MANFRED JORDAN
Das Licht im Turm
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN
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MANFRED JORDAN
Das Licht im Turm
VERLAG NEUES LEBEN BERLIN
Alle Rechte beim Verlag Neues Leben, Berlin 1964 Lizenz Nr. 303 (303/106/64) ES 9 A Umschlag und Illustrationen: Gerhard Goßmann Ty pografie: Walter Leipold Schrift: 8 p Primus Gesamtherstellung: (140) Druckerei: Neues Deutschland » 1205
Die Turmuhr der Rudenhausener Dorfkirche sendet drei helle Schläge von der Höhe in die sternüberglitzerte, wolkenlose Nacht. Drei Viertel elf. Gerhard Schellner faßt vorsichtig nach dem Riegel. Zwei Augen draußen hinter der Hecke beobachten, wie ein Fensterflügel ausschwenkt, eine Gestalt in der Öffnung erscheint, späht, lauscht und sich dann ins Vorgärtchen hinabläßt. Er ist hart auf dem gefrorenen Boden aufgekommen. Unbeweglich hockt er und wartet. Alles bleibt still. Nur in den Stallungen drüben rasselt eine Kette. Gerhard kraust die Stirn, voller Unmut über sein Herz, das so töricht rummelt. Zwei-, dreimal atmet er sehr tief die herrliche, kalte Luft ein, dann drückt er das Fenster sacht wieder zu, prüft noch einmal in Eile den Inhalt seiner Taschen und gleitet alsbald lautlos zu dem niedrigen Staketenzaun hin. Ein Sprung, und das elterliche Gehöft liegt hinter ihm. Er würde nach ihnen greifen können, so dicht schleicht er an den hinter der Hecke spähenden Augen vorbei. Zu Häupten des Dorfes, dort wo das Bächlein aus dem Walde tritt und einen winzigen Teich füllt, ehe es den Hang hinuntereilt, den Ort durchrieselt und sich in der Ferne in einen größern Bach ergießt, der seinerseits seine Wasser dem Flusse Werra zuführt, zu Häupten des Dorfes steht gedrungen und mit meterdicken Mauern sehr wehrhaft die alte Kirche inmitten eines übersichtlich parzellierten Gräberfeldes.
Eine kurze Allee, gut zu begehen, führt vom Dorfe aus hier herauf. Gerhard jedoch zieht es vor, gleich hinter dem letzten Anwesen, an der großen Fichte, abzubiegen und querfeldein auf den Teich zuzuhalten. Seine Augen haben sich längst an die Dunkelheit gewöhnt, er schreitet sicher aus, alle paar Fuß zurück und zur Seite spähend. Mit einem Anlauf setzt er über den Bach und nähert sich der Einfriedung des Kirchhofs von der dem breiten Tor beinahe entgegengesetzten Front. Dort erlaubt eine etwas schadhafte Stelle in der Bruchsteinmauer ein bequemes Hinübersteigen. Man mag dreist sechzehn Jahre alt sein und ein tüchtiger junger Mann, man mag die alten Geschichten des Küsters belächeln, Geschichten, in denen Gespenster als gute oder auch böse Geister auftreten, weiße Frauen mit Füßen oder ohne, in denen Särge sich öffnen und die Gehenkten zu Ausflügen vom Galgen herabsteigen — es ist und bleibt eine sehr eigenartige Sache, nächtlicherweise in einen Friedhof einzudringen. Weit entfernt davon zu bereuen, daß er sich in diese Geschichten eingelassen hat, kommt ihm doch alles plötzlich etwas abgeschmackt und sinnlos vor. Aber er hat ja gesagt, folglich bleibt es dabei. Es soll nicht heißen: Der Schellner kneift. Ein schnarrendes Geräusch von der Höhe. Vier helle Schläge, elf dunkle. Die Glocke hallt nach. Eine Stunde vor Mitternacht. Feiglinge! Erst kriegen sie den 3
Mund nicht voll genug, und wenn's drauf ankommt, bleiben sie in ihren Betten. Also, ich warte noch, bis es wieder schlägt, dann kehre ich um. Sollen sie mir den Buckel herunterrutschen. Und Liesel wird ja doch wohl nicht einfältig sein . . . „Na?" Gerhard fährt herum — und verwünscht sich sofort deswegen; denn er blickt genau in Günter Lippeis befriedigt grinsendes Gesicht. „Erschrocken,
die verrücktesten Ideen in die Tat umsetzt. Vielleicht. Günter, plötzlich, schießt einen Stein durch die dünne Eisschicht des Teiches, daß es plumpst. „Los, du mußt machen." „Hast du den Schlüssel?" Der Kleine holt das schwere, kunstvoll geformte Stück Eisen aus der Jackentasche. Er grinst und sagt: „Bitte." Keiner von beiden ahnt, was ihr Tun nach sich ziehen soll. Eben schlägt es Viertel zwölf. Liesel steht fröstelnd unter der großen Fichte am Dorfausgang und kaut an ihren Zöpfen. Sie wird das ungute Gefühl nicht los, das mit einbrechender Dunkelheit über sie gekommen. Am liebsten kröche sie wieder ins Bett und heulte sich aus. Wenn was passiert, bist du schuld, flüstert die Unruhe in ihr. Du bist an allem schuld. Tränen aus Angst und Trotz spielen in ihren Augen. Bald nach zehn hat es sie nicht mehr zu Hause gehalten. Umhang und Kopftuch noch unterwegs bindend, ist sie hierher gelaufen. Kaum hatte sie sich versteckt, sind sie auf leisen Sohlen, jeder vom andern beträchtlichen Abstand haltend, vorbeigekommen. Ohne es zu wollen, zählte sie. Aber auch wenn sie nicht gezählt hätte, wäre ihr aufgefallen, daß einer fehlte. Was hatte das zu bedeuten? Weshalb gingen sie viel früher als vereinbart? Weshalb gingen sie nicht einzeln? Weshalb war er nicht dabei? Das Mädchen, statt aus dem Versteck hervorzutreten und die sieben gradheraus zu fragen, wartete, bis sie außer Hörweite waren, und eilte dann die Dorfstraße hinab bis. zum Gehöft des Schellners. Dort verbarg sie sich hinter der Hecke. Als es vom Kirchturm her drei Viertel elf schlug, tat sich das Fenster a u f . . . Aber statt ihn aufzuhalten, ihn nach den Veränderungen zu fragen oder überhaupt auf diese ganze unsinnige Ge-
schichte zu verzichten, überließ sie sich ihrer Eitelkeit, dem süßen Wissen, daß, was- hier vorging, um ihretwillen geschah. Sie schlich hinter dem Jungen drein, in ständig zunehmender Erregung, bis zu der großen Fichte am Ortsausgang. Und dort steht sie nun und friert und überläßt sich fast willenlos dem Hin und Her ihrer Gedanken. Neun Kinder waren im Jahre 1790 zu Rudenhausen in der damaligen Landgrafschaft Hessen-Kassel geboren worden: acht Buben und ein Mädel. Selbst die ganz alten Leute erinnerten sich nicht, daß es schon einmal ein so seltsames Zahlenverhältnis der Geschlechter gegeben habe. Von schicksalhafter Bedeutung indes konnte dieser Tatbestand nicht sein, wenn man nicht etwa der alten Grete, der Kräuterhexe aus dem Unterdorf, Glauben schenken wollte, die allein aus der Neunzahl auf ernste Gefahren für diesen Jahrgang schloß, ein abergläubisches Gemunkel, das ihr der Pfarrer Schmidt oft und heftig, allerdings immer erfolglos, verwies. Pfarrer Schmidt übrigens war viel später der erste Erwachsene, der zu seinem Kummer merken mußte, daß die Siebzehnhundertneunziger wirklich etwas aus dem Rahmen fielen. Hatten sie sich bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr in nichts von andern Rudenhausener Kindern unterschieden, so taten sie sich jetzt, und grade im Konfirmandenunterricht, durch auffallenden Fleiß hervor. Einem im Lehr- und Seelsorgeramte ergrauten Manne wie Schmidt mußte dabei ein Argwohn kommen. Und sein Gefühl trog ihn nicht: Der Eifer im Studieren war nicht bestimmt von dem würdigen Gegenstand und hatte auch nicht Schmidts pädagogisches Lob zum Ziel, sondern diente einfach dem fatalen Zwecke, das Mädchen Liesel durch die Klippen der monatlichen Examina zu bringen. Es half nichts,
daß der Pfarrer an sechzehn Knabenohren zog und eine Rute ins Schulzimmer mitbrachte; selbst der zuweilen verhängte Arrest vermochte nichts über die fleißigen Übeltäter, die ihre Kenntnisse im Wettstreit Liesel zuflüsterten. Liesel ihrerseits ließ sich die Huldigung gern gefallen, denn sie befreite sie von dem Zwange, das vorgeschriebene Pensum selbständig zu lernen. Auf ernste Vorhaltungen und Fragen, weshalb sie diesen Unsinn machten, antworteten sie mit verlegnem, ja beinahe törichtem Grinsen. Außerdem heckten sie allerlei Streiche aus und praktizierten sie, teils einzeln oder zu zweit, hauptsächlich jedoch in der ganzen Gruppe — meist auf Anstiften Günters; und Liesel fand es recht reizvoll, daß sie als erste und einzige in allen Einzelheiten unterrichtet wurde, ja daß im letzten Grunde das alles nur ihretwegen, gewissermaßen ihr zu Ehren, geschah. Im Dorf begannen die Leute auf den seltsamen Minnedienst aufmerksam zu werden. In den betroffnen Häusern setzte es Ohrfeigen: Lümmels, habt ihr nichts Beßres zu tun? Je mehr Schwierigkeiten ihnen aber erwuchsen, desto fester schlössen sie sich zusammen. Ja, das verblüffende war für alle, die darum wußten, daß die Rivalen Freunde und unzertrennlich blieben. Man konnte sich aufeinander verlassen, man ging füreinander durch dick und dünn. Im Angesicht des umworbnen Mädchens jedoch stand man sich unversöhnlich gegenüber, und jede List und jede Mogelei galt als erlaubt. Mit der Zeit aber verloren Schabernack und Unfug im Tun der nunmehr Fünfzehnjährigen die erste Stelle. Im Sommer 1805 erzählte eines Sonntags Gerhard Schellner beiläufig, er habe den Roggenschlag an der Saugrube in zwei Tagen gehauen, und wenn er 5
sich weiter so dazuhalte, werde er »wohl Mittwoch schon ins Nachbardorf zum Baron gehen können, um sich für ein paar Tage als Schnitter zu verdingen. Diese Nachricht erregte Aufsehen. Niemand war in der Runde, der nicht mit der Sense seinen Mann stand; aber eine Leistung, wie sie Gerhard hier vorwies — alle Achtung, damit konnten sie sich nicht messen. Auch Liesel erkannte das an. Sie blickte vom Wäscheflicken auf und Gerhard genau in die Augen, bis er ganz verlegen wurde und sich zur Seite drückte. Es erwies sich, daß bei der nächsten Berichterstattung vor dem umworbnen Mädchen auch alle andern mit guten Leistungen aufzuwarten hatten, allein, Gerhards Rekorde blieben unerreicht. Lieseis Vater, Gustav Hornig, der Gemeindevorstand und große Bauer, hörte von dem veränderten Wettkampfstil mit Interesse; und da die Zurüstungen des kürzlich zum Kurfürsten avancierten Landgrafen auch von seinen Schnittern zwei unter die Soldaten gelockt hatten, schlug er den Jungen vor, sich seines Kornfeldes am Langen Berge anzunehmen. Liesel sollte in der Früh das Startzeichen geben. Und der Sieger im Streite, nämlich der, der mit dem Glockenläuten am Abend die meisten Puppen würde vorweisen können, sollte zur Nacht am Familientische der Hornigs speisen. Der Herbst kam und ging hin mit derlei Unternehmungen im Bereiche der bäuerlichen Arbeit. Von der Mahd bis zum Drusch, bis zur Wintersaat. Und noch öfter hatte Gustav Hornig den Gewinn. Gerhard aber schoß ständig den Vogel ab, während Günter sich fortlaufend auf den letzten Platz verwiesen sah. Daß er sich ärgerte und an seinen Niederlagen litt, er, der bei den Bubenstreichen so Erfinderische, spürte Liesel allein. Niemand sonst fiel das geringste 6
auf, denn zwischen Gerhard und Günter blies das burschikos-herzliche Freundschaftsverhältnis wie eh und je. Es wird wohl so sein, daß Lieseis Beobachtungsgabe geschärft und verfeinert war, seit sie den Gerhard lieb hatte. Aber dieses Liebhaben gab sie natürlich nicht zu, und wenn es ihr jemand auf den Kopf zugesagt hätte: sie hätte damals gestritten, im Notfall bis zu den Tränen. Von den Eltern hätte sie übrigens für ein Geständnis nur Hohn und eine Tracht Prügel zu erwarten gehabt; der Alte träumte von einer ganz anderen Verbindung. Und auch Gerhard selbst gegenüber schwieg sie sich aus. Ein Blick dann und wann, ein Blick, schwarz, ernst, beinahe traurig — das war alles. Als im Jahre 1806 der Schnee schmolz, als die Wiesen grün wurden und die ersten Frühlingsblumen in ihren zarten Pastellfarben von der Überwindung des Winters erzählten; als der Saft aus den Wurzeln aufstieg und Mensch und Tier mit befreiter Brust tiefer atmeten, als der Pflug die ausgeruhte Erde umbrach, kamen Gerüchte ins Dorf, daß der Kurfürst seine Rüstungen verstärke und auch in diesem Winkel seines Reiches systematisch Soldaten anwerben wolle, um diese unsichern Zeiten besser gewappnet vorüberziehen zu lassen, und daß wohl eine Teuerung kommen werde. Aber es blieb —« für Rudenhausen jedenfalls —> beim Gerede. Von Werbern sah und hörte man nichts. Dafür aber forderte der Steuereinnehmer, der im Schulzenhause Quartier hatte, höhere Abgaben von den Bauern als in den Jahren vorher. Sie zahlten ungern, aber sie zahlten; Pfarrer Schmidt hatte wohl recht, wenn er am Sonntag von der Kanzel rief: „Danket Gott im Himmel, daß ihr Geld geben dürft und dafür eure Söhne behaltet!" Die vom Jahrgang 1790 aber begannen Gespräche mit dem Thema
,.Was wäre, wenn". Wenn sie nun Soldaten würden, wie stünde es da mit ihrem Mut? Würden sie tapfer kämpfen oder würden sie in einer Schlacht lieber zusehen, würden sie lieber für oder lieber gegen den fremden Kaiser kämpfen? Probleme, die völlig neu für diese Jungen waren. In den seltensten Fällen kamen sie zu einer alle befriedigenden Lösung; nur darin stimmten sie ganz überein: Der Mut ist eine Forderung des Tages. Die Mut- und Kraftproben, die sie folgerichtig zu ihrer Übung veranstalteten, befestigten Gehards Ruf ganz außerordentlich. Und was immer der findige Günter sich einfallen ließ — niemand sagte, der Günter hat das ausgeheckt; jeder sagte: „Der Gerhard hat wieder gewonnen." Ob sie Holzrollen schleppten, Stangen zerbrachen, über Bach und Hecken sprangen, an einer Leine, die sie aus den obern Stockwerken zweier einander gegenüberliegender Häuser über die Straße spannten, von einer Seite zur andern hangelten — Gerhard gewann mit Abstand. Liesel erschien es fast unheimlich, daß die andern so mit Anstand verloren. Inzwischen ward hoher Sommer; das Korn stand gut auf dem Halm, so gut wie lange nicht. Das Wetter hielt an, und früher als erwartet begann die Zeit der Mahd. Auch die letzte Hand war auf den Feldern zur Bergung des Brotes. Da kam Anfang August ein Kurier ins Dorf geritten. Der Kurier war seit zwei Tagen auf dem Wege durchs Land und machte ein müdes, aber würdiges Gesicht. Liesel ward aufgetragen, Bier aus dem Dorfkrug zu holen. Mit der vollen Kanne trat sie aus der Tür auf den Platz hinaus — und blieb, von größtem Schrecken gepackt, wie angewurzelt stehen. Einen Schrei stieß sie aus —• zu etwas anderm war sie nicht fähig. Der Schrei sollte die Kinder war-
nen, die da vergnügt im Straßenstaub spielten; aber die blieben sitzen, unfähig zu einer Bewegung, und starrten nur entsetzt dem Verhängnis entgegen. Das Verhängnis aber war dies: Im Oberdorf hatten zwei Pferde, eben als sie an einen leeren Wagen angeschirrt waren, vor einer schreiend auffliegenden Henne gescheut; sie gingen durch, rasten aus dem Gehöft und die Straße hinunter, genau auf die spielenden Kinder zu. Wer etwa am Wege war, nahm Reißaus. Es konnte nur noch Sekunden dauern, daß die Kinder niedergestampft und von dem hinterdreinholpernden Wagen überfahren wurden. In dem Moment schwankte am Gasthaus ein Kornfuder um die Ecke. Schneller als es auszusprechen ist, hatte der nebenherlaufende Kutscher die Situation erfaßt. Ohne zu zögern, mit fünf, sechs langen Sätzen, den Peitschenstil schwingend, sprang er herzu und schritt-dann hoch aufgerichtet, mit gebreiteten, rudernden Armen, den rasenden Tieren die letzten fünf Klafter entgegen. Lieseis Herzschlag drohte zu stocken. Die Gäule warfen die Ohren nach vorn. Und in demselben Augenblick, da der Beherzte hochsprang, seine Erscheinung dem Pferdeauge noch gewichtiger zu machen, bäumten sich die Rösser auf, etwas ungleichmäßig,. so daß die Deichsel splitterte. Er warf sich zur Seite und schon wieder zurück in die Zügel. Das Mädchen fiel die Bierkanne aus den Händen, sie zog die Kinder in den schützenden Hausflur. Die Pferde aber, schweißnaß, mit schütternden Flanken, stoßendem Atem, tänzelnden Beinen, ließen sich von ihrem Bezwinger an einen Baum binden und duldeten seine beruhigenden Schläge an ihren Hälsen. Nun erreichte endlich auch der Bauer den Platz und fluchte über die zerbrochne Deichsel. Der Bändiger aber war niemand anders als Gerhard Schellner, und seine Knie 7
zitterten jetzt mit denen der Pferde um die Wette. Als er sich aufraffte, zum eignen Gespann zurückzukehren, sah er sich unverhofft der Liesel gegenüber. Und Liesel, in 3
einer Aufwallung, flog ihm an den Hals und gab ihm einen Kuß, freilich so ungestüm und ungeschickt, daß sie statt des Mundes eine Stelle unter der Nase traf, wo
blondglänzende Härchen die Absicht des Jünglings verrieten, einen Schnurrbart zu züchten. Es ist nicht mehr mit Bestimmtheit zu sagen, welche Nachricht an diesem Tage im Dorfe die größre Anteilnahme auslöste, die, daß der Gerhard drei Kindern das Leben gerettet, oder die, daß es kein Deutsches Reich mehr gab, seit am sechsten des Monats der Kaiser Franz in Wien die Kaiserkrone niedergelegt hatte, weil sechzehn ehrvergeßne deutsche Fürsten sich vom Reiche losgesagt und einen Rheinischen Bund unter Napoleons Protektorat gebildet hatten. Am Abend jedenfalls machte Pfarrer Schmidt sich zum Schellnerhof auf, um dem jungen Helden anerkennend auf die Schulter zu klopfen. Allerdings fand er ihn nicht daheim. In Gerhards Kopf waren die durchgehenden Pferde verblaßt und der Untergang des Heiligen Römischen Reiches. Er saß nahe beim hintern Gartentor des Schulzenhauses und zerkrümelte eine Dolde Schafgarbe zwischen den Fingern. Um diese Zeit pflegte Liesel dort herauszutreten, an den Hofäckern entlang westwärts zu laufen und, die Kirche seitab liegenlassend, zur Höhe zu wandern bis zu dem Kahlschlag, von dem aus der Blick weit ins nächste Tal schweifen konnte. Dort droben saß sie dann nieder und verbrachte die Zeit mit Schauen und Träumen, bis die Sonne drüben auf dem andern Höhenrücken aufsetzte und den Wald erglühen machte.- Nie, nie hatte ihr jemand bei diesen seltsamen Spaziergängen Gesellschaft geleistet, auch keiner der acht. Und heute nun saß Gerhard da und zerkrümelte Schafgarbe. Es knarrte das Tor, das Mädchen trat heraus. Gerhard stand auf und schüttelte die Kräuterreste von seiner Kleidung. Wortlos gingen sie nebeneinander, an den Hofäckern entlang westwärts, sie
wanderten, die Kirche seitab liegenlassend, zur Höhe hinan bis zu dem Kahlschlag, von dem aus der Blick weit ins ' nächste Tal schweifen konnte. Dort droben saßen sie nieder ins reife, duftige Gras, und die Zeit verstrich unter Schauen und Träumen. So war für die Neunziger die Gelegenheit gekommen, mit Anstand den Minnedienst zu quittieren. Das Mädchen hatte gewählt. Ihre Entscheidung nicht zu respektieren hätte nach damaligem Brauch die Verachtung aller Dorfbewohner heraufbeschworen. Und indem sie sich von dem Gegenstand ihrer gemeinsamen Bemühungen lösten, lösten sie unabsichtlich; auch ihren freundschaftlichen Zusammenhalt auf. Jeder ging seiner Wege. Man sah sich nur noch zufällig. Das sonderbare neunblättrige Kleeblatt war verwelkt, anscheinend für immer. Als einziger bewahrte Günter dem glücklichen Sieger die alte Anhänglichkeit, wenn er auch peinlich darauf achtete, mit Liesel weder allein noch in Gerhards Gesellschaft zusammenzutreffen. In diesen Tagen hatte der Krämer zur Auffüllung seiner Bestände in Hersfeld zu tun. Er lieh sich gegen Entgelt Hornigs zweites Gespann und bat aus Gründen der persönlichen Sicherheit den Rossebändiger Gerhard, ihn als Kutscher zu begleiten. Sie fuhren mit dem ersten Büchsenlicht. Welches Entzücken, als eine kleine Viertelstunde hinter dem Dorf weit zurück auf der Straße eine vertraute Stimme seinen Namen rief! Liesel hatte die väterlichen Anordnungen in den Wind geschlagen und war durchgebrannt. In Hersfeld mieteten sie sich zuerst für die kommende Nacht ein, dann trennten sie sich: Der Handelsmann ging zu seinen Geschäften, die jungen Leute zu einem Bummel mit großen Augen durch die Stadt. 9
Zahllos waren die Eindrücke für Auge und Ohr, und wenn sie nur ein wenig Geld gehabt hätten, wäre auch der Gaumen auf seine Kosten gekommen. Aber was ihnen das aufregendste von allem schien, das waren die vielen Soldaten. Wohin sie auch gingen, wo sie auch standen: Überall zogen die bunten Uniformen die Blicke auf sich. Der Sonne nach war es angezeigt, sich wieder mit dem Krämer zu treffen; aber sie waren derart kreuz und quer gelaufen, daß Gerhard jetzt verzweifelt überlegte, welche Richtung man einschlagen müsse. Einige Zeit konnte er seine Unsicherheit verhehlen, dann blieb er stehen und zuckte die Achseln. „Was zuckst du so?" fragte das Mädchen und gähnte ein bißchen dazu, weil es vom ungewohnten Pflastertreten schon reichlich müde geworden war. Gerhard aber, als ein Kind des Glücks, erspähte in diesem Moment ein bekanntes Gesicht. „Johann!" rief er und zog Liesel mit sich fort, „Johann!" In der Tat, es war Johann Riebenfeld, der dort an der Fuldabrücke stand und aus seinem Sacktuch vesperte. Gerhard mußte ihn erst an ihre gelegentlichen Begegnungen in der Mühle erinnern, bis er sich besann, wen er vor sich hatte. Johann war zehn Jahre älter als die beiden und hatte wohl auch mal für kurze Zeit unter den Soldaten gestanden. Er spann mit seinem Vater, einem Bauern im Nachbardorf, nicht gut und war auch sonst nicht beliebt, weil er als wortkarg und vergrübelt galt. Es stellte sich heraus, sie wohnten im gleichen Gasthof; die Rudenhausener unter dem Dach und Johann Riebenfeld bei seinem Pferd im Stall. Liesel sank ins Bett und schlief sofort ein. Der Krämer setzte sich mit einem Seilermeister zum Bier in die Wirtsstube. Gerhard und Johann fütterten die Tiere ab und kamen dabei ins Gespräch. Und der als wort-
karg Verschriene verstand mit seinen Geschichten und Erklärungen so zu fesseln, daß Gerhard es sich neben ihm im Stroh bequem machte und auf das Bett verzichtete. Anderntags mit dem Dunkelwerden kehrten sie heim. Sie schleppten das mitgeführte Handelsgut in den Lagerraum. Dann lieferten der Krämer das Gespann und Gerhard die Liesel im Hornighof ab. Der Krämer empfing ein „Schon gut", Bub und Mädel je eine schallende Ohrfeige. Während Liesel tief beleidigt sich einriegelte, eilte Gerhard unbeeindruckt in den Krug, um die Neuigkeiten aus Johanns Mund weiterzugeben. Und so wußten denn noch in der nämlichen Nacht alle Männer im Ort, daß es nichts war mit der Steuerbefreiung, die sie insgeheim von der Abdankung des Kaisers erhofft; daß der Kaiser niemals einen Heller von ihnen erhalten; daß der' Kurfürst jetzt in seinem Lande gewissermaßen selber der Kaiser war; daß der Franzose Napoleon sich nicht begnügte, im Rheinbund den Ton anzugeben, sondern alle deutschen Länder unterjochen wollte, damit die deutschen Männer mithalfen, für ihn die ganze Welt zu erobern. Da schlief keiner ruhig, denn wer konnte wissen, ob dieser Räuber Napoleon sich nicht über kurz oder lang in Hersfeld einnisten würde, sicherlich waren deshalb dort so viele Soldaten. Am frühen Morgen zogen die meisten dem Schulzen vors Haus und verlangten von ihm, er solle sofort etwas unternehmen, daß die sem Napoleon das Handwerk gelegt wurde. Nur ungern gaben sie sich mit der Erklärung zufrieden, der Kurfürst sei ja mit dem mächtigen König von Preußen befreundet und rüste außerdem eilig für ihre Verteidigung. Vorsichtshalber beschlossen sie, daß der Küster tagsüber im Turm zu sitzen habe, damit er sie vor etwa heranrük-
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kenden Franzosen warnen könne. Jede Woche mußten fortan im Wechsel zwei Mann nach Hersfeld reiten, um Neuigkeiten einzuziehen. Liesel war zur Strafe für ihr Durchbrennen vom alten Hornig unter strengen Hausarrest gestellt worden. Die beiden jungen Menschen sahen sich zum erstenmal wieder, als alles, was laufen konnte, auf dem Platz vor dem Dorfkrug zusammenströmte, um die furchtbare Kunde zu hören, die soeben aus Hersfeld angekommen: Napoleon war — ohne die Frist eines preußischen Ultimatums abzuwarten — im benachbarten Thüringen einmarschiert. Sogleich hatte der hessische Kurfürst mobil gemacht. Da ward am 10. Oktober die preußische Vorhut bei Saalfeld von den Franzosen überrumpelt. Sie floh Hals über Kopf nach Norden. Wenige Tage darauf, am 14. Oktober, lag die alte feudale preußische Monarchie in den letzten Zügen. In der denkwürdigen Doppelschlacht bei Jena und bei Auerstedt ward die einst so gefürchtete Armee der Hohenzollernkönige vernichtend geschlagen. Was gehen uns die Preußen an, hätten die Rudenhausener früher gesagt. Die großen Auseinandersetzungen in der Welt waren nicht wichtiger als die Kunde von einem Kalb mit zwei Köpfen. Aber jetzt schüttelten sie bedenklich die Köpfe. Wenn nun auch die Preußen dahin waren — würde der Kurfürst da die Rudenhausener vor diesem schrecklichen Napoleon schützen können? Allein, was sie hören mußten, war noch nicht zu Ende. Französische Truppen waren auch gegen die kurhessische Grenze von Süden her vorgerückt. Der Krieg konnte jeden Augenblick beginnen. Vielleicht . . . vielleicht schössen sie jetzt schon aufeinander. Man stand an diesem Abend lange auf dem Platz beisammen, aber gesprochen wurde nicht viel.
An diesem Abend sahen Gerhard und Liesel einander zum erstenmal wieder. Gerhard schlich sich, nachdem sie die entsetzliche Nachricht vernommen, in die Nähe des Mädchens. Hinter ihr angelangt, griff er nach ihrer Hand. Sie zog sie zurück. „Laß mich", flüsterte sie, „wir dürfen nicht mehr zusar men sein." Gerhard stotterte: „Aber, Liesel..." — „Der Vater hat's verboten. Und ich will auch nicht mehr." Gerhard war, als sänke der Himmel herab, und der Mond und alle Sterne jagten direkt auf ihn zu. „Liesel", bettelte er; aber Liesel war schon nicht mehr bei ihm. Da schrie er so laut, daß es hallte: „Ich trete unter die Fahne! Hat jemand Mut, dann kommt er mit!" Das machte Aufsehen. Leute, die schon auf dem Wege nach Hause waren, kamen zurück. Spontan stimmten drei, vier andre ein, weitere nach einigem Zögern. Schließlich standen elf junge Männer zwischen sechzehn und dreiundzwanzig Jahren beisammen, darunter vier aus dem Jahrgang neunzig. Unter soviel Beifall wie Tränen der Dorfbewohner beschlossen sie, am übernächsten Morgen mit Proviantsack und Decke in die Stadt zu gehen. Und das Mädchen Liesel stand in einigem Abstand da und kaute an den Zöpfen. In der Früh des nächsten Tages gingen sie auf Gerhards dringende Vorstellungen ins Nachbardorf hinüber, um sich mit Johann Riebenfeld zu besprechen. Es war Sonntag. Sie fanden ihn beim Zeitunglesen. Johann studierte seinen Satz zu Ende, dann hörte er zu und schaute sich einen nach dem andern gründlich an. Merkwürdig: Er fand es ganz in der Ordnung, daß sie ihn um Rat angingen, obwohl bisher selten jemand auf seine Meinung Wert gelegt hatte. Als er alles vernommen, faltete er seine Zeitung zu einem Quadrat zusammen und legte dieses Quadrat sorg11
fältig auf den Tisch, näher einer Längskante als der Mitte. „Hier", sprach er bedächtig, „der Tisch ist, sagen wir mal, Deutschland, und die Zeitung ist das Kurfürstentum Hessen. Ja?" Die künftigen Soldaten nickten, ohne recht zu verstellen. „Hier unten ist Franken, Fulda und so weiter; da sitzen die Franzosen. Hier links ist HessenDarmstadt und Nassau; Rheinbund, Franzosen. Hier oben ist Paderborn; besetzt von Franzosen. Und hier rechts und hier oben" — er schob den Finger auf der Tischplatte hin und her — „ist Thüringen und Preußen. Ja?" Die elf nickten wieder. „Also?" Einer der älteren bemerkte: „Rundherum Franzosen." — „Ja, und Rheinbundtruppen. Und nun sagt mir mal, warum ihr euch von denen totschießen lassen wollt." Einige hätten antworten können: Man' darf doch nicht zusehen, wie so ein fremder Eroberer unsre Heimat verschlingt. Einige hätten antworten können: Weil der Gerhard uns herausgefordert hat. Und der elfte: Weil Liesel mich nicht mehr mag. Statt dessen sagten sie gar nichts und staunten über den weltkundigen Mann. Dieser versetzte die Zeitung wieder in ihren frühern Zustand und fragte, während er sie glättete:' „Wißt ihr, was ein Hochwasser ist?" Sie wußten. „Was passiert da?" — „Na, da . . . da gibt's eine Überschwemmung." — „Hm. Und bleibt dann das ganze Land unter Wasser?" — „Nö. Das verteilt sich ja dann, das Wasser." — „Mhm. Hat das nun Sinn, am Ufer, an jedes, hundert Säcke hinzupacken?" — „Nö. Da haut's drüber weg, und die Säcke . . . die Säcke sind im Arsch." — „Versteht ihr nun?" rief Johann. „Wenn man eine Million Säcke hätte: jawoll. Aber so, da läßt man den großen Schwall vorbei, weil man ja eben bloß zweihundert Säcke hat, und wenn sich das Wasser verteilt, geht man in den Sumpf und zieht Grä12
ben, daß es schneller wegläuft. Klar?" Elf Stimmen sagten: „Klar." Und Johann versprach, daß er ihnen Bescheid sagen würde, wenn es Zeit war, die Gräben zu ziehen. Da begriffen sie das Gleichnis und marschierten wohlgestimmt nach Rudenhausen zurück. Am Eingang des Dorfes machte sich Liesel mit einer Ziege zu schaffen. Man hätte blind sein müssen, um nicht zu merken, daß das ein Vorwand war. Und richtig, sie ließ die elf Helden passieren, kniff sodann der Ziege in den Po, damit sie mit lautem Gemecker davongaloppierte, und rief: „Die Ziege!" Gerhard fing das verstörte Tier mit Leichtigkeit und führte es seiner Besitzerin wieder zu. „Gerhard", sagte diese und kraulte angelegentlich den Ziegenkopf, „bitte, geh nicht in den Krieg, bitte." Dem Jungen ward es bei solcher Rede wunderlich warm ums Herz. Aber er nahm sich zusammen, spielte den Barschen. Sagte: „Laß mich. Ich mag nicht mehr", und rannte hinter den andern drein. Ein fliegender Händler brachte ins Dorf die Rede, der französische Marschall Mortier sei von Fulda aus, wie befürchtet, ins Kurfürstentum Hessen eingedrungen, ohne Kriegserklärung. Das ganze Land sei in französischer Hand, kein hessischer Soldat stehe mehr unter Waffen. Da aber keinerlei offizielle Bestätigung eintraf, da andererseits auch niemand Lust bezeigte, selbständig in der Stadt zu recherchieren, da man glaubte und zugleich auch nicht glaubte, wuchs die Spannung von Tag zu Tag. Und als die ihren Höhepunkt erreicht hatte und eben ins Gegenteil, in ein befreites Aufatmen, umschlagen wollte, erschienen zwei Herren und ließen sich zum Gemeindevorsteher führen. Der eine trug Uniform und machte ein Gesicht voll Verachtung, der andre mit der ehrerbietigen Miene war
Zivilist. Der Ehrerbietige gab sich Gustav Hornig gegenüber als Mitarbeiter der neuen Verwaltung zu erkennen, die im Auftrage der Besatzungsmacht, als deren Repräsentant der Militär ihn begleite, das Land gründlich zu reorganisieren habe. Zunächst und vor allem gehe es um die Entrichtung neuer öffentlicher Abgaben. Und der Herr Schulze, da er ja wohl im Amte zu verbleiben wünsche, möge sich sputen, innerhalb zweier Tage die geforderte Summe von den Dorfbewohnern einzuziehen. Die Bauern versammelten sich vor dem Dorfkrug, sie hatten nicht lange gebeten zu werden brauchen. Jetzt mußte sich alles weisen. So hörten sie die erste Zeitung: Kurfürst Wilhelm ist seines Thrones für verlustig erklärt worden; er hat Kassel verlassen müssen. Das war eine heikle Eröffnung. Sie waren aufgewachsen wie ihre Väter und Vorväter in der gebührenden Anhänglichkeit an das Herrscherhaus. Andrerseits aber hatten sie sich die Belehrung gut gemerkt, daß all ihre Steuerzahlungen nicht nach Wien, sondern nach Kassel gegangen waren. Bedächtig fragten sie an, ob an die Stelle des alten nun irgendein neuer Kurfürst trete; und als man sie darüber beruhigte, fanden sie die Okkupation durch die Franzosen eigentlich nicht mehr ganz so abscheulich. Sparten sie fürderhin die öffentlichen Abgaben, dann mußte sich mit Gott ihre allgemeine Lebenslage ganz einschneidend bessern. Gustav Hornig kam mit dem Pferdefuß: Demzufolge flössen die Steuern künftig in die Kasse der Besatzungsmacht, die es im übrigen als ihre Pflicht ansehe, die Hessen gegen alle Feinde zu verteidigen. Als die Rudenhausener widerstrebend begriffen, daß die drei Männer, der Verachtungsvolle, der Ehrerbietige und das Dorfoberhaupt, es ernst meinten; daß ihre
Hoffnungen auf Besserung abermals getrogen hatten, ja, daß man mehr und mehr und immer mehr aus ihnen heraussaugen wollte, packte sie heilige Empörung. Sie gebrauchten- Schimpfworte, die ins Französische zu übersetzen der Ehrerbietige vorsichtshalber unterließ. Hornig begann zu beschwichtigen, zu erklären, zu begründen, zu verteidigen. Das reizte die am meisten Erbitterten zu Tätlichkeiten; sie drangen gegen die obrigkeitlichen Drei vor. Der taktisch geschulte Offizier riß den Säbel aus •der Scheide und trat mit seinem Begleiter den Rückzug ins Schulzenhaus an. Hornig selbst gelang die Flucht nicht; er wurde an der Jacke gepackt und drastisch darüber belehrt, was ihm blühe, wenn er ihnen die Blutsauger nicht vom Leibe schaffe. Nichts half es ihm, daß er beteuerte, man müsse mit der Zeit gehen, und ihn treffe die Steuererhöhung doch am härtesten. Wenig zart brachten sie ihn bis an sein Hoftor, wo Liesel sich seiner sehr schämte. Ein junger Mann kam die Straße vom Nachbardorf herangeritten und zog, indem er mehrmals „Leute!" rief, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Es war Johann Riebenfeld. „Leute", schrie er, „wenn die Franzosen auch zu euch kommen sollten ..." Sie ließen ihn nicht weiterreden, sie klärten ihn auf und beschimpften ihn, als ob er schuld sei an ihrer Kalamität. „Und was wollt ihr tun?" fragte er, als er endlich wieder die Möglichkeit zum Sprechen hatte. Sie zuckten die Schultern. „Wißt ihr, was wir gemacht haben? Wir haben die Herren aus dem Dorf gejagt. Keinen Kreuzer für die Franzosen!" Plötzlich war die Masse der Bauern in Bewegung. Sie drangen in den Hornigschen Hof ein und forderten im Sprechchor den Abzug der Geldgierigen. Da die Forderung nicht fruchtete, machten sie 13
Miene, das Haus zu stürmen. Der Franzose versprach, mit einer Hundertschaft im Dorfe Ordnung zu schaffen, aber er kapitulierte. Daß er drohte, ward ihm vollends zum Verhängnis. Nun mußte er mit seinem Helfershelfer zu Fuß gen Hersfeld wandern, denn Reisewagen und Pferde wurden von der Gemeinde beschlagnahmt. 14
Das war ein Tag, wie die Rüdenhausener noch keinen erlebt. Sie gerieten vor Jubel schier aus dem Häuschen. Und auf Rieben felds Vorschlag hin machten sich mehrere auf, die beflügelnde Nachricht zur Nachahmung in andre Dörfer zu tragen. Versteht es sich nicht von selbst, daß Gerhard Schellner darunter war? Das Mäd-
chen Liesel lag in dieser Nacht mit offnen Augen auf dem Bett und suchte in die unerhörte Tatsache Licht zu bringen; sie hatte auf der andern Seite gestanden und nicht dort, wo das .ganze Dorf stand, von dem Herrn Pfarrer und ein paar Auszüglern abgesehen, die gewissermaßen eine dritte, unparteiische Partei darstellten. Sie ganz allein, ohne Absicht und nur, weil Sie in diesem Hause geboren war. Sie konnte nicht glauben, daß jemand anders in des Vaters Lage sich anders verhalten hätte, aber sie schämte sich. Sie hatte auf der andern Seite gestanden und wußte nicht, wie sie das je verwinden sollte. Mitten in der Nacht stahl sie sich aus dem Haus und strich durchs Dorf. In mancher Kammer brannte noch Licht. Was gäbe sie drum, wenn sie den Mut aufbrächte, in irgendeiner dieser Kammern um ein Nachtquartier zu bitten. Pferdegetrappel drang an ihr Ohr; sie drückte sich in eine Hecke. Erst jetzt kam ihr zum Bewußtsein, daß sie vor dem Schellnerhof gestanden. Der Reiter saß ab. Sogleich öffnete sich die Haustür. „Na?" fragte der Bauer. „Bist müde, was?" Und Gerhard sagte: „In vier Dörfern sind wir gewesen. Drei haben's so gemacht wie wir." Drei haben's so gemacht wie wir, wiederholte sich Liesel noch immer, als sie schon längst wieder in ihrem Bett lag. Gerhard grübelte viel und ward zusehends mißmutiger. Günter als einziger drang immer wieder in Gerhards Abkapslung ein. Er machte Vorschläge zu Spiel und Sport und Jagd, vergebens. Dann brachte er die Rede auf Liesel — und Gerhard befahl ihm zu schweigen; aber wenig später fragte er argwöhnisch, ob denn Günter und Liesel zusammenkämen. Freilich, behauptete dieser; zuweilen sei es mit den Neunzigern wieder wie früher, nur eben ohne ihn. Jetzt
Sonntag wolle der Großvater Küster alte Geschichten erzählen; das sei zwar nichts Überwältigendes, aber doch immer besser als nichts. Und dann ging er. Ging zu Hornigs. Ob man jetzt hier französisch reden müsse, fragte er den Schulzen, worauf der mit einer Schimpftirade in der Scheune verschwand. „Wenn du Lust hast, Liesel", sagte Günter, „wir treffen uns alle Sonntag bei mir, Großvater erzählt Geschichten." — „Alle? Wer ist alle?" —. Günter grinste. „Na ja, eben alle." Anschließend besuchte er die andern Neunziger, und als die sich schließlich auch hatten herumkriegen lassen, nahm er den schwerhörigen Großvater ins Gebet. Der Alte wühlte in seinem Gedächtnis, und am Sonntag, kaum begann es zu dämmern und die Neunziger hatten sich um ihn versammelt, trug er vor, was ihm wieder eingefallen war: Geschichten und Sagen, wie sie schon vor Jahrhunderten in diesem Landstrich erzählt worden waren. Der Alte war im besten Zuge, da tat sich die Tür auf, und Gerhard trat ein. Er gab vor, wieder gehen zu wollen, weil Günter nicht allein sei; aber natürlich ließ man ihn nicht fort, er mußte den Schnee von der Jacke klopfen und sich setzen, und bald war auch er gefangen von den alten Bildern, die der zahnlose Küster vor ihnen ausbreitete. Nicht anders am Sonntag darauf. Oder doch etwas anders: Günter hatte der Liesel unter vier Augen eine Anregung gegeben, ohne sich indes für den Erfolg zu verbürgen, falls sie die Anregung aufgriff. — Der Alte, herzlich erfreut über den Beifall der Zuhörergemeinde und die Kanne Bier, die sie ihm spendiert, zog sich gähnend zurück, sang zu seiner Erbauung und aus Gewohnheit ein Abendlied und sank in Schlaf. Drunten aber legte Günter Holz nach und meinte: „Komisch eigentlich. Wenn wer 13
den Alten am hellichten Tage fragt, ob es wirklich Gespenster gibt, wird er nein sagen. Aber jetzt hier beim Erzählen glaubt er fest und steif, daß das wirklich und wahrhaftig alles so war. Und wenn ihr denkt, der wäre zu bewegen, nachts allein in die Kirche oder bloß auf den Friedhof zu gehn: von wegen." Liesel bekannte, sie glaube ja auch nicht an Geister, aber nachts allein dorthin — nein. Gerhard rührte dieses Bekenntnis irgendwie, er sagte: „Das erwartet doch auch keiner von einem Mädchen." Es war seit längerer Zeit das erstemal, daß er das Wort an sie gerichtet. „Hoppla", rief Günter und legte noch ein Scheit nach, „das klingt ja ganz, als ob dir so was gar nichts machte." — „Was war denn da auch dabei?" ließ Friedrich Matt sich vernehmen, und Gerhard stimmte ihm zu. „Na, Friedrich", sprach Günter, „da macht mal den Anfang. Der Engel auf dem Grabstein von unserer Großmutter ist locker. Geh hin, hol'n her." — „Blödsinn", knurrte Friedrich, „war ja Grabschändung; außerdem: im Winter!" Es erwies sich, daß niemand Lust auf den Engel hatte. Da wandte sich Liesel mit kindlichvertrauensvollem Ton, den sie gut traf, an Gerhard: „Aber, nicht wahr, du hättest doch den Mut?" Und Gerhard, der eben noch entschlossen gewesen, auch seinerseits den Engelunfug abzulehnen, konnte nicht anders: er stand auf, nahm die Jacke und sagte: „Bis gleich." Günter hielt ihn auf. „Warte! Ich hab einen andern Vorschlag. Was besser ist." Und als Günter seinen Plan vorgetragen, fragte Liesel schnell: „Das würdest du dich trauen?" Gerhard schnaufte einmal kurz und sagte dann: „Gemacht. Und wann?" Liesel steht unter der großen Fichte am Ortsausgang und ist sich nicht einmal mehr bewußt, daß sie friert und an den Zöpfen kaut. 16
Was hat es für eine Bewandtnis mit dem verfrühten Kommen der andern? Die Abfolge der Ereignisse war doch auf Günters Vorschlag hin klar vereinbart: Um drei Viertel elf wollten sie aufbrechen, jeder für sich, Treffpunkt Friedhof. Und Viertel zwölf sollte Gerhard mit dem Schlüssel, den Günter seinem Großvater zu stibitzen hatte, die Kirche betreten, während alle andern zur Wache und Kontrolle an der Mauer des Gottesackers zurückzubleiben hatten. Mit dem Glockenschlage halb mußte Gerhard im Ausguck unter der Turmhaube, nachdem er im Finstern dorthin gelangt war, eine Kerze anzünden, sichtbar für die Beobachter, und bis Mitternacht bewachen. Punkt Viertel eins hatte er sich bei seinen Freunden wieder einzufinden. Sie fährt aus ihrer Versunkenheit auf. Hundegekläff aus dem Dorf dringt an ihr Ohr. Und hat es nicht eben geschlagen? Viertel zwölf? Halb zwölf? Oder schon drei Viertel? Aus engen Augenschlitzen späht sie zur Turmlaterne hinauf. Kein Licht ist zu sehen. Also kann es noch nicht halb sein. Sie zieht die Pelerine fester um die Schultern. Nun fröstelt es sie doch wieder. Nein, das muß sich ändern. Heute nacht noch. Heute nacht noch spricht sie sich mit ihm aus. Aber was ihr da eben durch den Sinn gegangen — ist das denn eine Antwort auf die Frage: Wozu? Wozu hat Günter, ihre Eitelkeit ausnutzend, das eingefädelt? Um das Zusammengehörigkeitsgefühl der Neunziger neu zu wecken? Um Gerhard auf andre Gedanken zu bringen? Um ihr, Liesel, zu gefallen? Oder aber, weil er damit rechnet, Gerhard werde sie enttäuschen? Sie hat doch schon einmal so ein Gefühl gehabt — natürlich? Günter ist mißgünstig, eifersüchtig. Es hält sie keinen' Moment länger unter der Fichte. Das Friedhofstor ist verschlossen.
Sie hastet, die Mauer zur Seite, bis zu jener Stelle, die auch Gerhard zum Einsteigen benutzt. Sie ruft leise nach Günter. Keine Antwort. Sie klettert hinüber. Niemand zu sehen. Sie eilt den breiten Gang, der die unmittelbar an der Mauer gelegnen Gräber von den andern Reihen trennt, entlang. Fast hat sie von innen das Tor erreicht, als jemand zur Linken ihren Namen sagt. Sie fährt herum. Da steht Günter, mit verschränkten Armen, an der Mauer lehnend, allein. Als die kleine Glocke angehoben zu verkünden, daß das erste Viertel der Stunde vor Mitternacht vorüber sei, hat Gerhard Schellner die Kirche betreten. Er hat einen Moment still gestanden, beklommen in die Finsternis starrend, gegen die die nächtliche Dunkelheit draußen fast wie Dämmerlicht erscheinen konnte. Jetzt tut er vorsichtig Schritt für Schritt. Im Turm wird es einfacher, tröstet er sich, da kann man die Hand zur Führung am Mittelpfosten lassen; hier aber stehen Epitaphe vom Mauerwerk ab, Gedenktafeln mit scharfen oder rissigen Kanten; man läuft Gefahr, sich zu verletzen, wenn man die Finger am Putz schleifen läßt. Bei jedem dritten Schritt prüft er mit der Rechten den Abstand von der Wand. Was ist das? Ach ja: die Tafel, auf der die Jahreszahl des großen Brandes eingraviert ist. Weiter! Es wäre ja grotesk, wenn er in einer Viertelstunde nicht oben wäre! Plötzlich schrickt er zurück. Er ist auf etwas Weiches, Nachgiebiges gestoßen; ein Gefühl, als ob man einem Menschen gegen den Bauch drückt. Das Herz will einen Augenblick stillstehen, und dann trommelt es im Halse. Er nimmt sich zusammen. Geht weiter. Sicherlich hat eine Jacke dort gehangen oder sonst etwas Harmloses. Aber so fest er das glauben will, eine Unruhe ist über ihn gekommen, und er mag sich innerlich dagegen
zur Wehr setzen: Die Gespenstergeschichten des Küsters sind wieder da in seinem Kopf, und er späht umher, ob nicht irgendwo etwas Weißes erscheint oder ein leuchtender Totenschädel einherschwebt. Gelegentlich knackt es in den Bänken. Sonst ist nichts zu hören im Kirchenschiff. Jetzt muß er gleich die Treppe zur Galerie erreicht haben. Er erinnert sich, daß die untern Stufen knarren, und es graut ihm vor diesem Geräusch. Weshalb schleicht er überhaupt? Er beschließt fest aufzutreten — und schleicht doch weiter wie bisher. Da ist die Stufe. Das Knarren hallt durchs ganze Schiff. Zugleich aber ist da noch etwas andres: etwas wie ein Stöhnen. Nein, es ist wirklich ein Stöhnen, es wird immer lauter, ein schauerlicher Ton. Gerhard steht auf der Stufe und fühlt sich eiskalt angeweht von Entsetzen. Das Stöhnen verhallt; es klingt ab, wird leiser, hört auf. Gerhard merkt, daß ihm das Hemd am Körper klebt. Der Gedanke, bei der nächsten knarrenden Stufe könnte das Geräusch sich wiederholen, benimmt ihm die Luft. Und was kann das sein? Ein Mensch? Zur Nacht in der Kirche ein Mensch? Ein Tier? Ein Vogel könnte sich verirrt haben. Und vorhin das Weiche? Gerhard zückt das Messer. Jeden Muskel angespannt, ruft er: „Ist dort wer?" Er-er-er-er, antwortet das Kirchenschiff. Sonst ist Stille. Ich muß hinauf. Liesel wäre enttäuscht; sie soll nicht enttäuscht sein. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, trampelnd, keines Lautes achtend, eilt er die Treppe hinan. Der Glockenschlag der Rudenhausener Kirche war auch an andre Ohren gedrungen. Vom Nachbardorf her kam ein Reiter. Er lag fast auf dem ungesattelten, schweren Pferd. Einen Moment war er unentschlossen, ob er außen um das Dorf herumreiten sollte, um seine Flucht irgendwohin fortzusetzen, oder ob 17
er versuchen sollte, in Rudenhausen unterzuschlüpfen. Hatten sie seine Verfolgung schon aufgenommen, ihn womöglich schon erspäht, dann war weitere Flucht aussichtslos; ihren Warmblütern konnte sein braver Ackergaul nicht entkommen. Also hinein in den Ort! Er verließ die Hauptstraße nach links, sprang ab, trommelte mit den Fäusten an ein Tor. Ein Hund schlug an, eine Meute fiel ein, ein Höllenspektakel brach los. Ohne Zögern packt der Mann sein Pferd am Zügel, schwingt sich auf, jagt fünfzig Klafter weiter, springt ab, zieht das Tier in einen Häuserwinkel, bindet es am Zaun fest und lauscht. Noch immer tobt das Hundevolk; aber er möchte drauf schwören, daß da auch Pferdegetrappel in der Luft ist. In J8
diesem Augenblick schlägt es ein Viertel zwölf. Die Kirche! Wenn es ihm gelänge, in der Kirche Unterschlupf zu finden! Günter Lippel will durchaus nicht mit der Sprache heraus, sosehr Liesel auch in ihn dringt. „Du wirst schon sehn", brummt er und sonst kein Wort. Durch das Fenster ihrer Kammer hat man den obern Teil des Kirchturms genau im Blickfeld; sie sollte von dort aus beobachten, ob um halb zwölf das Licht angebrannt wird oder nicht. Aus der Entfernung, ohne Kenntnis der Einzelheiten sollte sie sich ihr Urteil bilden. Und nun ist sie dabei, ihm hinter sein Plänchen zu kommen, falls sie's nicht etwa schon durchschaut hat, und — daß er
sich's nur eingesteht — dadurch seine Absichten ins Gegenteil zu verkehren. Das Herz schmerzt ihm vor Ärger. „Hör mal zu", sagt plötzlich Liesel mit Entschluß, „ich geh jetzt hinein und hol ihn heraus. Und damit du weißt, was ich von dem ganzen Blödsinn halte . . ." Hier bricht sie ab, packt Günter beim Handgelenk und starrt mit angstgeweiteten 'Augen zur Kirchentür hinüber. Gerhard hat keuchend die Galerie erreicht. Er bleibt stehen, um Atem zu schöpfen. Das, was da in ihm tobt, ist nicht eigentlich Angst, es ist das Grausen vor dem Unheimlichen. Er betet sich vor: Es gibt keine Geister, es gibt keine Geister — das Grausen bleibt. Er hat Wut auf sich selbst, weil er friert und schwitzt in einem. Merkwürdig, selbst diese Finsternis ist nicht absolut. Mit der Zeit lassen sich die Gegenstände im nächsten Umkreis in einem Teil ihrer Umrisse erahnen. Dort zum Beispiel, das muß die Orgelbank sein, und von da bleiben schätzungsweise acht, neun Schritte bis zu der kleinen Tür, hinter der die Wendeltreppe im Turm ihren Anfang nimmt. Er muß sich sputen. Wie spät wird es sein? Er faßt nach der Bank, sich dran entlangzutasten — und verliert im selben Moment den Halt. Er rudert mit den Armen und schlägt der Länge nach hin. Das Messer ist fort. ..Verfluchter Mist", schimpft er, und das Kirchenschiff antwortet: st-st-st-st. Gestolpert. Irgendwas ist im Wege gewesen. Ein Strick? Ein Strick, natürlich! Er hat's doch am Schienbein gespürt. Er rappelt sich auf. Seine Hand sucht auf dem Fußboden. Da! Na bitte, ein Strick. Doch als er ihn aufheben will, entwindet sich der Strick seinem Griff. Wie eine Schlange. Mit einemmal weicht die furchtbare Anspannung, eine Befreiung
kommt über ihn, daß er aufatmet und für einen Moment die Augen schließt. Er weiß plötzlich, was um ihn her vorgeht. Nicht schlecht ausgedacht, Hebe Freunde; es ist euch gelungen, mir einen ganz schönen Schrecken einzujagen. Aber ihr übertreibt, und damit habt ihr euch verraten. Unversehens beginnt die Sache Spaß zu machen. Woll'n mal schauen, wer am besten Gespenst spielen kann. Aber erst das Licht. Liesel erwartet in ihrer Kammer das Licht. Er geht zur Turmtür, will sie öffnen — jedoch mit Quietschen tut sie sich von allein auf, erst sacht, dann ruckartig, so daß sie ihm gegen den Kopf schlägt. Kaum hat er, die Hand an der Stirn und nun wieder weniger fröhlich, die Wendeltreppe betreten, als ein grauenerregender Schrei in seiner Nähe aufbricht und über ihm ein dumpfes Poltern anhebt. Der Schrei ist es, etwas gedämpft, der Liesel mit angstgeweiteten Augen zur Kirchentür starren läßt. Auch Günter empfindet für einen Moment ein dummes Ziehen im Bauch, obwohl er weiß, daß dieser großartige Ton aus Friedrich Matts Kehle kommt. Liesel stammelt: „Ihm ist was passiert, mein Gott . . ." Günter lächelt. „Passiert? Keine Bohne. Aber guck mal zur Tür." An der Tür ereignet sich nichts; statt dessen . . . Klang das nicht eben so, als ob jemand am Friedhofstor gerüttelt hat? Schon wieder. Günter zieht Liesel zwischen zwei Gräber nieder und hält ihr den Mund zu; sein Herz schlägt schneller. Noch einmal dieses leise Klirren. Dann sieht man, wie ein Mensch herüberklettert, vorsichtig, damit er an den zugespitzten Eisenstäben nicht hängenbleibt. Der Fremde läßt sich innen herab, verharrt einen Augenblick unbeweglich, als lausche er angestrengt, und geht dann auf leisen 19
Sohlen den breiten Gang unter den Bäumen zur Kirchentür hin. Und dann ist er verschwunden. Gerhard, unterdessen, hat sich von dem Schreck über den infamen Schrei wieder erholt. Und was da so poltert, hat er bald heraus: Ein halbes Dutzend große Kohlrüben kommen die Turmtreppe heruntergehüpft. Er eilt die gewundne Stiege hinauf, zwar immer auf neuen Unfug gefaßt, aber ohne das quälende Herzrummeln, das ihn bis zu der Begegnung mit der „Schlange" verfolgt hat. Oben in der Turmlaterne geht der Wind. Es ist kalt, und es riecht nach Schnee. Ein großer Teil des vorhin so schön bestirnt gewesnen Himmels ist von Wolken verschleiert. Gerhard schaut hinab. Dort unten dürfte Günter stehen und nicht schlecht enttäuscht sein. Jetzt, da er hier oben ist, lacht Gerhard und räumt friedfertig ein, daß seine Freunde eigentlich nicht weniger Mut bewiesen haben als er. Und morgen spricht er sich mit Liesel aus, gleich früh. Gut, Morgen. Und was jetzt? Während er noch überlegt, ob er die Falltür schließen, oder geöffnet lassen soll, ertönt unter seinen Füßen ein Schnarren. Das Hammerwerk tritt in Tätigkeit. Es schlägt halb zwölf. Die Hunde im Dorf waren eben dabei, sich wieder zu beruhigen, als ihr Amtseifer aufs neue angefacht ward. Harte Schläge krachten ans Tor eines Bauernhofes. Ein Befehl mit fremdländischem Akzent: „Du eraus!" Die drei Soldaten zeigen dem Bauern das Pferd, das an seinen Zaun gebunden ist; aber er beteuert, geschlafen zu haben, von keinem Manne etwas zu wissen. Wie sollen sie in der Nacht Haus, Scheune und Stallungen durch20
suchen? „Mairie!" fordert der Wortführer. „Burgemeister!" Sie gehen zu Hornigs. Vornweg der Bauer, die bloßen Füße in Pantoffeln, hinterdrein die Franzosen auf ihren Pferden. Gustav Hornig ist von größter Beflissenheit. Er erbietet sich geschmeidig, den flüchtigen Landesverräter herbeizuschaffen, falls er wirklich in Rudenhausen unterzuschlüpfen gewagt haben sollte. Da schlägt es im Turm halb zwölf. Hornig, in dummer Gewohnheit und als könne er zur Nacht die Uhr lesen, wirft einen Blick zur Kirche. Er will sich schon wieder abwenden, da . . . Nein, das ist doch nicht möglich, er muß träumen . . . Ungeduldig schauen sich die Uniformierten um. In der Turmlaterne brennt ein Licht. „Was ist das?" Hornig zuckt die Achseln. Peinlich verwirrt sieht er eine argwöhnische Menschenmenge sich vor seinem Tore sammeln. Die Fremden wechseln kurze Sätze in ihrer Sprache. Dann sprengt der Lieutenant mit einem Soldaten davon. Der andre sagt: „Kommen!" Was will Hornig tun? Im Nachthemd mit dem Mantel aus Fell darüber trottet er auf die Dorfstraße hinaus. „Aber", sagt er, „wenn der Verräter . . . wird er doch nicht Licht machen . . . die Herren Offiziere sehn doch . . ." „Kommen!" beharrt der Franzose und behält es für sich, daß so ein Feuer auch ein Signal sein kann, ein Verständigungszeichen von für Fremde unergründbarem Inhalt. Unterdes ist das halbe Dorf auf den Beinen. Man hat entdeckt, daß die Neunziger nicht in ihren Betten liegen. Man weckt den Pfarrer, sogar den Küster. Es muß etwas Außergewöhnliches im Gange sein. Sind gar die Fremden der Neunziger wegen da? —
Günter Lippel legt die Hände als Sprachrohr um seinen Mund, sobald das Licht im Turm entzündet ist. „Gerhard!" Gerhard steckt oben den Kopf heraus und denkt: Schrei du ruhig. „Gerhard! Es ist einer in der Kirche! „Einer?" Der Lichtwächter lacht. „Ich denk, es werden sechs sein." „Nein, ein Fremder, sieh dich vor", ruft Günter und bricht ab, um zu lauschen. Ist da nicht Pferdegetrappel auf der Allee? — Obwohl es darüber keine Vereinbarung gibt, streben die Beteiligten, nun die Spukerei zu Ende ist, aus ihrer Isolierung heraus; einer nach dem andern findet sich am Fuß der Treppe zur Empore ein. So stehen sie denn nun und versuchen hinter Blödeleien zu verbergen, daß ihnen ihr Verhalten, da es ergebnislos blieb, doch etwas peinlich ist. Bis einer sagt: „Wenn Günter nicht aufhört, dauernd zwischen Liesel und Gerhard zu stänkern — ich glaub, dann müßten wir ihn uns mal vornehmen." In diesem Augenblick tut sich die Tür auf, jemand tritt ein. Wer anders kann das sein als Günter? Wie auf Kommando pressen sich die sechs Jungen an die Wand. Wart, Bürschchen, du kommst eben recht! Der Eindringling tastet sich am Mauerwerk entlang, offenbar strebt er der Treppe zu. Ausgezeichnet. Und schon spürt der am weitesten vorn Stehende eine Hand an seiner Brust. Er will, während die Hand begreiflicherweise zurückzuckt, ein voluminöses Stöhnen erklingen lassen, aher potz Teufel!, das erstirbt ihm: Ehe der Ton seine Nase verlassen kann, landet dort eine Faust; er sieht Sternchen und rutscht wie ein Sack zusammen. Die andern nehmen diese Vorgänge mit Erstaunen wahr; von Geistern und Erschrecken kann keine Rede mehr sein. Sie rufen den vermeintlichen Günter zur
Ordnung und sind nicht wenig überrascht, daß sie einen Fremden vor sich haben. Der verlangt Aufklärung über ihre Anwesenheit, und als er genug weiß, packt er den erstbesten beim Handgelenk und befiehlt: „Führ mich hinauf!" „Los, hinterher", sagt jemand, und mit Gepolter geht es treppan. Der mit der blutenden Nase folgt etwas später. „Licht aus!" ruft der Fremde im Turm. Von oben antwortet Gerhard: „Denkste! Das brennt bis Mitternacht." „Licht aus! sag ich dir. Ich bin's, Riebenfeld! Schnell!" Die Reiter springen vom Pferd. Liesel zittert vor Angst. Günter zieht sie ein Stück mit sich fort, um einen günstigeren Beobachtungspunkt zu finden. Die Sache nimmt eine seltsame Wendung. Selbstverständlich löscht Gerhard die Kerze sofort; Sekunden später steigt Riebenfeld durch die Falltür. Ein Blick hinab belehrt ihn, daß die Franzosen Anstalten machen, über das Tor zu klettern. „Schlüssel?" fragt Riebenfeld. „Hier", sagt Gerhard. „Du bleibst hier! Beobachte! Alles andre hinunter!" Es geht um Sekundenbruchteile. Der Schlüssel ist noch nicht ganz im Schloß herumgedreht, als von außen die Klinke niedergedrückt wird. Johann Riebenfeld prüft den Schließkolben auf die Festigkeit seines Sitzes im Mauerwerk und ordnet an: „Bänke her! Gegenstemmen. Hier bis zu den Pfeilern." Das ist leichter gesagt als in der Finsternis ausgeführt. Aber die Jungen sind mit Feuereifer dabei. Die blutende Nase ist fast vergessen. Gerhard erscheint mit brennender Kerze auf der Orgelempore. „Eine Masse Menschen kommen die Allee herauf!" 21
„Leuchte mal", ruft Riebenfeld und kontrolliert noch einmal den guten Stand der Verbarrikadierung. Dann setzt er für alle Fälle eine Meldekette ein: „Zwei Mann hier bei der Tür, zwei an die Orgel, zwei neben die Glocken! Auf die Plätze!" Er selbst und Gerhard laufen in die Turmlaterne zurück. Ja, man sieht sie heranwallen, das halbe Dorf. Voran ein Mann, der beschwichtigend mit den Armen fuchtelt. „Hornig", bemerkt Gerhard. Der Küster muß das Friedhofstor öffnen. Der Lieutenant berät mit seinen Leuten. Die Menge rückt immer näher. Die beiden Soldaten bringen die Flinten in Anschlag. „Leute weg", befiehlt der Wortführer, „sonst schießen." Die Bauern weichen um fünf Klafter, nicht mehr. Einzelne große Schneeflocken torkeln hernieder. Ein Soldat faßt Posten vor der 22
Sakristeitür. Der Offizier winkt das Dorfoberhaupt herbei. Die von der Kälte etwas beeinträchtigte Stimme Gustav Hornigs dringt herauf: „Ich fordre dich auf, Johann Riebenfeld, komm heraus." Johann Riebenteid, der in dieser Nacht von zwei französischen Soldaten und einem Offizier verhaftet werden soll, beschuldigt des Landesverrats und der Aufwiegelei, hat Mühe, nicht sofort vor Erschöpfung einzuschlafen, als er sich auf den mit einer dicken Staubschicht bedeckten Fußboden der Turmlaterne niedersetzt. Seit er damals hier ins Dorf gekommen, die Bauern zur Verweigerung der Kontributionen und zur Vertreibung der Finanzleute anzustiften, hat es kaum eine ruhige Stunde für ihn gegeben. Er ist weit im Land herumgeritten und hat zu seiner großen Freude allenthalben
Menschen am Werke gefunden mit den gleichen Zielen, wie er sie hatte. Bald war offenkundig geworden, daß sich die Franzosen nicht mit der Erhebung neuer Abgaben und der Forderung von Gespanndiensten begnügten. Insbesondre aus den zentralen Gebieten des Kurfürstentums, aus dem nähern Umkreis der Städte, mehrten sich die Nachrichten von Beschlagnahmen von Vieh und Wintervorräten, ja von regelrechten Plünderungen. Die Erbitterung der Bauern war grenzenlos. Das Land gärte. Allein die Städte kannten keine antinapoleonischen Kundgebungen — vorerst. Riebenfeld und seine Gesinnungsfreunde in den Dörfern zwischen Fulda und Werra vereinbarten, den Kontakt untereinander nicht abreißen zu lassen, nach Möglichkeit Verbindungen zu Gemeinden der andern Landesteile zu knüpfen, die Absichten des Gegners auszuforschen, um ihnen besser begegnen zu können und, sollte einmal der Aufstand proklamiert werden, sich durch nächtliches Sturmgeläut zu verständigen. Inzwischen trafen Meldungen aus Preußen ein. In Eilmärschen schwärmte die durch Rheinbundtruppen verstärkte französische Kriegsmaschine nach Nordosten. Eine Festung nach der andern kapitulierte feige. Der König floh in den äußersten Zipfel seines zusammenstürzenden und von der eignen verrotteten Aristokratie verratnen Staates. Napoleon residierte in Berlin, in Posen, in Warschau. West-, Süd- und Mitteleuropa mit Ausnahme Englands und Dänemarks war ihm Untertan oder mit ihm verbündet und steuerte für ihn Geld, Material und Hunderttausende von Soldaten bei. Er war auf der Höhe seiner Macht. Aber die hessischen Bauern dachten nicht daran, sich mit der Misere der Fremdherrschaft abzufinden. So wie sie selbst fühlten, mußten
schließlich auch Millionen andre fühlen. Und so wie sie selbst sich zur Wehr zu setzen gedachten, würden es auch die andern tun. Allerdings verharrte man vorderhand in der Verteidigung, im passiven Widerstand gegen die behördlichen Weisungen. Da kam von der französischen Armeespitze die Anordnung, alle frühern kurhessischen Soldaten seien sofort wieder zu rekrutieren und unter geeigneten Befehlshabern zur Verstärkung der östlichen Front in Marsch zu setzen. Obwohl die Bürgermeister der Städte und die Doi'fschulzen, soweit es sie anging, diesen Befehl eilends zu ihrer eignen Sache machten, trat das verblüffende Ergebnis zutage, daß nur eine Hand*voll sich in den Rekrutierungsstellen einfand. Der französische Gouverneur erneuerte den Befehl mit Nachdruck und bedrohte alle, die sich der Ausführung dieses Befehls entzogen, mit der Todesstrafe. Als, so eingeschüchtert, doch wieder einige gehorchen wollten, schritten die aufs äußerste gereizten Bauern ein: Sie hielten die Meldewilligen mit Gewalt zurück und sperrten sie in einigen Fällen sogar ins Spritzenhaus. Natürlich entging den Franzosen und ihren deutschen Mitarbeitern nicht, daß dieser Widerstand von verhältnismäßig wenigen Männern koordiniert wurde. Sollte es nicht gelingen, dieser wenigen habhaft zu werden? Eines Tages, durch einen Verräter herbeigeholt, umstellte eine halbe Hundertschaft das Anwesen eines Schreiners nicht weit vom Markt in Hersfeld. Der Schreiner und seine drei Besucher, die den Handwerkerstand zum Anschluß an die Bauernbewegung gewinnen wollten, wurden verhaftet und abgeführt. Einer der Besucher hieß Johann Riebenfeld. Nun hatten aber weniger als zwei Monate Fremdherrschaft ge23
nügt, auch in den Städten und nicht am wenigsten in Hersfeld Widerstand wachsen zu lassen. Unter diesen Umständen mußte der Gewaltakt im Hause des Schreiners die heftigsten Reaktionen auslösen. Insbesondre die Jugend rottete sich zusammen und behinderte die Truppe durch quergestellte Wagen und durch Steinwürfe bei der Einlieferung der Verhafteten. Ja, vor dem Gefängnis kam es sogar zu einem Handgemenge, bei dem ein Soldat verletzt wurde — wodurch Johann Riebenfeld der Ausbruch gelang. Er suchte Zuflucht im väterlichen Gehöft. Die Eltern bestürmten ihn mit Fragen und Vorwürfen; aber er winkte ab, vertröstete sie auf den nächsten Morgen. Kaum eingeschlafen, fährt er, weil eine Hand ihn berührt hat, vom Lager auf. Seine Schwester flüstert: „Franzosen." Er hört es selbst. Unten dringen sie ins Haus ein. In Windeseile hat er Stiefel und Jacke übergezogen und die Verbindungstür zum Heuboden passiert. Wenige Augenblicke später ist er in der Scheune. Zwei Sprünge —> der Pferdestall ist erreicht. Und ehe noch zwei Minuten vergangen sind, jagt er, mehr liegend als sitzend, im gestreckten Galopp durch die hintere Gartentür davon. Und nun sitzt er auf dem Fußboden der Turmlaterne der Rudenhausener Dorfkirche und kann sich kaum aufrecht halten. Von unten ruft Gustav Hornig zum zweitenmal: „Ich fordre dich auf, Johann Riebenfeld, komm heraus!" Unterdes hat der Flüchtling, so kurz es geht und so gut es der müde Kopf zuläßt, berichtet, was sich in den letzten Wochen unter seiner Mithilfe im Hessenland zugetragen. Jetzt bittet er: „Laß mich ein paar Minuten schlafen, mir dreht sich alles vor den Augen." 24
Er muß Hier heraus, redet sich Gerhard vor. Er wird gebraucht. Er muß hier heraus, so bald wie möglich, und mir kommt es zu, das zu bewerkstelligen. Vergessen ist der Zweck seines Hierseins und sogar der Anlaß, das Mädchen Liesel. Das große Grabenziehen, auf das er so gewartet, hat begonnen. „Heda, Schulze!" ruft er. Die weitre Rede verschlägt ihm, denn unten blitzt Mündungsfeuer, und eine Kugel surrt dicht an seinem Gesicht vorbei. „Gerhard! Junge!" schreit Vater Schellner und drängt aus dem Haufen der Bauern heraus. Der Schütze wendet sich um und macht Miene, noch einmal abzudrücken. „Stehn!" brüllt er. Und Schellner steht. Da der Alte die Stimme seines Sohnes erkannt hat — und nicht nur er —, ist flugs das Geheimnis gelüftet, was es mit den leeren Betten der Neunziger auf sich hat. Sieben Väter beschließen zwar im stillen, ihren Sprößlingen, sobald diese Geschichte hier vorbei sei, den Hosenboden gründlich zu versohlen; aber zugleich bemächtigt sich ihrer schäumender Haß gegen die Eroberer, die es wagen durften, auf Unmündige das Gewehr anzulegen. „Stehn!" brüllt der Schütze, denn die Menge wallt näher. Es sind kaum noch zehn Schritt zwischen der Front der Bauern und dem weit aufsperrenden Eisentor der Friedhofsmauer, zwischen dessen beiden Säulen zwei Franzosen und der mit Nachthemd und Fellmantel bekleidete Schulze postiert sind. „Seid doch vernünftig", greint Hornig mit vor Kälte zitterndem Unterkiefer. „Ihr bringt mich und euch noch ins Unglück. Wie könnt ihr denn hier stören! Die Herren Offiziere müssen einen Landesverräter und Aufwiegler fassen und ihn tot oder lebendig in Kassel
abliefern, das ist eine Amtshandlung." „Wieso ist der Schellnerbub ein Landesverräter?" ruft jemand. Hornig wischt sich den Schnee vom Haupt. „Aber der Schellner doch nicht: der Riebenfeld." Die Stimme sei Schellners Stimme gewesen, und wie er drauf käme, der Riebenfeld könne in der Kirche sein, und wenn er's noch weiter so mit den Landräubern hielte, dann wollten sie ihm bald den Marsch blasen... Der Schulze flüstert auf die Bewaffneten ein, und als endlich der Anführer nickt, benutzt er die klammen Hände als Sprachrohr. „Antworte deutlich: Wer bist du dort oben!" Gerhard, geduckt hinter dem Sims der Turmlaterne, antwortet: „Ich bin Gerhard Schellner, und wenn die Franzosen nicht gleich abziehn, schmeiße ich ihnen Steine auf den Kopf!" „Na bitte", rufen die Bauern und machen . Anstalten, weiter vorzudringen, „und nun schert euch fort!" Das Gewehr hält die Bewegung auf, ehe sie noch recht begonnen. „Die Neunziger sind alle drin", schreit der Mattbauer, und Gerhard zählt sie alle auf, den Günter Lippel ausgenommen. — Liesel, in ihrem Versteck zwischen den Gräbern, will hervor; aber Günter hält sie fest. „Bleib", zischt er ihr zu, „du kannst doch nichts tun." „Wir müssen ihnen sagen, wie alles gekommen ist", flüstert das Mädchen. In großen Flocken fällt der Schnee. Günter nagt sich an den Lippen. Ein dicker Ballen Schuldgefühl drückt auf sein Herz, und der weicht nicht, sosehr er sich auch gegen ihn wehrt. Ist er nicht der Erfinderische mit dem unerschöpflichen Vorrat an Einfällen? Sollte es nicht eine Mög-
lichkeit geben, die Scharte, die er geschlagen, wieder auszuwetzen? Weshalb versagt jetzt sein Genie? „Der Kerl muß von der Sakristeitür weg", erklärt er endlich; und auf Lieseis Frage, was das helfen könne, holt er einen Schlüssel aus der Tasche. „Hör mal", sagt er dann, „ich h a b e . . . das war nicht ganz . . . also nicht anständig von mir, und ich . . . " Er druckst. „Hast du Mut?" Liesel, nach kurzem Besinnen, nickt heftig. Günter ist plötzlich ganz Eifer. „Mach die Träger hinten ab", befiehlt er. Zugleich knöpft er vorn beide Lederriemen von seiner Hose und zieht sie unter der Jacke hervor. „Halte!" Während er sich einen Schuh vom Fuß streift, fragt er: „Hast du was, was wir ihm in den Mund stecken können?" Liesel verneint. „Also meinen Fußlappen. So, nun paß auf." Indes er erklärt, sucht er einen faustgroßen Stein, der sich in seine Schuhspitze hineinzwängen läßt und dort haftet. Die Meldekette im Innern der Kirche ist etwas abgebröckelt. Nicht aus Mangel an Verantwortungsbewußtsein — im Gegenteil. Die für den Glockenstuhl eingeteilten Jungen haben Johanns Bericht mitangehört und sogleich weitererzählt. Und jetzt gibt es keinen, der sich nicht den Kopf zerbricht, wie die Franzosen zu überlisten seien. Zwei machen sich auf zu erkunden, ob man nicht mittels einer an die Wand gelehnten Bank durch das bewegliche Entlüftungsfensterchen eines der großen, bunten Kirchenfenster entweichen könne; aber die Lücke erweist sich als viel zu eng. Und das Fenster der Sakristei mit seinen normalen Flügeln? Scheidet ebenfalls aus; denn draußen steht der Soldat. Inzwischen ist, durch den Schuß, in luftiger Höhe der Flüchtling wieder erwacht. 23
„Eigentlich wolltest du mir Bescheid geben, wenn's ans Gräbenziehen geht", sagt Gerhard mit leichtem Tadel. Johann lächelt matt. „Und wenn ich dir's jetzt sagen würde?" Gerhard packt den großen Freund bei den Schultern, und seine Augen leuchten. Schon aber muß er sich wieder abwenden, denn von unten ruft Hornig: „Antworte deutlich: Wer bist du dort oben?" Der Soldat vor der Sakristeitür schlägt frierend die bestiefelten Füße aneinander und flucht leise über dieses blöde Unternehmen. Eines einzelnen Kerls wegen so ein Aufwand! Aber wenn schon, dann Fenster einschlagen, rein und den Wicht füsiliert! Nanu? Dort zwischen den Gräbern vor ihm bewegt sich ja etwas. Er faßt sein Gewehr fester und stapft ein paar Schritte, um nachzusehen, was sich da zu bewegen habe. Da trifft ihn ein Stein von hinten an der Schulter. Er fährt herum; aber ehe er es recht erfassen kann, daß da plötzlich eine Mädchengestalt aufgetaucht ist, spürt er einen mit einem Krachen verbundenen dumpfen Schmerz auf dem Schädel und verliert, hauptsächlich wohl vor Schreck, das Gleichgewicht. Günter läßt den beschwerten Schuh zum zweitenmal auf die militärische und nun von der Mütze befreite Hirnschale krachen und macht sich dann unverzüglich an die Fesselung. Der Soldat, als er begreift, was mit ihm geschieht, tut den Mund auf, um zu rufen — und schon steckt ihm Günters wenig appetitlicher Fußlappen zwischen den Zähnen, dank Lieseis Behendigkeit; und damit er auch halte, bindet ihm das Mädchen das Kopftuch vor das Gesicht. Keine halbe Minute hat der Überfall gedauert. Günter schließt auf, wirft die Flinte in die Sakristei, dann packen sie zu zweit ihren Gefangenen, der sich durch 2«
Strampeln verbissen wehrt, und versuchen ihn durch die Tür zu ziehen. In diesem Moment schreit der Mattbauer vor dem Friedhofstor: „Die Neunziger sind alle drin." Fast zugleich aber brüllt Hornig: „Da!" Gerhard beendet hinter der Brüstung die Aufzählung der sechs Gespensterspieler. Riebenfeld hat sich vorsichtig aufgerichtet und beobachtet, durch einen Bogenpfeiler geschützt, die Szene. Jetzt schreit Hornig etwas und reckt die Finger. Und sogleich richtet sich die Aufmerksamkeit aller auf den Winkel, in dem die Sakristeitür liegt. Die beiden Franzosen geben den Eingang zum Friedhof frei und eilen in die angegebene Richtung. Die Bauern drängen nach und drohen den verzweifelt das Tor sperrenden Schulzen hinwegzuschwemmen. Da mischt sich Schmidt, der Pfarrer, ein. „Leute!" ruft er, „Haltet! Wartet! Bleibt dort!" Und zugleich zwängt er sich aus der Mitte der andern hervor. „Hinunter!" kommandiert Riebenfeld durch die Turmluke und beginnt selbst mit dem Abstieg. Die beiden Jungen, die nach einem Fluchtweg gefahndet, haben eben die Sakristei wieder verlassen, als sie hinter sich ein Geräusch vernehmen. Ein Schlüssel knarrt hastig im Schloß, die Tür fliegt auf. Sie stehen wie angewurzelt. Was hat das zu bedeuten? Die Gedanken überschlagen sich. Da kracht etwas zu Boden. Dann Schlurfen, als ob ein schwerer Sack geschleift würde, verhaltnes Ächzen. „Los", sagt der eine, und wie von der Sehne geschnellt jagen sie in die Sakristei zurück. Das Weiß des Schnees draußen macht die Vorgänge hinlänglich erkennbar. Noch windet sich der Gefangene verzweifelt gegen seine Verschleppung
ins Kircheninnere. Da greifen sie zu. Aber doch um Sekunden zu spät. „Stehn!" brüllt eine Stimme, und als sie, ohne in ihrer Bemühung innezuhalten, aufschauen, sehen sie einen Gewehrlauf auf sich gerichtet. Langsam stehen sie aus der gebückten Haltung auf und heben die Hände. Der einseitig barfüßige Günter aber, indem er scheinbar dasselbe tut, rammt dem Gewehrträger den Kopf gegen den Bauch und bricht aus, kommt allerdings zwei Klafter weiter zu Fall, weil er mit dem herankeuchenden Schmidt zusammenstößt. Im nächsten Augenblick wird er von dem Offizier gefaßt, indes die beiden Jungen, blitzschnell die Situation erfassend, ins Innere der Kirche entweichen. Sie schlagen die Verbindungstür zwischen Sakristei und Schiff zu und schreien, während sie sich dagegenstemmen, so laut sie können: „Hierher!" I—e—i—e—i—e, antwortete die Architektur, und von der Treppe hallt der Ruf: „Wir kommen." Schmidts Aufforderung an die Bauern, besonnen zu bleiben, hat für den Moment insofern Erfolg gehabt, als niemand den Friedhof betritt. Das aber bedeutet nicht, daß sie still dastehen und geruhsam abwarten, was wohl weiter geschehen würde. Die zornige Erregung treibt sie in Gruppen, die ineinanderfließen, sich auflösen und neu bilden. Keiner hier weiß zu sagen, ob der gesuchte Riebenfeld sich wirklich bei den Neunzigern aufhält und ob wohl gar die Neunziger mit ihm im Einvernehmen sind; daß der Riebenfeld jedoch, wenn er von denen da verfolgt wird, etwas Nützliches getan haben muß, steht für die Mehrzahl außer Frage. Und warum eigentlich tun sie selber nichts Nützliches? Warum trödeln sie herum und scheuchen die drei Kerle nicht mitsamt dem Schulzen einfach in
die Flucht, wie sie es damals mit den Finanzern getan, übrigens auf dieses Riebenfeld Rat? Gut, hier sind Feuerwaffen im Spiel; aber Feuerwaffen hin und her — sie dürfen, wenn sie noch Achtung vor sich selbst haben wollen, nicht tatenlos zusehen, wie auf einen der ihren Jagd gemacht wird. Wenigstens verhandeln sollten sie. Und die Väter der Neunziger, als erstrangig Betroffne, schieben den Schulzen beiseite, was absichtlich nicht ganz ohne Püffe abgeht, und marschieren breitbeinig auf dem Weg zwischen den Gräbern in Richtung Sakristei. Liesel hat zu spät die Verwirrung der Franzosen ausnutzen wollen. Als sie zur Klinke greift, ist die Tür zum Kirchenschiff bereits versperrt. Den Ausgang ins Freie aber macht jetzt Schmidts wuchtige Gestalt unpassierbar. Das Mädchen ist in der Sakristei gefangen. Draußen wird der Soldat von den Fesseln befreit und statt dessen Günter mit seinen eignen Hosenträgern gebunden. Knirschend und Rache brütend und unentwegt seine vom Frost bedrohten Fußzehen bewegend, fügt er sich der Übermacht. Der Offizier, nach der so überaus günstigen Wendung der Dinge, zieht tolank und macht Miene, die nunmehr unverschloßne Kirche zu stürmen. Da donnert Schmidt, die Arme breit erhoben, wie er am Altar den Segen zu sprechen pflegt, seinen Fluch auf jeden, der es wage, bewaffnet das Gotteshaus zu betreten. Der Offizier muß den Sinn der Worte verstanden haben, denn er zögert; aber dann dringt er doch mit flacher Klinge auf den Alten ein. Ein kurzes Handgemenge, und Schmidt stürzt mit einem Ausruf des Schmerzes zu Boden. Die Sakristei zu betreten gelingt dem Säbelhelden trotzdem nicht. Ehe er zweimal atmen kann, wer27
fen sich die sieben Väter, die doch nur haben verhandeln wollen, auf ihn und seine Kameraden. Natürlich könnten die so Überfallnen mit Säbel und Bajonett jene Verwegnen zusammenhauen; aber soviel Überlegung gewinnt der Offizier trotz der unüberbietbaren Überraschung, daß er sich sagt: Ein Blutbad würde seine eigne letzte Stunde schlagen lassen. Also retiriert er mit den Seinen zur Friedhofsmauer und hofft, das in Anschlag gebrachte Gewehr werde die sieben Bauern und den gestürzten Pfarrer nicht nur in Schach halten, sondern sie am Ende sogar zu der Überzeugung zurückführen, daß gegen Frankreich die Hand zu erheben das schlimmste aller Verbrechen ist, von dessen grausamster Bestrafung sie sich allenfalls mit der Auslieferung des Gesuchten loskaufen könnten. Die sieben stehen denn auch weidlich ernüchtert an der Kirchenwand. Aber Schmidt, im Liegen und kaum daß er sich seiner Stimme wieder mächtig fühlt, donnert, daß es durch die verschneite Flur hallt: „Hierher, ihr Männer von Rudenhausen!" Da erhebt sich ein gewaltiges Tönen. Im Turm läuten beide Glocken Sturm. — In der Kirche hält Riebenfeld Kriegsrat. Er hat einen Plan. Sie sind zu acht. Vier Mann genügen, um die schloßlose Sakristeitür zu halten. Die andern vier werden die Barrikade am Haupteingang entfernen. Und während Gerhard hier hinten die Aufmerksamkeit der Soldaten durch einen vorgetäuschten Ausfall auf sich lenkt, wird Johann die Kirche vorn verlassen. Er wird die Pferde der Franzosen zu erreichen trachten und nach Friedewald reiten, wo er zu Füßen der Burgruine bis zum Morgengrauen bleiben wird; falls der eine oder andre seiner jungen Freunde ihm zum gemeinsamen Kampf dorthin folgen will. 28
,.Halt", sagt Gerhard. „Das Rükken der B ä n k e . . . nachts schallt alles so. Sie kommen nach vorn und knallen dich ab, sobald du heraustrittst." Da meldet sich Matt: „Könnt ihr zu dritt die Tür halten?" „Klar." „Könnt ihr zu dritt die Bänke rücken?" „Ja." „Dann paßt auf!" Er nimmt den ihm zunächst Stehenden am Arm und eilt mit ihm zum Glockenstuhl hinauf. In dem Geläut geht jedes andre Geräusch unter. Plötzlich schreit Gerhard: „Liesel! Was ist mit Liesel?" Hat nicht eben jemand berichtet, sie habe mit Günter einen Soldaten gefangengenommen? Man sagt an seinem Ohr: „Sie werden sie wohl gekascht haben wie Günter", aber er hört es nicht. Er reißt die beiden Freunde zur Seite und öffnet die Tür. — Liesel, in der Sakristei, ringt die Hände. Sie sieht den Pfarrer stürzen und hört das Schnaufen der Männer. Sie hat etwas getan. Sie steht auf der richtigen Seite diesmal. Aber was nun? Da fällt ihr Blick auf das Gewehr, das Günter hierher geschleudert hat. Natürlich weiß sie damit nicht umzugehen, aber sie schleicht sich hin; vorsichtig hebt sie es auf, um notfalls mit der blanken Klinge um sich zu schlagen. Die Ungeduld der auf der Allee zurückgebliebenen Bauern steigt ins Unerträgliche. Gäbe es nicht Schmidts Befehl zur Besonnenheit — sie hätten den Franzosenspuk auf dem Friedhof schon hinweggefegt. „Geht heim", zetert der Schulze; und da, um wenigstens etwas zu tun, hetzen sie ihn die Allee hinunter und schwören ihm zu, daß sie sein Regiment im Dorf nicht mehr dulden werden. Noch damit beschäftigt, erreicht
sie die Stimme des Pfarrers: „Hierher, ihr Männer von Rudenhausen!" Ein paar Herzschläge lang stehen sie wie vom Donner gerührt. Und dann, einer Lawine gleich, brechen hundert Menschen in die Stätte der Toten ein. Die Zaghafteren werden mitgerissen von der Leidenschaft der andern und dem Brausen der Glocken. „Hier!" ruft Liesel, ohne bewußt zu sehen, daß es Gerhard ist, der da an ihr vorbei ins Freie will. Sie drängt ihm das Gewehr auf. Er nimmt es, rennt weiter. Stutzt. „Liesel", sagt er und wendet sich, schon in der Tür, um, grad, als sie „Gerhard" sagt und ihm nacheilt. „Feuer!" kommandiert der Offizier in seiner Sprache. Ein Schuß peitscht, und im selben
Moment werden Kommandeur und Schütze zu Boden gerissen. Gerhard spürt einen dumpfen Schmerz. Der Arm, den er um Lieseis Schultern gelegt, sinkt herab. Ihm wird schwarz vor Augen. — Noch immer dröhnt der Glocken gewaltige Stimme durch die Nacht, Die Franzosen sitzen gefesselt und fassungslos über ihr Geschick im Schnee zwischen den Gräbern. Günter, mit dem Säbel in der Hand, leicht hinkend, sagt ihnen die schauderhaftesten Sachen und genießt den ersten großen Triumph in seinem jungen Leben. Er hat nur selten an seinen Vater und dessen Soldaten tod gedacht; aber jetzt denkt er dran, und es kommt ihm vor, als habe es unausweichlich zu dieser Stunde ausgleichender Gerechtigkeit kommen müssen. 29
Liesel hat nicht anders gemeint, als daß Gerhard stirbt. Sie ist mit ihm zu Boden gesunken und hat sich laut klagend über ihn geworfen. Aber die leichte Ohnmacht des Jungen verfliegt schnell, als sich Grete, die Kräuterhexe, die mitten unter den Männern gewesen, an ihm zu schaffen macht. Es ist nichts als eine Fleischwunde im linken Oberarm. Grete behandelt sie mit einer Salbe, von der sie in ihrer Hüfttasche immer bei sich führt, und Liesel verbindet mit einem Streifen vom eignen Hemd. Daneben hockt Riebenfeld, lächelt und sagt: ..Aber paar Gräben woll'n wir noch ziehn, was?" Und Gerhard antwortet: „Ja." Die Bauern aber und die Jungen stehen im Kreise, als könnten sie noch gar nicht begreifen, was sie da eben vollbracht. Etwas abseits kniet Schmidt, der Pfarrer, im Schnee und betet. Langsam schwingen die Glocken aus. Nur noch einzelne Töne fallen von der Höhe herab, dann ist es still. „Brüder!" ruft Riebenfeld. „Wenn wir die Eroberer aus Hessen vertreiben — seid ihr dabei?" Ein Orkan von Ja-Stimmen braust über den Kirchhof. Als er abgeebbt ist, bleibt da ein andres Geräusch, ein kleines, feines Singen, kaum hörbar noch. „Still", sagt jemand — und dann hören es
alle: Auch in den Nachbardörfern läuten die Glocken. Riebenfeld greift sich an die Stirn. Wie hat er vergessen können, daß sie vor Wochen nächtliches Glockengeläut als Signal zum Aufbruch vereinbart hatten! Es ist ungewiß, von welchem Turm in dieser Nacht der erste Glockenton gekommen; mag sein, daß es der Rudenhausener war, das ist nicht von Belang. Gewiß ist: Wenige Tage später gab es im südlichen Teil des Landes HessenKassel nicht einen einzigen bewaffneten Franzosen mehr. Nachdem die Bürger von Hersfeld, gestützt auf die Unruhen der Bauern und ehemaligen Soldaten, die Besatzung aus der Stadt gejagt, war auch der letzte Pfeiler des Okkupationsregimes im Süden gestürzt. Unter den Tausenden von Bauern aber, die die flüchtige Besatzung auf offenem Felde gefangennahmen, waren auch die Männer aus Rudenhausen, einem Dörfchen weitab von den allgemeinen Verkehrswegen, in dem noch vor kurzer Zeit die großen Bewegungen der Welt nicht wichtiger waren als ein Kalb mit zwei Köpfen. Die Männer samt dem merkwürdigen Jahrgang siebzehnhundertneunzig. Und neben Gerhard Schellner marschierte tapfer das Mädchen Liesel.
Herbert Moll
Tatzeuge am Erscheinen verhindert In dem kleinen Städtchen Haßleiten in Hessen geschieht ein seltsamer Autounfall. Zurück bleibt ein Toter. Der Wagen ist flüchtig. Die einzige Zeugin des Vorfalls, eine ältere Frau, sagt zu Kriminalkommissar Stadler: „Unfall? Das war glatter Mord!" Und sie erzählt, daß das Auto, nachdem es den Mann umgeworfen habe, ein Stück zurückgefahren sei, dann sei es wieder angeruckt und habe den Fremden regelrecht an die Wand gequetscht. Kriminalkommissar Stadler weiß, daß er mit Zeugenaussagen vorsichtig sein muß. Aber sollte sich die Frau wirklich die ganze Geschichte nur ausgedacht haben? Die Untersuchungen werden schwieriger, als Stadler es anfangs gedacht hat. Und er braucht viel Mut, sie durchzuführen.
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NEUES
LEBEN
BERLIN
Rebellion in der Oberprima Georgs W o r t e brachen heraus ohne Hemmungen, und es war so, als spräche er zu einem unsichtbaren großen Auditorium. Er hörte keinen Zwischenruf und sah nicht, daß die Jungen a u f g e sprungen waren. Erst als ein Tintenfaß durch die Luft flog und an der W a n d , dicht neben dem Lehrer Weinlich, krachend zerbrach, wurde er sich des Ortes bewußt, an dem er sich b e f a n d . Nur wenige Sekunden stockte seine Anklage. Als er weiterzusprechen versuchte, ertranken seine Worte in einem O r k a n tobender Jungenstimmen. Ein Hagel von Tintenfässern überschüttete Weinlich, der nach den ersten Treffern, die ihn mit der dunklen Flüssigkeit besudelten, hinter dem Katheder Schutz suchte. Und d a n n wurde plötzlich die Tür aufgerissen, und Biewald erschien. Neben ihm stand H a m p e l , der sich im Tumult unbemerkt aus der Klasse geschlichen und d e n Rektor alarmiert hatte. Doch er kommt zu spät, um den Skandal noch zu verhindern . . . W i e es zu diesem Ausbruch der Jungen kam und was daraus wurde, das erzählt
Max Zimmering in seinem bereits in 2. Auflage erschienenen Buch
Rebellion in der Oberprima 376 Seiten
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Pawel Weshinow
Fern von den Ufern Nahezu endlos dehnt sich das tiefblaue Meer, und wie eine riesige Glocke wölbt sich der Himmel, aus dem eine unbarmherzige Sonne ihre sengenden Strahlen herniedersendet. Acht Männer hocken nun schon den dritten Tag in einem kleinen Boot — von H u n g e r und Durst ermattet und durch die a n h a l t e n d e Flaute zu hoffnungslosem Warten verurteilt. Bis die gequälten Nerven versagen. Ein böses Wort spritzt auf, eine gereizte Antwort - der Streit kann nur mit Mühe beigelegt werden. Fünf Männer, auf engstem Raum zusammengepfercht mit der dreiköpfigen Bootsbesatzung, die nur widerstrebend den Befehlen gehorcht - allein in der unermeßlichen sonnendurchglühten Einöde des Schwarzen Meeres . . . Aus dem Bulgarischen • Illustriert • 328 Seiten Halbleinen 6,40 M D N
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