Eugène Sue
Das Geheimnis von Paris
Inhaltsangabe Als der 39jährige Sue seinen Roman ›Die Geheimnisse von Paris‹ began...
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Eugène Sue
Das Geheimnis von Paris
Inhaltsangabe Als der 39jährige Sue seinen Roman ›Die Geheimnisse von Paris‹ begann, ahnte noch niemand, daß aus den erst zögernd und unregelmäßig erscheinenden Folgen der bis heute erfolgreichste Fortsetzungsroman seiner Art entstehen sollte. Das Publikum fieberte jeder neuen Fortsetzung entgegen, und es gab täglich Schlangen hysterischer Zeitungskäufer, die sich danach drängten, als erste eine neue Fortsetzung des begehrten Romans nach Hause tragen zu können, ja sogar Kranke sollen mit dem Sterben bis zum Schluß der ›Geheimnisse von Paris‹ gewartet haben. Der Inhalt des farbenprächtigen und spannenden Episodenromans war auch danach. Marienblume, ein unglückliches junges Mädchen, ist im Armenviertel von Paris von seiner habgierigen, bösen Pflegemutter zur Prostitution gezwungen worden. Eines Abends verirrt sich Rudolf, ein verkleideter deutscher Edelmann, in die Spelunke, in der sie für gewöhnlich ihren Dienst versieht. Er ist von der Schönheit und Reinheit des Mädchens bezaubert und versucht, sie aus den Fängen der Pariser Unterwelt zu befreien. Das gelingt ihm nach vielen gefährlichen Verwicklungen, doch fällt sie zweimal ihren Verfolgern wieder in die Hände. So wird der Leser entführt in eine Welt, die es nicht mehr gibt – das alte Paris mit seinen unheimlichen finsteren Straßen, den schmutzigen Spelunken und den feuchten, verfallenen Häusern der Ärmsten der Armen. Sie begegnen der Eule und dem Schulmeister, einem Gangsterpärchen, dem Messerstecher, einem von Rudolf bekehrten großherzigen Mörder, vielen unglaublichen Intrigen, unausdenklichen Lastern und schrecklichen Verbrechen. Doch ist Eugène Sues Roman mehr als ein spannendes Phantasieprodukt – seine den Roman durchziehende Kritik an den öffentlichen Ämtern, den entwürdigenden Lebensumständen der Armen und den Zuständen jenseits der Prachtstraßen macht den Roman zu einem Sprachrohr der Sozialkritik dieser Jahre. Wohl nie mehr hat ein Abenteuerroman einen so durchschlagenden und sensationellen Erfolg gehabt, und wohl nie hat ein Erfolg so lange angehalten, denn die Popularität des Romans ist bis auf den heutigen Tag nicht erloschen.
1984 by Naumann & Göbel Verlagsgesellschaft, Köln Schutzumschlag: Hermann Bischoff Gesamtherstellung: Druck + Repro-Zentrale, Bad Homburg v.d.H. Printed in West Germany Alle Rechte vorbehalten Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
I
A
n einem kalten, regnerischen Dezemberabend des Jahres 1838 schritt ein Mann von riesenhaftem Wuchs über den Pont-auChange, um sich in das Gewirr von finsteren und engen Gäßchen zu begeben, das sich vom Justizpalaste bis zur Notre-Dame erstreckte. Es pfiff ein heftiger Wind. Das bleiche Licht der Laternen spiegelte sich im schwärzlichen Wasser des Rinnsteins, der in der Mitte des kotigen Pflasters hinlief. In den schmutzigen Häusern führten dunkle, übelriechende Gänge zu finsteren Treppen, die so steil waren, daß man sich beim Hinaufsteigen an einem Seil festhalten mußte, das von der feuchten Wand herabhing. Im Erdgeschoß der Häuser befanden sich Läden, deren armselige Auslagen mit Eisen vergittert waren; so sehr fürchteten die Verkäufer die kühnen Diebe dieses Stadtteiles… Als der Mann in die Bohnenstraße kam, die in der Mitte der Cité lag, ging er langsamer. Die Uhr des Justizpalastes schlug eben die zehnte Stunde. Frauen, die in den niedrigen Türen standen, sangen halblaut einen Gassenhauer. Vor einer der Frauen blieb der Mann stehen und faßte sie am Arm. Sie wich zurück und sagte mit ängstlicher Stimme: »Guten Abend, Schurimann [Messermann].« »Schallerin [Sängerin], entweder bezahlst du für mich Gefinkel [Branntwein], oder ich spiel' dir zum Tanze auf.« »Ich habe kein Geld«, antwortete zitternd das Mädchen. »Ist dein Fuchsnetz [Geldbeutel] leer, so borgt dir die Wirtin auf dein ehrliches Gesicht.« »Ach du mein Gott, ich bin ihr ja noch das Kleid schuldig, das ich anhabe.« »Was, du willst nicht?« schrie der Mann erbost und versetzte dabei der Unglücklichen einen so gewaltigen Faustschlag, daß sie ei1
nen gellenden Schrei ausstieß. »Das ist erst der Anfang, mein Töchterchen –« Kaum hatte der Mann diese Worte ausgesprochen, als er fluchend ausrief: »Stechen willst du mich?« Und wütend verfolgte er die Schallerin in den dunklen Hausgang. »Komm mir nicht zu nahe, oder ich steche dir die Scheine [Augen] aus«, sprach sie in entschlossenem Tone. »Jetzt hab' ich dich! Nun tanze!« höhnte er, indem er mit seinen großen Fäusten ein kleine, zarte Hand ergriff. »An dir die Reihe!« antwortete eine männliche Stimme. »Bist du's, Rotarm? So greif doch nicht so derb zu!« »Hier ist nicht Rotarm«, sagte der andere. »Da's kein Freund ist, wird's Rötung [Blut] geben«, entgegnete der Schurimann. »Aber wem gehört denn das Pfötchen da, das ich halte?« »Es gehört zu dem übrigen.« Unter der zarten Hand, die den Gegner mit einem Male an der Kehle packte, spannten sich Sehnen und Muskeln von Stahl. Die Schallerin, die bis an das Ende des Hauseinganges geflüchtet war, blieb stehen und sprach zu ihrem unbekannten Beschützer: »Ich danke Ihnen. Der Schurimann hat mich geschlagen, weil ich keinen Branntwein für ihn bezahlen wollte. Jetzt bin ich in Sicherheit; lassen Sie ihn los und nehmen Sie sich in acht. Es ist ein Gefährlicher!« »Und ich bin ein Sündenfeger, der nicht bausert [ich bin ein Bandit, der sich nicht fürchtet]«, sagte der Unbekannte. Dann war alles still. Man hörte einige Sekunden das Geräusch eines heftigen Ringens. »Soll ich dich kaporen [umbringen]?« rief der Bandit. »Du sollst für die Schallerin und für dich selbst bezahlen«, setzte er, zähneknirschend, hinzu. »Bezahlen? Mit Handgeld!« antwortete der Unbekannte. 2
Dabei zog er den Banditen, den er am Kragen hielt, auf die Straße hinaus, stellte ihm ein Bein und warf ihn zu Boden. Der Bandit, der die Überlegenheit seines Gegners nicht anerkennen wollte, begann, wutschnaubend, den Kampf immer von neuem. Da änderte der Verteidiger der Schallerin plötzlich seine Taktik und ließ auf den Kopf des Gegners einen Hagel von Faustschlägen regnen, bis der wie ein Stier zusammenbrach und stöhnte: »Meine Wäsche ist gewaschen [ich habe genug].« Nachdem er einige Minuten regungslos dagelegen hatte, begann der Bandit sich zu bewegen. »Nehmen Sie sich in acht!« sagte die Schallerin, indem sie von neuem flüchtete und ihren Beschützer am Arme nachzog. »Nehmen Sie sich in acht! Er wird sich rächen.« »Sei ruhig, mein Kind; wenn er nicht genug hat, steht ihm noch mehr zu Diensten!« »Für heute habe ich genug«, sagte der Schurimann zu dem Unbekannten; »ein anderes Mal – wenn wir uns wieder treffen –« »Beklagst du dich?« fragte der Unbekannte in drohendem Ton; »bin ich nicht ehrlich zu Werke gegangen?« »Nein, nein, ich beklage mich nicht. Aber wer bist du eigentlich? Du redest jenisch [die Gaunersprache], als wärst du dabei aufgewachsen. Wenn du Schupper [Dieb] bist, so bin ich nicht dein Mann. Ich habe das Schuri [das Messer] gebraucht, weil ich rot sah. Aber ich habe auch dafür bezahlt, bin fünfzehn Jahre in der Klemme [im Gefängnis] gewesen. Meine Zeit ist um; ich bin den Neugierigen [den Richtern] nichts mehr schuldig. Niemals habe ich geschuppt [gestohlen]; frage die Schallerin!« »Das ist wahr; er ist kein Dieb!« antwortete das Mädchen. »So komm, trink ein Glas mit mir und lern mich kennen«, sprach der Unbekannte. »Ohne Groll.« »Das ist brav. Du bist mein Meister, ich erkenne es an; du weißt famos mit den Fäusten zu spielen. Du mußt mir Unterricht darin geben.« »Gleich, wenn du willst.« 3
»Nur nicht an mir! Es funkelt und blitzt mir noch vor den Augen. Kennst du den Rotarm?« »Rotarm? Wohnt nur der hier im Hause?« »Nur er. Er sieht nicht gern Nachbarn um sich«, antwortete der Bandit, bedeutungsvoll lächelnd. »Desto besser für ihn«, entgegnete der Unbekannte. »Ich kenne Rotarm so wenig wie Schwarzarm.« »Es geht mich ja auch nichts an. Wer Rotarm braucht, tritt nicht auf den Markt und erzählt es.« Dann wandte er sich an die Schallerin und sagte: »Es war hübsch von dir, daß du den Hitzkopf da nicht weiter auf mich hetztest! Du trinkst mit uns; der Herr bezahlt. Apropos«, sagte er zu dem Unbekannten, »wenn wir, statt Gefinkel zu schwächen [Branntwein zu trinken], uns was zu kauen geben ließen bei der Wirtin zum ›Weißen Kaninchen‹?« »Topp! Willst du von der Partie sein, Schallerin?« fragte der Unbekannte. »Ich war recht hungrig«, antwortete sie, »aber wenn ich eine Prügelei sehe, vergeht mir der Appetit.« »Unsinn! Biete dem Mäulchen nur etwas an, und der Appetit wird sich finden.« Die drei gingen, jetzt vollkommen einig, nach dem Wirtshause zu. Während des Kampfes zwischen dem Banditen und dem Unbekannten hatte ein riesenhafter Kohlenträger die Szene heimlich beobachtet. Als die drei vor dem Wirtshause standen, trat er schnell auf den Unbekannten zu und sagte ihm halblaut, in englischer Sprache: »Sehen Sie sich vor!« Der Unbekannte nickte kaum merklich und ging in das Wirtshaus hinein. Der Kohlenträger blieb vor der Türe stehen und blickte von Zeit zu Zeit ins Innere des Raumes. Es war dies ein großer, niedriger Saal mit verräucherter Decke, erhellt durch das rötliche Licht eines Wandleuchters. 4
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ie mit Kalk geweißten Wände waren mit plumpen Malereien oder mit Sprüchen in der Gaunersprache bedeckt. Der Fußboden war feucht und schmutzig; vor dem Schenktische lag, statt des Teppichs, ein Arm voll Stroh. An jeder Seite der Stube standen sechs Tische. Im Hintergrunde führte eine Türe in die Küche; rechts ging eine kleine Türe auf den Flur hinaus, aus dem man in die Löcher gelangte, wo man für drei Sous die Nacht schlief. Die Wirtin, Mutter Ponisse, betrieb ein dreifaches Geschäft: sie gab Nachtquartier, hielt eine Wirtschaft und verlieh Kleidungsstücke an die elenden Geschöpfe, die sich zahlreich in diesen Gassen umhertrieben. Die Wirtin war etwa vierzig Jahre alt, groß, stark, gerötet, mit einem Anflug von Bart. Ihre dicken Arme und ihre großen Hände verrieten eine ungewöhnliche Kraft. Auf dem Schenktische standen Krüge mit eisernen Reifen und verschiedene Zinnmaße; auf einem Brett an der Wand bemerkte man mehrere Gläser, die eine Figur des Kaisers darstellten. Diese Gläser enthielten verfälschte rote und grüne Getränke, die unter dem Namen Parfait amour und Consolation bekannt waren. Eine große schwarze Katze mit gelben Augen kauerte, wie ein Hausteufel, neben der Wirtin. Zwei zerlumpte Männer von verdächtigem Aussehen rührten den Weinkrug kaum an, den man ihnen vorgesetzt hatte, und sprachen besorgt und leise miteinander. Der eine war auffallend blaß. Er trug eine griechische Mütze und hielt die linke Hand verborgen, selbst wenn er sich ihrer bedienen mußte. Etwas weiter saß ein junger Mann von kaum sechzehn Jahren mit bartlosem, eingefallenen Gesicht und erloschenem Blick, der aus einer kurzen Tonpfeife rauchte. Den Rücken an die Wand gelehnt, die beiden Hände in den Taschen seiner Bluse, die Beine auf die 5
Bank gestreckt, nahm er die Pfeife nur aus dem Munde, um Branntwein aus einem kleinen Kruge zu trinken, der vor ihm stand. Die anderen Gäste, Männer und Frauen, hatten nichts besonders Auffälliges an sich. Alle Blicke flogen zur Tür, als der Unbekannte, der Bandit und das Mädchen eintraten. Der Schurimann, ein wahrer Riese von Gestalt, hatte blaßblondes, fast weißes Haar, dicke Augenbrauen und einen ungeheuren feuerroten Bart. Sonnenglut und Armut hatten seinem Gesicht ihren Stempel aufgeprägt. Der Schurimann trug eine schlechte blaue Bluse und Hosen von grobem Manchester, der ursprünglich grün gewesen, dessen Farbe aber nicht mehr zu erkennen war. Die Schallerin stand im siebzehnten Jahre. Die reinste, weißeste Stirn wölbte sich über einem vollkommen ovalen Gesicht, und ungewöhnlich lange Wimpern beschatteten ihre großen, blauen Augen. Ihr kleiner Mund, ihre feine, gerade Nase und ihr Grübchenkinn waren von lieblichster Form. Flechten von herrlichem blonden Haar fielen über ihre Wangen. Eine Korallenschnur umgab einen Hals von blendender Schönheit und Weiße. Ihr viel zu weites Kleid ließ die zierlichste Taille ahnen. Sie verdankte ihren Namen dem Zauber ihrer Stimme, der auf ihren unbekannten Beschützer bereits einen tiefen Eindruck gemacht hatte. Man nannte sie aber auch Marienblume, was in der Gaunersprache soviel wie Jungfrau bedeutete. Der Verteidiger der Schallerin, den wir Rudolf nennen wollen, zählte höchstens dreißig Jahre. Sein schlanker, vollkommen proportionierter Körper verriet kaum die überraschende Kraft, die der Mann in seinem Kampfe mit dem riesigen Banditen bewiesen hatte. Sein Gesicht war regelmäßig und, für einen Mann, vielleicht zu schön. Sein zartweißer Teint, seine großen, braunen, fast immer halb6
geschlossenen Augen, seine nachlässige Haltung, sein ironisches Lächeln deuteten auf ein blasiertes und verweichlichtes Mitglied der guten Gesellschaft hin, und doch hatte Rudolf mit seiner zierlichen, weißen Hand einen der gefürchtetsten Banditen des Viertels niedergeschlagen. Oft leuchtete aus seinem Blick eine trübe Melancholie wider, und das rührendste Mitgefühl lag auf seinem Gesicht. Dann wieder wurde der Blick hart und boshaft, und Rudolfs Züge drückten dann so viel Verachtung und Grausamkeit aus, daß man ihn keiner guten Regung für fähig halten konnte. Im übrigen gewann Rudolf durch sein Benehmen und die Gaunersprache, die er mit größter Geläufigkeit redete, eine vollkommene Ähnlichkeit mit den übrigen Gästen der Verbrecherkneipe. Sein Hals war von einem nachlässig geknüpften, schwarzen Tuche umschlungen, dessen Enden auf den Kragen seiner Bluse fielen. Seine plumpen Schuhe waren mit Nägeln beschlagen, kurz, außer seinen Händen unterschied ihn zunächst nichts von den Gästen des Wirtshauses. Bei seinem Eintritt rief der Bandit, auf Rudolf weisend: »Es lebe der Meister des Schurimannes! Ja, der da hat mich auf den Boden gelegt, was sich diejenigen hinter die Ohren schreiben mögen, denen es einfallen könnte, sich mit ihm zu messen!« Bei diesen Worten sahen alle den Besieger des gefürchteten Schurimannes mit ängstlicher Achtung an. Einige zogen ihre Gläser zurück, um Rudolf Platz zu machen; andere traten zu dem Banditen, um ihn leise über den Unbekannten zu fragen, der auf so siegreiche Weise debütiert hatte. Die Wirtin endlich war – etwas Unerhörtes in der Geschichte des ›Weißen Kaninchens‹ – aufgestanden, um die Befehle Rudolfs entgegenzunehmen. Der verdächtig aussehende Mann, der seine linke Hand versteckte und seine Mütze über die Stirn zog, bog sich nach der Wirtin hin und fragte sie mit heiserer Stimme: »Ist der Schulmeister heute dagewesen?« »Nein«, antwortete Mutter Ponisse. 7
»Gestern?« »Gestern war er da.« »Mit seiner neuen Krönerin [Frau]?« »Hältst du mich für einen Iltis [Spion]?« entgegnete die Wirtin. »Ich muß den Schulmeister sehen«, fuhr der Räuber fort; »wir haben Geschäfte miteinander.« »Das werden schöne Geschäfte sein, Ihr Sündenfeger [Mörder]!« Marienblume hatte, als sie hinter dem Banditen eintrat, dem jungen Menschen mit dem bleichen Gesichte freundlich zugenickt. Der Schurimann sprach ihn an: »He, Barbillon, du schwächst also immer Gefinkel [du trinkst also immer Branntwein]?« »Ich will lieber butterich bleiben und Kläpperlinge an den Trittlingen haben, als kein Gefinkel auf dem Laller und keinen Dowrich in der Kehle [Ich will lieber hungern und Holzschuhe an den Füßen tragen, als keinen Branntwein auf der Zunge und keinen Tabak in der Pfeife haben]«, antwortete der junge Mann, ohne seine Stellung zu ändern. »Guten Abend, Mutter Ponisse«, sagte die Schallerin. »Guten Abend, Marienblume«, antwortete die Wirtin, indem sie zu dem jungen Mädchen trat und es prüfend musterte. »'s ist eine wahre Freude, dir Sachen zu leihen. Bist sauber wie ein Kätzchen. Es gibt überhaupt kein besseres Mädchen als dich in der ganzen Cité. Sag, Schallerin, willst du uns heute nichts hören lasen?« »Nach dem Essen, Mutter Ponisse«, antwortete der Schurimann. »Was bestellen Sie?« fragte die Wirtin Rudolf, dessen Gunst sie zu erwerben suchte. »Fragen Sie den Schurimann, Mutter! Er ißt, ich bezahle.« »Nun«, fragte die Wirtin, indem sie sich an den Banditen wandte, »was willst du, Alter?« »Zwei Zinken Blenkert, einen Harlekin und drei Schnitte Lehm [Zwei Schoppen Wein, drei Schnitten Brot und einen Harlekin (ein Gemisch von Fleisch, Fisch und allen Arten Überresten von dem 8
Tische der Dienerschaft in großen Häusern)]«, antwortete der Bandit. »Ich sehe, du bist immer noch ein Feinschmecker.« Nach einigen Augenblicken kam die Wirtin wieder und setzte einen Krug Wein, ein Brot und einen Harlekin auf den Tisch, den der Bandit vollkommen nach seinem Geschmacke zu finden schien, denn er sagte: »Herr Gott, welch ein Gericht! – Wie ein Omnibus! Für jeden Geschmack etwas! Iß doch mit, Schallerin! Oder hast du schon gegessen?« »Ich habe heute früh, wie gewöhnlich, für einen Sou Milch getrunken und ein Stück Brot dazu gegessen.« Der Eintritt einer anderen Person ließ plötzlich die Gespräche verstummen. Es war ein Mann von mittlerem Alter, der Jacke und Mütze trug und an das Leben in der Penne gewöhnt zu sein schien. Denn er bediente sich der dort üblichen Sprache, um ein Abendessen zu bestellen. Der Neuangekommene hatte sich so gesetzt, daß er die beiden Männer beobachten konnte, von denen der eine nach dem Schulmeister gefragt hatte. Er ließ sie nicht aus den Augen, sie aber konnten nicht bemerken, daß sie beobachtet wurden. Die unterbrochenen Gespräche wurden bald wieder aufgenommen. »Ein Mann, ein Wort«, sagte der Schurimann zu Rudolf, »obgleich ich habe tüchtig tanzen müssen, so freut's mich doch, Sie kennengelernt zu haben.« »Weil dir der Harlekin so gut schmeckt?« »Hauptsächlich, weil ich Sie mit dem Schulmeister anbinden sehen möchte. Er hat mich verprügelt und es würde mir eine Freude sein, könnte ich ihm auch einmal eins auswischen.« »Glaubst du, ich werde dir zuliebe den Schulmeister anfallen?« »Er wird mit Ihnen anbinden, wenn er hört, daß Sie stärker sind als er«, antwortete der Bandit, indem er sich die Hände rieb. »Ich habe Münze genug, um ihn bezahlen zu können«, warf Ru9
dolf nachlässig hin; dann fuhr er fort: »Und um miteinander bekannt zu werden, erzählen wir uns, wer wir sind.« »Der Albino, genannt Schurimann, freigelassener Galeerensträfling, Holzflößer am Kai St. Paul, im Winter halb erfroren, im Sommer gebraten«, sagte er, indem er militärisch die Hand an seine Mütze legte. – »Und Sie? Haben sie noch ein anderes Gewerbe, als den Schurimann zu klopfen?« »Ich bin Fächermaler und heiße Rudolf.« »Fächermaler? Es scheint eine ziemliche Kraft zu diesem Gewerbe zu gehören. Aber wenn Sie Arbeiter sind, warum kommen sie in eine Penne, wo nur Schupper, Sündenfeger und freigelassene Galeerensträflinge verkehren, die sich an keinem anderen Orte sehen lassen können?« »Ich komme hierher, weil ich die gute Gesellschaft liebe.« »Hm! Hm!« sagte der Bandit, der zweifelnd den Kopf schüttelte. »Ich habe Sie in dem Hause Rotarms gefunden; aber Sie kennen ihn ja nicht, wie Sie sagen.« »Willst du mich noch lange mit deinem Rotarm langweilen, den der Teufel holen mag?« »Sie trauen mir nicht und haben vielleicht nicht ganz unrecht. Aber wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen meine Geschichte.« »Recht gern; du erzählst mir deine Geschichte, und die Schallerin erzählt mir die ihrige.« »Gut. Willst du, Schallerin?« »Ich habe nichts dagegen.« »Sie erzählen uns aber auch etwas, Kamerad Rudolf!« sagte der Bandit. »Ja, ich werde den Anfang machen.« »Wieviel verdienen Sie als Fächermaler?« fragte der Schurimann. »An guten Tagen bringe ich es auf vier bis fünf Franken, aber nur im Sommer, weil da die Tage länger sind.« »Was kostet Sie Ihr Nachtquartier?« fragte Schurimann. »Sechs Sous.« »Er ist ein Pair von Frankreich!« rief der Bandit, »er schläft für sechs 10
Sous!« »Dazu«, fuhr Rudolf fort, »vier Sous für Tabak, macht zehn; vier Sous das Frühstück, vierzehn; fünfzehn Sous das Mittagessen, ein oder zwei Sous für Branntwein, so kommt der Tag auf ungefähr dreißig Sous. Ich brauche nicht die ganze Woche zu arbeiten; die übrige Zeit lass' ich mir's wohl sein.« »Was waren Ihre Eltern?« fragte das Mädchen. »Sie hatten einen Verkaufsstand in der Halle.« »Wer ist Ihr Brotherr?« »Mein Affe [mein Herr] heißt Borel. Er ist dumm, brutal und geizig und schindet die Arbeiter bis aufs Blut. Ich wohne in der Rue de la Juiverie in der vierten Etage, vorn heraus, und heiße Rudolf Durand. Das ist meine Geschichte.« »Nun kommt die Reihe an die Schallerin«, sagte der Schurimann, »meine Geschichte hebe ich auf bis zuletzt.«
III
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ir fangen beim Anfang an!« sagte der Schurimann. »Ja. Deine Eltern?« fragte Rudolf. »Ich habe sie nicht gekannt«, sagte Marienblume. »Aha!« machte der Bandit. »Nicht gesehen und nicht gekannt; ich bin auf einem Baum gewachsen, wie man zu den Kindern sagt.« »Dann, Schallerin, stammen wir aus einer Familie.« »Du auch, Schurimann?« »Eine Waise von der Straße, ganz wie du, meine Tochter.« »Und wer hat dich erzogen, Schallerin?« fragte Rudolf. »Das weiß ich nicht. Ich kann nicht weiter zurückdenken, als bis zu meinem siebenten oder achten Jahre. Da war ich bei einem al11
ten, bösen Weibe, das man Eule nannte, weil es eine krumme Nase und ein grünes, ganz rundes Auge hatte.« »Du weißt, daß diese Frau nicht deine Mutter war?« fragte Rudolf. »Die Eule hat mir oft genug vorgeworfen, daß sie mich von der Straße aufgelesen habe.« »Du bekamst also Schläge von ihr?« »Und ein Glas Wasser dazu. Da ging ich und klapperte vor Frost die ganze Nacht auf einem Strohsack.« »Weil du nicht zu viel gegessen hast, bist du schlank geworden wie eine Wespe, meine Tochter; darfst dich nicht beklagen«, sagte der Bandit, indem er dicke Rauchwolken von sich blies. »Und doch war ich fett wie eine Lerche.« »Was?« »Freilich; wenn die Eule mich schlug, fiel ich immer beim ersten Schlag um. Dann trat sie mich und sagte: Der kleine Balg hat nicht für zwei Sous Kraft und ist dabei rund und fett.« »Was tatest du den ganzen lieben Tag?« fragte der Schurimann. »Ich mußte in der Nähe der Einäugigen betteln bis zum Abend, dann verkaufte sie Gebratenes auf dem Pont-Neuf. Es dauerte lange, ehe ich mein Stück Brot bekam, und wenn es mir einfiel, etwas zu essen zu verlangen, schlug mich das Weib und sagte: ›Bring erst zehn Sous, Balg, dann sollst du essen!‹ Da weinte ich, denn mich hungerte sehr. Die Einäugige hing mir ein kleines Kästchen mit Gerstenzucker um den Hals und stellte mich auf den Pont-Neuf. Wie schluchzte ich da und zitterte vor Frost und Hunger!« »Gerade wie ich, mein Kind«, sagte der Schurimann, indem er die Schallerin unterbrach, »man sollte es nicht glauben, aber man zittert vor Hunger, ebenso wie vor Frost.« »So blieb ich bis elf Uhr auf der Brücke. Die Vorübergehenden ließen sich oft durch meine Tränen rühren und schenkten mir Geld, das ich der Eule gab.« »Hör einmal … Gerstenzucker…? Bekamst du keinen Appetit danach, Schallerin?« »Das glaub' ich, Schurimann, aber ich rührte ihn nicht an. Das 12
war mein Ehrgeiz, und dieser Ehrgeiz stürzte mich ins Verderben. Du wirst gleich hören, wie das zuging. Eines Tages nahmen mir die Gassenjungen mein Körbchen fort. Dafür mißhandelte mich die Einäugige bis aufs Blut und riß mir die Haare aus.« »Donnerwetter! Das ist stark!« rief der Bandit, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug. »Ein Kind zu schlagen!« »Fahre fort, mein Kind«, sagte Rudolf zu dem Mädchen. »Ich weinte aber nicht, sondern um die Eule zu ärgern, fing ich an zu lachen und ging mit meinem Gerstenzucker auf die Brücke. Die Einäugige stand am Bratofen. Da ich nun so großen Hunger hatte, nahm ich ein Stückchen von dem Gerstenzucker und aß es.« »Bravo!« »Er schmeckte vortrefflich. Eine Apfelhändlerin aber rief der Einäugigen zu: ›Eule… Dein Balg frißt den Zucker.‹ Die Einäugige war außer sich vor Wut, aber sie konnte ihren Bratofen nicht verlassen, weil ihr sonst alles angebrannt wäre!« »Eine peinliche Lage!« rief der Schurimann, der laut auflachte. Marienblume lachte ebenfalls und fuhr dann fort: »Als ich an die Schläge dachte, sagte ich mir: Ich werde nicht mehr geschlagen werden, wenn ich drei Stück esse. Ich nahm also noch ein Stück, und ehe ich es in den Mund steckte, zeigte ich es der Eule, die mir mit ihrer eisernen Gabel drohte.« »Und hinterher hat dir die Eule gewiß die Haut über die Ohren gezogen?« »Als sie fertig war, kam sie zu mir. Man hatte mir drei Sous gegeben, und ich hatte für sechs gegessen. Als die Einäugige mich an der Hand nahm, trat mir der Angstschweiß auf die Stirn. Am meisten erschreckte es mich, daß die Eule nicht fluchte und tobte, sondern auf dem ganzen Weg nur immer etwas zwischen den Zähnen murmelte. Sie ließ mich dabei nicht los, und ich mußte ganz schnell mit meinen kleinen Füßen laufen. Unterwegs verlor ich einen Holzschuh; ich wagte nicht, es ihr zu sagen und trollte immer barfuß neben ihr her. Als wir nach Hause kamen, blutete der Fuß. Die Eule schloß die Türe zu, und ich warf mich vor ihr auf die Knie nieder, 13
um sie zu bitten, mir zu verzeihen. Sie antwortete mir nicht, und ich hörte nur, wie sie vor sich hin murmelte: ›Was werde ich mit dem Balg machen?‹ Sie blieb vor mir stehen und sah mich mit ihrem grünen Auge an. Mit einem Male ging die Einäugige nach einem Regal und nahm eine Kneifzange.« »Eine Kneifzange?« rief der Schurimann. »Ja.« »Was wollte sie denn damit?« »Mir einen Zahn ausreißen.« Der Schurimann stieß einen so fürchterlichen Fluch aus, daß alle Gäste sich erstaunt umdrehten. »Und hat dir die Frau den Zahn wirklich ausgerissen?« fragte Rudolf. »Freilich hat sie ihn mir ausgerissen, und nicht auf den ersten Ruck. Den Kopf hielt sie mir zwischen den Knien wie in einem Schraubstock. Endlich brachte sie den Zahn heraus, und dann sagte sie, um mich recht zu erschrecken: ›Von nun an werde ich dir alle Tage einen ausziehen, Balg, und wenn du keinen mehr hast, werf ich dich ins Wasser, damit die Fische dich fressen!‹« »Die Hexe! Einem armen kleinen Kind die Zähne auszureißen!« rief der Schurimann, dessen Wut immer höher stieg. »Was tatest du?« fragte Rudolf. »Ich lief am nächsten Tage davon, so weit mich meine Füße tragen wollten. Lieber wäre ich bis ans Ende der Welt gegangen, als daß ich der Eule wieder in die Klauen fallen wollte. In der Nacht schlief ich auf einem Holzhaufen. Ich wagte aber nicht, den Holzhof zu verlassen, denn ich bildete mir ein, die Eule suche mich überall, um mir die Zähne auszureißen und mich den Fischen vorzuwerfen.« »Hör du, erwähne die Alte nicht mehr! Das Blut steigt mir in die Augen.« »Am zweiten Tag bellte, als ich eben eingeschlafen war, ein Hund. Das weckte mich. Ich horchte; der Hund bellte lauter und kam dem Holzstoß immer näher. Ein neuer Schrecken! Zum Glück wagte sich 14
der Hund nicht heran, ich weiß nicht, warum. Du wirst lachen, Schurimann.« »Bei dir muß man immer lachen. Du bist ein braves Mädchen. Jetzt tut's mir leid, daß ich dich geschlagen habe.« »Erzähle weiter, Kind«, fiel Rudolf ein. »Während der Hund kläffte, sagte eine Stimme: ›Es ist jemand auf dem Hof versteckt.‹ – ›Diebe‹, meinte eine andere Stimme, und sie hetzten den Hund und riefen ihm zu: ›Such! Such!‹ Der Hund kam zu mir; ich fürchtete mich und fing an, laut zu schreien. ›Horch!‹ sagte da die eine Stimme, ›ein Kind.‹ Man rief den Hund zurück, holte eine Laterne, ich kroch hervor und stand vor einem dicken Mann und einem Knaben in einer Bluse. ›Was suchst du auf meinem Holzhof, kleine Diebin?‹ fuhr der dicke Mann mich an. – ›Ach, guter Herr,‹ sagte ich, ›ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen und bin von der Eule fortgelaufen, die mir einen Zahn ausgerissen hat und mich den Fischen vorwerfen wollte.‹ Der Holzhändler sagte darauf zu seinem Knaben: ›Ich lasse mir nichts weismachen; 's ist eine Diebin, sie wollte mir Holz stehlen.‹ Der Knabe sagte: ›Holz stehlen? Sie ist ja nicht so groß wie das kleinste Scheit da.‹ – ›Du hast recht‹, antwortete der Mann, ›aber die Diebe haben Kinder, die sie zum Spionieren ausschicken. Sie muß also zum Polizeikommissar geführt werden.‹« »Dieser Dummkopf!« »Man brachte mich zum Polizeikommissar. Ich sagte alles. Ich wurde vor die Zuchtpolizei zitiert und wegen Herumtreibens verurteilt, bis zum sechzehnten Jahre im Besserungshause zu bleiben. Ich dankte den Richtern für ihre Güte. Im Gefängnis bekam ich zu essen … man schlug mich nicht; es war ein Paradies für mich. Ich sang, zumal wenn ich die Sonne sah… Und sang ich so recht aus Herzensgrunde, so war mir, als sei ich nicht mehr gefangen.« »Weil du eine Nachtigall bist«, sagte Rudolf lächelnd. »Sie sind sehr freundlich, Herr Rudolf. Seit der Zeit nun nennt man mich Sängerin statt Balg. Endlich wurde ich sechzehn Jahre alt und aus dem Gefängnis entlassen. An der Türe traf ich die Wir15
tin da mit zwei oder drei anderen alten Frauen, die zuweilen meine Mitgefangenen besucht und mir immer gesagt hatten, sie würden mir Arbeit geben, sobald ich frei wäre.« »Aha, ich errate«, sagte der Schurimann. »›Mein Engel, mein schönes Kind, mein Liebchen‹, sagten sie zu mir, ›wollen Sie bei uns wohnen? Wir geben Ihnen schöne Kleider, und Sie sollen in Lust und Freude leben.‹ – Du kannst dir denken, Schurimann, daß man nicht acht Jahre im Gefängnis gewesen ist, um nicht zu wissen, was das bedeutet. Ich ließ also die alten Kupplerinnen ablaufen und dachte mir: Ich kann nähen, habe dreihundert Franken, bin jung.« »Und schön…«, fiel der Schurimann ein. »Ich bin acht Jahre im Gefängnis gewesen und will nun mein Leben genießen; Arbeit wird sich finden, wenn das Geld zu Ende ist. Aber meine dreihundert Franken waren bald ausgegeben. Das war mein größter Fehler. Doch ich hatte niemanden, der mir einen guten Rat gegeben hätte. Ich kaufte mir also schöne Kleider und machte Ausflüge mit einer Bekannten, die ein gutes Mädchen war. Man nannte sie Lachtaube, weil sie immer lachte.« »Lachtaube? Kenne ich nicht«, sagte der Schurimann, der nachzudenken schien. »Ich glaube wohl, daß du sie nicht kennst! Lachtaube ist ein ehrliches, braves Mädchen, eine sehr gute Arbeiterin; jetzt verdient sie täglich wenigstens fünfundzwanzig Sous, hat ihre eigene Wirtschaft … ich habe deshalb nicht gewagt, sie wieder zu besuchen… Bald blieben mir von meinem Gelde nur noch dreiundvierzig Franken übrig.« »Damit hättest du einen Handel anfangen sollen«, sagte der Bandit. »Ich tat mehr… Meine Wäscherin, die Lothringerin, war die gutmütigste Seele von der Welt. Damals war sie hochschwanger und mußte den ganzen Tag im Wasser stehen und arbeiten. Als sie nicht mehr arbeiten konnte, bat sie, man möge sie in ein Spital aufnehmen. Es war kein Platz, man wies sie zurück, und sie verdiente nichts 16
mehr. Ihre Entbindung rückte heran, und sie hatte nicht so viel, um ein Bett zu bezahlen. Zum Glück begegnete sie eines Abends an der Notre-Dame-Brücke zufällig der Frau Goubins, die sich seit vier Tagen im Keller eines Hauses hinter dem Hôtel Dieu versteckt hielt…« »Warum?« »Um sich vor ihrem Manne zu retten, der sie erschlagen wollte. Nur in der Nacht kam sie heraus, um sich Brot zu kaufen. Sie begegnete also der armen Lothringerin, die nicht mehr wußte, wohin sie ihr Haupt legen sollte. Die Frau Goubins nahm sie mit in den Keller, in dem sie sich versteckt hielt. Es war doch wenigstens ein Unterkommen.« »Wart einmal! Die Frau Goubins, das ist Helmine?« fragte der Schurimann. »Ja, eine Näherin, die für mich und die Lachtaube gearbeitet hatte. Sie tat wahrhaftig, was sie konnte, als sie die Hälfte ihres Kellers, ihres Strohlagers, ihres Brotes der Lothringerin gab, die da mit einem Kinde niederkam. Sie hatte nicht einmal eine Decke für das Kind, nur Stroh! Die Frau Goubins konnte das nicht mit ansehen; auf die Gefahr hin, von ihrem Mann ermordet zu werden, verließ sie den Keller am hellen Tage und kam zu mir. Ich lief in meine Kammer und holte, was ich an Wäsche hatte, meine Matratze, meine Decke, packte alles einem Träger auf und trollte mit in den Keller… Ach, du hättest sehen sollen, wie die arme Lothringerin sich freute! Wir wachten bei ihr, Helmine und ich, und als sie aufstehen konnte, unterstützte ich sie mit meinem letzten Gelde, bis sie wieder waschen konnte. Jetzt verdient sie, was sie braucht…« »Und die Frau Goubins?« fragte der Schurimann. »Wie? Du weißt nicht?« entgegnete das Mädchen. »Nein!« »Ach, die Unglückliche! Sie ist Goubin nicht entgangen! Man hatte ihm gesagt, sie treibe sich am Hôtel Dieu herum, und eines Abends, als sie aus ihrem Keller ging, um Milch für die Lothringerin zu holen, erstach er sie.« »Deshalb hat er das Gehirnfieber? [Ist er zum Tode verurteilt?]« 17
»Ja, deshalb«, antwortete die Schallerin. »Und was tatest du, als du dein Geld der Lothringerin gegeben hattest?« fragte Rudolf. »Ich suchte Arbeit… Ich ging in eine Wäschehandlung in der Rue Saint-Martin. Ich erzählte, daß ich vor zwei Monaten aus dem Gefängnis entlassen worden sei und Lust hätte, zu arbeiten; man wies mir die Türe. Ich bat, man möchte mir Arbeit ins Haus geben, aber man wollte mir nicht einmal ein Hemd anvertrauen. Als ich recht betrübt nach Hause ging, begegnete ich der Wirtin da und einer der Alten… Ich wußte nicht mehr, wovon ich leben sollte. Sie nahmen mich mit … gaben mir Branntwein zu trinken und … da bin ich, was ich bin.« »Ich verstehe«, sagte der Schurimann. »Es muß doch schön sein, ehrlich zu sein«, setzte Marienblume mit einem Seufzer hinzu. »Ehrlich?« rief der Bandit mit lautem Lachen. »Warum nicht gleich Rosenmädchen?« »Ich bin nicht zimperlich, Schurimann! Mein Vater und meine Mutter haben mich an eine Straßenecke gelegt, wie einen jungen Hund, den man nicht behalten mag; ich zürne ihnen nicht; sie konnten sich wahrscheinlich selbst nicht helfen. Deshalb gibt es aber doch bessere Schicksale als das meine.« »Was fehlt dir denn? Du bist schön, siebzehn Jahre alt, singst wie eine Nachtigall, heißt Marienblume und beklagst dich! Was willst du sagen, wenn du erst ein Kohlenbecken unter den Beinen hast, wie die Wirtin da?« »So alt werde ich überhaupt nicht.« »Kommen dir solche Gedanken öfter, Schallerin?« fragte Rudolf. »Bisweilen…« »Nun so sei doch ehrlich, mein Kind, spiele Komödie … sei ehrlich«, sagte der Schurimann. »Ehrlich, mein Gott, wie soll ich denn ehrlich sein? Die Kleider, die ich auf dem Leibe trage, gehören der Wirtin; ich bin ihr Geld schuldig für Wohnung und Essen; ich kann nicht von hier fort; sie 18
würde mich als Diebin festnehmen lassen… Ich gehöre ihr!« Die Unglückliche zitterte, als sie diese Worte aussprach. »So bleib, wie du bist!« sagte der Schurimann. »Gib mir zu trinken«, erwiderte das Mädchen und hielt ihr Glas hin. »Nein«, sagte sie, »keinen Wein; Branntwein!« »Das ist recht. So lieb' ich dich, mein Kind«, sagte der Mann, ohne die Träne zu bemerken, die an den Wimpern der Schallerin zitterte. Rudolf hatte die Erzählung des Mädchens mit wachsender Teilnahme gehört. Not und Hilflosigkeit hatten sie ins Verderben gestürzt, nicht aber die Neigung zum Bösen.
IV
W
ährend der Erzählung der Schallerin, die sie nicht hören konnten, hatten die beiden Männer, die etwas abseits saßen, mehrmals leise miteinander gesprochen und ängstlich nach der Türe gesehen. Der mit der Mütze sagte zu seinem Gefährten: »Der Schulmeister kommt nicht; hoffentlich hat ihn der Kamerad nicht erschlagen, um ihm seinen Anteil zu nehmen!« »Das wäre schlimm für uns!« erwiderte der andere. Der Neuangekommene, der die beiden beobachtete, saß zu weit von ihnen entfernt, als daß er ihre letzten Worte hätte hören können; nachdem er aber mehrmals ein kleines Papier zu Rate gezogen hatte, das in seiner Mütze versteckt war, schien er mit sich im reinen zu sein, denn er stand auf und sagte zu der Wirtin: »Mutter Ponisse, ich komme gleich wieder. Gib, bitte, auf meinen Krug und meinen Teller acht!« »Unbesorgt, Mann«, antwortete die Wirtin. »Wenn dein Teller und dein Krug leer sind, rührt sie niemand an.« 19
Der Mann lachte über den Scherz und verschwand unbemerkt. In dem Augenblick, in dem der Mann die Tür öffnete, bemerkte Rudolf auf der Straße den riesigen Kohlenträger, der ihm, wie erinnerlich, hierher gefolgt war. Die Schallerin fand, trotz des Branntweins, den sie getrunken hatte, ihre Heiterkeit nicht wieder. Die Unglückliche schien in die düstersten Gedanken versunken zu sein. Einige Male war sie dem fest auf sie gerichteten Blicke Rudolfs begegnet und hatte die Augen niedergeschlagen, ohne daß sie sich Rechenschaft gab von dem Eindruck, den dieser Unbekannte auf sie machte. Der Schurimann war dagegen in der besten Laune. Er hatte den Harlekin ganz allein verzehrt, Wein und Branntwein machten ihn mitteilsam, und die Scham, seinen Meister gefunden zu haben, war der Bewunderung vor Rudolfs Überlegenheit gewichen. Rudolf wartete nun mit gespannter Neugier auf die Erzählung des Mörders, und er forderte den Schurimann auf, ihm seine Abenteuer zu berichten. »Fang an, Mann!« sagte er, »wir sind ganz Ohr.« Der Mörder trank sein Glas aus und begann also: »Du, arme Schallerin, bist doch wenigstens von der Eule aufgenommen worden, die der Teufel holen möge. Du hast eine Wohnung gehabt, bis du eingesperrt wurdest. Ich aber erinnere mich nicht, vor meinem neunzehnten Jahr in einem Bett geschlafen zu haben.« »Du hast gedient, Schurimann?« fragte Rudolf. »Drei Jahre – doch davon später. Die Gipsöfen in Clichy und die Steinbrüche in Montrouge waren die Zuflucht meiner Jugend.« »Und was tatest du?« »Es schwebt mir so vor, als hätte ich in meiner Kindheit mit einem alten Lumpensammler geströmt [mich umhergetrieben], der mich mit seinem Haken prügelte. Mein erstes Gewerbe bestand darin, daß ich den Abdeckern in Montfaucon die Pferde töten half. Ich war damals zehn bis zwölf Jahre alt. Hatte ich meine Pferde abgeschlachtet, so warf man mir für meine Mühe eine Stück Fleisch zu, und hatte ich es in den Händen, dann war der König nicht rei20
cher als ich. Ich lief damit in meinen Gipsofen, wie ein Wolf in seine Höhle, und briet es mir dort auf den Kohlen.« »Und wie nannte man dich?« fragte Rudolf. »Mein Haar war damals noch weißer als jetzt, und meine Augen waren immer mit Blut unterlaufen; deshalb nannte man mich den Albino.« »Und deine Familie?« »Meine Eltern wohnten in derselben Nummer, wie die der Schallerin. Mein Geburtsort? – Die erste beste Straßenecke, rechts oder links.« »Du hast gehungert, gefroren und doch nicht gestohlen, Schurimann?« »Nein. Manchmal habe ich zwei Tage gefastet, aber nie gestohlen.« »Aus Furcht vor Strafe?« »Unsinn!« sagte der Mörder, indem er laut auflachte. »Ich sollte nicht Brot gestohlen haben aus Furcht, Brot zu bekommen? Ich habe nicht gestohlen, weil – weil ich nicht stehlen wollte.« Diese Antwort, deren eigentliche Bedeutung der Schurimann nicht verstand, setzte Rudolf in Erstaunen. Er fühlte, daß der Arme, der, trotz der schrecklichsten Entbehrungen, ehrlich bleibt, doppelt achtenswert ist, weil die Strafe für das Verbrechen eine sichere Hilfsquelle für ihn wäre. Rudolf reichte dem unglücklichen Opfer der Zivilisation, das die Not nicht ganz verdorben hatte, die Hand. Der Schurimann wagte kaum, die Hand zu berühren. Er fühlte, daß zwischen ihm und Rudolf ein tiefer Abgrund lag. »Du hast noch ein Herz und Ehrgefühl«, sagte Rudolf. »Ich weiß es nicht«, entgegnete der Mörder gerührt, »aber was Sie mir da sagen – sehen Sie –, das habe ich noch nie gefühlt.« »Warst du lange Gehilfe beim Abdecker?« »Ich glaube wohl. – Anfangs tat es mir weh, die armen alten Tiere totzustechen, dann aber machte es mir Spaß, und als ich etwa sechzehn Jahre alt war, da war mir das Totschlagen zur Leidenschaft 21
geworden. Ich vergaß Essen und Trinken darüber und dachte an nichts weiter. Sie hätten mich einmal bei der Arbeit sehen sollen! Wenn ich, mein großes Messer in der Hand, fünfzehn bis zwanzig Pferde (ich lüge nicht) um mich hatte, die alle warteten, bis die Reihe an sie käme, Donnerwetter! – Wenn ich anfing, sie totzustechen, summte und sang es mir in den Ohren; ich sah nichts als Blut und stach und stach, bis mir das Messer aus den Händen fiel. – Das war eine Lust! – Wäre ich Millionär gewesen, ich hätte Geld darum gegeben, dieses Geschäft zu betreiben.« »Dabei gewöhntest du dich wahrscheinlich an das Totstechen«, fiel Rudolf ein. »Wohl möglich, aber als ich sechzehn Jahre alt war, wurde die Wut so arg, daß ich, wenn ich einmal am Stechen war, wie toll wurde und die Arbeit verdarb. Zuletzt jagte man mich hinaus. Ich wollte Arbeit bei den Metzgern suchen, aber die waren zu hochmütig! Sie verachteten mich, wie die Schuhmacher die Schuhflicker verachten. Endlich arbeitete ich in den Steinbrüchen von Montrouge. Nach zwei Jahren aber war ich es überdrüssig, immer in den großen Rädern herumzusteigen, durch die man die Steine herauswindet. Ich war groß und stark und ging zu einem Regiment. Ich konnte einen prächtigen Grenadier abgeben, und man nahm mich an.« »Bei deiner Stärke, deinem Mut und deiner Lust am Töten würdest du bald Offizier geworden sein, wenn es damals Krieg gegeben hätte!« »Donnerwetter! Engländer oder Preußen zu massakrieren, würde mir noch größeren Spaß gemacht haben, als alte Mähren totzustechen. Zum Unglück gab es aber damals keinen Krieg! – Eines Tages bediente sich mein Feldwebel dummer Redensarten, um mich zu schnellerem Gehorsam anzutreiben; er hatte recht, ich war faul; aber mich verdroß es, und ich hielt das Maul nicht; er stieß mich, und ich stieß ihn wieder; er nahm mich beim Kragen, und ich versetzte ihm einen Rippenstoß. Da fiel man über mich her, mich ergriff die Wut, das Blut stieg mir in die Augen. Ich hatte mein Messer in der Hand und fing an zu stechen, wie in der Abdeckerei. Ich 22
erstach meinen Feldwebel und verwundete zwei Personen. Es war eine Schlächterei; Blut floß wie auf einem Schlachthofe.« Der Mörder ließ mit finsterem Blick den Kopf sinken und schwieg einen Augenblick. »Woran denkst du, Schurimann?« fragte Rudolf, der ihn mit Interesse beobachtete. »An nichts – an nichts«, entgegnete er rasch. Dann fuhr er mit seiner rohen Sorglosigkeit fort: »Endlich überwältigte man mich, steckte mich ein und ich kriegte Gehirnfieber.« [Ich wurde zum Tode verurteilt.] »Du entflohst also?« »Nein; aber ich war fünfzehn Jahre in der Klemme [im Gefängnis], statt geköpft zu werden. Ich habe vergessen, ihnen zu erzählen, daß ich zwei Kameraden, die in der Marne beinahe ertrunken wären, herausfischte; wir lagen in Melun in Garnison. Ein andermal, als wir in Rouen lagen, wo alle Häuser von Holz sind, kam in einem Stadtteil Feuer aus. Die Häuser brannten wie Schwefelhölzchen; ich wurde mit zum Löschen kommandiert. Als wir an der Brandstätte ankamen, rief man mir zu, eine alte Frau könne aus ihrem Stübchen nicht mehr herunter. Ich lief hin und brachte die Alte glücklich heraus. Meine Gefängnisratte [mein Advokat] gab sich soviel Mühe, daß es ihr gelang, eine Strafumwandlung für mich zu erlangen; statt das Schafott besteigen zu müssen, kam ich auf fünfzehn Jahre in die Klemme. – Als ich sah, daß es mit dem Sterben nichts war, konnte ich mich kaum fassen und wollte meinen Advokaten an der Kehle packen, um ihn zu erwürgen. Können Sie sich das denken?« »Die Umwandlung der Strafe gefiel dir nicht?« »Nein. Für die, die das Messer gebraucht haben, gehört sich das Messer des Koflers [des Henkers]; so ist es in der Ordnung; wer stiehlt, kriegt Ketten an die Knochen. Jedem das Seine!« »Du hast Gewissensbisse gefühlt, Schurimann?« »Gewissensbisse? Nein, ich habe meine Zeit abgesessen.« »Du warst in einer guten Schule, stehlen zu lernen.« 23
»Ja, aber ich hatte keine Neigung dazu. Die anderen Sträflinge höhnten mich aus deshalb, aber ich schlug sie mit meiner Kette und schaffte mir so Ruhe. – Dort lernte ich den Schulmeister kennen. Respekt vor seinen Fäusten! – Er hat mich geklopft, wie Sie eben.« »Er ist also ein freigelassener Galeerensträfling?« »Das heißt, er war eigentlich auf Lebenszeit verurteilt, hat sich aber selbst befreit.« »Und niemand verrät ihn?« »Ich werde ihn nicht verraten. – Ich kenne seine Fäuste.« »Und die Polizei? Hat man nicht sein Signalement?« »Ja, aber er hat lange schon aus seiner Physiognomie ausgelöscht, was Gott ihm da aufgeschrieben hatte. Jetzt würde der Bäcker, der die Seelen in den Ofen schiebt [der Teufel], den Schulmeister nicht mehr erkennen.« »Wie hat er das angefangen?« »Zuerst hat er sich die Nase abgeschnitten, die eine halbe Elle lang war; und dann hat er sich das Gesicht mit Vitriolöl beschmiert.« »Du schneidest auf!« »Wenn er heute abend kommt, werden Sie es selbst sehen; er hatte eine große Habichtsnase, jetzt hat er ein Stumpfnäschen wie ein Totenkopf, ungerechnet, daß sein olivbraunes Gesicht aussieht wie die geflickte Jacke eines Lumpensammlers.« »Er ist also ganz unkenntlich geworden?« »In den sechs Monaten, seit er aus Rochefort entwichen ist, sind ihm die Iltisse [Spione, Polizeidiener] hundertmal begegnet, ohne ihn zu erkennen.« »Warum war er im Bagno?« »Als Fälscher, Dieb und Mörder! Man nennt ihn den Schulmeister, weil er schreibt wie gestochen und sehr gelehrt ist.« »Und man fürchtet ihn?« »Das wird aufhören, wenn Sie ihn einmal unter den Händen gehabt haben!« »Wovon lebt er?« »Man sagt, er rühme sich, vor drei Wochen einen Viehhändler auf 24
der Straße von Poissy ermordet und beraubt zu haben.« »Früher oder später wird man ihn doch festnehmen.« »Da müssen mehr als zwei kommen, denn er trägt immer zwei geladene Pistolen und einen Dolch bei sich. Karlchen [der Henker] wartet sowieso auf ihn, und mehr als einmal kann er doch nicht geköpft werden.« »Was hast du begonnen, seit du frei bist?« »Ich ging zu dem Holzhändler am Quai St. Paul und verdiene mir da was ich brauche.« »Warum sieht man dich aber in diesem Viertel, da du doch kein Dieb bist?« »Wo soll ich sonst sein? Ich liebe Gesellschaft, und hier bin ich unter meinesgleichen. – Man fürchtet mich dabei wie das Feuer, und der Kommissar hat mir nichts zu sagen, als etwa wegen einer Schlägerei, um derentwillen ich bisweilen vierundzwanzig Stunden brummen muß.« »Wieviel verdienst du den Tag?« »Fünfunddreißig Sous. – Das wird so lange dauern, als ich Kraft in den Armen habe; ist es aus damit, so nehme ich einen Haken und einen Korb und sammle Lumpen.« Bei diesen Worten klopfte er auf einer Tischecke seinen Pfeifenkopf aus. Die Schallerin hatte den Schurimann zerstreut angehört; sie schien in schmerzliches Sinnen versunken zu sein. Rudolf selbst war nachdenklich geworden. Die beiden Erzählungen hatten neue Ideen in ihm geweckt. Ein tragischer Vorfall erinnerte die drei Personen, an welchem Ort sie sich befanden.
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V
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er Mann, der einen Augenblick hinausgegangen war, nachdem er der Wirtin seinen Krug und seinen Teller anempfohlen hatte, kam bald mit einem andern Manne zurück, aus dessen Gesicht verwegene Entschlossenheit sprach. Er sagte zu ihm: »Das nenn' ich ein Zusammentreffen, Borel! Komm, wir wollen ein Glas miteinander trinken!« Der Schurimann sagte leise zu Rudolf und der Schallerin, indem er auf den Neuangekommenen zeigte: »Es gibt was. Er ist ein Iltis. Aufgepaßt!« Die beiden Banditen, von denen der eine eine Mütze trug und mehrmals nach dem Schulmeister gefragt hatte, wechselten rasche Blicke, standen gleichzeitig vom Tische auf und gingen nach der Türe zu. Aber die beiden Polizisten fielen blitzschnell über sie her. Es begann ein schrecklicher Kampf. Gleich darauf ging die Türe auf, es drangen andere Polizeibeamte herein, und draußen sah man die Gewehre von Gendarmen blitzen. Der Kohlenträger, der draußen gewartet hatte, benutzte den Tumult, trat auf die Schwelle der Wirtsstube und legte, als er dem Blicke Rudolfs begegnete, den Zeigefinger seiner rechten Hand an seine Lippen. Rudolf befahl ihm mit einer gebieterischen Gebärde, sich zu entfernen und beobachtete dann weiter, was in der Wirtsstube vorging. Der Mann mit der Mütze heulte vor Wut. Er lag halb auf dem Tische, zuckte und schlug so heftig um sich, daß ihn drei Männer kaum halten konnten. Sein Gefährte war wie vernichtet; seine Lippen waren weiß, die Kinnlade hing ihm herab und zitterte krampfhaft; er widersetzte sich nicht im mindesten und hielt selbst die Hände den Handschellen hin. 26
Die Wirtin hinter ihrem Schenktische blieb, an dergleichen Auftritte gewöhnt, ganz ruhig und behielt die Hände in den Taschen ihrer Schürze. »Was haben denn die beiden ausgefressen, lieber Herr Borel?« fragte sie einen der Polizeidiener, den sie kannte. »Sie haben eine alte Frau ermordet, um sie zu bestehlen. Ehe die Arme starb, sagte sie noch, sie habe einem der Mörder in die Hand gebissen. Man hatte ein Auge auf die Halunken; mein Kamerad kam eben, um sich zu überzeugen, daß es die richtigen wären, und wir haben sie nun.« »Ein Glück, daß sie mir ihre Schoppen vorausbezahlt haben«, sagte die Wirtin. »Wollen Sie nicht etwas genießen, Herr Borel? Ein Gläschen Parfait Amour vielleicht?« »Ich danke, Mutter Ponisse. Aber ich muß die beiden Kerle da ins Loch bringen. Der eine schlägt noch gewaltig um sich.« Der Mörder in der Mütze war wirklich kaum zu bändigen. Als man ihn in einen Wagen steigen lassen wollte, der auf der Straße wartete, wehrte er sich so, daß man ihn hineintragen mußte. »Mutter Ponisse«, sagte der Polizeidiener beim Hinausgehen, »nehmen Sie sich vor Rotarm in acht; er könnte Sie kompromittieren.« »Rotarm? Man hat ihn seit Wochen nicht mehr gesehen, Herr Borel.« »Nehmen Sie nichts von ihm in Verwahrung; das wäre Hehlerei!« »Sie können ganz ruhig sein, Herr Borel, ich fürchte mich vor Rotarm wie vor dem Teufel. Man weiß nie, wohin er geht und woher er kommt. Als ich ihn das letztemal sah, sagte er, er käme aus Deutschland.« »Na, ich warne Sie, seien Sie vorsichtig!« Ehe der Polizeidiener die Wirtsstube verließ, betrachtete er die anderen Gäste aufmerksam und sagte zum Schurimann in fast freundlichem Ton: »Bist du auch da, Taugenichts? Man hat lange nichts von dir gehört! Mir scheint, du wirst vernünftig.« »Sie wissen ja, daß ich keinem ein Loch in den Kopf schlage, dem 27
es nicht danach verlangt.« »Es fehlte auch noch, daß du andere dazu reiztest!« »Ich habe übrigens meinen Meister gefunden, Herr Borel. Da sitzt er!« »Sieh da! Den kenn' ich noch nicht«, sagte der Polizeibeamte, indem er Rudolf genau betrachtete. »Wir werden auch schwerlich Bekanntschaft miteinander machen«, antwortete dieser. »Das wünsch' ich um Ihretwillen«, entgegnete der Polizeidiener, der sich dann an die Wirtin wandte und sagte: »Gute Nacht, Mutter Ponisse; Ihre Wirtschaft ist eine wahre Mausefalle; drei Mörder habe ich nun schon bei Ihnen gefangen.« »Und ich hoffe, es soll nicht der letzte sein, Herr Borel«, sagte die Wirtin, freundlich knicksend. Nachdem der Polizeidiener sich entfernt hatte, sagte Mutter Ponisse zum Schurimann: »Übrigens ein Glück für den Schulmeister, daß er nicht da war! Der in der Mütze fragte zweimal nach ihm, aber ich verrate meine Kunden nicht. Man mag sie verhaften, gut; verkaufen tue ich sie nicht. Aber wenn man vom Wolfe spricht, kommt der Schwanz zum Vorschein«, setzte die Wirtin hinzu, als ein Mann und eine Frau in die Wirtsstube traten: »Der Schulmeister mit seiner Krönerin [Frau].« Die anwesenden Gäste konnten sich eines Schauders nicht erwehren. Der Schurimann hatte recht: Man konnte sich nichts Gräßlicheres denken, als das Gesicht dieses Räubers. Es war von tiefen, bläulichen Narben durchzogen; die Lippen waren dick aufgetrieben; die Nase war vorn abgeschnitten, und man sah an der Wurzel zwei unförmige Löcher. Graue, kleine Augen funkelten vor Wildheit; die flache Stirn verschwand zur Hälfte unter einer rötlichen Pelzmütze. Der Schulmeister war nicht viel über fünf Fuß groß; sein übermäßig dicker Kopf saß tief zwischen den breiten, mächtigen Schultern. Er hatte lange, muskulöse Arme, kurze, dicke, bis an die Fingerspitzen behaarte Hände; seine Beine waren etwas auswärts gebogen, 28
die Waden aber verrieten Riesenkraft. Die Frau, die den Schulmeister begleitete, war alt und trug ein braunes Kleid, einen schwarz karierten Schal und eine weiße Haube. Rudolf sah sie von der Seite; ihr grünes Auge, ihre Hakennase, die dünnen Lippen, ihr vorspringendes Kinn, ihr zugleich boshaftes und schlaues Gesicht erinnerten ihn an die Eule. Er wollte das eben der Schallerin mitteilen, als das Mädchen erbleichte, mit zitternder Hand den Arm Rudolfs ergriff und leise sagte: »Mein Gott! Die Eule – die Einäugige!« In diesem Augenblick trat der Schulmeister, der einige Worte mit einem der Gäste gewechselt hatte, langsam an den Tisch, an dem Rudolf, die Schallerin und der Schurimann saßen. Dann wendete er sich mit einer rauhen und hohlen Stimme an Marienblume und sagte: »Schöne Blondine, laß die beiden sitzen und komm zu mir.« Die Schallerin antwortete nicht, aber ihre Zähne schlugen vor Angst aufeinander. »Ich bin nicht eifersüchtig«, sagte die Eule, laut lachend. Sie erkannte in der Schallerin noch nicht ihr Opfer. »Na, Kleine, verstehst mich wohl nicht?« sprach das Ungetüm weiter und trat näher. »Wenn du nicht gutwillig kommst, schlag' ich dir ein Auge aus, und du mit dem Schnurrbart hast es mit mir zu tun, wenn du mir die Kleine nicht über den Tisch herüberreichst!« »Beschützen Sie mich!« rief das Mädchen. »Sei ruhig, mein Kind«, antwortete Rudolf. »Du bist bei mir und wirst nicht von der Stelle gehen. Und da dir der Kerl ebenso zuwider ist wie mir, werde ich ihn auf die Straße werfen.« »Du?!« fragte der Schulmeister. »Ja, ich«, antwortete Rudolf, der, trotz der Bemühungen des Mädchens, ihn zurückzuhalten, aufstand. Der Schulmeister wich vor Rudolfs Miene einen Schritt zurück. Auch das Mädchen und der Schurimann bemerkten den Ausdruck teuflischer Wut, der die Züge ihres Begleiters plötzlich entstellte. 29
Seine Pupillen, die der Zorn weit ausdehnte, funkelten in seltsamem Glanze. Der Schulmeister wich noch einen Schritt zurück und griff, da er das Vertrauen auf seine Körperkraft verloren hatte, nach dem Dolch unter seiner Bluse. Plötzlich faßte die Eule den Schulmeister am Arm und rief: »Nur eine Minute, Mörderchen! Nur ein Wort! Du kannst die beiden da noch immer kalt machen; sie entgehen dir nicht.« Der Schulmeister sah die Einäugige mit Verwunderung an. Seit einigen Minuten hatte die Eule Marienblume mit zunehmender Aufmerksamkeit beobachtet und ihre Erinnerung gesammelt. Endlich hegte sie keinen Zweifel mehr; sie hatte die Schallerin erkannt. »Ist es möglich?« rief die Einäugige, indem sie die Hände erstaunt zusammenschlug; »'s ist der Balg, die Gerstenzuckerdiebin. Woher kommst du denn? Schickt dich der Bäcker [Teufel] her?« setzte sie hinzu und wies dem Mädchen die Faust. »Du gerätst mir also wieder unter die Hände. Na, sei nur ruhig; ich reiße dir keinen Zahn mehr aus, aber du sollst dich giften! Ich kenne deine Eltern. – Der Schulmeister hat in der Klemme [im Gefängnis] den Mann gesehen, der dich mir gab, als du noch ganz klein warst. Er hat ihm den Namen deiner Mutter genannt. Deine Eltern sind reiche Leute.« »Meine Eltern! Sie kennen sie?« rief Marienblume. »Ja, mein Mann kennt den Namen deiner Mutter, aber eher reiß' ich ihm die Zunge aus, als daß ich ihn dir nennen lasse. Der Mann, von dem ich rede, hat Papiere, ja, Briefe von deiner Mutter, und wenn er keinen Gebrauch davon macht, so hat er seine Gründe dazu. He! Du giftest dich? – Du weinst? Du erfährst doch nicht, wer deine Mutter ist!« Rudolf hatte der Eule, deren Erzählung sein Interesse erregte, aufmerksam zugehört. Der Räuber hatte indessen, da er nicht mehr unter dem Einfluß von Rudolfs Blicken stand, wieder Mut gefaßt; im Vertrauen auf seine Riesenkraft trat er also wieder zu dem Beschützer der Schalle30
rin und sagte gebieterisch zur Eule: »Genug geschwatzt. – Jetzt werde ich dem Maulaffen da das Lärvchen so zurichten, daß die schöne Blondine mich für hübscher hält als ihn.« Mit einem Satz war Rudolf über den Tisch hinüber. Aber im gleichen Augenblicke wurde die Tür der Wirtsstube heftig aufgerissen; der sechs Fuß hohe Kohlenträger trat rasch ein, schob den Schulmeister beiseite, näherte sich Rudolf und sagte diesem ins Ohr: »Gnädiger Herr, Tom und Sarah sind am anderen Ende der Straße.« Nach diesen geheimnisvollen Worten machte Rudolf eine zornige Bewegung, warf einen Louisdor auf den Schenktisch und eilte zur Türe. Der Schulmeister wollte sich Rudolf in den Weg stellen. Dieser drehte sich um und gab ihm zwei so gewaltige Schläge ins Gesicht, daß der stiermäßige Mann betäubt wankte und schwer auf den Tisch fiel. »Bravo! Bravo!« rief der Schurimann. Der Schulmeister, der sich nach einigen Augenblicken wieder erholt hatte, eilte Rudolf nach. Der aber war mit dem Kohlenträger in dem Gewirr der Gäßchen verschwunden. Zusammen mit dem Schulmeister betraten zwei Männer, von der anderen Seite der Straße her, die Wirtsstube. Sie waren außer Atem, als wären sie lange und schnell gelaufen. Sie sahen sich in der Wirtsstube um. »Schrecklich!« sagte der eine, »er entwischt uns wieder.« »Geduld! – Die Tage haben vierundzwanzig Stunden, und das Leben ist lang«, antwortete der andere.
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VI
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ie beiden Personen, die in die Schenke eingetreten waren, gehörten offensichtlich einer anderen Klasse an als die Gäste, die dort gewöhnlich verkehrten. Der eine war lang aufgeschossen und hatte fast weißes Haar, schwarze Augenbrauen, einen schwarzen Backenbart und ein knochiges braunes Gesicht; sein langer, schwarzer Überrock war bis an den Hals hinauf zugeknöpft, und er trug über den engen braunen Tuchbeinkleidern lange Stiefel. Der andere war sehr klein, ebenfalls in Trauer, blaß und schön. Sein langes schwarzes Haar, seine schwarzen Augenbrauen und Augen hoben die matte Weiße seines Teints noch mehr hervor. An der Haltung, dem Wuchs, der Zartheit der Züge erkannte man leicht eine Dame in Männertracht. »Tom, bestellen Sie etwas zu trinken und fragen Sie die Leute nach ihm«, sagte die Frau. »Ja, Sarah«, antwortete der Mann. Er setzte sich an einen Tisch und sagte zur Wirtin in gutem Französisch: »Madame, haben Sie die Gefälligkeit und lassen Sie uns etwas zu trinken geben.« Mutter Ponisse stand auf, lehnte sich zierlich über den Tisch und sagte: »Wünschen Sie Wein?« »Geben Sie uns eine Flasche, Gläser und Wasser!« Die Wirtin brachte das Verlangte; Tom warf ihr hundert Sous hin, weigerte sich, das Geld anzunehmen, das sie ihm herausgeben wollte und sagte: »Behalten Sie das, Frau Wirtin, und trinken Sie ein Glas mit uns.« »Sie sind sehr freundlich, mein Herr«, antwortete Mutter Ponisse, indem sie Tom erstaunt ansah. »Aber beantworten Sie mir eine Frage«, fuhr dieser fort. »Wir sollten einen Bekannten in einem Wirtshaus dieser Straße treffen und 32
sind vielleicht in ein falsches Lokal geraten.« »Das ist ›Das weiße Kaninchen‹, Ihnen zu dienen, mein Herr.« »Es ist richtig«, sagte Tom, indem er Sarah ansah. »Ja, im ›Weißen Kaninchen‹ sollte er uns erwarten.« »Wie sieht denn ihr Freund aus?« »Er ist groß und schlank, hat hellbraunes Haar und einen ebensolchen Schnurrbart«, antwortete Tom. »Warten Sie! Warten Sie! – Das ist der Herr, der eben da war… Ein sehr großer Kohlenträger holte ihn hier ab, und sie gingen miteinander fort.« »Sie sind es«, sagte Tom. »Waren sie allein hier?« fragte Sarah. »Der Kohlenträger kam eben nur herein; der andere saß da mit der Schallerin und dem Schurimann.« Dabei deutete die Wirtin mit den Augen auf den Genannten. Tom und Sarah drehten sich nach ihm um. Nachdem sie ihn aufmerksam gemustert hatten, fragte Sarah ihren Begleiter: »Kennen Sie den Mann?« »Nein. Karl hatte die Spur Rudolfs verloren. Als er aber Murph um dieses Wirtshaus herumschleichen und unaufhörlich durch die Fenster schauen sah, merkte er, daß er auf der richtigen Fährte war.« Während dieses Gespräches sagte der Schulmeister, mit einem Blick auf Tom und Sarah, ganz leise zur Eule: »Der große Dürre hat der Wirtin hundert Sous gegeben. Wenn sie fortgehen, folgen wir ihnen; ich packe den Langen und nehme ihm das Geld ab. Er hat eine Frau bei sich und wird keinen Lärm zu machen wagen.« »Wenn die Kleine schreit, so habe ich meine Flasche mit Vitriol«, bemerkte die Einäugige. Dann setzte sie hinzu: »Nicht war, Mörderchen, sobald wir den Balg wieder sehen, nehmen wir ihn mit? Dann reiben wir der Jungfer das Lärvchen mit Vitriol ein, damit sie sich nichts mehr auf ihre Schönheit einbildet.« »Eule, ich heirate dich noch«, sagte der Schulmeister. »Was die Ein33
fälle und die Courage betrifft, so hast du nicht deinesgleichen…« Nach kurzer Überlegung sagte Sarah zu Tom, indem sie auf den Schurimann deutete: »Wenn wir diesen Mann fragten?« »Wir können es versuchen«, entgegnete Tom. Dann wendete er sich an den Schurimann und sagte: »Wir sollten hier einen Freund treffen. Sie kennen ihn; wissen Sie, wohin er gegangen ist?« »Ich kenne ihn nur, weil er mich vor zwei Stunden durchgeprügelt hat.« »Vorher haben Sie ihn nie gesehen?« »Niemals.« »Frau Wirtin! Noch eine Flasche, vom besten!« rief Tom. »Und stellen Sie sie auf den Tisch des Herrn da, wenn er es erlauben will!« Als Tom und Sarah an einem Tisch mit dem Schurimann und der Wirtin saßen, wurde das Gespräch fortgesetzt: »Ich traf«, begann der Schurimann, »den Herrn im Hause Rotarms.« »Ein seltsamer Name… Wer ist Rotarm?« »Rotarm? Er bekaspert Meiches.« »Was heißt das?« »Meiches bekaspern? Nun, schmuggeln. Sie sprechen wohl nicht Jenisch?« »Jenisch?« »Na, da Sie unsere schöne Sprache nicht verstehen, so will ich Ihnen verraten, daß Rotarm ein Schmuggler ist… Er macht selbst kein Hehl daraus und rühmt sich seines Gewerbes. Dennoch ist er nicht zu ertappen.« »Was hatte Rudolf bei ihm zu suchen?« fragte Sarah. »Wahrhaftig, mein Herr oder Madame, wie sie wollen, denn ich weiß nicht, was von beiden Sie sind… Heute abend also wollte ich die Schallerin tanzen lehren. Sie flüchtete sich ins Haus, ich verfolgte sie; es war finster, wie in einem Backofen. Statt nun die Schallerin zu fassen, geriet ich an Euren Freund, der mir meinen Lohn gab…« »Und Rotarm? Was verkauft er?« 34
»Alles, was zu verkaufen verboten ist. Das ist sein Geschäft und Gewerbe. Nicht wahr, Mutter Ponisse? – Man hat zwanzigmal Haussuchung bei ihm gehalten, aber nie etwas gefunden.« »Ja, er ist schlau«, fiel die Wirtin ein. »Er soll in seinem Hause einen geheimen Gang haben, der in die Katakomben führt.« »Man hat aber diesen Gang nie gefunden. Man müßte schon das ganze Haus einreißen.« »Welche Nummer ist es?« »Nr. 13 in der Bohnenstraße.« »Sie können sich rühmen, in Herrn Rudolf einen tüchtigen Freund zu haben«, sagte der Schurimann. »Wäre der Kohlenträger nicht gekommen, so würde er eine Partie mit dem Schulmeister gemacht haben, der dort in der Ecke sitzt mit der Eule… Donnerwetter! Ich muß an mich halten, daß ich die alte Hexe nicht kalt mache, wenn ich daran denke, wie sie mit der Schallerin umgegangen ist… Aber kommt Zeit, kommt Rat!« »Rudolf hat Sie verprügelt? So hassen Sie ihn wahrscheinlich?« fragte Sarah. »Ich einen Mann hassen, der sich so benimmt! Im Gegenteil. Ich könnte für ihn durchs Feuer gehen, obgleich ich ihn erst seit heute abend kenne. Ich bin Soldat gewesen … mit einem solchen Offizier könnte man den Mond von Himmel reißen.« Tom und Sarah sahen einander schweigend an. »Diese Macht, Menschen zu beherrschen, begleitet ihn also überall!« sagte Sarah bitter. »Ja … bis wir den Bann gebrochen haben«, entgegnete Tom. »Und das muß geschehen, was es auch kosten möge«, setzte Sarah hinzu, indem sie mit der Hand über die Stirn strich, als wollte sie eine unangenehme Erinnerung vertreiben. Auf dem Rathause schlug es zwölf Uhr. Der Schulmeister sagte leise zur Eule: »Wir wollen uns verstecken, bis die beiden herauskommen; dann gehen wir ihnen nach. Wenden sie sich links, so erwarten wir sie an der Ecke Rue St. Eloi; gehen sie rechts, so treffen wir sie auf der 35
anderen Seite!« »Ihr trinkt also heute abend nichts?« fragte die Wirtin. »Nein, Mutter Ponisse … das nächste Mal!«
VII
T
om und Sarah standen auf und dankten dem Schurimann für seine Auskunft. Dann verließen sie das Wirtshaus und trennten sich vom Schurimann, der eine andere Richtung einschlug. »Sie sind verloren«, sagte der Schulmeister leise zu der Eule, »nimm den Stöpsel von deinem Vitriolfläschen. Achtung!« »Wir wollen die Schuhe ausziehen, damit sie uns nicht hören!« »Du hast recht, Eule!« »Zum Glück hält unser Wagen an der Ecke«, sagte Tom, »wir würden sonst völlig durchnäßt. Frieren Sie, Sarah?« »Vielleicht erfahren wir etwas durch Rotarm«, sagte Sarah, ohne auf die Frage zu antworten. Tom blieb mit einem Male stehen. »Ich habe mich in der Straße geirrt«, sagte er, »wir hätten links gehen sollen. Es bleibt uns nichts übrig, als umzukehren.« Der Schulmeister und die Eule traten in eine Tür, um von Sarah und Tom nicht bemerkt zu werden. Die beiden kamen wieder an dem Wirtshaus vorbei und gelangten an einen Schutthaufen. Die Keller eines abgetragenen Hauses bildeten hier einen Abgrund, an dem sich die Straße hinzog. Der Schulmeister sprang jetzt mit der Kraft und Gewandtheit eines Tigers zu, faßte Tom an der Kehle und rief ihm zu: »Dein Geld her, oder ich werfe dich in die Grube!« 36
Der Räuber stieß Tom rückwärts, so daß er das Gleichgewicht verlor. Dann hielt er ihn mit einer Hand in der Schwebe, während er mit der anderen Hand den Arm Sarahs wie mit einem Schraubstock packte. Ehe Tom eine Bewegung machen konnte, plünderte ihn die Eule mit der größten Fingerfertigkeit aus. Sarah schrie nicht, sondern sagte ganz ruhig: »Geben Sie ihm die Börse, Tom!« Dann wandte sie sich an den Räuber und sagte: »Wir machen keinen Lärm, tut uns also nichts zuleide!« Die kaltblütige Ruhe Toms verleugnete sich keinen Augenblick. »Wollt Ihr einen Handel eingehen? Mein Taschenbuch enthält Papiere, die Euch nichts nützen können; bringt sie mir morgen wieder, und ich gebe Euch fünfundzwanzig Louisdor.« »Ja, um uns zu fangen!« antwortete der Räuber… »Willst du Geld verdienen?« »Immer!« »Hast du bei Mutter Ponisse den Mann gesehen, den der Kohlenträger abholte?« »Den mit dem Schnurrbart? Ja, ich wollte ihn eben mit den Fäusten traktieren … aber er ließ mir keine Zeit dazu. Er brachte mir zwei Hiebe bei, die mich rücklings auf den Tisch warfen… 's ist das erstemal, daß mir so etwas passiert… Aber er muß mir Revanche geben!« »Den Mann meine ich«, sagte Sarah. »Ihn?« sprach der Schulmeister… »Geben Sie mir tausend Franken, und ich bringe ihn um.« »Von Umbringen ist nicht die Rede«, erwiderte Sarah. »Von was sonst?« »Komm morgen in den Chemin de la Révolte! Du wirst meinen Begleiter dort treffen. Er wird allein sein und dir sagen, was du zu tun hast. Zweitausend Franken, wenn du den Auftrag ausführst.« »Mörderchen«, sagte die Eule leise, »hier ist Geld zu verdienen. Ich will für dich gehen…« 37
»Meine Frau wird kommen«, sagte der Schulmeister, »sagen Sie ihr, was zu tun ist, und ich werde mir's überlegen.« »Gut. Morgen um ein Uhr.« »Abgemacht!« »Jetzt gehen Sie rechts, wir gehen links!« Der Schulmeister und die Eule entfernten sich schnell. »Der Böse kommt uns zu Hilfe«, sagte Sarah. »Dieser Verbrecher kann uns von Nutzen sein.« Beide gingen auf die Notre-Dame zu… Ein Mann war unbemerkt Zeuge dieses Vorgangs gewesen, der Schurimann, der unter dem Schutthaufen Zuflucht vor dem Regen gesucht hatte. Er nahm sich sogleich vor, Rudolf vor der Gefahr zu warnen; aber wie zu ihm gelangen? Er hatte die Adresse des angeblichen Fächermalers vergessen. Vielleicht kam Rudolf nie wieder ins ›Weiße Kaninchen‹. Wie also ihn auffinden? Während dieser Gedanken war der Schurimann Tom und Sarah gefolgt und sah sie in einen Wagen steigen, der sie vor der NotreDame erwartete. Der Wagen fuhr ab. Der Schurimann stieg blitzschnell hinten auf. Um ein Uhr hielt der Wagen auf dem Boulevard de l'Observatoire, und Tom und Sarah verschwanden in einem der Gäßchen, die auf diesen Platz münden. Die Nacht war pechschwarz, und der Schurimann konnte die Örtlichkeit nicht genau erkennen. Deshalb nahm er sein Messer aus der Tasche und machte einen breiten Schnitt in einen der Bäume, bei denen der Wagen gehalten hatte… Zum ersten Male seit langer Zeit fand der Schurimann einen tiefen Schlaf, der nicht durch schreckliche Träume unterbrochen wurde.
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VIII
A
m nächsten Tage glänzte eine strahlende Herbstsonne am blauen Himmel, und der Sturm hatte sich gelegt. Rudolf, der entweder ein Zusammentreffen mit den beiden, denen er am Abend vorher entwischt war, nicht mehr erwartete oder sie nicht mehr fürchtete, betrat gegen elf Uhr vormittags die Gasse, in der das Wirtshaus der Mutter Ponisse gelegen war. Die Wirtin saß auf der Schwelle, als Rudolf erschien. »Ihre Dienerin, junger Herr! Man hat gestern nach Ihnen gefragt. Es war ein großer, gut gekleideter Mann, der eine kleine Frau in Herrentracht begleitete. Sie haben mit dem Schurimann getrunken.« »Ah! Und was haben sie mit ihm gesprochen?« »Dies und jenes – vom Rotarm, vom Regen und vom schönen Wetter.« »Sie kennen Rotarm?« »Im Gegenteil; der Schurimann sagte ihnen, wer er sei, und wie Sie ihn verprügelt hätten –« »Gut. Aber deshalb komme ich nicht. Ich will mit der Schallerin aufs Land.« »Das geht nicht, schöner Herr.« »Warum nicht?« »Sie könnte nicht wiederkommen. Ihre Kleider gehören mir, und überdies ist sie mir noch zweihundertundzwanzig Franken für Essen, Trinken und Wohnung schuldig.« »Da«, sagte Rudolf, indem er elf Louisdor auf den Schenktisch warf. »Und wieviel sind die Kleider wert, die sie trägt?« Die Wirtin besah mißtrauisch einen Louis nach dem anderen. Dann sagte sie: »Mindestens – hundert Franken!« »Diese Lumpen? Hier hast du noch einen Louis, mehr gibt es nicht! Wenn man sich von dir begaunern läßt, bestiehlt man die Armen, die ein Recht auf Almosen haben.« 39
»Wie Sie wollen. Ich behalte die Sachen, und die Schallerin bleibt hier!« »Hol dich der Teufel! Hier ist das Geld, wo ist das Mädchen?« Die Wirtin steckte das Geld ein und sagte mit gemeinem Lächeln: »Warum will denn der schöne Herr nicht selbst zur Schallerin hinaufgehen? – Es würde ihr Freude machen.« »Geh, hole sie und laß sie nicht wissen, daß ich ihre Schulden bezahlt habe!« Einige Minuten später kam Mutter Ponisse zurück und sagte: »Die Schallerin wollte mir nicht glauben. Sie wurde rot wie Mohn, als ich ihr sagte, Sie wären da. Als ich ihr gar erlaubte, den Tag auf dem Lande zuzubringen, wollte sie mir um den Hals fallen.« In diesem Augenblick trat Marienblume ein. Sie schlug verlegen die Augen nieder, als sie Rudolf erkannte. »Wollen Sie mich aufs Land begleiten?« fragte er sie. »Gern, Herr Rudolf, da es Madame erlaubt.« »Ich erlaube es dir, weil du folgsam gewesen bist«, sagte die Wirtin. »Komm, gib mir einen Kuß.« Marienblume unterdrückte ihren Widerwillen und hielt ihre Stirn den Lippen der Wirtin hin. Rudolf aber stieß die Alte hinter ihren Schenktisch zurück. »Nehmen Sie sich in acht«, sagte die Schallerin, »sie wird Ihnen etwas an den Kopf werfen. Sie ist bösartig!« Nach einigen Schritten zog die Schallerin sanft ihren Arm zurück und sagte: »Gehen Sie lieber allein. Ich gehe hinter Ihnen bis an die Barriere. Sind wir im Freien, dann können wir miteinander gehen, aber hier soll man Sie nicht mit mir sehen.« »Fürchten Sie nichts«, entgegnete Rudolf, der den Arm des Mädchens wieder nahm. »Wie Sie wollen. Ich sagte es nur, um Ihnen keine Unannehmlichkeiten zu bereiten.« »Ich danke Ihnen. Aber ich habe wirklich nichts zu fürchten.« Rudolf und das Mädchen gelangten an den Blumenkai, wo ein 40
Wagen wartete. Rudolf sagte dem Kutscher: »Nach St. Denis!« Der Wagen fuhr ab; die Sonne stand strahlend am wolkenlosen Himmel; die frische Luft strich durch die heruntergelassenen Wagenfenster. Die Schallerin saß mit gefalteten Händen und halbgeschlossenen Augen und schien in ein tiefes Glück versunken. Nach einer Weile sprach Rudolf sie an: »Haben Sie darüber nachgedacht, was die Eule Ihnen gestern von Ihrer Mutter sagte?« »Ja, ich habe schon viel darüber geweint, aber ich bin überzeugt, daß es nicht wahr ist, daß die Einäugige die Geschichte erfunden hat, um mir weh zu tun.« »Es wäre doch möglich, daß die Eule besser unterrichtet ist, als Sie glauben. Würden Sie nicht glücklich sein, Ihre Mutter wiederzufinden?« »Ach, Herr Rudolf, warum sollte ich wünschen, meine Mutter wiederzufinden, wenn sie mich nie geliebt hat? Hat sie mich aber geliebt … dann würde ich ihr ja nur Schande machen! Sie grämte sich vielleicht zu Tode.« »Wenn Ihre Mutter Sie geliebt hat, wird sie Ihnen verzeihen und Sie wieder lieben… Hat sie Sie absichtlich verlassen und sieht sie, in welche schreckliche Lage Sie dadurch geraten sind, so wird ihre Scham Sie rächen.« »Was nützt mir die Rache?« »Vielleicht haben Sie recht… Sprechen wir nicht mehr davon…« In diesem Augenblick kam der Wagen an die Stelle, wo sich die Straße von St. Denis und der Chemin de la Révolte kreuzen. Trotz der Eintönigkeit der Landschaft war das Mädchen so entzückt, Felder zu sehen, daß die Freude ihr reizendes Gesicht verklärte. Sie neigte sich aus dem Schlage, klatschte in die Hände und rief: »Wie schön! Gras! Felder! Ach, darf ich über die Wiesen laufen?« Rudolf ließ halten, und sie stiegen aus. Die Schallerin lief hin und 41
her, blieb stehen und lief, unter neuem Jubel, immer wieder davon. Beim Anblick einiger Blümchen konnte sie einen neuen Ausbruch ihrer Freude nicht unterdrücken und pflückte alle ab. Dann setzte sie sich auf einem Baumstamm nieder, der an einem Graben lag. Nach einer Weile sagte sie, im Tone tiefen Glückes und fast religiöser Dankbarkeit: »Wie gütig ist doch das Schicksal, daß es uns einen so schönen Tag erleben läßt!« In Rudolfs Auge trat eine Träne, als er das arme, verlassene, verachtete Mädchen so seine Dankbarkeit gegen den Schöpfer aussprechen hörte, weil es einen Sonnenstrahl und eine Wiese sah… Ein völlig unvorhergesehenes Ereignis riß Rudolf aus seinem Sinnen.
IX
I
n dem Graben, an dessen Rand die Schallerin sich gesetzt hatte, richtete sich ein Mann auf und brach in ein fürchterliches Gelächter aus. Die Schallerin fuhr hoch. Es war der Schurimann. »Erschrick nicht, meine Tochter«, sagte er. »Ein famoses Zusammentreffen, nicht wahr? Das haben Sie gewiß nicht erwartet, Herr Rudolf. Ich auch nicht.« »Was tust du hier?« fragte Rudolf verwundert. »Ich wache, Meister. Aber wie geht es zu, daß Sie gerade in die Nähe meiner Sommerwohnung kommen? Das hat etwas zu bedeuten!« »Sprich deutlicher!« 42
»Geduld! Geduld, Meister! Noch ein Wort: wie spät ist es?« »Halb eins«, sagte Rudolf. »Gut, wir haben noch Zeit. In einer halben Stunde muß die Eule hier sein.« »Die Eule?« riefen Rudolf und das junge Mädchen gleichzeitig. »Ja, die Eule! Die Geschichte verhält sich so: Gestern, als Sie das Wirtshaus verlassen hatten, kamen –« »Ein großer Mann mit einer Frau in Herrenkleidern; sie fragten nach mir. Ich weiß. Weiter?« »Die beiden wollten mich über Sie ausfragen, aber ich wußte natürlich nichts. Wenn ich aber auch etwas gewußt hätte, würde ich nichts gesagt haben. Ich halte zu Ihnen, Meister Rudolf, auf Leben und Tod –« »Ich danke dir. Aber fahre fort!« »Der Mann und die Frau gingen hinaus, und ich ging auch. Es regnete. Deshalb kroch ich bei einer Baustelle in ein Kellerloch, wo ich im Trocknen war und legte mich hin.« »Was geschah?« »Ich fing an einzuduseln, als ich Stimmen hörte. Ich lauschte. Es war der Schulmeister, der ganz freundschaftlich mit einem anderen sprach. Ich erkannte die Stimme des Langen, der mit der kleinen Frau im Wirtshaus gewesen war.« »Sie sprachen mit dem Schulmeister und der Eule?« fragte Rudolf höchst erstaunt. »Mit dem Schulmeister und der Eule, und sie verabredeten, am anderen Tag wieder zusammenzukommen.« »Also heute«, fiel Rudolf ein. »Um ein Uhr.« »Seltsam!« »Und zwar da, wo der Weg von St. Denis und der Chemin de la Révolte zusammenstoßen.« »Hier, an dieser Stelle?« »Wie Sie sagen, Herr Rudolf, an dieser Stelle.« »Der Schulmeister? Nehmen Sie sich in acht, Herr Rudolf«, fiel 43
Marienblume ein. »Beruhige dich; er soll nicht kommen; nur die Eule.« »Außerdem ist Herr Rudolf kein Kind, Mädchen; aber es könnte immerhin etwas gegen ihn im Werke sein, und deshalb bin ich da.« »Erzähle weiter!« »Der Große und die Kleine versprachen dem Schulmeister zweitausend Franken. Was er dafür tun soll, weiß ich nicht. Die Eule sollte hierherkommen, die gestohlene Brieftasche des Langen mitbringen, erfahren, was zu tun sei und es dem Schulmeister mitteilen, der das übrige zu erledigen hat.« Das Mädchen erbebte. – Rudolf lächelte verächtlich. »Als ich diesen Vorschlag hörte, sagte ich mir: Du mußt wissen, wo diese Leute zu Hause sind, die den Schulmeister gegen Herrn Rudolf hetzen wollen. An der Notre-Dame stiegen sie in einen Wagen, ich hintenauf, und so kamen wir auf den Boulevard de l'Observatoire. Es war finster, wie in einem Backofen; ich schnitt also einen Baum an, um mich am anderen Tage wieder zurechtzufinden.« »Sehr gut!« »Heute früh ging ich wieder hin. Zehn Schritte von meinem Baum sah ich ein Gäßchen, das durch eine Barriere getrennt war, am Ende des Gäßchens ein Haus, und in diesem Hause müssen sie wohnen.« »Ich danke dir, du hast mir, vielleicht ohne es zu wissen, einen großen Dienst erwiesen.« »Bitte um Entschuldigung, Herr Rudolf, aber gerade darauf kam es mir an.« »Ich errate, was man will. Ich habe ein Geheimnis, die Fächerstäbchen mit einer Maschine zu schneiden, aber dieses Geheimnis ist nicht allein mein Eigentum. Wahrscheinlich will man sich des Modells der Maschine, das ich bei mir habe, um jeden Preis bemächtigen, denn mit dieser Sache ist viel Geld zu verdienen.« »Der Große und die Kleine sind also unterrichtet?« »Es sind die Unternehmer, für die ich arbeite, und denen ich mein Geheimnis nicht mitteilen wollte.« 44
»Und sie haben«, fuhr der Schurimann fort, »nicht einmal den Mut, ihren schlechten Streich selbst auszuführen! Aber damit ich nur fertig werde: Heute morgen dachte ich mir: Ich kenne den Ort der Zusammenkunft der Eule und des Großen, ich werde sie erwarten. Kaum bin ich da, setzt sich die arme Schallerin gerade an meinem Park nieder. Da mußt' ich mir einen Spaß erlauben und laut aufschreien.« »Welchen Plan hast du nun?« »Ich warte auf die Eule und höre, was sie dem Großen sagt. Wenn ich aber nichts höre, falle ich über die Eule her, bezahle ihr, was sie gut hat und drehe ihr den Hals um, bis sie mir den Namen der Eltern des armen Mädchens nennt.« »Ach, Schurimann, meinetwegen fang keinen Zank an! Wenn du die Eule schlägst, wird der Schulmeister –« »Höre mich an«, fiel Rudolf ein, indem er sich einige Schritte von dem Mädchen entfernte. »Ich habe ein besseres Mittel, die Schallerin an der Eule zu rächen. Jetzt sage mir: willst du mir einen wirklichen Dienst erweisen?« »Gewiß!« »Die Eule kennt dich nicht?« »Ich habe sie gestern zum erstenmal gesehen.« »Du versteckst dich, kommst aber hervor, wenn du siehst, daß sie ganz nahe ist!« »Um ihr den Hals umzudrehen?« »Nein, um sie zu verhindern, mit dem Großen zu sprechen. Er wird nicht wagen, heranzukommen, wenn er sieht, daß jemand da ist. Kommt er doch, so verlaß sie keine Minute!« »Ich folge der Eule wie ihr Schatten. Der Mann soll kein Wort sagen, das ich nicht höre.« »Wenn sie ein anderes Stelldichein verabreden, so erfährst du es.« »Gut, gut. Und dann geht es über die Eule her?« »Noch nicht… Die Einäugige weiß nicht, ob du ein Dieb bist oder nicht?« »Nein; der Schulmeister müßte ihr denn gesagt haben, daß das 45
nicht mein Fach ist.« »Hat er es ihr gesagt, so stellst du dich, als hättest du dich anders besonnen.« »Herr Rudolf – sagen Sie mir – Hm! Hm! – Das geht nicht.« »Du wirst sehen, daß ich dir nichts Böses zumute.« »Gut, ich werde gehorchen.« »Ist der Mann fort, so suchst du die Eule zu kirren.« »Ich, die alte Hexe? Lieber schlage ich mich mit dem Schulmeister.« »Dann verdirbst du alles.« »Aber was soll ich tun?« »Die Eule wird wütend sein, daß ihr ein so fetter Bissen entgeht. Du suchst sie zu beruhigen, indem du ihr sagst, du wüßtest, wo ein gutes Geschäft zu machen wäre. Es könnte viel Geld verdient werden, wenn der Schulmeister von der Partie sein wollte.« »Und dann?« »Nachdem du sie eine Stunde hast warten lassen, sagst du ihr: Mein Kamerad kommt nicht! Dann bestellst du den Schulmeister und die Eule auf morgen früh… Verstehst du?« »Ungefähr.« »Abends um zehn Uhr treffen wir uns wieder, und ich werde dir dann das übrige sagen.« »Wenn es eine Falle sein soll, so sehen Sie sich vor! Der Schulmeister ist fähig, Sie zu ermorden.« »Sei unbesorgt!« »Dann noch ein Wort, Herr Rudolf.« »Sprich.« »Ich hoffe doch nicht, daß Sie dem Schulmeister eine Schlinge legen wollen, um ihn von der Polizei fassen zu lassen…« »Nein. Aber ich habe mit ihm und der Eule ein Hühnchen zu rupfen, weil sie sich mit Leuten einlassen, die mir übel wollen.« »Da bin ich dabei.« »Wenn es uns gelingt«, setzte Rudolf in ernstem Tone hinzu, »wirst du so stolz sein, wie damals, als du die Frau und den Mann gerettet hattest, die dir ihr Leben verdanken.« 46
»Das soll mich freuen, Herr Rudolf! Aber schnell, ich glaube, die Eule kommt!« »Heute abend um zehn Uhr!« »Abgemacht.« Marienblume, die den letzten Teil des Gesprächs nicht gehört hatte, stieg wieder in den Wagen.
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udolf blieb einige Augenblicke nachdenklich und ernst. Marienblume, die das Schweigen ihres Begleiters nicht zu unterbrechen wagte, sah ihn traurig an. Rudolf richtete endlich den Kopf empor und sagte mit freundlichem Lächeln: »Woran denken Sie? Die Begegnung mit dem Schurimann war Ihnen unangenehm, nicht wahr?« »Im Gegenteil, Herr Rudolf, der Schurimann kann Ihnen ja nützlich sein.« »Aber Sie hatten sich die Ausfahrt gewiß anders vorgestellt.« »Ach, ich bin ganz glücklich. Ich bin ja so lange nicht aus Paris herausgekommen.« »Warte nur, wir sehen noch viel Schönes.« Nachdem sie eine Weile ungezwungen mit Rudolf geplaudert und sich wie ein Kind über alles gefreut hatte, was ihrem Blick begegnet war, sank Marienblume plötzlich in sich zusammen, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und weinte. Verwundert fragte sie Rudolf: »Was haben Sie, Marienblume?« »Nichts … nichts, Herr Rudolf«, und sie versuchte zu lächeln… »Verzeihen Sie mir, achten Sie nicht darauf … ich werde gleich wieder 47
lustig sein.« Allmählich verzog sich die Wolke des Trübsinns wieder; Marienblume wollte nur die Gegenwart genießen und nicht an die Zukunft denken. Der Wagen kam nach St. Denis. Man sah die hohe Kirchturmspitze. »Ah, der schöne Kirchturm!« rief das Mädchen aus. Rudolf fragte unvermittelt: »Haben sie noch nie einen Mann geliebt?« »Niemals Herr Rudolf.« »Warum nicht?« »Man muß unschuldig sein, um lieben zu können.« »Manchmal wünsche ich mir allerlei, was ich nicht habe und wohl haben möchte. Bauen Sie nicht auch zuweilen Luftschlösser?« »Früher ja. Jetzt nicht mehr. Und was wünschen Sie sich, Herr Rudolf?« »Ich möchte reich sein, ein großes Haus haben, alle Tage ins Theater gehen. Und Sie, Marienblume?« »Ich wünsche nur so viel, um die Wirtin bezahlen und ohne Sorgen leben zu können, bis ich Arbeit fände.« »Möchten Sie nicht auch Wagen, Diamanten, schöne Kleider haben?« »Soviel wünsche ich mir nicht. Nur die Freiheit, auf dem Lande zu leben und die Sicherheit, nicht im Hospital zu sterben… Das besonders ist mir ein schrecklicher Gedanke. Ich kannte ein Mädchen. Es starb im Hospital … man überließ den Leichnam den Ärzten«, flüsterte die Unglückliche und schauderte. »Und mit solchen gräßlichen Gedanken quälen Sie sich?« »Seien Sie mir nicht böse, Herr Rudolf. Sie nehmen mich mit, und ich rede von so traurigen Dingen. Aber ich denke schon nicht mehr daran. Ich will vernünftig sein…« »Wie könnte ich Ihnen böse sein? Jeder Mensch hat das Recht, traurige Gedanken zu haben.« »Sind Sie auch zuweilen traurig, Herr Rudolf?« 48
»Gewiß; meine Zukunft ist nicht heiterer als die ihre… Ich habe weder Vater noch Mutter … wenn ich morgen krank werde, wovon soll ich leben? Ich brauche, was ich verdiene, von einem Tage zum andern.« »Da tun Sie unrecht, Herr Rudolf«, sagte die Schallerin in einem Ton, über den Rudolf lächeln mußte. »Sie sollten etwas zurücklegen… Ich bin auch nur deshalb in meine üble Lage gekommen, weil ich nicht gespart habe…« »Das ist ja weise und verständig, kleine Hausfrau. Aber wovon soll unsereins sparen?« »Wir wollen einmal nachrechnen! Sie verdienen den Tag bis fünf Franken?« »Ja, wenn ich arbeite.« »Sie sind leichtsinnig, Herr Rudolf! Ein Arbeiter kann mit drei Franken anständig leben; in einem Monat können Sie also sechzig Franken erübrigen. Das ist ein Kapital.« »Ja, aber das Nichtstun hat auch seine Reize. Dennoch will ich mich bessern und zu sparen anfangen.« »Bestimmt?« »Ich verspreche es…« »Sie werden sehen, wie sehr Sie sich über Ihre ersten Ersparnisse freuen. Aber das ist noch nicht alles…« »Erleichtern Sie Ihr Herz, Marienblume.« »Nun, Sie sind aus guter Familie, man sieht es … warum besuchen Sie so schlechte Lokale, wie das ›Weiße Kaninchen‹?« »Wäre ich nicht in dieses Lokal gekommen, so hätte ich ja auch nicht das Vergnügen, heute mit Ihnen spazierenzufahren.« »Sie verspotten mich«, sagte Marienblume. »Das ist nicht recht.« Rudolf lächelte.
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XI
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er Wagen rollte weiter. Nach einer Weile begann Rudolf das Gespräch von neuem. »Nun wollen wir Luftschlösser bauen, Marienblume. Das kostet nichts und steht meinem Gelübde, sparsam zu werden, nicht im Wege.« »Wir wollen einmal sehen, ob Sie meinen Geschmack erraten, Herr Rudolf.« »Es kommt auf einen Versuch an. Ich nehme an, dieser Weg führte nach einem hübschen, abgelegenen Dörfchen –« »Ja, das recht still und versteckt ist.« »Am Ende des Dorfes sieht man eine Meierei; an der einen Seite des Hauses liegt ein Obst-, an der anderen ein schöner Blumengarten.« »Ach, ich sehe es vor mir, Herr Rudolf.« »Im Erdgeschoß des Hauses eine große Küche und ein Speisezimmer.« »Das Haus hat grüne Jalousien, nicht wahr, Herr Rudolf?« »Grüne Jalousien, ich bin ganz Ihrer Meinung… Natürlich wäre die Pächterin Ihre Tante.« »Und eine recht gute Frau.« »Eine vortreffliche Frau. Sie würde Sie lieben wie eine Mutter…« »Gute Tante! Ach, es muß schön sein, so geliebt zu werden.« »Ihr Stübchen ist im ersten Stock.« »Mein Stübchen? Lassen Sie einmal mein Stübchen sehen!« »Es hat zwei Fenster, das eine nach dem Blumengarten, das andere nach der Wiese hinaus, an deren Ende ein Bach vorüberfließt.« »Ach, wie hübsch das ist, Herr Rudolf! Man möchte gleich dort sein.« »Drei, vier Kühe weiden auf der Wiese, die durch eine Dornenhecke von dem Garten getrennt ist.« »Und von meinem Fenster aus kann ich die Kühe sehen?« 50
»Ganz deutlich.« »Und eine darunter ist mein Liebling, nicht wahr, Herr Rudolf? Ich gewöhne sie, aus meiner Hand zu fressen.« »Sie ist ganz weiß, bis auf einen Flecken am Kopfe, noch ganz jung und heißt ›Bläßchen‹!« »Ach, wie liebe ich das hübsche Bläßchen.« »Erst müssen wir mit Ihrem Stübchen fertig werden! Es ist hübsch tapeziert, hat schöne Gardinen, und vor dem Fenster wachsen Blumen, so daß Sie früh nur die Hand auszustrecken brauchen, um einen Strauß Rosen und Jelängerjelieber zu pflücken.« »Ach, Herr Rudolf, wie schön Sie das ausmalen!« »Sehen wir nun, wie Sie Ihren Tag verbringen.« »Ja, o ja!« »Ihre gute Tante kommt früh zu Ihnen und bringt Ihnen warme Milch. Sie stehen auf, besuchen Bläßchen, die Hühner, die Tauben, die Blumen im Garten… Um neun Uhr kommt Ihr Lehrer.« »Mein Lehrer?« »Sie fühlen doch, daß Sie lesen, schreiben und rechnen lernen müssen, um Ihre Tante unterstützen zu können.« »Sie haben recht, Herr Rudolf«, sagte ernsthaft das arme Mädchen, das die Schilderung dieses friedlichen Leben so beschäftigte, daß es an seine Wirklichkeit glaubte. »Nach der Unterrichtsstunde machen Sie mit Ihrer Tante einen Spaziergang. Sie werden dabei recht müde und bringen eine Handvoll duftenden Klees für Ihr Bläßchen mit.« »Denn wir gehen auf dem Rückweg über die Wiese, nicht wahr, Herr Rudolf?« »Ohne Zweifel; es führt eine hölzerne Brücke über den Bach. Dann speisen Sie mit der Tante. Zuweilen kommt der Geistliche oder ein alter Hausfreund zum Abendessen. Dann lesen Sie oder arbeiten, während Ihre Tante eine Partie spielt. Um zehn Uhr gibt sie Ihnen einen Kuß auf die Stirn, und Sie gehen in Ihr Stübchen. Am nächsten Morgen fängt das Ganze wieder von vorn an.« »So könnte man hundert Jahre alt werden, Herr Rudolf, ohne sich 51
einen Augenblick zu langweilen.« »Am Sonntag ziehen Sie ein schönes Kleid an und fahren mit der Tante aus. Sie sind so hübsch, daß alle jungen Burschen mit Ihnen tanzen wollen, weil alle Heiraten auf diese Weise anfangen. Allmählich werden Sie auch einen bemerken und…« Rudolf wunderte sich über das Schweigen des Mädchens und sah sie an. Marienblume konnte ein Schluchzen kaum unterdrücken. »Was ist Ihnen, Marienblume?« »Ach, Herr Rudolf, ich glaubte einen Augenblick an dieses Paradies…« »Und wenn nun dieses Paradies kein Traum wäre, armes Kind? – Halt, Kutscher!« Der Wagen hielt. Das Mädchen hob unwillkürlich den Kopf. Sie befanden sich auf der Spitze eines Hügels. Das hübsche Dörfchen, die Meierei, die Wiese, die Kühe, das Kastanienwäldchen … das Bild lag vor ihren Augen, nichts fehlte daran, nicht einmal Bläßchen, der künftige Liebling! »Nun, Marienblume, was sagen Sie? Bin ich ein guter Maler?« fragte Rudolf lächelnd. Die Schallerin sah ihn voll Verwunderung an. Es kam ihr wie Zauberei vor. »Wie geht das zu, Herr Rudolf? Alles, wie Sie es ausgemalt haben!« »Nichts einfacher als das, mein Kind. Die Pächterin ist meine Amme; ich bin hier erzogen worden. Ich malte also nach der Natur.« Die Schallerin sagte nichts. Aber sie seufzte tief.
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XII
D
ie Meierei lag vor dem Dorfe Bouqueval. Der Wagen fuhr einen ziemlich steilen Weg hinunter und gelangte in eine lange Allee von Kirsch- und Apfelbäumen. Nach einigen Minuten hielt er vor einer kleinen hölzernen Pforte, die unter einem kräftigen Weinstock mit vergilbten Blättern versteckt war. »Wir sind am Ziele, Marienblume«, sagte Rudolf. Man hatte jedenfalls auf die Ankunft des Wagens gewartet. Der Kutscher hatte kaum den Schlag geöffnet, als eine Frau von etwa fünfzig Jahren in der Tür erschien und Rudolf mit ehrerbietiger Eile entgegenkam. Die Schallerin stieg, hochrot, erst nach einigem Zögern aus. »Guten Tag, liebe Madame Georges«, sagte Rudolf, »ich bin pünktlich, wie Sie sehen.« Dann wandte er sich an den Kutscher und sagte: »Du kannst nach Paris zurückkehren.« Der Kutscher, eine kleiner, untersetzter Mann, steckte das Geld ein, antwortete nichts, stieg wieder auf den Bock, trieb sein Pferd an und verschwand schnell in der grünen Allee. Marienblume trat ängstlich und verlegen zu Rudolf und sagte leise, so daß es Madame Georges nicht hören konnte: »Mein Gott, Herr Rudolf, Sie schicken ja den Wagen zurück. Ich muß heute abend wieder bei der Wirtin sein, sonst hält sie mich für eine Diebin… Meine Kleider gehören ihr, und ich bin ihr Geld schuldig.« »Beruhigen Sie sich! Sie sind der Wirtin nichts mehr schuldig und bleiben hier!« Marienblume sah bald die Pächterin, bald Rudolf an und konnte nicht glauben, was sie hörte. »Wie?« fragte sie, und ihre Stimme zitterte, »ich darf hier bleiben? Madame will es mir erlauben? Wäre es möglich…?« 53
»Mein liebes Kind, glauben Sie mir«, sagte Rudolf, »ja, Sie können von heute an bei Madame Georges das gemütliche Landleben führen, dessen Schilderung Sie eben entzückte… Ja, Sie können, wenn Sie es wünschen, Ihre Träume sogleich verwirklicht sehen.« Marienblume faltete die Hände. Überraschung, Freude und Dankbarkeit malten sich auf ihrem Gesicht; ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie sprach: »Herr Rudolf… Sie müssen ein Engel Gottes sein, daß Sie eine Fremde aus Not und Schande befreien und ihr so viel Gutes erweisen.« »Armes Kind«, antwortete Rudolf mit einem Lächeln tiefer Melancholie… »Ich habe in meinem Leben viel gelitten; das mag Ihnen mein Mitleid mit den Unglücklichen erklären. Gehen Sie nun mit Madame Georges, Marie! Vor meiner Abreise plaudern wir noch ein wenig, und es wird mich glücklich machen, wenn ich Sie glücklich verlasse.« Marienblume nahm Rudolfs Hand und führte sie an ihre Lippen. Dann folgte sie Madame Georges, die sie mit tiefem Interesse betrachtete.
XIII
A
uf dem Hofe traf Rudolf den riesenhaften Mann, der ihn am Tage vorher, als Kohlenträger verkleidet, von der Ankunft Toms und Sarahs verständigt hatte. Murph, so hieß der Mann, war etwa fünfzig Jahre alt; sein breites, rotes Gesicht war glattrasiert bis auf einen kurzen Backenbart von fast roter Farbe, der kaum bis unter das Ohr reichte. Trotz seiner Beleibtheit war Murph gewandt und stark. Aus seinem Gesicht sprach kühne Entschlossenheit. Er trug ein weißes Halstuch, eine lange Weste und einen schwarzen Frack mit breiten Schößen; sei54
ne kurzen Beinkleider waren von demselben Stoff, wie die Gamaschen. Kleidung und Haltung erinnerten an den Typus, den die Engländer einen Gentlemanpächter nennen. Ein Pächter war Murph nun freilich nicht, wohl aber ein Engländer und ein vollendeter Gentleman. In dem Augenblick, in dem Rudolf den Hof betrat, steckte Murph ein Paar Pistolen, die er sorgfältig gereinigt hatte, in die Tasche eines kleinen Reisewagens. »Wem willst du mit deinen Pistolen zu Leibe?« fragte Rudolf. »Das ist meine Sache«, antwortete Murph, indem er vom Kutschentritt herunterstieg. »Kümmern Sie sich um Ihre Angelegenheiten, ich sorge für die meinigen.« »Für wann hast du die Pferde bestellt?« »Zum Abend, wie Sie befahlen.« »Du bist heute morgen angekommen?« »Um acht Uhr. Madame Georges hatte reichlich Zeit, alles vorzubereiten.« »Du bist schlecht gelaunt… Was ist geschehen?« »Es wäre mir lieber, wenn Sie Gutes täten, ohne Ihr Leben aufs Spiel zu setzen.« »Hast du Angst um mich, Murph? Zweifelst du an meiner Kraft, an meinem Mut?« »Ich kenne Ihre Talente, Herr, und weiß, daß es keinen Boxer, keine Schützen, keinen Läufer gibt, der es mit Ihnen aufnehmen könnte…« »Nun, was fürchtest du dann?« »Ich behaupte, daß es sich nicht schickt, mit jedem Verbrecher anzubinden. Sonst, in anderen Dingen, bin ich nachsichtig.« »Zum Beispiel in Geldsachen, Murph?« »Mit einem Einkommen von beinahe zwei Millionen…« »Kann man auch in Verlegenheit sein, armer Murph!« »Wem sagen Sie das?« »Und doch gibt es Freuden, die wenig kosten!« »Sie denken an Ihren neuen Schützling? … Da wäre allerdings so 55
manches zu sagen… Doch reden wir lieber nicht davon!« »Warum nicht, Murph?« »Sie tun ja doch, was Ihnen beliebt.« »Ich tue, was recht ist«, sagte Rudolf. »Was Sie für Recht halten, Herr!« »Du weißt, daß ich Widerspruch nicht dulde, Murph!« »Gnädigster Herr, ich bin fünfzig Jahre alt und habe Anspruch darauf, wie ein Gentleman behandelt zu werden.« »Schweig!« »Es ist unwürdig, Herr, einen Mann zu zwingen, an die Dienste zu erinnern, die er geleistet hat.« Diese Worte versetzten Rudolf in höchsten Zorn. Seine Augen blitzten, seine Lippen erbleichten; er trat mit einer drohenden Gebärde auf Murph zu und sprach: »Wagst du –« Murph wich zurück und sagte leise, doch bestimmt: »Denken Sie an den dreizehnten Januar!« Diese Mahnung wirkte wie ein Zauberspruch. Rudolf sah Murph starr an, ließ den Kopf sinken und flüsterte: »Ach, Herr – Sie sind grausam – ich glaube – und nun auch Sie – Sie –!« Er konnte nicht vollenden; seine Stimme erlosch; er sank auf eine Steinbank und schlug beide Hände vors Gesicht. »Gnädigster Herr«, sprach Murph verzweifelt, »verzeihen Sie Ihrem alten Murph! Nur weil ich – ach, nicht für mich – die Wirkung Ihrer Hitze fürchtete, sprach ich die Worte aus. Ich tat unrecht, daß ich mich hinreißen ließ … verzeihen Sie, daß ich sie an den furchtbaren Tag erinnerte!« Rudolf erwiderte mit weicher, trauriger Stimme: »Genug, alter Freund, ich danke dir, daß du mit einem Worte diese verderbliche Hitze abkühltest… Ich war ein Tor, sprechen wir nicht mehr davon!« »Wie konnte ich mich nur so vergessen?« »Genug, Murph. Du kennst meine Ideen über das Gute, das der 56
Mensch wirken kann… Unglücklichen beizustehen, die klagen, ist gut; die aufzusuchen, die in Ehren kämpfen, ist besser; diejenigen wieder ehrlich und rechtschaffen zu machen, die in der Not, nach menschlichem Ermessen, gefehlt haben, ist das beste. Mit Haß und Rache Laster, Ehrlosigkeit, Verbrechen zu verfolgen, ob sie im Kote kriechen oder sich auf seidenen Polstern blähen, ist Gerechtigkeit!« »Ich habe nicht sagen wollen, daß Sie Ihre Wohltaten an Unwürdige verschwenden.« »Noch ein Wort, alter Freund! Madame Georges und das arme junge Mädchen, das ich ihr anvertraut habe, sind von zwei verschiedenen Punkten ausgegangen, um in einen gemeinsamen Abgrund: das Unglück, zu stürzen. Die eine war reich, glücklich, geliebt und mußte ihre Existenz in Trümmer fallen sehen, weil der Mann, mit dem verblendete Eltern sie vermählt hatten, ein Schurke war.« »Aber Sie haben ihr geholfen, Herr!« »Und ihr gönntest du meine Hilfe, Murph. Aber verdient das unglückliche Kind, das gemartert, erniedrigt, befleckt, in der Tiefe seines Herzens sich seine Reinheit bewahrte, nicht auch Mitleid, Teilnahme und Achtung?« »Sie haben recht, gnädigster Herr…« »Und wenn ich bedenke, daß dieses Kind, wie es heißt, eine reiche, hochgestellte Mutter hat, die es unwürdig verließ, wenn das wahr ist, dann wehe dieser Frau!« »Ach, gnädiger Herr«, entgegnete Murph, »ich weiß es; die, welche Teilnahme und Mitleid verdienen, haben von Ihnen oft gesagt: ›Er ist ein Engel!‹, während die, denen Haß und Verachtung gebührt, Sie einen Teufel nennen!« »Schweig, da kommt Madame Georges mit Marien… Laß alles zu unserer Abfahrt vorbereiten; wir müssen beizeiten in Paris sein.«
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XIV
M
arie war kaum wiederzuerkennen. Ein hübsches Häubchen und zwei dicke blonde Zöpfe rahmten das Gesicht des jungen Mädchens ein. Ein faltenreiches Tuch von weißem Musselin verschwand unter dem hohen Latz einer Schürze von schillerndem Taffet. Ihre Gesichtszüge waren ernst. »Da kommt mein Kind«, sagte Madame Georges, »um Ihnen für Ihre Güte zu danken.« Bei den Worten ›mein Kind‹ wendete Marie langsam ihre Augen zu ihrer Beschützerin und sah sie mit einem Ausdruck unaussprechlicher Dankbarkeit an. »Ich danke Ihnen in Mariens Namen, meine liebe Madame Georges; sie ist dieser liebevollen Teilnahme wert und wird sie immer verdienen.« Zu dem jungen Mädchen gewandt, sagte Rudolf: »Mein Kind, ich habe noch einiges mit Madame Georges zu besprechen… Mein Freund Murph wird sie in der Meierei umherführen und sie mit Ihren zukünftigen Schützlingen bekannt machen… Wir sind bald wieder bei Ihnen.« Murph nahm den Arm Mariens und ging mit ihr zur Meierei. »Nun, Madame Georges, was halten Sie von Marie?« fragte Rudolf. »Lassen Sie mich es Ihnen in wenigen Worten sagen, Herr Rudolf: Sie ist Ihrer Hilfe wert.« »So bin ich mit dem, was ich getan habe, doppelt zufrieden, meine gute Madame Georges. Das arme Mädchen wird Ihre Teilnahme in Anspruch nehmen und die Leere in Ihrem Herzen ausfüllen.« »Ja, ich werde mich mit ihr beschäftigen, wie ich mich mit ihm beschäftigt haben würde«, antwortete Madame Georges mit Tränen in den Augen. Rudolf ergriff ihre Hand. 58
»Geben Sie nicht alle Hoffnung auf! Vielleicht gelingt es uns noch, etwas zu ermitteln.« Madame Georges schüttelte traurig den Kopf. »Mein armer Sohn wäre jetzt zwanzig Jahre alt…« »Sagen Sie lieber: Er ist so alt.« »Gott gebe es, Herr Rudolf!« »Hoffen wir! Gestern suchte ich einen Mann auf, der Rotarm heißt, und der mir vielleicht, wie man mir gesagt hatte, Auskunft über Ihren Sohn geben kann. Als ich aus dem Hause Rotarms trat, traf ich das unglückliche Mädchen.« »So hat Ihr gutes Herz Sie richtig geführt!« »Aus Rochefort haben Sie noch immer keine Nachricht?« »Nein«, antwortete Madame Georges leise. »Desto besser! – Der Unmensch wird seinen Tod gefunden haben, als er zu entfliehen suchte. Sein Signalement ist allgemein verbreitet. Er ist ein so gefährlicher Bösewicht, daß man sicher alles aufbietet, um ihn zu entdecken –« »Der Vater meines Sohnes…« »Arme Frau!« »Mich überfällt bisweilen eine schreckliche Angst. Ich stelle mir vor, mein Mann sei, gesund und wohlbehalten, aus Rochefort entkommen, er suche mich auf, um mich zu ermorden, wie er vielleicht unser Kind bereits ermordet hat…« »Hatte Ihr Sohn kein Zeichen, kein Merkmal an sich, an dem er zu erkennen wäre?« »Einen kleinen Heiligen, in Lapislazuli geschnitten, den er an einem silbernen Kettchen am Halse trug. Ich hatte dieses geweihte Stück von meiner Mutter, die es selbst als Kind getragen hatte und großen Wert darauf legte. Auch ich habe es getragen und dann meinem Söhnchen gegeben. Ach, dieser Talisman hat ihm Unglück gebracht!« »Wer weiß, wer weiß…?« Ein Gutsarbeiter unterbrach das Gespräch, indem er sagte: »Madame, der Herr Pfarrer wartet auf Sie.« 59
»Sind die Postpferde schon da?« fragte Rudolf. »Ja, man spannt gerade an.« »Ich vergaß, Ihnen zu sagen, liebe Madame Georges«, sagte Rudolf auf dem Weg nach dem Wohnhause, »daß Marie, wie ich glaube, eine schwache Brust hat. Sie bedarf recht sorgfältiger Pflege.« »Rechnen Sie auf mich, Herr Rudolf! Bei ihrem Alter wird sie sich in der guten Luft schnell erholen.« »Ich hoffe es. Sie werden mir oft Nachricht geben. In einiger Zeit, wenn sich Marie erholt hat, und wenn sie ruhig geworden ist, wollen wir an ihre Zukunft denken. Vielleicht wäre es das beste, wenn sie immer bei Ihnen bliebe!« In dem Augenblick, in dem Rudolf und Madame Georges in die Nähe des Wohnhauses kamen, langten auch Murph und Marie dort an. Murph ließ den Arm des Mädchens los und sagte, fast verlegen, Rudolf ins Ohr: »Das Mädchen hat mich ganz bezaubert; ich weiß jetzt wirklich nicht, welche von beiden mir lieber ist, sie oder Madame Georges?« »Reiß dir deshalb nicht die Haare aus, Murph«, entgegnete Rudolf lächelnd, indem er die Hand des Alten drückte. Madame Georges trat mit Marie in das Zimmer, in dem der Abbé Laporte auf sie wartete. Das Zimmer war einfach, aber sehr wohnlich und ganz so eingerichtet, wie es Rudolf geschildert hatte. Durch die halbgeschlossenen grünen Jalousien sah man die Wiese, den Bach und jenseits den mit Kastanienbäumen bepflanzten Hügel. Abbé Laporte, der am Kamin saß, war über achtzig Jahre alt, und seine Hände zitterten. Er glich, in seiner rührenden Güte, einem Heiligenbild. »Herr Abbé«, sagte Rudolf, »Madame Georges will die Güte haben, sich dieses armen Mädchens anzunehmen, für das ich auch um Ihre Liebe bitte.« »Sie hat ein Recht darauf, wie alle, die zu uns kommen!« Und er 60
nahm die Hand Mariens in seine ehrwürdigen zitternden Hände. »Der Mann, der Sie gerettet, hat das Wort der Schrift erfüllt: ›Der Herr ist nahe denen, die ihn anrufen; er wird die erhören, die ihn fürchten; er wird ihre Stimme hören und sie erretten.‹« Marie war tief erschüttert, und Schluchzen unterbrach ihre Stimme… »Leben Sie wohl, Marie«, sagte Rudolf, indem er ihr ein kleines goldenes Kreuz an einem schwarzen Sammetbande übergab. »Behalten Sie dieses Kreuz als Andenken an mich; ich habe den Tag Ihrer Befreiung hineingravieren lassen… Ich werde bald zurückkommen.« Marie drückte das Kreuz an ihre Lippen. Murph öffnete die Türe und sagte: »Herr Rudolf, der Wagen steht bereit –« »Leben Sie wohl, mein Vater, leben Sie wohl, meine gute Madame Georges. Ich empfehle Ihnen Ihr Kind. Noch einmal, leben Sie wohl, Marie.« Rudolf stieg in den Wagen, und Murph nahm neben ihm Platz. Die Pferde jagten im Galopp davon.
XV
E
inen Tag, nachdem Rudolf die Schallerin Madame Georges übergeben hatte, befand er sich, noch immer in der Kleidung eines Arbeiters, Punkt zwölf Uhr an der Türe des Wirtshauses ›Zum Blumenkorb‹, das unweit der Barriere von Bercy lag. Es regnete in Strömen; die Seine führte Hochwasser und trat hie und da über ihre Ufer. Rudolf sah mit Ungeduld nach der Barriere hin; endlich erblickte er in der Ferne einen Mann und eine Frau, die unter einem Re61
genschirm herbeikamen. Er erkannte die Eule und den Schulmeister. Diese beiden Personen hatten sich völlig verwandelt; der Räuber trug einen langen Rock und einen runden Hut; Halstuch und Hemd waren blendend weiß. Die Einäugige trug ein weißes Häubchen, einen Schal und hielt in der Hand einen großen Strickbeutel. Rudolf ging dem Paar entgegen. Der Schulmeister begrüßte ihn mit einer tiefen Verbeugung, und die Eule knickste. »Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, oder vielmehr zu erneuern; denn vorgestern haben Sie mir ein paar Faustschläge versetzt, die ein Rhinozeros hätten zu Boden strecken können… Doch denken wir nicht mehr daran; es führen uns jetzt wichtigere Dinge zusammen! Ich sah gestern abend den Schurimann in der Penne und bestellte ihn hierher für den Fall, daß er mittun wollte. Aber er scheint nicht zu wollen.« »Sie nehmen also die Sache an?« »Wir wollen in den ›Blumenkorb‹ hineingehen, Herr! Madame und ich haben noch nicht gefrühstückt.« »Gern.« »Sie und der Schurimann sind übrigens mir und meiner Frau eine Entschädigung schuldig. Sie haben uns um mehr als zweitausend Franken gebracht. Die Eule hatte eine Zusammenkunft mit einem großen Mann in Trauer verabredet, der letzthin nach Ihnen fragte; er bot uns zweitausend Franken, wenn wir irgend etwas tun wollten.« Die Eule hatte Rudolf keine Minute aus den Augen gelassen; sie ging jetzt voraus, nachdem sie einen Blick mit dem Schulmeister gewechselt hatte. Dieser fuhr fort: »Ich sagte also, der Schurimann hatte mich unterrichtet.« »Gut, gut…« »Nein, es ist eben nicht gut, junger Mann. Denn der Schurimann begegnete gestern früh der Eule und wich nicht von ihr, als er den Langen in Trauer kommen sah, so daß sich dieser nicht heranwagte. 62
Sie müssen uns also zweitausend Franken verdienen helfen, ungerechnet fünfhundert für ein Portefeuille, das wir zurückgeben sollten, das wir aber nicht zurückgeben wollen, da die Papiere, die es enthält, mehr wert zu sein scheinen.« »Es enthält also Papiergeld?« »Nein, Papiere, die meist in englischer Sprache geschrieben sind; ich behalte sie bei mir«, setzte der Räuber hinzu, indem er auf die Seitentasche seines Rockes klopfte. Rudolf war sehr froh, zu hören, daß der Schulmeister die Papiere noch hatte, denn sie waren von großer Wichtigkeit. »Ich behalte die Papiere für den Notfall«, sagte der Räuber, »denn ich habe die Adresse des Langen gefunden und werde ihn, auf diese oder jene Weise, wiedersehen.« »Wir können ein Geschäft miteinander machen, wenn Sie wollen; wenn unser Anschlag gelingt, kaufe ich Ihnen die Papiere ab; ich kenne den Mann, und sie werden mir mehr nützen als Ihnen.« »Wir wollen sehen. Erst das andere!« »Ich hatte dem Schurimann eine vortreffliche Sache vorgeschlagen; anfangs ging er darauf ein, später aber nahm er sein Wort zurück.« »Er hat immer die verrücktesten Ideen.« »Dabei riet er mir, ich möchte mich an Sie wenden.« »Und darf ich wissen, warum Sie gestern früh eine Zusammenkunft mit dem Schurimann hatten? Und was ihn veranlaßte, der Eule zu begegnen? Er konnte mir keine bestimmte Auskunft darüber geben.« Rudolf biß sich auf die Lippen und antwortete achselzuckend: »Das glaube ich wohl, ich hatte ihm meinen Plan nur halb mitgeteilt – da ich ja nicht wußte, ob er darauf eingehen würde.« »Das war klug.« »Um so klüger, weil ich zweierlei dabei gewann.« »Sie sind ein vorsichtiger Mann! Sie hatten also mit dem Schurimann eine Zusammenkunft…« Rudolf fand, nach einigem Zögern, eine wahrscheinlich klingen63
de Erklärung. Er sagte: »Die Sache ist so. Der Anschlag, den ich im Sinne hatte, ist sehr gut, weil der Herr des fraglichen Hauses sich auf dem Lande befindet; ich fürchte nur, er könnte zurückkommen. Um ruhig zu sein, dachte ich: hier ist nur eins zu tun…« »Sie hatten sich zu überzeugen, ob der Mann wirklich auf dem Lande wäre.« »Wie Sie sagen. Ich mache mich also auf nach Pierrefitte, wo er sein Landhaus hat; meine Cousine dient dort… Sie verstehen?« »Vollkommen.« »Meine Cousine sagte mir, ihr Herr kehre erst übermorgen nach Paris zurück.« »Übermorgen?« »Ja.« »Gut. Aber ich komme wieder auf meine Frage: Warum hatten Sie die Zusammenkunft mit dem Schurimann bei Saint-Ouen?« »Erraten Sie es nicht? – Wie weit ist es von Pierrefitte nach SaintOuen?« »Eine Stunde ungefähr.« »Und von Saint-Ouen nach Paris?« »Ebensoweit.« »Richtig! Fand ich niemanden in Pierrefitte, das heißt war das Haus leer, so war auch da ein gutes Geschäft zu machen, ein weniger gutes als in Paris, aber immerhin ein leidliches … ich kehrte also nach Saint-Ouen zurück, um den Schurimann abzuholen, der mich erwartete. Wir gingen auf einem Feldwege wieder nach Pierrefitte…« »Ich verstehe. Wenn sich aber die Sache in Paris machte?« »Gingen wir auf dem Chemin de la Révolte nach der Barriere de l'Etoile, und von da nach der Allée des Veuves.« »Es ist nur ein Schritt bis dahin, das ist einfach. In Saint-Ouen hatten Sie die beiden Unternehmungen gleich zur Hand; das war sehr geschickt. Nun erkläre ich mir die Anwesenheit des Schurimannes in Saint-Ouen. Das Haus in der Allée des Veuves wird also bis übermorgen nicht bewohnt sein?« 64
»Nur der Portier ist da.« »Gut. Und die Sache lohnt sich?« »Meine Cousine sprach von sechzigtausend Franken in Gold, die im Zimmer ihres Herrn lägen.« »Wir sind an Ort und Stelle. Ich weiß nicht, ob es Ihnen geht wie mir; mir hat die Morgenluft Appetit gemacht.« Die Eule stand auf der Türschwelle. »Hier herein«, sagte sie, »hier herein! Ich habe das Frühstück schon bestellt.« Ehe er Platz am Tische nahm, klopfte der Schulmeister leise an die Wände des Zimmers, um sich von ihrer Stärke zu überzeugen. »Wir haben nicht nötig, zu flüstern«, sagte er, »die Wand ist gut!« Eine Magd brachte das Frühstück. Als die Türe geschlossen wurde, sah Rudolf den Kohlenträger Murph ernst im Nebenzimmer sitzen. Das Zimmer, in dem sich die drei niederließen, war lang und schmal und erhielt das Licht durch ein Fenster, das auf die Straße ging und gegenüber der Türe lag. Die Eule kehrte diesem Fenster den Rücken; der Schulmeister saß an der einen, Rudolf an der anderen Seite des Tisches. Nachdem die Magd sich entfernt hatte, stand der Räuber auf, nahm sein Gedeck und setzte sich neben Rudolf, so daß er diesem die Türe verbarg. »Wir können so bequemer miteinander sprechen«, sagte er, »und haben nicht nötig, uns anzustrengen.« »Und dann wollen Sie auch zwischen mir und der Türe sein, um mir, sozusagen, den Weg abzuschneiden«, antwortete Rudolf kaltblütig. Der Schulmeister nickte und zog aus der Seitentasche seines Rockes einen langen Dolch von der Dicke einer starken Federspule, der in einen hölzernen Griff gefaßt war. »Nur zur Vorsicht.« Dabei kniff er die Augenbrauen zusammen und machte eine bezeichnende Gebärde. 65
Rudolf griff mit der größten Ruhe unter seine Bluse, zog eine kleine, doppelläufige Pistole hervor, zeigte sie dem Schulmeister und steckte sie wieder ein. »Wenn man mich arretieren wollte – ob Sie mir nun die Schlinge gelegt haben oder ein anderer – würde ich Sie kaltmachen«, sagte der Schulmeister. »Ich würde dir helfen«, setzte die Eule hinzu. Rudolf antwortete nicht, zuckte mit den Achseln, schenkte sich ein Glas Wein ein und trank es aus. »Stecken Sie nur Ihre Spicknadel wieder ein, es gibt hier kein Hühnchen zu spicken. Ich bin ein alter Hahn und habe gute Sporen«, sagte Rudolf trocken. »Sagen Sie nichts Schlechtes von meiner Spicknadel. Sie macht keinen Lärm und stört nicht.« »Können wir in ihrer Gegenwart von Geschäften sprechen?« fragte Rudolf, auf die Eule deutend. »In völliger Sicherheit; sie besitzt alle Eigenschaften einer guten Hausfrau. Sie können nicht glauben«, setzte der Räuber hinzu, indem er der Alten die Hand reichte, »welche Dienste sie mir schon geleistet hat.« Die Eule legte ihr Tuch ab. Trotz seiner Geistesgegenwart konnte sich Rudolf einer Bewegung des Erstaunens nicht enthalten, als er an einem silbernen Ring an der Halskette der Frau einen kleinen Heiligen von Lapislazuli hängen sah. Bei dieser Entdeckung schoß Rudolf ein Gedanke durch den Kopf. Wie der Schurimann erzählte, hatte der Schulmeister, der vor sechs Monaten aus dem Bagno entflohen war, alle Nachforschungen der Polizei dadurch vereitelt, daß er sich selbst verstümmelt hatte, und vor sechs Monaten war auch der Mann der Madame Georges aus dem Bagno verschwunden, ohne daß man erfahren hatte, was aus ihm geworden war. Rudolf erinnerte sich, daß Madame Georges von dem verzweifelten Widerstand des Unmenschen gesprochen und erwähnt hatte, daß 66
er, infolge seiner Riesenstärke, beinahe entkommen wäre. Zum Glück entging sein Nachdenken dem Räuber, der der Eule vorlegte. Rudolf sagte zu der Einäugigen: »Sie haben einen schöne Kette!« »Ja, schön ist sie, aber unecht; ich trage sie nur, bis mir mein Mann eine bessere schenkt.« »Und was ist das kleine blaue Ding da?« »Auch ein Geschenk von meinem Manne.« Rudolf wartete in ängstlicher Spannung auf die Antwort des Schulmeisters, der endlich, kauend, sagte: »Das mußt du behalten, Finette! Es ist ein Talisman.« »Ein Talisman?« warf Rudolf hin. »Sie glauben noch an solche Dinge? Wo, zum Teufel, haben Sie ihn gefunden?« »Das Ding ist sehr alt; ein Familienstück. Ich habe es Finette gegeben, damit es ihr Glück bringe… Doch, auf den besagten Hammel zurückzukommen: Sie sagen also, daß in einem Zimmer sechzigtausend Franken in Gold liegen?« Rudolf nickte bejagend. »Und Sie sind in dem Hause bekannt?« fragte der Schulmeister. »Sehr gut.« »Es ist schwer, hineinzukommen?« »Eine sieben Fuß hohe Mauer, ein Garten und die Fenster im Erdgeschoß. Das Haus hat nur ein Erdgeschoß.« »Und der Schatz wird von einem Portier bewacht?« »Ja.« »Und welchen Feldzugsplan haben Sie entworfen, junger Mann?« warf der Schulmeister nachlässig hin. »Die Sache ist ganz einfach. Man steigt über die Mauer und bricht die Türe oder einen Fensterladen auf.« »Und wenn der Portier erwacht?« »So ist es seine Schuld!« »Wenn alles so ist, wie Sie sagen, halte ich es für das beste, gleich ans Werk zu gehen, also noch heute abend.« 67
»Heute abend? Das ist nicht möglich«, antwortete Rudolf ruhig. »Warum nicht, da der Mann erst übermorgen zurückkommt?« »Ja, aber ich kann heute abend nicht.« »So? Und ich kann morgen nicht.« »Warum nicht?« »Aus demselben Grunde, aus dem Sie heute nicht können«, sagte der Räuber lachend. Nach einigem Nachdenken setzte Rudolf hinzu: »Nun, meinetwegen heute abend! Wo treffen wir uns?« »Warum wollen wir uns erst trennen? Wir bleiben beisammen!« »Ich komme um neun zurück.« »Wollen wir das Geschäft machen oder nicht?« »Natürlich.« »So bleiben wir beisammen, sonst glaube ich, Sie wollen mir eine Schlinge legen.« »Wenn ich das will, könnte ich es doch auch am Abend tun.« »Wenn Sie uns nicht verlassen, können Sie niemanden benachrichtigen.« »Sie mißtrauen mir also?« »Sehr! Wird es heute abend nichts, so weiß ich, woran ich mit Ihnen bin und werde Ihnen, früher oder später, eine Suppe nach meiner Art einbrocken.« »Ich werde Ihnen nichts schuldig bleiben, darauf können Sie rechnen!« »Dumme Reden«, fiel die Eule ein. »Ich denke wie mein Mann. Entweder heute abend oder gar nicht.« Nach kurzem Zögern sagte Rudolf: »Also, meinetwegen heute.« »So bin ich Ihr Mann, und Sie sollen es nicht bereuen. Nun wollen wir bezahlen und einen Wagen nehmen.« »Wenn wir einen Wagen nehmen, könnte ich vorher wohl eine Zigarre rauchen?« »Gewiß«, sagte der Schulmeister. »Meine Frau stört es nicht.« »So will ich mir ein paar holen«, sagte Rudolf, indem er aufstand. 68
»Bleiben Sie ruhig sitzen«, fiel der Schulmeister ein. »Meine Frau geht.« Die Eule ging hinaus. »Eine gute Hausfrau, nicht wahr? Und gefällig. Sie ginge für mich durchs Feuer.« »Bei dem Feuer fällt mir ein, daß es entsetzlich kalt hier ist«, sagte Rudolf, indem er seine beiden Hände unter die Bluse steckte. Er nahm, während er das Gespräch mit dem Schulmeister fortsetzte, einen Bleistift aus der Westentasche und schrieb, ohne daß es zu bemerken war, eilig einige Worte unter der Bluse. Dann stand er auf, trat ans Fenster und fing an, ein Liedchen zu trällern, während er auf die Scheibe trommelte. Der Schulmeister trat zu ihm und warf nachlässig hin: »Was singen Sie da?« »Ich singe: ›Meine Rose sollst du nicht haben‹.« »Ein hübsches Liedchen! Ich wollte nur sehen, ob es auf die Vorübergehenden so viel Eindruck macht, daß sie sich umdrehen.« »So unbescheiden bin ich nicht.« »Aber Sie trommeln ganz vorzüglich.«
XVI
D
ie Eule kam in diesem Augenblick zurück. »Es scheint nicht mehr zu regnen«, sagte Rudolf, indem er eine Zigarre anzündete, »wollen wir bis zum Wagen gehen? Wir haben uns ganz steif gesessen.« »Es regnet nicht mehr?« entgegnete der Schulmeister. »Sind Sie denn blind? Glauben Sie, daß ich meine Frau einem Schnupfen aussetze? Daß ich ein so kostbares Leben in Gefahr bringe?« »Du hast recht, Männchen, es ist ein wahres Hundewetter!« 69
»Gut; dann bitten wir die Magd, wenn wir bezahlen, einen Wagen zu holen«, meinte Rudolf. »Das ist das Vernünftigste, junger Mann, was Sie bis jetzt gesagt haben.« Die Magd erschien. Rudolf gab ihr hundert Sous. »Herr, das erlaube ich nicht«, sagte der Schulmeister. »Jetzt bezahle ich, das nächstemal bezahlen Sie.« Rudolf wollte als letzter hinausgehen, aus Artigkeit gegen die Eule. Der Schulmeister gab es aber nicht zu, ging dicht hinter ihm und beobachtete die geringste seiner Bewegungen. Eben bezahlte ein Kohlenträger, der den großen Hut über die Augen gedrückt hatte, am Schenktisch seine Zeche, als unsere drei Personen vorübergingen. Trotz der Aufmerksamkeit des Schulmeisters und der Einäugigen konnte Rudolf einen Blick mit Murph wechseln. Der Wagenschlag stand offen; Rudolf blieb stehen, fest entschlossen, zuletzt einzusteigen, denn der Kohlenträger hatte sich ihm unbemerkt genähert. Die Eule stieg zuerst ein, und Rudolf sah sich genötigt, ihr zu folgen, denn der Schulmeister sagte: »Soll ich denn durchaus mißtrauisch werden?« Nachdem Rudolf eingestiegen war, trat der Kohlenträger pfeifend auf die Türschwelle und sah ihn verwundert und besorgt an. »Wohin?« fragte der Kutscher, und Rudolf antwortete laut: »In die Witwen…« »In die Akazienallee im Bois«, fiel der Schulmeister, ihn unterbrechend, ein; dann setzte er hinzu: »Sie sollen ein anständiges Trinkgeld haben, Kutscher!« Der Wagenschlag wurde zugeworfen. »Wie konnten Sie vor allen Leuten sagen, wohin wir fahren wollen!« sagte der Schulmeister. »Eine solche Spur kann uns ins Unglück bringen. Junger Mann, Sie sind sehr unvorsichtig!« Rudolf antwortete: »Sie haben recht; ich habe nicht daran gedacht. Aber ich räuchere 70
Sie hier voll. Erlauben Sie, daß ich ein Fenster öffne.« Rudolf ließ seinen Worten sogleich die Tat folgen und wußte dabei geschickt ein kleines, zusammengewickeltes Blatt hinauszuwerfen, auf das er mit Bleistift einige Worte geschrieben hatte. Das Auge des Schulmeisters war so scharf, daß er einen flüchtigen Ausdruck des Triumphs auf Rudolfs Miene erkannte, denn er steckte den Kopf zum Kutschenschlage hinaus und rief dem Kutscher zu: »Es ist jemand hinten auf dem Wagen!« Der Wagen hielt. Der Kutscher sah sich um und sagte: »Nein, es ist niemand da!« »Ich muß mich doch selbst überzeugen«, entgegnete der Schulmeister, indem er aus dem Wagen sprang. Er bemerkte nichts. In diesem Augenblick fuhr der Wagen in eine Querstraße. Murph, der das Manöver Rudolfs wohl bemerkt hatte, eilte hinzu und hob das zusammengefaltete Papier auf. Nach einer Viertelstunde sagte der Schulmeister zum Kutscher: »Fahren Sie nach dem Magdalenenplatz!« Rudolf sah ihn verwundert an. »Von diesem Platz aus kann man an tausend verschiedene Orte kommen, junger Mann.« In dem Augenblick, in dem der Wagen sich der Barriere näherte, jagte ein hochgewachsener Mann mit weit über die Stirn gedrücktem Hut und sehr brauner Gesichtsfarbe auf einem großen, prächtigen Pferde vorbei. »Zu einem schönen Pferd gehört ein guter Reiter!« sagte Rudolf, indem er sich aus dem Wagen hinausbog und Murph nachsah. »Wie der Dicke jagt! Haben Sie gesehen?« Der Schulmeister tat, als überhörte er die Frage und sagte zu Rudolf: »Nehmen Sie es nicht übel, aber das Schaukeln des Wagens schläfert mich ein.« Rudolf erriet die List und antwortete: 71
»Ich bin zeitig aufgestanden; ich werde also Ihrem Beispiel folgen.« Und er schloß die Augen. Bald täuschte das laute Atmen des Schulmeisters und der Eule, die um die Wette schnarchten, Rudolf so gründlich, daß er wirklich glaubte, sie schliefen und die Augen halb öffnete. Der Schulmeister und die Eule saßen, trotz ihrem Schnarchen, mit offenen Augen da und unterhielten sich in der Fingersprache. Mit einem Male hörte die Zeichensprache auf. Der Räuber sagte lachend: »Ah, Kamerad, Sie prüfen wohl den Schlaf Ihrer Freunde?« »Das darf Sie nicht wundern, da Sie mit offenen Augen schnarchen.« »Bei mir ist das natürlich; ich bin mondsüchtig.« Der Wagen hielt auf dem Magdalenenplatz. Der Regen hatte nachgelassen, die Wolken aber, die der Wind vor sich herjagte, waren so schwarz und hingen so tief, daß es fast Nacht war. Rudolf, die Eule und der Schulmeister gingen nach dem Coursla-Reine zu. »Da komme ich auf einen Gedanken, der nicht übel ist«, sagte der Räuber. »So?« »Ich will mich überzeugen, ob alles stimmt, was Sie mir von dem Hause in der Witwenallee gesagt haben.« »Wenn Sie jetzt hier herumschleichen, wird man Verdacht schöpfen. Übrigens ist es kaum vier Uhr.« »Wozu hat man eine Frau?« Die Eule richtete den Kopf empor. »Sehen Sie die Frau an! Wie ein Trompeterpferd, das zum Angriff blasen hört!« »Sie wollen sie auf Rekognoszierung ausschicken?« »Richtig!« »Nummer siebzehn, nicht wahr?« fragte die Eule in ihrer Ungeduld. »Ich habe zwar nur ein Auge, aber das ist gut.« 72
»Sehen Sie, junger Mann? Der Eifer läßt ihr keine Ruhe.« »Wenn sie auf eine geschickte Weise hineinkommen kann, finde ich Ihren Gedanken nicht schlecht.« »Behalte den Regenschirm, Männchen. In einer halben Stunde bin ich wieder hier«, sagte die Eule. »Wir wollen ins ›Blutende Herz‹ gehen! Wenn der kleine Lahme da ist, so nimm ihn mit; er kann Wache halten.« »Du hast recht; er ist schlau wie ein Fuchs, der kleine Lahme.« Ein Wink des Schulmeisters unterbrach die Eule. »Was ist das ›Blutende Herz‹? Ein sonderbarer Name«, sagte Rudolf. »Darüber müssen Sie sich beim Wirt beschweren.« »Wie heißt er?« »Der Wirt zum ›Blutenden Herzen‹.« »Wo ist denn das Wirtshaus?« »Sehen Sie sich nur gut um!« Eine Treppe in der Erde führte in eine Art Grube hinunter; an eine Seite lehnte sich ein niedriger, schmutziger Bau, dessen mit moosigen Ziegeln bedecktes Dach kaum an die Oberfläche des Erdbodens reichte, wo Rudolf stand; ein paar Hütten aus wurmstichigen Brettern dienten als Keller und Schuppen. Ein sehr schmaler Gang ging, der ganzen Länge nach, durch die Grube und führte von der Treppe zur Türe des Hauses; der übrige Raum verschwand hinter einer Gitterlaube, die zwei Reihen plumper Tische schützte. Der Wind bewegte pfeifend ein rostiges Blechschild, auf dem man ein rotes, von einem Pfeil durchbohrtes Herz sah. Ein dicker, feuchter Nebel stieg auf. Es wurde Abend. »Was sagen Sie zu diesem Wirtshaus, junger Mann?« begann der Schulmeister wieder. »Nach dem Regen muß es ziemlich feucht da unten sein. Ich glaube, man könnte angeln… Gehen Sie voran.« »Nur einen Augenblick! Ich muß erst wissen, ob der Wirt da ist.« Der Räuber gab einen seltsamen, kehltönigen Laut von sich. 73
Von unten antwortete ein ähnlicher Ton. »Er ist da«, sagte der Schulmeister. »Verzeihung junger Mann – Ehre den Damen! Lassen Sie die Eule vorangehen, ich folge Ihnen. Nehmen Sie sich aber in acht; die Sache ist etwas schlüpfrig.«
XVII
D
er Wirt zum ›Blutenden Herzen‹ kam, nachdem er das Zeichen des Schulmeisters beantwortet hatte, höflich bis an die Schwelle, um seine Gäste zu empfangen. Dieser Mann, den Rudolf in der Cité gesucht hatte, war Rotarm. Er war klein, hager und schwächlich und konnte etwa fünfzig Jahre alt sein. Sein Gesicht hatte etwas von einem Marder und einer Ratte; seine spitze Nase, sein Kinn, seine starken Backenknochen, seine kleinen, schwarzen, lebhaften und durchdringenden Augen gaben ihm einen unnachahmlichen Ausdruck von hinterhältiger Verschlagenheit. Eine alte gelbe Perücke, die auf dem Scheitel seines Kopfes saß, ließ seinen ergrauten Hinterkopf sehen. Er trug eine Jacke und eine lange schwärzliche Schürze, wie die Kellner in den Weinschenken. Die drei hatten kaum die letzte Stufe der Treppe verlassen, als ein Kind von höchstens zehn Jahren, das klein, lahm und etwas verwachsen war, zu Rotarm trat. »Da ist er«, sagte der Schulmeister. »Finette, die Zeit drängt, es wird Abend!« »Du hast recht, Männchen, ich will mir den Lahmen von seinem Vater ausbitten.« »Guten Tag, Alter«, sagte Rotarm zum Schulmeister. »Was steht zu Diensten?« »Du sollst meiner Frau deinen Jungen auf eine Viertelstunde lei74
hen; sie hat etwas verloren; er soll ihr suchen helfen.« Rotarm blinzelte dem Schulmeister zu und sagte zu seinem Sohne: »Lahmer, geh mit Madame.« Der Knabe hinkte zu der Einäugigen und ergriff ihre Hand. »Geh nun schnell, Frau; mach das Auge auf und sieh dich gut um! Ich erwarte dich hier.« »Ich bin bald wieder da. Geh voran, Lahmer!« »Wir wollen hineingehen«, sagte Rudolf. Er mußte sich bücken, um durch die Türe zu kommen. In der einen Stube sah man einen Schenktisch und ein altes Billard, in der anderen Gartentische und Stühle, die einmal grün angestrichen waren. Zwei schmale Fenster mit von Spinnweben bedeckten Scheiben erhellten kaum die Stuben, deren Wände feucht waren. Rudolf war kaum eine Minute allein. Rotarm und der Schulmeister hatten aber Zeit, schnell einige geheimnisvolle Zeichen zu wechseln. »Wir wollen ein Glas trinken, bis meine Frau wiederkommt«, sagte der Schulmeister. »Ich bin nicht durstig.« »Nach Belieben. Ich trinke ein Glas Branntwein«, fuhr der Räuber fort und setzte sich an einem der kleinen grünen Tische nieder. Es war hier unten so dunkel, daß der gähnende Eingang zu einem zweiten Keller kaum zu erkennen war. Der Tisch, an dem der Schulmeister saß, befand sich ganz nahe bei diesem tiefen Keller, den er vor den Augen Rudolfs ganz verdeckte. Rudolf sah durchs Fenster hinaus, um seine Unruhe zu verbergen. Er fürchtete, Murph würde die Bedeutung seines so lakonischen Briefchens nicht verstanden haben. Er zitterte, diese einzige Gelegenheit zu verlieren, in den Besitz der Geheimnisse zu kommen, deren Kenntnis ihm so sehr am Herzen lag. Er war zwar sehr kräftig, sehr entschlossen und gut bewaffnet, aber er hatte es auch mit einem furchtbaren Verbrecher zu tun, der zu allem fähig war. Nach einigen Minuten setzte er sich an den Tisch des Schulmeisters 75
und verlangte ein Glas. Rotarm betrachtete, nachdem er leise einige Worte mit dem Räuber gewechselt hatte, Rudolf mit neugierigen und mißtrauischen Blicken. »Mir ist eingefallen«, sagte der Schulmeister, »daß wir den Leuten, wenn sie zu Hause sind, unseren Besuch schon um acht machen könnten.« »Das wäre um zwei Stunden zu früh«, entgegnete Rudolf. »Bah, unter Freunden macht man keine Umstände!« »Ich wiederhole Ihnen, daß wir vor zehn Uhr nicht gehen dürfen.« »Sie sind sehr eigensinnig, junger Mann.« »Ich rühre mich jedenfalls vor zehn Uhr nicht von der Stelle.« »Also, wie Sie wollen, junger Mann.« Bald darauf erschien die Eule wieder. »Es ist richtig, Männchen!« sagte sie. Die Alte, die vom Regen völlig durchnäßt war, setzte sich vor Rudolf und dem Räuber nieder. »Nun?« fragte der Schulmeister. »Im großen Ganzen hat der junge Mann da die Wahrheit gesagt.« »Sehen Sie!« fiel Rudolf ein. »Lassen Sie die Eule reden, junger Mann. Weiter, Frau!« »Ich kam bei Nummer siebzehn an und ließ den Lahmen Wache stehen. Es war noch hell. Ich klopfte. Nichts. Ich klingelte, und der Portier machte mir auf, ein großer dicker Mann mit schläfrigem Gesicht und einer Glatze… Sobald ich den Portier sah, fing ich an zu schreien, ich hätte meinen Papagei verloren. Ich sagte, ich wohne in der Allee Marboeuf, und bat ihn um die Erlaubnis, in seinem Garten nach meinem Papagei suchen zu dürfen.« »Sehr klug«, sagte Rudolf, »und dann?« »Der Portier erlaubte es mir, und ich lief im Garten umher und sah mich gründlich um. An der Ecke, links, steht eine Fichte wie eine Leiter, so daß eine schwangere Frau daran hinuntersteigen könnte. Das Haus hat sechs Fenster im Erdgeschoß, keine Etage darü76
ber und vier Kellerlöcher ohne Eisenstäbe. Die Fenster sind mit Läden verschlossen.« »Lassen sich leicht öffnen«, fiel der Schulmeister ein. Die Eule fuhr fort: »Die Eingangstür ist eine Glastür mit zwei Vorsetzern.« »Richtig«, bemerkte Rudolf. »Links«, fuhr die Eule fort, »im Hofe ein Ziehbrunnen; das Seil könnte nützlich sein für den Fall, daß uns der Rückzug abgeschnitten würde…« »Du bist im Hause gewesen? Sie ist hineingegangen, junger Mann!« sagte der Schulmeister mit Stolz. »Allerdings bin ich drinnen gewesen. Da ich meinen Papagei nicht fand, bat ich, halb erschöpft vom Laufen, den Portier um die Erlaubnis, mich einen Augenblick auf der Türschwelle niedersetzen zu dürfen. Der gute Mann ließ mich eintreten und brachte mir Wein und Wasser. ›Nur Wasser, guter Herr, nur Wasser!‹ sagte ich. Da ließ mich der Portier ins Vorzimmer treten. Überall Teppiche, man hört weder gehen noch die Glasscherben fallen, wenn man eine Fensterscheibe eindrücken müßte; rechts und links Türen mit gewöhnlichen Schlössern. Im Hintergrund eine starke Türe, verschlossen. Es roch förmlich nach Geld. Ich hatte mein Wachs in meinem Beutel…« »Sie geht nie ohne ihr Wachs aus«, sagte der Räuber. Die Eule fuhr fort: »Ich fing so stark zu husten an, daß der Portier sagte: ›Ich werde Ihnen ein Stück Zucker holen.‹ Er suchte wahrscheinlich einen Löffel, denn ich hörte Silberzeug klingen; im Zimmer rechts, vergiß das nicht, Männchen! Endlich hatte ich mich der Tür im Hintergrunde genähert … ich hatte mein Wachs in der hohlen Hand … und drückte es auf das Schloß … da ist der Abdruck. Wenn wir ihn heute nicht brauchen können, brauchen wir ihn ein anderes Mal.« Die Eule gab dem Räuber ein Stück gelbes Wachs, auf dem man deutlich den Abdruck sah. »Ist das die Türe zum Gelde?« fragte die Eule. 77
»Ja, das ist sie«, antwortete Rudolf. »Wo ist übrigens der Lahme?« fragte mit einem Mal der Schulmeister. »Er hält noch immer Wache, zwei Schritte von der Gartentür. Wenn wir kommen, wird er uns sagen, ob jemand hineingegangen ist.« »Gut!« Kaum hatte der Schulmeister dieses Wort ausgesprochen, als er unversehens über Rudolf herfiel, ihn an der Kehle packte und in den Keller warf, der sich hinter dem Tisch öffnete. Der Angriff erfolgte so rasch und unerwartet, daß ihn Rudolf weder vorhersehen noch vermeiden konnte. Die Eule stieß vor Schreck einen gellenden Schrei aus. Der Schulmeister lauschte. Als kein Geräusch mehr zu hören war, stieg er langsam in den Keller hinunter. »Männchen, sei auf der Hut!« rief die Einäugige. Der Räuber antwortete nicht und verschwand. Nach einigen Augenblicken kreischte eine verrostete Tür in der Tiefe des Kellers, worauf wieder tiefe Stille eintrat. Es war vollkommen dunkel. Die Eule brannte ein kleines Licht an, dessen schwacher Schein sich in der düsteren Stube verbreitete. In diesem Augenblick erschien der Kopf des Schulmeisters in der Kelleröffnung. Die Eule konnte sich eines Ausrufs des Entsetzens beim Anblick dieses blassen, verstümmelten Gesichtes nicht enthalten… »Schnell, es ist höchste Zeit!« sagte der Räuber, indem er die Kellertüre mit einer Eisenstange verschloß; »in einer Stunde wäre es vielleicht zu spät.«
78
XVIII
R
udolf war, infolge des furchtbaren Sturzes, ohnmächtig an der Kellertreppe liegengeblieben. Der Schulmeister hatte ihn in ein noch tieferes Kellergewölbe geschleppt und die mit Eisen beschlagene zweite Türe hinter ihm verschlossen. Nach etwa einer Stunde kam Rudolf allmählich wieder zu sich. Er lag in völliger Finsternis. Zu seinen Füßen fühlte er etwas sehr Kaltes; er griff hin; es war eine Wasserpfütze. Durch eine gewaltsame Anstrengung gelang es ihm, sich auf die letzte Stufe zu setzen; er horchte, vernahm aber nichts als ein schwaches, fortwährendes Rauschen. Je wacher er wurde, um so deutlicher erinnerte er sich der Umstände des Überfalles. Er war schon fast völlig klar, als er an den Füßen wiederum das Gefühl von Kühle empfand; er bückte sich, er tastete umher: Wasser reichte ihm bis an die Knöchel… In der schauerlichen Stille, die ihn umgab, hörte er das dumpfe, unablässige Rauschen noch deutlicher. Jetzt erriet er auch die Ursache. Die Seine führte Hochwasser, und dieser Keller befand sich unterhalb des Niveaus des Flusses, wurde also nach und nach überschwemmt. Diese Gefahr verlangte schnellstes Handeln. Rudolf eilte die feuchten Stufen hinauf. Oben stieß er an eine Türe, die er vergebens zu öffnen suchte; sie blieb unbeweglich in ihren eisernen Angeln. In dieser verzweifelten Lage dachte er zuerst an Murph. »Wenn er nicht auf der Hut ist, wird dieser Unmensch ihn ermorden, und ich habe seinen Tod veranlaßt! Armer Murph!« Rudolf durchtastete den Keller nach allen Richtungen und stand dabei bis an die Knie im Wasser; er fand nichts. Mutlos stieg er langsam die Treppe wieder hinauf. Er zählte die Stufen; es waren dreizehn; drei standen bereits unter Wasser. 79
Dreizehn! Eine Unglückszahl! … Rudolf schrie, so laut er konnte. Er hoffte, seine Stimme werde irgendwie nach oben dringen. Dann lauschte er wieder. Er hörte aber nichts als das dumpfe Rauschen und Plätschern des Wassers, das höher und höher stieg. Wenn Rudolf an der Türe sich aufrichtete, berührte er die Decke mit der Stirn. Er konnte berechnen, wann der Tod ihn ereilen würde: ein langsamer, stummer, schrecklicher Tod… Die durch das Wasser aus ihren Löchern vertriebenen Ratten hatten sich, da sie keinen anderen Ausgang fanden, von Stufe zu Stufe geflüchtet. Sie kletterten jetzt an Rudolf empor. Er wollte sie verjagen, aber sie bissen ihn in die Hände… Rudolf rief von neuem. Niemand hörte ihn. In wenigen Minuten, das sah er voraus, würde er nicht mehr schreien können. Das Wasser stand ihm bereits bis an den Hals. Bald mußte es seinen Mund erreichen. Das Atmen wurde ihm schwer. Die ersten Symptome des Erstickens stellten sich ein: die Adern an seinen Schläfen klopften zum Zerspringen; es schwindelte ihn; das Wasser brauste an seinen Ohren. Es war ihm, als drehe er sich um sich selbst; der letzte Schein des Verstandes war schon im Begriff, zu verlöschen, als eilige Tritte und ein Geräusch von Stimmen sich an der Kellertüre hören ließen. Die Hoffnung belebte die schwindenden Kräfte; mit äußerster Anspannung seines Geistes konnte er folgende Worte vernehmen: »Du siehst ja, es ist niemand da.« »Donnerwetter, 's ist wahr!« antwortete traurig die Stimme des Schurimannes. Und die Tritte entfernten sich wieder. Rudolf hatte nicht mehr die Kraft, sich aufrecht zu halten … er glitt hinab. Mit einem Male wurde die Kellertüre gewaltsam aufgerissen, so daß das im Gewölbe stehende Wasser fortströmte, wie durch die Öffnung einer Schleuse… Der Schurimann konnte die beiden Arme Rudolfs fassen, der, halb ertrunken, sich noch krampfhaft an die 80
Schwelle der Türe klammerte.
XIX
R
udolf lag, als er erwachte, in einem wohnlich eingerichteten Zimmer; im Kamin loderte ein gutes Feuer; eine Lampe verbreitete mildes Licht. Ein Neger mit weißem Haar, sorgfältig gekleidet, hielt in der linken Hand eine Sekundenuhr, während er mit der rechten Hand die Pulsschläge Rudolfs zählte. Der Schurimann stand unbeweglich am Fuß des Bettes. Er wagte kaum zu atmen und sagte leise, während er auf Rudolf blickte: »Wenn man ihn so schwach daliegen sieht, könnte man nicht glauben, daß er so fürchterliche Schläge auszuteilen versteht!« Der Schwarze winkte leicht mit der Hand. Nachdem Rudolf einige Löffel Medizin erhalten hatte, regte er sich schwach. »Die Erstarrung läßt nach«, sagte der Arzt. »Bravo!« rief der Schurimann, der seine Freude nicht bändigen konnte. »Verhalte dich, um des Himmels willen, ruhig!« sagte der Arzt ungeduldig; dann setzte er sich in einen Lehnstuhl und stützte die Stirn in die Hände. Plötzlich fuhr Rudolf hoch, richtete sich auf, sah sich ängstlich um, sammelte seine Gedanken und rief: »Wo ist Murph?« »Beruhigen Sie sich, Hoheit«, entgegnete der Schwarze ehrerbietig, »wir können noch hoffen.« »Ist er verwundet?« fragte Rudolf. »Leider ja, gnädiger Herr.« 81
»Wo ist er? Ich will ihn sehen.« Rudolf versuchte aufzustehen, sank aber gleich wieder zurück. »Gnädigster Herr, es würde gefährlich sein, ihn jetzt irgendwie aufzuregen.« »Sie sagen mir nicht die Wahrheit… Man bringe mich sogleich zu ihm!« »Ich beteuere bei meiner Ehre, daß Herr Murph genesen wird.« »Ist es wirklich wahr, lieber David?« »Ja, gnädigster Herr.« »Aber wie ist das alles überhaupt zugegangen?« fragte Rudolf, den Schwarzen unterbrechend, »wer hat mich aus dem Keller gezogen? Ich erinnere mich undeutlich, die Stimme des Schurimannes gehört zu haben. Ist das richtig?« »Er kann es Ihnen gleich erzählen, gnädigster Herr, denn er hat alles getan.« »Dank, mein Braver!« sagte Rudolf, indem er seinem Retter die Hand entgegenstreckte.
XX
D
er Schurimann hielt Rudolf schüchtern seine braune, schwielige Hand hin. Rudolf drückte sie herzlich. »Setze dich und erzähle mir alles! Wie hast du den Keller entdeckt? … Aber jetzt fällt mir ein: wo ist der Schulmeister?« »In Sicherheit«, sagte der schwarze Arzt. »Zusammengeschnürt, wie eine Rolle Tabak, beide, er und die Eule.« »Und mein armer Murph … wo ist er verwundet, David?« »An der rechten Seite, gnädigster Herr, aber es ist zum Glück nicht lebensgefährlich.« 82
»Und du? Wie kamst du zu rechter Zeit hierher, guter Freund?« »Sie wissen, daß Sie mir gestern abend sagten: Suche den Schulmeister und sage ihm, du wüßtest ein gutes Geschäft. Wenn er sich beteiligen wolle, möge er sich morgen (das war heute früh) an der Barriere von Bercy im ›Blumenkorbe‹ einfinden.« »Richtig.« »Ich trollte mich nach der Cité und ging zur Wirtin in der Penne; kein Schulmeister. Ich ging durch die Gassen, in denen er verkehrt… Niemand. Endlich fasse ich ihn mit der Eule bei einem Trödler. Sie wollten mit dem Geld, das sie dem Langen abgenommen hatten, sich herausputzen und kauften ein. Ich sagte dem Schulmeister, was ich ihm sagen sollte, und er antwortete, er würde sich einfinden. Gut! Heute früh machte ich mich auf die Socken, um Ihnen die Antwort zu überbringen. Sie sagten: ›Komm morgen vor Tage wieder.‹ Ich dachte so bei mir: Dem Schulmeister soll morgen ein Possen gespielt werden; er ist ein Schurke; ich bin dabei –« »Ich tat unrecht, daß ich dir nicht alles sagte.« »Das war Ihre Sache, Herr Rudolf; kurz und gut, ich dachte bei mir: die Hochzeit ist erst morgen, heute gibt es nichts zu tun. Ich dachte weiter: Herr Rudolf bezahlt mir meine Zeit, ich will sie für ihn brauchen. So kam ich denn auf einen Gedanken: Der Schulmeister ist schlau, er kann eine Falle wittern… Herr Rudolf wird ihm die Sache für morgen vorschlagen, aber der Kerl ist imstande und schleicht den Tag über da herum, um sich die Örtlichkeit zu besehen. Wenn er Herrn Rudolf nicht traut, so bringt er vielleicht einen anderen Dieb mit oder sagt: Morgen, und unternimmt die Sache für eigene Rechnung schon heute.« »Du hast recht geraten; so ist es gekommen. Und die Vorsehung wollte, daß ich dir das Leben zu verdanken habe.« »Ich wollte also meine Zeit für Sie verwenden, Herr Rudolf, und dachte bei mir: ich muß mich irgendwo verstecken, von wo ich die Mauer und die Türe des Gartens sehen kann; es gibt keinen anderen Eingang. Ich ging also in die Champs Elysées und suchte da ein Plätzchen. Was sah ich? Ein kleines Wirtshaus, zehn Schritte von 83
Ihrer Tür entfernt. Da ging ich hinein, setzte mich an ein Fenster und sagte, ich warte auf Freunde, einen buckligen Mann und eine große Frau. Ihre Türe ließ ich nicht aus den Augen. Es regnete, was vom Himmel wollte. Niemand ging vorbei, es wurde finster. Ich saß also am Fenster, knackte Nüsse und trank Wein, als ich im Nebel die Eule mit dem lahmen Jungen Rotarms herankommen sah.« »Rotarm ist also der Wirt der unterirdischen Schenke in den Champs Elysées?« fragte Rudolf. »Ja, Herr Rudolf!« »Ich glaubte, er wohne in der Cité.« »Er wohnt überall. Er ist ein schlauer Bursche… Kurz und gut, als ich die Eule und den Jungen kommen sah, dachte ich bei mir: jetzt gibt es etwas. Der Junge versteckte sich wirklich in einem Graben, so daß er Ihre Türe sehen konnte. Die Eule nahm ihre Haube ab, steckte sie in die Tasche und klingelte an der Türe. Man machte ihr auf, und sie lief in den Garten. Nach einer Weile kam sie wieder heraus, setzte ihre Haube auf und ging fort. Ich sagte mir: Aufgepaßt! der lahme Junge ist mit der Eule gekommen; der Schulmeister und Herr Rudolf sind beim Rotarm.« »Und dann?« »Endlich sagte ich mir: Ich will hinausgehen; im Freien fällt mir vielleicht etwas ein. Ich ging hinaus und dachte nach. Dann zog ich meine Bluse aus, band mein Halstuch ab, ging hin zum Lahmen und faßte ihn am Genick, ob er auch zappelte, kratzte und schrie, wickelte ihn in meine Bluse, band sie oben mit den Ärmeln, unten mit dem Halstuch zusammen, nahm das Paket unter den Arm und ging fort damit. In der Nähe sah ich einen Gemüsegarten und warf den Jungen in ein Möhrenbeet; er grunzte wie ein junges Schwein, aber über zwei Schritte weit hörte man ihn nicht. Dann macht' ich mich fort, es war Zeit, und kletterte auf einen Baum, gerade Ihrer Türe gegenüber… Zehn Minuten später hörte ich Gehen; es regnete noch immer… Es war so finster, so finster, daß sich der Teufel hätte auf den Schwanz treten können. Ich horchte; es war die Eule mit dem Schulmeister. ›Lahmer!‹ rief sie leise. – Ja, such 84
du deinen Lahmen nur. – ›Es regnet, der Junge wird des Wartens überdrüssig geworden sein‹, sagte der Schulmeister fluchend. – ›Männchen, nimm dich in acht‹, sagte die Eule wieder, ›vielleicht ist er fortgegangen, um etwas zu melden. Wenn es eine Falle wäre? Der andere wollte erst um zehn Uhr.‹ – ›Eben deshalb‹, sagte der Schulmeister, ›jetzt ist es erst sieben. Wer nicht wagt, gewinnt nicht! Gib mir die Zange!‹ In einem Augenblicke war die Türe erbrochen. ›Bleib da!‹ sagte der Schulmeister, ›paß auf und gib mir das Zeichen, wenn du etwas hörst.‹« »Ich sprang von meinem Baume herunter, fiel über die Eule her und betäubte sie mit zwei ausgesuchten Faustschlägen. – Sie fiel stumm nieder, und ich trat in den Garten hinein. Donnerwetter, Herr Rudolf! Es war zu spät…« »Armer Murph!« »Er wälzte sich eben mit dem Schulmeister auf der kleinen Vortreppe; obgleich schon verwundet, hielt er doch noch fest, ohne um Hilfe zu schreien. Ich fiel über beide her und faßte den Schulmeister. ›Spitzbube, wo kommst du her?‹ rief der. ›Nicht so neugierig!‹ antwortete ich, indem ich seinen Arm faßte, in dem er den Dolch hielt. Ich packte also den Schulmeister noch einmal so fest, weil er mich zu stechen suchte; ich lag mit der Brust auf seinem Arm, und er hatte nur die Hand frei. Er schnaubte wie ein Ochse. Herr Murph hatte ihm den Dolch nicht entreißen können, denn die Faust dieses Menschen ist wie ein Schraubstock. Endlich, indem ich immer mit meinem ganzen Körper auf seinem rechten Arme lag, brachte ich meine beiden Hände hinter seinen Nacken und drückte sie zusammen, – als wenn ich ihn umarmen wollte. Das wollte ich. ›Nun gehen Sie‹, sagte ich zu Murph, ›und holen Sie Hilfe, ich warte, bis Sie wiederkommen.‹ Ich will mich nicht rühmen, aber einen Augenblick war es kein Spaß. Wir lagen halb auf der Erde, halb auf der letzten Treppenstufe. Ich hatte meinen Arm um seinen Hals geschlungen und hörte seine Zähne knirschen. Er wollte mich beißen, aber konnte nicht. 85
– Niemals fühlte ich eine solche Kraft in meinen Knochen. Donnerwetter! Das Herz klopfte mir, aber auf dem rechten Flecke, und ich sagte mir: Du bist wie jemand, der einen tollen Hund festhält, damit er die Leute nicht beiße. – ›Laß mich los, und ich tue dir nichts‹, sagte der Schulmeister. Während er dies sagte, hob er sich mit dem Leibe so hoch, daß er mich auf die Seite warf; aber ich hatte noch immer meine Hände unter seinem Kopf und seinen rechten Arm unter mir. Die Beine aber bekam er frei und brauchte sie tüchtig. Das half ihm, und er kehrte mich halb um… Hätte ich nicht den Arm mit dem Dolche festgehalten, so wäre es um mich geschehen gewesen. In diesem Augenblick wurde mir das linke Handgelenk verrenkt, und ich mußte die Finger loslassen. Nun ist's vorbei, dachte ich; jetzt macht er mich tot! … In diesem Augenblick sah ich die Eule oben auf den Stufen stehen – mit ihrem runden Auge und dem roten Schal. Donnerwetter! ›Finette!‹ rief ihr der Schulmeister zu, ›ich habe den Dolch fallen lassen; heb ihn auf – da – und stoß zu! – in den Rücken, zwischen die Schultern!‹ – ›Warte, warte!‹ antwortete die Eule und flatterte um uns herum, wie ein Vogel, der Unglück bedeutet. Endlich sah sie den Dolch und wollte danach greifen. – Ich lag platt auf dem Bauche und versetzte ihr einen Tritt mit dem Fuße, daß sie niederstürzte; aber sie sprang wieder auf und kam zurück… Ich konnte nicht mehr; zwar klammerte ich mich noch immer am Halse des Schulmeisters fest, aber er gab mir von unten so fürchterliche Stöße ans Kinn, daß ich ihn fast losgelassen hätte… Da sah ich drei oder vier bewaffnete Leute die Stufen herunterkommen und Murph, der ganz blaß war und sich auf den Doktor stützte. Man packte den Schulmeister und die Eule und band sie fest… Das war alles! Nun fehlte nur noch Herr Rudolf. Ich faßte die Eule am Arm, drehte ihn ihr um und fragte: ›Wo ist Herr Rudolf?‹ Sie hielt sich tapfer; als ich aber immer weiter drehte, sagte sie: ›Bei Rotarm im Keller.‹ Gut. So kam ich ins ›Blutende Herz‹ und packte Rotarm an der Kehle. ›Wo ist der junge Mann, der heute abend mit dem Schulmeister hier war?‹ – ›Drück nur nicht so derb, ich will es dir sagen. Man wollte sich einen Spaß mit ihm 86
machen und hat ihn in den Keller gesteckt.‹ Wir stiegen hinunter; es war niemand da. Ich wollte traurig wieder fortgehen, da sah ich, im Schein der Laterne eine andere Türe. Ich lief hin, zog, und das Wasser stürzte mir ins Gesicht. Ich sah Ihre beiden Arme, fischte Sie heraus und trug Sie auf meinem Rücken hierher, weil niemand da war, der einen Wagen hätte holen können. Das ist die Geschichte, Herr Rudolf, und ich kann sagen, ohne mich zu rühmen, daß ich zufrieden bin.« »Ich verdanke dir mein Leben, eine Schuld, die ich tilgen werde…!« »Nichts zu danken, Herr Rudolf! Hab' es gern getan!« »Braver Kerl! Weißt du übrigens, wo der Schulmeister ist?« »Unten, zusammen mit der Eule. Wollen Sie die Polizei holen lassen, Herr Rudolf?« »Nein.« »Sie wollen ihn laufen lassen? Herr Rudolf, hier wäre der Edelmut nicht angebracht. Er ist ein toller Hund!« »Er wird keinen mehr beißen, verlaß dich drauf!« »Sie wollen ihn also einsperren?« »Nein. In einer halben Stunde wird er fortgehen.« »Frei?« »Ja.« »Und ganz allein?« »Ja, und wohin er will«, sagte Rudolf, finster lächelnd. Dann setzte er hinzu: »David, ein Wort.« Und er sprach leise mit dem Schwarzen. Dieser schauderte. »Sie zögern?« fragte ihn Rudolf. »Ich zögere nicht, gnädigster Herr. Ich billige die Idee, denn die Strafe ist gerecht.« »Wir sind also einig, David?« »Wir arbeiten an einem Werke!« Nach einer kurzen Pause setzte Rudolf hinzu: »Und fünftausend Franken werden ausreichen, David?« »Vollkommen!« 87
»Guter Freund«, sagte Rudolf zu dem verblüfften Schurimann, »ich habe ein paar Worte mit dem Herrn da zu reden. Geh indessen ins Nebenzimmer; dort findest du auf dem Schreibtisch ein rotes Portefeuille; daraus nimm fünf Tausendfrankenscheine und bringe sie mir her!« »Für wen sind die fünftausend Franken?« fragte unwillkürlich der Schurimann. »Für den Schulmeister. Zugleich sage, man solle ihn zu mir führen!«
XXI
I
n einem rot ausgeschlagenen, glänzend erleuchteten Zimmer saß Rudolf in einem langen, schwarzen Schlafrock, der die Blässe seines Gesichts noch mehr betonte, an einem Tische. Auf dem Tisch lagen zwei Brieftaschen, die vergoldete Kette der Eule mit dem kleinen Heiligen von Lapislazuli, der noch blutige Dolch, mit dem Murph verwundet worden war, das Brecheisen, dessen sich der Schulmeister bedient hatte, und endlich die fünf Tausendfrankenscheine, die der Schurimann aus dem Nebenzimmer geholt hatte. Der schwarze Arzt saß an der einen Seite des Tisches, der Schurimann an der anderen. Der Schulmeister saß festgebunden, so daß er keine Bewegung machen konnte, auf einem großen Rollstuhl inmitten des Zimmers. Rudolf wandte sich an ihn: »Du bist aus dem Bagno zu Rochefort, wo du lebenslänglich bleiben solltest, entwichen und heißt Anselm Duresnel?« »Falsch!« erwiderte der Schulmeister mit unsicherer Stimme. »Was?« fiel der Schurimann ein, »sind wir nicht beide in Rochefort gewesen?« 88
Rudolf winkte dem Schurimann, zu schweigen. Rudolf fuhr fort: »Du bist Anselm Duresnel und wirst es noch gestehen; hast du einen Viehhändler auf der Straße von Poissy beraubt und ermordet?« »Nein.« »Du wirst es später gestehen.« Der Räuber sah Rudolf überrascht an. »Letzte Nacht bist du in dieses Haus gedrungen, um zu stehlen, und hast den Besitzer des Hauses ermordet.« »Sie selbst haben mir diesen Diebstahl vorgeschlagen«, antwortete der Schulmeister, der wieder Mut faßte, »man hat mich angegriffen, ich habe mich verteidigt…« »Der Mann, den du ermordet hast, war nicht bewaffnet.« »Sie sind nicht mein Richter, und ich werde Ihnen nicht mehr antworten.« »Den Diebstahl habe ich dir aus folgendem Grunde vorgeschlagen: Ich wußte, daß du aus dem Bagno entwichen bist und die Eltern eines Mädchens kennst, an dessen Unglück die Eule, deine Mitschuldige, schuld ist. Ich wollte dich durch einen Diebstahl – denn nur ein solcher kann dich verführen – hierherlocken. Warst du erst einmal in meiner Gewalt, so sollte es dir freistehen, entweder der Justiz übergeben zu werden und mit deinem Kopfe für die Ermordung des Viehhändlers zu büßen…« »Falsch! Ich habe keinen Viehhändler ermordet.« »…oder dich, durch meine Vermittlung, an einen Ort ewiger Einsamkeit bringen zu lassen, wenn du einwilligtest, mir die Auskünfte zu geben, die ich suchte. Du warst lebenslänglich verurteilt und bist entflohen. Indem ich mich deiner bemächtigte und es dir unmöglich mache, weitere Verbrechen zu begehen, leiste ich der Gesellschaft einen Dienst. Mein Plan war vielleicht nicht gesetzlich, aber du stehst außerhalb des Gesetzes. Gestern habe ich zufällig deinen wahren Namen erfahren.« »Er ist falsch!« 89
»Gestern erfuhr ich auch, daß du deinen Sohn vor fünfzehn Jahren seiner Mutter geraubt hast, und daß du allein weißt, wo er lebt. Diese Schandtat war ein Beweggrund mehr, mich deiner zu versichern… Heute nacht hast du abermals Blut vergossen. Der Mann, den du ermordet hast, kam vertrauensvoll zu dir und ahnte deinen Blutdurst nicht!« »Es ist falsch. Der Mann hat gelogen!« »Murph lügt niemals«, antwortete Rudolf ruhig. – »Deine Verbrechen fordern Strafe. Du bist bewaffnet hier eingedrungen, du hast einen Mann ermordet, um ihn zu bestehlen. Du wirst sterben! Aus Mitleid mit deiner Frau und deinem Sohne wird man dir die Schande des Schafotts ersparen. Man wird sagen, du wärest mit bewaffneter Hand umgekommen. Mach dich bereit, die Gewehre sind geladen!« Der Schulmeister zitterte krampfhaft; er sah durch die halboffene Türe Gewehrläufe blitzen und glaubte, seine Stunde sei gekommen; seine Lippen wurden weiß, und er winselte: »Gnade!« »Gnade?« erwiderte Rudolf. »Für dich Gnade? Wenn man dir hier keine Kugel durch den Kopf jagt, erwartet dich das Blutgerüst.« »Das Schafott ist mir lieber. Und übrigens verbietet Ihnen das Gesetz, sich selbst Recht zu schaffen!« »Das Gesetz!« entgegnete Rudolf. »Du wagst es, das Gesetz anzurufen, nachdem du, seit zwanzig Jahren, dich gegen die Gesellschaft aufgelehnt hast?« Der Räuber ließ den Kopf sinken und antwortete in demütigem Tone: »Lassen Sie mich leben! Aus Barmherzigkeit!« »Wirst du mir sagen, wo dein Sohn ist?« »Ich will alles sagen, was ich weiß.« »Willst du mir die Eltern des Mädchens nennen, das von der Eule gemartert worden ist?« »In meiner Brieftasche sind die Papiere, die Sie auf die Spur bringen werden.« »Wo ist dein Sohn?« 90
»Werden Sie mich leben lassen?« »Zuerst gestehe!« »Ich habe ihn einem Mitschuldigen übergeben, der, als ich verhaftet wurde, entkam.« »Was hat er mit ihm gemacht?« »Er hat ihn erzogen… Aber das übrige werde ich nicht sagen, wenn Sie mir nicht versprechen, mich nicht umbringen zu lassen.« »Du stellst Bedingungen, Elender?« »Lassen Sie mir nur die Möglichkeit, meinen Kopf zu retten –« »Du willst um jeden Preis leben?« »Ja, und wäre es an der Kette. Lassen Sie mich nicht sterben!« »Gestehe alle deine Schandtaten, und du sollst leben!« »Ist es wahr? Ich darf leben?« »Was hast du mit deinem Sohne gemacht?« »Der Freund, von dem ich sprach, hatte ihn zum Buchhalter ausgebildet, um ihn in ein Bankgeschäft zu bringen, damit er uns über gewisse Dinge Auskunft geben könne.« »Den eigenen Sohn…«, rief Rudolf. »Es handelte sich nur um eine Fälschung!« fuhr der Räuber fort, »und als mein Sohn erfuhr, was man von ihm erwartete, wurde er widerspenstig. Nach einem heftigen Auftritt mit dem Manne, der ihn erzogen hatte, verschwand er. Wir wissen nicht, was aus ihm geworden ist. In meiner Brieftasche werden Sie die Schritte angedeutet finden, die mein Freund versuchte, um ihn ausfindig zu machen, damit er uns nicht verrate. In Paris hat man seine Spur verloren. Seine letzte Wohnung war in der Rue du Temple. Die Adresse befindet sich auch in meiner Brieftasche… Sie sehen, ich habe alles gesagt! Halten Sie nun Ihr Versprechen und lassen Sie mich nur wegen des Diebstahls verhaften.« »Und der Viehhändler von Poissy?« »Erledigt! Es gibt keine Beweise. Ihnen kann ich es gestehen, vor dem Richter würde ich leugnen.« »Du gestehst also den Mord?« »Ich war in Not und wußte nicht, wovon ich leben sollte. Die Eule 91
riet es mir – ich bereue es…« »Du sollst leben, und ich werde dich der Justiz nicht ausliefern.« »Sie verzeihen mir also?« rief der Schulmeister, der seinen Ohren nicht zu trauen wagte. »Sie verzeihen mir?« »Ich richte dich«, entgegnete Rudolf mit fester Stimme. »Ins Bagno sollst du nicht! Ketten können zerbrochen, Mauern durchwühlt, Wälle überstiegen werden. Du würdest, früher oder später, entweichen, von neuem über die Gesellschaft herfallen, wie ein wütendes Tier und deinen Weg durch Raub und Mord bezeichnen. Das darf nicht sein! Was aber soll geschehen, um die Gesellschaft vor deiner Wut zu schützen, da du im Bagno die Kette zerbrechen würdest?« »Sie wollen also doch meinen Tod?« fiel der Räuber ein. »Den Tod? Hoffe ihn nicht! Jedes Verbrechen ist zu sühnen, hat der Heiland gesagt, aber nur, wenn der Verbrecher aufrichtig Buße tun und bereuen will. Vom Gerichtssaal zum Schafott ist der Weg zu kurz. Du darfst also so nicht sterben!« Der Schulmeister war wie vernichtet. Zum erstenmal in seinem Leben fürchtete er etwas mehr als den Tod. Der schwarze Arzt und der Schurimann sahen Rudolf in ängstlicher Spannung an; sie hörten schaudernd seine Worte, die schneidend und unbarmherzig waren, wie der Stahl eines Beiles. Rudolf fuhr fort: »Anselm Duresnel, du wirst weder ins Bagno kommen, noch wirst du sterben!« »Aber was wollen Sie von mir? … Schickt Sie die Hölle?« »Höre mich an«, sagte Rudolf in feierlichem Ernst. »Du hast deine Kraft mißbraucht, ich werde deine Kraft lähmen. Die Stärksten zitterten vor dir, du wirst nun vor den Schwächsten zittern. Du hast Geschöpfe Gottes in ewige Nacht gestürzt, das Dunkel der Ewigkeit wird für dich schon in diesem Leben beginnen. Wenn ich dir, um es dir unmöglich zu machen, ferner zu sündigen, für immer alle Herrlichkeit der Schöpfung entziehe, wenn ich dich in undurchdringliche Nacht stürze, in der du allein sein wirst, mit der Erin92
nerung an deine Missetaten, so geschieht es, damit du unaufhörlich ihre Gräßlichkeit betrachten mögest. Dann wird, hoffe ich, deine eiserne Stirn sich mit Schamröte bedecken, deine verstockte Seele sich erweichen…« Der Schulmeister fühlte fast keine Furcht mehr; er glaubte, Rudolf habe ihn nur erschrecken wollen, ehe er ihm Moral predigte. Der Verbrecher lachte also roh auf und sagte: »Wollen wir hier Rätsel lösen? Oder sind wir in der Schule?« Rudolf schüttelte traurig den Kopf und sagte: »David, tun Sie Ihre Pflicht! Gott mag mich strafen, wenn ich irre.« Der Neger klingelte. Zwei schwarzgekleidete Männer traten ein. Der Doktor zeigte auf das Nebenzimmer. Die beiden Männer rollten den Stuhl, auf dem der Schulmeister so gefesselt war, daß er sich nicht rühren konnte, hinaus. Nach einer Weile brachte man ihn wieder herein. »Sie wollen mich also foltern? Warum haben Sie mir an den Augen herumgestochen? Und warum ist es plötzlich überall so dunkel?« Es herrschte einen Augenblick Stille. »Du bist blind«, sagte David. »Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr!« schrie der Sträfling, der sich anstrengte, sich loszumachen. »Nehmt ihm die Fesseln ab! Er mag aufstehen!« sagte Rudolf. Die beiden Männer erfüllten den Befehl. Der Schulmeister sprang rasch auf, tat einen Schritt, während er die Hände von sich streckte, und sank dann, die Arme erhoben, von neuem auf den Stuhl. »David, geben Sie ihm die Brieftasche«, sagte Rudolf. »In dieser Brieftasche befindet sich so viel Geld, daß du dir, bis ans Ende deines Lebens, in irgendeinem einsamen Ort Obdach und Unterhalt sichern kannst. – Jetzt bist du frei; geh und bereue!« »Blind! – Blind!« jammerte der Räuber. »Mein Gott, es ist also wahr?« 93
»Du bist frei, hast Geld – geh!« »Um der Barmherzigkeit willen«, sagte der Schulmeister mit flehentlicher Gebärde, »lassen Sie mich führen! Wie soll ich über die Straße kommen? – Ach, töten Sie mich! Ich flehe Sie an, töten Sie mich lieber!« Und er weinte. Der Schurimann trat zu Rudolf und sagte leise: »Herr Rudolf, er war ein großer Bösewicht; aber jetzt ist er blind, er weint. – Sehen Sie, das tut mir weh. – Er weiß nicht, wie er fortkommen soll… Soll ich ihn irgendwohin führen, wo er wenigstens ruhig sein kann?« »Ja«, sagte Rudolf, den dieser Edelmut rührte, »ja – geh!« Der Schurimann trat zum Schulmeister und legte ihm die Hand auf die Achsel. Der Räuber zuckte. »Wer rührt mich an?« fragte er mit dumpfer Stimme. »Da, nimm meinen Arm, ich will dich führen.« »Du?« »Komm, laß uns gehen!« »Ist es wahr, daß Geld in der Brieftasche ist, die man mir gegeben hat?« fragte der Räuber nach einer Pause. »Ja, ich habe selbst fünftausend Franken hineingelegt.« »Also versteck mir die Brieftasche, damit die Eule sie nicht sieht, sie würde mich bestehlen!« »Die Eule? Die ist im Hospital, ich habe ihr einen Denkzettel gegeben.« »Aber was soll aus mir werden? Mein Gott, was soll aus mir werden?« Der Räuber schwieg eine Zeit, dann fuhr er wütend auf: »Du bist an allem schuld, Schurimann! Wärest du nicht gekommen, hätte ich den Mann kalt gemacht!« »Denke nicht mehr daran! Ich will dich noch führen, wohin du willst, dann gehe ich schlafen.« »Ich weiß ja nicht, wohin ich gehen soll…« 94
»Willst du ein paar Tage bei mir bleiben? Vielleicht mache ich brave Leute ausfindig, die dich aufnehmen…« »Ich danke dir, Schurimann – du bist besser als ich.« Der Schurimann zuckte die Achseln und sagte: »Wollen wir gehen?« »Zu dir, Schurimann, nicht wahr?« Auf den Arm des Schurimannes gestützt, verließ der Geblendete das Haus seiner Strafe.
XXII
R
udolf wohnte in einem der größten Paläste des Quartier St.-Germain, am Ende der Rue Plumet. Es hatte eben zehn Uhr geschlagen. In einem Zimmer im Erdgeschosse saß Murph am Schreibtisch und siegelte Depeschen. Ein schwarz gekleideter Kammerdiener öffnete die Tür eines Vorzimmers und meldete: »Se. Exzellenz Baron von Graun.« Murph grüßte den Baron mit einer herzlichen Handbewegung. »Herr Geschäftsträger«, sagte er lächelnd, »ich stehe sofort zu Diensten.« »Sir Walter, Geheimsekretär Sr. Durchlaucht, ich werde auf Ihre Befehle warten«, entgegnete Herr von Graun heiter und machte eine ehrerbietige Verbeugung. Der Baron stand etwa im fünfzigsten Jahre und hatte dünnes, leicht gepudertes und gekräuseltes Haar. Sein Gesicht verriet Schlauheit; hinter den Gläsern seiner goldenen Brille blitzte ein ebenso schalkhafter wie durchdringender Blick. Herr von Graun stellte seinen Hut auf einen Stuhl und trat an den Kamin, während Murph seine Be95
schäftigung fortsetzte. »Se. Hoheit hat ohne Zweifel einen Teil der Nacht hindurch gearbeitet, lieber Murph. Ihre Korrespondenz scheint ziemlich umfangreich zu sein.« »Der gnädige Herr ist erst ums sechs Uhr zur Ruhe gegangen.« »Soll ich auf Se. Hoheit warten, um ihr die Nachrichten mitzuteilen, die ich überbringe?« »Nein, lieber Baron. Er hat mir befohlen, ihn vor drei Uhr nachmittags nicht zu wecken und wünscht, daß Sie die Depeschen noch heute vormittag befördern, statt bis Montag zu warten. Vertrauen Sie mir die Nachrichten an, die Sie eingezogen haben, ich werde sie dem gnädigen Herrn mitteilen, sobald er aufgestanden ist.« »Vortrefflich! Se. Hoheit wird, glaube ich, mit dem, was ich zu berichten habe, zufrieden sein.« »Und hier gibt es gar nichts Neues, lieber Baron? Es ist nichts ruchbar geworden? Unsere Abenteuer…« »Sind für jedermann ein Geheimnis. Man glaubt, Se. Hoheit liebe die Zurückgezogenheit und mache häufig Ausflüge in die Umgegend. Niemand also, außer der Gräfin Sarah MacGregor, ihrem Bruder Tom Seyton of Halesbury und Karl, weiß etwas von den Verkleidungen Sr. Hoheit, und weder die Gräfin noch deren Bruder, noch Karl hat ein Interesse, das Geheimnis zu verraten.« »Ach, lieber Baron«, sagte Murph seufzend, »welches Unglück, daß die verwünschte Gräfin jetzt Witwe ist!« »Hatte sie sich nicht 1827 verheiratet?« »Im Jahre 1827, kurz nach dem Tode des unglücklichen Mädchens, das jetzt sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein würde, und das Se. Hoheit noch beweint, ohne je von ihm zu sprechen.« »Die Trauer über diesen Verlust ist begreiflich, da Se. Hoheit ja keine Kinder aus seiner Ehe hat.« »Deshalb glaube ich auch, daß das Interesse, das Se. Hoheit an dem armen Mädchen, der Schallerin, nimmt, hauptsächlich daher rührt, daß die Tochter, die er so schmerzlich betrauert, wenn er auch die Mutter verwünscht, im gleichen Alter stehen würde.« 96
»Es ist wirklich eine unglückliche Fügung des Schicksals, daß Sarah, von der man für immer frei zu sein hoffte, gerade jetzt, anderthalb Jahre nach dem Tode der Gemahlin Sr. Hoheit, wieder zum Vorschein kommt. Die Gräfin sieht in diesem doppelten Witwenstand sicherlich eine Gunst des Schicksals.« »Und ihre unsinnigen Hoffnungen leben heftiger als je wieder auf, obgleich sie weiß, daß Se. Hoheit die tiefste Abneigung gegen sie fühlt. Ach, Baron, diese Frau ist uns verderblich. Gott gebe, daß sie nicht neues Unglück über uns bringt!« »Was kann man von ihr noch fürchten, lieber Murph? Ihr Einfluß ist durch die Entdeckung der unwürdigen Intrigen, besonders aber durch die Erinnerung an das schreckliche Ereignis, das ihre Folge war, völlig vernichtet worden.« »Leiser, lieber Baron, leiser!« fiel Murph ein. – »Wir stehen vor dem dreizehnten Januar. Ich fürchte an diesem Tage immer für unseren Herrn –« »Muß aber Se. Hoheit, wenn ein solches Vergehen durch Buße gesühnt werden kann, nicht längst Vergebung gefunden haben?« »Sprechen wir nicht davon, lieber Baron!« »Jedenfalls sind die Pläne der Gräfin Sarah jetzt überaus töricht, da der Tod des armen Mädchens, von dem Sie eben sprachen, das letzte Band zerrissen hat, das unseren Herrn noch an das Weib fesseln konnte; sie ist wahnsinnig, wenn sie auf ihren Hoffnungen beharrt.« »Ja, aber sie ist eine gefährliche Wahnsinnige. Ihr Bruder teilt, wie Sie wissen, ihre ehrgeizigen Pläne, obgleich das würdige Paar jetzt allen Grund hätte, seine Hoffnungen preiszugeben.« »Welches Unglück hat nicht auch der teuflische Abbé Polidori durch seine verbrecherische Mithilfe heraufbeschworen!« »Wie man mir berichtet hat, befindet sich dieser Elende seit einem Jahre hier, ohne Zweifel in der tiefsten Armut oder bei irgendeinem verbrecherischen Gewerbe.« »Welcher tiefe Fall für einen Mann von so viel Geist und Klugheit!« 97
»Gebe Gott, daß er der Gräfin nicht begegnet! Die Verbindung beider würde sehr gefährlich sein.« »Noch einmal, lieber Murph, die Gräfin wird durch ihr eigenes Interesse stets daran gehindert werden, die Abenteuerlust Sr. Hoheit zu benutzen, um irgendeinen bösen Streich zu unternehmen.« »Ich hoffe es auch. Aber ich weiß, daß nur der Zufall irgendeinen schlimmen Antrag verhindert hat, den dieses Weib dem Schulmeister machen wollte, der jetzt, vielleicht reuevoll, bei ehrlichen Bauersleuten in St. Mandé lebt. Ich bin überzeugt, daß Se. Hoheit, hauptsächlich durch den Wunsch, mich an diesem Bösewicht zu rächen, sich einer sehr gefährlichen Lage aussetzte, als er die Strafe an ihm vollziehen ließ.« »Nein, lieber Murph! Die Sache war doch einfach die: Ein entflohener Mörder schleicht sich in Ihr Haus und verwundet Sie. Sie können ihn, in rechtmäßiger Notwehr, beseitigen oder auf das Schafott bringen. In beiden Fällen ist er dem Tode verfallen. Statt ihn zu töten oder dem Henker zu übergeben, nehmen Sie dem Unmenschen durch eine fürchterliche, aber wohlverdiente Strafe die Fähigkeit, der Gesellschaft weiter zu schaden. Wer sollte Sie anklagen? Sollte die Justiz als Klägerin gegen Sie zugunsten eines solchen Banditen auftreten? Sollten Sie verurteilt werden, weil Sie weniger weit gegangen sind, als das Gesetz Ihnen zu gehen erlaubte, weil Sie dem, dem Sie, nach dem Gesetze, das Leben nehmen konnten, nur das Gesicht nahmen? Denken Sie sich einen solchen Prozeß gegen unseren Herrn! Wie viele gute Taten würden für ihn sprechen! Was könnte ihm geschehen?« »Se. Hoheit hat oft gesagt, er würde die Anklage annehmen und die Straflosigkeit, die ihm seine Stellung sichert, nicht benutzen. Aber wer sollte das Ereignis an den Tag bringen? Die unerschütterliche Verschwiegenheit Davids und der vier ungarischen Diener kennen Sie. Der Schurimann hat mir, noch vor seiner Abreise nach Algier, geschworen, durchaus zu schweigen. Der Räuber selbst weiß, daß er seinen Kopf dem Henker überliefert, sobald er sich beklagt.« »Und Sie und ich werden auch nicht davon sprechen, nicht wahr? 98
Lieber Murph, das Geheimnis wird also Geheimnis bleiben!« »Sie beruhigen mich vollkommen… Wollen Sie mir jetzt die Nachrichten übermitteln, die Se. Hoheit erwartet?« »Hier sind sie«, sagte der Baron, indem er ein Papier aus der Tasche zog. »Sie beziehen sich auf die Nachforschungen, die über die Geburt der Schallerin und den gegenwärtigen Aufenthalt des Franz Germain, des Sohnes des Schulmeisters, angestellt worden sind.« »Sind Sie mit Ihrem Agenten noch zufrieden?« »Er ist ein sehr gewandter und verschwiegener Mann.« »Er weiß noch immer nicht, welches Interesse Se. Hoheit an allem hat?« »Nein. Badinot war früher Notar, mußte sein Amt verkaufen, kennt aber noch manches Geheimnis, mit dem er, wie er schamlos gesteht, Handel getrieben hat. Er gewann und verlor wiederholt beträchtliche Vermögen, ist jetzt zu bekannt, als daß er neue Spekulationen versuchen könnte und ist nun eine Art Figaro, dessen Erzählungen immer von Interesse sind. Solange es sein Vorteil ist, gehört er dem, der ihn bezahlt, mit Leib und Seele; er hat keinen Grund, uns zu verraten; übrigens lasse ich ihn beobachten, und wir haben deshalb keine Ursache, ihm zu mißtrauen.« »Die Nachrichten, die er uns bis jetzt verschafft hat, waren übrigens vollkommen zuverlässig.« »Er nimmt jedesmal, wenn er mir seine Berichte bringt, eine diplomatische Miene an, denn er stellt sich, als glaube er, es handle sich um Staatsangelegenheiten. Ja, er ist unverschämt genug, bisweilen zu sagen: ›Wer sollte glauben, daß die Nachrichten, die ich Ihnen übergebe, Herr Baron, ihre Bedeutung in der europäischen Politik haben!‹« »Und diese letzten Nachrichten, lieber Baron?« »Hier sind sie, wie ich sie, nach dem Berichte Badinots, niedergeschrieben habe.« »Ich bin ganz Ohr.« Herr von Graun las folgendes: »Notizen über Marienblume. 99
Anfang des Jahres 1827 machte ein gewisser Peter Tournemine, der sich wegen Fälschung gegenwärtig im Bagno zu Rochefort befindet, der Frau Gervais, die Eule genannt, den Vorschlag, ein kleines Mädchen von fünf bis sechs Jahren zu sich zu nehmen gegen eine Bezahlung von tausend Franken ein für allemal. Der Handel wurde abgeschlossen, und das Kind blieb zwei Jahre bei der Frau, worauf das Mädchen, um der üblen Behandlung zu entgehen, die es erleiden mußte, verschwand. Die Eule hatte mehrere Jahre nichts von ihr gehört, als sie sie, vor ungefähr sechs Wochen, in einem Wirtshause in der Cité zum ersten Male wiedersah. Das Kind war ein erwachsenes Mädchen geworden und hieß damals die Schallerin. Wenige Tage vor diesem Wiedersehen hatte Tournemine, den der Schulmeister im Bagno zu Rochefort gekannt hatte, Rotarm, einem Bekannten der freigelassenen Sträflinge, einen ausführlichen Brief über das Kind übergeben. Aus diesem Briefe und aus den Aussagen der Eule geht hervor, daß eine Madame Seraphin, die Haushälterin eines Notars Jacob Ferrand, Tournemine aufgetragen hatte, eine Frau ausfindig zu machen, die ein Kind von fünf bis sechs Jahren aufzunehmen geneigt sei. Die Eule ging auf den Antrag ein. Tournemine teilte Rotarm diese Angaben mit, um ihn in den Stand zu setzen, Madame Seraphin durch einen Dritten Geld abzupressen. Tournemine versicherte, jene Madame Seraphin habe nur im Auftrag unbekannter Personen gehandelt. Rotarm hatte diesen Brief der Eule mitgeteilt, die, seit langer Zeit, an den Verbrechen des Schulmeisters teilnahm. Es war nun zu ermitteln, ob der Brief Tournemines die Wahrheit enthielt. Man hat sich nach Madame Seraphin und dem Notar Jacob Ferrand erkundigt. Beide existieren. Der Notar wohnt in der Rue du Sentier 41; er gilt für einen sittenstrengen und frommen Mann; wenigstens geht er häufig in die 100
Kirche. In seiner Praxis zeichnet er sich durch Ordnung und Regelmäßigkeit aus. Er lebt mit einer Sparsamkeit, die an Geiz grenzt. Madame Seraphin ist noch immer seine Haushälterin. Herr Jacob Ferrand, der sehr arm war, hat seine Stelle mit 350.000 Franken bezahlt, welche Summe er, unter guter Bürgschaft, von Herrn Karl Robert, Offizier im Stabe der Nationalgarde zu Paris, erhalten hat. Dieser teilt mit dem Notar den Ertrag der Stelle, der auf ungefähr 50.000 Franken geschätzt wird, kümmert sich aber um die Notariatsgeschäfte nicht. Gewiß scheint zu sein, daß Madame Seraphin, die Haushälterin dieses ehrbaren Mannes, Angaben über die Geburt der Schallerin würde machen können.« »Sehr gut, lieber Baron«, sagte Murph. »Vielleicht finden wir bei dem Notar die Möglichkeit, die Eltern jenes unglücklichen Kindes zu erforschen. Haben Sie nun ebenso gute Nachrichten über den Sohn des Schulmeisters?« »Sie sind vielleicht weniger genau, aber doch ziemlich befriedigend.« »Herr Badinot ist in der Tat eine Perle!« »Sie sehen, daß jener Rotarm die Hände im Spiele hatte. Badinot, der mit der Polizei in Verbindung stehen muß, hatte ihn, als Mittelsperson verschiedener Sträflinge, schon früher bezeichnet.« »Allerdings. Als ihn Se. Hoheit aufsuchen wollte, traf er ja auf den Schurimann und die Schallerin. Unser Herr wollte durchaus die Gelegenheit benutzen, um jene schrecklichen Diebeshöhlen zu besuchen, da er glaubte, dort vielleicht Unglückliche zu finden, denen er helfen könnte. – Mein Gott! Welchen Gefahren hat er sich dabei ausgesetzt!« »Die Sie mutig geteilt haben, lieber Murph!« »Bin ich nicht der Hofkohlenträger Sr. Hoheit?« antwortete der Squire lächelnd. »Ja, Ihr Mut und Ihre Ergebenheit sind bekannt. – Hier sind nun die Bemerkungen über Franz Germain, den Sohn der Madame Georges und des Schulmeisters.«
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aron von Graun las: »Vor ungefähr achtzehn Monaten kam ein junger Mann, Franz Germain, von Nantes in Paris an, wo er im Bankhaus Noël & Co. angestellt gewesen war. Aus den Geständnissen des Schulmeisters und aus mehreren bei ihm gefundenen Briefen geht hervor, daß der Bösewicht, dem er seinen Sohn übergab, damit er ihn verderbe, diese Absicht dem jungen Mann mitteilte und ihm vorschlug, einen Raubversuch zu begünstigen, den man gegen das Haus Noël & Co. unternehmen wollte. Der junge Mann wies den Antrag zurück; da er aber den Mann nicht anzeigen wollte, schrieb er einen anonymen Brief an seinen Chef und verließ in der Stille Nantes, um denen zu entgehen, die ihn zum Mitschuldigen ihrer Verbrechen hatten machen wollen. Diese kamen, nachdem sie die Abreise Germains erfahren hatten, nach Paris, besprachen sich mit Rotarm und stellten dem Sohne des Schulmeisters nach. Nach langen Nachforschungen machten sie endlich seine Wohnung ausfindig, aber es war zu spät. Germain hatte die Wohnung schon wieder verlassen. Vor sechs Wochen erfuhren sie jedoch, daß er in der Rue du Temple Nr. 17 wohne. Eines Abends, als er nach Hause zurückkehrte, wurde er beinahe das Opfer eines Hinterhaltes. Diesen Umstand hat der Schulmeister Sr. Hoheit verschwiegen. Germain erriet die Zusammenhänge des Überfalls, verließ die Straße und suchte abermals eine neue Wohnung. So standen die Dinge, als der Schulmeister die Strafe für seine Verbrechen erhielt, und hier wurden die Nachforschungen, auf Befehl Sr. Hoheit, wieder aufgenommen. Sie ergaben folgendes: Franz Germain hat ungefähr drei Monate in der Rue du Temple Nr. 17 gewohnt. Vergebens erkundigte man sich in diesem Hause nach der neuen Wohnung Germains und nach den Geschäften, die 102
er treibt; man vermutet, daß er in irgendeinem Bureau oder Handelsgeschäft angestellt war, weil er früh ausging und erst abends, gegen zehn Uhr, nach Hause kam. Die einzige Person, die bestimmt weiß, wo der junge Mann jetzt wohnt, ist ein Mädchen, das mit Germain auf sehr vertrautem Fuße zu stehen schien. Das Stübchen der Mademoiselle Lachtaube – so wird sie genannt – befand sich neben der Wohnung Germains. Germains Zimmer steht seit dem Auszug des jungen Mannes leer…« »Lachtaube?« fiel plötzlich Murph ein. »Lachtaube? Diesen Namen kenne ich. Die Schallerin hat ihn genannt. Soviel ich mich erinnere, war Lachtaube eine Freundin der armen Marienblume im Gefängnis.« »Mademoiselle Lachtaube kann uns jetzt sehr nützlich werden. Doch ich beende meinen Bericht: Vielleicht wäre es von Vorteil, das leerstehende Zimmer in der Rue du Temple zu mieten. Man hatte keinen Befehl, die Nachforschungen weiter zu treiben, aber man hat alle Ursache, zu glauben, daß man nicht nur bestimmte Auskunft über den Sohn des Schulmeisters durch Mademoiselle Lachtaube erhalten könnte, sondern daß auch andere Beobachtungen in dem Haus zu machen wären, die der Mühe lohnen würden.«
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ie Sie sehen, mein lieber Murph«, sagte Baron Graun, »muß man nach unseren Nachrichten bei dem Notar Jacob Ferrand die Spur der Eltern der Schallerin suchen und bei Fräulein Lachtaube anfragen, wo Franz Germain jetzt wohnt.« »Haben Sie sich auch nach dem Marquis von Harville erkundigt?« »Ja. Herr Badinot versichert, das Vermögen des Marquis sei nie 103
solider gewesen und nie verständiger verwaltet worden als jetzt.« »Se. Hoheit fürchtet, der Marquis könne sich in Geldverlegenheit befinden; er würde ihm in diesem Falle zu Hilfe gekommen sein. Da er sich aber in seinen Vermutungen getäuscht hat, so wird er es wohl aufgeben müssen, den Kummer des Marquis zu ergründen, freilich mit großem Bedauern, da er den Marquis sehr liebt.« »Se. Hoheit hat nie vergessen, was sein Vater dem Vater des Marquis schuldete. Deshalb haben alle, die zur Familie Harville gehören, Anspruch auf das Wohlwollen Se. Hoheit. Auch Madame Georges hat nicht nur wegen ihres Unglücks und ihrer Rechtschaffenheit, sondern auch wegen ihrer Verwandtschaft mit der Familie Harville so viele Wohltaten von ihm empfangen.« »Madame Georges, die Frau Duresnels, des Sträflings, der unter dem Namen ›Schulmeister‹ bekannt ist?« rief der Baron aus. »Ja, die Mutter jenes Franz Germain, den wir suchen und den wir finden werden, wie ich hoffe.« »Sie ist mit Herrn von Harville verwandt?« »Sie ist die Cousine seiner Mutter und war deren vertraute Freundin. Der alte Marquis hatte sie sehr lieb.« »Aber wie konnte die Familie Harville eine Verheiratung mit jenem Unmenschen zugeben, lieber Murph?« »Der Vater der Unglücklichen, Herr von Lagny, vor der Revolution Intendant von Languedoc, besaß ein großes Vermögen und entging der Proskription. In den ersten Tagen der Ruhe suchte er seine Tochter zu verheiraten. Duresnel erschien; er gehörte zu einer ausgezeichneten Familie, war reich und wußte seine schlechten Neigungen unter einer heuchlerischen Miene zu verbergen. Er erhielt also die Hand des Fräuleins von Lagny. Bald aber entwickelten sich die eine Zeitlang unterdrückten Laster dieses Menschen aufs neue; er war ein Verschwender, ein Spieler und machte seine Frau höchst unglücklich. Sie klagte nicht, verbarg ihren Kummer und zog sich nach dem Tode ihres Vaters auf ein Gut zurück, das sie selbst bewirtschaftete. Das Vermögen war durch die Ausschweifungen ihres Mannes bald verschlungen, und auch das kleine Gut, auf dem Ma104
dame Georges Duresnel lebte, wurde verkauft. Sie nahm ihren Sohn und wollte sich zu ihrer Verwandten, der Marquise von Harville, begeben, die sie wie eine Schwester liebte. Duresnel wurde bald Fälscher, Dieb und Mörder. Man ergriff ihn, er wurde zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt, entkam und raubte seinen Sohn seiner Frau, um ihn einem Verbrecher zur Ausbildung zu übergeben… Das übrige wissen Sie.« »Wie aber hat Se. Hoheit Madame Duresnel ausfindig gemacht?« »Als Duresnel ins Bagno gebracht wurde, nahm seine in die tiefste Armut gestürzte Frau den Namen Georges an. Sie wagte nicht, sich zu ihrer Familie zu begeben. Ein einziges Mal, als sie durch Not und Krankheit zum Äußersten gezwungen war, entschloß sie sich, Herrn von Harville, den Sohn ihrer besten Freundin, um eine Unterstützung zu bitten. Auf diese Weise lernte unser Herr sie kennen.« »Jetzt begreife ich das doppelte Interesse, das Se. Hoheit daran hat, die Spur des Sohnes der armen Frau ausfindig zu machen.« »Sie werden auch verstehen, wie weh es ihm tut, den jungen Marquis so traurig zu sehen.« »Was fehlt Herrn von Harville?« »Vielleicht liegt die Krankheit im Herzen –« »Er soll doch seine Frau sehr lieben, und sie gibt ihm gewiß keine Veranlassung zur Eifersucht. Ich sehe sie oft in Gesellschaften; sie wird viel umschwärmt, wie jede junge schöne Frau, ihr Ruf ist aber vollkommen makellos geblieben.« »Nur einmal hatte er, soviel ich weiß, einen Wortwechsel mit ihr wegen der Gräfin Sarah MacGregor.« »Sie verkehrt also mit der Gräfin?« »Infolge eines Zufalles lernte der Vater des Marquis Harville vor siebzehn oder achtzehn Jahren Sarah Seyton of Halesbury und deren Bruder Tom bei ihrem Aufenthalt in Paris kennen, wo sie durch die Gattin des englischen Gesandten eingeführt wurden. Der alte Marquis gab ihnen, als er hörte, daß die Geschwister nach Deutschland reisten, Empfehlungsschreiben an den Vater Sr. Ho105
heit mit. Als endlich die Gräfin Sarah wieder hierherkam, ließ sie sich, da ihr die Freundschaft Sr. Hoheit mit dem Marquis bekannt war, im Hause Harvilles einführen, in der Hoffnung, mit Sr. Hoheit dort zusammenzutreffen, denn sie verfolgt ihn, noch immer, ebenso eifrig, als er vor ihr flieht –« »Die Weiber, die Weiber, lieber Murph! Es tut mir leid, daß Frau von Harville mit dieser Sarah umgeht. Die reizende kleine Marquise kann bei diesem Verkehr nur verlieren.« »Dabei fällt mir ein«, sagte Murph, »daß eine Depesche über Cecily hier liegt.« »Unter uns, lieber Murph, diese Frau hätte auch die Strafe verdient, die ihr Mann an dem Schulmeister vollzogen hat. Auch sie hat Blut vergossen und ist eine vollendete Sünderin.« »Und dabei so schön und verführerisch!« »Ich hoffe, daß diese Depesche die letzten Befehle aufhebt, die Se. Hoheit in bezug auf die Elende gegeben hat.« »Im Gegenteil, Baron.« »Se. Hoheit will also noch immer, man solle ihr behilflich sein, aus der Haft zu entfliehen, in der er sie lebenslänglich gefangen halten wollte?« »Ja.« »Und ihr angeblicher Entführer soll sie nach Frankreich bringen? Nach Paris?« »Ja, und mehr noch, die Depesche befiehlt, die Flucht Cecilys zu beschleunigen, damit sie in spätestens vierzehn Tagen hier sein könne.« »Das begreife ich nicht.« »Wir werden ja sehen, was geschieht, Baron. Auch habe ich Befehl von Sr. Hoheit, Sie zu ersuchen, an unsere Kanzlei zu schreiben, um sofort eine beglaubigte Abschrift des Trauscheins Davids zu verlangen, denn er ist im Schlosse, als Hofbeamter Sr. Hoheit, getraut worden.« »Wenn ich das Schreiben mit dem heutigen Kurier abgehen lasse, werden wir das Gewünschte in acht Tagen haben.« 106
»David war wie versteinert, als er die bevorstehende Ankunft Cecilys erfuhr. Dann sagte er: ›Ich hoffe, Ew. Hoheit werden mich nicht nötigen, dieses Ungeheuer zu sehen.‹ – ›Bleiben sie ganz ruhig‹, antwortete unser Herr, ›Sie werden die Frau nicht sehen, aber ich bedarf ihrer zur Ausführung bestimmter Pläne.‹« »Der arme David liebt sie vielleicht noch immer. Ich weiß übrigens noch heute nicht, wie er eigentlich zu unserem Herrn und zu der Verbindung mit Cecily gekommen ist, die ich erst ein Jahr nach ihrer Verheiratung sah.« »Darüber kann ich Ihnen Auskunft geben, lieber Baron; ich habe ja Hoheit auf der amerikanischen Reise, auf der er David und Cecily dem schrecklichsten Schicksal entriß, begleitet.« »Erzählen Sie, lieber Murph.«
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err Willis, ein reicher amerikanischer Pflanzer in Florida«, begann Murph, »hatte an einem seiner jungen Negersklaven, der dem Krankenhause der Pflanzung beigegeben war, einen ungewöhnlichen Verstand, tiefstes Mitleid mit den Kranken, denen er liebevoll jede Pflege angedeihen ließ, und endlich eine ausgesprochene Begabung für Botanik bemerkt. Der Neger hatte, ohne Unterweisung, eine Flora der Pflanzung gesammelt und geordnet. Die Besitzung des Herrn Willis, die an der Meeresküste lag, war fünfzehn bis zwanzig Stunden von der nächsten Stadt entfernt; die dortigen Ärzte ließen sich nur ungern stören. Um diesem Übelstand abzuhelfen und um immer einen geschickten Arzt in der Nähe zu haben, kam der Pflanzer auf die Idee, David nach Frankreich zu schicken, um ihn dort Medizin studieren zu lassen. Nach acht Jahren kehrte David, der die medizinische Doktorwürde mit Auszeichnung 107
erworben hatte, nach Amerika zurück, um seine Kenntnisse seinem Herrn zur Verfügung zu stellen.« »Es gehört allerdings eine seltene Rechtlichkeit dazu, nach einem achtjährigen Aufenthalt in Paris zu einem ›Herrn‹ zurückzukehren –« »Nach diesem Zuge können Sie den Mann beurteilen. Er war also wieder in Florida und wurde, das muß ich sagen, von Willis anfangs mit Auszeichnung behandelt. Nach einigen Monaten brach ein bösartiges Nervenfieber auf der Pflanzung aus; Willis wurde auch davon befallen, durch David aber schnell wiederhergestellt. Willis erhöhte Davids Gehalt, und der schwarze Arzt war der glücklichste Mensch auf Erden. So verging fast ein Jahr. Unter den schönsten Sklavinnen der Pflanzung befand sich eine fünfzehnjährige Mestize namens Cecily. Willis fühlte für dieses junge Mädchen eine Sultanslaune, aber er stieß, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben, auf hartnäckigen Widerstand. Cecily liebte David, der sie während der letzten Epidemie mit aufopfernder Sorge behandelt hatte. David war zu zartfühlend, von seinem Glücke vor dem Tage zu sprechen, an dem er Cecily heiraten konnte. Willis, der diese Liebe also nicht ahnte, hatte der schönen Mestize stolz sein Schnupftuch zugeworfen, aber sie hatte, statt es aufzunehmen, David alles berichtet. Der Schwarze beruhigte sie und ging zu Willis, um die Hand Cecilys von ihm zu erbitten.« »Und der amerikanische Sultan gab natürlich eine abschlägige Antwort?« »Ja. Das junge Mädchen gefalle ihm selbst, sagte er. David möge sich eine andere Frau aussuchen. David sprach von seiner Liebe, die Cecily teile. Der Pflanzer hatte die Unverschämtheit, ihm zu erwidern, es würde ein schlechtes Beispiel sein, wenn ein Herr einer Sklavin nachgäbe. David war zu stolz, sich noch weiter zu erniedrigen und wies auf die Dienste hin, die er geleistet hätte. Willis antwortete ihm gereizt und mit Verachtung, er würde, für einen Sklaven, viel zu gut behandelt. Bei diesen Worten konnte David seinen Unwillen nicht länger unterdrücken, sondern begann, von seinen Rechten zu sprechen. Zwei Stunden später war er an den Pfahl gebunden, und Peit108
schenhiebe zerfleischten ihn, während man, vor seinen Augen, Cecily in das Haus des Pflanzers schleppte. Noch an demselben Tage zog sich Willis eine lebensgefährliche Krankheit zu. Er legte sich mit schwerem Fieber ins Bett und schickte einen Boten, um einen Arzt zu holen, der jedoch vor sechsunddreißig Stunden nicht kommen konnte. Nur David konnte den Pflanzer retten. Man hatte ihn, nachdem er die Züchtigung erlitten, in den Kerker geworfen. Willis ließ ihm die Ketten abnehmen. Fünf Tage und fünf Nächte wachte David bei ihm, wie er bei seinem Vater gewacht haben würde und besiegte so die Krankheit, zur großen Verwunderung des fremden Arztes, der am dritten Tage ankam.« »Und was tat der Pflanzer?« »Um vor seinem Sklaven nicht erröten zu müssen, gewann er, mit bedeutenden Opfern, den Arzt, den er hatte rufen lassen, für seine Pflanzung, und David wurde wieder in den Kerker geworfen. Kurze Zeit nach diesen Ereignissen kamen wir in Amerika an. Se. Hoheit hatte in St. Thomas eine dänische Brigg gechartert, und wir besuchten inkognito alle Pflanzungen. Willis nahm uns glänzend auf. Den Tag nach unserer Ankunft erzählte er uns im Weinrausch die Geschichte Davids und Cecilys. Se. Hoheit glaubte, Willis prahle oder sei betrunken, aber er stand wankend vom Tische auf, befahl einem Sklaven, eine Laterne zu nehmen und führte uns in den Kerker Davids. Der Pflanzer sagte mit schneidendem Hohne zu ihm: ›Nun, Doktor, wie geht es dir? Du bist ja so klug, so hilf dir doch!‹ Der Schwarze erhob langsam die Hand und sagte, ohne den Pflanzer anzusehen, in feierlichem Tone nur das Wort: ›Gott!‹ dann schwieg er wieder. Wir wendeten uns mit Abscheu ab. Se. Hoheit sagte kein Wort. Wir kehrten auf unsere Brigg zurück, und um ein Uhr früh, als die ganze Pflanzung in tiefem Schlafe lag, landete Se. Hoheit mit acht Bewaffneten, sprengte den Kerker und entführte den Unglücklichen und Cecily. Die beiden wurden auf die Brigg gebracht, und dann begleitete ich Se. Hoheit in das Haus des Pflanzers. ›Ich habe Ihnen Ihre Opfer entrissen‹, sprach Se. Hoheit. Dann nahm er einen Sack, der 25.000 Franken in Gold enthielt, warf ihn auf 109
das Bett des Mannes und setzte hinzu: ›Das wird Sie für den Verlust der beiden Sklaven entschädigen. Ihrer Gewalttat, die tötet, setze ich eine Gewalttat entgegen, die rettet!‹ Wir verschwanden und hatten, einige Minuten später, die Brigg erreicht, die sogleich unter Segel ging.« »Hatte dieses Abenteuer keine weiteren Folgen?« »Es konnte keine haben. Die Brigg fuhr unter dänischer Flagge; das Inkognito Sr. Hoheit wurde streng beobachtet, und wir galten für reiche Engländer. Wohin hätte Willis, wenn er zu klagen gewagt, seine Anzeige richten sollen? – Seitdem ist David als Arzt bei Sr. Hoheit geblieben.« »Und heiratete wahrscheinlich nach der Ankunft in Europa seine Cecily?« »Die Trauung, die eine so glückliche Ehe zu versprechen schien, wurde in der Schloßkapelle vollzogen. Kaum aber sah sich Cecily in ihrer neuen Stellung, als sie alles vergaß, was David für sie, und was sie selbst für ihn gelitten hatte und sich schämte, die Frau eines Negers zu sein. Sie kennen ihre skandalösen Abenteuer. Nach einer zweijährigen Verbindung erfuhr David alle diese Schändlichkeiten.« »Er wollte, hieß es, seine Frau ermorden?« »Ja; nur auf Bitten Sr. Hoheit willigte er ein, daß sie lebenslänglich in einer Festung bliebe. Dieses Gefängnis hat Se. Hoheit jetzt geöffnet, zu Ihrem und meinem großen Erstaunen, lieber Baron.« »Zu welchem Zweck? Aus welchem Grunde?« »Das weiß ich ebensowenig wie Sie. – Doch es wird spät. Se. Hoheit wünscht, daß der Kurier so bald als möglich nach Gerolstein abreise.« »Vor zwei Uhr wird er unterwegs sein. Auf heute abend also, lieber Murph!« »Aber wahrscheinlich etwas spät, denn ich bin überzeugt, daß Se. Hoheit noch heute das geheimnisvolle Haus in der Rue du Temple wird besuchen wollen.« 110
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och an demselben Tage, gegen drei Uhr nachmittags, begab sich Rudolf in die Rue du Temple. Das Haus Nr. 17, im Mittelpunkt eines geschäfts- und volkreichen Stadtteiles gelegen, hatte in seinem Aussehen nichts Auffälliges; es bestand aus dem Erdgeschoß, das ein Likörfabrikant inne hatte, und aus vier Etagen. Ein dunkler, schmaler Gang führte in einen kleinen Hof, dem es an Licht und Luft fehlte. Am Fuße einer finsteren Treppe verriet ein rötlicher Schein die Wohnung des Portiers, in der selbst am Tage die Lampe brennen mußte, um die dunkle Höhle zu erhellen, die Rudolf, der etwa wie ein sonntäglich ausstaffierter Kommis gekleidet war, nun betrat. Er sagte dem Portier, daß er das freie Zimmer zu sehen wünsche. Pipelet, der Portier, der gerade abwesend war, wurde durch seine Frau vertreten. Diese stand neben einem eisernen Ofen in der Mitte der Stube und horchte ernsthaft auf das Singen eines Topfes am Feuer. Madame Pipelet war die häßlichste, schmutzigste, schlampigste, giftigste aller Portiersfrauen. Sie trug einen seltsamen Kopfputz, der aus einer Titusperücke bestand, die ursprünglich blond gewesen war, durch die Zeit aber eine Menge rötlicher und gelblicher, brauner und fahler Farbentöne erhalten hatte. Diese einzige und ewige Zierde ihres sechzigjährigen Hauptes legte Frau Pipelet nie ab. Als Rudolf eintrat, fragte die Frau in barschem Tone: »Was wünschen Sie?« »Es ist, wie ich höre, in diesem Haus ein Zimmer nebst einem Schlafkabinett zu vermieten, Madame«, antwortete Rudolf, der das Wort ›Madame‹ besonders betonte, was Frau Pipelet nicht wenig schmeichelte. Sie entgegnete deshalb auch minder mürrisch: 111
»Im vierten Stock … kann aber nicht gezeigt werden. Alfred ist ausgegangen.« »Ihr Sohn, ohne Zweifel, Madame? Wird er bald zurückkommen?« »Nein, nicht mein Sohn, sondern mein Mann. Warum sollte Pipelet nicht Alfred heißen?« »Er hat ein unbestrittenes Recht darauf, Madame; aber wenn Sie erlauben, werde ich einen Augenblick auf ihn warten. Es liegt mir daran, dieses Zimmer zu mieten; der Stadtteil und die Straße gefallen mir und das Haus ebenfalls, denn es scheint außerordentlich gut gehalten zu werden. Ehe ich aber das Zimmer besehe, möchte ich wissen, ob Sie die Führung meiner kleinen Wirtschaft übernehmen können, Madame.« Dieser in so schmeichelhaften Worten ausgesprochene Antrag gewann Frau Pipelet vollständig, und sie antwortete: »Ich will Ihre Wirtschaft recht gern führen; für sechs Franken monatlich sollen Sie wie ein Fürst bedient werden.« »Sechs Franken monatlich gebe ich gern. Ihr Name?« »Pomona Fortunata Anastasia Pipelet.« »Und wie teuer ist das Zimmer?« »Mit dem Schlafzimmer 150 Franken; keinen Sou weniger. Der Wirt ist ein Geizkragen.« »Wie heißt er?« »Rotarm.« Bei diesem Namen und den Erinnerungen, die er weckte, konnte Rudolf ein Gefühl des Schauders nicht unterdrücken. »Und wohnt?« »Bohnenstraße Nr. 13, hat auch ein Wirtshaus in der Gegend der Champs Elysées.« Es unterlag keinem Zweifel: es war derselbe Mann! Um das Vertrauen der Portiersfrau zu gewinnen, fuhr Rudolf fort: »Hören Sie, meine werte Madame Pipelet, ich bin müde und friere sehr; wollen Sie mir wohl den Gefallen tun und mir eine Flasche Schnaps und zwei Gläser oder vielmehr drei Gläser holen, da Ihr Mann bald zurückkommen wird?« 112
Und dabei gab er der Frau hundert Sous. »Man muß Ihnen gleich nach dem ersten Worte gut sein«, entgegnete die Frau, deren blütenreiche Nase schon im voraus zu funkeln begann. »Allerdings, Madame Pipelet, habe ich den Wunsch, daß Sie mich gern sehen.« »Ich bringe zwei Gläser; ich und Alfred trinken immer aus einem Glase. Dem lieben Manne schmeckt es dann noch einmal so gut.« »Nun, Madame Pipelet, wir werden auf Alfred warten.« »Sie bleiben hier, bis ich wiederkomme?« »Verlassen Sie sich darauf.« Die Alte ging fort. Nach wenigen Augenblicken klopfte ein Briefträger ans Fenster, steckte den Arm durch und reichte zwei Briefe mit den Worten hin: »Drei Sous!« »Sechs, da es zwei Briefe sind?« fragte Rudolf. »Einer ist frei«, antwortete der Briefträger. Rudolf betrachtete die beiden Briefe, die man ihm übergeben hatte; sie schienen ihm bald einer näheren Prüfung wert zu sein. Der eine, an Frau Pipelet gerichtet, duftete stark nach Moschus. Auf dem Siegel sah man die Buchstaben K.R. darüber einen Helm auf einem gestirnten Schilde des Kreuzes der Ehrenlegion; die Adresse war mit fester Hand geschrieben, und Helm und Kreuz bestärkten Rudolf in der Meinung, daß der Brief nicht von einer Frau stamme. Wer konnte der moschusduftende, wappensüchtige Korrespondent der Madame Pipelet sein? Der andere Brief von grauem Papier, mit einer Oblate geschlossen, war an Herrn Cäsar Bradamanti, Zahnarzt, adressiert. Die offenbar verstellte Handschrift dieser Adresse bestand aus lauter großen Buchstaben. Einige Buchstaben waren halb verwischt. Es war eine Träne darauf gefallen. In diesem Augenblick kam Madame Pipelet mit einer Flasche Likör und zwei Gläsern zurück. 113
»Ich bin lange ausgeblieben, nicht wahr? Ja, wenn man einmal bei Vater Joseph im Laden ist, kommt man nicht wieder fort. – Glauben Sie, daß er sogar mit mir noch schön tut?« »Wenn das Alfred wüßte!« »Sprechen Sie nicht davon! Alfred ist eifersüchtig wie ein Beduine, wenngleich von Vater Joseph gewiß nichts zu befürchten, und alles nur Spaß ist.« »Der Briefträger hat zwei Briefe gebracht«, sagte Rudolf. »Ach, Sie haben dafür bezahlt?« »Ja.« »Sie sind sehr gütig. Ich werde es von dem Geld abziehen, das ich Ihnen wiederbringe; wieviel macht es?« »Drei Sous«, antwortete Rudolf, indem er über die seltsame Schuldentilgung Madame Pipelets lachte. »Wie, drei Sous? Sechs Sous müssen es sein, da es zwei Briefe sind.« »Ich könnte Ihr Vertrauen mißbrauchen, aber einer der Briefe ist frei. Ich muß bemerken, daß Sie einen Korrespondenten haben, dessen Briefe ungemein gut riechen.« »Es ist wahr«, sagte die Frau, indem sie den Brief nahm, »es sieht fast aus wie ein Liebesbrief. Wer könnte sich wohl unterstehen…« »Wenn nun Alfred den Brief gefunden hätte, Madame Pipelet!« »Ich weiß, ich weiß, er ist vom Kommandanten. Aber wir müssen abrechnen. Also fünfzehn Sous der Likör und drei Sous Porto, die ich behalte, macht achtzehn; achtzehn und zwei sind zwanzig, und vier Franken macht hundert Sous. Nur immer richtig bezahlt, das erhält die Freundschaft!« »Und hier sind zwanzig Sous für Sie, Madame Pipelet. Sie haben eine so bewundernswürdige Art, Auslagen zurückzuerstatten, daß ich das Meine dazu beitrage, Sie darin zu ermutigen.« »Sie schenken mir zwanzig Sous? Warum denn?« rief die Frau mit einem Gesicht, in dem sich zugleich Besorgnis und Erstaunen über diese fabelhafte Freigebigkeit aussprach. »Anzahlung auf das Trinkgeld, wenn ich das Zimmer miete.« »Nun, da nehme ich es an; aber ich muß es Alfred sagen.« 114
»Hier ist auch der andere Brief an Herrn Bradamanti.« »Ach, an den Zahnarzt im dritten Stock… Ich werde ihn in den Stiefel legen.« Rudolf glaubte, nicht recht gehört zu haben, sah aber, daß die Frau den Brief tatsächlich in einen alten Stulpenstiefel warf, der an der Wand hing. Rudolf sagte: »In Ihrem Hause ist alles in der schönsten Ordnung. Dieser Briefstiefel gefällt mir vortrefflich.« Die Frau hatte indessen den Brief geöffnet und drehte ihn nach allen Seiten um. Nach einigen Augenblicken sagte sie endlich zu Rudolf: »Bei uns hat Alfred das Amt, die Briefe zu lesen, weil ich es nicht kann. Wollen Sie einmal die Stelle meines Mannes vertreten?« »Recht gern.« Rudolf las: »Morgen, Freitag, um elf Uhr, wird man Feuer in den beiden Zimmern machen, die Spiegel putzen und überall die Bezüge von den Stühlen abziehen, sich aber wohl in acht nehmen, die Vergoldung zu beschädigen. Sollte ich zufällig noch nicht da sein, wenn um ein Uhr eine Dame im Wagen ankommt und nach mir fragt, so läßt man sie in die Wohnung hinauf, nimmt aber den Schlüssel wieder mit herunter und übergibt ihn mir, wenn ich komme.« Rudolf erriet, um was es sich handelte, und fragte: »Wer wohnt denn im ersten Stock?« Die Alte legte ihren gelben, dürren Finger auf ihre Lippen und antwortete mit einem Lächeln, das schelmisch sein sollte: »Liebesabenteuer, mein verehrter Herr.« »Ich frage nur, meine liebe Madame Pipelet, weil man, ehe man in ein Haus zieht, doch wissen möchte…« »Ich kann Ihnen wohl sagen, was ich weiß, denn es ist nicht viel. Vor etwa sechs Wochen kam ein Tapezierer, besah sich den ersten Stock, der zu vermieten war, fragte nach dem Preise und kam den nächsten Tag wieder mit einem jungen, blonden Herrn, der einen kleinen Schnurrbart, das Kreuz und schöne Wäsche trug. Der Tapezierer nannte ihn Herr Kommandant.« 115
»Er ist also Offizier?« »Nein, er gehört nur zur Nationalgarde. Als der Kommandant – wir kennen ihn nur unter diesem Namen – alles gesehen hatte, sagte er zu dem Tapezierer: ›Es ist gut, richten Sie es ein und machen sie die Sache mit dem Besitzer ab.‹ Und am anderen Tag unterzeichnete der Tapezierer den Mietkontrakt und zahlte die Miete auf ein halbes Jahr im voraus. Gleich darauf kamen die Arbeitsleute, brachten Sofas, seidene Vorhänge, goldene Spiegel und prächtige Möbel. Als alles in Ordnung war, kam der Kommandant wieder und sagte zu Alfred: ›Können Sie die Wohnung im Stande halten, von Zeit zu Zeit Feuer darin machen und alles vorbereiten zu meinem Empfang, wenn ich es Ihnen rechtzeitig melde?‹ – ›Ja, Herr Kommandant‹, sagte Alfred. – ›Und wieviel verlangen Sie dafür?‹ – ›Zwanzig Franken monatlich, Herr Kommandant.‹ – ›Zwanzig Franken? Sie spaßen wohl!‹ Und der schöne Herr handelte wie ein Jude. Wegen einiger Franken! Und gibt ein Sündengeld für eine Wohnung aus, die er gar nicht bewohnt! Sie sind ein anderer Mann«, setzte die Frau hinzu, »Sie lassen sich nicht Kommandant nennen, sehen nach nichts aus und bewilligen mir aufs erste Wort zehn Franken.« »Ist der junge Herr seitdem hier gewesen?« »Das ist eben das Spaßhafte. Man scheint den Herrn Kommandanten an der Nase herumzuführen. Er hat schon dreimal geschrieben und befohlen, Feuer anzumachen und alles in Ordnung zu bringen, weil eine Dame kommen würde. Aber die Dame kommt nicht.« »Niemand kam?« »Das erstemal kam der Herr Kommandant, trällernd und seelenvergnügt, an und wartete zwei volle Stunden; aber es war nichts. Als er vorüberging, stellten wir zwei uns ans Fensterchen, um ihn mit den Worten zu ärgern: ›Herr Kommandant, es hat keine Dame nach Ihnen gefragt.‹ – ›Schon gut!‹ antwortete er ärgerlich, kaute vor Wut an den Nägeln und schoß wie ein Pfeil hinaus. Das zweitemal brachte ein Mann ein Briefchen an Herrn Karl. ›Herr Kommandant‹, sagte ich, als er kam, und legte die Hand an meine Perücke wie ein alter Soldat, ›da ist ein Brief; es scheint heute wieder 116
nichts zu werden.‹ Er sah mich groß an, erbrach den Brief, las ihn, wurde rot wie ein Truthahn und sagte: ›Ich wußte schon, daß man heute nicht kommen würde.‹ Dann ging er wieder fort, aber er ärgerte sich doch. Wir hatten unsere Freude daran. Warum gibt er auch nur zwölf Franken?« »Und das drittemal?« »Das drittemal glaubte ich wirklich, es würde was werden. Der Kommandant kam an; sein Gesicht strahlte vor Freude, so gewiß schien er seiner Sache sicher zu sein. Er nahm den Schlüssel und sagte aufgeblasen: ›Sie werden der Dame sagen, welche Tür es ist!‹ – Gut! Wir waren neugierig und wollten die Dame doch gern sehen, obgleich wir noch nicht recht daran glaubten, daß sie kommen würde. Ein blauer Wagen hielt vor dem Hause. ›Sie ist es!‹ sagte ich zu Alfred; ›komm weiter zurück, damit sie nicht erschrickt.‹ Der Kutscher öffnete den Wagenschlag, und wir sahen eine Dame mit einem Muff auf den Knien und einem schwarzen Schleier, der ihr Gesicht verhüllte. Sie sah aus, als weine sie; kaum aber war der Tritt heruntergeschlagen, als die Dame, statt auszusteigen, einige Worte zu dem Kutscher sagte, der den Schlag sofort wieder zuwarf.« »Die Dame stieg also nicht aus?« »Nein; sie legte sich zurück und drückte die Hände aufs Gesicht. Ich lief geschwind an die Türe und sagte zu dem Kutscher: ›Nun, Sie kehren um?‹ – ›Ja‹, sagte er. – ›Und wohin fahren Sie?‹ fragte ich weiter. – ›Dahin, woher ich komme.‹ – ›Und woher kommen Sie?‹ – ›Aus der Rue St. Dominique, Ecke der Rue Belle-Chasse‹.« Rudolf fuhr bei diesen Worten zusammen. Rue St. Dominique, Ecke der Rue Belle-Chasse, wohnte der Marquis von Harville. War es die Marquise, die so in ihr Verderben eilte? Argwöhnte ihr Mann ihre Untreue? Vielleicht war das die Ursache des Kummers, der an ihm zu nagen schien. Diese Gedanken bestürmten Rudolf. Seine Unruhe war Frau Pipelet nicht entgangen. »Nun, schöner Herr, woran denken Sie?« fragte sie. »Ich denke darüber nach, aus welchem Grunde die Dame sich plötz117
lich eines anderen besonnen haben mag.« »Warum? Weiber sind so schwach, so mutlos… Ich kann es mir vorstellen. Mir würde es gewiß ähnlich ergangen sein… Armer Alfred! Kein Mann auf Gottes Erdboden kann sich rühmen…« »Ich glaube Ihnen, Madame Pipelet, aber die junge Dame?« »Ich weiß nicht, ob sie jung war; man konnte nicht einmal ihre Nasenspitze sehen. Genug, sie fuhr wieder ab, wie sie gekommen war, ganz still. Und wenn wir zehn Franken bekommen hätten, wir würden uns nicht so gefreut haben.« »Warum?« »Das Gesicht des Kommandanten … denken Sie doch. Ich mußte lachen, noch ehe ich es gesehen hatte. Zuerst ließen wir ihn eine volle Stunde zappeln. Dann ging ich hinauf; ich hatte nur Filzschuhe an und machte die Türe leise auf. Auf der Treppe war es finster, im Vorzimmer ebenfalls. – Und als ich eintrete, umfaßt mich der Kommandant mit seinen Armen und sagt in süßem Tone: ›Mein Gott, mein Engel, wie spät du kommst!‹« Madame Pipelet fuhr fort: »Hä hä! Das war prächtig, aber hören Sie nur weiter! Ich antworte nicht, halte den Atem an und sträube mich auch nicht. Mit einem Male aber schreit er auf und stößt mich von sich, als hätte er eine Spinne angegriffen. ›Wer ist denn eigentlich da?‹ brüllt er. – ›Ich bin es, Herr Kommandant, Frau Pipelet, die Portiersfrau. Sie Schlimmer! Wenn nun Alfred dazugekommen wäre!‹ – ›Was wollen Sie von mir?‹ fragte er wütend. – ›Herr Kommandant‹, sage ich, ›die Dame ist in einem Wagen angekommen.‹ – ›Nun, so führen Sie sie doch herauf! Haben Sie vergessen, was ich Ihnen befohlen habe?‹ – Ich ließ ihn reden. ›Ja, Herr Kommandant‹, sagte ich dann, ›Sie haben mir befohlen, die Dame heraufzuführen.‹ – ›Nun?‹ – ›Die Dame ist aber wieder fortgefahren.‹ – ›So haben Sie gewiß etwas Albernes gesagt‹, fuhr er mich, noch wütender an. – ›Nein, Herr Kommandant, die Dame ist gar nicht erst ausgestiegen; als der Kutscher den Schlag aufmachte, sagte sie ihm, er möge sie wieder dahin fahren, wo er sie abgeholt habe.‹ – ›Der Wagen kann noch nicht weit sein!‹ sag118
te der Kommandant und stürzte nach der Türe. ›O doch‹, antwortete ich, ›er ist schon länger als eine Stunde fort.‹ – ›Eine Stunde? Und warum sagen sie mir das erst jetzt?‹ – ›Weil wir fürchteten, Sie würden sich ärgern.‹ – ›Machen Sie, daß sie fortkommen!‹ fuhr er mich an. Dabei zog er seinen türkischen Schlafrock aus und warf sein Samtkäppchen auf die Erde – ein schönes Käppchen!« »Und seitdem ist weder er noch die Dame wiedergekommen?« »Keiner von beiden; aber hören Sie nur das Ende von der Geschichte«, sagte Madame Pipelet.
XXVII
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rau Pipelet fuhr fort: »Ich zog wieder ab, um zu meinem Alfred zu gehen und fand in meiner Stube die Portiersfrau von Nr. 19 und die Austernhändlerin, die ihren Stand neben dem Schnapsladen hat. Ich erzählte ihnen, daß der Kommandant mich seinen Engel genannt und umarmt habe. Da hätten Sie einmal das Lachen hören sollen…! In diesem Augenblick kam der Kommandant aus seiner Wohnung und schloß die Türe zu, um fortzugehen; da er uns aber lachen hörte, wagte er sich nicht herunter. Die Austernfrau sagte mit ihrer Stimme, die man über drei Häuser hinweg hört: ›Pipelet, du kommst spät, mein Engel!‹ Da kehrte der Kommandant wieder um und warf seine Türe wie toll zu; er muß sehr erregbar sein, denn er hat eine weiße Nasenspitze… Er öffnete seine Türe wohl zehnmal, um zu horchen, ob noch immer Leute in der Portiersstube wären. Wir rührten uns nicht von der Stelle. Endlich faßte er sich ein Herz, sprang die Treppe herunter, warf mir den Schlüssel zu, ohne etwas zu sagen und lief wütend davon, während die Austernfrau noch einmal schrie: ›Du kommst so spät, mein Engel!‹« »Wenn er Sie nun aber nicht mehr beschäftigt?« 119
»Ach, das wagt er nicht; wir haben ihn fest! Ich habe übrigens nichts gegen ihn, aber es macht mir Spaß, daß ihn seine Schöne an der Nase herumführt. Ich wette, daß es ihm morgen nicht besser geht. Wenn man bedenkt, daß ein Mann dabei im Spiele ist, so muß man lachen, nicht wahr, Herr? Aber das ist seine Sache und geht uns nichts an. Morgen werden wir sie sehen. Sie möchte wohl, aber sie traut sich nicht, wie man bei mir zu Hause sagt; sie geht zu einem Manne, tut aber, als fürchte sie sich. Aber entschuldigen Sie, wenn ich den Topf vom Feuer nehme; das Fleisch will gegessen sein. – Es ist ein prächtiges Stück, und Alfred wird das Herz im Leibe lachen, denn er sagt immer, für ein schönes Stück Fleisch würde er Frankreich verraten.« Nachdem die Portiersfrau ihre Hausfrauenpflichten erfüllt hatte, setzte sie ihr Gespräch mit Rudolf fort. »Wer wohnt im zweiten Stock?« fragte er. »Mutter Burette, eine Kartenschlägerin. Sie liest Ihnen in der Hand wie in einem Buche. Es kommen sehr vornehme Leute zu ihr, und sie verdient viel Geld. Das Wahrsagen ist überdies nur ihre Nebenbeschäftigung.« »Was treibt sie sonst noch?« »Sie leiht auf Pfänder aus; das wird für Sie vermutlich eine Veranlassung mehr sein, in das Haus zu ziehen.« »Warum?« »Nun, es kommt bald die Karnevalszeit, in der manchem das Geld ausgeht. Da ist es doch bequem, Hilfe im Hause zu haben! Die Frau ist überdies auch kulanter als das Leihhaus. Bringen Sie zu Mutter Burette ein Hemd, das drei Franken wert ist, so leiht sie Ihnen zehn Sous darauf; nach acht Tagen bringen Sie ihr zwanzig Sous und bekommen Ihr Hemd wieder; wenn nicht, so behält sie es. Das ist doch sehr einfach, nicht wahr? Ein Kind kann es begreifen.« »Ich glaubte, das wäre verboten.« »Es ist freilich verboten, aber wenn man nur tun wollte, was erlaubt ist, müßte man den ganzen Tag die Hände in den Schoß legen. Mutter Burette gibt nie etwas Schriftliches. Man hat also kei120
ne Beweise gegen sie, und sie lacht die Polizei aus.« »Ein anderes Gewerbe betreibt Mutter Burette nicht?« »Was sie in dem Zimmerchen tut, in das niemand hineinkommt, außer Herrn Rotarm und der Eule, das weiß ich nicht.« »Kommt die Frau oft?« »Etwa sechs Wochen ist sie nicht dagewesen, aber vorgestern haben wir sie gesehen; sie hinkte ein wenig.« »Und was will sie bei der Wahrsagerin?« »Das weiß ich nicht. Sie und Herr Rotarm müssen einen Bund mit dem Teufel haben, denn es riecht immer, wenn sie in dem kleinen Zimmer sind, wie Schwefel, Kohle und Zinn, und dann hört man sie blasen, wie Blasebälge. Mutter Burette muß da an ihrer Zauberei arbeiten; wenigstens hat es Herr Cäsar Bradamanti so gesagt, der im dritten Stock wohnt. Das ist ein gelehrter Mann, der Herr Bradamanti! Der nimmt den Leuten die Zähne aus, nicht des Geldes, sondern der Ehre wegen; ja, Herr, der puren Ehre wegen. Sie können sechs schlechte Zähne haben, er zieht Ihnen die fünf ersten ganz umsonst und läßt sich nur für den sechsten bezahlen.« »Sehr edelmütig.« »Dann verkauft er ein Wasser, das das Ausfallen der Haare verhindert, Augenschmerzen heilt, Hühneraugen zerstört, den Magen stärkt und die Ratten vertreibt.« »Also, ein Universalmittel?« »Ja… Vor einem Monat hat er den Sohn des Herrn Rotarm, den kleinen Lahmen, zu sich genommen und ihn wie einen Troubadour herausgeputzt mit einem schwarzen Barett, einem Kragen und einem gelben Wams. Er muß die Trommel schlagen, um Herrn Cäsar Kunden anzulocken.« »Der Sohn Ihres Hauptmieters scheint also eine sehr bescheidene Rolle zu spielen.« »Der Vater will ihn in gute Zucht geben, denn er sagt selbst, der Junge würde sonst auf dem Schafott enden. Und er hat recht, denn der Junge ist boshaft, wie ein Affe und spielt dem armen Herrn Bradamanti manchen Streich. Wir achten und lieben ihn sehr, denn 121
er hat Alfred von einem bösen Rheumatismus kuriert. Manche Leute freilich sind so schlecht, daß sie … aber nein, die Haare stehen einem dabei zu Berge. Alfred sagt, wenn es wahr wäre, müßte er auf die Galeeren…« »Wenn was wahr wäre?« »Ich wage nicht, es zu sagen.« »So sprechen wir nicht mehr davon!« »…es einem jungen Herrn zu sagen.« »Um Gottes willen, Madame Pipelet!« »Da Sie aber in unser Haus ziehen wollen, so müssen Sie wissen, daß es Lügen sind. – Sie können mit Herrn Bradamanti bekannt werden; wenn Sie aber an solche Gerüchte glaubten, würden Sie ihm aus dem Wege gehen!« »Also, reden Sie!« »Man sagt, daß ein Mädchen, wenn es mal einen dummen Streich gemacht hat – Sie verstehen mich schon – und die Folgen fürchtet…« »Nun?« »Ich schäme mich.« »Aber – in drei Teufels Namen! – was denn?« rief Rudolf, dem die Geduld ausging. »Hören Sie, junger Herr«, fuhr die Frau in feierlichem Tone fort, »schwören Sie mir, niemandem etwas davon zu sagen?« »Wenn ich gehört habe, was es ist, werde ich ja oder nein sagen.« »Ich verrate es Ihnen nicht wegen der sechs Franken, die Sie mir versprochen haben…« »Natürlich nicht!« »Sondern weil ich glaube, daß ich mich auf Sie verlassen kann.« »Ganz recht.« »Man sagt also – aber es darf nicht unter die Leute kommen…« »Gewiß nicht; man sagt also?« »Ich will es Ihnen ins Ohr sagen, damit es niemand hört.« Und die Alte murmelte Rudolf einige Worte ins Ohr. »Das ist ja entsetzlich!« sagte er, indem er beklommen um sich 122
blickte, als laste ein Fluch auf diesem Hause. Die Frau fuhr fort, während sie sich mit häuslichen Arbeiten beschäftigte: »Nicht wahr, das sind abscheuliche Verleumdungen? Ich glaube es nicht, und wenn ich sterben sollte.« Während Madame Pipelet ihre Entrüstung über die Verleumder äußerte, dachte Rudolf an den Brief, auf dem ein Teil der Adresse durch Tränen halb ausgelöscht war… Eine Ahnung sagte ihm, daß die Gerüchte, die über den Italiener umliefen, nicht unbegründet wären. »Da kommt Alfred«, sagte die Frau, »er wird Ihnen bestätigen, daß nur böse Zungen den armen Herrn Bradamanti solcher gräßlicher Dinge beschuldigen.«
XXVIII
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ipelet trat ernst und bedächtig in die Stube; er war ungefähr sechzig Jahre alt, hatte eine ungeheure Nase, einen respektablen Schmerbauch und ein Gesicht wie ein Nürnberger Nußknacker. Auf dem Kopfe trug er einen fuchsigen Hut mit breiter Krempe, auf dem Leibe einen alten grünen Frack mit ungeheuren Schößen und glänzenden Klappen. Trotz Hut und Frack aber, die ihm etwas Feierliches gaben, hatte Pipelet das bescheidene Zeichen seines Standes, das Schurzfell, nicht abgelegt. Der Portier grüßte Rudolf mit einer gewissen Freundlichkeit, aber sein Lächeln war bitter. »Alfred, der Herr will das Zimmer und das Schlafkabinett im vierten Stock mieten«, sagte die Frau. »Wir haben bis zu deiner Ankunft ein Glas Likör getrunken, den er holen ließ.« Durch diese zarte Aufmerksamkeit gewann Rudolf gleich das Ver123
trauen Pipelets; er legte die Hand an den vorderen Rand seines Hutes und sagte: »Wir werden Sie als Portier zufriedenstellen, wie Sie uns als Mieter zufriedenstellen werden; gleich und gleich gesellt sich gern.« Dann unterbrach er sich und sagte, mit einer gewissen Ängstlichkeit: »Aber Maler dürfen Sie nicht sein.« »Das bin ich auch nicht, sondern Handlungsgehilfe.« »Dann mache ich Ihnen mein Kompliment und wünsche Ihnen Glück.« »Die Maler haben das Leben Alfreds vergiftet«, sagte Frau Pipelet leise zu Rudolf. Dann setzte sie schmeichelnd hinzu: »Sei vernünftig, Alfred, und denke nicht mehr an jenen Flegel; du ärgerst dich sonst und das Essen bekommt dir nicht!« »Die Maler«, sagte er zu Rudolf gewandt, »sind eine Pest im Hause!« »Haben Sie einen Maler im Hause gehabt?« »Leider!« antwortete Pipelet, »und noch dazu einen, der Cabrion hieß.« Der Portier ballte bei dieser Erinnerung die Fäuste. »War es der letzte Inhaber des Zimmers, das ich mieten will?« fragte Rudolf. »Nein, der letzte Mieter war ein braver junger Mann namens Germain; vor ihm wohnte Cabrion darin. Ach, Herr, dieser Cabrion hat mich, seit er fort ist, fast zur Verzweiflung gebracht.« »Haben Sie sein Ausziehen so sehr bedauert?« fragte Rudolf. »Bedauert? Cabrion?« wiederholte der Portier. »Sie haben keine Idee von den Streichen, die er uns und den anderen Hausbewohnern gespielt hat! Er blies auf jedem nur erdenklichen Blasinstrument, um uns zu ärgern; ja, Herr, er spielte alles und ging in seiner Bosheit so weit, daß er falsch blies, stundenlang. Er zog aus, und Sie denken, nun waren wir ihn los? Gott bewahre! Den andern Tag, um elf Uhr abends, als ich schon im Bette lag, ging es: Bum! Bum! Ich stehe auf und sehe nach. ›Guten Abend, Portier‹, sagte eine Stimme; ›wollen Sie mir wohl eine Locke von Ihrem Haar ge124
ben?‹ Ich sagte zu dem Unbekannten: ›Das ist nicht hier, sondern nebenan.‹ – ›Das Haus hat doch Nr. 17? Der Portier heißt Pipelet?‹ antwortete die Stimme. – ›Ja‹, sagte ich, ›ich heiße Pipelet.‹ – ›Nun also, Freund Pipelet, ich bitte Sie um eine Haarlocke für Cabrion; er wünscht sie dringend und wird sich nicht abweisen lassen.‹« Pipelet sah Rudolf kopfschüttelnd an. »Verstehen Sie?« fuhr er dann fort, »mich, seinen Todfeind, ersucht der unverschämte Mensch um eine Haarlocke!« »Wenn nur Cabrion wenigstens ein so guter Mieter gewesen wäre wie Herr Germain!« antwortete Rudolf mit unerschütterlicher Gelassenheit. »Auch wenn er ein guter Mieter gewesen wäre, würde ich ihm keine Locke bewilligt haben«, sagte der Mann majestätisch; »es ist gegen meine Grundsätze und Gewohnheiten. Aber ich würde es mir zur Pflicht gemacht haben, ihm sein Gesuch höflich abzuschlagen.« »Das ist noch nicht alles«, fiel die Frau ein, »denken Sie sich, seit diesem Tage hatte der schreckliche Cabrion früh, abends, in der Nacht, zu jeder Stunde einen Schwarm von Plagegeistern losgelassen, die, einer nach dem anderen, kamen, um Alfred um eine Locke von seinem Haar zu bitten – und immer für Cabrion.« »Ich habe aber nicht nachgegeben«, sagte Pipelet; »ich hätte mich eher aufs Schafott schleppen lassen. Nach drei oder vier Monaten unerschütterlichen Widerstandes hat meine Energie triumphiert. Aber da fühle ich es«, setzte er hinzu, indem er die Hand auf sein Herz legte. »Mein Schlaf könnte nicht unruhiger sein, wenn ich die schrecklichsten Verbrechen begangen hätte.« »Ich begreife jetzt, daß Sie die Maler nicht lieben«, sagte Rudolf, »aber Herr Germain, von dem Sie sprachen, hat Sie doch gewiß entschädigt?« »Ach ja, er war ein netter junger Mann, treu wie Gold, dienstwillig, gar nicht stolz und sehr lustig, aber in einer Art, die niemanden belästigte.« »Wer ist denn der glückliche Hausbesitzer, der die Perle der Mieter, Herrn Germain, jetzt beherbergt?« 125
»Ist mir völlig unbekannt; niemand weiß es und soll es wissen, ausgenommen Mademoiselle Lachtaube.« »Wer ist Mademoiselle Lachtaube?« »Eine Näherin, die auch im vierten Stock wohnt«, antwortete die Frau des Portiers. »Als Germain auszog, sagte er zu uns: ›Ich erwarte keine Briefe, sollte aber zufällig einer ankommen, so übergeben Sie ihn Mademoiselle Lachtaube‹, – und sie verdient sein Vertrauen, sogar wenn Geld in dem Briefe sein sollte, nicht wahr, Alfred?« »Es ließe sich nichts gegen Mademoiselle Lachtaube sagen«, erwiderte Pipelet ernst, »wenn sie nicht so schwach gewesen wäre, sich von dem schändlichen Cabrion die Cour schneiden zu lassen.« »Was das betrifft, Alfred«, setzte die Frau hinzu, »so weißt du recht wohl, daß Mademoiselle Lachtaube daran unschuldig war.« »Herr Germain hat das Mädchen nicht wiedergesehen, seit er ausgezogen ist?« »Nein, es müßte denn sonntags geschehen sein. An anderen Tagen hat das Mädchen keine Zeit, an Liebhaber zu denken. Sie steht um fünf auf, arbeitet bis um zehn, ja bis um elf Uhr abends und kommt nur herunter, um einzukaufen, was sie mit ihren zwei Kanarienvögeln braucht. Sie brauchen alle drei nicht viel… Denken Sie übrigens, bei den armen Leuten unter dem Dache, die Herr Rotarm aus dem Hause jagen will, haben Mademoiselle Lachtaube und Herr Germain sogar Kinder gewartet.« »Es wohnt also auch eine arme Familie im Hause?« »Das glaube ich. Fünf kleine Kinder, die Mutter todkrank, die Großmutter schwachsinnig, und ein Mann, der nicht einmal trockenes Brot genug hat, wenn er auch arbeitet wie ein Negersklave.« »Das ist ja entsetzlich«, fiel Rudolf ein. »Steht denn den Leuten niemand bei?« »Wir tun, was wir können. Seit der Kommandant mir zwölf Franken monatlich gibt, koche ich wöchentlich einmal Fleisch, und die Armen oben bekommen die Brühe. Mademoiselle Lachtaube arbeitet in der Nacht, um Kleidchen und Schürzchen für die Kleinen zu nähen.« 126
»Der Zahnarzt hat nichts für die armen Leute getan?« »Herr Bradamanti? Als ich ihm von der Armut der Morels erzählte, sagte er zu mir: ›Da sie so arm sind, werde ich den Leuten, wenn sie sich Zähne ziehen lassen wollen, auch den sechsten unentgeltlich herausnehmen und ihnen eine Flasche von meinem Wunderwasser für den halben Preis geben.‹« »Ich habe nach alledem keine gute Meinung von dem Manne, Madame Pipelet, und werde keine Freundschaft mit ihm schließen. Ist die Pfandleiherin mildtätiger gewesen?« »Hm! Alles ist zu ihr gewandert bis auf die letzte Matratze, was freilich nicht viel sagen will, da sie nur zwei hatten.« »Und seitdem unterstützt sie die Leute nicht mehr?« »Die Mutter Burette? Ach, sie ist ja so geizig.« »Was tut denn der Mann?« »Er schleift Steine nach dem Stück und hat sich dabei ganz ruiniert. Sie werden es selbst sehen. Wenn Brot für sieben Personen zu schaffen ist, muß man sich rühren. Seine älteste Tochter hilft ihm, so viel sie kann.« »Wie alt ist sie?« »Siebzehn Jahre, und schön wie der Tag. Sie dient bei einem alten, steinreichen Manne, einem Notar Jacob Ferrand.« »Jacob Ferrand?« fragte Rudolf, verwundert über dieses neue Zusammentreffen. »Richtig… Kennen Sie ihn?« »Er ist der Notar des Handelshauses, in dem ich arbeite.« »So werden Sie auch wissen, daß er ein Knicker, aber rechtschaffen und fromm ist. Alle Sonntage geht er zur Messe. Luise, die Tochter des Steinschneiders, ist nun seit anderthalb Jahren bei ihm im Dienst; sie arbeitet wie ein Pferd und bekommt nur achtzehn Franken Lohn. Sechs Franken behält sie, das übrige gibt sie ihrer Familie; es ist freilich etwas, aber wenn sieben Personen davon essen sollen…« »Wieviel kann der arme Mann den Tag über verdienen?« »Wenn er nicht seine Mutter, seine Frau und seine Kinder pflegen müßte, würde er vier Franken verdienen, weil er so fleißig ist; 127
da er aber drei Viertel seiner Zeit nicht arbeiten kann, so verdient er höchstens einen Franken.« »Die armen Leute!« »Ja, das ist bald gesagt. Es gibt aber so viele arme Leute, denen man nicht helfen kann, daß man sich trösten muß, nicht wahr, Alfred?« Pipelet, dem der Magen knurrte, brummte etwas Unverständliches. Dann fragte er Rudolf, in sachlichem Ton: »Reflektieren Sie also auf das Zimmer oben?« »Allerdings, und wenn es mir gefällt, gebe ich Ihnen gleich das Draufgeld.« Der Portier ging aus seiner Stube hinaus, und Rudolf folgte ihm.
XXIX
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ie stiegen die dunkle, feuchte Treppe hinauf. Der Eingang zu jeder Wohnung in diesem Hause war für den aufmerksamen Beobachter höchst aufschlußreich. So war die Türe der Wohnung, die der Kommandant als Absteigequartier benutzte, neu gestrichen; am Schlosse blitzte ein vergoldeter Drücker, und eine schöne Klingelschnur mit rotseidener Quaste stach grell von der schmutzigen Wand ab. Die Türe der Wohnung, in der die Wahrsagerin und Pfandleiherin hauste, gewährte einen seltsamen Anblick: eine ausgestopfte Eule war mit den Fängen und Flügeln darüber angenagelt, und ein kleines vergittertes Schiebefenster gestattete, die Ankommenden zu mustern, bevor ihnen geöffnet wurde. Auch die Wohnung des italienischen Scharlatans, der, wie man argwöhnte, ein schändliches Gewerbe betrieb, zeichnete sich durch ihren seltsamen Eingang aus. 128
Sein Name war, mit Pferdezähnen auf einer schwarzen Holztafel gebildet, an der Türe zu lesen. Die Klingelschnur endete in dem Vorderarm und der Hand eines Affen. Dieser vertrocknete Arm und die linke Hand mit den fünf Fingern sahen grausig aus; man konnte glauben, sie rührte von einem Kinde her. Als Rudolf an dieser Türe vorbeiging, glaubte er unterdrücktes Schluchzen zu hören; dann schallte plötzlich ein krampfhafter, schrecklicher Schmerzensschrei durch die Stille des Hauses. Rudolf zuckte zusammen. Mit einer gedankenschnellen Bewegung trat er an die Tür und klingelte heftig. »Was wollen Sie, Herr?« fragte der Portier. »Dieser Schrei…«, antwortete Rudolf, »haben sie ihn gehört?« »Allerdings. Herr Bradamanti zieht wahrscheinlich jemandem die Zähne aus.« Diese Erklärung genügte Rudolf nicht. Er hatte außerordentlich heftig geklingelt. Anfangs rührte sich nichts. Dann wurden plötzlich mehrere Türen geschlossen, und Rudolf sah hinter einem runden Fenster neben der Türe, auf das er unwillkürlich seine Blicke gerichtet hatte, ein hageres, leichenblasses Gesicht. Nach einer Sekunde verschwand die Erscheinung wieder. Rudolf blieb wie versteinert stehen. Die grünen Augen, die unter rötlichen Brauen funkelten, die Leichenblässe, die dünne, vorspringende Nase erinnerten ihn frappant an den Abbé Polidori, dessen Namen Murph in seinem Gespräch mit dem Baron von Graun verflucht hatte. Obgleich Rudolf den Abbé Polidori seit sechzehn Jahren nicht gesehen hatte, so hatte er doch tausend Gründe, ihn nicht zu vergessen. Er wunderte sich übrigens nicht, einen Mann, dessen hohen Verstand und seltenen Geist er kannte, in diese Tiefe versun129
ken zu sehen. Er wußte, daß dieser Mensch vor nichts zurückschreckte, wenn es darum ging, sich das Geld, dessen er zur Befriedigung seiner zügellosen Leidenschaften bedurfte, zu beschaffen. »Wohnt Herr Bradamanti schon lange in diesem Hause?« fragte Rudolf den Portier. »Seit ungefähr einem Jahr. Er ist ein pünktlicher Zahler und hat mich von einem famosen Rheumatismus befreit. Aber, wie ich Ihnen schon sagte, er hat einen Fehler: er schont in seinen Reden weder Gott noch die Welt.« »Ist er sehr lustig?« »O nein, im Gegenteil, er sieht aus wie eine Leiche; aber er höhnt über alles, selbst über seine Laster, Herr, über seine eigenen Laster. Ich kann es Ihnen nicht verschweigen, bei seinen Späßen schauert's mich manchmal. Wenn er eine Viertelstunde unten in meiner Stube gesessen und unanständig über die Frauenzimmer der verschiedenen wilden Länder gesprochen, die er besucht hat, und ich bin dann mit meiner Anastasia wieder allein, dann schäme ich mich blutig und bin, weiß Gott, kein Tugendbold! So redet dieser Mann.« »Und Ihre Frau duldet das?« »Anastasia hört gern geistreiche Reden, und Herr Cäsar, das muß man ihm lassen, plaudert sehr geistreich.« »Sie hat gewisse Gerüchte erwähnt…« »Hat sie davon gesprochen?« »Haben Sie aber keine Angst! Ich bin verschwiegen.« Fest entschlossen, das Geheimnis, das diesen Menschen umgab, zu ergründen, folgte Rudolf dem Portier in das obere Stockwerk, in dem sich das Zimmer befand, das er mieten wollte. Die Wohnung der Mademoiselle Lachtaube war leicht zu erkennen. Ein halbes Dutzend kleiner dickbäckiger Amoretten, im Geschmack Watteaus leicht und geistreich auf die Tür gemalt, war um eine zierliche Einfassung gruppiert; der eine trug einen Fingerhut, der andere eine Schere, der dritte ein Bügeleisen, der vierte einen kleinen Spiegel; in der Mitte der Verzierung, auf hellblauem Grunde, las man 130
in roten Buchstaben: ›Mademoiselle Lachtaube, Näherin‹. Das Ganze war von einer Blumengirlande umgeben, die sich von dem grünen Grunde der Türe gut hervorhob. Dieses kleine Gemälde war sehr hübsch und stach ebenfalls auffallend von der häßlichen Treppe ab. Rudolf fragte, während er auf die Türe zeigte: »Das ist ohne Zweifel das Werk des Herrn Cabrion?« »Ja, er hat sich erlaubt, die frisch angestrichene Türe mit seiner unanständigen Pinselei zu verderben. Hätte nicht Mademoiselle Lachtaube um Schonung gebeten, so hätte ich die Malerei ebenso weggekratzt wie die auf Ihrer Türe.« Rudolf folgte dem Portier in das ziemlich geräumige Zimmer, vor dem sich ein kleines Kabinett befand, dessen zwei Fenster auf die Straße gingen. Nach kurzer Besichtigung gab er dem Portier bescheiden vierzig Sous und sagte: »Das Zimmer gefällt mir sehr, hier ist das Draufgeld; morgen werde ich die Möbel schicken. Daß ich zu Herrn Rotarm gehe, ist wohl nicht nötig?« »Nein. Die Mieter unterhandeln nur mit mir… Ihr Name?« »Rudolf.« »Rudolf – weiter?« »Nur Rudolf, Herr Pipelet.« »Ich frage nicht aus Neugierde.« »Sagen Sie, Herr Pipelet, darf ich wohl als neuer Nachbar zu der Familie Morel gehen, um zu fragen, ob ich ihnen behilflich sein kann, da mein Vorgänger, Herr Germain, sie ebenfalls unterstützte?« »Das können Sie tun. Sie werden sich nur darüber freuen.« Dann setzte Pipelet, als komme ihm plötzlich ein Gedanke, hinzu: »Verzeihung, ich will nun auf mein kleines Observatorium gehen.« »Was ist denn das?« »Über dieser Leiter befindet sich der Vorsaal, auf den das Stüb131
chen Morels geht, und hinter einer Tapete ist ein kleines Loch; da kann ich alles sehen und hören, als wäre ich drinnen in der Wohnung. Ich will nicht spionieren; ich gehe aber zuweilen dahin, wie man ins Theater geht, um ein recht schauerliches Stück anzusehen. Komme ich dann wieder in meine Stube, so glaube ich in einem Palast zu sein. Wenn Sie etwas von den Leuten sehen und hören wollen, so kommen Sie mit!« »Sie sind sehr gütig, Herr Pipelet, aber lieber ein anderes Mal.« »Wie Sie wollen. Gehen Sie indessen immer hinunter, ich komme Ihnen gleich nach.« Rudolf warf einen Blick auf die Tür der Mademoiselle Lachtaube und dachte daran, daß dieses Mädchen ohne Zweifel den Aufenthalt des Sohnes des Schulmeisters kennen würde. Plötzlich hörte er, daß die Tür Bradamantis geöffnet wurde. Er erkannte den leichten Tritt einer Frau und vernahm das Rauschen eines seidenen Kleides. Um nicht neugierig zu erscheinen, blieb Rudolf einen Augenblick stehen. Als er nichts mehr hörte, ging er hinunter. Im zweiten Stock sah er, auf einer der letzten Treppenstufen, ein Taschentuch liegen, das er aufhob; es gehörte offenbar der Person, die aus der Wohnung des Italieners gekommen war. Rudolf trat an eines der schmalen Fenster, welche die Treppe beleuchteten, und besah das Tuch; in der einen Ecke waren ein L. und ein N. mit einer Herzogskrone eingestickt. Das Taschentuch war von Tränen durchnäßt. Als Rudolf wieder vor der Portiersloge stand, fragte er: »Ist eben eine Dame vorübergegangen?« »Ja. Eine Dame mit einem schwarzen Schleier. Sie kam von Herrn Cäsar. Der kleine Lahme mußte ihr einen Wagen holen. Der Junge setzte sich hinten darauf, wahrscheinlich, um zu sehen, wohin sie fährt; er ist neugierig wie eine Elster und flink wie ein Wiesel, trotz seinem lahmen Fuße.« So erfährt der Scharlatan vielleicht den Namen der Dame, dachte Rudolf. »Nun, gefällt Ihnen das Zimmer?« fragte die Frau. 132
»Ja, ich habe es gemietet.« »Gott segne Sie! Wir werden an Ihnen einen vortrefflichen Mieter haben.« »Es ist also abgemacht: Sie besorgen meine kleine Wirtschaft. Auf Wiedersehen, Madame Pipelet.« Damit ging Rudolf fort. Die Resultate seines Besuches in dem Hause der Rue du Temple waren: Mademoiselle Lachtaube kannte die neue Wohnung des Franz Germain; eine junge Dame, mit einiger Wahrscheinlichkeit die Marquise von Harville, hatte dem Kommandanten für den nächsten Tag ein neues Rendezvous versprochen, das sie, vielleicht für immer, unglücklich machen konnte; ein redlicher und arbeitsamer Mann, den die schrecklichste Armut niederdrückte, sollte mit seiner Familie durch Rotarm aus dem Hause gejagt werden; Spuren eines Abenteuers, in dem die Hauptpersonen der Scharlatan Cäsar Bradamanti (vielleicht der Abbé Polidori) und eine Dame waren, die ohne Zweifel den höchsten Kreisen der Gesellschaft angehörte; die Eule, vor kurzem aus dem Hospital entlassen, stand in verdächtiger Verbindung mit der sogenannten Mutter Burette, einer Wahrsagerin und Pfandleiherin, die das zweite Stockwerk des Hauses inne hatte. Nachdem Rudolf dies alles erfahren hatte, kehrte er in seine Wohnung zurück und verschob seinen Besuch bei dem Notar Jacob Ferrand auf den nächsten Tag.
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arah Seyton, damals Witwe des Grafen MacGregor und siebenbis achtunddreißig Jahre alt, stammte aus einer schottischen Familie und war die Tochter eines Landedelmannes. Im siebzehnten Jahre verwaist, hatte Sarah mit ihrem Bruder, Tom 133
Seyton von Halesbury, Schottland verlassen. Die törichten Prophezeiungen einer alten Hochländerin hatten die beiden Hauptfehler Sarahs: Stolz und Ehrgeiz, fast bis zum Wahnsinn gesteigert, indem sie ihr einen Thron verhießen. Die junge Schottin glaubte an die Prophezeiung jener Wahrsagerin, und Tom Seyton, der so abergläubisch war wie seine Schwester, bestärkte sie in ihren törichten Hoffnungen und hatte sich vorgenommen, der Verwirklichung des unsinnigen Traumes sein Leben zu widmen. Nach dem Gothaischen Hofkalender von 18.. entwarf Tom Seyton, kurz vor der Abreise aus Schottland, eine Tabelle von allen souveränen Fürsten Europas, die damals heiratsfähig waren. Das Resultat war befriedigend. Deutschland zumal verfügte über eine ziemliche Anzahl junger Thronerben; Sarah war Protestantin, und Tom wußte, wie leicht es in Deutschland war, eine Ehe zur linken Hand zu schließen. Beide entschlossen sich also, zuerst nach Deutschland zu gehen. Nach der Ankunft auf dem Kontinent wollte Sarah, wie ihr Bruder es ihr riet, ihre Unternehmungen nicht beginnen, bevor sie sich eine Zeitlang in Paris aufgehalten hatte, wo sie ihre britische Steifheit abzulegen hoffte. Sarah wurde in der besten Pariser Gesellschaft eingeführt. Nach einem Aufenthalt von sechs Monaten hätte sie mit jeder Pariserin an pikanter Grazie des Geistes, an Heiterkeit und Koketterie wetteifern können. Nachdem seine Schwester auf diese Weise genügend vorbereitet war, reiste Tom mit ihr nach Deutschland, wohin er die vorzüglichsten Empfehlungsschreiben mitnahm. Der erste Staat, der in dem Reiseplan Sarahs stand, war das Großherzogtum Gerolstein. Der mutmaßliche Thronerbe von Gerolstein, Gustav Rudolf, zählte kaum achtzehn Jahre, als Tom und Sarah seinem Vater vorgestellt wurden. Die Ankunft der jungen Schottin war an dem kleinen, stillen Hofe 134
ein Ereignis. Vierzehn Tage nach ihrer Ankunft hatte Sarah, die eine scharfe Beobachtungsgabe besaß, den milden, loyalen Geist des Großherzogs erkannt; ehe sie den Sohn gewann, wollte sie sich der Meinung des Vaters versichern. Dieser schien seinen Sohn so zu lieben, daß Sarah glaubte, er würde lieber in eine Mésalliance willigen, als seinen Sohn unglücklich sehen wollen. Bald aber überzeugte sich die Schottin, daß der so zärtliche Vater von gewissen Grundsätzen über die Pflichten eines Fürsten niemals abweichen würde. Sarah stand bereits auf dem Punkt, ihr Unternehmen aufzugeben. Als sie aber bedachte, daß Rudolf sehr jung war, daß man allgemein seine Sanftmut, seinen schüchternen und träumerischen Charakter rühmte, hielt sie den jungen Prinzen für schwach und unentschlossen, sah darin ein günstiges Zeichen und blieb bei ihrem Plan und ihren Hoffnungen. Sie wußte namentlich die Personen für sich zu gewinnen, die auf ihre Vorzüge eifersüchtig hätten sein können. Bald wurde sie der Abgott nicht nur des Großherzogs, sondern auch der verwitweten Großherzogin Judith, die, trotz ihren sechsundneunzig Jahren, alles, was jung und schön war, liebte. Tom und Sarah sprachen mehrmals von ihrer Abreise, und niemals wollte der Souverän einwilligen. Um den Bruder und die Schwester ganz für sich zu gewinnen, ersuchte er den Baronet Tom Seyton von Halesbury, die Stelle eines ersten Stallmeisters anzunehmen und bat Sarah, die Großherzogin Judith nicht zu verlassen. Nach langem Sträuben nahmen Tom und Sarah diese glänzenden Anträge an und blieben am Hofe von Gerolstein. Sarah war eine ausgezeichnete Musikkennerin. Als sie von der Vorliebe der Großherzogin für die alten Meister, besonders für Gluck, erfuhr, ließ sie die Werke dieses berühmten Meisters kommen und fesselte die alte Fürstin durch das Talent, mit dem sie seine schönen Arien sang. Tom wußte sich in dem Amt, das der Großherzog ihm übertragen hatte, sehr nützlich zu machen. Er war ein hervorragender Pfer135
dekenner, besaß Ordnungsliebe und Festigkeit und brachte in kurzer Zeit den Stalldienst, der durch Nachlässigkeit sehr heruntergekommen war, wieder in die Höhe. So genoß denn das Paar am Hofe alle Ehren, ohne daß auch nur ein einziges Mal die Rede von Rudolf gewesen wäre. Infolge eines glücklichen Zufalls war er übrigens, einige Tage nach der Ankunft Sarahs, mit einem Adjutanten und dem treuen Murph zu einer Truppeninspektion abgereist. Bruder und Schwester ließen sich aber durch die Abwesenheit ihres Opfers nicht hindern, ihre Pläne weiter zu verfolgen und, absichtlich und bewußt, Unruhe und Kummer an dem bis dahin so friedlichen und glücklichen Hofe zu stiften. Sie berechneten kaltblütig die wahrscheinlichen Ergebnisse des Zwistes, den sie zwischen Vater und Sohn säten, die bis dahin durch die innigste Liebe verbunden gewesen waren.
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udolf war, von seiner Kindheit an, von schwächlicher Gesundheit gewesen. Deshalb ließ der Großherzog aus England einen Mann kommen, der seinen Sohn nach den bewährten Prinzipien englischer Landedelleute erziehen sollte. Dieser Mann war Walter Murph. Murph und sein Zögling bewohnten mehrere Jahre ein Landgut, das inmitten von Feldern und Wäldern gelegen war. Rudolf führte hier, frei von jeder Etikette, ein gesundes und regelmäßiges Landleben, beschäftigte sich mit ländlichen Arbeiten, und seine Vergnügungen waren Leibesübungen: Ringen, Faustkampf, Reiten und Jagd. In der reinen Luft der Wiesen, Wälder und Berge wurde der Prinz 136
kräftig wie eine junge Eiche. Er lernte die schwersten Strapazen ertragen und errang Gewandtheit, Energie und Mut. Walter Murph war kein Gelehrter und konnte Rudolf nur die notwendigen Elementarkenntnisse beibringen; dagegen verstand es niemand besser als er, in seinem Schüler das Gefühl für Recht und Ehre sowie den Abscheu vor allem Niedrigen und Gemeinen zu entwickeln. Murph gab also seinem Zögling die Gesundheit des Körpers und der Seele. Nachdem er auf diese Weise seine Aufgabe gelöst hatte, beriefen ihn wichtige Interessen nach England zurück, und er verließ, zur großen Betrübnis Rudolfs, der ihn zärtlich liebte, Deutschland für die Dauer eines Jahres. Der Abbé Polidori, ein berühmter Philolog, Arzt und Geschichtsforscher, erhielt nun den Auftrag, die wissenschaftliche Ausbildung des Prinzen zu leiten. Der Abbé Polidori war gottlos, heuchlerisch und boshaft; er heuchelte christliche Demut und trug salbungsvolle Güte zur Schau, um seine Schlechtigkeit zu verbergen; er besaß dabei eine große Menschenkenntnis und war so der gefährlichste Lehrer, den man einem jungen Manne geben konnte. Rudolf, der höchst ungern das freie und unabhängige Leben aufgab, das er bis dahin geführt hatte, hegte, vom Anfang an, einen heftigen Widerwillen gegen den Abbé. Er erklärte ihm sogleich, daß er keinen Hang zum Studium in sich fühle, daß er Arme und Beine üben, die freie Luft atmen, in den Wäldern und auf den Bergen umherschweifen wolle, und daß er ein gutes Gewehr und ein gutes Pferd den schönsten Büchern vorziehe. Daraufhin entwarf der Abbé eine so lächerliche Schilderung des einfachen, ländlichen Lebens, daß Rudolf sich zum ersten Mal schämte und den Priester fragte, womit man seine Zeit hinbringen könne, wenn man das Studium nicht lieben und die Jagd und das freie Leben auf dem Lande nicht achten könne. Der Abbé antwortete, daß er ihn später darüber aufklären werde. 137
Da Rudolf seine Abneigung gegen das Studium nicht überwand, so verschwieg der Abbé, um seine ehrgeizigen Pläne nicht stören zu lassen, dem Großherzog den wahren Stand der Dinge, rühmte vielmehr den Fleiß und die staunenswerten Fortschritte des jungen Prinzen und erhielt so den Großherzog in seinem blinden Vertrauen. Der Abbé war übrigens zu schlau, um offen gegen gewisse Überzeugungen Rudolfs, die Frucht der Erziehung Murphs, zu verstoßen. Er reizte aber die Neugierde seines Schülers durch Andeutungen über das herrliche Leben gewisser Fürsten in früherer Zeit; dann gab er den dringenden Bitten Rudolfs nach und entflammte, nach mancherlei scherzhaften Bemerkungen über den zeremoniellen Ernst am Hofe des Großherzogs, die Phantasie des jungen Prinzen durch lebhaft ausgemalte Erzählungen von den galanten Vergnügungen Ludwigs XIV. und besonders Ludwigs XV. des Helden Cäsar Polidoris. Er versicherte dem Jüngling, der ihm begehrlich lauschte, daß selbst übermäßige Genüsse einem Fürsten nicht nur nicht schadeten, sondern ihn gnädig und groß machten. Seinen Worten nach konnte ein kluger Fürst die Menschen durch das Vergnügen besser, durch das Glück tugendhafter machen und in den Ungläubigsten das religiöse Gefühl steigern, indem er ihren Dank für den Schöpfer weckte, der den Menschen Genüsse in unerschöpflicher Fülle biete. Alles genießen, hieß, nach dem Abbé, Gott in der Herrlichkeit seiner Gaben preisen. Diese Lehren trugen ihre Früchte. Rudolf träumte bereits von den tollen Nächten in Versailles, von den Orgien in Choisy, von den Freuden und Genüssen einer romantischen Liebschaft. Aber er machte sich, nachdem er seinen ersten Widerwillen gegen den Abbé überwunden hatte, auch seinen wissenschaftlichen Unterricht zunutze und erwarb sich mannigfaltige Kenntnisse, die ihn in den Stand setzten, gebildeter zu erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Murph kam endlich aus England zurück und weinte vor Freuden, als er seinen Zögling wieder in seine Arme schloß. 138
Nach einigen Tagen fand er, ohne die Ursache der Veränderung, die ihn tief betrübte, zu ergründen, Rudolf kalt und ironisch. Er konnte, da ihm die natürliche Herzensgüte des jungen Prinzen bekannt war, die Vermutung nicht von sich weisen, der Einfluß des Abbé Polidori habe Rudolf verdorben. Um diese Zeit erschienen Tom und Sarah. Einige Tage vorher war Rudolf mit einem Adjutanten und Murph abgereist, um die Truppen in einigen Garnisonen zu inspizieren. Da dieser Ausflug einen rein militärischen Charakter hatte, war der Abbé in Gerolstein geblieben. Murph hoffte, bei dieser Gelegenheit über die Ursache der Kälte Rudolfs Klarheit zu gewinnen. Obwohl Rudolf sich verstellte und Murph, um ihn zu täuschen, Beweise seiner alten Zuneigung zu geben suchte, ahnte Murph, daß zwischen ihnen ein Geheimnis lag, aber er versuchte vergebens, es zu ergründen. Seine Versuche scheiterten an der Verstellungskunst Rudolfs. Der Abbé war während dieser Reise nicht müßig gewesen. Einige Tage nach der Ankunft Toms und Sarahs war er bereits mit Tom eng befreundet. Das plötzliche Erscheinen der bildhübschen Sarah hielt der Abbé für einen Fingerzeig. Rudolfs Phantasie war von Liebesträumen entflammt. Sarah mußte für ihn die herrliche Wirklichkeit bedeuten, und die junge Schottin mußte offenbar einen unermeßlichen Einfluß auf ein Herz erlangen, das zum ersten Male in Liebe entbrannte. Diesen Einfluß wollte der Abbé benutzen, Murph für immer aus dem Felde zu räumen. Als kluger Mann gab er dem Geschwisterpaar deutlich zu verstehen, daß sie nur auf ihn zu zählen hätten, da er allein dem Großherzog für das Privatleben des jungen Prinzen verantwortlich sei. Das sei, sagte er, noch nicht alles: man müsse besonders auf der Hut sein vor einem ehemaligen Lehrer des Prinzen, der ihn jetzt auf einer Inspektionsreise begleite. Dieser ungeschlachte Mensch voll törichter Vorurteile könnte ein gefährlicher Wächter werden und sich für verpflichtet halten, dem streng moralischen Großherzog Anzeige 139
zu erstatten. Tom und Sarah erkannten sofort die Bedeutung dieser Warnung, und als Rudolf zurückkehrte, waren sie mit dem Abbé gegen Murph, ihren gefährlichsten Feind, verbündet.
XXXII
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s geschah, was geschehen mußte. Rudolf verliebte sich leidenschaftlich in Sarah, und bald gestand auch sie ihm ihre Liebe. Sie bat zugleich den Prinzen um die tiefste Verschwiegenheit, damit nicht der Argwohn des Großherzogs geweckt würde, der gewiß unerbittlich sein und sie ihres Glückes berauben werde. Beide beherrschten sich äußerlich, und das Geheimnis ihrer Liebe blieb lange Zeit verborgen. Als die Geschwister sahen, daß die Leidenschaft des Prinzen den höchsten Grad erreicht hatte, und ein Eklat zu fürchten war, der alles verderben konnte, nahmen sie sich vor, den großen Streich zu führen. Da der Charakter des Abbé eine vertrauliche Mitteilung gestattete, machte ihm Tom Eröffnungen über die Notwendigkeit einer Heirat zwischen Rudolf und Sarah, wenn er und seine Schwester Gerolstein nicht augenblicklich verlassen sollten. Sarah teile die Liebe des Prinzen, würde aber den Tod der Schande vorziehen und könne nur als seine Gattin mit ihm leben. Dieser Plan setzte den Priester in Erstaunen; für so ehrgeizig hatte er Sarah nicht gehalten. Er sagte Tom offen, daß der Großherzog in eine solche Verbindung niemals willigen würde. Tom ließ diese Gründe gelten und schlug als Ausweg eine geheime Vermählung vor, die erst nach dem Tode des Großherzogs bekannt140
gegeben werden solle. Zum Schluß bewilligte er dem Prinzen acht Tage Zeit zur Überlegung. Länger, sagte er, würde seine Schwester die peinigende Ungewißheit nicht ertragen; müsse sie auf die Liebe Rudolfs verzichten, so wünsche sie diesen schmerzlichen Entschluß so schnell als möglich zu fassen. Für jeden Fall hatte Tom, wie er sagte, an einen seiner Freunde in England einen Brief geschrieben, der in London auf die Post gegeben werden sollte; dieser Brief würde die plötzliche Abreise der Geschwister verständlich machen. Der Abbé, der klug genug war, die wirklichen Absichten der ehrgeizigen Schottin bis auf den Grund zu durchschauen, erkannte sofort, daß er zwischen drei Wegen die Wahl habe: Er konnte dem Großherzog dieses Heiratskomplott entdecken, dem Prinzen die Augen über die Intrigen Toms und Sarahs öffnen oder die Hände zu dieser Verbindung bieten. Wenn er dem Großherzog Anzeige machte, so entfremdete er sich den mutmaßlichen Thronerben für immer. Wenn er Rudolf aufklärte, so setzte er sich der Gefahr aus, bei ihm auf Unglauben zu stoßen und sich so seine Sympathie zu verscherzen, mit der er rechnete. Wenn er dagegen die Hand zu dieser Heirat bot, fesselte er den Prinzen und seine Gattin, zunächst wenigstens, an sich. Ohne Zweifel konnte alles entdeckt werden, und er setzte sich in diesem Falle dem Zorne des Großherzogs aus. War aber die Heirat geschlossen, so mußte der Sturm vorüberziehen, und der künftige Fürst von Gerolstein um so größere Verpflichtungen gegen den Abbé haben, je schwereren Gefahren dieser sich für ihn ausgesetzt hatte. Nach reiflicher Überlegung entschloß sich also der Abbé, Sarah behilflich zu sein. Als der Abbé Rudolf vor die Wahl stellte, das reizende Mädchen entweder nie wiederzusehen oder seinen Besitz sich durch eine geheime Vermählung zu sichern, fiel Rudolf dem Geistlichen um den Hals und nannte ihn seinen Retter. Der Abbé wollte, aus bestimmten Gründen, selbst alles Weitere 141
übernehmen. Er fand einen Geistlichen und Zeugen, und die Trauung wurde insgeheim, während einer kurzen Abwesenheit des Großherzogs, vollzogen. Die Prophezeiung war erfüllt: Sarah vermählte sich mit dem Erben einer Krone. In den drei ersten Monaten seiner Ehe, die wirklich geheim blieb, war Rudolf der glücklichste Mensch auf Erden. Auch als an die Stelle der Leidenschaft die ruhige Überlegung trat, bereute er es nicht, sich an Sarah gefesselt zu haben. Ein von Sarah mit Ungeduld erwartetes Ereignis ließ aber die Ruhe bald dem Sturme weichen. Sarah wurde schwanger und erklärte Rudolf, unter erheuchelten Tränen, daß sie den Zwang, in dem sie lebe, nicht länger ertragen könne. In dieser Not schlug sie Rudolf vor, dem Großherzog alles zu gestehen. Rudolf wußte, wie sehr sein Vater ihn liebte; er kannte aber auch die Unbeugsamkeit seiner Grundsätze. Auf alle Einwendungen, die er deshalb erhob, antwortete Sarah unerschütterlich: »Ich bin deine Frau vor Gott und vor den Menschen. Bald werde ich meinen Zustand nicht mehr verbergen können. Das will ich auch nicht, sondern ich gedenke mich seiner laut zu rühmen.« Tom nahm die Partei seiner Schwester. »Die Ehe ist unauflöslich«, sagte er zu seinem Schwager. »Der Großherzog kann Sie und Ihre Gemahlin vom Hofe verbannen, mehr nicht. Er liebt Sie aber viel zu sehr, als daß er sich zu einer solchen Maßregel entschließen könnte; er wird vorziehen, zu dulden, was er nicht verhindern kann.« Diese Gründe beruhigten Rudolf nicht. Tags darauf erhielt Tom vom Großherzog den Auftrag, mehrere Gestüte zu besuchen. Sarah versprach ihrem Bruder, ihm täglich Nachricht vom Gange der für beide so wichtigen Sache zu geben. Damit die Korres142
pondenz sicher und geheim sei, kamen sie über eine Chiffre überein. Schon diese Vorsicht bewies, daß Sarah ihrem Bruder von anderen Dingen als von ihrer Liebe zu Rudolf zu schreiben hatte. Und wirklich: das Eis im Herzen dieses selbstsüchtigen, ehrgeizigen Weibes war selbst an der Flamme der leidenschaftlichen Liebe nicht geschmolzen, die sie entzündet hatte. Ihre Schwangerschaft war für sie nur ein Mittel zum Zweck. Die Jugend, die grenzenlose Liebe, die Unerfahrenheit des Prinzen, der hinterlistig in eine so gefährliche Lage gebracht worden war, erweckten in ihr alles andere als Teilnahme. Sie beklagte sich vielmehr Tom gegenüber mit bitterem Spott über die Schwäche dieses knabenhaften Jünglings, der vor seinem Vater zittere. Wenige Tage nach der Abreise Toms befand sich Sarah in einer Gesellschaft bei der verwitweten Großherzogin. Mehrere Damen sahen sie verwundert an und zischelten einander Beobachtungen ins Ohr. Die Großherzogin Judith hatte ein scharfes Auge, und das Tuscheln entging ihr nicht. Sie winkte einer ihrer Damen und erfuhr von ihr, daß man Miß Sarah Seyton von Halesbury minder schlank finde als gewöhnlich. Die alte Großherzogin zuckte, unwillig über das boshafte Geschwätz, mit den Achseln und sagte ganz laut: »Liebe Sarah!« Sarah stand auf. Sie mußte durch den Kreis der Damen gehen, und nun bemerkten auch die Unerfahrensten, was Sarah gar nicht verbergen wollte. Sie hatte diesen Eklat vielmehr absichtlich herbeigeführt, um Rudolf zu zwingen, seine Ehe einzugestehen. Die Großherzogin, die ihren Augen nicht trauen wollte, sagte leise zu Sarah: »Liebes Kind, Sie haben sich heute nicht gut gekleidet. Ihre Taille ist sonst mit den Fingern zu umspannen…« Die Folgen dieser Entdeckung waren tragisch genug. Es wird über 143
sie noch zu sprechen sein. Kehren wir jetzt zu Rudolf zurück, der, nachdem er das Haus in der Rue du Temple verlassen hatte, einen Ball besuchen sollte, den die Gemahlin des ***schen Gesandten gab.
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m elf Uhr abends öffnete ein Schweizer in Staatslivree die Tür eines Palastes in der Rue Plumet, um einen mit zwei herrlichen Grauschimmeln bespannten Galawagen hinauszulassen. Auf dem Bock mit gefranster Brokatdecke saß ein ungeheurer Kutscher, der einen blauen Pelzrock mit Marderkragen, silbernen Tressen und Schnüren trug. Hinten stand ein riesenhafter, gepuderter Lakai in blauer Livree neben einem Jäger, dessen breit bordierter Hut zur Hälfte von einem gelbblauen Federbusch verdeckt wurde. Die Laternen warfen helles Licht in das Innere des mit Atlas ausgeschlagenen Wagens; Rudolf zur Linken saß der Baron von Graun, ihm gegenüber der treue Murph. »Ich freue mich«, sagte Rudolf, »über die günstigen Nachrichten, die mir Madame Georges über meinen kleinen Schützling in Bouqueval gibt. Die Behandlung Davids hat Wunder gewirkt… Gestehen Sie übrigens, Sir Walter«, setzte Rudolf lächelnd hinzu, »daß, wenn einer von Ihren Bekannten in der Cité Sie in Ihrer jetzigen Verkleidung sähe, er sich ungemein wundern würde.« »Ich glaube, daß Hoheit dieselbe Verwunderung erregen würde, wenn Sie heute abend Frau Pipelet in der Rue du Temple einen freundschaftlichen Besuch machen wollten.« »Hoheit haben uns diesen Alfred mit dem majestätischen Frack und dem unabsetzbaren Hute so vollkommen geschildert«, setzte der Baron hinzu, »daß ich ihn in seiner verräucherten Stube vor mir 144
sitzen sehe. Übrigens sind Hoheit, wie ich hoffe, mit den Mitteilungen meines Agenten zufrieden. Hat das Haus in der Rue du Temple Ihren Wünschen entsprochen?« »Ja«, sagte Rudolf, »ich fand dort sogar mehr, als ich erwartete.« Seine Züge verdüsterten sich. Er versank in traurige Gedanken und schwieg, bis der Wagen in den Hof des Gesandtschaftspalastes einfuhr. Alle Fenster glänzten hell in die dunkle Nacht; eine doppelte Reihe von Lakaien in Staatslivree stand, vom Ehrenhof bis zu den Vorzimmern, in denen sich die Kammerdiener befanden, bereit. Es war ein imposanter und königlicher Luxus. Graf und Gräfin X. waren bis zur Ankunft Rudolfs im ersten Empfangssaal geblieben. Bald trat er mit Murph und dem Baron von Graun ein. Rudolf trug den Kopf hoch und frei. Sein von Natur gelocktes, braunes Haar fiel um die breite, offene Stirn. Sein blauer, hoch geknöpfter Frack, an dessen linker Seite ein Diamantstern glänzte, hob seine zierliche und doch kräftige Gestalt; in seiner Haltung lag Männlichkeit und Entschlossenheit. Rudolf kam wenig in Gesellschaften. Deshalb richteten sich alle Blicke auf ihn, als er in dem Salon erschien. Ein Attaché, der den Auftrag erhalten hatte, auf die Ankunft Rudolfs zu achten, meldete sie sogleich der Gräfin X. die Rudolf entgegenging und ihn mit den Worten begrüßte: »Ich weiß nicht, wie ich meinen Dank für die Ehre aussprechen soll, die Sie uns heute erzeigen.« »Sie wissen, Frau Gräfin, daß ich mich immer bestrebe, Ihnen meine Huldigung darzubringen.« »Ew. Hoheit sind zu gütig.« »Frau Gräfin, erlauben Sie mir, Ihnen meinen Arm zu bieten. Man hat mir von einem Wintergarten erzählt, der wirklich feenhaft sein soll. Würden Sie wohl die Güte haben, mich zu diesem Wunder aus Tausendundeiner Nacht zu geleiten?« »Mit dem größten Vergnügen!« 145
Rudolf bot der Gräfin den Arm und ging mit ihr in andere Säle, während der Graf sich mit dem Baron von Graun und Murph unterhielt, die er seit langem kannte.
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s konnte wirklich nichts Feenhafteres geben als den Garten, dessen Schönheit Rudolf gerühmt worden war. Am Ende einer prachtvollen Galerie lag ein vierzig Meter langer und dreißig Meter breiter Raum; ein leichtes, kuppelartig geformtes Glasdach bedeckte, in einer Höhe von etwa fünfzig Fuß, dieses Parallelogramm; die Seiten, die mit einer zahllosen Menge von Spiegeln bedeckt waren, auf denen sich die kleinen grünen Rauten eines Rohrgeflechtes kreuzten, glichen einer durchbrochenen Laube. Hohe Orangenbäume und Kamelien, die einen mit Früchten bedeckt, die wie goldene Äpfel unter den grünen Blättern glänzten, die anderen mit purpurnen, weißen und rosenroten Blüten geschmückt, zogen sich an den Wänden hin. Gruppen von Bäumen und Sträuchern aus tropischen Ländern waren von mosaikartig belegten Alleen umgeben, in denen zwei bis drei Personen bequem nebeneinander gehen konnten. Die Wirkung, die diese üppige, exotische Vegetation, im vollen Winter und mitten in einem Balle, hervorrief, läßt sich nicht beschreiben. Hier reichten ungeheure Pisangbäume bis fast an das Glas der Kuppelwölbung und mischten ihre breiten, glänzend grünen Wedel unter die schmalen Blätter der Magnolien, von denen einige mit Blüten bedeckt waren; aus ihren silberglänzenden, glockenförmigen Kelchen ragten goldene Staubfäden; levantinische Dattel-, rote Fächerpalmen und indische Feigenbäume von dem glänzenden Grün, wie 146
es alle Gewächse der Tropen besitzen und das den Glanz des Smaragdes zu teilen scheint, vervollständigten diesen Märchenwald. Die Baumgruppen waren eingefaßt von Tulpen, Narzissen, persischen Hyazinthen, von Zyklamen und Iris, die einen natürlichen Teppich bildeten, auf dem alle Farben und Schattierungen auf das harmonischste verschmolzen. Chinesische Laternen von durchscheinender Seide, blau, blaß-rosa und goldfarben, die unter dem Grün versteckt waren, erhellten diesen Garten. Das geheimnisvolle Licht, das die bläuliche Klarheit einer Sommernacht mit den goldenen Strahlen des Nordlichtes vereinte, war köstlich wie das Streicheln des Frühlingswindes. Man gelang in das Gewächshaus, zu dem drei Stufen hinabführten, auf einer langen Galerie, die von Gold und Spiegeln strahlte. Flammende Helle rahmte das Halbdunkel ein, in dem sich unklar die Umrisse der Bäume zeigten. Der Eingang war mit Vorhängen von karmesinrotem Samt umrahmt und glich einem riesenhaften Fenster, durch das man in einer herrlichen Nacht auf eine zauberhafte Landschaft Asiens hinausblickte… Die Töne eines Orchesters verklangen, gedämpft durch das Stimmengewirr, melodisch unter den sanft bewegten Blättern der geheimnisvollen Bäume. Unwillkürlich sprach man leise in diesem Garten; man hörte kaum das Geräusch der Schritte und das Rauschen der Atlasgewänder; die leichte, von tausend Wohlgerüchen durchduftete Luft und die ferne Musik versetzten die Sinne in einen köstlichen Rausch. Rudolf konnte einen Ausruf der Überraschung nicht unterdrücken. »Wahrhaftig, Frau Gräfin«, sagte er, »ich hätte ein solches Wunder nicht erwartet. Statt zu schreiben, wie ein Dichter oder zu malen, wie ein Maler, schaffen Sie, was jene kaum zu träumen wagten.« »Ew. Hoheit sind zu gütig.« »Ich behaupte, daß der, der dieses zauberische Bild, als Dichter oder als Maler, wiederzugeben vermöchte, etwas Bewunderungswürdiges schaffen würde!« 147
In diesem Augenblick stiegen die Gräfin Sarah MacGregor und die Marquise von Harville die wenigen Stufen herab, die von der Galerie in den Wintergarten führten.
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ie Schönheit der Marquise von Harville war von besonderer Art. Ihr blendend weißer Teint war von frischestem Rot überhaucht; lange Locken hellbraunen Haares fielen bis auf die Schultern, die glänzten wie weißer Marmor. Ihr frischer Mund stand zu dem melancholischen Blick ihrer herrlichen grauen Augen in wirkungsvollstem Gegensatz. Sie trug ein weißes Kreppkleid, das mit rosa Kamelien garniert war, unter denen versteckte Diamanten gleich funkelnden Tautropfen blitzten; eine ähnliche Girlande lief anmutig über ihre weiße reine Stirne. Gräfin Sarah war ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, schien aber kaum dreißig zu zählen. Bis auf eine gewisse Fülle, die ihr eine üppige Grazie gab, strahlte Sarah noch in ganz jugendlichem Glanz; ihre glühenden, schwarzen Augen und ihre feuchten, roten Lippen verrieten Entschlossenheit und Sinnlichkeit. Das bläuliche Adergeflecht an Schläfen und Hals schimmerte durch eine milchweiße, feine Haut. Die Marquise und Sarah hatten Rudolf sofort bemerkt, als sie den Wintergarten betraten. Der Fürst dagegen schien sie nicht zu sehen; er befand sich eben an der Ecke einer Allee, als die beiden näherkamen. »Der Fürst beschäftigt sich so sehr mit der Gräfin«, sagte die Marquise zu Sarah, »daß er auf uns nicht achtet.« »Glauben Sie das nicht, liebe Clémence«, antwortete Sarah, die vertraute Freundin der Frau von Harville, »der Fürst hat uns sehr 148
wohl gesehen; aber er fürchtet sich vor mir; er schmollt noch immer.« »Ich begreife weniger als je seinen Eigensinn. Ich habe ihm oft sein sonderbares Benehmen vorgehalten. ›Die Gräfin Sarah und ich sind Todfeinde‹, antwortete er mir scherzend, ›ich habe mir gelobt, nie mit ihr zu sprechen, und dieses Gelübde‹, setzte er hinzu, ›muß gewiß sehr heilig sein, da es mich der Unterhaltung mit einer so liebenswürdigen Person beraubt.‹ So seltsam mir diese Antwort auch erschien, liebe Sarah, so mußte ich mich doch damit begnügen.« »Ich versichere Sie, daß die Ursache dieser halb spaßhaften, halb ernsten Todfeindschaft höchst unschuldig ist; wenn nicht eine dritte Person dabei beteiligt wäre, würde ich Ihnen das große Geheimnis schon längst verraten haben.« Beide nahmen Platz auf einem Diwan. »Ich glaube, ich habe mehr Vertrauen zu Ihnen, als Sie zu mir«, sagte Sarah im Tone freundschaftlichen Vorwurfs. »O nein«, entgegnete die Marquise traurig; »habe ich Ihnen nicht gesagt, was ich mir selbst nie gestanden haben würde?« »Nun gut! Wir wollen einmal von ›ihm‹ sprechen. Haben Sie geschworen, ihn in den Tod zu treiben?« »Was sagen Sie?« entgegnete Frau von Harville erschrocken. »Sie kennen ihn noch nicht, armes Kind. Er ist ein Mann von kalter Energie, der das Leben nicht achtet und den Tod nicht fürchtet… Man sollte meinen, es mache Ihnen Vergnügen, ihn zu quälen«. »Glauben Sie das? Ach Gott!« »Wenn Sie wüßten, einen wie schmerzlichen Eindruck Ihr Verhalten auf ihn macht! Ich habe eben erst Tränen in seinen Augen gesehen.« »Tränen?« »Jawohl, ohne Furcht vor der Gefahr, sich lächerlich zu machen! Man muß sehr lieben, um so leiden zu können!« »Barmherzigkeit, sprechen Sie nicht weiter«, fiel Frau von Harville mit bewegter Stimme ein; »Sie tun mir weh. Das Mitleid, das er mir einflößt, ist ja gerade schuld an meinem Unglück…« 149
Sarah schien den Sinn dieser Worte nicht zu verstehen und fuhr fort: »Nennen Sie es ein Unglück, in galanten Beziehungen zu einem Manne zu stehen, der die Diskretion so weit treibt, daß er sich nicht einmal Ihrem Gemahl vorstellen läßt, um Sie nicht zu kompromittieren? Ist Herr Karl Robert nicht ein Mann von Ehre, Mut und Zartgefühl? Ich verteidige ihn so warm, weil Sie ihn bei mir kennengelernt haben, und weil er für Sie Achtung und Liebe zugleich fühlt.« »Ich habe an seinen Eigenschaften nie gezweifelt. Aber wie sie wissen, hat besonders sein Unglück ihn mir interessant gemacht.« »Und wie sehr verdient er dieses Interesse! Wenn der Adel nach dem Verdienst bemessen würde, müßte er Herzog und Pair sein!« »Lassen Sie uns, bitte, von etwas anderem sprechen«, entgegnete Frau von Harville nach einer Pause. »Warum?« »Ja, reden wir lieber von Ihrem Todfeinde«, sagte sie, mit erzwungener Heiterkeit, »von dem Fürsten, den ich seit so langer Zeit nicht gesehen habe. So sehr ich auch republikanisch gesinnt bin, so gestehe ich doch, daß ich wenige Männer kenne, die mir so gut gefallen wie er.« Sarah warf einen forschenden und argwöhnischen Blick auf Frau von Harville und sagte: »Gestehen Sie, liebe Clémence, daß Sie sehr wankelmütig sind!« »Ihnen habe ich es zu danken«, entgegnete Frau von Harville lächelnd, »daß meine Bewunderung nicht von langer Dauer war; Sie haben mir solche Dinge von dem Fürsten erzählt, daß Abneigung an die Stelle der Sympathie trat.« »Apropos! Ist Ihr Mann heute abend hier?« fragte Sarah. »Nein, er wollte nicht mitgehen«, antwortete Frau von Harville verlegen. »Er zeigt sich, wie mir scheint, immer seltener in Gesellschaft.« »Ja, zuweilen zieht er vor, zu Hause zu bleiben.« Sarah bemerkte die Verlegenheit der Marquise und fuhr fort: 150
»Als ich ihn das letztemal sah, kam er mir blasser vor als sonst.« »Ja, er ist nicht ganz wohl.« »Soll ich offen sein, liebe Clémence?« »Ich bitte Sie darum.« »Sie sind häufig in seltsamer Unruhe, wenn die Rede auf Ihren Gatten kommt.« »Was glauben Sie?« »Wenn Sie von ihm sprechen, drückt sich zuweilen – gewiß ganz gegen Ihren Willen – in Ihren Zügen eine gewisse, sagen wir, Abneigung aus…« Da die Gräfin ihre Forschungen nicht weiter treiben und nicht das Mißtrauen ihrer Freundin wecken wollte, setzte sie schnell hinzu: »Ja, eine gewisse schüchterne Abneigung, ein Widerwille, wie ihn wohl ein eifersüchtiger, mürrischer Mann hervorruft.« »Nein, Harville ist weder eifersüchtig noch mürrisch.« Dann sagte sie plötzlich, ohne Zweifel um ein Gespräch abzubrechen, das ihr lästig war: »Mein Gott, da kommt der unerträgliche Herzog von Lucenay! Wenn er uns nur nicht bemerkt! Ich glaubte, er sei tausend Meilen weit von hier.« »Man sagte doch, er sei auf ein oder zwei Jahre nach dem Orient gereist. Das nenne ich eine unerwartete Wiederkehr, doppelt peinlich für die Herzogin von Lucenay, obgleich der Herzog ihr nie in den Weg tritt«, sagte Sarah mit boshaftem Lächeln. »Auch Herr von St. Remy wird sich ärgern. Übrigens hat der Herzog uns eben bemerkt. Wir müssen uns in unser Schicksal ergeben. Ich kenne nichts Unausstehlicheres als diesen Mann.« »He! He! Was seh' ich? Die schönste Frau des Festes zieht sich zurück? Ist das erlaubt?« schrie der Herzog durch den Saal. »Muß ich von den Antipoden zurückkehren, um einem solchen Skandal ein Ende zu machen? Wenn Sie sich der Bewunderung noch länger entziehen, Marquise, schrei' ich wie ein Besessener, der schönste Schmuck sei verlorengegangen.« 151
Dann warf er sich, neben der Marquise, auf den Diwan, lehnte sich zurück, legte das linke Bein über den rechten Schenkel und nahm den Fuß in die Hand. »Sie sind also aus Konstantinopel schon wieder zurück?« fragte Frau von Harville, indem sie vor ihm zurückwich. »Schon? Sie sagen gewiß, was meine Frau gedacht hat. Da überrasche man seine Freunde, wenn man so empfangen wird!« »Um des Himmels willen, Herzog, schreien Sie nicht so, greifen Sie das Bukett nicht an, lassen Sie auch den Fächer unberührt, Sie werden ihn zerbrechen!« »Ich habe schon mehr als einen zerbrochen, darunter einen prachtvollen chinesischen, den Frau von Vaudemont meiner Frau gegeben hatte.« Während der Herzog von Lucenay diese beruhigenden Erklärungen abgab, griff er nach einem Geflecht von Kletterpflanzen, die er an sich zerrte und von dem Baume losriß, der sie stützte. Sie fielen herunter, und der Herzog wurde von ihnen gleichsam gekrönt. Darüber lachte er so laut und betäubend, daß Frau von Harville sich von ihm entfernt haben würde, wenn sie nicht eben Herrn Karl Robert (den Kommandanten der Frau Pipelet) von der anderen Seite des Ganges hätte kommen sehen. »Sagen Sie, Madame MacGregor, sehe ich unter diesem Grün nicht aus wie Pan?« wandte er sich an Sarah. »Dabei fällt mir eine närrische Geschichte ein, die ich Ihnen erzählen muß. Denken Sie sich, daß auf Otahaiti…« »Herr Herzog!« unterbrach ihn Sarah mit schneidender Kälte. »Schon gut, schon gut! Ich erzähle Ihnen meine Geschichte nicht, sondern behalte sie für Frau von Fonbonne, die eben kommt.« Es war dies eine kleine, dicke, sehr prätentiöse Frau von etwa fünfzig Jahren, deren Kinn den Busen berührte und die fortwährend die Augen so verdrehte, daß man nur das Weiße sah. Sie sprach immer von ihrer Seele, von der Sehnsucht ihrer Seele, von den Bedürfnissen ihrer Seele und von dem Streben ihrer Seele. Sie trug einen abscheulichen Turban von kupferfarbigem Zeug mit grünen Mus152
tern. »Ich behalte sie für Frau von Fonbonne«, wiederholte der Herzog. »Was behalten Sie für mich, Herzog?« fragte Frau von Fonbonne girrend und mit verdrehten Augen. »Eine gräßlich unanständige Geschichte«, antwortete der Herzog. »Mein Gott, und Sie wagen…?« »Ja, Frau von Fonbonne. Mancher Mann würde dabei rot werden, aber ich kenne Ihren Geschmack. Also hören Sie mich an.« »Herr Herzog!!« »Nein, Sie sollen meine Geschichte auch nicht hören, denn während Sie sich sonst immer so geschmackvoll kleiden, tragen Sie heute einen Turban, der, auf Ehre, aussieht wie ein alter Kupferkessel mit Grünspanflecken.« Darauf belachte er laut seinen Witz. »Wenn Sie aus dem Orient zurückgekommen sind, um Ihre albernen Späße fortzusetzen, die man Ihnen nur verzeiht, weil Sie halb verrückt sind«, sagte die dicke Frau gereizt, »so wird man Ihre Rückkunft sehr beklagen!« Und sie schritt majestätisch weiter. »Ich muß wahrhaftig an mich halten, um der Kuh nicht den Turban herunterzureißen«, sagte der Herzog, »aber sie ist eine Waise.« Und er lachte von neuem. »Sieh da, Herr Karl Robert!« fuhr er fort. »Ich habe ihn in den Pyrenäen getroffen, ein prächtiger Mensch, singt, wie ein Schwan. Geben Sie acht, Marquise, wie ich ihn aufziehe! Soll ich ihn Ihnen vorstellen?« »Seien Sie ruhig und lassen Sie uns in Ruhe«, sagte Sarah. Während Herr Karl Robert langsam näherkam, indem er sich stellte, als bewundere er die Blumen des Treibhauses, hatte der Herzog von Lucenay so geschickt manövriert, daß er sich wirklich Sarahs Flakon bemächtigte, von dem er den Stöpsel herauszuziehen versuchte. Herr Karl Robert kam immer näher; seine Gestalt war vollkommen proportioniert, seine Kleidung sehr elegant; dennoch fehlte es ihm an Grazie, an Feinheit; seine Haltung war steif und gezwun153
gen, seine Hände und Füße waren groß und ordinär. Als er Frau von Harville erblickte, verschwand die Nichtigkeit seiner Züge plötzlich unter einem Ausdruck tiefer Melancholie, der indes so rasch eintrat, daß man ihn für erheuchelt halten mußte. Nichtsdestoweniger sah Herr Robert so entsetzlich unglücklich aus, als er an Frau von Harville herantrat, daß diese unwillkürlich an die Worte Sarahs denken mußte. »Ah, guten Tag, mein Lieber«, rief ihm Lucenay zu, indem er ihn aufhielt; »ich habe nicht wieder das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen seit unserem letzten Beisammensein im Bade. Aber was fehlt Ihnen? Sie sehen so krank aus.« Herr Karl Robert warf einen langen, melancholischen Blick auf Frau von Harville und antwortete dem Herzog mit kläglicher Stimme: »Ich befinde mich allerdings nicht wohl.« »Mein Gott, können Sie denn Ihre Verschleimung nicht loswerden?« fragte der Herzog. Diese Frage war so abgeschmackt, daß Herr Karl Robert einen Augenblick ganz verblüfft dastand; dann färbte sich sein Gesicht mit Zornesröte, und er sagte: »Da Sie an meiner Gesundheit so großen Anteil nehmen, so werden Sie sich hoffentlich morgen früh nach meinem Befinden erkundigen!« »Ach so, mein Lieber? Gewiß, ich werde schicken«, antwortete der Herzog kühl. Herr Karl Robert verbeugte sich leicht und ging weiter. »Das merkwürdigste ist, daß er ebensowenig verschleimt ist wie der Sultan«, sagte der Herzog, indem er sich von neuem neben Sarah zurücklehnte. »Sagen Sie selbst, Madame MacGregor, sieht der Herr aus, als wäre er verschleimt?« Sarah drehte ihm den Rücken zu, ohne ihn einer Antwort zu würdigen. Frau von Harville dagegen hatte sehr gelitten bei dem Gedanken an die schreckliche Lage eines Mannes, der vor einer Dame, die er 154
liebt, auf so lächerliche Weise angeredet wird; sie fühlte überdies eine peinliche Unruhe, als sie bedachte, daß ein Duell die Folge sein könne. Sie stand endlich rasch auf, nahm den Arm Sarahs, holte Herrn Karl Robert ein und sagte im Vorübergehen leise zu ihm: »Morgen um ein Uhr!« Dann kehrte sie mit der Gräfin in den Ballsaal zurück und fuhr bald darauf nach Hause.
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udolf hatte, als er sich zu diesem Balle begab, um eine Pflicht der Konvenienz zu erfüllen, auch die Absicht, sich davon zu überzeugen, ob seine Befürchtungen in bezug auf Frau von Harville begründet wären. Nachdem er den Wintergarten mit der Gräfin verlassen hatte, war er vergebens durch mehrere Säle gegangen, um die Marquise allein zu treffen. Er kehrte eben in das Treibhaus zurück und blieb einen Augenblick auf der ersten Stufe stehen, als er Zeuge der flüchtigen Szene zwischen Frau von Harville und Herrn Karl Robert wurde. Er bemerkte einen Austausch sehr bedeutungsvoller Blicke, und eine Ahnung sagte ihm, daß der schöne junge Mann der Kommandant sei. Dann begab er sich wieder in die Galerie. Eben begann ein Walzer. Nach einigen Minuten sah er Herrn Karl Robert in einer Türe stehen. Rudolf suchte Murph auf. »Siehst du dort den jungen blonden Mann?« »Den jungen Herrn, der so selbstzufrieden aussieht?« »Suche ihm so nahe zu kommen, daß du, ohne von ihm gesehen zu werden, doch so, daß er es hört, die Worte sagen kannst: ›Mein Engel, du kommst spät‹.« 155
Der Squire sah Rudolf verwundert an. »Ist das Ihr Ernst, Durchlaucht?« »Durchaus. Dreht er sich bei diesen Worten um, so bewahre deine Kaltblütigkeit, damit der Herr nicht merkt, wer die Worte gesprochen hat.« Murph war vor dem Ende des Walzers unmittelbar hinter Herrn Karl Robert gekommen. Rudolf, der sich einen Standpunkt gewählt hatte, von dem er die Wirkung des Experimentes genau beobachten konnte, folgte Murph aufmerksam mit den Augen. Nach einer Sekunde drehte sich Herr Karl Robert plötzlich, höchst erstaunt, um. Der Squire zuckte nicht mit den Wimpern, und der Kommandant hielt den großen, kahlköpfigen Mann mit dem ernsten Gesicht am allerwenigsten für den Sprecher jener Worte, die ihn an die unangenehme Szene mit Frau Pipelet erinnerten. Nach dem Walzer kam Murph zu Rudolf zurück. »Der junge Mann drehte sich um, als hätte ich ihn gebissen. Sind das Zauberworte?« »Allerdings, lieber Murph. Sie haben mir verraten, was ich wissen wollte.« Rudolf konnte Frau von Harville wegen dieser Verirrung nur beklagen. Er zweifelte nicht mehr an der Ursache des Kummers Harvilles, den er aufrichtig liebte; offenbar war dieser Kummer eine Folge der Eifersucht. Seine Frau opferte sich einem Manne, der es nicht verdiente. Aus diesen Gedanken riß ihn der Baron von Graun. »Wenn Ew. Hoheit mir einen Augenblick Gehör schenken wollen, so werde ich Ihnen Rechenschaft über die Erkundigungen ablegen, die ich einziehen sollte.« Rudolf folgte dem Baron. »Die einzige Herzogin, deren Namen die Anfangsbuchstaben N. und L. tragen, ist die Herzogin von Lucenay, geborene von Noirmont«, sagte der Baron. »Sie ist heute abend nicht hier. Eben habe ich aber ihren Gatten gesehen, der vor fünf Monaten eine Reise nach 156
dem Orient unternahm, die über ein Jahr dauern sollte. Vor zwei oder drei Tagen ist er, unerwartet, zurückgekehrt.« Rudolf hatte keinen Grund, sich für die Herzogin von Lucenay zu interessieren; er schauderte aber bei dem Gedanken, daß ihr Name, wenn sie wirklich dem Scharlatan einen Besuch gemacht hatte, diesem Elenden, der kein anderer als der Abbé Polidori war, bekannt war, und daß der Schurke von dem schrecklichen Geheimnisse, das die Herzogin ganz in seine Hände gab, einen furchtbaren Gebrauch machen konnte. »Der Zufall ist bisweilen sonderbar«, fuhr der Baron fort. »Wieso?« »In dem Augenblick, in dem mir Herr von Grangeneuve diese Mitteilung über den Herzog von Lucenay und seine Gemahlin machte und hinzufügte, die unerwartete Rückkunft des Herzogs würde ihr und einem jungen Manne, dem Vicomte von Saint Remy, sehr ungelegen sein, fragte mich der Gesandte, ob ich wohl glaube, daß Ew. Hoheit sich den anwesenden Vicomte vorstellen lassen würden. Er ist der Gesandtschaft in Gerolstein beigegeben und würde sich glücklich schätzen, Ew. Hoheit seine Aufwartung machen zu dürfen.« Rudolf konnte eine Bewegung der Ungeduld nicht unterdrücken; er sagte: »Das ist mir sehr unangenehm, ich kann mich aber nicht weigern. Sagen Sie also dem Grafen, er möge mir Herrn von Saint Remy vorstellen.« Der Vicomte kam mit dem Grafen herbei. Er war ein schöner junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, schlank gewachsen und hatte, wenigstens auf den ersten Eindruck, ein äußerst sympathisches Gesicht. Sein bläulich schimmerndes, auf der Stirn glatt liegendes Haar lockte sich anmutig um das Gesicht. Der dichte, seidenweiche Schnurrbart stach wirkungsvoll von der bartlosen Jugendlichkeit des Kinnes und der Wangen ab, die so glatt waren wie die eines Mädchens. Er trug eine niedrige, schwarze Atlaskrawatte, die seinen schönen Hals sehen ließ. 157
Eine einzige Perle hielt die langen Falten seiner Krawatte zusammen, aber diese Perle war von unschätzbarem Werte wegen ihrer Größe, der Reinheit ihrer Form und ihres auffallenden Glanzes. Die geschmackvolle Kleidung, die Herr von Saint Remy gewählt hatte, paßte vollkommen zu diesem prachtvollen Juwel. Durch seine Geburt gehörte Herr von Saint Remy der großen Welt an; er war heiter, mutvoll, geistreich, ein guter Gesellschafter; er gab vorzügliche Diners und hielt dann alle Einsätze, die man ihm vorschlug; was brauchte er also weiter? Die Damen vergötterten ihn; seine Erfolge waren kaum zu zählen; er war galant und bis zur Verschwendung freigebig bei allen Gelegenheiten, in denen es ein Mann Damen von Rang gegenüber sein kann; kurz, seine Beliebtheit war so groß, daß das Dunkel, mit dem er die Quelle umgab, aus der er mit vollen Händen schöpfte, seinem Leben selbst einen geheimnisvollen Reiz gab. Man sagte lachend: »Saint Remy muß den Stein der Weisen gefunden haben.« Andere Personen meinten, als sie erfuhren, St. Remy habe sich der französischen Gesandtschaft beim Großherzog von Gerolstein beigeben lassen, er wolle sich auf eine ehrenvolle Weise zurückziehen. Der Graf von X. sagte zu Rudolf, als er ihm den Vicomte vorstellte: »Ich habe die Ehre, Ew. Hoheit den Vicomte von Saint Remy, Attaché der Gesandtschaft in Gerolstein, vorzustellen.« Der Vicomte verbeugte sich tief und sagte zu Rudolf: »Werden Ew. Hoheit meine Ungeduld entschuldigen, die mich treibt, Ihnen meine Ehrfurcht zu bezeigen? Vielleicht eile ich zu sehr, mich einer Ehre zu erfreuen, auf die ich so großen Wert lege.« »Ich werde Sie mit Vergnügen in Gerolstein wiedersehen. Gedenken Sie, bald dahin abzureisen?« »Der Aufenthalt Ew. Hoheit in Paris ist die Ursache, daß ich meine Abreise nicht beschleunige.« »Der friedliche Kontrast unserer deutschen Höfe wird Ihnen sehr auffallen, Herr Vicomte, da Sie an das Leben in Paris gewöhnt sind.« »Ich wage zu versichern, daß das Wohlwollen, das Sie mir zu gewähren geruhen, und das Sie mir vielleicht auch in Zukunft schen158
ken, meine Sehnsucht nach Paris verringern wird.« »Es wird nicht von mir abhängen, Herr Vicomte, ob Sie während meines Aufenthaltes in Gerolstein immer so denken.« Und Rudolf nickte leicht mit dem Kopfe, um Herrn von Saint Remy anzuzeigen, daß er sich wieder entfernen könne. Der Vicomte verbeugte sich tief und ging. Rudolf faßte schnell eine Zu- oder Abneigung, die sich später fast immer rechtfertigte. Nach den wenigen Worten, die er mit Herrn von Saint Remy gewechselt hatte, fühlte er gegen ihn eine heftige Antipathie, ohne sich des Grundes hierfür bewußt zu sein. Nach der Vorstellung ging Rudolf, in Gedanken über das seltsame Zusammentreffen, das der Zufall herbeigeführt hatte, in den Wintergarten zurück. Da das Souper beginnen sollte, waren die Säle fast leer. Das geheimste, versteckteste Plätzchen im Treibhause befand sich am Ende eines Dickichts, an der Ecke zweier Wände, die ein von Kletterpflanzen umschlungener ungeheurer Pisangbaum fast ganz verdeckte. Eine kleine, durch das Gitterwerk maskierte Türe, die über einen langen Korridor in den Büfettsaal führte, war halb offen geblieben. Hier setzte sich Rudolf nieder und saß in Gedanken versunken, als er von einer wohlbekannten Stimme seinen Namen aussprechen hörte. Sarah, die auf der anderen Seite des Dickichts saß, sprach englisch mit ihrem Bruder Tom. Tom war schwarz gekleidet. Obgleich er nur wenige Jahre älter war als Sarah, so war doch sein Haar fast ganz weiß; sein Blick war finster, und seine Stimme klang hohl. Es mußte ein großer Schmerz oder ein tiefer Haß in ihm wühlen. Rudolf hörte folgendes Gespräch: »Die Marquise ist einen Augenblick auf den Ball des Barons von Nerval gegangen; zum Glück hat sie sich entfernt, ohne mit Rudolf sprechen zu können, der sie suchte. Ich fürchte immer den Einfluß, den er auf sie ausübt, und den zu bekämpfen mir so schwer wird. Endlich wird diese Nebenbuhlerin, die ich immer verabscheut habe, 159
in ihr Verderben gehen. Höre mich an, Tom, die Sache ist wichtig!« »Du irrst dich! Rudolf hat nie an die Marquise gedacht.« »Es ist Zeit, dir endlich einige Aufklärungen zu geben. Es ist während deiner letzten Reise viel geschehen, und da schneller gehandelt werden muß, als ich glaubte, so ist diese Besprechung durchaus notwendig. Zum Glück sind wir allein.« »Ich bin ganz Ohr.« »Die Marquise hatte, davon bin ich überzeugt, nicht geliebt, ehe sie Rudolf sah. Ich weiß nicht, weshalb sie einen unüberwindlichen Widerwillen gegen ihren Mann hat, der sie anbetet. Es ruht ein Geheimnis dahinter, in das ich vergebens einzudringen suchte. Die Anwesenheit Rudolfs hatte in ihrem Herzen tausend neue Gefühle erregt. Ich erstickte diese aufkeimende Liebe durch Erzählungen, die ihn verdächtigten. Aber das Bedürfnis nach Liebe war in der Marquise erwacht, und als sie bei mir jenen Karl Robert sah, fiel ihr seine Schönheit auf. Der Mensch ist leider albern, aber er hat etwas Rührendes in seinem Blicke; ich rühmte den Adel seiner Seele, die Hoheit seines Charakters. Ich kannte die angeborene Gutmütigkeit der Marquise und dichtete Herrn Robert ein interessantes Unglück an. Durch sein Gesangstalent, durch sein Gesicht, besonders aber durch seine scheinbare Traurigkeit hat er es dahin gebracht, daß Frau von Harville ihn fast liebt. Begreifst du nun?« »Ja, vollkommen.« »Robert und die Marquise sahen sich ungestört nur bei mir; zweimal in der Woche machten wir vormittags Musik. Der schöne Traurige seufzte, sprach leise einige zärtliche Worte und steckte ihr ein paarmal Liebesbriefchen zu. Die Hauptsache für ihn war, ein Rendezvous zu erlangen. Die kleine Marquise besaß mehr Grundsätze als Liebe, oder vielleicht nicht Liebe genug, um die Grundsätze zu vergessen. Endlich entschloß sich Clémence, als sie dem verzweifelten Aussehen ihres unglücklichen Anbeters nicht mehr widerstehen konnte, ihm das so heiß begehrte Rendezvous zu bewilligen.« »Sie hatte dich also zu ihrer Vertrauten gemacht?« »Sie hatte mir ihre Neigung für Karl Robert gestanden, weiter nichts. 160
Er aber teilte mir aus Begeisterung sein Glück mit, ohne mir jedoch den Tag oder den Ort der Zusammenkunft zu nennen.« »Und wie hast du es erfahren?« »Karl stellte sich den ersten und zweiten Tag darauf an der Türe Roberts in einen Hinterhalt und folgte ihm. Am zweiten Tage nahm unser Verliebter einen Wagen und fuhr in die Rue du Temple. Er stieg in einem Hause von schlechtem Aussehen ab, blieb anderthalb Stunden und ging wieder fort. Karl wartete lange, um zu sehen, ob noch jemand herauskäme. Das geschah nicht; die Marquise hatte ihr Versprechen nicht gehalten. Ich erfuhr es durch den Verliebten, der niedergeschlagen und aufgebracht war. Ich riet ihm, sich noch verzweifelter zu stellen. Das Mitleid der Marquise wurde noch einmal wach; sie versprach ihm von neuem ein Rendezvous, kam aber wieder nicht. Das drittemal kam sie wirklich bis an die Türe; das war ein Fortschritt. Du siehst, wie die Frau kämpft. Und warum? Weil sie – und das erregt meinen Haß – noch immer an Rudolf denkt. Heute abend hat die Marquise Robert endlich ein Rendezvous für morgen zugesagt, und diesmal wird sie Wort halten. Der Herzog von Lucenay hat den jungen Mann so lächerlich gemacht, daß die Marquise, von der Demütigung ihres Geliebten tief ergriffen, ihm aus Mitleid bewilligt hat, was sie ihm sonst vielleicht nicht bewilligt haben würde. Diesmal wird sie also ihr Versprechen halten.« »Welche Pläne hast du nun?« »Die Marquise folgt bestimmt nicht der Stimme der Liebe; Karl Robert ist so wenig imstande, das Zartgefühl zu begreifen, das den Entschluß der Marquise bestimmte, daß er morgen sicherlich in der Achtung der Marquise, die sich zu diesem Schritt ohne Leidenschaft entschlossen hat, abgrundtief sinken wird. Mit einem Worte: ich zweifle nicht, daß sie geht, um ihre Teilnahme zu bekunden, aber ebensowenig zweifle ich, daß sie sich nicht einen Augenblick vergessen wird. Herr Karl Robert wird dies nicht begreifen; die Marquise wird ihn verabscheuen und, nach Zerstörung ihrer Illusion, wieder unter den Einfluß Rudolfs geraten, dessen Bild noch immer in ihrem Herzen ruht.« 161
»Nun?« »Sie muß für Rudolf auf immer verloren sein. Er würde sicher, früher oder später, die Freundschaft Harvilles verraten und die Liebe der Marquise erwidert haben. Sobald er sie aber eines Vergehens mit einem anderen schuldig weiß, wird er sie verabscheuen.« »Du willst also den Marquis benachrichtigen?« »Ja, und noch heute abend. Nach dem, was mir Clémence gesagt hat, ahnt er etwas, ohne zu wissen, gegen wen sich sein Argwohn richten soll. Es ist Mitternacht; wir verlassen den Ball. Du gehst in das erste beste Kaffeehaus und schreibst an Herrn von Harville, daß sich seine Frau morgen um ein Uhr zu einem Rendezvous in die Rue du Temple Nr. 17 begeben werde. Er ist eifersüchtig und wird Clémence überraschen; das übrige kannst du dir denken.« »Das wäre eine Infamie!« sagte Tom kalt. »Du hast also Bedenken, Tom?« »Ich werde tun, was du verlangst, aber ich wiederhole: es ist abscheulich.« »Aber du willigst ein?« »Meinetwegen – aber – es ist mir, als wäre jemand hier«, sagte Tom plötzlich, indem er sich unterbrach und leise sprach: »Es hat sich etwas bewegt.« »So sieh nach!« antwortete Sarah besorgt. Tom stand auf, ging um das Dickicht herum und erblickte niemanden. Rudolf war verschwunden. »Ich hatte mich geirrt«, sagte Tom, als er zurückkam; »es ist niemand da.« Dann sprach er weiter: »Höre mich an, Sarah! Ich glaube nicht, daß die Frau so gefährlich für deine Pläne ist, wie du glaubst. Rudolf hat Grundsätze, gegen die er niemals handeln wird. Das junge Mädchen, das er vor sechs Wochen auf die Meierei gebracht hat, scheint mir gefährlicher zu sein. Wir wissen nicht, wer das Mädchen ist. Die seltene Schönheit aber, die sie besitzen soll, die wachsende Teilnahme, die Ru162
dolf an ihr nimmt: alles beweist, daß diese Neigung nicht ohne Bedeutung ist. Ich bin deshalb auch deinen Wünschen zuvorgekommen. Der Zufall führte mir die häßliche Alte wieder zu, die meine Adresse behalten hatte. Ihre Verbindungen werden uns von großem Nutzen sein. Alles ist vorgesehen – und es wird sich kein Beweis gegen uns erbringen lassen. Morgen wird die Sache erledigt sein; wenn nicht, so werden wir weiter sehen!« »Sind diese Hindernisse erst beseitigt, dann wird unser großer Plan…« »Er hat Schwierigkeiten, kann aber gelingen.« »Glaubst du nicht, daß der Erfolg begünstigt wird, wenn wir ihn in dem Augenblick ausführen, in dem Rudolf durch den Skandal der Marquise und das Verschwinden jenes Mädchens doppelt niedergebeugt ist?« »Wenn aber auch diese letzte Hoffnung versagt – dann bin ich frei«, sagte Tom, mit einem traurigen Blick auf Sarah. »Dann bist du frei.« »Du wirst die Bitten nicht wiederholen, die, schon zweimal, meine Rache verhindert haben!« Dann setzte er, bitter lächelnd, hinzu: »Ich warte noch immer. – Du weißt, daß ich seit sechzehn Jahren Trauer trage, und daß ich sie nicht eher ablegen werde, als…« Sarah, deren Züge Angst verrieten, unterbrach ihren Bruder und sagte: »Ich sage dir, du bist dann frei, Tom, denn dann werde ich das Vertrauen, das mich aufrechterhalten hat, nicht mehr haben. Meine Mittel sind vielleicht schlecht, ich gebe es zu. Aber bin ich selbst geschont worden?« sprach Sarah, indem sie die Stimme erhob. »Still! Man kommt«, sagte Tom. – »Da du es für vorteilhaft hältst, den Marquis von Harville auf das Rendezvous seiner Frau aufmerksam zu machen, so laß uns gehen; es ist schon spät.« »Die späte Nachtstunde, in der er die Warnung erhält, wird ihm ein Beweis für ihre Wichtigkeit sein.« Tom und Sarah verließen den Ball. 163
XXXVII
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udolf, der, um jeden Preis, Frau von Harville vor der Gefahr warnen wollte, die sie bedrohte, hatte das Gesandtschaftshotel verlassen, ohne das Ende des Gesprächs zwischen Tom und Sarah abzuwarten. Er kannte also den Anschlag nicht, der sich gegen Marienblume richten sollte. Die Marquise sollte noch am gleichen Abend an einer Gesellschaft der Frau von Nerval teilnehmen. Die Gefühle ihres Herzens bestürmten sie aber so gewaltig, daß sie nicht den Mut hatte, zu diesem zweiten Balle zu gehen und nach Hause zurückkehrte. Das konnte alles verderben. Der Baron von Graun war, wie fast alle Gäste der Gräfin X. zu Frau von Nerval geladen, und Rudolf gab ihm den Auftrag, Frau von Harville aufzusuchen und ihr zu sagen, daß der Fürst einige höchst wichtige Worte mir ihr zu sprechen wünsche. Die Marquise war nicht auf dem Ball erschienen. Der Marquis aber hatte den verräterischen Brief noch in der gleichen Nacht erhalten. Am anderen Morgen ging Herr von Harville langsam in seinem Schlafzimmer auf und ab. Das Bett war noch unbenutzt, die seidene Decke hing zerrissen herunter; ein Stuhl und ein Ebenholztischchen lagen umgestürzt am Kamin; auf dem Teppich sah man die Scherben eines geschliffenen Glases, halb zertretene Kerzen und einen Armleuchter, der weit hineingerollt war. Diese Unordnung schien auf einen heftigen Kampf hinzudeuten. Herr von Harville war ungefähr dreißig Jahre alt und hatte ein Gesicht von angenehmem Ausdruck, das jetzt aber bleich und verzerrt war; er trug noch den Anzug vom vorigen Abend. Sein Hals war entblößt, die Weste stand offen, das Hemd war zerrissen und mit Blut befleckt. Sein braunes, gelocktes Haar hing wirr über seine bleiche Stirn. 164
Harville blieb plötzlich vor dem Kamin stehen in dem, trotz der heftigen Kälte, kein Feuer brannte. Er nahm den Brief zur Hand und las zum soundsovielten Male: »Morgen um ein Uhr wird sich Ihre Frau zu einem Rendezvous in die Rue du Temple Nr. 17 begeben. Folgen Sie ihr, und Sie werden alles erfahren. – Glücklicher Gatte!« In dem Augenblick wurde die Türe geöffnet, und ein Kammerdiener trat ein. »Was willst du?« fuhr der Marquis den Diener an. Dieser betrachtete, statt zu antworten, mit schmerzlichem Staunen die Unordnung in dem Zimmer. Dann sah er seinen Herrn an und rief: »Blut an Ihrem Hemd! Sind Sie verwundet, Herr Marquis? Warum haben Sie nicht geklingelt?« »Geh!« »Herr Marquis, Ihr Feuer ist ausgegangen, es ist entsetzlich kalt hier…« »Laß mich allein.« »Herr Marquis«, fuhr der Kammerdiener zitternd fort: »Sie haben Herrn Doublet hierher befohlen; es ist halb elf Uhr, und er wartet mit dem Notar.« »Es ist gut«, entgegnete der Marquis. »Wenn man reich ist, muß man an die Geschäfte denken. Laß also Herrn Doublet in mein Arbeitszimmer treten.« »Er ist schon dort, Herr Marquis.« »Gib mir einen anderen Anzug! Ich muß ausgehen.« »Aber, Herr Marquis…« »Tu, was ich dir sage, Joseph«, sagte der Marquis in milderem Ton. Dann setzte er hinzu: »Ist meine Frau schon auf?« »Ich glaube nicht, daß die Frau Marquise schon geklingelt hat.« »Man wird es mir melden, sobald sie klingelt.« »Ja, Herr Marquis.« 165
»Sage Philipp, er möge mir helfen; du wirst nicht fertig.« »Aber lassen Sie mich nur erst etwas aufräumen, Herr Marquis«, antwortete Joseph traurig. »Man würde nicht begreifen, was in der Nacht geschehen ist.« »Und wenn man es begriffe, wäre es schlimm, nicht wahr?« entgegnete Harville im Tone schmerzlichen Spottes. »Ach, Herr«, rief Joseph, »Gott sei Dank, daß niemand ahnt…« Während Joseph damit beschäftigt war, Ordnung zu machen, trat der Marquis an den Gewehrschrank, betrachtete aufmerksam die Waffen und sagte zu Joseph: »Du hast gewiß nicht vergessen, meine Gewehre im Jagdnecessaire putzen zu lassen.« »Der Herr Marquis hat mir nichts davon gesagt.« »Du hast es also vergessen.« »Ich versichere, Herr Marquis…« »Sobald ich angekleidet bin, hole mir das Necessaire; ich gehe morgen vielleicht auf die Jagd und will die Gewehre prüfen.« Nach Beendigung seiner Toilette trat der Marquis in das Arbeitszimmer, in dem Doublet, sein Intendant, und der Schreiber eines Notars warteten. »Hier ist das Dokument, das dem Herrn Marquis vorgelegt werden soll«, sagte der Intendant; »es braucht nur noch unterzeichnet zu werden.« »Haben Sie es gelesen, Doublet?« »Ja, Herr Marquis.« »Das genügt mir.« Er unterzeichnete, und der Schreiber ging. Sobald auch der Intendant sich empfohlen hatte, sank Harville, wie vernichtet, auf einen Stuhl und verbarg sein Gesicht in den Händen. Zum ersten Male, seit er den unseligen Brief Sarahs erhalten hatte, konnte er weinen. Er erhob die geballten Fäuste, fuhr dann mit der Hand über seine Augen und kehrte, da er die Notwendigkeit fühlte, vor seinen Leuten ruhig zu erscheinen, in sein Schlafzimmer 166
zurück, wo er Joseph wiederfand. »Nun, die Gewehre?« »Hier sind sie, Herr Marquis. Sie sind in vollkommen gutem Zustande.« »Ich werde mich davon überzeugen… Hat meine Frau geklingelt?« »Ich weiß es nicht, Herr Marquis.« »Geh und erkundige dich.« Der Kammerdiener ging und Harville entnahm dem Jagdnecessaire ein kleines Pulverhorn, einige Kugeln und Zündhütchen; dann schloß er es wieder zu, steckte den Schlüssel zu sich, nahm aus dem Gewehrschrank ein Paar Pistolen, lud sie und steckte sie in die Taschen seines langen Rockes. In diesem Augenblick kam Joseph zurück. »Hat die Marquise den Wagen bestellt?« »Nein, Herr Marquis. Juliette sagte dem Kutscher, Madame würde zu Fuß ausgehen, da es kalt und trocken sei.« »Gut. Bald hätte ich etwas vergessen… Sag William, er möge sogleich den grünen Jagdwagen untersuchen!« Nach einigem Zögern setzte der Marquis hinzu: »Geh und frag Juliette, ob meine Frau zu sprechen ist.« Der Marquis verließ sein Zimmer, begab sich aber nicht zu seiner Frau, sondern sagte dem Kammermädchen: »Sagen Sie Frau von Harville, daß ich mit ihr zu sprechen wünschte, aber jetzt einen Augenblick ausgehen muß. Ich werde gegen Mittag zurückkommen. Komme ich aber nicht, so mag sie nicht auf mich warten.« Harville ging nach der Droschkenhaltestelle in der Nähe seines Hauses. »Kutscher, wie spät ist es?« »Halb zwölf, Herr. Wohin fahren wir?« »Rue de Belle Chasse, Ecke der Rue Saint Dominique. Dort wartest du.« »Sehr wohl.« Harville ließ die Fenster herunter; der Wagen fuhr ab und kam 167
bald gegenüber dem Hause des Marquis an. Von hier aus war jeder zu sehen, der aus dem Hause trat. Das Rendezvous war auf ein Uhr festgesetzt. Es schlug zwölf, als die Türe sich öffnete, und die Marquise erschien. Clémence trug einen schwarzen Hut mit schwarzem Schleier und einen braunseidenen Überrock; ihr großer dunkelblauer Kaschmirschal reichte bis auf den Saum ihres Kleides, das sie leicht und graziös aufhob, um über die Straße zu gehen. »Siehst du die Dame dort?« fragte der Marquis den Kutscher. »Gewiß, Herr.« »Folge ihr im Schritt! Nimmt sie einen Wagen, so fahre ihr nach!« »Sehr wohl!« Die Marquise von Harville rief einen Wagen an und stieg ein. Der Kutscher Harvilles folgte. Nach einiger Zeit schlug, zum Erstaunen des Marquis, sein Kutscher den Weg nach einer Kirche ein und hielt vor der Pforte. »Die Dame ist in die Kirche hineingegangen…« Einen Augenblick glaubte der Marquis, hoffen zu können, daß das Ganze eine schändliche Verleumdung war, denn es lag ein zu großer Kontrast zwischen dieser Frömmigkeit und dem Schritt, den seine Frau tun wollte. Aber der Kutscher bog sich zurück und sagte: »Die kleine Dame steigt wieder in den Wagen.« »Fahre ihr nach.« Der Wagen erreichte die Kais, das Rathaus, die Rue Sainte Avoye und endlich die Rue du Temple. »Herr«, sagte der Kutscher, indem er sich nach dem Marquis umdrehte, »mein Kamerad hält vor Nr. 17; wir sind vor Nr. 13; soll ich auch anhalten?« »Ja.« »Die kleine Dame geht ins Haus hinein.« »Öffne mir.« Einige Sekunden später trat der Marquis hinter seiner Frau in das 168
Haus Rue du Temple Nr. 17.
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ls Frau von Harville in dem Hause erschien, standen Frau Pipelet, Alfred und die Austernhändlerin in der Türe der Portiersstube. Die Treppe war so dunkel, daß man niemand bemerken konnte, wenn man von draußen hereinkam. Die Marquise fragte mit fast klangloser Stimme: »Herr Karl?« »Herr wer?« wiederholte die Alte, die sich stellte, als habe sie nicht verstanden. »Ich frage nach Herrn Karl, Madame«, wiederholte Clémence mit bebender Stimme, indem sie den Kopf sinken ließ, um ihr Gesicht den Blicken zu entziehen, die sie mit so lästiger Neugier musterten. »Ach, Herr Karl? Im ersten Stock!« »Haha!« lachte die Alte; »heute scheint es was Ordentliches zu werden. Ich wünsche viel Vergnügen!« »Einen schlechten Geschmack hat der Kommandant nicht«, setzte die Austernfrau hinzu. Die Marquise, die vor Scham verging, wäre am liebsten umgekehrt, wenn sie nicht vor der Stube wieder hätte vorübergehen müssen. Sie machte also eine letzte Anstrengung und stieg die Treppe hinauf. Zu ihrer höchsten Überraschung sah sie sich plötzlich Rudolf gegenüber. Er drückte ihr eine Börse in die Hand und flüsterte: »Ihr Gatte weiß alles; er folgt Ihnen.« In diesem Augenblick hörte man die kreischende Stimme der Frau Pipelet: 169
»Wohin wollen Sie, mein Herr?« »Er ist es«, sagte Rudolf, der dann rasch hinzufügte, während er Frau von Harville nach der Treppe zum zweiten Stockwerk drängte: »Gehen Sie in den fünften Stock hinauf. – Sie wollen eine arme Familie unterstützen; sie heißt Morel.« »Mein Herr, ich lasse Sie nicht vorüber, wenn Sie mir nicht sagen, wohin Sie wollen«, rief Frau Pipelet, indem sie dem Marquis den Weg vertrat. »Ich gehöre zu der Dame, die eben gekommen ist«, sagte der Marquis. »Das ist etwas anderes.« Herr Robert hatte seine Türe ein wenig geöffnet; Rudolf trat rasch zu ihm hinein und schloß die Türe hinter sich zu, als Harville erschien. Rudolf fürchtete, von dem Marquis erkannt zu werden und benutzte die Gelegenheit, ihm zu entgehen. Herr Karl Robert, der seinen prächtigen Schlafrock und seine gestickte Samtmütze trug, blieb bei dem Anblick Rudolfs, den er auf dem Balle nicht bemerkt hatte, und der jetzt mehr als bescheiden gekleidet war, verblüfft stehen. »Mein Herr, was soll das bedeuten?« »Still!« antwortete Rudolf leise und mit einem solchen Ausdruck, daß Herr Karl Robert schwieg. Ein lautes Geräusch, als wenn ein schwerer Körper mehrere Stufen herunterrolle, schallte durch die Stille des Hauses. »Er hat sie ermordet!« rief Rudolf. »Ermordet! Wen? – Was geht denn hier vor?« fragte Robert erbleichend. Rudolf hatte, ohne zu antworten, die Türe halb geöffnet. Er sah den kleinen Lahmen die Treppe herunterkommen, die rotseidne Börse in der Hand, die er Frau von Harville gegeben hatte. Der Lahme verschwand. Man hörte den leichten Schritt Frau von Harvilles und den schweren ihres Gatten, der ihr in die höheren Etagen folgte. 170
Rudolf konnte zwar nicht begreifen, wie der Lahme in den Besitz der Börse gekommen sein mochte; er war aber einigermaßen beruhigt und sagte zu Herrn Robert: »Gehen Sie nicht hinaus; Sie hätten beinahe alles verdorben.« »Aber, Herr«, begann Robert wieder in ärgerlichem Ton, »werden Sie mir endlich sagen, was das bedeutet?« »Es bedeutet, daß der Marquis von Harville alles weiß, daß er seiner Frau bis an Ihre Türe folgte und ihr jetzt nachgeht.« »Mein Gott!« rief Karl Robert, »was will sie denn da oben?« »Das kann Ihnen gleich sein! Bleiben Sie nur hier und gehen Sie nicht hinaus!« Rudolf ließ Herrn Robert stehen und ging in die Portiersstube hinunter. »Was sagen Sie dazu?« redete ihn Frau Pipelet, mit strahlendem Gesicht an; »es geht der kleinen Dame ein Herr nach, ohne Zweifel der Ehemann. Ich habe alles gleich erraten. Es wird einen Streit auf Tod und Leben mit dem Kommandanten geben; das macht Aufsehen in der Straße, und man wird sich drängen, das Haus zu sehen, wie Nr. 16, wo ein Mord geschehen war.« »Meine liebe Madame Pipelet, wollen Sie mir einen Gefallen tun?« fragte Rudolf, indem er der Alten fünf Louisdor in die Hand drückte. »Wenn die Dame wieder herunterkommt, so fragen Sie sie, wie es den armen Morels gehe und sagen Sie ihr, sie tue ein gutes Werk, wenn sie ihnen beisteht, wie sie versprochen habe, als sie sich nach den Leuten erkundigte.« Frau Pipelet sah Rudolf verwundert an. »Das ist für mich? Und die kleine Dame ist nicht beim Kommandanten?« Dann setzte sie hinzu: »Ich verstehe. Sie werden sehen, wie gut ich meine Sache mache. Ich höre sie kommen.« Rudolf versteckte sich schnell. Herr und Frau von Harville kamen die Treppe herunter. Der Marquis führte seine Frau. Clémence sah ruhig, aber bleich aus. 171
»Nun, meine gute Dame«, begann Frau Pipelet, indem sie aus der Stube hinaustrat, »haben Sie die armen Morels gesehen? Der Anblick zerreißt einem das Herz, nicht wahr? Sie verrichten da einen wahren Liebesdienst. Ich sagte es Ihnen gleich, als Sie sich nach ihnen erkundigten. Ach, Sie werden für die armen Leute nie genug tun können, nicht wahr, Alfred?« Alfred, dessen natürliches Rechtsgefühl sich gegen den Gedanken empörte, an diesem Komplott gegen einen Ehemann teilzunehmen, brummte unverständlich. Seine Frau fuhr fort: »Alfred hat seinen Magenkrampf, und da hört er nicht gut; sonst würde er Ihnen sagen, daß die armen Leute für Sie beten werden, meine gütige Dame.« Herr von Harville sah seine Frau mit Bewunderung an und sagte: »Du bist ein Engel!« »Sie haben recht, Herr, sie ist ein guter Engel.« »Laß uns gehen«, sagte die Marquise. Sie fühlte, daß ihre Kräfte zu Ende gingen. »Ja, wir wollen gehen«, antwortete der Marquis. Rudolf trat aus seinem Versteck hervor. »Nun«, sagte Frau Pipelet, »ich hoffe, den Eifersüchtigen gut abgeführt zu haben. Der arme Mann! – Und Ihre Möbel, Herr Rudolf? Man hat sie noch nicht gebracht.« »Ich werde sie schicken. Sie können dem Kommandanten sagen, daß er herunterkommen darf.« Rudolf ging fort. »Jetzt kommt die Reihe an den Kommandanten«, sagte Frau Pipelet. Sie ging zu Herrn Karl Robert hinauf und klingelte; er öffnete die Türe. »Herr Kommandant«, sagte Anastasia und legte militärisch die Hand an ihre Perücke, »ich entlasse Sie aus Ihrer Haft. Sie sind Arm in Arm fortgegangen, der Mann und die Frau. Sie sind mit einem blau172
en Auge davongekommen. Das haben Sie Herrn Rudolf zu verdanken.« »Wer ist der Mann?« »Der Mann?« wiederholte Frau Pipelet; »er ist so gut wie zwei andere. Er wohnt hier im Hause, hat nur ein Zimmer und knickert nicht.« »Schon gut. Da ist der Schlüssel.« »Soll ich morgen wieder Feuer machen, Herr Kommandant?« »Nein.« »Übermorgen?« »Auch nicht.« Herr Karl Robert warf einen Blick der Verachtung auf Anastasia Pipelet und ging fort, ohne begreifen zu können, wie ein Herr Rudolf sein Rendezvous mit der Marquise von Harville entdeckt haben mochte. In dem Augenblick, als er durch den Hausflur ging, begegnete er dem kleinen Lahmen, der hinkend herbeikam. »Was willst du da, Taugenichts?« rief ihm Frau Pipelet zu. »Hat mich die Einäugige nicht gesucht?« fragte der Knabe, ohne ihr zu antworten. »Die Eule? Nein. Warum sollte sie dich suchen?« »Um mit mir aufs Land zu gehen«, antwortete der Lahme. »Und dein Herr?« »Mein Vater hat Herrn Bradamanti gebeten, mir heute Urlaub zu geben«, sagte seelenvergnügt der Sohn Rotarms, indem er mit den Fingern auf ein Fenster trommelte. Ein Wagen näherte sich. Man sah das Gesicht der Einäugigen. Sie winkte dem Lahmen, der hinzulief. Der Kutscher machte den Wagenschlag auf, und der Knabe stieg ein. Die Eule war nicht allein. In einer Ecke saß der Schulmeister, der sich in einen alten Mantel mit einem Pelzkragen gehüllt und das Gesicht durch eine schwarz173
seidene Mütze verdeckt hatte. »Leg dich auf die Trittlinge meines Mannes, Junge, und halte ihn warm!« sagte die Einäugige zu dem Lahmen, der sich, wie ein Hund, zwischen den Beinen des Schulmeisters und der Eule zusammenkauerte. Der Wagen verließ die Rue du Temple. Zwei Stunden später hielt er vor einem Kreuz an einem Hohlweg, der nach der Meierei Bouqueval führte.
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s schlug fünf Uhr an der Kirche des kleinen Dorfes Bouqueval; es war sehr kalt, und der Himmel war klar. Die Sonne, die langsam hinter dem großen, blätterlosen Walde niedersank, der die Höhen von Ecouen krönte, übergoß den Horizont mit Purpur und warf ihre bleichen Strahlen auf die weitgestreckte, hartgefrorene Ebene. Die Meierei, in der die Schallerin lebte und die im Sommer wie ein Nest in Blättern versteckt war, zeigte sich jetzt ohne Blätterschleier. Der kleine zugefrorene Bach glich einem Band von mattem Silber, das inmitten immergrüner Wiesen aufgerollt war, auf denen Kühe weideten. Flüge von Tauben, die der hereinbrechende Abend zurücktrieb, ließen sich auf dem spitzen Dach des Taubenhauses nieder; die großen Nußbäume, die ihre Blätter verloren hatten, ließen die mit grünem Moos bewachsenen Ziegeldächer sehen. Ein schwerer Wagen, gezogen von drei kräftigen Pferden mit dichter Mähne, brachte Getreidegarben hinein. Der Wagen rollte durch das große Tor in den Hof, während sich eine zahlreiche Schafherde durch eines der Seitentore drängte. Menschen und Tiere schienen sich zu beeilen, der Kälte des Abends zu entrinnen. Die Pferde wieherten vergnügt beim Anblick des Stal174
les; die Schafe blökten in dichtgedrängter Schar, und die Arbeiter sahen ungeduldig auf die Fenster der Küche, wo das Abendessen für sie zubereitet wurde. Plötzlich flogen die Hühner gackernd von ihren Stangen, die Truthähne gluckten, die Perlhühner schrien, und die Tauben kamen vom Dach des Taubenhauses, um sich, girrend und trommelnd, auf dem Sande des Hofes niederzulassen. Die Ursache dieser freudigen Aufregung war Marie. Marie war blaß und etwas abgemagert. Aber sie wirkte, in ihrer mädchenhaften Anmut, wie ein Modell von Watteau. Das kleine Häubchen, das sie trug, ließ ihre Stirn und das blonde gescheitelte Haar unbedeckt; wie fast alle Landmädchen in der Umgegend von Paris, hatte sie über dieses Häubchen ein breites rotes Tuch gebunden, dessen Enden auf ihre Schultern fielen. Ein weißes, über dem Busen gekreuztes Batisttuch war halb durch den breiten Latz der grauen Leinwandschürze verdeckt; ein Spenzer von dunkelblauem Tuch mit engen Ärmeln hob die schlanke Taille hervor; sehr weiße Strümpfe und Absatzschuhe, die jetzt in kleinen Holzschuhen versteckt waren, vervollständigten das einfachländliche Kostüm. Marie hielt mit der einen Hand die an den beiden Ecken zusammengenommene Schürze und holte Hände voll Körner, die sie unter die geflügelte Menge verteilte, daraus hervor. Eine hübsche, silberweiße Taube mit purpurrotem Schnabel, die kecker war als die übrigen, setzte sich auf Mariens Schulter, nachdem sie eine Zeitlang um sie herumgeflogen war. Das Mädchen wandte ihr liebliches Profil, erhob das Köpfchen und reichte lächelnd die Lippen dem kleinen roten Schnabel ihres Lieblingstäubchens. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne warfen einen matten Goldglanz auf dieses bezaubernde Bild.
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ährend Marie so beschäftigt war, saßen Madame Georges und der Abbé Laporte am Kamin in dem kleinen Zimmer und sprachen von dem Mädchen. Der alte Geistliche, der nachdenklich den Kopf gesenkt hatte, streckte seine beiden zitternden Hände vor dem Feuer aus. Madame Georges nähte, sah von Zeit zu Zeit den Abbé an und schien auf eine Antwort von ihm zu warten. »Sie haben recht, Madame Georges«, sagte er nach einer Weile, »es muß Herrn Rudolf mitgeteilt werden. Wenn er Marie fragt, so wird sie ihrem Wohltäter vielleicht gestehen, was sie uns verbirgt.« »Noch heute abend will ich an ihn schreiben.« »Das arme Kind!« fuhr der Abbé fort. »Welcher Kummer mag wohl an ihr nagen? Sagten Sie nicht, daß sich diese Stimmung seit der Anwesenheit der Madame Dubreuil, der Pächterin des Herzogs von Lucenay, bemerkbar gemacht hat?« »Ja, Herr Abbé, und doch war Madame Dubreuil und auch ihre Tochter Klara von Marie so entzückt wie alle anderen; beide überhäuften sie täglich mit Beweisen ihrer Freundschaft. Sie wissen, daß unsere Freunde sonntags zu uns kommen, oder daß wir zu ihnen gehen. Jeder solche Besuch scheint die Traurigkeit des lieben Kindes zu erhöhen, obgleich Klara sie liebt, wie eine Schwester.« »Es ist wirklich ein seltsames Rätsel, Madame Georges.« »Halten Sie sie für unterrichtet genug, ihr das Sakrament zu reichen, das die Ärmste ohne Zweifel noch nicht empfangen hat?« »Eben jetzt will ich ihr sagen, daß die heilige Zeremonie wahrscheinlich in vierzehn Tagen stattfinden wird.« In diesem Augenblicke trat Marie ein. »Woher kommst du, Kind?« fragte Madame Georges. »Ich war in der Obstkammer, Madame. Das Obst hat sich gut gehalten, bis auf weniges, das ich ausgelesen habe.« »Warum trägst du diese Arbeit nicht Klaudine auf, Marie? Du wirst 176
dich wieder recht ermüdet haben.« »Ach nein, Madame; ich bin gern in der Obstkammer.« Der Geistliche sah Madame Georges lächelnd an und sagte zu Marie: »Ich habe schon die Milchkammer bewundert, der Sie vorstehen, liebes Kind; nächstens werde ich Ihre Obstkammer bewundern. Aber die Sonne ist untergegangen; Sie werden gerade noch die Zeit haben, mich nach Hause zu begleiten und hierher zurückzukehren, bevor es Nacht wird… Nehmen Sie Ihren Mantel; wir wollen gehen, mein Kind…« Marie warf rasch einen Mantel über und bot dem Geistlichen den Arm. »Zum Glück«, sagte dieser, »ist es nicht weit, und der Weg ist sicher.« »Da es heute später ist als gewöhnlich«, setzte Madame Georges hinzu, »so könnte jemand von den Leuten mitgehen, Marie.« »Man würde mich für furchtsam halten«, entgegnete Marie lächelnd; »es ist ja kaum ein Viertelstündchen bis zur Wohnung des Herrn Abbé, und ich bin zurück, ehe es finster wird.« Der Abbé verließ die Meierei am Arme Mariens, die ihre Schritte nach dem langsamen Schritte des Greises richtete. Einige Minuten später gelangten der Geistliche und Marie an den Hohlweg, in dem der Schulmeister, die Eule und der kleine Lahme versteckt lagen.
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ie Kirche und die Wohnung des Geistlichen von Bouqueval standen am Hügel unter Kastanienbäumen, und man übersah von da aus das ganze Dorf. 177
Die Eule, der Schulmeister und der Lahme, die im Dickicht kauerten, sahen den Geistlichen und Marie in den Hohlweg herunterkommen und an der anderen Seite wieder emporsteigen. Das Gesicht des Mädchens war durch die Kapuze des Mantels verhüllt, und die Einäugige erkannte ihr ehemaliges Opfer nicht. »Still, Mann!« sagte die Alte zu dem Schulmeister; »das Mädchen und der Schwarze sind eben durch den Hohlweg. Nach der Beschreibung, die uns der Lange gegeben hat, muß sie es sein: bäuerlicher Anzug, Mittelgröße, braungestreifter Rock, wollener Mantel mit schwarzem Besatz. Sie führt, wie alle Tage, den Schwarzen nach Hause und geht dann allein zurück. Wenn sie wiederkommt, müssen wir über sie herfallen und sie nach dem Wagen tragen.« »Und wenn sie um Hilfe schreit?« fiel der Schulmeister ein. »Man wird es im Dorfe hören, da die Häuser ganz in der Nähe stehen.« »Ja, ganz nahe stehen die Häuser«, sagte der Lahme. »Wir müssen es dann so machen«, sagte der Schulmeister nach einer kurzen Pause: »der Lahme hält Wache, wo der Weg anfängt. Sieht er die Kleine von weitem kommen, so läuft er ihr entgegen, sagt, er sei der Sohn einer armen alten Frau, die gefallen sei und bittet sie, ihr zu Hilfe zu kommen.« »Richtig, Alterchen. Die arme Alte ist deine Eule. Gut ausgedacht! Und was habe ich dabei zu tun?« »Du legst dich in dem Hohlweg, an der Seite, wo Barbillon mit dem Wagen wartet, nieder. Ich verstecke mich in der Nähe… Hat der Lahme die Kleine bis in die Mitte des Hohlwegs gebracht, so hörst du auf zu wimmern und packst sie mit der einen Hand am Hals, mit der anderen greifst du ihr in den Mund, damit sie nicht schreien kann.« »Ich verstehe, Alterchen.« »Während du die Kleine festhältst, holt mich der Lahme, wir wickeln sie in meinen Mantel und tragen sie in den Wagen. Dann geht es fort nach St. Denis, wo der Mann in Trauer auf uns wartet.« »Abgemacht! Dir kommt doch keiner gleich. – Mein Mann, das ist ein Mann!« sagte die Alte stolz zu dem Lahmen. 178
Dann wandte sie sich an den Schulmeister und sagte: »Apropos, weißt du, daß Barbillon sich wie ein Hund fürchtet?« »Warum?« »Er hat vor einiger Zeit bei einem Streit den Mann einer Milchfrau erschlagen, die alle Morgen mit einem kleinen Wagen und einem Esel vom Dorfe kam, um in der Cité, in der Nähe des ›Weißen Kaninchens‹, Milch zu verkaufen.« Der Lahme lauschte gespannt. »Hier gibt's was zu hören, Junge, was, das macht Spaß?« sagte die Eule. »Ja, ich bliebe lieber bei Ihnen als bei meinem alten Italiener, bei dem ich immer Arznei stoßen und das Pferd putzen muß. Wenn ich wüßte, wo er sein Rattengift für die Menschen versteckt hat, würde ich ihm etwas davon in die Suppe tun, um von ihm loszukommmen.« Die Eule lachte und sagte, indem sie den Kleinen an sich zog: »Gib mir 'nen Schmatz! Du bist ein drolliger Bengel. Aber woher weißt du, daß dein Herr Rattengift für Menschen hat, he?« »Ich hörte es ihn sagen.« »Was hörtest du ihn sagen?« fragte die Eule. »Ich hörte ihn zu einem Herrn sagen, dem er ein Pulver in einem Papier gab ›Wer das auf dreimal nähme, müßte unter die Erde, ohne daß man wüßte, wie und warum, und ohne daß eine Spur davon übrig bliebe.‹« »Wer war der Herr?« fragte der Schulmeister. »Ein junger Herr, der einen schwarzen Schnurrbart hatte, aber sonst aussah wie ein Mädchen. Er kam noch einmal, und dann mußte ich ihm, auf Befehl Bradamantis, nachgehen, um zu wissen, wo er wohnt. Der Herr ging in ein Haus in der Rue de Chaillot. – Mein Herr hatte mir gesagt: ›Wohin er auch geht, folge ihm und warte an der Türe; kommt er wieder heraus, so folge ihm wieder, bis er irgendwo nicht mehr herauskommt. Dann sieh zu, daß du seinen Namen erfährst!‹« »Nun?« 179
»Ich bin ihm nachgegangen und habe auch den Namen erfahren.« »Wie hast du das angefangen?« fragte der Schulmeister. »O, ich bin nicht so dumm. Ich ging zu dem Portier des Hauses in der Rue de Chaillot, aus dem der Herr nicht mehr herauskam und sagte: ›Mein guter Herr, ich will mir hundert Sous holen, die mir der Herr versprochen hat, weil ich seinen Hund wiedergefunden habe. – Der Herr hat braunes Haar, einen schwarzen Schnurrbart, einen gelben Rock und sagte mir, er wohne Rue de Chaillot Nr. 11 und hieße Duport.‹ – ›Der Herr, von dem du sprichst, heißt Vicomte von Saint Remy; es ist kein Hund hier als du‹, antwortete der Portier und gab mir einen Fußtritt. Aber ich wußte, was ich wissen wollte.« »Du bist ein Junge zum Anbeißen!« sagte die Eule, indem sie den Lahmen küßte. Der Sohn Rotarms, den dieser Liebesbeweis rührte, rief, in überströmender Dankbarkeit: »Sie brauchen nur zu befehlen, und Sie werden sehen, wie gut ich Sie bediene!« »Das sollte dein Schaden nicht sein.« »Ich möchte bei Ihnen bleiben.« »Wenn du recht folgsam bist, wird sich das finden; du sollst uns beide nicht verlassen, mein Junge.« »Ja«, sagte der Schulmeister, »du führst mich armen Blinden. Wir gehen in die Häuser, und wenn die Eule hilft, können wir manchen guten Griff tun.« »Bin ich nicht dein für Strick und Galgen, Mörderchen? Bin ich nicht, als ich aus dem Spital kam zu dir aufs Dorf gelaufen und habe gesagt, ich wäre deine Frau?« Diese Worte der Einäugigen weckten in dem Schulmeister eine böse Erinnerung. Er änderte plötzlich den Ton und rief mit zorniger Stimme: »Ja, ich kam allerdings auf den dummen Gedanken, ihn zu mir bestellen zu lassen. – Und was war das Ende?« setzte er wütend hin180
zu; »den Tag nach deiner Ankunft war das Geld verschwunden, das mir der Schuft, der mich geblendet hat, gegeben hatte. Das kannst nur du getan haben, und ich bin jetzt ganz in deine Hände gegeben. Sooft ich daran denke, weiß ich nicht, warum ich dich nicht auf der Stelle totschlage, alte Spitzbübin.« Und er tat einen Schritt auf die Einäugige zu. »Nehmen Sie sich in acht!« rief der Lahme; »wenn Sie der Eule etwas zuleide tun…« »Ich werde euch beide zermalmen, ihr Schlangen!« rief der Räuber in Wut. Und da er den Sohn Rotarms ganz in seiner Nähe hörte, schlug er nach ihm, traf ihn aber nicht. Der Lahme ergriff, um sich selbst und die Eule zu rächen, einen Stein, warf damit nach dem Schulmeister und traf ihn an der Stirn. Der Wurf war nicht gefährlich, aber er schmerzte. Der Räuber richtete sich auf wie ein verwundeter Stier, ging einige Schritte weit und strauchelte. »Brich den Hals!« rief ihm die Eule lachend zu. Der Junge teilte die Freude der Einäugigen. Als der Schulmeister zum zweiten Male stolperte, rief er: »So mach doch die Augen auf, Alter! Wisch deine Brillengläser ab.« Da der herkulische Verbrecher die Unmöglichkeit erkannte, den Knaben zu erreichen, blieb er stehen, stampfte wütend auf die Erde, legte die beiden behaarten Fäuste auf seine Augen und brüllte, wie ein Tiger, dem ein Maulkorb angelegt ist. »Du hustest, Alter!« rief ihm der Sohn Rotarms zu. »Da, nimm! Lakritzensaft!« Und er hob eine Handvoll feinen Sandes auf, den er dem Mörder ins Gesicht warf. Den Schulmeister verletzte die Beschimpfung mehr als der Wurf mit dem Steine; er wurde blaß und rot vor Wut, schlug beide Arme in grenzenloser Verzweiflung übereinander, erhob sein Gesicht gen Himmel und rief mit flehentlicher Stimme: »Mein Gott! Mein Gott!« 181
»Ah, Mörderchen betet!« rief die Eule lachend… »Nur ein Messer, daß ich mich umbringen könnte!« brüllte der Schulmeister, indem er in wilder Wut sich in die Hände biß. »Ein Messer? Du hast eins in der Tasche, Männchen! … Der kleine Alte in der Rue du Roule und der Viehhändler kennen es.« Der Schulmeister, der sich nun das Leben nehmen konnte, wenn er wollte, gab dem Gespräch eine andere Richtung und sagte vor sich hin: »Der Schurimann war gut; er hat mich nicht bestohlen; er hatte Mitleid mit mir.« »Warum hast du gesagt, ich hätte dir dein Geld gestohlen?« entgegnete die Eule, die mit Mühe das Lachen unterdrückte. »Nur du bist in meine Kammer gekommen«, sagte der Räuber; »du hast mich in der Nacht bestohlen!« »Er tut, als knacke er Nüsse«, warf der Lahme ein. »Haha! Der Junge hat recht. – Beruhige dich, Männchen, und laß ihn lachen. Aber gestehe auch, daß du ungerecht gewesen bist. Als der Lange in Trauer zu mir sagte: ›Sie können tausend Franken verdienen, wenn Sie ein junges Mädchen gewaltsam nach Saint Denis bringen‹, habe ich dich gleich aufgefordert, die Sache mitzumachen. Ich gebe dir da ein Almosen, denn du wirst doch nur das fünfte Rad am Wagen sein; höchstens, daß du die Kleine hältst, während wir sie einwickeln. Wir geben Barbillon zweihundert Franken für den Wagen, und es bleiben dann noch achthundert für uns. Was sagst du dazu? Bist du noch immer bös auf deine Alte?« »Wer bürgt mir dafür, daß du mir etwas gibst, wenn die Sache gemacht ist?« fragte der Räuber mißtrauisch. »Es ist wahr, ich brauchte dir nichts zu geben, denn du wohnst bei mir, wie sonst die Schallerin, und mußt es dir bei mir gefallen lassen, bis der Teufel dich holt…« »Könnte ich mich an dem Hund rächen, der mich ins Unglück gebracht hat!« rief der Schulmeister, dessen Wut von neuem erwachte. »Mit den Zähnen wollte ich ihn zerreißen!« »Sei nur ruhig, Männchen, wir werden ihn wiederfinden, den Lum182
pen von Rudolf und den Schurimann auch!« »Du wirst mich also nicht verlassen?« sagte der Räuber in unterwürfigem, aber noch immer mißtrauischem Tone. »Was sollte aus mir werden, wenn du mich im Stiche ließest!« »Das ist wahr! Wäre es nicht ein Spaß, wenn wir beide, der Lahme und ich, dich hier allein zurückließen?« Der Schulmeister zitterte bei dieser Drohung, rückte näher an die Eule und sagte: »Nein, das wirst du nicht tun, Eule, auch du nicht, Lahmer. Es wäre zu gemein!« »Haha! Zu gemein! – Und der kleine Alte in der Rue du Roule! Und der Viehhändler! Und die Frau vom Kanal St. Martin! Und der Herr in der Witwenallee! Glaubst du, sie hätten dich angenehm und lieblich gefunden mit deinem Messer? Warum sollte man dir nicht auch einmal einen Possen spielen?« »Ich gestehe es«, sagte der Schulmeister dumpf. »Ich habe dir Unrecht getan; ich tat auch Unrecht, als ich den Lahmen schlagen wollte; ich bitte um Verzeihung, ja, ich bitte euch beide um Verzeihung.« Mitten in dem Hohlwege streckte der Schulmeister bittend seine kräftigen Hände nach der Einäugigen aus; sein dichtes starres Haar fiel, wie eine Mähne, über seine bleiche Stirn; seine roten Augenlider, die er vor Angst weit aufriß, ließen die Hälfte seiner glasigen, erstorbenen Pupille sehen. Seine ungeheuren Schultern beugten sich demütig. Die Einäugige stand stolz und gerade vor dem Schulmeister. Das knochige, stark gebräunte Gesicht der Alten mit der Hakennase drückte eine rohe Freude aus; ihr grünliches Auge funkelte gleich einer glühenden Kohle; ein spöttisches Lächeln zog ihre Oberlippe zurück und enthüllte drei lange gelbliche Zähne. Der Lahme, der eine Bluse mit einem ledernen Gürtel trug, stand dabei auf einem Fuß und lehnte sich an den Arm der Eule, um sich im Gleichgewicht zu erhalten. Das Gesicht des Knaben verriet eine teuflische Bosheit und Schadenfreude. »Versprecht mir wenigstens, mich nicht zu verlassen!« wiederholte 183
der Schulmeister. »Ja, ja, Männchen, fürchte dich nicht! – Ich habe immer gern jemanden bei mir gehabt, an dem ich meine Wut auslassen konnte, ein Vieh oder einen Menschen. Als ich aus dem Gefängnis kam, geriet mir die Schallerin in die Hände, aber sie nahm Reißaus; dann hatte ich einen Hund. Der hatte auch keine guten Tage! Als ich dich kennenlernte, Männchen«, fuhr die Eule fort, »wollte ich mir eben ein Kätzchen anschaffen. Jetzt wirst du mein Sündenbock sein. Verstehst du mich, Männchen? Dich zu quälen, muß ein ganz anderes Vergnügen machen, als einen Vogel zu rupfen oder ein Kind zu schlagen!« »Scheusal!« rief der Schulmeister, indem er sich in einem neuen Wutanfall aufrichtete. »Schimpfst du schon wieder? Nun, du kannst mich ja verlassen, es steht dir frei. Ich sperre dich nicht ein.« »Ja, die Türe steht offen, geh nur immer geradeaus!« sagte der Lahme lachend. Plötzlich aber bückte er sich und flüsterte: »Ich höre Schritte. Wir wollen uns verstecken! Aber es ist nicht das Mädchen!« Es erschien wirklich nach einigen Minuten eine rüstige Bäuerin, der ein großer Hund folgte, und die einen Korb auf dem Kopfe trug; sie ging durch den Hohlweg hindurch und dann den Fußsteig hinauf, den der Geistliche und Marie gegangen waren.
XLII
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ie letzten Strahlen der Sonne verglommen langsam hinter der imposanten Masse des Schlosses von Ecouen und seiner Wälder. Auf allen Seiten breiteten sich unabsehbare Ebenen mit braunen, durch den Frost verhärteten Furchen aus, eine weite Einöde, 184
in der das Dorf Bouqueval wie eine Oase lag. Der Himmel färbte sich im Westen mit langen Purpurstrahlen. Die schmale, dünne Sichel des Mondes begann mild zu glänzen. Die Stille war vollkommen. Der Geistliche blieb auf dem Hügel stehen, um sich an dem Anblicke des schönen Abends zu erfreuen. »Betrachten Sie, mein Kind«, sagte er zu Marie, »diese Unermeßlichkeit, deren Grenzen man nicht mehr sieht; man hört nicht das geringste Geräusch; es ist, als gäbe uns die Stille und Unendlichkeit eine Vorstellung der Ewigkeit. Macht die Ruhe, die in dieser Stunde herrscht, nicht auch Eindruck auf Sie?« Das Mädchen antwortete nicht. Der Geistliche sah sie verwundert an; sie weinte. »Was ist Ihnen, mein Kind?« »Mein Vater, ich bin unglücklich!« »Unglücklich? Sie?« »Ich weiß, ich habe nicht das Recht, mich über mein Schicksal zu beklagen – und doch –« »Wir haben Sie oft nach der Ursache der Traurigkeit gefragt, Marie, die Sie bisweilen niederdrückt. Sie haben immer vermieden, uns eine Antwort darauf zu geben, und wir achteten Ihr Geheimnis.« »Ach, mein Vater, ich kann Ihnen nicht sagen, was in mir vorgeht.« »Aber was fehlt Ihnen, Marie? Sie wissen, wie sehr man sie liebt. Übrigens naht der Tag, an dem Madame Georges und Herr Rudolf Sie zur Taufe führen und die Verpflichtung übernehmen werden, Sie stets zu schützen.« »Herr Rudolf wollte mir diesen neuen Beweis seiner großen Güte geben? Ach, ich will Ihnen nichts verbergen, mein Vater; ich fürchte, undankbar zu sein.« »Ich höre Ihnen zu.« »Als ich erfuhr, daß ich die Meierei und Madame Georges nicht wieder verlassen würde«, sagte Marie, nachdem sie sich beruhigt hatte, »glaubte ich einen schönen Traum zu träumen. Ich war glücklich wie jemand, der einer großen Gefahr entgangen ist.« 185
Der Geistliche sah das Mädchen verwundert an. Marie fährt fort. »Allmählich gewöhnte ich mich an dieses Leben. Ich kannte keine größere Freude, als Madame Georges bei ihren Arbeiten zu helfen und Ihre Ermahnungen zu beachten, mein Vater. Ich hielt mich allen gleich, weil alle gütig gegen mich waren, bis eines Tages…« Hier konnte Marie vor Schluchzen nicht weitersprechen. »Beruhigen Sie sich, Kind. Fassen Sie Mut und fahren sie fort.« Marie trocknete ihre Augen und fuhr fort: »Sie erinnern sich, mein Vater, daß am Allerheiligenfeste Madame Dubreuil, die Pächterin des Herzogs von Lucenay, mit ihrer Tochter einige Tage bei uns blieb.« »Allerdings… Klara Dubreuil ist ein vortreffliches Mädchen…« »Sie ist ein Engel, mein Vater. Ich freute mich sehr, als ich erfuhr, daß sie einige Tage bei uns bleiben würde, und dachte nur an den Augenblick, in dem ich die ersehnte Freundin sehen sollte. Endlich kam sie. – Ich war in meinem Stübchen, das ich mit ihr teilen sollte. Man holte mich. Ich trat in das Zimmer; Madame Georges zeigte mir das schöne Mädchen, das so sanft und so gut aussah, und sagte: ›Marie, da ist eine Freundin für dich.‹ – ›Ich hoffe, daß Sie und meine Tochter bald Schwestern sein werden‹, setzte Madame Dubreuil hinzu. Kaum hatte ihre Mutter das gesagt, als Klara zu mir kam und mich küßte. Da, mein Vater«, sagte Marie weinend, »ich weiß nicht, was in mir vorging, – aber als ich das reine Gesicht Klaras auf meiner befleckten Wange fühlte, brannte sie mir vor Scham, denn ich dachte an das, was ich gewesen war.« »Aber, mein Kind –« »Ja, mein Vater. Zum ersten Male fühlte ich, daß es eine Schande gibt, die durch nichts zu verwischen ist. Seit diesem Tage verläßt mich der Gedanke nicht mehr.« Marie trocknete ihre Tränen. Der Geistliche aber sprach, nachdem er sie mit zärtlichem Mitleid betrachtet hatte: »Bedenken Sie, mein Kind, daß Madame Georges Sie dieser Freundschaft für würdig hielt. Die Vorwürfe, die Sie sich machen, gelten 186
fast ebenso Ihrer zweiten Mutter.« »Ich weiß es, mein Vater, ich habe unrecht, aber ich kann meine Scham nicht überwinden. Es ist noch nicht alles; ich will allen Mut zusammennehmen, um Ihnen alles zu erzählen.« »Fahren Sie fort, Marie!« »Man hatte Klara ein Bett in meinem Stübchen aufgeschlagen. Den ersten Abend, ehe sie sich niederlegte, küßte sie mich wieder und forderte mich auf, sie Klara zu nennen, wie sie mich Marie nennen würde. Dann legte ich mich nieder und hatte schreckliche Träume; ich sah die Gesichter wieder, die ich fast vergessen hatte: den Schurimann, den Schulmeister, die einäugige Frau, die mich in meiner Kindheit so gefoltert hatte.« »Arme Marie!« fiel der Geistliche bewegt ein. »Ich war sehr spät eingeschlafen, und Klara weckte mich früh mit einem Kuß. – Um mir ihre Freundschaft zu beweisen, wollte sie mir ein Geheimnis anvertrauen; sie sollte, wenn sie achtzehn Jahre alt sein würde, sich mit dem Sohn eines Pächters von Goussainville verheiraten, den sie zärtlich liebte. Die Verbindung war zwischen den beiden Familien schon längst verabredet. Dann schilderte sie mir mit wenigen Worten ihr früheres Leben; sie hatte niemals ihre Mutter verlassen und wollte sie nie verlassen, denn ihr Bräutigam sollte auf das Gut des Herrn Dubreuil ziehen. Nun, Marie, sagte sie zu mir, kennst du mich, als wärest du meine Schwester; erzähle mir nun auch deine Geschichte! Ich glaubte, vor Scham sterben zu müssen, ich errötete, ich stotterte und antwortete nur, daß ich eine Waise, von sehr harten Personen erzogen worden und in meiner Jugend nicht sehr glücklich gewesen sei. Da fragte mich Klara, wo ich erzogen worden sei, in der Stadt oder auf dem Lande, wie mein Vater heiße, ob ich mich erinnere, meine Mutter gesehen zu haben… Jede dieser Fragen machte mich verlegen, denn ich mußte mit Lügen antworten, und Sie, mein Vater, hatten mich gelehrt, daß es eine Sünde sei, zu lügen. Aber Klara fiel es nicht ein, daß ich sie täuschen könnte. Sie glaubte mir und beklagte mich mit einer Güte, die mir das Herz zerriß. Ach, mein Vater, Sie können sich nicht den187
ken, was ich bei diesem Gespräche gelitten habe!« »Unglückliche! Möge der Zorn Gottes die treffen, die dich auf den Weg der Sünde führten!« »Ach ja, mein Vater, diese Menschen waren sehr böse«, entgegnete Marie bitter. »Aber es ist noch nicht alles; da Klara von dem Glücke sprach, das sie erwartete, mußte ich unwillkürlich mein Schicksal mit dem ihrigen vergleichen; denn trotz der Güte, mit der man mich überhäuft, wird doch mein Schicksal immer elend sein.« »Marie!« »Nicht wahr, mein Vater, was ich da sage, ist recht schlecht? Deshalb wagte ich nicht, Ihnen alles zu gestehen. Ja, ich bin so undankbar, die Güte zu verkennen, mit der man mich überhäuft, und zu sagen: wenn man mich der Schande nicht entrissen hätte, würde ich bald gestorben sein. Das wäre besser für mich gewesen.« »Sie dürfen nicht hoffen, den Flecken aus Ihrem Leben zu tilgen«, sagte der Priester mit ernster Stimme, »aber Sie müssen dennoch auf Barmherzigkeit hoffen.« Der Priester stand auf dem Gipfel des Hügels. Seine schwarze Soutane, sein ehrwürdiges Gesicht, das von dem letzten Abendscheine beleuchtet wurde, hoben sich scharf von dem klaren, durchsichtigen Horizont ab, der im Westen bleiches Gold, im Zenit Saphir war. Der Priester erhob eine seiner zitternden Hände zum Himmel und überließ die andere Marien, die sie mit Tränen benetzte. Während sie beide, schweigsam und in Gedanken versunken, dastanden, trat das Bauernmädchen zu ihnen, das ihnen gefolgt war. Es war eine Magd von der Meierei. »Nehmen Sie's nicht übel, Herr Pfarrer«, sagte sie zu dem Geistlichen, »aber Madame Georges hat mir befohlen, diesen Korb mit Obst zu Ihnen zu tragen und zugleich Marie zu begleiten, da es spät wird. – Ich habe auch Türk mitgenommen«, setzte das Mädchen hinzu, indem es einen großen Hund streichelte. »Wenn man auch noch nicht gehört hat, daß jemand hier angefallen worden wäre, so ist es doch immer besser.« 188
»Du hast recht, Klaudine. Sag Madame Georges meinen schönsten Dank.« Dann wandte er sich an Marie und sagte ihr leise: »Ich muß morgen eine Konferenz besuchen, bin aber um fünf Uhr zurück. Ich sehe, daß Sie das Bedürfnis fühlen, länger mit mir zu sprechen.« »Ich danke Ihnen, mein Vater«, antwortete Marie. »Da sind wir an meinem Garten«, sagte der Geistliche. »Kehrt schnell zurück, denn es wird finster. Morgen um fünf, Marie!« »Ja, mein Vater.« Der Abbé trat in seinen Garten, und Marie begab sich mit Klaudine und Türk auf den Heimweg.
XLIII
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s war eine sternenhelle, klare Nacht. Dem Rate des Schulmeisters folgend, hatte sich die Eule mit dem Räuber an eine Stelle des Hohlweges begeben, die näher zu dem Orte lag, wo Barbillon mit dem Wagen wartete. Der Lahme lauschte auf die Rückkehr Mariens, die er in den Hinterhalt locken sollte. Er war einige Schritte über den Hohlweg hinausgegangen, als er in der Ferne Marie sprechen hörte. Der Lahme hinkte schnell in den Hohlweg hinunter, um der Eule seine Entdeckung mitzuteilen. »Es kommt noch jemand mit dem Mädchen«, sagte er leise. »Daß ihr der Teufel den Hals umdrehe!« rief die Eule. »Wer ist es?« fragte der Schulmeister. »Wahrscheinlich die Magd, die eben vorüberging und einen großen Hund bei sich hatte.« »Es sind zwei, die Kleine kann ich auf mich nehmen; aber die an189
dere? Der Schulmeister sieht nicht, und der Lahme ist zu schwach. Was sollen wir tun?« jammerte die Eule. »Ich bin nicht stark, aber wenn Sie wollen, werfe ich mich der Magd an die Beine, halte mich mit Händen und Zähnen fest und lasse nicht los. Unterdessen schleppen Sie die Kleine fort.« »Und wenn sie schreien? Wenn sie sich wehren? Man wird sie im Dorfe hören«, antwortete die Einäugige. »Und sie haben einen großen Hund bei sich!« bemerkte der Lahme. »Wenn es weiter nichts wäre! Mit einem Schlag auf die Schnauze will ich ihn still machen«, sagte die Eule. »Sie kommen!« begann der kleine Lahme wieder, indem er von neuem horchte. »So sag doch ein Wort, Mann«, wandte sich die Eule an den Schulmeister. »Es ist heute nichts zu machen«, antwortete er. »Und die tausend Franken?« rief die Eule. »Dein Messer! Dein Messer, Mann! Ich werde die Magd erstechen, damit sie uns nicht im Wege ist. Mit der Kleinen werden wir, ich und der Lahme, schon fertig.« »Aber der Mann verlangt nicht, daß wir jemand umbringen.« »So hat er für dieses Blut besonders zu zahlen!« »Jetzt kommen sie«, sagte der Lahme leise. »Dein Messer, Mann«, wiederholte die Eule. »Nein«, entgegnete der Räuber, »heute geht es nicht; morgen wird auch noch Zeit sein.« »Fürchtest du dich?« fragte die Eule. »Ich fürchte mich nicht«, antwortete der Schulmeister, »aber du kannst alles verderben.« Der Hund, der die Magd begleitete und offenbar die Leute witterte, blieb stehen und bellte heftig. »Hörst du den Hund? – Schnell, dein Messer oder…«, sprach die Eule in drohendem Tone. »Nimm es mir mit Gewalt«, antwortete der Schulmeister. 190
»Es ist zu spät«, sagte die Eule, nachdem sie einen Augenblick aufmerksam gelauscht hatte. »Sie sind hinaus. Das sollst du mir büßen! Tausend Franken durch deine Schuld verloren!« »Vielleicht zweitausend gewonnen«, entgegnete der Schulmeister. »Höre mich an, Eule«, setzte er hinzu, »und du wirst sehen, ob ich unrecht tat, dir mein Messer zu verweigern. – Du kehrst zu Barbillon zurück, und ihr fahrt an den Ort, wo euch der Herr in Trauer erwartet. Sage ihm, daß heute nichts zu machen war, daß es aber morgen geschehen wird.« »Und du?« murmelte die Eule noch immer erzürnt. »Höre nur weiter! Die Kleine begleitet den Pfarrer jeden Abend nach Hause; es ist ein Zufall, daß heute jemand mit ihr ging. Wahrscheinlich haben wir morgen mehr Glück; du kommst also morgen, um dieselbe Zeit, mit Barbillon und dem Wagen hierher!« »Und du?« »Der Lahme führt mich in die Meierei, wo das Mädchen wohnt; er sagt, wir hätten uns verirrt, und ich wäre sein Vater, ein armer Blinder. Wir wollen um die Erlaubnis bitten, die Nacht auf dem Gute bleiben zu dürfen. Die Bauern werden uns ein Nachtquartier geben. Wir sind in der ersten Hälfte des Januar, das ist eine gute Zeit, denn da pflegt man das Pachtgeld zu bezahlen. Das Gut liegt, wie ihr sagt, einsam; haben wir erst die Örtlichkeit besehen, so können wir mit Freunden wiederkommen.« »Gescheit bist du, das muß man dir lassen«, antwortete die Eule. »Weiter, Männchen!« »Morgen früh werde ich, statt das Gut zu verlassen, über Schmerzen klagen, die mich am Gehen hindern. So bleibe ich einen Teil des Tages, damit der Lahme mehr Zeit hat, alles genau zu besichtigen. Abends, wenn die Kleine, wie gewöhnlich, mit dem Geistlichen fortgeht, folgen wir, der Lahme und ich, dem Mädchen von weitem und warten hier auf sie. Da sie uns schon kennt, wird sie nicht erschrecken, wenn sie uns wiedersieht. Wir treten zu ihr, und kann ich sie erst mit meinem Arm erreichen, dann entgeht sie mir nicht; sie wird fortgeschafft, und tausend Franken sind unser. Aber 191
nicht genug. Nach zwei oder drei Tagen können wir Barbillon den Einbruch in das Gut verpfeifen und mit ihm teilen, wenn er etwas findet.« »Wenn aber die Kleine den Geistlichen morgen abend nicht begleitet?« »So warten wir bis übermorgen! Bin ich erst in dem Gut, so werde ich bald beurteilen können, ob es möglich ist, die Kleine zu entführen, oder ob wir ein anderes Mittel ausdenken müssen.« »Dein Plan ist gut, Männchen. Mach, daß du fortkommst. Das Bauernvolk geht mit den Hühnern schlafen. Morgen um vier Uhr bin ich mit Barbillon wieder hier.« »Abgemacht!« »Warte noch! Ich habe vergessen, dem kleinen Lahmen Wachs zu geben. Weißt du, wie man einen Abdruck macht, Kleiner?« »Ja, ich weiß es; Vater hat es mir gezeigt.« »Morgen also, Männchen«, sagte die Eule. Dann kehrte sie zum Wagen zurück. Der Schulmeister und der Lahme gingen nach der Meierei. Das Licht, das aus den Fenstern schien, diente ihnen als Leitstern.
XLIV
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n der Gutsküche zu Bouqueval setzten sich Mägde und Knechte eben zur Abendmahlzeit nieder, als die Hunde im Hofe laut anschlugen. »Es scheint jemand draußen zu sein«, sagte einer der Knechte. Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als die Klingel am Hoftor gezogen wurde. »Wer kann noch so spät kommen? Geh hinaus, René, und sieh nach.« 192
René, ein junger Bursche, ließ mit Bedauern die heiße Suppe stehen und ging hinaus. »Seit langer Zeit sitzen Madame Georges und Mamsell Marie heute nicht bei uns«, sagte Vater Chatelain, einer der ältesten Knechte. »Madame Georges ist zu Mamsell Marie hinaufgegangen, die sich unwohl fühlte, als sie zurückkam«, antwortete Klaudine, die Magd, die Marie von dem Pfarrhause zurückbegleitet hatte. »Unsere gute Marie ist doch hoffentlich nicht krank?« sagte der alte Chatelain besorgt. »Nein, Vater Chatelain; Madame Georges sagte, es würde bald vorübergehen«, antwortete Klaudine. Die Antwort Klaudinens wurde durch die Rückkehr Renés unterbrochen. »Wer ist draußen?« fragte Vater Chatelain. »Ein armer Blinder mit einem Jungen, der ihn führt. Die beiden haben sich verirrt und bitten, die Nacht hierbleiben zu dürfen.« »Madame Georges wird nichts dagegen haben, daß man den armen Leuten ein Nachtlager gibt. Geh, sag es ihr, Klaudine.« Nach einer Weile kam die Magd zurück und sagte: »Madame Georges will, daß die beiden ihr Nachtlager in der kleinen Stube erhalten.« »So rücke zwei Stühle ans Feuer, damit sie sich erwärmen, bevor sie sich an den Tisch setzen, denn es ist grimmig kalt.« Man hörte die Hunde wütend bellen und die Stimme eines Knechtes, der sie zu besänftigen suchte. Dann wurde die Küchentüre rasch aufgerissen, und der Schulmeister und der Lahme traten schnell ein, als würden sie verfolgt. »Gebt doch auf eure Hunde acht«, sagte der Schulmeister erschrocken. »Sie hätten mich beinahe gebissen.« Der Schulmeister und der Lahme blieben an der Türe stehen und wagten nicht, weiter zu gehen. Der Räuber hielt den Kleinen an der Hand, der sich an ihn drückte und die Leute mißtrauisch ansah. »Treten Sie ans Feuer, guter Mann, und wärmen Sie sich«, sagte 193
Vater Chatelain, »dann essen Sie mit uns! Da, mein Sohn, führe deinen Vater hierher.« »Der liebe Gott vergelt es Euch!« antwortete der Lahme in heuchlerischem Tone. »Komm, armer Vater!« Beide gingen so an den Herd. Lisander, der alte Hofhund, knurrte dumpf; nachdem er aber den Schulmeister beschnuppert hatte, fing er an, grauenhaft zu heulen. Das Geheul Lisanders war so kläglich, daß es die anderen Hunde hörten und alle in das Gewinsel einstimmten. Die Leute in der Küche sahen sich erschrocken an. Selbst den Räuber schauderte, als er dieses Geheul hörte, das bei seiner Ankunft losbrach. Nach einiger Zeit trat Ruhe ein, und man hörte jetzt nichts als das Klappern der Messer und Gabeln. Die Knechte und Mägde bemerkten mit Rührung die Sorge des Knaben für den Blinden. Der Kleine machte ihm die Bissen zurecht, schnitt ihm das Brot zu und schenkte ihm ein. Aber grausam, wie der Knabe in Wirklichkeit war, glich er jede scheinbare Aufmerksamkeit für seinen angeblichen Vater durch einen Tritt unter dem Tische aus, den er gegen eine alte Wunde richtete, die der Schulmeister, wie viele Sträflinge, an der Stelle hatte, an der er im Bagno den Ring der Kette getragen hatte. Der Räuber mußte einen um so stoischeren Mut aufbieten, seinen Schmerz zu verbergen, weil das kleine Ungeheuer, um sein Opfer noch mehr zu quälen, zu seinen Angriffen immer den Augenblick wählte, in dem der Schulmeister trank oder sprach. Der Räuber verbiß seinen Schmerz, da er bedachte, daß es für das Gelingen seiner Pläne sehr nachteilig sein würde, wenn er erraten ließe, was unter dem Tische vorging. »Da, armer Vater, ist eine geschälte Nuß«, sagte der Lahme. »Brav, mein Junge«, sagte Vater Chatelain, der sich an den Räuber mit den Worten wandte: »Sie haben einen guten Sohn.« »Ja, mein Unglück ist groß, aber die Liebe meines Kindes…« Jetzt konnte der Schulmeister einen lauten Schmerzensschrei nicht 194
unterdrücken. Der Sohn Rotarms hatte die schmerzhafteste Stelle getroffen. »Mein Gott, was ist dir, guter Vater?« fragte der Lahme mit weinerlicher Stimme. Dann stand er auf und warf sich an den Hals des Schulmeisters. Im ersten Aufbrausen seines Zornes wollte der Räuber den Kleinen in seinen Herkulesarmen ersticken; er bezwang sich aber und schob ihn auf den Stuhl zurück. »Was ist Ihnen, guter Mann?« fragte Vater Chatelain. »Es ist nichts«, antwortete der Schulmeister, der seine Kaltblütigkeit wiedererlangt hatte. »Ich habe eine alte Wunde am Bein, die zuweilen noch sehr schmerzt. Aber es ist schon vorüber.« »Armer Vater!« sagte der Lahme, der einen diabolischen Blick auf den Schulmeister warf. Die Weiber sahen den Jungen gerührt an. »Es ist schade, guter Mann«, fiel Vater Chatelain ein, »daß Sie nicht vor drei Wochen zu uns gekommen sind.« »Warum?« »Weil wir da einige Tage einen Doktor aus Paris hier hatten, der ein vortreffliches Mittel gegen Beinschäden kennt. Eine alte Frau konnte seit drei Jahren nicht gehen; der Doktor legte ihr seine Salbe auf die Wunde, und jetzt läuft sie mit jedem um die Wette; sie will auch zu Fuß nach Paris, um ihrem Retter zu danken, der in der Witwenallee wohnt.« Das Wort ›Witwenallee‹ weckte schreckliche Erinnerungen in dem Schulmeister, der unwillkürlich zitterte und seine häßlichen Züge verzerrte. »Wenn Sie wieder nach Paris kommen, lassen Sie sich durch Ihren Sohn zu ihm führen; er wird Sie sicherlich heilen. Denken Sie sich, dieser vortreffliche Doktor David ist ein Neger.« Das Gesicht des Schulmeisters war so von Narben zerfetzt, daß man nicht sehen konnte, wie er erblaßte, als er von dem schwarzen Arzt reden hörte, der an ihm die entsetzliche Strafe vollzogen hatte. 195
Es war ein unglücklicher Tag für den Schulmeister. Vater Chatelain fuhr fort: »Übrigens wollen wir Ihnen, armer Mann, wenn Sie wieder fortgehen, die Adresse des Doktors mitgeben.«
XLV
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obald der Räuber sich von seinem Entsetzen erholt hatte, stand er auf, nahm die Hand des kleinen Lahmen und rief: »Wir wollen gehen. Führe mich!« Die Leute sahen einander verwundert an. »Sie wollen gehen – jetzt? Wo denken Sie hin, armer Mann?« sagte Vater Chatelain. »Was fällt Ihnen ein? Ist es nicht richtig im Kopfe bei Ihnen?« Der kleine Lahme griff dies klug auf, seufzte tief und nickte bejahend. Dann legte er den Zeigefinger an die Stirn und gab dadurch den Leuten zu verstehen, daß es im Kopfe seines angeblichen Vaters wirklich nicht richtig sei. Vater Chatelain antwortete ihm durch ein Zeichen, daß er verstehe. Der kleine Lahme, der durchaus sein gutes Nachtlager nicht preisgeben wollte, um in der kalten Nacht im Freien umherzulaufen, sagte: »Mein Gott, armer Vater, kommt der Anfall wieder? Beruhige dich! Ich möchte dir, siehst du, lieber ungehorsam sein, als dich jetzt hinausführen.« Dann wandte er sich an die Leute am Tische und setzte hinzu: »Nicht wahr, ihr werdet nicht zugeben, daß mein armer Vater jetzt fortgeht?« »Sei ruhig, mein Kind«, sagte Vater Chatelain; »wir werden deinen Vater nicht hinauslassen. Er wird die Nacht hierbleiben müssen.« 196
»Sie werden mich nicht zwingen, hierzubleiben«, entgegnete der Schulmeister. »Also noch einmal, laßt mich fort!« »Es ist nicht wahrscheinlich, daß unsere gute Dame heute noch herunterkommt, sonst würde sie selbst Sie beruhigen. Hat sie nicht befohlen, Ihnen ein Bett zurechtzumachen? Wenn Sie die gute Frau heute abend nicht sehen, so werden Sie morgen früh mit ihr sprechen.« Der Räuber konnte das Haus nicht verlassen; er war in den Händen des kleinen Lahmen. Er fügte sich also, sagte aber zum Vater Chatelain: »Da Sie mir die Versicherung geben, daß ich niemandem zur Last bin, so nehme ich das Nachtquartier an, das Sie mir bieten; da ich aber sehr müde bin, so will ich mich, wenn Sie es erlauben, gleich niederlegen. Ich möchte morgen sehr zeitig aufbrechen.« »Wann Sie wollen!« »Ich will den armen Mann eine Strecke fahren«, sagte der Knecht René. »Madame hat mir den Auftrag gegeben, Geld beim Notar in Villiers-le-Bel zu holen.« »Du wirst den armen Blinden auf den Weg bringen, aber zu Fuß gehen«, antwortete Vater Chatelain. – »Madame hat sich mit Recht bedacht, daß es nicht der Mühe lohne, eine so große Summe im voraus hier zu haben. Nächsten Montag ist noch Zeit genug. Bis dahin kann das Geld bei dem Notar bleiben.« »Madame weiß besser, was sie zu tun hat, als ich.« »Richtig! Und ich möchte auch lieber fünfhundert Säcke Getreide als sechs Säcke Taler hier haben.« »Nun«, fuhr Vater Chatelain, zu dem Räuber und dem kleinen Lahmen gewandt, fort, »kommen Sie!« Damit ging er den beiden Gästen voraus und führte sie in ein Stübchen zu ebener Erde. Der Alte setzte den Leuchter auf einen Tisch und sagte zu dem Schulmeister. »Hier schlafen Sie. Möge Ihnen Gott eine gute Nacht schenken! Du, mein Sohn, schläfst gewiß gut, denn in der Jugend bleibt der Schlaf nie aus.« 197
Der Räuber setzte sich finster auf das Bett, zu dem ihn der Lahme geführt hatte. Dieser winkte dem Vater Chatelain, als er sich entfernte, und ging ihm nach. »Was willst Du, mein Sohn?« fragte der Alte. »Mein guter Herr, Vater bekommt manchmal Krämpfe in der Nacht; würde mich wohl jemand hören, wenn ich um Hilfe rufen müßte?« »Armes Kind!« sagte der Alte teilnehmend; »siehst du die Türe hier an der Treppe?« »Ja, guter Herr.« »Nun, hier schläft immer jemand. Du brauchst den Mann nur zu wecken; er würde deinem Vater gleich zu Hilfe kommen.« »Ach, dieser Mann würde vielleicht meines Vaters allein nicht Herr. Könnten Sie nicht auch kommen?« »Ich schlafe mit auf der anderen Seite des Hofes. Aber beruhige dich: René ist stark; er kann einen Ochsen niederwerfen. Wenn ihr noch jemand braucht, so weckt er die alte Köchin; im Notfalle macht sie die Krankenwärterin.« »Ich danke, guter Herr.« »Nun, gute Nacht! Hoffentlich brauchst du keine Hilfe!« Und der Alte entfernte sich. Mit teuflischer Schlauheit hatte der Knabe erfahren, was er wissen wollte, um die Pläne der Eule und des Schulmeisters zu fördern. Als der Lahme in das Stübchen zurückkam, fragte der Schulmeister ihn leise: »Woher kommst du?« »Sie sind sehr neugierig, Augenloser.« »Du sollst mir büßen, Teufelsjunge!« rief der Schulmeister und stand wütend auf, tappte nach dem kleinen Lahmen und hielt sich dabei an den Wänden an. »Ich erwürge dich, du Schlange!« »Du bist wohl recht vergnügt, da du Blindekuh mit deinem lieben Söhnchen spielst?« sagte der Lahme lachend, indem er sich den Nachstellungen des Schulmeisters entzog. 198
Dieser mußte es bald aufgeben, den Sohn Rotarms zu fassen. Der Räuber warf sich fluchend auf sein Bett. »Armer Vater, hast du Zahnschmerzen, da du so fluchst? Was würde der Pfarrer sagen, wenn er dich hörte?« »Schon gut«, sagte der Räuber mit dumpfer Stimme, »spotte nur über mein Unglück!« »Schade, daß du auf jedem Auge blind bist, guter Vater.« »Nun, du bist lustig«, sagte der Schulmeister. »Aber statt mich zu peinigen, solltest du dich daran erinnern, was dir die Eule gesagt hat, die du so sehr liebst; du solltest alles ansehen und Abdrücke machen. Hast du gehört? Die Leute sprachen von einer großen Geldsumme, die sie Montag hier haben werden. Wir könnten da mit den Freunden wiederkommen. Es ist ein guter Fang zu machen. – Und selbst wenn es in dem Hause hier nichts zu stehlen gäbe, würde ich mit der Eule wieder herkommen, um mich zu rächen.« »Wenn ich wollte, Alter, würde ich Sie an die Türe der Frau führen, denn ich weiß, wo ihr Zimmer ist.« »Du weißt, wo ihr Zimmer ist?« »Ja, ich werde Sie schön machen lassen wie einen Hund, dem man einen Knochen zeigt.« »Du weißt, wo das Zimmer der Frau ist?« wiederholte der Räuber. »Ja, ich weiß noch mehr; ich weiß, daß nur ein Mann hier in dem Hause schläft; ich weiß, wo seine Türe ist; der Schlüssel steckt; ein Ruck, und er ist eingesperrt.« »Wer hat dir das gesagt?« fragte der Räuber, indem er aufstand. »Neben der Stube der Frau schläft eine alte Köchin; noch einmal den Schlüssel herumgedreht, und wir sind Herren im Hause. Jetzt mach schön, alter Hund!« »Du lügst. Woher weißt du das alles?« »Ich bin lahm, aber nicht dumm, alter Hund!« Nach langem Schweigen sagte der Schulmeister mit ruhiger Stimme: »Höre mich an. Gefängnis, Bagno, Guillotine sind nichts gegen das, was ich seit heute morgen erdulde… Führe mich in die Stube der Frau, ich habe mein Messer bei mir … ich will sie ermorden. 199
Man wird mich töten, aber das ist mir gleich. – Seit einem Augenblick ist mir, als wollte mein Kopf zerspringen; die Adern schlagen, als wollten sie bersten; meine Gedanken verwirren sich –« »Stockschnupfen! Ich kenne das. – Niese einmal, das hilft! Willst du eine Prise?« Und er schlug klatschend auf den Rücken seiner linken geschlossenen Hand, als klopfte er den Deckel einer Dose. Bei dem erneuten Gespött des Lahmen verlor der Räuber beinahe den Kopf. Er wollte, da er kein Opfer fand, in der Wut sein eigenes Blut vergießen. Er griff in die Tasche, zog ein langes dolchartiges Messer hervor, machte es auf und holte aus, um es sich ins Herz zu stoßen. Aber es gebrach dem Mörder an Mut; die Hand mit dem Dolche sank auf seine Knie. Der kleine Lahme hatte allen diesen Bewegungen aufmerksam zugesehen, und als er die harmlose Entwicklung des tragischen Anfanges erkannte, lachte er laut auf. Dann trat er, barfuß und ohne von dem Schulmeister gehört zu werden, der noch immer das Messer in der Hand hielt, näher; mit ungewöhnlicher Gewandtheit entriß er ihm die Waffe und war mit einem Satze wieder am anderen Ende der Stube. »Mein Messer!« rief der Räuber, indem er die Arme ausbreitete. »Nein«, antwortete der Lahme, »denn Sie sind imstande, einen Mord zu begehen, wenn schon keinen Selbstmord!« »Ich werde das Haus in Brand stecken, damit wir alle verbrennen. Das Licht, gib her das Licht!« lallte der Schulmeister in ohnmächtiger Wut. »Haha!« lachte der Lahme, »wenn man dir das Licht nicht ausgeblasen hätte, würdest du sehen, daß wir gar kein Licht hier haben.« Der Schulmeister seufzte tief, streckte die Arme aus und fiel, so lang er war, auf die Diele nieder. Er blieb, vom Schlag getroffen, unbeweglich liegen. 200
»Wir kennen das schon, Alter«, sagte der Lahme; »es ist eine Finte, damit du mir eins versetzen kannst. Du wirst schon wieder aufstehen.« Der Sohn Rotarms blieb auf dem Stuhle sitzen und ließ den Räuber nicht aus den Augen. Um sich dabei angenehm zu beschäftigen, zog der Lahme vorsichtig die rotseidene Börse aus der Tasche, die er in der Rue du Temple der Marquise von Harville auf der Treppe entrissen hatte, und zählte langsam und mit innigem Vergnügen die siebzehn Goldstücke auf, die sich darin befanden. Dann ging er, barfuß und das Licht mit der Hand verdeckend, hinaus, um Wachsabdrücke von den Schlössern der vier Türen zu nehmen, die auf den Korridor gingen. Wenn man ihn dabei überraschte, wollte er sagen, er suche Hilfe für seinen Vater. Als der Lahme wieder in das Stübchen trat, lag der Räuber noch immer am Boden. Einen Augenblick wurde der Knabe doch ängstlich; er horchte; da er aber den Räuber atmen hörte, glaubte er noch immer an eine List. »Immer noch hier, Alter?« sagte er zu ihm. Ein Zufall hatte den Schulmeister vor einem sonst vielleicht tödlichen Schlagfluß gerettet. Er war auf das Gesicht und die Nase gefallen und hatte stark geblutet. Darauf versank er in jenen Zustand, der halb Schlaf, halb Wahnsinn ist.
XLVI
D
ie Uhr an der Meierei von Bouqueval verkündete die neunte Morgenstunde, als Madame Georges leise in das Zimmer Mariens trat. 201
Das junge Mädchen schlummerte so leicht, daß es fast augenblicklich erwachte. Eine glänzende Wintersonne warf ihre Strahlen durch die Vorhänge, verbreitete in dem Stübchen Mariens einen goldenen Schein und gab ihrem bleichen Gesicht die Farbe, die ihm fehlte. »Nun, mein Kind«, sagte Madame Georges, indem sie Marie auf die Stirn küßte, »wie geht es dir?« »Besser, Madame; ich danke Ihnen.« »Bist du nicht sehr früh geweckt worden?« »Nein, Madame.« »Desto besser. – Der unglückliche Blinde und sein Sohn, denen man Nachtquartier gegeben hatte, wollten die Meierei bei Tagesanbruch verlassen, und ich fürchtete, das Geräusch habe dich geweckt!« »Die armen Leute! Warum sind sie so zeitig aufgebrochen?« »Ich weiß es nicht. Ich ging gestern abend in die Küche hinunter, um sie zu sehen, aber sie waren so ermüdet, daß sie um die Erlaubnis baten, zur Ruhe gehen zu dürfen. Vater Chatelain sagte mir, der Blinde scheine nicht recht bei Verstande zu sein… Marie, du hast etwas Fieber gehabt; du darfst heute nicht aus der Stube gehen.« »Verzeihen Sie, Madame, um fünf Uhr erwartet mich der Herr Abbé.« »Das würde unklug sein; du hast eine schlechte Nacht gehabt.« »Das ist wahr; entsetzliche Träume haben mich gepeinigt.« »Armes Kind!« sagte Madame Georges teilnehmend, als sie sah, daß Mariens Augen sich wieder mit Tränen füllten. »Verzeihen Sie mir, Madame, aber seit zwei Tagen will mir bisweilen das Herz zerbrechen. Gegen meinen Willen treten mir die Tränen in die Augen; mich peinigt eine böse Ahnung, als sollte mir ein Unglück widerfahren.« Madame Georges wolle Marie beruhigen, als Klaudine eintrat. »Was willst du, Klaudine?« »Madame, Peter ist von Arnouville gekommen und hat einen Brief für Sie mitgebracht; er sagt, es sei sehr eilig.« 202
Der Brief lautete folgendermaßen: »Meine liebe Madame Georges! Sie würden mir einen großen Gefallen tun und könnten mich aus peinlichster Verlegenheit reißen, wenn Sie sogleich zu mir kommen wollten; Peter wird Sie im Wagen zu mir bringen und nach Tische wieder zurückfahren. – Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll; mein Mann ist in Pontoise, um Wolle zu verkaufen, und ich wende mich deshalb an Sie und an Marie; Klara küßt in Gedanken ihre liebe kleine Schwester und erwartet Sie mit Ungeduld. – Kommen Sie, wenn möglich, noch zum Frühstück. Ihre aufrichtige Freundin Dubreuil.« »Was mag es sein?« fragte Madame Georges Marie. »Zum Glück beweist der Ton des Briefes, daß nichts Schlimmes geschehen ist.« »Soll ich Sie begleiten, Madame?« fragte Marie. »Das ist vielleicht unvorsichtig, aber wenn du dich recht warm anziehst, kann dir die kleine Reise am Ende nicht schaden.« Madame Georges sagte darauf zu Klaudine: »Peter soll einen Augenblick warten, wir werden gleich bereit sein.«
XLVII
E
ine halbe Stunde nach diesem Gespräch stiegen Madame Georges und Marie in den Wagen, und bald rollte er, von kräftigen Pferden gezogen, auf dem Rasenwege hin, der von Bouqueval nach Arnouville führte. Peters Peitschengeknall meldete Madame Dubreuil die Ankunft Mariens und der Madame Georges, die mit freundlicher Herzlichkeit empfangen wurden. 203
Madame Dubreuil war etwa fünfzig Jahre alt, ihr Gesicht freundlich und mild, wie die Züge ihrer Tochter, einer hübschen Brünetten mit blauen Augen und frischen, rosigen Wangen. »Auch Sie, Klara, haben sich als Bauernmädchen verkleidet?« fragte Madame Georges. »Sie will es in allem ihrer Freundin Marie gleichtun«, antwortete Madame Dubreuil. »Aber kommen Sie, Madame Georges, damit ich Ihnen meine Verlegenheit schildere.« Als alle ins Zimmer getreten waren, setzte sich Klara neben Marie nieder, nahm die Hände der Freundin in die ihren, küßte sie nochmals, nannte sie ihre kleine Schwester und machte ihr freundliche Vorwürfe, daß sie ihre Besuche so selten wiederhole. »Was ist geschehen, liebe Madame Dubreuil?« fragte Madame Georges, »und wie kann ich Ihnen behilflich sein?« »Ich will Ihnen alles erzählen. Sie wissen wohl nicht, daß diese Besitzung eigentlich der Herzogin von Lucenay gehört. Wir haben immer direkt mit ihr zu tun.« »Das wußte ich wirklich nicht.« »Sie werden gleich sehen, warum ich das vorausschicke. Wir bezahlen also das Pachtgeld an die Herzogin oder an ihre erste Kammerfrau, Madame Simon. Die Herzogin ist so gütig, daß es eine wahre Freude ist, mit ihr zu tun zu haben; ich und mein Mann würden für sie durchs Feuer gehen. Kürzlich bat sie uns um den Pachtzins auf ein halbes Jahr im voraus. Vierzigtausend Franken findet man nicht gleich auf der Straße, wie man zu sagen pflegt, aber wir hatten sie zufällig liegen, und den nächsten Tag hatte die Herzogin ihr Geld.« »Bis jetzt sehe ich noch nicht, meine gute Madame Dubreuil, wie ich Ihnen dienen könnte.« »Gleich, gleich; ich erzählte das nur, um Ihnen anzudeuten, daß die Herzogin uns ihr ganzes Vertrauen schenkt. Gestern abend also erhalte ich durch einen reitenden Boten folgenden Brief: ›Der kleine Pavillon im Garten, liebe Madame Dubreuil, muß 204
übermorgen bewohnbar sein; lassen Sie alle notwendigen Möbel, Teppiche und Vorhänge hineinbringen. Es darf nichts fehlen! Lassen Sie Tag und Nacht Feuer in dem Pavillon brennen, um die Feuchtigkeit zu vertreiben. Sie werden die Person, die den Pavillon beziehen soll, so behandeln, wie Sie mich selbst behandeln würden; ein Brief, den Ihnen diese Person überbringt, wird Ihnen sagen, was ich von Ihrem immer so aufmerksamen Eifer erwarte. Ich rechne auch diesmal darauf und fürchte nicht, enttäuscht zu werden. Leben Sie wohl, küssen Sie meine hübsche Patin und glauben Sie an meine aufrichtige Gewogenheit. Noirmont von Lucenay.‹ ›NS. Die Person, die den Pavillon bewohnen soll, wird übermorgen abends ankommen. Vergessen Sie nur nicht, den Pavillon so behaglich als möglich einzurichten.‹« »Und nun komme ich«, sagte Madame Dubreuil, indem sie den Brief der Herzogin in die Tasche steckte, »in die größte Verlegenheit.« »Warum?« »Die Frau Herzogin spricht von Möbeln, Teppichen und so weiter, aber wir haben keine Teppiche hier, und unsere Möbel sind ganz bescheiden. Dann weiß ich nicht, ob die Person, die wir erwarten sollen, ein Herr oder eine Dame ist; gleichwohl soll morgen abend alles bereit sein. Was da anfangen? Man könnte den Kopf darüber verlieren.« »Der Pavillon ist also gewöhnlich nicht bewohnt?« fragte Madame Georges. »Nein; es ist das kleine, weiße Haus, das ganz allein am Ende des Gartens steht. Der Fürst ließ es für die Herzogin bauen, als sie noch Fräulein war; wenn sie hierherkamen, ruhten sie dort aus. Es enthält drei hübsche Zimmer und am Ende des Gartens eine Schweizer Meierei, in der die Herzogin als Kind Milchmädchen spielte. Seit sie verheiratet ist, haben wir sie nur zweimal hier gesehen, und 205
jedesmal blieb sie einige Stunden in dem kleinen Pavillon. Das erstemal – es werden nun sechs Jahre sein – kam sie zu Pferde mit…« Als wenn die Anwesenheit Maries und Klaras sie verhindere, weiterzusprechen, fuhr Madame Dubreuil fort: »Aber ich schwatze und schwatze, und das alles bringt uns doch nicht aus der Verlegenheit. Kommen Sie mir zu Hilfe, liebe Madame Georges!« »Sagen Sie mir, wie ist der Pavillon jetzt möbliert?« »Überhaupt fast nicht.« »Ich würde an Ihrer Stelle einen verständigen Mann nach Paris schicken. Es ist jetzt elf Uhr.« »Unser Faktotum!« »In zwei Stunden ist er in Paris, geht zu einem Tapezierer, übergibt ihm ein Verzeichnis, das ich Ihnen entwerfen will, nachdem wir gesehen haben, was in dem Pavillon fehlt, und sagt ihm, es müsse, koste es, was es wolle, heute abend alles hier sein. Bis morgen abend ist dann das Häuschen in Ordnung.« »Ach, gute Madame Georges, Sie sind meine Vorsehung! Aber die andere Schwierigkeit! Wir wissen nicht, ob wir einen Herrn oder eine Dame erwarten sollen!« »Handeln Sie, als erwarten Sie eine Dame, liebe Madame Dubreuil. Ist es ein Herr, so wird er sich um so wohler befinden.« »Sie haben recht!« Eine Magd meldete, das Frühstück sei aufgetragen. »Madame«, setzte die Magd hinzu, »es ist auch die Milchfrau von Rains da.« »Die arme Frau!« »Was ist mit ihr?« fragte Madame Georges. »Ach, es ist eine Bauernfrau von Rains, die alle Tage die Milch nach Paris brachte und sich so leidlich ernährte. Ihr Mann war Schmied. Eines Tages begleitete er seine Frau in die Stadt. Leider hatte sich die Frau ihren Platz, wie es scheint, in einem schlechten Viertel gewählt. Als ihr Mann kam, um sie abzuholen, fand er sie im Handgemenge mit betrunkenen Soldaten, die ihre Milch auf die 206
Gasse gegossen hatten. Der Schmied wurde ebenfalls mißhandelt; er verteidigte sich, und im Verlauf der Schlägerei erhielt er einen Messerstich, der ihn tot niederstreckte.« »Das ist ja gräßlich!« rief Madame Georges aus. »Hat man den Mörder verhaftet?« »Leider nicht. Die arme Witwe versichert, sie würde ihn sogleich wiedererkennen. Bis jetzt sind aber alle Nachforschungen vergebens gewesen. Nach dem Tode ihres Mannes mußte die Frau ihre Kühe verkaufen. Sie hat drei Kinder, von denen das älteste noch nicht zwölf Jahre alt ist. Es war eine Stelle bei mir frei; die habe ich ihr gegeben, und jetzt ist sie also da.« »Wo ist die arme Frau?« fragte Klara. »Sie ist mit ihren Kindern, ihrem kleinen Wagen und ihrem Esel im Scheunenhof.« »Du wirst die arme Frau sehen, Marie«, sagte Klara, indem sie den Arm der Freundin nahm. »Du wirst dich überzeugen, wie blaß und traurig sie aussieht. Das letztemal, als sie hier war, tat mir ihr Anblick so weh; sie vergoß Tränen, als sie von ihrem Manne sprach, dann aber hörten ihre Tränen auf, und sie geriet in große Wut. Es gibt recht unglückliche Menschen, nicht wahr, Marie?« »Ach ja«, antwortete Marie mit einem tiefen Seufzer. – »Es gibt sehr unglückliche Menschen; Sie haben recht.« »Geh!« rief Klara, »du sagst schon wieder Sie. Bist du denn böse auf mich, Marie?« »Ich? Großer Gott!« »Nun, warum sagst du Sie? Ich werde dir noch ernstlich zürnen.« »Klara, verzeih mir! Ich war zerstreut.« »Zerstreut, wenn du mich nach acht Tagen wiedersiehst!« erwiderte Klara traurig. Marie wurde totenbleich und antwortete nicht. Bei ihrem Anblick hatte eine Frau in Trauerkleidung einen Schrei des Entsetzens ausgestoßen. Es war die Milchfrau, die jeden Morgen der Schallerin Milch verkaufte, als sie noch bei der Wirtin vom ›Weißen Kaninchen‹ lebte. 207
XLVIII
D
er Auftritt erfolgte im Beisein von Arbeitern und Frauen, die von ihrer Arbeit zurückkehrten, um zu Mittag zu essen. Unter einem Schuppen stand ein kleiner Wagen mit einem Esel, der das armselige Mobiliar der Witwe trug. Ein Knabe von etwa zwölf Jahren begann mit noch zwei jüngeren Kindern, den Wagen abzuladen. Die schwarz gekleidete Frau war etwa vierzig Jahre alt und hatte ein männliches, entschlossenes Gesicht. Als sie Marie erblickte, stieß sie einen Schreckensschrei aus, bald aber verzerrten Schmerz und Zorn ihre Züge; sie stürzte auf Marie zu, faßte sie kräftig am Arm und schrie, indem sie die Arbeiter auf das Mädchen aufmerksam machte: »Da ist eine, die den Mörder meines Mannes kennt! Ich habe sie zwanzigmal mit dem Schuft sprechen sehen. Als ich an der Ecke Milch verkaufte, kam sie jeden Morgen zu mir und holte sich für einen Sou; sie muß wissen, wer der Bösewicht ist, der meinen armen Mann ermordet hat! Sie gehört, wie alle ihresgleichen, zu der Sippe dieser Banditen… Du entgehst mir nicht, Spitzbübin!« rief die Frau, während sie auch den andern Arm Mariens packte, die, an allen Gliedern zitternd, entfliehen wollte. Klara, durch diesen unerwarteten Überfall verblüfft, hatte kein Wort sagen können; als aber die Witwe jetzt noch wütender wurde, fuhr sie sie an: »Du bist verrückt! Der Kummer verwirrt dir den Verstand!« »Ich mich irren?« wiederholte die Frau, »ach nein, ich irre mich nicht. Sehen Sie nur, wie die Elende blaß geworden ist. Wart nur, das Gericht wird dich schon zwingen, zu reden; du gehst gleich mit mir zum Maire, verstehst du? Sträube dich nur, Würmchen, ich habe eine gute Faust. Ich lasse dich nicht los, und sollte ich dich zum Maire tragen müssen.« »Unverschämtes Weib!« fiel jetzt Klara erzürnt ein. »Wie unter208
stehst du dich, dich an meiner Schwester zu vergreifen?« »Ihre Schwester, Mamsellchen? Bei Ihnen scheint es im Köpfchen nicht zu stimmen«, antwortete die Frau grob. »Ihre Schwester! Ein Mädchen von der Straße, das ich selbst in der Cité habe herumstreichen sehen.« Bei diesen Worten erhoben die Arbeiter ein Gemurmel des Unwillens gegen Marie; sie nahmen natürlich die Partei der Milchfrau, die ihrem Stande angehörte, und deren Unglück ihnen naheging. Als die drei Kinder ihre Mutter so laut sprechen hörten, eilten sie zu ihr und hängten sich weinend an sie, ohne zu wissen, worum es sich handelte. Der Anblick dieser armen, in Trauer gekleideten Kinder steigerte die Wut der Knechte und Mägde gegen Marie. Klara sagte zu den Leuten mit bewegter Stimme: »Bringt diese Frau fort! Ich wiederhole, daß der Gram ihren Verstand verwirrt hat. Marie, Marie, verzeihe! Die Verrückte weiß nicht, was sie spricht.« Marie stand bleich, mit gesenktem Haupte, stumm, regungslos, wie vernichtet da und machte keine Bewegung, sich den Händen der kräftigen Bauersfrau zu entziehen. Klara, die diese Mutlosigkeit dem Entsetzen zuschrieb, das ein solcher Auftritt in ihrer Freundin erregen mußte, sagte von neuem zu den Arbeitern: »Hört ihr nicht? Ich befehle euch, die Frau fortzuweisen! Sie soll die Stelle nicht erhalten, die ihr meine Mutter versprochen hatte. Ich werde nie zugeben, daß sie den Hof wieder betritt.« Keiner der Arbeiter rührte sich; einer wagte sogar zu sagen: »Mamsellchen, wenn sie ein Straßenmädchen ist und den Mörder des Mannes der armen Frau kennt, muß sie dem Maire Auskunft geben.« »Ich wiederhole dir, daß du dich niemals hier wieder sehen lassen darfst«, sagte Klara zu der Milchfrau, »wenn du nicht augenblicklich Mademoiselle um Verzeihung bittest.« »Sie weisen mir die Türe? Kommt, ihr armen Kinder, packt alles wieder auf den Wagen, wir wollen unser Brot anderswo suchen. Weil 209
Sie reich sind, Mamsell«, fuhr sie, mit einem kecken Blick auf Klara, fort, »weil Sie Freundinnen unter solchen Geschöpfen haben, brauchen Sie nicht so hart gegen arme Leute zu sein.« »Es ist wahr«, sagte einer von den Leuten, »die Frau hat recht.« »Man hat ihren Mann ermordet, soll sie sich das ruhig gefallen lassen?« »Man kann sie nicht hindern, den Mörder ausfindig zu machen!« »Es ist unrecht, sie fortzuschicken.« »Ist es ihre Schuld, wenn die Freundin von Mamsell Klara eine Straßendirne ist?« Das Gemurmel wurde drohend, als Klara ausrief: »Gott sei Dank, da kommt meine Mutter!« Madame Dubreuil, die aus dem Pavillon zurückkam, ging eben über den Hof. »Nun, Klara und Marie«, sagte die Pächterin, indem sie zu der Gruppe trat, »kommt zum Frühstück, Kinder, es ist schon spät.« »Mutter«, sagte Klara, »verteidige meine Schwester gegen die Beleidigungen dieser Frau!« »Wie? Sie hätte gewagt…« »Ja, Mutter. Sieh, wie die arme Marie zittert; sie kann kaum stehen. Marie, ich bitte dich, verzeihe uns.« »Aber was soll denn das bedeuten?« fragte Madame Dubreuil. »Madame, Sie werden gerecht sein«, sagten die Arbeiter. »Jetzt wirst du aus dem Hause gewiesen werden«, fiel die Witwe, zu Marie gewendet, ein. »Es ist also wahr!« rief Madame Dubreuil, während die Milchfrau noch immer Mariens Arm festhielt. »Du wagst, so zu der Freundin meiner Tochter zu sprechen? Ist das der Dank für meine Güte? Willst du das Mädchen sogleich in Ruhe lassen?« »Ich achte Sie, Madame, und bin Ihnen dankbar für Ihre Güte«, entgegnete die Witwe, indem sie Marie losließ. »Aber ehe Sie mich beschuldigen und mit meinen Kindern aus dem Hause weisen, fragen Sie die Unglückliche! Sie wird nicht so frech sein, zu leugnen, daß sie mich kennt.« 210
»Marie, hörst du, was diese Frau sagt?« fragte Madame Dubreuil in höchstem Erstaunen. »Heißt du die Schallerin, ja oder nein?« wandte sich die Milchfrau wieder an Marie. »Ja«, sagte sie leise, ohne Madame Dubreuil anzusehen. »Sehen Sie!« riefen die Arbeitsleute. »Sie gesteht es!« »Was gesteht sie?« fragte Madame Dubreuil. »Lassen Sie das Mädchen antworten, Madame«, fiel die Witwe ein. »Sie wird gestehen, daß sie in einem schlechten Hause war, wo ich ihr alle Morgen für einen Sou Milch verkauft habe. Sie wird auch gestehen, daß sie, in meiner Gegenwart, mit dem Mörder meines Mannes gesprochen hat. Sie kennt ihn genau, ich weiß es; ein junger, blasser Mann, der immer rauchte, eine Mütze, Bluse und langes Haar trug; sie muß seinen Namen kennen. Willst du antworten?« fragte die Frau. »Ich habe wohl mit dem Mörder Ihres Mannes sprechen können, denn leider gibt es in der Cité mehr als einen Mörder«, antwortete Marie, kaum vernehmlich, »aber ich weiß nicht, wen Sie meinen.« »Wie? Was sagt sie?« rief Madame Dubreuil entsetzt aus. »Solche Geschöpfe kennen ja überhaupt keine andere Gesellschaft«, antwortete die Witwe. Madame Dubreuil wich mit Ekel und Abscheu zurück, zog Klara zu sich und klagte: »Welche Schändlichkeit! Klara, sieh dich vor, komm diesem Mädchen nicht zu nahe! – Aber wie konnte Madame Georges zulassen, daß meine Tochter… Mein Gott! … Das ist ja entsetzlich…« Klara glaubte zu träumen. In ihrer Unschuld begriff sie die Anklagen nicht, die man auf ihre Freundin häufte; aus ihren Augen strömten Tränen, als sie Marie stumm, wie eine Verbrecherin, vor ihren Richtern stehen sah. »Komm, meine Tochter«, sagte Madame Dubreuil zu Klara. Dann wandte sie sich an Marie und herrschte sie an: »Und dich, unwürdiges Geschöpf, wird Gott für deine Heuchelei strafen. Du läßt dich von meiner Tochter Schwester nennen, du Auswurf? Du wagst es, 211
unter ehrliche Menschen zu treten und verdientest, ins Gefängnis gebracht zu werden!« »Siehst du, daß es noch Gerechtigkeit gibt?« triumphierte die Witwe, während sie Marie die Faust wies. »Du brave Frau«, sagte Madame Dubreuil, »ich werde dir für den Dienst danken, den du mir erwiesen hast, indem du die Elende entlarvtest!« »Komm, Klara«, fuhr Madame Dubreuil fort. »Madame Georges wird uns ihr Benehmen erklären. Wenn nicht, so sehe ich sie in meinem Leben nicht wieder, denn sie hat sich unverantwortlich gegen uns betragen.« »Aber sieh doch die arme Marie…« »Mag sie vor Scham in die Erde sinken, du darfst keinen Augenblick länger bei ihr bleiben. Sie gehört zu den Geschöpfen, mit denen man nicht sprechen kann, ohne sich zu entehren.« »Mein Gott, Mutter, ich weiß nicht, was das alles bedeutet. Marie wird ohnmächtig; erbarme dich doch ihrer!« »Ach, Mademoiselle Klara, verzeihen Sie mir… Ich habe Sie gegen meinen Willen getäuscht und mir selbst Vorwürfe gemacht«, sagte Marie, indem sie ihre Beschützerin mit einem Blick tiefster Dankbarkeit ansah. »Mutter, hast du denn kein Mitleid?« rief Klara mit herzzerreißender Stimme. »Mitleid, für sie? Würde uns nicht Madame Georges von ihr befreien, ich ließe sie vor die Türe werfen wie eine Pestkranke.« Madame Dubreuil führte ihre Tochter fort. Marie blieb allein in der drohenden Gruppe, die sich um sie zusammenschloß. Trotz der zornigen Worte, mit denen Madame Dubreuil sie überhäufte, hatte die Gegenwart der Pächterin und Klaras beruhigend gewirkt. Jetzt, da sie sich allein in den Händen der Bauern befand, verließen sie die Kräfte. Einige Schritte von ihr stand die Witwe des Ermordeten, durch die Verwünschungen der Madame Dubreuil noch mehr gereizt, und 212
zeigte ihren Kindern das junge Mädchen mit Gebärden des Hasses und der Verachtung. Die Leute, die im Kreise um sie standen, verhüllten ihre feindselige Gesinnung nicht. Ihre Gesichter drückten Unwillen, Zorn und Hohn aus. Männer und Frauen konnten es Marien nicht verzeihen, daß sie von ihrer Herrschaft fast wie ihresgleichen behandelt worden war. »Man muß sie zum Maire führen«, sagte einer. »Ja, und wenn sie nicht gehen will, muß sie gezwungen werden!« »Du sollst schon reden und den Mörder nennen!« rief die Witwe dazwischen. »Ihr gehört ja alle zu einer Bande. Laß dein Lärvchen sehen!« Und die Frau riß Marien die beiden Hände weg, mit denen sie ihr Gesicht verhüllte. Das arme Mädchen, das anfangs nur Scham gefühlt hatte, fing jetzt an, sich zu fürchten, als sie sich allein unter den Wütenden sah; sie faltete die Hände, richtete ihre Augen flehentlich auf die Witwe und sagte mit sanfter Stimme: »Gute Frau, ich lebe ja schon seit zwei Monaten in Bouqueval und konnte also unmöglich Zeuge des Unglücks sein, von dem Sie sprechen.« Die schüchterne Stimme Mariens wurde durch das drohende Geschrei übertäubt: »Zum Maire mit ihr! Dort wird sie reden müssen.« »Vorwärts!« Da die Gruppe sich Marien immer mehr näherte, faltete sie unwillkürlich die Hände, sah bald nach dieser, bald nach jener Seite und schien um Hilfe zu bitten. »Ja«, fiel die Milchfrau ein, »wenn du dich auch umsiehst, Mamsell Klara ist nicht mehr da.« »Ach, gute Frau«, entgegnete Marie zitternd, »ich will ja nicht fliehen; aber was habe ich allen den Leuten hier zuleide getan?« Die Bauern, die mehr dumm als böse waren, regten sich auf über ihre eigenen Worte und steigerten ihre Wut durch die Schimpfreden und Drohungen, die sie gegen ihr Opfer führten. 213
Marie, die von dem tiefen Wasserbassin nur durch die Brüstung getrennt war, auf die sie sich stützte, fürchtete, ins Wasser geworfen zu werden und rief deshalb, indem sie die Hände ausbreitete: »Aber, mein Gott! Was wollen Sie von mir? Tut mir doch nichts zuleide!« Einer der Wütendsten rief: »Ins Wasser mit ihr! Wir wollen sie untertauchen!« »Ja, ins Wasser!« wiederholte man, unter lautem Gelächter. »Das wird sie lehren, rechtschaffenen Leuten fernzubleiben.« Marie sprach kein Wort der Klage aus, sondern sank auf die Knie nieder, legte die Hände auf ihre Brust, schloß die Augen und wartete bebend. Die Leute, durch die stumme Ergebung des Mädchens entwaffnet, zögerten einen Augenblick. Der weibliche Teil der Versammlung hielt ihnen aber ihre Schwäche vor, und sie fingen deshalb von neuem zu schreien an, um sich Mut zu machen. Zwei der eifrigsten wollten eben Marie ergreifen, als eine entschiedene Stimme ihnen zurief: »Zurück!« In demselben Augenblick war auch schon Madame Georges, die sich einen Weg durch die Menge gebahnt hatte, neben Marie, die noch immer kniete, erschienen. Sie umfaßte sie mit ihren Armen, hob sie auf und sagte: »Steh auf, mein Kind! Steh auf, meine liebe Tochter. Man darf nur vor Gott knien.« Madame Georges sah jetzt die Leute mit einem festen und strengen Blick an und sagte, mit lauter, drohender Stimme: »Ihr Unseligen, schämt ihr euch nicht?« »Sie ist eine –« »Sie ist meine Tochter!« fiel Madame Georges ein. »Der Abbé Laporte, den jeder verehrt, liebt und schützt sie, und die, die er achtet, müssen von jedermann geachtet werden.« Madame Georges fuhr fort: »Für was wollt ihr sie also strafen? Mit welchem Recht? Komm, 214
mein liebes Kind; wir wollen nach Hause zurückkehren, dort kennt und achtet man dich.« Madame Georges nahm den Arm Mariens; die Arbeitsleute schämten sich und traten ehrerbietig zur Seite. Nur die Witwe sagte entschlossen zu Madame Georges: »Das Mädchen wird sich von hier nicht entfernen, bis sie vor dem Maire über die Ermordung meines Mannes ausgesagt hat, was sie weiß.« »Meine gute Frau«, antwortete Madame Georges, die sich mit Mühe beherrschte, »meine Tochter hat hier nichts auszusagen; später, wenn es das Gericht für gut befindet, ihre Zeugenaussage zu vernehmen, wird man sie rufen, und ich werde sie begleiten. Bis dahin hat niemand ein Recht, sie zu verhören!« »Aber Madame, ich sage Ihnen…« Madame Georges unterbrach die Frau und antwortete streng: »Das Unglück, das dich getroffen hat, kann dein Benehmen nicht entschuldigen; du wirst es noch bereuen, die Leute hier aufgereizt zu haben! Mademoiselle Marie wohnt bei mir in Bouqueval, sage das dem Richter, der deine erste Anzeige gehört hat!« Auf diese Worte wußte die Witwe nichts zu erwidern. Sie setzte sich nieder und küßte, unter bitteren Tränen, ihre Kinder. Einige Minuten nach diesem Auftritt erschien Peter mit dem Wagen, und Madame Georges und Marie stiegen ein, um nach Bouqueval zurückzukehren.
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ch, Madame, welche Schande für mich, welcher Kummer für Sie!« sagte Marie zu ihrer Adoptivmutter, als sie mit ihr wieder allein in Bouqueval war. 215
»Meine Freundin wird, da sie ein gutes Herz besitzt, morgen gewiß bereuen, was sie sich heute hat zuschulden kommen lassen.« »Nicht für mich fürchte ich, aber wer weiß, ob nicht der Ruf Klaras für immer befleckt ist, weil sie mich ihre Freundin nannte! Ich hätte der Neigung widerstehen sollen, die mich zu ihr hinzog; es wäre besser gewesen, wenn ich mich der Freundschaft entzogen hätte, die sie mir entgegenbrachte.« »Mein Kind«, antwortete Madame Georges, »du machst dir mit Unrecht so grausame Vorwürfe. Kein Mensch ist verantwortlich für sein Schicksal. Auch du bist es nicht. Und wenn du auch eine Schuld auf dich geladen haben magst, so ist, wie du weißt, keine Schuld so groß, daß sie nicht gesühnt werden könnte.« »Ach, Madame, ich werde sterben vor Scham, ich werde niemandem mehr ins Gesicht sehen können.« »Auch mir nicht? Du bist hier nur von Freunden umgeben; dieses Haus ist deine Welt. Wir werden der Enthüllung, die du so fürchtest, zuvorkommen. Unser guter Abbé wird die Leute, die dich sehr lieben, zusammenrufen und ihnen die Wahrheit sagen. Glaube mir, mein Kind, sein Wort ist so gewichtig, daß die Enthüllung dich allen noch lieber machen wird.« »Gestern hatte mir der Herr Abbé schmerzliche Prüfungen angekündigt; sie beginnen bereits, und ich darf mich nicht beklagen.« »Du wirst in wenigen Augenblicken den Abbé selbst sehen, und sein Rat wird heilsam für dich sein. Es ist bereits halb fünf Uhr; mache dich also auf den Weg, mein Kind. Ich werde Herrn Rudolf schreiben, was geschehen ist. – Ein Bote soll ihm meinen Brief überbringen, dann werde ich dich bei dem Abbé abholen, denn es ist notwendig, daß wir drei miteinander sprechen.« Wenige Augenblicke später verließ Marie die Meierei, um sich in die Wohnung des Geistlichen zu begeben.
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ie Sonne sank; die Ebene war still und öde. Marie näherte sich dem Hohlweg, den sie durchqueren mußte, um zur Wohnung des Geistlichen zu gelangen, als sie einen kleinen lahmen Knaben auf sich zukommen sah, der eine graue Bluse und eine blaue Mütze trug; er schien geweint zu haben. Sobald er Marie bemerkte, lief er ihr entgegen. »Ach, meine gute Dame, erbarmen Sie sich«, rief er, indem er mit flehentlicher Miene die Hände faltete. »Was willst du, mein Kind?« fragte Marie teilnehmend. »Ach, meine arme Großmutter ist gefallen und hat sich Schaden getan; ich fürchte, sie hat das Bein gebrochen, und ich bin zu schwach, ich kann ihr nicht helfen. Ach Gott, was soll ich anfangen? Helfen Sie mir doch, bitte!« Durch den Schmerz des kleinen Lahmen gerührt, antwortete Marie: »Ich bin zwar auch nicht sehr stark, mein Kind, aber vielleicht kann ich deiner Großmutter beistehen. Wir wollen schnell zu ihr gehen!« »Ach, gute Dame, der liebe Gott wird Sie dafür segnen.« »Du bist wohl nicht aus dieser Gegend?« fragte Marie, indem sie dem Lahmen folgte. »Nein, gute Dame, wir kommen von Ecouen.« »Und wohin wollt Ihr gehen?« »Zu einem Geistlichen, der auf dem Berge dort wohnt«, sagte der kleine Bösewicht, um das Vertrauen Mariens zu gewinnen. »Zu dem Abbé Laporte vielleicht?« »Ja, gute Dame, meine arme Großmutter kennt ihn sehr genau.« »Ich wollte auch gerade zu ihm gehen«, sagte Marie, indem sie dem Knaben immer weiter in den Hohlweg folgte. »Großmutter! Geduld, ich bringe Hilfe«, rief der Lahme, um den Schulmeister und die Eule zu verständigen, daß es an der Zeit sei, 217
sich bereit zu halten. Mit einem Male blieb der Lahme stehen. Man hörte, in der Stille des Abends, den Trab eines Pferdes. »Wieder alles verloren!« dachte der Kleine. Der Weg machte eine sehr scharfe Biegung unweit der Stelle, an der sich der Sohn Rotarms mit Marie befand. An dieser Biegung erschien ein Reiter, der anhielt, als er das Mädchen sah. Man hörte die Tritte eines zweiten Pferdes, und einige Augenblicke darauf kam ein Reitknecht in braunem Rock mit silbernen Knöpfen. Der Herr, der einen einfachen dicken Rock und hellgraue Beinkleider trug, saß auf einem außerordentlich schönen Vollblut. In dem Reiter mit dem hübschen, gebräunten Gesicht erkannte der Lahme den Vicomte von Saint Remy. »Mein schönes Kind«, sagte der Vicomte zu Marie, »würden Sie wohl die Gefälligkeit haben, mir den Weg nach Arnouville zu zeigen?« Marie schlug die Augen vor dem kecken Blick des Reiters nieder und antwortete: »Wenn Sie aus dem Hohlweg hinaus sind, schlagen Sie den ersten Fußweg rechts ein; dieser führt zu der Allee nach Arnouville.« »Tausend Dank, mein schönes Kind. Können Sie mir auch sagen, ob in Arnouville das Pachtgut der Madame Dubreuil leicht zu finden ist?« Marie erbebte bei dieser Frage, die sie an den peinlichen Auftritt erinnerte und antwortete: »Die Gebäude des Gutes stoßen direkt an die Allee.« »Dank, schönes Kind«, sagte Herr von Saint Remy, der mit seinem Reitknecht davonritt. Die hart gefrorene Erde erzitterte unter dem Galopp der Pferde, der allmählich schwächer und schwächer wurde. Bald war alles wieder still. Der Lahme atmete auf. Um seine Mitschuldigen zu beruhigen, rief er: 218
»Großmutter! Ich komme mit einer gütigen Dame, die dir helfen will.« Marie ging schneller, um die Biegung des Hohlweges zu erreichen. Kaum war sie angekommen, als die Eule, die auf der Lauer lag, leise sagte: »Komm her, Männchen!« Dann sprang die Einäugige auf, packte Marie mit der einen Hand am Halse und drückte ihr mit der anderen die Lippen zusammen, während der Lahme sich an ihre Füße klammerte. Das alles geschah so schnell, daß die Eule keine Zeit hatte, das Gesicht des Mädchens zu betrachten; ehe aber der Schulmeister aus seinem Versteck hervorbrach und mit seinem Mantel herbeitappte, hatte die Alte ihr Opfer erkannt. »Der Balg!« rief sie mit wilder Freude. »Dich schickt der Teufel. Ich habe mein Vitriol im Wagen; diesmal werde ich dir dein Lärvchen waschen. Komm, Mann, sieh dich vor, daß sie dich nicht beißt, und halte sie fest, während wir sie einpacken.« Der Schulmeister erfaßte Marie mit seinen gewaltigen Fäusten, und ehe sie schreien konnte, warf ihr die Eule den Mantel über den Kopf und wickelte sie fest darin ein. Marie konnte sich weder bewegen, noch um Hilfe rufen. »Jetzt nimm das Paket, Mann«, sagte die Eule, »und rasch zum Wagen damit!« »Aber wer wird mich führen?« fragte der Schulmeister mit dumpfer Stimme, während er seine leichte Last mit seinen Herkulesarmen umklammerte. Die Eule schlug ihren Schal zurück, knüpfte ein rotes Tuch ab, das ihren dürren Hals bedeckte, drehte es zusammen und sagte zum Schulmeister: »Mach das Maul auf, nimm den Zipfel zwischen die Zähne und beiß fest zu. Der Lahme wird das andere Ende in die Hand nehmen, und du brauchst nur nachzugehen.« Der Lahme hüpfte herbei, nahm das Tuch in die Hand und führte so den Schulmeister, während die Eule schnell vorausging. 219
Wenige Minuten später war Marie in den Wagen gebracht, und die drei Verbrecher fuhren mit ihrem dem Tode nahen Opfer nach der Ebene von St. Denis, wo Tom sie erwartete.
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udolf war von der Rue du Temple in seine Wohnung zurückgekehrt und hatte den Besuch, den er der Lachtaube und der Familie Morel zu machen gedachte, auf den nächsten Tag verschoben. Gegen vier Uhr erhielt der Fürst folgendes Schreiben, das von einer bejahrten Frau übergeben worden war: »Ich verdanke Ihnen mehr als das Leben und möchte Ihnen meinen Dank noch heute aussprechen. Morgen macht mich vielleicht die Scham stumm. Wenn Sie mir die Ehre erweisen wollten, heute abend zu mir zu kommen, so würden Sie den Tag beschließen, wie Sie ihn begonnen haben: mit einer edlen Handlung. Clémence von Harville. NS. Bemühen Sie sich nicht mit einer Antwort; ich werde den ganzen Abend zu Hause sein.« Obwohl Rudolf sich freute, der Marquise einen Dienst geleistet zu haben, so bedauerte er doch, daß dieser Umstand eine gewisse Vertraulichkeit zwischen ihm und der Marquise schuf. Da er nicht fähig war, die Freundschaft Harvilles zu verraten, die Anmut und die Schönheit der Marquise aber auch auf ihn nicht eindruckslos geblieben waren, hatte er es vermieden, ihr zu begegnen. Auch erinnerte er sich der Unterredung zwischen Tom und Sa220
rah, die er belauscht hatte. Sarah hatte, um ihren Haß und ihre Eifersucht zu rechtfertigen, nicht ohne Grund behauptet, Frau von Harville hege noch immer eine tiefe Zuneigung zu Rudolf. So wurde Rudolf, wenn er an seine Zusammenkunft mit Frau von Harville dachte, von den widersprechendsten Empfindungen beherrscht, obwohl er sich fest vorgenommen hatte, die Neigung zu bekämpfen, die ihn zu ihr zog. Clémence von Harville sah der Begegnung mit ängstlicher Spannung entgegen; an Herrn Karl Robert dachte sie nur noch mit tiefem Abscheu. Eine Frau kann für einen Mann ihre Ehre aufs Spiel setzen, aber sie wird ihm nie verzeihen, wenn er sie in eine lächerliche Lage bringt. Frau von Harville aber war vor Scham fast gestorben, als sie die höhnischen Worte und die frechen Blicke der Frau Pipelet ertragen mußte. – Die Pendule im Zimmer der Marquise schlug die neunte Stunde. Das schöne Zimmer wurde durch eine Lampe mild erleuchtet, deren Glocke von mattem Glas durch einen Strauß natürlicher Blumen halb verdeckt war, der in einer blaugoldenen Japanvase steckte. Die Lampe hing, wie ein Kronleuchter, an drei dicken Ketten von vergoldetem Silber, um die sich Kletterpflanzen schlangen. Einige der biegsamen, mit Blüten bedeckten Zweige reichten über die Glocke hinweg und fielen anmutig, wie frische grüne Fransen, auf die japanische Vase. Clémence saß auf einem großen, mit strohgelbem Stoff überzogenen Sessel und trug ein Kleid von schwarzem Samt, das die herrliche Arbeit ihres breiten Kragens und ihrer Manschetten von englischen Spitzen erkennen ließ. Je näher die Zeit ihrer Begegnung mit Rudolf kam, um so höher stieg die Unruhe der Marquise. Sie war entschlossen, Rudolf ein grausames Geheimnis zu enthüllen; sie hoffte, ihre Offenheit würde ihr vielleicht eine Achtung gewinnen, die sie so sehnlich wünschte. Ihre erste Zuneigung zu Rudolf erwachte mit neuer Kraft. Eine Ahnung sagte ihr, nicht nur der Zufall habe den Fürsten zu ihrer 221
Rettung herbeigeführt. Ein gewisser Instinkt erregte in ihr auch Zweifel an der Aufrichtigkeit Sarahs. Nach einigen Minuten trat ein Diener ein und sagte: »Will die Frau Marquise Madame Asthon und Mademoiselle empfangen?« »Gewiß«, antwortete Frau von Harville, und ihre Tochter trat ins Zimmer. Sie war ein allerliebstes Kind von vier Jahren, aber krankhaft blaß und mager. Madame Asthon, die Gouvernante, führte das Kind an der Hand und hob es auf die Knie der Mutter, die es innig küßte. Die Kleine erwiderte die Liebkosungen mit kindlicher Freude und war gerade im Begriff, loszuplappern, als der Kammerdiener beide Flügeltüren öffnete und meldete: »Se. Hoheit der Herr Großherzog von Gerolstein.« Klara, die auf den Knien ihrer Mutter saß, hatte beide Ärmchen um ihren Hals geschlungen. Beim Anblick Rudolfs errötete Clémence, hob ihre Tochter sanft auf den Teppich herunter, winkte Madame Asthon, das Kind fortzubringen und stand auf. »Sie werden mir erlauben«, sagte Rudolf lächelnd, nachdem er sich vor der Marquise verbeugt hatte, »die Bekanntschaft meiner kleinen Freundin zu erneuern, die mich, wie ich fürchte, vergessen hat.« Dabei bückte er sich ein wenig und reichte Klara die Hand. Diese sah ihn anfangs neugierig mit ihren großen, schwarzen Augen an, dann erkannte sie ihn, nickte freundlich und warf ihm einen Handkuß zu. »Du kennst den Herrn, mein Kind?« fragte Clémence. Dieses nickte und warf Rudolf nochmals ein Kußhändchen zu. Da die Marquise und Rudolf nicht ohne Verlegenheit an die Besprechung dachten, die vor ihnen lag, so sahen sie Klaras Gegenwart nicht ungern und bedauerten eigentlich, daß die Gouvernante so diskret war, sich bald mit der Kleinen zurückzuziehen.
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udolf, der fühlte, wie peinlich es für die Marquise sein müsse, diese Unterredung zu beginnen, sagte: »Sie sind das Opfer eines Verrats geworden. Die Gräfin Sarah MacGregor hätte Sie beinahe ins Unglück gestürzt.« »Es ist also wahr?« rief Clémence. »Wie haben Sie es erfahren, Hoheit?« »Ich entdeckte gestern zufällig das Geheimnis dieser Niederträchtigkeit. Gräfin Sarah, die nicht wußte, daß nur ein Gebüsch mich von ihr trennte – es war im Wintergarten der Gräfin X. – sprach mit ihrem Bruder über ihre Pläne und die Schlinge, die Ihnen gelegt werden sollte. Um Sie zu warnen, eilte ich auf den Ball der Frau von Nerval. Sie waren aber nicht erschienen. Wenn ich Ihnen geschrieben hätte, konnte mein Brief dem Marquis in die Hände fallen, dessen Verdacht bereits erregt sein mußte. Ich zog vor, Sie in der Rue du Temple zu erwarten, um den Verrat der Gräfin Sarah zu vereiteln. Sie verzeihen mir, nicht wahr? Wenn Sie mir nicht selbst geschrieben hätten, würde ich nie mehr ein Wort davon erwähnt haben.« Nach einer kurzen Pause antwortete Frau von Harville: »Ich kann Ihnen nur auf eine Art meine Dankbarkeit beweisen: Indem ich Ihnen ein Geständnis ablege, das ich noch niemand gemacht habe. Dieses Geständnis wird mich in Ihren Augen nicht rechtfertigen, aber Sie werden doch mein Verhalten weniger schuldvoll finden.« »Offen gesagt, Madame, befinde ich mich Ihnen gegenüber in einer gewissen Verlegenheit.« Clémence sah Rudolf verwundert an. »Infolge eines Umstandes, den Sie ohne Zweifel erraten werden, bin ich genötigt, mich fast als den Urheber eines Abenteuers anzusehen, das nicht ernst genommen zu werden verdient, da Sie der Schlinge entgangen sind, die man Ihnen gelegt hat. Aber Ihr Gemahl ist mir fast ein Bruder. Ich wünsche Ihnen also in vollem Ernst 223
Glück, daß Sie ihm die Ruhe und Sicherheit wiedergegeben haben.« »Da Sie Harville mit Ihrer Freundschaft beehren, will ich Ihnen die ganze Wahrheit mitteilen, ebensowohl über eine Wahl, die Sie für so unglücklich halten müssen als sie wirklich ist, wie über mein Benehmen.« »Ich werde immer stolz auf den geringsten Beweis Ihres Vertrauens sein; erlauben Sie mir jedoch, zu bemerken, daß ich in bezug auf die Wahl, von der Sie sprechen, weiß, daß Sie nur einem Gefühl aufrichtigen Mitleids nachgegeben haben, als Sie sich von Sarah MacGregor überreden ließen. Ich weiß auch, daß Sie lange zögerten, ehe Sie sich zu dem Schritt entschlossen, den Sie jetzt so sehr bereuen.« Clémence sah den Fürsten erstaunt an. »Sie wundern sich darüber? Ich werde Ihnen später das Rätsel lösen, um nicht in Ihren Augen als Zauberer zu gelten«, antwortete Rudolf lächelnd. »Ist aber Ihr Gatte jetzt vollkommen beruhigt?« »Ja, Hoheit«, antwortete Clémence, indem sie verlegen die Augen niederschlug, »aber ich gestehe, es ist mir peinlich, ihn um Verzeihung bitten zu hören.« »Er fühlt sich glücklich in seiner Illusion. Als ich noch jung war«, setzte Rudolf lächelnd hinzu, »fühlte ich immer ein gewisses Mißtrauen bei gesteigerter Zärtlichkeit; und da ich mich meinerseits niemals mehr dazu angeregt fühlte, als wenn ich Verzeihung nötig hatte, so war ich, wenn man sich gegen mich besonders liebenswürdig zeigte, davon überzeugt, daß – irgendeine Untreue im Spiele sei.« Frau von Harville wunderte sich mehr und mehr, Rudolf so leichtfertig über ein Abenteuer sprechen zu hören, das die schlimmsten Folgen hätte haben können; da sie indessen bald erriet, daß der Fürst nur die Wichtigkeit des Dienstes zu verringern sich bemühte, den er ihr geleistet hatte, so sagte sie, durch diese zarte Rücksichtnahme tief gerührt: »Ich begreife Ihren Edelmut und erlaube Ihnen nun, über die Gefahr, der Sie mich entrissen haben, zu scherzen. Das aber, was ich Ihnen zu sagen habe, ist so ernst, daß ich Sie beschwöre, daran zu 224
denken, daß Sie mir Ehre und Leben gerettet haben. Ja, auch das Leben, Hoheit. Mein Mann war bewaffnet; er hat mir gestanden, daß er mich töten wollte.« »Großer Gott!« rief Rudolf in Bewegung. »Er hatte das Recht dazu«, antwortete Frau von Harville bitter. »Ich beschwöre Sie«, sprach Rudolf, diesmal sehr ernsthaft, »glauben Sie mir, wenn ich eben scherzte, so geschah es, um Ihre Gedanken abzulenken. Jetzt höre ich Sie aufmerksam an, da Sie mir sagen, mein Rat könne Ihnen irgendwie von Nutzen sein.« »Ja, doch erlauben Sie mir, Ihnen zunächst einige Worte über die Vergangenheit zu sagen, die Ihnen noch unbekannt ist, über die Jahre vor meiner Verheiratung mit Herrn von Harville.« Rudolf verbeugte sich, und Clémence fuhr fort: »Als ich sechzehn Jahre alt war, verlor ich meine Mutter. Wie sehr ich sie liebte, kann ich nicht sagen; denken Sie sich das Ideal der Herzensgüte auf Erden. Da sie die Geselligkeit nicht schätzte und kränklich war, so fand sie das größte Vergnügen darin, meine Erziehung ganz allein zu leiten, und ihre tiefen Kenntnisse erlaubten ihr auch, die Pflicht, die sie übernommen hatte, zu erfüllen. Denken Sie sich nun ihr und mein Erstaunen, als, in meinem sechzehnten Jahre, mein Vater uns ankündigte, eine junge Witwe würde vollenden, was meine Mutter begonnen habe. Meine Mutter widerstrebte anfangs diesem Wunsche; ich selbst bat ihn, keine Fremde zwischen sie und mich zu stellen; aber er blieb unerbittlich trotz unserer Tränen. Madame Roland, die Witwe eines Obersten, der in Indien gestorben war, zog in unser Haus als meine Erzieherin.« »Wie! Madame Roland, die Ihr Herr Vater später heiratete?« »Dieselbe.« »Sie war wohl sehr schön?« »Kaum hübsch.« »Oder sehr geistreich?« »Heuchlerisch und schlau, weiter nichts. Sie hatte blaßblondes Haar, fast weiße Augenbrauen und große, hellblaue Augen. Ihr Gesicht war unangenehm freundlich, und ihr Charakter treulos bis zur Grau225
samkeit, dem Anschein nach aber zuvorkommend.« »Und Ihre Kenntnisse?« »Gleich Null. Meine Mutter machte ihn darauf aufmerksam, aber er antwortete, in einem Tone, der keinen Widerspruch zuließ, er würde die junge Witwe unter allen Umständen behalten; die Stellung sei ihr einmal angewiesen. Meine arme Mutter erriet alles und wurde davon tief ergriffen, wenn sie wohl auch weniger die Untreue meines Vaters als die Störung des Hausfriedens beklagte.« »Selbst vom Standpunkt seiner törichten Liebe rechnete Ihr Herr Vater falsch, indem er diese Frau in sein Haus nahm.« »Ihr Erstaunen würde sich verdoppeln, wenn Sie wüßten, daß mein Vater der stolzeste Mann ist, den ich kenne; um so jede Rücksicht und alle Gebote der Schicklichkeit zu vergessen, mußte er völlig unter dem Einfluß Madame Rolands stehen.« »Wie alt war damals Ihr Herr Vater?« »Ungefähr sechzig Jahre.« »Und er glaubte an die Liebe dieser jungen Frau?« »Madame Roland, die ihrem Instinkt oder Ratschlägen folgte…« »Ratschlägen? Wer konnte ihr Ratschläge geben?« »Das werde ich Ihnen gleich erzählen. Die Frau, die wohl erriet, daß ein Mann, der Glück bei den Frauen gehabt hat, im Alter Schmeicheleien um so lieber hört, als sie ihn an die schönste Zeit seines Lebens erinnern, schmeichelte meinem Vater, und er ging blindlings in diese ihm so plump gestellte Falle. Das war, und das ist ohne Zweifel noch jetzt die Ursache des Einflusses dieser Frau auf ihn. – Trotz meiner traurigen Gedanken kann ich mich eines Lächelns nicht erwehren, wenn ich mich erinnere, daß ich vor meiner Verheiratung Madame Roland oft sagen hörte, die ›wirkliche Reife‹ sei das schönste Alter im Leben, und diese ›wirkliche Reife‹ beginne mit dem sechzigsten Jahre.« »Also mit dem Alter Ihres Herrn Vaters.« »Ja. Da erst, sagte Madame Roland, erlangten Geist und Erfahrung ihre höchste Entwicklung; da erst erfreue sich ein Mann des ganzen Ansehens, das er erstreben könne, da erst erhielten auch sei226
ne Züge ihre äußerste Vollkommenheit, denn das Gesicht zeige in diesem Lebensalter eine seltene Mischung von anmutiger Heiterkeit und sanftem Ernst.« Rudolf mußte bei dieser Schilderung lächeln. »Das Seltsame ist«, sagte Clémence weiter, »mein Vater fühlte sich, wie ich wenigsten glaube, in den Illusionen glücklich, mit denen ihn meine Stiefmutter umgab.« »Ohne Zweifel büßt sie, als Strafe für ihre Falschheit, die Folgen der leidenschaftlichen Liebe, die sie zur Schau trug. Ihr Herr Vater hat sie beim Wort genommen und umgibt sie mit Einsamkeit und Liebe. Denken Sie sich die stolze Freude eines Mannes von sechzig Jahren, der an Glück bei Frauen gewöhnt ist und wähnt, von einer jungen Frau noch so leidenschaftlich geliebt zu werden, daß sie sich gern mit ihm von der Welt abschließt.« »Da mein Vater sich glücklich fühlt, darf ich mich vielleicht über Madame Roland nicht beklagen; aber ihr Benehmen gegen meine Mutter und die Rolle, die sie bei meiner Verheiratung gespielt hat, flößen mir Abneigung gegen sie ein«, sagte Frau von Harville. Rudolf sah sie verwundert an. »Herr von Harville ist Ihr Freund«, fuhr Clémence mit fester Stimme fort. – »Ich weiß, wie gewichtig die Worte sind, die ich eben ausgesprochen habe. Sie werden mir aber auch sagen, ob sie gerecht sind. – Ich komme auf Madame Roland zurück, die, trotz ihrer anerkannten Unfähigkeit, meine Erzieherin sein sollte. Meine Mutter hatte eine unangenehme Unterredung mit meinem Vater und erklärte ihm, daß sie, um gegen die Stellung dieser Frau zu protestieren, in Zukunft nicht mehr bei Tisch erscheinen würde, wenn Madame Roland nicht sofort das Haus verließe. Mein Vater blieb unbeugsam, und meine Mutter hielt, was sie gelobt hatte; wir lebten also nur noch in ihrem Zimmer. Mein Vater wurde gegen mich ebenso kalt wie gegen meine Mutter, während Madame Roland die Honneurs in unserem Hause machte.« »Einem Manne von sechzig Jahren zu beweisen, er sei erst dreißig Jahre alt, ist das Abc der Schmeichelei; je plumper sie ist, um 227
so größeren Erfolg hat sie!« »Der bereits sehr bedenkliche Gesundheitszustand meiner Mutter wurde immer schlechter. Madame Roland hatte einen italienischen Arzt, der sehr geschickt sein sollte; mein Vater schlug ihn auch meiner Mutter vor, die ihn leider annahm. – Er behandelte sie in ihrer letzten Krankheit… Ich schäme mich, Ihnen diese Schwäche zu gestehen, aber der bloße Umstand, daß Madame Roland diesen Arzt meinem Vater empfohlen hatte, erregte (ohne daß ich damals Grund dazu hatte) Widerwillen in mir. Ich sah mit Besorgnis, daß meine Mutter ihm Vertrauen schenkte, obwohl Doktor Polidori…« »Wie sagen Sie?« unterbrach sie Rudolf. »Was ist Ihnen?« fragte Clémence, verwundert über den gänzlich veränderten Ausdruck Rudolfs. »Frau Marquise«, fuhr Rudolf fort, »wie alt war dieser Italiener?« »Etwa fünfzig Jahre alt.« »Seine Figur … sein Gesicht?« »Es war finster. – Niemals aber werde ich die grauen Augen und die Nase vergessen, die wie ein Adlerschnabel aussah.« »Er ist es!« rief Rudolf aus.
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lauben Sie, Frau Marquise, daß Doktor Polidori noch in Paris wohnt?« fragte Rudolf. »Das weiß ich nicht. Ungefähr ein Jahr nach der Verheiratung meines Vaters hat er Paris verlassen. Eine Dame meiner Bekanntschaft, deren Arzt jener Italiener damals auch war, die Herzogin von Lucenay…« »Auch die Herzogin…« »Ja, Hoheit. Warum dieses Erstaunen?« 228
»Erlauben Sie mir, Ihnen die Ursache zu verschweigen! Was sagte damals die Herzogin über diesen Mann?« »Daß sie, seit seiner Abreise von Paris, oftmals sehr geistreiche Briefe über die Länder erhalte, die er besuche; denn er reiste viel. Jetzt erinnere ich mich: vor einem Monat ungefähr fragte ich die Herzogin, ob sie noch immer Nachricht von Polidori erhalte, und sie antwortete mir verlegen, man höre seit langer Zeit nichts mehr von ihm, man wisse nicht, was aus ihm geworden sei, manche Leute hielten ihn sogar für tot.« »Seltsam«, sagte Rudolf, der an den Besuch der Herzogin von Lucenay bei Bradamanti dachte. »Sie kennen also diesen Mann?« »Ja, leider ja. – Aber fahren Sie in Ihrer Erzählung fort; später will ich Ihnen sagen, wer und was dieser Polidori ist, der Mann, auf dem die schrecklichsten Verbrechen lasten.« »Verbrechen?« wiederholte Frau von Harville entsetzt; »dieser Mann, der Freund Madame Rolands, der Arzt meiner Mutter, hat Verbrechen begangen? Meine Mutter starb nach einigen Tagen unter seinen Händen.« »Ohne diesen Mann eines Verbrechens mehr anzuklagen, ohne Ihre Stiefmutter mit einer entsetzlichen Mitschuld zu belasten, sage ich, daß Sie Gott danken müssen, daß Ihr Vater der Kunst Polidoris nicht bedurft hat!« »Ach, mein Gott!« rief Frau von Harville, »eben erwähnte ich den Widerwillen, den ich gegen diesen Arzt fühlte, weil er durch Madame Roland in unser Haus gebracht worden war … aber ich sagte Ihnen noch nicht alles.« »Was haben Sie noch zu sagen?« »Ich fürchtete, einen Unschuldigen anzuklagen… Die Krankheit meiner Mutter hatte fünf Tage gedauert. Ich war nicht von ihrem Bette gewichen… Eines Abends trat ich auf die Terrasse, um frische Luft zu schöpfen. Nach einer Viertelstunde kehrte ich über einen dunklen Korridor zurück. In dem schwachen Schein eines Lichtes, das aus Madame Rolands Zimmer schimmerte, sah ich Herrn Po229
lidori mit dieser Frau heraustreten. Ich stand im Schatten; sie bemerkten mich nicht. Madame Roland sprach leise mit ihm. Der Arzt antwortete etwas lauter: ›Übermorgen!‹ Und als Madame Roland noch immer leise zu ihm sprach, wiederholte er, mit seltsamer Betonung: ›Übermorgen, sage ich Ihnen, übermorgen.‹« »Was bedeuteten diese Worte?« »An einem Mittwochabend sagte Herr Polidori: ›Übermorgen‹, und am Freitag starb meine Mutter.« »Das ist ja entsetzlich.« »Als ich meine Gedanken sammeln konnte, fiel mir das Wort wieder ein, das den Zeitpunkt des Todes meiner Mutter verkündet zu haben schien; ich glaubte, Polidori habe gewußt, daß meine Mutter nur noch kurze Zeit leben könne… Nur deshalb verabscheute ich diesen Mann; aber nie würde ich zu vermuten gewagt haben … nein, nein … noch jetzt kann ich an ein solches Verhalten nicht glauben.« »Hat Polidori Ihre Frau Mutter allein behandelt?« »Am Tage vor ihrem Tode hat er einen anderen Arzt zugezogen. Nach dem, was mir später mein Vater sagte, hat dieser Arzt meine Mutter in einem sehr gefährlichen Zustand gefunden. Als das Unglück geschehen war, brachte man mich zu einer Verwandten, die meine Mutter innig geliebt hatte. Sie vergaß die Rücksichten, die meine Jugend verlangte und sagte mir ohne Umstände, wie viele Gründe ich hätte, Madame Roland zu hassen. Sie klärte mich auf über die ehrgeizigen Hoffnungen, die dieses Weib schon damals hegte. Diese Enthüllung erschreckte mich, und ich sah endlich ein, was meine Mutter hatte leiden müssen. Als ich meinen Vater wiedersah, brach mir fast das Herz; er weinte viel und sagte, nur ich könne ihm diesen schweren Schlag erleichtern. Nach einigen Worten teilte er mir mit, Madame Roland habe eingewilligt, das Haus zu führen und mir eine mütterliche Freundin zu sein. Schmerz und Unwille machten mich stumm; ich weinte schweigend. Mein Vater fragte mich nach der Ursache meiner Tränen, und ich antwortete, ich würde nie in einem Hause mit Madame Roland 230
zusammen wohnen können. Er sagte kalt, sein Entschluß stände unerschütterlich fest, und ich müßte mich fügen. Ich bat ihn, mir zu erlauben, mich in das Kloster vom Heiligen Herzen zu begeben, wo ich bleiben wollte, bis er es für passend hielt, mich zu verheiraten. Er entgegnete, die Zeit sei vorbei, in der man ein Mädchen am Sprechgitter eines Klosters verheirate; dann küßte er mich auf die Stirn und nannte mich einen kleinen Eigensinn. Ich mußte mich fügen. Denken Sie sich meinen Schmerz, jeden Tag mit einer Frau zusammen zu sein, der ich beinahe die Schuld am Tode meiner Mutter gab!« »Wie schwer muß das Leben für Sie gewesen sein!« »Ich spreche so ausführlich über jene Zeit, weil ich Ihnen andeuten möchte, in welcher Lage ich mich befand, als ich meine Hand Herrn von Harville gab. Als wir in Aubiers, der Besitzung meines Vaters, ankamen, war Madame Roland die erste Person, die uns entgegentrat. Trotz ihrer freundlichen Miene ließ sie eine triumphierende Freude durchblicken. Ich versäumte keine Gelegenheit, meinen Widerwillen gegen Madame Roland zu zeigen. Mein Vater geriet darüber in Zorn und schalt mich, im Beisein dieser Frau, hart aus. Madame Roland verwendete sich heuchlerisch für mich. ›Haben Sie Nachsicht mit Clémence‹, sagte sie mit ihrer süßlichen Stimme; ›der Kummer über den Verlust der trefflichen Frau, die wir beweinen, ist so natürlich, daß man Rücksicht auf ihren Schmerz nehmen muß.‹ ›Nun‹, entgegnete mein Vater, indem er voll Bewunderung auf Madame Roland deutete, ›da hörst du! Du solltest ihr in die Arme sinken, das sollte deine Antwort sein.‹ Dann warf er mir zornige Blicke zu und herrschte mich an: ›Zittere, wenn du noch ferner wagst, die schönste Seele der Welt zu kränken!‹« »Wie stellte Ihr Vater Madame Roland in der Nachbarschaft vor?« »Als meine Erzieherin und seine Freundin; und so behandelte man sie.« »Lebte er noch immer so zurückgezogen?« »Mit Ausnahme einiger Besucher, die nicht zu vermeiden waren, sahen wir fast niemanden; mein Vater, der von seiner Liebe völlig 231
beherrscht war, legte, nach kaum drei Monaten, die Trauer um meine Mutter ab, unter dem Vorwand, daß er im Herzen trauere. Seine Kälte gegen mich steigerte sich mehr und mehr, und seine Gleichgültigkeit ging so weit, daß er mir jede Freiheit gestattete. Ich konnte ganz über mich verfügen, in Begleitung eines Reitknechtes spazierenreiten oder lange Spaziergänge machen. Bisweilen, wenn mich die Trauer überwältigte, erschien ich nicht einmal bei Tisch, und mein Vater fragte dann auch nicht nach mir.« »Wie benahm sich die Frau gegen Sie, wenn Sie mit ihr allein waren?« »Sie vermied es, mit mir allein zu sein. Ein einziges Mal traf sie mich unter vier Augen und sagte: ›Sehen Sie sich vor! Sie wollen mit mir kämpfen, Sie werden aber unterliegen.‹ – ›Wie meine Mutter!‹ entgegnete ich; ›es ist schade, Madame, daß Herr Polidori nicht da ist, um Ihnen die Versicherung geben zu können, es werde 'übermorgen' geschehen!‹ Diese Worte machten einen tiefen Eindruck auf Madame Roland. Jetzt, da ich weiß, wer dieser Polidori ist, erscheint mir die Bestürzung, die Madame Roland zeigte, als ich sie an diese Worte erinnerte, als die Bestätigung eines schrecklichen Verdachtes.« »Was antwortete sie, als Sie sie an die Worte Polidoris erinnerten?« »Zuerst errötete sie, dann fragte sie mich kalt, was ich mit diesen Worten meine. ›Fragen Sie sich selbst, und Sie werden sich die Antwort darauf geben können!‹ Kurze Zeit darauf ereignete sich ein Auftritt, der gleichsam mein Schicksal entschied. In dem Zimmer, in dem wir uns abends aufhielten, befand sich, unter einer großen Anzahl von Familienbildern, auch das Porträt meiner Mutter. Als ich das Zimmer betrat, bemerkte ich, daß das Bild fehlte und fragte meinen Vater: ›Wo ist das Porträt meiner Mutter?‹ – Er wandte sich an Madame Roland und fragte sie, mit einem Blick der Ungeduld: ›Wohin hat man das Bild gebracht?‹ – ›In die Rumpelkammer‹, antwortete sie in herausforderndem Ton, da sie wohl glaubte, die Anwesenheit Fremder würde mich hindern, ihr zu antworten. ›Ich begreife, Madame‹, entgegnete ich, ›daß der Blick meiner Mutter Ihnen lästig 232
sein mußte; aber das ist kein Grund, das Porträt einer Frau, die Sie mitleidig in dieses Haus aufgenommen hat, in die Rumpelkammer zu verweisen.‹ Mein Vater stand einen Augenblick ganz verlegen da. Madame Roland wurde vor Scham und Ärger purpurrot. Die Nachbarn schlugen die Augen nieder und schwiegen. ›Mademoiselle!‹ begann sodann mein Vater, ›du vergißt, daß Madame deine Erziehung geleitet hat, und daß ich die höchste Achtung für sie fühle.‹ Madame Roland unterbrach ihn mit den an mich gerichteten Worten: ›Ich habe, weit entfernt, Ihrer Mutter Dank schuldig zu sein, mich vielmehr über die Abneigung zu beklagen, die sie stets gegen mich äußerte.‹ – ›Ich sage Ihnen, Madame‹, entgegnete ich ihr, ›meine Mutter erlaubte Ihnen, in ihrem Hause zu leben, statt Sie hinausweisen zu lassen, wozu sie ein Recht hatte. Sie hätte Ihnen durch Verachtung beweisen sollen, daß Sie von ihr nur gezwungen geduldet wurden!‹« »Wie groß muß der Zorn Ihres Vater gewesen sein!« »Er kam am nächsten Morgen zu mir und sagte: ›Damit derartige Auftritte sich nicht wiederholen, erkläre ich dir, daß ich Madame Roland heiraten werde. Du wirst sie also von nun an mit der Achtung und Rücksicht behandeln, die meiner Frau gebührt! … Von heute an werde ich eifrig besorgt sein, dir eine passende Verbindung zu suchen.‹ Nach dieser Besprechung lebte ich noch einsamer. Ich sah meinen Vater nur noch bei Tische. Mein Leben war so traurig, daß ich mit Ungeduld den Augenblick erwartete, in dem mir mein Vater irgendeine Heirat vorschlagen würde.« »Und Sie hatten niemand, dem Sie sich anvertrauen konnten?« »Nein. Ich erhielt jedoch einen Beweis von Teilnahme, der mich rührte und der mich über meine Zukunft hätte aufklären können. Einer der beiden Zeugen jenes Auftrittes war Herr Dorval, ein alter Notar, gewesen, dem meine Mutter einige Gefälligkeiten erwiesen hatte. Eines Tages kam Herr Dorval, mit geheimnisvoller Miene, zu mir und sagte: ›Mein Fräulein, lesen Sie diesen Brief und ver233
brennen Sie ihn dann; es handelt sich um eine Sache von großer Wichtigkeit.‹ Dann entfernte er sich wieder. In dem Briefe teilte er mir mit, man wolle mich mit dem Marquis von Harville verheiraten; die Partie scheine in jeder Hinsicht passend zu sein. Herr von Harville sei jung, reich und gebildet, und doch hätten die Familien der beiden jungen Mädchen, denen er seine Hand angetragen, nach einiger Zeit plötzlich mit ihm gebrochen. Den Grund dieses Bruches konnte der Notar nicht angeben, aber er hielt es, wie er sagte, für seine Pflicht, mich darauf aufmerksam zu machen.« »Ja«, sagte Rudolf, nach kurzem Nachdenken, »ich erinnere mich jetzt, daß Ihr Gemahl zweimal von Heiratsplänen erzählte, die sich plötzlich wieder zerschlagen hätten; wegen Geldangelegenheiten, wie er mir schrieb.« Frau von Harville lächelte bitter und antwortete: »Sie werden sogleich die Wahrheit erfahren. – Ich war, nachdem ich den Brief des Notars gelesen hatte, ebenso neugierig als ängstlich. Wer war Herr von Harville? Mein Vater hatte ihn nie erwähnt. Ich suchte mich vergebens seines Namens zu erinnern. Bald reiste, zu meiner großen Verwunderung, Madame Roland nach Paris ab. Ihre Abwesenheit sollte höchstens acht Tage dauern, und doch äußerte mein Vater tiefen Schmerz über diese kurze Trennung. Er wurde immer reizbarer und kälter gegen mich. Eines Tages, Madame Roland war inzwischen zurückgekehrt, beschied er mich in sein Zimmer; er war allein mit ihr. ›Ich habe‹, begann er, ›mich schon lange mit der Frage deiner Vermählung beschäftigt. In einem Monat geht deine Trauerzeit zu Ende. Morgen wird der Marquis von Harville hier erscheinen, ein junger, vortrefflicher Mann, der wohl imstande sein wird, dein Glück zu sichern. Er wünscht diese Verbindung lebhaft; alle Angelegenheiten sind bereits geordnet, und es wird also nur von dir abhängen, noch vor sechs Wochen verheiratet zu sein. Wenn du dagegen bist, aus einer Laune, die ich nicht erwarten will, diese Partie ausschlagen solltest, so werde ich mich dennoch verheiraten, sobald meine Trauerzeit abgelaufen ist. In diesem 234
Falle muß ich dir erklären, daß mir deine Anwesenheit in meinem Hause nur dann angenehm sein würde, wenn du mir versprächst, meiner Frau die Liebe und Achtung entgegenzubringen, die sie verdient.‹ – ›Ich verstehe, lieber Vater. Wenn ich nicht heirate, heiraten Sie, und dann wird es weder für Sie noch für Madame unangenehm sein, wenn ich mich ins Kloster zurückziehe.‹ – ›Keineswegs‹, antwortete er kalt.« »Sagten Sie ihm nichts von dem, was Sie durch den alten Notar erfahren hatten?« »Allerdings. Er aber antwortete mir, es habe sich lediglich um Geldangelegenheiten gehandelt, bei denen das Zartgefühl des Herrn von Harville über jenen Zweifel erhaben gewesen sei.« »Und Madame Roland?« »Diese Heirat war ihr Werk. Sie allein kannte die eigentliche Ursache, aus der die beiden ersten Heiratsversuche Harvilles gescheitert waren, und deshalb lag ihr gerade so viel daran, mich zur Frau des Marquis zu machen.« »Warum?« »Sie wollte sich an mir rächen, indem sie mir ein entsetzliches Schicksal bereitete.« »Aber Ihr Vater…« »Mein Vater glaubte, die Heiratspläne des Herrn von Harville seien wirklich an Vermögensfragen gescheitert.« »Und der Marquis?« »Herr von Harville kam. Sein Benehmen, sein Geist, sein Gesicht sagten mir zu. Er hatte etwas Gutmütiges in seinem Wesen; sein Charakter war mild, seine Stimmung etwas melancholisch. In seiner gewöhnlich energischen und entschlossenen Miene lag zuweilen eine gewisse Schüchternheit und Niedergeschlagenheit, die mich sehr rührte. Mit Vergnügen bemerkte ich auch, daß er gütig und freundlich gegen einen alten Diener war, der ihn ganz allein bediente. Einige Zeit nach seiner Ankunft blieb Herr von Harville zwei Tage in seinem Zimmer; mein Vater wollte ihm einen Besuch machen, aber der alte Diener wies ihn ab, indem er sagte, sein Herr werde von 235
so heftigen Kopfschmerzen geplagt, daß er durchaus niemanden bei sich sehen könne. Als Harville erschien, fand ich ihn blaß und verändert. Nachdem die Zeit unserer Verbindung festgesetzt war, fragte ich ihn einmal nach der Ursache seiner Melancholie, und er sprach, ausweichend, von seiner Mutter, die hocherfreut gewesen sein würde, ihn nach seinem Herzen und nach seinem Geschmack verheiratet zu sehen… Herr von Harville erriet die Verhältnisse, in denen ich bis dahin gelebt hatte, und gab mir zu verstehen, daß er mich wegen meines großen Kummers vielleicht nur noch mehr liebe.« »So habe ich ihn immer gekannt«, sagte Rudolf. »Als einen Mann von Herz und Zartgefühl, jeder Aufopferung fähig. – Aber haben Sie nie seine früheren Heiratspläne erwähnt?« »Ich gestehe, daß mir diese Frage mehrmals auf den Lippen schwebte, aber dann fürchtete ich, ihn zu kränken und wagte nicht, darüber mit ihm zu sprechen. Je näher der Tag unserer Heirat heranrückte, um so glücklicher pries sich Harville. Dennoch sah ich ihn zuweilen von tiefer Trauer niedergedrückt. Es schien ihm etwas schwer auf dem Herzen zu liegen. Es war, als wolle er mir ein Geheimnis anvertrauen, könne aber den Mut nicht finden.« »Er sagte Ihnen also nichts?« »Nichts!« »Die Trauzeugen, der Herzog von Lucenay und Herr von St. Remy, kamen einige Tage vor meiner Verheiratung an. Nur meine nächsten Verwandten wurden eingeladen. Wir sollten, gleich nach der Trauung, nach Paris abreisen, was auch geschah. Ich war schmerzlich bewegt, denn ich kehrte zum ersten Male nach dem Tode meiner Mutter nach Paris zurück. Außerdem kam ich in eine fremde Umgebung, allein mit meinem Gatten, den ich kaum sechs Wochen kannte und der noch kein Wort gesagt hatte, das nicht steif und förmlich gewesen wäre. Wir langten in dem Hause Harvilles an…« Die Wangen der Frau von Harville bedeckten sich mit brennender Röte, und sie fuhr, mit schmerzlich bewegter Stimme, fort: »Doch Sie müssen alles wissen! – Man führte mich in die Zimmer, die mir bestimmt waren, man ließ mich allein – dann kam Har236
ville zu mir. Ich starb fast vor Angst trotz seiner Liebesbeteuerungen; aber ich gehörte ihm an und mußte mich fügen. Aber bald faßte mein Gatte mich am Arm, als wolle er ihn zerdrücken; dabei stieß er einen entsetzlichen Schrei aus. Vergebens versuchte ich mich aus dieser eisernen Umarmung loszumachen – er hörte mich nicht mehr, sein Gesicht wurde durch gräßliche Zuckungen verzerrt, seine Augen rollten in ihren Höhlen, und vor dem Munde stand ihm blutiger Schaum. – Seine Hand hielt mich noch immer fest, ich machte eine verzweifelte Anstrengung, mich zu befreien. Endlich gelang es mir, und ich wurde ohnmächtig, während Harville sich in Zuckungen auf dem Boden wand. Das war meine Brautnacht, – das war die Rache der Madame Roland!« »Unglückliche Frau!« sagte Rudolf mit wehmütiger Teilnahme. »Aber das ist noch nicht alles«, fuhr Clémence fort. »Ach, daß diese Nacht ewig verflucht sein möge! – Meine Tochter hat die Krankheit geerbt.« Frau von Harville bedeckte ihr Gesicht mit den Händen; nachdem sie das Geständnis abgelegt hatte, vermochte sie kein Wort mehr zu sprechen. Auch Rudolf schwieg.
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lémence stützte die Stirn in ihre Hand, ihre Augen waren tränenfeucht, ihre Wangen brannten vor Scham, und sie vermied den Blick Rudolfs, so schwer war ihr die Enthüllung ihrer Leiden geworden. »Jetzt«, begann Rudolf nach einer Pause, »jetzt errate ich die Ursache der Traurigkeit Harvilles, die ich mir bis heute nicht erklären konnte.« 237
»Nie ist ein solches Verbrechen mit so kalter Überlegung vollbracht worden!« »Ein Verbrechen, Frau Marquise?« »Ist es kein Verbrechen, ein junges Mädchen durch unauflösliche Bande an sich zu fesseln, obgleich man mit einer solchen Krankheit behaftet ist? Ist es kein Verbrechen, ein unglückliches Kind mit derselben Krankheit zu belasten? Wer konnte Harville zwingen, zwei Menschen zu opfern? Mein Vermögen, meine Person sagten ihm zu, er wollte eine ›passende Verbindung‹ eingehen, weil das ehelose Leben ihn langweilte…« »Madame, haben Sie doch Mitleid!« »Wissen Sie, wer Mitleid verdient? Meine Tochter. Das arme Opfer dieser Ehe! Wie viele Nächte, wie viele Tage habe ich an ihrem Bett verbracht, wie viele bittere Tränen habe ich um ihretwillen vergossen!« »Hat ihr Vater nicht dieselben Schmerzen gelitten?« »Ihr Vater hat sie zu einem Leben der Einsamkeit verurteilt, denn sie wird und kann sich nie verheiraten. Ach, ich liebe sie viel zu sehr, als daß ich sie eines Tages ihr Kind beweinen sehen möchte, wie ich sie beweine.« »Sie haben recht! Doch Geduld! Vielleicht kommt auch für Sie die Stunde der Vergeltung!« »Jetzt können Sie über mich und über mein Leben urteilen! Ich glaubte an die Rechtlichkeit Harvilles und wurde betrogen. Seine stille, sanfte Melancholie rührte mich, und diese Melancholie, die durch fromme Erinnerungen, wie er sagte, in ihm geweckt wäre, war nur die Überzeugung von der Unheilbarkeit seiner Krankheit.« »Aber konnte nicht der Anblick seiner Leiden Ihre Teilnahme erregen, und wenn er selbst ein Fremder, ein Feind gewesen wäre?« »Ach, Sie wissen nicht, wie grauenvoll diese Anfälle sind, in denen der Mensch in wilder Wut um sich schlägt, nichts sieht, nichts hört, nichts fühlt und aus seinem Wahnsinn nur heraustritt, um in völlige Stumpfheit zu verfallen. Wenn meine Tochter einen solchen Anfall bekommt, zerreißt mein Herz, und ich küsse weinend die 238
kleinen Arme, welche die Krämpfe starr und steif machen. Wenn ich das Kind so leiden sehe, fluche ich seinem Vater tausendmal mehr. Lassen die Schmerzen meines Kindes nach, so mindert sich auch der Zorn gegen meinen Gatten; dann beklage ich ihn. Aber habe ich mich in meinem siebzehnten Jahre verheiratet, um nur immer Haß und Mitleid zu fühlen? – Um aus dieser drückenden Atmosphäre herauszukommen, träumte ich von einer Liebe, in der ich ausruhen wollte. Ach, ich wurde grausam getäuscht! Bin ich allein schuldig an dem Vergehen, für das mich Harville mit dem Leben büßen lassen wollte? Auch ich verdiene Mitleid und hoffe, daß Sie mir, in der schrecklichen Lage, in der ich mich befinde, mit Ihrem Rate beistehen werden.« »Ich versichere Ihnen, Frau Marquise, daß, wenn der geringe Dienst, den ich Ihnen leistete, eine Belohnung verdiente, ich mich durch diesen Beweis Ihres Vertrauens für tausendfach bezahlt halten würde. Da Sie mich um meinen Rat bitten und mir erlauben, ganz offen zu sprechen…« »Ja, darum bitte ich Sie…« »So gestatten Sie mir die Bemerkung, daß Sie es selbst in der Hand haben, sich ein Glück zu verschaffen, das Sie Ihren schweren Kummer vergessen lassen könnte.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich will damit sagen, daß Sie Gutes tun sollten!« Frau von Harville sah Rudolf verwundert an. »Sie begreifen«, fuhr er fort, »daß ich Sie nicht auffordern will, Unglücklichen, die Sie nicht kennen und die oft die Wohltaten nicht verdienen, Almosen zu spenden. Wenn Sie sich aber dazu entschließen könnten, zuweilen die Rolle der Vorsehung zu spielen, so würden Sie Wunderbares erleben.« »Ich habe allerdings noch nie daran gedacht, die Wohltätigkeit als Quelle des Erlebens zu betrachten«, entgegnete Clémence lächelnd. »Es ist dies eine Entdeckung, die ich meinem Widerwillen gegen alles Alltägliche verdanke. Wenn Sie meine Mitschuldige bei einigen solchen ›finsteren Intrigen‹ des Wohltuns werden wollten, wür239
den Sie sehen, daß, ganz abgesehen von der edlen Tat, oft nichts merkwürdiger und seltsamer sein kann als diese Abenteuer der Mildtätigkeit. Die Empfindungen, die Sie dabei haben werden, sind ungefähr dieselben, wie die, die Sie fühlten, als Sie sich nach der Rue du Temple begaben. Einfach gekleidet, um nicht erkannt zu werden, würden Sie Ihr Haus mit klopfendem Herzen verlassen, in einen bescheidenen Mietswagen steigen und verstohlen in irgendein verdächtiges oder merkwürdiges Haus treten. Der Unterschied ist der, daß Sie gestern dachten: wenn man mich erkennt, bin ich verloren; daß Sie aber beim Wohltun denken würden: wenn man mich erkennt, wird man mich segnen. Da Sie aber, neben all Ihren anderen Tugenden, auch die Tugend der Bescheidenheit besitzen, so würden Sie jede List, selbst die diabolischeste, aufbieten, um – nicht gesegnet zu werden.« »Ach, ich sehe meine Rettung«, rief Madame Harville tief ergriffen aus. – »Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Ideen, welche tröstenden Hoffnungen Ihre Worte in mir erwecken.« Rudolf lächelte. Die Marquise aber fuhr fort: »Ich trete mit Freuden, mit dankerfülltem Herzen Ihrem finsteren Bunde bei und werde, um unseren Roman zu beginnen, schon morgen wieder zu der armen Familie gehen, der ich gestern früh leider nur einige tröstende Worte bringen konnte, da ein kleiner Lahmer meine Angst benutzte und mir die Börse stahl, die Sie mir gegeben hatten. – Ach, wenn Sie wüßten, welche Not bei den Leuten herrscht! Ich hatte bis dahin nicht geglaubt, daß es so großes Elend geben könne.« Rudolf, der seine Bewegung nicht merken lassen wollte, wandte heiter ein: »Wenn Sie mir erlauben, nehme ich die Morels von unserer Gemeinschaft aus. Überlassen Sie diese Armen mir allein und versprechen Sie mir vor allem, nie wieder in jenes Haus zu gehen, denn dort wohne ich –« »Sie, Hoheit? Ein Scherz!« 240
»Nein, mein voller Ernst. Freilich ist es nur eine bescheidene Wohnung, aber meine Nachbarin, Mademoiselle Lachtaube, ist die hübscheste Grisette im ganzen Viertel, und Sie werden gestehen, daß dies für einen Handlungsgehilfen mit 1.800 Franken Jahreseinkommen höchst angenehm ist.« »Gewiß, aber welche gute Tat überlassen Sie mir? Welche Rolle bestimmen Sie für mich?« »Die des tröstenden Engels und – verzeihen Sie! – zugleich des schlauen Teufels. Denn wenn es Wunden gibt, die nur eine weibliche Hand heilen kann, so gibt es auch ein so stolzes und mißtrauisches Unglück, daß ein seltener Scharfsinn und alle weibliche List dazu gehören, es zu entdecken.« »Und wann werde ich diesen Scharfsinn, den Sie in mir vermuten, anwenden können?« fragte Frau von Harville ungeduldig. »Hoffentlich bald!« »Aber wann, Hoheit wann?« »Sehen Sie, da stehen wir bereits vor der Frage des Rendezvous. Darf ich mich in vier Tagen wieder hier einfinden?« »So spät?« »Bedenken Sie doch! Wenn man uns beide für gleichschuldig hielte, würde man vor uns auf der Hut sein. Vielleicht habe ich Ihnen aber zu schreiben. Wer war die bejahrte Frau, die mir Ihren Brief überbrachte?« »Eine alte Kammerfrau meiner Mutter, die Sicherheit und Verschwiegenheit selbst.« »Durch sie werde ich meine Briefe an Sie befördern lassen. Wenn Sie die Güte haben, mir zu antworten, so schreiben Sie: ›An Herrn Rudolf, Rue Plumet.‹ Ihr Kammermädchen trägt die Briefe zur Post?« »Ich werde sie selbst aufgeben, wenn ich meine Promenade mache.« »Gehen Sie oft allein aus?« »Fast täglich, wenn schönes Wetter ist.« »Vortrefflich! Wenn ich eine Frau wäre – und ich würde vermutlich sehr mildtätig und leichtfertig sein – würde ich gleich nach dem 241
Trauungstage die geheimnisvollsten Gänge machen, absichtlich den Schein gegen mich heraufbeschwören, um dann später meine Armen oder – meine Liebhaber ganz ungefährdet besuchen zu können.« »Das wäre ja eine entsetzliche Treulosigkeit«, sagte Frau von Harville lächelnd. Rudolf entgegnete: »Auch Treulosigkeiten können ihre gute Seite haben, zumal wenn sie nicht bedenklicher sind als die, die Sie von jetzt an – im Dienste der Wohltätigkeit – begehen werden. Es fehlte Ihrem Leben ein Zweck, Sie bedurften in Ihrem Kummer, wie Sie selbst sagten, einer Zerstreuung. Lassen Sie mich glauben, daß Sie diese Zerstreuung in der Zukunft finden werden, von der ich sprach; dann werden Sie so viel Trost genießen, daß selbst Ihr Haß gegen Ihren Gatten schwinden wird. Sie werden Mitleid mit ihm haben, wie mit ihrem Kinde. – Und was den kleinen Engel betrifft, so könnte ich, da ich nun die Ursache seiner Kränklichkeit kenne, Ihnen fast Hoffnung geben.« »Wäre es möglich?« rief Clémence, indem sie die Hände faltete. »Mein Leibarzt ist ein sehr unbekannter, aber sehr gelehrter Mann. Ich erinnere mich, daß er von wunderbaren Heilungen gesprochen hat.« »Wieviel Dank bin ich Ew. Hoheit schuldig!« sagte Clémence mit bewegter Stimme. »Sie geben mir Hoffnung für meine Tochter, Sie zeigen mir eine neue Zukunft, die zugleich Trost und Freude ist. Hatte ich nicht recht, Ihnen zu schreiben, daß Sie den Tag beendigen würden, wie Sie ihn begonnen haben: Mit einer guten Tat?« »In vier Tagen – vergessen Sie es nicht – werde ich wiederkommen und Ihnen die Rolle zuweisen, die Sie zu übernehmen bereit sind. Vielleicht wird eine Verkleidung nötig sein.« »Eine Verkleidung? Und welche?« »Das kann ich noch nicht sagen. Ich werde wohl Ihnen die Wahl überlassen.« 242
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s war fünf Uhr morgens. Es war kalt und es schneite. In dem Stübchen der Morels vermochte ein durch zwei Holzspäne gehaltenes Talglicht kaum die tiefe Finsternis zu verscheuchen. Die geschwärzten und von vielen Rissen durchzogenen Wände ließen wurmstichige Balken sehen; an einer dieser Wände führte eine schlecht schließende Tür auf die Treppe. Der Fußboden war mit verfaultem Stroh und schmutzigen Lumpen bedeckt. Am Tage wurde diese elende Wohnung durch ein schmales, längliches Fenster in der schrägen Dachseite erhellt. Jetzt aber lag auf diesem Fenster eine dicke Schneeschicht. Das Licht, das, fast in der Mitte des Stübchens, auf dem Arbeitstische des Steinschneiders stand, verbreitete an dieser Stelle einen Kreis von bleicher Helle, die sich aber bald im Schatten verlor. Auf dem Arbeitstisch, einem viereckigen, plump gearbeiteten, von Fett und Talg befleckten Tische, funkelten und flimmerten Diamanten und Rubine von bewundernswürdiger Größe und seltsamem Glanze. Morel schliff echte Steine, nicht falsche, wie man im Hause glaubte. Der Steinschneider saß, überwältigt von der Anstrengung und Kälte einer Winternacht, auf einem Schemel ohne Lehne und hatte seine erstarrten Arme auf den Arbeitstisch sinken lassen; seine Stirn stützte sich auf einen Schleifstein, der mit der Hand gedreht wurde. Eine feine Stahlsäge und einige andere Werkzeuge lagen daneben. Der Mann trug eine braune, gestrickte Jacke auf der bloßen Haut, und seine zerrissenen Schuhe verhüllten kaum die kalten, bläulichen Füße, die auf dem Fußboden ruhten. Es war in der Stube so kalt, daß der Handwerker, trotz seiner Er243
schöpfung, von Zeit zu Zeit am ganzen Körper zitterte. Morel schlief bereits seit einiger Zeit. Man hörte sein tiefes, beschwerliches Atmen. In dieser kleinen Dachstube lebten sieben Personen: Fünf Kinder, von denen das jüngste vier, das älteste kaum zwölf Jahre alt war, die kranke Mutter und endlich eine achtzigjährige, blödsinnige Großmutter. Außer dem Familienvater, der einen Augenblick eingeschlummert war, weil seine Kräfte erschöpft waren, schlief niemand. Kälte, Hunger und Krankheit hielten den Schlaf den müden Augen fern. Der Steinschneider besaß übrigens nur noch eine dünne Matratze und ein Stück Decke, die der blödsinnigen Großmutter überlassen waren, die ihr Lager mit niemandem teilen wollte. Zu Beginn des Winters war sie tobsüchtig geworden und hatte das jüngste Kind, ein kleines Mädchen von vier Jahren, das seit einiger Zeit schwindsüchtig war, fast erwürgt. Ein kleiner Ofen, eine Pfanne und ein irdener Topf, ein paar gesprungene Tassen, ein Eimer, ein Brett und ein steinerner Krug, der neben der Türe stand, bildeten das ganze Besitztum der Familie. Das Licht warf seinen flackernden Schein bald auf diese Armut, bald auf die funkelnden Edelsteine. Unwillkürlich hefteten sich aller Augen, von der Großmutter bis zu dem jüngsten Kinde, auf den Steinschneider, ihre einzige Hilfe. Mit Besorgnis sahen sie ihn untätig; sein Schlaf vermehrte ihre Leiden. Die Mutter dachte an ihre Kinder. Die Blödsinnige schien an gar nichts zu denken. Mit einem Male aber setzte sie sich auf, schlug die langen, dürren Arme über ihrer hageren Brust zusammen, sah blinzelnd ins Licht, stand dann langsam auf und zog ihren Deckfetzen, gleich einem Leichentuche, hinter sich her. Ihre dicke, hängende Unterlippe zitterte krampfhaft, während die Blödsinnige bedächtig an den Arbeitstisch schlich, wie ein Kind, das einen dummen Streich verüben will. 244
Als sie das Licht erreichen konnte, hielt sie ihre beiden zitternden Hände an die Flamme. Magdalene Morel folgte von ihrem Lager aus jeder Bewegung der Alten, die sich fortwährend an der Flamme des Lichtes wärmte, dann den Kopf sinken ließ und mit kindischer Neugierde das Flimmern der Diamanten und Rubine betrachtete. Die Blödsinnige kam der Flamme mit der Hand zu nahe, verbrannte sich und stieß einen heiseren Schrei aus. Morel fuhr aus dem Schlafe auf und richtete rasch den Kopf empor. Er war vierzig Jahre alt und hatte ein offenes und kluges, durch die Not abgezehrtes Gesicht; ein grauer Bart bedeckte sein Kinn. Vorzeitige Runzeln durchzogen seine Stirn, und seine Augenlider waren vom Wachen gerötet. Da er immer gebückt sitzen und sich nach der rechten Seite beugen mußte, um den Schleifstein zu drehen, so war durch die Stellung, die er zwölf bis fünfzehn Stunden am Tage einnehmen mußte, sein Rücken krumm geworden. Sein rechter Arm hatte sich durch das fortwährende Drehen des Schleifsteins zu bedeutender Muskelkraft entwickelt, während der linke Arm und die linke Hand in entsetzlicher Weise abgezehrt waren; die hageren, durch den gänzlichen Mangel an Bewegung kraftlos gewordenen Beine konnten den Körper kaum noch tragen. Mit bitterer Resignation pflegte Morel zu sagen: »Ich esse weniger um meiner selbst willen, als um den Arm zu stärken, der den Schleifstein dreht.« Der Steinschneider fuhr aus dem Schlaf empor und sah vor sich die blödsinnige Alte. »Was ist dir, Mutter? Was willst du?« fragte er sie; dann setzte er leiser hinzu, um seine Familie nicht zu wecken: »Lege dich nieder, Mutter, und mache keinen Lärm; Magdalene und die Kinder schlafen.« »Ich schlafe nicht, ich wärme Adele«, sagte das älteste Mädchen. »Ich kann auch nicht schlafen, mich hungert«, fiel einer der Kna245
ben ein. »Ihr armen Kinder!« seufzte Morel; »ich glaubte, ihr schliefet wenigstens.« »Ich fürchtete, dich zu wecken, Morel«, sprach die Frau, »sonst würde ich dich um Wasser gebeten haben. Mich dürstet, ich liege im Fieber.« »Gleich«, antwortete Morel; »ich will nur erst deine Mutter wieder zur Ruhe bringen. Laß die Steine liegen!« sagte er dann zu der Alten, die nach einem großen Rubin griff. »Lege dich nieder, Mutter!« wiederholte er. »Da! – Da!« antwortete die Blödsinnige, indem sie auf den Edelstein wies. »Ach Gott, Morel, mich dürstet!« flüsterte Magdalene. »Gib mir zu trinken.« »Ich darf deine Mutter nicht bei den Steinen lassen, sonst verliert sie mir noch einen Diamanten, wie im vorigen Jahre. Gott weiß, wie teuer uns dieser Diamant zu stehen gekommen ist, und wie teuer er uns vielleicht noch zu stehen kommt!« Der Steinschneider legte mißmutig die Hand an seine Stirn, dann sagte er zu einem der Kinder: »Felix, geh und gib der Mutter zu trinken!« »Nein, ich warte; er könnte sich erkälten«, antwortete Magdalene. »Laß das sein!« rief Morel jetzt mit drohender Stimme, um die Blödsinnige fortzutreiben, die sich nicht von dem Arbeitstische entfernen und durchaus einen der Steine nehmen wollte. »Mutter, das Wasser im Kruge ist gefroren«, sagte Felix. »So zerbrich das Eis«, antwortete Magdalene. »Es ist zu dick.« »Morel, zerbrich doch das Eis im Kruge«, sagte Magdalene mit jammernder Stimme. »Du lassest mich verschmachten.« »Guter Gott! Deine Mutter geht mir ja nicht von der Stelle«, sagte der unglückliche Steinschneider. Es gelang ihm nicht, die Blödsinnige zu entfernen, die über den 246
Widerstand, den sie fand, zornig zu werden begann und ein dumpfes Knurren hören ließ. »Rufe sie doch!« sagte Morel zu seiner Frau; »zuweilen hört sie ja auf dich.« »Mutter, lege dich nieder; wenn du recht folgsam bist, gebe ich dir auch Kaffee!« »Da!« wiederholte die Blödsinnige und suchte sich mit Gewalt des Rubins zu bemächtigen. Morel stieß sie schonend zurück. »Du weißt, daß du mit ihr nicht fertig wirst, wenn du ihr nicht mit der Peitsche drohst«, fiel Magdalene ein; »es gibt ja kein anderes Mittel, Ruhe zu schaffen.« Morel sagte zu der Alten, die ihn zu beißen suchte: »Nimm dich vor der Peitsche in acht, wenn du dich nicht niederlegst.« Auch diese Drohung war fruchtlos. Er nahm deshalb die Peitsche unter seinem Arbeitstisch hervor, drohte der Blödsinnigen und sagte: »Augenblicklich legst du dich nieder!« Die Alte blieb stehen, murmelte etwas zwischen den Zähnen und warf ihrem Schwiegersohn zornige Blicke zu. Um diesen schmerzlichen Auftritt zu beenden und seiner Frau Wasser reichen zu können, trat er ganz nahe an die Blödsinnige heran, hob die Peitsche, ohne jedoch die Alte zu berühren, und wiederholte mit drohender Stimme: »Ins Bett! Marsch!« Die Alte stieß in ihrer Furcht ein entsetzliches Geheul aus, warf sich auf ihr Lager und kauerte sich zusammen, wie ein Hund in seiner Hütte. Die erschrockenen Kinder, die glaubten, ihr Vater habe die Alte geschlagen, riefen ihm weinend zu: »Schlag doch die Großmutter nicht!«
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orel hatte solche Auftritte häufig erlebt, und doch rief er, in einem Anfall von Verzweiflung, indem er die Peitsche auf den Werktisch warf: »Welches Leben! Mein Gott, welches Leben!« »Ist es meine Schuld, daß Mutter blödsinnig ist?« fragte Magdalene weinend. »Was verlange ich denn? Tag und Nacht sitze ich bei der Arbeit und klage nicht; solange ich Kräfte habe, will ich arbeiten; aber ich kann unmöglich arbeiten und zu gleicher Zeit Blödsinnige beaufsichtigen, dich und die Kinder warten. Es ist zuviel Not für einen einzigen Menschen!« stöhnte der Steinschneider. Erschöpft sank er auf seinen Schemel. »Was soll ich tun, da man sich geweigert hat, Mutter ins Hospital aufzunehmen?« fragte Magdalene mit kläglicher Stimme. »Was hilft es, daß du dich beklagst?« »Nichts, du hast recht; aber man vergißt sich, wenn zu viel auf einen einstürmt.« Morel stand auf, um den Krug zu holen. Nachdem er mit Mühe die Eisrinde zerbrochen hatte, goß er etwas von der eiskalten Flüssigkeit in eine Tasse und trat zu seiner Frau, die begierig die Hände ausstreckte. »Nein, es ist zu kalt, es könnte dir schaden«, sagte er. »Desto besser, um so eher geht es zu Ende.« »Warum sprichst du so, Magdalene? Ich verdiene es nicht. Nur ihr macht mir Sorge; wenn ich allein wäre, würde ich mich um den nächsten Tag nicht kümmern.« »Armer Morel!« sagte Magdalene gerührt; »aber ich bitte dich, gib mir zu trinken!« »Ich wärme nur die Tasse ein wenig in meinen Händen.« »Ich danke dir, Morel«, sagte Magdalene, indem sie gierig trank. »Genug! Genug!« 248
»Es ist zu kalt«, sagte Magdalene, die Tasse zurückgebend. Morel zog seine Jacke aus und legte sie auf die Füße seiner Frau. Der Arme hatte kein Hemd. »Morel, du wirst dich erkälten.« »Wenn ich zu sehr friere, ziehe ich die Jacke wieder an.« »Armer Mann! Du hast recht: der Himmel ist nicht gerecht. Was haben wir verbrochen, daß wir so unglücklich sind, während andere…« »Es hat jeder seine Not, die Großen, wie die Kleinen.« »Ja, aber die Großen hungern und frieren nicht. Wenn ich denke, daß einer der Diamanten, die du schleifst, so viel wert ist, daß wir mit den Kindern gut davon leben könnten, so empört mich das; was nützen den Reichen die Diamanten!« »Wenn man nur zu fragen brauchte: Was nützt das den anderen? So käme man nicht weit! – Was nützt es dem Herrn, den Madame Pipelet Kommandant nennt, daß er die erste Etage dieses Hauses, in die er niemals kommt, gemietet hat? Was nützt es ihm, da er anderswo wohnt?« »Das ist wahr. – Ach, die Reichen sind so hart!« »Sie wissen eben nicht, was Not ist. Sie werden im Glück geboren, leben glücklich und sterben im Glück. Wie könnten sie sich eine Vorstellung von den Leiden anderer Menschen machen? Sie wissen nicht, wie es uns zumute ist. Wir, an ihrer Stelle, würden vielleicht nicht anders sein.« »Die Armen sind besser! Die gute, kleine Lachtaube, die so oft bei mir und den Kindern gewacht hat, nahm gestern zwei von den Kindern mit und gab ihnen zu essen. Sie hat gewiß selbst gehungert.« »Ja, sie ist gut. Weil sie die Not kennt. Wie ich immer sage: wenn die Reichen nur wüßten…« »Und die Dame, die gestern so erschrocken fragte, ob wir etwas brauchten, die weiß nun, was es heißt, arm zu sein, aber sie ist nicht wiedergekommen.« »Sie kommt vielleicht noch.« »Ja, die Reichen haben, wenn man dich hört, immer recht.« 249
»Das sage ich nicht«, entgegnete Morel sanft, »ich sage nur, daß sie nicht wissen, was Armut ist. Die Welt ist nun einmal, wie sie ist.« Ein bleicher Schein, der mit Mühe durch den Schnee drang, der das Dachfenster bedeckte, verbreitete sich allmählich in der Wohnung und erhöhte noch den grauenvollen Eindruck. »Ich will warten, bis es hell genug ist, um wieder an die Arbeit zu gehen«, sagte der Steinschneider, indem er sich auf dem Strohsack seiner Frau niedersetzte und seine Stirn in die Hände stützte. Nach einer kurzen Pause sagte Magdalene: »Wann wird Madame Mathieu die Steine abholen, an denen du arbeitest?« »Heute. Ich habe nur noch eine Facette an einem falschen Diamanten zu schleifen.« »An einem falschen Diamanten?« »Ach ja, du schliefst gerade, als Madame Mathieu zuletzt hier war. Sie hat mir zehn Rheinkiesel zu schleifen gegeben, die geradeso aussehen sollen wie die echten Steine, die sie mir brachte. – Ich habe nie Diamanten von schönerem Wasser gesehen; diese zehn Steine sind mindestens ihre 60.000 Franken wert.« »Und warum sollst du die Kiesel so schleifen?« »Eine vornehme Dame, eine Herzogin, glaube ich, hat Herrn Baudoin beauftragt, ihren Schmuck zu verkaufen und ihr dafür einen von unechten Steinen machen zu lassen. Madame Mathieu sagte mir das, als sie mir die echten Steine brachte, die ganz genau nachgeschliffen werden sollen.« »Du siehst also, falsche Steine verrichten den selben Dienst wie echte, aber die großen Damen würden doch keinen einzigen Diamanten opfern, um den Armen zu helfen.« Morel zuckte mitleidig mit den Achseln. »Wieviel wird dir Madame Mathieu heute bezahlen?« fuhr Magdalene fort. »Nichts, da ich hundertundzwanzig Franken Vorschuß habe.« »Aber wir haben schon seit vorgestern kein Geld mehr.« »Ich weiß es wohl.« 250
»Würde uns Mutter Burette etwas leihen?« »Worauf? Alle unsere Habseligkeiten sind bereits bei ihr versetzt.« »Aber ihr, Mutter, Kinder und du, habt seit gestern nur anderthalbes Pfund Brot gehabt! Verhungern dürft ihr doch nicht!« »Vielleicht vergißt uns die Dame nicht, die gestern hier war.« »Ja, rechne nur darauf! – Vielleicht aber borgt dir Madame Mathieu eine Kleinigkeit; du arbeitest seit zwanzig Jahren für sie; sie kann uns nicht in so große Not geraten lassen.« »Ich glaube nicht, daß sie uns etwas geben kann. Sie ist nicht reich.« »So frage Herrn Ferrand, ob er dir helfen will!« »Ich soll mich an Ferrand wenden?« rief Morel; »lieber will ich verrecken! Sprich mir nicht von diesem Manne!« Das sonst so sanfte und ergebene Gesicht des Steinschneiders wurde hart. Morel stand rasch von dem Strohsack auf, auf dem er gesessen hatte und ging erregt auf und ab. »Ich habe mein Leben lang niemandem etwas zuleide getan«, sagte er zornig, »aber siehst du, diesem Notar wünsche ich so viel Schlechtes, wie er uns zugefügt hat. Hat dieser Heuchler das Recht, seinen Reichtum zum Nachteil derer zu mißbrauchen, die er verderben will?« »Ja, ja«, fiel Magdalene ein, »tobe nur gegen ihn! Vergiß nicht, daß er dich ins Gefängnis bringen kann. Ich hasse den Notar auch, da wir aber einmal von ihm abhängen, so müssen wir…« »Unsere Tochter von ihm entehren lassen!« »So schweige doch, die Kinder hören jedes Wort!« »Um so besser!« entgegnete Morel mit schneidender Ironie. »Es wird ein gutes Beispiel für unsere beiden Mädchen sein; vielleicht gefallen auch sie dem Notar eines Tages. Hängen wir nicht von ihm ab, wie du immer sagst?« Der Unglückliche brach bei diesen Worten in Schluchzen aus. »Ach, meine Kinder!« fuhr er fort, »meine armen Kinder, meine gute, schöne Luise! Sie ist zu schön, daher unser Unglück. Wäre sie nicht so schön, würde der Mann mir das Geld nicht geborgt haben. Ich hätte Luise keinen Tag bei ihm gelassen, aber jetzt bin ich 251
gezwungen, ich bin in seinen Händen.« »Was wolltest du tun? Er sagt zu Luise: Wenn du fortgehst, lasse ich deinen Vater ins Gefängnis sperren!« »Ja, und um das zu verhindern, lassen wir Luise entehren.« »Du übertreibst; der Notar stellt ihr nach, das ist wahr, aber sie ist ein braves Mädchen. Das weißt du.« »Ja, sie ist gut! Arme Luise! Mit ihr hat uns das Glück verlassen.« »Morel, du zerbrichst mir das Herz«, sagte Magdalene unter Tränen. »Und wenn ich denke, daß der alte Kerl… Siehst du, bei dem Gedanken sehe ich rot. Ich könnte ihn umbringen…« »Und was sollte aus uns werden? Du übertreibst, Morel! Der Notar wird vielleicht mit ihr gescherzt haben. Aber er ist doch fromm, geht jeden Sonntag in die Kirche und sieht sogar Geistliche bei sich. Viele sagen, es sei sicherer, Geld bei ihm anzulegen, als in der Sparkasse.« »Was beweist das? Daß er reich und ein Heuchler ist. Ich kenne Luise. Sie ist ein braves Mädchen, aber ihr Herz blutet vor Kummer über unsere Armut. Aus Liebe zu uns wäre sie fähig … doch ich darf nicht daran denken … ich werde wahnsinnig!« »Wenn das geschehen wäre, Morel, würde der Notar ihr Geld gegeben haben, und sie hätte gewiß nichts für sich behalten!« »Schweig! Ich begreife nicht, wie du so etwas nur aussprechen kannst.« »Und wenn man bedenkt, daß du mit einem der Diamanten da den Notar bezahlen, unsere Tochter von ihm wegnehmen und zu Hause behalten könntest!« sagte Magdalene langsam. »Was nützt es, wenn du es mir auch hundertmal wiederholst? Gewiß, wenn ich reich wäre, wäre ich nicht arm«, entgegnete Morel schmerzlich. Er fuhr bitter fort: »Wir müssen uns in unser Schicksal fügen. Die Zeit ist unser Vermögen, und das Brot ist so teuer, daß wir keine Zeit haben, auf unsere Kinder achtzugeben. Dann spricht man von der Liederlichkeit, 252
von dem schlechten Lebenswandel der armen Mädchen, als ob ihre Eltern sie beaufsichtigen könnten, wenn sie einmal das Elternhaus verlassen haben. Es ist unser Los, unsere Kinder herzugeben…« In diesem Augenblick wurde heftig an die Tür geklopft.
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er Steinschneider stand auf, um zu öffnen. Zwei Männer traten ein. Der eine war groß, hager, hatte ein gemeines Gesicht mit schwarzem Backenbart, der grau zu werden begann; er hielt in der Hand einen schweren Stock und trug einen zerdrückten Hut und einen langen, grünen Rock. Der abgeschabte, schwarze Samtkragen ließ einen roten, behaarten Hals sehen. Der Mann hieß Malicorne. Der andere war klein, dick und untersetzt und mit einem gewissen Luxus gekleidet. Brillantenknöpfe hielten sein Hemd von zweifelhafter Weiße zusammen, und auf der verschossenen Weste schlängelte sich eine lange, goldene Kette. Dieser Mann hieß Bourdin. »Pfui, wie das hier nach Armut stinkt!« sagte Malicorne, der auf der Türschwelle stehenblieb. »Ja, nach Moschus riecht es nicht«, entgegnete Bourdin mit einer Gebärde des Ekels. Dann trat er zu Morel, der ihn verwundert ansah. Durch die Türe sah man das boshafte Gesicht des Lahmen, der den Unbekannten gefolgt war, um zu spionieren. »Was wollen Sie?« fragte der Steinschneider barsch. »Hieronymus Morel?« fragte Bourdin. »Der bin ich.« »Steinschneider?« »Allerdings.« 253
»Ich glaube, Malicorne«, fuhr der Mann fort, indem er sich an seinen Kameraden wandte, »hier ist nicht viel zu machen.« »Ja, wo etwas zu machen wäre, findet man den Vogel meist ausgeflogen, aber das Ungeziefer sitzt in seinen Löchern.« »Freilich; solche Menschen wünschen geradezu, eingesperrt zu werden, weil sie da gefüttert werden.« »Es kostet mehr, als die ganze Geschichte wert ist.« »Macht, daß ihr fortkommt, ihr Trunkenbolde!« fiel Morel unwillig ein. »Sieh da, sieh da«, entgegnete Bourdin, indem er mit den Fingern auf Morel wies, »der Krumme da denkt, wir wollten in dem Loche bleiben, in das ich meinen Hund nicht sperren möchte.« »Großer Gott!« rief Magdalene, »es sind vielleicht Spitzbuben? Paß auf deine Diamanten auf!« Morel ging rasch an den Tisch und bedeckte die Steine mit beiden Händen. Der Lahme, der noch immer horchte, hörte die Worte Magdalenens und dachte bei sich: »Sieh – sieh – Mutter Mathieu hat also echte Diamanten in ihrem Strickbeutel. – Gut, daß ich das weiß!« »Wenn Sie sich nicht gleich entfernen, rufe ich die Wache«, sagte jetzt Morel. Die Kinder fingen an zu weinen, und die Blödsinnige setzte sich auf ihrem Lager auf. »Wenn jemand das Recht hat, die Wache zu rufen, so sind wir es«, antwortete Bourdin. »Weil uns die Wache Beistand leisten muß, wenn Sie nicht gutwillig mitgehen«, setzte Malicorne hinzu; »wir haben allerdings keinen Friedensrichter bei uns. Wenn Ihnen aber an seiner Gesellschaft etwas liegt, so werden wir einen ganz warm aus dem Bette holen. Bourdin, geh und hole ihn.« »Ich – ich soll ins Gefängnis?« rief Morel bestürzt. »Allerdings, Verehrtester!« »Schulden wegen«, fügte Bourdin, gemein lächelnd, hinzu. 254
»Sie sind der Notar? Ach, mein Gott!« Und Morel sank totenbleich auf seinen Schemel. »Wir sind vom Handelsgericht. Verstanden?« »Morel, der Wechsel von Herrn Ferrand! Wir sind verloren!« rief, mit herzzerreißender Stimme, Magdalene. »Da ist das Urteil«, sagte Malicorne, indem er aus der Brieftasche einen Bogen Stempelpapier nahm und seinen Inhalt laut vorlas: »Das Gericht verurteilt Herrn Morel, unter Androhung persönlicher Haft, dem Herrn Jakob Ferrand, Notar zu Paris, die Summe von dreizehnhundert Franken mit Zinsen vom Tage des Protestes an zu zahlen und verurteilt ihn überdies zu den Kosten.« »Und Luise?« rief Morel, fast wahnsinnig, ohne auf Malicorne zu hören, »wo ist Luise? Hat sie den Notar verlassen, da er mich ins Gefängnis bringen will? Guter Gott, was ist aus Luise geworden?« »Wer ist Luise?« fragte Bourdin. »So laß ihn doch reden«, fiel Malicorne brutal ein; »siehst du denn nicht, daß er nicht richtig im Kopfe ist? Vorwärts«, setzte er hinzu, indem er zu Morel trat, »vorwärts, daß wir aus diesem Loche fortkommen!« »Morel, verteidige dich«, rief Magdalene, »laß dich nicht fortführen!« »Tun Sie, als ob Sie zu Hause wären, Madame«, fiel Bourdin höhnisch ein, »aber wenn Ihr Mann die Hand gegen mich erhebt, ist es um ihn geschehen.« Morel, dessen Gedanken sich nur mit Luise beschäftigten, rief aus: »Luise hat das Haus des Notars verlassen, ich gehe also mit leichtem Herzen ins Gefängnis.« Als er aber um sich blickte, setzte er hinzu: »Wer wird nun meine Frau und meine Kinder ernähren? Will der Notar denn unser aller Tod?« »Noch einmal, wird es bald?« fiel Bourdin ein. »Zieh dich an, Mann, und mach, daß wir fortkommen.« »Ach, meine guten Herren«, rief jetzt Magdalene, von ihrem Lager aus. »Sie werden nicht so hartherzig sein, Morel fortzuführen; was sollte aus mir, meinen fünf Kindern und meiner alten Mutter werden? Die Arme ist verrückt, meine guten Herren, sie ist verrückt.« 255
»Die Alte mit dem kahlen Kopf?« »Wahrhaftig, sie ist geschoren«, sagte Malicorne; »ich dachte, sie hätte eine weiße Nachtmütze auf.« Die Blödsinnige fing bei dem Anblick der beiden fremden Männer an, dumpf zu heulen und drückte sich an die Wand. Morel schien alles, was um ihn her vorging, nicht zu beachten; der Schlag, der ihn bedrohte, war so entsetzlich, daß er nicht daran zu glauben vermochte. Die Kräfte verließen den durch Entbehrungen aller Art erschöpften Mann, und er saß auf seinem Schemel, in sich zusammengesunken, mit schlaff herabhängenden Armen, den Kopf auf die Brust gesenkt… »Tausend Donnerwetter, wird's bald?« rief jetzt Malicorne. »Vorwärts, oder ich brauche Gewalt!« Dabei packte der Mann Morel an der Schulter und schüttelte ihn. Diese Gebärde erregte in den Kindern die höchste Angst; die drei kleinen Knaben krochen halbnackt aus ihrem Strohsack, fielen mit gefalteten Händen vor den Männern auf die Knie und flehten: »Gnade! Töten Sie unseren Vater nicht!« Bourdin empfand beim Anblick dieser armen Kinder, die vor Kälte und Angst zitterten, fast ein menschliches Rühren. Sein Kamerad aber stieß die Kinder mit dem Beine fort. »Welch ein widerwärtiges Gewerbe!« fluchte er dabei. Das älteste Mädchen, das mit der kranken Schwester im Strohsack geblieben war, rief plötzlich: »Mutter! – Ich weiß nicht, was Adele hat! – Sie ist ganz kalt und atmet nicht mehr! Sie sieht aus wie tot. Ach, ich fürchte mich!« rief das Kind, indem es sich in die Arme der Mutter flüchtete. Diese vergaß, daß ihre fast gelähmten Beine sie nicht tragen konnten und machte eine gewaltsame Anstrengung, um nach ihrem Kind zu sehen, aber die Kräfte reichten nicht aus, und sie sank mit einem Schrei der Verzweiflung zu Boden. Dieser Schrei fand ein Echo im Herzen Morels; er fuhr aus seinem Stumpfsinn auf, war mit einem Sprunge an der Seite seines Kindes – und fand es tot. 256
Kälte und Hunger hatten das Ende beschleunigt. Die armen, kleinen Glieder waren bereits kalt und starr.
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orel, dem vor Entsetzen das Haar sich sträubte, stand, das tote Kind in den Armen, unbeweglich da und betrachtete den kleinen Leichnam mit stieren, tränenlosen Augen. »Morel! Gib mir Adele her!« rief die unglückliche Mutter. »Es ist nicht wahr, sie ist nicht tot, sie kann ja nicht tot sein!« Die Blödsinnige hörte auf zu jammern, richtete sich empor, schlich langsam hinzu, hielt ihren Kopf über die Schulter Morels und betrachtete den Leichnam ihrer Enkelin. Ihre Züge behielten den gewöhnlichen Ausdruck des Stumpfsinns, und nach einer Minute gähnte sie, wie ein hungriges Raubtier, kehrte auf ihr Lager zurück und lallte: »Hat Hunger! Hat Hunger!« »Morel, ich will mein Kind sehen!« schrie Magdalene. »Ja, eines nach dem anderen«, antwortete der Mann und legte das Kind in die Arme seiner Frau. Magdalene bettete den Leichnam ihres Kindes auf das Stroh ihrer Lagerstätte, während die anderen Kinder neben ihr knieten und weinten. Die Gerichtsbeamten, die durch den Tod des Kindes einen Augenblick erschüttert worden waren, erlangten bald ihre gewöhnliche Gefühllosigkeit zurück. »Nun«, sagte Malicorne, »Ihr Kind ist gestorben, das ist ein Unglück; aber wir sind alle sterblich. Sie müssen uns jetzt folgen, denn wir haben noch einen zu holen!« Morel hörte nicht. Ganz versunken in seine finsteren Gedanken, murmelte er mit 257
dumpfer, gebrochener Stimme vor sich hin: »Das arme Kind muß doch begraben werden, aber wo das Geld hernehmen? – Und den Sarg? … Ach, so ein kleiner Sarg kann nicht teuer sein. Eigentlich ist es ein Glück… Wäre sie älter geworden, hätte man uns nicht einmal den Sarg auf Kredit gegeben … mit einem Kindersarg geht es schon eher … so ein Kindersarg ist ja nur klein … klein…« »Der Mann ist imstande, den Verstand zu verlieren«, sagte Bourdin zu Malicorne; »sieh nur seine Augen an! Und die alte Verrückte, die vor Hunger heult! Eine schöne Familie!« »Wir müssen aber der Sache ein Ende machen. – Faß an; er wird freilich ein gewaltiges Geschrei erheben, aber ist es unsere Schuld, daß das Kind gestorben ist?« »Wenn man so arm ist, soll man eben keine Kinder in die Welt setzen.« »Vorwärts! Vorwärts, Mann!« sagte Malicorne, »wir haben nicht Zeit, lange zu warten; entweder Geld oder Gefängnis!« »Gefängnis?« fiel eine jugendliche, wohlklingende Stimme ein, und ein frisches Mädchen trat in das Stübchen. »Ach Mamsell Lachtaube!« sagte eines der Kinder weinend. »Retten Sie den Vater, man will ihn ins Gefängnis werfen, und unsere kleine Schwester ist gestorben…« »Adele ist tot?« rief das junge Mädchen, dessen große Augen sich mit Tränen füllten. »Und euer Vater soll ins Gefängnis? Das ist ja nicht möglich!« Und dabei sah sie bald den Steinschneider, bald dessen Frau, bald die Gerichtsdiener an. Bourdin trat zu ihr. »Mein schönes Kind, bringen Sie den Mann da zur Vernunft! Er muß uns nach Clichy folgen; wir sind Beamte des Handelsgerichtes.« »Also ist es wahr?« rief das junge Mädchen aus. »Bezahlen oder ins Gefängnis gehen: ein Drittes gibt es nicht. Oder können Sie ihm ein paar tausend Franken leihen?« fragte Malicor258
ne höhnisch. »Dann her damit, und wir ziehen ab!« »Ohne Spaß«, sagte der andere Gerichtsdiener, »wenn Sie etwas nützen wollen, so sorgen Sie dafür, daß die Frau ihren Mann nicht fortführen sieht. Sie ersparen damit beiden eine schlimme Viertelstunde.« Morel hatte sich schließlich beruhigt und fügte sich. »Nun, wird es endlich?« sagte Bourdin. »Ich kann aber die Diamanten nicht hier lassen; meine Frau ist halb wahnsinnig«, jammerte Morel, indem er auf die Edelsteine zeigte. »Die Frau, für die ich arbeite, wird sie im Laufe des Tages abholen; geben Sie mir also Zeit bis morgen, damit ich die Diamanten zurückgeben kann.« »Das ist nicht möglich. Die Sache duldet keinen Aufschub.« »Aber ich kann die Diamanten doch nicht hier liegen lassen!« »So nehmen Sie sie mit und deponieren sie im Gefängnisbureau, wo sie ebenso sicher aufgehoben sind, wie in der Bank; aber nun rasch!« »Geben Sie mir Zeit, daß ich mein Kind begraben lassen kann«, bat Morel mit flehentlicher Stimme. »Nein! Wir haben nun schon lange genug gewartet!« »Nur eine Frage noch: Seit wann haben Sie Befehl, mich zu verhaften?« »Seit gestern.« »Und Luise ist noch nicht hier? Wo ist sie? Was ist aus ihr geworden?« »Holen Sie Ihre Kleider, damit wir endlich fortkommen!« »Ich habe nichts mitzunehmen als die Diamanten.« »So kleiden Sie sich an!« »Ich habe nur, was ich auf dem Leibe trage.« »In diesen Lumpen wollen Sie gehen?« fiel Bourdin ein. »Sie werden sich meiner Gesellschaft schämen!« entgegnete der Steinschneider bitter. »Vater, die Mutter ruft dich«, sagte eines der Kinder. »Hören Sie mich an«, flüsterte Morel dem einen Gerichtsdiener 259
zu, »ich habe nicht den Mut, von meiner Frau und meinen Kindern Abschied zu nehmen. Ich bitte Sie also, sagen Sie laut zu mir, Sie würden in drei oder vier Tagen wiederkommen und erwarten Sie mich auf der Treppe; fünf Minuten später komme ich nach. Das erspart mir das Abschiednehmen.« »Ich glaube nicht, daß er etwas Unrechtes vor hat«, sagte Bourdin leise zu seinem Kameraden. »Wir wollen ihm den Willen tun, sonst kommen wir nicht fort von hier; die Stube hat keinen zweiten Ausgang. Er kann uns also nicht entwischen.« »Meinetwegen«, sagte er leise zu Morel. »Aber kommen Sie schnell nach!« »Ich danke Ihnen«, antwortete Morel. Die Gerichtsdiener entfernten sich. Der kleine Lahme hatte sich, um nicht gesehen zu werden, auf die Treppe geflüchtet. »Hören Sie, Madame Morel!« sagte Mamsell Lachtaube, »man läßt Ihren Mann in Ruhe; die beiden Beamten sind fortgegangen.« »Hörst du, Mutter?« sagte der älteste Knabe. »Morel, nimm einen der großen Diamanten … man wird es nicht merken, und wir sind gerettet«, sagte Magdalene, halb irrsinnig. Der Steinschneider benutzte den Augenblick und ging vorsichtig hinaus. »Nun vorwärts!« sagte Bourdin, indem er auf die erste Stufe trat und dem Steinschneider winkte, ihm zu folgen. In diesem Augenblick hörte man, von der Treppe her, den Ruf: »Vater! Vater!« »Luise!« flüsterte der Steinschneider, indem er die Hände zum Himmel hob, »ich werde sie also noch einmal sehen und umarmen können!« Einige Sekunden später lag Luise in den Armen ihres Vaters. »Luise, meine gute Luise!« rief Morel unter Tränen. »Aber wie blaß du aussiehst! Mein Gott, was fehlt dir?« »Nichts!« antwortete Luise stammelnd. »Ich bin so schnell gelaufen. Hier ist das Geld!« 260
»Du wußtest also?« »Nehmen Sie, meine Herren, hier ist das Geld«, sagte das Mädchen, indem es Malicorne eine Rolle Goldstücke entgegenhielt. »Nein«, sagte Morel, indem er sich vor die Türe stellte. »Ich muß erst mit dir reden…« »Nur eine Minute!« sagte Malicorne, indem er die Goldstücke zählte und einsteckte. »Vierundsechzig, fünfundsechzig: macht dreizehnhundert Franken. Haben Sie nur soviel?« »Du bist ja nur dreizehnhundert Franken schuldig, Vater, nicht wahr?« sagte Luise bestürzt. »Ja«, antwortete Morel. »Richtig«, entgegnete der Gerichtsbeamte; »der Wechsel lautet auf dreizehnhundert Franken; aber die Kosten? Ohne Verhaftung betragen sie schon elfhundertvierzig Franken.« »Ach, mein Gott!« jammerte Luise; »ich glaubte, es wären nur dreizehnhundert Franken.« »Schön, bringen Sie das Geld ins Gefängnis, und man wird Ihren Vater freilassen. – Und nun halten Sie uns nicht länger auf!« »Sie führen ihn fort?« »Wenn er den Rest bezahlt, kommt er frei. Geh voran, Bourdin.« »Gnade! Gnade!« jammerte Luise. »Nun geht das Gejammer von neuem an!« Dann trat der Gerichtsdiener zu Morel und setzte hinzu: »Wenn Sie nicht gleich gehen, fasse ich Sie am Kragen und bringe Sie hinunter!« »Ach armer Vater!« sagte Luise, tief betrübt. »Gott ist nicht gerecht!« rief der Steinschneider verzweifelt. »Ja, Gott ist gerecht!« antwortete eine kräftige, wohlklingende Stimme. In demselben Augenblick erschien Rudolf an der Tür der kleinen Bodenkammer. Er war blaß und tief ergriffen. Die Gerichtsdiener traten unwillkürlich zurück. Morel und seine Tochter sahen den Fürsten erstaunt an. Rudolf zog ein Paket Banknoten aus seiner Tasche, nahm drei davon, reichte sie Malicorne und sagte: »Hier ist das Ganze! Geben 261
Sie dem Mädchen das Gold zurück.« Der Gerichtsdiener nahm zögernd die Banknoten, besah sie von allen Seiten und steckte sie endlich ein. Dann betrachtete er Rudolf vom Kopf bis zu den Füßen und knurrte: »Die Banknoten sind echt, aber wie kommen Sie zu dem Gelde?« »Ich habe dir gesagt, du sollst dem Mädchen die Goldstücke zurückgeben«, entgegnete Rudolf kurz und hart. »Ich habe dir gesagt! – Was fällt dir ein, mich du zu nennen?« sprach der Gerichtsdiener, indem er drohend an Rudolf herantrat. »Gib das Gold heraus!« wiederholte der Fürst, indem er das Handgelenk Malicornes faßte und so stark drückte, daß er unter dem gewaltigen Griffe zusammenzuckte und stöhnte. »Gib das Gold heraus und pack dich, ohne ein Wort zu sagen, oder ich werfe dich die Treppe hinunter!« »Wer sind Sie, daß Sie hier so auftreten?« fragte Bourdin, hinter seinem Kameraden hervor, »wer sind Sie?« »Wer er ist, du Narr? Mein Mieter ist es, ihr groben Kerle!« rief Frau Pipelet, die ganz atemlos herbeikam. »Was will die Hexe?« fiel Bourdin ein. »Wenn ihr nicht euer ungewaschenes Maul haltet, wird euch mein Mieter die Treppe hinunter spedieren, und ich kehre euch mit dem Besen hinaus!« »Die Alte ist imstande, das ganze Haus gegen uns rebellisch zu machen. Wir wollen gehen!« sagte Bourdin zu Malicorne. »Da sind Ihre Papiere«, fuhr dieser Morel an, indem er ihm ein Aktenheft vor die Füße warf. »Wirst du sie sogleich aufheben! Man bezahlt dich, damit du anständig und höflich bist«, sagte Rudolf, indem er den Gerichtsdiener mit einer Hand zurückhielt. Der Gerichtsdiener, der bei diesem zweiten Griff wohl fühlte, daß er sich mit einem solchen Gegner nicht messen könne, bückte sich murrend, hob das Heft auf und übergab es Morel. Dann eilte er mit seinem Kameraden rasch die Treppe hinunter. Während Frau Pipelet die Gerichtsdiener mit Schimpf und Hohn 262
verfolgte, war Morel vor Rudolf auf die Knie gesunken. »Ach gütiger Herr, Sie retten uns das Leben! Wem verdanken wir diese unverhoffte Hilfe?« »Gott erbarmt sich, wie Sie sehen, der Rechtschaffenen.«
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m die Familie über ihre Zukunft zu beruhigen und eine Freigiebigkeit zu erklären, die sein Inkognito gefährden konnte, sagte Rudolf zu dem Steinschneider, den er auf den Vorsaal zog, während Mamsell Lachtaube Luise auf den Tod ihrer kleinen Schwester vorbereitete: »Gestern früh war eine junge Dame bei Ihnen.« »Ja, Herr, und sie schien mit Schmerz den Zustand zu sehen, in dem wir uns befinden.« »Ihr haben Sie zu danken, nicht mir!« »Nennen Sie mir wenigstens den Namen dieses Engels, lieber Herr!« »Ich sehe keinen Grund, warum ich Ihnen den Namen verschweigen sollte. Die Dame heißt…« Rudolf bedachte das indiskrete Geschwätz der Portiersfrau und fuhr, nach kurzer Pause, fort: »Ich werde Ihnen den Namen der Dame unter einer Bedingung nennen.« »Sprechen Sie, guter Herr!« »Unter der Bedingung, daß Sie den Namen für sich behalten.« »Ich schwöre es Ihnen. Kann ich ihr aber nicht wenigstens danken?« »Ich werde Frau von Harville fragen und zweifle nicht, daß sie einwilligt.« »Die Dame heißt?« 263
»Marquise von Harville.« »Ich werde diesen Namen nie vergessen; sie soll meine Heilige sein, zu der ich bete!« »Was die Bestattung des armen Kindes betrifft, so hören Sie mich an. Ich bewohne mein Zimmer noch nicht; es ist groß und luftig; man könnte alles Nötige dahin bringen, damit Sie und Ihre Familie vorderhand dort wohnen, bis es Frau von Harville gelungen ist, Ihnen eine passende Wohnung zu verschaffen. Die Leiche des Kindes bliebe dann hier in der Stube, wo in der Nacht ein Geistlicher bei ihr wacht. Ich werde Herrn Pipelet bitten, die Besorgung dieser traurigen Angelegenheit zu übernehmen.« »Sie denken an alles! Wie gütig Sie sind!« »Jetzt sagen Sie mir, dieser Jacob Ferrand…« Eine finstere Wolke zog über Morels Stirn. »Dieser Jacob Ferrand«, fuhr Rudolf fort, »ist der Notar Jacob Ferrand, der in der Rue de Sentier wohnt…« »Ja, Herr. Kennen Sie ihn…?« Er schlug die Hände vor das Gesicht. Rudolf erriet seine Gedanken. »Gerade dieser Schritt des Notars«, sagte er zu Morel, »muß Sie beruhigen; er ließ Sie ohne Zweifel verhaften, um sich zu rächen. Übrigens habe ich alle Ursache zu glauben, daß er ein unredlicher Mann ist. Wenn er das wirklich ist, so rechnen Sie auf die Vorsehung; sie wird ihn strafen.« »Er ist sehr reich und ein Heuchler.« »Sie waren arm und verzweifelt. – Hat die Vorsehung Sie verlassen?« »Nein, Herr. Glauben Sie nicht, daß ich das aus Undankbarkeit sage.« »Ein unerbittlicher Rächer wird den Notar erfassen, wenn er schuldig ist.« In diesem Augenblick kam Mamsell Lachtaube aus dem Stübchen heraus und wischte die Augen ab. Rudolf sagte zu dem Mädchen: 264
»Nicht wahr, schöne Nachbarin, Herr Morel wird gut daran tun, wenn er mit seiner Familie mein Zimmer bezieht, bis sein Wohltäter, in dessen Namen ich handle, eine anständige Wohnung für ihn gefunden hat?« Das Mädchen sah Rudolf verwundert an. »Sie wollen so gütig sein, mein Herr?« »Ja, aber unter einer Bedingung, die nur Sie erfüllen können.« »Alles was von mir abhängt, werde ich tun.« »Ich habe einige sehr dringende Rechnungen in Ordnung zu bringen. Werden Sie, als gute Nachbarin, mir erlauben, diese Arbeit an einer Ecke Ihres Tisches zu verrichten, während Sie auch arbeiten? Ich würde Sie nicht stören.« »Wenn es weiter nichts ist, herzlich gern!« »Vater, die Mutter ruft«, sagte einer der Knaben Morels. »Gehen Sie, lieber Herr Morel. Wenn unten alles fertig ist, wird man es Ihnen sagen.« »Nun schöne Nachbarin«, sagte Rudolf, »müssen Sie mir noch eine Gefälligkeit erweisen.« »Von Herzen gern, Herr Nachbar.« »Sie sind, ich weiß es, eine vortreffliche Wirtin. Es ist nötig, für die Familie Morel sogleich zu kaufen, was sie an Kleidungsstücken und Betten in meinem Zimmer braucht. Wie fangen wir es an, das schleunigst herbeizuschaffen?« Das Mädchen dachte einen Augenblick nach. »In zwei Stunden können Sie alles haben: fertige Kleidungsstücke, Wäsche für die ganze Familie, zwei kleine Betten für die Kinder, eins für die Großmutter, kurz alles, was nötig ist, aber es wird viel Geld kosten.« »Wieviel, glauben Sie?« »Wenigstens fünf- bis sechshundert Franken.« »Alles?« »Sie sehen, es ist viel Geld«, sagte das Mädchen, das große Augen machte und den Kopf schüttelte. »Und wir können alles haben?« 265
»In spätestens zwei Stunden.« »Sie sind ja eine Fee, Nachbarin!« »Es ist einfacher, als Sie glauben. Der ›Temple‹ ist ganz in der Nähe, und dort findet man alles, was man braucht.« »Was ist das?« »Dort kaufen alle Leute, wie Sie und ich. Es ist viel billiger und ganz gut.« »Wahrhaftig?« »Das glaube ich. Wieviel haben Sie z.B. für Ihren Rock gegeben?« »Das kann ich Ihnen nicht genau sagen.« »Was, Nachbar? Sie wissen nicht, war Ihr Rock kostet?« »Ich will es Ihnen im Vertrauen gestehen, schöne Nachbarin«, antwortete Rudolf lächelnd, »ich habe ihn noch nicht bezahlt.« »Herr Nachbar, es kommt mir vor, als hielten Sie nicht sehr auf Ordnung!« »Nein, schöne Nachbarin.« »Das muß anders werden, wenn wir Freunde bleiben sollen. Sie sollen es nicht bereuen, mich zur Nachbarin zu haben. Ich werde für Ihre Wäsche sorgen, und Sie helfen mir mein Stübchen bohnern. Ich stehe sehr früh auf und werde Sie wecken, damit Sie nicht zu spät in Ihr Geschäft kommen. Ich klopfe so lange an die Wand, bis Sie rufen: ›Guten Morgen, Nachbarin!‹« »Schön! Sie wecken mich, Sie sorgen für meine Wäsche, und ich bohnere Ihr Zimmerchen.« »Und gehen in den Temple, wenn Sie etwas zu kaufen haben. Denn, sehen Sie, Ihr Rock da kostet vielleicht achtzig Franken, im Temple bekommen Sie ihn für dreißig.« »Eine Idee, liebe Nachbarin!« »Herr Nachbar?« »Sie verstehen sich auf Wirtschaftsgegenstände?« »Ja, ein wenig.« »Nehmen Sie meinen Arm; wir wollen in den Temple gehen und eine Ausstattung für die Morels kaufen.« »Welches Glück! Die armen Leute! … Aber das Geld?« 266
»Habe ich.« »Fünfhundert Franken?« »Der Wohltäter der Familie Morel hat mir Vollmacht gegeben.« »Ach, mein Gott!« »Was ist?« »Nichts, nur – sehen Sie, meine Zeit ist alles, was ich habe; eine Stunde hier, eine Stunde da, bald macht es einen ganzen Tag, und ein Tag bedeutet dreißig Sous; wenn man aber auch einen Tag nichts verdient, leben muß man doch. Aber – gleich viel! – ich arbeite dann in der Nacht etwas länger… Ich nehme nur rasch den Schal um, setze ein Häubchen auf und stehe zu Diensten, Herr Nachbar!« »Erlauben Sie, daß ich meine Papiere indessen zu Ihnen bringe?« Leicht, wie ein Vogel, flatterte das Mädchen die Treppe hinunter. Rudolf folgte ihr und ging zuerst in sein Zimmer, um sich von dem Staube der Bodenkammer Pipelets zu reinigen. Wenige Augenblicke später trat er, mit einer großen Papierrolle, in das Stübchen seiner Nachbarin.
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achtaube war ungefähr in demselben Alter, wie die Schallerin, ihre ehemalige Gefängnisgenossin; aber es war ein Unterschied zwischen den beiden jungen Mädchen, wie zwischen Lachen und Weinen. Lachtaube, wie das Mädchen allgemein hieß, war weit entfernt, egoistisch zu sein; sie hatte keinen Kummer als über die Not anderer Leute, an der sie von Herzen Anteil nahm, und für die sie sich bereitwillig opferte, die sie aber auch vergaß, sobald sie den Rücken gewendet hatte. Oft fing sie mitten im Lachen an zu weinen, oder sie hörte plötzlich zu weinen auf, um hell zu lachen. Als echtes Pariser Kind zog sie den Lärm der Stille, die Bewegung 267
der Ruhe, die geräuschvolle Orchestermusik dem sanften Rauschen des Windes und der Blätter vor. Sie verließ ihr Stübchen nur des Sonntags und jeden Morgen früh, um Brot, Milch und Futter für sich und ihre beiden Vögel einzukaufen; aber sie würde verzweifelt sein, hätte sie anderswo als in Paris wohnen sollen. Lachtaube war kaum achtzehn Jahre alt, von mittlerer Größe, tadellos gewachsen, voller Grazie. Wenn sie ging, schien es, als schwebte sie über die Pflaster hin, das sie nur leicht berührte. Rudolf hatte das Mädchen bisher nur im Dunkeln gesehen und war deshalb fast geblendet von ihrer strahlenden Frische, als er leise in ihr Zimmer trat. Das Mädchen stand vor einem Spiegel und knüpfte die Bänder eines Häubchens von gesticktem Tüll zusammen, das mit kirschroten Schleifen garniert war. Dieses vorn sehr schmale, weit nach hinten gesetzte Häubchen ließ zwei dicke, glänzend schwarze Haarflechten sehen, die weit auf die Stirn fielen. Die feinen, schmalen Brauen rundeten sich über schalkhaften, großen Augen. Die vollen Wangen hatten die frischeste Farbe, das kleine Stumpfnäschen schaute keck in die Welt hinein; um den Mund spielte neckisches Lachen. Rudolf stand noch immer unbeweglich an der Tür, und seine schöne Nachbarin, die allein zu sein glaubte, strich erst mit ihrer weißen Hand das gescheitelte Haar glatt, dann stellte sie den kleinen Fuß auf einen Stuhl und bückte sich, um den Schuh zuzuschnüren. Rudolf, der das Zimmer und seine niedliche Bewohnerin eingehend gemustert hatte, entdeckte plötzlich an der Tür einen großen Riegel, der an einer Gefängnistür nicht am unrechten Orte gewesen sein würde. Dieser Riegel nötigte ihn zum Nachdenken. Er konnte zwei Bedeutungen haben, für einen doppelten Gebrauch bestimmt sein: die Tür hinter dem Geliebten oder vor dem Geliebten zu verschließen. 268
Eine dieser Verwendungsarten widersprach allerdings den Behauptungen der Frau Pipelet. Die andere bestätigte sie. Rudolf dachte noch darüber nach, als das Mädchen sich umwandte, ihn erblickte und, ohne ihre Stellung zu ändern, sagte: »Sie sind da, Herr Nachbar?«
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ls das Stiefelchen geschnürt war, verschwand der niedliche Fuß unter den weiten Falten des braunen Kleides. »Sie sind hereingeschlichen?« »Ich stand und bewunderte schweigend.« »Und was bewunderten Sie, Nachbar?« »Das niedliche Stübchen; denn Sie wohnen wie eine Königin, Nachbarin.« »Das ist mein Luxus, sehen Sie. Ich gehe nie aus, und so muß es mir doch wenigstens zu Hause gefallen.« »Die schönen Gardinen! Und die Kommode, – sie sieht aus, als wäre sie von Mahagoni. Sie haben viel Geld ausgeben müssen.« »Ich hatte 450 Franken, als ich aus dem Gefängnis kam; fast alles ist drauf gegangen.« »Als Sie aus dem Gefängnis kamen? – Sie?« »Ja. Das ist eine ganze Geschichte. – Daß ich wegen einer Missetat im Gefängnis war, werden Sie nicht glauben?« »Nein, aber weshalb sonst?« »Nach der Cholera stand ich ganz allein in der Welt. Ich war damals zehn Jahre alt.« »Wer hatte bis dahin für Sie gesorgt?« »Brave Leute – sie starben an der Cholera. Man verkaufte das We269
nige, was sie besaßen, um einige Schulden zu bezahlen, und ich hatte keinen Menschen, der sich meiner annehmen wollte. Da ich nun nicht wußte, was ich tun sollte, ging ich in die Hauptwache, unserm Haus gegenüber, und sagte zu dem Posten: Herr Soldat, meine Eltern sind gestorben, und ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Darüber kam der Offizier, der mich zum Polizeikommissar führen ließ, und dieser steckte mich ins Gefängnis als Landstreicherin. Erst als ich sechzehn Jahre alt war, erhielt ich meine Freiheit wieder.« »Und Ihre Eltern?« »Ich weiß nicht, wer mein Vater gewesen ist; ich war sechs Jahre alt, als ich meine Mutter verlor.« »Sie müssen mir das alles später einmal ausführlich erzählen. Jetzt wollen wir gehen. Sie verlieren sonst viel Zeit.« »Ja, Herr Nachbar, aber Sie müssen erst so freundlich sein, mir mein Tuch zuzustecken.« Rudolf legte das Tuch sorgsam um die reizenden Schultern seiner Nachbarin. »Nun, lieber Nachbar, schlagen Sie meinen Kragen zurück und stecken Sie das Kleid und das Tuch zusammen; hüten Sie sich aber, mich zu stechen.« Es war ziemlich dunkel, Rudolf kam dem Mädchen nahe, zu nahe ohne Zweifel, denn es schrie auf. Dann sagte es: »Herr Nachbar, ich werde Sie nicht wieder bitten, mir das Tuch zuzustecken.« »Ich bitte um Vergebung, liebe Nachbarin, ich bin sehr ungeschickt.« »Im Gegenteil, mein Herr, und darüber beklage ich mich eben. – Geben Sie Ihren Arm und benehmen Sie sich hübsch anständig, oder – wir zanken uns.« »Wahrhaftig, schöne Nachbarin, es war nicht meine Schuld.« »Schon gut!« sagte Lachtaube, mit dem Finger drohend, dann schloß sie die Türe zu. »Da, Nachbar, nehmen Sie meinen Schlüssel, er ist so schwer, daß er mir die Tasche zerreißt.« Als sie an der Stube des Portiers vorüberkamen, sagte das Mäd270
chen: »Die Leute müssen Bescheid wissen wegen der Möbel, die wir kaufen wollen.« Pipelet, der, wie gewöhnlich, seinen Hut auf dem Kopf hatte, trug seinen grünen Frack und saß gravitätisch vor einem Tisch, auf dem Lederstücke und Überreste aller Arten von Schuhwerk lagen; er war eben beschäftigt, einen Stiefel zu besohlen. Anastasia befand sich nicht in der Stube. »Herr Pipelet«, rief das Mädchen, »ich kann Ihnen etwas erzählen. Morels sind aus aller Not… Der arme Mann sollte ins Gefängnis gebracht werden! … Diese Gerichtsdiener sind doch herzlose Menschen!« »Und sittenlose dazu, Mamsellchen! Sie haben die Finsternis auf der Treppe benutzt, um meine Frau zu berühren. – Als ich ihren Hilferuf hörte, wurde ich selbst ganz rot vor Scham. In diesem Augenblick gingen die unverschämten Menschen hier vorüber…« »Sie haben sie hoffentlich verfolgt, Herr Pipelet«, sagte das Mädchen, das Mühe hatte, ernsthaft zu bleiben. »Das war allerdings mein erster Gedanke«, antwortete Pipelet mit einem Seufzer; »aber als die schamlosen Menschen hier vorübergingen, trat mir das Blut ins Gesicht, und ich konnte nicht anders – ich fuhr rasch mit der Hand vor die Augen, um die wollüstigen Schufte nicht zu sehen.« »Herr Nachbar«, sagte Lachtaube leise zu Rudolf, »lassen sie den armen Pipelet bei seinem Glauben. Er fühlt sich geschmeichelt.« Rudolf, der nicht die Absicht hatte, die Illusion zu zerstören, in der Pipelet sich wiegte, sagte zu ihm: »Sie haben wie ein kluger Mann gehandelt, mein lieber Herr Pipelet. Übrigens ist die Tugend Ihrer Frau über jeden Zweifel erhaben!« »Ihre Tugend, Herr, ihre Tugend!« und Alfred fing an, mit dem Stiefel zu gestikulieren, »ja, dafür stehe ich mit meinem Kopfe. Für den Ruhm des großen Napoleon und für die Tugend Anastasias kann ich bürgen, wie für meine eigene Ehre.« »Sie haben recht, Herr Pipelet. Aber vergessen Sie die Gerichts271
diener und tun Sie mir einen Gefallen.« »Der Mensch ist geboren, damit er seinem Nächsten beistehe«, entgegnete Pipelet in salbungsvollem Ton. »Es sind verschiedene Gegenstände, die man hierher bringen wird, in mein Zimmer hinaufzuschaffen. Sie sind für Morels bestimmt.« »Ich werde dafür sorgen.« »Dann«, setzte Rudolf traurig hinzu, »ist der Todesfall anzuzeigen und für ein anständiges Begräbnis zu sorgen. – Hier ist Geld!« »Verlassen Sie sich auf mich! Anastasia ist ausgegangen, um einzukaufen; sobald sie wiederkommt, werde ich ihr befehlen, hierzubleiben und Ihre Aufträge besorgen.« In diesem Augenblick erschien ein Mann, der sich so in seinen Mantel gehüllt hatte, daß man kaum die Augen sah, und erkundigte sich, ob Madame Burette zu Hause sei. »Kommen Sie von St. Denis?« fragte Pipelet mit pfiffiger Miene. »Ja, ein Viertel vor zwei Uhr.« »So gehen Sie hinauf.« Der Mann im Mantel verschwand schnell auf der Treppe. »Was bedeutet das?« fragte Rudolf. »Es geht etwas bei der Mutter Burette vor; es ist ein fortwährendes Hin- und Herlaufen. Heute früh sagte sie: ›Alle, die zu mir wollen, fragen Sie: 'Kommen Sie von St. Denis?' Die, welche antworten: 'Ja, ein Viertel vor zwei Uhr', lassen Sie heraufgehen, andere nicht.‹« »Das klingt ja wie eine Parole«, sagte Rudolf. »Allerdings, und deshalb habe ich mir auch gedacht: Bei der Mutter Burette geht etwas vor. Überdies ist der kleine Lahme, den Herr Bradamanti im Dienst hat, in der Nacht um zwei Uhr mit einer alten Frau zurückgekommen, die man die Eule nennt. Sie blieb bis vier Uhr bei Mutter Burette, und solange wartete der Wagen vor dem Hause. Woher kam die Einäugige? Was wollte sie zu so später Stunde? Das sind Fragen, die ich mir stellte, ohne sie beantworten zu können«, setzte Pipelet gravitätisch hinzu. »Die Frau, die Sie die Eule nennen, fuhr um vier Uhr wieder fort?« 272
fragte Rudolf. »Ja, aber sie kommt wahrscheinlich wieder. Denn Mutter Burette sagte mir, die Einäugige dürfte ich auch ohne die Parole zu ihr lassen.« Rudolf ahnte nicht, wie nahe die neue Schandtat der Eule ihn berührte. »Wir sind also einig, lieber Pipelet; vergessen Sie nicht, was ich Ihnen wegen Morels gesagt habe; und bitten Sie auch Ihre Frau, für sie ein gutes Essen zu holen.« An der Haustür trafen Rudolf und die Lachtaube mit Anastasia zusammen, die mit einem schweren Korb vom Markte zurückkam. »Sieh! Sieh!« rief die Frau aus, »schon Arm in Arm! Das geht ja schnell. Es macht sich geschwind. Freilich – zu einem hübschen Mädchen gehört ein hübscher, junger Mann. Es geht nichts über die Liebe!« Und die Alte verschwand im Dunkel des Hausflurs.
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uf den Schnee, der in der Nacht gefallen, war eine empfindliche Kälte gefolgt, und das gewöhnlich schmutzige Straßenpflaster war ganz trocken. Rudolf und seine Begleiterin gingen nach dem Temple, und das Mädchen hing in Rudolfs Arm, als wären sie schon völlig vertraut. »Frau Pipelet führt drollige Reden!« sagte Lachtaube. »Sie hat, meiner Meinung nach, vollkommen recht, schöne Nachbarin.« »Worin, Herr Nachbar?« »Sie sagte: Es geht nichts über die Liebe.« »Nun?« »Das ist meine Meinung auch.« 273
»Sie machen nicht viele Umstände.« »Wir sind ja Nachbarn.« »Freilich, wenn wir nicht Nachbarn wären, würde ich auch nicht mit Ihnen ausgehen.« »Ich darf also hoffen?« »Was?« »Daß Sie mich lieben werden?« »Ich liebe Sie schon jetzt.« Dann lachte sie laut und fügte hinzu: »Sehen Sie dort die dicke Frau mit den großen Pelzschuhen!« »Ich sehe lieber Sie an, schöne Nachbarin.« Sie blieb jetzt vor einem Laden stehen und sagte: »Sehen Sie die schöne Uhr und die beiden herrlichen Vasen. Ich spare, um mir solche Vasen zu kaufen. In fünf bis sechs Jahren werde ich so weit sein.« »Sie sparen sich Geld, Nachbarin, und verdienen wieviel?« »Täglich wenigstens dreißig Sous, bisweilen vierzig, aber ich rechne nur auf dreißig, und danach richte ich meine Ausgaben ein«, sagte das Mädchen mit einer sehr wichtigen Miene. »Wie können Sie mit dreißig Sous leben?« »Soll ich es Ihnen vorrechnen?« »Lassen Sie hören.« »Dreißig Sous täglich machen monatlich 45 Franken, nicht wahr?« »Ja.« »Davon brauche ich 12 Franken für Miete und 23 für das Essen.« »23 Franken für Essen?« »Das ist allerdings eine große Summe, aber das Futter für meine Vögel ist dabei.« »Nun rechnen Sie weiter, Nachbarin. Wir haben schon 23 Franken für Essen, 12 Franken für Miete, das macht 35 Franken im Monat.« »Von den 45 bis 50 Franken, die ich verdiene, bleiben mir noch 10 bis 15 für Licht und Heizung übrig.« »Das ist alles gut und schön, aber Sie sollten doch auch ein we274
nig an die Zukunft denken.« »An die Zukunft?« »Ja, Sie können krank werden…« »Ich, krank?« Und das Mädchen lachte so laut, daß ein dicker Mann, der vor ihnen ging und einen Hund unter dem Arm trug, sich wütend umdrehte. Das Mädchen lachte immer weiter und machte dem Manne dabei ein Knickschen, so daß selbst Rudolf lächeln mußte. Der Dicke setzte seinen Weg brummend fort. »Sie sind ein Schalk, Nachbarin«, sagte Rudolf. »Daran sind Sie schuld.« »Ich?« »Ja, Sie reden so dummes Zeug.« »Weil ich sage, Sie könnten einmal krank werden?« Sie lachte von neuem. »Sehe ich so aus?« »Ich habe nie ein blühenderes Gesicht gesehen.« »Nun also, warum soll ich denn krank werden?« »Ist das so unmöglich?« »Mit achtzehn Jahren ist es, zumal bei dem Leben, das ich führe, allerdings nicht möglich. Ich stehe, im Winter wie im Sommer, um fünf auf und lege mich um zehn nieder; ich esse nach meinem Appetit, der nicht groß ist, friere nicht, arbeite den ganzen Tag, schlafe wie ein Murmeltier und habe die Gewißheit, daß es mir nie an Arbeit fehlt. Warum sollte ich also krank werden? Das wäre ganz überflüssig.« Dieser hohe Glaube des Mädchens an seinen guten Stern war keineswegs nur Sorglosigkeit, sondern blindes Vertrauen in die ewige Gerechtigkeit, die ein armes Mädchen, das auf seine Jugend und Gesundheit baute, nicht enttäuschen würde. »Sie haben also keinen Wunsch?« fragte Rudolf seine Begleiterin. »Nein, außer den Vasen für meinen Kamin wünsche ich mir nichts, und die werde ich haben. Wann, weiß ich nicht; aber ich habe mir 275
die Vasen in den Kopf gesetzt und werde dafür, wenn es sein muß, auch des Abends länger arbeiten.« »Außer diesen Vasen…« »Wünsche ich mir, seit heute, weiter nichts.« »Warum gerade seit heute?« »Weil ich mir gestern noch einen Nachbarn wünschte, mit dem ich, wie ich es immer getan habe, gute Kameradschaft halten könnte.« »Darüber sind wir einig, Nachbarin: Sie sorgen für meine Wäsche, und ich bohnere Ihr Stübchen.« »Und Sie meinen, das sei alles?« »Was noch?« »Sonntags müssen Sie mich ausführen!« »Ja, im Sommer gehen wir aufs Land.« »Nein, das Land hasse ich; ich liebe nur Paris, wenn ich auch zuweilen mit einer Freundin, die man Schallerin nannte, weil sie so schön sang, Ausflüge gemacht habe. Aber das war nur ihr zuliebe.« »Was ist aus Ihrer Freundin geworden?« »Das weiß ich nicht. Als wir miteinander ausgingen, hatte ich noch keine Arbeit; dann blieb ich ja immer zu Hause. Ich habe ihr meine Adresse gegeben, sie hat mich aber nicht besucht; wahrscheinlich arbeitet sie auch. – Ich wollte also sagen, daß ich Paris über alles liebe. Wenn es Ihnen möglich ist, führen Sie mich hie und da ins Theater; haben Sie kein Geld, so besehen wir die Kaufmannsläden, das macht mir fast ebensoviel Spaß!« »Sie erfreuen mich sehr, schöne Nachbarin, wenn Sie über meine Sonntage verfügen«, entgegnete Rudolf; »wir wollen prächtige Partien miteinander machen!« »Aber die Ausgaben besorge ich, das sage ich Ihnen im voraus. Im Sommer können wir sehr gut für drei Franken essen… Tanzen Sie?« »Leidlich.« »Na, und im Winter hat man weniger Hunger; da essen wir vortrefflich für vierzig Sous, und es bleiben uns noch drei Franken für 276
das Theater übrig, denn mehr als hundert Sous dürfen Sie keinesfalls ausgeben.« »Meine Freunde werden mich beneiden.« »Wenn Sie in der Woche den Abend frei haben, so kommen Sie zu mir und benutzen meinen Ofen und meine Lampe mit; Sie holen Romane aus der Leihbibliothek und lesen mir vor. – Das ist besser, als wenn Sie Ihr Geld verspielen! Herr Germain, mein letzter Nachbar, verbrachte alle seine Abende bei mir und klagte nicht darüber. Er hat mir Walter Scott vorgelesen. Das war prächtig! Ich verlange nicht viel, sehen Sie, und tue alles, was man will. Sie kennen Ihr Glück noch gar nicht, Herr Rudolf; es ist das große Los, mich zur Nachbarin zu haben!« »Sehen Sie Herrn Germain nicht mehr?« »Er ist nicht wieder zu mir gekommen, seitdem er das Haus verlassen hat.« »Wo wohnt er? Was treibt er?« »Wozu diese Fragen, Herr Nachbar?« »Weil ich eifersüchtig auf ihn bin«, antwortete Rudolf lächelnd. »Dazu ist keine Ursache. – Der arme Kerl!« »Im Ernst, liebe Nachbarin, ich möchte sehr gern wissen, wo ich Herrn Germain finden könnte. Sie werden mich wohl nicht für fähig halten, sein Geheimnis zu mißbrauchen?« »Ich glaube schon, daß Sie Herrn Germain alles Gute wünschen, aber ich habe ihm das Versprechen geben müssen, seine Adresse nicht zu verraten.« »Aber…« »Ein für allemal, Herr Nachbar, reden Sie nicht mehr davon! Ich habe es versprochen und werde mein Versprechen halten.« »Gut, sprechen wir nicht mehr davon! Sie bewahren die Geheimnisse anderer so gut, daß ich mich nicht wundere, wenn von Ihren Geheimnissen nichts zu erraten ist.« »Ich möchte wohl Geheimnisse haben, aber ich habe keine.« »Nicht einmal ein kleines Herzensgeheimnis?« »Ein Herzensgeheimnis?« 277
»Nun – haben Sie niemals geliebt?« fragte Rudolf, indem er seine Begleiterin scharf ansah. »Niemals geliebt? – Herrn Giraudeau! Herrn Cabrion! Herrn Germain und Sie!« »Sie haben alle nicht mehr geliebt als mich?« »Wahrhaftig nicht; eher etwas weniger, denn an die Schielaugen Giraudeaus, an den roten Bart Cabrions und an die Melancholie Germains mußte ich mich erst gewöhnen. Sie dagegen gefielen mir gleich!« »Und haben Sie nie einen Liebhaber gehabt?« »Habe ich denn Zeit zu so etwas?« »Was hat das mit der Zeit zu tun?« »Alles! … Erstens würde ich eifersüchtig sein, wie eine Tigerin und mich mit den schrecklichsten Gedanken quälen. Verdiene ich soviel Geld, daß ich ein paar Stunden am Tage durch Jammern und Weinen verlieren kann?« »Es sind ja nicht alle Männer untreu!« »Noch schlimmer wäre es, wenn er zu treu wäre! Könnte ich dann einen Augenblick ohne ihn leben? Und da er wahrscheinlich den ganzen Tag in seinem Bureau, in seiner Werkstatt oder in seinem Laden sein müßte, so würde ich mich mit tausend dummen Gedanken plagen. Und ich sollte mich unter jemandes Befehl stellen? Nein, dazu liebe ich meine Freiheit viel zu sehr.« »Und haben Sie niemals daran gedacht, sich zu verheiraten?« »Heiraten kann ich nur einen Mann, der ebenso arm ist wie ich. Und zu zweit arm sein, schafft doppelte Sorgen. Also, wozu?« »Sie bauen sich niemals Luftschlösser?« »Doch: Ich wünsche mir Vasen für den Kamin!« »Das ist nicht viel.« »Für mich ist es genug. Mehr will ich nicht, mehr brauche ich nicht. Vorläufig… Was später kommt, kann man nicht wissen… Doch wir sind am Ziel, hier ist der Temple!«
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udolf und seine Nachbarin traten in den großen, bis unters Dach mit Waren vollgestopften Basar ein, und es machte ihnen großes Vergnügen, zu wählen und zu prüfen, um den armen Morels eine möglichst schöne Ausstattung zusammenzustellen. Die Verkäufer rissen sich um sie. Rudolf führte Mamsell Lachtaube am Arm, und alle hielten sie für ein junges Paar. »Schönes Pärchen, kaufen Sie bei mir«, sagte eine dicke, gutmütig aussehende Frau, »bei mir finden Sie alles, was Sie brauchen! Sie werden sehen; treten Sie nur näher, das Ansehen kostet nichts.« Und sie traten zu dem Stand der Mutter Bouvard. »Hier, junge Frau«, sagte sie zur Lachtaube, »habe ich einen alten Sekretär, der aus einem feinen Hause stammt. Die Leute konnten sich kaum von ihm trennen; wahrscheinlich ist es ein Erbstück. Aber sie waren in Not und mußten ihn verkaufen. Sehen Sie ihn genau an. Ein besseres Stück finden Sie nicht.« Während die Trödlerin noch mit Lachtaube handelte, betrachtete Rudolf den Sekretär aufmerksamer. Es war einer der alten Sekretäre von Rosenholz, die vorn mit einer Klappe geschlossen sind, die sich herunterschlagen läßt. In der Mitte dieser mit verschiedenfarbigen Hölzern ausgelegten Klappe war ein Namenszug von Ebenholz, ein M und ein R mit einer Grafenkrone darüber. Rudolfs Neugierde verdoppelte sich; er besah einen Kasten nach dem anderen und bemerkte, daß der letzte, wegen eines eingeklemmten Papiers, sich nicht herausziehen lassen wollte. Endlich brachte er den Kasten und das Papier doch heraus, und während seine Begleiterin mit Mutter Bouvard plauderte, betrachtete er seinen Fund. Es war das vielfach korrigierte Konzept eines unvollendeten Briefes. Der Brief lautete folgendermaßen:
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»Herr – Glauben Sie mir, daß nur das schwerste Unglück mich zu dem Schritte zwingen kann, den ich bei Ihnen versuchen will. Nicht übelangebrachter Stolz veranlaßt meine Bedenken, sondern der gänzliche Mangel eines Anspruchs auf den Dienst, um den ich bitte. Der Anblick meiner Tochter, die, gleich mir, in die äußerste Not geraten ist, zwingt mich aber, meine Bedenken zu überwinden. Nur einige Worte über die Ursache des Unglücks, unter dem ich leide. Nach dem Tode meines Mannes blieb mir ein Vermögen von 300.000 Franken, das mein Bruder bei dem Notar Jacob Ferrand anlegte. Ich erhielt in Angers, wohin ich mich mit meiner Tochter begeben hatte, die Zinsen dieser Summe durch die Vermittlung meines Bruders. Sie kennen das entsetzliche Ereignis, das seinem Leben ein Ende machte; unglückliche Spekulationen hatten ihn, wie es scheint, ruiniert, und er nahm sich vor acht Monaten das Leben. Ich erhielt einen verzweifelten Brief von ihm, der mit der Mitteilung schloß, daß er keine Quittung über die Summe besitze, die er, in meinem Namen, bei dem Notar angelegt habe; Ferrand gebe niemals einen Empfangsschein, da er die Redlichkeit und Ehrenhaftigkeit selbst sei, und es würde genügen, wenn ich zu ihm ginge, um die Sache vollkommen in Ordnung zu bringen. Einige Zeit darauf kam ich nach Paris, wo ich niemanden kannte als Sie. Ich habe bereits erwähnt, daß die dem Notar Ferrand übergebene Summe mein ganzes Vermögen bildete, und daß mir mein Bruder jedes Halbjahr die fällig gewordenen Zinsen schickte. Seit der letzten Zahlung war bereits mehr als ein Jahr vergangen, und ich begab mich also zu dem Notar, um ihn um das Geld zu bitten, dessen ich sehr bedurfte. Kaum hatte ich meinen Namen genannt, als er meinen Bruder beschuldigte, von ihm 2.000 Franken geliehen zu haben, die ihm nun verloren wären; auch fügte er hinzu, der Selbstmord sei 280
ein Verbrechen vor Gott und den Menschen. Ich antwortete Herrn Ferrand, er möge von den 300.000 Franken, die er in Händen habe, die 2.000 Franken nehmen, die mein Bruder ihm schuldig geblieben sei. – Bei diesen Worten sah er mich erstaunt an und fragte mich, von welchen 300.000 Franken ich spräche. Von denen, die Ihnen mein Bruder vor anderthalb Jahren übergeben hat, und von denen Sie mir die Zinsen bisher durch seine Vermittlung zukommen ließen, antwortete ich. Der Notar zuckte die Achseln, lächelte mitleidig, als wenn meine Worte nicht ernst gemeint sein könnten, und antwortete, mein Bruder habe ihm nicht nur kein Geld übergeben, sondern vielmehr 2.000 Franken von ihm geliehen. Mein Entsetzen über diese Antwort vermag ich Ihnen nicht zu schildern. Was aber ist aus dieser Summe geworden? Wir, meine Tochter und ich, haben keine anderen Hilfsmittel; wenn uns dieses Geld verlorengeht, bleibt uns nichts übrig als die tiefste Armut. Was soll aus uns werden? Das weiß ich nicht, antwortete der Notar kalt. Wahrscheinlich hat Ihr Bruder, statt mir das Geld zu übergeben, die Summe in unglücklichen Spekulationen verloren. Das ist nicht wahr! rief ich aus. Mein Bruder war die Redlichkeit selbst. Statt mich und meine Tochter in Armut zu stürzen, würde er sich für uns aufgeopfert haben. Wollten Sie überhaupt wagen, Madame, daß ich imstande sei, mir anvertrautes Geld zu unterschlagen? fragte mich der Notar. Das gewiß nicht, mein Herr; Ihr Ruf ist bekannt, aber ich kann auch meinem Bruder einen so entsetzlichen Vertrauensbruch nicht nachsagen lassen. Haben Sie eine Quittung von mir in den Händen? fragte Herr Ferrand weiter. Nein. Vor anderthalb Jahren schrieb mir mein Bruder: Ich kann das Geld zu 6 Prozent anlegen; schicke mir Deine Vollmacht, 281
damit ich Deine Renten verkaufen kann; ich werde 300.000 Franken dem Notar Ferrand übergeben. Ich sandte meinem Bruder die Vollmacht, und wenige Tage darauf zeigte er mir an, Sie hätten das Geld erhalten, gäben aber nie eine Bescheinigung. Nach einem halben Jahre schickte er mir die ersten Zinsen. Sie besitzen aber doch wenigstens die Briefe von ihm? Nein, ich habe sie nicht aufbewahrt. So kann ich leider nichts tun, Madame, antwortete mir der Notar. Wenn meine Rechtschaffenheit nicht über jeden Verdacht erhaben wäre, so würde ich Ihnen sagen: Verklagen Sie mich, Madame, wenn Sie es wagen, und der Ruf Ihres Bruders wird mit Schmach bedeckt werden; aber ich glaube, Sie werden sich lieber in Ihr Schicksal ergeben. Aber, mein Herr, wenn mir mein Vermögen entrissen ist, bleibt mir und meiner Tochter nichts als ein bescheidenes Mobiliar. Haben wir auch das verkauft, so erwartet uns die bitterste Armut. Sie sind betrogen worden, das ist ein Unglück. Aber ich kann nichts tun, antwortete mir der Notar. Noch einmal, Madame, Ihr Bruder hat Sie hintergangen. Wenn Sie schwanken zwischen seiner Aussage und der meinigen, so verklagen Sie mich! Das Gericht wird urteilen. Ich verließ den Notar, den Tod im Herzen. Was konnte ich tun? Da ich nichts Schriftliches besaß, um meine Forderung zu beweisen, da ich niemanden hatte, an den ich mich wenden konnte (Sie waren damals verreist), da ich wohl wußte, daß ohne Geld von Advokaten kein Rat zu erhalten ist, so wagte ich nicht, einen solchen Prozeß zu beginnen. Damals…« Hier endete der Brief; die noch folgenden Zeilen waren so durchstrichen, daß sie nicht entziffert werden konnten. Ganz unten, in der Ecke des Papieres, las Rudolf jedoch: »An die Frau Herzogin von Lucenay zu schreiben.« Rudolf versank nach der Lektüre dieses Brieffragmentes in tiefes Nachdenken. 282
Obgleich die neue Schurkerei, deren Jakob Ferrand darin beschuldigt zu werden schien, nicht bewiesen war, so hatte der Mann sich doch gegen den unglücklichen Morel so unbarmherzig, gegen Luise so schuftig benommen, daß ihm auch das Verbrechen der Unterschlagung sehr wohl zuzutrauen war. Die Mutter, die das auf so seltsame Weise verschwundene Vermögen in Anspruch nehmen wollte, war ohne Zweifel an Wohlstand gewöhnt. In welcher Lage mußte sich die Unglückliche befinden, da sie, wie der Brief sagte, keinen Menschen in Paris kannte und wahrscheinlich von allem entblößt war. Rudolf hatte Frau von Harville einige interessante Fälle versprochen, weil er überzeugt war, daß er leicht irgendein Unglück ausfindig machen könnte, das der Linderung bedürfe. Er glaubte jetzt, der Zufall führe ihn auf die richtige Spur. Der Brief, dessen Entwurf er in der Hand hielt, und der ohne Zweifel an die Person nicht abgeschickt worden war, deren Hilfe man erbitten wollte, verriet einen stolzen Charakter, den das Anerbieten eines Almosens ohne Zweifel empören würde. Welche Vorsicht, welche Umwege, welche List war hier aufzubieten, und welche Gewandtheit gehörte dazu, sich Eingang bei dieser Frau zu verschaffen, um beurteilen zu können, ob sie wirklich die Teilnahme verdiente, deren sie wert zu sein schien! … »Nun, Männchen«, sagte Lachtaube heiter zu Rudolf, »was steht denn auf dem Blatt, das du so aufmerksam liesest?« »Liebes Frauchen«, antwortete Rudolf, »ich will es dir später erzählen. – Bist du mit deinen Einkäufen fertig?« »Ja. Es handelt sich nur noch ums Bezahlen.«
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ieviel bin ich Ihnen schuldig?« fragte Rudolf Madame Bouvard, während Lachtaube an einem anderen Stand die noch fehlenden Kleidungsstücke aussuchte. »Ihr Frauchen hat auf 330 Franken gehandelt. Ich verdiene nur 15 Franken dabei, denn ich habe die Sachen nicht so billig gekauft, wie ich sie hätte kaufen können. Wenn man solches Unglück sieht, vergeht einem die Lust, zu feilschen.« »Sie sprechen wohl von den Leuten, von denen Sie den alten Sekretär gekauft haben?« »Ja, mein Herr. Das Herz bricht einem, wenn man daran denkt. Denken Sie sich, vorgestern kommt eine junge Dame hierher, die aber so blaß war, daß man sie nur mit Bedauern ansehen konnte. Obgleich sie nett angezogen war, sah man doch ihrem abgetragenen Kleide und ihrem Strohhut – im Januar! – die verschämte Armut an. Sie fragte mich, ob ich ihr zwei Betten und einen alten Sekretär abkaufen wolle; ich antwortete, ich würde zu ihr kommen und die Sachen besehen. Sie bat mich darauf in ein Haus auf dem Kai St. Martin, ich überließ den Laden meiner Nichte und folgte der Dame. Ein junges Mädchen von etwa vierzehn Jahren öffnete uns die Tür. Es war auch sehr blaß und mager, aber trotzdem schön wie der Tag, so schön, daß ich entzückt stehenblieb. Trotz der Kälte hatte die Kleine nichts auf dem Leibe, als ein dünnes Kleidchen von schwarzem Kattun und einen kleinen, schwarzen Schal.« »Und die Wohnung?« »Zwei reinliche, aber ganz kahle, eiskalte Zimmerchen. Das ganze Mobiliar bestand aus zwei Betten, zwei Stühlen, einer Kommode, einem alten Koffer und dem kleinen Sekretär; auf dem Koffer lag ein Paket in einem Tuche. Der Hauswirt wollte sich mit den Bettstellen, den Stühlen, dem Koffer und dem Tische begnügen, und die Dame bat mich, die Matratzen, die Bettücher, die Decken, die Vorhänge zu taxieren. Ich habe, obgleich es mein Gewerbe ist, bil284
lig einzukaufen und teuer zu verkaufen, alles ganz genau taxiert, als ich die Tränen in den Augen des schönen jungen Mädchens sah. Ich nahm sogar, um den Leuten einen Gefallen zu tun, den kleinen Sekretär da mit…« »Ich kaufe ihn, Madame Bouvard.« »Desto besser, schöner Herr; er würde mir sonst lange auf dem Halse geblieben sein. Ich hatte ihn nur mitgenommen, um der armen Dame gefällig zu sein. Ich bot ihr so und soviel, und sie sagte: ›Gut.‹ Dann sagte sie zu ihrer Tochter, die auf dem Koffer saß und weinte: ›Klara, nimm das Paket…‹ Als die Dame mir den Schlüssel zu dem Sekretär gab, sah ich eine Träne in ihren Augen; es war, als blute ihr das Herz. Ich zählte ihnen das Geld hin, 315 Franken, und habe sie seitdem nicht wieder gesehen.« »Wie hieß die Dame?« »Das weiß ich nicht.« »Wissen Sie, wo sie jetzt wohnt?« »Nein.« Wie sollte Rudolf die beiden Frauen ausfindig machen, da er nichts anderes von ihnen wußte als den Vornamen der Tochter? Die einzige Hoffnung, die Spur wieder aufzufinden, beruhte demnach auf der Herzogin, an die der Brief, den Rudolf gefunden hatte, adressiert werden sollte, und die, glücklicherweise, mit Frau von Harville bekannt war. »Da, machen Sie sich bezahlt«, sagte Rudolf zu der Trödlerin, indem er ihr einen Fünfhundertfrankenschein gab. »Ihre Adresse, mein Herr?« »Rue du Temple Nr. 17.« »Ah, das Haus kenne ich.« »Woher?« »Einmal habe ich dort Sachen bei einer Frau gekauft, die auf Pfänder leiht. Ein andermal, vor etwa sechs Wochen, war ich dort wegen des Mobiliars eines jungen Mannes, der im vierten Stock wohnte und auszog.« »Herr Franz Germain vielleicht?« fragte Rudolf. 285
»Richtig. Kennen Sie ihn?« »Sehr genau, leider hat er aber in der Rue du Temple seine neue Adresse nicht hinterlassen, und ich kann ihn nun nicht auffinden.« »Wenn es weiter nichts ist, da kann ich dienen.« »Sie kennen also seine Wohnung?« »Nein, aber ich weiß, wo Sie ihn finden können.« »Wo?« »Bei dem Notar, bei dem er arbeitet, und der in der Rue du Sentier wohnt.« »Herr Jacob Ferrand?« fragte Rudolf. »Jawohl.« »Aber woher wissen Sie, daß Herr Germain bei dem Notar arbeitet?« »Das hat er mir selbst gesagt. Er hat mich auch einmal dorthin bestellt, und ich habe ihn in der Kanzlei des Herrn Ferrand gesprochen.« Rudolf war freudig erregt, als er an das Glück der Madame Georges dachte, die endlich ihren so lange vergeblich gesuchten Sohn wiedersehen würde. Lachtaube kam lächelnd zurück. »Ich habe mich nicht geirrt«, sagte sie, »wir werden 640 Franken ausgeben, aber die Morels sind dann auch fürstlich eingerichtet. Aber nun bezahlen Sie, Nachbar, und lassen Sie uns gehen. Es ist bald Mittag, und ich muß tüchtig arbeiten, um den verlorenen Vormittag wieder einzubringen.« Rudolf verließ mit seiner Nachbarin den Temple.
LXV
I
n dem Augenblick, in dem beide in den Flur ihres Hauses traten, wurden sie von Frau Pipelet fast umgerannt, die weinend um286
herlief. »Mein Gott!« fragte das Mädchen, »was ist Ihnen, Frau Pipelet?« »Ach, Mamsell Lachtaube!« entgegnete Anastasia; »kommen Sie, helfen Sie mir Alfred retten.« »Was sagen sie?« »Der arme Mann ist ohnmächtig geworden. Laufen Sie, holen Sie für zwei Sous Absinth, aber vom stärksten; das ist ein Mittel, wenn er am Magen leidet; vielleicht hilft es ihm; tun Sie mir den Gefallen, gehen Sie!« Das Mädchen ging eilig davon. »Aber was ist geschehen, Madame Pipelet?« frage Rudolf, der mit der Frau in die Wohnung trat. »Ich weiß es selbst nicht, lieber Herr. Ich war ausgegangen, um alles zu besorgen. Ich komme zurück, und was sehe ich? Mein lieber Mann liegt da und streckt alle viere von sich. Sehen Sie, Herr Rudolf«, setzte sie hinzu, indem sie die Stubentüre öffnete, »sehen Sie selbst!« Herr Pipelet saß auf dem Fußboden, ans Bett gelehnt, und hatte, wie immer, seinen Hut auf dem Kopf. Die Ohnmacht war vorüber; Alfred fing an, die Hände ein wenig zu bewegen, als wenn er jemanden zurückstoßen wollte; dann versuchte er, sich von seinem Hut zu befreien. »Er kommt wieder zu sich!« rief Anastasia, die ihm in die Ohren schrie: »Was ist dir, Alfred? Wie geht es dir?« Dann ging sie in die schmeichelndsten Fisteltöne über und setzte hinzu: »Hat man dich ermorden wollen, Alter?« Alfred seufzte tief und stieß dann, wie eine Wehklage, das Wort Cabrion aus. »Wieder dieser verfluchte Maler!« rief Frau Pipelet. »Cabrion!« wiederholte Pipelet, indem er mit Anstrengung den über die Stirn gedrückten Hut hinausschob und mit großen Augen um sich sah. In diesem Augenblick kam Lachtaube mit einem Fläschchen Absinth. 287
»Ich danke, Mamsellchen«, sagte die Alte, die dann hinzusetzte: »Da, Alter, trink das, dann wird dir besser werden!« Alfred stand wirklich, nachdem er sich den Mund mit dem Handrücken abgewischt hatte, vom Boden auf und fragte: »Hast du ihn gesehen?« »Wen?« »Cabrion!« »Er hat es gewagt –?« fragte Frau Pipelet. Pipelet nickte, stumm wie eine Bildsäule, zweimal bejahend mit dem Kopf. »Cabrion ist hier gewesen?« fragte Lachtaube, die mit Mühe das Lachen unterdrücken konnte. »Dieser Unmensch peinigt Alfred ohne Aufhören«, antwortete Frau Pipelet. – »Wäre ich nur mit meinem Besen dagewesen! Aber so rede doch, Alfred, erzähle uns dein Unglück.« Pipelet winkte mit der Hand, daß er sprechen wolle. »Meine Gattin hatte mich eben verlassen«, erzählte er, »ich saß ganz ruhig vor meinem Tische und arbeitete, als ich ein Geräusch, ein Rascheln in der Stube hörte. Es lief mir eiskalt über den Rücken, ich sah auf, und durch das Fenster erblickte ich…« »Cabrion«, rief Anastasia aus, indem sie die Hände zusammenschlug. »Cabrion!« wiederholte Pipelet mit dumpfer Stimme. »Sein häßliches Gesicht war an die Scheibe gedrückt und sah mich mit seinen Katzenaugen an. Ich wollte sprechen, aber die Zunge klebte mir am Gaumen; ich wollte aufstehen, aber ich konnte nicht. Der Stiefel fiel mir aus der Hand, und ich blieb unbeweglich. – Da wurde die Türe aufgemacht, und Cabrion trat ein.« »Er kam herein? Welche Frechheit!« rief Frau Pipelet, die über die Kühnheit ebenso bestürzt war, wie ihr Mann. »Er kam langsam herein«, fuhr Alfred fort, »blieb einen Augenblick in der Türe stehen, als wollte er mich durch seinen schrecklichen Blick verzaubern, schritt dann auf mich zu und sah mich, ohne ein Wort zu sagen, drohend an, wie ein Gespenst.« 288
»Mir läuft es eiskalt über den Rücken«, sagte Anastasia. »Ich blieb unbeweglich auf meinem Schemel sitzen, Cabrion kam langsam näher und hielt mich gebannt unter seinem Blick, wie die Schlange den Vogel; ich konnte diesen entsetzlichen Blick nicht länger ertragen und schloß die Augen; da fühlte ich, daß er mit seinen Händen meinen Hut zu berühren wagte; er faßte ihn und nahm ihn mir langsam vom Kopf, so daß ich kahlköpfig dasaß. – Da ergriff mich ein Schwindel, der Atem verging mir, es brauste mir in den Ohren, ich drückte die Augen immer fester zu. – Da bückte sich Cabrion, nahm meinen kahlen Kopf in seine kalten Leichenhände und drückte mir auf die Stirn, auf der mir der kalte Schweiß stand, einen frechen, schamlosen Kuß!« Anastasia erhob die Arme zum Himmel. »Mein Todfeind kommt und küßt mich auf die Stirn, er nötigt mich, seine widerwärtigen Liebkosungen zu erdulden. Cabrion benutzte mein Staunen, um mir den Hut wieder auf den Kopf zu setzen, und schlug ihn mir dann plötzlich über die Augen, wie ihr es gesehen habt. Diese Beleidigung warf mich nieder, das Maß war übervoll, alles drehte sich vor mir im Kreis, und ich wurde ohnmächtig.« Pipelet sank, als hätte die Erzählung seine Kräfte erschöpft, wieder auf seinen Stuhl, indem er die Hände zum Himmel erhob. Lachtaube lief schnell aus der Stube, und selbst Rudolf wurde es schwer, ernst zu bleiben. Mit einemmal hörte man auf der Straße den verworrenen Lärm, der das Nahen einer Volksmenge anzeigt, und bald dröhnten schwere Stiefel auf den Steinen des Hausflurs.
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LXVI
M
ein Gott, Herr Rudolf«, rief Lachtaube, die, blaß und zitternd, wieder in die Stube trat, »es ist ein Polizeikommissar mit der Wache draußen.« »Die göttliche Gerechtigkeit wacht!« sprach Pipelet, »man will Cabrion verhaften. Leider ist es zu spät.« Ein Polizeikommissar, kenntlich an der Schärpe, die er über der Weste trug, trat in die Stube. Sein Gesicht war ernst, würdevoll und streng. »Herr Kommissar, es ist zu spät! Der Übeltäter ist entflohen«, sagte Pipelet betrübt; »aber ich kann Ihnen sein Signalement geben!« »Von wem reden Sie?« fragte der Kommissar. »Von Cabrion, Herr Kommissar.« »Ich weiß nicht, wer Cabrion ist«, fiel der Kommissar ungeduldig ein. »Wohnt Hieronymus Morel, Steinschneider, hier im Hause?« »Ja, Herr Kommissar«, antwortete Frau Pipelet, indem sie militärisch an die Perücke griff. »Führen Sie mich in seine Wohnung!« Dann wandte sich der Kommissar zu einem Manne, der ihn begleitete und sagte ihm: »Zwei von den Beamten bleiben hier und verlassen den Hausflur nicht. Lassen Sie einen Wagen holen!« Der Mann entfernte sich, um die Befehle auszuführen. »Jetzt«, fuhr der Kommissar, zu Pipelet gewendet, fort, »führen Sie mich zu Morel!« »Wenn es Ihnen gleichgültig ist, Herr Kommissar, will ich für Alfred gehen; er ist unwohl.« »Sie oder Ihr Mann, das bleibt sich gleich.« Frau Pipelet ging voraus, und der Kommissar folgte; bald aber blieb er, da er sah, daß Rudolf und die Lachtaube ihm nachgingen, stehen und fragte: 290
»Wer sind Sie? Was wollen Sie?« »Sie wohnen beide im vierten Stock«, antwortete Frau Pipelet. »Ich bitte um Verzeihung, ich wußte nicht, daß Sie im Hause wohnen«, sagte der Kommissar zu Rudolf. Im Vertrauen auf die Höflichkeit des Kommissars entgegnete Rudolf: »Ich weiß nicht, welcher neue Schlag den unglücklichen Morel bedroht, aber er ist schwer geprüft. Eins seiner Kinder ist in der Nacht vor Hunger gestorben –« »Ist das möglich?« »Es ist die Wahrheit, Herr Kommissar!« fiel Frau Pipelet ein. »Ohne den Herrn, der mit Ihnen spricht, und der den armen Morel vor dem Gefängnis bewahrt hat, würde die ganze Familie verhungert sein.« Der Kommissar sah Rudolf mit Teilnahme und Bewunderung an. »Ich zweifle nicht an der Rechtschaffenheit Morels«, sagt er, »bedaure aber, eine traurige Pflicht erfüllen zu müssen.« »Was liegt denn vor?« »Nach den Diensten, die Sie der Familie Morel geleistet haben, habe ich keinen Grund, meinen Auftrag zu verheimlichen. Es handelt sich um die Verhaftung der Luise Morel.« Rudolf dachte sogleich an das Geld, das das junge Mädchen den Dienern des Handelsgerichts übergeben hatte. »Wessen ist sie beschuldigt?« »Sie ist des Kindesmordes verdächtig.« »Entsetzlich! … Der arme Vater!« »Leider muß ich dem Befehl Folge leisten.« »Es handelt sich doch nur um einen Verdacht?« fuhr Rudolf fort. »Man hat doch keine Beweise?« »Ich kann mich nicht weiter aussprechen. Die Justiz ist auf die Spur dieses Verbrechens durch die Erklärung eines in jeder Hinsicht achtbaren Mannes geleitet worden…« »Des Notars Jacob Ferrand?« fragte Rudolf empört. »Ja, mein Herr. Aber warum so heftig?« 291
»Ferrand ist ein Schurke.« »Ich sehe mit Bedauern, daß Sie ihn nicht kennen. Herr Jacob Ferrand ist der achtbarste, ehrenwerteste Mann von der Welt.« »Ich wiederhole: Dieser Notar ist ein Schurke; er wollte Morel ins Gefängnis bringen lassen, weil Luise seine Anträge zurückgewiesen hat.« »Es kommt mir nicht zu, über den Wert der Erklärungen des Herrn Ferrand Erörterungen anzustellen«, antwortete der Kommissar. »Das Gericht wird entscheiden; ich habe nur den Befehl, mich der Person der Luise Morel zu versichern und handle nach meinem Auftrag.« »Sie haben recht! Nur noch ein Wort: Ich habe der Familie mein Zimmer angeboten, um ihr den traurigen Anblick der kleinen Leiche zu ersparen. Sie werden also den Steinschneider und wahrscheinlich auch dessen Tochter bei mir finden. Ich beschwöre Sie im Namen der Menschlichkeit: Verhaften Sie Luise nicht mitten unter diesen Unglücklichen, die kaum einem entsetzlichen Schicksal entgangen sind. Morel hat diese Nacht schon schwere Erschütterungen erlitten, und seine Frau ist gefährlich krank; ein solcher Schlag könnte sie töten.« »Ich habe meine Befehle immer mit der größten Schonung ausgeführt und werde auch in diesem Falle so handeln.« »Wollen Sie mir erlauben, Sie um eine Gefälligkeit zu bitten? Das Mädchen, das uns folgt, bewohnt ein Zimmer neben mir; ich zweifle nicht, daß sie es zu Ihrer Verfügung stellt. Sie könnten Luise erst rufen lassen und dann, wenn es sein muß, Morel, damit die Tochter von ihm Abschied nehmen kann. Sie würden dadurch wenigstens der kranken Mutter einen herzzerreißenden Auftritt ersparen.« »Wenn sich die Sache so machen läßt, recht gern.« Das Gespräch war halblaut geführt worden, während die Lachtaube und Frau Pipelet hinter dem Kommissar und Rudolf die Treppe hinanstiegen. Rudolf ließ jetzt das Mädchen an sich herankommen und sagte: »Meine arme Nachbarin, ich erwarte von Ihnen schon wieder eine 292
Gefälligkeit. Sie müssen mir Ihr Zimmer auf eine Stunde überlassen.« »Solange Sie wollen, Herr Rudolf. Aber was ist geschehen?« »Ich werde Ihnen alles erzählen. Aber Sie müssen ferner noch so gütig sein und im Temple sagen, man möge die Sachen erst in einer Stunde hierherbringen.« »Ich eile«, sagte das Mädchen und lief davon. »Herr Kommissar«, sagte Frau Pipelet, »da mein bester Mieter Sie begleitet, darf ich wohl wieder zu meinem Alfred gehen? Er macht mir Sorge…« »Gehen Sie in Gottes Namen«, sagte der Kommissar, der nun mit Rudolf allein war. Beide kamen jetzt vor der Türe des Zimmers an, in dem sich der Steinschneider mit seiner Familie aufhielt. Mit einem Male wurde die Türe geöffnet, und Luise trat, bleich und weinend, heraus. »Lebe wohl Vater«, sagte sie, »ich komme wieder, aber jetzt muß ich fort.« »Luise, mein Kind, so höre mich doch an«, rief Morel, der seine Tochter zurückzuhalten suchte. Beim Anblick Rudolfs und des Kommissars blieben beide unbeweglich stehen. »Ach, lieber Herr, Sie sind unser Retter«, sagte Morel, als er Rudolf erkannte. »Helfen Sie mir Luise zurückhalten. Ich weiß nicht, was sie hat; sie will fortgehen. Nicht wahr, sie darf nicht zu ihrem Herrn zurückkehren?« Rudolf hatte nicht die Kraft, zu antworten. Der Kommissar dagegen sagte streng und ernst: »Sie heißen Luise Morel?« »Ja, Herr«, antwortete das Mädchen zitternd. Rudolf hatte das Zimmer seiner Nachbarin geöffnet. »Sie sind Hieronymus Morel, ihr Vater?« fuhr der Kommissar fort. »Ja, Herr, aber…« »Treten Sie mit Ihrer Tochter hier ein!« 293
Durch die Anwesenheit Rudolfs ein wenig beruhigt, gehorchten Morel und Luise dem Kommissar, der die Türe schloß und bewegt zu Morel sagte: »Ich weiß, wie rechtschaffen und unglücklich Sie sind. Deshalb teile ich Ihnen mit großem Bedauern mit, daß ich Ihre Tochter verhaften muß.« »Ich bin verloren!« rief Luise erschüttert und sank in die Arme ihres Vaters. »Ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes«, sagte der Kommissar, indem er auf seine Schärpe zeigte. »Warum wollen Sie meine Tochter verhaften?« schrie Morel. »Ich bürge für Luise; sie ist meine brave Tochter. Ich heiße wohl Morel; aber es gibt mehr als einen Morel. Es gibt mehr als eine Luise… Herr Kommissar, es muß ein Irrtum vorliegen!« »Leider ist es kein Irrtum. Luise Morel, nehmen Sie Abschied von Ihrem Vater!« »Sie wollen mir also meine Tochter entreißen?« rief Morel und trat drohend auf den Kommissar zu. Rudolf nahm ihn am Arm und sagte: »Beruhigen Sie sich! Die Unschuld Ihrer Tochter wird an den Tag kommen!« »Sie kann nichts verbrochen haben; ich will meine Hand dafür ins Feuer legen!« Dann dachte er aber plötzlich an das Geld, das Luise gebracht hatte, um den Wechsel zu bezahlen, und rief aus: »Woher war das Geld?« Luise erriet, was er meinte. »Ich habe nichts gestohlen«, entgegnete sie. »Man beschuldigt Ihre Tochter auch nicht des Diebstahls«, sagte der Kommissar. »Aber wessen beschuldigt man sie denn? Ich, ihr Vater, schwöre Ihnen, daß sie unschuldig ist, was man auch von ihr sagen mag.« »Was nützt es Ihnen, wenn Sie die Beschuldigung kennen«, sagte Rudolf sanft. »Die Unschuld Luises wird an den Tag kommen, die Person, die so lebhaften Anteil an Ihnen nimmt, wird Ihre Toch294
ter schützen. – Fassen Sie Mut! Sie werden Luise bald wiedersehen.« »Herr Kommissar«, sagte Morel, ohne auf Rudolf zu hören, »man nimmt einem Vater die Tochter nicht, ohne ihm zu sagen, wessen man sie anklagt. Ich will es wissen!« »Ihre Tochter ist des Kindesmordes angeklagt«, sagte der Polizeikommissar. »Ich – verstehe Sie nicht –« »Ihre Tochter ist angeklagt, ihr Kind umgebracht zu haben«, wiederholte der Kommissar, den dieser Auftritt tief ergriff. »Aber es ist nicht bewiesen, daß sie dieses Verbrechen wirklich begangen hat.« »Ach nein, das ist nicht wahr!« rief Luise, die sich mit Anstrengung aufrichtete. »Ich schwöre Ihnen, daß es tot war. Es atmete nicht mehr, es war eiskalt… Ich hatte den Kopf verloren, – das ist mein ganzes Verbrechen!« »Elende!!« schrie Morel, indem er beide Hände gegen Luise erhob. »Gnade, Gnade!« jammerte sie flehentlich. Nach einem Augenblick furchtbaren Schweigens sagte Morel mit eisiger Ruhe: »Herr Kommissar, führen Sie sie fort; sie ist nicht mehr meine Tochter!« Luise fiel vor Morels Füßen nieder, umklammerte seine Knie und rief, indem sie weinend zu ihm emporsah: »Vater, Vater! Höre mich wenigstens an!« »Herr Kommissar, führen Sie das Mädchen fort!« »Und wenn sie ihre Ehre opferte, um Sie zu retten?« sagte Rudolf leise. Morel sah seine Tochter an, die noch immer zu seinen Füßen kniete, und sprach dumpf, die Zähne knirschend: »Der Notar?« Luise wollte sprechen, aber sie besann sich, ließ den Kopf sinken und schwieg. »Aber nein, er wollte mich ins Gefängnis werfen lassen«, fuhr Morel fort, »er kann es nicht sein. Um so besser, so hat sie keine Entschuldigung für ihren Fehltritt, und ich kann sie ohne Gewissens295
bisse verfluchen.« »Nein, fluche mir nicht, Vater! Ich will dir alles sagen, und du wirst sehen, ob ich deine Verzeihung verdiene.« »Um Gottes willen, hören Sie Ihre Tochter an!« rief Rudolf ihm zu. »Was soll sie mir sagen?« »Herr Kommissar«, sagte Luise, »haben Sie Erbarmen und lassen Sie mich einige Worte zu meinem Vater sprechen, ehe ich ihn verlasse. Auch vor unserem Retter will ich sprechen, aber nur vor ihm und meinem Vater.« »Ich erlaube es«, entgegnete der Kommissar. »Sind Sie unerbittlich? Verweigern Sie Ihrem Kinde diesen letzten Trost?« fragte Rudolf. »Wenn Sie glauben, mir einen Dank für die Hilfe schuldig zu sein, die ich Ihnen erwirkt habe, so erhören Sie die Bitte Ihrer Tochter.« Nach einer Pause antwortete Morel: »Ich will sie hören.« »Aber wohin gehen wir?« fragte Rudolf. »Wohin wir gehen?« entgegnete der Steinschneider mit bitterer Ironie; »hinauf in die Dachstube, neben die Leiche meines Kindes. Der Ort ist gut gewählt, – nicht wahr? Wir werden sehen, ob Luise im Angesicht ihrer toten Schwester zu lügen wagt.« Morel schritt rasch hinaus, und Luise und Rudolf folgten ihm.
LXVII
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n der Mitte des Dachstübchens lag, auf der Lagerstätte der Blödsinnigen, der Leichnam des kleinen Mädchens, das am Morgen gestorben war; ein Bettuch war darübergedeckt. Morel saß auf seinem Arbeitstische mit gesenktem Kopf und stierem Blick und wendete das Auge nicht ab von dem Strohsack, auf 296
dem sein totes Kind lag. Der Zorn des Steinschneiders wandelte sich in tiefe Trauer. Seine Energie verließ ihn; er brach zusammen unter diesem neuen Schlage. Luise sah totenbleich aus und schien einer Ohnmacht nahe zu sein. Dennoch wagte sie, zitternd die Hand ihres Vaters zu ergreifen, die arme, abgemagerte, durch übermäßige Arbeit entstellte Hand. Er entzog sie ihr nicht, und Luise bedeckte sie mit Küssen. Der Zorn Morels war gebrochen, und die lange zurückgehaltenen Tränen strömten über seine Wangen. »Vater, ich will dir alles sagen«, schluchzte Luise, die sich zu fassen suchte. »Aber versprich mir, und unser Retter möge es auch versprechen, kein Wort davon zu verraten! Wenn er wüßte, daß ich gesprochen habe«, setzte sie schaudernd hinzu, »dann würdet ihr verloren sein, wie ich, denn ihr kennt die Schlechtigkeit dieses Mannes nicht.« »Des Notars?« »Ja«, sagte Luise leise, als fürchtete sie, von jemandem gehört zu werden. »Beruhigen Sie sich«, erwiderte Rudolf. »Der Mann ist schlecht und mächtig, aber wir werden ihn doch bekämpfen. Wenn ich das, was Sie uns sagen, entdecken sollte, so geschähe es nur in Ihrem und Ihres Vaters Interesse.« »Auch ich würde nur sprechen, um dich zu retten. Aber was hat der Mann getan?« »Das ist nicht alles«, fuhr Luise, nach einigem Nachdenken, fort. »In meiner Erzählung wird auch von jemandem die Rede sein, der mir einen großen Dienst erwiesen hat, der sehr gütig war gegen meinen Vater und meine Familie; diese Person befand sich bei Herrn Ferrand, als ich zu ihm kam, und ich habe schwören müssen, sie nicht zu nennen.« Rudolf sagte: »Wenn Sie Franz Germain meinen, so können Sie ganz ruhig sein; Ihr Vater und ich werden sein Geheimnis wahren.« Luise sah Rudolf verwundert an. 297
»Sie kennen ihn?« »Wer brachte Ihre Tochter zu dem Notar?« fragte Rudolf, ausweichend, Morel. »Als meine Frau krank geworden war, sagte ich Mutter Burette, die hier im Hause wohnt, Luise wolle einen Dienst annehmen, um uns unterstützen zu können. Sie kannte die Haushälterin des Notars und gab mir einen Brief, in dem sie Luise empfahl. Verflucht sei dieser Brief!« »Obgleich ich einige der Umstände kenne, die den Haß Ferrands gegen Ihren Vater heraufbeschworen haben«, sagte Rudolf zu Luise, »bitte ich Sie doch: Erzählen Sie mir mit wenigen Worten, was zwischen Ihnen und dem Notar vorgegangen ist, seit Sie bei ihm in Dienst traten.« »In der ersten Zeit hatte ich mich über nichts zu beklagen. Ich mußte viel arbeiten, die Wirtschafterin behandelte mich oft hart, das Leben im Hause war sehr traurig, aber ich ertrug alles mit Geduld. Herr Ferrand ging in die Messe und sah häufig Geistliche bei sich. Ich hatte kein Mißtrauen gegen ihn. Im Anfang sah er mich kaum an und sprach sehr hart mit mir, namentlich in Gegenwart Fremder. Das Haus, das wir bewohnten, war ein großes, einzeln stehendes Gebäude zwischen Hof und Garten. Meine Kammer befand sich ganz oben. In der Nacht war es mir oft, als hörte ich ein dumpfes Geräusch unter mir, in der Etage, die nicht bewohnt wurde, und in der nur Herr Germain oft am Tage arbeitete. Zwei Fenster dieser Etage waren zugemauert, und eine der Türen war mit Eisen beschlagen. Die Wirtschafterin hat mir später gesagt, dort befände sich die Kasse des Herrn Ferrand. Eines Tages war ich sehr lange aufgeblieben, um eine Arbeit zu vollenden. Ich wollte mich gerade niederlegen, als ich leise auf dem kleinen Korridor Gehen hörte, an dessen Ende meine Kammer lag. An meiner Türe hörten die Schritte auf; anfangs glaubte ich, es sei die Wirtschafterin, ich wagte aber nicht, mich zu rühren und horchte. Es regte sich nichts, aber ich wußte, daß jemand an meiner Tür war. Da ich mich mehr und mehr fürchtete, schob ich endlich mei298
ne Kommode an die Tür, die weder einen Riegel noch ein Schloß hatte. Nach einer halben Stunde legte ich mich endlich nieder. Die Nacht verging ruhig. Am anderen Tage bat ich die Wirtschafterin um die Erlaubnis, einen Riegel anbringen zu lassen und erzählte ihr mein Erlebnis. Sie antwortete mir, ich hätte geträumt und müsse mich wegen des Riegels an Herrn Ferrand selbst wenden. Er zuckte die Achseln, als ich ihm meine Bitte vortrug, und sagte, ich sei eine Närrin. Ich wagte nicht, wieder davon zu sprechen. Einige Zeit darauf trat das Unglück mit dem Diamanten ein. Mein Vater war in Verzweiflung und wußte nicht, was er beginnen sollte. Ich klagte Madame Seraphin, der Wirtschafterin, mein Leid, und sie antwortete mir: ›Der Herr ist so gütig; vielleicht tut er etwas für Ihren Vater.‹ Denselben Abend, als ich bei Tisch bediente, sagte Ferrand zu mir: ›Dein Vater braucht dreizehnhundert Franken; geh noch heute abend zu ihm und sage ihm, er möge morgen in meine Expedition kommen. Ich will ihm das Geld geben. Er ist ein ehrlicher Mann und verdient, daß man sich für ihn verwendet.‹ Ich weinte vor Freude und wußte nicht, wie ich ihm danken sollte. Abends, als ich mit meiner Arbeit fertig war, brachte ich meinem Vater die freudige Nachricht, und den anderen Tag…« »Hatte ich die dreizehnhundert Franken gegen einen Wechsel auf drei Monate«, sagte Morel; »ich nannte den Mann meinen Wohltäter und meinen Retter –« »Erregte ein Wechsel von so kurzer Frist, den Sie doch nicht bezahlen konnten, nicht Ihr Mißtrauen?« fragte Rudolf. »Nein, der Notar sagte mir, ich brauche nicht daran zu denken, den Wechsel vor zwei Jahren zu bezahlen, ich möge ihn nur, der Ordnung halber, alle Vierteljahre erneuern lassen. Am ersten Termin aber wurde er hier präsentiert und nicht bezahlt; Ferrand ließ mir sagen, ich möge mich nicht ängstigen, es sei ein Irrtum.« »Er wollte Sie nur in seine Gewalt bekommen«, sagte Rudolf. »Ja, denn nun fing er an. – Aber erzähle weiter, Luise!« 299
Luise fuhr fort: »Ich verdoppelte meinen Fleiß, um so dankbar als möglich zu sein. Die Wirtschafterin begann, mich zu hassen und zu peinigen; ich hatte viele Unannehmlichkeiten und würde gern einen anderen Dienst gesucht haben, aber wegen der Verpflichtung meines Vaters wagte ich nicht, fortzugehen. Eines Tages ging die Wirtschafterin, gegen ihre Gewohnheit, nach Tische aus; die Schreiber hatten die Expedition verlassen. Herr Ferrand gab dem Portier einen Auftrag und schickte ihn fort, so daß ich mit ihm allein im Hause war. Ich arbeitete im Vorzimmer; er klingelte. Ich ging in sein Schlafzimmer hinein; er stand vor dem Kamin. Plötzlich drehte er sich um und umarmte mich; sein Gesicht war blutrot, und seine Augen funkelten. Ich war so erschrocken, daß ich mich anfangs nicht bewegen konnte. Dann flüchtete ich ins Vorzimmer und hielt die Türe fest zu.« »Sie hören es, Herr Rudolf, Sie hören es«, sagte Morel; »so benahm sich dieser Wohltäter.« »Nach einigen Augenblicken schob er die Türe auf«, fuhr Luise fort. »Zum Glück konnte ich die Lampe auslöschen. So stand er im Dunkel. Er rief mich, ich antwortete nicht. Da sagte er, und seine Stimme zitterte vor Zorn: ›Wenn du mir zu entgehen suchst, muß dein Vater ins Gefängnis!‹ Ich versprach ihm, alles zu tun, um für seine Güte dankbar zu sein, erklärte ihm aber auch, daß mich nichts zwingen würde, mich zu erniedrigen. Ich hörte nach einiger Zeit die Türe zuschließen, die mein Herr im Finstern gefunden hatte. Nun hatte er mich in seiner Gewalt; er ging in sein Zimmer und kam bald mit einer Lampe zurück. Den neuen Kampf, den ich zu bestehen hatte, wage ich nicht zu beschreiben. Zum Glück gaben mir Verzweiflung, Angst und Ekel ungewöhnliche Kraft. Mein Widerstand machte ihn wütend; er kannte sich nicht mehr. Er mißhandelte mich; ich blutete im Gesicht –« »Mein Gott!« rief der Steinschneider, »und für einen solchen Men300
schen gibt es keine Strafe!« »Vielleicht doch«, sagte Rudolf. Luise fuhr fort: »Der Kampf dauerte lange, die Kräfte verließen mich, als der Portier klingelte. Er brachte einen Brief. Ferrand sagte zu mir: ›Geh, und wenn du ein Wort sagst, ist dein Vater verloren; wenn du zu entkommen suchst, ist er auch verloren; wenn man sich nach dir erkundigt, werde ich es dir unmöglich machen, einen anderen Dienst zu finden, indem ich andeute, daß du mich bestohlen hättest.‹ Am anderen Tage kam ich, trotz der Drohungen, zu meinem Vater, um ihm alles zu sagen…« »Wir waren«, sagte Morel in tiefem Schmerz, »so schlecht, unser Kind in das Haus zurückkehren zu lassen. Ach, zu wie schlechten Handlungen zwingt einen die Armut!« »Hast du nicht alles versucht, dir die dreizehnhundert Franken zu verschaffen? Da es dir nicht gelang, mußten wir uns fügen.« »Erzähle weiter«, sagte Morel. »Wir sind deine Henker gewesen, wir haben größere Schuld an dem Unglück als du selbst.« »Als ich Herrn Ferrand wiedersah«, fuhr Luise fort, »sprach er kein Wort von den Dingen, die sich ereignet hatten; die Wirtschafterin peinigte mich und ließ mich hungern. In der Nacht konnte ich kaum schlafen, denn jeden Augenblick befürchtete ich einen Überfall des Notars. Eine Zeitlang ließ er mich jedoch in Ruhe und sah mich nicht an. Eines Sonntags hatte er mir erlaubt, auszugehen, und ich ging zu meinen Eltern… Bis dahin hast du alles gewußt, lieber Vater. Was ich noch zu sagen habe, ist so schrecklich, daß ich es immer verschwiegen habe.« »Erzählen Sie weiter, mein Kind«, fuhr Rudolf, zu Luise gewendet, fort, »verschweigen Sie uns nichts! Es ist wichtiger, als Sie glauben.« »Ich fing also an, etwas ruhiger zu werden«, sagte Luise, »als eines Abends Herr Ferrand und die Wirtschafterin ausgingen. Sie aßen nicht zu Hause, und ich blieb allein. Wie gewöhnlich, ließ man mir 301
eine Portion Brot, Wasser und Wein, nachdem alles andere verschlossen worden war. Ich fing an zu arbeiten, wurde aber bald schläfrig. Ach, Vater!« unterbrach sich Luise, »du wirst es mir nicht glauben, und doch schwöre ich dir, daß ich die Wahrheit sage…« »Erzählen Sie weiter«, sprach Rudolf. »Seit sieben Monaten suche ich mich aller Einzelheiten jener schrecklichen Nacht zu erinnern, ohne daß es mir gelingen will; ich habe darüber fast den Verstand verloren.« »Gott, was wird sie sagen!« rief der Steinschneider aus, der aus seinem dumpfen Brüten erwachte. »Ich war auf meinem Stuhl eingeschlafen«, fuhr Luise fort. »Das ist das letzte, was ich weiß…« »Weiter! Weiter!« »Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte; ich erwachte in meinem Bett, entehrt durch Ferrand, der neben mir lag.« »Du lügst! Du lügst!« rief der Steinschneider wütend… »Warum hätte der Notar mich ins Gefängnis werfen lassen wollen, wenn du ihm zu Willen gewesen bist?« »Ich ihm zu Willen gewesen! Nein, Vater. Ich habe so fest geschlafen, als wenn ich tot gewesen wäre…« »Ich begreife alles«, unterbrach Rudolf Luise. »Beschuldigen Sie Ihre Tochter nicht der Lüge, Morel. – Sagen Sie mir, Luise, fiel Ihnen nicht an dem Getränk, das man Ihnen zurückgelassen hatte, ein ungewöhnlicher Geschmack auf? Denken Sie genau nach!« »Ich erinnere mich allerdings, daß die Mischung von Wein und Wasser, die Madame Seraphin mir gegeben hatte, von etwas bitterem Geschmack war; aber ich achtete nicht darauf, denn ich war gewöhnt, daß mir die Wirtschafterin aus Bosheit Pfeffer in mein Getränk tat.« »War Ihnen der Kopf nicht schwer, ehe Sie einschliefen?« »Ja, die Adern an den Schläfen klopften, und ich fühlte mich unwohl.« »Der Elende!« rief Rudolf aus. »Wissen Sie, Morel, was dieser Mensch Ihrer Tochter zu trinken gegeben hat?« 302
Morel sah Rudolf an, ohne ihm zu antworten. »Die Wirtschafterin hat in das Getränk Luises einen Schlaftrunk gemischt, ohne Zweifel Opium; Ihre Tochter wurde einige Stunden lang völlig betäubt, und als sie erwachte, war es geschehen.« Der Steinschneider sah stier vor sich hin. Er verstand kaum, was gesagt wurde. Um die traurige Unterredung zu beenden, sagte Rudolf zu Luise: »Fassen Sie Mut und kommen Sie zum Schluß!« »Ach, Herr Rudolf, was Sie gehört haben, ist noch nichts… Als ich Herrn Ferrand neben mir sah, schrie ich vor Entsetzen laut auf. Ich wollte fliehen, er hielt mich aber mit Gewalt zurück; ich war so schwach, daß ich mich ihm nicht entwinden konnte. ›Warum willst du denn vor mir fliehen?‹ fragte mich Ferrand. ›Was fällt dir ein? Bin ich nicht mit deinem Einverständnis hier?‹ ›Sie lügen!‹ antwortete ich. ›Sie haben meinen Schlaf benutzt, mich unglücklich zu machen…‹ Herr Ferrand lachte laut auf. ›Ich habe deinen Schlaf benutzt? Du spaßest. Wer soll dir diese Lüge glauben? Es ist jetzt vier Uhr früh; seit zehn bin ich bei dir. Du müßtest lange und fest geschlafen haben… Dein Vater ist in meiner Macht; sei also gehorsam, und wir werden gute Freunde sein… Wenn nicht, nimm dich in acht!‹ ›Ich werde meinem Vater alles sagen‹, antwortete ich; ›er wird mich rächen!‹ Ferrand sah mich verwundert an. ›Bist du denn närrisch? Was willst du deinem Vater sagen? Daß es dir Spaß machte, mich bei dir aufzunehmen? Das steht dir frei… Du wirst ja sehen, wie er sich dazu verhält.‹ ›Sie wissen genau, daß Sie gegen meinen Willen hier sind!‹ ›Willst du etwa so frech sein, von Gewalttätigkeit zu reden? Verlangst du einen Beweis für deine Lüge? Ich habe Germain, meinem Kassierer, befohlen, gestern abend eine dringende Arbeit hier zu vollenden; er hat bis um ein Uhr in dem Zimmer unter uns gearbei303
tet. Würde er dein Geschrei nicht gehört haben, wenn du dich gewehrt hättest? Frage Germain! Es wird dir sagen, daß die Nacht über alles ruhig gewesen ist.‹« »Der Schuft hatte also alle Maßregeln getroffen, um sich Straflosigkeit zu sichern!« sprach Rudolf. »Ich war wie vom Blitz getroffen. Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Der Schein war gegen mich. Diese schreckliche Nacht war für mich selbst ein unergründliches Geheimnis.«
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udolf war entsetzt über die verbrecherische Heuchelei Ferrands. »Sie haben also nicht gewagt«, fragte er Luise, »sich bei Ihrem Vater über die Schandtat des Notars zu beklagen?« »Nein, Herr Rudolf. Mein Vater würde mich gewiß für die Mitschuldige Ferrands gehalten haben.« »Wahrscheinlich«, fuhr Rudolf fort, um Luise einen Teil der peinlichen Geständnisse zu ersparen, »waren Sie dann öfter das Opfer des Elenden?« Luise schlug, errötend, die Augen nieder. »Benahm er sich dann freundlicher gegen Sie?« »Nein. Um jeden Verdacht zu vermeiden, machte mir mein Herr, wenn zufällig der Pfarrer zugegen war, harte Vorwürfe. Er bat den Pfarrer, mich zu ermahnen und sagte, ich betrüge mich frech, ich wäre faul und er behielt mich nur aus Rücksicht auf meinen Vater.« »Wie erklärte Ferrand sein Benehmen, wenn er mit Ihnen allein war?« »Er versicherte, daß er nur scherze. Der Pfarrer nahm aber diese Beschuldigungen ernst und sagte mir, ich müßte doppelt lasterhaft sein, wenn ich in einem so frommen Hause auf Abwege geraten könn304
te. Ich wußte nicht, was ich antworten sollte, und mein Schweigen, meine Verlegenheit wurden zu meinem Nachteil ausgelegt… In all meiner Erniedrigung fand ich einen Trost: ich hatte meinen Vater vor dem Gefängnis bewahrt. Aber ein neues Unglück ereilte mich: Ich sollte Mutter werden.« Morel sah um sich, strich mit der Hand über die Stirn, sammelte seine Gedanken und sagte zu seiner Tochter: »Ich bin einen Augenblick zerstreut gewesen … was sagtest du?« »Ich fragte Herrn Ferrand, durch welche Mittel ich meine Schande und die Folgen des Fehltrittes verbergen könne, dessen Urheber er gewesen sei, aber – du wirst mir kaum glauben, Vater – er unterbrach mich mit erheuchelter Verwunderung, stellte sich, als verstehe er mich nicht und fragte mich, ob ich den Verstand verloren habe. – ›Du hast die Frechheit, mich zu beschuldigen, ich sei so schamlos, mich zu einem Mädchen deiner Art zu erniedrigen? Du bist so frech, mir die Folgen deiner Ausschweifungen zuzuschreiben? Verlaß augenblicklich mein Haus!‹« »Ich gestehe«, sagte Rudolf, »das übertrifft alles, was ich vermutete.« Morel sagte nichts; ein krampfhaftes Zucken verzerrte seine Züge. »Ich brauche Ihnen nicht zu sagen«, fuhr Luise fort, »wie ich geweint habe; ich war wie vernichtet. Das alles geschah um zehn Uhr vormittags im Zimmer des Herrn Ferrand; der Pfarrer, der mit ihm frühstücken sollte, trat in dem Augenblick ein, in dem Ferrand mich mit Vorwürfen überhäufte. Der Anblick des Pfarrer schien ihm sehr angenehm zu sein.« »Und was sagte er?« »Er rief aus, indem er auf mich zeigte: ›Ich sagte es wohl, Herr Abbé, daß die Unglückliche ins Verderben stürzen würde. Es ist geschehen; sie hat mir eben ihr Vergehen und ihre Schande gestanden und mich ersucht, sie zu retten. Und ich habe eine solche Person in mein Haus aufgenommen!‹ – ›Wie!‹ sagte der Abbé zu mir, ›trotz dem heilsamen Rat, den dir dein Herr so oft in meiner Gegenwart gegeben hat, bist du so tief gesunken? Das ist unverzeih305
lich. – Lieber Freund, nach der Güte, die Sie der Unglücklichen bewiesen haben, würde Mitleid Schwäche sein. – Bleiben Sie also unerbittlich!‹« »Und Sie haben den Ehrlosen nicht augenblicklich entlarvt?« fragte Rudolf. »Ach Gott, ich wollte reden, mich verteidigen. – ›Kein Wort, unwürdiges Geschöpf‹, schrie mich Ferrand an. ›Du hast den Herrn Abbé gehört. Mitleid wäre Schwäche! – Binnen einer Stunde wirst du mein Haus verlassen!‹ Ohne mir Zeit zur Antwort zu lassen, führte er den Abbé in ein anderes Zimmer. Ich wußte nicht, was aus mir werden sollte und ging in meine Kammer, um zu weinen. Nach zwei Stunden erschien Ferrand. ›Hast du deine Sachen gepackt?‹ fragte er. – ›Erbarmen!‹ bat ich, indem ich vor ihm auf die Knie sank, ›schicken Sie mich in diesem Zustand nicht fort! Was soll aus mir werden? Ich finde ja keinen anderen Dienst.‹ – ›Desto besser! Gott straft dich für deine Ausschweifungen und deine Lügen.‹ – ›Sie wagen zu sagen, daß ich lüge?‹ entgegnete ich, ›Sie wagen zu leugnen, daß Sie mich unglücklich gemacht haben?‹ – ›Verlasse augenblicklich mein Haus, Elende!‹ schrie er mit schrecklicher Stimme. ›Um dich zu strafen, werde ich morgen deinen Vater einsperren lassen.‹ – ›Ach nein, nein‹, rief ich entsetzt, ›ich werde Sie nicht anklagen, ich verspreche es Ihnen, aber vertreiben Sie mich nicht aus dem Hause. Haben Sie Erbarmen mit meinem Vater; das Wenige, was ich verdiene, brauchen die Meinigen. Behalten Sie mich hier, ich will nichts sagen!‹ Nachdem ich noch lange gebeten hatte, willigte Ferrand endlich ein, mich bei sich zu behalten. In den fünf Monaten nach diesem Auftritt wurde ich arg mißhandelt; nur bisweilen fragte mich Herr Germain, den ich sehr selten sah, teilnehmend nach der Ursache meines Kummers, aber ich schämte mich, ihm meinen Zustand zu gestehen.« »Hörte nicht Germain, als er hier wohnte, Ihren Vater davon reden, daß der Notar Sie zu verführen versucht habe?« »Vor Fremden sprach mein Vater nie von seiner Besorgnis, und 306
übrigens redete ich ihm damals selbst seine Unruhe aus, indem ich sagte, Ferrand denke nicht mehr an mich.« Morel saß da, die Stirn auf beide Hände gestützt, und schluchzte. »Ich verbrachte«, erzählte Luise weiter, »fünf Monate in Tränen, in endloser Angst. Die Zukunft wurde immer schrecklicher für mich; Ferrand hatte erklärt, daß er mich nicht länger bei sich behalten wolle. Was sollte aus mir werden, wenn mich mein Vater verfluchte? Da kam ich auf einen verbrecherischen Gedanken. Zum Glück wich ich vor seiner Ausführung zurück, aber ich will Ihnen nicht verheimlichen, weil ich Ihnen zeigen muß, wie weit mich die Grausamkeit Ferrands trieb.« Nach kurzer Pause fuhr Luise mit leiser Stimme fort: »Die Portiersfrau sagte mir, es wohne in dem Hause ein Kurpfuscher…« Sie konnte nicht vollenden. »Und Sie schrieben vor etwa drei Tagen an ihn, unglückliches Kind! – Ihre Tränen waren auf den Brief gefallen und hatten die Schrift verlöscht.« Luise sah Rudolf entsetzt an. »Woher wissen Sie das?« »Ich war allein in der Stube des Portiers, als dieser Brief gebracht wurde, und bemerkte ihn zufällig.« »Ja, Herr, ich schrieb an Herrn Bradamanti, er möge, da ich nicht zu ihm zu gehen wage, abends ans Château d'Eau kommen. Ich hatte den Kopf verloren, aber bald kehrte mir die Vernunft wieder, und ich erkannte, was ich tun wollte. Ich ging also nicht an den Ort, den ich vorgeschlagen hatte. Am gleichen Abend ereignete sich ein Auftritt, dessen Folgen das letzte Unglück veranlaßten. Ferrand glaubte, ich würde erst nach zwei Stunden wiederkommen, während ich schon bald zurückkehrte. Als ich an die kleine Gartentüre kam, fand ich sie, zu meiner großen Verwunderung, halb offen; ich trat hinein und trug den Schlüssel in das Zimmer Ferrands, wo er gewöhnlich lag. Dann ging ich durch das erhellte Speisezimmer und trat ohne Licht in den Salon, dann in das Kabinett 307
vor dem Schlafzimmer. In dem Augenblick, in dem ich den Schlüssel auf den Tisch legte, wurde die Tür zum Schlafzimmer geöffnet. Kaum hatte mich mein Herr erkannt, als er die Tür rasch hinter einer Person zumachte, die ich nicht erkennen konnte. Dann fiel er über mich her, packte mich an der Kehle, als wenn er mich erwürgen wollte, und sagte: ›Du spionierst, du horchst an der Türe! Was hast du gehört? Antworte! antworte, oder ich erwürge dich.‹ Aber er besann sich, trieb mich, ohne mir Zeit zu lassen, ein Wort zu sagen, in das Speisezimmer zurück, stieß mich in die offenstehende Küche hinein und verschloß die Tür.« »Sie hatten nichts von einem Gespräch gehört?« »Gar nichts!« »Und was sagte er später?« »Die Wirtschafterin befreite mich, und ich sah Herrn Ferrand diesen Abend nicht wieder. Am anderen Tage, als ich aus meiner Kammer herunterkam, begegnete ich ihm. Er sagte ziemlich ruhig: ›Du weißt doch, daß ich dir verboten habe, in mein Kabinett zu kommen, wenn jemand in meinem Zimmer ist. Da du aber nur noch kurze Zeit bei mir bist, hat es keinen Zweck, dich auszuschelten.‹ Und er ging in seine Expedition. Ich verrichtete meine Arbeit und wollte gerade sein Schlafzimmer in Ordnung bringen. Plötzlich wurde ich ohnmächtig. Als ich umsank, wollte ich mich an einem Mantel festhalten, der an der Wand hing; ich riß ihn mit hinab und wurde fast von ihm verdeckt. Als ich wieder zu mir kam, war die Glastüre des Alkovens geschlossen, und ich hörte die Stimme Ferrands. Er sprach sehr laut. Ich dachte an den Auftritt vom vorigen Abend und glaubte sterben zu müssen, wenn ich mich rühre. Ich hielt also den Atem an und hörte so, gegen meinen Willen, das Ende einer Unterredung, die wahrscheinlich schon einige Zeit gedauert hatte.«
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er war in dem Zimmer?« fragte Rudolf. »Ich weiß es nicht; ich kannte die Stimme nicht.« »Wovon sprachen sie?« »Ich hörte nur folgendes: ›Nichts einfacher als das‹, sagte eine unbekannte Stimme. ›Ein gewisser Rotarm, ein entschlossener Schmuggler, hat mich wegen der Sache mit einer Piratenfamilie in Verbindung gebracht, die auf einer kleinen Insel bei Asnières wohnt. Vater und Großvater sind hingerichtet, beide Söhne sind lebenslänglich in den Galeeren, aber noch lebt die Mutter mit drei Jungen und zwei Mädchen, die einander nichts nachgeben. Es sind Leute, die für einen Louis jeden Mord begehen, aber das brauchen wir ja nicht, wenn sie nur die Dame aus der Provinz aufnehmen. Die Martials werden in ihren Augen für ehrliche Fischer gelten; ich werde der jungen Dame einige Besuche machen, ihr gewisse Tränke anempfehlen, und in acht Tagen wird sie mit dem Kirchhof von Asnières Bekanntschaft machen. Aber wann werden Sie Ihre Schöne nach Asnières schicken, damit ich die Martials instruieren kann?‹ – ›Morgen wird sie hier ankommen, und übermorgen kann sie bei den Leuten sein‹, sagte Ferrand. ›Ich werde ihr sagen, daß ich ihr den Doktor Vincent schicken werde.‹ – ›Ich habe nichts gegen den Namen Vincent‹, antwortete die Stimme; ›er ist so gut wie ein anderer.‹« »Was ist das für ein neues und geheimnisvolles Verbrechen?« fragte Rudolf. »Neu? Nein, Herr; Sie werden sogleich sehen, daß es mit einem anderen Verbrechen in Verbindung stand, das Sie schon kennen«, entgegnete Luise. »›Ich verlange nicht, daß Sie schweigen‹, sagte Ferrand noch… ›Sie haben mich in den Händen, wie ich Sie in den Händen haben, d.h. wir können einander immer dienen, aber nie schaden‹, sagte die Stimme. ›Auf Wiedersehen, Kamerad, vergessen Sie die Insel Asnières, den Fischer Martial und den Doktor Vincent nicht! Diese Zaubernamen werden Ihrer Schönen in acht Tagen zur ewi309
gen Seligkeit verhelfen.‹ – ›Warten Sie‹, sagte Ferrand, ›ich will erst den Riegel zurückschieben und sehen, ob niemand im Vorzimmer ist, damit Sie durch den Garten gehen können.‹ Ferrand ging hinaus, dann kam er wieder, und ich hörte ihn endlich mit der Person fortgehen. Zwei Stunden nach diesem Gespräch holte mich Madame Seraphin aus meiner Kammer. ›Der Herr will mit Ihnen sprechen‹, sagte sie zu mir; ›Sie haben mehr Glück als Sie verdienen!‹ Ich folgte Madame Seraphin. Ferrand befand sich in seinem Kabinett. Er sah mich lange an. ›Sie scheinen sehr krank zu sein‹, sagte er zu mir. – ›Ach ja, Herr‹, antwortete ich, sehr verwundert, daß er mich nicht du nannte. – ›Das ist sehr natürlich‹, fuhr er fort; ›es sind die Folgen Ihres Zustandes und Ihrer Bemühungen, ihn zu verheimlichen. Trotz Ihrem schlechten Betragen‹, fuhr er, in sanfterem Tone, fort, ›habe ich Mitleid mit Ihnen. Ich will Ihnen also helfen.‹ – ›Ach Herr‹, rief ich aus, ›diese gütigen Worte lassen mich alles vergessen!‹ – ›Was vergessen?‹ fragte er mich hart. – ›Nichts, nichts; ich bitte um Vergebung‹, antwortete ich, aus Furcht, ihn zu reizen. – ›Hören Sie mich also an‹, fuhr er fort; ›Sie werden heute zu Ihrem Vater gehen und ihm sagen, daß ich Sie auf zwei oder drei Monate aufs Land schicke, damit Sie dort die Aufsicht in einem Hause führen, das ich gekauft habe. Morgen verlassen Sie Paris. Ich werde Ihnen ein Empfehlungsschreiben an Madame Martial mitgeben, die Mutter einer braven Fischerfamilie, die bei Asnières wohnt. Mutter Martial wird Sie wie ihr eigenes Kind behandeln, und ein mir befreundeter Arzt, Doktor Vincent, wird Ihnen Beistand leisten…‹« »Jetzt begreife ich alles!« rief Rudolf. »Er glaubte, Sie hätten ein Geheimnis erlauscht, und wollte Sie nun aus dem Wege räumen!« »Ich konnte nicht antworten und sah Herrn Ferrand entsetzt an; meine Gedanken verwirrten sich. – ›Verstehen Sie mich nicht?‹ fragte er ungeduldig. – ›Ja, Herr, aber –‹, antwortete ich zitternd, ›ich möchte lieber nicht aufs Land gehen.‹ – ›Warum? Man wird Sie dort sehr gut behandeln.‹ – ›Nein, ich gehe nicht, ich will lieber in Paris bleiben, um meine Familie nicht zu verlassen.‹ – ›Du schlägst 310
meine Güte aus?‹ entgegnete Ferrand, der einen Zorn noch unterdrückte und mich aufmerksam betrachtete. ›Warum hast du dich so schnell besonnen? Du bist ja erst darauf eingegangen?‹ – Ich sah ein, daß ich verloren war, wenn er die Wahrheit erriet, und antwortete also, ich hätte nicht geglaubt, daß ich Paris und die Meinigen verlassen solle. – ›Aber du machst ja deiner Familie Schande!‹ schrie er und stieß mich so heftig, daß ich fiel. ›Ich gebe dir Bedenkzeit bis morgen‹, setzte er hinzu; ›morgen gehst du entweder zu der Familie Martial oder du meldest deinem Vater, daß ich dich aus dem Hause gewiesen habe, und daß er noch am selben Tag ins Gefängnis müsse.‹ Ich blieb allein, am Boden liegend, denn ich hatte nicht die Kraft, mich wieder aufzurichten. Madame Seraphin war herbeigekommen, als sie ihren Herrn laut sprechen hörte; mit ihrer Hilfe gelangte ich in meine Kammer. Hier sank ich auf mein Bett und blieb bis in die Nacht liegen. An den heftigen Schmerzen, die sich gegen ein Uhr früh einstellten, fühlte ich, daß ich das unglückliche Kind vorzeitig zur Welt bringen würde.« »Warum riefen Sie nicht um Hilfe?« »Das wagte ich nicht. Herr Ferrand wollte mich aus dem Wege räumen; er würde gewiß nach dem Doktor Vincent geschickt haben, der mich dann umgebracht hätte. Statt also um Hilfe zu rufen, erstickte ich meine Schmerzen, indem ich ins Bett biß. Endlich, nach schrecklichen Leiden, brachte ich das unglückliche Wesen zur Welt…« Die Stimme Luises erlosch in Schluchzen. Morel hatte die Erzählung seiner Tochter mit dumpfer Gleichgültigkeit angehört. Als aber der Steinschneider Luise weinen sah, blickte er sie starr an und sagte: »Sie weint, – warum weint sie? Ach ja, ich weiß – der Notar – fahre nur fort, meine arme Luise! Ach Gott, mein Kopf! Mein Kopf!« Luise sah Rudolf erschrocken an. »Lassen Sie ihn ein wenig zur Ruhe kommen – und erzählen Sie weiter!« 311
»Ich drückte mein Kind an mich, ich wunderte mich, daß ich es nicht atmen hörte. Es kam mir auch recht kalt vor. – Ich wartete, bis es hell wurde und suchte das Kind zu erwärmen; es schien aber immer kälter zu werden… Als es hell geworden war, hielt ich mein Kind ans Fenster und besah es; es war kalt und steif. Ich drückte meine Lippen auf seinen Mund, um den Atem zu fühlen, ich legte die Hand aufs Herz, – es schlug nicht. In diesem Augenblick ging etwas in mir vor, das ich nicht beschreiben kann. Es war zugleich Verzweiflung, Angst und Zorn. Ich hatte nur den einen Gedanken, den kleinen Körper zu verbergen. Ich hoffte, so würde meine Schande nicht an den Tag kommen, so würde ich den Zorn meines Vaters nicht zu fürchten haben und der Rache Ferrands entgehen, da ich sein Haus verlassen und einen anderen Dienst suchen könnte. Das, Herr, sind die Gründe, die mich bewogen haben, nichts zu gestehen. Ich habe ohne Zweifel Unrecht getan, aber ich bedachte nicht, welcher Gefahr ich mich aussetzte, wenn ich entdeckt würde. Es wurde heller und heller. Ich zögerte nicht länger, wickelte mein Kind, so gut als möglich, ein, ging leise in den Garten, um da ein Loch zu graben und das Kind hineinzulegen. Aber es hatte in der Nacht gefroren, und die Erde war hart und fest. Da verbarg ich das tote Kind in einem Keller, in den man den Winter über niemals kam, bedeckte es mit einem leeren Blumenkasten und kehrte in meine Kammer zurück, ohne daß mich jemand gesehen hatte. Noch jetzt kann ich mir nicht erklären, wie ich, bei meiner Schwäche, den Mut hatte, all das zu verrichten. Um neun Uhr kam Madame Seraphin, um nachzusehen, warum ich noch nicht aufgestanden wäre; ich sagte ihr, daß ich krank sei und bat sie, mich im Bette zu lassen. Nach einer Stunde kam Ferrand selbst. ›Sie sind kränker geworden‹, sagte er; ›das sind die Folgen Ihres Eigensinns! Übrigens werde ich nicht so unmenschlich sein, Sie in Ihrem Zustand ohne Hilfe zu lassen. Noch heute abend wird der Doktor Vincent nach 312
Ihnen sehen kommen.‹ Bei dieser Drohung zitterte ich vor Furcht. Ich antwortete, ich hätte unrecht getan, die Anerbietungen des Herrn Ferrand zurückzuweisen und nähme sie jetzt an; da ich aber noch unwohl wäre, wollte ich mich erst in einigen Tagen zu der Familie Martial begeben; übrigens wäre es nicht nötig, den Doktor Vincent holen zu lassen. Durch mein Versprechen beruhigt, wurde Ferrand fast liebevoll gegen mich und empfahl mich, zum ersten Male in seinem Leben, der Sorgfalt und Pflege der Madame Seraphin. Ich verbrachte den Tag in Todesangst, man könne das tote Kind finden. Den ganzen Tag verließ ich das Bett nicht. Als es Nacht geworden war, wartete ich, bis alle schliefen. Ich hatte die Kraft, aufzustehen, auf den Holzboden zu gehen und ein Beil zu holen, mit dem ich ein Loch in die Erde hacken wollte. Nach unsäglicher Mühe gelang es mir. Dann nahm ich das tote Kind, benetzte es mit meinen Tränen und begrub es, so gut ich konnte, in dem kleinen Blumenkasten. Zuletzt schüttete ich Schnee darüber, damit man nichts bemerke. Der Mond hatte mir geleuchtet. Als das geschehen war, konnte ich mich nicht entschließen, fortzugehen. Das arme Kind – in der gefrorenen Erde – unter dem Schnee! Endlich kam ich wieder in meine Kammer zurück und legte mich, mit heftigem Fieber, ins Bett. Früh schickte Ferrand und ließ sich erkundigen, wie es mir ginge. Ich antwortete, besser. Abends stand ich auf und ging in die Küche, um mich zu wärmen; dann ging ich in den Garten, um noch einmal zu beten. In dem Augenblick, als ich in meine Kammer hinaufging, begegnete ich Herrn Germain. Er sah sehr blaß aus und sagte rasch, indem er mir eine Rolle in die Hand steckte: ›Man will Ihren Vater morgen früh wegen einer Wechselschuld von 1.300 Franken verhaften. Hier ist das Geld; sobald es Tag ist, eilen Sie zu ihm. – Sagen Sie aber nicht, daß Sie das Geld von mir haben!‹ Er ließ mir nicht Zeit, ihm zu danken und eilte schnell die Treppe hinunter.«
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eute früh«, fuhr Luise fort, »lief ich, ehe im Hause Ferrands jemand aufgestanden war, hierher mit dem Gelde, das mir Herr Germain gegeben hatte, um meinen Vater zu retten; aber die Summe reichte nicht, und ohne Ihren Edelmut würde ich ihn nicht aus den Händen der Gerichtsdiener haben befreien können… Ich bitte Sie nun um einen letzten Dienst«, sagte Luise, indem sie die Rolle Gold aus ihrer Tasche zog; »wollen Sie die Freundlichkeit haben, das Geld Herrn Germain zurückzugeben? Jetzt wiederhole ich Ihnen, daß ich die Wahrheit gesagt und mich nicht bemüht habe, mein Unrecht geringer darzustellen als es ist…« Hier unterbrach sich Luise und rief erschrocken aus: »Aber was ist mit meinem Vater?« Obgleich der Schleifstein an der anderen Seite des Arbeitstisches stand, und er weder Steine noch Werkzeug in der Hand hatte, glaubte der Steinschneider mit seiner gewöhnlichen Arbeit beschäftigt zu sein und machte, mit eingebildeten Werkzeugen, die Handgriffe des Schleifens. Er begleitete diese Pantomime mit Lauten, die das Geräusch des Schleifsteines nachahmen sollten. Luise trat zu ihm und sagte: »Vater!« Morel warf einen unruhigen Blick auf seine Tochter und antwortete leise, mit sanfter und trauriger Stimme: »Ich bin dem Notar dreizehnhundert Franken schuldig. Ich muß arbeiten, arbeiten! Ich werde ihn bezahlen…« »Morel!« rief Rudolf, »wir sind da. – Ihre Tochter ist bei Ihnen, und sie ist unschuldig.« »Dreizehnhundert Franken«, sagte der Steinschneider, ohne Rudolf anzusehen. »Vater!« rief Luise, indem sie vor ihm auf die Knie sank und seine Hände erfaßte, »ich bin es, Luise!« 314
»Dreizehnhundert Franken!« wiederholte er, indem er sich mit Gewalt von seiner Tochter frei machte. »Dreizehnhundert Franken! Wenn nicht«, setzte er leise hinzu, »wenn nicht, wird Luise geköpft.« Und er drehte in Gedanken seinen Schleifstein weiter. Luise stieß einen entsetzlichen Schrei aus. »Was soll«, klagte sie, »aus meiner Mutter, meiner Großmutter, meiner Schwester, meinen Brüdern werden? Sie haben nun den Vater und mich verloren. Sie werden verhungern.« »Bin ich nicht da? Fassen Sie Mut!« »Ach, Herr, Sie sehen: Schande, Wahnsinn und Tod! Das alles hat jener Mann verschuldet, und man kann nichts gegen ihn unternehmen, nichts!« »Nehmen Sie dennoch die Gewißheit mit sich, daß Ihr Vater, Sie und die Ihrigen gerächt werden!« »Gerächt?« »Ich schwöre Ihnen, daß dieser Mann schwer büßen soll. Wenn die Gesetze ihn nicht zu erreichen vermögen, so wird man seiner List größere List, seiner Klugheit größere Klugheit entgegensetzen, um ihn seine Strafe finden zu lassen!« In diesem Augenblick wurde die Türe geöffnet, und der Kommissar trat ein. »Es tut mir leid, Ihnen erklären zu müssen, daß die Unterredung ein Ende haben muß«, sagte er. »Die Unterredung ist zu Ende«, antwortete Rudolf, indem er auf den Steinschneider zeigte. »Luise hat ihrem Vater nichts mehr zu sagen, er hat von seiner Tochter nichts mehr zu hören, … er ist wahnsinnig!« »Ich wünsche lebhaft«, sagte der Kommissar zu Rudolf, »daß die Unschuld des jungen Mädchens an den Tag kommen möge, aber nach einem solchen Unglück werde ich mich nicht mehr auf Wünsche beschränken, sondern ich werde mich bemühen, der Unglücklichen zu ihrem Rechte zu verhelfen.« »Das ist ein Wort! … Übrigens hat die Erzählung Luises mich vollkommen von ihrer Unschuld überzeugt. Können Sie mir sagen, auf 315
welche Weise ihr angebliches Verbrechen entdeckt worden ist?« »Heute morgen«, sagte der Kommissar, »kam die Wirtschafterin des Notars Ferrand zu mir, um mir mitzuteilen, sie habe im Garten ein neugeborenes Kind vergraben gefunden. Nach der Aussage der Frau ging ich in die Rue Sentier und fand Herrn Jacob Ferrand sehr entrüstet darüber, daß sich ein solcher Vorfall in seinem Hause ereignet habe. Der Pfarrer der Kirche Bonne Nouvelle, den er hatte rufen lassen, bestätigte, daß das Mädchen in seiner Gegenwart den Fehltritt eingestanden habe. Die Entrüstung Ferrands«, fuhr der Kommissar fort, »kam mir so vollkommen echt vor, daß ich sie teilte. Er sagte mir dann, Luise Morel sei offenbar zu ihrem Vater geflüchtet. Ich begab mich sofort hierher; das Verbrechen lag vor, und ich hatte die Pflicht, zur Verhaftung zu schreiten.« Rudolf erwiderte: »Ich danke Ihnen für Ihre Gefälligkeit und für den Beistand, den Sie Luise leisten wollen; den unglücklichen Mann will ich in ein Irrenhaus bringen lassen, ebenso die Mutter seiner Frau.« Dann wandte er sich an Luise, die noch immer neben ihrem Vater kniete. »Fügen Sie sich zunächst ins Unvermeidliche und sorgen Sie sich um nichts. Es wird Ihrer Familie an nichts fehlen! Fassen Sie also Mut und hoffen Sie!« Zwei Stunden nach der Verhaftung Luises waren der Steinschneider und die alte Blödsinnige auf Rudolfs Befehl nach Charenton gebracht, wo sie ein besonderes Zimmer erhalten und besonders gut behandelt werden sollten. Morel verließ seine Wohnung ohne Widerstand; gleichgültig ging er, wohin man ihn führte; sein Irrsinn war mild und traurig. Die Großmutter hungerte; man zeigte ihr Fleisch und Brot, und sie folgte diesem Lockmittel. Die Edelsteine wurden noch an demselben Tage Madame Mathieu übergeben. Zu ihrem Unglück wurde die Frau von dem kleinen Lahmen verfolgt, der sich davon überzeugte, daß die Maklerin Boulevard St. 316
Denis 11 wohnte.
LXXI
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n dem einen Ende der Rue du Sentier lief eine lange, mit Kalk beworfene Mauer hin. Diese Mauer begrenzte den Garten Jacob Ferrands und stieß an ein Gebäude, das nach der Straße zu lag und nur ein Stockwerk hoch war. Zwei Schilder von vergoldetem Kupfer, Zeichen des Notariats, befanden sich zu beiden Seiten des Tores. Das Tor führte zu einem bedeckten Gang. Rechts davon lag das Stübchen eines alten, halbtauben Portiers, der zur Gilde der Schneider gehörte; links war ein Stall, der einer Kaninchenfamilie zum Aufenthalt diente, die sich der Portier zugelegt hatte, um eine Unterhaltung zu haben. Neben die Portierswohnung mündete eine dunkle Wendeltreppe, die zur Kanzlei im ersten Stock führte. An der einen Seite des großen, gepflasterten Hofes sah man leere Wagenremisen, an der anderen Seite schloß ein verrostetes Eisengitter den Garten ab; im Hintergrunde lag das Haus, das der Notar allein bewohnte. Acht aus den Fugen gewichene, ausgetretene Stufen führten zu dem Hause, das aus einem Souterrain, Erdgeschoß, einer ersten Etage und einer Dachkammer bestand, die Luise bewohnt hatte. Das Haus sah sehr verfallen aus; die Wände waren von tiefen Rissen durchzogen, die Fenster und Fensterläden, die grau angestrichen gewesen, waren mit der Zeit ganz schwarz geworden; an den sechs Fenstern des ersten Stocks, die zum Hof hinausgingen sah man keine Gardinen; die Scheiben waren mit Schmutz bedeckt; an den Fenstern des Erdgeschosses dagegen hingen Vorhänge von verschosse317
nem Baumwollstoff mit roten Rosetten. Der Garten war von Gebüsch überwuchert und schien ganz vernachlässigt zu sein. Man sah kein einziges Beet, nur einige Ulmen, Akazien, im Hintergrund ein niedriges Gewächshaus und, als Horizont, die hohen kahlen Mauern der anstoßenden Häuser. Wenn die Klienten den gewaltigen Bankierluxus einiger Notare mit dem düsteren Hause Ferrands verglichen, so empfanden sie ein blindes Vertrauen zu dem Manne, der, bei dem Vermögen, das man ihm zuschrieb, äußerst sparsam lebte, weshalb ihm denn auch alle jene Geschäfte zuströmten, die unbedingteste Rechtlichkeit zur Voraussetzung hatten. Ferrand stammte aus der Familie der Geizigen. Er war schlau und geduldig, grausam und entschlossen, wie ein Mörder, aber auch mäßig, wie Harpagon. Eine einzige Leidenschaft stachelte ihn oft bis fast zum Wahnsinn auf: der Geschlechtstrieb. Wenn dieser tierische Trieb sein Blut erhitzte, vergaß er selbst seine schlaue Klugheit und wurde zum Tiger. Außer den Frauen liebte Ferrand nur das Geld. Er liebte das Geld nicht wegen der Genüsse, die es ihm verschaffte, er liebte den Besitz um des Besitzes willen. Gegen den Besitz aller setzte Jacob Ferrand seine Heuchelei, seine List, seine Kühnheit, seinen Kopf ein, und so sah er einen fortlaufenden Gewinn in der unbegrenzten Achtung, in dem unbeschränkten Vertrauen, das er seinen Klienten einflößte. Man sagte von ihm: »Er ist sicherer als die Regierung und als die Sparkasse.« Aber trotz seiner seltenen Geschicklichkeit hatte der Mann einen Fehler begangen, den auch die schlauesten Verbrecher fast nie vermeiden. Er hatte Mitschuldige! Aber keiner konnte ihn ins Verderben stürzen, ohne sich selbst mitzureißen. Dieser Gedanke gab Ferrand die Ruhe, die er, bei seiner mißtrauischen Natur, sonst nie gefunden hätte. 318
Der Notar stand im fünfzigsten Jahre, sah aber wie ein Vierziger aus; er war von mittlerer Größe, etwas gebückt, kräftig, rot und behaart, wie ein Bär. Sein Haar lag glatt an den Schläfen, seine Stirn war kahl und von gelblicher Farbe. Sein Gesicht war platt, seine Nase stumpf, und seine Lippen waren so dünn, daß der Mund in das Gesicht geschnitten zu sein schien; wenn er lächelte, sah man die Spitzen seiner Zähne, die fast alle schwarz waren. Das Gesicht, bis an die Schläfen glatt rasiert, hatte einen strengen und harten Ausdruck; seine schwarzen, lebhaften Augen verschwanden hinter großen, grünen Brillengläsern. Jacob Ferrand sah ganz vortrefflich, aber er konnte hinter der Brille beobachten, ohne beobachtet zu werden. In seiner Kleidung betonte er eine Nachlässigkeit, die bis zur Unsauberkeit ging. Sein unrasiertes Gesicht, seine platten Nägel mit schwarzen Rändern, seine abgeschabten Röcke, seine schmierigen Hüte und seine plumpen Schuhe empfahlen ihn ebenfalls seinen Klienten, indem sie ihm das Aussehen eines der Welt abgewandten Philosophen gaben. Welchen Neigungen, welcher Leidenschaft, sagte man, sollte der Notar das Vertrauen opfern, das man ihm entgegenbrachte. Er verdiente jährlich 60.000 Franken, und sein Haushalt bestand in einer Magd und einer alten Wirtschafterin. Sein einziges Vergnügen war, jeden Sonntag in die Messe zu gehen; er kannte keine Oper, keine weltliche Gesellschaft; seine einzige Freude war seine Rechtschaffenheit, sein Stolz, seine Ehre, und sein Glück die Religion. Dieses Urteil fällten die Zeitgenossen Jacob Ferrands über diesen Mann, der in Wahrheit einer der abgefeimtesten Schurken war.
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LXXII
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ie Kanzlei Ferrands glich jeder anderen Notariatskanzlei, und seine Schreiber waren wie alle Schreiber. Man gelangte in die Kanzlei durch ein Vorzimmer, in dem vier alte Stühle standen. In der Kanzlei selbst, in der rundherum Schränke und Aktenregale standen, saßen fünf junge Leute, über die schwarzen Pulte gebückt, lachten, schwatzten oder schrieben fleißig – je nachdem. Im Wartezimmer, das ebenfalls voll Akten war, hielt sich gewöhnlich der erste Schreiber auf; ein anderes Zimmer, das das Kabinett des Notars von dem Wartezimmer trennte, war das private Sprechzimmer des Notars. Es hatte eben zwei Uhr geschlagen; unter den Schreibern herrschte eine gewisse Unruhe, deren Ursache aus ihrem Gespräch hervorging. »Wenn mir jemand gesagt hätte, Germain sei ein Dieb«, sagte einer der jungen Männer, »so würde ich geantwortet haben: ›Sie lügen!‹« »Ich auch.« »Auf mich hat seine Verhaftung einen so tiefen Eindruck gemacht, daß ich nicht frühstücken konnte.« »Siebzehntausend Franken! Das läßt sich hören.« »Und in der Zeit, in der Germain Kassierer war, hat kein Sou gefehlt.« »Ich finde es unrecht, daß Ferrand Germain arretieren ließ. Der arme Teufel hat doch geschworen, er habe nur 1.300 Franken in Gold genommen.« »Ja, und außerdem hat er sie zurückgegeben!« »Man muß sich doch zweimal bedenken, ehe man einen armen jungen Mann ins Unglück stürzt, noch dazu, wenn er sich sonst immer gut geführt hat.« »Ferrand sagt, es sei des Beispiels wegen.« 320
»Des Beispiels wegen? Das Beispiel nützt nur denen, die ehrlich sind; die es nicht sind, wissen recht gut, daß sie sich der Gefahr aussetzen, ertappt zu werden.« »Die Sache scheint mir überhaupt nicht klar zu sein.« »Er hat ja gestanden.« »Daß er 1.300 Franken genommen hat. Aber er bestreitet rundweg, die anderen 15.000 Franken genommen zu haben.« »Da er eins gesteht, warum sollte er das andere nicht auch gestehen?« »Freilich! Man wird doch für 500 Franken ebenso bestraft wie für 15.000.« »Ja, aber man behält die 15.000 Franken und richtet sich ein Geschäft an, wenn man aus dem Gefängnis kommt – würde ein schlechter Mensch sagen.« »Nicht dumm!« »Man mag sagen, was man will: dahinter steckt etwas.« »Und Germain verteidigte den Notar immer, wenn wir ihn einen Jesuiten nannten!« »Jetzt kommt Chalamel; der wird sich wundern!« »Worüber? Etwas Neues von der armen Luise?« »Du würdest es wissen, wenn du nicht so lange ausgeblieben wärst.« »Denkt ihr, es sei ein Katzensprung bis zur Rue de Chaillot? Nun, und der famose Vicomte von St. Remy?« »Er ist noch nicht gekommen?« »Nein.« »Sein Wagen war angespannt, und er ließ mir durch seinen Diener sagen, er würde gleich erscheinen; aber er sähe gar nicht zufrieden aus, sagte der Bediente. Ach, Kinder, ist das ein Haus! Ein Luxus!« sagte Chalamel, indem er seinen Regenschirm hinstellte und seine Überschuhe auszog. »Ich glaube, der Vicomte hat Schulden und geht hoch.« »Der schöne Vicomte muß wohl bezahlen können, da er gestern abend vom Lande zurückgekommen ist, wo er sich drei Tage versteckt gehalten hat.« »Aber warum hat man ihn nicht gepfändet?« 321
»Wie könnt ihr so albern fragen! Das Haus gehört nicht ihm, sein Mobiliar ist seinem Diener zugeschrieben, die Pferde und Wagen gehören angeblich seinem Kutscher. Der Vicomte von St. Remy ist schlau! Aber was gibt es sonst Neues?« »Denke dir, vor zwei Stunden kommt der Notar hereingestürzt: ›Ist Germain nicht hier? Der Elende hat mich um 17.000 Franken bestohlen!‹« »Germain und stehlen!« »Das ist nicht möglich!« riefen wir alle. »In diesem Augenblick kam der alte Portier Marriton und sagte: ›Die Polizei ist da.‹« »Und Germain?« »So warte doch nur! – Der Notar sagte darauf dem Portier: ›Sobald Germain kommt, schicke ihn hierher, in die Kanzlei, ohne ihm etwas zu sagen. – Ich will ihn in eurer Gegenwart überführen.‹ – Nach etwa einer Viertelstunde kam der arme Germain, als ob nichts geschehen wäre; er grüßte den Notar und war durchaus nicht etwa aufgeregt. ›Germain, Sie frühstücken nicht?‹ fragte Ferrand. – ›Nein, Herr Ferrand, ich danke, ich habe keinen Hunger.‹ – ›Sie kommen sehr spät.‹ – ›Ja, ich mußte nach Belleville.‹ – ›Wahrscheinlich, um das Geld zu verstecken, das Sie mir gestohlen haben‹, fuhr nun Ferrand, mit schrecklicher Stimme, heraus.« »Und Germain?« »Germain wurde totenbleich und antwortete: ›Ich beschwöre Sie, machen Sie mich nicht unglücklich.‹« »Er hatte also gestohlen?« »So warte doch, Chalamel! – ›Machen Sie mich nicht unglücklich!‹ sagte er. – ›Sie gestehen also?‹ – ›Ja, Herr, aber hier ist das Geld, das fehlt. Ich wußte, daß ich es wieder zurückgeben könnte. Hier sind die 1.300 Franken in Gold.‹ – ›Wie! 1.300 Franken?‹ rief Ferrand aus. ›Sie haben mir 15.000 Franken gestohlen.‹ – ›Niemals!‹ entgegnete der arme Germain, ganz bestürzt. ›Ich habe 1.300 Franken in Gold genommen, keinen Sou mehr.‹ – ›Infamer Lügner!‹ fuhr der Notar auf. ›Sie haben 15.000 Franken gestohlen!‹ Endlich kam die Polizei mit dem Sekretär des Kommissars, um ein Protokoll auf322
zunehmen; man faßte Germain und führte ihn ab.« »Ist das möglich? Germain?« »Eins muß man sagen: Germain war ein eigenartiger Mensch. Er wollte nie sagen, wo er wohnt.« »Das ist wahr.« »Er hatte immer etwas Geheimnisvolles.« »Deshalb braucht er doch nicht gleich zu stehlen.« »Natürlich nicht.« »Ich bemerke es nur.« »Man könnte fast sagen, er hätte sein Unglück geahnt.« »Wieso?« »Er sah immer so aus, als hätte er etwas auf dem Herzen.« »Vielleicht Luises wegen.« »Luises wegen?« »Ich wiederhole nur, was die alte Seraphin sagte.« »Was sagte sie?« »Er wäre der Liebhaber Luises und der Vater des Kindes.« »Da seht den Heuchler!« »Es ist natürlich nicht wahr.« »Woher weißt du das, Chalamel?« »Erst vor vierzehn Tagen hat mir Germain gesagt, er sei rasend verliebt in eine kleine Näherin.« »Ach, Chalamel!« In diesem Augenblick trat der erste Schreiber herein. »Nun, Chalamel«, fragte er, »haben Sie alles besorgt?« »Ja, Herr Dubois; ich war bei Herrn von St. Remy, er wird gleich kommen, um zu bezahlen.« »Auch bei der Gräfin MacGregor?« »Ja. Hier ist die Antwort.« »Und bei der Gräfin von Orbigny?« »Sie läßt dem Herrn Notar danken. Sie ist gestern früh aus der Normandie zurückgekehrt. Ich war auch beim Intendanten des Marquis von Harville wegen der Kosten des Kontraktes.« »Sie haben ihm gesagt, daß es keine Eile habe?« 323
»Ja, aber der Intendant wollte gleich bezahlen. Hier ist das Geld! – Ah, da hätte ich beinahe die Karte vergessen, die ich von dem Portier mit heraufgenommen habe. Der Herr fragte nach dem Notar und ließ seine Karte zurück.« »Walter Murph«, las der erste Schreiber, und weiter unten mit Bleistift: »wird um drei Uhr in einer wichtigen Angelegenheit wiederkommen.« »Noch etwas!« fuhr Chalamel fort. »Herr Karl Robert wird auch im Laufe des Tages erscheinen, um mit dem Herrn zu sprechen. Er scheint sich gestern mit dem Herzog von Lucenay geschlagen zu haben.« »Ist er verwundet?« »Ich glaube nicht.« »Da hält ein Wagen!« »Ah! Schöne Pferde!« »Und der dicke englische Kutscher!« »Gewiß ein Gesandter.« »Nein«, fiel Chalamel ein, »der Wagen des Vicomte von St. Remy.« Bald darauf trat der Vicomte ins Zimmer.
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err von St. Remy behielt den Hut auf dem Kopfe und fragte hochmütig, mit halbgeschlossenen Augen, ohne jemand anzusehen: »Wo ist der Notar?« »Herr Ferrand arbeitet«, sagte der erste Schreiber. »Wenn Sie einen Augenblick warten wollen, wird er Sie empfangen.« »Warten? Sagen Sie ihm, Herr von St. Remy sei da! … Ich finde es sonderbar, daß ich bei einem Notar antichambrieren soll. Pfui! 324
Der Ofen stinkt, wie die Pest.« »Treten Sie gefälligst ins Nebenzimmer«, sagte der erste Schreiber, »ich werde den Herrn Notar gleich benachrichtigen.« St. Remy zuckte die Achseln. Nach einer Viertelstunde, die seinen Verdruß zum Zorn steigerte, wurde der Vicomte in das Kabinett des Notars geführt. St. Remy sah Ferrand zum ersten Male. Der Notar saß vor seinem Schreibtisch auf einem ledernen Sessel neben einem verfallenen Kamin, in dem einige glimmende Scheite schwelten. Vorhänge von grünem Baumwollzeug, fast ganz zerrissen und an kleinen Eisenstäben befestigt, hüllten das an sich schon dunkle Zimmer in ein mattes Licht. Der Vicomte hatte noch kein Wort gesprochen, und schon haßte ihn der Notar, der ihn dem Rufe nach kannte. Ferrand behielt seine schwarze Mütze auf, der Vicomte berührte seinen Hut mit einem Finger und sagte, sehr von oben herab: »Es befremdet mich sehr, daß Sie mich hierher bemühen, statt daß Sie das Geld für die Wechsel bei mir abholen lassen, die ich jenem Badinot gegeben habe, und um derentwillen er mich verfolgen läßt. Sie sagen allerdings, Sie hätten mir außerdem eine wichtige Mitteilung zu machen; aber dazu hätten Sie mich nicht eine Viertelstunde in Ihrem Vorzimmer warten zu lassen brauchen!« Ferrand verzog keine Miene. Nachdem er den Vicomte eine Zeitlang starr angesehen hatte, fragte er, mit barscher Stimme: »Wo ist das Geld?« Diese eisige Ruhe brachte Herrn von St. Remy noch mehr in Wallung. »Wo sind die Wechsel?« fragte er, ebenso schroff. Der Notar zeigte, ohne zu antworten, mit der Fingerspitze auf ein großes, ledernes Portefeuille, das neben ihm lag. Zitternd vor Wut, zog der Vicomte eine Brieftasche aus seinem Rock, entnahm ihr vierzig Tausendfrankenscheine und zeigte sie dem Notar. »Wieviel?« fragte dieser. 325
»Vierzigtausend Franken!« »Geben Sie her!« »Da, machen Sie sich bezahlt und geben Sie mir die Wechsel«, sagte der Vicomte, indem er die Banknoten auf den Tisch warf. Der Notar nahm sie, hob sie auf und besah sie mit so beleidigender Aufmerksamkeit, daß St. Remy blaß wurde. Der Notar zuckte, als errate er die Gedanken des Vicomte, mit den Achseln, wandte sich halb zu ihm um und sagte: »Es wäre nämlich nicht das erstemal, daß man…« »Was?« »Falsche Banknoten sähe«, antwortete der Notar, indem er in seiner Prüfung fortfuhr. »Was wollen Sie damit sagen?« Ferrand hielt einen Augenblick inne und sah den Vicomte starr durch seine grünen Brillengläser an; dann prüfte er die Noten weiter, ohne ein Wort zu verlieren. »Wissen Sie, daß man antwortet, wenn ich frage?« rief Herr von St. Remy, den die Ruhe Ferrands in höchste Wut versetzte. »Diese da sind gut –«, sagte der Notar. Dann legte er eine Tausendfrankennote und eine Rolle von 300 Franken auf die Wechsel, die er seinem Schreibtisch entnommen hatte und sagte zu St. Remy, indem er auf das Geld und die Papiere zeigte: »Das bekommen Sie von den 40.000 Franken zurück; mein Klient hat mir aufgetragen, die Kosten gleich mit zu erheben.« Der Vicomte herrschte ihn, statt das Geld zu nehmen, mit vor Zorn zitternder Stimme an: »Ich frage Sie, Herr, warum Sie vorhin die Bemerkung gemacht haben.« »Weil ich Sie wegen einer Fälschung hierher beschieden habe!« Dabei richtete der Notar seine grüne Brille auf den Vicomte. »Was habe ich mit einer Fälschung zu tun?« Nach kurzer Pause erwiderte Ferrand mit strenger Miene: »Kennen Sie die Funktionen eines Notars?« »Sie sind sehr einfach. Ich habe Ihnen eben 40.000 Franken ge326
geben und besitze nun noch 1.300.« »Sie belieben, zu scherzen. Ich sage Ihnen, der Notar ist, in weltlichen Dingen, was der Beichtvater in geistlichen ist. Er kennt oft dunkle Geheimnisse.« »Und?« »Er muß oft mit Spitzbuben verkehren.« »Kommen Sie zum Ziele!« »Er muß, soviel in seinen Kräften steht, verhindern, daß ein ehrenvoller Name beschmutzt werde.« »Was geht das alles mich an?« »Ihr Vater hat Ihnen einen geachteten Namen hinterlassen…« »Sie wagen…« »Wenn dieser Name nicht allen rechtschaffenen Leuten Achtung einflößte, würden Sie in diesem Augenblicke vor dem Richter stehen!« »Reden Sie deutlicher, Herr!« »Vor zwei Monaten ließen Sie einen Wechsel diskontieren, der von dem Hause Meulaert & Co. in Hamburg für William Smith ausgestellt und nach drei Monaten bei dem Bankier Grimaldi in Paris zahlbar war.« »Nun?« »Dieser Wechsel ist falsch.« »Das ist nicht wahr!« »Der Wechsel ist falsch. Das Haus Meulaert hat nie mit William Smith zu tun gehabt und kennt ihn nicht.« »Dann bin ich der Betrogene! Ich habe das Papier für bares Geld genommen.« »Von wem?« »Von William Smith selbst. Das Haus Meulaert ist so bekannt, daß ich den Wechsel als Zahlung für eine Summe angenommen habe, die William Smith mir schuldig war.« »William Smith hat nie existiert!« »Herr, Sie sind wahnsinnig!« »Seine Unterschrift ist falsch, wie alles andere.« 327
»Ich sage Ihnen, daß William Smith existiert; aber mein Vertrauen ist offenbar schändlich mißbraucht worden.« »Der jetzige Inhaber des Wechsels ist davon überzeugt, daß Sie der Fälscher sind!« »Herr…« »Er behauptet, den Beweis zu haben; vorgestern kam er zu mir und ersuchte mich, Ihnen anzutragen, den falschen Wechsel zurückzunehmen. Bis dahin war alles gut, jetzt steht die Sache aber anders: er verlangt, noch heute, hunderttausend Franken. Bekommt er sie nicht, erstattet er morgen die Anzeige.« »Was will man von mir, zum Donnerwetter?« »Ihre Schuld ausbeuten. Ich habe mich herbeigelassen, Ihnen den Antrag mitzuteilen, mißbillige ihn aber, wie ihn jeder redliche Mann mißbilligen muß. Jetzt liegt die Entscheidung bei Ihnen. Wenn Sie schuldig sind, so wählen Sie zwischen den Gerichten und der Brandschatzung, die man Ihnen auferlegt. Ich habe das Meinige getan und werde mich um die schmutzige Sache nicht weiter kümmern. Der Inhaber des Wechsels heißt Petit-Jean, ist Austernhändler, wohnt Quai de Billy 16. Verständigen Sie sich mit ihm. Sie sind einander würdig, wenn Sie wirklich der Fälscher sind, den er in Ihnen sieht!« St. Remy war stolz zu dem Notar gekommen. Er hatte geglaubt, ihm mit seiner Haltung zu imponieren. Jetzt aber hatte sich der Wind gedreht. Die Erwähnung der Wechselfälschung hatte St. Remys Sicherheit stark erschüttert. Nach einer Pause ließ er sich herab, sich mit Bitten an den Mann zu wenden, der so rücksichtslos gegen ihn aufgetreten war. »Mein Herr, sie geben mir einen Beweis von Teilnahme, für den ich Ihnen danke. Ich bedauere, im Anfang so heftig gewesen zu sein«, sagte St. Remy in übertrieben freundlichem Ton. »Ich schenke Ihnen durchaus keine Teilnahme«, entgegnete der Notar. »Ihr Vater war ein Mann von Ehre, und ich möchte seinen Namen nicht besudelt sehen; das ist alles.« »Ich wiederhole Ihnen, daß ich der Tat nicht fähig bin, deren man mich beschuldigt!« 328
»Sagen Sie das Herrn Petit-Jean!« »Aber ich gestehe, die Abwesenheit des Herrn Smith bringt mich in eine schreckliche Verlegenheit. Ich bin unschuldig; ich werde es beweisen, aber eine solche Anklage brandmarkt einen ehrlichen Mann für immer.« »Was beschließen Sie also?« »Verwenden Sie die Summe, die ich Ihnen übergeben habe, um die Person, die den Wechsel in Händen hat, zum Teil zu entschädigen.« »Das Geld gehört meinem Klienten und ist mir heilig.« »In zwei oder drei Tagen werde ich es zurückerstatten.« »Das können Sie nicht.« »Ich habe Hilfsquellen.« »Nicht, daß ich wüßte…« »Ich werde alles zu Gelde machen, was ich besitze. Aber zunächst beschwöre ich sie, verwenden Sie die Summe, die ich Ihnen gegeben habe, um den unglücklichen Wechsel zurückzukaufen. Oder schießen Sie mir die Summe vor. Lassen Sie mich nicht in einer so entsetzlichen Lage!« »Ich soll für Sie bürgen? Für einen solchen Betrag? Sind Sie toll?« »Ich beschwöre Sie im Namen meines Vaters, haben Sie die Güte…« »Ich bin gütig gegen die, die es verdienen«, antwortete der Notar; »als ehrlicher Mann hasse ich die Betrüger… Aber ich höre, Ihre Pferde werden ungeduldig, Herr Vicomte.« In dem Augenblick wurde an die Tür geklopft. »Wer ist da?« fragte Jacob Ferrand. »Die Gräfin von Orbigny«, sagte der Schreiber. »Ersuchen Sie sie, einen Augenblick zu warten.« »Die Stiefmutter der Marquise von Harville«, sagte St. Remy. »Ja, sie hat eine Besprechung mit mir, also – Ihr Diener!« Ferrand klingelte, und der Schreiber erschien. »Lassen Sie Frau von Orbigny eintreten!« Dann wandte er sich an den Vicomte mit den Worten: »Nehmen Sie die 1.300 Franken; es ist doch immerhin eine Anzahlung für Petit-Jean.« 329
Frau von Orbigny trat in dem Augenblick ein, in dem Herr von St. Remy hinausging. »Ah, guten Tag, Vicomte, ich habe lange nicht das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen.« »Wirklich, ich habe seit der Vermählung der Frau von Harville nicht mehr die Ehre gehabt«, antwortete St. Remy, indem er sich verbeugte. »Sind Sie immer in der Normandie?« »Ja, ich bin seit der Verheiratung meiner lieben Stieftochter nicht wieder in Paris gewesen. – Sehen Sie übrigens Harville oft?« »Harville ist menschenscheu geworden, man sieht ihn selten«, sagte St. Remy mit einem Unterton von Ungeduld. Die Stiefmutter Frau von Harvilles war aber nicht die Frau, ihre Beute so bald loszulassen. »Meine Stieftochter«, fuhr sie fort, »ist doch hoffentlich nicht auch so menschenscheu?« »Frau von Harville ist sehr beliebt und umschwärmt. Aber ich fürchte, Ihre kostbare Zeit…« »Keineswegs! Ich schätze mich glücklich, den König der Salons zu treffen; in zehn Minuten werde ich alles so genau wissen, als wenn ich Paris nie verlassen hätte. – Und Herr von Lucenay, der mit Ihnen bei der Hochzeit meiner Stieftochter war?« »Ist origineller als je; er reiste nach dem Orient und kam gerade zur rechten Zeit zurück, um einen Degenstich zu erhalten, der übrigens sehr harmlos ist.« »Der arme Herzog! Und seine Frau? Noch immer so schön und reizend?« »Sie wissen, daß ich die Ehre habe, einer ihrer Freunde zu sein! Aber nun habe ich Sie lange genug aufgehalten. Der verehrte Herr Notar könnte ungeduldig werden. Also, gnädigste Frau…« »Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß wir uns glücklich schätzen würden, Sie bei uns zu sehen. Leben Sie wohl, Vicomte!« Dann setzte sie lächelnd hinzu: »Gestehen Sie, daß Herr Ferrand ein schrecklicher Mensch ist. Nehmen Sie sich also vor ihm in acht. Er ist völlig unbarmherzig.« – Dann wandte sie sich an Ferrand und sagte: »Wissen Sie, Herr Pu330
ritaner, daß Sie eine bewunderungswürdige Bekehrung vollzogen hätten, wenn der Vicomte, der König aller Salons, in ihrer Hand zum Geschäftsmann geworden wäre.« »Allerdings! Der Herr Vicomte verläßt mein Zimmer als ein ganz anderer, als er es betrat.« »Ich sage ja, daß Sie Wunder tun!« »Sie schmeicheln, gnädige Frau«, sagte Ferrand gelassen. St. Remy verbeugte sich tief vor Frau von Orbigny, und in dem Augenblick, in dem er den Notar verlassen wollte, versuchte er noch einmal, dessen Mitleid zu erregen, indem er leichthin sagte: »Sie wollen mir also wirklich nicht bewilligen, um was ich Sie ersuchte?« »Irgendeine Torheit, eine Verschwendung, nicht wahr? Bleiben Sie unerbittlich, Herr Puritaner«, sagte Frau von Orbigny lachend. »Sie hören es, Vicomte. Ich kann einer so schönen Frau nichts abschlagen.« »Mein lieber Herr Ferrand, wir wollen ernst von ernsten Dingen reden. Sie weigern sich also?« Der Notar tat, als zögere er. St. Remy schöpfte Hoffnung. »Wie, Mann von Eisen, Sie geben nach?« sagte Frau von Orbigny lachend, »auch Sie unterliegen dem Zauber des Unwiderstehlichen?« »Wahrhaftig, ich stand auf dem Punkte, nachzugeben, aber Sie nötigen mich, über meine Schwäche zu erröten«, entgegnete Ferrand. Dann wandte er sich an den Vicomte und sagte, mit scharfer Betonung: »Es ist leider unmöglich!« Herr von St. Remy ging verzweifelt fort. Seinem Jäger, der den Kutschenschlag offen hielt, gab er den Befehl: »Ins Hotel Lucenay!«
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in entzückender junger Mann, der Herr von St. Remy!« sagte Frau von Orbigny zu Jacob Ferrand, nachdem der Vicomte fort war. »Wirklich. Aber wir wollen von unseren Geschäften sprechen. – Sie haben mir aus der Normandie geschrieben, daß Sie mich in wichtigen Angelegenheiten um Rat zu fragen wünschten.« »Sind sie nicht immer mein Berater gewesen, seit der gute Doktor Polidori mich an Sie gewiesen hat? – Apropos, haben Sie Nachrichten von ihm?« »Er hat mir, seit seiner Abreise, nicht geschrieben.« »Es handelt sich auch nicht um den guten Doktor. Sie sehen mich in großer Unruhe; mein Mann ist krank, und sein Zustand scheint ihn mit Sorge zu erfüllen.« »Inwiefern?« »Er spricht nur noch von letztwilligen Verfügungen…« Frau von Orbigny verhüllte ihr Gesicht mit dem Taschentuch. »Das ist allerdings traurig«, entgegnete der Notar. »Welche Absichten hat Herr von Orbigny?« »Das weiß ich nicht. – Sie können sich denken, daß ich ihn nicht davon sprechen lasse!« »Hat er Ihnen nichts gesagt?« »Ich glaube«, entgegnete Frau von Orbigny, »er will mir nicht nur alles geben, was er mir, nach dem Gesetze, geben kann, sondern… Aber sprechen wir lieber nicht davon!« »Wovon?« »Herr von Orbigny geht in seiner Güte so weit, daß er einen Teil seines Vermögens veräußern und mir eine bedeutende Summe schenken will.« »Und seine Tochter?« fragte Ferrand in strengem Ton. »Ich muß Ihnen erklären, daß Herr von Harville mir seit einem Jahre die Verwaltung seiner Angelegenheit anvertraut hat. – Will Ihr Gemahl ge332
gen seine Tochter, Frau von Harville, einen Entschluß fassen, der mir nicht richtig erscheint, so dürfen Sie auf meine Mitwirkung nicht rechnen; das sage ich Ihnen gerade heraus.« »Ich selbst sage meinem Manne: Deine Tochter mag nicht recht gegen dich gehandelt haben, das ist aber kein Grund, sie zu enterben.« »Sehr richtig! Und was antwortet er?« »Er antwortet: ›Ich werde meiner Tochter eine Rente von 250.000 Franken hinterlassen. Sie besitzt von Ihrer Mutter über eine Million; ihr Mann hat persönlich ein ungeheures Vermögen. Kann ich das übrige nicht dir hinterlassen, meiner einzigen Stütze?‹ – Trotzdem habe ich aber sein Anerbieten immer zurückgewiesen, und er bat mich endlich, zu Ihnen zu gehen.« »Ich kenne Herrn von Orbigny nicht.« »Er aber kennt, wie jedermann, Ihre Rechtschaffenheit.« »Warum wies er Sie an mich?« »Um meinen Bedenken ein Ende zu machen, sagte er: ›Ich fordere dich nicht auf, mit meinem Notar zu sprechen, weil du glauben könntest, er würde sich in meinem Sinne äußern, um mir gefällig zu sein. Ich will mich nach der Entscheidung eines Mannes richten, dessen Rechtlichkeit sprichwörtlich ist… Glaubt Herr Ferrand, es verletze dein Zartgefühl, wenn du meine Anerbietungen annimmst, so soll nicht weiter die Rede davon sein.‹ Dem habe ich mich unterworfen«, fuhr Frau von Orbigny fort, »und so sind Sie unser Schiedsrichter geworden. ›Billigt er meine Absicht‹, setzte mein Mann hinzu, ›so schicke ich ihm Vollmacht, in meinem Namen meine Renten und Papiere zu verkaufen und den Erlös zu verwalten.‹« Ferrands Augen funkelten bei diesen Worten hinter den Brillengläsern. Trotzdem antwortete er in barschem Ton: »Man könnte die Geduld verlieren! Das ist nun das zehnte oder elfte Mal, daß man mich zum Schiedsrichter wählt, immer unter dem Vorwande meiner Rechtschaffenheit. Immer führt man dieses Wort im Munde, das mir nur Arbeit, Sorgen und Unannehmlich333
keiten bringt.« »Mein lieber Herr Ferrand, Sie schreiben also an Herrn von Orbigny? Er wartet nur auf Ihren Brief, um Ihnen seine Vollmacht zu senden.« »Wieviel ist es ungefähr?« »Er sprach, glaube ich, von 400.000 bis 500.000 Franken.« »Die Summe ist geringer, als ich erwartete. Nun, Sie haben sich für Orbigny aufgeopfert, seine Tochter ist sehr reich, – ich glaube, Sie dürfen sein Anerbieten annehmen.« »So werde ich mich also fügen«, entgegnete sie mit einem Seufzer. In diesem Augenblick wurde wieder an die Tür geklopft. »Gräfin MacGregor«, meldete der erste Schreiber. »Lassen Sie sie einen Augenblick warten.« »Ich verlasse Sie also, Herr Ferrand«, sagte Frau von Orbigny… »Schreiben Sie an meinen Mann, da er es nun einmal wünscht, und er wird Ihnen morgen die Vollmacht senden.« »Ich werde schreiben.« »Leben Sie wohl!« »Ach, Sie wissen nicht, wie unangenehm es ist, eine solche Verantwortung auf sich zu nehmen. Ich sage Ihnen, es gibt nichts Schrecklicheres als diesen Ruf von Rechtschaffenheit, der einem nur Sorgen und Arbeit auf den Hals lädt!« »Und die Bewunderung aller guten Menschen!« »Gott sei Dank, ich suche den Lohn, nach dem ich strebe, nicht hienieden«, entgegnete Ferrand mit heuchlerischem Blick.
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arah trat mit großer äußerer Sicherheit und Ruhe in das Kabinett des Notars. Jacob Ferrand kannte sie nicht und wußte nicht, welche Absicht sie zu ihm führte. Er beobachtete sie deshalb sehr aufmerksam und bemerkte ein leichtes Zittern der Augenbrauen, das ihm Verlegenheit zu verraten schien. Der Notar stand von seinem Sessel auf, deutete auf einen Stuhl und sagte: »Sie haben eine Besprechung mit mir gewünscht; gestern war ich zu beschäftigt und konnte Ihnen erst heute antworten; ich bitte tausendmal um Verzeihung.« »Ich wünsche wegen einer sehr wichtigen Angelegenheit mit Ihnen zu sprechen, und da Sie allgemein als ein höchst rechtschaffener und gefälliger Mann gelten, so hoffe ich auf das Gelingen des Schrittes, den ich versuche.« Der Notar verneigte sich leicht auf seinem Stuhle. »Ich weiß, daß Ihre Verschwiegenheit erprobt ist…« »Pflicht, Madame!« »Sie sind ein unbestechlicher Mann von strengen Grundsätzen.« »Das hoffe ich.« »Würden Sie aber den Mut haben, eine Weigerung auszusprechen, wenn man Ihnen sagte, es hänge von Ihnen ab, einer unglücklichen Mutter das Leben, ja mehr als das Leben: den Verstand wiederzugeben?« »Erzählen Sie mir die Sache, und ich werde antworten!« »Vor ungefähr vierzehn Jahren kam ein junger Mann zu Ihnen, um Sie zu bitten, 150.000 Franken zu verwalten, die für ein Kind von drei Jahren bestimmt sein sollten, dessen Eltern unbekannt zu bleiben wünschten.« »Weiter…«, sagte der Notar, der dadurch vermied, bejahend zu antworten. »Sie übernahmen das Geld und versprachen, dem Kinde eine Leib335
rente von 8.000 Franken zu sichern; die Hälfte dieser Rente sollte, bis zur Mündigkeit des Kindes, kapitalisiert, die andere der Person ausgezahlt werden, die das Kind, ein Mädchen, erziehen würde.« »Weiter!« »Nach drei Jahren«, fuhr Sarah fort, die eine leichte Unsicherheit nicht verbergen konnte, »ist dieses Kind gestorben.« »Ehe wir fortfahren, muß ich fragen, welches Interesse Sie an dieser Angelegenheit haben.« »Die Mutter des kleinen Mädchens ist meine Schwester. Ich habe hier, als Beweis, den Totenschein des Kindes, den Brief der Person, die es erzogen hat, und die Obligation eines Ihrer Klienten, bei dem Sie das Geld angelegt hatten.« »Lassen Sie die Papiere sehen!« Sarah entnahm ihrem Portefeuille mehrere Papiere, die der Notar sorgfältig prüfte. »Und was wünschen Sie, Madame? Der Totenschein ist in Ordnung, und die Summe ist Herrn Petit-Jean, meinem Klienten, durch den Tod des Kindes zugefallen. Die Rente habe ich, bis zum Tode des Kindes, pünktlich bezahlt.« »Ich erkenne das an. Die Frau, der das Kind übergeben worden war, hat ebenfalls Ansprüche auf unsere Dankbarkeit, da sie meiner armen kleinen Nichte die liebevollste Pflege gewidmet hat.« »Allerdings, und ich bin mit dem Verhalten der Frau so zufrieden gewesen, daß ich sie in meinen Dienst nahm, als sie, nach dem Tode des Kindes, keinen Erwerb mehr hatte. Sie ist noch jetzt bei mir.« »Madame Seraphin befindet sich in Ihrem Hause?« »Seit elf Jahren!« »Ach, so könnte sie uns von großem Nutzen sein, falls Sie ein Gesuch wohlwollend aufnähmen, das Ihnen auf den ersten Blick vielleicht seltsam, wenn nicht schlimmer, erscheinen wird. Sobald Sie aber erfahren haben, zu welchem Zwecke…« »Ich halte Sie ebensowenig für fähig, ein ›schlimmes‹ Gesuch an mich zu richten, als ich es anzuhören imstande sein würde.« 336
»Ich weiß das. Aber meine ganze Hoffnung gründet sich auf ihr Mitleid. – In jedem Falle darf ich wohl auf Ihre Verschwiegenheit rechnen?« »Ja, Madame.« »Der Tod des armen Kindes hat die Mutter so trostlos gemacht, daß ihr Schmerz heute noch so groß ist, wie vor elf Jahren, und daß wir jetzt für ihren Verstand fürchten, nachdem wir lange für ihr Leben gefürchtet haben.« »Arme Mutter!«, sagte Ferrand mit einem Seufzer. »Ach ja, die arme Mutter ist doppelt zu beklagen. Als sie das Kind verlor, mußte sie erröten, während meine Schwester, wenn das Kind noch lebte, es jetzt bei sich behalten und stolz darauf sein könnte. Eben weil dieser Kummer sich mit dem Schmerz um den Verlust des Kindes verbindet, fürchten wir für ihren Verstand.« »Dagegen ist nun leider nichts zu tun.« »Doch, Herr Notar.« »Was, Madame?« »Nehmen wir an, man sagte der armen Mutter: ›Man hat ihre Tochter für tot gehalten, aber es war ein Irrtum. Die Frau, die das Kind pflegte, kann bestätigen, daß es noch lebt.‹« »Eine solche Unwahrheit würde grausam sein. Warum der armen Mutter eine Hoffnung vorspiegeln, die sich nicht erfüllen ließe?« »Wenn es nun aber keine Unwahrheit wäre, oder vielmehr, wenn die Behauptung sich doch verwirklichen ließe?« »Durch ein Wunder? Wenn es dadurch zu bewirken wäre, daß ich mein Gebet mit dem Ihren vereinigte, so würde ich inbrünstig beten, glauben Sie mir! Leider ist aber der Totenschein ein unerbittliches Dokument!« »Ich weiß, das Kind ist tot, und doch wäre das Unglück, wenn Sie es wollten, nicht unabänderlich.« »Sie sprechen in Rätseln.« »Wenn meine Schwester morgen ihre Tochter wiederfände, so würde sie nicht nur dem Leben zurückgegeben sein, sondern auch die sichere Hoffnung haben, den Vater des Kindes zu heiraten. Meine 337
Nichte ist in ihrem sechsten Jahre gestorben. Ihre Eltern, von denen sie in frühester Kindheit getrennt wurde, haben keine Erinnerung mehr an sie. Wenn man ein Mädchen von siebzehn Jahren fände – so alt würde meine Nichte jetzt sein – und man zu meiner Schwester sagte: ›Da ist Ihre Tochter, man hat Sie getäuscht, als man Ihnen sagte, sie sei tot; die Frau, die sie erzogen hat, und ein achtbarer Notar werden es beweisen…‹«. »Genug! Das ist eine Infamie!« »Wem geschieht damit ein Unrecht? Meine Schwester und der Mann, den sie heiraten möchte, sind verwitwet und kinderlos; beide beklagen den Verlust ihres Kindes. Täuscht man sie, so macht man sie glücklich und sichert zugleich einem armen, verlassenen Mädchen die glänzendste Zukunft. – Es wäre also eine edle Tat, kein Verbrechen!« »Wahrhaftig«, fuhr der Notar, mit wachsender Entrüstung, fort, »ich bewundere, wie schön die abscheulichsten Pläne dargestellt werden können.« »Aber, mein Herr, bedenken Sie –« »Genug, Madame, genug!« Sarah warf dem Notar einen durchbohrenden Blick zu und sagte kalt: »Sie weigern sich also?« »Fügen Sie keine neue Beleidigung hinzu!« »Hüten Sie sich!« »Drohungen?« »Um Ihnen zu beweisen, daß es keine leeren Drohungen sein werden, so hören Sie zuerst, daß ich keine Schwester habe. Ich selbst bin die Mutter des Kindes.« »Sie?« »Ich wollte auf einem Umweg zu meinem Ziel gelangen und ersann eine Fabel, um Sie für die Sache zu gewinnen. – Sie sind unbarmherzig, – wollen den Krieg! – Sie sollen ihn haben!« »Weil ich mich weigere, an einem verbrecherischen Plane mitzuwirken?« 338
»Hören Sie mich an… Ihr Ruf steht fest und ist allgemein bekannt.« »Man muß also den Kopf verloren haben, um mir einen solchen Antrag zu machen.« »Seit dem Beginn unserer Unterredung zweifle ich, daß Sie das Ansehen verdienen, in dem Sie stehen.« »Wirklich, Madame? Der Zweifel macht Ihrem Scharfsinn Ehre.« »Nicht wahr? Denn der Zweifel gründet sich nur auf meinen, allerdings untrüglichen, Instinkt.« »Machen wir der Besprechung ein Ende!« »Vorher erfahren Sie noch meinen Plan! Zuerst sage ich Ihnen, daß ich von dem Tode des armen Kindes überzeugt bin, aber ich werde behaupten, daß es nicht tot sei; man verteidigt ja die unwahrscheinlichsten Dinge. Sie befinden sich jetzt in der Lage, daß Sie wahrscheinlich von vielen beneidet werden, und diese werden die Gelegenheit, Sie anzugreifen, für einen Glücksfall halten; die Gelegenheit werde ich Ihnen bieten –« »Sie!« »Ja, indem ich Sie, unter irgendeinem Vorwand, z.B. wegen einer Unregelmäßigkeit im Totenschein, angreife. Ich werde behaupten, meine Tochter sei nicht tot. Da ich das größte Interesse habe, den Glauben zu erwecken, daß sie noch lebt, so wird der Prozeß allgemein bekannt werden! Eine Mutter, die ihr Kind zurückfordert, ist immer interessant, und ich habe Ihre Neider, Ihre Feinde und alle empfänglichen Gemüter auf meiner Seite.« »Welches Interesse könnte ich gehabt haben, Ihr Kind für tot auszugeben, wenn es noch lebte?« »Zum Beispiel: Sie haben das Kind verschwinden lassen, um mit Ihrem Klienten die Summe zu teilen, die für das Kind ausgesetzt war.« Der Notar zuckte die Achseln. »Wenn ich ein solcher Verbrecher wäre, würde ich das Kind vermutlich umgebracht haben.« Sarah erschrak, schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Für einen so frommen Mann ist das ein sehr verbrecherischer 339
Gedanke. – Sollte ich zufällig das Richtige getroffen haben? … Sie sehen, ich bin stark genug, selbst einen heiligen Mann zu verdächtigen. Überlegen Sie sich die Sache! Was ich von Ihnen verlange, können Sie ungestraft tun. Sie können nicht einmal kompromittiert werden; versichern Sie nur, Sie Mann ohne Tadel, daß alles zwischen Ihnen, mir und Madame Seraphin verabredet worden sei, und man wird Ihnen glauben. Ihren Lohn mögen Sie selbst bestimmen.« Jacob Ferrand behielt seine ganze Kaltblütigkeit. Um zunächst Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, sagte er ruhig zu Sarah: »Sie haben von mir einen Entschluß bis morgen mittag verlangt. Ich gebe Ihnen bis übermorgen nachmittag Zeit, einem Plane zu entsagen, dessen Tragweite Sie wohl kaum übersehen. Wenn ich bis dahin von Ihnen nicht die Mitteilung habe, daß Sie von diesem törichten und verbrecherischen Unternehmen abstehen, so werden Sie zu Ihrem Nachteil erfahren, daß die Justiz die ehrlichen Leute zu schützen weiß, die an verbrecherischen Plänen nicht teilnehmen wollen.« »Das heißt, Sie verlangen einen Tag Bedenkzeit mehr? Das ist ein gutes Zeichen! Übermorgen, um dieselbe Stunde, werde ich wieder hier erscheinen, und es wird nur von Ihnen abhängen, ob Sie Frieden oder Krieg haben wollen.« Darauf verließ Sarah den Notar. Unmittelbar nach ihr erschien Herr Karl Robert, der, als guter Bekannter, ohne weiteres eintrat.
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er Kommandant, wie ihn Frau Pipelet nannte, fand den Notar sehr verstimmt und wunderte sich nicht, als er ihn grob an340
fuhr: »Die Nachmittage sind für meine Klienten bestimmt. – Wenn Sie mit mir sprechen wollen, so kommen Sie vormittags.« »Mein lieber Gerichtsschreiber, erstens handelt es sich um eine wichtige Angelegenheit, und zweitens wollte ich Sie persönlich beruhigen.« »Mich beruhigen?« »Sie wissen also nicht?« »Was?« »Mein Duell mit dem Herzog von Lucenay… Davon wissen Sie nichts?« »Nein.« »Erstaunlich!« »Und weshalb dieses Duell?« »Wegen einer höchst ernsthaften Sache. Denken Sie sich, Lucenay sagte mir ins Gesicht, ich wäre verschleimt…« »Und deshalb schlugen Sie sich mit ihm?« »Warum sollte man sich sonst schlagen?« Der Notar zuckte die Achseln. »Man einigte sich also über Tag und Stunde, und gestern früh wurde die Sache abgemacht; ich verwundete den Herzog leicht am Arme, und die Sekundanten erklärten, daß der Ehre Genüge geschehen sei.« »Das nenne ich Mut! – Aber nun sagen Sie mir: was wünschen Sie?« »Mein lieber Aktenbewahrer, es handelt sich um etwas sehr wichtiges. Sie wissen, daß wir, als ich Ihnen 350.000 Franken zur Bezahlung Ihres Amtes vorschoß, ausbedungen haben, ich könnte, nach vierteljährlicher Kündigung, das Geld von Ihnen zurückfordern.« »Nun?« »Nun«, sagte Robert, »man hat mir den Ankauf eines Gutes angetragen, und wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, so möchte ich gern mein Geld zurückhaben…« »Ah!« »Es geschieht wahrhaftig nicht, weil man von Ihnen sagt…« 341
»Was sagt man?« »Es ist kein wahres Wort daran, aber die böse Welt versichert, Sie wären, gegen Ihren Willen, in unangenehme Dinge verwickelt…« »Sie halten also Ihr Geld nicht mehr für sicher bei mir?« »Doch, doch, aber…« »Warten Sie!« Ferrand verschloß seinen Schreibtisch und stand auf. »Wohin gehen Sie?« »Ich will Sie von der Wahrheit der Gerüchte überzeugen, die über den Stand meiner Angelegenheiten umlaufen«, antwortete der Notar ironisch. Dann öffnete er die Tür zu einer kleinen, verborgenen Treppe, auf der er ins Hintergebäude gelangen konnte, ohne durch die Schreibstube zu gehen und verschwand. Kaum war er fort, so klopfte der erste Schreiber. »Herein!« sagte Karl Robert. »Ist Herr Ferrand nicht da?« »Nein.« »Eine Dame wünscht ihn, in einer sehr dringenden Angelegenheit, zu sprechen.« »Ist die Dame hübsch?« »Sie trägt einen so dichten Schleier, daß man ihr Gesicht nicht sehen kann.« »Schon gut. Ich werde Herrn Ferrand die Sache melden.« Der Schreiber ging hinaus. Ferrand kam mit einigen Papieren zurück, die er Herrn Karl Robert übergab. »Da«, sagte er, »sind die 350.000 Franken in Schatzscheinen. – In einigen Tagen bringen wir unsere Zinsrechnungen in Ordnung. Geben Sie mir jetzt, bitte, eine Quittung!« »Wie!«, rief Robert erstaunt, »glauben Sie aber ja nicht –« »Ich glaube nichts.« »Lieber Freund…« »Schreiben Sie und sagen Sie den Leuten, die von meiner Verle342
genheit sprechen, wie ich auf solche Gerüchte antworte.« »Ihr Kredit wird noch fester stehen, sobald man das erfährt, aber nehmen Sie das Geld wieder, ich weiß in diesem Augenblicke nichts damit anzufangen. Ich sagte, in drei Monaten.« »Herr Robert, man mißtraut mir nicht zweimal!« »Sie haben es übelgenommen?« »Ich bitte um die Quittung!« »Eigensinn!« entgegnete Robert. Während er die Quittung schrieb, sagte er: »Eine Dame wünscht in einer dringenden Sache mit Ihnen zu sprechen. – Da ist Ihre Quittung; ist sie in Ordnung?« »Vollkommen!« Der Notar klingelte seinem ersten Schreiber und sagte zu ihm: »Lassen Sie die Dame eintreten. – Adieu, Herr Robert!« Und der Notar schloß die Türe hinter Karl Robert zu. Nach einigen Augenblicken führte der Schreiber die Herzogin von Lucenay herein, die sehr bescheiden gekleidet war und das Gesicht mit einem dichten, schwarzen Schleier verhüllt hatte.
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ie Herzogin trat, in ziemlicher Verlegenheit, langsam an den Schreibtisch des Notars, der ihr einige Schritte entgegenging. »Wer sind Sie, Madame, und was wünschen Sie von mir?« redete Ferrand, dessen Laune, durch die Drohungen Sarahs schon verdüstert, durch das Mißtrauen Roberts aufs äußerste gereizt worden war, sie grob an. Übrigens war die Herzogin so bescheiden gekleidet, daß der Notar keinen Grund sah, artig gegen sie zu sein. »Mein Herr«, sprach sie mit bewegter Stimme, während sie ihr Gesicht zu verbergen suchte, »kann man Ihnen ein Geheimnis von der größten Wichtigkeit anvertrauen?« 343
»Mir kann man alles anvertrauen, Madame, aber ich muß wissen, mit wem ich spreche.« »Ich weiß, daß Sie ein Mann von Ehre und Rechtlichkeit sind.« »Zur Sache, Madame, zur Sache! Man wartet hier auf mich. Wer sind Sie?« »Auf den Namen kommt es wenig an. – Einer – meiner Verwandten ist eben von Ihnen fortgegangen.« »Sein Name?« »Florestan von St. Remy.« »Ah!« sagte der Notar und warf einen forschenden Blick auf die Herzogin; dann fuhr er fort: »Nun, Madame?« »Herr von St. Remy hat mir alles gesagt.« »Was hat er Ihnen gesagt?« »Ach, er hat mir wohl gesagt, daß Sie ein Mann ohne Erbarmen wären.« »Ja, mit Spitzbuben und Fälschern habe ich allerdings kein Erbarmen. St. Remy ist also Ihr Verwandter? Sie sollten sich seiner schämen. Wollen Sie hier weinen, um mich weich zu machen, so wird Ihnen das wenig nützen…« Diese brutale Grobheit empörte den Stolz der Herzogin. Sie stand auf, schlug den Schleier zurück und sagte mit fester Stimme: »Mein Herr, ich bin die Herzogin von Lucenay!« Die Frau wirkte in dieser Haltung so hoheitsvoll, daß der Notar demütig zurücktrat, die Mütze abnahm und sich tief verbeugte. »Herr Notar«, sagte die Herzogin von Lucenay, »Herr von St. Remy ist mein Freund; er hat mir die Verlegenheit geschildert, in der er sich befindet. – Durch Geld läßt sich alles ausgleichen; wie groß ist die Summe, die nötig ist, diesen Erbärmlichkeiten ein Ende zu machen?« »Man verlangt 100.000 Franken«, entgegnete Ferrand in mürrischem Ton. »Sie sollen sie haben und werden die Papiere sofort an Herrn von St. Remy senden!« 344
»Wo sind die 100.000 Franken, Frau Herzogin?« »Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß Sie sie bekommen werden?« »Ich brauche sie vor morgen mittag; sonst wird die Klage erhoben!« »Gut, legen Sie die Summe aus, ich werde sie bezahlen!« »Das ist mir nicht möglich.« »Sie werden doch nicht behaupten wollen, Sie könnten von heute bis morgen nicht 100.000 Franken auftreiben?« »Unter welcher Garantie?« »Was heißt das?« »Wer bürgt mir für die Summe?« »Ich!« »Aber…« »Brauche ich Ihnen zu sagen, daß ich, vier Stunden von Paris entfernt, ein Gut besitze, das mir 80.000 Franken Rente einträgt? Das genügt, glaube ich, für das, was Sie Garantien nennen.« »Ja, mit hypothekarischer Verschreibung!« »Was bedeutet dieses Wort? Irgendeine Formalität? … Meinetwegen.« »Eine solche Urkunde kann vor vierzehn Tagen nicht ausgestellt werden, und es bedarf dazu der Einwilligung Ihres Gemahls.« »Das Gut ist mein alleiniges Eigentum«, entgegnete die Herzogin ungeduldig. »Gleichviel; Sie sind verheiratet!« »Noch einmal: Sie werden mir nicht einreden wollen, Sie könnten die 100.000 Franken nicht herbeischaffen.« »Wenden Sie sich doch an Ihren Notar, mir ist es nicht möglich.« »Ich habe Gründe, die Sache geheimzuhalten«, sagte die Herzogin stolz. »Sie kennen die Spitzbuben, die St. Remy brandschatzen wollen; deshalb wende ich mich an Sie!« »Ihr Vertrauen ehrt mich, aber ich kann Ihren Wunsch nicht erfüllen.« »Verlangen Sie meine Unterschrift? Ich gebe sie; schnell, damit die Sache zu Ende kommt.« 345
»Angenommen, Sie wären die Frau Herzogin von Lucenay –« »Kommen Sie in einer Stunde in das Hotel Lucenay. Ich werde in meiner Wohnung unterzeichnen!« »Ihre Unterschrift allein hat für mich keinen Wert.« Jacob Ferrand weidete sich an der Ungeduld der Herzogin, die, unter der Maske der Kaltblütigkeit, eine schmerzliche Angst verbarg. Im Augenblick wußte sie wirklich nicht, wo sie das Geld auftreiben konnte. Am Tage vorher hatte ihr Juwelier ihr eine bedeutende Summe auf ihre Juwelen vorgeschossen, von denen einige Morel anvertraut worden waren. Mit dieser Summe hatte St. Remy die Wechsel bezahlt; zwei Freunde der Herzogin, an die sie sich im Notfall hätte wenden können, befanden sich gerade nicht in Paris. In ihren Augen war der Vicomte an der Fälschung unschuldig; sie glaubte ihm, aber seine Lage war trotzdem schrecklich. Die Herzogin liebte St. Remy mit der Leidenschaft, die Frauen ihrer Art empfinden, wenn die erste Jugendblüte verwelkt ist. Nach kurzem Besinnen begann die Herzogin von neuem: »Da Sie die Summe besitzen, um die ich Sie ersuche, und da meine Bürgschaft doch wohl ausreichend ist, warum wollen Sie mir das Geld nicht geben?« »Weil auch Männer ihre Launen haben.« »Ich wiederhole: Stellen Sie Ihre Bedingungen selbst, ich nehme sie an, wie sie auch lauten mögen.« »Sie würden jede Bedingung annehmen?« fragte der Notar lauernd. »Jede; zwei-, drei-, viertausend Franken, mehr noch, wenn Sie wollen, denn ich sage Ihnen«, setzte die Herzogin hinzu, »Sie sind meine letzte Hilfe. – Ich wiederhole also: Welche Bedingung sie auch stellen, ich nehme sie an.« Ferrand stand rasch auf und trat zur Herzogin. »Sie werden alles bewilligen?« rief er, mit bebender Stimme, indem er sich der Herzogin noch mehr näherte. »Nun gut, ich will Ihnen diese Summe unter einer Bedingung leihen, und ich schwöre Ihnen, daß…« Er konnte seine Erklärung nicht beenden. 346
Die Herzogin brach beim Anblick der widerlich entflammten Züge Ferrands in ein so schallendes Gelächter aus, daß der Notar, wie geschlagen, zurückprallte. Ohne ihm Zeit zu lassen, ein weiteres Wort zu sagen, überließ sich die Herzogin ihrer Heiterkeit, schlug den Schleier wieder vor ihr Gesicht und sagte: »Unter diesen Umständen will ich doch lieber meinen Mann um die Gefälligkeit bitten.« Dann ging sie, unter fortwährendem Lachen, hinaus. Jacob Ferrand verfluchte seine Unvorsichtigkeit. Er saß, in finstere Gedanken versunken, als die Geheimtür seines Kabinetts sich öffnete, und Madame Seraphin ängstlich eintrat. »Ach, Ferrand!« rief sie aus, »Sie hatten wohl recht, als Sie sagten, wir würden eines Tages unglücklich werden, weil wir sie am Leben gelassen haben.« »Wen?« »Das verwünschte kleine Mädchen.« »Wieso?« »Eine einäugige Frau, die ich nicht kannte, und der Tournemine die Kleine vor elf Jahren übergeben hatte… Ach Gott! Wer hätte das geglaubt?« »So rede doch!« »Die einäugige Frau war eben unten und sagte, sie wisse, daß ich ihr das Kind übergeben hätte.« »Verflucht! Wer hat ihr das gesagt?« »Ich habe alles geleugnet. Aber sie behauptet, sie habe die Kleine wiedergefunden, sie wisse, wo sie sei und wisse auch, daß es nur auf sie ankomme, alles zu entdecken.« »Ist denn die Hölle heute los!« rief der Notar. »Mein Gott, was soll ich der Frau sagen, um sie zum Schweigen zu bringen?« »Sie weiß, wo das Mädchen ist?« »Sie behauptet, es zu wissen.« »Und sie will wiederkommen?« 347
»Morgen.« »Schreibe an Polidori, er solle mich heute abend um neun Uhr besuchen.« »Wollen Sie das junge Mädchen und die Alte aus dem Wege schaffen? Das wäre viel auf einmal, Ferrand.« »Ich sage dir, schreibe an Polidori, er solle mich heute abend um neun Uhr besuchen.«
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n dem Tag, an dem Marie durch die Eule und den Schulmeister geraubt worden war, kam, gegen zehn Uhr abends, ein Reiter in Bouqueval an, der, wie er sagte, Madame Georges über das Verschwinden ihrer Schutzbefohlenen, die ihr sehr bald wieder zugeführt werden würde, im Auftrag Rudolfs beruhigen sollte. Aus wichtigen Gründen, setzte dieser Mann hinzu, ersuche Herr Rudolf Madame Georges, ihm nicht nach Paris zu schreiben, sondern dem Boten ihren Brief mitzugeben. Der Bote war von Sarah abgeschickt. Durch diese List beruhigte sie Madame Georges und verzögerte zu gleicher Zeit die Entdeckung der Entführung. Inzwischen hoffte Sarah, den Notar Ferrand zu zwingen, den unwürdigen Betrug zu begünstigen. Das war aber noch nicht alles. Sarah wollte sich auch der Marquise von Harville entledigen, die ihren Plänen im Wege stand und die sie, ohne die Geistesgegenwart Rudolfs, bereits ins Unglück gestürzt hätte. Einen Tag, nachdem der Marquis seiner Frau in das Haus in der Rue du Temple gefolgt war, begab sich Tom dahin, der Frau Pipelet leicht zum Erzählen brachte und von ihr erfuhr, eine junge Dame, 348
die beinahe von ihrem Mann überrascht worden wäre, wäre durch die Klugheit eines Mieters namens Rudolf gerettet worden. Nachdem Sarah von diesem Umstand unterrichtet war, entwarf sie den Plan, ein anonymes Schreiben an Herrn von Harville abzusenden, um einen Bruch zwischen Rudolf und dem Marquis herbeizuführen. Der Brief lautete: »Man hat Sie hintergangen! Ihre Frau, die davon benachrichtigt war, daß Sie ihr folgten, ersann eine Ausrede; sie ging aber zu einer Zusammenkunft mit einer sehr hochgestellten Person, die in dem Hause der Rue du Temple, unter dem Namen Rudolf, ein Zimmer im vierten Stock gemietet hat. Wenn Sie das bezweifeln, so gehen Sie in das Haus und erkundigen Sie sich; beschreiben Sie die hochgestellte Person, die man meint, und Sie werden leicht finden, daß Sie der leichtestgläubige und gutmütigste Ehemann sind, der jemals hintergangen worden ist. Mißachten Sie die Warnung nicht, wenn man nicht glauben soll, daß Sie ein zu eifriger Fürstenfreund sind.« Dieser Brief wurde von Sarah zur Post gebracht. – Der Marquis und die Marquise von Harville standen eben vom Tisch auf; der Ausdruck Clémences war sanft und liebevoll, und auch Harville sah minder traurig aus als gewöhnlich. Er hatte den Brief Sarahs noch nicht erhalten. »Was tust du heute abend?« fragte er seine Frau. »Ich werde nicht ausgehen. Und du?« »Ich weiß es nicht«, antwortete er mit einem Seufzer. »Ich werde den Abend, wie so viele andere, allein verbringen.« »Warum allein, da ich nicht ausgehe?« Harville sah seine Frau überrascht an. »Ich weiß, daß du es vorziehst, allein zu bleiben, wenn du nicht ausgehst.« »Ja, da ich aber sehr veränderlich bin«, sagte Clémence lächelnd, 349
»so würde ich heute abend meine Einsamkeit gern mit dir teilen, wenn es dir angenehm ist.« »Wahrhaftig?« fragte Harville beglückt. »Wie liebenswürdig von dir, einem Wunsch entgegenzukommen, den ich nicht auszusprechen wagte!« Frau von Harville reichte ihm lebhaft die Hand und sagte: »Albert, ich schwöre es, ich werde dir stets die aufopferndste Freundin, die zärtlichste Schwester sein. Aber verzeihe, wenn ich dir soeben vielleicht Hoffnungen gemacht habe, die ich nicht erfüllen kann.« »Nie?« fragte Harville, indem er seine Frau mit einem bittenden Blick ansah. »Nie!« antwortete Clémence. Dieses Wort und der Ton, in dem es gesprochen wurde, verrieten einen unwiderruflichen Entschluß. Clémence hatte sich, durch Rudolf bewogen, fest entschlossen, Harville auf das sorgsamste zu pflegen, aber sie fühlte auch die Unfähigkeit, jemals Liebe für ihn zu empfinden. Nach einem Augenblick schmerzlichen Schweigens strich Harville mit der Hand über seine feuchten Augen und sagte bitter: »Verzeihe, ich hatte mich geirrt; verzeihe, daß ich mich einer törichten Hoffnung überließ!« Nach einer Pause rief er dann aus: »Ach, wie unglücklich bin ich!« »Lieber Mann«, entgegnete Clémence sanft, »hoffe auf bessere Tage. Bis jetzt bin ich fast gleichgültig gewesen, du wirst sehen, wie teilnehmend ich von nun an sein werde, welchen Trost du in meiner Liebe finden wirst.« Ein Bedienter trat ein und sagte: »Se. königl. Hoheit der Großherzog von Gerolstein läßt die Frau Marquise fragen, ob sie ihn empfangen kann.« Clémence sah ihren Mann fragend an. Harville nickte. Der Bediente ging hinaus. 350
»Verzeihe, lieber Mann«, sagte Clémence, »ich habe ihm meine Türe nicht verboten. – Übrigens hast du den Fürsten lange nicht gesehen; er wird sich freuen, dich hier zu finden.« »Auch ich würde ihn mit Vergnügen wiedersehen«, antwortete Harville, »aber ich bin jetzt so aufgeregt, daß ich seinen Besuch lieber an einem anderen Tage empfangen hätte.« In diesem Augenblick wurde Rudolf gemeldet. »Ich freue mich sehr, daß ich Sie treffe«, sagte Rudolf zum Marquis, nachdem er Frau von Harville begrüßt hatte. »Es ist wirklich lange her, seit ich die Ehre gehabt habe, Ihnen die Hand zu drücken.« »Und an wem liegt die Schuld, Unsichtbarer? Das letztemal, als ich der Marquise meinen Besuch machte, fragte ich nach Ihnen. Sie waren nicht zu sprechen. Seit drei Wochen haben Sie mich vergessen; das ist sehr unrecht!« »Sagen Sie ihm nur die Wahrheit«, meinte Clémence lächelnd. »Herr von Harville trägt um so größere Schuld, als er für Eure Hoheit die tiefste Ergebenheit fühlt, und man, wegen seiner Nachlässigkeit, daran zweifeln könnte.« »Glauben Sie mir, Hoheit, nur unvorhergesehene Umstände hinderten mich, öfter von Ihrer Güte Gebrauch zu machen.« »Unter uns, lieber Albert, ich halte Sie für etwas zu platonisch in der Freundschaft; sind Sie erst einmal überzeugt, daß man Sie liebt, so liegt Ihnen nicht mehr viel daran, Beweise von Anhänglichkeit zu geben oder zu empfangen.« Ein Diener übergab dem Marquis einen Brief. Der Marquis wies, aus Rücksicht auf den Fürsten, den silbernen Teller zurück, den ihm der Diener reichte und sagte halblaut: »Später! Später!« »Lieber Albert«, sagte Rudolf, »machen Sie meinetwegen solche Umstände?« »Ich versichere Sie, es hat keine Eile.« »Noch einmal, Albert, lesen Sie den Brief!« »Wenn Hoheit es verlangen«, sagte der Marquis, indem er den Brief 351
vom Teller nahm. »Gewiß verlange ich, daß Sie mich als Freund behandeln.« Dann wandte sich Rudolf zu der Marquise und setzte hinzu: »Welcher Triumph für Sie, Marquise, diesen eigensinnigen Willen stets zu beugen!« Harville trat an einen auf dem Kamin stehenden Leuchter und erbrach den Brief Sarahs.
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udolf und Clémence plauderten, während Harville den Brief zweimal las. Die Züge des Marquis blieben ruhig, nur seine Hand zitterte, als er, nach kurzem Zögern, das Briefchen in die Tasche steckte. »Auf die Gefahr hin, für menschenscheu gehalten zu werden«, sagte er lächelnd zu Rudolf, »muß ich Sie um die Erlaubnis bitten, den Brief beantworten zu dürfen, der wichtiger ist, als ich anfangs glaubte.« »Wie er uns überall ausweicht!« sagte Rudolf lachend. »Versuchen Sie nicht, Madame, ihn zurückzuhalten?« »Ich wage nicht, zu versuchen, was Eurer Hoheit nicht gelungen ist.« »Ernstlich, lieber Albert, kommen Sie wieder, sobald Sie den Brief geschrieben haben, oder versprechen Sie wenigstens, mich zu besuchen; ich habe Ihnen mancherlei zu sagen.« »Eure Hoheit sind sehr gütig«, antwortete der Marquis, mit einer tiefen Verbeugung; dann ging er hinaus und ließ Rudolf mit Clémence allein. »Ihr Mann quält sich mit unangenehmen Gedanken«, sagte Rudolf, »sein Lächeln kam mir sehr erzwungen vor.« 352
»Harville war sehr bewegt, als Eure Hoheit erschienen, und es wurde ihm schwer, es zu verbergen.« »Ich kam vielleicht zu ungelegener Zeit?« »Nein, Sie ersparten mir vielmehr das Ende einer peinlichen Unterredung.« »Wieso?« »Ich hatte Harville erzählt, wie ich mich von jetzt an gegen ihn benehmen wolle, und versprach ihm Trost und Hilfe.« »Er wird sehr glücklich gewesen sein!« »Anfangs war er auch glücklich.« »Und wie konnten die Beweise Ihrer Güte die peinliche Unterredung herbeiführen, die Sie eben erwähnten?« »Ach, Hoheit«, antwortete Clémence errötend, »mein Gatte war verletzt, weil ich ihm Freundschaft antrug, doch seine Liebe zurückwies. Es ist mir unmöglich, seine Zärtlichkeiten zu erwidern. Als er seine Lippen auf meine Hand drückte, erfaßte mich eine tödliche Kälte, und ich konnte meinen Abscheu nicht verbergen…« »Ich beklage ihn; aber es gibt Gefühle, die heilig sind und nicht angetastet werden dürfen. Armer Albert! Erwarten wir das Beste von der Zeit! … Er wird den Wert der Neigung erkennen, die Sie ihm bieten, und sich in sein Schicksal ergeben, wie er es bisher getan hat.« »Mein Trost wird ihm nie fehlen, das schwöre ich Ihnen.« »Nun lassen Sie uns an fremdes Unglück denken! – Ich habe Ihnen die Möglichkeit zu einer guten Tat verheißen, die den Reiz eines wirklichen Romanes besitzen soll. Ich werde mein Versprechen einlösen.« »Das wird mir eine große Freude sein.« »Es handelt sich um eine arme Mutter und ihre Tochter, die früher im Wohlstand lebten und sich jetzt in der größten Not befinden.« »Wo wohnen die Ärmsten?« »Das weiß ich nicht.« »Wie erfuhren Sie von ihrer Not?« 353
»Ich war mit Lachtaube, meiner kleinen Nachbarin aus der Rue du Temple, ausgegangen, um einige Einkäufe zu machen, als ich in einem alten Sekretär, der zum Verkauf stand, das Konzept eines Briefes von weiblicher Hand fand. In diesem Briefe klagte die unbekannte Absenderin über die Not, in die sie durch die Schuld eines ungetreuen Vermögensverwalters geraten war. Ich fragte die Verkäuferin, woher sie den Sekretär habe. Er gehörte zu dem bescheidenen Mobiliar, das ihr eine noch junge Frau von anscheinend vornehmem Stande verkauft hatte.« »Und ist Ihnen die Wohnung nicht bekannt?« »Leider nicht. Ich habe Herrn von Graun Auftrag gegeben, sie zu ermitteln. – In einer Ecke des Briefkonzeptes standen die Worte: An die Herzogin von Lucenay zu schreiben!« »Vielleicht erfahren wir also etwas durch die Herzogin?« »Sie müssen sie fragen, ob sie eine noch junge Witwe kenne, deren sechzehn- bis siebzehnjährige Tochter Klara heißt. Diesen Namen erwähnte die Trödlerin.« »Wenn die Herzogin die Familie kennt, so reichen diese Angaben aus, sie auf die Spur zu bringen. – Ich werde ihr noch heute abend ein paar Worte schreiben, um sie morgen früh sicher zu treffen.« »Ich ahne bereits die kunstvollsten Kombinationen«, sagte Rudolf lächelnd. »Bin ich bei der Herzogin von Lucenay gewesen, so gehe ich in die frühere Wohnung der armen Witwe, frage ihre Nachbarn und erkundige mich überall. Ich scheue auch die Gefahr nicht. Ich werde stolz sein, wenn ich Erfolg habe. Und ich werde Erfolg haben, verlassen Sie sich auf mich, meine List und meinen Wunsch, den Armen zu helfen!« Rudolf, den dieser Eifer bewegte, lächelte traurig, als er die schöne und liebenswürdige Frau ansah, die in edlen Taten ihr häusliches Unglück zu vergessen suchte. Die Augen der Marquise funkelten, ihre Wangen waren leicht gerötet, ihre lebhaften Gebärden und ihre eifrige Sprache gaben ihrem Gesicht einen neuen Reiz. 354
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rau von Harville bemerkte, daß Rudolf sie schweigend betrachtete. Sie errötete, schlug die Augen nieder und sagte: »Sie lachen über meine Begeisterung? Aber ich sehne mich mit Ungeduld nach den Freuden, die mein Leben verschönen sollen, das bisher so traurig und nutzlos war. Je länger ich über Ihre Ideen nachdenke, um so gerechter, umso fruchtbarer finde ich sie. Ach, Hoheit, über welchen Schatz von Güte müssen Sie verfügen! Was gab Ihnen dieses tiefe Mitgefühl?« »Ich habe selbst viel gelitten und weiß deshalb, was Schmerzen sind!« »Sie waren unglücklich?« »Ja, man könnte sagen, das Schicksal habe mich alle Leiden erdulden lassen, um mein Mitleid mit anderer Unglück zu erwecken. Es suchte mich heim in dem Freunde, in dem ersten Weibe, das ich, mit dem blinden Vertrauen der Jugend, liebte, es suchte mich heim in meiner Frau, in meinem Vater, in meinem Kinde.« »Ich glaubte, die Großherzogin habe Ihnen kein Kind hinterlassen.« »Allerdings, aber vor meiner Ehe hatte ich eine Tochter, die in ihrer Kindheit starb. So seltsam es Ihnen auch erscheinen mag: der Verlust dieses Kindes, das ich kaum gekannt habe, erfüllt mein Leben mit Trauer. Je älter ich werde, um so tiefer wird der Gram; er wächst gleichsam, wie meine Tochter hätte wachsen sollen… Jetzt würde sie siebzehn Jahre alt sein.« »Lebt ihre Mutter noch?« »Ach, sprechen Sie nicht von ihr! Ihre Mutter ist ein unwürdiges Geschöpf, verhärtet durch Selbstsucht und Ehrgeiz. Bisweilen frage ich mich, ob es für meine Tochter nicht besser sei, daß sie gestorben ist, als wenn sie in den Händen einer solchen Mutter geblieben wäre.« »Ach, Hoheit, ich möchte Ihren Kummer teilen, wie Sie den mei355
nen geteilt haben. Aber wo ist der Trost, den ich Ihnen bieten kann?« »Wir wollen Mut fassen«, entgegnete Rudolf mit traurigem Lächeln. – »Es ist Ihnen ein heilsamer Weg gebahnt; folgen Sie ihm, und Sie werden, ohne zu fehlen, die Prüfungsjahre überwinden, die für die Frauen, namentlich für eine Frau wie Sie, so gefährlich sind. Sie werden zwar noch zu kämpfen, zu leiden haben, denn Sie sind noch sehr jung, aber der Gedanke an das Gute, das Sie tun, wird Ihnen Mut und Kraft geben.« Frau von Harville weinte. »Hoffentlich werde ich nie Ihre Hilfe und Ihren Rat entbehren, Hoheit!« »Ob ich nahe oder fern bin, ich werde stets den innigsten Anteil an Ihnen nehmen und, soviel in meinen Kräften steht, zu Ihrem Glücke und zu dem Glücke des Mannes beizutragen suchen, dem ich in herzlicher Freundschaft verbunden bin!« Bei diesen Worten wurde eine Tapetentür aufgerissen. Harville trat, bleich und tiefbewegt, ins Zimmer, ging auf Rudolf zu, verneigte sich vor ihm und übergab ihm einen Brief. »Hier, Hoheit, ist der Brief, den ich eben, in Ihrer Gegenwart, empfangen habe. – Verbrennen Sie ihn, nachdem Sie ihn gelesen haben!« Clémence sah ihren Mann erstaunt an. »Eine neue Schändlichkeit?« rief Rudolf entrüstet aus. »Die aber noch nicht so verwerflich ist, wie mein eigenes Verhalten!« »Wie meinen Sie das?« »Statt Ihnen den Brief zu zeigen, verbarg ich ihn und heuchelte Ruhe, während Eifersucht, Wut und Verzweiflung in meinem Herzen kochten. Und wissen Sie, was ich dann tat? Ich verbarg mich hinter dieser Tür, um Ihr Gespräch zu belauschen; ja, ich war so erbärmlich, an Ihrer Rechtschaffenheit, an Ihrer Ehre zu zweifeln. Ach, der Schreiber dieser Briefe weiß, an wen er sie richtet! Muß ich Sie nun nicht um Verzeihung bitten, nachdem ich Ihr Gespräch belauscht habe, nachdem ich weiß, was Sie in die Rue du Temple zieht? Ich knie vor Ihnen, Hoheit, und vor dir, Clémence; ich kann nur noch auf Ihren Edelmut rechnen.« 356
»Mein Gott, lieber Albert, was habe ich Ihnen zu verzeihen?« sagte Rudolf, indem er dem Marquis beide Hände entgegenstreckte. – »Jetzt kennen Sie unsere Geheimnisse, und ich bin Ihr Vertrauter, und – was noch wertvoller ist – Sie sind der Vertraute Ihrer Gattin und wissen, was Sie von diesem edlen Herzen zu erwarten haben!« »Und du, Clémence, verzeihst du mir auch?« »Ja, unter der Bedingung, daß du mir hilfst, dich glücklich zu machen.« »Wahrhaftig, Marquis, unsere Feinde sind sehr ungeschickt; sie haben das Gegenteil von dem erreicht, was sie erreichen wollten! Gestehen Sie, daß wir glänzend gerächt sind… Aber es wird mehr geschehen. Ich errate, woher der Schlag kommt, und ich pflege nicht geduldig zuzusehen, wenn man meinen Freunden Unrecht tut. Doch das ist meine Sache! Adieu, Frau Marquise, unser Plan ist entdeckt, Sie werden Ihren Schutzbefohlenen nicht mehr allein beizustehen haben. Aber der Marquis wird mit Freuden ihr Verbündeter sein…!« Der Marquis begleitete Rudolf an den Wagen und begab sich in sein Zimmer, ohne Clémence wiederzusehen.
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obald es hell geworden war, klingelte Herr von Harville seinem Kammerdiener. Der alte Josef hörte seinen Herrn, als er eintrat, zu seiner großen Verwunderung ein Jagdlied trällern, ein ebenso seltenes, wie sicheres Zeichen, daß Harville gut gelaunt war. »Ach Herr Marquis«, sagte der treue Diener, »wie schade, daß Sie nicht öfter singen!« »Nicht wahr, Josef, ich habe eine hübsche Stimme?« entgegnete Harville lachend. 357
»Ich würde die Stimme des Herrn Marquis immer schön finden, wenn sie auch heiser und rauh wie die einer Eule oder eines Nachtwächters wäre.« »Pfui, Josef! Du wirst ein Schmeichler auf deine alten Tage.« »Sehen Sie, Herr Marquis, wenn Sie singen, ist das ein Zeichen, daß Sie zufrieden sind; und wenn Sie zufrieden sind, klingt mir Ihre Stimme wie die lieblichste Musik.« »Na, dann öffne nur immer deine langen Ohren, mein alter Josef.« »Wie meinen Sie?« »Du wirst diese liebliche Musik alle Tage hören können.« »Sie werden alle Tage zufrieden sein, Herr Marquis?« »Alle Tage, alter Josef, alle Tage werde ich glücklich sein. – Kummer und Traurigkeit sind verschwunden. Dir, dem Vertrauten meiner Leiden, kann ich es sagen: Ich bin glücklich. – Meine Frau ist ein Engel; sie hat mich wegen ihrer früheren Abneigung um Verzeihung gebeten und sie – soll man es für möglich halten? – der Eifersucht zugeschrieben.« »Der Eifersucht?« »Ja, anonyme Briefe haben ihr Mißtrauen erregt, aber nun ist alles wieder gut.« »Ach, Herr Marquis, ich fürchte, daß ich vor der Frau Marquise auf die Knie fallen muß, sobald ich sie sehe…« »Du bist ja beinahe so närrisch wie dein Herr… Aber ich habe große Angst.« »Mein Gott…« »Ja, die Angst, daß es nicht lange dauern wird – ich bin zu glücklich.« »Wenn es nur das wäre, Herr Marquis! Aber…« »Ich verstehe, was du sagen willst. Aber hat mir der Arzt nicht hundertmal versichert, eine starke geistige Erschütterung reiche hin, die Krankheit hervorzurufen und zu heilen? Warum sollten glückliche Erschütterungen nicht auch die Heilung bewirken können?« »Wenn Sie es glauben, Herr Marquise, so wird es geschehen; oder 358
es ist vielmehr schon geschehen: Sie sind geheilt. – Ich fange fast an, mich zu fürchten, Herr Marquis, ob es nicht vielleicht zu viel Glück ist für einen Tag. Doch, da fällt mir etwas ein. Um Sie zu beruhigen, bedarf es nur einer kleinen Unannehmlichkeit und damit kann ich, Gott sei Dank, dienen.« »Was hast du?« »Einer Ihrer Freunde hat, zu sehr gelegener Zeit, einen Degenstich abbekommen, der freilich nicht bedeutend, aber gewiß hinreichend ist, Sie so zu verstimmen, daß dieser schöne Tag einen Flecken hat.« »Von wem sprichst du?« »Vom Herrn Herzog von Lucenay.« »Er ist verwundet?« »Ein wenig geritzt. – Er kam gestern hierher, um Ihnen einen Besuch zu machen und sagte, er würde heute wiederkommen, um eine Tasse Tee mit Ihnen zu trinken.« »Der arme Lucenay… Wie wäre es, wenn man ein Herrenfrühstück improvisierte, zur Feier des glücklichen Ausganges des Duells? Da Lucenay es nicht erwartet, wird er sich doppelt darüber freuen.« »Das ist schön, Herr Marquis! … Wieviel Kuverts?« »Sechs Personen, im kleinen Winterspeisesaal.« »Und die Einladungen?« »Schreibe ich selbst. Jemand setzt sich zu Pferde und trägt sie gleich fort. Es ist ja noch früh am Tage.« Nachdem Harville die Einladungsbriefe geschrieben und abgeschickt hatte, sank er auf einen Stuhl und stützte die Stirn auf beide Hände. Nach wenigen Augenblicken fuhr er plötzlich wieder hoch, wischte eine Träne aus seinem Auge, schrieb an verschiedene Personen über ziemlich unwichtige Gegenstände und verschob verschiedene Zusammenkünfte um mehrere Tage. In diesem Augenblick hörte man einen Wagen in den Hof rollen. »Die Frau Marquise fährt aus«, sagte Josef. »Geh und bitte sie, zu mir zu kommen, ehe sie ausfährt.« 359
»Ja, Herr Marquis.« Clémence trat ins Zimmer. »Guten Morgen, lieber Bruder!« sagte sie, indem sie ihm die Hand reichte. Als sie das Lächeln ihres Mannes bemerkte, setzte sie hinzu: »Was ist dir, du siehst so strahlend aus?« »Ich dachte eben an dich, Schwesterchen, und ließ dich bitten, weil ich dir sagen wollte, daß ich heute den Tee nicht bei dir trinken kann. – Ich habe mehrere Freunde zum Frühstück geladen, zur Feier des glücklichen Ausganges des Duells des armen Lucenay.« Frau von Harville errötete, als sie an die Ursache dieses Duells dachte. Aber sie beherrschte sich und sagte leichthin: »Ein seltsames Zusammentreffen! Der Herzog von Lucenay frühstückt bei dir, und ich gehe, um mich bei der Herzogin zum Frühstück einzuladen. Ich habe mit ihr über meine unbekannten Schützlinge zu sprechen. Dann denke ich mit Frau von Blainval das St.Lazare-Gefängnis zu besuchen.« »Du bist ja unersättlich«, sagte Harville lächelnd; dann setzte er ernst hinzu: »So werde ich dich also nicht wiedersehen – heute?« »Ist es dir unangenehm, daß ich so früh ausgehe?« fragte Clémence, die der Ton seiner Stimme befremdete. »Wenn du es wünschst, kann ich meinen Besuch bei der Herzogin verschieben.« Der Marquis antwortete heiter: »Ja, Schwesterchen, es tut mir leid, daß du so früh ausgehst, und ich werde deine Rückkehr mit Ungeduld erwarten, aber du mußt natürlich ausführen, was du dir vorgenommen hast!« Die Klingel meldete einen Besuch. »Da kommt wahrscheinlich schon einer deiner Gäste«, sagte Frau von Harville. »Was hast du für den Abend vor? Wenn du noch nichts beschlossen hast, so verlange ich, daß du mich in die italienische Oper begleitest.« »Ich gehorche mit dem größten Vergnügen.« »Adieu, lieber Freund; auf baldiges Wiedersehen! Ich räume das Feld und wünsche euch viel Vergnügen.« 360
LXXXII
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er Herzog von Lucenay trat in Harvilles Zimmer. Die Wunde des Herzogs war so unbedeutend gewesen, daß er den Arm nicht einmal mehr in der Binde trug. Sein Gesicht hatte noch immer den hochmütigen Ausdruck, und seine Spottsucht beherrschte ihn nach wie vor. »Für wie gleichgültig müssen Sie mich halten, lieber Heinrich«, sagte Harville, indem er Lucenay die Hand reichte; »aber ich habe wirklich erst heute früh von Ihrem unglücklichen Abenteuer gehört.« »Unglücklich? Ich habe in meinem Leben nie so gelacht. – Der vortreffliche Herr sah so entschlossen aus, die Meinung nicht gelten zu lassen, daß er verschleimt wäre. Das war – wissen Sie es nicht? – die Ursache des Duells. Ich habe ihn, in Gegenwart Ihrer Frau und der Gräfin MacGregor, gefragt, wie es mit seiner Verschleimung stünde; daher das Blutvergießen!« »Das sieht Ihnen ähnlich! Aber wer ist eigentlich dieser Herr Robert?« »Ich weiß es wahrhaftig nicht. Ich habe ihn im Bade kennengelernt und ihn dann, auf dem Gesandtschaftsfest, nach seiner Verschleimung gefragt… Doch genug von diesen Albernheiten! Ich bin gekommen, um Sie um eine Tasse Tee zu bitten.« Bei diesen Worten warf sich Lucenay auf ein Sofa, steckte seinen Stock zwischen die Wand und den Rahmen eines Gemäldes, das über ihm hing und fing an, das Bild hin und her zu bewegen. »Ich erwartete Sie, lieber Heinrich, und habe Ihnen eine Überraschung zugedacht.« »Ah!« »Sie werden sich das Bild auf den Kopf werfen!« »Sie haben einen Adlerblick… Aber die Überraschung, die Überraschung?« »Ich habe einige Freunde gebeten, mit uns zu frühstücken.« »Bravo, Marquis, bravissimo!« rief Lucenay, indem er mit voller 361
Kraft auf die Sofakissen schlug. »Und wer wird kommen? St. Remy? – Nein, der ist auf dem Lande. Was, zum Teufel, kann er, mitten im Winter, auf dem Lande suchen?« »Sind Sie gewiß, daß er nicht in Paris ist?« »Ich hatte ihn aufgefordert, mein Sekundant zu sein. Er war aber fort, und ich wählte Lord Douglas und Sezannes.« »Das trifft sich gut! Sie kommen auch.« »Bravo! Bravo!« schrie Lucenay von neuem und wälzte sich dabei auf dem Sofa. Diese akrobatischen Kunststücke wurden durch die Ankunft des Vicomte von St. Remy unterbrochen. »Ich brauche nicht zu fragen, ob Lucenay hier ist«, sagte der Vicomte. »Man hört ihn schon von unten.« »Wie, sind Sie es, Freund des Landlebens?« rief der Herzog, indem er rasch aufsprang. »Ich bin gestern zurückgekommen. Eben erhielt ich Harvilles Einladung und flog herbei, hocherfreut über diese angenehme Überraschung.« »Ich bin Ihnen sehr verbunden, lieber St. Remy. Müssen sich Lucenays Freunde nicht über den glücklichen Ausgang des Duells freuen, das doch so traurige Folgen hätte haben können?« »Aber was hatten Sie, mitten im Winter, auf dem Lande zu suchen, St. Remy? Ich möchte das gern wissen«, fragte der Herzog. »Ich wollte mich von Paris entwöhnen, da ich es doch bald verlassen muß.« »Ach ja, der schöne Einfall, sich zur Gesandtschaft in Gerolstein schicken zu lassen! Begraben Sie doch Ihre diplomatischen Hoffnungen! Sie werden nicht nach Gerolstein gehen; meine Frau sagt es, und jeder wiederholt es.« »Dann irrt sich die Frau Herzogin.« »Wenn Sie den Großherzog kennen würden, wie ich ihn kenne«, mischte Harville sich ins Gespräch, »würden Sie begreifen, warum St. Remy gar nicht abgeneigt ist, einige Zeit in Gerolstein zu ver362
bringen.« »Ich glaube Ihnen, Marquis, obgleich man Ihren Großherzog für einen Sonderling hält. Das ändert aber nichts an meiner Auffassung, daß ein Mann, wie St. Remy, nur in Paris leben kann!« Die anderen Gäste waren eben gekommen, als Josef eintrat und seinem Gebieter einige Worte zuflüsterte. »Meine Herren, Sie werden verzeihen«, sagte der Marquis. »Der Juwelier meiner Frau bringt mir eben Diamanten, die ich ihr zum Geschenk machen will. Sie kennen das auch, Lucenay, wir sind eben noch Ehemänner alten Stils…« »Eine Überraschung?« sagte der Herzog. »Nun, meine Frau hat mich gestern auch überrascht.« »Durch ein Geschenk?« »Im Gegenteil: Sie verlangte von mir hunderttausend Franken.« »Und da Sie sehr nobel sind, so haben Sie natürlich ja gesagt?« »Ich habe ihr das Geld geliehen. Es wird auf ihr Gut Arnouville eingetragen. Gute Rechnung erhält die Freundschaft. Aber das bleibt sich gleich: 100.000 Franken binnen zwei Stunden jemandem zu leihen, ist eine große und seltene Gefälligkeit. Nicht wahr, Verschwender? Sie verstehen sich doch auf Anleihen«, setzte der Herzog von Lucenay lächelnd, gegen St. Remy gewandt, hinzu, ohne zu ahnen, wie richtig seine Worte waren. Der Vicomte errötete ein wenig, dann entgegnete er keck: »100.000 Franken! Das ist ja eine ungeheure Summe. Wozu kann eine Frau eine solche Menge Geld brauchen?« »Ich weiß wahrhaftig nicht, was meine Frau damit anfangen will.« »St. Remy«, fiel Harville ein, »Sie besitzen einen so vortrefflichen Geschmack; Sie werden mir den Schmuck für meine Frau aussuchen helfen.« Der Juwelier Baudoin hatte indessen mehrere Halsketten von Rubinen und Diamanten auf einem Schreibtisch ausgebreitet. Harville nahm eine der Ketten in die Hand und fragte: »Was kostet dieses Kollier?« »Der Herr Marquis wird bemerken, daß die Steine vom reinsten 363
Wasser und vortrefflich geschliffen, auch fast alle von gleicher Größe sind.« »Das sind sehr bedrohliche Auskünfte, Harville«, sagte St. Remy lachend. »Danach können Sie sich auf einen soliden Preis gefaßt machen.« »Ihre geringste Forderung, Herr Baudoin?« »Ich möchte mit dem Herrn Marquis nicht lange handeln. Der äußerste Preis ist 42.000 Franken.« »Meine Herren«, rief Lucenay aus, »bewundern wir unseren Freund Harville!« »Lachen Sie, soviel Sie wollen«, entgegnete Harville. »Ich bin in meine Frau verliebt und rühme mich dessen.« »Man sieht es ja«, fiel St. Remy ein; »ein solches Geschenk spricht deutlicher als alle Beteuerungen.« »Ich nehme also das Kollier«, sagte Harville, »vorausgesetzt, St. Remy, daß Ihnen die Fassung gefällt.« »Ausgezeichnet.« »Also abgemacht, Herr Baudoin.« Harville gab das Kollier Josef und sagte ihm leise ins Ohr: »Julie muß diese Diamanten geschickt zu denen der Marquise legen, damit sie die Überraschung nicht bemerkt!« In diesem Augenblick meldete der Haushofmeister, daß das Frühstück serviert sei, und die Gäste begaben sich in den Speisesaal. »Wissen Sie, lieber Harville«, sagte Lucenay, »daß Ihr Haus eines der elegantesten in Paris ist?« »Es ist ziemlich bequem, aber nicht geräumig genug. Ich habe deshalb die Absicht, einen Saal nach dem Garten zu anbauen zu lassen. Mir ist nichts lästiger, als wenn bei großen Gesellschaften die Zimmer mit benutzt werden müssen, die man gewöhnlich bewohnt, und aus denen man nun auf einige Zeit verdrängt wird.« »Der Meinung bin ich auch«, sagte St. Remy. »Sollte nicht das Land, da wir das Glück haben, eine repräsentative Regierung zu besitzen«, fiel Lucenay ein, »St. Remy jährlich eine Million bewilligen und ihm den Auftrag geben, in Paris die fran364
zösische Eleganz zu repräsentieren?« »Angenommen!« »Die Million müßte als außerordentliche Abgabe von den Knickern erhoben werden, die ein großes Vermögen besitzen, aber wie Pfennigfuchser leben«, setzte Lucenay hinzu. »An der ernsten Wendung, welche die Frage nimmt«, fiel Harville heiter ein, »erkenne ich, daß weiter nichts nötig ist, die Stelle eines Großmeisters der französischen Eleganz zu schaffen, als eine Petition an die Deputiertenkammer zu richten.« »Da die Deputierten das größte Verständnis für alle Fragen des guten Geschmacks haben, so wird der Antrag mit Akklamation angenommen werden.« »Bis diese Entscheidung die Oberherrschaft rechtskräftig macht, die St. Remy faktisch bereits ausübt«, sagte Harville, »möchte ich ihn um seinen Rat in bezug auf den Saal befragen, den ich bauen will.« »Meine geringen Fähigkeiten stehen zu Diensten, Harville.« »Und wann werden wir die neue Pracht einweihen?« »Wahrscheinlich im nächsten Jahre.« »Plänemacher!« »O, ich habe noch andere Pläne. – Ich denke Val Richer völlig umzugestalten.« »Ihre Besitzung in Burgund?« »Ja. Es läßt sich etwas Vortreffliches daraus machen, wenn … mir Gott Leben und Gesundheit schenkt.« »Armer, alter Mann!« »Haben Sie nicht erst kürzlich eine Meierei bei Val Richer gekauft?« »Ja; mein Notar hatte mir dazu geraten. Es war übrigens ein gutes Geschäft.« »Wer ist der Wundernotar, der zu so guten Geschäften rät?« »Herr Ferrand.« St. Remy konnte bei diesem Namen ein Frösteln nicht unterdrücken. »Ist er wirklich ein solches Musterexemplar, wie man allgemein 365
sagt«, fragte er Harville, der sich in diesem Augenblick der Worte erinnerte, die Rudolf Clémence über den Notar gesagt hatte. »Jacob Ferrand! … Ein Mann von wahrhaft antiker Redlichkeit«, sagte der Herzog von Lucenay. »Außerordentlich geizig, was eine Bürgschaft für seine Klienten ist.« »Warum zweifelt St. Remy?« »Ich denke nicht daran, zu zweifeln. Ich werde mich hüten… Aber um wieder auf Ihre Pläne zu kommen, Harville, – was wollen Sie in Val Richer bauen?« »Sie werden zu Rate gezogen werden, lieber St. Remy, und vielleicht früher, als Sie glauben…« Nach dem Frühstück gingen die Herren wieder in das Zimmer des Marquis. Die Tür seines Schlafzimmers stand offen. Lucenay, der sich ein Zigarre angezündet hatte, folgte dem Marquis. »Sie sehen, ich bin noch immer ein Waffenliebhaber«, sagte Harville zu ihm, auf die beiden Gewehrschränke deutend. »Douglas!« rief der Herzog. »Kommen Sie und sehen Sie, ob diese Gewehre nicht mit den besten Matons konkurrieren können.« Lord Douglas, St. Remy und zwei andere Gäste traten ins Schlafzimmer des Marquis, um die gerühmten Waffen zu besichtigen. Harville nahm eine Pistole, spannte den Hahn und sagte lachend: »Das, meine Herren, ist das Universalmittel gegen alle Leiden…« Er hielt scherzend das Rohr an den Mund. »Ich ziehe andere Mittel vor«, sagte St. Remy. »Das hier ist nur in den verzweifeltesten Fällen gut.« »Es wirkt aber so rasch!« entgegnete Harville. »Knall! Und es ist geschehen.« »Nehmen Sie sich in acht, Harville, solche Späße sind zuweilen gefährlich«, sagte Lucenay. »Glauben Sie denn, ich würde damit spielen, wenn sie geladen wäre?« »Hoffentlich nicht, aber ein Unglück ist rasch geschehen.« 366
»Sehen Sie, meine Herren, man nimmt das Rohr zwischen die Zähne, und dann…« »Gott, Harville, wie albern!« sagte Lucenay achselzuckend. »Man legt den Finger an den Drücker«, setzte Harville hinzu. »Ist er nicht ein wahres Kind? – In seinem Alter!« »Eine kleine Bewegung«, fuhr der Marquis fort, »und man ist – gewesen…« Kaum hatte er die Worte gesprochen, als der Schuß krachte. Harville hatte sich eine Kugel in den Kopf gejagt. Das Geheimnis seines freiwilligen Todes nahm er mit ins Grab.
LXXXIII
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as St.-Lazare-Gefängnis, in dem hauptsächlich öffentliche Dirnen und Diebinnen ihre Strafe verbüßten, war fast täglich das Ziel hochgestellter Damen, deren mildtätiger Sinn sich zu betätigen suchte. Die Damen, die an die Artigkeit und das Zartgefühl der besten Gesellschaft gewöhnt waren, verließen ihre Paläste, küßten die Stirn ihrer engelreinen Tochter und gingen in die düsteren Kerker, um der Gleichgültigkeit oder den groben Reden von Diebinnen und Gefallenen Trotz zu bieten. Sie stiegen, treu ihrer hochmoralischen Aufgabe, mutig in diesen Schmutz hinab, legten die Hand auf die von Sünden angefressenen Herzen, und wenn ihnen ein leises Klopfen des Ehrgefühls eine schwache Hoffnung auf Rettung zu geben schien, suchten sie die kranke Seele, an der sie nicht verzweifelten, einem unwiderruflichen Verderben zu entreißen. Frau von Harville, die von dem Drama, das sich in ihrem Haus abgespielt hatte, nichts ahnte, hatte sich ins Gefängnis begeben, nach367
dem sie von der Herzogin von Lucenay einige Andeutungen über die beiden unglücklichen Frauen erhalten hatte, die durch Jacob Ferrand in das tiefste Elend gestürzt worden waren. Frau von Blainval, eine der Fürsorgedamen für die jungen Gefangenen, konnte Clémence an diesem Tage nicht begleiten, und die Marquise erschien deshalb allein. Sie wurde von dem Direktor und den Aufseherinnen freundlich empfangen. Eine der Aufseherinnen, eine Frau von reifem Alter, ernstem, aber mildem Gesicht, blieb in einem kleinen Zimmer mit Frau von Harville allein. Madame Armand sagte zu Clémence: »Da die Frau Marquise mich beauftragt, ihr diejenigen Gefangenen zu bezeichnen, die durch aufrichtige Reue ihre Teilnahme verdienen könnten, so glaube ich, Ihnen besonders ein Mädchen empfehlen zu müssen, ein unglückliches Kind von höchstens siebzehn Jahren.« »Weshalb ist sie im Gefängnis?« »Man hat sie des Abends in den Champs Elysées gefunden. – Da es ihresgleichen bei strenger Strafe verboten ist, gewisse öffentliche Orte zu besuchen, und da die Champs Elysées zu diesen verbotenen Promenaden gehören, hat man sie verhaftet.« »Ein Mädchen vom Lande?« »Nein, Frau Marquise. Die Inspektoren haben sie erkannt; sie lebte in einem berüchtigten Hause der Cité, das sie vor etwa zwei Monaten verlassen hatte. Da sie aber nicht darum eingekommen war, ihren Namen aus den Polizeilisten streichen zu lassen, so stand sie dauernd unter Aufsicht und ist so hierhergekommen.« »Vielleicht hatte sie Paris verlassen, um ein besseres Leben zu beginnen?« »Das glaube ich selbst, Frau Marquise, und deshalb habe ich mich auch gleich für sie interessiert. Ich fragte sie, warum sie vom Lande zurückgekehrt sei, sagte ihr auch, sie möge hoffen…« »Und was antwortete sie?« »Sie sah mich mit ihren großen, blauen Augen an und antwor368
tete: ›Ich danke Ihnen, Madame, für Ihre Güte, aber über die Vergangenheit kann ich Ihnen nichts sagen. Man hat mich verhaftet; ich hatte Unrecht getan und beklage mich nicht.‹ – ›Aber woher kommst du? Wo bist du gewesen, seit du die Cité verlassen hast? Hast du auf dem Lande ein einwandfreies Leben geführt, so sage, beweise es! Wir werden an den Präfekten schreiben, um deine Freilassung zu befürworten.‹ – ›Ich beschwöre Sie, Madame, fragen Sie mich nicht, ich kann Ihnen nicht antworten,‹ entgegnete sie wieder. – ›Willst du aber, wenn du von hier entlassen wirst, in das schreckliche Haus zurückkehren?‹ – ›O nie! nie!‹ rief sie aus. – ›Und was gedenkst du zu tun?‹ – ›Gott weiß es‹, antwortete sie, indem sie den Kopf an die Brust sinken ließ.« »Das ist seltsam. Und wie spricht sie?« »Sehr gut, Frau Marquise. Sie ist schüchtern, ehrerbietig, aber nicht kriecherisch; ja, ich möchte sagen: trotz der außerordentlichen Weichheit ihrer Stimme und der Sanftheit ihres Blickes liegt in ihrem Ton und ihrer Haltung eine gewisse stolze Demut, die mich in Verlegenheit setzt.« »Das ist ja ein Roman!« rief Clémence aus. »In welchem Verhältnis steht sie denn zu den anderen Gefangenen?« »Sie befindet sich seit kaum drei Tagen hier und hat schon einen gewissen Einfluß auf sie erlangt.« »In so kurzer Zeit?« »Diese Mädchen besitzen einen ungemein entwickelten Instinkt, die gute Eigenschaften anderer zu erkennen. Freilich hassen sie oft auch diejenigen, deren Überlegenheit sie anerkennen müssen.« »Und die Kleine hassen sie nicht?« »Im Gegenteil, Frau Marquise… Wir haben hier, seit etwa einem Monat, ein unbändiges Geschöpf, das die Wölfin genannt wird, so wild ist ihr Charakter, ein großes, fast männliches Mädchen von zwanzig Jahren mit schönem, aber hartem Gesicht. Wir mußten sie oft einsperren, um sie zu bändigen. Vorgestern trat sie eben, noch aufgebracht über die Strafe, die sie erlitten hatte, aus der Zelle. Es war Essenszeit; das arme Mädchen, von dem ich Ihnen erzählte, aß nicht 369
und sagte traurig zu ihren Gefährtinnen: ›Wer will mein Brot?‹ – ›Ich!‹ rief die Wölfin. – ›Ich!‹ rief eine verwachsene, die Mont-Saint-Jean genannt wird, als Zielscheibe aller Neckereien und als Sündenbock dienen und viel leiden muß, obgleich sie seit mehreren Monaten schwanger ist. Das junge Mädchen gab ihr das Brot, zum großen Verdruß der Wölfin. ›Ich habe es zuerst verlangt!‹ rief sie. – ›Allerdings, aber die Arme da braucht es nötiger als Sie‹, antwortete das Mädchen. Die Wölfin entriß der Armen trotzdem das Brot und fing an, laut zu streiten. Da sie sehr stark und sehr gefürchtet ist, wagte niemand die Partei der armen Schallerin zu nehmen, obgleich alle ihr recht gaben.« »Wie nennen Sie das Mädchen, Madame?« »Schallerin; unter diesem Namen ist sie hierhergebracht worden; fast alle haben solche Spitznamen.« »Dieser ist seltsam.« »Er bedeutet, in der Verbrechersprache, soviel wie Sängerin. Das Mädchen soll eine sehr hübsche Stimme haben.« »Und wie entging sie der Wölfin?« »Die Wölfin wurde durch die Ruhe der Schallerin noch mehr aufgebracht und trat mit erhobenem Messer vor sie hin. Alle Gefangenen schrien laut auf. Nur die Schallerin sah das wilde Geschöpf furchtlos an, lächelte bitter und sagte mit ihrer himmlischen Stimme: ›Ja, töten Sie mich! Aber lassen Sie mich nicht zu lange leiden!‹« »Selbst die schlechtesten Charaktere«, fuhr die Aufseherin fort, »sind zum Glück bisweilen auch guter Regungen fähig.« Die Worte, die mit so rührender Ergebung gesprochen wurden, erschütterten die Wölfin; sie warf das Messer hin, trat es mit Füßen und sagte: »Ich tat unrecht, daß ich dir drohte, Schallerin. Ich bin stärker als du, aber du hast dich vor meinem Messer nicht gefürchtet. Die Mutigen liebe ich und würde dich jetzt beschützen, wenn man dir etwas zuleide tun wollte.« »Wie seltsam!« »Das Beispiel der Wölfin steigerte den Einfluß der Schallerin, und heute nennt sie, was fast beispiellos ist, keine mehr du. Ihre Ge370
fährtinnen sagen: ›Man sieht, daß sie nicht ist wie wir!‹« »Sie fühlen also, wie tief sie selbst gesunken sind?« »Niemand verachtet sie so, wie sie sich untereinander verachten…« »Welche Pein für sie!« »Zur Ehre der Menschennatur muß ich bemerken, daß eine tiefe Reue häufiger ist, als man glaubt; zuweilen scheint die Seele zu wachen, wenn der Körper schläft; diese Beobachtung habe ich erst letzte Nacht bei meiner Schutzbefohlenen machen können.« »Und wie?« »Ich gehe häufig durch die Schlafsäle, wenn die Gefangenen schlafen. Sie können sich nicht vorstellen, welchen Ausdruck die Gesichter dieser Mädchen und Frauen dann haben! Viele von ihnen, die den Tag über spöttisch und frech waren, sahen kummervoll aus und seufzten schmerzlich auf… Ich erwähnte die Wölfin… Vor ungefähr vierzehn Tagen beleidigte sie mich frech vor allen Gefangenen; ich zuckte die Achseln; meine Gleichgültigkeit steigerte ihren Zorn, und um mich noch mehr zu verletzen, sagte sie mir gemeine Schmähworte über meine Mutter, die sie oft bei mir gesehen hat…« »Wie entsetzlich!« »Den Abend darauf nahm ich eine Inspektion der Schlafsäle vor; ich kam an das Bett der Wölfin und erschrak fast über den Ausdruck ihres Gesichtes. Ihre Züge erschienen bittend, traurig, reuevoll; ihre Lippen waren halb geöffnet, und, was ich für unmöglich gehalten hätte, zwei Tränen rollten über die Wangen dieses gewalttätigen Mädchens. Ich betrachtete sie schweigend; da sprach sie die Worte ›Verzeihung – Verzeihung‹ und nannte meinen Namen.« »Sie bereute also im Schlafe, Sie verletzt zu haben. War ihr die Reue auch am nächsten Tage anzumerken?« »Nein, sie war grob und roh, wie sonst. Ich rede mir ein, daß diese Unglücklichen im Schlafe so werden, wie sie eigentlich sind, und daß man sie nach ihren guten Regungen beurteilen soll, wenn sie auch nur im Schlaf aus ihnen sprechen.« »Sie scheinen Ihr trauriges Amt in einer Weise auszuüben, die es höchst interessant machen muß.« 371
»Man muß sich begnügen, Samen auszustreuen in der Hoffnung, daß einige Keime später Früchte tragen. Bisweilen geht diese Hoffnung wirklich in Erfüllung.« »Frauen wie Sie müssen sehr selten sein.« »O nein; was ich tue, tun auch andere, und vielleicht mit mehr Glück, mit größerer Einsicht. Eine Aufseherin aus dem anderen Teil des Gefängnisses würde Sie sicher noch mehr interessieren. – Sie erzählte mir vorhin von einem Mädchen, das des Kindesmordes angeklagt ist. – Der Vater des Mädchens, ein armer Steinschneider, hat, aus Schmerz über die Schande seiner Tochter, den Verstand verloren; die Armut der Familie scheint gräßlich zu sein. Sie wohnt in einem Dachstübchen in der Rue du Temple.« »Rue du Temple?« fiel Frau von Harville ein; »wie heißt der Steinschneider?« »Seine Tochter heißt Luise Morel.« »Um des Himmelswillen!« »Sie stand im Dienste des Notars Ferrand.« »Die Familie war mir empfohlen worden«, sagte Clémence errötend. »Und Luise Morel?« »Sie schwört, ihr Kind sei tot zur Welt gekommen. Da Sie sich für die Familie interessieren, Frau Marquise, so würde Ihre Teilnahme die Unglückliche in ihrer Verzweiflung trösten.« »Ich werde mich zu ihr führen lassen und so zwei Schützlinge finden: Luise Morel und die Schallerin, denn alles, was Sie mir von diesem armen Mädchen sagen, rührt mich tief… Was aber ist zu tun, um ihre Freilassung zu erwirken?« »Bei Ihrer Stellung, Frau Marquise, wird es Ihnen leicht werden, das Mädchen aus dem Gefängnis zu bringen; es hängt dies nur vom Willen des Polizeipräfekten ab. – Seltsam ist übrigens, wie ich noch bemerken wollte, daß die Schallerin so hartnäckig den Ort verschweigt, an dem sie die drei Monate nach ihrem Verschwinden aus der Cité zugebracht hat; ich habe den Eindruck, daß sie fürchtet, von den Personen zurückgefordert zu werden, bei denen sie Aufnahme gefunden hatte.« 372
»Warum?« »Weil sie ihre Vergangenheit gestehen müßte, die man vielleicht nicht kennt.« »Glauben Sie?« »Noch ein anderer Umstand hat mich in meiner Vermutung bestärkt. Gestern abend trat ich an das Bett der Schallerin. Sie schlief fest; ihr Gesicht war heiter und ruhig. Ich betrachtete sie einige Augenblicke mit Rührung, als sie plötzlich, in einem zugleich ehrerbietigen und liebevollen Ton, einen Namen aussprach –« »Welchen Namen?« »Den Namen Rudolf.« »Rudolf!« entgegnete Frau von Harville, die gleich an den Fürsten dachte. Da sie jedoch bald einsah, daß der Großherzog von Gerolstein mit dem Rudolf der armen Schallerin nichts gemein haben könne, sagte sie zu der Aufseherin: »Alles, was Sie mir von der Schallerin erzählen, interessiert mich mehr und mehr. Könnte ich sie nicht heute schon sehen?« »Ja, Frau Marquise; ich gehe sie holen, wenn Sie es wünschen. Ich könnte mich zugleich auch nach Luise Morel erkundigen.« »Ich würde Ihnen sehr dankbar sein, Madame.«
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ie Uhr des St. Lazare-Gefängnisses schlug zwei. Auf die Kälte, die seit einigen Tagen geherrscht hatte, war eine milde, laue Temperatur gefolgt; die Sonnenstrahlen spiegelten sich in einem großen viereckigen, mit Steinen eingefaßten Bassin in der Mitte eines Hofes, der mit Bäumen bepflanzt und mit hohen Mauern umgeben war. Die Töne eines Glöckchens verkündeten die Stunde der Erholung, 373
und die Gefangenen, Frauen und Mädchen, traten lärmend aus einer Türe heraus, die man vor ihnen öffnete. Die Frauen trugen schwarze Hauben und lange Kleider von blauem Stoff, die durch einen Gürtel mit eiserner Schnalle zusammengehalten wurden. Es waren etwa zweihundert öffentliche Mädchen, bestraft wegen Vergehens gegen die Vorschriften, nach denen sie zu leben hatten. Als sie sich schreiend in den Hof stürzten, war es nicht allein die Freude, aus den Arbeitsstuben herauszukommen, die sie so ausgelassen machte. Nachdem sie sich durch die Tür gedrängt hatten, bildeten sie einen Kreis um eine ihresgleichen, die sie mit Spott und Hohn überschütteten. Es war dies ein kleines, verwachsenes Mädchen von etwa vierzig Jahren mit einem Kopf, der kaum über die Achseln ragt. Man hatte ihr die Haube abgerissen, und ihr starres, bleichgelbes, mit Grau vermischtes Haar fiel auf ihre niedrige Stirn. Sie hatte unter dem rechten Arm ein kleines Paket in einem Tuche; mit dem linken Ellenbogen suchte sie die Stöße zu parieren, die man ihr von allen Seiten versetzte. Es konnte nichts Traurigeres und zugleich Groteskeres geben als die Züge dieser Unglücklichen; sie hatte ein langgezogenes, runzeliges, erdfahles Gesicht mit zwei großen Nasenlöchern und zwei kleinen, schiefstehenden, roten Augen. Bald zornig, bald demütig, grollte und bat sie, aber man lachte über ihre Klagen noch mehr als über ihre Drohungen. Sie war die Zielscheibe des Spottes aller Gefangenen, obgleich sie schwanger war. Zu den schlimmsten Peinigerinnen der Mont-Saint-Jean gehörte die Wölfin. Die Wölfin war ein Mädchen von etwa zwanzig Jahren, groß, schlank, von wahrhaft athletischem Knochenbau und einem ziemlich regelmäßigen Gesicht. Ihr schwarzes Haar war starr; braune Härchen beschatteten ihre fleischige Oberlippe; ihre starken Augenbrauen wuchsen über großen, fahlen Augen zusammen. Es lag etwas Wildes in dem Gesichtsausdruck dieses Mädchens; deshalb hatte man 374
ihr den Beinamen gegeben, den sie trug. »Was habe ich euch getan?« rief die Mont-Saint-Jean, indem sie sich verzweifelt wehrte. »Warum quält ihr mich so?« »Weil uns das Spaß macht.« »Weil du nur dazu da bist, gequält zu werden!« »Wir wollen dich in Ruhe lassen, wenn du uns sagst, warum du Mont-Saint-Jean heißt.« »Ja, erzähle uns das.« »Ich habe es euch schon hundertmal erzählt. – Ich heiße so nach einem Soldaten, der in der Schlacht von Mont-Saint-Jean verwundet worden war. Ich habe seinen Namen behalten… Seid ihr nun zufrieden?« »Wenn dein Soldat dir ähnlich war, muß er schön ausgesehen haben.« »Wie viele Glasaugen hatte er?« »Er hatte gewiß weder Arme noch Beine und war blind und taub, he?« »Was hast du da in dem Tuch?« fragte die Wölfin. »Sie muß es zeigen!« »Wir wollen es sehen!« »Nein«, rief die Arme, in dem sie das kleine Paket mit allen Kräften festhielt. »Es muß ihr weggenommen werden!« »Ja, nimm es ihr, Wölfin!« »Was ist denn darin?« »Es ist ein Hemdchen für mein Kleines, weiter nichts.« »Ach, das Hemdchen für den kleinen Mont-Saint-Jean! Das muß spaßig aussehen.« »Her mit dem Fetzen!« rief die Wölfin, indem sie die Mont-SaintJean mit ihren Pranken packte und ihr das kleine Bündel fortnahm. Mont-Saint-Jean schluchzte, als wäre sie selbst ein kleines Kind. Sie sah die Unmöglichkeit, sich gegen das riesenstarke Mädchen zur Wehr zu setzen und ergab sich verzweifelt in ihr Schicksal. Aber plötzlich richtete sie sich auf und rief: »Helfen Sie mir, Schallerin! 375
Bitten Sie für mich! Auf Sie wird man gewiß hören.« Die Schallerin, die zuletzt im Hof erschienen war, trug auch das blaue Kleid und die schwarze Haube der Gefangenen; sie sah aber selbst in diesem groben Anzug noch reizend aus wie ein Engel. Seit ihrer Entführung schienen sich ihre Züge verändert zu haben; ihre Blässe, durch die sonst ein leichtes Rot schimmerte, war jetzt matt, wie Alabaster. Auch der Ausdruck ihres Gesichtes war ernster und entsagungsvoller geworden. Marienblume schien zu fühlen, daß sie durch mutiges Ertragen der schmerzlichen Strafen sich von früheren Fehlern reinigen konnte. »Bitten Sie für mich, Schallerin«, fuhr die Mont-Saint-Jean fort. »Sehen Sie nur, wie sie alles, was ich mit so großer Mühe für mein Kindchen gesammelt hatte, im Hof umherwerfen!« Marienblume sagte kein Wort, fing aber an, alle Läppchen unter den Füßen der Gefangenen aufzulesen. Eine Gefangene stand absichtlich auf einem Stück Leinwand; Marienblume hatte sich gebückt, sah die Gefangene bittend an und sagte mit ihrer sanften Stimme: »Ich bitte Sie, lassen Sie mich das aufheben, im Namen der Armen da, die weint.« Die Gefangene zog den Fuß zurück. Es blieb nur noch ein kleines Kindermützchen übrig, um das sich zwei Gefangene stritten. Marienblume sagte zu ihnen: »Geben Sie ihr das Mützchen zurück!« »Nun ja, es ist für einen Harlekin.« Das Mützchen war in der Tat buntscheckig genug. Die Gefangenen lachten. »Lacht, soviel ihr wollt, aber gebt es mir nur wieder«, sagte MontSaint-Jean. »Mir die Harlekinsmütze!« rief die Wölfin. »Ich bitte Sie, geben Sie mir das Mützchen«, sagte die Schallerin. »Sie wollen es der Mont-Saint-Jean zurückgeben?« »Gewiß.« »Ich gebe es nicht her«, entgegnete die Wölfin roh. »Soll ich Ih376
nen immer nachgeben, weil Sie die Schwächste sind? Sie mißbrauchen meine Nachsicht.« »Wäre es denn ein Verdienst, mir nachzugeben, wenn ich die Stärkste wäre?« antwortete die Schallerin, mit anmutigem Lächeln. »Sie kriegen das Mützchen nicht!« »Ich bitte Sie darum.« »Mach mich nicht böse! Ich habe nein gesagt, und dabei bleibt es«, entgegnete die Wölfin gereizt. »Haben Sie doch Mitleid mir ihr! Sehen Sie, wie sie weint!« »Was geht das mich an?« »Sie haben recht, Wölfin; es ist ganz in Ordnung so! Die Arme tut niemandem etwas zuleide, sie kann sich nicht verteidigen, sie ist allein gegen alle – also geschieht ihr recht.« »Meinst wohl, wir wären feig?« rief die Wölfin. »Antworte! Sind wir feig, he?« Es entstand ein drohendes Gemurmel gegen die Schallerin. »Sie nennt uns feig!« »Welches Recht hat sie dazu?« »Ist sie etwa mehr als wir?« »Wir sind zu gut zu ihr gewesen.« »Was kann sie überhaupt dagegen haben, wenn es uns gefällt, MontSaint-Jean zu schlagen?« »Du wirst nun noch mehr kriegen als früher, Mont-Saint-Jean.« »Und du, wenn du dich wieder in Dinge mengst, die dich nichts angehen, Schallerin, kriegst auch dein Teil!« »Das ist nicht genug!« rief die Wölfin aus. »Die Schallerin muß Abbitte leisten, weil sie uns feig genannt hat!« »Sie muß um Verzeihung bitten!« »Auf den Knien!« »Oder wir behandeln sie wie Mont-Saint-Jean.« »Sage es noch einmal!« Marienblume blieb in diesem Geschrei vollkommen ruhig; sie ließ den Sturm austoben, dann sah sie, als sie sich Gehör verschaffen konnte, alle mit ihren schönen Augen an und antwortete der Wöl377
fin, die von neuem schrie: »Wage es noch einmal, uns feig zu nennen!« »Sie? Nein, die Arme da, der ihr die Kleider zerrissen, die ihr geschlagen, in den Schmutz geworfen habt, die ist feig! Seht ihr nicht, wie sie weint, wie sie euch zitternd ansieht? Sie ist feig, weil sie sich vor euch fürchtet.« Die Wölfin und die anderen murmelten noch, aber sie fühlten dunkel, daß sie nicht recht gehandelt hatten. Marienblume fuhr fort: »Sie verdient kein Mitleid, sagt ihr, aber ihr Kind verdient es. – Fühlt es nicht auch die Schläge, die ihr seiner Mutter gebt? Wenn sie um Gnade bittet, tut sie es nicht für sich, sondern für ihr Kind. – Wenn sie euch beschwört, ihr die Lumpen nicht zu nehmen, so tut sie es nicht ihretwegen, sondern wegen ihres Kindes. – Spottet nun über uns beide, über Mont-Saint-Jean und mich, wenn ihr könnt.« Die Gefangenen lachten nicht. Die Wölfin sah sogar das Mützchen, das sie noch in der Hand hielt, mit einem traurigen Blick an. »Mein Gott«, fuhr Marienblume fort, »ich weiß, daß ihr nicht bös seid. – Ihr quält Mont-Saint-Jean nur aus Langweile, nicht aus Grausamkeit. – Aber ihr vergeßt, daß sie ein Kind unter dem Herzen trägt. – Ihr würdet sie sonst nicht schlagen, weil ihr fürchten müßtet, dem armen unschuldigen Kinde weh zu tun, und ihr würdet sogar, wenn es kalt ist, der Mutter alles geben, was ihr entbehren könnt, um es zu erwärmen, nicht wahr, Wölfin?« »Freilich…« »Ihr würdet, wenn es hungert, das Brot aus eurem Munde nehmen und es ihm geben, nicht wahr, Wölfin?« »Ja, – ich bin nicht schlechter als andere.« »Wir auch nicht!« »Ich sagte es ja«, fuhr Marienblume fort, »daß ihr nur vergeßt, daß Mont-Saint-Jean das Kind nicht auf den Armen, sondern unter dem Herzen trägt –« 378
»Es ist wahr, wenn wir sie schlagen, schlagen wir das Kind.« »Daran hatte ich nicht gedacht.« »Ich auch nicht.« Die Wölfin griff mit einemmal in die Tasche, nahm zwanzig Sous, warf sie in das Mützchen und rief, indem sie es den anderen Gefangenen hinhielt: »Und ein Kind zu schlagen. Pfui!« »Ich gebe zwanzig Sous für Mont-Saint-Jean, damit sie Leinwand kaufen kann. Wir alle helfen zuschneiden und nähen!« »Ja – ja!« »Eine feine Idee!« »Ich gebe zehn Sous.« »Ich dreißig.« »Ich zwanzig.« »Ich vier, ich habe nicht mehr.« »Ich habe gar nichts, aber ich verkaufe meine Ration. Wer kauft sie mir ab?« »Ich«, rief die Wölfin, »ich gebe 10 Sous für dich, du kannst aber deine Ration behalten! Mont-Saint-Jean soll eine Ausstattung für ihr Kind bekommen, wie eine Prinzessin!« »Ach, mein lieber Engel«, rief die Mont-Saint-Jean, indem sie der Schallerin beide Hände entgegenstreckte, »was habe ich für Sie getan, daß Sie so gütig und freundlich gegen mich sind?« »Wir haben 28 Franken und 7 Sous«, sagte die Wölfin. »Wer soll das Geld aufbewahren? Der Mont-Saint-Jean dürfen wir es nicht geben, sie ist zu dumm.« »Die Schallerin soll es an sich nehmen!« riefen alle. »Wenn ihr auf mich hören wollt«, sagte Marienblume, »so bittet die Aufseherin, Madame Armand, das Geld zu übernehmen und die nötigen Einkäufe zu machen.« »Schallerin … kommen Sie, ich muß mit Ihnen sprechen«, sagte die Wölfin finster vor sich hin. Dann trat sie aus der Gruppe der Gefangenen heraus und führte die Schallerin an das Bassin mit der steinernen Einfassung, vor 379
dem eine Bank stand. Hier setzten sich die Schallerin und die Wölfin nieder und waren fast allein.
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as wollten Sie mir sagen?« fragte die Schallerin ihre Gefährtin, die finster und schweigend, neben ihr saß. »Wir müssen zu einer Lösung kommen«, antwortete die Wölfin rauh; »das kann so nicht weitergehen.« »Ich verstehe Sie nicht.« »Eben jetzt hatte ich mir vorgenommen: ich gebe der Schallerin nicht mehr nach, und doch habe ich Ihnen wieder nachgegeben.« »Nicht mir, Wölfin…« »Ich sage, damit muß es ein Ende haben!« »Was haben sie gegen mich, Wölfin?« »Ich habe gegen Sie, daß ich nicht mehr bin, wie ich war – ich habe keinen Mut, keine Kraft mehr.« Die Wölfin unterbrach sich, streifte den Ärmel ihres Kleides zurück, zeigte auf ihre weißen, muskulösen Arme und deutete auf eine Tätowierung, die einen Dolch darstellte, der in ein rotes Herz gebohrt war. Darunter las man die Worte: »Tod den Feigen! Martial. F.d.L. (für das Leben).« »Sehen Sie das?« fragte die Wölfin. »Ja, ich könnte mich davor fürchten«, antwortete die Schallerin, indem sie die Augen abwandte. »Als Martial mir mit einer glühenden Nadel diese Worte auf den 380
Arm schrieb, hielt er mich für mutig. Wenn er wüßte, wie ich mich seit drei Tagen benehme, würde er mir sein Messer in die Brust stoßen, und er würde recht tun, denn es steht geschrieben: Tod den Feigen!« »Was taten Sie, daß Sie sich feig schalten?« »Ich bin feig!« »Bereuen Sie Ihre gute Tat?« »Ja.« »Habe ich Sie zu einer Feigheit verleitet, als Sie die Arme unterstützten?« »Darum handelt es sich nicht«, rief die Wölfin zornig aus, »aber ich habe noch vor niemand den Nacken gebeugt. Mehr als ein Weib trägt Spuren von mir an sich, auch mehr als ein Mann … man soll also nicht sagen, ein schwächliches Ding, wie Sie, hätte mich unter die Füße gebracht.« »Sie zürnen mir, Wölfin?« »Ja, Sie sind für mich eine gefährliche Bekanntschaft; wenn das noch vierzehn Tage so ginge, würde man mich nicht mehr die Wölfin, sondern das Lamm nennen. Dafür danke ich. – Mein Geliebter würde mich umbringen. – Kurz und gut, ich mag nicht mehr mit Ihnen zusammen sein und werde darum bitten, in einen anderen Saal versetzt zu werden. Schlägt man es mir ab, so mache ich irgendeine Dummheit, damit man mich einsperrt, bis meine Zeit abgelaufen ist.« »Die beste Art, meinem Wohltäter meine Dankbarkeit zu beweisen«, dachte die Schallerin bei sich, »ist die, anderen, die noch darauf hören können, den guten Rat zu wiederholen, den er mir gegeben hat.« Sie ergriff schüchtern die Hand ihrer Gefährtin, die sie mit finsterem Mißtrauen anblickte, und sagte: »Ich versichere Sie, Wölfin, daß Sie meinen Einfluß fürchten, nicht weil Sie feig sind, sondern weil Sie ein gutes Herz besitzen. Nur die mutigen Herzen fühlen Rührung bei dem Unglück anderer.« »Dabei ist weder Güte noch Mut«, sprach die Wölfin rauh, »son381
dern nur Feigheit. – Übrigens will ich nicht, daß Sie glauben, ich sei gerührt worden; es ist nicht wahr –« »Aber Ihnen dankbar zu sein, werden Sie mir erlauben, nicht wahr?« »Meinetwegen. – Noch heute abend bin ich in einem anderen Saal, und bald werde ich überhaupt freigelassen… Gott sei Dank!« »Wohin werden Sie dann gehen?« »In meine Wohnung, Rue Pierre Lescot. Ich habe eine eigene Wohnung.« »Und freuen Sie sich, Martial wiederzusehen?« fuhr die Schallerin fort, die hoffte, länger mit der Wölfin sprechen zu können, wenn sie einen ihr interessanten Gegenstand berührte. »Ach ja!« antwortete sie leidenschaftlich. »Als ich verhaftet wurde, erholte er sich eben von einem Fieber, das er bekam, weil er immer auf dem Wasser ist. Siebzehn Tage und siebzehn Nächte habe ich ihn keine Minute verlassen; ich kann mich rühmen, wenn er lebt, so verdankt er es mir.« »Und wo ist er jetzt? Was treibt er?« »Er wohnt bei der Brücke von Asnières, dicht am Wasser.« »Und was tut er?« »Er fischt in der Nacht, und wenn ein feiger Mensch Streit mit einem anderen sucht, so nimmt das Martial auf sich, denn er ist mutig wie ein Löwe. Sein Vater hat Unglück mit der Justiz gehabt. Er hat eine Mutter, zwei Schwestern und einen Bruder.« »Wo haben Sie Martial kennengelernt?« »In Paris. Er wollte Schlosser werden; ein schönes Handwerk! – Aber er hatte, wie ich, seinen eigenen Kopf und kam mit keinem Meister aus. Er kehrte also wieder zu seinen Eltern zurück und fing an, auf dem Flusse zu stehlen. Er besucht mich abends in Paris, und ich besuche ihn am Tage in Asnières.« »Ach, Sie werden also das Glück haben, Wölfin, einmal aufs Land zu gehen!« »Der Wald ist mir lieber!« »Haben Sie denn schon im Wald gelebt?« »Nein.« 382
»Wer hat Sie denn auf den Gedanken gebracht?« »Martial war Wilddieb im Walde von Rambouillet. Vor einem Jahr hieß es, er habe auf einen Wildhüter geschossen, der zuerst auf ihn geschossen hatte. Der Lump von Wildhüter! Zwar ist vor Gericht nichts bewiesen worden, aber Martial mußte die Gegend verlassen. Er kam nach Paris, und hier lernte ich ihn kennen.« »Und wo sind Ihre Eltern, Wölfin?« »Das weiß ich nicht.« »Haben Sie sie lange nicht gesehen?« »Ich weiß nicht einmal, ob sie leben oder tot sind.« »Wie kommt das?« »Ich war, glaube ich, elf Jahre alt, als meine Mutter mit einem Soldaten davonging; mein Vater, der Taglöhner war, hielt sich nun eine Geliebte, die mit zwei Knaben zu uns zog. Sie handelte mit Äpfeln. Im Anfang ging es nicht schlecht, dann aber kam eine Austernhändlerin zu uns, mit der es mein Vater auch hielt. Das erfuhr die erste, und nun gab es fast alle Tage entsetzliche Schlägereien. Eines Tages, es war gerade ihr Namenstag, machte sie meinem Vater Vorwürfe, daß er ihr nicht gratuliert habe. Ein Wort gab das andere, und mein Vater gab ihr endlich eins mit dem Besenstiel auf den Kopf. Ich dachte, es wäre aus mit ihr. Sie fiel hin, aber sie hatte ein zähes Leben und einen harten Kopf. Sie blieb meinem Vater nichts schuldig; einmal biß sie ihn so stark in die Hand, daß sie ein Stück Fleisch zwischen den Zähnen behielt.« »Behandelte die Frau Sie auch schlecht?« »Im Gegenteil; sie war eine kreuzbrave Frau… Endlich wurde mein Vater der Sache aber doch überdrüssig; er überließ ihr die wenigen Möbel, die wir hatten, ging fort und kam nicht wieder. Ich war damals fünfzehn oder sechzehn Jahre alt.« »Und Sie blieben bei der ehemaligen Geliebten Ihres Vaters?« »Wohin hätte ich gehen sollen? Sie wurde mit einem Dachdecker bekannt, der zu ihr zog.« »Und was taten Sie?« »Ich schob den Apfelkarren, kochte die Suppe und trug sie zu ih383
rem Manne. Kam er betrunken nach Hause, so half ich Mutter Madeleine, und wir verprügelten ihn gemeinsam, um Ruhe zu haben.« »Und wie wurden Sie, was … wir sind?« fragte Marienblume zögernd. »Der Sohn Madeleines, der kleine Karl, der später ertrank, war bei mir gewesen, fast seit der Zeit, als wir noch Kinder waren. – Seine Stelle nahm der Dachdecker ein. Mir war es gleich, aber ich fürchtete, von Mutter Madeleine aus dem Hause gejagt zu werden, wenn sie etwas merkte. Das geschah denn auch; da sie aber eine gutmütige Frau war, so sagte sie zu mir: ›Da es so ist, so komm mit mir, ich will dich bei der Polizei einschreiben lassen. Was meinst du dazu?‹ – ›Sie mögen wohl recht haben‹, antwortete ich. Wir gingen in das Sittenbureau; sie empfahl mich einem Hause, und seitdem bin ich eingeschrieben. Vor einem Jahr ungefähr habe ich Mutter Madeleine einmal wiedergesehen. Letzthin erzählte jemand, sie sei vor drei Monaten in die Morgue gebracht worden. Schade, wenn es wahr ist! Sie war eine brave Frau, hatte das Herz in der Hand und nicht mehr Galle als eine Taube!« Die Schallerin kämpfte die Bewegung nieder, welche die traurige Beichte ihrer Gefährtin in ihr geweckt hatte und sagte schüchtern: »Hören Sie mich an, ohne bös zu werden…« »Wir wollen sehen –, reden Sie!« »Sind Sie glücklich, Wölfin?« »Hier in St. Lazare?« »Nein, wenn sie frei sind.« »Ja, ich bin glücklich.« »Sie möchten Ihr Schicksal nicht mit einem anderen vertauschen?« »Mit welchem anderen? Für mich gibt es kein anderes.« »Sagen Sie mir, Wölfin«, fuhr Marienblume, nach einer kurzen Pause, fort, »bauen Sie zuweilen Luftschlösser?« »Warum?« »Wegen Martial, zum Beispiel.« »Nein, ich habe noch nie Luftschlösser gebaut.« »So will ich einmal eins bauen für Sie und Martial.« 384
»Wozu?« »Zum Zeitvertreib –« »Nun, meinetwegen! Lassen Sie sehen!« »Denken Sie, Sie träfen zufällig jemand, der zu ihnen sagt: Sie lieben Martial, er liebt Sie… Geben Sie beide Ihren schlechten Lebenswandel auf, werden Sie seine Frau!« Die Wölfin zuckte die Achsel. »Wer weiß, ob er mich haben möchte.« »Außer der Wilddieberei hat er nichts Strafbares begangen, nicht wahr?« »Nein, er ist Wilddieb auf dem Wasser, wie er es im Walde war, und er hat recht. Sind die Fische im Wasser, wie das Wild im Walde, nicht da für den, der sie fängt?« »Angenommen, er hätte sein gefährliches Gewerbe als Fischdieb aufgegeben, wollte ein ehrlicher Mann werden und flößte einem unbekannten Wohltäter so viel Vertrauen ein, daß er ihm eine Stelle als Jäger oder Wildhüter gäbe…« »Ja, dann könnte man auch im Walde leben…« »Angenommen, er bekäme die Stelle nur unter der Bedingung, daß er Sie heiratete und mit sich nähme.« »Sie haben mich zum Besten! Wäre denn so etwas möglich?« »Wer weiß? – Übrigens ist es eben ein Luftschloß.« »Ja so.« »Ich sehe Sie schon in dem Häuschen, mitten im Walde, mit Ihrem Mann, mit zwei, drei Kindern…« »Kinder von Martial?« rief die Wölfin in wilder Leidenschaft, »ach ja! Die würde ich lieben!« »Sie würden um Sie spielen, und wenn sie größer wären, fingen Sie an, Ihnen behilflich zu sein; die kleinsten sammelten dürres Holz, der größere ginge mit einer Kuh in den Wald…« »Weiter, Schallerin!« »Man wäre zufrieden mit Ihrem Manne. Sie erhielten von seinem Herrn Geschenke: Hühner in den Hof, einen Garten, – aber Sie würden auch tüchtig arbeiten müssen, Wölfin, von früh bis abends.« 385
»O, wenn es weiter nichts wäre! Schaffen kann ich, wie ein Mann.« »Beschäftigung ist genug, dafür steh' ich. – Heute wird gewaschen, morgen Brot gebacken, oder das Haus wird von oben bis unten gescheuert…« »Für meinen Mann und drei oder vier Kinder zu sorgen, das sollte mir nicht schwer werden!« »Es gibt aber auch nicht immer Arbeit. Im Winter, abends, wenn die Kinder schlafen, Ihr Mann seine Pfeife raucht und seine Hunde streichelt, können Sie sich ausruhen –« »Bah, die Hände in den Schoß legen? Nein, da will ich doch lieber die Wäsche ausbessern, wenn wir abends am Feuer sitzen.« Hocherfreut, daß die Wölfin so eifrig zuhörte, fuhr die Schallerin fort: »Und dann, Madame Martial – erlauben Sie, daß ich Sie so nenne -?« »Bitte, das klingt sehr hübsch! Also, was sagten Sie?« »Ich meine, Madame Martial, wenn wir von Ihrem Leben im Winter sprechen, so haben wir die schlechteste Jahreszeit gewählt.« »Nein, es ist nicht die schlechteste! So in der Nacht im Walde den Wind pfeifen und bisweilen die Wölfe heulen zu hören, das würde ich nicht langweilig finden.« »Ich ziehe den Frühling vor. Ach, der Frühling, Madame Martial, wenn die Bäume grün werden, und Blumen im Walde blühen, daß die Luft voll Wohlgeruch ist! Da wälzen sich Ihre Kinder lustig im Grase, und der Wald ist so dicht, daß man Ihr Haus kaum sieht. Und dann – ich weiß nicht, ob Sie das schon bemerkt haben – im Sommer ist es im Wald so still, so still, wie in der Nacht. Kein Blättchen regt sich…« »Das ist wahr«, antwortete die Wölfin, die mehr und mehr die Wirklichkeit vergaß. »Etwas liebe ich fast ebensosehr wie die Waldesstille: Das Rauschen der Regentropfen, die auf die Blätter fallen; hören Sie das auch gern?« »Ach ja!« »Dann sind die Bäume, das Moos, das Gras wie gebadet. Und die 386
Sonne, wenn sie durch die Blätter scheint, alle Wassertröpfchen funkeln läßt! … Haben Sie das auch schon bemerkt?« »Sie erzählen hübsch, Schallerin; man glaubt, alles vor sich zu sehen, und was Sie sagen, erfrischt wie der Sommerregen, von dem Sie reden.« Marienblume fuhr fort: »Und nun stellen Sie sich vor: es ist die Zeit des Abendessens, Ihr Ältester hat, während er die Kühe im Walde hütete, ein Körbchen voll Erdbeeren für Sie gepflückt.« »Mein Gott, Schallerin, wo nehmen Sie nur die Einfälle her?« »Aus dem Walde, wo die Erdbeeren wachsen. Aber wir wollen von der Wirtschaft reden. – Es ist Abend, Sie müssen Ihre Kühe melken, das Abendessen bereit stellen, denn Sie hören die Hunde ihres Mannes bellen. Und dann, wenn es ganz dunkel geworden ist … welches Glück, in der Laube den schönen Abend zu genießen, den Duft des Waldes zu atmen, die Kinder plaudern zu hören und die Sterne anzusehen…« »Nun sagen Sie mir«, fuhr Marienblume sanft fort, »verdiente der nicht gesegnet zu werden, der Ihnen dieses friedliche Leben gäbe für das elende Leben, das Sie im Schmutze von Paris führen?« Das Wort ›Paris‹ brachte die Gedanken der Wölfin zur Wirklichkeit zurück. Sie richtete rasch den Kopf empor, strich mit der Hand über die Stirn, stand drohend und zornig auf und sagte: »Siehst du –, daß ich recht hatte, als ich dir nicht traute und nicht auf dich hören wollte? Warum hast du so mit mir geredet? Um mich zum Narren zu haben? Und nur weil ich so dumm war und sagte, ich möchte gern mit meinem Geliebten im Walde leben… Jetzt werde ich alle Tage an den Wald, an das Haus, an die Kinder, an das Glück denken, das ich nie, nie finden werde. Und wenn ich nicht vergessen kann, was du mir gesagt hast, dann wird mein Leben eine Hölle sein. Und das ist deine Schuld, ja – deine Schuld!« »Desto besser!« sagte Marienblume. »Du sagst: Desto besser!« wiederholte die Wölfin mit funkelnden 387
Augen. »Ja, denn wenn dir dein elendes Leben nun als Hölle erscheint, wirst du das Leben vorziehen, von dem ich gesprochen habe.« »Was nützt es mir, da es doch nicht für mich ist?« rief die Wölfin aus, indem sie die kleine Hand der Schallerin in ihre starke Faust nahm. »Antworte! Warum bist du hierher gekommen um Wünsche in mir zu wecken, die nie in Erfüllung gehen können?« »Wenn Sie ein ehrliches Leben wünschen, machen Sie sich eines solchen Lebens auch würdig«, entgegnete Marienblume. »Nun – und wenn ich eines solchen Lebens würdig bin? Was nützt mir das?« »So wird, was Sie für einen Traum halten, zur Wirklichkeit werden«, sagte Marienblume in so überzeugungsvollem Ton, daß die Wölfin, von neuem überwunden, ihre Hand losließ und staunend dastand. »Hören Sie mich an, Wölfin«, fuhr Marienblume fort, »halten Sie mich nicht für so schlecht, daß ich diese Hoffnungen in Ihnen erweckt haben würde, wenn ich nicht die Gewißheit hätte, Ihnen die Mittel verschaffen zu können, aus Ihrer jetzigen Lage herauszukommen.« »Sie? Wie wollten Sie das können?« »Ich nicht, aber jemand, der gütig, groß und mächtig ist.« »Wer ist das?« »Vor drei Monaten, als ich, wie Sie, ein armes, verlassenes Geschöpf war, kam eines Tages der, von dem ich nur mit Tränen des Dankes sprechen kann, zu mir und scheute sich nicht, tröstende Worte zu mir zu sagen. Ich hatte ihm meine Leiden, meine Not, meine Schande offenbart, ohne ihm etwas zu verschweigen. Nachdem er mich angehört hatte, tadelte er mich nicht, sondern beklagte mich und pries mir das ruhige und unschuldige Leben, das man auf dem Lande führe.« »Wie Sie eben –« »Ja, und ich sagte, wie Sie: Was nützt es, mir dieses Paradies zu zeigen, da ich doch in der Hölle bleiben muß? Aber ich tat Unrecht, 388
als ich verzweifelte, denn er, von dem ich spreche, ist nicht imstande, einem armen Geschöpf, das von keinem Mitleid verlangte, eine falsche Hoffnung vorzuspiegeln.« »Was tat er für Sie?« »Er behandelte mich wie ein krankes Kind und ließ mich eine gesunde, belebende Luft atmen; er vertraute mich Menschen an, die ihm glichen. Ja, wenn meine Worte Sie rühren, Wölfin, so spricht sein Geist aus mir, und wenn ich von einer glücklicheren Zukunft spreche, die Sie erlangen könnten, so tue ich es, weil ich Ihnen, in seinem Namen diese Zukunft versprechen kann, obgleich er in diesem Augenblicke die Verpflichtung nicht kennt, die ich übernehme.« Marienblume strahlte, während sie sprach, in einer so rührenden Schönheit, daß die Wölfin ihre Gefährtin mit ehrerbietiger Bewunderung betrachtete und ausrief: »Mein Gott! – Träume ich? – Wer sind Sie denn? Und warum sind Sie hier – gefangen mit uns, da Sie doch so mächtige Menschen kennen? Sind Sie für das Gute, was der Teufel für das Böse ist?« Marienblume wollte antworten, als Madame Armand sie unterbrach, um sie zu Frau von Harville zu führen.
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ie Aufseherin erschien bald mit der Schallerin in dem kleinen Saal, in dem die Marquise von Harville wartete. Das bleiche Gesicht des jungen Mädchens hatte sich durch das lebhafte Gespräch mit der Wölfin leicht gerötet. »Die Frau Marquise«, sagte Madame Armand zu Marienblume, »wünscht Sie zu sehen und wird vielleicht die Güte haben, Sie vor Ablauf Ihrer Strafzeit aus dem Gefängnis zu bringen.« 389
»Mein Kind«, sagte Clémence zu ihr, »Madame Armand rühmt deinen sanften Charakter und dein gutes Betragen, aber sie beklagt sich darüber, daß du ihr so wenig Vertrauen schenkst.« Marienblume ließ das Köpfchen sinken und antwortete nicht. »Der Anzug eines Bauernmädchens, den du trugst, als du verhaftet wurdest, und dein hartnäckiges Schweigen über den Ort, wo du dich aufhieltest, ehe du hierher kamst, beweisen, daß du gewisse Umstände verheimlichen willst. Ich habe keinen Anspruch auf dein Vertrauen, armes Kind, und möchte dir keine zudringlichen Fragen stellen, aber man versicherte mir, daß man mein Gesuch bewilligen würde, wenn ich mich für deine Freilassung verwendete. Ehe ich es tue, möchte ich aber mit dir über deine Pläne für die Zukunft sprechen. – Was würdest du beginnen, wenn du frei wärest? Schenke mir Vertrauen, und ich werde für dich tun, was ich kann.« Die Schallerin antwortete, nach einigem Zögern: »Sie zeigen sich mir so wohlwollend, daß ich vielleicht das Schweigen breche, das mir ein Eid zur Pflicht machte.« »Ein Eid?« »Ja, ich habe geschworen, der Justiz und den hier angestellten Personen gegenüber zu verschweigen, wie ich hierhergekommen bin; wenn Sie mir aber ein Versprechen geben wollen…« »Ich?« »…das Versprechen, mein Geheimnis zu bewahren, so könnte ich vielleicht durch Ihre Vermittlung, ohne gegen meinen Schwur zu handeln, Personen beruhigen, die ohne Zweifel sehr besorgt um mich sind.« »Rechne auf meine Verschwiegenheit!« »Ich danke Ihnen, Madame! Ich fürchtete so sehr, mein Schweigen könne meinen Wohltätern undankbar erscheinen…« Der sanfte Ton der Stimme und die fast gewählte Sprache der Schallerin versetzten Frau von Harville von neuem in Erstaunen. »Wie konntest du«, fragte sie, »bei deiner, wie es scheint, ausgezeichneten Erziehung…« »So tief fallen, nicht wahr? – Leider habe ich diese Erziehung erst 390
jetzt erhalten. Ich verdanke sie einem Manne, der sich meiner erbarmte, ohne mich zu kennen.« »Und wer ist dieser Beschützer?« »Das weiß ich nicht.« »Du weißt es nicht?« »Er gibt sich, wie man sagt, nur durch seine Güte zu erkennen.« »Wo trafst du ihn?« »In der Cité«, sagte die Schallerin, mit niedergeschlagenen Augen, »wollte mich einst in der Nacht ein Mann schlagen, und dieser unbekannte Wohltäter verteidigte mich mutig. So lernte ich ihn kennen.« »War er – ein Mann aus dem Volke?« »Als ich ihn das erstemal sah, war er so gekleidet, aber später –« »Später?« »Die tiefe Ehrfurcht, mit der ihn diejenigen behandelten, denen er mich anvertraute, bewies mir, daß er nicht war, wofür ich ihn anfangs gehalten hatte.« »Kennst du den Namen des geheimnisvollen Beschützers?« »Ja, Madame«, antwortete die Schallerin mit Begeisterung. »Mein Retter heißt Herr Rudolf –« Clémence wurde purpurrot. »Hat er keinen anderen Namen?« fragte sie. »Ich weiß es nicht. In der Meierei, in die er mich gebracht hatte, kannte man ihn nur unter diesem Namen.« Der leidenschaftliche Ton in dem Marienblume diese Worte sprach, machte einen schmerzlichen Eindruck auf Frau von Harville. Unter welchen Umständen waren der Fürst – denn daß es sich um ihn handelte, war Clémence jetzt klar – und diese Unglückliche zusammengetroffen, und warum war Rudolf, verkleidet, in die Cité gegangen? Clémence besaß edle Eigenschaften, aber sie war ein Weib und liebte Rudolf, obgleich sie entschlossen war, dieses Geheimnis tief im Herzen zu begraben. Ohne zu bedenken, daß sie vielleicht ein Gefühl begeisterter Dank391
barkeit mit Liebe verwechselte, sah die Marquise im ersten Augenblick in der Schallerin ihre Nebenbuhlerin. Sie fuhr deshalb in einem Tone der grell von dem Wohlwollen ihrer ersten Worte abstach, fort: »Und warum läßt Sie, Mademoiselle, Ihr Beschützer im Gefängnis? Wie sind Sie überhaupt hierhergekommen?« Das eben noch so offene Gesicht der Schallerin verdüsterte sich. Clémence, die diesen jähen Wechsel bemerkte, fuhr deshalb, um nicht den Argwohn ihres Schützlings zu erwecken, sanfter fort: »Ich kann wirklich nicht begreifen, daß Sie hier gefangengehalten werden und daß Sie in der Nacht auf einer Promenade verhaftet werden konnten, die Ihnen untersagt war. Alles dies kommt mir seltsam vor. Sie sprachen von einem Eid, der Sie bis jetzt zum Schweigen nötigte, aber auch dieser Eid ist rätselhaft!« »Ich habe die Wahrheit gesagt.« »Ich glaube es; aber das Unbegreifliche Ihrer Lage steigert meinen lebhaften Wunsch, Ihnen behilflich zu sein. Ich verspreche Ihnen deshalb, nicht nur Ihr Geheimnis zu wahren, sondern alles zu tun, um das Ziel zu erreichen, nach dem Sie streben.« »Verzeihen Sie mir, Madame, ich tat gewiß unrecht, daß ich Ihnen nicht sogleich sagte, was Sie zu wissen wünschten: aber Sie fragten mich nach dem Namen meines Retters, und ich konnte dem Glück nicht widerstehen, von ihm zu sprechen.« »Das beweist, mein Kind, wie dankbar du ihm bist. Aber warum hast du die braven Leute verlassen, zu denen er dich gebracht hat? Bezieht sich darauf der Eid, den du erwähntest?« »Ja, aber durch Ihre Vermittlung glaube ich meine Wohltäter beruhigen zu können, ohne mein Wort zu brechen.« »Erzähle, armes Kind!« »Vor ungefähr drei Monaten hatte mich Herr Rudolf in die Meierei gebracht und mich einer Frau übergeben, die ich bald liebte wie meine Mutter. Sie und der Pfarrer des Dorfes beschäftigten sich mit meiner Erziehung.« »Warum hast du den Ort verlassen, wo du dich so glücklich fühl392
test?« »Ach, es geschah nicht freiwillig.« »Wer zwang dich dazu?« »Eines Abends ging ich«, sagte Marienblume zitternd, »ins Pfarrhaus, als eine böse Frau, die mich in meiner Kindheit gepeinigt hatte, und ein Mann, der mit ihr in einem Hohlweg im Hinterhalte lag, über mich herfielen, mich knebelten und in einen Wagen trugen.« »Zu welchem Zweck?« »Das weiß ich nicht. Meine Entführer gehorchten, glaube ich, mächtigen Personen.« »Und welche Folgen hatte dieser Raub?« »Kaum hatte sich der Wagen in Bewegung gesetzt, als die böse Frau ausrief: ›Ich habe hier mein Vitriol und will damit der Schallerin das Gesicht waschen.‹« »Entsetzlich! Und wer rettete dich aus dieser Gefahr?« »Der Helfershelfer jener Frau, ein Blinder, der Schulmeister genannt wird.« »Er verteidigte dich?« »Ja, es entstand ein Kampf zwischen ihm und der Eule. Der Schulmeister gebrauchte seine Kraft und zwang sie, die Flasche aus dem Wagen zu werfen. Nach etwa einer Stunde hielt der Wagen an, ich glaube auf der Straße, die über die Ebene von St. Denis führt. Dort wartete ein Mann zu Pferde. ›Nun‹, sagte er, ›habt ihr sie endlich?‹ – ›Ja, wir haben sie‹, antwortete die Eule. ›Wenn Sie die Kleine aus dem Wege räumen wollen, so weiß ich ein gutes Mittel. Ich lege sie hier auf die Erde und lasse ihr die Wagenräder über den Kopf gehen. – Man wird glauben, sie sei zufällig verunglückt.‹ – Zum Glück antwortete der Mann zu Pferde, er wünsche nicht, daß man mir etwas zuleide tue, man brauche mich nur zwei Monate lang eingesperrt zu halten. Da schlug die Eule vor, mich zu Rotarm zu bringen, der ein Wirtshaus hat. In diesem Wirtshaus gäbe es mehrere tiefe Keller. Dort könnte man mich einsperren. Der Mann zu Pferde nahm diesen Vorschlag an und versprach mir, es würde mir spä393
ter ein Schicksal gesichert werden, das mich Bouqueval vergessen machen könnte.« »Welches seltsame Geheimnis!« »Der Mann gab der Eule Geld; dann ritt er schnell davon. Unser Wagen fuhr nach Paris. Kurz bevor wir an die Barriere kamen, sagte der Schulmeister: ›Du willst die Schallerin in einen Keller Rotarms sperren; weißt du auch, daß diese Keller im Winter unter Wasser stehen? – Willst du sie ersäufen?‹ – ›Ja‹, antwortete die Eule.« »Aber mein Gott, was hattest du dieser Frau getan?« »Nichts, Madame, und doch ist sie immer so schlecht zu mir gewesen. – Der Schulmeister antwortete ihr: ›Ich gebe nicht zu, daß die Schallerin ersäuft wird; sie wird nicht zu Rotarm gebracht.‹ Die Eule geriet in schrecklichen Zorn und schwor, sie würde mich, dem Schulmeister zum Trotz, doch hinbringen. ›Ich halte die Schallerin‹, sagte er, ›am Arm und lasse sie nicht los. Wenn du ihr zu nahe kommst, erwürge ich dich‹. – ›Aber was soll mit ihr geschehen?‹ fragte die Eule. – ›Es gibt ein Mittel‹, antwortete der Schulmeister. ›Wir lassen den Wagen vor einer Wachtstube in den Champs Elysées halten, schlagen Alarm und sagen, wir hätten das Mädchen hier aufgegriffen. Da die Schallerin bei der Polizei eingeschrieben ist, so wird man sie festnehmen und nach St. Lazare bringen, wo sie so gut bewacht und so verborgen sein wird wie in dem Keller Rotarms.‹ – ›Aber‹, entgegnete die Eule, ›die Schallerin wird sich nicht verhaften lassen. Sie wird erzählen, daß wir sie geraubt haben. Aber auch angenommen, sie käme ins Gefängnis, so wird sie an ihre Beschützer schreiben.‹ – ›Nein, sie wird freiwillig ins Gefängnis gehen‹, antwortete der Schulmeister, ›und schwören, uns nicht zu verraten.‹ Dann wandte er sich an mich und sagte: ›Entschließe dich, schwöre, was ich verlange, und du wirst mit Gefängnis davonkommen; wenn nicht, so überlasse ich dich der Eule. Entschließe dich. – Ich weiß, wenn du schwörst, hältst du deinen Schwur.‹« »Und du hast geschworen?« »Ach ja, ich fürchtete mich davor, ertränkt zu werden. Ein anderer Tod würde mir nicht so schrecklich erschienen sein, und ich hät394
te vielleicht nicht versucht, ihm zu entgehen.« »Du wünschest also, zu sterben?« »Manchmal wünsche ich mir den Tod, ja –« Die Augen der Frau von Harville füllten sich mit Tränen. Die schmerzlichen Züge und das traurige Lächeln Marienblumes paßten so zu ihren Worten, daß man an der Aufrichtigkeit dieses Wunsches nicht zweifeln konnte. »Und du gingst auf den Plan dieser Unmenschen ein?« »Ja, ich hatte ja so große Angst! Die Eule holte Rotarm; er führte mich auf die Wache und sagte, ich hätte mich vor seinem Haus herumgetrieben. Man verhaftete mich und brachte mich hierher.« »Ihre Freunde müssen in der schrecklichsten Angst sein!« »Ach, ich hatte ja nicht bedacht, daß mein Schwur mich hindern würde, sie zu beruhigen. Aber, nicht wahr, ich kann ohne meinen Schwur zu brechen, Sie bitten, an Madame Georges in Bouqueval zu schreiben, sie möge unbesorgt sein? Freilich dürfen Sie nicht sagen, wo ich bin, denn ich habe versprochen, es zu verschweigen.« »Mein Kind, diese Vorsicht wird unnötig sein, wenn man dich auf meine Fürsprache begnadigt. Morgen schon sollst du nach Bouqueval zurückkehren, ohne deinen Schwur gebrochen zu haben.« »Sie glauben, daß ich hoffen dürfte, durch Ihre Güte diesen Ort bald zu verlassen?« »Du verdienst so viel Teilnahme, daß es mir sicherlich gelingen wird, und ich zweifle nicht, daß du übermorgen deine Wohltäter selbst wirst beruhigen können.« In diesem Augenblick trat Madame Armand bestürzt ins Zimmer. »Frau Marquise«, sagte sie zögernd, »es tut mir leid, Ihnen eine traurige Nachricht überbringen zu müssen.« »Was ist geschehen?« »Der Herzog von Lucenay ist da … er kommt von Ihnen.« »Mein Gott! Was bringt er?« »Ich weiß es nicht, aber der Herr Herzog sagte, es sei etwas Furchtbares geschehen.« »So führen Sie mich zu ihm!« rief Frau von Harville, indem sie 395
weinend mit Madame Armand hinausging.
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ipelet, der Unermüdliche, saß allein in seiner Stube, damit beschäftigt, einen Stiefel instand zu setzen, der, seit dem letzten Überfall Cabrions, mehr als einmal seinen Händen entfallen war. Der Gesichtsausdruck des keuschen Portiers war noch melancholischer als gewöhnlich. Pipelet seufzte oft und tief, unterbrach seine Arbeit und fuhr mit zitterndem Finger über den Bruch, den sein ehrwürdiger Hut durch die freche Hand Cabrions erlitten hatte. »Der Teufel soll mich holen, wenn ich dein Gefasel verstehe. Ich glaube wirklich, du bist manchmal nicht bei Sinnen…« Kaum hatte Anastasia diese Worte ausgesprochen, als Pipelet eine furchtbare Erscheinung hatte. Alfred saß mit dem Gesicht nach dem Bette zu. Im Schatten des Alkovens glaubte er, das unbewegliche, höhnische Gesicht des Malers zu sehen. Er war es: Der spitze Hut, das hagere Gesicht mit dem langen Haar, das satanische Lächeln und der teuflische Blick. Einen Augenblick glaubte Pipelet zu träumen; er strich mit der Hand über die Augen, aber es war keine Täuschung, es konnte Nichts wirklicher sein als diese Erscheinung. Aber das schauerlichste war, daß man keinen Körper sondern nur einen Kopf sah! Pipelet sank bei diesem Anblick, ohne ein Wort zu sagen, in die Knie. Dann erhob er den rechten Arm und deutete auf die Erscheinung mit einer so entsetzensvollen Gebärde, daß seine Frau sich umdrehte. Anastasia wich zwei Schritte zurück, ergriff Alfreds Hand und rief 396
aus: »Cabrion!« »Ja«, murmelte Pipelet mit hohler Stimme, indem er die Augen zudrückte. Anastasia trat, mutig wie eine Löwin, aufs Bett und riß die Pappe mit der Fratze Cabrions von der Wand. Alfred, der noch immer mit geschlossenen Augen dasaß, blieb unbeweglich; nur das krampfhafte Zittern seines Hutes zeugte von seiner heftigen Aufregung. »So mach doch die Augen auf, Alter«, sagte Frau Pipelet triumphierend; »es ist ja nur ein Bild! – Da sieh, wie ich es mit Füßen trete!« Alfred schüttelte, ohne ein Wort zu sagen, den Kopf und winkte seiner Frau, sie möge das verhaßte Bild entfernen. Nach einer Weile stand er auf und taumelte nach der Türe zu. »Wohin gehst du, Alter?« »Zum Kommissar!« »Willst du klagen? Du hast ja keine Beweise, daß Cabrion der Täter war. Vielleicht war es einer seiner Freunde?« »Nein, er war es selbst! Ich fühle es… O, hätte ich den Schurken hier, unter meinen Händen, er sollte mir nicht ent…« »Hier bin ich, teurer Freund!« antwortete zärtlich die wohlbekannte Stimme Cabrions. Diese Worte schienen aus dem Alkoven zu kommen. Anastasia, die auch diesmal der Mut nicht verließ, sah unter das Bett, suchte in jedem Winkel der Stube, ohne etwas zu entdecken, während Pipelet, durch diesen neuen Schlag zerschmettert, wieder auf seinen Schemel gesunken war. »'s ist nichts, Alfred«, sagte Anastasia. »Der Bösewicht war an der Türe versteckt und wird Reißaus genommen haben, während wir ihn hier suchten. Aber Geduld! Ich erwische ihn schon noch einmal, und dann soll er meinen Besenstiel kennenlernen!…« In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und Madame Seraphin, die Haushälterin des Notars Ferrand, trat ein. 397
»Guten Tag, Madame Seraphin«, sagte Frau Pipelet, die sogleich eine heitere Miene annahm, »was steht zu Diensten?«
LXXXVIII
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ährend Alfred, noch halb betäubt, aus der Stube wankte, erwiderte Madame Seraphin: »Wo ist Herr Bradamanti? Ich habe ihm gestern abend geschrieben und keine Antwort bekommen. Und jetzt ist er nicht da.« Frau Pipelet stellte sich sehr betrübt und antwortete: »Herr Bradamanti ist noch nicht zurück.« »Und ich habe so viel mit ihm zu besprechen!« »Das ist freilich Pech!« »Und Sie wissen wirklich nicht, wann er wiederkommt?« »Am Abend werden Sie ihn sicher treffen.« »Ich werde also abends nochmals nachfragen«, sagte Madame Seraphin verdrießlich. Dann setzte sie hinzu: »Ich hatte Ihnen auch sonst noch etwas zu sagen, werte Frau Pipelet… Sie wissen, was mit Luise geschehen ist?« »Sprechen Sie nicht davon«, antwortete Frau Pipelet, indem sie die Augen zum Himmel richtete; »es stehen einem die Haare zu Berge.« »Ich wollte Ihnen also sagen, daß Sie die Güte haben möchten, uns ein braves und arbeitsames Mädchen zu schicken. Gute Mädchen sind so selten, daß man sie mit der Laterne suchen muß.« »Beruhigen Sie sich, Madame Seraphin. Wenn ich etwas höre, werde ich daran denken. Gute Stellen sind ebenso selten, wie gute Dienstboten.« »Ich brauche Ihnen nicht zu sagen«, fuhr Madame Seraphin fort, »wie ruhig es in unserem Hause ist. Luise muß sehr schlecht gewesen 398
sein, da sie, trotz der guten Lehren, die ihr Herr Ferrand gegeben hat, auf Abwege geraten konnte!« »Gewiß; verlassen Sie sich also auf mich! Wenn ich von einem Mädchen höre, das Sie brauchen können, werde ich es gleich zu Ihnen schicken.« »Noch etwas«, fuhr Madame Seraphin fort. »Es liegt Herrn Ferrand viel daran, ein Mädchen zu bekommen, das womöglich keine Familie hier hat. Wenn es sich so träfe, würde deshalb der Notar eine Waise vorziehen, weil sie, wie gesagt, keine Veranlassung zum Ausgehen hätte. – Nun, ich komme heute abend wieder und werde bei der Gelegenheit gleich bei Mutter Burette vorsprechen.« »Heute abend, Madame Seraphin, werden sie Herrn Bradamanti sicher treffen.« Madame Seraphin entfernte sich. »Ist die aber auf den Bradamanti erpicht!« dachte Frau Pipelet; »was mag sie nur von ihm wollen? Und warum will er sie vor seiner Abreise durchaus nicht sehen?…« »Guten Tag, Madame Pipelet«, sagte Rudolf, ins Zimmer tretend. »Ist Mamsell Lachtaube zu Hause? Ich muß mit ihr sprechen.« »Ist die Kleine nicht immer zu Hause? Sie feiert ja nie!« »Und wie geht es Frau Morel? Erholt sie sich langsam?« »Ja, Herr Rudolf, ihr und den Kindern geht es gut. Sie haben Feuer, Betten, reichlich zu essen, und der schwarze Doktor, den Sie geschickt haben, hat der Frau einen Trank verordnet, der ihr sogleich gute Dienste geleistet hat.« »Die arme Frau! Sie muß doch sehr traurig sein.« »Ach ja, Herr Rudolf, über die Luise grämt sie sich zu Tode. Und eben war Madame Seraphin, die Haushälterin des Notars, da und schimpfte auf das arme Mädchen. Sie schämte sich nicht' von mir zu verlangen, ich solle ihr ein anderes Mädchen schicken. Denken Sie sich, das Dienstmädchen, das er sucht, sollte eine Waise sein. Wissen Sie, warum, Herr Rudolf? Weil eine Waise keine Eltern und also keine Ursache hat, auszugehen. Sie wollen ein armes Mädchen haben, das ganz allein in der Welt steht, damit sie es nach Belie399
ben mißhandeln können. Nicht wahr, Herr Rudolf?« »Ja, ja«, antwortete dieser, in Gedanken versunken. »Ich werde mich schwer hüten ihr eine zu schicken.« »Madame Pipelet, wollen Sie mir einen Gefallen tun?« »Du lieber Gott, Herr Rudolf, ich tue alles, was Sie verlangen, vorausgesetzt, daß meinem Alfred kein Unrecht geschieht.« »Beruhigen Sie sich, Madame Pipelet. Ich möchte eine junge Waise unterbringen, eine Ausländerin. Sie ist noch nie in Paris gewesen, und ich würde es gern sehen, wenn sie zu Ferrand käme.« »Was? In das Haus? Zu dem alten Geizhals?« »Es ist doch immer ein Dienst. – Gefällt es dem Mädchen nicht, so kann es ja wieder fortgehen; zunächst hätte es doch aber seinen Unterhalt.« »Nun, Herr Rudolf, wenn Sie den Dienst für gut halten, so steht es Ihnen ja frei…« »Madame Pipelet, ich will Ihnen ein Geheimnis anvertrauen.« »So wahr ich Anastasia Pipelet heiße, so wahr es einen Gott im Himmel gibt, so werde ich schweigen, wie das Grab.« »Sie dürfen auch Herrn Pipelet nichts sagen!« »Dem kann ich alles vormachen, denn er ist, was die Unschuld betrifft, wie ein Kind von drei Monaten.« »Hören Sie, Madame Pipelet!« »Ich höre…« »Das junge Mädchen, das ich meine, hat einen Fehltritt getan.« »Wir kennen das. – Hätte ich nicht Alfred geheiratet, so hätte ich vielleicht fünfzig Fehltritte getan. Ich war, wie Sie mich da sehen, ein wahres Pulverfaß. Zum Glück hat Pipelet mein Feuer in seiner Tugend gedämpft, sonst hätte ich schwere Dummheiten gemacht. Wenn also Ihr Mädchen nur einen Fehler hat, so ist noch nicht alle Hoffnung verloren.« »Ich glaube es auch. Das Mädchen war im Dienst bei einer meiner Verwandten; der Sohn dieser Verwandten hat sie verführt, begreifen Sie?« »Freilich begreife ich; so gut, als wäre ich es selbst gewesen.« 400
»Die Mutter hat das Mädchen aus dem Hause gejagt, der junge Mann war aber so töricht, das Elternhaus auch zu verlasen und mit dem Mädchen hierher nach Paris zu kommen.« »Diese jungen Leute…« »Nachdem der dumme Streich gemacht war, kamen sie zur Besinnung, zumal das Geld, das sie besaßen, schnell verbraucht war. Mein Vetter hat sich an mich gewandt, und ich habe ihm versprochen, ihm das Reisegeld zu geben, wenn er das Mädchen, für dessen Unterkommen ich sorgen würde, hier zurückließe.« »Ich hätte nicht besser an meinem Sohne gehandelt, wenn ich einen gehabt hätte.« »Freilich ist es nun sehr schwer, das Mädchen unterzubringen. Wenn sie Madame Seraphin sagen wollen, ein Verwandter von Ihnen, der in Deutschland wohne, habe das Mädchen zu Ihnen geschickt und sie Ihnen empfohlen, so nähme der Notar sie vielleicht an, und ich wäre, in doppelter Hinsicht, froh darüber. Da Cecily, so heißt sie, nur verleitet worden ist, so würde sie in einem so strengen Hause gewiß wieder auf bessere Wege kommen. Aus diesem Grund sähe ich das Mädchen gern bei Herrn Ferrand.« »Abgemacht, Herr Rudolf. Ich werde Madame Seraphin sagen, ich hätte eine Cousine in Deutschland gehabt; sie wäre gestorben, und ich hätte nun ihre Tochter auf dem Halse.« »Sehr gut… Sie bringen dann Cecily selbst zu Herrn Ferrand, ohne weiter mit Madame Seraphin zu sprechen.« »Aber wenn das Mädchen nur deutsch spricht?« »Sie spricht vollkommen französisch; Sie haben weiter nichts zu tun, als sie Madame Seraphin dringend zu empfehlen – oder nein, sie würde dann vielleicht glauben, das Mädchen solle ihr aufgenötigt werden… Lassen Sie also Madame Seraphin lieber selbst damit kommen. Sagen Sie ihr nur, Cecily sei eine Waise, sehr hübsch, und Sie wären ihr nicht sonderlich geneigt, da Sie mit Ihrer Schwester auf gespanntem Fuße gestanden hätten.« »Ei, wie boshaft! Aber wie gut wir zusammen passen! Wenn ich bedenke, daß Sie in meinem Alter gewesen wären, als ich noch Feu401
er und Flamme war, wahrhaftig, ich weiß nicht… Und Sie?« »Still! Wenn Herr Pipelet…« »Freilich, freilich! Der arme Alte! – Aber über Ihr Mädchen können Sie ganz ruhig sein; ich wette, daß ich die Seraphin so weit bringe, daß sie mich selbst auffordert, meine Verwandte zu ihr zu geben.« »Wenn es Ihnen gelingt, Madame Pipelet, so bekommen Sie hundert Franken. Ich bin nicht reich, aber…« »Ich werde die hundert Franken nehmen, Herr Rudolf, aber nur, um Sie nicht zu verletzen. – Doch da kommt ein Wagen! Gewiß die Dame des Herrn Bradamanti. – Sie war gestern schon da, aber ich konnte ihr Gesicht nicht sehen. – Heute muß ich sie sehen, und ich habe mir auch ein Mittel ausgedacht, ihren Namen zu erfahren. – Passen Sie auf, es wird Ihnen Spaß machen.« »Nein, Madame Pipelet, es liegt mir sehr wenig an dem Namen und dem Gesicht der Dame«, antwortete Rudolf, indem er weiter zurücktrat. »Madame«, rief Anastasia, »wohin wollen Sie?« »Zu Herrn Bradamanti«, antwortete die Dame. »Zu Herrn Bradamanti? Er ist nicht zu Hause.« »Das ist nicht möglich. Er hat mich bestellt.« »Ich sage Ihnen, er ist nicht zu Hause.« »Sie müssen sich irren!« »Keineswegs«, sagte die Portiersfrau, indem sie geschickt manövrierte, um das Gesicht der Dame zu sehen. – »Herr Bradamanti ist ausgegangen, er ist nicht zu Hause – außer für eine Dame –« »Das bin ich… Lassen Sie mich hinauf!« »Ihr Name, Madame? Ich werde sehen, ob Sie die Person sind, die ich hinauflassen soll!« »Er hat Ihnen meinen Namen genannt?« sagte die Dame verlegen. »Ja, Madame.« »Nun, ich heiße Frau von Orbigny.« Rudolf lauschte. Es war der Name der Stiefmutter der Marquise von Harville. 402
Statt im Schatten zu bleiben, trat er vor und erkannte leicht die Frau, die ihm Clémence mehr als einmal geschildert hatte. »Frau von Orbigny?« wiederholte Frau Pipelet, »ja, das ist der Name, den mir Herr Bradamanti genannt hat. Sie können hinaufgehen, Madame.« »Angeführt!« rief Frau Pipelet triumphierend, während die Dame die Treppe hinanstieg, »ich weiß ihren Namen! Orbigny heißt sie!« »Ist die Dame schon einmal bei Bradamanti gewesen?« fragte Rudolf. »Ja, gestern abend, und sobald sie fort war, ging auch Herr Bradamanti aus, wahrscheinlich um seinen Platz auf der Post zu bestellen; denn er will heute fortreisen.« »Wissen Sie, wohin?« »In die Normandie.« Rudolf erinnerte sich, daß das Landgut Aubiers, das Orbigny bewohnte, in der Normandie lag. Kein Zweifel also, daß der Schwindler zum Vater der Frau von Harville reiste, und gewiß in schlechter Absicht. »Seine Abreise wird Madame Seraphin sehr unangenehm sein«, fuhr Frau Pipelet fort. »Sie will Herrn Bradamanti durchaus sehen, und er hat mir befohlen, ihr zu verschweigen, daß er heute abreist. Wenn sie wiederkommt, ist er über alle Berge. Ich werde bei dieser Gelegenheit von Ihrem Mädchen mit ihr sprechen. – Wie hieß es doch?« »Cecily!« »Ich werde mir ein Stückchen Papier in meine Schnupftabakdose legen, um den verteufelten Namen nicht zu vergessen.« »Ich gehe jetzt zu Mamsell Lachtaube«, sagt Rudolf. »Wollen Sie meinem Alten nicht guten Tag sagen, wenn Sie wieder herunterkommen? – Er hat sich schwer geärgert. Der Unmensch Cabrion hat wieder einen Streich ausgeführt.« »Ich werde immer Anteil am Kummer Ihres Mannes nehmen, Frau Pipelet.« Nach diesen Worten ging Rudolf, den der Besuch der Frau von 403
Orbigny bei Polidori mit düsteren Ahnungen erfüllte, zur Lachtaube hinauf.
LXXXIX
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as Stübchen der Lachtaube war freundlich und sauber, wie immer. Die große silberne Taschenuhr in einem hölzernen Gehäuse auf dem Kamin zeigte die vierte Stunde an. Die Kälte hatte nachgelassen, und die sparsame Näherin hatte deshalb kein Feuer angemacht. Vom Fenster aus sah man ein Stück blauen Himmels über der unregelmäßigen Masse von Dächern und hohen Schornsteinen. Plötzlich tauchte ein Sonnenstrahl, der sich gleichsam zwischen zwei hohe Giebel verirrt hatte, das Stübchen des jungen Mädchens in rosiges Licht. Lachtaube saß, mit ihrer Arbeit beschäftigt, am Fenster. Zum ersten Male in ihrem Leben hatte sie Kummer. Deshalb sang sie nicht. Ihr rundes, frisches Gesichtchen war blaß; ihre großen schwarzen Augen, die meist von Lust und Fröhlichkeit strahlten, erschienen matt und trübe; aus ihren Zügen sprach eine ungewohnte Abspannung. Sie hatte einen großen Teil der Nacht hindurch gearbeitet. Von Zeit zu Zeit warf sie einen traurigen Blick auf einen Brief, der aufgeschlagen auf dem Tische lag; dieser Brief war von Germain und lautete: »Gefängnis der Conciergerie. Mademoiselle! Sie werden die Größe meines Unglücks nach dem Ort ermessen können, von dem aus ich Ihnen schreibe. – Ich bin im Ge404
fängnis, schuldig in aller Augen … und doch wage ich, an Sie zu schreiben. Es würde mir schrecklich sein, wenn ich glauben müßte, daß auch Sie mich für einen Verbrecher hielten. – Ich beschwöre Sie also, verdammen Sie mich nicht, ehe Sie diesen Brief gelesen haben. – Hören Sie, was geschehen ist. Obwohl ich seit einiger Zeit nicht mehr in der Rue du Temple wohnte, wußte ich durch die arme Luise, daß die Familie Morel in immer schrecklichere Not geraten war. Mein Mitleid mit diesen armen Leuten hat mich ins Unglück gebracht. – Ich bereue es zwar nicht, aber mein Schicksal ist doch grausam. Gestern war ich bis in die Nacht bei Herrn Ferrand geblieben, um dringende Arbeiten zu erledigen. In dem Zimmer, in dem ich arbeite, befand sich ein Schreibpult, in dem der Notar jeden Tag meine Arbeit einschloß. Er kam mir sehr unruhig und erregt vor. ›Gehen Sie nicht fort, bis diese Rechnungen in Ordnung sind, und legen Sie sie ins Pult; ich lasse Ihnen den Schlüssel da‹, sagte er und ging dann fort. Als ich mit meiner Arbeit zu Ende gekommen war, zog ich den Kasten heraus, um die Papiere hineinzulegen; unwillkürlich fielen meine Augen auf einen offenen Brief, in dem ich den Namen Hieronymus Morel sah. Ich gestehe, daß ich neugierig genug war, diesen Brief zu lesen, eben weil es sich um den unglücklichen Morel handelte; ich erfuhr auf diese Weise, daß er am nächsten Tage, wegen eines Wechsels von eintausenddreihundert Franken, auf betreiben Ferrands verhaftet werden sollte. Ich kannte die Lage der Familie Morel genau genug, um zu beurteilen, welcher fürchterliche Schlag die Verhaftung des Mannes für sie sein mußte. Leider stand neben dem Brief ein offenes Kästchen mit Gold. In diesem Augenblick hörte ich Luise die Treppe herunterkommen; ich nahm, ohne über die Bedeutung meines Tuns nachzudenken, eintausenddreihundert Fran405
ken, wartete im Flur auf Luise, drückte ihr das Geld in die Hand und sagte zu ihr: ›Morgen, bei Tagesanbruch, soll Ihr Vater verhaftet werden. Retten Sie ihn, sagen Sie aber nicht, daß Sie das Geld von mir erhalten haben. – Ferrand ist ein schlechter Mensch.‹ Ich hatte mir fünfzehnhundert Franken erspart und einem Bankier übergeben. Ich besaß also mehr als ich nahm; ich hoffte, die dreizehnhundert Franken zurücklegen zu können, ehe Ferrand etwas bemerkte. Leider täuschte ich mich. Der vermeintliche Diebstahl war entdeckt, ehe ich ihn gutmachen konnte. Das ist jedoch nur ein Teil meines Unglücks; der Notar beschuldigt mich jetzt, ihm fünfzehntausend Franken in Banknoten gestohlen zu haben, die ebenfalls in dem Pult gelegen haben sollen. Es ist dies eine infame Lüge. Ich schwöre Ihnen, bei allem, was heilig ist, daß ich den zweiten Diebstahl nicht begangen habe. Ich habe überhaupt keine Banknoten in dem Pult gesehen; es lagen nur zweitausend Franken in Gold da, wovon ich die dreizehnhundert Franken nahm, die ich zurückgebracht habe. Das ist die Wahrheit, Mademoiselle. Werden Sie mir glauben? Ach Mademoiselle, ich bin sehr unglücklich! Wenn Sie wüßten unter welchen Menschen ich leben muß, bis meine Sache erledigt ist! Gestern brachte man mich an einen Ort, den man den Polizeigewahrsam nennt. Ich kann Ihnen nicht sagen, was ich empfand, als ich, nachdem ich eine dunkle Treppe hinaufgegangen war, vor einem eisernen Pförtchen ankam, das man hinter mir schloß. Ich war so aufgeregt, daß ich anfangs gar nichts sah. Eine warme, verpestete Luft drang mir entgegen; ich hörte viele Stimmen, Lachen, Zornesausbrüche und unzüchtige Gesänge; ich blieb an der Türe stehen, wagte weder weiterzugehen, noch die Augen aufzuschlagen und glaubte, daß jedermann mich beobachte. Man kümmerte sich aber nicht um mich; ein Gefangener mehr oder weniger: das ist diesen Leuten sehr gleichgültig. Endlich wagte ich, den Kopf zu heben. Mein Gott, welche Gesichter! Wel406
che Lumpen! Welcher Schmutz! Es waren vierzig bis fünfzig Leute da, die auf Bänken saßen oder lagen, Vagabunden, Diebe, Mörder, alle, die in den letzten vierundzwanzig Stunden verhaftet worden waren. Einige sahen mich mit frechen Blicken an und sprachen dann leise in einer Sprache, die ich nicht verstand. Kurz darauf schlug mich der Frechste auf die Schulter und verlangte von mir Bezahlung meines Willkommens. Ich gab einige Geldstücke und hoffte, auf diese Weise Ruhe zu erhalten; aber sie waren damit nicht zufrieden und verlangten mehr. Ich schlug es ab. Da umringten mich mehrere und überschütteten mich mit Schimpfreden und Drohungen. Sie wollten sogar über mich herfallen, als zum Glück ein Aufseher eintrat; ich beklagte mich; er verlangte, daß man das Geld zurückgebe und sagte, ich würde für eine geringe Summe in die sogenannte Pistole geführt werden, d.h. in eine Stube, in der ich allein sein könne. Ich nahm das Anerbieten mit Dank an. Der Aufseher brachte mich in eine Zelle, in der ich die Nacht über blieb. Von da aus schreibe ich Ihnen. Nach dem Verhör werde ich in das Gefängnis La Force gebracht werden, wo ich mehrere Gefährten aus dem Gewahrsam wiederzufinden fürchte. Der Aufseher hat mir versprochen, Ihnen diesen Brief zuzusenden, obgleich solche Gefälligkeiten streng verboten sind. Ich erwarte einen letzten Beweis Ihrer Freundschaft, wenn Sie sich dieser Freundschaft jetzt nicht schämen. Zugleich mit diesem Briefe werden Sie einen Schlüssel und einige Zeilen für den Portier des Hauses erhalten, in dem ich wohnte: Boulevard St. Denis Nr. 11. Ich zeige ihm an, daß Sie über alles verfügen können, was mir gehört, und daß er Ihre Befehle auszuführen hat. Er wird Sie in mein Zimmer führen. Haben Sie die Güte, meinen Sekretär zu öffnen; Sie werden ein Paket mit verschiedenen Papieren finden, die Sie für mich aufbewahren wollen. Eines dieser Papiere ist, wie Sie sehen werden an Sie 407
selbst adressiert. – Werden Sie nicht bös darüber! Sie sollten nie etwas davon erfahren. Ich bitte Sie, daß Sie, mit Ausnahme der wenigen Wäsche, die Sie mir nach La Force schicken wollen, die Möbel und die übrigen Habseligkeiten verkaufen. Ob ich freigesprochen, ob ich verurteilt werde – gebrandmarkt bin ich doch und muß Paris verlassen. Wohin ich mich wenden, wovon ich leben werde, das weiß Gott. Madame Bouvard, die Trödlerin im Temple, die mir schon mehrere Gegenstände verkauft hat, übernähme vielleicht alles; sie ist eine ehrliche Frau. Glauben Sie mir, Mademoiselle, dieser letzte Beweis Ihrer Zuneigung wird, wenn Sie ihn mir gewähren, mein einziger Trost in dem großen Unglück sein, das mich betroffen hat. Ich hoffe deshalb, Sie werden mir ihn nicht versagen. Auch bitte ich Sie um die Erlaubnis, Ihnen zuweilen schreiben zu dürfen. Ich habe das Bewußtsein, niemand etwas zuleide getan zu haben. Aber wer wird mir glauben? Herr Ferrand hat eine begründete Klage gegen mich und wird mich zermalmen. Ich ergebe mich im voraus in mein Schicksal. Wenn Sie mir glauben, Mademoiselle, werden Sie mich hoffentlich nicht verachten, sondern zuweilen an einen aufrichtigen Freund denken. Und wenn Sie Mitleid mit mir fühlen, setzen Sie vielleicht Ihrem Edelmut die Krone auf und kommen einmal an einem Sonntag (ach, welche Erinnerungen weckt dieses Wort!), um mich hier im Gefängnis zu besuchen. Ich muß den Brief schließen. Der Aufseher meldet mir, daß ich vor den Richter gebracht werden soll. – Leben Sie wohl, Mademoiselle, verstoßen Sie mich nicht, meine einzige Hoffnung sind Sie, Sie allein! Franz Germain.« »N.S. Wenn Sie mir antworten, schicken Sie Ihren Brief in das 408
Gefängnis La Force.« Dieser Brief war die Ursache des ersten Kummers der Lachtaube. Ihr Herz war von einem Unglück tief ergriffen worden, das sie bis dahin garnicht geahnt hatte. Sie glaubte unbedingt an die Wahrhaftigkeit Germains. Er hatte, um einen unglücklichen Familienvater zu retten, Geld genommen, das er zurückerstatten konnte und wollte. Das war, in den Augen des Mädchens, eine edle, keine verdammungswürdige Tat. –
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uten Tag, Nachbarin«, sagte Rudolf, »störe ich?« »Nein, im Gegenteil, es freut mich, Sie zu sehen, da ich sehr traurig bin.« »Sie scheinen geweint zu haben.« »Freilich habe ich geweint! Ich hatte wohl allen Grund dazu. Da, lesen Sie.« Und Lachtaube gab Rudolf den Brief Germains. »Kann einem darüber nicht das Herz brechen? Ach, Herr Rudolf, heute zum ersten Male sehe ich ein, daß doch nicht alles rosenfarben im Leben ist.« »Was gedenken Sie zu tun, Nachbarin?« »Alles, was Germain von mir verlangt, und zwar so bald als möglich. Ich würde schon fortgegangen sein, wenn die Arbeit nicht so dringend wäre. Ich werde sie aber bald in die Rue St. Honoré tragen und dabei in Germains Wohnung gehen, um die Papiere zu holen, die er erwähnt. Madame Morel wünscht auch, daß ich Luise in ihrem Gefängnis besuche; das wird sehr schwer sein, aber ich will es versuchen. Leider weiß ich nicht einmal, an wen ich mich zu wenden habe.« »Ich habe daran gedacht…« 409
»Sie, Nachbar?« »Da ist ein Erlaubnisschein!« »Danke! Können Sie mir nicht auch einen für das Gefängnis des unglücklichen Germain verschaffen?« »Ja, ich werde Ihnen auch dazu verhelfen, Germain zu sehen.« »O, ich danke Ihnen, Herr Rudolf.« »Werden Sie sich nicht schämen, in sein Gefängnis zu gehen?« »Warum? Der alte Geizhals von Notar beschuldigt ihn, gestohlen zu haben; was geht das mich an? Ich weiß doch, daß es nicht wahr ist. Man braucht Germain nur zu kennen, um zu wissen, daß er einer schlechten Handlung nicht fähig ist. Man müßte so schlecht sein, wie Herr Ferrand, wenn man solche Lügen glauben wollte.« »Bravo, Nachbarin!« »Sehen Sie, ich möchte ein Mann sein, um zu dem Notar hingehen und ihm sagen zu können: ›Sie behaupten, Germain habe Sie bestohlen; da haben Sie etwas, alter Lügner, das wird er Ihnen nicht stehlen!‹ Und dabei würde ich ihm eins versetzen.« »Sie haben eine rasche Justiz«, sagte Rudolf lächelnd. »Ja, jeder wird dem Alten glauben, weil er reich und angesehen, und weil Germain ein armer junger Mensch ohne Schutz ist! – Sie müßten ihm denn zu Hilfe kommen, Herr Rudolf. Läßt sich denn nichts für ihn tun?« »Man muß seinen Prozeß abwarten. – Ist er einmal freigesprochen, so wird er viele Beweise von Teilnahme finden. Aber, hören Sie, Nachbarin … ich weiß aus Erfahrung, daß man auf Ihre Verschwiegenheit rechnen kann…« »Ja, Herr Rudolf, das können Sie!« »Nun, es darf niemand wissen – auch Germain darf es nicht erfahren – daß Freunde über ihn wachen…« »Wahrhaftig?« »Sehr mächtige Freunde sogar!« »Das würde ihm Mut machen, wenn er es wüßte.« »Aber es würde ihm vielleicht auch zum Nachteil sein. – Ferrands Mißtrauen würde rege werden, und es könnte, da er sehr schlau ist, 410
schwierig werden, ihn zu überrumpeln, was sehr zu bedauern wäre. Denn es muß nicht nur die Unschuld Germains erwiesen, dem Verleumder muß vor allem die Maske heruntergerissen werden!« »Ich verstehe, Herr Rudolf.« »Ebenso ist es mit Luise; ich brachte Ihnen diesen Erlaubnisschein, damit Sie die Arme bitten, vor niemandem zu erwähnen, was sie mir anvertraut hat. Sie wird später erfahren, warum –« »Das genügt, Herr Rudolf.« »Mit einem Worte: Luise darf sich nicht öffentlich über die Schlechtigkeit ihres Herrn beklagen; das ist von großer Wichtigkeit. Dagegen darf sie dem Advokaten nichts verheimlichen, den ich ihr schicken werde, damit er sich wegen ihrer Verteidigung mit ihr verständige. Sagen Sie ihr das.« »Ich werde nichts vergessen, Herr Nachbar! – Aber wie gut Sie sind! Kaum ist jemand in Not, so sind Sie auch bei ihm.« »Ich habe Ihnen schon gesagt, liebe Nachbarin, daß ich nur ein armer Kommis bin; wenn ich aber Leute finde, die Schutz verdienen, so melde ich es einer wohltätigen Person, die mir großes Vertrauen schenkt und sie dann unterstützt. – Aber da fällt mir etwas ein; soll ich Sie in Germains Wohnung begleiten?« »Mit Vergnügen, Herr Nachbar. Es wird dunkel, und abends bin ich nicht gern allein auf der Straße. Doch es ist ein weiter Weg.« »Wir nehmen einen Wagen.« Lachtaube zündete ein Kerzenstückchen auf einem blanken Leuchter an, um sich zum Ausgehen anzukleiden. Rudolf fragte: »Wollen Sie, ohne Umstände, mit mir zu Abend essen, wenn wir von Germain kommen?« »Ich danke, Herr Nachbar, das Herz ist mir zu schwer. Ein anderes Mal mit Vergnügen. – Wenn der arme Germain aus dem Gefängnis entlassen wird, lade ich mich ein, und dann führen Sie mich ins Theater, ja?« »Gern, liebe Nachbarin, ich werde es nicht vergessen. – Heute schlagen Sie also meine Einladung ab?« »Ja, Herr Rudolf, ich würde eine zu schlechte Gesellschafterin sein!« 411
Rudolf ging die Treppe hinab, während Lachtaube leuchtete. An der nächsten Ecke nahmen sie einen Wagen, um in die Wohnung Franz Germains zu fahren.
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ranz Germain wohnte Boulevard St. Denis Nr. 11. In dem gleichen Hause wohnte Madame Mathieu, die Diamantenhändlerin. Als der Wagen hielt, war Rudolf seiner Begleiterin beim Aussteigen behilflich. Das Zimmer Germains befand sich im vierten Stock. Vor der Türe sagte Lachtaube zu Rudolf, indem sie ihm den Schlüssel gab: »Nachbar … schließen Sie auf; mir zittert die Hand. Sie werden über mich spotten, aber wenn ich bedenke, daß der arme Germain nie wieder hierherkommen soll, ist es mir, als träte ich in das Zimmer eines Toten.« »Wer wird solche Gedanken haben, Nachbarin?« Lachtaube stellte das Licht auf den Tisch. Die Ausstattung des Zimmers war höchst einfach und bestand in einem Bett, einer Kommode, einem Sekretär von Nußbaumholz, vier Strohstühlen und einem Tisch; Vorhänge von weißem Baumwollzeug drapierten die Fenster und den Alkoven; auf dem Kamin standen eine Wasserflasche und ein Glas. »Armer Germain!« rief das Mädchen aus, indem sie das Zimmer teilnehmend musterte. »Da hat er ein Taschentuch liegenlassen; es ist noch feucht von Tränen.« »Jetzt fällt mir ein«, sagte Rudolf, »Luise Morel hat mir gestern die dreizehnhundert Franken übergeben, die Germain ihr gegeben hatte, um die Schuld des Steinschneiders zu tilgen, die ich schon 412
bezahlt hatte; das Geld gehört Germain. Ich werde es Ihnen anvertrauen, und Sie legen es zu dem übrigen.« »Nun die Papiere!« sagte das Mädchen, indem es den Sekretär öffnete. »Ach, mein Gott, Herr Rudolf, wie traurig das ist, was er da geschrieben hat.« Und sie las mit bewegter Stimme: »Im Fall meines Todes bitte ich die Person, die diesen Sekretär öffnet, die Papiere zu Mademoiselle Lachtaube, Näherin, Rue du Temple Nr. 17, zu tragen.« »Kann ich das Kuvert öffnen, Herr Rudolf?« »Ohne Zweifel. Hat Ihnen Germain nicht geschrieben, es läge ein Brief an Sie darin?« Das Mädchen erbrach das Siegel. Es befanden sich mehrere Papiere in dem Kuvert; eins hatte die Aufschrift: ›An Mademoiselle Lachtaube‹ und enthielt die Worte: »Mademoiselle, wenn Sie diesen Brief lesen, werde ich nicht mehr sein. Wenn ich, wie ich fürchte, eines gewaltsamen Todes sterbe, indem ich in einen Hinterhalt falle gleich dem, dem ich kürzlich entgangen bin, so werden einige Bemerkungen auf die Spur meiner Mörder führen können.« »Ach, Herr Rudolf«, unterbrach sich Lachtaube, »nun wundere ich mich nicht mehr, daß er so traurig war. Der arme Germain!« »Ja, aber seine schlimmsten Tage sind vorüber; glauben Sie mir!« Lachtaube las weiter in dem Briefe Germains: »Wenn Sie einen Blick in diese Bemerkungen tun wollen, werden Sie finden, daß ich mein ganzes Leben unglücklich gewesen bin – ausgenommen die Zeit, die ich bei Ihnen verbrachte. – Was ich Ihnen nie zu sagen gewagt haben würde, werden Sie in einem Tagebuch geschrieben finden, das heißt: meine einzigen glücklichen Tage… Fast jeden Abend, nachdem ich Sie verlassen hatte, schrieb ich die tröstenden Gedanken nieder, die Ihre Zuneigung mir gab und 413
die allein das Bittere in meinem Leben versüßten. Was bei Ihnen Freundschaft war, war bei mir Liebe. – Ich habe es Ihnen verschwiegen bis zu dem Augenblick, in dem ich für Sie nur noch eine traurige Erinnerung bin. Es bleibt mir nur noch ein einziger Wunsch auszusprechen übrig, und ich hoffe, Sie werden ihn erfüllen. Ich weiß, wie nützlich es Ihnen sein würde, wenn Sie in schlimmer Zeit auch nur eine bescheidene Summe besäßen. Ich habe mir fünfzehnhundert Franken erspart, die bei einem Bankier angelegt sind; es ist dies alles, was ich besitze. In meinem Testament, das Sie hier finden werden, vermache ich Ihnen das Geld; nehmen Sie es an von einem Freunde, einem Bruder – der nicht mehr ist.« »Ach, Herr Rudolf!« sagte Lachtaube, der die Tränen über die Wangen strömten, »das schmerzt mich zu sehr. Der gute Germain! Welches Herz, welches vortreffliche Herz!« »Beruhigen Sie sich, mein Kind; Germain ist nicht tot, und das Testament dient nur dazu, Ihnen zu beweisen, wie sehr er Sie liebte, wie sehr er Sie noch liebt…« »Und ich habe nichts geahnt, Herr Rudolf!« fuhr das Mädchen fort, indem es seine Tränen trocknete. »Germain hat nie von seiner Liebe gesprochen.« »Aber sie besteht, wie Sie sehen. Vielleicht werden Sie sie eines Tages erwidern können?« »Können schon; aber sehen Sie, Herr Rudolf, wir sind alle beide so arm, daß es vielleicht nicht klug wäre. Ich werde für Germain alles tun, was ich vermag, solange er im Gefängnis ist. Ist er frei, dann wird es immer noch Zeit sein, zu überlegen, ob ich Liebe oder Freundschaft für ihn fühle… Ist es Liebe, nun, so mag es Liebe sein… Aber es wird spät, Herr Rudolf; wollen Sie die Papiere zusammennehmen, während ich die Wäsche einpacke?« In diesem Augenblick wurde an die Tür geklopft. »Wer ist da?« fragte Rudolf. 414
»Man möchte mit Madame Mathieu sprechen«, antwortete eine heisere Stimme. Rudolf nahm das Licht und öffnete die Türe. Er stand einem der Stammgäste aus dem ›Weißen Kaninchen‹ gegenüber, den er sofort erkannte. Es war Barbillon, derselbe, der den Schulmeister und die Eule zum Hohlweg von Bouqueval gefahren, der Mörder des Mannes der Milchfrau, welche die Arbeiter in Arnouville gegen die Schallerin aufgestachelt hatte. Er äußerte keine Verwunderung beim Anblick Rudolfs, den er entweder vergessen hatte oder den er nicht wiedererkannte. »Was wollen Sie?« fragte Rudolf. »Ich habe einen Brief für Madame Mathieu, den ich ihr aber selbst übergeben muß«, antwortete Barbillon. »Sie wohnt nicht hier; gegenüber«, sagte Rudolf. »Ich danke; man hatte mir gesagt: links … ich habe mich also geirrt.« Rudolf blieb auf der Türschwelle stehen, um die Person zu sehen, der Barbillon den Brief brachte. Kaum hatte Barbillon an der Tür geklopft, als eine beleibte Frau von etwa fünfzig Jahren mit einem Licht in der Hand erschien. »Madame Mathieu?« fragte Barbillon. »Die bin ich.« »Hier ist ein Brief; ich bekomme Antwort darauf.« Barbillon wollte in die Stube hineingehen, die Frau winkte ihm aber, zu bleiben, erbrach den Brief, hielt ihn ans Licht, las und antwortete zufrieden: »Sagen Sie nur, es sei gut; ich werde bringen, was man verlangt. Mein Kompliment für die Dame –« »Vergessen Sie auch den Überbringer des Briefes nicht!« »Laß dich von denen bezahlen, die dich schicken; sie sind reicher als ich.« Damit machte Frau Mathieu die Türe wieder zu. Rudolf sah Barbillon rasch die Treppe hinuntergehen. Der Räuber traf auf dem Boulevard einen Mann von üblem Aussehen, der vor einem Laden auf ihn wartete. 415
Obgleich mehrere Personen ihn hören konnten – freilich verstanden sie ihn nicht – sagte Barbillon, in höchster Freude, zu dem anderen: »Komm, Nikolaus, Gefinkel schwächen! Die Oldersch holcht in die Regierung; sie holcht zur Eule; die Mutter Martial wird uns helfen, die Awone Tauwes zu baschen, dann buckeln wir den Bejer in deinen Kahn.« [Komm, Nikolaus, wir wollen eins trinken! Die Alte geht in die Falle; sie kommt zur Eule; Mutter Martial wird uns helfen, ihr die Diamanten abzunehmen, dann tragen wir die Leiche in deinen Kahn.] »So komm! Ich muß bei guter Zeit in Asnières sein; ich fürchte, mein Bruder Martial merkt sonst etwas.« Die beiden Banditen gingen nach diesem Gespräch nach der Rue St. Denis zu. Einige Minuten später bestiegen Lachtaube und Rudolf wieder ihren Wagen und fuhren in die Rue du Temple zurück. Der Wagen hielt. In dem Augenblick, in dem der Wagenschlag geöffnet wurde, erkannte Rudolf, im Schein der Lampen des Destillateurs, seinen treuen Murph, der ihn an der Tür erwartete. Die Anwesenheit des Squire kündigte immer ein wichtiges oder unerwartetes Ereignis an. »Was gibt es?« fragte Rudolf lebhaft, während Lachtaube mehrere Pakete aus dem Wagen nahm. »Ein großes Unglück!« »Um Gottes willen, sprich!« »Der Marquis von Harville –« »Nun?« »Ist … tot!« »Harville!! Entsetzlich!« rief Rudolf erschüttert. »Mein Gott! Was ist, Herr Rudolf?« fragte Lachtaube. »Ich habe meinem Freund eine sehr traurige Nachricht gebracht, Mademoiselle«, sagte Murph. »Ein großes Unglück?« fragte das Mädchen zitternd. 416
»Ein sehr großes Unglück«, antwortete der Squire. Rudolf erinnerte sich seiner Begleiterin und sagte: »Ich bitte Sie um Verzeihung, daß ich Sie nicht hinauf begleite. Morgen werde ich Ihnen meine Adresse schicken und einen Erlaubnisschein, mit dem Sie Germain besuchen können. Bald sehe ich Sie wieder.« »Ach, Herr Rudolf, ich versichere Sie, daß ich innigen Anteil nehme. Ich danke Ihnen, daß Sie mich begleitet haben, und auf baldiges Wiedersehen, nicht wahr?« »Ja, mein Kind, bald.« Der Fürst und Murph stiegen in den Wagen, der sie in die Rue Plumet brachte. Rudolf schrieb sogleich folgenden Brief an Clémence: »Madame, ich erfahre soeben das unerwartete Unglück, das Sie betroffen und mir einen meiner besten Freunde geraubt hat; Ihnen meinen Kummer zu schildern, versuche ich nicht… Ich muß Sie von Dingen unterhalten, die mit diesem schmerzlichen Ereignis nicht in Verbindung stehen. Eben habe ich erfahren, daß Ihre Stiefmutter, die ohne Zweifel seit einigen Tagen in Paris ist, heute abend mit Polidori nach der Normandie abreist. Ich nenne Ihnen damit zugleich die furchtbare Gefahr, die Ihren Herrn Vater bedroht. Erlauben Sie mir, Ihnen einen Rat zu geben, den ich für nötig halte: Nach dem schrecklichen Unglück von heute wird man es sehr begreiflich finden, daß Sie Paris für einige Zeit verlassen. Glauben Sie mir, reisen Sie augenblicklich nach Aubiers ab, um, wenn nicht vor, doch wenigstens gleichzeitig mit Ihrer Stiefmutter anzukommen. – Übrigens bleiben Sie ruhig! Ich werde über Sie wachen, Sie mögen nah oder fern sein; die finsteren Pläne Ihrer Stiefmutter sollen vereitelt werden. Leben Sie wohl, Frau Marquise; ich schreibe Ihnen diese Wor417
te in Eile. – Mein Herz bricht, wenn ich an den gestrigen Abend denke, an dem ich Ihn ruhiger, glücklicher verlassen habe als je. Glauben Sie an meine aufrichtige Ergebenheit, mit der ich bin Rudolf.« Drei Stunden nach Empfang dieses Briefes war Frau von Harville mit ihrer Tochter auf dem Wege nach der Normandie. Ein Extrapostwagen, der aus dem Hause Rudolfs abging, folgte ihr. Leider vergaß Clémence in ihrer Bestürzung, dem Fürsten mitzuteilen, daß sie in St. Lazare Marienblume gefunden habe. – Man erinnert sich, daß die Eule Madame Seraphin gedroht hatte, die Existenz der Schallerin zu entdecken, und daß sie behauptet hatte, sie wisse, wo das Mädchen sich befinde. Man erinnert sich auch, daß, nach dieser Mitteilung, der Notar Ferrand, in der Besorgnis, sein Verbrechen enthüllt zu sehen, es für dringend notwendig hielt, die Schallerin verschwinden zu lassen. Er hatte deshalb Bradamanti aufgefordert, zu ihm zu kommen, um mit ihm einen neuen Anschlag vorzubereiten, dessen Opfer Marienblume sein sollte. Bradamanti, den die nicht minder dringenden Interessen der Stiefmutter Frau von Harvilles beschäftigten, leistete der Einladung des Notars keine Folge und reiste in die Normandie, ohne Madame Seraphin zu sehen. Der Sturm grollte über Jacob Ferrand; im Laufe des Tages war die Eule von neuem erschienen, um ihre Drohungen zu wiederholen. Sie hatte, um zu beweisen, daß sie ernstlich gemeint seien, dem Notar erklärt, das Mädchen, um das es sich handle, befinde sich, unter dem Namen Schallerin, im Gefängnis von St. Lazare. Wenn er nicht binnen drei Tagen zehntausend Franken zahle, würde das Mädchen Papiere erhalten, die ihm enthüllten, daß es in seiner Kindheit dem Notar Ferrand anvertraut gewesen sei. Dieser leugnete alles ab und jagte die Eule hinaus, obgleich er von 418
der Gefährlichkeit der Drohungen überzeugt war. Durch seine zahlreichen Verbindungen gelang es dem Notar, sich davon zu überzeugen, daß die Schallerin sich wirklich in St. Lazare befand, und daß ihre Entlassung bevorstehe. Jacob Ferrand hatte, nachdem ihm dies bekannt geworden war, einen teuflischen Plan ersonnen, zu dessen Ausführung ihm aber die Hilfe Bradamantis durchaus notwendig war. Aus diesem Grunde hatte Madame Seraphin sich so sehr bemüht, den Mann zu treffen. Als der Notar von der Abreise Bradamantis erfuhr, erinnerte er sich der Familie Martial, zu der er, auf den Vorschlag Bradamantis, Luise Morel hatte bringen wollen, um sie aus dem Wege zu räumen. Am Tage nach der Abreise Bradamantis begab sich also Madame Seraphin zu Martial.
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ater Martial, der, wie sein Vater, auf dem Schafott gestorben war, hatte eine Witwe, vier Söhne und zwei Töchter hinterlassen. Der zweite Sohn war bereits zu lebenslänglicher Galeerenstrafe verurteilt. Es blieben also von der zahlreichen Familie auf der Insel des Aussuchers – wie man in der Gegend dieses Räubernest gewöhnlich nannte – noch übrig: Die Mutter Martial; drei Söhne; der älteste (der Liebhaber der Wölfin) stand im fünfundzwanzigsten, der andere im zwanzigsten, der jüngste im zwölften Jahre; zwei Töchter, eine von achtzehn, eine andere von neun Jahren. Das Haupt der Familie Martial, das sich zuerst auf dieser kleinen Insel niedergelassen hatte, war Aussucher gewesen. Von da hatte sich der Name fortgeerbt. 419
Das Gewerbe eines Aussuchers, der, wie ein Flößer oder Holzauslader, fast den ganzen Tag bis zum Gürtel im Wasser stehen mußte, bestand darin, daß er mit einer langen Holzschaufel den Flußsand unter dem Schlamme heraushob, ihn in große, hölzerne Gefäße schüttete, wie Erz oder Goldsand wusch und so eine Menge von Metallstücken aller Art, Eisen, Kupfer, Blei, Zinn und Überreste verschiedener Geräte zutage förderte. Oft fanden die Aussucher sogar Stückchen von Gold- und Silberwaren, die durch die Kloaken oder mit den Schnee- und Eismassen, die man im Winter von den Straßen in den Fluß schaffte, in die Seine gekommen waren. Die Wohnung Martials lag am südlichen Teil der Insel. Auf dem Schilde, das über der Tür hing, war zu lesen: Zum Sammelplatz der Aussucher. Guter Wein und gute Fische. Kähne zu vermieten. Vater Martial hatte also, neben seinen bekannten und geheimen Geschäften, das Gewerbe eines Gastwirtes, eines Fischers und Kahnvermieters betrieben. Die Witwe führte die Wirtschaft fort; Heimatlose, Vagabunden, Bärenführer und herumziehende Schausteller pflegten, wenn sie in die Gegend kamen, ihre Sonntage hier zu verbringen. Der älteste Sohn der Familie trieb Raubfischerei und ergriff, als echter Bravo, gegen Bezahlung die Partei der Schwächeren. Einer seiner Brüder, Nikolaus, war zum Schein Aussucher, in Wirklichkeit aber ging er auf dem Fluß und an den Ufern auf Raub aus. Franz endlich, der jüngste Sohn des Hingerichteten, ruderte die Pärchen, die eine Lustfahrt im Kahne machen wollten, spazieren. Ambrosius Martial war wegen nächtlichen Diebstahls mit Mordversuch lebenslänglich auf die Galeeren gekommen. Die älteste Tochter, Kürbis genannt, half ihrer Mutter in der Küche und bediente die Gäste; ebenso ihre neunjährige Schwester Amandine. – 420
Die Nacht war dunkel; schwere, graue Wolken, vom Winde gejagt, ließen hie und da ein paar Sterne durchschimmern. Im Hause waren nur zwei Fenster im Erdgeschoß erleuchtet; ihr rötlicher Schein spiegelte sich, gleich zwei langen Feuerstreifen, in den kleinen Wellen, die den Anlegeplatz am Hause bespülten. Das Klirren der Ketten, mit denen die Kähne befestigt waren, mischte sich in das Rauschen des Windes, der die kahlen Äste der Pappeln schüttelte… Ein Teil der Familie war in der Küche versammelt. Die Küche war groß und niedrig; der Türe gegenüber befanden sich zwei Fenster, unter denen sich ein langer Ofen hinzog. Rechts führte eine Treppe in das obere Stockwerk; neben dieser Treppe lag der Eingang in eine große Wirtsstube mit mehreren Tischen. Im Licht des Herdfeuers blinkte zahlreiches Kupfergeschirr, das an den Wänden hing oder auf Regalen stand. In der Mitte der Küche befand sich ein großer Tisch. Die Witwe Martial saß, umgeben von drei ihrer Kinder, neben dem Herde. Die Frau, die groß und hager war, schien etwa fünfundvierzig Jahre alt zu sein. Sie war, ebenso wie ihre beiden Töchter, mit einer Näharbeit beschäftigt. Die älteste Tochter, die ebenfalls dürr und groß war, glich ihrer Mutter. Sie hatte von ihr das harte, boshafte Gesicht, die dünne Nase, den strengen Mund. Ihre gelbe Farbe hatte ihr den Spitznamen Kürbis verschafft. Franz, der jüngste Sohn, kauerte auf einem Schemel und besserte ein Fischnetz aus. Der Knabe hatte ein frisches, blühendes Gesicht und glich weder seiner Mutter noch seiner älteren Schwester; unter der Mähne, die über seine Stirn hing, warf er zuweilen einen mißtrauischen Blick auf seine Mutter oder wechselte mit seiner kleinen Schwester Amandine einen Blick des Einverständnisses und der Liebe. Amandine saß neben ihrem Bruder und war damit beschäftigt, Monogramme aus gestohlener Wäsche zu entfernen. Sie war neun Jahre alt und ähnelte ebensosehr ihrem Bruder, wie ihre Schwester 421
der Mutter ähnelte. Nur, daß ihre blauen Augen einen sanfteren Ausdruck hatten. Wenn Amandinens Blick dem des Bruders begegnete, zeigte sie auf die Türe; Franz antwortete auf diesen Wink mit einem Seufzer; dann lenkte er die Aufmerksamkeit seiner Schwester durch eine rasche Gebärde auf sich und zählte deutlich zehn Maschen ab. Das bedeutete, in der symbolischen Sprache der Kinder, daß ihr Bruder vor zehn Uhr nicht zurückkommen würde. Kürbis bemerkte, daß Amandine einen Augenblick aufhörte zu arbeiten, und sagte sogleich in hartem Tone zu ihr: »Hast du aus diesem Hemd das Zeichen bald heraus?« Das Kind ließ den Kopf sinken, ohne zu antworten; nach einigen Minuten wandte es sich an die Mutter, reichte ihr die Arbeit hin und sagte: »Mutter, ich bin fertig.« Ohne zu reden, warf ihr die Witwe ein anderes Wäschestück zu. Das Kind konnte es nicht erfassen und ließ es fallen. Sogleich gab ihr die große Schwester einen kräftigen Schlag auf den Arm und knurrte: »Dummes Ding!« Amandine kehrte auf ihren Platz zurück und arbeitete fleißig, nachdem sie den Bruder, mit Tränen im Auge, angesehen hatte. Es war in der Küche wieder völlig still. Draußen pfiff der Wind und rüttelte an den Fensterläden. Die beiden Kinder bemerkten mit geheimer Angst, daß ihre Mutter stumm dasaß. Obgleich sie nie viel sprach, so verriet ihnen dieses völlige Schweigen und ein gewisses Zusammenkneifen der Lippen, daß die Witwe in gefährlicher Stimmung war. Das Feuer drohte zu verlöschen. »Franz, leg ein Stück Holz an!« sagte die ältere Schwester. Der junge Netzflicker sah hinter den Herd und antwortete: »Es ist keines mehr da.« »So hole welches!« fuhr Kürbis fort. 422
Franz murmelte einige unverständliche Worte, rührte sich aber nicht vom Flecke. »Franz! Hörst du?« fragte die Schwester. Die Witwe legte eine Serviette, aus der sie eben das Monogramm trennte, auf ihre Knie und sah ihren Sohn an. Dieser hatte den Kopf gesenkt, aber er fühlte den Blick seiner Mutter. »Bist du taub, Franz?« fuhr die Schwester gereizt fort. Amandine stieß den Bruder leise an, um ihn stillschweigend aufzufordern, der Schwester zu gehorchen. Franz rührte sich nicht. Die ältere Schwester sah ihre Muter an; die Witwe verstand sie. Sie zeigte mit ihren dürren Fingern auf eine zähe Weidenrute, die am Herde lehnte. Die ältere Tochter beugte sich zurück, nahm die Rute zur Hand und gab sie der Mutter. Franz war der Gebärde seiner Mutter gefolgt, stand jetzt rasch auf und war, mit einem Sprunge, außer Reichweite. »Soll dich die Mutter verbläuen?« fragte die ältere Schwester. Die Witwe, die die Gerte in der Hand hielt und dabei die bleichen Lippen mehr und mehr zusammenkniff, sah den Knaben stier an, ohne ein Wort zu sagen. »Nimm dich in acht; die Mutter wird aufstehen, und dann ist es zu spät«, sagte die ältere Schwester. »Mir ist es gleich«, antwortete Franz erbleichend. – »Ich will lieber Dresche kriegen als in den Holzstall gehen, zumal in der Nacht.« »Warum?« fragte das Mädchen ungeduldig. »Weil ich Angst habe«, antwortete Franz. »Du fürchtest dich, Dummkopf, wovor denn?« Franz zuckte die Achseln, ohne zu antworten. »Wirst du reden? Warum fürchtest du dich?« »Ich weiß es nicht, – aber ich fürchte mich.« »Die Mutter steht auf!« »Desto schlimmer«, sagte der Knabe, »mag sie mich totschlagen, 423
ich gehe nicht in den Holzstall!« »Noch einmal, warum nicht?« »Weil jemand da…« »Es ist jemand da?« »Begraben ist…«, murmelte Franz schaudernd. Die Witwe zuckte plötzlich zusammen, ebenso ihre Tochter; es war, als hätte beide ein elektrischer Schlag getroffen. »Es ist jemand im Holzstall begraben?« wiederholte die Schwester achselzuckend. »Ja«, antwortete Franz so leise, daß man ihn kaum verstand. »Lügner!« rief das Mädchen. »Ich weiß es«, antwortete Franz. »Man sieht ja sogar die Knochen…« »Hörst du, Mutter? Wie dumm er ist!« sagte das Mädchen, indem es der Mutter zublinzelte. »Es sind natürlich Schöpsknochen!« »Nein, es sind keine Schöpsknochen«, fuhr das Kind zitternd fort, – »es war ein Fuß, der aus der Erde ragte, ich habe es wohl gesehen.« »Und hast es natürlich gleich erzählt – deinem Bruder, deinem guten Freunde Martial, nicht wahr?« sagte die Schwester wütend. Franz antwortete nicht. »Verdammter kleiner Spitzel!« rief das Mädchen zornig aus; »er ist furchtsam, wie ein Hase und könnte uns kaltblütig dern Henker ausliefern.« »Weil du mich schimpfst«, antwortete der Knabe erbittert, »werde ich alles dem Bruder sagen. – Ich habe ihm noch nichts gesagt, aber wenn er heute abend kommt…« Er konnte den Satz nicht vollenden. Die Mutter trat auf ihn zu, ruhig, aber unerbittlich. In der einen Hand hielt sie die Gerte, mit der anderen faßte sie ihren Sohn am Arm, zog ihn, trotz seinem Widerstreben, hervor und stieß ihn vor sich die Treppe hinauf. Einen Augenblick später hörte man oben ein dumpfes Poltern, untermischt mit Geschrei und Schluchzen. Einige Minuten darauf verstummte das Geräusch. 424
Eine Tür wurde heftig zugeschlagen. Die Witwe kam wieder herunter. Völlig kalt und ruhig stellte sie die Weidenrute wieder an ihren Ort, setzte sich nieder und nahm ihre Arbeit von neuem auf.
XCIII
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ach einer Pause sagte die Witwe zu ihrer Tochter: »Geh und hole Holz. – Diese Nacht wollen wir im Holzstall aufräumen, sobald Nikolaus und Martial zurück sind.« »Willst du Martial auch sagen, daß…« »Holz!« – unterbrach die Witwe ihre Tochter barsch. Diese zündete eine Laterne an und ging hinaus. Sie war daran gewöhnt, sich unter diesen eisernen Willen zu beugen. Nach einer Weile kam sie zurück und brachte einen Korb voll Holz. Auf einen fragenden Blick ihrer Mutter antwortete sie durch ein bejahendes Kopfnicken. Die Witwe biß die Lippen zusammen und arbeitete fort; ihre Nadel schien sich noch rascher zu bewegen. Das Mädchen schürte das Feuer wieder an, sah nach dem Topf auf dem Herde, in dem das Wasser kochte, und setzte sich dann neben ihrer Mutter nieder. »Nikolaus kommt nicht«, sagte sie zu ihr. »Wenn ihn nur die alte Frau von heute früh nicht in eine üble Sache verwickelt hat. – Sie sah danach aus und wollte sich weder erklären, noch ihren Namen nennen, noch sagen, woher sie käme.« Die Witwe zuckte die Achseln. »Du glaubst, Mutter, es sei keine Gefahr für Nikolaus? Desto besser! – Die Alte forderte ihn auf, um sieben Uhr abends auf dem Kai von Billy zu sein und auf einen Mann zu warten, der, als Erken425
nungswort, Bradamanti sagen würde. – Darin liegt freilich noch nichts Schlimmes! – Wenn Nikolaus so lange ausbleibt, hat er vielleicht unterwegs etwas gefunden, wie vorgestern die Wäsche, die er aus dem Boot einer Waschfrau geschuppt hat.« – Und sie deutete auf eines der Hemden, aus denen Amandine die Monogramme trennte, und fragte: »Was heißt schuppen?« »Das heißt nehmen«, antwortete das Kind, ohne die Augen aufzuschlagen. »Stehlen heißt es, Gans; hörst du?« »Ja, Schwester.« »Und wenn man gut schuppen kann, wie Nikolaus, dann gibt es auch immer was zu verdienen. – Die Wäsche, die er vorgestern geschuppt hat, können wir gut brauchen, nicht wahr, Mutter?« Die Witwe blieb kalt und ruhig. »Vielleicht können wir uns anderswo noch mehr holen«, fuhr das Mädchen fort. »Du weißt, Mutter, daß ein alter Mann seit einigen Tagen im Landhaus des Herrn Griffon wohnt, das, hundert Schritt vom Ufer, dem Kalkofen gegenüber liegt.« Die Witwe ließ den Kopf sinken. »Nikolaus sagte gestern, dort würde vielleicht ein guter Fang zu machen sein«, fuhr das Mädchen fort. »Ich weiß seit heute früh, daß die Beute sicher ist; man müßte Amandine um das Haus schleichen lassen, sie müßte auf alles achtgeben und dann erzählen, was sie gesehen hat. Hörst du, was ich sage?« fuhr sie die jüngere Schwester hart an. »Ja, Schwester, ich werde hingehen«, antwortete das Kind zitternd. »Du sagst immer ja und tust doch nichts! Letzthin hatte ich dir aufgetragen, beim Krämer hundert Sous zu schuppen, während ich den Mann beschäftigte; es war ganz leicht; warum hast du es nicht getan?« »Schwester, ich wagte es nicht.« »Du hast aber doch gewagt, ein Tuch aus dem Paket des Hausierers zu stehlen, während er in der Schenkstube verkaufte. Hat er etwas 426
bemerkt?« »Du hast mich doch gezwungen, Schwester; das Tuch war ja für dich. – Und dann ist es auch nicht so schlimm, ein Tuch zu nehmen, wie Geld!« »Diese schönen Sachen lehrt dich Martial, nicht wahr?« fragte die ältere Schwester höhnisch. – »Denkst du denn, wir fürchten uns vor deinem Martial?« Dann wandte sie sich an die Witwe und setzte hinzu: »Mutter, er hetzt Amandine und Franz gegen dich auf. – Darf das so fortgehen?« »Nein«, antwortete die Mutter kurz und hart. »Besonders seit seine Wölfin in St. Lazare ist, ist er wie toll. Ist es denn unsere Schuld, daß sie ins Loch gekommen ist? Wenn sie entlassen ist, und sie kommt hierher, so kann sie etwas besehen!« »Du glaubst also, bei dem Alten in dem Landhaus drüben wäre etwas zu machen?« »Ja, Mutter.« »Er sieht aber doch aus wie ein Bettler.« »Er ist adlig!« »Der, adlig?« »Ja, und er hat Gold in seinem Beutel, wenn er auch alle Tage zu Fuß nach Paris geht.« »Woher weißt du, daß er Gold hat?« »Als ich ins Postbureau ging, um zu fragen, ob ein Brief aus Toulon da sei…« Die Witwe seufzte tief. »…da kam der Alte, der drüben wohnt, und fragte: ›Haben Sie Briefe für den Grafen von St. Remy?‹ – ›Ja.‹ – ›Er ist für mich‹, sagte er dann; ›hier ist mein Paß‹. – Der Alte hatte, um das Porto zu bezahlen, eine grünseidene Börse gezogen. An dem einen Ende sah ich Gold durch die Maschen schimmern; es war ein Häufchen, dick wie ein Ei; vierzig bis fünfzig Louisdor mindestens!« Heftiges Hundegebell unterbrach sie. »Ah, sie hören ein Boot! Das wird Martial sein oder Nikolaus.« Nach einigen Minuten trat Nikolaus ins Zimmer. 427
Sein Gesicht war roh und gemein; sein Körper klein und hager, so daß man sich fragen mußte, wie er imstande sei, ein so schweres und gefährliches Gewerbe auszuüben. Eine wilde geistige Energie ersetzte ihm, was ihm an Körperkraft fehlte. Nikolaus trug über seinem blauen Rock eine Art Kutte ohne Ärmel. Als er eintrat, warf er ein Stück Kupfer hin, das er mit Mühe auf der Achsel getragen hatte. »Guten Abend und gute Beute, Mutter!« rief er mit heiserer Stimme; »draußen liegen noch drei solche Stücke, ein Paket und eine Kiste. Was darin ist, weiß ich nicht, ich habe sie noch nicht aufgemacht.« »Und der Mann auf dem Kai?« fragte das Mädchen, während die Witwe ihren Sohn schweigend ansah. Statt zu antworten, griff Nikolaus in die Tasche und klimperte mit Goldstücken. »Das hast du ihm abgenommen?« fragte die Schwester. »Nein; er gab aus freien Stücken zweihundert Franken und will noch achthundert geben, wenn… Doch genug vorläufig. Erst muß mein Kahn ausgeladen werden, dann können wir schwatzen. Ist Martial nicht da?« »Nein«, antwortete die Schwester. »Desto besser! So weiß er von der Sache nichts.« »Du fürchtest dich vor ihm, Hasenfuß?« »Ich mich vor ihm fürchten? – Ich fürchte nur, daß er uns verpfeift, – weiter nichts…« »Ja wenn er nicht da ist, prahlst du; ist er hier, rührst du dich nicht.« Nikolaus schien diesen Vorwurf nicht zu beachten und sagte: »Rasch, rasch nach dem Kahne! Wo ist Franz, Mutter? Er könnte mithelfen.« »Die Mutter hat ihn durchgebläut und oben eingesperrt; er wird hungrig zu Bett gehen müssen«, antwortete die Schwester. »Gut, aber er kann doch den Kahn ausladen helfen, nicht wahr, Mutter? Zu dritt bringen wir alles auf einmal herein.« Die Witwe wies mit dem Finger nach der Decke; ihre Tochter ver428
stand und ging hinauf, um Franz zu holen. Das finstere Gesicht der Mutter Martial hatte sich seit der Ankunft ihres Sohnes Nikolaus ein wenig aufgeheitert; sie liebte ihn mehr als die älteste Tochter, wenn auch weniger als ihren Sohn in Toulon, denn die Mutterliebe dieses Weibes stieg mit der Sündhaftigkeit der Kinder. »Wo hast du die Nacht gearbeitet?« fragte die Witwe. »Als ich vom Kai von Billy zurückkam, wo ich die Besprechung mit dem Manne hatte, bemerke ich ein Boot in der Nähe der Invalidenbrücke. Ich schlich mich in die Kajüte. Keine Katze an Bord! Da nahm ich denn, was ich fortschaffen konnte. – Das Boot war mit Eisen und Kupfer beladen. – Da kommt die Schwester mit Franz; schnell in den Kahn! Amandine, du gehst auch mit und hilfst uns tragen!« Die Witwe beschäftigte sich, allein geblieben, mit den Vorbereitungen zum Abendessen. Als sie gerade damit fertig war, kamen ihre Kinder, schwer beladen, zurück. Die Last der beiden Kupferstücke, die er auf den Achseln trug, schien den kleinen Franz zu Boden zu drücken; Amandine verschwand zur Hälfte unter dem Haufen gestohlener Kleidungsstücke, die sie auf dem Kopfe trug; Nikolaus endlich trug mit der älteren Schwester eine Kiste, auf die er das vierte Kupferstück gelegt hatte. »Die Kiste aufgemacht!« rief das Mädchen mit Ungeduld. Nikolaus nahm das Beil, das er im Gürtel trug und zwängte es unter den Deckel. Er fluchte, als der starke Deckel seinen Anstrengungen widerstand. Seine Schwester kniete, mit gierig funkelnden Augen und geröteten Wangen, auf der Kiste, um zu helfen. Endlich sprang der Deckel in Stücke. »Ah!« rief die Familie einstimmig. Die Kiste war ohne Zweifel für einen Modenhändler in der Provinz bestimmt gewesen, denn sie enthielt eine große Menge Putzartikel. 429
»Rotarms Hehlerin in der Rue du Temple wird das Zeug kaufen«, sagte Nikolaus, »und Vater Micou nimmt das Kupfer.« »Das muß man sagen, Nikolaus, Schwein hast du gehabt«, sagte die älteste Schwester. »Mutter Burette wird wenigstens fünfhundert Franken geben«, sagte die Witwe, nach reiflicher Prüfung. »Dann muß es eintausendfünfhundert wert sein«, entgegnete Nikolaus. »Wir müssen nun alles wieder zusammenpacken«, meinte die Witwe. »Den Schal behalte ich«, sagte das Mädchen. »Du behältst ihn«, fuhr Nikolaus auf, »ja, wenn ich ihn dir gebe.« »Was verlierst du denn dabei?« »Ich trage meine Haut zu Markte, wenn ich schuppe. – Du machst mich nicht frei, wenn man mich erwischt.« »Da hast du deinen Schal! Ich mag ihn gar nicht«, antwortete die Schwester, indem sie das Tuch in die Kiste zurückwarf. »Ich rede nicht wegen des Schals; ob es einer mehr oder weniger ist, Mutter Burette ändert deshalb den Kaufpreis nicht. Aber du kannst mich bitten, wenn du etwas haben willst! Da – behalte ihn, oder ich werfe ihn ins Feuer.« Diese Worte besänftigten das große Mädchen, das den Schal ohne Groll nahm. Nikolaus riß ein Paket auf, nahm zwei seidene Tücher heraus und warf sie Amandinen und Franz hin. »Das ist für euch, ihr Taugenichtse! – Jetzt geht ins Bett, ich habe mit der Mutter zu reden.« Die Kinder klatschten in die Hände und schwenkten triumphierend die gestohlenen Tücher. »Nun, ihr Maulaffen?« fuhr sie die ältere Schwester an; »werdet ihr noch auf Martial hören? Hat er euch jemals so schöne Tücher gegeben?« Franz und Amandine sahen einander an und schlugen dann die Augen nieder, ohne zu antworten. 430
»Wollt ihr reden? Hat euch Martial jemals etwas geschenkt?« »Nein, er hat uns noch nichts geschenkt«, antwortete Franz, indem er mit Behagen sein rotseidenes Tuch betrachtete. Amandine setzte leise hinzu: »Martial schenkt uns nichts, weil er selbst nichts hat.« »Wenn er stehlen wollte, würde er auch was haben«, sagte Nikolaus hart; »nicht wahr, Franz?« »Ja, Bruder.« »Nun geht und legt euch nieder. – Hier ist eine Laterne, nehmt euch aber in acht und löscht sie aus, ehe ihr einschlaft.« »Noch was!« setzte Nikolaus hinzu. »Wenn ihr Martial etwas erzählt, habt ihr es mit mir zu tun, und ich nehme euch die Tücher wieder fort.« Nachdem die Kinder sich entfernt hatten, brachten Nikolaus und seine Schwester die gestohlenen Gegenstände in einen kleinen Keller unter der Küche. »Nun, Mutter, was zu trinken! Ich habe es verdient. – Und du, Schwester, gib mir zu essen! Martial mag die Knochen abnagen; das ist gut genug für ihn.« Nikolaus warf seine schwarze wollene Mütze und seinen Kittel ab und setzte sich am Tisch vor einer großen Schüssel mit Schöpsragout, einem Stück kalten Kalbsbraten und Salat nieder. Nachdem die Schwester auch Wein und Branntwein auf den Tisch gestellt hatte, setzte sich die Witwe so, daß sie Nikolaus zur Rechten, ihre Tochter zur Linken hatte. Ihr gegenüber waren die leeren Plätze Martials und der beiden jüngsten Kinder. Der Bandit zog ein breites, langes Messer aus der Tasche, betrachtete es mit Wohlgefallen und sagte: »Das schneidet! – Gib her das Brot, Mutter.« »Bei dem Messer fällt mit etwas ein«, sagte das Mädchen, »Franz hat etwas bemerkt … im Holzstalle.« »Was?« fragte Nikolaus, der sie nicht verstand. »Er hat ein Bein gesehen.« »Von dem Manne?« 431
»Ja«, antwortete die Witwe, indem sie ein Fleischstück auf den Teller ihres Sohnes legte. »Sonderbar! Das Loch war doch tief!« »Es muß diese Nacht alles in den Fluß geworfen werden«, riet die Witwe. »Das ist sicherer«, meinte Nikolaus. »Man könnte einen Stein daran binden.« »Auch nicht dumm!« Die Witwe fragte: »Und der Mann auf dem Kai von Billy?« »Die Sache war so«, antwortete Nikolaus. »Es hatte eben sieben geschlagen, und es war so finster, daß man nicht vier Schritte weit sehen konnte. Ich ging eine Viertelstunde hin und her, da hörte ich endlich leise Schritte hinter mir. Ich ging langsamer, und nun trat ein Mann, der in einen Mantel gehüllt war, an mich heran und hustete; ich blieb stehen, er auch. Von seinem Gesicht habe ich weiter nichts gesehen, als daß der Mantel die Nase und der Hut die Augen verdeckte. ›Bradamanti!‹ sagte der Mann zu mir. So war das Wort, an dem ich meinen Mann erkennen sollte, wie die Alte ausgemacht hatte. ›Aussucher‹, antwortete ich ihm. ›Sie heißen Martial?‹ ›Ja.‹ ›Es ist heute vormittag eine Frau bei Ihnen gewesen; was hat Sie Ihnen gesagt?‹ ›Daß Sie von Seiten des Herrn Bradamanti mit mir zu sprechen hätten.‹ ›Wollen Sie Geld verdienen?‹ ›Je mehr, desto besser.‹ ›Haben Sie einen Kahn?‹ ›Wir haben vier, Herr, denn sie gehören zu unserem Geschäft.‹ ›Ich will Ihnen sagen, was Sie zu tun haben, wenn Sie nicht fürchten…‹ ›Fürchten, was?‹ 432
›Jemanden zufällig ertrinken zu sehen. – Man müßte dem Zufall etwas zu Hilfe kommen.‹ ›Es soll jemand Seinewasser trinken? – Das wird Geld kosten!‹ ›Wieviel – für zwei?‹ ›Für zwei? Es sollen also zwei Personen – tauchen lernen?‹ ›Ja.‹ ›Fünfhundert Franken der Kopf, Herr; das ist nicht teuer.‹ ›Also tausend Franken!‹ ›Vorausbezahlt?‹ ›Zweihundert Franken voraus, der Rest nachher!‹ ›Sie trauen mir nicht, Herr?‹ ›Doch. – Sie können ja auch meine zweihundert Franken einstecken und nichts dafür tun.‹ ›Und Sie, Herr, können, wenn die Sache geschehen ist, sagen: Nichts da!‹ ›Möglich ist das freilich. – Aber wollen Sie oder wollen Sie nicht? Zweihundert Franken bar und übermorgen abends hier, um neun Uhr, den Rest!‹ ›Gut!‹ ›Hier sind die zweihundert Franken… Werden Sie die alte Frau wiedererkennen, die heute früh bei Ihnen war?‹ ›Ja.‹ ›Morgen, spätestens übermorgen, wird sie gegen vier Uhr nachmittags mit einem jungen Mädchen am Ufer gegenüber Ihrer Insel sein. Die Alte wird mit dem Taschentuch winken.‹ ›Sehr gut.‹ ›Wie lange brauchen Sie, um von dem Ufer auf die Insel zu kommen?‹ ›Zwanzig Minuten.‹ ›Sind Ihre Kähne flach?‹ ›Wie ein Handteller.‹ ›Machen Sie eine Klappe in den Boden, damit Sie den Kahn augenblicklich sinken lassen können. Verstanden?‹ ›Durchaus, mein Herr.‹ 433
›Sie fahren also mit dem Boot von Ihrer Insel ab; ein gutes Boot folgt Ihnen, das jemand von Ihrer Familie rudert. Sie legen an, nehmen die alte Frau und das junge Mädchen ins Boot und fahren auf die Insel zu; in gehöriger Entfernung vom Ufer machen Sie die Klappe auf und springen rasch ins andere Boot, während die alte Frau und das Mädchen…‹ ›Aus einem Kruge trinken! Ich verstehe.‹ ›Sind Sie aber auch sicher, daß Sie nicht gestört werden?‹ ›Keine Sorge!‹ ›Übrigens kommen Sie nicht in Gefahr; man wird glauben, das Boot sei gesunken, und die alte Frau, die Ihnen das junge Mädchen zuführt, verschwindet gleich mit. Um sicher zu sein, daß auch beide ertrinken, könnten Sie, wenn sie wieder heraufkämen, oder wenn sie sich an das Boot anklammerten, sich stellen, als wollten Sie sie retten, während…‹ ›Ich behilflich bin, sie wieder … unter Wasser zu bringen? Ja, ja.‹ ›Die Spazierfahrt muß nach Sonnenuntergang geschehen!‹ ›Wie soll man, wenn es dunkel ist, sehen, ob die beiden Frauenzimmer genug haben?‹ ›Sie haben recht; also wird das Unglück vor Sonnenuntergang geschehen.‹ ›Die Alte merkt nichts, glauben Sie?‹ ›Nein. Wenn sie ankommt, wird sie leise zu Ihnen sagen: 'Die Kleine muß ertrinken; ehe Sie das Boot sinken lassen, geben Sie mir einen Wink, damit ich mich mit Ihnen retten kann.' Sie geben der Alten darauf eine Antwort, die keinen Argwohn in ihr erregt.‹ ›Sie wird also glauben, die Kleine zum Trinken zu führen?‹ ›Und wird mit der Blondine selbst Wasser schlucken müssen.‹ ›Schlau ausgedacht!‹ ›Gute Verrichtung also! Wenn ich mit Ihnen zufrieden bin, kann ich Ihnen vielleicht noch mehr Arbeit zuweisen.‹ Darauf«, schloß der Räuber seine Erzählung, »habe ich den Mann im Mantel verlassen und bin zu meinem Boote zurückgekehrt.« Die Witwe des Gerichteten und ihre älteste Tochter hatten Nikolaus 434
aufmerksam zugehört. »Das ist noch nicht alles«, fuhr er fort, »ich habe noch eine andere Geschichte mit der Eule und Barbillon eingefädelt, eine famose Sache. Wenn sie nicht fehlschlägt, ist viel dabei zu verdienen. Es soll nämlich eine Diamantenmaklerin ausgenommen werden, die manchmal für fünfzigtausend Franken Juwelen in ihrem Strickbeutel hat.« »Fünfzigtausend Franken!« riefen Mutter und Tochter, mit begehrlich funkelnden Augen. »Rotarm hat gestern die Alte durch einen Brief geködert, den ich und Barbillon zu ihr getragen haben. Rotarm ist ein prächtiger Kerl! Um die Alte sicher zu machen, hat er ihr schon einen Diamanten für vierhundert Franken verkauft, und sie wird also, ohne Arges zu denken, in sein Wirtshaus kommen. Dort halten wir uns versteckt. Die Schwester muß auch mit und mein Boot bewachen. Müssen wir die Juwelenschickse, tot oder lebendig, fortschaffen, so ist das Boot ein bequemes Fuhrwerk!« »Ich traue Rotarm nicht«, sagte die Witwe. »Nach der Geschichte in der Rue Montmartre kam dein Bruder nach Toulon, Rotarm aber wurde kein Haar gekrümmt.« »Weil es keine Beweise gegen ihn gab. O, der ist schlau! Aber andere verraten – nie!« Die Witwe schüttelte den Kopf und sagte: »Lieber ist mir die Sache vom Kai Billy! Aber Martial wird uns im Wege sein – wie immer.« »Will ihn denn der Teufel gar nicht holen?« rief Nikolaus, indem er sein langes Messer in den Tisch stieß. »Ich habe es der Mutter auch schon gesagt, daß es so nicht weitergehen könne«, sagte die Schwester. »Solange er hier bleibt, ist mit den beiden Kindern nichts anzufangen.« »Ich sage euch, er ist imstande, uns einmal der Polizei anzuzeigen«, fuhr Nikolaus fort. »Siehst du, Mutter, warum hast du mir nicht geglaubt? Wir wären längst erlöst…« »Es gibt noch andere Mittel.« 435
Die Witwe setzte hinzu: »Morgen früh wird er die Insel für immer verlassen.« »Wie?« fragten die beiden Kinder gleichzeitig. »Wenn er jetzt kommt, so fangt Streit mit ihm an; aber ernstlich, wie ihr es noch nie gewagt habt. – Treibt es, im Notfall, zu Tätlichkeiten. Er ist zwar krank, aber ihr seid zwei, und ich werde euch helfen. – Aber kein Messer! Kein Blut! Prügelt ihn, aber verwundet ihn nicht!« »Und dann, Mutter?« fragte Nikolaus. »Dann wird es zu einer Erklärung kommen. – Wir sagen ihm, er müsse morgen die Insel verlassen, wenn er nicht alle Tage den gleichen Auftritt erleben wolle. Diese ewigen Schlägereien werden ihm das Haus verleiden, ich weiß es.« »Aber er ist dickköpfig, wie ein Pferd; er ist imstande, wegen der Kinder hierzubleiben«, sagte die älteste Tochter. »Er ist ein Lump, aber vor einer Schlägerei fürchtet er sich nicht«, meinte Nikolaus. »Vor einer nicht«, antwortete die Witwe, »aber alle Tage, alle Tage – das ist eine wahre Hölle, und er wird weichen.« »Wenn er aber nicht wiche?« »So habe ich ein anderes, ganz sicheres Mittel, ihn zu zwingen, sich noch diese Nacht oder spätestens morgen früh aus dem Staube zu machen«, entgegnete die Witwe, mit teuflischem Lächeln. »Wahrhaftig, Mutter?« »Ja, aber ich möchte ihn lieber durch Schlägereien vertreiben; wenn das nicht wirkt – das andere Mittel zieht gewiß.« »Wenn aber das andere Mittel auch nicht ziehen sollte, Mutter?« fragte Nikolaus. »So bleibt eins, das immer wirkt!« In diesem Augenblick wurde die Türe geöffnet, und Martial trat ein. Es stürmte draußen so stark, daß man das Bellen der Hunde nicht gehört hatte. 436
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artial kam langsamen Schrittes in die Küche. Der Liebhaber der Wölfin glich seinen Geschwistern Franz und Amandine; er war von mittlerer Größe, aber stark und breitschultrig; sein dichtes, rotes Haar war bürstenartig geschnitten. Sein starrer, kurzer Bart, seine breite und vorspringende Nase und seine blauen Augen gaben seinem Gesicht einen sehr entschlossenen Ausdruck. Auf dem Kopfe trug er einen alten Hut; trotz der Kälte trug er nur eine Bluse und Hosen von grobem Manchester. In der Hand hielt er einen Knotenstock, den er neben sich stellte. Ein rotgefleckter Hund mit krummen Beinen war mit Martial hereingekommen, blieb aber an der Türe stehen und wagte sich weder dem Feuer noch den Personen zu nähern, die schon am Tische saßen. »Wo sind die Kinder?« Das waren die ersten Worte Martials, als er sich an den Tisch setzte. »Da, wo sie sind«, antwortete ihm die Schwester. »Wo sind die Kinder, Mutter?« fragte Martial nochmals, ohne auf die Antwort seiner Schwester zu hören. »Im Bett«, antwortete die Witwe kurz. »Und haben sie gegessen, Mutter?« »Was geht das dich an?« fiel Nikolaus ein, nachdem er ein großes Glas Wein ausgetrunken hatte, um sich mehr Mut zu machen, denn er fürchtete sich vor der Kraft seines Bruders. Martial achtete so wenig auf die Worte des Bruders wie auf die der Schwester und sagte weiter: »Es tut mir leid, daß die Kinder schon schlafen.« »Desto schlimmer«, antwortete die Witwe. »Ja, desto schlimmer, denn ich sehe sie gern neben mir, wenn ich esse.« »Uns sind sie zur Last, und deshalb haben wir sie fortgeschickt«, 437
fiel Nikolaus ein. »Wenn dir das nicht paßt, so geh zu ihnen.« Martial sah seinen Bruder verwundert an, dann zuckte er die Achseln, schnitt eine Scheibe Brot ab und nahm ein Stück Fleisch. Nimrod, der Hund, hatte sich Nikolaus genähert. Um seinen Bruder weiter zu reizen, gab er ihm einen so gewaltigen Fußtritt, daß er laut aufheulte. Martial wurde rot, faßte das Messer, das er in der Hand hielt, krampfhaft fest und schlug heftig auf den Tisch. Aber auch diesmal hielt er an sich, rief den Hund und sagte sanft: »Hier, Nimrod!« Der Hund legte sich zu Füßen seines Herrn nieder. Nikolaus wollte seinen Bruder zum Äußersten treiben, um den lange gewünschten Bruch herbeizuführen. Er setzte also hinzu: »Mir sind Hunde zuwider. – Nimrod darf nicht hier bleiben.« Statt einer Antwort goß sich Martial ein Glas Wein ein und trank es langsam aus. Die Witwe wechselte einen Blick mit Nikolaus und forderte ihn durch einen Wink auf, seine Neckereien fortzusetzen. Nikolaus holte die Weidengerte, mit der die Witwe ihren Sohn Franz geschlagen hatte, trat damit an den Hund, zog ihm eins über und sagte: »Hinaus, Nimrod!« Der Geliebte der Wölfin nahm sich absichtlich zusammen, weil er erriet, daß man ihn, aus irgendeiner Absicht, reizen wolle. Als sein Hund schmerzlich heulte, stand Martial auf, öffnete die Türe, ließ den Hund hinaus und setzte sich dann ruhig wieder an den Tisch. Diese unglaubliche Geduld, die dem gewöhnlich so hitzigen Charakter Martials nicht entsprach, brachte seine Gegner in Verlegenheit; sie sahen einander höchlich verwundert an. Martial schien nicht zu bemerken, was um ihn her vorging, sondern er aß ruhig weiter und schwieg. »Trage den Wein fort«, sagte die Witwe zu ihrer Tochter. 438
Diese wollte eben gehorchen, als Martial protestierte. »Warte, ich bin noch nicht fertig!« »Desto schlimmer«, entgegnete die Witwe, indem sie selbst die Flasche wegnahm. »Das ist etwas anderes«, sagte der Geliebte der Wölfin; er goß sich ein großes Glas voll Wasser, trank es leer, schnalzte mit der Zunge und sagte: »Prächtiges Wasser!« Mit einem Male rief Nikolaus, höhnisch lachend: »Du tatest gut, daß du nachgabst, Martial; das solltest du dir überhaupt angewöhnen, denn du mußt darauf gefaßt sein, daß wir deine Geliebte auch mit Fußtritten fortjagen, wie deinen Hund.« »Ja, wenn deine Wölfin das Unglück hätte, auf die Insel zu kommen«, fiel die Schwester ein, »so würde ich sie rechts und links backpfeifen.« »Und ich würde sie in den Schlamm tauchen«, setzte Nikolaus hinzu. Diese beleidigenden Reden über die Wölfin, die Martial mit wilder Leidenschaft liebte, warfen seine friedlichen Vorsätze über den Haufen. Er runzelte die Stirn; das Blut schoß ihm in den Kopf. Trotzdem besaß er noch so viel Selbstbeherrschung, daß er zu Nikolaus sagen konnte: »Nimm dich in acht! Du suchst Streit mit mir… Du würdest aber etwas finden, was du nicht erwartest.« »Ich?« »Ich habe dich nur gewarnt; wenn du aber noch einmal so von meinem Mädchen sprichst, sollst du lange daran denken.« »Und wenn ich von deiner Wölfin reden will?« sagte die Schwester. »So werde ich dir ein paar freundschaftliche Winke geben…« »Und wenn ich rede?« fiel die Witwe ein. »Du?« »So wirst du auch mich schlagen, nicht wahr?« »Nein, aber wenn du schlecht von der Wölfin sprichst, so werde 439
ich Nikolaus prügeln –« »Du«, rief der Bandit wütend, indem er sein Messer hob, »du willst mich prügeln?« »Nikolaus, nicht das Messer!« rief die Witwe, indem sie schnell aufstand, um den Arm ihres Sohnes zu ergreifen; dieser aber, trunken von Wein und Zorn, stieß seine Mutter roh zurück und stürzte sich auf seinen Bruder. Martial wich zurück und ergriff den Knotenstock. »Nikolaus, nicht mit dem Messer!« wiederholte die Witwe. »Laß ihn doch«, fiel die Schwester ein, die selbst ein Beil ergriff. Nikolaus lauerte auf den Augenblick, sich auf seinen Bruder zu stürzen. »Ich sage dir«, rief er aus, »daß ich dich und die Wölfin ersteche. Zu mir, Mutter! Her, Schwester – wir wollen ihn kaltmachen. – Es kann so nicht weitergehen!« Er hielt den Augenblick für günstig und stürzte, mit hocherhobenem Messer, auf seinen Bruder. Martial zog rasch den Oberkörper zurück und schwang den Stock, der blitzschnell eine Acht beschrieb und dann so gewaltig auf den Vorderarm des Angreifers niedersauste, daß dieser vor Schmerz aufschrie und das Messer fallen ließ. Dann packte er Nikolaus am Kragen, trieb ihn unbarmherzig bis an die Kellertür, öffnete sie mit der einen Hand und warf mit der anderen seinen Bruder hinein. Dann kehrte er zu den beiden Frauen zurück, faßte seine Schwester an den Achseln und schloß sie, trotz ihrem Widerstreben, ihrem Geschrei und einem Beilhieb, der ihn leicht an der Schulter verwundete, im Nebenzimmer ein. Darauf wandte er sich an die Witwe, die über dieses unerwartete Manöver ganz erstaunt war, und sagte kalt: »Nun, Mutter, zu uns beiden!« »Ja, zu uns beiden!« antwortete die Witwe, deren bleiches Gesicht sich lebhaft färbte, und deren Zügen der Haß einen furchtbaren Ausdruck gab. »Du sollst erfahren, was ich gegen dich auf dem Her440
zen habe.« »Auch ich werde dir etwas sagen!« »Seit dem Tode deines Vaters bist du nichts gewesen als eine feige Memme. Statt bei uns zu bleiben, bist du nach Rambouillet entlaufen, um Wilddieberei zu treiben…« »Wenn ich hiergeblieben wäre, würde ich auf den Galeeren sein, wie Ambrosius, oder nahe dran, wie Nikolaus…« »Und welches Gewerbe treibst du? Du stiehlst Fische, – ein Diebstahl ohne Gefahr, ein feiger Diebstahl!« »Das Wild und die Fische gehören niemandem; wer sie fängt, dem sind sie. Ich stehle nicht. – Und was die Feigheit betrifft…« »Du schlägst für Geld Menschen, die schwächer sind als du!« »Weil sie noch Schwächere mißhandelt haben!« »Handwerk einer feigen Seele!« »Es gibt ehrlichere, ja, aber dir kommt es nicht zu, mir das zu sagen.« »Warum betreibst du denn nicht lieber ein ehrliches Gewerbe, statt hier zu faulenzen und auf meine Kosten zu leben?« »Ich gebe dir die Fische, die ich fange und das Geld, das ich verdiene; es ist nicht viel, aber genug.« »Dein Bruder ist im Bagno; dein Vater und dein Großvater sind auf dem Schafott gestorben. – Statt sie zu rächen, zitterst du.« Mit steigender Wut setzte sie hinzu: »Du bist noch dümmer als feig! Ein ehrlicher Mann willst du sein? Ehrlich? Wirst du nicht immer verachtet und zurückgestoßen werden als Sohn eines Mörders, als Bruder eines Galeerensträflings? Aber statt an Rache zu denken, fürchtest du dich! Statt dich zu verteidigen, entfliehst du. – Als sie deinen Vater köpften, verließest du uns, feige Memme! Und du wußtest, daß wir die Insel nicht verlassen konnten, ohne daß das Volk hinter uns her schrie und uns mit Steinen bewarf…« »Ich fürchte mich vor keinem Menschen…« »So hättest du wenigstens in deinem Walde bleiben sollen!« »Ich bin zurückgekommen wegen meiner Sache mit dem Wild441
hüter und besonders wegen der Kinder.« »Was gehen dich die Kinder an?« »Ich will nicht zugeben, daß sie werden, wie meine anderen Geschwister!« »Pfaffe…« »Und sie würden so geworden sein, wenn sie allein bei euch gewesen wären. Ich trat in die Lehre, um soviel zu verdienen, daß ich die Kinder zu mir nehmen und die Insel verlassen könnte; aber in Paris hieß ich überall der Sohn des Gerichteten, der Bruder des Sträflings, – ich hatte alle Tage Schlägereien und wurde es endlich überdrüssig.« »Aber ehrlich zu sein, wurdest du nicht überdrüssig; das bliebst du, statt zu uns zu halten! Du glaubst die Kinder durch deine Predigten zu gewinnen, aber wir sind auch noch da!« »Was du willst, geschieht nicht.« »Ist Amandine erst fünfzehn Jahre alt, so wird sie schon dahin kommen, wohin sie kommen muß. Man hat uns mit Steinen beworfen, man hat uns verfolgt, wie tolle Hunde, nun soll man sehen, was unsere Familie kann – dich, feige Memme, ausgenommen, denn du machst uns nur Schande!« Martial sah seine Mutter erstaunt an; nach einer kurzen Pause antwortete er: »Ihr habt absichtlich Streit mit mir gesucht!« »Ja, um dir zu zeigen, was dich erwartet, wenn du, gegen unseren Willen, hierbleiben wolltest – eine Hölle, hörst du? – eine Hölle! Und wir werden nicht allein sein wie heute abend; wir werden Freunde hier haben, die uns beistehen. – Du wirst dich nicht acht Tage bei uns halten können.« »Ihr glaubt, mich einzuschüchtern?« »Ich sage dir, was geschehen wird.« »Dennoch: Ich bleibe.« »Gegen unseren Willen?« »Ich sage dir, daß ich hierbleiben werde, bis ich Mittel finde, mit den Kindern meinen Lebensunterhalt zu verdienen; stünde ich al442
lein, so würde ich in den Wald zurückkehren, der Kinder wegen aber bleibe ich.« »Du willst also bleiben, bis du die Kinder mit dir nehmen kannst?« »Wenn ich zu ihnen sage: Kommt, so werden sie kommen, so schnell sie laufen können; ich weiß es.« Die Witwe zuckte die Achseln und entgegnete: »So höre mich an. Ich habe dir eben gesagt, du würdest an diese Nacht denken und wenn du noch hundert Jahre leben solltest. Ich will dir erklären, warum; aber bist du wirklich entschlossen, nicht fortzugehen?« »Ich bleibe hier!« »Du wirst sogleich das Gegenteil sagen. – Weißt du, welches Gewerbe dein Bruder betreibt?« »Ich ahne es, mag es aber nicht wissen.« »Du sollst es wissen: er stiehlt!« »Desto schlimmer für ihn.« »Und für dich! Er bricht ein, das kann ihn auf die Galeeren bringen. Wir verbergen, was er stiehlt. Wenn man es herausbekommt, werden wir, als Helfer, zu derselben Strafe verurteilt, und du auch! Die Kinder werden auf die Straße hinausgestoßen, wo sie das Gewerbe deines Vaters und deines Großvaters ebensogut lernen werden wie hier.« »Ich als Hehler, als euer Mitschuldiger bestraft! Wer wollte mir das beweisen?« »Du stehst in schlechtem Ruf und wohnst bei uns; wem willst du beweisen, daß du von unserem Gewerbe nichts wüßtest?« »Du willst mir Furcht einjagen, aber es gelingt dir nicht; ich werde beweisen, daß ich nie gestohlen habe. – Ich bleibe also!« »So höre weiter! Erinnerst du dich noch, was im vorigen Jahr, in der Weihnacht, hier geschehen ist?« »Ich erinnere mich an nichts.« »Weißt du nicht mehr, daß Rotarm einen gutgekleideten Mann herbrachte, der Ursache hatte, sich zu verbergen?« »Ja, ich ging ins Bett und ließ ihn mit euch allein. Vor Tagesan443
bruch brachte ihn Nikolaus nach St. Ouen.« »Weißt du genau, daß Nikolaus ihn nach St. Ouen gebracht hat?« »Ihr habt es mir am Morgen gesagt.« »Der Mann, der viel Geld bei sich hatte, ist in diesem Hause ermordet worden!« »Ermordet…« »Und beraubt und im Schuppen begraben.« »Das ist nicht wahr«, entgegnete Martial, der an dieses neue Verbrechen nicht glauben wollte. »Frage Franz, was er heute früh im Holzstall gesehen hat.« »Franz! Was hat er gesehen?« »Einen Fuß, der aus der Erde hervorragte. – Nimm die Laterne, geh hin und überzeuge dich selbst!« »Nein«, antwortete Martial, indem er seine mit Schweiß bedeckte Stirn abwischte, »nein, ich glaube dir nicht. Du sagst es nur, um…« »Um dir zu beweisen, daß du, wenn du gegen unseren Willen bleibst, jeden Augenblick der Gefahr ausgesetzt bist, als Dieb und Mörder mitverhaftet zu werden. Du warst in der fraglichen Nacht hier; wir werden behaupten, du hättest uns bei dem Mord beigestanden. Wie willst du das Gegenteil beweisen?« Martial entgegnete: »Mutter, ich halte dich eines Mordes nicht für fähig.« »Wie du willst, aber mach jedenfalls, daß du fortkommst.« »Unter einer Bedingung…« »Was verlangst du?« »Gib die Kinder in eine anständige Lehre, irgendwo in der Provinz.« »Die Kinder bleiben hier!« »Was nützt es dir, wenn sie werden wie die Schwester, wie Nikolaus, wie Ambrosius und der Vater?« »Wir sind unser nie zu viele. – Deine Schwester führt die Wirtschaft; Nikolaus ist allein. Franz und Amandine können ihm, sobald sie abgerichtet sind, zur Hand gehen.« »Zitterst du nicht für sie, Mutter?« 444
»Ihr Schicksal wird das meinige sein, nicht besser und nicht schlechter! – Ich stehle – sie stehlen; ich morde – sie morden; wer die Mutter nimmt, wird auch die Kinder nehmen. – Wir werden uns nicht voneinander trennen. Fallen unsere Köpfe, so sollen sie in einen Korb fallen! Wir weichen nicht zurück; du allein bist der Feigling in der Familie, und wir verjagen dich. Geh und packe dich!« Die Witwe des Gerichteten sprach so hart und unerbittlich, daß Martial die Hoffnung aufgab, ihr Herz zu erweichen. »Nun, da es so ist«, sagte er kurz, »so bleibe ich doch!« »Versuche es!« »Nicht in diesem Hause, denn hier würde mich der Bruder erschlagen oder die Schwester vergiften; aber ich werde in dem Schuppen am anderen Ende der Insel wohnen. Die Kinder nehme ich mit. Wir nähren uns vom Fischfang, bis es mir gelungen ist, sie bei guten Leuten unterzubringen; und es wird mir gelingen.« »So, glaubst du?« »Das Donnerwetter soll mich erschlagen, wenn ich die Insel verlasse, und wenn die Kinder noch einen Tag länger in eurem Hause bleiben. – Ja, ich trotze euch allen; versucht es doch, mich von der Insel zu jagen!« Die Witwe war schlau genug, einzusehen, daß sie zu anderen Mitteln greifen müsse, um ihren Sohn unschädlich zu machen. Sie fuhr also nach einer Pause mit erheuchelter Bitterkeit fort: »Ich durchschaue deinen Plan; du willst uns nicht selbst anzeigen, sondern durch die Kinder anzeigen lassen.« »Mutter…« »Sie wissen jetzt, daß hier ein Mensch erschlagen worden ist; sie wissen, daß Nikolaus gestohlen hat … und sie werden früher oder später darüber reden. Ich rechne gewiß nicht auf deine Sohnesliebe! Aber beschleunige wenigstens unser Schicksal nicht.« »Ich kenne die Kinder«, erwiderte Martial, »und bin überzeugt, daß sie nichts sagen werden, wenn man ihnen Schweigen auferlegt. Übrigens werde ich ja immer bei ihnen sein und auf ihre Worte achten!« 445
»Kann man für die Worte eines Kindes bürgen, namentlich in Paris, wo man so neugierig und so schwatzhaft ist? Ich will sie hier behalten, damit sie uns unterstützen und nicht verraten können.« »Gehen sie nicht jetzt schon zuweilen nach Paris? Wer hindert sie, zu reden, wenn sie wollten?« »Was du da sagst, beruhigt mich wenig.« »Laß sie mich mitnehmen, Mutter!« »Wie willst du mit ihnen leben?« »Mein ehemaliger Meister ist ein braver Mann; vielleicht leiht er mir etwas, der Kinder wegen. In zwei Tagen brechen wir auf, und ihr werdet nie wieder etwas von mir hören.« »Nein, sie bleiben hier!« »So ziehe ich morgen in die Hütte!« »Du willst also die Wölfin verlassen«, fragte die Witwe plötzlich. »Das ist meine Sache; ich weiß, was ich zu tun habe.« »Ihr würdet Paris nie betreten, wenn ich dich mit den Kindern fortziehen ließe?« »In zwei Tagen würden wir fort und für euch tot sein!« »Das ist mir immer noch lieber, als dich hier zu haben und vor den Kindern auf der Hut sein zu müssen. – Nimm sie also mit und macht, daß ich euch nie wiedersehe.« »Dein letztes Wort?« »Ja. – Gib mir den Kellerschlüssel, damit ich Nikolaus herauslassen kann!« »Erst muß er seinen Rausch ausschlafen; den Schlüssel gebe ich dir morgen früh.« »Und deine Schwester?« »Laß sie heraus, wenn ich fort bin; ich mag sie nicht sehen.« »Geh und hol dich der Teufel!« Martial zündete ein Licht an, dann öffnete er die Küchentür und pfiff seinem Hund, der freudig hereinkam und seinem Herrn in das obere Stockwerk folgte. »Geh, deine Rechnung ist abgeschlossen«, murmelte die Mutter, indem sie hinter ihrem Sohn die Faust ballte, »du hast es selbst ge446
wollt.« Dann öffnete sie mit einem Dietrich die Tür des Kellers, in dem sich Nikolaus befand, und ließ ihn heraus.
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F
ranz und Amandine schliefen unmittelbar über der Küche in einer Kammer am Ende des Ganges, auf den sich mehrere Stuben öffneten, die den Stammgästen des Wirtshauses als ›Gesellschaftszimmer‹ dienten. Die beiden Kinder hatten, nachdem sie ihr Abendbrot verzehrt hatten, gewacht und die Tür halb offen gelassen, um auf ihren Bruder Martial zu warten. Die Laterne stand auf einem Schemel und verbreitete ein bleiches Licht. Mit Kalk beworfene Wände, ein schlechtes Lager für Franz, ein altes, viel zu kurzes Kinderbett für Amandine, ein Haufen von zertrümmerten Stühlen, die von den rabiaten Gästen des Wirtshauses zerschlagen worden waren: weiter sah man in der Kammer nichts. Amandine saß auf dem Lager ihres Bruders und versuchte, das gestohlene Tuch, das Geschenk ihres Bruders Nikolaus, zierlich um den Kopf zu binden. Franz kniete vor seiner Schwester und hielt ihr ein Spiegelstück vor; sie hatte eben den Kopf halb zur Seite gewandt und zupfte eine Schleife zurecht, die sie gebunden hatte. Franz, der diesen Putz sehr bewunderte, sagte: »Wie schön dir das steht, Schwester! Wenn wir am Ufer spielen, mußt du es auch umbinden, damit die anderen Kinder neidisch werden. Ich binde auch mein rotes Halstuch um, und dann sagen wir zu ihnen: Ihr habt nicht so schöne seidene Tücher, wie wir!« 447
In diesem Augenblick hörten Franz und Amandine Schritte auf dem Gang. Martial ging nach der Unterredung mit seiner Mutter ohne Argwohn schlafen, weil er glaubte, Nikolaus sei bis zum anderen Morgen eingeschlossen. Als er einen Lichtstreifen aus der Kammer der Kinder fallen sah, trat er zu ihnen hinein. Beide liefen ihm entgegen, und er küßte sie zärtlich. »Nun, ihr kleinen Plaudermäuler, ihr habt euch noch nicht niedergelegt?« »Nein, Bruder, wir haben auf dich gewartet«, antwortete Amandine. »Und dann war unten Lärm, als wenn Zank wäre«, setzte Franz hinzu. »Ja«, sagte Martial, »ich hatte Streit mit Nikolaus, aber es ist weiter nichts. Übrigens freue ich mich, daß ihr noch auf seid. Ich habe eine gute Nachricht für euch.« »Erzähle, Bruder!« »Würdet ihr gern mit mir gehen, weit, weit fort?« »Ja, Bruder.« »Nun, in zwei Tagen verlassen wir zusammen die Insel.« »Ei, fein«, rief Amandine aus, die freudig in die Hände klatschte. »Und wohin gehen wir«, fragte Franz. »Das wirst du bald sehen; wir gehen an einen Ort, wo du ein gutes Handwerk lernst, mit dem du viel verdienen kannst.« »Ich soll also nicht mit dir fischen?« »Nein, du lernst bei einem Tischler oder Schlosser; und wenn du fleißig arbeitest, wirst du in einem Jahr schon etwas verdienen. – Nun? Du scheinst gar nicht zufrieden zu sein?« »Ich möchte dich lieber nicht verlassen, sondern mit dir fischen und deine Netze ausbessern.« »Wirklich?« »Ja. Den ganzen Tag eingesperrt zu sein, ist traurig, und Lehrling 448
zu sein ist langweilig!« Martial zuckte die Achseln. »Nicht wahr, es ist besser, faul zu sein und sich herumzutreiben, bis man ein Dieb wird?« »Nein, Bruder, aber ich möchte anderswo mit dir so leben, wie hier; weiter nichts.« »Ja, essen, trinken, schlafen und, zum Zeitvertreib, Fische fangen, nicht wahr?« »Das würde mir viel besser gefallen.« »Wohl möglich, aber etwas anderes wird dir auch gefallen. – Siehst du, Franz, es wird hohe Zeit, daß ich dich von hier wegbringe; du würdest, ohne daß du es merkst, so schlecht werden wie die anderen. – Und du, Amandine, möchtest du nicht etwas lernen?« »O ja, Bruder, ich möchte gern etwas lernen, wenn ich nur nicht hierbleiben muß. Ich würde so gern mit dir und Franz gehen!« »Aber was hast du auf dem Kopf, Mädchen?« fragte Martial. »Ein Tuch, das mir Nikolaus geschenkt hat.« »Er hat mir auch eins gegeben«, fiel Franz stolz ein. »Woher sind die Tücher? Ich bezweifle, daß Nikolaus sie gekauft hat.« Die beiden Kinder ließen den Kopf sinken, ohne zu antworten. Nach einer Weile sagte Franz entschlossen: »Nikolaus hat sie uns gegeben; wir wissen nicht, woher er sie hat, nicht wahr, Amandine?« »Nein, Bruder«, setzte Amandine stotternd und errötend hinzu und wagte dabei nicht, die Augen aufzuschlagen. »Lügt nicht!« »Wir lügen nicht«, antwortete Franz keck. »Amandine, sage du mir die Wahrheit.« »Die Tücher sind aus der Kiste, die Nikolaus heute abend auf seinem Boot mitgebracht hat.« »Und die er gestohlen hat?« »Ich glaube es…« »Siehst du, Franz, du hast gelogen!« 449
Der Knabe schwieg. »Gebt mir die Tücher!« Das Mädchen nahm das Tuch ab und übergab es Martial mit einem Seufzer. Franz nahm auch sein Tuch langsam aus der Tasche und reichte es Martial hin. »Morgen früh«, sagte dieser, »werde ich Nikolaus die Tücher zurückgeben; ihr hättet sie gar nicht nehmen sollen, Kinder; wer von einem Diebstahl etwas nimmt, ist so schlimm wie der Dieb selbst.« »Es ist aber schade, die Tücher sind so hübsch«, fiel Franz ein. »Wenn du selbst Geld verdienst, wirst du dir ebenso schöne kaufen. Jetzt legt euch nieder, es ist schon spät, Kinder!« »Du bist nicht böse, Bruder«, fragte Amandine schüchtern. »Nein, es ist ja nicht eure Schuld.« »Gute Nacht, Bruder!« Martial küßte die Kinder. Sie blieben allein. »Was hast du nur, Franz? Du siehst ja ganz traurig aus«, sagte Amandine. »Der Bruder hat mir das Tuch fortgenommen, und dann, hast du nicht gehört –?« »Was?« »Er will uns mit fortnehmen, um uns in eine Lehre zu schicken.« »Macht dir das keinen Spaß?« »Wahrhaftig nicht.« »Du willst lieber alle Tage Prügel haben?« »Ich arbeite doch auch nicht. Ich bin den ganzen Tag im Boot oder spiele oder bediene die Gäste, das ist viel unterhaltender, als von früh bis abends eingesperrt zu sein und arbeiten zu müssen wie ein Hund.« »Hast du nicht gehört, daß der Bruder sagte, wir würden schlecht werden, wenn wir noch länger hier blieben?« »Das ist mir ganz egal! Arbeiten ist Blödsinn…« »Aber hier werden wir doch nur geschlagen.« 450
»Ja, weil wir lieber auf Martial hören als auf die anderen.« »Er ist doch gut zu uns!« »Er ist gut, ja, aber das ist auch alles –, er gibt uns nie etwas.« »Er hat ja nichts; was er verdient, gibt er der Mutter!« »Nikolaus hat etwas. – Wenn wir auf ihn hörten und auf die Mutter, würden sie uns schöne Sachen geben.« »Aber, mein Gott, dann müßten wir ja auch stehlen!« »Nun, und?« »Und wenn man uns ertappt, müssen wir ins Gefängnis!« »Gefängnis oder Werkstatt, das ist fast dasselbe. Der dicke Lahme sagt auch, im Gefängnis wäre es ganz lustig.« Das Gespräch der Kinder wurde plötzlich unterbrochen. Irgend jemand verschloß ihre Türe von außen. »Man schließt uns ein!« rief Franz. »Mein Gott, warum, Bruder? Was will man mit uns machen?« »Vielleicht war es Martial?« »Hör nur, wie sein Hund bellt!« sagte Amandine, lauschend. Nach einigen Augenblicken setzte Franz hinzu: »Es ist, als schlüge man mit einem Hammer an seine Türe…« »Ja, ja, der Hund bellt immer mehr!« »Horch, Franz! Jetzt ist es, als nagelte man etwas zu. – Ach Gott, ich fürchte mich! Was geschieht mit Martial? Der Hund heult jetzt so…« »Amandine, nun hört man nichts mehr…« Die Kinder wagten kaum zu atmen und lauschten ängstlich. »Wir wollen uns hinlegen; die Mutter schlägt uns tot, wenn sie uns noch auf findet«, sagte Amandine. »Nein«, entgegnete Franz, der noch immer lauschte, »sie sind an der Türe vorbeigegangen, jetzt gehen sie die Treppe hinunter…« »Jetzt macht man die Küchentüre auf.« »Der Hund heult doch noch immer«, sagte Amandine. Mit einem Male rief sie: »Franz, der Bruder ruft!« »Martial?« 451
»Ja. – Hörst du?« »Der Bruder wird glauben, wir wollten ihm nicht zu Hilfe kommen; rufe ihm zu, daß wir eingeschlossen sind, Franz!« Der Knabe wollte dem Rate seiner Schwester folgen, als ein kräftiger Schlag den Laden vor dem Fenster erschütterte. »Sie steigen ein, um uns tot zu machen!« rief Amandine aus, die sich in ihrer Angst aufs Bett warf und die Hände über das Gesicht schlug. Franz blieb unbeweglich stehen. Martials Rufen hatte aufgehört. Franz, der wieder etwas ruhiger geworden war, suchte das Fenster halb zu öffnen, um hinauszuspähen. »Nimm dich in acht, Bruder«, sagte Amandine leise. Dann fragte sie: »Siehst du etwas?« »Nein, es ist zu finster.« »Hörst du auch nichts?« »Nein, der Wind heult so.« »Dann komm fort vom Fenster!« »Jetzt sehe ich etwas!« »Was?« »Den Schein einer Laterne – er geht hin und her –« »Wer trägt sie?« »Ich sehe nur den Schein. – Jetzt kommt er näher…« »Horch! Horch – Kürbis!« »Was sagt sie?« »Man möge die Leiter unten festhalten.« »Was machen sie mit der Leiter?« »Ich kann nichts mehr sehen.« »Hörst du auch nichts mehr?« »Nein –« »Gott, vielleicht wollen sie durchs Fenster zu Martial hineinsteigen.« »Das ist wohl möglich!« »Wenn du den Laden ein ganz wenig aufmachtest…« 452
»Das wage ich nicht.« »Es ist ja so finster.« Franz fügte sich, wenn auch widerstrebend, dem Wunsch seiner Schwester und sah hinaus. »Nun, Bruder?« fragte Amandine, die ihre Angst niederkämpfte und auf den Zehen zu Franz schlich. »Ich sehe die Schwester, die die Leiter unten hält; sie ist an Martials Fenster angelehnt.« »Und dann?« »Nikolaus steigt herauf; er hat sein Beil in der Hand…« »Ah, ihr seid noch nicht im Bette, ihr spioniert!« rief plötzlich die Witwe. Die unglücklichen Kinder hatten vergessen, das Licht auszulöschen. »Ich komme hinauf«, setzte die Witwe, mit schrecklicher Stimme, hinzu, »ich komme hinauf, wartet nur, ihr Spione!«
XCVI
D
ie Passage de la Brasserie stieß, auf der einen Seite, auf die Rue Saint-Honoré und auf der anderen auf den Cour Saint-Guillaume. In der Mitte dieses feuchten, schmutzigen und düsteren Gäßchens, in das die Sonne fast nie schien, stand ein Haus, in dem möblierte Zimmer vermietet wurden. Auf einem Aushängeschild las man: Hier sind möblierte Zimmer und Schlafkabinette zu vermieten. Rechts, im Hausflur, führte eine Türe in einen dunklen Raum, in dem sich gewöhnlich der Zimmervermieter aufhielt. Der Mann hieß Micou; öffentlich handelte er mit altem Eisen, im geheimen aber kaufte und verkaufte er gestohlene Metalle, wie Eisen, Blei, Kupfer und Zinn. 453
Vater Micou stand in einem engen Geschäfts- und Freundschaftsverhältnis mit den Martials. Er war ein dicker Mann von fünfzig Jahren mit einer blütenübersäten Nase und weinroten Backen; er trug eine Mütze von Fischotterfell und einen alten, grünen Rock. Über dem kleinen eisernen Ofen war ein Nummernbrett an der Wand befestigt, an dem die Schlüssel der Zimmer hingen, deren Inhaber ausgegangen waren. Der Fußboden verschwand fast ganz unter Haufen von allerlei verrostetem Eisengerät. Ein dreimaliges Klopfen an der Tür erregte die Aufmerksamkeit des Mannes, der Vermieter, Hehler und Trödler in einer Person war. »Herein!« rief er. Nikolaus, der Sohn der Witwe Martial, trat ins Zimmer. Er sah bleich aus, und sein Gesicht war noch finsterer als gewöhnlich. »Da bist du ja!« sagte der Vermieter. »Ja, Vater Micou; ich habe Geschäfte mit Ihnen.« »So mach die Türe zu!« »Ich habe meinen Hund und meinen Karren draußen.« »Was bringst du mit? Blei?« »Nein, Vater Micou.« »Nun, Ausgesuchtes ist es nicht; du bist jetzt zu faul, du arbeitest nicht mehr; ist es vielleicht Rost [Eisen]?« »Nein, Vater Micou, es ist Bläres [Kupfer], vier Stück, wenigstens hundertfünfzig Pfund. – Der Hund konnte es kaum ziehen.« »Hole es herein; wir wollen es wiegen!« »Sie müssen mir helfen, Vater Micou, ich habe einen schlimmen Arm.« »Was hast du am Arme, mein Sohn?« »Nichts Besonderes.« »Du mußt ein Eisen rotglühend machen, dann ins Wasser tauchen und darein den Arm halten; es ist dies ein Schmiedemittel, aber sehr gut.« »Ich danke, Vater Micou.« 454
»Komm nun, wir wollen das Bläres holen!« Zu zweit trugen sie die Kupferstücke von dem kleinen Karren herein, den ein großer Hund zog. »Dein Karren ist eine gute Sache!« sagte Vater Micou, indem er die Waagschalen zurechtmachte. »Ja, wenn ich etwas habe, nehme ich meinen Hund und meinen Karren ins Boot, und am Ufer spanne ich an. Ein Kutscher schwatzt vielleicht, aber mein Hund ist still.« »Geht's gut zu Hause?« fragte der Hehler, indem er das Kupfer wog; »Mutter und Schwester sind wohl?« »Ja, Vater Micou.« »Die Kinder auch?« »Die Kinder auch. – Und wo ist Ihr Neffe Andreas?« »Sprich nicht von dem! Barbillon und der dicke Lahme hatten ihn mitgenommen, und er ist erst heute früh wiedergekommen. – Jetzt ist er wieder fort, nach der Post… Und dein Bruder Martial will sich noch immer nicht fügen?« »Ich weiß nicht.« »Du weißt nicht?« »Nein«, sagte Nikolaus. »Wir haben ihn seit zwei Tagen nicht gesehen. Vielleicht ist er im Walde, oder sein Boot, das sehr alt war, ist vielleicht gesunken, und er mit…« »Das würde dir so passen, Taugenichts, he?« »Man hat so seine Gedanken… Wieviel wiegt das Kupfer?« »Hundertachtundvierzig Pfund.« »Und was zahlen Sie dafür?« »Dreißig Franken.« »Dreißig Franken? Das Pfund Kupfer kostet doch zwanzig Sous?« »Nun – fünfunddreißig, aber nun sagst du kein Wort weiter, oder ich schicke dich, dein Kupfer, deinen Karren und deinen Hund zum Teufel!« »Sie sind happig, Vater Micou!« »Kannst du mir beweisen, daß das Kupfer dein Eigentum ist, so 455
gebe ich dir für das Pfund fünfzehn Sous.« »Immer das alte Lied. Einer wie der andere! – Wenn ich aber Waren dafür nehme, so geben Sie mir hoffentlich gutes Maß.« »Versteht sich. Was brauchst du? Ketten oder Klammern?« »Nein, ich möchte drei bis vier starke Eisenbleche, zum Beschlagen von Fensterläden.« »Das habe ich. Extrastark! Keine Pistolenkugel schlägt durch.« »Ja, so etwas suche ich.« »Wieviel?« »Im ganzen sieben bis acht Fuß.« »Brauchst du sonst noch etwas?« »Drei Eisenstangen, drei bis vier Fuß lang und zwei Zoll stark.« »Ich habe gestern ein Gitter auseinandergenommen; das wird passen, wie ein Handschuh. – Und dann?« »Zwei starke Scharniere und eine Klinke, um eine Klappe von zwei Fuß im Quadrat schließen und öffnen zu können.« »Eine Falltür, meinst du?« »Nein, eine Klappe.« »Ich begreife nicht, wozu du eine Klappe brauchst.« »Aber ich begreife es.« »Nun, meinetwegen; sonst noch etwas?« »Nein. Legen Sie mir alles zusammen, ich nehme es auf dem Rückwege mit; jetzt habe ich noch einige Wege zu erledigen.« »Mit deinem Karren? Du hast gewiß noch etwas zu verkaufen?« »Ja, aber das ist nichts für Sie. – Lassen Sie mich mit dem Eisenzeug nicht warten, denn ich muß vor Mittag wieder auf der Insel sein.« »Jetzt ist es erst acht; wenn du nicht weit gehst, kannst du in einer Stunde wieder hier sein. Willst du einen Schluck trinken?« »Gern!« Vater Micou nahm aus einem alten Schrank eine Flasche Branntwein, ein zersprungenes Glas, eine Tasse ohne Henkel und schenkte ein. »Auf Ihre Gesundheit, Vater Micou!« »Auf die deine, mein Sohn, und auf die deiner Damen!« 456
»Ich danke. Und bei Ihnen geht es auch immer gut?« »So so; ich habe immer einige Mieter, die vor der Polizei nicht sicher sind. Aber sie bezahlen auch danach. Ja, man muß die Feste feiern, wie sie fallen. Ein Vetter von mir hält ein Haus in der Rue St.-Honoré, während seine Frau zwanzig Nähmädchen beschäftigt.« »Darunter wohl auch hübsche, Alter?« »Das glaube ich! Eine besonders, die zu Hause arbeitet und Lachtaube heißt! Donnerwetter… Man könnte bedauern, daß man nicht mehr zwanzig Jahre alt ist!« »Vater Micou, Sie brennen ja lichterloh! Soll ich die Feuerwehr holen?« »Alles in Ehren, mein Sohn.« »Alter Fuchs!« »Willst noch ein Glas?« »Ja, der Schnaps ist gut. – Auf Ihre Gesundheit, Vater Micou!« »Auf die deine auch. – Denk dir übrigens: Mein Vetter hat mir da Leute zugeschickt, aus denen ich nicht klug werde. Eine Mutter und eine Tochter, die ihr ganzes Hab und Gut in einem Taschentuche trugen. Obgleich nicht viel mit ihnen los sein kann, da sie keine Papiere haben, so rühren sie sich doch nicht, und kein Herr fragt nach ihnen. Wenn Sie nicht so mager und so blaß wären, müßte man sie dabei schön nennen, zumal das Mädchen. Es ist höchstens sechzehn Jahre alt, weiß wie ein Kaninchen und hat große, schwarze Augen – die solltest du einmal sehen!« »Sie geraten ja schon wieder in Flammen, Vater Micou! Was treiben denn die beiden Frauenzimmer?« »Ich sage dir ja, daß ich aus ihnen nicht klug werde; sie kriegen Briefe ohne Adresse, aber ich glaube doch, ihr Name müßte sich, geschrieben, gut ausnehmen.« »Wieso?« »Sie schickten heute früh meinen Neffen Andreas zur Post, um einen Brief an Madame X.Z. abzuholen. Der Brief sollte aus der Normandie kommen, aus Aubiers. Sie haben das auf ein Papier geschrieben, damit Andreas den Brief erhielte. Frauen, die sich X.Z. 457
nennen und doch nie Herrenbesuch kriegen – ein merkwürdiger Fall!« »Sie werden einfach nicht bezahlen.« »Mit mir nicht zu machen! Sie haben eine Stube ohne Kamin, für die sie zwanzig Franken vorausbezahlen müssen…« »Wenn Sie lauter solche Mieter haben, Vater Micou…« »Mein Haus ist ein Taubenschlag. Es wohnen Leute mit und ohne Paß bei mir; zwei Reisende, ein Briefträger, der Dirigent des Orchesters im Blindenkasino und eine Frau, die von ihrem Geld lebt – lauter ehrliche Leute. – Willst du noch ein Glas?« »Ja, aber das ist das letzte, ich muß weiter. Apropos, wohnt Robin noch hier?« »Oben, neben der Mutter mit der Tochter. Er verjuxt das Geld, das er aus dem Gefängnis mitgebracht hat und wird, glaube ich, bald fertig sein.« »Nehmen Sie sich in acht; er ist hier nicht in dem ihm angewiesenen Bezirk!« »Ich weiß, kann ihn aber nicht loswerden. Er hat wahrscheinlich etwas vor. Der kleine Lahme, der Sohn Rotarms, kam neulich mit Barbillon, um ihn abzuholen… Ist seine Zeit um, so muß er fort; ich dulde ihn nicht länger und sage, sein Zimmer sei für einen Gesandten oder für den Mann von Frau St.-Ildefonse bestimmt –, das ist die Dame, die von ihrem Gelde lebt.« »Wirklich?« »Das glaube ich! Sie hat drei Zimmer nach vorn. Alles neu möbliert, und unter dem Dach eine Stube für ihr Mädchen. Sie gibt achtzig Franken monatlich, die durch ihren Onkel vorausbezahlt werden, dem sie ein Zimmer überläßt, wenn er vom Lande hereinkommt. Übrigens glaube ich gar nicht, daß er auf dem Lande wohnt.« »Der Alte wird der Frau das Geld geben, von dem sie lebt.« »Halt's Maul! Da kommt ihr Mädchen!« Eine schon ziemlich bejahrte Person, die eine Schürze von zweifelhafter Farbe trug, trat ein. »Was steht zu Diensten?« »Vater Micou, ist Ihr Neffe nicht da?« 458
»Er ist noch auf der Post, muß aber gleich wiederkommen.« »Herr Badinot wünscht, er möge gleich den Brief abgeben; er braucht nicht auf Antwort zu warten, aber es ist sehr dringend.« »In einer Viertelstunde, Madame Charles.« »Daß er sich nur recht beeilt!« »Verlassen Sie sich darauf.« Die Alte entfernte sich. Micou sagte, indem er den Brief betrachtete: »Sieh! Sieh! Feine Bekanntschaften! Er schreibt an einen Vicomte –« »Und wenn schon?« »Lies selbst: An den Herrn Vicomte von Saint-Remy, Rue de Chaillot. Sehr eilig. – Eigenhändig. Wenn man Frauen im Hause hat, die von ihrem Gelde leben und Onkel haben, die an Grafen schreiben, braucht man es doch wohl mit den Papieren der Mieter nicht so genau zu nehmen.« »Das glaube ich auch. – Also, Vater Micou, ich will meinen Hund an Ihrer Türe anbinden und das, was ich habe, selbst forttragen. – Halten Sie, bitte, Waren und Geld bereit, so daß ich mich dann nicht aufzuhalten brauche.« »Sei unbesorgt; vier gute Stück Blech, jedes zwei Fuß im Quadrat, drei Eisenstäbe von drei Fuß Länge und zwei Scharniere. Ist das alles?« »Ja, und mein Geld?« »Selbstverständlich!« Der Bandit ging hinaus. Der Hehler versteckte die Kupferblöcke und suchte dann die verschiedenen Gegenstände zusammen, die Nikolaus verlangt hatte, als ein neuer Besucher eintrat. Es war ein Mann von etwa fünfzig Jahren mit pfiffigem Gesicht, einem grauen Backenbart und einer goldenen Brille. Er war ziemlich elegant gekleidet, seine Stiefel waren glänzend gewichst. Es war Herr Badinot, der Onkel der Frau, die von ihren Renten lebte, und auf die Vater Micou sich so viel einbildete. Man erinnert sich gewiß, daß Badinot, ein ehemaliger Advokat, 459
dem Baron von Graun als Spion diente und ihm zahlreiche und genaue Auskünfte verschafft hatte. »Madame Charles hat Ihnen eben einen Brief übergeben, der weggetragen werden sollte«, sagte Herr Badinot. »Ja, mein Neffe wird gleich zurückkommen…« »Nein, ich habe mich anders besonnen und werde selbst zum Vicomte von St. Remy gehen«, sagte Badinot, indem er absichtlich diesen adligen Namen stark betonte. »Da ist der Brief, mein Herr; einen anderen Auftrag haben Sie nicht?« »Nein, Vater Micou, aber Vorwürfe muß ich Ihnen machen.« »Warum?« »Frau von St.-Ildefonse bezahlt ihre Wohnung teuer genug. Meine Nichte ist mit vollem Vertrauen in das Haus gezogen; sie hoffte, hier wie auf dem Lande zu wohnen.« »Wohnt sie auch… Genau wie auf dem Dorfe!« »Schönes Dorf – bei dem Lärm!« »Sie können unmöglich ein ruhigeres Haus finden. Über Madame wohnen der Dirigent und ein Reisender, darüber ein anderer Reisender, dann…« »Von den Leuten spreche ich nicht, sie sind sehr ruhig und ordentlich, aber im vierten Stocke wohnt ein dicker Lahmer, den Frau von St.-Ildefonse betrunken auf der Treppe getroffen hat. Er schrie wie ein Wilder, und sie erschrank so, daß sie fast Krämpfe bekam. Wenn Sie glauben, daß Ihr Haus mit solchen Bewohnern einem Landhaus ähnelt…« »Ich versichere Sie, daß ich nur auf die Gelegenheit warte, dem Lahmen die Türe zu weisen; er hat mir vierzehn Tage vorausbezahlt, sonst würde ich ihn schon hinausgeworfen haben.« »Sie hätten ihn gar nicht erst hereinnehmen sollen!« »Sonst hat Madame sich hoffentlich über niemand zu beschweren? Es wohnt noch ein Briefträger da, und darüber, neben dem Lahmen, eine Frau mit ihrer Tochter, die sich nicht rühren.« »Nein, Frau von St.-Ildefonse beklagt sich nur über den Lahmen; 460
ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß er alle anständigen Leute vertreiben wird, wenn er noch länger hier wohnen sollte.« »Sie können ohne Sorge sein, ich schicke ihn fort!« »Sie werden gut daran tun«, setzte Badinot mit Gönnermiene hinzu. Und entfernte sich. –
XCVII
I
n einem Stübchen im vierten Stock desselben Hauses saß, auf dem einzig vorhandenen Stuhl, die Baronin von Fermont, während ihre Tochter Klara auf dem armseligen Bett ruhte. Da sie nur dies eine Bett hatten, so benutzten Mutter und Tochter es abwechselnd und teilten so die Stunden der Nacht. Frau von Fermont, eine noch immer schöne, wenn auch durch schwere Not vorzeitig gealterte Frau von sechsunddreißig Jahren, betrachtete ihre Tochter mit unaussprechlichem Kummer. Klara stand im sechzehnten Jahr; das feine Profil ihres abgemagerten Gesichtes trat, auf der grauen Leinwand, mit der das Bett bezogen war, scharf hervor. Frau von Fermont hatte längst schon keine Tränen mehr; sie hatte ihre Augen leer geweint über ihre und ihres Kindes furchtbare Not, in die das schurkische Verbrechen des Notars Ferrand sie gebracht hatte. Mit Grauen dachte sie an die Kämpfe, die sie schon bestanden hatte und an das Elend, das vor ihr lag und aus dem sie keinen Ausweg mehr wußte. Die Ärmste, die der Hunger geschwächt hatte, war im Begriff, einzuschlummern, als stark an die Tür geklopft wurde. Frau von Fermont erschrak, und ihre Tochter fuhr aus dem Schlaf auf. »Mein Gott, Mutter, was bedeutet das?« rief Klara aus, indem sie 461
sich aufrichtete. Dann schlang sie die Arme um den Hals ihrer Mutter, die, ebenso angsterfüllt, die Tochter an sich drückte und besorgt nach der Türe hinsah. »Beruhige dich, mein Kind, es ist nichts, – vielleicht die Antwort, die man uns von der Post bringt.« Die Tür zitterte von neuem unter mehreren kräftigen Faustschlägen. »Wer ist da?« fragte Frau von Fermont zitternd. Eine heisere Stimme antwortete: »Sind denn die Nachbarinnen taub? He…« »Was wollen Sie? Ich kenne Sie nicht«, entgegnete Frau von Fermont, indem sie ihre Angst zu verbergen suchte. »Ich bin Robin, Ihr Nachbar! Geben Sie mir Feuer für meine Pfeife. – Rasch!« »Mein Gott, der lahme Mann, der immer betrunken ist«, sagte die Mutter leise. »Wollen Sie mir Feuer geben, oder soll ich die Türe einschlagen, zum Donnerwetter?« »Ich habe kein Feuer.« »Sie haben doch Schwefelhölzchen… Machen Sie auf!« »Entfernen Sie sich!« »Sie wollen nicht aufmachen? So zerschlage ich alles. Plautz!« Und der Elende hieb so gewaltig gegen die Türe, daß das schlechte Schloß absprang. Die beiden Frauen schrien entsetzt auf. Frau von Fermont trat, trotz ihrer Schwäche, dem Banditen entgegen, als er den Fuß über die Schwelle setzte. Sie schauderte beim Anblick dieses Mannes. »Warum tun Nachbarn einander nichts zu Gefallen? Sie hätten aufmachen sollen; dann hätte ich die Türe nicht eingeschlagen«, sagte er. Dann setzte er, mit der Hartnäckigkeit eines Betrunkenen, hinzu: »Ich will hinein und muß hinein und weiche nicht, bis ich meine Pfeife angezündet habe.« 462
»Ich habe weder Feuer noch Schwefelhölzchen. – Gehen Sie, sage ich Ihnen!« »Das ist nicht wahr, Sie sagen es nur, damit ich die Kleine nicht im Bett sehe. – Aber die Kleine ist niedlich, – ich will sie sehen. – Nehmen Sie sich in acht, ich gebe ihnen eins ins Gesicht, wenn Sie mich nicht hineinlassen. – Ich muß die Kleine im Bett sehen und meine Pfeife anstecken … oder ich zerschlage alles und Sie mit!« »Hilfe! Hilfe!« rief Frau von Fermont, als sie fühlte, daß sie die Türe nicht länger halten konnte. Eingeschüchtert durch ihr Geschrei trat der Mann einen Schritt zurück, ballte die Faust und sagte: »Das sollst du mir büßen! – Ich komme wieder und stopfe dir das Maul, daß du nicht mehr schreien kannst!« Und der dicke Lahme, wie man ihn auf der Insel des Aussuchers nannte, ging drohend die Treppe hinunter. Frau von Fermont schob den Tisch vor die Türe. Klara war so erschrocken, daß sie, fast bewegungslos, auf ihr Lager zurückgesunken war. Frau von Fermont vergaß ihre Angst, eilte zu ihrer Tochter, schloß sie in ihre Arme, gab ihr etwas Wasser zu trinken und sagte zu ihr: »Beruhige dich und fasse Mut, armes Kind. – Der schlechte Mensch ist fortgegangen.« »Gott! Mutter, wenn er wiederkäme! Du siehst, du hast um Hilfe gerufen, und es ist niemand gekommen. Ach, ich bitte dich, wir wollen fort aus diesem Hause! Ich sterbe vor Angst.« »Wie zu zitterst! Du hast Fieber!« »Nein, nein«, entgegnete das Mädchen, um die Mutter zu beruhigen, »es ist nichts, es vergeht wieder. – Aber wie geht es dir? Du bist krank und willst es mir verbergen.« »Glaube das nicht, ich war fest eingeschlafen und bin mit dir erwacht.« »Aber deine Augen, Mutter, sind entzündet.« »Das hat gar nichts zu bedeuten, mein Kind.« »Ist es wirklich wahr, daß du nicht krank bist?« 463
»Gewiß nicht. – Und du?« »Ich auch nicht; ich zittere nur vor Furcht. Mutter, wir wollen das Haus verlassen, nicht wahr?« »Wohin sollten wir gehen? Du weißt, wieviel Mühe es uns gekostet hat, dieses Stübchen ausfindig zu machen, da wir leider keine Papiere haben. Und dann haben wir auch vierzehn Tage vorausbezahlt und haben ja fast nichts mehr übrig.« »Vielleicht antwortet dir Herr von St. Remy.« »Ich wage es beinahe nicht mehr zu hoffen…« »Er hat vielleicht deinen Brief nicht bekommen. Warum willst du ihm nicht noch einmal schreiben? Von hier nach Angers ist es nicht weit, und wir können bald Antwort haben.« »Armes Kind, du weißt, wie schwer mir schon der eine Brief geworden ist.« »War er nicht Vaters Freund? Und dann ist er ja auch mit uns verwandt.« »Er ist selbst arm; vielleicht antwortet er uns nicht, weil er sich den Schmerz ersparen will, uns nein zu sagen…« »Dann bleibt uns immer noch eine Hoffnung. – Vielleicht bringt uns der heutige Tag eine gute Antwort –« »Von Herrn von Orbigny?« »Ja. – Ich weiß nicht, was mir sagt, daß du unrecht hast, an ihm zu zweifeln.« »Er hat so wenig Ursache, sich für uns zu interessieren. – Zwar kannte er deinen Vater, und ich habe oft meinen Bruder von Herrn von Orbigny sprechen hören, aber…« »Wir wollen hoffen, Mutter…« »Wenn von ihm nichts zu erwarten sein sollte, werde ich mich überwinden und an die Herzogin von Lucenay schreiben.« »An die Dame, von der Herr von St. Remy so oft sprach und deren gutes Herz er rühmte?« »Die Herzogin hat viele Beziehungen. Vielleicht ist es ihr möglich, uns ein Unterkommen zu verschaffen.« »Ich hoffe mehr auf Herrn von Orbigny.« 464
»Ich habe ihm schon vor mehreren Tagen geschrieben, ihm die Ursachen unseres Unglücks auseinandergesetzt, und doch kommt keine Antwort. Ein Brief, den man vor vier Uhr abends auf die Post gibt, ist am nächsten Morgen in Aubiers. Fünf Tage hätte er nun Zeit gehabt!« »Vielleicht überlegt er, ehe er dir schreibt, wie er uns nützlich sein kann.« »Gott gebe es, mein Kind!« »Wenn er nichts für uns tun könnte, würde er doch sofort geantwortet haben.« »Oder er will nichts tun.« »Wie ist das möglich, Mutter? Wie könnte er uns dann hoffen lassen? Denn wenn man unglücklich ist, hofft man immer.« »Ach, mein Kind, manche Leute sind Leiden gegenüber, die sie selbst nicht kennen, sehr gleichgültig.« »Aber dein Brief?« »Mein Brief kann ihm keine Vorstellung von unseren Leiden geben. Kann er ihm die schreckliche Zukunft schildern, die uns erwartet? … Doch wir wollen nicht mehr davon sprechen! Mein Gott, du zitterst?« »Nein, Mutter, achte nicht darauf, es ist wirklich nichts…« In diesem Augenblick wurde abermals stark an die Türe geklopft. »Himmel, er ist es schon wieder!« rief Frau von Fermont erschrocken aus und drückte mit aller Kraft den Tisch gegen die Türe. Ihre Angst verschwand jedoch, als sie die Stimme des Vaters Micou hörte. »Madame, mein Neffe kommt von der Post. Es ist ein Brief da; er kommt weit her und kostet acht Sous; mit der Besorgung macht es zwanzig Sous.« »Mutter, ein Brief! Wir sind gerettet!« rief das junge Mädchen, und ein Hoffnungsstrahl verklärte ihr abgehärmtes Gesicht. »Ach, Herr, ich danke, geben Sie schnell her!« sagte Frau von Fermont, indem sie rasch den Tisch beiseite schob und die Türe halb öffnete. 465
»Zwanzig Sous, Madame«, wiederholte der Hehler, indem er den Brief zeigte. »Ich werde gleich bezahlen.« »Es hat keine Eile; in zehn Minuten komme ich wieder.« Er übergab Frau von Fermont den Brief und verschwand. »Der Brief kommt aus Aubiers. – Er ist also von Orbigny!« sagte Frau von Fermont, indem sie die Adresse betrachtete. »Nun, Mutter, hatte ich nicht recht?« Frau von Fermont erbrach in ängstlicher Spannung das Siegel. Die Tochter wagte kaum zu atmen. »Lies laut, Mutter«, sagte sie. »Der Brief ist nicht lang; die Gräfin hat ihn geschrieben«, erwiderte die Mutter, indem sie nach der Unterschrift sah. »Desto besser! Das ist ein gutes Zeichen.« »Wir wollen sehen.« Und die Frau von Fermont las mit bebender Stimme: »Madame, der Graf von Orbigny, der seit einiger Zeit sehr leidend ist, konnte Ihnen während meiner Abwesenheit nicht antworten. Erst heute morgen aus Paris hier angekommen, beeile ich mich, Ihnen zu schreiben, nachdem ich Ihren Brief Herrn von Orbigny mitgeteilt habe. Er erinnert sich nur sehr unbestimmt der Beziehungen, in denen er, nach Ihrer Vermutung, zu Ihrem Herrn Bruder gestanden haben soll. Der Name Ihres Herrn Gemahls ist dem Grafen nicht unbekannt. Die angebliche Beraubung, deren Sie leichthin Herrn Jacob Ferrand beschuldigen, der, glücklicherweise, unser Notar ist, hält der Graf für eine schmachvolle Verleumdung, deren Bedeutung Sie ohne Zweifel nicht genügend bedacht haben. Mein Gemahl kennt und bewundert, gleich mir, die Rechtschaffenheit dieses achtbaren und frommen Mannes, den Sie so unbedacht bezichtigten. Der Graf beklagt die traurige Lage, in der Sie sich, Ihrer Angabe nach, befinden, und de466
ren wirkliche Ursache zu ermitteln ihm nicht zukommt. Er sieht sich aber in die Unmöglichkeit versetzt, etwas für Sie zu tun. Empfangen Sie, Madame, mit dem Ausdruck des Bedauerns meines Gemahls, die Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung Gräfin von Orbigny.« Mutter und Tochter sahen einander mit schmerzlicher Verwunderung an und vermochten kein Wort zu sprechen. In diesem Augenblick klopfte Vater Micou und sagte: »Kann ich eintreten, Madame? Ich will die zwanzig Sous mitnehmen.« »Freilich, eine so gute Nachricht ist es wohl wert, daß wir soviel dafür geben, wie wir in zwei Tagen zu unserem Lebensunterhalt brauchen«, sagte Frau von Fermont mit bitterem Lächeln. Sie ließ den Brief auf dem Bett ihrer Tochter liegen, ging an einen alten Koffer ohne Schloß, bückte sich und öffnete ihn. »Wir sind bestohlen!« rief die unglückliche Frau entsetzt aus. – »Nichts ist mehr da!« setzte sie düster hinzu. Und wie vernichtet, stützte sie sich auf den Koffer. »Was sagst du, Mutter, der Beutel mit dem Geld…?« Frau von Fermont sprang rasch auf, ging aus dem Stübchen hinaus und sagte dem Hehler, der vor der Türe wartete, mit funkelnden und hochgeröteten Wangen: »Herr, ich hatte einen Beutel mit Geld in diesem Koffer; man hat ihn mir gestohlen. Das Geld muß wieder herbeigeschafft werden! Hören Sie? Sie sind dafür verantwortlich.« »Man hat Sie bestohlen? In meinem Haus wohnen nur ehrliche Leute«, antwortete der Hehler. »Sie sagen das nur, um mir die zwanzig Sous nicht zu bezahlen.« »Ich sage Ihnen, daß man mich bestohlen hat und daß es mein letztes Geld war. Es muß wiedergefunden werden, oder ich klage… Ich werde keine Rücksicht nehmen – merken Sie sich das!« 467
»Das wäre…! Sie? … Sie haben ja nicht einmal Legitimationspapiere. Klagen Sie nur, gehen Sie gleich!« Die unglückliche Frau stand da, wie vom Blitz getroffen. »Sie haben kein Geld und wollen nicht bezahlen, nicht wahr?« fuhr Micou fort. »Nun, meinetwegen; wenn Sie an meiner Türe vorüberkommen, werde ich Ihnen Ihren Schal abreißen; er ist zwar schon sehr schäbig, aber zwanzig Sous ist er wohl noch wert.« »Ach, Herr«, entgegnete Frau von Fermont weinend, »haben Sie Mitleid mit uns! Die kleine Summe war alles, was wir besaßen. Nichts, gar nichts ist uns geblieben, und wir müssen verhungern.« »Was geht das mich an? Wenn es wahr ist, daß man Sie bestohlen hat – ich halte es aber für eine Lüge –, so ist nichts zu machen.« »Großer Gott!« »Hat man Sie bestohlen, so ist es ein Unglück, sage ich. Sie können hunderttausendmal klagen und werden doch keinen Pfennig zurückbekommen, glauben Sie mir. – Aber was ist Ihnen? Sie werden ja ganz blaß. – Mademoiselle, Ihrer Mutter wird unwohl«, setzte er hinzu, indem er vortrat, um die Unglückliche zu halten, die ohnmächtig zu werden drohte. »Mutter! Was ist dir?« rief Klara. Der Hehler konnte einer Anwandlung von Mitleid nicht widerstehen; er nahm Frau von Fermont in seine Arme, schob mit dem Knie die Türe auf und sagte: »Verzeihen Sie, Mademoiselle, daß ich hereinkomme, aber ich muß Ihnen doch die Mutter bringen.« Klara stieß, als sie den Mann eintreten sah, einen Schrei aus und verbarg sich unter ihrer Bettdecke. Der Hehler setzte Frau von Fermont auf den Stuhl neben dem Bett und entfernte sich, ließ aber die Tür nur angelehnt, da der dicke Lahme das Schloß abgerissen hatte. Eine Stunde später war die heftige Krankheit, die Frau von Fermont längst schon in sich gefühlt hatte, zum Ausbruch gekommen. In Fieberhitze, irre redend, lag die unglückliche Frau im Bett ihrer weinenden Tochter, die allein, fast ebenso krank wie ihre Mut468
ter, weder Geld noch Freunde hatte und jeden Augenblick fürchtete, von dem Banditen, der neben ihnen wohnte, überfallen zu werden.
XCVIII
D
er Vicomte von St. Remy wohnte in der Rue Chaillot in einem hübschen kleinen Gartenhaus. Im Erdgeschoß befand sich ein Schlafzimmer, in dem man nichts sah als Gold, Spiegel, Blumen und Seide, ein kleines Musikzimmer mit einer Harfe und einem Piano – der Vicomte spielte vortrefflich –, ein Zimmer mit Gemälden und Kunstgegenständen, das Boudoir, das mit dem Treibhaus in Verbindung stand, ein Speisezimmer für zwei Personen, ein Badezimmer von raffiniertem Luxus und, dicht daneben, eine Bibliothek, die nach dem Katalog der Sammlung eingerichtet war, die La Mettrie für Friedrich den Großen zusammengestellt hatte. Dazu denke man sich im Sommer, als Prospekt, die grüne Tiefe eines buschigen, blütenreichen Gartens mit einem kleinen Bach, der von einem schwarzen Felsen herunterstürzte und sich in ein klares Becken ergoß, in dem Schwäne spielten. Im Winter dagegen war, mit Ausnahme der Glastür, die in das Treibhaus führte, alles dicht verschlossen; die durchsichtige Seide und das Spitzengeflecht der Vorhänge verbreiteten gedämpftes Licht, und auf allen Tischen und Etageren standen fremdländische blühende Gewächse. War das Parterre für die nicht eben seltenen weiblichen Besucher reserviert, so empfing der Vicomte im ersten Stock, der entsprechend ernst und nüchtern gehalten war, seine Freunde, die, wie er, zur besten Gesellschaft von Paris gehörten. 469
Das Rauch- und das Spielzimmer stießen an einen Speisesaal, in dem acht Personen – eine Zahl, die niemals überschritten werden durfte – oftmals die vortreffliche Küche und den nicht minder ausgezeichneten Keller des Vicomte schätzen gelernt hatten, ehe sie mit ihm eine Partie Whist um fünf bis sechshundert Louisdor spielten oder zu den Würfeln griffen. Im ersten Stock eines kleinen Hofgebäudes wohnte Edward Patterson, der Verwalter des Marstalls St. Remys. Patterson hatte Boyer, den vertrauten Kammerdiener des Vicomte, zum Frühstück geladen. Nachdem ein sehr hübsches englisches Hausmädchen die silberne Teekanne auf den Tisch gestellt und sich wieder entfernt hatte, blieben die beiden Männer allein. Patterson war ungefähr vierzig Jahre alt, dick und rot. Er verstand sich auf Pferde so gut wie Tattersal in London und war nicht nur ein glänzender Fahrer, sondern beherrschte auch meisterhaft alle Tricks, die bei einem Rennen in Frage kamen. Wenn Patterson nicht auf dem Bock saß, glich er vollkommen einem ehrbaren englischen Gutspächter. Der Kammerdiener Boyer war ein langer, hagerer Mann mit schlichtem grauen Haar, kahler Stirn und schlauem Blick. Er sprach in gewählten Ausdrücken, besaß ein gutes Benehmen und eine gewisse literarische Bildung; seine politischen Ansichten waren konservativ und er war als Geiger ein leidlicher Quartettspieler. Von Zeit zu Zeit pflegte er aus einer mit echten Perlen besetzten goldenen Dose eine Prise zu nehmen, worauf er mit dem Rücken seiner Hand, die so tadellos gepflegt war wie die seines Herrn, die Falten seines feinen Leinenhemdes abstäubte. »Wissen Sie, lieber Patterson«, sagte Boyer, »daß Ihre Betty recht gut kocht?« »Ja, sie ist verwendbar«, sagte Patterson, der geläufig französisch sprach. – »Übrigens möchte ich Sie, da wir gerade allein sind, um einen Rat bitten.« »Ich stehe ganz zu Diensten, lieber Patterson.« »Sie wissen, daß ich mit dem Vicomte einen Vertrag habe, wonach 470
ich verpflichtet bin, für vierundzwanzigtausend Franken, mein Gehalt eingerechnet, seinen Stall vollständig zu unterhalten, d.h. acht Pferde und fünf bis sechs Stallknechte und Jungen.« »Ich weiß.« »Vier Jahre lang hat mich der Herr Vicomte pünktlich bezahlt. – In der Mitte des vorigen Jahres aber sagte er zu mir: ›Edward, ich bin Ihnen ungefähr vierundzwanzigtausend Franken schuldig. Wie hoch schätzen Sie meine Pferde und Wagen?‹ – ›Herr Vicomte, jedes der acht Pferde kann nicht unter dreitausend Franken verkauft werden, und dann ist es noch halb geschenkt. Dann sind vier Wagen da; dafür wollen wir zwölftausend Franken annehmen; es macht also im ganzen sechsunddreißigtausend Franken.‹ – ›Nun‹, fuhr der Herr Vicomte fort, ›kaufen Sie mir alles für diesen Preis ab, unter der Bedingung, daß Sie mir für die zwölftausend Franken, die über Ihre Forderung hinausgehen, Pferde, Wagen und Leute noch sechs Monate zur Verfügung stellen.‹« »Sie sind hoffentlich darauf eingegangen?« »Allerdings; in vierzehn Tagen sind die sechs Monate um, und Pferde und Wagen werden mein Eigentum.« »Ein glattes Geschäft! Wozu bedürfen Sie dann noch meines Rates?« »Was soll ich machen? Soll ich Wagen und Pferde verkaufen, weil der Herr Vicomte Paris verläßt, oder soll ich mit meinem Stall einen Pferdehandel anfangen? Wozu raten Sie mir?« »Ich rate Ihnen das, was ich an Ihrer Stelle tun würde.« »Also?« »Ich befinde mich nämlich in derselben Lage wie Sie.« »Wieso?« »Als ich hier eintrat, besaß ich ein eigenes Vermögen von etwa sechzigtausend Franken. Ich habe die Ausgaben des Haushaltes bestritten, und der Herr Vicomte bezahlte mich alle Jahre, ohne die Rechnungen anzusehen. Ungefähr um dieselbe Zeit wie Sie hatte ich eine beträchtliche Summe vorgeschossen, und der Vicomte machte mir, wie Ihnen, den Vorschlag, mir das Mobiliar zu verkaufen, 471
eingerechnet das Silberzeug, die Gemälde usw. Alles wurde mit hundertvierzigtausend Franken angesetzt; achtzigtausend Franken hatte ich ausgelegt, es blieben also noch sechzigtausend übrig, von denen ich das Essen und den Lohn der Leute bezahlen sollte, solange sie reichen würden.« »Nicht übel.« »Nach Ablauf dieses Monats…« »Ist das Mobiliar Ihr Eigentum, wie die Pferde und Wagen mein Eigentum sind.« »Richtig… Apropos, der Vicomte hatte doch geerbt.« »Eine lumpige Million«, sagte Boyer verächtlich, indem er wieder eine Prise nahm. »Diese Million ist ausgegeben, und er hat noch etwa zweihunderttausend Franken Schulden dazu gemacht. – Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich die Absicht hatte, das Haus, so wie es ist, mit Wäsche, Porzellan, Silbergeschirr und Treibhaus, an Engländer zu vermieten. Mancher Ihrer Landsleute würde es teuer bezahlt haben.« »Allerdings. Und warum tun Sie es nicht?« »Ich ziehe vor, das Mobiliar zu verkaufen. Machen Sie es, wie ich, Herr Patterson: verkaufen Sie Pferde und Wagen und lassen Sie sich nicht in Spekulationen ein! Man wird einander überbieten, um Sie, den ersten Kutscher des Vicomte von St. Remy, zu engagieren. Man sprach gestern von einem jungen Mann, einem Vetter der Herzogin von Lucenay, der mit seinem Lehrer aus Italien kommt und sich hier einrichten wird. Zweihundertfünfzigtausend Franken Rente, mein lieber Patterson! Dabei zwanzig Jahre alt und verschwenderisch, wie ein Fürst! … Ich kenne den Intendanten und kann Ihnen im Vertrauen sagen, daß er mich bereits als ersten Kammerdiener engagiert hat, – er protegiert mich, der Idiot!« Herr Boyer zuckte dabei die Achseln und nahm wieder eine Prise. »Sie hoffen, ihn zu verdrängen?« »Er ist ein Dummkopf, denn er führt mich in das Haus ein, als wenn ich nicht zu fürchten wäre! Ehe zwei Monate vergehen, bin 472
ich an seiner Stelle!« »Zweihundertfünfzigtausend Franken Rente«, wiederholte Patterson nachdenklich, – »und ein junger Mann, – das ist ein gutes Haus.« »Ich sage Ihnen, hier ist etwas zu machen. – Ich werde«, setzte Boyer ironisch hinzu, »für Sie sprechen. – Treten Sie mit ein; es ist da ein Vermögen, das gute Wurzeln hat, und von dem man lange zehren kann!« »Ich danke Ihnen, lieber Boyer und nehme Ihren Vorschlag an. Was meinen Sie, wenn ich dem jungen Herzog die Pferde und Wagen des Vicomte anböte? Sie sind in ganz Paris bekannt.« »Da könnten Sie allerdings ein glänzendes Geschäft machen.« »Warum wollen Sie ihm nicht auch das Haus anbieten, wie es steht und liegt? Er kann doch nichts Besseres finden.« »Wahrhaftig, Patterson, Sie bringen mich da auf einen herrlichen Gedanken. Wir müssen uns an den Vicomte wenden; er ist ein so guter Herr, daß er gewiß bei dem jungen Herzog für uns spricht; er kann ja sagen, daß er seine Einrichtung verkaufen wolle, weil er zur Gesandtschaft in Gerolstein ginge. Lassen Sie sehen: hundertsechzigtausend Franken für das Haus, mit Silbergeschirr und Gemälden, fünfzigtausend Franken für Wagen und Pferde, das macht so über zweihunderttausend Franken. Das ist gefunden für einen jungen Mann, der sich neu einrichten will! Es würde ihn dreimal soviel kosten, denn – das muß man gestehen – der Vicomte versteht zu leben.« »Und die Pferde!« »Und die Küche! Der Koch hat sich außerordentlich vervollkommnet, seit er hier ist.« »Der Vicomte soll übrigens auch ein ausgezeichneter Spieler sein.« »Er gewinnt die fabelhaftesten Summen mit noch größerem Gleichmut, als er sie verliert.« »Und die Weiber! Boyer, die Weiber! Sie müssen doch etwas davon erzählen können!« »Ich habe meine Geheimnisse, wie Sie die Ihrigen.« »Ich – Geheimnisse?« 473
»Hatten Sie nicht Ihre besonderen Tips, als der Vicomte seine Pferde an den Rennen teilnehmen ließ? Ich will nichts gegen die Jockeys sagen, aber man munkelte allerlei.« »Still, lieber Boyer! Ein Gentleman gefährdet nicht den Ruf eines Jockeys, bei dem er freundliches Gehör gefunden hat!« »Ebensowenig wie ein Kavalier den Ruf einer Frau gefährdet, die ihm Zugeständnisse machte; wir wollen also unsere Geheimnisse, oder vielmehr die Geheimnisse des Herrn Vicomte, bewahren, lieber Patterson.« »Was wird der Vicomte nun beginnen?« »Er wird in einem guten Reisewagen nach Deutschland fahren. O, um den Vicomte mache ich mir keine Sorgen. Er gehört zu den Menschen, die, wenn sie fallen, stets wieder auf die Beine kommen, wie man zu sagen pflegt.« »Hat er nicht noch eine Erbschaft zu erwarten?« »Nein, sein Vater ist nicht reich.« »Der Vater des Herrn Vicomte lebt noch?« »Er lebte wenigstens noch vor fünf bis sechs Monaten.« »Man sieht ihn aber niemals.« »Aus dem einfachen Grunde, weil er, seit fünfzehn Jahren, in der Provinz, in Angers lebt.« »Der Vicomte besucht ihn auch nie?« »Niemals.« »Sie haben sich also veruneinigt?« »Was ich Ihnen sage, ist kein Geheimnis, denn ich weiß es von dem ehemaligen Vertrauten des Fürsten von Noirmont.« »Des Vaters der Herzogin von Lucenay?« fragte Patterson, mit einem bedeutungsvollen Blicke, den aber Boyer nicht beachtete. Er fuhr vielmehr ganz ruhig fort: »Die Herzogin von Lucenay ist in der Tat die Tochter des Fürsten von Noirmont. Der Vater des Vicomte war der vertraute Freund des Fürsten. Er ist, trotz seiner sechzig Jahre, ein Mann von Löwenmut und von großer, für heutige Begriffe beinahe unwahrscheinlicher, Rechtschaffenheit. – Er besaß fast nichts und hatte aus Lie474
be ein ziemlich reiches Mädchen geheiratet, das die Million besaß, die dem Herrn Vicomte durch die Finger geronnen ist.« Herr Boyer verneigte sich bei dem Worte ›Million‹, und Patterson folgte seinem Beispiel. »Die Ehe war sehr glücklich bis zu dem Augenblick, in dem der Vater des Vicomte zufällig, wie man sagt, Briefe fand, die klar bewiesen, daß seine Frau, drei oder vier Jahre nach ihrer Verheiratung, mit einem polnischen Grafen ein Liebesverhältnis unterhalten hatte.« »Die Polen haben Glück. Als ich bei dem Marquis von Senneval war, fand man die Frau Marquise…« »Sie sollten, mein lieber Patterson, wissen, wie unsere großen Familien verwandt sind, ehe Sie sprechen; sonst setzen Sie sich Unannehmlichkeiten aus.« »Wieso?« »Die Marquise von Senneval ist die Schwester des Herzogs von Montbrison, in dessen Dienste Sie zu treten wünschen.« »Verdammt!« »Weiter. Der Vater des Vicomte entdeckte also, daß er sich über einen polnischen Grafen zu beklagen hatte. Glücklicher- oder unglücklicherweise war der Herr Vicomte neun Monate nach der Entdeckung zur Welt gekommen. Trotzdem trennte sich der Graf sofort von seiner Frau und zog sich, mit etwa achtzigtausend Franken, die er besaß, in die Provinz zurück. Obgleich die Beleidigung bereits lange vor ihrer Entdeckung geschehen, also eigentlich Verjährung eingetreten war, machte sich der Graf doch auf, um den Verführer zu suchen. Nach anderthalb Jahren traf er ihn in Venedig.« »Und?« »Nun, es kam zu einem Duell, in dem der Pole auf dem Platze blieb.« »Ein Mann von Eisen!« »Der Graf kam nach Paris zurück, ging zu seiner Frau, erzählte ihr, daß er den Polen getötet habe und entfernte sich wieder. Seit475
dem hat er weder sie noch seinen Sohn gesehen und sich nach Angers zurückgezogen; dort soll er, wie ein Werwolf, von den Resten der achtzigtausend Franken leben. In Angers verkehrt er nur mit der Frau und der Tochter seines Verwandten von Fermont, der seit einigen Jahren tot ist. Übrigens hat diese Familie Unglück gehabt, denn der Bruder der Frau von Fermont soll sich vor einigen Monaten erschossen haben.« »Und die Mutter des Vicomte?« »Er hat sie längst verloren. Nachdem er mündig geworden war, erhielt er das Vermögen ausbezahlt. Sie sehen also, lieber Patterson, daß der Herr Vicomte von seinem Vater wenig oder nichts zu erwarten hat.« Das Gespräch wurde durch den Eintritt eines riesenhaften, sorgfältig gepuderten Lakaien unterbrochen. »Herr Boyer, der Herr Vicomte hat bereits zweimal geklingelt«, sagte der Riese. Boyer schien außer sich über diesen Mangel an Aufmerksamkeit zu sein, stand sofort auf und folgte dem Rufer so ehrerbietig, als wäre er nicht der Eigentümer des Hauses seines Herrn gewesen.
XCIX
U
ngefähr zwei Stunden nachdem Boyer seinen Freund Patterson verlassen und sich zu Herrn von St. Remy begeben hatte, klopfte der Vater des Vicomte an der Haustüre in der Rue Chaillot. Der Graf von St. Remy war ein hochgewachsener und, trotz seines Alters, noch kräftiger Mann; die fast kupferrote Farbe seines Gesichts stach seltsam von der blendenden Weiße seines Bartes ab; seine dichten Brauen bedeckten stechende, tief in den Höhlen liegende Augen. Obgleich er fast ärmlich gekleidet war, lag doch in seinem 476
Wesen etwas Achtunggebietendes. Die Türe wurde geöffnet, und er trat ein. Ein Portier in Livree, gepudert und mit seidenen Strümpfen, erschien auf der Schwelle. »Herr von St. Remy?« fragte der Graf kurz. Statt zu antworten, betrachtete der Portier verächtlich den abgeschabten Rock des Unbekannten, der einen dicken Rohrstock in der Hand hielt. »Herr von St. Remy?« fragte der Graf nochmals. »Der Herr Vicomte ist nicht zugegen.« Nach diesen Worten forderte der Portier den Unbekannten mit einer vielsagenden Gebärde auf, sich zu entfernen. »Ich werde warten«, sagte der Graf. Und trat näher. »He! Guter Mann, so tritt man nicht in die Häuser ein«, rief der Portier, indem er dem Grafen nachlief und ihn am Arm faßte. »Mensch!« antwortete der Alte, indem er den Stock hob. »Du wagst, mich anzurühren?« »Ich werde noch mehr wagen, wenn Sie nicht augenblicklich das Haus verlassen. Ich habe Ihnen gesagt, daß der Herr Vicomte nicht anwesend ist; also entfernen Sie sich!« In diesem Augenblick erschien Boyer, der den Lärm gehört hatte. »Was bedeutet das?« fragte er. »Herr Boyer, dieser Mann will durchaus herein, obgleich ich ihm gesagt habe, daß der Herr Vicomte nicht zu Hause sei.« »Machen wir der Sache ein Ende«, sagte der Graf, indem er sich an Boyer wandte; »ich will mit meinem Sohne sprechen; wenn er ausgegangen ist, so warte ich.« Boyer zweifelte keinen Augenblick an der Identität des Grafen, verbeugte sich ehrerbietig und antwortete: »Wenn der Herr Graf mir folgen will, stehe ich zu Diensten.« »Gehen Sie voran«, antwortete Herr von St. Remy. Sein Führer, der mit ihm durch das Arbeitszimmer Florestans von 477
St. Remy gegangen war, geleitete ihn in ein Zimmer, das sich unmittelbar über dem Boudoir im Erdgeschoß befand. »Der Herr Vicomte mußte leider schon früh ausgehen«, sagte Boyer; »er wird aber bald zurückkommen.« Der Kammerdiener verschwand. Als der Graf allein war, sah er sich gleichgültig um; mit einemmal fuhr er heftig zurück, und Zorn sprühte aus seinen Augen. Er hatte das Porträt seiner Frau, der Mutter Florestans, erblickt. Er schlug die Arme über der Brust zusammen, ließ den Kopf sinken, gleichsam um das Bild nicht mehr zu sehen, und ging mit großen Schritten auf und ab. Dann schob er den Vorhang, der das Zimmer von dem Arbeitszimmer Florestans trennte, zurück und trat dort ein. Er war eben darin verschwunden, als eine geheime Türe leise geöffnet wurde und die Herzogin von Lucenay, in einem großen Kaschmirschal eingehüllt, in dem Zimmer erschien, das der Graf verlassen hatte. Die Herzogin sah sich suchend um und war im Begriff, ihren Geliebten in seinem Arbeitszimmer zu überraschen, als die Vorhänge auseinandergeschlagen wurden und sie vor dem Vater Florestans stand. »Clotilde!« rief der Graf verwundert aus. Herr von St. Remy, der ein vertrauter Freund des Fürsten von Noirmont, des Vaters der Herzogin von Lucenay, gewesen war und diese als Kind gekannt hatte, hatte sie, wie sonst, vertraulich bei ihrem Taufnamen genannt. Die Herzogin blieb unbeweglich stehen und betrachtete überrascht den armselig gekleideten, alten Mann, dessen Züge ihr im ersten Augenblick fremd waren. »Sie, Clotilde«, wiederholte der Graf schmerzlich, »Sie, hier, bei meinem Sohne!« »Herr Graf!« Die Herzogin verschmähte es, ihre Zuflucht zu einer Lüge zu nehmen. Sie reichte dem Alten die Hand und sagte herzlich: »Schelten Sie mich nicht; Sie sind ja mein ältester Freund!« »Dennoch, Clotilde…« 478
»Sie kennen doch meinen Wahlspruch: Was ist, ist – und was geschehen soll, geschieht…« »Ich denke an die Freundschaft, die mich mit Ihrem Vater verband. Sonst…« »Ach ja«, unterbrach ihn die Herzogin, »er liebte Sie sehr! Erinnern Sie sich? – Er nannte Sie immer den Mann mit den grünen Bändern… Sie sagten zu ihm: Sie verziehen Clotilde, und er antwortete: Ich glaube es selbst, aber ich muß meine Zärtlichkeit verdoppeln, denn bald wird die Welt sie mir entreißen…« Obwohl der Graf den Charakter der Herzogin kannte, so überraschte ihn doch die Leichtfertigkeit, mit der sie über den Umstand hinwegging, bei ihrem Geliebten dessen Vater zu begegnen. »Wenn Sie schon lange in Paris sind«, fuhr die Herzogin von Lucenay fort, »ist es unrecht von Ihnen, daß Sie mich nicht besucht haben.« Herr von St. Remy tat, als überhöre er diese Worte und sagte: »Mein Sohn kann jeden Augenblick zurückkommen.« »Nein«, entgegnete Clotilde, »man meldet seine Ankunft stets durch ein Klingelzeichen; höre ich es, so werde ich so geheimnisvoll verschwinden, wie ich gekommen bin und Sie in Ihrer Freude nicht stören, Florestan wiederzusehen. Wie werden Sie ihn überraschen! Sie haben ihn ja so lange nicht gesehen! Ich hätte Ihnen eigentlich Vorwürfe zu machen…« »Mir, Vorwürfe?« »Gewiß. Welche Stütze hatte er an Ihnen bei seinem Eintritt ins Leben? Und der Rat eines Vaters ist in so vielen Fällen nicht zu entbehren. Aufrichtig, es war sehr unrecht von Ihnen…« Die Herzogin unterbrach sich durch ein herzliches Lachen und sagte dann: »Ist es nicht pikant, daß ich Ihnen hier gute Lehren gebe.« »Ja, das ist allerdings pikant, aber ich verdiene weder Ihre Vorwürfe noch Ihr Lob. – Ich suche meinen Sohn nicht seinetwegen auf. In seinem Alter braucht er meinen Rat nicht mehr.« »Himmel, so feierlich!« 479
»Sie müßten wissen, wie mir Paris zuwider ist«, sprach der Graf. »Es konnten mich deshalb nur Umstände von der größten Wichtigkeit veranlassen, hierher – in dieses Haus – zu kommen. Aber ich mußte meinen Widerwillen niederkämpfen und mich an alle Personen wenden, die mir bei gewissen, höchst wichtigen Nachforschungen behilflich sein können.« »O, in diesem Falle«, fiel die Herzogin ein, »verfügen Sie ganz über mich, wenn ich Ihnen irgendwie dienen kann!« »Ich schlage Ihre Unterstützung nicht aus, obgleich…« »Wir sind Leute von Welt und wollen uns als solche benehmen! Ob wir hier sind oder anderswo, das wird von keiner Bedeutung für die Sache sein, für die Sie sich interessieren, und für die ich mich nun auch außerordentlich interessiere, weil sie die Ihrige ist. Lassen Sie uns also davon reden und von anderen Dingen schweigen!« Bei diesen Worten trat die Herzogin an den Kamin, stützte sich leicht mit dem Arm auf und ließ den schönsten Fuß von der Welt sehen. Sie ergriff so, mit vollkommenem Takt, die Gelegenheit, nicht mehr von dem Vicomte zu sprechen und sich mit dem Grafen über einen Gegenstand zu unterhalten, der für ihn von großer Wichtigkeit zu sein schien. Herr von St. Remy konnte sich der Einwirkung der herzlichen Anmut dieser Frau nicht entziehen, die er als Kind gekannt und geliebt hatte. »Sie wissen vielleicht nicht, Clotilde«, sagte er, »daß ich seit langer Zeit in Angers wohne?« »Ich weiß es.« »Ich hatte diese Stadt gewählt, weil dort einer meiner Verwandten wohnte, Herr von Fermont, der bei dem schrecklichen Unglück, das mich betraf, wie ein Bruder an mir gehandelt hat.« »Mein Vater hat mir alles erzählt«, entgegnete die Herzogin; »aber zum Glück weiß Florestan ebensowenig von Ihrem Duell, wie von seiner Veranlassung.« »Ich wollte ihm die Achtung für seine Mutter nicht rauben«, ant480
wortete der Graf, der einen Seufzer unterdrückte und dann fortfuhr: »Nach einigen Jahren starb Fermont in Angers in meinen Armen und hinterließ eine Tochter und eine Frau, die ich, trotz meinem Menschenhaß lieben mußte, weil es in der Welt nichts Reineres geben kann als diese beiden Wesen. Ich wohnte allein in einer entlegenen Vorstadt, besuchte aber zuweilen Frau von Fermont, um mit ihr und ihrer Tochter von dem zu sprechen, den wir verloren hatten. Der Bruder der Frau von Fermont wohnte in Paris; er besorgte alle Geschäfte seiner Schwester nach dem Tode ihres Mannes und legte das ganze Vermögen der Witwe bei einem Notar an. Nach einiger Zeit traf Frau von Fermont ein neues Unglück: ihr Bruder nahm sich das Leben. Ich tröstete sie, so gut ich es vermochte. Nachdem ihr erster Schmerz sich beruhigt hatte, reiste sie nach Paris, um ihre Angelegenheiten zu ordnen. Nach einiger Zeit erfuhr ich, daß man das bescheidene Mobiliar in dem Hause, das sie in Angers gemietet hatte, verkaufte und von dem Erlös Schulden bezahlte, die sie zurückgelassen hatte. Dieser Umstand beunruhigte mich. Ich erkundigte mich und erfuhr, die unglückliche Frau befände sich mit ihrer Tochter in großer Not. Wenn Frau von Fermont auf jemand rechnen konnte, so war ich es; aber ich erhielt keine Nachricht von ihr. Ihr Mann war mir ein Bruder; ich mußte sie also ausfindig machen und erfahren, warum sie sich in ihrem Unglück nicht an mich wandte, so arm ich auch bin. Ich reiste hierher und ließ in Angers jemand zurück, der mir Nachricht geben sollte…« »Nun?« »Erst gestern habe ich einen Brief erhalten. Man weiß nichts! Sobald ich hier ankam, begann ich mit meinen Nachforschungen. – Zuerst begab ich mich in die Wohnung des verstorbenen Bruders. Dort sagte man mir, Frau von Fermont wohne am Kai Saint Martin.« »Und dort?« »Dort hat sie allerdings gewohnt, aber man kannte ihre neue Wohnung nicht. Leider sind alle meine Nachforschungen bisher vergeblich gewesen. Nach tausend nutzlosen Versuchen entschloß ich mich, 481
hierher zu gehen. Vielleicht hat sich Frau von Fermont, die, aus einem mir unerklärlichen Grunde, mich nicht um Hilfe ersucht hat, an meinen Sohn gewendet.« Die Herzogin von Lucenay, die mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört hatte, sagte plötzlich: »Es wäre wirklich sonderbar, wenn das dieselben Damen sein sollten, für die sich Frau von Harville interessiert.« »Erzählen Sie!« »Die Witwe, von der Sie sprechen, ist noch jung, nicht wahr?« »Allerdings…« »Ihre Tochter, die schön ist, wie ein Engel, ist etwa sechzehn Jahre alt…« »Ja…« »Und heißt Klara?« »Ach, um aller Barmherzigkeit willen, sagen Sie mir, wo ich sie finde.« »Das weiß ich leider nicht.« »Aber Sie wußten doch…« »Ich will Ihnen erzählen, was geschehen ist. Eine Freundin, Frau von Harville, kam zu mir, um mich zu fragen, ob ich eine Witwe kenne, deren Tochter Klara heiße und deren Bruder sich erschossen habe. Frau von Harville wandte sich an mich, weil sie auf dem Konzept eines Briefes an eine unbekannte Person die Worte gelesen hatte: ›An die Herzogin von Lucenay zu schreiben.‹« »Sie wollte an Sie schreiben, – warum?« »Das weiß ich nicht; ich kenne sie überhaupt nicht.« »Aber sie kennt Sie!« rief Herr von St. Remy, dem ein Gedanke durch den Kopf schoß. »Sie glauben?« »Sie hat mich hundertmal von Ihrem Vater, von Ihnen, von Ihrem vortrefflichen Herzen sprechen hören und wird sich, in ihrem Unglück, entschlossen haben, sich an Sie zu wenden.« »So ließe es sich allerdings erklären.« »Wie aber war Frau von Harville in den Besitz des Briefkonzepts 482
gekommen?« »Das weiß ich auch nicht. Ich weiß nichts weiter, als daß sie auf der Spur der Unglücklichen war, sie aber noch nicht hat ausfindig machen können.« »So ersuche ich Sie, Clotilde, mich bei Frau von Harville einzuführen; ich muß sie noch heute sehen!« »Das ist nicht möglich. – Ihr Gatte ist vor einigen Tagen ums Leben gekommen.« »Und die Marquise…?« »Die Marquise ist sogleich abgereist, um die erste Zeit ihrer Trauer bei ihrem Vater in der Normandie zu verbringen.« »Clotilde, ich beschwöre Sie, schreiben Sie ihr noch heute! Da sie sich für die Arme interessiert, so sagen Sie ihr, daß sie keinen eifrigeren Beistand finden könnte als mich. Mein einziger Wunsch ist, die Witwe meines Freundes zu finden und mit ihr und ihrer Tochter das wenige zu teilen, was ich besitze.« »Sie sind noch immer so aufopfernd wie einst! Rechnen Sie auf mich; ich werde noch heute schreiben! Und wohin sende ich meine Antwort?« »Nach Asnières, postlagernd.« »Warum wohnen Sie dort und nicht in Paris?« »Ich hasse Paris. Mein ehemaliger Arzt, Dr. Griffon, mit dem ich in Briefwechsel geblieben bin, besitzt ein kleines Landhaus bei Asnières; im Winter wohnt er nicht dort und bot es mir an. Ich kann, wenn ich will, dort ganz allein sein.« »Übrigens kann ich Ihnen schon jetzt eine Nachricht geben, die Ihnen vielleicht nützlich ist und die ich Frau von Harville verdanke. Das Unglück von Frau Fermont ist durch den Betrug des Notars herbeigeführt worden, dem ihr ganzes Vermögen anvertraut worden war. Der Notar hat bestritten, das Geld erhalten zu haben.« »Wie heißt der Schurke?« »Jacob Ferrand«, antwortete die Herzogin lachend. »Wie sonderbar Sie doch sind, Clotilde! Das ist alles sehr ernst und traurig, und Sie lachen!« 483
Die Herzogin hatte sich der Liebeserklärung des Notars erinnert und dabei ihre Lachlust nicht unterdrücken können. »Verzeihen Sie mir«, sagte sie, »ich lache, weil dieser Notar ein sehr sonderbarer Mensch ist. Vermutlich auch ein großer Sünder.« »Und er wohnt?« »Rue du Sentier.« »Ich werde ihn aufsuchen. – Das, was Sie mir von ihm sagen, stimmt mit gewissen Mutmaßungen überein.« »Welcher Art?« »Nach Erkundigungen, die ich über den Tod des Bruders meiner armen Freundin eingezogen habe, bin ich fast versucht, zu glauben, der Unglückliche habe sich nicht selbst getötet, sondern sei ermordet worden!« »Großer Gott…« »Aber ich muß Sie jetzt verlassen. – Vergessen Sie nicht, was Sie mir versprochen haben!« »Sie wollen gehen, ohne Florestan gesehen zu haben?« »Wissen Sie nicht –?« »Ich weiß, daß Ihr Sohn Ihres Rates nie mehr bedurft hätte als jetzt.« »Wieso? Ist er nicht glücklich?« »Ja, aber er kennt die Menschen nicht. Er gibt blindlings mit vollen Händen, weil er edel und freigebig ist, und ich fürchte sehr, man mißbraucht seine Güte. – Ich habe nie gewagt, ihm wegen seiner Ausgaben Vorwürfe zu machen, weil ich wenigstens ebenso viele Vorwürfe verdiene, wie er. Sie aber könnten recht wohl…« Die Herzogin konnte nicht vollenden. Man hörte die Stimme Florestans. Er trat rasch ins Nebenzimmer ein und sagte, nachdem er die Türe zugeworfen hatte: »Ich sage Ihnen aber, es ist nicht möglich.« »Und ich wiederhole Ihnen«, antwortete die helle Stimme Badinots, »daß Sie vor vier Uhr verhaftet werden; denn wenn das Geld nicht bald eintrifft, wird unser Mann Klage einreichen, und Sie wis484
sen, was eine solche Fälschung zu bedeuten hat. – Sie kommen auf die Galeeren, mein armer Vicomte.«
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ls der Graf diese Worte hörte, wurde er totenbleich und drohte umzusinken. Dann raffte er sich mit gewaltiger Anstrengung zusammen, ging auf die Türe zu und machte eine so wilddrohende Gebärde, daß die Herzogin seine Hand ergriff, ihn zurückhielt und leise, im Tone der innigsten Überzeugung, zu ihm sagte: »Er ist unschuldig, ich schwöre es Ihnen!« Der Graf blieb stehen. Er wollte glauben, was die Herzogin sagte. Diese war wirklich von der Unantastbarkeit Florestans überzeugt. Um neue Opfer von dieser ihm so blindlings ergebenen Frau zu erlangen, hatte der Vicomte der Herzogin versichert, er sei betrogen worden, habe als Bezahlung einen falschen Wechsel erhalten und sich der Gefahr ausgesetzt, als Mitschuldiger angeklagt zu werden, da er ihn wieder ausgegeben habe. Die Herzogin wußte, daß der Vicomte verschwenderisch war, aber nie würde sie ihn einer Ehrlosigkeit für fähig gehalten haben. Sie hatte ihm zweimal, unter schwierigen Umständen, bedeutende Summen geliehen, um ihm einen Freundschaftsdienst zu leisten und hatte dabei keineswegs daran gedacht, zu prüfen, ob er die Schuld werde abtragen können. Er behauptete es, und sie zweifelte nicht daran. Die Herzogin glaubte, als sie sich für die Ehre Florestans verbürgte, es würde von dem Wechselschwindel die Rede sein, dessen Opfer der Vicomte angeblich geworden war. »Noch einmal«, sagte Florestan mit bebender Stimme, »dieser Pe485
tit-Jean ist ein ehrloser Mensch; er gab mir die Versicherung, daß er keine anderen Wechsel habe als die, die ich von ihm zurückgenommen habe. Der vorliegende war, meiner Meinung nach, in Umlauf und erst in drei Monaten in London fällig.« »Ja, ja«, entgegnete die helle Stimme Badinots, »ich weiß, mein lieber Vicomte, daß Sie Ihre Angelegenheit klug genug berechnet hatten; Ihre Fälschungen sollen erst ans Licht kommen, wenn Sie abgereist sein würden. Andere Leute sind aber auch schlau!« »Das müssen Sie sagen!« rief Florestan wütend aus; »haben Sie mich nicht selbst mit dem Mann bekannt gemacht, der mir die Wechsel abgekauft hat?« »Nur ruhig, Verehrtester«, antwortete Badinot kalt. »Sie fälschen die Unterschriften vortrefflich; das muß Ihnen der Neid lassen, aber es ist kein Grund, Ihre Freunde mit einer unangebrachten Vertraulichkeit zu behandeln. – Wenn Sie wieder aufbrausen, gehe ich fort und überlasse es Ihnen, wie Sie sich aus der Affäre ziehen wollen.« »Glauben Sie, daß man in einer solchen Lage ruhig bleiben kann? Wenn es wahr ist, was Sie mir da sagen, wenn die Klage heute eingereicht werden soll, bin ich verloren.« »Das sage ich ja auch, es sei denn, daß Sie sich noch einmal an Ihre reizende Vorsehung mit den schönen, blauen Augen wenden.« »Das geht nicht.« »So fügen Sie sich in Ihr Schicksal! – Es ist schade! Wegen lumpiger fünfundzwanzigtausend Franken nach Toulon wandern zu müssen, ist unbegabt. Wie kann sich ein sonst so gewandter Mann so in die Enge treiben lassen!« »Mein Gott, was soll ich tun? Nichts von allem hier ist mein Eigentum, ich besitze nicht zwanzig Louisdor…« »Ihre Freunde?« »Allen, die mir borgen könnten, bin ich schon Geld schuldig. Halten Sie mich für so dumm, daß ich bis heute gewartet hätte, wenn ich mich noch an sie wenden könnte?« »Sie sagten mir vor zwei Monaten: ich habe für hundertdrei486
zehntausend Franken langsichtige Wechsel auf verschiedene Bankiers, lieber Badinot; sehen Sie zu, wie ich sie unterbringe.« »Nun?« »Warten Sie nur. – Ich verlangte die Papiere zu sehen. Eine Ahnung sagte mir, daß sie falsch wären, obgleich die Fälschung hervorragend war. – In Ihnen selbst suchte ich allerdings das kalligraphische Talent nicht; da ich aber Ihr Vermögen verwalte, seit Sie keins mehr haben, so wußte ich, daß Sie vollkommen ruiniert sind. Ich durfte mich also wundern, als ich Sie im Besitze so bedeutender Wechsel sah, he?« »Verschonen Sie mich und kommen Sie zur Sache!« »Sogleich. – Ich bin zu schüchtern, um mich direkt in Geschäfte solcher Art zu mischen und verwies Sie deshalb an einen Dritten, der ebenso hell sah, wie ich und den Streich erriet, den Sie ihm spielen wollten…« »Das ist nicht möglich! Er würde die Papiere nicht diskontiert haben, wenn er sie für falsch gehalten hätte.« »Wieviel hat er Ihnen auf diese hundertdreizehntausend Franken bar gegeben?« »Fünfundzwanzigtausend Franken bar, das übrige in Kreditbriefen.« »Und was haben Ihnen diese Kreditbriefe eingebracht?« »Nichts, Sie wissen es ja; aber er wagte doch immer fünfundzwanzigtausend Franken.« »O, wie naiv Sie sind, mein lieber Vicomte! Da ich von Ihnen meine Kommission zu erhalten hatte, wenn das Geschäft gelang, hütete ich mich wohl, einem Dritten zu sagen, wie es mit Ihrem Vermögen stehe; er hielt Sie also noch immer für reich genug und wußte vor allem, daß Sie von einer außerordentlich reichen Dame geliebt wurden, die Sie schwerlich im Stich lassen würde. Er war demnach so ziemlich sicher, und er hat richtig gerechnet. Denn Sie haben ihm hunderttausend Franken bezahlt, um den falschen Wechsel über achtundfünfzigtausend Franken zurück zu erhalten und gestern dreißigtausend für den zweiten. – Wo haben Sie gestern die drei487
ßigtausend Franken hergenommen? Der Teufel soll mich holen, wenn ich das errate! … Sie sehen also, daß Petit-Jean, wenn er Sie zwingt, auch den letzten Wechsel über fünfundzwanzigtausend Franken zu bezahlen, von Ihnen hundertfünfundfünfzigtausend Franken erhalten hat für die fünfundzwanzigtausend, die er Ihnen gegeben hat. Er war also noch klüger als Sie.« »Aber warum sagte er mir, dieser letzte Wechsel sei verkauft?« »Um Sie nicht zu erschrecken.« »Der Schuft!« »Hören sie mich an: jeder ist sich selbst der Nächste, sagt ein berühmter Rechtsgelehrter, dessen Ausspruch ich sehr bewundere… Petit-Jean spekuliert, nach meiner Überzeugung, auf den letzten Wechsel, weil er damit rechnet, daß Ihre Freunde Sie nicht vor die Assisen stellen lassen. Ihre Sache ist es, zu prüfen, ob aus den Freundschaften nicht noch etwas herauszupressen ist, denn wenn Sie die fünfundzwanzigtausend Franken nicht binnen drei Stunden haben, so werden Sie unfehlbar eingesteckt!« »Sie wiederholen mir das in einer peinlichen Weise.« »Weil Sie endlich einsehen müssen, daß es nötig ist, dem Flügel der freigebigen Herzogin noch eine Feder auszurupfen.« »Ich wiederhole Ihnen, daß daran nicht zu denken ist. Es wäre eine Torheit, zu hoffen, sie würde, nach den Opfern, die sie bereits gebracht hat, binnen drei Stunden noch fünfundzwanzigtausend Franken herbeischaffen können.« »Um Ihnen gefällig zu sein, glücklicher Sterblicher, versucht man das Unmöglichste!« »Sie hat es schon versucht… Hören Sie, lieber Badinot, Sie haben sich bisher nicht über mich zu beklagen gehabt, – ich bin immer freigebig gewesen – suchen Sie von dem niederträchtigen Petit-Jean einen Aufschub zu erlangen. Ist diese letzte Geschichte beseitigt, so nehme ich einen neuen Aufschwung, und Sie sollen mit mir zufrieden sein!« »Petit-Jean ist so unerbittlich, wie Sie jetzt unvernünftig sind.« »Wieso?« 488
»Suchen Sie nur Ihre edle Freundin für Ihr trauriges Schicksal zu interessieren. – Sagen Sie ihr geradezu, wie die Sachen stehen; nicht, daß Sie von Fälschern betrogen worden, sondern daß Sie selbst der Fälscher sind!« »Ein solches Geständnis wäre eine Schande, und es käme nichts dabei heraus!« »Also Sie ziehen vor, daß sie die Sache durch die Zeitung erfährt?« »Ich habe noch drei Stunden Zeit und kann fliehen –« »Wohin … ohne Geld? Bedenken Sie dagegen: wenn Sie den letzten falschen Wechsel wieder in Ihren Händen haben, befinden Sie sich in einer ganz vortrefflichen Lage! Versprechen Sie mir also, noch einmal mit der Herzogin zu reden. Versprechen Sie mir, Ihre schöne Freundin zu besuchen; ich eile zu Petit-Jean und will alles aufbieten, um einen Aufschub von zwei oder drei Stunden zu erlangen.« »Ich muß den Kelch bis auf die Neige leeren!« »Ich wünsche viel Glück! Tun Sie recht zärtlich, recht leidenschaftlich! Ich eile zu Petit-Jean, und Sie werden mich bis drei Uhr dort finden…« Badinot entfernte sich. Der Graf warf einen vernichtenden Blick auf die Herzogin, als ob er sagen wollte: »Das ist der Mann, um dessentwillen Sie der Schande getrotzt und alle Opfer gebracht haben…« Die Herzogin senkte den Kopf. Die Lehre, die sie empfing, war hart genug. Aber bald richtete sie sich stolz auf, sah den alten Vater mitleidsvoll an und sagte: »Mut, alter Freund! Ich weiß, was mir zu tun übrigbleibt – für Sie, für mich und für diesen Mann.« Der Alte vergaß, daß sein Sohn ihn hören konnte und erwiderte mit lauter Stimme: »Ich weiß auch, was mir zu tun übrigbleibt!« »Wer ist da?« fragte Florestan überrascht. 489
Die Herzogin, die mit dem Vicomte zusammenzutreffen fürchtete, verschwand durch die kleine Türe und eilte auf der geheimen Treppe hinunter. Florestan trat, da er keine Antwort empfing, ins Zimmer. »Was wollen Sie hier? Wer sind Sie?« fuhr er seinen Vater an, den er nicht erkannte. »Ich bin der Mann dieser Frau!« antwortete der Graf, indem er auf das Porträt der Frau von St. Remy deutete. »Vater!« rief Florestan aus, indem er erschrocken zurückwich. Der Graf stand da, mit flammendem Blick, die Stirn vom Zorn gerötet, das weiße Haar zurückgeworfen, die Arme auf der Brust gekreuzt. Florestan wagte kaum die Augen zu ihm aufzuschlagen. »Vater!« wiederholte er, mit bebender Stimme; »Sie waren hier?« »Ich war hier!« »Sie haben gehört?« »Alles.« »Ach!!« rief der Vicomte schmerzlich aus, indem er das Gesicht mit den Händen bedeckte. Dann gab er seinen Zügen einen Ausdruck schmerzlicher Niedergeschlagenheit, vergoß Tränen der Reue und rief, indem er die Hände mit einer verzweiflungsvollen Gebärde faltete: »Ach, Vater, wie unglücklich bin ich! – Nach so vielen Jahren Sie in einem solchen Augenblick wiederzusehen. – Hören Sie mich an, ich beschwöre Sie; erlauben Sie mir, Ihnen mein Verhalten zu erklären. – Darf ich es, Vater?« Der Graf antwortete nicht; er setzte sich auf einen Sessel, stützte das Kinn in die Hand und sah den Vicomte schweigend an. Hätte Florestan die Beweggründe gekannt, welche die Seele seines Vaters mit Haß, Zorn und Rache erfüllten, er würde, erschrocken über die scheinbare Ruhe des Grafen, gewiß nicht versucht haben, ihn irrezuführen. Da er aber von dem Fehltritt seiner Mutter nichts wußte, so zweifelte Florestan nicht an dem Erfolg seiner Lügen. Er glaubte, er habe nur das Herz eines Vaters zu erweichen, der sich gewiß lieber zu 490
den äußersten Opfern entschließen, als seinen Namen entehren lassen würde. »Vater«, begann Florestan sanft, »erlauben Sie mir, daß ich versuche, Ihnen zu erklären, durch welche Verkettung von Umständen ich, gegen meinen Willen, zu – ich gestehe es – ehrlosen Handlungen getrieben worden bin.« Der Vicomte hielt das Schweigen seines Vaters für Zustimmung und fuhr fort: »Als ich das Unglück hatte, meine Mutter zu verlieren, war ich erst zwanzig Jahre alt. Ich stand allein in der Welt, ohne Rat, ohne Stütze. – Im Besitz eines bedeutenden Vermögens, warf ich das Geld ahnungslos hin. – Der erste Erfolg berauschte mich; ich wurde ein Mann des Luxus, wie man Soldat, wie man Staatsmann wird. Ich liebte den Luxus, wie der Maler die Kunst liebt, und wie jeder Künstler war ich eifersüchtig auf mein Werk. Ich opferte ihm alles. – Mein Leben sollte gleichsam ein Vorbild des Geschmacks und der Eleganz sein. Als Künstler war ich begierig auf eine Bewunderung der Auserwählten, und ich erlangte diesen so seltenen Erfolg.« Der Vicomte fuhr, mit wachsender Erregung, fort: »Ich war das Orakel der Mode; mein Tadel oder mein Lob galt als Gesetz; ich wurde überall genannt, gerühmt, bewundert und war, was man den König der Salons nennt. Dieses Wort wird Ihnen alles sagen, wenn Sie es verstehen.« »Ich verstehe es und bin überzeugt, daß du im Bagno irgendeine raffinierte Eleganz in der Art, die Kette zu tragen, erfinden würdest; diese würde Mode unter den Sträflingen werden und à la St. Remy heißen«, entgegnete der Alte mit schneidender Ironie; dann setzte er hinzu: »und St. Remy ist mein Name!« Er schwieg. Florestan mußte seine ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um die Wunde nicht zu zeigen, die ihm dieser schneidende Hohn geschlagen hatte. Er setzte, in demütigerem Tone, hinzu: »Ach, Vater, nicht aus Stolz erinnere ich Sie an diese Erfolge, denn 491
sie haben mich ins Unglück gestürzt. – Ich rechnete nicht mehr, und es war mir auch gleichgültig, ob mein Vermögen in wenigen Jahren verschwendet war. Konnte ich dem Leben entsagen, in dem Genüsse auf Genüsse, Feste auf Feste folgten? Ach, wenn Sie wüßten, Vater, was es heißt, überall als Held des Tages zu gelten, das Gemurmel zu vernehmen, wenn man in einen Salon tritt, die Diener sagen zu hören: ›Da ist er!‹ Wenn Sie das wüßten…« »Ich weiß es«, entgegnete der Alte, ohne seine Stellung zu verändern. »Letzthin waren auf einem öffentlichen Platze viele Menschen versammelt; mit einem Male hörte man ein Gemurmel, gleich dem, das dich empfing, die Frauen sahen nach einem sehr hübschen Burschen hin, wie sie auf dich sahen, sie zeigten ihn einander und sagten, da ist er! Immer, als wenn von dir die Rede gewesen wäre.« »Und dieser Mann, Vater…?« »War ein Fälscher, den man an den Pranger stellte.« »Ach, Vater, Sie sind unbarmherzig. Was soll ich Ihnen noch sagen? Ich suche mein Vergehen nicht zu leugnen, ich will nur erklären, wie ich dazu gekommen bin. Und wenn Sie mich mit blutiger Ironie zu Boden drücken, ich werde meine Beichte zu Ende bringen und Ihnen die Gründe begreiflich zu machen suchen, die mich ins Verderben gestürzt haben, weil Sie mich dann vielleicht beklagen. Ja, man beklagt einen Wahnsinnigen, und ich war ein Wahnsinniger…! Konnte ich mich zurückhalten? – Nein, ich konnte den Königsthron nicht verlassen, auf den man mich gehoben hatte, ich konnte unmöglich, mit Scham bedeckt, verarmt, verspottet zum unbekannten Pöbel zurücktreten, unmöglich meinen Neidern, die ich bis dahin herausgefordert, zermalmt hatte, diesen Triumph gönnen! Nein, nein, ich konnte es nicht! Da kam der Tag, an dem es mir zum ersten Male an Geld fehlte. Ich besaß jedoch noch meine Pferde, meine Wagen, das Mobiliar dieses Hauses. Nach Bezahlung meiner Schulden wären mir vielleicht sechzigtausend Franken geblieben. Was konnte ich da anfangen? Da, Vater, tat ich den ersten Schritt…« »Ah, wirklich?« 492
Florestan hielt es für nötig, einen Theatercoup zu versuchen. Er öffnete einen Sekretär, nahm ein grünliches Glasfläschchen heraus und sagte, indem er es auf den Kamin stellte: »Ein italienischer Scharlatan verkaufte mir dieses Gift.« »Du scheinst dich aber davor zu fürchten«, sagte der Graf, ohne seine Stellung zu verändern. »Ich gestehe es, ich schauderte vor diesem entsetzlichen letzten Mittel zurück; aber jetzt bin ich zum Äußersten entschlossen: Ich nehme mir entweder das Leben und lasse Ihren Namen entehren. Denn wenn ich heute nicht noch fünfundzwanzigtausend Franken zahle, wird die Klage erhoben, es gibt einen Skandal und ich bin, tot oder lebendig, gebrandmarkt – oder ich werfe mich in Ihre Arme, Vater, und sage: Retten Sie Ihren Sohn, retten Sie Ihren Namen! Und ich schwöre, morgen nach Algier abzureisen, Soldat zu werden und gereinigt einst zurückzukehren. – Ich kann nicht anders. – Entscheiden Sie: Entweder ich sterbe, mit Schande bedeckt, oder ich lebe, durch Sie gerettet, um meinen Fehler wieder gutzumachen…« Der Graf stand auf: »Meinen Namen will ich nicht entehren lassen«, sagte er kurz. »Ach, Vater, Vater!« rief Vicomte mit Wärme aus und wollte sich in die Arme seines Vaters stürzen, der ihn aber mit eiskalter Gebärde zurückwies. »Man erwartet dich bis drei Uhr bei dem Manne, der den falschen Wechsel hat?« »Ja, Vater!« »Gib mir Papier, Feder und Tinte!« Der Graf setzte sich an Florestans Schreibtisch und schrieb mit fester Hand: »Ich verpflichte mich, heute abend um zehn Uhr die fünfundzwanzigtausend Franken zu bezahlen, die mein Sohn schuldig ist. Graf von St. Remy.« 493
»Dein Gläubiger verlangt nur Geld; trotz seinen Drohungen wird er dir, infolge meines Versprechens, einen neuen Aufschub bewilligen. Er mag zu dem Bankier Duport gehen, der für die Bezahlung bürgen wird.« »Ach, mein Vater, was soll ich tun…« »Du wirst mich erwarten; um zehn Uhr bringe ich das Geld. – Dein Gläubiger mag hierherkommen!« »Ja, Vater, und übermorgen reise ich nach Afrika. – Sie werden sehen, ob ich undankbar bin. – Wenn ich gebüßt habe, nehmen Sie vielleicht auch meinen Dank an!« »Du bist mir nichts schuldig; ich habe gesagt, mein Name solle nicht mehr entehrt werden und er wird nicht entehrt werden«, antwortete der Graf, indem er seinen Stock nahm und nach der Türe zu ging. »Geben Sie mir nicht die Hand, Vater?« »Hier, heute abend um zehn Uhr«, sagte der Graf und ging. »Gerettet!« rief Florestan fröhlich aus. Dann klingelte er, und Boyer erschien. »Warum haben Sie mir nicht gemeldet, daß mein Vater hier sei?« »Ich versuchte zweimal, den Herrn Vicomte anzureden, als er mit Badinot durch den Garten kam, aber der Herr Vicomte achtete nur auf das Gespräch und winkte mir, ihn nicht zu stören.« »Es ist gut. – Sagen Sie Patterson, er möge mir sogleich das Kabriolett anspannen lassen!« Boyer verneigte sich ehrerbietig. In dem Augenblick, in dem er fortgehen wollte, wurde an die Türe geklopft. Boyer sah den Vicomte fragend an. »Herein!« rief Florestan. Ein zweiter Kammerdiener erschien, einen kleinen silbernen Teller in der Hand. »Ein Brief für den Herrn Vicomte!« Die beiden Diener entfernten sich. Florestan erbrach das Siegel. – In dem Brief lagen fünfundzwan494
zigtausend Franken in Schatzscheinen – sonst nichts. »Nun, der heutige Tag ist ein Glückstag!« rief er aus. »Gerettet! Doppelt gerettet!« »Das Kabriolett des Herrn Vicomte steht bereit«, meldete Boyer. »Wer hat diesen Brief gebracht?« fragte Florestan. »Ich weiß es nicht, Herr Vicomte.« »Ich werde unten fragen. Aber, sagen Sie mir, ist niemand im Parterre gewesen?« setzte der Vicomte, mit einem fragenden Blick auf Boyer, hinzu. »Es ist niemand mehr da«, Herr Vicomte. »Ich habe mich nicht geirrt«, dachte Florestan; »Clotilde hat auf mich gewartet und ist fortgegangen.« »Wollen der Herr Vicomte mir zwei Minuten schenken?« fragte Boyer. »Sprechen Sie, aber schnell!« »Patterson und ich haben erfahren, der Herr Herzog von Montbrison wünsche, sich ein Haus einzurichten. Wenn der Herr Vicomte so gütig sein und ihm vorschlagen wollte, das Ihrige, wie es ist, zu übernehmen, so würde das für Patterson und mich eine gute Gelegenheit sein, alles loszuwerden und für den Herrn Vicomte vielleicht eine gute Gelegenheit, den Verkauf zu motivieren.« »Sie haben vielleicht recht, Boyer. Ich werde Montbrison aufsuchen und mit ihm sprechen. Was verlangen Sie?« »Der Herr Vicomte sieht ein, daß wir soviel als möglich verdienen müssen.« »Selbstverständlich – also der Preis?« »Das Ganze zweihundertsechzigtausend Franken, Herr Vicomte.« »Und dabei verdienen Sie und Patterson?« »Ungefähr vierzigtausend Franken, Herr Vicomte.« »Schön. – Ich bin es zufrieden, denn Sie haben mir treu gedient. – Hätte ich ein Testament zu machen gehabt, würde ich Ihnen auch eine solche Summe hinterlassen haben.« Der Vicomte ging fort, um sich zuerst zu seinem Gläubiger, dann 495
zur Herzogin von Lucenay zu begeben.
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s war neun Uhr abends. In den Ehrenhof des Palais Lucenay bog ein prächtiges Kupee, das gewandt einen Halbkreis beschrieb und vor den breiten Stufen hielt, die zum Vestibül hinanführten. Während die beiden feurigen Pferde auf dem Pflaster des Hofes scharrten, öffnete ein riesenhafter Diener den wappengeschmückten Wagenschlag. Ein junger Mann sprang gewandt heraus und eilte die Stufen hinauf. Es war der Vicomte von St. Remy. An dem Eifer der beiden Diener, die sich beeilten, die Glastüre zu öffnen, sobald sie den Wagen Florestans erkannt hatten, und an dem ehrerbietigen Wesen, mit dem alle übrigen Diener sich erhoben, an denen der Vicomte vorübereilte, erkannte man, daß er zu den bevorzugtesten Besuchern des Palais Lucenay gezählt wurde. Ein letzter Blick, den Florestan in einen Spiegel warf, stellte ihn vollkommen zufrieden. Ein Kammerdiener öffnete die beiden Flügel der Türe und meldete: »Der Herr Vicomte von St. Remy!« Florestan trat lächelnd näher, verneigte sich, siegesbewußt, vor der Herzogin und sagte dann, mit einem warmen Ton in der Stimme: »Meine liebe Clotilde, wie gütig Sie sind!« Das Wort erstarb ihm in der Kehle. Die Herzogin rührte sich nicht, und ihre Haltung, ihr Blick verrieten eine so tiefe Verachtung, daß Florestan nichts weiter zu sagen wußte. Er konnte fast nicht glauben, daß das dieselbe Frau war, die er 496
so sanft, zärtlich und unterwürfig gekannt hatte; denn nichts ist demütiger und schüchterner als eine entschlossene Frau dem Manne gegenüber, den sie liebt und der sie beherrscht. Nachdem das erste Erstaunen überwunden war, schämte sich Florestan seiner Schwäche, und seine gewöhnliche Keckheit erlangte wieder die Oberhand. Er trat einen Schritt näher, um die Hand der Herzogin zu ergreifen und sagte schmelzend: »Mein Gott, Clotilde, was ist dir? Ich habe dich nie so schön gesehen, und doch…« »Diese Frechheit geht zu weit!« rief die Herzogin, indem sie mit so deutlichem Abscheu zurückwich, daß Florestan von neuem zusammenfuhr und stammelte: »Wollen Sie mir wenigstens die Ursache dieser Veränderung erklären? Was habe ich Ihnen zuleide getan?« Die Herzogin maß ihn, ohne zu antworten, mit einem so vernichtenden Blicke, daß Florestan vor Zorn errötete und ausrief: »Ich weiß, Madame, daß Sie bisweilen launenhaft sind. – Wünschen Sie unser Verhältnis abzubrechen?« »Seltsame Anmaßung!« erwiderte die Herzogin mit höhnischem Lachen. »Wenn ein Diener mich bestiehlt, so breche ich nicht mit ihm, sondern ich jage ihn aus dem Hause!« »Madame!« »Schluß, Herr! Ihre Anwesenheit ist mir widerwärtig. – Was wollen Sie noch? Haben Sie Ihr Geld nicht erhalten?« »Es ist also wahr? – Diese fünfundzwanzigtausend Franken…« »Ihr letzter falscher Wechsel ist eingelöst, nicht wahr? Die Ehre Ihrer Familie gerettet? Gut, nun gehen Sie!« »Sie wissen also alles, Clotilde? Ach, nun bleibt mir nur der Tod!« rief Florestan in pathetischem Ton. Die Herzogin erwiderte diesen theatralischen Ausruf mit lautem Lachen und sagte dann: »Ich hätte nicht geglaubt, daß die Verkommenheit so lächerlich sein könnte.« »Madame!« schrie Florestan, dessen Züge sich wütend verzerrten. 497
Er wurde unterbrochen. Die Flügeltüren wurden geräuschvoll geöffnet, und man meldete: »Der Herr Herzog von Montbrison!« Der Herzog von Montbrison war kaum achtzehn Jahre alt, hatte ein allerliebstes Mädchengesicht, braune, etwas schüchterne Augen und eine sehr zierliche Gestalt. Der Vicomte war so dreist, zu bleiben. »Wie freundlich, Konrad, daß du an mich gedacht hast!« sagte die Herzogin, indem sie dem jungen Herzog ihre Hand reichte. Er wollte sie herzlich drücken, Clotilde zog sie aber leicht in die Höhe und sagte heiter: »Küsse sie, Vetter, du hast Handschuhe an!« »Ich bitte um Vergebung, Cousine«, sagte der junge Mann und drückte seine Lippen auf die ihm gebotene Hand. »Was hast du heute abend vor, Konrad?« fragte die Herzogin, die sich nicht im mindesten um den Vicomte kümmerte. »Nichts Besonderes, Cousine, ich wollte in den Klub gehen.« »Du wirst mich und meinen Mann zu Frau von Senneval begleiten; sie hat mich schon wiederholt ersucht, dich ihr vorzustellen!« »Ich füge mich mit Vergnügen.« Die Wut Florestans steigerte sich, als er sah, daß weder der Herzog noch Clotilde von seiner Gegenwart Notiz nahmen. Da er wußte, wie schnell die Herzogin ihre Neigungen wechselte, bildete er sich ein, sie würde vor ihm einen Flirt mit dem jungen Herzog beginnen. Sein Herz krampfte sich vor Neid gegen Montbrison zusammen, der reich, schön und jung in dieses Leben eintrat, von dem er, verarmt, gebrandmarkt und verachtet, Abschied nehmen mußte. Florestan trat jetzt zu Konrad, der ihm den Rücken zuwandte, berührte leicht seinen Arm und sagte, in ironischem Ton: »Guten Abend, Herr … ich bitte um Vergebung, daß ich Sie nicht eher bemerkt habe.« Montbrison drehte sich rasch um und erwiderte: »Ich habe um Verzeihung zu bitten, aber ich hoffe, meine Cou498
sine, die Ursache meiner Zerstreuung, wird mich bei Ihnen entschuldigen.« »Schon gut, Konrad«, sagte die Herzogin, »keine Entschuldigung, es lohnt nicht der Mühe!« Montbrison, der glaubte, seine Cousine mache ihm im Scherz den Vorwurf allzu großer Förmlichkeit, sagte darauf heiter: »Nun, ich will, da meine Cousine es verbietet, nicht weiter darauf bestehen. Sie sehen, die Vormundschaft beginnt bereits.« »Sie wird noch stärker fühlbar werden, verlassen Sie sich darauf! In dieser Voraussicht möchte ich mir erlauben, Ihnen einen Vorschlag zu machen.« »Mir?« fragte Konrad, den der höhnische Ton Florestans allmählich reizte. »Ja, Ihnen! – Ich reise in einigen Tagen zur Gesandtschaft in Gerolstein ab, der ich attachiert bin. – Ich wünsche mein Haus, wie es ist, meine Pferde und Wagen zu verkaufen… Sie werden sich auch einrichten müssen –« Und der Vicomte betonte die letzten Worte stark, indem er die Herzogin fixierte: »Es wird pikant, nicht wahr, Frau Herzogin?« »Ich verstehe Sie nicht«, antwortete Montbrison. »Ich werde dir sagen, Konrad, warum du dieses Anerbieten nicht annehmen kannst«, fiel Clotilde ein. »Warum kann der Herr mein Anerbieten nicht annehmen, Frau Herzogin?« »Lieber Konrad, was dir zum Kaufe angeboten wird, ist bereits verkauft. Du siehst also ein, daß du bestohlen würdest…« Florestan biß sich vor Wut auf die Lippe. »Hüten Sie sich, Madame«, knirschte er. »Wagen Sie, meiner Cousine zu drohen, mein Herr?« fragte Konrad. »Achte nicht darauf, Konrad«, entgegnete die Herzogin, die mit größter Kaltblütigkeit eine Bonbonniere öffnete. »Ein Mann von Ehre kann sich mit dem Herrn nur kompromittieren. Wenn er darauf besteht, will ich dir auch sagen, warum!« 499
Es wäre zu einem Auftritt gekommen, wenn nicht in diesem Augenblick der Herzog von Lucenay geräuschvoll den Salon betreten hätte. »Schon bereit?« sagte er zu seiner Frau; »das ist ja staunenswert! – Guten Abend, St. Remy, guten Abend, Konrad! Ihr seht den verzweifeltsten Menschen unter der Sonne vor euch! Ich schlafe nicht mehr, ich esse nicht mehr, – ich kann das Unglück des armen Harville einfach nicht fassen.« Und dabei warf er sich auf einen Lehnstuhl, schleuderte mit einer Gebärde der Verzweiflung den Hut weg, legte das linke Bein auf das rechte Knie, nahm den Fuß in die Hand und jammerte weiter. Die Herzogin, der die Anwesenheit Florestans unerträglich wurde, sagte: »Wenn du willst, gehen wir. Ich stelle Konrad der Frau von Senneval vor.« »Nein, nein, nein!« schrie der Herzog, indem er seinen Fuß losließ und mit beiden Händen auf die Kissen schlug. »Gott, was ist dir?« »Nein!« wiederholte der Herzog, der jetzt aufsprang und gestikulierend umherlief, »ich kann mich nicht an den Gedanken gewöhnen, daß der arme Harville tot ist. Sie, St. Remy?« »Ja, es ist ein entsetzliches Unglück«, entgegnete der Vicomte, der, Haß und Wut im Herzen, das Auge des jungen Herzogs von Montbrison suchte. »Ich bitte«, sagte die Herzogin, »beklage Herrn von Harville nicht auf so geräuschvolle Weise. Sei so gut und klingle!« »Es ist doch wahr«, entgegnete Lucenay, indem er die Klingelschnur packte; »vor drei Tagen war er frisch und gesund, und was ist nun noch von ihm übrig? Nichts – nichts – nichts!!« Diese Worte begleitete er mit drei so heftigen Zügen an der Klingelschnur, daß sie oben abriß, auf einen Leuchter mit brennenden Kerzen fiel und zwei davon herunterwarf. Die eine fiel auf den Kamin und zerbrach eine kostbare Porzellanvase, die andere rollte auf einen Hermelinteppich, der Feuer fing, das von Konrad aber gleich 500
ausgetreten wurde. In demselben Augenblick kamen zwei Kammerdiener eilig herbei. Der Herzog hielt den Klingelzug noch in der Hand, die Herzogin lachte laut, und der Herzog von Montbrison stimmte ein. Nur St. Remy lachte nicht. Der Herzog von Lucenay blieb, an solche Vorfälle gewöhnt, vollkommen ernst, warf den Klingelzug einem der Diener zu und befahl: »Den Wagen der Herzogin!« Nachdem Clotilde sich etwas beruhigt hatte, sagte sie: »Kein Mensch in der Welt vermag über ein so beklagenswertes Ereignis Gelächter zu erregen. Nur du!« »Beklagenswert? Sage: Entsetzlich, schauderhaft! Siehst du, seit gestern denke ich darüber nach, wie viele Menschen, selbst aus meiner eigenen Familie, ich statt des armen Harville hätte sterben sehen wollen. Meinen Neffen Emberval z.B. der so unendlich langweilig ist, oder deine Tante Merinville, die nur von ihren Nerven, von ihrer Migräne spricht und alle Tage vor dem Diner ein Frühstück frißt wie eine Portiersfrau! – Liegt dir viel an deiner Tante Merinville?« »Du bist ein Narr«, antwortete die Herzogin achselzuckend. »Ich spreche in vollem Ernst«, fuhr der Herzog fort; »für einen Freund gibt man zwanzig Leute hin, die einem gleichgültig sind, nicht wahr, St. Remy?« »Ohne Zweifel!« »Es ist die alte Geschichte von dem Schneider… Kennst du die Geschichte von dem Schneider, Konrad?« »Nein.« »Du wirst die Allegorie gleich begreifen. Ein Schneider soll gehangen werden; das Städtchen hat aber keinen anderen Schneider außer ihm –; was machen die Bewohner? Sie sagen zu dem Richter: ›Herr Richter, wir haben nur den einen Schneider, aber drei Schuhmacher; wenn es Ihnen recht wäre, daß einer von den drei Schuhmachern gehangen würde, so hätten wir immer noch genug.‹ – Ver501
stehst du die Allegorie, Konrad?« »Ja…« »Und Sie, St. Remy?« »Ich auch.« »Der Wagen der Frau Herzogin!« sagte ein Diener. »Warum hast du deine Diamanten nicht angelegt?« sagte Lucenay plötzlich; »zu diesem Kleid müßten sie prächtig stehen!« St. Remy erbleichte. »Da wir so selten in Gesellschaft gehen«, fuhr der Herzog fort, »so hättest du, schon mir zu Ehren, die Diamanten anlegen können. – Ach, die Diamanten der Herzogin sind schön! Haben Sie sie schon gesehen, St. Remy?« »Ja, der Herr kennt sie sehr genau«, sagte Clotilde; dann wandte sie sich an ihren Vetter: »Deinen Arm, Konrad!« Lucenay folgte der Herzogin mit St. Remy, der sich kaum noch beherrschen konnte. »Kommen Sie nicht mit zu Sennevals, St. Remy?« fragte Lucenay. »Nein, es ist mir leider nicht möglich!« »Sehen Sie, St. Remy, Frau von Senneval ist auch eine Person – was sage ich, eine? – zwei, die ich gern opferte; denn ihr Mann steht auch mit auf meiner Liste.« »Auf welcher Liste?« »Auf der Liste der Leute, die ich gern sterben gesehen hätte, wenn uns Harville geblieben wäre.« Als Montbrison der Herzogin den Mantel umlegte, sagte Lucenay zu seinem Cousin: »Da du uns begleitest, Konrad, so sage doch deinem Wagen, er möge uns folgen… Sie müßten denn mitkommen, St. Remy? – Ich würde Ihnen einen Platz anbieten und Ihnen eine andere Geschichte erzählen, die so gut ist, wie die von dem Schneider…« »Ich danke Ihnen«, sagte St. Remy trocken; »ich kann Sie leider nicht begleiten!« »Dann auf Wiedersehen! … Haben Sie sich mit meiner Frau gezankt? Sie steigt ja in den Wagen, ohne Ihnen ein Wort zu sagen!« 502
»Vetter!« bat Konrad, der, aus Artigkeit, auf Lucenay wartete. »Steig immer ein!« antwortete der Herzog, der einen Augenblick auf den Stufen vor dem Hause stehen blieb und das elegante Gespann des Vicomte betrachtete. »Das sind Ihre Braunen, St. Remy?« »Ja.« »Und Ihr dicker Patterson – das nenn' ich mir einen Kutscher! … Das ist wahr: Von allem hat der verfluchte St. Remy das Beste!« »Die Frau Herzogin und Ihr Vetter warten auf Sie«, sagte St. Remy bitter. »Sie haben recht … also auf Wiedersehen, St. Remy! Und wenn Sie nichts Besseres zu tun haben, essen Sie morgen mit uns! – Lord Dudley hat mir Heidehühner aus Schottland geschickt. – Das sind monströse Dinger! Sie kommen, nicht wahr?« Und der Herzog stieg in den Wagen. St. Remy, der nun allein auf den Stufen stand, sah dem dahinrollenden Wagen nach. Der seinige fuhr vor. Er stieg ein und warf einen Blick voll Zorn, Haß und Verzweiflung auf das Haus, aus dem er nun so schimpflich verjagt war. »Nach Hause!« sagte er. »Ins Hotel!« wiederholte der Bediente dem Kutscher, indem er den Schlag zuwarf. Boyer, der ihn unten erwartet hatte, begrüßte den Vicomte mit den Worten: »Der Herr Graf ist da!« »Schon gut.« »Dann wartet auch ein Mann, den der Herr Vicomte um zehn Uhr bestellt hat, Herr Petit-Jean.« »Gut, gut!« »Welcher Abend!« dachte Florestan, als er zu seinem Vater hinaufging. »Ich bitte um Entschuldigung, lieber Vater, daß ich Sie warten lassen mußte, aber…« 503
»Ist der Mann hier?« unterbrach der Graf seinen Sohn. »Ja, Vater, er ist unten.« »So laß ihn heraufkommen!« »Wie gütig von Ihnen, Vater, daß Sie sich Ihres Versprechens erinnert haben.« »Ich vergesse nie, was ich verspreche!« »Wieviel Dank bin ich Ihnen schuldig! – Wie werde ich Ihnen beweisen können…« »Ich wollte meinen Namen nicht entehrt sehen!« »Er wird es nicht werden! Nein, er wird nicht entehrt werden, ich schwöre es, Vater.« Der Graf sah seinen Sohn mit einem seltsamen Blick an und wiederholte: »Nein, er wird nicht mehr entehrt werden.« Dann setzte er hinzu: »Kannst du die Zukunft erraten?« »Ich trage meinen Entschluß im Herzen.« Der Vater antwortete nicht. Er ging im Zimmer umher, die beiden Hände in den Taschen des langen Überrocks. »Herr Petit-Jean«, sagte Boyer, indem er einen Mann mit pfiffigem Gesicht einführte. »Wo ist der Wechsel?« fragte der Graf. »Hier, mein Herr«, antwortete Petit-Jean – der Strohmann des Notars Ferrand – indem er dem Grafen das Papier hinhielt. »Ist er dies?« fragte er seinen Sohn. »Ja, Vater…« Der Graf nahm fünfundzwanzig Tausendfrankenscheine aus der Tasche, übergab sie seinem Sohne und sagte: »Bezahle!« Petit-Jean legte die Scheine sorgfältig in eine alte Brieftasche und empfahl sich. Der Graf ging mit ihm hinaus, während Florestan den Wechsel zerriß. »So bleiben mir wenigstens die fünfundzwanzigtausend Franken von Clotilde«, dachte er. 504
In diesem Augenblick wurde ein Schlüssel zweimal im Schloß gedreht. »Mir war, als wäre eine Türe verschlossen worden, Vater.« »Ja, von mir…« »Warum, Vater?« »Das wirst du gleich erfahren!« Florestan wurde unruhig. »Als du mich heute früh sahst, hattest du keinen anderen Gedanken als den: Mein Vater wird seinen Namen nicht entehren lassen, er wird bezahlen, wenn ich ihn durch einige erheuchelte Worte der Reue mürbe mache…« »Können Sie das glauben?« »Unterbrich mich nicht! – Ich habe mich nicht täuschen lassen. Du kennst weder Scham noch Reue! Du stahlst nicht, solange du deine Launen befriedigen konntest. Das nennt man die Ehrlichkeit der Reichen! … Dann kamen undelikate Dinge, dann Gemeinheiten, endlich das Verbrechen… Das ist nur die erste Periode deines Lebens, die rein und schön ist im Vergleich mit der, die dich erwarten würde…« »Wenn ich mich nicht änderte… Aber ich werde mich ändern, Vater, ich habe es Ihnen geschworen!« »Du würdest dich nicht ändern! Aus der Gesellschaft verbannt, in der du bis jetzt lebtest, würdest du bald Verbrechen begehen, wie die Elenden, unter die du gestoßen wärest: Du würdest stehlen, im Notfall auch morden. – Das ist deine Zukunft!« »Ich, morden…« »Du hast die Schande dem Tode vorgezogen. Es würde ein Tag kommen, an dem du die Straflosigkeit wegen neuer Verbrechen dem Leben anderer vorzögest. – Das darf nicht sein! Ich komme zur rechten Zeit, um, wenigstens für die Zukunft, meinen Namen vor öffentlicher Beschimpfung zu bewahren!« »Wie, Vater, was wollen Sie damit sagen!« rief Florestan. Mit einem Male wurde heftig an die Türe geklopft; Florestan wollte öffnen, um der Szene ein Ende zu machen, aber der Graf erfaßte 505
ihn mit eiserner Faust und hielt ihn zurück. »Wer klopft?« fragte der Graf. »Im Namen des Gesetzes, öffnen Sie!« antwortete eine Stimme. »War diese Fälschung noch nicht die letzte?« fragte der Graf leise, indem er seinen Sohn einen furchtbaren Blick zuwarf. »Ja, Vater, ich schwöre es«, sagte Florestan, indem er sich vergebens aus der Hand seines Vaters zu befreien suchte. »Im Namen des Gesetzes – öffnen Sie!« wiederholte die Stimme. »Was wollen Sie?« fragte der Graf. »Ich bin Polizeikommissar und will Haussuchung anstellen wegen eines Diamantendiebstahles, dessen Herr von St. Remy beschuldigt ist. Der Juwelier Baudoin hat Beweise. Wenn Sie nicht öffnen, werde ich genötigt sein, Gewalt zu brauchen!« »Ich hatte mich also nicht getäuscht«, sagte der Graf leise. – »Ich wollte dich töten … ich habe zu lange gezögert.« »Mich töten…?« »Mein Name ist geschändet genug; machen wir ein Ende! Ich habe hier zwei Pistolen … du wirst dir eine Kugel durch den Kopf jagen, sonst schieße ich dich nieder und sage, du hättest dich aus Verzweiflung erschossen, um der Schande zu entgehen.« Mit entsetzlicher Kaltblütigkeit zog der Graf eine Pistole aus der Tasche und reichte sie seinem Sohne. »Mach rasch ein Ende, wenn du keine Memme bist«, herrschte er ihn an. Nach neuen, vergeblichen Versuchen, sich den Händen des Grafen zu entwinden, warf sich Florestan entsetzt zurück und wurde totenbleich. Er sah an dem Blick seines Vaters, daß er kein Mitleid zu erwarten habe. »Man kommt… Soll ich dir den Tod geben?« »Erbarmen!« »Du hast es selbst gewollt –« Und der Graf setzte die Mündung der Pistole auf die Stirn Florestans. 506
Der Lärm draußen verriet, daß keine Zeit mehr zu verlieren war. Ein plötzlicher, verzweifelter Entschluß gab Florestan die Worte ein: »Sie haben recht, Vater… Geben Sie mir die Waffe. Sie sollen sehen, daß ich nicht feige bin!« »Wenn er nun doch mein Sohn wäre!« dachte der Graf mit Schrecken, indem er zögernd die Pistole zurückhielt. – »Wenn er mein Sohn ist, – darf ich noch weniger zögern.« Die Türe krachte… »Vater, sie kommen – Ja, jetzt fühle ich es: Der Tod ist eine Wohltat. – Reichen Sie mir wenigstens die Hand und verzeihen Sie mir.« Man hörte Schritte im Nebenzimmer. Der Schuß fiel in dem Augenblick, in dem der Graf das Gesicht abwandte und aus dem Zimmer stürzte. Bei dem Knall und beim Anblick des verstörten Greises blieb der Kommissar plötzlich an der Schwelle stehen und winkte seinen Leuten, nicht weiter zu gehen. Er erriet alles und ehrte den großen Schmerz des Vaters. »Mein Herr«, sagte der Beamte nach einer Pause. – »Ersparen Sie sich einen schmerzlichen Anblick; verlassen Sie das Haus. – Ich habe jetzt eine andere, peinlichere Pflicht zu erfüllen als die, die mich eigentlich hierher rief.« »Sie haben recht«, sagte der Graf. »Was den Bestohlenen betrifft, so sagen Sie ihm, er möge sich bei meinem Bankier Duport melden. Wie hoch werden die gestohlenen Diamanten geschätzt?« »Auf dreißigtausend Franken ungefähr; die Person, die sie gekauft hat, gab diese Summe – Ihrem Sohne.« »Ich werde auch das noch bezahlen können. – Der Juwelier soll zu meinem Bankier gehen; ich werde mich mit ihm verständigen.« Der Kommissar verbeugte sich. Der Graf ging hinaus. Nachdem er sich entfernt hatte, ging der Beamte, tief ergriffen, langsam auf das Nebenzimmer zu und hob den Vorhang auf. »Niemand?« sagte er erstaunt, als er nicht die geringste Spur ei507
nes tragischen Ereignisses bemerkte, dessen Zeuge er gewesen zu sein glaubte. Dann sah er die Tapetentüre; sie war von der anderen Seite verschlossen. »Er ist entflohen!« rief er ärgerlich aus. – Trotz den sorgfältigen Nachsuchungen war Florestan nicht mehr aufzufinden.
CII
I
m St. Lazare-Gefängnis saß Marienblume, während die anderen Gefangenen umhergingen, auf der Bank am Brunnen, die bereits den Namen ›Bank der Schallerin‹ erhalten hatte. Die Gefangenen überließen ihr stillschweigend diesen ihr liebgewordenen Platz. Die Schallerin liebte diese Bank, weil doch wenigstens das Moos, das am Rande des Bassins wucherte, sie an das Grün der Felder erinnerte. Marienblume wartete, im Vertrauen auf die liebevollen Zusicherungen der Frau von Harville, seit zwei Tagen auf ihre Entlassung. Jetzt nähte sie, in Gedanken versunken, an einem Kinderhäubchen. »Wollen Sie sich denn nicht wenigstens während der Erholungsstunde ausruhen, mein guter Engel?« sagte die Mont-Saint-Jean. »Ich habe kein Geld gegeben, muß also um so fleißiger arbeiten.« »Ach, du mein Gott, wenn Sie nicht gewesen wären, hätte ich für mein Kind ja nur Lumpen.« Marienblume reichte der häßlichen Mont-Saint-Jean die Hand. »Setzen Sie sich doch hierher zu mir!« »O nein, niemals!« »Und warum nicht?« »Respekt vor der Disziplin, wie mein braver Mont-Saint-Jean sag508
te; die Soldaten zusammen, die Offiziere zusammen, jeder dahin, wohin er gehört!« »Sie sind eine Törin. – Es ist kein Unterschied zwischen uns beiden.« »Kein Unterschied? Du lieber Gott!« In diesem Augenblick trat die Aufseherin, Madame Armand, in den Hof. Nachdem sie sich nach der Schallerin umgesehen hatte, kam sie, freundlich lächelnd, auf sie zu: »Gute Nachricht, mein Kind!« »Was sagen Sie, Madame?« »Ihre Freunde haben Sie nicht vergessen und Ihre Freilassung bewirkt. Der Herr Direktor hat eben die Anzeige erhalten.« Marienblume war so bewegt, daß sie erbleichte, die Hand auf ihr heftig schlagendes Herz legte und wieder auf ihre Bank sank. »Beruhigen Sie sich, mein Kind«, sagte Madame Armand gütig; »zum Glück sind solche Erschütterungen nicht gefährlich.« »Ach, Madame…« »Ohne Zweifel hat die Frau Marquise von Harville das Ihre für Sie getan. – Es ist eine alte Dame da, die Sie zu den Personen bringen soll, die Anteil an Ihnen nehmen. Warten Sie auf mich, ich werde Sie gleich mit mir nehmen!« »Mont-Saint-Jean, kann ich Ihnen vielleicht nützlich sein, da ich nun frei bin?« Die Gefangene zuckte zusammen, als sie die Hand der Schallerin fühlte; sie ließ ihre Arme auf die Knie sinken und wendete ihr von Tränen überströmtes Gesicht zu dem jungen Mädchen empor. Es lag in dem Gesicht der Mont-Saint-Jean ein so tiefer Schmerz, daß man ihre Häßlichkeit vergessen konnte. »Mein Gott, was ist Ihnen?« fragte die Schallerin, »warum weinen Sie so?« »Sie gehen fort!« murmelte die Gefangene schluchzend. »Ich hatte nicht daran gedacht, daß ich Sie nie – nie wiedersehen würde.« »Ich werde an Sie denken, wie Sie an mich denken werden.« 509
»O, und wenn man mich in Stücke risse, ich werde Sie nicht vergessen. – Und wenn ich alt, steinalt werde, immer wird mir Ihr schönes Engelsgesicht vor Augen stehen. Das erste Wort, das ich mein Kind lehre, ist Ihr Name, Schallerin, denn Ihnen verdankt es, daß es leben wird!« »Hören Sie mich an, Mont-Saint-Jean«, sagte Marienblume tief gerührt; »für Sie kann ich Ihnen nichts versprechen, aber etwas anderes ist es mit Ihrem Kinde; wenn Sie sich von ihm trennen können…« »Ich mich von ihm trennen? Niemals! Was sollte aus mir werden?« »Aber wie wollen Sie das Kind erziehen? Es muß ehrlich werden und dazu –« »Muß es ehrlicher Leute Brot essen, nicht wahr, Schallerin? Ich glaube es und sage es mir alle Tage. – Auch ich will ehrlich werden und lieber Lumpen sammeln oder die Straße kehren, als in den Sumpf zurück…« »Wer soll Ihr Kind warten, wenn Sie arbeiten?« fuhr die Schallerin fort; »wäre es nicht besser, Sie gäben es auf das Land zu braven Leuten?« »Ich mich von ihm trennen? Das Kind ist ja meine ganze Freude!« Die Aufseherin unterbrach das Gespräch; sie kam, um Marienblume abzuholen. Mont-Saint-Jean sank, nachdem sie nochmals laut geschluchzt und die Hände des jungen Mädchens mit heißen Tränen benetzt hatte, in völliger Verzweiflung auf die Bank und dachte nicht einmal mehr an das Versprechen, das Marienblume ihr wegen des Kindes gegeben hatte. »Die Arme!« sagte Madame Armand, während sie mit Marienblume den Hof verließ. Die anderen Gefangenen äußerten ihre Freude, als sie erfuhren, daß die Schallerin begnadigt sei. Einige drängten sich um Marienblume, nahmen herzlich Abschied von ihr und wünschten ihr Glück. 510
In diesem Augenblick hörte man Glockentöne. »Die Arbeitsstunde beginnt, ich muß umkehren! Leben Sie wohl, mein Kind, leben Sie wohl.« Madame Armand, die so gerührt war wie Marienblume, küßte sie zärtlich, dann sagte sie zu einem der Beamten: »Führen Sie Mademoiselle in die Garderobe.« Eine Viertelstunde später trat Marienblume, als Landmädchen gekleidet, in das Bureau, wo Madame Seraphin sie erwartete. Die Haushälterin des Notars Ferrand holte die Unglückliche ab, um sie auf die Insel des Aussuchers zu begleiten.
CIII
J
acob Ferrand hatte die Freilassung der Marienblume, die von einem einfachen administrativen Beschlusse abhing, leicht durchgesetzt. Nach der vortrefflichen Auskunft, welche die Aufseherin Frau von Harville über Marienblume gegeben hatte, zweifelte niemand, daß diese ihre Freilassung der Vermittlung der Marquise verdankte. Die Haushälterin des Notars konnte deshalb das Mißtrauen ihres Opfers in keiner Weise erregen. »Nun, meine liebe Mademoiselle«, sagte sie, mit süßlicher Stimme, »Sie sind gewiß recht froh, aus dem Gefängnis herauszukommen.« »Ach ja, Madame, und gewiß verdanke ich diese Gnade der Vermittlung von Frau von Harville, die so gütig gegen mich war?« »Sie irren sich nicht. – Aber kommen Sie, wir müssen noch einen weiten Weg machen!« »Wir gehen nach Bouqueval, zu Madame Georges, nicht wahr?« fragte die Schallerin. 511
»Ja, wir gehen zu Madame Georges«, antwortete die Haushälterin, um jeden Argwohn des Mädchens zu beschwichtigen. Dann setzte sie hinzu: »Aber nicht gleich; ehe Sie Madame Georges sehen steht Ihnen noch eine kleine Überraschung bevor. – Kommen Sie, kommen Sie … der Wagen wartet. – Wie frei müssen Sie jetzt aufatmen, liebe Mademoiselle, da Sie das Gefängnis hinter sich haben!« Madame Seraphin verbeugte sich vor dem Aufnahmebeamten und ging mit der Schallerin fort. Ein Wachtposten folgte ihnen, um ihnen das Tor zu öffnen. Dieses hatte sich hinter den beiden Frauen wieder geschlossen, und sie standen unter dem großen Portal, das auf den Faubourg-SaintDenis führte, als sie der Lachtaube begegneten. »Lachtaube!« rief Marienblume, als sie ihre ehemalige Gefängnisgenossin erkannte. »Schallerin!« Und die Mädchen sanken einander in die Arme. »Du bist es? Welcher Zufall!« rief die Lachtaube nochmals aus. »Ja … welche Überraschung! Wir haben einander so lange nicht gesehen.« »Jetzt wundere ich mich nicht mehr, dich seit sechs Monaten aus den Augen verloren zu haben«, fuhr die Lachtaube, mit einem Blick auf die ländliche Kleidung der Schallerin, fort: »Du wohnst wohl auf dem Lande?« »Ja, seit einiger Zeit«, antwortete Marienblume, mit niedergeschlagenen Augen. »Und du willst, wie ich, einen Besuch im Gefängnis machen?« »Ja – ich habe – ich habe einen Besuch gemacht«, sagte Marienblume, stotternd und errötend. »Jetzt gehst du nach Hause? Wohl weit fort von Paris? – Erinnerst du dich noch der armen Frau, der du deine Matratze und das wenige Geld gegeben hast, das wir auf dem Lande verzehren wollten? Damals liebtest du auch schon das Land!« »Und dir gefiel es gar nicht, Lachtaube, aber du warst so gefällig und begleitetest mich, nur meinetwegen.« 512
»Doch auch meinetwegen… Aber laß mich dich ansehen! – Wie gut dir das Häubchen steht! – Wie hübsch du geworden bist! – Als ich dich nicht mehr sah, dachte ich bei mir: Die gute kleine Schallerin ist nicht für Paris geschaffen; sie ist ein wahres Waldblümchen, und diese Blumen gedeihen in der Hauptstadt nicht; die Luft sagt ihnen nicht zu. Die Schallerin wird also aufs Land gegangen sein, und das hast du denn wirklich getan, nicht wahr?« »Ja –«, antwortete Marienblume errötend. »Wir haben Eile, liebe Mademoiselle«, sagte Madame Seraphin, indem sie ungeduldig ihrem Opfer den Arm bot. »Gestatten Sie uns nur noch einige Augenblicke, Madame; ich habe meine arme Schallerin so lange nicht gesehen«, entgegnete Lachtaube. »Es ist spät, und wir haben noch einen weiten Weg«, sagte Madame Seraphin, der dieses Zusammentreffen sehr unangenehm war. Dann setzte sie hinzu: »Ich bewillige Ihnen noch zehn Minuten.« »Und du?« fragte Marienblume, indem sie die Hände der Freundin in die ihrigen nahm, »bist du noch immer heiter und zufrieden?« »Ich war es bis vor wenigen Tagen, jetzt aber…« »Hast du Kummer?« »Ich? Jawohl, jawohl. Wenn andere Kummer haben, leide ich mit.« »Immer so gut!« »Denke dir nur, ich komme hierher, um ein armes Mädchen zu besuchen, eine Nachbarin, eine gutmütige Seele, der man, ganz mit Unrecht, ein Verbrechen vorwirft. Sie heißt Luise Morel und ist die Tochter eines ehrlichen Handwerkers, der, vor übergroßem Unglück, den Verstand verloren hat.« Madame Seraphin zuckte zusammen, als sie Luise Morel nennen hörte, und sah Lachtaube aufmerksam an. Das Gesicht war ihr völlig unbekannt; dennoch horchte die Haushälterin nun weit aufmerksamer auf das Gespräch der beiden Mädchen. »Die Arme!« entgegnete die Schallerin, »wie muß sie sich freuen, 513
daß du dich ihrer annimmst!« »Ja, und wie du mich da siehst, komme ich schon von weit her, aus einem Männergefängnis.« »Du, aus einem Männergefängnis?« »Leider ja; ich habe da einen anderen armen Bekannten. – Mein Gefangener heißt Germain, und ich kann an das, was mir mit ihm begegnet ist, nicht denken, ohne daß mir die Tränen in die Augen kommen.« »Und warum denn?« »Denke dir, Germain ist so unglücklich darüber, daß man ihn mit den gemeinsten Verbrechern zusammengesperrt hat, daß er nicht mehr ißt und zusehends abmagert. Aber ich spreche da von ihm, ohne dir zu sagen, wer er ist; er ist ein ehemaliger Nachbar von mir, der beste Mensch von der Welt, und ich liebte ihn, wie einen Bruder.« »Nun begreife ich, daß dir sein Kummer das Herz schwer macht.« »Nicht wahr? Aber du solltest auch sehen, wie gut er ist!« »Und was hat der junge Mann getan, daß er im Gefängnis ist?« fragte Marienblume. »Er!« rief Lachtaube, »er wird von einem alten Notar verfolgt, der auch Luise angezeigt hat.« »Luise, die du hier besuchen willst?« »Ja, sie war im Dienst bei dem Notar, und Germain war sein Kassierer. Es würde zu lange dauern, wenn ich dir erzählen wollte, was er dem armen jungen Manne angetan hat. Der alte Schuft ist wie toll auf die beiden Unglücklichen, die ihm nie etwas zuleide getan haben. Aber nur Geduld, die Reihe wird auch an ihn kommen!« Lachtaube sagte diese Worte mit einem Ausdruck, der Madame Seraphin beunruhigte. Sie mischte sich in die Unterhaltung und mahnte Marienblume schmeichelnd: »Meine liebe Mademoiselle, es ist spät, wir müssen fort, man wartet auf uns. Ich sehe wohl ein, daß das, was Ihre Freundin Ihnen erzählt, Sie sehr interessiert, denn mich rührt es, obgleich ich das junge Mädchen und den jungen Mann nicht kenne. Kann es so 514
schlechte Menschen geben? Wie heißt denn der Notar, von dem Sie sprechen, Mademoiselle?« Lachtaube hatte keine Ursache, Madame Seraphin zu mißtrauen; sie dachte aber an Rudolfs Rat, der ihr größte Vorsicht empfohlen hatte. »Dieser Mensch heißt Ferrand, Madame«, fuhr Lachtaube fort, dann setzte sie aber klugerweise hinzu: »Und es ist um so schlechter von ihm, Luise und Germain zu peinigen, als sie niemanden haben, der sich ihrer annimmt! Ich allein kann ihnen nicht viel nützen.« »Wie schade!« antwortete Madame Seraphin, »ich hatte das Gegenteil gehofft und geglaubt, Sie rechneten auf irgendeinen Beschützer, der sich der beiden Unglücklichen annehmen würde.« »Ach nein, Madame«, fuhr Lachtaube fort. »Wer sollte so edel sein, sich der beiden armen jungen Leute gegen einen so reichen und mächtigen Mann anzunehmen?« »Ach, es gibt doch edle Herzen«, fiel Marienblume mit kaum verhaltener Begeisterung ein. »Ja, ich kenne jemand, der es sich zur Pflicht macht, die Verfolgten zu schützen.« Lachtaube sah die Schallerin erstaunt an und antwortete: »Wirklich? Du kennst jemand, der edel genug wäre, armen Menschen zu Hilfe zu kommen?« »Ja, und ich bin überzeugt, daß er Luise und Germain retten würde, denn seine Gerechtigkeit und seine Güte sind unerschöpflich!« Madame Seraphin sah ihr Opfer mit Verwunderung an: »Sollte das Mädchen gefährlicher sein, als wir glaubten?« dachte sie bei sich. »Wenn ich mit ihr hätte Mitleid haben können, so würde das, was sie jetzt sagt, den Unfall, der uns von ihr befreien soll, unvermeidlich machen.« »Da du einen so guten Menschen kennst, meine liebe Schallerin, so empfiehl ihm meine Luise und meinen Germain, denn sie verdienen ihr Schicksal nicht«, sagte Lachtaube, die der Meinung war, ihre Freunde könnten nur gewinnen, wenn sie zwei Beschützer hätten, statt des einen. 515
»Sei ruhig, ich verspreche dir, bei Herrn Rudolf für deine Schützlinge zu tun, was ich vermag«, sagte Marienblume. »Rudolf!« rief Lachtaube aus. »Ja, Rudolf«, wiederholte die Schallerin. »Aber warum überrascht dich das so?« »Weil ich auch einen Herrn Rudolf kenne.« »Du kennst ihn? Wirklich?« »Ob ich ihn kenne! Er ist ja mein Nachbar.« »Herr Rudolf?« »Ist das so wunderbar? Ich denke, das ist ganz einfach; er verdient jährlich nur fünfzehn- bis achtzehnhundert Franken und kann sich also nur eine bescheidene Wohnung halten. Freilich scheint er auch nicht sehr peinlich zu sein, dann er weiß nicht einmal, was sein Rock kostet, mein Herr Nachbar…« »Nein, das ist nicht derselbe«, sagte Marienblume. »Der deinige ist wohl ein Muster von Ordnung?« »Der, von dem ich spreche, Lachtaube, ist allmächtig! Man ist versucht, vor ihm niederzuknien, so hochherzig und gütig ist er!« »Der meinige ist weder allmächtig noch imposant. Er ist gutmütig, lustig, und man kniet nicht vor ihm nieder, im Gegenteil! Er will mich auch sonntags spazieren führen. – Siehst du, ein großer Herr ist er also nicht.« Marienblume war seit einigen Augenblicken in Gedanken versunken. Die Grisette fuhr fort: »Du brauchst dir den Kopf nicht zu zerbrechen, Schallerin; wir werden schon erfahren, ob wir einen und denselben Rudolf kennen. Siehst du den deinigen, so sprich mit ihm von mir; wenn ich den meinigen sehe, werde ich mit ihm von dir sprechen. Auf diese Weise werden wir erfahren, woran wir sind.« »Wo wohnst du, Lachtaube?« »Rue du Temple Nr. 17.« »Das kann uns von Nutzen sein«, dachte Madame Seraphin bei sich. »Dieser Rudolf hat eine Wohnung neben der Grisette, die mehr 516
zu wissen scheint, als sie sagen will; dieser Verteidiger der Unterdrückten wohnt also in demselben Hause, wie Morel und Bradamanti. Gut! Wenn die Grisette und der angebliche Kommis sich noch ferner in Dinge mischen, die sie nichts angehen, so wird man sie zu finden wissen!« »Sobald ich mit Herrn Rudolf gesprochen habe, werde ich dir schreiben«, sagte die Schallerin, »und dir meine Adresse geben, damit du mir antworten kannst.« Madame Seraphin hatte aus dem Gespräch der beiden jungen Mädchen ohne Zweifel genug erfahren, denn sie sagte jetzt, fast barsch, zu Marienblume: »Aber nun müssen wir fort! Es ist spät; wir haben eine ganze Viertelstunde versäumt.« »Die Alte gefällt mir nicht«, sagte Lachtaube leise zu Marienblume. Dann setzte sie laut hinzu: »Wenn du wieder nach Paris kommst, gute Schallerin, so vergiß mich nicht! Dein Besuch würde mir große Freude machen; ich zeige dir mein Stübchen, meine kleine Wirtschaft und meine Vögel.« »Wenn es möglich ist, besuche ich dich. Jetzt aber leb wohl, meine gute Lachtaube. Wenn du wüßtest, wie glücklich ich bin, dich getroffen zu haben!« »Ich auch, aber hoffentlich ist es nicht das letztemal! Schreibe mir bald.« »Ja, ja, leb wohl, Lachtaube.« Die beiden Mädchen küßten einander zärtlich. Lachtaube ging in das Gefängnis hinein, um Luise zu besuchen. Und Marienblume stieg mit Madame Seraphin in den Wagen, der sie nach Batignolles fahren und an der Barriere halten sollte. Ein sehr kurzer Seitenweg führte von da ans Ufer der Seine, nicht weit von der Insel des Aussuchers. Marienblume, die Paris nicht kannte, hatte nicht bemerken können, daß der Wagen nicht nach der Barriere St. Denis fuhr. Erst als er hielt, sagte sie zu Madame Seraphin, die sie aufforderte, auszusteigen: 517
»Das scheint mir nicht der Weg nach Bouqueval zu sein; und wollen wir zu Fuß dahin gehen?« »Ich kann Ihnen weiter nichts sagen, liebes Kind, als daß ich im Auftrag Ihrer Wohltäter handle, und daß Sie ihnen Kummer bereiten würden, wenn Sie mir nicht folgen wollten.« »Sie sind von ihnen geschickt, und ich folge Ihnen unbedingt: sagen Sie mir nur, ob sich Madame Georges wohlbefindet?« »Sie ist ganz wohl.« »Und Herr Rudolf?« »Befindet sich auch ganz wohl.« »Sie kennen ihn also, Madame? Aber Sie sagten doch nichts, als ich eben mit Lachtaube von ihm sprach!« »Wahrscheinlich, weil ich nichts sagen sollte.« »Sie haben recht; verzeihen Sie meine Fragen, Madame. Ich werde ja bald erfahren, was ich zu wissen wünsche.« »Ja, in einer Viertelstunde werden wir an Ort und Stelle sein.« Es war ein schöner, lauer Tag, und der Himmel war halb von Wolken verdeckt, welche die untergehende Sonne mit einem purpurnen Schimmer übergoß. Je näher Marienblume dem Ufer kam, um so mehr färbten sich ihre bleichen Wangen; sie atmete mit Entzücken die reine Landluft ein. Ihr Gesicht drückte eine so innige Befriedigung aus, daß Madame Seraphin zu ihr sagte: »Sie scheinen sehr zufrieden zu sein?« »Ach ja, Madame, da unten, mitten im Flusse, die schöne kleine Insel mit den Weiden und Pappeln und dem weißen Hause dicht am Wasser! Wie schön muß es da im Sommer sein, wenn alle Bäume grün sind! Wie still und wie frisch!« »Es freut mich«, antwortete Madame Seraphin, »daß Sie diese Insel hübsch finden.« »Warum, Madame?« »Weil wir dahin gehen.« »Auf diese Insel?« 518
»Und wenn Sie Ihre Freunde da fänden?« »Was sagen Sie?« »Ihre Freunde, hier versammelt, zur Feier Ihrer Entlassung? Würden Sie sich darüber nicht freuen?« »Wäre es möglich? Madame Georges? – Herr Rudolf?« »Sie locken mir mein ganzes Geheimnis ab.« »Ich werde sie wiedersehen! Ach, Madame, wie mein Herz klopft!« »Gehen Sie nicht zu schnell! – Ich begreife Ihre Ungeduld, aber ich kann Ihnen kaum folgen…« »Wollen Sie meinen Arm annehmen?« »Ich danke. – Ihre Hilfe ist nicht überflüssig; es geht so steil abwärts…« »Es ist also wahr, daß ich Madame Georges wiedersehen soll? Ich kann es kaum glauben.« »Gedulden Sie sich nur noch ein wenig. – In einer Viertelstunde werden Sie sich überzeugen.« »Ich kann nicht begreifen«, setzte Marienblume nachdenklich hinzu, »warum Madame Georges mich hier erwartet und nicht in der Meierei.« »Immer neugierig!« »Ja, nicht wahr, Madame?« sagte Marienblume lächelnd. »Um Sie zu strafen, soll ich Ihnen nun wohl auch noch die Überraschung verraten, die Ihre Freunde Ihnen bereitet haben.« »Eine Überraschung?« »Ich antworte nicht mehr, Sie schwatzen mir sonst alles ab.«
CIV
I
n der Nacht sah die von der Familie Martial bewohnte Insel düster aus, bei glänzendem Sonnenschein dagegen ließ sich nichts 519
Freundlicheres, Lachenderes denken als dieses Raubnest. Die Insel, die, an den Ufern mit Weiden und Pappeln bepflanzt, fast ganz mit dichtem Grase bewachsen war, durch das sich einige mit gelbem Sand bestreute Gänge schlängelten, enthielt einen kleinen Küchengarten und eine Anzahl Obstbäume. Mitten in diesem Garten sah man den mit Stroh bedeckten Schuppen, in den sich Martial mit Franz und Amandine zurückziehen wollte. Auf dieser Seite endigte die Insel in einem Wehr von dicken Pfählen, das die Abschwemmung des Landes verhindern sollte. Vor dem Hause stand eine Laube von grün angestrichenen Latten, die im Sommer die kletternden Zweige von wildem Wein und Hopfen trug. An dem einen Ende des Hauses, das weiß angestrichen und mit Ziegeln bedeckt war, bildete ein Holzstall einen kleinen Flügel, der weit niedriger war als das Hauptgebäude. Darüber bemerkte man ein Fenster mit einem Laden, der mit Blech beschlagen und von außen durch zwei Eisenstangen in starken Klammern festgehalten wurde. An den Pfählen des Aussteigeplatzes schaukelten sich drei Boote. In einem dieser Boote kauerte Nikolaus und probierte die Klappe, die er darin angebracht hatte. Auf einer Bank vor der Laube stand Kürbis und spähte nach Madame Seraphin und Marienblume aus. »Ich sehe noch niemand, weder die Alte noch die Junge«, sagte das Mädchen, indem es von der Bank herunterstieg; »es wird werden wie gestern: wir warten umsonst. Wenn sie nicht binnen einer halben Stunde ankommen, müssen wir fort; die Sache mit Rotarm ist besser, und er wartet auf uns.« »Du hast recht«, entgegnete Nikolaus, indem er aus seinem Boote trat. »Daß das Donnerwetter die Alte erschlage! Statt der zwei Geschäfte machen wir so vielleicht nur eins.« »Übrigens brauchen uns Rotarm und Barbillon; sie können allein nichts tun.« 520
»Ja, denn während der Coup ausgeführt wird, muß Rotarm draußen Wache halten, und Barbillon ist nicht stark genug, die Alte allein in den Keller zu befördern.« »Sagte die Eule nicht, sie hätte den Schulmeister in diesem Keller in Pension gegeben?« »In diesem nicht, in einem anderen, in den das Wasser tritt, wenn der Fluß steigt.« »Ein schöner Aufenthalt für den Schulmeister! So allein da zu sein, und noch dazu blind!« »Wenn er auch die besten Augen hätte, würde er doch nichts sehen; es ist in dem Keller so finster wie in einem Backofen.« »Nun, wenn er zu seiner Zerstreuung alle Lieder gesungen hat, die er kennt, muß ihm die Zeit lang werden.« »Die Eule sagt, er vertreibe sich die Zeit mit Rattenjagd…« »Nikolaus«, sagte das Mädchen, indem es auf das mit dem Laden verschlossene Fenster zeigte, »dabei fällt mir ein, daß da einer ist, der sein eigenes Blut trinken muß!« »Bah! Er schläft. – Seit heute früh rührt er sich nicht mehr, und sein Hund ist auch stumm.« »Vielleicht hat er ihn erwürgt?« »Das ist seine Sache. – Martial kann es noch lange aushalten, wenn er Lust hat. – Ist es vorbei, so sagt man, er wäre gestorben, und kein Hahn kräht mehr nach ihm!« »Meinst du?« »Gewiß. Die Mutter begegnete heute früh dem alten Ferot, dem Fischer. Da er sich wunderte, seinen Freund Martial seit zwei Tagen nicht gesehen zu haben, sagte ihm die Mutter, er könne das Bett nicht verlassen und werde wohl sterben. Der alte Ferot hat es geglaubt.« »Ja, aber er wird noch nicht gleich sterben; auf die Weise dauert es lange!« »Glücklicherweise gibt es keinen Kamin in seiner Stube.« »Und die Türe ist fest, und die Bretter sind gut! Sonst wäre er imstande und machte sich durch die Dielen ein Loch.« 521
»Nein, wir brauchen nicht zu fürchten, daß er ausrückt! Sein Sarg ist fester, als wäre er von Eichenholz und Blei.« »Wenn aber die Wölfin aus dem Gefängnis entlassen wird und ihren Mann sucht?« »So sagen wir ihr: Suche ihn!« »Der Franz ist wie ein Teufel, seit er merkt, daß wir den großen Bruder eingesperrt haben.« »Lassen wir sie oben in der Stube, während wir fortgehen? Ihr Fenster ist nicht vergittert; sie könnten aussteigen.« In diesem Augenblick drang Geschrei und Schluchzen aus dem Hause, das die Aufmerksamkeit der Geschwister erregte. Sie sahen, daß die Türe des Erdgeschosses, die bis dahin offen gestanden hatte, heftig zugeschlagen wurde, und eine Minute später erschien das bleiche, finstere Gesicht der Witwe Martial am Gitter des Küchenfensters. Sie winkte mit ihrem dürren Arm ihren Kindern, ihr zu Hilfe zu kommen. »Es gibt etwas; ich wette, daß Franz wieder eigensinnig ist«, sagte Nikolaus. »Der verfluchte Martial! Wäre er nicht gewesen, so würden wir mit dem Jungen gar keine Not gehabt haben… Nun, sieh dich immer um und rufe mich, wenn die beiden Frauenzimmer kommen.« Während die Schwester wieder auf die Bank stieg, ging Nikolaus ins Haus hinein. Die kleine Amandine kniete mitten in der Küche, schluchzte und bat um Gnade für ihren Bruder Franz. Dieser hatte sich in eine Ecke gedrückt; er schwang drohend ein Beil und schien entschlossen zu sein, dem Willen seiner Mutter verzweifelten Widerstand entgegenzusetzen. Die Witwe stand kalt und schweigend da, deutete auf den Eingang zum Keller, dessen Türe angelehnt war, und winkte ihrem Sohne Nikolaus, Franz darin einzusperren. »Ich lasse mich nicht einsperren!« rief der Knabe entschlossen aus. »Ihr wollt mich mit Amandine verhungern lassen, wie den Bruder 522
Martial.« »Mutter, um Gottes willen, laß uns oben in unserer Kammer wie gestern«, bat das kleine Mädchen mit gefalteten Händen; »in dem dunklen Keller fürchten wir uns so sehr!« Die Witwe sah Nikolaus ungeduldig an, dann zeigte sie, mit einer neuen, gebieterischen Gebärde auf Franz. Der Knabe erhob, als er den Bruder herankommen sah, verzweifelt das Beil und rief aus: »Wer mich in den Keller sperren will, den haue ich mit dem Beil!« Nikolaus, der keineswegs Lust hatte, sich einen Hieb mit dem Beil geben zu lassen, zögerte noch immer. Die Witwe tat einen Schritt auf Franz zu. »Komm mir nicht zu nahe, Mutter!« rief er wütend aus, »oder du mußt für alle Schläge büßen, die du mir und Amandinen gegeben hast!« Nikolaus sah eine große, wollene Decke auf einem Stuhle. Er nahm sie, schlug sie halb auseinander und warf sie geschickt Franz über den Kopf, so daß der Knabe keinen Gebrauch von seiner Waffe machen konnte. Nun fiel Nikolaus über ihn her und trug ihn, mit Hilfe seiner Mutter, in den Keller. Amandine war auf den Knien liegengeblieben. Sobald sie sah, was mit ihrem Bruder geschah, stand sie rasch auf und eilte freiwillig, trotz ihrer Furcht, zu ihm in den Keller hinein. Die Türe wurde hinter ihnen verschlossen. »Martial ist schuld, daß die Kinder jetzt ganz des Teufels sind«, sagte Nikolaus. »Man hört seit heute früh nichts mehr von ihm«, sagte die Witwe, »gar nichts.« »Das beweist, Mutter, daß du recht tatest, als du dem alten Ferot sagtest, Martial liege seit zwei Tagen krank im Bette. – Wenn es vorbei ist, wird man sich also nicht wundern.« Nach einer kurzen Pause fragte die Witwe: »Ist die Eule hier gewesen, während ich in Asnières war?« 523
»Ja, Mutter.« »Warum ist sie nicht geblieben, um uns zu Rotarm zu begleiten? Ich traue ihr nicht.« »Du traust keinem, Mutter; heute ist dir die Eule nicht recht, gestern hattest du gegen Rotarm allerhand einzuwenden.« »Rotarm ist frei, und mein Sohn ist in Toulon; dennoch hatten sie die Sache zusammen gemacht.« »Das wiederholst du fortwährend. – Rotarm ist davongekommen, weil er schlau ist. Das ist doch ganz einfach. Warum sollte die Eule uns verraten? Die Wölfe fressen einander nicht, Mutter!« »Rotarm soll draußen vor seinem Wirtshause bleiben, während wir die Diamantenschickse halten?« fragte die Witwe argwöhnisch. »Wo soll er sonst sein? Wenn jemand zu ihm kommt, muß er doch da sein und die Leute abhalten, dahin zu kommen, wo wir unsere Sache abmachen.« »Nikolaus! – Nikolaus!« rief jetzt die Schwester draußen, »es kommen zwei Frauenzimmer!« »Schnell, Mutter, deinen Schal, ich will dich gleich mit hinübernehmen«, sagte Nikolaus. Die Witwe hatte, statt ihrer Mütze, ein schwarzes Tüllhäubchen aufgesetzt. Jetzt nahm sie einen grau- und weißkarierten großen Schal um, schloß die Küchentüre zu, legte den Schlüssel fort und folgte ihrem Sohn zum Landungsplatz. »Nikolaus, siehst du sie? Eine Frau aus der Stadt und eine vom Dorfe«, sagte die Schwester, indem sie auf Madame Seraphin und Marienblume zeigte, die auf einem Fußwege herabkamen. »Wir wollen das Signal abwarten!« sagte Nikolaus. »Bist du blind? Erkennst du die Frau nicht, die gestern hier war? … Wie schnell das Bauernmädchen läuft! O, die weiß gewiß nicht, was sie erwartet!« »Ja, ich erkenne die dicke Frau… Ich werde die Alte und die Junge in mein Boot nehmen, du folgst mir in dem anderen und ruderst so, daß ich mit einem Sprung darin sein kann, wenn ich die Klappe aufgestoßen habe.« 524
»Sie unbesorgt!« »Du weißt, wie ich schwimme, aber die Frauenzimmer könnten sich in der Angst an mich klammern, und ich habe keine Lust, mit ihnen zu gehen.« »Die Alte winkt mit ihrem Tuche«, sagte das Mädchen; »sie sind jetzt am Ufer.« »Komm, komm, Mutter«, sagte Nikolaus, indem er sein Boot losband, »komm her in mein Boot. – Du, Schwester springe ins andere und rudere tüchtig. – Da, nimm meinen Haken, lege ihn neben dich, und nun vorwärts!« sagte der Bandit, indem er in das Boot seiner Schwester eine lange Stange mit scharfer Spitze legte. Nach wenigen Augenblicken erreichten die beiden Boote das Ufer, auf dem Madame Seraphin und Marienblume warteten. Während Nikolaus sein Boot an einem Pfahle festband, trat Madame Seraphin zu ihm und sagte leise: »Sagen Sie, Madame Georges warte auf uns«; dann fuhr die Haushälterin des Notars laut fort: »Wir haben uns etwas verspätet.« »Ja, Madame Georges hat schon mehrmals nach Ihnen gefragt.« »Sehen Sie, liebes Kind, Madame Georges wartet auf uns«, sagte Madame Seraphin, indem sie sich nach Marienblume umdrehte, der es etwas unheimlich zumute wurde. Aber der Name der Madame Georges beruhigte sie wieder, und sie antwortete: »Ich sehne mich sehr, Madame Georges zu sehen; zum Glück dauert die Überfahrt nicht lange!« »Die liebe Dame wird sich freuen!« fuhr Madame Seraphin fort. Dann wandte sie sich an Nikolaus und sagte: »Ziehen Sie ihr Boot noch etwas näher heran, damit wir einsteigen können.« – Leise setzte sie hinzu: »Die Kleine muß durchaus ertrinken; kommt sie hoch, so stoßen Sie sie nur wieder hinein.« »Ja, ja; ganz unbesorgt! Wenn ich Ihnen winke, geben Sie mir Ihre Hand. – Sie sinkt dann ganz allein – Sie brauchen nicht ängstlich zu sein!« Das Mädchen sprang ins Boot. »Nun Sie, Madame«, sagte Nikolaus zu Madame Seraphin. 525
»Ich werde lieber in dem anderen Boot überfahren!« Und Madame Seraphin nahm Platz bei der Schwester. »Wie Sie wollen«, antwortete Nikolaus, mit einem Blick auf seine Schwester, worauf er sein Boot abstieß. Die Schwester folgte ihm. Die Witwe stand unbeweglich am Ufer und sah, in Gedanken vertieft, nach dem Fenster Martials hinüber, das durch die Pappeln zu erkennen war. Die beiden Boote entfernten sich langsam vom Ufer.
CV
W
enige Augenblicke, nachdem Marienblume mit Madame Seraphin St. Lazare verlassen hatte, war auch die Wölfin entlassen worden. Nachdem sie frei war, dachte sie an nichts, als ihren Mann, wie sie Martial nannte, wiederzusehen. Seit mehreren Tagen hatte sie keine Nachricht von ihm erhalten. In der Hoffnung also, ihn auf der Insel zu treffen und entschlossen, dort zu warten, wenn er nicht da sein sollte, stieg sie in einen Wagen und ließ sich an die Brücke von Asnières fahren, über die sie etwa eine Viertelstunde vor Madame Seraphin und Marienblume gegangen war. Da Martial nicht kam, um sie in seinem Boot hinüberzuholen, wandte sie sich an einen Fischer, den alten Ferot, der in der Nähe der Brücke wohnte. Der alte Ferot saß vor seiner Tür und besserte seine Netze aus. Schon von weitem rief ihm die Wölfin zu: »Ihr Boot, Vater Ferot! Schnell! Schnell!« »Ach, Sie sind es, Mamsell; guten Tag. – Habe Sie lange nicht hier gesehen.« 526
»Ja – aber Ihr Boot! Schnell!« »Heute ist es nicht möglich, Mamsell.« »Warum nicht?« »Mein Junge hat das Boot genommen und ist nach St. Ouen gefahren. Es ist am ganzen Ufer kein einziges Boot zu haben!« »Donnerwetter!« rief die Wölfin und stampfte mit dem Fuße auf. »Es tut mir wirklich leid, Sie nicht hinüberbringen zu können – denn wahrscheinlich geht es ihm noch schlechter.« »Schlechter? – Wem?« »Nun Martial.« »Martial!!« schrie die Wölfin, indem sie den alten Ferot am Kragen faßte; »mein Mann ist krank?« »Das wissen Sie nicht?« »Er ist krank? Und seit wann?« »Seit zwei oder drei Tagen.« »Das ist nicht wahr! Er hätte es mir geschrieben.« »Er ist so krank, daß er nicht schreiben kann!« »Aber auf der Insel ist er? – Das wissen Sie?« »Ich will Ihnen erzählen, was ich weiß: Heute früh begegnete ich der Witwe Martial. Gewöhnlich gehe ich auf die andere Seite, wenn ich sie sehe, denn ich liebe ihre Gesellschaft nicht.« »Aber wo ist mein Mann?« »So warten Sie doch. – Diesmal konnte ich seiner Mutter nicht ausweichen und hielt es für gut, mit ihr zu reden; sie sieht so bös aus, daß ich mich vor ihr fürchte, und übrigens ist sie auch stärker als ich. – Ich habe seit zwei Tagen Ihren Martial nicht gesehen, sagte ich also zu ihr; ist er etwa in die Stadt gegangen? Darauf sah sie mich mit großen, schrecklichen Augen an…« »Nun, und…« Der alte Ferot schwieg einen Augenblick. Dann fuhr er fort: »Sehen Sie, Sie sind ein gutes Mädchen; versprechen Sie mir, nichts zu verraten, und ich will Ihnen alles sagen, was ich weiß!« »Von meinem Manne?« »Ja, denn sehen Sie, Martial ist gut, und es wäre schade, wenn ihm 527
durch die böse Alte oder durch seinen schlechten Bruder ein Unglück geschehen sollte…« »Aber was ist? – Was haben sie ihm getan? – Wo ist er? He? So reden Sie doch, reden Sie, Vater Ferot!« »Sie wollen also niemand verraten, was ich Ihnen erzähle?« »Nein! Dreimal nein!« »Also erstens muß ich Ihnen sagen, daß Martial mit seiner Familie schlechter steht als je, so daß ich mich nicht wundern würde, wenn sie ihm eins versetzten. – Deshalb tut es mir auch so leid, daß ich mein Boot nicht da habe, denn wenn Sie glauben, die auf der Insel würden Sie hinüberholen, so irren Sie sich!« »Das weiß ich. – Aber was sagte die Mutter meines Mannes? Er wäre krank geworden?« »Ich sagte zu der Witwe: ›Ich habe seit zwei Tagen den Martial nicht gesehen, ist er in der Stadt?‹ Die Witwe sah mich groß an und sagte: ›Er liegt krank auf der Insel, so krank, daß er nicht wieder aufstehen wird.‹ Da dachte ich bei mir: Wie geht das zu? Vor drei Tagen noch – Nun – Was –?« unterbrach sich der alte Fischer… »wohin wollen Sie? – Wohin, zum Teufel, läuft sie?« Die Wölfin hörte längst nicht mehr zu; sie jagte, von einer unerklärlichen Angst getrieben, an der Seine hin. So lief sie, ohne sie zu sehen, an zwei Personen vorüber, denen das verstörte Aussehen des Mädchens auffiel, und die ihr deshalb nachschauten. Die beiden waren der Graf von St. Remy und der Doktor Griffon. Atemlos, hochgerötet, mit funkelnden Augen blieb das Mädchen der Insel gegenüber stehen, die an dieser Stelle eine Krümmung machte und dem Ufer ziemlich nahe kam. Die Wölfin konnte durch die entblätterten Zweige der Weiden und Pappeln das Dach des Hauses sehen, in dem Martial vielleicht im Sterben lag. Bei diesem Anblick warf sie ihren Schal und ihr Häubchen ab, ließ ihr Kleid herunterfallen, behielt nur den Unterrock an, sprang unverzagt in den Fluß, ging, solange sie Grund fand und fing, als 528
sie ihn verlor, mutig zu schwimmen an. Bei jeder ihrer kräftigen Armbewegungen flatterte ihr langes Haar, das sich aufgelöst hatte, um ihren Kopf, wie eine braune Mähne. Mit einemmal ertönte, von der anderen Seite der Insel her, ein Angstschrei, ein entsetzlicher, verzweiflungsvoller Angstschrei. Die Wölfin hielt inne. Dann schlug sie mit der einen Hand ihr Haar zurück und lauschte. Ein neuer Schrei erklang, aber schwächer, gleichsam aus sterbender Brust. Dann war alles wieder totenstill. Der Graf und der Doktor, an denen die Wölfin vorbeigestürmt war, hatten ihr nicht folgen, sie also an ihrem tollkühnen Unternehmen nicht hindern können. Sie kamen eben der Insel gegenüber an, als die beiden Schreie herüberschallten. Als sie die Wölfin gegen die Strömung kämpfen sahen, sagten sie: »Die Unglückliche wird ertrinken.« Ihre Besorgnisse waren unbegründet. Die Geliebte Martials schwamm wie eine Fischotter; – noch einige Ruderschläge mit den Armen, und das mutige Mädchen gelangte ans Ufer. Sie hatte bereits wieder Grund unter den Füßen und hielt sich, um hinauszusteigen, an einem Pfahl fest, als plötzlich, vom Strom getragen, der Körper eines Bauernmädchens herangetrieben kam. Sich mit einer Hand an einen der Pfähle anklammern, mit der anderen rasch das Mädchen am Kleide fassen: war bei der Wölfin das Werk eines Augenblickes. Nur zog sie das Mädchen, das sie zu retten versuchte, so ungestüm an sich, daß es einen Augenblick unter dem Wasser verschwand. Da raffte die Wölfin ihre ganze Kraft zusammen, hob die Schallerin, die sie noch nicht erkannt hatte, empor, nahm sie, wie ein Kind, auf ihre Arme, tat noch einige Schritte durch den Fluß hin und legte sie endlich am Ufer der Insel nieder. 529
»Mut! Mut!« rief ihr der Graf von St. Remy zu, der, wie der Doktor Griffon, Zeuge dieser kühnen Tat gewesen war. »Wir gehen über die Brücke von Asnières und kommen Ihnen in einem Boot zu Hilfe.« Vom rechten Ufer der Seine aus, wo sich Nikolaus, dessen Schwester und Mutter nach ihrem schändlichen Verbrechen noch befanden, konnte man nicht sehen, was an der anderen Seite der Insel vorging. Marienblume, jetzt von der Wölfin ans Ufer der Insel gebracht, war gesunken und vor den Augen ihrer Mörder nicht wieder zum Vorschein gekommen; diese mußten also glauben, daß ihr Opfer ertrunken sei. Einige Minuten später führte der Strom einen Leichnam fort, ohne daß die Wölfin ihn bemerkte: Madame Seraphin hatte ihren verbrecherischen Plan mit dem eigenen Leben gebüßt. Nikolaus und dessen Schwester hatten ein ebenso großes Interesse wie Ferrand, diese Mitwisserin ihres Verbrechens verschwinden zu lassen. Sobald also das Boot mit Marienblume gesunken war, war Nikolaus in das andere Boot gesprungen, in dem sich Madame Seraphin befand; er hatte sie in den Fluß hineingestoßen und ihr, durch einen Schlag mit der Ruderstange, den Kopf zertrümmert. Die Wölfin kniete erschöpft auf dem Rasen neben Marienblume. »Die Schallerin!« rief sie aus. Mit vorgebeugtem Leibe, auf ihre Knie und Hände gestützt, mit aufgelöstem Haar, mit triefenden Kleidern betrachtete sie das unglückliche Kind, das vor ihr lag, bleich, bewegungslos, mit halboffenen, glanzlosen Augen, mit bläulichen Lippen, schon erstarrten, eiskalten Händen. »Die Schallerin!« wiederholte die Wölfin. Sie sprang auf, nahm Marienblume wieder in die Arme und eilte auf das Haus zu. Sie zweifelte nicht, daß die Witwe und deren Tochter, trotz ihrer Schlechtigkeit, sich der Geretteten annehmen würden. Als die Geliebte Martials auf dem höchsten Punkt der Insel an530
gekommen war, hatten sich Nikolaus, dessen Mutter und Schwester bereits entfernt. Sie waren überzeugt, den doppelten Mord vollbracht zu haben, und eilten nun zu Rotarm. In diesem Augenblick verschwand auch ein Mann, der, am Ufer versteckt, dieser Szene beigewohnt hatte und ebenfalls das Verbrechen für geschehen hielt. Dieser Mann war Jacob Ferrand… Nikolaus' Boot war an einem Pfahl am Ufer angebunden. Kaum hatte Ferrand sein Versteck verlassen, um nach Paris zurückzukehren, als der Graf von St. Remy und der Doktor Griffon eilig über die Brücke von Asnières liefen, um auf dem Boote, das sie von weitem gesehen hatten, zur Insel hinüberzufahren. Die Wölfin fand, als sie am Hause der Aussucher ankam, zu ihrer großen Verwunderung die Türe verschlossen. Sie legte die noch immer ohnmächtige Marienblume in der Laube nieder und trat an das Haus. Sie kannte das Fenster der Stube Martials und erschrak zu Tode, als sie den Laden mit Blech beschlagen und durch zwei eiserne Stangen verriegelt sah! Sie rief mit aller Kraft: »Martial! Martial!« Niemand antwortete. In ihrer Wut rüttelte sie an den Eisenstangen vor dem Küchenfenster, schlug an die Mauer, klopfte an die Türe. – Mit einem Male antwortete ihr ein dumpfes Geräusch im Zimmer. Die Wölfin zuckte zusammen und lauschte. Das Geräusch hörte wieder auf. Sie rief und schrie von neuem. Ein schwaches Klopfen antwortete. Sie entdeckte eine große Leiter, die hinter einem Laden halb versteckt war. Sie wollte die Leiter aufheben; dabei fiel der Hausschlüssel hervor, den die Witwe versteckt hatte. »Wenn er schließt«, dachte die Wölfin, während sie mit dem Schlüssel zur Türe eilte, »kann ich in seine Stube hinaufgehen.« – Der Schlüs531
sel paßte; die Tür ging auf. Als sie in die Küche trat, hörte sie das Schreien der beiden Kinder, die im Keller eingeschlossen waren und um Hilfe riefen. Bruder und Schwester sprangen aus dem Keller heraus, sobald die Wölfin aufgeschlossen hatte. »Ach, Wölfin, retten Sie Martial – er soll sterben«, rief Franz. – »Seit zwei Tagen haben sie ihn eingesperrt.« »Verwundet haben sie ihn nicht?« »Nein, ich glaube nicht.« »So komme ich zur rechten Zeit«, sprach die Wölfin, indem sie zur Treppe eilte; aber auf der dritten Stufe kehrte sie um und sagte: »Und die Schallerin vergesse ich! Amandine, mach Feuer und trage mit deinem Bruder ein armes Mädchen hinein, das beinahe ertrunken wäre! Es liegt in der Laube. – Franz, ein Brecheisen, ein Beil, einen Eisenstab, damit ich die Türe meines Mannes aufbrechen kann!« »Die Holzaxt ist da, aber die ist für Sie zu schwer«, sagte der Knabe, indem er eine ungeheure Axt herbeischleppte. »Zu schwer?« antwortete die Wölfin, indem sie ohne Mühe die schwere Axt hob. Dann eilte sie die Treppe hinauf und rief den Kindern nochmals zu: »Lauft, holt das Mädchen herein und tragt es ans Feuer!« Mit zwei Sätzen war die Wölfin an der Türe Martials. »Mut, Mann, deine Wölfin ist da!« rief sie, erhob dann die Axt und erschütterte die Türe mit einem gewaltigen Schlage. »Sie ist zugenagelt. Du mußt die Nägel herausziehen«, rief Martial mit schwacher Stimme. Sie kniete nieder, brauchte Axt und Hände, und es gelang ihr, mehrere starke Nägel herauszuziehen. Endlich konnte sie die Tür öffnen. Martial sank bleich, mit blutigen Händen, fast bewegungslos in die Arme der Wölfin. 532
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ndlich sehe ich dich – endlich habe ich dich«, jubelte die Wölfin, indem sie Martial in ihre Arme schloß. Dann stützte sie ihn, trug ihn fast und half ihm auf eine Bank. Zitternd vor Freude und Angst, mit Tränen in den Augen, lag sie auf ihren Knien und beobachtete jede Bewegung ihres Geliebten. Dieser schien sich allmählich zu erholen und sog trunken die reine Luft ein. Nach einiger Zeit richtete er den Kopf empor, seufzte tief und schlug die Augen auf. »Martial! – Ich bin es. – Deine Wölfin! Wie geht es dir?« »Besser«, antwortete er mit schwacher Stimme. »Willst du Wasser?« »Nein, nur Luft… Luft…« Die Wölfin zerschlug die vier Scheiben eines Fensters, das sie nicht hatte öffnen können. »Jetzt – atme ich. – Mein Kopf wird freier«, sagte Martial, der allmählich zu sich kam. Dann rief er, als erkenne er erst jetzt den Dienst, den ihm die Wölfin geleistet hatte: »Ohne dich hätte ich sterben müssen, meine Wölfin.« »Und jetzt?« »Lebe ich – und habe es dir zu danken!« »Aber deine Hände – deine armen Hände! Mein Gott, was hat man dir getan?« »Nikolaus und die Schwester hatten mich eingesperrt, um mich verhungern zu lassen. – Ich wollte sie daran hindern, den Fensterladen zuzunageln, und die Schwester hieb mich mit dem Beile.« »Die Unmenschen! – Deine Mutter hatte schon erzählt, du wärest so krank, daß du nicht wieder aufstehen würdest. – Deine Mutter – Mann – deine Mutter!« »Sprich nicht von ihr«, sagte Martial bitter. 533
»Aber deine armen Hände! Laß sie mich küssen! Die Unmenschen! … Und ich war nicht da!« »Aber du kamst!« rief Martial begeistert aus. »Hast du nicht hierher geschrieben: ›Tod den Feigen?‹« Und die Wölfin zeigte auf ihren tätowierten Arm, auf dem jene Worte in unverlöschlichen Buchstaben zu lesen waren.
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ranz und Amandine hatten Marienblume neben das Feuer in der Küche getragen, als der Graf von St. Remy und der Doktor Griffon ins Haus eintraten. Während die Kinder das Feuer schürten und Holzstücke aufwarfen, beschäftigte sich der Doktor Griffon mit der Halbtoten. »Ein unglückliches Kind von kaum siebzehn Jahren!« rief der Graf teilnehmend aus. Dann wandte er sich an den Arzt und fragte: »Nun, Freund?« »Man fühlt den Puls kaum, merkwürdigerweise ist aber die Haut im Gesicht nicht blau gefärbt, wie es doch bei Ertrunkenen der Fall zu sein pflegt«, antwortete der Arzt mit unerschütterlicher Ruhe, indem er Marienblume mit tiefem Nachdenken betrachtete. Der Doktor Griffon war ein langer, hagerer Mann mit einem ganz kahlen Kopfe; sein eingefallenes Gesicht verriet Kälte, aber auch einen nicht gewöhnlichen Verstand. Griffon, ein Mann von ungeheuren Kenntnissen und vielen Erfahrungen, ein berühmter und geschickter Arzt, Vorsteher eines Hospitals, hatte nur einen Fehler: er abstrahierte ganz von dem Kranken und beschäftigte sich nur mit der Krankheit. Es war ihm gleichgültig, ob er einen jungen oder alten Patienten, einen Mann oder eine Frau, einen Reichen oder Armen vor sich hatte; er dachte stets 534
nur an das medizinische Faktum, das ihm das Subjekt darbot. Es gab für ihn nur Subjekte. »Welch allerliebstes Gesicht!« sagte der Graf von St. Remy, indem er Marienblume betrachtete. – »Haben Sie jemals lieblichere Züge gesehen, lieber Doktor? Und so jung – so jung!« »Das Alter tut nichts zur Sache«, antwortete der Arzt rauh, »ebensowenig, wie das Wasser in den Lungen, das man sonst für tödlich hielt. – Man irrte sich gewaltig. Die bewundernswürdigen Versuche Godwins, des berühmten Godwin, haben es zweifelsfrei erwiesen!« »Aber Doktor…« »Es ist eine Tatsache«, entgegnete Griffon, ganz mit seiner Kunst beschäftigt. »Um sich von der Wirkung einer fremden Flüssigkeit in der Lunge zu überzeugen, tauchte Godwin Katzen und Hunde in Eimer mit Tinte, zog sie lebendig wieder heraus und sezierte die Tiere darauf. Durch diese Sektion überzeugte er sich, daß die Tinte allerdings in die Lungen eingedrungen war, daß aber die Anwesenheit dieser Flüssigkeit in den Atmungsorganen keineswegs den Tod verursacht hatte.« »Haben Sie wenigstens Hoffnung?« fragte ihn der Graf von St. Remy ungeduldig. »Die Extremitäten des Subjektes sind kalt«, antwortete der Arzt, »es ist wenig Hoffnung.« »In diesem Alter zu sterben … unglückliches Kind!« »Unbewegliche, erweiterte Pupille«, fuhr der Arzt unverändert fort, indem er mit der Fingerspitze das kalte Augenlid des Mädchens emporhob. »Seltsamer Mann!« rief der Graf fast unwillig aus, »man könnte Sie für mitleidlos halten, und doch haben Sie ganze Nächte an meinem Bette gewacht. Sie hätten sich nicht aufopfernder zeigen können, wenn ich Ihr Bruder gewesen wäre.« Der Doktor antwortete, während er sich mit Marienblume beschäftigte, mit unerschütterlichem Phlegma, und ohne den Grafen anzusehen: »Glauben Sie denn, man findet ein so wundervoll kompliziertes, 535
ataktisches Fieber, wie Sie eins hatten, alle Tage? Es war wunderbar, alter Freund, wunderbar! Stupor, Delirium, Ohnmacht, – die verschiedenartigsten Symptome vereinigten sich bei Ihrem interessanten Fieber; es trat sogar, was sehr selten und höchst interessant ist, eine partielle und momentane Lähmung auf. Aus diesem Grunde hatte Ihre Krankheit Anspruch auf meine ganze Aufmerksamkeit; sie waren ein kostbarer Gegenstand des Studiums für mich. Offen gestanden, werter Freund, habe ich keinen größeren Wunsch, als ein so schönes Fieber noch einmal beobachten zu können, aber ein solches Glück hat man nicht zweimal.« Der Graf zuckte ungeduldig die Achseln. In diesem Augenblicke kam Martial, auf den Arm der Wölfin gestützt, die den karierten Mantel der Schwester ihres Geliebten übergeworfen hatte. Als der Graf die Blässe Martials und dessen blutbefleckte Hände erblickte, fragte er: »Wer ist der Mann?« »Mein Mann«, antwortete die Wölfin, indem sie, stolz und beglückt, zu Martial aufsah. »Sie haben eine gute, mutige Frau«, sagte der Graf zu ihm, »ich sah, wie sie das unglückliche Mädchen mit seltener Unerschrockenheit rettete.« »Ja, Herr, sie ist gut und tapfer, meine Frau«, antwortete Martial, der seinerseits die Wölfin mit inniger Liebe anblickte; »ja, das ist sie, denn sie hat eben auch mir das Leben gerettet!« »Ihnen?« fragte der Graf erstaunt. »Sehen Sie seine armen Hände!« fiel die Wölfin ein, indem sie ihre Tränen trocknete. »Schrecklich!« rief der Graf aus, »die Hände des Unglücklichen sind ja zerhackt! – Sehen Sie, Doktor!« Der Doktor Griffon sah sich um, betrachtete die zahlreichen Wunden, die Martial an den Händen hatte, und sagte zu ihm: »Machen Sie einmal die Hand auf und zu.« Martial führte diese Bewegung mit Mühe aus. 536
Der Doktor zuckte die Achseln, beschäftigte sich weiter mit Marienblume und sagte verächtlich: »Diese Wunden haben durchaus nichts Gefährliches; es ist keine Sehne verletzt; nach acht Tagen wird sich das Subjekt seiner Hände wieder bedienen können.« »Mein Mann wird also nicht verstümmelt bleiben?« fragte die Wölfin den Doktor. Der Doktor schüttelte den Kopf. »Und die Schallerin? Sie wird leben, nicht wahr?« fragte die Wölfin weiter. »Sie muß leben, ich und mein Mann verdanken ihr so viel!« Dann wandte sie sich an Martial und sagte: »Die arme Kleine ist vielleicht die Ursache unseres Glückes; sie hat mich auf die Idee gebracht, zu dir zu kommen und dir zu sagen, was ich dir gesagt habe. – Und zufällig mußte ich sie retten – hier!« »Sie ist unsere Vorsehung«, sagte Martial, auf den die Schönheit der Schallerin einen tiefen Eindruck machte. »Sie wird nicht sterben, nicht wahr, Herr Doktor?« »Ich weiß es nicht«, antwortete der Arzt. »Vor allen Dingen, kann sie hierbleiben? Kann sie hier die nötige Pflege finden?« »Hier?« rief die Wölfin aus, »hier, wo man mordet?« »Schweig!« fiel Martial ein. Der Graf und der Arzt sahen die Wölfin verwundert an. »Das Haus auf der Insel steht in der Umgegend in schlechtem Rufe, und ich würde mich nicht wundern…«, sagte der Arzt halblaut zu dem Grafen. »Sie sind also das Opfer von Gewalttätigkeiten gewesen?« fragte der Graf Martial. »Wer hat Ihnen diese Wunden beigebracht?« »Es ist nichts, ich hatte einen Streit … aber das Mädchen kann nicht hierbleiben«, setzte er hinzu; »ich selbst bleibe nicht hier, auch meine Frau, mein Bruder und meine Schwester nicht. Wir verlassen die Insel!« »Was soll geschehen?« sagte der Doktor, mit einem Blick auf Marienblume. – »Nach Paris kann das Subjekt in diesem Zustand nicht gebracht werden. – Indes, mein Haus liegt ganz in der Nähe; mei537
ne Gärtnerin und ihre Tochter sind vortreffliche Krankenpflegerinnen. Da die Verunglückte Sie interessiert, so werden Sie ihre Pflege beaufsichtigen, werter St. Remy, und ich besuche sie jeden Tag.« »Und Sie spielen den harten Mann, Unbarmherziger!« entgegnete der Graf, »haben aber dabei das beste Herz, das es auf der Welt nur geben kann!« »Wenn das Subjekt stirbt, was möglich ist, so läßt sich eine interessante Sektion machen, die mir Gelegenheit geben wird, die Beobachtungen Godwins zu bestätigen.« »Schrecklich!« »Für jeden, der darin zu lesen versteht, ist der Kadaver ein Buch, in dem man lernt, Kranken das Leben zu retten«, entgegnete stoisch der Doktor Griffon. »Die Hauptsache ist: Sie tun Gutes«, entgegnete der Graf von St. Remy. »Was liegt an der Ursache, wenn nur die Wohltat geschieht? Das arme Kind! Je länger ich es ansehe, um so innigeren Anteil nehme ich an ihm.« »Und sie verdient es«, entgegnete die Wölfin, indem sie näher trat. »Sie kennen sie?« fragte der Graf. »Ob ich sie kenne! Ihr werde ich mein Lebensglück zu verdanken haben; als ich sie rettete, tat ich nicht so viel für sie, wie sie für mich schon getan hat.« »Wer ist sie?« fragte der Graf. »Ein Engel, Herr, ein braves, mutiges und gutes Mädchen.« »Aber ihr Name, ihre Familie?« »Das Subjekt muß ins Boot gebracht werden«, unterbrach der Arzt das Gespräch. Eine halbe Stunde später war Marienblume, die noch nicht zu sich gekommen war, in das Haus des Arztes gebracht. Der Doktor versprach dem Grafen, abends wiederzukommen. Martial begab sich mit Franz und Amandine nach Paris, da die Wölfin Marienblume nicht verlassen wollte, bevor sie außer Gefahr war. 538
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homas Seyton, der Bruder der Gräfin Sarah MacGregor, ging ungeduldig auf einem der Boulevards in der Nähe des Observatoriums auf und ab, als er die Eule kommen sah. Die Alte trug ein weißes Häubchen und ihren großen, rotkarierten Schal. Die Spitze eines Dolches von der Dicke einer Federspule war durch den Boden des Strohkorbes, der an ihrem Arme hing, hindurchgedrungen; es war die mörderische Waffe, die dem Schulmeister gehört hatte. Thomas Seyton bemerkte nicht, daß die Eule bewaffnet war. »Es schlägt drei Uhr«, sagte die Alte, »ich bin also pünktlich.« »Kommen Sie«, antwortete ihr Thomas Seyton. Er ging vor ihr her, gelangte in ein ödes Gäßchen nahe der Rue Cassini, blieb stehen, öffnete eine kleine Tür, winkte der Eule, ihm zu folgen, ging darauf noch einige Schritte in eine grüne, dichte Baumallee hinein und sagte dann: »Warten Sie hier!« Darauf verschwand er. Wenige Minuten später kam Sarah. Ihr Gesicht drückte, als sie sich der Eule näherte, die sie zum ersten Male wiedersah, die Verachtung aus, die Leute von Stand fühlen, wenn sie mit den Elenden in Berührung kommen, die sie als Werkzeuge oder Mitschuldige brauchen. Thomas Seyton, der bis dahin die verbrecherischen Pläne seiner Schwester gefördert hatte, obgleich er sie für ziemlich hoffnungslos hielt, hatte sich geweigert, diese Rolle weiterzuspielen und nur noch eingewilligt, zum letzten Male seine Schwester mit der Eule zusammenzubringen. Sarah sprach die Eule an: »Sie sind gewandt, verschwiegen und entschlossen?« »Gewandt wie ein Affe, entschlossen wie eine Dogge, stumm wie ein Fisch; so ist die Eule, wie sie der Teufel geschaffen hat. Ihnen 539
zu dienen. Das Landmädchen haben wir, denke ich, gut gefaßt; es ist jetzt auf zwei Monate in St. Lazare eingesperrt.« »Um das Mädchen handelt es sich nicht mehr, sondern um etwas anderes.« »Ganz wie Sie wünschen, schöne Dame. – Wenn Geld zu verdienen ist, sind wir beide wie zwei Finger einer Hand!« Sarah konnte ein Gefühl des Abscheus nicht unterdrücken. »Sie müssen«, fuhr sie fort, »Leute aus dem Volke, recht arme, elende Leute kennen.« »Deren gibt es mehr als Millionäre; man hat, Gott sei Dank, die Auswahl… An Armut ist Paris sehr reich.« »Ich möchte ein verwaistes, armes Mädchen haben, das seine Eltern verloren hat, als es noch ganz klein war. Die Waise muß ein hübsches Gesicht und einen sanften Charakter haben und darf nicht über siebzehn Jahre alt sein.« Die Eule sah Sarah überrascht an. »Eine solche Waise kann nicht schwer zu finden sein«, fuhr diese fort, »es gibt ja so viele Findelkinder.« »Vergessen Sie denn die Schallerin, meine schöne Dame? Die würde gerade passen.« »Wer ist die Schallerin?« »Das Mädchen, das wir entführt haben.« »Von ihm ist nicht mehr die Rede, habe ich schon gesagt.« »Hören Sie mich nur an… Sie verlangen eine lammfromme Waise, die schön ist wie der Tag und siebzehn Jahre alt, nicht wahr?« »Allerdings.« »Nun, so nehmen Sie die Schallerin, sobald sie aus St. Lazare entlassen wird; sie paßt für Sie, als wäre sie bestellt! Sie war etwa sechs Jahre alt, als Ferrand sie mir übergeben ließ, um sie loszuwerden. Tournemine, der sie zu mir brachte, sagte mir ausdrücklich, es sei ohne Zweifel ein Kind, das man beseitigen oder für tot ausgeben wolle.« »Jacob Ferrand, sagen Sie?« rief Sarah so erregt aus, daß die Eule zurückwich. – »Der Notar Jacob Ferrand«, wiederholte sie, »hat Ih540
nen dieses Kind übergeben…« Sie vermochte nicht weiterzusprechen. Ihre Aufregung war so groß, daß ihre Hände, die sie nach der Eule ausstreckte, zitterten. »Ich weiß nicht, was Sie so erregt, werte Dame«, sagte die Alte. – »Die Sache ist ganz einfach. Vor zehn Jahren kam Tournemine zu mir und sagte: ›Willst du ein kleines Mädchen aufnehmen, das man verschwinden lassen will? Sie mag sterben oder leben, das ist gleichgültig; es sind tausend Franken dabei zu verdienen, und mit dem Kind kannst du tun, was du willst!‹« »Vor zehn Jahren?« »Genau…« »Ein blondes Mädchen?« »Goldblond…« »Mit blauen Augen?« »Mit schönen, blauen Augen.« »Und es ist die, die in Bouqueval…« »Von uns weggeholt und nach St. Lazare gebracht worden ist!« »Mein Gott!« rief Sarah aus, indem sie auf ihre Knie sank. »Deine Wege sind unerforschlich… Ach, wenn ein solches Glück überhaupt möglich wäre, nein, ich kann es nicht glauben, es wäre zu schön!« Dann erhob sie sich rasch und sagte zur Eule, die sie staunend ansah: »Kommen Sie!« Sarah ging raschen Schrittes vor ihr her und führte sie in das Haus, das am Ende der Allee lag. Die Gräfin läutete nach einem Diener und befahl: »Ich bin für niemand zu sprechen, verstanden?« Dann wandte sie sich zur Eule und sagte: »Treten Sie schnell ein und machen Sie die Türe zu.« Sarah öffnete einen Sekretär, nahm ein Kästchen von Ebenholz heraus, trug es auf einen mitten im Zimmer stehenden Tisch und winkte der Eule. Das Kästchen war mit Juwelen gefüllt. 541
Sarah war so ungeduldig, daß sie rücksichtslos Halsbänder, Armbänder und Diademe, die in tausend Farben spielten, auf den Tisch warf. Die Eule war wie geblendet. Sie war bewaffnet und mit der Gräfin allein. – Die Flucht war leicht und sicher. Ein teuflischer Gedanke schoß ihr durch den Kopf. Mit der Schlauheit einer Tigerkatze, die sich an ihre Beute schleicht, schob sich die Alte, leise und unmerklich, um den Tisch, um Sarah zu überfallen. In diesem heimtückischen Manöver wurde sie plötzlich unterbrochen. Sarah hatte ein Medaillon aus dem Kästchen herausgenommen, das sie der Eule mit den Worten entgegenhielt: »Sehen Sie dieses Bild an.« »Es ist die Schallerin!« rief die Eule aus; »es ist das kleine Mädchen, ich sehe es noch vor mir, wie es Tournemine zu mir brachte.« »Sie erkennen sie? – Wirklich? – Sind Sie sicher, daß das die Kleine war?« »Ich sage Ihnen, meine werte Dame, es ist das Mädchen!« Sarah empfand nicht die leiseste Reue, als sie erfuhr, daß ihre Tochter, zehn Jahre lang, elend und verlassen gelebt hatte. Sie fühlte keine Gewissenspein, als sie bedachte, daß sie selbst das Kind hatte entführen lassen, nachdem Rudolf es in Sicherheit gebracht hatte. Sarah zitterte auch nicht aus Freude, ihre Tochter wiederzufinden, sondern nur die Hoffnung, endlich den stolzen Traum ihres Lebens verwirklicht zu sehen, bewegte ihr Herz. Rudolf hatte sich für das Kind interessiert, ohne es zu kennen; was würde er erst tun, wenn er wüßte, daß es seine Tochter sei…! Die Eule war endlich an das eine Ende des Tisches gelangt und hatte ihren Dolch so in ihr Körbchen gestellt, daß sie ihn mit einem Griff bereit hatte. Sie befand sich nur noch einige Schritte von der Gräfin. 542
»Können Sie schreiben?« fragte diese plötzlich, indem sie das Kästchen und die Juwelen zurückschob. »Nein, meine werte Dame, schreiben kann ich nicht.« »So will ich schreiben, was Sie mir vorsagen. Erzählen Sie mir die Umstände, unter denen Ihnen das Kind übergeben wurde!« Sarah setzte sich auf einen Sessel und nahm eine Feder. Das Auge der Alten funkelte. Endlich stand sie dicht neben dem Stuhl Sarahs. Diese beugte sich über den Tisch und machte sich zum Schreiben bereit. »Ich werde laut und langsam lesen«, sagte die Gräfin, »Sie berichtigen, wo ich mich irre.« »Ja, Madame«, entgegnete die Eule, die jede Bewegung Sarahs beobachtete. Dann griff sie mit der rechten Hand in ihr Körbchen… Die Gräfin fing an zu schreiben: »Ich erkläre, daß –« Sie unterbrach sich, drehte sich nach der Eule um, die bereits den Griff ihres Dolches gefaßt hatte, und setzte hinzu: »In welcher Zeit wurde Ihnen das Kind übergeben?« »Im Februar 1827.« »Und von wem?« »Von Peter Tournemine, der sich jetzt im Bagno zu Rochefort befindet. – Ihm hatte das Kind Madame Seraphin, die Haushälterin des Notars, übergeben.« Die Gräfin fing nun wieder an zu schreiben und las laut: »Ich erkläre, daß im Monat Februar 1827 der…« Die Eule hatte ihren Dolch gezogen. Schon hob sie die Hand, um ihn ihrem Opfer in den Rücken zu stoßen… Da drehte sich Sarah von neuem um. Um nicht überrascht zu werden, stützte die Eule rasch die mit dem Dolch bewaffnete Hand auf die Lehne des Stuhles und bückte sich, um die neue Frage zu beantworten. 543
»Ich vergaß den Namen des Mannes, der Ihnen das Kind übergeben hat«, sagte die Gräfin. »Peter Tournemine«, antwortete die Eule. »Peter Tournemine«, wiederholte Sarah, indem sie weiter schrieb, »der sich gegenwärtig im Bagno zu Rochefort befindet, mir ein Kind übergeben hat, das ihm von der Haushälterin des…« Weiter kam die Gräfin nicht. Die Eule war, nachdem sie ihr Körbchen langsam auf den Boden hatte gleiten lassen, rasch über sie hergefallen, hatte mit der linken Hand ihren Nacken umklammert, ihr Gesicht auf den Tisch niedergedrückt und ihr mit der rechten Hand den Dolch zwischen die Schultern gejagt. Das geschah so schnell, daß die Gräfin nicht einmal einen Laut von sich geben konnte. Sie blieb sitzen, den Kopf auf den Tisch gebeugt. – Die Feder war ihrer Hand entfallen… Die Eule bemächtigte sich der Edelsteine, warf sie in ihren Korb und bemerkte nicht, daß ihr Opfer noch atmete. Die Alte öffnete die Glastüre, ging rasch hinaus und lief, bis sie einen Wagen fand, mit dem sie zu Rotarm fuhr.
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D
er kleine Lahme stand vor dem ›Blutenden Herzen‹ und hielt, auf Befehl seines Vaters, Wache. Rotarm hatte eine Unterredung mit dem Geheimpolizisten Borel, bei der er, unter keiner Bedingung, gestört zu werden wünschte. »Man beschuldigt Sie«, sagte Borel, »daß Sie Ihre Stellung dazu benutzen, sich an den Diebstählen einer sehr gefährlichen Bande zu beteiligen und der Sicherheitspolizei falsche Auskünfte zu geben. 544
Nehmen Sie sich in acht, Rotarm! Wenn der Verdacht sich bestätigt, haben Sie keine Schonung zu erwarten.« »Es betrübt mich sehr, daß man mich fälschlich bezichtigt, mein guter Herr Borel«, antwortete Rotarm, indem er seinem pfiffigen Gesicht einen heuchlerischen Ausruck gab, »aber ich hoffe, daß man mir Gerechtigkeit widerfahren lassen wird!« »Wir werden sehen.« »Wie kann man Mißtrauen gegen mich hegen? Habe ich Sie nicht in den Stand gesetzt, Ambrosius Martial, einen der gefährlichsten Verbrecher von Paris, auf frischer Tat zu ertappen?« »Ambrosius war gewarnt. Wäre ich nicht eine Stunde früher gekommen, als Sie mir geraten hatten, so wäre er entwischt.« »Halten Sie mich für fähig, Herr Borel, ihn vor Ihnen gewarnt zu haben?« »Ich glaube nur, daß Sie uns lieber auf die falsche, statt auf die richtige Fährte bringen und unser Vertrauen mißbrauchen. Jeden Tag versprechen Sie, uns behilflich zu sein, die Bande zu ergreifen und – dieser Tag kommt nie.« »Und wenn der Tag nun heute da ist, Herr Borel, und wenn ich es Ihnen möglich mache, Barbillon, Nikolaus Martial, die Witwe, deren Tochter und die Eule zu fassen, wäre das nicht ein schöner Fang? Würden Sie mir auch dann noch mißtrauen?« »Können Sie mir versichern, das Unternehmen, das die Bande plant, nicht angestiftet zu haben?« »Auf Ehre nicht! Die Eule kam zu mir und machte mir den Vorschlag, die Diamantenschickse hierher zu locken, weil die Einäugige durch meinen Sohn erfahren hatte, die Mutter Mathieu habe oft Diamanten von bedeutendem Wert bei sich. Ich ging auf die Sache ein, riet aber der Eule, auch die Martials und Barbillon in die Partie zu nehmen, um Ihnen das ganze Nest in die Hände zu spielen.« »Und der Schulmeister?« »Der Schulmeister?« fragte Rotarm mit erheucheltem Erstaunen. »Ja, wissen Sie nicht, wo er ist?« 545
»Nein«, antwortete Rotarm, der seine Gründe zu dieser Lüge hatte. »Man hat allen Grund, zu glauben, daß der Schulmeister neue Mordtaten verübt hat. Es wäre also ein sehr wichtiger Fang.« »Man weiß seit sechs Wochen nicht, was aus ihm geworden ist.« »Man macht Ihnen auch zum Vorwurf, daß Sie absichtlich seine Spur verloren haben.« »An allem soll ich schuld sein, Herr Borel.« »Das ist noch nicht alles; in der Rue du Temple wohnt eine Pfandleiherin, Frau Burette, die Ihre Privathehlerin sein soll.« »Was soll ich tun, Herr Borel? – Man sagt so viel, die Welt ist schlecht!« »Armer Mann, Sie sind wirklich zu bedauern!« »Sie lachen, Herr Borel, aber wenn man glaubt, was Sie eben sagten, warum hat man dann keine Haussuchung bei Mutter Burette und mir gehalten?« »Sie wissen es recht gut: um die Banditen nicht zu verscheuchen, deren Auslieferung Sie uns schon so lange versprochen haben.« »Ich werde sie Ihnen ausliefern, Herr Borel; ehe eine Stunde vergeht, sind alle gebunden, und ohne viel Mühe, denn es sind drei Frauenzimmer dabei. Nikolaus Martial und Barbillon sind zwar blutdurstig wie Tiger, aber auch feig wie Hasen.« »Tiger oder Hasen«, sagte Borel, indem er seinen Überrock auseinanderschlug und auf zwei Pistolen zeigte, »ich werde sie bedienen.« »Sie werden guttun, zwei Ihrer Leute mitzunehmen, Herr Borel; denn die Feigsten werden zuweilen tapfer, wenn sie sich in Gefahr sehen.« »Gut, ich will meine Leute aufstellen und hoffe, daß es nicht wieder vergeblich geschieht.« Die Unterredung wurde durch ein eigentümliches Pfeifen unterbrochen. Rotarm trat an ein Fenster. »Sehen Sie, da kommt die Eule schon. – Glauben Sie mir nun, 546
Herr Borel?« »Es ist allerdings etwas, aber nicht alles. Doch, wir werden sehen.« Der Geheimpolizist verschwand durch eine Seitentüre.
CX
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n dem Augenblick, in dem die Eule die letzten Stufen der Treppe hinunterstieg, trat der Sohn Rotarms auf ihr Kleid. Die Alte wankte, und da sie sich nicht am Geländer anhalten konnte, fiel sie, mit vorgestreckten Händen, auf die Knie, wobei sie ihr kostbares Körbchen loslassen mußte, aus dem ein mit Smaragden und Perlen besetztes Armband herausfiel. Die Eule hob rasch das Armband wieder auf; dennoch war es dem scharfen Blick des Knaben nicht entgangen, der heuchlerisch zu ihr trat und bedauernd sagte: »Ach Gott, sind Sie vielleicht ausgeglitten?« Die Eule nahm, ohne ihm zu antworten, den kleinen Lahmen an den Haaren, bückte sich zu ihm hinab und biß ihn in die Backe, daß sie blutete. Der Sohn Rotarms wischte sein Gesicht ab und sagte, mit erzwungenem Lächeln: »Wenn Sie mich ein anderes Mal nicht so stark küssen wollten, würde es mir lieber sein, Eule!« »Boshafter kleiner Affe, warum bist du mir absichtlich aufs Kleid getreten? – Damit ich fallen sollte?« »Ich schwöre, daß ich es nicht absichtlich getan habe, gute Eule. Dazu liebe ich Sie viel zu sehr.« Die Eule ließ sich täuschen und antwortete: »Habe ich dich diesmal unverdienterweise gebissen, so hast du es ein anderes Mal gut, kleiner Taugenichts. – Wo ist dein Vater?« 547
»Im Hause. Soll ich ihn holen?« »Nein. – Sind die Martials schon da?« »Noch nicht.« »So habe ich Zeit, zu meinem Manne hinunterzugehen; ich muß mit ihm reden.« »Sie gehen in den Keller, zum Schulmeister?« fragte der Knabe, der seine teuflische Freude kaum verbergen konnte. »Was geht das dich an?« »Sie sollten ihm ein Spiel Karten mitnehmen, als Zeitvertreib. Jetzt hat er es nur mit den Ratten zu tun, und das wird ihm langweilig werden.« Die Eule lachte laut und sagte: »Geh, hol mir ein Licht und leuchte mir hinunter zu dem Alten; auch kannst du mir die Türe aufmachen helfen.« »Nein, es ist mir zu finster im Keller.« »Wie? Du bist boshaft wie ein Teufel und fürchtest dich? Das möchte ich sehen. – Geh geschwind und sage deinem Vater, ich würde gleich wiederkommen, ich sei unten bei meinem Alten und spräche mit ihm über unser Aufgebot. – Mach schnell! – Du sollst auch zur Hochzeit kommen.« Der kleine Lahme ging, ein Licht zu holen. Als er wiederkam, folgte ihm die Eule in den niedrigen Saal, von dem aus die Falltüre in den Keller hinunterführte. Der Sohn Rotarms, der die hohle Hand vor das Licht hielt, stieg langsam die steinernen Stufen hinab und blieb plötzlich stehen. »Vorwärts! Vorwärts!« trieb die Eule. »Es ist so finster – gehen Sie doch lieber allein!« »Und die Türe unten, Schwachkopf? Kann ich die allein aufmachen?« »Ich fürchte mich so!« »Wenn du hübsch folgsam bist, schenke ich dir auch etwas.« »Wenn Sie so reden, können Sie mit mir machen, was Sie wollen, Mutter Eule.« »So geh schnell!« 548
»Ja, aber versprechen Sie mir auch, daß ich den Schulmeister necken darf?« »Ein anderes Mal, heute habe ich keine Zeit.« »Warum wollen Sie denn die Türe aufmachen?« »Das geht dich nichts an. – Rasch! Rasch! Die Martials sind vielleicht schon oben…« Der bleiche, flackernde Schein des Lichtes, der schwach den dunklen Gang beleuchtete, warf das Schattenbild des Knaben auf die feuchte, rissige Wand. Im Halbdunkel sah man das niedrige Türgewölbe, die starke, mit Eisen beschlagene Türe des Kellers und den rotkarierten Schal und das weiße Häubchen der Eule. Unter den Anstrengungen der Alten und des Knaben bewegte sich die Türe knarrend in ihren Angeln. Ein feuchter Dampf drang aus der finsteren Tiefe herauf. »Mich hungert«, hörte man die dumpfe Stimme des Schulmeisters. »Soll ich hier sterben wie ein tolles Vieh?« »Du hast Hunger?« wiederholte die Eule lachend, »nun, so steck dir den Daumen ins Maul!« Man hörte das Klirren einer Kette. »Nimm dich in acht! Du wirst dich wieder an dein Bein stoßen, Väterchen!« fiel der Lahme ein. »Das Kind hat recht; bleibe doch ruhig, Alterchen«, sagte die Eule. »Es ist schade um ihn, er wird hier unten schimmlig werden«, fiel der Knabe ein. Man hörte von neuem die Kette klirren. »Alterchen springt wie ein Maikäfer.« Nachdem die Eule ihren Korb in einem Loch in der Wand versteckt hatte, fragte sie: »Siehst du, Alterchen?« »Er sieht ja nicht«, antwortete der Knabe. »Der Junge hat recht. Nun, hörst du, Alter? Du hättest nicht so dumm sein und mich hindern sollen, der Schallerin das Lärvchen mit Vitriol zu waschen. Du könntest uns am Ende gar verraten, und 549
dann…« »Wenn dich der Blinde nur erst hätte, Eule!« rief der Lahme, indem er der Alten mit aller Kraft einen Stoß ins Kreuz versetzte. Die Eule stürzte, und man hörte sie, schreiend und fürchterlich fluchend, die Stufen hinunterrollen. »Beiß! Beiß! Die Eule kommt, packe sie, Alter!« rief der kleine Lahme. Dann nahm er den Korb aus dem Mauerloch, stieg rasch hinauf und höhnte, unter lautem Lachen: »Der Stoß war besser als der letzte, nicht wahr, Eule? Und diesmal wirst du mich nicht wieder blutig beißen…« »Ich hab' sie, ich hab' sie!« brüllte der Schulmeister unten im Keller. »Ich gratuliere!« entgegnete der Knabe lachend und blieb auf der letzten Treppenstufe stehen. »Hilfe! Hilfe!« keuchte die Eule, mit fast erstickter Stimme. »Ich danke dir, Lahmer«, sagte der Schulmeister, »ich danke dir und verzeihe dir alles Böse, das du mir getan hast. – Zur Belohnung sollst du sie singen hören, pass auf!« »Bravo! Ich bin hier auf der ersten Galerie«, antwortete der Lahme, indem er sich auf der Treppe niedersetzte.
CXI
D
er Kampf des Schulmeisters mit der Eule spielte sich mit entsetzlicher Erbitterung ab, aber ohne einen Schrei, ohne ein Wort. Der kleine Lahme stampfte im Takt mit den Füßen, wie ein ungeduldiger Zuschauer im Theater. »Ich halte dich, wie ich will«, murmelte der Schulmeister unten. Eine verzweifelte Anstrengung der Eule unterbrach ihn. 550
Sie wehrte sich mit der Kraft der Todesfurcht. »Lauter! Man versteht nichts!« kommandierte der Lahme. »Wenn du mir auch die Hauer in die Hand schlägst, ich halte dich doch, wie ich will!« »Lahmer, ruf deinen Vater!« rief die Eule, mit keuchender Stimme. »Hilfe! Hilfe!« Der Hilferuf konnte nicht ins Haus dringen. Als die Eule sah, daß sie von dem Sohne Rotarms keine Hilfe zu erwarten habe, wollte sie ein letztes Mittel versuchen. »Lahmer, geh und hole Hilfe … und ich gebe dir meinen Korb; er ist voll Juwelen…« »Ich danke, Madame. Ich habe ihn schon… Wenn du mir aber Kuchen gibst, will ich den Vater rufen.« Es folgte eine neue Pause. Der Lahme trommelte unablässig mit den Füßen und rief: »Warum geht es nicht los? Vorhang auf! Musik!« »So, Eule, jetzt wirst du mich nicht mehr durch dein Schreien stören können«, sagte der Schulmeister, dem es ohne Zweifel gelungen war, der Alten einen Knebel in den Mund zu stopfen. »Keine Dummheiten, Alter!« rief der kleine Lahme, »ich habe sie dir nur geliehen, aber du mußt sie mir wiedergeben; mach sie also nicht tot, oder ich rufe den Vater!« »Sei ruhig, sie kriegt nur, was sie verdient«, sagte der Schulmeister, um den kleinen Lahmen zu beruhigen. »Nun wollen wir miteinander reden, Eule«, fuhr der Schulmeister fort. »Wenn du auch zappelst, um dich schlägst und beißest, du entgehst mir nicht! – Du hast mir die Finger zerbissen bis auf die Knochen, aber ich reiße dir die Zunge aus, wenn du dich rührst.« Die Eule ächzte dumpf. »Lauter!« rief der kleine Lahme, »man versteht nichts!« Die Eule hatte einen Augenblick, in dem der Schulmeister sie weniger fest umklammert hielt, dazu benutzt, den Dolch zu ergreifen, den sie, nach der Ermordung Sarahs, in ihr Korsett gesteckt hatte, um dem Banditen einen gewaltigen Stoß damit zu versetzen. 551
Er stieß einen gellenden Schmerzensschrei aus. Die Glut seines Hasses und seines Blutdurstes, die durch diesen Angriff plötzlich wieder geschürt wurde, loderte gewaltig auf, und die Wut raubte ihm jede Besinnung. »Ah, Schlange – ich habe deinen Zahn gefühlt!« rief er und faßte mit Kraft die Eule, die ihm entschlüpfen wollte. Die Eule stieß ein so gräßliches Geheul aus, daß der Lahme erschrocken aufsprang. Von nun an hörte er den Schulmeister nicht mehr sprechen. Er brüllte wie ein wildes Tier und gehorchte nur noch dem Trieb der Vernichtung. Im Dunkel des Kellers geschah Furchtbares. Man hörte rasches Stampfen mit den Füßen, krampfhafte, röchelnde Klagetöne und ein teuflisches Lachen. Und endlich hörte man gar nichts mehr… Von oben her drang fernes Geräusch von Tritten und Stimmen in die Tiefe des Kellers. Helles Licht glänzte am Ende der Treppe. Der kleine Lahme, vor Grauen über den Auftritt, dem er beigewohnt hatte, wie erstarrt, sah mehrere Personen mit Lichtern die Stufen herunterkommen. – Im nächsten Augenblick war der Keller mit Polizeibeamten angefüllt, und er wurde, das Körbchen der Eule noch in der Hand, ergriffen. Narciß Borel stieg mit einigen seiner Leute zum Schulmeister hinunter, der, mit dem Fuß an einen großen Stein gefesselt, mit starrem Haar und schäumendem Mund, in blutbefleckten Lumpen wie ein wildes Tier in seinem Kerker umherlief und den Leichnam der Eule, deren Kopf entsetzlich verstümmelt war, an den Füßen nachschleppte. Man mußte alle Kraft aufbieten, ihn zu binden und in die Stube des Wirtshauses zu bringen. Hier befanden sich bereits Barbillon, Nikolaus Martial, dessen Mutter und Schwester, die alle gefesselt waren. Barbillon saß, bleich, mit stierem Blick, auf einer Bank; sein langes, schwarzes Haar fiel auf den Kragen seiner im Kampf zerrisse552
nen Bluse; seine gefesselten Hände ruhten auf seinen Knien. Neben ihm sah man die Tochter der Witwe; das Häubchen war ihr abgerissen; ihr rötliches, im Nacken zusammengebundenes Haar hing in mehreren dünnen Flechten auf den Rücken hinab. Sie betrachtete mit Verachtung ihren Bruder Nikolaus, der ihr gegenüber saß. Dieser Bandit, der sein Schicksal voraussah, war in sich selbst zusammengesunken; seine Knie schlotterten, und er ächzte dumpf. Nur die Mutter Martial, die an der Wand lehnte, verriet nicht die mindeste Unruhe. Beim Anblick Rotarms aber, den man zurückbrachte, nachdem er der Durchsuchung des Hauses beigewohnt hatte, verzerrten sich ihre Züge. Während der Kommissar das Protokoll aufnahm, warf Borel, indem er sich die Hände rieb, einen wohlgefälligen Blick auf seinen Fang; er freute sich, daß es ihm gelungen war, Paris von einer Bande gefährlicher Verbrecher zu befreien. Die Witwe, die den Verrat Rotarms durchschaute, wandte sich zu ihm und schrie: »Ich wußte wohl, daß du meinen Sohn in Toulon verkauft hattest. – Da, Judas!« – und sie spie ihm ins Gesicht. – »Du verkaufst uns, nun man wird sehen, wie echte Martials sterben.« »Ja, wir werden nicht zucken vor dem Henker«, setzte die Tochter wild hinzu. Die Witwe deutete dann, mit einem Blicke der Verachtung, auf Nikolaus und sagte zu ihrer Tochter: »Dieser Feigling wird uns noch auf dem Schafott Schande machen.«
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CXII
E
inige Tage nach der Ermordung der Madame Seraphin, dem Tode der Eule und der Verhaftung der bei Rotarm überraschten Verbrecherbande begab sich Rudolf in die Rue du Temple. Er wollte wissen, ob es der Portiersfrau gelungen war, Cecily in das Haus Ferrands zu bringen. Zu seinem großen Erstaunen sah er, bei seinem Eintritt in die Portierswohnung, Herrn Pipelet im Bette liegen. Anastasia war gerade im Begriff, ihrem Gatten einen Trank zu reichen. Da Alfred, dessen Stirn und Augen unter einer großen Schlafmütze verschwanden, Anastasia nicht antwortete, so schloß diese, daß er schlafe und zog die Bettvorhänge zu. Als sie sich umkehrte, sah sie Rudolf und legte wie ein Soldat die linke Hand an die Perücke. »Ihre Dienerin, mein Mieterkönig! Sie sehen mich in der größten Verzweiflung. Es sind schreckliche Dinge vorgegangen, und nun liegt auch Alfred seit gestern im Bett.« »Was fehlt ihm?« »Immer das alte Lied. Der Unmensch wird ihn noch unter die Erde bringen; ich weiß nicht mehr, was ich anfangen soll.« »Wieder Cabrion?« »Ich glaube bald, daß er der Teufel selber ist, Herr Rudolf, denn er errät immer die Zeit, wann ich ausgegangen bin. Kaum habe ich den Rücken gewendet, so sitzt er meinem Alten auf dem Nacken, und der kann sich nicht wehren. Gestern, als ich zu dem Notar ging…« »Und Cecily?« fragte Rudolf eifrig, »ich kam eben, um zu erfahren…« »Sachte, bester Herr, verwirren Sie mich nicht! – Ich habe ihnen so viel zu erzählen, daß ich in Konfusion gerate, wenn Sie mich irre machen.« »Nun, so werde ich ruhig zuhören.« »Zuerst von dem Hause hier. Denken Sie: Gestern hat man die 554
Mutter Burette verhaftet!« »Weshalb?« »Mein Gott, sie scheint, außer dem Leihgeschäft, noch einige andere Geschäfte betrieben zu haben; sie war Hehlerin, Diebin, schmolz gestohlenes Gold und Silber ein und, was das Schlimmste ist, ihr Liebhaber, Herr Rotarm, der das Haus im ganzen gemietet und wieder vermietet hat, ist ebenfalls verhaftet worden.« »Rotarm, auch verhaftet?« »Ja, selbst seinen Sohn, den boshaften, kleinen Lahmen, hat man eingesteckt. Die Eule, eine Freundin der Mutter Burette, soll erwürgt sein, und wenn man nicht zur rechten Zeit gekommen wäre, würden Sie Madame Mathieu, die Diamantenhändlerin, ermordet haben… Sind das nicht Neuigkeiten?« Rudolf nickte nachdenklich mit dem Kopf, und Anastasia fuhr fort: »Als man die Mutter Burette verhaftete, und als wir erfuhren, daß auch Rotarm eingesteckt sei, sagte ich zu meinem Alten: Du mußt gleich zum Hauswirt laufen und ihm sagen, daß Rotarm sitzt. Alfred machte sich auf den Weg, und nach zehn Minuten kam er zurück, aber in einem Zustand – weiß wie ein Stück Wäsche und keuchend wie ein Ochs.« »Was war geschehen?« »Sie werden es gleich erfahren, Herr Rudolf. Denken Sie sich, zehn Schritte von hier ist eine große weiße Mauer; mein Alter glotzt, wie er aus dem Hause tritt, zufällig auf diese Wand, und was sieht er da, mit Kohle in großen Buchstaben angeschrieben? ›Pipelet – Cabrion‹, diese beiden Namen durch einen dicken Bindestrich verbunden. Meinem Alten wird es schon schlimm; was sieht er aber zehn Schritte weiter? Wieder ›Pipelet – Cabrion‹ mit einem Bindestrich. Er geht weiter, und bei jedem Schritt, Herr Rudolf, sieht er diese verwünschten Namen auf den Mauern der Häuser, auf den Türen, überall: ›Pipelet – Cabrion‹. Meinem Alten wurde es grün und gelb vor den Augen; es war ihm, als sähen ihn alle Vorübergehenden an, und er drückte den Hut über die Ohren, so schämte 555
er sich. Längs der Boulevards, an jedem Ort, wo etwas hingeschrieben werden konnte, stand: ›Pipelet – Cabrion‹! Endlich kam der arme Mann so bestürzt bei dem Hauswirt an, daß dieser nicht verstand, was Alfred ihm sagte; er schickte ihn deshalb wieder fort und nannte ihn einen alten Dummkopf. Gut! Alfred schlug einen anderen Weg ein, um die Namen nicht zu sehen, aber…« »Auch da, ›Pipelet – Cabrion‹?« »Wie Sie sagen, mein bester Herr, so daß mein Alter ganz außer sich nach Hause kam und auswandern wollte. Er erzählte mir die Geschichte, ich beruhigte ihn, so gut ich konnte und ging mit Mademoiselle Cecily zu dem Notar. Sie glauben nun, das sei alles? Gott behüte! Kaum hatte ich den Rücken gewandt, so hatte Cabrion die Frechheit, zwei Mädchen zu Alfred zu schicken. Sehen Sie, die Haare stehen mir zu Berge – ich will Ihnen das aber später erzählen; erst von dem Notar. Ich fahre also mit Mademoiselle Cecily im Wagen fort, wie Sie mir befohlen hatten. – Ich habe viele hübsche Mädchen gesehen, ich habe mich selbst gesehen, aber niemals ein Mädchen, das sich mit Cecily hätte messen können. – Sie hat etwas, man weiß nicht, was es ist, aber es ist etwas, das ist sicher! – Und die Augen! Sehen Sie, Alfred ist nicht so einer, aber als er sie das erste Mal sah, wurde er rot wie ein gesottener Krebs und rutschte auf seinem Schemel hin und her, als säße er auf Brennesseln. Später sagte er mir, er wisse nicht, wie es zugehe, aber der Blick Cecilys habe ihn an die Geschichten Bradamantis von den Wildinnen erinnert, über die Alfred so oft rot geworden war.« »Und der Notar?« »Gleich, Herr Rudolf. Es war etwa sieben Uhr abends, als wir bei Herrn Ferrand ankamen; ich sagte dem Portier, er möge seinem Herrn melden, Madame Pipelet sei da mit dem Mädchen, von dem Madame Seraphin schon mit ihm gesprochen habe. Der Portier stutzte und fragte mich, ob ich wisse, was mit Madame Seraphin geschehen sei; ich antwortete, daß ich von nichts wisse. Ach, Herr Rudolf, das ist wieder eine schreckliche Geschichte.« 556
»Was?« »Die Seraphin ist bei einer Landpartie ertrunken, die sie mit einer ihrer Verwandten gemacht hat.« »Ertrunken? – Bei einer Landpartie im Winter?« sagte Rudolf verwundert. »Mein Gott, ja, Herr Rudolf! – Mich wundert es mehr, als es mich betrübt, denn seit dem Unglück der armen Luise hasse ich die Seraphin, die sie ja angezeigt hat.« »Und Ferrand?« »Der Portier sagte zuerst, er glaube nicht, daß ich seinen Herrn würde sprechen können; sehr bald kam er aber wieder, um mich zu holen. Ich hatte Herrn Ferrand nie gesehen. Guter Gott, wie häßlich! Das ist auch einer von denen, die mir den Thron von Arabien bieten könnten, meinem Alfred einen Streich zu spielen…« »Schien die Schönheit Cecilys dem Notar aufzufallen?« »Kann man das hinter seiner grünen Brille sehen? Als wir eintraten, sprang er von seinem Stuhle auf…« »Wahrscheinlich fiel ihm die Tracht Cecilys auf.« »Anzunehmen; aber nun kam erst das Richtige. Zum Glück erinnerte ich mich des Spruchs, den Sie mir gesagt hatten, Herr Rudolf…« »Welches Spruchs?« »Sie wissen schon: Es genügt, daß einer will, damit der andere nicht will, oder daß einer nicht will, damit der andere will. Ich dachte also bei mir: Ich muß meinem besten Mieter seine Deutsche vom Halse schaffen; nur keck zu! So sagte ich denn zu dem Notar, ohne ihm Zeit zum Nachdenken zu lassen: ›Verzeihen Sie, Herr, daß meine Nichte nach der Mode ihrer Heimat gekleidet erscheint; aber sie ist eben erst angekommen, hat nur dieses Kleid, und ich kann ihr kein anderes machen lassen; es würde auch nicht der Mühe lohnen, denn wir kommen nur, um Ihnen dafür zu danken, daß Sie die Cecily sehen wollten, aber ich glaube kaum, daß sie Ihnen gefallen wird…‹ ›Warum sollte mir ihre Nichte nicht gefallen?‹ antwortete der No557
tar, der sich wieder gesetzt hatte und uns über seine Brillengläser ansah. ›Weil sich bei der Cecily schon das Heimweh einstellt. Sie ist erst drei Tage hier und will schon wieder fort, müßte sie auch unterwegs betteln.‹ ›Sie sind Ihre Tante‹, sagte Ferrand, ›und wollten das zugeben?‹ ›Ich bin freilich ihre Tante, aber sie ist eine Waise, zwanzig Jahre alt und kann tun, was sie will.‹ ›Bah! Tun, was sie will? In ihrem Alter muß man den Verwandten gehorchen!‹ antwortete er barsch. Cecily fing an zu weinen und zu zittern und schmiegte sich an mich; sie fürchtete sich gewiß vor dem Notar.« »Und Jacob Ferrand?« »Er brummte vor sich hin: ›Ein Mädchen in diesem Alter sich selbst überlassen, heißt, sie ins Unglück stürzen. Bettelnd nach Deutschland zurückkehren! Und Sie, ihre Tante, wollen das zugeben?‹ ›Schon gut‹, dachte ich, ›du kommst mir schon, alter Brummbär; ich schwatze dir die Cecily auf oder will nicht Anastasia heißen.‹ ›Freilich bin ich ihre Tante‹, sagte ich also, ›aber es ist eine unglückliche Verwandtschaft; ich lasse die Nichte also lieber gehen als hierbleiben. Hol der Kuckuck die Verwandten, die einem ein erwachsenes Mädchen so mir nichts, dir nichts zuschicken!‹ Cecily weinte laut, der Notar nahm einen Predigerton an und sagte: ›Sie sind Gott Rechenschaft schuldig für das, was die Vorsehung in Ihre Hände legte; es wäre ein Verbrechen, dieses junge Mädchen dem Verderben auszuliefern! Ich will Sie also bei einer mildtätigen Handlung unterstützen, wenn Ihre Nichte mir verspricht, arbeitsam, brav und fromm zu sein, vor allen Dingen aber niemals mein Haus zu verlassen; ich will Mitleid mit ihr haben und sie in meinem Dienst behalten.‹ ›Nein, ich will lieber wieder nach Hause gehen‹, antwortete Cecily zitternd.« »Das Weib hat, wie ich sehe«, dachte Rudolf, »die Befehle Grauns vollkommen verstanden.« Dann setzte der Fürst laut hinzu: 558
»Schien das Widerstreben Cecilys dem Notar unangenehm zu sein?« »Ja, Herr Rudolf; er murmelte etwas zwischen den Zähnen und sagte dann barsch zu ihr: ›Es kommt nicht darauf an, was Sie lieber wollen, Mamsell, sondern auf das, was sich schickt und ziemt; der Himmel wird Sie nicht verlassen, wenn Sie sich gut betragen und Ihre Pflichten erfüllen. Sie werden hier in einem frommen Hause sein; liebt Ihre Tante Sie wirklich, so wird sie mein Anerbieten annehmen. – Im Anfang werden Sie keinen hohen Lohn erhalten, aber später erhöhe ich ihn vielleicht.‹ ›Gut!‹ dachte ich bei mir, ›der ist breitgeschlagen! Dir altem Geizhals und Betbruder habe ich die Cecily aufgeschwatzt. – Die Seraphin war jahrelang in deinem Dienst, und du siehst mir gar nicht danach aus, als dächtest du daran, daß sie gestern ertrunken ist.‹ Dann sagte ich: ›Die Stelle ist gewiß sehr vorteilhaft, aber wenn das Mädchen Heimweh hat…‹ ›Das wird vergehen‹, antwortete der Notar, ›entschließen Sie sich – ja oder nein? – Wenn Sie einwilligen, so bringen Sie morgen abend Ihre Nichte zu mir, mein Portier wird ihr das Nötige sagen. – Was den Lohn betrifft, so gebe ich ihr, für den Anfang, zwanzig Franken monatlich und Kost.‹ ›Fünf Franken werden Sie gewiß noch zulegen, Herr Notar.‹ ›Nein, später, wenn ich mit ihr zufrieden bin. Aber ich muß wiederholen, daß Ihre Nichte niemals ausgehen und keinen Besuch empfangen darf.‹ ›Du lieber Gott, wer soll sie denn besuchen? Sie kennt keinen Menschen in Paris, und wenn Sie wollen, daß sie nicht ausgehen soll, da haben Sie ein sehr einfaches Mittel: Lassen Sie sie angezogen, wie sie ist, und sie wird sich nicht auf die Straße wagen.‹ ›Sie haben recht‹, sagte der Notar, ›übrigens ist es auch ehrenwert, an der Tracht seines Vaterlandes festzuhalten!‹ ›Nun‹, sagte ich zu Cecily, die noch immer weinte, ›entschließe dich, meine Tochter; ein guter Dienst in einem angesehenen Hau559
se findet sich nicht alle Tage; weigerst du dich, so mach, was du willst; ich kümmere mich dann um nichts mehr.‹ Cecily antwortete darauf seufzend, sie wolle bleiben, aber unter der Bedingung, daß sie gehen dürfe, wenn sie in vierzehn Tagen das Heimweh noch gar zu sehr plage. ›Mit Gewalt werde ich Sie nicht halten‹, sagte der Notar, ›und es wird mir nicht schwer, ein Dienstmädchen zu finden. – Da ist das Mietgeld; Ihre Tante wird Sie morgen abend hierherbringen.‹ Cecily hatte nicht aufgehört zu weinen. – Ich nahm in ihrem Namen das lumpige Mietgeld des alten Knickers, und wir gingen wieder.« »Sehr gut, Madame Pipelet; ich vergesse auch mein Versprechen nicht.« »Warten Sie bis morgen«, antwortete Madame Pipelet, »denn Herr Ferrand kann sich anders besonnen haben, wenn ich heute abend mit Cecily zu ihm komme.« »Ich glaube nicht, daß er sich anders besinnt; aber wo ist sie?« »In dem Zimmerchen neben der Wohnung des Kommandanten; sie rührt sich nicht, sieht ergeben aus wie ein Lamm, obgleich sie Augen hat… Augen! – Aber bei dem Kommandanten fällt mir ein: Als er hier war, um beim Einpacken seiner Möbel die Aufsicht zu führen, sagte er, wenn Briefe an eine Madame Vincent kämen, die wären für ihn, und ich möchte sie Rue Mondovi 5 schicken. Der Zeisig läßt sich unter einem Frauennamen schreiben! Aber das ist nicht alles; denken Sie sich, der Mensch hatte die Unverschämtheit, mich zu fragen, was aus seinem Holze geworden sei. ›Ihr Holz!‹ antwortete ich ihm. ›Ihr Holz? Ihr Holz habe ich verbrannt, damit Ihre Möbel nicht beschlagen.‹« Ein klägliches Ächzen Alfreds unterbrach den Redestrom seiner Gattin. »Der Alte erwacht. – Erlauben Sie?« »Gewiß; – übrigens habe ich Sie noch einiges zu fragen.« »Nun, lieber Alter, wie geht's? Herr Rudolf ist da und beklagt dich von ganzem Herzen.« 560
»Ach, Herr«, sagte Alfred, indem er matt das Gesicht hob, »diesmal werde ich nicht wieder aufstehen. – Das Ungeheuer hat mich ins Herz getroffen.« »Herr Rudolf weiß das, aber dein Abenteuer mit den Mädchen kennt er noch nicht.« »Erzählen Sie mir dieses neue Unglück, werter Herr Pipelet.« »Alles, was er bis jetzt getan hat, ist nichts gegen dies. – Ich weiß nicht, ob ich die Kraft haben werde, die Sache zu erzählen – die Scham wird mich hindern.« Pipelet setzte sich mit Anstrengung auf, knöpfte züchtig sein wollenes Jäckchen zu und begann: »Meine Gattin war ausgegangen; in der tiefen Trauer über die neue Prostitution meines Namens, der an allen Wänden der Hauptstadt zu lesen ist, suchte ich mich zu zerstreuen, indem ich mich bemühte, einen alten Stiefel zu besohlen, den ich schon zwanzigmal in die Hand genommen und wieder weggelegt hatte. Ich saß da vor einem Tisch, als ich die Türe aufgehen und ein Frauenzimmer eintreten sah. Ich stand höflich von meinem Schemel auf und legte die Hand an den Hut. In diesem Augenblick trat ein zweites Frauenzimmer herein und riegelte die Türe von innen zu. Ich wunderte mich über dieses vertrauliche Wesen und über das hartnäckige Stillschweigen der Frauenzimmer, die übrigens beide vermummt waren, stand aber doch noch einmal von meinem Stuhl auf und legte die Hand an den Hut. Da, Herr – aber nein, ich werde es nicht über die Lippen bringen – mein Schamgefühl empört sich –« »Nun, blöder Alter, wir sind ja unter uns!« »Da«, fuhr Alfred fort, »da fielen die Mäntel und – was sah ich? Zwei Sirenen ohne alle Bekleidung bis auf ein kurzes, durchsichtiges Gewand. – Ich war wie versteinert. – Beide kamen auf mich zu –, streckten mir die Arme entgegen, als wollten sie mich auffordern, hineinzusinken – Diese Lockungen empörten mich«, fuhr Alfred in keuschem Un561
willen fort, »und ich blieb, nach meiner Gewohnheit, die mich auch in den kritischsten Augenblicken meines Lebens nicht verläßt, völlig unbeweglich auf meinem Schemel sitzen. – Die beiden Sirenen benutzen mein Staunen, kamen näher heran und – ich wurde immer unbeweglicher – umfaßten mich –« »Einen verheirateten Mann zu umarmen… Na, wäre ich nur dagewesen mit meinem Besenstiele«, fiel Anastasia ein, »ich hätte ihnen aufspielen wollen zum Tanz!« »Als ich mich umschlungen fühlte«, fuhr Alfred fort, »war es mir, als müsse mich der Schlag rühren. Da neigte sich eine der Sirenen, die schamloseste, eine große Blondine, über meine Achsel, nahm mir meinen Hut, entblößte mein Haupt, – dann brachte ihre Begleiterin eine Schere zum Vorschein, nahm alles, was mir von Haaren geblieben war, in einen Büschel zusammen und schnitt sie mir ab, wobei sie sang: ›Es ist für Cabrion‹, während das andere freche Mädchen, wie im Chor, wiederholte: ›Es ist für Cabrion – es ist für Cabrion!‹« Nach einem schmerzlichen Seufzer fuhr Alfred fort: »Während dieser unanständigen Beraubung schlug ich die Augen empor und erblickte am Fenster das teuflische Gesicht Cabrions mit seinem Barte und dem spitzen Hut; er lachte, lachte – entsetzlich! Um diesem häßlichen Anblick zu entgehen, schloß ich die Augen. Als ich sie wieder öffnete, war alles verschwunden, und ich saß auf meinem Schemel, mit kahlem Schädel, völlig beraubt. – Sie sehen, mein Herr, Cabrion hat durch List, Hartnäckigkeit und Kühnheit sein Ziel erreicht. – Jetzt, das sehen Sie selbst, bleibt mir nichts übrig, als Frankreich zu verlassen, wo ich leben und sterben zu können hoffte.« Und Alfred sank, mit gefalteten Händen, auf sein Lager zurück. »Im Gegenteil, lieber Alter, jetzt wird er dich in Ruhe lassen, da er dein Haar hat!« »Mich in Ruhe lassen!« rief Herr Pipelet aus, indem er sich rasch wieder aufsetzte, »du kennst ihn nicht, er ist unersättlich. Wer weiß, was er jetzt von mir verlangen wird!« 562
Lachtaube, die in der Tür erschien, machte den Klagen ein Ende. »Kommen Sie nicht herein, Mamsell!« rief Pipelet, »ich liege im Bette.« Während er dies sagte, zog er die Bettdecke bis ans Kinn, und Lachtaube blieb bescheiden in der Tür stehen. »Ich wollte eben zu Ihnen kommen, liebe Nachbarin«, sagte Rudolf. »Warten Sie nur einen Augenblick.« Dann wandte er sich an Anastasia und sagte: »Vergessen Sie nicht, Cecily heute abend zu Herrn Ferrand zu bringen!« »Um sieben Uhr ist sie an Ort und Stelle. Da Madame Morel jetzt gehen kann, werde ich sie bitten, hierzubleiben; ich kann Alfred um keinen Preis allein lassen.«
CXIII
W
ie freue ich mich, Sie zu sehen, Herr Nachbar!« sagte Lachtaube zu Rudolf. »Ich habe Ihnen viel zu erzählen; kommen
Sie!« »Zuerst, liebe Nachbarin, wie geht es Ihnen? – Ich finde Sie blaß – Sie arbeiten gewiß zuviel!« »O nein, Herr Rudolf, aber ich habe Kummer. Je öfter ich den armen Germain sehe, um so trauriger werde ich.« »Er ist also sehr mutlos?« »Mehr als je, Herr Rudolf, und leider fällt alles, was ich tue, um ihn zu trösten, gegen meinen Wunsch aus.« »Erklären Sie mir das, Nachbarin.« »Gestern besuchte ich ihn, um ihm ein Buch zu bringen, um das er mich gebeten hatte, weil es ein Roman war, den wir miteinander gelesen hatten. Bei dem Anblick des Buches traten ihm die Tränen in die Augen…« 563
»Beruhigen Sie sich; ist Germain erst aus dem Gefängnis entlassen, und ist seine Unschuld anerkannt, so wird er seine Mutter und Freunde finden und sehr bald seine Prüfungszeit vergessen.« »Ja, aber bis dahin, Herr Rudolf, wird er noch viel leiden. – Und dann ist das auch noch nicht alles.« »Was gibt es noch?« »Da er der einzige gebildete Mensch unter Verbrechern ist, hassen und peinigen sie ihn. Der Aufseher bat mich, Germain, in dessen eigenem Interesse, aufzufordern, minder stolz zu sein, aber er kann es nicht, es geht über seine Kräfte, und ich fürchte jeden Tag, daß ihm ein Unglück widerfahre.« Dann unterbrach sie sich plötzlich, wischte ihre Tränen ab und fuhr fort: »Da denke ich aber schon wieder nur an mich und vergesse, mit Ihnen von der Schallerin zu sprechen.« »Von der Schallerin?« fragte Rudolf verwundert. »Ich sah sie vorgestern, als ich Luise in St. Lazare besuchen wollte.« »Die Schallerin?« »Ja, Herr Rudolf.« »Das ist nicht möglich!« »Ich versichere Sie, Herr Nachbar, daß sie es war.« »Sie müssen sich geirrt haben.« »Nein, nein; ich erkannte sie gleich; sie ist noch immer so hübsch und sieht so sanft und traurig aus wie sonst.« »Sie in Paris – und ich weiß nichts davon? Ich kann es nicht glauben! Was wollte sie in St. Lazare?« »Wahrscheinlich eine Gefangene besuchen; ich hatte nicht Zeit, sie viel zu fragen; die Alte, die sie begleitete, sah so mürrisch aus und schien große Eile zu haben. – Sie kennen also die Schallerin auch, Herr Rudolf?« »Allerdings.« »So ist es kein Zweifel, daß sie von Ihnen sprach.« »Von mir?« »Ja, Herr Nachbar. – Ich erzählte ihr von dem Unglück Luises und 564
Germains, und da sagte die Schallerin, ein gütiger Mann, den sie kenne, würde den beiden gewiß beistehen; ich fragte natürlich nach dem Namen dieses Mannes, und sie nannte Sie, Herr Rudolf.« »Sie ist es, sie ist es –« »Sie können sich denken, daß wir uns beide über diese Namensähnlichkeit sehr wunderten, und so versprachen wir denn auch einander, uns zu schreiben, ob unser Rudolf derselbe sei. – Nun, Sie scheinen allerdings derselbe zu sein, Herr Nachbar.« »Ja, ich habe mich auch für dieses arme Kind interessiert… Leben Sie wohl, Nachbarin, das, was Sie mir von der Schallerin sagten, zwingt mich, Sie zu verlassen. – Bleiben Sie, Luise und Germain gegenüber, immer verschwiegen über den Schutz, den unbekannte Freunde ihnen gewähren, bis es Zeit sein wird, davon zu sprechen. – Jetzt ist das Geheimnis notwendiger als je. – Wie geht es der Familie Morel?« »Immer besser, Herr Rudolf, die Mutter ist wieder auf den Beinen, und die Kinder erholen sich zusehends. Die ganze Familie verdankt Ihnen das Leben, das Glück. – Aber wie geht es dem armen Morel?« »Auch besser. – Ich habe gestern Nachrichten über ihn erhalten; er scheint von Zeit zu Zeit lichte Augenblicke zu haben, und man darf hoffen, daß er wieder gesund wird. – Mut, Nachbarin! Brauchen Sie nichts? Reicht das, was Sie verdienen, noch immer aus?« »Ach ja, Herr Rudolf; ich arbeite in der Nacht etwas länger.« »Leben Sie wohl, Nachbarin; bald, hoffe ich, werden Sie wieder so lustig singen, daß Ihre Vögel Ihnen kaum zu folgen vermögen.« »Gott geb's. – Leben sie wohl, Herr Nachbar!« Rudolf ging in seine Wohnung, um sofort einen Boten nach Bouqueval zu schicken. In dem Augenblick, in dem er die Rue Plumet betrat, sah er einen Extrapostwagen vor seinem Hause halten; Murph kam aus der Normandie zurück.
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as Gesicht Sir Walters strahlte vor Freude. Als er aus dem Wagen stieg, übergab er einem Diener ein Paar Pistolen, zog seinen Reiseüberrock aus und folgte, ohne erst die Kleider zu wechseln, Rudolf, der ihm ungeduldig in sein Zimmer vorausgeeilt war. »Gute Nachrichten, Hoheit, gute Nachrichten!« sagte der Squire, als er sich mit Rudolf allein sah, »die Elenden sind entlarvt, Herr von Orbigny ist gerettet, – aber eine Stunde später, und ein neues Verbrechen war vollbracht.« »Und die Marquise von Harville?« »Ist ganz glücklich, zu rechter Zeit gekommen zu sein, um ihren Vater einem sicheren Tode zu entreißen.« »Also Polidori…« »War auch diesmal der Helfershelfer der Stiefmutter der Frau Marquise. Welches Ungeheuer ist diese Stiefmutter! Und dieser Polidori…« »Was ist mit ihm?« »Ich habe ihn mit zurückgebracht –« »Du?« »Denken Sie: Zwölf Stunden neben dem Menschen sitzen zu müssen, den ich mehr als irgend etwas in der Welt hasse und verachte. Es war ebenso schlimm, als wäre ich mit einer Schlange gereist.« »Und wo ist Polidori jetzt?« »In dem Haus in der Witwenallee, sicher bewacht…« »Sträubte er sich nicht, dir zu folgen?« »Nein. – Ich ließ ihm die Wahl, entweder sofort durch die französischen Behörden verhaftet zu werden oder mein Gefangener zu sein; da bedachte er sich nicht lange.« »Aber erzähle alles! Ich brenne vor Ungeduld, zu erfahren, wie die Frau und ihr Helfershelfer entlarvt worden sind.« »Das war sehr einfach; ich brauchte nur nach Ihren Anweisungen zu handeln, um die Schändlichen zu vernichten. Aber lesen Sie zu566
erst diesen Brief von der Frau Marquise, der Sie von allem unterrichten wird, was vor meiner Ankunft geschehen war.« Murph übergab Rudolf den Brief der Marquise und fügte hinzu: »Ich war, wie verabredet, statt Frau von Harville zu ihrem Vater zu begleiten, in dem Wirtshaus in der Nähe des Schlosses abgestiegen, um zu warten, bis die Frau Marquise mich rufen lassen würde.« Rudolf las: »Hoheit! Ich werde Ihnen, nach allem, was ich Ihnen schon schuldig bin, auch das Leben meines Vaters verdanken. Ich lasse die Tatsachen sprechen; sie werden Ihnen besser, als ich es vermag, sagen, welche neuen Schätze von Dankbarkeit gegen Sie ich in meinem Herzen aufgehäuft habe. Ich sah die ganze Bedeutung des Rates ein, den Sie mir durch Sir Walter Murph geben ließen, der mich, kurz hinter Paris, auf der Straße nach der Normandie einholte, und eilte in größter Hast nach dem Schlosse Aubiers. Ich weiß nicht, warum mir die Gesichter der Leute, die mich empfingen, so unangenehm erschienen. Ich sah unter ihnen keinen der ehemaligen Diener unseres Hauses. Niemand kannte mich; ich mußte meinen Namen nennen und erfuhr, daß mein Vater seit mehreren Tagen sehr krank sei, und daß meine Stiefmutter einen Arzt aus Paris mitgebracht habe. Ich konnte nicht zweifeln, daß dieser Arzt Polidori war. Alles dies erfuhr ich durch einen Intendanten, der mich in meine Wohnung geleitet hatte und mir sagte, er wolle meine Ankunft meiner Stiefmutter melden. War es Täuschung, Vorurteil? Es schien mir, als sei meine Ankunft selbst den Leuten meines Vaters unangenehm. Alles in dem Schlosse kam mir düster und unheimlich vor. Überall bemerkte ich Spuren von Unordnung und Sorglosigkeit. Meine Unruhe und meine Angst wuchsen mit jedem Augen567
blick. – Nachdem ich meine Tochter und deren Gouvernante in meiner Wohnung untergebracht hatte, wollte ich eben gehen, um meinen Vater zu besuchen, als meine Stiefmutter eintrat. Trotz ihrer Falschheit, trotz ihrer Selbstbeherrschung schien meine plötzliche Ankunft sie gewaltig erschreckt zu haben. ›Der Herr von Orbigny erwartet Ihren Besuch nicht, Madame‹, sagte Sie zu mir. – ›Er ist so krank, daß eine solche Überraschung ihm sehr schädlich sein könnte. – Ich halte es deshalb für ratsam, ihm ihre Ankunft zu verheimlichen; er würde sich nicht erklären können…‹ Ich ließ sie nicht ausreden. ›Es ist ein großes Unglück gesehenen‹, erwiderte ich. – ›Mein Mann ist gestorben, ich komme also, um meine Trauerzeit bei meinem Vater zu verbringen.‹ ›Sie sind Witwe! Das ist ja ein unverdientes Glück!‹ rief meine Stiefmutter unbedacht aus. ›Ich komme aber auch hierher‹, fuhr ich fort, ›weil ich fürchte, daß Sie ebenso glücklich zu werden wünschen, wie Sie mich eben preisen! Ich will also meinen Vater sehen.‹ ›Das ist in diesem Augenblick unmöglich‹, sagte sie erbleichend; ›Ihr Anblick würde ihn zu heftig erschüttern.‹ ›Warum hat man mir keine Nachricht gegeben, daß mein Vater krank ist?‹ fragte ich. ›Herr von Orbigny wünschte es so‹, antwortete meine Stiefmutter. ›Ich glaube Ihnen nicht, Madame, und will mich selbst von der Wahrheit überzeugen‹, entgegnete ich, während ich mich anschickte, aus dem Zimmer hinauszugehen. ›Ich wiederhole, daß Ihr unerwarteter Anblick für Ihren Vater von höchst nachteiligen Folgen sein kann‹, sprach sie, während sie mir den Weg vertrat. ›Ich werde nicht zugeben, daß Sie sich zu ihm begeben, bevor ich ihn mit der nötigen Schonung von Ihrer Ankunft benachrichtigt habe.‹ Ich befand mich in einer peinlichen Verlegenheit. Eine Über568
raschung konnte meinem Vater vielleicht wirklich gefährlich werden; aber andererseits hielt ich, zumal durch die Anwesenheit Polidoris, das Leben meines Vaters für so bedroht, daß ich zwischen der Hoffnung, ihn zu retten und der Besorgnis, ihn zu sehr zu erschüttern, nicht länger schwankte. ›Ich werde meinen Vater sogleich aufsuchen‹, sagte ich also zu meiner Stiefmutter und ging hinaus. Die Frau verlor den Kopf und wollte mich fast mit Gewalt zurückhalten. Dieser Widerstand steigerte meine Angst, ich machte mich aus ihren Händen los, eilte nach dem Zimmer meines Vaters und ging hinein. Ach, Hoheit, ich werde, solange ich lebe, den Anblick nicht vergessen, der sich mir darbot. Mein Vater lag, fast unkenntlich, mit dem Ausdruck des Leidens in allen Zügen, auf einem großen Stuhle. An der Ecke des Kamins stand neben ihm der Doktor Polidori und war eben damit beschäftigt, in eine Tasse, die ihm eine Krankenwärterin reichte, einige Tropfen aus einem Fläschchen zu gießen, das er in der Hand hielt. Ich trat so rasch ein, daß er eine Bewegung der Überraschung machte, einen Blick mit meiner Stiefmutter wechselte, die mir gefolgt war und das Fläschchen wieder auf den Kamin setzte, statt meinem Vater den Trank zu reichen, den er bereitet hatte. Ein Instinkt trieb mich, das Fläschchen an mich zu nehmen. Mein Vater war höchlich erstaunt und schien mich ungern zu sehen. Polidori warf mir einen wütenden Blick zu, und ich fürchtete, er könnte, trotz der Anwesenheit meines Vaters und der Wärterin, das Äußerste gegen mich unternehmen, da er sein Verbrechen fast entdeckt sah. Ich fühlte das Bedürfnis nach Unterstützung und klingelte; es erschien ein Diener meines Vaters, und ich bat ihn, meinem Kammerdiener – der schon Anweisung erhalten hatte – zu sagen, er möchte die Sachen holen, die ich im Wirtshause gelassen hätte. Sir Walter Murph wußte, daß ich ihn auf diese Weise zu mir 569
rufen würde, wenn Gefahr drohte. ›Was soll das bedeuten?‹ fragte endlich mein Vater mit schwacher Stimme. – ›Du hier, Clémence, ohne daß ich dich habe rufen lassen? Und kaum bist du da, so nimmst du das Fläschchen weg, das die Tropfen enthält, die der Doktor mir reichen wollte; kannst du mir erklären…‹ ›Geh hinaus‹, sagte meine Stiefmutter zu der Wärterin. Die Frau gehorchte. ›Beruhige dich, lieber Mann‹, sagte sie dann zu meinem Vater; ›du weißt, daß die geringste Erschütterung dir schädlich sein kann. Da deine Tochter gegen deinen Willen hier ist, und ihre Anwesenheit dir lästig wird, so gib mir deinen Arm; ich werde dich hinausführen. – Indessen wird unser guter Doktor Frau von Harville begreiflich machen, wie unklug, um keinen stärkeren Ausdruck zu gebrauchen, sie sich benommen hat.‹ Und dabei warf sie ihrem Helfershelfer einen bedeutungsvollen Blick zu. Ich erriet die Absicht meiner Stiefmutter. Sie wollte meinen Vater fortführen und mich mit Polidori allein lassen, der in diesem Falle wahrscheinlich Gewalt gebraucht haben würde, um mir das Fläschchen wieder zu entreißen, das als Beweis seiner verbrecherischen Absichten dienen konnte. ›Du hast recht‹, sagte mein Vater zu meiner Stiefmutter. – ›Da man mich selbst in meinem Hause verfolgt, ohne auf meinen Willen zu achten, so will ich der Zudringlichen das Feld räumen.‹ Er erhob sich mit Anstrengung, nahm den Arm, den meine Stiefmutter ihm bot und tat einige Schritte nach dem Nebenzimmer zu. In diesem Augenblicke trat Polidori zu mir, aber ich näherte mich meinem Vater und sagte ihm: ›Ich werde Ihnen die Gründe meines Besuches und meines Benehmens erklären. – Ich bin seit gestern Witwe, und seit gestern weiß ich auch, daß Ihr Leben bedroht ist!‹ Er ging mit Anstrengung, tief gebeugt. Bei meinen Worten blieb 570
er stehen, richtete sich lebhaft empor, sah mich mit Verwunderung an und sagte: ›Du bist Witwe? – Mein Leben ist bedroht? – Was bedeutet das?‹ ›Und wer wagt es, das Leben des Herrn von Orbigny zu bedrohen, Madame?‹ fragte meine Stiefmutter hochmütig. ›Ja, wer bedroht es?‹ setzte Polidori hinzu. ›Sie, mein Herr und Sie, Madame‹, antwortete ich. ›Welche Niedrigkeit!‹ rief meine Stiefmutter aus, indem sie auf mich zu trat. ›Was ich sage, werde ich beweisen, Madame‹, antwortete ich. ›Ich verlasse augenblicklich dieses Haus, da ich so schändlichen Verleumdungen ausgesetzt bin‹, sagte Polidori mit erheucheltem Unwillen. Er wollte ohne Zweifel fliehen, da er seine Lage für bedrohlich zu halten begann. In dem Augenblick, in dem er die Tür öffnete, stand er Sir Walter Murph gegenüber.« Rudolf unterbrach sich hier, reichte dem Squire die Hand und sagte: »Sehr gut, mein alter Freund; deine Gegenwart mußte den Elenden niederschmettern, wie ein Blitzstrahl.« »Sie haben recht: Er wurde totenbleich und wich zwei Schritte zurück, während er mich anstarrte; er mußte glauben, ein Gespenst vor sich zu sehen. – Aber lesen Sie nur weiter, Hoheit; Sie werden sehen, daß auch die teuflische Gräfin niedergedonnert wurde –, da Sie mir von ihrem Besuch bei Bradamanti-Polidori erzählt hatten.« Rudolf las weiter: »Beim Anblick Sir Walters blieb Polidori wie versteinert stehen; meine Stiefmutter konnte sich von ihrem Staunen nicht erholen; mein Vater, der durch diesen Auftritt erschüttert war, mußte sich niedersetzen. Sir Walter verschloß die Türe, durch die er eingetreten war und sagte dann, im Tone tiefsten Respekts, zu meinem Vater: 571
›Ich bitte um Verzeihung, Herr Graf, wegen der Freiheit, die ich mir nehme, aber eine gebieterische Notwendigkeit zwingt mich, so zu handeln. – Ich heiße Walter Murph, wie Ihnen dieser Mensch bestätigen kann, der an allen Gliedern zittert; ich bin Geheimrat Sr. königl. Hoheit des regierenden Großherzogs von Gerolstein…‹ ›Es ist wahr‹, sagte Polidori stotternd. ›Aber, Herr, was wollen Sie hier?‹ ›Sir Walter Murph‹, sagte ich zu meinem Vater, ›schließt sich mir an, um die Elenden zu entlarven, deren Opfer Sie beinahe geworden wären.‹ Dann übergab ich Sir Walter das Fläschchen und setzte hinzu: ›Ich hatte den glücklichen Gedanken, mich dieses Fläschchens in dem Augenblicke zu bemächtigen, in dem der Doktor Polidori einige Tropfen davon meinem Vater geben wollte.‹ ›Ein Sachverständiger wird, in Ihrer Gegenwart, den Inhalt dieses Fläschchens untersuchen, das ich Ihnen übergebe, Herr Graf, und wenn bewiesen ist, daß es Gift enthält‹, sagte Sir Walter zu meinem Vater, ›werden Sie die Gefahr nicht länger bezweifeln, die nur durch die Liebe Ihrer Tochter glücklich abgewendet worden ist.‹ Mein armer Vater sah bald seine Frau, bald den Doktor Polidori, bald mich, bald Sir Walter Murph an, und seine Züge verrieten eine unbeschreibliche Angst. Ich las in seinem Gesicht den heftigen Kampf, der sein Herz zerriß. Ohne Zweifel widerstand er mit aller Kraft dem wachsenden Argwohn, aber er konnte sich der Macht der Tatsachen nicht entziehen, verbarg sein Gesicht in den Händen und rief aus: ›Ach, mein Gott! – Das ist nicht möglich. – Träume ich?‹ ›Nein, es ist kein Traum‹, fiel meine Stiefmutter frech ein, ›wir hören alle die schändliche Verleumdung, die bestimmt ist, eine unglückliche Frau zu verderben, deren einzige Schuld darin besteht, daß sie dir ihr Leben geopfert hat. Komm, lieber Mann, laß uns nicht eine Sekunde länger hier bleiben!‹ 572
›Ja, wir wollen gehen‹, sagte mein Vater; ›es ist nicht wahr, es kann nicht wahr sein, ich will nichts mehr hören; Argwohn würde die wenigen Tage vergiften, die ich noch zu leben habe, und nichts würde mich für eine solche schändliche Entdeckung entschädigen.‹ Mein Vater sah so leidend aus, daß ich um jeden Preis dieser Szene ein Ende machen wollte. Sir Walter erriet meine Gedanken; da er aber Gerechtigkeit üben wollte, sagte er zu meinem Vater: ›Nur noch einige Worte, Herr Graf; Sie werden, bei allem Kummer, einen sicheren Trost in der Liebe Ihrer Tochter finden, die Ihnen nie gefehlt hat.‹ ›Das überschreitet alle Grenzen‹, fiel meine Stiefmutter in höchstem Zorn ein; ›mit welchem Recht, Herr, und mit welchen Beweisen wagen Sie, Ihre schändlichen Verleumdungen zu begründen? Sie behaupten, das Fläschchen enthalte Gift? Ich leugne das und werde es leugnen, bis das Gegenteil bewiesen ist; sollte aber Doktor Polidori, aus Versehen, eine Arznei mit der anderen verwechselt haben, so ist das kein Grund, mich zu beschuldigen. Noch einmal, Herr, ich frage Sie, wie Sie und Madame die entsetzliche Beschuldigung begründen wollen.‹ ›Ja, wie…?‹ fragte mein unglücklicher Vater. – ›Die Folter, der man mich aussetzt, muß ein Ende nehmen.‹ ›Ich bin nicht ohne Beweise gekommen, Herr Graf‹, erwiderte Sir Walter. ›Und diese Beweise werden Ihnen sofort die Antworten dieses Elenden geben.‹ Dann redete Sir Walter Polidori deutsch an, der sich etwas beruhigt zu haben schien, die Fassung aber gleich wieder verlor.« »Was sagtest du zu ihm?« fragte Rudolf, der sich im Lesen unterbrach. »Einige bedeutungsvolle Worte, ungefähr folgende: ›Du bist durch die Flucht der Verurteilung entgangen, die die Justiz des Großherzogtums über dich ausgesprochen hatte; du wohntest in der Rue 573
du Temple unter dem falschen Namen Bradamanti; man weiß, welches Handwerk du treibst; du hast die erste Frau des Grafen vergiftet; vor drei Tagen war Frau von Orbigny bei dir, um dich hierher zu holen und ihren Mann durch dich vergiften zu lassen; Se. Hoheit ist in Paris und hat die Beweise von allem, was ich hier sage, in Händen. – Wenn du die Wahrheit gestehst, um diese Frau zu entlarven, so darfst du eine Milderung der Strafe erhoffen, die dich erwartet. Du wirst mir nach Paris folgen, wo ich dich an einem sicheren Ort unterbringen werde, bis Se. Hoheit über dich entschieden hat. Wenn nicht, so hast du zu wählen: entweder Se. Hoheit verlangt deine Auslieferung, die nicht verweigert werden wird, oder ich lasse selbst aus der nächsten Stadt die Polizei kommen. – Dieses Fläschchen mit Gift überliefere ich ihr, man wird dich sofort verhaften und in deiner Wohnung Haussuchung halten; dann mag die französische Justiz ihres Amtes walten. Wähle!‹ Diese Enthüllungen, Anklagen und Drohungen, die, wie er wohl wußte, vollkommen begründet waren und Schlag auf Schlag folgten, schmetterten den Elenden völlig nieder. In der Hoffnung, seine Strafe zu mildern, zögerte er nicht, seine Mitschuldige zu opfern und antwortete: ›Fragen Sie mich, und ich werde die Wahrheit sagen.‹« »Gut, gut, mein Murph. Das war eine deiner würdige Leistung!« »Während meines Gespräches mit Polidori veränderten sich die Züge der Stiefmutter der Frau von Harville auf eine grauenhafte Weise. Sie sah an der zunehmenden Angst ihres Mitschuldigen, an seiner bittenden Haltung, daß ich ihn vollkommen beherrschte.« »Und der Graf?« »Seine Erschütterung war unbeschreiblich; er hielt sich mit den Händen krampfhaft an der Lehne seines Stuhles fest; er atmete kaum, seine Augen wendeten sich von den meinigen nicht mehr ab… Der Brief der Frau von Harville wird Ihnen das Ende dieses Auftrittes schildern.«
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udolf las weiter: »Nach einem Gespräch in deutscher Sprache zwischen Sir Walter Murph und Polidori, das einige Minuten dauerte, sagte Sir Walter: ›Jetzt antworten Sie! Nicht wahr, Sie sind durch Madame –‹, und er deutete auf meine Stiefmutter ›– bei der Krankheit der ersten Frau des Herrn Grafen als Arzt eingeführt worden?‹ ›Ja, durch sie‹, antwortete Polidori. ›Haben Sie nicht, um den verbrecherischen Plänen der Frau zu dienen, durch Ihre mörderischen Mittel die anfangs leichte Krankheit der Gräfin von Orbigny tödlich verlaufen lassen?‹ ›Ja‹, antwortete Polidori. Mein Vater stieß einen schmerzlichen Seufzer aus. ›Lügen!‹ rief meine Stiefmutter aus. – ›Alles ist falsch; sie haben sich verständigt, um mich unglücklich zu machen.‹ ›Schweigen Sie, Madame‹, herrschte Sir Walter sie an. Dann fuhr er fort, zu Polidori gewendet: ›Ist es wahr, daß Madame vor drei Tagen in der Rue du Temple 17 gewesen ist, wo Sie, unter dem falschen Namen Bradamanti, wohnen?‹ ›Ja.‹ ›Hat Madame Sie aufgefordert, hierher zu kommen, um den Grafen von Orbigny zu ermorden, wie Sie dessen Frau ermordet haben?‹ ›Ich kann es nicht leugnen‹, antwortete Polidori. Bei diesem Geständnis richtete sich mein Vater auf, wies, mit gebieterischer Gebärde, meiner Mutter die Türe, breitete dann die Arme gegen mich aus und sprach mit von Schluchzen halberstickter Stimme: ›Im Namen deiner unglücklichen Mutter – Vergib! – Vergib! Ich habe ihr viele Schmerzen bereitet, aber, ich schwöre es dir –, 575
von dem Verbrechen, das sie ins Grab gebracht, wußte ich nichts.‹ Ehe ich es hindern konnte, sank mein Vater vor mir auf die Knie. Als Sir Walter und ich ihn aufhoben, war er ohnmächtig. Ich klingelte nach den Leuten; Sir Walter nahm Polidori am Arm und ging mit ihm hinaus, während er zu meiner Stiefmutter sagte: ›Verlassen Sie, wenn Sie klug sind, binnen einer Stunde dieses Haus, oder ich überliefere Sie der Justiz!‹ Als mein Vater wieder zur Besinnung kam, erschien ihm alles, was um ihn her vorgegangen war, wie ein grauenvoller Traum. Ich sah mich in die traurige Notwendigkeit versetzt, ihm meinen ersten Verdacht über den vorzeitigen Tod meiner Mutter zu erklären, einen Verdacht, den Ihre Kenntnis der Verbrechen Polidoris in Gewißheit umgewandelt hatte. Ich mußte ferner meinem Vater sagen, wie meine Stiefmutter mich mit ihrem Haß bis in meine Ehe verfolgt und welche Absicht sie gehabt hatte, als sie mich Harville zur Frau gab. So schwach, so verblendet mein Vater gegen diese Frau gewesen war, so hart und unbarmherzig wollte er nun gegen sie sein; er wollte sie den Gerichten überliefern. Ich empfahl ihm dagegen, den Skandal zu vermeiden und meine Stiefmutter für immer aus seiner Nähe zu verbannen, ihr aber den notwendigen Lebensunterhalt zu sichern, da sie einmal seinen Namen führe. Es wurde mir ziemlich schwer, meinen Vater zu bewegen, und er wollte dann mir den Auftrag geben, die Frau aus dem Hause zu weisen. Dieser Auftrag war mir indes doppelt peinlich, und ich meinte, Sir Walter übernähme ihn vielleicht. – Er willigte auch ein.« »Mit Freuden willigte ich ein«, sagte Murph zu Rudolf; »ich wüßte nichts, was mir größeres Vergnügen machte, als Menschen dieser Art die letzte Ölung zu geben.« »Und die Frau?« 576
»Frau von Harville war wirklich so gütig gewesen, ihren Vater um ein Jahresgehalt von hundert Louisdor für sie zu bitten. Ich hielt das nicht für Güte, sondern für Schwäche; es kam mir unrecht vor, ein so gefährliches Geschöpf der Justiz zu entziehen. Wir kamen schließlich überein, der Elenden höchstens, und zwar ein für allemal, fünfundzwanzig Louisdor zu geben, um sie in den Stand zu setzen, sich gelegentlich eine Anstellung oder Arbeit zu verschaffen. – ›Welche Arbeit könnte ich, die Gräfin von Orbigny, annehmen?‹ fragte sie mich unverschämt. ›Das ist Ihre Sache‹, antwortete ich, ›werden Sie Krankenwärterin oder Haushälterin, suchen Sie, wenn Sie meinem Rate folgen wollen, das niedrigste Gewerbe, denn wenn Sie die Frechheit haben sollten, Ihren Namen zu nennen, den Sie einem Verbrechen verdanken, so würde man sich erkundigen, und die Folgen mögen Sie sich selbst denken.‹ – Eine Viertelstunde nach diesem Gespräch war die Frau unterwegs nach der nächsten Stadt.« »Ich habe meinen Vater leicht bestimmt, heute noch Aubiers zu verlassen«, las Rudolf weiter, »es würden ihn hier zu traurige Erinnerungen verfolgen; obgleich sein Gesundheitszustand schwankend ist, so können doch die Zerstreuungen einer Reise von einigen Tagen wie eine Luftveränderung nur heilsam für ihn sein, wie der Arzt sagte, den ich gleich aus der Stadt kommen ließ. Mein Vater verlangte eine Untersuchung des Inhaltes des Fläschchens. Das Resultat lautete dahin, daß mehrere Dosen dieser mit teuflischer Kunst bereiteten Flüssigkeit den Tod herbeiführen könnten, ohne daß sie eine andere Spur als die einer gewöhnlichen Krankheit hinterließen. In wenigen Stunden reise ich mit meinem Vater und meiner Tochter nach Fontainebleau ab, wo wir einige Zeit zu bleiben gedenken; dann werden wir, nach dem Wunsche meines Vaters, wieder nach Paris kommen, aber nicht in meinem Hause wohnen, in dem ich, nach dem schmerzlichen Ereignis, nicht weilen kann. Die Tatsachen beweisen also, was ich Ihrer Güte und Fürsor577
ge verdanke. Durch Sie gerettet, durch Ihren Rat unterstützt, mit Hilfe Ihres vortrefflichen und mutigen Sir Walter vermochte ich meinen Vater einer sicheren Gefahr zu entreißen und gewann mir seine Liebe wieder. Leben Sie wohl, Hoheit; es ist mir unmöglich, Ihnen mehr zu sagen; mein Herz ist von zu vielen Gefühlen bestürmt, als daß ich ausdrücken könnte, was es empfindet Clémence v. Harville, geb. v. Orbigny.« »Ich öffne eilig diesen Brief noch einmal, um ein Versehen wieder gutzumachen. – Sie wissen, daß ich mich ins St.-LazareGefängnis begeben hatte, um die armen Gefangenen zu besuchen; aber Sie wissen nicht, daß ich im Gefängnis ein unglückliches Mädchen fand, für das Sie sich interessiert haben. – Ihre Milde und Ergebenheit erregen die Bewunderung der Aufseherinnen. – Ich brauche Ihnen nur zu sagen, wo die Schallerin sich befindet (so heißt sie, wenn ich nicht irre), damit Sie sofort ihre Befreiung durchsetzen. – Die Unglückliche wird Ihnen erzählen, durch welches Zusammentreffen widriger Umstände sie dem Asyl entrissen worden ist, in das Sie sie gebracht hatten. Erlauben Sie mir auch, Sie an meine beiden zukünftigen Schutzempfohlenen zu erinnern, an die unglückliche Mutter und deren Tochter, die der Notar Ferrand beraubt hat. Wo sind sie? Haben Sie etwas über ihren Aufenthalt ermittelt? Ach, bemühen Sie sich, ihre Spur zu finden, damit ich, nach meiner Rückkehr, die Schuld einlösen kann, die ich gegen alle Unglücklichen übernommen habe.« »Die Schallerin hat also Bouqueval verlassen, Hoheit?« fragte Murph, über diese Mitteilung ebenso erstaunt, wie Rudolf. »Eben hat man mir berichtet, man habe sie aus St. Lazare fortgehen gesehen«, antwortete Rudolf. »Ich begreife das nicht; das Stillschweigen der Madame Georges beunruhigt mich. Schicke einen reitenden Boten nach Bouqueval und schreibe an Madame 578
Georges, sie möge sofort nach Paris kommen!« »Geduld, Hoheit; noch vor heute abend sollen Sie alles wissen… Polidori hat übrigens, wie er sagt, wichtige Enthüllungen zu machen, die er aber nur Ihnen allein mitteilen will.« »Das Zusammentreffen mit ihm wird mir sehr peinlich sein«, sagte Rudolf, »denn ich habe diesen Menschen seit jenem Unglückstage nicht gesehen…« Rudolf konnte nicht weitersprechen; er schlug die Hände vors Gesicht. »So zwingen Sie Polidori, seine Aussagen vor mir zu machen! Sie haben die Möglichkeit dazu.« »Du hast recht, armer Freund, die Gegenwart dieses Elenden würde alle die schrecklichen Erinnerungen wecken, an die sich so viele Schmerzen knüpfen –, vom Tode meines Vaters an bis zu dem meiner armen kleinen Tochter. – Je älter ich werde, um so mehr vermisse ich dieses Kind…« Nach einer Pause fuhr Rudolf fort: »Ich kann dir ein Geständnis ablegen, alter Freund: ich liebe eine Frau, die der hingebungsvollsten Liebe wert ist. Seitdem vermisse ich meine Tochter um so schmerzlicher.« Um Rudolf von seinen traurigen Gedanken abzulenken, fragte Murph: »Haben Sie seit meiner Abreise nichts von der Gräfin Sarah gehört?« »Nein, seit ihren schändlichen Intrigen, die Frau von Harville beinahe ins Unglück gestürzt hätten, weiß ich nichts mehr von ihr. Ihre Anwesenheit hier ist mir lästig; es ist mir, als bedrohe mich ein neues Unglück –« »Geduld, Hoheit! Zum Glück darf sie Deutschland nicht betreten, und Deutschland erwartet uns.« »Ja, wir reisen bald ab. – Sobald der Sohn der Madame Georges ihrer Liebe zurückgegeben, sobald Ferrand seiner Verbrechen überführt und dafür gestraft ist, sobald ich die Zukunft aller der Leute gesichert habe, die meine Teilnahme verdienen, kehren wir 579
nach Deutschland zurück, und meine Reise wird nicht fruchtlos gewesen sein.« »Besonders, wenn es gelingt, Ferrand zu entlarven!« »Obgleich der Zweck die Mittel heiligt, und Bedenken diesem Schurken gegenüber keineswegs angebracht sind, bedauere ich doch zuweilen, Cecily in den Dienst dieser Vergeltung gestellt zu haben.« »Sie kann jeden Augenblick ankommen…« »Sie ist schon da!« »Hoheit wissen es?« »Ja. – Ich mochte sie nicht sehen; Graun hat ihr sehr ausführliche Instruktionen gegeben, und sie hat versprochen, danach zu handeln.« »Wird sie das Versprechen halten?« »Sie hat allen Grund dazu, denn Graun wird sie nicht aus den Augen lassen; bei dem geringsten Ungehorsam wird er ihre Auslieferung verlangen.« »Mit Recht; sobald man erfährt, welche Verbrechen ihre lebenslängliche Einkerkerung veranlaßt haben, wird man ihre Auslieferung unbedenklich bewilligen.« »Übrigens ist der Baron Graun über den Scharfsinn fast erschrocken, mit dem sie die Rolle erfaßte, die sie bei dem Notar spielen soll.« »Hat er sie schon gesehen?« »Gestern. Nach der Erzählung der Frau Pipelet zweifle ich nicht, daß er schon bezaubert ist, denn er hat sie sofort in seinen Dienst genommen.« »So ist die Partie gewonnen!« »Ich hoffe es.« »Und David?« »Er billigt alles. – Bei der Verachtung und dem Abscheu, die er jetzt gegen seine Frau empfindet, sieht er in ihr nichts als das Werkzeug einer gerechten Rache.« Es klopfte leise an die Türe; Murph ging hinaus und kam mit zwei Briefen zurück, von denen einer für Rudolf bestimmt war. 580
»Ein paar Worte von Madame Georges!« rief er, indem er den Brief schnell überlas. »Nun?« »Kein Zweifel mehr«, sagte Rudolf, »es handelt sich wieder um einen verbrecherischen Anschlag. Abends, nachdem das arme Kind von Bouqueval verschwunden war, kam ein Mann, den sie nicht kannte, angeblich von mir, um sie zu beruhigen. Er sagte ihr, ich sei von dem plötzlichen Verschwinden der Marienblume unterrichtet und würde sie nach einigen Tagen selbst zurückbringen. Trotzdem ängstigt sich Madame Georges und kann, wie sie sagt, dem Wunsche nicht länger widerstehen, Nachricht von ihrer Tochter zu erhalten.« »Hoheit«, sagte Murph plötzlich, »der Gräfin Sarah ist diese Entführung sicherlich nicht fremd!« »Sarah? Warum glaubst du das?« »Ich sehe die Verbindung zwischen der Entführung und den Verleumdungen gegen Frau von Harville.« »Du hast recht«, entgegnete Rudolf, »jetzt begreife ich… Die Gräfin hält hartnäckig an dem Glauben fest, wenn sie alle Bande der Liebe zerreiße, die mich ihrer Meinung nach fesseln, würde sie in mir das Bedürfnis wecken, mich ihr wieder zu nähern. – Aber eine solche Verfolgung muß enden! – Schicke sogleich den Baron von Graun offiziell zur Gräfin, damit er ihr erkläre, ich würde, falls das arme Mädchen nicht schleunigst ihre Freiheit wiederfände, die Hilfe der Justiz gegen sie in Anspruch nehmen.« »Nach dem Briefe der Frau von Harville wäre die Schallerin in St. Lazare?« »Ja, aber Lachtaube versichert, sie frei vor dem Gefängnis gesehen zu haben. – Es besteht hier ein Geheimnis, das aufgeklärt werden muß!« »Ich werde Graun sogleich Ihre Befehle überbringen, aber erlauben Sie mir, diesen Brief zu öffnen. Er ist von meinem Korrespondenten in Marseille, dem ich den Schurimann empfohlen hatte; er sollte dem armen Teufel die Überfahrt nach Algier erleichtern.« »Nun, ist er abgereist?« 581
»Seltsam!« »Was gibt es?« »Der Schurimann hat, nachdem er in Marseille auf ein nach Algier segelndes Schiff gewartet hatte und immer trauriger geworden war, an dem zur Abfahrt festgesetzten Tage plötzlich erklärt, er wolle lieber nach Paris zurückkehren.« »Welche Torheit!« »Obgleich ihm mein Korrespondent eine ziemlich bedeutende Summe zur Verfügung gestellt hatte, nahm er doch nur das, was er zur Not brauchte, um wieder nach Paris zu kommen, wo er bald eintreffen muß.« »So wird er uns seine Sinnesänderung selbst erklären; aber schicke den Baron sofort zur Gräfin MacGregor und geh du selbst ins Gefängnis, um dich nach Marienblume zu erkundigen!« Nach einer Stunde kam der Baron von Graun von der Gräfin Sarah MacGregor zurück. Der sonst so ruhige und gemessene Diplomat sah höchst bestürzt aus; Rudolf bemerkte es sofort und fragte: »Nun, Graun, was ist Ihnen? Haben Sie die Gräfin gesehen?« »Ach, königliche Hoheit!« »Was ist geschehen?« »Bereiten sich Hoheit auf eine betrübliche Nachricht vor!« »Ist die Gräfin gestorben?« »Nein, Hoheit, aber man zweifelt an ihrem Aufkommen; sie ist das Opfer eines Überfalles.« »Eines Überfalles… Ahnt man, wer der Täter ist?« »Nein, man weiß nur, daß es ein Raubmordversuch war; man hat sich ins Zimmer der Gräfin eingeschlichen und eine große Menge Juwelen geraubt.« »Wie geht es ihr jetzt?« »Ihr Zustand ist fast hoffnungslos; sie hat ihr Bewußtsein noch nicht wiedererlangt…« »Sie müssen sich jeden Tag nach ihr erkundigen, lieber Baron.« In diesem Augenblick kam Murph von St. Lazare zurück. 582
»Vernimm zuerst eine traurige Nachricht«, sagte Rudolf, »die Gräfin Sarah ist von Mördern überfallen worden, ihr Leben schwebt in höchster Gefahr.« »Das tut mir leid, trotz allem…« »Und was bringst du von der Schallerin?« »Sie ist gestern in Freiheit gesetzt worden; wie man vermutet, durch Vermittlung der Frau von Harville.« »Das ist nicht möglich. – Die Marquise bittet mich ja, die nötigen Schritte zu tun…« »Man hat mir berichtet, daß eine bejahrte Frau von anständigem Aussehen erschienen ist und den Befehl vorgelegt hat, Marienblume in Freiheit zu setzen. Beide haben dann das Gefängnis verlassen.« »Das hat mir Lachtaube auch gesagt; wer aber ist die Frau die Marienblume abgeholt hat? Wohin sind sie gegangen? Welches neue Geheimnis…! Aber«, setzte Rudolf nach einer Weile, in Gedanken versunken, hinzu, »der Name der Person muß ermittelt werden, die sich für Marienblume interessierte und die Freilassung bewirkte; auf diese Weise muß man irgend etwas erfahren.« »Sehr richtig.« »Suchen Sie die Person so bald als möglich zu ermitteln, lieber Graun; gelingt es Ihnen nicht, so schicken Sie Badinot aus und sparen Sie weder Kosten noch Mühe, die Spur des armen Kindes aufzufinden.« »Hoheit können auf meinen Eifer rechnen.« »Wahrhaftig«, sagte Murph, »es kann uns nur von Nutzen sein, daß der Schurimann wiederkommt; er wird uns bei unseren Nachforschungen helfen.«
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CXVI
E
s waren mehrere Tage vergangen, seit Ferrand Cecily in seinen Dienst genommen hatte… In der Schreibstube des Notars geschah – es war um die Mittagszeit – etwas Unerhörtes. Statt des mageren und keineswegs verlockenden Ragouts, das die selige Madame Seraphin den jungen Leuten jeden Morgen zu bringen pflegte, thronte ein ungeheurer kalter Truthahn in der Mitte eines der Tische; er thronte neben zwei weißen Broten, einem holländischen Käse und drei versiegelten Weinflaschen; ein bleiernes Schreibzeug diente als Salz- und Pfeffergefäß. Jeder Schreiber wartete mit fürchterlichem Appetit auf die Eßstunde; einige verwünschten bereits die Abwesenheit des ersten Schreibers, ohne den man, der Ordnung halber, das Essen nicht beginnen konnte. In Erwartung des sündhaft leckeren Mahles entspann sich ein lebhaftes Geplauder. Einer, ein besonders Gemütloser, sagte: »Wie gut ist es doch, daß der liebe Gott die Mutter Seraphin zu sich genommen hat, denn nun sind wir doch von ihrer Kost befreit!« »Deshalb sage ich, was Gott tut, das ist wohlgetan! Er konnte nichts Besseres tun, als die Mutter Seraphin von uns nehmen.« »Zu ihrer Zeit würde uns der Notar gewiß nicht vierzig Sous gegeben haben.« »Es gibt keine Schreibstube in Paris…« »In Europa…« »In der ganzen Welt, wo ein Schreiber vierzig Sous zum Frühstück kriegt!« »Wer von euch hat schon die neue Magd gesehen?« »Ich noch nicht.« »Es ist rein unmöglich; der Herr hält sie versteckt.« »Ich habe sie gesehen!« 584
»Wie sieht sie aus?« »Ist sie groß oder klein?« »Jung oder alt?« »So hübsch und liebenswürdig, wie die arme Luise ist sie nicht…« »Wie sieht sie aus? So rede doch!« »Wenn ich sage, ich habe sie gesehen, so habe ich ihr Häubchen gesehen – ein närrisches Ding.« »Wieso?« »Es war kirschrot, so ungefähr, wie es die Besenverkäuferinnen tragen.« »Nun, das wäre begreiflich; sie ist ja eine Elsässerin.« »Ich finde übrigens, daß der Herr seit einigen Tagen sehr verstört aussieht.« »Ich halte ihn für krank. – Seit zehn Tagen ist er kaum mehr zu erkennen.« »Und zerstreut ist er, zerstreut! Letzthin nahm er seine Brille ab, um ein Aktenstück zu lesen; seine Augen waren rot, wie glühende Kohlen.« »Und ich, ich war vor ein paar Tagen beim Notar vorn, um Klienten anzumelden, die nicht länger warten wollten.« »Nun?« »Herr Ferrand hatte die Arme auf den Schreibtisch gelegt und seine Stirn auf die Hände gestützt; er rührte sich nicht.« »Schlief er?« »Ich glaubte es, trat näher und sagte: ›Herr Ferrand, es sind Leute da, die Sie bestellt haben.‹ Er rührte sich nicht. ›Herr!‹ – Keine Antwort. Endlich legte ich die Hand auf seine Achsel; da fuhr er empor, als hätte ihn der Teufel gepackt. Bei der raschen Bewegung fiel ihm die Brille von der Nase, und ich sah… Ihr werdet es nicht glauben…« »Nun, was sahst du?« »Tränen.« »Ferrand weinen! Geh!« »Wenn ich das sähe, glaubte ich auch, daß die Maikäfer Trom585
pete blasen.« »Und die Hühner Stiefel tragen.« »Ihr mögt sagen, was ihr wollt: ich weiß, was ich gesehen habe.« Diese interessante Unterhaltung wurde durch den ersten Schreiber unterbrochen, der geschäftig eintrat; aller Augen richteten sich auf den Truthahn. »Ich will Ihnen keinen Vorwurf machen, Herr, aber Sie lassen verdammt lange auf sich warten«, sagte Chalamel. »Es ist nicht meine Schuld! Ich muß mehr aushalten, als ihr euch einbildet. – Ich glaube, Ferrand ist verrückt.« »Habe ich es euch nicht gesagt!« »Das hindert uns aber nicht am Essen!« »Im Gegenteil…« »Wir können auch mit vollem Munde reden.« »Sogar besser!« fiel der Laufbursche ein, während Chalamel den Truthahn zerlegte und zu dem ersten Schreiber sagte: »Warum halten Sie Ferrand für verrückt?« Der erste Schreiber erwiderte, mit wichtiger Miene: »Zuerst müßt ihr wissen, daß der Portier seit einigen Tagen um die Gesundheit Ferrands besorgt war; er hatte ihn nämlich wiederholt in der Nacht beobachtet, wie er, trotz Kälte und Regen, ruhelos auf und ab ging. – Einmal wagte er, aus seiner Stube herauszutreten und ihn zu fragen, ob er etwas brauche. – Ferrand schickte ihn aber in einem Ton zu Bett, daß der Portier sich seitdem ganz ruhig verhalten hat!« »Ob er am Ende mondsüchtig ist?« »Das dürfte nicht wahrscheinlich sein; aber hört weiter zu! Ich ging eben in das Kabinett Ferrands, um mir Unterschriften zu holen. In dem Augenblick, da ich die Hand auf die Klinke legte, war mir, als hörte ich sprechen; ich blieb stehen und vernahm deutlich ein dumpfes Aufschreien, wie erstickte Klagetöne. Nachdem ich einige Augenblicke gezögert hatte, machte ich schließlich die Türe auf, da ich wahrhaftig ein Unglück fürchtete…« »Nun?« 586
»Was sah ich? – Ferrand lag auf den Knien…« »Er ist ja ein Betbruder und wird ein Extragebet verrichtet haben.« »Ich blieb stehen, als Ferrand sich plötzlich aufrichtete und sich umdrehte; er hatte ein altes kariertes Taschentuch zwischen den Zähnen; seine Brille lag auf dem Stuhle. – Nein, meine Herren, ich habe in meinem Leben kein solches Gesicht gesehen. – Ich prallte, auf Ehre, zurück, und er…« »Packte Sie an der Kehle?« »Fehlgeschossen! Anfangs sah er mich verstört an, dann ließ er das Taschentuch fallen, das er zernagt und zerbissen hatte, warf sich in meine Arme und jammerte: ›Ach, ich bin sehr unglücklich!‹« »Was mag er haben?« »Ich weiß es wahrhaftig nicht, so viel ist aber gewiß, daß es aus einem ganz anderen Loche pfiff, als er seine Kaltblütigkeit wiedererlangt hatte; er kniff die Augenbrauen zusammen und schimpfte, ohne mir zu einer Antwort Zeit zu lassen: ›Was suchen Sie hier? … Kann ich nicht einmal in meinem Zimmer vor Spionen sicher sein? Was haben Sie gehört? Antworten Sie!‹ Er sah so schrecklich aus, daß ich erwiderte: ›Ich habe nichts gehört, ich bin eben erst hereingekommen.‹ – ›Was wollen Sie?‹ – ›Sie um Unterschriften bitten.‹ – ›Geben Sie her!‹ Und er fing an zu unterschreiben, ohne etwas zu lesen, rasch, rasch, wie im Krampf. Nachdem alles unterzeichnet war, hieß er mich gehen.« »Vielleicht grämt er sich über den Tod der Madame Seraphin?« »Der, und sich grämen!« »Es fällt mir auch ein, daß der Portier erzählte, der Geistliche wäre mehrmals dagewesen, aber stets abgewiesen worden. – Das ist doch auch wunderbar!« »Ich möchte nur wissen, was Tischler und Schlosser in dem Hause zu arbeiten hatten.« »Ja, sie waren drei volle Tage beschäftigt.« »Vielleicht tut es ihm leid, daß er Germain hat einsperren lassen?« »Der Herr kommt!« rief der Laufbursche in die Schreibstube hinein, indem er gleich darauf, das Truthahngerippe in der Hand, selbst 587
erschien. Die jungen Leute kehrten eilig auf ihre Plätze zurück und fingen an zu schreiben, während der Laufbursche das Truthahngerippe in einen großen Pappkasten legte. Jacob Ferrand erschien wirklich. Sein eingefallenes Gesicht war bleich. Den Ausdruck seiner Augen konnte man unter den grünen Brillengläsern nicht sehen, aber die Veränderung, die in seinen Zügen vorgegangen war, wirkte erschütternd. Er ging langsam durch die Schreibstube, ohne ein Wort zu sagen, ging in das Zimmer des ersten Schreibers hinein, durch dieses hindurch und, auf der kleinen Treppe, die in den Hof führte, wieder hinunter. Da Ferrand alle Türen hinter sich offen ließ, konnten die Schreiber feststellen, daß der Notar wie ein Geist durch die Räume wandelte und treppauf, treppab in seinem Hause irrte.
CXVII
E
s war Nacht. Die tiefe Stille, die in Ferrands Hause herrschte, wurde nur durch das Geheul des Windes und das Plätschern des Regens unterbrochen, der in Strömen vom Himmel fegte. In einem behaglich eingerichteten, mit weichen Teppichen belegten Schlafzimmer im ersten Stock stand eine junge Frau vor dem Kamin, in dem ein lustiges Feuer flackerte. In der Mitte der sorgfältig verriegelten Tür, dem Bette gegenüber, befand sich, seltsamerweise, ein kleines, fünf bis sechs Zoll im Quadrat messendes Türchen, das von außen geöffnet werden konnte. Die junge Frau vor dem Kamin war Cecily, die Kreolin. 588
Da sie durch den Baron von Graun über das Schicksal Luises unterrichtet war und wußte, wie die unglückliche Tochter Morels die Beute des Notars geworden war, hatte sie bei ihrem Eintritt in das Haus alle Vorsichtsmaßregeln ergriffen, um die Nacht in Sicherheit zu verbringen. Gleich am Abend ihrer Ankunft, als sie allein mit Ferrand war, hatte sie ihm gestanden, sie fürchte sich vor Spitzbuben, aber sie sei stark und auch durchaus bereit, sich zu verteidigen. »Womit?« »Damit!« antwortete die Kreolin, indem sie einen kleinen Dolch zog, dessen Anblick den Notar nachdenklich stimmte. Da er aber überzeugt war, seine neue Magd fürchte sich eben nur vor Dieben, so führte er sie in ihre Kammer. Nachdem Cecily sie gemustert hatte, sagte sie, zitternd und mit niedergeschlagenen Augen, sie würde die Nacht auf einem Stuhl verbringen, da sie an der Tür weder Schloß noch Riegel sehe. Ferrand, der bereits vollständig in ihrem Bann war, aber ihr Mißtrauen nicht wecken wollte, sagte mürrisch, sie sei eine Närrin; er versprach ihr aber, am anderen Tage einen Riegel anbringen zu lasse. Früh ging der Notar zu ihr hinauf, um sie in ihre Arbeit einzuführen. Er hatte sich vorgenommen, in den ersten Tagen eine heuchlerische Zurückhaltung zu bewahren, um sie sicher zu machen; ihre Schönheit aber, die im Tageslicht noch verführerischer wirkte, machte einen solchen Eindruck auf ihn, daß er einige Schmeicheleien über ihren Wuchs und ihre herrlichen Formen stammelte. Cecily hatte schon nach dem ersten Zusammensein mit dem Notar erkannt, daß er ihr bereits völlig verfallen sei, und als er ihr seine Liebe gestand, glaubte sie ihre Schüchternheit ablegen zu müssen und eine andere Rolle zu beginnen. Sie nahm also plötzlich eine herausfordernde Miene an und sagte: »Sehen Sie mich genau an! – Sehe ich wirklich wie eine Magd aus?« »Was wollen Sie damit sagen?« »Betrachten Sie diese Hand! – Ist sie an harte Arbeit gewöhnt?« 589
Und sie zeigte eine weiße Hand mit zarten, feinen Fingern und rosenfarbenen Nägeln, deren etwas dunkler Hof das gemischte Blut verriet. »Und dieser Fuß? Ist das der Fuß einer Magd?« Und sie streckte einen entzückenden Fuß vor. »Ich habe meiner Tante Pipelet gesagt, was mir gefiel; sie konnte glauben, ich sei eine Magd. Sie aber sind hoffentlich zu klug, ihren Irrtum zu teilen, lieber Herr.« »Und wer sind Sie?« fragte Ferrand, mehr und mehr verwundert. »Das ist mein Geheimnis…« »Und was beabsichtigen Sie nun?« »Ich habe die Rolle der Magd übernommen; gewisse Umstände nötigen mich dazu, und ich werde den Mut haben, diese Rolle durchzuführen, alle Folgen zu tragen und Ihnen mit Eifer, Fleiß und Achtung zu dienen, um meine Stelle, also ein sicheres Versteck, zu behalten. Bei der geringsten Freiheit aber, die Sie sich gegen mich erlauben, verlasse ich Sie – nicht aus Prüderie, denn Prüderie ist nicht meine Sache…« Dabei warf sie einen so sinnlichen Blick auf Ferrand, daß er zusammenzuckte. »Nein, ich bin nicht prüde«, fuhr sie mit herausforderndem Lächeln fort. »Gott weiß es: Wenn die Liebe mich erfaßt, sind die Bachantinnen Heilige neben mir. – Aber seien Sie gerecht, und Sie werden gestehen, daß Ihre unwürdige Magd nichts weiter verlangen kann, als ihre Arbeit verrichten zu dürfen. Jetzt kennen Sie mein Geheimnis oder wenigstens einen Teil meines Geheimnisses; halten Sie mich vielleicht für zu schön, als daß ich Sie bedienen könnte? Wünschen Sie die Rollen zu tauschen, mein Sklave zu werden? Offen gestanden, würde ich das vorziehen, aber nur unter der Bedingung, daß ich nie das Haus verließe, und daß Sie nur väterliche Aufmerksamkeit für mich hätten. Außerdem dürften Sie mir natürlich hier und da sagen, daß Sie mich hübsch finden; das würde der Lohn für Ihre Hingebung und Ihre Verschwiegenheit sein.« »Der einzige?« lallte Ferrand. 590
»Der einzige – die Einsamkeit und der Teufel müßten mich denn um den Verstand bringen, was unmöglich ist, denn Sie werden mir Gesellschaft leisten und, als frommer Mann, den Teufel vertreiben. Nun, lassen Sie hören, entschließen sie sich; entweder ich diene Ihnen oder Sie dienen mir – sonst verlasse ich Ihr Haus und bitte meine Tante, mir eine andere Stelle zu suchen. Was ich Ihnen da sage, wird Ihnen seltsam vorkommen; aber wenn Sie mich für eine Abenteuerin ohne Existenzmittel halten, so irren Sie sich. – Leider würde mir nur alles Gold der Welt keinen so sicheren Zufluchtsort verschaffen, wie Ihr Haus. – Sie sehen, ich ergebe mich Ihnen auf Gnade und Ungnade, wenn ich Ihnen sage, daß ich mich verberge. Aber ich bin überzeugt, daß Sie mich nicht verraten werden…« Dieses romanhafte Geständnis erregte in Ferrand nur eine Besorgnis; er glaubte, Cecily sei vielleicht eine Abenteuerin, die sich in sein Haus eingeschlichen habe, um ihn zu hintergehen. Aber zugleich erkannte er, daß kein Mißtrauen stark genug sein würde, ihm diese Frau, die ihn bereits völlig beherrschte, zu entfremden. Der Gedanke, daß sie sein Haus verlassen könnte, erschien ihm unerträglich; wütendste Eifersucht folterte ihn, wenn er sich einbildete, Cecily könne anderen die Wonnen gewähren, die sie ihm verweigerte, und es war ihm ein Trost, sich sagen zu können: »Solange sie in meinem Hause ist, wird sie kein anderer besitzen.« Es wurde also beschlossen, daß Cecily nur scheinbar seine Magd sei, daß er aber, um die Sicherheit seines Gastes nicht zu gefährden, eine andere Magd nicht engagieren, vielmehr sie und sich selbst bedienen solle. Ferner übernahm es der Notar, ein Zimmer im ersten Stock nach dem Geschmack Cecilys möblieren zu lassen. – Sie wollte zwar die Kosten selbst tragen, aber er widersetzte sich und gab zweitausend Franken dafür aus. Diese Verschwendung bewies die unerhörte Heftigkeit seiner Liebe. Da die Kreolin erfahren hatte, daß Luise mit Hilfe eines Betäubungsmittels überwältigt worden war, trank sie nur klares Wasser und aß nur Speisen, die unmöglich vergiftet werden konnten; sie 591
hatte selbst das Zimmer gewählt, das sie bewohnen wollte und sich davon überzeugt, daß sich in den Wänden keine verborgene Türe befand. Übrigens erkannte Ferrand bald, daß Cecily nicht das Weib war, das man überraschen oder mit Gewalt nehmen könne. Sie war kräftig, gewandt und gut bewaffnet; nur Wahnsinn hätte ihn zu verzweifelten Versuchen treiben können! Ferrand begann Höllenqualen zu leiden und verlor darüber Schlaf und Gesundheit. Bald ging er in der Nacht, trotz Regen und Kälte, in seinen Garten und suchte seine Glut zu dämpfen, bald lauschte er stundenlang am Zimmer der Schlafenden. Cecily verfolgte nur ein Ziel: die Leidenschaft dieses Mannes bis zum Wahnsinn aufzureizen, um dann die Befehle auszuführen, die sie erhalten hatte. Dieser Augenblick schien nahe zu sein.
CXVIII
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ecily hörte ein Geräusch an der Tür, aber sie begann, sich ruhig zu entkleiden. Einen Dolch, den sie im Mieder verborgen hatte, zog sie aus der Scheide und legte ihn auf den Kamin. Die Klinge war dreikantig geschliffen, und die nadelfeine Spitze vergiftet. Nachdem Cecily den Dolch auf den Kamin gelegt hatte, zog sie ihren schwarzen Spenzer aus und stand nun mit entblößten Schultern und Armen da. Ein tiefer Seufzer erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie lächelte, indem sie eine Haarlocke, die unter den Falten des Tuches hervorquoll, um ihre Hand wickelte. »Cecily!« flüsterte eine klagende Stimme, und an der kleinen Öff592
nung in der Türe erschien das bleiche Gesicht Ferrands, dessen Augen funkelten. Cecily begann ein kreolisches Liedchen zu singen. Ihr dunkler Alt übertönte das Plätschern des Regens und das Tosen des Windes. »Cecily!« wiederholte Ferrand in flehentlichem Ton. Die Kreolin unterbrach sich plötzlich, wandte sich rasch um und trat nachlässig an die Tür. »Sie sind da, lieber Herr?« »Ach, wie schön Sie sind!« flüsterte der Notar. »Meinen Sie?« antwortete die Kreolin; »das Tuch paßt gut zu meinem Haar, nicht wahr?« »Ich finde Sie täglich schöner.« »Und sehen Sie nur, wie weiß mein Arm ist!« »Ich ertrage die Qual nicht länger, und doch ist es eine süße Qual…« »So genießen Sie doch die süße Qual! Sehen Sie sich satt an mir – ich habe es Ihnen ja erlaubt!« »Und werden Sie nie Ihre Tür öffnen? Sehen Sie doch, wie gehorsam ich bin! Haben Sie kein Mitleid?« »Sie sind gehorsam, weil Sie wissen, daß ich einen Dolch zu führen weiß, und daß ich dieses Haus verlassen würde, sobald ich mich über Sie zu beklagen hätte!« »Ich bin Ihr Sklave, Ihr verspotteter Sklave!« »Das ist wahr.« »Und das rührt Sie nicht?« »Es gewährt mir Unterhaltung. – Die Tage und die Nächte sind so lang!« »Sie verspotten mich noch immer, Unbarmherzige!« »Vielleicht … die Einsamkeit bringt einen auf sonderbare Gedanken!« »Schweigen Sie – sehen Sie mich nicht so an – Sie machen mich wahnsinnig! – Sie verlangen, ich solle Sie von meiner Liebe überzeugen; sehen Sie nicht, wie unglücklich ich bin? Tue ich nicht alles, was ich vermag? – Sie wollen vor aller Augen verborgen sein, und ich verberge Sie vor aller Augen; ich ehre Ihr Geheimnis und spreche nie mit ihnen über ihr früheres Leben… Was soll ich noch?« 593
»Ich will Ihnen einen Beweis meines blinden Vertrauens geben, lieber Herr…« »Ein neuer Hohn, nicht wahr?« »Nein, ich spreche im Ernst. – Sie müssen doch das frühere Leben derjenigen kennen, die Sie so gastfreundlich aufgenommen haben. – Ich bin die Tochter eines tapferen Soldaten, des Bruders meiner Tante Pipelet, erhielt eine über meinen Stand hinausgehende Erziehung und wurde von einem reichen jungen Manne verführt, dann verlassen. Um dem Zorn meines alten Vaters zu entgehen, floh ich aus meiner Heimat –« Hier brach Cecily in lautes Lachen aus und sagte: »Das ist doch hoffentlich eine schöne Geschichte!« »Sie sind durch nichts zu rühren… Ich diene Ihnen wie der geringste Knecht, ich werde von meinen Schreibern verlacht, meine Klienten wissen nicht, ob sie mir ihre Angelegenheiten noch länger überlassen sollen. – Verlangen Sie noch andere Beweise? Sprechen Sie? Wünschen Sie Gold?« »Was nützt mir Ihr Gold?« unterbrach Cecily den Notar achselzuckend. »Sprechen Sie ein Wort, und alle Wunder des Luxus stehen zu Ihrer Verfügung!« »Zu welchem Zweck? Was nützt mir ein Rahmen ohne Gemälde? – Und wo wäre der geliebte Mann, lieber Herr?« »Freilich«, entgegnete der Notar bitter, »ich bin alt, ich bin häßlich – ich kann nur Abscheu erregen. – Sie drückt mich zu Boden, sie spielt mit mir, und ich besitze nicht die Kraft, sie aus meinem Hause zu jagen. – Ich habe nur die Kraft, zu dulden.« »O, der unerträgliche Tränenmensch mit seinem Jammergesicht!« rief Cecily in verächtlichen Ton; »er kann nur wehklagen und verzweifeln und ist dabei seit zehn Tagen in einem unbewohnten Hause mit einem jungen Mädchen allein.« »Ja, aber das Mädchen verschmäht mich…« »So besiege die Verachtung des Mädchens, zwinge sie, die Türe zu öffnen, die dich von ihr trennt!« »Wie? … Wie?« 594
»Durch die Kraft der Liebe.« »Kann ich Liebe wecken?« »Soll ich dir deine Rolle einstudieren? Du bist häßlich – sei schrecklich, und man wird deine Häßlichkeit vergessen; du bist alt – sei furchtbar, und man wird dein Alter vergessen. – Sei ein Tiger, der bluttriefend brüllt…« »Sprechen Sie, sprechen Sie weiter!« rief er begeistert aus. – »Ach, wenn ich könnte –« »Man kann, was man will!« »Aber…« »Aber ich sage dir, ich möchte an deiner Stelle sein und ein schönes, feuriges Weib verführen, das alles begreift, weil es zu allem fähig ist. – Welcher Triumph, sich sagen zu können: Ich habe erreicht, daß man mir mein Alter und meine Häßlichkeit verzieh! Ich verdanke die Liebe, die man mir gewährt, nicht dem Mitleid; ich verdanke sie meinem Geist, meiner Kühnheit, meiner Energie, meiner maßlosen Leidenschaft. Ja, und wenn schöne junge Männer da wären: das Weib, das ich, durch grenzenlose Beweise einer wahnsinnigen Leidenschaft, gewonnen habe, würde keinen Blick für sie haben, denn sie wüßte, daß diese verweichlichten Stutzer sich fürchten würden, wenn sie einem ihrer Befehle gehorchen sollten, während ihr alter Tiger, wenn sie ihr Taschentuch in die Flammen würfe, auf einen Wink von ihr sich freudig in die Glut stürzte.« »Ja, das würde ich tun. – Versuchen Sie es!« Cecily näherte sich mehr und mehr der Türe und heftete einen durchbohrenden Blick auf Ferrand. »Warum sollte jenes Weib nicht glühend liebevoll sein?« setzte Cecily hinzu. – »Wenn sie einen Feind hätte, sie sagte ihrem alten Tiger: zerreiße ihn!« »Er würde ihn zerreißen!« entgegnete Jacob Ferrand. »Wirklich?« »Um dich zu besitzen, würde ich ein Verbrechen begehen!« »Halt!« sagte plötzlich Cecily, »jetzt ist die Reihe an mir, auszurufen: Weiche von mir! Ich kenne dich nicht mehr…« Und sie ging 595
schnell von der Türe weg. »Cecily … befiehl, und ich werde dein Tiger sein.« »Nein, Herr«, entgegnete Cecily, indem sie sich weiter von der Türe entfernte, »und um den Teufel zu beschwören, der mich in Versuchung führen will, werde ich ein Lied aus meiner Heimat singen…« »Cecily…«, rief Ferrand in flehendem Tone. Cecily trat an den Kamin, löschte die Lampe aus, nahm eine Gitarre und schürte das Feuer, dessen flackernder Schein das Zimmer erhellte. »Hören Sie, Herr«, sagte die Kreolin, »ein Lied aus meiner Heimat!« Und Cecily sang: Blumen, nichts als Blumen, allüberall… Mein Geliebter naht! Glückserwartung berauscht mich. Dämpfet das Licht! – Glück blüht im Dämmer… Mein Geliebter trinkt meinen Atem gieriger als alle Blumendüfte. Nichts blendet mehr sein Auge, denn meine Küsse schließen seine Lider. Komm, Engel, komm! Mein Busen bebt, und siedend ist mein Blut… Komm! – Komm! – Komm! Das begeisterte Gesicht Cecilys und ihre feuchten, noch immer auf Ferrand gerichteten Augen drückten heiße Sehnsucht aus. Und als ob die Musik ihre Glut nicht wiederzugeben vermöchte, warf Cecily die Gitarre von sich, richtete sich halb empor, breitete die Arme nach der Türe aus und wiederholte, mit schmachtend verklingender Stimme: »Ach komm! – Komm! – Komm!« Ferrand stieß einen heiseren Schrei aus. »Den Tod dem, den du so liebtest!« stöhnte er, indem er an der Türe rüttelte. »Mein Leben für eine Minute in deinen Armen!« Cecily war mit einem Sprung an der Türe und sagte mit leiser, bebender Stimme: »Ich gestehe, ich habe mich selbst an diesem Lied entzündet. Du 596
liebst mich also sehr?« »Verlangst du mein Geld?« »Nein!« »Hast du einen Feind … ich ermorde ihn!« »Ich habe keinen Feind…« »So sage, was du verlangst!« »Beweise mir, daß deine Liebe blind ist, daß du ihr alles zum Opfer bringen würdest!« »Alles … ja, alles!« »Wenn du mir in dieser Stunde einen Beweis jener unbegrenzten Liebe gäbest, die die Phantasie eines Weibes bis zum Wahnsinn erhitzt, ich weiß nicht, was ich tun könnte. – Aber eile, ich bin launenhaft! Morgen ist vielleicht alles anders!« »Cecily, was soll ich tun?« »Denke nach!« »Man sagt doch, was man verlangt!« »Errate es selbst!« »Befiehl!« »Wenn du wirklich so leidenschaftlich nach mir verlangst, würdest du das Mittel finden… Gute Nacht!« »Gnade! Höre mich an!« »Du willst ja nicht. – Ach, du weißt nicht, was du verlierst. – Gute Nacht, frommer Mann!« »Cecily – bleibe…« Den Elenden hatte ein Schwindel ergriffen. Nebel verdunkelte seinen Verstand; der ungestüme Trieb raubte ihm alle Klugheit, alle Vorsicht, und der Instinkt der Selbsterhaltung wich von ihm. »Nun, worin besteht der Beweis deiner Liebe?« fragte die Kreolin. »Höre mich an! – Wenn ich meine Ehre, mein Vermögen, mein Leben hier in deine Hand legte, würdest du dann glauben, daß ich dich liebe? Würde dir dieser Beweis genügen?« »Deine Ehre, dein Vermögen, dein Leben? … Ich verstehe dich 597
nicht.« »Wenn ich dir ein Geheimnis verriete, das mich aufs Schafott brächte, würdest du dann mein sein?« »Du giltst für einen Heiligen… Du prahlst…« »Willst du meinen Kopf für deine Liebkosungen?« »Endlich … endlich! – Da, nimm meinen Dolch! – Du hast mich entwaffnet.« Jacob Ferrand nahm durch die Öffnung in der Türe die gefährliche Waffe an sich und schleuderte sie weit weg. »Cecily, du glaubst mir also?« fragte er in Entzücken. »Ja, ich glaube dir, denn ich finde jenen Blick bei dir wieder, der mich schon einmal an sich bannte. Deine Augen funkeln. – Jacob – ich liebe deinen Augen!« »Cecily!!« »Du mußt aber die Wahrheit sagen!« »Ich habe Verbrechen begangen, sage ich dir.« »Desto besser … wenn du mir durch das Geständnis deine Liebe beweisest.« »Und wenn ich alles gestehe?« »So bewillige ich dir alles; denn wenn du dieses blinde, mutige Vertrauen hast, siehst du, Jacob, so werde ich zu dir sagen: Komm? – Komm! – Komm!« »O, ich werde dein Tiger sein!« rief er, »und dann magst du mich, wenn du willst, aufs Schafott bringen! – Meine Ehre, mein Leben, alles liegt jetzt in deiner Hand.« »Deine Ehre?« »Meine Ehre. – Höre mich an. – Vor zehn Jahren hatte man mir ein Kind und zweimal hunderttausend Franken übergeben; ich stieß das Kind in die Welt hinaus, gab es für tot aus und behielt das Geld.« »Das ist klug und kühn; wer hätte das von dir geglaubt?« »Höre weiter. – Ich haßte meinen Kassierer. Eines Abends hatte er Geld aus der Kasse genommen, das er mir am anderen Tage zurückbrachte; aber um den Verhaßten zu verderben, beschuldigte ich ihn, er habe mir eine bedeutende Summe gestohlen. Man glaubte 598
mir, und warf ihn ins Gefängnis. – Liegt nun meine Ehre in deiner Hand?« »Ach, du liebst mich, Jacob, du liebst mich! – Welche Gewalt habe ich über dich, da du mir solche Geheimnisse anvertraust!« »Höre weiter! – Das Kind, das von mir verstoßen worden war, fand sich wieder auf meinem Wege; ich fürchtete es und ließ es umbringen.« »Und wie? – Wo?« »An der Brücke von Asnières. – Ein gewisser Martial hat es im Flusse ertränkt. – Sind das genug Einzelheiten? Willst du mir glauben?« »O, du Teufel – es zieht mich hin zu dir! – Welche Macht besitzest du über mich!« »Höre weiter! – Ein Mann hatte mir hunderttausend Taler übergeben; ich lockte ihn in einen Hinterhalt, jagte ihm eine Kugel durch den Kopf, bewies, daß er sich selbst das Leben genommen habe und leugnete das Geld ab, das seine Schwester zurückforderte. – Jetzt liegt mein Leben in deiner Hand.« »Jacob, ich bete dich an!« »Wenn mir tausendfacher Tod droht, ich trotze ihm!« entgegnete der Notar im höchsten Sinnenrausch. – »Den Schlüssel! – Wirf mir den Schlüssel zu! – Ziehe den Riegel zurück!« Die Kreolin zog den Schlüssel aus dem Schlosse und reichte ihn dem Notar. »Endlich bist du mein!« rief er wild, indem er das Schloß zu öffnen versuchte. Aber die Türe war noch verriegelt. »Komm, Tiger, komm!« girrte Cecily mit schmachtender Stimme. »Öffne!« rief Jacob Ferrand. »Aber wenn du mich hintergingest«, warf die Kreolin plötzlich ein, »wenn du diese Schandtaten ersonnen hättest…« Der Notar glaubte sich am Ziele seiner Wünsche, und dieses letzte Hindernis trieb seine Gier zum äußersten. Er nahm ein kleines, flaches Taschenbuch aus der Tasche, zeigte es Cecily und sagte, fast atemlos: 599
»Da – hast du, was mich um meinen Kopf bringen kann. – Zieh den Riegel zurück. – Das Taschenbuch ist dein.« »Gib her, mein Tiger!« sagte Cecily. Mit der einen Hand zog sie den Riegel zurück, mit der anderen nahm sie das Taschenbuch. Jacob Ferrand überließ es ihr aber erst, als er fühlte, daß die Tür seinem Andrängen nachgab. Aber sie öffnete sich nur einen halben Fuß breit, da sie durch eine Kette zugehalten wurde… Cecily nahm blitzschnell das Taschenbuch zwischen die Zähne, riß das Fenster auf, warf einen Mantel in den Hof und ließ sich, ebenso gewandt als kühn, in den Hof hinunter. Dann hüllte sie sich rasch in den Mantel, eilte auf die Straße und sprang in einen Wagen, der zwanzig Schritte vom Hause entfernt auf sie gewartet hatte. Der Wagen fuhr in raschem Trabe davon. Ferrand sprengte mit einer gewaltigen Anstrengung seiner breiten Schultern die Kette, stürzte ins Zimmer hinein und fand es leer. Der Knotenstrick am Fenster, das offene Tor verrieten ihm, was geschehen war. Aber es blieb ihm noch ein schwacher Hoffnungsschimmer. Er lief ans Fenster, ließ sich ebenfalls in den Hof hinunter und jagte aus dem Hause. Die Straße war still und öde. Er hörte nichts als das ferne Rollen des Wagens, der die Kreolin entführte. Cecily hatte die Beweise seiner Verbrechen mit sich genommen! Bei dieser entsetzlichen Gewißheit sank er wie niedergeschmettert auf eine Bank vor seiner Türe. Lange saß er da, stumm, unbeweglich, mit stieren Augen, und glaubte, in einen bodenlosen Abgrund zu versinken. Als er sich wieder aufraffte, wankte alles vor seinen Augen, als wenn er betrunken wäre. Dann warf er die Türe seines Hauses heftig zu und trat wieder in 600
den Hof. Es hatte aufgehört zu regnen. Der Wind, der noch immer heftig wehte, jagte schwere Wolken vor sich her, die das Mondlicht verschleierten. Nachdem die kalte Luft ihn etwas beruhigt hatte, ging Ferrand im Garten auf und ab, während er die Hände gegen seine Stirn drückte. Mit einem Male stieß er an einen Haufen frisch umgegrabener Erde. Er bückte sich, stierte mechanisch zu Boden und erblickte Fetzen blutiger Leinwand. Er befand sich neben dem Grabe, das Luise Morel gegraben hatte für ihr Kind, das auch sein Kind war. Schwäche und Entsetzen übermannten ihn, eiskalter Schweiß trat auf seine Stirn, seine Knie zitterten und brachen unter ihm zusammen, und so sank er, bewegungslos, neben diesem offenen Grabe nieder.
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ikolaus Martial war in das Sprechzimmer des Gefängnisses La Force gerufen worden. Es war dies ein dunkler Saal, der Länge nach durch einen schmalen Gang in zwei gleiche Hälften geteilt. Die eine Hälfte stand mit dem Inneren des Gefängnisses in Verbindung und war für die Gefangenen bestimmt. Die andere stieß ans Bureau und war für die Besucher reserviert. Die Unterhaltung erfolgte durch ein Eisengitter, im Beisein eines Aufsehers. Nikolaus saß unter allen ins Sprechzimmer gerufenen Häftlingen 601
von dem Aufseher am weitesten entfernt. Der düsteren Niedergeschlagenheit, die bei seiner Verhaftung auf seinem Gesichte gelegen hatte, war ein roher Zynismus gefolgt. Der Einfluß der Haft begann bereits zu wirken. Da Nikolaus Martial in eine Schar von Banditen hineingeraten war, in deren Augen das geringste Zeichen von Reue eine Feigheit oder vielmehr ein Verrat war, kämpfte er seine Schwäche nieder, um eines in den Annalen des Verbrechens berühmten Namens würdig zu erscheinen. Einige alte Verbrecher hatten seinen Vater, andere seinen Bruder, den Galeerensträfling, gekannt, und er wurde deshalb von diesen Veteranen mit besonderer Sympathie empfangen. Diese Aufnahme machte den Sohn der Witwe stolz, die Lobsprüche über die Schandtaten seiner Familie berauschten ihn. Er vergaß bald die Zukunft, die ihm drohte und erinnerte sich seiner Verbrechen nur, um sich ihrer zu rühmen. Während also Martial frech und selbstbewußt um sich sah, machte sein Besucher ein ziemlich bestürztes Gesicht. Es war der Vater Micou, der Hehler aus der Passage de la Brasserie, in dessen Hause Frau von Fermont und ihre Tochter wohnten. Der alte Micou wußte, welche Strafe ihm drohte, wenn ermittelt wurde, daß er als Hehler Diebesware zu niedrigem Preis an sich gebracht hatte. Deshalb hatte er denn auch sofort die Befehle ausgeführt, die ihm Nikolaus durch einen entlassenen Sträfling hatte überbringen lassen. »Nun, wie geht es, Vater Micou?« fragte Nikolaus. »Ihnen zu dienen, mein guter Herr«, antwortete der Hehler sofort. »Sobald die Person, der Sie Auftrag gegeben hatten, bei mir gewesen war, habe ich…« »Warum nennen Sie mich nicht mehr du, Vater Micou?« unterbrach ihn Nikolaus höhnisch. »Verachten Sie mich, weil ich im Gefängnis bin?« »Nein, nein, mein Junge, ich verachte keinen«, antwortete der Heh602
ler. »Nun, so sagen Sie du, wie immer, oder ich glaube, Sie sind nicht mehr mein Freund; das würde mir weh tun.« »Ich habe mich also mit deinen kleinen Aufträgen sofort befaßt…« »Das ist recht, Vater Micou; ich wußte doch, daß Sie Ihre Freunde nicht vergessen. – Und mein Tabak?« »Ich habe zwei Pfund im Bureau abgegeben, mein Junge.« »Ist er gut?« »Er ist vom besten.« »Und der Schinken?« »Ist ebenfalls abgegeben; ich habe dir auch eine kleine Überraschung zurechtgemacht – ein halbes Dutzend harte Eier und holländischen Käse.« »Und den dazugehörigen Wein?« »Sechs Flaschen habe ich mitgebracht, aber du weißt, daß man dir nur eine Flasche täglich bewilligt.« »Nun; das muß man sich eben gefallen lassen.« »Ich hoffe, daß du mit mir zufrieden bist, mein Junge.« »Gewiß, und ich werde es hoffentlich immer sein, Vater Micou, denn dieser Schinken, dieser Käse, diese Eier, dieser Wein werden nicht lange vorhalten…« »Und…« »Ich denke, daß Sie, in zwei oder drei Tagen, wieder für neue Vorräte sorgen müssen, Vater Micou.« »Der Teufel soll mich holen, wenn ich das tue! Einmal ist genug!« »Dann werde ich die Sache dem Richter zur Entscheidung vorlegen und ihm sagen: Denken Sie sich, der alte Micou…« »Schon gut, schon gut!« fiel der Hehler ein, »ich werde dir wieder etwas bringen, wenn das erste aufgezehrt ist.« »So ist es recht. – Sie dürfen aber auch nicht vergessen, meiner Mutter und Schwester in St. Lazare Kaffee zu schicken; sie sind daran gewöhnt!« »Auch noch? Willst du mich ganz ausplündern?« »Wie Sie wollen, Vater Micou. – Ich werde den Richter nur fra603
gen, ob…« »Na, ich will den Kaffee noch geben«, unterbrach ihn der Hehler. – »Aber hol dich der Teufel, und verflucht sei der Tag, an dem ich dich kennenlernte!« »Alter! Alter! Ich denke gerade das Gegenteil und freue mich ungemein, Sie zu kennen. Ich verehre Sie wie meinen Ernährer.« »Hoffentlich hast du mir weiter nichts zu befehlen?« fragte der alte Micou bitter. »Doch, sagen Sie meiner Mutter und meiner Schwester, daß ich so entschlossen bin, wie sie!« »Ich werde es ihnen sagen … ist das alles?« »Warten Sie! – Ich vergaß, Sie um zwei Paar wollene Strümpfe zu bitten; Sie werden nicht wollen, daß ich mir den Schnupfen hole, nicht wahr?« »Daß du verrecktest!« »Später, Vater Micou, später, jetzt noch nicht; ich will mich noch lange des Lebens freuen.« »Ein schönes Leben, das du führst!« »Ein prächtiges Leben! Seit ich hier bin, bin ich vergnügt wie ein König. Wenn man hier Lampions und Raketen hätte, würde man mir zu Ehren ein Feuerwerk veranstaltet haben, als man erfuhr, daß ich der Sohn des berühmten Martial bin.« »Schöne Verwandtschaft!« »Nun, es gibt Herzöge und Marquis, warum sollten wir nicht auch unseren Adel haben?« »Ja, Ihr bekommt den Adelsbrief vom Henker auf den Hals geschrieben!« »Nun, von den Pfaffen freilich nicht. – Und ein hoher Diebsadel muß in den Gefängnissen sein, sonst hält man uns ja für gar nichts. Sie sollten einmal sehen, wie man mit der Plebs hier umgeht. – So ist z.B. ein gewisser Germain da, ein junger Mann, der tut, als verachte er uns. Er mag seine Haut in acht nehmen, sonst schlägt man ihm die Nase nebst ein paar Zähnen ein.« »Germain? Dieser junge Mann heißt Germain?« 604
»Ja. – Kennen Sie ihn? Gehört er zu uns?« »Ich kenne ihn nicht, wenn es aber der Germain ist, von dem ich gehört habe, so steht seine Sache gut.« »Wieso?« »Er ist schon einmal beinahe in einen Hinterhalt geraten, in den ihn der Haarige locken wollte.« »Warum denn?« »Sie sagten, er habe in der Provinz einen von ihrer Bande verraten.« »Das werde ich meinen Freunden sagen. – Spielt der dicke Lahme Ihren Mietern noch immer Streiche?« »Gott sei Dank, ich bin ihn los! Du wirst ihn morgen oder übermorgen hier sehen!« »Nun, dann gibt's wenigstens was zu lachen!« »Weil er Germain hier wiederfinden wird, sagte ich, die Sache des jungen Mannes stehe gut…« »Warum hat man den Dicken eingesteckt?« »Wegen eines Diebstahls… Ich bin auch überzeugt, daß er den Koffer der beiden Frauenzimmer erbrochen hat, die in meinem Hause wohnen.« »Ach ja, die beiden, von denen die eine Sie ganz in Flammen setzte…« »Sie wird niemand mehr in Flammen setzen, denn die Mutter wird tot sein, und mit der Tochter steht es nicht viel besser. – Ich werde um meine Miete kommen … ich mache überhaupt gute Geschäfte in diesem Jahr!« »Sie klagen immer, Vater Micou, und sind doch reich wie ein Krösus. – Doch, ich will Sie nicht länger aufhalten…« »Sehr gütig!« »Beinahe hätte ich etwas vergessen! Kaufen Sie mir doch eine neue karierte Samtmütze mit einer Troddel; ich kann die meine nicht mehr aufsetzen.« »Willst du mich zum besten haben?« »Nein, Vater Micou, eine karierte Samtmütze will ich haben…« 605
»Oder willst du mich an den Bettelstab bringen?« »Sagen Sie ja oder nein, wie Sie wollen. – Ich zwinge Sie nicht, aber…« Der Hehler wußte wohl, daß er in den Händen Martials war; er stand auf, da er fürchtete, noch mehr Aufträge zu erhalten. »Du sollst deine Mütze haben«, sagte er, »aber wenn du immer mehr forderst, bekommst du gar nichts; mag geschehen, was will: du hast ebensoviel zu verlieren wie ich.« Der Hehler ging darauf achselzuckend fort, und der Aufseher brachte Nikolaus wieder in die Zelle. In dem Augenblick, in dem der alte Micou das Sprechzimmer verließ, trat Lachtaube ein. Der Aufseher, ein Mann von vierzig Jahren, freute sich, als er das Mädchen sah. Schon das letzte Mal war ihm die rührende Teilnahme aufgefallen, mit der Lachtaube Germain getröstet hatte. Germain selbst war ein ganz gewöhnlicher Gefangener; seine Bescheidenheit, sein Sanftmut und seine Traurigkeit flößten den Gefängnisbeamten Sympathie ein, ebenso wie sie ihm die Verachtung der Mitgefangenen eintrugen. »Welch böses Wetter, arme Demoiselle!« sagte der Aufseher freundlich zu Lachtaube. »Es gehört Mut dazu, bei solchem Wetter auszugehen.« »Wenn man auf dem Weg an die Freude denkt, die man einem armen Gefangenen bereitet, kümmert man sich nicht darum.« »Ich werde Germain holen. – Es sind übrigens nur noch zwei Fremde da; warten Sie, bis sie fort sind. Sie können dann ungestörter mit Germain sprechen.« »Ach, ich danke Ihnen, Herr!« Der Aufseher begab sich auf seinen Posten, und Lachtaube setzte sich traurig auf die Bank, auf der die Fremden saßen. Nachdem die anderen Besucher gegangen waren, holte der Aufseher Germain herbei.
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s fehlte den Zügen Germains an Regelmäßigkeit, aber sein Gesicht war ungewöhnlich klug und interessant. Sein braunes, lockiges Haar war lang und an der Seite gescheitelt. Der Ausdruck seiner schönen, blauen Augen verriet ein gutes Herz. Germain errötete, als er durch das Gitter seine Freundin erkannte. Der alte Aufseher setzte sich an einem Ofen am Ende des Saales nieder. Nach einigen Augenblicken schlief er ein. Germain und Lachtaube konnten also ungestört sprechen. »Nun muß ich sehen, Herr Germain«, sagte das Mädchen, indem es sein hübsches Gesichtchen so nahe als möglich ans Gitter hielt, »nun muß ich sehen, ob ich mit Ihnen zufrieden sein kann. Sind Sie weniger trübsinnig, oder habe ich neuen Grund, böse zu werden?« »Wie gütig von Ihnen, daß Sie heute wieder kommen!« »Wieder? Soll das ein Vorwurf sein?« »Ja, ich müßte wirklich zanken, daß Sie soviel für mich tun, während ich Ihnen nur danken kann.« »Sie täuschen sich, denn die Besuche, die ich Ihnen mache, sind für mich ebenso angenehm wie für Sie. Ich müßte Ihnen also eigentlich auch danken und dürfte Ihnen zur Strafe nicht geben, was ich Ihnen mitgebracht habe.« »Sie verwöhnen mich zu sehr!« »Erstens wissen Sie nicht, was ich Ihnen bringe…« »Es mag sein, was es will, Ihre rührende Güte erfüllt mich mit Dank und –« Er sprach nicht weiter, sondern schlug die Augen nieder. »Und was?« fragte Lachtaube errötend. »Und Ergebenheit«, stammelte Germain. »Warum nicht lieber gleich mit Hochachtung? Aber Sie wollten etwas ganz anderes sagen! Warum schwindeln Sie?« »Ich versichere…« 607
»Sie versichern vieles, und ich sehe doch, daß Sie rot werden. – Bin ich nicht Ihre gute Nachbarin? Warum verheimlichen Sie mir etwas? Reden Sie doch offen mit mir, sagen Sie mir alles«, setzte sie schüchtern hinzu, denn sie wartete nur auf ein Geständnis Germains, um ihm zu sagen, daß sie ihn liebe. »Ich versichere Sie«, begann Germain von neuem, »daß ich nichts weiter sagen wollte, daß ich Ihnen nichts verheimliche.« »Pfui, Lügner!« rief Lachtaube und stampfte mit dem Fuße auf. – »Nun sehen Sie das wollene Halstuch, das ich Ihnen mitgebracht habe! – Zur Strafe sollten Sie es gar nicht bekommen; ich hatte es für Sie gestrickt, weil ich mir dachte: es muß so kalt und feucht im Gefängnis sein, und er ist doch so frostig… Werden Sie schon wieder traurig, obgleich ich es Ihnen verboten habe?« »Wie sollte ich nicht zu Tränen gerührt sein, wenn ich an das denke, was Sie für mich schon getan haben? Weiß ich denn nicht, daß Sie sich die Zeit vom Schlaf abstehlen, um mich zu besuchen?« »Richtig! Bedauern Sie mich nur!« »Und heute bei diesem Wetter auszugehen!« Lachtaube wollte es nicht merken lassen, daß sie selbst nahe daran war, in Rührung zu geraten; sie gab deshalb dem Gespräch schnell eine andere Wendung und sagte: »Sie wiederholen immer, Sie könnten nicht anders, aber mir zuliebe sollten Sie es doch können…« »Was?« »Sie sollten sich nicht immer von den anderen Gefangenen absondern! Der Aufseher hat mir wieder gesagt, daß Sie es in Ihrem eigenen Interesse über sich gewinnen müßten, mit Ihnen zu sprechen. Sie werden nicht eher zufrieden sein, bis man Ihnen eins ausgewischt hat!« »Sie wissen nicht, welchen Abscheu mir diese Menschen einflößen! Sie kennen die Gründe nicht, weshalb ich sie und ihresgleichen fliehe und verwünsche.« »Doch, ich glaube diese Gründe zu kennen; ich habe gelesen, was Sie für mich aufgeschrieben hatten. – Ich weiß, welchen Gefahren 608
Sie ausgesetzt waren… In den Papieren habe ich – auch noch etwas anderes gelesen«, setzte Lachtaube hinzu, indem sie die Augen niederschlug; »ich habe Dinge gelesen, die…« »Die Sie nie erfahren haben würden«, fiel Germain lebhaft ein, »ohne das Unglück, das mich betroffen hat; ich schwöre es Ihnen. Aber ich bitte Sie, verzeihen Sie mir diese Torheiten und vergessen Sie sie!« Lachtaube hatte zum zweiten Male versucht, Germain ein Geständnis abzulocken, aber es war ihr wieder nicht gelungen. Sie entgegnete deshalb verlegen: »Mein Gott, ich begreife recht gut, daß Ihnen die Gesellschaft dieser Menschen zuwider ist, aber das ist doch kein Grund, sich irgendwelchen Gefahren auszusetzen.« »Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß ich, um Ihrem Wunsche nachzukommen, mehrmals versucht habe, diejenigen anzureden, die mir minder verkommen erschienen. Aber es war so furchtbar, daß ich immer wieder den Mut verlor.« »Freilich, es muß schrecklich sein.« »Noch schrecklicher ist aber, daß ich mich allmählich an die Gespräche gewöhne, die ich den ganzen Tag mit anhören muß; ich fange bald an, an mir zu zweifeln.« »Wie meinen Sie das?« »Mein Gott, ich begreife jetzt, daß man unschuldig das Gefängnis betreten und es verdorben verlassen kann.« »Ja, aber Sie nicht!« »Ja, ich und andere, die tausendmal besser sind als ich. Diejenigen, die uns zu dieser Gesellschaft verurteilen, wissen nicht, daß die Luft, die man hier atmet, verheerend wirkt! Sie fragten mich«, fuhr er fort, »nach der Ursache meiner Traurigkeit. – Das ist sie… Ja, ich gestehe mit Schrecken, daß ich mich nicht wiedererkenne; wenn ich auch die Elenden verachte und vor ihnen fliehe, so wirkt doch ihre Berührung allmählich auf mich ein. – Es ist, als besäßen sie die Macht, die Atmosphäre zu vergiften, in der sie leben. – Noch bin ich nicht so weit, daß ich mich im Krei609
se dieser Gefährten wohl fühle, aber ich fürchte bereits den Tag, an dem ich wieder unter anständige Menschen treten soll, weil ich meine Schwäche kenne.« »Ihre Schwäche?« »Und meine Feigheit!« »Welche falsche Vorstellung haben Sie denn von sich?« »Ist man nicht feig und schwach, wenn man mit seinen Pflichten, mit der Rechtschaffenheit Kompromisse zu schließen sucht? – Als ich hierher kam, täuschte ich mich nicht über die Größe meines Vergehens, so entschuldbar es vielleicht auch sein mag. Jetzt erscheint es mir schon geringer, und wenn ich diese Diebe und Mörder mit Spott oder Stolz von ihren Verbrechen reden höre, beschleicht mich zuweilen ein bitteres Gefühl über die Gewissensbisse, die mich wegen eines im Vergleich mit ihren Schandtaten unbedeutenden Vergehens peinigten.« »Sie haben recht! Was Sie taten, ist ja gar nicht tadelnswert, sondern rühmlich! Sie hatten die Gewißheit, das Geld zurückgeben zu können und nahmen es nur, um eine Familie aus tiefstem Elend zu retten.« »Darauf kommt es in den Augen des Gesetzes nicht an – es ist Diebstahl! Und es ist schon ein schlechtes Zeichen, daß man, um sich vor sich selbst zu entschuldigen, unter sich sehen muß. Ich kann mich makellosen Leuten nicht mehr gleichstellen… Wenn ich morgen einen Diebstahl beginge, wenn ich aus Habsucht stähle, würde ich mich noch immer für harmlos halten im Vergleich mit dem, der mordet um zu stehlen. Und doch ist zwischen mir und einem Mörder der Abstand nicht größer als zwischen mir und einem ganz ehrenhaften Manne. Statt wie sonst sagen zu können: ich bin so rechtschaffen, wie der rechtschaffenste Mensch, werde ich mich mit den Worten trösten: ich bin weniger schlecht als die schlimmsten Bösewichter, unter denen ich leben muß!« »Auch wenn Sie aus diesem Hause entlassen sind?« »Wenn ich auch freigesprochen werde: die Leute hier kennen mich, und begegnen sie mir, so werden sie mit mir wie mit ihresgleichen 610
verkehren. – Man muß hundertfach Gutes tun, um eine einzige schlechte Tat abzubüßen. – Werde ich jetzt daran denken, zu sühnen, was mir kaum mehr einen Gewissensbiß verursacht? Ich fühle, es wirkt ein unwiderstehlicher Einfluß auf mich ein, gegen den ich lange mit aller Kraft gekämpft habe. – Ich folge dem Verhängnis, und da ich allein, ohne Familie, dastehe, so liegt auch auch im Grunde nichts daran, ob mein Leben ehrlich oder verbrecherisch verläuft.« Lachtaube erriet mit ihrem weiblichen Scharfsinn und mit dem Instinkt ihrer Liebe, daß ihr Freund von seiner Rechtlichkeit noch nichts verloren hatte, aber sie fürchtete doch, daß die Gefahr, die ihn bedrohte, furchtbar werden könnte.
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ie trocknete sich die Augen, wandte sich an Germain, der die Stirn ans Gitter preßte, und sagte in einem ernsten, fast feierlichen Ton, den er an ihr noch nicht kannte: »Hören Sie mich an, Germain! Ich werde mich vielleicht nicht gut ausdrücken, aber was ich Ihnen sagen will, ist dennoch richtig und wahr. – Erstens haben Sie unrecht, wenn Sie sagen, Sie wären allein und verlassen.« »O, glauben Sie nicht, daß ich jemals vergäße, was Sie aus Mitleid für mich getan haben!« »Ich habe Sie vorhin nicht unterbrochen, als Sie von Mitleid sprachen; da Sie dieses Wort aber wiederholen, so muß ich Ihnen sagen, daß es keineswegs nur Mitleid ist, was ich für Sie fühle.« Germain sah sie fragend an, und Lachtaube fuhr fort: »Als wir Nachbarn waren, liebte ich Sie wie einen Bruder. Sie taten mir kleine Gefälligkeiten, ich erwies Ihnen andere, und wir wa611
ren quitt.« »Quitt? Ach nein…« »Lassen Sie mich reden. – Als Sie das Haus verlassen mußten, tat mir der Abschied weh…« »Wirklich?« »Ja, Sie waren der aufopferndste meiner Nachbarn und der einzige, der nichts von mir verlangt hat. – Als wir getrennt waren, dachte ich deshalb lieber an Sie als an meine anderen Nachbarn…« »Wäre es möglich?« »Gewiß! Ich dachte sogar: Es gibt keinen besseren Menschen als Germain; er ist nur etwas zu ernst, aber wenn ich eine Freundin hätte, die heiraten und recht glücklich werden wollte, so würde ich ihr gewiß empfehlen, Germain zu wählen…« »Sie dachten an mich … für eine andere?« »Freilich; ich würde mich sehr gefreut haben, Sie glücklich zu machen! – Sie sehen, ich bin offen und sage alles.« »Und ich danke Ihnen; es ist ein Trost für mich, zu wissen, daß Sie mich Ihren anderen Freunden vorzogen.« »So lagen die Dinge, als Ihnen das Unglück zustieß. Sie ersuchten mich, die Papiere zu holen, aus denen ich erfuhr, daß Sie mich immer geliebt, aber nicht gewagt hatten, es mir zu sagen. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, was ich empfand, als ich – welch trauriges Wort! – das Testament las, in dem jede Zeile eine Erinnerung an mich oder einen Gedanken an meine Zukunft enthielt… Kann man sich wundern, wenn nach solchem Erlebnis aus der Freundschaft Liebe wird? Mir erscheint es ganz natürlich, Herr Germain.« Diese Worte waren deutlich genug, daß ihr Echo in der Seele Germains widerhallte; er errötete und erblaßte abwechselnd und rief dann aus: »Was sagen Sie? – Ach, mein Gott, täusche ich mich auch nicht…?« »Ich sage, daß ich Sie, als ich erfuhr, wie gut Sie gegen mich waren, und als ich Sie so unglücklich sah, anders liebte als sonst, und daß, wenn jetzt eine meiner Freundinnen sich verheiraten wollte … Herr Germain ihr nicht von mir empfohlen werden würde.« 612
»Lachtaube … Sie lieben mich?« »Ich muß es wohl selbst sagen, da Sie es nicht wissen.« »Lachtaube…« »Zweimal habe ich es Ihnen angedeutet. Aber nein, der Herr will nicht verstehen; er zwingt mich, alles herauszusagen. Und nun ist es heraus, und ich hoffe … aber, mein Gott! Was haben Sie?« unterbrach sich Lachtaube, als sie sah, daß Germain das Gesicht mit den Händen bedeckte. – »Nun sehen Sie, ist das nicht schrecklich? Was ich auch tun, was ich auch sagen mag, Sie bleiben unglücklich…« »Habe ich nicht allen Grund dazu?« entgegnete Germain in Verzweiflung. – »Sie lieben mich – jetzt, da ich Ihrer nicht mehr wert bin.« »Nun, was das Gefängnis betrifft, so haben wir uns, glaube ich, beide nichts vorzuwerfen. – Und sonst bin ich ein Findelkind, besitze nichts als mein Stübchen und meinen Mut, mich Ihnen zur Frau anzutragen.« »Was Sie da sagen, wäre das Glück meines Lebens gewesen; aber jetzt ist alles anders, und ich würde Mißbrauch mit Ihrer Güte, Ihrem Mitleid treiben, wenn…« »Aber, mein Gott!« rief Lachtaube ungeduldig, »wie oft soll ich denn wiederholen, daß ich gar kein Mitleid mit Ihnen habe? – Liebe ist es, pure Liebe! Ich denke nur an Sie, ich liebe Ihr Gesicht, Ihre Augen, Ihren Geist, Ihr gutes Herz … ist das Mitleid? Warum war ich ausgelassen, als Sie nur mein Freund waren, und bin nun so traurig, seit ich Sie liebe? – Ich weiß es nicht. Aber das eine weiß ich ganz genau: daß es nicht Mitleid ist, wovon mein Herz fast überläuft…« »Ich glaube Ihnen und will nicht mehr fragen, wie ich ein solches Glück verdient habe. – Mein ganzes Leben würde nicht ausreichen, meine Schuld gegen Sie zu tilgen, und«, fuhr er, plötzlich wieder traurig werdend, fort, »ich weiß ja nicht einmal, ob dieses Leben mir gehören wird…« »Was sagen Sie?« 613
»Ich kann – zu jahrelangem Gefängnis verurteilt werden.« »Nun gut«, antwortete das Mädchen mit Ruhe und Festigkeit, »dann wird man uns in der Gefängniskapelle trauen.« »Aber man kann mich von Paris fortbringen…« »So folge ich Ihnen und arbeite in der Stadt, wo Sie sind…« »Ich werde vielleicht ewig gebrandmarkt sein.« »Sie lieben mich mehr als die anderen, hoffe ich.« »Können Sie fragen?« »Nun, was liegt Ihnen dann an den anderen? In meinen Augen werden Sie nicht gebrandmarkt sein!« »Aber die Welt wird Ihre Wahl verdammen!« »Meine Welt sind Sie!« »Werde ich aus dem Gefängnis entlassen, so finde ich vielleicht nie wieder eine Beschäftigung; welche Zukunft für Sie!« »Wenn alle Sie von sich weisen, wird Ihre Frau Sie mit Liebe und Dank aufnehmen, weil sie überzeugt ist, daß Sie ein ehrlicher Mann geblieben sind! Und wenn Sie nun noch ein Anerbieten verschmähen, das Ihnen aus übervollem Herzen gemacht wird, wenn Sie die Liebe eines armen Mädchens von sich stoßen, so…« Germain fiel ihr leidenschaftlich ins Wort: »Ich nehme es an, edles, mutiges Mädchen!« »Wirklich? Ist es diesmal Ihr Ernst?« »Ich schwöre es Ihnen…« »Und Sie besinnen sich nicht wieder eines anderen?« »Nie, nie, Geliebte! … Mein Mut kehrt neu zurück; es ist mir, als erwachte ich aus einem Traume; ich zweifle nicht mehr an mir selbst.« Der Aufseher gähnte. »Schnell!« sagte Lachtaube mit einem reizenden Lächeln. »Schnell, lieber Mann, einen Kuß auf die Stirn, durch das Gitter hindurch! Das soll unsere Verlobung sein.« Sie hielt ihr Gesicht an das eiserne Gitter, und Germain drückte seine Lippen auf die reine, weiße Stirn. Eine Träne fiel darauf, gleich einer feuchten Perle. – »O! Schon drei Uhr!« sagte der Aufseher, indem er sich erhob, »und 614
um zwei sollen eigentlich alle Fremden fort sein.« »Es tut mir leid, liebe Demoiselle«, setzt er hinzu, »aber ich kann nicht anders; Sie müssen nun auch gehen.« »O, ich danke Ihnen… Ich habe Germain Mut gemacht; er will nicht mehr so traurig sein, sich nicht mehr von den anderen zurückziehen. – Nicht wahr, Freund?« »Beruhigen Sie sich«, entgegnete Germain lächelnd, »ich werde von nun an der Lustigste von allen sein.« »Dann werden die anderen auch nicht mehr auf Sie achten«, sagte der Aufseher. »Ich habe Germain ein Halstuch mitgebracht«, fuhr Lachtaube fort, »muß ich es im Bureau abgeben?« »Es ist zwar die Vorschrift, aber es kommt nicht so genau darauf an. – Geben Sie ihm also Ihr Geschenk in Gottes Namen selbst.« Der Aufseher machte die Türe auf. Germain nahm den wollenen Schal aus den Händen des Mädchens und sagte: »Leben Sie wohl! Auf baldiges Wiedersehen!« »Leben Sie wohl, guter Germain!« »Adieu, meine liebe Freundin.« »Noch einmal, adieu. Ich danke, Herr Aufseher; heute gehe ich viel glücklicher fort als sonst. – Adieu, Germain!« »Adieu, Frauchen!«
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iner der Höfe im Gefängnis La Force hieß die Löwengrube. Hier befanden sich meistens die gefährlichsten und gewalttätigsten Gefangenen. Der düstere, graue Himmel drückte auf den großen, viereckigen, von hohen Mauern umschlossenen Hof wie ein Alp. 615
Am einen Ende des Hofes sah man eine schmale Tür mit einem Schiebefenster, an dem anderen den Eingang in den Wärmesaal, einen großen, mit Steinplatten belegten Raum, in dessen Mitte sich ein eiserner Ofen mit Bänken befand, auf denen mehrere Gefangene träge lagen und plauderten. Andere gingen, zu viert und fünft nebeneinander, mit raschen Schritten im Hofe auf und ab. Da sie nur Beschuldigte, also noch nicht verurteilt waren, so trugen sie noch nicht Gefangenenkleidung. Nur einige, deren Lumpen in allzu schlimmem Zustand gewesen waren, hatte man nach dem Bade in die Kutte und die Beinkleider von grauem, grobem Tuche gesteckt. Während ein Aufseher die Herumgehenden beobachtete, wurde im Wärmesaal eine Art Beratung abgehalten. Unter den Gefangenen, die ihr beiwohnten, befanden sich Barbillon und Nikolaus Martial. Den Vorsitz führte ein Gefangener mit dem Beinamen Skelett. Dieser ziemlich hochgewachsene, etwa vierzigjährige Mann rechtfertigte diesen Namen durch eine fast unvorstellbare Magerkeit. Die Form seiner fliehenden Stirn und seiner flachen, langgezogenen Kinnladen, die einen maßlos langen Hals überragten, erinnerte an die Kopfbildung einer Schlange. Völlige Kahlheit des Kopfes erhöhte diese Ähnlichkeit. Die kleinen, schielenden Augen lagen so tief, der Augenbogen und die Backenknochen standen so weit vor, daß man unter der gelblichen Stirn nur zwei dunkle Höhlen sah. Die langen Zähne waren infolge einer seltsamen Mundverzerrung fast immer sichtbar. Dieser Mensch, der fast nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien, besaß doch eine außerordentliche Körperkraft. Die Stärksten vermochten nur mit Mühe dem Griff seiner dürren Hände und seiner fleischlosen Finger zu widerstehen. Er trug einen viel zu kurzen, blauen Rock, der seine Hände und die Hälfte seiner Unterarme sehen ließ. 616
Das Skelett hatte fünfzehn Jahre seines Lebens wegen Diebstahls und Mordversuchs im Bagno zugebracht, war entflohen und wieder bei einem Raubmord ergriffen worden. Dieser letzte Mord war unter so entsetzlichen Umständen begangen worden, daß der Bandit an seiner Verurteilung zum Tode nicht zweifeln konnte. Der Einfluß, den Skelett durch seine Kraft, seine Energie, seine Brutalität auf die übrigen Gefangenen ausübte, war die Ursache gewesen, daß der Gefängnisdirektor ihn zum Kapitän des Schlafsaales gewählt hatte. Skelett mußte also in allem, was die Ordnung und die Reinlichkeit des Saales und der Betten betraf, die Aufsicht führen. Er verwaltete sein Amt einwandfrei, und die Gefangenen würden nie gewagt haben, gegen die Pflichten zu verstoßen, für deren Erfüllung er zu sorgen hatte. – »Weißt du gewiß, was du da sagst?« fragte Skelett Nikolaus Martial. »Ja, hundertmal ja; der Vater Micou weiß es von dem dicken Lahmen, der ihn schon einmal erschlagen wollte, weil er einen verpfiffen hatte.« »Das muß natürlich aus werden«, fiel Barbillon ein. Skelett nahm einen Augenblick die Pfeife aus dem Munde und sagte mit so leiser Stimme, daß man ihn kaum verstand: »Germain spioniert; wer wenig spricht, hört desto mehr. – Haben wir ihn einmal zur Ader gelassen, wird man ihn wegbringen. – So war meine Meinung bis jetzt; da er aber ein Spitzel ist, wie der Dicke sagt, so kommt er mit dem Aderlasse nicht davon!« »Bravo!« fiel Barbillon ein. »Es muß ein Exempel statuiert werden, sonst werden die Kapper zu frech! – Jacob und Gauthier, die man geköpft hat, waren verpfiffen, Roussilon verpfiffen; das muß aufhören!« »Und ich? Und meine Mutter? Meine Schwester? Mein Bruder in Toulon?« rief Nikolaus aus. »Sind wir nicht alle durch Rotarm verpfiffen worden?« »Und ich?« fragte Barbillon. 617
»Und ich?« fiel ein junger Gefangener mit dünner Stimme ein, der mit der Zunge anstieß, »ich wurde von Jobert verpfiffen, der mir ein Geschäft in der Rue Saint Martin vorschlug.« Dieser Gefangene mit der dünnen Stimme, dem bleichen, mädchenhaften Gesicht und dem schielenden, hinterlistigen Blick war seltsam gekleidet; er trug auf dem Kopf ein rotes Tuch, das zwei Büschel blonder Haare sehen ließ, die dicht auf den Schläfen auflagen. Als Krawatte trug er einen weißen Merinoschal mit kleinen grünen Palmen; seine braune Tuchjacke verschwand in weiten Beinkleidern von bunt kariertem Zeug. »Ich weiß wohl, daß er dich angezeigt hat«, antwortete Skelett, der diesen Gefangenen in seinen besonderen Schutz genommen zu haben schien. »Man hat auch nicht gewagt, ihn hier zu lassen, sondern hat ihn in die Conciergerie gebracht. – Das muß ein Ende nehmen; es muß, wie gesagt, ein Exempel statuiert werden! Die Hunde arbeiten für die Polizei und glauben sicher zu sein, wenn man sie in ein anderes Gefängnis bringt als unsereinen!« »Eben!« »Um dies zu verhindern, müssen alle Gefangenen in jedem Spitzel ihren Todfeind sehen; er mag verpfiffen haben, wen er wolle. Sind erst vier oder fünf von ihnen kaltgemacht, so werden die anderen ihre Zunge zweimal umwenden, ehe sie wieder schwatzen.« »Du hast recht«, sagte Nikolaus, »also Germain muß dran!« »Er muß dran«, bekräftigte Skelett, »aber wir wollen warten, bis der Dicke da ist. – Beweist er uns, daß Germain ein Spitzel ist, dann abgemacht.« »Aber die Aufseher?« fragte der Gefangene mit der dünnen Stimme. »Ich habe eine Idee. – Der Spitzige wird uns helfen!« »Der? Der hat keine Courage.« »Ein Floh schmeißt den um!« »Wo ist er übrigens?« »Er ist wieder zu seinem Advo [Verteidiger] gerufen worden.« »Und Germain? Ist er noch immer im Sprechzimmer?« 618
»Ja, mit dem Mädchen, das ihn besucht.« »Sobald er kommt, aufgepaßt! Aber wir müssen auf den Spitzigen warten; ohne ihn können wir nichts machen.« »Ohne den Spitzigen?« »Und Germain soll abgekehlt werden?« »Ich nehme es auf mich.« »Aber womit?« »Willst du mal deinen Hals in diese Klammern stecken?« fragte Skelett, indem er die eisenharten Finger auseinanderspreizte. »Du willst ihn erwürgen?« »Ein bißchen.« »Wenn es aber herauskommt?« »Bin ich ein Kalb mit zwei Köpfen?« »Du hast recht: Man kann dir die Rübe nur einmal abschlagen!« »Ich bin ein Retourpferd [ein Rückfälliger] – die Sache ist also klar.« Die Gefangenen lachten. »Tausend Donnerwetter!« fuhr Skelett fort; »die Schwarzen meinen, wir zittern vor ihrer Guillotine. – Mir ist es gleichgültig, ob heute oder morgen… Denkt nur, die Menschen, die kommen werden, um mich zu sehen! Tausende werden sich um einen Platz schlagen; man wird Fenster vermieten wie zu einem Feste. Und Militär wird dabei sein, Kavallerie und Infanterie, nur meinetwegen. Alle Augen sind auf einen gerichtet, in einer Minute ist die Geschichte vorbei, was kann man sich mehr wünschen?« »Ja, man denkt wunder, was es mit der Guillotine auf sich hat«, fiel Nikolaus ein, »aber auf das Gefängnis und das Zuchthaus ist man auch nicht gut zu sprechen, obwohl es doch sehr gemütlich dort ist.« »Schlimm wäre es«, sagte der Gefangene mit der dünnen Stimme, »wenn man jeden allein in eine Zelle sperrte. – Man sagt, es soll so werden.« »In eine Zelle!« rief Skelett zornig aus. »Rede nicht davon! – Lieber wollte ich mir Arme und Beine abhauen lassen. – Ganz allein! Zwischen vier Wänden! – Das geht nicht. Wenn man zu mir sagte: 619
›Willst du dich vom Beil loskaufen und für ein Jahr in eine Zelle?‹ – so würde ich lieber den Hals hinhalten. – Ein Jahr lang ganz allein… Woran soll man denn denken, wenn man allein ist?« »Wenn man dich aber mit Gewalt in eine Zelle brächte?« »Dann würde ich alles aufbieten, um auszurücken«, antwortete Skelett. »Aber wenn du nicht könntest?« »So würde ich den ersten besten abkehlen, um hingerichtet zu werden.« »Wenn man aber die Mörder nicht zum Tode, sondern zu lebenslänglicher Einzelhaft verurteilte?« Diese Bemerkung schien Eindruck auf Skelett zu machen. »Dann weiß ich nicht«, erwiderte er, »was ich tun würde.« »Wenn du also deine Morde noch vor dir hättest, und es gäbe, statt der Zentralgefängnisse, der Bagnos und der Guillotine, nur Einzelzellen, so würdest du dir die Sache wohl überlegen?« »Wahrhaftig«, antwortete Skelett. Und er sagte die Wahrheit. – Lautes Freudengeschrei der Gefangenen, die im Hofe umhergingen, unterbrach das Gespräch. Nikolaus sprang auf und trat an die Türe, um zu sehen, was dieses ungewöhnliche Geräusch veranlaßt. »Es ist der Dicke«, sagte Nikolaus, indem er an seinen Platz zurückkehrte. »Der dicke Lahme?« rief Skelett aus; »und ist Germain aus dem Sprechzimmer zurück?« »Noch nicht«, antwortete Barbillon.
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CXXIII
D
er dicke Lahme, dessen Ankunft in der Löwengrube mit so geräuschvoller Freude begrüßt wurde, war ein Mann von mittlerer Größe, schien aber, trotz seiner Dicke und seinem Gebrechen, kräftig und gewandt zu sein. Seine Gesichtsbildung hatte Ähnlichkeit mit der einer Dogge; seine eingedrückte Stirn, seine kleinen Augen, seine hängenden Backen, seine schweren Kinnladen machten die Ähnlichkeit noch auffallender. Auf dem Kopfe trug er eine Pelzmütze und über seinem Anzug einen blauen Mantel mit Pelzkragen. Der Dicke war mit einem Manne von etwa dreißig Jahren erschienen, dessen gebräuntes Gesicht keck und entschlossen, aber nicht so tierisch war, wie das seines Gefährten. Von allen Seiten schallten Begrüßungsworte. »Bist du endlich da, Dicker? Desto besser, nun werden wir lachen!« »Du fehltest uns!« »Du hast lange auf dich warten lassen!« »Ich habe alles getan, was nötig war. – Meine Schuld ist es nicht, daß die Polizei mich nicht haben wollte.« »Du triffst es gut, der Spitzige ist auch hier.« »Er auch? Famos!« »Sag' Dicker, erinnerst du dich, daß ich in Melun mit dir gewettet habe, du würdest vor einem Jahre wieder hoppgehen?« »Du hast die Wette gewonnen; und was hast du ausgefressen?« »Geklaut!« »Wie immer.« »Ich gehe ruhig meinen Weg weiter.« »Ah, da ist ja auch Cardillac«, sagte der Lahme, als er einen armselig gekleideten, kleinen Mann von boshaftem Aussehen auf sich zukommen sah. »Guten Tag, Alter.« »Willkommen, Herr von Langsam!« entgegnete Cardillac heiter. »Alle Tage hieß es: Er kommt; aber nein, er kam nicht. Endlich…« 621
»Was lange währt. – Du weißt…« »Bist du wenigstens wegen einer besseren Sache hier?« »Es geht; aber Frank da und ich hatten diesmal kein Schwein.« Der dicke Lahme zeigte auf seinen Begleiter. »Weiß Gott, 's ist Frank«, sagte Cardillac, »ich hätte ihn beinahe nicht wieder erkannt. – Ich glaubte, du wärest inzwischen Pope geworden. – Du wolltest doch den Ehrlichen spielen!« »Ich habe mein Fett weg«, entgegnete Frank, »aber jeder Sünder findet Erbarmen, und ich stecke jetzt wieder in der Zunft bis über die Ohren. Wenn ich wieder frei werde, soll man von mir hören!« »Das nenne ich brav gesprochen.« »Aber wie ist dir der Pott übergelaufen, Frank?« »Wie er jedem Entlassenen überläuft, der dumm genug ist, den ehrlichen Mann spielen zu wollen. – Das Schicksal ist gerecht. Als ich Melun verließ, besaß ich eine Masse von über neunhundert Franken.« »Ja«, fiel der dicke Lahme ein, »sein ganzes Unglück kam von der Reue…« »Man schickte mich nach Etampes«, fuhr Frank fort. »Da ich Schlosser bin, ging ich zu einem Meister, dem ich sagte: ›Ich bin entlassener Sträfling; da sind neunhundert Franken, die ich erspart habe, nehmen Sie das Geld und geben Sie mir Arbeit; mein Geld wird für mich bürgen. Ich will arbeiten und ein ehrlicher Mann werden.‹« »Nur Frank kann auf solche Einfälle kommen!« »Ihr werdet auch gleich sehen, wie es ihm ergangen ist.« »›Ich bin kein Bankier‹«, sagte der Schlosserfritze, »›und mag auch keinen Sträfling in meiner Werkstatt. Also, guten Tag, Nachbar!‹« »Kind«, sagte der dicke Lahme mit väterlicher Miene, »es war auch unrecht, daß du nicht gleich nach Paris gekommen bist, um dein Geld zu verputzen.« »Ich lebte zwei, drei Monate von meinen Gelde«, fuhr Frank fort, »das Geld nahm ab, Arbeit fand ich nicht, ich haute ab.« »Das hättest du gleich tun sollen.« 622
»Ich kam nach Paris; hier fand ich Arbeit. Mein Meister wußte nicht, wer ich war; ich sagte, ich käme aus der Provinz. Dann traf ich den dicken Lahmen…« »Ja, Freunde, und es ging los, wie ihr gleich sehen werdet. Frank war Schlosser und machte Schlüssel, und ich wußte ein Geschäftchen und trug es ihm an. – Das Kind wollte aber wieder ehrlich werden. ›Schön‹, dachte ich, ›man muß den Menschen eine Wohltat tun, auch wenn sie nicht wollen.‹ Ich schrieb also einen Brief an seinen Meister, einen zweiten an seine Mitgesellen, um ihnen zu verraten, daß Frank usw. Der Meister wies ihm die Türe, und die Gesellen drehten ihm den Rücken zu. – Er ging zu einem anderen Meister und arbeitete da wieder acht Tage. Gleiches Spiel! Wenn er bei zehn Meistern gearbeitet hätte, hätte ich eben zehn Briefe geschrieben.« »Damals ahnte ich nicht, daß du es warst«, antwortete Frank, »sonst würdest du eine schlechte Viertelstunde gehabt haben.« »Ja, aber ich bin nicht so dumm, wie du aussiehst!« Der Dicke prustete über seinen eigenen Witz. »Als ich wieder keine Arbeit hatte, dachte ich: Zum Glück hast du noch etwas Geld. Ich ging also zu dem Mann, dem ich es in Verwahrung gegeben hatte; mein Geld war verschwunden; ich hatte keinen Pfennig mehr, nicht einmal so viel, daß ich mein Schlafgeld bezahlen konnte. Der dicke Lahme machte sich meine Wut zunutze. Er bearbeitete mich so lange…« »Bis der brave Frank sich eines Besseren besann«, fiel der dicke Lahme ein. »Er ging auf die Sache ein; leider aber wurden wir, als wir gerade das Maul auftaten, um den fetten Bissen zu schlucken, von der Polizei erwischt. Es war ein Unglück. Helf er sich…« »Ja, aber ich wäre doch nicht hier, wenn mich der verfluchte Gauner nicht bestohlen hätte«, sagte Frank grimmig. »Nun, ging es dir denn besser, als du arbeitetest?« »Ich war frei.« »Ja, sonntags, wenn die Arbeit nicht drängte; die ganze Woche über an der Kette wie ein Hund! Du siehst dein eigenes Glück nicht.« 623
»Du wirst es mich lehren«, antwortete Frank bitter. »Na, gerecht muß man sein!« Der Mitschuldige des dicken Lahmen schüttelte den Kopf und antwortete nicht. Cardillac nahm den Dicken am Arm, zog ihn auf die Seite und sagte zu ihm: »Die Sache, die dir schief ging, ist noch zu machen?« »In zwei Monaten, ja.« »Kannst du's beweisen?« »Ja.« »Wieviel willst du dafür haben?« »Für den Tip hundert Franken im voraus, und ich gebe dir die Parole, die mit meiner Frau verabredet ist, damit sie die Wachsabdrücke ausliefert. Gelingt der Coup, verlange ich den fünften Teil des Rebbachs für meine Alte.« »Nicht mehr als billig.« »Da ich weiß, wem sie die Wachsabdrücke gibt, würde ich den, der mich beganeffen wollte, anzeigen…« »Unter Dieben ist man ehrlich; das weißt du!« »Wenn der Coup halbwegs sicher ist«, fuhr Cardillac fort, »so übernehme ich vielleicht das Geschäft. Ich denke, ich bin in drei Wochen frei. Ehe die Nachschlüssel gemacht sind, vergehen vier, sechs Wochen.« »Bis dahin sind die Leute wieder sicher. Übrigens glaubt jeder, den man einmal beklaut hat, zweimal passiere ihm das nicht.« »Ich weiß… Ich übernehme also die Sache; wir sind einig.« »Kannst du auch bezahlen? Ich verlange Draufgeld.« »Da ist mein letzter Knopf, und wenn keiner mehr da ist, so gibt es noch andere«, antwortete Cardillac, indem er einen übersponnenen Knopf von seinem Rocke abriß. – Mit seinen langen Nägeln kratzte er dann das Tuch ab, und es kam ein Goldstück zum Vorschein. »Du siehst«, setzte er hinzu, »daß ich dir Draufgeld geben kann!« »Da du bald frei wirst und die nötigen Fonds hast, um Geschäf624
te betreiben zu können«, sagte der dicke Lahme, »so könnte ich dir auch noch etwas anderes überlassen, aber das ist ein Kinderspiel, ein wahres Kinderspiel, von mir und meiner Frau schon seit zwei Monaten vorbereitet; man braucht nur noch hinzugehen. Denke dir ein einzelnes Haus in einem menschenleeren Viertel und zwei alte Leute, die sich mit den Hühnern ins Bett legen. Aus Furcht, bestohlen zu werden, haben sie an einer gewissen Stelle einen großen Topf versteckt, der bis zum Rande voll mit Gold ist. Meine Frau hat das ausbaldowert… Aber ich sage dir im voraus, die Sache ist teurer als die erste, denn man braucht nur hinzugehen und zuzugreifen.« »Wir einigen uns schon! Aber ich sehe, daß du nicht schlecht gearbeitet hast, seit du aus Melun entlassen bist.« »Den besten Coup habe ich bei zwei Frauenzimmern gelandet, die mit mir in einem Hause wohnten.« »Bei Micou?« »Richtig.« »Und deine Frau Josephine?« »Ist ein wahres Frettchen.« »Eine prächtige Frau!« »Ich bin stolz auf sie. – Wir sind also einig, alter Cardillac.« »Top, Dicker!« »Und was tut sich hier?« »Man lacht!« »Wer ist der Kapitän?« »Skelett.« »Ein tüchtiger Kerl! Ich kenne ihn von den Martials her.« »Nikolaus ist auch hier.« »Ich weiß. Micou hat es mir erzählt; er beklagt sich übrigens, daß Nikolaus ihn auszieht; ich werde mich auch an ihn halten…« »Wir sprachen von Skelett; da kommt er«, sagte Cardillac, indem er auf den Dürren zeigte, der in der Tür erschien. »Zum Appell!« rief Skelett dem Lahmen zu. »Hier!« rief dieser, indem er mit Frank, den er am Arme nahm, ins Wärmezimmer ging. 625
Während des Gesprächs zwischen dem Lahmen, Frank und Cardillac hatte Barbillon auf Befehl Skeletts fünfzehn Gefangene geworben, die sich einzeln, um keinen Verdacht zu erregen, in den Saal begaben. Die anderen Gefangenen blieben im Hofe. Einige lärmten absichtlich, um die Aufmerksamkeit des Aufsehers vom Wärmesaal abzulenken. Barbillon, der den Auftrag hatte, Wache zu halten und die Annäherung des Aufsehers zu melden, stellte sich an die Türe. Das Skelett nahm die Pfeife aus dem Munde und sagte zum Lahmen: »Kennst du einen jungen Mann namens Germain, der wie ein ehrlicher Mensch aussieht?« »Der ist hier?« rief der Gefragte, dessen Züge Überraschung, Haß und Zorn verrieten. »Du kennst ihn also?« fragte Skelett. »Ob ich ihn kenne! Er ist ein Spitzel und muß bestraft werden.« »Ja, ja«, fielen die anderen ein. »Ist es sicher, daß er gepetzt hat?« fragte Frank. Diese Bemerkung mißfiel Skelett. Er bog sich zu dem dicken Lahmen und sagte leise: »Wer ist jener?« »Ich habe mit ihm gearbeitet.« »Ist er gut?« »Ja, aber ein Pflaumenweicher! Er hat keine Galle, ist weich und gutmütig.« »Ich werde ein Auge auf ihn haben.« »Wie, wann und wo hat Germain gepetzt?« fragte ein Gefangener. »Erzähle, Dicker«, fiel Skelett ein, der Frank nicht mehr aus den Augen ließ. »Einer von Nantes, der Haarige genannt, hat den jungen Menschen erzogen, dessen Herkunft ich nicht kenne. Als er das gehörige Alter erreicht hatte, gab er ihn in Nantes zu einem Bankier, weil er glaubte, mit Hilfe des Burschen ein gutes Geschäft machen zu kön626
nen. Alles war bereit, der Haarige rechnete auf den jungen Menschen wie auf sich selbst. Dieser schlief in dem Hause, wo die Kasse war, sagte weder ja noch nein, zeigte aber alles seinem Prinzipal an und entwich abends nach Paris.« Die Gefangenen gaben ihren Unwillen durch lautes Gemurmel zu erkennen. »Er ist ein Verräter – er muß bluten!« »Man muß ihm eine Anweisung ins Gesicht schreiben!« »Ruhe!« rief Skelett mit gebieterischer Stimme. Die Gefangenen schwiegen. »Weiter!« »Der Haarige aber rechnete auf Germains Beistand und versuchte mit zwei Freunden das Unternehmen in derselben Nacht. Der Bankier war, wie gesagt, gewarnt, ein Freund des Haarigen wurde erwischt, als er eben in ein Fenster einstieg, er selbst aber hatte das Glück, zu entkommen. Er ging nach Paris und begegnete dort eines Tages dem jungen Menschen; es war am hellen Tage, er wagte also nichts zu tun, folgte ihm aber und sah, wo er wohnte. In der Nacht fielen wir beide, der Haarige und ich, über Germain her. – Leider ist er uns entwischt. Seitdem haben wir ihn nicht wiederfinden können. Und nun ist er hier, sagst du?« »Du hast nichts zu fragen«, antwortete Skelett. Der dicke Lahme schwieg. »Ich übernehme deine Sache. Du trittst mir die Haut Germains ab, mein Grab ist schon gegraben, ich riskiere also nichts…« Alle Gefangenen bewunderten die Entschlossenheit Skeletts und drängten sich um ihn. Selbst Barbillon schloß sich, statt an der Türe zu bleiben, der Gruppe an und bemerkte nicht, daß ein anderer Gefangener eingetreten war. Dieser trug eine graue Bluse und hatte eine blaue Mütze auf dem Kopfe, die er tief über die Ohren hereingezogen hatte. Er machte eine Bewegung, als er den Namen Germains hörte, dann mischte er sich unter die Bewunderer Skeletts und unterstützte lebhaft den verbrecherischen Plan. 627
»O, Skelett ist ein ganzer Kerl!« sagte einer. »Wenn alle wären wie er, so würden wir zu Gericht sitzen und die anderen köpfen lassen.« »Das wäre auch ganz in der Ordnung; heute mir, morgen dir!« »Ich finde es falsch, den Jungen umzubringen«, warf Frank ein. »Was?« entgegnete Skelett in zornigem Ton; »wir sollen nicht einmal das Recht haben, einen Verräter kaltzumachen?« »Ja, wenn er wirklich ein Verräter ist, dann um so schlimmer für ihn«, sagte Frank nachdenklich. Diese Worte und die Bürgschaft des dicken Lahmen besänftigten das Mißtrauen, das Frank unter den Gefangenen erregt hatte. Nur Skelett verharrte in seinem Argwohn. »Aber was fangen wir mit dem Aufseher an, Skelett?« fragte Nikolaus. »Man beschäftigt ihn irgendwie.« »Nein, man muß ihn mit Gewalt festhalten.« »Ruhe!« gebot Skelett, und es trat wieder die tiefste Stille ein. »Hört mich an«, fuhr er mit heiserer Stimme fort, »solange der Aufseher im Saal oder im Hofe ist, läßt sich überhaupt nichts machen.« »Wie aber…?« »Hört nur weiter! Der Spitzige hat versprochen, uns heute seine Geschichte von Gringalet und Schneidentzwei zu erzählen. Es fängt an zu regnen; wir gehen alle hierher, und der Spitzel wird sich dort unten an seinen gewöhnlichen Platz stellen. Wir geben dem Spitzigen ein paar Sous, damit er seine Geschichte erzählt. – Der Aufseher wird uns ruhig zuhören sehen und fortgehen, um einen zu trinken. Sobald er fort ist, haben wir eine Viertelstunde frei, und der Spitzel ist kaltgemacht, ehe der Aufseher zurückkommt. Ich nehme das auf mich; ich bin schon mit anderen fertig geworden. Helfen darf mir also niemand.« »Halt einmal!« rief Cardillac dazwischen. »Und der Gerichtsvollzieher, der alle Tage um diese Zeit zu uns kommt? – Hört er die Geschichte des Spitzigen mit an, und sieht er Germain kalt628
machen, so ist er imstande und ruft um Hilfe. Er gehört nicht zu uns, hat eine Stube für sich allein, und wir können ihm nicht trauen.« »Du hast recht«, sagte Skelett. »Ein Gerichtsvollzieher ist hier?« fragte Frank, der von einem Manne dieses Standes um siebenhundert Franken betrogen worden war. »Wie heißt er?« »Boulard«, sagte Cardillac. »Das ist mein Mann«, entgegnete Frank, »er hat mir meinen Draht gestohlen.« »Der Gerichtsvollzieher?« fragte Skelett. »Ja, siebenhundert Franken, die er für mich eingezogen hatte.« »Du kennst ihn?« fragte der andere weiter. »Leider! Ohne ihn wäre ich nicht hier.« Dieses Bedauern klang in Skeletts Ohren nicht gut; er sah Frank lange von der Seite an und wandte sich dann an den dicken Lahmen: »Der ist imstande«, sagte er leise, »den Aufsehern unsere Sache zu stecken?« »Nein; ich bürge für ihn. Er wird keinen verraten, höchstens Germain verteidigen. Es wäre vielleicht doch besser, man entfernte ihn.« »Genug«, sagte Skelett, der dann laut hinzusetzte: »Sag, Frank, würdest du den Gerichtsvollzieher nicht auf dich nehmen?« »Wenn er kommt, kriegt er sein Teil!« »Er wird kommen.« »Aber nicht fortgehen, wie er gekommen ist.« »Das gibt eine Schlägerei; man schickt den Gerichtsvollzieher in seine Zelle und Frank ins Loch«, sagte Skelett leise. »So werden wir beide los.« »Klug ist Skelett, das muß ihm der Neid lassen«, entgegnete der dicke Lahme mit Bewunderung; dann setzte er laut hinzu: »Wird man dem Spitzigen sagen, daß man sich seiner Geschichte bedienen will, um den Aufseher zu entfernen und den Germain kaltzumachen?« 629
»Nein. Der Spitzige ist zu feig; wenn er es wüßte, würde er nicht erzählen. Ist die Sache geschehen, so fügt er sich.« In diesem Augenblick wurde zum Essen geläutet. »Zum Fressen, ihr Hunde!« rief Skelett. »Der Spitzige und Germain werden kommen. Jetzt aufgepaßt, Freunde!«
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D
er neue Gefangene mit der Mütze auf dem Kopf hatte aufmerksam zugehört. Er war ein Mann von riesenhafter Gestalt. Ohne bemerkt worden zu sein, verließ er mit den anderen Gefangenen den Wärmesaal und mischte sich bald unter die verschiedenen Gruppen, die sich im Hofe um die Essensverteiler drängten, die gekochtes Fleisch in kupfernen Töpfen und Brot in großen Körben trugen. Diejenigen, die wie Nikolaus Lebensmittel von außen erhalten hatten, improvisierten ein Festmahl, zu dem sie andere Gefangene einluden. Nikolaus' Gäste waren Skelett, Barbillon und der Spitzige, der auf diese Weise gewonnen werden sollte, seine Erzählung zum besten zu geben. Der Schinken, die harten Eier, der Käse und das weiße Brot, die Liebesgaben Micous, waren auf einer Bank ausgebreitet, und Skelett schickte sich an, allem tüchtig zuzusprechen, ohne sich durch den Mord, den er mit kaltem Blute begehen wollte, den Appetit verderben zu lassen. »Sieh doch nach, ob der Spitzige nicht kommt! Ehe ich Germain kaltmache, bringt mich noch der Hunger um; vergiß auch nicht, dem Dicken zu sagen, Frank müsse den Gerichtsvollzieher packen, damit wir beide aus der Löwengrube loswerden.« »Sei ruhig, Skelett; wenn Frank ihn nicht packt, wird es unsere Schuld nicht sein.« 630
Nikolaus ging fort. In demselben Augenblick trat Herr Boulard, eine Zigarre rauchend, die Hände in den Taschen seines langen Überrocks, mit heiterer Miene ein. Frank und der dicke Lahme saßen auf einer Bank im Hofe; sie hatten den Gerichtsvollzieher nicht bemerken können, da er hinter ihrem Rücken gekommen war. Boulard schien mit Nikolaus reden zu wollen, der aber, indem er tat, als sähe er ihn nicht, auf Frank zuging. »Guten Tag«, sagte der Gerichtsvollzieher zu Nikolaus. »Ah, guten Tag, Herr Boulard. Sie machen Ihren gewohnten Spaziergang?« »Ich habe heute keinen Appetit und dachte bei mir: Wenn ich meine Kameraden so tapfer kauen sehe, kommt der Hunger vielleicht von selbst.« »Nicht dumm! Wenn Sie zwei sehen wollen, die teufelsmäßig fressen«, sagte Nikolaus, indem er den Gerichtsvollzieher allmählich zu der Bank führte, wo Frank saß, »so kann ich sie Ihnen zeigen.« »Das dürfte gut sein«, entgegnete Boulard. »Nun, Dicker!« rief Nikolaus. Der Angeredete und Frank drehten sich rasch um. Der Gerichtsvollzieher blieb, als er den erkannte, den er betrogen hatte, mit offenem Munde stehen. Frank warf augenblicklich Brot und Fleisch auf die Bank, war mit einem Sprunge hoch, packte Boulard an der Kehle und sagte: »Mein Geld!« »Lieber Freund, hören Sie mich an…« »Mein Geld! – Du bist schuld, daß ich hier bin.« »Aber … ich…« »Wenn ich auf die Galeeren komme – hörst du? – so ist es deine Schuld. Wenn ich gehabt hätte, was du mir gestohlen hast, würde ich ehrlich geblieben sein… Du sollst an mich denken, Hund! – Hast Ringe und goldene Ketten und bestiehlst arme Leute? Da – noch eins!« 631
»Hilfe! Hilfe!« rief Boulard, während Frank wütend auf ihn losschlug. Die anderen Gefangenen stellten sich um die beiden herum; Boulard leistete keinen Widerstand und suchte nur, so gut er konnte, die Schläge seines Gegners zu parieren. Auf sein Hilfeschreien kam der Aufseher herbei und befreite ihn aus den Händen Franks. Boulard richtete sich entsetzt auf; eines seiner Augen war mit Blut unterlaufen. Ohne sich die Zeit zu nehmen, seine Mütze aufzuheben, lief er zur Tür und schrie: »Machen Sie mir auf! Ich bleibe keinen Augenblick länger hier. Hilfe! Hilfe!« »Sie folgen mir wegen der Schlägerei zum Direktor«, sagte der Aufseher, indem er Frank am Kragen nahm; »zwei Tage sind Ihnen sicher!« »Mir gleich; er hat seinen Lohn«, sagte Frank. »He, Frank«, sagte der dicke Lahme leise zu ihm, indem er sich stellte, als helfe er ihm, den Anzug wieder in Ordnung zu bringen, »kein Wort über das, was man mit dem Spitzel vorhat!« »Keine Sorge!« »Vorwärts!« herrschte der Aufseher ihn an. »Nun sind wir sie los, und jetzt kommt der Spitzel an die Reihe!« sagte Nikolaus. In dem Augenblick, in dem Frank den Hof verließ, trat Germain mit dem Spitzigen ein. Germain war nicht wiederzuerkennen; sein sonst so trauriges Gesicht strahlte vor Freude; er trug den Kopf hoch und sah sich keck und heiter um; selbst das Gefängnis hatte für ihn seine Schrecken verloren. Der Spitzige folgte ihm verlegen. Nachdem er lange gezögert hatte, ihn anzureden, stieß er Germain leicht an. Germain zuckte bei der Berührung unwillkürlich zusammen, denn das Aussehen des ehemaligen Taschenspielers nahm ihn nicht sehr für ihn ein. Er blieb stehen und fragte ihn freundlich: 632
»Was wollen Sie?« »Ihnen danken.« »Wofür?« »Für das, was Ihre Freundin für meine Schwester tun will.« »Ich verstehe Sie nicht«, entgegnete Germain verwundert. »So werde ich es Ihnen erklären. – Im Bureau begegnete ich eben dem Aufseher, der die Wache im Sprechzimmer hatte. Der alte Roussel flüsterte mir ins Ohr: ›Spitziger, du kennst doch Germain?‹ – ›Ja‹, antwortete ich, ›ich kenne Germain, an dem sich alle reiben.‹ – ›Du vielleicht auch, Spitziger?‹ fragte mich der Aufseher. – ›Mein Herr Aufseher, ich habe zu wenig Courage, als daß ich mir erlauben könnte, mich an irgendeinem zu reiben; an Herrn Germain nun zuallerletzt.‹ – ›Du tust gut daran, Spitziger, Partei für Germain zu nehmen, denn er ist auch gegen dich gut gewesen.‹ – ›Gegen mich, Herr Aufseher!‹ – ›Das heißt, nicht er selbst, aber du bist ihm doch Dank schuldig‹, sagte der alte Roussel zu mir.« »Erklären Sie sich ein wenig deutlicher«, fiel Germain lächelnd ein. »Gerade das sagte ich auch zu dem Aufseher. Da antwortete er: ›Nicht Germain, aber seine hübsche Freundin ist gegen deine Schwester sehr gütig gewesen. Sie hat sich erboten, ihr nach Kräften beizustehen.‹« »Gute Lachtaube«, rief Germain gerührt aus. »Und davon hat sie mir nichts gesagt!« »›O‹, sagte ich zu dem Aufseher, ›wenn es so ist, haben Sie ganz recht.‹« »Die liebe Lachtaube!« fiel Germain ein; »ich wundere mich nicht, sie hat ein so mitleidiges Herz.« »Der Aufseher sagte dann noch: ›Übrigens will ich dir eine gute Nachricht für Germain mitgeben.‹« »Eine gute Nachricht?« fragte Germain. »Es wird morgen eine Zelle für Sie leer, soll ich Ihnen sagen.« »Wirklich? Das ist in der Tat eine sehr angenehme Nachricht!« »Das glaube ich auch, denn Ihr Platz ist nicht unter uns, Herr Germain.« Dann unterbrach sich der Spitzige und setzte schnell und 633
leise hinzu, indem er sich bückte, als hebe er etwas auf: »Die anderen sehen uns an; ich verlasse Sie; seien Sie auf Ihrer Hut! Wenn man Streit mit Ihnen anzufangen sucht, antworten Sie nicht. Sie suchen nur einen Vorwand, Sie zu schlagen.« »Ich danke Ihnen und werde vorsichtig sein«, sagte Germain, indem er sich von seinem Begleiter trennte. »So komm doch, Faulpelz«, sagte Nikolaus zu dem Spitzigen, indem er ihm entgegenging. »Laß dein Fleisch liegen und iß mit uns; ich lade dich ein.« »Wo denn?« »Im Wärmesaal; der Tisch ist gedeckt. – Wir haben Schinken, Eier und Käse, ich bezahle.« Nikolaus und der Spitzige traten in den Wärmesaal. Skelett saß rittlings auf der Bank und fluchte. »Wo bleibst du so lange?« donnerte er den Erzähler an. »Er schwätzte mit Germain«, sagte Nikolaus, indem er von dem Schinken abschnitt. »Ah?« sagte Skelett, mit einem forschenden Blicke auf den Spitzigen. »Ja«, antwortete der, »er gehört auch zu denen, die die Stiefelanzieher und die harten Eier nicht erfunden haben. Ist der dumm! Ich ließ mir sagen, er mache den Spitzel im Gefängnis; dazu ist er aber wirklich zu blöde!« »Meinst du?« entgegnete Skelett, indem er einen Blick mit Nikolaus und Barbillon wechselte. »Gewiß, blöde wie der Schinkenknochen da! Und wen soll er denn ausspionieren? Er ist ja immer allein und flieht uns, als hätten wir alle die Cholera. Er wird also verdammt wenig zu spitzeln haben. Übrigens kriegt er auch eine Zelle für sich allein.« »Wann?« rief Skelett. »Morgen früh.« »Du siehst, er muß also gleich kaltgemacht werden. Er schläft nicht in meinem Saale; morgen wäre es zu spät. Heute haben wir nur Zeit bis vier Uhr, und jetzt ist es schon halb drei«, sagte Skelett leise zu 634
Nikolaus, während der Spitzige mit Barbillon sprach. »Das bleibt sich gleich«, entgegnete Nikolaus laut, als antworte er auf eine Bemerkung Skeletts. »Germain verachtet uns offenbar.« »Im Gegenteil, Kinder«, erwiderte der Spitzige, »er fürchtet sich vor euch; er hält sich unter euch für den Geringsten. Wißt ihr, was er eben zu mir sagte?« »Nein. Laß hören!« »Er sagte: Sie sind sehr glücklich, Spitziger, da Sie wagen, mit dem berühmten Skelett zu reden, wie mit Ihresgleichen; ich brenne vor Verlangen, auch einmal mit ihm zu reden, aber er macht einen so gewaltigen Eindruck auf mich, daß ich nicht den Mut dazu finde.« »Das hat er dir gesagt?« fragte Skelett, der sich stellte, als glaube er die Worte. »Weiß der Teufel, das hat er gesagt!« »Dann ist es was anderes«, fuhr Skelett fort, »ich werde mich mit ihm aussöhnen. – Barbillon hatte Lust, Streit mit ihm anzufangen; er wird aber klug tun, ihn in Ruhe zu lassen.« »Nun, wenn es so ist, und wenn der Spitzige eine Geschichte erzählen will, werde ich keinen Streit mit Germain suchen«, sagte Barbillon. »Das ginge!« entgegnete der Erzähler, »die Bedingung läßt sich hören, aber ich habe noch eine andere…« »Laß hören!« »Nun, die ehrenwerte Gesellschaft«, sagte der Spitzige in seinem Jahrmarktston, »wird zwanzig Sous für mich zusammensteuern. Zwanzig Sous, meine Herren, um den berühmten Spitzigen zu hören, der die Ehre gehabt hat, vor den größten Dieben und Mördern Frankreichs und Navarras zu arbeiten, und der jeden Augenblick in Brest und Toulon erwartet wird, wohin er sich im Auftrag der Regierung begibt. – Zwanzig Sous! Es ist fast umsonst, meine Herren!« »Man wird dir zwanzig Sous geben, wenn du fertig bist.« »Nein – vorher«, entgegnete der Spitzige. »Hör einmal an, glaubst du, wir wären imstande, dich um zwanzig Sous zu prellen?« fragte Skelett beleidigt. 635
»Keineswegs«, entgegnete der Spitzige, »ich beehre die Gesellschaft mit meinem ganzen Vertrauen und verlange die zwanzig Sous im voraus, nur weil ich ihren Beutel schonen will.« »Auf Ehre?« »Ja, meine Herren, denn nach meiner Erzählung wird man so entzückt sein, daß man mir nicht zwanzig Sous, sondern hundert Franken aufnötigen würde! Und ich kenne mich: ich würde die Schwäche haben, sie anzunehmen. – Ihr seht also, daß ihr, schon der Sparsamkeit wegen, besser daran tut, mir die zwanzig Sous im voraus zu geben!« »Ja, dumm bist du nicht!« »Ich habe eben nur meine Zunge und muß sie brauchen. – Und dann befindet sich meine Schwester mit ihren Kindern in trauriger Lage; die zwanzig Sous sollen ihr zugute kommen.« »Warum stiehlt deine Schwester nicht mitsamt den Kindern, wenn sie alt genug sind?« fragte Nikolaus. »Sprecht nicht davon, sie entehrt mich!« »Und du bestärkst sie noch in ihrer Ehrlichkeit!« »Freilich, es ist wahr, ich bestärke sie in dem Laster der Ehrlichkeit, aber sie versteht kein anderes Handwerk… Also, ich erzähle euch meine berühmte Geschichte von Gringalet und Schneidentzwei, ihr zahlt mir zwanzig Sous, und Barbillon fängt keinen Streit mit dem Schwachkopf von Germain an.« »Man wird dir zwanzig Sous geben, und Barbillon fängt keinen Streit mit dem Schwachkopf von Germain an«, bestätigte Skelett. »So sperrt die Ohren auf! Aber es regnet, und die Zuhörer kommen von selbst, man braucht sie also nicht hereinzutrommeln.« Es fing wirklich an zu regnen, die Gefangenen verließen den Hof und flüchteten in der Wärmesaal, begleitet von dem Aufseher. Dieser Wärmesaal war lang, mit Steinen gepflastert und hatte drei Fenster, die auf den Hof gingen. In der Mitte befand sich der Ofen, neben dem Skelett, Barbillon, Nikolaus und der Spitzige standen; auf einen Wink des Vorstehers schloß sich auch der dicke Lahme der Gruppe an. 636
Germain war einer der letzten, die hereintraten. Er setzte sich auf dem Fensterbrett nieder, seinem gewöhnlichen Platze, den ihm niemand streitig machte. Fünfzehn Gefangene waren von dem Verrat unterrichtet, den man Germain vorwarf und von dem Morde, der ihn dafür strafen sollte. Der Plan blieb jedoch nicht verschwiegen und fand bald auch die Zustimmung der anderen. Germain, der Spitzige und der Aufseher waren also die einzigen, die nicht wußten, was geschehen sollte. Die allgemeine Aufmerksamkeit teilte sich zwischen Henker, Opfer und Erzähler, der unschuldigerweise Germain die einzige Hilfe nehmen sollte, die er erwarten konnte; denn es ließ sich fast wetten, daß der Aufseher, wenn er die Gefangenen aufmerksam der Erzählung des Spitzigen zuhören sah, seine Bewachung für unnötig halten und den Augenblick benutzen würde, seine Mahlzeit einzunehmen. Als alle Gefangenen beisammen waren, sagte Skelett zu dem Aufseher: »Der Spitzige hat eine gute Idee, Alter, er will uns seine Geschichte von Gringalet und Schneidentzwei vortragen. Es ist ein Wetter draußen, daß man nicht gern einen Polizeidiener hinausschickt, und wir wollen ruhig die Zeit hier abwarten, bis wir uns auf die Ohren legen.« »Wenn er schwatzt, hat man wenigstens nicht nötig, euch immer auf dem Nacken zu sitzen.« »Ja«, entgegnete Skelett, »aber der Spitzige läßt sich teuer bezahlen; er verlangt zwanzig Sous.« »Ja, zwanzig Sous, eine Bagatelle«, sprach der Spitzige, »wenn man dafür die Abenteuer des armen kleinen Gringalet, des schrecklichen Schneidentzwei und des bösartigen Gargousse hören kann; sie zerreißen das Herz und treiben die Haare zu Berge. Und wer gäbe die Bagatelle nicht, um sich das Herz zerreißen und die Haare zu Berge treiben zu lassen?« 637
»Ich gebe zwei Sous«, sagte Skelett, während er dem Spitzigen das Geld hinwarf. Es fanden sich noch mehr Sous ein, zur großen Freude des Spitzigen, der dabei nur an seine Schwester dachte. »Acht, neun zehn, zwölf, dreizehn!« rief er aus, indem er das Geld aufhob, »nun, ihr Reichen, ihr Kapitalisten und Bankiers, noch eine kleine Anstrengung! Bei dreizehn könnt ihr nicht stehenbleiben, das ist eine schlechte Zahl. – Nur noch lumpige sieben Sous! Was? Ich hoffe doch nicht, daß man sagen dürfe, die Löwengrube könne nicht sieben lumpige Sous zusammenbringen!« Die gellende Stimme des Spitzigen hatte Germain aus seinem Sinnen aufgeschreckt, und um dem Rat der Lachtaube zu folgen, stand er auf und warf ein Zehnsousstück vor die Füße des Erzählers, der auf den edlen Geber deutete und ausrief: »Zehn Sous, meine Herren, wie ihr seht! Ja, meine Herren, dem edlen Spender verdankt ihr den größten Teil von Gringalet und Schneidentzwei, und ihr werdet ihm den Dank nicht schuldig bleiben. Für die drei Sous, die darüber sind, werde ich auch ein Übriges tun und die Stimmen der Personen nachahmen… Auch diesen Genuß verdankt ihr dem Kapitalisten da!« »Schwätz nicht soviel und fange an!« unterbrach ihn Skelett. »Nur noch einen Augenblick, ihr Herren«, sagte der Spitzige, »es ist recht und billig, daß der Kapitalist, der mir zehn Sous gegeben hat, den besten Platz erhält, den Vorsteher ausgenommen, der sich den Platz selbst aussuchen kann.« Skelett antwortete: »Ja, nach mir muß er den besten Platz haben!« Er sah dabei die Gefangenen bedeutungsvoll an. »Ja, ja, er mag herankommen.« »Er setze sich auf die erste Bank.« »Sie sehen, junger Mann, Ihre Freigebigkeit findet den gebührenden Lohn. Die ehrenwerte Gesellschaft erkennt an, daß Sie ein Recht auf den ersten Platz haben«, sagte der Spitzige zu Germain. Germain glaubte wirklich, seine Freigebigkeit habe seine Gefähr638
ten günstig für ihn gestimmt; er verließ deshalb, trotz seinem Widerwillen, seinen Lieblingsplatz und näherte sich dem Erzähler. Dieser hatte vier bis fünf Bänke an den Ofen gestellt und sagte mit Emphase: »Das sind die Logen! Ehre, wem Ehre gebührt! Zuerst der Kapitalist! Dann setzen sich die, die wenigsten etwas bezahlt haben.« »Die, die nichts bezahlt haben, mögen auf dem Boden Platz nehmen oder stehen, ganz nach Belieben!« Der Spitzige stand am Ofen und schickte sich an, mit seiner Erzählung zu beginnen. Neben ihm stand Skelett, bereit, sich auf Germain zu stürzen, sobald der Aufseher den Saal verlassen haben würde. In einiger Entfernung von Germain nahmen Nikolaus, Barbillon, Cardillac und andere Gefangene, unter denen man auch den Mann mit der Mütze und der grauen Bluse bemerkte, die letzten Bänke ein. Der Aufseher, der unbewußt durch sein Fortgehen das Signal zur Ermordung Germains geben sollte, stand neben der halboffenen Türe. »Sind wir fertig?« fragte der Spitzige Skelett. »Ruhe!« rief dieser, indem er sich halb umdrehte; dann wandte er sich an den Spitzigen und setzte hinzu: »Nun fang an, wir hören zu!« Es trat tiefe Stille ein.
CXXV
D
er Spitzige begann seine Erzählung mit folgenden Worten: »Die Geschichte, die ich der ehrenwerten Gesellschaft erzählen will, ist in einer schon längst vergangenen Zeit geschehen. Das sogenannte Kleinpolen war noch nicht zerstört. Die ehrenwerte Ge639
sellschaft weiß ohne Zweifel, was Kleinpolen war?« »Allerdings«, antwortete der Gefangene mit der blauen Mütze, »es waren Häuschen an der Rue du Rocher und der Pépinière.« »Richtig, mein Sohn«, fuhr der Spitzige fort, »und die Cité, die doch bekanntlich keineswegs aus Palästen besteht, würde gegen Kleinpolen immer noch eine Rue de Rivoli sein. Aber für unsere Leute war es ein famoser Platz. Straßen kannte man da nicht, sondern nur Gäßchen; Häuser auch nicht, sondern Hütten; ebensowenig hatte man dort Pflaster, sondern nur einen weichen Teppich von Kot und Mist, so daß ein Wagen keinen Lärm gemacht haben würde, wenn einer durchgefahren wäre. Es kam aber keiner in diese Gegend. Von früh bis spät, besonders aber vom Abend bis zum Morgen hörte man rufen: ›Zu Hilfe! – Mörder! – Diebe! – Wache!‹ Aber die Wache rührte sich nicht. Je mehr Leute in Kleinpolen erschlagen wurden, um so weniger gab es zu arretieren. Es wimmelte und kribbelte von Menschen dort! Ihr hättet das sehen sollen! Freilich wohnten weniger Juweliere, Goldschmiede und Bankiers da als Leierkastenmänner, Schausteller, Feuerfresser, Bärenund Affenführer. Unter den letzteren nun gab es einen, den man Schneidentzwei nannte, so schlecht war er, besonders gegen die Kinder. Man nannte ihn Schneidentzwei, weil er mit einem Beilhieb einen kleinen Savoyarden mittendurch gehauen haben sollte.« Bei dieser Stelle der Erzählung schlug es ein viertel Vier. Da die Gefangenen sich um vier Uhr in ihre Schlafsäle zu begeben hatten, so mußte das Verbrechen vor dieser Zeit vollbracht sein. »Tausend Donnerwetter! Der Aufseher geht nicht fort«, sagte Skelett leise zum dicken Lahmen. »Sei nur ruhig; ist die Geschichte erst einmal im Zuge, so wird er sich schon drücken!« Der Spitzige fuhr fort: »Woher Schneidentzwei gekommen war, wußte niemand. Einige sagten, er sei ein Italiener, andere nannten ihn einen Zigeuner, einen Türken, einen Afrikaner. Die Frauen sahen in ihm einen Hexenmeister, obgleich ein Hexenmeister in dieser Zeit eine närrische 640
Rolle gespielt haben würde. Ich für meinen Teil möchte aber doch den Frauen beistimmen, und zwar deshalb, weil er immer einen großen, roten Affen bei sich hatte, der Gargousse hieß und so bösartig war, daß man hätte sagen können, er habe den Teufel im Leibe. – Ich werde gleich mehr von Gargousse erzählen. Jetzt will ich euch Schneidentzwei beschreiben; er hatte rote Haare wie sein Affe, grüne Augen und eine schwarze Zunge…« »Eine schwarze Zunge?« fragte Barbillon. »Schwarz wie Tinte«, antwortete der Spitzige. »Warum?« »Weil seine Mutter während ihrer Schwangerschaft wahrscheinlich von einem Neger gesprochen hatte«, entgegnete der Spitzige. »Mit diesen Vorzügen verband nun Schneidentzwei das Gewerbe, zahllose Schildkröten, Affen, Meerschweinchen, weiße Mäuse, Füchse und Murmeltiere zu halten, die einer gleichen Anzahl von kleine Savoyarden oder verlassenen Kindern entsprachen. Alle Morgen gab Schneidentzwei jedem Kind sein Tier und ein Stück schwarzes Brot, und nun fort – zum Betteln! Diejenigen, die abends nicht wenigstens fünfzehn Sous brachten, wurden geprügelt, und wie…! Im Anfang hörte man die Kinder von einem Ende Kleinpolens bis zum anderen schreien. Ich muß nun auch erwähnen, daß in Kleinpolen ein Mann lebte, den man den Alten nannte, weil er der älteste dort und gleichsam der Maire, der Friedens- oder vielmehr Streitrichter war, denn zu ihm ging man, wenn man auf keine andere Weise fertig werden konnte. Obgleich nun der Alte schon sehr alt war, so war er doch stark wie Herkules und sehr gefürchtet. Man schwor in Kleinpolen nur bei ihm. Sagte er: Es ist gut, so sagten alle anderen auch: Es ist gut. Sagte er: Das ist schlecht, so sagten die anderen ebenfalls: Das ist schlecht. Übrigens war er im Grunde ein guter Mann, aber wenn starke Leute schwächere malträtierten, so konnten sie sich vor ihm in acht nehmen. Da der Alte der Nachbar Schneidentzweis war, so hatte er die Kinder schreien hören. Gleich dachte er bei sich: wenn ich die Kinder 641
noch einmal schreien höre, so soll das Schreien an dich kommen, und da du eine stärkere Stimme hast, so werde ich auch stärker klopfen.« »Ein prächtiger Kerl, der Alte; er gefällt mir«, sagte der Gefangene mit der blauen Mütze. »Mir auch«, setzte der Aufseher hinzu, der näher an die Gruppe trat. Skelett konnte eine Bewegung der Ungeduld nicht unterdrücken. Der Spitzige fuhr fort: »Des Alten wegen, der Schneidentzwei gedroht hatte, hörte man die Kinder nicht mehr schreien; aber die armen Kleinen hatten es deshalb nicht besser, denn sie schrien nur deshalb nicht, weil sie noch mehr geschlagen zu werden fürchteten. Daß sie sich bei dem Alten hätten beschweren können, fiel ihnen gar nicht ein. Für die fünfzehn Sous, die jeder der Kleinen abends bringen mußte, erhielt er von Schneidentzwei Wohnung, Kost und Kleidung. Abends ein Stück schwarzes Brot wie zum Frühstück, das war die Kost; Kleidungsstücke gab er ihnen gar nicht – das war die Kleidung, und abends sperrte er sie mit den Tieren zusammen in einer Dachkammer ein, zu der man auf einer Leiter hinaufsteigen mußte – das war die Wohnung. Waren Tiere und Kinder oben auf dem Stroh, so zog er die Leiter zurück und schloß die Falltür zu. Ihr könnt euch das Leben und den Lärm denken, den diese Affen, Meerschweinchen, Füchse, Mäuse, Schildkröten, Murmeltiere und Kinder ohne Licht in der Kammer vollführten, die so klein war, daß sie sich kaum darin rühren konnten. Schneidentzwei schlief in einer Kammer darunter und hatte seinen Affen Gargousse bei sich, der an seinem Bett angebunden war. Wenn es oben gar zu arg rumorte und schrie, stand Schneidentzwei auf, nahm eine große Peitsche, stieg die Leiter hinauf, öffnete die Falltür und schlug im Finstern mit der Peitsche unter den kribbelnden Haufen von Kindern und Viehzeug. Da er immer vierzehn, fünfzehn Kinder hatte, und einige der unschuldigen Würmer ihm bisweilen bis zwanzig Sous brachten, so 642
blieben Schneidentzwei, nach Abzug der Kosten, die wahrlich nicht groß waren, vier Franken täglich übrig. Die vertrank er, und einmal des Tages wenigstens war er total besoffen. – Das war seine Lebensweise, und er sagte, er müsse so leben, sonst litte er den ganzen Tag an Kopfschmerzen. Von dem Geld kaufte er aber auch Schöpsherzen für Gargousse, denn sein großer Affe fraß rohes Fleisch wie ein Wilder. Aber ich sehe, die ehrenwerte Gesellschaft möchte auch etwas von Gringalet hören; also, meine Herren…« »Ja, Gringalet! Dann gehe ich und esse meine Suppe«, sagte der Aufseher. »Unter den Kindern, die Schneidentzwei mit seinem Viehzeug ausschickte«, fuhr der Spitzige fort, »befand sich auch ein armer kleiner Teufel mit Namen Gringalet, der weder Vater noch Mutter, weder Bruder noch Schwester hatte und ganz mutterseelenallein in der Welt stand, in die er nicht freiwillig gekommen war, und die er wieder hätte verlassen können, ohne daß jemand darauf geachtet hätte. Er war klein und schwächlich, daß es einen Stein hätte erbarmen können. Man hätte ihn für sieben oder höchstens acht Jahre gehalten, er war aber dreizehn Jahre alt. Wenn er nur halb so alt aussah, wie er wirklich war, so geschah es nicht aus bösem Willen. Er hatte nur etwa alle zwei Tage einmal gegessen, und da noch so wenig und so schlecht, daß es wirklich zu verwundern war, wie er noch wie ein Siebenjähriger aussehen konnte.« »Der arme Teufel! Es ist mir, als sähe ich ihn vor mir«, fiel der Gefangene mit der blauen Mütze ein. »Und es gibt so viele Kinder der Art – kleine, halbverhungerte Würmer…« »Sie müssen jung anfangen, um sich daran zu gewöhnen«, entgegnete der Spitzige, mit bitterem Lächeln. »Mach weiter – geschwind!« rief Skelett barsch aus. »Der Herr Aufseher verliert die Geduld, seine Suppe wird kalt.« »Das bleibt sich gleich«, entgegnete der Aufseher. »Ich will Gringalet noch etwas genauer kennenlernen; es interessiert mich.« 643
»Ja, es ist sehr interessant«, setzte Germain hinzu, der aufmerksam zugehört hatte. »Ich danke für Ihre Bemerkung, Herr Kapitalist«, antwortete der Spitzige, »das macht mir noch mehr Vergnügen als Ihre zehn Sous.« »Donnerwetter!« schrie Skelett. »Wird's bald werden?« »Sogleich«, entgegnete der Spitzige. »Schneidentzwei hatte eines Tages Gringalet, halb verhungert und halb erfroren, auf der Straße aufgelesen; er hätte besser getan, wenn er ihn hätte sterben lassen. Da nun Gringalet schwach war, so war er auch furchtsam, und weil er furchtsam war, wurde er von den anderen Kindern geneckt und so geprügelt, daß er wohl bösartig geworden wäre, wenn es ihm nicht an Mut und Kraft gefehlt hätte. Aber nein; wenn er tüchtig geprügelt worden war, weinte er und sagte: ›Ich habe niemandem etwas zuleide getan, und mir tut jedermann ein Leid an; das ist nicht recht. – Ach, wenn ich stark und mutig wäre!‹ – Ihr glaubt vielleicht, Gringalet wollte hinzusetzen: ›So würde ich es den anderen schon zeigen?‹ O, keineswegs; er sagte: ›Wenn ich stark und mutig wäre, würde ich die Schwachen gegen die Starken verteidigen, denn ich bin schwach und muß von den Starken viel leiden.‹ Da er aber nun einmal die Starken nicht hindern konnte, die Schwachen zu quälen, so hinderte er wenigstens, daß die großen Tiere die kleinen fraßen.« »Das ist ein drolliger Einfall!« rief der Gefangene in der blauen Mütze dazwischen. »Noch drolliger ist es«, fuhr der Erzähler fort, »daß dieser Einfall für Gringalet ein Trost zu sein schien. Das beweist gewiß, daß er im Grunde kein schlechtes Herz hatte.« »Das glaube ich! Im Gegenteil«, sagte der Aufseher. »Der Spitzige erzählt sehr gut.« In diesem Augenblick schlug es halb vier Uhr. Skelett und der dicke Lahme wechselten einen unruhigen Blick. Die Zeit rückte vor, der Aufseher ging nicht fort, und einige der 644
Gefangenen schienen den Plan fast zu vergessen, so begierig hörten sie der Erzählung des Spitzigen zu. »Wenn ich sage«, fuhr dieser fort, »Gringalet hinderte die großen Tiere, die kleinen zu fressen, so versteht sich, daß er sich nicht in die Angelegenheiten der Löwen, Tiger, Wölfe, noch selbst der Füchse und Affen in der Menagerie Schneidentzweis mischte; dazu war er zu furchtsam. Sobald er aber z.B. eine Spinne in ihrem Netz lauern sah, um eine arme leichtsinnige Fliege zu fangen, die sorglos in der Sonne des lieben Gottes herumschwirrte, ohne jemand zu belästigen – Plauz! – schlug Gringalet mit dem Stock in das Netz, befreite die Fliege und quetschte die Spinne wie ein Held, – ja, ja, wie ein Held, denn er wurde weiß wie ein neugewaschenes Hemd, wenn er solch garstiges Vieh angriff. Er mußte also allen Mut zusammennehmen, da er sich doch vor einem Maikäfer fürchtete und lange Zeit gebraucht hatte, ehe er sich an die Schildkröte gewöhnte, mit der ihn Schneidentzwei jeden Morgen ausschickte. Auch bewies Gringalet Mut, weil er seine Furcht vor den Spinnen überwand, um die Fliegen zu befreien…« »Ebensoviel Courage, wie ein Mann, der einen Wolf angreift um ihm ein Lamm aus den Zähnen zu reißen«, fiel der Gefangene mit der blauen Mütze ein. »Oder wie jemand, der sich an Schneidentzwei gewagt hätte, um ihm Gringalet aus den Klauen zu reißen«, setzte Barbillon hinzu, dessen Aufmerksamkeit durch die Erzählung ebenfalls sehr gefesselt wurde. »Ihr habt vollkommen recht«, fuhr der Spitzige fort. »Nach solchen Heldentaten fühlte Gringalet sich nicht mehr so unglücklich. Obgleich er sonst nie lachte, so lächelte er dann, setzte die Mütze (wenn er eine hatte) auf ein Ohr und sang die Marseillaise… In solchen Augenblicken würde keine Spinne gewagt haben, ihm ins Gesicht zu sehen. Ein anderes Mal fiel ein Heimchen ins Wasser und zappelte vor Angst, zu ertrinken; gleich war Gringalet bei der Hand, griff mutig mit dem Finger ins Wasser, holte das Heimchen heraus und leg645
te es ins sonnige Gras. Ein Schwimmer mit Rettungsmedaillen am Rock würde nicht stolzer gewesen sein als Gringalet, da er das Heimchen wohl und munter davonlaufen sah – Das Heimchen gab ihm weder Geld noch eine Medaille, ja, es bedankte sich nicht einmal bei ihm… Aber, Spitziger, wird die ehrenwerte Gesellschaft sagen, welches Vergnügen fand denn Gringalet, der von jedermann geprügelt wurde, darin, Heimchen zu retten und Spinnen zu töten? Warum rächte er sich nicht dadurch, daß er soviel Schlimmes tat, als er, nach seinen Kräften, tun konnte, z.B. indem er Fliegen von Spinnen fressen oder Heimchen ertrinken ließ oder gar Heimchen selbst ins Wasser warf?« »Ja, warum rächte er sich nicht so?« fragte Nikolaus. »Was würde ihm das genützt haben?« warf ein anderer ein. »Er hätte gequält, weil man ihn quälte«, erläuterte ein Dritter! »Nein! Ich sehe ein, warum der arme kleine Kerl gern Fliegen rettete«, sagte der Gefangene mit der blauen Mütze. »Er dachte vielleicht bei sich: Wer weiß, ob man mich nicht auch einmal so rettet.« »Der Kamerad hat recht«, entgegnete der Spitzige, »er hat erraten, was ich der ehrenwerten Gesellschaft eben sagen wollte. – Gringalet war nicht boshaft; auch sah er nicht weiter als bis zu seiner Nasenspitze, aber er dachte bei sich: ›Schneidentzwei ist meine Spinne, vielleicht tut einmal jemand für mich, was ich für die armen Brummfliegen tue, – vielleicht zerreißt man ihm sein Netz und befreit mich aus seinen Klauen.‹ – Selbst sich zu retten, davonzulaufen, würde er nicht gewagt haben. Eines Abends aber, als weder er noch seine Schildkröte Glück gehabt und nur drei Sous verdient hatten, prügelte Schneidentzwei den armen Gringalet so sehr, daß er es wahrhaftig nicht mehr aushalten konnte. Er lauerte auf den Augenblick, in dem die Falltüre offen war, und lief auf der Leiter hinunter, während Schneidentzwei sein Tierzeug fütterte –« »Desto besser!« sagte einer der Gefangenen. »Warum beschwerte er sich nicht bei dem Alten?« warf der Mann mit der blauen Mütze ein. »Schneidentzwei würde sein Teil gekriegt 646
haben.« »Das wagte er nicht; er fürchtete sich zu sehr und wollte lieber versuchen, davonzulaufen. Leider hatte ihn Schneidentzwei gesehen; er packte ihn am Halse und zog ihn wieder in die Bodenkammer hinauf. Gringalet zitterte am ganzen Leibe… Ich muß nun von Gargousse, dem großen Lieblingsaffen Schneidentzweis, etwas sagen. Das boshafte Tier war wahrhaftig größer als der kleine Gringalet. Hört mich an, warum man ihn nicht auch, wie die anderen Tiere der Menagerie, auf der Straße zeigte. Gargousse war so stark und so boshaft, daß unter all den Knaben nur ein Auvergnat von vierzehn Jahren, ein Bengel, kräftig wie vier andere, ihn hatte bändigen und an der Kette halten können, nachdem er sich oft mit ihm geschlagen hatte. Und Blut mußte er doch noch lassen, wenn der boshafte Affe tückisch wurde. ›Warte‹, dachte da der Junge eines Tages bei sich, ›ich will mich schon an dir rächen.‹ Er zog eines Morgens mit ihm aus, wie gewöhnlich, und kaufte ihm, um ihn zu ködern, ein Schöpsherz. Während Gargousse fraß, zog der Junge einen Strick durch das Ende seiner Kette, band den Strick an den Baum und prügelte dann das Tier gewaltig durch!« »Das war recht!« »Bravo!« »Ja, er schlug immer brav drauf«, fuhr der Erzähler fort. »Ihr hättet sehen sollen, wie Gargousse schrie, die Zähne fletschte, emporsprang, hin- und herhüpfte, aber der starke Bursche schlug immer drauf los, hast du nicht gesehen! Leider ist es bei den Affen wie bei den Katzen: Sie haben ein zähes Leben. Gargousse war nun ebenso pfiffig als boshaft; als er merkte, wo es hinauswollte, machte er plötzlich einen Luftsprung, fiel der Länge lang am Baume nieder, ächzte, streckte alle viere von sich, stellte sich tot und rührte sich so wenig wie ein Stück Holz. Weiter wollte der Auvergnat nichts. Er glaubte, der Affe sei tot, machte sich aus dem Staube und ließ sich bei Schneidentzwei nicht wieder sehen. Aber Gargousse blinzelte ihm nach, und sobald er sah, daß er allein, daß der Auvergnat fort war, biß er den Strick ent647
zwei, der seine Kette an dem Baume festhielt. Der Boulevard Monceau, wo der Tanz vor sich gegangen, war ganz nahe bei Kleinpolen; der Affe kannte den Weg auswendig wie ein Vaterunser und kam zu seinem Herrn, der vor Wut schäumte, als er seinen Affen so zugerichtet sah. Von dieser Zeit an hatte Gargousse einen solchen Groll gegen Kinder, daß Schneidentzwei, der doch gar nicht weichherzig war, ihn keinem mitzugeben wagte, weil er ein Unglück fürchtete. Gargousse wäre imstande gewesen, ein Kind zu erwürgen und aufzufressen…« »Ich muß meine Suppe essen«, sagte der Aufseher, indem er nach der Türe ging. »Der Spitzige lockt mit seinen Geschichten die Vögel von den Bäumen herunter und zwingt sie, ihm zuzuhören. Gott weiß, woher er das nimmt!« »Endlich geht der Aufseher«, sagte Skelett leise zu dem dicken Lahmen, »ich halte es nicht länger aus. – Sorgt nur dafür, daß ihr euch dicht um den Spitzel herumstellt, das übrige ist meine Sache!« »Verhaltet euch ruhig«, sagte der Aufseher beim Hinausgehen. »Ruhig wie die Bildsäulen«, antwortete Skelett, indem er sich Germain näherte, während der dicke Lahme und Nikolaus, nachdem sie sich durch einen Wink verständigt hatten, ebenfalls ein paar Schritte nähertraten. »Ach, Herr Aufseher, Sie gehen gerade bei der schönsten Stelle fort«, sagte der Spitzige, mit einem vorwurfsvollen Blick. Wäre der dicke Lahme nicht gewesen, der ihn rasch am Arme ergriff, so hätte sich Skelett schon jetzt auf Germain gestürzt. »Wieso bei der schönsten Stelle?« fragte der Aufseher, indem er sich nach dem Erzähler umdrehte. »Das glaube ich«, sagte der Spitzige, »Sie wissen gar nicht, was Sie einbüßen. – Das Schönste in meiner Geschichte fängt erst an!« »Hören Sie nicht auf ihn«, sagte Skelett, mit Mühe seine Wut an sich haltend, »er ist heute nicht im Zuge, ich finde seine Erzählung sehr albern.« »Meine Erzählung albern?« entgegnete der Spitzige. »Herr Aufseher, nun bitte ich Sie, bleiben Sie bis zu Ende, – es dauert höchstens 648
noch eine Viertelstunde! Übrigens ist Ihre Suppe so schon kalt, Sie büßen also nichts ein. Ich werde mich beeilen, so daß Sie Ihre Suppe noch essen können, ehe wir in die Schlafsäle hinaufgehen.« »Ich bleibe, aber mach rasch«, sagte der Aufseher, indem er wieder nähertrat. »Daran tun Sie sehr recht!« Skelett zitterte vor Wut. Es sah fast so aus, als würde das Verbrechen nicht ausgeführt werden können. War einmal die Zeit des Schlafengehens gekommen, so war Germain gerettet, denn er befand sich nicht in demselben Schlafsaal, und am anderen Tage sollte er bekanntlich eine leergewordene Einzelzelle erhalten. Skelett konnte den Erzähler verhindern, die Geschichte zu Ende zu bringen, aber dann schwand auch die letzte Hoffnung, den Aufseher gehen zu sehen. »Die ehrenwerte Gesellschaft mag selbst urteilen, ob meine Geschichte albern ist«, sprach der Spitzige weiter. »Es gab also kein boshafteres Tier als den großen Affen Gargousse, der gegen die Kinder so erbittert war wie sein Herr. – Was tat Schneidentzwei, um Gringalet für den Fluchtversuch zu strafen? Das sollt ihr gleich erfahren. Er nahm das Kind, sperrte es die Nacht wieder in der Dachkammer ein und sagte: ›Morgen früh, wenn alle anderen fort sind, werde ich dich vornehmen, und du wirst sehen, was ich mit Kindern anfange, die ausreißen wollen –‹ Ihr könnt euch denken, welche schreckliche Nacht der arme Gringalet verbrachte. Er tat fast kein Auge zu und fragte sich immer, was wohl Schneidentzwei mit ihm vornehmen werde. Nachdem er lange darüber nachgedacht hatte, schlief er endlich doch ein. – Aber was für ein Schlaf war es! Überdies hatte er einen Traum… Ihr werdet sehen – Er träumte, er sei eine der armen Fliegen, von denen er viele aus Spinnweben befreit hatte, und befinde sich in einem großen Netz, in dem er mit allen Kräften zappelte, ohne sich freimachen zu können. Dann sah er, langsam und heimtückisch, ein Ungeheuer auf 649
sich zukommen, das das Gesicht Schneidentzweis und einen Spinnenkörper hatte. Mein armer Gringalet fing an zu zappeln, wie ihr euch wohl denken könnt, aber je eifriger er war, um so mehr verwirrte er sich in dem Netze. – Endlich kam die Spinne heran, – sie berührte ihn, er fühlte sich von den kalten, haarigen Beinen des schrecklichen Tieres ergriffen, fortgezogen, – er war schon halb tot, aber da hörte er plötzlich ein leises, helles Gesumm und sah eine schöne, goldene Fliege, die einen zierlichen Spieß, gleich einer Diamantnadel, führte, erzürnt um die Spinne herumfliegen, und eine Stimme sagte zu ihm: ›Arme kleine Fliege – du hast Fliegen gerettet – die Spinne soll…‹ Leider erwachte Gringalet plötzlich und sah das Ende des Traumes nicht. Dennoch war er anfangs einigermaßen beruhigt und dachte bei sich: ›Vielleicht hätte die goldene Fliege mit dem Diamantspieße die Spinne getötet, wenn ich das Ende des Traumes gesehen hätte.‹ Wenn aber auch Gringalet sich mit solchen Gedanken tröstete, so konnte er doch seine Angst nicht unterdrücken, und je näher der Morgen kam, um so stärker wurde sie, bis er endlich den Traum vergaß… Ihr könnt euch denken, wie er vor Furcht zitterte, der arme Junge! Früh, als er die Morgendämmerung durch das Fensterchen der Dachkammer hereinblicken sah, verdoppelte sich seine Angst, denn der Augenblick, da er mit Schneidentzwei allein sein sollte, war nahe. Da fiel er, mitten in der Bodenkammer, auf seine Knie, weinte heiße Tränen und bat seine Kameraden, sie möchten Schneidentzwei für ihn um Gnade bitten oder ihm beistehen, zu entkommen. Ach, alle schlugen dem armen Gringalet die Bitte ab, einige aus Furcht vor dem Herrn, andere aus Gleichgültigkeit, und noch andere aus Bosheit.« »Gemeine Bengel!« rief der Gefangene mit der blauen Mütze aus, »hatten sie denn gar kein Herz im Leibe?« »'s ist wahr«, meinte ein anderer, »es ist rührend, den armen Kleinen von der ganzen Welt verlassen zu sehen.« 650
»Und allein, ohne Verteidiger! Man muß doch jeden bedauern, der nichts tun kann, als den Hals hinhalten. – Hat einer Zähne, um zu beißen, dann ist es was anderes; dann mag er sich seiner Haut wehren!« »Das ist wahr«, stimmten mehrere Gefangene zu. »Nun«, rief Skelett, der seine Wut nicht mehr zügeln konnte, zu dem Gefangenen in der blauen Mütze hinüber: »Wirst du wohl dein Maul halten? Habe ich nicht Ruhe geboten? Bin ich der Vorsteher oder nicht?« Der Angeredete sah, statt aller Antwort, Skelett keck ins Gesicht und zeigte ihm die Zunge. Dazu schnitt er eine solche Grimasse, daß mehrere Gefangene laut auflachten, während andere über die Keckheit des Neuen staunten, der sich gegen ein allgemein anerkanntes Oberhaupt aufzulehnen wagte. Skelett ballte die Faust und sagte zähneknirschend: »Wir werden morgen miteinander abrechnen!« Um dem Aufseher nicht einen neuen Vorwand zum Bleiben zu geben, antwortete Skelett ruhig: »Davon ist nicht die Rede; ich habe auf Ordnung hier zu sehen, und man muß auf mich hören, nicht wahr, Aufseher?« »Allerdings«, antwortete der Aufseher. »Unterbrich nicht, und du, Spitziger, fahre fort, aber mach schnell!«
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ringalet«, fuhr der Spitzige fort, »der sich so ganz verlassen sah, mußte sich also in sein unglückliches Schicksal ergeben. Es wurde endlich Tag, und alle Kinder machten sich bereit, mit ihren Tieren fortzugehen. Schneidentzwei öffnete die Falltür und rief jeden einzeln auf, um sein Stück Brot in Empfang zu nehmen. Alle stie651
gen auf der Leiter hinunter, während sich Gringalet, mehr tot als lebendig, mit seiner Schildkröte in einen Winkel drückte und nicht rührte. Er sah einen seiner Kameraden nach dem anderen abziehen und hätte viel darum gegeben, wenn er ihnen hätte folgen können. – Endlich verließ der letzte die Bodenkammer. Dem armen Knaben klopfte das Herz gewaltig. Ach ja! Eben rief Schneidentzwei, der an der Leiter geblieben war, mit starker Stimme: ›Gringalet! – Gringalet!‹ ›Hier, Herr!‹ ›Komm sogleich herunter, oder ich hole dich!‹ Gringalet glaubte, sein Jüngster Tag sei gekommen. ›Nun‹, dachte er bei sich und zitterte an allen Gliedern, während er sich an seinen Traum erinnerte, ›nun bist du die arme Fliege in dem Netz! Die Spinne wird dich packen!‹ Nachdem er seine Schildkröte vorsichtig und sanft auf den Boden gelegt hatte, nahm er gleichsam Abschied von ihr, denn er hatte das Tier liebgewonnen, und trat an die Falltür. Schon hatte er den Fuß auf die oberste Sprosse gesetzt, als Schneidentzwei ihn an dem armen, spindeldürren Bein packte und so stark zog, das Gringalet sich nicht halten konnte, an der Leiter herunterrutschte und mit dem Gesicht auf alle Sprossen aufschlug.« »Wie schade, daß der Alte von Kleinpolen nicht da war! Er würde einen schönen Tanz mit Schneidentzwei aufgeführt haben«, sagte der Mann in der blauen Mütze, »in solchen Augenblicken ist es schön, stark zu sein!« »Jawohl, aber leider war der Alte nicht da. Schneidentzwei packte also den armen Kleinen an den Hosen und trug ihn in seine Schlafkammer, wo der große Affe am Bett angebunden war. Sobald das böse Vieh das Kind sah, fing es an zu springen und die Zähne zu fletschen und lief, so weit es die Kette erlaubte, Gringalet entgegen, als wollte es ihn fressen.« »Armer Gringalet! Wie wird es ihm ergehen?« »Wenn er in die Klauen des Affen fällt, ist er verloren.« »Donnerwetter!« rief der Mann in der blauen Mütze, »ich könn652
te in diesem Augenblick keinem Floh etwas zuleide tun. Und ihr, Freunde?« »Ich auch nicht.« In diesem Augenblick schlug es drei Viertel vier. Skelett, der mehr und mehr fürchtete, es würde ihm keine Zeit zur Ausführung des Planes übrigbleiben, rief aus: »Ruhe nun! Dieser Erzähler wird nie zu Ende kommen, wenn ihr so viel redet!« Der Spitzige fuhr fort: »Wenn man bedenkt, wie schwer es Gringalet geworden war, sich an die Schildkröte zu gewöhnen, wird man sich eine Vorstellung von seiner Angst machen können, als er von seinem Herrn ganz nahe zu dem Affen getragen wurde. ›Gnade, Herr!‹ rief er aus, und die Zähne klapperten ihm im Munde, als hätte er Fieber. ›Gnade, Herr! Ich will es nie wieder tun.‹ Der arme Kleine sagte: ›Ich will es nie wieder tun‹, ohne zu wissen, was er sagte, denn er hatte sich nichts vorzuwerfen. Aber Schneidentzwei achtete nicht darauf. Trotz dem Jammern des Kindes, das sich wehrte, trug er es ganz nahe zu Gargousse, der es packte und…« »Ich wäre dumm gewesen, wenn ich fortgegangen wäre«, sagte der Aufseher, indem er noch nähertrat. »Das ist noch nichts; das Schönste kommt noch«, sagte der Spitzige. »Sobald Gringalet die kalten, haarigen Pfoten des großen Affen fühlte, die ihn am Halse und am Kopfe packten, wurde er wie wahnsinnig und schrie so jämmerlich, daß es einen Tiger erbarmt haben würde: ›Die Spinne meines Traumes … du lieber Gott! Die Spinne meines Traumes! Kleine goldene Fliege, komm mir zu Hilfe!‹ ›Willst du dein Maul halten!‹ schrie Schneidentzwei dazwischen, indem er ihn mit dem Fuße trat, denn er fürchtete, das Geschrei könnte gehört werden. Nach einer Minute war das nicht mehr zu fürchten; der arme Gringalet schrie nicht mehr und wehrte sich nicht mehr; er kniete, weiß wie ein Tuch, schloß die Augen und zitterte an allen Gliedern wie in der größten Winterkälte. Unterdes schlug ihn der Affe, zerrte ihn, kratzte ihn. Mitunter hielt das boshafte Tier 653
inne, um seinen Herrn anzusehen. Schneidentzwei lachte so laut, daß man von dem Schreien Gringalets nichts gehört haben würde, wenn er noch geschrien hätte. Das schien den Affen Mut zu machen, denn er schlug und kratzte immer ärger.« »Der verfluchte Affe!« rief der Mann in der blauen Mütze. »Hätte ich ihn am Schwanz, ich würde ihn herumdrehen wie eine Schleuder und ihm dann den Kopf auf dem Pflaster zerschlagen.« »Der Affe war so schlecht wie ein Mensch.« »So schlecht ist kein Mensch!« »So schlecht wäre kein Mensch?« entgegnete der Spitzige. »Und Schneidentzwei? Bedenkt nur, was er dann tat. Er machte die Kette des Affen los, die sehr lang war, entriß ihm auf einen Augenblick das Kind, das mehr tot als lebendig war, und band es an der anderen Seite des Bettes an, so daß Gringalet an dem einen Ende der Kette war, Gargousse an dem anderen.« »Eine schöne Erfindung!« »Es bleibt doch wahr: Manche Menschen sind boshafter als die wildesten Tiere.« »Als Schneidentzwei das getan hatte, sagte er zu seinem Affen, der ihn zu verstehen schien: ›Aufgepaßt, Gargousse! Man hat es dir gezeigt; jetzt wirst du es Gringalet zeigen; er wird dein Affe sein. Allons! Auf, Gringalet!‹ Das arme Kind war wieder auf die Knie gefallen, faltete die Hände, konnte aber kein Wort sprechen; man hörte nur seine Zähne klappern. ›Laß ihn marschieren, Gargousse!‹ sagte Schneidentzwei zu seinem Affen, ›und wenn er störrisch ist, mach es wie ich!‹ Dabei versetzte er dem Knaben Hiebe mit der Peitsche; dann gab er die Peitsche dem Affen. Ihr wißt, daß die Affen alles nachmachen. Gargousse war geschickter als alle; er nahm also die Peitsche in die eine Pfote und schlug auf Gringalet los, der wohl aufstehen mußte. Wenn er stand, war er etwa so groß wie der Affe. Schneidentzwei ging darauf die Treppe hinunter und rief Gargousse. Der Affe folgte ihm und trieb Gringalet mit Peit654
schenhieben vor sich her. So kamen sie in den kleinen Hof. Schneidentzwei schloß die Türe zu und befahl dem Affen, das Kind mit Peitschenhieben im Hofe herumzutreiben. Der Affe gehorchte und jagte Gringalet, während Schneidentzwei dastand und sich vor Lachen den Bauch hielt. Ihr denkt nun wohl, mit dieser Grausamkeit sei er zufrieden gewesen? Keineswegs. Gringalet wäre bis jetzt mit einigen Kratzwunden, vielen Peitschenstriemen und einer großen Angst davongekommen. Schneidentzwei war also nicht zufrieden. Um den Affen wütend zu machen, packte er Gringalet an den Haaren, tat, als schlage und beiße er ihn, gab ihn dann dem Affen wieder und sagte: Beiß! Beiß! Und zeigte ihm ein Stück Fleisch. Ach, Freunde, es war ein schrecklicher Anblick. Denkt euch einen großen, roten Affen mit schwarzer Schnauze, der die Zähne fletschte wie ein Besessener und sich wütend auf den Unglücklichen stürzte, der sich nicht verteidigen konnte, gleich beim ersten Schlage niedergeworfen war und sich nun auf den Bauch gelegt hatte. Als Gargousse, der von seinem Herrn immer mehr gereizt wurde, das sah, sprang er ihm auf den Rücken, packte ihn am Halse und fing an, ihn am Kopf blutig zu beißen. ›O, die Spinne – die Spinne!‹ rief Gringalet mit erstickter Stimme aus und glaubte, sein Ende sei gekommen. Mit einem Male hörte man an die Türe klopfen: Poch! Poch!« »Ah, der Alte!« riefen freudig die Gefangenen. »Endlich!« »Ja, diesmal war er es, und er rief durch die Türe hindurch; ›Wirst du aufmachen, Schneidentzwei? Wirst du aufmachen? Stell dich nicht taub, denn ich sehe dich durchs Schlüsselloch.‹ Schneidentzwei mußte antworten und ging unwillig nach der Türe zu, um dem Alten aufzumachen, mit dem sich nicht spaßen ließ, wenn er böse wurde. ›Was wollen Sie?‹ fragte ihn Schneidentzwei. ›Ich will mit dir reden‹, antwortete der Alte, der fast mit Gewalt in den kleinen Hof hineintrat und, als er den Affen Gringalet miß655
handeln sah, hinzueilte, Gargousse am Felle packte, ihn von dem Kind losreißen und wegschleudern wollte. Da erst bemerkte er, daß das Kind mit dem Affen zusammengebunden war. Als er das sah, warf er Schneidentzwei einen schrecklichen Blick zu und sagte zu ihm: ›Gleich binde den armen Kleinen los!‹ Ihr könnt euch die Freude und die Überraschung Gringalets denken, der, halbtot vor Schreck, sich wie durch ein Wunder gerettet sah. – Er mußte an die goldene Fliege seines Traumes denken, obgleich der Alte nicht eben wie eine Fliege aussah –« »Na«, sagte der Aufseher, indem er nach der Türe zuging, »da Gringalet gerettet ist, so werde ich nun meine Suppe essen.« »Gerettet!« entgegnete der Spitzige, »ach ja, gerettet! Der arme Gringalet ist noch längst nicht am Ende seiner Leiden!« »Wirklich?« fragten einige Gefangene, teilnehmend. »Was kann ihm denn noch geschehen?« fragte der Aufseher, der wieder zurückkam. »Bleiben Sie, Aufseher, und Sie werden es erfahren«, antwortete der Erzähler. »Der Spitzige macht mit einem, was er will«, meinte der Aufseher, »ich bleibe noch.« Skelett schäumte vor Wut, und der Spitzige fuhr fort: »Schneidentzwei, der den Alten fürchtete wie das Feuer, hatte brummend den Knaben losgebunden. Als dies geschehen war, schleuderte der Alte Gargousse zu Boden und gab ihm einen gewaltigen Fußtritt. Der Affe schrie jämmerlich, fletschte die Zähne und flüchtete sich auf einen kleinen Schuppen, von wo er dem Alten die Faust zeigte. ›Warum schlagen Sie meinen Affen?‹ fragte Schneidentzwei. ›Du solltest fragen, warum ich dich nicht selbst schlage. Bist du schon so früh am Tage betrunken?‹ ›Ich bin ebensowenig betrunken wie Sie; ich lehre meinem Affen ein Kunststück; ich will eine Vorstellung geben, in der er und Gringalet zusammen auftreten; das ist mein Geschäft, warum mischen Sie sich da hinein?‹ 656
›Ich mische mich in das, was mich angeht. Als ich heute morgen Gringalet nicht mit den anderen Kindern an meiner Türe vorüberkommen sah, fragte ich, wo er sei; die Kinder antworteten nicht und sahen verlegen aus; ich kenne dich und erriet, daß du ihm einen schlechten Streich spieltest. Ich täuschte mich nicht. Höre mich an! Sooft ich Gringalet nicht mit den anderen früh an meiner Türe vorüberkommen sehe, werde ich mich hier einfinden, und du mußt ihn mir zeigen, sonst schlage ich dich, bis…‹ ›Ich tue, was ich will; Sie haben mir nichts zu befehlen‹, antwortete Schneidentzwei, durch diese Drohung gereizt. – ›Sie werden nicht schlagen, und wenn Sie nicht gleich gehen, werde ich…‹ Plautz! hatte Schneidentzwei ein paar Hiebe, die ein Rhinozeros hätten niederwerfen können: ›Hier der Lohn dafür, daß du dem Alten von Kleinpolen so antwortest!‹« »Ein paar nur, das war knauserig«, sagte der Mann mit der blauen Mütze; »ich würde ihn besser bedient haben.« »Der Alte«, fuhr der Spitzige fort, »hätte es mit zehn Schneidentzweis aufgenommen. Schneidentzwei mußte also die Hiebe einstecken, aber er war wütend darüber, wie ihr euch denken könnt. – Er nahm sich deshalb auch gleich vor, sich zu rächen und kam auf einen Gedanken, der nur einem Teufel einfallen konnte. Während er diesen Einfall überlegte und sich dabei die Ohren rieb, sagte der Alte zu ihm: ›Wenn du das Kind noch einmal mißhandelst, so zwinge ich dich, mit deinen Tieren Kleinpolen zu verlassen oder ich hetze jedermann gegen dich auf. Du weißt, daß man dich schon haßt; man wird dir also eine Lehre geben, die dein Rücken so leicht nicht vergißt; dafür stehe ich!‹ Heimtückisch wie er war, und um seinen bösen Einfall ausführen zu können, gab Schneidentzwei klein bei und sagte: ›Sie tun wirklich unrecht, wenn Sie mich schlagen und glauben, ich hätte etwas gegen Gringalet; im Gegenteil, ich wiederhole, daß ich meinen Affen ein neues Kunststück lehre. Er ist einigermaßen widerspenstig und hat den Kleinen gebissen, was mir leid tut.‹ 657
›Hm!‹ sagte der Alte, der ihn von der Seite ansah; ›sagt du mir da die Wahrheit? Warum bindest du Gringalet, wenn du deinen Affen ein neues Kunststück lehrst?‹ ›Weil Gringalet zu dem Kunststück gehört. Ich will Ihnen meine Idee mitteilen. Ich gedenke Gargousse einen roten Rock anzuziehen und einen Federhut aufzustülpen, setze Gringalet auf ein Kinderstühlchen, binde ihm eine Serviette um, und der Affe soll mit einem großen, hölzernen Messer den Barbier spielen.‹ Der Alte mußte darüber lachen. ›Ist das nicht ein drolliger Einfall?‹ fragte Schneidentzwei. ›Spaßhaft ist es‹, entgegnete der Alte, ›zumal dein Affe sich gewiß geschickt als Barbier anstellen wird.‹ ›Das glaube ich. Wenn er mich fünf- oder sechsmal Gringalet hat rasieren sehen, wird er es mit seinem hölzernen Rasiermesser nachmachen. Aber erst muß er sich an den Jungen gewöhnen, und deshalb hatte ich sie zusammengebunden.‹ ›Warum hast du aber gerade Gringalet dazu ausgewählt?‹ ›Weil er der kleinste ist. Übrigens wollte ich ihm auch die Hälfte der Einnahme zuwenden.‹ ›Wenn es so ist‹, sagte der Alte, ›so bedauere ich, dich geschlagen zu haben; du hast es beim nächsten Male gut.‹ Während sein Herr so mit dem Alten sprach, wagte Gringalet nicht, sich zu rühren. Er zitterte wie Espenlaub und hätte sich gern vor dem Alten niedergeworfen, um ihn zu bitten, er möge ihn mit fortnehmen; aber er hatte den Mut nicht und dachte bei sich: ›Es wird mir gehen, wie der armen Fliege im Traum; die Spinne wird mich zerreißen. Ich täuschte mich, als ich glaubte, die goldene Fliege würde mich retten.‹ ›Nun, mein Sohn, da der Vater Schneidentzwei dir die Hälfte der Einnahme bewilligt, so wirst du dir Mühe geben, dich an den Affen zu gewöhnen. – Du wirst dich an ihn gewöhnen, und wenn die Einnahme gut ist, wirst du dich nicht zu beklagen haben.‹ ›Er sich beklagen? Hast du dich zu beklagen?‹ fragte ihn sein Herr, indem er ihm einen so schrecklichen Blick zuwarf, daß das Kind 658
am liebsten in die Erde gesunken wäre. ›Nein, nein‹, antwortete er stammelnd. ›Sie hören es‹, sagte Schneidentzwei, ›er hat sich nie zu beklagen gehabt; ich will immer nur sein Bestes. Wenn ihn Gargousse das erste Mal gekratzt hat, so wird es nicht wieder geschehen, ich verspreche es Ihnen; ich werde dafür sorgen.‹ ›So wird Jedermann zufrieden sein!‹ ›Gringalet vor allen‹, sagte Schneidentzwei. ›Nicht wahr, du wirst zufrieden sein?‹ ›Ja – ich werde zufrieden sein‹, antwortete das Kind zitternd. ›Und zur Entschädigung für die Kratzwunden gebe ich dir ein gutes Frühstück, denn der Alte wird mir Koteletten und Gurken, vier Flaschen Wein und ein Fäßchen Branntwein schicken.‹ ›Mein Keller und meine Küche stehen jedermann zu Diensten.‹ Der Alte war ein braver Mann, verkaufte aber sehr gern Wein. Schneidentzwei wußte das, und so ging der Alte, ganz vergnügt und über das Schicksal Gringalets beruhigt, nach Hause. Der arme Kleine war wieder in der Gewalt seines Herrn. Sobald der Alte den Rücken gewandt hatte, wies Schneidentzwei dem Armen die Treppe und befahl ihm, schnell wieder in die Bodenkammer hinaufzukriechen. Das Kind ließ sich das nicht zweimal sagen und lief erschrocken davon. ›Ach, du mein Gott!‹ rief Gringalet aus, als er sich neben seiner Schildkröte aufs Stroh warf und bitterlich weinte. Er mochte eine gute Stunde gelegen haben, als Schneidentzwei ihn wieder rief. Der Kleine ängstigte sich diesmal noch mehr, denn die Stimme seines Herrn klang nicht wie gewöhnlich. ›Wirst du bald kommen?‹ wiederholte Schneidentzwei unter schrecklichen Flüchen. Gringalet stieg eilig die Leiter hinunter. Kaum war er unten angekommen, so nahm ihn sein Herr und trug ihn in sein Zimmer, während er bei jedem Schritte wankte, denn er hatte so viel getrunken, daß er total blau war und kaum noch auf den Beinen stehen konnte. Er taumelte bald nach vorn, bald nach hinten und sah Gringa659
let mit schrecklichen Augen an, aber ohne etwas zu sprechen; die Zunge war ihm zu schwer. Gringalet hatte sich in seinem Leben nicht so sehr gefürchtet. Gargousse war am Bette angebunden. In der Mitte der Stube stand ein Stuhl, und an der Lehne hing ein Strick. ›So – setz dich – da – her‹«, fuhr der Spitzige fort, indem er das Stammeln eines Betrunkenen nachmachte. »Gringalet setzte sich zitternd nieder. Schneidentzwei band ihn, ohne ein Wort zu sagen, mit dem Strick an der Stuhllehne fest, aber das war keine leichte Aufgabe für ihn, da er auf den Beinen wankte und mit den Händen zitterte. Endlich war Gringalet doch festgebunden. ›Ach, du lieber Gott!‹ jammerte er. ›Diesmal wird mich niemand erlösen!‹ Der arme Junge hatte recht; niemand konnte, niemand durfte kommen; der Alte war beruhigt fortgegangen, und Schneidentzwei hatte die Haustüre verschlossen und verriegelt. Es konnte also dem armen Gringalet niemand zu Hilfe eilen.« »Diesmal«, sagten die Gefangenen betrübt, »diesmal bist du verloren, Gringalet.« »Wenn er durch zwanzig Sous zu retten wäre, ich gäbe sie.« »Ich auch.« Der Spitzige fuhr fort: »Als Gringalet an den Stuhl gebunden war, sagte sein Herr zu ihm: ›Kanaille – du – bist schuld – daß ich Prügel bekommen habe, du mußt ster sterben –‹ Er zog dabei aus seiner Tasche ein großes, frisch geschliffenes Rasiermesser, machte es auf und faßte mit der einen Hand Gringalet an den Haaren…« Ein Gemurmel des Unwillens erhob sich unter den Gefangenen. »Bei dem Anblick des Messers rief das Kind: ›Gnade, Herr! Gnade! Schlachten Sie mich nicht!‹ ›Schrei zu, in drei Teufels Namen, du wirst nicht lange mehr schreien‹, antwortete Schneidentzwei. 660
›Goldene Fliege, goldene Fliege, komm mir zu Hilfe!‹ rief der arme Gringalet, fast wahnsinnig, indem er wieder an seinen Traum dachte. ›Die Spinne will mich packen!‹ ›Ah, du – du nen – nennst mich – Spinne, du –‹, stammelte Schneidentzwei. – ›Da – mm mu – mußt du sterben, – verstanden? – Aber nicht – von meiner Hand, weil – weil man – mich – guil – guillotinieren – würde.‹ Dann rief er seinen Affen, der die Zähne fletschte und abwechselnd seinen Herrn und den Knaben ansah. ›Da, Gargousse‹, sagte er, indem er ihm das Rasiermesser und Gringalet zeigte, den er an den Haaren hielt, – ›mach es so – siehst du?‹ Und er fuhr mit dem Rasiermesser mehrmals an dem Halse Gringalets hin, als wolle er ihm die Kehle durchschneiden. Der Affe war so gescheit und bösartig, daß er gleich erriet, was sein Herr wollte, und um ihm das zu beweisen, faßte er sich selbst mit der linken Pfote am Kinn, legte den Kopf zurück und tat mit der rechten Pfote, als schneide er den Hals durch. ›Richtig, Gargousse, – richtig‹, stammelte Schneidentzwei, indem er die Augen halb zudrückte und so arg schwankte, daß er mit Gringalet und dem Stuhle beinahe umgefallen wäre… ›Ja, – so ist's recht, – ich werde – dich – losmachen, und – du – wirst ihm die Ke – Kehle abschneiden – nicht wahr, Gargousse?‹ Der Affe knirschte mit den Zähnen, als hätte er ja sagen wollen, und streckte die Pfote aus, um das Messer zu nehmen, das Schneidentzwei ihm reichte. ›Goldene Fliege, goldene Fliege, komm mir zu Hilfe!‹ murmelte Gringalet mit fast verlöschender Stimme, denn er glaubte, diesmal habe sein letztes Stündlein geschlagen. Er rief die goldene Fliege, ohne auf sie zu hoffen; er sprach die Worte aus, die man beim Ertrinken ruft: ›Mein Gott.‹ Aber in diesem Augenblick sah Gringalet durch das offene Fenster eine der kleinen, grünen und goldenen Fliegen hereinkommen, deren es so viele gibt; sie flog und flog umher, wie ein Feuerfunken, und eben als Schneidentzwei das Rasiermesser dem Affen gab, flog sie dem Bösewicht gerade ins Auge. 661
Eine Fliege im Auge ist nun eben nicht viel, aber im ersten Augenblick brennt's wie ein Nadelstich. Schneidentzwei, der kaum auf den Beinen stehen konnte, fuhr rasch mit der Hand nach dem Auge, so rasch, daß er taumelte, der Länge nach hinfiel und gerade an das Bettbein, an das Gargousse gebunden war. ›Goldene Fliege, ich danke dir, du hast mich gerettet‹, rief Gringalet aus, der alles gesehen hatte.« »Es lebe der Spitzige mit seinen Geschichten!« rief einer aus. »Wartet nur, das Schönste und Schrecklichste der Geschichte kommt noch. – Schneidentzwei war umgefallen, wie ein Sack; er war so betrunken, daß er sich ebensowenig rührte, wie ein Scheit Holz und nichts mehr von sich wußte. Beim Fallen hatte er Gargousse fast totgedrückt. – Ihr wißt, daß der Affe sehr bösartig und rachsüchtig war. Er hatte das Messer, das ihm sein Herr gegeben, nicht losgelassen. Und was tat der Affe, als er seinen Herrn steif daliegen sah? Er sprang auf ihn, kauerte sich ihm auf die Brust, packte mit der einen Pfote die Haut am Halse und schnitt ihm mit der anderen – ritsch! – die Kehle durch, wie er es an Gringalet hatte tun sollen.« »Bravo!« »Das war gut.« »Vivat Gargousse!« riefen die Gefangenen begeistert. »Vivat Gringalet!« »Ja, meine Freunde«, fiel der Spitzige ein, über den Erfolg seiner Erzählung höchlich erstaunt, »wie Ihr jetzt ruft, so rief eine Stunde später auch ganz Kleinpolen.« »Wieso?« »Ich habe erwähnt, daß der böse Schneidentzwei, um seinen Plan ungestört ausführen zu können, seine Türe von innen verschlossen und verriegelt hatte. Gegen Abend kamen die Kinder mit ihren Tieren zurück. Die ersten pochten; niemand antwortete. Als sie alle versammelt waren, pochten sie wieder – vergebens. Einer ging zu dem Alten, um ihm zu sagen, daß ihr Herr nicht aufmache. – ›Er wird betrunken sein‹, sagte der Alte, ›ich habe ihm Wein geschickt. Wir 662
müssen die Türe aufbrechen, denn die Kinder können doch die Nacht über nicht unter freiem Himmel bleiben.‹ Man brach also die Türe auf, gelangte in das Haus und kam in die Stube. Was sah man da? Gargousse kauerte auf seinem Herrn und spielte mit dem Rasiermesser; der arme Gringalet, den der Affe zum Glück nicht hatte erreichen können, war noch immer auf dem Stuhle festgebunden und betrachtete die kleine goldene Fliege, die sich auf seine Hand gesetzt hatte. Gringalet erzählte alles dem Alten. Es sah, wie man zu sagen pflegt, wie eine Fügung des Himmels aus, und der Alte rief denn auch: ›Vivat Gringalet! Vivat Gargousse, der den bösen Schneidentzwei umgebracht hat! Es war Zeit, daß die Reihe an ihn kam.‹ ›Ja, ja‹, stimmte die Menge ein, denn Schneidentzwei wurde von allen gehaßt. Es war Nacht geworden; man zündete Strohfackeln an und band Gargousse auf eine Bank, die vier Jungen auf den Achseln trugen. Dem Affen schien das nicht zu gefallen, und er zeigte fletschend die Zähne, während er im Triumph herumgetragen wurde. Nach dem Affen kam die Reihe an Gringalet, den der Alte auf seinen Armen herumtrug. Alle kleinen Tierführer umringten den Alten; der eine trug seinen Fuchs, der andere sein Murmeltier, der dritte sein Meerschweinchen; manche hatten einen Dudelsack und spielten, mit einem Wort, es war ein Lärm, eine Freude, eine Lust, wie man sie sich kaum vorstellen kann. Hinter den Musikern und den Tierführern folgten alle Bewohner von Kleinpolen, Männer, Weiber und Kinder; fast alle trugen eine Strohfackel in der Hand und schrien wie besessen: ›Vivat Gringalet! Vivat Gargousse!‹ So ging der Zug in dem Hofe Schneidentzweis herum. Gringalet seinerseits hatte, sobald er losgebunden war, nichts Eiligeres zu tun gehabt, als die kleine goldende Fliege in eine Papiertüte zu stecken, und während man ihn im Triumph herumtrug, rief er aus: ›Kleine Fliegen, ich habe wohl getan, daß ich euch von den bösen Spinnen nicht fressen ließ…‹« Das Ende der Erzählung wurde unterbrochen. »Vater Roussel«, rief eine Stimme von außen, »komm doch und 663
iß deine Suppe; es wird bald vier schlagen.« »Die Geschichte ist zu Ende, und ich gehe. Ich danke, Spitziger, du hast mich gut unterhalten«, sagte der Aufseher, indem er nach der Tür ging. Ehe er den Raum verließ, blieb er stehen und sagte: »Betragt euch, wie sich's gehört!« »Wir hören die Geschichte vollends an«, sagte Skelett, keuchend vor Wut. Dann setzte der Bandit leise zum dicken Lahmen hinzu: »Sieh dem Aufseher nach, und wenn er aus dem Hofe ist, rufe: Gargousse! Und der Spitzel ist tot.« »Ja, ja«, antwortete der dicke Lahme, der den Aufseher begleitete. »Ich sagte also«, fuhr der Spitzige fort, »daß Gringalet, während man ihn im Triumph herumtrug…« »Gargousse!« rief der Dicke, indem er sich umdrehte. Er hatte den Aufseher den Hof verlassen sehen. »Zu mir! Gringalet – ich werde deine Spinne sein!« rief Skelett, indem er sich so ungestüm auf Germain stürzte, daß dieser weder eine Bewegung machen, noch aufschreien konnte. Seine Stimme erstarb unter dem fürchterlichen Druck der langen Eisenfinger.
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enn du die Spinne bist, so werde ich die goldene Fliege sein, Skelett«, ließ sich eine Stimme in dem Augenblick vernehmen, in dem Germain, durch den plötzlichen und ungestümen Angriff seines Gegners überrascht, auf die Bank fiel, und der Räuber ihm ein Knie auf die Brust setzte, während er ihn an der Kehle gepackt hielt. »Ja, die Fliege werde ich sein, und eine famose Fliege dazu«, wie664
derholte der Mann in der blauen Mütze, der drei bis vier Gefangene, die ihn von Germain trennten, beiseite warf, mit einem gewaltigen Satz zu Skelett gelangte, den Banditen packte und ihm einen wahren Hagel gewaltiger Faustschläge auf den Schädel prasseln ließ. Der Mann, der kein anderer war als der Schurimann, hämmerte noch immer mit den Fäusten auf Skelett herum und sagte dazu: »Die Sorte habe ich von Herrn Rudolf bekommen – ich habe sie mir gemerkt.« Die Gefangenen blieben verblüfft stehen, ohne für oder gegen den Schurimann Partei zu nehmen, so sehr hatte der unerwartete Angriff sie überrascht. Mehrere von ihnen, die den heilsamen Eindruck der Erzählung des Spitzigen noch nicht vergessen hatten, freuten sich sogar über dieses Ereignis, das Germain retten konnte. »Was hat der? Was will der?« rief der dicke Lahme aus, der den Arm des Schurimannes von hinten fassen wollte, während dieser alle seine Kräfte aufbot, Skelett auf der Bank festzuhalten. Der Verteidiger Germains erwiderte den Angriff des dicken Lahmen durch einen so heftigen Fußtritt, daß er ihn weit von sich schleuderte. Germain, der totenbleich, fast erstickt, neben der Bank kniete, schien nicht zu wissen, was um ihn her vorging. Er war so heftig gewürgt worden, daß er kaum zu atmen vermochte. Nach der ersten Betäubung gelang es Skelett durch eine verzweifelte Anstrengung, sich von dem Schurimann frei zu machen und wieder auf die Beine zu kommen. Keuchend, trunken vor Wut und Haß, rief er mit vor Ermattung und Zorn zitternder Stimme: »Macht doch den Räuber da kalt! Memmen ihr – laßt mich von hinten überfallen – der Spitzel wird uns entkommen!« Während dieses kurzen Waffenstillstandes hatte der Schurimann den halb ohnmächtigen Germain aufgehoben und in einer Ecke niedergelegt. Der Spitzige verschwand in dem Tumult, ohne daß man seine Ab665
wesenheit bemerkte. Da die meisten Gefangenen unschlüssig dastanden, rief Skelett aus: »Mir nach! Beide kaltgemacht! Den großen und den kleinen!« »Nimm dich in acht!« antwortete Schurimann, indem er sich zum Kampf anschickte. »Nimm dich in acht, Skelett! – Wenn du Schneidentzwei spielen willst, werde ich es wie Gargousse machen –« »Greift ihn doch an!« rief der dicke Lahme, indem er sich wieder aufrichtete. »Warum verteidigt der Hund den Spitzel?« »Er ist selbst einer!« »Nieder!« »Ja! Tod dem Verräter!« »Nieder mit der Blaumütze!« »Nein, nein, die Blaumütze unterstützt! Nieder mit Skelett!« rief die Partei des Schurimannes. »Nieder mit der Blaumütze!« »Nieder mit Skelett!« »Bravo, Kinder!« sagte Schurimann zu den Gefangenen, die es mit ihm hielten. – »Ihr habt ein Herz im Leibe, – ihr werdet einen halbtoten Menschen nicht umbringen wollen. Dessen sind nur schlechte Kerle fähig. Dem Skelett ist es freilich einerlei, deshalb treibt er euch an. Übrigens will ich euch einen Vorschlag machen. Das Skelett will den armen jungen Mann da kaltmachen. – Nun, – er mag herkommen und ihn holen, wenn er Courage hat. – Die Sache wird dann unter uns beiden abgetan, und wir werden ja sehen, wie sie abläuft. – Wagt er es nicht, so ist er wie Schneidentzwei: hat nur Schwachen gegenüber Mut.« Der blutige Kampf sollte gerade beginnen, als man im Hofe den schallenden Gleichschritt des Infanteriepiketts hörte, das stets im Gefängnis bereitlag. Der Spitzige war in den Hof geeilt und hatte den Aufsehern gemeldet, was im Wärmesaal vorging. Die Ankunft der Soldaten machte dem Auftritt ein Ende. Germain, Skelett und der Schurimann wurden zu dem Direktor abgeführt. Der erste sollte seine Klage aussprechen, und die beiden 666
anderen hatten sich wegen der Schlägerei zu verantworten. Germain war so erschrocken und so schwach, daß er sich auf zwei Beamte stützen mußte. Der Aufseher des Sprechzimmers, der sich immer für ihn interessiert hatte, kam ihm zuerst zu Hilfe. »Wo ist der, der mich gerettet hat?« fragte ihn Germain. »Beim Direktor. Er hat ihm erzählt, wie es zu der Schlägerei gekommen ist. – Es scheint, daß ohne ihn…« »Ohne ihn wär ich verloren. Ach, nennen Sie mir seinen Namen…« »Seinen Namen kenne ich nicht; er heißt der Schurimann und ist ein ehemaliger Galeerensträfling.« »Das Verbrechen, das ihn hierhergebracht hat, ist hoffentlich nicht schwer.« »Doch, leider! Einbruchsdiebstahl im Rückfall … kostet mindestens fünfzehn Jahre…« »Ach, das ist schrecklich!« sagte Germain. »Und doch hat der Mann, ohne mich zu kennen, mich verteidigt. Dazu gehörte Mut, aber auch ein gutes Herz!« Schurimann tauchte gerade wieder auf. »Erwarte mich hier«, sagte ihm der Aufseher, »ich will mich nur erkundigen, was der Direktor über Skelett beschließt und dich dann abholen… Unser junger Mann da will dir danken, und er hat Ursache dazu, denn ohne dich wäre es jetzt aus mit ihm.« Der Aufseher ging fort. Das Gesicht des Schurimannes strahlte vor Freude. »Donnerwetter, wie froh bin ich, daß ich gerade da war!« sagte er und streckte Germain die Hand entgegen. »Sie haben mir das Leben gerettet…« »Ich habe nur meine Pflicht getan, und außerdem weiß ich, wer Sie sind, Herr Germain.« »Sie kennen mich!« »Ein wenig, lieber Neffe, würde ich antworten, wenn ich Ihr Onkel wäre«, entgegnete der Schurimann in seinem sorglos heiteren Tone, »und Sie würden sehr unrecht tun, wenn sie meine Ankunft hier 667
dem Zufall zur Last legen wollten. Hätte ich Sie nicht gekannt, würde ich nicht im Gefängnis sein.« Germain sah ihn verwundert an. »Wie? Weil Sie mich gekannt haben…« »Bin ich hier!« »Ich möchte Ihnen gern glauben, aber…« »Sie können nicht?« »Ich kann nicht begreifen, wie ich die Veranlassung zu Ihrer Verhaftung sein kann.« »Sie und kein anderer!« »Das wäre ja ein furchtbares Unglück!« »Im Gegenteil, ich danke Ihnen dafür –« »Sie danken mir?« »Nun ja, weil Sie mir die Gelegenheit verschafft haben, La Force kennenzulernen.« »Wirklich?« sagte Germain, indem er mit der Hand über die Stirn strich. – »Ich kann das alles kaum begreifen. – Der Aufseher hat mir eben gesagt, Sie wären hier wegen…« Germain zögerte. »Wegen Diebstahls? Nun ja!« Germain erschrak. »Ich bin ein hartgesottener Sünder, nicht wahr? Was hilft's? Und doch, wenn man sagen muß«, setzte der Schurimann mit einem ungeheuren Seufzer hinzu, »daß Sie allein die Ursache meines Unglücks sind –« »Spotten Sie, soviel Sie wollen, meine Dankbarkeit können Sie nicht verkleinern«, entgegnete Germain traurig. »Nehmen Sie es nicht übel, Herr Germain«, entgegnete der Schurimann wieder ernst, »Sie sehen mich nicht gern lachen, also still davon! Ich muß mich mit Ihnen verständigen und will Sie zwingen, daß Sie mich, trotz allem, für einen halbwegs anständigen Kerl halten.« »Daran zweifle ich nicht, denn ich bin überzeugt, daß man Sie mit Unrecht anklagt.« 668
»O, was das betrifft, da irren Sie sich, Herr Germain«, sagte der Schurimann ernst. »So wahr ich einen Beschützer habe« (der Schurimann nahm seine Mütze ab), »der für mich das ist, was der liebe Gott für die Pfaffen ist: ich habe in der Nacht gestohlen, indem ich einen Laden aufkantelte, und wurde auf frischer Tat ertappt, mit allem, was ich geholt hatte –« »Die Not, der Hunger trieben Sie?« »Der Hunger? Ich hatte hundertzwanzig Franken bei mir, als man mich verhaftete, ungerechnet, daß es der Beschützer, den ich meine, und der nicht weiß, daß ich hier bin, mir nie an etwas fehlen lassen würde. Da ich aber von meinem Beschützer gesprochen habe, so müssen Sie glauben, daß die Sache ernsthaft ist! Der Diebstahl ist mir auch seinetwegen eingefallen. – Kurz, wenn Sie hier sind und nicht von Skelett erwürgt, so haben Sie es ihm zu danken.« »Aber dieser Beschützer…« »Ist auch der Ihrige.« »Der meinige?« »Ja. – Herr Rudolf beschützt Sie. – Wenn ich sage Herr, so sollte ich eigentlich sagen allergnädigster Herr, denn er ist wenigstens ein Prinz; ich nenne ihn aber gewöhnlich nur Herr Rudolf, und er erlaubt es.« »Sie irren sich«, entgegnete Germain mit wachsendem Erstaunen, »ich kenne keinen Prinzen.« »Das glaube ich, aber er kennt Sie, und Sie merken nichts davon. Das ist so seine Art. Erfährt er, daß ein braver Mann in Not ist – ritsch! – wird dem braven Mann geholfen, ohne daß er sieht oder merkt, wo es herkommt. Also Geduld, Sie werden schon früher oder später noch einiges erfahren.« »Ich begreife wirklich nicht…« »Sie werden noch manches nicht begreifen! Aber, um wieder auf meinen Beschützer zu kommen: Vor einiger Zeit, nach einem Dienst, den ich ihm geleistet haben soll, wie er behauptet, verschafft er mir eine prächtige Stellung, schickt mich nach Marseille, damit ich mich nach Algier einschiffen und meine Stellung antreten soll. – Ich rei669
se von Paris ab, ganz fidel; gut! – aber es änderte sich bald. Wir wollen annehmen, ich wäre bei Sonnenschein abgereist, nicht wahr? Nun, am nächsten Tage überzieht sich der Himmel, am zweiten wird er ganz grau und immer dunkler und dunkler, je weiter ich mich entferne, bis er endlich schwarz wird wie der Teufel. Verstehen Sie mich?« »Nein.« »Nicht? Nun – haben Sie je einen Hund gehabt?« »Welche seltsame Frage!« »Haben Sie einmal einen Hund gehabt, der Sie recht liebte und sich verlief?« »Nein.« »Nun, so kann ich Ihnen nur sagen, daß ich, fern von Herrn Rudolf, unruhig und ängstlich wurde wie ein Hund, der seinen Herrn verloren hat. Das war dumm, aber die Hunde sind nun einmal nicht gescheiter…«
CXXVIII
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er Schurimann fuhr fort: »Also ich bin gegen Herrn Rudolf, wie ein Hund gegen seinen Herrn ist, weil er mich, in meinen eigenen Augen, wieder aufgerichtet hat. Ehe ich ihn kannte, hatte ich nichts gefühlt als die Haut; er aber rührte etwas unter der Haut auf. Als ich nun von ihm fort war, war ich wie ein Leib ohne Seele. Je weiter ich mich entfernte, um so öfter wiederholte ich mir: er führt ein drolliges Leben; er gibt sich mit so großen Kanaillen ab (ich weiß etwas davon), daß er täglich seine Haut zwanzigmal zu Markte trägt. – Bei einer solchen Gelegenheit könnte ich seinen Hund abgeben und ihn verteidigen, denn ich habe tüchtige Zähne. Auf der anderen Seite hatte er mir nun freilich gesagt: ›Du mußt dich anderen nützlich machen und da670
hin gehen, wo du etwas Tüchtiges leisten kannst.‹ – Aber, Donnerwetter! Als ich auf ein Schiff gehen, Frankreich verlassen und das Meer zwischen mich und Herrn Rudolf bringen sollte, ohne die Hoffnung zu haben, ihn wiederzusehen, da verging mir der Mut. Er hatte seinem Geschäftsfreund in Marseille aufgetragen, mir bei der Einschiffung einen großen Haufen Geld zu geben. Ich ging zu dem Herrn und sagte ihm: ›Ich kann nicht; geben Sie mir, was ich brauche, um zu Fuß nach Paris zurückzukehren; ich habe gute Beine – hier halte ich es nicht aus. Herr Rudolf mag sagen, was er will, er mag böse werden, mich nicht wiedersehen wollen – ich werde ihn aber doch sehen, ich werde sein, wo er ist, und wenn er so weiterlebt wie bisher, so komme ich vielleicht einmal zu rechter Zeit, um zwischen ihn und einen Dolchstoß zu treten.‹ Man gibt mir, was ich brauche, und ich komme in Paris an. Da stellte sich die Angst ein. Was sollte ich Herrn Rudolf sagen, um mich zu entschuldigen, daß ich ohne seine Erlaubnis zurückgekommen war? Na – er kann mich doch nicht verschlingen, dachte ich. Ich ging also zu seinem Freunde, der auch ein prächtiger Mann ist. Donnerwetter! Als Herr Murph eintrat, sagte ich: ›Mein Schicksal wird sich nun entscheiden –‹, aber weiter brachte ich nichts heraus. – Ich erwartete eine tüchtige Strafpredigt, aber der würdige Mann empfing mich, als wäre ich erst den Tag vorher bei ihm gewesen und sagte, Herr Rudolf sei keineswegs böse auf mich, sondern wolle mich sogleich sehen. Er führte mich wirklich zu meinem Beschützer. Donnerwetter! Als ich ihm gegenüber stand, der schrecklich ist wie ein Löwe und sanft wie ein Kind, der ein Fürst ist und eine Bluse getragen hat, wie ich, um Gelegenheit zu haben, mir auf dem Schädel herumzuhämmern, daß die Funken nur so stoben, sehen Sie, Herr Germain, da war ich wie umgewandelt und weinte wie ein Kind. – Denken Sie sich, wie meine Larve aussehen mag, wenn ich heule! – Herr Rudolf sagte ernsthaft zu mir: ›Du bist also zurückgekommen?‹ ›Ja, Herr Rudolf, verzeihen Sie, wenn ich Unrecht getan habe, aber – ich hielt es nicht aus. Weisen Sie mir einen Winkel in Ihrem Hau671
se an, füttern Sie mich oder lassen Sie mich mein Brot hier verdienen, ich verlange weiter nichts; besonders zürnen Sie nicht, daß ich zurückgekommen bin –‹ ›Ich zürne um so weniger, da du gerade zur rechten Zeit gekommen bist, um mir einen Dienst zu leisten.‹ ›Ich, Herr Rudolf? Wäre es möglich? Und was könnte ich für Sie tun?‹ ›Ein junger Mann, an dem ich Anteil nehme, als wäre er mein Sohn, ist ungerechterweise des Diebstahls angeklagt und in La Force gefangen; er heißt Germain, ist sanft und schüchtern von Charakter; die Bösewichter, mit denen er zusammenleben muß, hassen ihn, und er kann in große Gefahr kommen. – Du hast das Gefängnisleben und eine große Anzahl Gefangener kennengelernt; könntest du nicht, wenn ehemalige Kameraden in La Force wären, sie besuchen und bewegen, den jungen Mann zu schützen?‹« »Wer ist der Unbekannte, der an meinem Schicksal Anteil nimmt?« fragte Germain, höchst überrascht. »Vielleicht erfahren Sie es; ich für meine Person weiß es nicht. Doch, um auf mein Gespräch mit ihm zurückzukommen: als er mit mir sprach, war ich auf einen so närrischen Einfall geraten, daß ich unwillkürlich selber lachen mußte. ›Was hast du?‹ fragte er mich. ›Herr Rudolf, ich lache, weil ich das Mittel gefunden habe, Ihren Herrn Germain zu schützen, ihm einen Beschützer zu geben, der ihn tapfer verteidigen wird; denn befindet sich der junge Mann einmal unter der Obhut des Burschen, den ich meine, so wird es niemand wagen, ihn scheel anzusehen.‹ ›Sehr gut. Es ist wahrscheinlich einer deiner früheren Kameraden?‹ ›Allerdings, Herr Rudolf; es wird aber Geld kosten…‹ ›Wieviel ist nötig?‹ ›Tausend Franken.‹ ›Da sind sie.‹ ›Ich danke, Herr Rudolf. – Binnen zwei Tagen sollen Sie Nachricht von mir haben.‹ – Donnerwetter! Ich war glücklicher als der 672
König – ich konnte Herrn Rudolf einen Gefallen tun!« »Ich fange an zu begreifen oder vielmehr, ich fürchte, zu begreifen«, entgegnete Germain. – »Sie haben, um mich zu schützen, um hierherzukommen, einen Diebstahl begangen? Ich würde mir mein Leben lang Vorwürfe machen…« »Warten Sie nur! Mit meinen tausend Franken kaufte ich mir eine schwarze Perücke, rasierte mir meinen Backenbart ab, setzte eine blaue Brille auf, stopfte mir ein Kissen unter den Rock, so daß ich bucklig aussah und suchte ein Parterrezimmer in einer lebhaften Straße zu mieten. Ich fand, was ich suchte, in der Rue de Provence und bezahlte, unter dem Namen Grégoire, ein Vierteljahr voraus. Am anderen Tage kaufte ich im Temple Möbel, brachte alles in meine Wohnung, sagte aber dem Portier, ich würde erst am übernächsten Tag da schlafen und nahm meinen Schlüssel mit. An den Fenstern befanden sich starke Läden. Einen hatte ich absichtlich von innen nicht eingehakt. In der nächsten Nacht legte ich meine schwarze Perücke, meine Brille, meinen Buckel, meine Kleider ab, packte alles in einen Koffer, den ich an Herrn Murph, den Freund Rudolfs, schickte mit der Bitte, mir die Sachen aufzubewahren, dann kaufte ich die Bluse, die blaue Mütze und eine eiserne Stange, und um ein Uhr in der Nacht schlich ich in der Rue de Provence vor meiner Wohnung umher, wartete, bis eine Patrouille in die Nähe kam, um den Laden meines Fensters aufzubrechen, in meine Wohnung zu steigen, mich selbst zu bestehlen und gefaßt zu werden –« Der Schurimann lachte aus Herzensgrunde. »Jetzt verstehe ich«, sagte Germain. »Es kam keine Patrouille. – Ich hätte meine Wohnung zwanzigmal ausräumen können. Um zwei Uhr endlich hörte ich die Soldaten anmarschiert kommen; rasch zwängte ich den Laden auf, drückte ein paar Fensterscheiben ein, um Lärm zu machen, stieg durch das Fenster hinein, sprang ins Zimmer und nahm irgend etwas. Zum Glück hatte die Patrouille das Klirren der Fensterscheiben gehört, denn als ich wieder herausstieg, packte mich die Wache. Na, man schleppte mich zum Kommissar, ich gestand alles; man 673
brachte mich ins Depot, von dort hierher, und ich kam gerade zur rechten Zeit, um den Klauen Skeletts den jungen Mann zu entreißen, von dem Herr Rudolf gesagt hatte: Ich nehme Anteil an ihm, als wäre er mein Sohn…« »Ach, wieviel Dank bin ich Ihnen schuldig für ein solches Opfer!« sagte Germain. »Mir nicht, sondern Herrn Rudolf.« »Aber warum nimmt er überhaupt Interesse an mir?« »Das wird er Ihnen selbst sagen, wenn er es nicht vorzieht, Ihnen nichts zu sagen; denn er begnügt sich oft damit, Gutes zu tun, und wenn man ihn fragt, warum, so antwortet er: ›Bekümmern Sie sich um die Dinge, die Sie angehen!‹« »Weiß Herr Rudolf, daß Sie hier sind?« »So dumm war ich nicht, ihm meinen Einfall zu verraten; er würde mir vielleicht die Posse nicht erlaubt haben, und sie ist doch famos, nicht wahr?« »Aber welcher Gefahr haben Sie sich ausgesetzt!« »Gefahr? Bah…« »Wenn nun alle Gefangenen Partei gegen Sie ergriffen hätten?« »So hätte ich gebrüllt wie ein Löwe und um Hilfe gerufen. – Lieber aber war es mir, meine Sache allein abzumachen, um zu Herrn Rudolf sagen zu können: ›Ich allein habe Ihren jungen Mann verteidigt.‹« In diesem Augenblick trat der Aufseher rasch ins Zimmer. »Herr Germain, kommen Sie schnell zum Direktor; er will gleich mit Ihnen sprechen. – Du, Schurimann, gehst in die Löwengrube! – Du wirst Vorsteher, wenn du willst, denn du hast das Zeug dazu, dieses Amt zu bekleiden!« »Mir ist's recht!« Und zu Germain gewandt, fuhr er fort: »Sie können schreiben; bringen Sie das, was ich Ihnen erzählt habe, zu Papier und schicken Sie die Geschichte Herrn Rudolf; er erfährt dann, daß er Ihretwegen nicht mehr besorgt zu sein braucht, und daß ich aus gutem Grunde hier bin, denn wenn er auf anderem Wege 674
hörte, der Schurimann habe gestohlen, und er kennt den Zusammenhang nicht, Donnerwetter! – Das wäre mir fatal!« »Sie können unbesorgt sein; noch heute abend werde ich schreiben!« »Adieu, Herr Germain, ich gehe zu dem Lumpenpack zurück, dessen Vorsteher ich nun bin.« »Wenn ich bedenke, daß Sie meinetwegen eine Zeitlang unter diesen Elenden leben müssen…« »Was schadet mir das? Ich bin gegen Feuer versichert.« Der Schurimann folgte dem Aufseher. Germain trat in das Kabinett des Direktors, wo er, zu seiner großen Verwunderung, Lachtaube fand, die blaß und sehr bewegt aussah, die aber doch durch die Tränen lächelte. Aus ihrem ganzen Gesicht sprach eine unbeschreibliche Freude. »Ich habe eine gute Nachricht für Sie«, sagte der Direktor. »Das Gericht hat erklärt, daß kein Grund vorliege, gegen Sie weiter einzuschreiten. Infolgedessen habe ich den Befehl erhalten, Sie sofort in Freiheit zu setzen.« Lachtaube wollte sprechen, aber sie vermochte es nicht. Sie konnte Germain nur zunicken und die Hände dabei falten. »Ist es ein Traum?« rief Germain aus. – »Verzeihen Sie mir, wenn mich Überraschung und Freude hindern, Ihnen so zu danken, wie es meine Schuldigkeit wäre!« »Und ich, Herr Germain, bringe überhaupt kein Wort heraus«, sagte Lachtaube, »denken Sie sich meine Freude! Als ich von Ihnen fortging, traf ich den Freund Rudolfs, der auf mich wartete…« »Wieder Herr Rudolf!« sagte Germain erstaunt. »Ja, jetzt kann ich Ihnen alles sagen. Herr Murph sagte also zu mir: ›Germain ist frei; hier ist ein Brief an den Gefängnisdirektor. Wenn Sie zu ihm kommen, wird er schon den Befehl erhalten haben, Germain in Freiheit zu setzen, und Sie können ihn gleich mitnehmen.‹ Ich konnte nicht glauben, was ich hörte, und doch war es wahr… Schnell, schnell! Ich nahm einen Wagen, ich kam an – er wartet noch unten.« 675
CXXIX
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ch wette hundert gegen zehn, daß es mit unserem Prinzipal aus wird, ehe ein Monat ins Land gegangen ist«, sagte einer der Schreiber im Bureau Ferrands zu seinen Kollegen. »Seit die letzte Magd das Haus verlassen hat, ist er so abgefallen, daß er kaum noch die Haut auf den Knochen hat.« »Er muß in das elsässische Mädchen wahnsinnig verliebt gewesen sein!« »Er, verliebt? Welche Idee!« »Er verkehrt ja fast nur noch mit Geistlichen!« »Ja, und der Pfarrer der Gemeinde sagte gestern, als er fortging (ich habe es selbst gehört) zu dem anderen Geistlichen, der ihn begleitete: ›Herr Jacob Ferrand ist ein Muster der christlichen Liebe und Mildtätigkeit auf Erden.‹« »Das sagte der Geistliche?« »Daß der Prinzipal ein Muster der christlichen Liebe und Mildtätigkeit auf Erden wäre?« »Ja, ich habe es gehört.« »So steht mir der Verstand still.« »Wenn der Pfarrer etwas versichert, so muß man es glauben, weil er nicht lügen kann, und doch will es mir nicht in den Kopf.« »Ferrand freigebig! Der imstande ist, ein Ei zu scheren!« »Und die vierzig Sous, die er uns zum Frühstück gibt?« »Das ist ein Zufall und kein Beweis.« »Übrigens – aber gebt mir euer Ehrenwort, daß ihr nichts ausplaudert!« »Wir schwören es bei unseren Kindern.« »Und dann beziehen wir uns auf das, was Ludwig XIV. zu dem Dogen von Venedig sagte: Ward ein Geheimnis erst dem Schreiber kund. So weiß es auch die Stadt zur selben Stund!« 676
»Hör auf, Chalamel, mit deinen Zitaten!« »Die Sprichwörter sind die Weisheit der Nationen, und daraufhin verlange ich dein Geheimnis.« »Es drückt ihm das Herz ab; er möchte es gar zu gern loswerden.« »Nun, wenn ihr es wissen wollt: Der Prinzipal verkauft sein Amt.« »Ah!« »Das ist allerdings eine Neuigkeit.« »An wen verkauft er es?« »Das weiß ich nicht.« »Er verkauft es vielleicht, um ein anderes Leben anzufangen?« »Nun, Geld genug hat er.« »Und gar keine Familie –« »Ob er Geld hat! Der erste Schreiber spricht von mehr als einer Million.« »Mehr als eine Million? Das klingt gut.« »Man sagt, er habe an der Börse gespielt und viel Geld gewonnen.« »Er lebte aber auch wie ein Knicker.« »Und dabei macht er noch jetzt ein Gesicht, als sei der Teufel gestorben, und er müsse um ihn trauern.« »Und der Pfarrer rühmt seine Mildtätigkeit!« »Die echte christliche Liebe fängt bei sich selbst an! Kennst du denn deine Gebote nicht, gottloser Mensch?« »Übrigens wundere ich mich sehr über seinen vertrauten Freund, der wie vom Himmel geschneit ist und ihn nicht mehr verläßt.« »Ich möchte fast glauben, dieser Unbekannte sei die Frucht eines Fehltrittes.« »Blödsinn! Siehst du nicht, daß der Fremde älter ist als der Prinzipal?« »Nun, so ist er vielleicht sein Vater –« »Hört nicht mehr auf Chalamel! Es ist kein vernünftiges Wort mit ihm zu reden.« »Mir kommt es vor, als hätte ich den Fremden schon irgendwo gesehen.« 677
»Mir nicht –« »Habt Ihr nicht auch bemerkt, daß seit einigen Tagen regelmäßig ein Mann mit großem blonden Schnurrbart und militärischer Haltung kommt, der den Fremden durch den Portier rufen läßt? Dieser geht dann hinunter und spricht einen Augenblick mit dem Schnurrbärtigen, der zunächst abschwenkt und meist nach zwei Stunden wiederkommt.« »Ja, das habe ich auch bemerkt; es kam mir auch vor, als würde das Haus bewacht.« »Irgend etwas geht vor!« »Vielleicht weiß der Bureauchef mehr als wir; aber er spielt ja den Diplomaten…« »Wo ist er eigentlich?« »Bei der Gräfin MacGregor.« »Vielleicht wegen des Testaments?« »Das glaube ich nicht; es geht ihr ja besser.« »Wißt ihr übrigens schon von Germain?« »Was?« »Der Chef hat, um ihn in Freiheit setzen zu lassen, erklärt, er selbst habe sich in der Rechnung geirrt und das Geld wiedergefunden.« »Ich an Germains Stelle würde von Ferrand Entschädigung verlangen.« »Er hätte ihn wenigstens gleich wieder anstellen müssen!« »Germain hätte kaum gewollt.« »Ein Wagen!« rief Chalamel, indem er ans Fenster trat. »Wer steigt aus?« »Der Pfarrer.« »Still! Er kommt zu uns!« Alle Schreiber setzten sich an ihre Pulte und ließen ihre Federn kritzelnd über das Papier laufen. Das blasse Gesicht des Geistlichen war zugleich mild und ernst, geistreich und ehrwürdig. Ein schwarzes Käppchen verbarg die Tonsur, und graues, ziemlich langes Haar fiel auf den Kragen seines braunen Rockes. 678
»Befindet sich Ihr würdiger Prinzipal in seinem Kabinett, meine Kinder?« fragte der Pfarrer. »Ja, Herr Abbé«, sagte Chalamel, indem er ehrerbietig aufstand und dem Geistlichen die Tür öffnete. Da der Abbé im Kabinett des Notars ziemlich heftig sprechen hörte, so ging er rasch auf die Türe zu und klopfte. »Herein!« rief eine Stimme mit deutlichem italienischen Akzent. Der Geistliche stand vor Polidori und Jacob Ferrand. Die Schreiber schienen sich wirklich nicht geirrt zu haben, als sie ihrem Chef ein nahes Ende prophezeiten. Der Notar war seit Cecilys Flucht kaum mehr zu erkennen. Auf den vorspringenden Backenknochen seines eingefallenen, leichenblassen Gesichts brannte eine fieberhafte Röte. Unablässig schüttelte ihn ein nervöses Zittern, das sich bis zu krampfhaften Zuckungen steigerte; seine fleischlosen Hände waren heiß und trocken; seine Augen waren mit Blut unterlaufen. Das Gesicht Polidoris war kalt, hart und höhnisch. Ein Wald von brennend roten Haaren bedeckte seine bleiche Stirn; seine durchbohrenden Augen funkelten grünlich wie Aquamarin, und der Mund mit den dünnen, zusammengekniffenen Lippen verriet tückische Bosheit. Polidori saß, völlig schwarz gekleidet, am Schreibtisch des Notars. Beim Eintreten des Pfarrers standen beide auf. »Nun, wie geht es Ihnen, mein würdiger Herr Ferrand?« fragte der Abbé teilnehmend; »ist Ihnen etwas besser?« »Immer dasselbe, Herr Abbé; das Fieber und die Schlaflosigkeit bringen mich um. – Doch Gottes Wille geschehe!« »Sehen Sie, Herr Abbé«, setzte Polidori salbungsvoll hinzu, »mein armer Freund bleibt sich immer gleich; nur im Wohltun findet er noch Linderung seiner Leiden.« »Ich verdiene diese Lobeserhebungen nicht; verschonen Sie mich damit«, sagte der Notar zornig. »Wir sind allzumal Sünder«, entgegnete der Abbé, »aber wir besitzen nicht alle die christliche Liebe, die Sie auszeichnet, mein wür679
diger Freund… Sind Sie noch immer willens, Ihr Amt zu verkaufen, um sich ganz frommen Übungen zu widmen?« »Mein Amt ist bereits verkauft, Herr Abbé; es ist mir gelungen, das Geld dafür bar zu erhalten. Diese Summe gedenke ich zu der Gründung der Anstalt zu verwenden, über die ich mit Ihnen gesprochen, und deren Plan ich nun definitiv entworfen habe.« »O, mein würdiger Freund!« sprach der Geistliche mit Rührung, »ich wiederhole, Menschen wie Sie sind selten und deshalb nicht genug zu segnen.« »Ach, Herr Abbé«, begann Polidori, der sich's angelegen sein ließ, seinen Mitschuldigen mit Nadelstichen zu quälen, von neuem, »mein armer Freund vernachlässigt seine Gesundheit zu sehr. Helfen Sie mir, ihm zuzureden, daß er sich pflege, daß er sich erhalte, wenn nicht für sich und seine Freunde, so doch wenigstens für die Unglücklichen, deren Hoffnung und Stütze er ist.« »Genug! Genug!« murmelte der Notar dumpf vor sich hin. »Nein, es ist nicht genug«, sagte der Pfarrer gerührt, »man kann es Ihnen nicht oft genug wiederholen! In den zehn Jahren, die ich Sie kenne, habe ich Sie nie krank gesehen; seit einem Monat aber sind Sie kaum wiederzuerkennen. Sie fallen sichtlich ab und erregen ernstliche Besorgnis in uns. Ich beschwöre Sie, mein würdiger Freund, denken Sie an Ihre Gesundheit!« »Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Teilnahme, Herr Abbé, aber ich gebe Ihnen die Versicherung, daß mein Zustand nicht so beunruhigend ist, wie Sie glauben.« »Da du so eigensinnig bist«, fuhr Polidori fort, »werde ich dem Herrn Abbé alles sagen…« Der Abbé sah ihn fragend an. »Herr Abbé«, fiel der Notar ungeduldig ein, »ich hatte Sie gebeten, mich zu besuchen, um Ihnen höchst wichtige Pläne mitzuteilen…« »Du weißt, Jacob, daß du dir von mir gefallen lassen mußt, alles zu hören«, sagte Polidori, indem er ihn scharf ansah. Der Notar schlug die Augen nieder und schwieg. 680
Polidori dagegen fuhr fort: »Sie haben vielleicht bemerkt, Herr Abbé, daß die ersten Symptome der Nervenkrankheit Jacobs sich kurz nach dem abscheulichen Skandal zeigten, den Luise Morel in diesem Hause erregt hat.« »Sie kennen also das Verbrechen des unglücklichen Mädchens?« fragte der Pfarrer erstaunt. »Ich glaubte, Sie wären erst vor wenigen Tagen in Paris angekommen.« »Allerdings, Herr Abbé. Jacob hat mir aber, als seinem Freund und Arzt, alles erzählt… Doch mein armer Freund sollte leider noch andere Schläge erleiden, die, wie Sie sehen, seine Gesundheit untergraben haben. Eine alte Dienerin, die seit langen Jahren in seinem Hause war…« »Madame Seraphin?« fiel der Pfarrer ein – »ich habe von ihrem Tod gehört und begreife den Schmerz des Herrn Ferrand. Man vergißt treue Dienste nicht, und solche Treue ehrt den Herrn ebenso wie den Diener.« »Herr Abbé«, sagte der Notar, »ich beschwöre Sie, sprechen Sie nicht von meinen Tugenden, es ist mir peinlich.« »Wer soll sonst davon sprechen? Du?« entgegnete liebevoll Polidori; »Sie werden ihn noch mehr zu rühmen haben, Herr Abbé. Sie wissen vielleicht nicht, welche Dienerin Luise Morel und Madame Seraphin ersetzt hat, Sie wissen also nicht, was er für die arme Cecily tat – denn die neue Magd hieß Cecily, Herr Abbé.« Der Notar sprang von seinem Stuhl auf… »Schweig! Schweig!« rief er. »Kein Wort mehr, ich verbiete es dir!« »Beruhigen Sie sich«, entgegnete der Abbé mit mildem Lächeln, »welche neue edle Handlung haben Sie mir zu berichten? – Ich billige diesen Mangel an Verschwiegenheit bei Ihrem Freunde vollkommen. – Ich kenne die Magd nicht, denn wenige Tage nach ihrem Antritt sah sich unser Freund durch übergroße Geschäftslasten leider genötigt, den Umgang mit mir momentan abzubrechen.« »Um Ihnen das neue Werk zu verbergen, das er im Sinne hatte, Herr Abbé. Er wird aber, obgleich seine Bescheidenheit sich dagegen sträubt, jetzt doch davon sprechen hören müssen, und Sie wer681
den alles erfahren«, fuhr Polidori lächelnd fort. Jacob Ferrand schwieg, stützte sich auf seinen Schreibtisch und verbarg seine Stirn in den Händen.
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enken Sie sich also, Herr Abbé«, sagte Polidori, indem er jedes Wort mit einem ironischen Blick begleitete, »denken Sie sich, daß mein Freund an seiner neuen Magd, die, wie bereits erwähnt, Cecily hieß, die besten Eigenschaften fand: Große Züchtigkeit, engelgleiche Sanftmut und besonders tiefe Frömmigkeit. Jacob hat, wie Sie wissen, einen außerordentlich scharfen Blick und bemerkte bald, daß das junge Mädchen – es war jung und sehr schön, Herr Abbé – nicht zum Dienen geschaffen war, da es mit streng religiösen Grundsätzen eine gründliche Bildung und sehr mannigfache Kenntnisse verband.« »Das ist wirklich seltsam«, sagte der Abbé. »Diese Umstände waren mir völlig unbekannt. – Aber was ist Ihnen, mein guter Herr Ferrand, Sie scheinen sich unwohl zu fühlen?« »Ich habe allerdings«, antwortete der Notar, indem er sich den kalten Schweiß von der Stirn wischte, »heftiges Kopfweh – aber es wird vergehen.« Polidori zuckte lächelnd die Achseln. »Es ist bei Jacob immer so«, setzte er hinzu, »wenn er eine geheime Tat, die er vollbracht hat, enthüllt sieht; er ist mit seinen Wohltaten geradezu heuchlerisch! Zum Glück bin ich da, und es soll ihm glänzende Gerechtigkeit widerfahren. Also – auf Cecily zurückzukommen. Sie hatte ihrerseits bald das vortreffliche Herz Jacobs erkannt, und als er sie über ihre Vergangenheit befragte, gestand sie ihm unverhohlen, daß sie, fremd, hilflos, durch das liederliche Le682
ben ihres Mannes in die größte Armut gebracht, mit Freuden in das fromme Haus eines so achtungswürdigen Mannes eingetreten sei. Soviel Ungemach, Ergebung und Tugend rührten Jacob, er schrieb in die Heimat dieser Unglücklichen, um Erkundigungen einzuziehen, und die Nachrichten, die er erhielt, bestätigten alles, was sie unserem Freunde erzählt hatte. Jacob segnete Cecily wie ein Vater und schickte sie in ihre Heimat mit einer Summe Geldes, die sie in den Stand setzte, bessere Tage abzuwarten. – Ich füge kein Wort des Lobes für Jacob hinzu, denn die Taten sind beredter als Worte.« »Gut, sehr gut«, rief der Pfarrer, tief gerührt, aus. »Herr Abbé«, entgegnete Jacob Ferrand, »ich möchte Ihre kostbare Zeit nicht mißbrauchen. Sprechen wir also nicht mehr von mir, sondern von dem Plan, um dessentwillen ich Sie ersuchen ließ, zu mir zu kommen!« »Ich begreife, daß die Lobeserhebungen Ihres Freundes Ihre Bescheidenheit verletzen. Beschäftigen wir uns also mit Ihren neuen Werten; vor allem wollen wir von der Angelegenheit sprechen, mit der Sie mich beauftragt haben. Ich habe Ihrem Wunsche gemäß bei der Bank von Frankreich die Summe von hunderttausend Franken deponiert. Sie zogen vor, das Geld nicht in Ihren Händen zu behalten, obgleich es meiner Meinung nach da ebenso sicher gewesen sein würde, wie in der Bank.« »Ich habe darin, Herr Abbé, nur nach den Absichten des unbekannten Urhebers dieser Wiedergutmachung gehandelt. Seinen Wünschen zufolge sollte ich Ihnen diese Summe anvertrauen und Sie bitten, sie der verwitweten Frau von Fermont, geb. von Renneville, zu übergeben.« »Ich werde den Auftrag ausführen«, sagte der Geistliche. »Es ist nicht der letzte, Herr Abbé.« »Desto besser; eine freiwillige Wiedererstattung rührt mich zu jeder Zeit. Die Beschlüsse, die allein das Gewissen diktiert, und die man frei, vor seinem inneren Richter, ausführt, sind immer ein Zeichen aufrichtiger Reue.« 683
»Nicht wahr, Herr Abbé? Daß hunderttausend Franken auf einmal zurückgegeben werden, ist gewiß selten; ich bin neugieriger gewesen als Sie, was aber vermochte meine Neugierde gegen die unerschütterliche Verschwiegenheit Jacobs? Ich kenne deshalb den Namen des ehrlichen Mannes auch nicht…« »Wer es auch sein mag«, sprach der Abbé, »ich bin überzeugt, daß er in der Achtung des Herrn Ferrand sehr hoch steht.« »Dieser ehrliche Mann steht in meiner Achtung wirklich sehr hoch, Herr Abbé«, antwortete der Notar mit kaum verhohlener Bitterkeit. »Das ist noch nicht alles, Herr Abbé«, fuhr Polidori fort, indem er Jacob Ferrand bedeutungsvoll ansah. »Was meinen Sie?« fragte der Notar. »Die Morels!« »Ach ja, ich vergaß…«, sagte Ferrand dumpf vor sich hin. »Denken Sie sich, Herr Abbé«, fuhr Polidori fort, »jener Unbekannte begnügt sich nicht damit, eine so bedeutende Summe zurückzugeben, er will auch … doch ich lasse unseren würdigen Freund sprechen; es ist ein Vergnügen, das ich ihm nicht entziehen will.« »Ich bin ganz Ohr, mein werter Herr Ferrand«, sagte der Geistliche. »Sie wissen«, sprach Jacob Ferrand mit heuchlerischer Salbung, »daß die schlechte Aufführung der Luise Morel – ihren Vater so entsetzlich erschüttert hat, daß er den Verstand verlor. Die Familie war der Gefahr ausgesetzt, zu verhungern, da ihr die einzige Stütze fehlte. Glücklicherweise kam ihr die Vorsehung zu Hilfe, und die Person, die freiwillig jene Summe erstattete, die Sie, Herr Abbé, übergeben wollen, glaubte, einen großen Vertrauensmißbrauch noch nicht hinlänglich gebüßt zu haben. Sie fragte mich, ob ich nicht eine Familie kenne, die Unterstützung verdiene. Ich mußte ihr die Familie Morel bezeichnen, und man ersuchte mich, indem man mir die nötigen Gelder übergab, Sie zu bitten, Morel eine jährliche Rente von zweitausend Franken auszusetzen, die, nach seinem Tode, auf seine Frau und seine Kinder übergehen soll.« »Ich nehme diesen neuen Auftrag an«, sagte der Pfarrer, »wundere 684
mich aber, daß man ihn nicht Ihnen selbst gab.« »Die unbekannte Person glaubt, und ich bin allerdings derselben Meinung, ihre guten Werke würden einen höheren Wert erhalten, wenn sie durch so fromme Hände wie die Ihren, Herr Abbé, verrichtet würden.« »Nun«, sprach Polidori, »werden Sie sehen, Herr Abbé, zu wie hohen philanthropischen Ansichten mein guter Jacob in bezug auf die milde Anstalt sich erhoben hat, über die wir bereits gesprochen haben; er wird Ihnen den Plan vorlesen. Das zur Stiftung der Renten nötige Geld liegt hier, in seiner Kasse; seit gestern ist ihm aber ein Bedenken aufgestiegen, und wenn er es nicht auszusprechen wagt, so werde ich es tun.« »Das ist nicht nötig«, entgegnete Jacob Ferrand, der sich lieber durch seine eigenen Worte betäubte, als daß er sich gezwungen sah, schweigend die ironischen Lobeserhebungen seines Mitschuldigen zu ertragen. »Die Sache ist folgende, Herr Abbé. – Ich habe gemeint, es zieme sich, daß diese Anstalt nicht unter meinem Namen begründet werde.« »Diese Demut ist zu groß«, rief der Abbé aus. »Sie können und müssen stolz auf Ihre Stiftung sein; Sie haben das Recht, ja fast die Pflicht, ihr Ihren Namen zu geben!« »Ich ziehe es doch vor, Herr Abbé, meinen Namen nicht zu nennen; ich bin fest dazu entschlossen. Auch rechne ich auf Ihre Güte und hoffe, daß Sie für mich die letzten Formalitäten erfüllen und die Beamten dieser Anstalt auswählen; ich habe mir nur die Ernennung des Direktors und eines Aufsehers vorbehalten.« »Jetzt, Herr Abbé, wird mein Freund, wenn Sie es wünschen, den Plan verlesen, wie er ihn definitiv festgestellt hat.« »Da Sie so gefällig sind, lieber Freund«, sagte Ferrand bitter, »so lesen Sie selbst und ersparen Sie mir die Mühe.« »Ich bitte –« »Nein, nein«, antwortete Polidori, indem er dem Notar einen Blick zuwarf, dessen sarkastische Anzüglichkeit dieser wohl verstand, »ich finde ein wahres Vergnügen darin, von dir selbst die edlen Absichten 685
aussprechen zu hören, die dich bei dieser philanthropischen Stiftung leiteten.« »Nun, so will ich lesen«, sagte der Notar hastig, indem er einen Bogen von seinem Schreibtisch nahm. Polidori konnte ein grausames Lächeln nicht unterdrücken, als er ihn gezwungen sah, folgenden, von Rudolf diktierten Plan, vorzulesen. Bank für Arbeitslose. »Liebet euch untereinander, hat Christus gesagt. Diese Worte, die den Keim aller Pflichten und aller Tugenden enthalten, leiteten auch den demütigen Gründer dieser Anstalt. Obwohl in seinen Mitteln beschränkt, wollte der Stifter doch so viele seiner Brüder als möglich an der Unterstützung teilnehmen lassen, die er ihnen bietet. Er wendet sich zuerst an die redlichen, fleißigen Handwerker mit Familie, die aus Mangel an Arbeit oft in schreckliche Not kommen. Er bietet seinen Brüdern kein demütigendes Almosen, sondern ein unverzinsliches Darlehen. Als Bürgschaft fordert er von seinen Brüdern nichts als ihre Versicherung, das Geld einmal zurückzuerstatten. Er setzt eine Summe von hundertzwanzigtausend Franken aus, um, so weit sie reicht, verheirateten Handwerkern ohne Arbeit, die im 7. Arrondissement wohnen, Darlehen von zweihundert bis vierhundert Franken ohne Zinsen zu gewähren. Diese Darlehen werden nur Arbeitern oder Arbeiterinnen gegeben, die Ursache und Zeitpunkt der Arbeitseinstellung nachweisen. Die Darlehen sind monatlich, von dem Tage der Wiederaufnahme der Arbeit an, in kleinen Beträgen zurückzuzahlen. Dieser Verpflichtung treten, als Bürgen, zwei Kameraden des Darlehensnehmers bei, um der Heiligkeit des gegebenen Verspre686
chens durch die solidarische Verbindlichkeit größeren Nachdruck zu verschaffen. Der Arbeiter, der die ihm geliehene Summe nicht zurückzahlt, kann, ebenso wie seine beiden Bürgen, nie wieder Anspruch auf eine neue Anleihe machen. Die Gedanken, die uns bei der Errichtung dieser ›Bank der Armen‹ geleitet haben, waren: Den Menschen durch Almosen nicht zu erniedrigen; die Faulheit durch eine unfruchtbare Gabe nicht zu begünstigen; vielmehr die Gefühle der Ehre und Rechtschaffenheit in den arbeitenden Klassen zu respektieren, und brüderlich dem Arbeiter zu Hilfe zu kommen, dem es, bei der Unzulänglichkeit seines Lohnes, schon schwer wird, seinen Unterhalt zu finden, und der bei Arbeitsmangel seine eigenen Bedürfnisse wie die seiner Familie überhaupt nicht mehr befriedigen kann.« »Ach, Herr!« rief der Abbé mit Bewunderung aus, »welche schöne Idee! Wie sehr begreife ich Ihre Rührung.« Die Stimme Ferrands hatte sich wirklich allmählich verändert: seine Geduld und sein Mut gingen zu Ende. Da er sich aber fortwährend von Polidori bewacht sah, wagte er nicht, gegen die Befehle Rudolfs zu handeln. Man denke sich die Wut des Notars, der sich gezwungen sah, sein Vermögen einer Klasse zur Verfügung zu stellen, die er unbarmherzig verfolgt hatte! »Ist die Idee nicht vortrefflich, Herr Abbé«, fragte Polidori. »Sie entspringt ebensosehr einem praktischen Verstand wie einem goldenen Herzen«, antwortete der Priester. Polidori sagte weiter: »Aus der Wahl des Direktors dieser Anstalt werden Sie ersehen, Herr Abbé, wie Jacob ein Unrecht gutzumachen weiß, das er unabsichtlich getan hat. Sie wissen, daß er durch einen Irrtum, den 687
er beklagt, seinen Kassierer beschuldigt hatte, eine Summe entwendet zu haben, die sich später wiederfand.« »Allerdings.« »Nun, diesem rechtschaffenen jungen Manne, Franz Germain, überträgt Jacob die Direktion dieser Bank auf Lebenszeit mit einem Gehalt von viertausend Franken. Ist das nicht bewunderungswürdig, Herr Abbé?« »Es setzt mich nichts mehr in Erstaunen. Die Frömmigkeit und Menschenliebe unseres würdigen Freundes mußten früher oder später dahin führen!« »Jacob«, fiel Polidori ein, indem er den Notar leicht auf die Schulter klopfte, »lies weiter!« Der Notar zuckte zusammen, strich mit der Hand über die Stirn und sagte: »Ich war, glaube ich…« »Bis zur Ernennung Germains zum Direktor gekommen, ja«, entgegnete Polidori. Jacob Ferrand las weiter: »Zu den Kosten der Verwaltung der ›Bank der Armen‹ sollen zehntausend Franken jährlich angewiesen werden; der Direktor ist Franz Germain, der Aufseher aber der jetzige Portier des Hauses, Pipelet mit Namen. Der Herr Abbé Dumont, dem die zur Gründung der Anstalt nötigen Gelder überwiesen werden, wird einen Aufsichtsrat ernennen, der mindestens aus dem Maire und dem Friedensrichter des Arrondissements bestehen soll. Die Eröffnung dieser Bank wird angezeigt werden. Der Stifter wiederholt zum Schlusse, daß er kein Verdienst in dem sieht, was er für seine Brüder tut. Sein Gedanke ist nur das Echo jenes göttlichen Gedankens: Liebet euch untereinander.« »Und Ihr Platz im Himmel wird neben dem sein, der diese Worte gesprochen hat«, rief der Abbé aus, indem er die Hände Ferrands 688
drückte. Der Notar war zu Ende. Die Kräfte verließen ihn. – Ohne auf die Glückwünsche des Abbés zu antworten, übergab er ihm die zur Gründung der Anstalt und zur Stiftung der Rente für Morel nötige Summe. »Verzeihen Sie meine Schwäche«, sagte er, indem er sich mit Anstrengung erhob. »Es ist wahrscheinlich nichts Schlimmes, aber ich bin erschöpft.« »Vielleicht wäre es besser, Sie gingen zu Bett«, entgegnete der Pfarrer mit aufrichtiger Teilnahme, »und ließen Ihren Arzt kommen.« »Ich bin sein Arzt, Herr Abbé«, entgegnete Polidori. »Der Zustand Jacobs erfordert eine sorgsame Behandlung, und ich lasse sie ihm zuteil werden.« Der Pfarrer verabschiedete sich mit frommen Wünschen. Jacob Ferrand und Polidori blieben allein.
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aum hatte der Abbé die Türe hinter sich geschlossen, als Ferrand einen furchtbaren Fluch ausstieß. Wut und Verzweiflung, die er solange hatte niederhalten müssen, brachen ungestüm aus; keuchend, mit verzerrten Zügen und unstetem Blick, ging er rasch im Zimmer hin und her wie ein wildes Tier im Käfig. Polidori blieb vollkommen ruhig und beobachtete den Notar aufmerksam. »Himmel und Hölle!« rief Ferrand mit kreischender Stimme, »mein ganzes Vermögen in diesen albernen Stiftungen verschlungen! Ich, der ich die Menschen verachte und verfluche, werde durch teuflische Mittel gezwungen, sogenannte Wohltätigkeitsanstalten zu grün689
den! Ist dein Herr der Teufel selbst?« fragte er zitternd vor Wut, indem er vor Polidori stehenblieb. »Ich habe keinen Herrn«, antwortete dieser kalt, »sondern, gleich dir, einen Richter!« »Wie ein Schwachkopf den Befehlen dieses Menschen zu gehorchen…«, fuhr Ferrand, mit steigender Wut, fort. »Wenn nicht das Schafott…« »Über eine Million habe ich nun hingegeben! Wenn mir mit diesem Hause noch hunderttausend Franken übrigbleiben, ist es viel. – Was kann man noch wollen?« »Du bist noch nicht am Ziele. – Der Fürst weiß durch Badinot, daß dein Strohmann, Petit-Jean, nur den Namen für dich hergab zu dem wucherischen Darlehen an den Vicomte von Saint Remy, den du überdies, wegen seiner falschen Wechsel, so stark geschröpft hast. Die Summen, die Saint Remy bezahlt hat, waren ihm von einer vornehmen Dame geliehen worden – wahrscheinlich wirst du auch sie zurückerstatten müssen.« »Hier angekettet…!« »Wie mit Eisenketten!« »Und du, Elender, bist mein Kerkermeister!« »Solange Er mir nicht sagt: Jacob Ferrand darf sein Haus verlassen, solange bleibe ich bei dir wie dein Schatten. Höre mich also an! Ich habe wie du das Schafott verdient. Wenn ich gegen die Befehle handle, die ich als dein Kerkermeister erhalten habe, fällt mein Kopf. Du konntest also keinen unbestechlicheren Hüter finden. Fliehen können wir nicht, denn wir sind nicht imstande, einen Schritt aus dem Hause zu tun, ohne den Leuten in die Hände zu fallen, die Tag und Nacht an der Türe wachen.« »Reize mich nicht noch mehr, oder…« »Oder was? Ich fürchte dich nicht…« »Schweig doch, Satan!« »Du weißt, daß ich alle zwei Stunden Nachricht über dein kostbares Befinden geben muß. Sähe man mich einmal nicht erscheinen, so würde man einen Mord ahnen und dich sofort verhaften. 690
– Aber ich tue dir Unrecht. Du hast mehr als eine Million geopfert, um dein Leben zu retten und solltest deinen Kopf wagen für das alberne Vergnügen, mich zu ermorden? Geh, so dumm bist du nicht!« »Fluch über mich, über dich, über die ganze Welt!« »Dein Menschenhaß ist umfassender als deine Menschenliebe. Er begreift die ganze Welt, während sich die Liebe mit einem Arrondissement begnügt.« »Spotte noch, Unmensch!« »Wer ist schuld, daß wir in diese Lage gekommen sind? Du! Warum warst du so schwach, so albern, die teuflische Cecily…« »Schweig – nenne diesen Namen nicht!« fiel Jacob Ferrand ein. »Ja, das Donnerwetter erschlage die, die diesen Namen führt! Sie hat alles verdorben. Noch säße unser Kopf sicher auf unseren Schultern, ohne deine idiotische Verliebtheit!« Jacob Ferrand antwortete mit tiefer Niedergeschlagenheit: »Kennst du sie? Hast du sie je gesehen?« »Niemals. Sie soll schön sein, ich weiß es.« »Schön!« antwortete der Notar achselzuckend. »Sieh«, fuhr er mit verzweiflungsvoller Bitterkeit fort, »du würdest an meiner Stelle getan haben, was ich tat.« »Ich, mein Leben in die Hände eines Weibes legen!« »Ich würde es wieder tun, wenn ich wieder hoffen könnte, was ich einmal hoffte.« »Er steht noch immer unter ihrem Zauber!« rief Polidori verwundert aus. »Ich weiß, daß ich nichts mehr zu hoffen habe, aber…« »Was?« »Aber ich habe – die Erinnerung!« »Du wirst sie nie wiedersehen, und sie hat ja deinen Kopf gleichsam unter das Beil gebracht.« »Ich liebe sie wahnsinniger als je«, rief Ferrand unter Schluchzen. »Jene Nacht, in der ich sie so schön, so leidenschaftlich, so berauschend sah, steht noch immer vor meinen Augen. Ich habe die691
ses Bild schrecklicher Wonne immer, immer vor mir. Ich fühle noch immer ihren Atem auf meiner Stirn, ich höre ihre Stimme…« Erschöpft sank Ferrand auf seinen Stuhl zurück, wand die Hände und ächzte laut. Mit einemmal klopfte es. »Jacob«, sagte Polidori, »raff dich auf; es kommt jemand.« Der Notar hörte nicht. Er lag halb auf dem Schreibtisch und krümmte sich in krampfhaften Zuckungen. Polidori öffnete die Türe und sah den ersten Schreiber, der, bleich und mit verstörtem Gesicht, sagte: »Ich muß sofort mit Herrn Ferrand sprechen.« »Er befindet sich gerade sehr unwohl und kann Sie nicht empfangen«, sagte Polidori leise, indem er aus dem Kabinett hinaustrat und die Tür verschloß. »Ach, Herr, Sie sind der beste Freund des Herrn Ferrand, kommen Sie ihm zu Hilfe … es ist kein Augenblick zu verlieren!« »Was gibt es?« »Ich ging im Auftrag des Herrn Ferrand zu der Gräfin MacGregor, um ihr zu sagen, daß er heute nicht zu ihr kommen könnte.« »Nun?« »Die Dame, die jetzt außer Gefahr zu sein scheint, ließ mich in ihr Zimmer eintreten und sagte in drohendem Ton: ›Erklären Sie Herrn Ferrand, daß er, falls er nicht binnen einer Stunde hier ist, vor Ablauf des Tages als Fälscher verhaftet wird, denn das Kind, das er für tot ausgegeben hat, ist nicht tot; ich weiß, wo es sich befindet.‹« »Die Frau sprach im Fieber«, antwortete Polidori mit einem Achselzucken. »Glauben Sie, Herr?« »Die Krankheit hat ihren Kopf geschwächt, und sie hält ihre Träume für Wirklichkeit.« »Sie haben ohne Zweifel recht, denn ich konnte mir die Drohungen der Gräfin nicht erklären.« »Es ist ja Unsinn.« 692
»Ich muß Ihnen auch mitteilen, daß in dem Augenblick, in dem ich fortging, ein Kammermädchen schnell in das Zimmer der Gräfin trat und sagte: ›Se. königliche Hoheit wird binnen einer Stunde hier sein.‹« »Das sagte das Mädchen?« »Ja, und ich wunderte mich, da ich nicht wußte, welche königliche Hoheit sie meinen konnte.« »Es ist der Fürst, ohne Zweifel«, dachte Polidori bei sich. – Dann wandte er sich an den jungen Mann und setzte hinzu: »Noch einmal, die Sache ist ganz bedeutungslos. Dennoch werde ich Herrn Ferrand davon unterrichten.«
CXXXII
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er Tag neigte sich zu Ende. Sarah saß in einem großen Sessel und betrachtete sich mit gespannter Aufmerksamkeit in einem Spiegel, der ihr von einem vor ihr knienden Kammermädchen vorgehalten wurde. Es war in dem Zimmer, in dem die Eule den Mordversuch unternommen hatte. Die Gräfin war marmorbleich und in einen weiten Überwurf von weißem Musselin gekleidet. »Gib mir das Korallenband«, sagte sie mit schwacher Stimme zu einem ihrer Mädchen. »Betty wird es dir umlegen«, setzte Thomas Seyton hinzu, »du würdest dich sonst zu sehr anstrengen.« »Das Band! Das Band!« wiederholte Sarah ungeduldig. »So – nun macht es fest und verlaßt mich«, sagte sie zu ihren Dienerinnen. In dem Augenblick, in dem diese sich entfernten, gab sie den Befehl: 693
»Man läßt Herrn Ferrand in das kleine blaue Zimmer eintreten, dann geleitet man Se. königliche Hoheit, den Großherzog von Gerolstein, sobald er erscheint, hierher.« »Endlich!« sprach Sarah, sobald sie mit ihrem Bruder allein war, »endlich nähere ich mich dem Ziele meines Lebens. Die Prophezeihung wird in Erfüllung gehen.« »Sarah, beruhige dich«, sagte ihr Bruder ernst und streng. »Noch gestern zweifelte man an deinem Aufkommen; eine letzte Enttäuschung könnte dein Leben gefährden.« »Du hast recht, Tom. – Der Sturz aus so bedeutender Höhe wäre schrecklich, denn meine Hoffnungen sind nie der Erfüllung näher gewesen.« »Noch einmal, Sarah, keine unsinnigen Hoffnungen!« »Unsinnige Hoffnungen? Glaubst du, daß Rudolf, wenn er erfährt, daß das junge Mädchen in St. Lazare unser Kind ist –« Seyton unterbrach seine Schwester: »Ich glaube«, sagte er bitter, »daß Fürsten Staatswohl und politische Konvenienz über die natürlichen Pflichten stellen.« »Rechnest du so wenig auf meine Klugheit?« »Der Fürst ist kein unerfahrener Jüngling mehr. Jene Zeit liegt weit hinter ihm und – dir, liebe Schwester.« Sarah zuckte leicht die Achseln und sagte: »Ich kenne Rudolf besser als du. – Allerdings sind meine Züge nicht mehr die des sechzehnjährigen Mädchens, das er so leidenschaftlich liebte, aber der Anblick dieses Schmuckes, den ich deshalb angelegt habe, wird in Rudolf die Erinnerung an seine Liebe und an seine Jugend wecken, und diese Erinnerungen sind immer kostbar.« »Aber an diese lieblichen Erinnerungen schließen sich schreckliche an. Denke an das traurige Ende eurer Liebe… Vergißt du, daß der Fürst seit dieser Zeit nur Verachtung und Haß gegen dich empfunden hat?« »Das Mitleid ist an die Stelle des Hasses getreten…« »Er glaubt, du lägest im Sterben, – er meint, es handelt sich um einen letzten Abschied und kommt. – Du hättest ihm aber schrei694
ben sollen, was du ihm sagen willst.« »Ich weiß, warum ich so handle und nicht anders. Diese Mitteilung wird ihn überraschen, mit Freude erfüllen, und ich werde seine wehmütige Stimmung zu benutzen wissen. Heute oder nie wird er zu mir sagen: ›Die Ehe muß die Geburt dieses Kindes legitimieren.‹ Sagt er das, so hält er auch Wort, und die Hoffnung meines Lebens ist erfüllt.« »Ja, – wenn er dir das Versprechen gibt.« »Hat er einmal die Gewißheit, seine Tochter wiedergefunden zu haben, so wird er kein Opfer scheuen, um seinem Kinde das beneidenswerteste Los zu sichern und es so glücklich zu machen, als es bis jetzt unglücklich gewesen ist.« »Das unglückliche Kind ist durch die Armut, in der es lebte, vielleicht so verdorben worden, daß der Fürst, statt sich zu ihm hingezogen zu fühlen…« »Was sagst du?« unterbrach Sarah ihren Bruder. »Ist sie nicht ein ebenso schönes junges Mädchen, als sie ein reizendes Kind war? Hat sich nicht Rudolf, ohne sie zu kennen, für sie interessiert?« »Es ist schade, daß man mir den Eintritt ins Gefängnis verweigert hat, wo sich, wie man sagt, das unglückliche Kind befindet; trotz meinen Bitten antwortete man mir auf keine Frage, weil ich kein Empfehlungsschreiben an den Direktor des Gefängnisses hatte. Ich schrieb in deinem Namen an den Präfekten, erhalte aber die Antwort wahrscheinlich erst morgen, und der Fürst wird sogleich hier sein. Noch einmal: Ich bedauere, daß du ihm deine Tochter nicht vorstellen kannst; es wäre besser gewesen, wenn man gewartet hätte, bis sie aus dem Gefängnis entlassen wurde, – ehe man den Großherzog hierher beschied.« »Warten! Weiß ich, ob die heilsame Krisis, die in meinem Zustand eingetreten ist, bis morgen anhält?« »Aber welche Beweise willst du dem Fürsten vorlegen? Wird er dir glauben?« »Er wird mir glauben, wenn er den Anfang der Enthüllung liest, die ich, nach den Worten jener Frau, niederschrieb. Er wird mir glau695
ben, wenn er die Briefe von dir, von Madame Seraphin und Jacob Ferrand bis zu dem angeblichen Tode des Kindes gelesen hat. Er wird mir glauben, wenn er die Geständnisse des Notars hört, wenn er das Porträt meiner Tochter sieht!« In diesem Augenblick hörte man einen Wagen in den Hof rollen. »Rudolf!« sagte Sarah zu Thomas Seyton. Dieser trat rasch an einen Vorhang, hob ihn empor und antwortete: »Ja, es ist der Fürst; er steigt eben aus dem Wagen.« »Laß mich allein!« sagte Sarah. Thomas Seyton zögerte einen Augenblick, ehe er das Zimmer verließ, dann trat er rasch zu seiner Schwester und sagte zu ihr: »Ich werde dem Fürsten mitteilen, wie deine Tochter, die er für tot gehalten, gerettet worden ist; für dich würde das Gespräch zu gefährlich sein.« »Deine Hand, Bruder!« Dann fragte sie mit ruhigem Lächeln: »Bin ich erregt?« »Nein, kein rascher Schlag!« entgegnete Seyton erstaunt. »Ich weiß, wie sehr du dich zu beherrschen vermagst, aber in einem solchen Augenblicke, wo es sich bei dir um eine Krone oder den Tod handelt…« »Warum dieser Zweifel, Bruder? Dieses Herz wird nur zittern, wenn ich die Fürstenkrone auf meiner Stirn fühle. – Ich höre Rudolf, verlaß mich!« Als Rudolf ins Zimmer trat, drückte sein Blick Mitleid aus; als er aber Sarah geschmückt auf dem Sessel sitzen sah, wich er erstaunt zurück, und sein Gesicht wurde finster und mißtrauisch. Die Gräfin erriet seine Gedanken und sagte mit weicher, schwacher Stimme: »Sie glaubten, mich dem Tode nahe zu finden und kamen, um mir ein letztes Lebewohl zu sagen?« »Ich habe die letzten Wünsche der Sterbenden stets für heilig gehalten; wenn es sich aber um eine Täuschung handelt…« 696
»Beruhigen Sie sich«, sagte Sarah, indem sie Rudolf unterbrach, »beruhigen Sie sich, ich habe Sie nicht getäuscht, – ich habe, glaube ich, nur noch wenige Stunden zu leben. Ach, endlich sehe ich Sie wieder nach einer siebzehnjährigen Trennung. Dank, Dank! Aber danken Sie auch dem Himmel, daß er Sie bewog, meine letzte Bitte zu erhören. – Wenn Sie sie nicht erfüllt hätten, würde ich ein Geheimnis mit mir nehmen, das Ihr Leben mit Freude und Glück erfüllen wird…« »Was meinen Sie?« fragte der Fürst überrascht. »Ich scheue mich, Ihnen ohne Vorbereitung eine so unglaubliche Entdeckung mitzuteilen. Auch die plötzliche Freude hat ihre Gefahr.« »Sie werden bleich«, sprach Rudolf, »es handelt sich, wie es scheint, um etwas Ernstes?« »Um etwas Ernstes und Feierliches«, entgegnete Sarah mit bewegter Stimme. Denn trotz ihrer gewöhnlichen Ruhe fühlte sie sich bei dem Gedanken an die hohe Bedeutung des Geheimnisses, das sie Rudolf mitteilen wollte, tiefer ergriffen, als sie es selbst für möglich gehalten hatte. Sie konnte sich deshalb nicht länger beherrschen und rief aus: »Rudolf, unsere Tochter lebt!« »Unsere Tochter…« »Sie lebt, sage ich Ihnen.« Diese Worte erschütterten den Fürsten bis ins Herz. »Unser Kind?« wiederholte er, indem er rasch an den Sessel Sarahs trat. »Ist nicht gestorben; ich habe unwiderlegliche Beweise, ich weiß, wo sie ist, und morgen werden Sie sie sehen.« »Meine Tochter! Meine Tochter!« wiederholte Rudolf staunend; »wäre es möglich, daß sie lebte?« Dann aber fürchtete er plötzlich das Opfer einer neuen Täuschung Sarahs zu werden und sagte: »Nein, nein, es ist ein Traum! Sie täuschen mich – es ist eine List, eine unwürdige Lüge!« 697
»Rudolf, hören Sie mich an!« »Nein – ich kenne Ihren Ehrgeiz, ich weiß, wessen Sie fähig sind und errate den Zweck dieser Täuschung.« »Ja, ich bin zu allem fähig. Ich wollte Sie täuschen, ein junges Mädchen für das ausgeben, das wir beweinten, aber Gott fügte es, daß ich in dem Augenblick, als ich mit diesem verbrecherischen Plane umging, von Mörderhand getroffen wurde…« »In diesem Augenblicke?« »Gott leitete es so, daß man mir zu dieser Rolle – wissen Sie wen? – unsere Tochter vorschlug.« »Sprechen Sie im Fieber?« »Nein, Rudolf. – In dem Kästchen da werden Sie, neben Briefen und einem Porträt, welche die Wahrheit beweisen, auch ein mit meinem Blut beflecktes Papier finden…« »Mit Ihrem Blute…« »Die Frau, die mir mitteilte, daß unsere Tochter noch lebe, diktierte mir ihre Enthüllungen, als mich ihr Dolchstoß traf.« »Wer war sie? – Woher wußte sie es?« »Ihr hatte man unsere Tochter als kleines Kind übergeben, nachdem man sie für tot ausgegeben hatte.« »Aber kann man dieser Frau auch glauben? Wo haben Sie sie kennengelernt?« »Ich sage Ihnen, es zeigt sich in allem die Hand der Vorsehung. Vor einigen Monaten hatten Sie ein junges Mädchen dem Elend entrissen und aufs Land geschickt, nicht wahr?« »Ja, nach Bouqueval.« »Eifersucht und Haß leiteten mich irre. Ich ließ das Mädchen durch die Frau, von der ich spreche, entführen…« »Und man hat das unglückliche Kind nach St. Lazare gebracht.« »Wo sie noch ist.« »Nein, sie ist nicht mehr da. – O, Sie wissen nicht, welches Unglück Sie angerichtet haben…« »Das junge Mädchen ist nicht mehr in St. Lazare?« sagte Sarah entsetzt, »und Sie sprechen von einem Unglück?« 698
»Einem Ungeheuer lag an dem Tode des Mädchens. Man hat es ertränkt!« »Mein Kind … ertränkt…?« unterbrach Sarah den Fürsten, indem sie sich erhob. »Mein Gott, was sagen Sie?« »Mein Kind…«, wiederholte Sarah, deren Gesicht Leichenblässe bedeckte und die entsetzlichste Verzweiflung ausdrückte, »man hat … mein Kind … ermordet?« »Die Schallerin war Ihre Tochter?« »Die Schallerin, ja, diesen Namen nannte mir die Frau«, wiederholte Sarah, die, noch immer unbeweglich, mit stierem Blicke dastand. »Sarah«, sprach Rudolf, jetzt so bleich, wie die Gräfin, »erholen Sie sich, antworten Sie mir! – Die Schallerin, die Sie entführen ließen, war…« »Unser Kind!« »Nein, nein, Sie sprechen im Fieber – es ist nicht möglich. – Sie wissen nicht, wie schrecklich das wäre. – Sarah, kommen Sie zu sich, sprechen Sie ruhig! – Ich mache Ihnen keine Vorwürfe, aber nennen Sie mir alle Gründe, die Sie zu dieser Annahme gebracht haben, denn es ist nicht möglich, nein, es kann, es darf nicht sein; es ist nicht möglich…« Nach einer Pause sammelte die Gräfin ihre Gedanken und sagte mit matter Stimme: »Als ich von Ihrer Vermählung erfuhr und mich selbst verheiraten wollte, konnte ich unser Kind nicht bei mir behalten. Es war damals vier Jahre alt…« »Um diese Zeit bat ich Sie, mir das Kind zu lassen«, fiel Rudolf ein, »und meine Briefe blieben unbeantwortet. Der einzige, den Sie mir schrieben, meldete mir seinen Tod.« »Ich wollte mich für Ihre Verachtung rächen und weigerte mich deshalb, Ihnen das Kind zu geben. – Es war unrecht, aber hören Sie mich an – ich fühle, daß mein Ende naht…« »Nein, nein, ich glaube Ihnen nicht, ich kann Ihnen nicht glauben. – Die Schallerin … meine Tochter? … Gott, das kannst du nicht 699
wollen…« »Hören Sie mich an! Als sie vier Jahre alt war, übergab mein Bruder unsere Tochter der Madame Seraphin, der Witwe seines ehemaligen Dieners, mit dem Auftrag, sie zu erziehen, bis sie in eine Pension gebracht werden könne. Die Summe, die bestimmt war, die Zukunft des Kindes zu sichern, vertraute er einem durch seine Redlichkeit bekannten Notar an. Die Briefe dieses Mannes und der Madame Seraphin liegen in diesem Kästchen. Nach einem Jahre schrieb man mir, der Gesundheitszustand des Kindes verschlimmere sich, und nach acht Monaten meldete man mir den Tod. Um diese Zeit trat Madame Seraphin in den Dienst Jacob Ferrands, nachdem sie unser Kind, durch Vermittlung eines Elenden, der sich jetzt im Bagno zu Rochefort befindet, der Eule übergeben hatte. Ich fing an, diese Aussagen der Eule niederzuschreiben, als sie mir den Dolch in den Rücken stieß. Prüfen Sie alles: die Briefe, die Aussage, das Porträt und beurteilen Sie…« Sarah konnte nicht vollenden sie sank halb ohnmächtig, in den Sessel. Rudolf trat mit einer entsetzlichen Ruhe, die Sarah erschreckte, an den Tisch, öffnete das Kästchen, las die Briefe, einen nach dem anderen, und prüfte mit der größten Aufmerksamkeit die anderen Papiere. Diese Briefe bezogen sich auf die Kindheit der Marienblume und auf das Geld, das für sie bestimmt war. An der Echtheit dieser Briefe konnte Rudolf nicht zweifeln. Die Aussagen der Eule wurden durch die Angaben bestätigt, die Rudolf selbst ermittelt hatte, und die einen gewissen Peter Tournemine, Sträfling im Rochefort, als denjenigen bezeichneten, der Marienblume aus den Händen der Madame Seraphin empfangen hatte, um sie der Eule zu übergeben. Rudolf konnte nicht länger zweifeln. Er erlangte mit wachsender Angst die furchtbare Überzeugung, daß die Schallerin wirklich seine Tochter sei. Und, nach seinen Ermittlungen, war sie tot… 700
Der Fürst hatte, bevor er Ferrand bestrafte, in Asnières Erkundigungen einziehen lassen und erfahren, daß wirklich zwei Frauen, eine alte und eine junge, auf der Fahrt nach der Insel des Aussuchers ertrunken, und daß die Martials die Schuldigen wären. Trotz der Pflege des Doktors Griffon, des Grafen von St, Remy und der Wölfin hatte Marienblume in der Tat sehr lange gefährlich krank gelegen, und ihre körperliche und geistige Schwäche war noch immer so groß, daß sie weder Madame Georges noch Rudolf eine Nachricht hatte geben können. Rudolf hatte also keine Hoffnung mehr. Er sank gebrochen auf einen Stuhl und bedeckte schluchzend sein Gesicht mit beiden Händen.
CXXXIII
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arah lag, vom Fieber geschüttelt, die beiden Hände fest auf die Knie gedrückt, stier vor sich hinstarrend, auf dem Sessel und wartete mit Entsetzen auf Rudolfs erstes Wort. Sie kannte die Heftigkeit des Fürsten und ahnte, daß auf den Schmerz, der diesem so unbeugsamen Manne Tränen erpreßte, eine entsetzliche Reaktion folgen würde. Mit einem Male richtete Rudolf den Kopf empor, stand auf, trat mit drohender, erbarmungsloser Miene zu der Gräfin, sah sie einige Augenblicke schweigend an und sprach dann mit dumpfer Stimme: »Es mußte so kommen … ich habe das Schwert gegen meinen Vater gezogen und werde nun in meinem Kinde gestraft. Hören Sie mich an, Madame!« »Ach, grauenvoller Tag!« »Sie müssen alles erfahren, was Sie durch Ihren ruchlosen Ehrgeiz heraufbeschworen haben! Hören Sie es, Weib ohne Herz … entar701
tete Mutter!« »Gnade, Rudolf…« »Gnade für Sie, die Sie dem Sohn die Waffe gegen den Vater in die Hand gegeben haben? Die Sie Ihr Kind fremden Händen überließen, um Ihre Habsucht durch eine reiche Heirat zu befriedigen, wie Sie Ihren maßlosen Ehrgeiz zu stillen suchten, indem Sie mich bewegen wollten, Ihnen meine Hand zu reichen? Nein! Keine Gnade! Fluch über Sie, daß Sie mein Kind meiner Liebe vorenthalten und es in den Tod gestürzt haben! Fluch über Sie! Sie waren mein und meiner Familie böser Geist!« »Üben Sie Erbarmen, trotz allem!« »Denken Sie an den letzten Tag, an dem ich Sie sah – vor siebzehn Jahren! Ich trotzte dem Zorn meines Vaters und erklärte ihm, daß Sie, vor Gott und den Menschen, meine Gattin wären. Mein Vater wollte an meine Ehe mit Ihnen nicht glauben, denn solche Kühnheit dünkte ihm unfaßlich… Ich antwortete meinem Vater, daß ich nie eine andere Frau lieben würde als Sie. Bei diesen Worten kannte sein Zorn keine Grenzen mehr; er erklärte, daß unsere Ehe null und nichtig sei und schwor, Sie zur Strafe öffentlich an den Pranger zu stellen. In meiner rücksichtslosen Leidenschaft wagte ich, meinem Vater zu drohen. Da erhob mein Vater die Hand – der Wahnsinn blendete mich – ich zog meinen Degen und stürzte mich auf ihn. Ohne Murph, der den Stoß ablenkte, wäre ich ein Vatermörder geworden … um Ihretwillen, hören Sie!« »Das … wußte ich nicht…« »Vergebens habe ich bisher zu büßen geglaubt – das Unglück, das mich jetzt trifft, ist meine Strafe!« »Habe ich nicht auch durch die Härte Ihres Vaters gelitten? Warum beschuldigen Sie mich, ich hätte Sie nicht geliebt…« »Warum?« entgegnete Rudolf, indem er Sarah einen Blick voll vernichtender Verachtung zuwarf. »Sie sollen es hören und sich nicht mehr über den Abscheu wundern, den Sie mir einflößen. Nach jenem Auftritt wurde ich gefangengehalten und Polidori verhaftet. Er wies nach, daß die Verbindung null und nichtig sei, daß der Geist702
liche, der uns getraut hatte, kein Geistlicher gewesen war, daß Sie, Ihr Bruder und ich hintergangen worden wären. Polidori tat, um den Zorn meines Vaters zu entwaffnen, noch mehr: er übergab ihm einen Ihrer Briefe an Ihren Bruder!« »Das ist ja … nicht … möglich!« »In diesem Briefe sprachen Sie ohne alle Scheu über Ihre ehrgeizigen Pläne, Sie behandelten mich mit eiskalter Verachtung und opferten mich Ihrem unersättlichen Ehrgeiz. Ich war nur Werkzeug in Ihren Händen, und Sie wagten sogar auszusprechen, daß mein Vater zu lange lebe.« »Ich Unglückliche! – Jetzt begreife ich alles.« »Und um Sie zu verteidigen, hatte ich das Leben meines Vaters bedroht! Als er mir, ohne mir irgendeinen Vorwurf zu machen, diesen Brief zeigte, der in jeder Zeile Ihre Schlechtigkeit enthüllte, konnte ich nur auf meine Knie sinken und um Gnade und Verzeihung bitten. Seit diesem Tage begann ich die Buße, die ich mir auferlegt hatte. Sie wird nur mit meinem Leben enden. Ich habe mir geschworen, das Gute zu belohnen, das Böse zu verfolgen und den Leidenden zu helfen…« »Und … was … geschah?« »Sie werden es bald erfahren… Ich kehrte, nach langen Reisen, nach Deutschland zurück, gehorchte bereitwillig dem Wunsche meines Vaters und heiratete eine deutsche Prinzessin. Während meiner Abwesenheit waren Sie aus dem Großherzogtum verwiesen worden. Als ich später erfuhr, daß Sie sich mit dem Grafen MacGregor verheiratet hätten, forderte ich meine Tochter dringend von Ihnen zurück; Sie antworteten mir nicht, und trotz allen meinen Bemühungen konnte ich nicht ermitteln, wohin Sie das unglückliche Kind gebracht hatten, für dessen Zukunft mein Vater freigebig gesorgt hatte. Vor zehn Jahren endlich meldete mir ein Brief von Ihnen, daß unsere Tochter gestorben sei. Ach, daß sie damals wirklich gestorben wäre!« »Ich wünschte auch mir den Tod«, entgegnete Sarah mit schwacher Stimme, »und ich fühle, daß … dieser Wunsch … sich bald erfüllen wird…« 703
»Ehe Sie sterben, sollen Sie noch erfahren, welches Leben Ihre Tochter geführt hat, seitdem Sie sie verlassen haben!« »Das arme Kind…« »Erinnern Sie sich«, fuhr Rudolf mit furchtbarer Ruhe fort, »jener Nacht, in der Sie mir mit Ihrem Bruder in ein Wirtshaus in der Cité gefolgt waren?« »Ich erinnere mich…« »Auf dem Wege sahen Sie unglückliche Geschöpfe, die ihr Leben fristeten, indem sie Männer … indem sie sich … verkauften. Haben Sie ein junges, sechzehnjähriges Mädchen darunter bemerkt, schön wie ein Engel, ein armes Kind, das sich in all dem Schmutz so rein gehalten, daß Diebe und Mörder, Madame, ihr den Beinamen Marienblume gegeben hatten. Haben Sie das junge Mädchen bemerkt, zärtliche Mutter?« »Nein…« »Und Sie erraten auch nicht, wer Marienblume war?« »Töten Sie mich, doch sprechen Sie es nicht aus.« »Warum nicht? – Marienblume war die Schallerin, und die Schallerin war – Ihre Tochter, Madame! Ja, diese Unglückliche, die ich den Händen eines ehemaligen Galeerensträflings entriß, war mein Kind – die Tochter Rudolfs von Gerolstein!« »Ich sterbe verflucht und verdammt«, flüsterte Sarah, indem sie ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckte. »Dann«, fuhr Rudolf, der vergebens das Schluchzen zu unterdrücken suchte, das seine Stimme erstickte, fort, »als ich sie den Mißhandlungen entzogen hatte, mit denen man ihr drohte, hörte ich die entsetzliche Erzählung von ihrem verlassenen, schmerzensreichen, elenden Leben! Denn, Madame, das Leben Ihrer Tochter ist grauenhaft gewesen. Während Sie, umgeben von Reichtum, von einer Krone träumten, bettelte Ihre Tochter in Lumpen in den Straßen, litt Hunger und Kälte…« »Reden Sie nicht weiter – haben Sie Mitleid…« »Hören Sie nur! Mit acht Jahren kam Ihre Tochter ins – Gefängnis. Dort dankte sie Gott jeden Abend, daß sie nicht mehr geschlagen 704
wurde. Dann wurde sie, unschuldig und rein, schön und unverdorben, mitten in den Schmutz der Stadt hinausgestoßen… Selbst Sie würden geweint haben, wenn Sie die Erzählung Ihrer Tochter gehört hätten! … Armes Kind, befleckt, doch unverdorben, keusch noch im Laster, das für sie ein grauenvoller Traum war…« Rudolf konnte nicht vollenden; er sagte nur: »Und das war mein Kind, mein Kind!« »Ich … bin … verflucht!« flüsterte Sarah, die das Gesicht mit den Händen bedeckte, als scheute sie sich, das Tageslicht zu sehen. »Ja! Denn Sie haben das Kind ins Unglück gestürzt… Sie haben die Seele und den Leib Ihres – meines Kindes – gemordet!« Sarah bemerkte, trotz ihrer zunehmenden Schwäche, mit Grauen den Ausdruck des Fürsten; sie fürchtete für sich und flüsterte mit zitternder Stimme. »Ach, mein Gott, leide ich noch nicht genug?« »Nein, noch nicht genug!« Der Fürst eilte zur Türe. »Wohin gehen Sie? Verlassen Sie mich nicht!« rief Sarah, indem sie sich halb aufrichtete und ihm die Hände flehentlich entgegenstreckte; »lassen Sie mich nicht allein, ich sterbe.« »Allein? … Sehen Sie nicht den Schatten Ihrer Tochter, deren Tod Sie veranlaßt haben?« Sarah sank, mit einem Schrei des Entsetzens, auf ihre Knie. »Erbarmen! – Ich sterbe.« »So sterben Sie, beladen mit meinem Fluch!« entgegnete Rudolf. »Jetzt fordere ich das Leben Ihres Mitschuldigen, denn Sie haben Ihre Tochter dem Henker überliefert.« – Rudolf befahl seinem Kutscher, ihn zu Ferrand zu fahren.
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errand hatte sich, nachdem Polidori ihn zur Ader gelassen, ins Bett begeben. Sein bläulich blasses Gesicht war von kaltem Schweiß überströmt, seine geschlossenen Augenlider waren so aufgeschwollen, daß er sie nur mit Mühe heben konnte. »Noch ein so heftiger Anfall wie dieser, und er ist tot«, sagte Polidori leise. Dann ging er langsam in dem Zimmer auf und ab. Draußen tobte ein Gewitter. Der Wind heulte und pfiff und warf den Regen ans Fenster, als wollte er es zertrümmern. Polidori war trotz seiner Verworfenheit abergläubisch; düstere Ahnungen ängstigten ihn, und das Brüllen des Sturmes erregte in ihm ein Grauen, gegen das er sich vergeblich wehrte. Um diese schauerlichen Gedanken zu bannen, untersuchte er die Züge seines Kranken. Dann schauderte er vor Ekel und trat zurück. In diesem Augenblick hatte der Sturm den höchsten Grad der Wut erreicht, und ein Schornstein, den der Orkan erfaßt hatte, stürzte mit Donnergetöse in den Hof. Jacob Ferrand wurde aus seiner Erstarrung gerissen und machte eine Bewegung. »Polidori –«, murmelte er, »Polidori, was ist das für ein Lärm?« »Ein Schornstein ist eingestürzt«, antwortete Polidori leise, um das schmerzhaft empfindliche Gehör seines Mitschuldigen nicht zu verletzen, »es ist eine grauenvolle Nacht.« Der Notar wandte den Kopf und fragte wieder: »Polidori, bist du nicht da?« »Ja, ja, ich bin da«, sagte Polidori. »Jetzt höre ich dich.« Nach einer Weile begann er wieder, und seine Augen richteten sich stier auf einen Punkt: »Jetzt sehe ich dort – dort eine weiße Gestalt…« Er streckte den Finger aus. »Schweig, Unglücklicher.« 706
»Da – da ist sie!« »Jacob, es ist niemand!« »O, ich sehe sie … wie schön sie ist… Wie ihr schwarzes Haar um die Schultern flattert!… Und ihre kleinen Zähne, welche Perlen! Ach, und ihre großen Augen funkeln… Cecily! Cecily! Ich bete dich an!« »Jacob! Höre mich!« »O, ewige Verdammnis! Sie in alle Ewigkeit so zu sehen!« »Jacob«, sagte Polidori ängstlich, »reize dein Fieber nicht mit solchen Trugbildern!« »Es ist kein Trugbild.« »Nimm dich in acht!« »Ach, Cecily, du bist schön. – Warum diese teuflische Lockung, die mir das Blut durchglüht? … Ach, verfluchte Furie, soll ich sterben? … Hör auf, hör auf – oder ich erwürge dich!« schrie der Notar im Wahnsinn. »Du bringst dich selbst um«, warnte Polidori, indem er den Notar schüttelte. Jacob stieß einen gellenden Schmerzensschrei aus und sank zurück. »Was hast du?« »Lösch das Licht aus – ich kann es nicht ertragen!« »Wie?« sagte Polidori, »es ist nur eine Lampe, die ganz matt leuchtet.« »Ich sage dir, der Glanz wird heller, da – noch immer – immer. O, das ist zuviel…« »Das Zimmer ist fast dunkel, sage ich dir; ich habe das Licht noch mehr gedämpft; schlage nur die Augen auf, und du wirst dich überzeugen.« »Die Augen aufschlagen! Hier – da – überall, Feuerstrahlen – tausend blendende Funken!« rief der Notar, indem er sich aufsetzte und die Hände auf die Augen legte. »Ich bin geblendet! – Das Licht – lösch die Lampe aus – ihre Flamme ist nicht zu ertragen!« Polidori löschte erschrocken rasch die Lampe aus. Beide waren im tiefsten Dunkel. 707
In diesem Augenblick hörte man einen Wagen vor der Türe des Hauses halten. »Warum hast du so lange gezögert?« fragte Ferrand. »Wolltest du mich Höllenqualen leiden lassen?« »Jetzt hast du weniger Schmerzen…« »Ich fühle noch immer einen heftigen Reiz, aber es ist nichts im Vergleich mit dem, was ich eben erduldet habe!« Dann herrschte eine Weile Schweigen. »Wohin willst du?« fragte Polidori plötzlich, als er hörte, daß Jacob Ferrand aufstand. »Zu Cecily…« »Du wirst nicht fortgehen, der Anblick ihres Zimmers würde dich töten!« »Cecily erwartet mich…« »Du wirst nicht gehen, ich halte dich!« sagte Polidori, indem er den Arm Ferrands ergriff. »Du willst mich hindern, zu Cecily zu gehen?« »Ja…« »Cecily ist oben – sie erwartet mich. – Laß mich los – nimm dich in acht, meine Klauen sind scharf!« »Du wirst hierbleiben, ich binde dich sonst fest wie einen Tobsüchtigen!« »Polidori, höre mich an…« »Still!« rief plötzlich Polidori, indem er lauschte. »Ich höre – im Hof sprechen.« »Du willst mich täuschen…« »Ich höre sprechen, sage ich dir…« »Ich lasse mich von dir nicht irreführen.« »So höre doch; hörst du nichts?« »Laß mich, Cecily ruft! Nimm dich in acht, sage ich dir, nimm dich in acht!« »Du wirst das Zimmer nicht verlassen!« »Hinderst du mich, zu Cecily zu gehen, so mußt du sterben!« Polidori stieß einen Schrei aus. 708
»Du hast mich am Arm verwundet, aber deine Hand war nicht fest. – Die Wunde ist leicht, du entgehst mir doch nicht.« »Deine Wunde ist tödlich, ich habe dich mit Cecilys Dolch gestochen… Du wirst sterben… Warum wolltest du mich hindern, zu Cecily zu gehen?« »Hilfe! Hilfe!« rief Polidori, indem er seine Kräfte zu einem letzten Schrei zusammenraffte. Dann sank er zu Boden. Der Lärm einer Glastüre, die so gewaltsam aufgerissen wurde, daß mehrere Scheiben in Scherben flogen, die laute Stimme Rudolfs und das Geräusch eiliger Schritte schienen dem Angstruf Polidoris zu antworten. Ferrand, der endlich das Türschloß gefunden hatte, riß jetzt die Türe auf und stürzte, den gefährlichen Dolch in der Hand, ins Nebenzimmer. In demselben Augenblicke trat der Fürst drohend und furchtbar wie ein Dämon der Rache von der entgegengesetzten Seite ein. »Elender!« rief er, indem er auf Ferrand zutrat. »Du hast meine Tochter ermordet, du wirst…« Der Fürst vollendete nicht; er wich entsetzt zurück. Sein Wort schien Ferrand wie ein Blitzstrahl getroffen zu haben. Er warf den Dolch weg, fuhr mit beiden Händen nach den Augen, stürzte mit dem Gesicht auf den Boden nieder und stieß einen Schrei aus, der nichts Menschliches mehr hatte. Er wand und krümmte sich in gräßlichen Zuckungen und zerkratzte mit seinen Nägeln den Fußboden. Rudolf befahl, ihn aufzuheben und auf ein Sofa zu tragen. Nach einiger Zeit ließ der Anfall etwas nach. Die Augen, die bis dahin fest geschlossen gewesen waren, öffneten sich plötzlich, und die Pupillen schienen außerordentlich vergrößert. Eine plötzliche, zuckende Bewegung warf ihn vom Sofa herunter. Er wollte aufstehen und gehen, aber die Kräfte versagten ihm, und er kroch wie ein Wurm auf Händen und Knien – hierhin und dorthin, ruhelos. Endlich kauerte er sich in einer Ecke des Zimmers zusammen. Sein 709
heiseres Geschrei, sein Zähneknirschen und sein flammender Blick gaben ihm mehr Ähnlichkeit mit einer Bestie als mit einem Menschen. Nachdem er eine Weile kaum noch verständliche Worte gelallt hatte, begann er, dumpfe, röchelnde Schreie auszustoßen. Obgleich seine Kräfte erschöpft waren, tat er doch bisweilen noch einen krampfhaften Sprung, dann hielt er wieder inne und schien aufmerksam zu lauschen. Mit einem Male aber sank er zurück, sein Körper brach zusammen, sein Haar sträubte sich, sein Blick wurde stier, Angst verzerrte seinen Mund, er streckte die beiden Hände aus und schien mit einem unsichtbaren Wesen zu kämpfen. Seine fahle Stirn war mit kaltem Schweiß bedeckt, seine Augen wurden matt und glasig. Es zeigten sich alle Symptome der Agonie. Rudolf und die anderen Zeugen dieser Szene standen stumm und unbeweglich da, wie vor einer lähmenden Vision. Plötzlich begannen wieder gräßliche Zuckungen Ferrands Gesicht zu verzerren; ein blutiger Schaum trat auf seine Lippen; die Augen quollen aus den Höhlen, und der Atem wurde schnell und pfeifend. Dann verlosch das unselige Leben dieses Unmenschen. Schaudernd begab sich Rudolf fort.
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m Frauensaal des Krankenhauses, in dem Doktor Griffon als leitender Arzt tätig war, trat zur Nachtzeit eine barmherzige Schwester, deren große, weiße Haube im Licht der Lampe schimmerte, die sie in der Hand trug, an eines der letzten Betten in der rechten Reihe. 710
Einige der Kranken fuhren aus dem Schlaf hoch, setzten sich auf und lauschten aufmerksam. Bald öffneten sich die beiden Flügel der Türe. Ein Geistlicher mit einem Kruzifix erschien, und die beiden Schwestern knieten nieder. Der Geistliche beugte sich über das Bett und betete. Er bedeckte das Bett mit einem Tuch und entfernte sich. Eine der Schwestern stand auf und zog die Vorhänge zusammen; dann betete sie wieder neben ihrer Gefährtin. Unter den Frauen, die dieser stummen Szene beigewohnt hatten, befanden sich drei Personen, die uns nicht fremd sind: die Lothringerin, eine arme Wäscherin, der Marienblume geholfen hatte, und Johanna Duport, die Schwester des Spitzigen, aus dem Gefängnis La Force. Die Lothringerin war eine Frau von etwa zwanzig Jahren mit sanftem und bleichem Gesicht. Sie stand im letzten Stadium der Schwindsucht und verlosch allmählich. Der Raum, der die Betten der beiden Frauen trennte, war so schmal, daß sie leise miteinander sprechen konnten, ohne von den Schwestern gehört zu werden. »So ist wieder eine dahin«, sagte die Lothringerin. »Sie leidet nicht mehr, sie ist glücklich.« »Sie ist glücklich, sie hat kein Kind«, antwortete Johanna. »Wie geht es Ihnen, Nachbarin«, fragte die Lothringerin. »Ich danke; ich leide etwas weniger.« Das Gespräch verstummte, und die beiden schienen einzuschlummern. Als sie erwachten, war es Tag geworden. Johanna begrüßte ihre Nachbarin mit der Frage: »Wann kommt der Oberarzt, Lothringerin?« »Still! Ich glaube, er kommt eben. Wenn er da ist, darf nicht gesprochen werden.« Eine lärmende Bewegung kündigte das Erscheinen des Doktors Griffon an, der bald mit seinem Freund, dem Grafen von St. Remy, eintrat, der weit entfernt war zu vermuten, die Tochter der Frau von 711
Fermont hier zu finden. Als der Doktor in den Saal trat, schienen sich seine Züge aufzuheitern; er sah sich zufrieden um und beantwortete den Gruß der Schwestern mit einem freundlichen Kopfnicken. In dem ernsten Gesicht des alten Grafen lag tiefe Trauer. Seine vergeblichen Bemühungen, die Spur der Frau von Fermont zu finden, und die schmachvolle Feigheit des Vicomte, der dem Tod ein mit Schande belastetes Leben vorgezogen hatte, erfüllten sein Herz mit schwerem Kummer. »Nun«, sagte der Doktor mit Stolz, »wie gefällt Ihnen mein Krankenhaus?« »Ich weiß wirklich nicht«, antwortete der Graf, »warum ich Ihrem Wunsche nachgegeben habe; es gibt keinen traurigeren Anblick als diese Säle voller Kranker.« »Bah! In einer Viertelstunde ist das vergessen. Sie sind doch Philosoph, und dann war es wirklich schon beinahe ein Skandal, daß Sie, einer meiner ältesten Freunde, den Schauplatz meiner Arbeit nicht kannten!« Der Graf wählte ein anderes Thema und fragte: »Glauben Sie, daß man Ihrer kleinen Patientin in Asnières erlauben darf, ein paar Zeilen zu schreiben?« Nach kurzem Bedenken antwortete der Doktor: »Ja. – Solange das Subjekt nicht vollkommen wiederhergestellt war, fürchtete ich die geringste Aufregung, die leiseste geistige Anstrengung. Jetzt sehe ich nichts, was das Schreiben gefährlich machen könnte.« »Sie wird also endlich die Personen benachrichtigen können, die sich um sie sorgen.« »Allerdings. – Und haben Sie etwas über Frau von Fermont und deren Tochter erfahren?« »Nichts«, antwortete der Graf seufzend. »Meine Nachforschungen sind ohne Erfolg geblieben. Ich setze meine letzte Hoffnung auf die Marquise von Harville, die sich, wie man mir gesagt hat, für die beiden Unglücklichen interessiert. Ich habe ihr geschrieben und sie ge712
beten, mir so bald als möglich zu antworten.« Während dieses Gesprächs hatten sich allmählich mehrere Gruppen um eine große Tafel in der Mitte des Saales gebildet. Eine Anzahl Studierender fand sich ebenfalls ein, um sich der wissenschaftlichen Begleitung des Doktors anzuschließen, der einige Minuten früher als sonst gekommen war. »Sie sehen, lieber Saint Remy, daß mein Generalstab ziemlich beträchtlich ist«, sagte der Doktor mit Stolz, indem er auf die Menge zeigte, die seinem praktischen Unterricht beiwohnen wollte. Dann wandte er sich an die Hörer und sagte: »Kommen Sie, meine Herren!« Bei dem ersten Bett, dessen Vorhänge zugezogen waren, berichtete die Schwester: »Herr Doktor, Nr. 1 ist diese Nacht, halb fünf Uhr, gestorben.« »So spät? Das wundert mich. Gestern früh hätte ich ihr kaum noch vierundzwanzig Stunden gegeben. Hat man die Leiche reklamiert?« »Nein, Herr Doktor.« »Desto besser!« Dann wandte er sich an einen seiner Schüler und sagte: »Mein lieber Dunoyer, Sie wünschen schon lange ein Subjekt. Sie stehen auf der Liste oben an: Dieser Kadaver gehört Ihnen.« »Sie sind sehr gütig, Herr Doktor.« Der Schüler schnitt mit dem Skalpell ein zierliches F. und D. (Franz Dunoyer) auf den Arm der Verstorbenen, um, wie der Doktor es nannte, von der Leiche Besitz zu ergreifen. »Lothringerin«, sagte Johanna Duport leise zu ihrer Nachbarin, »wer sind denn die vielen Leute, die den Doktor begleiten?« »Studenten.« »Ach, du lieber Gott, und die werden alle dabei sein, wenn der Arzt mich ausfragt und untersucht?« »Leider ja.« »Vor dem Arzte allein lasse ich es gelten. Aber warum vor allen diesen jungen Leuten?« »Sie lernen an den Kranken. Was können wir tun? Wir werden ja nur unter dieser Bedingung aufgenommen.« 713
»Ich verstehe«, sagte Johanna Duport bitter, »man gibt uns Armen nichts umsonst.« »Still, Johanna, der Arzt kommt!« sagte die Lothringerin.
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achdem der Doktor schnell mehrere Kranke besucht hatte, die ihm nichts Merkwürdiges darboten, kam er endlich bei Johanna Duport an. Beim Anblick der eifrigen Menge, die begierig zu sehen und zu lernen sich um ihr Bett drängte, hüllte sich die unglückliche Frau, die vor Scham und Furcht zitterte, fest in die Bettdecke. »Ein neues Subjekt!« sagte der Doktor, indem er das Täfelchen überblickte, auf dem die Krankheit der Frau verzeichnet war. Dann warf er einen langen, forschenden Blick auf Johanna. Es herrschte eine tiefe Stille, während die Studierenden die Kranke neugierig betrachteten. Nach mehreren Minuten trat der Doktor dicht an Johanna heran, drückte mit dem Finger ihr Augenlid zurück und betrachtete schweigend das Auge. Endlich begann der Doktor: »Ihr Name?« »Johanna Duport.« »Ihr Alter?« »Sechsunddreißig.« »Lauter! – Geburtsort!« »Paris.« »Ihr Stand?« »Fransenmacherin.« »Sind sie verheiratet?« 714
»Ach ja, Herr Doktor«, antwortete Johanna Duport mit einem tiefen Seufzer. »Seit wann?« »Seit achtzehn Jahren.« »Haben Sie Kinder?« Die arme Mutter ließ jetzt, statt zu antworten, den lange zurückgehaltenen Tränen freien Lauf. »Hier ist nicht der Ort, zu weinen. Antworten Sie! Haben Sie Kinder?« »Ja, Herr Doktor, zwei Knaben und eine Tochter von sechzehn Jahren.« Nun folgten mehrere Fragen, die Johanna stammelnd beantwortete, nachdem sie der Doktor mehrmals streng dazu aufgefordert hatte. Der Doktor, der einzig und allein mit seiner Wissenschaft beschäftigt war, dachte nicht im entferntesten an die Verlegenheit Johannas und fuhr fort: »Seit wie lange sind Sie krank?« »Seit vier Tagen«, antwortete Johanna, indem sie ihre Tränen trocknete. »Erzählen Sie, wie Ihre Krankheit sich gezeigt hat!« »Herr Doktor, ich wage nicht…« »Wo kommen Sie her, gute Frau?« fragte der Doktor ungeduldig. »Soll ich einen Beichtstuhl bringen lassen? Reden Sie und halten Sie uns nicht auf!« »Ach Gott, Herr Doktor, das sind Familienangelegenheiten.« »Wir sind hier auch in Familie, in einer zahlreichen Familie, wie Sie sehen«, antwortete der Fürst der Wissenschaft, der an diesem Tage sehr gut gelaunt war. – »Reden Sie!« Johanna sagte, mehr und mehr eingeschüchtert, und bei jedem Worte zögernd: »Ich hatte – einen Zank mit meinem Manne – wegen meiner ältesten Tochter, die er mit sich fortnehmen wollte. Das wollte ich nicht zugeben, Herr Doktor, wegen einer Frau, mit der er lebte, und 715
die meiner Tochter ein schlechtes Beispiel geben konnte. – Da hat mich mein Mann – der betrunken war – sehr stark gestoßen; ich fiel, und – bald darauf spuckte ich Blut.« »Ihr Mann hat Sie gestoßen und Sie sind gefallen? Sie sagen nicht die Wahrheit; er muß Sie mehrmals auf die Brust geschlagen haben, vielleicht hat er Sie sogar mit den Füßen getreten? – Antworten Sie!« »Herr Doktor, er war betrunken, sonst würde er nicht so schlecht gewesen sein.« »Gut oder schlecht, betrunken oder nicht, davon ist nicht die Rede; ich will nur wissen, wie die Sache gewesen ist; Sie wurden niedergeworfen und mit den Füßen getreten, nicht wahr?« »Ach ja, Herr Doktor«, sagte Johanna, der die Tränen über die Wangen strömten. »Die Magengegend ist schmerzhaft? Sie fühlen Mattigkeit, Übelkeit?« »Ja, Herr Doktor. – Ich kam erst hierher, als mich alle Kräfte verließen.« »Ihre Zunge!« Nachdem er die Zunge durch seine Schüler hatte betasten und untersuchen lassen, damit sie sich von der Farbe und Trockenheit überzeugen konnten, sammelte der Doktor sich einen Augenblick. Johanna nahm allen Mut zusammen und sagte mit zitternder Stimme: »Herr Doktor… Nachbarn, die so arm sind wie ich, haben zwei meiner Kinder zu sich genommen, aber nur auf acht Tage. – Das ist schon viel. – Nach dieser Zeit muß ich nach Hause zurückkehren. – Ich bitte Sie deshalb um der Liebe Gottes willen, stellen Sie mich so bald als möglich her, daß ich nur aufstehen und arbeiten kann…« »Harter und rascher Puls«, sagte der Doktor unerschütterlich, indem er auf Johanna zeigte. »Das Subjekt hat heftige Stöße in den Unterleib erhalten; das Blutbrechen ist notwendig durch eine organische Verletzung gewisser Eingeweide verursacht. Ich richte dabei Ihre Aufmerksamkeit auf einen sehr interessanten Punkt. Die Sektionen von Subjekten, die an der Krankheit starben, an der die716
se Frau da leidet, bieten sehr verschiedenartige Resultate. Oft rafft die sehr heftige Krankheit den Patienten in wenigen Tagen hinweg, und man findet durchaus keine Spur von ihrer Existenz, während in anderen Fällen Milz, Leber und Pankreas mehr oder minder bedeutende Verletzungen zeigen. Wahrscheinlich hat das Subjekt einige solcher Verletzungen erlitten; wir wollen uns deshalb davon zu überzeugen suchen!« Mit einer raschen Bewegung warf der Doktor die Bettdecke zurück und entblößte so Johanna Duport fast gänzlich. Die Unglückliche schluchzte und bat den Doktor um Schonung. Aber nach der Drohung: »Man wird Sie aus dem Hospital weisen, wenn Sie sich den bestehenden Vorschriften nicht unterwerfen«, erduldete Johanna die öffentliche Untersuchung, die sehr lange dauerte, denn der Doktor analysierte jedes Symptom, und die eifrigsten seiner Schüler wollten Praxis mit Theorie verbinden und sich selbst von dem Zustand des Subjektes überzeugen. Der Umgang wurde fortgesetzt. Der Doktor kam an das Bett des Fräuleins von Fermont. Klara von Fermont ließ den Kopf matt auf dem Kissen ruhen. Trotz der Krankheit und ihren Folgen erkannte man in dem lieblichen Gesicht die Spuren einer seltenen Schönheit. Das arme Kind war nach einer in heftigen Schmerzen verbrachten Nacht in eine Art Halbschlaf gesunken, ehe der Doktor mit seinem Gefolge in den Saal getreten war. Auch hatte das Geräusch sie noch nicht geweckt. »Ein neues Subjekt, meine Herren«, sagte der Arzt, indem er das Täfelchen überblickte, das ein Schüler ihm vorhielt. Er rüttelte Fräulein von Fermont leicht an der Achsel, um sie zu wecken. Das junge Mädchen erschrak und schlug die großen, tief eingesunkenen Augen auf. Während eine Anzahl junger Männer um ihr Bett stand und sie betrachtete, fühlte sie die Hand des Doktors, die nach ihrem Puls faßte. 717
Klara von Fermont stieß einen Angstschrei aus. In dem Augenblick, in dem der alte Graf von St. Remy aufsprang – denn er erkannte diese Stimme – wurde die Tür geöffnet, und es trat eine schwarz gekleidete junge Dame in Begleitung des Direktors ein. Die Dame war die Marquise von Harville. »Ich bitte Sie dringend, mein Herr«, sagte sie in größter Angst, »führen Sie mich zu Fräulein von Fermont!« »Wollen Sie mir, bitte, folgen, Frau Marquise«, antwortete der Direktor. »Das Mädchen liegt in Bett Nr. 17 dieses Saales.« Die Marquise näherte sich schnell der Gruppe, die sich an dem Bette Klaras gebildet hatte, als sie die Worte hörte: »Ich sage Ihnen, das ist ein schändlicher Mord! Sie werden sie ums Leben bringen.« »Aber, mein lieber St. Remy, so hören Sie mich doch nur an…« »Ich wiederhole Ihnen, daß Ihr Benehmen unerhört ist. Ich betrachte Fräulein von Fermont als meine Tochter und verbiete Ihnen, die Untersuchung hier in aller Öffentlichkeit zu beginnen. Ich werde sie augenblicklich fortbringen lassen.« »Aber, lieber Freund, es handelt sich um ein sehr seltenes, nervöses Fieber. – Ich wollte einen Versuch mit Phosphor machen. Es war eine einzige Gelegenheit. Erlauben Sie mir wenigstens, daß ich sie behandle. Wohin Sie das Mädchen bringen, ist mir gleichgültig, da Sie meiner Klinik ein so kostbares Subjekt entziehen.« »Wenn Sie nicht ein Narr wären, wären Sie ein Unmensch«, entgegnete der Graf. Clémence hörte diese Worte mit wachsender Angst, aber die jungen Männer standen so dichtgedrängt um das Bett, daß der Direktor mit lauter Stimme sagen mußte: »Platz, meine Herren, für die Marquise von Harville, die Nr. 17 sehen will.« Bei diesen Worten traten die Schüler des Doktors auf die Seite. »Frau von Harville!« rief der Graf von St. Remy aus, indem er auf Clémence zueilte. »Das unglückliche Kind! Sehen Sie, Madame, se718
hen Sie! Und Sie, meine Herren, haben Sie im Namen Ihrer Töchtern oder Schwestern Mitleid mit einem Kind von sechzehn Jahren, ich beschwöre Sie! Lassen Sie das Mädchen mit der Dame und den Schwestern allein. Sobald sie wieder zu sich gekommen ist, werde ich sie fortbringen lassen.« »Meine Herren«, sagte Griffon, »unserer Klinik entgeht ein kostbares Subjekt, aber ich werde Ihnen den Verlauf der Krankheit regelmäßig mitteilen.« Griffon setzte mit seinen Schülern den Umgang fort und ließ den Grafen von St. Remy und Frau von Harville allein.
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ine Schwester hielt den bleichen Kopf des jungen Mädchens, während Clémence, über das Bett gebeugt, mit ihrem Taschentuch den kalten Schweiß von ihrer Stirn wischte. Der Graf von St. Remy betrachtete tief bewegt diese Szene, als ihm plötzlich ein trauriger Gedanke aufstieg. Er sagte leise zu Frau von Harville: »Und die Mutter der Unglücklichen?« Die Marquise drehte sich um und antwortete beklommen: »Das Kind – hat keine Mutter mehr.« »Großer Gott…« »Ich ermittelte erst gestern abend ihre Adresse und hörte von ihrem hoffnungslosen Zustand. Früh war ich mit meinem Arzt bei ihr. – Ach, welches Bild! – Die Armut in allen ihren Schrecken – und keine Hoffnung, die Sterbende zu retten!« »Welcher Tod, mein Gott! Sie, die eine so zärtliche, aufopfernde Mutter war! Es ist entsetzlich.« Eine der Schwestern unterbrach das Gespräch und sagte: 719
»Das junge Mädchen kommt eben wieder zu sich. – Wenn Sie sich nicht scheuen, Madame, hierzubleiben, bis die Kranke bei vollem Bewußtsein ist, so nehmen Sie vielleicht solange auf meinem Stuhle Platz.« »Danke«, antwortete Clémence, indem sie sich setzte, »ich werde Fräulein von Fermont nicht verlassen, bis sie von hier fortgebracht wird.« »Gott segne Sie, Madame«, sagte der Graf, »und verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen meinen Namen noch nicht genannt habe. – Ich bin der Graf von St. Remy; der Gatte der Frau von Fermont war mein vertrautester Freund.« »Wissen Sie, daß Frau von Fermont betrogen und bestohlen worden ist?« »Durch ihren Notar vielleicht? Ich habe es vermutet.« »Dieser Mann war ein Schurke. – Ach, er hat nicht dieses Verbrechen allein begangen! Zum Glück«, fuhr Clémence fort, »ist ihm sein Recht geschehen, und ich konnte Frau von Fermont die Augen zudrücken, nachdem ich sie über die Zukunft ihrer Tochter beruhigt hatte. – Ihr Sterben war deshalb minder schmerzlich.« »Ich begreife das; meine arme Freundin wird ruhiger gestorben sein, da sie wußte, daß ihre Tochter Sie gefunden hat.« »Fräulein von Fermont wird Ihr Vermögen zurückerhalten.« »Ihr Vermögen? Wie? Der Notar…?« »Ist gezwungen worden, das Geld herauszugeben, das er sich durch ein furchtbares Verbrechen angeeignet hatte.« »Aber das genügt nicht, Madame. Dieser Notar muß aufs Schafott, denn er hat einen Mord begangen. – Der Tod der Frau von Fermont kommt auf sein Schuldkonto!« »O, er hat noch weit mehr auf dem Gewissen.« »Was sagen Sie?« »Wie er den Bruder der Frau von Fermont durch einen angeblichen Selbstmord beiseitegebracht hat, um sich Straflosigkeit zu sichern, so räumte er auch vor wenigen Tagen ein armes junges Mädchen aus dem Wege; ihren Tod, an dem ihm viel gelegen war, soll720
te man einem unglücklichen Zufall zuschreiben; es sollte heißen, das Mädchen, das er hatte ins Wasser stoßen lassen, wäre zufällig ertrunken.« St. Remy sah Frau von Harville verwundert an und sagte: »Das ist doch höchst seltsam!« Die Marquise verstand diese Bemerkung nicht. »Wo wollte man das junge Mädchen ertränken?« »Bei Asnières, wie man mir gesagt hat.« »Sie ist es!« rief Herr von St. Remy aus. »Von wem sprechen Sie?« »Von dem jungen Mädchen, dessen Tod der Verbrecher wünschte.« »Von Marienblume?« »Sie kennen sie, Madame?« »Ich liebte das arme Kind. – Ach, wenn Sie wüßten, Herr Graf, wie schön und rührend sie war…!« »War…? Nein, sie ist es noch!« »Leider nicht … sie ist gestorben.« »Marienblume, der Griffon und ich den ersten Beistand geleistet haben?« »Den ersten Beistand? … Wo?« »Auf der Insel des Aussuchers – kurz nachdem sie gerettet war.« »Gerettet? … Marienblume ist gerettet?« »Ja, von einem braven Mädchen, das sie mit eigener Lebensgefahr aus der Seine zog. Aber was ist Ihnen, Madame?« »Ach, Herr Graf, ich beschwöre Sie, sagen Sie mir, wie sieht das junge Mädchen aus?« »Sie ist außerordentlich schön und hat ein wahres Engelsgesicht.« »Große blaue Augen? Blondes Haar?« »Ja, Madame.« »Und als man sie ertränken wollte, war eine ältere Frau bei ihr?« »Ja, so sagte sie.« »Gott sei gelobt!« rief Clémence aus, indem sie ihre Hände faltete. – »Welche Freude für ihn, da er in seinem letzten Briefe an mich 721
mit so tiefem Schmerze von ihr sprach! Wenn Sie wüßten, Herr Graf, wie glücklich mich diese Nachricht macht… Aber wo ist Marienblume jetzt?« »Bei Asnières, im Hause des Doktors Griffon, der trotz seinen Seltsamkeiten, die ich beklage, treffliche Eigenschaften besitzt. Zu ihm ist Marienblume gebracht worden, und er hat sie voller Hingabe behandelt und gepflegt.« »Und sie ist außer Gefahr?« »Ja, Madame, aber erst seit zwei oder drei Tagen. Heute wird man ihr erlauben, an ihre Beschützer zu schreiben.« »Das möchte ich übernehmen, oder ich will vielmehr die Freude haben, sie zu denen zu begleiten, die sie für tot halten und sie so schmerzlich betrauern.« Eine halbe Stunde später hatte sich Klara von Fermont soweit erholt, daß die Marquise und der Graf von St. Remy sie mit sich nehmen konnten. Noch an demselben Tag fand Johanna Duport Unterkunft in einer hellen, gesunden, freundlich eingerichteten Wohnung, wo eine von Clémence bestellte Pflegerin sich ihrer und der Kinder liebevoll annahm. Nachdem die Marquise Klara von Fermont in ihr Haus gebracht hatte, fuhr sie mit dem Grafen sogleich nach Asnières, um Marienblume abzuholen.
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ie ersten Frühlingstage waren nahe. Die Sonne leuchtete mit neuer Kraft, der Himmel war rein und die Luft lau und mild. Marienblume ging als Genesende am Arm der Wölfin im Garten auf und ab. 722
»O die liebe Sonne!« sagte sie, indem sie an einer Steinbank stehenblieb. »Wollen wir uns einen Augenblick setzen, Wölfin?« »Brauchen Sie mich zu fragen, ob ich will?« antwortete die Geliebte Martials barsch. Dann nahm sie ein Tuch, legte es zusammen, kniete nieder, breitete es auf dem Boden aus und sagte: »Stellen Sie Ihre Füße darauf!« »Aber, Wölfin«, entgegnete Marienblume, »Sie verderben ja Ihr Tuch.« »Das ist kein Grund … die Erde ist kühl«, antwortete die Wölfin und stellte die kleinen Füße der Marienblume auf das Tuch. »Sie verwöhnen mich, Wölfin…« »Und Sie verdienen es nicht! Immer sträuben Sie sich… Sind Sie nicht müde? Wir gehen nun schon eine gute halbe Stunde. Es hat eben zwölf geschlagen.« »Ich bin ein wenig müde, aber ich fühle auch, daß der Spaziergang mir wohl getan hat.« »Konnten Sie nicht eher sagen, daß Sie sich setzen wollten?« »Ach, es ist so schön, zu gehen, wenn man so lange im Bett gelegen hat; die Sonne zu sehen, die man so lange entbehren mußte!« »Sie sind wieder auf den Beinen, und ich habe das Meinige getan, wie mein Mann sagt.« »Wenn mir nur der Arzt bald erlaubt, an Madame Georges zu schreiben! Sie muß so besorgt sein – und vielleicht ist es Herr Rudolf auch!« setzte Marienblume errötend und die Augen niederschlagend hinzu. »Sie halten mich vielleicht beide für tot.« »Wie die, die Sie ins Wasser werfen ließen, arme Schallerin!« »Sie glauben also noch immer, Wölfin, daß es kein zufälliges Unglück gewesen sei?« »Ein zufälliges Unglück? Freilich nennen es die Martials so! … Wenn ich sage: Die Martials, so meine ich natürlich meinen Mann nicht mit, denn er gehört nicht zu der Familie, wie auch Franz und Amandine nicht dazu gehören.« 723
»Aber welches Interesse konnte man an meinem Tode haben? Ich habe keinem Menschen etwas zuleide getan; niemand kennt mich.« »Das bleibt sich gleich. Wenn die Martials schlecht genug sind, jemand zu ertränken, so sind sie doch nicht so dumm, es zu tun, ohne ein Interesse daran zu haben. – Einige Worte, welche die Witwe meinem Geliebten im Gefängnis gesagt hat, beweisen das!« »Er hat also seine Mutter besucht?« »Ja, und man hat keine Hoffnung mehr für sie, für ihre Tochter und für ihren Sohn Nikolaus. Man hat vieles entdeckt, und Nikolaus hat in der Hoffnung, mit dem Leben davonzukommen, seine Mutter und Schwester noch wegen eines anderen Verbrechens verraten. Deshalb werden sie alle aufs Schafott kommen!« »Das ist schrecklich! Eine ganze Familie!« »Ja, wenn Nikolaus nicht entflieht. Er ist im Gefängnis mit einem abgefeimten Verbrecher zusammen, der Skelett heißt und ein Komplott angezettelt hat, um sich und die anderen zu retten. Nikolaus hat es Martial durch einen Gefangenen sagen lassen, denn mein Mann war so schwach, auch seinen Bruder zu besuchen. Der Elende besaß die Frechheit, meinem Manne aufzutragen, er möge bei dem alten Micou Geld und einen Anzug für ihn bereithalten.« »Ihr Martial hat ein so gutes Herz!« »Gutes Herz hin, gutes Herz her, Schallerin! Der Teufel soll mich holen, wenn ich meinen Mann einem Mörder beistehen lasse, der ihn umbringen wollte! … Übrigens werden wir, da Sie nun wieder gesund sind, Schallerin, von hier fortgehen, mein Mann, ich und die Kinder, und Paris niemals mehr betreten.« »Sie werden doch wenigstens so lange warten, bis ich mit Herrn Rudolf über Sie gesprochen habe. – Wie könnte ich sonst vergelten, was Sie an mir getan haben? Sie haben mir das Leben gerettet…« »Hören Sie einmal!« sagte plötzlich die Wölfin, indem sie aufstand; »es ist, als käme ein Wagen…« Franz und Amandine, die durch die Güte des Grafen von St. Remy bei der Wölfin hatten bleiben dürfen, kamen atemlos angelaufen. 724
»Wölfin, es kommt eine Dame mit Herrn von St. Remy; sie wollen Marienblume sehen.« Fast in demselben Augenblick erschien auch schon der Graf mit Frau von Harville. Kaum hatte diese Marienblume erblickt, so eilte sie auf sie zu, schloß sie liebevoll in ihre Arme und sagte: »Armes, liebes Kind, mit Freuden sehe ich Sie wieder; wir haben schon Ihren Tod betrauert.« »Auch ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen, Madame, denn ich habe nicht vergessen, wie gut Sie zu mir waren«, sagte Marienblume, indem sie die Liebkosungen der Frau von Harville mit reizender Anmut erwiderte. »Ach, Sie wissen nicht, wie groß das Glück Ihrer Freunde sein wird, die Sie jetzt so bitter beweinen.« Marienblume nahm die Wölfin an der Hand, stellte sie Frau von Harville vor und sagte: »Da meine Wohltäter sich so über meine Rettung freuen, Madame, erlauben Sie mir, Sie um Ihre Teilnahme für meine Freundin zu bitten, die mich mit Gefahr ihres Lebens gerettet hat.« »Seien Sie sicher, mein Kind, daß Ihre Freunde der Braven ihren Dank beweisen werden!« Die Wölfin wurde rot und verlegen; sie wagte weder zu antworten, noch Frau von Harville anzusehen. »Aber es ist kein Augenblick zu verlieren«, fuhr die Marquise fort. »Ich sterbe vor Ungeduld, Sie mit mir zu nehmen, Marienblume: Kommen Sie, mein Kind.« Dann wandte sie sich an den Grafen und sagte: »Haben Sie die Güte, dem braven Mädchen da meine Adresse zu geben, damit es morgen von Marienblume Abschied nehmen kann.« Einige Minuten später waren Frau von Harville und die Schallerin auf dem Wege nach Paris. – Rudolf hatte sich in trüber Stimmung in seine Wohnung zurückbegeben. Nach einer schlaflosen Nacht berief er Sir Walter Murph zu sich, 725
um diesem alten und treuen Freunde seine schreckliche Entdeckung über Marienblume mitzuteilen. »Gestern«, sagte Rudolf, »konnte ich nicht einmal weinen. Jetzt – bei dir – vermag ich es. – Ich bin kraftlos – ich bin schwach, verzeihe mir! – Tränen … was nützen alle Tränen? Ach, mein Kind – mein armes Kind!« »Weinen Sie, weinen Sie, Hoheit – der Verlust ist furchtbar, unersetzlich!« »Ich würde vor diesem angebeteten Kinde auf die Knie gefallen sein und gesagt haben: ›Du bist bis jetzt so hart geprüft worden – sei nun glücklich – für immer glücklich! Du bist meine Tochter.‹ – Nein«, unterbrach sich Rudolf, »nein, so nicht, das wäre übereilt gewesen. – Ich hätte also gesagt: ›Mein Kind, ich muß dir etwas mitteilen, was dich überraschen wird. – Ja – denke dir, man hat die Spur deiner Eltern gefunden – dein Vater lebt, und dein Vater – bin ich.‹« Dann überließ sich Rudolf von neuem seiner Verzweiflung und rief aus: »Aber wozu! warum diese nutzlosen Worte? Ich werde ihr ja nichts zu sagen haben. Warum behielt ich das unglückliche Kind nicht bei mir, statt daß ich es zu Madame Georges brachte? – Heute bräuchte ich ihr nur die Arme zu öffnen, um sie an meine Brust zu drücken. – Warum tat ich es nicht? Warum? Ach, weil man das Gute immer nur halb tut, weil man die Wunder erst würdigt, wenn sie verschwunden sind … weil ich viel zu tun glaubte, wenn ich das Kind zu guten Menschen brächte, wie ich es für die erste beste Bettlerin getan hätte… Es ist meine Schuld! Hätte ich gehandelt, wie ich handeln mußte, so wäre sie am Leben! Ach! Ich bin mit Recht bestraft – ich habe es verdient…« Murph schwieg. Nach einer Pause fuhr Rudolf mit bewegter Stimme fort: »Ich bleibe nicht hier. – Paris ist mir verhaßt; morgen reise ich ab.« »Sie haben recht, Hoheit.« »Wir fahren über Bouqueval. – Ich will einige Stunden in dem Zimmer sein, in dem meine Tochter die einzigen glücklichen Tage ih726
res Lebens verbracht hat… Halte also alles für morgen bereit!« Murph wollte die traurigen Gedanken des Fürsten zerstreuen und sagte: »Alles soll bereit sein, aber Sie vergessen, daß morgen in Bouqueval die Hochzeit des Sohnes der Madame Georges mit Mademoiselle Lachtaube gefeiert werden soll. – Sie haben ihnen versprochen, ihrer Hochzeit beizuwohnen, denn bei dieser Gelegenheit erst sollen sie den Namen ihres Wohltäters erfahren.« »Ja, das ist wahr, ich hatte es versprochen … aber ich kann nicht…« »Zeuge des Glückes dieser jungen Leute zu sein, würde Ihnen vielleicht wohl tun.« »Nein, der Schmerz sucht die Einsamkeit. Du magst mich entschuldigen, meine Stelle vertreten und Madame Georges bitten, alles zu sammeln, was meiner Tochter gehörte. Man soll das Zimmer genau abzeichnen lassen und mir die Zeichnung nach Deutschland nachsenden.« »Sie wollen also abreisen, ohne die Frau Marquise noch einmal zu sehen?« Rudolf zuckte zusammen. – Er fühlte, daß nur die zärtliche Liebe dieser Frau ihn im Unglück stützen könne, und gleichwohl machte er sich Vorwürfe wegen dieses Gedankens, der, wie er glaubte, seines Vaterschmerzes unwürdig sei. »Ich reise ab, ohne Frau von Harville zu sehen«, antwortete er. – »Ich schilderte ihr vor einigen Tagen meinen Schmerz. Wenn sie nun erfährt, daß Marienblume meine Tochter war, wird sie einsehen, daß man den Mut besitzen muß, gewisse Strafen allein zu tragen, damit sie eine Buße werden…« Ein leises Klopfen an der Tür veranlaßte Rudolf zu einer ungeduldigen Handbewegung. Murph stand auf, um zu öffnen. Durch die halbgeöffnete Tür flüsterte ein Adjutant einige Worte. Der Squire antwortete kopfnickend, wandte sich dann zu Rudolf und sagte: »Erlauben Hoheit, daß ich mich einen Augenblick entferne? Es 727
wünscht jemand im Dienste Ew. Hoheit mit mir zu sprechen.« »Bitte«, antwortete der Fürst, und Murph ging hinaus. Nach kurzer Abwesenheit kehrte er zurück. Er war so bleich, daß der Fürst aufsprang und besorgt fragte: »Murph, was hast du?« »Nichts, Hoheit.« »Du siehst so blaß aus.« »Frau von Harville…!« »Großer Gott! Ein neues Unglück?« »Nein, Hoheit, beruhigen Sie sich! Die Marquise ist – hier…« »Sie – hier – bei mir?« »Die Überraschung, Hoheit…« »Ein solcher Schritt von ihrer Seite? … Was gibt es? … In des Himmels Namen, sprich!« »Bei meiner Ehre, Hoheit, bei meiner Ehre – ich weiß nicht, was die Frau Marquise mir gesagt hat.« »Was soll das heißen?« »›Sir Walter‹, sagte sie, während Freude aus ihren Augen strahlte, ›meine Anwesenheit muß Sie in Erstaunen setzen. – Aber es gibt gebieterische Umstände, in denen man nicht an das denken kann, was sich schickt und was sich nicht schickt. Bitten Sie Se. Hoheit, mir eine kurze Audienz in Ihrer Gegenwart zu bewilligen…‹ Der Fürst wird mir Dank wissen, daß ich diese Besprechung auch nicht um eine Minute verschoben habe…« »Müßte ich auch auf der Stelle sterben, bitte die Frau Marquise einzutreten«, sagte der Fürst. Als Clémence die große Verzweiflung in Rudolfs Miene bemerkte, glaubte sie, er sei von einem Unglück heimgesucht worden, das noch schwerer für ihn sei als der Tod der Schallerin. Sie vergaß deshalb die Veranlassung ihres Besuches und rief aus: »Großer Gott! Hoheit, was ist Ihnen?« »Sie wissen es nicht, Frau Marquise? Ach, jede Hoffnung ist verloren. – Ihr Wunsch, sofort mit mir zu sprechen, erweckte in mir den Glauben…« 728
»Sprechen wir nicht von der Veranlassung, die mich hierhergeführt hat! Ich habe ein Recht, Sie nach der Ursache der Trauer zu fragen, in die Sie versunken zu sein scheinen. – Ihre Niedergeschlagenheit, Ihre Blässe erschrecken mich. – Sprechen Sie, Hoheit, sprechen Sie!« »Warum, Frau Marquise? Meine Wunde ist unheilbar.« »Diese Worte verdoppeln meine Angst. – Erklären Sie sich! Sir Walter – mein Gott! – Was ist ihm?« »Nun«, antwortete Rudolf, »wenn Sie es denn wissen wollen: Marienblume war meine Tochter!« »Marienblume … Ihre Tochter?« »Ja, und als Sie mir sagen ließen, Sie wünschten mich gleich zu sehen, um mir etwas mitzuteilen, was mich mit großer Freude erfüllen würde, da … haben Sie Mitleid, aber ein Vater, den der Schmerz über den Verlust seines Kindes niederbeugt, ist jeder törichten Hoffnung fähig… Verzeihen Sie mir, ich bin meiner Sinne kaum mehr mächtig…« Rudolf sank auf einen Stuhl und verbarg sein Gesicht in den Händen. Frau von Harville stand stumm und unbeweglich da. Sie vermochte im Sturm der auf sie eindrängenden Gefühle keine Worte zu finden. Mit einem Male sank sie überwältigt auf ihre Knie nieder, faltete die Hände und rief mit dem Ausdruck innigster Dankbarkeit: »Gelobt sei Gott! Ich erkenne seinen allmächtigen Willen, denn er hat mich erwählt, ihm zu sagen, daß seine Tochter gerettet ist.« Murph und der Fürst hörten diese Worte, obgleich sie leise wie im Gebet gesprochen wurden. Als Clémence sich wieder erhob, heftete der Fürst einen Blick auf sie, der Angst und Hoffnung zugleich enthielt. Die Marquise hielt diesem Blicke stand und neigte wie bejahend ihren Kopf. »Und – wo ist sie?« fragte der Fürst zitternd. »Unten, in meinem Wagen.« Der Fürst wollte sofort hinaus; Murph hielt ihn zurück. 729
»Hoheit, Sie würden sie töten!« »Seit gestern erst geht es ihr besser, sie bedarf also noch der größten Schonung«, setzte Clémence hinzu. »Sie haben recht«, antwortete Rudolf, der sich kaum zu fassen vermochte. – »Sie haben recht. – Ich werde ruhig sein – sie noch nicht sehen – bis meine erste Aufregung vorüber ist. – Ach! Das ist zuviel, zuviel an einem Tage!« »Sie haben mir meinen Vater wiedergegeben, Hoheit. Gott wollte, daß ich Ihnen Ihr Kind zurückbrachte«, sagte Clémence. »Und wie ist sie gerettet worden?« »In dem Augenblick, als sie ertrinken wollte, zog ein braves Mädchen sie aus dem Wasser.« »Die Schuld ist unermeßlich groß«, sagte der Fürst, »aber ich werde sie zu tilgen suchen.« »Wie gut, daß ich Marienblume nicht gleich mit mir brachte!« sagte die Marquise. »Es ist allerdings ein Glück, daß sie nicht hier ist«, bestätigte Murph. »Jetzt«, sprach der Fürst, der sich bemüht hatte, seine Aufregung niederzukämpfen, und dessen Züge ruhig geworden waren, »jetzt bin ich meiner Herr. – Murph, hole meine Tochter.« »Ja, sie kann kommen«, antwortete Murph, der den Fürsten aufmerksam beobachtet hatte, »Se. Hoheit wird sich beherrschen.« »So geh, geh schnell, mein alter Freund!« »Ja, Hoheit. – Ich bitte nur um eine Minute – man ist nicht von Eisen – sie darf nicht sehen, daß ich geweint habe.« Der Squire schritt nach der Tür zu, blieb aber noch einmal stehen und sagte: »Aber was soll ich ihr sagen?« »Ja, was soll er ihr sagen?« fragte der Fürst die Marquise. »Herr Rudolf wünsche sie zu sehen, weiter nichts!« »Das ist gewiß das beste, was ihr gesagt werden kann. – Sie kann dabei nichts Besonderes ahnen, nichts erwarten – es ist das klügste so.« Murph rührte sich aber nicht von der Stelle. 730
»Sir Walter«, sagte Clémence lächelnd zu ihm, »Sie fürchten sich.« »Sie haben recht, Frau Marquise, es ist fast so. Jetzt bin ich fertig«, fuhr er fort, nachdem er sich mit beiden Fäusten über die Augen gefahren war. Und dann ging er festen Schrittes hinaus. Der Fürst trat zu Clémence und sagte fast schüchtern: »Wenn ich diesen Augenblick wähle, um Ihnen ein Geständnis abzulegen, so werden Sie ermessen, daß es ein ernstes Geständnis ist. Seit ich Sie zum erstenmal gesehen habe, liebe ich Sie. Solange ich diese Liebe verbergen mußte, habe ich sie verborgen; jetzt sind Sie frei, Sie haben mir meine Tochter wiedergegeben, wollen Sie – die Mutter meines Kindes sein?« Frau von Harville sah ihn mit Augen, aus denen das Glück leuchtete, stumm an. »Ich beschwöre Sie, schlagen Sie meine Bitte nicht ab«, fuhr Rudolf zärtlich fort. Clémence antwortete zögernd: »Ich muß Sie an den Abstand erinnern, der uns trennt…« »Ist nicht die Liebe ein Steg, der alles überbrückt?« erwiderte Rudolf mit inniger Wärme. »Ach, Hoheit, wie sollte ich Ihnen anders antworten, als mit Tränen der Dankbarkeit? … Doch still, Ihre Tochter…« »Ach, sagen Sie unsere Tochter –!« »Nun … unsere Tochter!« flüsterte Clémence, in dem Augenblick, in dem Murph die Tür öffnete und Marienblume hereinführte. Das junge Mädchen, das vor dem Portal des Palastes aus dem Wagen der Marquise gestiegen war, war durch ein Vorzimmer gegangen, in dem sich Diener in großer Livree befanden, dann durch ein Wartezimmer, in dem sich die Kammerdiener aufhielten, und endlich durch das Zimmer, in dem ein Kammerherr und die Adjutanten des Fürsten in großer Uniform versammelt waren. Man denke sich das Staunen der armen Schallerin, als sie diese fürstlichen Räume sah! Sobald sie erschien, eilte ihr Frau von Harville entgegen, nahm sie an der Hand und führte sie zu Rudolf. 731
Beim Anblick ihres Wohltäters, ihres Retters, der sie mit stummem Entzücken betrachtete, zitterte Marienblume vor innerer Erregung. »Beruhigen Sie sich, mein Kind«, sagte Frau von Harville zu ihr. »Da ist Ihr Freund, Herr Rudolf, der sehr besorgt um Sie gewesen ist!« »Ja, sehr besorgt«, stammelte Rudolf, der vor dem bleichen Gesicht seiner Tochter die Tränen kaum zurückzuhalten vermochte. »Sie sind noch schwach, mein Kind, setzen Sie sich«, sagte Clémence, um die Aufmerksamkeit des Mädchens abzulenken, und führte sie zu einem Sessel. Rudolf, der sich nur mit Mühe beherrschte, sagte leise: »Endlich, mein Kind, bist du da, und du sollst uns nie wieder verlassen. Du sollst vergessen, was du gelitten hast!« »Glauben Sie mir, Herr Rudolf, daß ich ohne Sie – recht unglücklich sein würde.« »Du sollst nicht mehr ohne uns sein, meine liebe Marie!« Nach einer Pause sagte Rudolf zu der ihn verklärt anblickenden Marienblume: »Ich habe dir wichtige Dinge mitzuteilen.« »Mir, Herr Rudolf?« »Man hat, seit ich dich nicht gesehen habe, neue Ermittlungen – über deine Familie gemacht.« »Über meine Familie?« »Ja, man weiß, wer deine Eltern waren. Man kennt deinen Vater…« »Ja, liebe Marie«, setzte Clémence rasch hinzu, »man kennt Ihren Vater, und er lebt…« »Mein Vater!« »Sie werden ihn sehen, vielleicht sogar schon bald«, fuhr Clémence fort. »Und meine Mutter, Madame?« »Auf diese Frage wird Ihr Vater antworten, mein Kind. Werden Sie sich freuen, ihn zu sehen?« »Ach ja, Madame«, antwortete Marienblume, mit niedergeschlagenen Augen. »Wie sehr werden Sie ihn lieben, wenn Sie ihn kennen!« fuhr die 732
Marquise fort. »Von diesem Tage wird ein neues Leben für dich beginnen, nicht wahr, Marie?« setzte der Fürst hinzu. »Ach nein, Herr Rudolf«, antwortete die Schallerin naiv. »Mein ganzes Leben begann an dem Tage, an dem Sie sich meiner erbarmten…« »Aber dein Vater liebt dich.« »Ich kenne ihn nicht, und Ihnen verdanke ich alles, Herr Rudolf.« »Also liebst du mich ebenso, vielleicht mehr noch, als du deinen Vater lieben würdest?« »Mehr könnte ich keinen Menschen lieben als Sie – denn Sie sind für mich das Höchste auf der Welt…« »Ich sehe, mein Kind«, erwiderte ihr Rudolf, der seine Freude kaum verbergen konnte, »daß ich in deinem Herzen die Stelle deines Vaters eingenommen habe.« »Das ist nicht meine Schuld, Herr Rudolf. Vielleicht ist es schlecht von mir, aber ich kenne Sie, und meinen Vater kenne ich nicht; dann«, setzte sie errötend hinzu, »kennen Sie die Vergangenheit, Herr Rudolf, und waren dennoch gut zu mir. Mein Vater kennt – die Vergangenheit nicht. Vielleicht bedauert er, mich gefunden zu haben.« »Mein armes Kind, dein Vater wird dir eine so glänzende Stellung geben, wie du sie nur aus den Märchen kennst… Ich will dich so hoch erheben, wie du es nie zu träumen gewagt; hörst du, mein liebes Kind, meine teure Tochter? – Denn ich … ich bin dein Vater!« Und der Fürst, der seine Bewegung nicht länger meistern konnte, sank vor den Füßen des Mädchens nieder, die er mit Küssen bedeckte. »Ich danke dir, mein Gott«, rief Marienblume aus, indem sie die Hände faltete. »Ich darf meinen Wohltäter so lieben, wie ich ihn liebe, ohne mich anklagen…« Sie konnte ihre Worte nicht vollenden. – Die Erschütterung war so stark, daß sie ohnmächtig in die Arme des Fürsten sank. Murph eilte an die Tür und rief: »Doktor David – sogleich – zu Sr. Hoheit!« 733
Rudolf war stumm vor Angst und Sorge. »David, meine Tochter stirbt… Du mußt mein Kind retten!« rief Rudolf dem schwarzen Arzt, der eben ins Zimmer trat, zu. David fühlte den Puls des jungen Mädchens, legte die Hand auf ihre Stirn, wandte sich dann zu Rudolf um, der bleich und angsterfüllt auf den Ausspruch des Arztes wartete, und sagte: »Es ist keine Gefahr vorhanden. – Ew. Hoheit können ganz beruhigt sein.« Murph hatte indessen ein Billet gelesen, das ihm David übergeben hatte; er fuhr zusammen und sah den Fürsten erschrocken an. »Hoheit«, sagte er erregt, »die gestrige Nachricht war falsch!« »Welche Nachricht?« »Eine ungewöhnlich heftige Krisis, der eine Ohnmacht folgte, war die Ursache, daß man die Gräfin Sarah für tot hielt.« »Was…« »Heute hofft man, sie retten zu können.« »Mein Gott!« rief der Fürst, wie vom Blitz getroffen, während Clémence ihn staunend ansah. David, der sich eingehend mit Marienblume beschäftigt hatte, sagte jetzt: »Es ist nicht die geringste Gefahr vorhanden; man könnte den Sessel auf die Terrasse rollen, die Ohnmacht würde dann gleich vergehen.« Murph öffnete die Glastür und tat, was der Arzt verordnet hatte. Rudolf und Clémence blieben allein.
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issen Sie, wer Gräfin Sarah ist, Madame?« fragte Rudolf düster. »Sie ist Mariens Mutter!« 734
»Großer Gott!« »Und ich glaubte sie tot!« Frau von Harville wurde blaß… »Sie wissen auch nicht«, fuhr Rudolf fort, »daß dieses selbstsüchtige und ehrgeizige Weib mich in meiner Jugend zu einer Verbindung verleitet hatte, die später wieder gelöst wurde. Die Gräfin, die sich dann von neuem verheiraten wollte, hat das Unglück ihres Kindes verschuldet, indem sie es fremden Händen überließ.« »Ach, jetzt begreife ich Ihre Abneigung gegen sie…« »Sie werden auch begreifen, warum sie Sie ins Unglück zu stürzen suchte. In ihrem Ehrgeiz glaubte sie mich mit solchen Mitteln zwingen zu können, zu ihr zurückzukehren…« »O, wie entsetzlich!« »Und sie lebt…« »Hoheit, das zu bedauern, ist Ihrer nicht würdig.« »Ach, Sie kennen die Leiden nicht, die sie über mich gebracht hat! Dieses Weib ist ein Dämon, der mich unablässig verfolgt!« »Sie haben«, sagte Clémence, indem sie die Tränen trocknete, die sich aus ihren Augen stahlen, »eine große, heilige Pflicht zu erfüllen. Sie müssen Ihrer Tochter eine eheliche Geburt geben und sich also – mit der Gräfin MacGregor vermählen.« »Nie, nie! Ich würde dadurch diese unnatürliche Mutter belohnen, und das darf nicht geschehen! – Ich werde meine Tochter anerkennen, und sie wird, hoffe ich, bei Ihnen die mütterliche Liebe finden, die ihr fehlte.« »Nein, Hoheit, nein, Sie werden die Geburt Ihres Kindes nicht im Dunkel lassen!« »Ihnen entsagen? Das vermag ich nicht.« »Es bleibt Ihnen Ihr Kind.« »Sie lieben mich nicht, wie ich Sie liebe!« »Glauben Sie es, und das Opfer, das Sie Ihren Pflichten bringen, wird Ihnen minder schwer werden.« »Aber wenn Sie mich lieben, wird Ihr Schmerz ebenso groß sein wie der meine. – Was bleibt Ihnen dann übrig?« 735
»Das Mitgefühl mit den Leiden anderer, das Sie selbst in meinem Herzen weckten, und dem ich süßen Trost verdanke!« »Hören Sie mich an! Wenn ich mich mit jenem Weibe vermähle, verliert Marie ihre Mutter, denn wir würden doch stets getrennt leben.« »Es bleibt ihr der zärtlichste Vater. – Durch die Heirat wird sie die eheliche Tochter eines souveränen Fürsten, und ihre Stellung wird, wie Sie selbst sagten, so glänzend sein, wie sie bisher dunkel war.« »Sie sind unbarmherzig!« »Mut, Hoheit! Bringen Sie Marie von hier fort, sobald sie die Reise ertragen kann. In Deutschland wird ihre Umwandlung vollständig werden, und ihre Vergangenheit für sie nur noch ein böser Traum sein.« »Aber Sie? – Sie?« »Meine Liebe zu Ihnen wird mein Schutzengel sein. Alles Gute, das ich tue, geht aus ihr hervor. Jeden Tag werde ich Ihnen schreiben, und Sie werden mir antworten, um mir Nachricht von der zu geben, die ich einmal meine Tochter genannt habe, und die es in meinen Gedanken immer sein wird.« »Hoheit!« sagte Murph, indem er rasch ins Zimmer trat, »die Tochter, die Ihnen Gott wiedergegeben hat, ist zu sich gekommen. Ihr erstes Wort war: ›Mein Vater!‹ Sie wünscht Sie zu sehen.« Wenige Minuten später hatte Frau von Harville das Palais des Fürsten verlassen. Dieser begab sich in Begleitung Murphs, des Barons von Graun und eines Adjutanten zur Gräfin MacGregor.
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eit Rudolf der Gräfin die Nachricht vom Tode der Marienblume überbracht hatte, die ihre Hoffnungen zertrümmerte und Ge736
wissensbisse in ihr weckte, hatte sie an heftigen Nervenkrisen gelitten. Ihre halbvernarbte Wunde hatte sich geöffnet, sie war in eine so tiefe Ohnmacht gesunken, daß man sie für tot gehalten hatte. Ihre starke Konstitution hielt sie indes auch diesmal aufrecht, und die Flamme des Lebens schlug noch einmal auf. Sarah saß in einem Sessel, war in trübe, schwere Gedanken versunken und wünschte sich den Tod, dem sie entgangen war. Plötzlich trat Thomas Seyton ins Zimmer der Gräfin. Er konnte eine gewaltige Aufregung kaum unterdrücken und winkte den beiden Kammermädchen Sarahs, sich zu entfernen. Diese selbst schien die Anwesenheit ihres Bruders kaum zu bemerken. »Wie geht es dir?« fragte er sie. »Immer dasselbe; ich fühle eine große Schwäche, die Brust schnürt sich mir zum Ersticken zusammen.« »Sarah«, fuhr Thomas Seyton nach einer kurzen Pause fort, »du schwebst zwischen Leben und Tod, eine heftige Aufregung könnte dir den Tod geben, aber auch dich retten.« »Ich habe keine Aufregung mehr zu erwarten, Bruder.« »Wer weiß!« »Ich würde selbst beim Tode Rudolfs gleichgültig bleiben, das Gespenst meiner Tochter steht vor mir und verläßt mich nicht. – Das ist unaufhörliche Gewissenspein. – Ich bin wirklich Mutter, seit ich kein Kind mehr habe.« »Ich sähe lieber den kalten Ehrgeiz wieder, in dem du deine Tochter nur für ein Mittel hieltest, den Traum deines Lebens zu verwirklichen!« »Die furchtbaren Vorwürfe des Fürsten haben diesen Ehrgeiz erstickt…« »Und wenn«, fuhr Thomas Seyton zögernd und gleichsam jedes Wort abwägend fort, »wenn du durch einen Zufall – durch ein Wunder erführest, deine Tochter lebe noch, wie würdest du diese Nachricht aufnehmen?« »Ich würde sterben vor Scham und Verzweiflung bei ihrem Anblick.« 737
»Glaube das nicht! Der Triumph deines Ehrgeizes würde dich berauschen, denn wenn deine Tochter noch lebte, würde dir der Fürst seine Hand geben…« »Wenn ich diesen unmöglichen Fall gelten lasse, so – würde ich doch das Recht nicht haben, länger zu leben. Nachdem ich die Hand des Fürsten erhalten hätte, würde es meine Pflicht sein, ihn von einer unwürdigen Gattin, meine Tochter von einer unwürdigen Mutter zu befreien.« Thomas Seyton hatte von Rudolf, der sich im Nebenzimmer befand, den Auftrag erhalten, Sarah mitzuteilen, daß Marienblume lebe; er wußte jedoch nicht, wie er sich verhalten sollte. Das Leben der Gräfin konnte jeden Augenblick verlöschen; es durfte also mit der Verheiratung nicht gezögert werden. Der Fürst hatte sich von einem Geistlichen, von Murph und dem Baron von Graun als Zeugen begleiten lassen; der Herzog von Lucenay und Lord Douglas, die eilig von Seyton benachrichtigt worden waren, sollten die Zeugen der Gräfin sein und waren eben angekommen. Die Zeit drängte. »Liebe Schwester«, sagte Thomas Seyton mit ernster, feierlicher Stimme, »wenn nun durch einen glücklichen, unverhofften Zufall deine Tochter dem Tode entrissen worden wäre – wenn – sie lebte?« »Du tust mir weh…« »Nun – Gott verzeihe mir – sie lebt!« »Meine Tochter?« »Sie lebt, sage ich dir. – Der Fürst ist mit einem Geistlichen hier. – Ich habe zwei deiner Freunde kommen lassen, um deine Zeugen zu sein; der Wunsch und das Streben deines Lebens ist erfüllt, die Prophezeiung geht in Erfüllung – du bist Fürstin.« Thomas Seyton hatte während dieser Worte seine Schwester besorgt angesehen. Zu seiner großen Verwunderung blieben die Züge Sarahs völlig unverändert; sie legte nur ihre beiden Hände auf ihr Herz, lehnte sich in ihren Sessel zurück, erstickte einen leichten Schrei, und ihr Gesicht wurde wieder völlig ruhig. 738
»Was ist dir, Schwester?« »Nichts – die Überraschung – die unverhoffte Freude…« »Du wirst leben und deine Tochter lieben.« »Ich zweifle nicht daran… Sieh nur, wie ruhig ich bin… Wo ist der Fürst?« »Hier.« »Ich möchte ihn sehen – vor der Zeremonie.« Dann setzte sie mit erzwungener Gleichgültigkeit hinzu: »Meine Tochter ist ohne Zweifel auch da?« »Nein, du wirst sie später sehen.« Seyton öffnete die Tür und ging hinaus. – Rudolf trat ein. »Ihr Bruder hat Ihnen alles gesagt?« fragte er Sarah kalt. »Alles.« »Ihr Ehrgeiz – ist – befriedigt?« »Er ist – befriedigt.« »Der Geistliche und die Zeugen sind bereit.« »Ich weiß es.« »Sie können also eintreten?« »Vorher noch ein Wort…« »Sprechen Sie!« »Ich möchte meine Tochter sehen.« »Das ist nicht möglich.« »Ich sage Ihnen, ich will sie sehen!« »Sie hat sich von dem Unfall noch nicht erholt, und diese Begegnung könnte sehr gefährlich für sie sein.« »Sie wird ihre Mutter doch wenigstens küssen.« »Warum? Sie sind Fürstin…« »Noch bin ich es nicht und werde es erst sein, wenn ich meine Tochter geküßt habe.« Rudolf sah die Gräfin mit großer Verwunderung an. »Wie!« rief er aus, »Sie unterwerfen die Befriedigung Ihres Stolzes…« »Der Befriedigung meiner Mutterliebe. – Das überrascht Sie?« »Allerdings.« 739
»Werde ich meine Tochter sehen?« »Marie – ist nicht hier – ich müßte sie holen lassen.« »Lassen Sie sie sogleich holen – und ich willige in alles. – Da meine Augenblicke vielleicht gezählt sind, so mag die Vermählung erfolgen – während man meine Tochter hierherbringt.« Während Rudolf eilig einige Worte schrieb, wischte die Gräfin den kalten Schweiß ab, der über ihre Stirn rann; ihre Züge verrieten heftiges Leiden. Nachdem der Brief geschrieben war, stand Rudolf auf und sagte zu der Gräfin: »Ich werde diesen Brief durch einen meiner Adjutanten an meine Tochter senden. – In einer halben Stunde kann sie hier sein; darf ich mit dem Geistlichen und den Zeugen eintreten?« »Sie können es – oder klingeln Sie lieber – lassen Sie mich nicht allein. – Geben Sie Sir Walter diesen Auftrag. Er mag die Zeugen und den Geistlichen holen.« Rudolf läutete, und es erschien eine Dienerin Sarahs. »Mein Bruder soll Sir Walter Murph hierher bitten«, sagte die Gräfin. Die Dienerin entfernte sich. – Murph trat ein. »Lieber Freund«, drängte Rudolf, »schicke sofort diesen Brief an meine Tochter und bitte den Geistlichen und die Zeugen, ins Nebenzimmer zu treten.« »Rudolf«, sagte die Gräfin, mühevoll atmend, »ehe die Zeremonie beginnt, erfüllen Sie mir eine Bitte: Verzeihen Sie mir! Bin ich nicht unglücklich genug?« »Gott verzeihe Ihnen alles Böse, das Sie Ihrem Kinde getan haben, wie ich Ihnen vergebe, was Sie mir getan haben…« Die Gräfin drückte die Hand Rudolfs an ihre zitternden Lippen und sagte dann: »Lassen Sie den Geistlichen eintreten – und sagen – Sie ihm – daß er – dann bei mir bleibe. – Meine Kräfte – schwinden.« Die Szene war tief ergreifend. – Rudolf öffnete die Tür, der Geistliche trat mit Murph und dem Baron von Graun, den Zeugen Rudolfs, sowie dem Herzog von Lucenay und Lord Douglas, den Zeu740
gen der Gräfin, ein. Thomas Seyton folgte. Der ersterbende Blick der Gräfin belebte sich noch einmal, als der Geistliche mit feierlicher Stimme Rudolf fragte: »Wollen Ew. königl. Hoheit Madame Sarah Seyton, Gräfin von MacGregor, als eheliches Gemahl annehmen?« und der Fürst mit lauter, fester Stimme das »Ja!« sprach. Ein flüchtiger Ausdruck stolzen Triumphes zog über ihre Züge – das letze Aufflackern des Ehrgeizes, der mit ihr starb. Als die traurige Zeremonie beendet war, verbeugten sich die Zeugen Sarahs, der Herzog von Lucenay und Lord Douglas, tief vor dem Fürsten und entfernten sich. Murph und der Baron von Graun ihnen nach. »Bruder«, sagte Sarah leise, »bitte den Geistlichen, dich ins Nebenzimmer zu begleiten und dort einen Augenblick zu warten.« Als sie mit Rudolf allein war, flüsterte sie, während ihre Züge verfielen: »Meine Kräfte – sind zu Ende – ich – werde – sie nicht mehr sehen.« »Beruhigen Sie sich, Sarah, Sie werden sie sehen.« »Ich – hoffe es – nicht mehr. – Meine Augen – werden trübe.« »Sarah!« sagte der Fürst, indem er rasch zu der Gräfin trat und ihre Hände in die seinen nahm, »sie kommt – sie muß gleich hier sein!« »Rudolf – Sie werden – ihr nicht sagen, – daß ich – eine – schlechte Mutter – war –« Es rollte ein Wagen über das Pflaster des Hofes. – Die Gräfin hörte es nicht. – Rudolf hatte sich über sie geneigt. Murph stürzte ins Zimmer: »Königl. Hoheit – die Prinzessin Marie.« »Nein«, entgegnete Rudolf rasch, »sie soll nicht hereinkommen. – Sag Seyton, er möge den Geistlichen eintreten lassen.« Dann zeigte er auf Sarah, die allmählich erlosch, und setzte hinzu: »Gott versagt ihr seinen Trost…« Wenige Minuten später hatte die Gräfin Sarah MacGregor ihren letzten Seufzer ausgehaucht. 741
CXLI
E
s waren vierzehn Tage vergangen. Am äußeren Gittertor der großen Irrenanstalt Bicêtre, in der die Pariser Geisteskranken behandelt wurden, hielten in der elften Vormittagsstunde zwei Wagen. Aus dem ersten stiegen Madame Georges, Germain und Lachtaube, aus dem zweiten Luise Morel und deren Mutter. Germain und Lachtaube waren seit vierzehn Tagen verheiratet. Aus dem blühenden Gesicht der jungen Frau, deren Lippen sich nur öffneten, um zu lachen oder Madame Georges zu küssen, die sie Mutter nannte, strahlten Glück und frohe Laune. Obgleich sie Madame Germain geworden war, und Rudolf ihr eine Mitgift von vierzigtausend Franken gegeben hatte, hatte Lachtaube mit Zustimmung ihres Mannes ihr Grisettenhäubchen doch nicht mit einem Hute vertauschen wollen. Allerdings konnte nichts anmutiger und eleganter sein als ihr Häubchen, das an jeder Seite mit zwei großen Schleifen garniert war, die das glänzende Schwarz ihres schönes Haares noch mehr hervorhoben. Ein französischer Schal verhüllte ihre zierliche Taille, und obgleich sie kein Korsett trug, warf ihr Taftkleid doch nicht das kleinste Fältchen. Luise Morel war aus der Haft entlassen worden, und die schönen Züge der Tochter des Steinschneiders zeugten von trauriger Ergebung. Ihre Mutter, die sie begleitete, hatte dank der Freigebigkeit Rudolfs und der Pflege, die sie gefunden, ihre Gesundheit wiedererlangt. »Wie freue ich mich, Sie wiederzusehen, liebe Luise!« sagte Lachtaube. »Wie geht es Ihrem Vater?« »Mein Vater ist leider noch immer hier, aber es geht ihm, Gott sei Dank, besser!« »Und er wird, wie ich höre, heute mit Ihnen nach Paris zurückkehren, wenn die Hoffnung des Arztes sich erfüllt.« »Ja, vielleicht…« »Der Arzt ist ja der Meinung, die unerwartete Anwesenheit der 742
Personen, die Ihr Vater vor seiner Krankheit täglich sah, würde seine Heilung vollenden…« »Ich wage es noch nicht zu glauben, Mademoiselle.« »Madame Germain, wenn ich bitten darf, liebe Luise! Um aber auf das zurückzukommen, was wir früher einmal besprachen: Sie wissen wohl noch nicht, wer Herr Rudolf ist?« »Er ist die Vorsehung für alle Elenden und Verfolgten.« »Das ist er! Aber was ist er noch? – Das wissen Sie nicht. Ich will es Ihnen sagen. Also hören Sie! Zunächst ließ er durch mich, Luise, Germain den Befehl überbringen, der dem Ärmsten die Freiheit gab… Sie können sich unsere Freude denken! Wir kamen in mein Stübchen, und da machte ich mit Germains Hilfe ein Essen zurecht, ein Essen, sage ich Ihnen, wie es sich gehörte! Um elf Uhr ging Germain fort mit dem Versprechen, am anderen Tag wiederzukommen. Um fünf Uhr war ich schon an der Arbeit, denn ich hatte wenigsten zwei Tage versäumt. Um acht Uhr klopft es; ich mache auf, und wer tritt herein? Herr Rudolf. Ich danke ihm für alles, was er für Germain getan hat, er läßt mich aber nicht ausreden und sagt: ›Liebe Nachbarin, Germain wird bald kommen, übergeben Sie ihm doch den Brief! Sie nehmen dann einen Wagen und fahren sogleich nach Bouqueval bei Ecouen. Dort fragen Sie nach Madame Georges – und ich wünsche viel Vergnügen!‹ – ›Leben Sie wohl, Herr Nachbar, und nochmals: meinen besten Dank.‹ – Er geht, Germain kommt, und ich erzähle ihm die Sache; wir setzen uns ganz vergnügt in den Wagen und kommen an. Ach, meine gute Luise, sehen Sie, die Tränen treten mir noch jetzt in die Augen… Madame Georges, die da vor uns geht, war die Mutter Germains.« »Seine Mutter?« »Du lieber Gott, ja, seine Mutter, die nicht mehr gehofft hatte, ihn je wieder zu sehen. Denken Sie sich, wie glücklich beide waren! Nachdem Madame Georges viel geweint und ihren Sohn geküßt und umarmt hatte, kam die Reihe an mich. Herr Rudolf hatte ihr ohne Zweifel Gutes von mir geschrieben, denn sie sagte, als sie mich umarmte, sie wisse, was ich für ihren Sohn getan habe. Wir wohn743
ten also jetzt auf dem hübschen Gute, Germain, seine Mutter, ich und meine Vögel… Die Tage vergingen so schnell wie ein Traum; ich arbeitete nur zu meinem Vergnügen, machte Spaziergänge mit Germain, und endlich wurde unsere Hochzeit festgesetzt. Wer kam zwei Tage vorher in einem schönen Wagen an? Ein großer, dicker Herr, der recht gutmütig aussah und mir von Herrn Rudolf ein Hochzeitsgeschenk brachte; denken Sie sich, Luise, einen großen Kasten von Rosenholz, auf dem in goldenen Buchstaben stand: ›Arbeit und Ehrlichkeit, Liebe und Glück‹. Ich mache den Kasten auf, und was finde ich darin? Spitzenhäubchen, Schmucksachen, Handschuhe und einen Schal, kurz, es war ein Feenmärchen.« »Da sehen Sie, wieviel Glück es Ihnen gebracht hat, daß Sie so gut und so fleißig waren!« »Aber hören Sie nur weiter, ich bin noch nicht fertig. Ganz unten, auf dem Boden des schönen Kästchens, finde ich eine Brieftasche mit der Aufschrift: ›Der Nachbar seiner Nachbarin‹. Ich mache sie auf und finde darin zwei Paketchen, eins für Germain, eins für mich. In dem für Germain liegt ein Papier, das ihn zum Direktor einer Bank mit viertausend Franken Gehalt ernennt, und er findet in dem für mich bestimmten Paketchen eine Anweisung über vierzigtausend Franken! Das sollte meine Mitgift sein. Ich wollte das nicht annehmen, aber Madame Georges, die mit dem großen Herrn und mit Germain gesprochen hatte, sagte, ich müsse es doch annehmen.« »Welches Glück, daß ein so wohltätiger Mann wie Herr Rudolf so reich ist!« »Ach, meine gute Luise, wenn Sie wüßten, wer Herr Rudolf ist! Und ich habe ihn meine Pakete tragen lassen! Aber Geduld, Sie werden gleich hören. – Den Tag vor der Hochzeit kam der große, kahlköpfige Herr wieder; Herr Rudolf konnte nicht kommen, und der große Herr sollte seine Stelle vertreten. Erst da, meine gute Luise, erfuhren wir, daß unser Wohltäter – raten Sie einmal! – ein Fürst ist!« »Ein Fürst?« 744
»Was sage ich? – Eine königl. Hoheit, ein regierender Großherzog!« »Herr Rudolf?« »Ach, Luise, und ich hatte ihn aufgefordert, mir mein Stübchen zu bohnern!« »Ein Fürst…?« »Sie können sich meine Verlegenheit vorstellen, gute Luise. – Wir wurden getraut… Vor acht Tagen ließ mir Herr Rudolf sagen, es würde ihm angenehm sein, wenn wir ihm einen Besuch machten. Wir kamen in der Rue Plumet an und traten in einen richtigen Palast…« »Ich hätte gezittert!« »Ich nicht. Nachdem Herr Rudolf Madame Georges und Germain die Hand gereicht hatte, sagte er lächelnd zu mir: ›Nun, liebe Nachbarin, wie geht es Papa Cretu und Ramonette?‹ – So heißen nämlich meine Vögel. – ›Gewiß‹, fuhr er fort, ›singen Sie und Germain jetzt mit Ihren Vögeln um die Wette?‹ – Na, und nach einer Weile, nachdem wir richtig miteinander geplaudert hatten, gingen wir wieder fort; mit recht schwerem Herzen, denn wir werden ihn nicht wiedersehen. Er sagte, er würde in wenigen Tagen nach Deutschland zurückkehren, vielleicht ist er schon fort; aber er mag hier oder dort sein, wir werden immer an ihn denken!« »Aber wer kommt da? Pipelet mit seiner Frau! Mein Gott, wie glücklich er aussieht, während er doch in der letzten Zeit immer so melancholisch war!« Herr und Madame Pipelet kamen wirklich ganz vergnügt heran. Alfred, den ›unabsetzbaren‹ Hut auf dem Kopfe, trug einen prächtigen, frühlingsgrünen Frack, der noch im Jugendglanze strahlte; über sein weißes Halstuch mit gestickten Zipfeln ragte ein fürchterlicher Kragen, der die Hälfte seiner Wangen bedeckte; eine lange hellgelbe Weste mit großen braunen Streifen, schwarze, etwas zu kurze Beinkleider, blendend weiße Strümpfe und sonntäglich geputzte Schuhe vervollständigten seinen Anzug. Anastasia spreizte sich in einem Kleid von amarantfarbigem Merino, von dem ein dunkelblauer Schal grell abstach. Sie trug stolz 745
vor allen Blicken ihre frischgelockte Perücke und am Arm ihr Häubchen, dessen grüne Bänder sie zusammengesteckt hatte. Das gewöhnlich so ernste Gesicht Alfreds strahlte vor Freude, und sobald er Luise und Lachtaube von weitem erblickte, eilte er auf sie zu und sagte leise: »Fort ist er!« »Ach, Herr Pipelet«, sagte Lachtaube, »was ist Ihnen denn so Freudiges widerfahren?« »Er ist fort, Mamsell oder vielmehr Madame…« »Wer ist fort?« »Cabrion!« sprach Pipelet und holte tief Atem. »Wissen Sie das gewiß?« »Ich habe ihn mit meinen eigenen Augen gestern abfahren gesehen.« »Was schwatzt Ihnen mein Alter vor?« fiel Anastasia ein, die atemlos herbeikam. »Ich wette, daß er Ihnen von der Abreise Cabrions erzählt. – Er hat schon halb Paris verdreht gemacht.« »Ja«, fuhr Pipelet fort, ohne sich beirren zu lassen, »er ist fort. Als er mich erkannte, bog er sich zum Wagenschlag hinaus, winkte mir zu und rief: ›Dein auf ewig!‹« In diesem Augenblick wandte Madame Georges den Kopf und sagte zu ihrem Sohne und Lachtaube: »Dort kommt der Doktor, Kinder.«
CXLII
D
er Doktor Herbin, ein schon bejahrter Mann, hatte ein außerordentlich geistreiches Gesicht, einen scharfen Blick und ein äußerst gutmütiges Lächeln. »Herr Doktor«, begrüßte ihn Madame Georges, »ich habe geglaubt, 746
meinen Sohn und meine Schwiegertochter begleiten zu können, obgleich ich Herrn Morel nicht kenne. Ich nehme so innigen Anteil an dem Schicksal dieses Mannes, daß ich dem Wunsche nicht widerstehen konnte, mit meinen Kindern dem Wiedererwachen seines Verstandes beizuwohnen, das, wie Sie ja hoffen, nach der Prüfung erfolgen wird, der Sie ihn unterwerfen wollen.« »Ich verspreche mir allerdings viel von dem günstigen Eindruck, den die Anwesenheit seiner Tochter und der Personen, die er gewöhnlich um sich sah, auf ihn machen wird.« »Als man meinen Mann verhaften wollte«, sagte Frau Morel mit Rührung, indem sie auf Lachtaube zeigte, »stand unsere liebe Nachbarin mir und meinen Kindern bei –« »Mein Vater kannte auch Germain, der immer sehr freundlich zu uns gewesen war«, setzte Luise hinzu. Dann deutete Sie auf Alfred und Anastasia und sagte: »Diese beiden braven Leute, die die Portierstelle in unserem Hause versahen, haben uns auch unterstützt.« »Ich danke Ihnen«, sagte der Doktor zu Alfred, »daß Sie gekommen sind; nach allem, was man mir gesagt hat, wird Ihnen dieser Besuch nicht schwer geworden sein.« »Mein Herr Doktor«, antwortete Pipelet, mit einer theatralischen Verbeugung, »der Mensch muß hienieden dienstwillig zu seinem Bruder sein; aber davon abgesehen, war Vater Morel der beste Mensch, ehe er seinen Verstand verlor.« »Wenn Sie, Madame«, sagte der Doktor zur Mutter Germains, »den Anblick der Irren nicht scheuen, so wollen wir jetzt zu Morel gehen.« »Anastasia«, sage Pipelet, der mit seiner Frau zurückgeblieben war, »ich denke eben daran, daß, wenn die teuflische Verfolgung Cabrions fortgedauert hätte, dein Alfred verrückt geworden und dann unter die Unglücklichen gekommen wäre, die wir hier sehen werden.« »Sprich nicht davon, Alter! – Man sagt, die, die aus Liebe den Verstand verloren hätten, wären wie die Affen; sobald sie ein Frauenzimmer sähen, rüttelten sie an den Stäben ihrer Käfige und jammerten. – Sie müssen dann durch Schläge oder durch kaltes Wasser beru747
higt werden, das man ihnen auf den Kopf laufen läßt –« »Anastasia, geh nicht zu nahe an die Käfige dieser Tollen«, sagte Alfred ernsthaft, »wie bald ist ein Unglück geschehen!« »Es wäre auch nicht recht von mir, sie gewissermaßen zu reizen! Ich zittere, Alfred, wenn ich bedenke, daß du vielleicht auch aus Liebe verrückt geworden wärest, wenn ich dir dein Glück versagt hätte…« Der Hof, in den man eintrat, war mit Bäumen bepflanzt; an jeder Seite zog sich eine zierliche Galerie hin; luftige Zellen öffneten sich auf diese Galerie, und etwa fünfzig Männer in gleicher, grauer Kleidung gingen umher, sprachen miteinander oder saßen still und nachdenklich in der Sonne. Bei der Ankunft des Doktors eilten ihm viele Irre entgegen und reichten ihm mit einem rührenden Ausdruck von Vertrauen und Dankbarkeit die Hand. »Sind das Irre, Herr Doktor?« fragte Madame Georges. »Das sind so ziemlich die gefährlichsten im Hause«, antwortete der Doktor lächelnd. »Den Tag über läßt man sie beieinander und schließt sie nur in der Nacht in die Zellen ein, die Sie da offen stehen sehen… Sehen Sie, das ist einer der schlimmsten!« Der, von dem er sprach, war ein kräftiger Mann von ungefähr vierzig Jahren, mit langem, schwarzen Haar, breiter Stirn, galligem Aussehen und sehr verständigem Gesichte. Er trat gravitätisch zu dem Doktor und sagte: »Herr Doktor, ich muß mir nun auch einmal das Recht ausbitten, den Blinden zu führen und zu unterhalten. Ich habe die Ehre, Ihnen zu bemerken, daß es eine unverzeihliche Ungerechtigkeit ist, diesem Unglücklichen meine Unterhaltung zu entziehen, um ihn« – dabei lächelte der Irre mit bitterer Verachtung – »dem albernen Geschwätz eines Blödsinnigen zu überlassen, der, wie ich behaupten zu können glaube, durchaus keine Ahnung von irgendeiner Wissenschaft hat, während ein Gespräch mit mir den Blinden zerstreuen und belehren würde. So«, setzte er mit außerordentlicher Zungenfertigkeit hinzu, »würde ich ihm meine Lehre von den isothermi748
schen und rechtwinkligen Flächen auseinandergesetzt und ihm bemerklich gemacht haben, daß die Gleichungen mit partiellen Differenzen wegen ihrer Kompliziertheit gewöhnlich nicht gelöst werden können. Ich würde ihm bewiesen haben, daß konjugierte Flächen notwendig isothermisch sind, und wir würden gemeinsam untersucht haben, welche Flächen ein dreifach isothermisches System bilden. Vergleichen Sie, bitte, diese essentielle Bereicherung mit den Dummheiten, die man dem Blinden vorschwatzt und sagen Sie mir, ob es nicht Mord ist, ihm meine Gegenwart zu entziehen.« »Halten Sie das, was er gesagt hat, Madame, nicht für Einfälle eines Idioten!« sagte leise der Doktor, »er spricht oft von den schwierigsten Problemen der Geometrie und Astronomie und hat große Kenntnisse. Er spricht alle lebenden Sprachen, glaubt alles menschliche Wissen in sich aufgenommen zu haben und wirft uns vor, daß wir die Menschheit in tiefste Unwissenheit versinken lassen, weil wir ihn hier zurückhalten.« Dann sprach der Doktor laut zu dem Irren, der mit ehrerbietiger, ängstlicher Spannung auf die Antwort zu warten schien: »Mein lieber Herr Charles, ich halte Ihre Forderung für vollkommen gerecht, und der arme Blinde, der, wie ich glaube, stumm, aber zum Glück nicht taub ist, würde gewiß ein großes Vergnügen an Ihrer Unterhaltung finden. Ich werde also nicht vergessen, Ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.« »Wollen Sie übrigens, indem Sie mich hier zurückhalten, der Welt weiter alle menschlichen Kenntnisse entziehen, die ich mit mir verschmolzen habe?« fragte der Irre, der allmählich wärmer wurde und heftig zu gestikulieren anfing. »Beruhigen Sie sich, mein guter Herr Charles; die Welt hat glücklicherweise noch nicht bemerkt, was ihr fehlt; sobald sie Sie reklamiert, werden wir ihre Forderung sofort befriedigen.« »Ich bin für die Wissenschaft, was die Arche Noahs für die physische Welt war«, rief er zähneknirschend aus. »Ich weiß es, lieber Freund.« »Sie wollen das Licht unter den Scheffel stellen!« schrie er und ball749
te die Fäuste. »Aber ich werde Sie zermalmen wie Glas«, setzte er mit drohendem Blick hinzu. »Ach, Herr Charles«, antwortete der Doktor, indem er den Irren ruhig und unverwandt ansah und seiner Stimme einen sanft schmeichelnden Ton gab, »ich glaube, Sie sind der größte Gelehrte der neuen Zeit…« »Und der vergangenen«, fiel der Irre ein, indem er über seinem Stolz sogleich seinen Zorn vergaß. »Sie lassen mich nicht ausreden: ich glaubte, Sie wären der größte Gelehrte der vergangenen und gegenwärtigen Zeit…« »Und auch der Zukunft!« setzte der Irre stolz hinzu. »O, der Schwätzer, der mich immer unterbricht!« sagte der Doktor lächelnd, indem er ihm freundschaftlich auf die Achseln klopfte. »Könnte man glauben, ich wüßte nicht, welche Bewunderung Sie einflößen! – Wir wollen den Blinden besuchen, führen Sie mich zu ihm.« »Doktor, Sie sind ein braver Mann; kommen Sie!« sagte der Irre vollkommen beruhigt, indem er vor dem Doktor herging. »Wer ist der Blinde, von dem er spricht? Ist er auch nur eine Illusion seines Geistes?« fragte Madame Georges. »Nein, Madame, das ist eine sehr seltsame Geschichte. Dieser Blinde wurde in einer Diebeshöhle gefunden, wo man eine Räuberbande verhaftete; er war in einem Keller neben der Leiche einer bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Frau an eine Kette gelegt.« »Das ist ja gräßlich!« »Der Mann ist entsetzlich häßlich, und sein ganzes Gesicht ist von Vitriol zerfressen. Er hat seit seiner Einlieferung noch kein Wort gesprochen. Ich weiß nicht, ob er wirklich stumm ist oder sich nur so stellt. Merkwürdigerweise sind die wenigen Krisen, die er gehabt hat, stets in der Nacht zum Ausbruch gekommen. Leider bleiben alle Fragen, die man ihm vorlegt, ohne Antwort, und es ist unmöglich, etwas über seine Lage zu erfahren! Die anderen Irren behandeln ihn mit großer Aufmerksamkeit, führen ihn und unterhalten ihn nach dem Grad ihres Verstandes. – Da ist er!« 750
Alle Personen, die den Arzt begleiteten, wichen beim Anblick des Blinden zurück. Der Blinde war der Schulmeister. Nach seiner Verhaftung war er in einer Zelle der Conciergerie erwacht, wo die Wahnsinnigen eingeschlossen wurden. Als er um sich her sagen hörte: »Er ist ein Tobsüchtiger«, entschloß er sich, diese Rolle zu spielen und zugleich völlige Stummheit zu heucheln, um sich nicht zu kompromittieren für den Fall, daß man an seinem Wahnsinn zweifeln sollte. Die List gelang. Er wurde nach Bicêtre gebracht, erheuchelte hier bisweilen heftige Wutanfälle, wählte aber dazu immer die Nacht, um der Beobachtung des Oberarztes zu entgehen. Auch der im Hause wohnende Arzt, der jedesmal gerufen wurde, kam immer erst, wenn der Anfall schon vorüber war. Die Mitschuldigen des Schulmeisters, die seinen wirklichen Namen und seine Flucht aus Rochefort kannten, wußten nicht, was aus ihm geworden war und hatten auch kein Interesse daran, ihn zu verraten; seine Identität konnte also schwerlich nachgewiesen werden, und er hoffte, so immer in Bicêtre bleiben zu können. Der Schulmeister saß auf einer Bank; ein Wald von grauem Haar bedeckte seinen Kopf; er hatte die Ellenbogen auf seine Knie und das Kinn auf die Hand gestützt. Ein jugendlicher Irrer mit traurigem Gesicht, der vor ihm kniete, hielt seine große Hand in der seinen, sah ihn liebevoll an und wiederholte unablässig das Wort: »Erdbeeren! – Erdbeeren! – Erdbeeren!« »Das also«, sagte ernsthaft der gelehrte Irre, »ist die einzige Unterhaltung, die dieser Blödsinnige dem Blinden zu bieten vermag. – Er wird mir Dank wissen, wenn ich mich mit ihm in Verbindung setze.« »Ich zweifle nicht daran«, sagte der Doktor, während der jugendliche Melancholiker das häßliche Gesicht des Schulmeisters mitleidig betrachtete und mit seiner sanften Stimme wiederholte: »Erdbeeren! – Erdbeeren! – Erdbeeren!« »Dieser Irre«, sagte der Doktor zu Madame Georges, die den Schul751
meister mit Grauen betrachtete, »hat seit er hierhergekommen kein anderes Wort gesprochen, und ich habe noch nicht ergründen können, welches geheimnisvolle Erlebnis sich damit verknüpft.« »Gott, Mutter«, sagte Germain, »wie traurig dieser unglückliche Blinde aussieht!« »Ja, mein Sohn, es ist herzzerreißend, Menschen in solchem Zustand zu sehen.« Madame Georges hatte diese Worte kaum ausgesprochen, als der Schulmeister zusammenfuhr; sein zerrissenes Gesicht erbleichte unter den Narben, er stand auf und wandte sich so rasch nach der Seite, wo die Mutter Germains stand, daß diese einen Ausruf des Schreckens nicht unterdrücken konnte. Der Schulmeister hatte die Stimme seiner Frau erkannt, und die Worte bewiesen ihm, daß sie mit ihrem Sohne sprach. »Was ist dir, Mutter?« fragte Germain. »Nichts, mein Sohn, – aber die Bewegung dieses Mannes und der Ausdruck seines Gesichtes haben mich erschreckt. – Verzeihen Sie meine Schwäche«, setzte sie, zum Doktor gewandt hinzu, »ich bedauere fast, meiner Neugierde nachgegeben und meinen Sohn begleitet zu haben.« »Es ist nichts zu bedauern, Mutter –« »Was für eine Fratze, he, Alter?« sagte Anastasia leise. »Nun, neben dir kommen mir alle Männer so häßlich vor wie dieses Scheusal. Deshalb kann sich auch keiner rühmen, – du verstehst mich schon, Alfred!« »Von dem Gesicht werde ich träumen…« »Wie geht es, lieber Mann?« fragte der Doktor den Schulmeister. Er blieb stumm. »Sie hören mich nicht?« fuhr der Doktor fort, indem er ihm leicht auf die Achseln klopfte. Der Schulmeister antwortete nicht und ließ den Kopf sinken; nach einigen Augenblicken fiel aus seinen toten Augen eine Träne. »Er weint –« »Armer Mann!« sagte Germain mitleidig. 752
»Was ist Ihnen?« fragte der Doktor. Der Schulmeister antwortete nicht, schlug aber beide Hände vor sein Gesicht. »Wir werden nichts von ihm erfahren!« »Lassen Sie mich, ich werde ihn trösten«, fiel der gelehrte Irre ein. »Ich werde ihm beweisen, daß alle Arten rechtwinkliger Flächen, in denen die drei Systeme isothermisch sind … aber nein, ich werde ihn von dem Planetensystem unterhalten.« Dann wandte er sich an den jungen Geisteskranken, der noch immer vor dem Schulmeister kniete und sagte: »Geh weg da – mit deinen Erdbeeren!« »Mein Sohn«, sagte der Arzt, »laß jetzt deinen Kameraden an deine Stelle.« Der junge Irre stand auf, sah schüchtern den Doktor an, winkte dem Schulmeister zu und entfernte sich, während er mit kläglicher Stimme rief: »Erdbeeren! – Erdbeeren!« Der Doktor bemerkte den peinlichen Eindruck, den dieser Auftritt auf Madame Georges machte und sagte: »Wir kommen nun zum Glück zu Morel, und wenn meine Hoffnung mich nicht trügt, werden Sie sich erleichtert fühlen beim Anblick des Mannes, der seiner Frau und Tochter zurückgegeben werden kann.« Der Schulmeister blieb allein mit dem verrückten Gelehrten, aber hörte nicht auf ihn. Er gedachte der Worte, die Rudolf zu ihm gesprochen hatte, ehe er die schreckliche Strafe an ihm vollziehen ließ. »Die armen Menschen!« sprach Madame Georges, nachdem sie einen letzten Blick in den Hof der Blödsinnigen geworfen hatte. »Nun kommen wir«, entgegnete der Arzt, der die traurigen Gedanken der sichtlich erschütterten Frau ablenken wollte, »in das Haus, in dem sich Morel befindet. – Ich habe empfohlen, ihn heute allein zu lassen, damit der Eindruck, den ich auf ihn hervorzubringen hoffe, desto tiefer wirke.« »Worin besteht sein Irrsinn?« fragte Madame Georges leise, um nicht von Luise verstanden zu werden. 753
»Er bildet sich ein, wenn er nicht dreizehnhundert Franken verdiene, um eine Schuld an einen gewissen Notar Ferrand bezahlen zu können, müsse Luise als Kindesmörderin auf dem Schafott sterben.« »Ach, Herr Doktor, dieser Notar war ein Unmensch! Luise Morel und ihr Vater sind nicht seine einzigen Opfer, er hat auch meinen Sohn mit unerbittlichem Haß verfolgt.« »Luise Morel hat mir alles erzählt, Madame«, entgegnete der Doktor, »Gott sei Dank, der Elende ist tot! Aber, bitte, warten Sie einen Augenblick hier, ich will hineingehen und sehen, wie sich Morel befindet.« Der Doktor trat in ein Stübchen, dessen vergitterte Fenster nach dem Garten lagen. Infolge der Ruhe, der gesunden Kost und der guten Pflege war das Gesicht Morels nicht mehr bleich und eingefallen, sondern leicht gerötet und frisch. Aber ein melancholisches Lächeln und der stiere Ausdruck der Augen verrieten, daß sein Geist noch nicht genesen war. Als der Doktor eintrat, saß Morel gebeugt vor einem Tische, bewegte den einen Arm, als sei er mit seiner Arbeit beschäftigt und sprach vor sich hin: »Dreizehnhundert Franken – dreizehnhundert Franken – oder Luise muß aufs Schafott. – Arbeiten – arbeiten, arbeiten!« Der Arzt nahm eine Börse mit fünfundsechzig Louisdor in die Hand, schüttete das Gold auf den Tisch und sagte zu Morel, der mit seiner eingebildeten Arbeit beschäftigt die Ankunft des Doktors nicht bemerkt hatte: »Es ist nun genug gearbeitet, mein lieber Morel. – Sie haben endlich die dreizehnhundert Franken verdient, die Sie zur Rettung Luises brauchen; da sind sie!« »Luise ist gerettet!« rief der Steinschneider aus, indem er das Geld gierig zusammenraffte. »Ich laufe nun gleich zu dem Notar.« Damit stand er auf und ging nach der Türe zu. »Herein!« rief der Doktor in gespannter Erwartung, und Luise er754
schien in der Tür. Morel prallte erstaunt zurück und ließ das Gold fallen. Einige Minuten sah er Luise verwundert an, denn er erkannte sie noch nicht. Doch er schien sich zu bemühen, seine Erinnerung zu sammeln. Luise, die vor innerer Bewegung zitterte, konnte kaum ihre Tränen zurückhalten, während der Arzt aufmerksam alle Bewegungen des Steinschneiders beobachtete. Dieser begann zu erbleichen; er strich mit beiden Händen über die schweißbedeckte Stirn, dann trat er wieder einen Schritt näher an Luise heran und wollte sie anreden; aber die Stimme erstarb ihm auf den Lippen, seine Blässe nahm zu, und er sah sich verwundert um, als wenn er allmählich aus einem Traume erwache. »Gut – gut!« sagte der Doktor leise zu Luise. »Das ist ein gutes Zeichen; wenn ich nun wieder sage: Herein! so sinken Sie ihm in die Arme und nennen ihn Vater!« Der Steinschneider legte die Hände auf die Brust, seine Züge drückten eine schmerzliche Ungewißheit aus; statt seine Augen auf seine Tochter zu richten, schien er sich ihren Blicken entziehen zu wollen. Dann sagte er mit leiser Stimme: »Nein! – Nein! – Unmöglich! – Sie ist es nicht.« Und als seine Blicke auf die Goldstücke auf dem Fußboden fielen, fuhr er fort: »Und dieses Gold – ich erinnere mich nicht –« »Herein!« rief der Doktor laut. »Mein Vater – erkenne mich doch, ich bin Luise, deine Tochter!« rief sie und sank in die Arme des Steinschneiders, als eben die anderen ins Zimmer traten. »Mein Gott!« rief Morel, den Luise liebkoste, – »wo bin ich? Was will man von mir? – Was ist geschehen?« Nach einer Pause nahm er dann den Kopf Luises zwischen seine beiden Hände, sah sie unverwandt an und sagte, während seine Brust sich hob: »Luise!« »Er ist gerettet!« flüsterte der Doktor. »Mein Mann, mein armer Morel!« 755
»Meine Frau!« sagte Morel, »meine Frau und meine Tochter!« »Und ich auch, Herr Morel«, fiel Lachtaube ein, »alle Ihre Freunde sind da.« »Alle Ihre Freunde! Sehen Sie nur, Herr Morel«, setzte Germain hinzu. »Mamsell Lachtaube! Herr Germain!« sagte der Steinschneider, der alle mit neuem Staunen erkannte. »Und die alten Freunde aus der Portiersstube!« flötete Anastasia, die mit Alfred hinzutrat; »da sind auch Pipelets – die alten Pipelets…« »Herr Pipelet – und seine Frau! … Und Luise … du bist es doch, Luise, nicht wahr?« rief er nochmals aus und schloß sie entzückt in seine Arme. »Freilich, Vater, bin ich es, und da ist Mutter, da sind alle deine Freunde, und du wirst uns nicht mehr verlassen. Wir werden keinen Kummer mehr haben, sondern ganz glücklich sein.« »Wartet, ich muß mich erst besinnen… Es ist mir doch, als hätte man dich ins Gefängnis abführen wollen, Luise…« »Ja, Vater, aber ich bin entlassen, freigesprochen, ich bin ja hier – bei dir.« »Wartet – wartet – ich besinne mich.« Dann fuhr er fort: »Und der Notar?« »Ist tot, Vater«, flüsterte Luise. »Tot! Er! Dann, ja, dann können wir glücklich sein. – Aber wo bin ich? Wie bin ich hierher gekommen? Wie lange bin ich hier – und warum? Ich erinnere mich nicht…« »Sie waren so krank«, antwortete der Arzt, »daß man Sie hierher – aufs Land gebracht hat. Sie hatten ein – sehr heftiges Fieber und – redeten irre.« »Ja – ja, ich erinnere mich – ich sprach mit meiner Tochter und – wer doch? – ach ja, Herr Rudolf verhinderte, daß ich verhaftet wurde. – Was dann geschehen ist, weiß ich nicht.« »Ihre Krankheit – war mit einem Schwinden der Erinnerung verbunden«, sagte der Arzt. »Der Anblick Ihrer Tochter, Ihrer Frau und Ihrer Freunde hat sie Ihnen wiedergegeben.« 756
»Und bei wem bin ich hier?« »Bei einem Freunde des Herrn Rudolf«, entgegnete Germain schnell, »man glaubte, die Luftveränderung würde Ihnen gut tun.« »Sehr richtig!« sagte leise der Arzt, der sich dann zu einem Aufseher wandte: »Schicken Sie den Wagen an den Garten, damit er nicht durch die Höfe zu fahren braucht!« Nach einigen Augenblicken stieg Morel, geführt von seiner Frau und Tochter und in Begleitung eines Unterarztes, den der Doktor aus Vorsorge bis Paris mitschickte, in den Wagen und verließ die Anstalt. Wenige Minuten später hatten Madame Georges, Lachtaube, Germain und Pipelets Bicêtre ebenfalls verlassen.
CXLIII
I
n Bicêtre waren in einer abseits gelegenen, besonders befestigten und vergitterten Zelle auch die zum Tode Verurteilten untergebracht. Diese Zelle erhielt ihr Licht nur durch eine schmale Öffnung in der Tür, die auf einen halbdunklen Gang führte. Hier war die Witwe Martial mit ihrer Tochter eingesperrt. Das eckige Gesicht der Witwe des Gerichteten erschien hart, starr und bleich wie ein Marmorbild in der Dämmerung, die in diesem Kerker herrschte. Da sie die Hände nicht gebrauchen konnte – sie trug über ihrem schwarzen Kleide die Zwangsjacke – so verlangte sie, daß ihr die Haube abgenommen werde, weil die Wärme sie belästigte. – Ihr graues Haar fiel auf die Schultern herab; sie saß auf ihrem Bett, stützte die Füße auf den steinernen Fußboden und sah unverwandt ihre Tochter an, die sich an dem entgegengesetzten Ende des Kerkers befand. 757
Kürbis trug ebenfalls die Zwangsjacke und lehnte sich in halb liegender Stellung an die Wand. Ihr Kopf war auf die Brust gesunken, sie atmete kurz, und die Augen starrten ins Leere. Bis auf ein krampfhaftes Zittern, das von Zeit zu Zeit ihr Kinn bewegte, sahen ihre Züge ziemlich ruhig aus, trotz der bleichen Farbe des Gesichtes. Neben der Türe saß ein mit dem Kreuz der Ehrenlegion geschmückter Veteran mit kahlem Scheitel und langem, grauem Schnurrbart. Er bewachte die Gefangenen. »Es ist eiskalt hier! Und doch brennen mir die Augen, und dann habe ich Durst, immer Durst!« sagte die Tochter. Dann wandte sie sich an den Veteranen und setzte hinzu: »Wasser, wenn Sie so freundlich sein wollen!« Der alte Soldat stand auf, nahm von einer Bank einen zinnernen Krug, schenkte ein Glas voll, trat zu dem Mädchen und ließ es langsam trinken. »Wollen Sie auch trinken?« fragte der Soldat die Witwe. Diese schüttelte den Kopf. »Wie spät ist es?« fragte das Mädchen. »Bald halb fünf Uhr«, antwortete der Soldat. »In drei Stunden also…« Die Witwe zuckte die Achseln. »Mutter – du wirst nie schwach – nie?« »Nie!« »Ich habe mein mögliches getan, dir gleich zu sein, habe nicht auf den Geistlichen gehört – weil du es nicht gern sähest. – Ich habe aber doch vielleicht nicht recht daran getan, denn…« »In drei Stunden…« »Wie kaltblütig du das aussprichst, Mutter!« »In drei Stunden bist du gestorben als eine echte Martial! Es ist dir schwarz vor den Augen geworden, das ist alles. – Mut, Mut!« »Es ist nicht recht, daß Sie so mit Ihrer Tochter sprechen«, fiel der alte Soldat mit tiefer Stimme ein. Die Witwe sprach weiter, ohne nur nach dem Veteranen hinzusehen: 758
»Mut, meine Tochter! Wir wollen zeigen, daß Weiber mehr Herz im Leibe haben als die Männer – mit ihren Pfaffen.« »Der Kommandant Lebleu war der tapferste Offizier des dritten Jägerregiments. Ich habe ihn in der Bresche zu Saragossa sich bekreuzigend sterben gesehen«, sagte der Veteran. »Waren Sie sein Sakristan?« fragte die Witwe höhnisch auflachend. »Ich war sein Soldat«, antwortete der Veteran mild. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß man beim Sterben auch beten kann, ohne feige zu sein.« Die Tochter der Witwe sah den Mann aufmerksam an; eine tiefe Narbe zog sich über seine linke Wange und verlor sich in dem grauen Schnurrbart. Der Schlüssel knarrte im Schloß, und die Türe wurde geöffnet. »Schon!« rief die Tochter, indem sie sich mit einem krampfhaften Ruck aufrichtete. »Ach Gott, man hat uns hintergangen – es soll zeitiger geschehen!« »Desto besser – wenn die Uhr des Henkers vorgeht. Deine Kopfhängerei kann mir so nur Schande machen.« »Ihr Sohn ist da«, sagte ein Gefängnisbeamter, »wollen Sie ihn sehen?« »Ja«, antwortete die Witwe, ohne sich zu bewegen. »Treten Sie ein!« sagte der Beamte. Der Veteran blieb in dem Kerker und ließ zu größerer Vorsicht die Türe offen. In dem Halbdunkel des Korridors, der durch eine Wandlampe erleuchtet wurde, sah man mehrere Soldaten und Aufseher. Martial war so bleich wie seine Mutter. Seine Züge drückten Angst und Abscheu aus, und seine Knie zitterten. Sobald er in den Kerker trat, warf die Witwe einen durchbohrenden Blick auf ihn und sagte mit zorniger Stimme: »Du siehst – was man – mit deiner Mutter und deiner Schwester – tun will.« »Ach, Mutter, es ist schrecklich, aber ich habe es dir wohl gesagt!« Die Witwe drückte zornig die bleichen Lippen zusammen. 759
»Man wird uns umbringen, wie man deinen Vater umgebracht hat.« »Mein Gott! – Und ich kann nichts tun! Warum hast du nicht auf mich gehört? Ihr würdet nicht hier sein –« »Du bist zufrieden, du wirst – ohne zu lügen – sagen können, deine Mutter sei tot, und dich ihrer nicht mehr schämen.« »Wenn ich ein schlechter Sohn wäre«, antwortete Martial, »würde ich nicht hier sein.« »Du kommst – aus Neugierde.« »Ich komme, um dir zu gehorchen.« Martial trat ohne zu antworten, zu seiner Schwester, die mit der Todesangst kämpfte, und sagte mitleidig: »Arme Schwester – nun ist es – zu spät.« »Um feig zu sein, ist es nie zu spät!« höhnte die Mutter mit verbissenem Ingrimm. »Ach, Martial, sorge für die Kinder – oder sie enden wie ich und die Mutter!« »Mag er immer sorgen«, rief die Witwe aus, »Laster und Armut werden stärker sein als er, und eines Tages werden die Kinder Vater, Mutter und Schwester rächen.« »Deine schreckliche Hoffnung wird nicht in Erfüllung gehen, Mutter«, antwortete Martial. – »Morgen reisen wir, die Wölfin und ich, mit den Kindern fort und werden nie wieder nach Europa kommen.« »Ist das wahr?« »Ich lüge nie.« »Heute lügst du, um mich zu ärgern.« »Dich zu ärgern, weil die Zukunft der Kinder gesichert ist?« »Ja – man wird aus jungen Wölfen Lämmer machen. Das Blut deines Vaters, deiner Mutter und deiner Schwester wird nicht gerächt werden…« »Mutter – die Reue –« Die Witwe lachte laut auf. »Ich lebe seit dreißig Jahren als Verbrecherin, und um diese dreißig Jahre zu bereuen, gibt man mir drei Tage, dann den Tod. Habe ich Zeit? Nein, nein – wenn mein Kopf fällt, soll er noch Wut und 760
Haß ausdrücken.« »Bruder, hilf mir – führe mich fort – sie kommen«, murmelte die Schwester, deren Gedanken sich zu verwirren begannen. »Willst du schweigen!« rief die Witwe. In diesem Augenblick hörte man viele Schritte auf dem Gang. Der Veteran zog seine Uhr und stand auf. Die Sonne ging strahlend auf und warf einen Strom goldenen Lichtes durch das schmale Fenster im Korridor. Die Türe wurde weit geöffnet… Aufseher brachten zwei Stühle, dann kam ein höherer Beamter und sagte ernst: »Es ist Zeit!« Vier Männer traten ein. Der größte von ihnen, der ganz schwarz gekleidet war, einen runden Hut und ein weißes Halstuch trug, übergab dem Beamten ein Papier. Dieses Papier war die Quittung über zwei für die Guillotine in Empfang genommene, zum Tode verurteilte Frauen. Auf die Verzweiflung des Mädchens war eine stumpfe Gleichgültigkeit gefolgt. Zwei Gehilfen des Henkers mußten sie auf ihr Bett setzen und halten. Ein Kinnbackenkrampf hielt ihren Mund so fest geschlossen, daß sei kaum einige Worte lallen konnte. Martial umarmte die Unglückliche noch einmal, dann stand er unbeweglich da. Die Kaltblütigkeit der Witwe verleugnete sich nicht einen Augenblick; sie war selbst behilflich, die Zwangsjacke, die ihre Bewegungen hemmte, abzulegen. »Wohin soll ich mich stellen?« fragte sie mit fester Stimme. »Setzen Sie sich auf einen dieser Stühle«, sagte der Nachrichter. Da die Türe offen geblieben war, sah man auf dem Korridor mehrere Aufseher, den Direktor des Gefängnisses und einige Neugierige. Die Witwe ging mit sicherem Schritte auf den Stuhl zu. Vor ihrer Tochter blieb sie stehen und sagte mit leicht bewegter Stimme: »Meine Tochter – umarme mich!« 761
Als die Tochter die Stimme ihrer Mutter hörte, erwachte sie aus ihrem Stumpfsinn, richtete sich auf und rief: »Wenn es eine Hölle gibt – so fahre dahin, verfluchte Mutter!« »Meine Tochter – umarme mich!« sagte die Mutter noch einmal. »Komm mir nicht zu nahe! – Du hast mich ins Unglück gestürzt!« »Verzeihe mir!« »Nein! – Nein!« entgegnete das Mädchen, dann sank es erschöpft und fast bewußtlos in die Arme der Gehilfen des Nachrichters. Über die ungebeugte Stirn der Witwe zog eine Wolke; ihre brennenden Augen wurden feucht. Zugleich begegnete sie dem Blick ihres Sohnes und sagte zu ihm: »Und du?« Martial sank schluchzend in die Arme seiner Mutter. »Genug! Der Herr da wartet!« Dann schritt sie rasch nach dem Stuhle ihn, auf den sie sich entschlossen niedersetzte. »Lieber Mann«, sagte der Veteran zu Martial, »bleiben Sie nicht da. – Kommen Sie – kommen Sie!« Die beiden Gehilfen hatten die fast bewußtlose Tochter auf den Stuhl getragen; einer hielt den leblosen Körper, während der andere ihr die Hände auf dem Rücken zusammenband und auch um die Füße Fesseln legte, doch so, daß sie mit kleinen Schritten gehen konnte. Der Nachrichter und ein anderer Gehilfe fesselten mit gleicher Geschicklichkeit die Witwe, ohne daß sich in den Zügen dieses Weibes irgendeine Veränderung zu erkennen gab. Sie hustete nur leicht. Nachdem die Verurteilte so in die Unmöglichkeit versetzt war, eine Bewegung zu machen, nahm der Henker eine Schere aus der Tasche und sagte höflich: »Beugen Sie gefälligst den Kopf!« Die Witwe tat es und sagte: »Wir sind gute Kunden… Sie haben schon meinen Mann gehabt; jetzt bekommen Sie die Frau und die Tochter.« Der Henker nahm ohne zu antworten das lange graue Haar der 762
Verurteilten in die linke Hand und fing an, es abzuschneiden. »Das ist nun das drittemal, daß man mir meinen Kopf verschönt«, sagte die Witwe mit gräßlichem Lächeln, »bei meiner ersten Kommunion, als man mir den Schleier ansteckte; bei meiner Verheiratung, als man mir den Brautkranz aufsetzte, und nun heute…« »Sie wissen gewiß nicht, woran ich jetzt denke«, sagte die Witwe zu dem Nachrichter, als sie ihre Tochter von neuem betrachtet hatte. Der Nachrichter schwieg. »Ich denke«, sagte die Witwe, »daß meine Tochter, der man nun den Kopf abschlagen will, vor fünf Jahren das schönste Mädchen war. Sie hatte blondes Haar und ein Gesicht wie Milch und Blut. Wer ihr damals hätte sagen wollen … ach, welche Komödie spielt doch das Schicksal!« In diesem Augenblick fielen die letzten Haarbüschel der Verurteilten. »Es ist geschehen«, sagte der Nachrichter. »Ich danke – und empfehle Ihnen meinen Sohn Nikolaus«, entgegnete die Witwe, »Sie werden ihn bald unter die Hände bekommen.« »Wir werden nun aufbrechen; wollen Sie nichts genießen?« fragte der Nachrichter. »Ich danke – heute abend wird man mir den Mund mit Erde stopfen.« Nach diesen Worten stand die Witwe auf. Der Henker und einer seiner Gehilfen wollten sie stützen; sie machte eine ungeduldige Bewegung und sagte mir harter Stimme: »Rührt mich nicht an! Ich bin gut zu Fuße!« Das Mädchen mußte hinausgetragen werden. – Nachdem man über den langen Korridor gegangen war, stieg man eine Treppe hinauf, die in einen der äußeren Höfe führte. Die Sonne übergoß mit warmem, goldenem Licht die hohen, weißen Mauern. Der Himmel war blau, die Luft lau und lind; es war ein lachender, herrlicher Frühlingsmorgen. 763
In dem Hof befand sich ein Gendarmeriepikett und ein langer, schmaler Wagen mit gelbem Kasten, der von drei Postpferden gezogen wurde, die lustig wieherten und mit ihren Glöckchen klingelten. Man stieg in diesen Wagen wie in einen Omnibus durch eine an der hinteren Seite befindliche Türe. Diese Ähnlichkeit veranlaßte die Witwe zu spotten: »Der Kondukteur wird nicht sagen – besetzt!« worauf sie gewandt auf den Tritt hinaufstieg. Ihre Tochter wurde in den Wagen gehoben, dann schloß man die Türe.
CXLIV
A
ls Germain das Gefängnis verlassen hatte, wies der Schurimann bald nach, daß er sich selbst bestohlen hatte; auch gestand er dem Untersuchungsrichter den Zweck dieser seltsamen Mystifikation und wurde in Freiheit gesetzt. Da Rudolf Marienblume noch nicht wiedergefunden hatte und dem Schurimann seine Dankbarkeit beweisen wollte, hatte er seinen Schützling in seine Wohnung in der Rue Plumet aufgenommen und ihm versprochen, ihn mit nach Deutschland zu nehmen. Der Ehrgeiz des Schurimannes beschränkte sich darauf, unter einem und demselben Dache mit dem Fürsten zu wohnen, ihn bisweilen zu sehen und mit Ungeduld auf eine neue Gelegenheit zu warten, sich für ihn oder die Seinigen zu opfern; er zog diese Lage tausendmal dem Besitz der Farm in Algier vor, die ihm Rudolf zur Verfügung gestellt hatte. Das änderte sich, als der Fürst seine Tochter wiedergefunden hatte; er konnte sich nicht entschließen, diesen Zeugen der Schande 764
Marienblumes mit nach Deutschland zu nehmen. Mit dem Entschluß, alle Wünsche des Schurimannes zu erfüllen, ließ er ihn noch einmal zu sich rufen und sagte ihm, er erwarte einen neuen Dienst von seiner Liebe. Das Gesicht des Schurimannes strahlte bei diesen Worten vor Freude, aber es drückte bald die größte Bestürzung aus, als er erfuhr, daß er dem Fürsten nicht nach Deutschland folgen könne und sogar den Palast verlassen müsse. Der Schurimann weinte zum erstenmal in seinem Leben. Rudolf mußte seinen ganzen Einfluß aufbieten, um ihn zu bewegen, den Grundbesitz in Algier anzunehmen. Am Tage darauf ließ der Fürst die Wölfin und Martial kommen, ohne ihnen zu sagen, daß Marienblume seine Tochter sei; er fragte sie, was er für sie tun könne und versicherte, daß ihre Wünsche erfüllt werden sollten. Als er sah, daß sie zögerten, trug er ihnen eine bedeutende Geldsumme und fruchtbare Ländereien in Algier an. Martial und die Wölfin nahmen das Anerbieten mit Freuden an, und als er sie mit dem Schurimann bekanntgemacht hatte, wünschten sich alle drei Glück, in Algier Nachbarn zu werden. Bald waren die künftigen Ansiedler aufrichtige Freunde geworden. Deshalb hatte es sich der Schurimann auch nicht nehmen lassen, Martial auf seinem traurigen Wege nach Bicêtre zu begleiten. »Mut, Martial!« sagte er, als er ihn nach dem letzten Besuch bei seiner Mutter und Schwester wiedersah, »Sie haben getan, was ein guter Sohn tun konnte. – Es ist vorbei. – Denken Sie an Ihre Frau und an die Kinder…« »Gleichviel; sie bleibt doch meine Mutter…« »Nun ja, aber man muß sich fügen.« Nach einer Pause sagte Martial herzlich: »Eigentlich müßte ich Sie trösten. – Immer diese Traurigkeit…« »Immer, Martial.« »Ich und meine Frau hoffen, daß es besser wird, wenn wir Paris erst hinter uns haben.« »Ja«, sagte Schurimann, »wenn ich aus Paris fortkomme –« »Wir reisen doch heute abend!« 765
»Ja, Sie reisen heute abend.« »Und Sie? Haben sie sich anders besonnen?« Der Schurimann raffte sich gewaltsam auf und sagte: »Sehen Sie, Martial – Sie werden die Achseln zucken, aber ich sage es Ihnen doch –« »Was?« »Als Herr Rudolf uns fragte, ob wir miteinander nach Algier reisen und dort Nachbarn sein wollten, mochte ich Sie und Ihre Frau nicht täuschen. – Ich sagte Ihnen, was ich gewesen bin…« »Sprechen wir nicht mehr davon! – Sie haben Ihre Strafe erlitten und sind so gut als irgendeiner. – Unter uns ist die Vergangenheit vergessen. Beruhigen Sie sich, wir rechnen auf Sie, wie Sie auf uns rechnen können!« »Vergessen Sie nicht: Ich habe einen Menschen umgebracht.« »Das ist ein großes Unglück, aber Sie waren in jenem Augenblick nicht Herr über sich; und dann haben Sie anderen Menschen das Leben gerettet, das muß Ihnen doch auch angerechnet werden.« »Hören Sie mich an, Martial, ich spreche aus einem besonderen Grunde davon! Mich quälte oftmals ein Traum, in dem ich den Feldwebel sah, den ich getötet habe. Seit langer Zeit hatte ich diesen Traum nicht mehr – in voriger Nacht kam er wieder…« »Das ist ein Zufall.« »Nein – das bedeutet Unglück!« »Sie sind nicht klug, lieber Freund.« Der Schurimann schüttelte den Kopf. »Er stellte sich gerade am Tage vor der Abreise des Herrn Rudolf ein – denn heute reist er ab.« »Heute?« »Ja. – Heute vormittag um elf, und er fährt durch die Barriere von Charenton. Dorthin will ich mich stellen, damit ich ihn noch einmal sehe, das letztemal!« »Wer weiß! Vielleicht sehen Sie ihn doch wieder?« »Ach nein; er hat mir gesagt: ›Guter Freund, du mußt mir versprechen, nie den Versuch zu machen, mich wiederzusehen.‹ Sie kön766
nen sich denken, Martial: ich habe es versprochen, und – ein Mann, ein Wort, – ich werde es halten, so hart es auch ist.« »Sind Sie erst drüben, so werden Sie allmählich vergessen, was Sie bekümmert. Wir arbeiten und leben allein und ruhig, bis auf die Flintenschüsse, die es bisweilen mit den Arabern zu wechseln gibt. Desto besser, das paßt für mich und meine Frau, denn die Wölfin hat Mut.« »Die Flintenschüsse sind meine Sache, Martial«, sagte der Schurimann, etwas weniger niedergeschlagen. – »Ich bin nicht verheiratet und war Soldat.« »Und ich war Wilddieb.« »Aber Sie haben Ihre Frau und die beiden Kinder, bei denen Sie Vaterstelle vertreten müssen. – Ich habe nur meine Haut, und auf die lege ich keinen Wert. Wenn es also Flintenschüsse gibt, so nehme ich sie auf mich.« »Sie gehen uns beide an.« »Nein, mich allein, zum Donnerwetter! Die Beduinen sind mein.« »So höre ich Sie lieber reden als vorhin! Schurimann, wir werden wie Brüder leben, und Sie können uns von Ihrem Kummer erzählen… Wir werden beide die Gefahr nicht fürchten und halb Bauern, halb Soldaten sein. – Es gibt Jagd da drüben, wir jagen also. – Wollen Sie allein wohnen, so steht es Ihnen frei, und wir bleiben guten Nachbarn; wollen Sie es nicht, so wohnen wir alle zusammen. Nicht wahr?« fragte Martial, indem er dem Schurimann die Hand bot. »Ja, mein braver Martial, und dann – der Gram bringt mich um, oder ich bringe ihn um, wie man zu sagen pflegt –« »Nicht wahr, Sie denken nicht mehr an den dummen Traum?« »Ich will es versuchen.« »Sie holen uns um vier Uhr ab? Um fünf geht die Post.« »Topp! Aber wir sind bald da; ich will den Wagen halten lassen und zu Fuß bis zur Barriere gehen, um Herrn Rudolf vorüberkommen zu sehen.« Der Wagen hielt an, und der Schurimann stieg aus. 767
»Vergessen Sie nicht: um vier Uhr!« rief ihm Martial nach. Der Schurimann hatte vergessen, daß es der Tag nach Fastnacht war, und er wunderte sich deshalb nicht wenig über das seltsame Schauspiel, das sich ihm darbot, als er über einen der äußeren Boulevards ging, um an die Barriere von Charenton zu gelangen.
CXLV
E
r sah sich durch einen Volksstrom mit fortgerissen, der aus den Wirtshäusern der Vorstadt Glacière kam, um sich auf den Boulevard St. Jacob zu ergießen, wo die Hinrichtung stattfinden sollte. Fast alle: Männer, Frauen und Kinder trugen Maskenanzüge; einige junge Burschen erschienen in Frauenkleidern, während einige der derbsten Vorstadtdirnen Männeranzüge trugen. In allen diesen durch das Laster gezeichneten Gesichtern strahlte wilde Freude, da sie nach einer durchschwärmten Nacht zwei Frauen auf dem Schafott sterben sehen sollten. Der Boulevard war an dieser Stelle sehr schmal. Der Menschenstrom staute sich und hemmte jeden Verkehr. Der Schurimann mußte trotz seiner Riesenkraft in dieser kompakten Masse fast unbeweglich stehenbleiben. – Da der Fürst um zehn Uhr aus der Rue Plumet abfuhr, konnte er nicht vor elf an der Barriere von Charenton ankommen, und jetzt war es erst sieben Uhr. Der Schurimann wurde bis an die Mauer eines Wirtshauses gedrängt und sah durch die offenen Fenster, aus denen die lärmenden Töne gellender Messinginstrumente drangen, ein seltsames Schauspiel mit an. In einem großen, niedrigen Saal, an dessen einem Ende sich die Musiker befanden, und in dem auf Bänken und Tischen Speise768
überreste, zerbrochene Teller und umgestürzte Flaschen lagen, tanzten etwa zwölf betrunkene Männer und Frauen einen Cancan. Unter den Paaren, die an dieser orgiastischen Szene teilnahmen, bemerkte der Schurimann zwei, die durch ihre schamlosen Gebärden und Stellungen besonderen Beifall fanden. Das erste Paar bestand aus einem als Bär verkleideten Mann, der Hosen und Jacke von schwarzem Schaffell trug. Der Kopf des Tieres war durch eine Art Kapuze mit langem Haar ersetzt worden, die das Gesicht ganz verhüllte; zwei Löcher in der Gegend der Augen und ein breiter Spalt am Munde ermöglichten das Sehen und Atmen. Dieser Vermummte, einer der aus La Force entwichenen Gefangenen, war Nikolaus Martial. Das Mädchen, das als Marketenderin verkleidet mit ihm tanzte, trug einen verbeulten Lederhut mit zerrissenen Bändern, ein Wams von verschossenem roten Tuch mit drei Reihen Kupferknöpfen, einen grünen Rock und weiße Strümpfe. Ihr bleiches Gesicht verriet schamlose Frechheit. Das andere Paar war von nicht geringerer Gemeinheit. Der Mann, fast ein Riese, war als Vagabund verkleidet und hatte sein hageres Gesicht so mit Ruß beschmiert, daß er ganz unkenntlich war; eine breite Binde bedeckte sein rechtes Auge. Der untere Teil des Gesichtes verschwand ganz in einer hohen roten Krawatte. Auf dem Kopfe trug er einen abgeschabten schmutzigen Hut ohne Boden; ferner war er mit einem zerrissenen grünen Frack und roten, an tausend Stellen geflickten Hosen bekleidet, die unten mit Bindfaden zusammengebunden waren. So herausstaffiert übertrieb dieser Tänzer die groteskesten und frechsten Stellungen des Cancans, warf seine langen, eisenharten Glieder recht und links, vorund rückwärts, als würden sie durch Stahlfedern in Bewegung gesetzt. Dieser Tänzer war Skelett. Seine Partnerin, ein starkes, gewandtes Geschöpf mit frechem Gesicht und einer Soldatenmütze auf dem Ohr, trug eine Jacke und Hosen von grünem Samt und um die Taille eine orangefarbene Schärpe mit langen Enden, die um sie herumflatterten. 769
Ein dickes, gemeines Weib, die Wirtin aus der Penne, saß auf einer Bank und hatte die karierten Mäntel der Weiber auf den Knien, während sie in den frechsten Stellungen mit Skelett und Nikolaus Martial wetteiferten. Unter den anderen Tänzern bemerkte man noch einen kleinen Lahmen, der sich als Teufel verkleidet hatte. Das kleine Ungeheuer besaß trotz seinem Gebrechen eine bewunderungswürdige Gewandtheit; seine frühzeitige Verdorbenheit war ebenso groß wie die seiner Genossen, und er hüpfte frech vor einer dicken Frau herum, die als Schäferin gekleidet war und die Schamlosigkeit ihres Tänzers durch lautes Lachen herausforderte. Die Teilnehmer dieser Orgie riefen, durch das Lachen und den Beifall der Menge an den Fenstern aufgereizt, dem Orchester zu, noch einen Tanz zu spielen. Die Musiker fügten sich und spielten mit Feuer einen Galopp von rasendem Tempo. Das Gekreische verdoppelte sich. Alle Paare umschlangen sich und begannen einen wahren Höllentanz. Bald fehlte es dieser vom Wein erhitzten Menge an Platz, und Skelett rief mit keuchender Stimme: »Wir tanzen hinaus auf den Boulevard!« »Ja, ja!« rief die Menge an den Fenstern, »Galopp bis an die Barriere St. Jacob!« »Wir tanzen den Guillotinekonter!« »Vorwärts, Frau ohne Kopf!« rief der kleine Lahme. »Das wird den Verurteilten Spaß machen…« »Ich ziehe die Witwe auf…« »Ich die Tochter…« »Der alte Henker wird lachen.« »Tod allen Ehrlichen! Es leben die Mörder!« rief das Skelett mit durchdringender Stimme. Es entstand ein entsetzliches Gedränge; man hörte Gebrüll, Flüche und lautes Lachen. In der Ferne zeigte sich der Wagen der Verurteilten mit der Kavalleriebedeckung, und die ganze Pöbelmasse stürzte unter wüstem 770
Gejohl nach dieser Richtung. In diesem Augenblick erschien ein Kurier, der im Galopp nach der Barriere von Charenton ritt. Er trug eine hellblaue Jacke mit gelbem Kragen und silbernen Tressen. Zum Zeichen tiefer Trauer trug er schwarze, kurze Beinkleider; die Mütze mit den breiten Tressen war von Krepp umschlungen. Am Zügel sah man das großherzogliche Wappen von Gerolstein. Der Kurier ließ sein Pferd im Schritt gehen, mußte aber bald anhalten, als er sich in dem Pöbelhaufen befand. Obgleich er sein Pferd mit der äußersten Vorsicht lenkte, zischten doch bald Schimpfreden und Drohungen gegen ihn auf. »Will der mit seinem Kamel über uns hinwegreiten?« »Hat der aber Silber auf dem Leibe!« rief der kleine Lahme unter der grünen Maske mit roter Zunge. »Wenn er uns wild macht, reißen wir ihn vom Pferde herunter!« »Und schneiden ihm die Tressen ab, um sie einzuschmelzen«, sagte Nikolaus. »Und stoßen dem Bedientenpack ein Eisen in den Leib, wenn es nicht gehorcht«, setzte Skelett zu dem Kurier gewandt hinzu, während er die Zügel des Pferdes ergriff, denn das Volksgedränge war so dicht geworden, daß es der Bandit aufgegeben hatte, bis an die Barriere zu tanzen. Der Kurier, ein kräftiger und entschlossener Mann, sagte, indem er die Reitpeitsche hob: »Laß los! Der Wagen meines Herrn kommt hinter mir…« »Dein Herr?« entgegnete Skelett. – »Was geht mich dein Herr an? Ich mache ihn kalt, wenn es mir einfällt!« »Es gibt keine Herren mehr!« rief der kleine Lahme, faßte einen Stiefel des Kuriers und hängte sich mit seiner ganzen Last daran, so daß der Mann im Sattel wankte. Ein Hieb mit der Peitsche strafte den Buben, aber schon stürzte sich der Pöbel auf den Kurier; er wurde vom Pferde gerissen, unter allgemeinen Hohngeschrei niedergeworfen und wäre erschlagen worden, wenn nicht der Wagen Rudolfs die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hätte. 771
Der mit vier Pferden bespannte Wagen fuhr im Schritt. Die Postillone riefen: »Achtung!« und fuhren mit aller Vorsicht. Rudolf ließ erstaunt das Fenster herunter und sagte deutsch zu dem Diener, der neben dem Schlage ging: »Was gibt es, Franz? Was bedeutet der Tumult?« »Es ist ein solches Gedränge, daß die Pferde nicht durchkönnen –« »Franz, befiehl den Postillonen, umzukehren und auf einem anderen Wege nach Charenton zu fahren«, sagte Rudolf. »Es ist zu spät – wir sind mitten im Gedränge. – Man hält die Pferde an –.« Der Mann konnte nicht weitersprechen. Die Menge, durch die Prahlereien Skeletts aufgereizt, umringte plötzlich schreiend den Wagen. Die Pferde wurden angehalten, und Rudolf sah ringsherum drohende Gesichter… »Mein Vater – nehmen Sie sich in acht!« rief Marie, indem sie ihre Arme um den Hals Rudolfs schlang. »Sie also sind der Herr?« sagte Skelett, indem er seinen Kopf in den Wagen hineinsteckte. Rudolf hielt an sich und antwortete kalt: »Was wollen Sie? Warum halten Sie meinen Wagen an?« »Weil es uns so gefällt!« antwortete Skelett, während er die knochigen Hände auf den Schlag legte. »Einer nach dem anderen; – gestern mißhandeltest du die Kanaille, heute wird die Kanaille sich rächen…« »Er muß aussteigen und seine Frau auch!« rief Nikolaus. »Warum fahren sie mitten in das arme Volk hinein?« »Sie scheinen zuviel getrunken zu haben und doch noch mehr trinken zu wollen«, sagte Rudolf, indem er eine Börse aus der Tasche zog. »Da – nehmen Sie das und halten Sie meinen Wagen nicht länger auf!« Er warf die Börse hin. Der kleine Lahme fing sie auf. »Du mußt viel Geld bei dir haben; heraus damit, oder… Ich habe nichts zu riskieren; deshalb fordere ich bei hellem Tage dein Leben oder dein Geld! Das ist lustig«, brüllte der Bandit, von Wein und 772
Blutdurst völlig berauscht. Und dabei riß er den Wagenschlag auf. Die Geduld Rudolfs war zu Ende; besorgt um Marie, deren Angst jede Minute wuchs, und in der Meinung, ein Beweis seiner Kraft würde den Elenden, den er für betrunken hielt, einschüchtern, sprang er aus dem Wagen, um den Räuber an der Kehle zu fassen. – Anfangs wich dieser zurück, dann nahm er ein langes Dolchmesser aus seiner Tasche und stürzte auf Rudolf los. Marie stieß, als sie den Dolch sah, einen Schrei aus, sprang aus dem Wagen und umschlang ihren Vater. Es wäre um beide geschehen gewesen, wenn nicht der Schurimann, der den Fürsten erkannt hatte, sich mit einer übermenschlichen Anstrengung zu Skelett durchgearbeitet hätte. In dem Augenblick, in dem der Bandit den Fürsten mit dem Messer bedrohte, hielt ihm der Schurimann den Arm mit der einen Hand fest, während er ihn mit der anderen am Kragen packte und niederdrückte. Der Räuber konnte sich noch umdrehen, erkannte den Schurimann und rief aus: »Der Mann aus La Force! Diesmal entgehst du mir nicht!« Und er stürzte sich wütend auf den Schurimann und stieß ihm das Messer in die Brust. Der Schurimann wankte, aber fiel nicht – die Menge hielt ihn. »Die Wache kommt!« riefen einige Stimmen. Bei diesen Worten zerstreute sich die Menge wie durch einen Zauberschlag und entfloh nach allen Seiten. Auch Skelett, Nikolaus Martial und der kleine Lahme verschwanden. Als die Wache ankam, war auf dem Schauplatz dieses traurigen Ereignisses niemand mehr anwesend als Rudolf, Marie und der in seinem Blute schwimmende Schurimann. Die beiden Diener des Fürsten hatten ihn an einen Baum gelehnt. Der Fürst hielt bleich und bewegt seine halb ohnmächtige Tochter umfaßt, während die Postillone das Geschirr ihrer Pferde wieder in Ordnung brachten. 773
»Schnell!« sagte der Fürst zu seinen Leuten, die sich um den Schurimann bemühten; »tragt den Verletzten ins Wirtshaus. Und du«, setzte er zu seinem Kurier gewandt hinzu, »steige auf den Bock, fahre, was die Pferde laufen, in mein Haus und hole den Doktor David; da er erst um elf Uhr abreisen sollte, wird er noch zu finden sein.« Einige Minuten später fuhr der Wagen im Galopp davon. Die beiden Diener trugen den Schurimann in den Saal, in dem eben noch so wüste Orgien gefeiert worden waren. »Armes Kind!« sagte Rudolf zu seiner Tochter, »ich will dich in ein Zimmer dieses Hauses bringen, da magst du auf mich warten. Ich kann den Mann, der mir abermals das Leben gerettet hat, nicht meinen Leuten überlassen.« »Ach, Vater, lassen Sie mich nicht allein – ich würde sterben vor Angst; ich will bei Ihnen bleiben.« Der Besitzer des Wirtshauses und mehrere Frauen, die noch dageblieben waren – unter ihnen auch die Wirtin vom ›Weißen Kaninchen‹ – hatten den Verwundeten auf eine Matratze gelegt und versuchten, das Blut zu stillen. Der Schurimann hatte eben die Augen aufgeschlagen, als Rudolf eintrat. Beim Anblick des Fürsten belebte sich sein Gesicht; er lächelte und sagte mit matter Stimme: »Ach, Herr Rudolf, das traf sich gut, daß ich da war!« »Dank, mein Braver…«, sagte der Fürst, dem die Stimme versagte. »Ich hatte also recht, als ich zu Martial sagte, ein Wurm wie ich, könnte manchmal doch nützlich sein –« »Ich verdanke dir wieder mein Leben!« »Wir sind quitt – Herr Rudolf. – Ach, ich ersticke, – geben Sie mir Ihre Hand – ich fühle, daß es – zu Ende geht.« »Nein, es ist nicht möglich!« rief der Fürst aus, indem er die kalte Hand des Verwundeten drückte, – »nein, du wirst leben…« »Herr Rudolf, – sehen Sie, – es gibt – da oben – etwas! – Ich habe getötet – durch einen Messerstich, und – ich sterbe – durch einen 774
– Messerstich«, sagte der Schurimann, mit immer schwächer werdender Stimme. In diesem Augenblick fiel sein Blick auf Marienblume, die er noch nicht bemerkt hatte. – Auf seinem Gesicht malte sich Erstaunen; er machte eine Bewegung und sagte: »Ach – mein – Gott – die Schallerin!« »Sie segnet dich dafür, daß du ihr den Vater erhalten hast!« »Sie – Ihre Tochter! – Das – erinnert mich daran – wie – wir miteinander – bekannt – wurden, – Herr Rudolf – Ich habe – das Messer gebraucht – und sterbe durch – ein Messer. – Es ist ganz – recht.« Dann holte er noch einmal tief Atem, ließ den Kopf zurücksinken und verschied. Draußen hörte man Pferdegetrappel. David und der Squire traten ein. »David«, sagte Rudolf, indem er seine Tränen trocknete und auf den Schurimann zeigte, »ist keine Hoffnung mehr?« »Keine, Hoheit«, sagte der Arzt nach kurzer Untersuchung. Während dieser Minute hatte sich eine stumme Szene zwischen Marie und der Wirtin vom ›Weißen Kaninchen‹ abgespielt, die Rudolf nicht bemerkt hatte. Als der Schurimann halblaut den Namen der Schallerin ausgesprochen, hatte die Wirtin rasch aufgesehen und die Schallerin erkannt. Eine solche Verwandlung ging über die Begriffe der Frau, die ihr ehemaliges Opfer unverwandt anstarrte. Marie stand bleich und unbeweglich da und schien durch diesen Blick, der sie an die furchtbarste Zeit ihres Lebens erinnerte, gleichsam festgebannt zu sein. Dann aber wandte sie den Kopf und sah ihren Vater. Und in einem Gefühl überströmender Dankbarkeit griff sie nach seiner Hand und bedeckte sie mit Küssen und Tränen. Bald danach hatte Rudolf mit seiner Tochter Paris für immer verlassen. 775