Andrew Vachss Das Geschaeft des Boesen
gescannt nach der Ausgabe Bergisch-Gladbach, Bastei, 1996
Andrew Vachss
Das ...
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Andrew Vachss Das Geschaeft des Boesen
gescannt nach der Ausgabe Bergisch-Gladbach, Bastei, 1996
Andrew Vachss
Das Geschaeft des Boesen
Originaltitel: Batman – The Ultimate Evil Ins Deutsche übertragen von Michael Kubiak
Danksagungen …
David Joe Wirth Geopolitik James Eden Colbert Kriegsführung Steve Korté Stiftung
Dies ist für alle Kinder des Unsagbaren
Wenn Paris die Stadt des Lichts ist, was ist dann Gotham? Von seinem Verwaltungszentrum in der Innenstadt, wo die Gebäude sich zusammendrängen wie U-Bahn-Fahrgäste, über den Glanz des Luxushotels und Viersternerestaurants, die man in lockerer Folge zwischen den sündteuren Edelshops antrifft, bis hin zur Pracht der Apartmenttürme und Villenviertel ist Gotham ein internationales Symbol kosmopolitischen Erfolgs. Fluglinienpiloten drehen gern eine zusätzliche niedrige Runde über der Stadt, bevor sie auf dem Gotham Airport landen, um den Passagieren, die aufgeregt an den Fenstern kleben, die herrliche Skyline zu zeigen. Aus der Luft betrachtet, ähnelt Gotham bei Nacht einer endlosen Schnur aufgereihter Diamanten, die auf einem Tuch aus dickem, schwarzem Samt kunstvoll ausgelegt wird. Aber sobald man hinabsteigt auf Erdniveau, bekommt man etwas anderes zu Gesicht. Der schwarze Samt hat seine eigene Beleuchtung – das kalte, grelle Neonlicht der Sexindustrie, der fieberhafte Glanz in den toten Augen der verzweifelten Drogensüchtigen, die schadhafte Straßenbeleuchtung, die Zonen tiefster Schatten schafft, in denen Straßenräuber geduldig auf ihre Opfer warten. Noch tiefer hinab, in den Eingeweiden der Stadt, ist das einzige Licht künstlich … ebenso vom Menschen geschaffen wie das absolute Böse. Und die einzige hier gebrauchte Sprache ist das Entsetzliche.
D
er mittelhohe Apartmentkomplex stand stolz knapp innerhalb des Lichtkranzes, zwei Blocks von der Dunkelheit des Stadtrands entfernt. Die Sicherheitszone von zwei Blocks wurden von den anständigen Bürgern, die auf ihrem Weg zur Arbeit täglich dort hindurchgingen, Bordertown genannt. Aber die Polizisten, die dort abends und nachts Streife gingen, hatten einen anderen Begriff dafür – sie nannten es die EMZ, die Entmilitarisierte Zone. Der Erbauer des Komplexes hatte vom Stadtrat erhebliche Steuererleichtungen bewilligt bekommen als Gegenleistung für seine Absicht, eine teure Zone ›urbaner Grünflächen zu schaffen. Drei der Apartmenthäuser standen in einem schrägen Winkel zur Straße, so daß ihr Kreuzungspunkt ein Dreieck bildete. Der Investor betonte dieses Dreiecksprinzip mit einem zementierten Spazierweg, der eine Grasfläche säumte. Der Weg selbst war mit gußeisernen Bänken ausgestattet. »Erzählt mir nichts von der Ginza und redet nicht von Hongkong«, hatte der Investor während einer jener Wohltätigkeitsveranstaltungen geprahlt, die seiner Frau so lieb geworden waren. »Mag sein, daß es Städte gibt, wo die Miete pro Quadratfuß ein paar Dollar höher liegt, aber wenn es darum geht, was am Ende herauskommt, steht Gotham an der Spitze. Um das zu erzielen, was ich bekomme, wenn — 11 —
ich diese hübschen kleinen Plazas baue, die der Stadtrat so heiß und innig liebt, müßte man den gesamten Baugrund mit Uran bedecken, damit er so weit im Wert steigt, um das zu erzielen.« »Wofür benutzen Leute diese Plätze?« wollte eine junge Frau wissen. »Woher soll ich das wissen?« fragte der Bauunternehmer zurück. Die Worte des Investors vereinigten sich mit dem Flüsterstrom, der in der Stadt umging, verschmolzen mit anderen Stimmen, anderen Worten … Auf dem Platz blickte ein Mann hoch, aber nicht zum Himmel. Es war ein obdachloser Mann, und er lag auf dem Rücken einer der dekorativen Gußeisenbänke mit nur einer Lage alter Zeitungen als Matratze, und er betrachtete das geometrische Muster, das durch die wahllos erleuchteten Fenster im Apartmentkomplex entstand. Seine Augen wurden trübe vor Traurigkeit, als er sich an eine Zeit erinnerte, in der auch er zu den Strebsamen gehört hatte, er ein stolzes Mitglied der Mittelklasse gewesen war, im Aufstieg begriffen war, von Reichtum träumte und von einem unstillbaren Ehrgeiz getrieben war, tja … was zu erreichen? »Dinge«, dachte der obdachlose Mann, »nur Dinge. Unbelebte, vergängliche Dinge.« Sie hatten sich nie lange gehalten – genauso wie die Freude nur kurz gedauert hatte, die jede neue Anschaffung so verlockend verheißen hatte. Die Flüsterströme flossen ungehindert durch Gotham, saugten alles mögliche auf und ergossen sich in einen — 12 —
dunklen Strom von Gerüchten, Zweideutigkeiten, Geheimnissen und Mythen. Wenn der Blick des obdachlosen Mannes ein wenig höher gewandert und seine Augen schärfer gewesen wären, so hätte er eine Kreatur der Nacht erblickt, eine mit den Schatten verschmelzende Gestalt, die von einem Sims auf dem mittelhohen Gebäude herabschaute. Er hätte den Batman sehen können. Oder, genauer, eine grau und schwarz gekleidete Figur, ein in Umhang und Kapuze gehülltes Meisterstück urbaner Tarnung. Er hätte eine … Erscheinung sehen können. Trotz der Tausenden von Kriminellen, denen der Batman in seinen Jahren unterirdischer Kämpfe gegenübergestanden hatte, konnte nicht ein Mensch behaupten, den Mann hinter der Maske tatsächlich gesehen zu haben. Der Batman war ein übermenschliches Phänomen, ein lebender Geist – der geschickt auf dem Rüsterstrom durch die Unterwelt Gothams segelte, er war der absolute Schrecken der Schrecklichen. Einige meinten, Batman sei selbst nur ein Gerücht. Nur eine übertriebene Legende … wie die Alligatoren in der Kanalisation. Aber niemand sprach das laut aus. Oder blieb lange bei dieser Behauptung. Der Batman stand regungslos da, seine kampfgewohnten Augen suchten das Gelände ab, sprangen zwischen fern und nah so schnell und zuverlässig hin und her wie die eines Falken. — 13 —
»Wie man sieht ist wichtiger als was man sieht«, dachte der Verbrechensbekämpfer in Erinnerung an eine seiner ersten Kampfsportlektionen. Der Flüsterstrom spülte in den dreieckigen Park, ein kurzzeitiges Delta in einem ewigen Fluß. Der Batman war dem Strom geduldig gefolgt. Nun versetzte er sich mit seinem Willen in ein Ruhestadium, verlangsamte seinen Herzschlag und seinen Atemrhythmus, legte sich innerlich still und benutzte nicht nur seine Augen, sondern den ganzen Körper als Sensor. Sie würden bald kommen. Batman wußte das. Und trotz seiner wissenschaftlichen Kenntnisse, trotz all seiner raffinierten Maschinen konnte er nicht genau sagen, warum er es wußte. Der Obdachlose holte eine zerknautschte Zigarette hervor, seine letzte. Er kratzte sich hinter dem Ohr und erinnerte sich wehmütig daran, wie er jeden Abend eine teure Havannazigarre zu einem Glas Rotwein geraucht hatte, ehe er zu Bett ging. »Wenigstens bin ich jetzt frei«, dachte er und klopfte suchend seine Taschen ab, während die Zigarette zwischen seinen Lippen baumelte. »Brauchst du Feuer, alter Mann?« Der Obdachlose schreckte hoch und gewahrte die drei Teenager, die ein paar Schritte entfernt standen. Sie waren mit Lederjacken bekleidet und bildeten ein Dreieck, als wollten sie die Form des Marktplatzes verspotten. Der Obdachlose war gelähmt vor Angst. Er las keine Zeitungen, aber er lauschte dem Flüsterstrom. Und er wußte, was die Bande vorhatte. — 14 —
»Laßt mich in Ruhe!« rief er. Aber sein Schrei kam als ein Winseln heraus, leise und schwach – und er stachelte die Bande geradezu an. Der Anführer, es war der, der zuerst gesprochen hatte, schnippte mit den Fingern. Eine Flamme schoß hervor, fast dreißig Zentimeter hoch. Die Flamme brachte einen anderen der Jungen zum Kichern – es war ein schrilles Gackern, so scharf und schneidend wie zerborstenes Glas. Der dritte Junge holte eine Plastikspritzflasche aus seiner Jacke. Der Obdachlose wußte, was sich in der Flasche befand … er hätte es auch gewußt, wenn der durchdringende Benzingeruch nicht über den Platz geweht wäre. ›Penner flämmen‹ nannten sie es – das neueste sadistische Vergnügen für die gewalttätigen Jugendbanden, die ihr Unwesen in bestimmten Teilen Gothams trieben. Es war eine einfache Sache – man suchte sich einen schlafenden Obdachlosen, besprühte ihn mit Benzin … dann schnippte man ein brennendes Streichholz in seine Nähe und hatte seinen Spaß. »Ich bin kein Penner!« kreischte der Obdachlose in seinen Gedanken. »Ich bin eine Persönlichkeit! Ich habe einen Namen!« Aber kein Laut drang über seine Lippen. Die Bande begann ihren Tanz, nahm ihre oftmals erprobten Positionen ein und umzingelte das Opfer, damit es nicht entfliehen konnte. Der Obdachlose spürte, wie der Willen zum Widerstand wie trockener Sand durch gespreizte Finger zerrann. »Bespritz ihn, Raj!« befahl der Kicherer. — 15 —
Der Obdachlose schlug die Hände schützend vors Gesicht. Die Bande drang auf ihn ein, und der Kicherer riß die Schultern des Obdachlosen nach hinten gegen die Rückenlehne der Bank. Der Obdachlose öffnete die Augen, starrte in das Gesicht seines Peinigers, suchte darin verzweifelt … was? Verständnis, menschliches Mitgefühl …? … aber was der Obdachlose gewahrte, war der egoistisch abweisende Blick eines Psychopathen, der sein Vergnügen allein darin sah, andere zu quälen. Der Obdachlose holte ein letztes Mal tief Luft, um in seiner Not einen letzten Schrei auszustoßen, als … … ein Stück schwarzen Nachthimmels herabfiel und weich auf dem Untergrund landete. Der Batman – der Jäger menschlichen Raubwildes. »Es ist vorbei«, sagte er, spannte seinen flatternden Umhang mit einer schnellen Bewegung beider Hände aus, um jeden Fluchtweg abzuschneiden, und verwandelte den Umhang im gleichen Moment vom Fallschirm in einen Schild. In den dunklen Augenschlitzen seiner Kapuze brannte ein kaltes Feuer. »Schnapp ihn dir, Raj!« brüllte der Anführer, nahm eine halbgeduckte Messerkampfhaltung ein und streckte den Miniflammenwerfer vor. Der Teenager mit der Plastikspritzflasche sprang vorwärts und deckte Batman mit einem feinen Benzinnebel ein. Der Verbrechensbekämpfer blieb stehen und wich noch nicht einmal zurück, als der Anführer seinen Flammenwerfer betätigte. Eine Feuerzunge leckte über die Distanz bis zu dem mit Benzin getränkten maskierten Mann. — 16 —
Der Batman ging in Flammen auf! Zwei rasche Schläge seines Umhangs erstickten den Brand genauso schnell, wie er aufgelodert war. Und Batman stand so reglos da wie vorher, unerbittlich wie der Tod selbst. Der Obdachlose verfolgte staunend, wie der Bandenführer seinen Flammenwerfer fallen ließ und die Hände hob. Der Junge, den sie Raj nannten, warf seine Spritzflasche weg und folgte diesem Beispiel. Doch der Kicherer zog eine Pistole. Die verchromte Waffe glänzte in seiner Hand. Ein weiteres irres Kichern drang aus seiner Kehle, während er mit der Pistole auf den immer noch reglos dastehenden Batman anlegte. »Mal sehen, ob du auch darüber lachst!« rief er. Während der Kicherer auf den Abzug drückte, vollführte der Batman mit der linken Hand eine schnelle Bewegung. Sein schwarzes Cape flatterte nach links, doch sein Körper bewegte sich gleichzeitig nach rechts: Er landete in einer Rolle vorwärts auf dem Erdboden. Ein Stiefel traf die Brust des Kicherers wie ein Dampfhammer und warf ihn nach hinten. Die Pistole ging los, und die Kugel pfiff in die Luft. Batman kam in einer fließenden Bewegung sofort wieder auf die Füße und schaute auf den Kicherer hinunter. Der junge Mann hielt sich den Brustkasten und wimmerte. Danach war nur noch ein schneller Ruf auf dem direkt mit der Polizei verbundenen Sender des Batman nötig, um zwei Streifenwagen auf dem Platz zu holen. Während die Polizei am Ort des Geschehens erschien, verschwand der — 17 —
Batman in der Nacht und ließ nur einen tiefbewegten Obdachlosen zurück, der die Anwesenheit der drei mit Handschellen gefesselten Vandalen erklärte. Es war nicht genug. Vielleicht wäre es niemals genug. Noch während das Batmobil im Schutz der Dunkelheit nach Hause unterwegs war und zügig durch einige Serpentinen rollte, wurde der maskierte Mann am Lenkrad von bohrenden Gedanken heimgesucht. Es ging immer um dasselbe Thema – im ständigen Krieg zwischen Verbrechern und Kreuzrittern verfügten nur die Verbrecher über ein Reservoir ständig nachrückender Soldaten. Während die Kreuzritter älter wurden, sahen sie sich immer neuen Formationen frischer Kämpfer gegenüber. Es war genauso, als versuchte man schwimmend den Horizont zu erreichen, dachte der Batman voller Bitterkeit. Wenn man aufhörte zu schwimmen … ging man unter und ertrank. Die Reihen winziger LED-Sensoren blinkten geschäftig und meldeten alles vom Zustand der Straße vor ihnen – bis hin zu allen Aktivitäten im Bereich des versteckten Eingangs zur Bathöhle. Sie verkündeten: »Alles klar « Das Batmobil stoppte direkt hinter dem getarnten Eingang, so daß die Sicherheitskameras visuelle Informationen aufzeichnen konnten. In der nächsten der hermetisch abgeriegelten Luftschleusen fuhr plötzlich ein Robotarm aus. Während er sich langsam dem Batmobil näherte, klaffte — 18 —
ein Schlitz dicht hinter dem linken Vorderrad des Batmobils auf. Der Robotarm streckte eine flache Scheibe vor, die etwa so groß war wie zwei Kreditkarten. Der Schlitz des Fahrzeugs nahm die Scheibe auf. Im Batmobil erschien auf einem Computerschirm die Mitteilung: Dateneingabe wird analysiert. Bitte warten … Der Batman blieb ruhig sitzen, bis der Robotarm die Scheibe wieder herauszog. Er hörte ein schwaches Koppelgeräusch, während ein wuchtiger hydraulischer Lift das Batmobil vom Boden hochhob. Nun brauchte nicht mehr gefahren zu werden – die Maschinen würden den Rest besorgen. Und falls ein anderes Fahrzeug außer dem Batmobil ohne Computerfreigabe in die inneren Räume vordringen wollte, übte der hydraulische Lift eine völlig andere Funktion aus. Tief im Innern des Gebäudes erklang ein leises Zischen, als sich das Verdeck zurückzog, so daß der Batman aussteigen konnte. Der Verbrechensbekämpfer ging zum Fahrstuhl, der ihn nach oben und hinaustragen würde – aus das Bathöhle und in ein anderes Leben. Plötzlich hielt er inne und ging zur Tastatur eines riesigen Zentralrechners. Er nahm vor dem Monitorschirm Platz und benutzte die Tastatur, um Fragen zu stellen. »Geht es Ihnen gut, Master Bruce?« Der Sprecher war ein hochgewachsener, würdiger Mann in einem makellosen schwarzen Anzug. Er schüttelte sanft die Schulter des Batman. Ein Ausdruck großer Sorge lag auf seinem Patriziergesicht. — 19 —
Der Batman erwachte schlagartig. »Es ist alles in Ordnung, Alfred«, sagte er. »Ich habe nur gerade einige Daten überprüft – dabei muß ich eingeschlafen sein.« »Sie sind vor fast drei Stunden zurückgekommen«, sagte Alfred. »Ich habe mir die Uhrzeit gemerkt, als das Warnlicht oben zu blinken begann. Zuerst machte ich mir keine Sorgen – der Computer, der ihre Körperfunktionen überprüft, wenn Sie zurückkommen, meldete keinerlei Probleme. Aber als ich nicht von Ihnen hörte …« »Es ist alles okay, mein alter Freund«, sagte der Batman. »Ich glaube, ich war ein wenig in Gedanken, mehr nicht.« »Wieder denselben Gedanken?« fragte Alfred. »Ja«, sagte der Batman und schob dabei die Kapuze zurück. »Aber es geht mir gut. Zwei Stunden Schlaf, eine kalte Dusche und eine schnelle Rasur, und ich komme noch rechtzeitig zur Museumseröffnung.« »Wie Sie meinen, Sir«, erwiderte Alfred, der offen zeigte, daß ihm diese Antwort nicht ausreichte. Der Batman wollte zu einer Erklärung ansetzen, überlegte es sich jedoch anders, als Alfred kehrtmachte und den Raum verließ.
D
as Gotham Museum feierte die Fertigstellung eines neuen Flügels, indem es eine exklusive Besichtigung veranstaltete, ehe er der Öffentlichkeit übergeben wurde. Eine Teilnahme war nur auf — 20 —
persönliche Einladung möglich. Eine gravierte Einladung – der Verwaltungsrat scheute keine Kosten, da er schon lange erkannt hatte, daß Museen, auch wenn sie für die Öffentlichkeit gedacht sind, stets nur mit privatem Kapital offen und in Betrieb gehalten werden. Bruce Wayne wartete, während der uniformierte Wächter nach der Einladung fragte, ehe er das junge Paar eintreten ließ. Die Stimme des Wächters klang arrogant und feindselig zugleich. Bruce Wayne griff in die Innentasche seines mitternachtsblauen Smokings und reagierte erfreut, aber nicht überrascht, als er feststellte, daß Alfred daran gedacht hatte, die Einladung einzustecken. Aber sein Versuch, sie dem uniformierten Wächter zu zeigen, wurde mit einer respektvollen Verbeugung vereitelt. »Jedermann weiß, wer Sie sind, Mr. Wayne«, sagte der Wächter, ein serviles Winseln in der Stimme, das an den Nerven des Milliardärs zerrte. Er blickte auf die Brust des Wächters und gewahrte ein Namensschild aus Messing. »Vielen Dank, Otto«, sagte er und ging an den roten Absperrseilen vorbei in den neuen Flügel des Museums. Der neuen Flügel sollte ›Hier und Heute‹ heißen. Er war für aktuelle Themen von gesellschaftlicher und kultureller Bedeutung vorgesehen. Die erste Ausstellung, ›Die Größe und Bedeutung Gothams‹, war bereits aufgebaut und zeigte die Entwicklung der Stadt von einem Pelzhandelsposten in der Wildnis über eine Stadt mit Binnenhafen, die für ihre Spielkasinos bekannter war als für ihre städtischen Einrichtungen, bis hin zu der pulsierenden Megalopolis, die sie heute darstellte. — 21 —
Der Milliardär Bruce Wayne war zu solchen Anlässen stets willkommen. Ihn nicht einzuladen hätte geheißen, die einzige bedeutende Quelle wohltätiger Spenden in ganz Gotham zu ignorieren. ›Wayne‹ mochte zwar am Ende jeder alphabetischen Liste stehen, er war jedoch der erste Name, wenn es darum ging, Spender aufzutreiben. Von den vier Millionen Dollar, die für den neuen Museumsflügel zusammengetragen wurden, hatte Bruce Wayne in Form eines persönlich ausgestellten Schecks allein fünfhunderttausend Dollar übernommen. Jetzt schlenderte er ziellos durch die Ausstellung, schüttelte genauso oft Hände wie ein Politiker, wobei sein Gesicht eine Maske der Höflichkeit blieb. Gotham hatte viele Gesichter und Facetten, aber das Gotham, das in der neuen Ausstellung so stolz vorgestellt wurde, war ein Triumph der Public Relations. Diese Ausstellung war ein Beleg der Auffassung, daß die Realität das ist, was die Menschen sehen dürfen, und nicht das, was tatsächlich da ist. Was nun die ›Größe und Bedeutung Gothams‹ betraf, so zeigte sich die prächtige Stadt hier völlig unberührt von Verbrechen, Obdachlosigkeit, Armut, Elend … oder irgendwelchen anderen Mißständen, die das städtische Leben in den neunziger Jahren auszeichneten. Während Bruce Wayne die Ausstellung durchschritt, hatte er das Gefühl, daß er sich auf einen Drahtseil über dem Diamantenfluß bewegte, in den Gotham sich verwandelte, wenn es nachts aus großer Höhe betrachtet wurde. In der Ausstellung waren sämtliche Randbezirke saniert worden. Oder vollständig ausgelöscht. »Bruce! O Bruce! Hier drüben!« — 22 —
Er suchte nach dem Ursprung dieses geziert klingenden Rufs und entdeckte die berüchtigte Diana Dorchester, eine Frau, die sich selbst für eine Königin hielt, weil das Geld ihres Mannes einen ständigen Strom von Parasiten und Speichelleckern anlockte, die ihr auf Schritt und Tritt folgten. Obgleich sie noch eine verhältnismäßig junge Frau war, ließ ihre übermäßige Ichbezogenheit sie noch unangenehmer erscheinen als die älteren Witwen, die Jahrzehnte darauf verwandt hatten, ihre wertvollen gesellschaftlichen Positionen zu festigen. Bruce Wayne bewegte sich langsam hinüber zu Dame Diana – wie sie in den Klatschspalten genannt wurde –, empfand schon jetzt ein leichtes Grauen vor der Begegnung, die jedoch unvermeidlich war. »O Bruce«, zirpte sie, »ist es nicht einfach wundervoll, was sie mit all diesem Platz angestellt haben?« »Wundervoll«, pflichtete er ihr bei und suchte bereits nach einem Fluchtweg. »Es ist doch so wichtig, Bedeutendes zu leisten«, verkündete Diana mit königlicher Erhabenheit. Das zustimmende Nicken und Gemurmel der Leute um sie herum nahm sie als angemessene Würdigung entgegen. Sie sonnte sich im Beifall ihrer Untertanen. Aber Bruce ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen und fragte sich sicherlich zum tausendstenmal während der vergangenen Monate, ob Batman tatsächlich Bedeutendes leistete? Viele Jahre des Kampfs in vorderster Front lagen hinter ihm, und was hatte sich für die guten Menschen von Gotham geändert? Ebenso schnell wie die Gesetzeshüter — 23 —
die Gefängnisse füllten, tauchten neue Verbrecher auf, um den Platz der Inhaftierten zu übernehmen. Gab es denn keinen Weg …? »Sie bezeichnen diese PR als bedeutende Leistung?« Eine spöttische weibliche Stimme stach durch das Geraune des Hofstaats und zielte genau auf Diana Dorchester. Die Sprecherin war eine junge Frau, die mit wehendem weißblonden Haar und funkelnden orangefarbenen Augen entschlossen herankam. »Eine Albino«, dachte Bruce Wayne. »Und eine stolze dazu.« Er betrachtete mit Wohlgefallen den üppig geformten Körper, der in ein schlichtes schwarzes Jerseykleid gehüllt war. »Ich weiß nicht, wie Sie heißen, meine Liebe«, konterte Diana, »aber Ihre Rhetorik ist nur zu vertraut. Jeder von uns muß sich entscheiden, wie er sich sozial engagiert. Das Problem ist nur, daß Sie diese Entscheidung für uns alle treffen wollen. Wenn Sie den Obdachlosen zu essen geben oder Spielplätze bauen wollen … oder was auch immer, nur zu, tun Sie’s. Was mich betrifft, so halte ich die Pflege bürgerlichen Stolzes für ein würdiges Anliegen.« »Genau!« riefen mehrere Mitglieder von Dianas Gefolge. Andere Stimmen äußerten ebenfalls ihre Zustimmung. Alle Augen wandten sich der Albino zu. »Diese Ausstellung hat nichts mit bürgerlichem Stolz zu tun«, sagte sie. »Das Gotham, das hier gezeigt wird, ist Ihr Gotham – es hat nichts damit zu tun, wie die Menschen tatsächlich leben. Aber nicht einmal die reichen Nichtstuer sind gegen das Verbrechen immun. Und das können Sie — 24 —
mit Ihrer verlogenen Ausstellung nicht so einfach wegwischen.« »Ach, wirklich?« zischte Diana. »Tatsächlich weiß doch jeder, wo das Verbrechen seinen Ursprung hat … in der Armut, natürlich. Alles, was das Image von Gotham aufwertet, lockt Investoren an. Und Investoren schaffen Arbeitsplätze. Sie wollen doch nicht etwa …« »Armut ist nicht die Ursache des Verbrechens«, unterbrach die Albino sie. »Menschen sind die Ursache der Verbrechen. Armut ist nicht die Ursache einer Vergewaltigung. Sie ist auch nicht die Ursache eines Mords. Wir müssen die Menschen …« »Ach, suchen Sie sich eine Kiste, stellen Sie sich drauf und halten Sie Ihre Volksreden, wo Sie wollen«, sagte Diana, entließ die Frau mit einer geringschätzigen Geste und wandte sich an ihr Gefolge. »Können wir weitergehen? Es gibt so vieles, das wir noch nicht gesehen haben.« Bruce Wayne schaute der sich entfernenden Gruppe nach, dankbar für einen Moment der Ruhe. Aber diese Ruhe währte nicht lange. Die Albino-Frau näherte sich ihm mit zornesgeröteten Wangen. »Weshalb schließen Sie sich diesem Verein nicht an?« fragte sie streitlustig. »Ich habe die Ausstellung bereits besichtigt«, erwiderte er ruhig. »Glauben Sie, was sie gesagt hat … daß es die Armut ist, die das Verbrechen verursacht?« »Sie trägt sicherlich dazu bei«, erwiderte Bruce. »Aber kein vernünftiger Mensch wird glauben, daß sie der alleinige Auslöser ist. Was meinen Sie denn, woher es kommt?« — 25 —
»Wie ich schon sagte, die Ursache sind …« »Die Menschen, ich weiß«, sagte Bruce. »Aber finden Sie nicht, daß das etwas simpel ist? Die eigentliche Frage lautet doch, welche Menschen, nicht wahr?« Erstaunlicherweise reagierte die exotisch aussehende Frau mit einem strahlenden Lächeln. »Ja!« sagte sie. »Das ist die Frage. Und obgleich wir die Antwort kennen, unternehmen wir nichts in dieser Richtung.« »Und wie lautet die Antwort …?« »Kinder«, sagte die Frau. »Ich meine nicht, daß Kinder die meisten Verbrechen begehen – obgleich die Zahl der von Jugendlichen und Kindern begangenen Verbrechen sicherlich steigt –, ich meine, daß die Mißhandlung von Kindern der Hauptgrund für ein späteres kriminelles Verhalten ist.« »Meinen Sie damit vielleicht … Kindesmißbrauch? So etwas?« »Ja, Mr. Wayne, ich meine genau ›so etwas‹«, antwortete sie. »Das meine ich in der Tat.« »Ich verstehe nicht«, sagte Bruce. »Offensichtlich kennen Sie meinen Namen, aber ich …« »Ich heiße Debra«, sagte sie. »Debra Kane. Ich bin Sozialarbeiterin beim Amt für Kindesfürsorge von Gotham.« »Wie haben Sie es geschafft..?« »Hereinzukommen? Das war einfach. Eine alte Collegefreundin wurde eingeladen. Sie erzählte mir davon – sie wollte sowieso nicht hingehen –, daher borgte ich mir ihre Einladung aus.« »Nein«, sagte er. »Das habe ich nicht gemeint. Wie sind Sie zu Ihrem … Beruf gekommen?« — 26 —
»Ob Sie es glauben oder nicht, durch einen Kursus auf dem College«, sagte die Frau. »Ich wollte dem Friedenscorps beitreten, aber einer unserer Professoren zeigte uns, daß Kinder hier in Gotham … auf jeden Fall eine ganze Reihe davon … genauso unterdrückt und mißhandelt werden wie in jedem anderen Land der Dritten Welt.« »Er scheint ein sehr mitfühlender Mensch zu sein«, sagte Bruce Wayne mit einem fragenden Gesichtsausdruck. »Das ist sie auch«, entgegnete die Frau. »Oder sie war es zumindest. Sie wurde im vergangenen Jahr getötet.« »Getötet? Wie?« »Durch einen Schuß aus einer Pistole, mehr wissen wir nicht. Es ist so furchtbar … kurz nach Feierabend ging sie nach Hause und geriet in eine Auseinandersetzung zweier Banden. Jugendbanden. Sie wurde unglücklich getroffen, eine unbeteiligte Passantin. Ich frage mich, ob die Jugendlichen überhaupt mitbekommen haben, wen sie getötet haben. Ich frage mich auch, ob es ihnen etwas ausmacht …« »Ich möchte mehr über … Kinder und Verbrechen erfahren«, sagte Bruce Wayne. »Darf ich Sie demnächst einmal anrufen?« »Ich erspare Ihnen die Mühe«, sagte die exotische Frau. »Wenn das eine Art …« »Es ist kein Annäherungsversuch«, versicherte er ihr. Die Frau betrachtete den hochgewachsenen, attraktiven Mann vor ihr, einen Mann, der für den Anzug, den er trug, sicherlich mehr ausgegeben hatte, als sie in einem Monat verdiente. Aber all ihre Vorurteile gegen die reichen Nichtstuer verflogen, als sie in seine Augen schaute. Sie — 27 —
hatte diesen Ausdruck schon früher gesehen – diesen tiefen, unendlichen Schmerz. Wortlos schrieb sie eine Telefonnummer auf die Rückseite ihrer gravierten Einladung und reichte sie Bruce. Batmans Alter ego verbeugte sich förmlich wie vor einem Kampfsportlehrer. Die Albino-Frau erwiderte die Verbeugung. Dann machte sie kehrt und entfernte sich.
S
päter in der Nacht jagte eine große graue Limousine um eine Straßenecke in der Stadt, verfolgt von einem Streifenwagen. Der Fahrer der Limousine war ein Experte, ein Spitzenprofi, dessen Rennfahrerkarriere ein abruptes Ende genommen hatte, als er schuldig gesprochen wurde, den Angehörigen einer gegnerischen Boxenmannschaft absichtlich überfahren zu haben. Nun lebte der Fahrer davon, daß er verbotene Güter von einer Stadt in die andere transportierte. Im Kofferraum der Limousine befand sich ein vollständiger Satz Druckplatten zur Herstellung von falschen Zwanzigdollarnoten. Bisher hatte der Fahrer niemals sein Können unter Beweis stellen müssen. Gewöhnlich konnte er jede Lieferung ohne Probleme durchführen. »Jemand muß den Cops einen Tip gegeben haben«, dachte er. »Aber nützen wird ihnen das trotzdem nichts.« Unter seinen geschickten Händen wurde der Sedan zu einem Präzisionsinstrument; äußerlich unauffällig, war — 28 —
das Auto nach den Anforderungen eines Rennwagens gebaut worden und gewöhnlichen Polizeifahrzeugen kraß überlegen. Nach jedem Block vergrößerte sich der Abstand zu seinen Verfolgern. Plötzlich beteiligte sich ein anderer Wagen an der Jagd – ein Zivilfahrzeug mit zwei Detectives auf den Vordersitzen. Der Fahrer grinste – mit einem Lenkrad in den Händen war er tolpatischen Amateuren haushoch überlegen, so viele diese auch sein mochten. Die graue Limousine nahm die nächste Kurve in einem kontrollierten Four-Wheel-Drift, wobei der Streifenwagen seitlich gegen einen geparkten Lieferwagen rutschte. Das Klirren von Glas und Blech war unmißverständlich – und Musik in den Ohren des Fahrers. Er trat auf die Bremse, vollführte einen perfekten Neunziggradschwenk, während das Zivilfahrzeug hilflos an ihm vorbeischlitterte. Ein schnelles Abbiegen in eine Gasse, und der Fahrer war für sie nicht mehr zu sehen. Falls er Unruhe dabei verspürte, mit über hundert Stundenkilometern durch einen Durchgang zu fahren und dabei rechts und links nur ein paar Zentimeter Platz zu haben, so war seiner Miene nichts davon anzusehen. Nach weiteren zehn Minuten erreichte der Fahrer die ersten Ausläufer des Industrieparks mit seinen riesigen Lagerhäusern. Er grinste zufrieden – sobald er in dieses Labyrinth enger und engster Straßen eintauchte, würde es auf dem ganzen Planeten keinen Polizisten mehr geben, der ihm auch nur andeutungsweise gefährlich werden konnte. Der Fahrer blickte in den Rückspiegel und hielt Ausschau nach den Scheinwerfern seiner Verfolger. Der Spiegel war — 29 —
leer. Aber … der Fahrer spitzte die Ohren, lauschte. War das etwa ein Automotor, was er in der Ferne hörte? Nein … es klang zu hoch, es war mehr ein Jaulen als ein Röhren. Es klang wie … Der Fahrer wurde hellwach. Er erkannte jetzt das Geräusch. Es gab nur ein Fahrzeug in ganz Gotham, das über einen Turbinenantrieb verfügte. »Verdammt!« stieß der Fahrer halblaut hervor. Er rammte den Fuß aufs Gaspedal und fing den Wagen reflexartig ab, als er auf dem nassen Asphalt ins Schlingern geriet. Die graue Limousine machte einen Satz vorwärts und raste auf das Kopfsteinpflaster zu, das am Fluß entlangführte. Der Fahrer beugte sich über das Lenkrad und war gar nicht mehr lässig. »Noch eine Verhaftung, und es ist aus mit mir«, murmelte er vor sich, während Bilder vom berüchtigten Hellgate Prison vor seinem geistigen Auge auftauchten. Sein letzter Aufenthalt dort war sehr unangenehm gewesen – er hatte nicht vor, wieder dorthin zurückzukehren. Die graue Limousine schlitterte über das Kopfsteinpflaster, während der Fahrer sie vorwärtsprügelte. Er warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Er war noch immer dunkel. Moment! Dann entdeckte der Fahrer es – einen winzigen roten Punkt. Er wußte, was das bedeutete – eine Warnung, daß das Batmobil hinter ihm her war. Eine Aufforderung, anzuhalten und zu kapitulieren. »Von wegen!« murmelte der Fahrer. »Ganz egal wer es ist, es ist immer noch ein Mensch. Und einen Menschen hänge ich jederzeit ab.« — 30 —
Der Fahrer erkannte seine Chance – eine langgestreckte S-Kurve vor ihm. Er hielt auf den Scheitelpunkt der ersten Kurve zu und lud den Verfolger ein, sich neben ihn zu setzen. Das Batmobil nahm die Einladung an und holte zur Limousine auf und gelangte auf gleiche Höhe. »Noch etwas näher«, sagte der Fahrer halblaut. »Nur noch ein wenig näher … Jetzt!« Der Fahrer stemmte sich auf das Bremspedal und riß gleichzeitig das Lenkrad ruckartig nach links. Das Heck der Limousine schwang herum wie eine stählerne Peitsche … aber das Batmobil war nicht mehr da – es hatte kurz zuvor gebremst und befand sich dicht hinter dem schleudernden Heck der Limousine. Zentrifugalkräfte erledigten den Rest – der Fahrer bekam keine Gelegenheit mehr zu schreien, ehe die Limousine aus der Kurve und ins schwarze Wasser flog. »Seltsame Sache«, sagte einer der Rettungstaucher zum anderen. »Er ist nicht dageblieben.« »Wovon redest du?« fragte der andere. »Ach ja. Ich hab’s vergessen – du bist ja noch neu hier. Ich hab’ schon zahlreiche solcher Einsätze mitgemacht. Ab und zu glaubt irgendein Gauner, er könne es mit dem Batmobil aufnehmen, und landet im Bach. Aber jedesmal bleibt der Batman in der Nähe. Um sicherzugehen, daß der Betreffende gerettet wird, denke ich.« »Nun, wir haben ihn rausgefischt, nicht wahr?« »Sicher. Er war auch nicht in Gefahr, immerhin hat der Batman uns noch vor dem Crash benachrichtigt. Aber … ich weiß nicht, — 31 —
diesmal kam es mir ganz anders vor als sonst. Er hat sich nicht mehr darum gekümmert.« Noch etwas später in dieser Nacht gingen zwei Krankenschwestern vom Hospitalausgang zum Parkplatz. Sie hatten soeben eine Doppelschicht beendet – waren froh, Feierabend zu haben, aber zu müde, um auf ihre Umgebung zu achten. Sie hatten ihren Wagen beinahe erreicht, als ein Mann mit einer roten Wollmütze, die er sich übers Gesicht gezogen hatte, ihnen den Weg versperrte. »Laßt die Handtaschen fallen!« verlangte er und zückte drohend eine Machete. Die blonde Krankenschwester warf ihre Handtasche auf den Erdboden. »Nehmen Sie sie und gehen Sie«, sagte sie ruhig. »Wir wollen keine Schwierigkeiten.« Der Räuber kam vor, doch während er sich bückte, um die Handtasche aufzuheben, holte die Brünette aus und trat mit dem Fuß nach seinem Kopf. Der Räuber sprang gerade noch rechtzeitig zurück, um dem Tritt zu entgehen, und die brünette Krankenschwester stürzte zu Boden. »Das hättest du nicht tun sollen«, schnaubte der Räuber. »Jetzt kostet es doch ein wenig mehr als nur Geld.« Er hob die Machete, während die blonde Krankenschwester einen schrillen Schrei ausstieß. Der Räuber zögerte einen Sekundenbruchteil, doch es reichte aus, daß die Brünette sich auf die Füße hochkämpfte. »Geh zur Seite, Bonnie«, sagte sie. »Er kann uns nicht beide gleichzeitig in Schach halten.« — 32 —
»Ihr seid wohl ganz besonders mutig, oder?« sagte der Räuber spöttisch. »Nur zu schade, daß hier draußen niemand deinen Schrei gehört hat.« Er sah auf ihre Gesichter, suchte nach den Anzeichen jener Furcht, die ihn erst richtig heiß machte, aber die Krankenschwestern standen bloß da und starrten gebannt auf etwas hinter ihm. »Ihr erwartet wohl, daß ich auf diesen alten …« Alles, was die Krankenschwestern sahen, war eine blitzartige Bewegung. Alles, was sie hörten, war ein lautes, trokkenes Knacken, aber sie wußten beide, was es bedeutete, noch bevor der Räuber seinen Satz mit einem schrillen Schrei abbrach. Der Räuber sackte zu Boden, während die Machete aus seinen kraftlosen Fingern rutschte. Sein nutzloser Arm baumelte schlaff hin und her. Sein Gesicht war schneeweiß vor Schmerz. »Ein komplizierter Bruch«, sagte die blonde Krankenschwester zu ihrer Freundin. »Ich bleibe hier und passe auf ihn auf – geh du den Sicherheitsdienst holen.« »Ich will nicht …«, setzte ihre Freundin an. »Geht schon. Mir passiert nichts. Der macht niemandem mehr Schwierigkeiten … jedenfalls für einige Zeit.« Das Morgengrauen setzte schon ein, als die beiden Krankenschwestern einem Detective ihre Geschichte erzählten. »Sind Sie ganz sicher?« fragte der Detective. »Ganz sicher«, antwortete die Brünette. »Es war der Batman. Wir haben ihn beide gesehen.« »Sie sagen, daß der Batman … daß der Batman diesem Kerl den Arm wie einen trockenen Ast gebrochen hat und dann verschwand?« — 33 —
»Ja«, bestätigte die blonde Krankenschwester, und ihre Stimme klang ein wenig ungehalten. »Ja, zum drittenmal.« »Okay, Ladies, okay«, gab der Detective sich geschlagen. »Ich will nicht bezweifeln, was Sie gesehen haben.« Er kratzte sich verwirrt den Kopf. »Es ist nur so, daß so etwas dem Batman überhaupt nicht ähnlich sieht, mehr nicht.«
E
s ist nicht genug«, sagte er zu sich selbst. Immer und immer wieder, wie ein Mantra. »Es ist nicht genug«, sagte der Batman. »Es ist nicht genug«, wiederholte sein Alter ego. »Sir?« fragte Alfred und hob eine Augenbraue. »Hmh?« erwiderte Bruce Wayne, als sei er soeben aus einem tiefen Schlaf aufgewacht. »Tut mir leid, Alfred, ich hab’ wohl geträumt.« »Bei allem Respekt, Master Bruce, das glaube ich nicht. Sie wiederholen diesen Satz nun schon seit einiger Zeit immer wieder. Sie sagen ›es ist nicht genug‹. Sind Sie …?« »Ich bin in Ordnung, Alfred. Es ist nur so … ich glaube, es wird Zeit, einige Entscheidungen zu treffen.« »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Sir?« »Ich glaube nicht, alter Freund. Andererseits denke ich, daß Sie mir bereits eine Hilfe waren. Eine sehr große sogar. Erinnern Sie sich noch, wie Sie mich, als ich noch ein kleiner Junge war, immer davor warnten, einige Probleme — 34 —
lösen zu wollen, ohne im Besitz ausreichender Informationen zu sein?« »Natürlich, Master Bruce. Aber ich verstehe nicht, wie …« »Ich gehe raus, Alfred. Ich gehe raus, um die Informationen zu sammeln, die ich benötige.« »Brauchen Sie dann das Batmobil, Sir?« »Nein, Alfred. Dies ist eine Untersuchung, bei der ich mehr erfahre als …« »Als Sie selbst, Sir?« »Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte Bruce, und ein trauriger Unterton lag in seiner Stimme. »Ist das Ihr Ernst?« fragte Debra Kane am Telefon. »Sie wollen tatsächlich mit mir einen Rundgang machen?« »Genau das will ich«, sagte Bruce Wayne. »Wenn Sie nicht finden, daß es Sie daran hindert …« »Darum geht es nicht«, erwiderte Debra Kane. »Ich bin nur … überrascht. Bisher hat mich noch niemand um so etwas gebeten. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob es in Ordnung ist. Ich meine, es könnte sein, daß die Behörde es nicht gern sieht, wenn Fremde dabei sind. Von wegen Vertraulichkeit und Datenschutz, und so weiter.« »Keine Sorge«, beruhigte Bruce Wayne sie. »Ich sorge dafür, daß Ihnen bis morgen abend die nötigen schriftlichen Genehmigungen vorliegen. Wie wäre das?« »Ich freue mich auf Ihre Begleitung, Mr. Wayne«, sagte Debra Kane. »Morgen abend also? Gegen sechs?« »Ich komme«, versprach Bruce Wayne. — 35 —
»Weshalb hat Bruce Wayne den Wunsch, irgendeine Sozialarbeiterin auf ihrer Inspektionsrunde zu begleiten?« fragte der Bürgermeister und sah über seinen breiten Schreibtisch hinweg Polizeichef Gordon ein wenig ratlos an. »Er sagte, er wolle sich darüber informieren, wo Hilfsgelder nötig sind«, erwiderte Gordon. »Und er möchte es sich mit eigenen Augen ansehen.« »Das sieht ihm gar nicht ähnlich, oder? Ich meine … er ist doch so eine Art Playboy, oder nicht? Er tut doch kaum etwas anderes, als sich auf allen möglichen Partys herumzutreiben.« »Einige dieser Partys sind Wohltätigkeitsveranstaltungen«, meinte der Polizeichef vielsagend. »Wenn er dorthin möchte, dann soll es mir nur recht sein. Natürlich haben seine Anwälte längst eine Verzichterklärung und Entbindungsurkunde aufgesetzt. Falls ihm da draußen irgend etwas zustößt, werden wir nicht dafür verantwortlich gemacht.« »Nun … ich denke, es ist nicht so abwegig, wenn ein für öffentliche Anliegen eintretender Bürger sehen möchte, wie seine Steuergelder verwendet werden.« »Ich weiß Ihre Unterstützung zu würdigen«, sagte Polizeichef Gordon. »Und ich weiß, daß Bruce es ebenfalls tut.« »Debra, du wirst nicht glauben, wer hier vor meinem Tisch steht. Und zu dir möchte!« flüsterte die dralle Empfangsdame mit den puppenhaften Gesichtszügen aufgeregt ins Telefon. — 36 —
»Wenn es Bruce Wayne ist, dann schick ihn nach hinten, Clarissa.« »Wie du willst, Mädchen. Dein superreicher Herzensbrecher ist schon unterwegs!« Die Empfangsdame schaute zu Bruce Wayne hoch. »Sie können gleich durch diese Tür dort gehen«, sagte sie. »Folgen Sie dem blauen Pfeil bis zu Zimmer 109, okay?« »Danke sehr«, sagte Bruce. Clarissas Herz zerfloß. Sie richtete ihre großen braunen Augen zur Decke und sagte: »Okay da oben, wann bin ich denn mal an der Reihe, hm?« Die Tür von Zimmer 109 stand offen. Bruce Wayne lugte hinein. Debra entdeckte ihn und deutete einladend auf einen freien Stuhl neben ihrem Schreibtisch. »Ich bin in einer Minute soweit«, formte sie stumm mit dem Mund und konzentrierte sich wieder auf ihr Telefongespräch. Für eine Weile machte sie sich hastige Notizen mit einem Filzstift und stellte nur knappe Fragen, um ihren Gesprächspartner nicht zu lange zu unterbrechen: »Wann ist es passiert? Wie haben Sie davon erfahren? Hat sie einen Arzt aufgesucht?« Schließlich legte sie den Telefonhörer auf. »Ich freue mich, daß Sie kommen konnten«, sagte sie, und ihr Gesicht zeigte einen reservierten Ausdruck. Bruce Wayne lächelte. »Ich wollte … Tatsachen kennenlernen. Wenigstens einige.« »Um zu sehen, wohin Ihre Steuern gehen?« »Wäre das denn so schlimm?« fragte er ernsthaft. »Möchten Sie nicht, daß steuerzahlende Bürger — 37 —
eine Vorstellung bekommen, was sie mit ihrem Geld kaufen?« »Ich … glaube schon«, entgegnete Debra. »Nur sind die Prioritäten, die die Leute für sich setzen, so …« »Selbstsüchtig?« »Das, was wir hier tun, Mr. Wayne, hat mit Wohlfahrt nichts zu tun, trotz allem, was Sie annehmen. Verwechseln Sie das Amt für Kindesfürsorge nicht mit der Wohlfahrt – es ist nicht dasselbe.« »Nun, dann habe ich ja schon etwas gelernt«, sagte er und lächelte erneut. Debra erwiderte das Lächern nicht, aber ihr Gesicht verlor etwas von der Strenge, als sie den Mann betrachtete, der ihr gegenübersaß. »Sie müssen wissen, daß mein Job zwei Aufgabenbereiche umfaßt. Erstens muß ich neue Fälle untersuchen, und zweitens muß ich mich darum kümmern, welche Fortschritte in älteren Fällen erzielt wurden. Haben Sie einen besonderen Wunsch, was Sie zuerst sehen möchten?« »Beides«, antwortete der gutaussehende Mann. Die mattgraue Limousine war unauffällig bis auf die Aufschrift SOZIALER DIENST GOTHAM auf den vorderen Türen. Debra Kane saß hinter dem Lenkrad und steuerte den Wagen durch die Stadt. »Waren Sie schon mal in den Sozialwohnungen in der Randall Street?« erkundigte sie sich. Nicht als Bruce Wayne, dachte der Mann neben ihr. Laut antwortete er einfach: »Ich glaube nicht.« — 38 —
»Wenn Sie jemals dort gewesen wären, würden Sie sich bestimmt daran erinnern. Sie wurden in den sechziger Jahren erbaut. Es war angewandte Sozialwissenschaft in einem sehr realen Sinn. Die Absicht war, erschwingliche Unterkünfte für die arbeitende Bevölkerung zu schaffen.« »Wollen Sie behaupten, daß das Ganze eine schlechte Idee war?« »Nein. Tatsächlich war die Idee grandios. Aber ihre Ausführung wies große Mängel auf. Die Leute, die den gesamten Komplex entwarfen, hatten keine Ahnung, was die arbeitenden Menschen brauchten … was ihre Kinder brauchten. Sie waren so verliebt in ihre Konzepte«, fuhr sie spöttisch fort, »daß sie vergaßen, daß Menschen tatsächlich in dem leben sollten, was sie erbauten.« »Ich verstehe noch immer nicht«, sagte er. »Dann sehen Sie es sich an«, entgegnete Debra Kane, kurbelte am Lenkrad, so daß der Wagen auf den Parkplatz rollte. Bruce Wayne drehte den Kopf, aber es waren die geübten Augen des Batman, die die Wohnanlage absuchten, Details aufnahmen, Informationen verarbeiteten. Die Wohnanlage bestand aus einer Reihe trister Klinkerbauten, die zwanzig Stockwerke hoch waren. Die Außentreppen waren mit Hühnerzäunen eingefaßt, damit keine Kinder abstürzten – den gleichen Zweck erfüllte der Zaun auch für die Betrunkenen und Drogensüchtigen, die auf den Treppen herumlagen. Sicherheitsleuchten brannten grell an den Hausecken. Die Haustüren waren mit Dutzenden von Graffitischichten bedeckt. Pappkarton ersetzte in zahlreichen Fenstern die — 39 —
Scheiben. Ein dicker Schornstein stieß schwarze Rauchwolken aus, die bei der Müllverbrennung entstanden. »Das sieht aus wie … ein Gefängnis«, sagte er schließlich. »Und genauso fühlt man sich auch darin«, erwiderte Debra Kane. »Kommen Sie.« Sie ging eilig über den Parkplatz und schien die anzüglichen Rufe und Pfiffe aus den Häusern nicht zu hören. Die Haustüren standen offen, da die Schlösser schon vor langer Zeit herausgebrochen worden waren. In der Vorhalle sah Bruce, daß den Briefkästen das gleiche Schicksal zuteil geworden war. Auf der Fahrstuhltür stand die handschriftliche Information AUSSER BETRIEB. »Ich würde ihn sowieso nicht benutzen«, sagte Debra Kane. »Er ist nicht sicher.« »Weil er abstürzen könnte?« fragte Bruce Wayne. »Das auch«, meinte sie geheimnisvoll. »Wir müssen zu 16-B. Ich hoffe, Sie sind gut in Form.« Die Treppen waren mit Abfall übersät. Überall standen und lagen Müllbeutel herum. »Weshalb stecken sie den Abfall nicht in die Müllverbrennung?« fragte er. »Weil sie die meiste Zeit nicht funktioniert«, sagte sie. »Wenigstens machen sie keine Luftpostpakete daraus.« »Luftpostpakete?« »Sie werfen den Abfall einfach aus dem Fenster«, sagte sie, und ein leises Lächeln spielte um ihre Lippen. »Sie sollten niemals an der Hinterfront dieser Häuser vorbeigehen … glauben Sie mir.« — 40 —
Im neunten Stock atmete Debra Kane etwas mühsamer, aber sie hatte noch das gleiche Tempo wie zu Beginn des Aufstiegs. »Sind Sie in Ordnung?« fragte sie ihren Begleiter. »Bestimmt sind Sie an so etwas nicht gewöhnt.« »Ich … schaffe es schon«, erwiderte er und achtete darauf, ihr den Eindruck zu vermitteln, daß seine Lungen von der Anstrengung entsprechend gefordert wurden. Als sie im sechzehnten Stock ankamen, hielt Debra eine Hand hoch. Bruce Wayne blieb stehen und sah sie fragend an. »Ich muß erst zu Atem kommen«, erklärte sie. »Wenn man sich in eine der Wohnungen begibt, sollte man nicht außer Atem sein.« »Weil …?« »Weil man vielleicht in eine offene Feldschlacht gerät«, sagte sie ruhig. »Man weiß nie, was hinter diesen Türen vor sich geht.« »In den Sozialwohnungen?« fragte er. »Überall«, erwiderte sie knapp. Debra schritt entschlossen durch den Hur bis zu 16-B und klopfte laut an der Tür. Nach knapp einer Minute wurde die Tür ein paar Zentimeter weit geöffnet und dann von einer Sicherheitskette gehalten. Das Gesicht einer Frau erschien im Türspalt, so abgenutzt und müde wie der Fußboden eines Busbahnhofs. »Was ist los?« fragte sie. »Amt für Kindesfürsorge, Ma’am«, stellte Debra sich vor. »Ich habe niemanden geholt …« »Ja, Ma’am, das weiß ich. Trotzdem, wir wurden benachrichtigt und …« — 41 —
»Nun, wer hat Sie denn angerufen?« »Das ist vertraulich, Ma’am. Wenn wir nur kurz hineinkommen könnten, dann ließe sich vielleicht …« »Verschwinde von der Tür!« Eine männliche Stimme: laut, aggressiv, alkoholbenebelt. Der Eigentümer der Stimme füllte die Türöffnung. Er löste die Kette und zog die Tür weiter auf. Er war ein breitschultriger Mann mit dem Körperbau eines ehemaligen Sportlers, der ziemlich verwahrlost war. »Was zum Teufel haben Sie hier zu suchen?« wollte er von Debra wissen. »Ich habe es gerade erklärt, Sir. Wir sind vom Amt für Kindesfürsorge und …« »Wollen Sie etwa behaupten, daß eins von den Blagen Sie angerufen hat?« fragte er wütend. »Nein, Sir, das tue ich nicht. Ich kann Ihnen folgendes mitteilen: Wir erhielten eine Meldung, daß es hier zu gewissen Vorfällen gekommen ist, die zu untersuchen wir verpflichtet sind. Wir müssen mit Ihnen und Ihren Kindern sprechen.« »Und wenn ich nun sage, das können Sie nicht?« fragte er spöttisch grinsend und fixierte die Sozialarbeiterin mit seinem drohendsten Blick – dem gleichen Blick, mit dem er Männer in Kneipen in der gesamten Nachbarschaft zum Schweigen gebracht hatte. »Dann kehren wir mit der Polizei zurück«, erwiderte Debra ruhig und hielt seinem Blick stand. Zehn Sekunden verstrichen. »Ach, tun Sie doch, was Sie wollen«, sagte der Mann, machte kehrt, verschwand in der Wohnung und ließ Debra stehen. — 42 —
Eine Stunde später erklärte ein hübsches zehnjähriges Mädchen namens Mary Lou, wie sie zu dem geschwollenen, blau verfärbten Auge gelangt war, das zuerst der Krankenschwester in der Schule aufgefallen war. »Ich wollte nicht, daß er Scotty haut«, sagte sie. »Scotty ist doch noch ein Baby – er könnte ganz schlimm verletzt werden.« »Schlägt er Scotty oft?« fragte Debra. »Nicht … sehr oft, glaube ich. Ich weiß es nicht.« »Schlägt er Scotty jeden Tag?« »Manchmal«, antwortete das Kind. »Wenn er weint oder wenn er etwas verschüttet hat oder wenn er zu laut spielt. Wissen Sie …« »Schlägt Daddy sonst noch jemanden?« fragte Debra. »Er haut jeden«, sagte das Kind, offensichtlich verwirrt über eine so dumme Frage. »Haben Sie genug gehört?« wollte der Hausherr wissen, während er ins Schlafzimmer schlurfte, in dem Debra sich mit dem Kind unterhielt. »Ich denke schon«, sagte Debra und klappte ihr Notizbuch zu. »Was hat sie Ihnen erzählt?« fragte der Mann und deutete auf seine Tochter. »Darüber unterhalten wir uns später«, erklärte Debra knapp. »Was hast du gesagt?« wollte der Mann wissen und beugte sich drohend zu seiner Tochter vor. »Antworte!« »Nichts, Daddy. Ich …« Der Mann schlug dem Kind mit dem Handrücken ins Gesicht und schleuderte es quer über das schmale Bett. Debra — 43 —
sprang auf, schob sich zwischen das kleine Mädchen und seinen Vater. Der Mann, den Debra als Bruce Wayne kannte, bewegte sich so schnell, daß es aussah, als würde er sich aus dem Nichts materialisieren. Er stand jetzt neben dem Mann und legte ihm eine Hand in den Nacken. »Wir gehen mal nach nebenan«, sagte er zu Debra. »Damit wir uns ein wenig beruhigen. Nicht wahr?« meinte er dann zu dem Mann. Alles, was der Mann spürte, war ein einziger Schmerz – stechende weißglühende Schmerznadeln. Alles, was der Mann wußte, war, daß die Schmerzen nachließen, sobald er zustimmend nickte. Später, als sie auf der Straße wieder im Wagen saßen, fragte Bruce Wayne: »Was geschieht denn nun mit ihnen?« »Das ist eine schwierige Entscheidung«, sagte Debra. »Es besteht kein Zweifel, daß er die Kinder schlägt. Und seine Frau ebenfalls. Alle sagen, daß er sich gewöhnlich nicht so verhält … nur wenn er getrunken hat. Und da er seinen Job verloren hat, trinkt er sehr viel.« »Kommen die Kinder nicht in ein Heim?« wollte der Milliardär wissen. »So einfach ist das nicht«, erwiderte sie. »Zuerst einmal ist das wichtigste, daß Mary Lou nicht von ihrem kleinen Bruder getrennt wird … wenn sie in ein Heim kommt, kann das nicht gewährleistet werden. Und was noch wichtiger ist, keins der Kinder möchte weg von zu Hause. Sie wünschen sich, daß Daddy wieder so ist wie früher, bevor er seinen Job verlor und soviel getrunken hat …, aber sie wollen nicht weg. Ich weiß, daß es für Sie sehr schlimm — 44 —
aussehen muß, aber es ist wirklich ein Fall der ersten Kategorie.« »Der ersten Kategorie?« »Ja«, sagte Debra. »Es handelt sich dabei im wesentlichen um Leute, die ihre Aufgabe als Eltern nur unzureichend wahrnehmen. Manchmal wissen sie ganz einfach nicht, wie man sich als Eltern verhält. Wie soll ein dreizehnjähriges Mädchen auch wissen, was es als Mutter zu tun hat? – sie hat ja selbst ihre Kindheit noch nicht beendet. Dann gibt es wieder Fälle, wo die Menschen durchaus über die Pflichten und Aufgaben von Eltern Bescheid wissen, aber so sehr mit ihren eigenen Problemen zu tun haben, daß sie an nichts anderes denken können. Nehmen Sie nur mal den Mann im sechzehnten Stock. Ich gebe Ihnen recht, er ist sicherlich keine Leuchte. Aber sein eigentliches Problem ist seine Arbeitslosigkeit. Und das ist etwas, woran wir nichts ändern können.« »Was können Sie denn ändern?« fragte er. Debra studierte sein Gesicht, suchte nach einer Spur von Sarkasmus. Als sie nichts dergleichen entdeckte, sagte sie: »Wir stellen einen Antrag, daß die gesamte Familie gesondert betreut wird. Eine Entziehungskur für den Vater, regelmäßige Besuche, um sich zu vergewissern, daß er seine Kinder nicht mehr schlägt, Familienberatung für alle, individuelle Betreuung der Kinder. Es gibt vieles, was wir tun können«, sagte sie traurig. »Aber es ist niemals genug.« »Ich … habe mit ihm geredet«, sagte Bruce Wayne. »Im Zimmer nebenan.« — 45 —
»Das habe ich bemerkt«, sagte Debra. »Sie haben eine wirklich beruhigende Art an sich. Ich war verblüfft, wie friedlich er war.« »Er sagte: ›Früher haben sie mich respektiert«, erzählte Bruce Wayne. »Das hat er ständig wiederholt. Immer wieder.« »Ja«, sagte Debra, und ihr Tonfall machte deutlich, daß sie nicht so verblüfft war wie Bruce. »Er war … verwirrt. Er weiß, daß das, was er tut, ziemlich mies ist. Und er selbst fühlt sich deshalb auch mies. Es ist, als habe er die Kontrolle verloren. Nichts, was in seinem Leben geschieht, wird von ihm in irgendeiner Form bestimmt. Er ist nicht mehr derjenige, der für die Brötchen auf dem Tisch sorgt, er ist nicht mehr der … Mann. Ich bedaure ihn. Aber für die Kinder befürchte ich noch Schlimmeres. Und wenn nichts unternommen wird, für deren Kinder ebenfalls.« »Sind Sie deshalb hingegangen?« fragte Bruce. »Hingegangen? Wohin?« »Auf die … Party, so würden Sie es wahrscheinlich nennen. Im Gotham Museum. Hatten Sie angenommen, daß einige von den Leuten dort …?« »Ich weiß nicht, was ich gedacht habe«, erwiderte Debra Kane. »Zuerst dachte ich, es wäre … keine Ahnung, aufregend, vielleicht. All diese reichen und berühmten Leute. Außerdem hatte ich gehört, daß die Speisen bei solchen Anlässen immer ganz exquisit sind. Aber sobald ich den Betrieb sah, konnte ich ihn nicht mehr ertragen. All diese eingebildeten, hochnäsigen, protzigen Leute. Als ob sie — 46 —
durch ihr Geld plötzlich unheimlich wichtig geworden wären. Ich wußte, daß ich nicht dorthin gehörte …« »Wie ich?« beendete Bruce den Satz für sie. Debra spürte, wie sie errötete, aber sie hielt seinem Blick stand. »Genau das habe ich gedacht«, sagte sie. »Und ich bin mir noch immer nicht im klaren darüber, weshalb Sie mit mir ausgegangen – nun, weshalb Sie mich begleitet haben«, korrigierte sie sich und errötete noch stärker. »Aber es ist doch in Ordnung, wenn ich es noch mal tue?« fragte er. »Wenn Sie es ertragen können, ich habe Zeit«, antwortete Debra Kane.
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cht Tage später, gegen Ende einer zehnstündigen Schicht, saßen Bruce Wayne und Debra Kane in einer hinteren Nische eines namenlosen, vierundzwanzig Stunden geöffneten Restaurants einander gegenüber. Debra trank gerade ihre dritte Tasse Kaffee. Bruce hatte sein erstes Glas Tee noch nicht geleert. »Ist es immer so?« fragte er. Sein Gesicht, gewöhnlich eine ausdruckslose Maske, war gezeichnet von dem Leid, das er während der vergangenen Tage so oft hatte mit ansehen müssen. »Sicher. Es ist mehr oder weniger intensiv, das hängt von vielen Umständen ab; doch das ist in etwa das Normale.« — 47 —
»Normal? Von einem Betrunkenen geschlagen zu werden, ausgepeitscht zu werden mit einem Elektrokabel? Verbrühungen dritten Grades zugefügt zu bekommen? Vier Tage allein gelassen zu werden mit nichts anderem zu essen als trockenen Cornflakes? Von einem Onkel vergewaltigt zu werden?« »All das und noch mehr«, sagte Debra. »Das scheint doch nicht …« »Möglich zu sein?« »Menschlich. Das erscheint mir nicht mehr menschlich.« »Es ist geradezu klassisch menschlich, Bruce«, erwiderte Debra, die das förmliche ›Mr. Wayne‹ schon einige Tage zuvor fallengelassen hatte … als sie ihm nämlich zugerufen hatte, einen Krankenwagen anzufordern, um ein Baby abzuholen, das nach schweren Mißhandlungen in Gefahr war, bleibende Hirnschäden davonzutragen. »Eltern zu sein, bedeutet weitaus mehr, als zu gebären. Und viele Menschen haben nicht viel mehr geschafft als das.« »Erinnern Sie sich noch an den ersten Fall, den ich durch Sie kennengelernt habe? Sie sagten, es sei ein Fall der ersten Kategorie, nicht wahr?« »Ja.« »Was sind denn die anderen Kategorien?« Debra trank einen Schluck Kaffee und wog ihre Worte sehr sorgfältig ab. »Erinnern Sie sich noch an die Geschichte in der Baxter Street?« »Ja. Wie könnte ich die jemals vergessen? Diese Frau war doch verrückt! Stellen Sie sich vor, sie hat tatsächlich — 48 —
geglaubt, sie könne den Teufel aus einem kleinen Kind vertreiben, wenn sie ein kleines Kind …« »In einen aufgeheizten Backofen legt?« beendete Debra die Frage. »Das ist die zweite Kategorie. Verrückt. Richtiggehend verrückt, wie paranoide Schizophrenie. Unter Zwangsvorstellungen leidend. Oder was immer man sich als Diagnose vorstellen kann.« »Können Sie bei diesen Leuten noch irgend etwas erreichen?« »Bei einigen, sicher. Bei anderen überhaupt nichts mehr.« »Der Mann in der hübschen Wohnung? In der Nähe der Schnellstraße?« »Ja«, fragte Debra, und ein Ausdruck der Abscheu huschte über ihr Gesicht. »War er demnach Kategorie zwei?« »Nein, Bruce, das war er nicht.« »Aber … Inzest. Ich meine … mit seiner eigenen Tochter. Seinem kleinen Mädchen. Wollen Sie mir etwa weismachen, er sei nicht krank?« »Genau das mache ich Ihnen weis. Wie die meisten Leute, die so etwas noch nie gesehen haben, haben Sie krank mit abstoßend verwechselt. Was Sie dort gesehen haben, war ein klassischer Fall der Kategorie drei – Menschen, die ihre Kinder zu ihrem eigenen Vergnügen oder ihrem Profit quälen.« »Aber … ich bin ziemlich verwirrt. Er sagte, er … liebe sie. Und er sei nur …« »Liebe?« Debras Stimrne war voller Ekel und Abscheu, und in ihren Augen loderte die Wut. »Natürlich, er liebte — 49 —
das Kind – genauso wie er ein gutes Steak lieben würde – wegen des Vergnügens, das es ihm beschert. Nichts sonst. Das arme kleine Mädchen wird diese häßliche Last für den Rest ihres Lebens mit sich herumschleppen. Es tut nichts zur Sache, auf welche Gesetze man sich beruft. Es können die Gesetze Gottes sein, die Gesetze der Natur oder die Gesetze der Menschen. Inzest verstößt gegen alle. Es ist nicht krank, Bruce, es ist böse!« Sie sprang plötzlich vom Tisch auf und ging hinaus. Als er die Rechnung bezahlt hatte und zu ihr nach draußen gegangen war, hatte sie sich wieder gesammelt. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich weiß, daß Sie es gut meinen. Aber ich kann heute nicht mehr über dieses Thema reden.« »Kann ich … irgendwann wieder mitkommen?« »Sie wollen das wirklich?« »Ja, das will ich.« Debra nickte langsam. Dann ließ sie den Motor an und lenkte den Wagen zu ihrer Dienststelle. Sie ließen nicht zu, daß er einschlief. Die Kinder drängten sich am Rand seines Bewußtseins, scheuerten seine Nervenenden wund und stellten seinen Gerechtigkeitssinn in Frage. Bruce Wayne konnte es nicht ertragen. Das Batmobil schoß aus seinem unterirdischen Bunker heraus – ein rächender Pfeil auf der Suche nach einem Ziel. Unter der Kapuze glühten die Augen des Batman. Er biß die Zähne so heftig zusammen, daß sein Gesicht nur eine Fratze war, aber sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. — 50 —
Das Batmobil hatte das matte Standlicht eingeschaltet, als es durch den Verkehr glitt. Der Fahrer eines Sechsachsers spürte, wie das düstere Schiff vorbeihuschte, aber ehe er seinen Hals verrenken konnte, um etwas erkennen zu können, war der Nachthai verschwunden, und nur das klagende Heulen der Turbine war noch für einige Zeit zu hören. »Ach, das ist nur der Wind«, beruhigte der Lkw-Fahrer sich selbst und unterdrückte ein unwillkürliches Frösteln. Und vielleicht war es … ein gefährlicher Wind für all jene, die auf der falschen Seite des Gesetzes standen. Der Verbrechensbekämpfer warf einen Blick auf seinen Sichtschirm, tippte schnell die Koordinaten für das Excelsior ein, ein Luxusgebäude in der Stadt, das Wayne Enterprises gehörte. Alles klar. Ein behandschuhter Finger legte einen Schalter um, und die Tür der unterirdischen Garage in dem Gebäude öffnete sich. Das Batmobil glitt lautlos hinein, aber anstatt zu parken, fuhr der lange schwarze Wagen zur Hinterwand. Ein Spalt in der Wand öffnete sich, und das Batmobil verschwand außer Sicht. Ein Fahrstuhl brachte das Fahrzeug und seinen Insassen in den Tiefkeller hinunter. Indem er sich in völliger Dunkelheit bewegte, manövrierte Batman den Wagen hin und her, bis er vor einer leicht aufwärts führenden Rampe stand. Der Batman stieg aus und tastete sich an der Wand entlang, bis seine Finger einen flachen Knopf berührten. Eine kleinere Tür öffnete sich, und Batman schlüpfte hindurch. Er betrat einen Einmannfahrstuhl. Sobald die Tür geschlossen war, schoß der Fahrstuhl nach oben. Auf dem höchsten Punkt öffnete die Kabine sich automatisch. Der — 51 —
Batman fand sich auf dem Dach wieder innerhalb eines riesigen Treibhauses, das von dem Bewohner der PenthouseSuite gepflegt wurde. Niemand sah jemals diesen Bewohner – alles, was die Mieter jemals sahen, war ein ständiger Strom von Hauspersonal: Zimmermädchen, Gärtner, gelegentlich ein Lieferant. Die Mieter stellten keine direkten Fragen – ein solches Verhalten wäre unter der Würde der Elite der Stadt gewesen –, aber selbst ihre diskretesten Nachforschungen schienen keine greifbaren Ergebnisse zu erbringen. »Ich denke, der Bau wird von Geistern bewohnt«, sagte eine Frau zu einer anderen. »Heutzutage fangen sie die herrlichsten Dinge mit Stiftungsgeldern an«, erwiderte ihre Nachbarin. Tatsächlich war das Gebäude eine der Operationsbasen des Batman. Das Batmobil konnte willkürlich erscheinen oder verschwinden. Das Dach war alles an Zugangsmöglichkeit, was der Verbrechensbekämpfer für die restliche Stadt brauchte. Und falls er einmal verwundet wurde, verfügte das Penthouse über eine vollwertige medizinische und chirurgische Einrichtung … und über einen Panikknopf, der Alfred hochscheuchen würde. Nun wurde es Zeit zur Jagd. Die Wohnung befand sich in nächster Nähe des Gotham Drive und damit innerhalb des diamantenen Rückgrats der herrlichen Stadt. Der Batman beobachtete sie von einem Dach aus. Er verfolgte, wie das Licht ausging und das Apartment in Dunkelheit versank. Etwas, das er nicht — 52 —
verstand, zog ihn geradezu magnetisch zu dieser Stelle hin. Er wußte, wer dort wohnte – der Inzestverbrecher, der Debra Kane erklärt hatte, wie sehr er sein kleines Mädchen liebte. Aber was tat er … Ein winziger roter Punkt tauchte auf. Der Batman kniff die Augen zusammen und blickte hinüber. Ja. Eine Zigarette. Der Vater des Kindes stand draußen auf dem Balkon, schaute hinunter auf die Stadt, rauchte seine letzte Zigarette, ehe er ins Bett ging. Ins Bett mit … Der Batman verspürte in seiner Brust ein Zittern, dann ein heißes, brennendes Gefühl hinter seinen Augen. Wie einfach wäre es doch, wie einfach … »Nein!« sagte er zu sich selbst. »Ich habe einen Eid geleistet. Die Behörden wissen längst über ihn Bescheid. Ich kann nicht so einfach …« Der Verbrechensbekämpfer verharrte auf seinem Platz, scheinbar festgewachsen wie versteinertes Holz, und er stand noch lange dort, nachdem die Kreatur ihre Zigarette beendet hatte und hineingegangen war. »Es ist nicht genug«, flüsterte er laut. Zwanzig Minuten später hatte ein Einbrecher großes Pech. Der Batman entdeckte seine Beute im gleichen Moment, als der Mann aus einem Apartmentfenster im zweiten Stock herauskletterte, einen Sack voller Diebesgut auf dem Rücken. »Fallen lassen!« kommandierte der Batman. Der Einbrecher war ein absoluter Verlierer. »Ich kehre nicht in den Knast zurück«, murmelte er, während er die Pistole aus seiner Mantelinnentasche holte. — 53 —
In diesem Moment nahm sein Pech noch zu. Der Batman trat gegen den Pistolenarm des Einbrechers, der nach oben gedrückt wurde. Die Pistole entfiel der Hand des Einbrechers. Als er sah, daß seine Hoffnung auf Flucht sich als trügerisch erwies, ignorierte er die ausgestreckte Hand des Batman und griff statt dessen nach der Pistole. Er griff zu kurz und segelte hinaus ins Leere, immer noch die Hände ausgestreckt. Der Batman tauchte sofort hinab, rutschte auf seinem Bauch dahin, den Rücken gekrümmt wie eine Kobra, und schnappte nach den Füßen des Einbrechers, während er über dem Rand verschwand. Der verzweifelte Sprung des Batman trug seinen Körper weiter bis über die Dachkante, aber er kam noch immer einen Herzschlag zu spät. Indem er sich nur noch mit den Füßen festhielt, blickte er in die Dunkelheit, aber dort gab es nichts zu sehen. Plötzlich schrie der abstürzende Einbrecher – seine letzten Worte waren ein Fluch, der endlos durch die Betonschlucht hallte. Der Batman zog sich langsam zurück in die Sicherheit des Dachs. Und währenddessen verspürte er in sich, tief in seiner Seele, ein Zittern, das ihm fremd war. Ihm gefiel dieses Gefühl gar nicht.
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lfred«, sagte Bruce Wayne am Tag darauf, »würden Sie bitte das Personen-Suchprogramm auf dem Computer aufrufen?« »Natürlich, Master Bruce. Gibt es eine Untermenge?« »Ja. Versuchen Sie es mit den ›Derzeit Inhaftierten‹ – das verkürzt die Suche erheblich.« »Wie Sie meinen, Sir. Aber soll denn nicht …?« »Der Mann, an den ich denke, dürfte immer noch sitzen«, unterbrach Bruce Wayne ihn sanft. »Ganz bestimmt sogar.« »Darf ich erfahren, wer …?« »Der Middleman.« »Ich glaube, da haben Sie vollkommen recht, Master Bruce. Ich überprüfe das und gebe Ihnen in Kürze einen Ausdruck.« »Danke, Alfred.« »Nichts zu danken«, erwiderte der treue Alfred, dessen Gesicht eine Studie in Ernsthaftigkeit war. Es war ein Gesicht, das wirkungsvoll ein wachsendes Gefühl der Unruhe und der Sorge für den Mann verbarg, der immer nur als Batman lebendig und aktiv wurde. Das Hellgate Prison war etwas mehr als eine zweistündige Fahrt vom modernen Flitter Gothams entfernt. Was jedoch die äußere Erscheinung anging, so lagen Lichtjahre dazwischen. In einem natürlichen Tal gelegen, das von sanft gerundeten Hügeln umgeben war, ähnelte es einem riesigen Meteor, der mit ausreichender Wucht auf — 55 —
die Erde aufgeschlagen war, um eine Vertiefung zu schaffen. Ausschließlich jenen Kriminellen vorbehalten, die als extrem gefährlich galten oder bei denen das Fluchtrisiko besonders hoch war, war Hellgate der Abfallbehälter des Strafrechtssystems, eine Hochsicherheitseinrichtung ohne falschen Schein. Relígate war ein Käfig. Ein Käfig für Raubtiere. Zu ebener Erde sah ein Besucher nur das riesige reichverzierte Eisentor, das dem Gefängnis ursprünglich zu seinem Namen verhelfen hatte. Als solle damit betont werden, daß es nur einen Weg gab, der aus dem Hochsicherheitsgefängnis hinausführte, war das Tor zwischen massiven Steinmauern verankert. Mit anderthalb Metern Dicke und sechs Metern Höhe beherrschten die Mauern das Auge und waren ein Symbol für die Wirklichkeit – die, die sich innerhalb der Mauern befanden, waren von der Gesellschaft genauso gründlich abgeschottet wie jeder Verbannte. Aber von seinem Aussichtspunkt in der Nähe des Gipfels einer der umstehenden Berge konnte der Batman hineinsehen. Nachdem er das Fernglas mit einer Bewegung seines behandschuhten Daumens auf Nachtsicht umgeschaltet hatte, studierte der Verbrechensbekämpfer sein Ziel. In der Weitwinkeleinstellung erhellte das Fernglas die Windungen des Ziehharmonikadrahts, der sich auf der Mauerkrone und den Wachtürmen ringelte, wo Scharfschützen auf die seltene Gelegenheit warteten, ihr Können zu demonstrieren. Die Gläser fingen außerdem den künstlichen Graben an der äußeren Mauerbasis ein – ein Graben, der — 56 —
mit speziell ausgebildeten Mitgliedern des K-9-Gefängniscorps gefüllt war. Seit zwanzig Jahren hatte es in Hellgate keinen erfolgreichen Ausbruchversuch mehr gegeben. In dieser Zeit wurden fast dreihundert Versuche unternommen. Mit wenigen Ausnahmen wurden alle Häftlinge eingefangen, bevor sie die Mauer erklettern konnten. Die Ausnahmen sind bei dem Versuch ums Leben gekommen. Der Batman hatte sein Leben der Aufgabe verschrieben, gegen das Verbrechen zu kämpfen, ein Engagement, das ein tiefes Verständnis des Feindes verlangte. Beobachtung reichte nicht aus – ebensowenig das Beherrschen des Unterweltsjargons oder ein Netz von Informanten. All diese Möglichkeiten wurden gründlichst genutzt, aber selbst damit konnte man sich keinen bedeutsamen Vorteil in dem endlosen Kampf verschaffen. Der Verbrechensbekämpfer war in seinem Studium des Feindes sogar noch einen Schritt weiter gegangen: Nach vielen Jahren intensivster Beschäftigung mit seinem Gegner konnte Batman im wahrsten Sinne des Wortes wie ein Verbrecher denken. Rein geistig konnte er zum Kriminellen werden – indem er auf eine andere Frequenz umschaltete und dem Sendestrahl bis zu seinem Ausgangspunkt folgte. Es war diese Fähigkeit, mehr noch als jede andere, die den Batman zum überzeugendsten – und erfolgreichsten – Undercoveragenten aller Zeiten machte. »Ich kann diese Mauer nicht überwinden«, sagte der Batman in Gedanken und verwandelte sich in einen verzweifelten Häftling, betrachtete mit dessen Augen durch die — 57 —
Gitterstäbe die Außenwelt. »Selbst wenn ich an den Wachtürmen vorbei käme, selbst wenn ich mich durch die Drahtverhaue schlängeln könnte, würden die Hunde mich erwischen.« Batman wußte, wie der auf Flucht sinnende Häftling eine Zielstrebigkeit und Entschlossenheit entwickelte, die einem Atomphysiker Ehre gemacht hätte. Er denkt an nichts anderes. Tag für Tag entwickelt er eine Hypothese nach der anderen, überprüft seine Gleichungen und mißt sie mit Augen und Ohren an der Realität. Und an der Geschichte derer, die es vor ihm versucht haben. Und gescheitert sind. Der Batman versenkte sich tiefer in das Bewußtsein des von der Flucht besessenen Gefangenen. Er verlangsamte seinen Herzschlag, um den Kanal zu öffnen, nichts zu erzwingen, es einfach passieren zu lassen. Um mit dem Gleichmut eines Steins zu warten. Und sich zu fragen: Wie komme ich hier raus? Bilder flackerten über den Bildschirm seines Gehirns. Bestechung? Strafmilderung? Begnadigung? Das Verbrecherbewußtsein des Batman kicherte freudlos. Keine Chance, verwarf sein Geist diese Möglichkeiten. Was dann? Aufgeben? Widerspruchslos seine Strafe absitzen? Diesmal war das Kichern voll beißenden Spotts. Es mußte doch … Ja! Der Batman verließ seine Verbrecherpersönlichkeit blitzartig, wobei sein Geist sich sofort wieder auf die Jagd konzentrierte. Er drückte schnell auf ein paar Mikroknöpfe auf — 58 —
der Überkopfkonsole des Batmobils und betrachtete den Sichtschirm voller Interesse, während das Bild sich veränderte. Eine kleine grüne Leuchtdiode blinkte heftig. Eine Nachricht erschien am unteren rechten Rand des Bildschirms: Sonde/SONAR Einsatz in Vorbereitung Bitte warten … Eine lange schmale Klappe öffnete sich am Heck des Batmobils. Eine kleine schwarze Röhre erschien in der Öffnung, dann startete sie in die Nacht, klappte biegsame Metallflügel auf, während sie auf das Gefängnis zuschwebte. Zwei weitere Sonden folgten. Die Bildschirmnachricht lautete: Ortsbestimmung in Vorbereitung. Bitte warten … Der Schirm zeigte ein flaches Gitter, worauf das Bild des Gefängnisses projiziert wurde. Die drei winzigen Sonden erschienen als Punkte auf dem Gitter. Mit Hilfe eines Joysticks nahm der Batman auf der Mittelkonsole vorsichtige Veränderungen vor. Er nickte zufrieden, als der Bildschirmtext die Bestätigung lieferte: Ortsbestimmung abgeschlossen / Wähle Dimension Eine behandschuhte Hand drückte auf Knöpfe der Überkopfkonsole. Auswahl: Tiefe / Ist das richtig? Der Batman drückte zur Bestätigung auf eine Taste. Suche Bild. Bitte warten … Nach weniger als dreißig Sekunden erschien auf dem Bildschirm ein Diagramm des Gefängnisses im Profil. Der Batman beugte sich vor, während die drei Sonarsonden sich einander annäherten, um ihm ein Ultraschallbild des — 59 —
Erdreichs zu liefern. Er atmete langsam aus, als der Schirm enthüllte, was er vermutet hatte. Ein Tunnel. Ein tiefer, befestigter Tunnel, der unter dem Hellgate Prison verlief. Die Sonden zeigten an, daß der Tunnelanfang sich irgendwo im Krankenhausflügel befand, dann parallel zum Gefängnisbau verlief, bis er scharf nach links abknickte, den Hof und das Verwaltungsgebäude mied und auf die hintere Mauer zuhielt. Der Batman betrachtete den Bildschirm und übersetzte die Symbole schnell in Zahlen – das Tunnelende war noch etwa vier Meter von der Mauer entfernt. Der Verbrechensbekämpfer betätigte den Joystick. Der Computer analysierte die Information der Sonde und formulierte die Antwort, auf die Batman wartete: Die Gefängnismauer reichte zwei Meter tief in die Erde. Der Tunnel mußte noch tiefer gegraben werden. Der Batman saß einen Moment lang reglos da und verarbeitete diese neue Information. Dann machte er sich an die Arbeit, stellte dem Computer eine ganze Serie von Fragen, die mit Hilfe der neuen Daten beantwortet werden sollten. Geschätzte Zeitdauer zur Fertigstellung des Tunnels 600 bis 1900 Arbeitsstunden Wovon abhängig? Wetterverhältnisse, benutztes Werkzeug, individuelle Arbeitsleistung
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Der Verbrechensbekämpfer dachte über die Information nach. Ganz gleich, wie viele Häftlinge an dem Tunnelplan beteiligt waren, nur jeweils einer oder zwei konnten gleichzeitig graben – jeder, der die Absicht hatte, den Tunnel auch zu benutzen, müßte damit lange warten. Aber im Hellgate Prison wurde Zeit niemals knapp. Der Batman betätigte erneut einige Tasten auf der Konsole und schaute aufmerksam auf den Bildschirm. Sylvester Sistrunk a/k/a THE MIDDLEMAN W/M • BR-BLD/BLU • 44 • 72/209 • Gotham PL $$ 100/105/115/165/170/185/225/230/450 Entschlüsseln: Strafrechtliche Vergehen: Anstiftung zu strafbaren Handlungen, Verschwörung, Förderung von Straftaten, Diebstahl, Urkundenfälschung, Betrug, Verbotenes Glücksspiel, Prostitution, Verkauf von Diebesgut, Geldwäscherei Öffnen / Prostitution / Ein gewisser Martin Despain, ein bekannter Zuhälter mit fünf Vorstrafen, verschaffte sich eine Lizenz zum Betreiben eines Fitneßclubs. In Wirklichkeit wurden die Räumlichkeiten als ›Massagesalon‹ benutzt. Die meisten Angaben für den Lizenzantrag waren erfunden. Sistrunk arrangierte ein Treffen zwischen Despain und Charles Montaingue, einem Angestellten beim Gotham Licensing Board. Despain bestach Montaingue. Die Lizenz wurde bewilligt. Später kam — 61 —
heraus, daß Sistrunk $ 20 000 von Despain erhalten hatte, um das Treffen zu arrangieren, und außerdem $3 000 von Montaingue als ›Vermittlungsprovision‹. Persönliche Beteiligung an Prostitutionsvergehen? Keine. Zu beachten: Person ist an KEINEM Vergehen direkt beteiligt, da: sein a/k/a … The Middleman Haftstrafen? Individuell oder gesamt? Total Total, alle Vergehen, alle Strafen = 1 588 Jahre. Zeitraum bis zu möglichem Straferlaß? 7 Jahre, 4 Monate, 11 Tage Der Batman las sich die Daten mehrmals durch. Eine weitere Frage hatte er noch für den Computer. Aufenthaltsort Hellgale Prison, Flügel #5, Reihe #3, Zelle #1 Darstellen SUCHE: Bitte warten .. Eine Seitenansicht des Gefängnisses tauchte auf dem Schirm auf. Der Blickwinkel veränderte sich, um den Hügel besser ins Bild zu bringen, in dem der Middleman untergebracht war. Ein blinkender roter Pfeil deutete auf eine Zelle, die im obersten Stockwerk am äußersten Ende lag. Der Batman fuhr sich mit dem Joystick bis zu diesem Punkt. Er betrachtete das Bild für einen Moment, dann drückte er die Tasten: — 62 —
Sonde / Umschalten auf Video Schalte um. Bitte warten … Das Schirmbild wechselte von schematischer Darstellung zu Live-Video-Übertragung. Der Batman holte sein Ziel so nahe wie möglich heran und dirigierte die Sonden auf die nächsten Positionen. Das vergitterte Fenster zur Zelle des Middlemans füllte den Bildschirm aus, aber dahinter war nichts anderes zu erkennen als schwarze Dunkelheit. Der Batman schaute auf die Digitaluhr in der oberen rechten Ecke des Videoschirms – 01:04:53.8 – kurz nach ein Uhr morgens. Batman nickte unwillkürlich und ließ die Finger wieder über das Tastenfeld gleiten. Sonde / Umschalten auf Thermo Schalte um. Bitte warten … Nach ein paar Sekunden begann der Bildschirm fluoreszierend zu leuchten, die Farben reichten von einem tiefen Blau bis zu einem grellen Gelb. Der Batman justierte die Sonden, bis er einen Überblick über das Innere der Zelle hatte. Der längliche rote Fleck war der Middleman, der offensichtlich auf seiner Pritsche lag. Das gelbe Leuchten war sein Kopf. Der Batman überflog die Daten, während er das Bild so nahe heranholte, wie die Position der Sonden es gestattete. Nur noch eine Information fehlte. Bewußtseinsstadium? Schlaf — 63 —
Tiefe? REM Demnach schlief der Middleman tief und fest. Träumte wahrscheinlich. Nun brauchte er nur noch zu wissen, was … Der Computer gab ein Piepen von sich. Der Blick des Batman richtete sich auf den Schirm. ACHTUNG! Zusätzliche Daten verfügbar / Gewünscht? Y Perry Trauma Bewertung verfügbar. Berechnen? Y Batmans Augen hingen am Bildschirm. Die Perry-TraumaBewertung war nach Dr. B. D. Perry benannt, der wegen seiner umwälzenden Forschungen über die Biochemie von Träumen zur Verleihung des Preises für den bedeutendsten Beitrag zum Wohl der Menschheit in die engere Wahl gezogen worden war. Dr. Perrys These besagte, daß ein schwer traumatisiertes Kind Informationen anders verarbeitet als nicht betroffene. Ein Beispiel ist die ›Schreckreaktion‹, die jedem Sozialarbeiter vertraut ist – das Kind, das sich duckt, wenn eine Hand zu irgendeinem friedlichen Zweck erhoben wird, ist ein Kind, das gelernt hat, daß eine erhobene Hand Schläge bedeutet. Manchmal ist das Erlernte so tief verankert, daß keine noch so umfangreiche gegenteilige — 64 —
Information die Reaktion auf denselben Reiz verändern kann. Perrys Arbeiten waren noch lange nicht abgeschlossen, aber seine Bewertungsskala, mit der er erlittene und aufgezeichnete Traumata maß, wurde nun bei allen Kindesmißbrauchsuntersuchungen eingesetzt. Da die Trauma-Bewertung vorgenommen wird, indem die Gehirnwellenmuster aufgezeichnet werden, während die untersuchte Person schläft, wurde Widersprüchen gegen die Ergebnisse von vornherein der Wind aus den Segeln genommen. Das neue Programm war erst vor kurzem im Batcomputer installiert worden, und der Batman wollte es endlich einmal ausprobieren. Er wartete geduldig. Dann wurde auf das thermale Bild diese Meldung projiziert: Perry Trauma Scale: B/71/C/NR Der Verbrechensbekämpfer übersetzte schnell: ›B‹ bezeichnete den zweiten distinkten Lebensabschnitt, irgendwo zwischen zwei und vier Jahren, je nach Individuum. ›71‹ war der Grad der Heftigkeit. ›C‹ deutete auf chronisch hin im Gegensatz zu episodisch. Und ›NR‹ stand für ›Not Repressed‹. Irgend etwas war mit dem Middleman passiert, als er noch ein Kind war – etwas zutiefst Traumatisches. Und was immer es war, es steckte noch immer in seinem Geist.
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er Batman lehnte sich zurück und drückte auf einen Knopf unter dem Lenkrad. Das Verdeck des Batmobils glitt mit einem leisen Zischen auf. Der Batman stieg aus und blickte auf das Gefängnis hinunter, wobei er seine Augen vor dem Mondlicht abschirmte. Nach einer langen Minute reichte er zurück ins Batmobil und betätigte die Schalter, um die Sonden einzuholen wie ein Falkner, der seine Vögel zu sich ruft. Sobald die Sonden sich wieder in ihren Behältnissen befanden, öffnete Batman ein größeres Fach und holte etwas heraus, das aussah wie ein Rucksackgeschirr. Die Gurte paßten genau zu seinem Kostüm. Er schob sich das Geschirr auf die Schultern und achtete darauf, daß sein Cape darüber hing und den Rucksack vollkommen verdeckte. Der Batman aktivierte einen Sender an seinem Gerätegürtel, und der pneumatische Hebelmechanismus des Batmobils schloß das Verdeck – in diesem Zustand war das Fahrzeug praktisch unverwundbar. Dann trat der Batman an den Rand einer Klippe, breitete seine Flügel aus und stürzte sich hinab in die Nacht. Der Batman nutzte die titanverstärkten ›Adern‹ in seinem Cape für einen Gleitflug. Mit viel Geschick nutzte er die Thermik aus, ließ sich hochtragen und nahm Kurs auf sein Ziel. Als er ausreichend Höhe gewonnen hatte, aktivierte der Batman den Mini-Jetantrieb auf seinem Rücken. Die Maschine war für maximale Tragfähigkeit konstruiert – sie lieferte nicht genügend Energie, — 66 —
um einen Menschen in die Luft zu heben, sondern war nur eine Flughilfe, wenn man sich bereits in der Luft befand. Der Batman schwebte in einem weiten Bogen an den Wach- und Geschütztürmen vorbei und hielt präzise seinen Kurs. Der Mini-Jetantrieb konnte nicht auf Schubumkehr geschaltet werden – man mußte ihn völlig stilllegen, um zu landen. Batman flog noch zweimal über seinen geplanten Landeplatz, machte sich mit den Windströmungen vertraut und überprüfte den Sog nach unten. Er ging in einen Steigflug über, dann schaltete er den Mini-Jet am höchsten Punkt seines Steigflugs aus. Indem er sein Cape als modifizierten Fallschirm einsetzte, sank der Batman leise aus dem Nachthimmel herab und landete mit einem akrobatischen Manöver, das kein olympiareifer Kunstturner hätte imitieren können, auf dem Gefängnisdach. Er brauchte weitere dreißig Sekunden, um sich zu orientieren und sich zu vergewissern, daß seine Ankunft nicht von den kreisenden Suchscheinwerfern auf den Wachtürmen verraten worden war. Aus seinem Gerätegürtel holte der Verbrechensbekämpfer ein Stück Batseil, eine spezielle Kombination aus geflochtenen Fasern, die so biegsam war wie dünner Draht und so stabil wie ein Stahlkabel. Er befestigte das Batseil auf dem Dach, dann wickelte er es ab, bis er am Dachrand stand. Er ließ sich einfach nach vorn fallen, stieß sich gleichzeitig mit den Beinen ab, so daß er, als sich das Haltekabel spannte, in der Haltung einer sich ausruhenden — 67 —
Fledermaus genau vor dem Zellenfenster des Middleman landete. Ein kurzer Blick hinein reichte, um festzustellen, daß der Middleman noch fest schlief. Aus seinem Gerätegürtel holte der Batman nun eine dünne Scheibe aus durchsichtigem Kunststoff, durch die ein dichtes Netz von dünnen Drähten verlief. Vorsichtig entfernte er auf einer Seite das Klebeband und drückte das Kunststoffgebilde hinter den dicken Gitterstäben gegen die Glasscheibe. Die Suchund Ortungsscheibe, wie sie von den Angehörigen der Not- und Rettungsdienste genannt wurde, war ursprünglich vom Batman entwickelt worden, um Rettungsaktionen effizienter zu gestalten. Die Scheibe funktionierte wie ein Zweiwegestimmenverstärker. An der Außenwand eines eingestürzten Bergwerkschachtes angebracht, ermöglichte das Gerät den Rettern, die Stimmen derer zu hören, die in dem Schacht eingeschlossen waren. Die zügige Kommunikation untereinander beschleunigte nicht nur die Rettung, sondern sorgte auch dafür, daß bei allen Betroffenen einer solchen Aktion die Hoffnung nicht erstarb. Ein separater Sender gestattete es den Rettern, den benötigten Verstärkungsgrad einzustellen. Der Batman wählte die niedrigste Einstellung der Scheibe, dann flüsterte er: »Sistrunk! Sistrunk, wachen Sie auf!« Die schlafende Gestalt bewegte sich. Eine verschlafene Stimme sagte: »Was zum Teufel …?« »Hier drüben«, flüsterte der Batman. »Am Fenster. Beeilen Sie sich.« — 68 —
Der Middleman richtete sich auf und rieb sich die Augen. Als er den schwarzen Fleck vor seinem Zellenfenster entdeckte, stand er auf und ging darauf zu. »Wer ist … was!« rief er aus, als er die drohende Gestalt, die die Verbrecher von Gotham schon so lange in Angst und Schrecken versetzte, mit dem Kopf nach unten vor seinem Fenster hängen sah. »Seien Sie still«, flüsterte der Batman. »Ich bin hergekommen, um mit Ihnen zu reden, mehr nicht.« Der Middleman schluckte, gewann aber schnell seine Fassung zurück, die ihm bisher in seinem Gewerbe so gute Dienste geleistet hatte. »Okay«, sagte er. »Reden wir. Wie Sie sehen können, habe ich dazu ausgiebig Zeit.« »Sie sind so etwas wie ein … Förderer, nicht wahr?« fragte der Batman. »Sie bringen Käufer und Verkäufer zusammen, oder?« »Ja, das stimmt«, antwortete der Middleman. »Wenn Sie etwas haben, das Sie loswerden wollen, dann kommen Sie zu mir. Und wenn Sie etwas brauchen, kommen Sie ebenfalls zu mir. Ich tue nichts anderes, als Leute zusammenzubringen. « »Dies hier ist völlig inoffiziell, niemand erfährt davon«, flüsterte der Batman. »Sie verstehen, was ich damit meine?« »Natürlich«, entgegnete der Middleman und konnte nicht verhindern, daß die Überraschung aus seiner Stimme herauszuhören war. Jeder aktive Kriminelle wußte, daß wenn der Batman eine Unterredung für inoffiziell erklärte, er die Information nicht an die Polizei weitergeben würde. — 69 —
Diese Vorgehensweise gehörte zum Verhaltensrepertoire aller Gesetzeshüter – manchmal ließen sie einen kleinen Fisch entwischen, um die richtig großen Haie zu fangen. »Sie bewegen verbotene Güter, nicht wahr?« fragte der Batman. »Waffen, Drogen, gestohlene Kunstwerke, Schmuck.« »Das und mehr«, flüsterte der Middleman, einen Hauch von Stolz in der Stimme. »Wenn sich ein Profit erzielen läßt, dann bin ich dabei.« »Deshalb bin ich hergekommen«, sagte der Batman. »Ich brauche die Antwort auf eine Frage, und ich bin bereit, dafür zu bezahlen.« »Ich brauche kein Geld«, sagte der Middleman. »Es ist kein Geld – es ist etwas viel Wertvolleres.« »Was denn?« »Erst beantworten Sie meine Fragen. Aber ich verspreche Ihnen, daß ich die Wahrheit sage.« Der Middleman kratzte sich nachdenklich am Kinn. Es war schon seltsam, wie blind die Unterwelt ihrem schlimmsten Feind vertraute. Jeder Verbrecher wußte, daß das Wort des Batman Gold wert war. Tatsächlich würde jeder Gauner sich eher auf das Ehrenwort des Batman verlassen als auf das seiner Komplizen. »Schießen Sie los«, sagte der Middleman. »Ich … habe gehört«, sagte der Batman leise, »daß Profit … erheblicher Profit … im Kindesmißbrauch steckt. Ich habe außerdem gehört, daß einige von denen, die Kinder mißbrauchen, in dem, was sie tun, sowohl Profit als auch Vergnügen finden. Das mit dem … Vergnügen kann ich — 70 —
verstehen«, sagte der Batman und erstickte fast an dem Wort. »Und ich weiß, daß es für alles einen Markt gibt, wenn man weiß, wo man suchen muß.« Der Batman beugte sich näher zum Fenster, brachte seine Kapuze dicht an die Scheibe. »Verraten Sie mir, wo ich suchen soll«, befahl er. Der Middleman wandte dem Fenster den Rücken zu. Sein Gesicht war eine Schreckensmaske aus Wut und Entsetzen. Schweiß rann über seinen Körper. Das Zittern ließ allmählich nach, bis er das Gefühl hatte, die Kontrolle über sich selbst zurückgewonnen zu haben. Er ging zu seiner Pritsche, griff nach seiner Zigarettenschachtel, steckte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie an. Dann kehrte er zum Fenster zurück. »Ich hab’ jetzt eine gebraucht«, sagte er und barg die Glut sorgfältig in der Hand, damit sie von draußen nicht zu sehen war – eine alte Gefängnissitte. »Erzählen Sie«, flüsterte der Batman drängend. Der Middleman nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarette. »Es gibt zahlreiche Möglichkeiten«, sagte er, »aber im allgemeinen sind es drei. Man kann Bilder von den Kindern verkaufen; man kann die Dienste der Kinder verkaufen, oder man kann die Kinder direkt verkaufen.« »Erklären Sie«, sagte der Batman mit angespanntem Flüstern. »Kinderporno, dafür gibt es einen großen Markt«, sagte der Middleman. »Er ist nicht unbedingt weitverbreitet, aber er ist ziemlich solide und sicher. Wenn einer von diesen Irren …« »Irren?« unterbrach der Batman. — 71 —
»Kinderschänder. Babyvergewaltiger, Pädophile, wie immer Sie sie nennen wollen«, erwiderte der Middleman. »Für mich sind sie Irre, klar?« »Reden Sie weiter«, bat der Batman. »Wie dem auch sei, wenn einer dieser Irren genug Geld hätte, würde er alle Kinderpornos auf der Welt aufkaufen, hören Sie? Zur Hölle, die Nachfrage ist so groß, daß sich sogar Leute auf diesem Markt tummeln, die selbst nicht zu den Irren gehören – Sie verstehen, was ich meine?« »Nein.« »Sehen Sie, glauben Sie denn, daß die mächtigsten Drogengroßhändler selbst auch süchtig sind? Natürlich nicht. Früher war es mal so, daß die Leute, die Kinderpornos herstellten, auch verrückt danach waren, klar? Aber so ist es nicht mehr.« »Was noch?« »Kinderprostitution ist ein weiteres dickes Geschäft. Natürlich ist es nicht so profitabel wie der Pornohandel – Kinder sind in diesem Leben ziemlich schnell verbraucht.« »Und die letzte Möglichkeit?« fragte der Batman. »Nun, alles hängt miteinander zusammen«, sagte der Middleman. »Einige Irre geben sich nicht damit zufrieden, sich ein Kind nur zu mieten. Sie wollen eins kaufen.« »Um es zu behalten? Wie bei einer Schwarzmarktadoption?« »Nee«, sagte der Middleman höhnisch. »Um es zu benutzen, klar? Zu benutzen, wie sie wollen. Und wenn sie genug haben, werfen sie die Kinder einfach weg.« »Sie meinen …?« — 72 —
»Ja«, antwortete der Middleman, und ein winziges rotes Leuchten flackerte in seinen Pupillen. »Das ist genau das, was ich meine.« Die Augen des Verbrechensbekämpfers brannten durch das kugelsichere Glas, das ihn vom Middleman trennte. »Es gibt einen Tunnel«, sagte er und betonte jede Silbe. »Unter dem Gefängnis. Er reicht fast bis zur Mauer. Die Behörden wissen darüber Bescheid. Morgen wollen sie ihn schließen. Jeder, der dann darin angetroffen wird, bekommt noch ein paar zusätzliche Jahre aufgebrummt.« »Ich habe verstanden«, sagte der Middleman. »Ein faires Geschäft. Wie Sie vorhin sagten.« »Ich werde …« »Warten Sie!« zischte der Middleman. »Einen Moment noch. Ich muß Ihnen noch etwas erzählen.« Der Batman verharrte in seiner Position vor den Fenstergittern. »Da gibt es einen Burschen. An der Westküste«, erzählte der Middleman. »Er veranstaltet Reisen. Sexreisen. Außer Landes. Er bringt Leute dorthin, wo es erlaubt ist, mit Kindern Sex zu haben. Er verlangt dafür ein Vermögen. Und er ist nicht der einzige – Sexreisen sind mittlerweile ein Riesengeschäft.« »Macht er …?« »Lassen Sie mich der Reihe nach erzählen, okay?« unterbrach ihn der Middleman. »Er heißt Drako, und Sie können ihn stets an einem Ort namens Dragonfire Marina an der Küste antreffen. Sein Schiff ist die Lollypop. Eine Reise kostet von fünfzehn Riesen an aufwärts … je nachdem, wel— 73 —
che ›Extras‹ man wünscht. Sagen Sie ihm, ein Mann namens Lester Tuxley habe Sie zu ihm geschickt.« »Wie kann ich …?« »Lester finden?« sagte der Middleman. »Wegen Lester brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Er sitzt. In einem anderen Hügel. Er ist gerade reingekommen. Achten Sie nur darauf, daß Sie Drako erklären, Sie hätten vor heute abend mit Lester gesprochen, verstanden?« »Ja. Was kann ich …?« »Nichts!« fiel ihm der Middleman ins Wort. »Das war ein Gratistip.« Längere Zeit herrschte Schweigen zwischen den beiden Männern. Dann streckte der Batman die Hand aus, um die S-&-R-Scheibe vom kugelsicheren Glas zu lösen und zu verschwinden. Plötzlich legte der Middleman seine Hand auf die Fensterscheibe. Seine Augen brannten. Der Batman legte seine behandschuhte Hand ebenfalls auf das Glas, so daß sie die Hand des Middleman bedeckte. Der Middleman flüsterte: »Sorgen Sie dafür, daß sie bezahlen!« Dann zog er die Hand schnell zurück und drehte sich um. Der Verbrecher blieb längere Zeit in dieser Haltung stehen, während er am ganzen Körper zitterte. Als er sich wieder umwandte, war der Batman verschwunden.
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ie immer, wenn die Arbeit ihn bis zum Morgengrauen in Anspruch genommen hatte, stand Bruce Wayne erst gegen Mittag auf. Alfred, in seiner professionellen Voraussicht, betrat die Suite des Hausherrn mit einem Frühstückstablett und den Morgenzeitungen. Bruce aß langsam und genoß den Frieden seiner Umgebung. Mit geübten Augen überflog er die aktuellen Meldungen und nahm automatisch alles in sich auf, das sich auf irgendwelche Verbrechen bezog. Über den Fluchttunnel unter dem Hellgate Prison war nichts zu lesen, aber das überraschte ihn nicht – der Batman hatte diese Information den Behörden erst vor wenigen Stunden zukommen lassen. Ruhelos stand Bruce Wayne auf, schlüpfte in einen Trainingsanzug und ging hinunter in die perfekt ausgerüstete Sporthalle, die einen einzigartigen Bestandteil von Wayne Manor darstellte. Im Gegensatz zu anderen Turn- und Sportanlagen war diese Einrichtung nicht für Freizeitaktivitäten vorgesehen. Eigentlich stellte sie nichts anderes dar als einen Hindernisparcours für fortgeschrittenes Zweikampftraining. Die Halle befand sich in einem der hinteren Teile des Anwesens. Die Decke schwang sich aus einer Höhe von zwölf Metern bis auf knapp einen Meter hinunter und bot somit zahlreiche Trainingsmöglichkeiten von Seilmanövern an Steilwänden bis hin zur schnellen Fortbewegung durch enge Tunnel. Die Beleuchtung ließ sich zwischen grellster Helligkeit und absoluter Dunkelheit stufenlos regeln. In einer Ecke stand ein langes, kistenähnliches — 75 —
Gebilde. In der Kiste waren eine Reihe beweglicher Zwischenwände installiert. Diese Zwischenwände waren computergesteuert. In der Einstellung RANDOM bewegten sie sich ständig und unberechenbar und veränderten auf diese Weise die Kriechwege innerhalb der Kiste. Der Batman benutzte diesen Apparat, um seinen Tastsinn auf Höchstleistung zu trimmen. Einer seiner ehemaligen Kampfsportlehrer verlangte von seinen Schülern, daß sie lernten, blind zu kämpfen, wodurch sie ihre Konzentration verbesserten. Er predigte seinen Schülern, daß ein richtiger Krieger sich niemals auf nur eines seiner Sinnesorgane verlassen dürfe. Der Batman pflichtete ihm darin bei und hatte sich diese Konzentrations-Kiste bauen lassen, um seine hochspezialisierten Fähigkeiten auf höchstem Leistungsstandard zu halten. Der Batman beendete seinen Trainingszyklus mit einer einzigartigen Übungsfolge, die er entsprechend den Anforderungen seines einsamen Gewerbes entwickelt hatte – es war ein Programm, das Yoga, Gewichtheben und eine ausgedehnte Kampfsport-Kata einschloß, in der sich Elemente von Aikido und Karate miteinander verbanden. Der Nachtkämpfer begann danach eine anderthalbstündige Entspannungsphase, in deren Verlauf er sich diverser Konzentrations- und psychokinetischer Übungen unterzog. Jahrelange extrem disziplinierte foci hatten das persönliche ki des Batman zu einem regelrechten Kraftfeld anwachsen lassen – zumindest was kriminelle Elemente betraf. Diese Legende wurde vor allem vom fähigsten Berufskiller — 76 —
der Unterwelt aufrechterhalten, einer Erscheinung, die allgemein nur als der Sniper bekannt war. Niemand hatte den Sniper jemals zu Gesicht bekommen, aber seine Arbeit sprach für sich. Wenn der Sniper einen Auftrag übernahm, konnte man sich gleichzeitig eine Eintrittskarte für die anschließende Autopsie des Opfers besorgen. Ihm war von einer Gruppe schwergewichtiger Unterweltbosse ein Honorar von einer Million Dollar für die Liquidierung des Batman geboten worden. Die Interessenvereinigung ließ über den Flüsterstrom verbreiten, der Sniper solle sich bei ihnen melden. Sie hatten sich alle in einem Versteck versammelt, als die schlangengleiche Stimme des Snipers durch die Telefonleitung zischte. »Ich will den Auftrag nicht«, sagte er über den Telefonlautsprecher. »Ich passe, verstanden?« »Vielleicht, wenn wir die … hm, Belohnung etwas nach oben veränderten?« fragte einer der Unterweltsbosse listig. »Ihr habt nicht genug Geld«, zischte der Sniper. »Alles Geld der Welt würde nicht ausreichen. Ich habe es einmal bei ihm versucht, vor etwa drei Jahren. Ich hatte ihn genau im Visier. Und wenn ich jemanden im Visier habe, dann ist er so gut wie tot, dann ist er tot, verstanden? Ich sah ihn von vorn – das Fledermaussymbol auf seiner Brust befand sich mitten in meinem Fadenkreuz. Ich drückte einmal ab … perfekt, wie ich es immer tue. Er konnte mich nicht gehört haben – ich war fast einen halben Kilometer von ihm entfernt. Außerdem hatte ich mit einem Schalldämpfer gearbeitet. Und ich habe ihn verfehlt! Er rührte sich nicht einmal, und ich schoß daneben. Ich weiß nicht, wie der Batman — 77 —
das schafft – er soll irgendwelchen Voodoozauber beherrschen, wie ich mal hörte. Aber was immer er anwendet, ich habe nicht vor, es noch einmal bei ihm zu versuchen.« Die Geschichte von Renaldo ›Razorman‹ Ramoto klang ähnlich. Er hatte den Verbrechensbekämpfer in die Enge getrieben … im wahrsten Sinne des Wortes. Der Kämpfer war bereits erheblich geschwächt nach einem Kampf gegen vier mit Totschlägern bewaffnete Straßenräuber, als Ramoto erschien und zwei mit Perlmuttgriff versehene Schlitzinstrumente herumwirbeln ließ, denen er seinen Spitznamen verdankte. Als er wieder zu sich kam, konnte er nicht erklären, was geschehen war. Gerade hatte er sich noch auf sein sicher geglaubtes Opfer gestürzt, da wurde es schwarz vor seinen Augen. Die Spurensicherungsleute der Polizei sammelten die beiden Rasiermesser ein und stellten dabei fest, daß sie so unberührt aussahen, als seien sie gerade erst aus der Fabrik gekommen. Ein junger Beamter schüttelte ungläubig den Kopf, aber sein erfahrener Kollege hatte eine einfache Erklärung parat. »Es ist völlig egal, was die Ganoven zur Party mitbringen«, sagte er zu dem jungen Polizisten, »am Ende tanzen sie sowieso alle nach der Musik des Batman.« Nach einem kurzen Abstecher in die Sauna duschte Bruce Wayne und rasierte sich. Er kleidete sich rasch an, dann ging er hinunter ins Wohnzimmer, wo Alfred konzentriert vor einem riesigen Fernsehschirm saß. Zu sehen war eine Luftaufnahme des Hellgate Prison von einem Hubschrauber aus. Bruce nahm neben seinem alten Freund Platz und — 78 —
hob fragend eine Augenbraue. Alfred reagierte mit einer Geste, die soviel wie ›Einen Moment noch‹ heißen sollte. Das Fernsehbild wechselte, und es erschien ein stämmiger Schwarzer in einem dunkelblauen Anzug. Der Knoten seiner roten Seidenkrawatte war gelockert, und sein weißes Hemd machte einen zerknautschten Eindruck. Es war ein Mann, der daran gewöhnt war, Befehle zu erteilen. Im Augenblick stand er unter erheblichem Streß, hatte jedoch alles unter Kontrolle. Während die Kamera zurückging, war zu erkennen, daß der Mann von Reportern umringt wurde. Einige hatten Mikrofone in den Händen, andere hielten Notizblöcke und Schreiber bereit. »Einer nach dem anderen!« rief der Schwarze. »Wir haben soeben einen Aufstand im Gefängnis vereitelt – da habe ich keine Lust, hier draußen was Ähnliches zu erleben! Sie zuerst, okay?« sagte er und deutete auf einen Latino mittleren Alters, dessen elegant geschnittener grauer Anzug die gleiche Farbe hatte wie seine Revolverheldenaugen. »Warden Richardson, trifft es zu, daß unter dem Hellgate Prison ein Fluchttunnel entdeckt wurde?« »Ja, Mr. Gonzales, genau das haben wir entdeckt. Der Nächste bitte!« »Wie kurz stand der Tunnel vor seiner Vollendung?« Eine asiatisch aussehende Frau mit Kopfhörer streckte ein Mikrofon vor. Ihre klare Stimme war trotz des allgemeinen Lärms gut zu verstehen. »Wenn Sie damit die Entfernung bis zum Ende meinen, würde ich sieben bis zehn Meter schätzen, Miss Hong«, — 79 —
antwortete der Chefaufseher. »Wenn Sie die Zeit wissen wollen, dann etwa einen Monat. Höchstens sechs Wochen.« »Wie wurde der Tunnel entdeckt?« fragte ein Mann mit scharfgeschnittenem Gesicht, dessen Presseausweis im Stil der fünfziger Jahre hinter dem Zierband seines ramponierten Filzhutes steckte. »Mr. Hechler, ich weiß nicht, wie es kommt, aber jede Frage, die Sie mir stellen, läuft auf die gleiche Antwort hinaus.« »Und die lautet?« fragte der Reporter herausfordernd. »Diese Information ist vertraulich. Sie an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, würde heißen …« »… daß die ordnungsgemäße Durchführung einer andauernden Untersuchung in Frage gestellt würde«, beendete der Reporter den Satz für den Oberaufseher. Seine Stimme troff vor Sarkasmus. »Der Nächste bitte!« rief der Schwarze ungehalten. »Stimmt die Meldung von der Leiche …?« fragte eine blonde Frau in rotem Minirock. »Hören Sie, seien Sie gnädig mit mir«, verlangte der Oberaufseher. »Ich werde Ihnen alles mitteilen, was für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Und ich werde es nur einmal erzählen, klar? Und jetzt passen Sie gut auf: Gegen sechs Uhr heute morgen erhielten wir einen Hinweis aus einer anonymen Quelle, die sich schon früher als zuverlässig erwiesen hatte. Auf Grund der erhaltenen Information warteten wir bis zum Tagesanbruch und begannen die Suche nach einem Fluchttunnel. Gegen elf Uhr fünfzehn wurde der — 80 —
Tunnel entdeckt. Im Tunnel selbst wurden keine Häftlinge angetroffen. An einer Stelle in der Nähe des Tunneleingangs fanden wir jedoch die Leiche eines gewissen Lester Tuxley, der erst vor kurzem als Häftling eingeliefert worden war. Tuxley wurde erstochen. Der Täter hatte gründliche Arbeit geleistet – die Umstände des Mordes deuten auf eine professionell durchgeführte Hinrichtung. Die Waffe war ein offensichtlich in der Gefängniswerkstatt zurechtgefeilter Stahlbolzen. An der Waffe wurden keinerlei Fingerabdrücke gefunden. Bisher haben wir keinen Verdächtigen.« »Hatte Tuxley irgendwelche Feinde?« rief ein Reporter. »Die hatte er ganz gewiß«, erwiderte der Oberaufseher ernst. »Er war ein Kinderschänder und chronischer Wiederholungstäter mit mindestens achtzig nachweisbaren Opfern.« »Ich meine, hatte er innerhalb des Gefängnisses irgendwelche Feinde?« hakte derselbe Reporter nach. »Es gibt alle möglichen Gründe, um an einem solchen Ort ums Leben gebracht zu werden«, sagte der Oberaufseher und blickte in die Richtung des Fragestellers. »Bei einem Kerl wie Tuxley … nun, da ist alles möglich.« Für die Veteranen unter den Reportern verriet das Achselzucken des Oberaufsehers mehr als seine Worte. Das Fernsehbild von der Umgebung des Hellgate Prison wurde von einem sorgfältig frisierten Nachrichtensprecher im Fernsehstudio abgelöst. »Sie haben soeben die aktuellen Meldungen vom Ort des Geschehens gehört. Sobald neue Informationen bekannt werden, kehren wir vor Ort — 81 —
zurück. Unterdessen sind einige Meldungen aus der Welt des Sports eingegangen …« Alfred drückte auf den Knopf der Fernbedienung, der die Stimmen und Geräusche ausschaltete. »Eine ziemlich unerwartete Entwicklung, nicht wahr, Master Bruce?« Bruce schloß die Augen, um sich die in der vergangenen Nacht stattgefundene Begegnung mit dem Middleman besser ins Gedächtnis rufen zu können. Er konnte immer noch den Ausdruck in den Augen des Verbrechers sehen, spürte immer noch die Wärme seiner Hand durch die Fensterscheibe. Und er erinnerte sich an den Rat des Middleman, falls er Lester Tuxley als Zugang zur Welt der Kinderporno-Unternehmer benutzte, darauf hinzuweisen, daß er lange vor diesem Tag mit ihm gesprochen habe. »Eigentlich nicht«, war alles, was Bruce dazu bemerkte.
M
ehrere Stunden lang sprachen die Männer kein Wort. Dann, während die Nacht über Wayne Manor hereinbrach, stieg der Eigentümer des Anwesens in die Bathöhle hinab. Alfred sah ihm nach, wobei sein aristokratisches Gesicht ausdruckslos blieb. Weitere Stunden verstrichen. Ins einer privaten Unterkunft saß Alfred vor einem prächtigen Schreibtisch aus Zebraholz und strich mit der linken Hand sanft über die von schwarzen Adern durchzogene, — 82 —
dunkelgrüne, eingelegte Marmorplatte, während seine rechte Hand sich um sein Kinn schmiegte. Seine tiefgründigen braunen Augen hatten jenen speziellen Glanz, der entsteht, wenn man unverwandt in die Mitteldistanz blickt. Abgesehen von den sanften, rhythmischen Bewegungen seiner linken Hand wirkte er auf den Betrachter wie in Stein gehauen. In genau dieser Haltung saß in der Bathöhle ein Mann, der sich zwischen zwei verschiedenen Stadien seiner Existenz befand. Der Mann trug das Kostüm des Batman, hatte aber die Kapuze zurückgeschlagen, so daß sein Kopf frei war. Die letzte Stufe der Verwandlung vom Dilettanten zum Vigilanten – die speziell konstruierten Handschuhe aus mit feuerfestem Stoff gefüttertem Titangewebe lagen unberührt auf der glatten Lexanplatte des Arbeitstisches. Die normalerweise blauen Augen des Mannes blickten ebenfalls wie die Alfreds in die Mittelinstanz, doch die Augen dieses halb verwandelten Mannes erschienen wie Obsidian … sie reflektierten alles und gaben nichts wieder als diese Reflektion. Stunden verstrichen. Alfred tauchte mit einem unvermittelten Zucken seiner Augen aus seinem tranceähnlichen Zustand auf. Er schien erschöpft, aber entschlossen zu sein – ein Mann, der ein ehrenhaftes Unentschieden im Kampf gegen sein Gewissen errungen hatte – ein Mann, der wie alle Wahrheitssucher herausgefunden hatte, daß man den eigenen Ansprüchen an die Ehre gerecht werden mußte. — 83 —
»Man muß seinen Mann stehen«, sagte er leise und erinnerte sich an die Worte seines Vaters vor vielen, vielen Jahren. Und er dachte an den Leitsatz, nach dem sein Vater immer gelebt hatte. »Ganz gleich, ob er der erste oder der letzte ist, ein Mann muß immer für sich selbst einstehen«, hatte der Vater seinem Sohn gepredigt, der ihn stets bewundert hatte. »Und wenn nur ein einziger Mann da ist, dann muß dieser Mann allein für sich einstehen.« Alfred erhob sich. Gemessenen Schrittes ging er zu einem Bücherregal aus Kirschholz, das in die Wand eingelassen war. Er griff nach einem der unteren Regalbretter und zog es kraftvoll hoch. Fünf Sekunden lang geschah nichts. Dann begann ein leerer Abschnitt des Buchregals sich zu drehen und offenbarte ein ungewöhnliches Beispiel der Schrankbauerkunst – ein Cribbagebrett von derart sorgfältiger Machart, daß es aussah, als sei es von einem Zauberer geschaffen worden. Eigentlich war das Brett ein Kasten und mit Scharnieren versehen, so daß die Spielfiguren darin untergebracht werden konnten. Was auf den ersten Blick aussah wie glänzendes knochenweißes Holz mit einem leicht gelblichen Schimmer, war in Wirklichkeit handgeschnitztes Elfenbein. Jede der langen Reihen paralleler Löcher zur Aufnahme der Spielsteine war mit einem winzigen Ring aus Gold eingefaßt, die bei höchstens mikroskopischen Abweichungen von Hand eingesetzt worden waren. Alfred öffnete den Kasten und holte eine Handvoll Spielsteine heraus. Wie das Spielbrett waren auch die Spielsteine aus Elfenbein. Jeder war mit einem Farbpunkt versehen – — 84 —
eine Hälfte mit einem roten Punkt, die andere Hälfte mit einem grünen. Rubine und Smaragde, wie Alfred wußte, und jeder so genau geschliffen, daß der Betrachter nur einen Eindruck von Farbe gewann – die Edelsteine selbst waren so winzig, daß sie mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen waren. Aus einem nicht benutzten Getränkeschrank nahm Alfred ein purpurfarbenes Samttuch. Er legte das Tuch auf den Tisch, dann stellte er das Cribbagebrett darauf. Anschließend setzte er die Spielsteine in einem scheinbaren Zufallsmuster ein, wobei seine Hände sich mit der Sicherheit eines Gehirnchirurgen bewegten. Dieser Prozeß dauerte mehrere Minuten. Alfred beugte sich über das Brett, überprüfte die Position der roten und grünen funkelnden Lichtpunkte und verschob gelegentlich den ein oder anderen Spielstein um ein winziges Stück. Schließlich nickte Alfred, als sehe er eine lang gehegte Vermutung bestätigt, und setzte einen weiteren Stein ein. Sobald der kleine Stein in sein Loch gerutscht war, sprang am Ende des Brettes eine winzige Schublade heraus. In der Schublade lag ein Schlüssel. Alfred nahm den Schlüssel aus der Schublade und ging zielstrebig in sein Schlafzimmer. Dort begab er sich zum Kopfende seines Bettes. Er zog ruckartig am linken Bettpfosten. Der Posten knickte rechtwinklig ab, da er mit einem Scharnier versehen war, das man nur bei eingehendster Untersuchung hätte entdecken können. Alfred betrachtete die untere Hälfte des Bettpfostens, ertastete mit den Fingerspitzen ein Schlüsselloch und steckte den Schlüssel hin— 85 —
ein. Während er den Schlüssel drehte, übte er einen Zug nach oben aus und holte einen länglichen Metallzylinder hervor. Nachdem er den Bettpfosten wieder in seinen ursprünglichen Zustand versetzt hatte, kehrte Alfred in sein Arbeitszimmer zurück. Dort öffnete er den Zylinder, langsam und ehrerbietig, wobei seine gesamte Haltung auf eine ernste religiöse Zeremonie hindeutete. Eine fest zusammengerollte Röhre aus mehreren Papieren kam zum Vorschein. Alfred strich sie sorgfältig auf dem Schreibtisch glatt und fixierte jede mit einem Briefbeschwerer aus Messing. Danach klappte er eine Art Aktenkoffer aus schwarz eloxiertem Aluminium auf. Das Innere des Koffers war mit in Schaumstoff eingefaßtem Kork ausgeschlagen. An jeder Ecke befand sich eine kleine Klappe, um Dokumente an Ort und Stelle zu fixieren. Alfred legte die Papiere nacheinander mit der Vorderseite nach unten ein und richtete jeden Bogen genau nach dem darunterliegenden aus. Nachdem er diese Arbeit zu seiner Zufriedenheit abgeschlossen hatte, stöpselte er einen Verbindungsstecker an der Seite des Koffers ein. Ein Draht verlief vom Stecker zu einem Transformator, der wiederum mit einer Wandsteckdose verbunden war. Alfred drückte auf einen Knopf am Transformator, und ein leises summendes Geräusch erfüllte den Raum. Er beobachtete ohne ein Anzeichen von Unruhe, wie winzige Nebelwölkchen aus einer Reihe Schlitze im Koffer aufstiegen – er wußte, daß Feuchtigkeit ein notwendiger Bestandteil des Wiederherstellungsprozesses war. Die Originalpapiere waren nicht von Archivqualität gewesen, und — 86 —
Alfred hatte ihre empfindliche Beschaffenheit nicht dem Fotokopiervorgang aussetzen wollen. Dieser eigens für ihn entworfene Aufbewahrungs- und Wiederherstellungskoffer war ein Unikat. Obgleich er anderen Geräten dieser Art, wie sie von professionellen Dokumentenkurieren benutzt wurden, ähnlich war – daher das äußere Erscheinungsbild eines Aktenkoffers –, machte die Verwendung von wertvollen Metallen und die Einhaltung von Toleranzen bei nahezu Null dieses spezielle Gerät viel zu teuer für den alltäglichen Einsatz. Alfred hatte das Aufbewahrungs- und Wiederherstellungsritual im Laufe der Jahre mehrmals durchgeführt. Jedesmal, wenn das Gerät seine Arbeit vollbracht hatte, hatte er die Papiere wieder in ihrem Versteck deponiert. Aber diesmal blieb Alfred stehen und hielt die aufgefrischten Papiere mehrere Minuten lang in der Hand. Dann verließ der Mann, der sein Leben der Loyalität geweiht hatte, das Zimmer. Sogar in jenem psycho-emotionalen Grenzbereich zwischen alternierenden Bewußtseinszuständen verfügte der Batman über eine derart empfindliche Wahrnehmungsfähigkeit seiner Umgebung, daß er die winzigsten molekularen Veränderungen der Luft aufspüren konnte – er war gleichsam ein lebender Bewegungssensor, der die Leistung jedes anderen bekannten Geräts bei weitem überbot. Selbst in diesem Moment, als er an seinem Tisch saß und den Rükken dem Fahrstuhleingang zur Bathöhle zuwandte, konnte — 87 —
er die Anwesenheit eines anderen wahrnehmen. Dennoch geriet seine Psyche nicht in Alarmzustand – es konnte nur Alfred sein. Mit einiger Willensanstrengung wandte der Batman den Kopf, betrachtete seinen alten Freund – seinen ältesten Freund –, der auf ihn zukam. Unfähig zu sprechen, hob das unmaskierte Gesicht eine Augenbraue und fragte: »Weshalb?« Nicht ›Weshalb sind Sie hier?‹, sondern ›Weshalb bin ich?‹ Alfred war dieselbe Frage nonverbal im Laufe der Jahre schon mehrmals gestellt worden. In der Vergangenheit hatte er daraufhin dem Batman immer nur auf die Schulter geklopft und ihm versichert, daß er eines Tages alles erfahren würde. Eine solche Geste war kein hohler Beschwichtigungsversuch eines desinteressierten Elternteils, der ein neugieriges Kind abwimmeln will – es war das heilige Versprechen eines Freundes, der die Wahrheit kannte. Eines echten Freundes, der, eines Tages, diese Wahrheit weitergeben wurde. »Es ist soweit«, war alles, was Alfred dazu bemerkte. Die Augen des Batman wurden schlagartig lebendig. Anstelle des Obsidianglanzes erschienen die leuchtend kobaltblauen Augen. »Wie soll ich …?« fragte der sitzende Mann, eine Hand an der Batman-Maske, die andere am Klettbandverschluß des Verbrechensbekämpfer-Kostüms. »Bleiben Sie, wie Sie sind«, erwiderte Alfred und reagierte weder auf die Batman- noch die Bruce-Wayne-Persona. »Dies gilt für Sie alle.« — 88 —
Der Batman kam auf die Füße, seine Bewegungen waren tastend, unsicher. Er folgte Alfred in einen Teil der Bathöhle, den er noch nie alleine betreten hatte. Dieser kleine Raum war für die Gelegenheiten abgeteilt worden, bei denen Alfred während der Einsätze des Batman als dessen Kommunikations- und Informationsverbindung fungieren mußte, was manchmal mehrere Tage lang der Fall sein konnte. In einem krassen Gegensatz zur ultramodernen Ausstattung der Bathöhle war Alfreds Bereich ein Rückschritt ins letzte Jahrhundert. Zwei gemütliche, alte, ochsenblutrote Ledersessel standen auf einem handgeknüpften Teppich gedämpfter Rot- und Goldtöne. Vor dem Gitter eines Kamins aus weißem Marmor wirkten die Sessel wie zwei Wachtposten. Eine altmodische Stehlampe mit Tiffanyschirm stand neben einem der Sessel – der andere Sessel wurde durch passende Lederottomane ergänzt. Ein Sessel diente offenbar zum Lesen, auf dem anderen konnte Alfred ein kleines Nickerchen machen, während er auf den nächsten Ruf des Batman wartete. Wie als Bestätigung für diese Art der Verwendung war die Ottomane mit einer akkurat gefalteten dunkelblauen Wolldecke belegt. Indem er Alfreds wortloser Geste Folge leistete, nahm der Batman in dem Sessel mit der Leselampe Platz. Alfred trat auf ihn zu und wartete geduldig, bis die sitzende Gestalt ihm in die Augen schaute. »Ich weiß, daß Sie leiden«, sagte Alfred. »Es wird Zeit, daß Sie die Ursache erfahren … die wahre Ursache. Ich — 89 —
weiß, daß Depressionen Ihnen nicht fremd sind. Und ich weiß auch, wie diese … Abstecher in den Sumpf des Kindesmißbrauchs Sie zutiefst aufgewühlt haben. Es ist alles zusammengekommen, wie es eines Tages geschehen mußte. Alles hängt miteinander zusammen, und Sie sind der Mittelpunkt.« Ohne ein weiteres Wort reichte er dem sitzenden Mann einen dicken Stapel Papiere. »Was ist …?« »Ein Untersuchungsbericht«, erwiderte Alfred. »Das sehe ich«, sagte die sitzende Gestalt, während seine Augen über die zierliche, gestochen scharfe Handschrift huschten. »Aber wessen Bericht ist es?« »Ihrer Mutter«, sagte Alfred mit ernster Stimme. »Es wird Zeit, daß Sie es erfahren … nicht nur, was sie tat, sondern auch, was sie war.« »Ich …« »Lesen Sie«, schnitt Alfred ihm sanft das Wort ab. »Lesen Sie alles. Ich bin hier. Wenn Sie fertig sind, beantworte ich Ihnen alle Fragen, die Sie auf dem Herzen haben.« Stunde um Stunde flog vorbei. Falls die sitzende Gestalt sich dessen bewußt war, so gab sie es durch kein Zeichen zu verstehen. Alfred erhob sich gelegentlich aus seinem Sessel, manchmal um seine Beine zu strecken, manchmal um dem Sitzenden ein Glas Wasser zu bringen. Der Batman trank geistesabwesend aus dem Wasserglas, ohne zu merken, was er tat, und konzentrierte sich ausschließlich auf die Papiere vor ihm wie eine mit Wärmesensor ausgerüstete Rakete auf ihr Angriffsziel. — 90 —
Der Atem des Sitzenden verlangsamte sich auf den Kampfmodus – langsam, konzentriert und tief. Er las, als sei jedes Wort ein facettenreicher Diamant, hielt die Blätter nacheinander ans Licht, betrachtete die Lichtbrechung, die Farbe, die Tiefe … und holte jeden Tropfen Information aus dieser wertvollen Verbindung zu seiner Mutter – einer Verbindung, die den Abgründ zwischen dem Jetzt und dem Damals überspannte. Winzige Veränderungen in seinen neuro-muskulären Systemen erzeugten im Batman die gleiche Wirkung, die ein normaler Mensch nach acht Stunden erfrischenden Schlafs bei sich feststellen kann. Er las die Seiten einmal, einige zweimal, und achtete darauf, daß ihre ursprüngliche Reihenfolge erhalten blieb, da sie nicht numeriert waren. Er rieb mit den Fingerspitzen über eine Ecke und spürte dabei die Struktur des Lebens seiner Mutter. Außerhalb der Bathöhle lief weiterhin die Zeit ab. Der Tag machte der Nacht Platz, während der Kalender einen Datumsschritt weitersprang. Aber in der Bathöhle sprang die Zeit in überraschenden Sätzen vor und zurück, während der Sitzende im Geiste das Leben seiner Mutter mit seinem eigenen verglich und zwischen beiden gedankenschnell hin und her wechselte. Schließlich legte er die Papiere beiseite. Seine Gesichtszüge entspannten sich. Er schloß die Augen. Alfred betrachtete die Schlaf-Trance. Betrachtete sie genauso, wie er den Jungen, den Teenager und später den Mann betrachtet hatte. Betrachtete ihn mit einer Geduld, die es ihm gestattet — 91 —
hatte, fast dreißig Jahre lang auf diesen einen Moment zu warten. Es ist niemals die Wahrheit, die den Lauf der Geschichte bestimmt, dachte Alfred bei sich – es war die Wirkung der Wahrheit auf die, welche handelten, und im Gegenzug deren Wirkung auf die Wahrheit. Noch ein paar Stunden, und er würde die Antwort erhalten.
A
ls die sitzende Gestalt die Augen wieder aufschlug, wartete Alfred bereits. »Kann ich …?« »Ich bin ganz in Ordnung, Alfred. Die Information war nur … etwas viel. Ich habe wohl meine Schaltkreise überbeansprucht, mehr nicht.« »Ich verstehe, Master Bruce.« »Tun Sie das, alter Freund. Können Sie es mir dann erklären? Stimmt alles?« »Ohne Frage.« »Meine Mutter … meine Mutter war forschende Soziologin?« »Das war sie.« »Haben Sie das gelesen?« fragte er und deutete auf den Papierstapel der nun auf einem Beistelltisch unter der Lampe lag. »Nein«, antwortete Alfred. »Das habe ich nicht.« »Und dennoch wissen Sie, was die Papiere enthalten?« — 92 —
»Zum Teil. Das war jedoch nicht der Punkt. Ihre Mutter hat mir ihre Aufzeichnungen anvertraut. Und damit ging eine Verpflichtung einher – ein Ehrenwort. Ich sollte Ihnen diese Aufzeichnungen übergeben. Nur Ihnen und niemandem sonst, egal was geschehen würde.« »Aber wann …?« »Den Zeitpunkt sollte ich bestimmen«, sagte Alfred. »Wenn Ihre Mutter noch lebte, wollte sie die Entscheidung treffen. Wenn nicht, war es meine Aufgabe.« »Nicht mein Vater?« fragte Bruce Wayne. »Nein«, erwiderte Alfred knapp, und sein Tonfall war endgültig. »Wußten Sie … woran sie gearbeitet hat … als sie starb?« »Ja. Ich wußte es sehr wohl. Es war die einzige Thematik, die Ihre Mutter viele Jahre lang beschäftigt hat.« »Meine Mutter … all diese Jahre wußte ich nichts von ihr. Nur … Erinnerungen. Sie hat Plätzchen gebacken, mir Geschichten vorgelesen. Ich dachte immer, sie sei eine Hausfrau gewesen.« »Sie war auch eine Hausfrau, Master Bruce. Aber sie war es nicht nur.« »Alfred, diese Aufzeichnungen … sie sind unglaublich. Meine Mutter stellte Nachforschungen über einen internationalen Ring von Pädophilen an. Diese Organisationsdiagramme, sehen Sie …«, sagte er und schob einige Papiere zu Alfred hinüber. »Es war eine perfekte Pyramide, eine typische kriminelle Organisation. Sehen Sie«, fuhr er fort und deutete auf eine sorgfältig erstellte Planskizze. »So haben sie die Kinderpornos hergestellt. Meine Mutter hat — 93 —
alles von Grund auf untersucht – die Vermittler, die Fotografen, die Entwicklungslabors, die Druckereien, die Verteiler … alles! Sie hat dabei die klassische Technik angewendet und den Fluß des Geldes verfolgt.« »Diese Technik war alles andere als klassisch, als Ihre Mutter sich ihrer bedient hat«, sagte Alfred. »Ich glaube vielmehr, daß diese Technik der wesentliche Beitrag Ihrer Mutter für den Bereich der Aufklärungsarbeit gewesen ist.« »Davon hatte ich keine Ahnung.« »Ihre Mutter wollte nicht, daß Sie etwas darüber erfuhren, Master Bruce. Sie befand sich in großer persönlicher Gefahr. Die Objekte ihrer Untersuchungen hätten vor nichts haltgemacht, um sie auszuschalten. Tatsächlich war ihre Tarnung ähnlich wie Ihre eigene. Während die Öffentlichkeit Bruce Wayne für einen Playboy hält, betrachtete die gleiche Öffentlichkeit Ihre Mutter als, wie Sie es gerade nannten, als Hausfrau.« »Aber hat mein Vater nicht …?« »Sie haben die Zeitungsberichte über ihre Ermordung mehrmals gelesen, Master Bruce. Wie wurden Ihre Eltern darin beschrieben?« »Als Dr. und Mrs. Thomas Wayne … Ja! Ich verstehe jetzt, was Sie meinen. Es war, als hätte sie nur als Ehefrau gelebt. Ich nehme an, das war damals, als ich geboren wurde, so üblich. Aber diese Papiere … was sie getan hat … es scheint so …« »Gefährlich gewesen zu sein?« »Ja«, sagte der Mann im Sessel. »Sehr gefährlich.« — 94 —
»Ihre Mutter kannte die Gefahr, Master Bruce. Sie war eine sehr mutige Frau. Und sie hat sich von ihrer Mission nicht abbringen lassen.« »Aber wenn Sie doch wußte, wer für alles verantwortlich war …?« »Sie kannte einige von den Leuten«, erzählte Alfred. »Ihre Mutter war die erste, die die Organisationsfähigkeiten von Kinderschändern und anderen erkannte, die sich an Kindern vergreifen. Die Welt betrachtete solche verabscheuungswürdigen Kreaturen als vereinzelte Erscheinungen. Ihre Mutter war die erste, die den Kindesmißbrauch mit dem organisierten Verbrechen in Zusammenhang brachte.« »Sie meinen wie Drogen, zum Beispiel? Oder das Verleihen von Geld zu Wucherzinsen? Oder den Handel mit Leiharbeitskräften?« »Nein, Master Bruce. Die Pädophilensyndikate dachten eher an ihr persönliches … Vergnügen«, sagte Alfred, und sein Mund verzog sich angeekelt bei diesem Gedanken. »Es waren offensichtlich sehr viele nötig, um ihren Schmutz herzustellen und zu vertreiben.« »Wie hat sie …?« »Sie hat alles unter die Lupe genommen«, unterbrach Alfred ihn. »Sie hat die Kinder gefragt, sie hat Anzeigen in den Untergrundzeitschriften veröffentlicht, sie hat getarnte Käufe vorgenommen, und sie hat einige Täter für ihre Informationen bezahlt. Sie hatte ein eigenes Netz aufgezogen. Ein Netz von Gleichgesinnten auf der ganzen Welt. Genauso wie die Pädophilen ihre Netze gesponnen — 95 —
hatten, wurden sie von Ihrer Mutter und ihren Kollegen verfolgt.« »Wo hat sie denn die … Opfer gefunden?« fragte der Mann im Sessel. »Ich dachte, alle Aufzeichnungen im Bereich des Kindesmißbrauchs seien vertraulich?« »Master Bruce, als Ihre Mutter ihre Nachforschungen anstellte, wurden Fälle von Kindesmißbrauch nicht zentral registriert. Die krasseren Fälle wurden der Polizei gemeldet.« »Und alle anderen …?« »Wurden ignoriert«, sagte Alfred knapp. »Für Leute in Ihrem Alter ist ein Telefondienst für Kindesmißbrauch etwas Selbstverständliches. Aber wenn es nicht so beherzte Menschen wie Ihre Mutter gegeben hätte, existierten solche Einrichtungen gar nicht.« »Ich … verstehe. Aber ich kann mir noch immer nicht vorstellen, wo sie mißbrauchte Kinder hat finden können, um sie zu befragen. Wie konnte sie …?« »Ihre Mutter sagte immer, wenn man Kindesmißbrauchsopfer kennenlernen will, brauchte man nur zu den Belladonna Farms hinausfahren.« »Zum Gefängnis für jugendliche Straftäter? Aber …« »Master Bruce, alles, was Sie vor sich liegen haben, sind die Ermittlungsberichte Ihrer Mutter. Es handelt sich um tagebuchähnliche Aufzeichnungen und keine Arbeitspapiere. Ihre Mutter vertrat die These, daß es keinen biogenetischen Code für kriminelles Verhalten gibt. Sie sagte, man kann nicht bestimmen, wer man ist, aber es liegt in der Entscheidung jedes einzelnen, was man ist.« — 96 —
»Ich weiß nicht, ob ich …« »Das Verhalten ist die Wahrheit«, unterbrach Alfred ihn. »Die absolute Wahrheit. Man ist, was man tut. Kinder kommen mit unterschiedlichen genetischen Grundlagen auf die Welt. Sie reichen von der Farbe ihrer Augen bis hin zu ihren intellektuellen Fähigkeiten, aber alles andere wird von ihnen selbst bewirkt. Das schlimmste am Kindesmißbrauch ist, daß die Opfer teilweise dieser Fähigkeiten beraubt werden. Ihre Mutter sagte auch, daß das Opfer von heute der Täter von morgen sein kann, wenn wir nicht rechtzeitig und wirkungsvoll einschreiten. Sie sprach von Kindern, Master Bruce.« »Meine Mutter war eine …« »Kämpferin gegen das Verbrechen«, beendete Alfred für ihn den Satz. »Eine Kämpferin gegen das Verbrechen mit einer geheimen Identität.« Stille senkte sich nach seinen letzten Worten herab. Eine lastende, düstere Stille, schwärzer als die Nacht. Die Gestalt im Sessel sackte in sich zusammen. Ein leises Schluchzen war zu hören. Das Schluchzen eines Kindes – eines Kindes, dem man seine Kindheit geraubt hatte. Alfred erhob sich. Er legte seine Hand auf die Schulter des Mannes, den zu beschützen er zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte. Und wieder einmal wartete er. Es dauerte lange, bis das Kind zu weinen aufhörte. Aber als die Tränen versiegten, nahm ein entschlossener Erwachsener seinen Platz ein. Der Mann im Sessel sprang auf und war sich des Gegensatzes zwischen dem Batman-Kostüm — 97 —
und Bruce Waynes ausdruckslosem attraktiven Gesicht nicht bewußt. Er ging hinüber zu dem großen Zentralrechner und biß die Zähne aufeinander. Seite für Seite ließ er die Aufzeichnungen seiner Mutter durch einen optischen Scanner laufen, verfolgte, wie jede Seite in computerlesbare Symbole umgewandelt und auf einer der fünf Gigabyte fassenden Harddisks des Computers gespeichert wurde. Dann gab er eine schnelle Folge von Befehlen ein. Martha Wayne Journal / Alle Namen Sortiere Suchen Kriterien? ALLE DATEIEN Nacheinander suchte und überprüfte der Computer jeden der in Martha Waynes Aufzeichnungen erwähnten Namen. Ohne Ausnahme erbrachten alle LOCATE-Anweisungen in Variationen das gleiche Ergebnis: Verstorben, Erschossen Vermißt, Vermutlich verstorben Verstorben, Selbstmord, Ungeklärte Umstände Verstorben, Verkehrsunfall Verstorben, Natürliche Ursachen Verstorben, Stumpfes Instrument Verstorben, Prostatakrebs Aufenthalt unbekannt, Letzte Informationen weisen auf Residenz in Udon Khai hin — 98 —
Lokalisieren / Udon Khai Südostasien Hauptindustrie / Udon Khai Keine Altersbegrenzung für Geschlechtsverkehr Was für eine ›Industrie‹ war das denn? Mit zutiefst verwirrtem Gesichtsausdruck gab der Mann an der Tastatur diese Frage ein und veränderte die Wortwahl in der Hoffnung, daß der Computer eine verständlichere Antwort gab. Welche Industrie in Udon Khai? Sex Öffnen / Sex Sex mit Kindern Andere Industrien? Verknüpft: Transportwesen, Vermittlung, Souvenirs Definition letzter Punkt Sex mit Kindern, nach Wünschen des Kunden fotografiert Der Mann auf dem Stuhl fuhr sich mit den Fingern beider Hände durch das dichte schwarze Haar. Dann machte er einen tiefen Yogaatemzug, pumpte die Luft in seine Brust und drückte sie bis hinunter in seinen Schoß. Während er ausatmete, spannte er seine Bauchmuskeln an und klärte seine Gedanken. Übersicht, alle Namen N = 77 — 99 —
Verstorben = 71 Vermißt, Vermutlich verstorben = 3 Verbleib Unbekannt = 2 Verbleib Bekannt = 1 Nur drei von ihnen könnten noch am Leben sein. Nur einer war es ganz sicher. All diese Arbeit. All diese erschöpfenden Ermittlungen. Und nun, was war …? Plötzlich tauchte ein Gedanke auf, drängte sich dazwischen, forderte Aufmerksamkeit. »Alfred«, sagte der Mann hinter der Tastatur, wobei er keinen Moment daran zweifelte, daß sein alter Freund noch im Zimmer war und sich irgendwo hinter ihm aufhielt, »der Computer untersucht für keinen dieser Namen eine Querverbindung zum organisierten Verbrechen, noch nicht einmal bei diesem einen alten Mann, der anscheinend immer noch am Leben ist. Meinst du, daß einer von ihnen irgend etwas geahnt hat?« »Was geahnt, Master Bruce?« »Womit meine Mutter beschäftigt war. Daß sie sich auf ihre Spur geheftet hat.« »O ja«, sagte Alfred, und ein Unterton von Sorge schwang in seiner Stimme mit. »Sie wußten es sehr wohl.« »Dann …« Der Kämpfer gegen das Verbrechen wandte sich wieder dem Computer zu und gab langsam ein: Fall #1. Der Monitorschirm erwachte augenblicklich zum Leben und lieferte alle verfügbaren Informationen über den Mörder, der seine Eltern vor den Augen eines entsetzten Kindes erschossen hatte. — 100 —
Das Computerdisplay war unnötig – das Grauen hatte sich unauslöschlich im Gedächtnis des Kindes Bruce Wayne eingebrannt: MNX-AR [Mutter: Martha Wayne] Verstorben, Mord in Verbindung mit Bewaffnetem Raubüberfall. F\X-AR [Vater: Thomas Wayne, M.D.] Verstorben, Mord in Verbindung mit Bewaffnetem Raubüberfall. W = HG [Mordwaffe: Handfeuerwaffe] nicht aufgefunden WMM\/UNK/UNK\28-35\68-71›\SMT = UNK// UNS [Täterbeschreibung] Erste Erwähnung APP\NW\D-RA [Täter] Gefunden, Keine Verhaftung, Verstorben, Widerstand gegen Festnahme. GW/7/9mm\NRA? [Autopsie] Schußwunden, 7 Treffer, 9mm, Vermutlich keine handelsübliche Munition, Nicht gelöst. JOE NMI KÄLTE [Name] Der Computerschirm lieferte nichts Neues. Nichts, das der Batman nicht schon seit langer Zeit auswendig wußte – das er sich bereits als Kind gemerkt hatte, dessen Eltern in dem Sekundenbruchteil verschwanden, den eine Pistolenkugel braucht, um ihre tödliche Arbeit zu verrichten. »Meine … Mutter …« Ein bohrender Schmerz pulsierte im Kopf des Batman, während er um Fassung rang. »Jetzt mach auch weiter!« befahl er sich selbst, während seine Finger über die Tastatur flogen. — 101 —
Verbindung zu bekannten Kollegen Die Augen der beiden Männer klebten am Bildschirm. Sie waren beide geschockt gewesen, einen Frauennamen auf der Liste der Pädophilen zu finden, die überprüft worden waren – daß er schon jetzt wieder auftauchte, löste bei ihnen einen elektrischen Impuls des Wiedererkennens aus. Barbara Jane Slocum: Kategorie? Verstorben, Selbstmord Öffnen / Selbstmord Die Augen des Batman huschten über den Schirm, während Informationen vorbeirollten. Fundort, Inhalt des Abschiedsbriefs, Autopsie, Beruf … die Liste der Daten war endlos. Keine Angabe schien von besonderer Bedeutung zu sein, aber plötzlich tauchte etwas auf, so schnell und tödlich wie eine Muräne: Ermittelnder Beamter: Lieutenant Alexander Horton Indem er Alfreds unwillkürlichen, erstickten Seufzer irgendwo hinter seiner Schulter ignorierte, tippte der Batman: Kontounterlagen // Barbara Jane Slocum
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Nach wenigen Sekunden verkündete der Computer eine Wahrheit, die seit Jahrzehnten vor menschlichen Augen verborgen geblieben war. Geldüberweisungen von einer Bank in Udon Khai an Barbara Jane Slocum in Beträgen von fünfundzwanzig- bis einhunderttausend Dollar, wobei jede Überweisung vor einer Zusammenkunft zwischen ihr und Lieutenant Horton ausgeführt wurde. »Wie dreist«, murmelte Alfred. »Eigentlich nicht«, widersprach der Batman. »All diese Überweisungen wurden im Vor-Computer-Zeitalter vorgenommen. Und bevor Banken Überweisungen von mehr als zehntausend Dollar anzeigen mußten, wie es heute verlangt wird.« »Vielleicht das Finanzamt, Master Wayne?« »Richtig«, sagte der Batman und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Tastatur zu. Für Barbara Jane Slocum waren alle Transaktionen gemeldet worden – aber nicht als Einkommen, sondern als Geschenke von ihrem Onkel, einem gewissen William X. Malady. William X. Malady. Die einzige Person, die der Computer noch als lebend genannt hatte. Lebend und in Udon Khai ansässig. Soweit er sich jemals gegenüber dem Finanzamt geäußert hatte, hatte das Einkommen von Lieutenant Horton seine Einkünfte als Polizist niemals überschritten. Von diesem Punkt an waren die Auffälligkeiten unmißverständlich. Horton hatte sich schon vor Jahren eine Reihe — 103 —
teurer Spielzeuge zugelegt. Einen Cadillac Eldorado Biarritz Kabriolet, einen Vierzigfußkabinenkreuzer, eine Eigentumswohnung am neunten Loch eines Golfkurses in Florida. Und seine Verluste im Spielkasino waren pro Jahr höher als sein gesamtes Polizistengehalt. Wenige Wochen nach jeder Geldüberweisung an Slocum war in Martha Waynes Aufzeichnungen irgendein bedeutsames Ereignis festgehalten worden: Die Razzia in einem Haus, in dem Kinderpornografie hergestellt wurde, die seit Monaten geplant und vorbereitet worden war, wurde ein Fehlschlag – die Bewohner hatten sich am Tag vorher aus dem Staub gemacht. Ein Zeuge, der gegen einen Ring von Pädophilen aussagen wollte, wurde in Gotham vom Dach eines Verwaltungsgebäudes gestoßen. Kofferladungen von Beweisen gegen ein Syndikat für Kinderprostitution waren aus der Asservatenkammer der Polizei verschwunden. Die letzte – und größte – Überweisung hatte zwei Wochen vor einem Ereignis stattgefunden, das die Waagschale zugunsten der Kindersexhändler ausschlagen ließ. Es war ein Ereignis, das niemals mit dem geheimen Krieg in Verbindung gebracht worden war, der im Untergrund tobte. Die Ermordung von Martha Wayne. Der papierweiße Schimmer des Computerschirms erfüllte die Bathöhle, aber der Mann, der vor dem Monitor saß, sah nur roten Nebel. Drei Stunden später saßen Bruce Wayne und Alfred einander im vertieften Wohnzimmer von Wayne Manor gegenüber. — 104 —
Plötzlich sprang Bruce auf und begann auf und ab zu gehen. »Mein Leben lang, Alfred. Mein ganzes Leben lang habe ich mich gefragt, warum. Warum wurden meine Eltern ermordet, warum gibt es solche schrecklichen Dinge? Zu Ehren meiner Eltern habe ich mein Leben dem Kampf gegen das Verbrechen verschrieben. Aber wissen Sie was? Ich habe nicht gegen das Verbrechen gekämpft, mein Freund – ich hatte es nur auf Verbrecher abgesehen. Und jetzt weiß ich, es ist nicht dasselbe. Ich bin nicht ›Bruce Wayne‹, wer immer das ist. Das bin nicht ich. So lange habe ich mich immer gefragt, weshalb ich nur als Batman richtig lebendig bin. Jetzt weiß ich es, Alfred. Bruce Wayne ist eine hohle Schale. Eine praktische Tarnung. Mehr nicht. Der Batman ist ein Krieger.« Der auf und ab gehende Mann blieb abrupt stehen, wirbelte auf dem Absatz herum und stieß beide Arme nach unten und kreuzte sie – es war ein im Kampfsport übliches Abwehrmanöver, von dessen Existenz ein Bruce Wayne nicht die geringste Ahnung haben konnte. Der Mann sah seinen alten Freund an, und seine Stimme klang tief und gewichtig: »Ich bin ein Krieger. Ich stamme von Kriegern ab. Meine Mutter brachte Bruce Wayne zur Welt, aber ihre Arbeit … ihr Leben brachte Batman hervor. Ihr Tod hat diesen Prozeß nur beschleunigt.« »Master Bruce, ich …« »Die kriminelle Unterwelt hat immer Angst vor mir gehabt«, unterbrach der Batman sein Gegenüber. »Vielleicht aus gutem Grund. Von jetzt an müssen sie sich vor meiner — 105 —
Mutter fürchten … vor der Vollendung der Arbeit, die meine Mutter begonnen hat.« Alfred nickte ernst. »Ich wußte, daß es so kommen würde«, sagte er. »Ihre Mutter wußte, daß Sie eines Tages ihre Aufzeichnungen in Händen halten würden. Und irgendwie wußte sie schon damals, welche Wirkung das auf Sie haben würde. Deshalb habe ich mit der Übergabe so lange gewartet.« »Das war richtig«, versicherte der Batman Alfred. »Aber jetzt werde ich …« »Master Bruce, bitte warten Sie. Etwas muß ich Ihnen noch übergeben. Eine Nachricht von Ihrer Mutter.« Wortlos verließ er das Zimmer. Als er zurückkehrte, hatte er eine Pergamentrolle, die mit einem schwarzen Band verschnürt war, in der Hand. Er überreichte sie ihm mit jener unnachahmlichen Eleganz, die sein besonderes Merkmal war. Der Batman löste vorsichtig das Band und entrollte das Pergament. Auf dem oberen Rand des Blattes befand sich eine Reihe piktographischer Symbole. Darunter standen einige Worte in Englisch. »Was ist das?« fragte der Batman. »Das ist ein Haiku, Master Bruce«, klärte Alfred ihn auf. »Oben steht es in seiner Originalsprache Japanisch, darunter befindet sich die Übersetzung. Es war der Wunsch Ihrer Mutter, daß Sie dies erhalten sollten, ehe Sie sich auf den Weg begeben, den sie für Sie vorgezeichnet hat.« Bruce Wayne schaute auf das Pergament. Aber es war der Batman, der den Worten lauschte: — 106 —
Krieger, bedenke wenn du gegen Dämonen kämpfst ziel nicht auf ihre Herzen.
A
n diesem Abend tastete Debra Kane sich durch den Abfall, der in einer Gasse in der ziemlich tristen Gegend namens Bowery verstreut war. Sie klagte gutmütig über ihre hochhackigen Schuhe, da sie sich in Jeans und Turnschuhen viel wohler fühlte. Doch ihr Job verlangte von ihr ein möglichst offizielles und professionelles Auftreten. »Auch wenn der Verdienst nicht gerade professionell ist«, dachte sie bei sich. Ihr Wagen parkte am Ende der Gasse, dicht neben einem riesigen grünen Müllcontainer. Es war nicht unbedingt der günstigste Parkplatz, aber der Stadtrat hatte sich bisher nicht in der Lage gesehen, Parksondergenehmigungen an die Sozialarbeiter des Amtes für Kinderfürsorge zu verteilen. Offensichtlich war man der Meinung, daß man solche Großzügigkeiten lieber Ärzten zukommen lassen sollte, die niemals Hausbesuche machten, und bedeutenden Wahlkampfspendern, die sehr wohl Hausbesuche machten. Debras Pfennigabsätze klapperten auf dem Kopfsteinpflaster der Gasse. Während sie in die Handtasche griff, um ihre Autoschlüssel herauszuholen, hörte sie plötzlich andere Schritte hinter sich. Sie wirbelte herum, um sich dem entgegenzustellen, der ihr folgte, wobei sie die Faust — 107 —
ballte, so daß die Wagenschlüssel zwischen ihren Fingern herausragten. Der Mann näherte sich und hob beschwichtigend die Hände. »Nicht schießen«, bat er kichernd. »Was wollen Sie?« fragte Debra ohne eine Spur von Angst in der Stimme. »Aber, aber, Schätzchen, ich will gar nicht viel. Nur … du verstehst schon, was ich meine.« »Na, dann komm nur!« sagte Debra herausfordernd, drehte sich zur Seite und zeigte ihrem Gegner nur noch ihr Profil. Dabei verlagerte sie ihr Gewicht auf den hinteren Fuß, damit sie sich besser wehren konnte, wenn er sie angriff. »Immer langsam, Schätzchen«, sagte der Mann. »Weshalb diese Eile? Wie wär’s, wenn du erst mal nur …« Dem Mann blieben die Worte im Hals stecken, als der Batman aus dem Schatten auftauchte. »Ich glaube, Ihr Partner wird sich zu Ihrer Verabredung verspäten«, sagte der Nachtkämpfer zu ihm. Die Stimme paßte perfekt zu seinen eisigen Augen. Der Mann, der sich an Debra Kane herangemacht hatte, wickelte ein Stück Fahrradkette von seiner Taille ab. Indem er explosionsartig ausatmete, um die Wucht seiner Attacke zu steigern, griff er den Batman an und schwang dabei geschickt die Kette. Aber der Batman floß unter der pfeifenden Kette hinweg wie Wasser unter einer Brücke. Er kam aus seiner Kauerstellung mit einem wuchtigen Sidekick hoch und schleuderte den Möchtegernvergewaltiger ausreichend hart gegen die Gassenwand, um eine kleine Wolke — 108 —
Ziegelstaub hochwirbeln zu lassen. Der Mann stürzte zu Boden, und die Kette rutschte ihm aus den bewußtlosen Fingern. Debra Kane stand wie gebannt da. Wie alle anderen Bewohner Gothams hatte sie schon Gerüchte von der lebenden Legende gehört, wie der Batman in der asiatischen Gemeinde genannt wurde. Aber von ihm zu hören war nicht dasselbe wie ihn zu sehen, zu erleben. Er erschien überhaupt nicht wie ein Mensch – eher wie ein mächtiger Schatten … eine Kraft, die das Verständnis normaler sterblicher Menschen überstieg. »Danke«, sagte sie einfach. »Aber ich hätte schon selbst …« »Das glaube ich nicht«, unterbrach der Batman sie höflich. »Wenn Sie hinter Ihren Wagen schauen, dann sehen Sie den Partner dieses Burschen. Sie sollten abgelenkt werden, damit er sich von hinten an sie anschleichen konnte.« »Ist er …?« »Er wird eine Zeitlang nicht viel Lust haben, irgend etwas zu tun«, beruhigte der Batman sie. »Und danach wird seine Handlungsfreiheit erheblich eingeschränkt sein. Bitte, warten Sie hier.« Der Verbrechensbekämpfer ging an Debra vorbei zu ihrem Wagen am Ende der Gasse. Als er zurückkam, lag eine menschliche Gestalt auf seiner Schulter. Indem er sich bewegte, als sei der Mann auf seiner Schulter federleicht, ließ der Batman ihn ziemlich unzeremoniell neben seinem Partner auf den Erdboden fallen. Ein paar Sekunden Arbeit mit den von ihm selbst erfundenen speziellen Fesseln, — 109 —
und die beiden waren zur Bewegungslosigkeit verdammt. Selbst in dem höchst unwahrscheinlichen Fall, daß die beiden zu Bewußtsein kamen, ehe die Polizei eintraf, würden sie sich nicht vom Fleck rühren können. Batman aktivierte seinen Handgelenkkommunikator, um die private Verbindung zwischen ihm und dem Büro des Polizeichefs herzustellen. »Zwei potentielle Vergewaltiger auf frischer Tat ertappt. Sie sind außer Gefecht gesetzt und gefesselt und liegen in der Nähe der Mündung der Gasse zwischen der 48th und der 49th Street. Wenn sie nicht gestehen wollen, wenden Sie sich an Miss Debra Kane, Amt für Jugendfürsorge, Gotham. Miss Kane sollte das Opfer sein. Einer der beiden unternahm einen direkten Angriffsversuch und kann von Miss Kane identifiziert werden. Der andere versteckte sich hinter ihrem Dienstfahrzeug. Das Fahrzeug wurde außer Betrieb gesetzt – Sie werden einen Eispickel im rechten Hinterreifen finden – die Fingerabdrücke des zweiten Ganoven müßten zahlreich auf dem Griff des Werkzeugs vorhanden sein. Das Fahrzeug bleibt an Ort und Stelle stehen, damit Ihre Leute von der Spurensuche die Beweise einsammeln können.« Der Batman unterbrach die Verbindung, ehe man anfing, ihn auszufragen. Dabei behielt er Debra Kane im Auge. »Wie komme ich denn jetzt …?« »Es wäre mir eine Ehre, Sie von hier wegbringen zu dürfen«, sagte der Nachtkämpfer. Während Debra Kane und der Batman aus der Gasse heraustraten, sagte die Sozialarbeiterin: »Es ist ziemlich weit — 110 —
von hier bis zu meiner Wohnung. Zu weit, um den Weg in diesen Schuhen zu Fuß zurückzulegen. Und ich sehe nirgendwo ein Taxi. Ich kann ja …« »Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Batman und griff nach dem Sender an seinem Gerätegürtel. »Ich denke, wenn wir hier warten, werden wir in wenigen Minuten eine Mitfahrgelegenheit haben.« Debra Kane öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber ehe ein Wort über ihre Lippen kam, bog ein Fahrzeug leise um die Ecke und bremste vor ihnen. Es war zu lang und massiv, um ein Motorfahrzeug zu sein. Seine dunkle Form erinnerte Debra an den berühmten ICE-Zug. Sie war im vergangenen Sommer damit von Hamburg nach Frankfurt gefahren, während sie einen Urlaub machte, für den sie sechs Jahre lang von ihrem mageren Gehalt gespart hatte. Der Batman faßte erneut an seinen Gerätegürtel. Das Verdeck des Batmobils glitt mit einem leisen hydraulischen Zischen zurück und enthüllte einen zigarrenförmigen Innenraum. Hinter dem Abteil für den Fahrer befand sich eine Kabine mit zwei Beifahrersitzen, jeder ausgestattet mit einem Fünfpunktrenngurt anstelle eines konventionellen Sicherheitsgurtes. Debra Kane betrachtete die Anordnung zweifelnd. Der Beifahrersitz sah einigermaßen bequem aus, aber es gab keine Tür an dem Fahrzeug. Entschlossen raffte sie ihren Rock hoch und versuchte ein Bein über die Seitenwand zu heben, aber sie konnte ihr Gewicht nicht ausreichend verlagern und stolperte nach hinten. Ehe sie sich fangen konnte, — 111 —
verlor sie den Boden unter den Füßen … und fand sich in den Armen des Batman wieder. »Wenn Sie gestatten …«, sagte der maskierte Mann höflich. Debra Kane hatte gar keine Zeit zu antworten, als sie auch schon sanft auf den Beifahrersitz gesetzt wurde. »Schnallen Sie sich an«, sagte der Batman, bevor er sich mit einem eleganten Satz ins Fahrerabteil begab. Die Finger des Verbrechensbekämpfer flogen über die Knopf- und Schalterreihen der Überkopfkonsole. Die Armierung des Batmobils glitt sofort in die vorgesehenen Positionen. Eine schnelle Überprüfung aller Systeme ergab keinerlei Probleme. Der Batman schob einen kurzen Hebel, der im Boden verschwand, nach vorn, und das Batmobil entfernte sich vom Bordstein. Im Gegensatz zur konventionellen Antriebswelle eines modernen Motorfahrzeugs wurde beim Batmobil die Kraft von den Turbinen auf alle vier Räder mittels einer Reihe von massiven Iridiumschrauben übertragen. Diese einzigartige Maschine hatte keine herkömmlichen ›Gänge‹ – Abstimmungen wurden vorgenommen, indem die Anzahl und die Intensität der eingesetzten Schrauben verändert wurden. Für Fahrten durch die Stadt benutzte der Batman nur die kleine Hilfsturbine, die gleich hinter den Heckrädern installiert war. Jedes der zusätzlichen Auspuffrohre hatte den Durchmesser eines Kaffeekannendeckels – riesengroß nach autotechnischen Maßstäben, aber winzigklein neben der Hauptturbine, die viel höher — 112 —
und mitten im hinteren Deck des Batmobils eingebaut war. »Laß dich nicht einschüchtern«, erteilte Debra Kane sich selbst einen Rat. »Was ist schon dabei, wenn du nicht jeden Tag mit einem Batmobil fährst – nun sitz nicht da mit aufgerissenem Mund wie ein kleines Mädchen im Riesenrad.« Sie beugte sich so weit vor, wie der Sicherheitsgurt es ihr erlaubte, und betrachtete die vorbeigleitenden Szenen über die Schulter des Batman durch den Beobachtungsschlitz, der sich auf jeder Seite im Winkel von neunzig Grad vom Mittelpunkt aus befand. »Wie können Sie sehen, was sich dahinter befindet?« fragte sie und hörte voller Stolz, wie ruhig und gelassen ihre Stimme klang. »Das besorgen die Mini-Cams«, erwiderte der Batman und deutete auf eine Reihe von Videoschirmen, die sich über der Überkopfkonsole befanden. »Kann man von draußen hereinschauen?« »Nein. Der Beobachtungsschlitz besteht aus EinwegLexan.« »Lexan? Ist das …?« »Kugelsicher«, kam ihr der Verbrechensbekämpfer zuvor. »Das gesamte Fahrzeug ist so konstruiert, daß es jedem Angriff von Handfeuerwaffen bis hin zu Bomben und Raketen widerstehen kann.« »In Gotham?« fragte Debra Kane. »Schwere Waffen sind in Amerika sehr leicht zu beschaffen«, erklärte er. »Viel zu leicht. Wir verfügen über ausreichende Technologie, um so gut wie jeden Sprengstoff — 113 —
abzuwehren, aber die Einschränkung an Wendigkeit wäre es nicht wert.« »Wendigkeit?« Debra lachte. »Dieses Ding ist ja noch größer als ein Greyhoundbus.« »Der erste Eindruck täuscht ein wenig«, sagte der Mann ruhig. »Es steckt mehr darin, als man mit dem bloßen Auge erkennen kann.« »Und nicht nur in dem Fahrzeug«, dachte Debra bei sich, lehnte sich in ihrem Sitz zurück und schaute hinaus auf die Straßen. Dabei versuchte sie die Geschwindigkeit des Fahrzeugs zu schätzen. Debra stellte sehr schnell fest, daß eine halbwegs zutreffende Bewertung der Geschwindigkeit unmöglich war – sie hatte eher das Gefühl zu fliegen als zu fahren. Der Bordcomputer des Batmobils justierte jedes Rad gyroskopisch und separat. Der Computer kontrollierte außerdem die Höhe des Fahrgestells und hob es an für die Fahrt durch mit Schlaglöchern übersäte Citystraßen und senkte es zwecks maximaler Aerodynamik, wenn im Jagd- und Verfolgungsmodus gefahren wurde. Das Batmobil verfügte außerdem über ein komplettes Bodenhaftungssystem, das sogar ein Beinahe-Vakuum erzeugen konnte und damit die Bodenhaftung auf Werte steigerte, die weit über denen lagen, die ein Rennwagen erzielte. Debra versuchte nun, die Geschwindigkeit zu bestimmen, indem sie auf andere Fahrzeuge auf der Straße achtete, aber das Batmobil schoß so schnell an ihnen vorbei, daß man das Vorbeifahren eher unbewußt spürte als bewußt erlebte. — 114 —
Das Batmobil schlängelte sich durch das Labyrinth von engen, gewundenen Straßen, das die Zeitungen Crime Alley nannten. Da viele der Bewohner Durchreisende waren, mangelte es in dieser Gegend an politischem Einfluß. Infolgedessen hatte diese überbevölkerte und polizeilich extrem unterbesetzte Gegend sich zu einer Giftmülldeponie für ›Unternehmungen‹ entwickelt, die in anderen Gegenden unerwünscht waren. Von Oben-ohne-Bars bis zu Pornokinos, von Drogen bis zu Schußwaffen, war Crime Alley ein Einkaufszentrum für jeden, der genug Geld zum Ausgeben hatte. Debra Kane saß stumm in ihrem Sitz und zweifelte aus irgendeinem Grund nicht daran, daß der maskierte Mann, der so nahe bei ihr saß, daß sie ihn hätte berühren können, wußte, daß sich ihr Studioapartment auf der anderen Seite von Crime Alley befand. Plötzlich bog das Batmobil in eine Seitenstraße ein und blieb stehen. »Stimmt etwas nicht?« fragte Debra. »Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte der Batman. »Mal sehen, was die Sonden sagen.« Debra verfolgte fasziniert, wie der Videoschirm neben dem Batman zum Leben erwachte und jenen charakteristischen grünweißen Schimmer zeigte, der verriet, daß hier mit lichtverstärkender Technologie gearbeitet wurde. Während Batman die Sonden justierte, stabilisierte sich das Videobild und zeigte ein halbes Dutzend Männer vor einer Bar, wo sie den schmalen Gehsteig versperrten und Passanten zwangen, auf die Fahrbahn auszuweichen. Obgleich das Bild keinen Ton hatte, erkannte Debras geüb— 115 —
tes Auge die Gruppe sofort – es war eine der zahlreichen Cliquen von Gelegenheitskriminellen, die Crime Alley bevölkerten. Ihres Zeichens absolute Schmalspurgauner, lebten sie von einer Kombination aus erschwindelter Arbeitslosenunterstützung, illegal erworbenen Lebensmittelmarken und Mundraub. Die meisten waren Alkoholiker – alle waren Schläger. Am Rande der Gesellschaft vegetierende menschliche Wesen, in Crime Alley genauso anonym wie Alligatoren in den Everglades. Aber im Gegensatz zu den Alligatoren griffen diese Schläger gelegentlich aus reinster perverser Freude an Gewalt andere Menschen an. »Ich verstehe nicht …« »Schauen Sie …«, unterbrach Batman ihre Frage. Eine Frau erschien am äußersten rechten Rand des Videoschirms – eine Frau mit langem roten Haar und einer auffälligen Figur, von der in dem Mikro-Mini und den Netzstrümpfen, die sie trug, dem Auge des Betrachters nicht viel verborgen blieb. Über dem winzigen Rock trug die Frau eine kurzärmelige gestreifte Jerseybluse, die mehrere Nummern zu klein war. Ihre Pfennigabsätze waren so hoch, daß sie zu einer vorsichtigen, staksenden Gangart gezwungen war, die ihren Körper zu noch aufreizenderen Posen zwang. Während die Frau sich näherte, veränderte sich die Haltung der Clique, die blitzschnell von Herumlungern auf Belauern umschaltete. Von der anderen Seite näherte sich ein anderes typisches Opfer der Schläger – ein Mann in einem Rollstuhl, in dessen Schoß trotz der sommerlichen Hitze eine Decke lag. Zwei der Schläger schauten in seine Richtung, — 116 —
entschieden aber sofort, daß die Frau eine wertvollere Beute darstellte. Während Debra Kane das Geschehen verfolgte, zuckte die rechte Hand des Batman und setzte das Batmobil in Bewegung. Das riesige Fahrzeug schoß mit heulender Turbine aus der Gasse heraus und fraß regelrecht die Entfernung bis zur Szene auf dem Videoschirm. Das Batmobil nahm eine Kurve nach der anderen so geschmeidig wie eine Dschungelkatze und erreichte schließlich die Straße, wo die Schläger auf die Frau warteten. »Bleiben Sie hier!« rief der Batman über die Schulter Debra Kane zu und schlug gleichzeitig mit der Faust auf einen großen roten Knopf mit der Aufschrift SQ3. Das Verdeck glitt augenblicklich zurück, und der Batman stieg in die Luft, hochgehoben von den zwei Luftdüsen, die in den Fahrersitz eingebaut waren. Debras Unterkiefer klappte vor Verblüffung herunter, während sich das Verdeck über ihrem Kopf wieder schloß. Gebannt starrte sie auf den Videoschirm. Die Flugbahn des Batman beschrieb eine perfekte Parabel – eine volle Drehung mitten in der Luft, und er landete leicht auf den Füßen direkt hinter dem Mann im Rollstuhl, während die Schläger immer noch auf die sich nähernde Frau warteten. Plötzlich rutschte die Decke vom Schoß des Mannes im Rollstuhl herab und enthüllte eine Schrotflinte mit abgesägtem Zwillingslauf. Der Mann im Rollstuhl war schnell wie eine Kobra, aber der Batman reagierte mit der Geschwindigkeit eines turbogetriebenen Mungos und trat dem sitzenden Mann die Waffe aus der Hand. Er wirbelte — 117 —
herum und schaffte die Drehung gerade noch rechtzeitig, um vor einem in seine Richtung abgefeuerten Schuß in Deckung zu gehen. Der Schuß kam nicht von der Schläger-Clique, sondern von der rothaarigen Frau! Der Batman schlängelte sich zwischen den Schlägern hindurch und schleuderte sie beiseite, als seien es Schaufensterpuppen. In der rechten Hand hielt er ein Batarang. Als er endlich die Frau ungehindert ansehen konnte, hatte sie ihre Pumps von den Füßen geschleudert und stand in Nahkampfhaltung da. Eine Maschinenpistole ruhte in ihren Händen. »Laß fallen, Rose!« rief der Batman. »Es ist alles vorbei.« »Das hast du genau richtig erkannt!« rief die Frau zurück, drehte sich plötzlich in der Hüfte und feuerte eine Salve auf einen der Schläger ab, der sich an das Fenster der Bar preßte. Der Schläger brach zusammen, während auf seiner Stirn ein dunkler Kreis erschien. Die Batarang schnitt durch die Nachtluft, wickelte die Fangleine um die Fußknöchel der Frau und brachte sie zu Fall. Der Batman folgte ihr auf dem Fuße und riß der Rothaarigen die Maschinenpistole aus den Händen, ehe sie noch einmal feuern konnte. Er fesselte der Frau schnell Hände und Füße. Sirenengeheul zerriß die Nachtluft – ein SQ3-Ruf sendete automatisch den Ort, wo das Batmobil sich ins Netz der Polizei von Gotham einschaltete. Der Batman kam im gleichen Moment auf die Füße, als das Dröhnen zweier Schrotflintenschüsse an seine Ohren drang. Ein weiterer Schläger lag — 118 —
auf dem Erdboden, seine Brust war von dem Treffer völlig weggerissen. Ein Blick lieferte schnell die Aufklärung – der Mann, von dem der Batman geglaubt hatte, er hätte ihn entwaffnet, war mit seinem Rollstuhl umgekippt und hatte dann die Kraft seines athletischen Oberkörpers eingesetzt, um sich zur Schrotflinte hinüberzuziehen. Und er kroch immer noch, bis er die richtige Position für einen Todesschuß erreichte. Der Batman ging hinüber zu dem Mann mit der Schrotflinte. »Gary«, sagte der Kämpfer gegen das Verbrechen leise, »es ist vorbei. Ich weiß, daß du noch eine versteckte Waffe bei dir hast. Gib auf – wenn du tot bist, nützt du Rosie gar nichts mehr.« Der Mann auf dem Erdboden griff zu seinem Gürtel, dann hielt er inne, als vier Streifenwagen in die Straße einbogen und sie an beiden Enden absperrten. Er nickte langsam mit dem Kopf, als wollte er sich der Weisheit dieser Worte beugen. Der Batman bückte sich und streckte eine Hand aus. Der Mann, den er Gary genannt hatte, ergriff die behandschuhte Hand. Der Batman hob den anderen Mann hoch und trug ihn zu dem umgestürzten Rollstuhl, richtete diesen wieder auf und setzte den Mann behutsam hinein. Der Mann sah zum Batman hoch, dann übergab er ihm einen chromglänzenden .357er Magnum-Revolver. Der Batman ließ den Mann im Rollstuhl stehen und ging dorthin, wo die Polizisten sich versammelt hatten. Er zog einen stattlichen Mann mit den Streifen eines Sergeant an der Uniform beiseite und erklärte ihm in zwei Minuten, was — 119 —
geschehen war. Dann, ohne ein weiteres Wort, berührte er seinen Gerätegürtel, und das Verdeck des Batmobils öffnete sich. Der Batman brauchte keine halbe Minute, um einzusteigen, das Verdeck zu schließen und den Schauplatz des Geschehens zu verlassen. »Um was um alles in der Welt ist es denn da gegangen?« wollte Debra Kane wissen und beugte sich in ihrem Sitz vor. »Was haben Sie gesehen?« reagierte der Verbrechensbekämpfer mit einer Gegenfrage. »Ich habe eine Bande von miesen Typen herumlungern und auf jemanden warten gesehen, den sie herumschubsen konnten.« »Was noch?« »Ich sah eine Frau, die gekleidet war wie die Filmversion einer Prostituierten. Und einen Mann in einem Rollstuhl. Dann spielten plötzlich alle verrückt. Woher wußten Sie …?« »Ich hatte Ihnen gegenüber einen großen Vorteil«, sagte Batman. »Ich kenne sie schon sehr lange.« »Diese Typen vor der Bar …?« »Nein. Rosie the Riveter und One-Punch Gary. Sie sind Partner.« »Partner wobei?« »Bei Mord«, sagte der Batman. »Sie sind Profikiller – beide.« »Was war denn dann …?« — 120 —
»Das weiß ich noch nicht«, erwiderte der Kämpfer für Recht und Ordnung. »Eines kann ich Ihnen schon mit Sicherheit mitteilen. Wenigstens zwei Männer in der Clique haben irgend jemandem irgend etwas getan. Etwas Schlimmes. Ich tippe auf Vergewaltigung. Und jemand – das Opfer, ihre Angehörigen, Freunde – haben Rosie und Gary angeheuert, um sich zu rächen. Sie haben eine solche Nummer schon früher abgezogen. Alle schauen nur auf Rosie, deshalb sehen sie Gary nicht kommen.« »Ich verstehe, weshalb sie Rosie the Riveter, die Heftmaschine, nennen – jeder Mann hatte seinen Blick nur auf sie geheftet. Aber der andere, wie kommt es …?« »Man nennt sie nicht die Heftmaschine wegen ihres Aussehens«, sagte Batman. »Sondern wegen der Art und Weise, wie sie schießt – so sauber und präzise wie eine Reihe von Heftklammern. Sie steht in dem Ruf, ihr Ziel niemals zu verfehlen. Und Gary nennen sie One-Punch, weil sein Oberkörper unglaublich stark ist. Er kann einen Mann mit einem einzigen Schlag außer Gefecht setzen. Und ich kann Ihnen eins garantieren, wenn sie vor Gericht stehen, wird er Rosie entlasten und alles auf sich nehmen. Er mag zwar in einem Rollstuhl sitzen, aber man kann sich stets darauf verlassen, daß er zu seinen Taten steht.« Das Batmobil bewegte sich wieder durch die dunklen Schatten der City, fuhr unter dem verlassenen Gotham Viaduct mit seiner ausgeschalteten Beleuchtung hindurch und benutzte seine Infrarotsensoren, um vor möglichen Gefahren gewarnt zu werden. »Ich war noch nie nach Einbruch der Dunkelheit hier unten«, sagte Debra. — 121 —
»Sehr klug«, lobte Batman. »In diesem Teil der Stadt sind die Dinge wirklich so schlimm, wie sie aussehen.« Sie schwiegen einige Minuten lang, beobachteten dabei die Lichtpunkte, wo die Angehörigen der Obdachlosenarmee kleine Feuer angezündet hatten, um die bösen Geister zu verscheuchen, die sie tagsüber mit Unmengen billigen Fusels in sich hineinschütteten. Gelegentlich rannte ein hungriger Hund vorbei und machte Jagd auf noch hungrigere Ratten. Dann beugte Debra Kane sich wieder vor. »Darf ich Sie noch etwas anderes fragen?« »Ja.« »Sie … Rosie und Gary wußten, daß sie geschnappt wurden, nicht wahr? Ich meine, nicht von Anfang an, aber als … als Sie auftauchten. Dann konnten sie nicht mehr fliehen, stimmt’s?« »Richtig.« »Weshalb haben sie denn weitergemacht? Wenn sie einfach aufgehört hätten, wären sie zwar immer noch verhaftet worden, aber nicht wegen Mordes. Und bei so vielen Zeugen …« »Sie sind Profis«, sagte Batman, und in seiner Stimme lag ein Ausdruck widerwilliger Anerkennung. »Echte Profis.« Das Batmobil stoppte vor Debra Kanes Apartmenthaus. Das Verdeck glitt zurück, während der Batman mühelos aus seinem Sitz sprang. Er reichte Debra wieder eine Hand und hob sie behutsam aus dem Fahrzeug heraus. — 122 —
Als sie auf dem Bürgersteig vor dem maskierten Mann stand, herrschte in ihrem Innern ein wilder Kampf widerstreitender Empfindungen. »Waren Sie nur zufällig dort? Als dieser Mann versucht hat, mich …?« »Nein«, antwortete der Batman. »Ich wollte mit Ihnen sprechen. Über Ihre Arbeit. Über eine Arbeit, die ich erledigen muß.« »Weshalb … mit mir?« »Ich weiß, daß Sie, was Ihre Arbeit betrifft, aus innerer Überzeugung und Aufrichtigkeit handeln«, erwiderte der Verbrechensbekämpfer. »Meine Quellen sind nicht so wichtig – ich weiß, daß sie genauso einwandfrei sind, als hätte ich diese Beobachtung mit eigenen Augen gemacht.« »Möchten Sie noch mit heraufkommen?« fragte Debra und dachte, daß ihre Nachbarn wie vom Donner gerührt wären, wenn sie sähen, daß der legendäre Batman sich in ihrem Haus aufhielt. Sie dachte aber auch an den Mann unter der Maske, den sie nur zu gern kennengelernt hätte. »Ich könnte …« »Ja«, sagte der Batman und schnitt ihr das Wort ab. »Ich würde gerne mit hinaufkommen. Da ist nur noch eine kleine Sache, die das Ganze etwas einfacher macht.« »Und das wäre?« fragte Debra Kane. »Lassen Sie ein Fenster offen«, erwiderte der Batman, sprang zurück ins Batmobil und fuhr mit immer noch offenem Verdeck davon. Debra stieg die acht Treppen bis zu ihrem Studioapartment hoch und kam an dem streitsüchtigen alten Fahrstuhl vorbei, — 123 —
der sich einen Spaß daraus zu machen schien, unvorsichtige Mieter zwischen Stockwerken festzusetzen. Aber, so sagte Debra sich wehmütig, bis sie es schaffte, ein wenig Geld zu sparen, war dies der einzige erschwingliche Ersatz für einen Stair-Master. In ihrer Wohnung verriegelte sie die Tür hinter sich und öffnete das Fenster. Sie schaute hinaus in die Nacht und sah die vertrauten Feuertreppen, die vollgestellt waren mit den Topfpflanzen, mit denen die Bewohner ihre Umgebung zu verschönen versuchten. Manchmal benutzten sie die Pflanzen aber auch, um ihren Unwillen über allzu lautes Treiben in der Gasse unten kundzutun. So viele Töpfe waren auf diese Weise im Laufe der Jahre hinuntergeworfen worden, daß der Boden der Gasse mit einer bunten Kollektion von Blumen und Grünpflanzen bedeckt war. ›Soll ich mich umziehen? ‹ fragte Debra sich. ›Habe ich noch Zeit, mich zu duschen?‹ Sie ging ungeduldig in ihrer kleinen Wohnung auf und ab und versuchte zu einem Entschluß zu gelangen, bis die Fragen sich von selbst durch eine schwarze Gestalt beantworteten, die durch ihr Hinterfenster hereinschwebte. »Ich hoffe, mein … Eintreten hat Sie nicht erschreckt«, sagte der maskierte Mann höflich. Die Grenzlinie zwischen seiner düsteren Erscheinung und der gedämpften Beleuchtung des Zimmers war nicht zu erkennen. »Nicht im geringsten«, erwiderte sie, als unterhielte sie sich mit jemandem, der unerwartet angerufen hatte. »Kann ich Ihnen etwas anbieten?« — 124 —
»Für ein Glas Wasser wäre ich Ihnen dankbar«, antwortete der Batman. Debra Kane öffnete den Kühlschrank, drehte die Verschraubung einer Flasche Mineralwasser auf und schenkte ein blaues Glas fast bis zum Rand voll. Sie brachte das Glas der dunklen Gestalt, die immer noch vor ihrem Hinterfenster stand. »Danke sehr«, sagte der Batman und nahm das Glas entgegen. Als ihre Finger sich berührten, spürte Debra, wie ein knisternder Stromstoß an ihrem Arm hochschoß. Schnell schaute sie hoch in die undurchsichtigen Augen und suchte dort … sie wußte nicht was. Der Körper des Batman schien sich zu verformen wie ein noch flüssiger Tintenfleck und nahm irgendwo hinter Debras Sofa wieder Gestalt an. Was das vielleicht die Andeutung eines Lächelns gewesen, das soeben für eine Sekunde über seine Lippen gehuscht war? »Sie sagten, Sie wollten sich mit mir über etwas unterhalten«, begann Debra. »Stimmt es, daß es keinen biogenetischen Code für kriminelles Verhalten gibt?« fragte er ohne Einleitung. Ihm ging es nur darum, die Bedeutung der wissenschaftlichen Erkenntnisse und Beiträge seiner Mutter werten zu können. »Das ist absolut richtig«, antwortete Debra. »Die Idee vom ›geborenen Verbrecher‹ oder vom ›schlechten Erbgut‹ ist schon vor Jahrzehnten verworfen worden. Dieser Unsinn wird nur noch von Leuten verbreitet, die sozialen Hilfsprogrammen ablehnend gegenüberstehen, aber …« — 125 —
»Weshalb?« unterbrach der Batman ihre Ausführungen. »Weshalb? Nun, wenn es wirklich so sein sollte, daß Kinder schon schlecht zur Welt kommen, weshalb sollte man dann noch Geld ausgeben für ihre Ausbildung, für ihre ärztliche Versorgung oder für Sozialwohnungen oder für …« »Ein Amt für Kinderfürsorge?« »Genau!« rief Debra Kane aus, und ein zorniger Unterton schlich sich in ihre klare, professorale Stimme. »Wenn Kriminelle gemacht und nicht geboren werden … trifft es dann nicht zu, daß mißbrauchte Kinder zu Verbrechern heranwachsen?« »Das ist nicht wahr«, entgegnete Debra scharf, und ihr akademischer Tonfall verflüchtigte sich, als sie auf diese Herausforderung reagierte. »Gewiß trägt der Kindesmißbrauch zur Erwachsenenkriminalität bei, aber so einfach ist es doch nicht. Es gibt auch noch zahlreiche andere Formen: von Eßstörungen über Drogenkonsum bis hin zum Selbstmord.« »Aber …« »Lassen Sie mich ausreden«, unterbrach sie ihn mit Nachdruck. »Es gibt so viele Erwachsenenschäden, die vom Kindesmißbrauch herrühren, daß man damit ganze Bücher füllen könnte. Kindesmißbrauch kann zwei gleich schwer vernachlässigte Kinder in total entgegengesetzte Richtungen drängen. Während das eine Inzestopfer als Erwachsener der Promiskuität frönt, kann es vorkommen, daß das andere Opfer völlig auf Sex verzichtet. Aber die meisten Opfer werden keine Kriminellen.« — 126 —
»Aber wenn der Mißbrauch … schwerwiegend war, könnte es dann nicht sein, daß …?« »Was für den einen ›schwerwiegend‹ ist, muß es nicht auch gleichzeitig für einen anderen sein. Man erfährt niemals etwas über den emotionalen Mißbrauch, dabei ist er, in vieler Hinsicht, der schlimmste von allen. Das einzige, was man allgemein über den Kindesmißbrauch sagen kann, ist, daß es in diesem Bereich keine gültigen Verallgemeinerungen gibt.« »Ich verstehe«, sagte der Batman ernst. »Eines verwirrt mich jedoch: jedesmal wenn ich mit einem Massenmörder gesprochen habe, ist er in seiner Jugend mißbraucht worden. Heißt das denn nicht …?« »Nein!« rief Debra aus und sprang auf. »Es gibt immer eine Wahlmöglichkeit. Wenn Sie einen Massenmörder damit entschuldigen, daß er als Kind mißbraucht oder gequält wurde, dann beweisen Sie mangelnden Respekt vor den abertausend anderen Kindern, die vielleicht noch schlechter behandelt wurden und trotzdem niemals ihre Peiniger imitiert haben. Wagen Sie es ja nicht, in meinem Haus diese Meinung zu vertreten!« »Ich entschuldige mich«, sagte der maskierte Mann leise. »Ich habe keine Schlüsse gezogen, sondern ich suche nur nach Antworten. Es tut mir leid, wenn ich Ihnen einen falschen Eindruck vermittelt habe. Ich kämpfe gegen das Verbrechen – das habe ich mir zur Aufgabe gemacht. Wenigstens habe ich das bis jetzt angenommen. Doch nun denke ich, daß ich eher gegen Kriminelle kämpfe. Und ich finde, daß Sie … und andere Leute wie Sie … wirklich — 127 —
den Kampf gegen das Verbrechen an sich aufgenommen haben.« »Das haben wir«, sagte Debra Kane. »Es stimmt. Wir stehen an vordersten Front. Wir sehen die Monstren schon, ehe Sie damit in Berührung kommen. Und das einzige, was wir tun können, ist einzuschreiten, bevor es zu spät ist.« »Ich weiß sehr wohl, wie wichtig Ihre Arbeit ist«, sagte der maskierte Mann, erhob sich in einer fließenden Bewegung und streckte eine behandschuhte Hand aus. »Vielen Dank«, entgegnete Debra. »Viele mißbrauchte Kinder lehnen es ab, den Peiniger zu imitieren, wenn sie erwachsen werden«, sagte der Batman, hielt immer noch ihre Hand fest und neigte den Kopf, um flüsternd fortzufahren. »Und einige gehen sogar noch weiter, nicht wahr?« Debra nickte und brachte keinen Laut hervor. »Sie haben meine größte Hochachtung«, flüsterte der Batman. »Es ist der Respekt eines Kriegers vor seinem Mitstreiter.« Debra Kane schloß die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, war der Batman verschwunden.
D
as Batmobil schlängelte sich durch Crime Alley, ein jagender Falke für die Mäuse der Unterwelt. Die Nachricht vom letzten Auftritt des Batman war bereits über den Flüsterstrom verbreitet — 128 —
worden – wenn das Batmobil unterwegs war, bekamen die Schleicher es mit der Angst zu tun, und die Streuner fingen an zu beten. Sogar die harmloseren Eckensteher erschauerten unwillkürlich, und die Taschendiebe und Popcornluden zogen vor dem bösen Omen die Köpfe ein. Sobald das mit Schattenfarben getarnte Fahrzeug Crime Alley hinter sich gelassen hatte, fuhr es in erhöhtem Tempo. Auf dem Expressway schlüpfte das Batmobil durch den Schnellverkehr wie eine flüchtige Erinnerung und näherte sich Cambridge Mews, einem exklusiven Vorort, etwa fünfzehn Kilometer von der City entfernt. Der Kämpfer für Recht und Ordnung warf einen Blick auf den Videoschirm. Die Information lautete: Alexander Horton, 7 Plebescite Lane Batman drückte auf eine Taste, und auf dem Bildschirm erschien ein Stadtplan. Die Zieladresse war mit einem roten blinkenden Pfeil markiert. Er nickte grimmig, dann betätigte er dieselbe Taste ein zweites Mal. Die Pixel auf dem Videoschirm zerbröselten und ordneten sich neu an und zeigten schließlich ein fotografisches Bild vom Haus, einem beachtlichen Bau im mediterranen Baustil. Von der Architektur her eher durchschnittlich, war das Haus, wie auch viele seiner Nachbarbauten, von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben. Der Zaun um das Zielhaus sah jedoch etwas anders aus. Im Gegensatz zum dekorativen Stil, der von anderen bevorzugt wurde, wirkte dieser Zaun funktional und sachlich. Und er war, wie der Batman feststellte, — 129 —
etwa dreimal so hoch wie die übrigen Zäune, nämlich etwa sechs Meter. Als das Videobild mehr und mehr die Totale einfing, konnte er eine dünne Girlande aus gelbschwarzem Draht auf der Mauerkrone erkennen – selbst wenn ein Einbrecher der Versuchung erlag, eine solche Höhe zu erklettern, würde eine kurze Berührung auf der Mauer seinen sofortigen Tod durch einen elektrischen Schlag zur Folge haben. Während das Batmobil sich dem Ziel näherte, betätigte der maskierte Mann einen Schalter mit der Bezeichnung E2. Sofort schaltete der Antrieb des großen Wagen von Turbinen- auf Elektroenergie um. Ursprünglich als Hilfsmotor für den Fall eines Turbinenversagens gedacht, lieferte ein Satz spezieller Speicherbatterien eine Spannung, die ausreichte, um das Batmobil etwa eine Dreiviertelstunde lang eine Geschwindigkeit von knapp über achtzig Stundenkilometern beibehalten zu lassen. Ein anderer Nutzen bestand darin, daß man sich mit diesem Antrieb absolut lautlos bewegen konnte. Indem er laufend den Videoschirm zu Rate zog, während er das Batmobil lenkte, unternahm der maskierte Mann eine Rundfahrt durch die Gegend und bemerkte einen Steilabsturz hinter dem Zielhaus. Er registrierte außerdem die Anwesenheit eines kräftigen Mannes, der vor dem Tor zur Grundstückseinfahrt postiert war – es war der einzige Zugang zum Anwesen. Eine zweite Rundfahrt lieferte die letzten Aufklärungsdaten. Er parkte das Batmobil in einem Walddickicht, das sich hinter der Häuserreihe erstreckte. Dabei machte er — 130 —
sich den Vierradantrieb und die speziellen Reifen zunutze, um das unwegsame Gelände ohne Schwierigkeiten zu überwinden. Nachdem er aus dem Batmobil ausgestiegen war, schaute der maskierte Mann an dem Zaun hoch, der auf der Rückseite des Zielhauses verlief. Dabei stand er genauso still wie die Bäume ringsum und spürte die Atmosphäre mit seinen Sinnen genauso, wie ein Blinder mit den Fingerspitzen die Blindenschrift liest. Nach vollen fünf Minuten nahm er einen flachen runden Gegenstand mit dem Durchmesser eines Autoreifens aus dem Gerätekasten des Batmobils und hielt ihn mit beiden Händen vor seiner Brust hoch. Der maskierte Mann vollführte mit beiden Handgelenken eine schnell Bewegung – vier schwarz eloxierte Aluminiumbeine sprangen heraus. Batman stellte die Beine in den weichen Untergrund – sie hatte zwei unterschiedliche Längen, so daß die flache runde Scheibe ein wenig schief stand. Der maskierte Mann kniete sich hin und brachte die Scheibe sorgfältig in ihre gewünschte Position. Schließlich nickte er zufrieden. Der Batman machte kehrt und stapfte den steilen Hang hinauf. Als er den Zaun erreichte, wandte er sich um und schaute zurück zum Wald. Er atmete tief durch die Nase ein und sprang ins Leere. Die natürliche Erhebung ließ ihn einen weiten Bogen beschreiben und genau auf die Mitte des bereitstehenden Tellers zuschweben. Er landete mit beiden Füßen und wurde sofort in die Richtung zurückgeschleudert, aus der er gekommen war- das schwarze runde Objekt war ein Minitrampolin. Die dunkle Gestalt überflog den Zaun so unbemerkt wie die Nacht selbst. Nach einem Salto — 131 —
landete der Batman auf allen vieren – er befand sich auf dem Grundstück. Dank seines jahrzehntelangen Trainings paßten sich die Augen des Nachtkämpfers genauso schnell wie die einer Katze den herrschenden Lichtverhältnissen an. Mit der einzigen Ausnahme eines weichen, rötlichen Lichtscheins in einem Eckzimmer im dritten Stock war das Haus genauso dunkel wie das gesamte Grundstück. Aber nach einem schnellen Rundblick entfernte der Batman sich von dem Licht und schlug den Weg zur Vorderseite des Hauses ein. Der Torwächter war ein Riese – er hatte die Proportionen eines Sumoringers, und sein Kopf schien ohne Hals direkt auf den Schultern zu sitzen. Einen Mann von diesen Ausmaßen außer Gefecht zu setzen, ohne ihn zu töten, erforderte geradezu chirurgische Präzision … und eine ganze Menge Glück. Der Batman ging in Gedanken seine Möglichkeiten durch. Dann griff eine behandschuhte Hand an seinen Gerätegürtel und holte drei Glaskugeln aus einer Tasche heraus. Der Batman ließ die Glaskugeln zwischen seinen Fingern kreisen, suchte jene vollkommene Symmetrie, die ihn mit den Gegenständen in Gleichklang bringen würde. Er schaute von seinem Platz über dem Wächter hinab und holte aus. Er warf alle drei Bälle gleichzeitig in einem makellosen Dreieck. Die vorausfliegende Kugel traf den Sumoringer mitten auf den Kopf. Die beiden anderen prallten links und rechts von dem Mann auf den Erdboden. Der Sumoringer schwankte. Dann stürzte er zu Boden und verursachte dabei ein — 132 —
Geräusch wie ein Geldschrank, der auf ein Putting Green krachte. Der Batman eilte zu dem Gefangenen hin und überprüfte ihn mit dem Daumen an der Halsschlagader auf Lebenszeichen. Der Sumoringer trug ein rotes Strickhemd mit dem in Herzgegend eingestickten Namenszug ›Leo‹ darauf. Er würde mindestens eine Stunde lang bewußtlos sein. Wenn er wieder erwachte, würde er ein paar Tage unter Kopfschmerzen leiden. Danach wäre er wieder so gut wie neu. Batman richtete sich auf und eilte zum Haus, ein Schatten unter Schatten. Auch wenn er auf einem Stuhl saß, ließ die imposante Erscheinung des großen Mannes immer noch erahnen, warum er früher einmal die Straßenkriminellen allein durch sein Auftauchen einzuschüchtern vermocht hatte. Mit seinen fast zwei Metern Größe und einem Gewicht von nahezu dreihundert Pfund hatte er geradezu comichafte Proportionen, die durch den winzigen Kopf noch betont wurden. Seine kleinen, engstehenden Augen waren so ausdruckslos und flach wie die einer Eidechse. Seine Hände waren beschäftigt. Eine üppige Blondine stand vor ihm, nur mit einem hellroten Seidenkimono bekleidet. Der Mann hatte ein Ende des Kimonogürtels in einer massigen Hand – er zog daran mit dem freudig erregten Gesichtsausdruck eines Kindes, das ein Weihnachtsgeschenk auspackt. »Magst du dein Geschenk?« fragte er die Blondine. — 133 —
»Oh, das weißt du doch, Alex«, kreischte sie. »Es ist wunderschön«, sagt sie, während ihre lackierten Fingernägel mit dem Brillantencollier spielten, das ihren schlanken Hals umschloß. »Nun, was hältst du davon, wenn du mich jetzt mal mein Geschenk ansehen läßt?« sagte er in scherzhaft ungeduldigem Tonfall und zog noch immer am Kimonogürtel. »Laß mir noch eine Minute Zeit, ich …« Die Stimme der Blondine erstarb, als ein dunkler Schatten in einer Ecke des Wohnzimmers sich in die Gestalt einer riesigen Fledermaus verwandelte. Der massige Mann kam mit einem Tempo auf die Füße, das überhaupt nicht zu seiner Größe paßte. »Was zum Teufel ist mit …?« »Leo?« erwiderte der Batman. »Um den brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen – er hat sich während seiner Dienstzeit schlafen gelegt.« »Ja? Nun, mal sehen, ob Sie …« Der große Mann zog eine Pistole aus seinem Gürtelholster, ließ sie jedoch fallen, ohne abgedrückt zu haben, als der Batman mit einem Zweifingerstoß in die Ellenbeuge des großen Mannes einen Nervenblock erzeugte. Unbewaffnet, aber noch immer gefährlich, schoß der massige Mann seinen berühmten linken Haken ab – jenen Schlag, der ganze Generationen von Gaunern ausgeschaltet hatte –, doch der Batman unterlief den Haken und rammte dem großen Mann seine behandschuhte Rechte gegen das Herz, gefolgt von einer raschen Serie von Dreifingerstößen, die auf einer gedachten Linie von der Hüfte bis zum Hals lagen. Der große Mann stolperte zurück, suchte verzweifelt — 134 —
nach einer Waffe, aber der lähmende Handkantenschlag des Batman gegen das Brustbein beendete den ungleichen Kampf. Der Mund der Blondine klaffte auf, aber kein Laut drang heraus. Ihr roter Kimono war aufgesprungen, doch sie bemerkte es nicht und schaute nur wie gebannt zu, während der Batman die flexiblen Fesseln um die Handgelenke und die Fußknöchel des großen Mannes schlang. Die Blondine atmete zischend ein, als der maskierte Mann seinen riesigen Gegner mit zwei Händen hochhob und lässig in den Sessel fallen ließ, den ihr Freund kurz vorher so lüstern ausgefüllt hatte. »Bitte, setzen Sie sich«, forderte der Batman die Frau auf und deutete auf einen verchromten Barhocker mit rotem Polstersitz. Der Hocker stand hinter dem gefesselten Mann im Lehnsessel. Die Worte des Maskierten klangen höflich, ließen ihr jedoch ganz eindeutig keine andere Wahl als zu gehorchen. Die Blondine setzte sich hastig auf den Hocker und raffte den Kimono. »Was haben Sie mit ihm …?« »Nichts Ernstes«, versicherte der Batman ihr. »In ein oder zwei Minuten kommt er wieder zu sich.« Die undurchsichtigen Scheiben, die seine Augen bedeckten, schienen zu leuchten, als er das Gesicht der Frau betrachtete. »Ich werde mit diesem Mann reden«, erklärte der Batman. »Er wird meine Fragen beantworten. Dann werde ich wieder gehen. Es tut mir leid, aber Sie müssen dort sitzen bleiben, bis ich fertig bin. Ich verspreche Ihnen, daß Ihnen nichts passieren wird. Haben Sie verstanden?« — 135 —
»Ja«, sagte die Blondine kleinlaut. »Hören Sie, Sie werden ihn doch nicht … foltern oder so etwas?« »Nein«, antwortete der Batman, öffnete eine Tasche seines Gürtels und holte ein paar Gegenstände heraus, die er auf einem Beistelltisch neben dem Sessel zurechtlegte. Dann näherte er sich dem Mann im Sessel und berührte einen Nervenknoten zwischen dem Kinn und dem Hals des Mannes. Sofort sprangen seine Augen auf, und er stemmte sich vergebens gegen die Fesseln. »Was wollen Sie?« schnaubte er. »Ich möchte ein paar Antworten«, erwiderte der Batman. »Und ich will sie heute noch.« »Und wenn ich …?« »Ich bin nicht hergekommen, um zu feilschen«, sagte der maskierte Mann. »Ich werde Ihnen einige Fragen stellen. Und Sie werden diese Fragen beantworten.« »Und dann verschwinden Sie von hier?« wollte der große Mann wissen. »Ja.« »Dann schießen Sie los, Kumpel«, sagte der große Mann, wobei ein gemeines Grinsen sein Schweinsgesicht verzerrte. »Joe Chill«, sagte der Batman leise. »Wer hat Sie dafür bezahlt, ihn zu töten?« »Ihn töten? Wovon, zum Teufel, reden Sie?« fragte der große Mann. »Er wurde gesucht. Ein Mörder, um Gottes willen. Ich wollte ihn verhaften. Er griff nach seiner Pistole. Ich hatte keine andere Wahl.« — 136 —
»Er wurde von sieben Kugeln aus einer Neunmillimeterpistole getroffen«, sagte der Batman. »Ja, stimmt. Es war alles vorschriftsmäßig.« »Nein, das war es nicht. Das Kaliber entsprach den Vorschriften, aber nicht die Munition. Sie haben Hohlmantelpatronen verwendet. Mit Quecksilberspitzen.« »Hey, eine Menge Cops benutzten heiße Ladungen, Kumpel. Da draußen tobt ein Krieg.« »Ich frage Sie nicht noch mal«, sagte der maskierte Mann. »Ich weiß über Barbara Jane Slocum Bescheid. Ich weiß über Sie Bescheid. Wenn Sie mir nicht freiwillig alles erzählen, habe ich andere … Dinge, die ich einsetzen kann.« »Ein Wahrheitsserum? Vergeuden Sie nicht Ihre Zeit, Kumpel. Mein Geist ist zu stark. Ich kann auch einen Polygraphen belügen, ohne daß die Nadeln tanzen. Glauben Sie mir, ich weiß es.« »Sie werden es mir erzählen«, sagte der Batman. »Das kann ich Ihnen versprechen. Wenn Sie jetzt …« »Warten Sie!« sagte der große Mann, seine Gedanken rasten, sein Überlebensinstinkt war geweckt und hellwach. »Sie wollen nur die Information?« »Ja«, erwiderte der Batman. »Und wenn ich rede, ist es inoffiziell? Schwören Sie?« »Sie haben mein Ehrenwort.« »Und wenn ich mich selbst belaste, dann kommt es nicht raus?« »Es wird diesen Raum nicht verlassen«, sagte der Batman. »Ich gebe Ihnen fünf Minuten, mehr nicht. Dann fangen — 137 —
Sie entweder an zu reden, oder wir probieren aus, ob Ihr Geist wirklich so stark ist, wie Sie behaupten.« »Ich brauche keine fünf Minuten«, sagte der große Mann und kicherte innerlich. »Ich weiß, daß man sich auf Ihr Wort verlassen kann. Zur Hölle, das weiß doch jeder. Nur zu, stellen Sie Ihre Fragen.« »Weshalb haben Sie Joe Chill ermordet?« »Es war ein Job, Kumpel – ein Job, für den ich bezahlt wurde, das ist alles.« »Wer hat Sie bezahlt?« »Dieses Slocum-Biest, wie Sie schon meinten.« »Weshalb?« »Weshalb was?« »Weshalb hat Slocum denn Chill ermorden lassen?« »Er hat mal einen Auftrag für sie ausgeführt. Und die Cops waren ihm auf der Spur. Sie hatten Angst, daß er sie ans Messer lieferte.« »Jetzt mal langsam«, sagte der Batman, und seine Stimme sank um eine halbe Oktave. »Welchen Job hat Chill erledigt?« »Es war ein Mord«, sagte der große Mann. »Es lief alles völlig glatt ab – die Cops dachten, es sei ein Überfall gewesen, der schiefgegangen war, so wie es geplant war.« »Wer war das Opfer?« fragte der maskierte Mann und beugte sich vor. Seine Stimme vibrierte leicht. »So eine neugierige Gesellschaftsschlampe. Martha Wayne, hieß sie, glaube ich. Sie kam uns in die Quere.« »Wem oder was in die Quere?« fragte der Batman und gewann den Kampf um die Selbstkontrolle, der in seinem Innern tobte. — 138 —
»Sehen Sie, Kumpel, haben Sie eine Ahnung, wieviel Geld man mit Kinderpornographie machen kann? Nun, ich wußte es auch nicht. Es war organisationsmäßig überaus bequem. Es war so einfach. Sehen Sie sich nur mal die Ware an. Es ist nicht wie mit Drogen – je mehr Sie Kokain strecken, desto schwächer wird es, stimmt’s? Von diesem Kinderpornozeug können Sie endlos Kopien herstellen. Es war ein Vermögen wert. Und das Schöne war, daß niemand etwas ahnte. Ich war immerhin Cop, nicht wahr? Und ich hatte noch nie davon gehört. Ich meine … ich hab’ davon gehört, aber nur … gerüchteweise. Nichts Greifbares.« »Fahren Sie fort«, sagte der Batman leise. »Zuerst wollten sie nur ein paar Tips. Diese Martha Wayne gab ihre Informationen direkt an die Zentrale weiter. Woher sie sie hatte, das weiß ich nicht – diese Dame hatte verdammt gute Quellen, das konnte man sehen. Nun, ich hatte nichts anderes zu tun, als Barbara Jane Bescheid zu sagen, wenn mal wieder eine Razzia bevorstand. Das funktionierte eine Zeitlang ganz gut, aber schließlich meinten sie, diese Wayne würde mehr und mehr zu einem Problem, zu einem ständigen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »O ja«, erwiderte der Batman. »Ich verstehe.« »Also ging der Auftrag raus. Sie zu töten, meine ich. Dieser Joe Chill, er sollte ein echter Profi sein. Und er zog die Sache einwandfrei durch, das muß ich zugeben. Aber nach einer Weile bekam er es mit der Angst zu tun. Ich weiß nicht wovor … das hat er nie gesagt. Er redete von unheimlichen Schatten, von Gespenstern und so weiter. Also erledigte ich ihn. Er hat nicht das geringste geahnt.« — 139 —
»Sie haben auch Slocum getötet?« »Ja. Das mußte ich. Der Mann an der Spitze, der alle Fäden in der Hand hielt, er meinte, sie oder ich.« »Der Mann an der Spitze?« »Ihr Onkel. Zumindest nannte sie ihn so. Malady, so lautet sein Name. Aber er hat sich schon vor langer Zeit abgesetzt. Wie ich hörte, ist er nach Europa gegangen.« »Sie wußten, in was Sie verwickelt waren?« »Ja. Ich meine … worauf wollen Sie hinaus?« »Sie wußten, daß diese … Leute Kinder vergewaltigten? Und daß sie davon Fotos herstellten und sie verkauften?« »Nun … ja. Ich meine, selbst würde ich so etwas natürlich nicht tun. Ich bin nicht scharf auf Kinder oder so was. Wenn Sie mich fragen, dann ist das ein Haufen Perverser.« »Lieutenant Alexander Horton«, sagte der Batman leise. »Hat dieser Job, dieser Dienstrang … Ihnen nicht irgend etwas bedeutet?« »Hören Sie doch auf mit diesem Schmalz«, wehrte der große Mann spöttisch ab. »Ich war käuflich. Genauso wie sie …«, sagte er und deutete mit einer Kopfbewegung nach hinten auf die Blondine. »Wollen Sie etwa behaupten, ich sei der einzige bestechliche Cop, von dem Sie je gehört haben?« »Nein. Aber Sie sind der erste, der Leuten half, Kinder zu vergewaltigen.« »Wollen Sie sonst noch etwas wissen?« »Nein«, sagte der Batman. »Ich habe genug.« »Sie haben versprochen …« — 140 —
Der Batman ging an dem gefesselten Mann vorbei, als sei er ein Möbelstück, und wandte sich an die Blondine. »Hier haben Sie einen Schlüssel für die Fesseln«, sagte er. »Sie können sie auf schließen, wenn ich gegangen bin.« Die Blondine saß stocksteif auf dem Hocker und rührte sich nicht. »Haben Sie mich verstanden?« fragte der Batman. Die Blondine reagierte nicht. »Heh, du blöde Schlampe!« bellte Horton. »Hast du vergessen, daß du eine Hure bist? Beweg endlich deinen fetten Hintern, und nimm mir diese verdammten Dinger ab.« Leben kehrte in die Augen der Blondine zurück. Sie sah den Batman an und nickte. Der Batman verschwand genauso schnell, wie er aufgetaucht war. »Was für ein Hammer!« rief der große Mann lachend. »Das war das beste Geschäft, das ich je gemacht habe. Wenn der Batman sagt, daß etwas inoffiziell ist, dann kann er damit nicht zu den Behörden gehen – jeder auf der Straße weiß, daß man sich auf sein Ehrenwort verlassen kann. Ich brauche nur noch ein wenig Zeit. Ehe er auch nur einen kleinen Teil von dem Kram überprüft hat, den ich ihm erzählt habe, liege ich schon längst in Rio am Strand. Hey, Ronda, was tust du da? Ich hab dir gesagt, du sollst herkommen und mich losmachen!« Der große Mann verrenkte sich fast den Hals, als er den Kopf hin und her drehte und die Blondine nirgendwo sehen konnte. »Wo zum Teufel bist du?« schimpfte er. — 141 —
»Ich bin hier«, sagte die Blondine ruhig, trat in sein Gesichtsfeld. Sie hielt die Pistole, die sie vom Fußboden aufgehoben hatte, in der Hand. »Gleich wirst du deine Freiheit bekommen.« »Reiß dich zusammen!« befahl Batman sich selbst und ging in seiner Höhle auf und ab. »Im Kampf ist Wut der größte Feind«, murmelte er vor sich hin. Es waren die Worte seines ersten Sensei, verinnerlicht, als Bruce Wayne noch ein Kind gewesen war. Ein Kind ohne eine Kindheit. Ein Junge, aus dem mehr wurde als nur ein Mann – und der, als müßte er dafür bezahlen, auch weniger wurde. Plötzlich wirbelte der Batman herum, dabei flatterte sein Cape hinter ihm her wie ein Nachbild. Er griff nach einem Telefonhörer, gab eine einzige Ziffer ein und wartete darauf, daß sich am anderen Ende der Leitung etwas tat. Sein unverhülltes Gesicht war so ausdruckslos wie eine perfekte Maske. »Ja?« erklang eine Stimme in der Hörmuschel. Eine Begrüßung zwischen den beiden Anschlüssen dieser Direktleitung war unnötig. Nur eine Person konnte anrufen – und nur eine Person antwortete. »Haben Sie jemanden, der Erfahrungen mit Pädophilen hat?« fragte der Batman. »Ich habe einige … unglücklicherweise«, fügte Polizeichef Gordon hinzu. »Was genau brauchen Sie?« »Jemanden, der ihnen nachspürt, so wie sie Kindern nachspüren. Jemanden mit Erfahrung in der Terrorismusabwehr.« — 142 —
»Da kenne ich genau den Richtigen«, sagte der Polizeichef. »Er ist ein wenig … unkonventionell, aber es gibt keinen Besseren.« »Name?« »Trask. Sherwood Trask. Er arbeitet in der Abteilung für Bewährung und Straferlaß. Alles von Voruntersuchungen bis hin zu Fahndungen. Er ist schon lange dabei. Er leitet sogar Kurse in der Akademie.« »Könnte er etwas über Leonard Tuxley wissen?« »Meinen Sie den Burschen, den sie im Tunnel im Hellgate gefunden haben? Bestimmt. Ich habe mir übrigens soeben seine Akte angesehen – Trask dürfte Ihr Mann sein.« »Können Sie ihn bitten, sich mit mir zu treffen.« »Ja. Rufen Sie mich in einer halben Stunde wieder an.« »In Ordnung«, sagte Batman und unterbrach die Verbindung.
D
as Batmobil verließ sein Versteck, fädelte sich in den Verkehr auf dem Highway ein und rollte in Richtung Gotham. Der Nachtkämpfer fuhr mit abgeblendeten Scheinwerfern, verließ sich auf das Sonarsystem und auf seine eigenen Fähigkeiten, das Fahrzeug unter schlechtesten Sichtbedingungen zu lenken. Auf dem Videoschirm erschienen die Daten des Mannes, mit dem er gleich zusammentreffen würde. — 143 —
Trask, Sherwood d. o. b. 8/16/44/5’4”/156/BRN/BLU B.A.,CJ,GCC,1966 M.A., CM, GCC, 1988 Ein Magisterdiplom in Strafrechtspflege am Gotham City College. Ein Volldiplom in Kriminologie zweiundzwanzig Jahre später? Der Batman betrachtete stirnrunzelnd die beiden extrem weit auseinanderliegenden Datumsangaben, aber schon die nächsten Textzeilen beantworteten seine unausgesprochene Frage: U.S. Army. 87th Infantry. Vietnam, 1967-1969. Bronze Stars (2), Purpel Heart (1) Gotham P.D., 1970-?? Derzeitige Position: Commander, Intensive Supervision Team Belobigungen: 21 Der Batman öffnete die Datei und stellte fest, daß Trask für alles von heldenhaftem Verhalten im Einsatz bis hin zum Aufstöbern eines Serien-Kinderschänders ausgezeichnet worden war. Disziplinarverfahren: 4 Diese Datei enthielt vier Beschwerden von Bürgern, alle wegen übertriebener Gewaltanwendung. Zwei der Beschwerden waren bis vor eine Grand Jury gelangt. Trask wurde in — 144 —
keinem Fall bestraft, und es gab auch keinerlei disziplinarische Maßnahmen gegen ihn. Nachdem er das Batmobil in seine luxuriöses Versteck gebracht hatte, wählte der Batman den Weg über die Dächer und begab sich zu einem sechs Stockwerke hohen Mietshaus in der Bowery. Als er sich dem Gebäude näherte, konnte er auf dem Dach einen weißen Reck erkennen. »Wie vereinbart«, dachte er und schwang sich hinunter, um zu landen. Während der Batman wieder festen Boden unter die Füße bekam, sah er die Gestalt eines Mannes neben einer Hütte auf dem Dach kauern. Der weiße Fleck war ein TShirt, das unter einer alten Armeejacke getragen wurde. Die Arme des kauernden Mannes waren vor einem mächtigen, breiten Brustkorb verschränkt. Als der Batman sich ihm näherte, streckten sich die Arme und enthüllten in jeder Hand eine Pistole. Der Mann kauerte jetzt nicht mehr – und die Pistolen sahen aus, als seien sie in seinen Händen zu Hause. Der Batman deutete eine Verbeugung an. »Sherwood Trask?« fragte er. Der Mann gegenüber erwiderte die Verbeugung. Dabei war zu erkennen, daß er sich den ganzen Kopf rasiert hatte – sein Schädel schimmerte hell durch die Nacht. »Sagen Sie eine Zahl«, forderte der athletische Mann den Batman auf. »Neunundzwanzig«, erwiderte der Batman und wiederholte damit das Signal, das der Polizeichef Trask mitgeteilt hatte. — 145 —
»Okay«, sagte Trask und nickte. Die Pistolen verschwanden genauso schnell, wie sie aufgetaucht waren. Trask streckte seine rechte Hand vor. Der Batman ergriff und drückte sie. »Was wollen Sie wissen?« fragte Trask. Batman trat auf ihn zu und senkte seine Stimme, so daß sie kaum zu hören war. »Was können Sie mir über Leonard Tuxley erzählen?« »Er ist ein chronischer Kinderschänder …« »Ein Pädophiler?« »Nein«, erwiderte der Ermittlungsbeamte, »kein ›Pädophiler‹. Das ist deren Bezeichnung, nicht unsere.« »Ich verstehe nicht«, sagte der Batman. »Die versuchen nichts anderes, als alles zu beschönigen«, antwortete Trask, und dabei klang seine Stimme so beiläufig und ausdruckslos, als erklärte er jemandem den Weg zu einer Sehenswürdigkeit. »Sie nennen das, was sie tun, nicht Kindesmißbrauch, sondern ›generationsübergreifende Liebe‹. Die Definition von ›Pädophile‹ ist ›Kinderliebe‹, verstanden?« Der Batman nickte und erinnerte sich an sein Gespräch mit Debra Kane. »Ich wollte Sie nicht unterbrechen«, sagte er. »Bitte, fahren Sie fort.« »Folgendes ist passiert«, sagte der Ermittlungsbeamte und blickte auf die undurchsichtigen Scheiben in der Kapuze des Batman. »Tuxley wurde verhaftet, weil er mindestens ein halbes Dutzend Jungen mißbraucht hat. Er ist Computerfachmann. Auf diese Weise kommt er auch an die Kinder heran – er war Privatlehrer. Ich sagte mindestens ein halbes Dutzend, weil so viele sich gemeldet — 146 —
haben – wir gehen davon aus, daß es noch mehr waren. Sehr viel mehr. Auf jeden Fall bekannte Tuxley sich schuldig. Sein Anwalt meinte, er tue dies, um den Kindern das traumatische Erlebnis einer Aussage vor Gericht zu ersparen – in Wirklichkeit wollte er Tuxley vor dem traumatischen Erlebnis eines Gefängnisaufenthaltes bewahren. Der Richter meinte, Tuxley sei krank – er hat sich in beiden Punkten geirrt. Aber das tat nichts zur Sache. Der Richter entschied, daß Tuxley eine Therapie brauchte und nicht ins Gefängnis müsse. Es gab da ein Programm, von dem es hieß, es könne bei Typen wie Tuxley wahre Wunder bewirken. Das Fazit? Er bekam eine Art psychiatrische Bewährung.« »Aber er war doch im Gefängnis, als …« »Ja, das war er. Am Ende. Aber er wanderte nicht sofort in den Knast. Wir haben dafür gesorgt, daß er sich schuldig machte.« »Sich schuldig?« »Ja. Er hatte gegen die Vereinbarungen und Auflagen seiner Bewährung verstoßen. Das ist in etwa das einzige, was wir solchen Kerlen anhängen können. Wir können die Gerichte zwar nicht dazu bringen, sie ins Gefängnis zu stecken, aber wir können verdammt noch mal dafür sorgen, daß sie sich anständig benehmen, wenn sie unter Aufsicht stehen.« »Er hat ein weiteres Kind mißbraucht?« »Nein – zumindest nicht, soweit wir es wissen. Aber es gibt immer Bewährungsauflagen, die von solchen Perversen nicht eingehalten werden können. Zum Beispiel wird — 147 —
von Leuten, die wegen Inzest verurteilt wurden, verlangt, daß die Toilettentür abschließbar sein muß.« »Weshalb das denn …?« »Ein wesentliche Element beim Inzest ist die Macht«, sagte Trask. »Es geht dabei um Kontrolle, klar? Zum Beispiel stärken sie ihre Machtposition gegenüber dem Kind … ihrem Kind …, indem sie erklären, daß es keine Privatsphäre gibt. Keine Privatsphäre bedeutet keine Sicherheit.« »Und welche Auflage mußte Tuxley einhalten?« »Er durfte keine Videofilme von Kindern mehr drehen. Das war sein ›Hobby‹. Er ging immer zu Baseballspielen der Kinderliga oder zu Eiskunstlaufwettbewerben. Was jeweils stattfand, war eigentlich gleichgültig – er wollte nichts anderes als Bilder von Kindern.« »Weshalb?« »Ich sagte doch – er ist Computerfachmann. Er digitalisierte die Videobänder und zerlegte sie in kleine Abschnitte. Dann konnte er diese Teile elektronisch neu zusammenfügen, je nachdem welche Taste er betätigte.« »Ich verstehe noch immer nicht, weshalb …« »Es ist der letzte Schrei«, erklärte der Polizist. »Interaktive Kinderpornographie. Man holt sich das Bild von einem Kind auf den Monitor. Dann drückte man die richtigen Tasten, und das Kind tut alles, was man will. Man kann sich sogar selbst in das Bild versetzen.« Der Nachtkämpfer holte tief Luft und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. »Officer Trask, wenn Sie …« »Woody«, sagte der athletische Polizist. »So werde ich genannt.« — 148 —
»Gut, dann Woody«, sagte der Batman. »Demnach war Tuxley im Relígate Prison, weil er gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen hatte?« »Nicht ganz«, erwiderte der Polizist. »Als wir ihn erwischten, machte er gerade Videoaufnahmen von einem Turnfest für Kinder von zehn Jahren und jünger. Sie sperrten ihn ein, aber nicht in Hellgate. Sie schickten ihn in einen Knast ohne allzu strenge Sicherheitsvorkehrungen. Dort wurde er wohl ›resozialisiert‹, wie das so schön heißt. Er hatte nur ein Drittel seiner Strafe abgesessen, als er auf Bewährung rauskam.« »Und dann?« »Dann ging das Intensive Supervision Team wieder an die Arbeit. Wir greifen in beiden Fällen ein: Bewährung, wenn sie nicht ins Gefängnis müssen, und bedingte Freilassung, wenn sie gesessen haben. Wir sind immer zugegen. Als wir uns in Tuxleys Haus umsahen, war es ein Volltreffer – er hatte kistenweise Kinderpornographie im Keller. Er hatte sogar eine Computerliste von allen Fotos angelegt. Dieses miese Schwein hatte seinen Computer gesichert, aber wir sind trotzdem reingekommen, ohne die Daten zu zerstören.« »Hat er die Fotos selbst geschossen?« »Das wissen wir noch nicht. Wir nahmen ihn fest wegen Verletzung der Bewährungsauflagen … deshalb mußte er zurück in den Knast, um seine restliche Strafe abzusitzen. Wir beschäftigten uns noch immer mit dem, was wir bei ihm gefunden hatten, als wir erfuhren, daß er umgebracht worden war. Es dürfte noch Monate dauern, alles zu sichten und zu sortieren.« — 149 —
»Ermittlungen, Verhaftungen«, dachte der Batman laut nach. »Ich dachte immer, Bewährungshelfer und die Beamten, die sich um die vorzeitig aus der Haft entlassenen kümmern, würden so etwas wie Sozialarbeit leisten.« »In einigen Fällen ist es auch so«, erwiderte der Polizist. »Vor allem bei Jugendlichen. Und für eine Menge unserer Kinder können wir wirklich etwas Gutes tun. Manchmal braucht der Betreffende nur einen Arbeitsplatz. Oder er muß mit dem Trinken aufhören. Oder er sollte eine HighSchool besuchen. Wenn sie Hilfe wünschen, dann können wir sie ihnen geben. Aber das IST ist eigentlich nicht für die Rehabilitation zuständig, sondern seine Aufgabe ist der Schutz der Gesellschaft. Wir arbeiten mit den notorischen Rückfalltätern. Wir erwarten Probleme. Und wir kümmern uns um eine Lösung, sobald sie auftauchen.« »Mir wurde gesagt, daß Tuxley über Kindersex-Reisen Bescheid wußte. Hat er …?« »Sie meinen das Geschäft mit Udon Khai?« fragte der Polizist. »Zweifellos. Tuxley hat an einer dieser Reisen teilgenommen. Wir haben ein Gespräch abgehört, in dessen Verlauf er einem seiner abartigen Freunde davon erzählte, wie toll es gewesen sei.« »Es wundert mich, daß er so unvorsichtig war, sich offen darüber zu äußern.« »Nun, er hat von seinem Privatapparat aus telefoniert.« Der Polizist grinste. »Ich vermute, er ging davon aus, unbelauscht zu sein.« »Sie meinen, Sie … ?« »Natürlich.« — 150 —
»Aber Sie sind Polizeibeamter. Wie können Sie …?« »Hey, Kumpel«, sagte der Polizist lachend, »das interessiert mich jetzt. Nennen Sie mich etwa einen Vigilanten?« Der Batman wich einen Schritt zurück, dann verbeugte er sich, als erkenne er eine bedeutende Wahrheit an. Dann kehrte er in die Nacht zurück. Drei Tage später startete ein Jumbojet vom Gotham International Airport. Flug siebenundsechzig nach San Francisco hob pünktlich vom Boden ab. Bruce Wayne war als einer der letzten Passagiere an Bord gekommen und hatte fast unbemerkt seinen Platz, Sitz 2-G, eingenommen. Er nahm stets einen Fensterplatz in Flugrichtung in der ersten Klasse – damit schränkte er die Möglichkeit, sich mit anderen Passagieren unterhalten zu müssen, erheblich ein, was vor allem auf langen Rügen von Vorteil war. Die zierliche brünette Stewardeß war an Passagiere gewöhnt, deren Vorstellung von einem ›Flirt‹ darin bestand, ihr dreist auf die auf die Beine zu starren oder zweideutige Bemerkungen zu machen. Sie ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen – ›so was gehört nun mal zu diesem Job‹, dachte sie bei sich. Der nichtssagend attraktive Mann auf 2-G überraschte sie jedoch. »Nicht nur, daß er mich völlig ignoriert hat«, sagte sie an diesem Abend zu ihrer Kollegin, »er verhielt sich sogar so, als gäbe es mich überhaupt nicht.« »Vielleicht war er nur in Gedanken«, sagte die Kollegin. »Du weißt ja, wie Geschäftsleute sich manchmal benehmen.« — 151 —
»Vielleicht hast du recht«, sagte die Stewardeß, aber ihre Worte klangen nicht überzeugt.
B
ruce Wayne fand am Flughafen ein Taxi, mit dem er sich zum Cheshire Hotel bringen ließ. Er wartete geduldig an der Rezeption, bis ein Angestellter seine angeregte Unterhaltung mit einer jungen Serviererin beendete und zu ihm herüberkam. »Was kann ich für Sie tun?« fragte er. »Ich habe ein Zimmer reservieren lassen«, begann Bruce Wayne, als er bereits durch den Angestellten unterbrochen wurde, der auf eine Glocke auf dem Rezeptionspult schlug und gleichzeitig »Bursche!« durch die Halle rief. »Das ist nicht nötig«, wollte Bruce Wayne einwenden, aber es war schon zu spät – ein diensteifriger Page tauchte neben ihm auf, bückte sich und faßte nach dem Griff von Bruce Waynes großem Krokodillederkoffer. Der Page richtete sich auf, zog am Koffergriff – und sein Gesicht verzerrte sich schmerzhaft. Was zum Teufel ist in …?« »Ein Satz Hanteln«, sagte Bruce Wayne beiläufig. »Um ein wenig Gymnastik zu machen. Ich habe sie immer bei mir, wenn ich auf Reisen bin.« »Donnerwetter!« sagte der Page beeindruckt. »Der Typ war zwar groß, aber doch nicht so groß«, erzählte er einigen anderen Pagen, als sie wenig später gemeinsam Pause machten. »Also, er sah irgendwie, tja, ich weiß nicht … — 152 —
irgendwie weichlich und schlaff aus. Aber er hat den Koffer getragen, als sei er federleicht.« In seiner Suite packte Bruce Wayne seine Sachen mit großer Sorgfalt aus und ordnete verschiedene Gegenstände auf einem weißen Porzellantablett an. Mit einem kleinen Handscanner suchte er die Räume nach irgendwelchen Abhörwanzen ab, dann überprüfte er die Fenster darauf, ob man sie von außen öffnen konnte. Es dauerte vierzig Minuten, ehe Bruce Wayne das Tablett hochhob und damit ins Badezimmer ging. Nach weiteren vierzig Minuten kam ein ganz anderer Mann heraus. Dieser andere Mann war älter als Bruce Wayne. Und schwerer. Sein Haar war glatt zurückgekämmt, so daß er an der rechten Schläfe eine gezackte Narbe zu sehen war. Die braunen Augen saßen in einem runden, beinahe asiatischen Gesicht. Der Mann packte das Tablett zurück in den Krokodillederkoffer und verdrehte die Walzen des Zahlenschlosses, nachdem er es hatte zuschnappen lassen. Dann nahm er den Telefonhörer ab und tastete eine Nummer ein. »Safe House«, meldete sich eine Stimme. »Was soll ich ihm bestellen, wer anruft?« erwiderte die Stimme. »Big Jack Hollister«, sagte der Mann im Hotel. Nach knapp einer Minute drang die Stimme eines anderen Mannes durch die Leitung. »Hier ist Dave«, sagte er. »Big Jack Hollister. Sie müßten meinen Anruf erwartet haben.« »Schon möglich … wer hat Ihnen so was angedeutet?« — 153 —
»Victor C.« »Das ist in Ordnung. Was kann ich für Sie tun?« »Ich möchte einen Teil Ihrer Zeit in Anspruch nehmen, mehr nicht.« »Kennen Sie das Lavender Dragon?« »Ich werde es schon finden.« »Irgendwann nach zehn heute abend. Fragen Sie an der Bar nach mir.« Der Mann, der sich Big Jack Hollister nannte, hielt ein Taxi an. Als es am Bordstein hielt, setzte er sich auf die Rückbank. »Wissen Sie, wo das Lavender Dragon ist?« fragte er den Taxifahrer. »Ja, sicher. Aber hören Sie … ich meine, es geht mich ja nicht an, aber dieser Laden ist nur für …« »Sie haben recht«, sagte Big Jack mit harter Stimme. »Es geht Sie nichts an.« Die restliche Fahrt verlief herrlich still, da der Fahrer beleidigt schwieg. Seine Zerknirschtheit verwandelte sich in Wut, als der Fahrgast ihm den Fahrpreis auf den Cent genau aushändigte. »Was ist los, Kumpel«, sagte er spöttisch. »Bringt ein kleines Trinkgeld Sie an den Bettelstab?« »Haben Sie ein Problem?« fragte Big Jack ruhig und beugte sich ins Taxi. »Sie können gern aussteigen, und dann unterhalten wir uns darüber.« Das Taxi startete mit qualmenden Reifen und verschwand. Der Mann, der sich Big Jack nannte, betrat den Club. Er drängte sich durch ein Gewimmel von vorwiegend männlichen — 154 —
Körpern und reagierte nicht auf Angebote, ihm einen Drink zu spendieren. Als er den angesteuerten Platz erreicht hatte, wartete er, bis ein Mann in gelbem T-Shirt und einer Lederschürze sich auf die Theke stützte und fragte: »Was darf es sein?« »Deadley Dave. Er erwartet mich. Sagen Sie, Big Jack sei da.« »Nun, das sehe ich selbst«, sagte der Barkeeper. Er zwinkerte Big Jack zu und entfernte sich. Wenig später kam er zurück. Er lehnte sich wieder über die Bar. »Die letzte Nische auf der rechten Seite«, sagte er und deutete in den hinteren Teil der Bar. Big Jack begab sich zur Nische. Sie war mit einem Mann besetzt – einem Mann mit feingeschnittenen Gesichtszügen und harten Augen. Er erhob sich, als Big Jack sich näherte. Die beiden Männer schüttelten sich wortlos die Hand. Als Reaktion auf Daves Geste setzte der andere Mann sich. »Was brauchen Sie?« begann Dave. Indem er genauso schnell zur Sache kam, fragte Big Jack: »Kennen Sie einen Mann namens Drako? Er wohnt auf einer Yacht in der Dragonfire Marina drüben an …« »Ja, ich kenne ihn«, antwortete Dave, und seine Stimme klang heiser vor Abscheu. »Ich kenne seinen Namen und ich weiß, was er treibt.« »Stimmt es, daß er Kindersex-Reisen veranstaltet? Nach Udon Khai?« »Natürlich stimmt es. Was meinen Sie, weshalb er seine Yacht Lollypop getauft hat? Er ist nicht nur absoluter Abschaum, er ist auch noch stolz darauf.« — 155 —
»Kennen Sie einen Mann namens William X. Malady?« »Von dem habe ich noch nie gehört.« »Kennen Sie jemanden, der schon mal an einer dieser Sexreisen teilgenommen hat?« »Ich weiß es von einigen.« »Heißt?« Dave beugte sich vor. »Es heißt, daß Leute, die Sex mit Kindern haben, verkommenster Dreck sind, klar? Es heißt, daß es nichts mit Homosexualität zu tun hat, wenn Männer Sex mit Jungen haben. Es heißt, daß diese drekkigen Pädophilen immer wieder versuchen, sich mit uns zusammenzutun … ständig versuchen sie ihre abartige Neigung zu einem Thema der sexuellen Befreiung zu machen. Dabei hat es überhaupt nichts damit zu tun!« »Sondern was ist es?« »Ein Verbrechen«, sagte Dave knapp. »Ein verabscheuungswürdiges Verbrechen. Wenn Sie Victor C. kennen, dann wissen Sie, wie ich darüber denke.« »Ich muß dorthin«, sagte der Mann, der sich Big Jack nannte, leise. »Was können Sie mir über die Organisation erzählen?« »Sie überprüfen ihre Kunden sehr sorgfältig«, antwortete Dave. »Wenn Sie das überstehen, dann kriegen Sie alles, was man sich kaufen kann.« »Wieviel kostet es?« »Kommt darauf an, was Sie wollen. Am billigsten ist noch die Einreise ins Land. Sehen Sie, Udon Khai hat strenge Visa-Vorschriften – normalerweise dauert es ein halbes — 156 —
Jahr vom Antrag bis zur Genehmigung. Aber wenn Sie an einem von Drakos kleinen Trips teilnehmen, dann bekommen Sie Ihr Visum schon am gleichen Tag. Wenn Sie sich also nur eine Eintrittskarte ins PädophilenParadies kaufen wollen, dann bekommen Sie es schon für zehn Riesen, alles inklusive.« »Was ist dieses ›alles‹?« »Nicht was Sie meinen«, antwortete Dave. »›Alles‹ sind ein Rückflugticket und vier Übernachtungen in einem Hotel. Alles andere müssen Sie selbst suchen.« »Oder …?« »Sie können es sich liefern lassen. Dann kostet es fünfundzwanzig und mehr, je nachdem was Sie tun wollen.« »Mit einem Kind?« »Ja, mit einem Kind. Was denken Sie denn, worüber wir uns unterhalten, über den Club Méditerranée vielleicht?« »Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht verletzen. Das Ganze erscheint mir nur so … unfaßbar.« »Das ist ihre Tarnung«, erklärte Dave. »Und sie funktioniert ganz gut.« »Demnach braucht man also nur genug Geld …« » … und Beziehungen.« »Und Beziehungen, richtig. Dann könnte ich an einer dieser Reisen teilnehmen?« »Ich glaube nicht«, sagte Dave leise. »Sie haben noch eine letzte Bedingung – die Feuerprobe nennen sie es.« »Was ist das?« »Es wird Ihnen nicht gefallen.« »Sie meinen …?« — 157 —
»Ja. Sie müssen … mit einem Kind Sex haben. Sie liefern das Kind. Und sie nehmen es auf Video auf. Auf diese Art und Weise wissen sie, daß Sie echt sind. Und daß Sie nicht reden, falls irgend etwas schiefgehen sollte.« Der Mann, der sich Big Jack nannte, schloß die Augen, als wollte er die schrecklichen Bilder vertreiben. Ein Kellner kam zu der Nische. Nach einem fragenden Blick zu Big Jack bestellte Dave für sie beide. »Zweimal Thunfisch auf Fladenbrot.« »Auch etwas von der Bar?« fragte der Kellner. »Wasser«, sagte Dave. »Mineralwasser. Kein Eis.« Keiner der Männer sagte etwas, bis der Kellner mit ihrer Bestellung zurückkam. »Danke«, sagte Big Jack. »Bedanken Sie sich nicht bei mir, bedanken Sie sich bei Victor C«, sagte Dave. »Er ist mein Bruder.« »Sie meinen, Ihr –?« »Nein. Nicht mein leiblicher Bruder. Ein Bruder, den ich mir ausgesucht habe. Verstehen Sie?« »Ja«, sagte Big Jack. Und dachte an die Kinder, die seine Mutter niemals haben würde. An die Brüder und Schwestern, die er nicht haben würde. Und auf wieviel der allzeit treue Alfred ebenfalls verzichtet hatte. Dave nahm einen tiefen Schluck von seinem Glas Wasser. »Kann ich Ihnen sonst noch etwas erzählen?« »Weshalb werden Sie Deadly Dave genannt?« »Als Jugendlicher habe ich mal geboxt. Als reiner Amateur, aber ich war wirklich ganz gut.« »Weshalb haben Sie aufgehört?« — 158 —
»Die echten Kämpfe finden nicht in irgendeinem Ring statt«, sagte Dave. »Und die echten Kämpfer treffen Sie dort auch nicht an.« Um 4 Uhr 13 morgens wurde eine Nummer auf dem Tastenfeld des Telefons in Bruce Waynes Hotelzimmer in San Francisco eingegeben. Aber es war nicht Bruce Wayne, der telefonieren wollte. Es war auch nicht Big Jack Hollister. »Die Pläne wurden geändert«, sagte der Batman in die Sprechmuschel. »Über die Teilnahme an einer Reise klappt es nicht – ich muß allein einen Weg suchen. Würden Sie Udon Khai auf dem Zentralrechner abrufen, damit ich mir einige Informationen verschaffen kann?« »Natürlich, Sir«, antwortete Alfred, der auch weit nach Mitternacht genauso wach und konzentriert war wie am Tag. Nach sieben Sekunden meldete Alfred sich wieder. »Ich habe die Informationen vor mir auf dem Bildschirm. Ich erwarte Ihre Fragen.« »Haben Sie auch eine Karte verfügbar?« fragte der Batman. »Ich suche gerade … ja!« »Können Sie sie auf Frequenz vier rüberschicken?« »Sind Sie auf Empfang?« fragte Alfred. »Ja«, erwiderte der Batman und schaute hinüber zu seinem offenen Koffer, in dem ein tragbares Telefon auf einem Halter zwischen einem kleinen Flüssigkeitskristalldisplay und einem knapp zehn Zentimeter breiten Laserdrucker ruhte. »Halten Sie sich bereit«, sagte Alfred. — 159 —
Der Batman beobachtete den Dateneingang, sah, wie die Diagramme und Symbole über den Schirm rauschten, viel zu schnell, um sie zu lesen. Der Laserdrucker arbeitete ebenfalls. Als er schließlich zur Ruhe kam, zog der Batman schnell die Papierstreifen heraus, trennte sie an der Perforation und befestigte sie an einem Korkdisplay, das sich im Deckel seines Koffers befand. Er studierte die Karten eingehend und trank dabei von einem Glas Wasser. Die Karte zeigte eine dreieckig geformte Zone in der Gegend, wo Myanmar, Laos und Thailand zusammenstoßen. Die Topographie war vorwiegend gebirgig mit einer Anzahl von Hochflächen. Der Mekong floß durch das kleine Land, und auf der Karte waren auch seinen zahlreichen Nebenflüsse eingezeichnet. Der Batman warf einen Blick auf die Maßstabsangabe am unteren Kartenrand und rechnete im Kopf aus, daß das Land etwa fünfundzwanzigtausend Quadratkilometer groß war. Seine Durchschnittshöhe über dem Meeresspiegel betrug etwa zweitausend Meter. Kleingedruckt las der Batman in der rechten unteren Ecke der Karte: Bemerkungen: (1) Koordinaten: 21.54°N 99.00°O (2) Myanmar ehemals Birma Der Kämpfer für Recht und Ordnung atmete tief ein. »Allgemeine Daten?« fragte er. »Der offizielle Name des Landes lautet Königreich Udon Khai«, sagte Alfred. »Offenbar weist das auf eine ältere Regierungsform hin.« — 160 —
»Und welches ist die aktuelle Regierungsform?« »Eine Militärdiktatur«, sagte Alfred knapp. »Das dritte Regime dieser Art in Folge.« »Bevölkerung?« fragte der Batman. »Sehr gering, Sir. Insgesamt etwa vierhunderttausend Menschen, höchsten vierhundertfünfzigtausend. Daraus ergibt sich eine Dichte von achtzehn pro Quadratkilometer. Das ist natürlich nur ein Mittelwert. Die Dichte schwankt zwischen zehn im Bergland und viertausend in der Hauptstadt.« »Welche ist das?« »Mae Ngao. Sie liegt nicht weit vom Flughafen entfernt. Die Einwohnerzahl beträgt ungefähr zweihundertfünfzigtausend.« »Was gibt es sonst noch?« »Das Klima von Udon Khai hat drei Jahreszeiten. Keinen Winter. Es gibt Monsune, aber nicht im gleichen Umfang wie bei den Nachbarn. Wie sie auf der Karte erkennen können, ist Udon Khai von Land eingeschlossen. Es gibt Zufahrtsstraßen über alle drei Grenzen, aber die Informationen über diese Straßen können nicht als zuverlässig gewertet werden.« »Weshalb nicht?« »Wegen ständiger Guerillaaktivitäten«, antwortete Alfred. »Die Region ist eigentlich ständig in Unruhe. Der sicherste Einreiseort ist der General Pol Xan Rho Airport. Es handelt sich um eine ultramoderne Einrichtung, die Flugzeuge jeder Größe aufnehmen und abfertigen kann, darunter auch die SST und Langstreckenbomber.« — 161 —
»Wie versorgt sich das Land?« »Nicht sehr gut, Sir«, entgegnete Alfred. »Das Pro-KopfEinkommen liegt noch unter einhundertfünfzig Dollar pro Jahr. Sie importieren fast alles: Erdölprodukte, kleine Maschinen, Motorfahrzeuge, schwere Maschinentechnik, Chemieprodukte, Haushaltsartikel, medizinisches Gut, Angriffswaffen; militärische Ausrüstung … soll ich fortfahren?« »Nein. Exportieren sie überhaupt etwas?« »Teakholz ist ein wesentlicher Exportartikel. Und selbst dieser wertvolle Rohstoff wird allmählich knapp – es gibt nämlich keinerlei Pläne zur Wiederaufforstung.« »Was wird dort landwirtschaftlich angebaut?« »Udon Khai hat ausgedehnte Anbauflächen für Kaffee, Tabak und Reis sowie Baumwolle, letzteres aber in geringerem Umfang. Es gibt Zinnvorkommen, und es wird Jade gefunden. Hinzu kommt noch das Teakholz, aber das habe ich schon vorhin genannt. Und, natürlich, Mohnsamen.« »Für Opium?« »Ja, Sir. Nach dem Tourismus ist Opium die Haupteinnahmequelle des Landes. Wenn die Datei ›Tourismus‹ geöffnet wird, teilt der Computer mit …« »Ich weiß, was er dazu zu sagen hat«, unterbrach der Batman leise. »Sehr wohl, Sir. Gibt es noch etwas?« »Ja. Was können Sie mir über die Regierung erzählen?« »Aus konventioneller westlicher Sicht gibt es dazu nicht viel zu sagen«, meinte Alfred. »Der derzeitige Diktator ist — 162 —
ein gewisser General Lin Fa Ngum. Es gibt eine große stehende Armee von fast zwanzigtausend Soldaten. Natürlich keine Marine. Die Luftwaffe konzentriert sich vorwiegend auf Kurzstreckeneinsätze – sie haben Harrier-Jump-Jets und Bell-LOH-Helikopter –, alle Kriege finden entweder im Lande oder in Grenznähe statt, vorwiegend mit Drogenbaronen. Es gab eine stillschweigende Vereinbarung zwischen der Regierung und den anderen kämpfenden Parteien, sich die Einkünfte aus dem Opiumgeschäft zu teilen, doch als das allgemein bekannt wurde, kam es zu drastischen Kürzungen der Auslandshilfen. Einer der Gegenspieler der Regierung sollte einem von der Militärregierung geplanten Attentat zum Opfer fallen – wenn er lebendig gefangen wird, würde er sicherlich die gesamte derzeitige Staatsführung in Mißkredit bringen. Es herrscht totale Pressezensur. Es gibt einen Fernsehsender, einen Rundfunksender und eine Zeitung. Die Rebellen senden manchmal auf einer verbotenen Radiofrequenz, aber das geschieht nur äußerst sporadisch.« »Wer sind die Rebellen?« »Die offizielle Parteilinie sagt, daß es überhaupt keine Rebellen gibt. Alle Angriffe werden den kommunistischen Kräften in einem der benachbarten Länder zugeschrieben. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist diese Erklärung nicht sonderlich einleuchtend. Die zuverlässigsten Informationen besagen, daß es sich bei den Rebellen um junge Leute handelt, die aus den Städten in die Berge geflohen sind … und nicht einmal diese Aussage kann als zuverlässig eingestuft werden.« — 163 —
»Sind religiöse Führer an dieser Rebellenbewegung beteiligt?« »Das läßt sich zur Zeit nicht eindeutig feststellen«, sagte Alfred. »Die offizielle Religion ist der Therevada-Buddhismus, aber bei einigen Bergstämmen wird auch der Animismus praktiziert.« »Währung?« »Die offizielle Einheit ist der Klong. Der Wechselkurs beträgt … sechshundertsiebenundsechzig Klong pro US-Dollar bei Börsenschluß gestern abend. Die Währung ist sehr instabil«, warnte Alfred, »und auf den Handel mit ausländischer Währung steht die Todesstrafe.« »Sie bestrafen den Devisenhandel mit dem Tod?« fragte der Batman mit ungläubiger Stimme. »Es gibt die Todesstrafe für … siebenundachtzig unterschiedliche Vergehen«, sagte Alfred leise. »Die Regierung von Udon Khai ist deshalb sicherlich sehr beliebt.« »Welche Sprache wird dort gesprochen?« »Udon – wie im Landesnamen – ist die vorherrschende Sprache für diplomatische Zwecke. Französisch wird in der Schule gelehrt, aber nur der Mittelstand kann es sich leisten, die Kinder in die Schule zu schicken. Und da Englisch die allgemeine Handelssprache ist und fast alle Angehörigen des Mittelstandes in der einen oder anderen Form Händler sind, wird das Französisch nicht benutzt, außer um damit zu beeindrucken. Angeblich sollen sich einige Bergstämme mit unbekannten Dialekten verständigen, aber darüber Genaueres in Erfahrung zu bringen, ist sehr schwierig.« — 164 —
»Weil …?« »Weil es gesetzlich verboten ist, außerhalb der Hauptstadtgrenzen etwas anderes als Udon zu sprechen.« »Steht auch darauf die Todesstrafe?« »Jawohl, Sir. Udon Khai behauptet offiziell, daß zweiundzwanzig Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben können. Objektive Schätzungen setzen diese Rate viel niedriger an. Praktisch keiner der Bergstämme ist des Lesens und Schreibens mächtig.« »Gibt es in der Nähe irgend etwas, das uns gehört?« »Unser nächster Besitz ist in … Sydney, Australien, Sir. Von dort ist es ein verhältnismäßig kurzer Sprung bis nach Udon Khai. Ich kann für uns einen Privatflugplatz nicht weit von Mae Ngao reservieren lassen.« »Ist das der Ort, wo die ›Touristen‹ –?« »Ja«, sagte Alfred mit nahezu ausdrucksloser Stimme. »Brauchen Sie sonst noch etwas, Sir?« »Ja, jemanden, der die Sprache beherrscht«, sagte der Batman. »Der oder die Betreffenden müssen sie so fließend beherrschen, daß Simultanübersetzungen möglich sind, und sie müssen mit idiomatischen Ausdrücken vertraut sein.« »Sehr wohl, Sir. Melden Sie sich, wenn Sie in Sydney angekommen sind, Sir – bis dahin dürfte ich alles in Ihrem Sinn erledigt haben.« »Vielen Dank, alter Freund.« »Gute Jagd, Sir«, sagte Alfred, und in seiner sonst so kontrollierten Stimme schwang ein leidenschaftlicher Unterton mit. — 165 —
Mit dem Visum für Australien in der Tasche nahm Bruce Wayne einen internationalen Nonstopflug nach Sydney. Nachdem er es sich auf seinem Platz bequem gemacht hatte, beschäftigte er sich mit einem Computerausdruck, den Alfred ihm wenige Stunden zuvor übermittelt hatte. Unter der Überschrift ›Udon Khai – wichtige Ereignisse‹ waren die Ergebnisse von Alfreds Recherchen in chronologischer Folge aufgelistet: 1287: 1654: 1824: 1883: 1937:
1942: 1949: 1950: 1973: 1975: 1977:
Invasion durch die Mongolen unter Kublai Khan Portugal gründet Christliche Mission Anschluß an das von den Briten besetzte Indien Briten verkaufen die Verwaltungsmacht an Frankreich Verhandlungen mit Frankreich führen zu begrenzter Selbstbestimmung. Alfred hatte ein handschriftliches ›völlig illusorisch‹ hinter diesem Eintrag eingefügt. Besetzung durch Japan Umwandlung in souveränen Staat. Einführung der Demokratie Armee übernimmt Regierungsgewalt Volksaufstand, Wiedereinführung der Demokratie Invasion durch kambodschanische Kommunisten über Laos Unter der Führung von General Pol Xan Rho werden kambodschanische Streitkräfte zurückgeschlagen, und die Armee übernimmt erneut die Regierungsgewalt. — 166 —
1988: General Lin Fa Ngum übernimmt die Regierungsgewalt von General Pol Xan Rho, der die Herrschaft während einer Fernsehsendung übergibt und danach nie wieder gesehen wird. Der Flughafen des Landes wird ihm zu Ehren umbenannt. General Lin Fa Ngum schließt Bündnisse mit westlichen Nationen, vor allem mit den Vereinigten Staaten und Kanada. 1991: Die Kindersex-Industrie ersetzt die Opiumproduktion als Haupteinnahmequelle des Landes. »Alfred wäre ein toller Journalist gewesen«, dachte der Batman. »Er wäre in allem ganz toll gewesen … aber er hat seine Träume aufgegeben und hat sein ganzes Leben nur meinem Schutz gewidmet.« Bruce Wayne schloß die Augen, aber es war der Batman, der im Flugzeugsessel schlief. Und es war der Batman, der von Bruce Waynes Suite im obersten Stockwerk des Barrier Reef Hotel in Sydney ein Trans-Pazifik-Telefonat führte. »Gibt es etwas Neues?« fragte er. »Drakos Yacht ist vor dreizehn Tagen ausgelaufen«, berichtete Alfred. »Laut unseren Quellen ist er unterwegs nach Udon Khai.« »Haben Sie ein voraussichtliches Ankunftsdatum?« »Kein genaues, aber er dürfte seinem Ziel zur Zeit schon ziemlich nahe sein. Sie haben die Erlaubnis, morgen abend auf dem General Pol Xan Rho Airport zu landen, und zwar — 167 —
zwischen einundzwanzig Uhr und Mitternacht Udon-KhaiZeit. Sobald Sie in der Luft sind, geben Sie mir Bescheid, und ich leite die Landekoordinaten weiter – ein detaillierte Flugplan ist nicht nötig.« »Haben Sie auch beim G-Man nachgefragt?« wollte der Batman wissen. Der G-Man war ein Chicagoer Teenager namens Gino, auch bekannt unter dem Namen ›Das Wetter-Wunder‹. Der junge Mann lieferte einen besonderen Service, indem er extrem detaillierte Wettervorhersagen für jede Gegend der Welt erstellte. Obwohl er die gleichen Satellitendaten verarbeitete wie die kommerziellen Wetterdienste, hatte er eine Reihe von komplizierten Formeln entwickelt, die für besonders genaue Daten sorgten. Die geschäftliche Seite dieses Unternehmens wurde von seinem jüngeren Bruder Nicholas kontrolliert, der auf den Basketballfeldern der Stadt als Nick the Quick bekannt war. Zusammen hatten die Brüder den engumgrenzten Markt für Wettervorhersagen völlig unter Kontrolle. »Natürlich habe ich das«, erwiderte Alfred, und keine Spur von Beleidigtsein lag in seiner Stimme. »Mir wurde versichert, daß der Tsunami vor der thailändischen Küste sich irgendwo im Indischen Ozean verlaufen wird. Auf dem Hinflug sollte es klar und wolkenlos sein.« »Danke, mein Freund. Sonst noch was?« »Ja, Sir. Ihr Übersetzer wurde gefunden. Sein Name lautet Rhama Bgyn. Er holt sie auf dem Flughafen ab und bleibt bei Ihnen, bis Ihre Arbeit abgeschlossen ist.« — 168 —
»Ob es wohl jemals dazu kommen wird?« fragte der Verbrechensbekämpfer im Geiste. Die Antwort, die sich automatisch aufdrängte, tröstete ihn nicht.
B
ig Jack Hollister lenkte den Mietwagen mit der Lässigkeit eines Verkehrsveteranen, obwohl das Lenkrad auf der rechten Seite für ihn ungewohnt war. Er folgte den Anweisungen, die er in San Francisco erhalten hatte, und hielt gelegentlich an, um sich umzuschauen und zu orientieren … und um sich zu vergewissern, daß er nicht verfolgt wurde. Eine gemütliche Fahrt von vierzig Minuten Dauer brachte ihn schließlich zum Bondi Beach. Er ging zu einem Münzfernsprecher, warf die Münzen in den Schlitz und wählte die Nummer, die man ihm genannt hatte. Das Telefon in einem Apartment im vierten Stock klingelte. Eine sorgfältig manikürte Hand griff nach dem Hörer und nahm ihn ab. »Ja, bitte?« sagte eine Stimme. »Mein Name ist Hollister«, sagte der Batman. »Ich denke, Sie erwarten mich.« »Das könnte schon sein«, antwortete der Mann im Apartment. Dabei war seine Stimme so trocken wie die abgelegte alte Haut einer Schlange. »Drehen Sie sich um, wenn Sie nichts dagegen haben.« — 169 —
»Umdrehen?« fragte der Mann, der sich als Big Jack Hollister vorgestellt hatte, und spielte den Verwirrten. »Ja. Umdrehen – ich würde Sie mir gerne ansehen«, sagte der Mann im Apartment und blickte nun durch ein Fernglas, das auf den Münzfernsprecher gerichtet war, den Hollister hatte benutzen sollen. Während Hollister sich umdrehte, verglich der Mann im Apartment das Gesicht mit dem auf dem Polaroidfoto, daß er in der linken Hand hielt. »Das reicht«, sagte er zufrieden. »Haben Sie daran gedacht, mitzubringen, was ich Ihnen angegeben haben?« »Ja«, sagte Hollister und hob eine blaue Sporttasche hoch. »Ah, sehr gut. Wenn Sie jetzt einen kleinen Spaziergang machen würden … sagen wir, ein Stück Richtung Wasser, und es sich schon mal bequem machen, dann bin ich gleich bei Ihnen.« »Okay«, sagte Hollister, aber er sprach bereits in ein totes Telefon. Hollister fand einen geeigneten Platz. Er öffnete die Sporttasche und breitete eine Armeeplane aus Khakistoff aus. Dann griff er erneut in die Tasche und holte einen kleinen roten Kühlbehälter in der Form einer Werkzeugtasche heraus. Zufrieden ließ Big Jack sich auf den Rücken sinken, schloß die Augen und drehte sein Gesicht zur Sonne, als wolle er die Gelegenheit nutzen, sich ein wenig bräunen zu lassen. Seine hochempfindlichen Sinne informierten ihn schon bald vom Herannahen einer anderen Person, — 170 —
doch er rührte sich nicht, bis er angesprochen wurde: »Mr. Hollister, nehme ich an?« Hollister schlug die Augen auf. Er blickte zu einem stattlichen Mann hoch, der mit einem weißen Anzug und einem dazu passenden Panamahut bekleidet war. Die Hautfarbe des Mannes erinnerte an altes Kupfer. Er sah so glatt aus wie ein Seehund – seine ganze Erscheinung strahlte Selbstsicherheit aus. »Darf ich mich setzen?« fragte er. Hollister rutschte ein Stück, um ihm Platz zu machen. Der stattliche Mann öffnete den roten Kühlbehälter und holte eine Rasche dunkles East India Ale heraus. »Sie haben einen exzellenten Geschmack, Sir!« sagte er begeistert und entfernte den Flaschenverschluß mit seinen großen weißen Zähnen. »Ich dachte mir, daß wir in vielen Dingen einen ähnlichen Geschmack haben«, sagte Hollister. »Ähnlich, aber doch einigermaßen ausgefallen, meinen Sie nicht?« erwiderte der stattliche Mann. »Ich denke, es kommt darauf an, wen man fragt.« »Ja. Aber genug jetzt mit dem albernen Herumgerede, Mr. Hollister. Mein Name ist Morad. Jetzt wissen Sie alles über mich, was Sie wissen müssen. Verraten Sie mir, wie ich Ihnen zu Diensten sein kann.« »Ich bin interessiert an … Gelegenheiten. In Udon Khai. Ich habe gehört, daß Sie mit den dortigen … Umständen bestens vertraut sind. Ich hatte gehofft, daß Sie mich dort … einführen würden, wenn ich es so ausdrücken darf.« »Mein lieber Freund«, sagte Morad. »Sie haben es hier nicht mit diesem paranoiden Drako zu tun – all diese — 171 —
Schönfärberei ist in diesem Fall nicht nötig. Sie wünschen die Gesellschaft von Kindern, ja? Sollen es Jungen oder Mädchen sein?« »Mädchen«, sagte Hollister. »Aha. Für neue Waren und ich meine damit ganz neue Ware, liegt der Preis bei … hm, etwa zehntausend Dollar?« »Zehn amerikanische Riesen? Nur für …?« »Zehn australische Riesen«, unterbrach Morad ihn. »Vielleicht habe ich mich klar genug ausgedrückt. Ich rede von einer Jungfrau, von einem völlig unberührten Kind. Als Amerikaner wissen Sie den Wert einer solchen Gelegenheit vielleicht nicht richtig einzuschätzen.« »Ich verstehe«, sagte Hollister. »Es scheint mir nur ein wenig hoch für nur eine …« »Sie brauchen es nicht bei einem einzigen Mal zu belassen«, unterbrach Morad ihn erneut. »Obgleich Sie diesen speziellen Augenblick nur ein einziges Mal erleben können, steht das Kind Ihnen volle vierundzwanzig Stunden zur Verfügung – es ist alles im Preis Inbegriffen, desgleichen eine einem solchen Unternehmen angemessene Umgebung.« »Und es ist legal? Völlig legal?« »Mr. Hollister, Legalität ist ein Produkt des Augenblicks. Zur Zeit liegt die Ehemündigkeit in Udon Khai bei zwölf Jahren – Sex mit einem Kind in mindestens diesem Alter ist daher völlig legal.« »Aber wenn ich nun …?« »Sie brauchen nicht weiterzureden«, sagte Morad und schnitt Hollister schon wieder mitten im Satz das Wort — 172 —
ab. »Das Alter eines Kindes hat für die Regierung in Udon Khai keinerlei Bedeutung. Wichtig ist einzig und allein der Preis, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Demnach bekomme ich für zehntausend …?« »Ein Kind, das nicht ganz zwölf Jahre alt ist. Wenn Sie ein viel jüngeres Kind wünschen, müßten wir erneut über die anfallenden Kosten reden.« »Das klingt ja paradiesisch«, sagte Hollister. »Es ist das Paradies«, erwiderte Morad. »Sogar diese Unterhaltung ist vollkommen legal. Selbst wenn Sie ein Undercoveragent wären«, begann er und schaute Hollister in die Augen, »und selbst wenn Sie mir Geld anbieten würden und ich es annähme, wäre kein Verbrechen begangen worden.« »Das ist ja phantastisch.« »Phantastisch ist wahr, Mr. Hollister. Unglücklicherweise versuchen soeben einige antipädophile Faschisten eine Änderung der Gesetze herbeizuführen. Wenn sie mit ihren Bemühungen Erfolg haben, wäre bereits eine Unterhaltung, wie wir sie gerade führen, ein Vergehen. Verschwörung zu einer Straftat‹ würden sie es nennen. Es ist ein unerhörter Angriff auf unsere Bürgerrechte, und ich vertraue darauf, daß unsere liberalen Freunde in der Regierung den Versuch bereits im Keim ersticken. Und selbst wenn die repressiven Elemente hier Erfolg haben sollten, werden sie größte Schwierigkeiten in den Vereinigten Staaten haben, das kann ich Ihnen garantieren. Man kann sich stets darauf verlassen, daß amerikanische Politiker unser Anliegen unterstützen – tatsächlich ist Amerika das Land mit dem — 173 —
größten Verständnis für unser … Hobby. Es gibt soviel Verlogenheit in der Welt! Sind nicht wir die wahren Fürsprecher der Kinder? Was ist schließlich das Recht des Kindes wert, zum Sex ›nein‹ zu sagen, wenn es nicht das gleiche Recht hat, ›ja‹ zu sagen?« Morad wischte sich die Stirn mit einem schwarzen Seidentaschentuch ab. Dann holte er tief Luft. »Aber genug von diesen düsteren Gedanken, mein Freund – wir müssen das Leben auskosten, so gut es geht. Und das sollen Sie aus vollen Zügen tun …« Er streckte eine Hand aus, drehte die Handfläche nach oben. »Sagen wir zehntausend?« Hollister reichte ihm das Geld. Dafür erhielt er eine Adresse in Udon Khai. »Fragen Sie nach Bhatt Po«, erklärte Morad ihm. »Und geben Sie ihm diese Karte.« Hollister wurde ein Stück Pappe überreicht. Es hatte die gleichen Maße wie eine Visitenkarte. Auf der einen Seite befand sich eine große Zeichnung von einer Schwarzen Witwe mit dem rotorangen Stundenglassymbol auf dem schwarzen Spinnenbauch. Auf der anderen Seite hatte Morad einige piktografische Symbole aufgeschrieben. »Das ist alles, was Sie brauchen«, sagte er. »Warum eine Schwarze Witwe?« fragte Hollister. »Warum nicht?« entgegnete Morad. »Das ist unser Passierschein, Mr. Hollister … die Signatur unserer Organisation. Man kennt sie in ganz Udon Khai – wenn Sie lange genug hier sind, werden Sie sie sehr oft und an sehr vielen Orten sehen.« »Ich …« — 174 —
»Sie brauchen sich nicht zu bedanken, Mr. Hollister. Ich bin glücklich, Ihnen zu Diensten gewesen zu sein.« In der darauffolgenden Nacht war ein kleiner Jet in fünfundvierzigtausend Fuß Höhe, weit über jedem Passagierflugzeug, unterwegs. An den Kontrollen saß Batman und überprüfte die Koordinaten, die Alfred ihm übermittelt hatte. Er zog das Mikrofon an seinen Mund, dann tippte er mit der rechten Hand den Zahlencode für die Bathöhle ein. »Ja bitte, Sir?« meldete Alfred sich. »Ich bin absolut pünktlich«, sagte der Batman. »Und am richtigen Ort. Wenn ich diese Koordinaten richtig verstehe und sie mit dem Plan des Flughafens vergleiche, scheint es, als würde ich gar nicht auf einer Rollbahn landen. Sehen Sie das genauso?« »Nein, Sir, das tue ich nicht. Dort, wo Sie landen, befindet sich ein nicht verzeichneter Abschnitt des Flughafens, aber dort haben Sie genügend Rollbahn zur Verfügung. Wenn Sie einfliegen, geben Sie das Signal ›Code 33‹ an den Tower. Sie werden nicht antworten, aber zwei Reihen Landelichter dürften eingeschaltet werden, die Sie nach unten geleiten.« »Und von dort?« »Rhama Bgyn wartet auf Sie, Sir. Und er wird schon für eine Transportmöglichkeit sorgen.« »Es klingt so, als hätte der Flughafen Ähnliches schon früher arrangiert.« »Das tut er ständig«, erzählte Alfred. »Man nimmt an, daß Sie in irgendwelche illegalen Unternehmungen verwickelt — 175 —
sind. Vielleicht betrug deshalb die Gebühr für eine ›Sondererlaubnis‹ eine Viertelmillion amerikanische Dollar, telegraphisch zu überweisen auf ein Konto auf den CaymanInseln.« »Dieser Rhama Bgyn … sind Sie absolut sicher, was seine Referenzen betrifft?« fragte der Batman, ohne etwas von seinen umfangreichen Sprachkenntnissen verlauten zu lassen. »Seine Referenzen sind tadellos, Sir«, versicherte Alfred ihm. »Er wurde von unseren Leuten sorgfältig überprüft. Er wird sogar von der Regierung General Ngums gesucht – eme Belohnung wurde ausgeschrieben, deren Höhe etwa zweitausend amerikanischen Dollars entspricht – ein ansehnliches Vermögen in diesem Land.« »Und weshalb wird er gesucht?« »Wegen Hochverrats«, sagte Alfred. Der Batman machte sich nicht die Mühe zu fragen, ob auch dieses Verbrechen mit der Todesstrafe geahndet würde. »Ich mache Schluß«, sagte er statt dessen und ließ die Nase des kleinen Jets nach vorne abkippen, um den langen Sinkflug einzuleiten.
S
obald der kleine Jet gelandet war, verschmolz er mit den Schatten am Ende der inoffiziellen Landebahn: Der fleckige schwarz-graue Anstrich des Jets paßte sich der Umgebung genau an. Ein schlanker jun— 176 —
ger Mann mit kurzgeschnittenem schwarzen Haar und undeutbarem Augenausdruck tauchte aus dem Dickicht am Rand der Rollbahn auf und trat langsam auf den Jet zu. Ein leises Zischen ertönte, als die Seitentür aufsprang. Ein großer, kräftig gebauter Mann stieg die Treppe herunter. Er trug einen schweren Koffer in der linken Hand. Er bemerkte den jungen Mann und ging gemessenen Schrittes auf ihn zu. Als die beiden sich auf halbem Weg trafen, streckte der junge Mann die Hand aus. »Rhama Bgyn«, stellte er sich vor. »Stets zu Ihren Diensten.« »Big Jack Hollister«, antwortete der andere Mann. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Kumpel.« »Ich bedaure, daß die Unterbringungsmöglichkeiten ziemlich armselig sind«, sagte Rhama Bgyn zu Big Jack, während er die unauffällige Limousine auf einer der Nebenstraßen, die die Hauptstadt umgaben, durch eine langgestreckte Kurve lenkte. »Mein … Arbeitgeber meinte, Sie wünschten vor allem absolute Ungestörtheit?« »Ja, das stimmt«, sagte Big Jack. »Machen Sie sich wegen mir keine Sorgen – sobald ich mich hier ein wenig zurechtfinde, falle ich Ihnen nicht mehr zur Last.« »Brauchen Sie mich denn nicht für …?« »Es gibt noch einen anderen Mann«, sagte Big Jack. »Er ist es, für den Sie eigentlich dolmetschen sollen, okay?« »Ich verstehe.« »Aber zuerst einmal möchte ich die Lage peilen, in Ordnung?« — 177 —
»Ja. Sobald wir Sie untergebracht haben, stehe ich Ihnen zur Verfügung.« Zwei Abende später kam Big Jack Hollister aus einem Nachtclub. Als er auf dem Gehsteig stehenblieb, fiel das grelle Neonlicht auf sein Profil und verstärkte den Eindruck seines abgespannten Gesichts. Es war der fünfte Club, den er an diesem Abend besucht hatte. Der fünfte Club, in dem kleine Mädchen, die noch Jahre vom Teenageralter entfernt waren, auf der Bar herumstolzieren mußten, als würden sie genauso zum Angebot gehören wie Essen und Trinken. Indem er die Galle herunterschluckte, die ihm in der Kehle hochstieg, machte Big Jack sich auf den Weg zu einer anderen Adresse, die man ihm genannt hatte. Dabei waren seine Augen von einem roten Schimmer bedeckt, der nichts mit der Neonreklame zu tun hatte. Die Ladenfront war verglast und trug die von Hand aufgemalte krakelige Aufschrift FOTOS! Im hinteren Teil des Ladens blätterte Big Jack ein Album mit Farbfotografien durch. Alle Bilder zeigten Kinder, Jungen oder Mädchen. Kein Kind war bekleidet. Mehrere waren an sexuellen Handlungen beteiligt – mit Erwachsenen, miteinander, mit Tieren. Der Inhaber deutete nacheinander auf jedes Foto und nannte Preise und Dienstleistungen in einem halbwegs verständlichem Englisch. Der Mann, dessen Selbstkontrolle die Grundlage seines Lebens war, kämpfte innerlich gegen eine geheime Stimme … eine Stimme, die er zum erstenmal hörte. Eine Stimme, die ihn zu Gewalt drängte. Während er den Kopf schüttelte, — 178 —
als ob diese Bewegung seine Gedanken neu ordnen würde, verließ Big Jack Hollister den Salon des Zuhälters und kehrte auf die Straße zurück. »Es wird Zeit«, murmelte er vor sich hin. Der Batman zog über die Dächer von Mae Ngao, prägte sich die Lage von Sackgassen, von Einbahnstraßen und anderen strategischen Punkten ein. Er zog kreuz und quer durch die Stadt, folgte dabei den Informationen, die Rhama Bgyn Big Jack gegeben hatte, und fand mehrere kleine Apartmenthäuser, die ausschließlich dazu benutzt wurden, um dort die für die Sexindustrie wichtigen Kinder unterzubringen. Als er in die Fenster schaute, überkam den Batman eine so tiefe, elementare Traurigkeit, daß sein Körper vor Schmerz und Mitleid mit diesen gefangenen Kindern zitterte. »Mutter, ist dies der Teufel, gegen den du gekämpft hast?« fragte er in Gedanken. Und über die Zeit, über den Raum, sogar über den Tod hinaus, antwortete seine Mutter ihm. Rhama Bgyn kehrte in das heruntergekommene Haus zurück, das er am Rand der Stadt gemietet hatte, und erwartete, dort den großen amerikanischen Journalisten zu treffen. Er betrat das Haus durch die Vordertür und ging leise in den hinteren Teil, wo der Amerikaner schlief. Das Zimmer war leer. Wie die meisten Menschen, die ein Zimmer durchsuchen, blickte Rhama Bgyn nicht auf … als daher der Batman leise hinter ihm landete, war es genauso, als sei — 179 —
der Nachtkämpfer aus dem Nichts erschienen. Erschrokken zuckte Rhamas Hand zu seiner Achselhöhle, aber der Batman war zu schnell – die Pistole kam keinen Millimeter aus dem Holster heraus. »Haben Sie keine Angst«, sagte der Batman und hielt den Oberarm des jungen Mannes fest. »Ich bin nicht hergekommen, um Ihnen etwas anzutun – ich bin gekommen, um Sie um Ihre Hilfe zu bitten.« »Wer sind …« »Big Jack Hollister hat Ihnen sicherlich von mir erzählt«, sagte der Batman leise. »Ich brauche einen Dolmetscher.« »Oh. Sie sind derjenige. Ich hätte nicht angenommen …« »Das ist richtig. Ich muß in die Berge, und ich brauche einen Führer.« »In die Berge? Aus der Stadt hinaus, meinen Sie?« »Ja. Weit hinaus. Ich möchte dorthin, wo die Leute ihre Kinder wie Vieh verkaufen.« »Leider ist diese Bitte sehr leicht zu erfüllen«, sagte Rhama Bgyn, wobei er immer noch Schwierigkeiten hatte, seine Augen auf das kostümierte Wesen einzustellen. »Wann möchten Sie gehen?« »Jetzt«, sagte der Batman. »Heute. Ich muß eine Basis einrichten, ehe es hell wird. Aber zuerst gibt es einen anderen Ort, den ich aufsuchen möchte.« In einer engen Gasse abseits einer gewundenen Straße beobachteten der Batman und sein Führer einen dunklen Hauseingang – es war die Adresse von Bhatt Po. »Schaffen Sie es reinzukommen, wenn Sie ihm diese Karte zeigen?« — 180 —
fragte der Batman den Führer und reichte ihm das Symbol der Schwarzen Witwe. »Ja. Alle Fleischhändler kennen dieses Markenzeichen«, sagte Rhama leise. »Es ist ungewöhnlich für einen Eingeborenen, so etwas zu besitzen. Sie werden wahrscheinlich eine ganze Menge Fragen stellen. Aber ich werde dadurch sicherlich einen Fuß in die Tür bekommen.« »Tun Sie’s«, sagte der Batman. Rhama verbeugte sich. Als er wieder hochsah, war er allein in der Gasse. Rhama Bgyn überquerte verstohlen die schmale Straße, wobei seine Körperhaltung irgendeine schändliche Absicht verriet. Eine schnelle Folge von Klopfzeichen an der Holztür, und eine schmale Klappe wurde zurückgeschoben. »Was wird gewünscht?« fragte eine Stimme auf Udon. Rhama gab keine Antwort. Statt dessen reichte er die Karte mit der Schwarzen Witwe durch den Schlitz, der sofort wieder geschlossen wurde. Lange fünf Minuten verstrichen. Dann öffnete die Tür sich ganz. Ein Mann in einer schwarzen gi mit Kapuze forderte Rhama auf einzutreten, und trat beiseite, um dem Besucher Platz zu machen. Der Mann in Schwarz deutete einen Korridor hinunter. Rhama ging langsam in diese Richtung und spürte den anderen Mann dicht hinter sich. Sie betraten einen langgestreckten, schmalen Raum, in dem ein Mann von unbestimmter Herkunft saß, als sei das Möbel früher ein Thron gewesen. Der — 181 —
Mann in der schwarzen gi näherte sich ihm, verbeugte sich hastig und übergab ihm die Karte mit der Schwarzen Witwe. »Ich bin Bhatt Po«, sagte der Mann im Sessel. »Woher hast du diese Karte?« »Von einem Mann, einem weißen Mann. Er wohnt im Hotel. Er verlangte von mir, daß ich das Mädchen hole und zu ihm bringe.« »Das ist nicht gestattet«, erwiderte Bhatt Po. »Es ist zu gefährlich. Er muß hierherkommen.« »Sagen Sie ihm, daß ich das Mädchen haben will«, sagte der Batman und trat durch die Tür. Ehe Rhama mit der Übersetzung anfangen konnte, bewegte der Mann in Schwarz sich auf den Batman zu. Auf den Zehen stehend und die Haltung einer Raubkatze einnehmend, umkreiste der Mann in Schwarz den Eindringling langsam. Der Batman stand reglos da und wartete geduldig wie eine Statue aus Stein. Mit einem schrillen Schrei startete der Mann in Schwarz und sprang in die Luft. Dabei drehte er sich, um mit beiden Füßen einen Doppeltritt gegen den Bauch des Batmans auszuführen. Der maskierte Mann wich dem Tritt aus und zielte mit der Faust auf die ungedeckte Innenseite des Oberschenkels seines Gegners, als dieser an ihm vorbeiflog. Der Schlag lähmte den Mann in der schwarzen gi, so daß er die Kontrolle über seinen Körper verlor – sein Kopf schlug mit jenem knirschenden Geräusch auf dem polierten Holzfußboden auf, das meistens einen Schädelbruch signalisiert. — 182 —
»Sagen Sie es ihm«, wiederholte Batman so ruhig, als bäte er um eine Zeitung. Rhama sagte etwas auf Udon, lauschte der Antwort von Bhatt Po und sagte dann: »Er meint, hier seien keine Mädchen. Sie hätten sich geirrt. Es tue ihm leid.« »Übersetzen Sie simultan«, sagte der Batman mit rauher Stimme. »Direkt. Nichts von dem ›er sagte, sie sagte‹, verstanden?« Rhama verbeugte sich und wartete. »Geben Sie mir das Mädchen. Ich frage nicht noch einmal«, sagte der Batman. »Ich habe kein Mädchen hier, Sir«, sagte Rhama und übersetzte die hastige, ängstliche Antwort von Bhatt Po. »Eins von zwei Dingen ist in diesem Haus«, sagte der Batman. »Du kannst es dir aussuchen. Entweder hast du das Mädchen, oder du leidest ewigen Schmerz.« »Bitte, Sir, ich habe kein …« Der Batman ging zu dem massiven Tisch neben Bhatt Pos Thron. Seine behandschuhte Hand zuckte blitzartig. Der Tisch zersplitterte, als bestünde er aus Balsaholz und nicht aus Teakholz. Bhatt Pos Schrei verstummte augenblicklich, als der Batman ihn an der Kehle packte. »Dein Kehlkopf ist als nächstes an der Reihe«, zischte er. Bhatt Pos Gesicht nahm eine kranke grüne Farbe an. Seine Beine zitterten unkontrolliert. Er redete fast eine Minute lang, ehe er verstummte und die Hände in einer betenden Geste faltete. »Oben«, war alles, was der dolmetschende Rhama brauchte. Der Batman drückte auf einen Nervenknoten an — 183 —
Bhatt Pos Hals, und der Zuhälter sackte zusammen und stürzte mit dem Gesicht voraus auf die Überreste seines zertrümmerten Tisches. Rhama ging voraus zu einer engen Treppe. Der Batman folgte ihm dichtauf. Das einzige Licht kam von einer dikken Kerze am Ende des Flurs. Im letzten Zimmer fanden sie das Mädchen. Es sah aus wie acht oder neun Jahre. Bekleidet war es mit einem weißen Seidenhemd, und das Haar war sorgfältig gekämmt und glänzte. Alles an dem Kind war hell und glänzend bis auf die Augen – sie waren starr und leer. »Sie muß sich heftig gewehrt haben«, sagte Rhama. »Sie mußten sie unter Drogen setzen.« »Nehmen Sie sie auf den Arm und folgen Sie mir«, sagte der Batman. »Vielleicht hat Bhatt Po unten noch mehr Männer«, warnte Rhama, lud sich das Mädchen auf eine Schulter und zückte mit der freien Hand seine Automatic. »Ich hoffe es«, sagte der Batman, und seine Stimme klang so gnadenlos wie das Fauchen eines hungrigen Panthers. »Es scheint … so bestimmt zu sein«, sagte Rhama zu Batman. Sie saßen in Rhamas Wagen und verließen die Stadt. »Sie wollen dorthin, wo die Kinder verkauft werden, und jetzt bringen wir eins der Kinder zurück. Ich glaube, daß es ein Zeichen ist. Aber ich rate Ihnen, mit allem Respekt, dieses Kind nicht zu seiner Familie zurückzubringen.« »Warum nicht?« — 184 —
»Weil die Familie es verkauft hat. Das werden sie natürlich nicht zugeben. Um ihr Gesicht zu wahren, sagen sie immer, daß das Kind in der Stadt arbeitet und Geld nach Hause schicken wird. Die Leute, die die Kinder kaufen, zahlen immer bar. Und sie sagen, daß das Kind arbeiten muß, um dieses Geld zu verdienen. Das Kind darf erst nach Hause zurückkehren, wenn es viel verdient hat.« »Geschieht das denn jemals?« »Nein, nie.« »Vielleicht haben Sie recht. Fahren wir zuerst in die Berge, dann entscheiden wir, was wir tun.« »Wie Sie meinen, Krieger«, erwiderte Rhama, blickte durch die schmuddelige Windschutzscheibe und hielt Ausschau nach Regierungssoldaten. »In drei Stunden sind wir in den Bergen.«
D
ie Morgensonne stieg über der Gebirgskette auf, schickte ihre Strahlen über die felsige Hochebene, wo der grelle Lichtschein die Konturen des kahlen Geländes überdeutlich hervortreten ließ. Die Augen des Batman folgten der Sonne, suchten das wüstenhafte Terrain mit der Geduld des Jägers ab. Er stand im Eingang zu einer Höhle und war im tiefen Schatten unsichtbar wie die Luft. »Krieger, sagen Sie – wird das Mädchen sich erholen?« — 185 —
Der Batman antwortete dem jungen Mann, der dicht hinter ihm stand, ohne sich umzudrehen. »Ja. Sie wäre eigentlich schon vorhin aufgewacht – ich habe ihr eine zusätzliche Injektion gegeben, um den Aufwachzyklus zu verlängern – ich wollte nicht, daß sie in Angst die Augen aufschlägt.« »Wollen Sie sie noch immer zu ihrer Familie zurückbringen?« »Ja.« Rhama holte tief Luft. Er blickte auf seine ausgestreckten Hände, versuchte mit seiner Willenskraft ihr Zittern zu unterbinden. »Atmen Sie nur durch die Nase«, sagte der Batman leise, ohne sich umzuwenden. »Wenn Sie durch den Mund atmen, besteht die Gefahr einer Hyperventilation. Atmen Sie langsam. Und tief. Atmen Sie konzentriert ein – und atmen Sie danach konzentriert aus … langsam und tief. Sehr gut!« »Wie konnten Sie wissen –?« Rhama verstummte mitten im Satz. Der junge Mann atmete, wie es ihm erklärt worden war. Er beobachtete verblüfft, wie das Zittern seiner Hände nachließ und schließlich ganz verschwand. »Krieger«, fragte er, »darf ich reden?« »Natürlich.« »Ich weiß … wer Sie sind.« Der Batman reagierte nicht, da er bereits die Möglichkeit in Erwägung gezogen hatte, daß die Big-Jack-Hollister-Tarnung einer eingehenderen Inspektion sicherlich nicht lange standhalten würde. — 186 —
Durch das Schweigen ermutigt, fuhr Rhama fort: »Ich nenne Sie Krieger, weil das die zutreffendste Übersetzung aus unserer Sprache ins Englische ist«, sagte der junge Mann. »Hoch oben in diesen Bergen, in einer tiefen Höhle, dort lebt der Krieger. Alle wissen das. Von einigen wird er eine Legende genannt. Von anderen ein Mythos. Aber alle kennen die Wahrheit, obgleich sie es leugnen.« »Ich bin nicht …« »Ich verstehe«, unterbrach Rhama ihn. »Ich weiß, daß Sie das sagen müssen. Die Legende berichtet, daß der Krieger in vielen Gestalten auftritt. Aber wenn der Krieger als Mensch erscheint, werden alles es sofort erkennen. An diesem Tag, so steht es geschrieben, werden die Mauern einstürzen.« »Welche Mauern?« fragte der Batman, der gegen seinen Willen neugierig geworden war. »Die Mauern, die uns gefangenhalten. Wir stehen ganz allein in dieser Welt, wegen der Mauern. Wenn die Mauern zerbrechen, werden andere Menschen zu uns hereinschauen. Und dann wird sich die Chance bieten – die Chance, um unsere Freiheit zu kämpfen.« »Sie klingen ziemlich revolutionär« sagte der Batman. »Das hoffe ich auch« erwiderte Rhama. »Ich wünsche es mir sehr. Nur eine Revolution wird die Kinder von Udon Khai retten.« Am Spätnachmittag war das kleine Mädchen erwacht und verfolgte aufmerksam, was um sie herum vorging. Rhama flößte ihr eine klare Brühe ein, die der Batman zubereitet — 187 —
hatte. Es war eine spezielle Mixtur aus Nährstoffen, die sich, gerade wenn der Patient innerlich angespannt war, sehr schnell in Energie umwandelten. Anfangs noch furchtbar ängstlich, ließ das Kind sich schließlich beruhigen und trösten. Als sich die Dunkelheit auf die Berge herabsenkte, fiel die Kleine in einen segensreichen, traumlosen Schlaf. Der Batman und Rhama saßen rechts und links von einem mit Sonnenenergie betriebenen Heizgerät, das der Batman aus seiner umfangreichen Kollektion von Überlebensutensilien herausgesucht hatte. Tagsüber vom Sonnenlicht aufgeladen, erzeugte das Heizelement kein Licht, aber es strahlte genügend Wärme ab, um die gesamte Höhle zu heizen. Die Männer saßen in Lotosstellung auf dem Steinboden. Jeder war in Gedanken versunken. Schließlich ergriff der Batman das Wort: »Als Sie von Mauer gesprochen haben … Mauern, die Ihr Volk zu Sklaven machen, lag in Ihrer Stimme ein Ausdruck der Bitterkeit, der sich gegen die Außenwelt zu richten scheint. Stimmt das?« »Ja, Krieger. Es ist wahr. Es ist sowohl schrecklich als auch wahr.« »Möchten Sie mir das näher erklären?« »Wer sind die Verteidiger der Kinder dieses Landes? Wo sind all die Menschen, die sich überall auf der Welt über gewisse Dinge aufregen. Es gibt viele Mythen, die Schlimmes bewirken, ist es nicht so?« »Doch, das ist so.« »Sehen Sie. Es gibt einen Mythos, der besagt, daß das aus dem Horn des Nashorns hergestellte Pulver ein Aphrodisiakum ist. Dieser Mythos wurde vehement bekämpft. — 188 —
Umweltschützer auf der ganzen Welt wollen das Nashorn retten, daher erklären Sie es für gesetzeswidrig, mit Nashornhörnern zu handeln. Sie schießen ohne Vorwarnung auf Wilderer, und sie veranstalten eine umfangreiche Medienkampagne, um deutlich zu machen, daß das Horn des Nashorns den Männern nicht dabei hilft, ihre … Potenz … zu steigern. Das unterbindet zwar nicht den gesamten Handel mit diesem Tier, aber ein wesentlicher Teil kann damit lahmgelegt werden.« »Weshalb beunruhigt Sie das?« fragte der Batman. »Es gibt auch noch andere Mythen«, sagte der junge Mann und konnte seine rasende Wut kaum unter Kontrolle halten. »Zum Beispiel einen, der besagt, daß Sex mit einem kleinen Mädchen die sexuelle Potenz wiederherstellt. Ein anderer Mythos besagt, daß Sex mit einem kleinen Jungen immer sicher ist, da man sich bei einem Kind nicht mit Aids anstecken kann.« »Aber diese Mythen sind doch nicht …« »Nicht was, Krieger? Nicht wahr? Die Wahrheit ist immer nur das, was die Menschen glauben. Wo bleibt die Public-Relations-Kampagne, um solche Mythen anzugreifen? Wo bleiben die Gesetze, die die Kinder schützen? Warum ist es möglich, daß böse Menschen hierherkommen und unsere Kinder vergewaltigen, ohne in ihrem Heimatland als Verbrecher belangt zu werden? Wo bleiben die Boykotte, die Blockaden, die wirtschaftlichen Sanktionen? Wann erschießen wir die Wilderer, die sich an Kindern vergreifen, ohne Vorwarnung?« — 189 —
»Wie kommen Sie zu solchen Ansichten? Waren Sie ein Privatermittler?« fragte Batman und dachte, wie meine Mutter? »Ein Privatermittler? Ein solches Wort gibt es nicht in unserer Sprache, Krieger. Die einzigen Ermittler kommen bei uns von der Armee. Und sie verfolgen ausschließlich Rebellen und keine Leute, die Kinder verkaufen. Sie wollen wissen, wie ich das erfahren habe? Ich will es Ihnen erzählen«, sagte er, und seine Stimme wurde leiser, je eindringlicher sie klang. »Ich bin der Sohn eines Arztes. Ich hatte alle Vorteile: eine glänzende Erziehung, Diener im Haus, sogar ein Auto, als ich gerade vierzehn war. Mein Leben war die reinste Glückseligkeit – weil ich völlig blind war. Die Familie meiner Mutter stammte aus den Bergen. Manchmal fuhren meine Eltern hin und besuchten sie. Mein Vater verteilte kleine Geschenke wie ein König, der Almosen verteilt. Ich habe mich deswegen immer geschämt, aber ich bin trotzdem gerne mitgefahren.« »Ich hatte eine kleine Cousine«, fuhr Rhama Bgyn fort. »Sie hieß Lily. Sie war wunderschön. Ich war nur ein paar Jahre älter als sie, aber ich fühlte mich, als sei ich ihr großer Bruder. Ich habe sie immer beschützt.« Der junge Mann atmete ein, und es klang wie ein Seufzer. Er biß sich auf die Unterlippe und hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. »Sie nahmen sie mit, Krieger. Sie kamen in ihr Bergdorf und entführten sie. Als wir zu Besuch kamen, erzählte Lilys Vater, sie sei in die Stadt gegangen und wohne bei anderen Verwandten, aber das war eine Lüge. Ich habe überall gesucht. Mein Vater verbot es mir, aber ich sah mich weiter — 190 —
nach ihr um. Und ich fand meine kleine Lily, Krieger. Als ich sie fand, war sie eins der Les Enfants du Secret geworden.« »Kinder des Geheimnisses? Ich verstehe nicht …« »Das Geheimnis ist unsere Schande, Krieger. Die Schande unserer Nation und die Schande aller anderen Nationen, aus denen die Männer herkommen, um unsere Babys zu benutzen. Lily war ein … Spielzeug. Sie wurde benutzt, das erste Mal für viel Geld, und danach für immer weniger. Schließlich mußte sie in einer schmutzigen kleinen Hütte zur Verfügung stehen, viele Male am Tag, immer und immer wieder. Als ich sie schließlich fand, erkannte sie mich nicht. Aber als wir uns unterhielten, erkannte sie, daß ich wegen ihr gekommen war.« Der junge Mann atmete erneut heftig ein und mußte sich offensichtlich zwingen, seine Geschichte zu Ende zu erzählen. »Ich hatte so getan, als sei ich ein … Kunde, aber ich wußte, daß ich Waffen brauchen würde, um Lily zu retten. Pistolen sind in Udon Khai sehr einfach zu bekommen, aber sie sind teuer. Meinen Vater konnte ich nicht fragen – er hatte mich wegen Ungehorsams verstoßen, als ich meine Suche nach Lily nicht hatte abbrechen wollen. Damals verdiente ich meinen Lebensunterhalt mit Diebstählen. Ich wußte, daß es Jahre dauern würde, bis ich das Geld zusammengespart hätte, um mir eine Waffe zu kaufen, daher tat ich das, was ich tun mußte. Ich ging in die Berge. Die Rebellen nahmen mich gefangen. Ich erzählte ihnen, was ich vorhatte. Ich verkaufte meine Seele für zwei Pistolen. Ich fand meine Lily noch am selben Ort. Ich ging zu dem Hinterzimmer, das mit aufgehängten — 191 —
Decken in kleine Kabinen unterteilt worden war. Eine der beiden Pistolen gab ich Lily. Ich war sehr leise, aber ich wußte, daß wir entdeckt würden. Lily erschoß den Mann am Eingang des Hauses, in dem sie mißbraucht worden war. Wir schafften es bis hinaus auf die Straße, aber dann erschienen die Soldaten. Ich wurde zweimal getroffen. Lily hat dort ihr Leben gelassen. Auf der Straße. Aber ich wußte, daß ihre Seele den Frieden gefunden hatte.« »Wie sind Sie weggekommen?« fragte der Batman. »Ich kam nicht weg, Krieger. Als meine Wunden verheilt waren, steckte man mich ins Ghajhat-Gefängnis. Mein eigener Vater verleugnete mich. Ich wurde des Verrats für schuldig befunden. Ja, in Udon Khai gilt es als Verrat, eines der Enfants du Secret zu retten. Ich sollte hingerichtet werden, aber ich mußte warten – es gab so viele andere vor mir, für die die Schlinge des Henkers bestimmt war. Eines Nachts fand eine riesige Explosion statt – die Rebellen hatten eine Seite des Gefängnisses gesprengt, um einige ihrer Kameraden zu befreien. Viele von uns konnten fliehen. Viele schafften es nicht. Danach veranstaltete die Regierung Massenhinrichtungen.« »Als Sie sagten, Sie hätten Ihre Seele verkauft …?« »An die Rebellen, Krieger. Damals hatte ich keine Ahnung von Politik. Ich erklärte mich bereit, auf ihrer Seite zu kämpfen, bis sie den Sieg errangen oder bis ich starb. Aber es wäre sowieso egal gewesen. Sobald ich begriff, wie meine Lily mißbraucht worden war, wußte ich, daß ich nicht eher Ruhe finden würde, als bis sie gerächt wäre. Ich bin ebenfalls ein Rebell«, sagte der junge Mann, und seine Augen — 192 —
leuchteten durch einen Tränenschleier. »Nicht irgendein ausländischer Agitator‹ oder ein ›Kommunist‹ …, sondern ein Rebell gegen die Tyrannei, die unsere Kinder den Tieren vorwirft.« Lange sagte der Batman kein Wort. Dann streckte er eine behandschuhte Hand aus. Rhama ergriff sie und spürte die Kraft … die Kraft, die in ihm strömte. »Morgen«, sagte der Batman. »Morgen geht es los.«
I
m Morgengrauen des nächsten Tages entdeckte ein Dorfbewohner ein seltsames Trio, das von den Bergen herabstieg. An der Spitze schritt ein junger Mann mit einem Gewehr in der Hand; ihm folgte ein kleines Mädchen, das in Weiß gekleidet war. Und den Schluß bildete eine schattenhafte dunkle Gestalt, die einer Fledermaus ähnlich sah … einer Fledermaus, die aufrecht ging. Der Dorfbewohner rannte los, um die Neuigkeit im Dorf zu verbreiten. Als das Trio die aus festgestampfter Erde bestehende runde Fläche erreichte, die den Dorfplatz bildete, waren die Augen aller auf die Fremden gerichtet. »Denken Sie daran«, sagte der Batman zu Rhama, »simultan übersetzen!« »Ja, Krieger«, sagte der junge Mann. Er räusperte sich, dann befahl er dem Vater des kleinen Mädchens vorzutreten. Der Mann stolperte auf die drei Neuankömmlinge zu. Er war Mitte Dreißig, aber sein Rücken war gekrümmt, und — 193 —
viele seiner Zähne fehlten bereits. Seine Haltung war die eines kriecherischen, unterwürfigen Lakaien. Seine Angst war fast körperlich spürbar. Rhama Bgyn deutete auf Batman, lauschte seinen geflüsterten Worten, dann sprach er sie laut, mit klarer, kräftiger Stimme aus. »Ist das dein Kind?« fragte er den Mann, der vor ihm stand. »Ja.« »Du hast dieses Kind verkauft?« »Nicht … verkauft«, stammelte der Mann. »Sie sollte zurückkommen, wenn sie genug Geld verdient hätte.« »Wage es nicht, uns anzulügen! Wieviel Geld hast du erhalten?« »Dreihunderttausend Klongs.« Einigen der Dorfbewohner verschlug es den Atem – eine so hohe Summe könnte niemand von ihnen je in seinem Leben zurückzahlen. »Willst du deine Tochter zurückhaben?« ließ der Batman seine Frage von Rhama übersetzen. »Geschäft ist Geschäft«, wandte der Vater ein. »Ich kann das Geld nicht zurückzahlen, deshalb …« »Was für ein Mensch ist das, der sein Kind in die moderne Sklaverei verkauft?« Der Vater hielt den Kopf gesenkt und gab keine Antwort. Die Blicke des Batman wanderten über den Kreis aus Dorfbewohnern und musterten jeden von ihnen herausfordernd. Schließlich trat ein anderer Mann vor. »Darf ich etwas sagen?« fragte er. — 194 —
»Ja.« »Wir wissen, wer Ihr seid, Krieger. Und wir wissen, daß Ihr aus einem bestimmten Grund gekommen seid. Den Grund kennen wir nicht, aber vielleicht ist Eure Frage die Antwort.« »Sprich offen!« »Sehr schön. Ich bin hier der Anführer. Ich kenne diesen Ort gut. Ich wurde hier geboren. Ich will hier sterben. Dieser Mann«, sagte er und deutete auf den Vater, der immer noch mit gesenktem Kopf dastand, »hat neun Kinder. Neun. Wie soll er sie ernähren? Die Erde ist so hart wie das Herz General Ngums. Der Mohn wächst nicht sehr gut in diesem Teil des Landes. Nur ein paar Ziegen werden jeweils von dem Futter satt, das wir auf unserer Suche finden. Er weiß, daß es falsch ist, ein Kind zu verkaufen. Sein Herz ist schwer vor Leid und Qual. Aber ich frage Sie, Krieger, mit allem Respekt, wenn Sie an der Stelle dieses armen Vaters wären, was würden Sie tun?« Der Batman stand schweigend da, spürte die Worte mehr als daß er sie hörte. Die Dorfbewohner verstummten ebenfalls und warteten auf eine Antwort auf diese Frage, die so alt war wie das Böse selbst. Der Batman wurde zurückversetzt in die Gasse, in der seine Eltern ermordet wurden. In sein Leben seit dieser Nacht. Er dachte daran, wie er sein Leben seitdem dem Kampf gegen das Verbrechen verschrieben hatte. Er sprach die Dorfbewohner mit ernster und gemessener Stimme an, während Rhama übersetzte: »Ich hätte meine Kinder niemals mit dem Blut eines ihrer Brüder oder Schwestern ernährt. Wenn — 195 —
ich dort stünde, wo ihr gestanden habt, würde ich stehlen.« Ein entsetztes Schweigen fiel über das Dorf. Dann ergriff der Anführer wieder die Stimme. »Krieger, da draußen gibt es nichts zu stehlen. Hier gibt es kein Geld. Was können wir dann tun?« »Diejenigen, die eure Kinder kaufen, haben Geld«, sagte der Batman. »Und ihr wißt, wo ihr sie suchen müßt.« Als die Nacht anbrach, war das Trio schon weit in die Berge vorgedrungen. Das kleine Mädchen war eingeschlafen. Sie hatte die Arme um den Hals des Batman geschlungen. Er wiegte das Kind mit einer Hand, während er sich mit katzenhafter Geschmeidigkeit über das unwegsame Terrain bewegte. Nach einer weiteren Stunde hielt Rhama Bgyn an. »Wir sind jetzt nahe herangekommen, Krieger. Ich weiß nicht, wie meine Leute reagieren, wenn ich mit ihnen rede. Es wäre tragisch, wenn sie Euch angriffen, denn ich weiß, daß Ihr nicht besiegt werden könnt. Es wäre besser, wenn Ihr mir am Himmel folgen würdet. Wenn Sie sich bereit erklären zu helfen, dann wißt Ihr es sofort. Wenn nicht, müßt Ihr in die Stadt zurückkehren. Ich werde zusehen, daß ich so schnell wie möglich nachkomme.« »Vielen Dank«, sagte der Batman. »Es ist mir eine Ehre«, erwiderte der junge Mann. Der Batman reichte Rhama Bgyn das schlafende Kind. Dann wandte er sich mit einem heftigen Wirbeln seines Capes herum und verschmolz mit der Nacht. — 196 —
Rhama Bgyn weckte das kleine Mädchen sanft. »Wach auf, kleine Schwester«, sagte er. »Wir müssen jetzt weitergehen«, sagte er. »Nicht sehr weit, ja?« Rhama Bgyn hob das Kind hoch, hielt es für einen Moment im Arm und stellte es dann auf die Füße. Das kleine Mädchen schaute zu Rhama Bgyn hoch. Die dunklen Augen waren so tief und klar wie ein Bergsee. Sie deutete eine Verbeugung an und streckte die Hand aus. Rhama Bgyn ergriff die Hand des Mädchens, als schlösse er ein heiliges Bündnis. Gemeinsam marschierten sie los. Sie mußten etwa einen halben Kilometer gehen, bevor ein Wachtposten hinter einem Felsen hervortrat. Er hielt eine uralte chinesische Version des berühmten AK-47-Gewehrs in der Hand. »Oh, Rhama Bgyn«, sagte er. »Du warst lange weg. Wer ist das?« »Das ist meine Schwester«, erwiderte der junge Mann. »Sie heißt Lily.« Der Wächter winkte die beiden Wanderer weiter und kehrte wieder auf seinen Posten zurück. Während er sein Gewehr auf den Erdboden stellte und an einen Felsen lehnte, verließ der Batman sein Versteck und folgte seinen beiden Schutzbefohlenen. Die beiden Wanderer setzten ihren Weg fort, bis sie das Rebellenlager erreichten. Nachdem sie ausgiebig begrüßt worden waren, wurden sie bis zu einem großen Lagerfeuer geführt, an dem sich zahlreiche Guerillas, sowohl Männer als auch Frauen, versammelt hatten. Rhama Bgyn blieb stehen und berichtete mit fester Stimme von den jüngsten — 197 —
Ereignissen. Von einem Felsvorsprung, etwa zehn Meter über dem Lagerplatz, schaute der Batman zu. Er konnte der erregten Unterhaltung nicht folgen, aber es war eindeutig eine heftige Diskussion im Gange. Eine junge Frau, die mit einem Kampfanzug der Armee bekleidet war, erhob sich langsam, überquerte gemessenen Schrittes den Platz und stellte sich neben Rhama Bgyn. In der rechten Hand hielt sie ein Pistole – die linke legte sie auf die Schulter des Kindes, dem Rhama den Namen Lily gegeben hatte. Die Diskussion dauerte an. Weitere Rebellen standen auf und gesellten sich zu Rhama Bgyn, doch die meisten blieben am Feuer sitzen. Schließlich breitete Rhama Bgyn die Arme aus, als wolle er den Himmel anrufen. »Krieger!« erscholl seine Stimme. »Krieger, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen. Du wirst gebraucht!« Die Guerillas starrten ihren Kameraden verwirrt an. Sie fragten sich, was sein seltsames Verhalten zu bedeuten hatte. Wahrscheinlich reagierten sie deshalb so erschrocken, als der Batman sich aus dem Nachthimmel herabschwang und plötzlich vor ihnen stand. Mit seinem ausgebreiteten Cape wirkte der Batman viel größer als ein normaler Mensch. Die Rebellen erstarrten und betrachteten gebannt die Erscheinung dieses Geistes. »Einige wollen die Burg angreifen«, berichtete Rhama Bgyn. »Sie stehen auf unserer Seite. Die anderen möchten genauso weitermachen wie bisher … als Guerillakämpfer.« »Was ist die Burg?« wollte der Batman wissen. — 198 —
»Sie ist die Behausung des Dämons – und das ist sein Zeichen«, antwortete Rhama Bgyn und reichte ihm die weiße Karte mit dem Spinnensymbol der Schwarzen Witwe darauf. »Er wird von der Armee beschützt. Nun, da das Opiumgeschäft so schwierig geworden ist, ist es sein Geschäft … die Versklavung von Kindern … das General Ngum so reichliche Devisen einbringt. Wenn wir ihn ausschalten, kann die Regierung sich nicht mehr an der Macht halten.« »Ihr müßt …«, begann der Batman. Einer der Rebellen sprang auf, zog eine Pistole aus dem Holster und feuerte direkt auf die Brust des Batman. Der Körperpanzer des Batman absorbierte den größten Teil des Aufprallschocks – sein austrainierter Körper besorgte den Rest. Er hob die Hände und gebot mit einer herrischen Geste Schweigen – es war jedoch unnötig, weil die Rebellen Mund und Nase aufrissen und vor Staunen keinen Laut hervorbrachten. Der Mann, der auf den Batman geschossen hatte, betrachtete mißtrauisch seine Pistole, dann verstaute er sie schnell wieder in seinem Holster und wagte es nicht mehr, den Batman direkt anzusehen. »Das ist der Krieger!« verkündete Rhama Bgyn. »Er ist zu uns gekommen! Mit meinen eigenen Augen hab’ ich gesehen, wie er einen von Bhatt Pos Ninjakämpfern besiegt hat, als sei er ein kleines Kind. Ihr könnt ihm mit euren Pistolen nichts anhaben. Und er wird uns nichts tun. Er steht auf unserer Seite, meine Brüder und Schwestern. Er wird jetzt zu euch sprechen!« Der Batman stand so unerschütterlich da wie die Berge ringsum. Seine Ansprache wurde so flüssig von Rhama — 199 —
Bgyn übersetzt, daß es schien, als spreche er die Sprache der Rebellen. »Ein Kind zu verkaufen, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, sagte der Batman. »Selbst das gemeinste Tier wählte lieber den eigenen Tod, um seine Nachkommenschaft zu beschützen. Haben wir das Recht, uns als höhere Wesen zu bezeichnen, wenn wir nicht mindestens das gleiche tun? Kinder zum Vergnügen und Profit anderer zu verkaufen, ist eine Todsünde. Es ist das absolute Böse. Und es ist an der Zeit, diesem Bösen ein Ende zu machen!« »Was sollen wir tun, Krieger?« übersetzte Rhama Bgyn schnell die Frage eines der Rebellen. »Könntet ihr es schaffen, die Burg einzunehmen?« stellte der Batman eine Gegenfrage. »Ja«, antwortete der Guerilla. »Sie wird zwar bewacht, aber nicht sehr streng. Wir werden sicherlich einige Leute verlieren. Aber wir können sie stürmen. Die Frage ist … ob wir sie auch halten können.« Der Batman sah den Sprecher eindringlich an. »Ihr braucht sie nicht zu halten – das Kindersex-Syndikat ist ein monolithisches Gebilde«, sagte er. Dabei zeichnete er mit den Händen eine Pyramide in die Luft, um zu demonstrieren, was er meinte. »Sobald die Spitze – in diesem Fall der Kopf der Organisation – entfernt wird, bricht das ganze Gebäude von selbst zusammen.« »Andere könnten seinen Platz einnehmen«, gab eine Frau zu bedenken. »Ja«, sagte der Batman, »das ist richtig. Aber bis es soweit kommt, dauert es einige Zeit. Zeit, die ihr nutzen könnt, — 200 —
eure Position gegenüber General Ngum zu festigen. Und Zeit, die der General nutzen kann, um nach Paraguay oder Saudi-Arabien oder in irgendein anderes Land zu fliehen, das ihn aufnimmt. Zeit für die Armee, sich aufzulösen. Deren Soldaten sind keine Patrioten, sie sind nichts anderes als Söldner – ihre Gefolgschaftstreue bemißt sich danach, was sie als Lohn für ihre Dienste erhalten.« »Der Krieger sagt die Wahrheit!« rief die Frau, die sich als erste auf Rhama Bgyns Seite geschlagen hatte. »Wie viele müssen noch das gleiche Schicksal ereilen wie die Enfants du Secret?« »Bedenke das Risiko, Opal«, warnte sie einer der jungen Männer. »Wenn wir tot sind, können wir der Revolution nicht mehr nützen.« »Ich bin der Bewegung beigetreten, um zu sterben«, erwiderte die Frau namens Opal mit schneidender Stimme. »Um ehrenvoll zu sterben, damit die, die uns folgen, ein anständiges, würdiges Leben führen können. Welchen Sinn hat dein Leben? Ein Mensch, der gar nichts tut, nutzt auch niemandem.« Überall auf dem Platz brachen heftige Diskussionen aus. Rhama Bgyn stand schweigend in ihrer Mitte, hielt die Hand seiner neuen Schwester Lily und wartete geduldig auf den Ausgang der Gespräche. Der Batman rührte sich nicht. Sogar das Kind schwieg. Der Wille des Batman strahlte aus dem Zentrum seiner Seele aus. Indem er sich mit dem Geist Rhama Bgyns und dem des Kindes verband, das der junge Mann nun genauso — 201 —
liebte wie seine kleine Cousine, und indem er die Energie gewann, welche die junge Frau namens Opal durch ihre Entschlossenheit verströmte, entwickelte sich eine geistige Kraft, die so mächtig war, so wirksam, daß mehrere der Rebellen in Tränen ausbrachen und um die verlorenen Seelen der Kinder von Udon Khai zu weinen begannen. »Wir helfen Ihnen, Krieger!« ergriff Rhama Bgyn für alle Versammelten das Wort. »Wir brauchen eine Woche und drei Tage, um uns vorzubereiten. In zehn Tagen, von Mitternacht an, werden wir die Burg des Dämons stürmen.« Der Batman verneigte sich. »Ich werde euch zur Seite stehen«, übersetzte Rhama. »Von jetzt an und in Zukunft.« Die maskierte Gestalt wandte sich um und entfernte sich aus dem Lichtkreis des Lagerfeuers. Nach kaum einer Minute war der Batman verschwunden. Vier Tage später suchte sich ein kühlschrankweißer LandRover mühsam seinen Weg über einen felsigen Bergpfad. Die auf schwerste Belastung ausgelegten Stoßdämpfer des vierradgetriebenen Fahrzeugs und seine riesigen Geländereifen wurden von dem unwegsamen Gelände einer schweren Prüfung unterzogen, aber der Fahrer war solche Strecken schon häufiger gefahren. Als das Fahrzeug einen besonders scharfe Haarnadelkurve umrundete, traten zwei der Rebellen aus der Deckung und richteten ihre Gewehre auf den einsamen Fahrer. »Aussteigen! Sofort!« bellte einer der Rebellen. Der Fahrer gehorchte. Die Guerillas sahen einen Europäer vor sich, einen rundlichen Mann mittleren Alters mit — 202 —
grauen Strähnen im langen Haar. »Ich hatte mich schon gefragt, ob ich euch jemals finden würde«, sagte er in perfektem Udon, und ein fröhliches Grinsen erhellte sein Gesicht. »Ich habe ein Geschenk – ein Geschenk für Lily Bgyn.« »Was für ein Geschenk ist das?« fragte der Sprecher der Guerillas. »Seht es euch selbst an«, sagte der Fahrer und trat beiseite. Die Rebellen öffneten die Hecktür des Land-Rover. Der Laderaum war mit Holzkisten vollgestapelt. »Hol Rhama her«, sagte der Guerilla zu seinem Gefährten. »Ich bleibe hier und bewache diesen grinsenden Hund.« Anderthalb Stunden später trat Rhama Bgyn an den Land-Rover heran und warf einen Blick hinein. Wissen Sie, was da drin ist?« fragte er den Fahrer. »Sicher«, sagte dieser, immer noch grinsend. »Die Frage ist, wissen Sie es?« Indem er das auf seinen Rücken gerichtete Gewehr ignorierte, griff der Fahrer in den Laderaum des Land-Rover und holte eine gut einen halben Meter lange Stahlröhre heraus. »Passen Sie gut auf«, sagte er. Der Fahrer zog an einem Ende der Röhre, die daraufhin auf etwa die doppelte Länge auseinanderschnellte. »Damit wird das Ding einsatzbereit gemacht«, erklärte er. »Sehen Sie das hier?« fragte er und deutete mit einem Finger, dessen Spitze fehlte. »Das ist die Visiereinrichtung – sie springt heraus, wenn Sie an der Stelle dort ziehen, so wie ich es gerade getan habe.« »Was ist das?« fragte Rhama Bgyn, bei dem die Neugier über das Mißtrauen gesiegt hatte. — 203 —
»Das ist eine LAAW«, sagte der Fahrer. »Eine Light AntiArmor Weapon, eine leichte panzerbrechende Waffe. Sie feuert Raketen ab, die dreißig Zentimeter Stahl durchschlagen. Sie wiegt etwa zehn Pfund und hat so gut wie keinen Rückschlag. Jeder kann sie benutzen.« »Und womit wird sie geladen?« fragte Rhama Bgyn. »Sie ist bereits geladen«, erwiderte der Fahrer. »Wenn sie geöffnet wird, ist die Rakete darin feuerbereit. Man kann sie nicht nachladen – man schießt sie ab, dann wirft man sie weg. Ex und hopp, verstanden? Da drin liegen ein Dutzend von der Sorte«, sagte er und deutete auf den Land-Rover. »Nun, sobald die Mauern gefallen sind, braucht ihr einiges an Feuerkraft, damit der Feind in Deckung bleibt, stimmt’s? Okay, sehen Sie das Ding auf dem Dreibein? Das ist eine Fünfzigmillimetermaschinenkanone. Dann sind da noch zwei M-60er, dreißig Millimeter, die schneller feuern, als man zählen kann: peng, peng, peng – das hält sie ganz sicher in Deckung.« »Wie kommen Sie darauf …?« »Ich bin gleich fertig, mein junge Freund«, sagte der Fahrer. »Dann sind da noch acht Kisten Sprenggranaten und eine Kiste Blitzbomben. Und da drüben in der Ecke, das lange Ding, das ist ein Flammenwerfer.« »Haben Sie auch Gewehre mitgebracht?« fragte Rhama Bgyn. »Soweit ich es verstanden habe, ist das Angriffsziel ein Steinbau, nicht wahr?« erwiderte der Fahrer. »In einer solchen Umgebung sind Querschläger ein erhebliches Problem. Daher haben wir für euch zehn Straßenfeger eingepackt — 204 —
– Kurzdistanz-Schrotflinten Kaliber zwölf mit Magazinen für ein glattes Dutzend Patronen. Die Munition sind DreiInch-Magnums, deren Stahlgeschosse gegen sehr weiches Blei ausgetauscht wurden. Wer davon getroffen wird, ist sofort hin. Aber wenn der Schuß danebengeht, klatscht das Blei gegen die Wand und fliegt nicht mehr rum.« »Ist das alles?« fragte Rhama Bgyn, und Spott schwang in seiner Stimme mit. »Nein, ich habe auch noch ein paar Erste-Hilfe-Kästen mit Morphium und Penicillin mitgebracht. Außerdem …« »Das reicht!« befahl Rhama. »Wer schickt Sie?« »Er hat seinen Namen nicht genannt«, antwortete der Fahrer grinsend. »Ich weiß nur, daß er Amerikaner ist. So wie ich.« »Wie sah dieser Mann aus?« »Er war sehr groß, ziemlich massig. Das Haar war straff zurückgekämmt, sehr fettig. Er hatte eine schlimme Narbe, genau da«, sagte der Fahrer und zeichnete mit dem Zeigefinger eine gezackte Linie auf seine rechte Schläfe. »Big Jack Hollister«, murmelte Rhama Bgyn. »Wie lauten Ihre Instruktionen?« fragte er laut. »Er hat mir eine genaue Beschreibung meiner Fahrstrekke mitgegeben. Wenn ich angehalten würde, sollte ich sagen, daß die Waffen ein Geschenk sind. Ein Geschenk für Lily Bgyn.« »Das Geschenk kommt vom Krieger«, sagte Rhama zu Opal. »Er bedient sich anderer Helfer, aber es ist eindeutig sein Werk. Er ebnet uns bereits den Weg zum Dämon.« — 205 —
Zwei Nächte später raste ein niedrig fliegendes Düsenflugzeug so dicht über das Rebellenlager hinweg, daß nur der Überschallknall dieses Manöver verriet. Dann segelte eine Last an einem leuchtfarbenen Fallschirm zur Erde, die sogar bei Nacht zu sehen war. Dort, wo die Last aufschlug, bildete ein kaltes grünes Feuer eine deutlich sichtbare Aura – die Suchenden hatten keine Mühe, den Landepunkt zu finden. Die Last bestand aus einem Vermögen an Klongs. »Das ist ein Test«, sagte Rhama Bgyn zur Guerillatruppe. »Ein Test für uns alle – der Test eines Kriegers.« Das Geld wurde ins Lager geschafft und blieb dort die ganze Nacht für jedermann sichtbar stehen. Bei Tagesanbruch war der Schatz immer noch unberührt. »Es ist genug Geld, um sich das Schweigen vieler Häuser auf dem Weg zur Burg zu kaufen«, sagte Opal und deutete auf den Haufen. »Wenn jemand sich dafür bezahlen läßt, die Augen vor dem Bösen zu verschließen, dann nimmt er auch Geld, um diejenigen nicht zu sehen, die sich dagegen wehren.«
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er Vollmond tauchte die Landschaft in kaltes, fahles Licht. Von seinem Aussichtspunkt konnte der Batman beobachten, wie die Rebellentrupps Gefechtsformation einnahmen und sich auf den An— 206 —
griff vorbereiteten. Die ›Burg‹ war eigentlich ein imposantes Haus, das so geschickt aus Natursteinen auf einem Berghang erbaut war, daß es wie ein natürlich gewachsener Felsvorsprung aussah. Die geübten Augen des Nachtjägers fanden mehrere Wachtposten – aber er vermutete, daß die Hauptstreitmacht der Verteidiger sich innerhalb des Hauses befand. Als der Mond hinter einer Wolke verschwand, begann der Batman seinen Abstieg. Als er einen günstigen Angriffspunkt über dem ersten Wächter erreicht hatte, zog der Batman ein fünfzehn Zentimeter langes Rohr aus seinem Cape. Eine schnelle Handbewegung, und das Rohr fuhr auf einen Meter Länge aus. Mit geübten Fingern schob der Batman einen nadelspitzen Pfeil in das Rohr, dann nahm er ein Rohrende in den Mund. Die Brust des Nachtjägers schwoll auf scheinbar unnatürliche Ausmaße an. Er hielt die Luft an, während er sein Ziel anvisierte – den ungeschützten Hals des Wächters. Dann blies der Batman die Luft in einem einzigen heftigen Stoß aus. Der Pfeil bohrte sich in den Hals des Wächters. Das Nervengift wirkte augenblicklich, und der Wächter sank zu Boden. Nachdem er drei weitere Wachtposten – die, wenn sie Glück hatten, während des gesamten Angriffs bewußtlos bleiben würden – unschädlich gemacht hatte, befand der Batman sich innerhalb des Hauses. Er schwebte durch die hohen Räume, seine Sinne auf höchste Wachsamkeit eingestellt. Während er in einen weitläufigen kasernenähnlichen Saal hinunterschaute, wo Dutzende von Männern herum— 207 —
lagen und vor sich hindösten, begann eine rote Lampe zu blinken, und Sirenengeheul ertönte – der Angriff hatte begonnen. Batman ignorierte die losstürmenden Soldaten und suchte sich einen Weg zum höchsten Punkt des Hauses, da sein Instinkt ihm sagte, daß er dort sein Ziel finden würde. Er sprang von seinem Mauervorsprung herunter und schlich eine schmale Treppe hinauf. Eine winzige Bewegung in der Dunkelheit vor ihm warnte ihn gerade noch rechtzeitig: Er verschwand mit einem Salto rückwärts im selben Moment von der Treppe, da ein Soldat einen Feuerstoß aus einer Uzi abgab und eine Reihe Kugellöcher in die Wand stanzte. Der Batman verblüffte den Soldaten, indem er die Treppe hinaufstürmte – und ehe der Soldat sich von seinem Staunen erholen konnte, stürzte er kopfüber dieselbe Treppe hinunter. Am oberen Ende der Treppe stand ein Mann in einem roten Kimono und hielt einen Bambusstab in den Händen. In seiner Reglosigkeit strahlte er innere Ruhe aus. Während der Batman sich ihm näherte, begann der Kendomeister den Stab zu drehen, ließ ihn immer schneller herum wirbeln, wobei seine nackten Füße lautlos über den Boden glitten, um sich in eine Angriffsposition zu bringen. Der Batman sah seinem Gegner direkt in die Augen und kam näher. Der Kendomeister führte den Stab von rechts unten nach links oben, hielt mitten im Schlag inne, warf den Stab in die andere Hand und ließ ihn wuchtig auf den ungeschützten Hals des Batman hinuntersausen. Dieser jedoch tauchte unter dem Stab hinweg und rammte dem Mann — 208 —
die Faust vor die Brust. Bevor der Kendomeister sich von diesem Treffer erholen konnte, packte der Batman die Ohren seines Gegners und führte einen heftigen Kopfstoß aus. Der Kendomeister sank schlaff in sich zusammen wie ein angestochener Luftballon. Während der Lärm des Feuergefechts hinter ihm deutlich an Lautstärke zunahm, setzte der Batman seinen Aufstieg fort. Auf dem letzten Treppenabsatz hörte er das stakkatohafte Klicken von Klauen auf Marmor – irgendein großes Tier, das auf dem glatten Untergrund Halt suchte, um der Jagd nachzugehen. Als der Batman vorsichtig um die Ecke lugte, entdeckte er einen prächtigen Schneeleoparden, der sich kaum von der Kette um seinen Hals zurückhalten ließ. Eine muskulöse Frau mit schwarzem Irokesenhaarschnitt hielt die Kette in der Hand. Als sie den Batman gewahrte, ließ sie die Kette los und schrie: »Töte ihn, Chui! Töte ihn!« Die Bestie machte einen Satz auf den Batman zu, der sich halb wegdrehte und den Angriff mit dem rechten Unterarm abfing. Dabei drehte er sich und gab dem Schwung des Tiers nach und schwang den Arm wie eine Peitsche, um den Schwung noch zu verstärken. Der Leopard schoß den Marmorflur hinunter und versuchte vergebens, seine Rutschpartie zu stoppen. Er prallte gegen die Wand am Ende und blieb für einen kurzen Moment benommen liegen. Das Tier schüttelte sich und blickte zurück in die Richtung, aus der es gekommen war. Die muskulöse Frau stand zusammengekauert da und hielt ein funkelndes Wurfmesser in der Hand. Der Batman war immer noch in Bewegung und glitt über den Marmorboden. Die Frau schleuderte das — 209 —
Messer, aber der Batman fing es aus der Luft, setzte seinen Weg fort und trat der Frau die Füße unterm Körper weg, sie fiel dem Batman regelrecht in die Arme, aus denen sie Sekunden später bewußtlos wieder herausrutschte. Der Lärm von Handfeuerwaffen erfüllte das Steinhaus. Von draußen drang ein gelegentliches dumpfes Dröhnen herein, wenn die Raketenwerfer zum Einsatz kamen. Der Leopard betrachtete flüchtig die Szene. Dann machte er kehrt und huschte lautlos die Treppe hinunter, völlig desinteressiert an Menschen und ihrem Wahnsinn. Der Batman entdeckte die Tür, aus der die Frau und der Leopard aufgetaucht waren. Sie schloß so nahtlos mit der Wand ab, daß sie für ein menschliches Auge unsichtbar gewesen wäre, hätte sie nicht einen Fußbreit offengestanden. Behutsam drückte der Batman die Tür ganz auf. Dahinter herrschte Dunkelheit, eine Dunkelheit, die so still war, daß man die Luft selbst zu hören schien. Der Batman machte einen tiefen Yogaatemzug, wobei sein Jagdinstinkt ihm sagte, daß Ungeduld ihn in diesem Moment seine Beute kosten könnte. Als Herz- und Pulsschlag des Nachtjägers sich ausreichend verlangsamt hatten, schloß er die Augen, um nicht plötzlich geblendet zu werden, und schlich weiter, nun selbst ein Teil der Dunkelheit. Nach weniger als zehn Schritten meldete das innere Sonar des Batman einen Tunnel. Vorsichtig streckte er eine behandschuhte Hand aus. Die Oberfläche, die sie ertastete, fühlte sich rauh an. War es Beton? Nein – die Struktur war ganz anders. Der Batman blieb stehen, atmete tief durch die Nase ein und aus und konzentrierte all seine Sinne auf — 210 —
das Material. Es roch wie … Ja! … eine dicke Korkschicht. Kein Wunder, daß es hier so still war. Indem er sich mit der rechten Hand an der Korkwand entlangtastete, ging der Batman durch den Tunnel, streckte dabei die linke Hand sondierend vor und wählte die Gangart des echten Karateka. Nach vierzig angespannten Schritten im Korktunnel entdeckte der Batman über sich einen gekrümmten Lichtspalt – es war eine Ecke oder Nische. Während er sich dem Lichtschein näherte, nahm der Batman einen abrupten Temperaturwechsel wahr – die Luft vor ihm war heiß und feucht. Der Batman löste die rechte Hand langsam von der Korkwand und wechselte in eine Ninjahaltung, die den Namen Kranich trug. Dabei schob er den linken Fuß vor, während sein gesamtes Gewicht auf dem rechten, hinteren, Fuß ruhte. Er stellte den linken Fuß mit den Zehen zuerst hin, als wolle er vorsichtig ins Wasser steigen, dann zog er den rechten Fuß nach, bis die Füße einander berührten. Danach verlagerte er sein Gewicht, so daß nun der rechte Fuß die Führungsarbeit übernahm. Auf diese Weise konnte er weiterhin die rechte und die linke Wand untersuchen, während er seine Silhouette so schmal wie möglich hielt. Während der Nachtjäger sich vorwärts bewegte, stellten seine Sinne sich immer besser auf die Umgebung ein. Der Lichtstreifen kam näher und verlieh den Wänden einen matten orangefarbenen Schimmer. Die Stille wurde durch leise Geräusch unterbrochen: das Rascheln von Papier, das Summen von Computern, das … die behandschuhte Hand des Batman schoß vor und packte die zustoßende Schlan— 211 —
ge dicht hinterm Kopf. Die Schlange zischte wütend, wand sich im Griff des Nachtjägers, aber der Batman hielt sie auf Armeslänge von sich, während er auf das Licht zuschritt. Er lugte um die Ecke und suchte die Quelle des Lichtscheins, die Schlange immer noch in der rechten Hand. Er fand sich auf einem schmalen Laufgang wieder, dessen Stahlgeländer nur zu erahnen war. Im matten Lichtschein konnte der Batman erkennen, daß die Schlange von gelber Farbe war und eine dunkelgrüne Musterung aufwies. Der Nachtjäger hatte eine solche Schlange noch nie gesehen, aber ein Blick auf ihren dreieckigen Kopf sagte ihm alles, was er wissen mußte – es war irgendeine Vipernart, die offenbar als letzte Sicherung ausgesetzt worden war. Das erklärte auch die feuchtheiße Luft – bei zu niedriger Temperatur werden Schlangen träge und langsam. Der Batman folgte dem Laufgang, bis er eine weitere Ecke erreichte. Unter sich sah er einen Kreis aus gebündeltem weißen Licht. In dem Kreis befand sich ein Mann – ein älterer Mann, der ruhig dasaß und gelassen Pfeife rauchte, als seien Schußwechsel und Explosionen in diesem Gemäuer etwas Alltägliches. Auf der rechten Seite des Mannes standen ein modernes Telexgerät, ein Faxgerät und drei Computermonitore, alle an einen gewerbsmäßig einsatzfähigen Laserdrucker angeschlossen. Links von dem Mann stand eine große Kugel, auf der sich eine Weltkarte befand. Der Mann hielt einen Telefonhörer ans Ohr. Er redete ruhig, aber mit der Stimme eines Menschen, der daran gewöhnt ist, daß man ihm aufs Wort gehorcht. — 212 —
»Es scheint so, als hätten wir hier einige Schwierigkeiten«, sagte er. »Nichts, womit wir nicht fertig werden, denke ich. Es dürfte noch einige Stunden dauern, bis die Rebellen hierher vordringen – die einzige Tür, die die Eindringlinge sehen können, besteht aus mehrere Zentimeter dickem Stahl. Nichtsdestotrotz wäre es klug, wenn meine Truppen vergrößert werden können … sagen wir, innerhalb der nächsten zehn Minuten, verdammt noch mal!« Der Mann knallte den Telefonhörer auf die Gabel. Dann schien er sich wieder zu sammeln und nahm einen weiteren Zug an seiner Pfeife. Der typische Geruch von Opium wehte dorthin hinauf, wo der Batman lauerte. William X. Malady, der Chef der Organisation, die seine Eltern ermordet hatte – es konnte niemand anderer sein. Dem Batman wurde die Brust eng. Er ballte unwillkürlich die Fäuste – das schwache Geräusch knackender Knochen holte ihn in die Gegenwart zurück. Er blickte auf seine rechte Hand, die nun eine tote Schlange festhielt. Der Nachtjäger ließ die Schlange auf den Laufgang fallen und sammelte sich für den letzten Sprung. Aber ehe er ihn ausführen konnte, wurden die Flügel der schweren Stahltür an einem Ende des großen Raums aus den Angeln gesprengt. Der Mann im Sessel wühlte hektisch in einer Schreibtischschublade herum, als Rhama Bgyn eintrat, eine Pistole in der Faust. »Legen Sie die Hände so auf den Tisch, daß ich sie sehen kann«, befahl er auf englisch. Der sitzende Mann gehorchte und erschien wieder vollkommen ruhig. »Kenne ich Sie?« fragte er. — 213 —
»Mein Name würde Ihnen nichts sagen«, erwiderte Rhama Bgyn. »Genausowenig wie die Namen der Kinder, die Sie gestohlen haben.« »Ich bin sicher, daß ich nicht …« »Sicher ist allein Ihr Tod, wenn Sie eine falsche Bewegung machen«, unterbrach Rhama ihn. »Ihre Tage sind gezählt, William Malady. Ihre Soldaten sind verschwunden. Nur ein paar sind gefallen – der Rest ist auf und davon gerannt, wie es für Feiglinge typisch ist. Von Ihnen verlange ich jetzt die Liste.« »Die Liste?« »Les Enfants du Secret«, sagte Rhama, und seine Stimme klang genauso granithart wie die Steine, aus denen das Haus erbaut war. »Ich muß wissen, wo sie sind, wo sich die Kinder aufhalten.« »Mein lieber Freund«, sagte Malady, »Sie können doch nicht ernsthaft erwarten, daß ich über derartige Informationen verfüge. Ich weiß, Ihnen ist völlig klar, wie die Sache läuft. Die Kinder werden verkauft …« »Es geht um Ihr Leben«, sagte Rhama Bgyn ruhig. »Wenn Sie nichts anderes haben, das Sie einsetzen können, dann müssen wir damit vorliebnehmen.« Der Batman verfolgte das Geschehen von seinem Mauervorsprung aus, während der Mann im Sessel die Finger spreizte und sagte: »Sie können den Gang der Ereignisse nicht beeinflussen, mein Freund. Sie haben doch mein Zeichen gesehen. Glauben Sie, daß Sie es verstanden haben?« »Die Spinne? Die Schwarze Witwe? Ja, ich verstehe es. Die Spinne bedeutet Gift. Und genau das sind Sie auch.« — 214 —
»Nein, Sie verstehen eben nicht«, sagte William Malady, und seine Stimme klang gelassen und aufreizend selbstsicher. »Die Spinne sagt überhaupt nichts aus – die Bedeutung liegt allein in dem Stundenglas-Symbol auf ihrem Rücken. Sehen Sie es sich genau an. Sie sind auf einen Berg gestiegen, aber Sie haben nur die Mitte des Stundenglases erreicht. Verstehen Sie? Sie können mich töten, aber erreichen werden Sie dadurch nichts! Überhaupt nichts! Solange es welche gibt, die ihre Kinder verkaufen, wird es auch immer welche geben, die sie kaufen. Sie stehen nicht auf der Spitze des Berges, sondern am Fuß eines neuen Berges, der noch viel steiler ist. Die Dinge haben sich geändert, aber die menschliche Natur nicht. Verstehen Sie? Dies ist ein Geschäft, mehr nicht.« »Das Geschäft des Bösen.« »Nennen Sie es, wie Sie wollen«, erwiderte Malady. »Worte ändern überhaupt nichts. Ich werde Ihnen sagen, was die Dinge ändert … die Technologie. Als ich in diesem Geschäft anfing, mußte man … Partner haben, um das Produkt herzustellen. Man brauchte Laborpersonal zum Entwickeln der Filme, das nicht zu genau hinsah. Der Vertrieb war überaus schwierig, und das Produkt selbst war von geringer Qualität und konnte nicht so einfach reproduziert werden. Heute hat sich das alles geändert. Jeder Erwachsene, der ein Kind hat … Eltern oder auch jemand, dem Eltern ihre Kinder anvertrauen … jeder kann in seinen eigenen vier Wänden einen kommerziell veräußerbaren Videofilm herstellen. Das, was Sie ›Kinderpornographie‹ nennen, ist mittlerweile eine regelrechte Heimindustrie geworden. Die — 215 —
Vertriebsnetze sind verschwunden. Ich bin ein Anachronismus. Ein Relikt aus alten Zeiten. Mich zu töten, würde überhaupt nichts bewirken.« »Sie haben meine Lily gestohlen!« sagte Rhama Bgyn, und tiefer Schmerz lag in seiner Stimme. »Wenn ich es nicht getan hätte, dann hätte jemand anderer es getan«, sagte William Malady, und sein Grinsen war eine Fratze der Selbstgefälligkeit. »Ich verstehe, wie verletzt Sie sich fühlen. Und ich bin durchaus bereit zu Verhandlungen über einen gewissen Schadensersatz. Sicherlich können wir zu einer Einigung gelangen. Glauben Sie mir, mein Herz ist schwer von Traurigkeit über …« »Sie haben kein Herz«, sagte Rhama Bgyn, und die Pistole in seiner Hand zitterte ebensowenig wie seine Stimme. »Sie sind kein Mensch, sondern nur ein Menschenhändler.« Der Batman konzentrierte sich auf das Gesicht von Rhama Bgyn und machte sich bereit für den Sprung. Plötzlich erstarrte er, rührte sich nicht mehr, und seine Augen waren auf Maladys linken Fuß gerichtet … ein Fuß, der leise klopfte, als hielte er den Rhythmus irgendeiner Musik … ein Fuß, der nur wenige Zentimeter von einem Knopf im Fußboden entfernt war. Noch während Batman zu seinem Gerätegürtel griff, trat Maladys Fuß auf den Knopf. Der Fleischhändler lehnte sich in seinem Ledersessel zurück, und ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Mein junger Freund, ich verstehe Ihren Zorn. Glauben Sie mir, ich verstehe ihn wirklich. Wenn Sie mir zwei Mi— 216 —
nuten Zeit geben … genau zwei Minuten – sehen Sie ruhig auf die Uhr an der Wand –, dann verspreche ich Ihnen, daß ich Ihre Meinung ändern werde. Geben Sie mir zwei Minuten, und danach …« Malady zuckte die Achseln und legte wie selbstverständlich sein Leben in die Hände eines anderen. »Reden Sie«, verlangte Rhama Bgyn. »Und sagen Sie die Wahrheit, sonst wird es das letzte sein, was aus Ihrem Mund kommt.« »Na schön«, begann Malady, aber der Batman hörte ihm nicht mehr zu – jeder seiner Sinne konzentrierte sich auf das Geräusch, das er soeben vernommen hatte … das unmißverständliche Klicken, das entsteht, wenn ein Gewehr gespannt wird. Der Nachtjäger sprang lautlos auf das Geländer des Laufgangs und balancierte darauf genauso leicht und selbstverständlich wie ein Fußgänger auf dem Bürgersteig. Langsam schob er sich in Richtung des Geräusches vorwärts, wobei seine Augen die düsteren Schatten durchbohrten. Vier weitere Schritte, und die zur Nachtsicht fähigen Augen des Batman bemerkten einen matten Lichtreflex. Er verlangsamte erneut seine Atmung und konzentrierte sich. Da war es! Ein Präzisionsgewehr mitsamt Zielfernrohr, aufgeschraubt auf ein dreibeiniges Stativ zum besseren Zielen. Während Maladys Stimme unten murmelte, beugte der Batman sich über das Geländer und vollführte mit den Händen eine schnelle Bewegung. Danach trat er ein paar Schritte zurück und sprang von dem Laufgang hinunter und verschwand am — 217 —
Ende des Batseils, das er um das Geländer geschlungen hatte. Der Schütze blickte durch sein Zielfernrohr und visierte mit dem Fadenkreuz Rhama Bgyns Brust an. Er grinste unwillkürlich vor sich hin, wußte er doch, daß er noch über eine Minute Zeit hatte, bis die zwei Minuten seines Arbeitgebers abgelaufen waren. Plötzlich wurde das Zielfernrohr schwarz, als der Batman sich über das Geländer schwang und sich in die Dunkelheit darüber stürzte. Der Schütze war ein Killer, aber kein Kämpfer – sein Mund war immer noch weit aufgerissen vor Staunen, als die Faust des Batman ihn genau unterhalb des Ohrs am Kiefergelenk erwischte. Der Batman wandte dem bewußtlosen Schützen den Rücken zu und schaute nach unten. »Jetzt muß ich Rhama Bgyn aufhalten«, befahl er sich selbst. Aber er schaffte es nicht, seinen Körper in Bewegung zu setzen. Er beobachtete die beiden Männer unter sich, die in der Zeit erstarrt schienen, während der junge Guerilla redete. »Sie haben zwei Minuten Zeit, Lügner«, sagte Rhama Bgyn. »Bitte …«, winselte Malady, bemühte sich ruhig zu bleiben, wußte er doch, daß sein Scharfschütze ausgefallen war, allerdings nicht weshalb. »Was der eine stiehlt, kann ein anderer zurückgeben«, bot der Fleischhändler an, der nur noch eine Karte in der Hand hatte – die eine letzte Karte, die ihm bisher noch immer den Sieg eingebracht hatte. »Eine Wiedergutmachung ist immer möglich …« — 218 —
»Was man stiehlt, kann man niemals mehr zurückgeben«, sagte Rhama Bgyn, und in seiner Stimme schwangen zahlreiche Empfindungen mit. »Sie haben meine Lily gestohlen – Sie haben die Kindheit an sich gestohlen!« Der Körper des Batman straffte sich, während unkontrollierte Emotionen in ihm explodierten. Sie haben die Kindheit an sich gestohlen! Der Schrecken dieser Erkenntnis durchdrang ihn, war wie Säure auf der glasähnlichen Oberfläche seiner Seele, und brannte ein tiefes Muster der Qual hinein. Sein Geist zitterte von dem Schock der Erkenntnis, vibrierte in der richtigen Frequenz, um das empfindliche Kristall zu zerschlagen, aus dem das Herz eines Kindes bestand. Der Nachtjäger schwankte vor Schmerz, schloß krampfhaft die Augen, erschauerte, brach beinahe zusammen. Mehrere entsetzlich Sekunden lang krümmte das Kind im Batman sich vor Angst. Voller Entsetzen rief er den Namen seiner Mutter. Und als sie antwortete, kämpfte sich der Krieger durch. Mit einem letzten tiefen Erschauern ließ der Nachtjäger von seiner Vergangenheit ab und wandte sich um und stellte sich seiner Zukunft. Unten hob Rhama Bgyn die Pistole, sein Gesicht voller Qual. Der Batman sah, wie der Finger des jungen Mannes am Abzug weiß wurde. Er sammelte sich, schickte sich an zu springen, aber unsichtbare Hände hielten ihn zurück. Er konnte nur zuschauen, wie … »Sie haben meine Lily weggenommen … und jetzt gibt es eine neue Lily«, erklärte Rhama Bgyn, und seine Stimme klang endgültig, entschlossen. »Es mag stimmen, was Sie sagen. Jemand anderer folgt Ihnen vielleicht. Aber Sie, Sie — 219 —
Ungeheuer, werden keine Kindheit mehr zerstören!« Rhama Bgyn schrie auf, als die Pistole ihre Botschaft verkündete. William X. Malady kippte mitsamt seinem Sessel nach hinten um und rollte über den Fußboden. Der junge Mann ging hinüber zur Leiche des Mannes, der die Kinder gestohlen hatte. Ein weiterer Rebell trat durch die Tür herein. Es war Opal, und sie hielt ein Gewehr in der Hand. »Es ist vorbei, Rhama«, sagte sie. »Wir müssen verschwinden – die Soldaten werden bald hiersein.« »Was ist mit dem Krieger?« fragte der junge Mann und betrachtete Malady noch immer. Während der Batman Rhamas Blick folgte, sagte Opal: »Der Krieger geht, wohin er will, Rhama. Wir müssen jetzt zurückkehren.« Rhama stand da, stumm, rührte sich nicht vom Fleck und starrte noch immer auf den Toten. »Lily braucht uns«, sagte Opal leise. Rhama nickte langsam. Er blickte zum Himmel … und entdeckte den Batman, der herunterschaute. Der Batman verbeugte sich. Rhama erwiderte die Verbeugung. Gemeinsam verließen Rhama und Opal die Behausung des Monsters. Und der Batman, nun mit dem Computernetzwerk des Toten allein, ließ sich nieder, um die Vernichtung dieses teuflischen Reichs zu vollenden.
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D
rei Wochen später brachte Alfred eine Karaffe Wasser und einige Weizenbiscuits auf einem Silbertablett hinunter in die Bathöhle. »Ich habe Neuigkeiten«, sagte er und stellte das Tablett neben dem Batman ab. »Aus Udon Khai?« »Ja. Die Revolution greift allmählich um sich. Was mit gelegentlichen Überfällen auf Zentren der Kinderprostitution angefangen hat, hat sich ausgeweitet. Es scheint, als erhielten die Rebellen Unterstützung von einigen Bergstämmen, was eine völlig unerwartete Entwicklung ist. Viele Soldaten der regulären Armee sind desertiert, und General Ngum ist aus dem Land geflohen. Laut unseren Quellen ist er in Richtung Süden verschwunden, hat sich durch Thailand geschlagen und die Region auf einer seetüchtigen Yacht namens Lollypop verlassen.« »Hat man sie gefunden …?« »Die Lollypop wurde irgendwo im Indischen Ozean in die Luft gesprengt, Master Bruce. Ein griechischer Tanker war nahe genug, um alles mitverfolgen zu können. Der Kapitän des Schiffs berichtet, es habe keine Überlebenden gegeben – die Explosion hat die Lollypop im wahrsten Sinne des Wortes zerfetzt.« »Sind die Verhältnisse in Udon Khai denn noch halbwegs stabil?« »Nein, Master Bruce. Obgleich die Rebellen die Bergregionen unter Kontrolle haben, kommt es immer wieder zu Straßenkämpfen. Aber das Geschäft mit dem Sextourismus ist völlig tot – genauso tot wie der Hauptunternehmer.« — 221 —
»William X. Malady.« »Ja. Ich verstehe, wie Sie in dieser Angelegenheit empfinden, Master Bruce, aber … « »Ich hätte es verhindern können, Alfred. Ich wußte, was Rhama vorhatte. Ich hätte einschreiten können.« »Nein, Master Bruce. Sie hätten überhaupt nichts tun können … sonst hätten Sie es nämlich getan. Akzeptieren Sie es endlich.« »Alfred, ich …« Bruce Wayne begann leise zu weinen. Sein treuer Freund ging zu ihm hin und legte ein Hand auf die Schulter. »Das Geschäft mit dem Sextourismus wurde zerschlagen«, sagte er. »Ihre Mutter ist stolz auf Sie …« »Sie wollen sagen, Sie wäre es …« »Ich meine genau, was ich gesagt habe«, bekräftigte Alfred. »Gegen das Böse zu kämpfen ist dasselbe, wie das Verbrechen zu bekämpfen, nur muß man viel entschlossener, gezielter vorgehen. Wie Sie oft gesagt haben, schwimmen Sie auf den Horizont zu. Sie werden dieses Ziel nie erreichen, aber das ist nicht so wichtig. So wie Sie die Arbeit Ihrer Mutter fortsetzen, werden andere Ihre Arbeit weiterführen. Es liegt in der Seele des wahren Kriegers, zu kämpfen, damit andere den Preis erringen.« Dann entfernte der treue Alfred sich und überließ den Batman seinen Gedanken. Mitternacht in Gotham. Ein fledermausförmiger Schatten schwang sich hoch in die Luft, damit er die Schluchten unter sich besser überschauen konnte. Der Nachtjäger blickte mit ganz anderen Augen, nun da die Bedeutung des Stun— 222 —
denglases auf dem Rücken der Schwarzen Witwe tief in eine Seele eingegraben war. Von oben konnte man den Bauch der Stadt deutlich sehen. Ein halbwüchsiges Mädchen im Teenageralter zog ein letztes Mal an ihrer Crackpfeife, versuchte sich verzweifelt selbst zu betäuben, ehe sie sich wieder den anonymen Männern anbot, die in ihren teuren Automobilen vorüberfuhren. In einer Gasse in der Nähe lauerte ihr Bruder im Geiste, ein Bleirohr in der Hand, und redete sich ein, er übe seine nächtlichen Gewalttaten nur aus, um sich Geld zu verschaffen, aber tief in seinem Innern kannte er die häßliche Wahrheit. Am andere Ende der Stadt, in einer feudalen Villa, überflog ein Junge, der aus einer renommierten Schule geworfen worden war, einen Abschiedsbrief auf seinem Heimcomputer. Darin erklärte er einem Lehrer, der ihn die Heuchelei gelehrt hatte, die Gründe für seinen Selbstmord. In einem Hochhaus in der Nähe stand seine Seelenschwester im obersten Stockwerk und starrte nach unten. Sie war schwanger mit dem Kind ihres eigenen Vaters und betete inständig darum, bald genauso sterben zu dürfen wie ihre Träume gestorben waren. Während er sich von einem Gebäude zum anderen schwang, richtete der Batman seine Worte über den Abgrund der Zeit hinweg. »Ich verstehe jetzt, Mutter. Die Kinder des Unsagbaren, die Enfants du Secret, gibt es auch bei uns. Sie sind überall.« Der Nachtjäger ließ seine Blicke über die Szenerie unter sich wandern. Er betrachtete das Gewimmel von Lichtern, das von Kerzenflammen bis hin — 223 —
zu Neonreklamen reichte. »Sie alle sind Bestand eines gemeinsam Übels«, dachte er. »Und eines Tages werden sie sich miteinander verbinden und eine Macht bilden, die stark genug ist, um das gesamte Universum zu erschüttern. Bis zu diesem Zeitpunkt …« Während er leise vor einem Fenster landete, hörte der Batman den schluchzenden Protest des Kindes, gefolgt von einem unwilligen Knurren eines Erwachsenen. Wie immer traf die Information, die Debra Kane ihm gegeben hatte, hundertprozentig zu. Er warf einen Blick in das Zimmer. Sah die Videokamera auf einem Stativ. »In ihrem Namen!« stieß der Batman einen stummen Schrei aus, während er sich durch das Fenster warf, um sich dem absoluten Bösen zu stellen.
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Der Batman ist ein Mythos. Das Absolute Böse ist es nicht. Die Wahrheit ist …
Kindersex-Tourismus von David Hechler Kindersex-Tourismus ist nichts Neues. Seit Jahren unternehmen Pädophile1, um eine strenge Bestrafung in den Vereinigten Staaten zu vermeiden, Reisen in Länder, in denen die Kinderprostitution weit verbreitet ist und wo die Gesetze gegen Kindesmißbrauch milde sind, nicht eingehalten werden oder – mit Hilfe von mehr oder weniger hohen Bestechungsgeldern – ohne Schwierigkeiten umgangen werden können. Dieses Thema kommt regelmäßig in pädophilen Veröffentlichungen zur Sprache. Ein Artikel, der im NAMBLA Bulletin, dem Organ der North American Man/Boy Love Association2, erschien, schwärmte von einem zwölfjährigen asiatischen Jungen, der, wie der anonyme Autor seinen Lesern versicherte, ›seine Arbeit liebe‹. Der Schreiber riet weiterhin:3 Bedenken Sie stets das Für und Wider Ihrer Teilnahme am Sextourismus in Übersee. Unterhalten Sie Liebesbeziehungen zu amerikanischen Jungen auf einer platonischen, rein emotionalen Ebene. Um auch sexuelle Befriedigung zu finden, reisen Sie ein- oder zweimal im Jahr nach Übersee. Auch dort können Sie als Gönner eines minderjährigen Prostituierten verhaftet werden. Jedoch sind die strafrechtlichen Folgen einer solchen Verhaftung wegen Förderung der — 227 —
Kinderprostitution in einem aufgeschlosseneren asiatischen Land bei weitem nicht so ernst. Es gibt Hinweise, daß viele sich diese Ratschläge zu Herzen genommen haben. Einem Pädophilen wurde von Freunden empfohlen, nach Asien zu reisen, wo ›man die Auswahl unter Tausenden von Kindern hat‹. Er nahm an einem Treffen der NAMBLA teil und vertraute anschließend einem Mitglied der Organisation an: ›Ich möchte gern nach Thailand reisen, ich weiß aber nicht, wie ich die Reise organisieren soll.‹ ›Kein Probleme wurde ihm gesagt. ›Ich kenne drüben einen Kontaktmann, der alles Nötige für Sie arrangierte Nur wenige Wochen später lag der Mann mit einem der ›Tausenden von Kindern‹ im Bett. Der Pädophile unternahm zahlreiche weitere Reisen nach Südostasien, ehe er geschnappt wurde. Zur Zeit verbüßt er eine dreißigjährige Gefängnisstrafe – aber er sitzt in einem amerikanischen Gefängnis wegen Mißbrauchs amerikanischer Kinder. Für seine Aktivitäten in Übersee wurde er niemals belangt.4 Ein Physiklehrer an der renommierten Bronx High School of Science in New York gab während eines Fernsehinterviews offen zu, aktives Mitglied der NAMBLA zu sein. Obgleich der Lehrer schwor, niemals die Gesetze übertreten zu haben – und offensichtlich auch niemals verhaftet worden war –, ergab die darauffolgende Untersuchung der örtlichen Schulbehörde, daß er gegenüber einem Undercoveragenten gestanden habe, auf den — 228 —
Philippinen mit einem Jungen Sexspiele veranstaltet zu haben.5 Nach der Entlassung aus dem Gefängnis erzählte ein überführter Kinderschänder den Kindern in seiner Nachbarschaft freimütig, daß die Jungen, die er in Thailand ›gemietet‹ habe, nur acht oder neun Dollar für ihre Dienste verlangten. Er überlege ernsthaft, dorthin überzusiedeln, erzählte er kurz bevor er verschwand, um die reiferen kulturellen Einstellungen dieses Landes freizügig auskosten zu können.6 Die Welt entdeckt eine Pest Obgleich der Kindersex-Tourismus nicht neu ist, kam er erst in jüngster Zeit in den allgemeinen Medien zur Sprache. Chuan Leekpai, der Ministerpräsident von Thailand, äußerte sich dazu im Juni 1994 während einer internationalen Konferenz über den Kindersex-Handel:7 Dieses Problem existiert nicht erst seit ein oder zwei Jahren. Angefangen hat es schon vor längerer Zeit, jedoch wurde dieses Thema bisher nicht allzu ernst genommen. Die Welt schenkte ihm keinerlei Beachtung: Es gab keine Organisation, die sich damit befaßte; es gab keinerlei politische Stellungnahmen von Regierungsseite, weder mündlich noch schriftlich, die dieses Problem behandelten, und es gab keinen internationalen Handel mit Prostituierten von einem Land zu anderen. All das hat sich mittlerweile grundlegend geändert, und Thailand – wie auch alle anderen — 229 —
Nationen in dieser Region – muß sich diesem Problem stellen. Einer der Gründe, weshalb Thailand gezwungen war, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, war die Gründung der Organisation, auf die Ministerpräsident Chuan in seiner Rede hinwies. Diese Organisation ist die ECPAT, eine Abkürzung für End Child Prostitution in Asian Tourism. In den drei Jahren nach ihrer Gründung im Jahr 1991 hat die Organisation in mehr als zwei Dutzend Ländern Büros und Hilfsdienste eingerichtet.8 Dabei konzentrierte sie sich vor allem auf ›vier Nationen Asiens, in denen die Lage besonders schlimm ist – Sri Lanka, die Philippinen, Taiwan und Thailand‹.9 Die Entwicklung in Thailand, wo sich die Zentrale der ECPAT befindet, ist am auffälligsten.10 Nach allem, was man hört, begann das rapide Wachstum der Tourismusund Sexindustrie des Landes im Laufe der sechziger Jahre.11 1993 schätzte ein thailändischer Wissenschaftler, daß der Sexhandel dem Land jährliche Einnahmen von 1,5 Milliarden Dollar beschere.12 Die Reiseindustrie und die thailändische Regierung selbst haben offen für den Sextourismus geworben. Als die Tourismusbehörde von Thailand 1987 das Werbeprogramm ›Visit Thailand Year‹ startete, lautete der Slogan: ›Die Frucht Thailands, die noch köstlicher ist als Durian (ein einheimisches Gewächs), sind junge Frauen.«13 Ein Reiseprospekt in England bezeichnete die Thais als ›Peter Pans – ewige Kinder, die niemals erwachsen wurden‹ und als das ›sinnlichste — 230 —
und sexuell aufgeschlossenste Volk der Erde‹. In einem Werbetext, der eine Reise nach Pattaya, dem thailändischen Mekka für Sexhungrige, empfahl, konnte man lesen:14 Alles, was man saugen, benutzen, essen, fühlen, schmecken, mißbrauchen oder sehen kann, findet man in dieser Stadt, die niemals schläft. Pattaya ist wahrlich nichts für Moralapostel. Eine andere Werbung, die überall verteilt wurde, erschien in Gestalt einer ›Postkarte‹ im Reisemagazin einer österreichischen Fluggesellschaft. Diese Anzeige enthielt einen noch unmißverständlicheren Hinweis für Pädophile. ›Aus Thailand mit Liebe‹, lautete der Text auf der Vorderseite der Karte. Illustriert war er mit der Zeichnung von einem halbnackten Mädchen im vorpubertären Alter. Auf der Rückseite der Karte, die von einer Gruppe fiktiver Reisender unterschrieben war, wurde der Überfluß an sexuellen Vergnügungen gepriesen, aus dem man in der ganzen Stadt schöpfen könne. ›Wir müssen jetzt Schluß machen‹, endete der Kartentext. ›Die Mädchen im Bangkok Baby Club warten schon auf uns.‹15 Eine Million Kinderprostituierte weltweit Wie viele Kinder gehen denn nun wirklich in Thailand und im übrigen Asien der Prostitution nach? Das festzustellen ist unmöglich. Die Kinderprostitution ist zumindest in den Ländern, die die ECPAT überwacht, gesetzlich — 231 —
verboten,16 daher gibt es keine offiziellen Angaben dazu. Die ECPAT liefert jedoch eine ihrer Meinung nach zuverlässige Schätzung auf Grund von verfügbaren Informationen. Die Zahlen sind schockierend: 60 000 Kinder auf den Philippinen, 200 000 in Thailand, eine Million weltweit.17 Aber die ECPAT gibt sich mit diesen Zahlen nicht zufrieden. Sie hat statt dessen versucht, die Menschen hinter diesen Statistiken sichtbar zu machen. 1984 starben fünf Mädchen, die in einem thailändischen Bordell eingesperrt waren, als in dem Etablissement ein Feuer ausbrach. Später stellte sich heraus, daß sie keine Chance zur Flucht hatten: Man hatte sie an ihre Betten gefesselt.18 Die Wirklichkeit für Kinder in den thailändischen Bordellen – seien sie gefesselt oder nicht – ist die reiner Sklaverei.19 Viele kommen aus kleinen Dörfern im Hinterland – tatsächlich sind es so viele, daß es in manchen Dörfern überhaupt keine minderjährigen Mädchen mehr gibt.20 Einige werden von Zuhältern oder Mittelsmännern entführt, um anschließend verkauft zu werden. In anderen Fällen werden Eltern von Bordellbetreibern angesprochen, die ihren Kindern eine gründliche Schulausbildung oder einträgliche Jobs in Bangkok versprechen. Ansonsten verkaufen die Eltern ihre Kinder regelrecht oder geben sie als eine Art Sicherheit gegen ›Darlehen‹ aus dem Haus, die mit dem späteren Verdienst der Kinder zurückgezahlt werden. Wie dieser Verdienst erbracht wird, ist den Eltern manchmal überhaupt nicht klar. Falls die Eltern später den wahren Hintergrund des Handels begreifen, verfügen sie nicht — 232 —
über die geldlichen Mittel, um ihre Kinder zu suchen und zurückzuholen.21 Sobald sie in den Bordellen untergebracht sind, haben die gefangenen Kinder eins gemeinsam: Ihr Leben steht unter totaler Kontrolle durch ihre ›Arbeitgeber‹, die nicht selten ihren Willen den Kindern mit Gewalt aufzwingen.22 Aus diesem Grund ist die Bezeichnung Kinderprostitution absolut falsch. Diese Kinder wurden zur Prostitution gezwungen – und die Verantwortung für ihr Schicksal liegt einzig und allein bei ihren Ausbeutern. Für Erwachsene ist die Entscheidung für die Prostitution manchmal ein bewußter Schritt, und einige bezeichnen diese Tätigkeit sogar als ›Verbrechen ohne Opfer‹. Aber für die Kinder, die im sexuellen Dienstleistungsgewerbe tätig sind, gibt es keine Wahl – und sie sind die Opfer.23 Aids – die neue Gefahr Abgesehen von den körperlichen und seelischen Schäden, die diese Kinder davontragen, besteht für sie die hohe Wahrscheinlichkeit, daß sie sich irgendwann mit HIV infizieren. ›Aids breitet sich zur Zeit in Asien genauso rasant aus wie in Afrika in den Jahren 1980-85‹, berichteten Vertreter der Weltgesundheitsorganisation im August 1994 während des 10. Internationalen Aids-Syposiums.24 Thailand ist aus offensichtlichen Gründen davon am schlimmsten betroffen. Die Schätzungen variieren, aber nach vorsichtigen Berechnungen wurden 1994 500 000 Einwohner des Landes mit HIV infiziert. Bis zum Jahr 2000 dürfte die Zahl der Infizierten auf 2,5 Millionen hochschnellen.25 — 233 —
Die Aids-Angst hat den Veranstaltern von Kindersex-Reisen einen neuen Boom beschert, da sie nun, als Reaktion auf die Befürchtungen der Touristen, die jüngsten Kinder als die sichersten anpreisen. Sie beruhigen nervöse Kunden, indem sie erklären, die Kinder würden regelmäßig medizinisch untersucht und daß niemand sich bei einem Kind mit Aids anstecken kann. Nichts davon trifft zu.26 Aids und das ständige Herausholen von Kindern aus den Dörfern haben den Nachschub und das Angebot der Bordelle erheblich verknappt. Das wiederum brachte die Bordellbetreiber dazu, sich nach neuen Quellen für ihren Nachwuchs umzuschauen. Die Folge ist ein Menschenhandel über Landesgrenzen hinweg. Die Human Rights Watch hat ausführlich nachgewiesen, daß birmanische Frauen und Kinder entführt und an thailändische Bordelle verkauft werden.27 ECPAT hat ebenfalls ähnliche Verhältnisse für China und Laos dokumentiert.28 Erste Anzeichen von Erfolg Trotz dieser bedrohlichen Entwicklung weist ECPAT auf die Anzeichen erster Erfolge hin. Manchmal bemißt dieser Fortschritt sich nur in kleinen Vorstößen: ein Zeitungsartikel hier, eine Konferenz dort oder eine Rede wie die von Ministerpräsident Chuan. Manchmal sind die Anzeichen deutlicher. Australien, Deutschland und die Vereinigten Staaten haben kürzlich Gesetze erlassen, die eine strafrechtliche Verfolgung von Kindersex-Touristen in ihrem Heimatland zulassen.29 Norwegen und Schweden hatten diese Gesetze bereits und — 234 —
haben nun die Entschlossenheit bekundet, sie auch anzuwenden.30 Dennoch ist es alles andere als sicher, daß diese Gesetze sich auch als wirkungsvoll erweisen. Ein Juraprofessor äußerte sich zu den Aussichten der australischen Gesetzgebung, als deren Erlaß bevorstand:31 Der Erlaß solcher Gesetze wird als wichtige symbolische und politische Aussage betrachtet. Es besteht jedoch die ernstzunehmende Gefahr, daß wenn diese Gesetzgebung nicht von wirkungsvollen Durchsetzungsmaßnahmen auf nationaler wie internationaler Ebene begleitet wird, ihre Wirkung sich als ziemlich gering erweisen könnte … Ein Sexualverbrechen dort zu verfolgen, wo ein Kind das Opfer war, ist ohnehin schon schwierig genug. Wenn die Verfolgung überdies dadurch erschwert wird, daß Beweise in einem fremden Land zusammengetragen werden müssen und daß man sich der Aussagebereitschaft der Zeugen in diesem Land versichern muß, wo außerdem das gesamte Verfahren in einer fremden Sprache durchgeführt wird, gelangt man zu einem überaus mühseligen Unternehmen. Überdies muß man die Gründe für den Mangel eines wirkungsvollen Gesetzesvollzugs nicht selten im Mangel einer engen Zusammenarbeit zwischen gesetzgebenden und ausführenden Organen suchen, der nötig ist, um einen solchen Fall überhaupt vor Gericht zu bringen. — 235 —
Einige der leidenschaftlichsten Befürworter des australischen Gesetzes geben zu, daß es günstiger wäre, Kindersex-Touristen in den Ländern zu belangen, in denen sie sich ihrer Vergehen schuldig gemacht haben.32 Hinzu kam, daß kurz vor Erlaß dieser Gesetze allgemeiner Optimismus ausbrach, daß Thailand und die Nachbarländer ihre eigenen Gesetze verschärfen und – endlich – auch auf deren Einhaltung achten würden. Ministerpräsident Chuan selbst verkündete 1992, daß er beabsichtige, den KindersexHandel ›während der nächsten zwei oder drei Monate‹ völlig zu zerschlagen.33 Fast zwei Jahre später, während einer Konferenz der ECPAT in Bangkok, sah sich der Ministerpräsident gezwungen, seinen Mißerfolg einzugestehen. Erneut verlieh er seiner Hoffnung Ausdruck, daß er die Prostitution thailändischer Kinder ausmerzen könne, während er mit überraschender Offenheit zugab, was Kritiker schon seit Jahren erklärten: daß thailändische Behördenvertreter die Prostitution nicht nur dulden, sondern, in seinen Worten, ›einige Beamten fördern sogar diese Art von Geschäft und sind am Profit beteiligt‹.34 Zukunftspläne Trotz solcher Rückschläge sind die Vertreter von ECPAT unverzagt. Unter anderem planen sie, ihr Programm auch auf Afrika, Lateinamerika und andere betroffenen Regionen auszuweiten; örtliche Organisationen direkt zu unterstützen, die sich um das weitere Schicksal der Kinder kümmern, die dem Teufelskreis der Prostitution entfliehen — 236 —
konnten, und die Kinder schützen, die in Gefahr sind in dieses Geschäft hineingezogen zu werden; 1996 einen internationalen Kongreß einzuberufen, um Wege zur Beendigung des Kindersex-Handels zu suchen; und ein umfangreiches Archiv anzulegen, in das ständig neue Erkenntnisse aufgenommen werden. Allgemein hat ECPAT sich entschlossen, die direkte Konfrontation zu vermeiden. Sie strebt Veränderungen dadurch an, daß Einfluß auf Regierungsvertreter ausgeübt und die Öffentlichkeit aufgeklärt wird – im wesentlichen mit Hilfe der Medien und durch die Verteilung von Broschüren, die in Zusammenarbeit mit offiziellen Vertretern der Reiseindustrie organisiert wird. ECPAT war außerdem federführend im Rahmen der allgemeinen Bemühungen, die Ratifizierung einer United Nations Convention on the Rights of the Child zu beschleunigen. Die Vereinigten Staaten, die am Entwurf des Dokuments maßgeblich beteiligt waren, gehörten – im August 1994 – zu den fünfzehn Ländern, die den Beschluß weder unterzeichnet noch ratifiziert hatten. Ironischerweise gehört sogar Thailand zu den Unterzeichnern.35 Des Wartens müde Nicht jeder ist glücklich über die Bemühungen von ECPAT – oder über die Anstrengungen der amerikanischen Regierung, die sich bisher auf den Erlaß eines Gesetzes beschränken, das die strafrechtliche Verfolgung eines Kindersex-Touristen nach seiner Rückkehr in die Heimat erlaubt. — 237 —
Dorothy Thomas rät zu einem aggressiveren Vorgehen. Thomas ist die Projektleiterin von Human Rights Watch, die die Ermittlungen zum Menschenhandel birmanischer Frauen und Kinder nach Thailand geleitet hat. In einer Aussage vor einem Unterkomitee des Repräsentantenhauses äußerte Thomas sich überaus kritisch über die Bewertungsmaßstäbe des amerikanischen Außenministeriums, das erzwungene Prostitution in Thailand als ›Diskriminierung‹ und nicht als Sklaverei oder Zwangsarbeit versteht. Dies, so erklärte sie, sei weitaus mehr als semantische Haarspalterei. Diese Klassifizierung ›nimmt diesen Mißbrauch von Überlegungen nach Section 502 des Trade Act aus, der vom Handelsministerium verlangt, das jeweilige Arbeitsrecht genau unter die Lupe zu nehmen, wenn es um die Entscheidung geht, welche Länder als Handelspartner der Vereinigten Staaten akzeptiert werden können.‹ Wenig später fuhr sie fort:36 Das Außenministerium hat seit 1991 genügend Beweise dafür gesammelt, daß thailändische Polizei- und Grenzorgane den Handel von Frauen und Mädchen aus benachbarten Ländern nach Thailand zum Zweck erzwungener Prostitution dulden. Währenddessen haben die Vereinigten Staaten – und tun es noch immer – bei der Ausbildung der thailändischen Polizei wie auch des Grenzschutzes mitgeholfen und Waffen und Ausrüstung an die thailändische Polizei geliefert, ohne jemals deren Beteiligung am — 238 —
Menschenhandel und an der Zwangsprostitution zu untersuchen. Wenn die Polizei eingeschritten ist, waren die Hauptleidtragenden, sagte Thomas, ›stets die Opfer des Menschenhandel gewesen.37 In praktisch jedem Fall, den wir rekonstruiert haben, wurden die Frauen und Mädchen bestraft, während die Bordellbetreiber, Zuhälter, Helfer und Kunden unbehelligt blieben. Mehr noch, trotz eindeutiger Beweise für die Duldung, ja direkte Beteiligung amtlicher Stellen, haben wir bisher noch von keinem Fall gehört, in dem ein Polizist wegen seiner Beteiligung am Menschenhandel und an Zwangsprostitution belangt worden wäre. Wenigstens, so argumentierte Thomas, sollte die Hilfe für die thailändische Polizei38 abhängig gemacht werden vom ›Fortschritt auf dem Gebiet der Verfolgung und Anklage Schuldiger in den eigenen Reihen …‹ Aber nicht nur die Hilfe, sondern auch die amerikanischen Handelsbeziehungen mit Thailand sollten von der Ahndung der Komplizenschaft thailändischer Amtsträger im Handel mit Frauen und Mädchen abhängig gemacht werden.39 Der internationale Druck nimmt zu Solche Forderungen haben ihre Wirkung auf Ministerpräsident Chuan nicht verfehlt, der Anfang 1993 einen Um— 239 —
schwung in der öffentlichen Meinung festgestellt hat. ›Die Prostitution in Thailand, vor allem die Kinderprostitution, hat ein Stadium erreicht, das weder für das Land noch für die internationale Gemeinschaft zumutbar ist‹, erklärte er. ›Das Prostitutionsproblem zieht andere Probleme nach sich wie zum Beispiel eine allgemeine internationale Forderung, keinen Handel mehr mit jenen Ländern zu treiben, in denen Kindern ausgebeutet werden.40 Ein Boykottaufruf, vor dem Ministerpräsident sich so sehr fürchtete, erschien wenige Monate später in einer amerikanischen Illustrierten. Der letzte Absatz war praktisch eine Kriegserklärung.41 Das thailändische Sextourismus-Geschäft ist in hohem Maße abhängig von ausländischen Kunden und höchst anfällig gegen einen internationalen Boykott … Eine sorgfältig abgestimmte, organisierte und publizistisch gründlich aufbereitete Kampagne gegen Kinderprostitution inklusive ein Boykott von Fluglinien, Reiseveranstaltern, Hotelketten und anderer am Thailand-Tourismus Beteiligten könnte eine durchschlagende Wirkung haben … Eine internationale Kommission westlicher prominenter Persönlichkeiten, die Hearings veranstalten und die Verletzung der Menschenrechte von Kindern aufdecken, könnte für die nötige Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit sorgen, um einen Boykott ins Leben zu rufen.
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Für die Kinder hat sich nichts geändert Bis heute scheint die Kriegserklärung keine größere Wirkung zu haben42 als die Erklärung von Ministerpräsident Chuan, dem Problem schnell ein Ende zu machen. Tatsächlich scheinen weder Worte noch Aktionen, ganz gleich von wem, überhaupt irgendeine Wirkung gehabt zu haben. Über Kinderprostitution wird noch häufiger berichtet als je zuvor, und jedes Jahr arbeiten mehr Menschen daran, sie auszumerzen. Aber für die Opfer scheint sich herzlich wenig geändert zu haben. Und das verheißende Ende ist nirgendwo in Sicht.
David Hechler ist Reporter und Autor des Buchs The Battle and the Backlash: The Child Sexual Abuse War (Lexington Books, 1988). Er hat ein Diplom in Pädagogik (Brown University) und Journalismus (Columbia University). Er bedankt sich bei Peggy Healy, R.N. und Lisa Rana, Esq. für ihre Unterstützung bei den Recherchen für diesen Aufsatz.
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Anmerkungen 1. Nicht alle Pädophilen sind Kinderschänder. Während alle Pädophilen von Kindern sexuell angezogen werden, geben nur wenige ihren Trieben nach. Diese könnte man räuberische Pädophile nennen. Im Interesse der Kürze und Prägnanz werden sie jedoch in diesem Artikel allesamt schlicht Pädophile genannt. 2. Obgleich die NAMBLA wahrscheinlich die bekannteste Pädophilenorganisation ist, haben die Pädophilen, die Mädchen bevorzugen, eigene Vereinigungen und Mitteilungsblätter. Uncommon Desires, zum Beispiel, ist ein Mitteilungsblatt, das sich selbst als ›das Sprachrohr eines aufstrebenden politisch-bewußten (sie) MädchenLiebe-Untergrunds‹ bezeichnet. 3. Anm., Brief an einen Jungen-Freund. NAMBLA Bulletin Jan./Feb. 1993, S. 30. 4. Ehrlich, P., ›Asia’s Shocking Secret.‹ Reader’s Digest Okt. 1993, S. 71-72. 5. Geary, R., ›Cortines: An Pedophile.‹ New York Newsday 22. Sept. 1993. 6. Speyer, R., ›Freed Molester Pestered Me, Sez Boy.‹ (New York) Daily News 8. Aug. 1994 7. Bericht über Rede von Ministerpräsident Chuan Leekpai von Thailand in: End Child Prostitution: Bericht über eine Internationale Beratung über Kinderprostitution, veranstaltet in Bangkok am 13. und 14. Juni 1994, veröffentlicht von ECPAT, 1994. 8. End Child Prostitution. S. 9. — 242 —
9. O’Grady., R., The Child and the Tourist (Bangkok: ECPAT, 1992 in Zusammenarbeit mit Auckland, Neuseeland: Pace Publishing), S. 132. 10. Thailand wird von Journalisten, Soziologen und Politologen häufig als Fallstudie für Sextourismus herangezogen. Wie Ministerpräsident Chuan selbst erklärt hat, erfreut die thailändische Presse sich großer Freiheit – wie auch alle ausländischen Korrespondenten, die in Thailand arbeiten. Das gleiche kann nicht von allen Ländern in dieser Region behauptet werden. Überdies haben Journalisten und Wissenschaftler in Thailand diese Gelegenheit genutzt. Deren Veröffentlichungen lassen wiederum das Land für ihre Kollegen weitaus interessanter erscheinen, die auf deren Arbeiten aufbauen können. 11. Siehe, zum Beispiel, Sachs, A., ›The Last Commodity: Child Prostitution in the developing world.‹ World Watch (Juli/Aug. 1994): 28. Hinzugefügt werden muß, daß die Ausweitung des Sexhandels nicht nur auf Grund des Tourismus stattfand, sondern auch wegen einer steigenden örtlichen Nachfrage. Siehe O’Grady, Child and Tourist, S. 96-97. 12. Ireland, K., ›Wish You Weren’t Here: The Sexual Exploitation of Children and the Connection with Tourism and International Travel.‹ Arbeitspapier von Save the Children (London), Sept. 1993, S. 31. 13. Ireland, S. 45-46. 14. Ireland, S. 51. Die Broschüre wurde von Redwing Holidays herausgegeben. — 243 —
15. O’Grady, R., The Rape of the Innocent (Bangkok: ECPAT, 1994, in Zusammenarbeit mit Auckland, Neuseeland: Pace Publishing, 1994), S. 54. Die Fluggesellschaft war Lauda Air und gehört dem ehemaligen Autorennfahrer Niki Lauda. 16. O’Grady, Child and Tourist, S. 91-109. 17. Diese statistische Angabe – eine Million Kinder weltweit – stammt aus einer 1988 vorgenommenen Schätzung durch die norwegische Regierung. Während einer 1994 abgehaltenen Konferenz wartete ECPAT mit einer eigenen Schätzung auf, die besagte, daß eine Million Kinder nur in Asien der Prostitution nachgehen. Siehe End Child Prostitution, S. 10. 18. Ireland, S. 34. 19. O’Grady, Child and Tourist, S. 39-54; und O’Grady, Rape, S. 11-22. Webster’s Third New International Dictionary definiert Sklaverei unter anderem als Unterwerfung unter einen beherrschenden Einfluß: Abhängigkeit‹ und ›Kontrolle durch aufgezwungene Autorität: Unterjochung. ‹ 20. Ireland, S. 34. 21. Die Notlage solcher Eltern wurde deutlich gemacht durch Live-Interviews im Rahmen der BBC-Dokumentation ›Dying for Sex‹ (1993), produziert von Giselle Portenier und berichtet von Peter Godwin. 22. A Modern Form of Slavery: Trafficking of Burmese Women and Girls into Brothels in Thailand (New York: Human Rights watch, 1993). Siehe auch Anm. 19. 23. O’Grady, Child and Tourist, S. 115-119. — 244 —
24. Garrett, L., ›Covert Sex Practices Put Asians at Risk.‹ New York Newsday 16. Aug. 1994. 25. O’Grady, Rape, S. 78-79. Um diese Zahlen im Zusammenhang zu verstehen, beträgt die Gesamtbevölkerungszahl von Thailand 55 Millionen, von denen 6 Millionen Menschen in Bangkok leben. (Quelle: Thailand [Knopf Guides] [New York: Alfred A. Knopf, 1993]: S. 314). 26. O’Grady, Rape, S. 76-78. Siehe auch Garrett, ›Covert Sex Practices‹, der, indem er sich auf Berichte bezieht, die anläßlich des 10. Internationalen Aids-Symposiums veröffentlicht wurden, schreibt: ›Die Angst vor Aids fördert zur Zeit einen lebhaften Handel mit birmanischen Mädchen, die von ihren Eltern an thailändische Bordellbesitzer verkauft werden. Die thailändischen Männer glauben, daß diese Mädchen – die gewöhnlich als Jungfrauen verkauft werden – HIV-sicher sind. Laut Berichten während des Symposiums werden diese Frauen natürlich irgendwann von ihren Kunden mit HIV infiziert, kehren nach Birma zurück und verbreiten das Virus dort weiter. ‹ 27. Modern Form of Slavery. 28. O’Grady, Rape, S. 29-31. ECPAT hat außerdem den Handel in umgekehrter Richtung dokumentiert: Thailändische Kinder werden an Bordelle in Japan, Hongkong, Taiwan, Australien und den Vereinigten Staaten und anderen Ländern verkauft. 29. Der Australische Crimes (Child Sex Tourism) Amendment Act 1994 wurde im Juli 1994 Gesetz; in Deutsch— 245 —
land wurde der Zusatz zu Paragraph 5 des Strafgesetzbuchs im Juni 1993 wirksam; und der U. S. Child Sexual Abuse Prevention Act von 1994 war Teil der Crime Bill und erhielt im September 1994 Gesetzeskraft. 30. O’Grady, Rape, S. 97-99. 31. Byrnes, A., ›Extraterritorial Criminal Legislation Against the Sexual Exploitation of Children by Australians Abroad.‹ Abhandlung anläßlich des First World Congress on Family Law and Children’s Rights, Sydney, Australien, 5-9. Juli 1993, S. 3-4. 32. Bernadette McMenamin, Nationale Koordinatorin von ECPAT Australien, erklärte vor dem Standing Committee on Legal and Constitutional Affairs des australischen Repräsentantenhauses: ›Wir würden es am liebsten sehen, wenn der Täter in dem Land bestraft würde, in dem er die Tat begangen hat.‹ Protokoll der Inquiry into the Crimes (Child Sex Tourism) Amendment Bill 1994, Mai 1994, S. 4. 33. O’Grady, Rape, S. 89. 34. Siehe Anm. 7. 35. Das Abkommen definiert die Rechte von Kindern, insbesondere ihr Anrecht, vor allen Formen des Mißbrauchs beschützt zu werden. Bis zum August 1994 hatten 166 Nationen das Abkommen ratifiziert, neun hatten unterschrieben mit der erklärten Absicht einer späteren Ratifizierung und fünfzehn hatten nichts von beidem getan. Die Vereinigten Staaten waren die einzige westliche Nation in der letzten Gruppe. (Information wurde von der UNICEF zur Verfügung gestellt.) — 246 —
36. Thomas, D., Sexual Exploitation of Women and Children. Aussage vor dem Unterkomitee für International Security, International Organisation and Human Rights, 22. März 1994, S. 7. 37. Thomas, S. 3. 38. Es lohnt sich, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß der amerikanische Kongreß 1994 den Rhinoceros and Tiger Conservation Act verabschiedet hat, der Hilfszahlungen an asiatische Länder vorsieht, um die Bemühungen der Vollzugsorgane zum Schutz dieser Tiere vor Wilderern zu unterstützen (Wildlife Conservation Feb. 1995, S. 7). Die Länder erhalten keine Hilfszahlungen, um die Bemühungen der Vollzugsorgane zum Schutz minderjähriger Prostituierter zu unterstützen. Im Gegensatz dazu spendete die birmanische Dissidentin Aung San Suu Kyi 15 000 Dollar von der Prämie ihres Friedensnobelpreises an Thailand zur Unterstützung der Kinderprostituierten (O’Grady, Rape, S. 89). 39. Thomas, S. 8. 40. O’Grady, Rape, S. 90. 41. Petras, J., und T. Wongchaisuwan, ›Thailand: Free Markets, AIDS, and Child Prostitution.‹ Z Magazine Sept. 1993, S. 38. 42. Das Ausbleiben einer erkennbaren Wirkung mag mit der geringen Verbreitung (26 000) und relativen Unbekanntheit der Illustrierten zu tun haben, in dem es erschien. Andererseits könnte es sein, daß die Leserschaft solche Methoden ablehnt. — 247 —
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