H. W. KNOBLOCH
Das Geschenk der Seidenprinzessin FRANZ SCHNEIDER VERLAG
Inhalt Das Mädchen Ying-Ying kommt in ein fre...
20 downloads
650 Views
706KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
H. W. KNOBLOCH
Das Geschenk der Seidenprinzessin FRANZ SCHNEIDER VERLAG
Inhalt Das Mädchen Ying-Ying kommt in ein fremdes Haus Ein Kapitän plaudert zu viel, und ein Kaufmann faßt einen Plan Die kleine Ying-Ying entdeckt viel Neues und lernt den Gärtner kennen Prinzessin Goldlotos träumt von der Karawanenstraße, und der Gärtner erzählt Ying-Ying ein Märchen Der Fürst von Khotan rüstet eine Karawane Ying-Ying erzählt ihrem Onkel von ihrer baldigen Hochzeit Der Oberrichter hat gute Spione, und Onkel Yang verliert eine Partie Schach Goldlotos erfährt eine Neuigkeit Onkel Yang gibt ein Fest Goldlotos trifft Reise-Vorbereitungen und bittet ihren Lehrer um Rat Goldlotos nimmt Abschied Der Hochzeitskarawane begegnet ein Trupp Gerichtssoldaten Die Karawane erreicht die Grenze, und es kommt zu einem Zwischenfall Ein Blinder irrt durch die Wildnis, und Goldlotos pflanzt den ersten Maulbeerbaum Tausend ungeborene Träume erwachen in der neuen Heimat
Die Erzählung von der Seidenprinzessin beruht auf einer alten Überlieferung. Zu Beginn unserer Zeitrechnung kannte man nur in China das Geheimnis der Seidengewinnung. Es wurde streng gehütet, und niemandem gelang es, dieses Geheimnis über Chinas Grenze, die Große Mauer, zu bringen. In dieser Erzählung begegnen uns GOLDLOTOS einzige Prinzessin des mächtigen Hauses Tschin. Durch einen Unglücksfall hat sie ihre Eltern sehr früh verloren. Ihre Erziehung übernahmen der Schriftgelehrte Herr Fu und ihr Onkel, der Oberrat Yang. OBERRAT YANG das Oberhaupt der Familie Tschin. Sie gehört zu den mächtigsten Familien des chinesischen Reiches und hat fürstlichen Rang. Yangs Ziel ist, die Macht dieser Familie noch zu vergrößern. Dazu ist ihm jedes Mittel recht. FRAU WÖNN Vertraute der Prinzessin, für die sie von klein auf gesorgt hatte. TSAN Tsuo Türhüter im Palast Tschin, dem Oberrat Yang bedingungslos ergeben. Die Natur hat ihn mit einem kräftigen Körper, jedoch geringen geistigen Gaben ausgestattet. YING-YING Arbeiterin im „Haus der fleißigen Hände“. Sie stammt aus einer armen, kinderreichen Familie und wurde vom Oberrat Yang gekauft. Da sie nicht nur geschickt, sondern auch fleißig und liebenswürdig ist, gewinnt sie bald das Vertrauen der Prinzessin Goldlotos. LIAN-BAI ein Lampionverkäufer. Er ist der Onkel der kleinen Ying-Ying und ein zufriedener Mensch. VIJAYA Fürst des Nachbarreiches Khotan. Ihn verbinden mit dem Oberrat
Yang geschäftliche Beziehungen. CUCULLUS ein junger, römischer Kaufmann. Er hat sich vorgenommen, das Geheimnis der Seide zu lüften.
Das Mädchen Ying-Ying kommt in ein fremdes Haus Die „Straße der raschelnden Blätter“ träumte noch dem erwachenden Tag entgegen. In schrägen Strahlen fiel die Sonne durch die Blätter der Maulbeerbäume und malte Ringe und Streifen auf den Weg. Die Straße führte etwas bergauf. Zum äußersten Rand der Stadt Lo-jang. Diese Stadt lag im südöstlichen Teil des chinesischen Reiches. Rechts der Straße zog sich eine hohe Mauer entlang, die Palast und Park der Familie Tschin umschloß. Die Begrenzung der linken Straßenseite bildete ein Hain von Maulbeerbäumen. Dem Rascheln der Blätter verdankte die Straße ihren Namen. Sie endete an einer Mauerbiegung. Dort befand sich das hohe Eingangstor in den Palast. Man konnte es schon aus der Ferne erkennen, denn es hatte das Dach einer Pagode. Die schwarzglänzenden Tore waren um die frühe Tagesstunde noch geschlossen. Ein alter Mann kam langsam die Straße herauf. Auf seinem Rücken trug er ein Gestell aus Bambusstäben. An diesen Stäben hingen Girlanden, bunte Fahnen und Lampions. Der ganze Aufbau war größer als das kleine Männchen, und die Lampions an der obersten Bambusstange hüpften hin und her. Dem Lampionverkäufer folgte ein Mädchen. Es war noch sehr jung und hielt die Hände in den weiten Ärmeln des Gewandes verborgen. Der kunstvolle Aufbau des schwarzglänzenden Haares
wurde von einem Stirnband zusammengehalten, in das die Schriftzeichen ihres Namens gestickt waren: Ying-Ying. Was hatte die kleine Ying-Ying seit den letzten zwei Sonnenaufgängen alles erlebt! Zuerst die Fahrt mit dem zweirädrigen Ochsenkarren aus dem heimatlichen Dorf in die fremde große Stadt Lo-jang. Die Mutter hatte sie begleitet. Nach einer langen Tagereise waren sie am Abend in die Stadt gekommen. Durch viele enge Gassen waren sie gelaufen, bis sie vor dem kleinen Häuschen des Lampionverkäufers Lian-Bai standen. Er war ein Bruder der Mutter und bewohnte mit seiner großen Familie das Häuschen in der Birngartenstraße. Die Familie fertigte aus buntem Papier kleine Drachen und Laternen, die sich der Onkel dann auf sein Traggestell lud und in den Straßen verkaufte. Ying-Yings Mutter konnte nicht lange bleiben, und so hatte sich Onkel Lian-Bai erboten, das Mädchen zum Haus der Familie Tschin zu geleiten. Es trippelte hinter dem Onkel her, ließ dabei seine Augen aufmerksam umherwandern und kam aus dem Staunen nicht heraus. Allein diese „Straße der raschelnden Blätter“ war für sie ein Erlebnis. Hier versank man nicht im Schlamm, man hörte kein Kindergeschrei oder das Kläffen verwahrloster Hunde, die sich um den Straßenabfall erbitterte Kämpfe lieferten. Hier stritten sich nicht lautschreiende Kameltreiber, hier feilschten keine Händler. YingYing hatte noch nie in ihrem Leben so eine Straße gesehen. Nun waren sie an dem prächtigen Tor angelangt, und der Onkel blieb stehen. Er betrachtete eine Weile das verschlossene Tor, blickte zum Himmel, als wolle er nach dem Stand der Sonne die Zeit feststellen. Dann ging er, noch immer schweigend, auf die andere Straßenseite und setzte das Traggestell ab. Er breitete eine Sitzmatte aus, deutete Ying-Ying durch Zeichen an, ein Gleiches zu tun, und beide ließen sich dem prächtigen Eingangstor gegenüber nieder. Sie sprachen nicht miteinander. Onkel Lian-Bai ordnete die Fähnchen und Girlanden. Besonders schöne Stücke hing er an die vorderen Stäbchen des Traggestells. So verging einige Zeit. Das große, schwarzglänzende Tor blieb verschlossen. „Wir werden uns gedulden müssen“, unterbrach der Onkel das Schweigen. „Tsan Tsuo, der Türhüter, hat sein Tagwerk noch nicht begonnen. Ich hätte es mir denken können.“ Ying-Ying wußte nicht, ob der Onkel von ihr eine Antwort erwartete, deshalb schwieg sie lieber. Der Onkel betrachtete die kleinen Fähnchen, nahm ein besonders
schönes Stück und gab es der kleinen Ying-Ying. „Es trägt das Zeichen der Schildkröte und wird dir Glück bringen“, meinte er. „Heb es gut auf. Leider ist es das einzige, das ich dir mitgeben kann.“ Ying-Ying verbeugte sich dankend, nahm das Fähnchen, besah es lange und verbarg es dann sorgsam in dem weiten Ärmel ihres Gewandes. Sie hatte auf dem ganzen Weg nicht eine Frage an den Onkel gerichtet, doch nun, durch das Geschenk ermutigt, verlor sie ihre Scheu. „War mein verehrter Herr Onkel schon einmal im Hause der Familie Tschin?“ fragte sie leise und so zaghaft, daß der Onkel sich zu ihr beugen mußte, um die kleine Stimme zu verstehen. „Im Palast der Familie Tschin?“ Onkel Lian machte ein Gesicht, als hätte man ihn gefragt, ob er schon einmal auf dem Mond war. „Gute Götter, was hätte ich, der Lampionverkäufer Lian-Bai aus der Birngartenstraße, im Palast der Familie Tschin verloren? Ich kenne zwar den Türhüter Tsan Tsuo recht gut, doch er würde mir nie erlauben, auch nur die Fußspitze über die Schwelle zu setzen.“ „Es ist wohl ein sehr großes Haus, das der Familie Tschin?“ „Ein großes Haus?!“ Onkel Lian mußte jetzt den Kopf über soviel Unwissenheit schütteln. „Die Familie Tschin hat fürstlichen Rang. Sie bewohnt den größten und schönsten Palast in ganz Lojang. Herr Oberrat Yang, das Oberhaupt der Familie Tschin, hat sogar das Wasser des Südflusses umleiten lassen. Viele kleine Kanäle durchziehen den Park. Zierlich geschwungene Brücken verbinden die Wege, die alle zum Palast führen. Das Haupthaus steht mitten im Park. Natürlich gibt es noch viele kleinere Häuser, Innenhöfe und kunstvoll erbaute Pagoden. Du wirst alles bald selbst sehen.“ Ying-Ying lauschte den Worten des Onkels, als wäre er ein Märchenerzähler. Für sie hatte es bisher nur die kleine Welt ihres heimatlichen Dorfes gegeben. Hinter dieser hohen Mauer aber sollten so viele Herrlichkeiten verborgen liegen? Der Onkel erzählte weiter. Stundenlang könne man laufen und müde dabei werden, ohne die Mauer ganz zu umschreiten. Auch die Felder mit Maulbeerbäumen an der linken Straßenseite gehörten der mächtigen Familie Tschin. Es bereitete Lian-Bai Freude, der kleinen Unwissenden zu erzählen. So vertieft war er in das Gespräch, daß er nicht bemerkte, wie die Eingangstür in der Zwischenzeit geöffnet wurde. Ein
stämmiger, breitschultriger Mann trat auf die Straße. Er blinzelte in die Sonne, reckte und dehnte sich, daß sein prächtiges Gewand knisterte. Als er sich nach einem langen Gähnen die Augen rieb, bemerkte er Ying-Ying und Onkel Lian-Bai. „Du hast einen schlechten Verkaufsplatz gewählt, Lian-Bai!“, rief er laut über die Straße, so daß die kleine Ying-Ying vor dieser tiefen, grollenden Stimme erschrak. Der Onkel erhob sich, trat vor den Mann und verbeugte sich tief. „Ehrenwerter Tsan Tsuo, es ist nicht meine Absicht, in dieser Straße einen Verkaufsstand zu errichten. Dies dürfte, wie ihr sehr richtig bemerkt habt, für mich ein schlechtes Geschäft werden. Der Grund, weshalb ich zu so früher Stunde in die Straße kam, ist ein anderer.“ Ying-Ying stand bewegungslos noch immer auf der gleichen Stelle. Onkel Lian gab ihr Zeichen. Zaghaft kam sie näher und verbeugte sich ebenfalls tief vor dem Türhüter. „Ich bringe heute der Familie Tschin dieses Mädchen“, sagte Lian-Bai. „Sie gehört meiner armseligen Familie an und ist die Tochter meiner Schwester. Als der verehrte Herr Oberrat Yang in dem Heimatdorf des Mädchens weilte, war er so gütig, sich für sie zu interessieren. Er kaufte sie meiner Schwester für fünf Unzen Silber ab, weshalb meine Familie dem Herrn Oberrat zu ewigem Dank verpflichtet ist.“ Tsan Tsuo hielt die Hände über die Brust verschränkt und musterte das Mädchen. „Zeig mir deine Hände!“ befahl er. Ying-Ying gehorchte. Beide Ärmel des Gewandes fielen zurück und gaben kleine, schlanke Hände frei. „Sie war für die Feldarbeit zu schwächlich, wertgeschätzter Tsan Tsuo“, beeilte sich der Onkel zu bemerken. „Gut, gut“, brummte Tsan Tsuo und betastete die schmalen Hände des Mädchens. „Sie wird ihre Aufgabe zugeteilt bekommen, und wenn sie sich anstellig zeigt, wird es ihr gut gehen. – Hast du das Jadetäfelchen mit den Schriftzeichen des Herrn Oberrats dabei?“ wandte er sich an Onkel Lian-Bai. „Ich kann sie ohne das Täfelchen nicht einlassen.“ Der Onkel nickte und suchte in seinem Gürtel. Dann erinnerte er sich, daß er das Täfelchen sorgfältig in einem kleinen Tuchbeutel aufbewahrt und unter den Papierfähnchen verborgen hatte. Er schickte Ying-Ying, es zu holen.
„Sie hat sehr zierliche und feine Hände. Wenn sie obendrein geschickt sind, wird die alte Wönn sich freuen“, meinte Tsan Tsuo und blickte dem Mädchen nach. Ying-Ying kam zurück und brachte dem Onkel den kleinen Tuchbeutel. Vorsichtig holte er das Jadetäfelchen mit den Schriftzeichen hervor und überreichte es Tsan Tsuo. Der nahm es mit wichtiger Miene und betrachtete die Zeichen lange. Er zog seine Stirn in Falten, rieb sich die Nase, drehte das Täfelchen nach hierhin und dahin und tat ganz so, als wollte er die Schrift prüfen. In Wahrheit konnte er keines der Zeichen lesen. An der äußersten Ecke hatte das Täfelchen eine kleine Markierung. Sie war kaum wahrnehmbar, und nur wenn man behutsam über die Tafel strich, konnte man die kleine Einkerbung fühlen. Für Tsan Tsuo war es ein Erkennungszeichen; nur daran merkte er, ob er tatsächlich ein Täfelchen der Familie Tschin in den Händen hielt. Nach einer Weile gab er das Täfelchen der kleinen Ying-Ying. „Bewahre es gut auf“, sagte er. „Du bist jetzt ein Mitglied der Familie Tschin und mußt das Täfelchen immer bei dir tragen. Hast du mich verstanden?“ Ying-Ying nickte ehrfürchtig. Sie hatte den Türhüter beobachtet, und weil er die Schriftzeichen so genau angesehen hatte, war er in ihrer Achtung um vieles gestiegen. Onkel Lian-Bai hatte recht. Die Tschins mußten eine große und erhabene Familie sein, wenn sogar der Türhüter ein Schriftgelehrter war. Tsan Tsuo genoß die Ehrerbietung des kleinen Mädchens. „Du gehst jetzt unverzüglich dem kleinen Weg nach, der über drei Brücken führt“, befahl er. „Biege nicht rechts und nicht links ab. Frage im ersten Hof des Palastes nach Frau Wönn. Man wird dich zu ihr führen, und du zeigst ihr das Täfelchen. Sage ihr nur, daß ich dich geschickt habe. Hast du alles verstanden?“ Ying-Ying neigte ihr Köpfchen. Dann ging sie zu Onkel LianBai. Sie verbeugte sich zum Zeichen des Abschieds vor ihm, er verneigte sich vor dem Mädchen. So verharrten sie eine Weile. YingYing wußte in dieser Stunde nicht, ob und wann sie den Onkel wiedersehen würde. Nun gehörte sie der Familie Tschin, und diese würde über ihr weiteres Leben verfügen, so wie es bisher ihre Eltern getan hatten. Den Onkel bewegten die gleichen Gedanken. Er wendete sich rasch ab und ging zu seinem Traggestell mit den bunten Girlanden und Fähnchen. Weit öffnete Tsan Tsuo die Eingangstür, und Ying-Ying trat erst zaghaft, dann rasch durch das
geöffnete Tor. Onkel Lian-Bai sah noch, wie sie durch den breiten Hain der Maulbeerbäume trippelte und wie sich ihre kleine Gestalt langsam in der Weite des Parkes verlor. Tsan Tsuo schloß das Tor. Lian-Bai nahm das Traggestell auf den Rücken und ging die „Straße der raschelnden Blätter“ hinunter. Das Gewühl der Stadt nahm ihn auf. Seine Stimme vereinigte sich mit dem Chor der anpreisenden und klagenden, der gellenden, kreischenden und schreienden Stimmen der Stadt Lo-jang. Die „Straße der raschelnden Blätter“ lag wieder still und verlassen.
Ein Kapitän plaudert zu viel, und ein Kaufmann faßt einen Plan Weit von Lo-jang entfernt, saßen in einer kleinen Hafenstadt am Persischen Golf zwei Männer auf der Hafenmole und beobachteten das Einlaufen eines Schiffes. Es war ein alter Frachtkahn, dem ein Sturm schwer zugesetzt haben mußte. „Ich beobachte gern die Schiffe, wenn sie in den Hafen einlaufen“, sagte der jüngere der beiden Männer, ein dunkelhaariger, schlanker Römer. „Und die Leute auf jenen Schiffen haben mehr gesehen als du und ich. Deshalb magst du auch das Geschwätz des Kapitäns als das eines Betrunkenen abtun, Octavianus. Ein Körnchen Wahrheit wird es schon enthalten.“ „Und wenn schon!“ entgegnete sein Gastfreund, der die Uniform eines römischen Feldhauptmanns trug. „Gut – der Kapitän Hilamos hat in einer finsteren Hafenkneipe – wie bist du bloß dorthin geraten, Cucullus? – geprahlt, daß er das Geheimnis der Seide entdeckt hätte. Und was willst du damit anfangen?“ Cucullus sprang auf. „Kannst du nicht begreifen, was das bedeutet? – Seide! – Der Gedanke daran läßt mich nicht mehr los. Wie viele Karawanen kommen täglich nach Byzanz! Jede ist mit hohen Ballen dieses Stoffes beladen. Alles ruft nach Seide. Die Frauen wollen nur noch Seide tragen. Niemand will mehr die Sitzpolster mit wollenen Stoffen überziehen. Seide muß es sein! Dafür bezahlen wir immer mehr Gold. Die Seidenhändler werden reich. Aber was wissen wir von der Seide? – Nichts. Vermutungen, Gerüchte! – So glaub mir doch!“ Er rüttelte den Freund heftig an der Schulter. „Wer den Schlüssel zu dem Geheimnis findet, besitzt den Schlüssel zum Reichtum.“ „Du bist nicht der erste, der danach sucht“, entgegnete Octavianus ruhig. „Du wirst auch nicht der letzte sein. – Doch schweige jetzt davon, laß uns heimgehen.“ Bald saßen sie im Quartier des Octavian beim Schein der flackernden Öllampe. Die Nacht war schwül. Der Wind kam aus der Wüste – trocken und heiß. Cucullus wollte noch nicht schlafen gehen. Schon wieder war er bei dem alten Thema, der Seide. Es ließ ihn nicht mehr los. „Glaub mir doch, Octavianus, ich bin der Lösung näher, als du glaubst. Bitte erinnere dich: Viele unserer Gelehrten sprechen von
einem Baum, der die Seide liefert. Herodot vermutete, daß Seide aus der Wolle eines wilden Baumes gewonnen wird. Aristoteles spricht von einem Tier, das sich von den Blättern bestimmter Bäume nährt und die Seide liefert. Strabo meint, Seide käme von der roten Rinde eines Baumes. Jeder spricht von einem Baum! Verstehst du, Octavianus? Von einem Baum!“ Octavianus lächelte über den Eifer seines jungen Freundes. „Du hast dich wirklich viel damit beschäftigt. Deine drei Gelehrten sprechen von einem Baum. Aber das sind natürlich nur Vermutungen.“ „Und der griechische Kapitän in jener Kneipe? Was zeichnete er auf die Tischplatte? Einen Baum! Glaubst du, daß er in seinem Leben jemals von den Gelehrten gehört hat? Bestimmt nicht! Also war es nicht nur das Geschwätz eines Betrunkenen. Ist es nicht möglich, daß er diesen Baum selbst gesehen hat? Vielleicht hat er gar nicht alles gesagt, was er weiß.“ Erregt lief er im Raum hin und her. Er hatte eine Spur gefunden; jetzt galt es, sie zu verfolgen. „Ich muß den Alten aus der Schenke nochmals sprechen und ihn zum Reden bringen.“ „Gut!“ meinte Octavianus, der einsah, daß er Cucullus nicht von seinem Vorhaben abbringen konnte. „Tu, was du nicht lassen kannst. Ich habe dich gewarnt. Mehr kann ich nicht tun.“ „Es wäre möglich, daß ich plötzlich aufbrechen muß. Mein Schreiber weiß über den Stand der Geschäfte Bescheid. Würdest du sie für mich zu Ende führen und den Schreiber nach Rom zurückschicken?“ Octavianus nickte, und Cucullus ergriff die Hände des Freundes. „Ich danke dir. Vielleicht kannst du mich später verstehen. Ich muß es tun, ich habe keinen anderen Weg.“ „Noch eine Bitte!“ Octavianus stand jetzt dem jüngeren Freund gegenüber und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Du mußt mir versprechen, nie allein zu reisen. Schließe dich nur Karawanen an. Sprich zu niemandem über dein Vorhaben. Denn das Geheimnis um die Seide ist gefährlich. Es bedeutet Macht und Reichtum; Reichtum für alle, die es kennen, aber Verderben und Tod für jeden, der das Geheimnis enthüllen möchte. Hüte dich vor voreiligen Entschlüssen! Kehre um, wenn du siehst, daß ein weiteres Verfolgen deines Planes sinnlos ist.“ Er ging zu einem kleinen Schränkchen, öffnete eine Schublade und holte Pergamentrollen hervor. „Als du mir das erste Mal von deinem Plan erzählt hast,
beschloß ich, dich davon wieder abzubringen. Das ist mir nicht gelungen. Nun bleibt mir nur noch übrig, dich davor zu bewahren, daß du in dein sicheres Verderben rennst. In den nächsten Tagen wirst du dir noch einmal alles gründlich überlegen. Bleibt aber dein Entschluß unumstößlich, dann findest du in diesem Schrank mehrere Geleitschreiben.“ Nach einer Pause fragte er: „Wie ich weiß, sprichst du die Sprache der persischen Händler. Sprichst du sie ohne Akzent?“ „Ja“, erwiderte Cucullus, wußte jedoch nicht, weshalb ihn Octavianus fragte. „Das erleichtert dein Vorhaben. Du wirst dir das Gewand eines persischen Händlers besorgen und dir einen Bart wachsen lassen. Diese Geleitbriefe hier weisen dich als persischen Händler aus, der unter unserem Schutz steht. Versuche nach Khotan zu kommen und bringe dem Fürsten Vijaya dieses Schreiben. Darin bitte ich den Fürsten, der mir persönlich gut bekannt ist, dir behilflich zu sein.“ Er nahm die Rollen und legte sie wieder in das Fach zurück. „Mehr kann ich nicht für dich tun.“ „Es ist mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte. Ich werde es dir nie vergessen.“ Cucullus wollte den besorgten Freund umarmen, doch Octavianus wehrte ab. „Es wäre mir lieber, du würdest diese Rollen nie aus der Schublade holen. – Doch nun laß uns schlafen gehen.“ Am nächsten Tag suchte Cucullus das Schiff des Kapitäns Hilamos, dem er in jener Kneipe gelauscht hatte. Das Schiff lag fest vertäut in einem entlegenen Winkel des Hafenbeckens. Cucullus kletterte an Deck und rief nach dem Kapitän… vergeblich. Ein alter, einäugiger Matrose schien der einzige Mensch an Bord zu sein. Cucullus fragte ihn nach dem Kapitän, der Alte zuckte nur mit der Schulter, schlurfte über das Deck und verschwand in einer Ladeluke, die er mit lautem Knall zuwarf. Den ganzen Abend verbrachte Cucullus wieder in der düsteren Schenke. Er wurde enttäuscht; kein Kapitän Hilamos kam. Drei Tage suchte Cucullus vom frühen Morgen bis in die späte Nacht. Vergeblich! Am Morgen des vierten Tages ging er nochmals zum Schiff. Die Mannschaft: war gerade dabei, einen Seesack ins Meer zu versenken, in den die Leiche eines Mannes eingenäht war: die Leiche des Kapitäns. Matrosen hatten sie im Hafenbecken entdeckt.
„Ist er ertrunken?“ erkundigte sich Cucullus. Der einäugige Matrose schüttelte den Kopf. „Hier“, er hielt Cucullus eine Waffe hin. „Diesen Dolch hatte er im Rücken.“ Cucullus wich einen Schritt zurück. Dann betrachtete er den Dolch genauer. Schriftzeichen waren eingraviert… kein Zweifel: es waren persische. Und hatte nicht ein Perser in der Kneipe neben Hilamos gesessen, ein Perser, der dem Alten ständig einschenkte und den Trunkenen zum Reden reizte? Der Einäugige trat dicht neben Cucullus. „Weshalb mag ihn jemand getötet haben?“ stammelte der Alte. „Unser Kapitän hat doch niemandem etwas getan.“ „Vielleicht wußte er zuviel“, murmelte Cucullus, „… mehr als manchem lieb war.“ Er wollte das Schiff verlassen, doch der Alte trat ihm in den Weg. „Was meint Ihr damit, Herr? Was wollt Ihr damit sagen?“ „Ich kann es dir nicht erklären“, sagte Cucullus und schob ihn beiseite. Rasch verließ er das Schiff. Er lief durch die Straßen der Stadt, Gedanken jagten durch seinen Kopf. Kapitän Hilamos tot! Wer war sein Mörder? War es jener Perser… ein persischer Seidenhändler dem Gewand nach? Sicherlich hatte der Kapitän mehr gewußt, als manchem lieb war. Spione überall – das bedeutete Gefahr, die Gefahr, von der Octavianus gesprochen hatte. Aber immerhin: Die Andeutungen des Kapitäns mußten ein Körnchen Wahrheit enthalten. Und das hieß: Der geheimnisvolle Baum, von dem Hilamos geredet hatte, mußte tatsächlich existieren. Das entschied! Als Octavianus am Abend nach Hause kam, suchte er den Freund vergeblich. Im Schrank fehlten die Pergamentrollen. Auf einem Blatt stand in steiler Schrift: „Lebe wohl, Freund! Ich glaube, auf der richtigen Spur zu sein. Dank für alles. Wir sehen uns wieder, wenn ich gefunden habe, wonach ich suche. Du kennst mein Ziel – die Seide!“ Dieses letzte Wort stand allein in der Mitte des Blattes. Octavianus las es mehrmals. Da nahm er das Blatt, faltete es und verbarg es in seiner Toga. Er trat zum Fenster. Die Nacht war schwarz, kein Stern durchbrach die Finsternis.
Die kleine Ying-Ying entdeckt viel Neues und lernt den Gärtner kennen Wochen waren vergangen, seit Ying-Ying zum erstenmal den Garten der Familie Tschin betreten hatte. In den ersten Tagen war soviel Neues auf sie eingestürmt, daß sie abends immer kleinmütig und niedergeschlagen war. Würde sie jemals alles lernen und begreifen? Wie sollte sie allein die Namen der kleinen Häuser auseinanderhalten, die im Park standen? Da gab es das „Haus des ersten Erwachens“, des „zweiten“ und „dritten Erwachens“, schließlich das „Haus des großen Erwachens“, und alle waren für die Seidenwürmer gebaut. Ying-Ying war noch viel zu unwissend. In ihrem Dorf lebten die Leute vom Ackerbau und von dem Verkauf der Maulbeerblätter. Sie wußten nur, daß diese Blätter für die Seidenwürmer als Nahrung gebraucht wurden, mehr nicht. Nie hatte sie etwas über die Aufzucht der Tiere gehört. „Wieder so eine kleine Unwissende“, hatte Frau Wönn geseufzt, als Ying-Ying sich vor ihr verbeugte. Frau Wönn war schon alt, recht dick und schnaufte bei jedem Schritt. Sie beaufsichtigte alle Mädchen, die im Hause Tschin beschäftigt waren. „Lauter Schnattergänse“, sagte sie, meinte es jedoch nicht böse. Ying-Ying verlor auch sehr bald die Scheu vor der alten Frau. Sie erkannte, daß Frau Wönn nicht so brummig war, wie sie sich gab. Man brauchte sich vor ihr nicht zu fürchten. Sie brummelte und schimpfte, ohne es ernst zu meinen. Es war ihre Art. Ying-Ying spürte auch, daß Frau Wönn es gern hatte wenn man ihr Fragen stellte. Sie fragte viel, und Frau Wönn antwortete geduldig. Umgekehrt gefiel dieses kleine Mädchen Ying-Ying auch der Frau Wönn sehr. Die ersten Tage arbeitete Ying-Ying im „Haus des erwachenden Lebens“. Dort lagen die Eier des Seidenspinners sauber auf Matten ausgebreitet. Wie kleine Mohnkügelchen sahen sie aus. Zusammen mit den anderen Mädchen mußte Ying-Ying die Holzkohlenöfen Tag und Nacht in Gang halten und darauf achten, daß keine Zugluft die kostbaren Kügelchen streifte. Eines Morgens war es dann soweit. Die ganze Nacht hatte sie Wache gehalten, und erst gegen Morgen war sie eingeschlafen. Von einem feinen Knistern und Rascheln wurde sie geweckt. Die Raupen begannen, die Eier zu zerbeißen. Drei Tage dauerte es, dann waren vierzigtausend winzig
kleine, schwarze Räupchen ausgekrochen. Keine Stunde durften sie allein bleiben. Tag und Nacht wachten die Mädchen. Das Feuer durfte nicht ausgehen, denn es hätte den Tod für die kleinen Lebewesen bedeutet. Männer kamen und brachten Körbe, in denen zerschnittene Maulbeerblätter lagen. Die Mädchen verteilten sie sorgsam auf die Hürden zwischen die kleinen Raupen. Die fraßen und fraßen. Sieben Tage war das „Haus des erwachenden Lebens“ von Rascheln und Knistern erfüllt. In dieser Zeit waren die Räupchen gewachsen, färbten sich gelb, und als sie wie richtige Raupen aussahen, hörten sie zu fressen auf und verfielen in den ersten Schlaf. Während die Tiere schliefen, bereitete man in einem anderen Haus neue Hürden vor. Die Tiere waren während des Schlafes kräftig gewachsen und brauchten mehr Platz. Nach dem Erwachen brachte man sie in das größere Haus. Nun schleppten die Männer unermüdlich Körbe mit klein zerschnittenen Maulbeerblättern herein. Immer größere Mengen verzehrten die gefräßigen Tiere. Nach der ersten Häutung fraßen sie dreimal soviel wie vorher. Das Mahlen ihrer Kauwerkzeuge erfüllte Tag und Nacht den Raum. Ying-Ying beobachtete alles mit großen, staunenden Augen. In dieser Zeit lernte sie Wuh-Sung kennen. Er war Gärtner, und ihm unterstand die Pflege der tausend Maulbeerbäume im Garten des Palastes. Dicht an der Palastmauer bewohnte er ein kleines Häuschen. Er war schweigsam, denn er hörte lieber dem Geplätscher des Wassers zu und dem Raunen des Windes. Er konnte die Vögel an ihren Stimmen unterscheiden. In warmen Vollmondnächten schlief er lieber unter einem Baum im Park, als auf seiner Matte im Haus. Eines Abends saß Ying-Ying in dem Haus der Seidenspinner und hörte auf das Mahlen und Knistern von vierzigtausend gefräßigen Tieren. Wuh-Sung betrat das Haus. Er brachte einen Korb frisch geschnittener Blätter, leerte sie aus und verließ diesmal nicht, wie gewöhnlich, sofort wieder den Raum. Er blieb an der Tür stehen und beobachtete die kleine Ying-Ying, wie sie mit ihren flinken Händen die Blätter ausbreitete. Wuh-Sung hatte die Gabe, gut zu beobachten. Die schmalen, zarten Hände der kleinen Ying-Ying gefielen ihm ebenso wie ihre Augen, die traurig und lustig blicken konnten. WuhSung verstand es auch, in den Augen der Menschen zu lesen. Ganz gegen seine Gewohnheit blieb er lange unter der Tür stehen und begann dann mit Ying-Ying ein Gespräch. Er beantwortete ihre
Fragen, so gut er konnte. Seine ruhige tiefe Stimme erinnerte YingYing an den Ton der dicken Saite des Instrumentes, das der Vater zu Hause hin und wieder gespielt hatte. Sie mochte die Stimme von Wuh-Sung. Die kleinen Seidenspinner nannte er „Himmelswürmer“, und er erzählte ihr von Si-ling-shi, der Gemahlin des Kaisers HuangTi. Sie hatte das Geheimnis des kleinen Seidenwurms entdeckt. Damals stand über dem Reich der Mitte das Sternbild „ssê“, und so nannte sie das feine Gespinst nach diesem Sternbild. Ying-Ying konnte gut zuhören. Deshalb kam Wuh-Sung öfter am Abend in das Haus, und sie lauschte seiner Stimme und seinen Erzählungen. Beides erschien ihr von Abend zu Abend schöner. Wieder schliefen die Raupen und häuteten sich. Als sie erwachten, fraßen sie mehr als je zuvor. Hatte man vor dem ersten Schlaf fünf Körbe Blätter herbeischaffen müssen, so waren es jetzt hundert. Ying-Ying und die anderen Mädchen kamen nicht zur Ruhe. Nach jeder Häutung wurden die Tiere größer und erreichten schließlich die Größe einer kleinen Schwalbe. Nun schickte man Ying-Ying in das „Haus des großen Erwachens“. Dort half sie, aus Reisstroh hohe Hürden zu errichten. In der freien Natur wanderten die Raupen zum Einspinnen auf die obersten Wipfel der Bäume. Im „Haus des großen Erwachens“ mußte man künstlich nachhelfen. Man setzte drei Hürden übereinander, die nun fast die Größe eines Maulbeerbaumes hatten. Als diese Arbeit beendet war, brachte man die dicken, zum Zerplatzen angefressenen Raupen in das Haus und legte sie auf die untersten Hürden. Ying-Ying konnte sich nicht daran gewöhnen. Am Abend erzählte sie Wuh-Sung, wie schwer ihr die Arbeit gefallen sei. Sie mußte die großen Raupen, die sich rötlich gefärbt hatten, aufheben und in das andere Haus tragen. Die Raupen erschienen ihr wie fette Würmer; Ekel überfiel sie. Schließlich überwand sie sich, denn die anderen Mädchen lachten sie aus. Sie nahm die Raupen und lief den ganzen Tag. Hundertmal – tausendmal – sie zählte es nicht. Endlich waren alle Raupen auf den Hürden aus Reisstroh und begannen ihre Wanderung. Als Ying-Ying die letzten Raupen auf die Hürden setzte, hatten die ersten schon die oberste Hürde erklommen und fingen an, sich einzuspinnen. Ying-Ying hatte Angst davor, am nächsten Tag wieder die gleiche Arbeit verrichten zu müssen. Doch es kam anders. Frau Wönn war es aufgefallen, daß YingYing bei dieser Arbeit sehr blaß war, und so teilte sie das Mädchen
am nächsten Tag zu anderer Arbeit ein. Sie mußte jetzt die fertigen Kokons abpflücken und in hohe Weidenkörbe legen. Dann wurden die Körbe erst in sehr heißes, danach in kaltes Wasser getaucht, um die Tiere abzutöten und den Faden geschmeidig zu machen. Diese Arbeit gefiel Ying-Ying schon eher. Doch noch lieb er hätte sie den anderen Mädchen geholfen, die vorher aufmerksam die Kokons prüften, dann und wann einen Kokon zur Seite legten und weitergingen. Da lagen kleine spitze Hüllen und große dicke Hüllen nebeneinander. Sie konnte sich die Arbeit nicht erklären und bat am Abend Wuh-Sung, ihr davon zu erzählen. Er erzählte, daß in den kleinen Hüllen die männlichen Raupen schliefen und in den großen Hüllen die weiblichen Puppen. Es durften ja nicht alle Tiere getötet werden, und so wurde eine sorgfältige Auswahl getroffen, welche Tiere am Leben bleiben mußten, um wieder eine neue Generation zu zeugen. Diese begannen dann nach sieben bis acht Tagen den schützenden Kokon zu zernagen, um ihr kurzes Leben zu beginnen. Ying-Ying stand in jeder freien Minute bei den Mädchen und sah dieser Arbeit zu. Von allen anderen Arbeiten erschien ihr diese als die schönste, denn Leben zu erhalten war doch schöner, als Leben zu zerstören. Sie sprach darüber mit Wuh-Sung und gestand ihm, daß es ihr größter Wunsch wäre, mit diesen Mädchen zu arbeiten. Doch der Wunsch wurde ihr nicht erfüllt. Ying-Ying war gerade mit zwei anderen Mädchen beschäftigt, angefüllte Körbe mit Kokons in das heiße Wasser zu tauchen. Jemand klopfte ihr auf die Schulter. Sie drehte sich erschrocken um. Hinter ihr stand Frau Wönn. „Zeig mir deine Hände“, sagte sie. Schüchtern kam sie der Aufforderung nach. Von der Arbeit im heißen Wasser waren die Hände krebsrot. „Ich beobachte dich schon seit Tagen. Du scheinst mir geschickter als die anderen jungen Dinger. Wasche dich und komm dann in das ,Haus der fleißigen Hände’. Ich will es einmal mit dir versuchen.“ Ying-Ying konnte vor Überraschung kein Wort hervorbringen. Im „Haus der fleißigen Hände“ zu arbeiten, war eine Auszeichnung, die nur wenigen Mädchen zuteil wurde. „Na, was ist denn?“ brummte die alte Wönn. „Kommst du nun mit oder willst du den Korb so lange im heißen Wasser halten, bis das Wasser kalt geworden ist?“ Tatsächlich war Ying-Ying so überrascht, daß sie noch immer
den Korb ins heiße Wasser hielt. Sie zog ihn heraus und trocknete sich die Hände. Dann folgte sie der alten Wönn. Als sie hinter ihr durch den Park ging, wäre sie am liebsten vor Freude gehüpft, doch das gehörte sich nicht. So legte sie nur einen Trippelschritt mehr ein und summte vergnügt vor sich hin.
Prinzessin Goldlotos träumt von der Karawanenstraße, und der Gärtner erzählt Ying-Ying ein Märchen Das „Haus der fleißigen Hände“ stand auf einem kleinen Hügel. Dieser Hügel wurde von einem Kanal umschlossen, über den zwei Brücken führten. Sowohl der Hügel als auch der Kanal waren künstlich angelegt. Im Gegensatz zu den anderen Häusern, die nur mit Strohmatten gedeckt waren, hatte das „Haus der fleißigen Hände“ ein goldglänzendes Dach. Pfeiler aus rotschimmerndem Birnbaumholz trugen das Dach. Das Haus bestand nur aus einem einzigen Raum. Er war jedoch so groß, daß man daraus sieben kleine Räume hätte machen können. Die Wände waren mit kunstvollen Tapeten bekleidet. In dem Saal saßen viele Mädchen auf Strohmatten. Jedes hatte einen kleinen Korb vor sich stehen, der mit Kokons angefüllt war. Mit flinken Fingern lösten sie den feinen Faden vom Kokon. Zweihunderttausend bis zweihundertfünfzigtausend Windungen hatte der Kopf der Seidenraupe beim Einspinnen vollführt. Diese Windungen mußten nun wieder von geschickten und fleißigen Händen abgehaspelt werden. Die „fleißigen Hände“ der Mädchen hatten dem Haus den Namen gegeben. In der Mitte des Raumes befand sich ein erhöhter Platz. Er war mit kostbaren Teppichen belegt. Auf einem seidenen Kissen saß Prinzessin Goldlotos, die Nichte des Oberrats Yang. Sie war sechzehn Jahre alt. Ihr reichbesticktes Gewand gab hin und wieder die kleinen Füßchen frei. Seit ihrer frühesten Jugend hatte man ihr die Füße geschnürt, um sie klein zu halten. Kleine Füße waren das äußere Zeichen für Wohlstand und hoher Abstammung. Das schmale Gesicht wurde von schwarzen Haaren eingerahmt, die mit breiten goldenen Kämmen kunstvoll zusammengehalten wurden. Um den kirschenförmig geschminkten Mund spielte kein Lächeln. Sie sah auf die Mädchen. Ab und zu malte sie auf einem kleinen Rähmchen einen Strich, wenn ein Mädchen wieder ein bestimmtes Maß Seidenfaden abgehaspelt hatte. Dieses Maß wurde mit dem Wort „Li“ bezeichnet. Der Name jedes Mädchens stand auf dem Rahmen, und ein Strich hinter dem Namen bedeutete jeweils ein Li. Da so viele Mädchen in dem Raum arbeiteten, war es selbstverständlich, daß fortwährend ein leises Geschnatter den Raum erfüllte. Hin und wieder klang ein verstecktes Gelächter durch, und
dann wurde getuschelt und gewispert. Die Prinzessin schien die Mädchen nicht zu bemerken. Ab und zu führte sie den kleinen Pinsel, zog einen feinen Tuschestrich, dann saß sie wieder teilnahmslos und unbeweglich. Prinzessin Goldlotos hatte keine Eltern mehr. Ihre einzige Vertraute war Frau Wönn, die sie von frühester Jugend an umsorgte. Ihren Onkel, den reichen Oberrat Yang, das Oberhaupt der Familie Tschin, sah sie selten. Goldlotos war viel allein. In der Nähe des Palastes führte die Karawanenstraße vorbei. Dann und wann hörte man die heiseren Schreie der Kameltreiber, wenn sie ihre Tiere vorwärtstrieben. Prinzessin Goldlotos schloß die Augen und träumte, sie säße in einer Sänfte. Es war ihre Karawane, die Lo-jang verließ, und sie zogen nach Westen. Weit fort. Man kam an hohen Gebirgen vorbei, von denen ihr der Lehrer Fu erzählt hatte. Tagelang dauerte die Reise. Es ging durch die Wüste. Die Hufe der Kamele wirbelten feinen Sand auf. Man reiste in der Nacht, denn am Tag brannte die Sonne unerbittlich vom Himmel. Die Landschaft wechselte. Sie kamen an grünen Wiesen vorbei, durchzogen weite Wälder und rasteten an silberschimmernden Seen. Je länger die Reise dauerte, desto froher wurde sie. Lo-jang lag weit zurück. Doch jetzt war ein Mädchen an einen Weidenkorb gestoßen. Goldlotos schrak aus ihren Träumen. Sie blickte sich scheu um. Niemand hatte sie beobachtet. Die Mädchen saßen über die Arbeit gebeugt. Schnell holte sie aus der Ärmeltasche ihres Gewands ein Täfelchen. Der kleine Pinsel lief hurtig, reihte säuberlich Zeichen an Zeichen. Sie schrak zusammen, als sie hinter sich die Stimme von Frau Wönn hörte. „Ich fürchte, mein Täubchen“, sagte sie leise und sah ihr über die Schulter, „Onkel Yang wird unwillig werden, wenn heute abend so wenige Striche auf dem Rahmen sind. Laß doch einmal sehen, was dir heute wieder in den Sinn gekommen ist.“ Blitzschnell nahm sie das Täfelchen und hielt es dicht an die Augen. „Du wirst die Zeichen nicht verstehen, Wönn“, sagte Goldlotos und versuchte, das Täfelchen zurückzubekommen. Doch Frau Wönn hielt es fest in der Hand. „O doch“, sagte die Alte und hielt sich das Täfelchen nah an die Augen. „Etwas hat die alte Wönn mitbekommen, als der gelehrte Herr Fu meinem kleinen Schmetterling die Schriftzeichen lehrte. Ich
mußte ja immer dabeisein, sonst wärst du dem guten Fu entwischt.“ Sie lachte leise vor sich hin. „Du wolltest und wolltest nicht lernen. Weißt du noch?“ Sie verweilte ein wenig in der Erinnerung und meinte dann kopfschüttelnd: „Nun hast du viel gelernt und denkst, deine alte Amme ist dumm geblieben. Nein, nein. Vielleicht kenne ich mehr Schriftzeichen, als du glaubst.“ Goldlotos wußte, daß es der ganze Stolz der Alten war, daß sie einige Schriftzeichen kannte. Deshalb ließ sie ihr die Freude und beobachtete lächelnd, wie Frau Wönn sich bemühte, die Schriftzeichen zu entziffern. Den Mädchen war es nicht entgangen, daß sie weder von der Prinzessin noch von der alten Wönn beaufsichtigt wurden. Sofort benutzten sie die Gelegenheit und schnatterten munter darauf los. Ying-Ying fiel ein Knäuel zu Boden, es rollte davon, und eines der Mädchen rief: „Seht einmal, diesem Knäuel geht es wie den Gedanken von Ying-Ying. Es läuft davon, und wenn man es nicht aufhält, ist es bald an der Palastmauer beim Häuschen eines gewissen Wuh-Sung.“ Der Scherz wurde von den anderen Mädchen mit stürmischem Gelächter quittiert. Die arme Ying-Ying errötete und wußte nicht, was sie zuerst machen sollte: den Mädchen zu antworten oder dem davonrollenden Knäuel nachlaufen. „Wollt ihr wohl eure Schnäbel halten, ihr Schnattervögel!“ rief Frau Wönn empört. „Ich werde Tsan Tsuo rufen, damit er euch tüchtig auspeitscht.“ Sie machte dabei mit dem Täfelchen die Bewegung des Auspeitschens, und das sah so komisch aus, daß die Mädchen wieder lachen mußten. „Nun sieh dir das einmal an“, sagte Wönn kopfschüttelnd zu Goldlotos. „Die jungen Dinger haben keinerlei Respekt. Da holt sie dein gütiger Onkel Yang – “ „Gütig?“ unterbrach sie Goldlotos, und der Anflug des Lächelns verschwand von ihren Lippen. „Ja ja, der gütige Onkel Yang“, wiederholte Frau Wönn. „Er holt die undankbaren Geschöpfe aus den dreckigen Dörfern und bringt sie in dieses herrliche Haus. Dafür muß er sogar noch einige Unzen Silber an ihre Familien zahlen, und dann sind ihm die Mädchen noch nicht einmal dankbar.“ „Dankbar?!!“ Goldlotos stieß es heftig hervor. Wieder verlor sie die Beherrschung, wie immer, wenn Frau Wönn auf die Güte des Onkels zu sprechen kam. „Wofür sollen sie ihm denn dankbar sein? Daß er sie aus einem Joch befreit, um sie in ein anderes zu spannen?
Der gütige Onkel Yang…!“ Sie legte ihre ganze Verachtung in das Wort „gütig“. „Er holt sich ja nur Mädchen mit zarten Händen, denn nur sie können mit dem feinen Faden umgehen. Der gütige Onkel Yang nimmt freilich auch andere Mädchen, die weniger feine Hände haben. Für die bezahlt er nur ein Schälchen Reis. Doch auch dieses Schälchen läßt sich der gütige Onkel Yang durch harte Arbeit vieltausendmal zurückzahlen. Das ist seine Güte.“ Sie machte eine kleine Pause und sagte dann ganz leise: „Was kümmert ihn ein kleiner Nachtfalter! Er hat ihn in einen goldenen Käfig gesperrt.“ „Wirst du deine Zunge hüten!“ zischte ihr Frau Wönn erregt zu. Sie wollte schelten, doch da sah sie Tränen in den Augen ihres Lieblings. Sie nahm das Mädchen in den Arm und sprach leise und beruhigend auf sie ein. Im Saal war es seltsam ruhig geworden. Von Wönn und Goldlotos unbemerkt, hatte Oberrat Yang das Haus betreten. Die Mädchen sahen ihn, schlagartig verstummte das Gespräch, und alle Köpfe beugten sich über die Arbeit. Oberrat Yang stand im Türrahmen. Seine kleinen, wieselflinken Augen ließ er im Raum umherwandern. Obwohl er schon gut sechzig Jahre alt war, trug er ein schweres Seidengewand mit eingewebten Mustern, wie es sonst nur von jüngeren Leuten getragen wurde. Das Gewand spannte sich prall um seinen fülligen Leib. Er trug Schuhe mit hohen Korksohlen, um größer zu wirken. Frau Wönn stand vor Goldlotos und verdeckte ihr so die Sicht zur Eingangstür. Unbemerkt von beiden näherte sich Herr Yang. Frau Wönn hatte der Prinzessin das Täfelchen zurückgegeben, und diese hielt es noch immer in der Hand. Ying-Ying ahnte instinktiv, daß der kleinen Prinzessin Gefahr drohte. Sie überlegte blitzschnell. Mit dem Fuß stieß sie an einen der Weidenkörbe. Er fiel um. Zu spät! Ehe Goldlotos das Täfelchen verbergen konnte, stand der Oberrat neben ihr. „Prinzessin Goldlotos bereitet meinen Augen immer neues Entzücken“, sagte der Oberrat und verbeugte sich. „Ist der Rahmen schon so voller Zeichen, daß man noch ein kleines Täfelchen zu Hilfe nehmen muß? Laßt mich doch einmal sehen.“ Mit einer schnellen Bewegung griff er nach dem Täfelchen, doch die Prinzessin war ihm zuvorgekommen und hatte es bereits wieder in den weiten Ärmel ihres Gewandes verschwinden lassen. „Geheimnisse vor dem Onkel?“ sagte Yang mit honigsüßer
Stimme. „Das sollte es doch zwischen uns nicht geben. Mein kleiner Schmetterling hat doch bestimmt nur aufgeschrieben, welches Mädchen am fleißigsten war. Oder täusche ich mich?“ Er machte eine kleine Pause, streckte dann die Hand aus und sagte befehlend: „Zeig mir die Tafel!“ „Es ist nichts, was meinem ehrenwerten Onkel wichtig scheinen könnte“, meinte sie gleichmütig. „Einige Anweisungen, das ist alles.“ „Gerade die würde ich gern lesen“, entgegnete der Oberrat. „Sie wurden in meinem Haus geschrieben. Ich wäre ein schlechter Hausvorstand, wenn ich mich nicht um jede Anweisung – und sei sie noch so geringfügig – kümmern würde.“ Dann befahl er mit einer Stimme, die keinen Widerstand duldete: „Gib mir jetzt die Tafel!“ Den letzten Satz hatte der Oberrat so laut gesprochen, daß die Mädchen überrascht von ihrer Arbeit aufsahen. Halblautes Gemurmel erhob sich. Blitzschnell drehte sich der Oberrat um und rief mit heller, sich fast überschlagender Stimme: „Nur lustig weiter so! Si-ling-shi, die Mutter der Himmelswürmer, sieht mit Wohlgefallen auf das ,Haus der fleißigen Hände’. Ich werde anordnen, daß man künftig nur noch von dem ,Haus der plappernden Mäuler’ spricht.“ Jetzt war es im Raum totenstill. Die Mädchen arbeiteten, ohne aufzusehen. Oberrat Yang sah auf die geduckten Mädchenköpfe. Er ließ sich keine Gelegenheit entgehen, den Erfolg seiner Macht auszukosten. Nach einer langen Pause wandte er sich wieder an Goldlotos. „Nun?“ Langsam zog Goldlotos das Täfelchen aus ihrem Ärmel. Mit einer leichten Verbeugung nahm er es, überflog die Schriftzeichen und mit erhobener Stimme, so daß es jeder im Saal hören mußte, begann er zu lesen: „Straße hinter den Gärten des Palastes, wo führst du hin? Muß ich hier sehnend und hoffend die Tage vertrauern? Straße hinter den Gärten des Palastes, wird er kommen? Oder muß ich einsam bleiben bis an das Ende meiner Tage?“ Er lachte kurz auf. Dann brach er die Tafel in zwei Stücke und ließ sie auf den Boden fallen. In seinen Augen war ein böses Funkeln, als er sich zu Goldlotos beugte und leise sagte: „Ich möchte der Prinzessin den guten Rat erteilen, derartige ,Anweisungen’ weder an Frau Wönn noch an die Karawanenstraße zu übermitteln. Es gibt in unserem Reich Orte, die ruhiger sind, als dieser hier. Kein Lärm der Karawanenstraße kann
dort das zarte Ohr eines Mädchens belästigen. Es würde mir leid tun, müßte ich meinem bunten Schmetterling die Flügel etwas beschneiden.“ Er richtete sich auf und ging hinaus, ohne die Mädchen zu beachten. Goldlotos saß wie versteinert. Frau Wönn hob das zerbrochene Täfelchen auf. Es tat ihr leid, daß der Oberrat ihren kleinen Liebling erschreckt hatte. Seine Drohungen nahm sie nicht ernst. Heute abend würde sie der Prinzessin einen besonders guten Reiswein bereiten. Als sie prüfend durch die Reihen der Mädchen schritt, hatte sie den Vorfall schon wieder vergessen. Nicht so Goldlotos. Sie saß noch immer starr und unbeweglich. Heute hatte sie erstmals in den Augen des Onkels Böses gesehen, das mehr sagte als Worte. Sie dachte an die Lehren des alten Fu: „Augen sind der Spiegel der Seele.“ Goldlotos nahm sich vor, auf der Hut zu sein… Es war Abend geworden. Das „Haus der fleißigen Hände“ lag still und verlassen. Man hatte noch nicht alle Maulbeerbäume ihrer Blätter beraubt, und sie raschelten leise im Wind. „Sie unterhalten sich“, sagte Wuh-Sung, der auf einem umgekippten Weidenkorb saß. „Alle Lebewesen haben eine Sprache, wir können sie nur nicht verstehen. Das liegt daran, daß wir nicht die rechten Ohren haben.“ Ying-Ying kauerte vor ihm auf dem Boden und nickte nur. Sie trafen sich jetzt jeden Abend und saßen oft lange nebeneinander, ohne zu sprechen. Ying-Ying hatte gelernt, Wuh-Sung zu verstehen, ohne daß auch nur ein Wort zwischen ihnen gewechselt wurde. Gemeinsam lauschten sie in die Nacht. Eine Vielzahl von Stimmen drang an ihr Ohr. Wuh-Sung konnte sie alle unterscheiden und erklären. Für ihn hatte alles ringsum Leben. Über dieses Leben wußte er viele Geschichten zu erzählen. Einige hatte er irgendwann einmal gehört und in seinem Gedächtnis sorgfältig aufbewahrt. Andere erfand er einfach. Ying-Ying hörte so gern die tiefe und ruhige Stimme von Wuh-Sung, und er begann, die Geschichte von Boli-Si zu erzählen. „Vor langer Zeit“, begann er, „lebte in der Mitte des großen Reiches ein Mann namens Boli-Si. Er war so arm, daß es mir schwerfällt, zu schildern, wie arm er war. Ich bin auch nicht reich, doch habe ich ein kleines Häuschen aus Stroh, zwei Reisschüsseln und immer genügend Reis, sie zu füllen. Boli-Si besaß nie genügend Reis. Es reichte gerade, seine Schüssel and die seiner Frau knapp zu
füllen. Trotzdem war er glücklich, denn er liebte seine Frau, und sie liebte ihn. Eines Tages merkte er jedoch, daß nicht mehr Reis genug da war, um eine Schüssel zu füllen. Er sagte zu seiner Frau, daß er sie verlassen müsse, weil er sie nicht mehr ernähren könne. Als die Stunde des Abschieds herankam, schlachtete die Frau die letzte Henne. Sie hatten kein Holz, um das Tier zu kochen, so zerbrach sie einen Türriegel und schürte damit das Feuer. Nach diesem traurigen Mahl zog Boli-Si fort. Er wanderte durch endlose Wälder und stieg über hohe Gebirge. Als er fast am Ende seiner Kräfte war, kam er in das Tal des Südflusses. Zum erstenmal hörte er das Rascheln der Maulbeerbäume, sah das blühende Leben an beiden Seiten des Flusses und beschloß, in dieser Gegend sein Glück zu versuchen. War sein bisheriges Leben nur Mühsal gewesen, so wendete es sich hier zum Gegenteil. Die Götter des Glücks bevorzugten ihn, und alles, was er in die Hand nahm, gelang. Bald war er wohlhabend, wenig später sogar reich. Da nun aber Reichtum meist auch der Schlüssel zu Ämtern und Ehrungen, Titeln und Auszeichnungen ist, wurden ihm diese bald in hohem Maß zuteil. Wie nun aber alles seinen festen Preis hat, so auch der Reichtum, die Ämter und die Ehrentitel. Boli-Si mußte dafür seine Ruhe und Zufriedenheit opfern. Er lebte in der ständigen Angst, das Gewonnene eines Tages wieder zu verlieren. Nichts mehr erinnerte ihn an sein früheres Leben. Dafür hatte er einen prächtigen Palast und ungezählte Maulbeerbäume. Er galt als der vermögendste Mann der Stadt, war Mandarin des Kaisers und doch – arm.“ Wuh-Sung unterbrach, denn er sah die fragenden und ungläubigen Augen der kleinen Ying-Ying. „Ja“, sagte er, und ein wehmütiges Lächeln umspielte seinen Mund. „Ja, Boli-Si war ärmer als je zuvor in seinem Leben. Es fehlte ihm die Liebe. Seine Augen sahen nicht mehr die Schönheit der Dinge. Sie sahen nur ihren Preis in Gold. – Eines Abends brachte man ihm eine alte Frau. Ihr Haar war ausgebleicht von der Sonne und dem Regen. In ihrem Gesicht hatte der harte Pinsel des Alters tiefe Furchen gezogen, und den Sandalen sah man an, daß sie ihre Trägerin schon über weite Wege getragen hatten. Sie sang ein seltsam wehmütiges Lied und begleitete sich dabei auf einem Saiteninstrument. In diesem Lied erzählte sie von einem Abschiedsmahl, das war so armselig, daß man einen Türriegel verbrennen mußte, um ein Huhn garzukochen. Boli-Si hörte sich das Lied an, einmal, ein zweites Mal, seine Augen wurden feucht, er begann zu weinen. Doch je mehr er weinte, desto leichter
wurde es ihm ums Herz. Sein Blick wurde wieder klar, und er erkannte seine Frau. Sie erschien ihm nicht mehr alt und erbärmlich, sondern so jung und schön wie damals, als sie ihm das Abschiedsmahl bereitet hatte. Zusammen mit ihr verließ Boli-Si alles, was ihm bis jetzt so wertvoll erschienen war. Am Rande des Gebirges bauten sie sich eine kleine Hütte, pflanzten Maulbeerbäume und züchteten Himmelswürmer. Jedes Wochenende brachte seine Frau die gesponnene Seide in die Stadt auf den Markt, und die Händler zahlten ihr die höchsten Preise. Jeder sagte: Seht nur, wie schön und rein dieses Gewebe ist. Die Leute hatten recht. Das Gewebe war feiner und schöner als alle anderen, die auf dem Markt angeboten wurden. Es kam daher, daß zwei Menschen daran gearbeitet hatten, die glücklich waren. Die Arbeit der Glücklichen erkennt man immer sofort.“ Wuh-Sung hatte seine Geschichte beendet. Ying-Ying, die ihren Kopf an sein Knie gelehnt hatte, sagte leise: „Wärst du Boli-Si und ich deine Frau, wollte ich dich auch überall suchen, und wenn ich durch das ganze Reich wandern müßte.“ „Ich bin nicht Boli-Si“, sagte Wuh-Sung, „denn ich würde dich niemals verlassen.“ Sie saßen wieder schweigend nebeneinander, und nach einer Weile sagte Wuh-Sung leise und mit einem Ton in der Stimme, den Ying-Ying noch nie gehört hatte und der sie aufhorchen ließ: „In meinem Haus stehen zwei Reisschüsseln. Eine davon wurde noch niemals benützt. Doch hätte ich genügend Reis, auch diese Schüssel zu füllen. Es würde mein Herz mit Freude erfüllen, könnte ich davon träumen, daß eine dieser beiden Schüsseln einmal dir gehören würde, Ying-Ying.“ Sie sagte nichts, doch in ihren Augen las er die Antwort. Goldlotos saß vor ihrem kleinen Ankleidetisch. Frau Wönn löste die Haarspangen, und die dunklen Haare fielen wie eine Woge über ihre Schultern. Durch das geöffnete Fenster kam der Nachtwind und brachte angenehme Kühle vom Flußufer. Kein Laut war zu hören, denn die Räume der Prinzessin befanden sich im dritten Innenhof des Palastes. „Es war von dir sehr unvorsichtig, solche Gedanken aufzuzeichnen“, sagte Frau Wönn, während sie die Haare kräftig bürstete. „Ich habe den ehrenwerten Onkel nicht gebeten, meine Gedanken
zu lesen“, entgegnete Goldlotos und griff im nächsten Augenblick mit einem leisen Schmerzensschrei an die Haare, denn Frau Wönn strich plötzlich zu kräftig über die Haare. „Die Gedanken eines Mädchens sollten so geheim sein, daß man sie weder der Zunge noch einem leichtfertigen Pinselstrich anvertraut.“ Frau Wönn bürstete die Haare weiter heftig, ohne auf die kleinen Schmerzensschreie zu achten. „Du bist eine Prinzessin aus dem Hause Tschin, vergiß das nicht.“ „Wenn ich es nur vergessen könnte! Ich würde es so gern vergessen. Kannst du das nicht verstehen, Wönn?“ „Nein, das kann ich nicht verstehen, wer möchtest du denn sein? Vielleicht eine von diesen Schnattergänsen, die Faden von den Kokons abhaspeln? Oder eines der Mädchen, die im ,Hause des erwachenden Lebens’ arbeiten?“ „Warum nicht?“ Frau Wönn war so überrascht, daß ihr die Bürste zu Boden fiel. Goldlotos hob sie auf, nahm Frau Wönn an der Hand und zog sie neben sich auf das Sitzpolster. „Meinst du nicht, daß diese Mädchen glücklicher sind als ich? Von ihnen wird jede einen Mann finden, mit dem sie Glück und Unglück teilen kann. Er braucht nur eine Strohhütte, zwei Reisschüsseln und kräftige Arme zu besitzen. Das genügt. Sie müssen nicht in einem goldenen Käfig auf den Prinzen warten, der sie vielleicht einmal freikauft.“ „Ach, was sind das für unnütze Gedanken! Du bist unzufrieden, das ist alles. Hast du hier nicht alles, was man sich wünschen kann?“ Ärgerlich ging Frau Wönn zum Bett, zog die seidenen Vorhänge zurück, und während sie das Lager bereitete, wunderte sie sich über die Undankbarkeit ihres kleinen Schmetterlings. Gute Götter, wenn sie ihr eigenes Leben damit verglich! Als sie von der Familie Tschin gekauft wurde, war sie noch ein Kind. Nur eine viertel Kette Silbermünzen bekam ihre Familie. Das reichte gerade, um ihre Eltern vor dem Verhungern zu bewahren. Es war damals eine große Not im Land, und zwei ihrer jüngeren Schwestern waren bereits vor Hunger gestorben. Im Hause Tschin gab man ihr die schwerste Arbeit, doch hatte sie wenigstens genug zu essen. Ihre Hände waren grob, und so plagte sie sich tagaus, tagein. Dann fand sie einen Mann. Sie bekam Kinder und wohnte mit ihm in einem kleinen Haus an der Palastmauer. Sie schenkte nur Mädchen das Leben. Als sie ihr letztes Kind unter dem Herzen trug, verunglückte ihr Mann. Er ertrank im Südfluß. Der Schreck, als sie diese Nachricht bekam, war so groß, daß sie ihr Kind
tot zur Welt brachte. Es wäre ein Knabe gewesen. Zur gleichen Zeit wurde Goldlotos geboren, und da die Mutter der kleinen Prinzessin bald darauf starb, holte man Frau Wönn als Amme in den Palast. Für sie war dies ein großes Glück. Es veränderte ihr Leben. Sie umsorgte die kleine Prinzessin, als wäre sie ihr eigenes Kind. Sie brauchte keine schwere Arbeit mehr zu verrichten und mußte sich nur um das Wohlergehen der kleinen Goldlotos kümmern. Goldlotos hatte ihr Nachtgewand angelegt und saß auf der Kante des Bettes. Als Frau Wönn sie so sah, überkam sie wieder ihre Liebe und Zärtlichkeit zu dem Mädchen. Sie wollte ihr noch etwas recht Schönes erzählen und setzte sich neben sie. „Weißt du, was ich vor einigen Tagen gehört habe?“ Goldlotos schüttelte den Kopf. „Dein geehrter Herr Onkel saß mit dem Oberrichter Tschu wie gewöhnlich beim Tee, und da Li-meng, die sonst den Tee serviert, an diesem Tag unpäßlich war, übernahm ich die Arbeit. Als ich den Raum betrat, unterhielt sich gerade dein geehrter Herr Onkel mit dem Oberrichter über dich. Ich hielt mich etwas länger im Raum auf, rückte hier an einem Tischchen und dort an einer Vase, um der Unterhaltung zu lauschen.“ Sie unterbrach sich, dachte nach und meinte dann: „Lauschen ist nicht der richtige Ausdruck. Ich war im Raum und hörte eben zu. Der Herr Oberrichter hatte sich nach dir erkundigt und gemeint, daß es doch langsam an der Zeit sei, einen Bräutigam für dich zu suchen. Er fragte deinen verehrten Herrn Onkel, was er wohl für einen Schmetterling, wie dich, als Morgengabe verlangen würde. Nun antwortete dein verehrter Herr Onkel – höre gut zu – “Sie faßte mit den Fingerspitzen das Kinn von Goldlotos und hob ihr Köpfchen hoch: „Er sagte: Für Prinzessin Goldlotos sind tausend Pferde der geringste Preis.“ Wönn hatte erwartet, daß Goldlotos nun einen Ruf der Überraschung ausstoßen würde. So ein hoher Preis war für ein Mädchen, selbst für eine Prinzessin, ungewöhnlich. Mit der Nachricht wollte sie ihr eine Freude machen, aber die Augen der Prinzessin füllten sich mit Tränen. „Was hast du denn?“ sagte die Alte erschrocken und legte ihren Arm um die schmalen Schultern des Mädchens. Ein Schluchzen, verhalten und gewaltsam unterdrückt, brach hervor. Ruckweise hoben und senkten sich die Schultern. „Was hat denn mein kleiner Schmetterling, meine Honigblüte?“ Wönn war so erschrocken, daß sie gar nicht wußte, was sie beginnen
sollte. Sie sprach leise und beruhigend auf die Prinzessin ein, doch das Schluchzen ließ nicht nach, und ein Zittern durchlief den zarten Körper. Endlich sagte Goldlotos mit einer vom Schluchzen unterbrochenen Stimme: „Hast du es wirklich genau verstanden? Tausend Pferde? Wirklich, tausend Pferde?“ Wönn nickte und meinte dann: „Nun verstehe ich gar nichts mehr. Weshalb freust du dich nicht darüber? Es wird in unserem Reich wenig Mädchen geben, für die man einen so hohen Preis verlangt. Du siehst daran, wie sehr dich dein Onkel schätzt.“ Goldlotos schüttelte heftig den Kopf. Sie stand auf und lief im Raum hin und her. „Ich werde immer seine Gefangene bleiben“, sagte sie, und ihre Stimme zitterte vor Erregung. „Tagaus, tagein sitze ich im ,Haus der fleißigen Hände’ und ziehe meine Tuschestriche auf den Rahmen. So wird ein Tag wie der andere vergehen. Doch dabei wird auch die Zeit den Pinsel führen, und ihr Rahmen ist mein Gesicht. Erst arbeitet sie langsam, malt feine Striche auf die Stirne, dann tiefere von der Nasenwurzel zum Mund, tausend kleine Strichelchen um die Augen, und dann wird niemand auch nur ein einziges Pferd für den traurigen Nachtfalter im ,Haus der fleißigen Hände’ geben.“ Sie sprang auf, rüttelte Frau Wönn und rief mit heller, sich fast überschlagender Stimme: „Verstehst du das nicht, Wönn? Mein Onkel fordert ja diesen Preis, um mich immer als Gefangene zu halten. Deshalb die tausend Pferde! Er weiß genau, daß es keinen Mann gibt, der diesen hohen Kaufpreis für ein Mädchen bezahlen kann.“ Sie warf sich auf das Bett und wieder überfiel sie das Schluchzen. Wönn saß an ihrem Lager, und ihre groben, verarbeiteten Hände streichelten sie behutsam. Endlich löste sich das krampfhafte Schluchzen. Nun war es nur noch ein leises Wimmern und Weinen. Schwerfällig erhob sich die alte Frau und verließ leise das Zimmer. Goldlotos konnte keinen Schlaf finden. Sie warf sich auf dem Bett hin und her. Ihr Herz schlug zum Zerspringen. Sie stand auf und ging zum Fenster. Es fröstelte sie. Von den vielen Tränen brannten ihre Augen. Sie sah in die Nacht hinaus. Kühle Luft tat gut. Langsam wurde sie ruhiger, und das Herzklopfen ließ nach. Auf Zehenspitzen schlich sie sich zu der Tapetenwand, die ihren Raum von dem Zimmer der alten Wönn trennte. Sie lauschte. Es waren nur die ruhigen Atemzüge der Frau Wönn zu hören. Sie wartete noch eine Weile und zündete dann die Lampe an. Aus der untersten Schublade eines Lackschränkchens holte sie eine kleine Wachstafel. Als sie die
Schriftzeichen las, traten ihr wieder die Tränen in die Augen. Sie hatte das Täfelchen schon sooft in der Hand gehabt, daß sie jedes Zeichen auswendig kannte. Sie las immer nur heimlich, wenn sie wußte, daß die alte Wönn schlief. Die kleine Tafel war ihr großes Geheimnis. „Ich werde von dir träumen“, stand auf der Tafel. „Meine Augen suchen den leuchtenden Stern, der über deinem Haus steht. Werden meine Augen dort die deinen treffen? Vijaya.“ Seit sie dieses Täfelchen erhalten hatte, hatte sie oft am Fenster gestanden und den hellen Stern gesucht. Sie hatten sich nur einmal gesehen. Der Onkel gab im Haupthaus einen Empfang für den Fürsten Vijaya aus dem fernen Reich Khotan. Sü-San, die sonst bei diesen Anlässen servieren mußte, war krank. Der Onkel befahl Goldlotos, diesen Dienst zu übernehmen. Sie wollte sich weigern. Es war für sie eine Demütigung, die Arbeit einer Dienerin zu verrichten. Doch Onkel Yang bestand darauf. So mußte sie widerstrebend dem Befehl gehorchen. Als sie den großen Raum im Haupthaus betrat, sah sie den Fürsten. Für einen Moment blieb sie stehen und sah nur noch ihn. Ihre Blicke trafen sich. Auch der Fürst sah sie unverwandt an. Sie beugte sich zu ihm und füllte kleine Schalen mit Tee. Sie konnte es nicht verhindern, daß ihre Hand dabei zitterte. Als sie am Abend ihren gewohnten Spaziergang durch den Park machte, trat plötzlich der Türhüter Tsan Tsuo aus dem Schatten eines Baumes. „Für die schönste Blume des Hauses Tschin von jemandem, der nicht genannt sein möchte“, sagte er und gab ihr das Täfelchen. Ehe Goldlotos noch eine Frage stellen konnte, war er verschwunden. Seit dieser Zeit träumte sie von dem Fürsten aus dem fernen Reich. In diesen Träumen kam er wieder nach Lo-jang, diesmal nur ihretwegen. Dann würde er sie mit in sein fernes Reich nehmen, und ihre Einsamkeit wäre zu Ende. Sie versteckte das Täfelchen. Zusammengekrümmt, das Gesicht in den Händen verborgen, kauerte sie auf dem Boden und weinte leise. Der Traum würde nie mehr wahr werden. Niemand würde für sie tausend Pferde bezahlen können. Heute hatte es sich entschieden. Sie war für immer die Gefangene des Onkels. Als Frau Wönn am nächsten Morgen das Zimmer betrat, um Goldlotos zu wecken, lag das Mädchen noch immer auf dem Boden. Sie war über dem Weinen eingeschlafen.
Der Fürst von Khotan rüstet eine Karawane Seit dem plötzlichen Aufbruch aus der Hafenstadt am Persischen Golf waren Monate vergangen. In dieser Zeit war Cucullus gut vorangekommen. Bis jetzt war die geplante Reise gut verlaufen. Er war dem Freund Octavianus dankbar. Dessen Rat, als persischer Händler verkleidet zu reisen, hatte sich als vorteilhaft erwiesen. Die Geleitbriefe taten ein übriges, und so fand Cucullus überall Gastrecht. Die erste Etappe seiner Reise war recht schwierig. Er mußte manchmal Wochen warten, ehe er Anschluß an eine Karawane fand. Doch dann kam er ohne größeren Aufenthalt weiter. Immer hielt er sich an die Worte seines Freundes, sprach selbst wenig, hielt aber Augen und Ohren offen. Es würde nicht einfach sein, von Khotan aus weiter nach Osten zu gelangen. Von den Männern, mit denen er bisher gesprochen hatte, war keiner über Khotan hinausgekommen. Es schien so, als wäre dort die Welt zu Ende. So wenig ermutigend die Gespräche waren, verließ er sich doch auf sein Glück, das ihn bisher begleitet hatte. Er war nicht einen Tag krank gewesen, die Karawanen, denen er sich anschloß, blieben von räuberischen Überfällen verschont, und er glaubte fest daran, daß ein guter Stern über seinem Unternehmen stand. In den ersten Monaten fühlte er sich zuweilen verfolgt. Mehrere Male meinte er, den Perser wiederzuerkennen, der damals bei Kapitän Hilamos in der Fischerkneipe gesessen hatte. An jenem Abend hatte er ihn kaum beachtet. Und doch dachte er sofort an jene Szene, als er eines Tages in der Karawanserei in Samarkand einen Perser bei dem Trupp Kameltreiber stehen sah, die sich über einem offenen Feuer die Hände wärmten. Doch als er näher zu der Gruppe trat, war kein Perser zu sehen. Und noch einmal – in Kaschgar – schien er den gleichen Perser zu sehen… Es waren vielleicht Hirngespinste, weiter nichts. Trotzdem beschäftigte es ihn sehr oft. Er überlegte, welches Interesse jener Mensch haben könnte, ihm zu folgen. Gehörte er zu denen, die das Geheimnis der Seide kannten und hüteten? Oder suchte er es ebenfalls? War er – Cucullus – auf der richtigen Spur, und wollte der Perser nicht, daß er diese Spur weiterverfolgte? Als er nach Khotan kam, hatte er den Perser längst vergessen. Er wurde sehr bald vom Fürsten empfangen. Das Glück wollte es, daß
dieser gerade eine Karawane ausrüstete, mit der er nach Lo-jang, der Seidenstadt hinter der Großen Mauer, ziehen wollte. Der Fürst und Cucullus fanden rasch Gefallen aneinander. Nach vier Wochen Vorbereitung brach die stattliche Karawane aus Khotan auf. Sie war schon mehrere Wochen unterwegs, als sie endlich den Oberlauf des Südflusses erreichte. Hier konnte das unendliche Sandmeer der Wüste keine Schrecken mehr ausüben. Die hohen Gebirgszüge von Tibet hatte man umgangen und den beschwerlichsten Teil der Reise hinter sich gebracht. Die Karawane kam nun rasch voran. An der Großen Mauer öffneten sich dem Fürsten von Khotan die Tore, und die Karawane mußte keine strengen Kontrollen über sich ergehen lassen. Nun hatte man, drei Nächte vor der errechneten Ankunft in Lojang, wieder einen Lagerplatz aufgeschlagen. Um die Lagerfeuer saßen Kameltreiber und Soldaten. Einige würfelten, andere hielten das Feuer mit getrocknetem Kameldung in Gang, denn anderen Brennstoff gab es kaum. In der Mitte des Lagers standen zwei Zelte. Das eine war groß und prächtig, das andere Zelt etwas kleiner. Prinz Vijaya, Fürst des Reiches Khotan, saß in der Mitte seines Zeltes und hielt seine Hände über die wärmende Glut des Feuerbeckens. Der Prinz war sehr jung, von mittelgroßem, zierlichem Wuchs. Sein tiefschwarzes Haar trug er offen über die Schulter, und das feingeschnittene Gesicht war bartlos. Nichts Kriegerisches stand in diesen Zügen. Eher lag etwas Verträumtes, Zartes in dem Ausdruck des Gesichtes. Und doch verriet es nicht, was im Innern des Menschen vorging. Cucullus saß dem Prinzen gegenüber. Er trug jetzt ein reichbesticktes Obergewand, blaue Beinkleider und rote Ledersandalen. Diese Gewänder waren ein Geschenk des Fürsten. Ein Diener war damit beschäftigt, die Reste der Mahlzeit von einem kleinen, niedrigen Tischchen zu entfernen. Dann machte er eine tiefe Verbeugung und verließ, rückwärts gehend, das Zelt. Nun waren sie allein. „Ich bin Euch zu großem Dank verpflichtet, mein Fürst“, sagte Cucullus und legte kleine Kohlenstückchen in das Feuer. „Meine Reise wäre in Khotan zu Ende gewesen, hätte ich nicht das Glück gehabt, Euch zu begleiten.“ „Vertraut aber nicht zu sehr auf die Göttin des Glücks. Sie ist launisch, Cucullus“, sagte der Fürst. „Euer Vorhaben ist gefährlich.
In Khotan standet Ihr unter meinem Schutz. Hier jedoch bin ich selbst ein Fremder. Ich genieße die Gastfreundschaft des Landes, und ich kann und will sie nicht mißbrauchen.“ „Seid unbesorgt“, erwiderte Cucullus, und um seinen Mund, der jetzt durch einen dichten Bart kaum mehr sichtbar war, spielte ein unbesorgtes, jungenhaftes Lachen. „Durch mich werdet Ihr keine Ungelegenheiten haben. Meine Reise habe ich gründlich überlegt. Ich will nur viel sehen. Sehr viel.“ „Und doch unterschätzt Ihr die Gefahr. Ein unbedachtes Wort, eine einzige unüberlegte Bewegung kann Euch verraten. Ihr werdet hier beobachtet, und mißtrauische Augenpaare begleiten Euch auf Schritt und Tritt. Ihr solltet immer daran denken.“ In den Worten des Fürsten lag ein besorgter Unterton, der Cucullus aufhorchen ließ. Was wußte der Fürst wirklich von seinem Plan? Den wahren Grund für seine Reise konnte er doch nicht ahnen. Er hatte ihm ja nur erzählt, daß er das Reich der Mitte aufsuchen wolle, um darüber später zu schreiben. Wenn der Fürst mehr vermutete, mußte er diese Gedanken zerstreuen. Es durfte niemand von seinem Vorhaben auch nur die leiseste Ahnung haben. Jetzt war er seinem Ziel so nahe. Bald hatte man die Stadt Lo-jang erreicht, und dann würde er seine Augen schon offenhalten. Er würde mehr über die Grenze mitnehmen als jener griechische Kapitän. „Ich unterschätze die Gefahr keineswegs“, entgegnete er deshalb und fügte lachend hinzu: „Doch diese Gefahr ist nicht halb so groß als jene, der ich mich ausliefere, wenn ich meine Heimatstadt nicht verlasse.“ Der Fürst sah ihn verständnislos an, und Cucullus fuhr fort: „Zu Hause lebe ich immer in der Gefahr, bei lebendigem Leibe zu vermodern. Es ist tatsächlich so. Bin ich lange unterwegs gewesen, freue ich mich auf mein Haus, auf Eltern und Freunde. Ich schlendre durch die Straßen, treffe Bekannte, spreche über dieses und jenes. Doch schon nach ein paar Wochen überfällt mich eine seltsame Unruhe. Die vertraute Umgebung beengt mich erneut. Dann treibe ich mich tagelang im Hafen herum. Mit jedem Schiff, das einläuft, spüre ich den Geruch der fernen Weite, und bei jedem Schiff, das den Hafen mit geblähten Segeln verläßt, wächst mir die Sehnsucht nach der unbekannten Ferne. Nun beginne ich, mich gegen meine Umgebung aufzulehnen. Es ist das erste Stadium der Krankheit. Dann kommt das zweite: Ich stürze mich wie besessen in die Arbeit und erkenne doch eines Tages, daß sie mir nicht hilft. Darauf sitze
ich tagelang in meinem Zimmer und will niemanden sprechen. Ich will allein sein und träumen. Es ist das letzte und gefährlichste Stadium der Krankheit. Hals über Kopf packe ich meine Sachen, laufe zum Hafen, vertraue mich irgendeinem Schiff an und verlasse es erst, wenn es an einem weit entfernten Punkt unseres großen Reiches Anker wirft. Betritt mein Fuß neuen und für mich unbekannten Boden, ist die Krankheit vorüber. Ich bin geheilt.“ Er war während dieser Erzählung im Raum hin und her gegangen, und als er sich auf ein Sitzpolster niederließ, meinte er: „Nun sagt doch selbst, mein Fürst, ob die Gefahren der Krankheit nicht größer sind als jene, vor denen Ihr mich gewarnt habt?“ Vijaya lachte und meinte dann: „So gesehen habt Ihr recht. Trotz allem“, er wurde wieder ernst und sah Cucullus lange an, „denkt an meine Warnung und seht Euch vor! Man weiß nie, auf welcher Reise man sich befindet. Eine wird dabeisein, von der es keine Wiederkehr mehr gibt.“ Cucullus wollte etwas erwidern, doch der Fürst klatschte in die Hände. Lautlos betrat ein Diener den Raum. Der Boden des Zeltes war mit dicken Teppichen ausgelegt, die jedes Geräusch der Schritte verschluckten. Der Diener verneigte sich vor dem Fürsten, der ihm etwas zuflüsterte. Er ging und kam bald mit zwei schweren goldenen Trinkschalen zurück, die er vor dem Fürsten und Cucullus niederstellte. Als der Diener den Raum wieder verlassen hatte, hob Vijaya die Trinkschale. „Leeren wir die Schale auf das Gemeinsame, welches uns verbindet.“ Er setzte das Trinkgefäß an die Lippen. Auch Cucullus hob die schwere Schale und trank. Dann setzte er die Trinkschale ab, tupfte seine Lippen mit einem seidenen Tüchlein trocken und fragte: „Was meint Ihr mit diesem ,Gemeinsamen’? Welche Krankheit hat Euch veranlaßt, den prächtigen Palast in Khotan zu verlassen? Ähnelt sie der meinen?“ Der Prinz nickte. „Prächtig ist dieser Palast in Khotan. Prächtig, öde und leer. Mein Herz schlägt laut und dröhnend, und doch hört es keiner von denen, die meinem Thron am nächsten stehen.“ Er hob das Trinkgefäß wieder an seine Lippen und leerte es mit einem einzigen Zug. Cucullus kam es vor, als wollte er damit alles Bedrückende hinunterspülen. Er erhob sich und trat hinter den Prinzen. „Die Stimme des Herzens wird nur von einem Menschen verstanden. Ihr habt ihn noch nicht gefunden. Solange dieser Mensch fehlt, wird Euch der Palast immer öde und leer vorkommen. Es wird
Euch immer und immer wieder hinaustreiben. Ihr seid genauso ruhelos wie ich. Ihr habt recht, es ist viel Gemeinsames, was uns verbindet. Eure Krankheit ähnelt der meinen in vielem.“ Er wartete. War der Fürst über seine wirklichen Pläne unterrichtet, mußte jetzt sein Widerspruch kommen. Doch der Fürst nickte nur und bat ihn mit einer Handbewegung, wieder Platz zu nehmen. „Als ich das letztemal auf dieser Straße zog, hieß auch mein Reiseziel Lo-jang. Ich nahm im Haus der Familie Tschin Quartier. Das Oberhaupt der Familie Tschin, der ehrenwerte Oberrat Yang, ist mir seit längerem bekannt. Wir saßen beim Tee. Herr Yang klatschte in die Hände, und ein Mädchen betrat den Raum. Sie war so schön, daß ich meine Umwelt vergaß und sie unentwegt ansehen mußte. Unter meinem Blick errötete sie und senkte den Kopf. Als sie mir den Tee eingoß, zitterten die kleinen Hände. Dann verließ sie den Raum. Es war nur diese eine kurze Begegnung, und doch verfolgt mich seitdem ihr Bild in allen meinen Träumen.“ Er erhob sich und sah Cucullus lange an, ehe er fortfuhr: „Ihr habt recht, meine Krankheit gleicht der Euren. Auch ich suche auf dieser Reise Heilung – genau wie Ihr. Dies ist das Gemeinsame, welches uns verbindet. Nur ein kleiner Unterschied trennt uns: Ich habe Euch den wahren Grund meiner Reise erzählt.“ Er hatte das Wort „wahr“ betont, und ohne Cucullus zu beachten, dessen Farbe gewechselt hatte, fuhr er fort: „Ich glaube, es ist Zeit, daß wir jetzt unser Lager aufsuchen. Wir wollen morgen noch vor Tagesanbruch weiterziehen.“ Cucullus war so überrascht, daß er nichts erwidern konnte. Er verbeugte sich und verließ das Zelt. Die Nacht war kalt, und im Lager war es still geworden. Nur da und dort prasselte ein Feuer und loderte hell auf, wenn eine der Nachtwachen den Flammen neue Nahrung zuwarf. Cucullus ging langsam zu seinem Zelt. Die Kühle der Nacht tat gut. In Gedanken war er noch bei dem letzten Gespräch mit dem Fürsten. Da hörte er leises Knirschen. Wieder hatte er das Gefühl, als würde er verfolgt. Schnell drehte er sich um. Hinter ihm stand ein Mann – ein Dolch blinkte. Mit aller Kraft warf sich Cucullus gegen den erhobenen Arm des anderen. Der war auf den Angriff nicht gefaßt, taumelte zur Seite, und klirrend fiel der Dolch zu Boden. Ehe sich Cucullus ein zweites Mal auf den Angreifer stürzen konnte, hatte der sich zur Seite gerollt und war in der Dunkelheit verschwunden. Nur für einen
kurzen Augenblick hatte der Schein des Lagerfeuers sein Gesicht beleuchtet. Cucullus erschien dieses Gesicht bekannt. Er konnte sich aber nicht erinnern, wo er dem Mann begegnet war. Vorsichtig tastete er in der Dunkelheit den Boden ab. Er fand die Waffe und ging langsam zu seinem Zelt. Dort besah er sich die Waffe im Schein der flackernden Öllampe. Die Damaszenerklinge trug persische Zeichen. – Persische Zeichen! Nun wußte er, wann er den Mann gesehen hatte. Bei den Kameltreibern in Samarkand – auf dem Markt in Kaschgar. Es waren also doch keine Hirngespinste. Er nahm sich vor, wieder vorsichtiger zu sein. Noch vor Tagesanbruch zog die Karawane weiter. Sosehr auch Cucullus nach seinem nächtlichen Besucher Ausschau hielt, er konnte ihn nicht entdecken. Der Mann war wie vom Erdboden verschluckt. Noch zwei Tagereisen, und man kam in blühendes Land. Beiderseits des Flußufers lagen größere Ansiedlungen. Man hatte den Unterlauf des Flusses erreicht, und die Menschen der Karawane waren in guter Stimmung. Die Tage der sengenden Sonne und die frostklirrenden Nächte waren vergessen. Cucullus entdeckte merkwürdige Bäume. Als er mit dem Prinzen allein war, fragte er ihn, was dies für Bäume seien. Vijaya sah ihn lange an und antwortete: „Wir werden noch viele dieser Bäume sehen, je weiter wir in die Ebene des Südflusses kommen. Es sind die Lieblingsbäume von Si-ling-shi, der Muter der Seide.“
Ying-Ying erzählt ihrem Onkel von ihrer baldigen Hochzeit Ohne Zwischenfälle erreichte die Karawane des Fürsten am 72. Tag nach ihrem Aufbruch in Khotan das Ziel. In der Stadt Lo-jang nahm man von der Ankunft der Karawane wenig Notiz. Es war früher Nachmittag, und der Lampionverkäufer Lian-Bai saß schon geraume Zeit in der Nähe des Palasttores der Familie Tschin. Er hockte auf seiner Strohmatte; die Fähnchen und Girlanden flatterten im warmen Sommerwind. Er wartete auf Ying-Ying. Er wußte nicht, wann sie herauskommen würde; er hoffte nur, daß er sie bald sehen würde. Hin und wieder schloß er die Augen, um nachzudenken. Lian-Bai schloß immer die Augen, wenn er über etwas nachdachte. Er konnte dann alles um sich herum ausschalten und sich nur mit seinen Gedanken beschäftigen. Er dachte an Ying-Ying. In den letzten Tagen hatten seine Gedanken oft ihr gegolten. Zwar gehörte sie, seit er sie in das Haus der Familie Tschin gebracht hatte, mehr zu dieser Familie als zu der seinen, doch das war nur äußerlich. Innerlich hatte sich gar nichts verändert. Für ihn blieb sie die kleine Tochter seiner Schwester. Die hatte vielen kleinen Mädchen das Leben geschenkt, und Onkel LianBai konnte sie alle nie recht auseinanderhalten. Es gab immer wieder Gelächter, wenn er eines der Mädchen mit Li anredete, und dabei war es Tschun. Der Onkel stimmte dann selbst in das Lachen ein und schwor, diese Verwechslung würde nie mehr passieren. Dabei verwechselte er kurze Zeit später schon wieder die Namen. Nur eine Ausnahme gab es – Ying-Ying. Sie verwechselte er nie. Ying-Ying unterschied sich von allen Schwestern, sie war zarter und zerbrechlicher. Wenn Onkel Lian-Bai sie sah, mußte er immer an eine der Porzellanfiguren denken, die sein Nachbar in der Birngartenstraße mit geschickten Fingern formte. Ihre Stimme gefiel ihm, sie war weich und melodisch. Für seine Ohren war die Stimme der kleinen Ying-Ying Erholung, Erholung von der lärmenden, kreischenden und zänkischen Stimme seiner Frau. Wenn er einmal später als gewöhnlich in die Birngartenstraße kam, erfüllte diese Stimme das ganze Haus. Das schmerzte Onkel Lian-Bai stets, denn er liebte die Stille. Weil Ying-Ying so ruhig war, liebte er seine kleine Nichte, und sie liebte ihren Onkel. Seit sie im Haus der
Familie Tschin war, vermißte er sie. Hin und wieder traf er sie in der „Straße der raschelnden Blätter“, und in letzter Zeit war sehr oft der Name eines gewissen Wuh-Sung gefallen. Erst hatte er sich gar nichts dabei gedacht, doch dann lag er am Abend in seinem Bett und konnte nicht einschlafen. Immer wieder mußte er an diesen WuhSung denken. Lian-Bai hatte sich zur Angewohnheit gemacht, am Abend vor dem Einschlafen den vergangenen Tag noch einmal in Gedanken vorüberziehen zu lassen. Hatte er viel Schönes erlebt, überdachte er das nochmals in allen Einzelheiten, und darüber schlief er glücklich und zufrieden ein. – War der Tag trübe verlaufen, erschien er dem Onkel am Abend noch dunkler und bedrohlicher. Tausend Kleinigkeiten reihten sich wie kleine schwarze Punkte aneinander und bildeten eine dunkle, drohende Einheit. Dann wälzte er sich auf seinem Lager hin und her und konnte keinen Schlaf finden. An den letzten Abenden hatte er viel über Ying-Ying und diesen Wuh-Sung nachgedacht. War es ein glücklicher Zufall, daß euerer Bursche seiner kleinen Ying-Ying begegnet war? Er wußte es nicht, und diese Ungewißheit raubte ihm den Schlaf. Wer war dieser WuhSung? Sicher hätte er etwas in Erfahrung bringen können, wenn er den Türhüter Tsan Tsuo gefragt hatte. Doch wie er den Türhüter kannte, würde dieser die Geschichte gleich in allen Teehäusern erzählen. Dies wollte Onkel Lian-Bai vermeiden. Außerdem mochte er die Art nicht, wie sich Tsan Tsuo benahm. Begleitete er Oberrat Yang, war der Türhüter von einer Unterwürfigkeit, die peinlich wirkte. Da genügte schon ein Zucken der Augenbrauen des Oberrats oder ein unwilliger Wink, um den großen starken Tsan Tsuo in sich zusammenfallen zu lassen. Onkel Lian hatte einmal einem Puppenspieler zugesehen, der seine Puppen mit Hilfe dünner Bambusstäbchen führte. Sah er Tsan Tsuo mit Oberrat Yang, dann sah es aus, als habe Tsan Tsuo ebensolche Stäbchen, die vom Oberrat bewegt wurden. Dieser Gedanke erheiterte ihn immer wieder. Stand Tsan Tsuo allein vor der Tür, so war er ganz verändert. Seine herrischen Bewegungen ähnelten denen des Oberrats, und seine Stimme hatte den befehlenden Ton seines Herrn. Dann wurde aus dem Unterdrückten ein Despot. Seinen Zorn über die eigene Machtlosigkeit ließ er an denen aus, die schwächer waren als er. Lian-Bai hatte sein Nachdenken beendet und öffnete die Augen. Was er sah, versetzte ihn in Erstaunen. Tsan Tsuo schien heute einen
außergewöhnlich schlechten Tag zu haben. Vor ihm stand der Schriftgelehrte und Astrologe Fu, und Tsan Tsuo behandelte ihn wie einen Kameltreiber. Anscheinend verwehrte er Herrn Fu den Eintritt in den Palast. Von der erregten Unterhaltung konnte Lian-Bai leider kein Wort verstehen. Plötzlich drehte sich Herr Fu um und ging. Lian-Bai hätte zu gerne gewußt, weshalb Tsan Tsuo den Schriftgelehrten zurückgewiesen hatte. Herr Fu näherte sich langsam dem Verkaufsstand, doch Lian-Bai wagte nicht, ihn anzusprechen. Da kam ihm der Zufall zu Hilfe. Herr Fu war so in Gedanken versunken, daß er an den kleinen Verkaufsstand stieß. Die Fähnchen und Girlanden purzelten durcheinander. Er entschuldigte sich bei dem Onkel, doch dieser beteuerte, daß den ehrenwerten Herrn Fu keinerlei Schuld träfe. Hätte er seinen erbärmlichen Stand nicht gerade an dieser Stelle aufgeschlagen, wäre Herr Fu nicht darüber gestolpert. Dies ließ Herr Fu nicht gelten, und so gab ein Wort das andere. Schon war das von Lian-Bai gewünschte Gespräch im Gange. „Ich hätte meinem eigenen Tageshoroskop mehr vertrauen sollen“, meinte Herr Fu, während er sich das schmerzende Schienbein rieb. „Meine Sterne befinden sich heute in ungünstigen Positionen. An derartigen Tagen verlasse ich sonst nie mein Haus.“ Onkel Lian-Bai nickte mit dem Kopf. Dabei war ihm das Verhalten des Herrn Fu unverständlich. Wo käme man denn hin, wenn man jeden Tag erst die Sterne befragen wollte, ob man das Haus verlassen darf oder nicht? „Nun wurde mir durch einen Boten die Nachricht überbracht, daß mich Prinzessin Goldlotos zu sprechen wünscht. Ich konnte nicht nein sagen, erhob mich von meinem Lager, verließ das Haus und“ – er zuckte resigniert mit den Schultern – „das Verhängnis nahm seinen Lauf.“ Lian-Bai meinte, während er die Fähnchen und Girlanden ordnete: „Ich bitte Euch, meßt diesem kleinen Mißgeschick keine Bedeutung zu. Der Schaden ist ja schon behoben.“ „O du argloser Verkäufer bunter Papierwaren“, entgegnete Fu mit erhobener Stimme und schüttelte traurig den Kopf. „Wer spricht denn von diesem kleinen Mißgeschick? Dazu wäre es ja gar nicht gekommen, wenn mir Tsan Tsuo den Eintritt in den Palast nicht verwehrt hätte. Der Bursche kennt mich so gut wie ich ihn. Er läßt mich nicht in den Palast, weil ich…“, Herr Fu schüttelte mehrmals den Kopf, als begreife er es einfach nicht, „… weil ich das kleine Täfelchen der Familie Tschin nicht bei mir habe. Nun muß ich den
ganzen Weg wieder zurücklaufen, um mein Täfelchen zu holen, dessen Schriftzeichen dieser Hohlkopf gar nicht zu deuten weiß.“ Lian-Bai brachte sein Mißfallen nur durch ein heftiges Kopfschütteln zum Ausdruck. Er hatte nämlich bemerkt, daß Tsan Tsuo aufmerksam seinen Standplatz beobachtete. Worte konnte man vielleicht verstehen, ein Kopfschütteln dagegen konnte man deuten, wie man wollte. Lian-Bai gehörte zu den kleinen Leuten, und kleine Leute sind vorsichtig. Zwar haben sie wenig zu verlieren, doch dieses wenige ist für sie alles. Tsan Tsuo zum Beispiel hatte die Macht, ihn von seinem Platz zu vertreiben. Dann hätte er auf die Begegnung mit Ying-Ying verzichten müssen. Deshalb zog er es vor, lieber unhöflich zu dem Schriftgelehrten zu sein, als den Türhüter zu erzürnen. Doch Herr Fu hatte gar keine Antwort erwartet. Er ging bereits die Straße hinunter und zitierte laut die Verse eines Dichters. In denen war von der Unvernunft gewisser Wesen die Rede, die sich selbst als vernünftig bezeichnen. Er sprach so laut, daß es Tsan Tsuo hören mußte. Doch da es die Worte eines Dichters waren, begriff der Türhüter sie gar nicht. So brannte Herr Fu das Feuerwerk seines Zornes eigentlich ganz umsonst ab. Onkel Lian sah dem erzürnten Gelehrten nach, bis dieser seinen Blicken entschwunden war. Die Straße lag wieder ruhig und friedlich. Tsan Tsuo stand noch immer unter der Tür und starrte jetzt unentwegt auf den Onkel. Dem war dies unangenehm, und so schloß er wieder die Augen. Diesmal nicht um nachzudenken, sondern nur in der Hoffnung, daß Tsan Tsuo an ihm bald das Interesse verlieren würde. Wenn Ying-Ying kam, sah sie ihn ja sitzen, und er kannte das Klappern ihrer Sandalen. Vielleicht würde er sie in das Teehaus von Lo-huan einladen, um ihr dort ein paar süße Kuchen zu kaufen. Doch nein, dies ging wohl nicht mehr. Sicher war es nicht schicklich, mit ihr ein Teehaus aufzusuchen, denn sie war ja erwachsen. Onkel LianBai seufzte leise. Wie lang würde es dauern, dann waren auch seine Kinder erwachsen. Würde er es bemerken, oder blieben es für ihn immer die Kinder? Das war gar nicht gut. Kinder wollen eines Tages erwachsen sein und von den Eltern auch so respektiert werden. War es ihm nicht genauso ergangen? Als ihn seine Eltern nicht mehr verstanden, lief er aus dem heimatlichen Dorf fort und suchte sein eigenes Leben. Nun, da er selbst Kinder hatte, wollte er lernen, sie zu verstehen. Nun war er doch ins Nachdenken gekommen. Er hatte die Augen geschlossen und sah nicht, daß Cucullus die Straße heraufkam. Der
hatte seine Ungeduld nicht mehr zügeln können. Am Ziel seiner Wünsche angekommen, begann er sogleich, die Stadt zu durchstreifen. Lian-Bai hörte Schritte, doch es waren nicht die Sandalen von Ying-Ying. Erst blinzelte er ein wenig, dann riß er die Augen weit auf. Vor seinem Verkaufsladen stand ein Fremder und betrachtete die Fähnchen und Lampions. Der Fremde schien ihm ungewöhnlich groß. Er hatte eine seltsame, blasse Hautfarbe, die in Gegensatz zu dem schwarzen Bart stand, der sein Gesicht umrahmte. Der Mann machte auf Lian-Bai einen merkwürdigen Eindruck. Nicht nur seine Erscheinung, sondern die Art, wie er da und dort ein Fähnchen herausnahm, es dann wieder zurücksteckte, ohne ein Wort zu sprechen. Lian-Bai hatte dadurch Zeit, ihn zu beobachten, und so fiel ihm etwas Merkwürdiges auf: Der Fremde betrachtete gar nicht die Fähnchen, sondern das Eingangstor des Tschin-Palastes. Lian-Bai erhob sich und machte eine Verbeugung vor dem Fremden. Er suchte einige besonders schöne Fähnchen heraus, machte auch auf die wohlgelungenen Lampions aufmerksam und nannte verschiedene Preise. Der Fremde sprach nichts. Er schien ihn gar nicht zu verstehen. Vielleicht konnte er nicht sprechen. Er deutete auf den Palast, und aus seinen Gesten konnte Lian-Bai entnehmen, daß er den Namen des Besitzers zu wissen wünsche. „Familie Tschin“, sagte Lian-Bai und deutete mit einer weit ausholenden Bewegung auf alles. „Gehört alles der Familie Tschin.“ Er wiederholte nochmals sehr laut, als hätte der andere das Gehör verloren: „Familie Tschin.“ Der Fremde nickte verstehend und wiederholte: „Tschin“. Er nahm eines der Fähnchen und warf LianBai eine Kette Münzen zu. Der fing sie geschickt auf. Erst als er sie in der Hand hielt, bemerkte er, daß es das Fünffache des Preises war. In den folgenden Minuten kämpfte Onkel Lian mit sich selbst. Sollte er den Betrag behalten? Das war unehrlich. Dem Fremden erklären, daß er zuviel bezahlt habe? Das war umständlich. Wie sollte er jemandem etwas erklären, der anscheinend die Sprache nicht verstand? Es war sehr schwierig, hier eine richtige Lösung schnell zu finden, und Onkel Lian war kein Freund von schnellem Denken. Wie es seine Angewohnheit war, schloß er wieder die Augen. „Was verlangst du für dieses Fähnchen?“ Onkel Lian-Bai riß erschrocken die Augen auf. Der Fremde von vorhin war verschwunden. Dafür stand vor ihm ein anderer Mann, den er ebenfalls in der Straße noch nie gesehen hatte.
Als er sich von der ersten Überraschung erholt hatte, nannte er den Preis. Der Fremde nickte kurz, tat so, als betrachte er die Fähnchen, beobachtete jedoch nur die Straße. „Darf ich dem geehrten Herrn eine Girlande zeigen? Oder einen dieser wundervollen Lampions? Betrachtet sie genau, und Ihr werdet zugeben, daß sie herrlich sind. Beachtet bitte, daß ich sie bereits mit den Zeichen des Drachenbootfestes bemalt habe.“ In Onkel Lian war der Geschäftsgeist erwacht; urplötzlich und am späten Nachmittag. Dabei ging es ihm weniger um den Verdienst, als um den Spaß. Es machte ihm Freude, jemanden zu einem Kauf zu überreden, der dazu gar keine Lust zeigte. Deshalb schilderte er eingehend seine Lampions und erklärte die verschiedenen Motive, die alle auf das Drachenbootfest abgestimmt waren. Das Fest wurde am fünften Tag des fünften Monats begangen. Höhepunkt des Festes war die Wettfahrt der langen, schlanken Boote auf dem Südfluß. Dieses Motiv hatte Onkel Lian häufig auf seinen Lampions verwendet, und darunter stand immer der Name des Dichters, zu dessen Ehren man das Drachenbootfest beging. Er war nicht nur Dichter, sondern auch Berater eines Fürsten gewesen. Einmal folgte sein Fürst seinem Rat nicht und stürzte dadurch das Volk in Elend. Der Dichter verzweifelte. Er warf sich aus Kummer über die Starrköpfigkeit des Fürsten in den Fluß und ertrank. Zur Erinnerung feierte man seit dieser Zeit einmal im Jahr das große Fest. Dies alles schilderte Onkel Lian dem Fremden. Er zeigte dabei immer wieder auf seinen Stand, unterstrich die Worte mit Gebärden und spielte auf seiner Stimme wie auf einer Orgel. Er dienerte um ihn herum und bot alle Künste auf, über die ein Straßenhändler verfügt. Das machte ihm soviel Spaß, daß er fast ärgerlich war, als der Fremde ein weißes Fähnchen nahm und genau den angegebenen Preis bezahlte. Wenigstens handeln hätte er doch können. Nein, er zahlte genau den verlangten Preis. „Wie lange sitzt du schon hier?“ wollte der Fremde wissen. „Die Sonne schien bereits recht warm auf mich Unwürdigen, als ich den Platz hier suchte.“ „Ist dir in der ganzen Zeit nichts Besonderes aufgefallen? Kam nicht ein Mann an deinen Stand, ungewöhnlich groß? Erinnere dich. Der Mann spricht kaum. Er muß dir aufgefallen sein.“ Lian-Bai schüttelte mit dem Kopf. „Ich bin ein alter Mann. Mein Gedächtnis ist nicht mehr gut. Ich sehe jeden Tag so viele Menschen, und keiner ähnelt dem anderen. Wie soll ich Eure Fragen
beantworten? Möglich, daß der Mann in der Straße war. Möglich, daß er nicht in der Straße war.“ Der Fremde mußte sich mit dieser Antwort zufriedengeben. Er nickte kurz, drehte sich um und eilte die Straße hinunter. Onkel Lian sah ihm nach, und ein Lächeln umspielte das alte Gesicht. Jener erste Fremde war höflich zu ihm gewesen und hatte ihm mehr bezahlt, als er gefordert hatte. Vielleicht wäre es dem freundlichen Herrn nicht recht gewesen, wenn er Antwort gegeben hätte? – Die ganze Sache erschien ihm so merkwürdig, daß er wieder die Augen schloß, um nachzudenken… Inzwischen hatte Goldlotos in ihrem Zimmer ungeduldig auf die Ankunft des Herrn Fu gewartet. In den letzten Wochen hatten sich viele Fragen in ihr aufgespeichert. Nur Herr Fu konnte ihr Rat und Antwort darauf geben. Er hatte sie die Schriftzeichen gelehrt, ihren Verstand erweckt und geformt. „Weshalb kommt er nicht, Wönn? Weshalb läßt er mich so lange warten? Es wurde ihm doch ausgerichtet?“ „Ja, ja!“ antwortete Frau Wönn, der die Ungeduld der Prinzessin langsam auf die Nerven fiel. „Wissen die Götter, wo er so lange steckt! Ich habe bereits heute vormittag Sü-San mit der Botschaft zu ihm geschickt.“ „Sü-San?“ antwortete Goldlotos gedehnt und verzog schmollend den Mund. „Du weißt doch, daß Sü-San faul und langsam ist. Weshalb gabst du ihr den Auftrag? Hättest du doch Ying-Ying mit der Botschaft geschickt.“ „Weshalb nicht gleich Ying-Ying und Wuh-Sung?“ sagte Frau Wönn lachend. „O du Dummchen. Hast du schon jemals Verliebte erlebt, für die etwas anderes existiert, außer ihnen selbst?“ „Wuh-Sung? Meinst du den Gärtner aus dem kleinen Häuschen an der Palastmauer?“ „Genau den.“ „Du meinst, daß er und die kleine Ying-Ying…?“ „Er und die kleine Ying-Ying! Natürlich, du Schäfchen. Seit Wochen tuscheln und wispern die Mädchen von nichts anderem, und nur du hast es nicht bemerkt.“ Frau Wönn lachte, daß ihr mächtiger Körper geschüttelt wurde. Mit den Händen klopfte sie immer wieder vor Vergnügen auf ihre Schenkel. Goldlotos sah sie verwundert an. Weshalb lachte sie so? Was gab es da zu lachen, wenn sich zwei Menschen gefunden hatten, um
miteinander glücklich zu werden? „Sind sie wirklich glücklich?“ fragte sie Wönn leise. Als diese keine Antwort gab, sondern noch immer laut und schallend lachte, rief Goldlotos mit heller, aufgeregter Stimme: „Werden diese beiden glücklich? Du mußt es mir sagen, hörst du! Dürfen sie glücklich werden? Wieviel verlangt Onkel Yang für die kleine Ying-Ying? Was muß Wuh-Sung bezahlen, damit mein Onkel die Einwilligung erteilt? Können sie denn glücklich werden?“ „Natürlich werden sie glücklich“, beruhigte sie Frau Wönn. „Sie sind glücklich. Glücklich und unglücklich vielleicht, das ist nun einmal so, wenn man verliebt ist.“ Behutsam strich sie Goldlotos über das Haar. „Wünsche es dir selbst nicht sobald, meine Lotosblüte!“ Goldlotos entzog sich rasch der Zärtlichkeit. Es gab wichtigere Dinge zu besprechen. „Weiß Onkel Yang bereits davon? Er muß doch seine Zustimmung geben.“ „Er wurde schon gefragt und hat seine Einwilligung gegeben. Dieser Wuh-Sung ist ein großer, starker Bursche. Ein bißchen eigenartig, aber nicht dumm. Der geehrte Herr Oberrat ließ sich von ihm nur versprechen, daß er weiterhin in seinem Häuschen an der Mauer wohnen bleibt. Er muß auch den Preis für Ying-Ying nicht sofort bezahlen. Oberrat Yang wird ihm nur für einige Zeit den Lohn kürzen, bis die Schuld getilgt ist.“ In Goldlotos stieg wieder der Zorn hoch. Sie rief so laut, daß es jeder durch die dünnen Wände hätte hören können: „Die Schuld tilgen? Welche Schuld? Haben die Hände von Wuh-Sung und YingYing dem Hause Tschin nicht längst weit mehr gegeben, als sie von diesem Haus bekommen haben?“ Frau Wönn legte beschwörend die Hände auf die Lippen. Doch Goldlotos achtete gar nicht darauf. „Jetzt verstehe ich, weshalb der ,gütige’ Oberrat Yang so schnell die Zustimmung gegeben hat. Das tat er bestimmt nicht, um zwei Menschen glücklich zu machen. Und doch…“ Sie hielt inne, setzte sich auf den kleinen Hocker vor dem Frisiertisch, stützte nachdenklich den Kopf in die Hände. Dann stand sie plötzlich auf und lief geschäftig im Raum hin und her. Sie öffnete die Schublade eines feinen Lackschränkchens und kramte Schmuck und glitzernde Kleinigkeiten hervor. „Ob Ying-Ying an diesen goldenen Haarspangen Freude hätte?“
fragte sie und zog die Spangen aus dem Häufchen Schmuck heraus. „Eigentlich müßte sie ihr gut stehen, meinst du nicht auch, Wönn? Ich werde sie zur Hochzeit schmücken, und du mußt mir dabei helfen. Wir werden uns einen ganz besonderen Haarschmuck einfallen lassen. Du mußt auch darüber nachdenken, ja? – Du gute alte Wönn!“ Sie stampfte mit dem Fuß auf, packte Frau Wönn, die im Raum stand, und wirbelte sie im Kreis herum. „Du sollst nicht nur lachen, du sollst dich freuen!“ „Was sind das nun wieder für Narrheiten!“ zankte Wönn und versuchte sich loszureißen. „Ist das ein Benehmen für eine Prinzessin aus dem Hause Tschin? Ich sehe schon, weder meine Erziehung noch die guten Ratschläge des Herrn Fu sind bei dir auf fruchtbaren Boden gefallen.“ Endlich konnte sie sich losreißen. Während sie ihre Frisur ordnete, die durch das Herumtollen durcheinandergeraten war, brummelte sie leise vor sich hin. Das war mehr Spaß als Ernst. Dann begannen sie beide, Hochzeitsgeschenke für Ying-Ying auszusuchen. Immer wieder mußte Frau Wönn einschränken; Goldlotos wollte alles verschenken, was ihr gerade in die Hände fiel. Über diesem Erwägen und Auswählen, dem Kramen und Suchen verflogen die Stunden. Prinzessin Goldlotos dachte nicht mehr an Herrn Fu. Sie war damit beschäftigt, Ying-Yings Hochzeit so schön wie möglich vorzubereiten. Zum Schluß lagen zwei Eßstäbchen aus Elfenbein, mit zierlichen Schnitzereien versehen, die goldenen Haarspangen und andere Kostbarkeiten auf dem Lacktischchen. Als Onkel Lian vom Nachdenken erwachte, stand die Sonne schon tief. Die Mauer warf einen langen Schatten, ein wenig fiel davon auch auf das Gesicht des alten Mannes. Wieder kam ein Abend, näherte sich die Nacht und mit ihr die Gedanken. Waren sie nun beruhigend oder beunruhigend, wenn er an Ying-Ying und diesen Wuh-Sung dachte? Er wußte es noch immer nicht. Der seltsame Fremde war verschwunden, und auch Tsan Tsuo stand nicht mehr unter dem Toreingang. Eigentlich war es Zeit, nach Hause zu gehen. Daheim würde man ihn erwarten. Warum ging er denn nicht? Ying-Ying würde ohnehin nicht mehr kommen. Oder vielleicht doch? Er wollte das Schicksal befragen. Flatterte die kleine Goldamsel, die ihm gegenüber auf der Palastmauer saß, in die Baumkronen – so würde er noch eine Weile warten. Er beobachtete gebannt den Vogel. Würde er? Würde er nicht? Da – er hüpfte ein Stückchen die Mauer entlang, flog hoch und setzte sich in die Krone
eines Baumes. Das Orakel hatte gesprochen, und Onkel Lian-Bai wartete weiter. Träge verrannen die Minuten. Der anbrechende Abend begann sein zwielichtiges Spiel. Nach einer Weile stellte er wieder ein Orakel. Er wollte die Papierfähnchen zählen. Kam dabei eine gerade Zahl heraus, mußte er aufbrechen. War es eine ungerade Zahl, so wollte er noch warten. Er zählte. Es war eine gerade Zahl. Er begann wieder zu zählen. Vielleicht hatte er sich geirrt, nein, es war tatsächlich eine gerade Zahl. Das Schicksal hatte gesprochen, er mußte gehen. Seufzend wollte er sich erheben und den Verkaufsstand umhängen, als ihm Zweifel kamen. Bedeutet die gerade Zahl wirklich das Zeichen zum Aufbruch? Gerade Zahlen waren weiblichen Geschlechts, ungerade dagegen männlich. Der Aufbruch war doch eine männliche Angelegenheit, das Verweilen hingegen mehr weiblich. Danach mußte es gerade umgekehrt sein. Die gerade weibliche Zahl hieß, zu verweilen. Oder nicht? Das war ein Grund, um darüber nachzudenken. Er hatte gerade mit dem Nachdenken begonnen, als trippelnde Schritte näherkamen. Er öffnete die Augen. Vor ihm stand Ying-Ying. Der Onkel musterte sie lange. Sie war sehr ernst, und doch spürte er die Fröhlichkeit, die in ihr war. Sie verneigte sich vor ihm. „Hat mein geehrter Herr Onkel sehr lange auf mich warten müssen?“ begann Ying-Ying das Gespräch und wußte im gleichen Augenblick, daß sie einen Fehler begangen hatte. „Ich warte auf kein vorlautes Mandarinen-Entlein“, grollte der Onkel auch sofort. „Was sind das für neue Sitten? Seit wann beginnt ein kaum aus dem Ei geschlüpftes Küken die Unterhaltung? Lernt man das im ,Haus der fleißigen Hände’“? Ying-Ying sah beschämt auf den Boden. „Nun setz dich schon neben mich“, sagte Onkel Lian nach einer Pause. Es sollte zornig klingen, doch Ying-Ying hörte den versöhnlichen Unterton sogleich heraus. So hockte sie neben dem Onkel und beantwortete alle Fragen. Erst waren sie ganz allgemein, denn Lian-Bai liebte es nicht, direkt auf das Ziel loszusteuern. Er wunderte sich nur, wie gesprächig heute seine kleine Nichte war. Sonst hörte sie doch meistens nur still zu. Heute stand ihr Mund kaum still. Sie erzählte von kleinen Neckereien und Streitereien im „Haus der fleißigen Hände“, und der Onkel kam gar nicht dazu, eine Zwischenfrage zu stellen. Eine ganze Weile hörte er geduldig zu. Doch als es immer dunkler wurde, unterbrach er Ying-Ying mitten
im Satz. „Weshalb putzt du heute die kleinen Dinge so prächtig heraus? Denkst du, ich merke nicht, daß du damit etwas anderes verdecken willst? Du schleichst wie eine Katze um die dampfende Reisschüssel. Der Reis ist längst kalt. Du kannst mir jetzt endlich erzählen, was mit dir und diesem Wuh-Sung los ist.“ Als Ying-Ying sehr verlegen den Kopf senkte, war es dem Onkel unangenehm, daß er die Frage überhaupt gestellt hatte. Nun war es geschehen, und man konnte nichts ändern. Doch er wollte nicht länger mit dieser Ungewißheit herumlaufen. Er wollte wieder ruhig schlafen können. Deshalb fragte er weiter. „Nun sag schon, was los ist. Dieser Name Wuh-Sung fiel in letzter Zeit so häufig, daß ich ihn mir gemerkt habe. Heute hast du mir viel und dabei gar nichts erzählt. Muß ich dann nicht das Gefühl haben, daß du mir etwas Wichtiges verschweigst?“ Er stand auf, und Ying-Ying erhob sich ebenfalls. Er legte sachte seine Hände auf die Schulter des Mädchens, und sehr viel Zärtlichkeit lag jetzt in seiner Stimme, als er sagte: „Hast du mir nicht immer Freud und Leid erzählt, meine kleine Pfirsichblüte? Habe ich nicht immer versucht, dich zu verstehen? Soll es jetzt ein Geheimnis zwischen uns geben?“ Ying-Ying schüttelte den Kopf. Sie schwieg eine Weile und sagte dann leise: „In der Zeit zwischen dem Mondwechsel habe ich viel Neues entdeckt, Onkel Lian-Bai. Wuh-Sung und ich haben gemeinsame Gedanken. Unsere Seelen sind so verwandt wie unsere Herzen. Deshalb werden wir bald eine gemeinsame Hütte bewohnen, und keiner soll etwas besitzen, woran der andere keinen Anteil hat.“ „Ich dachte es mir“, sagte Onkel Lian und schüttelte traurig den Kopf. „Kaum seid ihr kleinen Falter aus dem schützenden Kokon gekrochen, fliegt ihr davon, und wir haben das Nachsehen.“ Nach einer Pause meinte er dann: „Was sagt denn Oberrat Yang dazu, weiß er schon davon?“ „Ja, natürlich. Der geehrte Herr Oberrat weiß davon und ist einverstanden. Er hat sogar mit Wuh-Sung den Ehevertrag aufgesetzt.“ Sie war erleichtert, daß der Onkel weiter keine Einwände machte, und erzählte schnell, was zwischen dem Oberrat und Wuh-Sung vereinbart worden war. Onkel Lian hörte aufmerksam zu und nickte hin und wieder. Nun war es endgültig Nacht geworden. Onkel Lian mußte sich auf den Heimweg machen, und Ying-Ying bat ihn, doch
einen der Lampions anzuzünden. Er würde sonst in der Dunkelheit den Weg verfehlen. Davon wollte der Onkel jedoch nichts wissen. „Ein Lampionverkäufer, der seine eigenen Lampions anzündet!“ rief er und konnte sich über soviel Verschwendungssucht kaum fassen. „Sie sind zum Verkaufen da und nicht, um sie selber zu benützen. Ich finde meinen Weg auch so.“ Er schulterte das Traggestell und wollte den Heimweg antreten, als Ying-Ying ihm nachrief: „Wir werden am Tag des Drachenbootfestes unsere Hochzeit feiern. Wird dann mein geschätzter Herr Onkel uns zu Ehren einen Lampion anzünden?“ „Einen?“ Onkel Lian blieb stehen. „Bis dahin haben wir eine ganze Menge neuer Lampions bemalt. Meine Frau, meine Kinder und ich. Sie sollen dann alle euch zu Ehren entzündet werden.“ Er lief wieder ein Stückchen die Straße hinunter, und Ying-Ying war schon fast am Palasttor, als er nochmals stehenblieb und rief: „Später werden wir dann alle blaue Fähnchen malen, viele blaue Fähnchen. Meinst du nicht, daß wir sie im nächsten Jahr gebrauchen können?“ Dann lief er, ohne eine Antwort abzuwarten, schnell die Straße hinunter. Ying-Ying sah ihm nach, und eine feine Röte überzog ihr Gesicht. Blaue Fähnchen an der Haustür bedeuteten, daß ein Knabe geboren worden war. Sie lächelte, wandte sich schnell um und lief davon. An diesem Abend lag Onkel Lian-Bai lange wach. Als er endlich einschlief, war er so glücklich wie schon lange nicht mehr. Er träumte von den langen, schmalen Booten beim Drachenbootfest. Im ersten Boot saß seine kleine Ying-Ying. Sie trug den festlichen Schmuck der Braut. Den Fluß überspannte eine Girlande aus lauter blauen Fähnchen, und er tanzte darauf wie ein Seiltänzer.
Der Oberrichter hat gute Spione, und Onkel Yang verliert eine Partie Schach „Deine Nachrichten sind sehr interessant.“ Der Oberrichter Tschu saß in seinem Arbeitszimmer jenem Mann gegenüber, der am Nachmittag dem Lampionverkäufer Lian-Bai ein Fähnchen abgekauft hatte und doch keine Auskunft bekam. „Hat dir unser Freund, der ehrenwerte Reza Isfanda Nachrichten mitgegeben?“ Der Spion des Oberrichters nickte und holte aus seinem Gürtel ein kleines Täfelchen hervor. Tschu las die Schriftzeichen sehr aufmerksam. „Damit kann ich nicht viel anfangen“, meinte er etwas enttäuscht. „Dreht das Täfelchen um und lest die Rückseite, ehrenwerter Oberrichter Tschu, Reza Isfanda teilt Euch mehr über diesen Mann mit.“ Als der Oberrichter die Rückseite gelesen hatte, lächelte er zufrieden. „Der Segen des Himmels möge dem ehrenwerten Reza Isfanda weiterhin beschieden sein. Es war eine erstaunliche Leistung. Wieso stieß er auf die Spur dieses Mannes?“ „Das muß schon mehrere Monate zurückliegen. Damals war es unserem ehrenwerten Freund nicht entgangen, daß sich der Fremde auffallend am tragischen Tod eines griechischen Kapitäns interessiert zeigte. Seit dieser Zeit ließ ihn Reza Isfanda nicht mehr aus den Augen. Er verfolgte den Fremden bis nach Khotan, wo er sich der Karawane des Fürsten anschloß. In einer Verkleidung gelangte der Fremde unbemerkt über die Grenze.“ Der Oberrichter machte sich Notizen. Dann nickte er, und der andere fuhr in seiner Erzählung fort. „Reza Isfanda wollte später die Unaufmerksamkeit der Wachsoldaten auf unsere Art bereinigen. Leider mißlang der Anschlag, und er wurde von dem Fremden erkannt. Deshalb übertrug er mir die weitere Verfolgung und bat mich, dem ehrenwerten Oberrichter der Stadt Lo-jang seine Ehrerbietung zu übermitteln. Der Fremde ist mit der Karawane des Fürsten in Lo-jang eingetroffen. Oberrichter Tschu rieb sich vergnügt die Hände.“ „Sehr gut. Ich bin mit Eurer Arbeit zufrieden. Alles andere könnt Ihr jetzt uns überlassen.“ Er ging zu einem kleinen Schränkchen und holte eine Waage und Silber hervor. Der Spion sah mit gierig
glänzenden Augen zu. Oberrichter Tschu wog bedächtig sechs Unzen Silber ab, händigte diese dem Mann aus und entließ ihn. Dann rief er seine Dienerinnen. Er ließ sich waschen und umkleiden, um bald darauf sein Haus zu verlassen. Als er das Haus der Familie Tschin betrat, war er sehr guter Laune. Er wurde von Oberrat Yang zu einer Partie Schach erwartet. Der Oberrichter Tschu wartete geduldig, während der ehrenwerte Oberrat Yang versuchte, seine Gedanken auf das Brettspiel zu konzentrieren. Es stand auf einem kleinen, kunstvoll verzierten Tisch zwischen ihm und dem Oberrichter. Endlich machte er den Zug und fuhr erschrocken zusammen, als der Oberrichter ausrief: „Gute Götter! Ihr habt mit diesem Zug die Partie verloren. Wollt Ihr den Stein nicht wieder zurücknehmen? Ich gestatte die Korrektur gern. Es wäre doch schade, diese Partie so schnell zu beenden.“ Yang nickte nur, doch bemühte er sich nicht, seinen Stein in die Ausgangsposition zurückzustellen. „Fühlen Sie sich nicht wohl, verehrter Herr Oberrat?“ fragte Tschu besorgt, während er nun selbst die Steine wieder in die frühere Position rückte. „Nein, es ist nichts, wirklich nichts“, erwiderte Yang zerstreut und tupfte mit einem kleinen Tüchlein die Schweißtropfen von der Stirne, die dort in dicken Perlen standen. „Ich spüre den warmen Wind, der seit heute nachmittag über den Fluß weht.“ „Das sind die Jahre und der Hauch des Alters“, seufzte der Oberrichter und nickte mit dem Kopf. „Wir werden müde.“ „Müde?!“ Herr Yang richtete sich auf, und seine fleischigen Hände stützten sich so kräftig auf den kleinen Tisch, daß er schwankte. „Ich bin noch nicht müde“, entgegnete er heftig. „Auch bedeckt der Schnee des Alters weder mein Haupt noch meine Seele.“ Er erhob sich und stieß dabei an den Tisch. Die Spielsteine fielen durcheinander. Geduldig ordnete sie Herr Tschu wieder, doch den Oberrat schien das Spiel nicht mehr zu interessieren. „Ich gebe zu“, sagte er, „daß es einige im Hause Tschin gern sehen würden, gäbe ich mich der Trägheit des Alters hin. Diesen Gefallen werde ich ihnen jedoch nicht tun.“ Er beugte sich zu dem Oberrichter und flüsterte: „Ich kann noch nicht müde werden, versteht Ihr? Ich darf noch nicht. Wenn die Sterne weiterhin für mich günstig stehen, ist die Familie Tschin bald die mächtigste im Tal des Südflusses. Noch ist es nicht soweit. Mein Werk ist begonnen, doch
noch nicht vollendet.“ Um die schmalen Lippen des Oberrichters spielte ein spöttisches Lächeln, als er meinte: „Ich bin davon überzeugt, daß die Sterne weiterhin für den geehrten Herrn Oberrat günstig stehen. Er hat die Gabe, stets alles zum besten zu wenden. Ist es nicht so?“ „Was meint Ihr damit?“ Yang wanderte im Zimmer hin und her. Die Hände hatte er auf dem Rücken verschränkt. „Nun“, fuhr der Oberrichter langsam fort, „das Haus Tschin hat den Zorn der Götter des öfteren zu spüren bekommen. So fügten sie es, daß Euer älterer Bruder Hsi Tang, das damalige Oberhaupt der Familie Tschin, zusammen mit seiner Frau in sehr jungen Jahren einem…“ er machte hier eine kleine Pause, und Yang blieb wie angewurzelt im Raum stehen, „… einem Unglücksfall zum Opfer fiel. Das war eine böse Stunde für das Haus Tschin. Hsi Tang hinterließ nur ein Mädchen, welches damals wenige Monde zählte. So wurde der jüngere Bruder Yang Oberhaupt der mächtigen Familie. Er sorgte mit einem solchen Eifer für das kleine Mädchen, daß bald böse Zungen darüber redeten. Sie sagten, er wolle damit nur zur Schau stellen, wie unschuldig er am Tode seines älteren Bruders sei.“ „Genug!!“ Yang ließ seine geballte Faust mit derartiger Wucht auf das Tischchen fallen, daß die Steine auf den Boden fielen und in alle Ecken des Zimmers rollten. Er sah den Oberrichter haßerfüllt an. „Was wollt Ihr mit der alten Geschichte? Es war ein tragischer Unglücksfall.“ „Ein Unglücksfall“, nickte Tschu und ließ sich durch den plötzlichen Ausbruch des Oberrats nicht aus der Ruhe bringen. „Etwas merkwürdig zwar, doch immerhin recht glaubhaft. Merkwürdig, weil Hsi Tang bei einer Bootsfahrt auf dem Südfluß mit dem Boot kenterte und dabei mit seiner Frau ertrank. Merkwürdig auch, weil Hsi Tang überall als einer der besten Bootslenker bekannt war.“ „Der Tag war stürmisch, und der Fluß führte viel Wasser.“ „Es war ein ruhiger, sonniger Tag, und die Strömung des Flusses war normal.“ Herr Tschu ließ sein Gegenüber nicht aus den Augen. Der Oberrat hatte jedoch seine Fassung wieder gefunden. Er zuckte nur mit den Achseln und meinte: „Gute Götter, es liegt schon so viele Jahre zurück, daß man sich unmöglich an alle Einzelheiten erinnern kann. Zudem fügten es die Götter so, daß niemand an der Unglücksstelle war. Ich konnte nie erfahren, wie mein
bedauernswerter Bruder und dessen unglückliche Frau ums Leben kamen.“ Tschu sah ihn lange an und fuhr mit der Zunge über die Lippen. „Ja, die Fügungen der Götter sind oft recht merkwürdig. Der einzige Mensch, der den genauen Hergang des Unglücksfalles hätte berichten können, war von den Göttern an diesem Tag wohl mit Blindheit und Taubheit geschlagen. Sein Nachen landete kurze Zeit später in einer versteckten Bucht, und er verließ das Boot so ruhig, als wären nie gellende Hilfeschreie an sein Ohr gedrungen. Er hätte auch sehen müssen, daß in der Mitte des Stromes sich zwei Menschen verzweifelt an ein umgestürztes Boot klammerten. Er hätte sogar zu Hilfe kommen können, denn er war groß und kräftig. Auch kannte er die Unglücklichen genau. Doch da er an diesem Tag blind und taub war, zog er es vor, die Unglücksstätte schleunigst zu verlassen. Dann war das Haus Tschin einige Wochen ohne Türhüter. Der geehrte Herr Oberrat erzählte in allen Teehäusern, er habe Tsan Tsuo dringend in die Hauptstadt schicken müssen. Einen Tag vor dem Unglücksfall sei er abgereist. Seht Ihr, das erscheint mir höchst merkwürdig. Wie kann sich jemand gleichzeitig in einem Nachen auf dem Fluß und in der Hauptstadt befinden?“ „Ihr kennt den Hergang so gut, als wäret Ihr selbst dabeigewesen. Es erscheint merkwürdig, daß Ihr mir jetzt, sechzehn Jahre später, Eure Beobachtungen mitteilt, verehrter Herr Oberrichter.“ „Wollt Ihr nicht zugeben, daß ich bestens informiert bin?“ Er holte aus den Ärmeln seines Rockes ein Täfelchen und reichte es dem Oberrat. „Ich hätte dieses Protokoll mit einem Begleitbericht schon längst an den Präfekten der Präfekturstadt Tung-Ping weiterleiten müssen. Bis jetzt verzögerte ich die Absendung, da ich befürchten muß, daß Euch die Sache einige Ungelegenheiten bereiten wird. Nun sehe ich mich leider außerstande, noch länger zu zögern. Es erschien mir als eine Freundespflicht, Euch davon zu unterrichten. Lest bitte das Schreiben.“ Bei der Lektüre wurde Herr Yang zusehends blasser. Seine Hände begannen zu zittern und Schweiß trat auf seine Stirne. Herr Tschu stellte mit Genugtuung fest, daß der Bericht seine Wirkung nicht verfehlte. In ihm war von einer Klageschrift die Rede, die ein gewisser Lai-An hatte aufsetzen lassen. Er hatte lange Jahre im Dienst der Familie Tschin gestanden. Wegen eines geringen Vergehens hatte ihn der Türhüter Tsan Tsuo verklagt, so daß er
entlassen wurde. In der Schrift bezichtigte Lai-An den Türhüter des Mordes an Hsi Tang und dessen Frau. An jenem Unglückstag hatte sich Lai-An am Flußufer aufgehalten und gesehen, wie Tsan Tsuo seinen Nachen so kraftvoll gegen das Boot des Hsi Tang gesteuert habe, daß das leichte Boot gekentert sei. Daraufhin ertranken Hsi Tang und seine Frau. Tsan Tsuo habe dann eilends sein Boot zum Ufer gelenkt. Dort sei er rasch ausgestiegen, ohne sich nochmals umzusehen. Weiter hatte Lai-An zu Protokoll gegeben, daß der Türhüter Tsan Tsuo seit diesem Tag die besondere Gunst seines Herrn besaß. Er erhielt des öfteren Geschenke. Man mußte also den Eindruck gewinnen, daß zwischen dem Oberrat und dem Türhüter Tsan Tsuo ein geheimes Einverständnis bestehe. „Es ist eine gemeine Verleumdung“, sagte Yang nach Beendigung dieser Lektüre. „Dieser Lai-An will doch nur an seinem früheren Diensthaus und an Tsan Tsuo Rache nehmen. Ich bin davon überzeugt, daß ihm der Präfekt in Tung-Ping fünfzig Streiche mit dem Bambusrohr überziehen läßt und ihn dann samt seiner Klageschrift aus dem Sitzungssaal wirft.“ „Es wäre möglich“, räumte Tschu ein. Er nahm den Bericht wieder an sich. „Solange Lai-An allein als Kläger auftritt, habt Ihr nichts zu befürchten. Es wäre jedoch möglich, daß er jemanden findet, der über Einfluß verfügt. Es wäre wiederum möglich, daß dieser Jemand Interesse daran hat, Euch Schaden zuzufügen.“ „Was soll das?!“ Der Oberrat verlor wieder die Beherrschung. „Welchen Zweck verfolgt Ihr damit, diese längst vergessene Geschichte hervorzuholen? Wenn Ihr die Klageschrift dieses Lai-An weiterleiten wollt, kann ich Euch nicht daran hindern. Dann darf es Euch jedoch nicht wundern, wenn dem Präfekten einige Dinge zu Ohren kommen, die Euch nicht sonderlich angenehm sein dürften. Ihr scheint zu vergessen, daß auch ich über gewisse Informationen verfüge.“ „Ihr versteht mich falsch“, meinte Tschu lächelnd. „Es ist mein innigster Wunsch, Euch vor allen Ungelegenheiten zu bewahren. Glaubt mir, wenn diese Klageschrift nur in meiner Hand geblieben wäre, hätte ich kein Wort darüber verlauten lassen. Durch einen unglücklichen Zufall hat nun aber der Präfekt von der ganzen Angelegenheit Wind bekommen. Ich wurde dringend ersucht, das Protokoll an ihn weiterzuleiten. Der Präfekt wird genaue Untersuchungen anordnen, die Euch sicher im Augenblick nicht gelegen kommen.“
Die beiden Männer saßen sich schweigend gegenüber. Der vollblütige, kräftige Oberrat fixierte aus haßerfüllten Augen sein Gegenüber, während der kleine, zierliche Oberrichter Tschu ruhig und beherrscht dasaß und in das zorngerötete Gesicht des anderen sah. Der Oberrichter hatte den Vorteil, daß er sein Spiel kannte und alles gut durchdacht hatte. Er verfolgte ein gewisses Ziel, und dafür mußte er den Oberrat gefügig machen. Doch der Oberrat war ein gefährlicher Gegner und ließ sich nicht ohne weiteres in die Ecke drängen. Deshalb ließ der Oberrichter scheinbar vom Angriff ab, als er meinte: „Ich habe gehört, daß Ihr morgen den Fürsten von Khotan bei Euch erwartet. Wenn ich richtig informiert bin, so gilt diesmal sein Besuch nicht nur Euch. Es ist mir weiterhin bekannt, daß diesmal nicht nur über Seide gesprochen wird.“ „Ihr seid erstaunlich gut informiert“, mußte Yang anerkennend zugeben. In den letzten Minuten hatte er angestrengt nachgedacht und glaubte zu wissen, worauf der Oberrichter hinauswollte. Sollten seine Vermutungen stimmen, wollte er sich nicht kleinlich zeigen. Es war ihm sehr daran gelegen, daß jener Unglücksfall, bei dem die Eltern der kleinen Goldlotos ihr Leben einbüßten, wieder in den Schoß der Vergessenheit sank. „Es deuten tatsächlich gewisse Anzeichen darauf hin, daß Prinzessin Goldlotos das Haus Tschin bald verlassen wird. Deshalb wäre es mir im Augenblick unangenehm, würde jenes entsetzliche Unglück Gegenstand neuer Gespräche. Unangenehm insbesondere, weil ich die Befürchtung haben müßte, daß auch Prinzessin Goldlotos etwas davon erfährt. Ich habe es bisher vermieden, mit ihr über ihre Eltern zu sprechen. Sie kannte sie kaum. Seit damals war ich für sie Vater und Mutter in einer Person. Deshalb fällt es mir auch schwer, mich von ihr zu trennen. Natürlich werde ich jedoch alle selbstsüchtigen Gedanken aus meinem Herzen verbannen, um nicht etwa dem Glück meines kleinen Goldfalters im Wege zu stehen.“ Die letzten Sätze hatte Yang mit soviel innerer Bewegung gesprochen, daß jeder andere an die Ehrlichkeit geglaubt hätte. Der Oberrichter kannte ihn jedoch zu gut und wußte auch von dem Kaufpreis. Würde der Oberrat ihn erhalten, so war die Familie Tschin die mächtigste im Tal des Südflusses. Tausend Pferde einer
edlen Rasse besaß nicht einmal ein Mandarin der ersten Klasse am Hof des Himmelssohnes. Doch auch Herr Tschu wollte die Unzen Silber, die er seinen Spionen bezahlen mußte, nicht umsonst ausgegeben haben. „Ich kann mir vorstellen, wie sehr Euch der kleine Schmetterling fehlen wird“, sagte er deshalb und tat so, als hätte er den Oberrat nicht durchschaut. „Doch was will man machen? Mit den Kindern ist es so wie mit den Raupen. Sind sie klein, hält man jeden Windzug von ihnen ab, dann verpuppen sie sich und fliegen als hübsche Schmetterlinge davon. Uns bleibt das Nachsehen. – Was nun die Klageschrift betrifft…“, er rieb sich nachdenklich die Nase, „… so kann ich mir natürlich denken, daß diese Euch gerade jetzt nicht sonderlich gelegen kommt. Es wäre ja gar keine Schwierigkeit, sie für immer aus der Welt zu schaffen, wenn nur nicht der Präfekt schon Wind bekommen hätte. So jedoch…“ Er zuckte mit den Schultern. „Es soll mir auf ein paar Unzen Silber nicht ankommen“, meinte der Oberrat. Er zog einen herrlichen Ring vom Finger, denn es war ihm nicht entgangen, daß die Blicke des Oberrichters öfters bewundernd diesem Ring gegolten hatten. „Nehmt diesen Ring als äußeres Zeichen unserer Freundschaft.“ Er reichte den Ring Herrn Tschu. Der zierte sich erst eine Weile aus Höflichkeit, steckte dann jedoch den Ring an den Finger. Er schien noch eine Weile zu überlegen, dann meinte er: „Ich habe mir schon Gedanken darüber gemacht, wie man den Präfekten von dieser Angelegenheit ablenken kann. Nun ist mir eine Idee gekommen. Dieser Plan hat bestimmt Aussicht auf Erfolg, nur müßt Ihr mir etwas behilflich sein.“ „Selbstverständlich könnt Ihr auf meine uneingeschränkte Hilfe rechnen“, beeilte sich Herr Yang zu sagen, und Tschu holte das kleine Täfelchen, welches er von dem Spion bekommen hatte, aus seinem Gürtel. Der Oberrat las es aufmerksam, sah jedoch dann Herrn Tschu verständnislos an. Es standen nur einige Schriftzeichen darauf: „Si-ling-shi ist in Gefahr.“ „Dreht das Täfelchen um und lest die Rückseite“, sagte Tschu. Auf dieser Rückseite stand, daß sich in der Karawane des Fürsten ein Mann befinde, der in der Absicht nach Lo-jang gereist sei, die Raupe des Seidenspinners über die Grenze zu entführen. Weiter war noch eine kurze Beschreibung dieses Mannes angegeben. „Wer gab Euch diese Mitteilung?“
„Das tut nichts zur Sache“, wich Tschu der Frage des Oberrats aus. „Ich habe keinen Grund, an der Wahrheit dieser Mitteilung zu zweifeln. Gelingt es mir, diesen Mann zu verhaften, kann ich dem Präfekten ein wunderschönes Protokoll darüber schicken. Dadurch würde er von Eurer Angelegenheit abgelenkt, und ich garantiere Euch, daß diese bald vergessen ist.“ Herr Tschu verschwieg wohlweislich, daß die Klageschrift des Lai-An gar nicht zum Präfekten gekommen war. In Tung-Ping hatte man von der ganzen Sache keine Ahnung. Man hatte Herrn Tschu nur hinterbracht, daß der Präfekt mit seiner Arbeit nicht mehr zufrieden war und daß er ihn an einen abgelegenen Ort der Provinz versetzen würde, falls er nicht schleunigst den Beweis seiner Tüchtigkeit liefern konnte. Deshalb mußte er den gemeldeten Fremden auf frischer Tat ertappen. Klappte das nicht, war er gezwungen, die Klageschrift des Lai-An weiterzureichen. Damit hätte er jedoch den mächtigen Oberrat Yang ausgeliefert. Es wäre ein sehr gefährliches Spiel, denn der Oberrat verfügte über genug Beziehungen, und dies hätte unangenehme Folgen haben können. Die Verhaftung des Fremden war für ihn der einfachste und billigste Weg. Deshalb sagte er zu dem Oberrat: „Gebt Eurem Türhüter Tsan Tsuo Anweisung, jenen Mann im Auge zu behalten, auf den die Beschreibung zutrifft. Es ist mir viel daran gelegen, ihn auf frischer Tat zu ertappen. Alles andere könnt Ihr dann mir überlassen. Euch werden daraus keinerlei Schwierigkeiten erwachsen.“ „Für mich ist das gar nicht so einfach, wie Ihr denkt“, wandte der Oberrat ein. „Soviel Ihr mir gesagt habt, befindet er sich in der Begleitung des Fürsten von Khotan. Dieser ist mein Gast. Ich mochte Euch bitten, die Sache sehr delikat zu behandeln.“ „Ihr könnt Euch auf meine Diskretion verlassen. Ich freue mich, daß Ihr Euren Entschluß so schnell gefaßt habt. Von mir aus wird alles so gehandhabt, daß niemand etwas davon erfährt. Erlaubt, daß ich mich jetzt verabschiede. Die zweite Nachtwache ist schon vorüber.“ Yang entschuldigte sich, daß er seinen Gast nicht bis zur nächsten Straße begleiten konnte, denn er war schon im Hausgewand. Dann sah er dem Oberrichter lange nach, bis dieser den großen Innenhof durchquert hatte und die Dunkelheit seine schmächtige Gestalt verschlang. Yang verschränkte seine Hände im Rücken. Auch er spürte die Müdigkeit. Er blieb noch eine Weile im
Innenhof stehen, atmete die frische Nachtluft und betrat dann wieder das Haus. Er klatschte in die Hände, um Tee zu bestellen. Er mußte sehr lange warten. Endlich betrat eine Dienerin den Raum. Yang brüllte das Mädchen an, das eine Entschuldigung murmelte und sich schnell zurückzog. Als sie den Tee gebracht hatte, saß Herr Yang noch lange allein in dem großen Raum. Er hatte Angst und wußte nicht wovor. Es fröstelte ihn. Er legte sich eine Decke um seine Schultern. Waren da nicht Stimmen? Gellende Schreie und klagende Rufe ruheloser Geister? Die Nacht erschien ihm laut und dröhnend, unheimlich und beängstigend. Wieder klatschte er in die Hände, laut und ungeduldig. Er schrie. Da erschien nach langer Zeit wieder das verängstigte Gesicht der kleinen Dienerin. „Bringe Lichter in mein Zimmer, alle Lichter, die im Hause sind. Alle Lichter, hörst du? Alle Lichter!“ Die Kleine hastete davon. Bald war sein Raum hell erleuchtet. Er ließ alle Türen und Fenster schließen. Endlich war Ruhe. Er frohlockte. Er hatte die Nacht überlistet. Doch die Nacht war in ihm. Die Finsternis der Einsamkeit umklammerte ihn und ließ sich auch mit allen Kerzen nicht erhellen. Das kleine Häuschen des Wuh-Sung lag im Dunkeln. „Hast du dem geehrten Onkel Lian-Bai gesagt, daß in meiner Hütte nicht viel mehr als zwei Reisschüsseln vorhanden sind?“ flüsterte Wuh-Sung, und seine kräftige Hand tastete sich ganz behutsam nach der kleinen, zarten Hand des Mädchens hin. „Nein“, erwiderte Ying-Ying leise. „Wozu auch? Glück zählt man nicht nach Reisschüsseln.“ Kräftig schloß sich die Hand des Mannes um die des Mädchens. Irgendwo zirpte eine Grille laut und anhaltend. Für Wuh-Sung klang es wie ein Jubelruf aus Freude am Leben. Er sprach es nicht aus. In beiden war soviel Glück, daß es besser war, zu schweigen.
Goldlotos erfährt eine Neuigkeit Cucullus war müde in seine Herberge zurückgekehrt. Die Füße schmerzten, der Körper war von der Hitze ausgedörrt. Fürst Vijaya hatte ihn zum Abendessen gebeten, doch er ließ sich entschuldigen. Er fühlte sich nicht wohl. Der Fürst ließ besorgt anfragen, ob er seinen Arzt schicken sollte, doch Cucullus verneinte. Er wollte heute mit sich und seinen Gedanken allein sein. Es war ihm unmöglich, sich zu unterhalten, ohne durch ein unbedachtes Wort alles zu verraten. Keinesfalls wollte er das Mißtrauen des Fürsten bestärken. Noch war er nicht am Ziel. Oder doch? War er nicht durch ganze Haine jener merkwürdigen Bäume gewandert? Er hatte Männer beobachtet, die damit beschäftigt waren, die Blätter der Bäume in großen Körben zu sammeln und fortzuschaffen. Doch was geschah mit den Blättern? Die Körbe wurden in die Innenhöfe der Häuser getragen, und so weit konnte Cucullus nicht vordringen. Er wälzte sich auf seinem Lager hin und her. Schloß er die Augen, dann sah er die Bäume. Was geschah mit den Blättern? Wurden sie in den Häusern zertrennt und versponnen? Er fand keine Antwort auf diese Frage. Als die ersten Strahlen der Sonne ihr fahles Dämmerlicht in den Raum schickten, erhob er sich und kleidete sich an. Er wanderte durch Lo-jang. Noch lag die Kühle der Nacht in den schmalen Gassen. Trotz der frühen Stunde herrschte in den Straßen geschäftiges Treiben. Das war ein buntwogendes Gewimmel. Kuchenverkäufer schrien, Kinder lärmten und Händler stritten sich um die besten Verkaufsplätze. Eine Gruppe Menschen sammelte sich um zwei Hunde, die sich ineinander verbissen hatten. Cucullus ließ sich schieben und vom Strom der Menschen treiben. An einem Stand wurden selbstgefertigte Fächer zum Verkauf angeboten. Cucullus erstand einen Fächer, denn der Tag würde heiß werden. Um ihn herum Geschrei und Gekreisch. Eine Sprache, von der er kein Wort verstand. Jetzt kam es ihm zum Bewußtsein, wie grenzenlos allein er war. War nicht alles sinnlos? Er hatte mehr gesehen als seine Mitbürger zu Hause. Er hatte die Worte des Kapitän Hilamos bestätigt gefunden, daß ein Baum im Zusammenhang zu dem geheimnisvollen Stoff „Seide“ stände. Ein unbestimmbares Gefühl riet ihm, sich damit zu begnügen. Er dachte an den Rat seines
Freundes Octavianus. Doch sollte er jetzt aufgeben? Vielleicht war er nur noch wenige Meter vom Ziel entfernt? Nein, es gab jetzt kein Zurück mehr. Er mußte sich Gewißheit verschaffen. Wieder siegte die abenteuerliche Lust am Entdecken über die Vernunft. Er verließ die schmalen, von Menschen angefüllten Gassen. Als er sich aus dem Gewühl befreit hatte, stand er auf einem kleinen Platz. In der Mitte des Platzes hatte sich eine Gruppe Menschen angesammelt. Sie sahen der Darbietung dreier Artisten zu. Der Mann schlug im Takt auf einen Gong, die Frau lag auf einem kleinen Tischchen und balancierte einen Holzrahmen. In dem Holzrahmen turnte das Kind nach den Takten des Gongs. Cucullus trat zu der Gruppe. Er wollte sich gern ein wenig ablenken lassen. Bald war er in der Menge eingezwängt. Es hatten sich immer mehr Zuschauer eingefunden, und sie sparten nicht mit Beifall. „Hier finde ich Euch endlich.“ Cucullus drehte sich um. Hinter ihm stand der Fürst. „Seit Stunden lasse ich Euch schon in der ganzen Stadt suchen. Als Ihr heute morgen nicht mehr in der Herberge wart, war ich sehr besorgt.“ „Oh, es war nicht meine Absicht, Euch Ungelegenheiten zu bereiten“, entschuldigte sich Cucullus. „Die Nacht hatte mir den erholsamen Schlaf versagt. Ich war froh, als endlich der Morgen graute und ich aufstehen konnte. Ich wollte in der Herberge Nachricht hinterlassen, doch es schlief noch alles.“ „Ich möchte Euch mit dem geehrten Herrn Oberrat Yang aus dem Hause Tschin bekannt machen“, sagte der Fürst und deutete dabei auf Herrn Yang, der neben ihm stand. Cucullus verneigte sich. Lächelnd erwiderte der Oberrat die Verbeugung und sprach zu ihm in der Sprache der persischen Händler. „Es ist mir ein Vergnügen, einen Freund meines geschätzten Gastes kennenzulernen. Seine Freunde sind auch die meinen. Verzeiht mir bitte, wenn ich Eure herrliche Sprache mit meiner ungeschickten Zunge mißbrauche. Ich war bemüht, etwas von der Sprache zu erlernen, die jene Menschen sprechen, mit denen ich durch meinen Handel verbunden bin.“ Cucullus beeilte sich, die einwandfreie Aussprache des Oberrates zu loben. Unter derartigen Höflichkeitsfloskeln hatte man sich etwas aus der Menge gelöst. „Ich gebe heute abend ein kleines Fest. Es würde mir zu Ehre gereichen, wenn ich auch Euch in unserem Kreis begrüßen dürfte“,
sagte der Oberrat und gab Cucullus ein kleines Täfelchen mit den Schriftzeichen des Hauses Tschin. Cucullus nahm es dankend an. Bald darauf verabschiedete man sich. Als Cucullus dem davoneilenden Oberrat nachsah, waren alle trüben Gedanken verflogen und hatten einer erwartungsvollen Hoffnung Platz gemacht. Für Goldlotos war es ein Tag wie jeder andere. Sie saß in der feuchtschwülen Luft im „Haus der fleißigen Hände“. Um sie herum war der betäubende Duft frischer Maulbeerblätter. Vor ihr stand der Rahmen, den sie mit feinen Tuschestrichen bedeckte. Ein Li Seidenfaden, ein Strich auf dem Täfelchen. Ein Li, ein Strich – ein Li, ein Strich. Hin und wieder fielen ihre Blicke auf Ying-Ying, die mit gebeugtem Köpfchen über ihrer Arbeit saß. Sie beteiligte sich heute nicht an den Gesprächen der anderen Mädchen. Man rief ihr Scherzworte zu, doch sie schien sie gar nicht zu hören. Das Gelächter der Mädchen wurde lauter. Irgendeine hatte das bevorstehende Drachenbootfest mit der Hochzeit der kleinen YingYing in Zusammenhang gebracht. Sie meinte, die gute Ying-Ying habe diesen Tag nur gewählt, um ihren Wuh-Sung immer daran zu erinnern, daß seine Freiheit genauso ertrinken würde wie der Dichter im Südfluß. „Wäre seine Wahl auf dich gefallen, hätte er gut daran getan, sich noch vor der Hochzeit in den Fluß zu stürzen“, kam in diesem Augenblick Frau Wönn der kleinen Ying-Ying zu Hilfe. Sie hatte den Raum betreten und steuerte geradewegs auf Goldlotos zu. Sie beugte sich zu ihr und flüsterte: „Ich habe gute Neuigkeiten für dich. Nimm heute nicht an der gemeinsamen Mahlzeit teil, sondern geh sofort auf dein Zimmer. Ich werde dich dort erwarten und dir alles erzählen.“ Sie machte dabei ein recht geheimnisvolles Gesicht und freute sich, die Neugier ihres kleinen Schützlings geweckt zu haben. Dann verließ sie wieder das Haus und ermahnte die Mädchen, Ying-Ying in Frieden zu lassen. Geradewegs begab sie sich in die Küche und ließ sich eine Schale Hirseschnaps geben. Damit ging sie zu Tsan Tsuo. Es war ihr unfehlbares und erprobtes Mittel, aus dem Türhüter all das herauszubekommen, was man wissen wollte. Tsan Tsuo war nämlich stets gut informiert. Auch heute hatte Frau Wönn mit ihrem Hausmittel Glück, und als sie zur Mittagszeit das Zimmer der Prinzessin betrat, wußte sie alles, was sie wissen wollte. Allerdings sparte sie sich die wichtigste Neuigkeit auf. Es machte ihr
Vergnügen, durch die Erzählung kleiner Unwichtigkeiten die Neugierde der Prinzessin so zu steigern, daß diese nach einer Weile ärgerlich ausrief: „Nun sag schon endlich, was es wirklich gibt! Wie lange willst du mich noch quälen?!“ „Wenn du so laut sprichst, bekomme ich Kopfschmerzen und kann überhaupt nichts mehr erzählen.“ Frau Wönn setzte eine beleidigte Miene auf. Nach einer Weile sagte sie ganz nebenbei: „Erinnerst du dich eigentlich noch an jenen Abend, als Sü-San unpäßlich war und dich der geehrte Onkel Oberrat ins Haupthaus rufen ließ?“ Goldlotos nickte. „Vielleicht erinnerst du dich sogar noch an den Gast, den der geehrte Herr Oberrat damals bewirtete. War er nicht aus unserem Nachbarreich Khotan?“ „Fürst Vijaya“, sagte Goldlotos leise. „Bei allen Göttern, ja! Daß du dir diesen merkwürdigen Namen gemerkt hast.“ „Sicher habe ich ihn mir gemerkt, weil er so merkwürdig ist. Weshalb kommst du auf diesen Abend zu sprechen? Er liegt doch schon so lange zurück.“ „Es gehört zu meiner Neuigkeit“, lachte Frau Wönn. „Stell dir vor, der Fürst ist wieder in Lo-jang und heute abend Gast bei deinem geehrten Herrn Onkel.“ „So“, sagte Goldlotos nur und stocherte scheinbar gleichgültig mit den Eßstäbchen in dem Reis und der gekochten Geflügelleber herum. „Du kannst dir nicht denken, weshalb er diesmal die weite Reise gemacht hat?“ „O doch“, meinte die Prinzessin, ohne das Essen zu unterbrechen. „Sicher wird er mit dem geehrten Onkel Oberrat wieder neue Geschäfte abschließen. Diese Neuigkeit hättest du mir ersparen können.“ Goldlotos schob die Reisschüssel heftig beiseite, und Frau Wönn sah das Mädchen kopfschüttelnd an. Verstand sie nun wirklich nicht, oder wollte sie nicht verstehen? „Sag einmal, ahnst du denn nicht, wem der Besuch gilt?!“ Nun konnte Goldlotos die Alte nicht mehr täuschen. In ihren weit geöffneten Augen stand sprachlose Verwunderung. „Du meinst?!“ „Natürlich, du bist der Grund. Du kannst es mir ruhig glauben. Tsan Tsuo erzählte mir, daß noch heute der Ehevertrag aufgesetzt werden soll. Vor etlichen Tagen kam schon ein Bote aus Khotan, der
die notwendigen Vorverhandlungen führte. Hab’ ich nicht gesagt, daß es eine wichtige Nachricht ist? So freu dich doch, mein kleines Mandarinen-Entlein, meine Lotosblüte.“ Goldlotos saß wie erstarrt. Konnte das überhaupt wahr sein? Jemand wollte sie befreien? Sie sollte fort von hier, weit fort! Sie würde ein neues Leben beginnen und frei sein, endlich frei. Er war gekommen und würde noch heute mit dem Onkel sprechen. Alle ihre Träume gingen in Erfüllung. Weshalb noch zweifeln? Frau Wönn hatte es doch soeben gesagt. Er würde noch heute mit dem Onkel sprechen. Doch dann…? Ja, das war es. Hier mußte der Traum enden. Onkel Yang würde seine Bedingungen nennen und davon nicht abgehen. Was kümmerte ihn das Glück oder Unglück der kleinen Goldlotos? – Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. Frau Wönn zog sie an sich und wischte mit einem Tüchlein die Tränen fort. „Nein, so etwas“, murmelte sie. „Da denke ich, daß du mir vor lauter Freude um den Hals fallen wirst, und nun weinst du.“ Goldlotos wischte sich schnell die Tränen ab. Plötzlich war ihr ein neuer Gedanke gekommen. Sie wollte glauben, daß der Prinz wirklich gekommen sei, um sie zu befreien. Bei diesen Gedanken wurde sie ganz heiter. Sie lief im Raum hin und her und stellte so viele Fragen, daß die gute Wönn mit den Antworten kaum nachkam. Sie ließ Wönn schwören, daß ihrer Meinung nach Tsan Tsuo diesmal wirklich die Wahrheit gesprochen hatte. Dann mußte sie jeden Satz der Unterhaltung zwischen ihr und dem Türhüter wiederholen, und dabei fand Goldlotos immer wieder Sätze, die zum Zweifeln Anlaß gaben. Man konnte sie doch so oder so auslegen, nicht wahr? Frau Wönn beruhigte sie. Zwei Fragen vermied sie ängstlich: die Frage nach dem Kaufpreis und die zweite Frage, ob der Fürst diesen Preis bezahlen würde. Die Mittagszeit war weit überschritten, und Frau Wönn drängte zum Aufbruch, als Goldlotos unvermittelt meinte: „Ich werde heute abend nicht in das Haupthaus kommen. Sage dem geehrten Onkel Oberrat, daß ich mich nicht wohl fühle, oder irgend etwas anderes. Dir wird bestimmt ein passender Grund einfallen.“ „Was soll denn das nun wieder bedeuten? Erst läßt du mich die Seele aus dem Leib reden, um dich davon zu überzeugen, daß der Fürst die weite Reise wirklich nur deinetwegen gemacht hat, und nun willst du die Gelegenheit nicht ausnützen, um ihn zu sehen.“ Frau
Wönn hatte die Türe schon halb aufgeschoben und schloß sie wieder mit einem Ruck. „Gute, alte Wönn“, schmeichelte Goldlotos, „glaub mir, es ist wirklich viel besser, wenn du den Tee reichst. Weißt du, wenn du etwas länger im Raum bleibst als ich, wird man es dir nicht übelnehmen. Für mich wäre das unschicklich. Du wirst gut zuhören und mir dann Satz für Satz von dem erzählen, was du gehört hast.“ „Das wird wenig genug sein“, bezweifelte Wönn. „Wenn meine Handreichungen getan sind, muß ich gehen.“ „Du hast recht. – Gehen mußt du wohl, doch nicht allzu weit“, entgegnete die Prinzessin mit einem schelmischen Lächeln und beugte sich dicht an das Ohr der Alten. „Nur so weit, wie man gehen muß, um nicht zu lauschen und doch zu hören“, flüsterte sie. „Du bist ein durchtriebenes Geschöpf“, schalt Wönn und öffnete jetzt energisch die Tür. Im Hinausgehen meinte sie dann: „Bleib am Abend in deinem Zimmer. Ich muß dir doch alles sofort erzählen, denn mein Gedächtnis läßt etwas nach.“ Der Nachmittag schien Goldlotos ewig zu dauern. Sie beobachtete die Schatten der Bäume, die nicht länger werden wollten. Endlich ertönte der große Gong und zeigte das Ende der Arbeit an. Für Goldlotos hatte er nie schöner und voller geklungen, als an diesem Tag.
Onkel Yang gibt ein Fest Als Cucullus langsam die „Straße der raschelnden Blätter“ hinaufging, war es schon Nacht. Hier und da blitzte das Licht eines Leuchtkäfers in den Bäumen und verschwand so schnell, wie es gekommen war. Plötzlich blieb Cucullus stehen und drehte sich schnell um. Folgte ihm jemand? Er versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen. Nein, es war nichts. Langsam setzte er den Weg fort. Da! Wieder die Schritte. Abermals blieb er stehen, sah sich um, doch die Straße war leer. Er hatte doch deutlich Schritte gehört. Langsam trat ihm der Schweiß auf die Stirne, und seine Hände wurden feucht. Er stand unbeweglich und lauschte. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er versuchte, ruhig zu atmen. Es wollte ihm nicht gelingen. Er hatte das sichere Gefühl, beobachtet zu werden. War ihm dieser Perser hierher gefolgt? Dann mußte er sich unsichtbar gemacht haben, denn Cucullus hatte ihn nie mehr gesehen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte seinen Weg fort. Noch wenige Meter waren es zum Palast der Familie Tschin. Er lief schneller. Wieder die Schritte. Jetzt knapp hinter ihm. Er faßte nach seinem Dolch, den er versteckt im Gürtel trug, und drehte sich rasch um. Hinter ihm stand ein Mann. Cucullus wollte das Messer zücken, doch der Mann verneigte sich tief vor ihm. „Wir haben Euch schon erwartet, Verehrungswürdigster. Der geehrte Oberrat Yang hat mich, Tsan Tsuo, den Türhüter, beauftragt, Euch in den Palast zu geleiten. Würdet Ihr die Güte haben, mir zu folgen?“ Cucullus hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Um ein Haar hätte er den Dolch gezückt, um gegen den Türhüter des ehrenwerten Oberrates loszugehen. Während er Tsan Tsuo folgte, schalt er sich innerlich einen erbärmlichen Feigling, den die Nerven kurz vor dem Ziel fast verlassen hätten. Tsan Tsuo führte ihn auf einem verschlungenen Weg durch den Park. Über Kanäle spannten sich kleine Brücken. Trotz der Dunkelheit konnte er Gartenhäuschen unterscheiden, die auf künstlich angelegten Aussichtshügeln standen. Dann durchschritten sie drei Innenhöfe und gelangten zum Hauptgebäude, aus dem Musik und Stimmengewirr drang. In einer stillen Ecke des großes Saales saßen sich der Oberrat und Fürst Vijaya auf seideüberzogenen Polstern gegenüber. Frau Wönn
reichte gerade kleine Kuchen, als Tsan Tsuo den Raum betrat und seinem Herrn etwas zuflüsterte. Herr Yang erhob sich sogleich und ging dem eintretenden Cucullus entgegen. „Es ist mir eine große Ehre, Euch in meinem bescheidenen Haus begrüßen zu können.“ Er verneigte sich tief. „Wenn ich Euch durch mein spätes Kommen beleidigt habe, so verzeiht mir bitte“, entgegnete Cucullus. „Ich bin in Eurer Stadt fremd, und die Dunkelheit verwirrt den Unkundigen noch mehr als der Tag.“ „Was bin ich für ein schlechter Gastgeber!“ Herr Yang schlug sich lächelnd an die Stirn. „Natürlich hätte ich einen meiner Diener zu Eurer Herberge schicken müssen. Verzeiht mir bitte.“ Er klatschte in die Hände. Man brachte ein Sitzkissen, und Cucullus mußte neben Vijaya Platz nehmen. Während er den Fürsten begrüßte, war Tsan Tsuo dicht neben den Oberrat getreten und flüsterte: „Das ist er.“ „Ich weiß. Ich habe ihn heute vormittag schon einmal gesehen.“ „Was soll ich jetzt tun?“ „Sobald er den Raum verläßt, mußt du ihm unauffällig folgen. Verliere ihn nicht aus den Augen. Wenn alles zufriedenstellend verlaufen ist, läßt du mich rufen. Ich erwarte dich im zweiten Innenhof. Sorge dafür, daß uns niemand dort sieht.“ Das ganze Gespräch wurde so unauffällig geführt, daß man annehmen mußte, der Oberrat gebe nur seinem Türhüter einige kleine Anweisungen. Tsan Tsuo verneigte sich und verließ den Raum. Herr Yang kam lächelnd zu seinen Gästen zurück. In der nächsten halben Stunde unterhielt man sich über den Handel und die mannigfaltigen Gefahren der weiten Reise. Der Oberrat war ein guter Erzähler. Er berichtete von räuberischen Stämmen, die in letzter Zeit immer dreister wurden und seinen Karawanen schon viel Schaden zugefügt hatten. Der Fürst warf hin und wieder eine Frage ein, und Cucullus zog es vor, als stiller Beobachter dem Gespräch zu lauschen. Er ließ dabei seine Augen aufmerksam wandern. Sobald eine Gelegenheit kam, wollte er sich unauffällig entfernen. Aus dem Nebenraum erklang Gesang: eine hübsche Mädchenstimme und Lautenmusik dazu. Herrn Yang entging es nicht, daß Cucullus aufmerksam dem Gesang lauschte, und er meinte: „Ist diese Stimme nicht lieblich und schön wie ein Sommermorgen? Doch nicht nur die Stimme, sondern das ganze Mädchen ist schön. Ihr könnt Euch selbst davon überzeugen und
werdet mir nachher bestätigen, daß ich mit meinen Schilderungen nicht übertrieben habe.“ Cucullus ergriff sofort diese Gelegenheit. Er stand auf und meinte lächelnd: „Man sollte nie versäumen, Schönheit in sich aufzunehmen, wo immer man Gelegenheit dazu hat.“ „Recht gut gesagt.“ Der Oberrat nickte ihm freundlich lächelnd zu. „Ihr seid noch so jung, und in Eurem Alter sieht man noch viele schöne Dinge, sofern man die Augen dafür hat.“ Cucullus betrat den angrenzenden Raum. Der Oberrat hatte tatsächlich nicht zuviel versprochen. Die Sängerin war noch sehr jung, von kleinem, zierlichem Wuchs, und Cucullus wußte wirklich nicht, was er an dem Mädchen mehr bewundern sollte: die Stimme oder die Anmut. Es begleitete seine Lieder selbst auf einem Saiteninstrument. Um die Sängerin herum hockten die Männer auf kleinen Polstern und lauschten. Von dem Eintretenden nahm man keinerlei Notiz. Cucullus blieb an der Tür stehen. Die große Schiebetüre führte zum Park und war weit geöffnet. Die Sängerin machte eine Pause, es wurden Getränke gereicht. Diese Unterbrechung nützte Cucullus und trat in den Park. Dann blieb er eine Weile abwartend stehen. Nichts ereignete sich. Die Sängerin begann mit einem neuen Lied, und niemand schien sein Fehlen zu bemerken. Cucullus war bald in der Dunkelheit des Parks verschwunden. Immer leiser wurde die Musik, und man hörte nur noch das Rauschen der Blätter im Nachtwind. Er drang immer weiter in den Park vor, und mit einemmal hörte er ein anderes Geräusch. Es war ein Rascheln und Knistern, das er nie vorher vernommen hatte. Es kam aus einem kleinen Haus, welches auf einer Lichtung im Park stand. Kaum war Cucullus in der Dunkelheit des Parkes verschwunden, als ein anderer Mann ebenfalls den kleinen Kreis verließ. Auch er betrat den Park. Der Gesang des Mädchens klang sehnsuchtsvoll und lockend. – „Euer Wunsch ehrt nicht nur mich, sondern auch die ganze Familie Tschin. Mein Herz ist voller Stolz und Freude, daß Euer Auge mit Wohlgefallen auf der kleinen Prinzessin aus unserem Hause geruht hat“, sagte der Oberrat und ließ sich von Frau Wönn erneut die Schüssel mit Reiswein füllen. „Allerdings muß ich zugeben, daß der Gedanke, meinen kleinen Schmetterling nicht mehr um mich zu haben, sehr schmerzlich für mich ist.“ „Ich hoffe sehr, daß Euch tausend Pferde meiner edelsten Rasse
etwas über den Verlust hinweghelfen“, entgegnete der Fürst und konnte einen spöttischen Ton nicht unterdrücken. „Ihr sprecht gerade so, als wäre meine Forderung zu hoch“, sagte der Oberrat und tat gekränkt. „Prinzessin Goldlotos bekam die beste Ausbildung. Sie beherrscht die Schriftzeichen, hat eine feine Gesangstimme und kann sich selbst auf der sechssaitigen Laute begleiten. Seit ihrem siebenten Lebensjahr wurde sie von Magister Fu unterrichtet, und er lehrte sie auch alle gereimten Lieder und die Dichtungen der Zierprosa. Ihre Ausbildung hat mich ein Vermögen gekostet. Glaubt mir, ich habe für sie wie ein Vater gesorgt – besser als ein Vater“, fügte er hinzu und begann nun noch einmal alles aufzuzählen, was er für seinen kleinen Schützling getan hatte. Unmutig unterbrach der Fürst endlich den Redeschwall des Oberrats. „Es ehrt Euch durchaus, daß Ihr Prinzessin Goldlotos so gut erzogen habt. Doch tausend Pferde der edlen Rasse ,Licht leuchtet in der Nacht’ fordert man höchstens für eine Prinzessin aus dem Kaiserhaus.“ „Für das Tal des Südflusses ist die Familie Tschin so bedeutend, wie das Kaiserhaus für das Reich der Mitte.“ „Ich habe die weite Reise nicht gemacht, um mich mit Euch über den Kaufpreis zu streiten. Ich liebe Prinzessin Goldlotos aus dem Hause Tschin. Sie bedeutet für mich mehr als alle Pferde meines Reiches.“ „Ihr habt vollständig recht. Je bedeutender der Besitz, desto höher der Preis. Ihr seht, wir sind in allen wesentlichen Punkten einer Meinung. Ich werde sogleich Magister Fu rufen lassen. Er soll den Ehevertrag aufsetzen. Dann muß er das Horoskop für Euch und Prinzessin Goldlotos stellen, damit wir daraus den genauen Tag der Eheschließung erreichen können.“ Vijaya nickte. Frau Wönn hatte genug gehört und schlich sich davon. Cucullus stand noch immer vor dem flachen Haus, aus dem das merkwürdige Geräusch kam. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er hatte das Gefühl, als müßte es jeden Augenblick zerspringen. Noch wenige Schritte trennten ihn von seinem Ziel: Ein Mann trat aus dem Haus, nahm einen mit Blättern gefüllten Korb, trug ihn in das Haus und kam später mit dem leeren Korb zurück. Bei seinem Erscheinen war Cucullus schnell hinter einen Baum getreten und verwünschte das Mondlicht, das die kleine Lichtung beschien. Doch der Mann
ging vorüber, ohne ihn zu bemerken. Wieder wartete er lange Minuten, die ihm endlos vorkamen. Nichts, nur das eigenartige Mahlen und Knirschen hörte er. Einen Steinwurf von ihm entfernt stand Tsan Tsuo und beobachtete ihn. Keine Bewegung, die Cucullus machte, entging seinem scharfen Blick. Er taxierte die hohe Gestalt des Fremden. Jetzt verließ dieser den schützenden Schatten und stand einen Augenblick im vollen Mondlicht. Er sah sich nach allen Seiten um und betrat das Haus. Tsan Tsuo blieb noch in seinem Versteck. Er mußte ganz sichergehen. Der für ihn unverständliche Befehl, das Leben des Fremden zu schonen, verlangte äußerste Vorsicht in der Verfolgung. Wäre dieser Befehl nicht gewesen, gute Götter, die Sache wäre schon erledigt. So jedoch machte alles mehr Arbeit und verdoppelte das Risiko. Er wartete noch eine Minute. Dann überquerte er mit wenigen Sprüngen die Lichtung. Die Tür des Hauses stand eine Handbreit offen. Langsam, um jedes Geräusch zu vermeiden, öffnete er die Tür etwas und schob seinen Körper durch. Hinter einer Hürde suchte er sofort Deckung. Er wartete eine Weile, dann hatten sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt. Er entdeckte den Fremden. Der stand am anderen Ende des Raumes. Langsam schlich sich Tsan Tsuo an ihn heran. Cucullus hatte lange gebraucht, ehe es ihm in dem Dämmerlicht gelang, die Gegenstände zu unterscheiden. Um ihn herum standen grünblättrig überdeckte Gestelle, in denen merkwürdige Tiere krochen. Wohin sein Blick auch fiel, überall sah er fette, rötliche Würmer. Waren es hundert? Tausend? Er konnte sie nicht schätzen. Es überfiel ihn der Ekel, und er wollte den Raum schon wieder verlassen, als er bemerkte, daß einige Raupen langsam auf die obersten Gestelle krochen. Gebannt blieb er stehen und bemerkte jetzt Tiere, die auf den obersten Hürden dabei waren, sich einzuspinnen. Viele hingen schon als fertige Kokons herab. Er vergaß Zeit und Raum und beobachtete alles genau. Nach einer Weile löste er vorsichtig einen Kokon. Er betrachtete ihn aufmerksam, und mit einemmal durchströmte ihn ein Glücksgefühl. Er wußte, daß er das große Geheimnis in seinen Händen hielt. Für Sekunden schloß er die Augen. Langsam löste sich Tsan Tsuo aus seinem Versteck. Er trat hinter Cucullus. Eine rasche Bewegung… und seine Hände umklammerten den Hals des Fremden. Cucullus stieß einen Schrei der Überraschung aus, dann konnte er nur noch schwach röcheln. Immer fester
umklammerten diese Hände seinen Hals. Er hörte sein Herz stark und dröhnend klopfen. Wie Feuer strömte das Blut durch seine Adern, und eine befreiende Ohnmacht umfing ihn. – Goldlotos saß in ihrem Zimmer und versuchte, ihre Gedanken auf das kleine Brettspiel zu konzentrieren. Ihr war die Idee gekommen, diese Partie Schach allein zu spielen. Die dunklen Steine führte sie für Onkel Yang. Sie waren das Symbol ihres bisherigen Lebens. Die hellen Steine dagegen waren ihre Wünsche und Träume, waren Hoffnung und Zuversicht. Den Ausgang dieses Spieles wollte sie als Omen nehmen. Sie versuchte, die Zügel der schwarzen Partei gründlich zu führen. So hart, berechnend und erbarmungslos, wie es Onkel Yang machen würde, säße er ihr wirklich als Partner gegenüber. Sie hatte die schwarze Partei das Spiel eröffnen lassen, und nun rückten die schwarzen Steine unaufhaltsam vor und drängten die weiße Partei immer mehr in die Verteidigung. Die Partie schien bereits für die weiße Partei verloren, als Frau Wönn ins Zimmer stürzte. Sie konnte ihre Erregung nicht mehr verbergen. Vor der völlig überraschten Goldlotos fiel sie auf den Boden, küßte deren Hände und rief unter Schluchzen: „Mein Schätzchen, mein Täubchen, mein kleines Mandarinen-Entlein! Sag deiner alten Wönn, daß sie mit dir gehen darf. Laß sie nicht allein zurück. Sie würde vor Kummer und Sehnsucht nach ihrem Liebling sterben. Laß sie nicht in Lo-jang zurück!“ Goldlotos zog sie zu sich empor, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sich Frau Wönn beruhigt hatte. Dann erst erfuhr Goldlotos langsam den Zusammenhang. Als Frau Wönn ihren Bericht beendet hatte, meinte Goldlotos leise: „Wir werden gemeinsam in dieses ferne Reich ziehen. Du und ich. Keiner wird den anderen verlassen. Dort werden wir frei sein, Wönn, wirklich frei. Das verspreche ich dir. Ich werde den Kaufpreis zurückbringen. Ich weiß noch nicht, wie ich es machen werde, doch wenn ich wirklich frei sein will, muß mein Geschenk an ihn um vieles mehr wert sein, als die tausend Pferde, die er meinem Onkel bezahlen muß.“ Die alte Frau verstand nicht, was Goldlotos meinte. Sie nickte nur und wischte sich die Tränen aus den Augen. Dann saßen sie, Hand in Hand, schweigend nebeneinander. Die alte Frau und das junge Mädchen. Die Blätter raschelten im Nachtwind, und leise Musik klang aus dem Hauptgebäude herüber. – Da! Ein kurzer Schrei zerriß die nächtliche Stille. Beide Frauen fuhren zusammen
und lauschten erstarrt. Wieder war es still. Goldlotos sprang auf und wollte zum Fenster, doch Frau Wönn hielt sie zurück. „Hast du den Schrei nicht gehört? Jemand ist in Gefahr!“ Das Mädchen riß sich los und wollte jetzt zur Tür. Frau Wönn trat ihr in den Weg. „Du bleibst hier“, sagte sie in befehlendem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Sie zog Goldlotos in den Raum zurück und schloß das Fenster. Dann bestand sie darauf, daß sich Goldlotos schlafen legte. Beharrlich wich sie allen Fragen des Mädchens aus. Ihr wacher Instinkt sagte ihr, daß etwas geschehen war, wovon man besser nichts wußte. Sie blieb noch so lange im Zimmer, bis sie an den ruhigen Atemzügen merkte, daß Goldlotos eingeschlafen war. Erst dann verließ sie leise den Raum. Das Festmahl war längst beendet. Magister Fu saß an einem kleinen Lacktischchen und schrieb den Ehevertrag. Hurtig reihte der Pinsel Zeichen an Zeichen. In dem Vertrag stand, daß das Haus Tschin für Prinzessin Goldlotos tausend Pferde der Rasse „Licht leuchtet in der Nacht“ an einem noch festzulegenden Tag von dem Fürsten erhalten würde. Unter diesen Bedingungen war die Familie Tschin einverstanden, Prinzessin Goldlotos in sein Reich ziehen zu lassen. Die Familie Tschin verpflichtete sich weiter, die Hochzeitskarawane zu stellen. Oberrat Yang hatte diesen Vertrag diktiert, und Fürst Vijaya unterschrieb, ohne ihn nochmals zu lesen. Als sein Zeichen unter dem Vertrag stand, klatschte der Oberrat in die Hände und rief: „Füllt die Schalen mit Wein!“ Lauter klang die Musik aus dem Nebenraum. An einem Mauervorsprung des zweiten Innenhofes lehnte Tsan Tsuo und stocherte mit einem Elfenbeinstäbchen gelangweilt in den Zähnen. Dabei beobachtete er das erleuchtete Hauptgebäude. Die zweite Nachtwache war schon vorüber, die Gäste mußten bald aufbrechen. Er überlegte, ob er selbst in das Hauptgebäude gehen solle, um Herrn Yang zu verständigen. Da sah er die alte Frau Wönn. Sie blieb vor ihm stehen, musterte ihn lange und meinte dann verächtlich: „Ich dachte mir gleich, daß der Türhüter wieder einmal seine Hände gebraucht hat.“ „Dabei wäre es für dich besser, nichts zu denken“, sagte Tsan Tsuo, spuckte kräftig aus und lehnte sich wieder an die Mauer. „Ach was!“ Frau Wönn ließ sich durch sein Benehmen nicht einschüchtern. „Glaubst du, ich habe keine Ohren im Kopf? Denkst
du, ich habe vorhin den Schrei nicht gehört? Du wirst es mir sicher nicht sagen, und so werde ich den Oberrat fragen, was das zu bedeuten hat.“ Sie wollte ihren Weg fortsetzen, doch Tsan Tsuo riß sie derb zurück. „Untersteh dich zu fragen!“ „Ach so, der geehrte Herr Oberrat darf davon wieder einmal nichts erfahren“, meinte Wönn lauernd. „Dem alten Tsan Tsuo ist doch nicht etwa ein Mißgeschick passiert? Ein wenig zu langsam gewesen?“ „Zu langsam?“ Tsan Tsuo sah die Falle nicht, die ihm da gestellt wurde, und fiel hinein. „Hätte ich dem hellhäutigen Kerl die Luft so abschneiden dürfen, wie ich es gewollt hätte – gute Götter! Der hätte keine Zeit für den leisesten Schrei gefunden!“ „Oh“, sagte Frau Wönn, die nun wirklich erstaunt war. „Der war es also.“ Jetzt erst merkte Tsan Tsuo, daß er ihr in die Falle gegangen war. Vertraulich legte er den Arm um die Schulter der Alten und meinte: „Von dieser Sache darfst du niemandem etwas erzählen, hörst du? Es ist ein Geheimnis. Das muß ganz unter uns bleiben. Wenn du plauderst, wird man dir die Zunge herausreißen lassen. Das wäre doch schade, meinst du nicht auch?!“ „Du bist ein alter, eingebildeter Schwätzer!“ Frau Wönn löste sich ärgerlich aus der Umarmung. „Du hast den Körper eines Elefanten und das Gehirn eines Eisvogels.“ Bei diesen Beleidigungen blieb Tsan Tsuo ganz ruhig, obwohl er innerlich kochte. Am liebsten hätte er sich auf die alte Wönn gestürzt, doch er mußte sich zurückhalten. Sie hatte ihn wieder einmal überlistet, und er hatte mehr ausgeplaudert, als gut war. Ohne ihn weiter zu beachten, schlug Frau Wönn den Weg zum Haupthaus ein. Tsan Tsuo sah ihr nach, und plötzlich überfiel ihn die Angst. Hatte ihm der Oberrat nicht ausdrücklich Stillschweigen befohlen? Es durfte doch niemand etwas davon erfahren. Wenn die Alte plauderte – er glaubte schon, die Peitschenschläge auf seinem Rücken zu spüren. Er rannte Frau Wönn nach, fiel vor ihr auf die Knie und bettelte mit weinerlicher Stimme, doch alles zu vergessen und dem Oberrat nichts zu erzählen. Da lag dieser Koloß vor der alten Frau auf den Knien, und er kam ihr so verächtlich vor, wie er da um Stillschweigen winselte. Wo war der Kerl, den alle Diener und Mädchen im Haus fürchteten? Wo war dieser Tsan Tsuo, der mit gierig glitzernden Augen die Peitsche
schwang, wenn ihm Oberrat Yang befahl, eine Züchtigung auszuführen? Es widerte Frau Wönn an, wie sie ihn so auf den Knien liegen sah. Doch da der Türhüter jetzt so klein war und ein schlechtes Gewissen hatte, wollte sie die Situation ausnützen. So sagte sie: „Ach was! Von mir erfährt niemand etwas. Das heißt, du mußt mir natürlich auch dafür einen Gefallen tun. Du wirst mir haarklein alles erzählen, was im Haupthaus vor sich geht. Jeden Tag, verstehst du? Jeden Tag! Komm ich darauf, daß du mir nur eine Kleinigkeit verschweigst, wirst du es bereuen.“ Tsan Tsuo versprach es, und wieder einmal bewahrheitete sich die Rede, daß ein Schwätzer durch seine Zunge mehr zum Sklaven gemacht wird, als ein anderer durch die Peitsche. Die dritte Nachtwache war bereits vorüber, als sich Vijaya erhob, um sich zu verabschieden. Er vermißte nur Cucullus und wollte gerade nach ihm suchen lassen, als ihn der Oberrat beiseite nahm und meinte: „Ich würde jetzt nicht nach ihm suchen. Mein Park ist sehr groß, und am Rande verschlungener Wege laden Bänke zum Sitzen ein. In verschwiegenen Pavillons verweilt man oft länger – besonders, wenn man nicht allein ist.“ Dabei zwinkerte er dem Fürsten vielsagend zu, und dieser gab sich mit der Antwort zufrieden. Der Oberrat begleitete seine Gäste noch bis zum Tor und begab sich eilends zum zweiten Innenhof. Die Gewänder aus Seide knisterten, sein Atem ging rasch. Das schnelle Laufen machte ihm Beschwerden, und von der kühlen Nachtluft wurde er schwindelig. Sicher hatte er die letzte Schale Reiswein schneller getrunken, als gut war. Aus einer dunklen Nische des Innenhofes löste sich die Gestalt von Tsan Tsuo. Er verneigte sich tief vor seinem Herrn. „Es ist geschehen?“ Tsan Tsuo nickte. „Ich erwarte dich in meinem Arbeitszimmer.“ Der Oberrat dämpfte die Stimme zu einem Flüstern. „Sorge dafür, daß man dich nicht beobachtet.“ Es kam sehr selten vor, daß Tsan Tsuo in diesem Raum des Hauses von seinem Herrn empfangen wurde. Teppiche dämpften die Schritte, die Wände waren mit kostbar bemalten Tapeten geschmückt. Das Besondere des Raumes war, daß er nicht ein Fenster hatte. Nur eine große Schiebetür führte zum Park, die im
geschlossenen Zustand jedoch wie eine Wand wirkte und so den Raum völlig von der Außenwelt abschloß. Zu den angrenzenden Schlafräumen gelangte man durch eine Tapetentür, die fugenlos gearbeitet war. Man konnte sie nur öffnen, wenn man einen Mechanismus bediente, der sich etwas versteckt neben der Tür befand. Herr Yang wollte sich bei der Arbeit durch nichts ablenken lassen, und daher kannten die wenigsten diesen Raum des Hauses. „Ich hoffe, daß du dich der Aufgabe so entledigt hast, wie ich es dir aufgetragen habe“, sagte Herr Yang und lud mit einer Handbewegung Tsan Tsuo ein, auf einem der Polster Platz zu nehmen. Tsan Tsuo nickte auf diese Frage verlegen, und Yang fuhr fort: „Da er mein Gast war, wünsche ich nicht, daß irgend jemand davon erfährt. Die Familie Tschin achtet die Gesetze der Gastlichkeit.“ Er spielte nervös an den weiten Ärmeln seines Gewandes. „Wo hast du ihn überrascht?“ Nun begann Tsan Tsuo seinen Bericht. Im Anfang stockend, dann flüssiger werdend, erzählte er, wie er dem Fremden gefolgt war. Er habe gewartet, bis dieser einen Kokon löste und in den Ärmel seines Gewandes schon. „Da griff ich blitzschnell zu“, sagte Tsan Tsuo. „Er war völlig überrascht und sank unter dem Druck meiner Hände zu Boden.“ „Ohne Gegenwehr?“ „Er kam nicht dazu.“ „Nicht einmal ein Schrei der Überraschung?“ Tsan Tsuo zögerte einen Augenblick. „Nein, Herr. Lautlos.“ Er preßte die Handflächen aneinander, daß die Gelenke knackten. „Ihr wißt, Herr, auf diese Dinge verstehe ich mich.“ Herr Yang nickte. „Wo befindet er sich jetzt?“ „Im ,Pavillon der sieben Freuden’. Ich habe ihn gefesselt und vorsorglich geknebelt, falls er wieder zur Besinnung kommt.“ „Sehr gut. Kannst du ihn allein in das Haus des Oberrichters schaffen? Ich möchte nicht gerne einen Gerichtsdiener verständigen. Es könnte Aufsehen geben, und das will ich vermeiden.“ „Nein, nein. Ich schaffe es allein. Es wird niemand etwas erfahren.“ Herr Yang setzte sich an einen kleinen Schreibtisch und schrieb einige Zeilen an den Oberrichter. Dann holte er aus einer Schublade ein kleines Täfelchen und gab es Tsan Tsuo.
„Fürst Vijaya wird diesen Mann vermissen. Er hat heute abend schon nach ihm gefragt. Es ist deshalb notwendig, daß er dir – ehe du ihn bei dem Oberrichter ablieferst – auf diesem Täfelchen eine Nachricht an den Fürsten schreibt. Er soll ihm nur mitteilen, daß ihn dringende Geschäfte abberufen haben. Er bittet den Fürsten für den formlosen Abschied um Vergebung.“ Tsan Tsuo glotzte den Oberrat verständnislos an. „Er wird mir diese Nachricht nicht schreiben wollen.“ „Freiwillig nicht“, erwiderte der Oberrat und erhob sich. „Doch ich bin überzeugt, daß du mir die Mitteilung bringen wirst. Ich überlasse es dir, wie du ihn gefügig machst. Die Wahl der Mittel liegt in deiner Hand.“ Er öffnete ein Wandschränkchen, wog zwei Unzen Silber ab und warf es Tsan Tsuo zu, der es geschickt auffing. „Danke, Herr“, sagte er mit einem unverschämten Grinsen. Der Oberrat drückte auf eine kleine Feder, und die breite Wand schob sich auseinander. Tsan Tsuo verneigte sich, und Yang sah ihm nach, wie er in Richtung des „Pavillons der sieben Freuden“ davonschritt. Herr Yang fühlte sich erleichtert und von diesem Abend sehr befriedigt. Er genoß noch ein wenig die Kühle des Abends und ging dann in den Raum zurück. Hinter ihm schloß sich lautlos die Tür. Über Lo-jang und dem großen Besitz der Familie Tschin lag scheinbarer Friede.
Goldlotos trifft Reise-Vorbereitungen und bittet ihren Lehrer um Rat Das Drachenbootfest war vorüber. Onkel Lian-Bai hockte vor seinem kleinen Häuschen in der Birngartenstraße, schnitt neue Lampions zurecht und überdachte dabei die letzten Tage. Im Inneren seines kleinen Hauses war es still. Seine Frau und die Kinder hatten einen Ausflug unternommen, um Verwandte zu besuchen. Er hatte sich nicht beteiligt und als Entschuldigung angegeben, daß er noch zuviel Arbeit mit neuen Lampions und Girlanden habe. Das war nur ein Vorwand gewesen, denn sein Verdienst beim Drachenbootfest war sehr gut und reichte aus, die Schüsseln seiner Familie in den nächsten Wochen mit Reis zu füllen. Wozu dann noch arbeiten? Diese Frage beantwortete er gleich selbst, indem er sein Arbeitszeug beiseite legte und die angefangenen Lampions in das Hausinnere brachte. Dann setzte er sich, sehr zufrieden darüber, daß ihm ein guter Gedanke solch einen wunderbaren Tag beschert hatte, wieder auf das kleine Bänkchen vor dem Haus. Nur störte es ihn, daß hier ständig Bekannte und Nachbarn vorbeikamen, die man zu grüßen hatte. Bei dem Gruß allein blieb es selten. Es wurden belanglose Worte gewechselt, man erkundigte sich nach dem Befinden und gab über sein eigenes Befinden Auskunft. Das gehörte zum guten Ton, und Lian-Bai hatte sich bisher nie darüber geärgert. Doch heute empfand er es lästig. Immer wieder riß es ihn aus den begonnenen Gedanken, und er kam nicht dazu, sie in Ruhe weiterzuverfolgen. Er war gerade dabei, sich noch einmal alle Einzelheiten der wunderschönen Hochzeit seiner kleinen Ying-Ying mit Wuh-Sung ins Gedächtnis zurückzurufen. Je mehr Verwandte und Freunde bei solch einem Fest zugegen waren, desto achtbarer war die Familie der Braut oder des Bräutigams. Onkel Lian-Bai war sehr stolz, daß die Zahl der Freunde und Verwandten der kleinen Ying-Ying bei weitem die Zahl der Familie Wuh-Sung übertraf. Onkel Lian-Bai hatte etwas nachgeholfen. Er hatte nicht nur die nächsten Verwandten und Freunde gebeten, sondern auch Nachbarn und Bekannte. Sogar einige Konkurrenten, mit denen er sonst nicht sonderlich gut stand, wurden von ihm zu diesem Fest eingeladen. Schließlich war die Zahl der Gäste so groß, daß er sich selbst nicht mehr zurechtfand. Man hatte lange gefeiert und tüchtig dem Reiswein zugesprochen. Wie es
seine Art war, saß er in einer stillen Ecke, um alles zu beobachten. Er fand, daß Ying-Ying die schönste Braut war, die er bisher gesehen hatte. Er war stolz und traurig zu gleicher Zeit. Jetzt würde sie nicht mehr mit ihren kleinen Nöten und großen Kümmernissen zu ihm kommen, denn nun hatte sie den Menschen gefunden, der ihr näherstand als der alte Onkel aus der Birngartenstraße. Über diesen Kummer wollte er hinwegkommen, und so hatte er eine Schale Reiswein nach der anderen getrunken. Wie das Fest dann geendet hatte und wie er nach Hause gekommen war, das wußte er nicht mehr. Diesen Punkt galt es jetzt aufzuklären. Er liebte es gar nicht, in seinem Leben Stunden zu haben, an die er sich nicht erinnern konnte. Deshalb schloß er die Augen und durchdachte jede Stunde des schönen Tages. Er war schon beim Abend angelangt und sah noch einmal die schmalen, langen, festlich erleuchteten Boote auf dem Südfluß. Er sah sich selbst in der lärmenden und fröhlichen Menge. Eben war er dabei, auch in die unklaren Stunden Klarheit zu bringen, als ihn die heisere Stimme seines Nachbarn aus den träumerischen Gedanken riß. „Es dürfte Euch interessieren, mein Verehrungswürdigster, was mir soeben der Kuchenverkäufer aus der Kirschblütenstraße erzählt hat“, rief sein Nachbar, der Porzellanfigürchen herstellte. Er schob seinen Arbeitstisch beiseite, nahm seinen kleinen Hocker und setzte sich neben Lian-Bai. Den interessierten die Erzählungen des Kuchenverkäufers überhaupt nicht. Doch erforderte es der Anstand, eine einladende Handbewegung zu machen und geduldig zuzuhören. „Der Fremdling, den Türhüter Tsan Tsuo im Garten des Palastes Tschin gestellt hat, war gar kein Dieb, sondern ein – “ Er senkte die Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern und rückte ganz dicht zu Onkel Lian, „… er war ein Mörder!“ „So, so“, erwiderte Lian-Bai gleichgültig und stellte bei sich fest, daß sein Nachbar heute besonders scharf gewürzten Reis gegessen hatte. Da er scharf gewürzten Reis nicht mochte, rückte er etwas von ihm ab. „Der Kuchenverkäufer hat es von Tsan Tsuo selbst gehört“, sagte Nachbar Porzellanfigürchen-Anfertiger, nahm seinen Hocker und rückte wieder dicht neben den Onkel. „Der Türhüter feiert nämlich im Teehaus zum ,Pflaumenstengel’ seinen Abschied. Er muß morgen die Hochzeitskarawane nach Khotan begleiten. Natürlich hat er allen strengstes Stillschweigen befohlen. Der Kuchenverkäufer hat es mir auch nur unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit erzählt.
Dabei soll es sich bei dem Fremden um eine hohe Persönlichkeit mit guten Geleitbriefen handeln. Deshalb will Oberrichter Tschu auch keine öffentliche Verhandlung abhalten. Die ganze Angelegenheit soll vertuscht werden. Was haltet Ihr davon?!“ Im Gesicht des Nachbarn stand helle Empörung. „Einem kleinen Mann aus dem Volk hätte man öffentlich den Prozeß gemacht und den Kopf abgeschlagen. – Was sagt Ihr dazu?“ „Ich?“ fragte Lian-Bai, der nur halb zugehört hatte. „Ja nun, so wie es ist, so ist es.“ Von der ganzen Geschichte hatte er nur verstanden, daß morgen die Hochzeitskarawane nach Khotan aufbrechen würde. War es nicht möglich, daß man auch Ying-Ying mitnahm. Nach Khotan. Wo lag das eigentlich? Weit fort. So weit, daß nicht einmal seine Gedanken dorthin folgen konnten. Angst stieg in ihm auf. „Der Zug zur Hinrichtungsstätte wäre durch die Birngartenstraße gekommen“, jammerte der Nachbar weiter. „Und auf dem Rückweg hätten sich die Leute bestimmt Zeit genommen, an unseren Verkaufsständen zu verweilen. Glaubt mir, wir hätten ein gutes Geschäft gemacht.“ Der Nachbar klagte weiter, aber Lian-Bai fand den Gedanken schmutzig, sich am Unglück eines anderen zu bereichern. Bisher hatte auch er das nicht gar so verwerflich gefunden, doch jetzt war ihm, als würde man ihn zur Richtstätte führen. Mußte er seine kleine Ying-Ying für immer verlieren? Er konnte das Geschwätz des Nachbarn nicht mehr ertragen und spürte große Sehnsucht nach der ruhigen „Straße der raschelnden Blätter“. Kurzerhand nahm er sein Traggestell mit den restlichen Girlanden und Lampions, bat den Nachbarn, ihm etwas behilflich zu sein, schulterte die Traglast und machte sich auf den Weg. Der Porzellanfigürchen-Anfertiger war über den plötzlichen Aufbruch verblüfft. Als Lian-Bai schon ein Stückchen die Birngartenstraße hinunter war, rief er ihm nach: „Nachbar Lian-Bai, weshalb die Eile!?“ Das hörte Lian-Bai nicht mehr. Seine Gedanken waren den Füßen vorausgeeilt und befanden sich schon in der „Straße der raschelnden Blätter“. Im westlichen Teil des Palastes Tschin herrschte die Geschäftigkeit eines Bienenkorbes. Seit Tagen packte Frau Wönn zusammen mit Sü-San und Ying-Ying viele große und kleine Dinge in weitbauchige Körbe, die man mit nach Khotan nehmen würde. „Beeilt euch, beeilt euch“, rief Frau Wönn. „Ich sehe schon, daß der Tag vorüber ist, und wir sind mit unserer Arbeit nicht fertig.
Gute Götter!“ Sie riß der erschreckten Ying-Ying eine hauchdünne Schale aus der Hand. „Doch nicht in diesen Korb. Glaubst du, uns tragen die Schwingen der Vögel nach Khotan? Die Lastträger und Kameltreiber werden die Körbe hin und her werfen, und dann packen wir nur Scherben aus. Ich möchte wissen, wo du deine Gedanken hast?“ „In dem kleinen Häuschen an der Palastmauer“, kicherte Sü-San; sie erhielt jedoch von Frau Wönn gleich einen Verweis. „Hab’ ich dich gefragt? Du würdest besser daran tun, deine eigenen Gedanken zu beaufsichtigen, ehe du dich mit denen von Ying-Ying beschäftigst. Wenn deine Hände nur halb so flink wären wie die von Ying-Ying, würde ich zufrieden sein.“ Sü-San senkte beleidigt das Köpfchen. Für eine Weile arbeiteten alle drei schweigend. Dabei hatte Sü-San recht. Ying-Ying war in Gedanken bei WuhSung. Der Tag des Drachenbootfestes, er stand in ihrer Erinnerung so deutlich, als wäre er erst gestern gewesen. Da verbrannten die Priester Opfergaben, und dem Onkel Lian-Bai flossen Tränen über die zerfurchten Wangen. Dann wieder waren überall lustige, ausgelassene Menschen und sie als Braut der Mittelpunkt der Gesellschaft. Das Fest war verrauscht, und sie verbrachte die erste Nacht im Häuschen an der Palastmauer. Vor dem kleinen Hausaltar brannten Räucherkerzen, sie hockte neben Wuh-Sung und lauschte seiner Stimme. Es gab nichts anderes mehr als ihn. In den nachfolgenden Tagen sahen sie sich wenig. Wuh-Sung ging seiner Arbeit nach, und sie mußte im westlichen Teil des Palastes bei den Vorbereitungen für die große Reise helfen. Doch diese Stunden zählten nicht. Ihr Leben begann erst am Abend, wenn sie das kleine Häuschen an der Palastmauer betrat. In der Zwischenzeit hatte man das Hochzeitsgewand der Prinzessin gebracht, und Frau Wönn war damit in den angrenzenden Raum geeilt. Dort hockte Goldlotos auf einem Polster, sah in den Park und auf die im Wind schwingenden Äste der Bäume. Frau Wönn breitete vorsichtig jedes Stück des Gewandes auf dem Bett aus. Die Jacke war aus hellrosa Seide mit gestickten Lotosblüten, der Rock in leuchtendem Gelb, hellblaue Pumphosen und bestickte Schuhe gehörten dazu. Frau Wönn konnte sich vor Freude nicht mehr halten. „Sieh nur, sieh!“ rief sie, klatschte in die Hände und zog die Prinzessin von ihrem Platz fort. „Du wirst die hübscheste Braut
werden, die man je gesehen hat.“ Sie nahm das Jäckchen und hielt es prüfend an ihren Körper. Darüber mußte Goldlotos lachen. „Ja, ja“, meinte Wönn, „lach nur. So ist es nun einmal. Die Monde kommen und gehen, und aus einem leichtfüßigen Gänslein wird, ehe man es sich versieht, eine fette, watschelnde Gans.“ Dabei seufzte sie und legte das Jäckchen beiseite. Das Hochzeitsgewand wurde probiert, und Frau Wönn fand verschiedene kleine Fältchen, die abgesteckt werden mußten. Während sie auf dem Boden kniete, um die Länge des Rockes abzuheften, sah Goldlotos Tsan Tsuo langsam durch den Innenhof schlendern. Dabei fiel ihr ein, daß die Mädchen in den letzten Tagen viel von ihm und einem Fremden getuschelt hatten. Sie hatte Frau Wönn mehrmals danach gefragt, doch diese war dem Thema immer wieder ausgewichen. Als sie jetzt wieder davon anfing, zuckte die Alte nur mit den Schultern und meinte: „Soviel ich gehört habe, wird man ihm keinen öffentlichen Prozeß machen.“ „Was hat er denn eigentlich verbrochen?“ wollte Goldlotos wissen und ordnete ihre Frisur, die durch das Umkleiden in Unordnung geraten war. „Ach“, sagte Wönn, „ich glaube, bei ihm ist in der kleinen Kammer des Denkens alles in Unordnung. Der Narr wollte aus dem ,Haus des großen Erwachens’ fertige Kokons stehlen. Er merkte gar nicht, daß Tsan Tsuo hinter ihm stand. Der wartete ruhig, bis die Kokons im Gewand verborgen waren, und griff dann zu.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wenn man ihm den Prozeß machen würde, könnte der Henker jetzt schon sein Beil schärfen.“ „O du dumme Wönn“, meinte Goldlotos lachend. „Wer hat dir denn dieses Märchen erzählt? Er hat doch nur ein paar Kokons gestohlen. Dafür wird man ihm höchstens die Hand abhacken.“ „Da will wieder einmal das Ei klüger sein als die Henne. Du weißt doch, daß er ein Fremder ist, ein Hellhäutiger, der jenseits der Großen Mauer lebt.“ „Ja natürlich, ich weiß. Das ändert doch nichts an der Sache.“ „Das ändert sehr viel. Weshalb hat er denn Kokons gestohlen? Um das große Geheimnis mit über die Mauer zu nehmen. Weißt du nicht, daß darauf in unserem Reiche Todesstrafe steht?“ Das war es also. Die Seidenwürmer sollten geraubt werden. Goldlotos erinnerte sich, was ihr Lehrer Fu erzählt hatte. Die Menschen jenseits der Großen Mauer wußten nichts von der Existenz der Himmelswürmer. Dieser Fremde wollte also die
Seidenraupen stehlen, das Geheimnis mit über die Grenze nehmen und dann –? Goldlotos dachte angestrengt nach. Was hätte er mit den Seidenraupen beginnen können? Gar nichts. Sein Opfer war umsonst. Wenn man hinter der Großen Mauer mit der Seidenraupenzucht beginnen wollte, mußte man die Eier mitnehmen, nicht die Raupen. Die Tiere würden die weite Reise nicht überleben. War man dann in Khotan, mußte man sofort beginnen, Hürden zu bauen. Die Eier mußten mit warmer Asche bestreut werden, und dann würde das Leben beginnen… Dann würde das Leben beginnen. Ja, das war es. Goldlotos war von dem Gedanken wie elektrisiert. Ein Wink der Götter: Das Geheimnis als Geschenk, als ihr Geschenk an ihn. „Gibt es in dem fernen Reich Khotan die Bäume der Göttin?“ fragte sie unvermittelt Frau Wönn. „Ich weiß es nicht“, entgegnete diese gleichgültig. „Ich glaube aber nicht. Wozu auch? Dort gibt es bestimmt keine Himmelswürmer und kein ,Haus der fleißigen Hände’. Darüber bin ich gar nicht traurig. Wir werden uns auch so die Zeit vertreiben.“ Sie erhob sich ächzend. Sie war mit dem Ändern fertig; das Gewand paßte jetzt ausgezeichnet. Kritisch betrachtete sie ihr Werk von allen Seiten. Weshalb nur stellte ihr kleiner Schmetterling so merkwürdige Fragen? Ob Maulbeerbäume Wurzeln schlagen, wenn man sie in Khotan pflanzt? War es in Khotan ebenso warm wie hier? Gab es genügend Wasser? Gute Götter, woher sollte sie das alles wissen? Sie war in ihrem ganzen Leben kaum drei Meilen über Lo-jang hinausgekommen. Hatte die kleine Prinzessin jetzt schon Heimweh? Frau Wönn war arglos. Hätte sie geahnt, welche Gedanken in dem Köpfchen ihres kleinen Lieblings spukten, sie hätte keine ruhige Minute mehr gehabt. Sie war recht froh, als Goldlotos bat, man möge nach Herrn Magister Fu schicken. Mochte der ihre Fragen beantworten. Vielleicht kam sie dann von selbst wieder auf die Gedanken, die ein junges Mädchen – nach Ansicht von Frau Wönn – vor der Hochzeit haben sollte. Sie schickte Sü-San zu dem Haus des Magisters. Onkel Lian-Bai hatte seinen gewohnten Platz in der „Straße der raschelnden Blätter“ eingenommen. Vor dem Tor stand Tsan Tsuo. Lian-Bai grüßte, doch der Türhüter beachtete ihn gar nicht. Bald darauf eilte der Magister Fu an ihm vorüber. Er wechselte ein paar kurze Worte mit Tsan Tsuo, der ihn passieren ließ. Onkel Lian schloß die Augen und nahm dankbar die Stille der Straße in sich auf.
Vielleicht würde er bald das Trippeln kleiner Füße hören, deren Klang er so gut kannte. Nun saß Herr Fu der kleinen Prinzessin schon eine ganze Weile gegenüber, und beide hatten, außer den üblichen Begrüßungsworten, noch nichts miteinander gesprochen. Herrn Fu war dieser Raum des Palastes so vertraut, wie seine eigene Wohnung. Viele Jahre lang hatte er hier der kleinen Prinzessin Unterricht gegeben und war geduldig auf alle ihre Fragen eingegangen. Nun hieß es wohl Abschied zu nehmen. Es würde ein Abschied für immer sein. Es stimmte ihn nicht traurig. Er wußte, daß er sie nichts mehr lehren konnte und sie nun selbst mit ihrem Leben fertigwerden mußte. „Möge dein Leben glücklich werden und dein Mann noch an dir Gefallen finden, wenn viele Monde gewechselt haben“, begann Fu die Unterhaltung. Goldlotos hielt den Kopf gesenkt und sah ihren Lehrer nicht an, als sie sagte: „Mein zukünftiger Gemahl und Herr hat einen hohen Preis für mich kleine Unwürdigkeit bezahlt. Ich werde immer in seiner Schuld stehen.“ Sie machte eine Pause und meinte dann: „Ihr habt mir sehr viele Geschichten erzählt. Ich will nun selbst einige erfinden, um meinen Gemahl an langen Winterabenden damit zu erfreuen. Bei einer Geschichte will mir der Schluß nicht einfallen. Ich möchte gern Euren Rat haben und wäre dankbar, wenn ich Euch die Geschichte erzählen dürfte.“ Herr Fu nickte, und so begann Goldlotos: „Es war einmal ein kleines Mädchen. Ich habe ihr noch keinen Namen gegeben und muß Euch deshalb bitten, daß auch Ihr den Namen Eurer Phantasie überlaßt. Die Eltern des Kindes waren bald nach dessen Geburt bei einem Unglücksfall ums Leben gekommen. Der Vater des Mädchens hatte einen Bruder, der die Erziehung des Mädchens übernahm. Er tat das ohne Zögern, denn als einziger Verwandter fiel ihm aller Besitz seines Bruders zu. Er war nun das Oberhaupt einer mächtigen Familie. Als das Mädchen größer geworden war, kam ein Hauslehrer, der ihm die Schriftzeichen beibringen mußte. Kaum hatte die Kleine schreiben gelernt, gab der Onkel dem Mädchen verschiedene Arbeiten, für die sie diese Kenntnisse benötigte. Aus ihrer Arbeit zog er bald mehr Gewinn, als die Kosten ihrer Erziehung betrugen.“ Hier unterbrach sie Herr Fu lächelnd: „Es ist nicht üblich, daß sich Mädchen Gedanken über den materiellen Wert ihrer Existenz
machen.“ „Es ist auch nicht üblich“, entgegnete Goldlotos heftig, „daß man die Eltern eines Kindes ermorden läßt, um das Oberhaupt einer mächtigen Familie zu werden.“ Herr Fu legte beschwichtigend zwei Finger auf die Lippen. Doch Goldlotos fuhr erregt fort: „In meiner Geschichte hat der Onkel die abscheuliche Tat begangen. Nicht er selbst, denn dazu war er viel zu feige. Für fünf Unzen Silber mußten die Eltern das Leben lassen. Das Mädchen erfuhr davon erst, als es schon bald sechzehn Jahre zählte. Durch Zufall wurde sie eines Tages Zeuge eines heftigen Streites zwischen einem Kuli und dem Türhüter des Hauses. Jener Türhüter war gleichzeitig ein persönlicher Diener ihres Onkels. Als er den Kuli wegen einer kleinen Unachtsamkeit mit der Peitsche züchtigen wollte, schrie dieser, er werde in der Stadt erzählen, was er über das Bootsunglück am Südfluß und über den Türhüter wisse. Als er das sagte, ließ der Türhüter die Peitsche sinken, begann am ganzen Körper zu zittern und gab dem Kuli eine Kette Münzen. Doch das Mädchen hatte, von den beiden nicht bemerkt, den Vorfall beobachtet. Am nächsten Tag ließ sie den Kuli rufen. Sie gab ihm eine ganze Unze Silber und sicherte ihm Stillschweigen zu, wenn er ihr erzählen würde, was er wußte. Sie erfuhr dann Tatsachen, die so furchtbar waren, daß sie ihr immer im Gedächtnis blieben. Ihr eigener Onkel hatte den Türhüter bestochen, und der hatte die Eltern ermordet. Ein Unglücksfall war vorgetäuscht worden. So hatte sich der Onkel zum Oberhaupt der Familie gemacht. Seit dieser Stunde haßte das Mädchen den Onkel. Sie blieb weiter im Haus, nur ihre Gedanken übersprangen die hohe Mauer des Palastes und suchten den Weg in die Freiheit. Eines Tages erhörten die Götter ihr Gebet. Sie lenkten die Schritte eines Mannes in den Palast, dessen Reich jenseits der Großen Mauer lag. Er sah das Mädchen, und sein Herz schlug für sie und ihr Herz für ihn. Er wollte sie heiraten. Als dies der Onkel erfuhr, verlangte er für das Mädchen einen außergewöhnlich hohen Preis. Jeder andere wäre zurückgeschreckt. Doch der Mann aus dem fremden Land bezahlte den geforderten Preis. Von dem Tag an dachte das Mädchen darüber nach, wie sie ihrem Manne vergelten könnte, was er für sie getan hatte. Es kam ihr ein Gedanke. Der ganze Reichtum ihrer Familie stammte daher, daß man etwas herstellte, was in dem Land ihres zukünftigen Mannes unbekannt war. Es war ein großes Geheimnis ihres eigenen Landes, und jedem drohte der Tod, der es über die Grenze tragen wollte.
Wenn sie dieses Geheimnis nun ihrem Mann verriet? Der Gedanke beschäftigte sie Tag und Nacht. Er ließ ihr keine Ruhe.“ Goldlotos schwieg, und Herr Fu, der aufmerksam dieser merkwürdigen Geschichte zugehört hatte, meinte nach einer Pause: „Sie hat es getan?“ „Ich weiß es nicht. Es soll das Ende meiner Geschichte werden. Deshalb möchte ich Euren Rat. Darf sie es tun?“ „Sie darf es nicht. Wenn sie es dennoch tut, ist es Verrat an ihrer Familie und an ihrer Heimat.“ Verrat! Natürlich – es war Verrat. Goldlotos wußte es. Doch hatte man an ihr nicht schon mehr als einmal Verrat geübt? Würde das nicht ihre Tat rechtfertigen? Sie hatte den Lehrer vergessen und wanderte in dem kleinen Zimmer hin und her. Ihr Kopf schmerzte. Sie kauerte sich in eine Ecke des Raumes und preßte die Hände gegen die Schläfen. Die Stimme des Lehrers klang weit entfernt. Herr Fu sprach mehr zu sich selbst, als er meinte: „Du gehst einen gefährlichen Weg, kleine Prinzessin aus dem Hause Tschin. Doch da du ihn schon beschritten hast, mußt du ihn allein gehen. Dabei kann dir niemand helfen. Auch ich nicht, obwohl ich allein die Schuld trage, daß du diesen Weg überhaupt gefunden hast.“ „Schuld?“ Goldlotos erhob sich rasch, ging zu ihrem alten Lehrer und kauerte sich vor ihm nieder. „Ihr habt mir die Augen geöffnet, habt mich gelehrt zu sehen und zu verstehen. Das ist keine Schuld. Weshalb sollen die Mädchen ihren Verstand nicht ebenso gebrauchen, wie die Männer? Si-ling-shi, die den Himmelswurm züchtete und daraus ein Gewand für ihren Gatten, den Kaiser Huang Ti, spinnen ließ, war eine Frau. Es sind Mädchenhände, die die Kokons abhaspeln und den Stoff weben, der Reichtum in unser Land bringt. Sie haben den Wohlstand unseres Landes begründet, und doch halten sie vor Angst den Atem an, wenn ein Mann den Raum betritt. Ihm dienen sie und ducken sich gehorsam, ohne Widerrede. Er ist es, der zu bestimmen hat, ob sie glücklich werden dürfen oder einsam bleiben müssen. Doch ist es nicht eine Frau, der er sein Leben zu verdanken hat? Er, der Mann?“ Sie schüttelte heftig den Kopf und stieß hervor: „Ich möchte frei sein, frei! Könnt Ihr das nicht verstehen?“ Herr Fu schwieg. Er legte seine Hand auf das gesenkte Haupt des Mädchens. Ganz zaghaft begann er es zu streicheln und sagte dann:
„Du wirst niemals frei sein. Es ist niemand wirklich frei. Wir sind alle zum Dienen geboren. Versuche das zu erkennen, dann hast du damit ein Stückchen Freiheit gewonnen. Du kannst mich noch nicht begreifen, kleine Lotosblüte aus dem Hause Tschin. Dazu bist du noch zu jung. Zu dieser Erkenntnis mußt du selbst gelangen.“ Er streichelte ihr Haar und meinte dann mit einem leisen Lächeln auf den schmalen Lippen: „Doch nun zu deiner Geschichte. Ich denke mir, das Mädchen deiner Geschichte hat den gefährlichen Weg schon so weit beschritten, daß es kein Zurück mehr gibt. Da jedoch jede Geschichte gut enden soll und du – so denke ich wenigstens – meinst, daß durch diesen Verrat das Mädchen glücklich wird, soll sie den Verrat begehen.“ Er erhob sich, und auch Goldlotos stand auf. Er sah ihr lange in die Augen und sagte dann: „Ich glaube, daß sie in ihrem Glück bald alle Rachegedanken gegen ihren Onkel vergessen wird. Dies würde den Verrat wieder aufwiegen. Mögen die Götter des Glückes dir zur Seite stehen.“ Er verbeugte sich zum Abschied vor Goldlotos, und diese verbeugte sich vor ihrem Lehrer. So gingen sie auseinander. Wieder einmal war Lian-Bai über dem Nachdenken eingeschlummert. Magister Fu verließ das Haus. Kaum war er gegangen, da trat Ying-Ying aus dem Tor. Sie entdeckte sofort den Verkaufsstand des Onkels. Doch als sie vor ihm stand, sah sie, daß er schlief. Sie verhielt sich ganz ruhig und betrachtete lange das Gesicht des Schlafenden. Es war so entspannt und friedlich, daß sie wußte, der Onkel war gerade bei den Göttern des Glücks und der inneren Ruhe zu Gast. Sie wollte ihn noch eine Weile in diesem Reich lassen und kauerte sich nur vor ihm nieder. Sie betrachtete sein Gesicht und wollte ein wenig seiner Zufriedenheit in sich aufnehmen. Da sie den Onkel unverwandt ansah, wurde sein Schlaf unruhig, und er erwachte. Er blinzelte, rieb sich die Augen, sah dann YingYing und murmelte: „Wie klein doch diese Welt ist! öffnet man nur irgendwo und irgendwann die Augen – schon sieht man ein bekanntes Gesicht.“ Es wäre unter seiner Würde gewesen zuzugeben, daß er nur wegen Ying-Ying in dieser Gasse hockte. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und fuhr dann fort: „Wir haben uns schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Ist ja schon gut. Ich kann mir denken, daß die
erste Frau des Wuh-Sung jetzt keine Zeit mehr für einen alten Onkel hat.“ Er begann die Papierfähnchen einzurollen, die Lampions zu ordnen und tat so, als wäre er nur zufällig in der Straße gewesen, um seinen Geschäften nachzugehen. Ying-Ying sah ihm eine Weile zu, dann verneigte sie sich und sagte: „Wenn die Zeit es dem geehrten Herrn Onkel erlaubt, das Haus seiner kleinen Ying-Ying und deren geachteten Mann Wuh-Sung aufzusuchen, würden wir uns glücklich schätzen. In einigen Dingen hätten wir gern den geschätzten Rat des erfahrenen Onkels gehört. Morgen wird die Karawane meiner Herrin, der Prinzessin Goldlotos, zu der weiten Reise aufbrechen. Es wäre uns eine große Ehre, würde der geachtete Onkel am Abend, der diesem Tag folgt, unser Gast sein.“ Ying-Ying wollte die Einladung eigentlich ganz anders formulieren. Sie wollte sagen, was sie innerlich bewegte. „Wir freuen uns, dich zu sehen“, wollte sie sprechen. „Ich möchte dir gern unser Häuschen zeigen. Du wirst sehen, daß es viel schöner ist als der prächtige Palast der Familie Tschin. Wir haben einen kleinen Hausaltar mit vielen Ahnenbildern. Unser Zimmer hat nur wenige Polster, doch für mich sind alle kostbar, da ich sie mit ihm teilen darf. Wir verbringen unsere Abende zu zweit. Seine Geschichten, die er mir erzählt, sind schöner, als die schönsten Märchen, die ich jemals von einem Märchenerzähler gehört habe. Manchmal sitzen wir zusammen, ohne zu sprechen. Auch diese Abende sind sehr schön. Weißt du, Onkel Lian-Bai, wir können nicht in Worten ausdrücken, wie sehr wir uns lieben. Deshalb freuen wir uns auf dich, denn du sollst an unserem Glück teilhaben.“ So hätte sie gern mit dem Onkel gesprochen. Nun war es vertan. Die Einladung klang förmlich, leer und allgemein. Doch Onkel Lian verstand das Unausgesprochene, und er war sehr glücklich über die Einladung. „Ich komme gern“, wollte er antworten, „denn ich sitze schon seit Tagen in dieser Straße, obwohl ich doch genau weiß, daß hier nichts zu verkaufen ist. Ich komme nur immer in der Hoffnung, meine kleine Ying-Ying zu treffen und von ihr zu erfahren, daß sie glücklich ist. Dein Leben soll so schön werden, wie ich es mir erhofft habe. Werden diese Hoffnungen wahr, dann bin ich reichlich belohnt.“ So hätte er gern gesprochen, doch statt dessen sagte er nur: „Sollte es meine Zeit erlauben, werde ich vielleicht eure
Einladung annehmen und ein Täßchen Tee in eurem Haus trinken.“ Er hatte seine Sachen zusammengepackt und wollte gehen. YingYing verbeugte sich, und er erwiderte den Gruß. Zwischen ihnen war gar nicht viel gesprochen worden, und doch kannte jeder die Gedanken des anderen und wußte um das Unausgesprochene. Langsam ging Onkel Lian die stille Straße hinunter. Am liebsten wäre er tänzelnd heimgegangen, so sehr freute ihn die Einladung. Er war glücklich, daß seine kleine Ying-Ying doch noch ihm gehörte, selbst wenn sie die Frau des Wuh-Sung geworden war. Da sich aber tänzelnde Schritte mit seinem würdigen Alter nicht mehr vertrugen, schritt er ruhig und langsam seiner Behausung zu und vollführte die Freudensprünge nur in Gedanken.
Goldlotos nimmt Abschied Der von Goldlotos und vom Oberrat Yang ersehnte Morgen war angebrochen: der Tag des ersten Mondes nach dem Drachen boot fest. Es sollte nicht nur die Hochzeitskarawane aufbrechen, sondern in den neu erbauten Ställen und auf den Weideplätzen des Hauses Tschin wurden auch die tausend Pferde der Rasse „Licht leuchtet in der Nacht“ erwartet. Oberrat Yang hatte sich vom Magister Fu aus der Mondlaternengasse den glücklichsten Tag für die Ankunft der Tiere errechnen lassen. Nach dem Ehevertrag mußte am selben Tag auch die Hochzeitskarawane aufbrechen. Es war gar nicht einfach, einen Tag zu finden, der für beide Unternehmungen günstige Aspekte zeigte. Darüber hätten Monate vergehen können. Doch Herr Yang gierte nach dem Besitz der Tiere, und so versprach er dem Sterndeuter Fu zehn Unzen Silber zusätzlich, wenn er recht bald einen geeigneten Tag finden würde. Das Häuschen, das Herr Fu in der Mondlaternengasse bewohnte, bedurfte längst mancher Ausbesserung. Zehn Unzen Silber konnte er gut gebrauchen, und so erfüllte er den Wunsch des Oberrats. Allerdings verschwieg er, daß der von ihm gefundene Tag recht günstig für die Abreise der kleinen Prinzessin war, aber nicht unbedingt für die Ankunft der Pferde. Ehe Herr Fu diesen Tag nannte, war er lange mit sich zu Rate gegangen. Schließlich war er zu dem Schluß gekommen, daß die kleine Prinzessin eher eine glückliche Sternstunde benötigte, als ihr Onkel. Der Oberrat war ohnehin von den Göttern reich bedacht worden. Als glutrote Scheibe ging die Sonne über dem Tal des Südflusses auf und färbte die verschlafenen Wolken rosa. Nach einer langen, durchwachten Nacht begrüßte Goldlotos den frühen Morgen. Bereits völlig angekleidet verließ sie das Haus. Ringsum schlief noch alles. Sie trippelte über die kleinen, gewundenen Wege des Parkes. Ab und zu blieb sie stehen und nahm Abschied von der vertrauten Umgebung. Wie oft war sie diesen Weg schon gegangen. Er führte zu dem „Haus der fleißigen Hände“, an einem kleinen Pavillon vorbei und über zwei geschwungene Brücken. Sie kannte jeden Strauch und jede Biegung des Weges. Nun ging sie ihn zum letztenmal. Weshalb war sie traurig? Sie hatte doch diesen Tag herbeigesehnt. Sie hatte sich nie vorstellen können, daß ihr der Abschied schwerfallen würde. Nun merkte sie, daß sie ja nicht nur
von den schweren Stunden Abschied nehmen mußte, sondern auch von all den kleinen Dingen, die ihr Freude gemacht hatten. Da stand die kleine Bank. Hier hatte sie immer mit Herrn Fu gesessen und ihm zugehört. Er hatte ihr von den Göttern erzählt, jeder Gott hatte einen Namen und jeder Name war ein Schriftzeichen. Mit seinem Bambusstöckchen hatte er diese Zeichen in den feinen Sand gezeichnet. Auch von dem kleinen Pavillon mußte sie Abschied nehmen. Wie oft war sie Frau Wönn entwischt, hatte sich in dem Häuschen versteckt und die Leute belauscht, die vorbeigingen. Hier hatte sie auch gestanden, als Tsan Tsuo mit dem Kuli in Streit geriet und… Sie beschleunigte die Schritte. Es war gut, daß ihr gerade jetzt diese Begegnung eingefallen war. Es war sehr gut. Nein, sie würde alles gern zurücklassen. Sie begann zu laufen und erreichte atemlos das „Haus des erwachenden Lebens“. Schnell schlüpfte sie hinein. Nach einer Weile verließ sie das Haus wieder und hielt die Arme über die Brust verschränkt. Ohne sich weiter aufzuhalten, ging sie geradewegs zurück. Sie fröstelte in der kühlen Morgenluft, doch sie zitterte nicht nur vor Kälte… Als Frau Wönn das Zimmer der Prinzessin betrat, saß diese schon fertig angekleidet vor dem Frisiertischchen. „Meine kleine Lotosblüte hat schon zeitig den Kelch geöffnet“, kicherte Frau Wönn. „Laß dich ansehen.“ Sie betrachtete das Gesicht der Prinzessin und meinte dann: „Du hast sehr blasse Wangen. Da müssen wir kräftig Rot auftragen.“ Als sie sich im Zimmer umsah, fiel ihr Blick auf die Schale mit dem Schlaftrunk. Sie hatte ihn gestern abend für Goldlotos bereitet, und nun stand er noch unberührt neben dem Bett. „Dachte ich es mir doch“, schalt sie. „Du hast wieder einmal meinen Rat nicht befolgt. Kein Wunder, wenn du nun blasse Wangen hast. Sicher hast du die ganze Nacht nicht ein Auge zugetan. Meinst du, diese Reise nach Khotan sei ein Katzensprung? Wir werden Wochen unterwegs sein.“ Sie setzte sich auf einen der Körbe, die im Raum standen, und hielt weiter ihre Strafpredigt. Goldlotos schwieg auf alle Vorwürfe. Hinter ihr stand das kleine Lacktischchen und dort lag, in ein Seidentuch gehüllt, der Schatz, den sie mit nach Khotan nehmen würde. Wäre sie nur schon am Ziel! Dann war es gleichgültig, wie sie aussah. Der Schatz würde alles überstrahlen. Sie hatte ihren Plan
in durchwachten Nächten bis in die kleinsten Einzelheiten durchdacht. Ihr sollte es nicht so ergehen wie jenem Fremden, der bereits an Tsan Tsuo gescheitert war. Bis jetzt war nichts schwierig gewesen, doch sie wußte, daß die Hindernisse erst kamen. Nach dem alten Gesetz der göttlichen Siling-shi mußten die kleinen Samenkügelchen der Himmelswürmer zu einem bestimmten Zeitpunkt ihr erstes Aschebad erhalten. Der Tag stand genau fest. Bis dahin mußte die Karawane also in Khotan sein. Kamen sie zu spät, war alles umsonst. Dann würde kein Himmelswurm ausschlüpfen, und ihr Geschenk tot und wertlos bleiben. Es ließ sich auch nicht vermeiden, daß sie jemanden in ihr Geheimnis einweihen mußte. Die alte Wönn wollte sie damit nicht belasten. Die Reise war lang, und Frau Wönn würde sie begleiten. Ein unbedachtes Wort konnte Verrat bedeuten. Deshalb mußte ihre Vertraute in Lo-jang bleiben. „Rufe mir Ying-Ying. Sie soll mir die Brautfrisur legen“, sagte Goldlotos und wischte etwas Rot von den Wangen. Frau Wönn hatte es sehr dick aufgetragen. „Untersteh dich, den Puder abzuwischen!“ Frau Wönn klopfte ihr leicht auf die Hände. „Es ist viel zuviel“, sagte Goldlotos. „Sieh doch selbst. Ich habe gar kein Gesicht mehr. Nur noch Schminke.“ „Davon verstehst du nichts. Überlasse das mir. Ich weiß genau, wieviel man auftragen muß.“ Sie fiel der Prinzessin in die Arme, als sie mit einem Läppchen die gepuderte Stirn abwischen wollte. „Vor unserer Ankunft muß ich dich ohnehin noch einmal schminken. Auch der Haarputz wird nicht solange halten. Es wäre vielleicht besser, wenn ich selbst dir die Haare stecken würde.“ „Nein“, entgegnete Goldlotos bestimmt. „Ich habe es Ying-Ying versprochen, und sie freut sich darauf.“ „Meinetwegen. Doch klage nicht, wenn ich es später nicht mehr zurecht bekomme und du in Khotan wie ein zerrupftes Entlein aus der Sänfte steigst.“ „Ying-Ying wird die Haare feststecken. Das Stirnband und die Haube werden die Frisur halten. Ich will ganz still in meiner Sänfte sitzen, und du wirst sehen, daß der Haarschmuck bei der Ankunft nicht anders aussieht als bei der Abreise.“ An dem Ton merkte Frau Wönn, daß die Prinzessin wieder einmal unnachgiebig war. Weitere Einwände würden keinen Zweck haben. Sie ließ Ying-Ying rufen; die kam sofort. Ihre geschickten Hände machten sich sogleich an die Arbeit. Erst wurde das Haar
gewaschen, dann mit wohlriechenden Salben und ölen eingerieben. Nun begann die schwierigste Arbeit. Das Haar wurde kunstvoll zu einem hohen Turm gelegt. Frau Wönn half fleißig mit. Als nur noch das bestickte Stirnband und der Brautschmuck aufzusetzen waren, sagte Goldlotos zu ihr: „Ich habe an meinen geehrten Herrn Onkel Oberrat noch eine Bitte. Wenn du sie ihm persönlich überbringst, wird er sie sicherlich nicht abschlagen. Ich möchte gern in meiner Sänfte einige Schößlinge der Maulbeerbäume mitnehmen.“ „Was willst du?“ Frau Wönn glaubte nicht richtig gehört zu haben. „Einige Schößlinge“, erwiderte Goldlotos ruhig, als handele es sich um die selbstverständlichste Sache der Welt. „Solange ich denken kann, hat mich dieser Geruch begleitet. Ich würde mich in dem fremden Reich einsam fühlen, müßte ich diesen vertrauten Geruch entbehren. Mein Gemahl gestattet mir sicher, daß ich die kleinen Bäumchen vor meinem Fenster pflanze. Wenn ich sie sehe, werde ich immer an das Nest erinnert, aus dem ich geschlüpft bin. Sage das alles meinem Onkel. Ich bin sicher, daß er mir diesen Wunsch nicht abschlagen wird.“ Die Bitte kam Frau Wönn recht merkwürdig vor, doch sie trottete davon. In den letzten Tagen hatte Goldlotos ihr so viele Rätsel aufgegeben, daß sie sich nicht mehr wunderte. Sie glaubte fest daran, daß dieser Zustand nur vorübergehend sei. War man erst einmal in Khotan, würde Goldlotos gewiß wieder so werden wie früher. Oberrat Yang war bester Laune. Man hatte ihm gerade die Nachricht überbracht, daß der erste Trupp der Pferde den Beobachtungsposten erreicht hatte. Er hatte ihn zwanzig Meilen vor der Stadt aufstellen lassen, um rechtzeitig informiert zu werden. Der erste Trupp der Pferde mußte also bald in Lo-jang eintreffen. Der Oberrat war in freudiger Erwartung. Ungeduldig lief er im großen Raum des Haupthauses hin und her. Er hatte zur Feier des Tages einen prachtvollen, purpurroten Rock angelegt, der von einer goldenen Schnur zusammengehalten wurde. Im Geist sah er bereits die tausend Pferde, hörte ihren Hufschlag und das Wiehern und spürte das warme Schnauben aus geblähten Nüstern. Er war so in Gedanken, daß er Frau Wönn gar nicht bemerkte, die schon eine Weile im Raum stand. Sie wollte sich schnell ihres merkwürdigen Auftrages entledigen, denn es war noch vieles
vorzubereiten. So nahm sie ihren Mut zusammen, trat vor den Oberrat, machte ihre Verbeugungen und überbrachte die Bitte der Prinzessin. „Wenn es ihr Freude macht, kann sie mitnehmen, soviel sie will“, sagte der Oberrat. Er entließ sie mit dem Auftrag, dem Gärtner Anweisung zu geben, die gewünschten Schößlinge zu besorgen und sie so herzurichten, daß sie die weite Reise gut überstehen würden. Frau Wönn verließ schnell den Raum, und der Oberrat blieb wieder mit seinen Gedanken allein zurück. Goldlotos war mit Ying-Ying allein im Zimmer. Sie schloß das Fenster und auch die Tür. Dann bat sie Ying-Ying, neben ihr Platz zu nehmen. Die beiden Mädchen waren fast im gleichen Alter. Wie sie nebeneinander saßen, hätte man sie für Schwestern halten können. Äußerlich unterschied sie nur das Gewand. Goldlotos trug bereits das prächtige Brautgewand, während Ying-Ying in ihrer einfachen Arbeitskleidung war. „Wenn ich fort bin, wirst du meinen Platz im ,Haus der fleißigen Hände’ einnehmen“, begann Goldlotos. „Ich habe bereits mit dem geehrten Herrn Oberrat gesprochen, und er ist einverstanden.“ Ying-Ying war so überrascht, daß sie vor Freude nicht wußte, was sie tun sollte. Sie kniete vor Goldlotos nieder und wollte ihre Hände küssen, doch die Prinzessin wehrte ab. „Schwesterchen YingYing“, sagte sie und streichelte ihr den Kopf, „ich werde dich im fernen Reich Khotan sehr vermissen.“ Ying-Ying wollte etwas erwidern, doch sie brachte kein Wort hervor. In diesem Augenblick wurde ihr bewußt, wie sehr sie die kleine Prinzessin geliebt hatte. Bei diesem Gedanken traten ihr die Tränen in die Augen. „Willst du mir noch einen Gefallen tun?“ Goldlotos wischte ihr die Tränen ab. „Ich habe ein Geheimnis, das ich mit dir teilen möchte. Ich weiß, du wirst es hüten.“ Sie trat an das Lackschränkchen und holte ein seidenes Tuch hervor. Behutsam breitete sie es aus. „Du siehst, es sind die Eier unserer Himmelswürmer. Es soll mein Hochzeitsgeschenk sein. Bald wird es auch in Khotan ein ,Haus der fleißigen Hände’ geben. Was ich tue, ist verboten. Entdeckt man mich an der Grenze, zählt mein Leben nur noch Stunden.“ Sie sah die ängstlich geweiteten Augen der kleinen Ying-Ying und fuhr lächelnd fort: „Sei unbesorgt. Soweit wird es nicht kommen. Von diesem Geheimnis weißt nur du etwas, und mein Mann wird es erfahren, wenn ich ihm die Himmelswürmer als
Geschenk bringe. Willst du mir das Tüchlein vorsichtig in das Stirnband binden? Dort wird niemand das große Geheimnis suchen, und kein kalter Wind wird es zerstören.“ Sie nahm das Tüchlein und legte es behutsam zusammen. YingYing sprach nichts. Sie hatte verstanden, was Goldlotos meinte, und machte sich mit geschickten Händen an die Arbeit. Als das Stirnband fest das Haar umschloß, verbeugte sie sich dreimal vor Goldlotos. „Die Götter werden Euch segnen“, flüsterte sie. Goldlotos umarmte sie, und nun weinten beide. So fand sie Frau Wönn, als sie den Raum wieder betrat. Oberrat Yang hatte das Haus verlassen, um im Garten einen kleinen Aussichtshügel aufzusuchen. Von seiner Höhe konnte man die Karawanenstraße überblicken. Er wollte dort solange verweilen, bis die Staubwolke am Horizont ihm die Ankunft der Pferde anzeigte. Er hatte sich auf einer kleinen Bank niedergelassen und hielt die Hand schützend über die Augen. Ein kleiner Trupp bewaffneter Reiter verließ die Stadt. Er sah, wie sie in der Ferne verschwanden. Als er hinter sich die Stimme des Oberrichters Tschu hörte, schrak er zusammen. „Es wird ein heißer Tag. Ich möchte nicht die Flüche der Soldaten hören, wenn sie in die Mittagshitze kommen“, sagte der Oberrichter und setzte sich neben Yang. „Ich wollte mich bei Euch bedanken, verehrter Herr Oberrat. Ihr habt Euch der Aufgabe mit sehr viel Umsicht entledigt. Ich habe ein Protokoll an den Präfekten gerichtet und dabei Eure Mithilfe besonders erwähnt. Es sollte mich nicht wundern, wenn in den nächsten Tagen ein Dekret des Präfekten eintrifft. Es ist anzunehmen, daß er Euch zum Hilfsrichter der Provinz ernennen wird.“ Herr Yang winkte geschmeichelt ab. „Meine bescheidene Mithilfe ist nicht der Rede wert. Ich hoffe nur, Ihr habt bei dem armen Teufel Gnade vor Recht ergehen lassen. Ihr versteht, er war Gast in meinem Hause, und ich möchte nicht ins Gerede kommen.“ Um die Mundwinkel des Richters spielte ein boshaftes Lächeln, als er sagte: „Ihr könnt unbesorgt sein. Der Trupp Bewaffneter, der eben das Stadttor verlassen hat, bringt ihn zur Grenze und läßt ihn dort laufen.“ Beide saßen eine Weile schweigend nebeneinander. Noch war von den Pferden nichts zu sehen. Herr Tschu wollte ein anderes Thema beginnen: „Ich habe noch gar nicht bemerkt, daß große Vorbereitungen für die Hochzeitskarawane getroffen werden.“
Herr Yang winkte ab. „Weshalb große Vorbereitungen? Die Körbe mit dem Hausrat der Prinzessin sind gepackt. Die Lastkamele, Sänften und Träger stehen bereit. Ich schicke die alte Wönn mit nach Khotan. Tsan Tsuo wird die Karawane begleiten und dann wieder zurückkommen.“ „Habt Ihr Euch schon von Prinzessin Goldlotos verabschiedet?“ „Dazu ist es noch Zeit. Vorhin wurde mir nur ihr Wunsch überbracht, einige Maulbeerschößlinge mit nach Khotan zu nehmen.“ „Maulbeerschößlinge?“ Der Oberrichter stieß verwundert die Luft durch die Nase. „Was will sie denn damit?“ „Sie will die Bäume unter ihr Fenster pflanzen, um durch den Duft an unsere Stadt am Südfluß erinnert zu werden.“ „Ein merkwürdiger Einfall“, meinte Tschu nachdenklich. „Wirklich sehr merkwürdig.“ „Das finde ich gar nicht“, meinte Yang lachend. „Es sind Launen eines kleinen Mädchens. Wenn es ihr Spaß macht, kann sie meinetwegen einen ganzen Hain mitnehmen. Wir haben genug Maulbeerbäume.“ Er sprang auf. In der Ferne erhob sich eine Staubwolke, man konnte den Huf schlag vieler Pferde hören. Eine Woge brauner und schwarzer Leiber wälzte sich heran. Da und dort blitzte goldenes Zaumzeug in der Sonne. Yang stand wie versteinert. Er hielt die Hand abschirmend über die Augen. Ihn erfüllte ein Triumphgefühl ohnegleichen. In diesem Augenblick stand er am Ziel seiner Wünsche. Er hatte die Familie Tschin zu der mächtigsten im ganzen Tal des Südflusses gemacht. Plötzlich wurde ihm übel. Alles begann sich zu drehen. Die Luft schien zu flimmern. Es dröhnte laut, kreischend, schmerzhaft. Er hatte das Gefühl, zu zerspringen. Etwas wollte seine Brust zerreißen; sein Körper war wie aus Glas, das Blut in seinen Adern brannte wie Feuer. Der Schmerz wurde so groß, daß er schrie. Er spürte noch Hände, die ihn stützen wollten; doch der Boden glitt davon, und er stürzte ins Dunkel… Man hatte den Oberrat in das Haus gebracht. Als Goldlotos an sein Lager trat, um sich zu verabschieden, lag er wie leblos. Nur in seinen Augen war noch Leben, sie wanderten ruhelos hin und her. Er wollte mit ihr sprechen, doch aus seinem Mund kamen nur noch lallende Laute, unzusammenhängend und unverständlich. Man sah, daß er versuchte, Wörter zu formen. Es gelang ihm nicht. In hellen
Tropfen stand der Schweiß auf seiner Stirn. Als Goldlotos ihn so hilflos sah, versuchte sie, Mitleid für diesen Menschen zu fühlen. Es wollte ihr nicht gelingen. Wie hatte sie seine Hand gefürchtet, die er jetzt nicht mehr bewegen konnte! Wie hatte sie vor seiner Stimme gezittert, die jetzt keine Worte mehr formen konnte! Die Götter haben ihn gestraft. Sie wußte, daß es an ihr war, ihm zu verzeihen. Sie kämpfte mit sich selbst. Es war alles so schwer. Sie wollte verzeihen, und es gelang ihr nicht. Waren über seine Lippen jemals zärtliche, verstehende Laute gekommen? Hatte er nicht immer an sich und nur an sich gedacht? Mit einemmal hörte man das Wiehern der Pferde, die in die Stallungen geführt wurden. Das Stampfen ihrer Hufe ließ den Raum erzittern. Es war der Kaufpreis, den er für sie gefordert hatte. Goldlotos griff an den kostbaren Haarschmuck, dann machte sie eine tiefe Verbeugung vor dem Onkel und wollte langsam das Zimmer verlassen. Er versuchte sich aufzurichten, doch es gelang ihm nicht. Seine Lippen bewegten sich lautlos, und seine Augen verfolgten die schmale Gestalt. Kraftlos fiel sein Kopf zur Seite. Unter der Tür blieb Goldlotos stehen, sie ging zögernd nochmals einige Schritte zu seinem Lager zurück. Sie verbeugte sich und flüsterte leise: „Bittet die Götter um Vergebung. Ich habe Euch verziehen.“ Dann wandte sie sich schnell ab und verließ den Raum.
Der Hochzeitskarawane begegnet ein Trupp Gerichtssoldaten Die Hochzeitskarawane war seit Wochen unterwegs. Es war ein weiter Weg nach Khotan. Prinzessin Goldlotos saß in ihrer Sänfte. Die Vorhänge waren geschlossen, eintönig klang der Gesang der Träger, eintönig das Lied der Soldaten. Die Sänfte wippte in gleichmäßigem Rhythmus. Die Prinzessin saß aufrecht und lehnte sich nicht zurück. Man hatte in der Sänfte ein kleines Kopfgestell angebracht, damit sich Goldlotos ausruhen konnte, ohne den kostbaren Haarschmuck zu zerstören. Doch sie saß aufrecht, ohne sich anzulehnen. Sie hatte es sich bereits angewöhnt, in dieser Haltung zu schlafen. Die Karawane hielt. Man hörte Stimmen und Pferdegetrappel. Vorsichtig schob Goldlotos die Vorhänge auseinander. Sie hielten in einer öden Gebirgslandschaft. Die Sonne brannte gnadenlos vom Himmel. Wönn saß in der zweiten Sänfte. Schwerfällig kletterte sie heraus und wischte sich mit einem kleinen Tüchlein den Schweiß von der Stirn. Da sprengte Tsan Tsuo auf einem Apfelschimmel an ihr vorüber. „He! Tsan Tsuo!“ rief Wönn. Er wendete sein Pferd und kam zurück. „Weshalb macht ihr denn hier wieder einen Aufenthalt? Wenn es euch einfallen sollte, schon hier das Lager aufzuschlagen, lasse ich meine Sänfte und die der Prinzessin allein weitertragen.“ „Nur zu, nur zu“, sagte Tsan Tsuo und entblößte seine Zähne zu einem breiten Grinsen. „An dir werden die Hyänen viel Spaß haben. Ich möchte auch wetten, daß es in dieser Gegend einige Kerle gibt, die sich an deinem kleinen Falter erfreuen werden.“ „Du schmutziger Schildkröterich!“ kreischte Wönn und versetzte dem Pferd einen so kräftigen Schlag, daß es erschreckt davonstob. Es geschah so plötzlich, daß Tsan Tsuo Mühe hatte, sich im Sattel zu halten. Sie schickte ihm noch einige Schimpfworte hinterher und watschelte dann zu der Sänfte der Prinzessin. Goldlotos wollte ebenfalls wissen, was die Unterbrechung zu bedeuten habe. Trotz der glühenden Hitze machte sich Frau Wönn auf den Weg, um an die Spitze der Karawane zu kommen. Es war ein langer Zug. Einige Kamele trugen Proviant und Wasser für die lange Reise, andere führten Rohseide mit und wieder andere den verpackten Hausrat der
Prinzessin. Der ganze Zug wurde von bewaffneten Reitern gesichert, die sich an der Spitze und am Ende der Karawane befanden. Als die alte Wönn schnaubend an der Karawane vorbeitrottete, riefen ihr die Kameltreiber lachend Scherzworte zu. Sie sah über sie hinweg. Ihr Ziel war ein kleines Grüppchen Reiter, die sich etwas abseits im Schatten eines Felsens gesammelt hatten. Als sie näherkam, bemerkte sie unter den Reitern bekannte Gesichter aus Lo-jang. Es waren Gerichtssoldaten, die ihre unvermutete Begegnung mit Tsan Tsuo durch einen Umtrunk feierten. Gute Götter, dachte sich Frau Wönn, bei der ewig trockenen Kehle von Tsan Tsuo kann das eine Weile dauern! Die Soldaten ließen lärmend die Schalen mit Reiswein kreisen. Etwas abseits stand ein junger Soldat. Er war damit beschäftigt, seinem Pferd den Futtersack umzubinden. Hin und wieder blickte er zu seinen Kameraden hinüber, die lärmend und lachend Tsan Tsuo umringten. Neben diesem jungen Soldaten blieb Frau Wönn stehen. Er tätschelte sein Pferd und nahm keinerlei Notiz von ihr. „Nun, Huan“, begann sie die Unterhaltung. „Reitet ihr zum Vergnügen in dieser Gegend oder habt ihr es darauf abgesehen, uns unnötig aufzuhalten?“ „Keines von beiden“, entgegnete der Bursche und beschäftigte sich weiter mit seinem Pferd. „Bisher war es üblich, auf eine höfliche Frage eine höfliche Antwort zu erhalten,“ sagte Wönn ärgerlich und musterte den jungen Soldaten von oben bis unten. Wönn schüttelte den Kopf. „Für die Soldaten des Gerichts scheint Höflichkeit jedoch ein Fremdwort zu sein. Vielleicht habe ich mir auch nur den unhöflichsten ausgesucht.“ „Schon möglich“, entgegnete Huan mürrisch. Dann nahm er sein Pferd und führte es in den Schatten. Frau Wönn folgte ihm schweigend. An ihrem Gesicht konnte man jedoch erkennen, daß dieses Schweigen nur die Stille vor dem Sturm war. Durch den unvorhergesehenen Aufenthalt war sie schon gereizt, und das Benehmen des jungen Soldaten verdoppelte ihren Ärger. Als sie sah, daß er sich neben sein Pferd in den Schatten setzte und tat, als sei sie gar nicht vorhanden, brach das Gewitter los. Auf einen derartigen Ausbruch war Huan nicht vorbereitet, verblüfft starrte er mit offenem Munde die Alte an. Als er sich von dem ersten Schreck erholt hatte und Frau Wönn eine Pause machte, um Atem zu holen, erhob er sich. Er machte eine tiefe Verbeugung und stammelte einige Worte der Entschuldigung. Doch damit war Frau Wönn nicht
sogleich zu beruhigen. Wenn sie einmal in Wut geraten war, dauerte es eine ganze Weile, bis sich das Wetter legte. Sie wurde erst friedlicher, als sie in der Miene des Burschen einen Zug entdeckte, der sie versöhnlicher stimmte. Dieser Huan sah gutmütig aus, und seine Schroffheit schien nur ein Schirm zu sein, hinter dem sich Scheu und Angst verbargen. Frau Wönn setzte sich auf eine Felsenplatte und lud Huan ein, neben ihr Platz zu nehmen. Nun erfuhr sie endlich, weshalb der Gerichtstrupp an die Grenze geritten war. Sie hatten einen Gefangenen dabei. „Ich ritt“, so berichtete Huan, und in seinem jungen Gesicht stand der Kummer der letzten Stunden, „neben diesem armen Teufel. Er zählt bestimmt nicht viel mehr Jahre als ich. Wir hatten ihm einen schweren Halskragen umgelegt, dessen Gewicht ihn nach vorne zog. Diese Last war für ihn eine grausame Pein, und sie wurde ihm während der ganzen Wochen unserer Reise nicht abgenommen. Doch er klagte niemals. Ich führte sein Pferd und mußte ihn immer wieder ansehen. Um seine Mundwinkel spielte ein leises Lächeln, als sähe er herrliche Dinge. Dabei war er geblendet worden.“ Aus der Gruppe um Tsan Tsuo tönte Lachen. Huan unterbrach seine Erzählung und sah angewidert hinüber. Er machte eine kurze Kopfbewegung und meinte: „Ja, seht Euch nur meine Kameraden an. Sie haben den armen Kerl gequält, wie es schlimmer nicht möglich war. Sie haben den Wehrlosen verhöhnt und angespuckt. Sie haben sein Pferd in der prallen Sonnenhitze angebunden, und ihn nicht absteigen lassen, während wir uns einen schattigen Platz suchten. Sie machten sich ein Vergnügen daraus, die Schalen laut schlürfend vor ihm zu leeren, und er mußte dürsten. Ich habe ihm nachts heimlich Wasser gebracht. Ich mußte verstohlen tun, denn sie hätten mich erschlagen, wenn sie mich dabei erwischt hätten. Doch er hat sie alle beschämt. Alle grausamen Marter schienen ihn nicht zu berühren. Er lächelte immer; mir kam es vor, als wäre er schon an einem Ort, wohin wir ihm nicht folgen konnten. Wir führten ihn bis zur Großen Mauer. Dort mußte er absteigen. Dann ging es über die Grenze. Wir verließen die Karawanenstraße und jagten ihn in die Wildnis. Dann galoppierten wir zurück.“ Frau Wönn hatte aufmerksam der Erzählung gelauscht. Huan sah an ihr vorbei, streichelte die Nüstern seines Pferdes und schloß: „Was dieser Mensch verbrochen hat, ist gleichgültig. Die Götter
werden uns einmal härter bestrafen als ihn.“ Ohne eine Entgegnung abzuwarten, stand er auf, nahm sein Pferd beim Zügel und ging davon. Auch seine Kameraden verabschiedeten sich lärmend von Tsan Tsuo, saßen auf, gaben ihren Pferden die Sporen und waren bald verschwunden. Frau Wönn trippelte zu den Sänften zurück. Dort wurde sie bereits von Goldlotos ungeduldig erwartet. „Wie lange dauert es noch?“ fragte sie. „Nicht mehr lange“, antwortete Wönn. Goldlotos sah an dem geröteten Gesicht der Alten, daß etwas geschehen sein mußte. Erst gab Frau Wönn auf ihre Fragen ausweichende Antwort, doch dann erzählte sie, was ihr der Soldat Huan berichtet hatte. Goldlotos spielte nervös an ihrem Gewand. „Wann kommen wir zur Grenze?“ „Eine Tagereise. Vielleicht auch zwei. Ich kann es dir nicht genau sagen.“ „Zu spät“, flüsterte Goldlotos. „Es wird für ihn zu spät sein. Zu spät.“
Die Karawane erreicht die Grenze, und es kommt zu einem Zwischenfall Lange Stunden war man wieder unterwegs. Die Große Mauer konnte nicht mehr weit sein. Je näher man der Grenze kam, desto unruhiger wurde Goldlotos. „Lehne dich doch zurück und ruhe dich aus.“ Frau Wönn, die nun bei ihr in der Sänfte saß, sprach auf sie ein. Doch Goldlotos schien sie nicht zu hören. Sie saß starr wie eine Bildsäule. Seit Tagen hatte sie kaum etwas gegessen. In ihrem schmalen Gesicht leuchteten nur die Augen. Die Hände spielten nervös und griffen hin und wieder behutsam nach dem Kopfschmuck. „Darum brauchst du dir keine Sorgen zu machen“, meinte Wönn, der die Bewegung nicht entgangen war. „Vor unserer Ankunft werde ich dir die ganze Frisur neu stecken.“ „Nein, nein“, erwiderte Goldlotos heftig. „Ying-Ying hat die Frisur so fest gelegt, daß gar nichts verdorben sein kann. Du mußt doch selbst zugeben, daß die Frisur noch genauso schön ist wie in Lo-jang.“ „Ist ja auch kein Wunder“, brummte Wönn. „Seit unserer Abreise sitzt du wie eine Porzellanfigur. Du schläfst nicht, du ißt weniger als ein Vogel, du lehnst dich nicht zurück und machst es dir nicht ein bißchen bequem. Du hast recht, der Haarputz ist unversehrt. Dafür ist das Pfirsichrot der Wangen verflogen. Mögen die Götter deine Launen ergründen; ich kann es nicht.“ Sie seufzte und meinte dann in ehrlicher Überzeugung: „Wenn wir glücklich in Khotan sind, werde ich den Göttern ein Weihrauchopfer bringen.“ Goldlotos hatte diese Vorwürfe schon so oft anhören müssen, daß sie davon nicht mehr berührt wurde. Sie schob den Vorhang beiseite und blickte hinaus. Das Bild der Landschaft hatte sich kaum verändert. Der Weg führte noch immer durch wildzerklüftetes Gebirge. Und wenn sie endlich die Große Mauer, die das Chinesische Reich umschloß, erreicht hatten, würde erst ein Teil der Reise überstanden sein. Sie mußte jedoch an dem bestimmten Tag in Khotan sein, sonst war alles umsonst. Dieser Gedanke verfolgte sie auf der ganzen Reise. Frau Wönn war eingeschlafen. Ihr Kopf wackelte im Rhythmus der Trägerschritte hin und her. Goldlotos summte ein Lied, eine einfache Melodie. Das Lied hatten die Mädchen im „Haus der fleißigen Hände“ oft bei der Arbeit gesungen. Sie summte das Lied, um wach
zu bleiben. Man würde die Grenze bald erreicht haben, sie durfte nicht schlafen. Ihre Augenlider waren wie Blei und schmerzten. Nach der großen Hitze der vergangenen Tage war es jetzt empfindlich kühl geworden. Da Frau Wönn schlief, legte sie ihre Hände wärmend an den Kopfschmuck. Ihr fielen wieder alle Geschichten ein, die sie in Lo-jang über diese Grenze gehört hatte. Die Wachsoldaten seien wüste Gesellen. Meist seien sie vom Reiswein berauscht und unberechenbar. Kaufleute erzählten, daß man sie bis auf die Haut durchsucht habe. Die Soldaten hätten sich johlend auf die Karawane gestürzt und für sich die besten Stücke herausgesucht. Wurde Widerstand geleistet, so beschlagnahmten die Soldaten die ganze Ladung. Der Kaiser war weit, und die Offiziere wirtschafteten möglichst viel in die eigene Tasche. Man mußte sich ja für den harten Dienst in diesem menschenleeren Gebiet schadlos halten. Wie ihre Offiziere, dachten auch die Soldaten, und so herrschte wenig Ordnung und Disziplin. Was blieb den Soldaten anderes übrig? Manchmal vergingen Monate, und es kam weder Verpflegung noch Sold an die Grenze. Dann waren die kaiserlichen Truppen, die Nachschub bringen sollten, von räuberischen Stämmen überfallen worden. Es konnte auch sein, daß irgendein Beamter am kaiserlichen Hof das für die Soldaten bestimmte Geld in die eigene Tasche wandern ließ. Man konnte es also den Soldaten nicht verdenken, wenn sie sich auf ihre Art selbst halfen. So war die Grenze berüchtigt und von den Kaufleuten gefürchtet. An all das dachte die kleine Prinzessin, während sie ihr Lied summte und mit ihren Händen die Kälte von dem Kopfschmuck fernhielt. Frau Wönn war wieder erwacht und summte das Liedchen mit. „Werden wir an der Grenze lange aufgehalten werden?“ „Was weiß ich? Ich bin in meinem ganzen Leben noch nicht so weit gekommen. Ich weiß nur, was man sich so erzählt. Das muß aber nicht alles wahr sein. Es wird sehr viel geredet und manches schlimmer gemacht, als es ist. Uns braucht es nicht zu kümmern. Wir haben ja nichts zu verbergen.“ Sie spuckte gleichmütig einen Sonnenblumenkern aus der Sänfte. „Der Maulbeerbäume wegen werden sie uns wohl keine Schwierigkeiten machen.“ Die Schößlinge lagen auf dem Boden der Sänfte. Goldlotos schlug sie bei jeder Rast in feuchte Tücher ein. Frau Wönn kaute an einem neuen Sonnenblumenkern und meinte: „Ich werde keinem
dieser Halunken gestatten, daß er auch nur einen Blick in deine Sänfte wirft.“ Tsan Tsuo, der langsam neben der Sänfte ritt, hatte diese Bemerkung gehört. Er stieg vom Pferd, steckte seinen Kopf in die Sänfte und meinte grinsend: „Ich fürchte, geschätzte Dame Wönn, daß die Soldaten so unhöflich sind und vergessen, Euch vorher um Erlaubnis zu fragen. Man kann es diesen Kerlen in ihren zerlumpten Uniformen auch nicht verdenken, wenn sie sich den Anblick einer so köstlichen Blüte aus den Gärten des inneren Landes nicht entgehen lassen.“ Wönn versetzte ihm mit dem Fächer einen leichten Schlag. Sie ließ die Sänfte anhalten und stieg aus. Tsan Tsuo führte noch immer sein Pferd am Zügel, und Frau Wönn trippelte jetzt neben ihm her. „Soviel ich mich erinnere, steht der ehrenwerte Tsan Tsuo noch etwas in meiner Schuld. Jetzt brauche ich Eure Hilfe, und ich nehme an, daß Ihr sie mir nicht abschlagen werdet.“ „Ja, ja. Ist schon gut“, knurrte Tsan Tsuo. „Es geht ja doch nicht um Euch, sondern nur um Euren blassen Nachtfalter, ist es nicht so?“ Frau Wönn nickte, und ihr gutes, altes Gesicht legte sich in sorgenvolle Falten. „Seit unserer Abreise hat sie kaum geschlafen. Sie ißt kaum und trinkt weniger als ein Vogel. Sie sitzt wie eine Figur aus Stein in der Sänfte und nicht wie ein Mensch. Wenn diese Reise noch lange dauert, bringe ich eine kranke und verwelkte Lotosblüte nach Khotan.“ „Ja, ja“, grinste Tsan Tsuo. „Der Gott der Liebe ist ein heimtückischer Geselle. Er brennt einen von innen heraus förmlich aus. Das ist ihre ganze Krankheit, glaubt mir.“ „Sie hat irgendein Geheimnis“, sprach Wönn weiter, ohne den Einwurf des Türhüters zu beachten. „Ich spüre das doch. Ich kenne sie schon so lange, daß sie mir nichts mehr vormachen kann. Irgend etwas bedrückt sie, und sie will nicht mit mir darüber sprechen.“ „Wer weiß, was das Mandarinen-Entlein für ein Geheimnis hat.“ Tsan Tsuo lachte sein breites, dreckiges Lachen. Frau Wönn hätte ihm am liebsten einen Schlag in sein feistes Gesicht gegeben. Doch sie beherrschte sich. Sie wollte sich nicht mit Tsan Tsuo streiten. Jetzt brauchte sie seine Hilfe. Er mußte an der Grenze dafür sorgen, daß man ihren kleinen Liebling nicht belästigte. Sie bat ihn darum, und er versprach es. Ja, er gelobte es sogar feierlich. Irgendwie dämmerte es in seinem Gehirn, daß man vor dieser alten Frau
Achtung haben mußte. Sie lebte ja nur für das Mädchen, und er hatte Respekt vor ihr. Frau Wönn kletterte wieder in die Sänfte. Langsam senkte eine neue Nacht ihre dunklen Schleier über die Karawane. Zur Zeit der zweiten Nachtwache wollte Tsan Tsuo eine Ruhepause einlegen. Kaum stand die Karawane, da hörte man die erregte Stimme der alten Wönn. Sie rief nach Tsan Tsuo. „Was gibt es denn?“ Er schrie es ärgerlich, als er vor der Sänfte vom Pferd sprang. „Wir müssen weiter“, rief ihm Wönn zu. „Vor der Grenze darf keine Pause mehr eingelegt werden.“ „Du bist vollständig verrückt geworden“, brüllte Tsan Tsuo. „Keine Pause mehr vor der Grenze? Du weißt wohl nicht, wie weit es noch ist? Wenn wir die ganze Nacht noch weiterziehen, erreichen wir die Grenze erst beim Morgengrauen.“ Frau Wönn nickte, ging zu Goldlotos und sprach leise auf sie ein. Die Prinzessin saß gerade aufgerichtet und sagte mit bestimmter Stimme: „Ich will, daß keine Pause mehr gemacht wird. Hörst du, Wönn, ich befehle es. Es darf nicht sein. Ich kann es dir nicht erklären, ich kann dich nur bitten: Frage jetzt nicht, sondern sorge, daß wir ohne Aufenthalt weiterziehen.“ „Ohne Aufenthalt?“ Tsan Tsuo, der neben die Sänfte getreten war, hatte die letzten Worte der Prinzessin gehört. „Ohne Aufenthalt weiter“, wiederholte er höhnisch. „Nur weil der kleine Schmetterling keinen Schlaf braucht. Weiter in der Nacht, nur weil sich die kleine Prinzessin das in den Kopf gesetzt hat.“ Böse funkelten seine kleinen, stechenden Augen. „Nun hört, was Tsan Tsuo Euch sagt: Ich befehlige die Karawane, und ich sage: nein! Meine Leute müssen sich ausruhen und brauchen Schlaf. Ich kann mich nicht um die Launen eines kleinen, verwöhnten Palastkätzchens kümmern. Wir werden hier unseren Lagerplatz aufschlagen und erst bei Morgengrauen weiterziehen. Ich glaube, Ihr habt mich verstanden.“ Die Worte des Tsan Tsuo waren eine Beleidigung. Doch Goldlotos schien es gar nicht zu berühren. „Gib ihm dieses hier“, sagte sie ruhig und reichte Frau Wönn eine Schnur Silber. Sie wog gut ihre elf Unzen, und als Frau Wönn sie dem Türhüter zuwarf, hellte sich dessen finstere Miene auf. Er wog das Silber in seiner Hand und meinte dann: „Versteht mich bitte nicht falsch, meine kleine Gebieterin. Meinethalben könnten wir weiterziehen, natürlich müßten wir eine
kleine Pause für die Tiere und die Träger einlegen. Wir könnten einen Tag eher in Khotan sein. Doch…“ Er machte eine hilflose Gebärde. „Ich allein kann wenig ausrichten. Die Leute wollen nicht mehr. Sie werden gegen mich rebellieren. Was kann ich also tun?“ „Ich habe noch einige Unzen Silber“, beeilte sich Goldlotos zu erwidern. Sie wußte genau, worauf Tsan Tsuo hinauswollte. „Versprich jedem Soldaten, jedem Treiber und jedem Kuli eine Schnur Silber zusätzlich zu seinem Sold. Sie bekommen sie, wenn wir zwei Tage eher in Khotan sind. Du bekommst von mir zusätzlich noch einmal vier Unzen Silber. Wir haben uns verstanden?“ Tsan Tsuo nickte kurz, schwang sich auf sein Pferd und bald hörte man seine schneidende Stimme, die wie Peitschenschlag klang. Er trieb die Kulis an, jagte die Soldaten hoch, und der Zug setzte sich in Bewegung. Goldlotos schreckte aus dem Halbschlaf hoch. Sie hörte Pferde wiehern und kräftiges Stimmengewirr. Vorsichtig schob sie den Vorhang der Sänfte beiseite. War man schon an der Grenze? Hatte sie wirklich geschlafen? Frau Wönn saß nicht mehr ihr gegenüber, sie glaubte, ihre helle Stimme entfernt zu hören. Sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte kaum etwas unterscheiden. Das Zwielicht des anbrechenden Tages zeichnete nur verschwommene Konturen. Als es heller wurde, sah sie einen mächtigen Wall aus Erde und Steinen, der sich vor ihr auftürmte. Da und dort brannten Feuer, und schemenhafte Gestalten liefen hin und her. Das mußte die Grenze sein. Goldlotos fröstelte. Es war nicht die Kühle des Morgens und auch nicht Schwäche. Sie hatte Angst. Gute Götter, man konnte ihr alles nehmen, nur den Haarschmuck mußte sie behalten! Erregte Stimmen kamen näher. Schützend legte sie die Hand an die Schläfen und wurde immer ruhiger, je näher die Stimmen kamen. Das flatternde Herz pochte wieder regelmäßig, ihre verkrampften Hände lösten sich und sanken in den Schoß. Das war doch die helle, keifende Stimme der guten Wönn. Daneben war die heisere, drohende Stimme eines Mannes. „Laß deine dreckigen Hände von dieser Sänfte!“ Das war Frau Wönn. Die Stimmen kamen näher. Der Mann erwiderte etwas, Goldlotos konnte es jedoch nicht verstehen. Zum erstenmal auf dieser ganzen Reise lehnte sie sich zurück. Frau Wönn schrie auf. Die kostbaren Vorhänge der Sänfte wurden von derben Fäusten heruntergerissen. Goldlotos konnte gerade noch ihr Gesicht mit dem Schleier
verhüllen. Im Schein der Fackeln erschien in dem frei gewordenen Rahmen ein bärtiges, pockennarbiges Gesicht. „Hindert diesen Soldaten nicht daran, seine Pflicht zu erfüllen.“ Goldlotos sagte es mit ruhiger und fester Stimme. Sie beugte sich etwas vor und sagte zu dem Soldaten, der sie verwundert anstarrte: „Durchsuche bitte meine Sänfte, Soldat. Du wirst nichts finden. Ich führe nichts Verbotenes mit. Ich habe ein paar Maulbeerschößlinge dabei, die ich in meiner neuen Heimat pflanzen will. Auch besitze ich etwas Schmuck. Wenn dir der Sinn danach steht, magst du ihn nehmen.“ Sie zögerte einen Augenblick und sagte dann leise: „Ich will dir nichts verschweigen, Soldat. Noch etwas habe ich dabei. Tausend ungeborene Träume gehen mit mir über die Grenze, als Geschenk für meinen Bräutigam, den Fürsten von Khotan.“ Sie hatte es ruhig und bestimmt gesprochen. Ihre Stimme schwang weich und harmonisch wie die Saiten eines Instrumentes. Der Soldat trat verlegen zwei Schritte zurück. Dann machte er eine unbeholfene Verbeugung und entschuldigte sich stammelnd. „Du sollst dich nicht entschuldigen“, sagte Goldlotos und schüttelte den Kopf. „Du stehst sowenig in meiner Schuld wie ich in der deinen. Ich weiß, daß du nur deine Pflicht erfüllst. Du hättest die Vorhänge nicht abzureißen brauchen. Ein höfliches Wort hätte genügt, und sie wären freiwillig vor dir geöffnet worden. Du würdest besser deine geballten Fäuste erst zum Anklopfen benützen, ehe du zuschlägst. Gewalt zeugt Haß, Soldat. Doch Haß ist stärker als Gewalt.“ Sie lehnte sich zurück zum Zeichen, daß die Unterhaltung beendet sei. Der Soldat stand wie versteinert. Dann wandte er sich rasch um und sagte zu dem hinter ihm wartenden Tsan Tsuo: „Weiter! Los, weiter.“ Tsan Tsuo schien nicht recht zu verstehen. So wiederholte er noch einmal mit heiserer Stimme: „Weiter! Es ist alles in Ordnung. Ihr könnt passieren.“ Tsan Tsuo drückte die Schenkel fest an die Flanken seines Pferdes und jagte an die Spitze der Karawane. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Die Grenze wurde überschritten. Der Soldat stand allein in der Dunkelheit; seine Blicke folgten einer Sänfte, deren heruntergerissener Vorhang im Morgenwind flatterte.
Ein Blinder irrt durch die Wildnis, und Goldlotos pflanzt den ersten Maulbeerbaum Durch niedriges Gebüsch und Dornengestrüpp bahnte sich ein Mann seinen Weg. Er achtete nicht auf die Dornen, die ihm die Hände aufrissen und in seinem Gesicht blutige Striemen hinterließen. Das Gewand hing ihm in Fetzen vom Leib. Ein Fuß war noch von einer Sandale bekleidet, die aber keinen Schutz mehr bot, denn sie war zerrissen. Der andere Fuß war nackt; nur um das Gelenk hingen die Riemen der Sandale, die er wohl verloren hatte. Seine dunklen Haare bedeckten die Schultern, und trotz des verwilderten Bartes wirkte der Mensch nicht furchterregend. Er stolperte mehr, als er lief. Hin und wieder blieb er stehen und sprach dann laut, als befände sich jemand neben ihm. Seine Stimme klang heiser. „Ich habe es entdeckt“, flüsterte er und lachte glücklich. „Da staunst du, Octavianus? Ja, staune nur! Ich habe den Schlüssel zum Geheimnis. Weißt du noch, daß du mich zurückhalten wolltest? Doch ich habe nicht auf dich gehört. Siehst du, das war gut.“ Er öffnete langsam die rechte Hand. Auf der Handfläche lag ein kleines Stückchen Moos. Zärtlich strichen die Finger der linken Hand darüber. „Dir will ich es zeigen, Octavianus“, flüsterte er. „Du wirst es niemandem verraten. Hier in der Hand, da halte ich den Seiden wurm. Siehst du ihn? Sie wollten ihn mir wegnehmen, Octavianus.“ Er lachte kurz und sagte dann: „Ich habe ihn gut versteckt. Ich fühle, daß er lebt. Das große Geheimnis konnten sie mir nicht entreißen.“ Er zog schnell die rechte Hand zurück und umklammerte wieder das Moos. „Nein, ich kann dir den Seidenwurm noch nicht geben. Wir sind noch nicht in der Heimat. Glaube mir, sie verfolgen uns. Sie sind alle hinter dem Seidenwurm her. Laß ihn bei mir. Sie wissen nicht, daß ihn der Blinde hat. Mich durchsuchen sie nicht. Ich habe Durst, Octavianus.“ Er stöhnte und versuchte, seine Lippen mit der Zunge zu befeuchten. Sein Mund war ausgedörrt. Wieder setzte er einen Fuß vor den anderen und schleppte sich voran. Dann blieb er stehen und lauschte. War das nicht ein Kamelschrei? Er glaubte auch, das Wiehern von Pferden zu unterscheiden. Jetzt begann er zu laufen. Er spürte, daß das Dickicht
des Unterholzes spärlicher wurde. Dann fiel er hin und blieb, mit dem Gesicht auf dem Boden, liegen. Auch im Fall hielt seine Hand das Stückchen Moos fest umklammert. Am Rand des Pfades war er zusammengebrochen, und dort fand ihn ein Begleitsoldat. Wieder hielt die Karawane. Seit die Grenze überschritten war, ging mit Goldlotos eine deutliche Veränderung vor. Sie blühte auf, und die Strapazen der letzten Wochen schienen vergessen. Jeden Aufenthalt der Karawane nützte sie aus, um ihre Sänfte zu verlassen. Durch die fast pausenlosen Märsche der letzten Tage hatte man viel Zeit gewonnen und konnte sich jetzt hin und wieder eine Ruhepause gönnen. Auch bei diesem Aufenthalt war Goldlotos aus ihrer Sänfte gestiegen, und Frau Wönn tat es ihr nach. „Wir wollen fragen, was es gibt“, sagte Goldlotos und ging zu Tsan Tsuo, der sich lebhaft mit einem Soldaten des Begleitkommandos unterhielt. „Was ist los, Tsan Tsuo?“ Goldlotos tippte ihm mit ihrem Fächer auf die Schulter. „Nichts, was euch interessieren möchte. Ihr könnt eure Sänfte gleich wieder aufsuchen, es geht weiter. Den nächsten längeren Aufenthalt machen wir erst in Tscharchlik. Dort werden wir von den Soldaten des Fürsten erwartet.“ „Was machst du für ein verstörtes Gesicht?“ Goldlotos wandte sich an den Soldaten des Begleitkommandos. „Nun erzähl schon. Du bist ja ganz blaß. Was ist passiert?“ Der Soldat wollte nicht mit der Sprache herausrücken, denn Tsan Tsuo sah ihn drohend an. Doch Goldlotos bestand darauf, zu wissen, was es gegeben hatte, und so berichtete der Soldat. Er sprach stockend und schielte auf Tsan Tsuo, der nervös mit seiner Bambusgerte spielte. Goldlotos wollte sofort zu dem Menschen, den man am Wegrand gefunden hatte. „Für ein Mädchen ist er kein schöner Anblick. Wahrscheinlich ist es ein Dieb oder gar ein Mörder, den man auf frischer Tat ertappt hat. Mit solchen Leuten hält man sich nicht auf und macht kurzen Prozeß. Sie werden ausgesetzt und gehen zugrunde.“ „Ich bestehe darauf, daß ihr mich zu ihm führt.“ Tsan Tsuo zuckte mit den Schultern und führte die beiden Frauen zu Cucullus. Der lag jetzt auf dem Rücken, war aber noch immer ohnmächtig. Als Frau Wönn ihn sah, schlug sie die Hände vor das Gesicht. „Er ist es?“ rief Goldlotos.
„Ja“, flüsterte Wönn und wiederholte dann laut: „Er ist es.“ Sie beugte sich über ihn, und auch Goldlotos betrachtete lange sein Gesicht. „Bringt Wasser“, rief sie dann. „Schnell, Wasser!“ Widerwillig gab Tsan Tsuo den Befehl weiter. Man brachte das Wasser, und Goldlotos kniete neben Cucullus nieder. „Stütze seinen Kopf, Wönn. Ich werde die Handgelenke und die Stirn mit Wasser benetzen.“ Langsam kam der Ohnmächtige wieder zu sich. „Dank dir, Octavianus“, murmelte Cucullus. „Du bist zur rechten Zeit gekommen. Sie wollten mich verdursten lassen, um mir meinen Seidenwurm zu nehmen. Es ist ihnen nicht gelungen. Ich habe ihn noch. Siehst du?“ Er öffnete langsam die rechte Hand, schloß sie jedoch gleich wieder. Dann versuchte er sich aufzurichten. Seine Hände tasteten und fanden das Handgelenk von Goldlotos. Er hielt sich fest. Frau Wönn wollte die Prinzessin fortziehen, doch sie schüttelte energisch den Kopf. Dann beugte sie sich dicht an das Ohr von Cucullus und flüsterte: „Ich kann dich nicht verstehen, Fremder, und du kennst meine Sprache nicht. Dennoch warst du es, über den mir die Götter den Weg gezeigt haben. Erst aus deiner Tat entstand mein Plan. Die Götter waren mir gnädig. Tausend ungeborene Träume haben die ängstlich behütete, die streng bewachte und gefürchtete Grenze überschritten. So wird auch dein Traum verwirklicht, mein armer Freund.“ Sie hatte so leise gesprochen, daß Wönn kein Wort verstand. Nun richtete sie sich auf und sagte zu Wönn und zu dem hinter ihr wartenden Tsan Tsuo: „Bringt Decken und laßt aus Bambusrohr eine Tragbahre bauen. Ich möchte, daß dieser Kranke mitgenommen wird.“ „Das ist unmöglich“, entgegnete Tsan Tsuo. „Ich habe keinen Träger mehr frei. Uns fehlen schon acht Leute, die auf der Reise krank geworden sind.“ „Dann laßt eine Traglast zurück.“ „Welche Traglast? Wir haben nichts Überflüssiges dabei.“ „Alles ist überflüssig.“ Goldlotos stand vor Tsan Tsuo, und aus ihren Augen sprühten zornige Funken. „Einzig dieser gequälte Mensch ist nicht überflüssig. Ich befehle dir, Tsan Tsuo, daß er mitgenommen wird und wenn du ihn selbst nach Khotan trägst!“ Auf einer Tragbahre wurde Cucullus mitgenommen. Bei jedem
Aufenthalt kümmerte sich Goldlotos um ihn. Er sprach leise vor sich hin. Sein Gesicht war entspannt. Brachte man ihm zu trinken, öffnete er vorsichtig die rechte Hand und benetzte das Stückchen Moos. Als Goldlotos bei einem Aufenthalt wieder nach ihm sah, lag er ganz ruhig und schien zu schlafen. Goldlotos beugte sich über ihn, um ihm die Stirne zu streicheln. Da merkte sie, daß er tot war. Am Rande der Karawanenstraße wurde ein Grab ausgehoben, und auf dem frischen Hügel pflanzte Goldlotos den ersten Maulbeerschößling. Das Stückchen Moos nahm er mit in sein Grab. „Hier werden einmal Maulbeerbäume stehen, und beim Rascheln ihrer Blätter wirst du ruhig schlafen, mein Bruder“, sagte Goldlotos. Dieses Versprechen wollte sie halten.
Tausend ungeborene Träume erwachen in der neuen Heimat Man hatte das Fort von Khotan erreicht. In den Abendstunden war die Karawane eingezogen. Die letzte Wegstrecke glich einem Triumphzug. In den letzten Wochen hatte Vijaya nur daran gedacht, seine Braut in einem einzigen Jubelzug in sein Reich zu holen. Er konnte den Tag ihrer Ankunft kaum erwarten. Um sich die Zeit zu verkürzen, arbeitete er einen Plan aus, wie man die Karawane begrüßen würde. Reiterspiele und Tänze wechselten in bunter Reihenfolge ab. Frau Wönn kam aus dem Staunen nicht heraus und brach immer wieder in neue Rufe des Entzückens aus. Doch Goldlotos, der aller Aufwand galt, drängte zur Eile. Als endlich ihre Sänfte im Innenhof des Palastes abgesetzt wurde, war es bereits dunkel. Kurz zuvor war Frau Wönn ausgestiegen; Goldlotos saß allein und hörte ihr Herz schlagen. Ein Schlüssel sperrte im Türschloß der Sänfte. Tsan Tsuo hatte dem Fürsten den goldenen Schlüssel zur Brautsänfte überbracht. Vijaya öffnete die Tür, wie es die Sitte von ihm verlangte. Zaghaft tasteten sich zwei kleine Füße ins Freie, Frau Wönn eilte hinzu, um die Prinzessin zu stützen. Durch den dichten Schleier, der ihr Gesicht bedeckte, konnte sie nichts erkennen. Man durchschritt einen großen Innenhof, dann schoben sich Türen zur Seite, ein fremdartiger Duft strömte ihr entgegen. Dann hörte sie leise Musik, konnte jedoch nicht feststellen, woher die kam. Wo war sie? Die Hände, die sie führten, waren nicht mehr die vertrauten Hände der alten Wönn. Die anderen Stimmen entfernten sich. Wieder wurde eine Tür geschlossen, und nun war auch die Musik nicht mehr zu hören. Sie vernahm nur noch das Schlagen ihres Herzens und die Atemzüge eines Menschen. Behutsam hob Vijaya den Schleier und sah in große, dunkle, fragende Augen. Etwas Angst konnte er aus ihnen lesen und noch mehr Scheu. Es waren die Augen, die er nur einmal gesehen hatte und die ihn seit jenem Augenblick nicht mehr losgelassen hatten. Noch war kein Wort gesprochen worden, und sie kannten beide die Stimme des anderen nicht. Vijaya vermochte nichts zu sagen. Er stand ihr gegenüber und sah in die großen, fragenden Augen. Er
verbeugte sich stumm, und das große Schweigen lag zwischen dem Mädchen und dem Mann. Der Raum war von einigen Fackeln schwach beleuchtet. Langsam kniete Goldlotos vor Vijaya nieder. Er wollte sie aufheben, doch sie wehrte mit einem stummen Kopfschütteln ab. Vorsichtig löste sie die Mütze. Das bestickte Stirnband wurde sichtbar, das ihr schwarzes Haar zusammenhielt. Sie löste behutsam dieses Band, öffnete es und brachte das seidene Tüchlein zum Vorschein. Sie öffnete das Tuch, legte es ausgebreitet vor dem Fürsten nieder, und nun wich die Verkrampfung einem befreiten Lächeln; für einen kurzen Augenblick schloß sie die Augen. Verwundert hatte Vijaya ihr Tun beobachtet. Das Seidentuch enthielt schwarze Kügelchen, die wie Mohnsamen aussahen. Er wußte nicht, was das Mädchen damit wollte. Ein verlegenes Lächeln spielte über seine Lippen. Goldlotos schien es zu bemerken. „Mein Fürst“, sagte sie, und ihre Stimme zitterte. „Ihr habt mich kleine Unwürdige zu Euch geholt. Der Preis, den Ihr für mich bezahlt habt, war tausendmal zu hoch. Ich bin nur ein kleiner, gaukelnder Falter, den man gefangen hielt und der sich nach der Freiheit sehnte. Ihr habt mir diese Freiheit erkauft.“ Sie machte eine kleine Pause und schüttelte ihr Köpfchen, ehe sie fortfuhr. „Ich möchte frei sein. Ich möchte nicht in Eurer Schuld stehen. Deshalb komme ich nicht mit leeren Händen zu Euch. Nehmt mein Geschenk an Euch.“ Sie deutete auf das ausgebreitete Tuch, das vor ihr auf dem Boden lag. „Ihr sollt über den Verlust der tausend Pferde nicht traurig sein. In einem Monat werdet Ihr statt der tausend Pferde vierzigmal mehr Himmelswürmer besitzen.“ Vijaya sah auf das Seidentuch, auf das Mädchen, das vor ihm auf dem Boden kniete, und er verstand nicht, was es meinte. Sie sprach von einem Geschenk und deutete auf das Tüchlein mit den schwarzen Kügelchen. Angst stieg in ihm auf. Sprach sie verwirrt? Er beugte sich zu ihr und wollte sie aufheben. Dabei berührte er mit seiner Fußspitze unachtsam das Tüchlein. Im gleichen Augenblick warf sich Goldlotos darüber und entzog es vorsichtig seinem Fuß. „Ihr freut Euch nicht“, stammelte sie, und Tränen füllten ihre Augen. „Ich habe mein Leben dafür eingesetzt, um Euch dieses Geschenk zu bringen. Wißt Ihr nicht, daß im Reich der Mitte mit dem Tod bestraft wird, wer versucht, das Geheimnis über die Grenze zu nehmen?“ Sie erhob sich und nahm das Tüchlein vom Boden.
„Ich habe sie für Euch gestohlen“, flüsterte sie und hielt das Tüchlein zärtlich in ihren schmalen Händen. „Ich dachte, ich schenke Euch Himmelswürmer für Eure Pferde.“ Sie hatte das Schluchzen mühsam unterdrückt, und nun schüttelte es ihre kleine, zerbrechliche Gestalt heftig. Vijaya streichelte zaghaft ihr Haar. Er bat sie, ruhig zu sein. Er freue sich ja über das Geschenk, wirklich, er freue sich. Doch Goldlotos merkte, daß er dies nur sagte, um ihr nicht weh zu tun. Deshalb schüttelte sie heftig den Kopf, schluckte die Tränen hinunter und bat: „Laßt mich die Himmelswürmer aufziehen. Ich brauche nichts weiter als ein wenig Zuchtpapier und zehn bis vierzehn Tage Zeit.“ Sie hielt das Tuch in den Händen und sprach jetzt leise, ohne den Fürsten zu beachten. „Ich werde euch zum Leben erwecken, meine kleinen Himmelswürmer. Wir brauchen Matten für den ersten Schlaf, dann sollt ihr ein warmes und ruhiges Zimmer für den zweiten Schlaf bekommen. Es darf nicht zu warm und nicht zu rauchig sein. Ihr werdet in den dritten Schlaf fallen, und nach eurem vierten Schlaf kommt das große Erwachen. Bis dahin habe ich genügend Maulbeerblätter für euch und Reisstroh für die Hürden. Hängt ihr dann nach eurer Wanderung als Perlenschnüre aufgereiht, werde ich selbst das erste Li Seide abhaspeln, zwirnen und verweben.“ Sie wandte sich zu Vijaya, und in ihrer Stimme schwang viel Zärtlichkeit mit, als sie sagte: „Ihr sollt das erste Gewand aus der Seide erhalten, die ich für Euch spinnen und weben werde. Das ,Haus der fleißigen Hände’, in dem ich von Euch geträumt habe, wird hier neu erstehen. Doch der Faden wird viel feiner und schöner werden, denn er wird von glücklichen Händen gewebt. Die Arbeit eines Glücklichen erkennt man unter Tausenden.“ Der Fürst hat ihren Worten aufmerksam zugehört. Jetzt begriff er, welcher Schatz hier in dem kleinen Tüchlein vor ihm lag: das Geheimnis der Seide. Jahrtausendelang wurde es ängstlich gehütet; nun erfuhr er es, obwohl er nicht danach gesucht hatte. Freilich konnte er nur ahnen und noch nicht ganz begreifen, welchen Schatz ihm die kleine Prinzessin gebracht hatte. „Dein Geschenk, kleine Lotosblüte, ist wertvoller als alle Schätze meines Landes“, sagte er. „Doch es ist klein gegenüber dem Geschenk, das mir gemacht wurde, als ich dich zum erstenmal sah.“ Dann nahm er das Tüchlein ganz behutsam und legte es vor dem Ahnenschrein nieder. „Seid Ihr nicht mehr traurig über den Verlust der schönen Pferde?“ fragte Goldlotos, und erneut rollten die Tränen
über ihre Wangen. Vijaya erwiderte nichts. Er nahm ein Tüchlein und wischte zärtlich die Spuren der Tränen aus ihrem Gesicht. In dieser ersten Nacht träumte Goldlotos von weiten Maulbeerfeldern, die sich rings um die Stadt Khotan erstreckten. Aus den kleinen Häusern im Park drang Rascheln und unermüdliches Mahlen. Aus einem weitläufigen Haus kam das Kichern und Schnattern heller Mädchenstimmen. Vor einem großen Holzrahmen saß Frau Wönn und konnte gar nicht schnell genug ein Zeichen an das andere reihen, so hurtig spulten flinke Mädchenhände ein Li nach dem andern ab. Goldlotos hatte vor sich ein Obergewand aus leuchtend blauer Seide liegen und stickte darauf gerade das letzte von tausend Pferden. „Nun habe ich sie dir doch zurückgegeben“, sagte sie zu Vijaya, der hinter ihr stand. Er schüttelte lächelnd den Kopf, als er antwortete: „Nein, meine Lotosblüte, du hast sie mir nicht zurückgegeben. Du hast sie mir erst jetzt geschenkt.“