Juri Dolguschin
Das Geheimnis des alten Schlosses
Wissenschaftlich-phantastische Erzählung
Kleine Jugendreihe 5. Jah...
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Juri Dolguschin
Das Geheimnis des alten Schlosses
Wissenschaftlich-phantastische Erzählung
Kleine Jugendreihe 5. Jahrgang, Heft 2/1954
Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin 1954 V 1.0 by Dumme Pute
Russischer Originaltitel: TaHHa HeBI)IMKI
Der deutschen gekürzten Fassung liegt eine Übersetzung
von Götz Barndt zugrunde.
Printed in Germany • Alle Rechte vorbehalten
Lizenz-Nr. 3
Einband: Rudi Lehmann
2 Illustrationen: Rudi Lehmann
2 Illustrationen eines sowjetischen Graphikers,
nachgezeichnet von Rudi Lehmann
Satz und Druck: (III/9/1) Sächsische Zeitung, Dresden N 23 15027
285/132/54
Wir marschierten nach Westen. Die Offensive, die uns wie ein klar anbrechender Tag nach dunkler Nacht anmutete, hielt an. Unsere Truppen stürmten überraschend schnell nach vorn und durchbrachen in harten, blutigen Kämpfen alle deutschen Verteidigungslinien. Kamen wir zum Stehen, um wütende Gegenangriffe zurückzuschlagen, sammelten wir gleichzeitig neue Kräfte für den nächsten Kampf. Ringsum war verwüstetes Land. Nirgends konnte uns ein Dach Schutz und Wärme bieten. Sogar die Straßen waren zerstört. Es kostete große Anstrengungen, Waffen und Geräte heranzuholen, Unterkünfte herzurichten und Essen zu kochen. Aber ungeachtet all dieser Schwierigkeiten hatten sich unsere Männer auffallend verändert. Das waren nicht mehr die wortkargen Soldaten, die sich auf Befehl in neue, weiter östlich gelegene Stellungen zurückziehen mußten. Die Wende im Verlauf des Krieges gab ihnen neuen Mut. Jetzt genügte bereits ein flüchtiger Blick, um die unerschöpflichen Vorräte an Energie, Tapferkeit und Stärke in
ihnen zu erkennen. Als Arzt und Wissenschaftler interessierte mich besonders diese erstaunliche Wandlung, die in allen vorgegangen war. Zum erstenmal konnte ich mich persönlich davon überzeugen, welch gewaltigen Einfluß der Geist auf den Körper, auf den Zustand des gesamten Organismus, auszuüben vermochte. Von dem Augenblick an, da wir nach Westen marschierten, wurden unsere Leute kaum noch krank. Diese Erkenntnis begeisterte mich so, daß ich anfing, genaue Zahlen zu sammeln und Beobachtungen niederzuschreiben, um später auf Grund dieses Materials eine ausführliche Arbeit über den Einfluß der seelischen Verfassung auf die Funktionen des Organismus zu schreiben. Wir setzten unseren Vormarsch weiter fort, umgingen Lwow, und schon sahen wir die schneebedeckten Ausläufer der Karpaten vor uns . An einem trüben, regnerischen Herbsttag ließ unser Chefarzt die Schwerverwundeten mit einem kleinen Stab Sanitätspersonal am alten Standort zurück und verlegte das Feldlazarett auf Befehl der Obersten Heeresleitung in die Nähe eines Divisionsstabes. Wir zogen in ein altes polnisches Schloß, das irgendeinem adligen Pan gehört hatte. Niemals werde ich vergessen, wie die finsteren Festungsmauern mit den Schießscharten und Wallgräben langsam aus dem Nebel hervortraten. Ringsum waren noch die Spuren kürzlich stattgefundener Kämpfe. Die rauhen, legendären Krieger aus Sienkiewicz' [Sienkiewicz, Henryk (1846 - 1916), polnischer Schriftsteller, schrieb historische Romane] Romanen begleiteten mich, als wir durch die hohen, noch gut erhaltenen Tore in den Hof des Schlosses fuhren. Die alte Festung empfing uns
- so schien es mir - mit tiefem, abwartendem Schweigen. Die Gebäude waren fast gar nicht beschädigt. Wie man mir erzählte, hatten die Deutschen bei unserm überraschenden Angriff so überstürzt die Flucht ergriffen, daß sie weder das Schloß zerstören noch ihr Kriegsmaterial mitnehmen konnten. Allen Anzeichen nach stand uns hier ein längerer Aufenthalt bevor. Das erste Mal während des Krieges hatten wir eine so komfortable Unterkunft gefunden. Die großen Säle des Schlosses verwandelten wir in Krankenzimmer und Operationsräume, in den zahlreichen kleinen Gemächern wurde das Lazarettpersonal untergebracht. Der Stab fand in einem benachbarten, weniger großen Gebäude, das aus späterer Zeit stammte, Platz. Ich bezog ein abgelegenes Zimmer in einem der vorspringenden Ecktürme des Schlosses. Nachdem unsere Techniker eine kleine Kraftanlage in Gang gebracht hatten und überall elektrisches Licht brannte, begab ich mich sogleich an meine wissenschaftliche Arbeit. Der Abtransport der in den letzten Kämpfen Verwundeten ging glatt vonstatten, neue kamen kaum hinzu. Es sah so aus, als würde ich eine Zeitlang ungestört an meinen Untersuchungen arbeiten können.
Es vergingen drei Tage. Das Wetter war scheußlich. Regenböen peitschten gegen die Fenster. Ich verließ das Haus nicht und verbrachte die dienstfreien Stunden in meinern Zimmer an einem großen, altertümlichen Schreibtisch. Gestehen muß ich allerdings, daß meine Arbeit längst nicht so rasch voranging, wie ich es wünschte. Mich störte
der Wind. Das war schon immer so bei mir: An stürmischen Tagen erfaßte mich eine innere Unruhe, gegen die ich vergeblich anzukämpfen suchte. Meine Gedanken schweiften ab, und es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren . Lange Zeit lehnte ich still in meinem Sessel. Mein Blick glitt über die seltsamen Muster des Stoffes, mit dem die Wände des Arbeitszimmers bespannt waren . Ich lauschte auf das dumpfe Heulen des Windes. Er rüttelte an dem durchschossenen Dach. Jetzt unterschied ich ein leises Klopfen in meiner Tischplatte; gewiß waren Holzwürmer am Werk. Das gleichmäßige Geräusch erinnerte an eine tickende Uhr. Ich legte mein Ohr an die kalte, polierte Schreibtischplatte und tastete das Schnitzwerk ab. Vielleicht fand ich ein Geheimfach, in dem die früheren Besitzer des Schlosses eine alte Breguet-Uhr [Breguet, Abraham Louis (1747-1823), Uhrmacher und Mechaniker] zurückgelassen hatten, deren empfindlicher Mechanismus durch einen leichten Stoß in Bewegung geraten war. Nein, ich entdeckte nichts. Die Tatsache, wie stark die Eindrücke unserer Umgebung auf unser körperliches Wohlbefinden im guten oder schlechten Sinne einwirken können, beschäftigte mich fortwährend. Wir wissen ja zum Beispiel auch, wie es ist, wenn man einen großen Schreck bekommt: Er preßt die Gefäße, die die Haut ernähren, zusammen, und der Mensch wird blaß. Die Herztätigkeit wird gestört, es fängt heftig an zu klopfen, Fieberschauer setzen ein, ja, sogar die Darmtätigkeit wird beeinflußt. Verlegenheit wiederum überzieht das Gesicht mit Röte, Zorn läßt die Muskeln anschwellen, und Kummer reizt die Tränendrüsen . Bekannt ist auch die Geschichte von dem Spaßvogel, der
eine Zitrone vor einem Blasorchester zerschnitt. Die Speicheldrüsen der Musiker reagierten bei diesem Anblick so heftig, daß das Orchester sein Spiel unterbrechen mußte. Aber wissen wir denn, welche äußerlich unmerklichen, aber andererseits tiefgehenden und vielleicht sogar zum" Tode führenden Veränderungen in unserem Organismus durch manche Eindrücke oder bloße Gedanken hervorgerufen werden? Entstehen vielleicht auf diese Weise Krankheiten, deren Ursachen bis heute von der Wissenschaft noch nicht erkannt worden sind? Solche Gedanken hatten in mir die Leidenschaft geweckt, dieses Problem gründlich zu erforschen. Es war schon spät am Abend. Das eintönige Klagen und Stöhnen des Windes nahm zu. Ich beschloß, schlafen zu gehen. In diesem Augenblick hörte ich an der Tür ein zaghaftes, unentschlossenes Pochen, das mich offenbar nicht aufwecken sollte, falls ich schon schlief. Ich bat, hereinzukommen. Schwester Marina trat ein. Damals wußte ich noch nicht, daß gerade sie die Hauptrolle bei den nun folgenden Ereignissen spielen würde. Von dem Augenblick an, da sie vor drei Wochen im Lazarett zu arbeiten begann, hatte die junge Krankenschwester die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen. Es ist schwer zu sagen, woran es lag. Gewiß war es nicht nur ihre zarte Gestalt und auch nicht ihr strenges, aber anziehendes Gesicht, sondern ihr innerer Reichtum, der sich in ihren beherrschten Gesten, in ihrer behutsamen Art zu sprechen und in ihrem aufmerksamen, forschenden Blick widerspiegelte. Ich erfuhr, daß sie vor dem Krieg an einem Konservatorium Musik studiert hatte. Jetzt erfüllte Marina
ihre Pflichten als Krankenschwester mit solcher Vollkommenheit und bescheidener Würde, daß selbst unser strenger Chirurg, dem sie assistierte, mit seinen üblichen spitzen Bemerkungen zurückhielt. Ich hatte ihren Besuch keineswegs erwartet, aber als es draußen klopfte, dachte ich sogleich an sie. Mag sein, daß es an der Art des Klopfens lag. Ich streckte meine Hand zur Wand aus. Irgendein Bastler hatte gleich neben dem Schreibtisch einen ganzen Satz eleganter Schalter angebracht. Wahrscheinlich konnte man damit früher einzelne Lampengruppen an dem großen Kronleuchter, der wie eine Weintraube von der Decke herabhing, oder an den tulpenförmigen Wandleuchten einschalten. Jetzt brannten von all diesen Lampen nur drei. Ich drehte aufs Geratewohl an einigen Schaltern, und endlich gelang es mir, wenigstens eine Lampe einzuschalten, die den hinteren Teil meines länglichen Zimmers erhellte. Von dort führte eine Tür in einen großen Saal, der jetzt als eine Art Vorhalle diente. Marina kam herein, schloß die Tür hinter sich und sagte: "Entschuldigen Sie, daß ich Sie noch so spät störe, Genosse Major ." " . vom Sanitätsdienst!" ergänzte ich ironisch. Ich wollte damit ausdrücken, daß sie meinen Dienstrang jetzt nicht beachten sollte. Sie verstand mich sofort und lächelte: "Ich danke Ihnen, um so mehr, da ich in einer ,Privatangelegenheit' zu Ihnen komme." Sie trat unter die Lampe, und ich bemerkte sofort, daß eine Veränderung in ihr vorgegangen war. Sie wirkte sichtlich erregt. Die Schatten unter den Augen, die geröteten Augenlider und ihr blasses Gesicht sprachen von
Schlaflosigkeit und abgespannten Nerven. Ich bat sie, Platz zu nehmen. "Ist irgend etwas passiert?" "Ja", antwortete sie zögernd. "Ich glaube, ich werde meine Arbeit aufgeben und in die Heimat zurückfahren müssen . Ich sage es Ihnen gleich: In eine Nervenheilanstalt . Ich bin gekommen, um Ihren Rat zu holen und Sie zu bitten, mich abzukommandieren ." "In eine Nervenheilanstalt?" wiederholte ich erstaunt. Ein Vergleich zwischen diesem Mädchen und der Insassin eines ,Irrenhauses' kam mir völlig unsinnig vor. "Warum?" "Weil ich nicht begreife, was in mir vorgeht ." "Nun, dann wollen wir gemeinsam versuchen, eine Erklärung zu finden. Ich denke immerhin, daß ich feststellen kann, ob Ihr Entschluß richtig ist. Als erstes aber sehe ich, daß Sie schlecht geschlafen haben." "Ich habe in den letzten achtundvierzig Stunden fast gar nicht geschlafen." "Zuviel Arbeit?" "Nein. Irgend etwas in meinem Kopf, in meiner ganzen seelischen Verfassung stimmt da nicht, obwohl es mir schwerfällt, mich damit abzufinden. Aber ich werde besser alles der Reihe nach erzählen. Es begann gestern abend, so gegen elf Uhr. Ich kam vom Abenddienst zurück, legte mich sofort hin und wollte wie immer vor dem Einschlafen noch ein wenig lesen. Ich deckte mich mit meinem Mantel zu, damit es wärmer war. Nach zwanzig Minuten konnte ich nicht mehr gegen den Schlaf ankämpfen. Ich legte das Buch beiseite und löschte die Lampe aus, die neben mir auf dem Stuhl stand . Doch mit einem Mal wurde ich hellwach. Ich hörte, wie
jemand an meine Tür trat und sie aufschließen wollte. Sicherlich hatte sich einer von meinen Zimmernachbarn in der Tür geirrt. Er mußte es ja gleich merken, denn ich hatte meinen Schlüssel wie immer von innen im Schlüsselloch steckenlassen. Deshalb schwieg ich und wartete ab. Jedoch schon nach einer Sekunde hörte ich, wie sich ein Schlüssel im Schloß drehte. Die Tür ging auf, und es kam jemand herein. Das alles geschah bei völliger Dunkelheit. Danach fing der Mensch an, sich bei der Tür, dort am Kleiderständer, auszuziehen. Ich hörte deutlich, wie er den Gürtel losschnallte und den Mantel ablegte . Und das alles machte er so selbstverständlich und ruhig, als ob er in seinem eigenen Zimmer wäre. Nun fragte ich laut: ,Wer ist da?' Ich erhielt keine Antwort. Da packte mich furchtbare Angst. Ich schrie auf, aber keine Erwiderung kam . Deutlich hörte ich, wie sich seine Schritte näherten." Marina schwieg einen Augenblick, um sich zu beruhigen. "Mein Zimmer ist genauso lang und schmal wie das Ihre. Hier, wo Ihr Diwan steht, ist mein Bett. Und mein Tisch befindet sich auch an derselben Stelle wie Ihr Schreibtisch. Der Mensch ging an mir vorbei. Ich saß auf dem Bett und lauschte jedem seiner Schritte. Er stieß in der Dunkelheit nicht einmal an den Stuhl mit der Lampe vor meinem Bett, obwohl da nur ein ganz schmaler Durchgang war. Er setzte sich an den Tisch und begann zu rauchen. Ich hörte das Feuerzeug klicken, aber es war keine Flamme zu sehen . Können Sie sich meinen Zustand vorstellen? Ich dachte, daß der Mann vielleicht taub sei, daß ich den Schlüssel in Gedanken herausgezogen und er deshalb die Zimmer verwechselt hätte. Die Räume sind hier ja alle gleich, und auch die Möbel lassen sich wohl nicht anders stellen.
Diese Überlegungen beruhigten mich etwas, und ich entschloß mich endlich, Licht zu machen. Ich drehte mich um und schaltete die Lampe ein - da passierte das Allerschrecklichste ." Die letzten Worte sprach Marina kaum hörbar. Sie zitterte und faßte sich mit der Hand an die Stirn. "Sie brauchen sich nicht mehr aufzuregen, Marina", sagte ich, "es ist ja schon alles vorbei. Wir werden uns darüber unterhalten. Ich habe schon eine Vermutung. Aber jetzt nehmen Sie erst einmal Baldrian, das beruhigt, nicht wahr?" "Wenn Sie meinen", antwortete sie vertrauensvoll. "Ich habe noch nie welchen gebraucht . Pfui, schmeckt das scheußlich!" Wie ein Kind verzog sie das Gesicht, nachdem sie die Pille in den Mund gesteckt und gierig Wasser nachgetrunken hatte. "Nun, Marina", fuhr ich fort, "erzählen Sie mir ganz schnell alles Schreckliche, damit es Sie nicht mehr belastet. Ich glaube, aus der Sache wird eine Tragikomödie. Wen sahen Sie denn am Tisch, als Sie das Licht anmachten?" Marina blickte mich besorgt an, als ob sie ahnte, welchen Eindruck ihre Worte auf mich machen würden, und antwortete nur: "Niemand." "Wie?!" fragte ich verblüfft. "Ja, keinen Menschen! Weder am Tisch war jemand noch sonst irgendwo im Zimmer. Ich blickte zum Kleiderständer - da hing auch kein Mantel. Das alles war so unheimlich, so unheimlich, daß ich nicht einmal aufschrie und auch nicht fortlief. Ich war wie gelähmt vor Entsetzen. Ich starrte nur immer zu dem Tisch hin, weil - weil der Mensch nämlich immer noch dort sitzenblieb ." "Erlauben Sie, Marina, Sie haben doch eben gesagt, daß dort
niemand war!" "Ja, ich habe niemand gesehen. Aber ich habe gehört, daß jemand da war. Er blätterte in einem Buch - ich hörte das Rascheln von Papier -, er rauchte in tiefen Zügen und blies den Rauch wieder aus; er bewegte sich - der Stuhl knarrte. Aber dabei habe ich genau gesehen, daß niemand da war, daß auf dem Tisch kein Buch lag und auch kein Papier." "Ein unsichtbarer Mensch also!" versuchte ich zu scherzen. "Ja", lächelte Marina schwach, aber nicht wie bei Wells, [Wells, Herbert George (1866-1946), engl. Schriftsteller, schrieb naturwissenschaftlich-technische Zukunftsromane, u. a. "The Invisible Man" (Der unsichtbare Mann", 1897)] sondern ganz anders, unvorstellbar, mit unsichtbarer Kleidung und unsichtbaren Gegenständen . Ich weiß nicht, wie lange ich so auf meinem Bett gesessen habe, vielleicht anderthalb Stunden . Dann war auf einmal der ganze Spuk vorbei. Irgend etwas knackte zweimal - und er verließ das Zimmer . Nein, er ging nicht einmal fort, sondern - er verschwand einfach dort vom Stuhl. Schlafen konnte ich natürlich nicht mehr. Ich blieb bis zum Morgen wach und ging dann zum Dienst." Marina schwieg. Auch ich sagte nichts und dachte über meine Vermutungen nach. Sie schienen mir jetzt weniger überzeugend. Aber sie waren wenigstens glaubwürdig, und das übrige würde von meiner Redegewandtheit abhängen. Ich sah meine Aufgabe vor allem darin, Marina zu beruhigen und ihr die seelische Erkrankung auszureden. "Sagen Sie, Marina", begann ich nach einer Weile, "als alles zu Ende war, haben Sie da nach Ihrem Schlüssel gesehen? War er in der Tür?" "Ja, er steckte innen im Schlüsselloch."
"So hatte ich es mir auch gedacht. Was bedeutet das also? Wir wollen ganz logisch vorgehen. Kann man dann eine Tür mit einem anderen Schlüssel öffnen? Nein. Das heißt also, daß wirklich niemand die Tür geöffnet hat und hereingekommen ist. Meinen Sie nicht auch?" "Ja, ich weiß ja, daß dies alles unmöglich war und nur das Produkt meiner zerrütteten Phantasie oder eine Halluzination sein konnte." "Nein, nein, Marina. Warum nehmen Sie zu solch unnatürlichen Erklärungen Zuflucht? Haben Sie denn früher an Halluzinationen gelitten?" "Niemals." "Na, sehen Sie! Es gibt eine viel einfachere und natürlichere Erklärung! Ich möchte sogar behaupten, daß Ihre Geschichte so alt wie die Erde selbst ist. Denken Sie doch nur, wie oft man so etwas in Romanen liest: Die unwahrscheinlichsten und phantastischsten Abenteuer beginnen meist kurz bevor der Held in den Schlaf sinkt. Aber wenn die Erlebnisse auf dem Höhepunkt angelangt sind und er schon dem Tode nahe ist, wacht er auf und stellt erleichtert fest: ,Ein Glück, daß es nur ein Traum war!' Bei Ihnen fing es doch genauso an. Es war natürlich ein Traum, Marina, wenn auch ein sehr origineller. Das Besondere liegt darin, daß diese äußerst phantastischen Ereignisse sich vor einem völlig realen Hintergrund abspielten. Aber das ist nichts Ungewöhnliches; im Traum ist ja vieles möglich. Mitunter weiß ein Mensch auch, daß er nur träumt. Aber wenn der Traum in derselben Umgebung spielt, in der er einschläft, dann merkt er sein Hinübergleiten in den Schlaf und sein Erwachen nicht und hält die ,geträumten' Ereignisse für Wirklichkeit. So etwas vergißt man manchmal sein ganzes Leben nicht. Hören
Sie, Marina, ich habe so etwas auch einmal erlebt. Von Kindheit an bin ich im Traum geflogen, wie ein Vogel. Kommt Ihnen das nicht bekannt vor?" "O ja", antwortete sie, und ihr erschöpftes Gesicht hellte sich einen Augenblick auf. "Ich bin als Kind auch manchmal geflogen, aber nur selten. Es waren wohl meine schönsten Träume." "Ja . Und dieses herrliche Gefühl ist charakteristisch für die Kindheit und die Jugend. Dann verliert es sich gewöhnlich. Ich träume allerdings noch heute davon. Dabei ist mir stets bewußt, daß es nur ein Traum ist. Einmal war ich bei meiner Tante in der Ukraine zu Besuch und hatte dort ein ganz merkwürdiges Abenteuer. Ich schlief mit meinem zweijährigen Vetter in einem Zimmer. Unweit des Hauses lag ein von alten Linden umsäumter Teich. Mir träumte, daß ich zwischen den mächtigen Kronen flöge, und ich freute mich an meinem Flug über dem Wasser. Dann ließ ich mich wie eine Schwalbe auf den Uferweg hinabfallen und begann das Aufsteigen zu üben. Ich stieg wieder hoch, flog einen kleinen Kreis und ließ mich von neuem sinken. Die Nacht war warm und hell, eine richtige ukrainische Nacht, so wie sie Gogol beschrieben hat. Endlich entschloß ich mich, aufzuwachen und zu versuchen, ob es mir nicht schon gelänge, einen Nutzen aus meinem Traum zu ziehen. Ich gab mir Mühe, munter zu werden. Es war früher Morgen. Die Sonnenstrahlen huschten durch die Bäume und flimmerten auf dem Fenstervorhang. Im Zimmer war es hell. Durch das geöffnete Fenster strömte wunderbarer Jasminduft herein. Ich stand schnell auf, ging leise in die Mitte des Zimmers, um meinen Vetter nicht aufzuwecken, und machte dort dieselben Flugbewegungen, die ich eben
erst im Traum gelernt hatte. Ich hob die Arme und schwang mich in die Luft. Ich weiß nicht, Marina, ob Sie sich vorstellen können, welche Begeisterung mich dabei ergriff. War ich doch der erste Mensch, der wie ein Vogel zu fliegen verstand! Ich flog einige Male im Zimmer umher, und zwar dicht unter der Decke an den Wänden entlang. Dann schwebte ich in der Luft auf einer Stelle und wollte mich zum Fußboden hinablassen, so wie ich es über dem Teich getan hatte. Das ging nicht so einfach, denn das Zimmer war sehr eng, wenn ich die Horizontallage einnahm. Es war auch schwierig, so umzudrehen, daß ich nicht gegen die Wände stieß. Aber es gelang mir, in einer Ecke zu wenden und zur Zimmermitte zurückzukehren. Da sah ich plötzlich einen Haken in der Mitte der Decke und hielt mich mit dem Zeigefinger der linken Hand daran fest. Jetzt bewegte ich nur die Beine, um die Horizontallage beizubehalten. Plötzlich hörte ich auf dem Korridor Schritte. Gleich stellte ich mir vor, was geschehen würde, wenn jemand ins Zimmer träte und mich in solcher Lage ertappte. Sofort ließ ich mich auf den Fußboden hinab und schlüpfte wieder unter die Bettdecke. Mein Herz klopfte, und vor Aufregung konnte ich kaum atmen. In diesen Minuten durchlebte ich nur den Triumph, gesiegt zu haben. Ich machte mich über die physikalischen Gesetze und über den winzigen menschlichen Verstand lustig, der das, was mir gelungen war, bisher noch nicht geschafft hatte. Ich dachte an das neue, wunderbare Leben, das sich mir an diesem Morgen eröffnet hatte . So lag ich da, berauschte mich an meinen Träumen und blickte mit weitgeöffneten Augen zur Decke, als plötzlich . Es war nur ein Zufall, Marina, eine Kleinigkeit, aber sie erschütterte mich von
Grund auf. Mit einem Schlag waren alle meine großen Hoffnungen zunichte. Während mein Blick über die Zimmerdecke glitt, entdeckte ich auf einmal, daß dort ja gar kein Haken war, an dem ich mich hätte festhalten können! Es war auch vorher keiner dort gewesen, Kein Loch, nicht einmal die kleinste Beschädigung war an der Decke zu sehen. Ja, Marina, das war der einzige, unwiderlegbare Beweis dafür, daß alles, was ich erlebt hatte, ein Traum gewesen war. Während meines ganzen Experimentes war kein Anzeichen von Unwirklichkeit zu finden gewesen. Wenn dieser Haken nicht gewesen wäre, den ich wahrscheinlich in irgendeinem anderen Zimmer einmal gesehen und in meine Phantasie einbezogen hatte, wäre es mir vielleicht genau wie Ihnen ergangen . Sehen Sie, meine Geschichte hatte einen Haken, an den sich mein Verstand klammern konnte, um nicht ins Wanken, zu geraten. Und Ihre Geschichte hat auch einen Haken, nämlich den Schlüssel, der das Geheimnis Ihrer furchtbaren Erlebnisse klären kann." Marina hatte mich unverwandt angeschaut. Obwohl ich mich in Feuer geredet hatte und durch meine Erinnerungen etwas erregt war, entging mir nicht ihre gespannte Aufmerksamkeit. Als ich meine Geschichte beendet hatte und auf ihre Erlebnisse zu sprechen kam, seufzte sie wieder, als sei sie aus der Welt der Träume in eine traurige Wirklichkeit zurückversetzt worden. Ich fühlte, daß ich sie nicht überzeugt hatte. Trotzdem fragte sie: "Nun, was sagen Sie jetzt?" Ich bemühte mich, mit fester Miene und Stimme die Gewichtigkeit meines Vergleichs zu unterstreichen, und steckte mir eine Zigarette an. "Es war sehr interessant", antwortete sie aufrichtig. "Sie
haben so gut erzählt . Ich habe niemals eine so verblüffende Verflechtung eines Traumes mit der Wirklichkeit erlebt ." "Wie, sogar gestern nicht?" "Nein. Sehen Sie, ich habe noch nicht alles erzählt. Ich wollte Sie nicht unterbrechen . Als ich mich heute endlich zwang, mein Zimmer zu betreten - vor etwa einer Stunde -, war er schon wieder dort." "Wer?" "Sicherlich der, der auch gestern da war. Als ich die Tür hinter mir schloß, merkte ich auf einmal, daß jemand im Zimmer war. Ich blieb sofort an der Türschwelle stehen und horchte. Das Licht war eingeschaltet. Er saß genauso unsichtbar wie gestern am Tisch, schrieb irgend etwas und raschelte mit dem Papier. Ich hörte sogar, wie er leise vor sich hinmurmelte, als ob er zählte. Ich lief schnell hinaus, warf die Tür hinter mir zu und kam zu Ihnen . Das ist alles. Wie Sie sehen, kann hier von einem Traum nicht die Rede sein . Aber möglicherweise sitzt er noch dort .!" Offen gesagt, mir wurde bei ihren letzten Worten etwas seltsam zumute. Sollte sie wirklich krank sein? . Nein! Mit allen Kräften wehrte ich mich gegen diesen Gedanken. An der Art und Weise, wie Marina erzählte, wie sie mir zugehört hatte, an ihrem Mienenspiel und ihren wie immer klaren, klugen Augen sah ich, daß sie durch die Unwahrscheinlichkeit des Erlebten zwar betroffen, aber körperlich und seelisch gesund war. Ich erinnere mich deutlich, daß gerade in dem Augenblick, da ich das erkannte und Marina Vertrauen schenkte, vor mir das Bild einer meiner Moskauer Freunde auftauchte. Der Krieg hatte uns getrennt. Er war Wissenschaftler und arbeitete speziell auf dem Gebiet der Elek-
trophysik und Radiotechnik. Er gehörte zu jenen Gelehrten, für die eine Wissenschaft viel mehr als nur ihr Studienfach war. Er strebte nach Erkenntnissen und versuchte hinter die rätselhaften Erscheinungen der Natur, die unser Vorstellungsvermögen bisweilen übertreffen, zu kommen. Aber seine kalte Logik hatte mich immer aufgeregt, und seine nüchternen Analysen waren mir fast zuwider. Diese Logik war ständig wie ein Panzer, an dem die ersten, lebhaften und begeisterten, aber oft auch trügerischen Eindrücke abprallten. Doch er hatte immer recht! Kühl ging er den Problemen von den verschiedensten Seiten zu Leibe, ohne sich durch Gefühle, Stimmungen oder phantastische Vorstellungen beeinflussen zu lassen. Offensichtlich um das Gleichgewicht wiederherzustellen, entschädigte er sich dann für seine wissenschaftliche Strenge, indem er andere Menschen gern verblüffte und mit ihrer Phantasie spielte. Mit kindlicher Begeisterung wiederholte er vor Freunden die erstaunlichsten Experimente aus seinem Laboratorium. Er begleitete sie mit geheimnisvollen Reden, gebrauchte allerlei Tricks und fabrizierte "Wunder" mit der Gewandtheit eines Zauberkünstlers. Deshalb nannten wir ihn zum Spaß unseren ,Maestro'. Man mußte ihn kennen, um die Ironie zu verstehen, die in diesem Spitznamen lag: Das breite, pfiffige, ausgesprochen russische Gesicht unseres Freundes mit den sprühenden, graugrünen Augen paßte so wenig zu dem Bild eines altmodischen Italieners mit Zylinder, Frack und weißen Handschuhen. Es war nicht verwunderlich, daß ich mich gerade jetzt seiner erinnerte. Er allein hätte mir in diesem Augenblick helfen können, diesen teuflischen Spuk zu klären. Ich ging
im Zimmer umher, rauchte und überlegte. Meine Vermutung, daß es ein Traum war, traf also nicht zu. Es blieb nur noch folgendes übrig: Die Geräusche, die Marina gehört hatte, existierten wirklich. Handelte es sich um akustische Tricks? Mir fielen Erzählungen von alten Schlössern ein, wo auf seltsamen Wegen Worte und Geräusche aus weit abgelegenen Räumen in die Zimmer drangen. Ich erinnerte mich auch an Geschichten von geheimnisvollen Höhlen, in denen sich die menschliche Rede in einen vielstimmigen Schrei verwandelte. Die Erbauer von Theater- und Konzertsälen wissen, wie kompliziert die Gesetze der Akustik sind. Vielleicht konnten auch hier in diesem alten polnischen Schloß zufällig die Geräusche, ohne etwas von ihrer Lautstärke einzubüßen, von einem Zimmer in ein anderes übertragen werden? Ich teilte Marina meine Gedanken mit. "Das glaube ich nicht", antwortete sie. "Ich hörte den Menschen an den verschiedenen Stellen meines Zimmers so, wie ich Sie jetzt höre, Ihre Schritte, das Rascheln der Kleidung, das Atmen - alles . Nein: Entweder war dieser Mensch, ein völlig Unsichtbarer, wirklich bei mir, oder ." "Warten Sie Marina", unterbrach ich sie, "wir wollen das sofort untersuchen. Gehen wir zu Ihnen. Wenn dieser Unsichtbare noch da ist und Sie hören ihn, ich aber nicht, dann kapituliere ich und schicke Sie morgen zu einem Psychiater [Irrenarzt]." Marina lächelte und schaute mich dankbar an. Ich merkte, wie schwer es ihr gefallen wäre, allein in ihr Zimmer zurückzukehren. Wir betraten einen großen leeren Saal mit mehreren Nischen, in denen vielleicht früher einmal Ritterrüstungen gestanden hatten. Dann kamen wir
in einen langen Korridor romanischer Bauart. Alles im Schloß schlief. Wir versuchten unsere Schritte zu dämpfen, aber umsonst. Schallend hallten sie in den kalten, weiten Räumen wider. Hin und wieder heulte der Wind. "Hören Sie, Marina?" "Ja, natürlich." "Vielleicht spielt auch der Wind eine Rolle? ." "Davon bin ich überzeugt." Sie griff schnell meinen Gedanken auf. "Die ganze Zeit über hörte ich schon dieses Heulen und fühle, wie es mich traurig stimmt." Wir durchquerten fast das ganze Gebäude; endlich bog Marina in einen kleinen Seitengang ein und sagte leise: "Hier ist es." Sie öffnete vorsichtig die Tür. Das Licht im Zimmer brannte. Schweigend traten wir ein und blieben sofort stehen. Gespannt beobachtete ich Marinas Gesicht. Sie bemühte sich, ein Geräusch zu hören. Angespannt lauschend blickte sie mit weit aufgerissenen Augen zu einem Tisch in der Mitte des Zimmers. So standen wir einige Minuten. "Nichts", sagte sie schließlich. "Schade, jetzt hätte ich gewünscht, daß er hier wäre." Ich schlug Marina vor, wenigstens für diese Nacht die Zimmer zu tauschen, weil ich annahm, daß sie hier schwer einschlafen würde. Aber sie lehnte ab. "Nein", sagte sie entschlossen, "ich danke Ihnen. Sie haben mich beruhigt, obwohl ich auch nicht weiß, womit. Ich glaube, daß ich diesmal einschlafen werde. Andererseits bin ich jetzt auch überzeugt, daß mein Gespenst nichts Böses gegen mich im Schilde führt. Vielleicht gewöhne ich mich noch daran", fügte sie lächelnd hinzu. Ich versprach Marina, anzuordnen, daß die Nachrichtenleute
morgen eine Klingelleitung von ihrem in mein Zimmer legen sollten. Noch am selben Abend schrieb ich meinem Freund Maestro einen langen Brief, in dem ich ausführlich berichtete, was mir Marina erzählt hatte. Ich bat ihn, mir seine Meinung über diese Angelegenheit mitzuteilen.
Die Tage vergingen. Es waren jene Tage, die durch ihre heldenhaften Schritte dem Sieg entgegen in die Geschichte eingingen. Unweit unseres Lazarettes unternahmen die Deutschen verzweifelte, hartnäckige Gegenangriffe. Es entbrannten schwere Kämpfe, und ein Strom von Verwundeten brach in unser Lazarett ein. Wir mußten Tag und Nacht angestrengt arbeiten. Ich begegnete Marina flüchtig und mehr oder weniger zufällig im Operationssaal bei der Arbeit. Kaum fanden wir Zeit, einen Blick miteinander zu tauschen: ich einen fragenden und sie - einen beruhigenden, der mir sagte, daß nichts Neues passiert war. Übrigens wußte ich das bereits, denn die Klingel in meinem Zimmer schwieg. Wahrscheinlich hatte sich Marina wieder beruhigt. Als ich einmal am Bluttransfusionsraum vorbeiging, hörte ich, wie sie - offenbar beim Vorbereiten der Instrumente für die nächste Übertragung - irgendein Lied sang. Ich stand einige Zeit an der Tür und lauschte. Dann hielt ich es nicht mehr aus und trat ein. Auf dem Tisch lag ein Verwundeter in eine Decke gehüllt - einer von denen, die wir zu den hoffnungslosen Fällen zählten. Eine Sanitäterin, Marinas Gehilfin, hielt seine wächserne Hand. Marina betätigte die schon in die Vene gesteckte Spritze. Die Blutmenge in der großen Ampulle auf dem Stativ nahm langsam ab. Marina richtete ihre Augen auf mich und bat mich
schweigend, zu gehen. Dabei unterbrach sie auch nicht für einen Augenblick ihr Lied. Ich war überrascht von der romantischen, dem Krieg und unserer Umgebung völlig fremden Melodie, die Marina summte. Das alles mutete mich recht seltsam an. Noch am selben Tag fand ich eine Gelegenheit, mit ihr unter vier Augen zu sprechen. "Mein Gesang hat Sie verwundert?" begann sie sofort, ohne meine Frage abzuwarten. "Eigentlich erfreut, aber auch verwundert." Marina errötete leicht und entgegnete verlegen: "Ich muß Ihnen etwas erklären . Sie erinnern sich, daß wir anfangs Fälle von erfolglosen Blutübertragungen und solche mit Schockwirkungen hatten . Einmal - des Nachts - vergaß ich mich bei einer dringenden Transfusion und begann aus irgendeinem Grunde vor mich hinzusingen. Natürlich besann ich mich sofort und verstummte; aber der Verwundete schlug plötzlich die Augen auf, schaute mich an und flüsterte kaum hörbar: ,Weiter singen.' Er war sehr schwach, und wir glaubten nicht, daß er am Leben bleiben würde. Aber sofort nach der Blutübertragung bekam er wieder Farbe, und seine Züge belebten sich . Er wurde gesund. Seit dieser Zeit summe ich immer dieses Motiv, das ich mir selbst ausgedacht habe, aber natürlich nur, wenn es angebracht ist. Und sehen Sie, es gab bei uns in letzter Zeit keinen Fall, bei dem die Blutübertragung nicht Linderung verschafft hätte! Vielleicht hilft so etwas wirklich? Wie denken Sie darüber? Das stimmt doch auch mit Ihrer Theorie überein? Meine Melodie hinterläßt einen Eindruck und beeinflußt die Tätigkeit des Organismus. Zufällig fand ich gerade ein passendes Motiv. Ist es nicht so?"
Ich gab ihr natürlich recht, um so mehr, als sie mich sogleich auf neue Gedanken brachte. "Ausgezeichnet, Marina", fügte ich hinzu. "Ihre Methode weist mir den Weg für neue Experimente. Solche Versuche in der Psychophysiologie [die Wissenschaft von dem Einfluß der seelischen Vorgänge auf den Körper] sind sehr schwierig." Marina wurde plötzlich aufmerksam. "Aber machen Sie denn solche Experimente?" fragte sie und sah mich durchdringend an. Ich wurde unter diesem Blick, der so offen und einfach war wie alles, was Marina tat oder sprach, etwas verlegen. Streng genommen, konnte ich meine bisherigen Versuche auf diesem Gebiet, die mehr zufälliger Natur waren, kaum als wissenschaftliches Experiment bezeichnen. "Ja . soweit das in unserer Lage möglich ist", antwortete ich ausweichend. "Ich verstehe .", sagte sie schließlich wie zu sich, und damit brach unser Gespräch ab. Erst nach vielen Tagen begriff ich, was Marina damit gemeint hatte. Aber zu der Zeit achtete ich noch nicht so hellhörig auf ihren Tonfall. Ich war von ihrem musikalischen Talent und ihrer Methode, den Kranken zu beeinflussen, so begeistert, daß ich den Rest des Tages damit verbrachte, ihren Patienten zu beobachten. Die Blutübertragung hatte ihm offensichtlich geholfen. An der Hautfarbe, dem Puls, dem Atmen und dem tiefen, gesunden Schlaf sah ich, daß die Todesgefahr, in der er schon geschwebt hatte, vorüber war. Nach einigen Tagen brachten wir ihn bereits zu den Genesenden. Bald darauf gingen unsere Truppen von neuem zum Angriff über. Die Front schob sich weiter vor. Die nächste
Verlegung der Operationsbasis - einer der für uns schwierigsten und verantwortlichsten Augenblicke im Krieg - stand bevor. Gewöhnlich kam der Alarmbefehl nachts, wie bei allen Verschiebungen von Truppenteilen im Frontgebiet. Innerhalb weniger Stunden mußten dann das Lazarett aufgelöst und alle Insassen sowie das Inventar auf die Autos verladen werden, die zum neuen Standort fuhren. Die Verlegungen erforderten unseren ganzen Einsatz, und ich begann mich beizeiten darauf vorzubereiten. Die Arbeit nahm zu und lenkte mich ab, so daß ich weniger über Marinas merkwürdiges Erlebnis nachdachte. Nur manchmal, wenn ich abgespannt in mein Zimmer zurückkehrte, setzte ich mich in einen Sessel, versank in eine Art Dämmerzustand und dachte von neuem an Marina, an die seltsame Geschichte mit ihrem unsichtbaren Gast. Mir war völlig klar, daß meine sämtlichen Erklärungen das Geheimnis nicht enträtselten. So saß ich auch einmal bis in die tiefe Nacht hinein und versank in einen leichten Schlummer. Schließlich raffte ich mich auf und beschloß, schlafen zu gehen. Ohne die bleischweren Lider zu öffnen, streckte ich die Hand nach der kleinen Tafel mit den Schaltern aus und drehte solange, bis die eine helle Birne im Kronleuchter erlosch. Jetzt brannte nur noch eine Wandlampe, die mit einem Papierschirm abgedeckt war und meinen überanstrengten Augen nicht wehtat. Ich erhob mich, blieb aber sofort wie erstarrt stehen. Vom Diwan her, auf dem mein Bett zurechtgemacht worden war, hörte ich deutlich das Atmen eines schlafenden Menschen. Vorsichtig trat ich näher, um den Schlafenden nicht aufzuwecken. Der Schatten des Lampenschirmes verhüllte die Umrisse der dunklen Bettdecke. Ich schaute ange-
strengt hin, um den dort liegenden Menschen genauer zu betrachten - konnte aber nichts erkennen. Die gleichmäßigen Atemzüge wurden plötzlich unterbrochen. Das charakteristische Quietschen einer Metallmatratze verriet, daß sich der Mensch bewegte. Ich hörte ein leises, undeutliches Brummem und plötzlich eine verschlafene Stimme, die zweimal meinen Vornamen nannte. "Marina?" rief ich überrascht aus und kam noch näher heran. Auf dem Diwan lag niemand. Wieder begann die Matratze zu knarren, so laut, daß es auf eine hastige, erschrockene Bewegung schließen ließ. Die Unsichtbare schien aufgesprungen zu sein und auf dem Bett zu sitzen. Trotz meiner Erregung merkte ich jedoch, daß das Geräusch von einer Bettmatratze und nicht von den Sprungfedern meines Diwans herrührte. "Marina!" rief ich erneut, stürzte hinzu und betastete das kalte Bett, die glattgezogene Decke und das unbenutzte Kopfkissen . Ein erstickter Schrei unmittelbar an meinem Kopf zwang mich, wieder still zu werden. Die Unsichtbare sprang vom Bett hoch, zog sich schnell die Stiefel an und stürzte zur Tür. Ein lautes, alarmierendes Klingeln schrillte durchs Zimmer und versetzte mich aufs neue in tiefen Schrecken. Marina rief mich, wie wir es vereinbart hatten. Fast im Laufschritt eilte ich zu ihr. Ich verstand nichts mehr und war voll einander widersprechender Gefühle und Gedanken. Sie erwartete mich an der Schwelle ihres Zimmers, bleich, aber wie mir schien - mehr zornig als erschreckt. Erst als ich näherkam, sagte sie leise: "Wieder dasselbe!" und öffnete rasch die Tür. Wie beim erstenmal standen wir einige Minuten lang draußen, um zu lauschen. Ich merkte, wie aufgeregt ihr
Herz klopfte. Es geschah nichts. Ich brach als erster das Schweigen. "Es ist nutzlos, zu warten, Marina. Er kommt nicht zum Vorschein, solange ich hier bei Ihnen bin." "Das wollte ich auch gerade sagen", antwortete sie. Es klang merkwürdig schroff. Wir gingen ins Zimmer. Marina hatte sich in der Eile einen Mantel übergeworfen und sich fröstelnd darin eingewickelt. Jetzt saß sie verlegen auf dem Bett, von dem sie eben erst das seltsame "Gespenst" aufgescheucht hatte. Ich setzte mich an den Tisch und strengte alle meine Sinne an, um zu verstehen, was geschehen war. "Ich legte mich so gegen zehn Uhr schlafen", begann Marina. "Alles war ruhig, und ich schlief schnell ein. Da hörte ich plötzlich im Schlaf, wie mich jemand rief ." "Warten Sie, Marina, wissen Sie noch, was Sie in diesem Augenblick geträumt haben?" Marina hob den Kopf und sah mich groß an. "Ja, ich erinnere mich." "Können Sie es mir erzählen?" Nach einer kleinen Pause begann sie: "Es war schrecklich. Irgendwelche großen, gläsernen Kugeln rollten direkt auf mich zu. Ich wollte klingeln, sah aber, daß ich nicht mehr dazu kommen würde. Da . begann ich, um Hilfe zu rufen." "Mich?" fragte ich und hatte Mühe, mich zu beherrschen. In meinen Ohren klang wieder die verschlafene Stimme, die vorhin voller Hoffnung meinen Vornamen gerufen hatte, nur meinen Vornamen . Jetzt mußte Marina mit "ja" antworten - und das würde ein Geständnis sein . Meine Erregung war natürlich, hatte ich doch das Gefühl, daß wir beide uns zum letztenmal in unserem
Leben wie fremde Menschen gegenüberständen. Aber nicht immer soll man Vorahnungen Glauben schenken. Ein unerwartetes Klopfen an der Tür, hart und gefühllos wie ein Äxthieb, zerriß unser Gespräch. Wir schauten uns verwundert an: Wer sollte noch so spät zu Marina kommen? "Genosse Major!" ertönte draußen eine gedämpfte Stimme. Ich? Aber es konnte doch niemand wissen, daß ich bei Marina war. Kein Mensch war mir auf dem Weg hierher begegnet. "Wer ist da?" fragte ich und wandte mich zur Tür. "Die Ordonnanz vom Stab," antwortete die Stimme ebenso gedämpft. "Der Stabschef bittet Sie, sofort zu ihm zu kommen." Bei den letzten Worten der Ordonnanz riß ich die Tür auf. Aber dahinter stand niemand. Im Korridor war es stockdunkel, nur der Wind heulte nach wie vor. In dieser Nacht, die sich für immer in mein Gedächtnis eingegraben hat, erhielt ich vom Stab den Befehl, mich sofort auf eine Dienstreise zu begeben. Etwa dreißig Kilometer von uns entfernt sollte ein neues Lazarett eingerichtet werden. Meine Aufgabe war es, dem Personal, das gerade erst aus dem Hinterland eingetroffen war, zu helfen, die Arbeit in Gang zu bringen. Im Krieg gehört sich der Mensch nicht selbst. Als ich diesen Befehl erhielt, wartete auf dem Schloßhof schon ein berittener Begleiter mit einem gesattelten Pferd auf mich. Bis zum Morgen mußte ich an Ort und Stelle sein. Schon etwa zehn Minuten, nachdem ich zum Stabschef gerufen worden war (es stellte sich heraus, daß er mich
wirklich gerufen hatte), trug mich das regennasse Pferd hinter meinem Führer durch die Finsternis nach Norden. Die Hufe jagten über den schlüpfrigen Erdboden, die feuchte Luft drang durch meinen Mantel, und der Wind pfiff und heulte in den Baumwipfeln. Doch ich empfand die Widerwärtigkeiten dieses Ritts nicht. Weder die heftigen Stöße des in der Dunkelheit ausrutschenden und stolpernden Pferdes noch meine nassen, steifen Hände und Knie konnten in mir die freudige Gewißheit trüben, daß ich Marina liebte. Und ich glaubte, daß sie meine Gefühle erwiderte. Immer wieder mußte ich an ihre ungewöhnliche Verfassung bei unserem Gespräch denken, an ihre nur mühsam beherrschte Verwirrung, Aber das Wichtigste war, daß sie mich im Schlaf gerufen hatte. Konnte denn mein Vorname von ihren Lippen kommen, wenn sie mich nicht schon vorher so in Gedanken genannt hätte? . Diese Gewißheit verließ mich auch in den ersten Tagen meiner Tätigkeit in dem neuen Lazarett nicht. Dann aber verdrängte die Arbeit Marinas Bild. Als jedoch meine Abkommandierung zu Ende war, zog es mich mit aller Sehnsucht zu ihr zurück. Das Wetter änderte sich. Der häßliche Wind ließ nach, und die freundliche Sonne schickte ihre kräftigen Strahlen vom azurblauen Himmel, an dem nur einige Federwolken schwammen. Die Bäume allerdings verloren schon den zarten Schmuck des Altweibersommers. Ihre Zweige schlugen mir ins Gesicht, als ich mitten durch den Wald auf dem kürzesten Weg in mein Lazarett zurückritt. Das Schloß empfing mich nach wie vor fremd und unfreundlich. Ja, es sah inmitten des bunten Herbstlaubs noch finsterer aus. Diesen Eindruck verstärkten einige
Menschen, wortkarge, ausgemergelte Gestalten, die sich
ohne Eile in der Nähe zu schaffen machten. Die verstreut
um das Schloß liegenden Gebäude hatten unbewohnt gestanden. Wahrscheinlich war es das zum Schloß gehörige Dienstpersonal, das die Deutschen fortgejagt hatten und das jetzt zu seinen halbzerstörten Behausungen zurückkehrte. Kaum hatte ich die Mauern des Schlosses betreten, beschäftigten die jüngsten Ereignisse sofort wieder meine Phantasie. Die Erwartung, Marina zu sehen, und die mit neuer Kraft aufflammende Empfindung eines ungelösten Geheimnisses erregten mich gleichermaßen. Es war die stille Morgenstunde, in der das Leben in unserem Lazarett scheinbar stillzustehen schien. Die Leute vom Nachtdienst waren abgelöst worden und schlafen gegangen. In den Krankenzimmern und Operationssälen wurde bereits wieder angespannt gearbeitet. In den leeren Korridoren und Sälen langweilten sich die diensthabenden Sanitäter . Wie war das doch alles gewohnt und vertraut - als wäre die Zeit inzwischen stehengeblieben! Aber unter der ruhigen Oberfläche schlummerten Ereignisse, die nicht aufzuhalten waren und bald ans Tageslicht kommen würden! Nach dem hellen Sonnenlicht draußen gewöhnte ich mich nur mit Mühe an das Halbdunkel, das in den langen Korridoren herrschte. Ich tastete meine Zimmertür ab und fand das Schlüsselloch. Von neuem strömte mir eine Lichtflut aus dem großen Fenster entgegen. Mein Blick fiel sofort auf den einzigen Gegenstand, der den gewohnten Anblick meines Zimmers störte. Es war ein kleiner grauer Briefumschlag auf dem Fußboden, den offensichtlich jemand unter der Tür durchgeschoben hatte. Er lag mit der
Aufschrift nach oben. Schon als ich den ersten Blick auf das Kuvert warf, fühlte ich, wie sich mein Herz schmerzlich zusammenzog. Ich hatte mir noch nicht einmal die Handschrift aufmerksam angesehen, trotzdem kann ich behaupten, bereits in diesem Augenblick alles gewußt zu haben. Im großen und ganzen kannte ich die Bedeutung des Briefes, wußte, wer ihn geschrieben hatte und auch, was geschehen war . Vielleicht hatte ich im Unterbewußtsein bemerkt, daß die Adresse und die Briefmarke auf dem Umschlag fehlten. Das bedeutete, daß der Brief von jemand hier im Schloß geschrieben worden war. Oder ich hatte die Methode dieser "Postzustellung" in Betracht gezogen, die auf einen intimen Inhalt schließen ließ. Als ich anfing den Brief zu lesen, blieb mir nur noch eines zu erfahren übrig: Warum Marina fortgegangen war.
" . Es wäre nicht schön von mir", schrieb sie, "wenn ich Ihnen nicht einen der Gründe meiner Abreise mitteilen würde, und zwar deshalb nicht, weil ich trotz allem das Gefühl habe, daß Sie aufrichtig zu mir waren. Ich glaube es, aber es ist ebenso gut möglich, daß ich mich irre. Jedenfalls habe ich in Ihnen meinen unsichtbaren Besucher erkannt. Sie haben nicht sorgfältig genug Ihr Inkognito gewahrt! Sie haben vergessen, daß jeder Mensch auf seine Art hustet, raucht und sogar atmet. Auch daran haben Sie nicht gedacht, daß man allein an bestimmten Geräuschen einen bekannten Menschen leicht erkennen kann, ohne ihn zu sehen; besonders, wenn er solche Angewohnheiten hat, wie fortwährend mit seinem Feuerzeug zu spielen. Vielleicht gehörte es zu Ihrem Experiment, erkannt zu werden. Ich verstehe es nicht, aber es war ein grausames Experiment. Als ich mich das erste Mal an Sie wandte, hatte ich
Sie noch nicht als Urheber in Verdacht. Sie haben Ihre Rolle zu Beginn, als Sie mich wie ein sorgfältig ausgesuchtes Versuchskaninchen behandelten, sehr geschickt gespielt. So geschickt, daß ich nach unserm ersten ,außerdienstlichen' Gespräch glaubte, wir seien Freunde geworden!
Rein objektiv gesehen, vom Standpunkt der Wissenschaft aus, verurteile ich Sie nicht. Was Sie erreicht haben, ist - zumindest für mich - unwahrscheinlich und unbegreiflich. Wie oft habe ich darüber nachgedacht! War es Hypnose? Suggestion? Nein, niemals verlor ich beim Auftreten des Unsichtbaren das klare Bewußtsein, daß die Umgebung real war und ich das, was ich hörte, für unmöglich hielt. Wenn ich mich nicht irre, hat der Mensch bei der Hypnose oder Suggestion keine so kritische Einstellung mehr zu dem, was man ihm eingibt. Ich komme sicherlich der Wahrheit am nächsten, wenn ich hinter diesen Vorfällen eine künstlich hervorgerufene akustische Halluzination vermute. Wie Sie das gemacht haben, weiß ich nicht. Aber es handelt sich bestimmt schon um einen bedeutenden wissenschaftlichen Erfolg. Natürlich kann man wegen eines solchen Experiments vieles aufs Spiel setzen, aber nicht alles, nicht das Vertrauen eines Menschen. Ich wußte, worauf unser letztes Gespräch hinzielte, das zu meinem Glück so unerwartet abbrach. Sie haben die Grenze des Zulässigen überschritten. Beziehungen zwischen zwei Menschen, die auf Lügen aufgebaut sind, vergiften das Leben für immer. Deshalb beschloß ich auch, dieses Experiment abzubrechen, um so mehr, da es der Wissenschaft ja schon seine Ergebnisse geliefert hat. Außerdem ist Dr. Wassiljew der Ansicht, daß meine Nerven dringendst der Ruhe bedürfen, und ordnete Arbeitswechsel und Luftveränderung an. Trotz allem wünsche ich Ihnen aufrichtig viel Erfolg. Ich bedaure die Vorfälle nicht, wenn meine Rolle als Versuchskaninchen und meine zerrütteten Nerven Ihren wissenschaftlichen Forschungen genützt haben. Ich hoffe, daß
Sie in Zukunft Ihre Ergebnisse veröffentlichen werden, und ich dann endlich das Geheimnis meiner merkwürdigen Abenteuer in diesem düsteren Schloß erfahre. Ich werde aufmerksam und mit Ungeduld die Fachliteratur verfolgen. Verzeihen Sie, wenn Sie dieser Brief kränken sollte. Ich wünsche Ihnen alles Gute! Ihre Marina."
Das war ein unerwarteter und furchtbarer Schlag. Alle meine Träume von einer nicht mehr fernen, glücklichen Zukunft waren mit Marina verbunden wie jeder Pinselstrich eines Gemäldes mit der Leinwand. Das Datum des Briefes besagte, daß sie bereits am Tag nach meinem Wegritt abgefahren war. Sie war also schon weit fort . Ich weiß nicht, was mich außer dem Krieg noch hätte zwingen können, Marina nicht zu suchen. Aber das Gefühl der Verantwortung vor der Heimat mußte stärker sein als alle anderen Gefühle. Eine Stunde nach meiner Rückkehr lieferte ich im Stab den Bericht über meine Dienstreise ab und begann wieder mit meiner Arbeit. Natürlich gab ich meine persönlichen Pläne nicht auf. Sobald der Krieg zu Ende war, würde ich Marina finden. Aber bis dahin konnte ich kaum etwas tun . Im Stab hörte ich die letzten Neuigkeiten. Vor drei Tagen war ein Verbindungsoffizier vom Armeestab in Begleitung zweier Techniker zu uns gekommen. Ihr Auftrag war geheim. Unser Stabschef jedoch, ein Mann mit schneller und sicherer Kombinationsgabe, hatte einiges über ihre Tätigkeit verlauten lassen. Sie überprüften unsere elektrische Kraftanlage und die gesamte Innenleitung im Schloß.
Dabei kletterten sie auf den Boden und auf das Dach. Unser Stabschef folgerte daraus, daß man hier eine große Sendestelle der Armee zu errichten gedenke. Das hieß aber andererseits, daß der Armeestab selbst seine Unterkunft nach hier verlegen würde und uns folglich der seit langem erwartete Umzug bevorstand. Die Nachrichtenleute waren auch in meinem Zimmer gewesen. Die Spuren ihrer Arbeit entdeckte ich noch am gleichen Tag: Die überflüssigen Schalter, die mich häufig verwirrt hatten, wenn ich das Licht einschalten wollte, waren abmontiert worden. Gegen Abend machte ich wie gewöhnlich meinen Rundgang durch das Lazarett und prüfte gleichzeitig, ob alles für einen plötzlichen Umzug vorbereitet war. Ich stellte fest, daß wir jeden Augenblick hätten aufbrechen können. Mein Rundgang endete auf dem Schloßhof mit der Kontrolle unserer Transportmittel. Es war ein herrlicher Abend, erfüllt von würzig-frischer Luft und den letzten wärmenden Strahlen der Sonne, die langsam unterging. Der feierliche Frieden der Natur wurde nur von den unruhigen Schreien der Dohlen unterbrochen, die die schwarzen Schwärme ihrer Verwandten - der Saatkrähen - auf ihrem Weg nach Süden begleiteten. Das Gefühl der Einsamkeit und des Verlassenseins wich nicht von mir. Wahrscheinlich aus Abwehr gegen dieses bedrückende Gefühl überkam mich plötzlich der Wunsch, in der Natur Zuflucht zu suchen und mich für einen Augenblick ihrer majestätischen Ruhe hinzugeben. Nach wenigen Minuten lagen das Schloß und der verwilderte, durch Beschuß und Abholzungen verunstaltete Park ein ganzes Stück hinter mir. Ich ging in Gedanken versunken geradeaus. Plötzlich fühlte ich, wie in mir eine Melodie
entstand, noch unklar und verschwommen, aber doch wieder seltsam bekannt. Ich begann sie vor mich hinzusummen, wiederholte sie immer wieder, mit jedem Mal wurde sie vollkommener und klarer, bis sie unvermutet mit dem Bild Marinas zusammenfloß. Wieder sah ich sie vor mir, wie sie mich bei der Bluttransfusion mit einem strengen Blick zum Weggehen zwang . Nein, das war keine traurige Erinnerung. Ich freute mich darüber, daß mir diese Melodie gleichsam einen Teil Marinas wiedergab, etwas Realeres als nur eine Erinnerung an sie . Ein kaum wahrnehmbarer Pfad führte mich aufwärts. Bald befand ich mich auf einer flachen Hügelkuppe, auf der ein zertrümmerter Pavillon stand. Unter mir lag ein weites Tal, hinter dem sich im Abenddunst die fernen Berge verschwommen vom Horizont abzeichneten. Plötzlich fuhr ich zusammen. Ein flüchtiger Blick hatte unmittelbar neben mir eine Bewegung aufgefangen. Ein grauhaariger, hagerer Greis mit lebhaften, hellen Augen, die unruhig unter den buschigen Augenbrauen blitzten, erhob sich langsam von einem Stein. Er richtete sich hoch auf und nahm ebenso langsam seine abgetragene Mütze vom Kopf. Darauf verbeugte er sich schweigend und betont höflich. "Sehen Sie, Pan Offizier, was diese Verbrecher hier getan haben .", begann er mit echter Bitterkeit, als ich seinen Gruß erwidert hatte. Die Ruine des Pavillons galt ihm offensichtlich als Symbol des allgemeinen Unglücks. Wir setzten uns auf die Steintrümmer und unterhielten uns. Der Alte erzählte mir vom Einfall der Deutschen, von seiner Flucht vor ihnen und dem schweren Leben im Kriege. Wieviel ähnliche Geschichten hatte ich schon in diesen Jahren gehört! Schließlich gelang es mir, seine
Erinnerung auf weiter zurückliegende Zeiten zu lenken. Hierbei erfuhr ich nun, daß er einer der ältesten Bewohner des Schlosses - der Kammerdiener des Schloßbesitzers - gewesen war. Mit großer Anhänglichkeit erzählte er von "seinem" alten Pan und dessen Kindern und sprach mit Stolz von der vergangenen Pracht des alten Schlosses, über seine Architektur, über die Statuen, die Bilder und über die herrliche Natur ringsum. Je mehr der Bericht des Alten dem Ende zuging, desto häufiger fiel mir auf, daß er die Ereignisse nicht in chronologischer Reihenfolge erzählte, wie man das schon der Einfachheit halber in solchen Fällen tut, sondern ziemlich ungeordnet, über andere Menschen sprach er wenig und dann irgendwie stockend - einmal frei und mit Begeisterung und dann wieder vorsichtig, als habe er Angst, sich zu versprechen. In mir entstand der Eindruck, daß im Gedächtnis des Alten irgendein Erlebnis haften mußte, das ihn ständig quälte. Mag sein, daß es sich um das bedeutendste Ereignis seines Lebens handelte und er nicht darüber sprechen wollte, oder daß er vielleicht aus irgendeinem Grunde fürchtete, es zu erwähnen. Ich wollte versuchen, herauszubekommen, was ihn beunruhigte. "Wohin ging denn der Pan mit seiner Familie, als der Krieg begann?" fragte ich geradezu. Der Alte blickte an mir vorbei, und ich vermutete, daß ich das Richtige getroffen hatte. "Der Pan .", sagte er, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, "einen richtigen Pan gab es damals nicht mehr. Der alte Pan Karol starb genau vier Monate vor Ausbruch des Krieges an einer Herzkrankheit. Aber
damit war alles zu Ende. Alles! Sein Lieblingssohn Stanislaus, der rechtmäßige Erbe, die Mutter, die Tochter und zwei Tanten, alle reisten ab ." Richtiger Pan, rechtmäßiger Erbe! Das hieß, daß es auch einen falschen gab? Ich wollte dem Alten diese Frage noch nicht direkt stellen. Ich tat, als hätte ich nichts bemerkt. "Sind Sie denn nach dem Tode Pan Karols allein im Schloß geblieben?" fragte ich. Der Alte schüttelte traurig den Kopf. "Nein, Pan Offizier, nein. Auch ich blieb nicht. Auch ich ging fort. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie den Boden bearbeitet. Und nun wurde ich Bauer." "Warum das?" fragte ich verwundert. "Ah . ich verstehe. Die Besitzung wurde von dem Erben einem neuen Eigentümer verkauft?" "Nein, nein. Sie werden es nicht glauben, Pan Offizier. Die Besitzung wurde nicht verkauft, sondern - verschenkt. Verschenkt, Pan! An einen fremden Menschen, an den Verwalter des Schlosses, an Brzesowski. Er hatte hier nur ein Jahr gearbeitet . Wie war das möglich? werden Sie jetzt fragen. Nun hören Sie: Pan Karol selbst hat das getan. Kurz vor seinem Tode schrieb er noch eigenhändig sein Testament. Ich wußte davon, alle wußten es. Und wir alle waren davon überzeugt, daß sein Sohn Stanislaus alles erben würde. Stanislaus studierte im Ausland. Er wollte Ingenieur werden, und Pan Karol liebte ihn so sehr, daß ihm immer die Tränen kamen, wenn er an ihn dachte. Also, der Pan wurde beerdigt, hier an der Stelle, wo wir sitzen und wo schon sein Vater und sein Großvater liegen . Alle Verwandten, Freunde und Bekannten waren zur Testamentseröffnung erschienen, um den neuen Besitzer, Pan Stanislaus, zu begrüßen.
Ach, es war gar nicht zu schildern. Es war schlimmer als die Bombe, mit der die Deutschen diese Kapelle hier zerstörten. Ohnmachten gab es und Tränen. Nur der junge Pan Stanislaus hatte sich in der Gewalt, und der, der das Schloß erbte, der Verwalter. Nein, er hatte auch keinen Grund zum Weinen . Aber ich . ich weinte auch." Der Alte ließ den Kopf noch mehr sinken. "Das ist allerdings seltsam", bemerkte ich. "Hat denn niemand erfahren, warum Pan Karol so gehandelt hat?" Lange schwieg der Alte. "Doch, ich weiß es", sagte er schließlich ganz leise. "Es
wurde mir klar, als ich mich an etwas erinnerte. Aber es war schon zu spät, es waren schon alle abgereist, und ich konnte mit niemand darüber reden. Bald danach kamen auch die Deutschen. Es lag sicher daran, daß Pan Karol in der letzten Zeit langsam seinen Verstand verlor. Er wurde schwermütig, ging den Menschen aus dem Wege und wollte Fremde überhaupt nicht sehen. Sein schönes großes Arbeitszimmer gefiel ihm aus irgendeinem Grunde nicht mehr, und er befahl, ihn in ein kleines Zimmer zu bringen, das weitab von jedem Lärm lag. Nun, der Pan Verwalter ließ es renovieren ." "Welches Zimmer war das?" fragte ich schnell. "Im zweiten Stock. Wenn Sie die Treppe hochkommen, gehen Sie den Korridor entlang durch den großen Saal, dann ist es die letzte Tür rechts ." Marinas Zimmer! schoß es mir durch den Kopf. "Ja, ja, ich weiß", sagte ich. "Dort also hat der Pan die letzte Zeit gewohnt?" "Dort lebte er, und dort starb er auch." "Aber warum glauben Sie, daß sein Geist gestört war? Er war alt und krank . Herzkranke brauchen Ruhe, sie fürchten sich vor jeder Hast und Aufregung." "Ich weiß. Der Pan selbst sagte es mir. Er sprach mit mir über alles. Ich glaube, ich war der Mensch, der ihm in dieser Zeit am nächsten stand. Die anderen störten und ärgerten ihn, ich aber sollte ihn am liebsten gar nicht allein lassen. Wissen Sie, was er einmal zu mir sagte: ,Glaubst du eigentlich, Stefan', so sprach er, ,daß der Geist eines Toten nachts erscheinen kann und mit einem lebenden Menschen spricht?' ,Nein', antwortete ich, ,ich glaube nicht daran!' ,Siehst du', meinte der Pan, ,ich habe das auch geglaubt.' Daran sah ich, daß etwas mit dem Pan
nicht in Ordnung war. Von da an wurde er immer schwermütiger, als ob ihn ein Gedanke ständig quäle. Nachts fand er keine Ruhe und schlief erst gegen Morgen ein. Ich begann auf ihn aufzupassen. Einmal trat ich nachts leise an seine Tür und hörte plötzlich, daß sich Pan Karol mit jemand unterhielt! Ich unterschied zwei Stimmen, aber sie waren so leise, daß ich nichts verstehen konnte. Ich hörte nur, wie der Pan sagte: ,Oh, mein Gott, wenn diese Qual nur ein Ende nähme!' Das ging noch eine ganze Weile, dann wurde alles ruhig. Ich wachte bis zum Hellwerden an seiner Tür, um zu erfahren, wer es gewagt hatte, nachts bei ihm einzudringen. Gegen Morgen ging ich hinein, aber außer meinem Herrn war niemand drin. Da verstand ich erst, daß der Pan mit sich selbst gesprochen hatte. Zu dieser Zeit etwa schrieb er auch sein Testament . Nun, Pan Offizier, ist es nicht klar, daß sein Verstand gelitten hatte?" Von der Erzählung des Alten bewegt, stimmte ich zu. "Aber ein Testament, das in solchem Zustand abgefaßt wurde, wird doch gesetzlich für ungültig erklärt", fuhr er fort. "Und wenn ich das damals alles Pan Stanislaus erzählt hätte, hätte man vielleicht eine Untersuchung angeordnet und wäre der Sache auf den Grund gekommen . Wie denken Sie darüber?" Ich bemühte mich, den gewissenhaften Alten zu beruhigen. Ich sagte ihm, daß es für seine Pans schlimmer gewesen wäre, wenn sie bis zum Eintreffen der Deutschen im Schloß geblieben wären. Dieser Gedanke schien den Alten zu beruhigen, und er dankte mir ohne Ende, als wir uns verabschiedeten. Als ich im Schloß ankam, war gerade Abendbrotzeit, und ich ging sofort in den Speisesaal. Kaum hatte ich ge-
gessen, kehrte ich in mein Zimmer zurück. Ich wollte einmal versuchen, hinter das merkwürdige Geheimnis dieses Schlosses zu kommen. Ich machte mir allerdings wenig Hoffnung auf einen Erfolg. Fehlte mir doch immer noch ein bestimmter Verdacht. Die Erzählung des Alten hatte im wesentlichen nichts Neues gebracht. Sie bestätigte nur, daß das seltsame "Gespenst" vor einigen Jahren schon einmal aufgetreten war, als hier im Schloß ein anderes Leben herrschte und ganz andere Leute darin wohnten. Das bedeutete, daß diese Erscheinung nicht mit den augenblicklichen Bewohnern zusammenhing, sondern daß die Ursache im Schloß selbst, in dem alten Gebäude, zu suchen war. Also mußte es sich um die Akustik handeln. Setzen wir voraus, daß uns noch vieles über die Ausbreitung des Schalls unbekannt ist, daß wir nicht wissen, ob der Schall unter bestimmten Voraussetzungen die Fähigkeit besitzt, große Entfernungen ohne eine entsprechende Sendeanlage zu durchmessen. Vielleicht waren solche Voraussetzungen durch die Konstruktion des Gebäudes selbst gegeben, durch das Material, aus dem seine Wände, Fußböden und Decken bestanden . Aber woran lag es, daß die Geräusche nicht ständig übertragen wurden? Welche besonderen Bedingungen mußten vorliegen, um einen so verblüffenden Effekt hervorzurufen oder ihn plötzlich abbrechen zu lassen, wie es bei Marina geschehen war? Nein, auch mit dieser Vermutung kam ich nicht weiter! Und eine andere hatte ich nicht. Jeder Verdacht auf irgendeine Psychose fiel fort, nachdem ich selbst in meinem Zimmer die Stimme des Mädchens gehört hatte.
Ich war ganz verzweifelt, daß ich keinen Hinweis fand, Ich mußte das Rätsel lösen! Also blieb nur eins übrig: noch jemand in diesen teuflischen Spuk einzuweihen, selbst auf die Gefahr hin, zur Zielscheibe des Spottes unter meinen Kameraden zu werden. Es klopfte leise an die Tür. "Herein!" rief ich. Niemand trat ein. Ich wiederholte die Aufforderung noch einmal und lauter. Dieselbe Stille. Der Klopfende hatte noch nicht einmal die Türklinke berührt. Da ging ich zur Tür und öffnete sie. Draußen stand niemand. Mir fiel sofort ein, wie die unsichtbare Ordonnanz zu Marina gekommen war. In diesem Augenblick erschien am hinteren Ende des Korridors der Diensthabende des Lazaretts. Er kam heran und meldete, ein Mann aus der hiesigen Gegend sei da und bitte, ihn in einer wichtigen Angelegenheit zu empfangen. "Ein alter?" fragte ich. "Nein, mittel. Schwarzhaarig. Ziemlich klein. Er sagt, er sei Arzt. Er wartet unten am Tor." Ich befahl, eine Ordonnanz nach ihm zu schicken. Nach einigen Minuten trat der Besucher ein. Seine pelzgefütterte Joppe aus festem, feldgrauem Stoff und die hohen Schaftstiefel erweckten auf den ersten Blick den Eindruck, daß er ein Jäger sei. Doch genügte ein Blick auf sein Gesicht, um zu wissen, daß dieser Mensch nicht mit der Natur verbunden sein konnte. Weit eher schien er ein Kaufmann, Ladenbesitzer oder Handelsvertreter zu sein. Auf jeden Fall war er kein Mensch, der großer Gedanken oder selbstloser Leidenschaft fähig war. Das Gesicht meines Besuchers gehörte zu denjenigen, die man sich leicht einprägt: Er hatte weit auseinanderliegende
Augen, von denen das eine einen kaum merklichen Schaden aufwies, schmale Augenbrauen und ebenso schmale Lippen, die die kleinen, spärlichen Zähne kaum bedeckten. Er war blaß und wirkte aufgeregt. Russisch sprach er gut, mit einem leichten polnischen Akzent. "Verzeihen Sie, sind Sie der oberste . Direktor dieses Lazaretts?" fragte er mit ungewöhnlicher Höflichkeit und verbeugte sich. "Ja, ich bin der Chefarzt. Bitte, nehmen Sie Platz." "So, so, sehr angenehm, ich danke Ihnen. Ich habe die Ehre, mich vorzustellen. Draußen sagte ich Ihrem Wachtposten, daß ich - Arzt sei. Nein, ich bin kein Arzt. Ich sagte das nur, um leichter vorgelassen zu werden. Er wollte nämlich genau wissen: Wer ich sei und in welcher Angelegenheit ich käme . Da gab ich mich als Arzt aus. Wenn ein Arzt ein Lazarett aufsucht, ist das nichts Ungewöhnliches. Aber ich bin von Beruf Ingenieur. Mein Name ist Brzesowski ." "Brzesowski!" Sofort fiel mir die Erzählung des Alten ein. Natürlich! So hieß doch der Verwalter, der die Erbschaft gemacht hatte . Das war also der Mensch, der Pan Karols Geistesschwäche ausgenutzt oder . vielleicht sogar hervorgerufen hatte, um Schloßbesitzer zu werden! Er mußte das Geheimnis der akustischen "Gespenster" kennen! Ich mußte es ihm entreißen! Aber wollen wir erst einmal sehen, wie es weiterging . "Brzesowski .", wiederholte ich laut. "Habe ich Ihren Namen nicht schon irgendwo gehört ." "Sicherlich haben Sie ihn gehört. Das ist kein Wunder, denn ich ." - er machte eine vielsagende Pause - "ich bin der Besitzer dieses Schlosses. Mir gehören auch die Ländereien ringsherum - fünfhundert Desjatinen [früheres russ. Feldmaß, umfaßt 109.25a] und dieses alte Haus
. Hier in diesem Zimmer habe ich gewohnt ." Er drehte sich auf dem Stuhl um, und sein aufmerksamer Blick glitt rasch die Wände entlang, als wollte er sie abtasten. Das Ergebnis befriedigte ihn offenbar. "Ich hoffe", fuhr er fort, "Sie verstehen meinen Wunsch, das Haus wiederzusehen. Doch das ist natürlich nicht der einzige Grund meines Kommens. Ich bin ein Geschäftsmann, und mich interessiert als Besitzer dieses Schlosses natürlich die Frage: Was wird weiter geschehen? Die Rote Armee - ihr sei Dank - hat unser Land von den Deutschen befreit. Man sieht schon jetzt, daß sie den Krieg verloren haben. Die Menschen kehren wieder zu ihren alten Wohnsitzen zurück, bauen die zerstörten Häuser auf und fangen ein neues Leben an. Und ich? Ich hab nicht einmal das Recht, mein eigenes Haus zu betreten!" Brzesowski wurde mir plötzlich zuwider. Ich sah in ihm einen Vertreter der uns fremden Welt von Kapitalisten. Eben hatten hier noch heiße Kämpfe getobt, da folgte er schon den Befreiern auf dem Fuße, um sich seine Beute nicht entwischen zu lassen. "In diesem Haus liegen verwundete Soldaten, Pan Brzesowski, die Soldaten, die Polen befreit haben. Der Krieg ist noch nicht zu Ende. Erwarten Sie, daß wir auf freiem Feld Zelte aufschlagen und Ihr Schloß leerstehen lassen?" "Wo denken Sie hin!" Er erschrak und begriff sofort, daß er einen falschen Ton angeschlagen hatte. "Ich weiß ja, daß ich warten muß. Aber wie lange wird es wohl noch dauern? Sie sind besser informiert als ich. Werden Sie bis zum Kriegsende hierbleiben oder zusammen mit der Front weiter nach Westen vorrücken?" "Es hat keinen Zweck, solche Fragen zu stellen, Pan Brzesowski, es kann sie doch niemand beantworten. Es
bleibt Ihnen vorläufig nichts anderes übrig, als auf das Ende des Krieges zu warten und vielleicht sogar noch länger!" "Länger?" "Das ist nur meine persönliche Meinung. Der Krieg bringt große Veränderungen mit sich. Ich kann mir schwer vorstellen, daß Frieden wird und alles so weitergeht wie früher. Die Völker wollen keinen neuen Krieg. Das bedeutet, daß sie die Lebensweise, die Staatsordnung und die Gesetze, durch die der Krieg möglich wurde, ändern werden. Darüber wird aber noch einige Zeit vergehen." Pan Brzesowskis Gesicht wurde angesichts dieser für ihn traurigen Aussichten immer finsterer. Eine Zeitlang schaute er mich schweigend mit seinen kalten Augen an. Inzwischen überlegte ich krampfhaft, wie ich aus diesem Menschen die Angaben herausziehen sollte, die ich brauchte. Jede Minute konnte er sich verabschieden, und ich war auf immer der vielleicht einzigen Möglichkeit beraubt, das Geheimnis zu erfahren. Das wäre wahrscheinlich auch geschehen, wenn sich nicht etwas ereignet hätte, das mich noch heute mit Gruseln erfüllt. Ich werde mir jedoch Mühe geben, alles ruhig und der Reihe nach zu erzählen. Das verärgerte Gesicht meines Gesprächspartners veranlaßte mich, anders vorzugehen. Ich schlug einen harmlosen Ton an und fragte: "Mich interessiert eigentlich, warum Sie in diesem Zimmer gewohnt haben. Sagen Sie mir doch bitte - wenn es kein Geheimnis ist -, was Sie bewog, sich gerade diesen schmalen, bescheidenen Raum auszusuchen. Als Herr eines luxuriösen Schlosses konnten Sie doch unter ungefähr dreißig, zum Teil großen und prachtvoll eingerichteten Zimmern wählen."
Sein unruhiger, forschender Blick überflog mein Gesicht und blieb am Fenstervorhang haften. Irgend etwas erregte dort seine Aufmerksamkeit. Ich hatte diesen Blick schon mehrmals aufgefangen. "Ja, das mag Ihnen wirklich seltsam vorkommen", antwortete er. "Aber ich kam einfach nicht dazu ." Ein Mensch, dem die Geschichte von Pan Karols Hinterlassenschaft unbekannt war, hätte diese Antwort nicht verstanden. Wollte mir Brzesowski auf den Zahn fühlen? Ich beschloß, ihn zu zwingen, die Geschichte, die ich schon in der Fassung des alten Kammerdieners gehört hatte, zu wiederholen. "Wozu kamen Sie nicht?" fragte ich. "Ich kam nicht dazu, mich hier richtig einzurichten . Wenn Sie meinen Namen schon einmal hörten, so wird man Ihnen vermutlich auch erzählt haben, daß ich erst einige Wochen vor Kriegsbeginn Besitzer dieses Schlosses wurde. Vorher war ich hier zwei Jahre lang nur Angestellter - ich war der Verwalter. Es lag also nichts Besonderes darin, daß ich in diesem Zimmer wohnte ." "Ja, ich erinnere mich! Das wurde mir erzählt . Aber erlauben Sie . da war doch irgendeine geheimnisvolle Geschichte mit . dem Testament Pan Karols .!" "Wieso ,geheimnisvoll'? Natürlich, es mag sein. Für einen fremden Menschen mußte das so aussehen! Aber ich war von Kindheit an mit dem Sohn des ehemaligen Besitzers befreundet. Wir haben gemeinsam studiert und auch später zusammen gearbeitet . Ich gehörte fast zur Familie. Sie liebten mich, besonders der Alte . Außerdem schätzte er mich auch als Geschäftsmann: Ich habe doch die ganze Wirtschaft hochgebracht. Sie war sehr primitiv, als ich sie übernahm . Ich baute eine elektrische Kraft-
anlage und mechanisierte den Betrieb . Die Besitzung begann großen Gewinn abzuwerfen . Es ist also, wie Sie sehen, nicht weiter ,geheimnisvoll', daß Pan Karol mir das Schloß vermacht hat ." In diesem Augenblick begann wieder der seltsame Spuk. Ich hörte direkt vor mir, nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt, ein leises Geräusch, einen Lufthauch oder das Rascheln eines Stoffes. Brzesowski saß unbeweglich an der anderen Seite des großen Tisches und sah mich an. Hatte er etwas gemerkt? Das Geräusch war wohl zu weit von ihm entfernt. In der nächsten Sekunde kam das Geräusch noch näher an mein rechtes Ohr heran. Und jetzt erkannte ich es auch - es war ein menschlicher Atem. Ganz leise, mit schnellem, aber deutlichem Flüstern wurde mir ins Ohr gehaucht: "Erschrecken Sie nicht, lassen Sie sich nicht anmerken, daß Sie mich hören. Setzen Sie das Gespräch fort. Wir werden ihn sofort entlarven, und dann wissen Sie alles." Bei den ersten Worten, die von diesen unsichtbaren Lippen kamen, war ich instinktiv zusammengezuckt. Aber merkwürdigerweise löste sich die Erstarrung, je länger der Unsichtbare sprach. Ich warf einen flüchtigen Blick auf Brzesowski: Er schaute auf den Vorhang am Fenster. Anscheinend hatte er nichts gemerkt. Um meine eigene Verwirrung zu verbergen, drehte ich mich heftig zu ihm um und fragte: "Was haben Sie denn?" "Wie?" fragte er zurück. "Sie sehen dorthin, als ob da irgend etwas . Außergewöhnliches wäre." "Nein! Leider sehe ich nichts. Hinter diesem Vorhang ist
es dunkel. Ich suchte dort etwas . Ich kannte doch in diesem Zimmer jede Kleinigkeit. Vieles habe ich selbst eingebaut, und es sind für mich damit zahlreiche Erinnerungen verbunden. Es ist aber nicht viel übriggeblieben . Dort am Fenster, hinter dieser Gardine, muß eine kleine Schalttafel gewesen sein. Ich konnte von da aus die Beleuchtung im Schloß regeln." "Haben Sie das selbst gemacht?" fragte ich freundlich und dachte daran, welches Interesse die Nachrichtenleute für diese Tafel gezeigt hatten. "Ja, eigenhändig!" antwortete er blasiert. "Zeigen Sie ihm diese Tafel. Beobachten Sie ihn, geben Sie sich den Anschein, als ob Sie alles wüßten", flüsterte es neben mir. Rasch stand ich auf und schob die Gardine beiseite, damit das Licht auf die betreffende Stelle an der Wand fiel. "Sehen Sie!" sagte ich und wandte mich zu Brzesowski um. Auch er erhob sich, machte zwei Schritte auf mich zu, blieb dann stehen und starrte auf die schwarze, polierte Tafel. Ich sah, wie er langsam erblaßte. Mein eigenes, seltsames Benehmen wurde mir nicht bewußt. Ich verstand fast nichts von dieser Szene. Ich tat bedingungslos das, was mir die Stimme zuflüsterte, und spielte meine Rolle als Ankläger. Was bewegte mich, diesem Flüstern zu vertrauen? Pan Brzesowski kam noch näher und berührte die fast leere Schalttafel. "Aber hier .", sagte er mit angestrengter Stimme, "waren doch noch Schalter . Sie sind abmontiert worden . Waren das . die Deutschen oder Sie?" Die letzten Worten klangen gleichgültig. Aber wie er so
dastand, ohne den Kopf von der schwarzen Tafel zu wenden, fühlte ich, daß er auf eine Antwort wartete wie auf eine Entscheidung über sein Schicksal. "Das waren wir", wiederholte ich das Flüstern, das an mein Ohr drang, und ließ die Gardine aus der Hand fallen. Brzesowski richtete sich schnell auf und schaute mich prüfend an. Er sah aus wie ein Tier, das in die Enge getrieben wurde und sich zum Sprung duckt. Was mußte ich jetzt tun? Was sollte ich sagen? Was geschah, wenn diese Stimme, die mich bis jetzt geleitet hatte, verstummte? Ich saß und horchte. Nein, mein Souffleur war nicht verschwunden! Brzesowski ging zu seinem Stuhl zurück und nahm seine Mütze in die Hand. Offenbar wollte er gehen. "Nun, eh . Gestatten Sie .", begann er. "Warten Sie, Pan Brzesowski", unterbrach ich ihn. "Sagen Sie mir noch eins: Von wem stammt die Idee zu diesem ausgeklügelten Mechanismus?" "Zu welchem Mechanismus?" "Haben Sie noch nicht begriffen, daß wir alles wissen . Nun gut. Zwei Zimmer dieses Schlosses stehen durch einen Mechanismus miteinander in Verbindung. Dazu wurde diese Schalttafel angebracht. Genügt Ihnen das?" "Ja . das ist meine Idee. Ich habe diese schwierige Anlage gebaut, um sie in der Praxis zu erproben." Ich muß gestehen, daß ich innerlich vor Staunen und Neugier zitterte, als ich diese anklagenden Worte mit scharfer Stimme nachsprach. Was war das für ein Mechanismus? Welches Wunder der Technik konnte diese beiden Zimmer mit körperlosen Menschen bevölkern? Es schien eine geniale Erfindung zu sein, und mich ergriff unwillkürlich Achtung vor diesem Menschen mit den kalten
Augen. "Die Resultate werden Sie wahrscheinlich kennen", fügte er hinzu. Ja, ich kannte die Resultate. Sie waren mir zum Schicksal geworden. Durch sie hatte ich Marina gefunden, durch sie . wieder verloren. Aber jetzt mußte ich wissen, wie diese akustischen Gespenster zustandekamen. An den Erfinder durfte ich diese Frage nicht stellen, denn ich "wußte ja alles"! Was sollte jetzt werden, zum Teufel?! "Ich komme sofort", flüsterte es mir zu. Es dauerte endlos lange. Da öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle erschien ein Mann. Ich erhob mich und ging ihm entgegen. Als er in den Lichtkreis der Lampe trat, sah ich, daß er eine Offiziersuniform trug. Er hatte die Schulterstücke eines Obersten der Nachrichtentruppe. Ach, natürlich, das war ja der Verbindungschef der Armee, dessen Ankunft man mir heute gemeldet hatte. Wie ungelegen, daß er gerade jetzt kam! Ich sah ihm ins Gesicht - und erstarrte. Was für eine Ähnlichkeit! Wären diese Falten auf der Stirn und die zusammengezogenen Augenbrauen nicht gewesen, dann . Aber plötzlich glätteten sich die Falten, und ein verschmitztes Lächeln huschte über das breite Gesicht. "Maestro!" Wir vergaßen alle Militärdisziplin, kümmerten uns gar nicht um Brzesowski und stürzten uns in die Arme, "Mein Lieber, ist das möglich?! Bist du es? Bist du es wirklich?" "Ehrenwort, ich bin es, ich war es und werde es auch vermutlich weiterhin sein", entgegnete er lachend. "Aber warte, mein Doktorchen. Vorerst wollen wir diese Angelegenheit hier zu Ende führen. Du wirst gleich etwas erleben." Es muß erwähnt werden, daß Maestro schnell an Brze-
sowski vorbeigegangen war und ihm die ganze Zeit den Rücken zugekehrt hatte. Jetzt drehte er sich plötzlich scharf um. "Nun, Pan Brzesowski, wir haben uns ziemlich lange nicht gesehen, nicht wahr? Erkennen Sie mich?" Brzesowski stand auf und blickte angestrengt in das Gesicht meines Freundes. "Erinnern Sie sich, erinnern Sie sich doch", half dieser ihm nach. "Neunzehnhundert . siebenunddreißig, wenn ich mich nicht irre . Moskau . Elektrotechnisches Institut . Laboratorium für Radioforschung ." Brzesowski wurde blaß und ließ sich auf den Stuhl sinken. "So, jetzt ist es Ihnen also wieder eingefallen", fuhr mein Freund fort. "Ihre ,wissenschaftliche' Tätigkeit in der Sowjetunion war nur von kurzer Dauer, aber anscheinend sehr erfolgreich - für Sie. Noch im selben Jahr verschwanden Sie spurlos und nahmen den Entwurf meiner Arbeit über das Selbstausgleichsmikrofon und noch verschiedenes andere Material über Stereoschallsysteme mit. Heute verstehe ich das. Sie mußten sich beeilen, weil es Pan Karol schon sehr schlecht ging . Aber bevor Sie ihm den letzten kleinen Stoß versetzten, um ihn ins Grab zu bringen, mußten Sie ja noch dieses Glanzstück mit dem Testament vollbringen . Ich muß sagen, Sie haben die neue Idee einfach großartig ausgenützt. Sechs Jahre sind inzwischen vergangen, kein Mensch wußte von der Sache, und trotzdem kommt sie ans Tageslicht, wie Sie sehen ." Brzesowski schwieg. Sein Gesicht war unbeweglich wie eine Maske. Man konnte sehen, daß es ihm ungeheure Anstrengung kostete, diese Anklage an sich abgleiten zu lassen. Schließlich sagte er im Ton eines zu Unrecht beschuldigten Menschen:
"Sie haben keinen Grund, mich eines so schweren Verbrechens zu verdächtigen. Ja, ich habe hier wirklich Ihre Idee von der räumlichen Lokalisierung des Schalls praktisch angewandt, aber nur, weil damit so ein interessanter Effekt erzielt werden kann. Zufällig wollte sich Pan Karol gerade in dem Zimmer niederlassen, das von mir schon für den Versuch eingerichtet worden war. Und mir gelang es sogar ." "Pan Brzesowski", unterbrach ihn Maestro lächelnd,
"Ihre Phantasie in Ehren! Aber glauben Sie mir, es geschieht selten, daß Verbrechen wie das Ihre so leicht aufgedeckt werden - in allen Einzelheiten und ungeachtet dessen, daß der einzige Zeuge schon tot ist. Sie haben natürlich gehofft, daß Pan Karol all das, was Sie verraten könnte, mit ins Grab genommen hat. Sie täuschen sich, Pan Karol kann noch als Zeuge auftreten, und wenn es nötig ist, wird er sehr ausführliche Aussagen machen. Ja, er selbst! Als Sie nämlich den Alten mit den Geistern seiner Vorfahren und anderen Dingen zu quälen begannen, fing er an, ein Tagebuch zu führen. Er rechnete anscheinend damit, daß die ungewöhnlichen Vorfälle, die zu real waren, als daß er an ihnen zweifeln konnte, auch die Aufmerksamkeit seiner Nachkommen auf sich lenken würden. Ich fand dieses alte Tagebuch aus seiner Jugendzeit, in das er kurz vor seinem Tode noch einige Eintragungen gemacht hatte. Es lag auf dem Boden, unter den Restbeständen der Bibliothek, die die Deutschen offenbar wie Gerumpel hinausgeworfen hatten. Diese Aufzeichnungen verraten Ihre Machenschaften mit dem Testament . Aber das soll jetzt genügen. Wir sind ja keine Untersuchungsrichter. Jetzt" - er wandte sich zu mir - "lassen Sie Pan Brzesowski zum Stab bringen. Dort wird man bestimmen, was weiter mit ihm geschehen soll . Das ist nicht mehr unsere Angelegenheit."
Es war schon tief in der Nacht. Maestro und ich kramten in unsern feldmarschmäßig gepackten Koffern und holten ohne Bedenken unsere eisernen Rationen heraus. Wir zweifelten keine Sekunde daran, daß der richtige Augenblick dafür gekommen war. Auf der Tischdecke aus Zeitungspapier standen die Becher von
unseren Feldflaschen, eine Flasche Schnaps und ein schönes Stück gebratenes Fleisch. Sogar eine Tafel Schokolade für den Nachtisch war vorhanden. Ja, Menschen, die den Krieg kennen, wissen, was ein solches Wiedersehen zwischen Freunden bedeutet. Wir waren glücklich und gleichzeitig erregt über das soeben Erlebte. Meinen Brief hatte man Maestro aus Moskau nachgesandt. Er war damals gerade zum Verbindungschef der Armee ernannt worden. Ich mußte das Kriegsgeheimnis wahren und durfte in meinem Brief natürlich nicht den Standort meines Lazaretts nennen. Da wir in derselben Armee waren, bestimmte ihn Maestro jedoch mit Leichtigkeit nach der Feldpostnummer. Von da an wartete er auf eine Gelegenheit, mich besuchen zu können. Diese Gelegenheit kam, als hier im Schloß eine Sendestelle der Armee eingerichtet werden sollte, wie mein gewitzter Stabschef ganz richtig vermutet hatte. Mein Freund war zwei Tage nach Marinas Abreise hier angekommen und in das frei gewordene Zimmer eingezogen. Ich berichtete von allen Ereignissen, die sich seit dem ersten Abenteuer bei Marina zugetragen hatten. Das Gespräch mit Brzesowski brauchte ich nicht zu erzählen, da uns Maestro vom ersten Augenblick an belauscht hatte. Doch nun hielt ich es nicht länger aus. "Erzähl mir endlich, worum es sich handelt, mein Lieber. Ich weiß schon, da muß irgendeine technische Anlage ." ",Irgendeine technische Anlage', sagst du", antwortete er lächelnd. "Weißt du auch, daß sie Brzesowski zwanzigtausend gekostet hat, wenn nicht noch mehr? Aber der Einsatz lohnte sich. Er erhielt dafür die "kleine" Besitzung von etwa einer Million. Und wenn der Krieg nicht gewesen wäre ."
"Aber wo ist denn nur diese technische Anlage?" flehte ich. "Sie muß doch irgendwo im Zimmer sein . und ich sehe doch nichts!" "Doch, sie ist hier, in deinem Zimmer. Und in meinem Zimmer, in dem Pan Karol starb und deine Marina wohnte, ist sie auch. Ich an deiner Stelle hätte zuallererst damit begonnen, die technische Anlage zu suchen, wenn ich solche rätselhaften Geräusche höre. Verstehst du? Ich hätte die technische Anlage gesucht, aber mir nicht über Psychologie, Träume oder irgendeine übernatürliche Erscheinung den Kopf zerbrochen ." "Wir sehen die Sache eben verschieden an. Ich wußte ja nichts von Brzesowski! Weißt du, was Apperzeption ist? Das ist ein Fachausdruck in der Psychologie und bedeutet die Bereitschaft, die Tendenz, jede neue Erscheinung von einem bestimmten Gesichtspunkt aus wahrzunehmen. Du bist ein Mann der Technik, also wirst du in erster Linie davon ausgehen. Ich dagegen habe nur geringe technische Kenntnisse. Bei jeder neuen Erscheinung sehe und suche ich vor allem das Naturgegebene." Meine "Apperzeption" besänftigte meinen Maestro etwas. "Zweifellos ein Nachteil", brummte er. "Nun gut. Ich werde dir jetzt zeigen, wo sich diese technische Anlage befindet. Sie umgibt uns hier überall, von allen Seiten, von oben und von unten. Wenn du deine Kranken abklopfst, kannst du Veränderungen im Organismus durch den Ton wahrnehmen, nicht wahr?" "Ja." "Gut. Nimm irgendeinen harten Gegenstand . Vielleicht dieses Messer dort. Der Griff ist ja schwer genug. Jetzt stell dich vor die Wand und klopf erst mal einen Quadratmeter ab."
"Wo?" "Das ist gleich. Hab keine Angst, du brauchst nicht besonders vorsichtig zu sein." Unsicher begann ich die Wand hinter dem Schreibtisch abzuklopfen. Der dumpfe Ton ließ eine feste Steinmauer erkennen. Doch schon der vierte oder fünfte Schlag traf auf einen Hohlraum. Ich tastete den Gobelin ab und fühlte, daß darunter ein dünnes Metallgitter mit kleinen Löchern lag. "Na, hast du ein Loch in der Lunge entdeckt?" fragte Maestro. "Wie groß ist es?" Das Gitter hatte einen Durchmesser von dreißig Zentimetern. "Gut. Und jetzt klopf alle Wände ab, in derselben Höhe." Ich ging an der Wand entlang und überzeugte mich, daß sie eine ganze Reihe solcher Hohlräume enthielt. Sie lagen alle in gleicher Höhe und waren in gleichmäßigen Abständen voneinander eingebaut worden. So folgerte Maestro und nahm mir das Messer weg. "Hast du dich jetzt überzeugt, daß das kein normales Zimmer ist? Aber das ist noch längst nicht alles. Du hast die zweite Reihe Hohlräume entdeckt. Aber hier" - er klopfte dicht über dem Fußboden - , "hier führt noch so eine Reihe entlang, die erste. Und hier" - er stieg auf einen Stuhl und klopfte auf einen Hohlraum in ungefähr drei Meter Höhe - , "die dritte. Zwei Reihen Hohlräume ziehen sich durch die Decke und zwei sind im Fußboden, unter dem Parkett, versteckt. Insgesamt haben wir in diesem Zimmer achtzig solcher Öffnungen gezählt. Du siehst also, eine gründliche Arbeit!" Ich war fassungslos.
"Weiter", fuhr Maestro fort. "Du weißt, daß das Zimmer, in dem ich jetzt untergebracht bin, ebenso groß und genauso möbliert ist. Dort sind gleichfalls achtzig Hohlräume in Wände, Decke und Fußboden eingelassen. Jetzt stell dir vor, daß in jedem Hohlraum meines Zimmers ein Mikrofon, hier aber je ein Lautsprecher steckt, und ich glaube, ich brauche dir nicht mehr viel zu erklären . Jedes Mikrofon in meinem Zimmer ist durch zwei Leitungen mit dem entsprechenden Lautsprecher deines Zimmers verbunden. Sagen wir, ich schlage bei mir mit der Faust auf den Tisch, so fangen die Mikrofone dieses Geräusch auf und übertragen es hierher, wo es die Lautsprecher wiedergeben, Begreifst du?" "Natürlich", bestätigte ich. "Folglich höre ich in meinem Zimmer den Schlag von allen Seiten ." "Daneben getroffen!" erwiderte Maestro. "Nein, eben nicht. Das ist ja gerade meine Idee, meine Erfindung: Du hörst das Geräusch des Schlages nicht von allen Seiten, sondern nur vom Tisch aus, weil dort wie hier die Tische an der gleichen Stelle stehen. Der Tisch selbst hat damit natürlich nichts zu tun . Wenn er nicht da wäre, hättest du trotzdem das Geräusch von der Stelle gehört, wo der Tisch steht. Zum Teufel, ist es langweilig, solche einfachen Dinge zu erklären!" "Warte, warte, mein Lieber, hab Geduld! Ich werde es schon noch verstehen. Das ist ja sehr interessant, und ich glaube, gerade der Kernpunkt des Problems. Aber wieso schallt dein Faustschlag gerade von dort? Geben nicht alle Lautsprecher dieses Geräusch wieder?" "Natürlich, alle geben sie es wieder. Und gerade deshalb schallt es nicht von allen Seiten und aus allen Lautsprechern gleichmäßig, sondern du hörst es an der Stelle
deines Raumes am stärksten, wo es in meinem Zimmer entstanden ist. Wenn gleiche Töne gleichzeitig auf dich eindringen, kannst du überhaupt nicht bestimmen, aus welchen Richtungen sie kommen, nicht einmal dann, wenn es sich nur um zwei Seiten handelt. Da hörst du bloß einen Laut, und von einer Stelle, die nicht einmal der Schallquelle entspricht. Soll ich dir erzählen, wie ich überhaupt darauf gekommen bin? Vor zehn Jahren fuhr ich einmal mit dem ,Pfeil' nach Leningrad. Am Abend ging ich aus dem Abteil auf den Gang hinaus, stellte mich ans Fenster und rauchte. Der Zug hatte Radio, und unbarmherzig dröhnte aus dem Lautsprecher über mir Tanzmusik. Ich zog mich von diesem unglücklichen Platz zurück und trat ans nächste Fenster, als ich die Musik plötzlich von vorn hörte. Ich drehte mich um und merkte, daß an der vorigen Stelle gar kein Lautsprecher angebracht war. Ich ging dahin zurück. Die Musik war wieder über mir. Da wendete ich mich nach der andern Seite, und da war sie wieder vor mir. Es stellte sich heraus, daß vorn und hinten am Wagen je ein Lautsprecher angebracht war. Ich stand im Gang zufällig in der Mitte zwischen beiden, und es klang, als käme die Musik aus einer Schallquelle über mir. Dieser Vorfall regte mich zu einer wissenschaftlichen Arbeit über den Stereoschall an. Im Jahre 1937 konnte ich bei mir im Institut schon ein kompliziertes Stereoschallsystem vorführen. Es war dasselbe wie hier im Schloß. Damals lernte es auch Brzesowski kennen. Er arbeitete in einem Laboratorium unseres Instituts, steckte aber seine Nase überall hinein und zeigte ein solches Interesse für meine Arbeit, daß ich ihn beinahe zu mir genommen hätte. Dieser ,akustische Spuk' war nur der Anfang einer wissenschaftlichen Arbeit. Er allein konnte unserer Ansicht nach keine
praktische Bedeutung haben. Aber wie man sieht, dachten nicht alle so. Brzesowski, dieser geschäftstüchtige Gauner, erkannte sofort, wie er meine Sache praktisch ausnutzen konnte, und pfiff auf die wissenschaftliche Forschungsarbeit. Er machte sich heimlich nach Polen aus dem Staube und wurde nach zweieinhalb Jahren Besitzer dieses Schlosses! Alle Achtung! Jetzt aber Schluß mit der Geschichte! Mir ist die Kehle schon ganz trocken. Füllen wir unsere Gläser und trinken wir darauf, daß diese finstere Geschichte mit Pan Karol in unserem Land einfach undenkbar ist." Dieser Trinkspruch gab unserer Unterhaltung eine andere Richtung. Wir sprachen vom Krieg und von seinen Folgen für Wissenschaft und Technik. Aufmerksam hörte Maestro zu, als ich ihm meine neuen Ideen über die Wirkung der seelischen Verfassung auf den Organismus auseinandersetzte. Er forderte Tatsachen, Zahlen, und schaute sich einige meiner Aufzeichnungen an. Dann fragte ich, was er nach dem Krieg zu tun gedächte. Diese Frage führte uns wieder auf das erste Thema zurück. "Auf mich warten große und interessante Aufgaben", antwortete er und lächelte verschmitzt. "Der Stereoschall." "Wie?! Das hier?" Maestro lachte fröhlich: "Nein, etwas anderes. Diese Anlage ist nur geeignet, die Menschen irrezuführen und zu erschrecken. Eine andere Arbeit aber, die schon in unserm Institut begonnen wurde, eröffnet große Perspektiven für eine praktische Anwendung des Stereoschalls." "Habt ihr schon Versuche auf diesem Gebiet gemacht?" fragte ich. "Ja, wir waren schon ein gutes Stück vorangekommen.
Der Krieg hat die Arbeit unterbrochen. Wenn wir nach dem Sieg in die Heimat zurückkehren, werde ich dir alles vorführen. Aber heute verrate ich dir noch nichts. Doch nun ist Zeit zu schlafen, die Nacht ist bald vorbei, und du mußt früh aufstehen." Mein Freund verließ mich und ging in sein Zimmer. Obwohl ich sehr müde war, bedauerte ich, daß unsere Unterhaltung zu Ende war. Vieles war mir noch unklar geblieben, und ich hätte meinem Freund gern noch weitere Fragen gestellt. Doch plötzlich, wie als Antwort auf diese Gedanken, hörte ich meine Tür aufgehen, Maestro trat ein, klapperte mit dem Schlüssel und sagte ruhig: "Siehst du, wir können uns noch ein wenig vorm Einschlafen unterhalten ." Das alles kam also aus Marinas Zimmer! Hier, neben mir, bewegte sich und sprach nur Maestros Geräuschkulisse. Sie war so real, daß ich manchmal instinktiv zur Seite wich, um einen vermeintlichen Zusammenstoß zu vermeiden, wenn wir uns im Zimmer bewegten und sich unsere Wege kreuzten. Einige Male schien es mir jedoch, als ob wir durch uns hindurchgingen. "Siehst du, wie bequem das ist?" scherzte Maestro. "Auf diese Weise könnten wir hier beliebig viele Menschen versammeln, meinetwegen tausend! Keiner würde den anderen stören, und die Luft reichte auch für alle aus." Schließlich legten wir uns hin. Mein Diwan und das Bett meines Freundes befanden sich in beiden Zimmern an der gleichen Stelle. Beide Räume schienen sich vereinigt zu haben, und wir lagen jetzt nebeneinander. Ich gebe zu, daß mir dieser Zustand noch immer unheimlich vorkam. Maestros Worte kamen langsamer - ein Zeichen, daß er am
Einschlafen war. "Sag mal, Maestro", fragte ich rasch, "wenn die Geräusche von dir zu mir ebenso wie von mir zu dir kommen, dann müssen doch nicht nur in deinem Zimmer Mikrofone sein, sondern auch in meinem? Und umgekehrt Lautsprecher in deinem?" "Ja, du machst ja unglaubliche Fortschritte in der Technik. In jeder Höhlung der Wand ist eine solche Verbindung von Lautsprecher und Mikrofon. Leitungen trennen ihre Funktionen. Sie enden in zwei Kabeln, durch die unsere Zimmer verbunden sind." "Gut. Aber dann sag mir noch, warum mich Marina so oft gehört hat, aber ich sie in der gleichen Zeit nicht? Und warum war die Verbindung nicht ständig da, sondern entstand und brach dann wieder plötzlich ab, als ob sie jemand gelenkt hätte?" "Daran bist du selbst schuld. Hast du denn wirklich noch nicht verstanden, welche Rolle das Schaltbrett spielte, das Brzesowski so sehr interessierte? Von hier aus konnte die ganze Anlage gesteuert werden. Zur Maskierung waren auch Lichtschalter drauf. Wenn du das Licht ein- oder ausschalten wolltest, hast du an den verschiedenen Schaltern gedreht und auf diese Art und Weise die Verbindung hergestellt oder unterbrochen. So, jetzt wollen wir aber wirklich schlafen!" Ich dachte nach . Maestro hatte recht. Ich selbst war, ohne es zu wissen, an dem unheimlichen Spuk in Marinas Zimmer schuld! "Maestro, hast du die Schalter von der Tafel abmontiert?" Das leise Schnarchen an meinem Kopf brach ab, und Maestro brummte schlaftrunken: "Natürlich ." "Warum?"
"Ich übertrug die Steuerung zu mir." "Warum?" "Ich wollte . dich . ein wenig . er . erschrecken ." Ich beschloß, meinen Freund nicht länger am Einschlafen zu hindern. Doch da fragte er selbst: "Weißt du eigentlich, warum ich hierhergekommen bin?" "Ja, wegen der Sendestelle!" "Nein. Mit dieser Arbeit konnte ich auch andere beauftragen. Aber als ich deinen Brief gelesen hatte, wußte ich, daß hier jemand meine Idee benutzte, und mich Interessierte, warum." "Vielleicht hat sich Brzesowski die Sache patentieren lassen?" "Kaum! Bei einer solchen originellen Verwertung meiner Idee hatte er bestimmt Angst, auch nur ein Wort darüber zu verlieren!" Am nächsten Tag wurde Maestro abberufen und fuhr zum Armeestab. Wir hatten kaum Zeit, uns zu verabschieden. Nach zwei Tagen wurde unser Lazarett abgebrochen, und wir setzten uns nach Westen in Bewegung. Das düstere, vom Hauch des Verbrechens umwehte Schloß, die abstoßende Gestalt des Verwalters und der alte, von seinen Herren verlassene Diener - all das prägte sich meinem Gedächtnis ein als das Bild des alten Polens, das zum Absterben verurteilt war. Der Krieg war zu Ende. Ich gehörte zu denen, die noch lange Zeit im fremden Gebiet blieben. Lang und ermüdend schlichen die Tage dahin. Wir versahen weiterhin unseren Dienst und erfüllten gewissenhaft unsere Aufgaben, warteten aber ständig auf unsere Demobilisierung. Die Ge-
danken an Marina verließen mich nie. Immer fester verflocht sich ihr Bild mit meiner Zukunft, die meine Träume unmerklich, aber unaufhaltsam ausmalten. Ich sah sie noch genau vor mir in ihrer dunkelgrünen Feldbluse, dem schwarzen Rock, den einfachen Stiefeln und dem weißen Kittel. Anders hatte ich sie nie gesehen und konnte sie mir auch nicht vorstellen. Ich versuchte etwas über Marina zu erfahren. Ich schrieb nach Moskau, an ihre Heimatadresse, die ich noch zufällig in unseren Akten fand, aber es kam keine Antwort. Das Lazarett, in das sie damals versetzt wurde, war schon aufgelöst. Dort konnte ich also auch nicht anfragen. Ungefähr ein Jahr verging, bevor ich endlich den Entlassungsbefehl bekam. Schon drei Tage später passierte mein Schnellzug die Grenze. In Moskau eingetroffen, rief ich noch am selben Tag Maestro an. "Wo hast du nur so lange gesteckt?" sprudelte er freundlich los, als er meine Stimme erkannte. "Ich warte schon ungeduldig auf dich, ich brauche dich sehr dringend. Was hast du jetzt vor?" "Morgen fange ich an, nach Marina zu suchen", antwortete ich. "Marina?" klang es zurück. "Ach ja! . Aber bitte nicht morgen! Gerade morgen brauche ich deine Hilfe. Es handelt sich nämlich um die Sache, von der wir damals im Schloß gesprochen haben. Erinnerst du dich noch? Ich habe diese Arbeit eben beendet, aber bevor ich sie der Öffentlichkeit zeige, möchte ich sie erst einem Kreis von Freunden vorführen." "Kann dir denn mein Urteil soviel nützen? Du weißt, daß ich in der Technik ein Laie bin."
"Von Technik ist gar keine Rede, Doktorchen! Hab ich dir denn damals nicht erzählt, daß ich mich mit künstlerischen Problemen beschäftige? Sieh dir die Sache an! Einen Kunstliebhaber wie dich wird sie sicherlich interessieren!" "Nun gut, und wann soll ich bei dir sein?" "Ich lasse dich um drei Uhr abholen." "Schön. Da kann ich ja vorher noch rasch ins Konservatorium fahren und dort nach Marinas Anschrift fragen ." "Nein, Lieber! Gib mir dein Wort, daß du keinen einzigen Schritt unternimmst, um Marina zu suchen." "Warum nicht?" "Weil ich möchte, daß du in ruhiger Verfassung bist. Wenn du erfährst, daß Marina in Moskau ist, dann - bist du nicht mehr richtig bei der Sache!" Maestro hatte recht. Ich ergab mich.
Ich ahnte nicht, daß Maestro mir einen Streich spielen wollte. Er hatte ein schwieriges psychologisches Experiment mit mir vor. Aber ich will alles so erzählen, wie ich es erlebt habe. Pünktlich um drei Uhr hupte auf der Straße ein Auto. Ein junger Mann, der sich stolz als Gehilfe meines Freundes vorstellte, holte mich ab und brachte mich in das wissenschaftliche Forschungsinstitut für Kinematographie. Maestro führte mich in einen kleinen Vorführungsraum, und ich fühlte dieselbe angenehme und gleichzeitig erregende Spannung, die mich immer vor Beginn eines Konzerts oder beim Aufgehen des Vorhangs im Theater ergreift. Unter den Anwesenden waren Mitarbeiter des Instituts, aber auch einige Musiker und Leute vom Theater. Der Raum versank im Dunkeln.
Ich hörte, wie ein Vorhang aufging, sah aber keine Leinwand. Ich vermutete, daß da vorn eine Bühne sei. Man hörte die eiligen Schritte einer Frau. Sie schien von links aus den Kulissen zu kommen. Trotz der völligen Finsternis trat sie sicher an die Rampe und wandte sich mit folgenden Worten an uns: "Liebe Genossen, Sie sehen jetzt einige kleine Versuchsfilme, die von unserem Institut nach einer neuen Methode gedreht wurden. Wir bitten alle, aufmerksam zuzusehen und nach der Vorführung ihre Meinung zu sagen. Der erste Film heißt: Im Moskauer Zoologischen Garten!" Die Ansagerin entfernte sich wieder mit klappernden Absätzen. Im selben Augenblick aber erhellte ein Lichtbündel den Vorführraum, und wir sahen plötzlich, daß vorn gar keine Bühne war, sondern eine ganz gewöhnliche Kinoleinwand. Ich tauschte mit Maestro einen schnellen Blick. Er lächelte mir zu. Auf der Leinwand wurde es lebendig. Es waren einfache Naturaufnahmen, eine Reihe von Szenen, die zeigten, wie sich die verschiedenen Tiere im Zoo bei der Fütterung benehmen. Auffallend war die Frische und Natürlichkeit der Bilder. Wodurch diese Wirkung erreicht wurde, merkte ich erst nach einer Weile. Ob es die kreischenden Affen waren, die in ihrem riesigen Käfig herumkletterten, die aufgeregt krächzenden Papageien oder die ungeduldig fauchenden Tiger, alles war von einer Echtheit, daß ich mich bei dem Gedanken ertappte, es sei beinahe interessanter, diesen Film zu betrachten, als ähnliche Szenen in der Natur zu sehen. Erst nach einiger Zeit konnte ich mir erklären, wie dieser Eindruck zustandekam. Das Geheimnis war die reiche Skala der Laute. Außer den Stimmen der Tiere waren alle
Geräusche zu hören, die durch ihre Bewegungen entstanden: die Schritte, das leichte Kratzen der Krallen auf dem Käfigboden, das Schlagen der Flügel, das Schmatzen und Schnaufen - mit einem Wort, alles klang so natürlich, als ob das Tier im Raum sei. Die Laute kamen nicht aus einem Lautsprecher, der hinter oder neben der Leinwand versteckt war, sondern direkt von der Leinwand. Sie begleiteten die Bewegungen der Tiere, entfernten sich oder kamen näher, vermischten sich und folgten genau dem Bild auf der Leinwand. Der Stereoschall führte den Film über seine bisherigen Grenzen hinaus, die Schallperspektive war geboren. Der Film der Zukunft würde plastisch, farbig und stereoton sein - ein Wunderwerk, dem an Überzeugungskraft und Eindrucksstärke nichts gleichkäme. Ich drehte mich zu Maestro um. Er saß seitlich zur Leinwand und beobachtete aufmerksam, welchen Eindruck der Film bei mir hinterließ. Voller Begeisterung drückte ich ihm die Hand. "Besteht die ganze Leinwand aus Lautsprechern?" "Nein, es sind im ganzen nur vier - an jeder Ecke einer. Das genügt, um ein nahezu vollständiges Lautbild zu geben. Wir haben auch bei der Tonaufnahme vier Mikrofone aufgestellt. Das ist alles. Ganz einfach, nicht wahr?" "Warum zeigt ihr denn den Film nicht auch noch plastisch und farbig?" fragte ich. "Wir wollen erst die Versuche mit dem Schall abschließen, dann verbinden wir alles miteinander", antwortete er, und ich erinnerte mich daran, daß wir uns ja in einem wissenschaftlichen Institut und nicht in einem Kino befanden. Der Film war zu Ende. In der Dunkelheit verwandelte sich die Leinwand aufs
neue in eine Bühne. Wieder kündigte die unsichtbare Ansagerin den nächsten Film an. In Erwartung der neuen Eindrücke, die er mir bringen würde, gab ich weniger auf die Stimme acht. Plötzlich merkte ich auf. Die Ansagerin hatte eine Redewendung gebraucht, die mir irgendwie vertraut war. Doch kam ich nicht darauf, wer aus meinem Bekanntenkreis sie anzuwenden pflegte. Jetzt wurde der Moskauer Nordhafen auf der Leinwand gezeigt. Laut schreiend strichen die Uferschwalben durch die Luft, Möwen kreischten. Ein großes Motorschiff näherte sich der Anlegestelle. Die Menschen strömten über die ausgeworfenen Laufstege auf die Landungsbrücke . Das alles beobachteten wir gleichsam mit den Augen des Mädchens, das im Vordergrund des Bildes mit dem Rükken zu uns auf einer Bank saß. Sie trug ein helles Kostüm. In Haltung und Gestalt dieses Mädchens lag etwas, das mich zutiefst beunruhigte. Mich ergriff die gleiche Erregung, die ich schon bei der Ansagerin verspürt hatte, nur diesmal weit stärker. Ich blickte sie unverwandt an und wünschte aus tiefstem Herzen, daß sie sich umdrehen möge. Aber das geschah nicht. Ein neuer Streifen begann. Die Stimme der Ansagerin verlangte von uns jetzt besondere Aufmerksamkeit und Ruhe, weil dieser "Film" - nur ein Tonband sei. Die Leinwand wäre jetzt überflüssig. Damit niemand abgelenkt wurde, blieb der Saal dunkel. Es folgte der Versuch eines Schallhintergrundes für die Bühne. Die Szene spielte auf einem Dorf. Ich hatte die deutliche Vorstellung, daß sich in dem dunklen Saal ein riesiger, weiter Raum auftat. Anfangs waren nur schwer bestimmbare Geräusche zu hören, dann aber wurde es klar, daß es ein Frühlingstag war. Hier
ertönte das laute Klopfen eines Stars, dort schilpten geschäftig die Spatzen, und irgendwo hinten gackerten Hühner. Weiter entfernt riefen menschliche Stimmen, bellten Hunde, rasselte ein Wagen auf der Straße und klirrte die Kette eines Brunnens. Lerchen trillerten, und in weiter Ferne ratterten kaum hörbar Traktoren . "Na?" fragte Maestro. "Fabelhaft!" "Kannst du dir vorstellen, was es für eine Wirkung hat, wenn wir diesen Geräuschhintergrund mit Bühnenbildern vereinen?" flüsterte mir Maestro zu. "Du wirst sehen, wie sehr alles an Leben gewinnt! Der Zuschauer wird vergessen, daß er im Theater sitzt!" "Wie hast du das nur gemacht?" "Ganz einfach. Wir sind in ein Dorf in der Nähe von Moskau gefahren, haben unseren Rahmen mit den vier Mikrofonen aufgestellt und alles, was zu hören war, aufs Band aufgenommen. Dann haben wir natürlich die Aufnahme überprüft, umgeklebt und zurechtgeschnitten . Aber hör weiter zu, sie ist gleich zu Ende." Maestro hatte der Versuchung nicht widerstehen können, auch noch eine Handlung mit hineinzubringen. Ein Türriegel wurde zurückgeschoben, knarrend öffnete sich die Tür eines Bauernhauses. über die Stufen einer Treppe lief ein Mädchen und klapperte mit leeren Eimern. In meiner Phantasie sah ich alles wie auf einer wirklichen Bühne vor mir. Jetzt liebkoste das unsichtbare Mädchen einen kleinen Hund, der ihr mit freundlichem Winseln entgegengelaufen war. Dabei summte sie kaum hörbar ein Lied vor sich hin . Wieder, schon zum dritten Mal, stutzte ich. Jetzt aber glaubte ich die Stimme und den Gesang genau zu kennen.
Ich fühlte neben mir Maestros Hand und drückte sie. "Wer ist das?" "Was denn, ist dir etwas aufgefallen?" antwortete er gleichgültig. "Hier haben wir einen Fehler gemacht. An Stelle eines Mädchens aus dem Dorf ließen wir eine Mitarbeiterin, unseren Tonregisseur, auftreten. So ist die Szene nicht ganz stilecht geworden. Du hast gut beobachtet!" Ich sah nicht, wie Maestro fein lächelte. Rauschender Beifall erklang, alles umringte Maestro, beglückwünschte ihn und schüttelte ihm die Hände. "Die Stereoschalldekoration ist eine Umwälzung in der Theaterkunst!" hörte man einen Zwischenruf. "Jetzt hat der Film alles, um zur vollkommensten Kunstform zu werden!" erklärte ein anderer. Ich schwieg und wußte nicht, was ich Maestro über seine Arbeit sagen sollte. Doch die Stimme im Dorfe schwang weiter in mir und verwirrte mich. Maestro zog mich auf den Korridor und flüsterte: "Komm! Ich kann dir noch eine Sache zeigen, damit du deine Stereoschall-Ausbildung vollenden kannst." "Das ist unser Laboratorium", sagte er und führte mich in ein sehr großes Zimmer, das voller Stühle, Tische, Geräte und Apparaturen stand. "Ich habe auch ein ,Stereofon' konstruiert. Hier ist es. Dieses Gerät hat dieselbe Wirkung wie das Stereoskop, nur auf dem Gebiet des Schalls. Setz dich hierher! Wir haben noch einige Aufnahmen, die in diesem Raum gemacht worden sind. Da sind gewöhnliche Kopfhörer. Leg sie dir an." Maestro zog aus einer Schublade eine kleine Schachtel mit einem schmalen Band heraus und setzte sie in den Apparat ein. Dann drückte er auf einen Knopf.
In den Kopfhörern entstand ein kaum wahrnehmbares Summen. Im gleichen Augenblick hörte ich, wie Menschen ins Laboratorium kamen. Vom Nachbartisch ertönte plötzlich ein Geräusch, als ob ein Stuhl heftig weggerückt würde. Jemand stand auf und rief ärgerlich: "Genosse Korolew, haben Sie schon wieder meine Zange weggenommen?" "Ich bringe sie sofort wieder", antwortete eine Baßstimme vom entgegengesetzten Ende des Raumes. Unwillkürlich blickte ich mich um, aber ich sah natürlich niemand. Das lag an dem Stereofon. Ich hörte die Stimmen, aber nicht aus dem Kopfhörer, sondern von der Stelle des Raumes, wo sie in Wirklichkeit entstanden. Als ich die Kopfhörer abnahm, wurde es im Laboratorium augenblicklich still, die Menschen waren verschwunden. Nur Maestro stand da. Er blickte mich an und lächelte. "Hör dir noch ein Band an ." Von neuem wollte ich die Kopfhörer anlegen, da öffnete jemand die Tür des Laboratoriums und sagte zu meinem Freund: "Sie werden in den Saal gebeten!" Ich drehte mich um und überzeugte mich, daß diesmal die Stimme keine Illusion war: In der Tür stand der mir schon bekannte Gehilfe Maestros. "Gut, ich komme! Du kannst noch hierbleiben", wandte er sich an mich, "und dir dieses Band anhören. Wenn du willst, nimm dir noch welche von dort und setze sie selbst ein, du hast ja gesehen, wie es gemacht wird. Niemand wird dich stören. Wenn du genug hast, komm in den Saal." Allein zurückgeblieben, setzte ich wieder die Kopfhörer auf und lehnte mich bequemer in den Stuhl. Dann drückte ich auf einen Knopf. In der menschenleeren Stille des Laboratoriums öffnete
sich ganz hinten eine Tür und klappte sanft zu. Ich drehte mich nicht um, weil ich der trügerischen Macht des Stereofons vertraute . Die Schritte wichen dem Labyrinth der Tische aus, kamen näher und verschwanden in einer Ecke des Raumes. Dort waren einige Schränke so aufgestellt, daß sie einen kleinen abgeteilten Raum bildeten. Ich kannte diese Schritte. Ich hatte sie in dem Augenblick erkannt, als sie ganz nahe an mir vorbeiführten. Und wenn ich nur im geringsten an diesem teuflischen Apparat gezweifelt hätte, wäre ich auf das ,Gespenst' losgestürzt . Das Band summte kaum hörbar weiter. In der Ecke wurde ein Buch auf den Tisch gelegt, mit Papier geraschelt, ein Stuhl wurde gerückt und knarrte. Dann wurde alles für einige Sekunden still. Aber das Band summte leise, und ich hörte weiter zu, denn ich wußte, daß sich der Apparat am Ende der Aufnahme automatisch ausschalten würde. Und plötzlich hörte ich auch eine Stimme. Eine leise Melodie wurde gesummt. Stimme und Melodie kannte ich. Ich riß den Kopfhörer herunter. Die Melodie brach jäh ab. Das konnte gar nicht anders sein. Aber das hielt mich nicht zurück. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen. Außer mir sprang ich auf und stürzte in die Ecke zu den Schränken. Dort hing eine sorgfältig gemalte Aufschrift: "Tonregisseur". Noch zwei Schritte fehlten. Ich blieb stehen. Mir schien, als ob hinter dem Schrank das leichte Rascheln einer Buchseite zu hören war. Wie seltsam . Die trügerischen Töne aus dem Stereofon veranlaßten mich, hierher zu stürzen, aber dieses Geräusch brachte mich zum Stehen!
Einige Augenblicke lauschte ich mit angespanntem Atem. Dann trat ich entschlossen in den abgetrennten Raum. Am Tisch saß ein Mädchen in einem hellgrauen Kostüm. Sie mußte schon lange hier in der Ecke gesessen haben, einen anderen Eingang gab es nicht. Sie erhob sich, drehte sich mit einer leichten Bewegung um. Ich stand wie versteinert. "Marina! ." Ein verlegenes Lächeln erhellte ihr Gesicht und sagte mir alles, was ich wissen wollte.
Heft 3/1953
"Wenn die Ameisen in der bisherigen Richtung weitermarschieren, sind sie spätestens übermorgen auf Ihrer Farm. Zehn Kilometer lang, zwei Kilometer breit - nichts als Ameisen! Wenn Sie hierbleiben, kann übermorgen Ihr blankgeputztes Skelett auf ihrer blankgeputzten Farm spazierengehen." Der brasilianische Kommissar ging, der Farmer blieb, und mit ihm vierhundert Indios und Mestizen. Sollten die Ameisen kommen! Und sie kamen. Ihr Nahen kündigte sich an durch eine wilde Flucht der Tiere: Jaguare und Pumas sausten vorüber, flinke Pampashirsche, schwerfällige Tapire und eilige Wickelbären. Versprengtes Herdenvieh donnerte heran, mit gesenkte Köpfen und schnaubenden Nüstern, gefolgt von wildschnatternden kleinen Affen und allem kriechenden und springenden Kleintier der Steppen und Büsche. Dann bedeckten sich die Kuppen des grünen Hügelgeländes im Süden mit einem schwarzen Saum. Er wurde breiter, eine zähe, dunkle Masse sank über die Hänge, je näher sie kam, desto schweigsamer wurden die Menschen. Gleich würde ein Kampf auf Leben und Tod beginnen. Wie würde er ausgehen? Diese spannende Geschichte enthält unser nächstes Heft:
Aufruhr in der Pampa