sieh nur, das muß die schwimmende Stadt sein.« Er wies durch die Bäume hindurch auf etwas, das wie ein schwimmender Wald aussah. Holz und Äste schienen auf einem Felsstück befestigt worden zu sein, das auf dem ruhigen Wasser trieb. Überall am Ufer schwammen kleine Holzstücke, die eine gefrorene, eisige Hecke bildeten. Wiggulf hielt an, um seine alte Heimat zu betrachten. Dann begann er zu weinen, »Was ist denn nur geschehen?« »Die Eiskönigin hat die Mutterströme eingefroren, Vater. Kaum noch ein Rinnsal blieb von dem mächti317
gen Fluß, der einmal unter unseren Füßen floß. Unsere Leute hungern nach Fisch und jagen nun im Wald - ich habe doch versucht, dir zu erklären, wie wenig Nahrung wir haben. Aber nun bist du wieder da. Nun wird sich alles ändern.« »Ich finde, der Fluß sieht ziemlich tief aus«, meinte Og. Langsam schüttelte Wiggulf den Kopf. »Nicht einmal ein Zehntel ist noch da. Der Fels war sonst nicht zu sehen. Dort, wo der Strom unter dem Haus fließt, kann man noch sehen, wie es einmal war.« Cheyne mußte sich anstrengen, um sich auf die nebelumwobene Insel in der Flußmitte zu konzentrieren, aber nach einer Weile, als er eingehend auf die Stelle starrte, erkannte er sie besser. Er konnte etwas ausmachen, was wie ein riesiger Zaun aussah - hohe Bäume, die gefällt worden waren und auf einem Haufen lagen, um eine Barriere zu bilden. Und zwar eine sehr zweckmäßige, dachte er. Wenn jemand versuchte, darauf herumzulaufen, würde er unweigerlich fallen, und wenn ihn das kalte Wasser nicht umbrachte, konnten die gegeneinanderschlagenden Stämme jeden Schwimmer zermalmen, ehe er zum Haus gelangte. Plötzlich tauchten sechs weitere Selkies im Nebel auf und grüßten Frijan. »Euer König ist da. Macht Platz für ihn und seine Gäste«, verkündete sie, und sofort tauchten sie unter den eisigen Stämmen hindurch und verschwanden im dunklen Wasser. Kurz darauf teilten sich die verkeil318
ten Bäume, und mehrere große Ottern tauchten auf. »Geh schon, Ork. Sie passen auf, daß du nicht ertrinkst. Leg dich hin und entspanne dich«, sagte Wiggulf. Yob gehorchte, da er sich nicht kräftig genug fühlte, um Widerspruch zu leisten. Die Ottern fingen ihn auf und zerrten ihn zur Insel, aber sein Kopf geriet nicht ein einziges Mal unter Wasser. »Kannst du nicht zaubern, Og? Ich möchte nicht schon wieder ins Wasser gehen.« Stirnrunzelnd stand Claria am Ufer. »Wenn du gestattest, ich bin ein wenig müde. Und seitdem wir Sumifa verließen, hatte ich nichts zu trinken«, sagte Og, dessen Augen hinter der riesigen, sonnenverbrannten Nase verschwommen und müde aussahen. »Sind hier keine Boote?« erkundigte sich Cheyne. »Wir haben nichts, was unseren Feinden den Zugang ermöglicht. Leider birgt das auch für unsere Freunde Schwierigkeiten. Aber ihr seid schnell drüben, obwohl das Wasser unnatürlich kalt ist«, erklärte Frijan. »Konzentriert euch auf eure Atmung und denkt daran, daß wir euch helfen, wenn ihr nicht weiter könnt.« Claria biß die Zähne zusammen und ging ins Wasser; Og folgte ihr mit Cheynes Hilfe. Wiggulf und Frijan kamen als letzte und waren nur als schmale, dunkle Schatten zu erkennen. Als das kalte, schwarze Wasser Cheyne umgab, 319
fühlte er, wie das Salz der See von den sanften Wellen fortgespült wurde. Hätte sich Og nicht an seinen Rücken geklammert, hätte er einschlafen können, wäre er friedlich in die eisige Kälte hinabgesunken und hätte vergessen, warum er jemals an einen anderen Ort gewollt hatte. Schließlich stieß ihn Claria an, und er griff ermattet nach dem Felsen, der vor ihm auftauchte. »Cheyne, geht es dir gut?« Sie kroch näher zu ihm heran. »Ich glaube schon. Ja.« Er schüttelte den Kopf, um klarer denken zu können. Ein paar Sekunden vergingen, bis Wiggulf und Frijan auftauchten. »Das habt ihr gut gemacht. Trotz unserer Bemühungen ist das Wasser mit Schlaf des Todes verseucht, der aus Drufaldens kaltem Herz stammt. Laßt uns hineingehen, zum Feuer. Ihr zittert«, sagte Frijan und kletterte über die glatten Steine auf ein hölzernes Podest. Og legte sein Bündel ab und war klitschnaß, während er den blau-violetten Ohrring der Selkie betrachtete, den er noch immer in seiner Hand hielt. »Ich kann euch vielleicht helfen«, stammelte er zähneklappernd. »Aber dazu muß ich den Stein behalten«, fügte er leise hinzu und sah Wiggulf an. »Derzeit kennt meine Tochter die Beziehungen zwischen uns und Drufalden viel besser als ich, Ogwater. Ich muß es ihr überlassen.« Frijan zuckte die Achseln und zeigte auf die Tür. 320
»Wenn Drufaldens Herz taut, wird der Fluß wärmer, und die Fische kehren zurück. Bis dahin leiden wir unter dem eisigen Fluch. Und wir brauchen den Stein. Ich kann ihn nicht aufgeben.« - »Aber ich könnte dir wirklich helfen. Was den Fluß angeht«, erklärte der Magier und reichte Frijan zögernd den Wassersaphir, während Cheyne ihn beobachtete. Frijan sah ihn lange an, dann drehte sie sich um und schaute zu ihrem Vater. »Na gut, wir werden uns beraten.« Cheyne und Claria halfen Yob die schlüpfrigen, eisverkrusteten Stufen hinauf, und schon bald ruhten sie sich in der großen Halle des Hauses vor einem prasselnden Holzfeuer aus. »Geh schneller, Rotapan. Noch nie im Leben war mir so kalt«, nörgelte Riolla mit klappernden Zähnen. »Wie kann Drufalden das nur ertragen?« Sie zog das dünne Seidengewand fester um die Schultern und versetzte dem Halbork einen leichten Tritt. Er fletschte mit seinen scharfen kleinen Zähnen, erinnerte sich dann aber an Saelin, der sich ihnen vor kurzer Zeit wortlos angeschlossen hatte, und beschleunigte seine Schritte. Der Weg war beschwerlich. Drufaldens Berg war ein ausgebrannter Vulkan, dessen Seiten abwechselnd mit dicken Eisschichten und alten Lavabrocken bedeckt waren, über denen sich Asche und Glas abgelagert hatten. Hier und dort 321
boten Dampfschlitze Erleichterung von der eisigen Luft und der öden Landschaft. Sie waren von grünen Stellen umgeben und wirkten wie winzige Oasen. »Schau nur - ich sehe Dampf aufsteigen, geehrte Schreefa. Vielleicht gibt es dort eine warme Quelle.« Saelin deutete auf eine vor ihnen liegende weiße Dampfwolke. »Außerdem wird es dunkel. Vielleicht wäre es dieser unglücklichen Wanderung vorzuziehen, ein Lager aufzuschlagen?« »Ja, ich denke, dort könnte eine warme Quelle sein. Auf der alten Karawanenstraße gab es eine, das weiß ich noch. Vielleicht kann ich mich dort aufwärmen.« Sie trat noch einmal nach Rotapan und schob ihn zu Saelins Erleichterung auf den Dampf zu. »Wir lagern, Rotapan. Du wirst den Berg hinaufklettern, die Vorkehrungen für die Bewaffneten treffen und dann zu uns zurückkehren.« »Was? Bin ich nicht genauso matt wie du? Du willst mich allein da hinauf schicken?« jammerte Rotapan. Riolla schnitt ihm eine Grimasse und betrat den winzigen, aber dichten Dschungel, der um die warme Quelle herum wuchs. Von den riesigen pfeilförmigen Blättern tropfte Wasser, und die warme Quelle füllte die Luft mit ihrem tröstlichen Plätschern. »Deine Erzfeindin hat zur Zeit genauso wenig Macht wie du. Ich weiß aus bester Quelle, daß sie dich empfangen wird. Saelin wird dich als Leibwächter begleiten. Hör auf zu wimmern, Rotapan«, fauchte 322
sie und bedeutete dem enttäuschten Saelin, etwas Eßbares zu suchen. »Drufaldens Spione haben ihr berichtet, daß wir hier sind. Sie haben ihre Augen überall. Vergißt du, für wen ich handle? Ich bin sicher, daß sie dir zuhört, wenn du erklärst, daß der Raptor es wünscht. Hier, nimm das.« Sie reichte ihm die Münze, die ihr der Raptor gegeben hatte. Rotapan starrte gebannt auf die Goldmünze, ehe er sie in die Tasche steckte. Riolla pflückte eine gefleckte Orchideenblüte von einem Ast und steckte sie sich in das Haar. Saelin nahm sein letztes bißchen Geduld zusammen, zog einen kleinen Baum herab und schnitt ein Bündel reifer Miniaturbananen für sie ab. Lautlos verzog Rotapan abfällig den Mund und machte sich daran, den Berg hinauf zu klettern, auf die eisbedeckte Burg zu. Saelin blieb dicht hinter ihm; Riollas neue Anweisungen klangen ihm noch in den Ohren. Hoch oben, auf der nebelverhangenen Spitze des alten Vulkans, glaubte Rotapan einen dunklen Wirbelwind zu sehen, der den Schnee zu einem wüsten Sturm aufpeitschte. »Verletze den jungen Mann nicht. Berühre ihn auch nicht und sorge dafür, daß ihn auch deine Rimscallawachen nicht anfassen«, sagte der Raptor. Drufaldens blasse, fast farblose Augen folgten der schattenhaften Gestalt, die in ihren Gemächern auf und ab ging. Sie sah den Schwung des purpurnen 323
Umhangs, der über den polierten Boden glitt, ihn aber nie richtig berührte. Das Klicken der Absätze des Raptors hallte durch die langen Flure aus Eis und perlte von den Steintorbögen ab wie Wasser. Hier, im Innern des Berges, war sie immer in Sicherheit gewesen und hatte nie wirklich an diesen Mann, wenn er ein Mann war, geglaubt. Aber nun war der Raptor da, genau wie Riolla vor langer Zeit erzählt hatte. Genau wie auch ihre Mutter es gesagt hatte, bevor sie vollkommen verrückt im kältesten Kerker von Almaaz gestorben war. Drufalden fragte sich, wie er an ihren Wachen vorbeigekommen war; sein Umhang trug keine Spuren der Reise oder Anzeichen von Schnee, der ihr Land umgab. Und genau wie Riolla gesagt hatte, verlangte er fast völlige Dunkelheit und daß jede spiegelähnliche Fläche im Raum bedeckt wurde. Und egal, wie sehr sich Drufalden bemühte - sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Die Kapuze verhüllte den Kopf, und die Stimme schien aus der Luft um ihre Ohren herum zu ertönen, anstatt unter der roten Kapuze zu stecken. Es war lange her, daß ein machtvoller Mann bei ihr gewesen war. Es war ... aufregend. Wie erfrischend und belebend es sein würde, ein neues Rätsel, ein neues Gebiet erforschen zu können. Verführerisch lächelte Drufalden vor sich hin. »Arbeite mit meiner Agentin zusammen, laß den Ausgräber ungehindert ziehen, und du bekommst deinen Stein zurück und das Wyrvilreich obendrein. 324
Übrigens, dein Tribut an Nin ist längst überfällig, Drufalden. Wir können mit der Münze beginnen, die der Wyrvil dir bringt. Ich hoffe, deine Leute haben den Rest bereits zu Riollas Laden gebracht.« »Du wirst also unsere Gewässer heilen für den Preis des Steins?« fragte Frijan und sah Og an. Nach einer herzhaften Mahlzeit aus Fisch und Muscheln setzten sich Frijan und Wiggulf mit Og zusammen. Sie tranken Met aus Tassen, die aus Muschelschalen bestanden, und der Schein des Feuers in der großen Halle leuchtete ihnen. Og streckte sich gemächlich aus, aber seine Augen lugten wach und scharf hinter der riesigen Nase hervor. »Ja. Ich glaube, ich kann die Wasser wieder erwärmen und das Eis stromaufwärts schmelzen«, erklärte er. »Der Stein ist unsere einzige Verteidigung gegen zwei Feinde, Muje Rifkin«, erwiderte sie. »Wenn ich das Eis schmelzen lasse, dass eure Gewässer einschließt, fällt Drufaldens Reich auseinander. Nur die Kälte hält ihre magischen Kräfte am Leben. Sie bestehen nur aus Eis und Gedanken. Und Rotapan hat bloß einen eingebildeten Gott übrig. Ohne den Ajada ist er kein richtiger Feind mehr. Meiner Meinung nach ist dies eure einzige Möglichkeit. Bis ihr Zauber gebrochen wird, werden eure Wasser immer weiter zufrieren, und das Eis wird auf dieses Haus zukriechen. Ihr werdet immer wieder 325
umziehen müssen und näher an die Gewässer des Giftmischers geraten. Wenn ihr mir den Stein gebt, kann ich auch das beheben.« »Vielleicht. Aber welche Gewißheit haben wir, daß du Drufaldens Zauber brechen kannst? Wir haben es immer wieder versucht, seitdem wir den Stein haben. Nichts hilft auf Dauer. Woher wissen wir, daß du die Wasser nicht bloß für einen oder zwei Tage schmelzen läßt, davongehst und sie dann wieder zufrieren? Und woher wissen wir, daß Rotapan nicht einen Weg findet, um sich den Ajada zurückzuholen? Er verfolgt dich, und die sumifanische Schreefa hilft ihm. Wir können euch nicht über unsere Grenzen hinaus schützen«, sagte Frijan. Der Wassersaphir funkelte an ihrem Ohrgehänge. »Nein«, fuhr sie fort. »Ich muß sagen, daß ich nicht zustimmen kann. Es ist besser, wenn wir die Macht behalten, die wir innehaben, als gar keine zu haben.« Sie ließ Og am Tisch sitzen und begab sich in die Mitte der Halle, wo ein riesiges Holzstück im Innern der natürlichen Feuerstelle krachte, die aus einer sich aus dem Flußbett erhebenden hohlen Felsgruppe bestand. Mehr als hundert Selkies beobachteten voller Spannung ein Spiel, und Frijan setzte sich neben Wiggulf. Yob hatte ihnen ein Wyrvilspiel mit Dolchen erklärt, und nun wetteiferten sie ernsthaft. Wiggulf mußte sich die Ohren mit den Händen zuhalten, als Yobs Dolch erneut mitten in der runden Holzscheibe steckenblieb. In der fünften und letzten 326
Spielrunde hatte der Ork jedesmal ins Ziel getroffen und sogar den besten Krieger der Selkies beschämt. Da er auf Javins Wunsch hin jahrelang geübt hatte, konnte auch Cheyne mit Dolchen umgehen und wenn er jetzt ins Ziel traf, hatte er das Spiel gewonnen. Besorgt schaute sich Wiggulf in seiner geliebten Halle um. Wenn Cheyne danebenwarf, würde Yob vor Freude vielleicht die ganze Halle auseinandernehmen. »Ich wette um meinen goldenen Ring, daß der Ork gewinnt. Der Mann ist gut, aber es ist ein Orkspiel«, flüsterte Frijan Claria ins Ohr. Claria verzog den Mund, da sie diese Herausforderung verletzte. Sie drehte Maceos Ring und fragte sich, ob er sich wohl abnehmen ließe. Er glitt mit Leichtigkeit vom Finger. Claria wurde bewußt, daß es ihr sonderbarerweise nichts ausmachte, wenn sie den Ring verlor. Es war nur wichtig, daß Cheyne gewann. »In Ordnung. Du bekommst den Ring, wenn er verliert. Aber dein Korallenmesser, wenn er gewinnt«, stimmte sie zu und reichte Frijan die Hand. »Kann ich an der Wette teilnehmen?« erkundigte sich Og, der plötzlich neben ihnen auftauchte. »Um was willst du wetten, Magier?« fragte die Selkie. »Meinen Stein gegen deinen. Da du ihn nicht hergeben willst, hast du nun die Gelegenheit, beide zu bekommen.« Claria starrte Og entsetzt an, aber er versetzte ihr unter dem Tisch einen festen Tritt, ehe sie etwas 327
sagen konnte. Aus den Tiefen seines Ärmels zog er den Ajada, summte ein kleines Lied dazu und setzte ihn vor Frijan auf den Tisch. Die Augen der Selkie weiteten sich vor Erstaunen, als die Machtquelle ihres eingeschworenen Feindes in ihrer Reichweite glühte. Der Mensch mußte bloß versagen, und das war wahrscheinlich. Sie blickte Og an, unfähig, dieser Gelegenheit zu widerstehen. »Ich willige ein«, sagte sie inmitten der Geräusche und Stimmen der anderen Wettlustigen und dem Klirren der Muschelbecher. Og grinste zufrieden, während Claria seine Tasse an sich riß und den Inhalt mit einem Schluck hinunterkippte. Es wurde sehr still in dem dämmerigen, rauchigen Raum, als Cheyne, dem nicht bewußt war, was von seinem Geschick abhing, seine Schultern lockerte und zurücktrat, um den Dolch zu werfen. Er warf einen Blick auf Claria, die ihm beschwipst zulächelte und zog den Arm nach hinten. Die kleinen, gelben Augen Yobs folgten jeder seiner Bewegungen. Das Gesicht des Orks war verkniffen und ernst, die scharfen Krallen trommelten auf der Tischplatte, wo er einen Eimer voller Met hütete. Ohne weiter nachzudenken, holte Cheyne aus und warf den Dolch mit einer schnellen, festen Bewegung. Er sank tief in den Mittelpunkt der Scheibe. Ein dumpfes Dong ertönte. Wiggulf schritt hinüber, um die Genauigkeit zu prüfen, zog den Dolch heraus und verkündete: »Er hat den Schnitt des Orks gekreuzt! Ein perfekter Wurf!« 328
Die Selkies jubelten, Frijan reichte Claria das Messer, und Og hob zum Glückwunsch die Tasse, die er gern voller Raqa anstelle des klebrigen Mets gesehen hätte. Cheyne verbeugte sich übertrieben, lachte über den Sieg und ging, um Yobs Hand zu schütteln. Yob starrte ihn bloß entgeistert an. Dann setzte er den Eimer mit Met vorsichtig ab, und Wiggulf hob die Hand, um für Ruhe zu sorgen. Sofort verstummten die Gespräche. Yob holte tief Atem und deutete mit der Hand auf Cheyne. »Niemand hat mich je besiegt, Mensch. Jetzt bin ich dein Diener. Ich biete dir mein Leben.« »Was?« Cheyne blinzelte, als ihm Rauch in die Augen geriet; als er sich verzog, hielt Yob den Arm noch immer erhoben, hatte aber den Dolch mit der anderen Hand auf sein Herz gerichtet. »Ich erwarte deine Antwort, Mensch. Tod oder Leben.« Cheyne hielt Ausschau nach Og, und der Magier trat mit dramatischer Geste vor, verneigte sich vor Yob und erklärte alles. »Das ist bei den Wyrvil üblich. Wenn sie bei diesem Spiel gegen einen Gegner antreten, ist das Leben dessen verwirkt, der verliert. Yob ist ein Wyrvilhäuptling. Bei diesem Spiel hat er einst seinen Stamm gewonnen.«, sagte Og. Yob nickte und sah wieder zu Cheyne hinüber. Cheyne starrte ungläubig zurück.« Du hast um dein Leben gespielt?« 329
Der Magier gab vor, Clarias Blick nicht zu bemerken, als er Frijans Ohrring in die Tasche steckte. »Wußtest du das nicht? Bei diesem Spiel geht es immer um Leben und Tod. Hättest du verloren, würdest du nun mir gehören oder dich umbringen müssen. Aber sage mir, was du möchtest. Soll ich in deine Dienste treten oder sterben«, sagte Yob ruhig. »Yob, du wirst auf keinen Fall für eine solche Dummheit sterben...« »Das ist keine Dummheit!« brüllte der Ork. »In Ordnung, in Ordnung. Dann ... Dienst. Lebe, mein Freund...«, meinte Cheyne, der immer noch verwirrt war. Yobs Knie gaben nach, als er seine Körpermasse auf die Bank niederließ. Er steckte den Dolch weg und hob den Eimer. »Auf den Dienst«, sagte er, und unsicher stimmten die Selkies ein. »Sein ganzes Stammesgebiet gehört jetzt dir. Das ist das ganze Land von Sumifa bis zur Oase und zum Buschland«, flüsterte Og Cheyne aufgeregt ins Ohr. Cheyne zerrte ihn in den Schatten und hielt ihn am Kragen aus dem einzigen Fenster hinaus. »Was soll das, mich gegen ihn werfen zu lassen? Ich hätte mein Leben verlieren können! Und du den Schatz! Macht das Sinn, Ogwater? Hm?« Og klammerte sich so fest er konnte an Cheynes Arm. Der Nebel hatte sich verzogen, und das Eis auf dem Fluß war im hellen Mondlicht deutlich zu sehen. 330
»Ich wußte, daß du gewinnst«, keuchte er. »Es gab keinen Grund, unsicher zu sein. Wir brauchen den Wassersaphir!« »Ach so ist das? Du hast also gewettet! Ogwater!« »Es war die einzige Möglichkeit, um Frijan umzustimmen. Selkies können keinem Spiel widerstehen, weißt du, besonders, wenn du ihnen etwas Glänzendes zeigst. Und, wie ich schon sagte: Wir brauchen den Wassersaphir.« Og sah nach unten, auf das kalte, dunkle Wasser. Er fühlte, wie die Füße zu kribbeln begannen. »Jemand muß dieses Wasser heilen! Wir müssen den Stein haben!« »Du mußt ihn haben. Ich muß so schnell wie möglich zum Wald und will nicht länger in deine alten, unbereinigten Intrigen verwickelt werden.« »Oh, oh!« rief Ogwater, dessen Aufmerksamkeit von einer nebelumwobenen Gestalt abgelenkt wurde, die einen losen Baumstamm ins Wasser warf. »Was nun?« fragte Cheyne, der die Drohung leid war, und er zerrte Og wieder in den Raum. »Wir haben Gesellschaft!« stöhnte Og. Mit verzweifeltem Blick wandte er sich an Wiggulf. »Tut mir leid, Flußkönig, ich muß jetzt gehen.« Der Magier drückte den Ajada und den Saphir mit aller Kraft an sich und sang aus vollem Hals. Ehe Cheyne ihn fassen konnte, verschwand er in einem feuerfarbigen Lichtstrahl.
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KAPITEL 15 Womba kletterte auf den Stamm, den sie vom vereisten Flußufer gelöst hatte, drückte den Stiefel fest an die Brust und warf sich in den eisigen Fluß, wobei sie die Hilfe der Deltawachen zurückwies. Die Kälte des Wassers schien ihr nichts auszumachen. Innerhalb von Sekunden hatte sie den Fluß durchquert und kletterte klatschnaß auf die Insel. Sie schüttelte sich von Kopf bis Fuß, öffnete die Tür des Hauses und suchte nach Og, der natürlich spurlos verschwunden war. Yob streckte die Arme nach seiner vor Nässe triefenden Tochter aus, aber sie bemerkte ihn kaum. »Wo? Wo ist er?« Sie schnüffelte prüfend. Claria versteckte sich hinter Cheyne, aber es war zu spät. Wombas gute Nase hatte bereits den Hauch von Bergamotte und Myrrhe gerochen. »Du! Du hast meinen Ogwater! Du hast ihn verzaubert. Aus deinen Beinknochen werde ich Kriegskeulen machen und aus deinen häßlichen weißen Zähnen Ohrringe!« Sie kreischte so laut, daß drei der Selkies zum anderen Ende der Halle flohen. »Wie du sehr wohl sehen kannst«, erklärte Claria empört, »ist Ogwater nicht bei mir.« Sie hob ihre Hand mit einer Geste der Juma. Womba fletschte mit den Zähnen. Yob und Cheyne erkannten gleichzeitig, was geschehen würde. Cheyne trat zwischen die beiden, nahm sanft, aber fest Clarias Hand - und den darin befindlichen Kamm - in die 332
eigene Hand, und Yob schlang die starken Arme um seine Tochter. »Ich bin so glücklich, dich gesund und munter und so schön wie immer zu sehen, meine kleine Blume«, murmelte er und hielt sie mit stählernem Griff umfangen. »Muje Rifkin ist fort, Orkin. Wir verstecken ihn nicht«, wiederholte Cheyne. Womba, die von Yobs starken Armen gefangengehalten wurde, zog einen Nasenflügel hoch und schnüffelte, da ihr die Antwort nicht gefiel. »Wohin ist er gegangen?« fragte Wiggulf. Frijan starrte traurig durch das Tor in die kalte Nacht hinaus. Der Fluß strömte unter ihr vorüber, und die Drei Schwestern leuchteten von Zeit zu Zeit am wolkenbedeckten Himmel auf. »Ich kann es dir nicht sagen, Vater. Aber ich habe etwas Furchtbares, Unverzeihliches getan. Ich habe den Wassersaphir an den Magier verloren.« Sie fuhr fort, auf den Fluß zu starren, Tränen rannen ihr über die Wangen. Wiggulf trat neben sie und legte seinen kurzen Arm um ihre Schultern. »Ja, ja, das hast du, aber diesmal denke ich, daß es so besser war. Und glaubst du denn nicht, daß ich dir nicht alles verzeihen würde, wenn ich sogar Leute verstehen lerne, die einmal meine Feinde waren? Sieh nur.« Er nickte in Richtung Wasser. Der glasige Eisrand des Ufers, der überall zu sehen gewesen war, war 333
völlig geschmolzen, und das vom Eis gefangene Treibholz war davongetrieben. Der Fluß wirkte größer und breiter. Frijan horte das Knirschen und Knacken einer Eisscholle, die sich weiter östlich löste. »Siehst du? Er hat unseren Fluß bereits geheilt. Der Stein gehörte schon immer Ogwater. Es war eine Ehre für uns, ihn all diese Jahre bewahren zu dürfen, bis er ihn holen kam. So sollte es sein. Der Stein fand den Weg zu ihm zurück, Tochter, genau wie ich meinen Weg hierher fand, wo ich hingehöre. Wäre es nicht so geschehen, dann auf eine andere Weise. Beruhige dich, Tochter, du wolltest das Beste für unser Reich. Beim nächsten Mal wirst du es besser wissen, und nicht mit Ogwater wetten.« Cheyne räusperte sich hinter den beiden. »Flußkönig, es war ein langer Tag und eine lange Nacht. Wir müssen früh aufstehen und uns auf den Weg zum Wald machen.« »Oh, natürlich, natürlich, Cheyne, aber wie wollt ihr den Weg dorthin finden?« lächelte Wiggulf. »Nun, er ist doch direkt hinter eurer Grenze, nicht wahr?« »Könnte man sagen. Die Elfen sind sehr eigen, wenn es um ihre Heimat geht. Nur sie kennen den Weg durch den Vorhang des Lichts. Wenn man ohne Begleitung eintritt, wird man nie mehr aus dem Wald finden. Wir haben viele Reisende gesehen, die oftmals erst Jahre, nachdem sie den Boden der Elfen ohne Einladung und Begleitung betraten, wieder heraus334
taumelten. Sie waren so verwirrt, daß sie meistens nicht einmal mehr ihren Namen wußten. Was willst du dort, mein Junge?« Wiggulf sah Cheyne fragend an und wartete auf eine Antwort. »Ich bezweifle, daß ich dort umherwandern würde und meinen Namen nicht mehr wüßte, König. Ich weiß ihn überhaupt nicht, bis ich bei den Elfen war.« Cheyne lächelte traurig. Er holte das Totem hervor, um Wiggulf die geheimnisvolle Glyphe zu zeigen. »Sie sollen mir das übersetzen.« »Ach so«, meinte Wiggulf. »Nun, wir werden euch für die Reise versorgen. Und ich selbst werde euch bis zum Vorhang des Lichts bringen. Ich möchte das Land gern wiedersehen. Morgen brechen wir auf.« Er winkte zwei jungen, mondgesichtigen Burschen, die ›Stäbchenheben‹ spielten, und sie sausten in verschiedene Richtungen davon, um Nahrung und Kleidung für Claria und Cheyne ausfindig zu machen. »Sieht aus, als wären wir nur noch zu zweit.« Cheyne wandte sich Claria zu und lächelte verzerrt, wie an jenem Tag, als ihm bei dem Kampf in Sumifa die Lippe geplatzt war. Eine winzige, sehr frische Narbe war an dieser Stelle zu sehen. Sie erwiderte das Lächeln und zog immer wieder ihren Ring vom Finger. Sie spielte mit dem Gedanken, ihn durch die Risse im Fußboden in den Fluß fallen zu lassen. Unter ihnen strömte das Wasser dunkel, leise und stetig vorbei. Cheyne verneigte sich vor Wiggulf und begab sich 335
zu einer der fünf Pritschen, die von den Jungen vorbereitet worden waren. Sofort legte sich Yob neben ihn, nur wenige Zoll entfernt, so daß sein Atem wie ein vergiftetes Messer die Luft durchtrennte. Am Fenster saß Womba und starrte auf den auftauenden Fluß und die Monde, während sie die ganze Zeit über schnüffelte. Als sie schließlich den Geruch aufnahm, auf den sie wartete, sah niemand, wie sie durch die Tür glitt, sich auf einen Stamm fallen ließ und über das nebelverhangene Wasser paddelte. Lange nachdem das Feuer in der großen Halle erloschen war und die müden Reisenden die Köpfe auf die duftenden, fest gestopften Kissen gelegt hatten, lag Cheyne noch wach und starrte auf die dunklen, rindenbedeckten Deckenbalken und dachte nach. Sanfte Wellen schlugen gegen den Felsen, auf dem das Haus erbaut war, und er konnte die Monde und die Drei Schwestern durch einen Riß im Boden auf den dunklen Wellen tanzen sehen. Auf der einen Seite schnarchte Yob, und Claria lag ein paar Fuß entfernt zusammengerollt auf der anderen Seite. Ihr schwarzes Haar erstreckte sich über den Rand der Liege auf den polierten Fußboden. Die Papageienfedern aus der Oase waren längst verschwunden, aber ein kleines rotes Band schlängelte sich durch einen kleinen Zopf nahe der Schläfe, und einer der Bronzekämme steckte sicher hinter dem Ohr, nicht weit von den Fingern entfernt. Die Decke 336
war weggerutscht, und sie fröstelte bei einem plötzlichen Windstoß, der durch den Bodenspalt fuhr. Der Duft von Bergamotte und Myrrhe wehte zu ihm herüber, und ehe er sich bewußt wurde, was er tat, beugte sich Cheyne vor, um ihre nackte Schulter mit seiner eigenen Decke zu schützen. Ihre Hand lag zwischen ihnen, und er lächelte, als er die langen, dünnen Finger betrachtete, von denen die ersten beiden der Hand in seiner Vision glichen, da sie auch am ersten Gelenk abknickten. Durch die Berührung mit dem kalten Boden wirkten sie ein wenig blaß, und beinahe hätte er sie mit seiner Hand gewärmt. In diesem Augenblick ließ ein Flackern des Feuers Maceos Ring aufleuchten, der Cheyne fortwährend daran erinnerte, daß Clarias Herz einem anderen gehörte. Einem, der sie betrogen hatte. Claria bewegte sich im Schlaf und kroch unter ihre Decke zurück. Er wich wieder auf seine Pritsche zurück, während sein Herz und sein Verstand ihn quälten. Er wußte nicht genau, wann er begonnen hatte, das Mädchen zu lieben. Aber irgendwie mußte er damit aufhören. Er drehte sich um und versuchte, an etwas anderes zu denken. Morgen würde Wiggulf sie durch die gewundenen Pfade seines Wasserreichs führen, bis zum Vorhang des Lichts am Rande des Elfenlandes. Wenigstens würde er dann seinen Namen erfahren. Und deshalb war er doch hergekommen, oder? Claria öffnete bei seiner ruckartigen Bewegung die 337
Augen, rührte sich aber nicht. Seit einer Stunde hatte sie so getan, als schlafe sie, konnte sich aber nicht beruhigen. Seit der langen Wanderung durch den Wald hierher konnte sie an nichts anderes mehr denken, als an die seltsame Aufregung und das Hochgefühl, das sie ergriffen hatte. Je weiter sie sich von Sumifa entfernte, desto freier fühlte sie sich. Hier draußen schienen alle Sinne geschärft zu sein, und die Sonne hatte ihre Haut gebräunt. Die Kopfschmerzen die Krankheit der trockenen Straßen und staubigen Tage - die sie in der Stadt fortwährend befielen, waren verschwunden. Die Reise war das abenteuerlichste Ereignis ihres Lebens, und sie fühlte sich blendend. Was, wenn mich Maceo jetzt sehen könnte? Was würde er denken? fragte sie sich. Claria bemerkte, daß sie ihm nicht einmal mehr böse war und es sie nicht bekümmerte, daß er ihr die Schreefa vorzog. Die Zeit mit Maceo erschien ihr nach den letzten Tagen wie eine verschwommene Erinnerung. Der schwere Goldring fühlte sich wie eine Fessel an. Sie wollte ihn zurückgeben und endgültig frei sein. Schließlich hatte er sich längst von ihr befreit. Neben ihr lag Cheyne, ein Mann ohne Ring und ohne Namen, den er ihr hätte geben können. Er war der tapferste Mann, den sie je gekannt hatte. Aber diese Tapferkeit trieb ihn so sehr voran, daß er sie nicht bemerkte und kaum ansah. Claria wußte, daß sein Mitgefühl ihr sicher war, aber sie konnte nie auf seine Liebe hoffen. Tränen stiegen ihr in die Augen 338
und tropften zu Boden, aber sie gab keinen Laut von sich. Wenn diese Sache vorbei war, konnte sie zumindest Vashki eine gute Geschichte erzählen. Aber das war auch schon alles. Sobald Cheyne den Sarrazanwald erreichte, würde er sie nicht mehr brauchen. Es gab keinen Schatz. Und Riolla würde sie wahrscheinlich nie wieder in die Stadt lassen, wenn diese männerfressende Kanista erst einmal auf Maceos Thron saß, möge er lange genug leben, um das wahre Gesicht seiner Braut zu sehen. Claria schloß die Augen und versuchte einzuschlafen. Morgen würde noch ein langer Tag kommen. Ein Tag, der sie Cheynes Ziel näher brachte. Seit drei Meilen brannte Javins Hand wieder, aber er sagte es Doulos nicht. Der Sklave hätte ihn gebeten zu rasten, um die Hand zu behandeln, und dann hätten sie Riolla und ihre sonderbaren Begleiter aus den Augen verloren. Die Spur, die sich durch das bergige Gelände zog, war deutlich genug: Zwei Paar menschliche Füße und die gebogenen Klauen des Halborks. Rotapan hatte ihn Doulos genannt - anscheinend der König der grausamen Wyrvils. Der Nachthimmel war klar, aber je höher sie stiegen, desto weniger sahen sie. Schließlich hielt Javin die Schmerzen nicht länger aus, und er winkte Doulos, den Pfad zu verlassen. »Laß uns hier unser Nachtlager aufschlagen. Wir können den Weg sowieso nicht mehr sehen. Dieser 339
Platz ist ebenso gut wie jeder andere. Da drüben stehen ein paar hohe Felsen, die uns Deckung bieten«, flüsterte er. »Warum gehst du nicht Feuerholz suchen?« Doulos nickte und ging davon. Als der Sklave sich weit genug entfernt hatte, nahm Javin die alten Verbände ab und hielt sich die Hand vor die Augen, um die Wunde anzusehen. Aber vergeblich: es war zu dunkel und zu nebelig. Er beeilte sich, Doulos einzuholen, damit er ihn nicht verlor. Nach wenigen Minuten hatte Javin mit seinem Feuerstein eine kleine Flamme angefacht, und im schützenden Rund der Steine hockten sie vor dem flackernden Licht. »Ich hoffe, sie sehen dieses Licht nicht, Doulos. Wahrscheinlich könnten wir sie bekämpfen, aber eigentlich sollen sie uns zu Cheyne führen. Dein Freund Ghazi hat uns mit seinen Neuigkeiten sehr geholfen«, sagte Javin leise. »Es tut mir leid, daß er...« »Er wußte, daß sein Leben der Schreefa wenig wert war. Aber auch mir tut es leid. Sie ließ ihn niemals schwimmen lernen, weißt du? Ihre Sklaven arbeiten nie am Fluß«, erklärte Doulos. »Ich habe viele Freunde verloren, Muje. Aber die Erfahrung macht jeden neuen Verlust nicht erträglicher.« Schweigend saßen sie eine Weile da und starrten in das Feuer. Schließlich zog Javin sein Messer und hielt es in die Flammen. 340
Doulos sah ihn verwirrt an. »Schon wieder, Muje? Es sind doch erst wenige Stunden vergangen.« Javin nickte. Nach jedem Schnitt schloß sich die Wunde und schien zu heilen, aber dann stieg das dunkle Gift wieder, und das Fieber erreichte ihn, der brennende Schmerz schoß ihm durch seine Hand und den Arm hinauf, genau wie in jener Nacht in der Ruine. Wenn er Cheyne fände und in das Grenzgebiet gelangen könnte, wenn er doch bloß den Wald entdecken würde... »Doulos, weißt du etwas über die Heillegenden der Sarrazan?« fragte Javin und reinigte das Messer im Sand. »Nicht viel, Muje. Aber die Juma sagen, daß sich dort kein Gift hält. Sie tanzen, die Elfen. Sie wirbeln herum und stampfen den magischen Rhythmus auf dem Waldboden, wodurch das Böse aus der Wunde gezogen wird und das Gift seine Kraft verliert. Soviel weiß ich, Muje. Warum?« »Wenn ich dorthin gehe, wirst du mich begleiten? Auch ich habe diese Geschichten gehört.« Wieder hielt Javin die Messerklinge in die Flammen, klemmte sich eine Falte der Tunika zwischen die Zähne und setzte das Messer an. Als die glühende Klinge sein Fleisch berührte, biß er fest auf das Tuch, öffnete die Narbe und ließ das Gift herausfließen. Der Gestank war grauenhaft. Er entspannte sich, schwer atmend, mit rotem, erschöpftem Gesicht. Es wurde jedesmal schlimmer. Die Haut wurde immer dicker, 341
und das Gift drang immer tiefer in den Körper. Damals, in der Ruine, hatte Muni gewollt, daß der Heiler den Finger abtrennte. Seitdem hatte Javin darüber nachgedacht; der Freund hatte mit seinem harten Urteil und dem grausamen Mitgefühl recht gehabt - ein schneller Schnitt hätte ihm erspart, immer wieder die eigene Hand öffnen zu müssen. Er tastete den Arm ab und fühlte unter dem Ärmel, wo die Schwellung die Haut anspannte und verdunkelte. Muni hatte recht gehabt. Jetzt bedrohte die Wunde den ganzen Arm. Doulos dachte über Javins Frage nach; seine blauen Augen funkelten im Feuerschein. »Ja, Muje. Ich habe es geschworen. Es ist wahr, daß es viele Geschichten über den Wald gibt, über die Bewegungen dort daß die Zeit anhält oder sich verändert. Wie Männer in einem schwankenden Vorhang aus Licht verschwanden, obwohl sie Sekunden zuvor noch deutlich sichtbar waren. Du würdest nicht ohne guten Grund gehen. Die Jumageschichten sagen aber auch, daß die Medizin der Elfen schwer zu ertragen ist.« »Sie kann nicht schlimmer sein als das hier«, meinte Javin. »Muje, die Juma sagen, das Gift verläßt den Körper, wenn die Elfen tanzen und den heiligen Blitz rufen. Der fährt dir ins Herz. Das schmerzt viel mehr.« »Aber es heilt.« »Es heilt. Oder tötet.« 342
Javin ließ sich gegen den kalten Fels sinken, um sein erhitztes Gesicht zu kühlen. Doulos dämmte das Feuer für die Nacht und stand auf, um die erste Wache zu übernehmen. »Ich werde dich wecken, wenn die Monde an den Schwestern vorüberziehen«, sagte der Sklave. Javin nickte, erneuerte die Verbände und nahm seine Decke. Doulos kletterte in die knorrige Eiche, die über dem Rastplatz stand, machte es sich auf einem dicken Ast bequem und wickelte sich in seine Gewänder, um gegen die nächtliche Kälte gewappnet zu sein. Doulos bemerkte nicht, wie er einschlief, aber als er erwachte, waren die Monde längst an den Drei Schwestern vorbeigezogen und fast schon verblichen. Hoch über Drufaldens Berg blitzte ein helles Licht kurz durch den Nebel auf und erstarb dann, wie eine Sternschnuppe. Erst sah er sechs Sterne. Dann zwanzig. Der Wind hatte sich gedreht, und der unverwechselbare Geruch der Kanistas stieg Doulos in die Nase; ihr fauliger, übler Gestank erschreckte ihn. Der Sklave beugte sich vor, den Speer wurfbereit in der Hand. Aber es gab zu viele Ziele. Die Kanistas blinzelten ihn mit roten Augen an; die riesigen Mäuler wurden aufgerissen, und er erblickte die langen, weißen Zähne. Einer von ihnen lachte - ein leises, beinahe menschliches Lachen. Wie Riollas Lachen, dachte Doulos, wenn die Schreefa bereit ist, dich bei lebendigem Leibe zu 343
verschlingen. Das Gelächter breitete sich aus und wurde immer lauter, bis der Neffianer von dem schrecklichen Geräusch eingekreist war. Die Ohren schmerzten ihm von dem Schall, und er konnte sich nicht mehr auf den Anblick der Biester konzentrieren, die immer näher auf Javin zuschlichen. Doulos wußte, daß sie alle gleichzeitig auf den verwundeten Mann springen würden, wenn er auch nur das kleinste Geräusch verursachte. Sie würden den König in Stücke reißen, ehe Doulos ihm helfen konnte. Wenn er keinen Warnschrei ausstieß, würden sie nur langsam näher kommen, Javin spielerisch beißen und allmählich zerfetzen, bevor sie sich Doulos zuwandten. Es schien aussichtslos. Doulos sah zum Himmel, stieß ein stilles Gebet aus und erhob den Speer. Wenn er sterben mußte, würde er einige mitnehmen. Er trat einen Schritt zurück und spürte den dicken Eichenstamm im Rücken, der ihm fast wie ein zweiter Kämpfer vorkam. Doulos setzte den Fuß auf einen tiefergelegenen Ast und ließ sich ganz langsam zu Boden gleiten, hielt den Atem an und lauschte den Geräuschen, die anzeigten, daß Javin bei Bewußtsein war. Noch ein Stück, dann konnte er den Speer werfen... Im Laufe der Nacht schlief Cheyne endlich ein, fand aber keinen Frieden. Die bösen Träume seiner Jugend kehrten zurück; diesmal mit einer Eindringlichkeit und Schärfe, die er nicht mehr erlebt hatte, 344
seitdem ihn Javin damals gefunden hatte. Immer wieder sah er die Gestalt mit der Klauenhand über sich hocken, um ihn zu verschlingen, und der Umriß der Glyphe auf dem Totem stand wie ein Leuchtfeuer vor seinen Augen. Dann wandelte sich der Traum. Er sah Javin, dessen Hand in Flammen stand; das Feuer war bereit, seinen Körper zu vernichten. Im Mondlicht kämpfte er gegen dunkle Schatten. Die Drei Schwestern standen hoch am Himmel, und hundert rotglühende Augen brannten in der Dunkelheit, während sie Javin lautlos einkreisten. Cheyne erwachte, und seine Lungen schmerzten voller unausgesprochener Qual. Er setzte sich auf und blickte im Raum umher, da er sich allmählich an die Ereignisse, die ihn hergeführt hatten, erinnerte. Claria lag ruhig und wunderschön im Mondschein, der durch eine Luke in der Decke eindrang und ihre Haut aufleuchten ließ. Aber Cheyne glaubte, noch immer zu träumen, als ein hochgewachsener Elf aus dem Schatten trat über dessen Gesicht sich eine lange Narbe zog. Anstelle eines Gürtels trug er eine silberne Kette. Der Umhang wurde von einer Brosche zusammengehalten, auf der sich die Glyphen der Töpfer befanden. »Du!« brüllte Cheyne. »Wer bist du? Hast du uns auch verfolgt?« »Wer ist da?« fragte Wiggulf schläfrig vom anderen Ende der Halle. 345
Der Elf hob die Hand; seine langen, schmalen Finger leuchteten im Mondlicht. »Verzeih mir, Flußkönig, daß ich hier eingedrungen bin. Aber ich muß dringend mit deinen Gästen sprechen, und der Baumvater schickt mich mit einer Botschaft für den Argivianer.« »Naruq? Bist du das? Du bist mir immer willkommen. Aber weshalb schleichst du dich so heimlich ein?« fragte Wiggulf und schlurfte herüber, die Decke hinter sich herziehend, das runde Gesicht in besorgte Falten gelegt. »Es gibt jemanden, der nach dem Leben dieses Mannes trachtet.« Naruq wies auf Cheyne. »Und sein Mörder hat mich lange Zeit beobachtet. Ich habe viel gewagt, weil ich hierher gekommen bin und mich vorher in Sumifa gezeigt habe. Ich konnte ihn nie rechtzeitig ansprechen.« Cheyne schleuderte die Decke weg und stand, die Hand an den Dolch gelegt, auf. »Du warst also in Sumifa. Ich weiß, daß Riollas Meuchler nach meinem Kopf hungert. Das ist kein Geheimnis.« »Du mußt dich nicht um den Meuchler Saelin kümmern. Obwohl dieser Kampf vor Riollas Laden recht knapp war. Du hast dich gut geschlagen. Und du scheinst schnell Freunde zu gewinnen.« »Wer ist der Baumvater?« fragte Cheyne. Wiggulf zupfte sich an seinem struppigen Bart. »Er ist der Älteste der Sarrazan. Der Uralte. Er verläßt niemals den Wald. Niemand weiß, wie alt er wirklich 346
ist, aber Gerüchte sagen, daß er schon zur Zeit der Wanderung lebte. Wenn irgend jemand sagen kann, was dein Totem bedeutet, dann ist er es.« »Und das wird er auch tun. Er erwartet dich seit den Tagen der verlorenen Karawane. Er wird dir alle Fragen beantworten. Die Zeit bedeutet ihm wenig, aber dir. Der Vorhang wird sich nur noch eine Stunde lang für uns lichten.« Hätte ihm der Elf das Messer ins Herz gebohrt, wäre Cheyne nicht mehr überrascht gewesen. Hier war die Antwort auf seine Gebete. Bisher war er aus purer Hoffnung so weit gereist. Und wenn er die Antwort auf seine quälendste Frage erhalten wollte, mußte er nur sofort mit Naruq gehen. Und Javin dem Tod überlassen. Der Traum verfolgte ihn noch immer. Mit jeder verstreichenden Minute war er mehr und mehr davon überzeugt daß sich Javin in tödlicher Gefahr befand. »Naruq, ich kann nicht mit dir gehen.« Claria sah ihn mit ihren verschlafenen Augen ungläubig an. »Cheyne, warum nicht? Deshalb bist du doch hierher gekommen«, sagte sie matt. »Weil Javin irgendwo da draußen in Gefahr schwebt.« Er zog sich die Stiefel an. Inzwischen war die ganze Halle aufgewacht und Frijan zündete eine Kerze an. »Was ist los? Eindringlinge?« flüsterte sie und schaute aus dem Fenster zum Flußufer. »Mein Vater...«, setzte Cheyne an. 347
»Ich werde dich begleiten«, unterbrach ihn Claria, stand auf und faltete die Decken zusammen. »Nein. Bitte. Ich will...« »Keine Hilfe? Tatsächlich nicht?« unterbrach sie ihn erneut wütend. »Ich mochte mich nicht auch noch um dich sorgen müssen. Bitte. Bitte«, flehte er sie an und nahm ihre Hände in die seinen. Maceos Ring diente als kalte Erinnerung an ihre unterschiedlichen Wege. »Es kann schon zu spät sein.« »Dann werde ich gehen«, sagte eine andere Stimme. »Meine Nase wird sie im Dunkeln finden.« Cheyne drehte sich um und sah Yob im unheimlichen Schein des Feuers aufragen. Seine Miene drückte Entschlossenheit aus, und er hielt einen Speer in der Pranke.
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KAPITEL 16 »Javin!« Der Ruf hallte durch die Felsen und kam von Doulos' linker Seite. »Cheyne?« kam die matte Antwort. »Bist du es wirklich?« Ein Steinregen hagelte auf die knurrenden, lachenden Kanistas nieder, die den Angriff vergaßen und sich in alle Richtungen verstreuten. »Hier sind wir, Muje! Am Baum!« rief Doulos. In diesem Augenblick hatten sich die Kanistas wieder beruhigt rotteten sich zusammen und rasten gemeinsam auf Yob und Cheyne zu. Die Hälfte der Gruppe bog ab und kreiste den Ork ein, während sich die restlichen drei um Cheyne scharten. Die Biester waren schneller als jeder Gegner, den Cheyne je bekämpft hatte, und es schien ihnen zu behagen, immer wieder in Reichweite seines Dolches herumzutanzen und nach seinen Fersen zu schnappen, während er um sich schlug, um sie sich vom Leib zu halten. Die übrigen Kanistas umschlichen Yob, ein breites Grinsen auf den geifernden Mäulern. Kurz bevor sie zuspringen konnten, brüllte Doulos mit voller Kraft einen uralten, neffianischen Kriegsruf vom Baum herab. Das schrille Kreischen prallte von den Felsen ab und schallte über den Berghang. Das ließ die Kanistas gerade lange genug zögern, daß Yob den Kreis durchbrechen und zu Cheyne eilen konnte. Cheyne und Yob kämpften Rücken an Rücken, und 349
als die Kanistas angriffen, schnitten sie ihnen blitzschnell die Kehlen durch. Sie fielen langsam um, schienen gar nicht zu bemerken, daß sie starben und schnappten und knurrten fortwährend weiter. Die restlichen Biester hüpften ungerührt über die Kadaver. Doulos konnte den Speer nicht gezielt werfen, da sie sich dauernd bewegten. »Zum Feuer, Yob!« rief Cheyne. Der Ork grunzte zustimmend, und langsam, Schritt für Schritt, gingen sie auf das erlöschende Feuer zu. »Gut. Halte dich bereit.« Cheyne nahm die Gelegenheit wahr, als eines der Viecher sich an einem Gefährten vorbeidrängte und in das Feuer stürzte. Sofort stand das Fell in Flammen, aber der Kanista starb, noch ehe er den Schmerz spürte, da ihn Doulos mit dem Speer erlegte. Cheyne sprang von Yob weg, holte sich den Speer und rollte den toten Kanista aus der Feuerstelle heraus. Er packte den Ast, an dem Doulos ein Kaninchen geröstet hatte und stocherte in der Glut herum, um die Flammen anzuspornen. Er achtete darauf, den Felsen im Rücken zu behalten. Die Angreifer zogen sich fauchend zurück. Cheyne bearbeitete das Feuer so lange, bis sich der fettige Stab entzündete. Dann näherte er sich den Kanistas und schwang den brennenden Ast nach ihnen. Er warf Yob den Speer zu, rannte los und trieb die Tiere zusammen, die sich vor lauter Angst gegenseitig bissen und zu fliehen versuchten. Noch immer waren 350
es zu viele. Wenigstens konnten sie jetzt nicht mehr zu Javin gelangen. Der größte Kanista drehte sich um, nahm Anlauf und rannte auf Cheyne zu. Cheyne blieb stehen und schlitzte dem Biest den Bauch auf, als es ihn ansprang. Als sie den Anführer tot am Boden liegen sahen, flohen die anderen heulend und wehklagend in die Nacht. »Guter Kampf, Meister. Wir haben nicht viel Zeit«, sagte Yob. »Sie kommen wieder. Kanistas sind gute Gegner. Sie geben nie auf.« »Ich auch nicht, Yob. Wir spielen, bis wir gewinnen«, erwiderte Cheyne und wischte das klebrige, dunkle Blut vom Dolch ab. »Komm jetzt.« Sie fanden Javin. Doulos hatte sich schützend über ihn gebeugt und weinte leise. Javin schien durch mehrere Bisse viel Blut verloren zu haben. Er rief nach seinem Sohn. Cheyne beugte sich über ihn und versuchte zu hören, was sein Pflegevater ihm sagte. »Cheyne ... ich fürchtete, ich würde dich nie wiedersehen. Geht es dir gut?« »Ja, sehr gut. Und du bist jetzt in Sicherheit, Javin.« »Ich habe ihn gefunden ... den Sammler.« Cheyne lachte und lauschte den Kanistas. »Das freut mich, Javin.« »Es gibt etwas, was du wissen mußt.« Javin atmete plötzlich viel zu schnell und zu schwach. »Was ist mit ihm? Er ist doch gar nicht so schwer verletzt«, Cheyne zupfte Doulos am Arm, als er durch 351
seine zusammengebissenen Zähne sprach. Der Sklave wies auf Javins entblößten Arm, wo das Gift bereits bis zur Schulter vordrang. »Er sagt, es war der Raptor. Er folgte dir, weil du in großer Gefahr schwebst«, antwortete Doulos mit bleichem Gesicht. Cheyne ließ ihn los und neigte sich tiefer herab, in der Hoffnung, Javin habe noch genug Kraft, um zu sprechen. »Die Karawane. Du hattest recht, Cheyne ... ich habe dir nie alles erzählt. Aber wenn ich nicht geschwiegen hätte, hätte ich dich nie so gut vor ihm verstecken können. Ich reiste mit der Karawane, um nach dem Sammler zu graben. Als der Raptor kam, tränktest du gerade die Tiere. Eines der Dromedare hatte die Fußfesseln abgestreift, und du bist weit gelaufen, um es zu suchen. Als du zurückkehrtest, hatte der Bote des Raptors, ein Elf mit einer Narbe auf der Wange, alle außer mir getötet. Aber von dir wußte er nichts. Als du an jenem Tag aus dem Wald kamst, nahm ich dich mit, um dich zu verstecken. Dein Amulett ... seit Jahrhunderten wird es im Zauberkreis von einem zum anderen weitergegeben. Es gehörte dem Sammler, und es enthält noch ein wenig Zauber. Ich verstehe mich nicht auf Magie, aber ich benutzte das Amulett um dir die Erinnerung zu nehmen. Deshalb kannst du dich nicht im Spiegel sehen. Wenn du nicht weißt wer du bist kann auch er es nicht wissen. Cheyne, der Zauberkreis endet mit mir ... ich bin 352
der letzte. Der Raptor hat uns seit Jahrhunderten gejagt und uns gefunden, egal wo wir uns verbargen. Oft schon hielt er mich in seinen Klauen, ließ mich aber immer wieder gehen. Diesmal versuchte er, mich umzubringen. Das ist bloß wegen dir und der Uhr...« »Wegen des Schatzes?« fragte Cheyne ungläubig. »Ja, aber er will dich ... das hat er schon immer gewollt. Du bist der eine, weißt du...« Cheyne sah Doulos an, der verwirrt den Kopf schüttelte. Dann bedeutete Doulos Javin zu schweigen und lauschte. Cheyne hob den Dolch, da er glaubte, die Kanistas seien zurückgekehrt. Schweigend warteten sie eine Weile, hörten aber nichts mehr. Doulos schlüpfte davon, um nachzusehen, fand aber nur Yob, der den Speer griffbereit hielt. Naruq sprang von den Zweigen der großen Eiche lautlos zu Boden und gratulierte sich zu seinem Glück. Cheyne hielt Javins Kopf, während dieser fortfuhr; »Die Uhr ist in Wahrheit eine Waffe, die der Sammler vor langer Zeit anfertigte, als die Brüder einander bekämpften. Das Buch...« »Javin, hast du das Buch? Das kleine, in Bronze gebundene? Ich ... ich fand es in der Ruine und nahm es mit. Ich hatte es dir überlassen sollen. Es tut mir leid, Javin, aber ich war wütend auf dich. Ich dachte schon, ich hätte es für immer verloren.« »Ist schon gut. Das Buch erklärt, wie die Uhr funktioniert. Die Jumageschichten sagen ... daß der Sammler dort Spuren hinterließ. Du darfst das Mon353
strum nicht herauslassen. Der Raptor glaubt hinter der Kristallwand liegt ein Schatz. Er wird vor nichts Halt machen, um ihn und dich zu bekommen. Er ist ein Verrückter, kein Mensch mehr ... ein halbes Phantom mit einer Klauenhand.« Javin brach zusammen. Cheyne neigte sich lange über ihn, bis ihn Doulos zur Seite zog und Javin mit seinem Umhang bedeckte. »Was weißt du darüber?« fragte Cheyne den Neffianer. Doulos zuckte mit den Schultern, nahm das Buch aus Javins Bündel und reichte es Cheyne, der traurig den Kopf schüttelte. »Nur der Baumvater kann es lesen. Und ich habe die einzige Gelegenheit verpaßt, durch den Vorhang des Lichts zu gehen.« Da Saelin ihm mit großem Abstand folgte und der Wind seine Worte davontrug, kletterte Rotapan laut fluchend den Berg hinauf und beschimpfte Riolla mit großer Ausdauer. Dadurch fühlte er sich besser. Außerdem auch wärmer. Eiszapfen hatten sich an seinen langen Ohren gebildet, als er den Wald verließ. Die schlecht beschuhten Füße bluteten und schmerzten von den harten Lavaflächen und Obsidianbrocken, und das einzige, was ihn vorantrieb, war der Gedanke an jene sprechenden Köpfe und ihre scheußliche Prophezeiung. So lange die Möglichkeit bestand, den Tempel wieder aufzubauen und den Stab zurückzubekommen, ging er 354
vorwärts. Im Geiste hatte er die obersten Spitzen bereits mit Riollas Kopf gekrönt. Der große Gott Chelydrus würde das Opfer ihres giftverseuchten Blutes genießen. Je höher er kletterte, desto mehr wurde seine Sicht von einer Eiswolke versperrt. Schon bald ließ er sich nur noch durch die Steigung und die dunklen Flecken des kahlen Felsen unter seinen Füßen leiten. In dem kalten Nebel bildete er sich Gerüche und Geräusche ein. Es roch nach nassem Fell, und ein leises Knurren ertönte. Jemand stapfte durch den Schnee abseits des Weges. Wölfe heulten und winselten. Doch Saelin war nirgendwo zu sehen. Er hätte Riollas Meuchler niemals trauen dürfen, ihn zu bewachen. Rotapan rang nach Luft und beschleunigte seine Schritte. Er sah sich nach möglichen Waffen um und ließ kleine Steine den Berg hinabrollen. Schließlich bückte er sich, um ein großes Stück Obsidian aufzuheben, aber seine Hände waren steif vor Kälte. Als er sich umdrehte, sah er keine drei Fuß von sich entfernt den größten weißen Wolf stehen, den er je gesehen hatte. Rotapan erstarrte auf der Stelle, die kalte Waffe in Händen haltend. »Es wird ein wundervoller Tag sein, wenn der Gott Chelydrus mir vor meinem Volk erscheint. Dann werden sie es glauben«, sagte er zu sich selbst, um die Angst durch den Klang der eigenen Stimme zu verscheuchen. 355
»Was werden sie glauben?« Die Stimme erklang hinter ihm und hörte sich seltsam fremd an. Er wandte den Kopf und sah einen grauhaarigen Neffianer, der in Felle gekleidet war und ein Sklavenhalsband trug. Neben ihm stand die Gefährtin des großen weißen Wolfs. »Beweg dich nicht. Brauchst du Hilfe? Hast du dich verirrt?« fragte der Neffianer. Rotapan wandte langsam den Kopf, um wieder nach vorn zu sehen. Der Wolf starrte den Halbork schweigend an, dann zog er die Lefzen hoch und knurrte kaum hörbar. Rotapan wußte, daß er ihn sofort angreifen würde, wenn er sich bewegte. Er befürchtete, aus Furcht und Atemnot ohnmächtig zu werden. Noch schlimmer, der andere Wolf hatte sich lautlos hinter ihn geschlichen. Er spürte den heißen, stinkenden Atem im Nacken. Wahrscheinlich ein Weibchen, dachte er. Sie ist ein wenig kleiner. Das Männchen spannte die Muskeln an und bereitete sich zum Sprung vor. Rotapan schluckte schwer, holte tief Luft und rief Chelydrus ein stilles Gebet entgegen, als er versuchte, an der Wölfin vorbeizulaufen. Sie schlug ihm die Krallen in den Rücken, aber er konnte ihren Hals packen und schlitzte ihr die Kehle mit dem Obsidian auf. Sie winselte einmal, bevor sie zu Boden stürzte. Sofort sprang ihr großer Gefährte mit einem riesigen Satz über sie hinweg, aber Rotapan duckte sich und schlug ihm die gleiche Spitze in den Bauch, die auch 356
die Wölfin getötet hatte. Rotapan sah sich nach dem Neffianer um, der jedoch spurlos verschwunden war. Vorsichtig trat er nach den toten Wölfen und spähte die ganze Zeit um sich, ob nicht weitere in den Nebelschleiern warteten. Aber er hörte nichts außer dem entfernten Jammern eines hungrigen Welpen. Soll er heulen, dachte Rotapan. Er wird allein verhungern, und ich kann weitergehen. Als er sich umwandte, bemerkte er ein metallenes Band um den Hals der Wölfin. »Wie das Halsband des Neffianers ... jetzt sind schon Sklaven hinter mir her«, murmelte er. »Sollen sie es nur versuchen. Chelydrus hat mich beschützt. Und du hast gar nichts bemerkt, wertloser Saelin!« Er wühlte in den Taschen, um sicherzugehen, daß Riollas Münze noch dort lag und ging weiter. Noch eine Stunde lang quälte er sich den steilen Pfad hinauf, der durch das Eis und den Schnee immer rutschiger wurde, bis er endlich auf eine ebenere Straße gelangte, die zum Burggraben der Festung führte. Vor ihm, von fünf oder sechs Zoll frisch gefallenem Schnee bedeckt, stand Drufaldens Kristalltor. Wenn ihn die Sklaven überfielen, würde es höchstwahrscheinlich hier geschehen. Saelin hatte behauptet, es gäbe dicht vor dem Tor eine Art Geheimeingang, der von den Sklaven benutzt wurde, wenn sie hinausschlüpften, um zu jagen. Die Siedlung der Diebe lag dicht hinter diesem 357
Punkt, Drufaldens Burg dagegen noch ein Stück höher den Berg hinauf, innerhalb des schützenden Kraters des alten Vulkans. Wenn Rotapan an diesen Toren vorbeikommen konnte, könnte er in die Burg schlüpfen und seine Nachricht überbringen und nach einer Kampftruppe fragen, die er mit zum Tempel nehmen würde. Schließlich hatte er die Münze dabei. Woher sollte Drufalden wissen, daß Riollas Anweisungen ganz anders lauteten? Rotapan verlangsamte seine Schritte und hielt sich in den Schatten der Felswand, wo der Nebel recht dicht erschien. Aber ehe er noch drei Schritte gemacht hatte, traten weißgekleidete Wachen durch die Tore und kamen mit ihren gezückten Schwertern auf ihn zu. »Stehenbleiben und nicht bewegen!« rief der linke. Rotapan drückte sich an die Felswand. Seine Knie schlugen gegeneinander, und er atmete stoßweise. Plötzlich fielen ihm Geschichten von Reisenden ein, die auf diesem Berg verloren gingen, die ihre Karten überprüft hatten und später mit offenen Augen erfroren gefunden wurden. Die Münze, die er auf den letzten Metern in der Hand gehalten hatte, verlor an Wärme und fühlte sich an, als klebe sie an seiner Haut fest. Die Wachen stapften durch den hohen Schnee und blieben wenige Fuß von ihm entfernt stehen. »Wir hören dich. Zeige dich, Sklave. Wir haben dich gewarnt, die Siedlung ohne unsere Begleitung zu 358
verlassen«, sagte einer der Männer, dessen Augen eigentümlich leer blickten, und dessen Atem in der eisigen Luft keinen Dampf hinterließ. Rotapan konnte sich nicht rühren. Aber auf der anderen Seite des Weges erklang ein leises Geräusch. Der Neffianer hockte hinter einem Schneewall und hielt ein wimmerndes Wolfsjunges unter dem Fellmantel. Rotapan atmete erleichtert auf, als ihm bewußt wurde, daß die Wachen nicht ihn gemeint hatten. Als der junge Wolf erneut jaulte, umkreisten sie den Neffianer, und Rotapan machte eine erstaunliche Feststellung. Die Haut der Wächter war so weiß wie die steifen Gewänder, und wenn er ihnen direkt in die Gesichter blickte, konnte er fast durch sie hindurch sehen. Sie sahen aus, als seien sie aus dem gleichen Eis geschaffen worden, das auch den ganzen Berg bedeckte. Ihre Schwerter bestanden aus glänzendem Kristall, und ihre Worte hingen wie der Klang von Stahl auf Stahl in der Luft. Als sie vorrückten, ließ der Neffianer den Welpen los und gebot ihm wortlos zu bleiben, dann sprang er aus der Deckung und rannte an ihnen vorbei, während die Schwerter über seinem Kopf zusammenprallten. Der Sklave rannte durch die Tore und schlug den steilen Pfad zum Haupteingang der Sklavenkolonie ein. Die Wachen folgten ihm steifbeinig, aber mit unglaublicher Geschwindigkeit. Rotapan zuckte mit den Schultern und schlüpfte durch die Silbertore in 359
den leeren Innenhof. Der Nebel hatte sich gelichtet, und das Licht der Monde und der Drei Schwestern funkelte auf Hunderten von kunstvoll geformten Eisskulpturen, die den Hof durch die seltsamen Tiere, Blumen und Bäume lebendig wirken ließen. Der Halbork stand wie gebannt, vergaß die Wachen, die Kälte und die Münze in der Hand, vergaß auch seinen Auftrag und Riolla. Denn dort, in der Mitte des Hofes, auf einem riesigen Eisblock, erhob sich die glänzende, eisige Gestalt eines Meerdrachens, komplett mit Wellen und der Andeutung des Strudels. »Chelydrus!« flüsterte Rotapan. »Erstaunlich, nicht wahr, Wyrvil? Diese Figuren wurden geschnitzt, als ihr Volk den größten Teil des Kontinents beherrschte, vor dem großen Tauwetter. Man sagt, daß sie alle einst auf dieser Erde lebten.« Saelins Stimme drang an Rotapans Ohr. »Beuge dein Knie vor dem Gott des Wassers!« fauchte Rotapan, den es störte, daß seine Audienz bei Chelydrus Zeugen hatte. »Und wo, bitte schön, warst du, als mich diese Wölfe angriffen und zerfleischten?« Saelin winkte mit spöttischer Geste den Eisgestalten zu. »Genau hinter dir. Ich sparte meine Kräfte. Du schienst keine Hilfe zu benötigen. Laß uns gehen. Die Rimscallawachen werden sich nicht lange mit dem Sklaven aufhalten. Ich möchte ungern auf sie warten.« Bevor Rotapan etwas sagen konnte, band ihm Sae360
lin ein Tuch über die Augen, knotete es fest zu und setzte dem Halbork die Dolchspitze an seine schuppige Kehle. »Niemand darf den Eingang sehen, Wyrvil.« Und den Ausgang wirst auch du nicht zu sehen bekommen, dachte er bei sich und schob Rotapan auf Drufaldens Burg zu.
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KAPITEL 17 Riolla hielt sich das Fernglas an die Augen und versuchte, Rotapan und Saelin im Bergnebel zu entdecken. Seit einiger Zeit war es ihr gelungen, sie beim Aufstieg - zu Drufaldens Festung zu beobachten, aber jetzt hatte sie die beiden aus den Augen verloren. »Das gefällt mir nicht.« Sie verstaute das Glas in der Tasche und aß noch eine Banane. Ihr wurde in dem Umfeld der warmen Quelle ein wenig langweilig. Riollas Blick glitt über die tropischen Gewächse und suchte nach Bewegungen oder Eindringlingen. Es war keine besonders gute Idee gewesen, allein hier zu warten, aber sie wollte nicht riskieren, sich ohne ausreichenden Schutz auf Drufaldens Gebiet zu begeben. Das stetige Tropfen des verdunstenden Wasser auf den Pflanzen fing an, sie zu ärgern. Ihre Haare waren naß, und die Kleidung tropfte geradezu. Sie haßte feuchte Orte; sie waren voller Schimmelpilze und Moder. Riolla stocherte in dem Feuer zu ihren Füßen, um sich ein wenig zu trocknen, aber die Wärme machte sie müde. Die dampfende Quelle sprudelte nur wenige Fuß vom Feuer entfernt sehr einladend. Da sie bereits naß war, konnte sie das Wasser eigentlich genießen und gleichzeitig würde sie wach bleiben. Riolla sah sich noch einmal um und zog sich dann aus. Auf der anderen Seite der Quelle packte Og den 362
Stamm eines Bananenbaumes, um sich nicht den Hals zu brechen, als er aus dem Nichts ins Paradies fiel. Sein Lied hatte ihn von Womba entfernt, aber er hatte keine Ahnung, wo er gelandet war. Als er die Steine in der Hand gehalten und gesungen hatte, hatte er an Riolla gedacht. Zu seiner größten Überraschung und seinem unbeschreiblichen Vergnügen sah er sie vor sich, wie sie, mit einer Orchidee im Haar, in einer warmen Quelle badete. Og blinzelte und glaubte zu träumen. Eine Orchidee. Genau wie diejenige, die er ihr an jenem Tag gezaubert hatte, als er um ihre Hand anhielt. Ogs Herz zerbrach erneut, als er durch das Gewirr der tropischen Pflanzen lugte. Seine Nase versteckte er hinter einem Bananenbüschel. Riolla ließ sich Zeit; nur ihr Kopf war über der sprudelnden Oberfläche zu sehen. Als sie sich erhob, um die Quelle zu verlassen, fiel Og auf, daß sie nackt war, splitternackt. Gebannt schloß er die Augen, um sich zu fassen und blickte dann zu den Drei Schwestern empor. Der Himmel war größtenteils von den wabernden Nebelschwaden verdeckt, aber hin und wieder war das vertraute Sternbild zu sehen, wenn sie sich ein wenig lichteten. Alles sah ähnlich aus wie in der Nähe des Selkiehauses, nur daß er sich ein Stück weiter westlich befand. Dies mußte die warme Quelle am Fuß von Drufaldens Berg sein. Er steckte die beiden Steine in seinen Beutel und schmiedete einen Plan. Jetzt, da sie wußte, daß er fort 363
war, würde ihn Womba sicher verfolgen, und er konnte jederzeit vor Tagesanbruch zum Fluß der Selkies zurückkehren, wenn Cheyne zum Wald aufbrechen wollte. Aber erst einmal wollte er noch näher herangehen. Nur noch einmal mit ihr zusammen sein. Ein letzter Blick, wenn sie nicht wußte, daß er hinschaute, während sie allein waren. Als Riolla in ihre Gewänder schlüpfte, die Haut mit einem entzückenden rosigen Hauch überzogen, steckte er die Nase wieder hinter die Bananen. Ogs plötzliche Bewegung ließ den Baum schwanken und erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie blieb stehen, um zu lauschen, und er hielt den Stamm fest, aber es war zu spät. Riolla, die das Büschel reifer Bananen entdeckt hatte, lächelte gierig und bahnte sich einen Weg durch das Gewirr der Pflanzen, die Augen auf den goldgelben Schatz gerichtet. Og konnte nichts tun, nur das Unvermeidliche abwarten. Riolla zerrte an der größten Banane, und Og taumelte aus dem Versteck und hielt sich die schmerzende Nase. Riolla konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken. Ihren Zorn behielt sie jedoch nicht für sich. »Du! Wo kommst du denn her? Hast du mich beobachtet, du häßlicher kleiner Raqastrolch? Saelin!« schrie sie, da sie Og glauben machen wollte, er würde gleich einen Kopf kürzer gemacht. Er erhob sich von dem schlüpfrigen, rankenbedeckten Boden, richtete sich zu voller Größe auf und sah 364
Riolla tief in die wütenden Augen. Er hatte Jahre gewartet, um mit ihr zu sprechen, und er wußte genau, was er ihr sagen wollte. »Ich ... ich liebe dich, Riolla«, krächzte er mit brechender Stimme. Sie rümpfte angewidert die Nase und packte ihn am Kragen. Dann stieß sie ihn durch die üppigen Farne und Moose zum Feuer, stocherte in der Glut herum und setzte sich hin, um zu entscheiden, wie sie den alten Gauner als Geisel festhalten sollte. »Saelin, ich warte!« Riollas scharfe Stimme durchdrang den Nebel. Als niemand erschien oder antwortete, lauschte sie angestrengt und hielt den Dolch gegen Ogs Rippen, um sich sein Schweigen zu sichern. Ein paar Minuten verstrichen, ohne daß ein Laut vom Berghang zu hören war. Og wartete friedlich und unternahm keinen Fluchtversuch. Schließlich befand er sich genau dort, wohin er wollte, seitdem ihn Riolla verlassen hatte. Der Knebel schmeckte unangenehm, und die Nase schmerzte stark. Schließlich wandte Og den Kopf ab, um sich an der rauhen Rinde eines Baumes zu scheuern, wo ihn ein Moskitostich juckte. Gleichzeitig sah er Womba in die Augen. Er konnte nicht einmal schreien. »Ngah! Ngah!« stöhnte er, aber Riolla, die wegen ihrer Zweisamkeit beunruhigt war, schob ihm nur den Dolch fester gegen die Rippen und schaute auf die 365
andere Seite. Womba sah ihn schmachtend und verliebt an und wollte gerade seine Fesseln lösen, um ihn davonzutragen, als ein neuer Besucher aus dem Nebel erschien und sich ans Feuer setzte. Wombas Nase, die durch den Überreiz an fremden Gerüchen verwirrt worden war, hatte den Eindringling nicht bemerkt. »Bei dem leeren Kruge Nins, Naruq! Was tust du hier? Kannst du dich denn nie anmelden, so wie alle anderen es tun? Ich hatte dich töten können, ehe ich dich erkannt hätte«, fauchte Riolla. Der große Elf lächelte herablassend. »Das möchte ich stark bezweifeln, Schreefa. Sehr sogar. Wie ich dir sagte, bin ich dein Führer durch den Vorhang des Lichts. Ich sehe, du hast einen Gefangenen. Das war sicher nicht schwierig, stimmts? Hallo Ogwater!« »Ngah. Nagahhh!« brüllte Og. Ohne den Elfen zu beachten, zog sich Womba ein Stück zurück, da sie fürchtete, Og erschreckt zu haben. Eine Dampfwolke trieb einen neuen, ganz besonders starken Geruch heran, und die gelben Augen verengten sich vor Zorn. »Ngah, Ngah!« wiederholte Og, aber Riolla hatte ihn vergessen. »Hat nicht viel zu sagen, was?« fragte Naruq. Riolla betrachtete den Elfen eingehend. »Ich habe dich nicht mehr gesehen, seitdem die Straße geschlossen wurde. Was hast du getrieben?« »Nichts, worüber ich sprechen möchte. Aber ich 366
habe Neuigkeiten, die du wahrscheinlich hören möchtest. Gegen gute Bezahlung natürlich«, erklärte der Elf. »Wieviel?« »Ich denke, die Hälfte von dem, was der Ausgräber unter der Uhr findet, wird reichen.« Riolla sah ihn prüfend an. Aber er wußte, daß er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. »Bist du überrascht, weil ich weiß, daß du alles für dich behalten willst?« fuhr er fort. »Ich hätte es dem Raptor schon in Sumifa erzählen können, aber dann hätte ich deine Arbeit auch noch erledigen müssen. Und so bekommen wir beide, was wir wollen. Du kannst Sumifa haben, aber ich will Sarrazan und alles, was darunter liegt.« »Was weißt du über die Uhr?« knurrte Riolla. Og spitzte die Ohren, gab aber vor, vor lauter Erschöpfung zu dösen. »Genug. Aber du nicht.« »Was soll das heißen?« zischte sie. »Nun, es geht darum, wie sie arbeitet.« »Was willst du damit sagen? Hör auf, mit mir zu spielen, Naruq.« »Der Ausgräber hat jetzt alles, was nötig ist, um die Uhr zu öffnen. Es steht in dem Buch, das sein Vater bei sich trug. Wußtest du nicht, daß man dir gefolgt ist? Ja, ich dachte mir schon, daß dich das erbleichen lassen würde. Aber der Ausgräber und sein Buch sind kein Hindernis, selbst wenn ihm der Baumvater 367
daraus vorliest.« »Wieso denn nicht?« »Wir haben etwas, was er will.« Naruq stand auf und schob die Pflanzen hinter seinem Rücken auseinander, um Claria vorzuzeigen, die an den Händen und Füßen gefesselt, mit einem Knebel im Mund und großer Wut in ihren goldenen Augen dort saß. Durch Clarias Geruch ausgesprochen verärgert, konnte sich Womba nicht länger beherrschen. Als sie das Mädchen erblickte, brüllte sie auf und sprang aus ihrem Versteck hervor, riß den kleinen Baum, an den Og gebunden war, an den Wurzeln heraus und schlug damit um sich. Naruq war völlig verblüfft und entkam dem Hieb nur mit knapper Not. Riolla rollte die Augen und empfand das Auftauchen der Orkin als Belästigung. Claria versteckte sich unter einem großen Busch und hoffte das Beste. Womba verfehlte sie mehrmals und brach mit jedem Hieb ein Stück des Baumes ab, bis sie nur noch ein paar Rindenstücke in ihrer schuppigen Hand hielt. Naruq hatte den Dolch gezogen, traf sie aber nicht, bis sie ihm endlich das Gesicht zuwandte und er ihr das Messer quer über die Wange zog. Die Augen voller Blut, brüllte Womba auf, packte Og, der sich noch nicht von den Fesseln befreit hatte und rannte davon. »Das war ganz hervorragend. Jetzt kann er dem Ausgräber alles erzählen, was wir vorhaben«, schimpfte Riolla. 368
Naruq lachte und wischte den Dolch an Riollas Gewand ab. »Oh, merkst du denn gar nichts, Schreefa? Die Orkin wird ihn so weit wie möglich von den anderen wegbringen. Übrigens, hast du seine Taschen durchsucht?« »Natürlich nicht. Warum sollte ich? Er hatte nicht einmal Rotapans Stab. Erwartest du, daß ich ihn berühre? Es reicht, daß ich ihn fesseln mußte, diese eklige Küchenschabe. Er würde mir nie etwas antun.« »Er hat zwei der Steine.« Riolla wurde kreidebleich. Naruq sah sie von oben herab abfällig an. »Der Ausgräber ist auf dem Weg zum Baumvater. Er ist der einzige, der das Buch lesen kann. Ich muß ihn in den Wald führen, dann höre ich, was ihm der alte Graubart erzählt und komme so schnell wie möglich zurück. Deine Arbeit besteht darin, auf das Mädchen aufzupassen. Verletze sie nicht und laß sie nicht entkommen, Riolla. Du brauchst was nur ich dir geben kann, sonst gelangst du nie an die Uhr. Denk darüber nach, und sei dankbar, daß ich sie dir geben werde.« Riolla zog hinter seinem Rücken eine Grimasse, als er im Wald verschwand. Dann wandte sie sich Claria zu und lächelte; ihr Mund sah wie eine Rosenknospe aus, und sie zerfloß vor gespieltem Mitleid. »Wir treffen uns zum ersten Mal, meine Liebe. Ich hatte gehofft, wir würden uns bei der Hochzeit sehen. Ich weiß, daß Maceo dich einst recht nett fand. Aber das ist natürlich vorbei. Und dein unwichtiges kleines 369
Leben wird auch bald ein Ende haben. Ich werde dir den Ring abnehmen, damit er ihn wiederbekommt.« Riolla griff nach dem Ring, und zu ihrer Überraschung versuchte das Mädchen nicht, die gefesselten Hände wegzuziehen. Statt dessen hielt sie der Schreefa den geschwollenen Finger genau unter die Nase. Riolla hob die Brauen und bemühte sich, den Ring abzuziehen. Der ließ sich natürlich nicht bewegen. Claria lachte hinter dem Knebel. Riolla fand das nicht lustig. »Oh ... nun gut. Es gibt noch andere Wege, meine Liebe«, drohte sie. Rotapan beendete seine Rede und schwieg. »In Ordnung, Wyrvil. Gib mir die Münze«, sagte Drufalden und trommelte mit einem ihrer langen silbernen Fingernägel auf die Lehne des Throns. Rotapan blinzelte und rollte die Augen, die sich noch an die strahlende Helligkeit von Drufaldens Gemächern gewöhnen mußten. Saelin hatte dem Halbork die Augenbinde erst abgenommen, nachdem man sie durch ein Labyrinth von Gängen aus Eis und Stein geleitet hatte, die zu Drufaldens Räumen führten. Rotapan wühlte in seiner Tasche und zog zögernd die Ninnitenmünze heraus. Drufalden untersuchte sie sorgfältig und war schließlich zufrieden, daß sie der Beschreibung des Raptors entsprach. »Du hast gerade dein mieses Leben gerettet, Wyr370
vil. Seit Jahren warte ich auf eine Gelegenheit, dich vor mir stehen zu sehen. Erzähle Riolla, daß ihre Eskorte bereit steht. Ich werde fünfhundert meiner besten Meuchler losschicken, die am Vorhang warten werden. Sie kann sie dort treffen. Saelin, schaff ihn mir aus den Augen, bevor ich mich vergesse.« Drufalden gab dem Meuchler einen Wink. Saelin lächelte, verbeugte sich und legte dem Halbork die Augenbinde an. Als sie durch die gefrorenen Gänge schritten, schien die Luft wärmer zu sein und roch auch anders. Rotapan spürte Wasser unter den Füßen. Dann hörte er ein sonderbares Geräusch. Es klang wie das Auftauen eines Flusses, wie das Krachen von Eis. Auch Saelin hörte es; eine halbe Meile lag noch vor ihnen. Der Meuchler rannte um sein Leben, lief den langen Gang entlang und ließ den Halbork zurück, der gegen die schmelzenden Wände taumelte. Die Decke taute viel schneller auf, als es bei natürlichem Tauwetter möglich gewesen wäre. Rotapan nahm die Augenbinde ab und rannte dem Meuchler nach. Saelins Fußabdrücke waren in dem körnigen Eis gut zu erkennen. Rotapan keuchte und hustete, als er durch den glitschigen Gang stürmte, die ganze Zeit lautlos zu Chelydrus betend. Eisiges Wasser rann von der Decke in seinen Kragen. Die letzten Schritte bis zum Innenhof rutschte er aus und konnte nur knapp einer großen Pfütze ausweichen. 371
Er hielt an und hielt nach Saelin Ausschau. Der Meuchler war verschwunden. Rotapan wußte nicht, wohin er gehen sollte. Außer nach Hause. Verärgert wickelte er den dünnen Umhang um sich, richtete sich nach den Drei Schwestern und schritt durch den schmelzenden Hof und den Berg hinab. Hinter ihm löste sich Drufaldens Königreich in schmutzige Rinnsale auf, die zu schmutzigen Bächen wurden, die sich in die Flüsse der Ebene ergossen. Am nächsten Tag würde das Eis, das hundert Fuß hohe Mauern gebildet hatte, das Land unterhalb des Berges überfluten und in den Silbersee fließen. Rotapan hielt inne, als er an den Überresten der herrlichen Skulptur des Chelydrus vorbei kam, die nun nur noch ein unförmiger Klumpen in einer Pfütze war. »Mächtiger Chelydrus, nur du überlebst, mit makellosem Gesicht und unversehrter Form. Nichts kann deine Herrlichkeit beeinträchtigen. Ich werde deinen Tempel wieder aufbauen, mein Gott. Hilf mir, heil nach Hause zurückzukehren, dann wird er neu erbaut. Ich werde den Stab wieder in Händen halten. Ich bin Rotapan, Oberster Herrscher der zehn Stämme!« rief er laut und kletterte den Hang hinunter, als seien die Worte zutreffend. Hinter ihm schlüpfte der Sklave, den die Wachen gejagt hatten, aus dem Gang und führte eine Bewegung aus. Der Welpe schoß aus dem Versteck hinter den Felsen hervor und sprang ihm in die Arme. Das 372
Gesicht des Mannes war zerschlagen, ein Auge dick geschwollen. Der Neffianer kniete unter Schmerzen nieder und ließ den Wolf an seinen Wunden schnuppern, befahl ihm aber, ruhig zu sein, als das Tier jaulte. Dann führte er ihn in einen Felsspalt am Rande des Innenhofes. »Rafek! Wo warst du? Was ist mit dir geschehen?« Die Stimmen schienen von überallher zu kommen, als der Neffianer von dem geheimen Eingang zur Mitte der Sklavensiedlung ging. »Ich habe keine Zeit für Erklärungen. Die Wachen sind geschmolzen! Ja, sogar, als sie mich schlugen. Ich jagte draußen mit den Wölfen und konnte nicht zur Tür, ehe sie mich erspähten. Sie verwandelten sich plötzlich zu Wasser. Ich glaubte, zu träumen oder tot zu sein. Jetzt sehe ich, daß der ganze Platz sich auflöst. Da draußen ist etwas geschehen.« Hundert alte Neffianer, die längst nicht mehr arbeiten konnten, aber immer noch das silberne Halsband mit Drufaldens Zeichen trugen, starrten Rafek an, als sei er verrückt geworden. »Das glaubst du doch selbst nicht, Mann - sieh dich an -, das kommt bestimmt von den Schlägen. Wo sind Jepli und Carsh?« wollte einer der alten Männer wissen, dessen Name Salmak war. »Der Wyrvilkönig hat sie getötet. Nur Q'Tarin überlebte.« Der kleine Wolf leckte ihm die Hand, als er seinen Namen hörte. »Der ... Wyrvilkönig? Du hast den Wyrvilkönig 373
gesehen? Rotapan, der uns alle wieder in die Sklaverei verkauft hat, nachdem wir aus Sumifa fortliefen?« Salmak schüttelte den Kopf und rollte die Augen. Ein paar der anderen versuchten höflicherweise, ihr zahnloses Lächeln zu unterdrücken. »Ich sah ihn. Anfangs dachte ich, er sei ein verirrter Wanderer und wollte ihm helfen. Für diese Freundlichkeit tötete er meine Wölfe. Aus dem Gespräch der Wachen entnahm ich, daß ein Meuchler den Wyrvil zu Drufalden führte. Ich habe den Meuchler nicht gesehen, aber der Halbork befindet sich auf dem Weg den Berg hinab. Anscheinend allein«, fügte er hinzu. »Ich sage euch, es tut sich etwas. Der neue König wird bald kommen, genau wie es die Juma sagten. Mein Bruder Doulos hatte recht - wir werden bald frei sein. Wo sind die Hausdiener? Die Minenarbeiter? Fragt sie, ob dieses Königreich auftaut! Oder seht selbst nach draußen, wenn ihr mir nicht glaubt.« Der alte Mann glättete die dichte weiße Haarmähne und zerrte an dem silbernen Halsband; dann wies er einen der anderen an, vorsichtig nach draußen zu schauen. »Schon gut, Rafek, beruhige dich. Wenn Silufe Wasser bringt, werden wir handeln«, sagte er und reichte Silufe eine leere Tasse. Nach kurzer Zeit hatte man Rafeks Auge verbunden, und Silufe kehrte mit einem Lächeln und einer Tasse voller Wasser zurück. »Die Wachen sind fort. Aber die Meuchler besetzen den Innenhof«, berichtete er. Rafek setzte sich nieder, 374
froh, daß man ihm endlich glaubte. Salmak lächelte in seinen weißen Bart. »Nie glaubte ich, das noch zu erleben. Aber vielleicht haben wir jetzt eine Möglichkeit zu fliehen. Das sind nur Männer und Frauen. Gegen Magie konnten wir nicht kämpfen. Aber gegen Fleisch und Blut und Knochen! Wir müssen sorgfältig planen. Es sind bedeutend mehr Meuchler als wir, aber wir könnten es schaffen.« Wieder zerrte er an dem Silberreif. »Sie ist nicht länger unbesiegbar.« Rafek umarmte den Wolf und erhob sich, um zu gehen. »Kümmert euch um Q'Tarin. Ich folge der Wyrvilschlange.« »Rafek, die Ninniten werden dich auf der Stelle töten. Der ganze Hof ist voll von ihnen«, sagte Silufe. »Ich muß gehen. Es mag die einzige Gelegenheit sein, ihn zu erwischen, wenn er allein und ohne Schutz ist. Und er hat meine Wölfe getötet, Silufe. Das kann ich nicht ungestraft durchgehen lassen.« Rafek warf sich einen schweren Umhang über und kroch aus dem Geheimeingang. Er mußte nur wenige Minuten warten, bis sich alle Meuchler im Hof versammelt hatten, um ihre ShirrirRationen zu entzünden. Als sie den Wind im Rücken hatten, trat er schattengleich aus dem Schutz der Felsen hervor und verschwand den Pfad hinunter. Und Q'Tarin, der nach jeder Hand gebissen hatte, die ihn zurückhalten wollte, trottete lautlos hinterher.
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KAPITEL 18 Riolla zog ihren kleinen, juwelenbesetzten Dolch und ließ ihn vor Clarias goldenen, furchtlosen Augen tanzen. »Denkst du, daß wir ihn brauchen, um den Ring zu entfernen?« fragte die Schreefa. Claria schüttelte den Kopf, denn der Knebel behinderte sie noch immer. »Gut, dann nimm ihn ab.« Claria hielt die gefesselten Hände hoch. »Netter Versuch!« sagte die Schreefa und näherte sich mit dem Dolch. »Riolla!« Saelin rannte krachend wie ein rollender Stein durch das Gestrüpp. »Reiß dich zusammen. Wir haben keine Zeit. Wir müssen sofort den Berg hinauf!« keuchte er. »Oh ... gut gemacht, meine Kaiserin. Ist das ein besonderer Leckerbissen für deinen gehorsamen Diener?« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und spürte die wunde, lange Narbe, die Clarias Kamm hinterlassen hatte. »Wovon redest du, Saelin? Warum sollen wir gehen? Und wo ist Rotapan?« Sie steckte den Dolch ein. »Als das Tauwerter einsetzte, blieb keine Zeit, ihn zu beseitigen wie du geplant hattest. Aber er ist sicher tot. Ich ließ ihn im Gang des Palastes zurück. Keine Angst, er wird den Ausgang nie finden, und die Wyrvilstämme werden der Eiskönigin auch weiterhin 376
feindlich gesinnt sein. Er hatte die Augen verbunden, und die Wände lösten sich auf. Ich bin sicher, der Gang ist über ihm zusammengestürzt. Er überbrachte deine Botschaft, und Drufalden hat deine Krieger versammelt. Sie erwarten dich am Vorhang.« Saelin blickte zum Berg hinauf. »Schreefa, eine Schlammlawine stürzt herab. Wir müssen gehen.« Riolla versetzte Claria einen Tritt, damit sie aufstand. »Der alte Gauner muß den Stein der Selkies benutzt haben«, murmelte sie. »Egal. Wir müssen sowieso schnell aufbrechen, aber ich wünschte, dein Dolch hatte das Herz Rotapans durchbohrt, anstatt ihn dem Schicksal zu überlassen. Nun ja, er ist aus dem Weg, und ich muß ihn nicht bezahlen. Saelin, vielleicht würdest du dich gut in seiner alten Position machen.« Der Meuchler verneigte sich und lächelte unter dem dunklen Schnurrbart. Das reichte, ihn die kleine Uhr vergessen zu lassen. Ogwater wurde wie ein Sack Melonen auf Wombas starken Schultern durchgerüttelt. Die Orkin hatte ihre Schritte nicht verlangsamt, seitdem sie durch den Dschungel und in den Wald gerannt war, der den Fluß der Selkies umgab. Og hatte keine Ahnung, wohin sie ihn schleppte, aber wo auch immer das sein mochte, es war ihm zu weit. Bis er Dunsan erblickte. Der Späher rannte ihnen entgegen; sein Gesicht war heiß und rot vor Anstren377
gung. »Wo bist du gewesen? Wir haben dich auf Wiggulfs Befehl überall gesucht. Weißt du nicht, daß der Berg einstürzt? Wahrscheinlich bleiben wir hier verschont, aber es wäre möglich, daß du hier festsitzt, bis sich die Fluten zurückziehen.« Beim Klang seiner Stimme versiegte Wombas Kampflust, und sie sah ihn an, als habe sie kein Wort verstanden. Aber das Auftauchen des Spähers hatte sie lange genug anhalten lassen, so daß sich Og aus ihrem Griff lösen konnte und ungeschickt zu Boden glitt. »Ich muß Cheyne finden. Ist er bei Wiggulf?« fragte der Magier. »Er ging, um seinen Vater zu suchen. Sie sind ein Stück den Pfad weiter oben. Ich kann dich hinführen«, sagte Dunsan und durchschnitt die Fesseln, die immer noch Ogs Handgelenke zierten. Og folgte ihm, Womba dicht auf den Fersen. Dunsan schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch, bis sie Cheyne erreichten. Yob und ein Neffianer waren bei ihm: Sie trugen einen Verwundeten und schritten den Pfad entlang, den Cheyne und Og bei ihrer Ankunft auf der Insel der Selkies gegangen waren. »Cheyne! Yob! Hilfe!« schrie er. Cheyne ließ die Gruppe anhalten, und Yob rannte auf seine Tochter zu, die auf Og losstürmte. Kurz darauf hatte Yob die bewußtlose Womba auf seinen 378
Schultern, und Og rieb seine geschwollenen Hände, während er neben ihnen herschritt. Cheyne hatte kein Lächeln für Og übrig. »Wo bist du gewesen? Wir brauchen deine Hilfe.« Og folgte dem kalten Blick, der sich auf den verwundeten Mann richtete. »Nun...« Diesmal war Og sprachlos. Er beugte sich über den Verletzten, zog sich schnell zurück, als er die kalte Hand des Mannes berührte. »Er ist tot. Wer war er?« Doulos verbeugte sich und antwortete. »Es ist der Vater des jungen Muje, der wahre König von Sumifa. Und er lebt noch. Aber wenn wir nicht bald Hilfe erhalten, wird er sterben.« Og zerrte an seiner Tasche und schüttete sich die Steine in die Handfläche. Er bereitete sich vor, das Lied des Lebens zu singen. Aber nachdem die ersten Töne zu einer Melodie wurden, verblaßte das Licht der Steine und erstarb. Og krächzte die Worte, völlig aus dem Takt und so müde, daß er sich kaum rühren konnte. »Was ist das für ein Gift? Ich kann nicht dagegen ansingen«, wunderte er sich. »Das ist die dunkle Magie der Ninniten, Og.« »Dann müssen wir ihn zum Baumvater bringen. Der Feuerbann ist der einzige Stein, der dieses Gift besiegen kann. Die Elfen wissen noch besser als ich, wie man mit der Magie umgeht. Kommt schon. Wir dürfen keine Zeit verlieren.« 379
Cheyne versuchte, es Javin bequemer zu machen. »Warte ... vielleicht gibt es doch etwas, was ich tun kann. Und ich habe Neuigkeiten, Cheyne. Unser Freund Naruq hat nichts Gutes im Sinn. Er arbeitet für den, dem auch Riolla dient, und für sich selbst. Er hatte geplant, dir eine Falle zu stellen. Riolla hat fünfhundert Ninniten, die am Vorhang auf dich warten, wenn du die Uhr für sie aufgespürt hast. Und...«Er schluckte, da er das Folgende ungern erzählte. »Und was, Og?« fragte Cheyne. »Riolla hält Claria gefangen.« Rotapan blieb mitten im Wald stehen, um in der Luft zu schnuppern, da er sich vor den Geräuschen hinter sich fürchtete. Seit mehreren Meilen hatte er das Dröhnen des sich bewegenden Berges vernommen, das Plätschern des anschwellenden Flusses und schlimmer, viel schlimmer - das Knacken und Rascheln trockener Äste unter den Füßen eines achtlosen Verfolgers. Er hob die Nase, schloß die Augen und konzentrierte sich auf die Gerüche, die der Wind herantrug. Neffianer? Und noch ein Wolf? Rotapan wunderte sich. Und ganz in der Nähe... So nah, daß er sie vor sich stehen sah, als er die Augen öffnete. Das Gesicht des Neffianers sah verschwollen und grimmig aus; er hielt eine schwere Keule in der Hand. Rotapan stellte sich mit dem Rücken an einen Baum und suchte nach der Obsidi380
anwaffe, mit der er die anderen Wölfe getötet hatte. »Die hast du ein paar Meilen weiter oben verloren, Wyrvil. Aber hier sieht die Sache ein wenig anders aus. Hier hast du keine Steine. Du kannst auch nicht einfach weglaufen. Du und ich, wir haben noch etwas zu regeln«, sagte Rafek. Ihm zu Füßen saß sprungbereit der halbwüchsige Wolf, fletschte mit den Zähnen und knurrte. »Zu regeln? Was haben wir denn zu regeln?« krächzte Rotapan, dessen Hände sich in die Baumrinde krallten. Schritt für Schritt kam der Neffianer näher. »Dein Leben für das Leben all meiner Leute, die du an Drufalden verkauft hast, nachdem sie dir mit ihrer Arbeit an jenem schrecklichen Tempel dienten, damit du sie durch dein Reich reisen lassen würdest. Und dein Leben für das Leben meiner Wölfe. Scheint nicht gerade gerecht zu sein, wie? Du schuldest viel mehr, als du bezahlen kannst. Aber es ist wenigstens etwas!« Der Neffianer sprang auf Rotapan zu, und die Keule krachte genau auf die Stelle, wo den Bruchteil einer Sekunde vorher noch Rotapans Kopf gelegen hatte. Rafek holte wieder aus, während sich der Welpe auf den fliehenden Halbork warf und ihn zu Fall brachte. Unter den Pfoten des junges Wolfs wand sich Rotapan wild auf dem weichen Waldboden hin und her, wühlte zwischen den Nadeln und Tannenzapfen, fand aber keine Waffe. Als Rafek dem Wolf pfiff, kauerte Rotapan auf allen vieren und knurrte mit glasigen 381
Augen vor sich hin. Rafek trat vor, um der Sache ein Ende zu bereiten. Rotapan schloß die Augen und schrie; dann kroch er wie eine große Spinne über den unebenen Boden rückwärts davon. Rafek hob die Keule. Es wäre innerhalb einer Sekunde vorbei gewesen, hätte Rotapan nicht ein Stück Holz gefunden. Er packte den dicken Ast und wich Rafeks wütendem Hieb aus. Auch die beiden folgenden Schläge trafen nicht, und er kam wieder auf die Beine. Der junge Wolf sprang fortwährend um ihn herum, da er dem Halbork an die Kehle wollte, aber Rotapan schwang den Ast um sich herum, um den Welpen auf Abstand zu halten. Immer wieder griff Rafek an, und die Waffen schlugen aufeinander und übertönten sogar das Grollen des anschwellenden Flusses, bis Rotapan plötzlich bemerkte, daß der Ast, den er in Händen hielt, ein Teil seines zerbrochenen Zepters war, an dessen Ende noch immer der Schlangenkopf saß. Er heulte vor Wut auf und hieb mit dem schweren Ende mit aller Kraft zu; der unerwartete Angriff erwischte den Neffianer auf seiner blinden Seite, als der Sklave die Keule hob. Einen Augenblick lang stand Rafek mit erhobener Waffe da, einen Ausdruck des Erstaunens auf seinem blutigen Gesicht. Dann fiel er hintenüber, vom Gewicht der Keule mitgerissen. Er war tot, bevor er den Boden berührte. Der kleine Wolf sprang wütend auf Rotapan zu, aber der Halbork hatte die Krücke des Zepters über 382
einen tiefhängenden Ast geworfen, schwang sich daran hoch und kletterte in die hohe Fichte hinauf. Q'Tarin versuchte, ihm zu folgen, fiel aber immer wieder zu Boden. Er jaulte und setzte sich leise heulend neben Rafek. Aber in dem dichten Wald und unter dem Rauschen des nahen Flusses verhallte seine Totenklage ungehört. Oben im Baum saß Rotapan, untersuchte seine Wunden und ließ die Hände über das zerbrochene Zepter gleiten, an dem das dritte Auge der Schlange nur noch ein dunkler Fleck über den langen, entblößten Zähnen war. Das Mädchen hatte gelacht. Der Stab war zerbrochen und der Ajada fort. Aber sein Tempel, der im Dämmerlicht des anbrechenden Tages schwach zu erkennen war, stand teilweise noch. Der mächtige Chelydrus würde sein Giftopfer noch bekommen. »Riolla hält Claria gefangen? Was meinst du damit?« Cheyne starrte den zerrupften Magier ungläubig an. »Nun, äh, Naruq brachte sie zu Riollas Lagerplatz; mehr weiß ich auch nicht. Ich muß wohl nicht erklären, wie erstaunt ich war, sie dort zu sehen«, erklärte Og. Cheyne verzog das Gesicht. »Also wird sie Clarias Leben gegen den Schatz der Uhr eintauschen wollen, nicht wahr?« »Das hat Naruq angedeutet. Er sagte, du hättest ein Buch...« 383
»Was wir haben, ist ein kranker Mann, der die Nacht nicht ohne Hilfe überlebt«, sagte Cheyne. »Gehen wir! Dunsan, kannst du Wiggulf berichten, was geschehen ist?« »Das werde ich. Er wird sehr traurig sein wegen Naruq. Sie sind alte Freunde. Komm mit mir, Orkin. Deine Wunde muß versorgt werden.« Womba war zu sich gekommen, aber der Blutverlust machte ihr zu schaffen. Obwohl es bedeutete, Og zu verlassen, wehrte sie sich nicht, als Dunsan sie in die Richtung des Hauses schob und hinter ihr herging. Cheyne gab Doulos das Zeichen, Javin weiterzutragen, aber Og hob abwehrend die Hände. »Wartet. Wie ich schon sagte, ich kann etwas tun. Ich habe doch die Steine. Haltet euch alle an den Händen.« Er holte tief Luft und nahm alle Kraft zusammen, beugte sich über die Steine und sang, während er sich fest auf den Sarrazanwald konzentrierte. Ein Ort, an dem er nie gewesen war. Naruq fühlte die Bewegung des Vorhangs, als Og seine Gruppe hindurchfühlte. Der Elf blieb stehen, drehte sich um und rannte wieder auf Riollas Lager zu. Ein schneller Blick verriet ihm, daß und weshalb sie weitergezogen war; Drei verschiedene Fußabdrükke zeichneten sich in dem lehmigen Boden nahe der Quelle ab. Naruq kletterte auf einen Baum und schwang sich mit unglaublicher Behendigkeit von 384
einem Ast zum anderen. Er kam noch schneller voran, als auf der unebenen Straße. Er holte Riolla ein, als sie gerade den Rand des Vorhangs erreichte. »Halt!« Naruq sprang dicht vor Saelin zu Boden, der mit stichbereitem Dolch wartete. »Steck ihn weg, Meuchler. Beinahe hättet ihr euch verirrt.« »Wo?« fragte Riolla und sah sich um. »Ich sehe nichts außer Bäumen, und die Straße führt genau durch den Wald.« »Paß auf«, sagte Naruq und ging ein Stück die überwachsene Straße entlang. Riollas Unterkiefer fiel herab, als der Elf sich in Nichts aufzulösen schien. Als er zu ihr zurückkehrte, wurde er wieder sichtbar. »Der Vorhang teilt sich dort drüben. Kommt mit.« Naruq führte sie von der Straße fort. Eine Viertelmeile später traten sie durch den unsichtbaren Vorhang; die Luft ringsumher war von nicht sichtbaren Kräften erfüllt. Wo vorher nur Wald und Himmel gewesen waren, erhob sich jetzt der Berg Sarrazan, auf dessen felsigen Hängen hoch oben ein Kristallspiegel funkelte. Claria atmete die klare Luft ein und fühlte, wie ihre Kraft zurückkehrte. Riolla und Saelin tauschten triumphierende Blicke aus. »Ja. Das ist der Sarrazan. Wunderschön, nicht wahr? Wartet hier, bis ich zurückkehre. Und denke daran, Saelin: Wir brauchen das Mädchen!« Naruq verschwand, ehe Saelin sich von seiner spöttischen Verbeugung erhoben hatte.
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Ogs Gruppe landete im Gestrüpp, aber er wußte, daß sie hinter dem Vorhang waren. Auch die Elfen wußten es. Aus jedem Baum über ihren Köpfen sprangen silberhaarige Sarrazaner, von denen einige Bogen trugen, andere mit Blasrohren und Pfeilen bewaffnet waren, an denen winzige bunte Federn glänzten. Sie alle waren in Grün oder Braun gekleidet und verschmolzen aufs beste mit dem sommerlichen Wald. Es fiel Cheyne schwer, sie zu erkennen, wenn sie längere Zeit still standen. Er hob grüßend die Hand, während Og und Doulos langsam ein Schwindelgefühl abschüttelten. Javin blieb bewußtlos. Mit schußbereitem Bogen trat einer der Elfen vor, sah Cheyne prüfend an und lächelte. »Der Baumvater erwartet dich. Aber wo ist Naruq? Er sollte dich zu einem der Durchgänge geleiten.« Die Stimme des Elfen klang wie ein Lufthauch. »Naruq ist ein Verräter. Ich werde euch gerne mehr erzählen, wenn wir diesen Mann zu einem Heiler gebracht haben«, sagte Cheyne und kletterte aus dem Dornbusch heraus. Der Elf beugte sich nieder und hielt die Hand über Javin, ohne ihn jedoch zu berühren. Er runzelte besorgt die Stirn, winkte den anderen, und sie eilten herbei, um Javin aufzuheben. »Es ist nicht weit. Folgt uns. Und hofft. Noch klammert er an seinem Leben.« Cheyne fiel während der nächsten zwei oder drei 386
Meilen nichts Besonderes auf. Dann teilten sich plötzlich die Bäume und gaben den Blick auf einen glänzenden, hölzernen Weg frei, der zu einer lebenden Festung führte. Bei diesem Anblick hielt Cheyne den Atem an. Ein großer Kreis aus Bäumen, die höher als Rotapans Tempel waren, erhob sich zum Morgenhimmel. Die Bäume trugen seltsame Zeichen, die in ein sanftes, rötliches Licht getaucht waren. Seltsame Tiere sprangen umher, die ihre Schwänze mit dem Maul festhielten, wenn sie sich einrollten. Lange Bänder aus kunstvoll beschrifteten Pergamentrollen wanden sich bis zu dreißig Fuß hoch um die Stämme, und in viele der Bäume waren Worte geschnitzt. Worte in Althochsumifanisch.
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KAPITEL 19 Der Ausgräber hatte den Elfen alles über ihn erzählt, daher war es nun ein wenig schwieriger, sich in die Festung zu begeben. Aber da er schon lange im Dienste des Raptoren und der Ninniten stand, war Naruq sehr erfahren in solchen Dingen und genoß die Herausforderung, wenn er es recht bedachte. Er machte es sich in seinem Versteck in der Meditationszelle nahe der Tür gemütlich, als Cheyne und seine Begleiter die Gemächer des Baumvaters durch mehrere, miteinander verbundene Torbögen betraten, deren Dächer mit wilden Rosen und Beerenranken bedeckt waren. Yob wartete draußen und stellte sich, wie gewohnt, an der Tür auf. »Legt ihn vor den Stein hier«, erklang eine warme Stimme, die Mitgefühl in jedem Wort durchklingen ließ. Cheyne schaute auf und sah sich um, während er Doulos half, Javin auf einen langen Tisch zu legen, der in der Mitte des großen, luftigen Raumes stand. Hinter dem Tisch stand ein kleiner Glasbehälter, in dem ein weißer Edelstein im Wasser trieb. »Das ist der Feuerbann. Sie bewahren ihn im Wasser auf, damit sich um ihn herum Kraft sammelt. Als er noch in der Mitte des Rings steckte, erfüllten die anderen Steine diesen Zweck«, erklärte Og leise. Cheyne nickte und schaute weiter um sich. Säulen, die aus dem weißesten Holz geschnitzt 388
waren, das Cheyne je gesehen hatte, erhoben sich vierzig oder fünfzig Fuß zur Decke empor und trafen oben als kunstvoll verzierte Bögen aufeinander, in die man Blätter und Eicheln geschnitzt hatte. Blasses Licht drang durch ein paar hohe Fenster herein, und als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, bemerkte Cheyne, daß auch die Säulen bearbeitet worden waren, so daß sie wie hohe, dünne Bäume wirkten. Er sah keine Unterbrechungen, keinen Anfang und kein Ende und erkannte mit großem Schreck, daß er in dem hohlen Innern des größten Baumes der Festung stand. Mit ruhiger Gelassenheit erhob sich der Baumvater von seinen Gebeten, um sie zu begrüßen, worauf er sofort auf Javin zuging. »Seid gegrüßt, ihr alle, und willkommen in unserem sicheren Hort im Wald. Ich bin Luquin.« Er lächelte, während er Javin untersuchte, seinen Puls und die Atmung prüfte, die verschiedenen Wunden, die ihm die Kanistas zugefügt hatten und schließlich den Skorpionstich. Nachdem sie durch den Vorhang gekommen waren, hatte sich Javin im Fieber gerührt und gestöhnt, hatte um sich geschlagen und gemurmelt. Es schien ihm schlechter als zuvor zu gehen, aber Cheyne hielt den Mund und beobachtete den Baumvater genau. Luquin war größer als die meisten Elfen, denen sie begegnet waren. Sein Gesicht wirkte, als werde es von einem inneren Licht erleuchtet, und um die grauen 389
Augen bildeten sich nur wenige Fältchen, wenn er lächelte, was sehr häufig geschah. Wäre Luquin irgendwo außerhalb seiner Heimat aufgetaucht, hatte das dazu geführt, daß ein jeder stehenbleiben und starren würde, um sein Aussehen und seine Stimme zu bewundern. Hier, dachte Cheyne, schien er einfach nur ein Teil der unbeschreiblichen Schönheit zu sein, der überragenden Größe des Waldes und der Festung. Hier zogen dessen Hände Cheynes Augen auf sich, als verfügten sie über eine eigene Kraft. Es waren nicht die Hände einer Person, die nur leichte Arbeiten verrichtet Luquins Hände waren rauh und schwielig; die vielen weißen Narben zeugten von mehr als nur einem geruhsamen Leben. Als der Baumvater die geschwollene Stelle um den Stich herum berührte, versteifte sich Javin und wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt so daß Doulos aufschrie. Luquin schien nicht besorgt und hörte nicht auf, rief aber zwei seiner Helfer, um Javin festzuhalten. Cheyne und Og zogen Doulos weg und beruhigten sich und ihn mit tröstlichen Worten. Endlich blickte Luquin auf und sagte ihnen die Wahrheit. »Es steht sehr schlecht. Der Geist hat den Körper bereits verlassen. Er wandert, aber wir werden tanzen.« Er lächelte. »Bereitet den Stein vor«, befahl er den Helfern, die sich verneigten und sich entfernten. Naruq, der noch immer in seinem Versteck hockte, war voller Ungeduld und wartete, bis alle gegangen 390
waren, ehe er die Zelle verließ und mit den grünen Tiefen der Festungshecken verschmolz. Wenig später, als die Botschaft weitergegeben worden war, hatten sich die Elfen im Hof der Festung versammelt. Manche hatten noch Ton an den Händen, einige hielten die hölzernen Werkzeuge umfaßt, und wieder andere trugen bäuerliche Gerätschaften mit sich. Sie bildeten einen lockeren Kreis mit dem Baumvater in der Mitte und dem bewußtlosen Javin, der noch immer auf dem Tisch lag. In den knotigen Händen hielt der Baumvater den Feuerbann, der nun trocken war und weißglühend leuchtete; die von innen züngelnden Flammen blitzten auf. »Eine Zeitlang wird er in der alten Sprache singen, dann fährt ein Blitz nieder. Geht besser ein Stück zurück«, warnte Og, aber weder Cheyne noch Doulos gehorchten. »Na gut«, seufzte Og und blieb auch stehen. Yob, den der Anblick der vielen Elfen verwirrte, wartete ein paar Schritt hinter ihnen. Der Baumvater hielt den Feuerbann hoch und begann sein Gebet. Mit jeder Silbe steigerte sich seine Stimme, bis sie so laut wurde, daß Cheyne die Worte nicht länger unterscheiden konnte und glaubte, er höre das Rauschen eines Wasserfalles oder das Grollen des Donners. Als es fast unerträglich wurde, fegte der Wind durch sie hindurch; die Elfen hielten sich bei den Händen und stampften mit den Füßen in einem 391
schnellen, schwierigen Takt, und der Feuerbann blitzte sein Licht über Javins zuckenden Körper. Cheyne mußte die Augen abschirmen und fühlte, wie die Kraft auf seiner Haut prickelte. Der Baumvater trat eilig zurück, als ein Blitz in Javins Brust einschlug und ihn mehrere Zoll vom Tisch in die Luft hob, ehe er krachend zurückfiel. Sofort erlosch das Licht, die Geräusche verstummten, und der Baumvater brach zusammen, als zwei Helfer herbeieilten, um ihn aufzufangen. Die Elfen tanzten weiter, bis er sich erhob und hielten mit einem doppelten Stampfen auf Anhieb an. Cheyne atmete auf. »Die Arbeit ist getan«, verkündete Luquin mit zitternder Stimme, und die Elfen lösten den Kreis auf und zogen sich leise zurück. Cheyne, Og und Doulos blieben bei Javin stehen, der jetzt ruhig auf dem Holztisch lag, mit wachsbleichem Gesicht, aber der Skorpionstich war verschwunden. »Ist er...?« begann Cheyne. Der Baumvater hielt die Hand hoch. »Er lebt«, sagte Luquin, dann verneigte er sich und ließ sie allein. Den ganzen Tag lang wartete Cheyne darauf, daß Javin aufwachte. Er verbrachte die Zeit damit, sich das kleine, in Bronze gebundene Buch anzusehen, dachte nach und ließ die Finger über die Glyphen auf dem Totem gleiten. Als die Elfen Javin gegen Mittag 392
in die Gemächer des Baumvaters brachten, schickte Cheyne Yob und Og zum Essen, aber Doulos wollte nicht gehen. Als der Baumvater eintrat, um die Nachmittagsgebete zu beginnen, sprangen Cheyne und der Sklave auf, hundert Fragen auf den Lippen. »Er lebt, und ich glaube, er ist geheilt. Aber ich kann euch nicht sagen, wann er aufwacht. Es könnte jederzeit geschehen. Oder noch viel länger dauern. Aber die Zeit bedeutet uns hier wenig...«, lächelte er. »Aber ich muß wissen, daß es ihm gut geht. Und ich muß auch wissen, was er mir im Wald erzählen wollte.« Cheyne legte das Buch beiseite, hob das Totem auf und drehte es hin und her. »Muje?« meldete sich Doulos. »Denke daran, daß du noch viele andere Dinge fragen willst.« »Was bedeuten sie schon, wenn Javin nicht erwacht? Ich ... ich trage die Schuld, daß er in diese Lage geriet, weil ich ihn verließ, ehe er den Sammler fand. Er bat mich zu warten. Das hätte ich tun sollen.« »Aber Muje, er kam, weil er es wollte. Und du bist ihn suchen gegangen und hast das, was du für die einzige Möglichkeit hieltest, den Baumvater zu sehen, verstreichen lassen - genau wie er seine Arbeit verließ, um dich zu suchen. Wenn du nicht nach der Uhr fragst, zerfällt alles, wofür er arbeitete, zu Staub.« Vor nicht allzu langer Zeit hätte Cheyne geantwortet, daß alles, wofür sich Javin interessierte, Staub war. Alte, trockene, tote Dinge, die nichts mit den Lebenden zu tun hatten. Aber jetzt nicht mehr. 393
Cheyne wußte, daß Doulos recht hatte, aber dadurch fühlte er sich nicht weniger schuldig. Der Baumvater sah Cheyne lange in seine sorgenvollen Augen, dann nahm er ihm sanft das Buch ab. »Ich weiß, wonach du suchst, Cheyne. Und ich werde dir sagen, was ich vermag.« Er blätterte die dünnen Seiten durch, schüttelte anfangs den Kopf und hielt schließlich bei den letzten Seiten inne. Dann nahm er das Totem und hielt es ins Licht. Luquin runzelte die Stirn, als er die letzte Glyphe betrachtete. Cheyne wartete geduldig, hielt aber den Blick auf Javin gerichtet. »Die letzte Glyphe ist der Name einer Frau. Der Abdruck stammt von ihr, aber ich kann ihn nicht lesen. Er wurde mit einem Zauber geschrieben.« »Ein Frauenname«, seufzte Cheyne, der seinen Ohren kaum traute. »Das bedeutet, das Totem...« »...gehört einer Frau, jawohl«, sagte Luquin leise und mitfühlend. »Aber da ist noch mehr, Cheyne.« »Was? Was meinst du?« »Da ist der Schlüssel zur Armageddon-Uhr.« »Der...« Der Baumvater nickte. »Jedenfalls behauptet das dein Buch. Cheyne, weißt du, warum Javin den Sammler suchte?« »Damit er die Uhr finden konnte. Das war seine ... seine Lebensaufgabe.« »Ja. Denn der Sammler erfand die Uhr. Ich werde dir etwas vorlesen.« 394
Er las langsam; zuerst in der alten Sprache, dann wiederholte er die Worte in der neuen. »Die Uhr wird einen Schlüssel haben. Es ist das Totem meiner Tochter Claria, der ich all meine Kenntnisse und meine Besitztümer vermache, so wie allen, die aus ihrer Linie entstammen werden...« »Hast du Claria gesagt?« fragte Cheyne, bevor Luquin übersetzen konnte. Og sah ebenso verwundert drein. Der Baumvater hob den Blick und nickte. »Ja. Ein ungewöhnlicher Name, sogar in der Zeit des Sammlers. Soll ich weiterlesen?« Cheyne nickte, und ein eigenartiges Lächeln umspielte seine Lippen. »Der Schlüssel paßt in die höchste Säule, in die zwölfte vom Mittelpunkt des Tales, das die Elfen das ›Glockenspiel‹ nennen. Wenn er in den Spalt der Säule gesteckt wird, ist diese vollständig, und der leichteste Windhauch wird die anderen Türme dazu bringen, ihre eigentümliche Melodie zu singen, bis sie zerspringen, und die Leere, die sie hinterlassen, wird den Götterschrei des Erg rufen, und die Kraft seiner Stimme wird die Kristalltür aufbrechen lassen.« Und mir den Schatz schenken, dachte Naruq, der wieder in seinem Versteck saß und lauschte. Es würde bedeutend leichter sein, als er geglaubt hatte. »Willst du ein Geschäft machen, Ausgräber?« Naruq trat in den Raum, hielt sich im Schatten und wurde nur durch das Licht verraten, das auf seiner silbernen Brosche funkelte. 395
»Ah, Naruq. Wir haben dich gesucht«, sagte der Baumvater ungerührt. »Anscheinend hast du außerhalb des Waldes Arbeit gefunden.« »Und deine Fähigkeiten sind noch immer erstaunlich, Alter. Aber nicht so erstaunlich wie die meinen. Was ist, Ausgräber? Das Mädchen gegen das Totem?« »Ich glaube kaum, Naruq.« »Wie schade, denn das Biest, das für Riolla arbeitet, kann kaum die Finger von ihr lassen. Anscheinend hat es etwas Berufliches mit ihr zu regeln. Und mit dir.« Naruq lachte. »Willst du es dir nicht noch mal überlegen?« Cheyne sah den Baumvater hilflos an, der bloß nickte und lächelte. »Du mußt tun, was du tun mußt«, sagte Luquin, und die langen Finger tippten sanft auf das Buch. Es gibt noch mehr, sagten die Augen. »Dann werde ich die Bedingungen festlegen«, sagte Cheyne. »Du wirst uns vor Einbruch der Dunkelheit am Glockenspiel treffen, allein. Wenn ich sehe, daß das Mädchen unverletzt und gesund ist, gebe ich dir den Schlüssel.« Naruq hob eine seiner grauhaarigen Brauen und lachte. »Wir werden dort sein.« Er trat einen Schritt zurück und schien mit den Schatten zu verschmelzen. »Hast du einen Sonnenstich, Mann?« brüllte Og. »Nein, ich versuche nur, Zeit zu schinden, um mir 396
etwas auszudenken, wie wir Claria in Sicherheit bringen können, ohne ihm den Schlüssel zur Uhr zu geben«, erwiderte Cheyne. Der Baumvater sah Cheyne neugierig an. »Hier steht noch mehr, was du wissen solltest. Naruq ist sehr klug und ein begabter Waldläufer, aber er hat nie gelernt, über den ganzen Wald nachzudenken, bevor er einen Pfad wählt. Hier ist das, was der Sammler noch schrieb: ›Das Monstrum ist die pure Bosheit, ein Wesen von schrecklicher Schönheit und der Überbringer schrecklicher Furcht. Ich sah es an und überlebte, und das ist ein furchtbarer Segen. Ich schläferte es mit einem gewöhnlichen Fluch ein, unterstützt von den Brüdern des Zauberkreises. Das war alles, was wir tun konnten...‹« Lange Zeit las der Baumvater Cheyne und Doulos den Bericht des Kampfes vor, den der Sammler gekämpft hatte, las von seinem Schmerz und der Niederlage und der qualvollen Entscheidung, Mishra das Werkzeug der Verdammnis zu übergeben, und wie er für die Schlüssel gesorgt hatte, die das Monstrum bei dem ersten Versuch Mishras, das Wesen zu wecken, vernichten würden. »Aber die letzte Seite fehlt, Cheyne. Hier ist die Stelle, an der sie abgerissen wurde.« Luquin zeigte ihnen, was Cheyne bereits aufgefallen war. »Die Schrift hört mitten im Satz über den Mörder des Sammlers auf - ›Der Zauberkreis wurde verraten, der Raptor kam mit dem bösen Wind zu mir, aber er 397
kann vernichtet werden, jedoch nur von dem...‹ Hier sieht es so aus, als habe er die Worte über andere Worte eingebrannt, als sei er in Not gewesen und hätte keine Zeit gehabt.« Cheyne war kreidebleich, und kaum fühlte er die sanfte Hand des Baumvaters auf seiner Schulter. »Cheyne? Es geht noch weiter«, sagte Luquin. »Fahre fort.« »Der Name, der auf dem Totem steht, steht auch auf dem hinteren Teil des Einbands.« »Ich weiß. Und er steht auf dem Amulett, das Javin benutzte, um mich vor jemandem zu beschützen, den er den Raptor nannte. Aber er lag im Fieber und sprach wirr. Ich weiß aber immer noch nicht, was die Glyphe bedeutet.« Er zog das Amulett unter seiner Tunika hervor. Beim Anblick des Amuletts grinste Doulos von einem Ohr zum anderen. »Das ist der Schlüssel!« rief er. »Nein, das Buch sagt, das Totem ist der Schlüssel«, meinte Cheyne. Doulos ließ sich nicht beirren. »Ich meine, das ist der Schlüssel für die kleine Uhr, für die Musikuhr, wie sie dein Vater nannte.« Aufgeregt rannte er zu dem Schrank, wo man Javins Bündel verstaut hatte, holte die Uhr und reichte sie Cheyne. »Siehst du? Das gleiche Zeichen. Ich sagte, wenn es einen Schlüssel gäbe, würden wir ihn finden. 398
Versuche es, Muje, bitte.« Cheyne untersuchte die Uhr, stellte sie auf den Kopf und fand noch einmal die Glyphe vor. »Wo hast du sie gefunden, Doulos? Sie gehört Claria. Sie hat sie in einer Höhle in der Oase gelassen, als Yob uns überraschte.« »Der König fand sie, als wir aus dem See stiegen«, erklärte Doulos achselzuckend. Ohne das Amulett abzunehmen, steckte Cheyne das Ende in den Schlitz, drehte es vorsichtig um und zog es wieder heraus. Der Zeitmesser erwachte mit einem Lied zum Leben, einer fröhlichen Melodie, die immer wieder ertönte und den Raum mit einer Süße füllte, die Tausende von Jahren nicht hatten schmälern können. »Das ist das schönste Lied, das ich je hörte«, sagte Og ehrfürchtig. »Es strahlt Magie aus, das spüre ich.« Sein Blick fiel auf das Totem, das im Schoß des Baumvaters lag, und er erinnerte sich an den Tag, als ihm Cheyne das Totem zum ersten Mal gezeigt hatte. »Kann ich es einmal sehen?« Luquin überreichte ihm das Artefakt. Og hielt es hoch und drehte es, während die Musik spielte: Die Sonnenstrahlen, die durch die hohen Fenster fielen, verfingen sich darin. Plötzlich füllte sich der Raum mit strahlenden Farben; ein Regenbogen schien Feuer aus dem Totem zu ziehen und schickte ein Farbenband in die Tiefen des Raumes - die Umrisse einer weiblichen Hand flackerten in der Dunkelheit. Cheyne 399
war wie versteinert beim Anblick der Hand, deren erste Finger leicht gekrümmt waren, bis die Vision bei den letzten Klängen des Liedes verschwand. Dann fiel ihm Clarias Hand im ersterbenden Licht des Feuers auf dem polierten Holzfußboden von Wiggulfs Haus ein, wie sich ihre ersten beiden Finger genauso krümmten, genau am ersten Gelenk. Er sah Og an, der schweigend zustimmte. »Auch das Totem gehört Claria. Die Glyphe schreibt ihren Namen so, wie sie auch den Namen der Tochter des Sammlers angibt.« Cheyne zog die Uhr noch einmal auf, und Og versuchte, den Namen mit der Melodie auszusprechen, wie ihn der Baumvater ausgesprochen hatte. Die Silben und der Dialekt paßten wie angegossen. Es dauerte ein paar Minuten, bis die Anwesenden die Sprache wiederfanden. Cheyne versetzte dem Pendel der Uhr einen kleinen Stoß, und die Zeiger erwachten zum Leben, als hätten sie auf seine Berührung gewartet. »Was heißt das?« fragte er atemlos. »Alle diese Dinge müssen dem Sammler gehört haben. In dem Buch sagte er, daß dieses Namenslied die Kristalltür für immer zerstören wird. Es muß dieses Lied sein. Og, glaubst du, du könntest es singen? Vielleicht haben wir einen Weg gefunden, Claria zu retten, ohne das Monstrum der Stunden freilassen zu müssen!« »Nun, es könnte sein...«, begann Og. Unterhaltung war eine Sache. Auch heilen konnte er. Aber dies hier 400
... dies war die Armageddon-Uhr. »Nein«, sagte Cheyne. »Du mußt sicher sein. Kein ›vielleicht‹, keine Abweichungen, Og. Es muß perfekt sein. Kannst du es?« Og versuchte, die kleine Melodie mit bester Stimme zu singen. Er krächzte. Er versuchte es noch einmal Wieder nur ein Krächzen. »Ich glaube, ich brauche die Steine.« Er sah verlangend auf den Feuerbann. »Alle Steine.«
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KAPITEL 20 »Beeile dich, du namenloses Wesen!« nörgelte Riolla ungeduldig, da sie verärgert war, über dornige Ranken zum ›Glockenspiel‹ hinabklettern zu müssen. »Wir müssen pünktlich da sein.« »Es wäre viel einfacher, meine Königin, wenn wir sie unter uns aufteilen würden, dann kämen wir bedeutend schneller voran«, bemerkte Saelin listig. Claria warf ihm einen tödlichen Blick über dem Knebel zu, ging aber trotzdem schneller. Naruq führte die Gruppe an und ging weit voraus, um vor eventuellen Fallen zu warnen. Auf sein Zeichen hin blieben sie zwischen den hoch aufragenden Türmen stehen und warteten. Er ging allein zu einem Hügel über dem Tal und verbarg sich hinter einem alten Baum. Über dem Tal war der Wind stärker. Drufaldens fünfhundert Leute waren gut sichtbar am Hang verteilt und warteten auf Riolla s Befehle. Sie mußten nicht lange warten. Cheyne, von einem Helfer des Baumvaters geleitet erschien mit Ogwater an der Seite. Durch seinen Schwur gebunden, war Doulos bei Javin geblieben. Der Helfer winkte zum Abschied, und Naruq trat aus dem Versteck. Die Meuchler nahmen ihre Stellungen ein. »Ich sehe, du bist ein Mann, der Wort hält, Ausgräber. Schau dich um. Schau nach, ob sie da ist.« Von seinem Platz aus konnte Cheyne in das Tal 402
sehen, wo Saelin neben Claria stand, die an einen Ganzitpfahl gebunden war. »Laßt sie gehen. Wenn sie hier oben ist, bekommst du den Totem«, sagte Cheyne mit kaltem und hartem Blick, als er sah, wie die Meuchler das Tal einkreisten. »Hast du so viel Angst vor einem Ausgräber und einem Musikmagier, daß du eine ganze Armee brauchst?« »Saelin!« schrie Naruq und wandte sich ab. »Warte. Na gut. Hier. Jetzt laßt sie gehen.« Cheyne hielt ihm das Totem entgegen. Naruq nahm es, lächelte und schrie wieder in das Tal hinab; die Worte hallten von den Türmen wider, als habe man flache Steine in einen kleinen See geworfen. »Saelin! Laß sie gehen!« Cheyne sah gebannt hinab, aber niemand rührte sich. Als er zu Naruq sah, war der Elf verschwunden. Die Meuchler waren geblieben. »Nun, du hast doch nicht erwartet, daß er es wirklich tun würde, oder?« fragte Og. »Nein, natürlich nicht. Er wird die Uhr öffnen. Bei diesem Wind kann es jederzeit geschehen. Bist du bereit?« Og erbleichte, richtete sich auf und nickte. Sein Mund war so trocken, daß er nicht einmal ›ja‹ sagen konnte. Riolla verstaute ihr Fernglas und stellte sich neben den Turm, den Naruq ihr gezeigt hatte. Claria, noch 403
immer geknebelt und gefesselt, war mit zähen Rindenfasern an den Kristall gebunden, die Naruq aus der Festung mitgenommen hatte. Saelin stand in der Nähe, beobachtete das Mädchen mit gierigen Blicken und wartete auf Riollas Zeichen, daß sie ihm gehören würde. Als der Elf neben ihnen auftauchte, schrak der Meuchler zusammen und verlor beinahe den Halt auf dem steinigen Untergrund, während er gegen die vielfältigen Visionen ankämpfte. Claria war mutig genug zu lachen. Jedenfalls solange, bis Naruq den Staub aus einer Öffnung genau über Clarias Kopf blies, die vier Seiten der Spalte mit dem Zipfel seines Umhangs polierte und das Totem hineinsteckte. Der Turm nahm seinen fehlenden Teil mit einem lauten Klicken auf. Er drehte sich zu Riolla um und lächelte; die silbrigen Augen funkelten. »Ich gehe jetzt«, sagte er und verschwand, noch ehe sie die Worte recht begriffen hatte. »Du kannst uns hier nicht zurücklassen!« rief Riolla, und ihre Stimme hallte durch das Tal und folgte dem Spiegelbild ihres besorgten Gesichts von Turm zu Turm. Sie packte Saelin am Arm und öffnete das Fernglas. »Halte Ausschau. Ich werde uns einen Weg den Berg hinauf suchen.« Sie verließen das Tal so schnell sie konnten und ließen Claria mitten im anschwellenden Wind zurück. Über dem Tal, hinter der Kristalltür, erwachte das 404
Monstrum der Stunden zum Geräusch eines weit entfernten Läutens, das sich wie der Ruf der ninnitischen Gebetsglocken anhörte. Oben auf dem Berghang konnte man anfangs nichts hören. Dann schien sich der Wind unter ihren Füßen zu sammeln, und die Felsen summten laut und ausdauernd und zitterten so geringfügig, daß man nur, wenn man die Steinchen auf der Oberfläche herumrollen sah, bemerkte, daß sich überhaupt etwas bewegte. »Es hat angefangen«, sagte Cheyne. »Sie haben das Totem in den richtigen Turm eingefügt. Der erste Schlüssel ist an seinem Platz. Und Claria ist noch immer gefesselt. Og, ich weiß nicht, wieviel Zeit ich habe, aber ich muß da hinunter, egal ob eine Armee wartet oder nicht. Claria kann nicht überleben, wenn das eintritt, was der Sammler angekündigt hat.« »Cheyne, der Wind hat bereits zugenommen. Der Sturm sammelt sich über dem Erg. Sieh doch!« Og deutete auf den dunklen Himmel; die wenigen Wolken über ihren Köpfen wirbelten in einem spiralförmigen Muster herum. Im Norden lauerte eine tiefliegende, blasse Wolke. »Das ist der Sandsturm. Der Götterschrei. Wenn er zuschlägt müssen wir in Deckung sein. Der Wind trägt genug Sand mit sich, um das ganze Tal zu bedecken!« rief Og. »Du kannst da nicht runter!« Clarias Schrei hallte vom Grund des Tals herauf, und es hörte sich an, als schrien tausend Frauen. 405
Cheyne verzog das Gesicht und rief über seine Schulter. Der Wind trug die Worte zu Og. »Singe, um es wieder zu schließen. Du bist unsere letzte Rettung, Og.« Dann stand Og allein auf dem Hang über dem Tal, die Augen auf die Kristalltür gerichtet. Er schluckte schwer, zitterte an den Händen, und seine Knie drohten nachzugeben. Er konnte nur daran denken, wie sehr er einen Krug Raqa brauchte. Oder wenigstens einen Schluck. Der Wind fiel über ihn her, und er stemmte sich gegen einen großen Baum, hielt die drei Juwelen in einer Hand und wartete darauf, daß Cheyne mit Claria aus dem Tal auftauchte. Nach und nach füllte das Heulen des Windes seine Gedanken aus, bis er nichts anderes mehr hören konnte. Die Türme zersprangen einer nach dem anderen, und ihre Musik steigerte sich von einer Melodie bis hin zur blanken Zerstörung. Er klammerte sich an den Baum und war sicher, daß niemand die Gefahren im Tal überleben konnte. Niemand, außer Womba. Og glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Dort war sie und bahnte sich einen Weg durch das geschundene Tal, schleuderte die zerbrochenen Türme aus dem Weg und schützte mit einem Arm ihre Augen. Zwei Meuchler lagen leblos hinter ihr. Og holte tief Luft und bereitete sich vor. Jetzt konnte er nicht weglaufen, und er hatte auch nicht gewußt, wohin. Er drehte sich um, sammelte sich und dachte an das Lied. 406
Über ihm schwankte und bebte die Kristall wand unter den Angriffen der Wüstenwinde. Og holte tief Luft und wartete, daß die Winde eine Pause einlegten, damit er sich selbst singen hören konnte, um die Richtigkeit der Melodie zu prüfen. Unten im Glockenspiel wickelte Cheyne die Kaffiyeh um sein Gesicht, senkte den Kopf und tastete sich blindlings von Turm zu Turm, von denen der eine oder andere über seinem Kopf zerbarst, ohne Claria sehen zu können. Er hatte nur an sie gedacht und die Meuchler vergessen, sie aber hatten ihn nicht vergessen. Zwei hatten sich zwischen ihn und Claria gestellt, die Waffen steckten in ihren Gürteln, aber ihr Vorhaben war deutlich. Sie würden ihn nicht durchlassen. Er war einfach durch die anderen hindurch gelaufen, war zwischen den Ganzitkristallen verschwunden, und sein Bild wurde tausendfach widergespiegelt. Er selbst konnte es aber nicht sehen, dachte er traurig. Mehrere Meuchler waren ihm gefolgt. Drei von ihnen lagen tot am Boden, von fallenden Kristallen erschlagen, und zwei weitere wanderten suchend umher, als sich Cheyne Claria näherte. Og schaute durch seine dünne Kaffiyeh zur Kristalltür und erkannte, daß er nicht länger warten durfte. Er legte viel Kraft in die Stimme und stimmte eine kleine Melodie an, während der Sturm sein Werk im Glockenspiel beendete. Cheyne konnte nur dunklen, wirbelnden Sand sehen. Als aber der Blitz in das Glockenspiel schlug, 407
leuchtete der Turm vor ihm grell auf, der Blitz fuhr zuckend von einer Spitze zur anderen und erleuchtete das Tal. Cheyne sah Claria neben dem vorletzten, noch stehenden Turm, neben ihr hatte sich eine Pfütze aus geschmolzenem Ganzit gebildet, der von einem zerfetzten Turm auf den Talboden tropfte. Der heulende Wind riß an Clarias Gewändern, und der herumfliegende Sand hatte ihr die Haut von den Fingern gerissen. Hustend sank Cheyne gegen einen anderen Turm und glaubte, er müsse jetzt sterben, inmitten des Gestanks nach geschmolzenem Ganzit und Schwefel und dem Lärm des Gottesschreis. Dann drang das schrecklichste Geräusch von allen an seine Ohren: völlige Stille. Der Wind ließ ebenso schnell nach, wie er gekommen war, und für einen Augenblick dachte Cheyne, er sei taub geworden. Aber dann hörte er das Rieseln des Sandes aus seinen Gewändern, als er sich bewegte, und das Klimpern des Kristallglockenspiels, als der letzte Funke des Blitzes erlosch. Und er hörte Clarias Schreie. Als er die Hand in ihre Richtung ausstreckte, konnte er sie berühren. Er fuhr mit seinen steifen, blutigen und sandbedeckten Händen völlig unsicher über die Stricke, schaffte es aber schließlich, sie durchzuschneiden, zog Claria mit sich und rannte zum Rande des Tales, auf die tiefen, schutzbietenden Höhlen zu. »Ich bin da, Claria, halte durch. Wir sind in einer Minute hier raus, das schwöre ich. Ich lasse dich nicht im Stich«, murmelte er unter Schmerzen, die ihm die 408
aufgeplatzten Lippen verursachten. Cheyne wußte, daß ihnen nur Sekunden blieben, bevor die Kristalltür das Monstrum der Stunden freigab, das so lange eingesperrt und gefangengehalten worden war und jetzt in sein unbesiegtes Reich springen würde, die Wut von dreitausend Jahren hinter sich. Über dem Glockenspiel stand Og hilflos herum und betrachtete den Sturm. Das Lied hatte nichts genützt. Egal, was er tat, die Steine antworteten nicht. Und er wußte, weshalb. Er brauchte Riollas Perle, um sie zu bewegen. Da die drei Juwelen sehr viel Kraft hatten, konnte Og sie nur mit Hilfe der Perle von Nadrum leiten und lenken. Ich habe wieder versagt. Riolla hatte recht. Ich bin nur... »...ein alter Narr. Hast du Schwierigkeiten?« Ein schrilles Lachen durchdrang den Wind, und Og drehte sich um. Hinter ihm standen die Schreefa und ihr Meuchler. »Riolla! Oh, Riolla, was hast du getan?« rief er. Sie biß sich auf die Lippen. »Ich wette, das hast du auch gesagt als ich dich verließ«, schrie sie. »Du hast dich überhaupt nicht verändert du raqasaufender Heuler. Aber ich! Du stehst vor der nächsten Königin Sumifas! Gewöhne dich daran, mich mit ›Majestät‹ anzureden. Sobald jene Tür sich öffnet, bin ich die Besitzerin dessen, was seit Jahrhunderten unberührt dort unten liegt!« »Was soll das heißen? Weißt du es denn nicht?« Og 409
starrte sie entgeistert an. »Riolla, wenn ich das, was du angefangen hast nicht durch Gesang aufhalte, wird das Monstrum der Stunden durch die Kristallwand brechen und alles zerstören, was sich ihm zeigt. Es wird kein Königreich geben, das du regieren kannst! Riolla, du hast einen Basilisken geweckt! Es gibt keinen Schatz!« brüllte Og. »Oh, spiel das den Orks vor, Og! In wenigen Augenblicken werde ich die reichste Frau der Welt sein«, spottete sie. Og gelang es nicht, den Blick von ihr zu wenden, nicht einmal für die Spanne von drei Herzschlägen, »Ich liebe dich, Riolla. Ich habe dich immer geliebt. Gib mir die Perle zurück.« »Oh, bitte. Du...« Sie hörte mitten im Satz auf, starrte über seine Schulter und lächelte. Er wandte sich um, als sich der erste Riß über die glatte Oberfläche der Kristalltür zog. »Gib mir die Perle, Riolla, sie ist unsere letzte Hoffnung!« Dann drehte er sich um und stimmte mit Tränen in den Augen noch einmal das Lied an. Riolla machte mit graziöser Geste ihre wirren Locken zurecht und drehte sich auf ihrem Absatz um, um einen königlichen Abgang zu bieten und wäre um ein Haar in einen bodenlosen Abgrund gefallen, der sich genau vor ihr aufgetan hatte. Saelin war nirgendwo zu sehen. Rings um sie herum tat sich die Erde auf, zerbrach dröhnend und krachend und fiel in riesigen Brocken vom Berghang. Sie erkannte, daß sie mit Og auf einem 410
Felsen gefangen war und fiel zu Boden, als der Felsen schwankte, da sein Lied nicht in der Lage war, die Lautstärke zu erreichen, die notwendig war, um den Götterschrei zu übertönen. Noch immer stand Og tapfer da und sang fortwährend Clarias Namen, während der Berg um ihn herum zerbrach und Felsen und riesigen Erdbrocken in das Tal stürzten. Womba kämpfte sich durch den Sandsturm, durch den windgepeitschten Wald und den aufgewühlten Berghang und klammerte sich schließlich mit aller Kraft an die Wände einer frisch entstandenen Schlucht. Da sie sicher war, daß Og ohne ihre Hilfe niemals von den Felsen herunterkommen würde, biß sie die Zähne zusammen und wühlte sich voran, wild entschlossen, ihn zu retten. Zoll um Zoll, niemals sicher, ob der mühselig erkämpfte Halt nicht unter ihr nachgeben würde, zog sie ihr beachtliches Gewicht noch oben, keuchte und grunzte, und Tränen des Schmerzes flossen ihr über das Gesicht. Ihre Knochenkette kratzte über die Felsen, Schmutz und Geröll fielen auf ihre Schultern und das wundervolle Kleid aus Ghomahaut hing in Fetzen. Dennoch arbeitete sie sich langsam auf Og zu. Das Krachen des Erdbodens füllte ihre Ohren mit ohrenbetäubendem Lärm, und zehn Fuß, ehe sie den Rand der Schlucht überwunden hatte, brach das Licht durch, und Clarias Name hallte in hundert Stimmen um sie herum, die alle Og gehörten. Womba brach in Tränen aus und fühlte, wie sie wieder in die Schlucht 411
stürzte, die Kraft durch den Namen der Rivalin gebrochen. Aber Og war noch immer gefangen. Womba bekämpfte ihre Wut und ihre Tränen, schwor sich, die Knochen der sumifanischen Frau zu zehntausend Ketten zu verarbeiten und kletterte weiter. Genau in dem Augenblick, als der letzte Riß die Kristalltür aufbrach, kletterte sie mit einem triumphierenden Brüllen über den Rand des Abgrunds. Og blieb keine Zeit, sich zu bewegen. Er sah nur, wie sich Womba erhob und auf ihn warf, als ein greller Blitz zuckte und die volle Kraft des Götterschreies den Kristall traf und zerschmetterte. Als das Biest die rubinroten Augen öffnete, sah es Womba geradewegs an. »Schau ihm nicht in die Augen!« kreischte Og. Aber Womba stand kurze Zeit still, mit dem Ausdruck hingebungsvoller Liebe auf dem Gesicht. Dann fiel sie zu Boden, die Züge wie aus Basalt geschnitzt, der Körper versteinert. Langsam trat das Monstrum aus dem Gefängnis des Sammlers, hob die leuchtenden Flügel und den Kopf und zischte und kreischte. Das Geräusch drang Og ins Herz - er wußte, er würde diesen Laut nie vergessen. »Beim gesprungenen Gesicht Nins!« schrie Riolla. »Was ist das?« Die Augen auf Womba gerichtet, schlug Og den Umhang über ihre Köpfe und drehte dem Untier den Rücken zu. »Schau ihm nicht in die Augen! Egal, was du tust, 412
schau ihm nicht in die Augen!« brüllte er ihr ins Ohr. »Glaubst du mir jetzt endlich? Gib mir die Perle, sonst kann ich nichts mehr tun!« Riolla wimmerte und dachte an den verlorenen Schatz, ihre unbezahlten Schulden und die Wut des Raptoren und das Grauen, das hinter ihnen erwachte. Wütend riß sie sich die Perle vom Hals und gab sie Og, der sie fest an die drei restlichen Steine drückte, den Feuerbann in der Mitte haltend. Er sang und rief den Zauber, wie er es gekonnt hatte, als seine Stimme noch klar gewesen und sein Herz, anstatt mit Kummer, mit Liebe erfüllt gewesen war. Und der Zauber kam zurück. Über ihren Köpfen erhob sich das Licht des Regenbogens und verwob sich zu Bändern aus Gold, Violett, Blau, Grün und Blutrot, deren wehende Enden immer breiter wurden, bis sie den Eingang verhüllten und in Licht badeten, während das Monstrum mit aller Gewalt an ihnen riß und zerrte. Der Basilisk wütete und schlug mit seinen Flügeln, aber je mehr er kämpfte, desto mehr fing ihn das Licht ein, bis er schließlich zischend und fauchend hinter dem Großen Kristall lag. Og sang weiter, und das Ungeheuer wurde mit jedem Ton schwächer. Unten, geschützt von der ersten Höhle, die sie entdeckt hatten, sahen Cheyne und Claria einander entgeistert an. Der Wind heulte nicht mehr. Sie hörten nichts außer Og, der Clarias Namen immer wieder mit reiner, klarer Stimme sang. 413
KAPITEL 21 Mehrere Meilen weit entfernt, hinter dem Vorhang des Lichts und dem Sarrazanwald, im gefährlich schwankenden Wipfel einer Fichte, kehrte Rotapan dem Sturm den Rücken zu und sah den Götterschrei vorbeiziehen, dessen Lärm das Tosen des Flusses übertönte. Als der Sturm sich auf das Grenzgebiet zu bewegte, wurde das Wasser wieder ruhiger, und er konnte den Tempel nicht länger sehen, da sich eine Art wehender, leuchtender Vorhang davor geschoben hatte, der vom Himmel zu hängen schien, Rotapan starrte ihn eine Weile an und begriff nichts mehr. In den letzten Tagen hatte sich seine Welt zu sehr verändert. Er wollte nach Hause, sich die Wunden lecken und Chelydrus' Rat einholen. Anscheinend war das jetzt möglich. Der Wind hatte den kleinen Wolf neben seinem toten Herrn niedergestreckt. Aber in der Zeit, die Rotapan brauchte, um eine Entscheidung zu fällen, veränderte sich die Welt aufs neue. Der leuchtende Vorhang fiel plötzlich herab und enthüllte den glänzenden, halbzerstörten Tempel eine Sekunde lang, ehe die Wasser von Drufaldens schmelzendem Königreich, die in den Silbersee strömten, zurückkehrten, zur anderen Seite des ausgetrockneten Seebetts flossen und den glänzenden Knochenhaufen überfluteten, bis auch die letzte Spitze des Tempels verschwunden war. 414
Als sich die Flut beruhigte, blieb kein Anzeichen zurück, daß einst ein Tempel an den Ufern des Silbersees gestanden hatte. Rotapan glitt mit starren und tränenleeren Augen von der Fichte, wanderte durch den Wald auf die tosenden, tödlichen Fluten zu und ließ sich von den Wellen mitreißen. Ehe er in den luftleeren Sog des Strudels geriet, glaubte er, Chelydrus' lachendes Gesicht zu sehen. Noch lange nachdem ihnen die Stille verriet, daß sie in Sicherheit waren, klammerte sich Riolla an Og. Das Monstrum war verschwunden und wieder dort, woher es gekommen war und würde sie nie wieder heimsuchen, das wußte Og. Aber ringsumher lag die Welt in Scherben und völlig verändert da. Er löste Riollas steife Finger aus seinem Umhang und drehte sich um, um nachzusehen, ob Cheyne und Claria aus dem Tal entkommen waren. Neben ihm lag Womba, die immer noch Ogs verlorenen Stiefel umklammerte. Sanft löste er ihn aus dem steinernen Griff, hielt ihn lange Zeit fest, bis er schließlich den anderen Stiefel aus dem Bündel zog, beide anprobierte und feststellte, daß sie vorzüglich paßten. »Du hast wirklich geglaubt, daß du mich liebst?« fragte er Wombas versteinertes Gesicht. Sie sah plötzlich gar nicht mehr häßlich aus. »Ja, das habe ich«, sagte eine hochmütige, rauhe Stimme hinter ihm. 415
Og zuckte zusammen, sein Herz pochte wie wild. Aber er wußte, daß Riolla fort war, noch ehe er sich umgedreht hatte. Plötzlich fühlte er sich sehr albern und sehr, sehr müde. »Og?« rief Cheyne von unten. »Ogwater, bist du in Sicherheit?« Die Stimme klang schwach und weit entfernt. »Ja, das bin ich. Es ist vorbei.« Og antwortete und ging auf die Stimme zu. »Bleib, wo du bist. Wir schaffen es«, sagte Cheyne. Lange Zeit später hob Cheyne Claria die letzten Fuß empor und folgte ihr dann. »Gut gemacht, Og. Deine ... deine Stimme ist wieder da?« »Ja, sie ist wieder wie früher.« »Nun, jetzt gebe ich dir einen Raqa aus, wenn du magst.« Cheyne lächelte. »Nein.« Traurig schüttelte der Musikmagier den Kopf. »Ich will bloß noch nach Hause.« Dann sah Cheyne Womba. »Der Basilisk?« Og nickte. »Ich weiß nicht, wie ich es Yob sagen soll. Sie schützte mich vor dem Untier. Ich wäre dem Blick begegnet, ehe ich mich hätte abwenden können.« »Ich sage es ihm. Du hast dein Bestes getan. Sie starb im Kampf, und er wird stolz auf sie sein.« »Was ist mit dir?« fragte Og. »Wohin gehst du? Du hast immer noch keinen Namen.« »Nein. Aber Claria hat einen.« 416
»Was?« fragte Claria matt. »Ja. Das Totem gehörte dir. War aus deiner Familie. Und das bedeutet, daß du die Erbin des Sammler bist. Du könntest...« Er stieß die Worte hart und abgehackt hervor, sonst hatte er sie nicht über die Lippen gebracht. »Jetzt könntest du Maceo heiraten.« Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, und der feine Sand, grub sich fest in die Haut und verursachte ihr Schmerzen. »Ja, wahrscheinlich könnte ich das.« Maceos Ring schien sich ihr in den Finger zu brennen. »Nun. Og hatte recht. Es ist vorbei.« Cheyne schluckte das Brennen in der Kehle hinunter und spürte es durch seinen Körper strömen, als sei es der Götterschrei. »Wohin gehen wir jetzt, Muje?« fragte Doulos. Das Dämmerlicht im Raum des Baumvaters verdeckte seine Züge. »Du weißt daß ich bei ihm bleiben muß.« Cheyne hatte nichts anderes erwartet. Doulos würde niemals die Hoffnung aufgeben, daß Javin der wahre König Sumifas war - die Hoffnung der uralten Jumaschriften und jedes Sklaven seit der Wanderung. Aber es war Cheyne ein Trost, daß jemand seinem Pflegevater so die Treue hielt. Doch gleichzeitig war es ihm auch ein Dorn im Fleisch. Cheyne dachte an sein letztes Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte, als er Javin schlafend zurückließ, während das Gift der Ninniten bereits in dessen Körper wütete. Ich sagte, ich würde nie zurückschauen. Jetzt ist es alles, 417
was mir noch bleibt. Er lächelte und nickte Doulos zu. »Ich weiß. Ich bin froh, daß du bei ihm bist.« Cheyne sah zu dem schlafenden Javin hinüber, der in der Mitte des Raumes auf einer Liege mit weichen grünen Blättern lag. »Er ist wegen mir hier. Das mindeste, was ich tun kann, ist, alles über das heilige Buch herauszufinden. Es muß einen Weg geben, auch den Rest zu lesen, und selbst wenn die letzte Seite verlorengegangen ist, kann ich vielleicht ein paar Antworten finden. Dieser Raptor - mit ihm muß ich reden. Und ich weiß immer noch nicht, wer ich bin. Aber vielleicht spielt das auch keine Rolle mehr.« »Natürlich spielt es eine Rolle«, sagte Claria ruhig. »Wie kannst du so etwas sagen? Für Javin war es wichtig genug, alles aufs Spiel zu setzen. Du mußt weitersuchen, Cheyne. Aber dieser Raptor - wer oder was er auch sein mag - er tötete den Sammler. Wenn er so alt ist, verfügt er über starke Magie. Wie willst du so einen Feind bekämpfen? Wie soll man gegen einen Wirbelwind kämpfen?« »Ich weiß nicht. Aber ich muß es versuchen. Claria, die Geschichte des Sammlers besagt, daß er große Reichtümer versteckt hielt, den Schatz des alten Reiches. Der Raptor hat nie aufgehört, danach zu suchen. Und er wird weitersuchen. Aber es handelt sich um deine Erbschaft«, erinnerte sie Cheyne. Claria senkte den Blick und hoffte, die ungeweinten Tränen zu verbergen. Diese Reise hatte mit ihren 418
Hoffnungen auf einen Namen und eine Mitgift begonnen. Cheyne hatte ihr die Möglichkeit des Namens geboten, und jetzt bot er ihr auch die Möglichkeit, das Zweite zu erlangen. Warum fühlt man sich so schlecht wenn man bekommt, was man will? dachte sie. Sie betrachtete die frisch verheilten Hände und Maceos Ring. »Ich nehme es an. Aber du hast dir Feinde gemacht. Yob wird keine Hilfe sein - er ist fortgegangen, um Womba zu begraben, und Wiggulf hat mit der Überflutung mehr als genug zu tun. Dunsan berichtet, daß Naruq unauffindbar ist, und Riolla steht mit ihrer Armee am Vorhang des Lichts. Wirst du versuchen, wieder nach Sumifa zu reisen?« Cheyne lächelte bitter. »Ich weiß nicht. Erinnere Og daran, Muni auszurichten, daß er mich bald sehen wird.« Og, der seit der Begegnung mit dem Ungeheuer außergewöhnlich schweigsam war, rollte die vier Juwelen in der Hand hin und her und erhob dann seine Stimme. »Ich sage es ihm«, versprach er. »Aber ich sage dir auch etwas anderes. Du kannst nicht nach Sumifa zurück, Cheyne. Maceo will deinen Tod. Und auf dem Rückweg vom Glockenspiel glaubte ich, Saelin gesehen zu haben. Er wird nie vergessen, daß du ihm inzwischen mehrmals entkommen bist. Er braucht deinen Kopf, um seine Schande wieder abzugleichen. 419
Und dann ist da noch Rotapan... Warum soll ich nicht mit dir gehen? Ich versprach, dich zu führen.« »Und ich versprach dir die Hälfte von dem, was ich finden würde. Was sich als sehr viel Gefahr und Ärger herausstellte. Außerdem warst du ein schlechter Führer, Og.« Cheyne lachte. »Und Claria bedarf deines Zaubers, um nach Hause zu kommen. Es ist ein langer Weg.« Er nahm ihre Hand und küßte die beiden, leicht gekrümmten Finger. »Gute Reise und ein langes Leben, Claria.« Claria traute ihrer Stimme nicht ihm zu antworten. Ein paar Sekunden verstrichen in gequälter Stille, dann sang Og und hielt die Steine fest; weißes Licht ergoß sich über den Musikmagier und das Mädchen, als sie sich in Helligkeit auflösten. Innerhalb eines Herzschlages waren sie verschwunden, nur der rote Glanz von Clarias Haarband blieb kurz sichtbar, dann lag nur noch der Duft von Bergamotte und Myrrhe in der Luft. Hoch oben über dem zerstörten Glockenspiel blies ein dunkler Wirbelwind durch die zerbrochenen Ganzitkristalle und wühlte große Sandwolken auf, während er suchend umherschweifte.
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