Dan Shocker Das grüne Blut des steinernen Götzen 86. Grusel-Schocker mit Larry Brent (Chaos-Zyklus I)
Seit eh und je h...
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Dan Shocker Das grüne Blut des steinernen Götzen 86. Grusel-Schocker mit Larry Brent (Chaos-Zyklus I)
Seit eh und je hat der Ben MacClui, die höchste Erhebung in den schottischen Cairngorms, die Phantasie der Bewohner in dieser Gegend beschäftigt. Um diese »windige« Berggegend spannen sich die tollsten Geschichten, und es hieß, die Geister der Vergangenheit seien hier so lebendig wie in den Tagen von König Artus und darüber hinaus. In einem Land, das so reich mit Legenden gesegnet ist, und dessen wildromantische Gestalt, dessen zerklüftete, unzugängliche Berge und dunkle Täler wohl mit dazu beigetragen haben, soviel unheimliche und gespenstische Geschichten in die Welt zu setzen, nimmt man erstaunlicherweise diese Dinge noch sehr ernst. Die geheimnisvollen Seen, die tausend Burgen und Schlösser hatten es auch Reginald Thompson angetan. Er war begeisterter Amateurfotograf, und seine ganze Freizeit steckte er in sein aufwendiges Hobby.
Reginald Thompson kam aus einer Kleinstadt, die direkt an der englischen Grenze lag. Sein großer Wunsch war es schon immer gewesen, vom schottischen Hinterland, vor allem vor dem legendären Loch Ness, eine umfangreiche Dia-Serie anzulegen. Er nahm sich viel Zeit. Es war Sommer, und er hatte Urlaub. Niemand drängte ihn, und im Hintergrund wartete auch keine Familie, deren Wünsche er erfüllen sollte. Als Junggeselle führte er das Leben, das ihm gefiel. Am Freitagnachmittag erreichte Reginald Thompson Braemer eine kleine Stadt in der Bergen, unweit des Ben Macdhui. Bis zu diesem Berg war ein Höhenunterschied von siebenhundert Metern zu überwinden. Schmale, verschlungene Pfade und eine Schotterstraße führten hinauf. Am Samstagmorgen benutzte Reginald Thompson diese Schotterstraße, um eine abgelegene, noch gut erhaltene Burg anzusteuern, die in den Fels hineingebaut worden war. Es hieß von ihr, die Grundmauern seien auf einem Altar errichtet, den Druidenpriester in grauer Vorzeit benutzten, um ihre Gottheiten zu verehren. Näheres wußte niemand über die Burg - oder näheres wollte niemand wissen. Reginald Thompson hatte die Erfahrung gemacht, daß auf die Frage nach Details stets ausweichend oder gar nicht geantwortet wurde. Es gab hier bei der einfachen Bevölkerung noch Tabus, die Außenstehende nicht begriffen. Reginald Thompson glaubte nicht an Spuk und böse Geister, nicht an die Macht der Druidenpriester, die seiner Meinung nach nur um des eigenen Überlebens willen seinerzeit die grausigsten Geschichten in die Welt setzten, um ihre Widersacher abzuschrecken, und er glaubte auch nicht an Gespensterschlösser und nicht an das Ungeheuer von Loch Ness. Er glaubte nur an das, was er sah und fotografieren konnte, und deshalb machte er sich auf den Weg zu dem verrufenen Schloß, in dem einst Raubritter gehaust, gezecht und geliebt
hatten. Er erreichte das Ende des Schotterwegs, der rund zweihundert Meter von der alten Burg entfernt in eine Art primitiven Parkplatz mündete. Von hier unten konnte man das massige, in Fels gebaute Bauwerk bewundern. Die Außenmauern waren dunkel und mit Moos überwachsen. Es gab mehrere mächtige Wehrtürme, Erker, Zinnen, und die eine Außenwand fiel steil ab. Die Burg machte einen wildromantischen Eindruck und sah ganz so aus, wie man sich eine Gespensterburg vorstellte. Düster und unzugänglich, verwinkelt und verschachtelt. Reginald Thompson knipste erste Aufnahmen und suchte dann den verschlungenen Pfad, der nach oben führte. Die Burg befand sich in Privatbesitz, und ein Verbotsschild machte darauf aufmerksam, daß das Betreten nicht erlaubt sei. Kein Mensch war weit und breit. Die guterhaltene Burg schien unbewohnt. Eine urwelthafte Stille lastete über dem Ort. Reginald Thompson fiel auf, daß nicht mal die Vögel sangen. Er machte eine Aufnahme nach der anderen und war begeistert von der Lage der Burg und der Aussicht, die man hier über die Landschaft, über bewaldete Hüegl und bizarre Felsen hatte. Die Burg lag an einem idealen Platz, daß sie von unten kaum zu sehen war, wenn man nicht sonderlich auf sie achtete. Reginald Thompson, den Fotoapparat um den Hals gehängt, kletterte auf Bäume, erklomm Mauerreste, stieg von dort aus schließlich über die Zinnen und kletterte auf aus der verwitterten Wand herausragenden Quadern in den Hof. Schwarz und hart fiel der Schatten des Turmes über ihn. Der zweiunddreißigjährige Amateurfotograf machte Aufnahmen vom Innenhof. Moos- und grasüberwachsene Kanonenkugeln waren an einer Stelle in einer Ecke neben einer alten, verrosteten Kanone aufgestapelt. Der Innenhof war holprig, alte scharfkantige Steine ragten aus dem graubraunen, harten Boden, und Thompson mußte aufpassen, daß er nicht stolperte.
Ein Brunnen, mit dicken Bohlen abgedeckt, existierte ebenso wie der Eingang zu einer ehemaligen Waffenkammer, deren Tür mit einem rostigen Riegel versperrt war. Thompson legte den Riegel zurück, zog die in ihren Angeln quietschende Tür nach außen und warf einen Blick in das Innere der Kammer. Ein riesiges Spinnennetz spannte sich vom Boden bis zur Decke. Hinter dem glitzernden Gewebe lag modriges Dunkel. An den nackten Wänden hingen noch vereinzelt einige Speere, lehnten Hellebarden und eine Armbrust. In der dunklen Ecke, die nicht vom schräg über die Mauern fallenden Sonnenlicht erreicht wurde, machte Reginald Thompson eine schwarze, mit Schimmelpilzen überwucherte Truhe aus. Darüber - in einer Nische - waren mehrere Kettenhemden und Visiere aufeinandergelegt und gestülpt. Thompson schoß zwei Aufnahmen vom Eingang. Der junge Mann fühlte sich äußerst wohl. Diese Motive gefielen ihm. Er stand so vor dem Eingang, daß die Sonne genau hinter seinem Rücken schien. Thompson trat ein paar Schritte zurück. Der Brunnen und der hölzerne Galgen, an dem einst mit einem großen Behälter das Wasser aus der Tiefe geholt worden war, warfen ihren Schatten auf die Öffnung der Kammer, die Reginald Thompson entdeckt hatte. Ein seltsames Muster entstand auf der untersten Wand, wo sich die Nische befand und die Truhe stand. Ein richtiges Quadrat, das innen hell ausgeleuchtet war, lag auf der Nische, und als Reginald Thompson zur Seite trat erkannte er, daß neben der großen Truhe eine steile Treppe in eine unbekannte Tiefe des Kellergewölbes führte. Und dann machte er noch eine Feststellung, die eigentlich nicht zu dieser ersten paßte, die ihn aber zusammenfahren ließ. Denn das, was er sah, war in höchstem Maße ungewöhnlich, und er mußte zweimal hinsehen, um sich zu vergewissern, daß
er sich auch nicht täuschte. Genau in der Mitte des ausgeleuchteten Quadrats zeigte sich plötzlich ein vibrierender Fächer, als ob ein schattenhafter Falter vom Boden aufstieg, um den oberen Rahmen des Quadrats zu erreichen. Thompson hielt den Atem an, riß trotz des Schreckens, der ihm in die Glieder fuhr, automatisch die Kamera hoch und drückte den Auslöser. Was dort vor ihm geschah, ging nicht mit rechten Dingen zu! Nirgends um ihn herum war eine Bewegung und er warf rasch einen Blick zurück zu dem Brunnen, von dem aus der Schatten geworfen wurde. Er wollte sehen, ob sich unmittelbar über dem Brunnenschacht etwas rührte ... Nichts! Eine Halluzination? Woher kam der Fächer? Thompson starrte darauf und sah, daß er die Form der Armbrust annahm, die wie eine Projektion mitten in dem Quadrat auftauchte. Da griff der Fotograf sich an den Kopf und schalt sich einen Narren. Jetzt hatte er die Lösung. Ein Sonnenstrahl traf die an die Wand gelehnte Armbrust und warf deren Schatten genau in das Quadrat, das durch den Galgen über dem Brunnenschacht produziert wurde. So einfach waren manchmal die Dinge, und man erschreckte grundlos und ... Da begann das Herz des einsamen Burgbesuchers heftig zu pochen, als er erkannte, daß die Dinge doch viel komplizierter waren, als er das auf den ersten Blick vermutete. Der Sonnenstrahl, der die Armbrust traf, kam aber gar nicht durch die weit offenstehende Tür. Er war abgelenkt wie durch ein Prisma. Das aber widersprach allen physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Thompson kam nicht mehr dazu, sich über diese mysteriösen
Dinge zu wundern und eingehende Gedanken zu machen. In Sekunden spielten sich die Vorgänge ab, die ihn ins Verderben zogen. Es war mittags zwölf Uhr. Die Sonne hatte einen bestimmten Punkt erreicht, der das Schattenbild des Brunnengalgens normalerweise gegen die Bohlentür warf. Dort spielte sich für gewöhnlich dann das gleiche Schauspiel ab, das Reginald Thompson jetzt auf der Rückwand der Waffenkammer verfolgen konnte. Die Umrisse der Armbrust zerflossen und formten sich zu großen, zähen Tropfen. Wie Blut. Aber es war kein Blut, das da vor ihm von der Wand tropfte. Es war Farbe. Dunkelgrün und schwer floß sie herab. Da erst wurde Thompson von Panik ergriffen, er wollte sich herumwerfen, um diesem schaurigen Ort an dem Dinge zu sehen waren, die nicht Wirklichkeit sein konnten, zu entfliehen Doch es war schon zu spät. Er verfing sich im Bannkreis jener alten Mächte, die hier existierten, die man nicht sah - und die doch niemand leugnen konnte. Etwas Unheimliches passierte ... Hätte in dieser Sekunde ein heimlicher Beobachter die Szene verfolgt, sie hätte sich etwa so seinen Blicken dargeboten: in dem alten, holprigen Innenhof der Burg stand ein Mann vor einer weitgeöffneten Bohlentür und starrte mit vor Entsetzen geöffneten Augen in das Innere einer Kammer. Und dieser Mann - verschwand plötzlich, als würde der Erdboden ihn verschlucken. Der Hof war leer. Für Reginald Thompson aber war es genau das Gegenteil. Er schrie leise auf, als er die Bewegung spürte, den Luftzug, als er sah, wie die Umgebung sich veränderte. Die Mauern - nicht mehr so alt und rissig - wirkten frischer. Die Kammer vor ihm war nicht mehr von einem riesigen
Spinnennetz überwoben, sondern frei. Dicht an dicht hingen Schwerter und Armbrüste an der Wand, standen Speere und Hellebarden dort und glänzten, als wären sie frisch genutzt. Reginald Thompson warf den Kopf herum, das nackte Grausen packte ihn. Er war - nicht mehr allein in dem Innenhof. Menschen umringten ihn, zahllose Menschen - Fräuleins und Ritter - in fremdartiger Kleidung, wie sie im Mittelalter üblich gewesen war. Thompson glaubte sich ins zwölfte oder dreizehnte Jahrhundert zurückversetzt, als hätte jemand die Zeit zurückgedreht. Als der junge Mann um die Mittagszeit nicht in seine Unterkunft nach Braemer zurückkehrte, machte sich zunächst niemand Gedanken darüber. Es kam öfters vor, daß ein Gast länger ausblieb, daß er sich mit der Zeit verschätzte, weil es doch mehr zu sehen und zu entdecken gab, als es anfangs schien. Am Abend aber fiel auf, daß Reginald Thompson ausblieb. Der Wirt alarmierte die Polizei, gab an, was der junge Amateurfotograf im Sinn gehabt hatte, und eine Streife machte sich auf den Weg zu der Burg. Am Ende des Schotterwegs stieß man auf den parkenden Wagen. Aber weit und breit war keine Spur von Reginald Thompson. Die beiden Beamten suchten die nähere Umgebung ab und konzentrierten sich dabei auf Spuren, die eventuell einen Absturz in die Tiefe schließen ließen. Der Weg war hier teilweise so halsbrecherisch gefährlich, daß man eine solche Möglichkeit in Betracht ziehen mußte. Aber entsprechende Spuren gab es nicht. Die beiden Polizisten aus Braemer näherten sich der Burg in den Felsen. Und riefen mehrere Male den Namen des Gesuchten. Die Rufe verhallten, aber niemand meldete sich. Der Einbruch der Dunkelheit zwang die Polizisten die Nachforschungen aufzugeben. Sie hatten den Vermißten nicht ge-
funden, die Suche, die am nächsten Tag intensiviert und mit verstärktem Kräften fortgesetzt wurde, wobei man auch einen Spürhund einsetzte, blieb ebenfalls erfolglos und wurde am späten Abend abgebrochen. Es gab nicht die geringste Spur von Reginald Thompson. Die Männer des Suchkommandos standen vor einem Rätsel, ebenso die Verwandten und Bekannten des Verschwundenen. Niemand wußte eine Erklärung für das Verschwinden. War Thompson ermordet worden? Hatte er sich in dem unzugänglichen Gelände verirrt und lag er irgendwo zwischen Gestein oder Gebüsch und man hatte ihn nur nicht gefunden? Diese Möglichkeit war am ehesten gegeben. An die Version, welche man sich in Braemer zuflüsterte, glaubte sowieso kein Mensch. Das Verschwinden sollte mit den geheimnisvollen Kräften in Zusammenhang stehen, welche der alten Bung innewohnten. Dummes Geschwätz, sagten diejenigen, die nicht an böse Geister und unsichtbare Kräfte glaubten. War es Zufall oder Schicksal, daß genau vier Wochen nach diesen Ereignissen, eine junge Frau in Glasgow einen Traum hatte, der für sie und die Burg bedeutungsvoll sein sollte? War es überhaupt möglich, daß dieser Traum einen Stein ins Rollen brachte, vor dem die Menschen in der Vergangenheit und auch noch viele in der Gegenwart - Angst hatten? Im Leben geschehen manchmal merkwürdige Dinge, und in den seltensten Fällen ist es möglich, Geschehnisse von verschiedener Erscheinungsart miteinander in Zusammenhang zu bringen. Doch hier war es angebracht und richtig. Aber das ahnte Cyrill Perkins nicht, als sie träumte ... Sie sah sich vor einem riesigen Burgtor stehen. Die Burg - das wußte sie einfach, ohne daß man es ihr gesagt hätte - hieß »Sword Castle«. Eine merkwürdige Bezeichnung für eine Burg.
Cyrill Perkins überquerte die Brücke über die Schlucht und erreichte das mächtige, mit Eisenbeschlägen versehene Haupttor, das sich lautlos und wie durch Geisterhand bewegt öffnete. Groß und düster dehnte sich der Innenhof vor ihr aus. Sie sah einen Brunnen, eine Treppe, die zu den Waffengängen hinter den Zinnen führte. Dem Brunnen gegenüber befand sich eine Tür, aus schweren, schwarzen Bohlen zusammengezimmert. Dieser Tür näherte sich die Vierundzwanzigiährige. Sie hatte das Gefühl zu schweben und mit ihren Füßen den Boden nicht zu berühren. Ihr bis zu den Knöcheln reichendes, halbdurchsichtiges Nachtgewand schmiegte sich an ihren schlanken, braungebrannten Körper und ließ die Konturen ihrer Formen ahnen. Die weiten Ärmel flatterten lautlos um ihre Arme, und die Bewegung, die sie machten, erinnerte an eine Filmaufnahme in Zeitlupe. Es war sternenklare Nacht. Groß und voll leuchtete der Mond silbern am Himmel und tauchte die Luft und die verwinkelte, mit Türmen und Erkern reich versehene Raubritterburg in gespenstisches, blaugraues Licht. Hart und schwarz hoben sich die Turmspitzen und Zinnen vom Nachthimmel ab. Geisterhafte Stille. Nirgends ein Licht, keine Bewegung. Das »Sword Castle« lag ausgestorben vor den Augen der Träumenden. Das klare, weiße Mondlicht und der schwarze Schatten einer Mauer teilten den Innenhof in eine schwarze und weiße Hälfte. Für den Bruchteil eines Augenblicks befand sich auch Cyrill Perkins genau auf der Grenze, und die eine Hälfte ihres Körpers war schwarz, die andere weiß. Cyrill Perkins schwebte auf die Bohlentür zur Waffenkammer zu. Die zarte, weiße Hand der iungen Frau aus Glasgow berührte den Riegel, und der klappte lautlos nach oben. Die Tür schwang nach außen. Das Mondlicht fiel in die Kammer - und
ließ die Waffen und Rüstungen aufblitzen. Das alles interessierte das Mädchen nicht. Ihr Ziel war die steile, schmale Treppe, die neben der wuchtigen Truhe, in der Gewänder und Kettenhemden aufbewahrt wurden in die Tiefe führte. Unmittelbar hinter der Tür der Waffenkammer stand eine primitive Holzschale, in der Fackeln und Kienspäne bereit lagen. In einem Behälter nebenan wurde ein winziges Feuer ständig am Leben gehalten, um die Fackeln bei Bedarf und Feindeinfall sofort entzünden zu können. Cyrill griff nach einer Fackel, hielt sie in die kleinere Schale und entzündete sie. Flackerndes Licht, bizarres Licht - und Schattenspiel ließ die Rüstungen in der geräumigen Kammer geisterhaft lebendig erscheinen. Das Mädchen stand vor der Treppe, hielt die Fackel vor sich und überblickte die endlosen Stufen, die in einen geheimen Stollen führten. Eigenartigerweise wußte sie, daß diese Treppe zu einem unterirdischen Tunnel führte, von dem aus sowohl geheime Verteidigungsanlagen als auch ein Fluchtstollen zu erreichen waren. Und es existierte ein dritter Weg, der in eine Halle mündete, mit der es eine besondere Bewandtnis hatte. Ehemalige Burgherren sollten hier unten eine Gottheit verehrt haben, von der es hieß, daß sie ewiges Leben zu schenken vermöge, und daß diese Gottheit von fliehenden und hier in diesen Bergen Unterschlupf suchenden Druidenpriestern zu Hilfe gerufen worden sei, um die Feinde vernichtend zu schlagen. Eine Gottheit, die Leben schenkte und gleichzeitig anderes vernichtete - das war eigentlich ein Widerspruch in sich, und Cyrill Perkins wußte, daß sie nur hier war, um jene Heiligen Hallen der Druidengottheit zu betreten und Näheres über den dort sich befindenden Gott zu erfahren. Es schien ihr sehr
wichtig, dorthin zu gelangen, und sie fand es überhaupt nicht merkwürdig, daß sich in dieser Burg keine Menschen zeigten. Sie war die Herrin dieses Schlosses und glitt schwebend die steile Stiege hinab in die Tiefe. Unmittelbar hinter einem Durchlaß nach der letzten der über achtzig Stufen teilte sich der Weg in drei Richtungen. Sie wählte den geraden Weg. Massige Mauern und Säulen säumten ihren Pfad. Dann stand Cyrill Perkins abermals vor einem verschlossenen Tor, das sich öffnete, ohne daß sie Hand anlegte. Sie geriet in eine riesige Halle. Eine pompöse Statue nahm ihre ganze Aufmerksamkeit gefangen. Der Koloß, der dort auf einem Podest hockte, war mindestens dreißig Meter groß und aus einem Stein gehauen, der nicht aus dieser Gegend stammte. Der unbekannte Götze war nackt und kahl. Seine Hände, die leicht angewinkelt über dem Boden schwebten, waren dreimal so groß wie ein ausgewachsener Mensch. Riesig wie überdimensionale Teller, waren seine Augen, die von wulstigen Lidern überdeckt wurden. Atemlos verharrte Cyrill Perkins vor diesem Koloß, und unwillkürlich drängte sich ihr die Frage auf: wie kommt dieses Ungetüm hier in das Gewölbe? Die Tür, durch die Cyrill Einlaß fand, war viel zu klein. Da hätte nicht mal die Hand des Riesen durchgepaßt. Waren riesige Steine hierher geschafft worden, die unbekannte Künstler aufeinandersetzten und schließlich daraus den Koloß schufen? Mit unruhigen Blicken sah sie sich um und versuchte die Schwärze der endlos wirkenden unterirdischen Halle zu durchdringen Cyrill ging lautlos um den steinernen Koloß herum, um den Hintergrund zu erfassen. Die Decke, der zyklopenhafte Aufbau der Wände und Säulen - das alles war so
gestaltet, als müßten sich nicht Menschen darin bewegen, sondern dieser in Stein gehauene, fremde Gott einer alten magischen Kaste. Die Dimension der Größe war beängstigend, und Cyrill Perkins kam sich in dieser Umgebung vor, als wäre sie nur eine Ameise. Die Quader und Steinblöcke, aus denen die meterdicken Wände zusammengesetzt waren, verschmolzen mit einem Teil der Felswand. In dieser Felswand glaubte Cyrill Perkins eine Fuge ausmachen zu können, die sich in unbestimmbarer Höhe über ihr zu einem Bogen formte, als befände sich in der kahlen Wand ein riesiges, nicht für Menschen bestimmtes Tor, das sich wie ein Sesam-öffne-Dich nur auf ein magisches Wort hin bewegte. Cyrill kehrte zu dem Götzen zurück. Das Licht ihrer Fackel spielte auf dem porösen Leib, und das Schattenspiel bewirkte, daß man den Eindruck gewann, er würde atmen. Aber das Mädchen wußte, daß das nur eine Täuschung war. Sie folgte dem starren Blick der seelenlosen Augen, die genau auf die große schwarze, glatt geschliffene Platte zu Füßen des steinernen Götzen gerichtet waren. Ein Altar! Waren hier vor undenkbaren Zeiten Opfer gebracht worden, um Haß und Mißgunst zu besänftigen, um den Willen der Götter den Menschen aufzuzwingen? War dieser gigantische Götze das Abbild eines Gottes, das die Augen eines Priesters oder Propheten oder Magiers in der Tat geschaut hatten? War das jener Gott, den sie besuchen sollte, um von ihm das Geheimnis des ewigen Lebens zu erfahren? Diese und andere Fragen drängten sich ihr auf. Ein tiefer Atemzug hob und senkte die Brust der jungen Frau aus Glasgow. Cyrill Perkins begriff in diesen Minuten nicht, daß sie träumte. Für sie war dieser Traum, in dem Raum und Zeit auf
wunderbare Weise aufgelöst waren, ein Teil der Realität. Sie wußte nicht, wie sie hierherkam, warum sie den Namen der Burg erkannt hatte und wieso sie diese Zyklopenhalle durchschritt als müsse sie ein Reich besichtigen. Sie wandte den Kopf, und ihre Augen erfaßten das blitzende Schmuckstück, das der steinerne Zyklop an seinem linken Ringfinger trug einen Ring, an dem ein dunkles, seidig schimmerndes Band baumelte, das eine Schlinge bildete. Die Augen der jungen Cyrill verengten sich. »Ja, komm nur näher!« sagte da die Stimme. »Sieh es dir genau an! Es gehört dir alles, was du siehst.« Ihr Körper schien zu einem einzigen riesigen Eiszapfen zu werden. Der steinerne Götze sprach zu ihr! Erstaunlicherweise brauchte sie nur Sekundenbruchteile, um mit der Situation fertig zu werden. Es ist ein Traum!, sagte sie sich. Ein verrückter Traum. Der geht vorüber. Ich bin aber gespannt, wie die Sache sich jetzt entwickelt. »Warum bin ich hier?« fragte Cyrill Perkins laut und deutlich, und sie richtete den Blick empor und erwartete, daß der Steinerne sie ansähe. Aber das war nicht der Fall. Der starrte weiterhin starr auf den Altar und in eine imaginäre Ferne, als würde er die glatt geschliffene Altarplatte mit Röntgenaugen durchschauen. »Weil du hierhergehörst«, lautete die orakelhafte Antwort, mit der sie nicht viel anzufangen wußte. »Wieso kannst du zu mir sprechen?« »Weil ich ein Gott bin.« »Woher kommt deine Stimme?« Cyrill Perkins stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Arm, in dem sie die Fackel hielt in der Hoffnung, das fern im Halbdunkel über ihr schwebendes Gesicht des steinernen Götzen besser zu erkennen. Wenn er lebte, mußte er Regungen zeigen.
Aber der Kopf war zu hoch, als daß sie Einzelheiten registrierte. »Aus meinem Mund. Woher sonst?« Es waren dumme Fragen, die sie stellte und sie ärgerte sich darüber, daß sie diesen großen Augenblick mit Banalitäten ausfüllte. »Ich habe viel mit dir vor, aber kann es dir nicht erklärbar machen, du würdest mich nicht verstehen, wenn ich zu dir spräche.« Eine steile Falte erschien auf ihrer Stirn. »Das verstehe ich nicht. Auch jetzt sprichst du zu mir, und ich begreife und verstehe es.« »Es gibt Dinge, die kann auch ein Gott zwar in Worte fassen, aber ein Sterblicher würde ihn dennoch nicht verstehen. Nimm den Ring an dich!« Cyrill Perkins schluckte. Narrte sie ein Spuk - oder bewegte sich da tatsächlich der Finger mit dem großen Ring mit der geheimnisvollen Gravur und der Schlinge daran? Sie fragte nicht lange und handelte. Die Hand war dicht vor ihr in Augenhöhe, und Cyrill löste langsam den Ring, der sich ohne große Schwierigkeiten abstreifen ließ. Dann geschah etwas Merkwürdiges. Faszinierendes, wie es nur in einem Traum möglich war. Die Ringöffnung schloß sich und wuchs von allen Seiten wie eine rasend schnell fortschreitende Krebsgeschwulst zu. Eine flache Plakette mit einem seltsam verworrenen, bei diesen Lichtverhältnissen kaum zu deutenden Symbol enstand. In einem Loch steckte noch immer das schwarze, seidige Band, das an ein rätselhaftes Haar unbekannten Ursprungs erinnerte. »Leg' dir das Amulett um den Hals, Cyrill Perkins!« Sie gehorchte. Das Amulett war groß wie eine Menschenhand. Als die junge Frau es sich jedoch um den Hals legte, schrumpfte es auf ein
Amulett normaler Größe. Im gleichen Augenblick dieses märchenhaften Geschehens ereignete sich noch mehr. Die Luft um sie herum war plötzlich mit einer seltsamen Spannung erfüllt, als wäre sie elektrisch geladen. Alles kam Cyrill dichter und undurchdringlicher vor. Schatten erwachten zum Leben und formten sich zu Gestalten. Sie spürte: Ich bin umringt von zahlreichen Personen, aber ich kann sie nicht sehen. Bis auf eine! Die lag auf dem Altar. Ausgestreckt, bleich und fassungslos starrte sie aus glitzernden Augen. Welch ein verrückter Traum. Beinahe hätte Cyrill gelacht. Aber sie konnte nicht. Was hier geschah, erfüllte sie mit tiefem Ernst. Sie wußte, daß sie diesen Dienst einfach erfüllen mußte, weil es keine andere Wahl für sie gab. obwohl sie keinen Grund dazu hatte. Der Mann auf dem Altar - war niemand anders als Brian Baker ihr Verlobter. »Brian, was suchst du hier?« fragte sie leise und wollte hinzufügen: In meinem Traum? Aber da kam ihr das geheimnisvolle Wesen, dem sie hier unten begegnet war, zuvor. »Hier - nimm diesen Becher!« ertönte die mächtige Stimme des steinernen Götzen. Sie drehte sich nicht herum. Neben ihr tauchte die riesige Hand auf, die sie hätte zerquetschen können wie eine Fliege. In der Hand - zwischen Zeigefinger und Daumen - schimmerte ein goldenes Gefäß. Ein Becher in normaler Größe für einen ausgewachsenen Menschen. Mechanisch griff sie danach und hatte keine weiteren Fragen mehr. Es stimmte, was der namenlose Götze ihr prophezeit hatte: wenn das Amulett um ihren Hals lag, würde sie alles verstehen. Sie mußte erst an dem Becher nippen und das Getränk dann dem Mann reichen, den sie liebte, der aber unwichtig für sie
geworden war. Sie war eine Dienerin dieses unfaßbaren Geschöpfes, von dem unbekannte Künstler eine riesige Statue angefertigt hatten, um es zu verehren. Dieser Gott, dem sie huldigten, vermochte ihnen die Kräfte zu verleihen, die sie suchten. In diesen Sekunden fühlte sich Cyrill Perkins von einer Kraft und Weitsicht erfüllt, daß sie ihr bisheriges Leben ärmlich und dumm ansah. Dieser Moment der Klarheit, der sie durchströmte, in dem sie glaubte, mit dem Universum eins zu sein, das Gesetz des Lebens und Sterbens, das Räderwerk des Kosmos zu verstehen, machte ihr auch klar, daß das erst ein Anfang war, daß sie weitaus mehr erwartete, als ein menschliches Hirn in einem sterblichen Leib erfassen konnte. Erst die Unsterblichkeit würde sie das wahre Leben, das wahre Licht dieser Welt erkennen lassen, weil ein begrenztes Dasein nur begrenzte Möglichkeiten der Weiterentwicklung und des Aufwärtsstrebens bot. Sie setzte den Becher an ihre Lippen. »Für dich ist es Nektar - für ihn aber Gift«, vernahm sie die Stimme des Götzen. Sie nahm einen Schluck. Heiß und wohltuend rann es ihre Kehle hinab. »Mein Blut wird in deinem Körper fließen, und du wirst alles dafür tun, daß dieses Blut in viele andere Körper getragen wird. Dann werdet ihr sein wie ich.« Cyrill Perkins vernahm diese Worte wie aus weiter Ferne. Sie konzentrierte sich ganz auf das, was nun vor ihr lag und was sie tun mußte. Sie reichte den Becher an Brian Baker. Der konnte sich nicht wehren, nicht die Hände von sich strecken und den Becher zurückschlagen. Wie gelähmt, vollkommen hilflos, lag er vor ihr. Sie setzte den Becher an seine Lippen, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Flüssigkeit zu schlucken die sie ihm einträufelte.
Der junge Mann konnte offenbar nichts sagen, doch seine Augen waren anklagend auf sie gerichtet. Da sprach sie: »Das kannst du nicht verstehen, Brian. Die Götter haben stets und zu allen Zeiten ihres Wirkens auf der Erde das Liebste von denen gefordert, die sie auf die Probe stellen wollten. Du bist für mich das Liebste - und das weiß ›er‹.« Um Brian Bakers Lippen sackte es. Sein Mund formte ein Wort. Cyrill las es von seinen Lippen ab. »Warum Brian? Warum dies alles geschieht? Ich weiß es selbst nicht. Der Ratschluß der Götter ist für uns unerforschlich, aber daß sich das ändern wird, dafür bin ich hier. Ich bin ein Teil von ›ihm‹, denn sein Blut fließt in meinen Adern. In deinen aber wird es zu Gift!« Und da sah sie, daß dieses Gift wirkte. Brian Baker verdrehte die Augen, ein Ruck ging durch seinen Körper. Dann lag er steif wie ein Brett vor ihr. Sein Herz schlug nicht mehr, sein Atem stand still. Brian Baker war tot. Cyrill Perkins drehte sich langsam herum und ein sphinxhaftes Lächeln spielte um ihren schönen Mund. Sie stand klein und verloren vor dem riesigen, leblosen Koloß. »Jetzt weiß ich es«, wisperte sie. Wie ein Hauch schwang ihre Stimme durch die Dämmerung und schien auf sanften, unsichtbaren Flügeln die äußersten Ecken und Winkel des riesigen, unterirdischen Gewölbes zu erreichen. »Du wirst leben, du muß leben. Ich werde dafür Sorge tragen, daß dein steinerner Körper erwacht und jene Stunden zurückkehren, auf die du schon so endlos lange wartest. ›Du‹ bist Chaos. Und ich deine erste, unwürdige Dienerin.« Cyrill streckte die Hand aus und berührte den kalten Steinfinger, an dem der zum Amulett verformte Ring saß. Wie elektrischer Strom fuhr es durch ihre Glieder. Die Luft rundum vibrierte. Die junge Frau hatte das Gefühl,
als würde der Götze Chaos tief durchatmen und sein Körper sich spannen. Für einen Atemzug war sie mit Chaos verbunden und eine ungeheure Flut von Gedanken und Gefühlen überschwemmte ihr Bewußtsein. Sie war eins mit Chaos und merkte, daß sie förmlich von diesem Koloß aufgesogen wurde. Ihr Körper und ihr Geist vermählte sich mit dem des Götzen. Sie gab sich selbst auf, und Cyrill Perkins sah im Traum, wie ihr Körper zu einem nebelhaften Schemen wurde, der langsam seine Konturen verlor und in dem morbiden, uralten Gestein versank wie ein Geist, der zurückkehrte in die Hülle, aus der man ihn gesandt hatte. Cyrill Perkins sah mit den Augen des steinernen Götzen, fühlte ihr Herz mit dem seinen pochen und begriff die schauerliche Existenz einer Gottheit, die von Menschen gerufen - aber niemals wieder an den Ort ihrer Geburt zurückgeschickt worden war. Und sie begriff in diesen Sekunden noch mehr: wen Chaos mal in seine Abhängigkeit gezwungen hatte, konnte ihm nie wieder entfliehen. Sie war Gefangene und Dienerin und wußte, wie sie es anstellen mußte, um das Ritual fortzuführen. Chaos konnte viele Köpfe und viele Glieder sein eigen nennen, um seine unstillbare Sehnsucht nach Einfluß und Macht zu verwirklichen. Ein dröhnendes Lachen hallte durch das Zyklopengewölbe. Die Wände, die Decken und Säulen erzitterten, und auch Cyrill Perkins glaubte, förmlich durchgeschüttelt zu werden. Sie war plötzlich von namenloser Angst erfüllt und hätte am liebsten laut geschrien, als sie erkannte, wem sie diente und wie unfrei sie in Wirklichkeit war. Sie stand vor dem Titan - und plötzlich lebte der und richtete sich in voller Größe auf. Er dehnte seinen Brustkorb, daß man förmlich hörte, wie sich rasselnd die riesigen Lungen füllten. Er öffnete die Augen, und das mit unzähligen, dünnen roten
Adern durchzogene Weiß der gewaltigen Augäpfel leuchtete über Cyrill wie das Licht zweier fahler Monde. Da ertönte ein warnender Aufschrei. »Cyrill! Paß auf!« Es war Brian Bakers Stimme. Aber - er war doch tot? Vergiftet? Plötzlich stimmte nichts mehr. Cyrill Perkins flog ruckartig herum und sah, daß Brian sich von der glatt geschliffenen Altarplatte aufrichtete und sich seine Muskeln spannten, als er zum Sprung ansetzte. Ein gewaltiger Schatten streifte ihn. Eine Hand des Kolosses sehwebte über ihn, kam rasend schnell nach unten und verdeckte die Altarfläche. Es krachte und barst. Cyrill Perkins war vor Schreck steif und unfähig, auch nur einen Schritt zur Seite zu machen. Die Altarplatte, die einen Durchmesser von fast zwei Metern hatte, platzte auseinander, als Chaos' Riesenfaust daraufschmetterte. »Brian!« Der gellende Aufschrei der jungen Schottin mischte sich in das Donnergetöse, als die Steine durch die Luft flogen. Brian? Er konnte niemals so schnell gewesen sein und ... sie gab sich einen Ruck und warf sich einfach zur Seite, als es große und kleine Steine vom Himmel regnete, als Kopf und Schultern getroffen wurden und sie schützend beide Hände ausbreitete in der Hoffnung, diesem plötzlichen Tobsuchtsanfall Chaos' heil zu entkommen. Schwarze, gespaltene Steine rollten zwischen ihre Füße. Einer spritze mit einer solchen Wucht in ihre Kniekehle, daß sie den Halt verlor und zu Boden stürzte. Cyrill Perlons kam zwischen die Steine zu liegen, hob den Kopf und entdeckte dicht neben sich eine Gestalt, deren Hand nach ihr tastete und ihre Finger suchte. Es war Brians Hand. »Cyrill...«, wisperte er. »Wie konntest du nur ...?« Mehr
brachte er nicht hervor. Sein Kopf kippte langsam zur Seite, und Cyrill Perkins sah, wie ein dunkler Faden aus seinem linken Mundwinkel lief. Es war Blut. Aber was für eines! Es war - giftgrün. Widerspruch in ihr auf, und sie warf sich kreischend herum, um der tödlichen Gefahr ins Auge zu blicken. Cyrill Perkins' Entsetzen stieg ins Unermeßliche, als sie wie eine senkrecht vor ihr aufragende Wand die Titanenhand auf sich zukommen sah. Chaos wollte sie wie eine Fliege an der Wand zerquetschen! Sie bäumte sich auf, hatte das Gefühl, ihr Körper würde explodieren, und schlug die Augen auf. Der Wecker, auf einer Untertasse stehend, rasselte und machte einen unerträglichen Lärm. Sie hörte sich schreien und glaubte in diesem unfaßbaren, unterirdischen Tempel den Verstand zu verlieren. Dann sprang Cyrill auf die Beine, erblickte die Titanenhand, die über ihr schwebte, und hatte das Gefühl, ein ganzer Berg senke sich auf sie herab. Chaos, der das Verderben wollte, beabsichtigte auch sie zu töten! Die junge Schottin floh. In panischem Entsetzen jagte sie durch das Labyrinth der unterirdischen Halle. Sie rannte durch Tordurchlässe, an riesigen Säulen vorbei und suchte instinktiv die dunkelsten Ecken, um sich vor ihrem teuflischen Verfolger in Sicherheit zu bringen. Ihr Herz schlug zum Zerspringen. Schweiß stand auf ihrer Stirn, und Cyrill spürte ihre nachlassenden Kräfte. Sie glaubte im Kreis zu rennen und begriff daß ihr Fluchtversuch lächerlich war. Sie mußte zwanzig oder dreißig Schritte machen, wenn der Steingötze einen einzigen machte. Von vornherein hatte sie hier nicht die geringste Chance.
Ermattet taumelte sie auf die schwarze Felswand zu. Sie hörte das knirschende Geräusch und wußte, daß Chaos bereits hinter ihr stand. Doch ihr war alles egal. * Cyrill Perkins brauchte eine halbe Minute, um die Benommenheit abzuschütteln. Sie griff mechanisch zur Seite, um den Wecker abzustellen. Dann herrschte Stille. Die junge Frau war allein mit sich und ihren Gedanken und den Bilderfetzen aus ihrem Traum. Cyrill Perkins fuhr sich durch das wuschelige Haar, »so etwas Verrücktes«, murmelte sie. »Und das am frühen Morgen!« Es war sieben. Sie mußte zwar erst um halb neun aus dem Haus, aber auch wenn sie abends noch so spät ins Bett kam. ging sie nicht davon ab, den Wecker für diese Zeit zu stellen, um sich in Ruhe fertig zu machen. Sie wollte duschen und gemütlich frühstücken und den Tag langsam angehen. Sie schüttelte den Kopf, lachte plötzlich leise und griff dann zum Telefon. Sie wählte Brians Nummer. Der Apparat klingelte viermal, ehe der Teilnehmer abhob. »Ja?« meldete sich eine verschlafene Stimme. »Warum so brummig?« fragte Cyrill leise lachend. »Zeit zum Aufstehen, lieber Brian! Ich bin froh, deine Stimme zu hören.« »Oh?« wunderte er sich. »Du machst mir Komplimente? Vertauschtes Rollenspiel, was? Ich möchte dich aber gar nicht so emanzipiert haben, weißt du das.« »Weiß ich. Trotzdem freue ich mich, dich lebend anzutreffen.« »Jetzt wird es makaber. Was ist los mit dir, Cyrill?« Brian Bakers Stimme klang ernstlich besorgt. Sie erzählte ihm ihren Traum, und er hörte aufmerksam zu. Sie teilte ihm alle Einzelheiten mit, an die sie sich erinnern
konnte, und schloß mit den Worten: »Nun weißt du Bescheid über mich. Nimm' dich in acht vor mir, Brian! Ich trage mich mit Mordgedanken! In meinem Unterbewußtsein geht etwas vor, das du fürchten mußt...« Er gähnte. »Es war nett von dir, mich über dein aufgewühltes Seelenleben auf dem laufenden zu halten, und das gleich am frühen Morgen. Wie ich die Dinge sehe, ist es gut, daß wir nur verlobt miteinander sind und noch getrennt wohnen. Das ›Sword Castle‹ - ist im übertragenen Sinn unsere künftige Wohnung. My home is my castle, heißt es doch, nicht wahr? Der Wunsch, mich zu vergiften, weil du einem anderen hörig bist, beschäftigt dich schon jetzt, und du hast dir vorgenommen, dies in unseren eigenen vier Wänden in die Tat umzusetzen. Jetzt bin ich vorgewarnt - und so verstehe ich den zweiten Teil deines Traumes -, so daß ich mich, nachdem du mich schon erledigt glaubtest - erheben und davonrennen kann. Aber dein komischer Freund, symbolisiert durch den steinernen Riesen, erkennt: verdammt nochmal, die beiden haben mich hintergangen, und da hat der komische Heini nicht nur eine Wut auf mich - sondern auch auf dich.« Cyrill Perkins lachte und nickte: »Gut, daß ich dich habe, Brian. Wenigstens einer, der mich durchschaut.« Sie flachsten noch ein wenig, und Cyrill ließ ihn wissen, daß er seinen Beruf wechseln und sich als Traumdeuter versuchen sollte. »Du steckst voller Widersprüche, Cyrill«, entgegnete er. »Wir sind uns im klaren darüber, daß du eines Tages deinen Job an den Nagel hängst, daß du dann nicht mehr für Cathy in der Boutique stehen und ich keine Halbwüchsigen mehr im Zeichnen zu unterrichten brauche.« »Wir schaffen es eines Tages, Brian. Unser Plan, mal ein eigenes kleines Hotel zu besitzen, steht nach wie vor an oberster Stelle. Wenn du nebenberuflich als Traumdeuter ein paar Pfund hinzuverdienen könntest, würden wir unser Ziel
schneller erreichen.« »Ich lasse mir den Vorschlag durch den Kopf gehen, Cyrill. Vielleicht ist damit wirklich etwas zu machen.« Zehn Minuten später legte Cyrill Perkins auf, stieg aus ihrem Bett und lief ins Bad. Sie duschte in Ruhe, frottierte sich ab und bereitete sich dann ihr Frühstück. Es war acht Uhr, als sie das Geschirr in die Spülmaschine stellte, und der Traum, der sie unmittelbar nach dem Aufwachen so sehr beschäftigt hatte, war schon wieder verdrängt. Sie dachte nicht mehr daran. Bis zu der kleinen Boutique, in der sie als Verkäuferin arbeitete, waren es nur zehn Minuten zu Fuß. Viertel nach acht verließ sie ihre Wohnung. Fast wie jeden Morgen begegnete sie dabei dem Briefträger, der von der gegenüberliegenden Straßenseite kam. Sie grüßten sich, und Cyrill Perkins fügte hinzu: »Wie immer haben Sie wahrscheinlich auch heute wieder nichts Wichtiges für mich. Die Reklamen dürfen Sie gleich in die Mülltonne werfen, Mister Mclntosh.« Der Schotte mit dem dicken Lippenbart grinste breit. »Sie irren! Moment, Miß Cyrill! Ich habe einen Einschreibebrief für Sie.« Cyrill Perkins nahm den Brief, der mit bunten amerikanischen Marken beklebt war entgegen, warf einen Blick auf den Absender und dann nochmal einen auf die Anschrift, um sicher zu sein, daß dort wirklich ihr Name und ihre Adresse standen. Sie zuckte die Achseln. »Verstehe ich nicht. Wieso schreibt mir ein Rechtsanwalt aus New York? Da liegt bestimmt ein Irtum vor.« »Weiß man es, Miß Cyrill? Vielleicht eine Erbschaft von einem reichen Onkel aus Amerika?« Cyrill Perkins blies die Backen auf und machte: »Puuh! Wie käme ich dazu? Ich weiß nichts von einem Onkel.« Sie quittierte den Empfang des Briefes und riß ihn auf, nachdem sie die andere Straßenseite erreicht hatte.
Die ersten Worte schon machten sie stutzig. Unwillkürlich blieb sie stehen. Sie überflog das Schreiben, preßte die Augen zusammen, öffnete sie wieder und blickte sich um. Die Menschen, die Autos, der Bus ... die Häuser ... das alles existierte und waren keine Traumbilder. Der Brief - war echt! Sie las ihn ein zweites Mal. »Das gibt es nicht!« entfuhr es ihr. »Ich glaube, ich bin verrückt!« Dann begann sie zu rennen. Sie lief die Straße entlang, rempelte Leute an, entschuldigte sich mechanisch, ohne sich umzusehen und schloß wenige Minuten später - drei Minuten früher als sonst - die Tür zu dem schicken Lädchen auf, dessen Eingang mit einer rosafarbenen gelackten Markise überspannt war, auf der der Name ›Comtesse‹ stand. Das junge Mädchen schloß hinter sich wieder ab, suchte den Aufenthaltsraum auf, der mit einem schweren roten Samtvorhang vom übrigen Verkaufslokal abgetrennt war warf achtlos die Handtasche auf den hochlehnigen Sessel und griff sofort zum Telefonhörer. Cyrill wählte. »Brian! Gott sei Dank, daß ich dich noch erreiche,« sagte sie völlig außer Atem. »Ich muß dir etwas erzählen. Es hört sich unglaublich an, aber jedes Wort, das ich dir sage, ist die reine Wahrheit. Ich habe geerbt - ein altes Rittergut, hier in Schottland ... irgendwo in der Nähe von Braemer ...« »Das ist ein Witz!« »Nein, Brian! Es ist die Wahrheit. Ich habe einen Brief von einem amerikanischen Anwalt bekommen. Darin steht, daß ich Alleinerbin des Gutes bin. Ein Onkel, der vor einem Monat in den Staaten gestorben ist. hat das Erbe verfügt.« »Ich wußte gar nicht, daß du einen reichen Onkel in Amerika hast.« »Ich wußte es selbst nicht, erinnere mich aber daran, daß meine Mutter mal etwas von einem Bruder erzählte, der das schwarze Schaf der Familie war. Der Junge riß mit fünfzehn
Jahren von zu Hause aus. fuhr eine Zeitlang zur See und streifte dann als Abenteurer durch die Welt. Man hörte nie wieder von ihm, und in der Familie machte sich die allgemeine Ansicht breit, daß er längst nicht mehr am Leben sei. Er hieß George. Ich habe ihn nie kennengelernt, ich war damals noch nicht geboren. Er ist ein fremder Mensch für mich - und doch hat er mir alles vererbt, was er besaß. In dem Brief teilt mir der Anwalt die Einzelheiten mit. Demnach soll Onkel George mit dreißig Jahren eine Farm in Carolina gekauft und bewirtschaftet haben. Er blieb Junggeselle, hielt jeden Dollar zusammen und kam zu erstaunlichem Wohlstand. Die Burg ›Sword Castle‹ - kaufte er vor über zwanzig Jahren, und sein Traum war es, das alte Gemäuer, das er wohl aus seiner Kindheit noch kannte und das ein Stück wildromantische Erinnerung für ihn darstellte, eines Tages zu restaurieren, um wie ein Burgherr dort zu leben. Zu diesem Zweck sparte er sich weitere zweihunderttausend Dollar zusammen, die sofort verfügbar sind. Er scheint aber eingesehen zu haben, daß sein Leben allein nicht ausreichte, die Wünsche, die er hegte, zu erfüllen. Sein Leben schuf die Voraussetzungen, und ein anderes war notwendig, um seine Pläne in die Tat umzusetzen. Onkel George legte testamentarisch fest, daß ich seine Erbin würde. Er selbst hatte keine Nachkommen, und meine Mutter starb vor drei Jahren. Ich bin die letzte der Familie, der er entsproß. Das Erbe kann sofort angetreten werden. Weißt du, was das bedeutet, Brian? Wir können endlich heiraten, werden eine eigene große Wohnung haben - und können das wahrmachen, wovon wir geträumt haben: ein Hotel, Brian! Ein kleines Hotel. Und ich weiß jetzt auch schon genau, wie wir das machen: wir werden den Betrieb in der Burg unterbringen. Ein paar Zimmer für Touristen, die die Burg besichtigen wollen ... damit machen wir nichts falsch, denn Onkel George hat ausdrücklich verfügt, daß die vorhandenen Barmittel zur Renovierung und Sanierung seines Besitzes verwendet werden
sollen. Bleibt etwas übrig - dann steht es zur freien Verfügung. Was sagst du dazu, Brian? Mein Gott! Ist das nicht herrlich?« »Das kommt mir alles so märchenhaft vor, Cyrill, als daß ich es glauben könnte.« »Warum sollen Märchen nicht wahr werden, Brian? Ich habe es immer geahnt: wir werden es schaffen. Schneller, als wir denken. Nun ist es soweit! Seltsam, wie es manchmal im Leben zugeht: heute nacht träume ich noch davon, auf einem Schloß zu sein, und jetzt werde ich selbst Schloßbesitzerin. Ich kann es noch nicht fassen!« Er versuchte ihre Begeisterung zu dämpfen, aber sie war ganz aus dem Häuschen. »Vielleicht beruht alles auf einem Irrtum. Vielleicht ist das Ganze auch ein schlechter Scherz, Cyrill.« »Wer sollte sich dazu hergeben. Brian?« »Das weiß ich nicht. Auf alle Fälle solltest du dich erst vergewissern, ehe du dich Träumen und Hoffnungen hingibst, die nachher doch nur zerstört werden.« »Genau das werde ich tun. Und zwar sofort.« »Willst du umgehend nach New York fliegen?« »Das habe ich gar nicht nötig, Brian. Es gibt hier in Glasgow eine Adresse, bei der ich mich melden soll. Ein Rechtsanwalt namens Henry Jackinson in der Weststreet wurde von dem New Yorker Anwaltsbüro beauftragt, die Interessen wahrzunehmen. Mister Jackinson soll auch die Schlüssel für das Burgtor haben. Ich soll mich innerhalb einer Woche bei Jackinson melden. Solange aber halte ich es gar nicht aus, Brian. Am liebsten würde ich mich gleich auf den Weg machen. Aber Hals über Kopf ist selten im Leben etwas möglich. Ich werde mit Cathy sprechen, damit sie mir ein paar Tage frei gibt.« »Warum gleich ein paar Tage?« »Ganz einfach, Brian: ich will sehen, wie das Gut in der Nähe von Braemer aussieht. Am besten ist es, sich dort ein paar Tage aufzuhalten. Da ich das ungern allein tue, möchte ich dich
bitten, mich zu begleiten. Du mußt es irgendwie möglich machen, in den nächsten drei bis vier Tagen dich vertreten zu lassen.« So kam der Stein ins Rollen. Noch am Vormittag des gleichen Tages telefonierte Cyrill Perkins mit Rechtsanwalt Jackinson und verabredete mit ihm eine Besprechung für den nächsten Vormittag. Sie nahm Urlaub bei Cathy, traf sich am Abend mit Brian, der es ebenfalls geschafft hatte, sich freizumachen, und am nächsten Morgen fuhren sie dann zu Henry Jackinson. Das Gespräch dauerte nur ein paar Minuten. Cyrill Perkins erfuhr, daß die bürokratischen Formalitäten durch das geschickte Vorgehen ihres Onkels auf ein Minimum beschränkt werden konnten und dem Antritt des Erbes nichts im Weg stand, wenn sie es annahm. Auch für den Fall der Verweigerung hatte Onkel George vorgesorgt. In diesem Fall sollten die Burg und die Barmittel einer wohltätigen Organisation zukommen, die ebenfalls verpflichtet wären, die Renovation mit diesem Geld zu finanzieren. Auf die Restaurierung schien er sehr großen Wert zu legen. Ohne große Formalitäten überreichte Henry Jackinson ihr den Bronzeschlüssel. Der Anwalt war Mitte fünfzig, machte einen gepflegten und ruhigen Eindruck. Cyrill fragte ihn, ob er den Grundbesitz kenne, doch Jackinson hatte ihn nie gesehen. Sie und Brian fuhren noch in der gleichen Stunde los. Für die rund zweihundertsiebzig Kilometer lange Strecke benötigten sie fast fünf Stunden. Als sie die Hauptstraße verließen, mußten sie ins Gebirge; die Nebenstraße befand sich in keinem guten Zustand, so daß sie das Tempo drosselten. Am Nachmittag erreichten sie Braemer und mieteten sich im Gasthof »To the three Oaks« ein. Sie wurden freundlich und zuvorkommend empfangen. Das Essen war gut und reichlich, das Zimmer einfach und sauber.
Cyrill und Brian erkundigten sich nach der alten Burgruine, die man in dieser Gegend unter der Bezeichnung ›Sword Castle‹ kenne. Der Wirt sah seine Gäste im ersten Augenblick erschrocken an, dann faßte er sich. ›Alte Ruine?‹ Alt ist richtig, aber von einer Ruine kann man da eigentlich nicht sprechen, meine Herrschaften. Die Burg ist noch recht gut erhalten. Sie liegt rund zwanzig Meilen bergeinwärts. Eine Straße, die direkt nach oben führt, gibt es nicht. Den letzten Rest des Weges muß man zu Fuß zurücklegen. Sie haben die Absicht, dort hinauf zu gehen?« Sein Blick wanderte von einem Gesicht zum anderen. »Ja« antwortete Cyrill Perkins. »Tun Sie es nicht!« »Warum nicht?« »Es ist ein Gespensterschloß!« »Jedes Schloß, jede Burg in Schottland hat irgendeinen geheimnisvollen Ruf.« »Das Sword Castle ist verdammt.« »Woher wissen Sie das?« »Ich wohne seit meiner Kindheit hier. Schon damals wurde uns verboten, dorthin zu gehen. Es gab welche, die es aus Neugierde und als Mutprobe dennoch wagten. Sie sind nicht mehr zurückgekehrt.« Der Inn-Wirt machte ein bedenkliches Gesicht und fuhr fort: »Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf: gehen Sie nicht hinauf! Sehen Sie sich die Gegend und die Burg von weitem an! Die Landschaft ist wunderschön, von einer Wildheit und Romantik wie sonst kein zweiter Ort in ganz Schottland. Vor vier Wochen ungefähr hatten wir einen Gast hier. Der wollte die Burg unbedingt fotografieren. Er ging hinauf, aber er kam nie wieder zurück. Die Suche nach ihm blieb bis auf den heutigen Tag erfolglos.« Cyrill Perkins und Brian Baker blickten sich an, und Cyrill
fühlte, wie ein eisiger Schauer über ihren Rücken lief. Sie nutzten den Abend in der gemütlichen Wirtsstube, um auch hin und wieder ein Wort mit dem Wirt zu wechseln, der nach Einbruch der Dunkelheit alle Hände voll zu tun hatte. Zahlreiche Dorfbewohner verkehrten hier. Das Lokal war gerammelt voll. Laute Stimmen hörte man ringsum. Es wurde gelacht. Es ging rauh und herzlich zu. Der Whisky, der in zwei Stunden verkonsumiert wurde, war auf Anhieb nicht in Litern aufzuzählen, so schnell wurden die Flaschen leer. Doch darüber wunderten sich weder Cyrill noch Brian. Sie kannte die Schwäche ihrer Landsleute für diesen Stoff. Whisky war noch immer das billigste und beliebteste Getränk in dieser Gegend. Ein rechtes Gespräch kam leider nicht zustande, und der Wirt gefiel sich in Andeutungen und geheimnisvollem Getue, so daß Cyrill und Brian ihn für abergläubisch hielten. So kam es, daß sie am nächsten Morgen nach dem Frühstück aufbrachen, ohne noch mal den Wirt gesprochen zu haben. Seine Frau versorgte die Übernachtungsgäste. Er selbst war schon im Morgengrauen aufgebrochen, um einige wichtige Bestellungen und Besorgungen zu machen. Die Verlobten fuhren die abgelegene Straße, benutzten zuletzt den Schotterweg und parkten wenig später fast an der gleichen Stelle wie rund vier Wochen vor ihnen Reginald Thompson. Dann stiegen sie den gewundenen Pfad weiter bergan. Mit jedem Meter, den sie zurücklegten, wurde Cyrill ruhiger, und Brian Baker führte das darauf zurück, daß der Aufstieg sie doch mehr anstrengte, als sie sich selbst und ihm eingestand. Über eine schmale Schlucht führte eine steinerne Brücke. Von hier aus hatten sie einen prachtvollen Blick auf die Burgfront mit den wuchtigen Türmen und Mauern, den scharfkantigen Zinnen und dem riesigen Tor aus schweren Bohlen, das schwarz und bedrohlich vor ihnen aufragte. Sie hatten das Gefühl, als würde es sich jeden Augenblick öffnen und fin-
stere, mit Kettenhemden und Rüstungen gepanzerte, bis an die Zähne bewaffnete Gestalten würden auf feurigen Pferden aus dem Burghof preschen. Hier war die Zeit stehen geblieben. Cyrill Perkins stand atemlos neben ihrem Verlobten, dann tastete sie leise nach der Hand ihres Begleiters, und Brian Baker merkte, daß ihre Hand zitterte. »Brian,« flüsterte sie. »ich habe dir von meinem Traum erzählt... gestern ... erinnerst du dich noch daran?« »Ja.« »Diese Burg... es war diese Burg, die ich im Traum gesehen habe!« Er lachte leise. »Wahrscheinlich glaubst du das, Cyrill. Alle Burgen sehen wohl gleich aus.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Brian. Diese Brücke, dieses Tor, die Anordnung der Türme und Erker - ich habe das Bild noch genau im Kopf.« Brian Baker sah sie an, und sie wirkte mit einem Mal blaß. Da legte er seinen Arm um ihre Schultern, und sie gingen auf das Tor zu. Das Schloß war rostig, aber es ließ sich nach dreimaligem Versuch öffnen. Dies bedeutete, daß doch hin und wieder jemand hier gewesen war. Offenbar um nach dem rechten zu sehen. Onkel George persönlich? Dieser Gedanke war wohl etwas weit hergeholt. Wenn er hierher gereist wäre, um seinen Besitz hin und wieder zu besichtigen, dann konnte man annehmen, daß er bei dieser Gelegenheit auch nachforschte, ob und wer noch von seiner Familie lebte. Oder aber - George Hutchinson, wie der Onkel hieß, hatte einen Verwalter eingesetzt, der von Zeit zu Zeit auftauchte. Als sie im Innenhof der Burg waren, geriet diese Frage in den Hintergrund. Cyrill Perkins ging wie in Trance weiter. »Der Brunnen«, murmelte sie, »der Treppenaufgang, das alles habe ich schon mal gesehen ... und dem Brunnen gegenüber,
Brian, die Tür, die zur Waffenkammer führt.« Ihre Blicke hingen an den dunklen, modrigen Bohlen. »Vielleicht bist du tatsächlich schon mal hier gewesen als Kind«, bemerkte Brian Baker. Seine grauen Augen musterten die hübsche Cyrill. »Du wußtest das bloß nicht mehr. Jetzt aber fällt es dir wieder ein.« Sie sagte nichts, schüttelte aber leicht den Kopf, als wäre sie mit dem, was Brian sagte, nicht ganz einverstanden. Mit zusammengepreßten Lippen näherte sie sich der Tür zur Waffenkammer. Die Sonne stand im Südosten, so daß der Schatten des Brunnens gegen den Turm auf der Nordwestseite der Burg fiel. Mit jedem Zentimeter, den die Sonne weiterwanderte, glitt auch der Schatten des Brunnens weiter. Die beiden Menschen vernahmen nur ihre eigenen Schritte auf dem holprigen Boden. Cyrill wurde von der Tür der Waffenkammer wie magisch angezogen. »So etwas gibt es doch nicht«, murmelte sie. »Ich glaube, ich träume noch immer, Brian ...« Sie griff nach dem Riegel und legte ihn zurück. Er ließ sich ganz leicht bewegen. Cyrill zog die Tür nach außen. Spinngewebe hing zwischen Tür und Angel. Mit einem Stock, den Brian auf dem Hof fand, zerrissen sie das Netz. Sie sahen die Reste der Rüstungen und Waffen, und Brian entschlüpfte die Bemerkung, daß sich das zu Geld machen ließ, wenn man die richtigen Leute fand, die verrückt nach solchen Dingen waren. Cyrill hörte gar nicht richtig zu. Sie deutete nach vorn. »Die Treppe ... es ist die Treppe, die ich gegangen bin, um das Heiligtum aufzusuchen.« Brian Baker kratzte sich im Nacken. »Ist das alles nicht sehr merkwürdig, Brian?« fragte sie heiser. »Doch sehr. Wenn ich dich nicht so genau kennen würde, ich würde sagen: du spinnst! Aber so einfach läßt sich die Sache
nicht erklären. Ich habe schon davon gelesen, daß es so etwas wie Wahrträume gibt, daß man Dinge vorausträumt, die dann wirklich passieren. Aber das wäre dann doch zu verrückt. Was? Wolltest du mich hier in dem Burgkeller nicht vergiften?« Er lachte leise, aber als er ihr ernstes, nachdenkliches Gesicht sah, wurde seine Miene zu Stein. »Wir sehen uns das da unten auf alle Fälle an«, erwähnte sie unvermittelt. »Jetzt will ich es genau wissen.« Sie standen oben an der Treppe. Die steil abfallenden Stufen führten in undurchdringliches Dunkel. »Warte hier auf mich«, sagte Brian. »Ich laufe nochmal zum Wagen zurück und hole rasch eine Taschenlampe.« Da legte sie ihre Hand auf seinen Unterarm. »Das ist nicht nötig. Da vorn, neben der Tür, befindet sich eine Nische. Es müssen Fackeln und Kienspäne dort liegen.« Sie hatte recht. Brian Baker nahm vier besonders gut erhaltene Fackeln hervor. »Ob sie noch funktionieren?« »Das wird sich herausstellen.« Er flammte sein Feuerzeug an und zündete die Fackeln an. Sie brannten. Wortlos drückte der junge Mann aus Glasgow seiner Verlobten eine brennende und eine Ersatzfackel in die Hand und stieg dann die schmalen Stufen in die Tiefe. »Bleibe immer dicht hinter mir, Cyrill! Der Weg da runter ist nicht ganz ungefährlich.« Sie brachten die Stufen ohne Zwischenfall hinter sich. Wie Cyrill aus ihrem Traum berichtet hatte, fanden sie am Ende der letzten Stufe die drei Wege. Sie benutzten den mittleren. Der führte sie durch einen langen Gewölbestollen, der immer größer wurde. Es folgte ein Durchlaß, ein weiteres Tor, und sie gerieten unversehens in eine Halle von einem Ausmaß, daß sie staunend und erschrocken stehenblieben, um die Wucht und Größe dieser Halle auf sich einwirken zu lassen.
Sie hatten das Gefühl, mitten im Bauch des Berges zu sein. Es war unvorstellbar, daß Menschenhände das erbaut hatten. Die natürliche Größe und Beschaffenheit der Höhle war ausgebaut und verändert worden. Die Säulen waren aus einem Stück aus dem Fels herausgearbeitet. Aber da war noch mehr, das sie in Staunen und Verwunderung versetzte. »Der steinerne Götze, Brian!« Cyrill Perkins' Stimme war wie ein Hauch. Brian Baker hatte das Gefühl, als ob jemand eiskaltes Wasser seinen Rücken hinablaufen ließe. Durch die detaillierte Schilderung der Dinge, die Cyrill in ihrem Traum gesehen hatte, glaubte er, hier ieden Winkel zu kennen. Wortlos näherten sie sich dem Koloß. Der steinerne Götze befand sich in der Hocke, genau wie Cyrill ihn beschrieben hatte. Wenn dieser Titan sich aufrichtete, dann berührte er mit dem kahlen Schädel fast die Decke der Höhle. Brian fand es einen Moment lang merkwürdig, daß ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, aber er vergaß ihn ebenso schnell wieder, wie er ihm gekommen war. »Der Ring, Brian!« Cyrill stand unmittelbar unter den Händen der Riesenstatue, und sie richtete ihren Blick hinauf zu den seelenlosen, leeren Augen der Götzenfigur, als erwarte sie von dort eine Geste. »Wieso weiß niemand davon?« wunderte Brian Baker sich, die Benommenheit abschüttelnd. »Weiß - von wem?« fragte Cyrill mechanisch, die mit ihren Gedanken woanders weilte. Ihre Rechte näherte sich wie unter einem fremden Zwang dem Ring an der Götzenhand. »Von ihm, diesem Götzen. Eine Statue dieses Ausmaßes ist schließlich nicht alltäglich.« Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht hängt es damit zusammen, daß dieser Burg ein gewisses Tabu anhaftet. Du brauchst nur daran zu denken, was der Wirt uns erzählt hat. Ich bin über-
zeugt davon, daß niemand hier in der Gegend etwas von diesem Koloß weiß.« »Schon möglich.« Er blickte sich in der Runde um, mit der Fackel die Finsternis vertreibend. »Die herrschende Angst scheint absichtlich schon vor langer Zeit geschürt worden zu sein, um Neugierige hier fernzuhalten«, murmelte Baker. »Der Ruf der Burg allein sorgte dafür, daß Kunstwerke und vielleicht Schätze hier vorhanden sind, die normalerweise im Lauf der Jahrhunderte in alle Winde verstreut worden wären. Manchmal hat es sein gutes, wenn Burgen und Schlösser, Pyramiden und Grabkammern scheinbar unter einem Bannfluch liegen.« Er näherte sich dem Altar, während Cyrill Perkins nach dem großen Ring griff. Sie berührte ihn - und zuckte zusammen. Im gleichen Augenblick stach ein Dorn in ihren Zeigefinger, und sie zog ihn erschreckt zurück. Ein leiser Aufschrei kam über ihre Lippen. »Ist etwas, Cyrill?« fragte Brian Baker aus dem Hintergrund. »Nein ... nichts ... ich habe mich nur an etwas Spitzem gestochen ... ist schon wieder alles okay ...« Sie betrachtete ihren Finger. Ein Blutstropfen quoll langsam aus der winzigen Wunde, die der Metallstachel verursachte. Cyrill leckte den Blutstropfen ab, und es kamen keine weiteren mehr. Mit mehr Vorsicht zog sie nun den Ring vom steinernen Finger der Kolossalstatue. Sie dachte und fühlte bereits anders, denn von einer Sekunde zur anderen hatte das Gift von ihrem Körper Besitz ergriffen. Die junge Schottin war zu einem willenlosen Werkzeug geworden. Als der große Ring auf ihrer Hand lag, erblickte sie die zahlreichen winzigen Stacheln, die aus dem äußeren Rand ragten und ihn scharfkantig machten. Und sie erblickte noch mehr, und es verwunderte sie nicht. Der Ring schrumpfte in ihrer Hand, und die Öffnung schloß sich. Plötzlich hielt Cyrill Perkins keinen Ring mehr, sondern
ein Amulett in der Hand. Es war auf der einen Seite mit fremdartigen Symbolen und Geschöpfen versehen, auf der anderen Seite leicht geriffelt und fühlte sich dort an wie ein Reibeisen. Cyrill drehte das Amulett so in ihrer Hand, daß die geriffelte Seite nach außen kam. Wie eine Marionette bewegte sie sich dann auf Brian Baker zu. »Je mehr ich darüber nachdenke, Cyrill«, vernahm sie die Stimme Brians wie aus weiter Ferne, »desto rätselhafter kommt mir das Ganze vor. Welchen Göttern wurde in diesen riesigen Hallen gehuldigt. Cyrill? Es ist unheimlich hier, findest du nicht auch?« »Doch, Brian ...« »Ich habe schon Bilder von Götzenstatuen und Altären gesehen. Aber noch nie etwas, das so zyklopenhaft gewesen wäre. Was wir hier sehen, das paßt einfach nicht hierher. Es paßt nicht zu den Menschen, die diese Burg erbauten und in den Jahrhunderten vor uns bewohnten. Diese Halle hier unten im Bauch des Berges scheint durch einen Zufall entdeckt und von den Baumeistern der Burg integriert worden zu sein. Dies hier unten ist um vieles älter als die Steine und Mauern der Burg, die daraufgesetzt wurden, Cyrill...« »Schon möglich, Brian.« Plötzlich stand sie hinter ihm. Er nahm ihre Nähe wahr und wollte sich langsam zu ihr umdrehen. Doch Brian kam nicht mehr dazu. Cyrill preßte die Hand mit dem Amulett auf seinen Nacken. Wie winzige Stacheln bohrte sich die geriffelte Seite des Amuletts in Brian Bakers Fleisch. Der junge Mann zuckte zusammen. Für einen Moment sah es so aus, als wolle er herumwirbeln, um herauszufinden, was da auf ihn einwirkte, aber es war schon zu spät. Er fiel nach vorn, kippte mit dem Oberkörper auf die glatt geschliffene Altarplatte und blieb sekundenlang reglos liegen. Dann richtete er sich auf, roboterhaft wie eine Marionette, drehte sich um und
blickte Cyrill fragend an. Die nickte. Es bedurfte keiner großen Worte, die Situation zu erklären. Sie fühlten es beide: sie gehörten zusammen, enger als je zuvor. Sie waren in dieser Generation die ersten, die mit dem Blut des steinernen Götzen verbunden waren. »Wir werden Chaos das Leben zurückgeben«, flüsterte das Mädchen, und ihre Augen glänzten fanatisch. »Das Blut, das in unseren Adern fließt, wird bald auch in den Adern vieler anderer fließen, die Chaos benötigt, um seine Herrschaft antreten zu können.« Sie sahen aus wie Menschen, sie benahmen sich wie Menschen, als sie die Halle verließen und den Weg zurückkehrten, den sie gekommen waren. Aber sie waren keine Menschen mehr. Das grüne Blut des steinernen Götzen floß in ihren Adern, und sie fühlten und dachten anders, sahen andere Dinge und trafen Entscheidungen im Sinn jener furchtbaren Gottheit, die vor Jahrmillionen auf die Erde kam und die nur eines im Sinn hatte: den Bannfluch abzustreifen, der sie hier gefangenhielt. Der steinerne Götze wollte wie einst sich frei unter den Menschen bewegen können. Sie kehrten ins Restaurant zurück und merkten beide den prüfenden Blick des Wirts. Cyrill Perkins lächelte. »Sie schauen uns an, als hätten Sie uns nicht mehr zurückerwartet.« Der Gastwirt brummte etwas in seinen Bart, das so ähnlich klang wie: »Gewundert hätte es mich nicht«, aber so genau verstanden es beide nicht. Sie kündigten die Zimmer für den morgigen Tag. »Sie wollen schon abreisen?« »Ja. wir haben es uns überlegt.« Noch am gleichen Abend rief Cyrill Perkins in Glasgow an und sprach mit Anwalt Henry Jackinson. »Ich nehme das Erbe an«, teilte sie ihm mit. »Sie wissen. Miß Perkins, was für eine Verpflichtung Sie damit eingehen?«
»Ja. Sword Castle soll restauriert und in seiner alten Form erhalten bleiben. Die Arbeiten dort sind geringer, als mein Onkel offensichtlich gedacht hat. Das Castle ist erstaunlich gut erhalten.« Als sie auflegte, fühlte sie sich glücklich. Aber es war nicht das Glück, das ein Mensch empfand, sondern wie ein Dämon es fühlte, der menschliches Leben vernichten wollte. * Der Mann im Hauptbahnhof von Glasgow saß auf der Bank neben dem Zeitschriftenkiosk und blätterte scheinbar interessiert in einem technischen Magazin. In Wirklichkeit aber galt seine Aufmerksamkeit den Sperren, durch die ständig Menschen strömten. Der Beobachter auf der Bank hatte rauchgraue Augen, dunkelblondes Haar und trug einen maßgeschneiderten Anzug. Der Mann war etwa dreißig Jahre alt, sah gut aus und hatte jenes gewisse Etwas, das ihn sofort sympathisch machte. Man hatte das Gefühl, mit ihm Pferde stehlen zu können. Dieser Mann war niemand anders - als Larry Brent alias XRAY-3 und seit kurzer Zeit auch X-RAY-1. Brent weilte seit wenigen Stunden erst in Glasgow. Er war mit einer Maschine der TWA von New York gekommen und wartete hier auf etwas ganz Bestimmtes. Diesmal hoffte er jener rätselhaften Gestalt zu begegnen, die in der Geschichte der PSA schon öfters beobachtet wurde und über die ungewöhnlich viele Daten in den Archiven lagerten. Das war der Graf Leucate. Wenn es diesen Mann - den man mit dem ebenso geheimnisvollen Graf von Saint-Germain verglich - wirklich gab, dann hatte er eine Mitteilung zu machen, die die Welt erschüttern konnte. Es hieß, daß der Graf das Geheimnis des ewigen Lebens ent-
deckt habe. Auszüge aus Texten, die in wichtigen Bibliotheken großer Städte lagen, waren den Computern der PSA eingegeben worden, und eine kürzlich zusammengestellte Liste brachte eindeutig zur Kenntnis, daß Leucate bereits Mitte des sechzehnten Jahrhunderts an den verschiedensten Orten auftauchte. In diesen Texten hieß es, daß Leucate mehrere Sprachen perfekt spreche, daß er an verschiedenen Höfen des europäischen Adels gesehen und bewirtet worden sei, daß er ein brillanter Erzähler, ein erstaunlicher Liebhaber und Abenteurer wäre, dem die Damen der höchsten Gesellschaft zu Füßen lägen. Gab es diesen Graf Leucate wirklich? Larry wollte es genau wissen. Neueste Hinweise schienen zu ergeben, daß Leucate in Schottland des öfteren auftauchte. In einer Chronik von 1870 stand zu lesen, daß Leucate auf einer Vortragsreise durch Schottland erwähnt haben soll, daß er während der letzten dreihundert Jahre nun schon zum fünften oder sechsten Mal hier weile. So genau könne er sich da nicht mehr erinnern. Ein besonderes Detail in den Ausführungen und Texthinweisen hatte Larry Brent wie elektrisiert: offenbar benutzte der rätselhafte Graf, der nicht sterben konnte Glasgow nur als eine Art Zwischenstation. Er blieb nie mehr als einen Tag in der Stadt. Ein Sekretär der französischen Botschaft erwähnte 1920, daß er den Grafen Leucate auf dem Weg nach Braemer getroffen habe. Die gleiche Aussage machte eine junge Architektin, die dem unwiderstehlichen Leucate von Paris hierher folgte und seine Spur in Braemer verlor. Das alles war Vergangenheit, war zu Geschichte, zu Texten geworden. Larry Brent hätte auch nicht mehr Interesse dafür, wenn eines nicht gewesen wäre: das Auftauchen von Leucate und die rätselhaften Vorgänge in und um Braemer waren stets eins gewesen. Alte Berichte brachten an den Tag, daß zu be-
sonderen Zeiten die Angst in der kleinen Stadt und den umliegenden Dörfern dann gewachsen war, wenn Leucate seine Besuche machte. Zu diesem Zeitpunkt nahmen die Erkrankungen in und um Braemer zu, Menschen verschwanden und tauchten nicht wieder auf. Dritte verloren angeblich den Verstand. Inwieweit dies der Wahrheit entsprach und nicht auf Übertreibung beruhte, konnte man selbst nicht mehr nachprüfen. Oder doch? Larry zumindest unternahm den Versuch, um den Archiven der PSA neues Material hinzuzufügen oder ein für allemal einen Strich unter die fantastischen Geschichten zu machen. Von zwei verschiedenen Nachrichtenagenten in Frankreich war unabhängig voneinander berichtet worden, daß der mysteriöse Graf Leucate in Paris gesehen worden sei und die Absicht habe, eine Reise ins Ausland zu machen. Glasgow und Braemer waren im Gespräch, und Larry Brent entschloß sich schnell, wenn es darum ging, der Welt ein übernatürliches Geheimnis zu entreißen. Er faßte den Gedanken, hier nach dem rechten zu sehen. Er hielt sich gerade in besonderer Mission in Europa auf, und es war für ihn kein Problem, in London eine Maschine zu besteigen und nach Glasgow zu fliegen. Brent befand sich zur Zeit auf einer Inspektionsreise, um die Arbeitsbedingungen seiner Agenten und Nachrichtenleute unter die Lupe zu nehmen und vielleicht Verbesserungen einzuführen. Offiziell hatte er dazu den Auftrag von X-RAY-1. So jedenfalls waren die Mitarbeiter informiert. Daß es den ehemaligen X-RAY-1 nicht mehr gab, das wußte niemand außer Larry, der von dem blinden David Gallun in seine neue Aufgabe nach dessen Ermordung durch Dr. Satanas eingeführt worden war. Im Gespräch mit einem Nachrichtenspezialisten war auch die Rede auf Leucate gekommen. Die Passagierliste der Maschine,
mit der Leucate nach Glasgow geflogen war. hatte Larry Brent einsehen können. Dort stand tatsächlich der Name Leucate. Larry hatte sich beeilen müssen. Der Zeit nach war er nach Leucate auf dem Flughafen eingetroffen, aber noch vor ihm auf dem Bahnhof gewesen. Es gab um diese Zeit nur einen einzigen Zug. der direkt nach Braemer fuhr, und es war anzunehmen, daß Leucate ihn benutzte, wenn er wirklich dieses Ziel im Auge hatte. Selbst wenn er Leucate verpassen sollte, würde er sich trotzdem die Mühe machen und den Zug nach Braemer nehmen, um den Versuch zu unternehmen, dort etwas in Erfahrung zu bringen. Larry schlug die Beine übereinander, klappte das Magazin zu und blickte zu der vordersten der drei Sperren, der sich in diesen Minuten eine Anzahl Leute näherte. Larrys Aufmerksamkeit galt sofort einem gutaussehenden, etwa fünfzigjährigen Mann, der unauffällig gekleidet war und in dessen Begleitung sich ein rund fünfzehn bis zwanzig Jahre jüngerer Mann befand, der zwei riesige Koffer schleppte. Ein Herr und sein Diener? Der PSA-Agent ließ die beiden Männer nicht mehr aus den Augen, die in rund zwanzig Meter Entfernung von seinem Beobachtungsplatz über den Bahnsteig gingen. Dem gleichen Gleis, auf dem der Zug in fünf Minuten eintreffen sollte, näherten sich weitere Reisende. Larry fiel insbesondere eine kastanienbraune Schönheit auf, die sich mit einem riesigen Koffer abschleppte. Brent erhob sich und griff nach seinem Gepäck, das er neben sich abgestellt hatte und das nur aus einem mittelgroßen Koffer bestand, in dem er notwendige Utensilien und Wäsche für zunächst eine Woche untergebracht hatte. Der Amerikaner ging auf die junge Frau mit dem großen Koffer zu. »Darf ich Ihnen behilflich sein?« fragte er freundlich. Ein irritiertes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Das ist nicht
nötig, danke! Ich schaff das schon allein.« »Sie sollten nicht zuviel auf einmal nehmen oder künftig einen Gepäckträger beauftragen, Miß«, erwiderte Larry, als hätte er das, was sie sagte, überhaupt nicht gehört. »Ich bin keine Schottin und will mir das Geld für den Gepäckträger nicht sparen«, sagte sie unvermittelt, als bedürfe ihr Verhalten einer Entschuldigung. »Aber ich habe meine Sachen gern bei mir, wissen Sie. Ich habe mal schlechte Erfahrungen gemacht, und ein gebranntes Kind scheut das Feuer, wie man sagt.« Sie verlor sich nicht in Einzelheiten und erzählte nicht, welcher Art ihre schlechten Erfahrungen waren. Und Larry drang nicht in sie. Er nahm den Koffer, deutete auf den Zug, der einfuhr und ließ durchblicken, daß sie keine Befürchtungen hegen müsse, auch mit ihm schlechte Erfahrungen zu machen. Sie lachte - und das Eis war gebrochen. »Das traue ich Ihnen nicht zu«, bekam Larry zu hören. »So sehen Sie nicht gerade aus.« »Oh, für so harmlos halten Sie mich?« Sie zog die Augenbrauen hoch, und in ihren dunklen Augen blitzte es verführerisch. »Es kommt darauf an, auf welchem Gebiet«, sagte sie mit dunkler, angenehmer Stimme. Der Zug hielt. Über die Lautsprecher wurden Zugnummmer, Ankunftsort und Zielort angegeben. Es war der Zug nach Braemer. Larry lief ein paar Schritte weiter vor, als er sah, daß der Mann, den er für Leucate hielt, den Abstand zwischen sich und dem Agenten vergrößerte. Larry aber wollte unbedingt vermeiden, daß dieser rätselhafte Mann, über den man sich so wunderbare und seltsame Dinge erzählte, aus seinem Blickfeld geriet. Die Türen flogen auf. Viele Menschen verließen hier in Glasgow die Abteile, und ganze Waggons wurden leer.
Nur eine Tür von Leucate und seinem Diener entfernt stieg Larry Brent hinter der charmanten Kastanienbraunen in den Zug. Das Mädchen wollte nach links gehen, Larry hielt sich rechts, als er sah, wohin der vermeintliche Leucate sich wandte. »Da ist noch ein Abteil frei«, sagte Brent schnell zu dem Mädchen, dessen Koffer er trug. Aber da ging schon Leucate in das Abteil. »Hier ist auch eins frei!« vernahm er da die Stimme der hübschen Reisebegleiterin hinter sich. Aber er schien nicht zu hören. Es kam ihm darauf an, in dem Abteil zu reisen, in das Leucate sich einquartiert hatte. Das schaffte er, und Leucates Diener schob gerade die Gepäckstücke ins Netz, als Larry grüßend das Abteil betrat, sich höflich an seine Begleiterin wandte und sie fragte, welchen Platz sie gern einnehmen wolle. »Ich kann Ihnen noch alles bieten, bis auf den Fensterplatz, der ist leider besetzt.« »Macht nichts. Dann habe ich wenigstens Gelegenheit, mich nicht von der Landschaft ablenken zu lassen und kann mit Ihnen plaudern.« Sie saßen sich gegenüber, und Larry erfuhr, daß ihr Reiseziel Braemer sei. wo sie sich für drei Wochen in der Gaststätte »To the Three Oaks« einquartiert habe. »Es gibt eigenartige Zufälle im Leben. Auch ich reise nach Braemer. Eine Unterkunft allerdings habe ich noch nicht.« Aus den Augenwinkeln heraus beobachte X-RAY-3 die beiden Männer auf dem Fensterplatz. Leucate drehte ihm das Profil zu. Ein markantes, gutgeschnittenes Männergesicht. Gerade Nase, energische Kinnpartie, buschige, schwarze Augenbrauen, die mit dem tiefschwarzen Haar, das dieser schätzungsweise fünfzigjährige Mann noch hatte, harmonierten. Leucate ... ging es Larry durch den Kopf. Ist er es wirklich?
Er hatte schlanke, aristokratische Hände. Am Ringfinger der Linken trug er einen auffallend großen und kostbaren Brillantring. Es funkelte und glitzerte, als wäre das Licht zahlloser Sonnen darin eingefangen. In seiner Westentasche steckte eine alte Uhr, deren Deckel ebenfalls mit Brillanten der gleichen Sorte besetzt war. Dieser Mann schien eine Schwäche und die notwendigen Mittel für Schmuck zu haben. Das vornehme Äußere dieses Mannes fiel angenehm auf. Mit ruhiger Stimme plauderte er mit seinem Begleiter, der ihm gegenübersaß, aber Larry gewann manchmal den Eindruck, als würde der Mann, den er für Leucate hielt, mit halbem Ohr ihrer Unterhaltung lauschen. Und das wurde besonders auffällig, nachdem auf Larrys Seite der Name Braemer gefallen war. Der Amerikaner plauderte munter mit der jungen Frau, die so unverhofft seinen Weg gekreuzt hatte. Und während des Gesprächs fiel ihm ein, daß er seine Aufmerksamkeit so sehr Leucate geschenkt hatte, daß er ganz vergaß, sich seiner Begleiterin vorzustellen. »Übrigens, mein Name ist Brent, Larry Brent. Und Sie, Miß, wie darf ich Sie nennen?« »Ich heiße May ... May Thompson und bin auf dem Weg nach Braemer, um mehr über das Schicksal meines Bruders zu erfahren.« Das war der Auftakt zu einem weiteren Gespräch. Larry erfuhr, daß Mays Bruder Reginald auf unerklärliche Weise verschwunden war. May, nahm an, daß die Behörden in diesen Fall viel zu schlampie gearbeitet hätten. Als May mal das Abteil verließ, um sich etwas Bewegung zu verschaffen, ergriff Larry die Gelegenheit und tat etwas, was ihn die ganze Zeit schon reizte. Er wußte, daß er sich nicht täuschte, und doch mußte er sich vergewissern. Er nahm seine Brieftasche aus dem Jackett und klappte sie auf. Obenauf lag ein Foto neueren Datums, das ein fotografiertes Gemälde
zeigte. Ein PSA-Nachrichtenspezialist hatte die Aufnahme aus einem alten Buch gemacht, das er in einer Lyoner Bibliothek fand. Die Ähnlichkeit zwischen dem gut gekleideten Mann und dem Mann auf dem Bild war frappierend. Beide glichen sich wie ein Ei dem anderen. Der Mann am Fenster aber - war höchstens fünfzig Jahre alt. Das Gemälde, das der Nachrichtenagent in dem Buch gefunden hatte, aber war schon vor über zweihundert Jahren auf Leinwand verewigt worden! In Blair Atholl hatten sie zwanzig Minuten Aufenthalt. Diese Zeit wurde benötigt, die beiden Waggons, deren Bestimmungsort Braemer war, umzukoppeln und an eine andere Lokomotive anzuhängen. Nun lagen noch siebzig Kilometer vor ihnen, die sie auf einer gebirgigen und kurvenreichen Nebenstrecke zurücklegten. In Braemer angekommen, verabschiedete sich Larry von May Thompson und ließ durchblicken, daß er - falls er die Zeit aufbrächte - bestimmt sich in den »Three Oaks« sehen ließ. Daß das schneller der Fall sein würde, als er jetzt annahm, konnte er nicht ahnen. Er rief ein Taxi und bat den Fahrer, jenem Wagen nachzufahren, in den Leucate und sein Diener gestiegen waren. Seine Überraschung war groß, als dieses Taxi vor den »Three Oaks« hielt! Es war das größte, das gemütlichste und schönste Gasthaus, das Braemer aufzuweisen hatte. May Thompson konnte es nicht fassen, als Larry unmittelbar hinter ihr das Lokal betrat. Der Taxifahrer stellte gerade den riesigen Koffer der Siebenundzwanzigjährigen ab. »Sie haben die Gelegenheit sehr schnell ergriffen, Larry«, lachte sie. »Die Taxikosten hätten Sie sich sparen können. In einem Wagen hätte es die Hälfte gekostet.« X-RAY-3 sah, wie Graf Leucate und sein Diener die gewundene Holztreppe nach oben gingen, und daß der Wirt ihnen
vorauseilte. Er hatte diese Gäste schon erwartet. Die Wirtsfrau kümmerte sich um sie. Larry hatte Glück. Es war gerade noch ein Zimmer frei. Es lag direkt neben dem von May Thompson. »Wenn das kein gutes Omen ist«, freute sich X-Ray-3, während er den Riesenkoffer zum zweiten Mal schnappte, in dem May offenbar ihre sämtlichen Kleider mitschleppte. »Ihre Idee mit dem Taxi war schon gut, May. Da hätte man in der Tat Geld sparen können. Jetzt kommen wir nach oben und müssen feststellen, daß unsere beiden Zimmer durch eine Zwischentür miteinander verbunden sind. Da hätte man doch auch gleich die Übernachtungskosten für ein Bett einsparen können, finden Sie nicht auch? Schambolavalla - lassen wir uns überraschen, wie wir Amerikaner sagen.« Larry machte sich frisch und ging dann hinunter ins Lokal. Er wählte einen Eckplatz, von dem aus er den ganzen Raum überblicken konnte. Wenige Minuten später kam May Thompson, frisch frisiert und umgezogen. Sie trug letzt einen langen, weit schwingenden Rock und eine sportliche Bluse mit großzügigem Kragen und raffiniertem Ausschnitt. May setzte sich zu Larry. Es dauerte nicht lanee, und der Diener Graf Leucates tauchte auf. Er nahm drei Tische weiter den reservierten Platz ein. Hinter dem Tresen stand die Wirtsfrau, eine vollschlanke Person mit Stupsnase und den himmelblauen Augen einer Puppe. Sie war immer fröhlich und lachte. Ihre Tochter, die die Gäste bediente, hatte große Ähnlichkeit mit ihr. Larry und May studierten die Speisekarte. X-Ray-3 blickte dabei immer wieder über den Rand der Karte, um zu sehen, wann der geheimnisvolle Graf seinen Platz einnahm. Der Diener saß noch allein am Tisch. Der Graf hatte offensichtlich einiges mit dem Wirt zu bespre-
chen, denn der tauchte auch nicht auf. Larry registrierte, daß Mrs. McCoy des öfteren einen prüfenden Blick auf die Hintertür und den Treppenaufgang warf, als würde sie jeden Augenblick ihren Mann erwarten. Die Tochter der Wirtsleute kam an Larrys Tisch und erkundigte sich höflich, ob die Herrschaften schon gewählt hätten. May wollte ihren Wunsch gerade nennen, als ein markerschütternder Schrei durchs ganze Haus hallte. Danach war es für einen Augenblick so still, daß man eine Stecknadel hätte fallen hören. Die Gespräche verstummten, die Gäste im Wirtshaus hielten den Atem an. »Lawrence!« entfuhr es da laut und schrill der Wirtsfrau. Sie ließ die Whiskyflasche, aus der sie gerade einschenkte, einfach los, ohne sie richtig hinzustellen. Die Flasche wankte hin und her kippte dann nach vorn und fiel vom Tresen. Zu diesem Zeitpunkt war Larry schon wie von einer Tarantel gebissen aufgesprungen und jagte zum Treppenaufgang. Wenn jemand so schrie, befand er sich in höchster Gefahr. Noch ehe die anderen Gäste reagierten, noch ehe auch die Wirtsfrau um den Tressen kam, um über die Treppe nach oben zu eilen, von wo der furchtbare Schrei gekommen war, trat XRay-3 in Aktion. Die Treppe war steil und machte einen scharfen Knick nach links. Larry sah den großen Schatten vor sich auftauchen und prallte zurück. Ein Mensch! Es ging alles so schnell, daß sein Bewußtsein nur noch bruchstückenhaft die Eindrücke mitbekam. Dieser Mensch, der wie aus dem Boden gewachsen vor ihm auftauchte, war niemand anders als Lawrence McCoy, der Wirt. Sein Gesicht war totenbleich. Die Augen glänzten wie im
Fieber. Sein Atem ging röchelnd. Die starken, behaarten Arme des kräftigen Mannes stießen nach vorn. Larry erhielt einen Stoß gegen die Brust. Er war auf diesen Angriff nicht vorbereitet, taumelte, flog zurück an die rauh verputzte Wand, suchte dort Halt und rutschte dort ab. Der rauhe Putz bohrte sich wie tausend Nadeln in seine Handinnenfläche. Da war der Wirt schon an Larry vorbei und raste die letzten Stufen nach unten. »Lawrence?« vernahm Larry Brent als er sich aufrichtete, die erstaunte, ratlose Stimme der Wirtsfrau. Dann folgte ein Stöhnen, ein dumpfer Aufschrei, etwas fiel zu Boden. Hastige Schritte hörte man. Ein Tisch fiel um. Gläser flogen auf den Holzboden und zersprangen. Unruhe war im Lokal. Die Tür knallte zu. Larry Brent verlor nicht mehr Zeit als unbedingt nötig. Er rannte nach unten und sah gerade noch, wie der Wirt wie von Furien gehetzt durch die Tür auf die dunkle Straße jagte. »Er hat den Verstand verloren! Oh, mein Gott, er ist verrückt geworden«, kam es zitternd über Jennifer McCoys Lippen, die am Fuß der Treppe gegen die Wand lehnte und unfähig war, sich aufzurichten. Ihre Tochter und ein Gast kümmerten sich um sie, als Larry Brent kurz entschlossen über sie hinwegsprang und ohne Zeitverlust dem sich wie irr benehmenden Wirt nachjagte. Der Agent zwängte sich an einem Gast vorbei, dem der Wirt kurzerhand die Faust ins Gesicht geschlagen hatte, als der versuchte, sich ihm in den Weg zu stellen. Der Mann stöhnte, betastete sein anschwellendes Gesicht und fühlte seine schmerzende, aufgeplatzte Oberlippe. Brent sah den Wirt über die Straße rennen. Da kam von links ein Wagen heran. Die Scheinwerfer leuchteten die fliehende
Gestalt voll aus. Das Fahrzeug war auf der breiten, abschüssigen Straße zu schnell. Der Fahrer reagierte zwei Sekunden zu spät. Bremsen quietschten, wie von einer Riesenfaust herumgedrückt, rutschte das Fahrzeug seitlich über die Straße, und mit dem rechten Kotflügel erwischte es den Wirt. Lawrence McCoy flog wie eine Puppe durch die Luft und knallte gegen die Windschutzscheibe, daß sie in tausend Risse splitterte, rutschte dann über die Kühlerhaube und blieb neben dem inzwischen gestoppten Fahrzeug liegen. Noch ehe der vor Schreck erbleichte Chauffeur aus dem Auto taumelte, bückte sich Larry Brent schon neben den reglosen Körper. »Mister McCoy?« rief er und drehte den schlaffen Körper langsam herum. Lawrence McCoys Augen waren weit aufgerissen. Sein Gesicht war übel zugerichtet. Er blutete aus zahlreichen Schnittwunden. Sein Kopf baumelte eigenartig hin und her, als würde er nur noch an einem dünnen Faden hängen. Der Wirt hatte sich das Genick gebrochen, er war tot. Doch nicht allein diese Tatsache war es, die Larry Brent so entsetzte. Es war das Blut, das aus den zahlreichen Schnittwunden und Schürfstellen sickerte. Es war nicht rot - wie bei einem normalen Menschen. Es war dunkelgrün! In Larry Brents Hirn arbeitete es. Leucate! Der Gedanke zuckte wie ein Blitz in seinem Bewußsein auf. Wo er auftauchte, kam es zu Krankheit und Unfall, zu Irrsinn und Tod. Hieß es nicht so? Lawrence McCoy war Leucate begegnet, und sie waren eine Zeitlang zusammengewesen. Was hatte sich oben in dem Gästezimmer ereignet? Eine Flut von Gedanken und Fragen überschwemmte X-
RAY-3. Nur beiläufig nahm er wahr, daß sich im Nu eine Menschentraube um ihn herum bildete. Gäste aus dem Wirtshaus und Anwohner, die auf den Lärm und den Unfall aufmerksam geworden waren. Jennifer McCoy kam. Bereitwillig wichen die Menschen zurück. Die Wirtsfrau starrte auf den Toten und sah das, was auch die anderen beobachteten und war gleichermaßen entsetzt. »Sie hat es wahrgemacht ... sie hat ihm den Fluch gebracht ... ich ...« Plötzlich brach sie zusammen. Larry fing sie gerade noch auf. * Polizei und Krankenwagen wurden benachrichtigt. Der Fahrer des Unglückswagens wurde an Ort und Stelle behandelt; Außer einigen Schürfwunden und einer leichten Gehirnerschütterung hatte er nichts davongetragen. Der Totenwagen kam, und Träger schafften die inzwischen mit einem grauen Tuch abgedeckte Leiche in das Fahrzeug. Die Leiche Lawrence McCoys wurde beschlagnahmt. Daß ein Mensch grünes Blut in seinen Adern hatte, war ungewöhnlich und ließ den Schluß zu, daß hier noch andere eine Rolle spielten, als nur der Unfall. Nach dem Abzug der Polizei standen die Menschen noch immer erregt in Gruppen auf der Straße zusammen. Die Wirtschaft selbst war wie leergefegt. Die Gäste nahmen ihre Plätze nicht mehr ein. Außer May Thompson saß niemand am Tisch. An Essen war nicht zu denken. Der plötzliche Tod des Wirts und die Ohnmacht der Wirtsfrau hatte die Situation von Grund auf geändert. Die Tochter, die verweinte Augen hatte, und weiß war wie ein Leintuch, ließ die Gäste wissen, daß unter diesen Um ständen
der Betrieb nicht weitergehe. Sie bitte um Verständnis, sei jedoch gerne bereit belegte Brote zu servieren, wenn jemand großen Hunger habe. Damit sprach sie in erster Linie May Thompson und Larry Brent an, und sie erwähnte auch den Grafen und seinen Diener. Doch jetzt erst merkte sie, daß der Diener von seinem Platz verschwunden war und auch Graf Leucate sich weder vor dem Lokal noch im Haus befand. Sein Gepäck war ebenfalls nicht mehr auf dem Zimmer, das ihr Vater für den Herrn reserviert hatte. Leucate und sein Diener hatten die allgemeine Verwirrung benutzt und sich wie in Luft aufgelöst. * Es gab viele Dinge, die merkwürdig waren, daß Larry Mühe hatte, sie chronologisch zu ordnen. Daß dieser Tag mit solchen Aufregungen und rätselhaften Ereignissen gespickt sein würde, hätte er sich nicht träumen lassen. Er ärgerte sich, daß er nach Lawrence McCoys Amoklauf nicht besser aufgepaßt hatte, was Leucate und seinen Diener anbelangte. Bei einem Mann, von dem man vermutete, daß er mehrere Jahre hundert Jahre alt war, konnte man keinen normalen Maßstab anlegen. Stand Leucate mit dem Teufel im Bund? War er kein Mensch? Warum hatte Lawrence McCoy so geschrien? Was hatte sich in jener Minute vor seiner Flucht aus dem Haus ereignet? X-Ray-3 machte sich Vorwürfe, daß er nicht seinem ersten Gedanken gefolgt war und einen Blick in jenes Zimmer geworfen hatte, in dem Leucate und der Wirt sich aufhielten. Jetzt, nachdem ein rätselhafter Vorgang abgeschlossen war, ließ sich
nichts mehr recherchieren. Er bat um die Erlaubnis, das Zimmer zu kontrollieren, und sie wurde ihm gegeben. Es sah aus wie alle anderen Zimmer auch. Nichts wies daraufhin, daß sich zwischen Leucate und McCoy eine handgreifliche Auseinandersetzung abspielte, die Spuren hinterlassen hätte. Das und noch anderes ging X-Ray-3 durch den Kopf. Er mußte ständig an die Worte von Jennifer McCoy denken, bevor sie ohnmächtig wurde. Sie hat es wahrgemacht ... sie hat ihm den Bannfluch gebracht ...! Wen meinte die Wirtsfrau mit ›sie‹? Seine Unruhe wuchs. Er kannte dieses Gefühl nur zu gut. Es trat stets dann auf, wenn etwas in der Luft lag. Er sprach mit May über den Vorfall und machte die Erfahrung, daß das Mädchen sich fürchtete, hier die Nacht zu verbringen. »Vielleicht gibt es doch so etwas ähnliches wie Gespenster«, flüsterte sie. »Was hier geschehen ist, will mir nicht in den Kopf. Es gibt keine plausible Erklärung dafür. Es gab auch keine plausible Erklärung für das Verschwinden meines Bruders. Die Menschen hier sind verschlossen, sie rücken nicht mit der Sprache heraus. Sie haben ihre eigenen Vorstellungen von der Welt und ihren Gesetzen. Hier im Hinterland denkt man noch manchmal wie im Mittelalter.« Da hatte May Thompson nicht ganz unrecht. Sie verspeiste ein dick mit Schinken belegtes Brot und zog sich dann auf ihr Zimmer zurück. Larry wartete noch das Erscheinen des Arztes ab, der sich bei Jennifer McCoy befand. Der Doktor hielt sich fast eine dreiviertel Stunde im Zimmer der Frau auf. Als er schließlich herauskam, sprach Larry ihn an und ließ ihn wissen, daß der Vorfall ihn aus besonderem Grund interessiere. Er vermutete, daß hier Dinge vorgingen, die offenbar diese Familie beträfen. Er sei fremd hier, doch in besonderem Auftrag einer Organisation, die sich zur Aufgabe gemacht habe, unerklärliche Er-
eignisse zu erforschen. Die Gefahr, daß hier etwas vorging, was für seine Organisation von Interesse sei, habe bestanden. Und nun sei in der Tat etwas passiert, was außerhalb ieder vernünftigen Erklärung lag. »Ich habe das Gefühl, Mrs. McCoy weiß etwas über das mysteriöse Schicksal ihres Mannes. Sie hat in meinem Beisein eine Bemerkung gemacht, die mich nachdenklich stimmt. Ist Mrs. McCoy bei Bewußtsein?« »Ja.« »Kann ich sie sprechen?« »Vom ärztlichen Standpunkt aus kann ich da nicht unbedingt mit Ja oder Nein antworten, Mister Brent. Wenn Mrs McCoy etwas weiß, das sie bedrückt, das sie gerne los sein möchte dann wäre ein Gespräch unbedingt angebracht. Fürchtet sie sich allerdings davor, etwas mitzuteilen, befürchte ich eine Verschlechterung ihres Zustandes. Sie müßten da mit äußerstem Fingerspitzengefühl zu Werke gehen.« »Ich werde mich an Ihre Anweisungen genauestens halten, Doc. Vielen Dank!« Die Erlaubnis der Tochter, die Privaträume der Familie zu betreten, hatte er. Larry gewann den Eindruck, daß das Mädchen, das nicht älter als zwanzig war, recht froh darüber war, daß sich jemand der Sache annahm. »Sie haben uns im Stich gelassen, alle!« sagte sie mit tränenerstickter Stimme und spielte auf die Leute an, die vorhin noch im Gasthaus saßen und zu denen die altbekannte und seit drei Generationen hier ansässige Familie in den meisten Fällen sogar sehr enge Beziehungen unterhielt. »Sie haben sich benommen, als ob wir ... die Pest hätten.« »Sie haben die Verletzungen Ihres Vaters gesehen. Miß McCoy. Es ist kein alltäglicher Anblick, daß aus Wunden grünes Blut fließt.« »Das grüne Blut des steinernen Götzen«, murmelte sie, und ihr Blick war auf einen imaginären Punkt gerichtet.
»Was hat es damit für eine Bedeutung?« Ihre Hände zitterten, als sie nach der Zigarettenschachtel griff und sich ein Stäbchen anzündete. »Es ist eine Legende - eine sehr gefährliche, und sie hat besondere Bedeutung für die Familie meines Vaters. Das wissen alle hier.« Unerwartet ergab sich das Gesprächsthema und das Frageund Antwortspiel, das Larry Brent ursprünglich mit Mrs. McCoy führen wollte. Daß es sich nun so abspielte, war ihm ganz lieb. Sandra McCoy fuhr mit leiser Stimme zu sprechen fort: »Er lebt verborgen hinter unzugänglichen Mauern des ›Sword Castle‹.« Sie berichtete von der Burg sehr ausführlich, so daß Larry, der sie noch nie gesehen hatte, sie sich bildlich gut vorstellen konnte. »Das Castle soll auf verfluchtem Boden errichtet worden sein, aber das wußten die damaligen Burgherren und Baumeister nicht. In den Bergen drüben in unmittelbarer Nähe des Ben Macdhui, der höchsten Erhebung, sollen vor Tausenden von Jahren Druidenpriester zu ihrem eigenen Schutz vor Feinden eine Gottheit um Hilfe angefleht haben. Ob es sich so verhielt, das weiß niemand. In der Vergangenheit gab es immer wieder Menschen, die jedoch den Versuch unternahmen, mehr über die Burg und das Geheimnis zu erfahren. Die meisten sind nicht mehr zurückgekommen, obwohl sie gewarnt wurden, andere kamen zurück, und nichts war ihnen geschehen. Aber da trog der Schein, wie man sich erzählt, und wie auch mein Großvater noch zu erzählen wußte. Die zurückkehren sind verdammt, dem Götzen zu dienen, ihm Sklaven zu schaffen, damit er umsorgt, gehegt und gepflegt wird und seine Wiederkehr vorzubereiten, damit er herrschen kann wie zu Beginn der Zeiten.« Larry kniff die Augen zusammen. Etwas von dem, was Sandra berichtete, kam ihm auf eine gewisse Weise bekannt vor. Parallelen zu Rha-Ta-N'my, der legendären Dämonengöttin, die in grauer Vorzeit, als erst wenige Menschen auf der Erde
lebten, geherrscht haben sollte, taten sich auf. Aber er sagte nichts, um das Mädchen nicht zu irritieren. »Seine Sklaven werden sich von normalen Menschen nicht unterscheiden, und das macht sie so gefährlich, denn sie werden die Saat des Unheils unter die Ahnungslosen streuen und sie ebenfalls zu Sklaven machen, ohne daß die etwas davon bemerken. So muß es in der Tat auch mal gewesen sein. Das liegt etwas mehr als hundertfünfzig Jahre zurück. Damals, in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, wurde diese Gefahr, vor der stets gewarnt worden war, lebendig im wahrsten Sinn des Wortes. Jene unbekannte Zahl von Sklaven war geschaffen - und der Titan erwachte zum Leben. Mein Urgroßvater muß diese Entwicklung seinerzeit vorausgeahnt haben, oder er hatte etwas beobachtet, was ihm die Gewißheit gab, daß unvorstellbare Dinge sich ereignen würden, daß die Erde in chaotische Zustände zurückfallen würde und Zeiten anbrächen, wie sie die Erde durchmachte, als grausame Magier, furchteinflößende Dämonen und schreckliche Fabelwesen sie bevölkerten. Die Zeit, die in unseren Legenden und Sagen eingefangen ist und die niemand ernst nimmt, würde durch das Auftauchen des steinernen Götzen beschworen, denn er stamme aus jenen Tagen. Bei der Beschwörung sei den Druiden damals ein schwerer Fehler unterlaufen, denn sie hätten diesen Gott ursprünglich nicht rufen wollen. Mittel und Riten wurden seinerzeit angewandt, um seine Macht abzuschwächen oder einzuschränken, damit er den Priestern, die ihn riefen, nicht selbst gefährlich werde. Es gibt einen schwachen Punkt, auch bei Dämonen, und den kannte mein Urgroßvater. Sein Name ist noch heute in aller Mund, wenn die Einwohner von Braemer sich die alten Geschichten erzählen, als Derrick McCoy mit einem Handstreich das Ungetüm in den Bannkreis der Versteinerung zurückzwang. Eine Armbrust und ein besonderer Pfeil sollen dabei eine große Rolle gespielt haben. Inwieweit sich hier Dichtung und Wahrheit verknüpfen, Mister
Brent, vermag ich nicht zu sagen. Aber Sie wissen ja, wie das mit alten Geschichten ist. Etwas wird immer hinzugefügt. Wir besitzen eine eigene Hauschronik, die Vater und Mutter streng unter Verschluß halten. Daraus haben sie mir hin und wieder vorgelesen, die ganze Wahrheit soll ich erfahren, sobald ich das einundzwanzigste Lebensjahr vollende. In der dritten Generation nämlich soll eine besondere Situation auftreten. Dieses Geheimnis darf nicht vorzeitig preisgegeben werden.« Sandra McCoy zuckte die Achseln. »Ich verstehe das alles nicht, und sicher hört sich das Ganze verrückt und sehr merkwürdig an. Sie werden sicher denken, daß ich nicht ganz richtig im Kopf bin ...« »Nein, das denke ich nicht, Sandra.« Seine Stimme war sehr ernst. »Es klingt zwar manches verworren, aber das ist immer so, wenn man nur die halbe Wahrheit kennt. Verworren klingt auch, daß wie Sie mir sagten, in der Vergangenheit einige Schloßbesucher spurlos verschwanden und andere wieder zurückkehrten, ohne daß ihnen scheinbar etwas geschehen war. Wie paßt das zusammen? Es ist ein Widerspruch, und doch muß es einen Sinn geben. Nichts geschieht ohne Sinn, auch wenn wir ihn nicht erkennen. - Wissen Sie noch mehr über das, was Ihrem Urgroßvater damals widerfahren sein soll?« »Nur soviel: mit einer Handvoll mutiger Männer lauerte er vor dem Felsen, der sich öffnen sollte, dem steinernen Ungetüm auf. Sie entzündeten besondere Fackeln und stellten sich im Halbkreis auf. Urgroßvater spannte die Armbrust. Als der Fels sich öffnete, drückte er in dem Augenblick ab, als das Ungetüm sich zeigte, und noch ehe es die Schwelle in die Freiheit überwand. Den Schrei des getroffenen Götzen konnte man meilenweit hören. Wie Donnergrollen soll es durch die Berge gegangen sein. Das Felstor schloß sich wieder, und Chaos, der Gott der Druiden, war besiegt. Aber sein Rückzug soll nur ein Schlaf sein, aus dem er erwachen wird, wenn es ihm gelingt, sich neue Helfer zu schaffen. Sein grünes Blut...«
Hier versagte ihre Stimme, und das Mädchen schluchzte. Larry begriff nur zu gut, was in Sandra McCoy vorging. Sie mußte an die Dinge denken, deren Zeuge sie vorhin geworden war. Das grüne Blut des steinernen Götzen floß in den Adern ihres Vaters. Wie war es dort hineingekommen? Jennifer McCoy schien da mehr zu wissen. Larry wollte etwas sagen, als er plötzlich stutzte. Ein Geräusch? Es war ein leiser, dumpfer Ton, als ob etwas zu Boden falle. Sandra fuhr zusammen und warf den Kopf herum. »Mutter!« stieß sie hervor. »Das Geräusch - kommt aus ihrem Zimmer.« Larry Brent zögerte keine Sekunde. Er war sofort auf den Beinen und warf sich nach vorn. Drei Schritte, und er war an der Tür des Krankenzimmers. Er riß die Tür auf. Sein Blick fiel aufs Bett. Jennifer McCoy lag darin, hatte die Augen geschlossen und atmete tief und ruhig. Sie schlief. Das Fenster zum Hof stand weit offen, und kühle Nachtluft schlug X-RAY-3 ins Gesicht. Weit offen stand auch die Tür zum Schrank. Das untere Fach war durchwühlt; persönliche Gegenstände, Schachteln und aufeinander geklappte Fotoalben lagen wild verstreut herum. Sandra McCoy drängte hinter Larry ins Zimmer. Sie sah es sofort. »Die Haus-Chronik! Jemand hat sie gestohlen!« Sandra McCoy deutete auf die Klappe in der Rückwand des alten Schrankes. Die stand offen. Und dahinter gähnte ein dunkles, quadratisches Loch, in dem die Chronik sonst lag. Die Klappe war nicht mit Gewalt aufgerissen worden, das erkannte X-RAY-3 auf den ersten Blick. Jemand hatte einen Schlüssel gehabt. Der Agent lief zum Fenster und sah gerade noch, wie ein dunkler Schatten an der Hausumfriedung entlanghuschte.
Larry sprang kurz entschlossen über die Fensterbrüstung und jagte über den Hof. Das Tor war nur angelehnt. Noch ehe er es erreichte, sprang ein Motor an. X-RAY-3 erreichte das Tor und zwängte sich durch den Spalt. Da rollte der Wagen an, der knapp fünf Meter von ihm entfernt am Straßenrand parkte. Das Fahrzeug war unbeleuchtet. Der Amerikaner erkannte, daß es sich um einen VW älteren Datums handelte und der Wagen einen Heckkofferträger besaß. Diese Tatsache bestimmte seine weitere Handlungsweise. Wenn er herausbekommen wollte, wer die Aufregungen in den ›Three Oaks‹ nutzte, wer sich heimlich in das Schlafzimmer von Jennifer McCoy schlich, um die HausChronik zu stehlen, mit der es seine besondere Bewandtnis hatte, dann mußte er unbedingt wissen, wohin dieses Fahrzeug fuhr. Larry spurtete los. Wie ein Pfeil von der Sehne eines Bogens, so schnellte sein Körper nach vorn. Noch drei Schritte, noch zwei... dann hatte er den VW erreicht. Der Wagen beschleunigte. X-RAY-3 warf sich nach vorn. Er sprang und klammerte sich gleichzeitig am Gepäckträger über den Ritzen des Motorraums fest. Mit einem Bein fand er sofort Halt auf der rückwärtigen Stoßstange. Der Wagen zog rasch und kraftvoll an; erreichte eine Geschwindigkeit, die er nicht mehr hätte aufholen können, wenn er sich eine Sekunde später für diese Verfolgungsmaßnahme entschlossen hätte. Er kauerte auf der Stoßstange und preßte sich mit harter Hand an den Gepäckträger. Das Fahrzeug fuhr im unbeleuchteten Zustand. Der Fahrer, der nichts von seinem blinden Passagier bemerkte, schaltete die Beleuchtung erst ein, als er die Ausfallstraße erreichte und eine
abzweigende Nebenstraße benutzte, die in die Cairngorms führte. * Das Mädchen lief zum Fenster, starrte einen Moment hinaus und war aufs äußerste erregt. Die Aufregungen nahmen kein Ende. Sandra wußte daß es viel bedeutete, wenn die Chronik entwendet worden war, und sie hoffte, daß es Larry Brent gelang, dem Dieb auf den Fersen zu bleiben. Sie atmete tief die frische Nachtluft ein. Man spürte die Herbstnähe. Mit Einbruch der Dunkelheit stiegen die Nebel und legte sich die Feuchtigkeit wie ein endloser Schleier über Straßen und Bäume. Die Dächer der Nachbarhäuser schimmerten feucht, es roch nach Regen. Kühl und unangenehm war der Wind, der ging. Fröstelnd drückte sie das Fernster zu. Da fühlte sie, wie es eiskalt über ihren Rücken lief. In der Scheibe spiegelte sie sich. Im Fenster sah sie die Tür hinter sich, das Bett ihrer Mutter - und die Fremde! Sandra McCoy befand sich nicht mehr allein im Raum! Aufschreiend warf sie sich herum. »Wer ...« Zu mehr kam sie nicht. Die Fremde, die vor ihr stand, lächelte eisig und dämonisch, und ihre Augen glitzerten wie Kristalle. »Es tut mir leid, Sandra«, sagte die junge Frau mit dem hübschen Gesicht und der Ponyfrisur. »Ihren Vater haben wir als Hilfe verloren. Wir müssen uns Ersatz holen. Die Zeit drängt.« Die rechte Hand der Sprecherin zuckte ruckartig nach vorn. Sandra war vor Überraschung und Entsetzen wie gelähmt. Die Frau, die vor ihr stand, kannte sie! Die war vor kurzer Zeit schon mehrere Male Gast im Haus gewesen. Sie hieß Cyrill Perkins!
Aber Cyrill Perkins war kein Mensch mehr. Sie war eine Veränderte. Und das schon seit geraumer Zeit, wie sich zeigte. Sie strahlte Kälte aus. Wie ein Stein, fuhr es Sandra durch den Kopf. Instinktiv streckte auch sie die Hand abwehrend nach vorn, um einen möglichen Angriff abzuschlagen. Sandra McCoy erwartete, die warme leichte Hand einer Frau zu spüren. Wie entsetzt war sie, als ihre Hand den Unterarm der anderen berührte. Sie glaubte, gegen Fels zu schlagen, verzog das Gesicht, als der Schmerz sie blitzartig traf und hatte das Gefühl, gegen eine steinerne Wand gerannt zu sein. Cyrill Perkins lachte leise und gefährlich. Sandra wich keuchend zurück. Der schmale Weg zwischen Bett und Schrank reichte nicht aus, damit zwei Personen aneinander vorbei kamen. Sie mußte die Gegnerin schon überlisten. Aber wie? Sie massierte sich die Finger, die taub und wie leblos an ihrer Hand hingen. Gegen diesen ungewöhnlichen Gast kam sie, obwohl sie kräftiger aussah, nicht an. Cyrill Perkins stand wie eine Mauer vor ihr. Sandra wollte schreien. Da preßte sich hart und unerbittlich die Hand der Gegnerin auf ihren Mund und verschloß ihn. Diese Hand fühlte sich eiskalt an, und die Kälte strömte wie ein schnell sich verteilendes Gift durch Sandras Körper von den Zehen bis in die Haarspitzen. Wie kam diese unheimliche Frau mit den übermenschlichen Kräften in dieses Haus? Sie war doch seit Wochen nicht mehr hier gewesen, und Sandra sah sie an diesem Abend zum ersten Mal. Cyrill Perkins grinste teuflisch, als ihre zweite Hand hochfuhr und blitzschnell das Amulett, das sie bereithielt, in den Nacken
der Wirtstochter preßte. »Du wirst dich bestimmt wundern, wo ich mit einem Mal herkomme, nicht wahr?« sagte Cyrill, als könne sie Gedanken lesen. »Einer Dienerin des Gottes Chaos ist nichts unmöglich, wie du am eigenen Leib bald erfahren wirst. Sie kann sogar durch Wände gehen, wenn sie das will - denn sie ist ein Teil des Gottes.« Da lag das Amulett auf ihrer Haut. Die rauhe Rückseite bohrte sich förmlich in ihr Fleisch. Ein kurzer, brennender Schmerz, als ob ein Vampir sie gebissen hätte, jagte durch Sandras Körper. Am liebsten hätte sie laut geschrien, aber schon im nächsten Moment wollte sie vor Lust und Triumph jubeln. Sie fühlte sich nicht mehr als Mensch, sie sah nur noch so aus. Jetzt wußte sie, was es hieß chaosähnlich zu sein. Sie sah mit seinen Augen, fühlte mit seinen Sinnen, und die Farben und Eindrücke, die sie empfing, waren so ganz anders, als sie jemals als Mensch empfunden hatte. Die Welt um sie herum war wie ein Schemen und wurde transparent. Das Zimmer, in dem sie sich befand, wirkte perspektivisch verzerrt, als würde sie es durch ein Objektiv sehen, das alles auf geheimnisvolle Weise in die Breite und die Länge zog. Zeit und Raum verloren ihre Bedeutung. Das Bewußtsein der Gottheit, die vor Jahrtausenden den Weg zur Erde gefunden hatte, wurde zu einem Teil ihres Bewußtseins, fraß sich wie ein Krebsgeschwür weiter und verdrängte die leise, eigene Furcht, das bißchen Gefühl, das ihr noch verblieb. Ein leises, unheimliches Rauschen, das von einem fermdartigen Instrument herzurühren schien, schwoll in der Ferne an und kam wie eine Welle, die die Flut herantrug näher - und verebbte wieder. Die Wände, der Schrank, das Bett, die Uhr und die Bilder -
das alles waren nur noch Schatten. In diesen ersten Minuten, der sie Chaos gehörte, da fremdes Blut ihr eigenes umwandelte und zu seinem eigenen machte, da ihr durch dieses Blut Informationen zugetragen wurden - in diesen ersten Minuten wurde sie eingeführt in die Welt, aus der Chaos kam. Endlose Weite einer hügeligen, düster - grauen Landschaft über die sich ein bleierner, wolkenloser Himmel spannte. Es gab kein richtiges Licht auf dieser Welt, und es gab keinen Schatten. Die einigermaßen ebenen, grauen Gebiete zwischen den einzelnen Hügeln erinnerten an ein gefährliches Sumpfgelände. Wie riesiges Spinngewebe waberte der Nebel über der Landschaft und schien im Rhythmus der gespenstischen Musik zu tanzen und zu schwingen. Die Musik mischte sich mit dem Brausen eines ohrenbetäubenden Sturms, der plötzlich zwischen den Hügeln entstand, der über sie hinwegbrauste und die Oberfläche der Sumpflandschaft kräuselte, die dadurch wie ein zähflüssiger, in Bewegung geratener Brei wirkte. Das Geisterhafte und Bedrückende dieser fremden, dämonischen Welt, wurde dadurch noch verstärkt, daß hier kein Baum, kein Strauch, keine Pflanze in irgendeiner Form wuchs. Die Kahlheit, die Leere machte sie lebensfeindlich und bedrohlich. Über allem schien ein böser Geist zu schweben, der ständig den wabernden Nebel veränderte, so daß Sandra McCoy glaubte, in einem fremdartigen Panoptikum zu sein, wo Form und Gestalt der Figuren dauernd wechselte. Geisterhafte, gigantische Wesen entfalteten sich und schwebten über der ungeformten Landschaft. In der Ferne, wohin ihr Blick jetzt schweifte, stieg eine gischtige Welle steil und brüllend zum Himmel empor und kam rasend näher. Ein kochendes, sprudelndes Meer schwappte über die Hügel und dräuenden
Sümpfe hinweg, und auf dem gigantischen Schaumberg tanzten wilde grüne und rotviolette Lichter, als ob glutflüssige Gase aus der in der Ferne ausgebrochenen Erde mit herausgeschleudert worden wären. Unwillkürlich wich Sandra McCoy einen Schritt zurück, weil sie fürchtete, von der Welle erfaßt und überflutet und weggeschwemmt zu werden. Steil wie eine Fontäne, wie eine siedende, brüllende und zischende Wasserwand ragte der Wellenberg vor ihr auf, sank dann in sich zusammen, und in Milliarden und Abermilliarden winziger Spritzer zersprang der Berg wie ein gigantischer Tropfen, den sie unter dem Mikroskop und in Zeitrafferaufnahme beobachten konnte. Der Himmel erbebte, dumpfes Grollen erscholl, und für Bruchteile von Sekunden schien es, als ob Himmel und Erde sich vermählten und eins würden. Ein riesiger Spalt entstand, in der sich fauchend und heulend eine feuerumhüllte, gasförmige Kugel näherte und in das ErdeWassergemisch prallte. Eine ungeheure Explosion erfolgte. Der Boden unter Sandras Füßen erbebte. Kometen und glühende, in allen Farben leuchtende Sonnen tanzten und kreisten am grauen Himmel, und die endlose Weite eines neuen Weltalls bot sich ihren Blicken. Das alles war so fantastisch, so faszinierend, daß sie vergaß zu atmen. Ihr Herz schlug schneller, und sie vergaß alle Angst, die ihr kleines menschliches Herz noch unter Chaos' Einfluß aufzubringen vermochte. Sandra McCoy erblickte Dinge, die jenen menschlichen Augen sich öffneten, die mit Chaos' Sinnen sahen. Die Geburt einer Welt, das Chaos der Urzeit, die Wirrnisse des Urzustandes - Sandra wurde Zeuge. Sie befand sich mitten drin, konnte nicht fliehen und wollte nicht fliehen. Das war ihre Geburt, sie befand sich im Bauch der Welt - sie war in diesen Sekunden Chaos! Farben von einmaliger Faszination umhüllten sie. Sie fühlte
sich wohl in diesem Grauen, in diesem entsetzlichen Zustand, der jedes andere Leben ausschloß, in dem überhaupt kein anderes Leben möglich war. Nur ein Leben hatte hier seine Berechtigung: die Existenz eines unheimlichen menschen- und lebensfeindlichen Gottes, das Dasein von Chaos, dessen Geburt sie miterlebte. Der Kosmos in seinem Urzustand, als gute und böse Geister das All bevölkerten - das war Chaos' Reich. Ein ungeheurer Triumph erfüllte das kleine Menschenherz. Macht über Leben und Tod, Macht über Werden und Vergehen, über die Schöpfung - das wurde ihr versprochen. Und das Glück, das sie empfand, war grenzenlos. Aus dem Nichts war die umgeformte Materie des Weltalls geworden, aus dem Nichts kam das Chaos - und mit ihm der Gott des unvollkommenen Kosmos', der Gott der ungeordneten Zustände, der Herr über ein Heer von Geistern und Dämonen. Aus glutflüssigen Gasen formten sich Sonnen und Planeten. Die Dichte aber war Chaos' Gefängnis! Wo eine Form entstand - entstand Ordnung. Ordnung bedeutete Kälte - und Tod für Chaos. Unbeweglichkeit. Sandra begriff – der Stein, zu dem Chaos geworden war, entsprach nicht seiner Ursprungsform, man hatte ihm diese Gestalt aufgezwungen. Chaos brauchte das Leben er saugte es in sich auf wie ein Schwamm. Sie war ein Teil dieses Lebens. Soviel wurde ihr noch klar. Mehr nicht. Und das hatte seine Bedeutung. Für einen anderen. Für Chaos! Sandra McCoy glaubte auf Wolken zu schweben und spürte eine Freiheit von nie gekannter Größe. Sie war eins mit dem Kosmos eins mit dem Universum. Sie war wie ein Gott. Diese kleine, unbedeutende Welt, die sie umgab - erfüllte sie mit einem Mal mit Haß und Abscheu.
Da war die erste Minute herum. Ihr erster Kontakt mit Chaos' Sinnen war vorüber. Noch waren die Wände und die Straßen, der dunkle Himmel über ihr und die fernen Berge vor ihr transparent. Noch nahm Sandra die fernste Ferne ebenso wahr wie die Nähe der Welt, in der sie groß geworden war. Sie konnte freie Entscheidungen treffen, die nur noch so frei waren, wie es das fremde Blut in ihren Adern zuließ. Sie wußte, daß sie ein Rädchen in einem großen Getriebe war, daß dieses Getriebe noch stillstand, daß der Zeitpunkt aber ganz nahe gerückt war, wo dieses Getriebe, wo der Organismus von Chaos funktionierte. Sandra McCoy blickte aus dem Fenster hinaus in den dunklen Hof. Das Tor vorn stand halb offen. Die Wirtstochter ging zwei Schritte weiter vor und passierte das Fenster, ohne es zu öffnen. Wie ein Geist ging sie hindurch und stieß nirgends an. Fenster und Wand existierten einfach nacht für sie und waren wie Luft. Sandra nahm es hin, ohne darüber nachzudenken. Ihre molekulare Struktur hatte sich verändert wie das Blut in ihrem Körper. Die Wirtstochter überquerte den Hof und sorgte dafür, daß das Tor von innen verriegelt wurde, wie es Abend für Abend üblich war, und wie es nur heute - nach den unheimlichen Ereignissen in den ›Three Oaks‹ vergessen wurde. Auf dem gleichen Weg, wie sie das Haus verlassen hatte, kehrte sie wieder dorthin zurück. Da bewegte sich ihre Mutter in den Kissen. Sandra verursachte ein leise raschelndes Geräusch, als sie mit dem Fuß am Teppich hängenblieb und ihn nach vorn schob, so daß er das über die Matratze hängende Leintuch berührte. »Sandra?« fragte Jennifer McCoy leise und hielt die Augen geschlossen. »Bist du's?« »Ja, Mutter. Mach' dir keine Sorgen!«
Ihre Stimme klang wie immer, sie benahm sich wie immer und doch war sie eine andere. Jennifer McCoy suchte nach der Hand ihrer Tochter, die sie ergriff. »Sandra...« »Ja?« »Ist das nicht schrecklich mit Vater?« »Doch, es ist schrecklich.« Sandra McCoys Augen füllten sich mit Tränen. Echte Gefühle? Nein! Dazu war sie nicht mehr fähig. Sie wäre aber auch nicht zu diesem großartigen Schauspiel fähig gewesen, wenn es einen nicht gegeben hätte, der in diesen Sekunden mit ihr verbunden war, dessen Geist den ihren kontrollierte, leitete und beeinflußte: Chaos. »Es wird alles wieder gut werden, Mutter.« »Gut, ohne Vater?« Sie war nur halbwach, bekam aber erstaunlicherweise alles mit. »Wir müssen es überwinden. Wir müssen es versuchen.« Jennifer McCoy nickte kaum merklich. Ihre Gesichtshaut wirkte wächsern, ihre Augenlider zuckten wie die Flügel eines Schmetterlings, der sein Ende nahen fühlte. »Wichtig ist, daß du jetzt nicht gefährdet bist.« »Warum ich, Mutter?« »Die Frau - die fremde Frau ...« Ihre Stimme klang sehr schwach, und Sandra gab ihrer Mutter zu verstehen, daß es doch besser für sie wäre, wenn sie schwieg. Aber davon wollte sie nichts wissen. »Ich muß aber reden. Sandra ... es ist wichtig ... für dich ... Die Haus-Chronik, du weißt was es damit auf sich hat ... aber nein ... ich wollte dir ja erst von der Frau erzählen, von der Fremden ...« Ihre Lippen zuckten, ihre Stirn legte sich in Falten, und man sah der mitgenommenen Wirtsfrau an, daß es ihr schwer fiel, ihre Gedanken zu ordnen.
»Die Fremde, eine Miß Perkins ... so hat sie sich damals vorgestellt, war vor etwa vier Wochen zum ersten Mal hier, wie du weißt ... Vater warnte sie davor, die Burg zu besichtigen. Sie tat es trotzdem . . . und kam wieder. Am gleichen Tag verließen sie und ihr Freund Braemer. Aber danach tauchten sie immer öfter hier auf und fanden Unterkunft: und immer öfter sah ich sie mit Vater sprechen ... sie kam mir nicht ganz geheuer vor ... sie war die erste Besucherin des Castle, die den verhexten Boden betrat und in unser Haus zurückkam. Das machte mich stutzig. Es war anders als in den Fällen zuvor ... wenn mal Fremde kamen, die die Burg sehen wollten ... die gingen höchstens auf Sichtweite heran – oder bis ans Mauerwerk hinauf ... sie aber besaß einen Schlüssel für das Tor ... Sandra ... sie war im Schloß ... sie hat das grüne Blut des Götzen in ihren Adern! Und sie traf Vater und verfluchte ihn ... und niemand merkte es ... wie Urgroßvater Derrick schon damals darauf hinwies, daß man diejenigen nicht erkennt, in deren Adern das grüne Blut fließt, die dem Götzen das Leben schenken, um es selbst schließlich dafür zu verlieren ... Sie wissen das nicht ... Urgroßvater Derrick konnte das erste Erwachen des Götzen damals stoppen ... er lud einen Fluch auf sich, der Götze versprach, innerhalb von drei Generationen zurückzukehren ... ich muß dir etwas anvertrauen, Sandra: ich weiß nicht, ob es richtig ist, aber es ist garantiert falsch, es nicht zu erwähnen ... für den Fall daß ich sterben sollte ... doch, Sandra, das muß ich bedenken ... ich fühle mich sehr schlecht ... mein Herz schlägt so eigenartig, als sei es aus dem Rhythmus geraten ... ich kann nicht durchatmen ... ich weiß nicht, warum es so ist ... ich war immer so gesund ... las mit Vater, ist mir sehr nahe gegangen ... ich glaube, ich kann nicht leben ohne ihn ...« Kalter Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Besorgt tupfte Sandra das glänzende Gesicht ihrer Mutter ab. Sie litt unter offensichtlichen Kreislaufbeschwerden und stemmte sich mit starker Willenskraft gegen eine neue Ohnmacht.
Ihr Atem wurde wieder ruhiger, und sie hatte Kraft geschöpft, um weiterzusprechen: »Die dritte Generation ... Urgroßvater Derrick ließ diese Androhung keine Ruhe. Er nahm das sehr ernst. Niemand weiß, welche Wege er ging, um die Androhung zu hintergehen oder sie wenigstens abzuschwächen. Wir wissen nur, daß er in jener Zeit eine weite und ausgedehnte Reise machte, daß er mit vielen Menschen zusammentraf, mit ihnen redete ... in der Chronik, Sandra, steht vermerkt, daß es ihm gelang, den Fluch für die dritte Generation abzuschwächen. Wer zu diesem Zeitpunkt aus seinem Stamm den Namen McCoy trägt - egal ob Mädchen oder Junge -, der wäre fähig, dem Grauen Einhalt zu gebieten, wenn es ihm gelänge, das einundzwanzigste Lebensjahr ohne eine Begegnung mit dem Ungetüm zu überstehen. Der Fluch ist in unserer unmittelbaren Nähe, und ich kann nicht länger schweigen, kann der Empfehlung nicht folgen, erst an deinem 21. Geburtstag die Chronik, die für dich bestimmt ist, zu öffnen. Nie war die Rede davon, daß es eventuell Vater treffen könne - wir haben immer nur die Befürchtung gehabt, daß mit dir etwas Besonderes sein wird. Doch über ein Jahrhundert hinweg kann sich viel ändern, wenn man bedenkt, daß auch die Feinde aus dem Unsichtbaren nach Mitteln und Wegen suchen, um einen Bannkreis zu durchbrechen. Und das ist ihnen gelungen, wie das Beispiel unseres Vaters zeigt. Bewahre die Chronik gut, Sandra! Die letzten Geheimnisse sind nur für dich bestimmt. Nur durch deine Hand kann der Götze fallen, wenn er nach neuem Leben strebt. Meide die Nähe jener Frau, die wir unter dem Namen Cyrill Perkins kennen! Sie trägt das Grauen in sich. Nur einer kann es verbreiten, der das Amulett des steinernen Götzen als erstes berührt und an sich nimmt. Nur sie kann weitere dienstbare Geister schaffen. Flieh' von hier und verstecke dich! In drei Tagen ist dein Geburtstag, Sandra. Solange noch mußt du dich verbergen. Wenn es Chaos und seiner Sklavin vorher gelingt, dich in
seine Abhängigkeit zu bringen, ist alles verloren. Das Blut des Gottes Chaos darf nie durch deine Adern fließen, denn niemand sonst - außer dir - kann dem Unheimlichen, sollte er nach neuem Leben streben, den Tod bringen, den dein Urgroßvater für ihn bestimmt hat. Nur du kannst es ...« * Kälte und Feuchtigkeit drangen bis auf seine Haut durch. »Das kommt davon, wenn man sich keine Zeit zum Umziehen nimmt«, knurrte Larry Brent leise vor sich hin. Er klebte wie eine Klette an dem Gepäckträger, und der kalte Fahrtwind zerzauste seine Haare und ließ ihn erschauern. Unangenehm war auch der leichte Nieselregen, der seine Kleidung durchnäßte. Der Fahrer nahm die stark gewundenen Kurven verhältnismäßig schnell. Die Reifen quietschten auf dem feuchten Asphalt. Larry Brent wußte nicht, wo er sich befand. Ein Hinweisschild hatten sie noch nicht passiert. Nur eines war zu erkennen: die Straße führte in die Berge, in eine ziemlich abgelegene Gegend, wie ihm schien. Kein Fahrzeug kam ihnen entgegen, keines folgte ihnen. Rauh und nackt ragten zu beiden Seiten der in das Gebirge geschnittenen Straße die Felsen neben ihnen auf. X-RAY-3 hatte mehr als einmal den Versuch unternommen, durch das Heckfenster einen Blick in das Innere des VW zu werfen. Er hoffte dadurch den Fahrer zu erkennen, aber er nahm nur die schattigen Umrisse des Chauffeurs wahr. Es handelte sich um einen Mann. Mehr war nicht zu erkennen. Dieser Mann war niemand anders - als Brian Baker. Mit zusammengepreßten Lippen saß er hinter dem Steuer und jagte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit die einsame Bergstraße hoch. Auf dem Beifahrersitz neben ihm lag ein
großes, uraltes Buch, dessen Seiten vergilbt und dessen weicher Schweinsledereinband abgegriffen war. Baker lachte leise vor sich hin. Im Handstreich war es ihm gelungen, einer Forderung Chaos' nachzukommen. Mit Chaos' Gedanken und Gefühlen handelnd, wußte er: der Schlüssel zu seinem Untergang befand sich nicht mehr in der Hand der Sterblichen. Er konnte nun frei darüber verfügen. Gemeinsam waren sie vorgegangen. Sein Auftrag, den er als ein Glied der inzwischen groß gewordenen Gruppe ausgeführt hatte, war beendet. Cyrills Mission dagegen dauerte noch an. Sie allein konnte dafür sorgen, den Lebenskreis für Chaos zu erweitern, indem sie das dämonische Amulett jenen ansetzte, die für die große Wiederkehr des Götzen auserwählt waren. Er blickte kurz in den Innenspiegel. Seine Lippen verzogen sich. Brian Baker wußte, daß bei seiner Abfahrt einige Meter von Lawrence McCoys Inn entfernt sein Verfolger auf die hintere Stoßstange aufgesprungen war. Mehr als einmal hatte Baker auch durch ein gewagtes Beschleunigungsmanöver oder das zu rasche Fahren in die Kurve versucht, den ungebetenen Gast abzuwerfen. Doch es war ihm nicht gelungen. Von vornherein hatte Baker nach seiner Flucht einkalkuliert, daß er sich etwas Besonderes einfallen lassen müsse, um den Verfolger den er mitschleppte, wieder los zu werden. Daraufhin hatte er nach dem Verlassen der Ortschaft einen anderen Weg gewählt als denjenigen, den er ursprünglich fahren wollte. Er fuhr praktisch um den Berg herum und erreichte jenseits der Schlucht eine Anhöhe, die dem Hügel an dem das Sword Castle wie angeklebt war genau gegenüberlag. Die Straße führte weiter in die Höhe, doch an diesem Punkt, den er jetzt erreichte, konnte er den Wagen nach rechts ziehen. Vor den hellstrahlenden Scheinwerfern dehnte sich eine holprige Hochebene aus. Krüppelkiefern standen vereinzelt und in Gruppen, knorriges Unterholz wuchs in dem dünnen Erdreich.
Der Wagen, der über den holprigen Untergrund gejagt wurde, schüttelte sich und ächzte, als würde eine Riesenfaust ihn packen. Baker nahm nur geringfügig das Gas weg, riß das Steuer herum, und der VW schleuderte, daß Larry Brent die Fliehkraft zu spüren bekam. Spätestens in diesem Augenblick wurde X-RAY-3 klar, daß der Fahrer ihn entdeckt hatte und sich seiner entledigen wollte. Larry krallte sich an den Gepäckträger. So leicht sollte der andere es nicht haben. Wenn der dachte, daß es genügte, mit dem Wagen ein paar tolle Kapriolen zu fahren und ihn dadurch zum Abspringen zu veranlassen, so irrte der sich. Larrys Muskeln waren hart wie Stahl. Er preßte sich eng an das kalte Metall, als sei er damit verwachsen und könne sich nie mehr davon lösen. Baker fuhr mehrere Male im Kreis und bremste blitzschnell ab. Larry wurde nach vorn gerissen. Er schlug unangenehm mit dem Kopf und mit dem ganzen Körper gegen die Motorklappe. Seine Finger naß und kalt, waren klamm so daß jeder neue Angriff Bakers für ihn mit dem Risiko verbunden war, nun doch bald abgeworfen zu werden, weil er sich einfach nicht mehr halten konnte. Doch diesen Gefallen wollte er dem anderen nicht tun. Larry wußte daß dann alles umsonst gewesen war. Wenn es dem VW-Fahrer gelang, ihn abzuwerfen, würde der mit hohem Tempo davonrasen und er würde sich in der Einöde einen Weg zurück nach Braemer suchen müssen, ohne erfahren zu haben, wer nun Interesse daran hatte, eine Chronik zu stehlen, um ein wichtiges Ereignis zu unterbinden oder zu forcieren. So ganz blickte X-RAY-3 da noch nicht durch. Der Fahrer riß erneut den Wagen herum. Und dann fiel ihm eine neue Gemeinheit ein. Er wendete ziemlich hart, bremste plötzlich und legte den Rückwärtsgang ein. Die Räder drehten durch, als er zu schnell
Gas gab, doch dann faßten sie. Erde, Wurzelwerk und dürres Gras wurden in die Luft geschleudert, als der VW rückwärts auf einen Abhang zujagte. Der Fahrer ging in diesen Sekunden auch ein hohes Risiko für sich selbst ein. Er wollte Brent mit aller Gewalt loswerden - und setzte dabei sein eigenes Leben aufs Spiel. In diesem unwegsamen Gelände, das er offenbar selbst nicht genau kannte, entspann sich ein Kampf auf Leben und Tod. Baker beschleunigte hoch. Der VW raste dem Abhang entgegen, und Larry Brent sah diesen Abhang auf sich zukommen. Eine Schlucht, steil, schwarz und unergründlich ... Ein scharfer Ruck. Der Wagen stand nicht sofort, rutschte über das Gelände und riß Steine und Wurzelwerk empor. Larry flog ruckartig nach vorn und umklammerte die kalten Metallstäbe. Da zog der VW wieder an. Stand. Mit Tempo ging er erneut rückwärts. Diesmal verschätzte Baker sich. Der Wagen kam eine Handbreit vor dem Abhang zum Stehen - und Larry starrte in die schwindelerregende Tiefe. Er atmete schnell, sein Herz raste. Wenn dieses Spiel noch lange weiterging, dann würde er den kürzeren ziehen ... Wenn der andere so halsbrecherisch über seine eigene Sicherheit hinwegsah und weiterfuhr, würde das mit ihrer beider Tod enden. Der dritte Versuch! Der VW raste erneut im Rückwärtsgang dem Abgrund zu. Diesmal hatte Larry die Nerven nicht mehr, das Manöver durchzuhalten. Er gab sich einen Ruck und sprang zur Seite. Er hatte das Gefühl, als wäre er von einem Pferd getreten worden, als er dem holprigen Boden entgegenflog. Er hatte seinen eigenen Schwung und die Geschwindigkeit des Fahrzeugs unterschätzt. X-RAY-3 hoffte federnd aufzukommen. Das war nicht der
Fall. Er kam hart auf und rollte sich ab. Ein Ruck ging durch seinen Körper, in seinen Hüften gab es einen Schlag. Er landete zwischen Steinen und Astwerk, und zwar so unglücklich, daß er mit dem Fuß in einer Gabel hängenblieb. Instinktiv zog er das Bein sofort an, um auf die Füße zu springen. Doch das ging nicht. Sein Fuß klemmte in der Vergabelung, und Larry bekam ihn nicht frei. Ein Motor heulte auf. Der VW startete. Die grellen Scheinwerfer rissen Larry Brents Körper aus dem Dunkeln. Der Wagen raste direkt auf ihn zu, und der Amerikaner sah keine Möglichkeit mehr, wie er sich aus der Gefahrenzone bringen konnte. Aus! schoß es X-RAY-3 durchs Hirn, als er die Vorderreifen rasend schnell auf sich zurollen sah ... * Sie fühlte sich elend und matt, aber sie war innerlich so erregt, daß sie keinen Schlaf fand. May Thompson wälzte sich von einer Seite auf die andere, warf sich im Bett herum und redete sich ein, schlafen zu müssen. Sie lag mit offenen Augen und starrte gegen die Decke oder auf die Wand. Dunkel hob sich das Fensterkreuz vom Nachthimmel ab. Es regnete leise gegen die Fenster. Das mochte May immer gern. Es beruhigte. Aber heute nutzte selbst das nichts. Es war still im Haus. Kein Wunder. Unten in der Wirtschaft war nichts los, und außer ihr und Larry Brent gab es keine weiteren Gäste mehr. Sie hielt den Atem an und lauschte. Ein Geräusch? Kam Larry in sein Zimmer? Das würde sie beruhigen. Die Nähe dieses
Mannes tat ihr wohl. Sie richtete sich langsam im Bett auf. Knarrende Dielen ... Draußen vor ihrer Tür ... Jemand kam zu ihr? Plötzlich geschah etwas, das ihr Blut in den Adern gefrieren und sie gellend aufschreien ließ. Es kam jemand. May erblickte die Gestalt, die durch die Tür kam, ohne daß die sich geöffnet hätte! Alles in May Thompson sträubte sich vor dieser Tatsache. Träumte sie? Nein, sie war hellwach. Vor ihr im Zimmer stand eine Frau und kam mit zwei schnellen Schritten näher. Eine Sekunde lang war May vor Schreck gelähmt. Wie ein Schemen glitt die Gestalt auf sie zu. »Was wollen Sie von mir? Wie kommen Sie hier herein?« entrann es rauh ihrer Kehle. »Ich will Sie«, sagte Cyrill Perkins. »Und komme durch die Tür, wie Sie sehen.« Sie löste das Amulett von ihrem Hals. May Thompson wich an das Kopfende ihres Bettes zurück. Eine Verrückte, schoß es ihr durch den Kopf, die mit dem Teufel im Bund stand, denn welcher normale Mensch konnte durch Wände gehen? Wenn sie nur daran dachte, kroch eine Gänsehaut ihren Rücken empor. Flieh, sagte eine warnende Stimme in ihr. Hier in diesem Haus gehen Dinge vor, die menschliches Begriffsvermögen übersteigen. Aber May stand da wie erstarrt und sah, wie die junge Frau die Hand öffnete. Sie erblickte das Amulett, das ihr entgegengestreckt wurde. Da handelte sie. May riß ihr Bein empor, begriff instinktiv die Gefahr, ohne sie begründen zu können, und streckte ihr Bein wieder aus. Mit
wuchtigem Stoß krachte es gegen Cyrill Perkins' Brust. Eine normale Frau wäre förmlich zurückgeprallt. Cyrill Perkins stand aber da wie eine Mauer und May Thompson schrie vor Schmerz auf, riß ihr Bein erneut hoch, aber nicht, um es noch mal abzustoßen, sondern um mit beiden Händen ihren Fuß zu umfassen, als könne sie dadurch den Schmerz lindern, der bis in ihre Hüfte hochzuckte. Da riß Cyrill Perkins sie mit harter Hand herum. May Thompson verlor das Gleichgewicht und fiel aufs Bett. Sie schlug und trat um sich, aber es war das gleiche als wenn sie versuchte, gegen einen muskelbepackten Mann anzutreten, der ihr um ein Vielfaches überlegen war. Sie wurde herumgerollt wie ein kleines Kind, das sich vergebens zur Wehr setzte, lag auf dem Bauch, keuchte und schrie, daß es durch das ganze Haus hallte. Die Hand mit dem unheilbringenden Amulett näherte sich ihrem Nacken. Da splitterte es. Die Zimmertür flog fast aus dem Rahmen und landete krachend gegen die Wand. Ein Schatten flog durch die gewaltsam geschaffene Öffnung, und Cyrill Perkins warf den Kopf herum. Ein greller Blitz schoß in ihre Augen. Ein Ruck ging durch den Körper der Veränderten. Schrill und laut kam ihr Aufschrei. Sie warf die Arme in die Höhe, taumelte wie von einer Riesenfaust getroffen auf die Seite und preßte die Hände vor das Gesicht, ohne das Amulett loszulassen. Dann drehte sie sich einmal um ihre Achse. Es ging alles so schnell, daß May Thompson später nicht mehr zu sagen wußte wie die Dinge eigentlich abliefen. »Kommen Sie, schnell!« sagte eine dunkle, angenehme Männerstimme, und irgendwie schien es ihr, als hätte sie die schon mal gehört. Der Besucher, der sich gewaltsam Eintritt verschafft hatte,
war mit einem schnellen Schritt neben ihrem Bett und kümmerte sich überhaupt nicht um die wimmernde und keuchende Cyrill Perkins, die langsam zu Boden sank. Der Fremde riß May empor, nahm sie auf seine Arme und trug sie zur Tür. Im Haus war es vollkommen dunkel, aber mit schlafwandlerischem Geschick fand der Eindringling die Treppe, eilte nach unten und durchquerte den leeren, nach abgestandenem Rauch, kaltem Fett und Alkohol riechenden Gastraum. Vor der Tür stand ein viertüriger Wagen. Die Kastenform und der dunkle Anstrich erinnerten May an ein Londoner Taxi. Es war auch ein Taxi. Ein Mann saß hinter dem Steuer, der Motor lief. Nicht gerade sanft wurde May auf den rückwärtigen Sitz geschoben, ihr Entführer setzte sich neben sie, und der Wagen machte einen Satz nach vorn. »Was hat das alles zu bedeuten?« kam es leise über May Thompsons Lippen. Sie zog die Beine an, verkroch sich ganz in die rechte Ecke des Rücksitzes und versuchte ihre Blößen so gut zu bedecken, wie es unter den gegebenen Umständen ging, denn sie trug nur ein durchsichtiges Nachthemd und hätte in diesem Augenblick zehn Hände haben müssen. »Wenn ich es Ihnen erklärte, würden Sie es nicht begreifen«, sagte der Mann neben ihr und wandte ihr das Gesicht zu. »Und manchmal ist es im Leben besser, wenn man von gewissen Dingen nichts weiß.« Er lächelte geheimnisvoll. Es war der Graf von Leucate. * Cyrill Perkins löste langsam die Hände von ihren Augen. Angst verzerrte ihr Gesicht. Was sie erlebt hatte, war furchtbar gewesen. So also war es Lawrence McCoy ergangen. Er hatte in den Dämonenspiegel geblickt - und sich selbst
erkannt. Kopflos war er davongerannt und dabei auf die Straße geraten, wo ein Auto ihn erfaßte und tötete. Sie wankte zur Tür und taumelte auf den Korridor. Ihre Haltung wurde wieder straffer und selbstbewußter. Sie hatte das vollkommene Grauen, das einen Augenblick lang von ihr Besitz ergriff, wieder abgeschüttelt. Sie lief über die Treppe nach unten. Aus dem Hinterzimmer kam Sandra McCoy. Die beiden Frauen gingen bis in die dunkle Wirtsstube. Cyrill Perkins blieb hinter der Glastür stehen, Sandra etwa in der Mitte des Raumes. Cyrill Perkins starrte hinaus auf die dunkle Straße und verfolgte mit haßerfülltem Herzen die roten Rücklichter des rasch sich entfernenden Autos. Der Haß, den Cyrill empfand, loderte auch in den Augen der jugendlichen Sandra. »Er wird uns nicht entkommen«, preßte Cyrill hervor. Sie wußte, was in diesem Augenblick in Sandra McCoys Kopf vorging. Ein geheimnisvolles, unsichtbares Band verknüpfte ihrer beider Geist, und Chaos war die Schaltzentrale, in der alles zusammenlief, wo alles entschieden und koordiniert wurde. Ein Feind war aufgetaucht. Ein Feind, der vernichtet werden mußte, der sein altes Wissen nutzte, um ihnen gefährlich zu werden. Sollte so dicht vor dem großen Augenblick alles zunichte gemacht werden? »Dreihundert müssen es sein«, sagte Cyrill Perkins wie in Trance, und genauso drehte sie sich auch herum. »Zweihundertachtundneunzig sind wir. Chaos hat diesmal klug gehandelt und seine Diener nicht alle in seinem Tempel versammelt. Sie bewegen sich als Menschen unter Menschen, und niemand erkennt sie, niemand weiß um die Gefahr, die sich schleichend fortentwickelt. Diese Maxime galt bis vor wenigen Stunden.
Jetzt gilt sie nicht mehr. Chaos hat anders entschieden. Tod dem Mann, der verhindert hat, daß Chaos' zweihundertneunundneunzigster Diener uns nützlich sein kann! Er hat nur aufgeschoben, was nicht mehr zu verhindern ist. Jeder, der sich Chaos widersetzt, ist verloren. Auch der, der versucht hat, Brian nachzufolgen. In dieser Minute noch wird er sterben.« Sie wußte das, weil Brian so dachte, und weil auch Brian Bakers Bewußtsein ein Teil des kontrollierenden Chaos war. * Für Brian Baker war klar, daß er sein Zeil erreicht hatte, als er auf den hilflos vor ihm liegenden Larry Brent zuraste. Mit beiden Rädern würde er ihn überrollen, und dann war die Sache ausgestanden. Brents Herz schlug bis zum Hals. In seiner Todesangst aktivierte er noch mal seine ganzen Kräfte. Er warf sich herum, machte eine Drehbewegung und zog mit solcher Kraft an seinem Fuß, daß der aus dem geschlossenen, fest sitzenden Schuh herausrutschte. Da rauschten die Räder heran. Larry spürte noch einen leichten Ruck in der Seite, als er sich ein zweites Mal herumwarf. Um Haaresbreite verfehlte ihn das rechte Rad. Noch auf dem Boden liegend, am ganzen Körper mit kaltem Schweiß bedeckt, starrte er auf das vorbeirasende Fahrzeug und erblickte für den Bruchteil eines Augenblicks das bleiche Gesicnt mit den kalt glitzernden Augen. Baker konnte nicht fassen, daß ihm sein sicheres Opfer nun doch nicht ins Netz ging, daß dieser Mann es noch mal geschafft hatte zu entkommen. Er trat auf die Bremse, während er gleichzeitig den Kopf herumwarf, um zu sehen, wohin der auf dem Boden Liegende sich wandte.
Larry sprang auf die Beine. Sein rechter Fuß schmerzte ihm, er hatte sich die Sehne verzerrt. Baker, der den Kopf gewandt hatte und nicht auf das achtete, was vor ihm war, registrierte aus den Augenwinkeln heraus den hohen, langen Schatten. Ein Baum! Zu spät riß er das Lenkrad herum. Kreischend rutschte der linke Kotflügel an dem Baumstamm entlang. Der Wagen wurde unsanft herumgedrückt, und Baker hatte noch Glück im Unglück, daß sich der Unfall während des Bremsens ereignete und nicht mehr passierte. Larry humpelte über Stock und Stein und eilte dem stehenden Fahrzeug entgegen. Er rechnete damit, daß der Fahrer nach dem mißglückten Mordversuch das Weite ergriff und ihn hier zurückließ. Das wollte er verhindern. Er mußte den unbekannten Gegner hinter dem Lenkrad hervorholen, ehe der erneut Gas gab. Doch er war duch die Verletzung in seinen Bewegungen nicht so schnell wie gewohnt. Der andere gab Gas. Larry schnellte nach vorn, ergriff wieder das Gestänge des Gepäckträgers, als Baker im Rückwärtsgang losfuhr, um das zu vollenden, was nicht gelang. Als er sah, daß Larry wieder seinen alten Platz eingenommen hatte, beschleunigte er scharf und steuerte den Wagen auf eine Baumgruppe zu. X-RAY-3 sah die schwarzen Stämme auf sich zukommen. Wenn der Fahrer nicht bremste, würde der VW mit voller Geschwindigkeit in die Gruppe rasen und Larry würde zwischen Heck und Baumstamm eingequetscht werden. Baker machte keine Anstalten, den Wagen abzubremsen. X-RAY-3 aber riskierte es nicht, bei dieser hohen Geschwindigkeit abzuspringen, um vielleicht von den Rädern noch erfaßt zu werden. Er warf sich nach vorn aufs Dach. Keine Sekunde später hätte
diese Reaktion kommen dürfen. Was er befürchtete, geschah. Mit einem häßlichen Krachen knallte der VW gegen den Baum. Die Motorhaube wurde eingedrückt, und darunter gab es einen hellen, singenden Heulton, vermischt mit einem Knirschen. Die Karosserie wurde bis in den letzten Winkel durchbebt. Larry Brent fand keinen Halt mehr. Er wurde nach vorn gerissen, als würde er an unsichtbaren Tauen hängen, flog über die Windschutzscheibe und Kühlerhaube und fiel direkt vor den Wagen. Baker hatte sein Opfer da, wo er es die ganze Zeit über gern gehabt hätte. Doch nun funktionierte der Wagen nicht mehr. Der Motor gab keinen Laut mehr von sich. Brian Baker mußte aus besonderem Holz geschnitzt sein, daß er den Zusammenprall ohne äußerlich erkennbare Verletzung überstand. Einen Moment lang war er wie benommen, dann handelte er, griff nach der alten Chronik, die vom Beifahrersitz gerutscht war, drückte die Tür auf und sprang nach draußen. Das Interesse an Larry Brent schien er verloren zu haben. Jetzt kam es ihm nur noch darauf an, das Weite zu suchen und unterzutauchen. X-RAY-3 brauchte ein paar Sekunden, ehe er wieder auf den Beinen war. In dieser Zeit gelang es Baker, seinen Vorsprung auszubauen. Er jagte auf den Abhang zu. Sein Körper zeichnete sich als dunkler Schemen gegen den bewölkten Nachthimmel ab. Mit jedem Meter, den Baker sich weiter von Brent entfernte, bestand die Gefahr, daß der VW-Fahrer in der Dunkelheit untertauchte und endgültig aus seinem Blickfeld verschwand. Larry legte an Tempo zu. Er achtete nicht auf die Schmerzen in seinem Bein, die seinen Lauf beeinträchtigten. Sein sportlich durchtrainierter Körper bewies in diesen Minuten wieder mal seine Belastbarkeit. Trotz dieses Handicaps holte Larry Schritt für Schritt auf und
war zu einer Steigerung fähig. Baker rannte greifbar nahe vor ihm. Noch wenige Schritte bis zum Abgrund. Da streckte Larry seine Hand aus. Er konnte den Flüchtigen am Kragen seines Jacketts erwischen und wurde förmlich nach vorn gerissen. Die Kraft, mit der Baker seine Bewegungen ausführte, war ungewöhnlich. Larry hatte das Gefühl, an einer Maschine zu hängen, die ihn mitriß. Er klebte wie eine Kette an Bakers Rücken und stieß blitzschnell sein Bein zwischen die des anderen, so daß der Verfolge taumelte und stürzte. Das alte Buch aus dem Haus der McCoys flog in hohem Bogen durch die Luft. Es blieb im trockenen Geäst eines weitverzweigten Busches hängen, der seine Zweige und Wurzeln über den Abgrund gestreckt hatte und seitlich in die Tiefe wuchs, als würde er sich dagegen wehren, in die Schlucht zu fallen. In unmittelbarer Nähe des Busches entspann sich ein harter Kampf. Die beiden Männer rollten sich ineinander verhakt über den Boden. Larry, der Griffe aus der Karate und Taekwon-DoTechnik anwandte, merkte schon bald, daß er so nicht weiterkam. Dieser Fremde war ein Klotz, der sich nicht nur kalt wie ein Stein anfühlte, sondern auch ebenso hart und schwer war. X-RAY-3 gelang es, ein paar hervorragende Chancen für sich herauszuholen. Mit einem normal kämpfenden Gegner wäre er längst fertig gewesen. An Baker aber schlug er sich die Finger wund und verstauchte die Hand. Er kämpfte hier nicht gegen einen Menschen, er kämpfte gegen ein Ungeheuer in Menschengestalt! Er konnte diesen Mann nicht verletzen, ihm keine Schmerzen zufügen. Kraftvoll wurde Larry Brent auf die Seite gedrängt. Der Fremde drückte ihn herum. Hart und unerbittlich wie eine Maschine, die eingeschaltet war und ihr Arbeitspensum verrichtete, so kam Larry dieser Mensch vor.
Das einzige, was er diesem Mann entgegensetzen konnte, waren sein Mut, sein Geschick und seine Beweglichkeit. Unter den ausgestreckten Armen, die ihn packen wollten, tauchte er einfach durch. Baker warf sich mit einem wilden Knurren herum. Larry konnte weder nach links noch nach rechts ausweichen. Er stand - nur wenige Zentimeter vom Abhang entfernt seinem Widersacher gegenüber. Der warf sich nach vorn. Starrsinnig und vom Willen Chaos' beseelt, konnte er nur einen einzigen Gedanken denken: diesen Mann, der ihn so konsequent verfolgt und erfolgreich aufgehalten hatte, zu vernichten. Larry wußte, dem Ansturm dieses menschlichen Panzers war er nicht gewachsen, wenn der andere auf ihn traf, dann würde er wie ein welkes Blatt in die Tiefe wirbeln und im Abgmnd zerschmettern. Da war Baker vor ihm. Der Luftzug streifte sein Gesicht. Larry Brent reagierte blitzschnell. Er ließ sich flach auf den Boden fallen, die einzige Möglichkeit, die ihm blieb. Brian Baker konnte seine eigene Wucht nicht mehr bremsen. Für den Bruchteil eines Augenblicks balancierte er auf dem äußersten Rand des Abgrunds, hing mit fuchtelnden Armen darüber hinweg und stürzte dann in die Tiefe. Ein endlos lang hallender Aufschrei! Larry rappelte sich auf und starrte dem dunklen Körper nach, der mehrmals auf Felsvorsprüngen aufschlug. Und dabei nahm er etwas Seltsames wahr. Wenn ein Körper aus Fleisch und Blut aufschlug, dann gab es dumpfklingende Geräusche. Aber hier war genau das Gegenteil der Fall. Es knallte und schepperte, als Baker zahlreiche Steine mit sich in die Tiefe riß. Der Körper des Veränderten löste sich in mehrere Teile auf, und Larry wurde Zeuge, wie sie zu ungeformten Steinen wurden, die keine Ähnlichkeit mehr mit
menschlichen Gliedern hatten. Der Fremde war nichts anderes als ein riesiger Stein, der zersprang und in die Tiefe kullerte. Dies war ein Augenblick, der bedeutsam war in dem allgemeinen Geschehen um Chaos, der dämonischen Gottheit aus der Vorzeit der Erdgeschichte, als die Erde nur ein ungeformter Gasball war und mit zahllosen Planeten und neu sich entfaltenden Sonnen durch die Weite des Kosmos raste. In der unterirdischen Felsenhalle, in der die Stein gewordene Götzenfigur von unbekannten Händen geschaffen worden war, ereignete sich etwas, das menschlichen Augen verborgen blieb. Als Brian Bakers Körper endgültig zu Stein wurde und sich in zahlreichen Brocken auflösend dem Ende der Schlucht näherte, erlosch sein Dasein als Mensch. Brian Baker war tot. Aber dieser Tod brachte dem wartenden, erstarrten Götzen einen Lebensimpuls. Brian Baker war zu lange chaosähnlich gewesen, als daß er nun für den Götzen mit dem grünen Blut nutzlos wäre. Das erlöschende Leben Bakers strömte in den Körper Chaos'. Ein Finger der großen, steinernen Hand zuckte. Die Farbe des Steins veränderte sich und wurde dunkler. Das poröse, spröde Aussehen ging zurück. Weich und elastisch bog sich der Finger nach unten, und er bewegte sich ruckfrei wie bei einem Menschen, der Muskeln und Sehnen beherrschte. Der erste Lebensstrom war in den steinernen Titan geflossen. Der Finger, von welchem Cyrill Perkins in der ersten Stunde der Begegnung den magischen Ring gestreift hatte - lebte und bewegte sich. * Wie betäubt blieb Larry zwei volle Minuten auf dem Bauch liegen und starrte in die Tiefe. Sein Atem ging keuchend.
Was wurde hier gespielt? Um diese Frage drehte sich alles. Seit er in Braemer angekommen war, hatte er keine Verschnaufpause mehr. Vor seinem inneren Auge zogen die Dinge noch mal Revue: die Tatsache, daß er einem Mann begegnet war, um den sich legendäre Geschichten rankten und der in der Tat mindestens zweihundertfünfzig Jahre, wenn nicht noch älter, war, beschäftigte ihn nur noch am Rand. Da war der Tod des Gastwirts, die seltsamen Andeutungen der Wirtstochter, der Einbruch in Jennifer McCoys Schlafzimmer, der Diebstahl der Hauschronik, die Irrfahrt in die Berge und nun die unheimliche Verwandlung eines Menschen in einen Stein. Das alles mußte mit der Tatsache zusammenhängen, daß in grauer Vorzeit und auch danach noch ein Wesen sich hier zeigte und bemerkbar machte, das den Einwohnern von Braemer und Umgebung Angst und Schrecken einjagte. Ein leises, kaum hörbares Rascheln lenkte seine Aufmerksamkeit auf den weitverzweigten Busch, der nur eine Armweite von ihm entfernt aus der Erdkruste über der Felswand ragte und in dem die Haus-Chronik landete. Durch die Bewegung, die er in die Tiefe stürzende Körpers Bakers noch verursachte, als er nach einem Halt suchte, zitterten die Zweige noch nach. Das große Buch rutschte. Larry streckte die Hand aus. Dieses Buch mußte der Schlüssel zu den Ereignissen sein, die er jetzt noch nicht überschaute. Wenn jemand so großen Wert auf dessen Besitz legte, dann hatte das seine Bedeutung. Er mußte dieses Buch dem rechtmäßigen Besitzer zurückbringen. Da rutschte es durch das Geäst, noch ehe seine Finger es berührten. X-RAY3 warf sich noch nach vorn und ragte weit mit dem Oberkörper in den Abgrund, aber es gelang ihm nicht mehr, das Buch zu ergreifen.
Es schlug auf den nächsten Felsvorsprung, klappte auseinander und fiel tiefer. Larry konnte eine Zeitlang seinen Weg verfolgen und das Geräusch des aufschlagenden Lederbandes vernehmen. Dann herrschte Stille. Das Buch lag dort, wo der zu Stein gewordene Mensch lag. X-RAY-3 überlegte kurz. Er inspizierte den Plateaurand und den Abgrund genau. Es war kein steil abfallender, glatter Fels. Vorsprünge und kleine Bäume und Büsche, die auf Erdhügeln zwischen und auf diesen Vorsprüngen wuchsen, machten die Wand nicht unbedingt zur Todestour. Sie ließ sich begehen, wenn man mit etwas Geschick vorging. Man mußte nur höllisch aufpassen, keinen Fehlgriff und keinen Fehltritt zu tun. Dann konnte man - so weit Larry das aus der Höhe und im Licht seiner Taschenlampe erkannte - bis zur Schlucht hinuntersteigen, die rund siebzig Meter tiefer lag. X-RAY-3 riskierte es. Meter für Meter kletterte er nach unten, sich immer vergewissernd, ob er festen Boden unten den Füßen hatte, ob sein Fuß in eine Felsspalte paßte und sicher saß, ob ein Vorsprung oder das Ast- oder Wurzelwerk eines Strauchs, an dem er Halt suchte, auch sein Gewicht trug. Es ging besser und schneller vonstatten, als er erwartet hatte. Nach dem ersten Wegdrittel legte er eine kleine Pause ein. Er kletterte nicht auf dem kürzesten Weg nach unten, er suchte sich die bestmöglichen Sicherheiten, mußte sich manchmal erst drei, vier Meter nach links oder rechts vorarbeiten, ehe er wieder einen Schritt weiter in die Tiefe kam. Von seinem luftigen Platz aus hatte er einen vortrefflichen Blick auf die andere Seite der Schlucht. Hinter dem bewaldeten Hügel zeigten sich die Umrisse von Sword Castle. Die oberen Spitzen zweier Türme, die Zinnen, ein Erker, der die steil aufragende Felswand auf der linken Seite berührte. Unterhalb des Hügels, der die Burg fast verdeckte, war die
Felswand schwarz und glatt. Kein Vorsprung, kein Baum, kein Strauch. Larry war noch nie hier gewesen, und doch kam ihm dieser düstere Fleck Erde irgendwie bekannt vor. Und da fiel es ihm wieder ein! Sandra McCoy hatte von diesem Platz erzählt! Das war der legendäre Ort, wo ihr Urgroßvater dem dämonischen Götzen mit einer Hand Getreuer auflauerte und ihn in sein Reich zurückzwang. Diese Felswand, genau ihm gegenüber, mußte sich vor rund hundertfünfzig Jahren für einige Augenblicke lang geöffnet haben. Er kletterte weiter in die Tiefe, erreichte das Ende der Schluck ohne Zwischenfall und ohne daß ein besonderes Gefahrenmoment während der Kletterpartie für ihn aufgetreten wäre. Hier unten fand er zwischen losem Gestein, das sein rätselhafter Widersacher beim Sturz mit in die Tiefe riß, weitere große, unförmige Brocken. Larry betastete sie. Kalter, harter Stein. Dies war mal ein Mensch gewesen. Die Vorstellung daran ließ ihn erschauern. Nur fünf Meter von den dunklen Steinen entfernt fand er das Buch. Durch den Sturz in die Tiefe sah es mitgenommen aus; einige Seiten waren herausgerissen, die irgendwo herumlagen und die Larry jetzt in der Dunkelheit in dem unzugänglichen Gelände nicht suchen konnte. Er richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Seiten. Mit dunkelblauer Tinte war in verschiedenen Handschriften zunächst der Stammbaum der Familie McCoy aufgezeigt, dann die wichtigsten Erlebnisse und Daten im Leben der einzelnen Familienmitglieder. X-RAY-3 erfuhr, woher die McCoys kamen, welche Berufe sie gehabt hatten, und gewann einen Einblick in das Familienleben. Er verstand nicht alles. Zu viele fremde Worte waren eingeflochten, unter denen er sich nichts vorstellen konnte. Er stieß auch auf die Geschichte, die Sandra ihm erzählt hatte,
hielt sich nicht damit auf und blätterte rasch weiter. Dann kamen die Seiten, von denen Sandra nur vom Hörsensagen wußte und in denen ein Geheimnis preisgegeben wurde, welches das Mädchen nach Möglichkeit und zur eigenen Sicherheit erst mit Vollendung des einundzwanzigsten Lebenjahres kennenlernen sollte. Irgendwie wurde Larry von diesem Gedanken eigenartig berührt. Er kam ihm nicht ganz logisch vor. Wie konnte ein Mensch, der vor hundertfünfzig Jahren gelebt hatte, wissen, was in hundertfünfzig Jahren sein würde? In der Chronik, so weit er sie bisher überlesen hatte, kam nicht zum Ausdruck, daß Derrick McCoy, Sandras Urgroßvater, über besondere prophetische Gaben verfügt hätte. Erst später durch andere Familienmitglieder schien manches in das Wesen und Denken des berühmten Mannes hineingeheimnist worden zu sein. Und das wurde ihm bestätigt. Die nachfolgenden Seiten, die von Söhnen und Töchtern des alten Derrick weitergeführt wurden, enthielten bereits die ersten Widersprüche. Der eine wußte zu berichten, daß man in der dritten Generation des McCoy-Clans nach dem alten Derrick besondere Aufmerksamkeit walten lassen müsse. Einer Tochter McCoys war im Traum der Vater erschienen und hatte angeblich berichtet, daß er seine Vorstellungen über den steinernen Götzen, wie er sie zu Lebzeiten gehabt hätte, revidieren müsse. Bis zur dritten Generation sei damit zu rechnen daß Chaos noch mal den Versuch unternehme, mit Hilfe der Menschen, ohne die es nun mal nicht ging, weil er deren Lebenskraft benötigte, die Welt zu verändern und jene ferne Zeit zurückzuholen, die seiner Lebensart entsprach. Derrick McCoy habe ein Abkommen mit einer geistigen Kraft getroffen, die es ihm erlaube, einen Blick in die ferne Zukunft
zu werfen, ins nächste Jahrhundert. Was für eine Kraft das war, wurde allerdings nicht erwähnt. Derrick McCoy gab - im Traum erschienen - den Menschen eine Warnung mit. Nach der Mitte des nächsten Jahrhunderts sei die Gefahr besonders groß und er habe deshalb einen Weg aufgezeichnet, um der Wiederkehr, sollte sie sich andeuten, zu begegnen. Danach sei die Zeit vor der Volljährigkeit eines Mitglieds der dritten Generation seiner Familie prädestiniert. Lawrence McCoys Vater schrieb dreißig Jahre später, daß es den Familienmitgliedern der kommenden Generation selbst überlassen sein müsse zu entscheiden, wann sie die dritte Generation nach Derrick McCoy in das Geheimnis einweisen wolle. Die Abmachung, die Derrick McCoy getroffen habe, den Fluch, den er hinausziehen konnte, sei schließlich auch von Chaos mitgetragen worden. Der unheilige Gott der Druiden sei nicht tot, er schlafe nur. Die Armbrust und der magische Pfeil wurden erwähnt, den Derrick McCoy von einer Reise mitgebracht und eingesetzt habe, und der seine Wirkung nicht verfehlte. Mit der Bekanntgabe des Geheimnisses, wie und wo diese Waffe erneut eingesetzt werden sollte erreichte man die größtmöglichste Sicherheit, um den wiedererwachenden Chaos zurückzuschlagen. Nur die Hand eines Nachkommen in direkter Linie der McCoys sei imstande, den Fluch, dessen erster Teil erfüllt war, zu beenden. Für den Fall aber, daß Chaos sich früher rege, daß er Mittel und Wege gefunden hätte, die Ketten zu sprengen, müsse man sich überlegen, ob es nicht besser sei, demjenigen, dem die schwere Bürde der Erfüllung und Ausführung zufalle, schon vorher reinen Wein einzuschenken, auch auf die Gefahr hin, daß dadurch eine Möglichkeit geschaffen wurde, die Chaos' Kraft stärke und diejenige des Nachkommen in der dritten Generation schwäche. Doch was sei anders zu tun als zu reagieren - wenn die Zeichen auf Sturm ständen? Das wieder erschien Larry logisch. Die Ausführungen des
Vaters von Lawrence McCoy zeigten, daß der Mann sich ernsthafte Gedanken gemacht hatte. X-RAY-3 studierte gerade diese Passage noch mal gründlich. Er war so sehr in den Text und dessen nicht immer ganz eindeutige Aussage vertieft, daß ihm etwas Wichtiges entging. Hinter den riesigen Findlingen und Felsbrocken hier unten in der Schlucht regte es sich. Schattengleiche Gestalten huschten heran, kamen langsam und lautlos näher. Menschen? Der äußeren Form nach, ja. Aber in ihren Adern floß das Blut des steinernen Götzen, der sie gerufen hatte, um einen Eindringling, der erstaunliche Gedanken entwickelte und nicht so leicht von einer Fährte abzubringen war, wenn er sie mal aufgenommen hatte, zu beseitigen. In den Augen der Menschen mit der kalten Haut glitzerte es haßerfüllt. Larry legte eine Seite um und konzentrierte sich auf den Text, der Hinweise gab, wann und wo man die Armbrust holen könne, wann und wo man sie einsetzen mußte. Mit der Waffe hatte es seine eigene Bewandtnis. Sie wurde in einer alten, leicht zugänglichen Waffenkammer des Sword Castle, der ehemaligen Raubritterburg, aufbewahrt, und da es sich um eine besondere Waffe handelte, sei nie damit zu rechnen, daß ein Außenstehender sie an sich nehmen könne. Der Ort sei ebenso verhext wie die Armbrust. Die Waffe sei schwer wie Stein, und es scheine, als wäre sie mit der Wand verwachsen. Selbst wenn jemand auf die Idee käme, die ganze Waffenkammer auszuräubern, die Armbrust müßte er zurücklassen. Das alles las sich wie eine fantastische, aufregende Sage, aber Larry wußte nur zu gut, wieviel Gewicht oft diese Dinge für die Wirklichkeit hatten. Seine Erfahrung zeigte es immer wieder. Plötzlich zuckte er zusammen.
Ein leises Rascheln ließ ihn herumwirbeln. Und da sah er sie! Drei ... fünf ... sieben ... Sie bildeten einen Kreis um ihn und zogen ihn enger. Larry sprang sofort auf. Feindselige Blicke, Menschen, die ihm nicht gut gesinnt waren, Menschen die wie aus dem Boden gewachsen hier auftauchten ... das alles bedeutete nichts Gutes. Er ließ es erst gar nicht zu einem Angriff kommen. Er griff selbst an. Kurzentschlossen warf er sich dem einen entgegen, um das Gesetz des Handelns nicht aus der Hand zu geben. X-RAY-3 glaubte, gegen einen Fels zu springen und erinnerte sich an die Auseinandersetzung und den kurzen, erbitterten Kampf, den er mit dem VW-Fahrer führte. Kalt und hart war die Haut des Gegners, den er sich ausgesucht hatte. Mit einer scharfen Bewegung riß der Veränderte, den er eigentlich zu Boden werfen wollte, um eine Lücke in dem enger werdenden Kreis zu schaffen, seine Hand hoch und schlug sie ihm mitten ins Gesicht. Larrys Kopf flog zurück. Sein Schädel begann zu brummen, und er glaubte, der andere hätte ihm einen Ziegelstein vor die Stirn geknallt. Roher Kraft war mit den Verteidigungstechniken, die er beherrschte, zu begegnen. Aber er konnte nicht gegen lebende Steine anrennen. Hier nutzte weder Technik noch große Kraftanstrengung etwas. Hier gab es nur eins: fliehen! Sich vor den Steinmonstern in Sicherheit bringen ... Larry trat und schlug um sich. Er verzog das Gesicht, als er sich die Knöchel auf- und seinen Fuß anschlug. Er kam nicht durch die Lücke. Er wurde von hinten gepackt und mit harter Hand zu Boden geschleudert. Buch und Taschenlampe hatte er längst fallen lassen, um freie Hand zu haben. Nun riß er die Smith & Wesson Laser heraus, zielte kurz entschlossen auf das kalte, nicht von menschlichem Blut durchpulste Wesen und drückte ab. Der grelle Laserstrahl bohrte sich in die Stirn des Geschöpfes, das direkt vor ihm
stand. Ein Wesen aus Fleisch und Blut wäre in diesen Sekunden wie vom Blitz getroffen umgekippt. Nicht so dieses Geschöpf. Eine Kreatur der Hölle, ein Diener des Bösen, der nicht mit menschlichem Leben erfüllt war. Larry Brent rollte herum. Er warf sich blitzschnell vor in der Hoffnung, zwischen den Beinen eines der ihn Umringenden durchzukommen, um in der Dunkelheit unterzutauchen. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Er hechtete durch die Beine blieb aber in der Mitte nängen, als die Gestalt beide Beine ebenso schnell und hart zusammenpreßte. Larry zappelte wie ein Fisch im Netz. Und dann hatten sie ihn ... Sie schlugen auf ein. Harte Fäuste trafen ihn in die Seite und in den Nacken, ein Fußtritt mißhandelte seine Schläfen. Es war ihm, als ob unablässig Steine auf ihn herabprasselten und er darunter begraben würde. Es gab keine Möglichkeit, sich zu wehren. Seine Kräfte erlahmten schnell und vor seinen Augen tanzten feurige Kreise und Sterne. Seine Gegner schlugen so lange auf ihn ein, bis er sich nicht mehr rührte. Die Beine, die ihn festhielten, öffneten sich. Larry merkte es nicht mehr. Eine der Gestalten bückte sich und zog ihn hart empor und warf ihn wie einen Mehlsack über die rechte Schulter. Schlaff hingen Brents Arme nach unten; wie bei einer Marionette baumelte sein Kopf hin und her, als sein Träger über holprigen Untergrund schritt. Die anderen folgten ihm nach. Der seltsame Zug der schweigenden Gestalten näherte sich einer Felsengruppe, hinter der der steinige Boden stufenförmig abfiel.
Eine mannsgroße Öffnung, die direkt in das Berginnere führte, war hinter der Felsengruppe zu erkennen. X-RAY-3 wurde in das Innere des kahlen, feuchten Stollens verschleppt, aus dem seine Widersacher kamen. Der letzte der Gruppe drückte von innen einen großen Felsen vor, den zehn mit Muskeln bepackte Männer nicht vom Fleck hätten bewegen können. Für den Veränderten mit der kalten Haut und dem grünen Blut aber schien es eine Kleinigkeit zu sein. Die Felsengruppe außerhalb verbarg die Öffnung in dem Berg, und das Geräusch, das entstand, als der Veränderte den riesigen Brocken vorschob, war weder ein Mahlen noch ein Knirschen, das hier in dieser Schlucht über viele hundert Meter weit zu hören gewesen wäre. Es hörte sich an, als ob zwischen den Felsblöcken der Wind säusle ... * Sie wußte nicht, wohin der Wagen fuhr, obwohl sie genau die Umgebung studierte und sich einige besonders markante Punkte merkte. May Thompson kam das Ganze nicht geheuer vor. Die Situation war so merkwürdig, fremd und unverständlich und der Graf, der in dumpfes Brüten versunken war, trug durch seine Schweigsamkeit nicht dazu bei, das Bild aufzuhellen. Das Mädchen saß starr wie eine Puppe im äußersten Winkel des rückwärtigen Polsters. Sie bekam mit, daß Philip, der Diener des Grafen, den Wagen kurz hinter dem Ortsende auf eine Straße lenkte, die in die Berge führte. Von dieser Straße aus führte nochmal eine Abzweigung nach links. Philip nahm die Kurve scharf, so daß die Reifen auf dem feuchten Straßenbelag quietschten. May Thompson schätzte, daß sie noch knapp zwanzig Minuten unterwegs waren, ehe der Chauffeur den Wagen über
einen holprigen Seitenpfad steuerte, der durch eine bewaldete Anhöhe führte. In May Thompson wuchs die Angst. »Wohin bringt ihr mich?« preßte sie hervor. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie starrte den Grafen an, doch der schien sie überhaupt nicht hören. »Pst«, erscholl es da vom Fahrersitz, und der ernste Diener, den May noch nie lachen sah, schüttelte unwillig den Kopf. »Nicht sprechen! Jetzt nicht! Sie dürfen ihn nicht stören!« Ihre Augenschlitze wurden schmal. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? »Er wird Ihnen alles erklären«, zischte Philip. »Alles zu seiner Zeit. Sie brauchen keine Angst zu haben. Glauben Sie, mein Herr wäre sonst noch mal in jenes verfluchte Gasthaus zurückgekehrt, nur, um Ihnen zu helfen?« Das hörte sich plausibel an. Und doch: May Thompson war nicht überzeugt. Noch fünf Minuten dauerte die Fahrt auf dem holprigen Weg durch den Wald, dann erreichten sie die Anhöhe. May sah das alte Backsteinhaus zwischen dem dichten Blattwerk. Ein Licht brannte. Vor einem baufällig aussehenden Eingang baumelte eine Petroleumlampe, und der kühle Wind, der hier oben pfiff, bewegte die mit einem Draht verstärkte Lederschlaufe, an der die Lampe hing, quietschend hin und her, so daß ein eigenartiger rhythmischer Ton entstand, der sich mit dem Heulen des Windes mischte. Die fremde Umgebung, die nicht gerade gastlich wirkte, war nicht dazu angetan, May Thompsons Stimmung zu verbessern. Als der Wagen am Haus vorfuhr, wurde die Tür geöffnet. Ein älterer Mann mit grauem Haar und harten Gesichtszügen tauchte unter dem quietschenden und schaukelnden Windlicht auf. Der Graf riß die Tür auf, lief ins Haus und kam umgehend wieder zurück. In seiner Hand trug er einen schwarzen Mantel.
»Kommen Sie!« forderte er May auf. »Beeilen Sie sich! Es ist kalt hier oben. Sie werden sich noch erkälten.« Sie kam mit der Situation nicht zurecht, aber sie gehorchte, weil sie nicht wußte, was anders sie hätte tun können. Sie zermarterte sich das Gehirn, und alles kam ihr vor wie ein Traum. Aber es war die Wirklichkeit. Kalt war der Wind, der ihre Haare zerzauste, kalt und feucht der Boden, über den sie eilte, und auf die nur drei Meter entfernte Tür zueilte. Der schwarze Mantel umhüllte sie und wärmte. Der alte Mann an der Treppe trat zur Seite, als der Graf das junge Mädchen ins Haus führte. Es roch nach Rauch. Holzscheite prasselten im Kamin. Der Boden, einfache Dielen, ächzte unter den Schritten der Ankömmlinge. »Es ist kein Hotel«, sagte der Graf nach langem Schweigen. »Aber sie sind sicher hier.« »Wieso ...« »Keine Fragen, das hatten wir doch ausgemacht! Dies ist nicht der richtige Ort und nicht der rechte Zeitpunkt. Sie dürfen versichert sein, Miß: niemand krümmt Ihnen hier ein Haar.« »Was soll ich hier?« »Zunächst diese Nacht verbringen. Mehr nicht.« »Warum?« Graf Leucate blieb ihr darauf die Antwort schuldig. »Wie ich bereits vorhin erwähnte, Miß ...« Er sah sie an, und sie sagte ihm mechanisch ihren Namen, ohne daß ihr das bewußt wurde ... »Miß Thompson, leider können wir Ihnen keinen besonderen Komfort bieten. Ein Zimmer, ein Bett, wenn Sie hungrig sind, einen Teller Suppe oder ein Stück Brot - und Sicherheit, relative Sicherheit, Miß Thompson!« »Nein, danke, ich möchte nichts essen.« Sie schlang den
weiten Mantel so eng um sich, daß sie darin verloren wirkte. Was sie sagte, kam ihr banal vor. Sie hätte ganz andere Dinge aussprechen wollen, aber in der Gegenwart des Grafen fehlte ihr einfach der Mut, weil er sie spüren ließ, daß er bestimmte Dinge nicht erörtern wollte. »Sicher«, murmelte sie. »Vor wem bin ich sicher... was habe ich getan, um mich zu verbergen... wo bin ich hier.« Sie schüttelte den Kopf, war entsetzlich nervös, steckte voller Unruhe, und ihre Augen befanden sich in ständiger Bewegung. »Manchmal braucht man im Leben nichts getan haben, um sich vor iemand verbergen zu müssen. Miß Thompson«, nahm der Graf Leucate den Faden noch mal auf ... Was Sie wissen müssen, werden wir Ihnen erklären. Wenn es die Situation erfordert, wenn Sie es wissen müssen! Was Sie jetzt wissen müssen, ist lediglich das: heute abend kam es in den ›Three Oaks‹ zu einem entsetzlichen, Vorfall. Wir mußten feststellen, daß der Wirt - Mister McCoy - kein Mensch mehr war. Wir flohen in der allgemeinen Aufregung. Ich bin - bisher immer regelmäßig - in den ›Three Oaks‹ abgestiegen. In der Vergangenheit war auch alles normal. Heute abend aber stellte sich heraus, daß Mister McCoy besessen ist.« »Besessen?« echote sie und sagte es ganz erschrocken, als vernähme sie, daß jemand an der Pest erkrankt sei. »Ja! Eine Besessenheit besonderer Art. - Zum Glück habe ich mir, während meiner verschiedenen Aufenthalte hier in der Ortschaft, einige Freunde gemacht. Einer davon ist - Ben.« Der grauhaarige Alte mit dem kantigen Gesicht strahlte, als Graf Leucate ihm wohlwollend auf die Schulter klopfte. »Seinem Sohn gehören ein Bus und die drei Taxis, die einzigen in der Umgebung. Ben war sofort bereit, uns zu helfen, als ich ihm unsere Notlage darlegte. Er stellte ein Taxi zur Verfügung und begleitete uns in die Berge, wo er als junger Mann selbst mal dieses Haus erbaut hat, das zu einer Art Gästehaus umfunktioniert werden sollte. Er spielte schon vor
langer Zeit mit dem Gedanken, mehr Fremde nach Braemer und Umgebung zu schleusen, damit sie sich in dieser herrlichen romantischen Bergwelt erholen könnten. Aber aus seinem Plan ist nie etwas geworden. Die Touristen blieben aus, das Haus hier oben wurde vernachlässigt.« Graf Leucate sprach auf einmal sehr viel. May Thompson hörte aufmerksam zu. Was er da von sich gab, war zwar immerhin etwas, befriedigte jedoch kaum ihr wahres Interesse. Leucate ließ erkennen, was ihn veranlaßt hatte bereits nach seiner Ankunft hier oben doch noch mal umzukehren und zu den ›Three Oaks‹ zu fahren. »Es war so ein ungutes Gefühl in mir, eine Ahnung, der mußte ich einfach nachgeben ... Ich dachte an die Menschen, die sich in den ›Three Oaks‹ aufhielten, und nichts ahnten von der Entwicklung, die inzwischen eingetreten war. Waren sie gefährdet? Als Philip vor dem Gasthaus hielt, hörte ich sie schreien. Ich dachte nicht lange nach, stürzte die Treppe nach oben, warf mich gegen Ihre Zimmertür und kam gerade noch zur rechten Zeit.« »Die fremde Frau in meinem Zimmer ... wer war sie?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eins: ich konnte sie nicht verdrängen und nur für einen kurzen Moment irritieren. Sie besaß das Amulett, sie ist die Amulett-Trägerin und nun fragt sich nur, wieviele Menschen sie schon unglücklich gemacht hat, wieviele manipuliert wurden und ihr Menschendasein vergessen haben ...« Jetzt preßte er wieder die Lippen zusammen, und May sah, wie seine Hände sich zu Fäusten ballten. Er wandte den Kopf zur Seite, und sie bemerkte sein gut geschnittenes Profil mit dem energischen, leicht nach vorn gereckten Kinn und der geraden, aristokratischen Nase, deren Flügel wie unter einer leichten Erregung zitterten. »...ich weiß nicht, was sie jetzt tut. Ich kann zwar nicht überall sein ... aber lassen wir das jetzt«, unterbrach er sich abrupt und fuhr zusammen, als befürchte er, bereits zuviel gesagt zu ha-
ben. »Sie werden bestimmt sehr müde sein. Im oberen Stock befinden sich drei Schlafzimmer. Suchen Sie sich eines aus! Wenn irgend etwas sein sollte, rufen Sie! Einer von uns ist ständig wach. Wir werden noch geraume Zeit zusammensitzen.« May nickte. Philip begleitete sie die Stufen hoch. Sie versuchte mit ihm ein Gespräch anzufangen, aber er war ebenso unzugänglich wie sein Herr. Als May Thompson im Bett lag, fragte sie sich, ob sie eigentlich noch normal war. Sie sah keinen Sinn in allem, so sehr sie sich auch den Kopf zerbrach. War ihr wirklich Hilfe zuteil geworden, oder spielte man mit ihr ein Spiel, das sie nicht durchschaute? Warum wurde sie hier in diesem einsamen Haus, von dem sie nicht wußte, wo es lag, festgehalten? Zweifel kamen ihr. Hatte man in den ›Three Oaks‹ das alles nur inszeniert, um einen Grund zu haben, sie hierher zu verschleppen? Wenn sie darüber nachdachte, dann kam sie zu dem Schluß, daß es sich um eine regelrechte Entführung handelte. Man schenkte ihr keine Klarheit ein; sie wußte von nichts Bescheid. Sie wurde gut behandelt. Aber sie war nicht frei und konnte nicht hingehen, wohin sie wollte. Je länger sie nachdachte, desto unruhiger wurde sie, desto mehr Angst staute sich in ihr. Sie schloß die Augen und versuchte zu schlafen. Für ein paar Minuten nickte sie ein, dann war sie wieder hellwach. Traumbilder, die sich kurz entwickelten, fraßen sich in ihre Gedanken. Verwechselte man sie mit jemand? Gaukelte man ihr nur dieses Durcheinander vor und macht man alles nur viel kom-
plizierter, als es in Wirklichkeit war - nur um sie zu irritieren? Zwischendurch hörte sie immer wieder Schritte und andere Geräusche und Stimmen im Haus. Auch Gläserklirren. Sie hielt dann den Atem an, lauschte, stieg aus dem Bett und legte das Ohr an Tür oder Wand, um etwas zu hören. Wortfetzen drangen leise und aus weiter Ferne an ihr Ohr. »... wir müssen es versuchen ...« Das war die Stimme des Grafen Leucate. »...und sie? ...« May glaubte darin den Tonfall des alten Mannes zu hören. »Soll vorerst noch hierbleiben ... wir kümmern uns später um sie ...« May schluckte. War sie damit gemeint? Also wurde sie doch festgehalten. Die Stimmen senkten sich, und sie konnte nicht mehr hören, was gesprochen wurde. Einmal in der Nacht knarrten die hölzernen Treppen, und May Thompson hörte, wie sich Schritte ihrem Zimmer näherten. Da legte sie sich schnell auf die Seite, schloß die Augen und atmete tief und gleichmäßig. Tatsächlich verharrte draußen jemand vor ihrer Tür und drehte leise den Schlüssel herum. Die Tür war von außen verschlossen, alles, ›um ihrer Sicherheit willen‹, wie der Graf sich ausgedrückt hatte. Das Herz der jungen Frau klopfte mit einem Mal so heftig daß sie glaubte, die beiden Beobachter an der Tür müßten es hören. »Sie schläft«, sagte eine Stimme. Das war Philip »Das ist gut so. Dann grübelt sie nicht über die Dinge nach. Wir müssen sehen, was uns der heutige Tag bringt.« Die Tür wurde leise zugezogen. Der heutige Tag? Dann mußte es schon nach Mitternacht sein, wenn der Graf eine solche Zeitangabe machte. In dem Raum, wo sie untergebracht war, gab es keine Uhr, und ihre eigene Armbanduhr lag noch auf dem Nachttisch des
Zimmers in den ›Three Oaks‹. May Thompson dachte verzweifelt über ihre Situation nach. Im Haus war es völlig still. Nur hin und wieder knackte es in dem alten Gebälk, oder man hörte den Wind pfeifen, wenn er stärker wurde und sich unter dem Ziegeldach fing. Sie wußte nicht, wie lange sie wach gelegen hatte, als sie sah, daß draußen der Morgen graute. Da jedoch fühlte sie sich mit einem Mal so zerschlagen, so übermüdet, daß sie doch noch mal einschlief. Als sie plötzlich die Augen wieder aufschlug, waren fünf Stunden vergangen, aber das wußte sie nicht. Draußen war das Tageslicht beinahe unverändert. Schwere, dunkle Wolken wälzten sich über den Berg. Ein grauer, sonnenloser Tag. Ein leichter Regen fiel. May Thompson sprang aus dem Bett. Sie fühlte sich ausgeruht. Der Schlaf hatte ihr gut getan. Der Raum, in dem sie untergebracht war hatte zwei Fenster. Von dem einen aus konnte man halbschräg einen Blick vors Haus werfen, das andere befand sich an der Seitenwand unmittelbar über dem Dach eines Schuppens. May wählte das erste Fenster, blieb hinter dem vergilbten dichtgewebten Vorhang stehen und blickte auf den Platz vor dem Haue. Die Spuren, die das Taxi auf dem regennassen Boden hinterlassen hatte, waren deutlich zu sehen. Der Wagen stand nicht mehr an der gleichen Stelle wie zu jenem Zeitpunkt, als man May Thompson hier ablud. Er stand ietzt weiter links und wies mit der Kühlerhaube den Weg zurück, den sie im Dunkeln gekommen waren. May sah, daß sich eine Gestalt vom Hauseingang entfernte. Das war Philip. Dem groß gewachsenen Mann mit den gleichmäßigen Zügen, dem streng gescheitelten Haar und dem steifen Gang haftete etwas Komisches, Fremdartiges an, stellte sie wieder fest. Ein Diener alter Schule, ein Mann, der nie das Gesicht verzog, der keine Regungen zeigte.
Philip trug einen flachen schwarzen Koffer zum Auto und verstaute ihn im Kofferraum. Dann ging er um das Auto herum, öffnete die Tür zum Fahrersitz, und May sah, daß der Wagen überhaupt nicht abgeschlossen war. Philip steckte den Zündschlüssel ins Schloß und ließ den Motor anspringen. Steif, als hätte er einen Stock verschluckt, näherte er sich wieder dem Haus und blieb vor dem Eingang stehen. Schatten bewegten sich da. Graf Leucate und der alte Ben unterhielten sich. Mays Blick ging nochmal zum Wagen. Leucate und Philip fuhren weg? Ließen sie sie zurück? »Paß auf sie auf!« kam es ihr wieder in den Sinn. Es waren die Worte, die sie in der letzten Nacht gehört hatte. Plötzlich kam die alte Angst wieder. Was sollte sie hier in diesem einsamen Haus? Worauf wartete sie eigentlich? Sie lief zum anderen Fenster, starrte hinaus aufs Dach, öffnete die Fensterflügel, und die kühle Regenluft schlug ihr ins Gesicht. Versuch es, fieberten ihre Gedanken. Du mußt etwas tun; du darfst nicht so passiv bleiben! Sie überlegte nicht mehr lange. Sie handelte, ohne im einzelnen an die Folgen zu denken. Ehe es ihr bewußt wurde, stieg sie aufs Dach. Die Ziegel knirschten unter ihren Füßen, und sie fürchtete, eher würde der morsche Ton nachgeben, als daß die drei Männer vor dem Haus auf sie aufmerksam wurden. Die Angst, die sie erfüllte, war groß genug, sie zu einer Tat zu veranlassen, die sie selbst nicht überblickte. Aber sie hatte Glück. Wo das Schuppendach an das Haus stieß, gab es einen Mauervorsprumg und über den wiederum lief die Regenrinne.
Sie riskierte den Abstieg. Da sie wiederum nur das Nachthemd trug, war sie im Nu durchnäßt und fror so sehr, daß ihr die Zähne aufeinanderschlugen. An einem rostigen Nagel, der aus einer Schelle ragte, die das untere Drittel der Regenrinne hielt, blieb sie hängen und riß sich das Nachtgewand seitlich bis zur Hüfte auf. Es knisterte bedrohlich in der Rinne, als sie sich daran festhalten mußte, um einen Halt zu haben. Sie vergewisserte sich, daß nur einen Meter tiefer der Boden war und ließ sich los. Federnd kam May auf, lief zur entgegengesetzten Ecke des Hauses und spähte vorsichtig herum. Dichtes Buschwerk lief hier entlang, und ganz vorn sah sie die Umrisse des Taxis. Leises Stimmengemurmel drang an ihr Ohr. Einen Moment lang hielt sie den Atem an und dachte scharf nach. Sie war frei und hatte ihr Zimmer ohne aufzufallen verlassen können. Doch diese Freiheit mußte sie ausbauen. Es hatte keinen Sinn, jetzt einfach in den Wald zu flüchten. Erstens wußte sie nicht, wo sie sich hier befand. In dieser wilden Bergwelt konnte sie sich leicht verirren. Dann kam hinzu, daß Leucate, Philip und Ben zuerst hier in der unmittelbaren Umgebung nach ihr suchten. Da kam ihr eine verzweifelte Idee, und die fand sie selbst so großartig, daß sie keine Sekunde länger zögerte, diese Idee in die Tat umzusetzen. Sie lief geduckt an den Büschen und Sträuchern entlang, erreichte die vordere Hausecke, verharrte atemlos und blickte durch das Astgeflecht zum Eingang, wo die drei Männer zusammenstanden. Der Graf machte gerade eine umfassende Handbewegung und deutete dann auf den Pfad, der zwischen den Baumreihen verschwand und sagte etwas, das sie nicht verstand. Der alte Ben nickte und ergriff die Hand, die ihm der Graf entgegenstreckte. Die Männer verabschiedeten sich
voneinander. Ben meinte: »Um unser Vögelchen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Herr Graf. Ich werde sie bestens versorgen.« »Ich habe vor einer halben Stunde noch mal selbst nach ihr geschaut. Sie schlief tief und fest. Offenbar hat sie heute nacht noch lange wach gelegen. Lassen Sie sie schlafen, solange sie möchte! Gehen Sie auf ihre Wünsche ein, so gut es unter den gegebenen Umständen möglich ist! Ich werde alles daransetzen, bis zum frühen Nachmittag wieder hier zu sein. Dann werde ich mehr wissen.« Jetzt oder nie! Es war eine einmalige Chance ... May lief bis zum Auto vor. Hoffentlich fand sie alles so vor, wie sie sich das dachte ... Sie erreichte die Kühlerhaube, ging in die Hocke, kroch förmlich auf die Hintertür zu und tastete nach dem Griff. Offen! Ein Stein fiel ihr vom Herzen. May rutschte auf den Hintersitz, zog sofort die Tür wieder zu und legte sich flach hinter die vorderen Sitze. Es war gut, daß deren Rückenlehnen hoch waren. Wenn Leucate oder sein Diener keinen Extrablick auf den Rücksitz warfen, würde überhaupt nicht auffallen, daß sie hier lag. Wer würde schon daran denken, daß sie ausgerechnet im Wagen der Männer, die sie gebracht hatten, Unterschlupf suchte? Doch je mehr sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, daß dieser Schritt der beste war, den sie hatte tun können. Sie hegte eine Hoffnung: vielleicht ergab sich die Gelegenheit, auf einer Verkehrsstraße auf ihre mißliche und ungeklärte Situation aufmerksam zu machen. Hier in diesem abgelegenen Haus, in dem es keinen elektrischen Strom und erst recht kein Telefon gab, war sie völlig von der Außenwelt abgescgnitten. Vielleicht auch konnte sie das Auto an einer günstigen Stelle verlassen und sich wirklich in die Sicherheit bringen, die sie für sie richtig hielt, denn wovor sie bis jetzt geschützt wurde,
das begriff sie noch immer nicht. Sie preßte sich fest auf den Bezug, versuchte flach und leise zu atmen, um auf keinen Fall auf sich aufmerksam zu machen, und wollte vor allem ihrer Erregung Herr werden. Nicht durch eigenes Verschulden hoffte sie entdeckt zu werden. »Achtung!« Der Schrei erfolgte so laut, daß May Thompson es eiskalt über den Rücken lief. »Leucate! Aaaaaaghhhh!« Ein langgezogener, gräßlicher Schrei, der durch die trübe Luft hallte! Dann ein Krachen und Splittern ... Da fuhr May Thompson wie von einer Peitsche getroffen in die Höhe, starrte durch das mit vielen Regentropfen übersäte Fenster und wollte nicht glauben, was sie sah. Da waren nicht mehr nur Philip, der Graf und der alte Mann vor dem Haus - da wimmelte es plötzlich von Fremden. Da waren mindestens zehn, fünfzehn Personen, darunter drei Frauen. Sie kamen ums Haus hinter Bäumen vor und stürzten sich wie Schatten auf die drei. Den alten Ben, der so gellend schrie, erwischte es zuerst. Einer der Fremden hatte ihn gepackt und riß ihn wie ein Federgewicht in die Höhe. Ohne sich lange zu besinnen, schleuderte er den alten Mann durch das Parterrefenster. Das Fensterkreuz knickte ein, die Scherben flogen wie wütende Hornissen durch die Luft. Der Schrei des alten Ben verstummte. Philip und sein Herr waren in Sekunden in das Kampfgeschehen verwickelt und wurden voneinander getrennt. Was ging hier vor? May Thompson riß die Augen auf und sah, daß Philip und Leucate verzweifelt kämpften, daß sie offenbar Mühe hatten, gegen die Übermacht der Gegner anzukommen. Philip wurde zu Boden gerissen. Harte und dumpfe Schläge erfüllten die
Luft. Da fiel der Graf. Im Fallen riß er die Taschenuhr aus seiner Westentasche, klappte den rückwärtigen Deckel auf und streckte die Uhr von sich. Ein mehrstimmiger, gequälter Aufschrei hallte durch die Luft. Zwei, drei Männer, die Leucate umringten, schlugen die Hände vor das Gesicht, und May sah, daß ihr Verhalten dem der Frau glich, die gestern abend in ihr Zimmer eingedrungen war und irgend etwas mit ihr plante, von dem sie immer noch keine Vorstellung hatte. Die drei Männer drehten sich um ihre eigene Achse, schrien wie von Sinnen und rannten davon, als würden sie von Furien in den nahen Wald gehetzt. Von hinten stürzte sich eine weitere Gestalt auf Leucate, der sich auf geheimnisvolle unerklärliche Weise von seinen drei Bezwingern gelöst und sich Luft verschafft hatte. Leucate schaffte es nicht, die Hand mit dem aufgeklappten Deckel der alten Uhr herumzudrehen. Er riß die Beine hoch, und May wurde Zeuge, mit welcher Elastizität und Schnelligkeit dieser Mann seinen Körper unter Kontrolle hate. Er zog die Beine fast hoch bis zum Kinn, stieß sie blitzschnell ab und rammte sie dem Angreifer in den Leib. Die Wucht, mit der es geschah, hätte einen anderen Menschen vor Schmerz laut aufschreien lassen. Nicht so dieser Mensch. Er warf sich nach vorn und es sah so aus, als wolle er sich wie ein Stein auf Leucate plumpsen lassen. Der Graf rollte sich auf die Seite. Das war sein Glück. Der Angreifer fiel in seiner ganzen Länge auf den Boden. Es krachte dumpf, und die nasse Erde spritzte auf. Ohne mit der Wimper zu zucken, ohne ein Zeichen des Schmerzes erhob sich der Fremde wieder. Leucate keuchte. Er sprang auf die Beine, hielt einem anderen noch mal den aufgeklappten Uhrendeckel entgegen und brachte
denjenigen, der sich darin sah, zum Schreien und Taumeln. »Vorsicht!« Diesmal kam der Schrei über Mays Lippen, und sie fuhr zusammen, als sie es bemerkte. Aber Leucate vernahm ihn nicht. Die Gefahr, vor der May ihn hatte warnen wollen, kam von der Seite. Die Hand eines Veränderten wischte durch die Luft. Die Finger umschlossen die geheimnisvolle Uhr des Grafen. Die goldene Kette spannte sich und wurde aus dem Knopfloch gerissen. Kreidebleich stand Leucate eine Sekunde wie vom Donner gerührt. Das einzige Verteidigungsmittel, mit dem er seine rätselhaften Feinde sich vom Leib hätte halten können - befand sich nicht mehr in seinem Besitz! Es flog durch die Luft und klatschte auf den Boden. Eine der veränderten Frauen drehte ihr Gesicht ab, als der Gegenstand in ihrer unmittelbaren Nähe landete. Sie setzte ihren Fuß darauf und stampfte die Uhr heftig in den Boden. Ein Stöhnen entrann den Lippen des Grafen. Mit einem schnellen Blick erfaßte er die Situation. Philip lag in seltsam verrenkter Stellung auf dem Boden und rührte sich nicht mehr. Durch den harten Einsatz der Fremden war auch Ben ausgeschaltet. Auch ihn, Leucate, erwartete das gleiche Schicksal, wenn es ihm nicht gelang, dem Zugriff der unbesiegbaren Feinde zu entrinnen. Er spurtete los und flog dem bereitstehenden Wagen förmlich entgegen. Mays Herz pochte dumpf. Sie duckte sich. Die Tür zum Vordersitz wurde aufgerissen, knarrend die Handbremse gelöst. Leucate gab Gas. Wertvolle Sekunden waren gewonnen, da der Motor bereits lief. Ruckartig stieß das Taxi nach hinten. Leucate warf das Steuer herum und legte den Gang ein. May Thompson wurde hin und her geworfen, knallte mit dem Kopf gegen den Fahrersitz und preßte die Faust an die Lippen, als sie
sah, daß einer der Veränderten an der Tür genau ihr gegenüber auftauchte und versuchte sie aufzureißen. Eine Zehntelsekunde lang begegnete sie dem Blick dieser glitzernden, haßerfüllten Augen, und das nackte Grauen packte sie. Ein Krachen und Scheppern lief durch den Wagen. Der Mann hatte die Faust gehoben und stieß sie wie einen Rammbock in die Seitentür. Eine riesige Beule bildete sich. Ein zweiter Schlag kam von vorn. Der Kotflügel wurde eingedrückt, ein Scheinwerfer platzte wie ein Luftballon. Leucate gab Gas. Das Taxi schoß über den matschigen Boden und jagte auf dem schmalen, bergabführenden Pfad dahin. Die Bäume zu beiden Seiten huschten vorbei wie Schemen. Wie Geisterfinger schlängelten sich die Nebel zwischen den Stämmen entlang. Geschafft! Das Gebäude und die unheimlichen Menschen fielen zurück. Ein leises Schluchzen schüttelte Mays Körper, und sie mußte an sich halten, um nicht laut aufzuschreien. Ihr Herz schlug hart gegen ihre Brust, und sie beruhigte sich lange Zeit nicht. Was ging hier vor? Um diese eine Frage drehte sich alles. Es war höchste Zeit, daß sie wieder unter normale Menschen kam, sonst verlor sie noch den Verstand. Sie rührte sich nicht, blieb wie erstarrt in ihrem Versteck, und nichts wies darauf hin, daß Leucate etwas von dem blinden Passagier ahnte. Er fuhr so schnell, wie es die Straße und der Zustand des Wagens erlaubten. Es ging bergauf, bergab, mal links, mal rechts, und May gewann den Eindruck, als würde sie kreuz und quer durch die Landschaft fahren. Dann folgte besonders holpriger Boden. Es ging bergauf. Steine knirschten unter den Reifen. Als der Wagen endlich stehenblieb, hatte May das Gefühl, in einer Schüttelmaschine gelegen zu haben. Alles um sie herum zitterte, und sie hörte noch jetzt das Dröh-
nen des Motors in ihren Ohren. Sie glaubte sich seit einer Ewigkeit in dieser Lage, dabei waren knapp vierzig Minuten seit der Flucht aus dem einsamen Haus vergangen. Leucate stieg aus. Er rannte über den steinigen Untergrund. May richtete sich langsam auf. Sie sah den Grafen am Rand des Weges stehen und in die Tiefe starren. Dann wandte er sich ab, lief den schmalen Pfad hoch und verschwand hinter Büschen. Da hielt es auch May Thompson nicht länger in ihrem Versteck. Sie stieg aus und lief ebenfalls zum Rand des steil aufwärts führenden Weges, um zu sehen, was es da unten gab. Unterhalb der wildromantisch in den Berg hineingebauten Burg standen viele Autos. Sie waren alle verlassen. Noch immer kamen neue hinzu. Menschen stiegen aus. In einem saßen zwei oder drei Personen, in anderen nur eine einzige. Sie strebten auf den schwarzen Fels zu und bewegten sich wie in Trance, als vernähmen sie eine Stimme, der sie unbedingt folgen mußten. Menschen! Mays Herz schlug schneller. Was suchten diese vielen Menschen hier? Fand hier ein Volksfest statt? Aber diese unheimliche Ruhe ... irgend etwas stimmte hier doch nicht ... was machten sie da unten hinter den bizarren Felsen, denen sie entgegenstrebten und dort verschwanden, als würde ein Schlund in der Erde sich öffnen. Diese Menschen, schoß es May durch den Kopf, haben eine gewisse Ähnlichkeit in ihren Bewegungen und ihren kraftvollen Schritten ... mit denen, die in dem alten Haus Ben und Philip zusammenschlugen, die wie Panzer auf den Wagen zueilten, als Leucate floh, und denen es nichts ausmachte, mit diesem Wagen zusammenzustoßen, die nicht mal dabei zu Boden stürzten. Da wich May zurück, und panische Angst erfüllte ihr Herz. Hier konnte sie nicht bleiben, hier konnte sie auch keine Hilfe erwarten. Der Graf war geflohen. Wohin brachte er sich in Sicherheit?
Was wußte er von diesen Dingen, daß er diesen Ort aufsuchte? Ihre Neugierde war stärker als ihre Furcht, und so lief sie zum Ende des Schotterwegs, schlug den gleichen Weg ein wie Leucate und fand sich auf einem schmalen, verschlungenen, steil aufwärts führenden Weg wieder, der vor vier- bis fünfhundert Jahren noch den Raubrittern, die sich in Sword Castle eingenistet hatten, als Trampelpfad diente. Der schmale Pfad mündete auf einen breiteren, und der wieder stieß genau auf das Schloßtor, das jenseits der steinernen Brücke über dem Abgrund lag. Dort sah sie Leucate wieder. Der Graf hielt einen Schlüssel in der Hand, drehte das Schloß zweimal um, und sie erkannte, daß der Gast aus Frankreich sich in äußerster Eile und größter Erregung befand. Etwas Eigenartiges geschah. Der Himmel war bewölkt, es regnete noch immer. Da riß die Wolkendecke auf. Ein heller Sonnenstrahl bahnte sich seinen Weg über die Zinnen der alten Burg. Hart fiel der Schatten eines Turmes quer über den Hof und berührte die entgegengesetzte Wand. Leucate warf sich nach vorn, rannte, als ob es um sein Leben ging, und May lief über die steinerne Brücke, um zu sehen, was hier vorging und weshalb Leucate es so eilig hatte. Er stürzte quer durch den Hof, jagte auf die schwere Bohlentür zu, legte den Riegel zurück und riß sie auf. Der Schatten des Galgens über dem alten Brunnen lag auf der Tür und jetzt auf Leucates Rücken. Was der Graf in dieser Sekunde sah, blieb May Thompson, da sie noch zu weit entfernt war und nicht um die Ecke sehen konnte, verborgen. Die Tür zur Waffenkammer stand offen. Der Schattenwurf des Galgens traf sich mit dem der Armbrust, und das seltsame rätselhafte Kreuz entstand, das zu einem unbeschreiblichen Gebilde verschmolz. Leucate befand sich genau im Schnittpunkt des Schattens.
Das löste die Reaktion aus. Energie formte Materie zu Energie. May Thomson taumelte. Leucate wurde vor ihren Augen zu Nichts! Sie rannte in den Hof, als der Spalt in den Wolken sich schloß und ein geisterhafter Moment, der nicht länger als vier oder fünf Sekunden gedauert hatte, zu Ende war. Sie preßte die Augen zusammen, öffnete sie wieder und murmelte: »Ich täusche mich, ich täusche mich bestimmt …« Doch der Schloßhof war leer und geisterhaft still bis auf das leise Tropfen des Regens der auf den Brunnenrand und die Meuervorsprünge fiel. Ein Mensch - konnte sich nicht in Luft auflösen! Das widersprach dem normalen Menschenverstand und den physikalischen Gesetzen, denen diese Welt unterstellt war. Aber, fragte May sich da: was sie seit gestern abend erlebt hatte, war ebenfalls mit dem normalen Menschenverstand und mit den bestehenden physikalischen Gesetzmäßigkeiten nicht zu erklären. Hier stimmte überhaupt nichts mehr! Als ob eine unsichtbare Hand sie schiebe, so näherte sie sich der weit offenstehenden Waffenkammer. Das Spinngewebe war zerrissen, obwohl Leucate es überhaupt nicht berührt hatte. Oder hatte das von weitem nur so ausgesehen und der Graf war in diese Kammer geflohen? Oder hatte May das in der Eile nicht mitbekommen? Sie überwand die Schwelle, ging in das Gewölbe, blickte sich um und sah in dem dämmerigen Licht, das hereindrang, die schmale, steile Treppe neben der Truhe. Da ging sie darauf zu. * Larry Brent schlug die Augen auf.
Im ersten Moment war ihm. als ob er auf kaltem Boden lag. Aber dann merkte er daß er auf einem erhöhten Podest lag und genau auf die riesenhafte Chaos-Statue blickte. Er erinnerte sich sofort an alles wieder, obwohl sein Körper schmerzte, als wäre er mit zahllosen blauen Flecken übersät. Sein Schädel brummte, als würde dort unabstellbar ein Motor laufen, der sein Gehirn vibrieren ließ. Er fühlte sich elend und schwach und hatte einen faden Geschmack im Mund. Langsam richtete er sich auf. Niemand hinderte ihn daran. Man hatte ihm nicht mal Fesseln angelegt und er registrierte auch sofort, daß er noch im Besitz seiner Laserwaffe war. Nicht mal die hatten seine Gegner ihm abgenommen. Das hatten sie auch nicht nötig: wie er selbst erlebte brauchten sie keine Furcht davor zu haben. Er hockte auf dem riesigen Altar und kam sich darauf ebenso klein und verloren vor wie in der gigantischen Felsenhalle, die in einer fernen, unbekannten Zeit von unbekannten Götzenanbetern errichtet wurde. Chaos’ Reich auf dieser Erde! Es war erhellt von zahlreichen Fackeln, die in Halterungen an Wänden und Säulen steckten und ein blakendes, tanzendes Licht verbreiteten. Der riesige Steingötze wurde verehrt. Von Menschen. Larry konnte auf sie hinunterblicken. Sie bildeten einen engen Kreis um ihn und verharrten dort abwartend und blickten zu ihm empor. Und es wurden immer mehr. Larry sah sie aus dem Dunkeln der Höhle kommen, dort aus bereitgestellten Schalen Fackeln nehmen, sie entzünden, und ohne sich um den Mann auf dem Altar zu kümmern - sich zu den anderen gesellen, die bereits eingetroffen waren. Minutenlang beobachtete Larry diese stumme, geisterhafte Zeremonie. Die Stunde X war gekommen! Chaos rief seine Getreuen, und
sie kamen aus allen Himmelsrichtungen. Das Heer der Dienerschaft, das er benötigte, war geschaffen. Nun konnte er den letzten Streich durchführen! Eine eiskalte Hand griff nach Larry Brents Herzen. Diese Menschen wußten nicht, was sie taten, warum sie gekommen waren. Was schon mal passiert war vor rund hundertfünfzig Jahren, das wiederholte sich nun hier. Doch diesmal war Chaos geschickter vorgegangen. Er zog seine Getreuen, die er nach und nach geschaffen hatte, erst jetzt in der letzten Minute zusammen. Er hatte aus seinem damaligen Fehler gelernt, als aufgefallen war, daß immer mehr Menschen aus Braemer und Umgebung verschwanden. Dreihundert mußten es sein. Larry machte sich nicht die Mühe, sie zu zählen. Die Zahl konnte stimmen. Es waren sehr viele Menschen. Männer und Frauen und Mädchen und... X-RAY-3 hielt den Atem an. Aus der Dunkelheit schälten sich zwei Frauen. Die eine kannte er nicht. Das war Cyrill Perkins. Die andere aber hatte er in einem netten, ausführlichen Gespräch näher kennengelernt - Sandra McCoy! Sie gesellten sich zu den anderen, und es war, als hätte es nur noch das Auftauchen dieser beiden Personen bedurft, um das Ereignis auszulösen. Larry erkannte das grausame Spiel: er war ein Außenstehender, es war nicht mehr nötig gewesen, auch ihm durch das verhexte Amulett Chaos' Leben einzuhauchen. Die Zahl der Diener war ereicht. Sie waren gekommen, ihn zurückzuholen und er, der Außenseiter, war hier unten mit ihnen gefangen und sollte Zeuge eines Vorgangs sein, den noch niemand beobachtet hatte. Offenbar hatte dann Chaos - nach seinem Erwachen - etwas Besonderes mit ihm vor. Eine klare Stimme hallte durch den Tempel. Cyrill Perkins sprach, und während sie sprach, nahm sie das Amulett vom Hals und streckte es Chaos entgegen.
»Wir sind bereit, Chaos, unser Gott! Verfüge über uns schenke uns dein ewiges Leben, daß wir sind wie du!« Der eine zum Leben erwachte Finger streckte sich den dagegen winzig wirkenden Menschenhänden entgegen. Das Amulett berührte den Finger des Götzen, es wuchs wieder zu seiner ehemaligen Größe und nahm die Gestalt des Ringes an, so daß Cyrill Perkins ihn bequem auf den Finger des ungeheuerlichen Geschöpfes, das noch Stein war, schieben konnte. Dann ging es Schlag auf Schlag. Ein sprödes Krachen erfüllte die Luft. Der erste, der gekommen war, brach zusammen. Von seinem erhöhten Standpunkt aus konnte X-RAY-3 alles überblicken, und nichts entging ihm. Der Mann in dem schneckenförmigen Kreis, den die Menschen um die Titanenstatue bildeten, sackte in die Knie. Noch während er fiel, lösten sich seine Glieder von seinem Rumpf und alles wurde zu dunklem, hartem Stein, der unförmig vor die Füße Chaos' kullerte. Im gleichen Augenblick bewegte sich der zweite Finger des unheiligen Götzen. Ein neues Opfer! Ein neues Stück Leben für den Giganten ... In Bruchteilen von Sekunden, wie eine Kettenreaktion, spielten sich die Dinge ab. Menschen verloren ihre Gestalt. Chaos gewann Leben. Schon lebte die eine Hand, dann der Arm, dann begann seine Brust sich zu heben und zu senken, dann begann ein Arm zu zucken. Larry Brent stöhnte leise und griff sich an die Gurgel. Er stand wie unter einem Schock auf dem Altar, und es war ihm, als würde auch er versteinern, nur vom Zusehen. Er mußte handeln, er mußte tun, was in seiner Macht stand. Konnte er überhaupt etwas tun? »Flieht!« Er brüllte wie von Sinnen! »Er hat euch in die Irre geführt, merkt ihr es denn nicht? Nicht Leben schenkt er euch, sondern den Tod! So flieht doch, um Himmels willen!« Er brüllte aus Leibeskräften, aber niemand schien ihn zu hören.
Oder doch? Eine leichte Bewegung ... Am Ende des schneckenförmigen Kreises. Sandra McCoy! Sie wirkte unruhig. Etwas in ihr wehrte sich gegen das grüne Blut des steinernen Götzen - es war das Blut der McCoys, ein besonderes Blut, wie Derrick McCoy schon vor hundertfünfzig Jahren geschrieben hatte. Da zögerte Larry keine Sekunde länger. Er sprang vom Altar und jagte in Riesensätzen durch das Zyklopengewölbe direkt auf Sandra zu. »Sandra!« keuchte er. »Kommen Sie mit! In Ihrer Hand allein liegt es, dem Grauen Einhalt zu gebieten. Kommen Sie!« Sie wehrte sich, als er nach ihr griff, aber sie war auch nicht so steif und unnahbar wie die anderen, die überhaupt in diesem magischen Moment nicht mehr mitbekamen, was gespielt wurde. Er riß sie einfach mit sich. Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen. »Kennen Sie sich hier aus?« fragte Brent. Kopfschütteln ... »Verdammt! Aber es hilft alles nichts. Wir müssen hier raus. Wir müssen die Armbrust finden. Die Waffenkammer ist bequem vom Innenhof aus zu erreichen ...« Larry erinnerte sich an eine Skizze des Schlosses, die er in der Haus-Chronik gesehen hatte. »Sie allein können ihn zurückschlaffen. Wir müssen es schaffen ... ehe die Zeit abläuft ...« Und Sandra war ihm zu langsam, zu träge, zu antriebslos. Er selbst war gehandicapt, aber er forderte sich in diesen Sekunden alles ab. Sein ganzer Körper schmerzte, er fühlte sich matt und kraftlos, und es war nur sein eiserner Wille, der ihn auf den Beinen hielt. Er lief um die Säulen herum und entfernte sich von der gewaltigen Menschentraube, deren Blicke gierig an dem bewegungslosen Gesicht der Statue hingen. Er suchte die
Wände ab, suchte nach einem Ausweg und fand schließlich einen Gang, der direkt auf eine Treppe zuführte. Die stieg er empor. Auf halber Höhe prallte er fast mit May Thompson zusammen. »May!« Er schüttelte sich, als hätte jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über ihm ausgeleert. »Wie kommen Sie hierher?« Angst schlich in sein Herz. Gehörte auch sie zu denienigen, die ... nein, ihre Haut wirkte anders, ihr Blick glich nicht dem der anderen. »Kommen Sie, schnell nach oben!« rief er ihr zu, noch ehe sie etwas sagen konnte. »Für Erklärungen haben wir jetzt keine Zeit. Später! Bringen Sie sich in Sicherheit! Wo kommen Sie her?« »Eine Kammer . . . alte Waffen lagern darin, und ...« »Führen Sie uns dorthin!« Larrys Stimme klang heiser, aber hoffnungsvoll. Ein Wink des Schicksals? Man begegnete im Leben manchmal Menschen, die plötzlich Bedeutung gewannen, ohne daß man das vorher voraussehen konnte. Er glaubte ein Zentnergewicht die Treppe hochzuschleppen. Sandra ging nur hin und wieder einen Schritt aus eigenem Antrieb und das war ihm zu langsam. Unten in der düsteren Tempelhalle krachte es weiter. Menschen brachen auseinander wie Felsbrocken. Seine eigene steinerne Existenz gab Chaos an die Menschen zurück, als schüttle er einen Bann ab, als gäbe er das an die weiter, die ihn mal damit in Fesseln geschlagen hatten. Es kam Larry wie eine Ewigkeit vor, die siebzig Stufen emporzuklimmen. Er taumelte in die Kammer. Frische Luft! Tageslicht! Der Spuk lag hinter ihm, aber er war noch nicht besiegt. Sein Blick fiel auf die Mauer gegenüber. Die Armbrust! Eine einzelne Armbrust!
Er griff danach. Sie rührte sich nicht. Da erinnerte er sich. »Sandra! Sandra!« Larry führte ihre Hand zu der Waffe. Sandra berührte sie. Ganz langsam, als erwache sie aus einem Schlaf. Aber die Zeit drängte. Sie konnte die Waffe heben. Ganz bequem. Und in dem Augenblick, als sie die Armbrust von der Wand löste, fiel ein Pfeil nach vorn, der sich in einer schmalen Nische genau hinter der Waffe befand. Larry legte den Pfeil in die Armbrust. Sandra merkte, daß etwas Besonderes vorging, aber sie schien das Geschehen in seiner ganzen Tragweite doch nicht zu begreifen, oder sie stand so stark unter dem Willen des steinernen Götzen, daß sie sich einfach nicht ganz davon freimachen konnte. Vielleicht spielte auch eine Rolle, daß sie ihre Volljährigkeit noch nicht erreicht hatte und daß nun das eingetreten war, wovor Familienmitglieder der vorigen Generation schon eine gewisse Furcht hatten. Larry schubste sie nach draußen. Chaos war so groß, daß er unmöglich die Treppen nach oben kam. Er hatte seinen eigenen Ausgang. Sie rannten über den Schloßhof, als der Wind aufkam, der über den Zinnen fegte und ihnen den Regen ins Gesicht peitschte. Dieser Sturm kam von der Felswand auf der gegenüberliegenden Seite. Die Schlucht, in der Derrick McCoy, Sandras Urgroßvater, dem Ungeheuer vor drei Generationen auflauerte! Ein Brausen und Pfeifen erfüllte die Luft und peitschte die Wolken. Larry mußte sich förmlich gegen den Sturm stemmen, um das große Tor zu erreichen. Dort angekommen, glaubte Larry Brent, er müsse im Boden versinken. Aus! schrie es in seinem fiebernden Hirn. Alles aus! Vor der steil abfallenden Schlucht hatte sich ein neuer Hügel
gebildet. Groß, kahl, grau - grün. Dieser Hügel bewegte sich. Die Schultern, der Kopf Chaos' ragte vor ihnen empor. May Thompson schrie gellend auf, aber ihr Schrei ging unter im Brausen des Sturms. »Chaos!« entfuhr es Larry. Der steinerne Götze lebte und war aus seinem unterirdischen Felsenreich herausgekommen. Der massige Schädel drehte sich. Triumph und Haß und Herrschsucht kennzeichneten Chaos' Züge. Die riesigen Augäpfel bewegten sich rollend, und die zahllosen roten Adern darin erinnerten an fingerdicke Schläuche, durch die eine blutfarbene Flüssigkeit gluckerte. »Schießen Sie, Sandra!« Larry stand hinter der unentschlossenen Wirtstochter. Sie starrte auf Chaos, auf diesen zum Leben erwachten Berg, der langsam vor ihr in die Höhe stieg. Sie nahm die Armbrust hoch und zielte genau auf sein Herz. Sie brauchte nur noch abzudrücken! X-RAY-3 hatte seine Hände auf Sandras Schultern liegen und merkte, wie eine Spannung durch den Körper des Mädchens lief. Plötzlich erschauerte er. Diese Spannung - erstarrte. Sandras Muskeln wurden hart und kalt. Das Mädchen, nur wenige Schritte von dem Abgrund neben der steinernen Brücke entfernt, wurde eiskalt und unter seinen Händen zu Stein! Zu Stein wurde auch der Pfeil und die Armbrust - und in der Pose der Schützin stand Sandra McCoy als eine in Stein verewigte Statue da - und atmete nicht mehr! * Larry Brent schrie auf wie ein zu Tode verwundetes Tier. Sandra zerbröckelte nicht wie die anderen Opfer. Chaos hatte
sie - als sollte das eine Abschreckung sein - zur Statue erstarren lassen. Ein riesiger Schatten tauchte über X-RAY-3 auf. Die Hand des Zyklopen! Brent warf sich herum und jagte der steinernen Brücke entgegen, aber es war unmöglich, daß er in Sekunden einise hundert Meter zwischen sich und den Titan brachte und ihm entfloh. Die Riesenhand war über ihm und senkte sich herab Larry Brent fühlte sich wie von einem Orkan in die Höhe gezogen. Er befand sich in der Hand des unheimlichen Geschöpfes, und die Finger schlossen sich um ihn! Ende des 1. Teils!
Chaos ist zum Leben erwacht, und es ist ihm gelungen, Larry Brent in seine Gewalt zu bringen. Kann X-RAY-3 noch mal das Blatt zu seiner Gunsten wenden? Was für eine Rolle spielt der rätselhafte Graf Leucate? Ist er ein Schwindler? Ein Abenteurer? Ist er wirklich so alt, wie Larry Brent glaubt - oder noch älter? Wo befindet er sich jetzt? Diese und andere Fragen beantwortet Ihnen der zweite Teil des Chaos-Zyklus, Band Nr. 106, »Totenkopf-Roulette« saus der Feder Dan Shockers!