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Das Geheimnis der dunklen Quelle The Secret Of The Dark Spring
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Das Geheimnis der dunklen Quelle
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© talyn 2000/2004 © eBOOK-Bibliothek 2004 für diese Ausgabe
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littera scripta manet
Prolog »Und diesem Abgrund, tosend ungezügelt, als ging des Erdballs Herzschlag hier beflügelt, entrang ein mächt’ger Quell sich hier und da.« ( Samuel Taylor Coleridge, Kubla Khan)
1) Aglaia lag völlig erschöpft auf ihrem Bett. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich die schweißnassen, schmutzigen Kleider auszuziehen. So wie sie vor wenigen Stunden durch die Tore der T’mar Schule geritten war, das Pferd fast zu Tode geschunden, sie selbst am Rande ihrer Kraft, hatte sie die Türe ihres kleinen Blockhauses verriegelt, nicht achtend auf die herbeigeeilten Schüler und Lehrmeister, die sie mit Fragen bestürmten. Hier, in der Intimität ihrer eigenen Räume erlaubte sie sich endlich, dem Schmerz, den sie in den letzten drei Tagen gewaltsam verdrängt hatte, freien Lauf zu lassen. Niemand hatte gewagt, sie zu stören, nicht einmal Yago, Großmeister und Leiter der Schule, der Aglaias Mentor und väterlicher Freund war. Aglaia war allein zurückgekehrt und die spektakuläre Art dieser Rückkehr ließ auf schlimme Ereignisse schließen, Ereignisse, die für ihn nicht unerwartet kamen. Er kannte seine Lieblingsschülerin gut genug, um zu wissen, wann es sinnlos war, sie zum Reden bringen zu wollen. Zu gegebener Zeit würde sie alles erzählen. Nicht früher – nicht später.
So zog er sich zurück, willens, geduldig auf diesen Augenblick zu warten. Ein lautloser Schrei riss Aglaia aus ihrem Alptraum. Wie von selbst hatten ihre Gedanken den Weg zurück gefunden, zurück auf das Schiff, zurück zu jenem Augenblick des Grauens und der Hilflosigkeit, als sich eine Gefahr erhob, die nicht mir irdischen Waffen zu bekämpfen war. Kaum hatten sich ihre Augen in der Hoffnung auf tiefen, traumlosen Schlaf geschlossen, als die Erinnerung auch schon mit Macht zurückkehrte und die Ereignisse schlimmer und viel wirklicher erscheinen ließ, als noch vor wenigen Tagen, die ihr nun wie eine Ewigkeit erschienen. Mit einer unbewussten Geste rieb sich die junge Lehrmeisterin den Schweiß von der Stirn, zwang sich zu ruhigem, gleichmäßigem Atmen. Die Angst wich, machte einem anderen, nicht weniger starkem Gefühl Platz: Heißem, unbändigem Zorn. Rotglühendes Feuer rann durch Aglaias Adern, verlieh ihr Kräfte, die sie längst nicht mehr hatte. Der Raum wurde zu klein, sie sprang auf, zerrte an der verriegelten Tür, bis diese schließlich nachgab und stürmte hinaus in die Dunkelheit. Ihr Ziel waren die Übungsplätze, die etwas abseits der Wohnblöcke lagen. Bar jeglicher Selbstkontrolle ließ sie die rasende Wut an den ledernen Trainingspuppen aus, bis der Körper streikte und Aglaia in erschöpfte Bewusstlosigkeit sank. In diesem Moment erhob sich ein Schatten aus der Dunkelheit. Master Yago hatte ihr zugesehen, sie gewähren lassen und trug nun den leblosen Körper vorsichtig zu seinem eigenen Haus hinüber.
Dort schlief Aglaia die ganze Nacht und den größten Teil des nächsten Tages. Sie erwachte kurz, trank gierig von dem Tee, den Ricard, des Meisters rechte Hand, ihr brachte und schlief dann wieder, tief und traumlos, bis die Morgensonne sie weckte. Es dauerte eine kleine Weile, bis ihr bewusst wurde, wo sie sich befand. Und mit diesem Bewusstsein kehrten auch ihre Erinnerungen zurück. Doch hatten Schmerz und Zorn, jetzt, da sie ausgeruht war, weniger Macht über sie und noch ein anderes Gefühl war da, das langsam die Oberhand gewann. Es war Hoffnung! Aglaia erhob sich und ging hinüber in Meister Yago’s Bad, um sich endlich vom Schmutz der Reise zu befreien. Das warme Wasser tat ihr gut, sie fühlte, wie auch die körperlichen Kräfte langsam zurückkehrten. Darüber hinaus drangen verführerische Düfte von draußen herein. Ricard schien das Frühstück zuzubereiten und Aglaias Magen machte ihr auf der Stelle klar, wie lange die letzte ordentliche Mahlzeit schon zurücklag. Sie konnte sich kaum daran erinnern, auf dem mörderischen Ritt zurück überhaupt etwas gegessen zu haben und jetzt sehnte sie sich nach einem ausgiebigen Frühstück, das niemand besser zubereiten konnte als Ricard. Rasch erhob sie sich aus dem geräumigen Badezuber, bedachte die frische Kleidung, die für sie bereitlag, mit einem dankbaren Blick und beeilte sich mit dem Anziehen. Kurze Zeit später begrüßte sie Meister Yago auf der Veranda seines Hauses. Der Tisch war für drei Personen gedeckt und kaum hatte sie sich gesetzt, erschien auch schon Ricard mit einem großen Tablett voller Köstlichkeiten. Aglaia genoss das Essen, wie sie selten eine Mahlzeit genossen hatte und als sie den Teller endlich von sich wegschob, fühlte sie
sich vollständig wieder hergestellt und nun auch der Aufgabe gewachsen, Meister Yago von den Geschehnissen der Reise zu berichten. »Verzeiht, dass ich euch erst jetzt …« begann sie, doch Meister Yago winkte ab. »Mach dir darüber keine Sorgen. Erzähl einfach, was geschehen ist.« Aglaia schwieg einen Moment. Plötzlich fand sie es recht schwierig einen Anfang zu finden. ›Der See‹, dachte sie, ›dort spürten wir es zum ersten Mal …‹ Sie holte tief Luft. »Alles begann wenige Tage, nachdem wir uns auf den Weg gemacht hatten. Es schien zunächst eine Reise wie jede andere zu werden, doch das änderte sich rasch, als wir den See erreichten …
2) Thyra und Aglaia standen nebeneinander an der Reling des kleinen Schiffes und sahen auf den See hinaus. Alles schien ruhig und friedlich, die Sonne ging gerade unter, spiegelte ihr erlöschendes Licht vielfach auf der vom Wind leicht gekräuselten Oberfläche. Aglaia genoss diese Fahrt und bis zu diesem Moment hatte auch Thyra sie genossen, doch plötzlich verfinsterte sich ihr Gesicht, ein Schatten glitt darüber, als wäre eine langvergessene Erinnerung unerwünscht und zur Unzeit aus den Tiefen ihres Bewusstseins aufgetaucht. Es dauerte eine Weile bis Aglaia es bemerkte. »Was ist los?« fragte sie besorgt. »Stimmt irgendetwas nicht?« Als Thyra nicht antwortete, zu tief in ihre Gedanken versunken, als dass die Stimme der Freundin sie erreicht hätte, berührte Aglaia sanft Thyras Arm.
»He, wo bist du?« Thyra wandte den Kopf, langsam, noch ganz abwesend. In ihren sonst so warmen blauen Augen lag ein seltsamer Ausdruck – eine Mischung aus Trauer und Sehnsucht, aus Schrecken und Verletztheit. Sogar ein wenig Furcht, wie Aglaia zu ihrem Erstaunen feststellte. Für einen Moment überfiel sie das unbehagliche Gefühl eines Menschen, der ungewollt Zeuge eines sehr intimen Momentes wird. Aus Erfahrung wusste sie, dass Thyra ihre Gefühle gut unter Kontrolle hatte und sich nur ungern in die Karten schauen ließ. Nicht einmal damals, als eine unbedachte Handlung Aglaias beinahe ihre Freundschaft für immer zerstört hatte, war ein solche Mischung intensiver Gefühle in Thyras Augen zu lesen gewesen. Thyra schien das Unbehagen der Freundin zu spüren, sie versuchte ein Lächeln, das unbekümmert und gleichzeitig beruhigend sein sollte, was ihr jedoch gründlich misslang. »Verzeih mir«, sagte sie schließlich, »ich wollte dich nicht beunruhigen.« »Schon gut«, entgegnete Aglaia. »Ich nehme an, es geht mich nichts an, woran du gerade dachtest, oder?« »Ja! … Ich meine … nein! … es ist … … dieser Ort ist …« Thyra brach ab und seufzte. Aglaia runzelte die Stirn. Es geschah nicht oft, dass ihre Freundin um Worte verlegen war, es sei denn sie kämpfte wieder einmal einen inneren Kampf zwischen der Notwendigkeit, zu vertrauen und dem Wunsch, alles was sie zutiefst berührte vor aller Welt geheim zu halten. Dieser innere Kampf war Thyras Beitrag zu den Spannungen in ihrer Freundschaft, sowie Vorurteile, Stolz und Eigensinn einstmals Aglaias Beitrag gewesen waren. Sie hatte diese Schwächen überwunden und ihre Freundschaft gerettet, doch nun viel es ihr
schwer, die Geduld aufzubringen, die es brauchte, um mit Thyras noch immer stark ausgeprägtem Hang zur Verschlossenheit umzugehen. »Thyra« begann sie, »wenn dieser Ort unangenehme Erinnerungen in dir weckt, dann kannst du es mir doch erzählen. Ich meine, wenn hier etwas geschehen ist, was dich beunruhigt, dann sollte ich das vielleicht wissen …« Weiter kam sie nicht. Thyra wandte sich ihr mit solcher Heftigkeit zu, dass Aglaia zurückwich. »Ach, solltest du das?« herrschte sie die Freundin an. »Kommt jetzt wieder das alte Lied ›Vertrauen ist das Wichtigste in einer Freundschaft‹? Bin ich dir tatsächlich Rechenschaft über jeden Schritt meines Lebens schuldig? Habe ich erst bewiesen, dass ich unsere Freundschaft ernst nehme, wenn ich dir meine Vergangenheit bis ins kleinste Detail offenbart habe? Wirst du dann endlich Ruhe geben und aufhören mit mir zu reden, als sei ich ein unartiges Kind, für das man nur mit Mühe Geduld aufbringt?« Für einen Moment war Aglaia sprachlos, sie spürte, wie auch sie zornig wurde, dass es sie drängte, eine ebenso harte, wenn möglich noch schärfere Erwiderung zu geben, doch sie gab diesem Verlangen nicht nach. Nur zu gut wusste sie, dass einen Streit zu provozieren eine von Thyras unbewussten Taktiken war, vom eigentlichen Kern einer Sache abzulenken. Dieser Trick hatte in der Vergangenheit nur zu oft funktioniert, denn Aglaia besaß ein hitziges Temperament. Statt sich jedoch wieder einmal vom Zorn mitreißen zu lassen, zählte Aglaia diesmal leise bis fünf und brachte dann sogar ein Lächeln zustande. »Was soll der Unsinn, Thyra? Wir wissen doch beide, dass du nur ablenken willst. Erzähl mir, was hier geschehen ist oder lass es bleiben, aber versuch nicht, mit mir zu streiten.«
Aglaia hatte ruhig aber sehr bestimmt gesprochen und der gewünschte Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Von einer Sekunde auf die andere wich aller Zorn aus Thyras Gesicht und machte einem Lächeln Platz. »Du kennst mich schon ziemlich gut«, sagte sie. »Ich schlage mich auch schon lange genug mit dir herum«, entgegnete Aglaia. »Ich weiß, es ist manchmal nicht leicht mit mir«, räumte Thyra ein und sah wieder auf den See hinaus. Aglaia war klug genug, nichts weiter zu sagen. Sie wusste, dass Thyra keine weitere Ermunterung brauchte. Ruhig wartete sie ab. »Es ist schon ein paar Jahre her …, »begann Thyra schließlich, doch genau in diesem Moment wurden sie von einem der Seeleute unterbrochen. »Der Kapitän lässt euch sagen, ihr sollt euch besser unter Deck begeben. Es zieht ein Sturm auf …« »Ein Sturm?!« unterbrach ihn Aglaia, »aber der Himmel ist doch …« Sie verstummte, als ein Blitz das Deck erhellte. Aglaia und Thyra sahen gleichzeitig nach oben und erschraken, als sie den grauschwarzen Himmel sahen. »Aber wie ist das möglich?!« rief Aglaia. »Eben noch hatten wir das schönste Wetter. So schnell zieht doch kein Sturm auf!« »Das ist kein normaler Sturm«, sagte Thyra mit Bestimmtheit. »Das ist etwas weit Schlimmeres!« ›Was!?‹ wollte Aglaia schreien. ›Was ist es, dass uns hier bedroht? Was ist hier geschehen?‹ doch sie spürte, dass jetzt keine Zeit mehr für Erklärungen war. »Du musst mir vertrauen«, bat Thyra eindringlich. »ich werde dir später alles erklären.« – ›Wenn es ein Später gibt‹, dachte sie – »Wir müssen jetzt alles versuchen, um zur Küste zurückzusegeln. Dort sind wir vielleicht in Sicherheit.«
Die letzten Worte musste sie bereits gegen den heulenden und jaulenden Wind anschreien. In Sekundenschnelle brach das Chaos über sie herein, Blitze zuckten über den Himmel, rissen die Wolkendecke an allen Seiten auf, die sich mit krachendem Donner wieder schloss. Schon klatschten die ersten Regentropfen auf das Deck, wurden zur Sintflut, die ihnen die Kleider durchnässte und die Sicht erschwerte. Das Schiff hob und senkte sich, als würde es von einer Riesenfaust durchgeschüttelt – die Menschen torkelten wie betrunken umher, verzweifelt an allem Halt suchend, was ihnen unter die Hände kam. »Such dir einen sicheren Platz, wo du niemandem im Weg stehst!« rief Thyra Aglaia zu, »Ich helfe der Mannschaft.« »Ich will mich aber nicht in Sicherheit bringen!« protestierte Aglaia. »Wenn es so was wie Sicherheit hier überhaupt noch gibt«, fügte sie mit einem Blick auf das Chaos rings um sie herum hinzu. »Ich will auch etwas tun!!« Thyra legte Aglaia beschwörend eine Hand auf die Schulter. »Bitte, Aglaia, glaub mir doch, es ist besser …« Sie beendete den Satz nicht. Etwas beanspruchte ganz plötzlich ihre Aufmerksamkeit. Etwas weit draußen auf dem See. Aglaia folgte Thyras Blick und erstarrte. In der Mitte des Sees begann sich ein Strudel zu bilden. Selbst aus dieser Entfernung schien er riesiggroß zu sein. Der nachtschwarze Himmel darüber war übersäht mit kleinen Lichtpunkten, die erloschen und wieder erstrahlten, wanderten, sich umeinander drehten, mit wechselnder Geschwindigkeit gegen alle Gesetze der Natur. Ein überdimensionaler Schwarm Glühwürmchen, in gemeinschaftlicher Bewegung, doch jedes mit eigenem Leben. Aglaia hatte schon viel gesehen und erlebt, bevor und seit sie eine von Meister Yago’s besten Lehrmeisterinnen wurde. Sie war eine
ausgezeichnete und kaltblütige Kämpferin, die keine Furcht zu kennen schien. Doch dieser Anblick jagte ihr Schauder über den Rücken. Sie spürte ganz deutlich, dass sie nicht Zeugen eines Naturschauspiels waren. Wie um diese Vermutung zu bestätigen erstarben von einem Augenblick zum anderen sämtliche Geräusche um sie herum. Eine unheimliche Stille umgab die beiden, als wäre eine Glasglocke über sie gestülpt worden. Thyras Hand, die noch immer auf Aglaias Schulter lag, verkrampfte sich zu einem schmerzhaften Griff, doch Aglaia spürte es nicht einmal. Ihre Augen wurden von dem Strudel angezogen, aus dem sich jetzt vollkommen geräuschlos ein großer, schwarzer Monolith erhob. Einige Sekunden lang verharrte er inmitten der tanzenden Lichter, dann schwebte er langsam auf das Schiff zu bis er genau über den beiden Freunden hing – dunkel und bedrohlich. »Na, auf die Geschichte dazu bin ich wirklich gespannt«, bemerkte Aglaia trocken. »Kein Wunder, dass du nicht gern über deine Vergangenheit sprichst.« Thyra warf ihr einen leicht ironischen Blick zu. »Ich fürchte nur, diese Leichen leben noch«, sagte sie seufzend. »Es tut mir nur leid, dass ich dich da mit hineingezogen habe.« »Mach dir nichts draus, ich bin es gewöhnt, in alle möglichen Dinge hineingezogen zu werden. Nebenbei bemerkt – ich scheine da die Einzige zu sein.« Aglaia wies auf das Schiff und die übrige Besatzung außerhalb des magischen Bereiches, in dem sie sich befanden. Dort war die Welt so unruhig und geräuschvoll, wie es sich bei einem Sturm dieser Heftigkeit gehörte. Die Besatzung war weiterhin damit beschäftigt, das Schiff auf Kurs zu bringen und nebenbei zu verhindern, von
meterhohen Wellen über Bord gespült zu werden. Keiner von ihnen hatte die Anwesenheit des Monolithen auch nur bemerkt. »Eine Sondervorstellung nur für uns«, knurrte Thyra. »Das passt zu ihr.« »Zu ihr ?!« In diesem Augenblick begann der Monolith sich zu drehen. Erst langsam, dann immer schneller bis er seine Form zu verändern begann und allmählich ein Kopf daraus wurde, mit schemenhaften Gesicht. »Wer sie auch ist«, bemerkte Aglaia«, sie versteht es, einen Auftritt zu inszenieren.« »Leider ist das nicht das einzige, worauf sie sich versteht«, entgegnete Thyra bedauernd. »Da wett’ ich drauf …« Aglaias Hand wanderte zu ihrem Schwertgriff und löste den Sicherheitsriemen. Nur so, für alle Fälle. Ein Lachen durchbrach die Stille, schmerzhaft laut. »Du kommst also von ganz alleine zu mir zurück, Thyra«, dröhnte eine eindeutig weibliche Stimme »Ich wusste doch, dass ihr beide mir eines Tages wieder über den Weg laufen würdet. Oder dachtet ihr, mich für alle Zeiten vernichtet zu haben?« »Ein Gedanke, zu schön um wahr zu sein«, rief Thyra. »Zumindest haben wir deine Ziele vernichtet, deine Opfer befreit und dich in diesen See gebannt. Das war doch immerhin ein Teilerfolg.« Eine Sekunde lang glühte das schemenhafte Gesicht in feurigem Rot. »Dir wird das Scherzen noch vergehen, Thyra. Rede nicht so respektlos mit mir. Du bist hier in meiner Welt, in meiner Macht!« »Das habe ich schon mal gehört«, entgegnete Thyra ungerührt, »du hast wohl ganz vergessen, wie es das letzte Mal ausging?!« Für einen Moment sah es so aus, als würde die erneute Provokation wirken, doch diesmal hatte sich die dunkle Gestalt besser unter Kontrolle.
»Das letzte Mal habe ich dich unterschätzt. Diesen Fehler mache ich diesmal nicht.« »Na dann los!!« rief Thyra herausfordernd. »Mach schon und töte mich, wenn du kannst, aber erspar mir dein unerträgliches Gequatsche.« »Hmmm … Thyra …«, meldete sich Aglaia vorsichtig, »hältst du das wirklich für eine gute Idee? Nebenbei: was meint sie eigentlich mit ›ihr beide‹?« Noch ehe Thyra antworten konnte, begann das Wesen über ihnen erneut zu reden. »Dich töten, Thyra? Nein, ich werde dich nicht töten. Noch nicht. Der Tod allein wäre keine Vergeltung für das, was ich durch eure Schuld erleiden musste.« Thyra hob verächtlich die Augenbrauen. »Und was macht dich glauben, dass du diesmal erfolgreicher sein wirst?« Statt einer Antwort wandte das Gesicht sich Aglaia zu. Eine unsichtbare Faust packte die blonde Kriegerin, schleuderte sie über das Deck gegen den Großmast. Benommen blieb Aglaia einen Augenblick auf den Planken liegen. »Bedeutet sie dir viel, Thyra? Ist sie eine gute Freundin von dir? So wie seinerzeit Serenity?« Die Stimme klang ruhig, fast sanft, doch Thyra ahnte, was gleich passieren würde. Schon fühlte sie, wie sich magische Energie in der Luft sammelte. Sie warf einen raschen Blick auf Aglaia, die vergebens versuchte, sich aufzurichten. Thyra verlor keine Sekunde. Sie stieß sich vom Boden ab, überschlug sich blitzschnell in der Luft und landete vor Aglaia auf den Planken. Im nächsten Moment hatte sie ihr Schwert gezogen. Keinen Augenblick zu früh.
Ein Blitz aus geballter magischer Kraft, von unsichtbarer Hand gelenkt, raste auf Aglaia zu. »Diesmal nicht, Altea!« Thyra hielt ihr Schwert hoch über den Kopf, lenkte den Blitz ab, der das Schwert traf und Thyra in Sekundenschnelle in gleißendes, funkensprühendes Licht hüllte. Kleine Feuerbälle schlugen überall auf dem Schiff ein, verkohltes Holz hinterlassend. Einer davon traf Aglaias rechte Hand – sie merkte es nicht einmal. »Nein!!!!« schrie sie, außer sich vor Zorn und Angst. Sie hörte das dunkle Gesicht lachen, nahm all ihre Kraft zusammen und sprang auf. »Lass sie los, du widerliche Kreatur oder ich werde dich vernichten und wenn es das letzte ist, das ich tue.« Das Lachen hörte auf. »Wie du meinst«, erwiderte die Stimme höhnisch und im selben Augenblick leuchtete der Blitz, der Thyra gefangen hielt noch einmal hell auf – und verschwand. Mit ihm löste sich auch die unheimliche Erscheinung auf, wurde wieder zu einem stummen, schwarzen Stein, der lautlos im See versank. Gleichzeitig legte sich auch der Sturm. Aglaia nahm von alledem keine Notiz. Sie starrte nur stumm auf die Stelle, an der Thyra gestanden hatte und es dauerte eine ganze Weile bis sie begriff, dass sie allein war.
3) Als sie ihre Erzählung beendet hatte, starrte Aglaia eine Weile schweigend auf die kleine Brandwunde an ihrer Hand, die schon zu heilen begonnen hatte, so wie alle ihre Verletzungen stets schnell verheilten. Zumindest die körperlichen.
Meister Yago und Ricard, die Aglaia’s Erzählung nicht ein einziges Mal unterbrochen hatten, warteten auch jetzt geduldig, bis die junge Kriegerin in die Gegenwart zurückfand. Schließlich sah Aglaia auf. »Sie kann unmöglich tot sein. Ich glaube es einfach nicht!« sagte sie mit Nachdruck. Meister Yago seufzte. »Was geschehen ist, ist schlimm, doch es überrascht mich nicht.« Ricard und Aglaia sahen ihn erstaunt an. »Ihr wisst mehr über Thyra als irgendjemand sonst hier«, stellte Ricard fest, dann streifte sein Blick die blonde Lehrmeisterin. »Mit Ausnahme von Aglaia natürlich«, fügte er hinzu. Doch Aglaia schüttelte den Kopf. »Thyra kennenzulernen ist eine Lebensaufgabe und ich wage sogar zu bezweifeln, dass ein Leben dafür ausreicht. Auch wenn sie meine beste Freundin ist, glaube ich kaum, dass ich wesentlich mehr von ihr weiß, als jeder andere hier. Selbst als wir uns auf dem See in solcher Gefahr befanden, brachte sie es kaum über sich, mir von den Hintergründen zu erzählen. Sie fasst nur sehr schwer Vertrauen und bei mir fing sie gerade erst damit an.« Aglaia holte tief Luft und wandte sich dann an Meister Yago. »Unter normalen Umständen hätte ich sicher die Geduld gehabt zu warten, bis Thyra mir selbst nach und nach ihre Geschichte erzählt. Aber die Situation erfordert schnelles Handeln. Ich muss sie finden und ihr beistehen und dazu muss ich mehr von ihr wissen. Ich bitte euch, Meister Yago, erzählt mir, was ihr über Thyra wisst, vielleicht hilft es mir bei der Suche.« Der alte Meister schwieg lange und diesmal war es an Aglaia, sich in Geduld zu üben. Schließlich lächelte er seine Lieblingsschülerin an. Er kannte Aglaia schon lange, hatte sich um sie gekümmert und ihre Ausbildung überwacht, seit sie vor zehn Jahren als völlig ver-
störte Zwölfjährige aus ihrem von räuberischen Horden niedergebrannten Dorf zu ihm gekommen war. Er hatte das Potential in ihr rasch erkannt und war seinem Grundsatz, alle seine Schüler gleich zu behandeln, zum ersten Male untreu geworden. Aglaia hatte es ihm gelohnt, sie zählte nun zu den besten Lehrmeisterrinnen der Schule und es ging das Gerücht, sie könne es sogar mit Meister Yago selbst aufnehmen. Bis Thyra auftauchte, hatte es für Aglaia keine nennenswerte Konkurrenz gegeben. Meister Yago erinnerte sich noch genau an diese Zeit … Aglaia und Thyra hatten sich auf einer von Aglaias Reisen im Dienste der T’mar Schule kennengelernt. Von Zeit zu Zeit erreichten Meister Yago Bitten um Hilfe und Beistand aus verschiedenen Teilen des Landes. Meist ging es um Räuber und Kriegsherren die Dörfer bedrohten, oder wilde, außer Kontrolle geratene Bestien, deren man nicht Herr werden konnte. Meister Yago pflegte dann einen seiner Lehrmeister oder (je nach Schwere der Lage), einen besonders vielversprechenden Schüler mit der Lösung des Problems zu beauftragen. Was außer Ricard niemand in der Schule wusste, war, dass er sich diese Hilfe gelegentlich und je nach Betuchtheit des Hilfesuchenden recht gut bezahlen ließ. Stillschweigen von Seiten der dankbaren Klienten natürlich garantiert, denn Meister Yago zog es verständlicherweise vor, als selbstloser Wohltäter, denn als guter Geschäftsmann zu gelten. Aglaia hatte Meister Yago ohne es zu wissen schon recht guten Profit gebracht. Man konnte ihr unbesehen so ziemliche jede noch so schwierige Aufgabe anvertrauen, doch war der geschäftstüchtige Meister klug genug, sich ihrer Fähigkeiten nur in Fällen zu bedienen, die entweder für jeden normalen Menschen völlig aussichtslos erschienen (was gut für den Ruf der Schule war) oder soviel einbrachten, das er kein Scheitern riskieren durfte.
Aglaia war, was die Geschäfte des Meisters betraf, nicht so unwissend und blauäugig, wie Yago es sich erhoffte. Doch fühlte sie sich ihm verpflichtet, denn er hatte sie aufgenommen, als sie zu verletzt, zu hilflos gewesen war, um alleine überleben zu können. Ihm verdankte sie ihre Ausbildung und einen Ort, den sie als »Zuhause« bezeichnen konnte, wenn er auch mit dem, was sie verloren hatte, nicht zu vergleichen war. Meister Yago hatte sich Aglaia gegenüber immer fair und großzügig gezeigt und so schien es ihr nur recht und billig, wenn sie ihm jetzt etwas davon zurückgab. Auf dem Rückweg von einer dieser Missionen war Aglaia dann Thyra begegnet, einer hochgewachsenen Kriegerin mit langem schwarzen Haar und dunklen blauen Augen, die gute zehn Jahre älter als Aglaia war und sehr kampferfahren schien. Sie hatten sich in einem Gasthaus kennen gelernt, in dem beide für die Nacht Unterkunft gefunden hatten. Da wegen des allmonatlichen Marktes alle Herbergen überfüllt waren, hatte Aglaia in einem Anfall von Großmütigkeit angeboten, ihr Zimmer mit Thyra zu teilen und nach einigem Zögern hatte die schwarzhaarige Kriegerin das Angebot angenommen. Thyra war zwar nicht gerade vor Gesprächigkeit übergeflossen, dennoch hatte Aglaia erfahren, dass ihre neugewonnene Reisebekanntschaft eine Möglichkeit suchte, ihr Leben zu verändern. Und da sie sich bei einem Überfall durch Straßenräuber von Thyras kämpferischen Fähigkeiten überzeugen konnte, hatte sie ihr spontan angeboten, sie zur T’mar Schule zu begleiten und Meister Yago um Aufnahme zu bitten. Thyra hatte eingewilligt, sich die Schule zumindest anzuschauen. Daraus war dann ein gutes Jahr geworden, ein aufregendes, ereignisreiches Jahr, das für Aglaias und Thyras vorsichtig wachsende Freundschaft zunächst mit fast unüberwindlichen Schwierigkeiten begann.
Aglaia bekam zum ersten Mal wirklich ernsthafte Konkurrenz, eine ebenbürtige Gegnerin, was zu akzeptieren ihr zuerst nicht leicht fiel. Thyra hingegen schien jegliches Konkurrenzdenken fremd zu sein, sie wusste, was sie konnte, war selbstbewusst, ohne überheblich zu wirken, auch wenn sie gelegentlich ziemlich arrogant die rechte Augenbraue hochziehen und auf die restliche Welt hinabblicken konnte. Aglaia besaß ein wildes, aufbrausenden Temperament, Thyra war von einer fast aufreizenden Ruhe und hatte sich stets unter Kontrolle. Eins hatten die beiden jedoch gemeinsam: Es gab etwas Dunkles in ihrer Vergangenheit über das keine von ihnen gerne sprach. Erlebnisse, die sie geprägt hatten, mehr als alles andere. Erinnerungen, die beide am liebsten vergessen wollten und denen sie sich doch jeden Tag neu stellen mussten. Auch als das Vertrauen zwischen ihnen zu wachsen begann, wurde diese Seite ihres Lebens, von keiner der beiden erwähnt. Einen empfindlichen Dämpfer erhielt ihre Freundschaft, als Aglaia ziemlich schnell herausfand, dass Thyra in der Liebe keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen machte, ja – Frauen nach einschlägiger Erfahrung sogar vorzog. Im Gegensatz zu ihrer Vergangenheit machte Thyra hieraus kein Geheimnis und merkte zunächst gar nicht, dass sie Aglaia damit irritierte. Aglaia war noch nie wirklich in einen Mann verliebt gewesen, sie hatte bisher geglaubt, dass es hier an der Schule nicht den richtigen Partner für sie gäbe. Thyras freimütiger Umgang mit ihrer Sexualität fand ihr Echo in Aglaias Unterbewusstsein, brachte Gedanken und Gefühle zum Vorschein, die sie bisher fast gewaltsam verdrängt hatte. Nicht dass Aglaia heimlich in Thyra verliebt gewesen wäre.
Doch war sie sich ihrer Gefühle und der Anziehung, die Frauen auf sie ausübten, alles andere als sicher und was sie so verunsicherte, war die Erziehung, die ihr bis zu ihrem schicksalhaften zwölften Lebensjahr nichts anderes vermittelt hatte, als dass nur ein Mann als Partner für eine Frau in Frage käme. Aglaia hatte grundsätzlich keine Probleme damit, anders als andere zu sein, doch sie hatte ihre Eltern sehr geliebt und wollte sie keineswegs noch über ihren Tod hinaus enttäuschen, in dem sie Gefühle auslebte, die ihre Eltern (und da war sie sich ganz sicher) niemals gebilligt hätten. Thyra machte ihr, ohne es zu ahnen, diesen bisher gut verdrängten inneren Konflikt wieder bewusst. So kam es, dass Aglaia in Thyras Gegenwart gleichermaßen Anziehung und Unbehagen empfand. Meister Yago hatte Thyra vorgeschlagen, als Lehrmeisterin in der Schule zu bleiben. Ihm selbst war es vollkommen egal, ob Thyra Männer oder Frauen liebte. Sie war ein Gewinn für die Schule und würde ihren Ruhm (und damit seinen Reichtum) mehren. Thyra, die eine gute Menschenkennerin war, hatte zwar sofort erkannt, dass Meister Yago nicht ganz der uneigennützige Wohltäter war, als der er sich gerne sah und einen guten, vielleicht sogar ein wenig übertriebenen Sinn für Profit hatte. Doch war diese Schule ein erster Schritt auf dem Weg in ein Leben, das sich von ihrem früheren grundlegend unterscheiden sollte. Es war ein Anfang und Thyra wollte diese Chance ergreifen. Sie akzeptierte eine Probezeit von drei Monaten und auch eine abschließende Prüfung, die sie vor Meister Yago und allen Schülern und Lehrmeistern der T’mar Schule ablegen musste und die sie problemlos und mit Bravour bestand. Thyra hatte zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, etwas wirklich Sinnvolles zu tun und sie genoss diesen neuen Abschnitt
ihres Lebens. Einziger Wehmutstropfen in dieser Zeit war Aglaias zurückhaltendes, ja sogar schroffes Verhalten der dunklen Kriegerin gegenüber. Thyra konnte sich die plötzliche Aggression nicht erklären, war sie doch erst fest davon überzeugt gewesen, in Aglaia eine potentielle Freundin gefunden zu haben. Sie versuchte, mit der blonden Lehrmeisterin zu reden, doch Aglaia gab sich unzugänglich und ließ lediglich durchblicken, in Thyra eine Konkurrentin zu sehen, die ihr ihren Ruf als beste Lehrmeisterin der Schule streitig machen wollte. Thyra spürte, dass dies nicht der wahre Grund war, gab ihre Bemühungen aber vorerst auf und hoffte, dass Aglaia mit der Zeit von sich aus zu einem normalen Verhalten zurückfinden würde. Doch als die Wochen verstrichen und Aglaia dazu überging, Thyra wo sie nur konnte zu provozieren, wurde die Geduld der Kriegerin auf eine harte Probe gestellt. Aglaia hatte das Talent, mit unschuldigem Gesichtsausdruck und großen braunen Kinderaugen Wortpfeile abzuschießen, die jeden noch so kleinen Schwachpunkt mit schlafwandlerischer Genauigkeit trafen. Nicht von ungefähr war sie in der T’mar Schule zwar die beste, aber längst nicht die beliebteste Lehrmeisterin. Thyras Schwachpunkte waren rar gesät und gut geschützt, also verlegte sich Aglaia auf den einzigen Kampfplatz, der ihr erfolgversprechend erschien – sie stürzte sich mit Feuereifer in den Konkurrenzkampf. Reagierte Thyra auf die Provokationen und Herausforderungen der Jüngeren anfangs noch gelassen, sank ihre Toleranzschwelle mit der Zeit doch mehr und mehr. Dann kam der Tag, an dem das Fass überlief.
Von einer Sekunde auf die andere hatte Thyra genug, ihre dunkle, wilde Seite gewann die Oberhand. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht in der Schule, dass Thyra und Aglaia miteinander kämpften und alles was laufen konnte, strömte zusammen. Niemand wagte auch nur den Versuch, die beiden zu trennen, nicht einmal Meister Yago. Wer stellte sich schon freiwillig zwischen Skylla und Charibdis? Eine Weile wogte der Kampf hin und her, es schien auf ein Unentschieden hinauszulaufen. Thyra war wie besessen von dem Wunsch, Aglaia endlich dieses aufreizende Lächeln aus dem Gesicht zu wischen, mit dem sie ihre nadelspitzen Bemerkungen unterstrich. Aglaia parierte einen Schwerthieb Thyras, der eigentlich nicht zu parieren war. Wieder erschien dieses Lächeln auf dem Gesicht der blonden Kriegerin. »Thyra, Thyra, jeder lausige Kriegsherr hat mehr Biss als du. Hast du wirklich nicht mehr zu bieten?« »Wie du wünscht«, knurrte Thyra und in der nächsten Sekunde hatte Aglaia das Gefühl, einen Wirbelsturm entfesselt zu haben. Thyra hatte jegliche Kontrolle über ihre dunkle Seite aufgegeben, deckte Aglaia mit einem Hagel aus Schwerthieben ein, drängte die blonde Kriegerin immer weiter zurück. Aglaia parierte so gut sie konnte, verlor aber mehr und mehr an Boden, bis ihr Fuß an einen Stein stieß. Sie stolperte, verlor für einen Moment das Gleichgewicht. Thyra nutzte diese Chance mit einem Tritt gegen Aglaias Schwerthand, der die Waffe der Gegnerin in hohem Bogen davonfliegen ließ. Ein weiterer Tritt gegen die Brust nahm Aglaia die Luft zum Atmen und hob sie ein stückweit vom Boden hoch, bevor sie hart auf dem Rücken landete.
Aglaia schüttelte die Benommenheit rasch ab, griff nach ihrem Messer am Gürtel, doch die Schwertspitze, die direkt auf ihren Hals wies, ließ sie in der Bewegung erstarren. Noch nie hatte sie in so kalte Augen geblickt. Aglaia zweifelte keine Sekunde daran, dass Thyra sie töten würde, wenn nicht ein Wunder geschah und zum ersten Mal vergaß sie zu lächeln, fiel ihr keine passende Bemerkung ein. Thyras Schwert zitterte in ihrer Hand, als sie darum kämpfte, die Kontrolle über sich zurückzugewinnen. Ein Teil von ihr wollte dieses nervige blonde Miststück in handliche kleine Stücke hauen, ein anderer, weitaus größerer Teil jedoch, war entsetzt über das, wozu sie sich hatte hinreißen lassen. Dieser Teil gewann schließlich die Oberhand. Die Schwertspitze bewegte sich von Aglaias Hals fort, die Waffe fiel zu Boden. Die Kälte verschwand aus Thyras Augen, machten einer Resignation Platz, die Aglaia ins Herz schnitt. Dann wandte sich Thyra ohne ein Wort ab und ging rasch durch die Menge der vor ihr zurückweichenden Zuschauer hindurch davon. Noch am gleichen Abend hatte Thyra ihre Sachen gepackt, um die Schule in den frühen Morgenstunden zu verlassen. Sie war fest davon überzeugt, ihr altes Ich, das grausam und brutal gewesen war, nicht wirklich ablegen zu können und so nur eine latente Gefahr für alle darzustellen, in deren Nähe sie sich zu lange aufhielt. Meister Yago versuchte vergebens, sie umzustimmen. Als er merkte, dass er bei Thyra kein Gehör fand, suchte er Aglaia auf in der nicht ganz unberechtigten Hoffnung, die blonde Kriegerin könnte vielleicht mehr ausrichten als er.
Aglaia hatte den Schock, beinahe getötet worden zu sein, rasch überwunden. Schließlich war sie schon oft in gefährlichen Situationen gewesen, wenn auch noch nie so nahe am Abgrund. Was sie viel mehr beschäftigte, war ihr schlechtes Gewissen, denn sie war einsichtig genug zu verstehen, dass es niemals zu einer solchen Eskalation gekommen wäre, wenn sie sich Thyra gegenüber nicht so unfair und provozierend verhalten hätte. Ihre Beweggründe schienen ihr auf einmal lächerlich, was machte es denn schon aus, wen Thyra in Liebe und Bett bevorzugte? Es war sie, Aglaia, die ein Problem daraus machte und statt sich ihm zu stellen, hatte sie ihren Frust und ihre innere Zerrissenheit an der dunklen Kriegerin ausgelassen, die sie im Grunde doch sehr mochte. Meister Yago rannte somit auch offene Türen ein, als er Aglaia zu überreden versuchte, Thyra zum Bleiben zu bewegen. »Sofort und gerne, wenn ich es kann«, sagte sie, »aber meint ihr wirklich, dass sie gerade auf mich hört? Schließlich bin ich an allem schuld.« »Wenn überhaupt, dann nur auf dich. Vertrau mir, ihr liegt viel an dir. Thyra gibt sich selbst die Schuld an allem, was geschehen ist. Wer außer dir sollte sie vom Gegenteil überzeugen können?« So kam es, dass Aglaia in den späten Abendstunden Thyra aufsuchte und die beiden endlich so miteinander redeten, wie sie es von Anfang an hätten tun sollen. Es dauerte die ganze Nacht aber letztendlich gab Thyra ihre Absicht, die Schule zu verlassen und sich nie wieder unter zivilisierten Menschen blicken zu lassen, auf. Jetzt endlich bekam die Freundschaft der beiden Gelegenheit zu wachsen und das tat sie auch, bis zu jenem unheilvollen Moment auf dem See.
Meister Yago’s Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Er verstand Aglaias Wunsch, alles zu erfahren, was ihr bei der Suche nach Thyra helfen konnte, nur zu gut. Und dennoch … Er seufzte. »Ich kann dir leider nichts über Thyra erzählen«, begann er und als Aglaia Einspruch erheben wollte, fuhr er rasch fort: »Weil es nichts zu erzählen gibt.« Aglaia hielt einen Moment überrascht inne. »Das glaube ich nicht«, erklärte sie mit Nachdruck. »Ihr selbst habt die Regeln für die Aufnahme in diese Schule festgelegt. Und die erste Regel lautet, dass niemand aufgenommen wird, der euch nicht Rede und Antwort steht, woher er kommt und wer er ist.« »Das ist richtig«, stimmte Meister Yago ihr zu, »aber jede Regel hat ihre Ausnahme.« ›Sicher‹, dachte Aglaia trocken, ›eine so gute Kämpferin wie Thyra lehnt man nicht einfach ab, nur weil sie nicht über ihre Vergangenheit reden will. Wo bliebe denn da der Sinn für Profit?‹ Laut aber sagte sie: »Ich verstehe. Es wird auch so gehen.« Meister Yago sah sie prüfend an. »Du willst also tatsächlich nach Thyra suchen? Ohne zu wissen, ob sie lebt oder tot ist? Ohne den geringsten Anhaltspunkt, wo sie sein könnte?« »Ich fühle, dass sie noch lebt«, entgegnete Aglaia. »Abgesehen davon: Es gibt eine Möglichkeit die Informationen zu erhalten, die ich brauche.« Meister Yago seufzte innerlich. Der Gedanke, nach Thyra auch noch seine beste Lehrmeisterin auf unbestimmte Zeit, wenn nicht sogar für immer, zu verlieren, gefiel ihm ganz und gar nicht. »Es ist allerdings nicht ganz ungefährlich«, fügte Aglaia hinzu. Meister Yago wusste sofort was sie meinte. »Das Orakel von Kharamayn? Das kann nicht dein Ernst sein! Viele die dort Trost und Rat suchten, erhielten mehr, als sie ge-
wünscht hatten. Und die meisten von ihnen würden sich heute glücklich schätzen, diesen Ort nie betreten zu haben. Dort herrscht die Wahrheit als einziger Wert und die reine, ungeschminkte Wahrheit ist nur von den wenigsten zu ertragen.« »Immerhin kann ich auf diese Weise sicher sein, die richtigen Antworten zu erhalten«, hielt Aglaia ungerührt dagegen. »Aber …«, begann Meister Yago, doch Aglaia unterbrach ihn. »Ich weiß, dass ich euch viel zu verdanken habe. Und bis heute habe ich versucht, euch und der Schule ein wenig davon zurückzugeben. Jetzt aber bitte ich euch, mich gehen zu lassen.« Yago sah in das ruhige, aber zu allem entschlossene Gesicht. »Und wenn ich dich bitte, zu bleiben?« »Bei allem Respekt, aber ich würde trotzdem gehen.« Meister Yago hatte diese Antwort erwartet. »Dann geh‹«, sagte er schließlich. »Aber vergiss uns nicht.« Aglaia erhob sich und lächelte. »Niemals«, versicherte sie, »ich werde mit Thyra hierher zurückkehren.« Damit war alles gesagt. Aglaia traf rasch ihre Reisevorbereitungen. Eine Stunde später verabschiedete sie sich von Meister Yago und Ricard. »Macht euch keine Sorgen«, sagte sie, »es ist schließlich nicht die erste Herausforderung, der ich mich stelle.« Dann schwang sie sich in den Sattel und trieb ihr Pferd an. Gedankenverloren sah Meister Yago ihr nach, doch Aglaia sah sich kein einiges Mal um.
4) Serena war seit mehr als einer Woche unterwegs und allmählich glaubte sie, ausreichend Raum zwischen sich und denen geschaffen zu haben, die sie verfolgten. Sie jagten sie nicht aus Hass oder Habgier, sondern weil eine Tradition sie dazu verpflichtete, die auf grausame Weise sinnvoll war. Vor vielen Jahrhunderten war das Volk der Tar’Nog immer wieder von Kriegen und blutigen Fehden um die Thronnachfolge heimgesucht worden. Um dem ein Ende zu bereiten, war man schließlich auf einen furchtbaren Ausweg verfallen. Ein Gesetz wurde aus der Not geboren, vom Volk, das der sinnlosen Machtkämpfe mehr als überdrüssig war, erleichtert befürwortet. Der damalige Sieger im Kampf um den Thron, noch geschwächt und abhängig von des Volkes Gunst hatte dem Gesetz zugestimmt, wenn auch zögernd und schweren Herzens. Seitdem hatte es niemand mehr gewagt, sich über das Gesetz hinwegzusetzen, gab es doch einen eigenen Kriegerorden, der seine Erfüllung und Einhaltung mit unerbittlicher Strenge überwachte. Das Gesetz war einfach und wie die meisten einfachen Dinge, absolut wirkungsvoll. Jeder Herrscher oder Herrscherin durfte so viele Nachkommen haben, wie es die Sicherung des Thronerbes erforderte. Wenn jedoch die Zeit der Thronfolge gekommen war, wurde einer von ihnen vom Volk, dem Rat der Weisen und der Priesterschaft gewählt. Während sich das Triumvirat beriet, standen alle Prinzen und Prinzessinnen des Herrscherhauses unter Arrest und wurden streng bewacht. In der gleichen Stunde, in der das Ergebnis der Wahl bekannt gemacht wurde, mussten die nichtgewählten Nachkommen sterben.
Ein schreckliches Gesetz, doch es erfüllte seinen Zweck. Petronius, noch vor wenigen Tagen Herrscher der Tar’Nog, hatte seine beiden Töchter gleichermaßen geliebt. Und es grenzte fast an ein Wunder, dass Serena und Leila, obwohl von Natur und Tradition zu Rivalinnen um Leben und Macht bestimmt, sich ebenfalls liebten. Ohne Wissen ihres Vaters hatten sie sich heimlich geschworen, dass, gleichgültig, welche von ihnen zur Herrscherin gewählt werden würde, sie der anderen die Flucht ermöglichen würde. Eine Flucht in ein immerwährendes Exil, denn eine Rückkehr würde niemals möglich sein. Serena war phantasievoll, sie erfand gerne Geschichten und konnte sie wunderbar erzählen. Sie sehnte sich nach Abenteuern in fremden Ländern und konnte sich so gar nicht mit dem Gedanken anfreunden, einmal als Herrscherin für ein ganzes Volk verantwortlich zu sein. Leila hingegen hatte mehr Sinn fürs Praktische, sie war sehr ernsthaft, besaß Geschäftssinn und ein gutes Organisationstalent. Beiden gemeinsam war ein offenes, warmherziges, mitfühlendes Wesen. Sie erhielten beide die obligatorische Grundausbildung im Umgang mit Waffen. Leila genügte dass, ihre Interessen lagen auf anderen Gebieten. Serena hingegen gefiel der Gedanke, sich selbst verteidigen zu können und nicht auf eine Leibwache angewiesen zu sein, und sie setzte das Training mit Begeisterung fort. Als Serena gerade zwanzig geworden war, erkrankte ihr Vater schwer und es wurde schnell zur Gewissheit, dass er sich nicht mehr erholen würde. So kam der Tag der Wahl früher, als die beiden Schwestern erhofft hatten und ihr über lange Jahre gehegter Plan sollte nun in die Tat umgesetzt werden. Es war leichter, als sie befürchtet hatten.
Wie alle Institutionen, die über einen sehr langen Zeitraum existieren, war auch der Kriegerorden, der auf die Erfüllung des Gesetzes zu achten hatte, mit der Zeit nachlässig und dekadent geworden. Seine Mitglieder waren schon lange nicht mehr die strengen, unerbittlichen und unbestechlichen Männer und Frauen, die sie einmal gewesen waren. So kam es, dass, als Leila gewählt wurde, es ihr nicht allzu schwer fiel, ihrer Schwester die Flucht zu ermöglichen. Für Serena ging damit ein langgehegter Wunsch in Erfüllung, sie konnte endlich die vielen fremden Länder besuchen und die Abenteuer erleben, von denen sie immer geträumt hatte. Sie bezahlte diesen Traum jedoch mit dem Verlust ihrer Schwester und allem, was ihr bisher lieb und vertraut gewesen war. Noch immer hatte sie Leilas Worte in Ohr. »Denke daran, dass du niemals zurückkehren und dich niemals ein Angehöriger unseres Volkes sehen und erkennen darf. Ich werde versuchen, das unselige Gesetz abzuschaffen, aber es wird nicht leicht sein. Trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf, dich eines Tages wiederzusehen. Vergiss niemals, dass ich dich liebe, meine Schwester, und immer lieben werde.« Nach einer letzten innigen Umarmung hatte sich Serena schnell in den Sattel geschwungen und war davon geritten, als wäre der dekadente Kriegerorden schon jetzt hinter ihr her. Dies lag nun eine Woche zurück. Serena war ziemlich sicher, dass sie nicht verfolgt wurde, dennoch war sie kein Risiko eingegangen und hatte sich von den Hauptreisewegen ferngehalten. Leila hatte sie mit ausreichend Proviant und einem Beutel mit Golddinaren und kleinen Edelsteinen versorgt, so dass ihr Lebensunterhalt zumindest für die nächste Zeit gesichert war. Serena hatte daher beschlossen, zunächst eine Weile in der Weltgeschichte herumzureisen.
Als ihr Weg sie zu einem kleinen, kristallklaren See führte, beschloss Serena, sich nunmehr nicht länger als Verfolgte zu fühlen und ihre neugewonnene Freiheit mit einem ausgiebigen Bad zu feiern. Sie schwamm sehr lange, wusch ihre Kleidung und legte sich, während diese in der Sonne trocknete, ein wenig ins Gras, um auszuruhen und die Sonne zu genießen. Ruhe war ihr jedoch nicht lange vergönnt. Ein schrecklicher Donnerschlag ließ sie hochfahren. Blitze zuckte über den blauen, wolkenlosen Himmel, konzentrierten sich schließlich auf eine Stelle. Für einige Sekunden riss der Himmel auf und eine Gestalt stürzte durch den Spalt auf die Erde hinunter. Unmittelbar danach verschwand der Spuk, der Himmelsspalt schloss sich und nichts deutete auch nur entfernt auf das hin, was gerade geschehen war. Nichts bis auf die Gestalt, die sich nicht weit von Serenas Lager stöhnend bewegte. ›Das ist unmöglich‹, dachte Serena, ›so einen Sturz kann niemand überleben.‹ Da dies jedoch offensichtlich der Fall war, beschloss Serena zu helfen. Sie griff sicherheitshalber nach ihrem Schwert und ging auf die noch immer benommen im Gras liegende Gestalt zu. Zu Serenas Überraschung war es eine Frau in schwarzer Lederrüstung, die sich gerade mühsam aufsetzte und sich den schmerzenden Kopf hielt. Nicht weit von ihr entfernt lag ein Schwert aus einem seltsamen, dunklen Metall, wie es Serena noch nie gesehen hatte. Hin und hergerissen zwischen Vorsicht und Hilfsbereitschaft schlich sie langsam näher, leise zwar, doch nicht leise genug. So schnell, dass Serena kaum mit den Augen zu folgen vermochte, rollte sich die Frau auf ihr Schwert zu, ergriff es und schwang sich im gleichen Moment auf die Füße.
Serena blickte in dunkelblaue Augen, die sie kalt und abschätzend ansahen. »Nur die Ruhe, nichts überstürzen«, versuchte sie beruhigend auf die schwarzhaarige Frau einzureden. »Ich will dir nur helfen.« «Und dazu brauchst du ein Schwert?« kam postwendend der zwingend logische Einwand. »Eigentlich nicht«, räumte Serena ein. »Aber ich habe nur wenig Erfahrung mit Menschen, die plötzlich vom Himmel fallen.« Darauf sagten beide eine Weile nichts, sahen sich nur an und ließen schließlich langsam die Waffen sinken. »Mein Name ist Serena.« »Thyra.« Dann schwiegen sie wieder. Beide fühlten das gleiche, nämlich eine unerklärliche Anziehung, die von der jeweils anderen ausging und die sie sich nicht erklären konnten. Beide waren sicher, sich noch nie zuvor gesehen zu haben und doch hatten sie das Gefühl, sich schon lange zu kennen. Thyra war gut einen Kopf größer als Serena, ihre Haare lang, schwarz und glatt. Sie war schlank, aber kräftig und durchtrainiert. Serena war klein, wirkte aber sehr agil und die Art, wie sie das Schwert hielt, zeigte, dass sie mit der Waffe umzugehen verstand. Ihre Haare waren kurz, rötlich-blond, die Augen so grün wie der Ozean. Abgesehen davon war sie fast nackt. Als sich Thyra dessen bewusst wurde, glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. »Reist du immer in so luftiger Aufmachung?« fragte sie und zog eine Augenbraue nach oben. Serena blickte rasch an sich herunter und wurde puterrot. Verlegen lächelnd blickte sie Thyra an.
»Eigentlich nicht … ich … ähh … es ging alles so schnell …« Thyra nickte ernsthaft. »Ich verstehe«, sagte sie, doch bevor sie noch mehr sagen konnte, taumelte sie plötzlich, griff sich an den Kopf, als die Welt sich um sie zu drehen begann. Eine Sekunde später war Serena neben ihr, stützte die große Frau so gut sie konnte und half ihr zu ihrem Lager hinüber. Thyra sank schwer auf die Decke und Serena wurde klar, dass der Sturz für Thyra doch nicht ganz ohne Folgen geblieben war. Sie hatte die Grundzüge der Heilkunst bei ihrem Volk gelernt, tastete Thyras Körper mit geschickten Händen ab und stellte zu ihrer Erleichterung keine Brüche oder inneren Verletzungen fest. Bedachte man, aus welch großer Höhe sie herabgestürzt war, grenzte es fast an ein Wunder, dass sie lediglich mit einer kleinen Gehirnerschütterung davongekommen war. Serena nahm sich einen Moment Zeit, die kleine grob gezeichnete Karte zu studieren, die sie von der Gegend besaß und entdeckte, dass nicht weit von ihrem Lagerplatz eine kleine Stadt lag, Kartania. Dort gab es sicher eine Herberge mit weichen Betten und hoffentlich gutem Essen und einen Markt, auf dem man Heilkräuter und frische Früchte kaufen konnte. Alles in allem ein Ort, der zu Thyras rascher Genesung beitragen konnte. Thyra war einverstanden als Serena vorschlug, die Reise bis auf weiteres gemeinsam fortzusetzen und sie hatte auch gegen Kartania als unmittelbares Reiseziel keine Einwände. Serena half ihrer neugewonnenen Gefährtin vorsichtig aufs Pferd, stieg vor ihr auf und hieß Thyra, die Arme um sie zu legen um besseren Halt zu haben. Vorsichtig trieb sie das Tier an und ritt zurück auf die Straße. Es dämmerte bereits, als die beiden die Stadt erreichten.
Serena hatte sich nicht getäuscht, es gab eine Herberge, die Zimmer vermietete und einen ordentlichen und sauberen Eindruck machte. Nach einigem Feilschen mietete Serena ein Zimmer für sich und Thyra, brachte ihre Freundin hinauf und ging dann noch rasch auf den Markt, um sich nach einigen bestimmten Heilkräutern umzusehen, bevor die Händler ihre Stände schlossen. Als sie eine halbe Stunde später in die Herberge zurückkehrte, hatte sie alles, was sie brauchte um Thyra einen heilenden Tee zubereiten zu können. Thyra wurde gerade lang genug wach, um ihn zu trinken und sank dann wieder in einen tiefen, heilsamen Schlaf. Serena betrachtete sie eine Weile liebevoll, dann entledigte auch sie sich ihrer Kleidung und legte sich neben Thyra auf das breite Bett. Nicht lange danach schlief auch sie. Im Traum stand sie mit ihrer Schwester wieder auf der Waldlichtung, wo sie vor wenigen Tagen voneinander Abschied genommen hatten. Nur war es diesmal Leila, die im Begriff war, ihre Heimat auf immer zu verlassen. »Du darfst nicht gehen, Leila«, sagte Serena, »du bist zur Herrscherin gewählt worden, nicht ich.« »Du weißt, dass das nicht wahr ist, Siri«, entgegnete Leila. In diesem Moment hörten sie den Lärm sich rasch nähernder Schritte, das Klirren von Schwertern, die gezogen wurden. Leila sah ihre Schwester an und ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Maske aus Wut und Enttäuschung, als sie Serena bei den Schultern packte und sie schüttelte. »Du hast mich verraten. Du hast dein Versprechen gebrochen. Ich hasse dich, ich hasse dich!«
Nein! Nein, das habe ich nicht, wollte Serena rufen, doch sie brachte kein Wort heraus. Das Schütteln wurde immer stärker. Serena versuchte, Leilas Hände zu lösen, doch die Schwester hielt sie wie in einem Schraubstock gefangen. In diesem Moment merkte Serena, dass sie nicht mehr träumte, sondern tatsächlich jemand über ihr stand und sie schüttelte. Von einer Sekunde auf die andere war sie hellwach und packte zu. Ein rascher Griff und ihr Gegner flog über sie hinweg, rollte sich jedoch geschickt auf dem Boden ab und kam rasch wieder auf die Beine. Serena stand ebenso schnell auf, doch ehe sie ein zweites Mal auf ihren Angreifer losgehen konnte, erkannte sie, dass es sich nur um Thyra handelte, die mit abwehrend erhobenen Händen vor ihr stand. »Gemach, gemach, Serena«, sagte sie grinsend. »Bist du immer so schlecht gelaunt, wenn man dich weckt?« »Kommt auf die Uhrzeit an«, entgegnete Serena trocken, entspannte sich aber rasch und legte sich wieder aufs Bett. »Es tut mir leid«, sagte Thyra und ließ sich neben sie fallen. »Aber du hast so schrecklich gestöhnt und dich hin und her gewälzt. Ich wollte dich nur aus deinem Alptraum aufwecken.« Und als Serena schwieg, fügte sie hinzu: »Möchtest du ihn mir erzählen?« Serena sah Thyra an und spürte, dass sie ihr vertrauen konnte. Doch hatte sie jetzt in diesem Moment keine Lust, ihre Geschichte zu erzählen, sie sah in diese dunklen blauen Augen und spürte plötzlich den Wunsch, in den Armen der so vertraut wirkenden Fremden einzuschlafen.
Thyra schien ihre Gedanken zu lesen oder den gleichen unausgesprochenen Wunsch zu hegen, denn sie machte eine einladende Geste. Sekunden später umgaben starke Arme die junge Frau und Serena fühlte sich zum ersten Mal seit langem wieder sicher und geborgen. Rasch schlief sie ein und die bösen Träume waren für diese Nacht gebannt. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als die beiden am nächsten Morgen noch immer aneinandergekuschelt erwachten. Thyra fühlte sich schon sehr viel besser, doch dann stellte sich heraus, dass der Sturz dem Körper weniger geschadet hatte, als dem Geist, denn als Thyra auf Serenas Fragen nach ihrer Herkunft antworten wollte, musste sie feststellen, dass sie sich an nichts erinnern konnte. Allein der Versuch verursachte Kopfschmerzen, die an Intensität zunahmen, je mehr Thyra um ihre Erinnerung rang. Schließlich gab sie es auf und sah Serena mit hilflos verzweifeltem Gesichtsausdruck an. »Quäl dich nicht«, sagte die junge Prinzessin. »Es war immerhin ein ziemlich schwerer Sturz. In meiner Heimat bekam einmal ein Stallknecht einen Tritt vor den Kopf von einem der Pferde. Glücklicherweise erwischte es ihn nicht voll, sonst wäre er tot gewesen. Doch es dauerte Tage, bis er sich auch nur an seinen Namen erinnern konnte.« »Kam seine Erinnerung ganz zurück?« fragte Thyra interessiert. »Ich glaube schon«, entgegnete Serena. »Den Dachschaden hatte er auf jeden Fall schon vorher.« Thyra sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Das war ein Scherz«, erklärte Serena rasch. Thyra zuckte mit den Schultern. Dann schien ihr etwas einzufallen.
»Hatte ich irgendetwas bei mir, als du mich gefunden hast?« »Ein Schwert«, sagte Serena«, übrigens aus einem sehr merkwürdigen Metall.« »Eine besondere Legierung, die es doppelt so hart macht, wie normale Schwerter und die ihm auch die dunkle Färbung gibt. Man nennt das auf diese Weise gehärtete Metall auch den ›schwarzen Stahl‹. Es ist selten und sehr begehrt.« »Aha«, stellte Serena fest. »Das weißt du also noch. Aber kannst du dich auch erinnern, woher du es hast?« Schmerz zuckte über Thyras Gesicht, als sie es vergeblich versuchte. Schnell reichte ihr Serena den Lederbeutel, der an Thyras Gürtel befestigt gewesen war. Sie hatte ihn am Abend zuvor abgenommen und auf den Nachttisch gelegt. Thyra nahm den Beutel und leerte seinen Inhalt auf dem Bett aus. Er enthielt eine kleinere Summe Geld in Golddinaren sowie eine Legitimation, die sie als Lehrmeisterin der T’mar Schule auswies. »Immerhin etwas«, sagte Serena. Thyra schwieg. Der Name sagte ihr ebenso wenig wie die offensichtliche Tatsache, dass sie eine Lehrmeisterin war. Seufzend lehnte sie sich im Bett zurück. »Lass uns eine Weile nicht mehr von mir reden«, bat sie. »Vielleicht kommt meine Erinnerung schneller zurück, wenn ich nicht versuche, es um jeden Preis zu erzwingen.« Und als Serena nickte, fügte sie rasch hinzu: »Wie wäre es mit einem guten Frühstück? Ich lade dich ein. Dann kannst du mir auch endlich deine Geschichte erzählen.« Beim Frühstück hatte Thyra Gelegenheit Serenas gesunden Appetit zu bewundern. Im Anschluss daran erzählte die junge Frau von ihrem Volk, seinen Gesetzen und die daraus sich für sie ergebenden Konsequenzen.
Thyra hörte aufmerksam zu, spendete Trost und entspannte sich nach einer Weile völlig. Sie fühlte sich sehr wohl in Gegenwart der rotblonden kleinen Prinzessin und nach und nach kam zu ihrer Freude und Überraschung ein Teil ihrer Erinnerung zurück. Bis zum späten Nachmittag konnte sie sich an ihre Kindheit, Jugend und einem ganzen Teil ihres Erwachsenenlebens erinnern, doch an einem bestimmten Punkt in ihrem Leben versagte ihr Gedächtnis, versickerte in einem schwarzen Loch aus Ungewissheit. »Ich kam an einen unheimlichen Ort«, sagte Thyra. »Eine Art Schule …« »Die Schule auf deiner Legitimation?« unterbrach Serena. Thyra schüttelte langsam den Kopf. »Nein, ich glaube nicht …« begann sie und dann unterdrückte sie nur mühsam einen Schrei, als ein glühender Pfahl durch ihren Kopf getrieben wurde. Die wenigen anderen Gäste im Raum drehten sich erschrocken zu ihnen um. Der Wirt ließ das Tuch fallen, mit dem er gerade Becher und Teller getrocknet hatte und kam herbeigeeilt. Rasch sprang Serena auf und presste beide Hände mit leichtem Druck auf Thyras Schläfe. Es half fast sofort. Freundlich lächelte sie den Wirt an. »Schon gut«, sagte sie, »meine Freundin fühlt sich nicht gut, sie ist gestern schwer gestürzt. Es tut mir leid, dass wir eure Gäste erschreckt haben, aber jetzt ist alles unter Kontrolle.« Der Wirt, ein grober, mürrischer Mann, sah in Serenas Gesicht und schluckte die unfreundliche Antwort, die er hatte geben wollen, hinunter. »Na schön, ist ja nicht eure Schuld. Aber wenn es Eurer Freundin nicht gut geht, sollte sie vielleicht besser auf ihrem Zimmer bleiben.« »Ich glaube kaum, dass Euch das etwas angeht!«
Thyra war aufgestanden und sah den Wirt mit kalten Augen an. Der Wirt erwiderte den Blick kurz, wollte etwas sagen, doch Thyra zog eine Augenbraue hoch und er überlegte es sich anders. Mit dieser gefährlich aussehenden Frau wollte er sich lieber nicht anlegen. Er wandte sich ab und ging leise vor sich hinmurmelnd zum Tresen zurück. »Ich glaube«, ließ sich Serena vernehmen, »wir könnten jetzt etwas frische Luft gebrauchen.« Auf dem Weg zur Türe wurden sie von einem älteren Mann angesprochen, der allein an einem Tisch saß und einen Becher Gewürzwein trank. »An eurer Stelle würde ich um diese Zeit nicht mehr hinausgehen«, sagte er. »Weshalb nicht?« fragte Serena rasch und kam damit einer weiteren Empfehlung Thyras zuvor, sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern. »Es ist für jeden in der Stadt besser, nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf den Straßen zu sein. Es treibt sich allerlei Gesindel herum.« »Habt ihr denn niemand, der hier für Ordnung sorgt?« Der Mann lachte leise. Dann winkte er Serena näher zu sich heran. »Es heißt«, flüsterte er, »der Bürgermeister habe einen Pakt mit den Straßenräubern geschlossen. Sie haben nach Einbruch der Dunkelheit freie Hand und dafür bleibt er sowie die Bürger, die seinen Preis bezahlen können, vor Überfällen geschützt. Wer davon sicher weiß, der redet nicht darüber und wer es nicht sicher weiß, der tut gut daran, ebenfalls zu schweigen. Und sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht auf den Straßen sehen zu lassen.«, fügte er hinzu. Serena wandte sich an Thyra.
»Vielleicht sollten wir …«, begann sie. »Nein, sollten wir nicht«, unterbrach sie die dunkle Kriegerin mit Nachdruck. »Selbst wenn nicht nur der Wein aus ihm spricht – ich habe keine Angst vor ein paar Straßenräubern. Im Gegenteil – sie kämen mir gerade recht.« Serena warf ihr einen besorgten Blick zu. Sie spürte den Zorn der Freundin auf ihre Unfähigkeit, sich selbst zu helfen. Thyra war eine Frau der Tat – auf diese Weise löste sie Probleme. Abwarten und Tee trinken war nicht ihre Stärke – im Gegenteil, es machte sie zornig und nervös. Zum Glück, zumindest für das Räubergesindel, waren die Straßen menschenleer. Die Luft war kühl und erfrischend und beruhigte sogar Thyras angespannte Nerven ein wenig. Als sie eine Stunde später in die Herberge zurückkehrten, fühlten sich beide besser. Sie bestellten ein leichtes Abendessen und besprachen dabei, wie es nun weitergehen sollte. Thyra kannte einen Ort, an dem sie vielleicht Hilfe finden konnte, zumindest was ihre verlorene Erinnerung betraf. Auch Serena kannte diesen Ort, wusste aber ebenso gut wie Thyra, dass die Hilfe, die man dort finden konnte, manchmal einen hohen Preis forderte. »Das Orakel von Kharamayn ist ein zweischneidiges Schwert. Die Wahrheiten, die man dort erfährt, sind oft mehr, als man zu erfahren wünscht.« »Und wenn«, hielt Thyra dagegen, »was habe ich schon zu verlieren?« »Ich habe von Menschen gehört, deren Leben sich nach einem Besuch dort vollkommen verändert hat.« »Gut, mein Leben könnte eine entscheidende Veränderung gebrauchen.«
»Eine Veränderung zum Schlechteren, weil sie mit dem Wissen, das sie bekamen nicht leben konnten.« »Sei sicher, dass ich mit so ziemlich allem leben kann.« »Auch mit der Tatsache, dass du vielleicht eine Mörderin oder Schlimmeres bist?« »Ja, auch damit«, entgegnete Thyra mit Nachdruck, »denn ich tue es bereits.« Darauf fiel Serena erst einmal nichts ein. Eine Weile schwiegen beide. »Das schockiert dich jetzt sehr, nicht wahr?« brach Thyra schließlich das Schweigen. Serena sah sie offen an. »Das kann ich dir erst sagen, wenn du mir die ganze Geschichte erzählt hast.« »Bist du sicher, dass du sie hören willst?« Serena lächelte. »Ich habe dir mein Geheimnis anvertraut und nun möchte ich deines hören. Dafür sind Freunde doch da, oder? Dass man sich ihnen anvertrauen kann, ohne Angst haben zu müssen.« Thyra sah in Serenas schöne grüne Augen und mit einem Mal durchströmte sie ein wunderbar warmes Gefühl. »Freundschaft, ja. Es wäre schön, wieder eine Freundin zu haben. Oder sogar …« sie unterbrach sich hastig, als sie gerade noch rechtzeitig merkte, dass sie mehr zu sagen im Begriff war, als sie Serena wissen lassen wollte. Serena war nicht dumm, sie hatte sehr wohl die leichte Spannung gespürt, die bei Thyras letzten Worten zwischen ihnen entstanden war und ahnte, was Thyra hatte sagen wollen. Die Tar’Nog mochten archaische Gesetze haben, doch in der Wahl ihrer Partner vertraten sie absolute Freiheit, der weder bei Alter noch Geschlecht noch Stand Grenzen gesetzt war.
Serena nahm sich vor, Thyra davon zu erzählen, sobald sie sich über ihre eigenen Gefühle ganz klar war. Für den Moment tat sie, als habe sie nichts bemerkt und ermunterte Thyra statt dessen, ihre Geschichte zu erzählen. »Das Land aus dem ich komme, hat schon seit Jahrhunderten kriegerische Clans hervorgebracht, deren einziger Lebenssinn Mord, Gewalt und die Vermehrung ihres Reichtums durch Eroberung und Brandschatzung ist. Den Kriegsgöttern werden dort prächtige Tempel erbaut, während das einfach Volk nur dann genug zu Essen hat, wenn es seine Söhne und Töchter als Soldaten ausbilden lässt. Ich war die Tochter eines Kriegsherrn, zumindest hieß es offiziell so, inoffiziell ging das Gerücht, eine unserer Kriegsgottheiten sei für meine Existenz verantwortlich. Mein Vater wusste nicht, ob er stolz oder eifersüchtig sein sollte, jedenfalls ließ er mich gut ausbilden, denn ich sollte die Tradition der Familie fortsetzen und dem blutrünstigen Ruf, den wir selbst unter den anderen blutrünstigen Clans genossen, gerecht werden. Ich enttäuschte ihn nicht, doch schon in meiner Jugend erhob sich in mir eine Stimme, die all das Treiben in Frage stellte und sich nach einer anderen Art von Leben suchte. Ich hatte dieser Stimme nie viel Gehör geschenkt, doch eines Tages geschah etwas, das es mir unmöglich machte, sie weiter zu ignorieren. Ich war mit meinem Heer weit hinunter in den Süden gelangt, weiter als jeder andere Clan es je geschafft hatte. In einem Tal lagen mehrere größere Dörfer, die erfolgversprechend für einen Überfall waren. Also taten wir, was wir immer taten, wir griffen eines nach dem anderen an. Ich habe bei all unseren Raubzügen niemals zugelassen, dass Frauen und Kinder getötet wurden. Auch wenn die Krieger darüber murrten, so wagten sie es dennoch nicht gegen mich aufzube-
gehren, denn noch immer galt ich als die Tochter eines Kriegsgottes und die Anführerin des mächtigsten Clans unseres Volkes. Auch diesmal waren wir siegreich, die Männer, gegen die wir kämpften, waren wenig erfahren im Umgang mit Waffen. Um den Schrecken unter ihnen zu vergrößern, trugen wir bei unseren Überfällen stets Dämonenmasken, die ihre Wirkung selten verfehlten. Das letzte Dorf in dem Tal leistete den meisten Widerstand, auch die Frauen kämpften an der Seite ihrer Männer und es kostete uns, die wir an Verluste nicht gewöhnt waren, das Leben einiger unserer besten Krieger. Dennoch waren wir letztendlich siegreich. Auf meinen Befehl wurden die Gefangenen in der Versammlungshütte des Dorfes eingesperrt. Ich wollte das Dorf plündern lassen und dann weiterziehen. Doch meine Leute hatten es anders geplant. Ohne mein Wissen und meine Zustimmung zündeten sie in der Nacht die Hütte an. Ich konnte nicht verhindern, dass alle verbrannten, doch dieses Ereignis machte mir bewusst, welche Art Leben ich bisher geführt hatte und dass ich auf keinen Fall mehr so weitermachen konnte. Meine Krieger bemerkten rasch die Veränderung in mir und wählten mich als Anführerin ab. Ich hatte Glück ihrem Zorn entkommen zu können. Lange Zeit irrte ich umher, lebte in den Wäldern und wagte mich nicht in zivilisierte Gegenden, da mir überall nur die Spuren meiner Zerstörungswut begegneten. In diesem Zustand der Reue und Verwirrung erreichte ich dann diesen Ort … diesen Ort, an den ich mich nicht mehr erinnere. Überhaupt hört alle Erinnerung an diesem Punkt auf.« Thyra beendete ihre Erzählung. Serena hatte sie nicht ein einziges Mal unterbrochen. Ein Teil von ihr war tatsächlich entsetzt und schockiert über Thyras Geschichte. Und doch hatte sich ihr Gefühl für Thyra nicht
verändert. Sie spürte, dass die Frau da vor ihr ihre Vergangenheit bereute und alles tun würde, um zumindest einen Teil davon wieder gut zu machen. »Bist du sicher, dass du noch immer mit mir kommen willst?« fragte Thyra und bemühte sich, ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen. »Nun ja«, erwiderte Serena. »Deine Geschichte ist nicht gerade von der Art, die man kleinen Kindern vor dem Einschlafen erzählt, aber ich vertraue dir und glaube dir, dass du dein Leben ändern wolltest und willst. Und da wir offensichtlich beide eine neue Aufgabe suchen, spricht doch nichts dagegen, es zusammen zu versuchen, oder?« Sie sah die Erleichterung in Thyras Gesicht und war froh, sich so entschieden zu haben. »Lass uns jetzt schlafen gehen. Morgen machen wir uns auf den Weg nach Kharamayn.« Serena erwachte kurz vor der Morgendämmerung. Das Licht des Vollmonds erleuchtete das Zimmer und sie glaubte, eine Bewegung am Fenster auszumachen, eine Gestalt, die eben noch beobachtend zu ihnen ins Zimmer gespäht hatte und im nächsten Moment spurlos verschwunden war. Etwas an diesem »Beobachter« (wenn es ihn denn wirklich gegeben hatte) schien Serena vertraut zu sein, obwohl sie sich dieses Gefühl nicht erklären konnte. Sie zögerte einen Moment, doch ihre Neugier war erwacht. Leise erhob sie sich, warf sich rasch ihre Kleider über, griff nach ihrem Schwert und kletterte dem Schatten durchs Fenster nach. Sie verzichtete darauf, Thyra zu wecken. Der Freundin ging es zwar schon wesentlich besser, aber eine weitere Nacht ungestörten Schlafs konnte ihr sicher nicht schaden. Serena war fest überzeugt, mit dieser Sache auch alleine fertig werden zu können.
Zu ihrer eigenen Überraschung machte Serena, einmal im Freien, den Schatten tatsächlich rasch ausfindig, wenn sie auch wieder nicht mehr sah, als die schnelle Bewegung eines Wesens, das hinter einer Häuserecke verschwand. Serena nahm die Verfolgung auf. Schon bald achtete sie nicht mehr darauf wohin die Jagd sie führte, dachte nur noch an das Wild, das sie verfolgte. Doch so schnell sie auch war, der Schatten behielt einen Vorsprung. Erst als Serena sich außerhalb der Stadt im Wald wiederfand, wurde ihr bewusst, wie leichtsinnig das war, was sie hier tat. Mit einem Mal fiel ihr auch das Räubergesindel wieder ein, von dem der betrunkene Mann in der Herberge gesprochen hatte und sie fragte sich, ob sie hier vielleicht gerade in eine Falle lief. Serena beschloss, die Verfolgung aufzugeben und so rasch wie möglich zur Herberge zurückzukehren. Doch als sie sich zum Gehen wandte, hörte sie eine Stimme. Eine weibliche, vertraute Stimme, doch auf schreckliche Weise verzerrt. »Du willst schon aufgeben, Serena? Ich dachte, wir hätten uns noch viel mehr zu erzählen.« Langsam drehte Serena sich um. Sie wollte wissen, wem diese Stimme gehörte. Ihre Besitzerin stand einige Meter von ihr entfernt an einen Baum gelehnt. Ein schwarzer Kapuzenmantel verhüllte Gesicht und Körper. »Du weißt, wer ich bin?« fragte Serena. »Du wärst überrascht, wenn du wüsstest, was ich sonst noch alles weiß«, war die ironische Antwort. Ein Kichern folgte, das Serena unwillkürlich an einen Fingernagel erinnerte, der über eine Schiefertafel kratzt. Unwillig verzog sie das Gesicht. »Oh, verzeih mir«, reagierte das Wesen sofort. »Ich erschrecke dich. Aber vielleicht, wenn ich mich ein wenig verändere …«
Und plötzlich wurde die Stimme sanfter, tiefer und melodischer. Gleichzeitig straffte sich die Gestalt, richtete sich zur vollen Größe auf und warf den Mantel ab, der sie bis jetzt verhüllt hatte. »Ich habe so schreckliche Dinge getan und nun will ich alles wieder gut machen und mein Leben ändern«, sagte das Wesen und Serena zuckte zusammen, als sie die Worte erkannte, diesmal nicht ernsthaft sondern voller Hohn gesprochen, doch von einer Stimme, die sie nur allzu gut kannte. »Nein«, flüsterte sie und wich zurück, »das kann doch nicht möglich sein.« »Was weißt du schon von Dingen, die möglich sind?« sagte die Fremde und trat ins Licht des Vollmondes. Serena starrte sie an, unfähig zu sprechen. Es war Thyra, die da vor ihr stand. Das Gesicht, die Haare, die Figur, die Kleidung – alles entsprach der dunklen Kriegerin bis ins kleinste Detail. Und doch – als Serena genauer hinsah, bemerkte sie, dass es Unterschiede gab. Es lag eine Bosheit im Blick dieser dunkelblauen Augen, ein abgrundtiefer Hass, wie ihn nur eine Kreatur empfinden konnte, die niemals eine einzige gute Erfahrung mit dem gemacht hatte, was ihr im Leben begegnet war. »Du magst aussehen wie Thyra, aber du bist es nicht!« stellte Serena mit Nachdruck fest. »Du bist wirklich ein kluges kleines Mädchen, Serena oder darf ich dich Siri nennen, wie deine Schwester?« Serena runzelte die Stirn. »Was weißt du von meiner Schwester?« herrschte sie die falsche Thyra an. Die zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Nichts was in diesem Augenblick wichtig wäre.« »Dann sag mir endlich, wer du bist!«
»Ist das nicht offensichtlich? Aber nein, wie sollte es das, wie solltest du auch wissen, das ich ein Wesen bin, geboren aus Thyras dunkler Seite. Eine Seite, die sie benutzt aber nie wirklich angenommen hat. Und nun glaubt sie ihr Leben verändern und mich verleugnen zu können. Aber ich werde ihr zeigen, dass ich mich nicht verdrängen und einsperren lasse. Nicht von ihr und nicht von irgendjemand sonst. Ich werde mich rächen für das, was sie mir angetan hat, ich werde alle und alles vernichten, was Thyra liebt und ihrem Leben einen Sinn gibt und mit dir werde ich anfangen!!« Serena erstarrte, als ihr so unverhohlener Hass entgegenschlug. Sie griff nach ihrem Schwert, als der dunkle Zwilling auch schon die Hände erhob und ihr entgegenstreckte. »Ihr mächtigen Wesen der Finsternis, die ihr mir die Freiheit geschenkt habt, helft mir nun im Kampf gegen meine Feinde.« Und sie wurde erhört. Strahlen so hell wie Blitze schossen auf Serena zu. Doch noch ehe sie die junge Kriegerin erreichten, wurde das Schwert in Serenas Hand lebendig. Es reagierte auf den Angriff schneller, als Serena es gekonnt hätte. Die Klinge wehrte die Strahlen so schnell ab, dass der jungen Frau fast die Hände aus dem Gelenk gerissen wurden. Der blaue Stein im Knauf des Schwertes leuchtete dabei hell auf. In diesem Moment erkannte Serena, dass sie aus Versehen Thyras Schwert mitgenommen hatte. Und dass dieses Schwert augenscheinlich gegen schwarze Magie zu schützen verstand. Von dieser Erkenntnis bestärkt, machte sie einen Schritt auf den dunklen Zwilling zu, das Schwert drohend erhoben. Und stellte erleichtert fest, dass die Gegnerin tatsächlich zurückwich. »Also gut, Serena, diese Runde geht an dich. Aber wir begegnen uns wieder.« In der nächsten Sekunde war sie auch schon verschwunden, als habe sie sich in Luft aufgelöst.
Serena entschied, ihr Glück nicht auf die Probe zu stellen und beeilte sich, in die Herberge zurückzukehren. Thyra saß hellwach auf dem Bett. »Wo warst du?« fragte sie besorgt. »Ich wollte dich gerade suchen.« »Das wirst du mir niemals glauben«, sagte Serena. »Übrigens: Danke für dein Schwert, es hat mir sehr geholfen.« »Mein Schwert?« Thyra runzelte die Stirn. »Serena, wirst du mir jetzt endlich sagen, was passiert ist!?« Serena ließ sich seufzend auf das Bett fallen. Sie sah so mitgenommen aus, dass Thyra unwillkürlich die Hand ausstreckte, um sie an sich zu ziehen. Serena wich zurück. Für eine Sekunde stahl sich Angst in ihren Blick. Jetzt war Thyra wirklich beunruhigt. »Serena! Ich bin es!« Serena nickte langsam, dann verschwand die Angst aus ihren Augen und sie schmiegte sich von selbst in Thyras Arme. »Es klingt sicher verrückt«, sagte sie leise. »Aber ich bin eben draußen im Wald deiner Doppelgängerin begegnet.« Kurze Zeit später wusste Thyra über die Ereignisse bescheid. »Das kann kein Zufall sein«, erklärte Thyra mit Bestimmtheit. »Der Sturz, mein Erinnerungsverlust und jetzt dieses Wesen. All das gehört zusammen. Wenn ich nur wüsste, was oder wer dahintersteckt!« »Sie sagte sie wäre ein Teil von dir, von deiner dunklen Seite. Ob sie das wörtlich meinte?« überlegte Serena. »Da sie aussah wie ich, wäre das schon denkbar, aber welche Kraft war da am Werk? Ich bin sicher, dass, was immer auch diese Abspaltung bewirkt hat, mich auch hierher brachte, wahrscheinlich geschah beides gleichzeitig. So oder so ich muss nach Kharamayn. Wir brauchen dringend ein paar Antworten.«
5) Aglaia erreichte Kharamayn in drei Tagen. Sie hatte sich unterwegs durch nichts aufhalten lassen und auch die Tatsache, dass das berüchtigte Orakel schwer zugänglich auf einem Bergplateau lag, bedeutete für sie kein Hindernis. Aglaia hatte die Erfahrung gemacht, dass Beharrlichkeit und Ausdauer in 99 von 00 Fällen zum gewünschten Ziel führten und nahm nicht an, dass Kharamayn hier eine Ausnahme bildete. Nicht einmal im Traum hätte sie geahnt, wie sehr der Besuch dort ihr Weltbild ins Wanken bringen würde. Sie ließ ihr Pferd zurück, als der Weg zu steil und zu felsig wurde, um sicher hinaufreiten zu können, und legte das letzte Stück zu Fuß zurück. Als Aglaia das eigentliche Kharamayn erreichte, war sie überrascht. Sie hatte ein Gebäude erwartet, vielleicht eine Art Tempel, aber alles, was sich ihren erstaunten Augen bot, war eine undurchdringliche Nebelwand, die sich seitlich und in die Höhe unendlich auszudehnen schien. Da der Weg hier endete, musste es sich bei diesem seltsamen Phänomen tatsächlich um das berühmte Orakel handeln. Aglaia beschloss, nicht länger darüber nachzudenken, sondern es einfach auszuprobieren. Kaum hatte sie Kharamayn betreten, als sie auch schon die Orientierung im dichten Nebel verlor. Sie drängte einen aufkommenden Panikanfall zurück, schloss die Augen, atmete ein paar Mal tief durch und zwang sich zur Ruhe. Als sie die Augen wieder öffnete, war der Nebel verschwunden.
Aglaia hatte einiges erwartet, aber nicht, sich mitten auf einem Dorfplatz wiederzufinden. Rings um sie her herrschte reges Markttreiben, niemand achtete auf sie, niemand schien sie zu bemerken. Die blonde Kriegerin schaute sich erstaunt um. Das Dorf kam ihr irgendwie bekannt vor. Sekunden später durchzuckte sie die Erkenntnis wie ein Blitz. Sie war in Caska, der verlorenen Heimat. Dem Dorf, in dem sie mit ihren Eltern und Geschwistern gelebt hatte. Für einen Moment vergaß Aglaia vollkommen den eigentlichen Grund ihres Hierseins. Sie vergaß Thyra und die T’mar Schule und eine Sehnsucht überkam sie, die Tränen in ihre Augen trieb. Das konnte doch nicht sein, dachte sie. Caska gab es nicht mehr, das Dorf war zerstört und geplündert, seine Bewohner tot und das schon seit langem. »Du bist hier, weil du die Wahrheit suchst«, hörte sie da plötzlich eine tonlose Stimme direkt in ihrem Kopf. »Nun sei auch gefasst, die Wahrheit zu erfahren.« Aglaia fuhr herum, doch die Stimme schien von nirgendwo her gekommen zu sein. »Sei aufmerksam und beobachte, kleine Aglaia«, ließ sich die Stimme erneut vernehmen. »Bald wirst du wissen, was dir bisher verborgen war.« »Was meinst du damit?« rief Aglaia. »Woher willst du wissen, welche Fragen ich habe?!« Doch sie erhielt keine Antwort mehr. »Na schön«, sagte sie zu sich selbst. »Dann finde ich es eben selbst heraus.« Sie lief an den bunten Marktständen vorbei durch die Straßen, die immer vertrauter wurden, bis sie eine ganz bestimmte Hütte erreichte. Sie blieb stehen und ließ den Blick über den vertrauten kleinen Vorgarten und die blumengeschmückten Fenster wandern.
Erinnerungen stiegen in ihr hoch an eine lang vergessen geglaubte Zeit, eine unbeschwerte, glückliche Zeit. Sie wollte gerade den Vorgarten betreten, als der Boden unter ihren Füssen zu beben begann. Sie blickte sich verwirrt um, dann wurde ihr blitzartig klar, was im Begriff war, ein weiteres Mal zu geschehen. Es war der Tag des Überfalls, der Tag, der ihr ganzes Leben verändert hatte. ›Diesmal nicht!‹ dachte Aglaia und riss ihr Schwert aus dem Schultergurt. Doch als ihre Schwertschläge durch die Reiter mit den Dämonenmasken hindurchfuhren ohne Schaden anzurichten, erkannte Aglaia, dass sie lediglich Zeugin eines längst vergangenen Ereignisses wurde, das sie nicht mehr verändern konnte. ›Es ergibt keinen Sinn‹, dachte sie. ›Weshalb soll ich das noch einmal erleben? Deswegen bin ich nicht hergekommen.‹ Doch ihr blieb keine Wahl. Sie musste hilflos mit ansehen, wie die Dorfbewohner tapfer, aber vergebens Widerstand leisteten, sah, wie die Überlebenden eingesperrt wurden. Dann flackerte das Bild um sie herum eine Sekunde lang und als Aglaia wieder scharf sehen konnte, war es Nacht. Sie sah die betrunkenen Krieger auf das Versammlungshaus zuschleichen, sah die Fackeln in ihren Händen, hörte das Prasseln des schnell um sich greifenden Feuers, die Schreie der Eingeschlossenen, die bei lebendigem Leib verbrannten. Vor Zorn und Hilflosigkeit schrie sie laut auf. Tränen der Wut und Verzweiflung liefen über ihr Gesicht, als sie wieder zu der kleinen zwölfjährigen Aglaia wurde, die von ihren Eltern in der Hütte versteckt worden und die nur deshalb der Vernichtung entgangen war.
Aglaia hatte das Geschehen damals nicht verfolgen können, sie hatte die schrecklichen Geräusche gehört, aber ihr Versteck erst am nächsten Tag verlassen, als die Krieger verschwunden waren. Diesmal hatte sie einen besseren Blick auf das schreckliche Szenario und so sah sie auch, wie die Anführerin der Männer aus ihrem Zelt herbeieilte, ihre Leute anschrie und ihnen befahl das Feuer zu löschen. Sie folgten ihrem Befehl halbherzig, doch Aglaia bemerkte es kaum, denn ihre Augen hingen wie gebannt an dem Gesicht der dunkelhaarigen Frau, die sie jetzt zum ersten Mal ohne Maske sah. Es war Thyra. Ihr Entsetzen war so groß, dass sie kaum mitbekam, wie zornig Thyra über die Willkür ihrer Männer war. Alles was sie verstand war, dass die Frau, die sie als ihre Freundin gewonnen hatte und für die ihr Leben zu riskieren sie nicht eine Sekunde gezögert hätte, dieselbe war, die die Zerstörung ihres Dorfes und den Tod ihrer Familie zu verantworten hatte. Im gleichen Moment verschwand das Bild, die Landschaft um Aglaia herum löste sich auf und sie fand sich auf den Knien liegend, tränenüberströmt und völlig verzweifelt außerhalb des Orakels auf dem Felsplateau wieder. »Reite nach Süden«, hörte sie noch ein letztes Mal die Stimme in ihrem Kopf, »und du wirst finden, was du suchst.« Der Abend dämmerte schon, als sich Aglaia endlich auf den Rückweg machte. Als sie die Stelle erreichte, an der sie ihr Pferd zurückgelassen hatte, war es bereits so finster, dass sie die Hand vor Augen nicht mehr sehen konnte. Sie beschloss, den Abstieg erst am nächsten Morgen zu wagen und die Nacht auf dem Berg zu verbringen. Noch immer herrschte Chaos in ihren Gedanken und auch als sie aus unruhigem, von schlechten Träumen durchsetzten Schlaf erwacht war, hatte sich daran nichts geändert. Ein Gedanke kristallisierte sich schließlich heraus.
Thyra war für den Tod ihrer Familie verantwortlich und dafür sollte sie büßen. Am Fuße des Berges angekommen lenkte Aglaia eingedenk der Empfehlung des Orakels ihr Pferd nach Süden. So ritt sie einige Tage von Hass und Zorn getrieben, ohne wirklich auf ihre Umgebung zu achten. Am vierten Tag trat ihr Pferd in eine Unebenheit im Boden als Aglaia gerade einen kleinen, seichten Bach entlang ritt und strauchelte. Aglaia wurde von seinem Rücken heruntergeschleudert, rollte sich zwar geistesgegenwärtig auf dem Boden ab, konnte aber nicht verhindern, dass sie mit dem Kopf gegen einen Stein prallte und das Bewusstsein verlor. Als sie einige Stunden später wieder zu sich kam, waren Pferd und Ausrüstung verschwunden. Wütend über ihre Unaufmerksamkeit schlug Aglaia heftig mit der Faust auf den Boden. Schmerz durchzuckte ihren Kopf wie eine glühende Nadel und nahm ihr fast augenblicklich die Lust zu weiteren jähzornigen Ausbrüchen. Sie versuchte aufzustehen, doch sofort erfasste sie ein heftiges Schwindelgefühl. Sie stand einige Minuten lang reglos da, atmete ruhig und konzentriert, bis sie nicht mehr das Gefühl hatte, die ganze Welt drehe sich um sie, und die Übelkeit nachließ. Das Gefühl der Benommenheit und das Pochen und Hämmern in ihrem Kopf blieben jedoch und machten es ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Der Weg, den sie benutzt hatte, lag abgelegen von den Haupthandelsstrecken, sie war seit zwei Tagen keiner Menschenseele mehr begegnet. Es war also nicht damit zu rechnen, dass ihr jemand zu Hilfe kommen würde.
Als erstes musste sie ihr Pferd finden und dann versuchen, das nächstgelegene Dorf zu erreichen, wo es vielleicht einen Heiler geben mochte. Sie konzentrierte sich ganz auf dieses Ziel und suchte den Boden nach Hufspuren ab, die sie auch bald fand. So rasch es ihr Zustand erlaubte, folgte sie ihnen. Schon bald wurde Aglaia klar, dass sie sich zuviel zugemutet hatte. Die Sonne stand im Zenit, brannte immer heißer vom Himmel. Schmerzen und Benommenheit nahmen gleichermaßen zu, so dass Aglaia kaum bemerkte, dass das Landschaftsbild um sie herum sich ungewöhnlich schnell veränderte, die Vegetation immer kärglicher, der Boden immer steiniger und trockener wurde. Aglaia sehnte sich nach Wasser, aber wo vorher noch der kleine Bach gewesen war, erinnerte jetzt nur noch eine trockene Rinne im Boden an das ehemalige Vorhandensein von Feuchtigkeit. Die blonde Lehrmeisterin sah sich um und traute ihren Augen kaum. Das ehemals dichtbewachsene Grasland hatte sich in kürzester Zeit in eine lebensfeindliche Wüste verwandelt. Wohin sie auch schaute – sie sah nur Sand. Dieser Anblick war zuviel für sie. Unfähig, sich länger auf den Beinen zu halten, ließ sie sich schwer zu Boden fallen, spürte den heißen Sand unter sich und für einen Moment überkam sie die Verzweiflung. Wie konnte sich hier alles so schnell verändert haben? Welche unselige Kraft verfolgte sie, hatte es auf sie abgesehen? Wut löste die Verzweiflung ab. So schnell würde sie sich nicht geschlagen geben. Es war vollkommen klar, dass hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging und sie würde herausfinden, was es war. Wie um ihre Gedanken zu bestätigen, entdeckte sie in diesem Augenblick in der Ferne die Umrisse von Häusern.
Es schien hier tatsächlich so etwas wie eine Stadt zu geben. Diese Erkenntnis verlieh Aglaia neue Kraft. Als ihr Kopf erneut zu zerspringen drohte, riss sie ihr Schwert aus dem Schultergurt und rammte es in den Wüstenboden. Schwer stützte sie sich auf ihre Waffe und humpelte langsam auf die Stadt zu. Schneller als sie gedacht hatte, erreichte sie die Häuser, doch nur um festzustellen, das alle leer und verlassen waren. Sie stand in einer Geisterstadt. Vor Zorn und Enttäuschung schrie Aglaia laut auf, dann verließ sie alle Kraft und sie brach zusammen. Kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, glaubte sie, Stimmen zu hören, Schritte, die sich rasch näherten. Und als ihre Augen nur noch verschwommen ihre Umwelt wahrnahmen, sah sie Gesichter über sich, Gesichter, die sie besorgt, staunend und neugierig betrachteten. Sie öffnete den Mund, um zu sprechen, doch die Wirklichkeit entglitt ihr und sie stürzte in ein schwarzes, tiefes Loch. Das erste, das Aglaia wahrnahm, als sie erwachte, war eine erfrischende Kühle. Die Sonne war fort, hatte samtener Finsternis Platz gemacht. Für einige Sekunden der Desorientierung glaubte sie, blind geworden, der sengenden Kraft der Sonne zu lange ausgesetzt gewesen zu sein, doch dann drangen schwache Lichtstrahlen durch das Dunkel und Aglaia beruhigte sich. Sie erkannte die Umrisse eines Bettes, fühlte die Kühle der Laken, die Weichheit eines Kissens. Langsam, immer auf der Hut vor dem pochenden Kopfschmerz, richtete sie sich auf. Der Schmerz blieb aus. Auch kein Schwindel erfasste sie. Alles schien wieder in Ordnung zu sein.
Einen Moment überlegte sie, ob sie vielleicht tot sei, aber dann schien es ihr doch recht unwahrscheinlich, dass man noch immer solchen Durst verspürte, wenn man das irdische Leben bereits hinter sich gelassen hatte. Sie nahm aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr, etwas näherte sich ihrem Gesicht. Ihre Hand schoss blitzartig hoch und umklammerte ein schmales Handgelenk, dessen Besitzer ein Tuch gehalten hatte, das nun unter dem festen Griff der Kriegerin auf das Bettlaken fiel. »Auuh, du tust mir weh«, hörte Aglaia eine weibliche Stimme. »Bitte, lass mich los, ich will dir doch nichts tun.« Aglaia entschied, ihr zu glauben und entließ die Frau aus ihrem Griff. »Wo bin ich?« frage sie. »Und wer bist du?« »Beruhige dich erst einmal, deine Wunde ist noch nicht ganz verheilt.« »Ich will mich nicht beruhigen«, erklärte Aglaia mit Nachdruck, »ich will wissen, wo ich bin!« Mit diesen Worten stand sie auf, ging zum Fenster hinüber und riss die Vorhänge auf. Das Licht der Morgendämmerung erhellte den Raum und Aglaia erkannte eine junge Frau, zierlich mit schwarzem kurzen Haar, die sie mit einer Mischung aus Freundlichkeit und Besorgnis ansah. »Du bist sehr temperamentvoll«, stellte die Frau fest. »Kann man so sagen«, entgegnete Aglaia. »Wem, sagtest du, habe ich meine Rettung zu verdanken?« Die Frau lächelte. »Ich bin Giuliana, die Heilerin der Stadt. Man brachte dich zu mir, nachdem du draußen vor der Stadt mehr tot als lebendig gefunden wurdest. Ich konnte dir helfen, aber nur, weil du über erstaunliche Selbstheilungskräfte verfügst. Es ist lange her, dass ich einer Frau mit solch einem starken Willen begegnet bin.«
Bei den letzten Worten glitt ein Schatten über Giulianas Gesicht, verschwand jedoch so rasch wieder, dass Aglaia sich nicht sicher war, ihn wirklich gesehen zu haben. Da sie fühlte, dass von dieser Frau keine Bedrohung ausging, entspannte sie sich und setzte sich wieder aufs Bett. »Kann ich etwas Wasser bekommen, Giuliana? Ich habe ziemlichen Durst.« »Natürlich«, sagte die Heilerin und stand auf, um aus einer Karaffe einen Becher voll Wasser zu gießen, den sie Aglaia reichte. Die Kriegerin trank und fragte dann noch einmal nach dem Namen der Stadt, in der sie sich befand. »Du bist in Mardan«, erhielt sie endlich eine Antwort, »einer kleinen Wüstengrenzstadt in der Nähe der alten Karawanenstraße, nicht weit von den Yoral-Bergen entfernt. Es verirren sich nur noch selten Besucher zu uns, seit die Straße nicht mehr benutzt wird. Du bist die erste seit vielen Jahren. Was hat dich hierher geführt?« Aglaia sah in die freundlichen dunkelbraunen Augen der jungen Frau. Sie hatte etwas sehr vertrauenerweckendes an sich, man fühlte sich wohl in ihrer Nähe. »Ich hätte schwören können, die Stadt sei verlassen«, sagte Aglaia. Giuliana zuckte die Schultern. »Du warst bewusstlos und in sehr schlechtem Zustand, als man dich zu mir brachte. Gut möglich, dass dein Bewusstsein schon stark getrübt war, als du die Stadt erreichtest.« »Ja, gut möglich«, räumte Aglaia nachdenklich ein. »Übrigens«, fuhr sie fort, »ihr habt nicht zufällig auch mein Pferd gefunden?« Giuliana schüttelte den Kopf. »Nein, leider.« Aglaia seufzte.
»Na ja, dann werde ich mir eben ein Pferd bei euch leihen. Ihr habt doch einen Mietstall hier?« Statt einer Antwort fragte Giuliana: »Du willst schon wieder fort? Bleib doch besser noch ein paar Tage und ruh dich aus.« »Das verstehst du nicht, Giuliana. Ich habe es sehr eilig und was ich vorhabe, ist wichtig!« »Was kann denn so wichtig sein, dass du deine gerade erst zurückgewonnene Gesundheit wieder aufs Spiel setzt?« fragte Giuliana ernst. Aglaia schwieg einen Moment. »Ich suche jemanden«, sagte sie schließlich. »In Kharamayn habe ich versucht, Hilfe zu finden, aber …« »Kharamayn?« unterbrach Giuliana sie. »Wo ist das?« Aglaia sah sie ungläubig an. »Willst du sagen, du hast noch nie vom Orakel von Kharamayn gehört?« In diesem Augenblick hörten sie ein Läuten an der Außentür. Giuliana erhob sich. »Warte einen Moment, ich bin sofort zurück«, sagte sie. An der Tür sah sie sich noch einmal um. »Nein«, antwortete sie auf Aglaias Frage. »Ich kenne diesen Ort nicht.« Dann verließ sie das Zimmer. Aglaia blieb nachdenklich zurück. War dieser Stadt hier wirklich so abgelegen, das seine Bewohner das berühmte Orakel nicht kannten? Noch ehe sie sich weiter Gedanken machen konnte, kehrte Giuliana zurück. »Hast du Hunger?« fragte sie. »Wer war denn draußen?« fragte Aglaia statt einer Antwort. »Nur ein paar Stadtbewohner die sich nach deinem Befinden erkundigen wollten. Wie sieht’s aus? Möchtest du frühstücken?«
Aglaia lächelte. »Nur wenn ich vorher ein Bad nehmen darf.« Giuliana erwiderte das Lächeln. »Ich glaube, das lässt sich einrichten.« Eine Stunde später saßen die beiden bei einem ausgiebigen Frühstück. Aglaia erzählte ein wenig von sich und der Schule, in der sie Lehrmeisterin war und Giuliana hörte ihr aufmerksam und staunend zu. Es schien wirklich lange her zu sein, dass sich ein Fremder in diese Stadt verirrt hatte, stellte Aglaia fest. »Spricht etwas dagegen, mir nachher die Stadt zu zeigen?« fragte sie »Fühlst du dich denn schon kräftig genug?« »Es würde reichen, um es mit einer Horde Kriegsherrn aufzunehmen«, entgegnete Aglaia unbekümmert. Giuliana zuckte unmerklich zusammen, als hätte sie einen Schlag erhalten. »Sag so etwas nicht. Mardan ist eine friedliche Stadt.« »Schon gut«, lenkte Aglaia ein, »es war nicht persönlich gemeint.« So rasch es verschwunden war, kehrte das Lächeln auf Giulianas Gesicht zurück. »Sicher zeige ich dir die Stadt, obwohl … viel zu sehen gibt es hier nicht.« Abermals wurden sie von einem Läuten unterbrochen. »Bleib nur hier und beende dein Frühstück in Ruhe. Ich bin gleich zurück«, sagte Giuliana und erhob sich eilig. Aglaia kam mit sich überein, dass Giuliana zwar nett und vertrauenerweckend, aber gelegentlich auch ein wenig seltsam war. Vor der Haustür wurde sie bereits von einer ganzen Gruppe Stadtbewohner erwartet. Giuliana entdeckte den Bürgermeister, einige
Männer und Frauen des Stadtrates und den Besitzer des einzigen Warenlagers. Alle waren aufgeregt und redeten durcheinander. Die Heilerin hob die Hände und bat um Ruhe. »Würdet ihr euch bitte beruhigen? Ich verstehe kein einziges Wort!« Die Menge verstummte. Trotz ihrer Jugend genoss Giuliana hohes Ansehen in der Stadt. Der Bürgermeister stellte schließlich die Frage, die alle bewegte. »Und? Ist sie brauchbar? Was meinst du?« Giuliana sah ihn kalt an. »Ich verbiete euch in meinem Haus so über meinen Gast zu reden.« Der Bürgermeister seufzte. »Giuliana, bitte, du weißt, was auf dem Spiel steht.« »Ich weiß es, aber das ist noch lange kein Grund, die Regeln der Gastfreundschaft und des guten Benehmens außer acht zu lassen.« »Das will hier auch niemand«, lenkte der Bürgermeister ein, doch man sah ihm an wie schwer es ihm fiel, die Fassung zu bewahren. »Aber du musst doch verstehen …« »Es geht ihr gut, ja. Sie hat sich von ihren Verletzungen erholt, ja. Und sie ist eine Kriegerin, ja! Und wenn ihr meine Meinung hören wollt: Ja, sie würde durchaus in der Lage sein, uns zu helfen. Ich werde sie fragen, wenn es an der Zeit ist!« »Und wann wird das sein?« ließ sich der Ladenbesitzer vernehmen. »Giuliana, deine Selbstherrlichkeit geht mir allmählich auf die Nerven.« »Selbstherrlichkeit?!« wandte sich Giuliana ihm zu. »Ihr habt es nötig über Selbstherrlichkeit zu sprechen!!« »Bitte, bitte«, unterbrach der Bürgermeister den aufkommenden Streit. «Wir haben für so was keine Zeit.«
Giuliana warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Wie ich schon sagte, ich werde sie fragen, wenn es an der Zeit ist.« »Warum sie fragen und riskieren, dass sie ablehnt?« mischte sich nun ein Mitglied des Stadtrates ein. »Sie verdankt dir ihr Leben, Giuliana, nagle sie darauf fest. Und wenn sie noch immer nicht will, müssen wir sie eben zwingen.« Bei diesen Worten musste die Heilerin lachen. »Hört euch doch mal selbst zu. Ihr glaubt allen Ernstes, eine Kriegerin, die in der Lage wäre unser Problem zu lösen, würde sich von euch zwingen lassen? Übrigens: Ihr Name ist Aglaia.« »Dann sollte Aglaia klug genug sein, diesen Ort so schnell als möglich zu verlassen!« erhob sich da plötzlich die Stimme eines Neuankömmlings aus dem Hintergrund. Sie gehörte einem jungen Mann, der mit vor der Brust verschränkten Armen etwas abseits stand und die Gruppe mit unverhohlener Verachtung anschaute. Als seine Augen Giulianas begegneten, wurde der Ausdruck milder. Die Heilerin war die einzige Person in der Stadt, der er so etwas wie Respekt entgegenbrachte. »Ihr wisst noch nicht einmal ihren Namen, aber ihr zögert nicht, sie zu opfern. Ihr hofft, sie holt euch die Kastanien aus dem Feuer, ohne dass ihr etwas dazu beitragen müsst, aber sie wird scheitern, das ist so sicher, wie ich hier jetzt vor euch stehe. Und wisst ihr auch warum? Weil ihr euch niemals ändern werdet!!« Eine Weile herrschte betretenes Schweigen. »Das ist die Wahrheit«, wandte sich der junge Mann jetzt direkt an Giuliana, »und du und ich, wir wissen das.« Ein schmerzlicher Ausdruck trat auf das Gesicht der Heilerin, sie senkte den Blick. Statt ihrer sprach der Bürgermeister.
»Wir wissen, was du empfindest, Rojan. Aber bitte, leg uns keine Steine in den Weg.« Rojan machte eine wegwerfende Bewegung. »Gar nichts wisst ihr«, sagte er kalt. »Dann tu es für mich, Rojan«, sagte Giuliana da leise, »bitte, irgendwann muss es doch enden.« Rojan sah sie lange an, dann wandte er sich ab und ging ohne ein weiteres Wort davon. Giuliana kehrte zu Aglaia zurück, die sie lächelnd begrüßte. ›Oh ja, du könntest es schaffen‹, dachte die Heilerin. ›Du hättest wirklich die Kraft dazu, das spüre ich. Aber du erinnerst mich auch an jemanden, von der ich das gleiche dachte. Ich will nicht, dass sich alles wiederholt. Ich mag dich, Aglaia und ich fühle, dass auch du ein Geheimnis mit dir herumträgst, das du verbirgst. Ich will dich nicht in Gefahr bringen, aber ich habe wohl kaum eine Wahl.‹ Aglaia bemerkte den sorgenvollen Zug um Giulianas Mund. »Was ist los? Schlechte Nachrichten?« Giuliana riss sich zusammen. »Nicht wirklich«, entgegnete sie und ihr Lächeln kehrte zurück. »Bereit für einen Ausflug in die Stadt?« Viel zu sehen gab es nicht. Mardan war wirklich nur eine kleine Grenzstadt mit ein paar Straßen, Wohnhäusern, einem Warenlager, Mietstall und der üblichen Dorfschänke. Aglaia, die es zunächst sehr genossen hatte, sich wieder einmal in frischer Luft bewegen zu können, kam nach einer halben Stunde zu dem Schluss, das die einzige wirkliche Sehenswürdigkeit der Stadt sie, Aglaia, selbst war. Jeder, der ihnen begegnete, starrte sie mit so unverhohlener Neugier an, als habe er noch nie einen Fremden in Mardan gesehen. Aglaia wurde die allgemeine Aufmerksamkeit langsam unangenehm und sie wandte sich an Giuliana.
»Wieso tut hier eigentlich jeder so, als habe er noch nie ein fremdes Gesicht gesehen? Ich hätte nicht übel Lust, dem nächsten, der mich so dämlich anstarrt, eine gewaltige Abreibung zu verpassen.« »Bitte nicht«, sagte Giuliana beschwichtigend. »Sie sind hier wirklich keine Fremden gewöhnt, es ist sicher keine Unhöflichkeit. Und du musst zugeben, dass du schon eine recht außergewöhnliche Erscheinung bist.« »Ach, bin ich das?« entgegnete Aglaia skeptisch. In diesem Augenblick fiel ihr Blick auf einen jungen Mann, der an einer Mauer lehnte und sie durchdringend ansah. Aglaia fühlte Ärger in sich hochsteigen und ging an Giuliana vorbei auf den Beobachter zu. »Ihr müsst hier ja ein tolles Leben führen, wenn jedermann soviel Zeit hat herumzuhängen und fremde Besucher anzustarren. Kann ich vielleicht irgendetwas tun, um das Vergnügen zu vergrößern? Vielleicht singen oder tanzen?« Wer Aglaia kannte, hätte sich von dem scheinbar verbindlichen Ton in ihrer Stimme warnen lassen. Doch Rojan kannte die Kriegerin nicht. »Das braucht es nicht, danke«, sagte er. »Und für mich kannst du auch nichts tun. Im Gegensatz zu allen anderen hier, nicht wahr?« Die letzten Worte hatte er sehr laut gesprochen und offensichtlich nicht an Aglaia gerichtet. Die Kriegerin runzelte verärgert die Stirn und wollte auf den Dummschwätzer zu gehen, um ihn am Kragen zu packen. Doch Giuliana kam ihr zuvor. »Bitte, Aglaia, achte nicht auf ihn. Er trinkt immer zuviel und dann pöbelt er die Leute an. Er weiß nicht, was er redet.« Sie drängte Aglaia von Rojan fort, der ihnen leise lachend nachsah.
Aglaia wusste immer weniger, was sie von all dem zu halten hatte. Sie war sich sicher, dass Giuliana etwas vor ihr verbarg und dieses etwas schien die ganze Stadt mit einzuschließen. Doch noch ehe sie fragen konnte, kam ihr Giuliana zuvor. »Du bist doch eine Lehrmeisterin, Aglaia, nicht wahr?« Aglaia nickte. »Ja, aber …« »Bitte«, unterbrach sie die Heilerin, »kannst du mich unterrichten? Mir beibringen, wie man kämpft, wie man sich verteidigt?« »Was?!« entfuhr es Aglaia irritiert. Giuliana hatte ihre Bitte mit so eindringlicher Stimme vorgetragen, als hinge von der Erfüllung sehr viel für sie ab. »Ich möchte kämpfen lernen«, wiederholte Giuliana. »Das fällt dir jetzt ein?« fragte Aglaia. Für den Moment war sie von Rojan und den neugierigen Stadtbewohnern vollkommen abgelenkt. »Ich habe schon den ganzen Morgen überlegt, ob und wie ich dich fragen soll. Ich möchte es wirklich lernen.« »Das glaube ich dir ja«, lenkte Aglaia ein. »Es kam nur gerade etwas überraschend. Abgesehen davon – ich werde wohl kaum lange genug hier sein um dir genug beizubringen.« »Und wenn es nur ein einziger Tag ist – es soll mir genügen.« Aglaia sah sie einen Moment nachdenklich an. »Also schön«, sagte sie, »ich schulde dir etwas. Halten wir also eine Lehrstunde ab.« Sie suchten sich einen Platz, ein Stück weit von der Stadt entfernt, wo sie ungestört waren. Aglaia begann mit einigen leichteren Übungen, nachdem sie sich vergewissert hatte, wie viel Kraft und Kondition Giuliana besaß. Die junge Heilerin stellte sich sehr geschickt an und lernte schnell. Es war ein Vergnügen, sie zu unterrichten.
Sie vergaßen beide die Zeit und so dämmerte schon der Abend herauf, als sich Giuliana endlich erschöpft auf den Boden fallen ließ. Aglaia setzte sich neben sie. »Du bist wirklich ein Talent«, stellte sie ohne Übertreibung fest. »Es ist schade, dass ich nicht länger bleiben kann um dir noch mehr beizubringen, aber du weißt, ich habe noch eine Aufgabe zu erfüllen.« Bei ihren letzten Worten veränderte sich der Klang ihrer Stimme, sie wurde hart und verschlossen. Giuliana entging das nicht. »Was belastet dich, Aglaia? Ich merke doch, dass du etwas verbirgst, etwas, das sicher persönlich ist und eine Fremde nichts angeht, aber vielleicht bin ich dir doch inzwischen vertraut genug um es mir zu erzählen. Vielleicht kann ich dir helfen.« Aglaia seufzte und traf eine Entscheidung. »Helfen? Nein, helfen kannst du mir sicher nicht. Aber ich werde dir meine Geschichte dennoch erzählen. Vielleicht verstehst du dann, weshalb ich so eilig von hier wieder fort muss. Lass uns zurückgehen, ein Bad nehmen und etwas essen. Danach sollst du alles erfahren.« Aglaia hielt Wort. Sie erzählte Giuliana alles über Thyra und ihre Freundschaft und endete mit dem, was sie in Kharamayn erfahren hatte. Giuliana schwieg lange und auch Aglaia hing ihren eigenen Gedanken nach. Während sie erzählte, war ihr die schwierige, aber auch schöne Zeit mit Thyra wieder mit Macht bewusst geworden. Unmittelbar nachdem sie den Orakelberg verlassen hatte, hatte nur blinde Wut und der Wunsch, sich zu rächen, ihr Denken und Fühlen beherrscht. Doch jetzt, aus der Distanz der letzten Tage heraus, fühlte sie, dass es nicht so einfach war, Thyra einfach nur zu hassen. Aglaia fühlte sich zwiegespalten und auch wenn sie das Gegenteil
behauptet hatte, so erhoffte sie sich doch insgeheim einen Rat von der jungen Heilerin, der ihr half, das Chaos ihrer Gefühle ein wenig zu ordnen und das Richtige zu tun. Giuliana spürte die innere Zerrissenheit ihrer Gefährtin und nahm Aglaia wortlos in die Arme. Überrascht, aber doch angenehm berührt erwiderte die blonde Kriegerin die zärtlich-freundschaftliche Geste. »Überleg dir gut, was du tust, Aglaia«, sagte Giuliana. »Als Thyra dein Dorf überfiel, hatte ihre dunkle Seite noch Macht über sie. Aber sie hat die Vernichtung deiner Leute nicht befohlen, wenn sie auch als Anführerin die Verantwortung für ihre Männer trug. Nach allem, was du mir über euch beide erzählt hast, versucht Thyra ernsthaft, ihr Leben zu ändern, sie hat es sogar riskiert, um deines zu retten. Ihr zu verzeihen ist viel verlangt, das weiß ich, aber vielleicht wird es dir doch gelingen. Glaub mir, jeder Mensch verdient eine zweite Chance und ich weiß, wovon ich spreche.« Aglaia hatte Giulianas eindringlichem Appell mit einer Mischung aus Staunen und Anteilnahme gelauscht. Schließlich seufzte sie. »Ihr zu verzeihen, ist viel verlangt, ja da hast du recht. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann oder je können werde. Aber ich werde sie suchen und mit ihr reden, wenn ich sie wiedersehen sollte. Ich habe sie als Freundin geliebt und ein Teil von mir liebt sie auch jetzt noch. Vielleicht heilt die Zeit die Wunde und ich kann ihr irgendwann vergeben.« Giuliana schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Das wünsche ich euch beiden«, sagte sie. »Ich werde dir morgen früh ein Pferd besorgen, damit du die Stadt verlassen kannst. Je eher du deine Freundin findest, desto besser.« Nun war es Aglaia, die Giuliana umarmte. »Ich verspreche dir, dass ich zurückkehren werde um dich zu besuchen und den Unterricht fortzusetzen.«
Giuliana war froh, dass Aglaia in diesem Moment die Tränen in ihren Augen nicht sehen konnte. »Ja«, sagte sie. »Das glaube ich dir.« Nachdem Aglaia sich schlafen gelegt hatte, wartete Giuliana noch eine Stunde, bis sie sicher sein konnte, dass ganz Mardan in tiefem Schlaf lag. Ihr Plan war es, zum Mietstall hinüber zu schleichen und Aglaias Pferd zu holen, das ebenfalls seinen Weg in die Stadt gefunden hatte. Sie wollte es zu ihrem Haus bringen und es dort anbinden, damit Aglaia mit den ersten Sonnenstrahlen möglichst unbemerkt von den Stadtbewohnern aufbrechen konnte. Selbst wenn sie aufmerksam würden – sobald Aglaia erst einmal auf dem Pferd saß, würde niemand sie mehr aufhalten können. Doch als Giuliana mit dem Pferd am Zügel den Mietstall verließ, musste sie erkennen, dass ihr Plan gescheitert war. Ein Wald von Fackeln empfing sie, deren flackerndes Licht die grimmigen, zornigen Gesichter der Stadtbewohner noch bedrohlicher aussehen ließ. »So spät noch ausreiten, Giuliana?« hörte sie die Stimme des Bürgermeisters. »Oder hattest du etwa vor, uns zu verraten?« »Du wolltest ihr zur Flucht verhelfen!« erhob sich eine andere, wesentlich wütenderer Stimme. Daries, der Besitzer des Warenlagers, drängte sich nach vorne und hätte sich wohl auf die Heilerin gestürzt, wenn der Bürgermeister ihn nicht zurückgehalten hätte. »Lass mich los, Kalidus.« Daries wand sich in dem festen Griff. »Ich werde nicht zulassen, dass dieses sentimentale Weibsstück uns alle gefährdet.« »Davon kann überhaupt keine Rede sein«, ließ sich Rojan vernehmen, der inmitten der Menge das Geschehen verfolgte. Wie immer hatte er keinerlei Schwierigkeiten, sich Gehör zu verschaffen, obwohl er seine Stimme niemals erhob. »Das einzige, was euch gefährdet, ist euer jämmerlicher Charakter. Nur euch selbst habt
ihr es zu verdanken, dass es niemals Hilfe für diese Stadt geben wird. Denn ganz egal, wen ihr um Hilfe bittet, ihr werdet immer ihr selbst bleiben.« Nach diesen Worten erhob sich ein heftiger Tumult. Daries gelang es, sich von Kalidus loszureißen. Er ging auf Giuliana zu, die sich früher, als sie gedacht hatte der Notwendigkeit gegenüber sah, das anzuwenden, was sie Stunden zuvor gelernt hatte. Doch sie brauchte nicht zu kämpfen. Eine Hand packte den zornigen Bürger hart am Arm, riss ihn herum. Er sah zornglühende braune Augen und eine blonde Mähne, bevor ihn ein Faustschlag traf, der ihn auf der Stelle zu Boden schickte. Aglaia drehte sich um, zog gleichzeitig ihr Schwert und richtete es drohend auf die Stadtbewohner. »Der nächste der versucht, Giuliana anzurühren, wird keine Zeit mehr haben, es zu bereuen! Möchte jemand sein Glück versuchen?« Doch dazu schien niemand mehr Lust zu haben. Aglaia wandte sich an ihre Gefährtin. »Alles in Ordnung mit dir?« Die Heilerin nickte. »Gut«, sagte Aglaia und wandte sich an den Mob, »dann habe ich jetzt wohl eine Erklärung verdient!« Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. »Was ist!?« herrschte die blonde Kriegerin sie ungeduldig an, »ich hasse es, zu warten!« »Von denen wirst du kaum eine Antwort erhalten«, ließ sich da eine verächtliche Stimme vernehmen. »Die haben Angst vor ihrem eigenen Schatten.« Aglaia erkannte die Stimme sofort. Sie warf Rojan einen abschätzenden Blick zu.
»Eine Schwäche, die du nicht zu teilen scheinst«, stellte sie fest und ging auf ihn zu. Als Rojan das Lächeln auf ihrem Gesicht sah, wurde er an eine Viper erinnert, die kurz davor stand, ihre Zähne in ein hilfloses Opfer zu schlagen. Er verlor ein wenig, von seiner kühlen, überlegenen Haltung und wich vor der Kriegerin zurück. Aglaia tat, als bemerke sie es nicht. Während sie die Spitze ihres Schwertes spielerisch vor seinem Gesicht tanzen ließ, fuhr sie im Plauderton fort:« Du scheinst überhaupt nicht sehr viel mit deinen Leuten zu teilen.« »Das sind nicht meine Leute«, widersprach er, doch hatte seine Stimme ihren spöttischen Klang verloren. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie egal mir das ist«, fuhr Aglaia mit honigsüßer Stimme fort. »Wisst ihr, Leute«, wandte sie sich wieder an die Menge, »ich habe ein paar verdammt schlechte Tage hinter mir und meine Geduld ist am Ende. Ich werde jetzt langsam bis zehn zählen und wenn dann hier nicht irgendjemand den Mund aufmacht und mir in kurzen, knappen Sätzen genau das sagt, was ich hören will, werdet ihr euch wünschen, ihr hättet mich in der Wüste verrotten lassen!« Den letzten Teil des Satzes stieß sie so zornig hervor, dass niemand an der Ernsthaftigkeit ihrer Worte zweifelte. »Es geht um eine Hoffnung!« Aglaia wandte sich um und sah Giuliana hinter sich stehen. Es lag ein entschlossener Zug um den Mund der Heilerin, als sie sich an die zornige Kriegerin wandte. »Ich hätte es dir schon viel früher sagen sollen, aber ich wollte dein Leben retten und dafür sorgen, dass du die Stadt verlässt.« Aglaia fühlte ihren Zorn schwinden und ließ ihr Schwert sinken. »Was hättest du mir früher sagen sollen?«
»Dass wir deine Hilfe brauchen. Dass ohne dich und deine Stärke, diese Stadt verloren ist.« »Vor einigen Jahren«, begann Giuliana ihre Erzählung, »war diese Stadt viel größer und wesentlich wohlhabender. Ihre Bewohner verdienten viel Gold damit, dass sie Banden von Wüstenräubern hier gelegentlich Unterschlupf gewährten. Die Krieger hatten hier einen Ort, an dem sie sich verstecken und ihre Beute verprassen konnten. Lange Zeit ging das gut, doch dann erfuhren immer mehr von dem sicheren Versteck und nach und nach gehörte Mardan nicht mehr seinen Bürgern, sondern einem Haufen Dieben, Mördern und Betrügern. Sie nahmen auf nichts und niemanden mehr Rücksicht, was sie haben wollten, nahmen sie sich und wehe dem, der sich ihnen in den Weg zu stellen versuchte. In dieser Zeit erschien Kryon auf der Bildfläche, ein Kriegsherr, der den Stadtbewohnern Hilfe gegen das Gesindel anbot. Doch statt die Banditen aus der Stadt zu vertreiben, zwang er sie alle unter seine Fuchtel, so dass zu guter Letzt nicht mehr ein Haufen unorganisierter Verbrecher Mardan beherrschte, sondern Kryon, der sie zu einem einzigen Heer vereint hatte. Kryon erklärte Mardan zu seinem Stützpunkt und unternahm von hier aus erfolgreiche und blutrünstige Raubzüge gegen die großen Wüstenkaravanen. Seitdem kehrt er immer wieder hierher zurück, wenn er meint, dass er und sein Heer eine Zeit der Erholung brauchen. Sie fallen über uns her wie ein Schwarm Heuschrecken, plündern uns aus und amüsieren sich auf ihre Art. Wir sind machtlos dagegen, keiner von uns kann gut genug kämpfen und selbst wenn, gegen ein ganzes Heer sind wir machtlos. Doch wenn uns ein mächtiger Krieger anführen würde, uns seine Kraft und seinen Mut zur Verfügung stellte, dann hätten wir vielleicht eine Chance, Kryon für immer zu vertreiben.« Aglaia seufzte.
»Und bei diesem heldenhaften Retter habt ihr wohl an mich gedacht«, stellte sie mehr fest, als dass sie fragte. Giuliana schwieg. Aglaia legte ihr die Hand unters Kinn und hob sanft ihren Kopf. »Du wolltest nicht, dass ich es erfahre, nicht wahr? Dir wäre es lieber gewesen, ich hätte die Stadt morgen früh für immer verlassen. Warum?« Giuliana schluckte. »Weil mir der Preis zu hoch war. Weil ich nicht will …«, dass es wieder geschieht, hätte sie fast gesagt, doch sie unterbrach sich gerade noch rechtzeitig. Aglaia durfte nicht erfahren, dass sie ihr einen Teil der Geschichte verschwiegen hatte. » … dass du dich für uns opferst«, beendete sie den Satz. Aglaia lächelte. »Es ist eigentlich nicht meine Art, mich für jemanden zu opfern.« Sie hielt inne, überlegte kurz und fügte dann hinzu: »Zumindest nicht ohne einen guten Grund.« »Und selbst wenn, unsere Situation ist aussichtslos«, sagte Giuliana resigniert. »Nicht ganz so aussichtslos wie es dir scheint«, widersprach ihr Aglaia. Giuliana sah sie hoffnungsvoll an. »Dann siehst du tatsächlich eine Chance?« »Es gibt immer eine und diese hier ist größer, als es scheint.« »Und was willst du tun?« »Nicht ich«, korrigierte Aglaia, »wir! Du, ich und alle Bewohner dieser Stadt.« »Was meinst du damit?« fragte Giuliana, obwohl sie es sich denken konnte. Aglaia sah sie mit nachsichtigem Blick an.
»Das ist doch ganz klar«, sagte sie. »Dies hier ist kein Job für einen einzigen Krieger. Wenn ihr Kryon und sein Heer loswerden wollt, dann müsst ihr alle dafür kämpfen. Ich kann euch lediglich anführen, einen Plan entwerfen und, wenn nötig, gegen den Kriegsherrn selbst antreten, aber ohne eure Hilfe ist das vergebliche Mühe.« Über Giulianas Gesicht glitt ein Schatten. Aglaia sah es, deutete es aber falsch. »Es gibt keinen anderen Weg, Giuliana. Geh, sag das deinen Leuten. Entweder sie kämpfen alle oder ich reite noch in der gleichen Stunde aus der Stadt und ihr müsst selbst sehen, wir ihr mit Kryon fertig werdet.« Wie Giuliana erwartet hatte, erklärten sich der Bürgermeister und die anderen Bewohner von Mardan nach einigem Hin und Her bereit, Aglaias Bedingung für ihre Hilfe anzunehmen. Giuliana beruhigte das keineswegs, denn sie wusste besser als jeder andere, was von der Loyalität der Mardaner zu halten war. Sie war nicht die einzige. Auch Rojan beobachtete die Begeisterung, mit der die Bürger angefangen hatten unter Aglaias Führung an allen Wegen, die in die Stadt hineinführten, Barrikaden zu bauen, mit Misstrauen. »Die Barrikaden sind viel zu tief«, kritisierte Kalidus gerade, »da springen sie mit ihren Pferden doch mit Leichtigkeit drüber.« »Genau das sollen sie ja auch«, entgegnete Aglaia ungerührt, »und wenn sie erst einmal drin sind … wuuusch … gehen die Barrikaden in Flammen auf und sie sitzen in der Falle.« »Sitzen in der Falle«, echote Kalidus in leicht verächtlichem Ton, »wenn hier jemand in der Falle sitzen wird, dann wir!« Aglaia schloss für einen Moment die Augen. Es fiel ihr zunehmend schwerer das Gejammer von Kalidus und den Pessimismus der übrigen Stadtbewohner zu ertragen.
In den vergangenen drei Tagen hatte sie Schwerstarbeit geleistet. Sie hatte den Bau der Barrikaden überwacht und selbst kräftig mit angefasst. Sie hatte versucht, den Bürgern der Stadt wenigstens die notdürftigsten Grundlagen für den Umgang mit Waffen beizubringen. Und sie hatte stets versucht, die Moral der Truppe aufrecht zu erhalten. Doch gerade letzteres erwies sich als die schwerste Aufgabe von allen und Aglaia hatte von Stunde zu Stunde weniger Lust, sie zu erfüllen. »Lass alles Lampenöl bringen, das in der Stadt zu finden ist, tränkt Tücher damit und stopft sie zwischen die Barrikaden. Und beeilt euch, wir wissen nicht, wann sich Kryon wieder blicken lässt.« Noch ehe Kalidus etwas erwidern konnte, wandte Aglaia sich ab und ging rasch davon. »Noch ein Wort von diesem Wicht und ich vergesse mich«, sagte sie leise zu sich selbst, »hoffentlich taucht dieser Kryon bald auf. Ich glaube nicht, dass ich diese Bande von selbstmitleidigen Schwachköpfen noch lange ertragen kann.« Aglaia gestand sich ein, dass der einzige Grund, der sie überhaupt noch in Mardan hielt, die Sorge um Giuliana war. Sie hatte die Heilerin wirklich gern und der Gedanke, sie ohne Schutz in der Stadt zurückzulassen, gefiel ihr ganz und gar nicht. Und da Giuliana sie auch nicht begleiten wollte, musste sie wohl oder übel das Problem vor Ort lösen. Eine laute, aufgeregte Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Sie kommen!!! Sie kommen!!!« Die Abenddämmerung zog schon herauf, als Aglaia ruhig, mit verschränkten Armen hinter der Barrikade stand, die Kryon den Weg in die Stadt versperrte. Der Anführer des großen Heeres, eine beeindruckende Gestalt mit langen dunkelbraunen Haaren und einem wilden Vollbart zü-
gelte überrascht sein Pferd, als er das unerwartete Hindernis vor sich auftauchen sah. »Was soll der Unfug?« fuhr er die Bürger von Mardan an, die sich schweigend hinter Aglaia versammelt hatten. »Räumt sofort dieses Gerümpel da weg. Meine Männer sind müde und hungrig. Ich habe keine Zeit für solche Spielchen.« »Oh, die Zeit wirst du dir wohl nehmen müssen«, durchbrach Aglaia die darauffolgende Stille mit honigsüßer Stimme. »Oder besser noch: Nutze die Zeit, um hier zu verschwinden, denn du wirst für dich und deine Männer in dieser Stadt nie wieder Zuflucht finden.« Kryons Aufmerksamkeit wandte sich augenblicklich ihr zu. »Sieh da, ein neues Gesicht. Und ein mehr als freches Mundwerk. Wer bist du, dass du es wagst, so mit mir zu reden?« blaffte er die Kriegerin an. »Ich bin dein schlimmster Alptraum.« entgegnete Aglaia ungerührt. »Ich bin die, die dich töten wird, wenn du meinem Rat nicht folgst.« »Mich zu töten haben schon viele versucht«, sagte Kryon kalt. »Aber mir wird es gelingen«, war die ebenso kalte Antwort. Für einen Moment trafen sich die Blicke der beiden, fochten einen stummen Kampf aus, den Aglaia gewann. Kryon wandte sich ab. Sein Blick fiel auf die Bürger von Mardan und sein höhnisches Lächeln kehrte zurück. »Dir und welcher Armee?« fragte er. »Etwa der da?!« »Für dich brauche ich keine Armee«, sagte Aglaia. »Vielleicht nicht«, räumte Kryon ein, »aber für meine Leute bestimmt. Und glaubst du allen Ernstes, diese Jammergestalten dort können es mit meinen Kriegern aufnehmen?« Diese Frage hatte etwas für sich und Aglaia zog es vor, sie nicht zu beantworten.
»Verschwinde hier, Kryon!« rief sie stattdessen. »Für dich gibt es hier nichts mehr zu holen.« Kryon lächelte. Es war das Lächeln einer Kobra. »Na schön, ich werde verschwinden«, sagte er mit leiser, bedrohlicher Stimme. »Aber nur für kurze Zeit. Ich komme zurück, nicht heute und vielleicht auch nicht morgen, aber ich komme zurück und wenn mir dann noch immer der Einlass verwehrt wird, dann mache ich diese Stadt dem Erdboden gleich und werde jeden einzelnen ihrer Bewohner rund um die rauchenden Trümmer ans Kreuz schlagen und langsam verrotten lassen. Ihr habt die Wahl!!« Mit diesen Worten wendete er sein Pferd und führte sein Heer zurück in die Berge. Aglaia blieb in großer Unruhe zurück. Sie hatte seinen Plan sofort durchschaut. Wie sie selbst kannte auch er den größten Schwachpunkt ihrer Verteidigung nur zu gut. Und tatsächlich zeigte sein Vorhaben schon bald erste Wirkung. Aglaia sah die Stadtbewohner überall miteinander tuscheln. Sie verstummten sofort, wenn sie die Gegenwart der blonden Kriegerin bemerkten, doch ihre ängstlichen, angespannten Gesichter sprachen Bände. Je länger Kryon wartete, desto sicherer konnte er sein, dass seine Worte die gewünschte Wirkung zeigten und Aglaia war sicher, dass er über massenhaft Geduld verfügte. »Es ist genau wie damals«, hörte Aglaia da eine überaus vertraute Stimme hinter sich. »Rojan«, sagte sie und wandte sich langsam um. »Eine mutige Frau sprach mutige Worte«, fuhr Rojan fort, »und weißt du, was dann passierte?« »Nein«, sagte Aglaia mit dem letzten Rest ihrer Geduld, »sag es mir.« Rojan lachte höhnisch.
»Du wirst es schon erfahren.« Damit wollte er sich abwenden, doch Aglaia reichte es. Mit zwei Schritten hatte sie ihn erreicht, packte ihn und ließ zwei Finger auf zwei empfindliche Punkte an seiner Kehle niedersausen. Sie hatte diesen Trick von Thyra gelernt und gelegentlich leistete er ihr gute Dienste. So auch jetzt. Rojan brach röchelnd auf die Knie, sah Aglaia aus hervorquellenden Augen an. »Deine Blutzufuhr zum Gehirn ist unterbrochen«, sagte die blonde Kriegerin ruhig, »und das bleibt sie auch für die letzten dreißig Sekunden deines Lebens, wenn du mir nicht auf der Stelle erzählst, was du weißt.« »Das … werde … ich … bitte … lass … mich … nicht …« stammelte Rojan, während ihm das Blut in dünnen Fäden aus der Nase zu laufen begann. Aglaia zögerte noch eine Sekunde, dann ließ sie ihre Finger ein zweites Mal auf ihn herabsausen und hob die Wirkung auf. Rojan fasste sich an die Kehle und brach vollends zusammen. Aglaia packte ihn und riss ihn hoch. »Und jetzt rede, Mann und wage nicht mich zu belügen oder auch nur das kleinste bisschen auszulassen.« Rojan nickte. »Schau sie dir an, deine mutige Armee«, sagte er und ein wenig von dem höhnischen Unterton kehrte in seine Stimme zurück. »Schon jetzt stehen sie herum und tuscheln und machen sich gegenseitig verrückt. Kryon hat sie genau da gepackt, wo es ihnen am meisten weh tut. Du weißt das genauso gut wie ich.« Aglaia schwieg, denn Rojan hatte recht. »Er lässt sie schmoren, überlässt sie ihrer Phantasie und ihrer Feigheit und wenn er dann wiederkommt, werden sie selbst die
Barrikaden niederreißen und vor ihm katzbuckeln. Und sie werden untätig zusehen, wie Kryon dich von seinen Männern töten lässt!« »Und da bist du dir so sicher?« fragte Aglaia. »Ja!« stieß Rojan hervor und nun war seine Stimme voller Hass. »Weil es bei ihr genauso war.« »Bei wem?!« »Bei meiner Schwester!« Aglaia war so überrascht, dass sie ihn losließ. »Deiner Schwester?« Rojan sah sie voller Verachtung an. »Das haben sie dir nicht erzählt, nicht wahr? Daries nicht, Kalidus nicht und auch nicht deine kleine Freundin Giuliana. Obwohl sie noch die beste von all denen hier ist. Najira ist es ähnlich ergangen, wie dir. Doch sie hat Giuliana geliebt und ist ihretwegen geblieben, obwohl sie den Stadtbewohner ebenso wenig traute, wie ich es tat. Und sie bezahlte ihre Liebe und ihr Vertrauen mit ihrem Leben.« Rojan wandte sich ab und lief davon. Aglaia verfolgte ihn nicht. Sie wusste, was sie wissen musste und nun verstand sie alles. Zumindest glaubte sie das. In einem hatte sich Rojan allerdings getäuscht. Auch sie war allein wegen Giuliana in der Stadt geblieben, wenn auch aus Freundschaft. Einen fürchterlichen Moment lang glaubte sie, die junge Heilerin habe ihre Gefühle bewusst manipuliert, um sie zum Bleiben zu bewegen. Schließlich machte sie sich auf die Suche nach Giuliana, um sich Gewissheit zu verschaffen. Sie fand die Heilerin in ihrem Haus, in Tränen aufgelöst.
Als sie Aglaia bemerkte, wischte sie sich rasch mit dem Handrücken über das Gesicht, in dem vergeblichen Versuch es zu verbergen. Doch Aglaia achtete nicht darauf. »Ich habe mit Rojan gesprochen«, sagte sie ruhig. Als Giuliana schwieg, fuhr sie fort: »Er hat mir die ganze Geschichte erzählt.« »Ja«, sagte Giuliana. »Ist das alles?« Aglaia runzelte die Stirn. »Einfach »Ja«? Kein »Tut mir leid, dass du es nicht von mir gehört hast«?« Giuliana seufzte tief. »Bitte, Aglaia, sei nicht böse auf mich. Ich wollte es dir ja erzählen, aber ich konnte nicht. Die Erinnerung an Najira ist noch immer so frisch. Und es vergeht kein Tag, an dem ich mir keine Vorwürfe mache. Ich hätte ihr helfen müssen, wenigstens ich hätte sie nicht im Stich lassen dürfen. Aber ich hatte Angst, ebenso wie die anderen, und zur Strafe habe ich sie für immer verloren.« Giulianas Stimme klang so traurig, so verzweifelt, dass Aglaias Zorn schwand. Sie ging auf die Heilerin zu und nahm sie sanft in die Arme. Giuliana legte den Kopf an Aglaias Schultern und weinte sich den ganzen Schmerz von der Seele. Als sie sich schließlich wieder beruhigt hatte, löste sich Giuliana aus Aglaias Umarmung. »Ich wollte dich nicht in Gefahr bringen«, sagte sie und sah die Kriegerin aufrichtig an. »In jener Nacht wollte ich dir dein Pferd holen und dafür sorgen, dass du unbehelligt aus der Stadt verschwinden konntest. Aber sie haben mich nicht aus den Augen gelassen. Sie haben mir aufgelauert …« »Ich weiß«, unterbrach Aglaia sie. »Und ich mache dir keinen Vorwurf. Es ist meine Aufgabe Menschen zu helfen, schon deswegen bin ich geblieben. Und weil wir Freunde sind, zumindest empfinde ich das so.«
»Ich auch«, sagte Giuliana und das Lächeln kehrte auf ihr Gesicht zurück. Da sie in dieser Nacht nicht mehr mit Kryons Rückkehr rechnete, beschloss Aglaia, sich ein wenig Schlaf zu gönnen. Es konnte nicht schaden, den Dingen, die da kommen würden, frisch und ausgeruht gegenüber zu treten. Am Nachmittag des nächsten Tages hatte sich noch immer kein einziger von Kryons Männern auch nur in der Nähe der Stadt blicken lassen. Dafür ging die Saat ihres Anführers schneller auf, als Aglaia gedacht hatte. Während sie versuchte, die Moral der Bürger so gut es ging aufrecht zu erhalten, hörte die blonde Kriegerin plötzlich ein lautes Poltern. Es kam von der Barrikade, an der sie am Abend zuvor Kryon und seine Leute abgefertigt hatte. Aglaia eilte sofort dorthin, gerade rechtzeitig um zu sehen, wie jemand versuchte, das mühsam aufgebaute Hindernis Stück für Stück einzureißen. »He!!« rief sie aufgebracht, packte den Mann und riss ihn zurück. »Das wollen wir doch gar nicht erst anfangen!« Der Mann wand sich in ihrem festen Griff, doch Aglaia hielt ihn wie in einem Schraubstock. »Merkt ihr denn gar nicht, wie sinnlos es ist?!« brüllte er den anderen Bürgern zu, die sich um die beiden herum zu versammeln begannen. »Wir werden wieder verlieren!! Wir haben gar keine Chance!!« Aglaias Faust traf ihn ins Gesicht, setzte ihn außer Gefecht. Doch er hatte sein Ziel schon erreicht. Kalidus warf sein Schwert weg. »Er hat recht!« rief er, stellte sich vor die Menge und hob beschwörend die Hände.
»Wir können nicht gewinnen.« ›Klar, dass du darauf abfährst‹, dachte Aglaia grimmig. Doch die anderen nickten und einer nach dem anderen folgte Kalidus Beispiel und warf die Waffe, die er hielt, in den Staub. Die ersten begannen schon, die Barrikade einzureißen. Aglaias Grimm wurde zu rasendem Zorn. »Einen Augenblick!!« brüllte sie so laut und gebieterisch, dass die Männer zurückwichen. Aglaia ging auf die Barrikade zu, nahm das nächstbeste Teil auf und hob es hoch in die Luft. Es war ein großes, hölzernes Fass. »Ich habe diese Barrikade gebaut und ich reiße sie auch ein. Hier …«, sie schmetterte das Fass einige Meter weit auf den Boden, wo es krachend zerschellte, »… das ist eure Ehre, Männer. Die bedeutet euch nicht das mindeste. Und hier …«, sie griff nach einer Kiste, »das ist euer Mut. Den habt ihr schon lange verloren, wenn ihr ihn jemals gehabt habt.« Die Kiste folgte dem Fass. »Und dieses hier …«, fuhr Aglaia unbeirrt fort und packte einen mit Sand gefüllten Sack als bestünde sein Inhalt aus Federn, »… das ist die Sorge um die, die ihr liebt und die ihr beschützen solltet, aber was bedeuten die euch schon!« Der Sack flog Kalidus genau vor die Füße. Der Bürgermeister senkte den Blick, konnte Aglaias zornigen Augen nicht standhalten. »Und zuletzt …«, rief Aglaia und hob den kaputten Wagen an, der den größten Teil der Barrikade bildete, »eure Selbstachtung!!« Mit diesen Worten hob sie den Wagen mit aller Kraft an und stürzte ihn um. »Da liegt sie, Leute, seht sie euch nur an. Genauso wertlos und zerbrochen wie ihr.« Kalidus raffte sich noch einmal auf. »Du hast kein Recht über uns zu richten!« »Oh, doch, das habe ich!« schleuderte ihm Aglaia entgegen. »denn ich riskiere hier mein Leben für euch. Auf eure Bitte hin
bin ich geblieben, obwohl ich, so die Götter wissen, besseres zu tun habe, als einer Horde Feiglinge eine Freiheit zu erkämpfen, die sie an den nächstbesten Kriegsherrn, der nach Kryon über Mardan herfällt, gleich wieder verlieren werden. Ihr wollt also nicht mehr kämpfen – auch gut! Die Barrikade ist niedergerissen, aber auf dem gleichen Weg, den Kryon hereinreiten kann, kann ich auch hinausgelangen. Und genau das werde ich jetzt tun, ich werde mein Schwert nehmen und hinausgehen und dieses grinsende, bärtige Schwein in seinem Versteck überraschen. Dann werden wir ja sehen, wie unbesiegbar er ist!« Aglaia sah die Stadtbewohner noch einmal verächtlich an, dann zog sie ihr Schwert und ging entschlossen durch die nun offene Barrikade hinaus. »Aber …«, kam es zögernd von Kalidus. »Ja?« fragte Aglaia und wandte sich noch einmal um. »Du … ganz allein …«, stotterte er. »Du hast doch überhaupt keine Chance.« »Dann helft mir«, beschwor ihn Aglaia. »Kämpft mit mir. Kämpft für eure Freiheit!« Sie drehte sich zu den übrigen Bürgern um. »Wer von euch geht mit mir!?« Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen, dann erhob sich eine helle, aber festentschlossene Stimme. »Ich gehe mit dir!« Aglaia sah Giuliana auf sich zukommen, ein kurzes, leichtes Schwert in der Hand. »Ich hätte Najira helfen sollen und habe es nicht getan! Ein zweites Mal mache ich diesen Fehler nicht!« rief die Heilerin. Aglaia lächelte sie an. »Sie beschämt euch alle«, sagte sie zu den noch immer schweigenden Männern. Dann wandte sie sich an Giuliana.
»Gehen wir!« Doch da kam Leben in die Stadtbewohner. »Wartet!« »Wir kommen mit!« »Einmal muss es ja enden!« Die Männer hoben ihre Waffen auf, sahen Aglaia mit verzweifelter Entschlossenheit an. »Bringen wir es hinter uns«, sagte Kalidus. »Gut, dann folgt mir«, sagte Aglaia, »wir schleichen uns an sie heran und überraschen sie. Das dürfte nicht schwer sein, denn es ist das letzte, was sie von euch erwarten.« Der Überraschungsangriff gelang, doch als sich Kryons Männer erst einmal davon erholt hatten, setzten sie den Mardanern hart zu. Aglaia hielt nach Kryon Ausschau und entdeckte ihn schließlich jenseits des Geschehens auf einem etwas erhöht liegenden Felsen. Er beobachtete den Kampf, schien unschlüssig, ob er eingreifen oder die Dreckarbeit seinen Männern überlassen sollte. »So kommst du mir nicht davon«, knurrte Aglaia, stieß sich vom Boden ab und landete mit einem gekonnten Salto hinter Kryon auf dem Felsen. »Überraschung!« rief sie und noch ehe der hochgewachsene Krieger nach seinem Schwert greifen konnte, trafen ihn mehrere Tritte und Schläge in schneller Folge hintereinander an Kopf und Brust, so dass er taumelte und fast gestürzt wäre. »Lässt du immer deine Männer für dich kämpfen?« fragte Aglaia höhnisch und zog ihr Schwert. Kryon hob den Kopf und sah die blonde Kriegerin an. Und dann tat er etwas, das Aglaia niemals erwartet hätte. Er legte seinen Kopf zurück und begann zu lachen. Im gleichen Moment erstarben die Kampfgeräusche rings um sie herum.
Nur Kryons Lachen war noch zu hören und auch das wurde leiser, während Kryon selbst zu verschwinden begann, seine Konturen lösten sich auf, bis nichts mehr von ihm blieb, als ein letztes Echo seines wilden Gelächters. Fassungslos starrte Aglaia auf die Stelle, an der der wilde Kriegsherr eben noch gestanden hatte. Dann fiel ihr die plötzliche Stille auf. Sie sah sich um. Niemand war mehr zu sehen, die Kämpfenden waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Keinerlei Kampfspuren zeugten von dem Gemetzel, das hier gerade noch stattgefunden hatte, keine Toten, keine zertrampelte Erde – nichts. Die Landschaft sah aus, als hätte sie noch nie eines Menschen Fuß betreten. Aglaia traute ihren Augen nicht. Was ging hier vor? Sie wusste genau, dass sie eben noch mit den Mardanern, die in letzter Sekunde ihren Mut wiedergefunden hatten, den Weg zu Kryons Lager heraufgestürmt war. Sie war umgeben gewesen von Menschen aus Fleisch und Blut, die gemeinsam mit ihr gekämpft hatten. Die Schreie, das Geklirr von Waffen, das Stöhnen der Verwundeten, alles war so real gewesen. ›Mardan‹, schoss es Aglaia durch den Kopf und sie fragte sich, ob die Stadt wohl auch verschwunden war. Sie dachte an Giuliana und lief so schnell sie konnte den Weg hinunter auf die Grenzstadt zu. Mardan war noch da und Aglaia wollte schon aufatmen, doch gleich darauf merkte sie, dass ihre Erleichterung verfrüht gewesen war. Die Stadt sah aus, als sei sie schon seit vielen Jahrzehnten verlassen, die Gebäude waren verfallen, Wüste und Steppe hatten sich die Straßen und Plätze zum größten Teil zurückerobert, heißer Wind fegte Steppengrasbüschel willkürlich in alle Richtungen. In
der Ferne klapperte und knarrte eine Tür in Angeln, die seit langem nicht mehr geölt worden waren. Für einen Moment glaubte Aglaia, den Verstand verloren zu haben. »Ich bin doch hier gewesen«, sagte sie laut und der Klang ihrer Stimme gab der unwirklichen Szenerie ein wenig Realität zurück, »ich war doch hier und es war eine Stadt voller Leben!« Sie lief durch die verlassenen Straßen und rief nur einen Namen. »Giuliana!!« Niemand antwortete. Nur das leise Heulen und Pfeifen des Windes war zu hören. Und Hufgetrappel! Aglaia bog um die nächste Ecke und da stand Giuliana. Sie hielt Aglaias Pferd am Zügel und sah sehr glücklich aus. Eine Welle der Erleichterung durchflutete die blonde Kriegerin. Sie hatte also nicht alles nur geträumt. Zumindest die Heilerin gab es tatsächlich. Sie wollte auf Giuliana zustürzen und sie in die Arme schließen, doch die junge Frau hob warnend die Hand. »Nein, bitte nicht«, sagte sie lächelnd. »Ich bin nur zurückgekommen, um dir zu danken und um dir zu erklären, was hier geschehen ist und was du für uns und vor allem für mich getan hast. Du musst wissen, dass Rojan, als seine Schwester durch unsere Feigheit getötet wurde, uns verflucht hat. Er verdammte die Bewohner der Stadt, so lange nicht leben und nicht sterben zu können, bis jemand kommt, der mutig und stark genug ist, uns unsere Feigheit überwinden zu lassen und uns erneut in den Kampf zu führen. Das hast du geschafft und dafür schulden wir alle dir Dank.« Aglaia brauchte einen Moment, um Giulianas Worte vollständig zu begreifen. »Giuliana«, fragte sie schließlich, »wie lange ist das her?«
Die Heilerin bedachte ihre Freundin mit einem wehmütigen Lächeln. »Dreihundert Jahre!« Während Aglaia sie noch sprachlos anstarrte, bemerkte sie, dass auch Giulianas Konturen langsam zu verschwimmen begannen. »Nein, warte!« rief Aglaia, »Geh noch nicht!« Giuliana lächelte sie an. Es war ein strahlendes, glückliches und erwartungsvolles Lächeln. »Ich muss gehen, Aglaia. Die Zeit der Trauer und Sehnsucht ist vorbei. Und es gibt eine, die auf mich wartet.« Aglaia erwiderte das Lächeln. »Ja, ich weiß«, sagte sie voller Wärme. »Grüß sie von mir.« Giuliana nickte. »Das werde ich. Und noch eins Aglaia. Du warst voller Zorn wegen dem, was deine Freundin Thyra dir antat, als sie noch nicht das war, was sie heute ist. Auch jetzt weißt du noch nicht, ob du ihr verzeihen kannst. Aber bedenke, wie kurz das Leben ist und wie schnell wir die verlieren können, die wir lieben. Im Zweifel besinne dich auf deine Liebe und lass nicht zu, dass der Hass dich und andere zerstört. Ich weiß, was es heißt, zu verlieren und zu bereuen. Gib acht, dass es dir nicht ebenso ergeht.« Aglaia schwieg, doch Giulianas Worte fanden ein Echo in ihrer Seele. »Lebwohl Aglaia, edle Kriegerin, Lehrmeisterin und meine Freundin. Kehre nach Kharamayn zurück. Dort wirst du jemanden finden, der dich braucht.« Mit diesen Worten löste sich Giulianas Körper endgültig auf und verschwand. »Lebwohl, Giuliana«, sagte Aglaia. »Ich werde dich nie vergessen. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder. Und du hast recht. Ich werde nach Kharamayn zurückgehen und sehen, was mich dort erwartet.«
6) »Wir müssten Kharamayn eigentlich in den frühen Abendstunden erreichen«, stellte Serena fest. Thyra nickte nur. Sie hatte überhaupt wenig gesprochen während der letzten drei Tage. Serena hatte das zunächst nicht weiter gestört, doch als Thyra immer einsilbiger wurde, begann sie doch, sich Sorgen zu machen. »Freust du dich nicht, endlich am Ziel zu sein?« fragte sie ihre Freundin. »Am Ziel?!« entgegnete Thyra ironisch. »Am Ziel bin ich noch lange nicht. Kharamayn ist höchstens ein erster Schritt, wenn ich Glück habe.« »Du warst auch schon mal optimistischer«, sagte Serena. »Da wusste ich auch noch nicht, dass ich von einer hasserfüllten Doppelgängerin verfolgt werde, die nicht mal davor zurückschreckt, meine Freunde zu bedrohen«, gab Thyra zurück Serena seufzte. »Und darüber grübelst du jetzt drei Tage lang nach? Heh … ich habe es überlebt. Und ich bin durchaus in der Lage, mich zu verteidigen, wenn es darauf ankommt.« »Serena!« Thyra zügelte ihr Pferd und sah die Freundin mit eindringlichem Blick an. »Dieses Wesen, diese Frau oder was immer dir da begegnet ist, scheint über Kräfte zu verfügen, die weit über dem liegen, was du bisher zu bekämpfen gewohnt warst. Du hattest viel Glück, ihr zu entkommen.« Serena fühlte, wie Ärger in ihr hochstieg.
»Woher willst ausgerechnet du wissen, was zu bekämpfen ich gewohnt bin? Abgesehen davon, wieso bist du so sehr davon überzeugt, dass du eine bessere Figur gemacht hättest? Du bist eine verdammt gute Kämpferin, aber hier haben wir es doch offensichtlich mit Magie zu tun. Hätte ich dein Schwert nicht dabeigehabt, wäre die Sache anders ausgegangen und du weißt noch nicht mal, wie es funktioniert!« Die letzten Worte taten Serena schon leid, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte. »Tut mir leid«, sagte sie rasch. »Das war unfair.« Doch Thyra war nicht gekränkt. »Schon gut«, lenkte sie ein. »Du hast ja recht, ich hätte nicht so von oben herab mit dir reden sollen. Aber ich mache mir eben nicht nur meinetwegen Sorgen.« Serena lächelte. »Das weiß ich zu schätzen«, sagte sie, »aber ich bin schon ein großes Mädchen und völlig weltfremd bin ich auch nicht.« »Ich weiß«, sagte Thyra und ihre Augen ruhten voller Wärme auf ihrer jungen Gefährtin, »und ich bin froh, das du hier bist.« Sie setzten ihren Weg fort. Gegen Abend hatten sie Kharamayn tatsächlich erreicht. Da es bereits zu dunkel war, um den Aufstieg zu wagen, suchten sie einen Lagerplatz, um die Nacht dort zu verbringen. Während Thyra Holz für ein Feuer zusammensuchte, schlug Serena das Lager auf. Später, als das Feuer warm und einladend vor sich hin prasselte, übernahm Serena einmal mehr das Kochen. Thyra war ganz begeistert von den Kochkünsten der jungen Frau, die es verstand, auch noch aus den einfachsten Zutaten eine schmackhafte Mahlzeit zuzubereiten. Nach dem Essen legten sie sich zeitig schlafen. Das heißt: Sie versuchten es. »Thyra?« fragte Serena
»Was ist?« »Wäre es nicht doch besser, wenn ich dich begleite? Ich meine, wenn ich nicht nur draußen vor dem Orakel warte, sondern …« »Serena, das hatten wir doch alles schon«, war die leicht genervte Antwort. »Ja, aber …« wollte die Freundin einwenden. »Kein ›aber‹!« schnitt ihr Thyra das Wort ab. »Ich bin diejenige die Antworten sucht. Kharamayn ist kein ungefährlicher Ort, also warum uns beide in Gefahr bringen? Ich dachte, wir wären uns einig?« »Du warst dir einig«, erwiderte Serena in leicht schnippischem Ton, »von Wir kann gar keine Rede sein.« »Serena, bitte. Mach es nicht schwerer, als es ohnehin schon ist.« Die junge Frau schwieg einen Moment, dann beschloss sie, über ihren Schatten zu springen. »Schon gut, ich sage ja nichts mehr. Es ist deine Entscheidung!« Thyra lächelte in sich hinein. »Danke, Serena«, sagte sie. Einen Moment war Ruhe und Thyra war schon fast eingeschlafen. »Aber was ist, wenn …«, begann Serena da erneut. »Serena!!« unterbrach Thyra sie ungehalten. »Äh … ja?« »Schlaf jetzt. Morgen wird ein langer und sicher auch anstrengender Tag.« Serena murmelte noch etwas, dann schloss auch sie die Augen. Am späten Vormittag des nächsten Tages hatten sie den Aufstieg geschafft und standen vor der Nebelwand, die auch schon Aglaia einige Tage zuvor in Erstaunen versetzt hatte. »Das ist Kharamayn?« Thyra betrachtete die Wand ein wenig verwirrt.
»Es heißt, das Orakel wäre weder ein Bauwerk noch sonst etwas, das seinem Besucher ein Gefühl von Vertrautheit vermittelt. Es ist einfach ein fremdartiger, unheimlicher Ort.« Thyra lächelte amüsiert. »Woher weißt du das?« fragte sie. »Ich habe alles gelesen, was unsere Bibliothek hergab und außerdem haben mich die Erzählungen der fremden Besucher in unserer Stadt immer interessiert. Ich kenne eine ganze Menge Geschichten ob sie nun wirklich geschehen oder reine Phantasie sind.« »Mit deinem Wissen über Kharamayn liegst du jedenfalls richtig, es ist wirklich fremd und unheimlich«, stimmte Thyra ihrer Gefährtin zu. «Aber es hilft alles nichts, ich muss dort hinein. Es ist der einzige Weg, mehr über mich und die Zeit zu erfahren, die ich vergessen habe. Und vielleicht auch, wer die Frau ist, die mich verfolgt.« Serena nickte. »Nicht, dass ich dich gern da rein gehen lasse. Als ob man in einen Kessel mit dicker Suppe fällt.« Thyra lachte. »Ein treffender Vergleich.« Sie wandte sich zu Serena um. »Dann werde ich es mal wagen. Du wartest hier auf mich?« »Nein, ich werde machen, dass ich wegkomme, kaum dass du da drin verschwunden bist.« Thyra sah sie einen Moment konsterniert an. »Das war ein Scherz«, beruhigte Serena sie. »Natürlich werde ich auf dich warten. Ich werde ganz brav hier sitzen und nicht einmal daran denken, dir zu folgen. Irgendein Limit, wie lange ich warten soll, bis ich sicher sein kann, dich gerade jetzt das letzte Mal gesehen zu haben?« »Wenn das auch witzig sein soll, ist mir die Pointe entgangen«, war Thyras trockener Kommentar.
»Nein, sollte es nicht«, sagte Serena seufzend, »ich wollte mich nur davon ablenken, dass ich Angst um dich habe.« Thyra ging zu ihr und nahm sie sanft in den Arm. »Das musst du nicht, Serena. Das Orakel ist seltsam und man erfährt oft Dinge, die man nicht zu wissen wünschte, aber es ist nicht unmittelbar lebensgefährlich.« In Wirklichkeit war sich Thyra da alles andere als sicher. Aber sie wollte Serena nicht noch mehr beunruhigen. »Ich verspreche dir aber, dass ich vorsichtig sein werde.« Serena erwiderte die Umarmung. »Das weiß ich«, sagte sie. »Und jetzt geh, bevor ich es mir anders überlege und dich einfach nicht mehr loslasse.« Thyra lächelte ihr noch einmal zu, im nächsten Moment war sie auch schon in der Nebelwand verschwunden. Als der Abend bereits dämmerte, verstärkten sich die Sorgen, die sich Serena schon seit einigen Stunden machte. Sie beschloss, noch bis zum Morgen zu warten. Wenn Thyra bis dahin nicht zurückgekommen war, würde sie ihr folgen, gleichgültig, was sie vereinbart hatten. Genau genommen hatten sie für einen solchen Fall überhaupt nichts vereinbart, es würde also allein Serenas Entscheidung sein. Es dauerte lange, bis sie in dieser Nacht einschlief und als sie es dann doch tat, war ihr Schlaf unruhig und voll wirrer Träume. Als die ersten Sonnenstrahlen sie weckten, sah Serena sofort, dass ihre Freundin auch in der Nacht nicht zurückgekehrt war. »Schön«, sagte sie zu sich selbst, »dann tritt eben Plan B in Kraft.« Sie rief sich ins Gedächtnis zurück, was sie über Kharamayn wusste. Viel war es nicht und das meiste hatte sie bereits Thyra gesagt. Es hieß, jeder würde hier mit der Wahrheit konfrontiert. Schön, es gab nichts, wovor sie die Augen verschließen musste.
Serena betrachtete einen Moment die vollkommen undurchsichtige Wand, dann nahm sie allen Mut zusammen und trat hindurch. Ein paar schreckliche Augenblicke lang hatte sie das Gefühl, der Nebel lege sich wie eine dicke Wolldecke auf sie um sie zu ersticken. Doch zu Serenas Erleichterung löste sich der Nebel schon nach wenigen Schritten auf und die Beklemmung verging. Überrascht und ein wenig enttäuscht sah die junge Prinzessin sich um. Die gras- und baumbewachsene Landschaft die sie umgab, war in keinster Weise ungewöhnlich, nichts wies darauf hin, dass sie sich an einem geheimnisvollen und unheimlichen Ort befand. Von Thyra war weit und breit keine Spur zu sehen. Da Serena keine Ahnung hatte, auf welche Weise sie die Freundin finden konnte, beschloss sie, erst einmal dem Weg vor ihr zu folgen in der Hoffnung, dass er sie ihrem Ziel ein Stück näher bringen würde. Zunächst sah es nicht danach aus. Auch die Landschaft schien sich nicht nennenswert zu verändern. Bis der grasbewachsene Boden unter Serenas Füssen unter ihren Schritten plötzlich leise zu knirschen begann. Serena blickte herab und sah, dass der Boden mit einer dünnen Schicht Eis überzogen war. Das wunderte sie, denn für Eis war es bei weitem nicht kalt genug. Sie nahm aus den Augenwinkeln eine Bewegung war und sah rasch auf. Wie aus dem Nichts war einige Meter vor ihr eine etwa zwei Meter hohe Hecke erschienen, die sich weit nach rechts und links ausdehnte und ihr den Weg vollkommen versperrte. Serena verschwendete keine Zeit damit, sich darüber zu wundern.
Mit so etwas musste man hier wohl rechnen. Sie ging auf die Hecke zu, um das unerwartete Hindernis näher zu untersuchen. Dabei entdeckte sie, dass ein Stück davon etwa einen Meter nach hinten verschoben war und zwei Eingänge nach beiden Seiten freigab. Aus der Entfernung war das nicht zu erkennen gewesen. Serena überlegte kurz, wählte dann den rechten Eingang und stand kurz darauf in einem äußerst seltsamen Garten. Auch hier war der Boden bedeckt von zwar grünem, aber zu Eis erstarrtem Gras. Keine Kälte, nicht einmal annähernd. Die Temperatur war gleichbleibend angenehm. Alle Gewächse, alle Pflanzen, Blumen, Sträucher und Bäume, die in willkürlichem Muster gepflanzt waren, erwiesen sich bei näherer Betrachtung als eingefroren. Serena fühlte die Kälte, die von ihnen ausging erst, als sie sie berührte. Die dünneren Zweige und Blätter brachen jedoch schnell ab und Serena zog es vor, auf weitere Berührungen zu verzichten. Irgendwie hatte sie kein gutes Gefühl dabei, in diesem Garten etwas zu zerstören, auch wenn es unbeabsichtigt geschah. Die einzelnen Bereiche des Gartens waren durch Heckenwände voneinander getrennt, und Serena gewann rasch den Eindruck, sich auf einem durch die Hecken bestimmten Weg durch ein labyrinthartiges Gelände zu bewegen. Es gab jedoch weder Sackgassen noch irreführende Kreuzungen. Hinter jeder Heckenwand tauchte ein neuer Bereich des Gartens auf, manche klein wie eine zufällig entstandene Nische, manche so groß wie ein Feld. Und überall bunte, phantasievolle Blumenbeete und Grünpflanzen, die nur eins gemeinsam hatten: Sie alle waren zu hartem, kalten Eis erstarrt.
Die junge Kriegerin ließ sich von dem unsichtbaren Weg führen, der schließlich in einen mittelgroßen, runden Platz mündete, der ringsum von Hecken umgeben war. Sie hatte den Platz kaum betreten, als ihre Aufmerksamkeit auch schon von dem angezogen wurde, was riesig und bedrohlich genau in seiner Mitte stand. Serena blieb wie angewurzelt stehen, ihre Hand fuhr in Richtung Schwertgriff, doch gleich darauf erkannte sie, dass der gewaltige, furchteinflößende Krieger in der schwarzen Rüstung, der da vor ihr stand, ebenso wenig Leben in sich barg, wie die Pflanzen. Zumindest schien es so. Serena ging vorsichtig näher an die Skulptur heran und berührte sie. Eis. Genau wie erwartet. Und doch schien etwas anders zu sein. Serena betrachtete das Standbild neugierig. Es war ein hochgewachsener Ritter, dessen Körper von Kopf bis Fuß in eine schwarze Rüstung gehüllt war. Das Eis dieser Rüstung schien dick und sehr stabil zu sein – ein schützender Panzer, der, als wäre das allein noch nicht genug, auch noch über und über mit rasiermesserscharfen Stacheln übersäht war. Der Helm, dessen Visier geschlossen war, wies keinerlei Sehschlitze auf – der Ritter schien es vorzuziehen, blind zu kämpfen. Die Vorderseite des Helmes war einem menschlichen Antlitz nachempfunden, erstarrt in einer Grimasse von Zorn und Hass. Zweifellos diente ein solcher Helm dazu, einen Gegner im Kampf zu erschrecken und zu demoralisieren, eine Funktion, die er hervorragend erfüllte. Die nachgebildeten Augenhöhlen waren tot und dunkel und doch hatte Serena das Gefühl von einem unbekannten, furchterregenden Wesen angestarrt zu werden. Sie schauderte und wandte den Blick ab.
Am liebsten hätte sie ihren Weg so schnell wie möglich fortgesetzt, doch irgendetwas hielt sie zurück. Sie wagte einen zweiten Blick auf die Skulptur und diesmal schien etwas vage Vertrautes von ihr auszugehen. Serena konnte sich dieses Gefühl nicht erklären und so löste sie ihren Blick schließlich widerstrebend von den toten Augenhöhlen, um in der Hecke nach einer weiteren Öffnung zu suchen. Sie fand keine. Auch der Eingang war verschwunden. »Na, großartig«, sagte Serena zu sich. »Genau was ich jetzt brauchen kann.« Während sie noch unschlüssig dastand, wurden ihre Augen erneut von dem geheimnisvollen Eisritter angezogen. Er jagte ihr Furcht ein, soviel stand fest. Und doch – das Gefühl der Vertrautheit war ebenfalls noch da, wuchs sogar, wurde von Sekunde zu Sekunde stärker. War dieses Wesen wirklich das, was es seinem Äußeren nach zu sein schien? Serena hatte schon früh gelernt, Menschen und Situationen nicht nach dem ersten Anschein zu beurteilen. Vielleicht steckte auch hinter dieser Skulptur mehr als nur das Abbild eines angsteinflößenden Kriegers. ›Ob es wohl eine Möglichkeit gibt, das Eis zum Schmelzen zu bringen?‹ dachte Serena. »Daran darfst du nicht einmal denken!« Die Stimme unmittelbar neben ihr, ließ Serena erschrocken herumfahren, ihre Hand schoss an ihren Schwertgriff. Sekunden später hatte sie die Waffe gezogen, hielt sie kampfbereit vor sich und sah sich wachsam um. »Wer oder was du auch bist, zeig dich!!« rief sie. Statt einer Antwort hörte sie nur ein Lachen. Es klang nicht böse, nur amüsiert.
Im nächsten Augenblick erschien wie aus dem Nichts ein Mann mit kurzem, schwarzen Haar und einem gepflegten Bart, der seinem Gesicht etwas königliches gab. Er trug schwarze Hosen und ein ebenfalls schwarzes Wams aus Leder, das die muskulösen Arme unbedeckt ließ. Er war gut anderthalb Kopf größer als Serena und sah sie mit einem leicht ironischen Ausdruck in den dunkelbraunen Augen an. »Beruhige dich und steck’ dein Schwert wieder weg. Von mir hast du nichts zu befürchten. Fürchte dich lieber vor dem, was dort vor dir steht.« »Und warum sollte ich das?« fragte Serena ohne sich zu rühren. Der Mann zog die Augenbrauen hoch, als könne er nicht glauben, dass jemand nach etwas so Offensichtlichem noch fragen musste und schwieg. »Ich glaube kaum, dass man ihn fürchten muss«, erklärte Serena schließlich und wies auf die Skulptur. »Dann bist du eine ebenso große Närrin wie alle anderen«, ließ sich der schwarzhaarige Mann schließlich zu einer Äußerung herab. Serena fühlte, wie sie wieder ärgerlich wurde. Sie hasste es, wenn jemand so tat, als wisse er um Geheimnisse, die allen anderen verschlossen waren. »Ach ja? Und wer bist du, dass du glaubst, das beurteilen zu können?« fragte sie angriffslustig. »Nur der Besitzer dieses Gartens«, war die ruhige Antwort, »der Schöpfer dieses Wesens.« »Na, fein«, sagte Serena, »dann kannst du mir sicher auch erklären, warum mir deine Schöpfung so vertraut erscheint.« Zu ihrer Überraschung erhielt sie umgehend Auskunft. »Weil seine dunkle Seite die deine anzieht. Alles was hart, grausam und böse in dir ist und was du sorgsam zu kontrollieren vermeinst, wird durch diesen dunklen Ritter angesprochen und ge-
weckt. Du fühlst Vertrautheit, fühlst den Wunsch, ihn zu befreien, aber wenn du das tust, wirst du die erste sein, die er vernichtet. Ich habe ihn ins Eis gebannt, damit er nie wieder eine Gefahr für andere darstellt. Und doch habe ich nicht die Macht, dich daran zu hindern, ihn zu befreien. Ich hoffe nur, dass du stark genug bist, die richtige Entscheidung zu treffen.« Diese überaus genaue und ohne jegliches Zögern gegebene Erklärung weckte Serenas Misstrauen. Wieso sollte dieser unverschämte Kerl ihr so ohne weiteres verraten, dass er machtlos gegen ihre Entscheidungen war? Wenn der Ritter wirklich eine so große Gefahr darstellte – weshalb sie dann nicht in dem Glauben lassen, er könne sie an dessen Befreiung hindern? Irgendetwas stimmte da nicht und Serena beschloss, sich auf ihr Gefühl zu verlassen. »Du solltest nicht an meinen Worten zweifeln«, war die prompte Reaktion auf ihre unausgesprochenen Gedanken. »Das zu entscheiden überlass nur mir«, entgegnete Serena laut und ziemlich barsch. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem schwarzen Ritter zu. Es war schon richtig – sie fühlte sich außerordentlich stark zu ihm hingezogen. Aber das konnte auch andere Gründe haben. Alles in ihr drängte sie mittlerweile dazu, ihn aus dem Eis zu befreien. ›Was habe ich schon zu verlieren?‹ dachte sie. ›Es gibt keinen Weg mehr hinaus und von Thyra habe ich bisher weit und breit keine Spur entdeckt.‹ »Ich kann dir den Weg hinaus zeigen.« »Für den Anfang würde mir genügen, wenn du aufhören würdest, meine Gedanken zu lesen«, entgegnete Serena ziemlich ungehalten. Dann hielt sie inne, als ihr bewusst wurde, welches Angebot sie da gerade erhalten hatte.
»Kannst du mir zuerst helfen, meine Freundin zu finden?« fragte sie. »Deine Freundin, die Kriegerin? Die findet ihren Weg schon alleine. Glaub mir, das beste ist, wenn du einfach von hier verschwindest und sie vergisst.« »Spar dir deine guten Ratschläge«, fauchte Serena ihn wütend an. »Ich kann dir auch sagen, wohin du sie dir stecken kannst!« Bevor ihr Zorn ihr noch drastischere Worte eingeben konnte, wandte Serena sich wieder der Skulptur zu. »Ich werde ihm helfen«, sagte sie entschlossen. »Wie du willst, es ist deine Beerdigung«, sagte der schwarzhaarige Muskelmann. »Aber sage hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.« Und mit diesen Worten verschwand er in einem Lichtblitz. »Na, endlich«, sagte die junge Kriegerin. Sie versenkte den Blick tief in die dunklen Augenhöhlen des schwarzen Ritters und während sie noch darüber nachdachte, wie sie ihn wohl befreien könnte, fühlte sie eine innere Wärme, die rasch zunahm. Ein Gefühl der Zuneigung, ja sogar der Liebe ging damit einher und schon bald fühlte Serena nur noch den einen Wunsch in sich – der armen Kreatur da vor ihr zu helfen. Das Feuer in ihr fand seinen Weg zu ihren Augen, manifestierte sich in einem leuchtend gelben Strahl, der aus ihnen hervorschoss und die Eisgestalt vor ihr komplett einhüllte. Schon nach wenigen Sekunden begann der eisgepanzerte Ritter zu schmelzen. Das Eis verdampfte förmlich unter dem glühendheißen Strahl. Schon erzitterte das furchterregende Wesen, begann, sich langsam zu bewegen, der Helm hob sich leicht, die dunklen Augenhöhlen bohrten sich in Serenas Augen. Die junge Prinzessin ließ sich nicht beirren. Das Gefühl von Liebe und Vertrautheit erfüllte sie vollständig, sie hielt den heilenden Strahl weiter auf das Wesen gerichtet, bis auch die Konturen der
schwarzen Rüstung zu verschwimmen begannen und der Helm zerfloss. Langsam erst, dann immer schneller büßte der Ritter seine ursprüngliche Größe ein, seine Farbe, seine Bedrohlichkeit – alles verschwand bis schließlich ein menschliches Wesen zum Vorschein kam, ein Wesen in einer vertrauten schwarzen Lederrüstung mit langem dunklen Haar. Ein Wesen, das Serena nur zu gut kannte. »Thyra!« rief sie und sofort verschwand der Strahl, das Feuer erlosch. Serena kam gerade rechtzeitig, um ihre Freundin aufzufangen, die völlig desorientiert auf sie zu taumelte. Thyra blinzelte, erkannte Serena und brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Was machst du denn hier? Solltest du nicht draußen auf mich warten?« »Ein Glück für dich, dass ich es nicht getan habe«, sagte Serena und erwiderte das Lächeln. »Ja, ein Glück«, stimmte ihr Thyra zu. Sie umarmten sich lange und fest. Serenas Gefühl hatte sie nicht getrogen. Das Band, das sie mit dem dunklen Ritter zu verbinden schien, hatte nichts zu tun gehabt mit ihrer dunklen Seite. Nur mit der Wärme und Vertrautheit, die sie für diese starke, unnahbare und doch verletzbare Frau in ihren Armen empfand. So kurz erst kannten sie sich und doch war sich Serena ganz sicher mit Thyra ihrem Schicksal begegnet zu sein. Thyra schien ähnliches zu empfinden. Und sie wirkte plötzlich offener und gelöster, als habe Serena mit dem Eispanzer zugleich auch Thyras inneren Panzer, mit dem sie sich vor der Welt und allem was dazugehörte zu schützen pflegte, geschmolzen.
Serena hatte diesen Panzer gespürt, seit ihrer ersten Begegnung. Nachdem Thyra ihr von ihrem Leben erzählt hatte, verstand sie auch, weshalb die Kriegerin ihn brauchte. Serena wusste, dass dieser Panzer noch immer da war, aber dass sie, Serena, einen Zugang zu Thyras Seele gefunden hatte. »Kharamayn scheint doch mehr zu sein, als ein Ort, an dem man unliebsame Wahrheiten erfährt«, sagte Thyra gerade, wie um Serenas Überlegungen zu bestätigen. »Obwohl – es ist schon wahr, dass ich mich mit allen Mitteln zu schützen versuche, sogar und vor allem vor Menschen, die ich sehr mag. Ich hatte, als ich durch diesen Garten ging, mehr und mehr das Gefühl, dass die harte Schale, mit der ich mich zu umgeben pflege nach außen drang, mich einschloss, bis sie zu einem Gefängnis wurde, aus dem ich mich nicht mehr befreien konnte. Eine Falle, aus der ich nur mit deiner Hilfe entkommen konnte.« In diesem Augenblick verschwand der Garten um sie herum, machte einer neuen Szenerie Platz. Zu ihrer Überraschung erkannte Thyra sich selbst, auf einem schwarzen Pferd reitend in der vertrauten Lederrüstung, aber um Jahre jünger als heute. »Was geschieht nun?« fragte Serena. »Ich weiß es nicht«, sagte Thyra, »aber vielleicht erhalten wir jetzt endlich die Antworten, die wir suchen.« Gebannt verfolgten sie das Geschehen, das sich vor ihren Augen abspielte … Nur wenige Wochen waren vergangen, seit Thyra ihre Armee und ihr altes Leben hinter sich gelassen hatte. Die Erleichterung darüber, endlich den entscheidenden Schritt getan zu haben, hatte schon bald dumpfer Hoffnungslosigkeit Platz gemacht. Thyra hatte bisher das Leben einer Kriegsherrin geführt, war der Tradition ihres Clans gefolgt und auch wenn dieses Leben sie letztendlich nur noch angewidert hatte, so war es doch das einzige gewesen, das sie gekannt hatte und das ihr vertraut war.
Nun musste sie einen anderen Sinn für ihr Leben finden doch angesichts ihrer bisherigen Taten fiel ihr das nicht leicht. Nachdem sie eine Weile ziellos umhergeritten war, gelangte sie an einen Ort, der ihr zum ersten Mal eine wirkliche Alternative zu bieten schien. Thyra war sich nicht ganz sicher, ob es sich um einen Tempel, eine Schule oder einfach nur um einen Zufluchtsort für gequälte Seelen handelte und im Grunde war ihr das auch egal. Altea, die Frau, der dieser Ort, den sie selbst Nexus nannte, gehörte, war freundlich und verständnisvoll, die Mitglieder der kleinen Gruppe Auserwählter schienen glücklich und mit sich und der Welt zufrieden zu sein. Schon bald fühlte Thyra sich hier wohl und dachte nicht mehr daran, ihre Reise fortzusetzen. Sie wurde Alteas Geliebte, ohne dass von beiden Seiten wirklich Liebe im Spiel gewesen wäre. Thyra sehnte sich nach etwas Geborgenheit und Altea verfolgte Pläne, die Thyra nicht einmal im Traum geahnt hätte. Thyras Instinkte, die sie bisher noch nie im Stich gelassen hatten, versagten hier vollkommen. Altea, die in Wirklichkeit eine mächtige Zauberin war, hatte schnell erkannt, was die schweigsame Kriegerin belastete und wie sie ihr helfen konnte. Sie wob unmerklich ein feines Gespinst aus Lügen und Intrigen um Thyra, wickelte sie ein mit Versprechungen, die sie weder halten konnte noch wollte. Thyra, die sich mehr als alles andere nach einem neuen Leben und Vergebung für ihre früheren Taten sehnte, ignorierte alle warnenden Stimmen in ihrem Kopf und folgte Altea, die ihr beides versprach, bedingungslos. Und doch wurden die Pläne der Schwarzmagierin durchkreuzt, denn eine Auserwählte des Nexus war nicht die schafsäugige Gefolgsfrau, die sie vorgab zu sein.
Serenity war eine von Altea nur wenig beachtete Schülerin, gerade gut genug für Arbeiten, die niemand anderer machen wollte. Sie tat alles, was man ihr auftrug ohne Murren, beobachtete dabei aber sehr genau und kam schon bald hinter Alteas Geheimnis. Als Thyra nach Nexus kam, erkannte Serenity sofort, welches Potential in der schwarzhaarigen Kriegerin steckte. Und auch welche Gefahr für sie von Altea ausging. Thyra stand an einem Scheideweg zwischen Gut und Böse, es bedurfte nicht viel Einflussnahme von außen, um sie in die eine oder andere Richtung zu drängen. Und Altea war genau die Richtige, um Thyra über die Grenze in ihre dunkle Vergangenheit zurückzustoßen. Serenity beschloss, das zu verhindern und Altea mit Thyras Hilfe das Handwerk zu legen. Eine Gelegenheit hierfür bot sich ihr schon nach einigen Tagen. Altea hatte sich in ihre geheime Kammer zur Meditation zurückgezogen. Serenity nutzte die Chance und sprach Thyra an. Wie erwartet, war die Kriegerin zunächst unzugänglich und misstrauisch, doch spürte Serenity die Zweifel, die Thyra mit Macht in eine verborgene Ecke ihres Unterbewusstseins gedrängt hatte. Serenity trug eine Reihe verschiedener Steine in Ringe gefasst an ihren Fingern. Jeder einzelne diente einem bestimmten Zweck, konnte Energie aufnehmen und nach Serenitys Willen weitergeben. Mit Hilfe eines dieser Steine vertrieb sie die dunklen Schatten von Thyras Seele, schärfte ihre Sinne und gab ihr ihren Verstand zurück. Thyra schien aus einem tiefen Schlaf zu erwachen. Sie sah die Dinge plötzlich wieder so klar und scharf, wie sie es gewöhnt war und in Sekundenbruchteilen erkannte sie, welch unheilvolles Netz Altea um sie gesponnen hatte.
Serenity verhinderte, dass Thyra erneut in Hoffnungslosigkeit verfiel. »Du hast dich von deinem früheren Leben losgesagt. Das war ein großer und mutiger Schritt. Nun musst du lernen, deine Kraft in den Dienst des Guten zu stellen. Ich weiß, dass dir das gelingen wird, denn ich kann in die Seelen der Menschen sehen und erkennen, zu welchen Taten sie fähig sind. Du kannst Großes erreichen, wenn du den einmal eingeschlagenen Weg weiter gehst und auch wenn die Schatten der Vergangenheit dich nie ganz verlassen werden, so liegt es ausschließlich an dir, sie niemals die Kontrolle über dein neues Leben gewinnen zu lassen. Du allein bist die Herrin deiner Entscheidungen.« Sie schenkte Thyra ein Schwert, das gleiche Schwert, das Serena das Leben gerettet hatte und nun erfuhren die beiden auch, welche Bewandtnis es damit hatte. Der blaue Stein, der in seinen Griff eingelassen war, trug Serenitys Kraft in sich. Solange sein Besitzer das Schwert trug, würde der Stein ihn vor allen schwarzmagischen Kräften schützen. Thyra schöpfte neue Kraft aus den Tiefen ihrer Seele und als Serenity sie um Hilfe gegen Altea bat, willigte sie sofort ein. Während Serenity sie durch einen unterirdischen Gang zu Alteas geheimem Versteck führte, weihte sie Thyra in das ein, was sie über Altea herausgefunden hatte. »Sie ist eine Schwarzmagierin mit hohen Ambitionen. Die unglücklichen Wesen, die ihren Weg an diesen Ort fanden, wurden und werden von ihr benutzt um ihre Kräfte zu steigern. Erinnerst du dich, dass immer wieder Schüler von hier verschwanden? Oder ist es dir gar nicht aufgefallen?« «Nicht wirklich«, gab Thyra zu. Serenity seufzte. »Das überrascht mich nicht. Aber wie dem auch sei – ich habe sie alle das letzte Mal gesehen, kurz bevor Altea sie
mit hinunter in ihren Meditationsraum nahm. Irgendetwas geht da unten vor und es ist ganz sicher nichts Gutes.« »Na ja, was immer es ist, wir werden es gleich wissen«, stellte Thyra fest als vor ihnen ein Licht sichtbar wurde. »Der Gang scheint da vorne zu Ende zu sein.« Es war kein helles, freundliches Licht, das in den Gang hinein schien. Es war das diffuse, flackernde Licht von Fackeln. Thyra und Serenity hörten das leise Plätschern von Wasser, sonst war alles still. Aber was auch immer hinter dem Gang auf sie wartete – es ging eine dichte Atmosphäre des Bösen von ihm aus. Thyra zögerte einen Moment. »Bitte warte hier«, sagte sie zu Serenity, »ich will mich ihr erst einmal allein stellen. Wenn ich Hilfe brauchen sollte, kannst du immer noch eingreifen.« Die weiße Magierin sah sie skeptisch an. »Ist das klug?« fragte sie. »Es ist vielleicht besser ihr nicht sofort zu zeigen, dass wir zu zweit sind. Wenn ich erst einmal allein gehe, bliebe das Überraschungsmoment noch eine Weile auf unserer Seite.« Serenity dachte kurz darüber nach, dann nickte sie. »Vielleicht hast du recht. Geh nur, ich werde eingreifen, wenn du mich brauchst.« Sie lächelten einander aufmunternd zu. Dann wandte Thyra sich um und trat vorsichtig aus dem Gang heraus. Sie betrat eine Art Halle von imponierenden Ausmaßen, in deren Mitte ein See lag. Aus dem unnatürlich dunklen Gewässer ragte ein riesiger schwarzer Felsen dessen Spitze einem Vulkankrater glich. Pechschwarzes Wasser sprudelte unaufhörlich daraus hervor. Als Thyra genauer hinsah entdeckte sie mehrere kleine Flüsse, die
aus dem See hinausführten und irgendwo in den Felsen verschwanden. Eine dunkle Quelle! Thyra hatte von solchen Quellen schon gehört. Sie bargen eine böse, zerstörerische Kraft, die sich nur jemand zunutze machen konnte, der von ebensolcher Art war. Schon bald entdeckte sie Altea, die am Ufer des Sees saß, den Rücken der Kriegerin zugewandt, und tief in ihre Meditation versunken schien. Thyra ging so leise wie möglich auf sie zu. Im Näherkommen hörte sie leises Flüstern, Raunen und Wispern, es klang nach Worten aber in einer unverständlichen Sprache, mit der Thyra nichts anzufangen wusste. Sie schienen vom See zu kommen. »Hörst du es auch, Thyra?« sagte Altea da ganz ruhig und hob den Kopf. Die Kriegerin blieb stehen, ihre Hand schloss sich fester um den Griff ihres neuen Schwertes. Altea wandte sich langsam um. Ihre Augen glühten in einem dunklen Rot. »All diese Dummköpfe, die kamen, um zu lernen«, rief sie verächtlich. »Aber sie kamen nicht umsonst. Ich habe sie gelehrt zu glauben. Und nun sind sie ein Teil meiner Macht.« »Aber doch sicher nicht freiwillig, Altea?« entgegnete Thyra ruhig. »Du hast sie benutzt bis zuletzt, so wie du auch mich benutzt hast.« »Ganz recht«, gab Altea unumwunden zu. »Ich erkenne die Kräfte, die in der Seele eines Menschen ruhen. Ich habe ihnen nur zu gern geholfen, sie zu entwickeln, aber nur um sie mir letztendlich zu eigen zu machen. Ihre Seelen sind in der dunklen Quelle sicher eingesperrt und ihre Körper bedeckt der See mit seinem schwarzen Wasser. Das gleiche hatte ich auch mit dir vor, aber deine Kraft scheint zu groß zu sein, um dich unter meinem Bann zu halten.«
Thyra dachte flüchtig an Serenity, die ihr geholfen hatte, verdrängte den Gedanken aber sofort wieder. Altea schien sie, Thyra, erst bemerkt zu haben, als sie die Halle betrat. Falls sie Serenity noch nicht entdeckt hatte, wollte sie die schwarze Magierin nicht durch einen unbedachten Gedanken auf ihre Fährte bringen. Sie war sich zwar nicht sicher, dass Altea ihre Gedanken lesen konnte, doch wollte sie kein Risiko eingehen. »Ich könnte jetzt versuchen, dich zu töten«, fuhr Altea fort, »aber wer weiß, vielleicht bist du stärker als ich. Auch du kannst nicht wissen, ob du mich besiegen würdest. Also weshalb es versuchen? Ich biete dir an, die Macht der dunklen Quelle mit mir zu teilen. Ich biete dir den Platz an meiner Seite an.« Ungläubig starrte Thyra sie an. Dieses Angebot erschien ihr so ungeheuerlich, dass sie keine Worte fand. Altea deutete Thyras Schweigen falsch. »Ich weiß, es ist sehr großzügig von mir, aber weshalb nicht, wenn die andere es wert ist? Deine dunkle Vergangenheit macht dich zu einer würdigen Partnerin.« Thyra runzelte die Stirn. »Vergiss es, Altea, diese Zeit ist vorbei. Du wirst mich nicht dazu bringen, mich dir anzuschließen. Eher würde ich sterben.« »Das lässt sich einrichten«, entgegnete Altea gleichmütig und Sekundenbruchteile später bildete sich ein Feuerball in ihrer Hand, den sie auf Thyra zuschleuderte. Die Kriegerin hob ihr Schwert, wehrte das magische Feuer mit Leichtigkeit ab. Altea ließ ihr keine Zeit, schleuderte Feuerball um Feuerball nach der einstigen Geliebten, erkannte aber bald, dass Thyra zu schnell für sie war. Schließlich gab die Schwarzmagierin es auf, in ihrer Hand bildete sich ein großes, glühendrotes Schwert. Die im See gefangenen Seelen heulten gequält auf, als Altea ihre Energie mit Hilfe der
dunklen Quelle auflud. Thyra merkte es und griff an, bevor Altea noch mehr Kraft aus dem See ziehen konnte und nicht mehr zu besiegen war. Altea fing den Angriff mühelos ab, parierte Thyras Schwertstreiche mit Leichtigkeit und drängte die Kriegerin mehr und mehr zurück. ›Wie viele Seelen hält sie hier gefangen, um so eine Kraft zu erhalten?‹ dachte Thyra, während sie verzweifelt versuchte, den tödlichen Streichen auszuweichen. ›Wie kann ich nur die Verbindung unterbrechen?‹ Viel Zeit zum Nachdenken blieb ihr nicht, denn Altea griff mit immer größerer Härte an. Nur ihre Geschicklichkeit rettete Thyra vor einem raschen Tod. Sie wehrte die mächtigen Schläge ab, so gut sie konnte, doch schon bald war ihr klar, dass sie es ohne Hilfe nicht schaffen würde. ›Serenity!‹ rief sie in Gedanken ihre Verbündete. ›Es ist Zeit einzugreifen!‹ Die weiße Magierin schien sie gehört zu haben, denn als Altea das Schwert zu einem neuen, kraftvollen Schlag erhob, hüllte sie plötzlich ein weißes Licht ein, das sie in der Bewegung erstarren ließ. Für Sekunden war sie unfähig sich zu rühren, unfähig, ihre Macht einzusetzen. Thyra verlor keine Sekunde. Sie packte ihre Schwert mit beiden Händen, holte weit aus und trennte Altea mit einem einzigen Hieb den Kopf von den Schultern. Er flog weit hinaus über den See, bevor er im schwarzen Wasser versank. Thyra sah sich um und entdeckte Serenity, die gerade ihre Hand sinken ließ. Das weiße Licht war von einem ihrer Ringe ausgegangen. Ein Ring mit einem blutroten Stein. »Schnell!« rief die weiße Magierin Thyra zu. »Wir müssen fort von hier!«
Thyra stellte nicht viele Fragen. Sie sah nicht mehr, wie Alteas noch immer aufrecht stehender enthaupteter Körper langsam zu Boden sank. Mit ein paar schnellen Schritten war sie neben Serenity und gemeinsam liefen sie auf den Gang zu, der sie zur dunklen Quelle geführt hatte. Schon begann der Boden unter ihnen zu beben, das Flüstern und Raunen schwoll zu einem gewaltigen Geheul an, das sich mit dem grauenvollen Schrei eines menschlichen Wesens mischte. Dieser Schrei war es, der Thyra veranlasste, sich noch einmal umzudrehen. Der See war zu einem Inferno geworden, das schwarze Wasser brodelte um den Felsen in seiner Mitte. Kleine Lichtpunkte stiegen aus dem See hervor, wurden größer, erhielten Konturen bis Gesichter zu erkennen waren, menschliche Gesichter, doch hassverzerrt und voller Zorn, von denen Thyra zu ihrem Entsetzen sogar einige bekannt vorkamen. »Bist du wahnsinnig!?« schrie Serenity sie an. »Komm weg hier!« Sie zerrte Thyra fort. Doch eine Stimme folgte ihnen, rief ihre Namen und diesmal konnten beide nicht anders, als sich umzuwenden. Der Anblick, der sich ihnen bot, ließ beide vor Entsetzen erstarren. Alteas Kopf aus dem noch immer Blut floss, schwebte hoch über dem Wasser, an den Haaren gehalten von einer Lichtfaust aus unzähligen leuchtenden schemenhaften Gesichtern. Ihre zornige Stimme durchdrang den Lärm. »Ich werde nicht vergessen, was du heute getan hast, Thyra!!! Ich werde es nicht vergessen. Niemals! Niemals!! Niemals!!!!« Dann riss die Hand sie mit sich in den See. Augenblicklich beruhigte sich das Wasser und lag wieder still und unergründlich da. Der Felsen in seiner Mitte war verschwunden, kein dunkles Wasser sprudelte mehr. Das Böse in ihm war für diesmal gebannt.
Als Serenity und Thyra die Oberwelt erreichten, war der Bann, der über den übrigen Schülern gelegen hatte, gebrochen. Sie erinnerten sich nur dunkel an die Zeit, die sie in Nexus verbracht hatten und zerstreuten sich schließlich in alle Richtungen. Serenity verabschiedete sich von Thyra, nicht ohne ihr ein letztes Geheimnis anzuvertrauen. »Was glaubst du, wie lange du hier gewesen bist?« fragte sie die erstaunte Kriegerin. »Keine Ahnung«, entgegnete Thyra. »Ein Jahr vielleicht?« »Ein Jahr mag es für dich gewesen sein«, sagte Serenity, »doch in Nexus verging die Zeit schneller als in der Außenwelt.« »Und das heißt?« »Das heißt, dass, seit du hierher kamst, zehn Jahre vergangen sind.« Thyra starrte sie ungläubig an. »Zehn Jahre?« »Sieh es einmal so«, gab Thyra zu bedenken. »zehn Jahre sind viel Zeit, um Dinge vergessen oder weniger wirklich zu machen. Das mag dir bei deinem neuen Leben helfen.« Die Szenerie löste sich vor den Augen seiner faszinierten Zuschauerrinnen auf. Doch noch ehe Serena oder Thyra etwas sagen konnten, erschien ein neues Bild. Es zeigte Thyra, zusammen mit einer blonden, viel jüngeren Kriegerin auf einem Schiff. Nun wurde Thyra das Geheimnis ihrer verlorenen Erinnerung enthüllt. Der Angriff auf dem Schiff, der durch niemand anderen, als der nach Rache dürstenden Altea erfolgt war, war nur ein kleiner Teil der Planes gewesen. Der Energiestrahl, der Thyra getroffen hatte, hatte sie nicht nur durch ein Dimensionsloch meilenweit fortgeschleudert, sondern auch bewirkt, dass sich ein Teil von ihr abgespaltet und ein Eigenleben begonnen hatte. Es war der Teil, der ihre Erinnerungen an ihre Zeit in Nexus barg und überdies den größten Anteil von Thyras vormals so dunklen Energie besaß.
Abermals löste die Szenerie sich auf und diesmal hörte Thyra eine Stimme direkt in ihrem Kopf. »Sie besitzt keine eigene Energie, sie nährte sich von dir und da sie nun kein Teil mehr von dir ist, muss sie sich andere Quellen suchen, um zu überleben. Da sie aber ein Aspekt deiner dunklen Seite ist, Thyra, kann sie nur Kraft von Wesen erhalten, die von ihrer dunklen Seite beherrscht werden. Sie hat in der Zwischenzeit eine ganze Bande lichtscheuen Gesindels um sich versammelt, von dem sie sich nährt und die sie für sich kämpfen lässt. Wenn ihr sie besiegen wollt, müsst ihr sie von dieser Quelle abschneiden. Und noch eins, Thyra, eine Warnung. Hüte dich vor dem Hass, wenn du in den Spiegel deiner Seele schaust. Er darf dich nicht beherrschen!« Die Stimme verstummte. Sekunden später standen die beiden Freundinnen wieder vor der Nebelwand, die das Orakel von Kharamayn umgab. »Was mag die Stimme gemeint haben mit ihrer Warnung?« überlegte Serena. »Du hast es auch gehört?« fragte Thyra. »Sicher. Aber erklären kann ich es mir nicht.« »Ich auch nicht«, entgegnete Thyra, »und ehrlich gesagt, ist es mir im Moment auch ziemlich egal. Ich bin erschöpft und hungrig und dir geht es doch sicher auch nicht anders. Lass uns hinuntersteigen und dann erst mal ausruhen. Morgen ist auch noch ein Tag.« Serena war damit mehr als einverstanden und so machten sie sich schweigend an den Abstieg. Kurz bevor es dämmerte waren die beiden wieder am Fuß des Berges angelangt. Sie fanden ihre Pferde und ihre Ausrüstung und schlugen rasch ein Lager auf. Sie hatten sich gerade am Feuer niedergelassen, als ein Geräusch ihre Aufmerksamkeit erregte. Es war Hufgetrappel.
Der Neuankömmling erwies sich als eine junge blonde Frau, die Thyra und Serena sofort als diejenige erkannten, die mit Thyra zusammen auf jenem Schiff gewesen war. Die Frau zügelte ihr Pferd und stieg ab. »Thyra«, sagte sie und ihre Stimme klang erfreut und unsicher zugleich. Thyra rief sich den Namen der Blonden ins Gedächtnis zurück. »Aglaia?« Aglaia blieb stehen, zögerte einen Moment. »Du erkennst mich nicht?« fragte sie erstaunt. Thyra sah sie ein wenig traurig an. »Ich weiß wer du bist, aber … ja … du hast recht, wirklich erkennen tue ich dich nicht.« Serena sah von einer zur anderen. Die Bilder in Kharamayn hatten ihr gezeigt, dass Thyra und Aglaia gute Freundinnen gewesen sein mussten. Um die gespannte Stimmung ein wenig zu mildern, sagte sie: »Setz dich zu uns ans Feuer, Aglaia, und ruh dich aus. Das Essen ist fertig und es reicht auch für drei. Danach können wir ein wenig schlafen und morgen früh über alles reden. Heute nacht werden wir ohnehin nichts mehr klären können.« Serenas freundliche, vernünftige Stimme tat Wirkung. Auch Aglaia war müde und hungrig und so nahm sie die Einladung der jungen Frau dankbar an. Serena behielt recht. Am nächsten Morgen, als sie alle drei ausgeruht erwachten, hatten sich die Gedanken geordnet und der Optimismus wieder eingestellt. Serena übernahm es, Aglaia in alles einzuweihen, das sie in Kharamayn gesehen hatte. »An dir ist eine Bardin verlorengegangen«, bemerkte Aglaia. »Du erzählst wirklich sehr gut.«
Serena lächelte. »Tatsächlich war es mal mein Wunsch, eine zu werden.« »Könntet ihr die Diskussion über Berufswünsche vielleicht später fortsetzen?« unterbrach Thyra die beiden. »Es gibt da noch ein paar Dinge, die dringend getan werden müssen. Zum Beispiel meine abtrünnige dunkle Seite jagen.« Aglaia und Serena wechselten einen Blick. Sie hatten jede für sich entschieden, dass sie einander sympathisch waren. Thyras Ungeduld konnten beide verstehen, wenn auch Serena mehr Verständnis aufbrachte als Aglaia, die bei aller Freundschaft, die sie noch immer für Thyra empfand, doch nicht vergessen hatte, wer für den Tod ihrer Familie verantwortlich war. »Wenn du es so eilig hast, dann schlag doch mal vor, was wir jetzt tun sollen«, sagte sie daher in provozierendem Ton. Noch bevor Thyra zu einer scharfen Antwort ansetzen konnte, unterbrach Serena rasch den aufkommenden Streit. »Es wäre doch am sinnvollsten, wenn wir in die Stadt zurückkehren, wo uns dein dunkler Zwilling zum ersten Mal begegnet ist«, schlug sie vor. »Vielleicht finden wir dort eine Spur von ihr. Die Alternative wäre, sich von ihr finden zu lassen und das gefällt mir ganz und gar nicht.« Thyra dachte einen Augenblick darüber nach, dann nickte sie. »In Ordnung. Ich glaube, du hast recht. Fangen wir also dort mit der Suche an.« Zu diesem Zeitpunkt konnte noch keine von ihnen ahnen, dass die dunklen Mächte ihnen schon ganz nahe waren …
7) Ein paar Tage später hatten sie das Gebirge hinter sich gelassen und näherten sich endlich wieder bewohntem Gebiet. Aglaia hatte bisher über ihren eigenen Besuch in Kharamayn geschwiegen. Sie war sich nicht sicher, ob sie Thyra mit einer Tat konfrontieren sollte, an die sich die Kriegerin vielleicht gar nicht mehr erinnern konnte. Sicher war auf jeden Fall, dass Thyra keine bewusste Erinnerung mehr an Aglaia besaß und ihre gemeinsame Zeit sich auf ein Bild reduziert hatte, dass die Kriegerin im Orakel von Kharamayn gesehen hatte. Zwar gab es noch immer ein Gefühl der Vertrautheit zwischen ihnen, doch war das bei weitem nicht zu vergleichen mit der Freundschaft, die sie vor den Ereignissen auf dem See verbunden hatte. Aglaia erschien es wie eine Ironie des Schicksals. Sie hatte sich nach ihrem Erlebnis in Mardan dazu durchgerungen, Zorn und Hass zu überwinden und nun gab es niemanden, der das zu würdigen gewusst hätte, niemanden, mit dem sie hätte reden, mit dem sie die Vergangenheit hätte klären und abschließen können. Serena spürte die Spannung zwischen den beiden, zog jedoch falsche Schlüsse daraus. »Unser Ziel ist jetzt nicht mehr weit«, sagte sie eines Abends zu Thyra, als Aglaia losgezogen war, um Fleisch fürs Abendessen zu besorgen, »vielleicht sollte ich morgen früh schon mal vorausreiten und sehen, ob ich etwas in Erfahrung bringen kann.« Thyra grinste sie an. »Damit Aglaia und ich die Möglichkeit haben zu reden? Ganz unter uns?« Serena seufzte. »Bin ich so leicht zu durchschauen?«
»Ein wenig kenne ich dich mittlerweile schon«, entgegnete die Kriegerin. Sie schwieg einen Moment nachdenklich. »Ich weiß zwar nicht, ob es wirklich so eine gute Idee ist, wenn wir uns trennen, aber andererseits – du hast schon recht. Aglaia und ich sollten uns wirklich mal über das eine oder andere aussprechen. Es ist sicher keine leichte Situation für sie. Weißt du, ich mag sie, aber das ist ein neues, kein altes Gefühl. Für mich ist sie jemand, den ich erst vor ein paar Tagen kennen gelernt habe. Und sie weiß das und es tut ihr sicher weh, obwohl sie mir keine Vorwürfe macht. Und weshalb auch? Ich habe es mir schließlich nicht ausgesucht.« »Du hast ihr auf dem Schiff das Leben gerettet. Vielleicht fühlt sie sich deshalb mitverantwortlich für alles, was passiert ist.« Thyra sah ihre Freundin nachdenklich an. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. »Vielleicht hast du recht. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, wenn wir uns trennen, aber Aglaia ist vielleicht gesprächiger, wenn wir unter uns sind. Und ich weiß ja, dass du auf dich selbst aufpassen kannst«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu. So kam es, dass Serena früh am nächsten Morgen aufbrach. Ihr Ziel, Kartania, lag nur wenige Stunden von ihrem augenblicklichen Rastplatz entfernt. Sie verabredeten, sich um die Mittagszeit auf dem Marktplatz zu treffen. Serena ritt davon und Aglaia sah ihr nachdenklich hinterher. »Hat es einen besonderen Grund, weshalb sie vorausreitet?« fragte sie. Thyra beschloss, nicht lange um den heißen Brei herumzureden. »Sie war der Ansicht, wir beide sollten mal in Ruhe miteinander reden.« Aglaia zuckte gleichmütig die Schultern. »Ich wüsste nicht worüber.«
»Ich schon«, entgegnete die schwarzhaarige Kriegerin. »Du scheinst dich in unserer Gegenwart recht unwohl zu fühlen und ich würde gerne wissen, weshalb.« »Ich habe kein Problem mit Serena«, erwiderte Aglaia ausweichend. »Aber mit mir anscheinend«, gab Thyra zurück. Aglaia wandte sich ab. »Aglaia, bitte«, sagte Thyra mit eindringlicher Stimme, »wenn wir zusammen gegen Altea und meinen dunklen Zwilling kämpfen wollen, dann darf nichts zwischen uns stehen. Wir müssen und einig sein, sonst gelingt es Altea, uns gegeneinander auszuspielen.« Bei diesen Worten konnte Aglaia nicht mehr an sich halten. »Das ist bereits vor ihr jemandem gelungen«, sagte sie heftig. Erstaunt und verwirrt sah Thyra die blonde Kriegerin an. »Vorher? Was meinst du damit?« Aglaia hatte sich die Aussprache mit Thyra eigentlich anders vorgestellt, aber jetzt war sie entschlossen, den einmal eingeschlagenen Weg weiterzugehen. »Ich bin auch in Kharamayn gewesen. Einige Tage bevor ihr dorthin kamt.« Thyra schwieg einen Moment überrascht. »Warum hast du uns das nicht gesagt?« »Weil die Dinge, die ich dort sah, nichts waren, was man sich gemütlich am Feuer erzählt«, erwiderte Aglaia kalt. »Und was hast du gesehen?« Aglaia holte tief Luft. »Erinnerst du dich an deine Zeit als Kriegsherrin, oder ist das auch im Nebel des Vergessens verschwunden?« Thyra überhörte den höhnischen Unterton absichtlich. »Nein, daran erinnere ich mich noch gut.« »Dann weißt du doch auch sicher noch, was dich zu dem hehren Entschluss bewogen hat, mit diesem Leben aufzuhören?«
»Ja, natürlich!« Thyra würde niemals vergessen, was in Caska geschehen war, zumindest solange keine magischen Kräfte im Spiel waren. »Niemand hat überlebt damals, nicht wahr? Zumindest dachtest du das!« Einem Moment der Verwirrung folgte eine schreckliche Erkenntnis. Thyra wurde blass. »Du … du warst doch nicht …« »Ich war damals noch ein halbes Kind«, fuhr Aglaia hart und ungerührt fort. »Meine Eltern verbargen mich im Vorratsraum unter unserem Haus. Deine Männer waren zu dumm oder zu betrunken, um mich zu finden.« Thyra sah in die hellen braunen Augen, sah den Schmerz und die Verletzbarkeit des kleinen Mädchens von damals. Schuld- und Mitgefühl überschwemmten sie wie eine Woge. »Ich habe keine Worte, Aglaia. Wenn ich könnte, würde ich es ungeschehen machen, aber das ist unmöglich. Ich kann verstehen, dass du mich hassen musst.« Tränen traten in Thyras Augen. Aglaia empfand nun ihrerseits Mitgefühl. »Ich hasse dich nicht. Nicht mehr«, sagte sie und ihre Stimme klang um einiges weicher. »In den Tagen, nachdem ich in Kharamayn alles erfahren hatte, habe ich dich gehasst und ich habe an nichts gedacht, als an Rache und Vergeltung. Doch meine Begegnung mit Giuliana in Mardan hat mir die Augen für etwas anderes geöffnet. Auch wenn ich dir noch nicht wirklich verzeihen kann, so hast du doch die Chance verdient, das Geschehene auf deine Weise wieder gut zu machen.« Thyra schwieg. Auch wenn ihr Aglaia keine Absolution für ihre Tat erteilt hatte, so bedeutete es ihr doch viel, das dieses einstige
Opfer ihrer dunklen Vergangenheit nicht ausschloss, ihr eines Tages vergeben zu können. »Du beschämst mich, Aglaia«, sagte sie leise. Aglaia trat zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Wir können über alles reden, wenn wir Altea unschädlich gemacht haben. Sei sicher, dass ich dir helfen werde, wo ich kann.« Es war schon fast Mittag, als sie nur noch wenige Meilen von Kartania trennten. »Ob Serena etwas herausgefunden hat?« überlegte Aglaia laut. »Wenn es etwas herauszufinden gab, dann ganz sicher. Serena hat so eine Art mit Leuten zu reden …« Thyra verstummte plötzlich. Ihr Gesicht nahm für einen Moment einen schmerzverzerrten Ausdruck an. »Was ist?« fragte Aglaia erschrocken. »Oh … nein …« stieß Thyra hervor. Ihre Augen blickten abwesend, als folge sie einem Geschehen, das nur für sie sichtbar war. »Thyra!!« rief Aglaia ungehalten. Thyra sah sie an, als sei sie gerade aus einem Traum erwacht. »Schnell!! Wir müssen uns beeilen!« Mit weiteren Erklärungen hielt sie sich nicht auf, trieb ihr Pferd an und galoppierte davon. Aglaia blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Serena hatte es nicht besonders eilig gehabt, die Stadt zu erreichen. Aglaia und Thyra sollten genug Zeit haben, miteinander zu reden. Als die ersten Häuser schließlich vor ihr auftauchten, schlug Serena den Weg zu der Herberge ein, in der sie und Thyra schon einmal übernachtet hatten. Sie hatte vor, Zimmer für sich und ihre Gefährtinnen zu mieten und danach auf den Markt zu gehen. Vielleicht konnte sie dort etwas aufschnappen, was ihnen nützlich sein konnte.
Nachdem sie alles erledigt hatte und auf dem Weg zum Markt war, stand die Sonne schon beinahe im Zenit. Die Mittagsstunde schien nicht mehr fern zu sein. Serena schlenderte über den Markt und hoffte, das Thyra und Aglaia bald auftauchen würden. Obwohl sie es nie zugegeben hätte, fühlte sie sich ein wenig unwohl an diesem Ort, an dem sie Thyras dunklem Zwilling das erste Mal begegnet war. Während sie ihren Gedanken nachhing, fiel ihr Blick auf einen Stand, der Schmucksteine aller Art zum Kauf anbot. Das Angebot war so vielfältig, dass Serena fasziniert näher kam, um es zu betrachten. Die Frau hinter dem Stand war klein und unscheinbar, Serena achtete kaum auf sie. Die Steine auf dem Tisch nahmen ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie alle schienen eine ungewöhnliche Leuchtkraft zu besitzen, die von innen heraus zu kommen schien. Serenas Augen wurden von einem großen blauen Stein angezogen, der dem in Thyras Schwertknauf sehr ähnlich war. »Wir müssen schneller sein!« rief Thyra Aglaia zu und trieb ihr Pferd weiter an. »Sonst schaffen wir es nicht. Serena ist in großer Gefahr!« »Woher weißt du das?!« rief Aglaia zurück. »Vertrau mir einfach!« Die Besitzerin des Standes lächelte freundlich. »Kann ich dir helfen?« fragte sie. Serena erwiderte das Lächeln. »Dieser Stein dort«, sagte sie und wies auf den großen blauen Halbedelstein, »wo findet man so etwas?« »Nirgendwo, wenn man keinen Blick dafür hat«, war die rätselhafte Antwort. Serena fiel auf, dass die Stimme der Frau klang, als käme sie aus einer anderen Welt. Auf einmal wurde ihr die ganze Situation un-
heimlich und sie wandte sich zum Gehen. Doch das war nicht so leicht, denn der blaue Stein hielt ihren Blick gefangen, sie konnte ihn nicht abwenden. Das Blau wurde intensiver und Serena hatte das Gefühl, dass der Stein allmählich größer wurde. Als die ersten Häuser in Sicht kamen und die Straße belebter wurde, war das für Thyra kein Grund, ihr Tempo zu verlangsamen. Aglaia, die die Katastrophe kommen sah, griff ihr in die Zügel und zwang sie, langsamer zu werden. »Damit hilfst du niemandem!« fuhr sie Thyra an. »Wir müssen zum Marktplatz, schnell!!« rief die Kriegerin und trieb ihr Pferd schon wieder an. Der blaue Stein spiegelte Serenas Gesicht wieder. Gleich der Besitzerin des Standes hatten jetzt auch ihre Augen einen weltentrückten Ausdruck angenommen. Sie war auf einmal so schrecklich müde. Woher kam das nur, sie hatte doch in der Nacht lange und ausgiebig geschlafen? Thyra und Aglaia fielen ihr ein. Die beiden suchten sie sicher schon. Serena fühlte sich viel zu erschöpft zum Denken. Langsam begann der Stein vor ihren Augen zu schweben. Serena dachte flüchtig daran, dass das nicht sein konnte, doch der Gedanke verschwand wieder, als all ihr Denken und Fühlen von der riesigen, blauen, schwebenden Masse vereinnahmt wurde. »Serena!!« Thyras Stimme hallte über den Platz, doch die junge Prinzessin schien sie nicht zu hören. Dich gefolgt von Aglaia bahnte sich Thyra einen Weg durch die Menge. Das Blau des Steines hüllte Serena vollkommen ein. Sie fühlte einen Sog und leistete kurz Widerstand, doch die Müdigkeit war zu groß. Der Sog wurde stärker.
Thyra verfehlte Serena nur um Sekunden. Hilflos musste sie mit ansehen, wie die Konturen ihrer Freundin verschwammen und sie auflösten. Mit letzter Kraft versuchte Thyra, nach Serenas Hand zu greifen, doch da packte Aglaia sie und riss sie zurück. Im selben Moment war Serena verschwunden. Thyra riss sich von Aglaia los, ihre Augen sprühten vor Zorn. »Was sollte das!?« »Wolltest du auch da hineingezogen werden? Wie hätte ich euch dann finden sollen?« Thyra wollte etwas erwidern, da fiel ihr Blick auf den Stand und die Frau dahinter. »Serenity!!« rief sie überrascht. Einen Moment lang erwiderte die einstige Verbündete ihren Blick, dann nahm ihr Gesicht wieder einen geistesabwesenden Ausdruck an. Im selben Moment löste sich der Stand auf und verschwand zusammen mit seiner Besitzerin. Thyra starrte fassungslos auf den leeren Platz. »Ich verstehe das nicht«, stammelte sie, »Serenity war meine Verbündete gegen Altea. Und es war ihre Stimme, die mich vorhin warnte, dass Serena in Gefahr sei. Wieso stellt sie sich jetzt gegen uns?« »Vielleicht tut sie das gar nicht«, sagte Aglaia. »Schau mal.« Sie wies auf den Boden vor sich. Dort lag ein kleiner blauer Stein, geradeso als wäre er zufällig vom Tisch heruntergefallen. Thyra bückte sich und hob ihn auf. Im selben Moment begann er in ihrer Hand schwach zu leuchten. »Ich glaube«, sagte die Kriegerin. »Es ist doch noch nicht alles verloren.«
8) Serena erwachte in völliger Dunkelheit. Sie lag auf einer Art Bett und fühlte sich noch immer ein wenig erschöpft, aber wenigstens stellte sich ziemlich schnell die Erinnerung an das, was geschehen war, wieder ein. Der Stand mit den bunten Schmucksteinen. Der blaue Stein. Die junge Frau mit dem abwesenden Blick. Thyra, die ihren Namen rief. Serena richtete sich ruckartig auf, als sie an ihre Freundin dachte. Wie hatte sie nur in diese Situation geraten können? »Weil ich am helllichten Tag mitten auf einem belebten Marktplatz nicht mit einem magischen Angriff gerechnet habe«, beantwortete sie sich die Frage selbst. Während sie sich bemühte, in der Dunkelheit irgendetwas zu erkennen, wurde der Raum plötzlich in strahlendes Licht getaucht. Serena schrie auf vor Schmerz und presste beide Hände vor die Augen. »Es tut weh, dich so leiden zu sehen«, hörte sie eine verächtliche Stimme, die sie nur zu gut kannte. »Hab ich mir doch gedacht, dass du dahinter steckst.« »Natürlich, schließlich habe ich dir doch versprochen, dass wir uns wiedersehen«, war die gleichmütige Antwort. »Und jetzt bist du hier, ohne deine Freunde, arme Serena, so ganz alleine einem Monster wie mir ausgeliefert.« »Schwatz nicht so ein dummes Zeug!« rief Serena und ihre Stimme klang mutiger, als sie sich tatsächlich fühlte. »Komm zur Sache! Was willst du von mir?«
»Ohhh, kannst du dir das nicht denken?« erwiderte der dunkle Zwilling ungerührt. Das konnte Serena tatsächlich, doch sie zog es vor, zu schweigen. »Ich will natürlich Thyra, du Dummchen«, fuhr die gleichmütige Stimme fort. »Und da entführst du mich?« Jetzt bekam die Stimme einen ärgerlichen Klang. »Verkauf mich nicht für dumm, Serena. Ich bin jetzt nicht mehr Thyras einst geliebte jetzt verleugnete dunkle Seite. Ich besitze eigenes Leben, einen eigenen Willen. Mein Name ist von jetzt an und für immer: Selene!« »Eigenes Leben?« hakte Serena sofort nach. »Du magst einen eigenen Körper haben, aber er ist nur eine Kopie von Thyras. Und deine Energie musst du dir von anderen holen, eine eigene besitzt du nicht. Daran hat sich nichts geändert und wird sich auch nichts ändern.« Ein zorniger Schrei war die Antwort. Serenas Bemerkung hatte ins Schwarze getroffen, doch war sich die junge Kriegerin nicht sicher, ob sie das freuen sollte. »Sei dir da nicht so sicher. Ich weiß, dass Thyra bisher meine Quelle war, aber das kann sie auch wieder sein. Nur werde ich dann das Sagen haben. Wenn ich mit ihr fertig bin, wird sie mich nie wieder kontrollieren. Und du wirst mir dabei helfen.« »Aber nur in deinen Träumen«, sagte Serena und gab sich Mühe, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen. Selene lachte höhnisch auf. »Oh, du tust es bereits. Thyra hat einen Narren an dir gefressen, sie wird alles tun, um ihre kleine Freundin zurückzubekommen. Selbst wenn das bedeuten würde, sich mir auszuliefern.« Serena sprang auf. »Das werde ich niemals zulassen!!« schrie sie.
»Weißt du was, kleine Siri?« war die trockene Antwort, »du wirst überhaupt nicht gefragt.« Und damit verstummte die Stimme und ließ Serena verwirrt und ängstlich zurück. »Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich davon zu halten habe«, sagte Thyra und betrachtete den blauen Stein. »Aber mein Gefühl sagt mir, dass Serenity nicht wirklich auf Alteas Seite steht.« »Und was bringt dich zu dieser Annahme?« erkundigte sich Aglaia. Sie saßen beide in der Herberge, um in Ruhe zu beratschlagen, was als nächstes zu tun sei. »Zum einen war es Serenity, die mich warnte, Serena befände sich in Gefahr.« »Und wie hat sie das angestellt?« fragte Aglaia erstaunt. »Sie sprach zu mir, direkt in meinem Kopf.« »Gut und schön«, entgegnete Aglaia. »Aber vielleicht wollte sie dich auch nur in die gleiche Falle locken, wie Serena. Hättest du sie berührt, wärst du vielleicht mit ihr in den Stein gezogen worden.« »Wohl möglich«, räumte Thyra ein. »Aber mein Gefühl sagt mir, dass es nicht so ist.« »Dein Gefühl in allen Ehren, aber was ist, wenn du dich irrst?« In diesem Augenblick nahm Thyras Gesicht wieder diesen leicht abwesenden Ausdruck an. Aglaia runzelte die Stirn, wollte etwas sagen, doch Thyra brachte sie mit einer unwilligen Geste zum Schweigen. ›Du irrst dich nicht, Thyra‹, hörte die Kriegerin Serenitys Stimme in ihren Gedanken, ›Altea hat mich zwar mit einem Bann belegt, der mich zwingt, ihren Willen zu erfüllen, aber ich habe noch immer genug Kraft, um Widerstand zu leisten. Wenn du mir hilfst, werde ich mich vielleicht befreien können.‹ ›Was muss ich tun?‹ fragte Thyra.
›Der blaue Stein wird dir dabei helfen. Konzentriere dich auf mich und halte ihn dabei fest in der Hand. Wenn wir unsere Kraft verbinden, kann ich mich von Alteas Einfluss befreien, ohne dass sie es merkt.‹ ›Geht es Serena gut?‹ fragte Thyra. ›Sie ist die Gefangene von Selene, deinem dunklen Zwilling. Du musst dich beeilen, wenn du ihr helfen willst.‹ Die Verbindung brach ab. »Nun?« fragte Aglaia. »Wovor hat sie dich diesmal gewarnt?« Das Misstrauen in der Stimme der blonden Kriegerin war unüberhörbar. Thyra sagte es ihr. »Und das glaubst du?« »Selbst wenn ich es nicht glauben würde – ich fürchte, wir haben keine Wahl, als es zu versuchen. Ich habe zwar eine Vermutung, wo Serena sein könnte, aber selbst wenn ich damit richtig liege, bräuchten wir viel zu lange um dorthin zu kommen. Und wenn Serenity unter Alteas Bann bleibt, dann wird sie für uns eine zusätzliche Gefahr sein.« Aglaia überlegte kurz, dann nickte sie zögernd. »Die Idee gefällt mir zwar nach wie vor nicht, aber ich fürchte, du hast recht.« Sie suchten sich einen abgelegenen Platz außerhalb der Stadt. Thyra setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden und hielt den Stein in beiden Händen vor sich. ›Ich bin bereit, Serenity!‹ dachte sie. Fast sofort fühlte sie die Gegenwart der einstigen Gefährtin. Thyra war sich klar, dass es jetzt kein Zurück mehr gab und für einen Sekundenbruchteil zögerte sie. ›Hab’ Vertrauen, Thyra‹, hörte sie die Stimme der Frau, die ihr einst das Leben gerettet hatte. Thyra atmete tief ein und ließ die Angst los.
Aglaia bezwang ihre Ungeduld und Sorge nur mühsam. Doch je länger Thyra mit geschlossenen Augen dasaß und tief in ihre Meditation versunken schien, desto schwerer fiel ihr das. Sie musste sich zwingen, Thyra nicht zu schütteln, um sie so in die Gegenwart zurückzubringen. Doch schließlich öffnete die Kriegerin ganz von selbst die Augen. »Und?« fragte Aglaia ungeduldig. »Wir haben einen Plan«, entgegnete Thyra. »Nein!« erklärte Aglaia. »Darauf werde ich mich nie im Leben einlassen!« Thyra hatte ihre Ausführungen kaum beendet, als die blonde Kriegerin auch schon ihren Unwillen auf ihre übliche zurückhaltende Art kundtat. »Es mag ja sein, dass Serenity in der Lage ist, mit ihren geheimnisvollen Kräften einen Tunnel zwischen zwei Orten zu erschaffen und dich so dorthin zu bringen, wo Serena ist, aber wer sagt, dass sie ihn lange genug aufrecht erhält, um von dort auch wieder zu verschwinden? Dieser Plan riecht doch geradezu nach einer Falle und du läufst sehenden Auges hinein!« Thyra seufzte. »Aglaia, ich verstehe ja deine Einwände, aber wenn wir Serena retten wollen, müssen wir dieses Risiko wohl eingehen.« Auf diese Weise ging es eine Weile hin und her. Aglaia gab sich schließlich geschlagen, hatte aber eine Bedingung. »Ich gehe an deiner Stelle. Wenn Serenity wirklich meint, was sie sagt, dann wird sie damit kein Problem haben. Falls doch, geht es ihr nur darum, dich in die Hände zu bekommen und dann wissen wir, dass wir ihr so wenig trauen dürfen wie eine Fliege der Spinne.« Nach anfänglichem Zögern war Thyra einverstanden.
Gespannt wie ihre ehemalige Gefährtin reagieren würde, nahm sie Kontakt mit Serenity auf. Serena hatte das Gefühl, schon seit Tagen in diesem kleinen, kärglich eingerichteten Raum gefangen zu sein. Die Tür war fest verschlossen und bestand aus massivem Eichenholz. Fenster gab es keine. Sie besaß zwar noch immer ihr Schwert, doch nützte ihr die Waffe hier wenig, da niemand kam, um ihr etwas zu Essen oder zu Trinken zu bringen. Sie überlegte, ob Selene sie hier einfach verhungern und verdursten lassen wollte. Sie zweifelte keine Sekunde daran, dass Thyra und Aglaia nach ihr suchen würden, doch war es fraglich, ob es ihnen gelänge, sie schnell genug hier zu finden. Wo immer »hier« auch sein mochte. »Heh! Selene!!« rief sie. »Du bist nicht sehr gastfreundlich.« Im selben Moment erlosch das Licht und Serena hatte das Gefühl, ein Sturm erfasse sie und wirble sie herum. Noch ehe sie einen Schrei der Überraschung ausstoßen konnte, wurde es schon wieder hell um sie. Serena sah sich um. Sie stand in einer kleinen Arena innerhalb einer großen, verschwenderisch eingerichteten Halle. Rings um die Arena herum standen in einigen Metern Entfernung Tische und Bänke aus Marmor, alle besetzt von bewaffneten Männer und Frauen, die jedoch die Speisen und Getränke, die in reichhaltiger Auswahl vor ihnen standen, nicht anrührten. Sie alle hatten bleiche, blutleere Gesichter, die Augen starrten blicklos vor sich hin, die Arme lagen kraftlos auf den Tischen. Auf einer Empore thronte über dem Geschehen die vertraute Gestalt von Selene in Gesellschaft einer Frau von unbestimmtem Alter, in der Serena die Besitzerin des unheilvollen Marktstandes erkannte. »Du scheinst mir ein wenig ungeduldig zu sein«, rief Selene ihrer Gefangenen zu. »Oder mangelt es dir an Bewegung? Nun dem
kann ich abhelfen. Mein Gast hier wünscht ein wenig Unterhaltung und wer würde sich besser dafür eignen als die Kampfgefährtin der großen Kriegerin Thyra?« Bevor Serena etwas erwidern konnte, schnippte Selene mit dem Finger und sofort kam Leben in zwei der bewaffneten Zombies. Sie bewegten sich wie an Fäden geführt, doch kaum hatten sie ihre Schwerter gezogen, wurden ihre Bewegungen schneller und geschmeidiger, als wäre ihnen für die Dauer des Kampfes ihre Lebenskraft zurückgegeben worden. Serena sah sich um, doch es schien keinen Fluchtweg zu geben. Ihr würde nichts anders übrigbleiben, als gegen diese ehemals menschlichen Wesen zu kämpfen. »Du bist krank, Selene!!« schrie sie, »was hast du mit denen gemacht?« »Für die brauchst du dein Mitleid nicht zu verschwenden«, antwortete Selene ungerührt. »Lichtscheues Gesindel, deren dunkle Seite mir als Nahrung dient. Töte sie nur, wenn du kannst, ich habe genug davon.« Serena wollte niemanden töten. Erst recht nicht diese willenlosen Geschöpfe, gleichgültig, wie wertlos sie in Selenes Augen zu sein schienen. Doch als der erste mit erhobenem Schwert auf sie zustürmte, hatte sie keine Wahl. Blitzschnell zog sie ihre eigene Waffe und parierte den Schlag. Gleichzeitig platzierte sie einen gut gezielten Tritt gegen den Unterleib des Angreifers, der ihn wie ein Streichholz einknicken ließ. Serena wirbelte gerade rechtzeitig herum, um den Hieb des zweiten Gegners abzufangen. Sie ging in die Hocke und zog mit einem Drehtritt dem Mann die Beine weg, so dass er mit dem Rücken hart auf dem Steinboden aufschlug. Rasch trat sie ihm das Schwert aus der Hand, ein harter
Stoß mit dem Ellenbogen zum Kinn setzte ihn endgültig außer Gefecht. Serena ahnte die Bewegung hinter sich mehr, als dass sie sie hörte. Sie nahm sich nicht die Zeit, sich umzuwenden, hob ihr Schwert mit beiden Händen über den Kopf. Mit hellem Klirren prallte die Waffe des zweiten Angreifers auf die Klinge. Serena hielt dem Hieb stand, erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung und schlug das Schwert des Kriegers von sich fort. Ein Tritt gegen das Handgelenk ließ das Schwert in hohem Bogen durch die Halle fliegen, ein zweiter Tritt gegen die Brust ließ die Luft aus seinen Lungen entweichen. Dennoch raffte er sich noch einmal auf, zog einen Dolch aus dem Gürtel und stürmte auf Serena los. Serena lies ihr Schwert fallen, packte den Arm, die den Dolch hielt und brachte ihren Gegner mit einem Hebel zu Fall. Ein kurzer, harte Schlag gegen sein Kinn setzte auch ihn außer Gefecht. Die junge Prinzessin erhob sich, nahm ihr Schwert und ließ es in den Schultergurt zurückgleiten. Dann wandte sie sich zu Selene um und sah sie herausfordernd an. »Nicht übel«, sagte Thyras dunkler Zwilling, doch ihre Stimme klang enttäuscht. »Ich werde niemanden töten, nur weil du das so willst«, sagte Serena ruhig. Selenes Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Gut gesprochen, Serena. Aber mit guten Vorsätzen ist das so eine Sache. Sie werden immer vollkommen übereilt gefasst und berücksichtigen nie alle Möglichkeiten.« Während Selene sprach, betrachtete Serena die Frau neben ihr. Sie hatte sich nicht gerührt und doch schien es der jungen Kriege-
rin, als wäre sie nicht von der zombiehaften Starre befallen, wie alle anderen hier. Sie war sich nicht im klaren, welche Rolle diese Frau in Selenes Spiel spielte. Dann kam ihr ein Gedanke. Ob es sich bei dieser Frau vielleicht, um die geheimnisvolle Serenity handelte? In diesem Moment hob die Frau leicht den Kopf. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Augen und Serena glaubte, ein leichtes Nicken wahrzunehmen. Noch ehe sie sich fragen konnte, ob sie recht gesehen hatte, hörte sie wieder Selenes Stimme. »Wollen wir doch mal sehen, ob es dir gelingt, deinen Vorsätzen auch jetzt noch treu zu bleiben.« Zu Serenas Entsetzen erhoben sich diesmal acht bewaffnete Krieger. »Verdammt, Selene, ich bin nicht deine Gladiatorin!!!« schrie sie. »Solange du hier in meiner Gewalt bist«, war die eisige Antwort, »bist du das, was ich wünsche, das du bist.« Serena warf der Frau an Selenes Seite einen kurzen Blick zu. Sie war sich nicht sicher, glaubte aber ein schwaches Leuchten in ihren Augen zu erkennen. Im selben Moment tauchte nur wenige Meter von ihr entfernt ein gleißender Balken aus reinem Licht auf, der rasch größer wurde, sich ausdehnte, bis der die Höhe eines erwachsenen Menschen erreicht hatte. Gleich darauf stürzte eine vertraute Gestalt aus der phosphoreszierenden Öffnung, erfasste die Situation mit einem Blick. Aglaia stellte sich den auf ein Zeichen Selenes heranstürmenden Kriegern in den Weg. Da sie weniger moralische Bedenken hatte als Serena, dauerte es keine zehn Sekunden, bis die ersten zu Boden stürzten, um nie wieder aufzustehen. Serena machte zwei weitere kampfunfähig, bis Aglaia sie am Arm packte und rief: »Schnell, wir müssen uns beeilen!« Sie drängte die junge Kriegerin auf die Öffnung zu, die schon anfing, ihre Stabilität zu verlieren.
Bevor Serena ein Wort sagen konnte, hatte Aglaia sie hindurchgestoßen. Doch als Aglaia ihr folgen wollte, hörte sie eine Stimme, dunkel und sanft, eine Stimme, die sie nur zu gut kannte. »Willst du schon gehen, Aglaia? Ich dachte, wir wären Freunde.« Aglaia konnte nicht anders – sie wandte sich um und sah in das Gesicht der Frau, der die Stimme gehörte. Sie hatte gewusst, dass Selene Thyra wie aus dem Gesicht geschnitten war, dennoch traf sie die ungeheure Ähnlichkeit der beiden wie en Schock. Noch dazu, da sich Selene ganz offensichtlich an die blonde Kriegerin erinnern konnte. »Hast du alles vergessen, Aglaia? Unsere gemeinsame Zeit in der T’mar Schule? Unsere Freundschaft?« Aglaia wusste, das sie nicht Thyra vor sich hatte. Sie wusste, dass das Wesen da vor ihr nur die dunkle Seite ihrer Freundin widerspiegelte. Doch dieses Gesicht, diese Augen, die sanfte Stimme … Sie zögerte eine Sekunde. Eine Sekunde zu viel, denn die Öffnung flackerte noch einmal kurz und verschwand. Aglaia sah es und schrie auf. »Nein!!« Im selben Moment traf sie ein Schwertgriff am Kopf. Sie stürzte zu Boden und verlor das Bewusstsein. »Dann eben du, liebste Freundin«, kommentierte Selene das Geschehen ungerührt. »So oder so, Thyra wird zu mir kommen und dann wird es nur noch eine von uns geben.«
9) »Na, großartig! Da sind wir ja wieder genau da, wo wir angefangen haben«, stellte Thyra enttäuscht fest. »Ich freue mich auch, dich zu sehen«, sagte Serena trocken. Thyra sah sie an und ihr Ärger verflog. »Entschuldige«, sagte sie seufzend, »natürlich bin ich froh, dass du hier bist. Aber eigentlich hatten wir es anders geplant.« »Ich weiß«, lenkte Serena ein. Thyra zog sie sanft in ihre Arme. »Sei mir nicht böse. Aber Selene hat jetzt immer noch die Fäden in der Hand.« »Vielleicht auch nicht«, sagte Serena nachdenklich. Thyra sah sie neugierig an. »Wie meinst du das?« fragte sie. »Na ja, da war diese seltsame Frau …« Und Serena berichtete von dem mysteriösen Gast an Selenes Tafel, den sie für Serenity gehalten hatte. Thyra hörte aufmerksam zu, dann nickte sie. »Das klingt wirklich nach meiner ehemaligen Gefährtin. Sie hatte in der Tat vor, uns zu helfen.« Und dann berichtete sie von den Geschehnissen der letzten Stunden. Serena schwieg einen Moment. »Ich glaube nicht, dass Serenity euren Plan vereitelt hat. Aglaia war dicht hinter mir, sie stieß mich durch die Öffnung. Ich hörte noch Selenes Stimme, sie klang wieder genau wie deine, so freundlich und sanft. Sie sagte etwas zu Aglaia, aber was, konnte ich nicht mehr verstehen.«
»Wenn Selene die Erinnerung besitzt, die mir fehlt, dann hatte sie wohl keinerlei Probleme damit, Aglaia gerade lange genug abzulenken, bis das Tor zusammenbrach«, stellte Thyra verbittert fest. »Na ja, zu ändern ist das jetzt auch nicht mehr«, sagte Serena. »Viel wichtiger ist, was wir als nächstes tun werden.« »Hast du uns eigentlich Zimmer gemietet?« fragte Thyra scheinbar zusammenhangslos. »Ja, warum?« »Dann lass uns zunächst ein paar Stunden schlafen. Wir sind beide erschöpft und brauchen dringend etwas Ruhe. Aglaia ist für Selene eine viel zu wertvolle Geisel. Das dürfte vorerst für ihre Sicherheit garantieren.« Serenity hatte beunruhigt die Entwicklung des Geschehens verfolgt. Sie hatte Thyra geholfen, den Tunnel zu öffnen, doch als es Selene gelang, Aglaia aufzuhalten, hatte Serenity nicht eingegriffen. Sie wusste, dass Selene nicht nur von der Energie der Wesen um sie herum lebte, sondern auch von einer weit mächtigeren Kraft unterstützt wurde. Es hätte niemandem genützt, wenn Serenity offenbart hätte, dass sie nicht mehr unter dem Bann stand, sie allein hätte es niemals mit Selene und Altea aufnehmen können und Aglaia wäre keine Hilfe gewesen, denn, so gut die blonde Kriegerin auch zu kämpfen verstand – dieser Kampf wurde auf einer anderen Ebene ausgetragen. So hatte sich Serenity bedeckt gehalten und beschlossen, auf eine zweite und bessere Chance zu warten. »Serena! Warte auf mich!!! Serena!« Thyra schreckte aus dem Schlaf hoch, als Serena sie sanft schüttelte. »Heh, wach auf! Ich bin doch hier!«
Thyra sah sich einen Moment verwirrt um, bevor sie registrierte, wo sie war. Sie erkannte Serena und ehe die junge Kriegerin reagieren konnte, riss Thyra sie heftig an sich. »Den Göttern sei Dank, du bist da!« »Ist das die Freude, die du vorhin nicht zeigen konntest?« fragte Serena, als sie sich losmachen konnte. Thyra wurde bewusst, dass sie sich merkwürdig benahm und wandte sich leicht verlegen ab. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht … ich …« Serena lächelte. »Schon gut«, sagte sie. »Aber was um alles in der Welt hast du bloß geträumt?« Thyra seufzte. »Ich weiß es nicht mehr genau«, sagte sie. »Ich lief dir nach auf einer seltsamen Straße und versuchte, dich einzuholen. Aber du warst so weit weg und je schneller ich lief, desto weiter entferntest du dich von mir. Ich …« sie zögerte einen Moment. »Ja?« fragte Serena. Thyra holte tief Luft und beschloss, den Satz zu beenden. »Ich hatte das Gefühl, dich für immer verloren zu haben.« Die beiden sahen sich an und auf einmal knisterte die Luft vor Spannung. Ohne weiter nachzudenken, beugte Thyra sich vor und küsste Serena ganz sanft auf den Mund. Serena versteifte sich für einen Moment vor Überraschung, doch das verging rasch und sie erwiderte den Kuss leidenschaftlich und voller Liebe. »Vielleicht nicht ganz der richtige Moment um dir zu sagen, was ich empfinde«, sagte Thyra einige Zeit später, als sie aneinandergekuschelt im Bett lagen. »wir stecken mitten in einem Kampf.« »Also was mich betrifft, hätte es da nie einen falschen Moment gegeben«, stellte Serena lächelnd fest.
Thyra sah sie erstaunt an. »Ich habe nie gemerkt, dass du …« Serena legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Du hast es nicht bemerken wollen. Du bist eine echte Meisterin im Verdrängen von Gefühlen, weißt du das? Um wessen Gefühle es sich dabei handelt, ist egal.« Thyra lächelte. »Ich habe eben nicht geglaubt, dass du das gleiche für mich empfinden könntest.« »Und dabei hast du doch sonst keine Probleme mit deinem Selbstvertrauen«, stellte Serena grinsend fest. Thyra sah sie an und hätte liebend gerne den Rest der Welt für die nächsten Stunden draußen vor der Tür ihres Zimmers gelassen, doch sie wusste, dass das nicht möglich war. Serena las ihre Gedanken. »Wir haben noch viel Zeit, meine Liebste«, sagte sie und küsste Thyra zärtlich auf die Nasenspitze. »Komm, lass uns Aglaia und die Welt retten.« Aglaia kam langsam zu sich. Als sie versuchte, sich umzusehen, verschwamm alles vor ihren Augen und ihr wurde leicht schwindlig. Dennoch versuchte sie aufzustehen, doch etwas hielt sie zurück, nur mühsam gelang es ihr, auf die Beine zu kommen. Ihre Hände fühlten sich schwer an. Aglaia sah auf sie herunter und erkannte, dass sie an den Handgelenken an einen Ring im Boden gekettet war. Der Ring war in den Boden der kleinen Arena eingelassen, in der Stunden zuvor noch Serena um ihr Leben gekämpft hatte. Aglaia zerrte an den Ketten, während ihre Erinnerung langsam zurückkehrte. Ihr Blick wurde hart. Sie hatte in Selenes Augen gesehen, Thyras dunkler Seite, dem Teil von ihr, der für den Tod ihrer Eltern verantwortlich war.
Serena bezahlte das Zimmer und sie und Thyra verließen die Herberge. »Du hast also einen Plan«, stellte sie mehr fest, als dass sie fragte. »Man könnte es so nennen«, entgegnete Thyra. »Ich bin zwar nicht restlos begeistert davon, aber es ist das Beste, was mir eingefallen ist.« In ein paar Sätzen schilderte sie Serena das Ergebnis ihrer Überlegungen. »Es ist noch Energie in dem blauen Stein, wenn auch nur noch wenig. Sie dürfte genügen um uns, falls Serenity uns noch einmal helfen kann, dorthin zu bringen, wo sich Selene und Aglaia aufhalten. Wenn wir einmal da sind, können wir nur hoffen, dass uns Aglaia und Serenity helfen können, gegen Selene und Altea zu kämpfen und dass unsere vereinte Kraft ausreicht.« »Klingt verlockend«, sagte Serena trocken. »Aber was hast du mit Selene vor? Willst du sie töten?« Thyra schwieg. Sie hatte über diese Frage lange nachgedacht. »Nein«, sagte sie, »wenn es irgendwie geht, nicht. Sie ist immerhin ein Teil von mir und ich weiß nicht, was geschieht, wenn ich sie vernichte. Falls das überhaupt möglich ist.« »Was willst du dann tun?« Thyra seufzte. »Offen gestanden weiß ich das noch nicht«, gab sie zu. »Na, das hört sich doch alles ziemlich gut an«, meinte Serena sarkastisch. »Wenn du einen besseren Plan hast, dann nur zu, ich höre«, entgegnete Thyra ruhig. »Aber wir haben nicht mehr die Zeit um noch lange hier herumzustehen und zu diskutieren.« Serena holte tief Luft. »Na gut«, lenkte sie ein, »du hast wohl recht und einen bessere Idee habe ich auch nicht. Versuchen wir also unser Glück.!«
Wie schon am Tag vorher setzte sich Thyra mit gekreuzten Beinen auf den Waldboden und hielt den blauen Stein vor sich in der Hand. Er leuchtete nur noch schwach. Die Kriegerin konzentrierte sich auf Serenity und konnte schon bald die Stimme der Gefährtin hören. Sie lauschte und nickte dann. Schließlich öffnete sie die Augen und sah Serena hoffnungsvoll an. »Ich glaube, unsere Chancen stehen gar nicht so schlecht!« Serenity hatte Aglaia erkannt. Aglaia, das kleine Mädchen, das als einzige der Vernichtung ihres Dorfes durch Thyras Männer entkommen war. Sie kannte die Geschichte, wie sie viele Geschichten kannte, viele traurig und voller Leid, doch keine ohne eine Hoffnung, eine Chance auf ein Weiterleben. Nicht einmal Thyra wusste, wie lange Serenity schon existierte und wie vielen Menschen sie in dieser Zeit geholfen hatte, aus ihren Fehlern zu lernen, sie wieder gutzumachen und neue Hoffnung zu schöpfen. Sie konnte die schrecklichen Dinge, die geschahen, geschehen waren und immer geschehen würden, nicht verhindern, aber sie konnte dafür sorgen, dass das Böse niemals ganz die Oberhand gewann. Serenity wusste, dass nicht Selene das Böse in dieser Geschichte verkörperte, sondern nur die Marionette einer anderen Macht war, die Serenity schon einmal herausgefordert hatte. Eine Macht, die nur mit Thyras Hilfe zu besiegen gewesen war. Eine Macht, die daraus nur neue Kraft gewonnen hatte und nun stärker war als zuvor. Und wieder war Thyra der Schlüssel, doch diesmal würde es für die Kriegerin schwieriger werden, denn sie musste, bevor sie Altea gegenüber treten konnte, zuerst sich selbst besiegen.
Serenity würde Thyra und Serena helfen, die letzte Energie des Steines zu nutzen um sie hierher zu bringen, doch zuvor musste Selene von diesem Geschehen abgelenkt werden. Wie, das wusste Serenity bereits. Selene hatte Befehl gegeben, Aglaia anzuketten und zu bewachen, dann hatte sie sich zurückgezogen, wohin wusste Serenity nicht und es war ihr zu diesem Zeitpunkt auch egal. Alles was sie brauchte, waren ein paar Minuten mit Aglaia allein. Selene hatte vergeblich versucht, Altea in ihren Gedanken zu rufen. Aglaias überraschendes Auftauchen in ihrem geheimen Versteck hatte sie beunruhigt, auch wenn es ihr gelungen war, die blonde Kriegerin gefangen zu nehmen. Sie hatte den Verdacht, dass Serenity ihre Hände dabei im Spiel hatte, doch nichts schien darauf hinzuweisen, dass es der Magierin gelungen war, sich von dem Bann zu befreien, mit dem Altea sie belegt hatte. Selene wollte es genau wissen und hatte daher Altea um Rat fragen wollen. Doch die Schwarzmagierin hatte nicht geantwortet. Enttäuscht und zornig stand Thyras dunkler Zwilling schließlich auf und machte sich auf den Weg zurück in die Haupthalle. Vielleicht konnte sie aus Aglaia etwas herausbekommen. Als sie die Halle betrat, war das erste, dass sie sah, Serenity, die neben Aglaia auf dem Boden kniete und leise mit ihr sprach. Sie blieb einen Moment wie angewurzelt stehen, konnte kaum fassen, dass ihre Ahnung sie tatsächlich nicht getrogen hatte. Dann stürmte sie los, geradewegs auf Serenity zu. Noch ehe die Magierin sich umwenden konnte, traf sie ein harter Schlag ins Gesicht, der sie von Aglaia wegschleuderte. »Hab ich es doch geahnt!!« rief Selene, zog ihr Schwert und ging langsam auf Serenity zu, die halb bewusstlos vor ihr auf dem Boden lag.
»Du hast deine Aufgabe ohnehin erfüllt«, sagte sie kalt. »Ich brauche dich jetzt nicht mehr.« Sie hob ihre Waffe, doch die Klinge, die auf Serenity niedersauste, wurde im letzten Moment abgefangen. Funken sprühten, als das Schwert mit hellem Klirren auf Aglaias Waffe traf. Fassungslos sah Selene auf, direkt in die zornigen Augen der blonden Kriegerin. »Es wird Zeit, dass ich mich vorstelle«, sagte Aglaia, »ich bin die Frau, deren Eltern du in Caska vernichtet hast!« Selene erwiderte ihren Blick mit kalter Ruhe. »Na, dann lass sehen, was du kannst.« Während sich die Kontrahentinnen lauernd umkreisten, gewann Serenity ihr Bewusstsein zurück und erfasste die Situation mit einem Blick. Aglaia tat genau das, was sie vorhin vereinbart hatten, sie lenkte Selene ab. Nun war es an ihr, Thyra und Serena das Tor hierher zu öffnen. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass langsam Bewegung in Selenes Krieger kam und sie auf das Geschehen zusteuerten, um einzugreifen. Sie musste sich beeilen sonst würden sie beide ziemlich schnell in ziemlich großen Schwierigkeiten stecken. Thyra und Serena warteten ungeduldig. »Und wenn es Serenity nicht schafft?« fragte Serena. »Besser du denkst nicht mal daran«, entgegnete Thyra. Aglaia wurde sich rasch klar darüber, dass Selenes kämpferisches Geschick dem Thyras in nichts nachstand. Doch sie hatte schon einmal gegen die schwarzhaarige Kriegerin gekämpft und wäre beinahe Sieger geblieben.
Abgesehen davon musste sie Selene auch gar nicht besiegen, es galt nur, sie abzulenken, damit Serenity genug Zeit hatte, Thyra und Serena zu helfen. Zu viert hatten sie sicher wesentlich bessere Chancen, selbst wenn auch mit Alteas Eingreifen zu rechnen war. Die Geräusche, die sie in diesem Moment hinter sich wahrnahm, dämpften ihren Optimismus. Sie hatte an die leblos herumsitzenden Gestalten gar nicht mehr gedacht. »Du hast keine Chance«, sagte Selene verächtlich. »Wenn ich dich nicht erledige, dann tun es meine Leute.« »Lassen wir es doch drauf ankommen«, stieß Aglaia hervor. Sie griff so schnell an, dass Selene kaum Zeit zum Reagieren blieb. Im letzten Augenblick parierte Thyras dunkler Zwilling den Schlag, doch als sie zum Gegenangriff übergehen wollte, wich plötzlich alle Farbe aus ihrem Gesicht und sie taumelte zurück als habe sie ein harter Schlag vor die Brust getroffen. Aglaia sah Serenity an, die neben ihr aufgetaucht war. »Was ist los mit ihr?« »Nichts Besonderes«, entgegnete Serenity, »außer, dass ich sie gerade von ihrer Kraftquelle abgeschnitten habe.« Aglaia’s Blick wurde von einem Ring an Serenitys Finger angezogen, der in einem hellblauen Licht leuchtete. Serenity konzentrierte sich auf einen einzigen machtvollen Gedanken: ›Das Tor ist offen!‹ »Es ist soweit«, sagte Thyra. »Serenity hat es geschafft.« Sie ergriff Serenas Hand, hielt mit der anderen den blauen Stein hoch empor. Serena fühlte wieder diesen machtvollen Sog, den sie bereits kannte, dann verlor die Welt um sie herum an Substanz, machte abgrundtiefer Dunkelheit Platz.
Es dauerte nur Sekunden bis sich vor ihnen eine Öffnung auftat. Thyra und Serena durchquerten sie … … und fanden sich gleich darauf umringt von bewaffneten Kriegern, deren stumpfer Gesichtausdruck Serena nur zu bekannt vorkam. Auch wenn Selene der Zugang zu der dunklen Energie ihrer Gefolgsleute abgeschnitten war, so standen sie doch noch immer unter dem Einfluss ihres letzten Befehls: Ihre Herrin mit allen Mitteln zu verteidigen. Wie ein Mann zog die Horde ihre Schwerter. Und der Kampf begann. In der Zwischenzeit hatte sich Selene wieder erholt. Der plötzliche Verlust ihrer Energiequelle hatte einen Schock verursacht, dessen Nachwirkungen jedoch rasch wieder verschwanden. Thyras dunkler Zwilling hatte einen Teil ihrer Macht verloren, war aber noch lange nicht kampfunfähig. Als sie Thyra und Serena durch das Tor kommen sah, verzog sich ihr Gesicht sogar zu einem triumphierenden Grinsen. Schön und gut – die Dinge mochten ihr ein wenig aus der Hand geglitten sein, ihr Ziel würde sie aber dennoch erreichen. Ihr Blick fiel auf Thyra. Zum ersten Mal stand sie der verhassten Feindin von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Nun endlich konnte sie sie herausfordern, töten und dann ihren Platz einnehmen. Ganz leicht schien es zu sein, der Sieg war zum Greifen nahe. Doch Selene stand da wie angewurzelt, starrte Thyra an und fühlte zu ihrer grenzenlosen Verwunderung, dass sie es nicht konnte. Sie hatte diese Frau gehasst, seit sie ihr Eigenleben begonnen hatte. Nur ein Gedanke hatte sie beherrscht – sich zu rächen für die Unterdrückung, die Verleugnung ihrer Existenz.
Und nun, so nah am Ziel wurde ihr klar, dass sie Thyra niemals würde töten können. Sie war ein Teil von ihr, sie gehörten zusammen. Selene wurde bewusst, dass sie nicht Thyras Tod wollte, sondern ihre Akzeptanz. Ein Krieger nach dem anderen fiel unter den Schwertern der drei Freunde und noch immer beobachtete Selene den Kampf, konnte sich nicht entschließen, einzugreifen. Dann – endlich – fasste sie einen Entschluss. Doch noch bevor sie ihren Leuten den Befehl geben konnte, den Kampf zu beenden, spürte sie, wie etwas von ihr Besitz ergriff, etwas, das sie noch vor Kurzem sehnsüchtig herbeigewünscht und das sie jetzt fast völlig vergessen hatte. ›Dachtest du, ich lasse zu, dass du mir meinen schönen Plan verdirbst?‹ hörte sie Alteas Stimme in ihren Gedanken. »Thyra!!« hörte Selene ihre eigene Stimme rufen. Die Kriegerin wandte sich um und sah ihren dunklen Zwilling mit dem Schwert in der Hand auf der Empore stehen. »Es wird Zeit, dass wir es zu Ende bringen!« »Ganz wie du wünscht«, rief Thyra, stieß sich im gleichen Moment vom Boden ab, schlug einen Salto in der Luft und landete auf der Empore. »Fechten wir es aus!« Selene wollte nicht kämpfen, jetzt nicht mehr, doch eine andere Kraft, stärker als die ihre, hatte das Kommando übernommen und die setzte Thyra hart zu. Die Klingen prallten ein paar Mal hart aufeinander, dann wichen beide voneinander zurück, suchten erneut einen schwachen Punkt des Gegners. Selene packte ihre Waffe mit beiden Händen, holte seitwärts zum Schlag aus. Als Thyra den Angriff parierte, merkte sie sofort, dass ihre Gegnerin ihre Kraft bisher zurückgehalten hat-
te. Die Wucht des Hiebes war so gewaltig, dass der Kriegerin das Schwert aus der Hand gerissen wurde und in hohem Bogen durch den Raum flog. Ungläubig sah Thyra ihm nach. Es war bisher noch nie einem Gegner gelungen, sie zu entwaffnen, noch dazu so schnell. »Siehst du endlich ein, Thyra!« rief die vermeintliche Selene, »dass ich dir überlegen bin? Aber – falls du einen weiteren Beweis brauchst …« Ihre Hand wies auf die Kämpfenden in der Halle hinunter. Thyras Augen folgten ihr. Die Ereignisse überschlugen sich. Alles geschah so schnell, dass Thyra nicht mehr eingreifen konnte. Aglaias Gegner parierte ihren letzten Hieb und ehe die blonde Lehrmeisterin ausweichen konnte, stieß er ihr sein Schwert in die Brust, nagelte sie förmlich an die Wand. Aglaias Hände schlossen sich um die Klinge, als wolle sie sie herausziehen. Ungläubig starrte die ihren Gegner an, dann erschlaffte ihr Körper, ihre Arme fielen kraftlos herab. Serena hatte ihren Gegner zwar entwaffnet und zu Boden geworfen, doch konnte sie es nicht über sich bringen, den scheinbar Kampfunfähigen zu töten. Als sie sich aber dem nächsten Angreifer zuwenden wollte, griff der am Boden Liegende nach einer Streitaxt, die in seiner Nähe lag, schleuderte sie und spaltete der jungen Prinzessin den Schädel. Serenity hielt zwei der Marionettenkrieger mit der Macht ihrer Steine im Schach, doch einem dritten gelang es, sich von hinten an sie heranzuschleichen und ihr die Kehle durchzuschneiden. Thyra starrte auf dieses Horrorszenario, unfähig, sich zu bewegen. »Ich habe dich besiegt, Thyra«, hörte sie Selenes Stimme wie durch einen Nebel. »Der Kampf ist vorbei.« Thyra fühlte, wie Hass sie durchströmte wie glühende Lava.
Ihr Kopf fuhr herum, ihre Augen schienen den dunklen Zwilling zu durchbohren. »Im Gegenteil, Selene«, sagte sie mit leiser, bedrohlicher Stimme, »er fängt gerade erst an.« Im gleichen Moment verließ Altea Selenes Körper, ließ den dunklen Zwilling allein zurück mit der Verantwortung für Taten, die sie nicht begangen hatte. »Thyra … ich …« begann Selene, doch die Kriegerin schnitt ihr das Wort ab. »Sei still! Du hast genug geredet! Mir ist es egal, wie gut du kämpfen kannst und wie viel Macht du besitzt. Ich werde nicht eher von hier fortgehen, bis ich dich vernichtet habe!!« Der wahnsinnige Schmerz, der wilde Hass in Thyras Stimme, ließ Selene erzittern. Nach wie vor fühlte sie sich nicht in der Lage, gegen Thyra zu kämpfen und so sah sie nur einen Ausweg. Sie drehte sich um und lief davon. Blind vor Zorn und Schmerz nahm Thyra die Verfolgung auf. An ihr Schwert dachte sie nicht mehr. »Was ist denn jetzt los?« rief Aglaia erstaunt. Sie und Serena hatten den Kampf gerade endgültig für sich entschieden und auch Serenity war mit ihren Gegnern fertiggeworden. Alle drei starrten völlig entgeistert auf Thyra, die das überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen schien, obwohl sie unverwandt in die Halle hinunter starrte. Dann plötzlich nahm das Gesicht der Kriegerin einen so entsetzen Ausdruck an, dass Aglaia und Serena sich unwillkürlich umwandten, in Erwartung, irgendein grässliches Monster aus den Tiefen der Hölle auftauchen zu sehen. Doch da war nichts. Thyras Blick wanderte gehetzt durch den Raum, verweilte kurz hintereinander an drei verschiedenen Orten, als gäbe es dort etwas
unaussprechlich Schreckliches zu sehen und wandte sich dann an Selene um sie wie von Sinnen anzuschreien. Sekunden später ergriff der dunkle Zwilling die Flucht und Thyra folgte ihr. »Und was jetzt?« fragte Aglaia entgeistert. »Ja, welche Wahl haben wir denn?« rief Serena. »Ich begreife zwar so wenig wie ihr, was hier vor sich geht, aber wir müssen ihnen nach.« Auch Serenity hatte das bizarre Schauspiel beobachtet, doch war ihr etwas aufgefallen, das den beiden anderen entgangen war. »Habt ihr gesehen? Thyra stand mit leeren Händen da. Selene muss sie entwaffnet haben. Das jedoch heißt …« »… dass sie vor schwarzer Magie nicht mehr geschützt ist«, beendete Serena den Satz. »Kommt, lasst uns keine Zeit verlieren.« Thyra wurde von ihrem Zorn vollkommen beherrscht. Sie achtete nicht darauf, wohin sie Selene folgte. Wie ihr dunkler Zwilling noch Stunden zuvor, war nun sie von Rachegedanken besessen. Es war alles, was ihr geblieben war. So jedenfalls schien es ihr. Selene floh vor diesem Hass und Thyra merkte nicht, dass ihre Jagd sie auf vertrautes Gebiet führte. Der dunkle Zwilling hatte ihr Versteck auf Alteas Rat hin ausgesucht und es war kein anderer Ort, als die Gewölbe, die den unterirdischen See umgaben, der einstmals Heimstatt der dunklen Quelle gewesen war. Der Ort, an den Altea von Thyra und Serenity verbannt worden war. Der Gang, durch den Thyra lief, war nur spärlich beleuchtet, dennoch verlangsamte die Kriegerin keineswegs ihr Tempo. Als der Gang jedoch in eine Felsenhalle mündete, in deren Mitte ein großer, schwarzer Monolith aus einem See voll tiefschwarzen Wassers ragte, blieb sie wie angewurzelt stehen.
Schlagartig wurde ihr klar, dass sie diesen Ort nur allzu gut kannte. Doch dann sah sie Selene am Ufer des Sees stehen und augenblicklich verdrängte der Hass ihre Erinnerung. »Ich verstehe nicht, weshalb Selene geflohen ist«, sagte Aglaia. Die drei bewegten sich vorsichtig durch den in Zwielicht getauchten Gang. »Sie hat Thyra doch entwaffnet. Warum hat sie den Kampf unterbrochen?« »Weil sich der eigentliche Kampf auf ganz anderer Ebene abgespielt hat«, sagte Serenity. »Es ging nicht darum, Thyra zu besiegen, es ging darum, sie von ihrem Schwert zu trennen.« Serenity hatte die Führung übernommen. Sie wusste schon lange, wo sie sich befanden und wohin dieser Gang führte. »Kannst du dich auch verständlich ausdrücken?« kam es ungeduldig von Serena, die sich Sorgen um ihre Liebste machte. »Es gibt eine Kraft, die hinter all dem steht«, versuchte Serenity zu erklären. »Altea«, warf Aglaia ein, »die Schwarzmagierin, die ihr damals besiegt habt. Dieselbe, die Thyra und mich auf dem Schiff angegriffen hat.« »Richtig und sie ist auch die eigentliche Gefahr. Aber Selene ist der Schlüssel. Sie ist ein Teil von Thyra und der einzige Weg, sie zu besiegen, ist, dass Thyra sie als Teil ihrer selbst akzeptiert und annimmt. Wird Selene aber von Thyra getötet, dann vernichtet Thyra sich selbst. Und genau darauf ist Altea aus. Ich sah wie Selene zögerte, als sie Thyra hätte angreifen konnte. Mir schien, als ob sie es nicht konnte. Es würde mich nicht überraschen, wenn Altea im richtigen Moment eingegriffen hätte, um zu verhindern, dass Selene von sich aus die Wiedervereinigung versucht.« »Sag mal«, warf Aglaia ein, »woher weißt du das eigentlich alles?«
»Das erkläre ich dir später. Jetzt müssen wir erst einmal Thyra einholen, bevor sie einen Fehler macht, der nie wieder gut zu machen ist.« Thyra stellte Selene am Ufer des dunklen Sees. Aus der Nähe konnte sie sehen, wie schwarzes Wasser den Monolithen herunterrann, aus ihm heraussprudelte. Sie hatte also richtig vermutet. Das Siegel der dunklen Quelle war aufgebrochen, das Tor zur Unterwelt wieder geöffnet worden. Doch im Augenblick kümmerte sie das wenig. Alles was sie sah, war Selene, ihr dunkler Zwilling, dessen Flucht am Ufer des Sees ein jähes Ende fand. »Thyra, bitte, hör mir zu«, begann Selene, doch ein heftiger Schlag mit dem Handrücken ins Gesicht unterbrach sie. »Wehr dich!« zischte Thyra. Selene wischte sich über den Mund, fühlte das Blut an ihren Fingern. Sie schüttelte den Kopf. »Ich kämpfe nicht gegen dich.« Die Antwort war ein Faustschlag in den Magen und als Selene sich vor Schmerz zusammenkrümmte, traf sie Thyras Ellbogen am Unterkiefer. Nur mit Mühe hielt sie sich auf den Beinen. »Wehr dich!!« herrschte Thyra sie an. Mit aller Entschlossenheit, die sie aufbringen konnte, sah Selene Thyra an. »Nein!« Thyra schlug zu. Erbarmungslos. »Wehr dich!!« »Nein!!« »Wehr dich!!!« »Nein!!!« schrie Selene, »und wenn du mich totschlägst. Ich werde nicht gegen dich kämpfen!! Ich kann es nicht!!«
»Dein Pech«, stellte Thyra eiskalt fest. Sie drehte sich blitzschnell um sich selbst, ihr Fuß traf Selenes Schläfe, ließ die Gegnerin blutend zu Boden stürzen. Thyra kniete ungerührt neben ihr nieder, packte sie und drehte sie zu sich herum. Die Hand zum letzten, tödlichen Schlag erhoben, sah sie höhnisch auf die besiegte Gegnerin herab. »Wir müssen doch irgendetwas tun können!« Serena hatte ebenso wie ihre Freunde den ungleichen Kampf beobachtet. Sie hatte eingreifen wollen, war aber von Serenity zurückgehalten worden.. »Nein, dazu ist es zu spät. Thyra muss die letzte Entscheidung selbst treffen. Wenn sie nicht von sich aus einsieht, dass Selene ein Teil von ihr ist, den sie nicht töten darf, wird eine Vereinigung nicht möglich sein. Selbst wenn wir jetzt verhindern, dass Thyra sie tötet.« Selene sah Thyra mit müden Augen an. Für einen Moment zögerte die Kriegerin. »Nun schlag’ schon zu, Thyra. Bring es hinter dich und erfahre niemals die Wahrheit: Die Dinge sind nicht immer wie sie scheinen«, sagte der dunkle Zwilling leise. Sie schloss die Augen und erwartete den tödlichen Schlag. Doch der blieb aus. Thyra hatte die Hand sinken lassen. Der feste Griff, der Selene gehalten hatte lockerte sich. Die Worte des dunklen Zwillings hatten eine Erinnerung in der Kriegerin geweckt. Kharamayn! Was waren die letzten Worte des Orakels an sie gewesen? Die Warnung, die ihr von dort mit auf den Weg gegeben wurde?
›Wenn du in den Spiegel deiner Seele schaust, darf Hass dich nicht beherrschen.‹ Für einen Moment war Thyra verwirrt. Selene spürte die Veränderung und beschloss, ihre Chance zu nutzen. »Thyra, ich habe deine Freunde nicht getötet. Als ich dich sah, dich zum ersten Mal lebendig vor mir sah, war es mir nicht mehr möglich, dich zu hassen. Du bist ein Teil von mir und ich von dir. Aber im selben Moment, als ich das erkannte, ergriff sie von mir Besitz. Ich konnte es nicht verhindern.« Selenes Stimme klang eindringlich und Thyra fühlte durch Zorn und Hass hindurch, dass sie ihr glaubte. Binnen Sekunden wurde ihr klar, was Serenity längst wusste. Die Kraft, die für die Abspaltung ihres dunklen Zwillings verantwortlich war, hatte wieder eingegriffen, hatte ihre Gefühle manipuliert, ihren Zorn und Hass auf Selene gelenkt. Mit dem Ziel, dass der dunkle Zwilling von Thyra vernichtet wurde. Der dunkle Zwilling, der ein Teil von ihr war. »Altea!« Thyra stieß den Namen wie einen Fluch hervor. Selene nickte. Und mit einem Mal verschwanden Zorn und Hass auf dieses Wesen und zurück blieb nur ein einziges Gefühl: Mitleid. Langsam reichte sie Selene die Hand. »Komm, ich helfe dir.« Erleichtert nahmen Thyras Freunde zu Kenntnis, dass Thyra nicht länger Mordabsichten hegte. Doch ihre Freude kam zu früh. Gerade als sie auf die beiden zugehen wollten, um das Missverständnis ihres Todes aufzuklären, ragte plötzlich eine Mauer aus
Glas wie aus dem Nichts vor ihnen auf und versperrte ihnen den Durchgang. Selene wollte Thyras ausgestreckte Hand gerade ergreifen, als ein Schatten auf die beiden fiel. Eine ungeheure Kraft riss Thyra zurück, hob sie spielend hoch in die Luft und schleuderte sie das Ufer entlang. Benommen schüttelte Thyra den Kopf, sprang aber rasch wieder auf die Beine. Vor ihr stand eine Frau, von der sie sich gewünscht hätte, sie nie in ihrem Leben wiederzusehen. »Altea! Zeigst du dich endlich selbst?!« »Wenn alles andere versagt … Ich war schon immer der Ansicht, dass man selbst tun muss, was man gut getan haben will.« »Sag mir nur eins: Wie bist du aus deinem Gefängnis entkommen?« »Nicht entkommen, Thyra. Ich erhielt eine zweite Chance. Und die werde ich nutzen! Mein Geschenk an die Welt jenseits der dunklen Quelle wird die Seele einer schwarzen Kriegerin sein!« Mit diesen Worten stürzte sie sich so schnell auf Thyra, dass die Kriegerin nicht mehr ausweichen konnte. Alteas Arme umklammerten sie wie ein Schraubstock. Mit aller Macht versuchte Thyra, sich zu befreien, doch mit übermenschlicher Kraft zog Altea sie Stück für Stück auf den See zu. Thyras Gedanken überschlugen sich, als sie nach einem Ausweg suchte. Alteas Kraft schien unüberwindlich zu sein. Doch dann geschah alles gleichzeitig. Thyra sah jemanden durch die Luft auf sie zufliegen, etwas traf ihre Gegnerin mit aller Gewalt, der feste Griff lockerte sich für einen Moment. Thyra nutzte sofort die Chance, sich zu befreien.
»Schnell, Thyra!« hörte sie Selenes Stimme. »Bevor sie sich wieder erholt.« Thyra warf ihrem dunklen Zwilling einen raschen Blick zu und nickte. Sie holten beide zu einem kraftvollen Schlag aus, der Altea vor die Brust traf und sie weit hinaus in den See schleuderte. Thyra rang nach Atem, hätte fast das Gleichgewicht verloren, doch jemand war rechtzeitig da, um sie zu stützen. Sie sah auf und erkannte Selene. »Ich finde, wir sind ein gutes Team«, sagte ihr Zwilling. Bevor Thyra etwas erwidern konnte, begann das Wasser im See zu brodeln. Altea, die schon angesetzt hatte, ans Ufer zurückzuschwimmen, hielt inne, als plötzlich etwas unter Wasser nach ihren Beinen griff. »Nein!!« brüllte sie. »Ihr habt mir eine zweite Chance gewährt. Lasst mich meine Rache vollenden!!« Doch der feste Griff um ihr Fußgelenk lockerte sich nicht. »Ich lasse mich von euch nicht betrügen!!« schrie Altea. »Ihr habt es mir versprochen!« Doch niemand zeigte sich von ihrem wütenden Protest beeindruckt. Thyra und Selene sahen zu, wie Altea trotz ihres wütenden Geschreis schließlich unter Wasser gezogen wurde und verschwand. Lautlos versank auch der Monolith im Wasser. Die dunkle Quelle war ein zweites Mal versiegt und diesmal, wie Thyra hoffte, für immer. Mit Altea war auch der Einfluss ihrer dunklen Kraft verschwunden. Thyra sah auf die Stelle, an der Selene eben noch gestanden hatte. Der dunkle Zwilling war fort. Im selben Moment fühlte Thyra eine angenehme Wärme, die sich in ihr ausbreitete, bis sie sie
überall in ihrem Körper spürte. Gleich darauf kehrten auch ihre Erinnerungen zurück. »Thyra?« hörte sie da eine vertraute Stimme. Die Kriegerin fuhr herum, starrte einen Moment fassungslos auf ihre Freunde, die heil und gesund vor ihr standen. Ihre Blick blieb an Serena hängen. Die beiden zögerte nur eine Sekunde, dann lagen sie sich in den Armen, hielten sich so fest sie nur konnten. Aglaia und Serenity mussten unwillkürlich lächeln und wechselten einen vielsagenden Blick. »Meine Aufgabe hier ist erfüllt«, sagte Serenity. »Dank eurer Hilfe ist Altea wieder da, wo sie hingehört und diesmal sollte es ihr wesentlich schwerer fallen, einen Weg zurückzufinden. Die Mächte des Bösen hassen Versager über alles.« »Du bist mir übrigens noch eine Antwort schuldig, Serenity«, erinnerte Aglaia sie. Die Magierin lächelte. »Ich weiß die Dinge, die ich wissen muss, um die Mächte des Lichtes in ihrem Kampf zu unterstützen.« »Aber wie konntest du dann unter Alteas Bann geraten?« »Wenn alle Krieger und Kriegerinnen des Lichtes unverwundbar und unangreifbar wären, dann wäre das Böse in der Welt schon seit langem besiegt«, entgegnete Serenity lakonisch. Thyra wandte sich an Aglaia. Sie erinnerte sich nicht nur wieder an die Freundschaft, die sie mit der jungen, blonden Kriegerin verband, sondern auch an alles, was nach Alteas heimtückischem Anschlag geschehen war. Dass sie diejenige war, die ungewollt den Tod von Aglaias Eltern verschuldet hatte. »Ich habe nichts von dem vergessen, was du mir gesagt hast.« Aglaia nickte »Lass uns nicht jetzt darüber reden. Dafür ist noch viel Zeit.«
»Ja«, stimmte Thyra zu und war froh, als ihr etwas verlegenes Lächeln von Aglaia erwidert wurde. Sie beschlossen, zur T’mar Schule zurückzukehren. Serenity wollte sie begleiten und so brachen die vier früh am nächsten Morgen in der Hoffnung auf, dass die Zeit der Abenteuer vorerst beendet war. Sie sollten gründlich enttäuscht werden.
10) Thyras und Aglaia’s Rückkehr wurde in der T’mar Schule stürmisch gefeiert. Meister Yago selbst gab ein kleines Fest für seine beiden Lehrmeisterinnen und deren Freunde und tat so, als merke er nicht, dass zwischen Thyra und Aglaia nicht mehr ganz die alte Vertrautheit herrschte. Erst später, als die Morgendämmerung kurz bevorstand und die Festgesellschaft sich aufzulösen begann, nahm er Thyra beiseite und bat sie, noch ein wenig zu bleiben, da er ihr noch etwas Wichtiges zu sagen habe. »Hat das nicht Zeit bis morgen?« fragte Thyra. »Wir sind alle ziemlich erschöpft.« »Ich würde dich nicht gefragt haben, wenn es nicht wirklich wichtig wäre!« entgegnete Meister Yago und seine Stimme klang so eindringlich, dass Thyra sich schließlich bereit erklärte. »Geht ihr nur schon«, sagte sie zu Serena, »es wird sicher nicht lange dauern.« Serena runzelte die Stirn. »Was ist denn so wichtig, dass es nicht ein paar Stunden warten kann?«
Aus irgendeinem Grund war ihr Misstrauen geweckt. Vielleicht lag es daran, dass ihr Meister Yago von Anfang an nicht sonderlich sympathisch gewesen war. Serena fand, das etwas Berechnendes in seinen Augen war. Abgesehen davon war sie davon überzeugt, dass er eine Rolle spielte und sein wahres Ich, zumindest aber einen Teil davon, sorgsam hinter dieser Fassade verbarg. Damit war sie, ohne es zu wissen, zu einem ähnlichen Schluss wie auch Thyra gelangt, als die Kriegerin zum ersten Mal auf Meister Yago getroffen war. Serena wusste, dass Thyra hier Lehrmeisterin war. Sie selbst war sich aber ganz und gar nicht sicher, ob sie an der Schule bleiben wollte. Sie hatte beschlossen, so bald wie möglich mit Thyra darüber zu reden. »Ich komme bald nach, das verspreche ich dir«, sagte Thyra jetzt. Serena nickte. Am liebsten wäre sie geblieben, aber sie respektierte Thyras Wunsch und ging schließlich ohne ihre Liebste zu deren Hütte. Auch Serenity und Aglaia hatten sich zurückgezogen und als die Festgesellschaft sich ganz aufgelöst hatte und nur noch Meister Yago und Thyra übriggeblieben waren, wandte sich der Meister an die Kriegerin. »Es gibt etwas, das ich dir unbedingt zeigen muss. Es ist überaus wichtig für die Zukunft der Schule.« Thyra runzelte die Stirn. Irgendwie kam ihr das Ganze nun auch merkwürdig vor. Meister Yago sah es und legte ihr beschwörend die Hand auf den Arm. »Bitte, ich übertreibe nicht. Es ist etwas geschehen während eurer Abwesenheit, das du unbedingt wissen musst.« »Warum nur ich? Warum nicht auch Aglaia?«
»Aglaia werde ich später einweihen. Erst möchte ich deine Meinung hören.« Thyra merkte, dass aus Meister Yago nichts herauszubekommen war. Sie würde ihm schon folgen müssen und um des lieben Friedens willen beschloss sie, genau das zu tun. Umso schneller würde sie vielleicht endlich ins Bett und zu ihrer Liebsten kommen. Meister Yago führte sie den breiten Weg bis zum Eingangstor hinunter. Jenseits des Tores gingen sie noch einige hundert Meter weiter auf einem notdürftig angelegten Pfad durch Sträucher und Gestrüpp. Gerade als Thyra ihren Unwillen offen äußern wollte, blieb Meister Yago vor einer Felswand stehen. Er betätigte rasch einen unsichtbaren Mechanismus. Eine etwa mannshohe Tür wurde sichtbar, die nach innen aufschwang. Meister Yago bedeutete der staunenden Thyra ihm zum folgen und gemeinsam betraten sie die hinter der Tür liegende Felsenhöhle. Serena fand keine Ruhe. Vor einer halben Stunde noch war sie todmüde gewesen, doch ihre Sorge um Thyra hatte sie wieder hellwach werden lassen. Unruhig wanderte sie in der Hütte herum. Irgendetwas musste sie tun. Und so beschloss sie, Serenity um Rat zu fragen. Wider Erwarten, war die Magierin noch wach, es schien sogar, als habe sie Serena erwartet. »Du machst dir Sorgen um Thyra, nicht wahr?« fragte sie, noch ehe Serena ein Wort sagen konnte. »Woher weißt du das?« fragte Serena überrascht. »Ich bin nicht von ungefähr mit euch zurückgekommen«, sagte Serenity. »Ich habe gespürt, dass die Gefahr noch nicht vorüber ist.
Etwas Seltsames geht hier vor, das fühle ich, aber ich weiß nicht was es ist.« Serena stand auf. »Das genügt mir. Ich gehe und suche Thyra!« »Warte einen Augenblick!« rief Serenity und stand ebenfalls auf. »Ich komme mit.« Sie hatten das Haus von Meister Yago fast erreicht, als sich die Tür öffnete und der Meister in Thyras Begleitung heraustrat. Bevor Serenity und Serena entdeckt werden konnte, verbargen sie sich rasch hinter einer Hüttenwand. Sie sahen, wie Yago und die Kriegerin auf das Eingangstor zugingen. »Was tun wir jetzt?« fragte Serenity. »Ganz einfach«, sagte Serena. »Ich werde ihnen folgen und du gehst und informierst Aglaia. Wenn hier wirklich etwas Unheilvolles im Gange ist, werden wir alle Hilfe brauchen, die wir kriegen können. Auch wenn Aglaia noch so große Stücke auf ihren Meister hält, ich glaube kaum, dass sie uns im Stich lassen wird.« Serenity nickte. »Einverstanden. Aber sei vorsichtig. Und sei sicher, dass ich euch finden werde.« Serena lächelte ihr zu. Gleich darauf war sie fort. Meister Yago hatte am Höhleneingang zwei Fackeln aus ihrer Halterung genommen und sie angezündet. Er reichte Thyra eine davon und ging ihr voraus. Während die Kriegerin ihm zögernd folgte, stellte sie fest, dass sie eigentlich an dem Geheimnis, das Meister Yago mit ihr zu teilen wünschte, nicht mehr sonderlich interessiert war. Ihr Instinkt warnte sie, dass hier tatsächlich etwas Unheimliches im Gange war. Sie überlegte, ob sie umkehren sollte, entschied aber dann, den einmal eingeschlagenen Weg weiterzugehen und herauszufinden, was hinter all dem steckte. Und wer!
Sie musste nicht lange warten. Der Gang endete in einer geräumigen Felsenhöhle, die von unzähligen in stabilen Haltern an den Wänden angebrachten Fackeln hell erleuchtet wurde. Geblendet schloss Thyra für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete verschlug es selbst ihr die Sprache bei dem Anblick, der sich ihr bot. Berge von Goldmünzen, Truhen aus Gold, reich verziert und voll kostbarer Steine und Schmuckstücke, kunstvoll gearbeitete Waffen aus Silber und Bronze, Rüstungen, die schimmerten, als hätten sie eine eigene Leuchtkraft, Schränke aus edelsten Hölzern, in denen kostbare Gewänder hingen. Die Wände wurden von Wandteppichen geziert, die phantasievoll gewebte Bilder zeigten. Gerätschaften aus Gold, Silber und Bronze lagen überall herum. Thyra starrte ungläubig auf diese Ansammlung verschwenderischen Reichtums, dessen Besitzer ohne jeden Zweifel Meister Yago selbst war. »Schon bei unserer ersten Begegnung war mir klar, dass Euch an eurem materiellen Wohl gelegen ist«, wandte sich Thyra an ihn. »Aber es fällt mir dennoch schwer zu glauben, dass es Euch gelungen ist, in all den Jahren einen solchen Reichtum anzuhäufen.« Meister Yago lachte. »Da hast du recht«, entgegnete er. »Und noch gehören mir all diese Kostbarkeiten nicht. Aber noch heute Nacht wird sich das ändern.« Thyra schwante Böses Doch noch ehe sie reagieren konnte, traf sie ein heftiger Schlag zwischen die Schulterblätter. Sie fuhr herum, doch Meister Yago hatte sich schon mit einem Sprung aus der Gefahrenzone gebracht. »Was soll das?!« herrschte sie den Meister an, wollte auf ihn zu gehen.
Doch zu ihrem Schrecken merkte sie, dass ihre Beine ihr den Dienst versagten, sie taumelte, stürzte zu Boden. Yago hatte einen Nervenpunkt getroffen, der zeitweise Lähmung bewirkte. Als sie aufsah, erblickte sie Meister Yago, der über ihr stand, der Ausdruck seiner Augen erinnerte sie an etwas. An Jemanden! »Was das soll?« hörte sie eine Stimme, die nur noch entfernt an Meister Yago erinnerte. »Das will ich dir sagen. Ich habe einen Pakt geschlossen mit einer, die mich reich machen wird, einer, die meine Sehnsucht nach Gold verstand und zu würdigen wusste. Sie versprach mir alles, was du in dieser Höhle siehst und verlangte nur eine kleine Gegenleistung.« »Aber sie ist tot!« brachte Thyra mühsam hervor. »Wir haben sie vernichtet.« »Und wenn schon«, war die gleichgültige Antwort. »dann wirst du ihr eben folgen. So lautet der Vertrag – dein Leben für den Schatz. Ich werde kein Risiko eingehen.« Für einen Moment ruhte sein Blick mit Wohlgefallen auf den Kostbarkeiten, die er schon zum Greifen nahe wähnte. Thyra nahm ihre ganze Kraft zusammen und trat zu. Meister Yago hatte die Wirkung seines Giftes überschätzt. Der Tritt traf ihn hart in den Unterleib, mit schmerzverzerrten Gesicht krümmte er sich zusammen. »Du verfluchtes Miststück!« presste er durch zusammengebissene Zähne hervor. »Ich werde dich eigenhändig töten.« Doch noch ehe er zuschlagen konnte, mischte sich jemand ein. Jemand den Meister Yago nicht erwartet hätte. Ein paar gut platzierte Schläge trafen ihn an Brust und Kopf, schleuderten ihn von Thyra fort. Blind vor Schmerz verlor er für einen Moment das Bewusstsein. Thyra sah sich nach ihrer unverhofften Verstärkung um und sah Serena, die besorgt neben ihr kniete.
»Alles in Ordnung mit dir?« »Na ja, die Lähmung wird in ein paar Minuten vergehen. Aber bis dahin bin ich so gut wie kampfunfähig. Was tust du überhaupt hier, Serena?« »Ich bin euch gefolgt. Ich habe diesem Kerl da von Anfang an nicht getraut.« »Es ist schlimmer, als du meinst, Serena. Alteas Erbe steckt in ihm. Sie hat sich an ihn herangemacht und ihm diesen Schatz versprochen, wenn er mich tötet. Ich habe ihn daran erinnert, dass Altea von uns vernichtet wurde, aber er glaubt, er bekommt den Schatz nur, wenn er den Pakt auch erfüllt. Aber das ist nicht das Schlimmste – in seinen Augen konnte ich etwas von Alteas Kraft sehen. Sie hat uns ein Erbe hinterlassen. Ein tödliches Erbe.« In diesem Augenblick kam die Kreatur, die einmal Meister Yago gewesen war, wieder zu sich. Das Wesen wandte den Kopf, sein Blick fiel auf die beiden Freunde. Serena erkannte entsetzt, dass Thyra nicht übertrieben hatte. Augenhöhlen, tot und leer, und dennoch intensiven Hass ausstrahlend, starrten sie an. »Hört das denn nie auf?!« seufzte Serena. Das Wesen fixierte sie sekundenlang aus seinen blicklosen Augen, dann griff es plötzlich mit katzenhafter Geschmeidigkeit an. Serena sprang auf, Thyra wollte es ihr gleichtun, doch ihr Körper gehorchte ihr noch immer nicht. Die junge Prinzessin musste den Kampf allein aufnehmen. »Nein!« sagte Thyra und versuchte, ihre Liebste festzuhalten, doch Serena schüttelte ihre Hand ab. »Sieh zu, dass du wieder auf die Beine kommst, ich lenke ihn solange ab.« Doch das war leichter gesagt, als getan.
Meister Yago war schon vorher ein überdurchschnittlich guter Kämpfer gewesen, doch jetzt, mit Alteas unheilvollem Erbe in sich, brauchte es mehr als einen Herausforderer, um ihn zu besiegen. Noch vor Augenblicken hatten ihn Serenas Schläge außer Gefecht setzen können, jetzt wehrte er sie ab, als wären es die Schläge eines Kindes. Sein Gegenangriff war hart, kalt, ohne jedes Gefühl und sehr effektiv. Serena setzte sich tapfer zur Wehr, parierte den Angriff so gut sie konnte, doch ein harter, gut gezielter Schlag traf sie so heftig, dass sie zu Boden ging. Yago griff im Vorbeigehen nach einem Bronzeschwert, hielt es hoch über dem Kopf, um es auf seine vermeintlich hilflose Gegnerin niedersausen zu lassen. Doch so schnell gab sich Serena nicht geschlagen. Sie warf ihren Körper nach links, rollte seitwärts weg und kam wieder auf die Füße. Das Schwert prallte mit hellem Klang auf dem Steinboden auf und zerbrach. Yago warf es achtlos zur Seite und hob gerade noch rechtzeitig die Hand, um den Dolch abzuwehren, den Serena nach ihm geworfen hatte. Ein paar Augenblicke lang fixierten sie sich, dann griff Yago erneut an und diesmal versuchte Serena vergeblich, sich zu schützen, eine Kombination aus Schlägen und Tritten trieb sie zurück, ließ sie erneut zu Boden stürzen, diesmal aus vielen Wunden blutend. Es war offensichtlich, dass sie allein keine Chance gegen diese Kampfmaschine hatte. Thyra sah, dass sie eingreifen musste, wenn sie nicht mitansehen wollte, wie ihre Geliebte vor ihren Augen zu Tode geprügelt wurde. Serena war mühsam wieder aufgestanden, Blut lief ihr aus einer großen Platzwunde an der Stirn in die Augen. Blind schlug sie in
die Richtung, aus der sie Yagos Angriff erwartete, doch der war bereits hinter ihr, beide Hände zu einer einzigen Faust verschränkt, bereit zum letzten, tödlichen Schlag. Doch auch diesmal wurde seine Absicht vereitelt. Angst und Zorn hatten Thyra übermenschliche Kräfte verliehen, die ihr halfen, die Lähmung endgültig abzuschütteln. Sie verlor keine Zeit, stieß sich von der Felswand ab und traf Yago mit einem Sprungtritt vor die Brust, der seine Rippen krachen und zerbersten ließ. Das Monster taumelte schwer angeschlagen zurück. Angeschlagen, aber noch lange nicht besiegt. Doch für den Augenblick genügte es. Thyra packte Serena und zog sie aus der Gefahrenzone. Kraftlos hing die junge Kriegerin in Thyras Arm. Ihr Gesicht war so blass, dass Thyra erschrak. Vorsichtig lehnte sie die Freundin an die Felswand, fort aus Yagos Einflussbereich. »Lass mich nur wieder auf die Beine kommen«, brachte Serena mühsam hervor und versuchte ein Lächeln, das jedoch gründlich misslang. »Dann mache ich ihn fertig.« »Das wirst du nicht tun, Serena. Überlass das mir, du hast genug getan.« Serena versuchte sich aufzurichten, sank jedoch rasch wieder zurück, als ihr schmerzender Kopf sie eines besseren belehrte. »Ich glaube, du hast recht«, sagte sie leise und Thyra sah voller Sorge, dass feine Blutstreifen aus Serenas Nase und Ohren liefen. Eine schwere Kopfverletzung. Serena brauchte einen Heiler und zwar so schnell wie möglich. Doch daran war vorerst nicht zu denken. Thyra warf einen Blick auf das Monster, zu dem Meister Yago geworden war, und das sich von seiner Verletzung schon wieder erholt zu haben schien.
Die Kriegerin wusste nicht, wie sie ihn besiegen sollte. Nur eins wusste sie ganz genau – sie würde Serena niemals verlassen. Aglaia hatte eigentlich vorgehabt, sich sofort schlafen zu legen, doch ebenso wie die anderen, hatte auch sie eine innere Unruhe wachgehalten. Während sie noch überlegte, ob sie zu Serena oder Serenity hinübergehen sollte, klopfte es an die Tür. Als Aglaia öffnete, sah sie Ricard vor sich, der ganz im Gegensatz zu seiner sonst in jeder Situation zur Schau gestellten Ruhe und Überlegenheit jetzt beunruhigend ängstlich und unsicher wirkte. Für Aglaia war dieser Anblick so ungewohnt, dass sie ihn ohne Fragen zu stellen hereinließ. Ricard setzte sich wortlos auf einen Stuhl und ließ den Kopf in die Hände sinken. »Es ist sehr spät, Ricard«, sagte Aglaia, als das Schweigen anhielt. »Sagst du mir jetzt bitte, was du von mir willst?« Ricard hob ruckartig den Kopf. Sein Gesicht war blass, Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet, seine Mundwinkel zitterten. Aglaia erschrak. Ricard in diesem Zustand konnte nur bedeuten, dass etwas Schlimmes geschehen war. »So rede doch, Mann!!« herrschte sie ihn ungeduldig an. »Was ist passiert?!« Ricard bemühte sich zu sprechen, brachte aber zunächst kein Wort heraus. »Er … er ist verrückt geworden, sie … es … hat ihn wahnsinnig gemacht«, stieß er schließlich hervor. Aglaia verlor vollends die Geduld. »Ricard, das ist nicht die Zeit für Ratespiele«, sagte sie mühsam beherrscht. Und als er immer noch nicht antwortete, stand sie auf, packte ihn an den Schultern und riss ihn hoch.
»Rede, verdammt!!!!« fuhr sie ihn an. »Wer ist wahnsinnig geworden?« »Meister Yago!« Unvermittelt ließ Aglaia ihn los, so dass er wie das Häufchen Elend, das er war auf den Stuhl zurückfiel. Die blonde Kriegerin brauchte ein paar Sekunden, ehe ihr klar wurde, was Ricard da gesagt hatte. Meister Yago. Der Mann, der sie aufgenommen, der sie wie seine Tochter behandelt hatte. Dann dachte sie an Thyra und Yagos Bitte, sie unter vier Augen sprechen zu dürfen. »Was ist geschehen? Hat es mit Thyra zu tun?« Ricard nickte zögernd. »Er will sie töten. Er hat einen Pakt geschlossen mit einer … einem Wesen … einer dunklen Macht, genau weiß ich es nicht. Es geht um Reichtum, großen Reichtum. Er hat Gold nie abgelehnt, aber solch eine Gier … als ob das Schlechteste in ihm plötzlich die Überhand gewonnen hätte.« Die Worte trafen Aglaia wie Schläge ins Gesicht. Noch ehe sie etwas sagen konnte, klopfte es erneut. Aglaia erhob sich wie betäubt und riss die Tür auf. Diesmal war es Serenity. »Aglaia, du musst uns helfen. Yago wird Thyra und Serena töten, wenn wir nicht sofort eingreifen.« »Dann stimmt es also tatsächlich«, sagte Aglaia düster. »Du weißt es bereits?« Aglaia wies auf Ricard, der noch immer in sich zusammengesunken auf seinem Stuhl saß. »Er hat mir gerade die freudige Nachricht überbracht.« Serenity nickte. »Ich verstehe. Wir müssen uns beeilen.«
Aglaia verlor keine Zeit. Ein Blick auf Ricard sagte ihr, dass der einstige Vertraute von Meister Yago zur Zeit keine Gefahr darstellte. Sie würde sich später um ihn kümmern. Falls es ein »Später« gab. »Kennst du den Weg?« fragte sie Serenity. Die weiße Magierin lächelte. »Folge mir einfach!« ›Weshalb stehe ich eigentlich noch?‹ fragte sich Thyra, als sie sich wider besseres Wissen noch einmal aufraffte, um weiter gegen ein Monster zu kämpfen, das schon zu seinen Zeiten als Mensch nur schwer zu besiegen gewesen war. Nur dass sie damals eine wesentlich bessere Chance gehabt hätte. Sie hatte in den vergangenen Minuten einiges einstecken müssen und wenn auch ihr Gegner nicht ungeschoren geblieben war, so schienen ihm seine Verletzungen weit weniger auszumachen. Thyra wusste, dass Alteas Kraft ihn früher oder später als Sieger aus dem Kampf würde hervorgehen lassen. Sie konnte es sich leicht machen und auf der Stelle aufgeben, fast schien ihr diese Aussicht verlockend, doch dann fiel ihr Blick auf Serenas totenblasses Gesicht. Nein, solange ihre Freundin noch lebte, würde Thyra nicht aufgeben. »Sie wird bald nicht mehr am Leben sein«, hörte Thyra Meister Yago’s Stimme. Sie klang dumpf und verzerrt. »Sehr bald sogar. Egal wie sehr du dich auch bemühst, du wirst es nicht verhindern können. Und du kannst mich nicht besiegen. Warum machst du es euch beiden nicht leichter?« Thyra sah mit grimmigem Lächeln in die toten Augen. »Es wäre nicht leichter«, antwortete sie und ging erneut zum Angriff über, mit solcher Gewalt diesmal, dass Yago zurückweichen musste. »Du wirst uns nicht töten. Du nicht!«
»Glaubst du!!« Yago blockte ihren letzten Schlag ab, doch noch ehe er zu einem Gegenangriff ansetzen konnte, hörten beide eine vertraute Stimme. »Thyra!!« Die Kriegerin und ihr Widersacher fuhren herum. Der Kampf war unterbrochen. Aglaia und Serenity nutzten Yagos Überraschung und, während Serenity sich um Serena kümmerte, kam Aglaia Thyra zu Hilfe. »Das Blatt hat sich gewendet«, sagte Aglaia. »Aglaia«, hörte die blonde Kriegerin Meister Yago’s Stimme. »Du warst für mich wie eine Tochter. Ich habe dich aufgenommen, als du niemanden mehr hattest, als du schwach und hilflos warst. Und ich habe dich nie enttäuscht. Willst du wirklich gegen mich kämpfen?« »Es ist wahr, was du sagst«, entgegnete Aglaia mit fester Stimme. »du hast mich tatsächlich nie enttäuscht. Bis heute!« »Aglaia kämpfe auf meiner Seite und ich werde alles mit dir teilen«, fuhr Yago eindringlich fort. »Du widerst mich an«, war Aglaias Antwort. Und damit war alles gesagt. Serenity und Serena beobachteten den Kampf. Serenity hatte mit ihrer Magie Serenas Verletzungen geheilt, doch hatte die junge Prinzessin viel Blut verloren und war noch immer sehr schwach. Es würde eine Zeitlang dauern, bis sie sich ganz erholt hatte. Beunruhigt sahen die beiden, dass Thyra und Aglaia, obwohl zu zweit, doch immer mehr ins Hintertreffen gerieten. Yago schien unbesiegbar zu sein. Zornig, dass sie nicht eingreifen konnte, wandte Serena sich an Serenity. »Kannst du ihnen denn nicht helfen? Du hast doch damals auch Thyra gegen Altea helfen können.«
Serenity sah auf ihre Ringe. »Die Steine in meinen Ringen bündeln meine Kraft. Aber es wird nicht reichen. Altea hat ihm viel Macht gegeben.« »Bitte, versuch es wenigstens!« Serenity warf ihr einen verständnisvollen Blick zu. »Ich glaube, du hast recht. Vielleicht kann ich den beiden wenigstens einen Vorteil verschaffen. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich, sammelte all ihre Kräfte. Serena beobachtete sie teils fasziniert, teils ungeduldig, denn sie sah, dass Thyra und Aglaia schon ziemlich bald in ziemlich arge Schwierigkeiten geraten würden. Dann, unvermittelt, öffnete Serenity die Augen, richtete den Stein eines ihrer Ringe auf Yago und ließ ihrer Kraft freien Lauf. Ein Strahl weißen Lichtes schoss hervor, traf die Brust des Monsters. Jeden normalen Menschen hätte diese geballte Ladung Energie wie einen Spielball an die Wand geschleudert, doch Yago war kein normaler Mensch mehr. Er taumelte ein wenig, stemmte sich dann gegen den Strahl und kämpfte dagegen an. Thyra und Aglaia nutzten die Gunst der Stunde sofort, doch Yago wehrte auch ihre Angriffe ab, gewann langsam wieder an Boden. Serenity fühlte, wie ihre Kraft sie verließ. »Er … ist … zu stark … für mich«, brachte sie mühsam hervor. Serena erkannte, dass die Magierin es allein nicht schaffen würde und traf eine rasche Entscheidung. Sie ergriff Serenitys Handgelenk, unterstützte die Kraft der weißen Magierin mit ihrer eigenen Energie. Der Strahl, dessen Leuchtkraft schon abgenommen hatte, glühte wieder auf, wurde heller und heller, hüllte das Monster schließlich völlig ein. »Jetzt!!« rief Serenity Thyra und Aglaia zu. Die beiden zögerten keine Sekunde, verbanden ihre Kräfte zu einem einzigen gewaltigen Schlag.
Er schleuderte Yago gegen einen Berg aus Kisten und Truhen, der von dem Aufprall ins Wanken geriet. Yago sah nach oben, erkannte das Unheil, war aber zu geschwächt um sich zu bewegen. Er öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei, als seine Reichtümer, die er nun nie mehr besitzen würde, über ihm zusammenstürzten. Mit angespannten Gesichtern starrten Aglaia und Thyra eine Weile auf die Stelle, an der Yago eben noch gestanden hatte. Sie waren auf eine weitere Auferstehung gefasst, doch nichts geschah. Der Kampf schien endgültig entschieden zu sein. »Es ist vorbei«, bestätigte Serenity, die kein Leben mehr unter dem Kistenberg fühlte, ihre Hoffnung. Dann wurde ihr bewusst, dass Serenas Hand nicht mehr auf der ihren lag. Ein rascher Blick bestätigte ihre schlimme Vermutung. »Nein!« hörte sie eine Stimme hinter sich, wandte sich um und sah in Thyras fassungsloses Gesicht. Die Kriegerin stieß Serenity beiseite, kniete neben Serena nieder, suchte verzweifelt nach Anzeichen von Leben. Sie fand keine. »Ich hätte es nicht geschafft, ohne ihre Hilfe«, sagte Serenity leise. »Sie hat meine Kraft mit ihrer unterstützt. Aber sie war zu geschwächt.« »Du hättest es verhindern müssen!« fuhr Thyra sie an. »Es war ihre Entscheidung«, gab Serenity zurück. »Ohne sie hätte Altea doch noch gesiegt. Sie hat unser aller Leben gerettet. Und das von unzähligen anderen.« »Für einen hohen Preis«, sagte Thyra bitter. Sie nahm Serenas leblosen Körper in die Arme. Tränen liefen über ihr Gesicht, ohne dass sie es zu merken schien. Serenity kämpfte mit sich. Sie wusste, dass es noch eine Möglichkeit gab, doch war es ihr eigentlich nicht erlaubt einzugreifen. Doch hatte sie in den vergangenen Tagen reichlich Gelegenheit gehabt zu beobachten, wie wichtig Serena für Thyra geworden war
und wie sehr die ehemals dunkle Kriegerin von der jungen Prinzessin geliebt wurde. Wenn es jemandem möglich sein würde, Thyra auf ihrem Weg in ein neues Leben zu helfen, dann war es diese junge Frau mit ihrem großen Herzen, ihrer Aufrichtigkeit und ihrer Achtung vor allem, was lebte. Serenity beschloss, mit den Regeln zu brechen. »Thyra«, sagte sie und legte der Freundin eine Hand auf die Schulter. »Lass mich«, wies Thyra sie zurück. »Thyra, es gibt noch eine Möglichkeit. Vielleicht kannst du Serena zurückholen.« Sie hatte die Worte noch nicht ganz ausgesprochen, als die Kriegerin sich ihr auch schon zuwandte. »Was sagst du? Ich kann sie zurückholen? Wie?« »Serena ist auf dem Weg ins Licht. Aber sie hat es noch nicht erreicht. Erst dann wird ihr Tod unwiderruflich sein.« »Und was kann ich tun?« Thyra bezwang nur mühsam ihre Ungeduld. »Du allein gar nichts. Aber ich bin eine Heilerin und weiße Magierin. Ich kann dich mit meiner Kraft in das Zwischenreich von Diesseits und Jenseits schicken. An den Ort, wo sich Serena jetzt noch befindet.« »Worauf wartest du noch!?« rief Thyra. »Lass uns keine Zeit verlieren.« »Warte, Thyra, erst musst du mir zuhören. Serena ist auf dem Weg ins Licht. Es mag sein, dass sie nicht mehr zurückkehren möchte. Und du kannst sie nicht zwingen, es zu tun, falls doch wird sie großen Schaden an ihrer Seele nehmen und nicht mehr dieselbe wie vorher sein. Bedenke das wohl, Thyra. Wirst du die Kraft haben, sie gehen zu lassen, wenn das ihre Entscheidung ist?« Thyra schwieg einen Moment.
»Werde ich in diesem Fall auch mit ihr gehen können?« Serenity seufzte. Sie hatte befürchtet, dass Thyra diese Alternative in Erwägung ziehen würde. »Ja, das könntest du. Aber damit würdest du es dir unmöglich machen, deine Schulden in diesem Leben zu begleichen. Sie würden dir erhalten bleiben bis in das nächste und auch darüber hinaus. Dennoch – es ist deine Entscheidung.« Thyra nickte. »Gut, ich weiß, was ich wissen muss. Können wir jetzt beginnen?« Serenity hieß Thyra sich hinzulegen, legte ihr dann die Hände auf die Stirn. »Thyra, bitte, komm zu uns zurück, was immer auch geschehen mag«, hörten sie da Aglaias Stimme. Die blonde Kriegerin hatte sich bis jetzt im Hintergrund gehalten. »Es gibt noch vieles zu erleben und noch vieles zu sagen. Lass uns nicht im Stich.« Thyra hörte ihre Worte, doch konnte sie nicht mehr antworten, denn in diesem Moment sandte Serenity sie über die Schwelle des Diesseits in das Niemandsland zwischen den Welten. »Triff die richtige Entscheidung«, sagte Aglaia leise. Nun konnten sie nur noch warten und hoffen.
11) Thyra erwachte in einer Welt, die sich auf den ersten Blick in nichts von der unterschied, die sie gerade verlassen hatte. Nur die Umgebung hatte sich verändert – Thyra stand auf einer breiten Straße die durch einen dichten, grünen Wald führte.
Sie wusste, dass es sich hier nur um eine Zwischenwelt handelte, ein Niemandsland zwischen Diesseits und Jenseits und doch – alles schien so real, so wirklich zu sein. Thyra machte sich bewusst, dass sie mit diesen Gedanken nur Zeit vergeudete. Sie sah sich nach Serena um. In der Ferne konnte sie auf der Straße einen kleinen Punkt ausmachen. Er bewegte sich von ihr fort. Obwohl es unmöglich war auf diese Entfernung zu erkennen, wer es war, wusste Thyra sofort, dass das nur Serena sein konnte. Dies hier war ihr Weg, ihr ganz persönlicher Weg in die Unendlichkeit des Lichtes, niemand sonst hatte das Recht hier zu sein. Auch Thyra nicht, die gewaltsam hier eingedrungen war um Serena in eine Welt zurückzuholen, die sie schon beinah verlassen. Thyra verdrängte diesen Gedanken sofort wieder. Sie war nicht hier, um Serena zu zwingen. Doch um sie zu fragen, musste sie sie erst einmal einholen. Thyra begann zu laufen so schnell sie konnte, doch musste sie rasch einsehen, dass sie, so schnell sie auch lief, ihrem Ziel keinen Zentimeter näher kam. Im Gegenteil – es schien, als entferne sich Serena umso schneller von ihr. Obwohl das Laufen Thyra nicht erschöpfte, blieb sie schließlich doch stehen, da sie merkte, dass sie auf diese Weise keine Chance hatte, ihre Geliebte einzuholen. Panik stieg in ihr hoch. Und mit ihr eine Erinnerung. Der Traum! Der Traum, der sie in jener Nacht gequält hatte, als sie und Serena sich zum ersten Mal geküsst hatten. Serena auf einer endlos langen Straße und sie, Thyra, unfähig, ihr zu folgen.
Und dann fielen ihr Serenitys Worte wieder ein: »Vergiss nicht, es ist keine reale Welt, auch wenn es dir so scheint. Hier herrschen die Gedanken und die Gefühle, nicht die Materie.« Wenn das stimmte, dann genügte es vielleicht intensiv an das zu denken, was man sich wünschte oder was man wollte, das geschah. Thyra beschloss, es zu versuchen. Mit der ganze Kraft ihrer Liebe wünschte sie sich, Serena zu erreichen. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich vollkommen auf diesen Wunsch. Sekundenlang geschah nichts, doch dann fühlte sie plötzlich eine Bewegung unter sich, sie öffnete die Augen, erkannte, dass sie auf einen Pferd saß und direkt neben ihrer Freundin die Straße entlang ritt. Serena wirkte völlig abwesend, schien Thyras Auftauchen nicht einmal zu bemerken. Ihre Augen waren in die Ferne gerichtet auf einen Punkt weit vor sich am Horizont. Thyra folgte Serenas Blick und bemerkte ein sehr helles, sehr anziehendes Leuchten, dem sie sich langsam aber stetig näherten. »Serena?« sprach sie die Geliebte leise an. Es dauerte einen Moment, bis sich im Gesicht der Freundin ein Zeichen des Wiedererkennens abzeichnete. Serena schien ihren Namen wie aus weiter Ferne gehört zu haben. Langsam wandte sie sich der Kriegerin zu. »Thyra?« kam es schließlich leise von ihren Lippen, die sich kaum zu bewegen schienen. Thyra atmete erleichtert auf. »Für einen Moment dachte ich schon, du weißt nicht mehr, wer ich bin.« »Tut mir leid«, war die gleichmütige Antwort, »aber meine Gedanken sind schon fast am Ende des Weges.«
Sie sahen beide in Richtung des Lichtes, das an Leuchtkraft weiter zugenommen hatte. Thyra beschloss, nicht lange um den heißen Brei herumzureden. »Du musst den Weg nicht zu Ende gehen, Serena. Du kannst mit mir zurückkehren.« Serena antwortete erst nach einer Weile. »Deshalb bist du hier? Um mich zurückzuholen?« Ihre Stimme klang beinahe belustigt. »Nein«, entgegnete die Kriegerin, »nicht um dich zu holen. Nur um dich zu bitten, mit mir zurückzukehren. Es ist deine Entscheidung.« Wieder Schweigen. Beunruhigt sah Thyra das Licht immer näher kommen. Serena schien von dem Gedanken, ins Diesseits zurückzukehren, alles andere als begeistert zu sein. Serenity hatte von dieser Möglichkeit gesprochen, doch Thyra hatte nicht wirklich damit gerechnet. Nun sah sie sich zum ersten Mal mit der Tatsache konfrontiert, Serena vielleicht ihren eigenen Weg gehen lassen zu müssen. »Es liegt noch so viel Zeit vor uns, Serena«, versuchte sie es erneut. »Wir können noch soviel zusammen erleben. Das Licht wird immer da sein und auf dich, auf uns warten.« »Spürst du den Frieden hier?« fragte Serena, ohne auf Thyras Worte einzugehen. »So einen Frieden habe ich noch nie gefühlt. Und er wird stärker, je näher ich dem Licht komme. Weshalb sollte ich in eine Welt zurückkehren, die nur Hass, Gewalt und Verrat kennt?« »Aber das stimmt doch gar nicht, Serena!« rief Thyra. »Die Welt besteht nicht nur aus Hass, Gewalt und Verrat. Sie besteht auch aus Liebe, Freundschaft und Vertrauen. Nimm Selene und mich oder..oder uns beide …«
Be den letzten Worten zuckte Serena fast unmerklich zusammen. Thyra schien etwas gefunden zu haben, mit dem sie die Geliebte erreichen konnte. »Wir haben uns gerade erst gefunden, Serena«, fuhr sie rasch fort. »Ich will dich nicht wieder verlieren. Ich brauche dich.« »Dann komm doch mit mir«, bot Serena ihr da unerwartet an. Thyra schluckte. Für einen Moment fühlte sie tatsächlich den Wunsch, mit Serena zusammen den Frieden zu erleben, den sie zu ihren Lebzeiten wohl kaum jemals finden würde. Doch dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, Serena, so einfach ist das nicht. Ich habe noch eine Aufgabe in meinem Leben, es gibt Menschen, die mich brauchen und Fehler, die ich gut machen muss. Dieser Verantwortung kann ich mich nicht entziehen.« Ihre Pferde blieben plötzlich stehen. Thyra sah, dass sie vor einem Abgrund standen, über den eine schmale Brücke direkt in das helle Licht führte. Sie spürte – dies war der Augenblick der Entscheidung. Und Thyra traf ihre Wahl. »Du weißt, es gibt kein Zurück mehr, wenn du die Brücke einmal überquert hast. Ich werde dich nicht begleiten, so gern ich es auch möchte. Aber du sollst wissen, dass ich dich liebe, wie ich noch nie eine Frau geliebt habe. Wenn dir das etwas bedeutet, dann lass mich meinen Weg nicht alleine gehen müssen.« Sie berührte noch einmal zärtlich Serenas Wange, küsste sie sanft auf den Mund. Dann wendete sie schweren Herzens ihr Pferd und ritt langsam den Weg zurück, den sie gekommen waren. Sie wagte nicht, sich umzudrehen, wollte nicht sehen, wie alles, was ihrem Leben Sinn gab, für immer verschwand. Als sie Hufgetrappel hinter sich hörte, hielt sie es erst für eine Sinnestäuschung, doch dann hörte sie Serenas Stimme, die auf einmal wieder sehr lebendig klang:
»Verflucht sei der Tag, an dem du mir vor die Füße gefallen bist. Aber ich fürchte, ohne dich möchte ich nirgendwo mehr hingehen!« Dann war Serena neben ihr, mit klarem Blick und Augen voller Liebe und Wärme. Thyra zügelte ihr Pferd, zog die Geliebte in eine heftige Umarmung, die ebenso heftig erwidert wurde. Eine Ewigkeit hielten sich die beiden so fest, sie merkten nicht, wie sich die Landschaft um sie herum auflöste. Das Diesseits hatte sie wieder. »Meine Aufgabe ist erfüllt«, sagte Serenity, als Thyra und Serena zu sich kamen. Und noch ehe eine der beiden ein Wort des Dankes sagen konnte, war die weiße Magierin auch schon verschwunden.
Epilog Einen Monat später standen Thyra und Aglaia vor den Übungsplätzen und sahen den neuangekommenen Schülern beim Training zu. Es war ein Tag des Abschieds, denn Thyra und Serena hatten beschlossen, die T’mar Schule zu verlassen. Sie hatten Aglaia geholfen, die Schule nach Meister Yagos unrühmlichem Abgang neu aufzubauen und zu organisieren. Nun blieb nichts mehr zu tun, als die normale tägliche Arbeit einer Leiterin und damit konnte Aglaia alleine fertig werden.
Noch immer war das Verhältnis zwischen Thyra und der blonden Kriegerin leicht gespannt und so hatte Thyra entschieden, dass es das beste sei, für eine Weile getrennte Wege zu gehen. Serena wollte sie natürlich begleiten. Aglaia selbst war einerseits erleichtert über Thyras Entschluss, andererseits vermisste sie die Freundin schon jetzt. Doch sah sie ein, dass sie Zeit brauchen würde um die Wunde heilen zu lassen und Thyra letztendlich nur noch als die Freundin gegenübertreten zu können, die sie ihr so gerne wieder sein wollte. Serena näherte sich den beiden, in jeder Hand die Zügel eines Pferdes. »Thyra?« rief sie. Thyra und Aglaia wandten sich um. »Na, dann ist es jetzt wohl soweit«, sagte die blonde junge Frau und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme leicht zitterte. Sie umarmte Serena und Thyra herzlich. »Passt gut auf euch auf und lasst von euch hören. Und denkt daran, ihr habt hier immer ein Zuhause. Vergesst das nicht.« Thyra sah sie voller Wärme an. »Bestimmt nicht.« Aglaia sah ihnen lange nach. Sie stand noch immer vor dem Tor der Schule, als ihre beiden Freunde schon längst am Horizont verschwunden waren. Schließlich seufzte sie und sagte leise: »Leb wohl, Thyra. Irgendwann wird nichts mehr zwischen uns stehen. Dann sehen wir uns wieder.« Und damit wandte sie sich entschlossen um und ging ihrem neuen Leben entgegen. ENDE