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Davis J.Harbord
Das Gericht der Korsaren
Whale Cay, eine Insel der Berry Islands, am Spätnachmittag im...
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Davis J.Harbord
Das Gericht der Korsaren
Whale Cay, eine Insel der Berry Islands, am Spätnachmittag im April 1600. Es war noch helllichter Tag, aber die beiden Kerle schliefen, und ihr Schnarchen dröhnte über die Lagune auf der Südseite von Whale Cay. Sie lagen in einer Mulde an einer winzigen Nebenbucht der Lagune. Und nichts hätte sie wecken können, auch nicht die Breitseite einer Kriegsgaleone. Denn sie waren sturzbetrunken gewesen, und jetzt schliefen sie ihren Vollrausch aus. Und da war noch der Junge, den sie an Händen und Füßen gefesselt hatten, bevor sie zu der Mulde getorkelt waren. Der Junge war wichtig, denn sie brauchten ihn als Garanten für ihr mieses Leben, nämlich als Geisel. Denn sie waren desertiert, und sie hatten gestohlen... Die Hauptpersonen des Romans: Eddy – der fünfjährige Sohn Mary und Donegal O'Flynns vollbring eine erstaunliche Leistung. Muddy und Mißjöh Buveur – die beiden Deserteure aus dem Bund der Korsaren müssen damit rechnen, an die Rah gehängt zu werden. Siri-Tong – die Rote Korsarin wird als Richter im Bund der Korsaren eingesetzt und hat eine schwere Aufgabe vor sich. Martin Correa – als Wachführer auf der „Empress of Sea II.“ passiert ihm ein Mißgeschick und wird zusammengestaucht.
1. Der Junge lauschte dem Schnarchen und wußte, daß er jetzt seine Chance wahrnehmen mußte, sich zu befreien und dann zu flüchten. Denn sein Leben war keinen Pfifferling wert. Der eine Kerl hatte klar und deutlich geäußert, ihn – wenn man ihn als Geisel nicht mehr brauchte –wie eine Katze zu ersäufen. Der Junge hieß Edwin Shane O'Flynn. Seine Freunde nannten ihn Eddy. Er war fünf Jahre alt und der Sohn von Mary und Old Donegal O'Flynn. Zähigkeit war eine seiner guten Eigenschaften. Außerdem war er nicht auf den Kopf gefallen und hatte einen Sinn fürs Praktische. So hatte er vor knapp einer Stunde, als er noch ungefesselt gewesen war und sich ein paar Kokosnüsse zum Essen und Trinken einsammeln durfte, blitzschnell eine harte, scharfe Muschel in seiner rechten Hosentasche verschwinden lassen. Sie hatte im Sand neben einer Kokosnuß gelegen. Die beiden Kerle hatte nichts bemerkt, weder Robinson, genannt Muddy, noch der dicke Mißjöh Buveur. Sie waren mit ihrem
Rum beschäftigt gewesen, von dem Muddy bei seinem Einbruch in die „Rutsche“, der Pfahlbauschenke des Bundes der Korsaren in der Cherokee-Bucht auf der Ostseite Great Abacos, vier Fässer hatte mitgehen lassen. Energisch ging Eddy an die Arbeit. Er wälzte sich auf die linke Seite, schob die auf den Rücken gefesselten Hände nach rechts, langte mit den Fingern der rechten Hand in die Hosentasche und fischte die Muschel heraus. Was dann folgte, war zwar mühselig, aber das focht diesen Sproß aus der O'FlynnSippe nicht an. Alle O'Flynns hatten eine eigene Art, mit Schwierigkeiten fertig zu werden –eben die Zähigkeit. Und Wut war bei Eddy auch dabei. Der Schmierlappen Muddy hatte seinen Pa einen Blödmann und seine Mom eine rothaarige Hexe genannt, die man auf dem Scheiterhaufen verbrennen müsse. Außerdem hatten diese beiden versoffenen Kerle für ihre Flucht aus dem Stützpunkt die „Little Isabella“ benutzt, die Jolle der Kinder des Bundes der Korsaren. Und das war für Eddy überhaupt das größte Verbrechen. Die Kerle mochten alles
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mögliche klauen, aber nicht das Schiff, auf dem er, Eddy, der Erste Offizier war. No, Sir! Unverdrossen säbelte Eddy mit der scharfen Langkante der Muschel über die Kardeele des Stropps, mit dem seine Hände gefesselt waren. Er mußte die rechte Hand, welche die Muschel hielt, bizarr verdrehen, aber es ging besser, als er gedacht hatte. Der Stropp war durchtrennt, und das erste Kardeel war binnen weniger Minuten durchtrennt. Die beiden anderen folgten, wobei Eddy die Fasern des letzten Kardeels bereits mit einem harten Ruck sprengen konnte. Die Hände waren frei, und er hatte sich nicht mal geschnitten. Das Lösen der Fußfessel war kein Problem mehr. Er brauchte sie nur aufzuknüpfen, was bequem im Sitzen zu erledigen war. Er stand auf, reckte sich und ging zu den Schnarchern. Muddy lag auf dem Rücken und sägte mit halboffenem Mund – es sah einmalig dämlich aus. Der Franzose hatte sich auf den Bauch gewälzt, den Kopf nach rechts verdreht. Mit spitzen Fingern zog ihm Eddy das Messer aus der Lederscheide. Und dem Schmierlappen Muddy fischte er vorsichtig die Pistole aus dem Gurt und ebenso das Messer. Die beiden Kerle schnarchten unentwegt weiter. Aber sie jetzt seinerseits zu fesseln, das wagte Eddy nicht, obwohl es ihn mächtig gereizt hätte, sie wie Pakete zu verschnüren. Er schob die Pistole griffbereit unter seinen Gürtel und brachte die beiden Messer zur „Little Isabella“. Die Jolle war das größte Problem. Die Kerle hatten sie – er hatte mit anpacken müssen – auf den Strand gezogen, der die kleine versteckte Bucht umgab. Allein würde er es nie schaffen, die Jolle zurück ins Wasser zu schieben. Aber mit einem Riemen als Hebel, den er unter dem Bug ansetzte, wuchtete er die Jolle Stück um Stück zur Seite, bis ihr Bug zum Wasser zeigte.
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Das war jetzt noch fünf Yards entfernt> Nur fünf Yards, aber diese fünf Yards waren eher fünf Meilen! Und da schoß es Eddy durch den Kopf: die spanische Winsch! Was die mit Spanien zu tun hatte, war Eddy piepegal, wichtiger war, daß sie ihm die Möglichkeit bot, mittels eines Hebels an einer drehbar gelagerten Achse eine große Zugkraft auf eine Leine auszuüben. Hesekiel Ramsgate, der Schiffsbaumeister des Bundes der Korsaren, hatte die JungMannschaft der „Little Isabella“ die einfache Methode dieser Winsch oder Winde erklärt, mit der ein einzelner Mann, auch ein Kind, eine schwere Last von einem Punkt zum anderen bugsieren konnte – ohne viel Kraftaufwand. Als Hebel würde er den Riemen benutzen, fehlte noch die Achse. Er blickte sich suchend um und entdeckte am Strand ein schenkelstarkes Rundholz, die Überreste eines Baumstamms, von See und Sand regelrecht glatt poliert und etwa einen Yard lang. Eine ideale Achse! Er schleppte das Ding ins Wasser und stellte es aufrecht hin. Dann peilte er zu dem schmalen Buchteingang, durch den man von der Lagune in die Bucht gelangte. Direkt am Ufer dieses Zugangs stand eine Kokospalme. Dort würde er das eine Ende der Leine anschlagen, das andere vorn am Bug der „Little Isabella“. Drehhebel, Achse und Leine waren die drei einfachen Utensilien für die spanische Winsch. Die Leine mußte ziemlich lang sein, und da bot sich die Schleppleine der Jolle an. Er peilte zu der Kokospalme, die von einer Achse etwa zehn Yards entfernt war, und dann zurück zum Steven der Jolle. Ja, er mußte die Achse noch etwas verrücken. Sie mußte in der Mitte der Linie zwischen Vorsteven und Kokospalme stehen. Er holte die Schleppleine aus der Jolle, schlang sie um den Mast und führte sie durch die Lippklampe am Bug. Dann watete er mit dem anderen Ende durch die Bucht zu der Kokospalme und schlug dort dieses Ende an, aber so, daß noch Lose in der Leine war.
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Die Lose brauchte er jetzt, um zwei, drei Umdrehungen um die Achse zu legen. Durch die nächste Bucht schob er den Riemen und darüber legte er noch einmal zwei Umdrehungen, so daß die Leine nunmehr zwischen Jolle, Achse und Kokospalme steif stand. Im Grunde ähnelte diese kraftsparende Vorrichtung dem Gangspill eines Schiffes, wobei das Rundholz als Achse die Trommel darstellte und der durch die Bucht geschobene Riemen zwei Spaken. Eddy stellte sich breitbeinig an die Achse, packte auch breitarmig den Riemen links und rechts und führte die Drehbewegung aus. Er mußte Kraft aufwenden, aber es klappte: die Buchten wickelten sich um die Achse oder Trommel, die Jolle rutschte durch den Sand langsam dem Wasser zu. Ein unbändiger Stolz erfüllte den Jungen – mit Recht. Wenn die beiden Kerle gedacht hatten, so – Knirps könne die Jolle keinen Zoll bewegen, dann hatten sie sich böse verrechnet. Muddy hatte das Bürschchen für „'n bißchen blöd“ gehalten, und Eddy hatte allerdings auch so getan, als könne er nicht bis drei zählen. Aber daß ein Fünfjähriger zwei ausgewachsene Mannsbilder aufs Kreuz legte, sprach eher dafür, daß bei den beiden Kerlen einiges hakte, was damit zusammenhängen mußte, daß sie ihre geistigen Kräfte im Rum ertränkten. Eddy zog mit der rechten Hand und drückte mit der Linken. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, aber schon rückte der Vorsteven ans Wasser und bei der nächsten Drehung hinein. Ich hätte es leichter haben können, fiel Eddy ein, wenn ich unter den Bug die Rundpinne geschoben hätte. Dann wäre der Kiel über das Rundholz gerollt. Aber jetzt hatte er es bald geschafft und konnte darauf verzichten. Und dann schwamm die „Little Isabella“ auf und war wieder in ihrem Element. Eddy grinste bis zu den Ohren, als er seine spanische Winsch wieder abbaute. Dann sammelte er noch ein paar Kokosnüsse ein, um etwas zu trinken zu haben. Lebensmittel wie Hartbrot, Hartwurst,
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Speck und Käse befanden sich noch in dem Korb – alles hatte der Schmierlappen aus der „Rutsche“ gestohlen. War alles an Bord?“ * Verdammt! schoß es Eddy durch den Kopf. Die Persenning! Auf der lagen jetzt die beiden Kerle in der Mulde und veranstalteten ihr Schnachkonzert. O Mann! dachte Eddy, und eine tiefe Falte stand über seiner Stirn. Die Persenning, verdammt, die Persenning. Die erfüllte nämlich einen besonderen Zweck, den diese beiden versoffenen Kerle natürlich nicht kannten. Im Februar, als der „Admiral“, nämlich Dave, und er, der „Erste“, mit der „Litte Isabella“ aus dem Stützpunkt ausgerissen waren, hatten sie in der nächsten Nacht in der Jolle übernachtet. Und er hatte die Idee gehabt, die auf den Strand gezogene Jolle mit einem Zeltdach zu versehen – eben mit dieser Persenning. Als „Giebel“ des Zeltes hatte er die Spiere benutzt, die dazu diente, das Sprietsegel der „Little Isabella“ auszuspreizen. Und jetzt auf die Persenning verzichten, nur weil die beiden Kerle auf ihr pennten? Auf das Zeltdach für die „Little Isabella?“ Und er wußte schon, was die beiden möglicherweise mit der Persenning anstellten! Sie konnten zum Beispiel versuchen, sich ein Floßgerüst zu bauen und die Persenning als Segel zu benutzen. Und dann konnten sie von der Insel verschwinden und ihre Flucht fortsetzen, bevor die Männer vom Bund der Korsaren zur Stelle waren, um sie wieder einzufangen. Denn natürlich würde er bei seiner Rückkehr in den Stützpunkt melden, auf welcher Insel er die beiden Kerle zurückgelassen hatte. Entschlossen setzte sich Eddy in Marsch und blieb vor der Mulde stehen. Während er auf die beiden Schnarcher hinunterblickte, überlegte er. Sie konnten
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aufwachen, wenn er an der Persenning zog. Oder nicht? Was hatte Mom mal gesagt? Sie hatte gesagt: Eddy, wenn du in einer schwierigen Situation steckst, dann gehe zur Bereinigung dieser Situation immer vom Schlimmsten aus – umso besser wird deine Entscheidung sein, und du wirst das Richtige tun. Also mußte er davon ausgehen, daß einer der beiden oder sogar beide aufwachten – Lind dann wäre alles umsonst gewesen. Die Pistole! Eddy fackelte nicht lange. Außerdem hatte ihn der Schmierlappen in der „Rutsche“ mit einem Hieb des Messerknaufs an den Kopf betäubt. Und das war eine gute Methode, einen Gegner außer Gefecht zu setzen. Er zog die Pistole aus dem Gurt, eine doppelläufige Waffe, die seiner Mom gehörte, packte sie am Lad, beugte sich über Robinson, genannt Muddy, und schmetterte ihm den Griff an den Kopf – und gleich noch mal. Der Kerl stieß einen Ächzlaut aus –und schnarchte nicht mehr. Für einen Moment zitterte Eddy. Hatte er Muddy totgeschlagen Nein, er atmete weiter. Eddy holte tief Luft, wandte sich Mißjöh Buveur zu und wiederholte die Prozedur. Auch das Schnarchen des Dicken brach ab. Vorher hatte er nur einen kurzen Schnaufer getan. Eddy schob die Pistole zurück unter den Gurt, griff nach dem unteren Rand der Persenning und zerrte sie unter den beiden Kerlen weg. Dann legte er sie sauber zusammen und brachte sie in die Jolle. Er drehte sich noch einmal um zu der Mulde. Die beiden Kerle lagen bewegungslos da. Wenn sie aufwachten und die Bescherung bemerkten, würden sie ein Wutgeheul. anstimmen. Und da grinste Edwin Shane, genannt Eddy, ein zweites Mal. Er kletterte in die Jolle, stakte sie mit dem Riemen durch die kleine Bucht und die Einfahrt, erreichte die Lagune und setzte mit ein paar Handgriffen das Sprietsegel. Auf die Fock
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verzichtete er. Der Wind wehte aus Nordosten, also aus jener Richtung, in die er steuern mußte, um die Südspitze von Great Abaco zu erreichen. Er würde kreuzen müssen – ein mühsames Geschäft, aber auch das mußte zu bewältigen sein. Er verließ die Lagune und ging auf Nordostkurs. Dabei richtete er sich nach dem Bootskompaß, der in der Jolle vor der Steuerducht fest eingebaut war. Unvermittelt versank die Sonne an der westlichen Kimm und die Dunkelheit brach herein. Der Junge stieß einen Zischlaut aus. Was jetzt? Daran hatte er nicht gedacht – die Dunkelheit. Er konnte nicht mehr genau sehen, welchen Kurs er nach dem Kompaß segeln mußte. Und dann die Kreuzschläge! Wie stellte er fest, ob der Wind raumte oder schralte, also achterlicher oder vorlicher einfiel? Wenn er konstant aus Nordosten wehte, konnte er sich nach ihm richten, denn im Nordosten lag auch die Südspitze von Great Abaco. Außerdem: wenn er schralte, mußte er abfallen, was bedeuten würde, daß ihn sein Kurs möglicherweise südlich an Great Abaco vorbeiführte. Da konnte es passieren, daß er in den Atlantik segelte. Eddy wurde es etwas schwummerig. Wenn Admiral Dave an Bord wäre, hätten sie sich beraten können. Sie waren ja schon mal bei Nacht gesegelt. Dave konnte sich auch besser mit den Sternen aus, nach denen man sich – so sie nicht von Wolken verdeckt waren – nachts richten konnte. Er schaute zurück. Nach Backbord achteraus, denn er segelte über Steuerbordbug. Ganz schwach waren noch die Umrisse der Ostküste von Whale Cay zu sehen. Eddy war kein Freund zögerlicher Entschlüsse. Er wendete einfach und segelte mit halbem Wind wieder auf die Küste von Whale Cay zu. Dort würde er ankern – basta! Vielleicht eine Meile vor der Küste, wo die Länge der Ankerleine ausreichte, daß der Anker im Grund faßte. Fünfzehn Faden Länge hatte
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die Leine. Letztlich konnte er auch die Schleppleine noch anstecken. Die Lagune mit der kleinen Nebenbucht lag an der Südküste von Whale Cay. Wenn er an der nördlichen Ostküste ankerte, würden ihn die beiden Kerle bei Nacht nicht sehen – vorausgesetzt, sie wurden in der Nacht wach, aber das bezweifelte er. Sie waren betäubt und außerdem bis zum Kragen voll mit Rum. Ich darf es riskieren, sagte sich Eddy. Und er spürte selbst, daß er stinkmüde war. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er bereits mehrmals gegähnt hatte. Sollte er die Persenning als Zeltdach ausspannen, nachdem er geankert hatte? Nein, entschied er. Das schottete ihn zu sehr nach außen ab. Er würde kaum hören, ob jemand heranschwamm, um die „Little Isabella“ zu entern – einer der beiden Kerle, der vielleicht doch aufgewacht war und nach Norden Ausschau gehalten hatte. Die Küste rückte näher. Eddy änderte seinen Entschluß, vor der Ostküste zu ankern. Besser war, die Nordspitze von Whale Cay zu umsegeln und den Anker auf der nördlichen Westseite zu setzen. Vor der Ostküste lag er auf Legerwall. Wenn der Anker aus irgendeinem Grund ausbrach, würde der Wind die „Little Isabella“ auf die Küste treiben, und zwar näher zu den Kerlen. Er luvte wieder an und steuerte die „Little Isabella“ an der Ostküste entlang. Nach einiger Zeit sichtete er durch die Dunkelheit die Nordspitze. Als sie achterlicher als dwars an Backbord lag, fiel er ab, umsegelte die Spitze, halste und steuerte Südkurs. Und schon spürte er die Windabdeckung durch die Insel mit ihren Palmen. Er ging in den Wind, kletterte über die Duchten nach vorn, wo Anker und Ankerleine verstaut waren, holte sie aus der kleinen Vorpiek, klarierte das Geschirr und warf den Anker schwungvoll voraus. Er versank, die Ankerleine lief durch die vordere Lippklampe ab, sechs bis sieben Faden etwa, dann verlangsamte sich die Bewegung. Die „Little Isabella“ sackte achteraus, dann ruckte die Leine plötzlich
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ein. Eddy zog an ihr. Ja, der Anker hatte gefaßt. Er gab noch zwei Faden Lose und belegte die Leine um den Mast. Die „Little Isabella“ schwojte etwas und pendelte sich ein, bis sie ruhig im Wind lag, der hier in Lee der Insel weniger spürbar war als drüben auf der Ostseite. Gewissenhaft prüfte Eddy, ob sich die Lage der Jolle veränderte, aber das war nicht der Fall. Der Anker saß gut im Grund. Erst jetzt fierte er das Segel ab und tuchte es nur lose auf. Bei Gefahr im Verzug konnte er es schnell setzen. Er aß einen Kanten Brot und säbelte sich ein paar Scheiben von der Hartwurst ab. Die Milch einer Kokosnuß schmeckte herrlich und kühl wie immer. Er verzichtete darauf, sie mit Rum anzureichern, wie sie es im Februar getan hatten, als sie ausgerissen waren. Da wurde er möglicherweise noch müder und schlief zu lange. Er hatte sich kaum auf der zusammengefalteten Persenning ausgestreckt, da fielen ihm auch schon die Augen zu. Aber die Pistole lag griffbereit neben ihm. 2. Von den beiden Saufbolden in der Mulde wachte Muddy zuerst auf. Die Sonne stand bereits über der Kimm im Osten. Zweierlei Widrigkeiten hatten ihn geweckt. Der Sand, auf dem er lag, war von der Morgenfrische feucht und kalt, und er bibberte. Schlimmer jedoch war der Umstand, daß in seinem Kopf ein Hornissenschwarm rücksichtslos herumtobte, daß es ihm schier die Schädeldecke wegsprengte. Als er über den Kopf tastete, zuckte er schmerzerfüllt zusammen, weil er gegen die Beule gestoßen war, die sich etwas kleiner als ein Ei darstellte. Seine Gedanken verwirrten sich. Die Augen schienen wie verklebt, und im Mund hatte er einen Geschmack wie Jauche. Ihm war kotzübel. Er stierte, noch im Liegen, zu Mißjöh Buveur. Der lag auf dem Bauch, den Kopf
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nach rechts verdreht Dort prangte auch ein Hühnerei in Form einer prächtigen Beule. Muddy kriegte das nicht in die Reihe. Er glotzte auf die Beule und versuchte den Sinn dieser Schwellung zu begreifen, War das Ding da immer gewesen oder wie? Die Hornissen rasten wie irre durch sein Hirn und erinnerten ihn, daß auch er eine solche Verzierung hatte. Er stöhnte, dann fluchte er ordinär. Daß es die Laute einer müden Krähe waren, wurde ihm nicht bewußt. Irgendwann rappelte er sich zum Sitz auf – als er wieder die Kälte im Kreuz spürte. Alles drehte sich. Das Wasser der kleinen Bucht blendete ihn, Lichtreflexe schossen ihm in die Augen und hatten die Schärfe von Dolchspitzen. Die Hornissen tobten noch ärger. Ächzend ließ er sich wieder zurücksinken. Es war alles fürchterlich, wahrscheinlich ein Alptraum oder so was. Seine Gedanken kurvten wie die Hornissen. Irgendwas stimmte nicht. Diese Beulen bei Mißjöh Buveur und ihm – was war mit denen? Plötzlich, und das war auch wie ein Dolchstich, fiel ihm jäh ein, daß der Mißjöh und er geflohen waren und nach Havanna segeln wollten. Mit der Jolle „Little Isabella“ – und unter Mitnahme von Raubgut und einer Geisel. Der O'Flynn-Lümmel! Fluchend rappelte sich Muddy auf, stand taumelnd in der Mulde und blickte zu der Seite, wo der „Ruderknecht“ gefesselt liegen mußte. Die Stelle war leer. Da lag keiner. Muddy rieb sich über die schmerzenden Augen. Hatte diese verdammte Kröte woanders gelegen? Er drehte sich um nichts, nirgendwo. Die Stunde der Wahrheit schlug zu mit der Wucht eines Rammbocks. Er taumelte zurück. Auch die Jolle war verschwunden. Von der Stelle, wo sie auf den Strand gezogen worden war, führte eine deutliche Kielspur zurück ins Wasser. Der Mann namens Robinson, genannt Muddy, warf den Kopf in den Nacken und jaulte wie ein geprügelter Hund. Er hörte überhaupt nicht mehr auf. Dann warf er
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sich auf Mißjöh Buveur und drosch auf ihn ein. Diese Szene hätte Edwin Shane, genannt Eddy, sehen und erleben müssen. Er wäre voll auf seine Kosten gekommen, und es hätte ihn entschädigt für das, was ihm vor allem der Schmierlappen Muddy angetan hatte, der sogar entschlossen war, ihn wie eine Katze zu ersäufen. „Wach auf, du Fettarsch!“ kreischte Muddy und trommelte mit den Fäusten auf Mißjöh Buveur herum. „Die Jolle und die O'Flynn-Wanze sind weg! Wach endlich auf, du verdammter ...“ Mißjöh Buveur wälzte sich auf den Rücken, stöhnte und ächzte, und dann jammerte er: „Oh, mein Kopf ...“ „Die Jolle ist weg!“ schrie Muddy hysterisch. „Und ebenso die Rotznase!“ „Wie – was?“ Mißjöh Buveur stierte blöde. Seine Augen waren gerötet, die Nase schimmerte bläulich, das Gesicht war verschwollen. „Wer – wer ist weg?“ „Die Jolle!“ Muddys Stimme kippte über, und röchelnd setzte er hinzu: „Und die Rotznase. Sie hat –sie hat uns unsere Jolle geklaut!“ Das stimmte nicht, umgekehrt war's richtig: sie beide hatten die Jolle der Kinder des Bundes der Korsaren gestohlen. Aber zu dieser Einsicht war der Mann namens Robinson nicht fähig. Was er sich nahm, das gehörte ihm – fertig. „Das – das kann der Lümmel doch gar nicht“, stammelte Mißjöh Buveur. „Er – er war doch gefesselt, und die Jolle ist für ihn viel zu schwer ...“ „Aber beide sind weg!“ kreischte Muddy. „Weg! Verschwunden! Nichts ist mehr da, gar nichts!“ Und er bekam einen Wutanfall, als er bemerkte, daß die Pistole und auch sein Messer nicht mehr vorhanden waren. „Dieser Strolch hat uns beraubt!“ brüllte er. „Mit unserer Schatzbeute ist er abgehauen ...“ Er warf sich auf den Boden und trommelte in den Sand, heulend und jaulend, wimmernd und keuchend. Mißjöh Buveur kroch auf allen vieren aus der Mulde, richtete sich auf, stand taumelnd wie zuvor sein Kumpan und
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schaute sich um. Seine geröteten Augen quollen schier aus den Höhlen, als er jetzt selbst feststellte, daß der Junge und die Jolle verschwunden waren. Fast blitzartig wurde ihm klar, was das bedeutete, und er wußte nicht, daß sein Gesicht in diesem Moment einen kalkigen Farbton annahm. Der Junge würde zur Cherokee-Bucht zurücksegeln! Und er würde dort alles melden! Und sie saßen auf dieser verdammten Insel fest! Vorbei – aus! „Ich will aber nicht sterben!“ schrie Mißjöh Buveur mit schriller Stimme. „Ich will nicht! Ich bin unschuldig! Ich wollte auch nicht, daß der Kleine wie eine Katze ersäuft wird ...“ „Was sagst du da?“ keifte Muddy. Er war aus der Mulde gesprungen, als der Franzose zu schreien anfing. „Willst du mich in die Pfanne hauen, du versoffener Hurenbock?“ Lauernd schlich er auf Mißjöh Buveur zu, bückte sich plötzlich und hob einen handfesten Knüppel auf. „Du willst mich anscheißen, wie?“ Seine Augen irrlichterten. „Aber vorher schlage ich dich tot, Mißjöh! Und dann dreh ich den Spieß um und sage, alles sei deine Idee gewesen. Wie findest du das?“ „Schlecht!“ knurrte Mißjöh Buveur. „Weil nämlich der Junge was anderes erzählen wird, wenn er den Stützpunkt erreicht. Zum Beispiel die Geschichte, daß du in die ‚Rutsche' eingebrochen bist und ihn niedergeschlagen hast. Oder die schöne Geschichte von der Katze, die du ersäufen wolltest ...“ „Die kann er gar nicht wissen!“ unterbrach ihn Muddy fauchend. „Denn als ich davon sprach, war er noch bewußtlos!“ „Du Idiot!“ sagte Mißjöh Buveur höhnisch. „Der Junge war längst wieder bei Bewußtsein, aber gerissen genug, sich nicht zu melden. Wir haben ihn unterschätzt, das ist es. Er hat alles gehört, über was wir gesprochen haben. Wir müssen hier weg, verstehst du?“ „Und wie?“ schrie Muddy.
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Das wußte Mißjöh Buveur allerdings auch nicht. Sie starrten sich an, und einer blickte in die verzerrte Visage des anderen, die alles ausdrückte, was sie in diesen Minuten empfanden: hündische Angst, blinde Wut, Panik, Ratlosigkeit, Schwäche. Im Grunde hatten sie sich bereits aufgegeben. „Ich hätte diese kleine Ratte gleich abmurksen sollen!“ stieß Muddy hervor. „Dann hätten sie dich bis ans Ende der Welt gejagt“, erklärte Mißjöh Buveur wütend. „Fällt dir nichts Besseres ein, du Narr?“ „Doch!“ zischte Muddy. „Dich totzuschlagen!“ Er schwang den Knüppel und rückte näher. Mit einem Ruck riß sich Mißjöh Buveur den Gürtel aus den Schlaufen und schwang ihn ebenfalls, die eiserne Schnalle am anderen Ende. „Versuch's doch mal!“ höhnte er. „Mit solchen Würstchen wie dir werde ich noch allemal fertig!“ Er sprang behende vor und schlug mit dem Gürtel zu. Die Schnalle fetzte über das Gesicht seines Kumpans und riß die Haut auf. Muddy jaulte schrill, wich zurück, warf sich herum und lief davon. „Mich schlägst du nicht tot, du Scheißkerl!“ brüllte Mißjöh Buveur hinter ihm her. Muddy schien nicht mehr zuzuhören. Er strich wie ein streunender Köter am Oststrand der Insel entlang nordwärts. Vielleicht suchte er irgendwo ein Versteck. „Du elender Bastard“, murmelte Mißjöh Buveur. Statt der Wut überfiel ihn jetzt wieder das große Elend. Und nichts Trinkbares war da, um die Trostlosigkeit zu ersäufen. Außerdem ging es jetzt um Kopf und Kragen. Er war schlimmer dran als in all den Jahren zuvor. Krasser konnte der Unterschied gar nicht sein. Im Bund der Korsaren hatte er in einer Gemeinschaft gelebt, die ihn versorgte und ihm eine Menge an Bequemlichkeit bot. Und an Rum, Bier oder Wein hatte es nie gemangelt. Er leckte sich über die Lippen. Und was hatte er jetzt?
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Nichts – nur die Klamotten, die er am Leib trug. Auch das Messer war weg. Das clevere Bürschchen hatte es mitgehen lassen. Für die Utopie eines Lebens in Saus und Braus hatte er die Sicherheit einer soliden Existenz aufs Spiel gesetzt. Er war ärmer als eine Kirchenmaus – und wenn ihn die Korsaren schnappten, würde er mit des Seilers Tochter Hochzeit feiern. Ein kalter Schauer kroch ihm über den Rücken. Im Geist sah er sich bereits an der Rah baumeln und mit den Beinen zappeln. Ja, sie würden ihn hängen, das war mal sicher. Muddy und er hatten Golddublonen, Edelsteine und Perlen gestohlen, sie hatten den Jungen entführt und waren desertiert. Jedes Delikt für sich reichte bereits, sie zum Tode zu verurteilen. Am schwersten allerdings wog die Entführung des Jungen. Er mußte hier weg – ohne Spuren zu hinterlassen. Muddy war bereits weit entfernt. Er hastete immer noch am Strand entlang nordwärts. Mißjöh Buveur grinste hämisch. Die Spuren, die dieser Idiot in den Sand trat, konnte selbst ein Halbblinder nicht übersehen. Aber seine, Mißjöh Buveurs, Spuren, würde niemand entdecken. Er watete durch die kleine Bucht, dann durch die Lagune und von dort durch knöcheltiefes Strandwasser nach Westen. In diese Richtung verlief der Südstrand von Whale Cay. Als er sich einmal umdrehte und ins Wasser schaute, sah er, daß seine Trittspuren schon wieder verschwunden waren. Etwa eine Viertelstunde später umrundete er die Südwestspitze der Insel, watete noch etwa dreihundert Yards weiter entlang der Westseite und blickte hinüber zur Nebeninsel. Chub Cay hieß sie und war nach seiner Schätzung an die zweihundert Yards von Whale Cay entfernt. Das war schwimmend zu schaffen. Er watete tiefer, bis ihm das Wasser an die Brust reichte. Dann begann er zu schwimmen. Ohne sich zu überanstrengen, erreichte er den Südoststrand von Chub
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Cay, betrat die Insel aber nicht auf dieser Seite, sondern watete auf ihre Westseite und ging erst dort an Land. Wenn die Korsaren auf Whale Cay landeten, würden sie nur Muddy finden ihn nicht, dachte er. * Etwa zu diesem Zeitpunkt lag die „Empress of Sea II.“ unter dem Kommando von Siri-Tong, der Roten Korsarin, mit achterlichem Wind auf Südwestkurs, und zwar genau auf Whale Cay zu. Die Rote Korsarin und ihre Mannen waren einer „Spur" gefolgt, sich nach Auffinden von drei leeren Flaschen ergeben hatte. Bereits bei der ersten Flasche, die Martin Correa, der Bootsmann der „Empress of Sea II.“, in der See treibend entdeckt hätte - sie war aufgefischt worden -, hatte die Rote Korsarin gestutzt. Diese Flasche konnte nun wirklich kein Zufall sein. Erstens hatten die beiden Deserteure Muddy und Mißjöh Buveur aus der „Rutsche“ Old Donegals Flaschen mitgehen lassen, und zweitens meinte die Rote Korsarin, gerade diese Flasche sehr genau zu kennen, denn sie gehörte zu den Raritäten aus Old Donegals Beständen, die er für besondere Anlässe in einem Regal hinter dem Tresen aufbewahrte. Diese Flaschen hütete er wie seine Augäpfel. Diese aufgefischte Flasche, leer, aber verkorkt, enthielt immer noch den Duft eines bestimmten Branntweins, der aus Dänemark stammte und Aquavit hieß. Stur hatte Old Donegal erklärt, die bewahre er solange auf, bis einer der beiden Dänen aus der Arwenack-Mannschaft - Nils Larsen oder Sven Nyberg - vor den Traualtar trete. Erst dann würde sie „geköpft“. Von dem Zeug hatten die Arwenacks während ihrer Ostseefahrt einige Fässer eingekauft und später in grünliche Flaschen abgefüllt. Für Siri-Tong lind ihre Mannen -die wie die anderen Kapitäne und Mannschaften des Bundes der Korsaren auf der Suche nach der verschwundenen „Little Isabella“ waren - ergab sich mit dieser Flasche der
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logische Schluß, eine erste Spur gefunden zu haben. Die beiden Kerle hatten die Flasche gelenzt und dann achtlos über Bord geworfen. Vielleicht wurde sie jetzt zum Retter von Old Donegals jüngstem Sproß Edwin Shane, genannt Eddy! Fast war die Rote Kosarin geneigt - sie kannte die Schrulligkeiten des alten Zausels -, in dem Auffischen dieser Flasche so etwas wie das Walten übersinnlicher Kräfte zu vermuten, obwohl sie sonst nüchtern und sehr kühl solche Dinge betrachtete. Dennoch war's irgendwie merkwürdig – zum Beispiel, wenn man sich fragte, warum Old Donegal gerade diese Flasche so hartnäckig gegen die Trinklust gewisser Zecher im Bunde der Korsaren verteidigt hatte, trotz der immer wieder betonten Zweckdienlichkeit im Falle der Eheschließung eines der beiden Dänen. Sollte er geahnt haben – der alte Hinterdie-Kimm-Späher –, daß die AquavitFlasche eines Tages für sein Söhnchen eine besondere Bedeutung haben würde? Genau das war es, was der Roten Korsarin durch den Kopf ging, als eine Stunde später eine zweite treibende Flasche gesichtet und aufgefischt wurde. Zweifelsfrei stammte auch diese Flasche aus den Beständen der „Rutsche“. Zwei Stunden später wurde die dritte Flasche aus der See gefischt. Damit war der Fall klar: die Spur wurde immer heißer, zumal Martin Correa, der auf der „Empress“ nicht nur als Bootsmann, sondern auch als Steuermann und Lotse fuhr – von Old Donegal in diesen Funktionen eingesetzt –, gewissenhaft die Fundorte der drei Flaschen auf der Seekarte eingetragen und festgestellt hatte, daß sie nahezu auf einer Linie lagen, einer Linie, die auf Whale Cay zuführte. Da war das Jagdfieber ausgebrochen. Bei aller Gerissenheit ihrer Flucht waren die beiden Deserteure so dumm gewesen, ihren Fluchtweg mit drei Flaschen zu markieren. Vermutlich hatte ihnen der
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Inhalt der geleerten Flaschen den Verstand vernebelt. Nach Auffinden der dritten Flasche und der Feststellung Martin Correas über die Fluchtrichtung der beiden Deserteure hatte die Rote Korsarin das Achterdeck nicht mehr verlassen, und die Ausgucks waren doppelt besetzt worden. Jetzt lag es an ihr, die beiden Lumpenkerle wieder einzufangen – und den kleinen Eddy wohlbehalten in den Stützpunkt zurückzubringen. Letzteres insbesondere hatte für sie absoluten Vorrang. Sie hatte es Eddys Mutter Mary O'Flynn nicht nur versprochen, sondern sie handelte auch als Frau, die – obwohl selbst kinderlos – das Leben eines Kindes wie eine Löwin verteidigen würde. Nach ihrer Einschätzung der Lage war das Leben des Jungen aufs höchste gefährdet. Sobald die beiden Kerle glaubten, daß sie ihn als Geisel nicht mehr brauchten, würden sie ihn umbringen. Sie mußten ihn umbringen, um einen Zeugen loszuwerden. Eddy hatte eine Überlebenschance von allenfalls zwei Tagen. Wenn es den Kerlen gelang, bis in den Bereich der flachen Great Bahama Bank zu flüchten, dann waren sie so gut wie sicher vor Verfolgern – und die Stunden ihrer Kindergeisel gezählt. Wenn sie sich besoffen, und das schien der Fall zu sein, dann verlängerte sich Eddys Überlebenschance. Die Rote Korsarin kannte die beiden Kerle sehr genau - noch aus der Zeit, als sie zusammen mit dem Wikinger in der Karibik spanische Schiffe gejagt hatte. Mißjöh Buveur traute sie den Mord an einem Jungen nicht zu, trotz seiner Gewalttätigkeit, wenn er betrunken war. Aber Robinson, genannt Muddy, war unberechenbar. Und er war ein Mörder, ein Frauenmörder, der vor dem Mord der Frau Gewalt angetan hatte. Das war damals diese üble Geschichte auf Tortuga gewesen. Dennoch hatte ihn Thorfin Njal in seine Crew aufgenommen und gemeint, man müsse ihm eine Chance geben. Sie hatte damals dagegengestimmt. Männer, die Frauen Gewalt antaten, waren für sie
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tollwütige Bestien. Und solche Kerle hatten in ihren Mannschaften nichts zu suchen. Jetzt hatte sie die Vergangenheit eingeholt – sie und Thorfin Njal und jene, die gegen Robinson gestimmt hatten. Und jetzt war das Leben eines Jungen in Gefahr. Ihre damalige Ablehnung fand heute ihre Bestätigung. Sie hatte sich als richtig erwiesen, aber ein Triumph war es nicht – so nicht! Als sie sich vor einigen Stunden alle im Stützpunkt in der Cherokee-Bucht getrennt hatten, um mit ihren Schiffen in verschiedenen Richtungen die Suche und Verfolgung der beiden Deserteure aufzunehmen, hatte der Wikinger darum gebeten, daß derjenige, der die beiden Kerle fände, keine Selbstjustiz übe, sondern sie zum Stützpunkt zurückbringe, wo sie vor ein Gericht der Korsaren gestellt werden sollten. Alle Kapitäne hatten dieser Bitte zugestimmt, aber die Rote Korsarin war sich nicht sicher, ob sie selbst dieser Bitte folgen würde. Das Leben des Jungen zählte ungleich mehr als das der beiden Lumpenkerle. Sollte es die Situation ergeben, würde sie, um das Leben des Jungen zu retten, die beiden Kerle erbarmungslos über die Klinge springen lassen. 3. Gegen neun Uhr an diesem Vormittag wurden alle diesbezüglichen Überlegungen gegenstandslos. Es war der ungeschlachte Riese Barba, der wohl treueste Gefolgsmann der Roten Korsarin, der Backbord voraus das kleine Segel und dann das Boot sichtete. Es lag über Backbordbug auf einem Kreuzkurs am Wind nordwärts und würde den Kurs der „Empress“ schneiden. Auf der Steuerbordkante des Bootes hockte eine kleine Person und segelte auf Teufel komm raus hart am Wind. Barba stierte durch den Kieker und ächzte. Und dann brüllte er: „Teufel! Die ,Little Isabella' mit Eddy!“
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Die Rote Korsarin, die mit dem Kieker nach Steuerbord Ausschau gehalten hatte, fuhr herum. „Wo, Barba?“ stieß sie hervor. „Backbord voraus!“ Sie spähte durchs Spektiv. Ja, er war's, der kleine Kerl, unverkennbar, das von der Sonne gebleichte Haar leuchtete. Sie meinte, den Stein zu hören, der ihr von der Seele polterte. Aufseufzend ließ sie das Spektiv sinken, zog die Pistole und feuerte sie in die Luft ab. Der Kopf des Jungen drehte sich überrascht nach rechts, er entdeckte die heransegelnde „Empress“ und schrie vor Freude auf. Mit einer eleganten Schleife luvte die „Empress“ an und ging in den Wind. Eddy begriff, segelte noch ein Stück weiter über Backbordbug, wendete dann auf den Steuerbordbug und steuerte die „Little Isabella“ auf die „Empress“ zu. Mit einem Aufschießer glitt die Jolle an die Backbordseite der „Empress“ und wurde von den Mannen wahrgenommen. Sie grinsten alle bis zu den Ohren. Eddy warf die Vorleine hoch und kletterte wie eine Katze an Bord, strahlend und auch ein bißchen aufgeregt. Die Rote Korsarin nahm ihn einfach in die Arme und drückte ihn an sich, wie es eine Mutter tun würde, die ihr verlorenes Kind wiedergefunden hat. Und dann berichtete Eddy – vom Einbruch Muddys in die „Rutsche“ bis zum gestrigen Abend, als er mit der Jolle aus der Bucht geflohen war. Barba starrte den kleinen Mann verblüfft an, kratzte sich hinter dem rechten Ohr und fragte: „Du hast die Jolle ganz allein vom Strand ins Wasser bugsiert, Eddy?“ „Ging ganz leicht, Sir“, erwiderte Eddy, „hab' nämlich die spanische Winsch eingesetzt, wie uns das Mister Ramsgate gezeigt hatte.“ „Teufel auch, Jungchen“, murmelte' der Riese, „Respekt, Respekt. Ich weiß nicht, ob ich in deinem Alter in einer ähnlichen Lage so klug gehandelt hätte.“ „Bestimmt, Sir“, versicherte Eddy, „und du darfst nicht vergessen, daß den Kerlen der
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Rum fast schon zu den Ohren rauslief. Insofern ging alles eigentlich ganz leicht. Und bestimmt hatte ich 'ne Menge Glück. Muddy hat mich auch für 'n bißchen blöd gehalten, und da hab' ich natürlich nicht widersprochen.“ Die Mannen lachten schallend. Alle fühlten sich wie von einer schweren Last befreit – Eddy war in Sicherheit, nur das zählte. Dabei hatte der kleine Kerl eine Leistung vollbracht, die tatsächlich, wie Barba gesagt hatte, Respekt verdiente. Ohne jegliche fremde Hilfe war er ans Werk gegangen und hatte es sogar fertiggebracht, die für Jungenskräfte schwere Jolle ins Wasser zu ziehen. Außer Siri-Tong, Barba und Martin Correa gehörten zur derzeitigen Crew der kleinen, flinken dreimastigen „Empress“ – einer Karavellen-Konstruktion von Hesekiel Ramsgate –noch der Koch Andy Fulham, der Zimmermann Ray Chiswell, der Stückmeister Henry Scrutton und der Rudergänger Mike Wimpole –eine ausgesuchte und ausgezeichnete Mannschaft von Kerlen, die ihr Handwerk verstanden und allesamt harte Kämpfer waren. Während Andy Fulham für Eddy Spiegeleier auf Speck briet, wurde die „Little Isabella“ abgetakelt und an einer Schleppleine achtern angehängt. Dann ging die „Empress“ auf Kurs Whale Cay. Nachdem Eddy seine Spiegeleier heißhungrig verputzt hatte, mußte er SiriTong noch einmal in allen Einzelheiten berichten. Sie stellte auch sehr genaue Fragen und notierte sich die wichtigsten Punkte. Was sie hörte, ließ sie noch nachträglich schaudern. Muddy hatte also geplant, den Jungen „wie eine Katze zu ersäufen“, Ferner hatten die Kerle vorgehabt, in Havanna den Stützpunkt der Korsaren an der Cherokee-Bucht an denjenigen zu verraten, der ihnen das meiste Geld dafür bot. Diese beiden Männer mußten völlig übergeschnappt sein. Immerhin hatte Mißjöh Buveur Bedenken gehabt, den Jungen zu ermorden. Er hatte Eddy nur auf
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einer Insel der Great Bahama Bank aussetzen wollen. Nur! Aber es war ernsthaft zu bezweifeln, ob Eddy eine Überlebenschance gehabt hätte. Er wäre irgendwann vor Hunger, Durst und Entkräftung gestorben. Die Vorstellung, diesen Jungen allein auf einer menschenleeren Insel zurückzulassen, erschütterte die Rote Korsarin fast noch mehr als der Mord, den Muddy geplant hatte. Vermutlich hatte Mißjöh lediglich sein Gewissen beruhigen wollen, als er das Aussetzen vorschlug. über die Folgen für den Jungen hatte er wahrscheinlich nicht nachgedacht – oder sein Gehirn war vom Rum wieder vernebelt gewesen. Aus allem, was Eddy berichtete, gewann die Rote Korsarin den Eindruck, daß Muddy der treibende Teil aller Aktionen gewesen sein mußte. Er hatte für seine Flucht einen Kumpan gebraucht und sich Mißjöh Buveur ausgesucht. Geködert hatte er ihn mit Rum. Des Franzosen Schwachstelle war seine Gier nach Alkohol – das wußten alle im Bund der Korsaren. Das Gericht würde beide Männer schuldig sprechen – sie hatten aus geldgierigen Motiven gehandelt, der Junge war als zweckdienliche Geisel entführt worden und sollte später umgebracht werden, und sie hatten geplant, Verrat zu üben. Da gab es nicht einen einzigen mildernden Umstand, Gnade zu üben. Zwei Stunden später steuerte Mike Wimpole die „Empress of Sea II.“ nach den Ruderanweisungen Eddys vor die Lagune auf der Südseite von Whale Cay. Dort wurde geankert und die Jolle ausgesetzt. Eddy führte die Rote Korsarin, Barba und Henry Scrutton zu der kleinen Bucht, wo die „Little Isabella“ auf den Strand gezogen worden war und die beiden Kerle dann gelagert hatten. Sie waren verschwunden, aber die Fußspuren wurden sofort entdeckt –wenn auch nur die eines einzelnen Mannes. Eddy kehrte wieder an Bord zurück. Siri-Tong, Barba und Scrutton folgten den Fußspuren, die am Strand entlang nordostwärts
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führten. Natürlich waren alle drei bewaffnet – auch Ratten bissen noch zu, wenn sie in die Enge getrieben wurden. Muddy war zwar unbewaffnet, weil Eddy ihm klugerweise die Pistole und das Messer weggenommen hatte, aber der Kerl würde sich nicht freiwillig ergeben, wenn sie ihn gestellt hatten. Es wiederholte sich alles. Wie schon einmal, als sich Muddy bei Key Largo einer Reinigungskur entzogen hatte und Eike, Olig und der Bootsmann Juan nach ihm suchen mußten, war er auf eine hohe Kokospalme geklettert und versteckte sich im Wipfel. Die Spuren im Sand hatte dieser Narr allerdings nicht verwischt. Sie endete an der Palme. „Komm runter, Robinson!“ rief Barba nach oben und schlug beidhändig die Pistole an. Nichts rührte sich im Wipfel, eine Antwort erfolgte auch nicht. Damals bei Key Largo hatte Muddy mit Kokosnüssen geworfen und den Bootsmann Juan am Kopf getroffen. Barba wußte das, und er hatte keine Lust, sich lange mit dem Kerl herumzuärgern. Er warf der Roten Korsarin einen fragenden Blick zu. Sie nickte – und da feuerte der Riese einen Lauf der doppelläufigen Pistole ab, nicht blindlings, sondern so, daß die Kugel ganz oben durch den Wipfel zischte. Muddy stieß einen Schreckensschrei aus, brach durch die Zweige und fiel wie eine reife Kokosnuß in den Sand. Bevor er sich wieder aufrappeln konnte, war Barba über ihm und „ließ die Kuh fliegen“ – einer seiner Lieblingssätze, wenn er die eisenharte Faust einsetzte. Sie krachte an den Kopf Muddys, und der war eh von Eddys beiden Pistolenschlägen arg lädiert. Barba fesselte den Bewußtlosen, warf ihn sich über die Schulter, und sie marschierten zum Boot zurück, das von Ray Chiswell bewacht wurde. Minuten später waren sie wieder an Bord, und Barbe fesselte den Kerl an die Nagelbank des Fockmastes. Mit ein paar Pützen Seewasser wurde Muddy ins Dasein zurückgeholt. Als er zu
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toben anfing, bot ihm Barba an, noch einmal „die Kuh fliegen zu lassen“. Da zog es Muddy vor, sein Gebrüll einzustellen. „Wo steckt Mißjöh Buveur?“ fragte die Rote Korsarin kalt. Muddys Visage wurde tückisch. „Das Schwein hat alles ausgeheckt!“ stieß er hervor. „Das Schwein hat mich gezwungen, mitzumachen! Das kann ich beschwören ...“ Und dann zuckte er zusammen, denn aus dem achteren Niedergang trat der Junge, den er wie eine Katze hatte ersäufen wollen. „Du lügst, Mister Robinson“, sagte Eddy, „Mißjöh Buveur hat dich zu gar nichts gezwungen, das kann ich bezeugen.“ „Du verdammte Kröte ...“, zischte Muddy, zu mehr reichte es nicht, weil ihn eine Maulschelle Barbas stoppte. „Hier wird niemand beschimpft, Robinson“, grollte der Riese, „der Junge schon gar nicht. Also, wo steckt dein Kumpan?“ „Was hab' ich davon, wenn ich's sage?“ fragte Muddy lauernd. „Gar nichts“, entgegnete die Rote Korsarin frostig, „es sei denn, du willst dir das Kielholen ersparen. Wir haben keine Lust uns von dir lange zum Narren halten zu lassen. Nach dem Kielholen bist du sicherlich gesprächiger.“ Muddys Gesichtsfarbe wechselte ins Käsige, und er begriff, daß die Rote Korsarin nicht lange fackeln würde, die war hart wie Granit und kalt wie. Eis. Hastig sagte er. „Der dicke Bastard ist zur anderen Insel geschwommen, zu der Insel, die gleich westlich hinter Whale Cay liegt. Ich habe es beobachtet.“ „Ihr habt euch getrennt?“ fragte die Rote Korsarin. „Er wollte mich totschlagen“, erklärte Muddy. „Da bin ich weggelaufen.“ „Warum wollte er dich totschlagen?“ fragte die Rote Korsarin. „Ich sehe da keinen Sinn.“ ,,Er wollte einen Zeugen für seine Untaten beseitigen“, sagte Muddy gehässig, „genau das wollte er.“ „Ich schätze, es verhielt sich genau umgekehrt“, sagte die Rote Korsarin
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verächtlich. „Du hast schon zuviel geschwindelt, Robinson, und im Bund gibt es wohl keinen mehr, der dir noch glaubt.“ „Dann sage ich überhaupt nichts mehr“, erklärte Muddy giftig. „Bei einem Schwindler ist das als ein Segen zu bezeichnen“, äußerte die Rote Korsarin. „Nun ja, wir werden hören, was der Mißjöh dazu zu sagen hat.“ Sie musterte Robinson, der ihrem Blick auswich, und schüttelte den Kopf. „Ich verstehe euch nicht. Habt ihr euch allen Ernstes eingebildet, ihr könnt desertieren und wir würden Däumchen drehen und nichts unternehmen, um euch wieder einzufangen? Euer schlimmster Fehler war, Eddy als Geisel mitzuschleppen...“ „Das hatte sich der blöde Franzose ausgedacht“, unterbrach Muddy die Rote Korsarin. „Ich war dagegen.“ „Du lügst schon wieder, Robinson“, sagte Siri-Tong, „und begreifst offenbar nicht, daß du damit alles noch verschlimmerst. Du könntest eine hauchdünne Chance haben, wenn du alles zugibst und wie ein Mann zu dem stehst, was du getan hast. Aber die gesamte Schuld Mißjöh Buveur zuzuschieben, dürfte nicht der richtige Weg sein. Wir sind auch nicht dumm genug, dir das abzukaufen. Also gib's auf, uns weiter anzuschwindeln. Es führt zu nichts.“ „Ich bin unschuldig!“ jaulte Muddy. „Ich wollte nur mal mit der ,Little Isabella` 'n bißchen spazierensegeln!“ „Unter Mitnahme von vier Säcken Golddublonen, Edelsteinen und Perlen, vier Rumfäßchen, verschiedenen Flaschen Schnaps, Proviant, einer Muskete, einer doppelläufigen Pistole – und eines fünfjährigen Jungen als Geisel, die nicht freiwillig mitkam, sondern von dir bewußtlos geschlagen wurde.“ Die Rote Korsarin schüttelte wieder den Kopf. „Und der Junge hörte mit, als du Mißjöh Buveur sagtest, daß du Eddy wie eine Katze ersäufen wolltest! Du mußt verrückt sein, Robinson.“ „Der Bengel lügt!“ kreischte Muddy.
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„Soll ich ihm was aufs Maul hauen, Ma'am?“ fragte Barba grimmig. „Das Geplärre ist ja nicht mehr auszuhalten.“ Die Rote Korsarin schüttelte den Kopf. „Nein, Barba. Wenn er sich heiser geschrien hat, hört er von selbst auf. Es bringt ja auch nichts. Irgendwann wird er das wohl kapieren. Macht die ,Little Isabella' segelklar. Wir segeln hinüber nach Chub Cay, um Mißjöh Buveur abzuholen.“ „Geht klar, Ma'am. Wer soll mit?“ „Du, Mister Chiswell und Mister Wimpole.“ „Aye, aye, Ma'am.“ Der Riese drehte sich um und marschierte zum Achterdeck, um die Jolle heranzuziehen. Ray Chiswell und Mike Wimpole gesellten sich zu ihm, um beim Auftakeln zu helfen. „Darf ich mit, Ma'am?“ fragte Eddy. „Du hast genug hinter dich gebracht, Söhnchen“, erwiderte die Rote Korsarin lächelnd. „Und was sich jetzt abspielt, ist nichts weiter als häßlich. Das möchte ich dir ersparen. Außerdem habe ich deiner Mom versprochen, dich gesund und heil zurückzubringen.“ Eddy blickte erstaunt. „Aber ihr wußtet doch gar nicht, wohin oder in welche Richtung die beiden Männer geflohen waren.“ „Das nicht, mein Junge, aber wir hatten eine Spur - besser gesagt, drei Spuren, und zwar in Form von drei in der See treibenden Flaschen. Mister Correa trug die Fundorte auf der Seekarte ein - drei Punkte! Er verband sie zu einer Linie, die auf Whale Cay gerichtet war. Schon bei der ersten Flasche wußte ich, daß sie aus den Sonderbeständen deines Vaters stammte. Sie hatte Aquavit enthalten, einen dänischen Branntwein.“ Eddy pfiff durch die Zähne und fand diese Geschichte unheimlich gut. Die Rote Korsarin blickte - zu Muddy und sagte: „Ihr wart so dumm, eure eigene Spur zu legen, Robinson. Auch wenn Eddy nicht geflohen wäre, hätten wir euch gefunden.“ „Da wären wir längst weggewesen“, sagte Muddy höhnisch.
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„Es ist nicht zu fassen, wie blöd du bist“, sagte die Rote Korsarin ganz sachlich. „Ihr wolltet zur Great Bahama Bank - in der Annahme, dort- hin könnten wir euch wegen des flachen Wassers nicht folgen. Das mag stimmen, obwohl es auch für die ,Empress' Passagen gibt, die Bank zu überqueren, ohne aufzulaufen. Aber das spielt in diesem Fall keine Rolle. Denn wir hätten euch noch vor Erreichen der Bank erwischt. Die ,Empress' ist schneller als die ,Little Isabella' - und ihr hattet eine ganze Nacht mit eurem Suffschlaf vertrödelt. Euren möglichen Vorsprung von etwa einer Stunde hätten wir spielend eingeholt.“ Muddy fluchte ordinär. „Außerdem“, fuhr die Rote Korsarin fort, „konnten wir uns an den fünf Fingern abzählen, wohin ihr wolltet, nämlich nach Kuba und vermutlich Havanna, wo ihr eure Raubbeute auf den Kopf gehauen hättet. Eddy bestätigte dann, daß ihr nach Havanna wolltet. Im übrigen hätten wir Arne von Manteuffel per Brieftaube von eurer Flucht mit vermutlichem Ziel Havanna in Kenntnis gesetzt. Euch in den Hafenkaschemmen zu finden, wäre ihm, Jussuf und Jörgen Bruhn sowie der gesamten Crew der ,Wappen von Kolberg’ nicht schwergefallen. Wir hätten euch also entweder noch vor der Great Bahama Bank oder dann in Havanna erwischt. So gerissen ihr eure Flucht vorbereitet und uns alle im Stützpunkt mit eurer scheinbaren Diensteifrigkeit getäuscht habt, so idiotisch habt ihr euch nach eurer Flucht verhalten. Sechs Schiffe sind aufgebrochen, um euch zu suchen, und wenn wir die ganze Karibik hätten auf den Kopf stellen müssen, wir hätten nicht aufgegeben. Denn da ist noch ein anderer Punkt, der euch hätte klar sein müssen: Ihr wolltet Verrat üben und die Lage unseres Stützpunktes demjenigen preisgeben, der euch dafür das meiste Geld bieten würde. Damit stand die gesamte Existenz unseres Bundes auf dem Spiel! Nur ein Schwachkopf kann sich einreden, daß wir das hingenommen hätten. Wenn wir überleben wollten, waren wir so oder so gezwungen, euch zu suchen und zu
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finden. Eure Chancen waren von Anfang an gleich null: zwei Schwachköpfe – einer davon noch dazu ein haltloser Trunkenbold – gegen das Potential erstklassiger und erfahrener Kapitäne und Mannschaften! Das konnte gar nicht gut gehen – und ein fünfjähriger Junge hat euch überlistet!“ Muddy hatte den Kopf hängen lassen und war in der Fesselung in sich zusammengesackt. Vielleicht dämmerte ihm, daß das Spiel verloren war. „Jolle segelklar, Ma'am!“ meldete Barba. Ein paar Minuten später segelte die Rote Korsarin mit den drei Männern in der „Little Isabella“ westwärts auf Chub Cay zu. 4. Mißjöh Buveur lag auf der Westseite der Insel am Strand unter einer Palme und huldigte dem Schlaf. Abgesehen vom Saufen war Schlafen seine Lieblingsbeschäftigung. Natürlich aß er auch gern. Nachdem er an dieser Stelle an Land gewatet war, hatte er sich – was Trinken und Essen betraf – mit der Milch und dem Fleisch von Kokosnüssen begnügen müssen. Und dann hatte er sich hingehauen, faul wie er war. Er hätte auf der Westseite nur etwa hundert Schritte weiterzuwaten brauchen, dann wäre ihm am Strand das Gebilde aufgefallen, das zum Teil von Sand überweht war. Es handelte sich um Treibgut – in diesem Fall um eine prächtige Gräting aus hartem Eichenholz. Sie hatte eine rechteckige Form und hätte zwei Männern genügend Platz geboten. Auf ihrer Stirnseite oben war der Name des Schiffes eingebrannt, zu der sie einmal gehört hatte: „Plus ultra“. Das hieß soviel wie „Weiter voran“, eine löbliche Parole oder Devise, die Mißjöh Buveur vielleicht angeregt hätte, im weiteren Treibgut nach einem Brett zu suchen, die Gräting ins Wasser zu schleppen und zu einer anderen Insel zu paddeln. Mit einem Segel aus geflochtenen Palmwedeln und einem Hilfsmast hätte er
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sogar hinüber nach Andros segeln können, der größten der Bahama-Inseln, wo es verdammt schwierig geworden wäre, ihn zu finden. Aber wie gesagt, seine Faulheit stand dieser Rettungsmöglichkeit im Wege. Außerdem glaubte er, auf Chub Cay in Sicherheit zu sein. Daß er zu dieser Insel geschwommen war, hielt er bereits für eine erhebliche Kraftleistung, die ihn berechtigte, nun erst mal zu entspannen. Er schnarchte, und hätte er in seiner Koje im Vordeck des schwarzen Seglers gelegen, dann wäre ihm handfest verklart worden, was die Kameraden von einem derart ruhestörenden Lärm hielten. Hier auf der Insel hatte sich die Vogelwelt im weiten Umkreis protestierend verzogen. Für die Rote Korsarin und ihre drei Mannen – sie hatten die Jolle auf der Ostseite gelandet – war es überhaupt kein Problem, den Schnarchtönen zu folgen und Mißjöh Buveur zu finden. Sie bauten sich um ihn herum auf und schauten auf den Schläfer nieder, an dessen Kopf eine feine Beule prangte – das Werk Eddys, als er mit dem Griff der Doppelläufigen zugeschlagen hatte. „Es ist wirklich nicht zu fassen“, murmelte die Rote Korsarin. „Und so was gehörte mal zum Bund der Korsaren. Der eine klettert drüben auf eine Palme, der andere legt sich hier darunter. Sind das Vollidioten?“ „Du sagst es, Ma'am.“ Barba grinste flüchtig, kniff plötzlich die Augen zusammen, spähte zu dem Treibgut einhundert Schritte weiter und fügte hinzu: „Moment mal!“ Er marschierte zu der Gräting, bückte sich, lüftete sie an und las den eingebrannten Schiffsnamen. Und da mußte er wieder grinsen, denn ihm wurde die Ironie dieses Fundes bewußt. Mißjöh Buveur hätte nur zuzupacken brauchen, um diese einmalige Chance zu nutzen. Er war nicht nur ein Vollidiot, sondern ein Obervollidiot. Mühelos schleppte er mit seinen Bärenkräften die Gräting zu der Palme, ließ sie in den Sand kippen und deutete auf den Schiffsnamen.
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„,Weiter voran', sagte er, „gilt für Mißjöh Buveur nicht mehr. Diese Gelegenheit hat er verpaßt, der Suffkopp!“ Die Rote Korsarin, Ray Chiswell und Mike Wimpole begriffen sofort, was er meinte. Siri-Tong stieß einen Zischlaut aus und sagte: „Er hätte längst weg sein können, und dann wäre es wirklich schwer geworden, ihn zu finden.“ „Immer dem Nordostwind nach, Ma'am“, meinte Barba. „Siehst du, genau das hätte ich an seiner Stelle nicht getan“, sagte die Rote Korsarin. „Ich wäre nordwärts gepaddelt.“ Barba grinste. „Du ja, Ma'am, aber nicht Mißjöh Buveur, weil der nämlich immer den bequemsten Weg wählt.“ Die Rote Korsarin stutzte, dann nickte sie und sagte: „Da hast du recht. Ich werde wohl auch schon denkfaul.“ „Das möchte ich tunlichst überhört haben, Ma'am“, erklärte der Riese, der noch häßlicher als der Profos Edwin Carberry war, aber genauso wie er eine goldene Seele hatte. Er kratzte sich hinter dem rechten Ohr und fragte: „Soll ich ihn aufwecken?“ „Ich bitte darum.“ Nicht mal die Stimmen hatten vermocht, Mißjöh Buveur aus dem Schlaf zu reißen. Er hatte kräftig weitergeschnarcht. „Reich mir mal deinen Teerhut, Ray“, sagte Barba zu dem Schiffszimmermann. „Um Wasser zu holen?“ fragte Ray Chiswell. „Genau das.“ „Mach ich selbst – und das mit Freuden!“ Der an die sechs Fuß große, sehnige Mann nahm den geteerten Hut ab, den er meistens trug, ging zum Wasser, tauchte den Hut hinein, ließ ihn vollaufen, kehrte zurück und schmetterte den Inhalt in Mißjöh Buveurs Gesicht. Es klatschte prächtig, das Schnarchen brach ab, Mißjöh Buveur fuhr hoch. Als er die Rote Korsarin, Barba, Ray Chiswell und Mike Wimpole erkannte, quollen ihm buchstäblich die Augen aus den Höhlen. „Deinen Saufkumpan haben wir schon“, sagte die Rote Korsarin kühl. „Er hat uns
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auch verraten, du seist zu dieser Insel geschwommen. Im übrigen behauptet er, du seist der Schuldige, denn du hättest ihn gezwungen, mitzumachen.“ „Er lügt, dieser Bastard!“ stieß Mißjöh Buveur keuchend hervor und blickte sich gehetzt um. Als er die Gräting entdeckte, wurden seine Augen stier. „Die lag nur an die hundert Schritte von hier entfernt am Strand“, erklärte Barba. „Sie wäre deine Chance gewesen, von hier zu verschwinden, bevor wir landeten. Aber du mußtest ja mal wieder pennen, nicht wahr? Los, steh auf und die Hände auf den Rücken!“ Mißjöh Buveur stand auf, ächzend und stöhnend, dann torkelte er, und plötzlich raste er los, offenbar in der Absicht, sich ins Wasser zu stürzen. Mike Wimpole, an dem er vorbei mußte, stellte ihm ein Bein, und da lag er auch schon auf der Nase. Barba sprang hinzu, riß ihm die Arme auf den Rücken und fesselte ihm die Hände. „So nicht, Mißjöh“, sagte er grollend, „so nicht. Einmal ist euch die Flucht gelungen, wenn auch nur bis Whale Cay. Ein zweites Mal gibt es nicht mehr.“ „Ich bin unschuldig“, wimmerte Mißjöh Buveur. „Das sagt der Schmierlappen Muddy auch“, entgegnete Barba grimmig und zog die Fessel noch fester. Dann hievte er den Franzosen auf die Füße, hielt ihn am Kragen fest und stieß ihn in Richtung der Jolle. „Vorwärts, Freundchen!“ Mißjöh Buveur trottete los, den Kopf gesenkt und sichtlich gebrochen. Hinten am Kragen spürte er den eisernen Griff des Riesen. Knapp zehn Minuten später waren sie alle wieder an Bord der „Empress of Sea II.“, die „Little Isabella“ wurde abgetakelt und an, die Schleppleine gehängt. Barba fesselte indessen Mißjöh Buveur an die Nagelbank des Großmastes, und zwar so, daß sich die beiden Kerle gegenüberstanden. Sie starrten sich an wie Gegner, die einander an die Kehle gehen wollen. Es war aus mit der Kumpanei, als habe sie nie existiert.
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„Du Ratte!“ zischte Mißjöh Buveur. Muddy lachte hämisch und traf den Nagel auf den Kopf, als er höhnte: „Mitgefangen – mitgehangen! Aber in Havanna hätte ich dich sowieso abgemurkst, du blöder Hund!“ „Ah! Das höre ich gern!“ rief die Rote Korsarin. Sie stand am Steuerbordschanzkleid zwischen Großmast und Fockmast und hatte die Arme über der Brust verschränkt. „Nur weiter so, Freunde! Auf diese Weise erfahren wir am besten die Wahrheit. Du hattest also die Absicht, den Mißjöh in Havanna abzumurksen, Robinson. Das beweist schon mal, daß ihr den Plan hattet, Havanna anzulaufen. Aber du hattest gesagt, du hättest mit der ,Little Isabella' ein bißchen spazierensegeln wollen, nicht wahr?“ „Leck mich am Arsch, du Hure!“ brüllte Muddy. Barba war zur Stelle und ließ „die Kuh fliegen“. Fast flog auch Muddys Kopf davon. „Hör auf, Barba“, sagte die Rote Korsarin unbewegt. „Ein Mann wie Robinson kann mich nicht beleidigen.“ „Aber ich fühle mich beleidigt, Ma'am“, knurrte Barba. „Es geht nicht an, daß ein Dreckskerl wie Robinson einen unserer Kapitäne auf diese Art und Weise anpöbelt.“ „Schon gut, mein Alter“, sagte die Rote Korsarin. „Es trifft keinen unserer Kapitäne. Außerdem“, sie lächelte, „hat Mister Robinson immer noch nicht begriffen, daß er sich demaskiert und sein wahres Gesicht zeigt. Die Zeugen hier an Bord hören alle, was er sagt. Vor einem Gericht des Bundes der Korsaren werden sie, wahrheitsgemäß, Bericht erstatten. Und das Gericht wird bei seiner Urteilsfindung den Mister Robinson danach beurteilen, was er hier alles –auch an Beschimpfungen – von sich gegeben hat. Es trägt nicht dazu bei, ihn milde zu beurteilen. Im Gegenteil.“ Sie blickte zu Muddy. „Ist dir das klar, Robinson?“ „Interessiert mich nicht!“ fauchte Muddy. „Ich bin jedenfalls unschuldig. Der
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Fettsack ist schuldig, der hat mich erpreßt, weil er mal gesehen hat, wie ich aus dem Faß in der Kombüse heimlich Rum abgezapft habe!“ Jetzt grinste er sogar ölig. „Na gut, das war nicht rechtens, geb' ich ja zu. Aber er hat das benutzt, um mich zu erpressen. Immer wieder wollte er mehr Rum haben ...“ „Lüge!“ brüllte Mißjöh Buveur. „Du lügst, du dreckiger Schweinehund! Und wer wollte den kleinen Eddy wie eine Katze ersäufen?“ „Du!“ keifte Muddy. „Nein, du, und dafür lege ich meine Hand ins Feuer!“ schrie Mißjöh Buveur. Sie zerrten beide wie wild an ihren Fesseln – und wären sich ungefesselt tatsächlich an die Gurgeln gefahren. Sie tobten und geiferten und spuckten sogar, obwohl die Entfernung nicht ausreichte, daß einer den anderen traf. Barba starrte mißbilligend auf die Spucke und knurrte: „Versauen auch noch das Deck, diese Mistkerle!“ „Spucke ist abzuwaschen“, sagte die Rote Korsarin, „der Dreck im Charakter der beiden Kerle offenbar nicht. Der klebt noch zäher als Leim. Wir gehen ankerauf, westwärts, und versuchen, Le Testu und Montbars zu erreichen. Die ,Empress drei' kann dann ihrerseits versuchen, die anderen Schiffe zu benachrichtigen, daß die Jagd abgeblasen ist.“ „In Ordnung, Ma'am“, sagte Barba. „Sollen wir die beiden Kerle in die Vorpiek stecken?” Die Rote Korsarin überlegte und schüttelte dann den Kopf. „Nein, sie bleiben, wo sie sind. Vielleicht sagen sie sich weitere Freundlichkeiten, die uns Aufschluß über die Wahrheit geben. Mich interessieren die Hintergründe für ihre Desertion, vor allem aber, wer von den beiden die Pläne für die Flucht ausgeheckt hat ...“ „Der fette Franzose!“ brüllte Muddy. „Wer denn sonst?“ Das Erstaunliche passierte: Mißjöh Buveur schwieg. Er starrte auf die Planken vor sich und hatte die Lippen zusammengepreßt. Möglichweise hatte er begriffen, daß er besser abschnitt, wenn er die
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Beschimpfungen seines Kumpans ignorierte. Es zahlte sich nicht aus, wenn sie sich gegenseitig angeiferten. Tatsächlich schossen ihm so ähnliche Gedanken durch den Kopf. Vor allem aber war ihm endgültig bewußt geworden, daß er tief im Dreck steckte, so tief, wie noch nie in seinem Leben. Leben? Ja, um das ging es jetzt. Hatten sie Gnade zu erwarten, wenn das Gericht der Korsaren zusammentrat, um über das zu urteilen, was sie getan hatten? Der Bund der Korsaren hatte ungeschriebene Gesetze. So weit, so gut. Aber Desertion wurde nicht geduldet – konnte gar nicht geduldet werden, wenn man nicht die Existenz des Bundes aufs Spiel setzen wollte. In diesem Fall würde das Gericht mit erbarmungsloser Härte urteilen. Da war keine Gnade zu erwarten. Der Franzose stöhnte auf, hob den Kopf und starrte zu dem anderen Mann, der immer noch geiferte und seine Unschuld beteuerte, indem er ihn, Mißjöh Buveur, mit den unsinnigsten Behauptungen belastete. Gerade sagte der Mann namens Robinson mit einem schmierigen Grinsen: „Er schwärmte mir vor, wie viele Weiber ich an jedem Finger haben könnte, wenn wir in Havanna wären. Für einen Klunker, so rechnete er mir vor, könnten wir ein ganzes Freudenhaus 'n Monat lang pachten. Nur wir beide – und mit allem Drum und Dran!“ Jetzt sagte Mißjöh Buveur doch etwas. Er sagte: „Idiot!“ „Dem stimme ich zu“, erklärte die Rote Korsarin. „Du bist ein Idiot, Robinson. Und ich schätze, daß kein Wort von dem wahr ist, was du uns hier vorfaselst, um Mißjöh Buveur die Schuld zuzuschieben. Zumindest haben wir aber wiederum erfahren, daß ihr nach Havanna wolltet.“ „Das ist richtig, Ma'am“, sagte Mißjöh Buveur, und seine Stimme klang gepreßt. „Wir wollten nach Havanna – über die Great Bahama Bank. Dieses Ziel hatte sich Robinson bereits gesetzt, als er mich in der ‚Rutsche' in seinen Plan einweihte ...“
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Prompt begann Muddy wieder zu kreischen und zu verkündigen, daß „die fette Sau“ lüge, um sich selbst reinzuwaschen. Als er erschöpft verstummte, jedoch erwartungsvoll um sich schaute, um festzustellen, welche Wirkung seine „Verteidigung“ erzielt hatte, sah er nur verächtliche, angewiderte Gesichter. Es waren Mienen, die deutlich genug ausdrückten, was man von seinen Argumenten hielt – nämlich nichts. Irgendwie begann ihm zu dämmern, daß es wohl doch nicht so leicht war, Mißjöh Buveur in die Pfanne zu hauen. Er mußte sich etwas anderes einfallen lassen. Außerdem war ihm – wie Mißjöh Buveur – klargeworden, daß es um Kopf und Kragen ging. Es gab nur eine Möglichkeit, das Leben zu retten: er mußte fliehen. Nur wie? Von diesem Moment an kreisten seine Gedanken unaufhörlich um ein und dasselbe Problem: Flucht! Indessen wurde die Jolle der „Empress“ an Bord genommen und auf den Klampen verzurrt. Sie setzten die Segel und hievten den Anker. Martin Correa hatte inzwischen berechnet, daß die „Empress auf Sea III.“ mit Le Testu und Montbars am Abend dieses Tages die Bimini-Inseln erreichen müßte. Dort sollte sie laut Order auf Südkurs gehen und die Cat Cays, Browns Cay und Orange Cay absuchen. Jean Ribault war es gewesen, der vermutet hatte, die beiden Deserteure würden versuchen, mit der „Little Isabella“ über die Great Bahama Bank zu entwischen. Darum waren die beiden kleinen „Empress“-Karavellen mit ihrem geringen Tiefgang auch für dieses Gebiet eingeteilt worden. „Kurs Westnordwest, Ma'am“, sagte jetzt Martin Correa und rieb sich das feste, energische Kinn. „Wenn wir uns ranhalten und unser Schiffchen gut trimmen, können wir die Biminis ebenfalls heute abend erreichen.“ Er grinste. „Vorausgesetzt natürlich, der Wind pennt nicht ein.“
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„Mike, Kurs Westnordwest“, wandte sich die Rote Korsarin an den Rudergänger, „und sieh zu, daß du die ,Empress` zum Laufen bringst.“ „Aye, aye, Ma'am“, sagte Mike Wimpole, „Kurs Westnordwest und ,Empress' zum Laufen bringen.“ Tatsächlich war er ein geschickter und guter Rudergänger, der in der Lage war, ein Schiff voll auszusegeln und jeden Windstoß in zusätzliche Geschwindigkeit umzusetzen. „Was verstehst du unter ,gut trimmen', Martin?“ fragte die Rote Korsarin den Stamm-Bootsmann der „Empress of Sea II.“, der zugleich auch die Navigation besorgte. „Oh, Old Donegal und ich fanden heraus, daß die ,Empress` bei Halbwindkursen nicht nach Lee gebügelt werden darf“, erwiderte Martin Correa. „Sie muß möglichst aufrecht gesegelt werden – also Gewichtsverteilung nach Luv, wenn ich darum bitten darf.“ „Verstanden“, sagte die Rote Korsarin lächelnd, wandte sich an die Crew und fügte hinzu: „Alle Mann bleiben von jetzt an auf der Steuerbordseite. Vorher bitte Backbordanker nach Steuerbord verlegen und dort verzurren, ebenso alle Drehbassen und möglicherweise auch schwerere Lasten.“ „Müßte genügen“, meinte Martin Correa. „Anker, Drehbassen und Munition bringen schon 'ne Menge.“ „Und der dicke Franzose“, brummelte Barba, „der ist zumindest als Trimmgewicht noch zu gebrauchen, was man von dem anderen nicht behaupten kann.“ Er warf Muddy einen schiefen Blick zu. „Der ist eh nur ein Fliegenschiß.“ Die Rote Korsarin räusperte sich tadelnd. „Ist doch wahr“, murmelte der Riese. „Nichts dran an dem Kerl, nur Gift und Galle, und sie sind zum Trimmen ungeeignet, wie ich das sehe.“ „Schon klar, Barba“, sagte die Rote Korsarin, „aber ich möchte nicht, daß die Gefangenen verunglimpft werden. Wir sind keine Buschklepper.“
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„Hä-hä-hä!“ meckerte Muddy. „Was denn sonst?“ „Na bitte“, sagte Barba grollend und zugleich vorwurfsvoll. „Mir geht das gegen den Strich, daß so eine miese Laus auch noch wagt, das Maul aufzureißen und uns anzupöbeln.“ „Ich sagte schon mal, es trifft uns nicht“, entgegnete die Rote Korsarin. Trotzdem drehte sie sich zu Muddy um und fügte scharf hinzu: „Ich warne dich, Robinson, noch eine Beschimpfung oder Beleidigung, und du verbringst die weitere Fahrt mit einem Knebel im Mund. Die Grenze dessen, was du dir uns gegenüber erlauben kannst, hast du längst überschritten. Ob wir dich härter anpacken, liegt jetzt an dir. Es ist meine letzte Warnung.“ Daraufhin schwieg der Mann namens Robinson. Der ,dicke Franzose wurde auf der Steuerbordseite an die Großwanten gefesselt. Um Muddy kümmerte sich keiner mehr, er wurde wie Luft behandelt. Er existierte nicht und war bereits jetzt ein Ausgestoßener. Anker sowie Drehbassen und Körbe mit Vollgeschossen wurden nach Steuerbord verstaut, der Luvseite, denn die „Empress“ segelte nach Passieren der Südspitze von Chub Cay über Backbordbug mit halbem Wind. „Kurs Westnordwest liegt an, Ma'am!“ meldete Mike Wimpole, peilte voraus zu den Masten und setzte hinzu: „Tatsächlich, Old Donegals Schmuckstück segelt aufrecht und schneller als zuvor. Das ist deutlich zu spüren.“ „Zu hören auch“, sagte die Rote Korsarin und lauschte dem Zischen des Wassers, das vorn von dem scharfen Steven zerteilt wurde und fächerförmig auf beiden Schiffsseiten davonstob. Achteraus blieb ein sprudelndes Kielwasser zurück, durch das die „Little Isabella“ tanzte, von der Schleppleine mitgezogen. Ohne die Jolle im Schlepp würde die „Empress“ noch schneller sein, dachte die Rote Korsarin, aber das war ein müßiger Gedanke, denn da zählte nur, daß sie den kleinen Eddy wohlbehalten wieder an Bord hatten. Alles andere war unwichtig.
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Die Berechnungen Martin Correas stimmten exakt. Noch vor Einbruch der Dunkelheit wurden die Bimini-Inseln voraus gesichtet und tatsächlich lag vor South Bimini ein kleiner Dreimaster vor Anker, wie durchs Spektiv deutlich zu sehen war – die „Empress of Sea III.“ mit Le Testu und Montbars sowie deren Crew. Offenbar nutzten sie noch das Tageslicht, um die Eilende der Biminigruppen mit der Jolle abzusuchen. Die heransegelnde „Empress of Sea II.“ wurde frühzeitig entdeckt und gemeldet, denn sofort tauchte auf dem Achterdeck der hochgewachsene Korse Montbars auf, peilte durch den Kieker und winkte dann. Die Mannen der Roten Korsarin winkten zurück. Eine halbe Stunde später ankerte Old Donegals „Schmuckstück“ neben dem Schwesterschiff, und Siri-Tong setzte mit der „Little Isabella“ zu den beiden anderen Kapitänen über, gepullt von Barba und Ray Chiswell. Die beiden Kapitäne und ihre Mannschaft grinsten bis zu den Ohren, denn sie wußten, daß die Jagd vorbei war. Sie hatten die beiden gefesselten Kerle gesehen, außerdem den kleinen Eddy, der ihnen zugewinkt hatte, sowie die Jolle im Schlepp der „Empress“. „Teufel auch!“ sagte Gustave Le Testu anerkennend. „Ihr habt's also geschafft, das Söhnchen zu retten und die beiden Kerle einzufangen. Gratuliere, Madam!“ Und er verbeugte sich galant. Die Rote Korsarin winkte ab und schüttelte den Kopf. „Ganz so war's nicht, Gustave. Eddy hatte sich selbst befreit und war mit der ,Little Isabella' auf Kurs Great Abaco gegangen. Unterwegs sichteten wir ihn. Alles andere war fast zu leicht. Die beiden Kerle saßen ja auf Whale Cay beziehungsweise Chub Cay fest.“ Und sie erzählte alles, was passiert war, wobei sie auch Eddys Bericht nicht ausließ. Le Testu, Montbars und die Mannen staunten oder waren einfach baff – nicht wegen der Dummheit der beiden Kerle,
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nein, über Old Donegals Söhnchen, das mit so erstaunlichem Mut, mit Umsicht und so wacher Intelligenz zu Werke gegangen war, um wieder auszubüxen und den beiden Kerlen eine lange Nase zu drehen. „Ein tolles Stück“, sagte Montbars begeistert, grinste und fügte hinzu: „Ich glaube, ich muß mir auch bald so ein Söhnchen zulegen.“ „Dazu gehören zwei, mein Guter“, sagte die Rote Korsarin lächelnd. „So ist das nun mal auf unsrer Erde, nicht wahr?“ „Wie? Ach so!“ Montbars kratzte sich hinter dem rechten Ohr. „Hab' ich doch glatt vergessen.“ Er seufzte. „Wo soll man hier bloß auf Brautschau gehen, kannst du mir das mal verraten, Madam?“ Die Rote Korsarin blickte ihn nachdenklich an und nickte: „Ein schwieriges Problem, stimmt. Der Wikinger ist bis nach Island gesegelt, um seine Gotlinde zu finden – und Smoky, Hasards Decksältester, hat dort seine Gunnhild entdeckt. In der ‚Schildkröte' auf Tortuga stieß Old Donegal auf seine Mary, und Don Juan de Alcazar fand seine Taina auf der ‚Santa Barbara', auf jener Galeone, deren teuflischer Kapitän eine Menschenfracht hübscher und junger ArawakIndianerinnen zum Verkauf nach Spanien bringen wollte.“ Montbars stutzte, als die Rote Korsarin das letztere erwähnte, und dann stotterte er verlegen: „Ich – ja, stimmt – hab' gerade nicht dran gedacht – an – an Anora. Wollte – äh –wollte sie schon immer mal – äh – fragen – ob – äh ...“ Und er verstummte hilflos, er, der verwegene Kämpfer, der nicht Tod und Teufel fürchtete. Die Rote Korsarin hatte erstaunt zugehört, ebenso Le Testu. Ja, die hübsche Anora gehörte wie Taina zu den neununddreißig Arawak-Indianerinnen, die nach ihrer Befreiung durch die Seewölfe beim Bund der Korsaren geblieben waren. „Was denn!“ sagte Siri-Tong jetzt. „Soll das heißen, daß du dir Anora als deine Frau vorstellen könntest, aber nie einen Schritt auf sie zugegangen bist?“
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„Ich – ich hab mich nicht getraut“, erwiderte der Kämpfer Montbars mit schwacher Stimme. Es war geradezu grotesk, und die Rote Korsarin sah, wie Le Testu nach Luft schnappte, während auf den Mienen der Mannen bereits ein verhaltenes Grinsen zu entdecken war. „Du meine Güte“, murmelte die Rote Korsarin, „er hat sich nicht getraut!“ Und dann wurde sie energisch. „Da wird's aber Zeit, Montbars, verdammt Zeit! Willst du dich erst auf Freiersfüße stellen, wenn ihr beide, Anora und du, bereits im Großmutter- und Großvateralter seid?“ Montbars zuckte zusammen und erwiderte kläglich: „N-nein, aber – aber könntest du Anora nicht mal – äh – fragen, ob sie mir – äh – wohlgesonnen ist?“ Die Rote Korsarin hieb die rechte Faust in die linke Handfläche, daß es wie ein Pistolenschuß knallte, und sie schmetterte: „Darauf kannst du dich verlassen, Monsieur! Ich werde Anora fragen, sobald wir in den Stützpunkt zurückgekehrt sind. Aber du wirst dich noch gedulden müssen, mein Freund, denn ich wollte dich und Gustave bitten, südostwärts zu segeln, um die anderen Kapitäne zu benachrichtigen, daß sie die Suche abbrechen können. Ihr wißt ja, welche Gebiete ihnen zugeteilt waren. Wenn ihr euch beeilt, könnt ihr in acht bis zehn Tagen wieder im Stützpunkt sein. Einverstanden?“ Die beiden Kapitäne nickten, und Montbars sagte: „Selbstverständlich, Madam, und – äh – vielen Dank. Am liebsten würde ich dir jetzt einen Kuß geben!“ „Den spar dir für Anora auf“, erwiderte die Rote Korsarin trocken. „Wenn ihr wieder in die Cherokee-Bucht einlauft, und du siehst, daß ich den rechten Arm hebe, dann weißt du, daß Anora dir ,wohlgesonnen' ist, klar? Alles andere ist dann deine Sache, du verrückter Draufgänger!“ Gelächter brandete über die „Empress“. Später nannten sie diese Reise der „Empress of Sea III.“ im Bund der Korsaren „Montbars' Brautfahrt“, denn der Korse wich kaum vom Achterdeck, segelte
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dem Teufel ein Ohr ab und trieb Schiffchen und Crew mit wilden Sprüchen voran, daß das Kielwasser nur so sprudelte. Die Rote Korsarin kehrte auf ihren kleinen Dreimaster zurück, auf beiden Schiffen setzten sie die Segel und hievten den Anker – auf der „Empress of Sea III.“ schneller als auf dem Schwesterschiff, was sich aber aus der einfachen Tatsache erklärte, daß des Korsen Herz in hellen Flammen stand. Die „Empress of Sea III.“ rauschte ab, selbst zur Windsbraut geworden. Sie winkten sich zu, und auf der „Empress of Sea II.“ ging das Grinsen um, denn natürlich hatte Barba den Kerlen an Bord gleich brühwarm verklart, daß der verrückte Korse jetzt auf Brautfahrt sei. Die Rote Korsarin blickte hinter der „Empress of Sea III.“ her und schüttelte den Kopf. „Sachen gibt's, die gibt's gar nicht“, murmelte sie. „Seit fünf Jahren gehört Anora zum Bund der Korsaren –und der Kerl traut sich nicht, sie anzusprechen. Da soll einer die Männer verstehen.“ „Wenn sie ihn liebt“, sinnierte Barba, „hätte sie ihm ja mal einen Wink geben können.“ „Was für einen Wink, mein Guter?“ forschte die Rote Korsarin. „Na, einen Augenaufschlag oder so.” „Aha, einen Augenaufschlag!“ Die Rote Korsarin stemmte die Fäuste die Hüften. „Einfach so, wie? Und wenn der Kerl Kokosnüsse auf den Klüsen hat oder zu stur ist, das zu bemerken? Was dann? Soll sie ihm vielleicht noch einen Bauchtanz vorführen?“ „Wär' nicht schlecht, Ma'am“, meinte Barba mit frommer Miene. Die Rote Korsarin musterte ihn streng. „Du scheinst auch ein bißchen verrückt zu sein, Mister Barba. Ich bin der Ansicht, daß es Sache des Mannes ist, seine Angebetete zu umwerben. Einen Bauchtanz! Du spinnst wohl?“ „Na ja“, sagte Barba „vielleicht kein Bauchtanz, aber sie, könnte freundlich zu ihm sein und ihm zulächeln, nicht wahr? Das würde ihn ermuntern, würde ihn das.
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Ganz bestimmt sogar!“ Barba redete sich in Eifer. „Dann könnte er ihr erklären, daß er sie verehre, daß er sie schon immer verehrt habe, vom ersten Augenblick an, seit sie in sein Leben getreten sei. Ja, so müßte das gehen. Dann müßte er seine Hand aufs Herz leben, sich etwas verneigen und ihr gestehen, daß er sie liebe.“ „Bei Mondschein“, sagte die Rote Korsarin und hatte Mühe, nicht loszuprusten. „Bei Mondschein“, bestätigte Barba, „und beim sanften Rauschen der Palmen im Wind ...“ „Und dann fällt ihm 'ne Kokosnuß auf die Rübe!“ platzte Andy Fulham heraus. Die Mannen lachten lauthals. Barba ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er wandte sich Andy Fulham zu und sagte mit seiner Baßstimme: „Du hast es erfaßt, mein Junge, und die Szene entwickelt sich, wie folgt: Er sinkt darnieder, mit blutender Kopfwunde. Sie wirft sich über ihn und ruft: ,Liebster, ich rette dich!' Er hört, daß sie ‚Liebster' ruft, und das ist Balsam für ihn, weiß er doch, daß auch sie ihn liebt.“ Er grinste freundlich in die Runde und setzte hinzu: „So ist das, Leute, und der Reim dafür lautet: Weil von der Palme fiel die Nuß - fanden sie sich zum ersten Kuß!“ Da wußten die Mannen nicht mehr, ob sie lachen oder weinen sollten -letzteres wegen des albernen Reims und der ebenso albernen Geschichte. „Mann, Mann!“ sagte die Rote Korsarin erschüttert. „Du bist vielleicht ein Witzbold!“ * Als die Dunkelheit hereinbrach, lagen sie bereits auf Ostkurs, die „Little Isabella“ wieder -im Schlepp. Sie segelten hart am Wind über Steuerbordbug. Der Gewichtstrimm war nach Backbord verlagert worden. Auch Mißjöh Buveur hatte die Seite gewechselt und war jetzt an die Backbord-Großwanten gefesselt. Die Abendwache von zwanzig Uhr bis Mitternacht hatten Martin Correa, Scrutton und Mike Wimpole übernommen. Martin
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Correa war der Wachführer, packte aber an den Schoten mit an, wenn die Segel getrimmt werden mußten. Mike Wimpole stand am Ruder. Die nächste Vierstundenwache von null bis vier Uhr würden die Rote Korsarin, Barba und Ray Chiswell gehen. Andy Fulham als Schiffskoch hatte wachfrei, sollte aber gegen sechs Uhr morgens gepurrt werden, um sich um das Frühstück zu kümmern. Der „Badegast“ Eddy hatte ebenfalls wachfrei. Außer der Abendwache hatten sich alle Wachfreien in ihre Kojen verzogen. Es war einundzwanzig Uhr, als Muddy – nach wie vor an die Vormast-Nagelbank gefesselt – sich meldete, und zwar keineswegs im üblichen pampigen Ton, aber doch im gewissen Sinn dringlich. Er sagte: „Ich muß mal!“ Martin Correa, ein durch und durch anständiger und ehrlicher Kerl, hatte dafür Verständnis. Schließlich hatten Muddy und Mißjöh Buveur vom Morgen bis zu dieser Stunde gefesselt dagestanden. Um ihre diesbezüglichen Bedürfnisse – bis auf Wasser- und Nahrungszuteilung – hatte sich niemand gekümmert. Auch Mißjöh Buveur erklärte, daß es ihn dränge, aber nur von der Blase her. Muddy hingegen mußte beides. Martin Correa entschied: „Einer nach dem anderen, zuerst Muddy.“ Zwecks Erledigung von Muddys Prozedur holte Henry Scrutton eine Holzpütz aus der Vorpiek, die zum Reinschiff vorgesehen und dementsprechend mit einer angespleißten Leine ausgestattet war. Man konnte mit ihr Wasser zum Deckschrubben und zum Spülen heraufholen. Sie konnte aber auch für menschliche Bedürfnisse benutzt werden. Ihr Inhalt wurde dann der See überlassen, die sie auch – an der Leine nachgeschleppt – kräftig ausspülte und somit reinigte. Diese Pütz stellte der Stückmeister aufs Achterdeck. Dann begab er sich zu Muddy, nahm ihm die Fesseln ab –schließlich war es Muddys Sache, die Pütz wieder zu reinigen – und sagte freundlich-ironisch:
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„Der Thron steht bereit, Sir. Bitte vorauszugehen.“ „Danke“, sagte Muddy artig und setzte sich nach achtern in Marsch. Henry Scrutton folgte ihm. Muddy fummelte bereits an seiner Hose herum. Es schien ihn stark zu bedrängen, verständlicherweise. Dann geschah alles nahezu blitzartig, und es war genau geplant und berechnet. Muddy wurde zur in die Enge getriebenen Ratte, jedenfalls war er so rasch und so flink wie das kleine Nagetier, wenn es in höchster Not losschnellt und um sich beißt. Beim Passieren der Besannagelbank griff er – und die Bewegung war kaum zu sehen – nach einem Belegnagel, wirbelte herum und drosch ihn Henry Scrutton an den Schädel. Einen Lidschlag später, der Stückmeister brach gerade zusammen, war Muddy mit einem wilden Satz bei Martin Correa, schlug wieder zu, und auch der Bootsmann krachte auf die Planken. Mike Wimpole an der Pinne war wie gelähmt und viel zu überrascht, um noch zu reagieren. Ihm flog der Belegnagel, aus zwei Schritten Entfernung geschleudert, an den Kopf, und er sackte über der Pinne zusammen. Nur zwei Sekunden später schnappte sich Muddy das Messer es Rudergängers, sprang nach achtern ans Schanzkleid und kappte die Schleppleine zur „Little Isabella“. Er behielt die Leine in der Linken, klemmte sich das Messer zwischen die Zähne und sprang achtern über Bord. Während die „Empress“ davonrauschte das Ruder stand fest, weil Elke Wimpole über die Pinne hing -, schwamm Muddy der Jolle entgegen, erreichte sie, hangelte zum Spiegel und schwang sich achtern hinein. Mit ein paar Griffen hatte er zwei Riemen klar, legte sie in die Rundseln und pullte westwärts. Nach ein paar Minuten sah er die „Empress“ nicht mehr - aber er hörte sie, und zwar in Form des Gebrülls, das Mißjöh Buveur angestimmt hatte, der dicke Franzose, dieser Sauhund!
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Für Muddy war das Gebrüll einerseits Verrat, aber andererseits eine Art Markierungsboje. Mehr instinktiv veränderte er seinen Kurs und pullte jetzt nordwestwärts, bis er auch das Gebrüll nicht mehr hörte. Da schlug. er noch einmal einen Haken und ging mit der Jolle auf Nordkurs. Er pullte, bis er schweißgebadet war und vor Anstrengung derart zitterte, daß er kaum noch die Riemen halten konnte. Erst jetzt holte er sie ein und begann das Segel zu setzen. Es war alles in der Jolle verzurrt gewesen und noch an Bord - zu seinem Glück, wie er fand, und seinen Fluchtplan hatte er auch darauf aufgebaut. Ständig lauschte er in die Dunkelheit und in die Richtung, in der sich die „Empress“ befinden mußte. Natürlich würden sie ihn suchen, und er rechnete damit, daß sie auf Gegenkurs gingen, weil sie dachten, er würde versuchen, die Biminis zu erreichen. Aber so aufmerksam er auch lauschte, er hörte nichts. Er grinste und murmelte vor sich hin: „Mich erwischt ihr nicht, ihr lausigen Bastarde! Mich nicht! Ich leg' euch noch allemal aufs Kreuz.“ Er setzte auch noch die Fock und behielt den Nordkurs bei, als er jetzt unter Großsegel und Fock lossegelte. In dieser Richtung, das wußte er, lag von Westen nach Osten eine Gruppe winziger Eilande, darunter Great Isaac und Little Isaac. Sie bildeten den nördlichen Abschluß der Great Bahama Bank. Hinter der Back befand sich das Tiefwassergebiet des Nordwest-Providence-Kanals. Wenn er den Kanal überquerte, würde er im Norden auf Grand Bahama stoßen, wo es Hunderte von Verstecken gab. Eine Weile konnte er es dort aushalten. Und dann würde er es den Bastarden heimzahlen. Seine Phantasie begann bereits wieder üppig zu sprießen. Von Grand Bahama aus brauchte er nur ostwärts über die Little Bahama Bank zu segeln, um Great Abaco zu erreichen. Und dort winkte die Schatzgrotte der Korsaren. Bei Nacht würde er sie ein zweites Mal ausplündern und wieder verschwinden.
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Etwa eine Stunde nach Mitternacht erreichte er die Inselchen am Nordrand der Great Bahama Bank. Er landete am Strand eines Eilands, stieg aus der Jolle, sammelte ein paar Kokosnüsse, verstaute sie im Cockpit und segelte weiter nordwärts. Für den Mann namens Robinson war das eine beachtliche Leistung, und er beging auch nicht den Fehler, den Rest der Nacht auf der Insel zu verbringen. Er war sich darüber klar, daß er so viele Meilen wie möglich zwischen sich und die „Empress“ bringen mußte. Nur dann hatte er eine Chance, den Korsaren endgültig zu entwischen. Gut, sie würden die Biminis absuchen. Aber was taten sie, wenn sie ihn dort nicht fanden? Da gab es dann nur zwei Möglichkeiten: entweder segelten sie südwärts zu den Chat Cays und Browns Cays, vielleicht sogar bis zu den Orange Cays noch weiter im Süden, oder sie steuerten nordwärts und suchten die IsaacInseln ab. Muddy hoffte, daß die „Bastarde“ südwärts segelten. In diesem Fall würde die Entfernung zwischen der „Empress“ und der „Little Isabella“ immer größer werden, deren Kurse diametral waren. Sollte das so sein, dann hatte er gewonnen. Aber fast gewonnen hatte er auch, wenn sie nordwärts steuerten, denn wenn sie die Isaac-Inseln erreichten, war er bereits an der Südküste von Grand Bahama angelangt. Aber dort würde er nicht bleiben. Er würde bis zur Westspitze, sie hieß Settlement Point, hochsegeln, sie runden und sich auf einer der Inselchen vor der westlichen Nordküste von Grand Bahama verstecken. Ha! Dort sollte ihn erst mal einer finden! Er erinnerte sich, daß viele dieser kleinen Inseln von Mangroven umsäumt waren. Wenn er den Mast der „Little Isabella“ umlegte, konnte er die Jolle unter die Stelzwurzeln schieben und mit Zweigen derart tarnen, daß sie unsichtbar wurde. Und er selbst würde bei Annäherung der „Bastarde“ unter Wasser verschwinden, jawohl, unter Wasser! Dazu brauchte er
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nur ein Schilfrohr, durch das er auch unter Wasser atmen konnte. Sie konnten nicht ewig nach ihm suchen und würden irgendwann die Jagd nach ihm abblasen. Und dann würde seine Stunde schlagen! Um acht Uhr morgens umrundete er Settlement Point, steuerte eines der Inselchen vor der westlichen Nordküste von Grand Bahama an, takelte die Jolle samt Mast ab und fand in einer kleinen Bucht auf der Ostseite des Inselchens einen geradezu idealen Schlupfwinkel in Form einer von Stelzwurzeln natürlich gebildeten Höhle, die von Schlingpflanzen umwuchert war. Die Jolle paßte genau hinein. Mit der Persenning als Unterlage packte er sich im Achterraum hin und war Minuten später eingeschlafen. 6. Die Rote Korsarin wurde von dem Gebrüll Mißjöh Buveurs geweckt, fuhr in die hohen Stiefel und sauste als erste an Deck. „Muddy ist abgehauen!“ brüllte Mijöh Buveur. „Mit der ,Little Isabella'!“ Die Rote Korsarin übersah mit einem Blick, was geschehen war – nicht wie. Und sie kochte vor Zorn, dass sich ihre drei Wachgänger hatten überrumpeln lassen. Barba und Ray Chiswell stürmten Deck, dann Andy Fulham und Eddy. „Barba an die Pinne!“ schrie die Rote Korsarin. „Nach Backbord durch den Wind und auf Gegenkurs gehen – Kurs West! Die anderen an die Schoten!“ Sie sprang selbst an die Besanot, während Ray Chiswell, AndyPulham und Eddy Großschot und und Fockschot übernahmen und sie loswarfen. In einem Bogen nach Backbord wendete die „Erpress“, fiel ab, die Segel wurden auf Raumschots über Backbordbug getrimmt, und Barba steuerte den Westkurs ein. Er hatte Mike Wimpole einfach von der Pinne gehoben und an Deck sacken lassen. „Mist, verdammter!“ fluchte die Rote Korsarin erbittert. Eddy nach vorn zum
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Bug als Ausguck! Die 'Little Isa` muß sich Backbord voraus befinden!“ „Aye, aye, Ma'am!“ schrie das Bürschchen und eilte nach vorn. „Ray, Andy! Kümmert euch um diese Schlafmützen – am besten mit 'ner Pütz Wasser!“ fauchte die Rote Korsarin. „Ich will wissen, was' los war, Himmel-Arschund-Möwenspucke!“ O ja, sie war mächtig in Fahrt, die Rote Korsarin, und fast schienen ihre dunkle Augen Feuer zu sprühen. Klatschende Wassergüsse holten die drei „Schlafmützen“ ins Leben zurück. Sie tasteten nach ihren Kopfbeulen und schauten belemmert drein, als Blitz und Dünner auf sie niederfuhren. Um mit Barba zu sprechen: Die Rote Korsarin ließ „die Kuh fliegen“. „Seid ihr drei nicht Manns genug, um auf so ein Würstchen aufzupassen?“ pfiff sie die Rote Korsarin an, und ihre Augen funkelten. „Muddy mußte, mal“, erwiderte Martin Correa betreten, „und das konnte ich ja schlecht ignorieren. Mißjöh Buveur mußte auch, und da entschied ich, zuerst Muddy zu lassen, weil der auch noch ein Ei legen wollte ...“ „Ein solches habt ihr jetzt an euren Torfköppen!“ unterbrach ihn die Rote Korsarin höhnisch. „Und es geschieht euch recht! Weiter, Senor Correa!“ „Henry holte eine Pütz“, fuhr Martin Correa fort, „und stellte sie aufs Achterdeck. Dann band er Muddy los und hielt sich hinter ihm, als der Kerl zum Achterdeck ging und schon seine Hose öffnete. Ich dachte, hoffentlich schafft er's noch. Aber plötzlich hatte Muddy einen Belegnagel in der Hand, fuhr herum und hämmerte ihn Henry an den Kopf. Ich glaube, eine Sekunde später explodierte bei mir der Schädel. Mehr weiß ich nicht.“ Siri-Tongs Blick ruckte zu Mike Wimpole. Der zog den Kopf ein und sagte kläglich: „Mir flog der Belegnagel an den Schädel, und da bin ich wohl über der Pinne zusammengesackt.“ „Mißjöh?“ Die Rote Korsarin drehte sich zu dem Franzosen um.
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„Muddy nahm sich Mikes Messer, kappte die Schleppleine und sprang mit ihr achtern über Bord“, sagte Mißjöh Buveur gepreßt. „Da habe ich losgebrüllt.“ „Vorher nicht“, sagte die Rote Korsarin scharf. „Denn da bestand noch die Möglichkeit, daß er dich befreite und mitnahm, nicht wahr?“ Mißjöh Buveur senkte den Kopf und schwieg. „Noch nichts zu sehen, Eddy?“ rief die Rote Korsarin nach vorn. „Nein, Ma'am, nichts!“ tönte Eddys Stimme zurück. „Weiter scharf Ausguck halten!“ „Aye, aye, Ma'am!“ „Ich stelle fest, daß ihr euch wie die letzten Gimpel verhalten habt“, sagte die Rote Korsarin mit metallischer Stimme. „Drei Korsaren mit langjähriger, einschlägiger Praxis lassen sich von einem Miesling wie Robinson einwickeln, schlimmer noch, sie sind offenbar starr vor Schreck und unfähig, zu reagieren, als der Kerl loslegt.“ „Stimmt“, gab Martin Correa zu, „aber er handelte mit einer Fixigkeit, wie ich sie nicht für möglich gehalten hätte.“ „Soll das eine Entschuldigung sein?“ fragte die Rote Korsarin spitz. „Nein, Ma'am, nur eine Feststellung. Ich schätze, er hätte dich genauso überrumpelt. Keiner von uns war darauf gefaßt, zumal er sich vorher völlig friedlich verhalten und sich höflich gemeldet hatte, daß er austreten müsse.“ „Bevor er aus dem Stützpunkt floh“, entgegnete die Rote Korsarin schroff, „markierte er auch den friedlichen Mann. Das hätte euch eine Warnung sein müssen, verdammt noch mal! Aber gut, Schwamm drüber, es ist passiert und nicht mehr zu ändern. Aber wir müssen ihn wiederfinden.“ Sie wandte sich an Barba. „Glaubst du, daß er versucht, sich auf den Biminis zu verstecken?“ „Davon bin ich überzeugt, Ma'am.“ Barba nickte. „Und ihr?“ Sie blickte zu den anderen. Auch sie nickten, und Martin Correa sagte: „Mir erscheint das logisch, Ma'am. Von dort aus kann er dann von Insel zu Insel
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nach Süden segeln, um doch noch sein ursprüngliches Ziel Havanna anzusteuern. Wenn er dann auf einem Spanienfahrer anheuert, hat er es so gut wie geschafft und kann sich sicher fühlen.“ „Klingt plausibel“, meinte die Rote Korsarin, dachte nach und wandte sich wieder an Barba. „Wir sprachen darüber, was Mißjöh Buveur getan hätte, wenn von ihm die Gräting gefunden worden wäre. Erinnerst du dich?“ „Ja, Ma'am. Ich sagte, er hätte den bequemsten Weg gewählt – vor dem Nordostwind nach Westen oder Südwesten ...“ Er verstummte und blickte die Rote Korsarin überrascht an. „Ah, jetzt weiß ich, was dir durch den Kopf geht. Du glaubst, Muddy würde sich nach Norden wenden?“ „Ich ziehe diese Möglichkeit in Betracht, Barba“, erwiderte die Rote Korsarin, „und zwar deswegen, weil Muddy nicht auf einer Gräting hockt und paddeln muß, sondern die ,Little Isa’ mit Riemen und Segeln zur Verfügung hat. Er ist somit beweglicher als auf einer unhandlichen und langsamen Gräting. Jetzt beginnt für uns das Denkspiel, nämlich was er denkt, was wir tun – und wir wiederum, was wir denken, wohin er sich wendet. Also gut, wir denken, er segelt zu den Biminis. Das tun wir auch, obwohl ich bereits Bedenken habe, daß wir ihn dort finden. Denn wir hätten ihn längst sichten müssen. Er ist zuerst gepullt, dann hat er die Segel gesetzt - eine Zeit, die wir schon aufgeholt haben müßten. Ich schätze, wir haben an die sechs Minuten gebraucht, um auf Gegenkurs zu gehen. Die ,Empress' ist schneller als die ,Little Isa'. In etwa einer Stunde erreichen wir die Biminis und suchen sie trotz der Dunkelheit ab. Finden wir den Kerl nicht, dann segeln wir nordwärts.“ „Zu den Isaac-Inseln“, sagte Martin Correa. „Genau das.“ Die Rote Korsarin nickte. „Aber dann vor allem nach Grand Bahama.“ Zum ersten Male lächelte sie wieder. „Dorthin würde ich segeln, wenn ich Muddy wäre.“
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„Wieso das?“ erkundigte sich Barba stirnrunzelnd. „Barba!“ mahnte die Rote Korsarin. „Du bist doch sonst schneller von Begriff.“ „Kapier ich nicht“, brummelte der Riese. „In Havanna kann er doch viel besser untertauchen und zusehen, mit einem Spanienfahrer zu verschwinden, wie Martin schon sagte.“ „Das Denkspiel, mein Alter!“ dozierte die Rote Korsarin. „Martin und ihr alle denkt, er würde nach Havanna segeln. Da Muddy das von euch annimmt, tut er das Gegenteil und segelt nordwärts. In vielen Dingen hat er sich bisher dumm verhalten, aber eine Sache wird er erkannt haben: Grand Bahama bietet ihm Hunderte von Möglichkeiten, sich zu verstecken. Ihr braucht nur an die unzähligen Cays und Inselchen vor der Nordküste zu denken – oder an die ,Caves', die großen Höhlen in den Korallenriffen, in die er mit der ,Little Isa' verschwinden kann. Um dieses Gebiet abzusuchen, müßten wir den ganzen Stützpunkt aufbieten.“ „Und wie sollen wir ihn dann finden?“ wandte Barba mit Recht ein. „Das kann ich noch nicht beantworten“, erwiderte die Rote Korsarin, „es sei denn, daß ich hoffe, er begeht wieder eine Dummheit. Wir ' brauchen Geduld.“ „Verdammt, verdammt“, murmelte Barba und massierte mit der Linken sein Kinn. „Ma'am“, sagte Martin Correa sehr entschieden, „ich gebe dir recht. Ich war zu sehr auf Havanna fixiert. Und dann ist mir noch etwas durch den Kopf gegangen. Sobald er sich auf oder bei Grand Bahama sicher fühlt, könnte er versucht sein, unserer Schatzgrotte einen zweiten Besuch abzustatten – die Katze läßt das Mausen nicht.“ Die Rote Korsarin pfiff überrascht durch die Zähne. „Gut gedacht, Martin! Da ist was dran – ein Pluspunkt für dich!“ „Ich hab' einiges auszubügeln, Ma'am“, murmelte Martin Correa. *
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Der Mond war durchgekommen, als sie die Biminis erreichten. Milchiges Licht lag über den Stränden. Die Rote Korsarin ließ die Jolle aussetzen. Sie sollte, bemannt mit Barba und Ray Chiswell, South Bimini und die Inselchen südlich absegeln, da dieses Gebiet für die „Empress“ zum Teil zu flach war. Die „Empress“ selbst würde North Bimini umsegeln und Ausschau halten. Sie veranschlagten für das Umsegeln der beiden Gebiete etwas mehr als eine Stunde. Jolle und „Empress“ sollten dann wieder zusammentreffen. Wenn Muddy oder die „Little Isabella“ gefunden wurde, sollte ein Musketenschuß abgefeuert werden. Über den Inseln herrschte Stille. Sie wirkten irgendwie unberührt. Nur das Auflaufen der Wellen auf die Strände war vernehmbar. Jolle und „Empress“ trennten sich, nachdem auf der Jolle Fock und Großsegel gesetzt waren. Sie wünschten sich gegenseitig Erfolg und damit natürlich ein Ende dieser leidigen Suche. Aber die Rote Korsarin hatte das unbestimmte Gefühl, daß sie hier ihre Zeit verplemperte. So war es auch. Als sie nach einer Stunde zusammentrafen, gab es lange Gesichter –bei Siri-Tong allerdings nicht, denn sie hatte mit einem negativen Ausgang gerechnet. „Hievt die Jolle auf“, sagte sie heiter, „und danach gibt's einen Rum für alle – mit Ausnahme des Mißjöhs.“ „Und Eddy?“ fragte Barba mit gefurchter Stirn. „Eddy kriegt auch einen“, entschied die Rote Korsarin, „aber verdünnt mit Kokosmilch.“ Eddy strahlte. „Ach ja“, sagte die Rote Korsarin, „verfrachtet den Mißjöh in die Vorpiek, er hat lange genug gestanden. Aber paßt auf, Freunde! Vielleicht fühlt er sich zu ähnlichen Taten wie sein Kumpan aufgerufen, und ich finde, einmal hat gereicht.“ „Das übernehme ich, Ma'am“, sagte Barba grimmig. Sie hievten die Jolle auf, und Barba brachte Mißjöh Buveur in die Vorpiek. Der
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Franzose versuchte nichts, möglicherweise aus Respekt vor dem Riesen. Aber vielleicht war er auch dankbar, daß er sich jetzt langlegen konnte. Bevor Barba das Schott zur Vorpiek von außen abriegelte, fragte Mißjöh Buveur mit belegter Stimme: „Glaubst du, daß ich aufgehängt werde?“ „Ich bin nicht das Gericht“, erwiderte Barba ausweichend. „Was ich glaube, ist also nebensächlich.“ „Sag's mir trotzdem“, bat Mißjöh Buveur. „Mann, du machst mich schwach“, sagte Barba grollend. „Das Ding, das ihr gedreht habt, ist nicht dazu angetan, über euch das Licht der Gnade leuchten zu lassen. Ich will dir mal was flüstern, Freundchen: Der dickste Hund, den ihr euch geleistet habt, ist die Entführung Eddys, da beißt e Maus keinen Faden ab.“ „Ich wußte davon nichts“, sagte Mißjöh Buveur leise. „Muddy brachte ihn von der ‚Rutsche' mit, nachdem er dort eingebrochen war.“ Barba winkte ab. „Erzähl' keine Märchen, Mißjöh! In dem Moment hättest du aussteigen können. Aber du hast in Kauf genommen, ihn als Geisel zu benutzen. Du hast dich nicht geweigert, daß der Junge mitgeschleppt wurde. Und ich weiß auch nicht, was du getan hättest, wenn dein Kumpan seinen Mordplan in die Tat umgesetzt hätte. Aber über alles das hättest du vorher nachdenken müssen, nicht erst jetzt. Du wirst daran gemessen, daß du dich auf das üble Spiel mit einem Lumpenkerl eingelassen hast. Du hast mitgespielt, statt dem Wikinger zu melden, was der Kerl plant. Du hast Verrat geübt und dabei nur an deinen eigenen Vorteil gedacht. Das sind die Tatsachen, und das Gericht wird entscheiden, ob deine Schuld schwer genug wiegt, um ein Todesurteil zu rechtfertigen.“ „Ich will nicht sterben“, flüsterte Mißjöh Buveur. „Wer will das schon!“ knurrte Barba erbost, schlug das Schott dicht und rammte die beiden Riegel in ihre Halterungen, wo sie mit Vorhängeschlössern abgesichert wurden.
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Als Barba die Kuhl überquerte, lag die „Empress“ bereits auf Nordkurs. Ray Chiswell stand am Ruder, neben ihm die Rote Korsarin, Sie blickte ihm aufmerksam entgegen und runzelte die Stirn. „Alles klar, Ma'am“, meldete er. „Den Mißjöh in der Vorpiek verstaut, das Schott abgeriegelt und mit Schlössern gesichert.“ „Und welche Laus ist dir über die Leber gelaufen, mein Guter?“ fragte die Rote Korsarin sanft. „Du siehst aus, als wolltest du ein paar Kühe fliegen lassen.“ „Er will nicht sterben, hat er gesagt“, knurrte Barba. „Der Mißjöh?“ „Ja.“ „Aha!“ Die Rote Korsarin strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Und was hast du erwidert?“ „Ich? Ich hab' gesagt: Wer will das schon!“ Barba brachte ein wildes Grinsen zustande und setzte hinzu: „Und dann hab' ich das Schott zugeschmettert. Verdammt, der Kerl hat mich vorher gefragt, ob er aufgehängt würde. Ich hab' geantwortet, ich sei nicht das Gericht. Er wollte trotzdem wissen, wie ich darüber denke. Na ja, ich habe ihn wissen lassen, daß sie sich mit der Entführung Eddys den dicksten Hund geleistet hätten.“ „Haben sie ja auch“, sagte die Rote Korsarin. „Schon, nur sagt der Mißjöh, er habe davon nichts gewußt, Muddy habe den Jungen nach dem Einbruch in die ‚Rutsche' mitgebracht. Das heißt, zumindest Eddys Entführung war vorher keine gemeinsame Planung, sondern hier hat Muddy allein und ohne Absprache mit dem Mißjöh gehandelt.“ Die Rote Korsarin schüttelte den Kopf. „Das ist keine Entschuldigung. Er hätte sich weigern können, Eddy als Geisel mitzunehmen.“ „Genau das habe ich dem Mißjöh gesagt – und noch einiges mehr“, erwiderte Barba. „Ich habe ihm verklart, daß er mitgespielt, daß er Verrat geübt und dabei nur an seine eigenen Vorteile gedacht habe. Und das Gericht werde darüber entscheiden, ob
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seine Schuld schwer genug wiege, um ein Todesurteil zu rechtfertigen. Und als ich das erklärt hatte, sagte er, er wolle nicht sterben.“ „Er bereut zu spät, dieser Dummkopf“, äußerte die Rote Korsarin. „Immerhin bereut er – im Gegensatz zu dem Schmierlappen. Oder was meist du?“ „Nun ja“, erwiderte die Rote Korsarin zögernd, „so viel scheint festzustehen, daß Muddy der treibende oder aktive Teil dieser bösen Geschichte war, während man den Mißjöh als eine Art Mitläufer bezeichnen kann. Mir ist keineswegs klar, wie das Gericht darüber urteilen wird. Soll es empfehlen, dem Mißjöh eine Chance zu geben? Einem Mann, der dem Suff verfallen ist? Der von daher immer 4 eine Gefahr für den Bund darstellt? Jetzt hat er erkannt, daß er den falschen Weg gegangen ist. Und wie-lange hält diese Erkenntnis an? Ich weiß wirklich nicht, wie ich im Fall Mißjöh Buveurs entscheiden würde, wenn ich der Richter wäre. Und ich möchte nicht in der Haut des Richters stecken.“ „Ich auch nicht“, sagte Barba grimmig, „ganz abgesehen davon, daß wir es in unserem Bund noch nie nötig hatten, ein Todesurteil zu fällen. Jetzt werden wir vielleicht dazu gezwungen, verdammt noch mal! Irgendwie wird mir dabei speiübel. Ist ein solcher Bund nicht bereits zum Tode verurteilt, sobald er selbst beginnt, Todesurteile über seine eigenen Leute zu verhängen?“ Die Rote Korsarin starrte Barba betroffen an. Dann entgegnete sie schroff: „Was soll das? Sie sind desertiert, sie wollten einen Jungen ermorden, und sie wollten Verrat üben. Und aus welchen Motiven, bitte sehr? Um sich selbst zu bereichern! Ob Bund oder nicht Bund – welche Gemeinschaft von Menschen läßt sich das bieten, wenn sie selbst überleben will?“ „Keine“, sagte Barba still. „Trotzdem geht’s mir unter die Haut.“ „Meinst du, mir nicht?“ Andy Fulham tauchte aus der Pantry auf und brachte den Rum, denn sie waren alle ums Achterdeck versammelt. Und sie
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hatten dem Disput schweigend zugehört, den Barba und die Rote Korsarin geführt hatten. Genauso schweigend tranken sie den Rum, aber da war keiner, dem er geschmeckt hätte. Die Rote Korsarin hätte ihre Muck samt Inhalt am liebsten in die See geschleudert. Barba sagte laut und deutlich: „Scheiße!“ „Dem mag ich nicht widersprechen“, äußerte die Rote Korsarin. „Und so schmeckt auch der Rum, von dem ich gedacht hatte, er würde euch in bißchen aufheitern.“ „Mir hat er geschmeckt!“ tönte Edwin Shane, genannt Eddy, und leckte sich über die Lippen. Das löste die Spannung, und sie konnten wieder lächeln. 7. Als Muddy morgens gegen acht Uhr die Westspitze von Grand Bahama umrundete, verließ die „Empress“ gerade mit Nordkurs die Isaac-Inseln, nachdem von den Mannen auch diese Eilande abgesucht worden waren, und zwar mit einem bestimmten Erfolg. Martin Correa hatte einen weiteren Pluspunkt sammeln können, denn es war es gewesen, der durchs Spektiv auf dem Südstrand eines Inselchens nicht nur die Fußspuren entdeckt hatte, sondern auch die Furche im Sand, wie sie ein Bootskiel hinterläßt. Sie hatten sofort die Jolle ausgesetzt, um sich die Spuren genauer anzusehen. Da war jeder Zweifel ausgeschlossen: es mußte sich um die Fußabdrücke Muddys und die Kielspur der „Little Isabella“ handeln. Die Spuren waren noch frisch, vielleicht ein paar Stunden alt. Wer sonst sollte dieses gottverlassene Eiland betreten haben, wenn nicht der Mann namens Robinson! Und erkennbar war auch gewesen, dass er Kokosnüsse aufgesammelt hatte. Bei den Biminis hatte Barba noch gefragt, wie man Muddy finden solle. Und die Rote
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Korsarin hatte erwidert, sie hoffe, daß Muddy wieder eine Dummheit begehe. Ihre Hoffnung hatte sich schneller erfüllt, als sie gedacht hatte. Muddy hatte die Dummheit begangen, seine Spuren nicht zu verwischen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit stand jetzt fest, daß er tatsächlich nach Grand Bahama gesegelt war. Die Rote Korsarin hatte mit ihren Überlegungen recht gehabt. So segelten sie nun nordwärts, nachdem die Jolle wieder an Bord genommen worden war. Die Stimmung hatte sich gebessert – immerhin waren sie auf den Anfang einer Spur gestoßen. Jetzt zahlte sich aus, was Philip Hasard Killigrew empfohlen hatte, als die Cherokee-Bucht zum neuen Stützpunkt des Bundes der Korsaren geworden war. Er hatte empfohlen, bei den Patrouillenfahrten die umliegenden Inseln und das Seegebiet um Great Abaco navigatorisch genau zu erfassen und darüber eigene Seekarten anzufertigen. Es existierte eine ExtraSeekarte von Grand Bahama, an deren Vervollständigung Martin Correa erheblichen Anteil gehabt hatte, zumal die „Empress of Sea II.“ die meisten Patrouillenfahrten unternommen hatte. Diese Karte brachte Martin jetzt aufs Achterdeck, rollte sie auf und breitete sie, mit Bleistücken beschwert, auf den Planken aus. Ganz sachlich sagte er: „Die Frage stellt sich, wo sich der Kerl verstecken könne. Auf der Nordseite von Grand Bahama oder auf der Südseite? Immerhin erstreckt sich die Insel von West nach Ost über eine Länge von etwa fünfundsiebzig Meilen. Hier die Südseite“, er fuhr mit einer Zirkelspitze an der Südküste entlang, „erscheint mir für ein Versteck wenig geeignet. Sie verläuft ziemlich gerade und weist kaum Buchten aus. Damit ist sie gut überschaubar. Ferner –und auch das scheint mir wichtig –befinden sich kaum Inseln vor der Südküste. Anders die Nordküste. Sie ist buchtenreich, vor der westlichen Nordseite liegen eine Menge Inselchen, ebenso um die mittlere
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Nordspitze herum und dann wieder an der südlichen Ostspitze. Alles in allem glaube ich, daß sich Muddy an der Nordküste oder auf einer der vorgelagerten Inselchen versteckt.“ Die Rote Korsarin hatte sich über die Karte gebeugt und nickte jetzt. „Ausgezeichnet, Martin“, sagte sie. „Das erleichtert die Qual der Wahl. Ich tippe auch auf die Nordküste, die wir uns zuerst vornehmen sollten, und zwar fangen wir im Westen mit der Suche an und arbeiten uns nach Rundung von Settlement Point nach Osten vor. „Sie blickte zu den Mannen auf, die sie umstanden. „Alle einverstanden?“ Das war der Fall. „Na bitte“, sagte die Rote Korsarin lächelnd, „es ist doch schön, wenn alle einer Meinung sind. Ich glaube, wir können Settlement Point anliegen, nicht wahr, Martin?“ „Aye, Ma'am, können wir, vorausgesetzt, der Wind schralt nicht.“ „Das soll er schön bleiben lassen, dieser windige Bursche“, sagte die Rote Korsarin. Aber der „windige Bursche“ meinte. es gut. Gegen Mittag rundeten sie Settlement Point und segelten mit verminderter Fahrt – das Großsegel war geborgen worden – an der Nordküste entlang südostwärts, dem Küstenverlauf folgend. Etwa zehn Meilen später begannen die Inselchen und Cays – der erste Bereich, den es abzusuchen galt. Die Rote Korsarin ließ ankern und die Jolle aussetzen. Für die „Empress“ war es zu gefährlich, dieses Gewirr von Eilanden und Cays zu durchsegeln, das mit Untiefen gespickt war. Aufzulaufen war immer eine mißliche Sache und Vorsicht die Mutter guter Seemannschaft. Martin Correa mußte unwillkürlich grinsen, als er daran dachte, wie häufig Old Donegal mit der „Empress“ aufgebrummt war, was der „Admiral“ immer zum Anlaß genommen hatte, erst mal die Rumbuddel kreisen zu lassen. Da hatte es schon die verrücktesten Situationen gegeben. Eigenartig bei Old Donegals „Aufbrummen“ war indessen stets gewesen, daß er sich dafür regelmäßig
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Sandbänke ausgesucht hatte. Und mit der ihm eigenen Schlitzohrigkeit hatte er dann erklärt, Aufbrummen sei praktisch, weil man in einem solchen Fall nicht zu ankern brauche –ein Argument, das einem die Schuhe auszog. Merkwürdig auch, daß Old Donegal so etwas passierte, denn an seiner Seemannschaft war sonst nichts auszusetzen, im Gegenteil, er war ein hervorragender Seemann – nur Sandbänke schienen ihn magisch anzuziehen, Sandbänke, keine mörderischen Korallenriffe. Verrückt war das. Und wieder mußte Martin Correa grinsen. „Ist dir ein Witz eingefallen?“ erkundigte sich die Rote Korsarin. „Ich mußte gerade an Old Donegal denken“, erwiderte Martin Correa. „Wieso?“ „An seine Vorliebe, sich Sandbänken Ankern auszusuchen!“ „Psst! Laß das Eddy nicht hören!“ flüsterte die Rote Korsarin, ein heiteres Funkeln in den Augen. Der Kleine hatte trotzdem scharfe Ohren. „Was ist mit Daddy?“ fragte er aufmerksam. „Gar nichts“, sagte die Rote Korsarin hastig. „Martin erzählte nur gerade, er habe hier oft mit deinem Daddy geankert.“ Sie räusperte sich. „Möchtest du als Späher in die Jolle, Eddy?“ Eddy strahlte. „Klar, Ma'am, gern.“ „Dann ab mit dir. Setz dich auf die vordere Ducht und halte die Augen offen, klar?“ „Ehrensache, Ma'am.“ Und behende enterte Eddy in die Jolle ab. „Puh!“ äußerte die Rote Korsarin. „Daß ich da auch noch flunkern muß!“ „Eine Notlüge, Ma'am“, sagte Martin Correa grinsend. „Sie ist in einem solchen Fall gestattet. Und du hast ihn gut abgelenkt.“ Er wurde wieder ernst. „Hoffentlich passiert nichts –sollte Muddy entdeckt werden!“ Die Rote Korsarin zuckte etwas zusammen, biß sich auf die Unterlippe und sagte dann: „Verdammt, daran habe ich nicht gedacht.“ Sie wandte sich um. „Barba, du übernimmst die Jolle, Henry
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und Mike pullen. Und paßt mir auf Eddy auf, verstanden?“ „Du kannst dich auf uns verlassen, Ma'am“, versicherte Barba. „Eddy ist unser aller Söhnchen, damit das klar ist.“ „Muddy hat Mikes Messer“, sagte die Rote Korsarin gepreßt. „Vergeßt das nicht!“ „Nicht nervös werden, Ma'am“, mahnte der Riese freundlich, nickte ihr beruhigend zu und enterte mit Mike Wimpole und Henry Scrutton in die Jolle ab, die an Backbord längsseits lag. Martin Correa warf die Vorleine los, Barba ließ absetzen und die Riemen einlegen. Mike und Henry auf der Mittelducht – Mike an Backbord, Henry an Steuerbord – pullten los. Die Jolle glitt auf das erste Inselchen zu. Barba an der Pinne steuerte die Südseite an. Eddy hockte lauernd auf der vorderen Ducht und spähte voraus. Wenn das nur gut geht, dachte die Rote Korsarin, als die Jolle hinter der ersten Insel außer Sicht geriet. Aber es war zu verfolgen, wo sie sich befand, denn dort stiegen Vögel auf und kreischten wild. Wenn Muddy irgendwo dort gelandet war, mußte das gleiche passiert sein, ging es der Roten Korsarin durch den Kopf. Aber wie lange dauerte es, bis sich die Vögel wieder beruhigt hatten? Sie ergänzte diesen Gedankengang mit der Überlegung, daß dies davon abhing, ob er sich dann ruhig verhielt oder irgendwie Unruhe verursachte. Wenn er sich zum Schlafen hingepackt hatte, würde sich schnell wieder Ruhe eingestellt haben. Wenn – wenn – wenn! Die Rote Korsarin hieb erbittert die Faust auf den Handlauf des Schanzkleides an der Backbordseite der „Empress“, wo sie immer noch stand, nachdem die Jolle außer Sicht geraten war. * Die Jolle bewegte sich von der vierten zur fünften Insel – immer noch auf deren Südseite –, als Eddy nach Backbord achteraus mehr gewohnheitsmäßig zurückblickte und bei der eben passierten
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vierten Insel auf der Ostseite eine kleine Bucht entdeckte. Bei den drei anderen Inseln hatte sich kein Einschnitt gezeigt. Hm, sollte er das melden? Barba half ihm, als er fragte: „Was ist, Eddy? Hast du was bemerkt?“ Er fragte ganz leise. Ebenso leise erwiderte Eddy: „Auf der Ostseite der Insel, die wir eben passierten, ist eine Bucht, keine große.“ Barba drehte den Kopf nach links, entdeckte die Bucht und sagte halblaut: „Hart Ruder an Backbord! Henry, pull an! Wir schauen mal nach.“ Und er legte Ruder. Die beiden Männer nickten nur. Mike nahm den Riemen hoch, Henry Scrutton pullte weiter. Die Jolle drehte nach Backbord. „Mike, pull wieder an!“ befahl Barba, als der Bug der Jolle auf die Bucht wies. Ein paar Schläge genügten, und die Jolle glitt auf den Eingang der Bucht zu. Eddy starrte nach Backbord und Steuerbord – und dann stieß er einen Zischlaut aus. „Halt Wasser!” flüsterte Barba scharf. Mike und Henry stoppten die Jolle, indem sie ihren Riemen - mit dem Blatt senkrecht - ins Wasser stießen. Eddy deutete nach Steuerbord, wo eine riesige Mangrove am Ufer aufragte und ihre Stelzwurzeln eine von Schlingewächsen umrankte Höhle bildeten. „Die ,Little Isa`!“ zischte er. Barba zog die doppelläufige Pistole aus dem Gurt. Die drei Männer und der Junge lauerten. Eddy reckte sich d spähte in die Höhle. „Runter!“ stieß Barba hervor. Eddy duckte sich, drehte sich um und flüsterte: „Muddy ist nicht an Bord, Sir!“ „Wie liegt sie?“ „,Mit dem Heck zu uns, Sir!“ „Vertäut?“ Eddy lugte über das Bord. „Glaube nicht, Sir!“ „Ran!“ flüsterte Barba Mike und Henry zu. „Aber langsam.“ Als die beiden vorsichtig anruderten, legte er Ruder. Die Jolle schob sich auf die
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Höhle zu, sachte, behutsam. Ihr Bug glitt in die Höhle. „Eddy!“ zischte Barba. „Weiß Bescheid, Sir!“ Der Kleine knurrte das fast, als sei er beleidigt, dass er nicht wisse, was zu tun sei. Er packte die obere Ruderöse der „Little Isabella“, umklammerte sie und rief unterdrückt nach achtern: „Zurück! Streich auf beiden Seiten!“ Mike und Henry pullten an - rückwärts, so daß die Jolle über den Achtersteven Fahrt aufnahm. Eddy hielt eisern fest. Die „Little Isabella“ glitt aus der Höhle. Sie war tatsächlich nicht vertäut worden. Kaum befanden sich beide Jollen in der Mitte der Bucht, da turnte Eddy, ohne lange zu fragen, über den Bug der Jolle hinüber zur Achterplicht der „Little Isabella“ und von dort auf die mittlere Ruderducht. Im Handumdrehen hatte er sich beide Riemen geschnappt und legte sie in die Rundseln. „Was - was ist denn jetzt los?“ knurrte Barba verblüfft. „Ich pulle zur ,Empress‘ und hole den Kapitän und vielleicht noch zwei Mann“, erklärte Eddy. „Ihr müßt ja hierbleiben und aufpassen, ob Muddy nicht zu 'ner anderen Insel schwimmt.“ Und damit pullte er auch schon los und glitt an der Schilfzone vorbei, die sich an Backbord der „Little Isabella“ befand. Mit drei Riemenschlägen brachte er die Jolle aus der Bucht und drehte auf Nordwestkurs. „Kann mir mal einer sagen, wer hier das Kommando hat?“ brummelte Barba und wußte nicht, ob er wütend sein sollte. Mike Wimpole und Henry Scrutton feixten, und Mike sagte: „Das Söhnchen des Admirals natürlich.“ „Aha!“ Jetzt mußte Barba auch grinsen, behielt aber gleichzeitig die Ufer der kleinen Bucht im Auge und befahl seinen beiden Mannen, langsam aus der Bucht zu pullen, um einen besseren überblick auf die Insel zu haben. Insgeheim mußte er zugeben, dass Eddy richtig gehandelt hatte – ohne lange zu fackeln. Die „Little Isabella“ war dem Zugriff Muddys entzogen, und sie
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brauchten Verstärkung, um den Kerl auf der Insel zu suchen – so er nicht, wie Eddy erklärt hatte, zu einer der anderen Inseln schwamm. In diesem Fall mußte die Jolle hierbleiben, damit sie aufpaßten. „Auf Riemen!“ befahl Barba, als die Jolle so lag, daß sie das Süd-, Ost- und Nordufer der Insel im Auge behalten konnten. Das Westufer lag im Blickfeld der „Empress“. Somit war das Eiland, was die Beobachtung betraf, „eingekreist“. „Paßt scharf auf, Leute, ob sich was tut“, fügte Barba hinzu. „Der Kerl muß sich noch auf der Insel befinden, da gehe ich jede Wette ein.“ „Die gewinnst du“, meinte Henry Scrutton und peilte zu der Insel hinüber. Dort blieb alles ruhig. Sogar ein paar Seevögel fielen wieder ein, was Barba nun doch wunderte. Sollte Muddy längst von der Insel verschwunden sein? Quatsch, dachte Barba, der Kerl läßt doch nicht die Jolle zurück! Indessen ging Eddy mit der „Little Isabella“ an Steuerbord der „Empress“ längsseits, wo die Rote Korsarin und die Rest-Crew bereits standen – und staunten. Natürlich hatten sie die „Little Isabella“ längst gesichtet und sich gewundert, daß sie nur mit Eddy besetzt war. „Was ist los, Eddy?“ platzte die Rote Korsarin heraus. Eddy berichtete präzise und knapp, und die Rote Korsarin entschied, daß nur Andy Fulham auf der „Empress“ bleiben solle – mit dem Auftrag, die Westseite der „Muddy“-Insel im Auge zu behalten. Sie selbst, Martin Correa und Ray Chiswell enterten in die „Little Isabella“ ab, Martin und Ray übernahmen die Riemen, Eddy kletterte wieder zum Bug als Beobachter, Siri-Tong setzte sich an die Pinne und befahl, abzulegen. Während er mit Ray Chiswell anpullte, sagte Martin Correa zufrieden und mit einem Lächeln: „Deine ist Rechnung st aufgegangen, Ma'am.“ „Noch haben wir ihn nicht“, entgegnete die Rote Korsarin. „Aber bald“, sagte Martin Correa. „Und er wird wieder Gift und Galle spucken.“
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„Oder er ist völlig gebrochen.“ „Der doch nicht“, meinte Martin Correa überzeugt. Die Rote Korsarin schüttelte den Kopf. „Wie würdest du dich fühlen, Martin, wenn auch dein zweiter Fluchtversuch mißlingt?“ „Ach so! Na ja, entzückt würde ich nicht sein“, erwiderte Martin Correa. „Entzückt ist gut“, sagte die Rote Korsarin. „Ich schätze eher, daß die zweite Entdeckung wie ein Schock wirken muß – noch dazu angesichts der Erkenntnis, daß seine Rechnung nicht aufgegangen ist. Denn sicherlich hat er gedacht, er habe uns abgehängt, und wir würden südwärts segeln.“ „Hm, geschockt könnte er sein“, gab Martin Correa zu, „aber ich glaube, daß er das abschüttelt. Irgendwie ist der Kerl zäh und dabei auch noch durchtrieben. Ich frage mich immer noch, wie es ihm gelingen konnte, Henry, Mike und mich zu überrumpeln. Als er gefesselt am Vormast stand, muß er sich seinen Fluchtplan bis ins Detail überlegt haben, jeden Schritt, jeden Handgriff, jede Mimik, jede Verstellung. Ich war überzeugt, er würde sich jeden Augenblick in die Hose machen. Von einem Menschen, der dringendst auf das Örtchen muß, erwartest du nicht, daß er dir innerhalb von Sekunden einen Belegnagel an den Köpf drischt.“ Die Rote Korsarin grinste. „Ist mir noch nicht passiert, aber ich werd's mir merken. Doch ich gebe zu, dass das eine einmalige und verrückte Situation ist. Und ich gebe weiter zu, daß ich vermutlich auch darauf reingefallen wäre.“ „Ich wollte mich nicht entschuldigen“, brummte Martin Correa, „sondern nur darauf hinweisen, daß der Kerl für jeden miesen Trick gut ist. Fast könnte ich mir vorstellen, daß er jetzt schon wieder einen auf Lager hat.“ „Welchen?“ „Wenn ich das wüßte!“ 8. Sie erreichten Barbas Jolle. „Na?“ fragte die Rote Korsarin.
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„Nichts, Ma'am“, erwiderte Barba as unwirsch. „Möchte wissen, wo der Kerl steckt, verdammt noch mal.“ „Auf der Insel natürlich“, erwiderte die Rote Korsarin und blickte zu dem Eiland hinüber, das einem undurchdringlichen Dickicht glich. An der Uferzone wucherten Mangroven, zum Teil mit riesigen Stelzwurzeln. Dahinter ragten Pinien und Kokospalmen aus dem Buschgestrüpp auf. Da und dort beherrschten Schilfgruppen .das Ufer. „Und jetzt?“ fragte Barba. „Mal sehen“, meinte die Rote Korsarin, stand von der Steuerducht auf, legte die Hände an den Mund und rief: „Robinson! Es ist besser für dich, Wenn du dich stellst! Oder wir holen dich! Und da kann es passieren, daß du eine Kugel einfängst! Also gib auf! Wir wissen, daß du dich auf der Insel befindest!“ Alle starrten zu der Insel. Nichts passierte, nirgendwo regte sich etwas. Die Rote Korsarin runzelte die Stirn, legte wieder die Hände an Mund und schrie: „Robinson! Ich rate dir, aufzugeben! Sonst verschlimmerst du deine Situation!“ Eine Reaktion erfolgte nicht. Ein paar Möwen stießen ihre klagenden Laute aus. „Der Kerl. hat Dreck in den Ohren“, knurrte Barba. „Oder er hockt bereits auf 'ner Nebeninsel und grinst sich was“, sagte Mike Wimpole. Sie schauten alle zu der benachbarten Insel nordostwärts. „Oder er schwimmt gerade zur ,Empress`, um sie zu entern“, sagte Ray Chiswell tiefsinnig. „Unsinn“, widersprach die Rote Korsarin, „da hätte Andy längst einen Warnschuß abgefeuert.“ Und jetzt brüllte sie: „Robinson! Deine letzte Chance! Gib auf!“ Wieder geschah nichts. „Der ist so stur wie zehn Ochsen“, erklärte Barba erbost. „Ich schlage vor, wir holen ihn uns.“ „In Ordnung“, sagte die Rote Korsarin. „Aber vergeßt nicht, daß er ein Messer hat und es auch einsetzen wird, und zwar ohne die geringsten Gewissensbisse. Wir landen in der kleinen Bucht dort drüben, Eddy
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bleibt bei den Booten, wir anderen verteilen uns und durchkämmen die Insel.“ „Moment“, sagte Martin Correa, zog eine doppelläufige Pistole aus dem Gurt – dort steckte noch eine –, drehte sich um und gab sie Eddy. „Du kannst doch mit dem Ding umgehen, oder?“ fragte er. „Klar, Sir“, erwiderte Eddy, ohne zu zögern. „Ich muß sie beim Schießen nur mit beiden Händen festhalten.“ Die Rote Korsarin preßte die Lippen zusammen und sagte dann: „Vielleicht sollte noch einer bei den Booten bleiben.“ „Nicht nötig, Ma'am“, erklärte Eddy ruhig, „mich überrascht niemand. Ein Mister Robinson schon gar nicht.“ „Er hat bereits ganz andere überrascht, Eddy“, sagte die Rote Korsarin. „Weiß ich, darum passe ich ja auch auf, Ma'am“, sagte Eddy ungerührt. „Du kannst dich auf mich verlassen.“ „Na gut“, sagte die Rote Korsarin zögernd. „Bin ja kein kleiner Junge mehr, Ma'am“, sagte Eddy freundlich. Die Mannen grinsten in sich hinein. Fünf Jahre alt war das Bürschchen –aber „kein kleiner Junge mehr“. Richtig, er hatte sich selbst befreit und zwei Männer überlistet, auch wenn sie dabei gewesen waren, ihren Voll- rausch auszuschlafen. Aber der 1 Kleine hatte Mumm bewiesen, gepaart mit einer gehörigen Portion Pfiffigkeit. Die Rote Korsarin räusperte sich und befahl, zu der Bucht zu pullen. Sie landeten an einer flachen Stelle mit etwa drei Yards Sandstrand und verließen die beiden Jollen. Um Eddy dennoch etwas in Sicherheit zu wissen, ordnete die Rote Korsarin an, die Boote wieder ins Wasser zu schieben und die Jolle achtern an die „Little Isabella“ zu hängen. Und Eddy erhielt den Befehl, beide Boote wieder aus der Bucht zu bringen und vor dem Eingang zu warten. Erst als er vor der Bucht lag, verteilte sich der Suchtrupp, und drei Gruppen zogen los: Siri-Tong mit Ray Chiswell, Barba mit Mike Wimpole und Martin Correa mit Henry Scrutton. Barba und Mike drangen durch die Insel vor, die beiden anderen Gruppen blieben an den Ufern und würden
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sich vermutlich auf der Nordwestseite wiedertreffen. Die Insel war ja nicht groß. Bei umlaufendem Sandstrand hätte man sie zu Fuß in einer halben Stunde runden können. Der war aber nicht gegeben, denn die Mangroven mit ihren bizarren Wurzeln standen im Wege. Sie mußten umgangen oder überklettert werden. Insofern dauerte ein Umgehen der Insel länger als eine halbe Stunde. Eddy saß auf der Mittelducht der „Little Isabella“ und peilte in die Bucht. Die Pistole lag griffbereit rechts neben ihm. Ab und zu mußte er die Riemen einsetzen, um nicht nach Südwesten abzutreiben. Der Wind wehte stetig aus Nordosten. Den Jungen beschäftigte etwas, aber er wußte nicht, was es war. Irgendetwas war ihm aufgefallen, ja, nur was? Und wann und wo? Er zermarterte sich den Kopf, aber es war wie weggewischt. So ein bißchen fluchte er, obwohl seine Mom gesagt hatte, so etwas zieme sich nicht. Aber es verschaffte doch Erleichterung, wie er fand. Also, was war ihm wann und wo aufgefallen? War es nicht in der Bucht gewesen. Er starrte hinüber und wußte nicht, daß sich jetzt eine tiefe Falte über seine Nase gebildet hatte, jene Falte, von der seine Mom neckend sagte: Aha! Da denkt ein gewisser O'Flynn junior mal wieder darüber nach, warum die Kokosnuß rund ist und die Fische unter Wasser bleiben können, ohne nach Luft schnappen zu müssen. Zum wiederholten Male fiel Eddys Blick auf die Schilfzone – und da hatte er es! Das war's gewesen! Er schob die Riemen auseinander, die er vor sich gekreuzt hatte, und pullte zurück in die Bucht. Verdammt, jetzt war die Jolle lästig, die er hinterher schleppen mußte. Er drehte den Kopf nach rechts um blickte zu der Stelle. Genau! Dieses eine Schilfrohr war verkürzt worden – mit einem glatten Schnitt, nur dieses eine. Und das war ihm aufgefallen. Der Rest des gekappten Rohrs ragte noch
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um etwa eine Handlänge aus dem Wasser, mindestens drei Armlängen fehlten. Über Eddys Nacken liefen Ameisen – so empfand er es. Hastig bugsierte er die beiden Jollen wieder aus der Bucht. Irgendwas war ihm nicht geheuer. Und dann grübelte er. Da hatte jemand ein Schilfrohr ab geschnitten. Wer wohl? Na klar, der Mister Robinson, wer sonst! Er hatte ja Mister Wimpoles Messer mitgehen lassen, als er von der „Empress“ geflohen war. Ein ganz sauberer Messerschnitt war das. Und was wollte der Kerl mit dem Schilfrohr? Eddys Erleuchtung dauerte nicht lange. Die Antwort seiner Mom fiel ihm ein, als er sich nach den Fischen erkundigt hatte, die nicht aufzutauchen brauchten, um Luft zu holen. Sie hatte ihm was Schwieriges erklärt, was irgendwie damit zusammenhing daß Fische trotzdem unter Wasser atmen könnten. Aber etwas anderes war in seinem Gedächtnis haften g blieben. Mom hatte gesagt, du kannst auch ein bißchen Fisch spielen, Eddy, aber sich dabei natürlich nicht so elegant wie ein Fisch bewegen. Doch du kannst unter Wasser bleiben, solange du willst. Du brauchst nur ein Schilfrohr zu nehmen und dafür zu sorgen, daß du frei durchpusten kannst. Wenn du tauchst, steckst du es in den Mund, aber so, daß ein Teil über Wasser bleibt. Jetzt kannst du durch das Rohr atmen, obwohl du unter Wasser Alles klar? Alles klar! Eddy begann vor Aufregung zu schwitzen und wischte sich die Hände schnell an den Hosen ab. Mann, Mann, das war vielleicht spannend! Da hockte der Kerl also irgendwo unter Wasser und atmete durch ein Schilfrohr. Und die Rote Korsarin samt der Männer stellten die Insel auf den Kopf - ohne was zu finden. Eddy überlegte nicht lange. Er griff nach der Pistole, spannte einen Hahn und feuerte einen Schuß in die Luft ab. Noch einen? Nein, lieber nicht,
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vielleicht brauchte er die zweite Kugel noch. Auf der Insel ertönten Rufe. Barba durchbrach als erster das Dickicht am Ufer der Bucht, gefolgt von dem schwitzenden Mike „Was ist los, Eddy?“ brüllte er. Eddy winkte fröhlich und pullte in die Bucht. Bevor er sie erreichte, waren auch die beiden anderen Gruppen zur Stelle, erhitzt und mit roten Köpfen. Der Schuß hatte sie ziemlich erschreckt und Schlimmes ahnen lassen. „Du meine Güte”, sagte die Rote Korsarin keuchend, aber erleichtert, Eddy wohlbehalten in der „Little Isabella“ zu sehen. „Was ist los, Barba, warum hat Eddy geschossen?“ „Weiß ich nicht“, knurrte Barba wild. * Eddy ließ den Bug der Jolle auflaufen und drehte sich zu seinen Leuten an Land um. Er lächelte und sagte: „Ihr braucht nicht weiterzusuchen. Ich weiß, wo Mister Robinson steckt.“ „Und wo, Mister Neunmalklug?“ fauchte Barba. Er hatte eine fürchterliche Angst um den Jungen ausgestanden. Eddy blickte sich um, und da entdeckte er dicht vor den Stelzwurzeln, von denen die Höhle gebildet wurde, das Schilfrohr. Es paßte dorthin wie eine Seerose in eine Jauchegrube, nämlich gar nicht. Das hatte der gerissene Muddy wohl nicht bedacht. Eddy schaute zurück zu Barba und sagte: „Unter Wasser, Sir.“ Sie starrten ihn an, auch die Rote Korsarin, als vermuteten sie, er sei tüdelütt oder so was Ähnliches. „Wirklich“, sagte Eddy und deutete nach links zu der Schilfzone. „Seht ihr dort den abgeschnittenen Stummel eines Schilfrohrs?“ Automatisch und gleichzeitig ruckten ihre Köpfe herum, und sie blickten zu der Stelle, wohin Eddy zeigte. Ja, der Schilfrohrrest war deutlich zu sehen. Ihre Köpfe wandten sich wieder Eddy zu, verblüfft, fragend, auch nachdenklich.
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„Na und?“ polterte Barba. „Mister Robinson hat das Schilfrohr abgeschnitten“, sagte Eddy, grinste und fügte hinzu: „Um Fisch zu spielen. Er atmet durch das Rohr, bitte sehr. Und dieses Rohr ragt zur Zeit vor den Stelzwurzeln der Höhle, in der die ,Little Isa` lag, aus dem Wasser ...“ Er hatte noch nicht ausgesprochen, da stürzte sich Barba ins Wasser, schaufelte sich voran, halb watend, halb schwimmend, tauchte plötzlich, und dann gab's vor den Stelzwurzeln ein wildes Durcheinander von Wellenbewegungen und hochblubbernden Blasen. Barbas Kopf tauchte auf, er schleppte etwas hinter sich her, und bei dem Etwas handelte es sich um Mister Muddy. Er war offensichtlich nicht bei Bewußtsein. Die Rote Korsarin stieß zischend die Luft aus. Barba watete an Land. Er hielt Muddy am Genick fest wie ein erlegtes Karnickel und ließ ihn fast achtlos in den Sand fallen. „Früher“, knurrte er, „hat der Mistkerl Wasser gemieden, als sei es giftig, und jetzt spielt er Krake oder so was. Nicht zu fassen!“ Er drehte Muddy auf den Rücken. Ja, er atmete noch, aber sein Gesicht war blaurot, seine Haut wirkte irgendwie verschrumpelt. Kein Wunder, er mußte mehr als zwei Stunden unter Wasser zugebracht haben. „Wo ist das Messer?“ fragte die Rote Korsarin. Barba wies mit dem Daumen zu der Tauchstelle. „Irgendwo dort. Ich hab ihm den Arm umgedreht, da mußte er es loslassen. Wollte nach mir pieksen diese Wildsau!“ „Krake“ verbesserte die Rote Korsarin lächelnd. Sie schaute zu Eddy und sagte: „Danke, Söhnchen, ohne dich würden wir jetzt noch suchen Wie bist du drauf gekommen?“ „Ganz einfach, Ma'am.“ Der Kleine feixte bis zu den Ohren. „Mir fiel plötzlich ein, daß ich das abgeschnittene Schilfrohr gesehen hatte. Und dann fiel mir ein, daß mir meine Mom mal erzählt hatte, mit so
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einem Rohr könnte man unter Wasser atmen.“ „So, ganz einfach“, wiederholte die Rote Korsarin und schüttelte der Kopf. „Also, ich hätte nicht im entferntesten an so was gedacht. Sonst. hat er sich immer auf Palmen geflüchtet. Aber man lernt eben nie aus Dabei sagte Martin noch, Robinson sei für jeden miesen Trick gut ...“ Sie verstummte, denn Muddy bewegte sich. Und dann schlug er die Augen auf. Sie waren rot, als hätte er geheult, aber es war das Salzwasser das zugebissen hatte. Er mußte die Augen häufig unter Wasser geöffnet haben, um etwas zu sehen. Für einen Moment schoß es der Roten Korsarin durch den Kopf, wie dem Kerl wohl zumute gewesen sein mochte, als er bemerkte, daß ihm die „Little Isabella“ entzogen wurde. Muddy stammelte: „Ich – ich friere ...“ Und er schnatterte mit den Zähnen, sein Körper begann zu bibbern. „Selbst schuld!“ schnauzte Barba. „Hättest dich ja nicht unter Wasser hinzuhocken brauchen, du Witzbold!“ Muddy kriegte schon wieder seinen tückischen Blick, als er zu Barba hochschielte. Und er bibberte weiter. „Fesselt ihn“, sagte die Rote Korsarin schroff. „Ich habe keine Lust mehr, hinter dem Kerl ein drittes Mal herzujagen. Mir reicht's jetzt.“ „Mir auch, Ma'am, mir auch“, versicherte Barba und fuhr Muddy an: „Steh auf, Bursche, und wenn du irgendwelche Faxen anstellst, laß ich die Kuh fliegen, verstanden?“ „Ich - ich kann nicht“, schnatterte Muddy, „ich - ich bin ganz steif.“ „Unter Wasser warst du noch ziemlich fix“, polterte Barba, langte zu und riß Muddy hoch. Während er ihn festhielt, fesselte Henry Scrutton dem Kerl die Hände auf den Rücken. Dann bugsierte ihn Barba in die Jolle der „Empress“ und ließ ihn auch an die vordere Ducht fesseln. Muddy bibberte und schnatterte weiter. Minuten später verließen beide Boote die kleine Bucht und kehrten zur „Empress“
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zurück. Muddy wurde an Deck gehievt und ins Kabelgatt gesperrt. Immerhin war die Rote Korsarin so großmütig, ihm zwei Wolldecken zuzugestehen. Um eine nochmalige Flucht mit der „Little Isabella“ zu verhindern, wurde auch diese Jolle an Deck genommen und so verzurrt, daß sie nicht verrutschen konnte. Es wurde zwar etwas eng auf der „Empress“, aber dafür war diese Fluchtmöglichkeit ausgeschaltet. Sie gingen ankerauf. Für die Rückreise zur Cherokee-Bucht wählte die Rote Korsarin die nördliche Route über Little Abaco. 9. Am Morgen des nächsten Tages lief die „Empress of Sea II.“ in den Stützpunkt ein, in dem zur Zeit nur die „Pommern“ mit Kapitän Oliver O'Brien und seiner Mannschaft lag. Alle anderen Schiffe des Bundes der Korsaren waren ja aufgebrochen, um nach den beiden Deserteuren zu suchen. Mary O'Flynn, die Mutter Eddys, befand sich noch in ihrem Blockhaus, als der sechsjährige David, genannt Dave, der Sohn Smokys und Gunnhilds, wie ein Wilder hereinplatzte und schrie: „Die ,Empress zwei' ist zurück! Mit Eddy und unserer ,Little Isa'!“ Und schon tobte er wieder nach draußen. Mary O'Flynn taumelte und mußte sich an einem Tisch festhalten. Für einen Moment verschwamm alles vor ihren Augen. Dabei war sie eine Frau, die nichts so leicht umzuwerfen vermochte. Aber sie hatte in den letzten Nächten kaum geschlafen. Die Sorge um Eddy hatte sie fast erdrückt. Immer wieder war sie auf die Dünen gestiegen und hatte nach Süden Ausschau gehalten. Alle hatten sie getröstet und ihr gut zugeredet, die Frauen und insbesondere Pater David, der Riese, der unerschütterlich erklärt hatte, Eddy werde wohlbehalten zurückkehren. Es war Wirklichkeit geworden. Sie schluchzte und lachte, wischte sich die Tränen ab und stürzte nach draußen.
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Ja, dort lag die „Empress“ und hatte gerade den Anker geworfen. Und achtern, da stand ihr Söhnchen neben der Roten Korsarin. Sein weißblondes Haar leuchtete, und er winkte wie verrückt zu ihr hinüber. Mit beiden Armen. Und dann nahm er einen Anlauf, schoß mit einem Hechtsprung ins Wasser, schwamm über die Bucht, watete an Land und stürmte zu ihr. Sekunden später hielt sie die kleine, triefendnasse Gestalt in den Armen, schwenkte sie durch die Luft, heulte und lachte gleichzeitig und preßte den Jungen an sich. Es war alles wieder gut, die Sorgen zerplatzten wie Seifenblasen, nie hatte es einen schöneren Morgen gegeben. „Bist du ganz in Ordnung, Eddy?“ „Klar, Mom, alles in Ordnung.“ Eddys Gesicht leuchtete. „Hab' nur noch 'ne kleine Beule am Kopf. Hab's den beiden Kerlen aber zurückgezahlt – bin ausgerissen, mit der ,Little Isa`, verstehst du?“ Seine Mom verstand gar nichts. Außerdem waren sie von allen umringt, jeder fragte, alles redete durcheinander, und erst die Rote Korsarin brachte eine verständliche Aufklärung, nachdem sie gelandet war und der Reihe nach berichtete, was sich alles ereignet hatte. Das Staunen ging um, das Staunen über den kleinen O'Flynn, der sich selbst befreit und zwei wüsten Kerlen eine Nase gedreht hatte. Und dem es zu verdanken war, daß auch die zweite Flucht des Robinson in einer Sackgasse endete. Eddy war das alles gar nicht recht. Er wurde nicht gern bestaunt, und im Mittelpunkt wollte er schon gar nicht stehen. Er hatte getan, was getan werden mußte – und damit basta! Aber er hatte nichts dagegen, mittags ein Brathähnchen zu verspeisen, das ihm seine Mom zubereitet hatte – extra für ihn und zur Feier des Tages. Zu diesem Zeitpunkt führte die Rote Korsarin am Strand der Cherokee-Bucht mit der schönen Anora ein Gespräch unter vier Augen, bei dem also keiner zuhörte, aber einer von Bord der „Empress“ aus
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zuschaute, nämlich Barba, der durchs Spektiv peilte und sich dies und das dachte. Allerdings wußte er nicht, daß die Rote Korsarin längst bemerkt hatte, wer da durch den Kieker spähte und somit visueller Teilnehmer des Gesprächs war. Na warte, mein Alter. dachte sie. Zu der schlanken Indianerin mit den warmen, dunklen Augen und dem feingeschnittenen Gesicht sagte sie: „Fühlst du dich bei uns wohl Anora? Ihr gehört jetzt schon fünf Jahre zum Bund.“ Anora blickte sie erstaunt an „Aber natürlich fühle ich mich wohl auch die anderen. Warum fragst du?' „Nun ja, mir ging vor kurzem durch den Kopf, daß ihr euch einsam fühlen könntet. Vielleicht wünscht ihr euch einen Mann und Kinder, was ich gut verstehen würde.” „Oh!“ Das Gesicht Anoras rötete sich etwas. „Den Wunsch hätte ich schon, aber er beachtet mich nicht ...“ „Wer?“ schnappte die Rote Korsarin, und Anora zuckte etwas zurück, aber Siri-Tong legte ihr schnell die rechte Hand auf den Arm. „Entschuldige, daß mir das so rausgerutscht ist. Ich bin manchmal etwas impulsiv. Wen meintest du mit ‚er'?“ „Den Korsen Montbars!“ Jetzt wurde Anora richtig rot und schlug die Augen nieder. Die Rote Korsarin saß stumm im Sand und dachte wie Barba dies und das. Und sie wußte nicht, ob sie schallend lachen sollte. „Ich glaube“, sagte Anora, „er mag mich nicht. Er guckt immer über mich weg, als sei ich Luft für ihn. Aber ich bin keine Luft, ich bin Fleisch und Blut. Bin ich vielleicht häßlich?“ „So ein Idiot!“ knurrte die Rote Korsarin erbost. „So ein dämliches Mannsbild, verdammt noch mal!“ Sie schleuderte ein Steinchen ins Wasser. -Ist der noch zu retten?“ „Wer?“ „Der lange Kerl, von dem du sprichst! Der Korse, zum Teufel!“ Anora blickte verwirrt. Dann sagte sie tapfer: „Aber er ist kein dämliches Mannsbild, bestimmt nicht, Siri-Tong. Da
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irrst du dich. Man hat mir erzählt, er sei sehr mutig und ein furchtloser Kämpfer.“ Die Rote Korsarin schleuderte das nächste Steinchen ins Wasser, noch weiter als das erste. „Jetzt hör mir mal zu, Anora“, sagte sie energisch. „Dein Korse ist ein Idiot! Jawohl, ein Idiot! Weißt du, um was er mich gebeten hat, als wir uns bei den Biminis trafen? Er bat mich darum, dich zu fragen, ob du ihm ,wohlgesonnen` wärst! So hat er das formuliert! ,Wohlgesonnen`! Und er hat gesagt, er habe sich nie getraut, dich danach zu fragen. Dein furchtloser Kämpfer!“ Inzwischen glühte Anora. Erregt fragte sie: „Ist das wahr?“ „So wahr ich hier sitze und mit Steinchen schmeiße!“ Und das dritte Steinchen flog ins Wasser. „Uuhh!“ äußerte Anora. „Er liebt mich?“ „So nennt man das wohl“, erwiderte die Rote Korsarin und steckte Barba die Zunge raus, der gerade wieder durch den Kieker zu ihnen peilte. Barba zuckte prompt zusammen und verschwand wie der Blitz vom Achterdeck. „Auch so ein Idiot“, sagte sie. „Wer?“ „Barba.“ „Barba?“ Plötzlich kicherte Anora. „Sollst du für ihn auch was fragen?“ Die Rote Korsarin wandte ihr langsam den Kopf zu. „Wie bitte?“ Anora schnalzte vergnügt mit der Zunge. „Taowaki, meine Schwester, ist ihm - wie sagst du? - wohlgesonnen.“ Und sie kicherte wieder. „Du kriegst das Schott nicht mehr zu“, murmelte die Rote Korsarin erschüttert. „Taowaki ist Barba wohlgesonnen. Und dieser Bastard faselt was von Augenaufschlag, Bauchtanz, Hand aufs Herz legen, Palmenrauschen – und wie war dieser dämliche Reim? Ach ja! Weil von der Palme fiel die Nuß – fanden sie sich zum ersten Kuß!“ Sie sprang auf, legte die Hände an den Mund und schrie: „Barba!“ Der Riese tauchte langsam aus dem Achterdecksniedergang der „Empress“ auf
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und schlich fast noch langsamer zum Schanzkleid. „Ma'am?“ „Hierher! Sofort!“ Die Rote Korsarin deutete streng vor sich auf den Sand. Das Boot befand sich am Steg, also mußte Barba schwimmen. Er schien zu seufzen, stieg aufs Schanzkleid und ließ sich fallen. Es klatschte gewaltig – als habe sich ein Elefant ins Wasser gestürzt. Er tauchte prustend auf und schwamm zu seinem Kapitän, der weiblichen Geschlechts war. Aber Kapitän war Kapitän. Vielleicht schwante ihm was, dem häßlichen Kerl mit dem goldenen Herzen. „Ma'am?“ fragte er schwach, als er zu ihr gewatet war. „Du liebst Taowaki?“ pfiff ihn die Rote Korsarin an. Barba senkte den Kopf, malte mit dem rechten Fuß Kreise in den Sand und murmelte: „J-ja, Ma'am. Schon lange – ähem.“ „Und warum hast du dich ihr gegenüber nicht erklärt?“ „Ich – ich wollte sie nicht erschrecken, Ma'am“, sagte der Riese leise und behielt den Kopf gesenkt. Da dämmerte es der Roten Korsarin. Er schämte sich, weil ihn die Schöpfung mit diesem wilden Gesicht ausgestattet hatte. „Du erschreckst Taowaki nicht, Barba“, sagte sie sanft. „Sie mag dich. Geh zu ihr – sie hat lange genug auf dich gewartet. Es wird Zeit.“ Ja, dachte sie und schaute dem Riesen nach, der mit einem leuchtenden Gesicht durch den Sand zu den Hütten stampfte. Ja, es wird Zeit, daß du zurückkehrst, Philip Hasard Killigrew ! * Eine Woche später lagen alle Schiffe des Bundes der Korsaren wieder in der Cherokee-Bucht vor Anker. Als vorletztes Schiff war die „Empress of Sea III.“ eingelaufen, und die Rote Korsarin hatte mit erhobenem rechten Arm auf dem Werftsteg gestanden – dem Signal, das sie dem Korsen Montbars versprochen hatte.
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Montbars Brautfahrt! Aber ernstere Dinge standen bevor: das Gericht der Korsaren. Als letztes Schiff lief der Schwarze Segler Thorfin Njals in den Stützpunkt ein, einen halben Tag nach der „Empress of Sea III.“, die den Viermaster unten bei Tortuga erwischt Meldung erstattet hatte und sofort wieder nordwärts gebraust war. Am Abend dann saßen sie alle in der „Rutsche“ zusammen, um über die Zusammenstellung des Gerichts zu sprechen, denn am nächsten Tag sollte gegen die beiden Deserteure verhandelt werden. Das Erstaunliche war, daß sich der Wikinger strikt weigerte, Mitglied des Gerichts zu sein. Aber ganz gegen seine Art brachte er das nicht polternd vor, sondern sehr still und verhalten. Irgendetwas hatte ihn verändert. Siri-Tong hatte vorgeschlagen, Thorfin Njal als Richter einzusetzen und vier Geschworene zu wählen. Der Richter sollte die Anklage erheben, die vier Geschworenen sollten darüber befinden, ob die beiden Angeklagten „schuldig“ oder „nicht schuldig“ seien. Daraufhin habe der Richter alleinverantwortlich darüber zu entscheiden, welche Strafe bei Schuldigsprechung den Angeklagten zuzumessen sei. Allerdings hätten dann die vier Geschworenen darüber zu beraten, ob sie dem Urteil des Richters zustimmten, und zwar einstimmig. Wenn nicht, müßte die Beratung erneut aufgenommen werden, bis sie dem Strafmaß des Richters zustimmten oder Gründe fanden, es zu mildern. Diesem Strafmaß habe sich dann auch der Richter zu beugen. So weit, so gut. Aber der Wikinger weigerte sich, das Amt des Richters zu übernehmen, obwohl es ihm als Kapitän des Schwarzen Seglers, zu dessen Crew Mißjöh Buveur und Robinson gehörten, zustand. Er sei befangen, hatte er erklärt, und man möge das entschuldigen. Das war akzeptiert worden – und man hatte einstimmig die Rote Korsarin, die dieses Amt ganz gewiß nicht angestrebt hatte,
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zum Richter gewählt. Widerstrebend hatte sie sich gebeugt. Zu Geschworenen waren Jean Ribault, Edmond Bayeux, Hesekiel Ramsgate und der Boston-Mann gewählt worden. Am nächsten Tag, zehn Uhr, wurden die beiden Deserteure dem Gericht unter Bewachung vorgeführt. Beide waren gefesselt. Am Strand der Cherokee-Bucht war ein Langtisch aufgebaut worden. An der Längsseite, mit Front zur Bucht, saßen die Geschworenen. In der Mitte von ihnen die Rote Korsarin. In weitem Abstand zu dem Langtisch umstanden die Männer und Frauen des Bundes der Korsaren die Gerichtsstätte. Die Kinder des Bundes, auch Eddy, befanden sich unter der Aufsicht Gotlinde Njals in einem Blockhaus, abseits der Bucht. Es herrschte eine gespenstische Stille, als die beiden Boote am Strand landeten – das eine von der „Empress of Sea II.“, das Mißjöh Buveur an Land brachte, das andere vom Schwarzen Segler mit Robinson. Er war nach dem Eintreffen des Viermasters von der „Empress“ auf dieses Schiff verlegt worden. Jetzt trafen die beiden Deserteure vor dem Richtertisch wieder zusammen, die Hände auf den Rücken gefesselt. Sie standen da, die Köpfe gesenkt. Die Rote Korsarin klopfte mit einem Hämmerchen auf den Tisch und sagte: „Ich eröffne die Verhandlung gegen Monsieur Buveur und Mister Robinson ...“ „Scheiße!“ brüllt Robinson, warf sich herum und wollte sich ins Wasser stürzen. Eike und Olig, die seitlich gelauert hatten, fingen ihn ab und beförderten ihn zurück vor den Richtertisch. Sie hielten ihn weiterhin fest. „Die Anklage“, fuhr die Rote Korsarin unbewegt fort, „lautet: Diebstahl von zwei Säcken Golddublonen sowie zwei Säcke Edelsteinen und Perlen aus dem gemeinsamen Besitz des Bundes der Korsaren, Diebstahl verschiedener Gegenstände aus der Schenke Mister O'Flynns, Diebstahl der Jolle ,Little Isabella', Entführung – unter Gewaltanwendung – des kleinen Edwin
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Shane O'Flynn, der zur Geisel bestimmt wurde, und schließlich Desertion vom Bund der Korsaren. Diebstahl, Entführung und Desertion stehen eindeutig fest und brauchen keiner Beweise.“ Sie räusperte sich. „Für die weitere Anklage stehen die Männer der ,Empress` als Zeugen zur Verfügung. Sie hörten mit, was von Monsieur Buveur und Mister Robinson ausgesagt wurde, nachdem wir sie als Gefangene an Bord geholt hatten. Danach hatte Mister Robinson bekundet, Edwin Shane wie eine Katze ersäufen zu wollen, während Monsieur Buveur erklärt hatte, ihn auf einer Insel auszusetzen.“ Bei den Männern und Frauen des Bundes ertönte ein wütendes Gemurmel. „Ich bitte um Ruhe!“ erklärte dis Rote Korsarin scharf. „Sollten sich Unmutsäußerungen wiederholen dann lasse ich den Platz räumen. Oder die Verhandlung findet an Bord des Schwarzen Seglers statt!“ Sofort herrschte Ruhe. „Ferner“, fuhr die Rote Korsarin fort, „hatten die beiden Deserteure beschlossen, Havanna anzulaufen und dort gegen entsprechende Bezahlung die bislang unbekannte Position des Stützpunktes unseres Bundes zu verraten. Mithin gesellen sich zu den drei vorigen Anklagepunkten zwei weitere – nämlich die des geplanten Mordes an einem Jungen und die des geplanten Verrats an dem Bund, den sie viele Jahre zugehörten. Ich fass zusammen: die Klage lautet auf mehrfachen Diebstahl, auf Entführung eines Kindes, auf Desertion so wie auf geplanten Mord und geplanten Verrat. Ich bitte die Angeklagten sich dazu zu äußern – zuerst Monsieur Buveur.“ Mißjöh Buveur hob den Kopf und sagte mit fester Stimme: „Ich bekenne mich in allen Anklagepunkten für schuldig – ohne Wenn und Aber. Ich bereue, was ich getan habe, und bin bereit, auch die Todesstrafe hin zunehmen.“ überraschtes Gemurmel klang au Als es verebbte, sagte die Rote Korsarin: „Danke, Monsieur Buveur Sie blickte zu Muddy. „Bitte, Mister Robinson.“
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„Ich bin unschuldig!“ zeterte Muddy. „Nie wollte ich fliehen! Ab die fette Sau hat mich erpreßt ...“ „Die Geschichte kennen wir, Mister Robinson”, unterbrach ihn die Rote Korsarin, „und sie entbehrt jeglicher Grundlage. Hast du sonst noch etwas zu sagen?“ „Ihr Scheißer!“ tobte Muddy los. „Ihr Dreckspack! Du stinkende Hure ...“ Weiteres blieb ungesagt. Eike haute dem Kerl was aufs Maul. Die Rote Korsarin blickte zu Jean Ribault, dem Sprecher der Geschworenen. „Fragen an die Angeklagten?“ Jean Ribault schüttelte den Kopf. „Keine Fragen. Die Geschworenen haben sich bereits verständigt. Wir erklären beide Männer, Monsieur Buveur und Mister Robinson, für schuldig. Dazu genügen die drei ersten Anklagepunkte. Was von den beiden Männern dann geplant wurde, ist schaurig genug, aber für einen Schuldspruch unerheblich, weil der Plan nicht zur Ausführung gelangte. Das Urteil kann gesprochen werden, Ma'am.“ Sie starrten alle zu der Frau, die setzt dazu verdammt war, das Todesurteil auszusprechen, das sie alle erwarteten. Tod durch Erhängen, mußte es lauten. Die Rote Korsarin blickte vor sich auf den Tisch, und ihre Gedanken wirbelten. Sie dachte, wie würde jetzt Philip Hasard Killigrew, der Mann, den sie liebte, entscheiden? Hilf mir, Hasard! bat sie. Was soll ich tun? Ich, eine Frau, die hier Furchtbares entscheiden soll! Sein scharfgeschnittenes Gesicht wuchte vor ihr auf, und er lächelte. Er sagte: Ist das so schwer, Siri-Tong? Laß sie selbst entscheiden! Wer siegt, darf überleben! Sie hob die Hände und tastete nach dem Gesicht, aber es war plötzlich verschwunden. Und da war die Stille. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Und dann sagte sie: „Ich verurteile Monsieur Buveur und Mister Robinson ...“ Sie brach ab, und ihr Blick glitt an den beiden Männern vor ihr vorbei über die
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weite Bucht mit dem weißen Sandstrand. Dann straffte sie sich und fuhr fort: „Ich verurteile sie zum Zweikampf mit dem Degen!“ Ein grenzenloses Staunen zeichnete sich auf den Gesichtern der Frauen und Männer ab. Die beiden Deserteure starrten sie mit offenen Mündern an. Aber schon glitt ein schmieriges Grinsen über das Gesicht Robinsons. „Der Zweikampf“, sagte die Rote Korsarin mit harter Stimme, „wird so lange durchgefochten, bis einer getötet ist. Der Sieger wird auf einer abgelegenen KaribikInsel ausgesetzt. Zweimal im Jahr wird das Patrouillenschiff des Bundes der Korsaren zu der Insel segeln, um nach ihm zu sehen. Es kann sein, daß er wieder im Bund aufgenommen wird – sofern klar erkennbar ist, daß er sich von Grund auf gewandelt hat, vor allem, daß er bereut. Ich spreche dieses Urteil aus, weil ich nicht will, daß einer aus dem Bund der Korsaren zum Henker wird – er würde unter freien Menschen ein Geächteter sein. Wir haben etwas zu wahren: unsere Würde. Ich bitte die Geschworenen, dieses Urteil zu bestätigen.“ Man hätte eine Stecknadel fallen hören, so still war es geworden. In die Stille hinein sagte Jean Ribault mit fester Stimme: „Ich bestätige das Urteil.“ „Ich bestätige ebenfalls“, sagte der BostonMann. „Ich auch“, erklärte Edmond Bayeux. „Es ist ein salomonisches Urteil“, sagte Hesekiel Ramsgate. „Ich stimme ihm zu.“ „Danke“, sagte die Rote Korsarin leise. Erlöstes Gemurmel klang auf, Zustimmung über den weisen Urteilsspruch, auch Bewunderung für diese Entscheidung. Barba stand unter den Zuschauern, neben ihm Taowaki, die jüngere Schwester Anoras. Sie lehnte sich an den Riesen, der den rechten Arm um ihre Schulter gelegt hatte. Gut, dachte Barba mit einem Leuchten in dem häßlichen Gesicht. Du hast kein Todesurteil ausgesprochen, Ma'am. Du hast an das gedacht, über was wir sprachen, als wir die Biminis verließen –
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über das Todesurteil, das ich ablehnte, weil es den Bund zerstören würde. Richtig, niemand im Bund darf die Rolle eines Henkers übernehmen. Sie sollen sich selbst richten, diese beiden Strolche. Nur, wer würde von beiden überleben? Die Stätte des Zweikampfes wurde hergerichtet – ein weiter Kreis, markiert durch eine Furche im Sand. Die Duellanten hatten in dem Kreis zu bleiben. Eike und Olig führten sie in die Mitte des Kreises, nahmen ihnen die Handfesseln ab und stellten sie Rücken an Rücken. Jedem gegenüber steckte im Sand am Rand des Kreises ein Degen. Auf das Kommando „Los!“ durfte sich jeder den für ihn bestimmten Degen holen. Um den Kreis herum standen die Männer des Bundes der Korsaren. Auch sie hatten ihre Blankwaffen in den Fäusten. Eine Flucht war also ausgeschlossen. Eike und Olig verließen den Kreis und stellten sich zwischen die anderen. Eike war es, der das Kommando geben sollte. Robinson, genannt Muddy, kicherte irre. Das Gesicht des Franzosen wirkte wie versteinert und düster. Er war der Stärkere von beiden, aber Robinson war flink und tückisch. Eike sagte: „Ich ermahne euch, fair und sauber zu kämpfen ...“ „Halt's Maul, du Fellaffe!“ zischte Robinson. „Spar dir deine Predigten!“ Eike knirschte mit den Zähnen und _ rief: „Los!“ Robinson wirbelte herum und hakte seinen rechten Fuß um die Füße des Franzosen, der gerade losspringen wollte. Mißjöh Buveur: stürzte vornüber in den Sand. Robinson warf sich herum, hetzte zu seinem Degen, um ihn an sich zu, reißen, aber da stand Olig, den eigenen Degen vorgestreckt. „So nicht, du Ratte!” sagte er eisig. „Du wirst so lange warten, bis der Mißjöh seinen Degen in der Faust hat.“ Robinson fluchte ordinär und zitterte am ganzen Körper – vor Wut, daß sein Trick mißlungen war. Der Franzose hatte sich aufgerappelt, war zum Rand des Kreises gegangen, hatte
Davis J.Harbord
Seewölfe 758 42
seinen Degen aus dem Sand gezogen, drehte sich jetzt um und rief: „Ich bin bereit!“ Olig gab den Degen Robinsons frei. Der schnappte ihn sich, kreischte wild, drehte sich blitzartig und stürmte auf den Franzosen zu. Mißjöh Buveur wich nicht aus. Er stand wie ein Baum und stieß den Degen vor. Robinson spießte sich selbst auf, aber auch sein Degen zuckte vor und durchbohrte das Herz des Franzosen. Sie kippten aneinander vorbei vornüber in den Sand und rührten sich nicht mehr. Pater David trat in den Kreis, drehte die beiden um und blickte in gebrochene Augen. Er richtete sich auf, schlug das
Das Gericht der Korsaren
Kreuzzeichen und sagte: „Sie haben gesündigt und gefehlt. Gott sei ihren armen Seelen gnädig.“ * Am Nachmittag dieses Tages ging der schwarze Viermaster des Wikingers ankerauf und verließ die Cherokee-Bucht. An Bord befanden sich die beiden sterblichen Überreste Robinsons und Mißjöh Buveurs, eingenäht in Segeltuch. Sie wurden draußen auf See bestattet und traten ihre letzte Reise an. Wohin? Das hatte noch kein Sterblicher erfahren...
ENDE